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German Pages [161] Year 2017
Auf dem Weg zur Teilhabegesellschaft
Beiträge der Akademie für Migration und Integration Heft 16
Herausgegeben von der Otto Benecke Stiftung e.V.
Die »Beiträge der Akademie für Migration und Integration« erscheinen in unregelmäßiger Folge. Wissenschaftlicher Beirat der Akademie für Migration und Integration der Otto Benecke Stiftung e.V.: Klaus J. Bade, Yasemin Karakaşoğlu, Marianne Krüger-Potratz, Max Matter, Dieter Oberndörfer, Andreas Pott, Christoph Schroeder und Helen Schwenken
Auf dem Weg zur Teilhabegesellschaft Neue Konzepte der Integrationsarbeit
Herausgegeben von Max Matter
V&R unipress
Otto Benecke Stiftung e.V. Akademie für Migration und Integration Geschäftsführender Vorsitzender: Dr. Lothar Theodor Lemper Kennedyallee 105 – 107 53175 Bonn Gefördert aus Mitteln des:
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 1. Auflage 2017 © 2017, V&R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz und Layout: Janine Martini, Berlin Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Zum Alten Berg 24, D-96158 Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. ISBN 978-3-8471-0712-5 ISBN 978-3-8470-0712-8 (E-Book) ISBN 978-3-7370-0712-2 (V&R eLibrary) ISSN 1437-1200
Inhalt L othar Theodor Lemper / Eberhard Diepgen Vorwort....................................................................................................................... 7 L othar Theodor Lemper Feinarbeit mit Hand und Herz Ein halbes Jahrhundert Otto Benecke Stiftung e.V. ............................................. 9 Eberhard Diepgen Grußwort ................................................................................................................. 17 K laus J. Bade Einwanderung, Kultur und Willkommenskultur Festvortrag zum 50jährigen Jubiläum der Otto Benecke Stiftung e.V. ............ 23 Levent Tezcan Das Versprechen der Integration Eine kritische Reflexion auf die Begrifflichkeiten und ihre Wirkung............... 41 Naika Foroutan Postmigrantische Perspektiven in Deutschland................................................... 63 D isk ussion M ax M atter Willkommen im Einwanderungsland? Eine Podiumsdiskussion um Möglichkeiten und Grenzen kultureller Veränderung ............................................................................................................ 77 D isk ussion M ax M atter Von der Integration zur Teilhabe Eine Diskussion anlässlich des 19. Forums Migration........................................ 87 M ax M atter Zuwanderer aus Südosteuropa – Wer kommt? Plädoyer für eine differenzierte Wahrnehmung und präzisere Maßnahmen.. ..101
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Uwe Wenzel Sinti und Roma in Deutschland Neuer Bedarf und neue Chancen der Selbstorganisation................................. 117 Norbert C yrus Irreguläre Migration in Deutschland – Zur Kontroverse zwischen ordnungs politischer und menschenrechtlicher Sichtweise.................................................127 Jochen Oltmer Migration und Qualifikation im historischen Wandel Zur Verknüpfung von Mobilität und Wissenstransfer....................................... 141 A nette K ramme Füllhorn im Gepäck Was gilt es also zu tun?......................................................................................... 151 Autorinnen und Autoren...................................................................................... 155
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Dr. Lothar Theodor Lemper / Eberhard Diepgen Vorwort Das vorliegende Heft der Beiträge der Akademie für Migration und Integration vereint Vorträge und Diskussionen des Forums Migration im Dezember 2013 und des Forums Migration im März 2015. Das 19. Forum Migration 2013 war dem Thema „Auf dem Weg zur Teilhabegesellschaft“ gewidmet. Im Rahmen des 20. Forums Migration 2015 zum Thema „Integration und Qualifikation“ feierten wir zugleich den 50. Jahrestag der Gründung der Otto Benecke Stiftung e.V. (OBS) mit einer Festveranstaltung und beleuchteten verschiedene Aspekte des Arbeitsfeldes „Integration und Qualifikation“. Deutschland ist nicht erst seit 2015, als beinahe 1 Mio. Geflüchtete zuwanderten, ein Einwanderungs- und Zufluchtsland. Prof. Dr. Jochen Oltmer, einer der bekanntesten europäischen Migrationshistoriker, veranschaulicht in seinem Vortrag, dass Deutschland bereits seit 1948/49 Einwanderungsland ist und Zugewanderte ab diesem Zeitpunkt aktiv integriert wurden. Für den Soziologen Dr. habil. Levent Tezcan ist Integration eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Dabei sollte hinterfragt werden, ob der Begriff „Integration“ noch geeignet ist, auch die Lebensumstände vor allem jüngerer Menschen mit Migrationshintergrund zu beschreiben. Der Vortrag setzt sich sehr dezidiert mit den verschiedenen Vorstellungen auseinander, die mit diesem Begriff verbunden sind. Prof. Dr. Naika Foroutan, stellvertretende Direktorin des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung, beschreibt, dass Deutschland derzeit einen „Transitmoment“ erlebe: Einerseits wachse die Offen heit gegenüber Geflüchteten und anderen Einwanderern, andererseits hielten sich Ängste und Vorurteile hartnäckig – die „Narration des Deutschseins“ sei im Fluss. Prof. Dr. Klaus J. Bade, renommierter Migrationsforscher, unter anderem Mitbegründer des Osnabrücker Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) und langjähriges Mitglied des wissenschaftlichen Fachbeirates der OBS, schlägt zur Lösung der deutschen Diskrepanz zwischen Integration und Kulturangst ein „Großes Palaver“ nach afrikanischem Muster vor. Sein Festvortrag endet mit 10 Thesen zum „großen Palaver über Willkommenskultur“; das „große Palaver“ könnte ein „Zaubertrank (sein), um das „kollektive ‚Wir‘“ wiederzufinden.
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Dr. Lothar Theodor Lemper / Eberhard Diepgen
Fazit der Jubiläumsveranstaltung: Deutschland ist ein Einwanderungsland, muss aber noch lernen, sich auch als solches zu „benehmen“. Mit unserer Arbeit können wir einen Beitrag dazu leisten, wie uns Prof. Dr. Bade attestiert: „Die Otto Benecke Stiftung e.V. (OBS) war und ist sozusagen ein institutionalisierter Beitrag der Willkommenskultur, der Akzeptanz und der Anerkennungskultur, lange bevor über diese Begriffe – und vor allem über ein Anerkennungsgesetz – überhaupt diskutiert worden ist“. Wir danken allen Autorinnen und Autoren des vorliegenden Bandes für ihre hochinteressanten Beiträge. Wir sind insbesondere Prof. Dr. Max Matter zu großem Dank verpflichtet: Er hat die Herausgeberschaft übernommen und auch die Diskussionen der beiden Foren pointiert zusammengefasst.
Dr. Lothar Theodor Lemper
Geschäftsführender Vorsitzender
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Eberhard Diepgen
Vorsitzender des Kuratoriums der Otto Benecke Stiftung e.V.
Lothar Theodor Lemper Feinarbeit mit Hand und Herz Ein halbes Jahrhundert Otto Benecke Stiftung e.V. Am 22. Februar 1965 wurde die Otto Benecke Stiftung e.V. in der Technischen Universität Berlin gegründet. Geburtsort und Wirkungsstätte waren nicht identisch: Wir siedelten uns in Bonn an, nah am Machtzentrum der Bonner Republik, und halten Bonn bis heute die Treue. Dass der Oberbürgermeister dieser Stadt heute hier anwesend ist, empfinde ich daher als eine freundliche Geste zu unserem Geburtstag. Denn Bonn als Symbol für Übersichtlichkeit: Dafür steht auch die OBS – freilich mit beachtlicher Wirkung ihrer 50jährigen Tätigkeit – ihrer migrationspolitischen Hand-, Herz- und Feinarbeit. Keine Integrationsangebote von der Stange, keine Massenproduktion, sondern Orientierung an den individuellen Bedürfnissen der uns anvertrauten Menschen. So haben wir im Laufe der Jahrzehnte im Sinnfeld der Migration deutliche Spuren hinterlassen. Zum Beispiel die vielfältigen Qualifizierungsmaßnahmen in Zusammenarbeit mit namhaften Hochschulen, zum Beispiel für junge Menschen aus Südafrika, die uns damals von der Bundesregierung übertragen wurden – die Otto Benecke Stiftung e.V. als partielle Ersatzinstitution damals fehlender diplomatischer Beziehungen Deutschlands zu diesem Land. Erinnert sei zum Beispiel an Leistungen der Otto Benecke Stiftung e.V. (OBS) für Palästina, weshalb wir bis heute zu dem außenpolitischen Berater und damaligen „Botschafter“ Abdallah Frangi immer noch vorzügliche Kontakte unterhalten; an unser über zwanzigjähriges Engagement in Sibirien mit dem Auftrag der Qualifizierung für dortige Jugendliche; unsere besten Beziehungen zu Kasachstan seien nur andeutungsweise in Erinnerung gerufen. Es ist heute für eine Organisationen wie die OBS gar nicht selbstverständlich, bereits ein halbes Jahrhundert zu bestehen. Viele andere Institutionen mit migrationspolitischen Aufgaben wurden selbst inmitten ihrer produktivsten Schaffensperiode unwiderruflich abgeschafft – gelegentlich auch durch eigene Vollstreckung. Unsere Ursprünge reichen – für viele ist das erstaunlich – bis in die Verfasste Studentenschaft und der damit verbundenen sozialen und wirtschaftlichen Selbsthilfe der Studierenden. Daraus ergab sich damals der Aufbau einer zentralen Flüchtlingsberatungsstelle, aus der – kurz gesagt – die Otto Benecke Stiftung e.V. hervorging. Mit diesem Teil der Entstehungsgeschichte möchte ich
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Lothar Theodor Lemper
es hier bewenden lassen. Nachfragen können durch die intensive Lektüre unseres Jubiläums-Sonderbandes befriedigt werden. Denn unser Jubiläum, das habe ich als Präsident für heute besonders vorgegeben, soll kein Tag detaillierter Geschichtsvermittlung sein, projiziert auf die Großleinwand der Eitelkeiten. Es geht vielmehr um Aspekte der Standortanalyse und einen präzisen, auf die Zukunft gerichteten Blick. Denn neben unserem runden 50. Jahr feiern wir auch 20 Jahre Forum Migration. Trotz unseres Stolzes auf die vielen Jahre und die erbrachten Leistungen, ist es uns besonders wichtig, dass wir heute genauso dynamisch wie am ersten Tag, mit jenem Elan, mit jener Leidenschaft, mit der wir ein halbes Jahrhundert eine stattliche Zahl von nationalen und internationalen Programmen und Projekten erfolgreich umgesetzt haben, in diesem so wichtigen Handlungsfeld von Migration und Integration geblieben sind. Über 400.000 in der Regel recht jungen Menschen aus zahlreichen Ländern konnten wir eine Fülle von Chancen anbieten, ihr im Herkunftsland erworbenes Wissen und Können im Zuwanderungsland zu vertiefen, anzureichern, zu entfalten und – das ist ganz wichtig – konkret in den Arbeitsmarkt einzubringen. Immer war es das Ziel, ihre sehr unterschiedlichen Schätze an Wissen und Erfahrungen zu heben; Lernwille und Motivation waren trotz mitunter schmerzlicher Einschnitte in ihren Lebensbiografien lebendig. Im Ergebnis entstanden daraus nicht nur individuelle Karrieren, sondern auch soziale und ökonomische Renditen. Der wirtschaftliche Erfolg in unserem Bundesland Nordrhein-Westfalen ist nicht nur den alteingesessenen Rheinländern und Westfalen zu verdanken, sondern auch Millionen von Aussiedlern und Migranten aus Südeuropa oder der Türkei. Ohne sie sähe dieses Land anders aus – auch ärmer! Denn das Ruhrgebiet und seine Produktion als nicht unwesentliche Voraussetzung des Reichtums unseres Landes hätte es ohne Migration so nicht geben können. Das erinnert mich an die Jahre 1609 bis 1614, als über 3 Millionen spanische Moslems Andalusien durch Zwangsverschiffung in Richtung Nordafrika verlassen mussten. So traurig ihr Schicksal war: Die Spanienflüchtlinge lösten damals im westlichen Maghreb eine Phase der kulturellen Blüte und stabiler politischer Zustände aus. Sie arbeiteten als Handwerker und Händler in den maghrebinischen Städten, in Fes, Rabat, Marrakesch oder Tunis und trugen wesentlich zu deren Entfaltung im 17. Jahrhundert bei – während andere Städte verarmten. Es wäre ja schon viel gewonnen, Migration auch in ihrer positiven Seite wahrzunehmen.
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Mit den Ausländern fing es 1945 an Wir sollten deshalb daran erinnern: Es fing in der Nachkriegszeit 1945 in Deutschland mit den Ausländern an, die zu uns kamen, um das Naziregime zu beseitigen – und die uns demokratische Freiheiten gebracht haben: Amerikaner, Engländer, Franzosen, Kanadier, Belgier. Sie sind heute unsere Partner im NATO-Bündnis und der EU. Bei allen bestehenden und meist lösbaren Problemen: Es gibt eine große Erfolgsgeschichte im Sinnfeld gelungener Migration. Protagonisten dieser Erfolgsgeschichten sind Vertriebene und Flüchtlinge, Spätaussiedler aus Mittel- und Osteuropa sowie Zuwanderer aus der früheren DDR, Asylberechtigte, Kontingentflüchtlinge, Auszubildende und Studierende in und aus Entwicklungsländern und viele andere, denen alternative Förderangebote nicht zur Verfügung standen und stehen. Seit 1945 führten Flüchtlingsbewegungen, Aus- und Rückwanderung, Armuts- und Arbeitsmigration, politisches Asyl und gezielte Anwerbung von Fachkräften dazu, dass sich, bezogen auf die jüngsten vier Generationen, fast in jeder dritten deutschen Familie Zuwanderer finden. Heute – also Stand 2015 – ist jeder Achte Einwohner Deutschlands im Ausland geboren und innerhalb der vergangenen sechzig Jahre als Einwanderer nach Deutschland gekommen. Schon 2013 lebten 10,7 Millionen Einwanderer aus 194 Ländern in Deutschland. Insofern ist die Flüchtlingszuwanderung, die wir gegenwärtig erleben und die sich für die Zukunft andeutet, mit vielleicht ein bis zwei Millionen Flüchtlingen, zwar sehr stark, aber – gemessen an früheren Zuwanderungsbewegungen – nicht so außergewöhnlich, wie er häufig dargestellt und empfunden wird. Die Suggestion eines Ausnahmezustandes ist auch die Folge der Tatsache, dass sich mediale Dramatisierung und nicht erkennbare politische Führung mischen. So erhalten politisches Gezänk, Entscheidungs- und Organisationsunfähigkeit, gelegentlich auch ein Krisenbewältigungschaos den Vorzug, was – nicht nur, aber auch – erklärt werden kann durch die Tatsache, dass fast alle Ministerien der Bundesregierung irgendwo und irgendwie Zuständigkeiten für Fragen der Migration besitzen und verteidigen. Mit anderen Worten: Wir brauchen dringend ein Migrations- und Integrationsministerium in Deutschland. Für unsere nationalen und internationalen Förderprogramme hat uns der Bund in 50 Jahren rund 1,2 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt – eine beachtliche Summe. Bei 400.000 Teilnehmenden sind das im Schnitt 3.000 Euro pro Stipendiat. Das aber genügte, um aus zugewanderten Schülern und Studenten Akademiker zu machen oder zugewanderte Akademiker für den Arbeitsmarkt zu qualifizieren – also aus Leistungsempfängern steuerzahlende Leistungsträger zu machen. Volkswirtschaftlich betrachtet heißt das: Aus einer Investition von 3.000 Euro pro Person ist eine zig-fache Ertragsmaximierung geworden.
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Lothar Theodor Lemper
Unsere Qualifizierungsmaßnahmen zielten immer auf den ersten Arbeitsmarkt ab, also auf echte Integrationschancen, zum verantwortlichen Staatsbürger zu werden, nebenbei auch zum guten Steuerzahler und sich damit aus der Nehmerrolle im Sozialsystem zu verabschieden. Mit diesem migrationspolitischen Kreislauf ist der Name Otto Benecke Stiftung e.V. eng verbunden. Das entpflichtet uns, uns bei irgendjemandem bedanken zu müssen – allenfalls dafür, dass die entsprechenden Ministerien, die uns Aufträge gaben und geben, ein offensichtlich unbeirrbares, hervorragendes und gut funktionierendes Gefühl dafür haben, von wem sie in Sachen Migration und Integration beste Leistung erhalten: Von der Otto Benecke Stiftung e.V.!
Kein Problem der Erkenntnis sondern der Umsetzung Deutschland ist im Vergleich der OECD-Länder neben den USA das Land mit der größten Zuwanderung. Vielfach werden die Zuwanderungsquoten nicht hinreichend differenziert, zum Beispiel wird der Umfang der Zuwanderungen aus EU-Mitgliedsstaaten als Folge der europarechtlich geregelten Freizügigkeit nicht separat herausgestellt. Die Politik hat zunehmend das positive Potenzial der Zuwanderung erkannt, die Anerkennungspraxis dynamisiert und den Arbeitsmarktzugang erleichtert. Diese ökonomische Betrachtungsweise der Zuwanderung ist wichtig. Wir werden die demografischen Folgen des Rückgangs im produktiven Bereich und des Zuwachses im nichtproduktiven Bereichen, der damit verbundenen signifikanten Belastung der Sozialsysteme im Wesentlichen nicht anders beeinflussen können als durch die zentrale Komponente der Migration mit einem hohen Wanderungssaldo. Denn die eigentliche demografische Brisanz liegt nicht in allererster Linie im Bevölkerungsrückgang, sondern vor allem in der Veränderung der Altersstruktur der Bevölkerung. Auch die Verschiebung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre wird das Problem nicht annähernd lösen, sondern allenfalls abmildern, so dass wir das hoch gelobte Elterngeld mit seiner Erwartung höherer Geburtenzahlen unkommentiert vernachlässigen dürfen. Deutschland hat das liberalste Zuwanderungsrecht der Welt. Die einwanderungsrechtlichen Voraussetzungen für eine dauerhafte Attraktivität Deutschlands im internationalen Wettbewerb um hochqualifizierte Fachkräfte sind vorhanden. Für Akademiker aus Drittstaaten ist der Zugang nach Deutschland damit fast vollständig liberalisiert, auch für Fachkräfte ohne akademische Abschlüsse in sogenannten Engpassberufen und reglementierten Berufen. Bei der Umsetzung der Blue Card hat der Gesetzgeber die Bleibemöglichkeiten für ausländische Hochschulabsolventen noch einmal erweitert. Frisch gebackene Akademiker aus Drittstaaten können nun zur Jobsuche 18 Monate in Deutschland bleiben. In dieser Suchphase können sie ohne Einschränkungen arbeiten und nach erfolgreicher Suche eine reguläre Blue Card erhalten. Auch hier sind die Regelungen in Deutschland im internationalen Vergleich Spitze. 12
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Hochgelobt wird jetzt allenthalben das kanadische Paradies, das kanadische Punktesystem als eine Art Deus ex machina der neuen Migrationsoffensive. Laufend kündigen prominente Politikerinnen und Politiker Reisen nach Kanada an. Und man hört auch, dass Kanadier in großer Zahl zu uns kommen, die gerne das deutsche Modell studieren wollen. In Wirklichkeit haben wir kein Erkenntnisproblem. Wir haben ein Umsetzungsproblem. Ein Einwanderungsgesetz ist nicht notwendig. Denn es existieren alle verfügbaren Reglungen und neue können in das derzeitige Regelungs-Portfolio problemlos aufgenommen werden. Aber, wenn es denn sein muss: Ein Einwanderungsgesetz ist a priori kein Störfall. Das ist für ein Gesetz, das gut werden soll, schon sehr viel. Das Einwanderungsgesetz wird – sollte es kommen – also ein gutes Gesetz.
Frühzeitige Wahrheit, schnelle Integration Hauptursachen von Wanderungsbewegungen sind Bürgerkriege, Unruhen, internationale Konflikte, Elend, Armut und Hunger. Die wichtigste Legitimation der Aufnahmepolitik ergibt sich aus humanitären Gründen, wirtschaftliche Gründe sind sekundär, wenngleich durchaus beachtlich. Im vergangen Jahr zwangen Krieg und Verfolgung laut UNHCR täglich über 32.000 Menschen dazu, ihr Zuhause zu verlassen – um im eigenen Land eine Zuflucht zu suchen oder jenseits der Landesgrenze. Manche öffentlichen Diskussionen erwecken den Eindruck, dass die Bedrohung von denen ausgeht, die vor der Bedrohung fliehen. Die Welt des Islams muss vor allem vor den Islamisten geschützt werden, die ihre Religion als brutale Waffe gegen Menschen instrumentalisieren. Es ist dringend erforderlich, die Dinge nicht durcheinander zu werfen. Die Notwendigkeit der Zuwanderung – zum Beispiel im Handwerk, in den medizinischen und anderen Berufen – darf nicht mit der allgemeinen Flüchtlingsdebatte vermengt werden. Es muss sehr früh unterschieden und entschieden werden, wer unter den Flüchtlingen eine dauerhafte Bleibeperspektive hat und wer nach einem erfolglosen Antrag auf politisches Asyl wieder gehen muss. Diesen Menschen hilft man am besten dadurch, dass man ihnen frühzeitig die Wahrheit sagt – und zwar in ihren Herkunftsländern. Migrationspolitik muss einen ganzheitlichen Ansatz verfolgen: Warum bieten wir nicht jungen Menschen zum Beispiel aus den Maghreb-Ländern berufliche Qualifizierungen in ihrer Heimat an, anstatt darauf zu warten, dass sie nach Deutschland kommen. Und diejenigen, die politisches Asyl genießen, müssen möglichst rasch in die Regelschule gehen, ihre Eltern möglichst schnell Deutsch lernen, Berufsabschlüsse anerkennen lassen und alles tun, um bald integriert zu sein. Das ist vordinglicher als die dauerhafte Beschäftigung mit einer Gesinnungsleitkultur, von der selbst der größte Teil der Deutschen nicht weiß, was damit gemeint ist. Die überzeugends-
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ten Hinweise über Leitkultur – sie finden sich in unserer Verfassung, vor allem im Grundrechtskatalog: Menschenwürde, Respekt, Subsidiarität, Gemeinwohl als soziale Verantwortung, Freiheit des Wortes, Gleichheit von Mann und Frau, Selbstverantwortung. Ein Blick über den Tellerrand Europas: Die allermeisten Flüchtlinge bleiben in ihrer Herkunftsregion; fast 90 Prozent in sogenannten Entwicklungsländern. Die 50 am wenigsten entwickelten Staaten beherbergten derzeit alleine über drei Millionen Flüchtlinge. Die Akzeptanz bei der Aufnahme von Menschen mit Migrationshintergrund ist sehr überschaubar. Wir müssen endlich beginnen, auch bei asylsuchenden Flüchtlingen nach dem Potenzial zu fragen und dieses so bald wie möglich zu fördern, statt sie sinnlos in Wartepositionen auf bessere Zeiten zu belassen. Deswegen war es richtig, dass der Gesetzgeber 2014 beschlossen hat, Asylsuchenden nach drei Monaten einen generellen und nach fünfzehn Monaten einen gleichrangigen Zugang zum Arbeitsmarkt zu eröffnen. Wer nun aber naheliegender Weise erwartet, dass damit auch zügige Sprach kursangebote und umgehende Beurteilungen der mitgebrachten Vorbildungen mit dem Ziel der raschen Integration in den Arbeitsmarkt verbunden sein würden, sieht sich heute enttäuscht: Für 160.000 nach SGB-III förderberechtigte Asylbewerber gibt es bisher lediglich ein Modellprojekt mit etwa 500 Plätzen. In Wirklichkeit brauchen wir flächendeckende Angebote! Wir können ja nicht ständig fordern, diese Menschen sollten Deutsch lernen, wenn sie keine ausreichenden Angebote an Deutschkursen finden. Allen Asylbewerbern mit Bleibeperspektive müssen auf Dauer Integrationskurse angeboten werden. Dies gilt übrigens auch für die OBS-Programme: Im Vergleich zum Vorjahr 2014 sind die Bewerberzahlen für eine Fördermaßnahme nach dem sogenannten Garantiefonds Hochschule um über 100 Prozent gestiegen. Vor allem aus Syrien kommen viele Studienbewerber, Studierende und Akademiker, die trotz ihres oft dramatischen Fluchtschicksals die Kraft und den Willen haben, möglichst rasch Deutsch zu lernen und ihr Studium fortzusetzen. Für den Garantiefonds stehen 2015 jedoch an Haushaltsmitteln nicht mehr, sondern de facto 20 Prozent weniger Geld als 2014 zur Verfügung – mit dem Effekt, dass bereits Mitte Februar 2015 alle Haushaltsmittel des laufenden Jahres verplant waren. Heute sind bei uns bereits mehr als 200 Bewerberinnen und Bewerber registriert, die sofort mit ihrer weiteren Ausbildung beginnen könnten, wenn mehr Haushaltsmittel zur Verfügung stünden. Täglich werden es mehr Bewerber, die mit exzellenter Vorbildung aus dem Herkunftsland zu uns kommen. Es ist nicht schwer vorauszusagen, dass im kommenden Jahr bereits im Januar alle Mittel verplant sein werden. Deswegen müssen aus derzeit ca. 5 Millionen Euro mindestens 30 Millionen Euro für den Garantiefonds werden, damit Sprachqualifizierungen in einem angemessenen Umfang angeboten werden können.
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Brücken in die Zukunft Anlässlich unseres Jubiläums erhielten wir zahlreiche Zuschriften: Ehemalige Stipendiaten und Weggefährten bedankten sich für unsere erfolgreiche Arbeit. Ermutigt durch solchen Zuspruch sehen wir unsere Zukunft positiv: Qualifizierung von Zugewanderten, partnerschaftliche Zusammenarbeit mit Migrantenorganisationen, Jugend- und Elternbildung, Förderung nationaler Minderheiten – das sind die Bereiche, in denen wir uns auskennen, für die wir weiter arbeiten wollen. 50 Jahre sind eine lange Zeitspanne. 1965 war Deutschland kein Einwanderungsland – jedenfalls glaubte die Politik das, obwohl gerade der millionste Gastarbeiter angekommen war. Heute hat die Feststellung, Deutschland sei ein Einwanderungsland, den Grad einer Banalität erreicht, wenn die Sache selbst nicht voller Herausforderungen wäre. Es ist in den letzten Jahren in Sachen Migration viel geschehen. Professor Klaus J. Bade wies kürzlich darauf hin, dass in den letzten 10 bis 15 Jahren Deutschland in seiner Einwanderungs- und Integrationspolitik weiter vorangekommen ist als in den vier Jahrzehnten zuvor. Es ist notwendig in der öffentlichen Diskussion zwischen Einwanderungspolitik und Flüchtlingspolitik zu unterscheiden, dennoch ihren gemeinsamen Nenner im Auge zu behalten und beide nicht gegeneinander aufzurechnen – um nicht etwa in eine Forderung wie ‚mehr Einwanderungsanreize und weniger Asyltoleranz‘ zu verfallen. Es darf nicht übersehen werden, dass in der EU zum einen uneingeschränkte Freizügigkeit gilt und zum anderen Deutschland für hochqualifizierte Einwanderer nur eine vergleichsweise geringe Attraktivität aufweist. Das belegen schon die eher bescheidenen Ergebnisse der Versuche mit der Blauen Karte EU und der deutschen Green Card. Deshalb ist es notwendig, uns konstruktiv mit den Qualifikationen der Zugewanderten und den sich daraus ergebenden Chancen für eine Bereicherung unseres Arbeitsmarktes zu befassen. Das würde die ständige Klage über die angebliche massenweise Plünderung unserer Sozialklassen entlarven. Auch die Kosten fehlender Bildung sollte man sich ins Bewußtsein rufen! Ausländer sind mehr als doppelt so häufig arbeitslos im Vergleich zu den Deutschen. Ihr Anteil unter den Langarbeitslosen ist überdurchschnittlich hoch. Das Arbeitslosenrisiko steht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit einem geringen Qualifikationsniveau. Ohne angemessene Qualifikation ist ein Vordringen in qualifiziertere Segmente des Arbeitsmarktes kaum möglich. Zudem ist die Integration in den Arbeitsmarkt die beste Voraussetzung für gelingende Integration. Allerdings gilt auch dies: Trotz der beschriebenen Integrationsdefizite lässt sich ein sichtbarer Integrationsfortschritt dokumentieren. So besitzen Personen mit Migrationshintergrund in der zweiten und dritten Generation bessere Arbeitsmarktchancen als die Elterngeneration. Für Spätaussiedler, lange eine Hauptklientel der OBS, lässt sich nach allen Befunden ein zunehmender
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Lothar Theodor Lemper
Integrationsfortschritt mit der Dauer des Aufenthaltes in der Bundesrepublik Deutschland feststellen. Wir haben mit unserem Projekt „Bildungs-Brücken: Aufstieg!“ gezeigt, dass angeblich schwer oder gar nicht erreichbare Eltern mit Zuwanderungsgeschichte nicht nur ausdrücklich den sozialen Aufstieg ihrer Kinder wollen, sondern ihn – bei entsprechender Begleitung – auch zielgerichtet unterstützten. Leider hat das Familienministerium das Projekt „Bildungs-Brücken“ nach vier Jahren beendet. Bis es auf diesem Gebiet nachhaltige Strukturen gibt, wird noch viel Zeit vergehen. Solange jedenfalls bedarf es der Otto Benecke Stiftung e.V. Für unsere Zukunftsaussicht bedeutet das: Sie ist grenzenlos!
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Grußwort
Eberhard Diepgen Grußwort 50 Jahre Otto Benecke Stiftung, 20 Jahre Foren für Migration, das ist aus meiner Sicht ein Anlass zum Jubilieren. Und da will ich gar nicht über Ablassfragen und Ähnliches im Einzelnen weiter diskutieren. Ich begrüße Sie alle, aber meine Damen und Herren, ganz besonders begrüßen möchte ich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Otto Benecke Stiftung, denn ohne sie hätte es diese 50 Jahre nicht gegeben. Ohne das Engagement der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wären 50 Jahre nicht möglich gewesen. Ich bedanke mich hier, namens des Kuratoriums ausdrücklich bei allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Herr Dr. Lemper hat bereits darauf hingewiesen, dass wir ein Gründungsmitglied jener Versammlung des März 1965 unter uns haben. Und verzeihen Sie, dass ich ein wenig nostalgisch an diese Zeit erinnern möchte, denn ein Teil derjenigen, die in den Gremien der Otto Benecke Stiftung tätig sind, kommen aus der Studentenschaft. Sie waren übrigens tätig in jenem Arbeitsbereich, der sich schon vor der Gründung der Otto Benecke Stiftung – im Bundesstudentenring – mit der Hilfe für Flüchtlinge befasste, die damals vor allen Dingen aus der SBZ, aus den Ostblockstaaten kamen. Diese Erfahrungen im Sinne einer bestimmten Professionalisierung sind in die Otto Benecke Stiftung überführt worden. Ich möchte an den Grundgedanken erinnern, den die Studentenschaft damit verbunden hat: Es ging um Selbstverwaltung, Subsidiarität, die christliche Soziallehre. Oswald Nell-Breuning war derjenige, den wir in besonderer Weise gelesen haben. Und es die Erkenntnis, dass bürgerschaftliches Engagement in vielen Bereichen ausgesprochen hilfreich ist und vor allen Dingen mehr helfen kann als nur staatliche Verwaltung. Dr. Lemper hat hingewiesen auf das, was die Otto Benecke Stiftung im Bereich der Unterstützung von Flüchtlingen, von Verfolgten aus vielen Ländern insbesondere Afrikas geleistet hat. Damals hat im Grunde nur das gesellschaftliche Engagement einer nicht-staatlichen Einrichtung die Hilfestellung ermöglicht, die damals den Verfolgten der Apartheid, den Verfolgten nach dem Algerienkrieg und in vielen anderen Krisengebieten zuteil geworden ist. Und ganz nostalgisch will ich auch darauf hinweisen, dass es später zu meinen persönlichen Erfahrungen gehörte – und darauf war ich ein wenig stolz – dass beispielsweise bei einem Treffen mit einem Staatspräsidenten von Namibia und seinem zehnköpfigen Mitarbeiterstab offenbar wurde, dass mehr als die Hälfte dieser Mitarbeiter ehemalige Stipendiaten der Otto Benecke Stiftung waren. Ich
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erfuhr von ihnen, welche segensreichen Erfahrungen sie mit der Otto Benecke Stiftung verbanden. Und ich sage: Das war nur möglich, weil es solche Institutionen des gesellschaftlichen, bürgerschaftlichen Engagements gab. Denn der Staat konnte aus politischen Gründen das eine oder andere dort nicht machen. Und ich behaupte übrigens auch heute: Die verschiedenen Gruppen von Geflüchteten machen eine Differenzierung notwendig– das kann nicht der Staat, das kann nicht eine staatliche Behörde im Einzelnen, sondern das kann nur auf dem Weg über bürgerschaftliches Engagement, über einzelne bürgerschaftliche Gruppen, über das ehrenamtliche Engagement im Einzelnen geleistet werden. Und wenn ich schon einmal nostalgisch bin und Ignaz Bender hier vor mir sehe, darf ich auf eine weitere Parallele hinweisen: Die Studentenschaft hat im Jahre 1965 – also genau zu dem Zeitpunkt, als die Otto Benecke Stiftung gegründet wurde – die Aktion Bildungswerbung „Studenten aufs Land“ organisiert. Initiator war Ignaz Bender, damals Uni Freiburg. Es ging darum, durch bürgerschaftliches Engagement einen Beitrag dazu zu leisten, dass alle Menschen in Deutschland auch einen Anspruch auf Chancengerechtigkeit im Bildungswesen haben. Damals – daran werden sich nur wenige erinnern – war das katholische Landmädchen aus Rheinland-Pfalz der Inbegriff bildungspolitischer Benachteiligung. Auch darum haben wir uns damals gekümmert. Heute würde das keiner mehr so sehen. Heute würde ich als den Inbegriff der Benachteiligung das muslimisch-arabische Mädchen in sozialen Brennpunkten der Großstädte ansehen. Und da genau ist anzusetzen – im Sinne von Qualifizierung. Wen qualifizieren wir? Einmal die Kinder selbst, aber dann auch das gesamte Umfeld, nämlich die Eltern. So wie es die Otto Benecke Stiftung beispielsweise in dem Eltern-Projekt „Bildungs-Brücken“ gemacht hat. Genau da setzen wir an und helfen, um Menschenrechte zu verwirklichen. Das ist die Linie, die ich ausdrücklich einmal ganz nostalgisch als ehemaliger Studentenvertreter, der seit den Anfängen der Otto Benecke Stiftung dabei war, zur heutigen Zeit ziehen möchte. Dr. Lemper hat auf die aktuellen Flüchtlingszahlen hingewiesen und damit das große Themenfeld Zuwanderung, Einwanderung, Zuwanderungsgesetz angerissen. Ich will den Akzent ein klein wenig anders setzen: Aus meiner Sicht ist die Diskussion um Zuwanderungsgesetz oder nicht eine ziemlich langweilige, oberflächliche Diskussion, die nichts anderes ist als der Versuch parteipolitischer Profilierung. Die Frage, ob ein Gesetz mit tausend Paragraphen übersichtlicher ist als eine Vielzahl von Gesetzen, will ich hier jetzt gar nicht im Einzelnen weiter erörtern. Ich finde, es gibt einen großen Regulierungsbedarf in einzelnen Punkten. Dringend notwendig ist im Sinne der Übersichtlichkeit – auch das hat Dr. Lemper angesprochen –: Wie nutze ich die Qualifikation von Menschen, die hier bereits angekommen sind? Wie können wir Menschen, die bereits hier sind, qualifizieren? Diese Themen müssten behandelt werden. Es geht darum, den Menschen eine zweite Chance zu geben. Ich sage ausdrücklich dabei, weil wir ja alle – und das sage ich auch in diesem Kreis, wo es möglicherweise Missverständnisse
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Grußwort
bei einem solches Thema geben kann – wir müssen darauf achten, dass wir uns, unsere Gesellschaft, die Nachbarschaften nicht überfordern. Und bei den Wünschen, die ich jedenfalls an Zuwanderungs-, Einwanderungs-, Flüchtlingspolitik habe – Sie merken, ich nehme alle Begriffe zusammen –, ist, dass wir in der öffentlichen Diskussion, ein Stückchen stärker differenzieren zwischen den verschiedenen Sachverhalten. Aus Gründen der political correct ness wird eine Herausforderung oftmals nicht klar genug definiert. Und wenn ich eine Herausforderung oder ein Problem nicht klar definiere, kann ich es nicht vernünftig lösen. Ich muss bereit sein zuzugestehen, dass die Menschen, die hierher kommen, völlig anders sozialisiert sind und dass eine völlig andere Sozialisation mit anderen Herausforderungen verbunden ist. Wenn ich dazu nicht bereit bin, sondern immer sage „Ich darf doch nicht differenzieren zwischen verschiedenen Flüchtlingen“, dann werde ich die Probleme, die Herausforderungen nicht vernünftig lösen können. Gerade die Vielfalt bereichert und fordert uns und sie ist übrigens eine Begründung für das vielfältige gesellschaftliche Engagement, das wir zusätzlich stützen müssen. Und übrigens bei diesem gesellschaftlichen Engagement muss man auch klar sagen: Das ist keine zeitlich begrenzte Aufgabe, die ich projektgebunden im Einzelnen finanzieren kann, sondern ich muss sie jeweils als eine Langfristaufgabe begreifen. Das gehört unmittelbar zu meinen Wünschen an die aktuelle Flüchtlingspolitik. Und ich bin bei den Zahlen. Es ist doch völlig klar, dass wir im Zweifelsfalle mit mehr Flüchtlingen, mit einer noch größeren Wanderungsbewegung in dieser globalisierten Welt zu rechnen haben als die bisherigen Zahlen deutlich machen. Und wir müssen Vorsorge treffen. Und weil dankenswerter Weise meine Tätigkeit in dem Beirat für Zusammenhalt in Berlin genannt worden ist: Meine Damen und Herren, es ist schlicht und ergreifend notwendig, dass wir Vorsorge treffen im Hinblick auf Unterbringung, Erstaufnahmeeinrichtungen, Wohnmöglichkeiten, und wir müssen dabei eher in Kauf nehmen, dass wir ein leer stehendes Gebäude haben, als umgekehrt. Das große Problem, das wir heute haben bei der Akzeptanz von Flüchtlingen besteht doch darin, dass ohne große Beteiligung und Nachfrage in der Nachbarschaft einfach Heime gebaut werden. Und Vorsorge zu treffen, das gehört zur Nachhaltigkeit. Und dann empfehle ich auch allen in den Verwaltungen den Unsinn aufzugeben, den Leuten in der Nachbarschaft zu erklären „Die sind ja nur zwei Jahre hier.“ Solche Aussagen führen dazu, dass Politik nicht ernst genommen wird. Und ich kann nur sagen: Wenn man es so macht – zu Recht nicht ernst genommen wird. Und damit bin ich bei einem weiteren Punkt. Meine Damen und Herren, es ist ein Unterschied, ob jemand als Zuwanderer in unser Land kommt, um auf dem Arbeitsmarkt sein Glück zu versuchen, oder ob er politisch Verfolgter oder Kriegsflüchtling ist. Was wir da dringend brauchen, ist eine Verkürzung der Asylverfahren, damit die Menschen nicht monate- oder jahrelang tatenlos auf ihre Chance warten müssen.
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Und meine Damen und Herren, ich will noch einen Punkt ansprechen, der mir sehr am Herzen liegt. Sie werden feststellen, dass alle Themen, die ich hier nenne, bereits vor 10, 20 Jahren von der Otto Benecke Stiftung behandelt worden sind, wenn Sie die Broschüre 50 Jahre Otto Benecke Stiftung zur Hand nehmen und die Protokolle der 20 Foren und diversen Veranstaltungen. Es hat sich leider nicht so furchtbar viel verändert. Und was wir sicherstellen müssen, ist, dass wir langfristig tätig sein können und zwar mit einem ganzheitlichen Ansatz. Das Fehlen eines ganzheitlichen Ansatzes darf ich an zwei Beispielen erläutern. Der eine Punkt ist: solange die finanzielle Verantwortung im Ergebnis bei den Kommunen bleibt und nicht gesamtgesellschaftlich, gesamtstaatlich zugeordnet wird, kann es sein, dass in der gleichen Stadt, möglicherweise gar nicht weit voneinander entfernt, Häuser leer stehen, Häuser entmietet werden und dennoch ein paar Kilometer entfernt, mit viel Krach, eine Flüchtlingsunterkunft gebaut werden muss. Das ist fürchterlicher Unsinn und hat etwas mit den Finanzverantwortungen zu tun. Und ganzheitlich muss der Ansatz sein, wenn beispielsweise der Oberbürgermeister von Frankfurt an der Oder sagt, „Ich habe hier so viel leerstehende Häuser, schickt mir ein paar Flüchtlinge“, ich auch den Beitrag dafür leisten muss für den Aufbau der Infrastruktur, für Kindertagesstätten, für Sprachunterricht, für die Schule und für den Arbeitsmarkt im Einzelnen. Nur wenn ich das ganzheitlich sehe und insofern einen Paradigmenwechsel in der Flüchtlingspolitik vornehme, werden wir wirklich weiterkommen. Und mein zweiter Ansatz in Hinblick auf ganzheitliche Betreuung: Ich bin engagiert dafür, so wie das in der Studentenschaft schon einmal gegenüber dem katholischen Landmädchen aus Rheinland-Pfalz geschehen ist, dass wir sehen, dass das Hauptproblem der Integration weniger bei den Akademikern liegt, sondern in den sozialen Brennpunkten. Und bei den sozialen Brennpunkten werde ich allein durch bildungspolitische Maßnahmen nicht vorankommen. Wenn beispielsweise die Eltern keine Arbeit haben und die notwendigen Rundum-Infrastrukturmaßnahmen nicht bestehen, werden Sie keinen Erfolg haben. Denn, ich wage das kaum in einem Kreis von so vielen Experten zu sagen, aber meine Damen und Herren, wenn der Vater der Familie mit Migrationshintergrund in einen sozialen Brennpunkt bis zwölf im Bette liegt, dann kann ich mich nicht wundern, wenn der Filius morgens um sieben nicht aufstehen will, um zur Schule zu gehen. Das heißt, auch dort gilt es, ganzheitlich anzusetzen. So, meine Damen und Herren, Sie sehen, ich habe die Chance des Grußwortes genutzt, um so Einiges loszuwerden, was ich schon immer mal loswerden wollte. Aber das Schöne ist, das Thema Qualifikation als Aufgabenstellung der Otto Benecke Stiftung, einen Beitrag zur Verbesserung der Chancengerechtigkeit zu leisten, gibt Anlass zu dieser Gesamtbetrachtung. Und meine Damen und Herren, zum Schluss noch ein Anliegen. Eigentlich ist Deutschland, historisch betrachtet, ein Land mit einer großen Integrationsgeschichte. Sie können zurückgehen bis zu den Hugenotten, den Polen usw. Sie können die ganze Fluchtbewegung nach dem
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Grußwort
Zweiten Weltkrieg mit einbeziehen. Ein Stückchen Integrationsherausforderung war auch die Fluchtbewegung aus der damaligen DDR und auch nach der Wiedervereinigung. Da ist Tolles in unserer Gesellschaft insgesamt geleistet worden. Deshalb ist es eine naheliegende Idee, ein Migrationsmuseum zu gründen. Der Streit geht darum, ob es im Haus der Geschichte völlig integriert werden soll und welcher Zeitraum dabei erfasst wird. Ich möchte dafür werben, dass wir ein Migrationsmuseum der gesamten Migration, aller Wanderungsbewegungen, auch der europäischen Wanderungsbewegung, aufbauen. Ich danke Ihnen vielmals und bedanke mich bei Ihnen allen, dass Sie in dem Feld der Integration, der Qualifikation so engagiert sind. Vielen Dank.
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Einwanderung, Kultur und Willkommenskultur
Klaus J. Bade Einwanderung, Kultur und Willkommenskultur Festvortrag1 zum 50jährigen Jubiläum der Otto Benecke Stiftung e.V. Was mein Thema „Einwanderung, Kultur und Willkommenskultur“ angeht, so will ich im Blick auf die Otto Benecke Stiftung e.V., um die es ja heute zentral geht, vorweg dieses festhalten: Die Otto Benecke Stiftung e.V. (OBS) war und ist sozusagen ein institutionalisierter Beitrag der Willkommenskultur, der Akzeptanz und der Anerkennungskultur, lange bevor über diese Begriffe – und vor allem über ein Anerkennungsgesetz – überhaupt diskutiert worden ist. Wenn hochrangige Politiker sagen, wie erfreulich das alles sei, dann kann das auch daran gemessen werden, wie sie hinterher mit dem Scheckbuch abstimmen. Es geht ja nicht nur darum, festzustellen, dass alles sei schön und dankenswert, sondern auch um die Frage, zu welchem finanziellen Engagement man bereit ist. Ich war in diesen Zusammenhängen – und ich begleite die Stiftung beratend seit ungefähr 20 Jahren – oft irritiert darüber, dass die OBS immer wieder erklären musste, wie erfolgreich sie eigentlich war. Fast eine halbe Million Menschen sind durch die OBS qualifiziert worden, haben durch diese Stiftung ihren Weg in qualifizierte Arbeit und sozialen Aufstieg genommen. Die vergessen der OBS das nicht. Die Politik sollte das ebenso wenig vergessen und sich dieser Leistungen auch eigenständig erinnern, wenn von Integrationsförderung in diesem Land die Rede ist.
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Ich habe diesen, immer wieder durch Applaus unterbrochenen Vortrag weitgehend frei gehalten und mich dabei in den Grundlinien an einschlägigen Netz-Veröffentlichungen von mir orientiert. Von einer Publikationsabsicht war mir nichts bekannt. Als mir dann ein Mitschnitt vorgelegt wurde mit der Bitte, diesen zu einem Aufsatz zu überarbeiten, habe ich aus Gründen von Zeitökonomie und Aufrichtigkeit lieber gleich auf mir im Vortrag als Orientierungslinien am meisten genutzte Veröffentlichungen zurückgegriffen: Klaus J. Bade, Kulturangst, Willkommenstechnik und Willkommenskultur, in: Migazin, 13.10.2014; ders., Willkommenskultur und Fremdenangst in der Einwanderungsgesellschaft, in: Deutsch Türkische Nachrichten, 32.10.2014; ders., Zehn Thesen zum ‚Großen Palaver‛ über Willkommenstechnik, Willkommenskultur und teilhabeorientierte Gesellschaftspolitik, in: Migazin, 12.3.2015; ders., Willkommenskultur und Kulturangst, Vortrag auf der Jahrestagung des Bayerischen Volkshochschulverbands, 23.4.2015 (https://www.youtube.com/watch?v=E4px9nP-8sE). Ansonsten ist die Vortragsfassung bewusst beibehalten worden.
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Klaus J. Bade
Für meinen Vortrag habe ich nach meinen Vorrednern etwas schlechtere Karten: Der eine ist heute einer der wichtigsten europäischen Migrationshistoriker, Jochen Oltmer. Er war einmal mein Schüler, heute lerne ich von ihm. Man geht ja am Ende vom Treppchen wieder herunter auf den Rasen und die anderen gehen auf‘s Treppchen und das ist auch gut so. Am schönsten ist es ja, wie mir der alte, schon in der Weimarer Zeit aus Deutschland ausgewanderte Wirtschaftshistoriker Fritz Redlich an der Harvard Business School in den 1970er Jahren einmal gesagt hat, wenn man am Ende durch das Gewicht derer, die einem auf den Schultern stehen, unter den Rasen gedrückt wird. Meine andere Vorrednerin ist der Shootingstar der empirisch-soziologischen Migrationsforschung in Deutschland, Naika Foroutan, das setzt ebenfalls Maßstäbe. Und außerdem sprach da als Vorredner noch Herr Dr. Lemper, der große rhetorische Schleifen flog und dabei immer wieder gekonnt herunterstieß auf die passenden Pointen. So sind schon fast alle Rosinen weggepickt, mal sehen, was mir noch bleibt beim aufrichtigen Bemühen um eine erträgliche Verbindung zwischen wissenschaftlicher Fundierung und menschenfreundlicher Prosa. Ich gliedere meinem Vortrag in vier Teile: 1. Die neue Einwanderung, 2. Integration und Kulturangst, 3. Zaubertrank Willkommenskultur, 4. Zehn Schlussthesen zum Großen Palaver über Willkommenskultur.
1. Die neue Einwanderung Deutschland braucht Einwanderung, wie andere demographisch alternde und schrumpfende Wohlfahrtsstaaten in Europa auch, denn: Viele Eltern der Kinder von morgen sind gestern schon nicht mehr geboren worden. Und die ehemals starken Jahrgänge ‚bereichern‘ heute vorzugsweise die Rentnerpopulation. Das wird noch beschleunigt durch die politisch opportunistische, rückwärtsdrehende Reform der Rentenreform, deren soziale Folgen spätestens dann anfallen werden, wenn diejenigen, die diese Entscheidung verschuldet haben, schon in opulenten Pensionen stehen. Aktuell gibt es starke Migrationsbewegungen innerhalb Europas, Hauptziel Deutschland: 2,4 Millionen Ausländer waren 2013 sozialversicherungspflichtig hierzulande beschäftigt – ein Zuwachs von acht Prozent seit 2012, noch übertroffen von den noch nicht ganz durchgerechneten Zahlen für 2014. Die Neuzuwanderer beiderlei Geschlechts sind mit einem durchschnittlichen Lebensalter von 28 Jahren vergleichsweise jung. Und sie sind deutlich besser qualifiziert als die Erwerbsbevölkerung in Deutschland: 2010 zum Beispiel im Verhältnis 43 Prozent zu 28 Prozent mit tertiärem Abschluss. Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“ gehört in dieser Hinsicht endlich in die Tonne.
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Euphemistisch redet man von einem „Triple-win business“, einem dreifachen Gewinngeschäft zugunsten von Ausgangsräumen, Zielräumen und Migranten. Das soll nach dem migrations-, wirtschafts- und sozialpolitischen Zauberspruch funktionieren: „Verwandle transferabhängige Arbeitslose aus krisengeschüttelten Ausgangsräumen mit hoher Arbeitslosigkeit auch unter Hochqualifizierten in sozialversicherungspflichtige Arbeitskräfte in boomenden Zielländern mit starkem Arbeitskräftebedarf!“ Das klingt vielversprechend, wie alle Zaubersprüche. Und es wurde migrationsrechtlich und migrationspolitisch allerdings auch sehr viel getan, um diesen Zauber zu ermöglichen: Deutschland hat heute – wie wir schon gehört haben, und wie auch die OECD zugesteht – unter den westlichen Industriestaaten mit das offenste Zuwanderungsrecht für Zuwanderer aus Drittstaaten, die in Deutschland einen Aufenthaltstitel brauchen. Der Erfolg dieses Zaubers scheint auch aus den gewaltigen jährlichen Zuwanderungszahlen zu sprechen. Aber vergessen wir die folgenden vier Probleme nicht: Problem eins: Die meisten Zuwanderer stammen gar nicht aus Drittstaaten, deren Staatsangehörige hierzulande einen bestimmten Aufenthaltstitel brauchen. Sie stammen vorwiegend aus Europa und besonders aus der EU, in der bekanntlich Freizügigkeit gilt. Sie kommen vor allem aus Polen, Rumänien, Italien und Spanien. Und bei den Zuwanderern aus Drittstaaten stellen nach den Zahlen des BAMF außerdem die Erwerbstätigen bei weitem nicht die Hauptgruppe. Die stärksten Zuwanderungen entfielen vielmehr auf die Kategorien Studium, Aufenthaltsgestattung für ein Asylverfahren und auf familiäre Gründe, etwa auf den Nachzug von Familienangehörigen. Erst dann kamen Erwerbstätige aus Drittstaaten mit Blue Cards, Selbstständige oder Forscher, von denen überdies viele, nämlich als sogenannte Bildungsinländer, schon in Deutschland waren, mithin also nur aus der fachlichen in die beruflich-praktische Qualifikation wechselten. Problem zwei: Viele jobsuchende Zuwanderer gehen bald wieder. Sie tun das, weil sie – auch aus sprachlichen Gründen – in Deutschland Jobs oft nur unter ihrem hohen Qualifikationsniveau finden, was nach Schätzungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) und des Institutes für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) für 40 bis 50 Prozent von ihnen gilt. Sie ziehen aber auch deswegen weiter oder kehren zurück, weil – wie wir noch sehen werden – die sogenannte deutsche Willkommenskultur noch keinen zureichenden gesellschaftlichen Tiefgang hat, der eine Verbindung mit dem Wort ‚Kultur‛ rechtfertigen würde.
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Problem drei: Die hochqualifizierten Zuwanderer sind zum Teil auch überqualifiziert. Das zeigt ein Blick auf die sogenannte Positivliste der Engpassberufe, bei denen Unternehmer freie Stellen ohne große Hürden auch mit Ausländern aus Drittstaaten besetzen können. Auf dieser Liste stehen, wie unlängst auch in einem kritischen Kommentar zu lesen war, weniger Akademiker als „Mechatroniker, Alten- und Krankenpfleger, Blitzschutzmonteure, diverse Elektroniker und Klempner, Lokomotivführer und sogar Kühlhauswärter“. Daran mangelt es am Arbeitsmarkt derzeit offenbar mehr als an höchstqualifizierten Akademikern. Mich erinnert das an alte Diskussionen, um deren zentralen Punkt es heute nicht mehr gehen kann: Manche meinen ja, man sollte heute endlich das kanadische Punktesystem imitieren, das weltweit nach den Höchstqualifizierten suchte, in der Annahme, dass die sich dann auf dem Arbeitsmarkt zurechtfinden würden. Das wäre einmal richtig gewesen, wurde damals aber in Deutschland politisch nicht akzeptiert und ist heute eher realitätsfern, denn: Die Kanadier haben dieses System in seiner ursprünglichen Form gerade im letzten Jahr abgeschafft und starteten im Januar 2016 mit einem System, das demjenigen der Bundesrepublik Deutschland in seinem Arbeitsmarktbezug durchaus ähnlich erscheint. Mir hat eine kanadische Immigrationsspezialistin einmal einen Witz erzählt, der von mir veröffentlicht wurde und inzwischen fast zu einer stehenden Wendung geworden ist: „Wenn Du in meinem Land einen Herzinfarkt kriegst, dann sieh zu, dass Du ganz schnell ein Taxi findest; denn am Steuer dieses Wagens findest Du immer schneller einen Arzt als im Krankenhaus!“ Man hatte eben lange stärker an ‚Nation Building‛ und weniger an ‚Labor Market‛ gedacht. Im Vordergrund hatte der Kampf um Einwanderereliten gestanden, die Frage nach dem konkreten Arbeitskräftebedarf war eher in den Hintergrund gerückt. Just diesen – für das deutsche System typischen – Arbeitsmarktbezug haben die Kanadier jetzt ab Januar dieses Jahres in ihr System eingebaut. Problem vier: Die Kehrseite des zauberhaften Gewinns für den Zuwanderungsraum sind in den Ausgangsräumen nicht nur, im Sinne des Zauberspruchs, Entlastung der Sozialetats und Förderung der Familieneinkommen durch Rücküberweisungen. Es gibt auch Schattenseiten, nämlich Familienauflösungen mit traumatisierten Migrationswaisen und zunehmend auch folgenreiche Brain Drain-Erscheinungen. Das letztere gilt weniger in den südeuropäischen Krisenstaaten, umso mehr aber zum Beispiel in Rumänien und Bulgarien: Aus Rumänien sind nach Gewerkschaftsangaben seit 1989 insgesamt 20.000 Personen aus dem medizinischen Pflegebereich und 30.000 Ärzte abgewandert. Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland allein 2000 aus Rumänien stammende Ärzte und Ärztinnen. Viele werden dabei gar nicht mitgezählt, weil sie längst Deutsche sind und in der Statistik nicht mehr nach ihrer ursprünglichen Nationalität erfasst werden. Ohne diese Ärztinnen und Ärzte aus dem Ausland wäre unser medizinisches
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Versorgungssystem, vor allem in den ländlichen Regionen und insbesondere im deutschen Osten, längst mit noch größeren Problemen konfrontiert. In Rumänien aber brechen in den Krankenhäusern die Fachabteilungen weg, weil Frau oder Herr Doktor nach Deutschland gegangen sind. In nicht allzu ferner Zukunft wird vielleicht auf EU-Ebene ein großes Förderungsprogramm notwendig werden zur Sicherung der medizinischen Grundversorgung in Rumänien – das wäre dann sozusagen Entwicklungspolitik mitten in Europa. Manche sagen: „Wenn es denen wieder besser geht, dann rollt die Migranten-Lawine doch wieder zurück!“ Die Lawine müsste in diesem Falle aber den Berg hinaufrollen, denn die korrupten Strukturen in Rumänien sollten nicht unterschätzt werden. Es werden beispielsweise oftmals erhebliche finanzielle Mittel benötigt, um überhaupt eine Stelle an einem Krankenhaus zu bekommen. Und wer seine Stelle auf diese Weise finanziert hat, wird lange damit zu tun haben, diese Kosten abzustottern, da der Verdienst sehr niedrig ist. Solche Bedingungen treiben die Ärzte aus dem Land und halten sie draußen. Will sagen: Der vielbesungene Migrationszauber ist zum Teil auch ein fauler Zauber zugunsten der prosperierenden Zentralmacht Deutschland und zulasten der krisengeschüttelten Ausgangsräume. Das kann, das darf, und das wird auch nicht dauerhaft so bleiben, zumal die Ausgangsräume dieser innereuropäischen Wanderungen auch zunehmend selbst in den Sog des demographischen Wandels kommen. Wenn die innereuropäischen Massenwanderungen nach Deutschland schrumpfen und das demographisch vergreisende Paradies in der Mitte Europas umso mehr auf Zuwanderung aus Drittstaaten fernab der EU angewiesen sein wird, also aus ganz anderen, zum Beispiel auch nordafrikanisch-arabisch-muslimischen Kulturen – spätestens dann werden viele Deutschen spüren, was es heißt, sich mit Kulturängsten demo-ökonomisch selbst im Weg zu stehen.
2. Integration und Kulturangst Wir haben eben schon gehört: Integration in Deutschland ist besser als ihr Ruf im Land. So lautete die von mir selber stammende wichtigste Kernbotschaft des ersten Jahresgutachtens des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration aus dem Jahr 2010 mit dem Titel „Einwanderungsgesellschaft 2010“. Das war rasch in aller Munde und hat das unnötig aufgeregte Medientheater um die angeblich „gescheiterte Integration“ einige Monate lang beruhigt. Publizistische Agitatoren schwiegen verdutzt, Politiker mussten düstere Redepassagen korrigieren – bis dann mit dem oben schon erwähnten Buch Thilo Sarrazins der im Grunde längst überholte Rummel aufs Neue in Gang gesetzt wurde. Aber unsere Botschaft von 2010 gilt weiter, trotz aller immer noch herrschenden und 2014 gleich mehrfach nachgewiesenen Chancenungleichheiten in
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Klaus J. Bade
den Bereichen Bildung und Arbeitsmarkt. Auch andere Schattenseiten bestätigen als Ausnahmen eher die Regel der insgesamt relativ positiven Integrationsbilanz. Relativ ist sie im Blick auf die zum Teil miserablen politischen Rahmenbedingungen, unter denen Integration sich lange entwickeln musste im vermeintlichen Nicht-Einwanderungsland mit seinen Jahrzehnte überdauernden politischen Erkenntnis- und Handlungsblockaden, die sich erst seit der Jahrhundertwende auflösen konnten. In der Tat waren viele Zuwanderer lange unschlüssig, ob sie zu diesem Land gehören wollen, natürlich lebten viele zu lange in Rückkehrillusionen. Aber wie sollte sich jemand denn besonders motiviert fühlen, in ein Land einzuwandern, das ständig erklärte, es sei kein Einwanderungsland? Und wie vordergründig und widersprüchlich war es doch, dass ein Land, in dem es eine echte Einwanderungssituation gab, das aber verkündete, es sei kein Einwanderungsland, später den Einwanderern vorhielt, nicht frühzeitig ein echtes Einwandererbewusstsein entwickelt zu haben! Wie hätte das denn auch vernünftigerweise gehen sollen? Das wäre doch wie bei einem Bademeister, der vor seine Badeanstalt ein Schild stellt „Dies ist keine Badeanstalt“ und sich dann hinterher beschwert, dass die Leute nur auf der Liegewiese geturnt haben, statt im Wasser schwimmen zu lernen. Man muss lebensgeschichtlich und sogar intergenerativ in Rechnung stellen, was den Zuwanderern von damals in diesem Land alles an desorientierenden Irritationen zugemutet worden ist. Deutschland hätte ja frühzeitig geeignete Spielregeln aufstellen und zum Beispiel beim ‚Anwerbestopp‛ 1973 den ausländischen Arbeitnehmern beiderlei Geschlechts sagen können: „Wir geben Ihnen drei weitere Jahre im Land. Entscheiden Sie bitte in diesen drei Jahren: Wünschen Sie, mit geeigneter Förderung, fachliche Weiterqualifizierung, zureichenden Spracherwerb – oder Rückkehr.“ Für viele, die noch keinen gefestigten Aufenthaltsstatus hatten, wäre das wohl ein wirksames Angebot gewesen. Aber das Gegenteil geschah: Integrationskonzepte blieben aus, propagiert wurden stattdessen die ‚Aufrechterhaltung der Rückkehrbereitschaft‛ und später die sogenannten ‚Rückkehrprämien‛. Ausländer, die lange sozialversicherungspflichtig beschäftigt gewesen waren und nun als erste in die bald strukturelle Arbeitslosigkeit und damit in die Transferbezüge gerieten, wurden im Alltag nicht selten als ‚Sozialschmarotzer‛ denunziert, weil sie nicht in ihre Herkunftsländer zurückkehrten, obgleich sie doch nur ‚Gastarbeiter‛ seien. Dabei hatten sie ihren Lebensmittelpunkt schon lange nach Deutschland verlegt – befördert durch den Familiennachzug, der paradoxerweise ausgerechnet durch den Anwerbestopp auch noch forciert worden war. Die Entwicklung war also in vieler Hinsicht höchst widersprüchlich und es grenzt nach dem krisenhaften Ende des Wirtschaftswunders an ein gesellschaftliches Wunder, dass in Sachen Integration im Großen und Ganzen alles relativ
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gut gegangen ist. Dabei ist es jedoch zu vielen kollektivmentalen Verletzungen gekommen, die nur nachempfinden kann, wer im Stande ist, das eigene Land auch mit den Augen der anderen zu sehen; ein solche Empathie aber ist Voraussetzung jeder belastbaren interkulturellen Kompetenz. Viele beneiden Deutschland heute um diese relativ positive Integrationsbilanz. Sie wundern sich über das deutsche Gejammer auf hohem Niveau und neuerdings insbesondere über „the German Kulturangst“. Sie bildet eine Spezialabteilung der ambivalenten „German Angst“, die vielen unheimlich ist. In der Außensicht auf den „German Way of Thinking“ ist „The German Kulturangst“ als neues Hysterikum teutonikum auf dem besten Wege, in der Rangliste der kollektiven deutschen Todesängste den verblassenden Klassiker zu überrunden, den die Franzosen einst „le Waldsterben“ zu nennen pflegten. Was unter dem Eindruck starker Zuwanderungen bereichsweise als Kulturangst umgeht in der Einwanderungsgesellschaft in Deutschland, ist die Angst vor der Gefährdung der eigenen kulturellen Werte, Normen und Lebensformen oder dessen, was man jeweils darunter versteht, durch als fremd empfundene kulturelle Wertvorstellung und Lebensformen oder das, was man jeweils dafür hält. Auf der einen Seite steht eine wachsende Zahl von Kulturpragmatikern oder sogar verhaltenen Kulturoptimisten, denen kulturelle Vielfalt alltägliche Normalität geworden ist. Auf der anderen Seite gibt es eine schrumpfende, aber umso lauter protestierende Zahl von Kulturpessimisten, die Zuwanderung und Integration als Bedrohung durch sogenannte Überfremdung wahrnehmen und darauf vielerlei andere Ängste, insbesondere Identitätsängste projizieren. Man denkt heute vorzugsweise an urbane Protestgemeinschaften wie ‚Pegida‛. Ihre Anhänger sind, wie der Soziologe Heinz Bude schätzt, nach interner Selbstzerlegung und unter dem äußeren Druck der stärkeren Gegendemonstrationen auf Zeit in ein verbittertes Verstummen beziehungsweise ins Lager der Nichtwähler, in Teilen wohl auch der AfD oder der NPD-Wähler zurückgesunken. Aber sie bleiben ein angstgetrieben umherschwirrendes, zielsuchendes und abrufbares aggressives Protestpotenzial, dass, wie Heribert Prantl schätzt, noch gefährlicher werden könnte, wenn es vom Staubsauger der AfD aufgesogen werden würde. Kulturangst ist nicht nur kein tragfähiges Fundament für Willkommenskultur, weil Einwanderer nur willkommen heißen kann, wer keine Angst vor ihnen hat. Kulturangst ist auch ein wesentlicher Antriebsfaktor für latent oder offen fremdenfeindliche Abwehrhaltungen gegenüber starker Zuwanderung aus anders geprägten Kulturen. Im Zentrum dieser Kulturangst in Deutschland steht heute, wie in vielen anderen europäischen Ländern, die Islamangst. Sie wurde keineswegs verursacht durch die aktuellen Terrorregime etwa von ‚Boko Haram‛ im afrikanischen oder den ‚Islamischen Staat‛ im arabischen Raum. Dadurch wurden vielmehr nur die schon vorhandenen Abwehrhaltungen verstärkt, die seit Chomeini und vor allen
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Dingen seit den Attentaten von New York durch unausgesetzt hämmernde sogenannte Islamkritik von oft nur selbst ernannten Islamexperten entfacht und stabilisiert worden waren; diese Experten berichteten zuweilen mit eher anekdotischer Evidenz und verwechselten das mit validen Forschungsergebnissen. Die Sarrazin-Debatte der Jahre 2010/11 und die in ihrem Schatten verstärkt wuchernde sogenannte Islamkritik haben in der millionenstarken muslimischen Einwandererbevölkerung und besonders in der neuen muslimischen Elite in Deutschland schweren Schaden angerichtet, nachzulesen in meinem Buch „Kritik und Gewalt: Sarrazin-Debatte, ‚Islamkritik‛ und Terror in der Einwanderungsgesellschaft“ (2013). Für die Mehrheitsbevölkerung stand am Ende der Debatte das, was ich in diesem Buch ‚negative Integration‛ genannt habe. Dabei geht es um die identitätsstiftende Selbstvergewisserung kulturell verunsicherter Gruppen durch Selbstabgrenzung von einer millionenstarken Minderheit, die als kulturelles Gegenbild konstruiert wird. Will sagen: In der Einwanderungsgesellschaft glauben viele ihre vermeintlich unter Druck geratene kulturelle ‚Identität‛ und den dadurch gefährdeten inneren ‚Zusammenhalt‛ wiederfinden zu können durch gemeinsame Abgrenzung vom Fremden. Motto: Wenn wir schon nicht mehr genau wissen, wer wir eigentlich selber sind, angeblich nur noch Mitglieder einer sogenannten Mehrheitsbevölkerung, dann wollen wir doch wenigstens mal zeigen, was wir nicht sein wollen und dann finden wir dabei vielleicht wieder den Zusammenhalt, der uns abhandengekommen zu sein scheint... Das ist ein identitätssichernder Auskreisungsdiskurs. Im anglo-amerikanischen Kontext nennt man das ‚Othering‛, in neudeutscher kreativer Semantik gelegentlich ‚Anderung‛. Da gefällt mir mein Begriff der ‚negativen Integration‛ deutlich besser. Dieser Auskreisungsdiskurs mit seinen wechselnden Feindbildern ist aus der Migrations- und Integrationsgeschichte bestens bekannt und erlebt im Alltag, wie in der Wissenschaft heute nur ein Déjà-vu. Literaturkenntnis schützt vor Neuentdeckungen. Aber Umfragen zufolge hält sich die Islam-Skepsis trotz aller Anti-Islamagitation bislang noch in Grenzen: Nach einer Anfang 2014 veröffentlichen FORSA-Umfrage sind zwar 52 Prozent der Deutschen nach wie vor der Auffassung, dass der Islam nicht zu Deutschland gehört. 44 Prozent hingegen akzeptieren heute die schon 2006 von dem damaligen Bundesinnenminister Schäuble vorgetragene und später von dem ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff nur wiederholte These, dass auch der Islam inzwischen zu Deutschland gehört – unter ihnen auch die Bundeskanzlerin. Die höchsten Ablehnungsquoten gegenüber dieser These lagen regional betrachtet im deutschen Osten mit 69 Prozent, bildungsspezifisch bei den Hauptschulabsolventen mit 61 Prozent, altersspezifisch bei den über 60jährigen mit ebenfalls 61 Prozent und parteispezifisch bei der in den Europawahlen und in den letzten Landtagswahlen siegreichen neuen Kreuzritterpartei AfD mit 82 Prozent
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sowie bei der im Vergleich zur AfD geradezu ideologiekritisch wirkenden CDU/ CSU mit 60 Prozent. Der Idealtyp des islamophoben Angst- und Wutbürgers ist also ein Hauptschulabsolvent über 60, der im Osten lebt und dort AfD wählt. Nach einer aktuellen Umfrage für das angeblich in Agonie liegende Nachrichtenmagazin Focus, dass derzeit versucht, durch das Draufsatteln auf die ‚Islamkritik‛ noch einmal Leser zu mobilisieren, erklärten 75 Prozent der Befragten, sie sähen im Islam keine Gefahr, aber immerhin 23 Prozent äußerten konkrete Furcht. Besonders sicher fühlten sich vor dem Islam die 30 bis 39jährigen mit 83 Prozent und die Anhänger der Grünen mit 94 Prozent. Im Lager der AfD hingegen fühlte sich eine Mehrheit von 58 Prozent durch den Islam bedroht. Von der neuen Islamangst profitieren als erste wieder die publizistischen Pioniere der sogenannten Islamkritik. Angstbesetzt wurden die Themen Zuwanderung und Integration in Deutschland lange vor dem Aufstieg der Islamangst auch durch politische und regierungsamtliche Abwehrhaltungen. Der Weg vom regierungsamtlichen Dementi, die Bundesrepublik sei kein Einwanderungsland, zur Akzeptanz von Einwanderungsland und Einwanderungsgesellschaft hat Jahrzehnte gedauert. Erst spät wurde deutlich, dass unterlassene oder verspätete Interventionen hohe soziale Folgekosten verursachen und dass die von mir seinerzeit konzipierte ‚nachholende Integrationsförderung‛ immer bei Weitem teurer und auch ineffektiver ist, als rechtzeitige Förderung von Integration bzw. Inklusion. Der lange und oft unnötig harte Weg zur Einwanderungsgesellschaft hat für viele Einwanderer und ihre Familien mancherlei Probleme und Folgeprobleme verursacht, die von der Mehrheitsbevölkerung oft nur unzureichend oder zu spät wahrgenommen werden. Dies ist etwa der Fall, wenn sich Angehörige der zweiten oder schon dritten Generation in Protesthaltungen oder Ersatzidentitäten flüchten. Genau davor haben Migrations- und Integrationsforscher lange vergeblich gewarnt – wie gesagt: Literaturkenntnis schützt vor Neuentdeckungen. Aber Besserwisser sind immer nur beliebt, wenn sie des Irrtums überführt werden können. Das ist hier, leider, nicht der Fall. In einer schon mehrere Generationen umschließenden Einwanderungsgesellschaft, kann es also heute – von Neuzuwanderern und nachholender Integrationsförderung abgesehen – nicht mehr um Integrationspolitik für Migranten gehen. Es geht um sozialen und kulturellen Frieden durch Anerkennung auf Augenhöhe, also nicht um kulturelle Toleranz im Sinne herablassender kultureller Duldung, sondern um die aktive Akzeptanz von kultureller Vielfalt, die die Conditio Humana, die Lebens- und Überlebensbedingung der Einwanderungsgesellschaft ist. Ihre Grundlage ist eine teilhabeorientierte Gesellschaftspolitik für alle, ob nun mit oder ohne den berüchtigten Migrationshintergrund, der den Einwanderern anhaftet wie ein erbliches Sündenregister. Für teilhabeorientierte Gesellschaftspolitik gibt es eine 2004 von meinem leider zu früh verstorbenen Osnabrücker Kollegen und Freund, dem Migrati-
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onssoziologen Michael Bommes, und mir für den Sachverständigenrat der Bundesregierung für Zuwanderung und Integration (Zuwanderungsrat) entwickelte operationale Neudefinition: Integration, heute in diesem Sinne vielleicht besser Inklusion, ist danach die messbare Teilhabe an den zentralen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Das reicht konkret von frühkindlicher Erziehung, schulischer Bildung und beruflicher Ausbildung über die Teilhabe am Arbeitsmarkt, an den Rechts- und Sozialsystemen bis hin zur politischen Teilhabe, die natürlich statusabhängig ist. Integrations- bzw. Inklusionsförderung ist nach dieser Definition also das Bemühen um möglichst chancengleiche Angebote zur Teilhabe an den zentralen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Solche Angebote anzunehmen oder im Verweigerungsfalle die lebenspraktischen Folgen zu tragen, liegt natürlich in der Verantwortung der Adressaten. Das alles ist heute zwar weitgehend politisch akzeptiert, aber erst ansatzweise umgesetzt. Bestenfalls ein Trailer oder ein Teilkonzept kann der vielgestaltige Bereich der sogenannten Willkommenskultur sein, die heute oft einseitig in den Vordergrund gerückt und damit entscheidend überfordert wird.
3. Zaubertrank Willkommenskultur Alle reden heute von Willkommenskultur: die Integrationsbeauftragte im Bundeskanzleramt, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Unternehmen und Unternehmerverbände mit ihren Diversity-Konzepten, Stiftungen, die einschlägige Workshops und Publikationen fördern, private Agenturen, die ihre Werkzeugkoffer für Willkommenskultur anbieten und damit oft die Willkommens- und Diversity-Perfomance für die Behörden und Kommunen entwerfen. Welcome- und Diversity-Konferenzen jagen sich, reihenweise erscheinen Publikationen dazu und überbieten sich im bunten Karussell einer expandierenden regelrechten Willkommensindustrie. Viele Akteure definieren dabei Willkommenskultur, wenn überhaupt, jeweils anders, zumal es keine Legaldefinition gibt. Kaum jemand weiß so recht, was damit konkret gemeint ist. So entstehen auch die vielsagenden Verdoppelungen bei der Rede von der wünschenswerten ‚wirklichen‛ und ‚echten‛ bzw. ‚eigentlichen‛ oder ‚tatsächlichen‛ Willkommenskultur. Um etwas semantische Ordnung zu stiften, könnte man mit Friedrich Heckmann Willkommenskultur gegenüber Einwanderern verstehen als „Anerkennung und Offenheit auf individueller und organisatorischer (ich würde sagen: institutioneller) und gesamtgesellschaftlicher Ebene.“ Willkommenskultur gegenüber Neuzuwanderern predigen heute in salbungsvollen Worten auch Politiker, deren Parteien sich Jahrzehnte lang, insbesondere zu Wahlkampfzeiten, auf Bundes- und Länderebene überboten haben mit
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schrillen Warnungen vor Zuwanderung und in Sonderheit von einer ‚Massenzuwanderung‛ von ‚Sozialschmarotzern‛, die sich durch ‚Einwanderung in die Sozialsysteme‛ in die ‚Hängematten‛ des Wohlfahrtsstaates schleichen wollten. Das sollte jenen Politikern und ihren Parteien nicht vergessen und nicht durch das modische Gerede von Willkommenskultur übertüncht werden; denn das alles waren ebenso giftige, wie fahrlässige politische Saatbeete für schnellwüchsige und nachhaltige Fremdenfeindlichkeit. Nach den Wahlkämpfen schaltete Politik meist wieder auf Normalkommunikation um, aber in den Köpfen blieben diese Botschaften zurück. Und heute plötzlich Willkommenskultur? Schauen wir genauer hin. Willkommenskultur kann man im Zusammenhang von Migrations- und Integrationspolitik am Wortanfang und am Wortende betonen: Im Blick auf die erste Worthälfte, also Willkommen, geht es heute vorwiegend um den utilitaristischen Versuch, qualifizierte Zuwanderer als Einwanderer auf Dauer zu bekommen für das demografisch alternde und ohne Zuwanderung schrumpfende Land in der Mitte Europas. Sie sollen den wachsenden Druck des demografischen Wandels auf Arbeitsmarkt und auf Sozialsysteme noch etwas abfedern helfen. Damit soll immer wieder weiter Zeit gewonnen werden für die seit langem unerbittlich überfälligen Sozialreformen, die immer einschneidender werden dürften, je länger man sie feige vor sich herschiebt. Für die gezielte Zuwanderungsförderung wurden die defensiv-sperrigen Rahmenbedingungen der Migrationssteuerung gegenüber Drittstaatsangehörigen geradezu sensationell liberalisiert. Unnötig lang war dabei auch hier der Weg von der politischen Erkenntnisverweigerung zur Realitätsakzeptanz unter dem Druck der Umstände; denn all das und anderes mehr haben wir zum Beispiel im Zuwanderungsrat 2004 bereits ganz konkret gefordert. Offenkundig war das im Land der immer wieder aufsteigenden Migrationsängste aber historisch zu früh; denn dafür wurden wir von Vertretern der gleichen Parteien, die diese Liberalisierung und Flexibilisierung am Arbeitsmarkt heute feiern, Ende 2004 noch aus dem politischen Tempel gejagt und unter schäbiger Medienhilfe öffentlich geächtet. Das berühmte Gorbatschow-Wort gilt also auch umgedreht: Wer zu früh kommt, den bestraft das Leben (‚first mover disadvantage‛). Und unser Gutachten wurde vom Bundesministerium des Innern lange im Netz buchstäblich versteckt. Stattdessen wurde auf das alte Gutachten der Unabhängigen Kommission Zuwanderung (‚Süssmuth-Kommission‛) von 200/01 verwiesen, zumal der von mir und Rita Süssmuth geleitete neue Zuwanderungsrat von 2003/04 den leitenden Beamten des BMI von Beginn an ein Dorn im Auge war: Er sollte ursprünglich die als BMI-Domäne betrachtete Migrations- und Integrationspolitik kritisch überprüfen und beraten. Hier wurde regierungsamtlich gezielt Verwirrung gestiftet, den Rest erledigt die politische Amnesie. Aber Historiker haben die Aufgabe, auch das gezielte politische Beschweigen oder gar Vertuschen von Erkenntnissen zu beleuchten.
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Zu den heute ebenso zukunftsweisenden, wie historisch verspäteten legislativen Befreiungsschlägen, kamen regierungsamtliche und behördliche Initiativen von erheblicher Bedeutung. Ich nenne davon hier nur drei: Erstens: Die von der vormaligen Ausländer- und Integrationsbeauftragten des Bundes, Maria Böhmer, forcierte Charta der Vielfalt, deren Selbstverpflichtungen heute mehr als zweitausend Betriebe unterzeichnet haben. Zweitens: Die von BMBF, BWM, BAMF und übergreifend auch von der Bundesregierung insgesamt geschalteten, zum Teil tiefgestaffelten interaktiven Websites. Drittens: Das zehn Ausländerbehörden in zehn Bundesländern übergreifende Großprojekte des BAMF zur Umwandlung von Ausländerbehörden in Willkommensbehörden, wie es sie bislang erst vereinzelt gibt. Dieses Großprojekt greift insoweit auch über sich selbst hinaus, als sich das BAMF damit dezidiert der ‚Etablierung einer Willkommens- und Anerkennungskultur‛ verschrieben hat. Dabei definiert das Bundesamt ausdrücklich, Anerkennungskultur ziele auf ‚Wertschätzung gegenüber kultureller Vielfalt‛ und solle auf dieser Grundlage auch ‚den gesellschaftlichen Zusammenhalt unterstützen‛. Dabei soll es insbesondere um Anerkennungskultur vor Ort gehen mit dem Ziel, bürgerschaftliches Engagement interkulturell zu öffnen und zu stärken‛. Das ist sehr viel an gesellschafts- und kommunalpolitischen Engagement für eine Bundesbehörde, deren Fachaufsicht bei Bundesministerium des Inneren liegt. Dieses Ministerium ist mit seiner Konzentration auf Sicherheitspolitik und Gefahrenabwehr zweifelsohne keine Welcome-Behörde. Selbst wenn dieses hilfreiche, eher kommunikative, servicefreundliche und vernetzungsfreudige Willkommensevangelium ankommen würde, dann wäre damit erst eine erweiterte und funktionierende Willkommenstechnik bei Unternehmen, bei Ausländerbehörden, bei Kommunalverwaltungen und vielleicht auch bei engagierten Bürgervereinen erreicht, jedoch noch keine Willkommenskultur im Land. Wenn man nämlich bei dem Begriff Willkommenskultur nicht die erste Hälfte, also das Willkommen, sondern die zweite Hälfte, die Kultur, betont, dann ergibt sich nach wie vor eine vielfach unbefriedigende Bilanz; denn Mentalitäten ändert man nicht durch freundliche Umgangsformen allein. Zu Kultur gehört mehr als die freundliche Begrüßung neuer Gäste. Sie werden bald entdecken, was es außer den netten Gesten am Hauseingang noch so alles gibt in diesem unheimlichen Haus Deutschland: Da gibt es, längst nicht mehr nur im Osten der Republik, expandierende neonationalsozialistische Nogo-Areas, vor denen heute selbst der Bundespräsident warnt. Dort, aber auch andernorts in der Republik gibt es Diskriminierung und sogar Alltagsterrorismus mit alltäglichen Bedrohungen von sogenannten Fremden mit oder ohne deutschen Pass und auch von deutschen, aber politisch-weltanschaulich andersdenkenden sogenannten ‚Gemeinschaftsfremden‘, wie man das bereits im Nationalsozialismus nannte.
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Ich erinnere an jenen ehrenamtlichen Bürgermeister, der vor einigen Tagen sein Amt aufgegeben hat, weil er von Rechtsradikalen bzw. Neo-Nationalsozialisten bedroht worden ist und kann nur sagen: Wenn mir jemand vor einem halben Jahrhundert, als ich rund zwanzig Jahre alt war, gesagt hätte, dass in fünfzig Jahren wieder Nationalsozialisten auf deutschen Straßen demonstrieren und ganze ländliche Regionen unter ihre Kontrolle bringen könnten, dann hätte ich gesagt, das sei politisch geschmacklose Science-Fiction. Aber unsere Gegenwart ist nun mal kein Fake, sondern die reale Zukunft jener Vergangenheit, in der man sich das nicht hätte vorstellen können. Und weil sie kein Fake, sondern Realität ist, müssen wir uns kritisch mit ihr auseinandersetzen. Die politische Inszenierung der vielbeschworenen Willkommenskultur hat überdies auch eine indirekte gruppenbezogene Selektionsfunktion. Sie macht unausgesprochen klar, dass Gruppen von Zu- und Einwanderern wenig oder gar nicht erwünscht sind, die nicht zu den Adressaten der Willkommenskultur zählen und nicht mit Willkommensgrüßen bedacht werden, sondern mit einseitigen Anpassungsforderungen im sogenannten Integrationsland: die Nachfahren der sogenannten Gastarbeiterbevölkerung zum Beispiel oder die sogenannten Armutswanderer, nicht selten auch Flüchtlinge und Asylsuchende; ich sehe hier ab von der breiten und spontanen bürgergesellschaftlichen Willkommensbewegung, die nichts mit der staatlich intonierten sogenannten Willkommenskultur zu tun hat und doch oft damit verwechselt wird. Und schließlich richtet sich Willkommenskultur in der staatlichen Inszenierung auch nicht oder nur kommunikations- und vernetzungstechnisch an die Adresse der Mehrheitsbevölkerung. Der Einwanderungsgesellschaft, die Mehrheits- und Einwandererbevölkerung einschließt, fehlt für eine tragfähige Willkommenskultur bis heute eine entscheidende Klammer, an die zuletzt Naika Foroutan erinnert hat: Es ist ein Zusammenhalt stiftendes Selbstbild einer demokratischen Einwanderungsgesellschaft. Dazu gehört einerseits das Mehrheits- und Einwandererbevölkerung verbindende Bekenntnis zum Wertekodex des Grundgesetzes und andererseits die große Erzählung als Grundlage der gemeinsamen Erinnerungen und der Selbstbeschreibung, also das, was Naika Foroutan die ‚große Narratio‛ nennt. Ich würde das mit dem französischen Kulturphilosophen Vincent Celebes das ‚große Palaver‛ nennen. Große Narratio und Großes Palaver verankern Migration und Integration im Selbstbild der Gesellschaft als Zusammenhalt fördernde konstitutive Elemente der Entwicklung von Bevölkerung, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur. Das bietet eine Basis für die erwähnte aktive Akzeptanz von kultureller Vielfalt als Conditio Humana, als Lebens- und Überlebensbedingung der Einwanderungsgesellschaft. Hilfreich dazu ist die Kenntnis der längeren Linien der deutschen und europäischen Geschichte, in der sich ständig Menschen über Grenzen und oft auch Grenzen über Menschen bewegten. Deswegen sind die Initiativen für ein
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Migrationsmuseum, zumindest aber für eine stärkere Berücksichtigung der Bereiche Migration und Integration in den Museen so wichtig. Ein so oder ähnlich fundiertes visionäres Selbstbild der Einwanderungsgesellschaft sollte in allen öffentlichkeitswirksamen Bereichen vermittelt und gelebt werden, also von den Kindertagesstätten über Schulen, Betriebe und Museen bis zur kultursensiblen Altenpflege, lebensgeschichtlich betrachtet also von der Kitapädagogin bis zum Friedhofsgärtner. Um das Große Palaver ergebnisorientiert und nachhaltig zu strukturieren, könnten auf der Bundesebene eine Leitbildkommission nützlich sein, über die die Integrationsbeauftragte Aydan Özoguz derzeit nachdenkt, oder die von der Jungen Islamkonferenz ins Gespräch gebrachte Enquete-Kommission. Zu all dem ist viel Vermittlungs- und Überzeugungsarbeit nötig. Politik hat, allem Gesäusel um ein neues Einwanderungsgesetz zum Trotz, ihre gesellschaftspolitische Bringschuld in dieser Hinsicht offenbar noch immer nicht eingestanden. Gelebte Willkommenskultur muss also mehr sein als eine nette Verbindung von attraktiver Außenwerbung und freundlichen Begrüßungsritualen am Hauseingang. Denn das wäre nichts anderes als jene utilitaristische Willkommenstechnik, wie sie von PR-Agenturen mit ihren Werkzeugkoffern angeboten wird. Im Gegensatz zu Willkommenstechnik muss Willkommenskultur auch das Innenleben im Haus verändern, also das Verhältnis der Mehrheitsbevölkerung gegenüber der Zuwandererbevölkerung, die zum Teil schon mehrere Generationen hier lebt. Das gilt vor allem für den Umgang mit den Einwanderern aus der früher sogenannten Gastarbeiterbevölkerung und insbesondere mit den immer wieder angerempelten muslimischen Familien türkischer Herkunft. Der Weg zu gelebter Willkommenskultur ist also noch weit. Solange er nicht kraftvoller beschritten wird, bleibt die Inszenierung von Willkommenskultur, als Surrogat für teilhabende Gesellschaftspolitik, ein aktueller Beitrag zum alten Märchen von des Kaisers neuen Kleidern.
4. Zehn Schlussthesen zum „Großen Palaver“ über Willkommenskultur Die Entwicklung einer Willkommenskultur ist ein wichtiger und nötiger Spurwechsel (zur Vermeidung des Geredes vom ‚Paradigmenwechsel‛) im politischen und öffentlichen Diskurs, jenseits von den sehr konkreten und erfolgserprobten Diversity-Konzepten für Unternehmen, Verwaltung und Behörden. Im Gegensatz zu erprobten Formen der kommunikativen Willkommenstechnik ist Willkommenskultur als gesellschaftspolitisches Konzept noch ein wolkiger Orientierungsrahmen mit verschwimmenden Konturen und erheblichem Verbesserung- und Ergänzungsbedarf.
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Dazu zehn Thesen: Erstens: Willkommenskultur ist ein politisch gewolltes, top-down gestiftetes Elitenkonzept (Friedrich Heckmann). Bottum-up hingegen wächst Kultur- und Fremdenangst, die durch Willkommenskultur geschönt, aber nicht aufgefangen werden kann. Zweitens: Willkommenskultur ist ein demo-ökonomisch motiviertes Förderungsprogramm für qualifizierte Zuwanderung und ölt als solches in erster Linie die bedarfsorientierte, das heißt arbeitsmarktorientierte und vorwiegend arbeitgeberorientierte Eingliederungsmaschinerie für qualifizierte Neuzuwanderungen. Drittens: Willkommenskultur kommt meist nicht über Willkommenstechnik mit freundlichen Eingliederungshilfen für erwünschte Neuzuwanderer hinaus; abgesehen von einzelnen kommunalpolitischen Initiativen und zurzeit erprobten amtlichen, aber über die behördliche Dimension hinausgreifenden Konzepten, wie dem erwähnten Großkonzept des BAMF. Viertens: Die politische Inszenierung von Willkommenskultur hat auch eine indirekt gruppenbezogene Selektionsfunktion. Fünftens: Willkommenskultur für Neuzuwanderer geht an der schon mehrere Generationen im Land lebenden Einwandererbevölkerung vorbei. Sechstens: Willkommenskultur hilft zugleich wenig gegen angstgeborene Abwehrhaltungen gegenüber Zuwanderern und Asylsuchenden in der Mehrheitsbevölkerung, denn: Mentalitäten ändert man nicht durch freundliche Umgangsformen allein. Siebtens: Programme für Willkommenskultur funktionieren vielfach wie appellativ formulierte sozialtechnologische Konzepte der Integrationspolitik (Stichwort ‚Integrationsland‛) im Vorfeld der für die Einwanderungsgesellschaft nötigen teilhabeorientierten Gesellschaftspolitik für alle, ob mit oder ohne den sogenannten Migrationshintergrund. Achtens: Trotz insgesamt verhalten zunehmender Akzeptanz von Zuwanderung und kultureller Vielfalt fehlt in der Einwanderungsgesellschaft ein konsensuales und inklusives Selbstbild mit kollektiven Erinnerungen an kulturelle Herkunft und Zusammenwachsen von Mehrheits- und Einwandererbevölkerungen und mit Visionen für eine gemeinsame Zukunft (Stichwort: Große Narratio von Naika Foroutan). Willkommenskultur als Elitenkonzept von ‚oben‛ ist kein Ersatz dafür.
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Neuntens: Unzureichende teilhabeorientierte Gesellschaftspolitik für alle und ein Mangel an einem konsensualen und inklusiven Selbstbild der Einwanderungsgesellschaft könnten auf die Dauer zu erheblichen gesellschaftlichen und politischen Problemen führen: In Kreisen der Einwandererbevölkerung, besonders unter Einwanderern der zweiten, dritten oder schon vierten Generation, könnte das schon verbreitete und begründbare Gefühl unzureichender Akzeptanz und fehlender Teilhabechancen zu Rückzug, Protesthaltungen oder Flucht in die Radikalisierung führen. In Kreisen der Mehrheitsbevölkerung könnte die Angst ,Fremde im eigenen Land‛ zu werden, wachsen, eine Angst, die Aggression gegen vermeintliche sogenannte Überfremdung durch Zuwanderung auslösen kann. Daraus resultierende Spannungen könnten zusammen mit zusätzlichen von innen (‚Islamkritik‛) und außen (‚Islamischer Staat‛ u.a.) geförderten sozialen und kulturellen Ängsten den sozialen und kulturellen Frieden in der Einwanderungsgesellschaft gefährden. Zehntens: Wir könnten auf der diskursiven Suche nach einer inklusiven konsensualen Großen Narratio mit dem französischen Kulturphilosophen Vincent Cespedes über den Verlust unserer Fähigkeit nachdenken, „Kollektive zu bilden“. Vielleicht sollten wir mit ihm von afrikanischen Kulturtechniken vor der islamischen Überformung lernen und versuchen, den ‚Zaubertrank‛, so schreibt er, zu entdecken, mithilfe dessen man das kollektive „Wir“ wiederfinden kann. Cespedes meint damit das vorkoloniale alte afrikanische ‚Große Palaver‛. Es konnte sehr lange dauern und musste mit konsensualen und inklusiven Leitorientierungen enden. Die standen dann für alle Beteiligten nicht mehr zur Disposition, bis vielleicht ein neues Großes Palaver entstand, an dessen neue Postulate man sich dann wiederum zu halten hatte. Ich bleibe insgesamt verhalten optimistisch, dass wir auch die Gefährdungen des kulturellen und sozialen Friedens in der Einwanderungsgesellschaft abwenden können – gerade wenn wir nicht alles etatistisch an die politische Gestaltung adressieren. Die bundesweite Willkommensbewegung zur Hilfe für und zur Begleitung von Flüchtlingen und Asylsuchenden ist für mich in diesem Feld ein ermutigendes Beispiel, auch in der Zusammenarbeit mit kommunalen Ämtern, und zugleich ein demonstratives Votum sowohl gegen regierungsamtliches konzeptionelles Ungenügen als auch gegen rechtspopulistische Fremden- und insbesondere Flüchtlingsfeindlichkeit. In diesem Zusammenhang betreibt auch die OBS ein vorbildhaftes Programm, dass man hier gut einklinken könnte, gerade wenn es jetzt zunehmend darum geht, die Themen Flüchtlinge und Asyl einerseits und Ausbildung und Arbeitsmarkt andererseits auf eine für alle Beteiligten förderliche Art und Weise zusammenzubringen. Bei der OBS liegen umfangreiche Erfahrungen dazu
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vor. Man müsste sie nur abrufen – und schon könnten die erprobten operativen Konzepte der OBS anspringen. Hoffen wir in diesem Sinne das Beste für die anstehenden Aufgaben und für die OBS.
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Das Versprechen der Integration
Levent Tezcan Das Versprechen der Integration Eine kritische Reflexion auf die Begrifflichkeiten und ihre Wirkung Der vorliegende Essay basiert auf einem Vortrag, der in einer Zeit gehalten wurde, die, im Rückblick betrachtet und stark überzeichnet als das ‚goldene Zeitalter‘ des Multikulturalismus in Deutschland in Erinnerung bleiben dürfte – trotz Gegenwürfen a la Sarrazin. Diese Phase möchte ich auf die Zeitspanne datieren, die mit dem Zuwanderungsgesetz bereits eingeläutet worden war und in den letzten Jahren ihren Höhepunkt erreichte, dann aber mit den jüngsten Fluchtbewegungen einen vorläufigen Abschluss fand. Man kann durchaus die These vertreten, dass ein zumindest dem Geist nach defensiver Umgang mit der Migrationsthematik einer offensiven Politik Platz gemacht hatte. Dieser optimistische Zeitgeist schlug sich vielerorts, so zum Beispiel auch in der Einladung der Otto Benecke Stiftung e.V. zum 19. Forum Migration, nieder, in der zu lesen war: „Eine zukunftsweisende Migrations- und Integrationspolitik berücksichtigt alle Mitglieder der Gesellschaft und zielt darauf ab, möglichst Allen gleichberechtigte Teilhabemöglichkeiten zu eröffnen. Diese Entwicklung ist das Ergebnis eines allmählichen Perspektivwechsels, der Migrantinnen und Migranten im Land willkommen heißt. Integration entwickelt sich zur Partizipation, die zivilgesellschaftliches Engagement für ein gemeinsames Zusammenleben aller Bürgerinnen und Bürger einfordert.“ (Otto Benecke Stiftung e.V. 2013)
Drei Punkte umreißen den angestrebten Wandel: Es wird eine „Willkommenskultur“ gefordert, für die es vielerorts bereits Anzeichen gab; diese soll den Weg für ein „Zivilgesellschaftliches Engagement aller Bürgerinnen und Bürger“ vorbereiten, welches dann die herkömmliche Integrationspolitik hin zu einer Teilhabepolitik übersteigt. Diese Gedanken tauchten bereits in der Petition des Rates für Migration vom 1. Oktober 2013 auf, in der ein „Wandel von der herkömmlichen, durch die Entfaltung der Einwanderungsgesellschaft überholten ‚Integrationspolitik‘ für ‚Migranten‘ zu einer teilhabeorientierten Gesellschaftspolitik für alle“ gefordert wurde. (Rat für Migration 2013) Eine frühere Version eines solchen kritischen Strebens nach Wandel war mit Blick auf die Integrationsforderung pointierter. Mit der Initiative Demokratie
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statt Integration erklärten die Unterzeichner Integration gar zu einer „Feindin der Demokratie“. Denn Integration heiße, „dass man Menschen, die in diesem Land arbeiten, Kinder bekommen, alt werden und sterben, einen Verhaltenskodex aufnötigt, bevor sie gleichberechtigt dazugehören. (Netzwerk Kritische Migrations- und Grenzregimeforschung 2012) Eine Integrationspolitik, deren Fehlen zuvor in der öffentlichen Debatte beanstandet wurde, war in der Tat dezidiert auf die Migranten hin ausgerichtet. Offenbar genügte eine solche Politik, die die Migranten als Gegenstand spezifischer Maßnahmen adressierte, dem Stand der Entwicklung nicht mehr. Gefordert wurde nunmehr eine Gesellschaftspolitik, deren vornehmliche Sorge der Gewährleistung der Teilhabe für alle zu gelten habe. Ob die mit vollem Pathos angemahnte Abkehr von Integration hin zur Teilhabe die Rede von Integration tatsächlich obsolet macht oder eine gewisse, unaufhebbare Spannung zu ihr aushalten muss, bleibt eine Frage, die uns hier beschäftigen wird. Um die These von der bis vor kurzem vorherrschenden positiven Stimmung zu unterstreichen, kann man die Integrationsoffensive der Bundesregierung nennen, gefolgt von der Deutschen Islamkonferenz, die spezifisch auf Muslime ausgerichtet ist.1 Es lassen sich zudem etliche lokale Projekte in den kommunalen Integrationskonzepten hinzurechnen.2 Nicht aber die einzelnen Projekte oder Initiativen allein sind es, die das Prädikat erlauben, sondern der Geist, der möglicherweise die große Willkommensoffensive gegenüber den jüngsten Fluchtbewegungen mitgetragen hat. Die umfassende Integrationsoffensive wird bespickt mit der Beteuerung von Diversität. Der Begriff der Diversität trägt eigentlich bereits die Spuren eines Unwohlbefindens gegenüber dem Integrationsbegriff; beide mögen sich in der politischen Praxis nicht ausschließen, tauchen gar gemeinsam auf. Sie stehen aber auch – zumindest in der wissenschaftlichen Debatte – in einem Spannungsverhältnis zueinander. Im rasenden Wettlauf auf dem Begriffsmarkt tauchen allerdings unablässig weitere Angebote (wie zum Beispiel die postmigrantische Gesellschaft) auf. Selbst wenn wir bei solchen Unternehmungen die Eigenlogik der wissenschaftlichen Begriffsakrobatik abziehen, die darauf aus ist, Marktanteile in der akademischen Welt zu sichern, bleibt noch ein Stück Sachwert der Begriffsverschiebungen übrig. Dieser dürfte mit der Heterogenität und Dynamik des Phänomens Migration zu tun haben, worauf es mir u.a. ankommt. Ich werde im Folgenden, die alternativen Konzepte einbeziehend, hauptsächlich die Spannung diskutieren, die der zwischenzeitlich in Kritik geratenen 1
Genau deswegen bleibt aber die Islamkonferenz ein für mich partiell umstrittenes Projekt (vgl. Tezcan 2012).
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Im gleichen Sinne und mit mehr Indikatoren für diesen Wandel: Pries 2013. Das Jahresgutachten des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration 2016 unterstreicht eine positive Wahrnehmung des Zusammenlebens.
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Integrationsforderung innewohnt. Die Betonung dürfte auf ‚zwischenzeitlich‘ liegen, da die immense Aufgabe, über eine Million Menschen überhaupt einigermaßen menschenwürdig unterzubringen, den Bedenken gegenüber dem Integrationsgebot ein rasches Ende bereitet haben dürfte. Warum wurde aber das Integrationskonzept den Umständen nicht ganz gerecht? Kann man sich vom Begriff Integration ohne Verlust verabschieden? Wie soll man überhaupt mit der Integrationsfrage umgehen? Auch konkretere Fragen wären zu stellen: An wen richtet sich die Forderung, worauf bezieht sie sich? Welche Implikationen trägt sie? Diese Fragen lassen sich jedoch nicht beantworten, ohne dass die jüngsten Fluchtbewegungen und die Amok-Terror-Anschläge mit in Rechnung gestellt werden. Denn es sind diese beiden Ereignistypen in ihrer Kombination, die der schönen Ära der Integrationsdebatte ein zumindest vorläufiges Ende gesetzt haben. Nach einer Reihe terroristischer Amokläufe und Anschläge wie in Würzburg, Paris und Brüssel sowie massenhafter Übergriffe, wie in der Kölner Silvesternacht, muss jede Debatte, die sich seitdem um die Themen Migration, Vielfalt, Multikulturalität, Integration etc. dreht, mit der Katerstimmung fertigwerden, die sich auf den liberalen Geist Europas gelegt hat.
Reise der Menschen, Reise der Kategorien Menschen migrieren – seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte. Die Frage, ob jede grenzüberschreitende, auf Dauer ausgerichtete Bewegung der Menschen von den Betroffenen als Migration beschrieben wird, ist nicht unerheblich. Die Bezeichnung Migration selbst erfolgt aus einer spezifischen Perspektive, wie dies überhaupt für jede Art von Beschreibung gilt. Es versteht sich nicht von selbst, dass eine Gruppe der Zugereisten als Migranten bezeichnet wird. Sie können aus einer anderen Perspektive heraus genauso gut als erwünschte oder aber auch unerwünschte Gäste, ja gar als Eindringlinge bezeichnet werden. Der Streit um die begriffliche Alternative Einwanderer/Zuwanderer vermittelt einen Eindruck davon. Der Titel Migrant markiert somit bereits eine Etappe in der Reise der Hinzugekommenen, in der ihre dauerhafte Existenz durch die Etablierten gewissermaßen akzeptiert worden ist. Mit anderen Worten: es handelt sich dabei nicht um eine deutungsneutrale Feststellung. Mit Migrant verleiht das postheroische Gemeinwesen einen emphatisch niedrigschwelligen Zugehörigkeitsstatus. ‚Niedrigschwellig‘ gewählt wurde er nicht deshalb, weil dieser Status von geringer Bedeutung wäre, sondern weil jede emphatische Zugehörigkeitsofferte schnell unter den Verdacht geriete, in die Zeiten des nationalistischen Pathos zurückzufallen. Kurzum und ohne Häme, ein durchaus hohes Gut für die Gegenwartsgesellschaft in Europa. Dies wird deutlicher, wenn man sich die Reise der Begriffe, die zuvor die Fremden bezeichnet haben, Revue passieren lässt.
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Die Geschichte der Migration erzählt nicht bloß von einer geographischen Reise. Sie ist zugleich eine semantische Reise. Im Nachkriegsdeutschland (analog auch in anderen europäischen Ländern wie zum Beispiel den Niederlanden) beginnt diese Reise der Fremden als ‚Gastarbeiter‘ und führt zum ‚Ausländer‘, der dann noch einmal nach nationaler Herkunft differenziert wird. Zwischenzeitlich werden Tramper (Flüchtlinge) mit auf die Reise genommen, zeitweilig können die letzteren gar die größte Gruppe der Neuankömmlinge bilden, wie es zurzeit des Jugoslawienkriegs oder derzeit wieder der Fall ist. Erinnern wir uns an die 1950er und -60er Jahre: Der dominante Typus des Fremden ist der Gastarbeiter. Er steht zunächst als ökonomisches Wesen, als Arbeitskraft im Zentrum der Aufmerksamkeit. 3 Das bestehende Migrationsregime ist die Rotation; sie konnte aber, wie längst hinreichend bekannt, nicht lange funktionieren. Da die Klasseninteressen nicht immer gegensätzlich sein müssen, trafen hier die Interessen der Wirtschaft, angelernte Arbeitskräfte längerfristig zu behalten, die Interessen der Gastarbeiter, stabile Arbeitsperspektiven zu entwickeln, und der Bedarf der deutschen Bevölkerung nach Arbeitskräften zusammen. Erinnern wir uns weiterhin an die Zeit ab den 1970er Jahre: Der dominante Typus des Fremden ist nunmehr der Ausländer. Selbstverständlich waren auch die Gastarbeiter Ausländer. Sie lebten aber meist in Werksunterkünften, waren also noch kaum präsent in den Lebenswelten außerhalb des Arbeitsplatzes und der immer flüchtigen Präsenz auf dem Markt. Bald verließen sie diese Unterkünfte und holten ihre Familien nach. Sie gelangten nicht mehr nur als Arbeitskraft ins Blickfeld. Es standen vielmehr Fragen zum Aufenthalt, Wohnen und zur Arbeit im Zentrum, aber auch die interethnischen Beziehungen bekamen eine neue Qualität, wo die sozialen Verkehrskreise zwischen den Einheimischen und Zugereisten sich im Alltag regelmäßig überschnitten. Unterschiedliche Sitten und Bräuche existieren nicht immer ohne Spannungen nebeneinander, sie werden auch nicht notwendigerweise unter allen Umständen als ‚kulturelle Bereicherung‘ erfahren. Man muss die Bedeutung der ‚Kultur‘ (ein mächtiges Wort, das man äußerst vorsichtig aussprechen sollte) nicht überstrapazieren, indem man sie zu einem alles erklärenden Konzept erhebt. Man sollte sich aber auch nicht umgekehrt vollkommen kulturneutrale ‚soziale Ursachen‘ ausdenken, die dann als die ‚eigentlichen‘ Ursachen alle anderen Erklärungen in den Hintergrund treten lassen. Um dem grassierenden Kulturalismus entgegenzuwirken, ist mittlerweile ein ebenso mächtiger Ton im 3
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Diese Feststellung wird es später gar zu einem negativen Mantra schaffen – vollends mit klagendem Ton, wie dies in der Integrationsdebatte seit eh und je der gute Brauch ist, von welcher Seite die Klage auch kommen mag: als Klage über die mangelnde Integrationsbereitschaft der Betroffenen oder als Klage gegen die Diskriminierung. Der klagende Ton soll mit diesem Hinweis hier keineswegs skandalisiert werden. Dass er im Sinne der Kritik sehr wohl produktive Effekte haben kann – in beide Richtungen –, sei hier nicht bestritten.
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Integrationsdiskurs zur Gewohnheit geworden, der die ganze Problematik des Zusammenlebens auf die Aspekte Wohnen, Arbeit und Bildung beschränkt, als würde sie sich bei entsprechender Versorgung von alleine erledigen.4 Bald standen die Ausländerkinder im Zentrum des Interesses, vor allem in den Schulen – dort kam auch der Begriff Integration in einem besonderen Maße zur Anwendung. Wo das Rotationsprinzip nicht mehr griff, tauchte aus verständlichen Gründen ein Integrationsdiskurs auf. 5 Der allgemeine Begriff des Fremden erhielt dabei schnell Konturen. Die ethnische Herkunft (Türke, Italiener, Grieche, Spanier, Jugoslawe, um die dominanten Volksgruppen zu nennen) steuerte nunmehr die Selbst- und Fremdbeschreibung. Bald erwies sich die Kategorie des Ausländers ebenfalls als unzureichend. Mit der Zunahme von Einbürgerungen ist dem Begriff zunächst die rechtliche Grundlage abhandengekommen, später die alltägliche Selbstverständlichkeit. Wenn immer mehr Zugewanderte deutsche Staatsbürger sind, und immer mehr Kinder mit ‚Migrationshintergrund‘ zum normalen Bild der Lebenswelten gehören, dann ist es schwierig die Kategorie des Ausländers auf Dauer für die gemeinte Gruppe aufrechtzuerhalten. Eine solche Veränderung fällt nicht einfach vom Himmel. So etwas geschieht oft mithilfe alternativer Konzepte. Stimmen, die nach einem Einwanderungsgesetz verlangten und die Politik dazu aufriefen, endlich das Faktum anzuerkennen, dass Deutschland schon längst ein Einwanderungsland geworden ist, wurden lange Zeit nicht gehört – obwohl etwa Klaus J. Bade seit vielen Jahren unermüdlich darauf hingewiesen hatte. Da nun die Kinder der Gastarbeiter dank der sozialen Mobilität in relevante, auch akademische Positionen aufrücken, in denen über nichts mit so großer Leidenschaft gestritten wird wie über Kategorien, wird der Status ‚Ausländer‘ auch in gesellschaftspolitischer Hinsicht gewissermaßen neutralisiert. Er wurde folglich primär auf den staatsbürgerlichen Aspekt, also auf eine juristische Angelegenheit, beschränkt. Mit dem Zuwanderungsgesetz ersetzte schließlich auf diesem gut bestellten Boden rasch die Kategorie Migrant den Ausländer. Es ist schon erstaunlich, wie schnell ein derart festetablierter, scheinbar mit Ewigkeitsgarantie besiegelter Begriff wie Ausländer seinen Platz dem Migranten räumen konnte. Man kann diesen Wandel überall beobachten: Aus Ausländerbeiräten wurden Migrantenräte; aus 4
Ich will kritisch darauf hinweisen, dass dieser Ansatz paradoxerweise den Menschen ihre Würde nimmt, als Subjekte ernstgenommen zu werden, die Visionen, Hoffnungen, aber auch Ängste und Feindseligkeiten, kurzum einen Komplex von Emotionen, Affekten, Überzeugungen haben können, die zwar der Wechselwirkung der genannten ‚sozialen‘ Faktoren ausgesetzt sind, aber durchaus auch einen Eigenwert besitzen. Als Person gewürdigt wird Jemand gerade dann, wenn man ihn mit seinen Taten und Schwächen konfrontiert und ihn dafür zur Rechenschaft zieht.
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Für Gastarbeiter brauchte man keine sonderlichen Integrationsanstrengungen; wenn überhaupt, dann eher Maßnahmen, die ihre Reintegration in das Heimatland erleichtern sollten.
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Ausländerbeauftragten Integrationsbeauftragte etc. Auch in der Wissenschaft ist der Trend unverkennbar. In den 1990er Jahren wurde emsig Ausländerforschung betrieben. Heute kaum mehr, dafür haben wir die Migrationsforschung allenthalben.6 Erstaunlicher ist aber, dass der Begriff auch aus dem ansonsten wandelresistenten Volksmund verschwunden ist. Hat sich vielleicht dafür ein ebenso effektiver Ersatz finden lassen? Diese, zugegeben rhetorische, Frage ist mit Ja zu beantworten. In der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts tritt nun der Muslim als die Oberkategorie für die Gruppe von Türken und Arabern (und weniger Iranern und Bosniern) neben die zwar nicht bedeutungs-, aber wohl kulturneutral gewordene Bezeichnung Migrant. Er erringt dabei gar die diskursive Lufthoheit mit Bezug auf diese Bevölkerungsgruppen. Bereits der letztere, der Migrant, zeugte, wie schon erwähnt, vom Kampf um die Wirklichkeitsbeschreibungen und enthält neben dem nominalen Fingerzeig auf die Wanderbewegungen auch eine normativ-politische Dimension. Mit ihm wurde gewissermaßen der noch in den vorigen beiden Bezeichnungen (Gastarbeiter, Ausländer) wesentlich enthaltene Einspruch gegen eine dauerhafte legitime Präsenz zurückgewiesen und damit eine bestimmte Gesellschaftsvision bzw. eine bestimmte Realitätsbeschreibung markiert, von der wir annehmen dürfen, dass sie sich bis auf Weiteres in Deutschland durchgesetzt hat. Welche normativen Erwartungen transportiert, so müsste man nun weiterfragen, der Muslim, und mit diesem Begriff die neue Gestalt der Migrationsdebatte, wie sie zugleich über den Migrationskontext hinaus in der weltgeschichtlichen, politischen Arena auftauchte? Dieser Frage werden wir uns alle stellen müssen, und zwar ohne uns auf die einfachere, weil einseitige Variante der Antwort, die Islamfeindlichkeit lauten würde, beschränken zu dürfen.7 Der Schatten dieser Gestalt hat sich inzwischen auf die gesamte Migrationsdebatte gelegt. Wenn heute die Migrationsbewegungen in Europa problematisiert werden, dann bezieht sich ihre Ablehnung mittlerweile primär auf den Islam.8 Mit der Figur des Muslims bekommt die Integrationsdebatte zudem eine neue Dimension; die vormals eher abstrakte Referenz auf Kultur wird konkreter, lebenspraktischer. Jetzt rückt die Lebensführung ins Zentrum der Auseinandersetzun6
Wer diese eher märchenerzählerische Art der Beschreibung für lapidar hält, kann sie sich in einer wissenschaftlicheren Sprache zu Gemüte führen: Eppenstein und Kiesel 2008: 47–49; Mecheril 2010: 56–58); Bommes und Scherr 1990. Von dieser Literatur habe ich in meinem bereits erwähnten Beitrag (Tezcan 2014) ausführlich Gebrauch gemacht.
7
‚Islamfeindlichkeit‘ kann als ein inzwischen relativ gut etablierter Forschungsschwerpunkt betrachtet werden, bei dem allerdings wie oft bei solchen Themen, die das moralische Gemüt unmittelbar berühren, u. U. die Sorgfalt um die Erkenntnis beeinträchtigt werden kann (dazu meine Sammelrezension: Tezcan 2015).
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In den Vereinigten Staaten kommt den ‚Hispanics‘ eine ähnliche Rolle zu. Siehe dazu: Zolberg/Woon 2010. Inzwischen dürfte der ‚Muslim‘ den ‚Hispanics‘ auch in den USA Konkurrenz machen.
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gen, weil die Kultur nicht mehr als eine ‚zweite Natur‘ betrachtet wird, sondern als eine Angelegenheit der Überzeugung und des persönlichen Bekenntnisses erscheint, für die die Subjekte Rechenschaft abgeben müssen. Derzeit begegnet man einer massiven Islamphobie damit, dass man sich fast nur noch mit den in der Bevölkerung verbreiteten Islam-Bildern befasst. Dabei werden diese Bilder in der Forschung, die sich explizit als eine kritische versteht, lediglich als Projektionen gedeutet. Wir werden nicht umhin kommen, bestimmte Formen islamischer Lebensführung, die tatsächlich vorkommen, zu problematisieren.
Die unendliche Integration Ich werde hier die wissenschaftliche Integrationsdebatte nicht wieder aufrollen, sie darf hier als hinlänglich bekannt vorausgesetzt werden.9 Mein Beitrag zu dieser Debatte könnte darin bestehen, auf einige Eigentümlichkeiten des Integrationsgebotes aufmerksam zu machen, um einen pragmatischen Umgang damit zu entwickeln. Zweifellos ist Integration eigentlich eines der zentralen Themen der Soziologie seit ihren Anfängen, das sich in der Frage ausdrückte: Was hält die Gesellschaft zusammen? Implizit wird damit auch gefragt: Was treibt die Gesellschaft auseinander?10 Allerdings adressiert sie in dieser basalen Form nicht irgendwelche spezifischen, in der Regel marginalisierten Gruppen bzw. Minderheiten, die in eine Gesamteinheit zu integrieren wären, sondern der Zusammenhalt der Gesellschaft mit ihren Teilbereichen steht hier zur Debatte. Es wäre sinnvoll darüber nachzudenken, wie es dazu kommt, dass Integration inzwischen nahezu ausschließlich auf Einwanderer angewandt wird.11 Die erste Eigentümlichkeit ist, dass die Rede von Integration einem Defizitansatz folgt, wie dies gelegentlich moniert wird. Zur Korrektur dieses Defizitansatzes wird inzwischen vorgeschlagen, vielmehr auf Vorbilder zu schauen, anstatt stets von Mängeln auszugehen.12 Tatsächlich ist aber die Defizitorientie9
Die einschlägigste Konzeptualisierung von Integration scheint mir von Esser (1980) zu stammen. Die darauffolgenden Versuche sind meist (auch kritische) Kommentare, Fortschreibungen und Korrekturen daran, wenn sie das Integrationskonzept nicht sogleich als eine neue, subtilere Form von Ausschließungskategorie halten und den Begriff gänzlich aufgeben.
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Beiden Fragen thematisierte Wilhelm Heitmeyer in zwei aufeinander folgenden Publikationen (Heitmeyer 1997a) und (Heitmeyer 1997b).
11
Aus gegebenem Anlass möchte ich die Leser bitten, darauf zu achten, bei solchen Aussagen nicht sogleich eine (An-)Klage von mir über einen zu behebenden Missstand zu unterstellen, wie dies gewöhnlich in der Integrationsdebatte geschieht.
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Diese Wende schlägt sich in diversen Orten nieder, u.a. auch in dem von der Otto Benecke Stiftung organisierten Forum Migration 2005. (vgl. Reich et al. 2015: 218).
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rung im Integrationsdiskurs strukturell angelegt, sodass sie sich nicht ohne weiteres durch eine Wendung der Blickrichtung aufheben lässt. Andernfalls würde es gar keinen Sinn machen, von Integration zu sprechen; denn auf den kleinsten Nenner gebracht bedeutet sie nichts Anderes, als dass eine Gruppe, der es aufgrund ihres Status als Neuankömmlinge an bestimmten Qualifikationen oder Zugangsmöglichkeiten fehlt, Hilfe geleistet werden muss, damit sie auf den gleichen durchschnittlichen Stand kommt wie der Rest der Gesellschaft. Selbst da wo man von erfolgreichen Vorbildern spricht, hat man eigentlich bereits eine defizitäre Ausganslage implizit angenommen, von der sich nun einige mit vorzeigbarem Erfolg nach oben hin abgesetzt haben. Wir könnten zwar verlangen, dass die Integrationsforderung auch auf die deutschen Alteingesessenen angewandt werden soll. Schließlich geht es ja auch für sie meist um die gleichen Probleme, selbst bei den vorgeblich nur für die Neuankömmlinge geltenden Sprachprobleme, da z. B. ein funktionales Analphabetentum bei ihnen besteht. Dennoch wäre es schon abwegig, sich vorzustellen, dass das gesellschaftspolitische Integrationsgebot (nicht der wissenschaftliche Analysebegriff) sich derart neutralisiert in einen allgemeinen politischen Diskurs übersetzen ließe, in dem jegliche historisch gewachsene Selbstbeschreibungen im Namen eines abstrakten Menschentums aufgegeben würde. Ich bin daher der Ansicht, dass das eigentliche Problem bei der Rede von Integration nicht in der ihr innewohnenden, unausweichlich defizitorientierten Perspektive besteht. Die Integrationsdebatte kann nicht anders als von den Defiziten auszugehen, selbst wenn sie positiv die Erfolge der Migranten in den Vordergrund stellen sollte. Will man diese Feststellung nicht zum Anlass dazu nehmen, sich von dem Begriff gänzlich zu verabschieden, so sollte man das Problem vielmehr darin sehen, dass man vielleicht nicht genug spezifiziert, für welche Gruppen, welchen Zeitraum und welche Angelegenheiten der Integrationsbegriff in pragmatischer Absicht zur Beschreibung in Anschlag gebracht werden könnte. Das möchte ich im Schlusskapitel näher erläutern. Die zweite Eigentümlichkeit schließt an die erste an. Weil sich der Integrationsdiskurs unabdingbar mit defizitären Umständen zu befassen hat, prämiert er solche Sprecherpositionen, die mit (An-)Klagen auftreten. Er reizt die Teilnehmer geradezu dazu an, mit Schuldzuweisungen zu argumentieren. Hier sind die Diskurspositionen quasi vorgegeben: Auf der einen, migrantenskeptischen Seite wird bei jeder Abweichung die mangelnde Bereitschaft der Migranten angeprangert und ihre Bringschuld unterstrichen. Auf der anderen, migrantenfreundlicheren Seite der Diskurspositionen wird der Tendenz nach jedes Fehlgehen bis hin zu von Migranten begangenen Gewalttaten mit deren Diskriminierung erklärt und damit auch gewollt oder ungewollt entschuldigt. Die zweite Position wird zuweilen auch elaborierter formuliert, indem statt bloß von Diskriminierung dann von strukturellen Hindernissen gesprochen wird, die
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in dem binären Schema Gesellschaft-Einwanderer13 wiederum der Gesellschaft zugeschrieben wird; deren Schuld soll darin bestehen, diese Hindernisse (sprich: Diskriminierung) nicht abgeschafft zu haben. Gemeinsam ist den beiden entgegengesetzten Positionen allerdings die Schlussfolgerung, dass für die Integration nichts oder nicht genug getan worden ist. So wird ständig einhellig noch mehr Integration gefordert, wenn auch die Richtung der zu erbringenden Leistungen je nach Position jeweils als entgegengesetzte angezeigt wird. Dies führt uns auf die dritte, meines Erachtens wichtigste Eigentümlichkeit der Integrationsforderung: Die Integrationsforderung im Migrationskontext zeichnet sich durch eine Paradoxie aus. Integration muss die Gruppe der zu Integrierenden stets in ihrer Besonderheit als diese eine, von dem Rest der Gesellschaft differierte, Gruppe adressieren, obgleich sie genau das Gegenteil, nämlich die Aufhebung der besonderen Gruppe im Allgemeinen, vorsieht. Integration heißt also, darauf hin zu arbeiten, dass die eigene Integrationsarbeit überflüssig wird. Nämlich, dass die Gruppe der zu Integrierenden integriert ist, dass sie als diese eine hilfebenötigende Gruppe nicht mehr besteht, also nicht mehr auffällt. So wird, bis der Zustand der ‚vollendeten‘ Integration der Einwanderer eintritt, die Rede über Integration weitergehen müssen. Genau in dieser ständigen Thematisierung wird aber zugleich unterstrichen, dass diese Bevölkerungsgruppe noch kein normaler Bestandteil der Gesellschaft ist. Daher wird auch die Integration nie vollendet werden, sie kann im Grunde genommen nie ganz gelingen. Ich nenne das die ‚unendliche Integration‘. Hier ist zu bedenken, dass ich noch die unspezifische Rede von Integration fortführe, um die diskursiven Strukturen herauszustellen, in denen sie stattfindet.
Topographisch unbegrenzt Integration ist dabei nicht nur auf einer zeitlichen Achse unendlich. Sie zeigt sich auch in ihrer topographischen Struktur unendlich. Damit meine ich, dass sie sich nicht auf den einen oder anderen spezifischen Aspekt beschränkt, sondern sämtliche Bereiche des Lebens einbezieht, auch wenn der konkrete Gebrauch sich stets auf bestimmte Aspekte beziehen mag. Es bleibt immer ein Überschuss bestehen. So weitet sich denn auch die Integrationsforderung der Tendenz nach ‚unendlich‘ aus. Prinzipiell kann jedes Fehlgehen oder abweichendes Verhalten eines Migranten als Indikator für die mangelnde, noch nicht erfolgte Integra13
Ganz abgesehen davon, dass die hier gebrauchte Begrifflichkeit hinkt, da ihre Bestandteile zu unterschiedlichen Ordnungen gehören. Einwanderer bezeichnet eine spezifische Bevölkerungsgruppe, während die Gesellschaft sich als das übergreifende soziale System auf einen Strukturzusammenhang bezieht. Ich folge hier diesem nicht adäquaten Gebrauch des Gesellschaftsbegriffs, der im Grunde genommen die Gruppe der deutschen Alteingesessenen meint.
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tion gewertet werden. Die Integration ist daher nicht nur ‚unendlich‘, sie bleibt auch gewissermaßen stets ‚unvollendet‘, da selbst der einmal erreichte Zustand, integriert zu sein, bei jeder einigermaßen ernsten Abweichung bestritten werden, wenn nicht gar verlorengehen kann: ‚Er/sie war nicht richtig integriert.‘ Das Leben des Einwanderers, dessen heterogene Momente sich aus der Integrationsperspektive heraus zu einer stimmigen Gesamtheit versammeln, wird folglich (zumindest potenziell) in einem Subtext danach beobachtet und beurteilt, inwiefern er sich integriert hat. Jede seiner Handlungen kann demnach zugleich unter dem Gesichtspunkt ihrer Einpassung in das vermeintliche, im gleichen Moment immer schon als homogen gedachte Ganze bewertet werden, und nicht in ihrem Eigensinn als diese spezifischen Handlungen, wie es für die Angehörigen der Alteingesessenen in der Regel der Fall ist: Eine Straftat ist in dem einen Fall lediglich eine Straftat. In dem anderen Fall ist sie eine Straftat und zusätzlich ein Indikator für die mangelnde Integration. Durch diesen Verdoppelungseffekt im Gebrauch des Begriffes Integration wird die besondere Lage der Einwanderer zugleich andauernd unterstrichen. Ein Einwanderer könnte, – wenn man die Integrationslogik in ihren Konsequenzen auf die Spitze treiben darf, – nicht einmal einfach ein Bier trinken, ohne dass dies als Indikator für den hohen Grad seiner Integration gedeutet werden könnte. In der kollektivierenden Perspektive der Integration ist ihm die bloße Freude am Genuss des Gerstensaftes aus strukturellen Gründen nicht vergönnt. Wenn der Deutsche Bier trinkt, tut er nur dies: er trinkt Bier. Wenn der (türkischstämmige) Migrant Bier trinkt, trinkt er nicht einfach nur Bier, sondern legt zugleich Zeugnis davon ab, dass er integriert ist. Diese Beschreibung lässt sich durchaus auch in weniger essayistischen, eher klassisch-soziologischen Sätzen formulieren. In seinem Aufsatz Interkulturelle Kommunikation in der Weltgesellschaft. Zur politischen Soziologie der Integration und Assimilation diskutiert der Soziologe Rudolf Stichweh (2010) die Konzepte von Integration und Assimilation. Die besondere Leistung, die ihm zukommt, besteht darin, diese Begriffe ihres überschüssigen Pathos entledigt zu haben. Integration definiert er mit Luhmann als Einschränkung von Freiheitsgraden des Verhaltens. Demnach verzichtet ein System (zum Beispiel eine Person) auf die volle Ausnutzung des gegebenen Verhaltensspielraumes, um mögliche Probleme mit den benachbarten Systemen zu vermeiden. Obwohl ihr ähnlich, tritt die Assimilation mit dem stärkeren Anspruch auf, eine „Personenveränderung im Kontext eines umfassenderen Bezugssystems“ herbeizuführen. Die Schlussfolgerung, die Stichweh aus dieser Erörterung zieht, ist, dass diese Begriffe eigentlich „relativ allgemeine Prozesse“ bezeichnen, die keineswegs auf Migranten beschränkt werden können. Diese „Normalität“ von Integration und Assimilation wird von Stichweh noch einmal betont, wenn er einen Rat an die Migranten gibt: „Wähle einige wohlüberlegte Integrationen, d.h. verzichte auf Verhaltensvarianten, die in der Interaktion von Person und Bezugssystem zu Konflikten und Un-
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lösbarkeiten führen könnten. Wähle aber auch einige Assimilationen, d.h., siehe einige Dinge vor, mit denen du dich so eng vernetzest, dass habitusbildende und persönlichkeitsverändernde Wirkungen eingeschlossen sind und auch angestrebt werden, und zwar deshalb angestrebt werden, weil man in ihnen eher die Chancen und die Zuwächse als die Risiken sieht. Und schließlich: Wähle auch einige ‚NichtIntegrationen‘, also Hinsichten, in denen du dich nicht einlassen willst, weil, wenn du dich auch noch auf diese Sachgehalte einlassen würdest, die Komplexität deiner Lebensführung zu Überforderungen führen würde.“ (Stichweh 2010: 203)
„Was ist aber das Migrantenspezifische daran?“, möchte man gleich einwerfen. Wie jeder Systemtheoretiker bevorzugt Stichweh eigentlich den Inklusion-Exklusion-Mechanismus zur Erklärung der funktional differenzierten modernen Gesellschaften, schließt aber die Augen vor den Effekten der „Semantik des Fremden“ nicht, die sich zur Funktionslogik der Systeme quer verhält. Er will uns genau diesen Umstand vor Augen führen. So dekonstruiert er sogleich seinen eigenen Ratschlag: „Wenn man den Rat an den Migranten in diesem Sinne formuliert, fällt jedem Beobachter unmittelbar auf, dass es sich gar nicht spezifisch um einen Rat für einen Migranten handelt, dass vielmehr die angeführten Gesichtspunkte, sofern sie überhaupt zutreffen, für die Lebensführung eines jeden von uns zutreffend sein werden.“ (204)
Plädiert Stichweh also etwa dafür, dass wir darauf verzichten sollen, Integration alleine auf die Migranten zu beziehen? Er löst dieses Problem nicht auf, und das sollte ihm hier keineswegs als Unzulänglichkeit oder mangelnde konzeptionelle Entschlossenheit angerechnet werden. Genau deshalb kann er uns helfen, den Verdopplungseffekt der Rede von Integration zu verstehen, um den es mir hier geht. Inhaltlich betont Stichweh die Normalität dieser Prozesse für alle Bevölkerungsgruppen, die erklärt, warum es nicht einleuchten würde, dass denn Integration primär auf die Migranten bezogen sein soll, warum überhaupt Integration besonders hervorgehoben werden soll. Dennoch zeugt seine Ausführung zugleich performativ davon, dass die vermeintliche Normalität erst über einen Umweg bestätigt werden kann, in dem die Hypothese einer grundsätzlichen Nicht-Normalität erst artikuliert wird, um sie sogleich zu widerlegen. Man muss also an die Integrationsrede anknüpfen, um die grundsätzliche Normalität der Situation der Migranten in einer spezifisch an sie gerichteten Rede zu unterstreichen. Darin enthüllt Integration ihre Natur, dass sie alles, was sie anfasst, verdoppelt.14 14
Diese Paradoxie lässt sich auch deshalb nicht auflösen, weil daran ebenfalls Migranteninteressen gebunden sind. Es ist ungemein schwer, ein bestehendes Integrationsprogramm mit der Begründung abzuschaffen, dass die spezifische Unterstützung
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Nun habe ich eventuell die in einigen akademischen Kreisen gegenüber dem Integrationsbegriff ohnehin bestehende Skepsis auf die Spitze getrieben. Es wäre also konsequent, den Schluss zu ziehen, dass man sich von ihm verabschieden sollte. Warum nicht einfach nur von Teilhabe sprechen, deren Begriff sich doch über jegliche differenzsetzende Klassifizierung der Bevölkerungsgruppen hinausbewegt? Die Folgerungen, die sich aus der oben vorgenommenen Beschreibung ergeben, sollte man dennoch nicht voreilig in eine Richtung ziehen.
Alternative Ansätze Die Problematisierung der Integration, wie ich sie oben unternommen habe, weckt Begehrlichkeiten, sich nach Alternativen umzuschauen. Tatsächlich gibt es alternative Beschreibungen. Inklusion ist jedenfalls eine alternative Analysekategorie, die von der Idee ausgeht, dass die moderne Gesellschaft ohne eine übergreifende Integration auskommt. Es gibt stets systemspezifische Ein- und Ausschließungen. Und es werden nicht die Menschen inkludiert, sondern Funktionsrollen. Die systemtheoretischen Ansätze machen daher in der Regel keinen Gebrauch von Integration als analytischer Kategorie, können sie aber als eine Kategorie der Beobachtungen erster Ordnung in ihre Beschreibungen mit einbauen. Über die soziologische Debatte hinaus wird allerdings, soweit ich die Debatten überblicke, von dem Inklusionsbegriff mit Bezug auf Migranten kaum Gebrauch gemacht. Dies dürfte damit zusammenhängen, dass der Inklusionsbegriff zu sehr mit der Eingliederung von behinderten Menschen in die Institutionen identifiziert und damit ein Teil der (Behinderten-)Pädagogik ist. Hier taucht nicht mehr benötigt werde, weil die Zielgruppe sich auch ohne den Integrationsraum behaupten und entfalten könne. Dafür gibt es ein einschlägiges Beispiel: Kürzlich teilte die Robert-Bosch-Stiftung mit, die Literaturauszeichnung Adelbert-von-Chamisso-Preis abzuschaffen, mit der seit 1985 die Migrantenliteratur (also deutschsprachige Literatur der Migranten) gefördert wurde. Die Begründung der Stiftung, auf die sich zwei Preisträger mit Empörung beziehen, ist eigentlich plausibel: „Autoren mit Migrationsgeschichte haben heute grundsätzlich die Möglichkeit, jeden in Deutschland existierenden Literaturpreis zu gewinnen.“ (Trojanow und Oliver 2016). Die Autoren, wie erwähnt selbst Preisträger, werfen hingegen der Bosch-Stiftung Paternalismus vor, da diese die Migranten wie „ein Mündel, das es aufzupäppeln galt, und nun, da es wohlgenährt scheint und zu jedem Bankett eingeladen wird, … verabschiedet werden“ (kann). Es ist also keineswegs so, dass alle Migranten die Integrationspolitik loswerden wollen, wie es der eingangs zitierte Aufruf Demokratie statt Integration intendiert. Die ‚Wohlgenährten‘, die den ‚Paternalismus‘ ablehnen, welcher aber in der Konstruktion des Preises unvermeidlich ist, liefern eine weitere Begründung, die unsere Aufmerksamkeit verdienen sollte. Der Zeitpunkt sei demnach für die Abschaffung schlecht gewählt; an der genannten Stelle heißt es weiter: „Die mehr als eine Million Geflüchteten, die nach Deutschland eingewandert sind, werden eine eigene Literatur erzeugen.“ Das Integrationsgebot ist auch deshalb unendlich, weil stets neue Migrantengruppen hinzukommen, für die dann der gleiche Prozess wieder von vorne beginnt.
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der Defizitverdacht, der dem Integrationsansatz entgegengebracht wird, erneut auf, wobei zu fragen wäre, ob die pädagogische Inklusionsrede überhaupt von Defiziten spricht. Diversität ist eine weitere Kategorie, die aus den Engpässen einer Beschreibung herausführen soll, die dem Stand der gegenwärtigen Gesellschaften nicht gerecht werden.15 Der Ausgangspunkt der Diversitätsansätze ist die Beobachtung, dass die Gesellschaft sich aus unterschiedlichen sozialen, kulturellen, ethnischen und religiösen Gruppen zusammensetzt. Im Grunde genommen ist der Begriff eine Reaktion auf die alte, homogenisierende Sichtweise, in der stets die Gruppe der Einwanderer den Einheimischen gegenübergestellt wurde, wobei im gleichen Atemzug die beiden Gruppen automatisch als homogene Größen verstanden wurden. Diversitätsansätze, die eigentlich zunächst aus einer Makro-Perspektive heraus mit ‚Multikulturalismus‘ ansetzten, haben im Grunde die nichterzählten Geschichten der ethnischen, kulturellen, geschlechtlichen, religiösen u.a. Minderheiten ans Licht gebracht. Der Duktus dieser Ansätze scheint aber auch den offenbar peinlichen Umstand umgehen zu wollen, dass irgendeine Gruppe sich an irgendeine andere anzupassen habe. Es gibt stets unterschiedliche Lebensformen, -Stile, ethnische, religiöse, soziale Gemeinschaften in einer global vernetzten Welt. Der Blick richtet sich auf die Potenziale, die die diversen Gruppen mit sich führen. Diese unterschiedlichen sozialen Gruppen existieren nebeneinander oder in Interaktion miteinander, wobei diese keineswegs als konfliktfreie Beziehungen verstanden werden müssen. Der normative Hintergrund dieser Ansätze könnte so formuliert werden, dass Differenzen maximal anerkannt werden sollten. Die Spannungen lassen sich aber nach diesem Modell nicht in einem Integrationsdiskurs bearbeiten, weil damit die Annahme einer dominanten Gruppe, an der sich die Anderen zu orientieren hätten, mitschwingt. Was hier problematisiert wird, ist nicht nur die Gruppe der Migranten, sondern 15
Monika Salzbrunn liefert einen Überblick auf die Begriffsgeschichte und die wissenschaftlichen Ansätze (Salzbrunn 2014). Der Diversitätsansatz wurde vor allem von Steven Vertovec zu jenem der Migration bezogen (Vertovec 2014 und 2015). Später wird er das Konzept der Diversität auf die Superdiversität steigern (Vertovec 2011), die die innere Vielfalt der jeweiligen, vermeintlichen Einheiten betont. Thomas Faist hingegen plädiert für einen spezifizierten Gebrauch, bei dem zwischen unterschiedlichen Anwendungsebenen unterschieden werden soll: die gesellschaftspolitische Debatte zum Multikulturalismus, die Diversität in Organisationen und schließlich Diversität als Gesichtspunkt der Managementstrategien (Faist 2008, 2013). Er macht darauf aufmerksam, dass der Diversitätsansatz für die Migrationsforschung vor allem auf der zweiten Ebene, nämlich an den Organisationen operationalisiert werden kann und sollte. Nur so könne verhindert werden, dass der Diversitätsansatz ungewollt dazu diene, die Frage der sozialen Ungleichheit aus dem Blick zu verdrängen. Genau darauf macht denn auch Jörg Hüttermann aufmerksam, wenn er die Diversitätsansätze wissenssoziologisch auf die Weltsicht des mittelständischen Bürgertums zurückführt, das die urbane Vielfalt zelebriert und dabei die Marginalisierten gar nicht mehrwahrnimmt, für welche sich wiederum eher die Integrationsansätze interessieren (Hüttermann 2017).
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auch die Mehrheit, welche ebenfalls auf ihre interne Vielfalt hin expliziert wird. Insofern entspricht sie den postheroischen Beschreibungen der postnationalen Befindlichkeit besonders. Zu diesem Ansatz sei vermerkt, dass die in die Theorie eingebaute Distanz zum Integrationsansatz in den politischen Programmen, die mit Diversität arbeiten, einfach wegfällt. Hier werden die Begriffe Vielfalt, Diversität, Teilhabe und Integration unbekümmert, ja zu wechselseitiger Verstärkung, zusammen verwendet.16
Ernüchterung seit 2015 Seit 2015, dem Jahr, in dem Deutschland mit der großen Herausforderung konfrontiert war, eine Zahl von ca. einer Million Flüchtlingen aufzunehmen, scheint es so, als hätten wir im Migrationsdiskurs bis dahin ein wenig ‚Luxusdebatten‘ geführt und hätten mit einem Schlage in der unerfreulichen Realität ankommen müssen. Auf einmal besteht kein Zweifel mehr daran, dass Integration die bevorstehende, gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist und die Flüchtlinge schleunigst integriert werden müssen: d.h. dass die Integrationsforderung unbestreitbar an die Adresse der Flüchtlinge gerichtet werden müsse und nicht einfach alle gesellschaftlichen Bevölkerungsgruppen gleichermaßen und auf die gleiche Weise von den Ereignissen betroffen und Ansprechpartner der Forderungen seien. Niemand bestreitet es, dass wir hier ganz klar mit Defiziten zu tun haben, dass – offengesprochen – die Flüchtlinge einfach Defizite (welcher Art auch immer) haben, die möglichst schnell behoben werden müssen. Selbstverständlich wird auch auf die Potentiale der Flüchtlinge für die demographisch angeschlagene Republik hingewiesen. In dieser Situation kann die Rede von Diversität allerdings nicht (mehr) einen Diskurs entfalten, in dem das Etablierten-Außenseiter-Verhältnis etwa als irrelevant bezeichnet werden könnte. Die Diversität wird stattdessen defensiv eingesetzt, um jedenfalls den Eindruck zu entkräften, es würden nur Muslime, mit einer ganz bestimmten, konservativ- bis fundamentalistischen Orientierungen, ja gar viele Terroristen, nach Deutschland kommen. Die feine, theoretisch fundierte Differenz zwischen der Inklusion in die Funktionssysteme und der gesellschaftlichen Integration ist bis auf weiteres praktisch irrelevant geworden. Integration meint somit die Inklusion in die Systeme und mehr als das. Wir dürfen sogar froh sein, wenn wir von den Höhenlüften der ‚postmigrantischen Gesellschaft‘ nicht abrupt in die Debatten der Zeit der Gastarbeiter zu16
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Vollständigkeit halber müsste man auch auf den neuen Begriff der Postmigrantischen Gesellschaft (Rat für Migration 2015) eingehen. Ratsam scheint jedoch, zunächst abzuwarten, bis dieser Begriff seine „Mündigkeit“ unter Beweis gestellt hat. Derzeit macht es eher den Eindruck, dieser Begriff wäre einfach nach den erfolgreichen Vorgängern (wie der postmodernen, postindustriellen oder auch – selbst ein Neuling – der postsäkularen Gesellschaft) geprägt worden, ohne dass damit ein unverzichtbarer Erkenntnisgewinn erzielt worden wäre.
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rückgeworfen werden. Die AfD stellt zwar vordergründig nicht die Existenz der gesamten Migrantenpopulation in Frage, sondern problematisiert eher die ‚unkontrollierte‘ Einwanderung, vor allem die muslimische. Ihr Diskurs wird aber früher oder später auf die Rehabilitierung des ‚Völkischen‘ drängen und das Rad der Geschichte der Migrationspolitik zurückdrehen wollen.17 Hoffnungslos ist die Lage jedoch nicht, jedenfalls noch nicht. Bei aller negativen Konnotation kann man den Ausdruck ‚Luxusdebatte‘ auch positiv wenden. Die Gesellschaft konnte sich nach vielen Jahrzehnten der Auseinandersetzungen um Migration und Integration offenbar den Luxus gönnen, sich mit ihrer Gegenwart auszusöhnen und ihre Zukunft in positiven Bildern auszumalen. Der Umstand, dass diese Anstrengungen nicht folgenlos waren und die bundesrepublikanische Öffentlichkeit sich einen Grundstock an Fertigkeiten im Zusammenleben in Diversität erarbeitet hatte, hat schließlich erheblich zu der offenen, anfänglich mancherorts fast pathetischen Begrüßung der Flüchtlinge beigetragen. Recht früh gab es allerdings auch Stimmen, die vor der emotionalen ‚Willkommenskultur‘ warnten, aber in der Euphorie untergingen, wenn nicht gar erst gar nicht zu Wort kamen. Wilhelm Heitmeyer zum Beispiel mahnte mit seiner bewährten Vorsichtshaltung vor einer euphorischen Willkommenskultur, und forderte stattdessen eher einen „enttäuschungsresistenten Umgang“ (Heitmeyer 2015) mit der immensen Herausforderung der Fluchtbewegung. Seine Mahnung konnte der ansonsten vielfach gefragte Experte der Bundesrepublik allerdings in keiner der Zeitungen unterbringen, an die er sein Manuskript geschickt hatte. Es fragt sich, ob man in diesem (nachträglich: kurzweiligen) quasi ekstatischen Moment der (auch selbstbezogenen) Feierlichkeiten solche ‚Misstöne‘ nicht hören wollte.
Auflösung der Paradoxie und neue Perspektiven Die neuesten Entwicklungen haben uns gewissermaßen die Richtung angezeigt, wie wir mit der besagten Paradoxie fertigwerden können: Die überschießenden Momente im Integrationsdiskurs sollten ein wenig gemildert werden, ohne ihn grundsätzlich aufzugeben. Zunächst einmal können wir das allgemeine Integrationsgebot mit Blick auf soziale Dimensionen spezifizieren. Es macht in praktischer Hinsicht durchaus Sinn, die Rede von Integration möglichst für die Gruppe der Neuankömmlinge zu reservieren. In sachlicher Hinsicht bezieht sich sodann die Integration hauptsächlich auf bestimmte Fertigkeiten und Zugänge, aber auch bestimmte grundlegende kulturelle Orientierungen. Es ist fraglich, ob es wirklich etwas bringt, junge Menschen zweiter und dritter Generation praktisch dauernd einem Integrationstest zu unterziehen, in dem ihr ‚abweichendes‘ Verhalten auf den Grad der Integration hin geprüft wird. Es würde aber helfen, die 17
Dies nicht nur wegen einer expliziten Aufforderung, wie sie z.B. von Frauke Petry eingebracht wurde (Balzli 01.01.2016).
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Diskussionspunkte möglichst zu konkretisieren und dabei nach alternativen Beschreibungen zu suchen. Wie das funktionieren kann, möchte ich anhand eines Beispiels veranschaulichen. Mein Beispiel ist die sogenannte ‚Türken-Demo‘ in Köln, auch als ‚Pro-Erdogan-Demo‘ bezeichnet, die am 31. Juli 2016 veranstaltet wurde, um gegen den Putschversuch vom 15. Juni 2016 in der Türkei zu protestieren. Die Reaktionen auf diese Demonstration, an der 30 bis 40 Tausend Türken aus Europa, mehrheitlich aus Deutschland, teilnahmen, kann man durchweg als kritisch, teilweise gar verärgert, einstufen. Zwei Argumentationsstränge fallen dabei auf. Der erste Strang drückt die Verwunderung darüber aus, dass Deutsch-Türken, mittlerweile in dritter Generation in Deutschland, sich derart stark mit einem türkischen Präsidenten identifizieren. Hier wird die Loyalitätsfrage in den Mittelpunkt gerückt und folglich auf mangelnde (vielleicht auch gescheiterte) Integration geschlossen. In der Kritik wird zwar auch auf den autoritären Charakter Erdogans Bezug genommen, womit die politische Dimension des Sachverhalts aufscheint, um aber gleich in der generellen Integrationsrede wieder unterzugehen. Diese politische Dimension kann in einem zweiten Argumentationsstrang, den ich präferiere, einen Eigenwert bekommen. Anstatt auf Integration zu fokussieren, könnte man den konkreten Inhalt der politischen Handlung der Demonstranten zur Bewertungsgrundlage nehmen. Diesen Weg nahm zum Beispiel der Grünen-Abgeordnete Volker Beck (Klöckner 2016), indem er eine eher ethnisierende Auseinandersetzung in die Bahnen der politischen Debatte lenkte: „Das ist ein Konflikt zwischen jenen, die Rechtsstaatlichkeit, Freiheit und Demokratie unterstützen. Und jenen, die dagegen sind.“. Damit wird die Achse der ethnischen Zugehörigkeiten, deren Diskussion in eine Integrationsdebatte gehört, durch die politische Achse ersetzt, auf der er dann ohne Weiteres auch die AfD neben den Organisatoren der Demonstration platzieren kann: „AfD und AKP sind sich im Grunde genommen verdammt ähnlich“. Viele Gemeinsamkeiten verbänden sie: „Sie verteufeln die freien Medien, diskreditieren Minderheiten und haben ein rückständiges Gesellschaftsbild“. In der Tat verhinderte die Fixierung des Blicks auf das Thema Integration die Aussagemöglichkeit, dass man berechtigterweise zum Beispiel von einer türkischen Pegida sprechen könne, die für eine autoritäre Politik in Köln auf die Straße gegangen sei. Es gibt also durchaus andere Unterscheidungen, die wir im Blick behalten sollten, anstatt alle Angelegenheiten, in die Migranten verwickelt sind, mit einem generellen, unaufhörlichen Integrationstest zu bewerten. Warum die zweite Argumentation bessere Instrumente in die Hand liefert, lässt sich durch den Vergleich mit einer weiteren Protestwelle der türkischstämmigen Migranten in Deutschland bzw. in Europa vergleichen. Während der Gezi-Park-Proteste im Juni 2013 mobilisierten sich abertausende von Deutsch-Türken überall und über einen längeren Zeitraum hinweg. Sie solidarisierten sich mit
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der demokratischen Opposition in der Türkei, die gegen die autoritäre Herrschaft revoltierte. Zu diesem Zeitpunkt ist niemand auf die Idee gekommen, ihren Türkeibezug unter Loyalitätsverdacht zu stellen.18 Ganz im Gegenteil, die deutsche Politik und Öffentlichkeit stand geschlossen hinter den Protestierenden. Diese Argumentationsweise würde in vielen Fällen helfen, das überladene Integrationsgebot etwas zu entlasten und in praktisch nachvollziehbaren Momenten, Sachverhalten und Fällen anzuwenden. Selbstverständlich wird man nur sehr selten eine klare Linie ziehen können, wann es Sinn macht, von Integration zu sprechen, und wann nicht. Mein Anliegen ist übrigens nicht, eine wasserdichte Theorie anzubieten, sondern für einen pragmatischen Gebrauch zu sensibilisieren. Eine theoretische Erkenntnis möchte ich dennoch wagen. Dürfte der Umstand, dass wir bei aller Präferenz für ‚Vielfalt und Teilhabe für alle‘ vom Integrationsgebot nicht wegkommen, damit zu tun haben, dass wir nicht nur in der ‚Gesellschaft‘ leben? Oder mit anderen Worten ausgedrückt: Dass die Gesellschaft, wie wir sie für die politische Debatte so unspezifisch gebrauchen, nicht nur Gesellschaft, sondern noch etwas anderes ist als die Gesellschaft: nämlich ein politisches Gemeinwesen. Der ubiquitäre Gebrauch des Begriffs Gesellschaft lässt uns diese Tatsache leicht vergessen. Es wäre wert zu fragen, ob die Unterscheidung Gesellschaft/Gemeinschaft, die die soziologische Klassik zunächst mit Ferdinand Tönnies formulierte und mit Max Weber in Vergesellschaftung/Vergemeinschaftung modifizierte, hier weiterhelfen kann. Thomas Faist und Christian Ulbrich tun genau das, in dem sie die hier behandelten Themen auf eine systematische Weise bearbeiten. Sie plädieren dafür, Gesellschaft und Gemeinschaft nicht zu vermengen, und die Vergemeinschaftung in die Analyse einzubeziehen (Faist und Ulbricht 2014)). Sie unterstreichen, dass „die Teilhabe-Diskussion (…) Aspekte der vertraglichen, rechtsbasierten und interessengeleiteten Beteiligung (betreffen), die als wünschenswert betrachtet werden, um an der Gesellschaft zu partizipieren“ (Faist und Ulbricht 2014: 119).
Die Partizipation selbst lässt sich aber nicht mit Einsicht in die Teilhabe alleine entscheiden. Die hartnäckige Rede von Integration kann als Indikator dafür genommen werden, dass die Vision einer um Teilhabe organisierte Gesellschaft die Vorstellung einer Gemeinschaft, die auf Zugehörigkeiten achtet, nicht ersetzen kann. Man muss bedenken, dass die Migranten nicht einfach in eine Gesellschaft einwandern, sondern auch von einer historisch-politischen Gemeinschaft aufgenommen werden. Eine Gemeinschaft, die nicht mit der romantisierenden Idee einer ursprünglichen, unverdorbenen, harmonischen, vermeintlich natürlichen Einheit verwechselt werden sollte, kann divergierende Definitionen von 18
Erdogan-Anhänger dürfen hieraus natürlich die These gewinnen, dass die deutsche Öffentlichkeit mit zweierlei Maß mäße. Die Antwort darauf sollte ein mutiges Ja sein.
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Gemeinsamkeiten und Wertschätzungen enthalten. Sie kann sich durchaus als eine Einheit in Vielfalt verstehen. Die Änderungen an der Staatsbürgerschaft aus dem vergangenen Jahrzehnt sind schließlich Ergebnis der Auseinandersetzungen darum, wie sich das Gemeinwesen für seine neuen Bürger öffnen sollte. Deutschland hat hier ansehnliche Fortschritte erzielt. Bei dem Streit über die Zugehörigkeit geht es zugleich um die Frage, wie man leben will – es ist kein Zufall, dass die religiösen Praktiken hier eine besondere Aufmerksamkeit erfahren. Das wird aber immer auch bedeuten: werten, abwägen, unterscheiden. Auch die liberalen Gesellschaften kommen ohne diese Mechanismen nicht aus. Dabei wird nicht nur eingeschlossen, sondern auch ausgeschlossen. Das letztere wird von der AfD gerne auf ethnische oder religiöse Einheiten bezogen, um die Vorstellung eines ethnischen Volkskörpers wieder salonfähig zu machen. Man kann jedoch die Diskussion von der Ebene der sozialen Gruppen auf die sozialen Praktiken und politischen Handlungen verlagern, die auch von kulturell-religiösen Orientierungen getragen werden. Eine abstrakte, generalisierende Debatte über kulturelle oder religiöse Unverträglichkeiten (im Anschluss an die Frage etwa ‚Gehört der Islam zu Deutschland?‘), die die Menschen schließlich in ein Identitätskorsett sperrt, trägt in der Tat zu einer demokratischen Kultur nichts bei. Aber der Umkehrschluss, dass man sich jeglicher Bewertung bestimmter kulturell-religiöser Praktiken zu enthalten hätte, wäre ebenfalls fatal. Zusammengefasst, wird das Integrationsgebot, mit oder ohne Religionsbezug, den Debattenhorizont in den Einwanderungsgesellschaften auch zukünftig aufspannen. Dies ist erstens deshalb so, weil es auch die Funktion erfüllt, eine nationale Gemeinschaft für die Solidarität mit den Fremden zu mobilisieren, was bei allen vorhandenen guten Absichten der Menschheit nicht notwendigerweise als selbstverständlich vorausgesetzt werden dürfte. Zweitens werden stets neue Einwanderer ins Land kommen, womit die Aufgabe sich immer wieder erneut stellen wird. Und drittens werden sich auch viele Migranten, vor allem die Migranten-Selbst-Organisationen, finden, die sich auf das Integrationsgebot berufen, weil dieses ihnen Sprecherpositionen im politischen Diskurs zur Verfügung stellt, in dem sie ihre spezifischen Forderungen legitimieren können. Insgesamt scheint also Integration das Codewort für den symbolischen Tausch zwischen Einwanderern und Alteingesessenen zu sein, der erst in der Lage ist, Gemeinschaft zu stiften. Das kann die Teilhabeforderung alleine nicht leisten; sie muss es vielmehr voraussetzen. Mit dieser These hoffe ich die Diskussion zu einer neuen Perspektive angeregt zu haben.
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Das Versprechen der Integration
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Postmigrantische Perspektiven in Deutschland
Naika Foroutan Postmigrantische Perspektiven in Deutschland Grundlagen und Entwicklungen Im folgenden Beitrag sollen dominante Integrationsperspektiven skizziert und überprüft werden. Hierfür werden zunächst empirische Daten zu Einstellungen gegenüber der Einwanderungsgesellschaft in Deutschland präsentiert, um zu überprüfen, ob Integrationstheorien und Integrationsempirie übereinstimmen. Abschließend werden einige konzeptionelle Vorschläge für eine erweiterte postmigrantische Perspektive dargestellt.
Einstellungen zur Einwanderungsgesellschaft Erstmalig wurde im Jahr 1999 in einer von der Bundesregierung veröffentlichten Broschüre zum neuen Staatsangehörigkeitsrecht regierungsamtlich festgestellt: „Deutschland ist schon längst zum Einwanderungsland geworden“ (BMI 1999, Seite 9). Dem waren jahrelange Leugnungsstrategien und gesellschaftspolitisch hart umkämpfte Debatten vorausgegangen, die immer wieder mit der Bestätigung endeten, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei, obwohl bis zum Anwerbestopp 1973 bereits 14 Millionen Personen nach Deutschland eingewandert waren. Von ihnen wanderten 11 Millionen wieder aus. Während die Politik allerdings gerade für sich zu akzeptieren begann, ein Einwanderungsland geworden zu sein, und mit der Reform des Staatsbürgerschaftsrechtes im Jahr 2000 die Einbürgerung und somit das Erlangen der deutschen Staatsangehörigkeit erleichterte, begann mit den neu eingebürgerten Deutschen und dem emotional-gesellschaftlichen Zweifel an dieser Top-Down-Entscheidung auch der Diskurs um die deutsche Leitkultur. (Vgl. Foroutan 2012a, Seite 114) Wiederum parallel zu dieser Debatte um Zugehörigkeiten zum nationalen deutschen Narrativ, die bis heute geführt wird und die Deutschlands Transformation in ein Einwanderungsland und später in eine Migrationsgesellschaft begleitete, war die Einwanderung de facto seit der verbalen Anerkennung im Jahr 1999 zehn Jahre lang immer weiter zurückgegangen mit zuletzt negativen Saldi in den Jahren 2008 und 2009 (BAMF 2014, Seite 15). Es entstand somit der paradoxe Moment, dass die Selbstaushandlungsprozesse mit der realen Einwanderungssiuation nicht übereinstimmten. 63
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Im Jahr 2015 betrug die Nettoeinwanderung 1.139.000 Personen (Statistisches Bundesamt 2016a). Im Vergleich zu den obengenannten zehn Jahren, in denen Deutschland immer wieder mit Auswanderungsdaten konfrontiert wurde, ist dies tatsächlich wieder eine neue Dynamik. Im Zuge der Finanz- und Eurokrise erhöhten sich die Zuwanderungszahlen nach Deutschland wieder massiv und durch die Fluchtbewegungen im Jahr 2015 haben sie einen neuen Höchststand erreicht.
Heterogenität in Deutschland Es lässt sich festhalten, dass parallel zur Debatte, ob Deutschland nun ein Einwanderungsland sei oder nicht, die faktische Realität der Einwanderungs- und Migrationsgesellschaft in Städten, Regionen und Kommunen längst Einzug erhalten hat. Von den 17,1 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund können im wissenschaftlichen Wortsinn nur 11,5 Millionen Menschen als Migranten bezeichnet werden, die selbst aktiv nach Deutschland zugewandert sind. Die verbleibenden 5,6 Millionen besitzen keine eigene Migrationserfahrung mehr und sind bereits in Deutschland geboren; sie gelten in der öffentlichen Meinung dennoch häufig als Migranten. Über neun Millionen und somit mehr als die Hälfte aller Personen mit Migrationshintergrund besitzen die deutsche Staatsangehörigkeit. (Statistisches Bundesamt 2016b, Seite 7) Insofern widerspricht die Wahrnehmung von Personen als Ausländer in etwa der Hälfte aller Fälle dem Faktum, dass diese Personen aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit Deutsche sind. Vor allem die deutschen Großstädte sind immer heterogener geworden, was sich in Schulen, Kindertagestätten und im Stadtbild widerspiegelt – noch nicht jedoch auf der Ebene der politischen und symbolischen Partizipation. Während Städte wie Frankfurt am Main einen Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund unter sechs Jahren von 75,6 Prozent aufweisen (Augsburg: 61,5 Prozent, München: 58,4 Prozent, Stuttgart: 56,7 Prozent), bleibt zum einen der migrantische Diskurs sehr stark auf jene Städte bezogen, die nach Wahrnehmung der Bevölkerung strukturell dysfunktional aufgestellt sind, wie z.B. Berlin – oder um die herum sich immer wieder Debatten über die Krisenhaftigkeit der Migration entfalten, wie z.B. Duisburg. Auch in den Begriffspraxen verdeutlicht sich, dass Fragen danach, wer Ausländer, wer Deutscher, wer Migrant, wer Mensch mit Migrationshintergrund tatsächlich ist, nicht wirklich gemäß der statistischen Bezugsgrößen beantwortet werden – Deutscher ist, wer den deutschen Pass hat –, sondern weiterhin eher phänotypisch ausgehandelt werden.
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Einstellungen zum „Anderen“ Eine Umfrage der Transatlantic-Trends im Jahr 2013 hat festgestellt, dass 62 Prozent der befragten Personen in Deutschland Einwanderung als Chance beschreiben (GMF 2013, Seite 39). Auch der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration hat in seinem Integrationsbarometer sowohl 2010 als auch 2012 verhaltenen Integrationsoptimismus feststellen können, der alle Bereiche des sozialen Lebens betrifft: Nachbarschaft, Arbeitsmarkt, soziale Beziehungen und auch Bildung. Parallel zu dieser Erkenntnis lässt sich auf der anderen Seite eine deutliche Abwehr gegenüber sogenannten visible minorities feststellen, für die in Deutschland überhaupt noch keine wirkliche Definition gefunden wurde. Die Langezeit-Studien von Wilhelm Heitmeyer zu Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit (GMF) haben in den „Deutschen Zuständen“ gezeigt, dass 47,1 Prozent der Menschen in Deutschland im Jahr 2011 der Meinung waren, dass zu viele Ausländer in Deutschland leben und 54,1 Prozent der Meinung waren, dass, wer irgendwo neu ist, sich erst einmal mit weniger zufrieden geben sollte (vgl. Heitmeyer 2012). Die Frage danach, wer irgendwo neu ist, stellt sich Migranten und Personen mit Migrationshintergrund und deren Kindern immer wieder neu, weil dieser Status des später Hinzugekommenen gegenüber den Etablierten eine intuitive Entrechtung mit sich führt, welche als verstecktes Narrativ handlungsleitend ist. Wir können auch feststellen, dass in Deutschland die Einstellungen gegenüber Muslimen – als sogenannte gesetzte visible minority group – im Vergleich zu anderen europäischen Ländern wesentlich negativer sind. Zu diesem Ergebnis kommt u.a. eine Studie von Detlef Pollack von der Universität Münster zu religiöser Vielfalt in Deutschland: Knapp 60 Prozent in Ost und West antworten auf die Frage „Wie ist Ihre persönliche Haltung zu den Mitgliedern folgender religiöser Gruppen?“ in Bezug auf Muslime mit „eher negativ“ bis „sehr negativ“. Im Vergleich dazu sind die Werte in Dänemark, Frankreich, Niederlande und Portugal um die Hälfte niedriger. Auch in der Zuschreibung von positiven und negativen Merkmalen gegenüber Muslimen unterscheiden sich die Einstellungen in Deutschland von den zuvor erwähnten europäischen Vergleichsländern. (Pollack 2010, Seite 5) Dies unterstreicht die Studie „Die Abwertung der Anderen“ von Andreas Zick und Kollegen, die aufweist, dass Deutschland im europäischen Vergleich mit Polen, Ungarn und Italien an der Spitze muslimfeindlicher Einstellungen steht. 46 Prozent der Befragten sagen, dass es zu viele Muslime in Deutschland gebe, bei einem realen Anteil von Muslimen an der Gesamtbevölkerung von 5 Prozent (Zick/Küppers/Hövermann 2013, Seite 70).
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Die Mitte-Studie von Oliver Decker, Johannes Kiess und Elmar Brähler hält für das Jahr 2014 fest, dass jeder dritte Befragte der Meinung ist, Muslimen sollte die Zuwanderung nach Deutschland untersagt werden und 43 Prozent der Befragten sich „wie ein Fremder im eigenen Land“ fühlen. Die Islamfeindschaft betrachten sie als neues Gewand des Rassismus, da eine angebliche Rückständigkeit nicht mehr biologistisch, sondern kulturalistisch problematisiert werde. (Decker/ Kiess/Brähler 2014, Seite 48 bis 49) Dies lässt sich als Paradoxon der Pluralität bezeichnen, „da also ein Paradoxon entsteht, wenn auf der einen Seite ein deutliches Bekenntnis zu Vielfalt und Heterogenität artikuliert wird, während auf der anderen Seite Deutschland in den Messungen zu islamfeindlichen Einstellungen seit Jahren vorderste Plätze im europäischen Vergleich belegt“. (Foroutan 2012b, Seite 9) Vielfalt ja, aber bitte ohne Muslime, ohne Roma, ohne Arme und am besten ganz ohne ‚fremde Kulturkreise‘; Insofern ist das, was als Vielfalt bezeichnet wird und welches gemäß der eingangs zitierten Studie der Transatlantic Trends als Bereicherung empfunden wird, immer wieder etwas, das tagtäglich in Frage gestellt wird – vor allem im Zuge der Debatten um Integration.
Das Paradigma der Integration Im zweiten Abschnitt dieses Beitrags geht es nun um das in Deutschland seit etwa 1979 bestehende Paradigma der Integration. Das Jahr 1979 wird hier als Ausgangsdatum genommen, weil in diesem Jahr das Kühn-Memorandum des ersten deutschen Ausländerbeauftragten der Bunderegierung erstmalig auf politischer Ebene ein Integrationskonzept vorlegte, welches zunächst über Jahre hinweg ignoriert und im Zuge der Debatten um Deutschland als Einwanderungsland wieder reaktiviert wurde. Im Zuge dessen wurde der Integrationsbegriff sehr stark mit dem der Migration gekoppelt und von seiner ursprünglichen Intention, nämlich der Gewährleistung gleicher Zugangs- und Partizipationsrechte für alle Bürger – gleich welcher Herkunft – entfremdet. Klaus J. Bade und Michael Bommes haben 2004 für den damaligen Zuwanderungsrat die Definition von Integration als „die messbare Teilhabe aller an den zentralen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, also Erziehung, Bildung, Ausbildung, Arbeitsmarkt, Recht, sozialer bis hin zur politischen Partizipation“ (Bade 2013) entworfen.
Für die Integrationsforschung jedoch stellt sich zunehmend die Frage nach der Messbarkeit jener Faktoren und deren Aussage für die Wahrnehmung von Integration innerhalb der Gesellschaft. Die Versuche der Messung des Integrati-
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onsgrades sollen im Folgenden exemplarisch an der Gruppe der Muslime veranschaulicht werden. Integration wird in den Sozialwissenschaften üblicherweise auf vier Ebenen gemessen: 1. Auf der strukturellen Ebene, die aus Bildungs-, Arbeitsmarktdaten und weiteren strukturellen Daten, wie z.B. Gesundheit besteht; 2. der kulturellen Ebene, auf der sogenannte Signifikanten wie Kopftuch, Teilnahme am Sport- und Schwimmunterricht oder Sprache Bedeutung erhalten; 3. der sozialen Ebene, die sich z.B. durch Anzahl der Freundschaften, Eheverhalten, Vereinsmitgliedschaften und weiteren sozialen Kontakten bemessen lässt; 4. und schließlich der identifikativen Ebene, auf der die emotionale Verbundenheit mit bzw. Zugehörigkeitsgefühle zu einem Land bewertet werden. Mindestens seit dem Jahr 2006 werden diese Integrationsdaten explizit für Muslime zusammengetragen (vgl. MLD-Studie von Haug/Müssig/Stichs 2009). Hier werden auf diesen Feldern mit Ausnahme der emotionalen Verbundenheit Fortschritte und Erfolge empirisch nachgewiesen. Doch die Hartnäckigkeit der unterliegenden Narrative, die Integration der Muslime würde stagnieren oder gar zurückgehen, belegen die These, dass es bei der Integrationsdebatte nicht allein um Integration geht, sondern auch um gängige Narrative, die sich aus der etablierten Vorstellung speisen, Muslime gehörten nicht zu Deutschland. Als sichtbare Minderheit gehören sie somit trotz Staatsbürgerschaft – mehr als die Hälfte der in Deutschland lebenden Muslime besitzt die deutsche Staatsbürgerschaft – nicht zum nationalen Narrativ, sondern werden als religiöse Minderheit außerhalb des Kollektivs platziert. Die Kritik am Integrationsbegriff soll hier nicht weiter vertieft werden, da diese u.a. in einem Aufsatz von Anna Böcker, Urmila Goel und Kathleen Heft aus dem Jahr 2010 bereits verdeutlicht und zusammengefasst wurde: Sie verweisen darauf, dass es im Integrationsdiskurs eine unilaterale Form der Gewährung von Integration gibt, die auf der Fiktion basiert, es gäbe eine homogene Kerngesellschaft in Deutschland, an die sich die ‚Anderen‘ anzupassen hätten (vgl. Böcker/Goel/Heft 2010). Zu kritisieren ist vor allem, dass der Integrationsbegriff konsequent mit Migration zusammengedacht wird, demnach mit Migranten und ihren Nachkommen und so auch mit Personen, die gar nicht migriert sind, aber als Migranten wahrgenommen werden – letztlich wenn man so will, mit rassifizierten Personen, Subjekten oder mit Personen, die stets markiert werden. Der Integrationsdiskurs konstruiert und rekonstruiert Migranten als Andere, um eine Ingroup, basierend auf einer als homogen gedachten deutschen Identität als ideale Gemeinschaft zu stabilisieren. (vgl. ebd.) 67
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Obwohl Integration nach vorliegenden empirischen Studien messbar voranschreitet, gibt es in der Bevölkerung das Gefühl von Stagnation, das heißt, dass das Messbarmachen keinen Effekt zeigt, selbst das Sichtbarmachen dieser Messung verändert die Einstellung nicht. Im Gegenteil: Es lässt sich sogar feststellen: Je weiter Integration messbar voranschreitet, umso schärfer werden die Debatten um kulturelle Zugehörigkeit geführt. Das Feld der Ausgrenzung wird letztlich auf die These der kulturellen Inkompatibilität verlagert und die Messlatte für Integration einfach immer weiter angehoben oder verschoben. Integrationstheoretisch ist aber festzuhalten: Wenn sich nachweisen lässt, dass bei Einwanderern und ihren Nachkommen Partizipation, Bildung, Sichtbarkeit in relevanten Berufen sowie Sprachkenntnisse ansteigen und Nachbarschaftskontakte positiv gewertet werden, ist letztlich eine erfolgreiche Integration erfolgt. Wenn umgekehrt Diskriminierungen stabil bleiben, Ausschlüsse aus dem Arbeits- und Wohnungsmarkt erfolgen und herkunftsdeutsche Eltern sich weigern, ihre Kinder an Schulen mit einem hohen Anteil von Deutschen mit Migrationshintergrund anzumelden, dann ist dies als Integrationsdefizit auszumachen.
Postmigrantische Perspektiven Viel zu lange wurde Integration mit dem Kernfokus auf eine Gruppe – „die Migranten“ – gedacht. An dieser einseitigen Verschränkung von Integration mit Migration war auch die Migrationsforschung in den letzten 25 Jahren mit beteiligt. Mit ihrem legitimen und wichtigen Anliegen, auf Hürden der Integration und Ausschlussstrukturen, die Migranten betreffen, hinzuweisen und die Politik anzutreiben, hier nachholend aktiv zu werden (vgl. Bade 2007), hat die Migrationsforschung die enge Kopplung des Integrationsbegriffes an Migranten und ihre Nachkommen unwillentlich perpetuiert. Es ist daher an der Zeit, den Begriff wieder auszuweiten und ihn auf die Gesamtgesellschaft zu projizieren. Integration ist eigentlich ein Begriff, der sich aus den Bedeutungsfeldern von Teilhabe, Chancengleichheit und Partizipation zusammensetzt und somit als Metanarrativ gedacht werden muss. Dies führt am Ende dieses Beitrags zu der Frage ob bzw. wie es möglich sein könnte, außerhalb dieser dauerhaften Kopplung von Integration und Migration, also hinter diese Omnipräsenz des migrantischen Anderen zu gelangen, um somit eine gesamtgesellschaftliche Perspektive zu erarbeiten. Auf dieses Konzept des Postmigrantischen, dessen Ursprung in den Bereichen Kunst und Kultur zu verorten ist, soll nun abschließend eingegangen werden. Es gibt unterschiedliche Ansätze, das Postmigrantische zu beschreiben:
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Subjektbezogene Perspektive Hier nimmt das Postmigrantische eine chronologische, deskriptive Perspektive ein. Sie nähert sich über die Chronologie der Zuwanderung an – von der ersten, zur zweiten, zur folgenden Generation und ist stärker auf die Akteure bezogen. Hier werden Menschen der zweiten und dritten Generation, die selbst nicht über Migrationserfahrung verfügen und die selbst ihre Geschichten neu erzählen wollen, als Postmigranten beschrieben. Erol Yildiz, der sich stark auf die neuen Geschichten aus der zweiten und dritten Generation konzentriert, fordert, dass man sie in das hegemoniale Narrativ einweben muss: „Junge MigrantInnen der zweiten und dritten Generation, die selbst nicht eingewandert sind, beginnen ihre eigenen Geschichten zu erzählen. In diesen Geschichten werden unterschiedliche Elemente zu hybriden Lebensentwürfen zusammengefügt. Es gilt daher auch, über die Einwanderungsgeschichte der ersten Generation neu nachzudenken und marginalisierte Wissensarten sichtbar zu machen – eine projektive Vergangenheit. Dieses neue Verständnis möchte ich „postmigrantisch“ nennen.“ (Yildiz 2013, Seite 144) Auch die kulturschaffende Theaterintendantin Shermin Langhoff, die den Begriff des Postmigrantischen für Deutschland geprägt hat, als sie im Jahr 2010 das Theater Ballhaus Naunynstraße als postmigrantisches Theater schuf, nähert sich dem Begriff teilweise über die Akteurs-Bezüge an: „Es scheint mir einleuchtend, dass wir die Geschichten der zweiten und dritten Generation anders bezeichnen. Die stehen im Kontext der Migration, werden aber von denen erzählt, die selber gar nicht mehr gewandert sind. Eben postmigrantisch.“ (Langhoff 2009)
Gesellschaftskritische Perspektive Es gibt aber auch eine kritisch-analytische, mehr auf Gesellschaft und nicht auf die Akteure bezogene Perspektive, die Riem Spielhaus mitentwickelt hat. Sie kritisiert die Obsession der Gesellschaft: „Das Adjektiv post-migrantisch steht damit nicht allein für die Phase nach der Migration, sondern für die Obsession für längst erfolgte Einwanderungen. Betroffen von dieser Obsession sind nicht allein die Eingewanderten und ihre Nachkommen, nicht nur die als anders und nicht zur deutschen Gesellschaft zugehörig Markierten sondern auch deren Freundinnen, Partner, Kolleginnen und Nachbarn. Sie betrifft und konditioniert also längst nicht allein die (potentiell) Ausgegrenzten, sondern sehr viel größere Teile der Gesellschaft.“ (Spielhaus 2012, Seite 97)
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Spielhaus beschreibt das Hadern der Gesellschaft mit dem Faktum, anerkennen zu müssen, ein Einwanderungsland geworden zu sein. „Als post-migrantisch sind Gesellschaften zu charakterisieren, die mit den Effekten der vormals stattgefundenen und möglicherweise auch noch anhaltenden Migration, mit der Pluralisierung ihrer Bevölkerung, ihrer gesellschaftlichen Milieus und Lebensstile hadert.“ (ebd.)
Subversiv-performative Perspektive Es gibt noch eine weitere Perspektive auf das Postmigrantische, dich sich wiederum auf Shermin Langhoff zurückführen lässt: In dieser Form steht das Postmigrantische als eine subversiv-performative Perspektive, die dazu führt, den Begriff neu zu fassen, indem man das Emanzipatorische, das in ihm steckt, gemeinsam ausbaut und neu deutet, sich den Begriff also neu aneignet. Langhoff behauptet schließlich, Postmigranten seien die neuen Deutschen. Es gibt in postmigrantischen Gesellschaften ein zunehmendes Sprachbewusstsein, neue Assoziationen, es gibt aber auch ein Empowerment, sowohl durch das Spielen mit Zugehörigkeiten als auch durch die Ausweitung des Bewusstseins, dass Assimilation nicht das Ziel kulturell diverser Einwanderungsgesellschaften ist. Nach Langhoff lässt sich in dieser Gesellschaft die Definitionsmacht über die eigene Identität zurückgewinnen. Sie geht noch einen Schritt weiter: „Darüber hinaus steht „postmigrantisch“ in unserem globalisierten, vor allem urbanen Leben für den gesamten gemeinsamen Raum der Diversität jenseits von Herkunft.“ (Langhoff 2011)
Metapher des Migrantischen Hier schließt auch eine Grundannahme des Konzepts des Postmigrantischen an, nämlich die Omnipräsenz der Metapher des Migrantischen. Der Moment des Entstehens der Metapher ist die Tatsache, dass mit „migrantisch“ nicht mehr die faktische Beschreibung der Verlagerung des Wohnorts einer Person gemeint ist, sondern mit dem Begriff Subjektvierungsverhältnisse und primär die Produktion des Anderen in seiner Fremdheit einhergehen. Über diese Metapher des Migrantischen werden ebenso andere Prozesse wie die der Konstruktion einer nationalen Identität verhandelt. Die Omnipräsenz des Begriffes entsteht dadurch, dass viele gesellschaftliche Diskurse eng mit Fragen nach Migration verbunden sind. Migration ist somit zu einem Marker und Verweis aus der Ingroup geworden. Die postmigrantische Strategie versucht, diese migrantischen Subjektivierungsprozesse zu brechen. 70
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Es muss jedoch reflektiert werden, welche Prisma-Effekte das möglicherweise auslösen kann: Entweder, dass Personen mit Migrationshintergrund als postmigrantische Subjekte neu gelabelt werden und so eine Reproduktion von der Kategorie Ausländer, Migrant etc. vollführt wird, wie Riem Spielhaus befürchtet, oder, dass der Kreis der Subjekte um Allianzen erweitert wird, die nicht mehr herkunftsbezogen sind und nicht mehr als migrantisch markiert werden.
Postmigrantische Allianzen Man muss darüber nachdenken, wer diese postmigrantischen Allianzpartner sein können. Während die als migrantisch gelabelten Subjekte ihre Rechte, Positionen und Zugehörigkeiten aushandeln, gibt es gleichzeitig immer mehr Menschen, die mit ihnen persönlich, politisch oder alltäglich interagieren. Hier entstehen nicht nur personale Bezüge, sondern auch soziale und emotionale – sei es Empathie, Verbundenheit, Alltäglichkeit oder das Eintreten für soziale Gerechtigkeit. Die Kategorie „Migrationshintergrund“ wird derzeit auf 16 Millionen Menschen bezogen und betrifft somit 20 Prozent der Bevölkerung. Bezieht man hier nur die familiären Allianzen mit ein, die sich durch Partnerschaften, eigenen Kindern mit Migrationshintergrund oder eingeheiraten Schwiegertöchtern und -söhnen ergeben, so weitet sich der Anteil der Bevölkerung auf ca. das Doppelte, also knapp 40 Prozent, aus. Die Kategorie „Migrationshintergrund“ betrifft also nicht nur die damit gelabelten Subjekte, sondern über Nähe-Verhältnisse bereits 40 Prozent der Gesellschaft, die eben auch mit Migrationsgeschichten verbunden sind. Dabei ermöglicht eine bloße Verbundenheit mit Migration oder Migrationsgeschichten noch keinerlei Aussage über die Haltung zu heterogenen Gesellschaften und zu Einwanderung im Allgemeinen. Allein der Faktor, dass jemand einen Migrationshintergrund hat, lässt keine Aussage über seine Haltung zu einer pluralen Gesellschaft zu, weder im negativen noch im positiven Sinne. Die Erkenntnis, dass ein weißer deutscher Vater eines schwarzen Kindes, das von Rassismus betroffen ist, mit Sicherheit emotionale Schmerzen empfindet, wenn seine Kinder diskriminiert werden, genauso wie ein Partner einer Person mit sogenanntem Migrationshintergrund oder enge Freunde und Kollegen – ist zunächst einmal eine Empathie-Realität. Kränkungen und Ausschlüsse betreffen spätestens dann nicht mehr nur Personen mit Migrationshintergrund: Wenn Enkel, Kinder oder Ehemänner ausgegrenzt werden, so ist die Kränkung über die Herkunftsgrenze hinweg schmerzlich. Es muss also möglich sein, Allianzpartner, die sich die letzten Jahre in diesem Diskurs des Migrantischen mitentwickelt haben, in das Konzept des Postmigrantischen hineinzudenken. Die Allianzpartnerschaften entstehen also durch Empathie und Nähe, teilweise auch durch strategische und politische Allianzen oder einfach durch die Reflexion dieser Thematik.
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Damit stellt sich eine Verbundenheit über eine gleiche Perspektive auf die Transformation des Landes her. In einer Gesellschaft, die postmigrantisch ist, weitet sich die Infragestellung etablierter Machtverhältnisse und kulturell hegemonialer Konzepte aus und kulturelle Hybridisierung wird von immer mehr Menschen als gesellschaftliche Realität und Migration als Normalität verstanden – allerdings, bei gleichzeitig wachsenden Widerständen aus homogenisierten Positionen heraus. Durch die postmigrantische Perspektive entstehen immer mehr gleichwertige, nicht mehr paternalistisch strukturierte Partnerschaften, die sich durch kontinuierliche Kommunikation und den Austausch von Ressourcen in netzwerkbildende Allianzstrukturen wandeln. Kulturelle Allianzen bilden durch die Wertschätzung von Hybridisierungen einen Austausch von kulturellen Codes aus. Politische Allianzen gruppieren sich für den gemeinsamen und solidarischen Kampf gegen Diskriminierung sowie rassistische Strukturen und konkurrieren hier um symbolische Macht. Emotionale Allianzen überwinden in der Anerkennung das System der Integration, wodurch nicht mehr von der dichotomen Trennung von „Integrierenden“ und „Zu-Integrierenden“ ausgegangen wird.
Abwehr und Gegentendenzen Gleichzeitig wachsen Abwehrreaktionen in diesen Gesellschaften. Wir haben es mit einer neuen Dualität zu tun, die nicht mehr entlang von kulturellen, religiösen, ethnischen oder nationalen Herkunftsgrenzen verläuft, sondern sich – wie in Zeiten der ideologischen Dualismen – an einer Haltung festmacht. Die Akzeptanz der Tatsache, dass Deutschland sich in eine postmigrantische Gesellschaft gewandelt hat, in welcher die Zugehörigkeiten ausgeweitet werden oder – in Opposition dazu – die Negation dessen sowie das Bestehen auf den Vorrechten Etablierter und ihrer Definitionsmacht, werden die neuen bipolaren Linien der postmigrantischen Gesellschaft darstellen. Die postmigrantische Gesellschaft kann also nicht als utopische Friedensgemeinschaft imaginiert werden, sondern als konfliktive Aushandlungsgesellschaft. Während, wie eingangs beschrieben, die Bereitschaft, den Wandel anzuerkennen, wächst und Vielfalt von großen Teilen der Bevölkerung zunehmend positiv wahrgenommen wird, wächst auch die Gegenposition und der als stabil wahrgenommene Kern der 20-Prozent-Klientel, die rechtspopulistischen Tendenzen zugeneigt ist, weitet sich aus. In Europa haben wir bereits in 18 nationalen Parlamenten rechtspopulistische Parteien, die nicht mehr von den Rändern, sondern auch von der Mitte oder der Elite der Gesellschaft gewählt werden. Es sind also nicht Klassenkonflikte, welche diese Haltung maßgeblich beeinflussen, auch nicht kulturelle, nationale, ethnische oder religiöse Herkunft. Denn exklusive, homogen imaginierte Gesellschaftsvisionen finden sich ebenfalls innerhalb der Migrantengruppen. So sind etwa deutlich
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stärkere Ähnlichkeiten zwischen Salafisten und Islamfeinden in ihrer Rhetorik und Positionierung festzustellen, als zwischen Salafisten und anderen Muslimen.
Das Andere im Eigenen Zusammenfassend bedeutet dies, dass postmigrantische Gesellschaften keine Gesellschaften ohne Rassismus sind, sondern Gesellschaften, in denen Rassismus sichtbarer wird, weil darüber deutlicher gesprochen wird und Sanktionsmechanismen entwickelt werden. Die postmigrantische Perspektive bedeutet somit, eine Position und einen Blick auf die Gesellschaft und Subjekte einzunehmen, die hegemoniale Markierungen, Strukturen und Prozesse (Dichotomien, Kulturalisierungen, Ethnisierungen, Rassismen, Stereotype oder dominante Fremdwahrnehmungen) brechen. Dies erzeugt eine breite Perspektivstreuung als stets neu zu verhandelnden Bedeutungsraum. Abschließend lässt sich feststellen, dass dieser Entwurf des Postmigrantischen bereits einige Vorüberlegungen erfahren und dennoch weiterhin viele Fragen zu beantworten hat. Als Ziel des Konzepts steht die Überwindung des Dogmas der Fremdheit im Migrantischen, das heißt, Migration würde in einer globalisierten Gesellschaft einfach als globale Normalität gelten und die Dichotomie des Fremden („das Migrantische“) und des Eigenen (der imaginierten Kerngesellschaft) könnte narrativ überwunden werden, denn in der postmigrantischen Variante besteht das Andere im Eigenen fort.
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Postmigrantische Perspektiven in Deutschland
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Willkommen im Einwanderungsland?
Max Matter Willkommen im Einwanderungsland? Eine Podiumsdiskussion um Möglichkeiten und Grenzen kultureller Veränderung Im Anschluss an den Festvortrag von Professor Klaus J. Bade zu „Einwanderung, Kulturangst und Willkommenskultur“ diskutierte eine hochkarätig zusammengesetzte Gesprächsrunde darüber, ob und wie Zuwanderer in Deutschland willkommen geheißen werden. Als erster Diskussionsteilnehmer wurde Dr. Antonius Hamers, der Leiter des Katholischen Büros Nordrhein-Westfalen, vorgestellt. Das Katholische Büro ist die Kontaktstelle der nordrhein-westfälischen Bistümer Aachen, Essen, Köln, Münster und Paderborn zur Landesregierung, zu den Ministerien, zu politischen Parteien, Institutionen und Verbänden sowie zu den evangelischen Landeskirchen. Dr. Hamers ist promovierter Jurist und Theologe. Dann stellte die Gesprächsleiterin, die WDR-Moderatorin Aslı Sevindim, den Vorsitzenden des Landesintegrationsrates Nordrhein-Westfalens, Tayfun Keltek, vor. Tayfun Keltek ist seit 1984 Mitglied des Ausländerbeirates bzw. des jetzigen Integrationsrates der Stadt Köln, in dem er gegenwärtig als Vorsitzender tätig ist. Keltek war bzw. ist Mitbegründer und Vorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaft der kommunalen Migrantenvertretungen NRW (LAGA NRW). Als weiterer Gesprächsteilnehmer wurde der ehemalige Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland und Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Manfred Kock, begrüßt. Den Kreis vervollständigte als vierter Diskutant der bis September 2015 amtierende Präsident des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, Dr. Manfred Schmidt. Aslı Sevindim bezog sich in ihrer Einleitung auf das vorausgegangene Referat von Klaus J. Bade, in dem dieser die Notwendigkeit einer Narratio, einer gemeinsamen Erzählung, einer gemeinsamen Grundlage darüber, wie das Zusammenleben in der Gesellschaft gestaltet werden solle, unterstrichen hatte und stellte Tayfun Keltek die Frage, für wie realistisch er eine solche gemeinsame Definition von Gesellschaft – im Sinne eines großen gemeinsamen „WIR“ – noch zu unseren Lebzeiten halte. Tayfun Keltek meinte, er hätte Schwierigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen zu beschreiben. Er sähe, dass Menschen in erster Linie die Unterschiede
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zwischen Menschengruppen betonten und dass es sehr problematisch sei, zusammen zu kommen. Dies träfe insbesondere in den öffentlichen Diskussionen über die Integration von Zugewanderten zu. Er appelliere, mehr die Gemeinsamkeiten, als die Unterschiede zu sehen. Zudem seien – so Keltek – die Gemeinsamkeiten viel zahlreicher. Keltek sprach davon, dass in Bezug auf Neuzuwanderer des Öftern die Rede davon sei, dass diese Migrantinnen und Migranten über Potentiale verfügten, die man nutzen könne. Selbstverständlich müsse man diese Potentiale aufgreifen, damit die Gesellschaft von der Zuwanderung auch einen wirtschaftlichen Vorteil hätte. Bei den schon vor längerer Zeit Zugewanderten würden weit weniger als bei Neuzuwanderern Potentiale hervorgehoben. Aber auch die Kompetenzen der Letzteren würden oft ignoriert oder gar bekämpft. Als ein Beispiel nannte er den Umgang mit der Zweisprachigkeit der Migranten, insbesondere der Migrantenkinder, oder auch die Kompetenz, sich in zwei Kulturen, in zwei Gesellschaften mit unterschiedlichen Lebensweisen zu Recht zu finden. Dies seien Stärken und man müsse diese Stärken viel deutlicher unterstreichen. Stattdessen lernten Grundschulkinder türkischer Herkunft in Nordrhein-Westfalen neben Deutsch Englisch, während ihre Kenntnisse in der Familiensprache nicht gefördert würden. Von allen Zuwanderern forderte er Loyalität zu Deutschland. Man solle aber auch anerkennen, dass Zugewanderte zwei Identitäten hätten und deshalb auch Anspruch auf zwei Pässe und zwei Staatsangehörigkeiten. Die Moderatorin wandte sich dann Manfred Kock zu und stellte ihm die Frage, ob er Deutschland wirklich als eine Art „Willkommensland“ wahrnehme? Manfred Kock entgegnete, er sei da etwas skeptisch. Es zeige sich, dass Menschen abgelehnt würden, die jetzt dazu kommen. Aber auch manche, die schon lange hier seien – so Kock – würden abgelehnt. Auf der anderen Seite gäbe es fast unendlich viele Menschen, die sich gerade jetzt zusammen fänden und sich für Flüchtlinge einsetzten. Es seien nicht wenige, vielleicht sogar die Mehrheit, die so handelten. Das Engagement dieser Menschen zeichne das vor, was man als zukünftige Integrationsgesellschaft beschreiben könnte. Man solle sich auch im Klaren darüber sein, dass Verschiedenheiten nicht überwunden werden müssen. Verschiedenheiten – so Kock – seien Herausforderungen. Man könne lernen, dass man trotz der Unterschiede gut miteinander leben könne. Obgleich Verschiedenheit eigentlich ein Reichtum wäre, würde man sie doch oft eher als Bedrohung empfinden. Dann spielte Manfred Kock scherzhaft darauf an, dass er als Westfale in Köln auch einen Migrationshintergrund habe und ab und an auf seine „Fremdheit“ angesprochen würde. Es käme nicht darauf an – so Kock abschließend – alles einander anzugleichen, es komme vielmehr darauf an, die Unterschiede zu akzeptieren, mit ihnen leben zu lernen und im Dialog miteinander aus beidem etwas Neues, Gemeinsames zu schaffen. Auch an Antonius Hamers richtete Aslı Sevindim die Frage, wie er Deutschland als Einwanderungsland und als „Willkommensland“ wahrnehme?
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Hamers brachte zum Ausdruck, wie positiv überrascht er sei, über die große Zahl zivilgesellschaftlicher Gruppen, Pfarrgemeinden und Kirchengemeinden, die sich für die vielen Flüchtlinge im Land einsetzen. Viele Menschen hätten begriffen, dass man helfen müsse. Demonstrationen oder gar Gewalttaten gegen Flüchtlinge seien erschreckend. Für ihn – so Hamers – sei das Bild aber eher hell als dunkel. Aus den Kirchgemeinden wisse er, wie vielfältig das Engagement sei und wie deutlich die Menschen wahrnähmen, dass sie hier ganz kreativ zum Helfen aufgefordert seien. So gäbe es eine ganze Reihe von Projekten mit Flüchtlingsfamilien. Es sei natürlich leichter – so meinte Hamers – etwas mit oder für Frauen und Kinder zu tun, als mit allein reisenden und alleinstehenden jungen Männern. Ohne Probleme ausblenden zu wollen, sähe er jedoch eine Menge positiver Aspekte. Gegenüber Manfred Schmidt sprach die Moderatorin Klaus J. Bades Unterscheidung zwischen „Willkommenskultur“ und „Willkommenstechnik“ an und stellte auch ihm die Frage, ob er Deutschland als ein Land, das Einwanderer willkommen heiße, empfinde.
Kultursensibel auf die Anderen zugehen Manfred Schmidt erklärte, er bzw. das BAMF verwende die Begriffe „Willkommenskultur“ und „Anerkennungskultur“. Mit einer „Willkommenskultur“ wolle man den Menschen, die neu nach Deutschland kämen, begegnen. Diese Menschen stellten häufig zuerst mit den Ausländerbehörden Kontakt her, die deshalb so etwas wie eine Visitenkarte oder ein Aushängeschild seien. Die Anerkennungskultur ziele – so Schmidt – auf die Gruppen der Nachgeborenen von Zugewanderten, die hier bereits seit ein, zwei oder drei Generationen leben. Sie müsse man ja nicht mehr willkommen heißen. Hinter beiden Begriffen stehe einfach nur die Haltung des Respekts. Vieles hänge davon ab, wie wir Behörden aufstellten und änderten. Eines seiner Ziele sei es, die Haltung der Verwaltungsmitarbeiter positiv zu beeinflussen. Auf die Nachfrage von Aslı Sevindim, wie dies geschehen solle, meinte Manfred Schmidt, Ausländerbehörden würden gemeinhin nicht als Willkommensbehörde, nicht als Aushängeschild einer Kommunalverwaltung wahrgenommen. Sie würden eher als die „Buh-Männer“ gesehen. Ausländerbehörden würden aber zum größten Teil positive Entscheidungen treffen, so seien im Jahr 2013 insgesamt rund 800.000 Aufenthaltstitel und Einbürgerungen gewährt worden. Es käme – so Schmidt – auf das Selbstverständnis und damit auf das Leitbild einer Behörde an. Es sei die Frage, ob die Behördenmitarbeiter darauf ausgerichtet seien, dem Anderen, der zu ihnen komme, sei er nun gerade erst in Deutschland oder schon hier geboren, mit Respekt zu begegnen. Wichtig sei, dass Mitarbeiter kultursensibel auf die Anderen zugingen. Dies sei vielleicht nicht eine neue Migrationsphilosophie, es sei aber ein neuer praktischer Ansatz.
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Manfred Kock lobte dieses Vorhaben des BAMFs, das Selbstverständnis der Mitarbeitenden in den Ausländerbehörden hin zu einem respektvollen, kultursensiblen Umgang mit den Zugewanderten zu formen. Er meinte aber, dass leider immer noch zu viele Mitarbeitende in diesen Behörden noch nicht realisiert hätten, dass die politische Meinung sich geändert habe; es gehe nicht mehr um Abschreckung – im Sinne von: Euch wollen wir nicht haben. Die neue Grundeinstellung müsse sich erst durchsetzen. Aber auch in der Politik sei die Frage, wie man nun mit Ausländern umgehen wolle, noch nicht eindeutig geklärt. Da würden Zuwanderer nach wie vor eingeteilt in die, die man haben wolle, die man brauche und in die anderen Unerwünschten. Auf Formulierungen im bayerischen Wahlkampf Bezug nehmend, meinte Kock, man unterstelle denen, von denen man keinen Nutzen, keinen Gewinn erwarte sogar, sie würden betrügen und sich einschleichen in unsere Sozialsysteme. So lange sich Vertreter von Regierungsparteien so äußerten, sei es wohl sehr schwierig, den Mitarbeitern von Ausländerbehörden ein neues Selbstverständnis zu vermitteln, das von Respekt gegenüber dem Andern getragen sei. Manfred Schmidt gab zu bedenken: Wenn man in den Debatten – auch in den Debatten mit Menschen, die Zuwanderung und Zuwanderer ablehnen – ehrlich bleiben wolle, müsse man deutlich machen, dass es im deutschen Staat einen Grundkonsens darüber gäbe, wer Aufnahme finden könne und wer nicht. Manfred Schmidt erläuterte, dass von den rund 200.000 Asylantragstellern des Jahres 2014 nur ein relativ kleiner Teil aus den Krisengebieten Syrien (41.000) und dem Irak (9.000) gekommen sei. 66.000 Anträge seien von Menschen aus den Westbalkanstaaten gestellt worden. Man müsse deutlich machen, dass es für diese Menschen nach der Genfer Flüchtlingskonvention keinen Schutzgrund und damit keinen Aufenthaltsanspruch in Deutschland gäbe. Manfred Kock bemerkte dazu, in der Politik, in den Medien und in der Öffentlichkeit würde zu wenig zwischen den verschiedenen Gruppen von Asylantragstellern differenziert. Man fühle sich überfordert und so entstünden Ängste vor Zuwanderung allgemein. Tayfun Keltek, der sich zu Wort gemeldet hatte, wollte in der Diskussion weg von Tagesaktualitäten und zurück zu jenen Problemen, mit denen man sich schon lange hätte befassen müssen. Er stellte in Frage, dass es bereits eine wirkliche Anerkennungskultur in Deutschland gäbe. Immer noch würde – so Keltek – die Lebensrealität der Zugewanderten nicht wirklich anerkannt. Er beharrte darauf, dass Zugewanderte zwei Identitäten hätten. Sie seien jedoch dazu gezwungen, eine immer wieder zu „verstecken“. Man erwarte von ihnen zu Recht, dass sie Deutschland gegenüber loyal seien. Dies bedeute aber nicht, dass man zudem nicht auch noch loyal gegenüber seinem Herkunftsland sein dürfe. Hier erwarte man aber nur die Loyalität zu einem Land, zu Deutschland. Er selbst sei beispielsweise zu 100 Prozent deutscher Staatsbürger und genauso zu 100 Prozent türkischer Staatsbürger. Dieses Problem der doppelten Identitäten werde sich in der Zukunft auch bei den jetzt kommenden Flüchtlingen stellen. 80
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Kontraproduktive Signale der Unterscheidung? Die Moderatorin nutzte hier eine Pause, um dem Publikum die Gelegenheit zu geben, auch Fragen zu stellen. Es meldete sich Annette Seiche von der Stadt Kerpen, die zu bedenken gab, dass eine Ausländerbehörde keine Unterschiede zwischen verschiedenen Gruppen Asylsuchender machen könne. Man habe die Menschen, die einem zugewiesen würden, adäquat unterzubringen. Man könne nicht die einen besser als die anderen unterbringen, dem einen einen Sprachkurs anbieten und dem andern nicht. Dies sei vor Ort nicht praktikabel. Manfred Schmidt bemerkte dazu, dass es doch einen Unterschied mache, dass Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak eine Schutzquote von fast 100 Prozent hätten, während Schutzsuchende aus dem Kosovo, aus Serbien, Mazedonien, Bosnien lediglich eine Schutzquote von weniger als einem Prozent hätten. Die Menschen vom Westbalkan müssten davon ausgehen, ausreisepflichtig zu sein oder bald ausreisepflichtig zu werden. Bei beschränkten Ressourcen sei man nun einmal gehalten, die Mittel denen zukommen zu lassen, die hier bleiben werden. Die Vertreterin der Stadt Kerpen entgegnete, dass dem rein rechtlich wohl so sei. Auch das Ausländeramt sehe das so. Kerpen setze sich aus vielen kleinen Dörfern zusammen. Man habe es über die Jahre geschafft, die einheimische Bevölkerung so miteinzubeziehen, dass sich diese mit den Flüchtlingen solidarisch zeige. Flüchtlingsfamilien hätten in verschiedenen Privatunterkünften untergebracht werden können. Alle würden gleichermaßen zu Kaffee und Kuchen ins Pfarrheim eingeladen, und alle Kinder würden ohne Unterschied an Angeboten des Jugendzentrums teilnehmen. Da könne man doch nicht sagen, die Kosovaren werden voraussichtlich nicht lange bleiben, also braucht man sie auch nicht einzubeziehen. Ein solches Verhalten sei der aufnehmenden einheimischen Bevölkerung nicht zu vermitteln. Man würde so auch jede Solidarisierung der Einheimischen mit den Flüchtlingen zerstören und so ein total kontraproduktives Signal setzen. Antonius Hamers wandte ein, dass man das gesellschaftliche Engagement gar nicht ausbremsen müsse. So lange die Menschen in der Kommune seien, brauche man ja keinen Unterschied zu machen. Es spreche nichts dagegen, die gewährte Hilfe auf alle Flüchtlinge auszuweiten. Annette Seiche aus Kerpen pflichtete ihm bei und meinte, genau so würde verfahren. In einer weiteren Wortmeldung aus dem Publikum von einem Vertreter des Vereins „Ausbildung statt Abschiebung“ wurde darauf hingewiesen, dass es einen Unterschied in den Alltagsrealitäten der Menschen und der Jugendlichen ausmache, ob jemand Kontingentflüchtling sei und ganz andere Zugänge habe zu Wohnen, Sozialleistungen, Integrationskursen usw. oder ob es ein Mensch sei, der eine Duldung habe, die sich über zwei oder drei Jahre hinziehe bis er dann endlich eine Anerkennung als Flüchtling erhalte.
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Der Redner kritisierte den Umgang mit Flüchtlingen, insbesondere eine Unterbringung, die keinerlei Privatsphäre zuließe. Er wollte von Manfred Schmidt wissen, was sich denn in der Flüchtlingspolitik in den letzten Jahren positiv verändert habe. Manfred Schmidt entgegnete, dass sich in der Flüchtlingspolitik in den letzten Jahren sehr wohl viel getan habe. So habe man Modellprojekte an 45 Standorten mit 90 Kursen initiiert, um vom ersten Tag an die deutsche Sprache zu vermitteln. Man diskutiere im Moment die Öffnung der Sprachmodule in Integrationskursen. Wichtig sei, dass man den Arbeitsmarktzugang von Flüchtlingen auf drei Monate abgesenkt habe. In einem gemeinsamen Projekt mit der Bundesagentur für Arbeit versuche – so Schmidt – das BAMF, Flüchtlinge so früh wie möglich in den Arbeitsmarkt zu bringen. Auch Duldungsregelungen für qualifizierte Jugendliche, die einen Schulabschluss oder eine Berufsausbildung haben, seien geändert worden. Diese Jugendlichen könnten einen Aufenthaltstitel bekommen. Für qualifizierte Geduldete sei es nun möglich einen Aufenthaltstitel zu erhalten. Zuwanderung und Zuwanderungsrecht – so Manfred Schmidt – seien komplex und die einzelnen Formen der Zuwanderung seien in Diskussionen nicht immer leicht auseinander zu halten. Immer müsse der Grundkonsens beachtet werden, dass diese Gemeinschaft, dieser Staat am Ende darüber entscheide, wem ein Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland zugestanden werde und wem nicht. Dazu – so Schmidt – komme die europäische Dimension. 2014 habe Deutschland 202.000 Flüchtlinge gehabt, Italien dagegen nur knapp 40.000. Er verwies auf Diskussionen über eine gerechtere Verteilung der Schutzsuchenden auf die Länder Europas und auf die Schwierigkeit, das Dublin-Verfahren weiter durchzusetzen. Man müsse – so brachte er zum Ausdruck – die Frage diskutieren, wie gehen andere europäische Länder mit Flüchtlingen um? Dabei werde man wenige Länder bis gar kein europäisches Land finden, das so viele Maßnahmen ergriffen hätte wie Deutschland, auch wenn es im Moment Schwierigkeiten gäbe mit Gemeinschaftsunterkünften, dezentralen Unterkünften usw. Deshalb kämen auch so viele Flüchtlinge, die in anderen Ländern bereits einen Antrag gestellt hätten, nach Deutschland.
Fließende Grenze zwischen Asyl und Einwanderung? Aus dem Publikum bemerkte Klaus J. Bade, dass nach seinem Dafürhalten bisher viel über asylpolitische und asylrechtliche Fragen diskutiert worden sei, die Überschrift zu dieser Gesprächsrunde aber „Willkommen im Einwanderungsland“ heiße. Er wolle wieder auf dieses Thema zurückkommen. Direkt Manfred Schmidt ansprechend, meinte er, es gäbe wohl eine Reihe von Projekten, an denen die Bundesagentur für Arbeit und das BAMF beteiligt sei, bei denen
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versucht werde, asylrechtliche Fragen und die Frage nach fehlenden Arbeits kräften zusammen zu bringen. Er stellte Manfred Schmidt die Frage, ob man diese fließende Grenze zwischen Asyl und Einwanderung in der Realität nicht bereits längst überschritten habe? Man selektiere vor und sage: Wir nehmen nur die, bei denen wir davon ausgehen, dass sie auch längere Zeit oder sogar dauerhaft bleiben können. Und unmittelbar dazu sei zu fragen, wie man rechtlich damit umgehe, wenn man jemandem eine Qualifizierung zukommen lasse, diese Person sich dort bewähre, sich damit auch ein Stück weit integriere, aber – aus welchen Gründen auch immer – sein Verfahren aber negativ ausgehe. Sage man dann, wir lassen ihn hier bis zum Ende der Qualifikationsphase? Dann kam er nochmals auf die Überschrift „Willkommen im Einwanderungsland“ zu sprechen: Willkommen im Einwanderungsland bedeute nicht nur, dass man sich hinstelle und sage: „Was seid ihr aber nett. Wie schön, dass ihr da seid“. Es gehe grundsätzlich darum, dass man den eigenen Leuten, der Mehrheitsbevölkerung endlich begreiflich mache, wie man mit Einwanderern umgehen müsse. In anderen Ländern wisse man das teilweise bereits. Wenn man eine Einwanderungsgesellschaft werden wolle und wenn man sich dazu bekenne, dass wir Einwanderer für die Zukunft bräuchten, weil das Land sonst untergehe, dann müsse man auch lernen, damit umzugehen. Es brauche – so Bade – eine Art Orientierungskurs zum Beispiel an Volkshochschulen, der den Deutschen vermitteln könne, wie man sich gegenüber Einwanderern zu verhalten habe. Ein Einwanderer habe zudem ein legitimes Recht darauf, zu erfahren, wie die Spielregeln in diesem Einwanderungsland seien, meinte Bade. Ein Amerikaner könne die dort gültigen Spielregeln an fünf Fingern aufzählen, ein Deutscher dagegen sei nicht in der Lage, die Bedingungen in Deutschland auf den Begriff zu bringen. Klaus J. Bade sprach dann davon, dass er schon in den 1980er Jahren gesagt habe, Integration sei keine Einbahnstraße. Das bedeute, dass sich auch die Aufnahmegesellschaft verändere, wenn es eine dauerhafte Einwanderung gäbe. An Manfred Schmidt gewandt, verwies Aslı Sevindim darauf, dass Klaus J. Bade eine Art Spurwechsel angesprochen habe, wobei jemand im humanitären Bereich ankomme und dann den Sprung in den arbeitsmarkttechnischen Bereich mache und stellte ihm die Frage, wie er dazu stehe. Manfred Schmidt bezeichnete die Frage als in der Tat kompliziert. Er bemerkte, dass das BAMF im Jahr 2014 insgesamt 129.000 Entscheidungen getroffen habe und dabei in rund 40.000 Fällen Schutz in Deutschland gewährt habe. Diese 40.000 kämen – so Schmidt – sofort in die Integrationskurse und sogleich auf den Arbeitsmarkt. Komplizierter sei es mit denen, die abgelehnt worden seien. Hier gebe es bei bestimmten Integrationsleistungen die Möglichkeit unter bestimmten Voraussetzungen aus der Duldung, der Aufschiebung der Ausreisepflicht, dann doch noch zu einem Aufenthaltstitel zu kommen. Aber bei der Aufnahme aus humanitären Gründen dürften Nützlichkeitsgründe keine Rolle
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spielen. Es bestehe die Verpflichtung, dass jeder, dem Schutz in der Bundes republik Deutschland zustehe, diesen auch bekomme. In einer solchen Situation könne man keine Arbeitsmarktpolitik mitdenken. Es sei eine unglaublich schwierige Frage, die intensiv diskutiert würde, wie man humanitäre Fragestellungen und Arbeitsmarkt mit einander verknüpfen könne.
Das Abendland ist Gastfreundschaft Manfred Kock gestand zu, dass Fragen der Einwanderungspolitik sehr komplex seien. Auch er war der Meinung, es hätte sich im Vergleich zu den 1990er Jahren vieles zum Besseren gewandelt. Seine Frage sei aber, ob die Deutschen wirklich Menschen seien, die andere willkommen heißen? Er frage sich, woher die Angst vor dem Andern, vor dem Fremden komme. Wenn Pegida das Abendland vor dem Untergang retten wolle, dann müssten deren Anhänger eigentlich doch wissen und beachten, dass das Abendland gerade auch durch biblische Traditionen geprägt sei, so auch durch die Regeln der Gastfreundschaft. Der Fremde gehöre zu einem selbst, wie der Eigene, das sei die Tradition, das sei das Abendland. Abendland heiße auch, offene Arme zu haben und Menschen zu akzeptieren, obwohl sie anders seien, obwohl sie etwa einer anderen Religion zugehören. Ängste und Vorurteile seien ein großes Problem. Da sei Aufklärungsarbeit erforderlich. Zu thematisieren wäre, was eigentlich den Islam ausmache und ob das eigentlich dem Islam entspreche, was sich beispielsweise als Kalifat darstelle. Dies sei – so Kock – eine große Herausforderung, die es gemeinsam anzupacken gelte. Dabei sollten auch die, die schon lange Jahre als Muslime hier leben, sich mit denen zusammentun, die in diesem Land versuchen eine Willkommenskultur zu entwickeln. Zum Schluss erinnerte die Moderatorin daran, dass es seit einiger Zeit eine gesellschaftliche Debatte darüber gäbe, ob Deutschland ein Einwanderungsgesetz brauche. Die Frage sei auch, ob sich ein solches Gesetz nur an Neuankommende wenden oder ob es auch Auswirkungen auf diejenigen haben solle, die sich schon seit Generationen in Deutschland aufhalten. Tayfun Keltek wandte ein, es sei vorab wichtiger darüber zu sprechen, wie man die Gebote des Grundgesetzes in diesem Land umsetze. Ob es wirklich eine Gleichbehandlung aller gäbe und wie es um die Chancengleichheit stünde. Er verwies auf die Familienzusammenführung und auf die bereits in den Herkunftsländern abzulegenden Deutschprüfungen für bestimmte Herkunftsgruppen. So müssten Türken zum Teil lange warten bis der Ehepartner zuziehen könne. Bei anderen ginge dies sofort. Dies schaffe Unzufriedenheit und Misstrauen gegenüber der deutschen Gesellschaft. Dann betonte er nochmals den Gewinn, den Deutschland durch die Migranten und durch deren Zweisprachigkeit und Bikulturalität erzielt habe.
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Manfred Kock meinte es wäre interessant zu sehen, wie die einheimische Bevölkerung ganz selbstverständlich davon ausginge, dass sie selber immer auf dem Boden des Grundgesetzes stehen würde, dass man aber bei den Zugewanderten hinsichtlich der Beachtung des Grundgesetzes Forderungen stelle. Die Zugewanderten würden dies dann als unberechtigte Forderungen verstehen. In der Tat müssten sie sich immer wieder rechtfertigen. So würde gefragt, wie sie mit Frauen umgingen. Ein Umdenken und Umlernen nähme da viel Zeit in Anspruch. Aslı Sevindim erinnerte daran, dass ihre Frage zu einem Einwanderungsgesetz immer noch nicht beantwortet sei. Manfred Schmidt brachte zwei Punkte vor: Zum einen müsse klar sein, welche Werte und Grundsätze Richtlinie der Integration sein sollen. Zum anderen dürfe sich ein Einwanderungsgesetz nicht allein an Nützlichkeitsaspekten ausrichten. Man müsse eine offene Gesellschaft bleiben und auch Menschen den Zutritt gestatten, die der Gesellschaft im ökonomischen Sinne keinen direkten Gewinn brächten. Dies gälte insbesondere für Menschen in Not und für jene, die auf der Flucht seien. Die Moderatorin ergänzte hier Schmidts Ausführungen, indem sie darauf hinwies, dass es bei einer Aufnahme aus humanitären Gründen selbstverständlich auch keine Quote und keine Obergrenze geben könne. Sie bedankte sich bei den Gesprächsteilnehmern und dem Publikum und stellte abschließend fest, dass es – wie zu erwarten – nicht möglich gewesen sei, alle relevanten Punkte anzusprechen.
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Von der Integration zur Teilhabe
Max Matter Von der Integration zur Teilhabe Eine Diskussion anlässlich des 19. Forums Migration Zu der von Jochen Welt – dem ehemaligen Bundesbeauftragten für Aussiedler und nationale Minderheiten1 – moderierten Podiumsdiskussion waren einerseits Vertreter von Migrantenorganisationen und andererseits eine Mitarbeiterin und ein Mitarbeiter von Institutionen, die seit langer Zeit die Integration von Migrantinnen und Migranten begleiten und unterstützen, eingeladen worden. Die große und sehr heterogene Gruppe der Zugewanderten aus den sogenannten Anwerbeländern und deren Nachkommen vertrat der aus der Türkei stammende Enis Güleğen. Der Pädagoge Güleğen gehört zweifellos zu den engagiertesten Repräsentanten von Ausländer-Selbstorganisationen. 1984 gründete er gemeinsam mit anderen das „Centrum für Sprach- Migrations- und Türkeiforschung“. Er ist seit vielen Jahren in der Kommunalen Ausländerinnen- und Ausländervertretung der Stadt Frankfurt am Main tätig, in der er zuerst als einfaches Mitglied wirkte, dann Vorstandsmitglied und Vorsitzender wurde. Viktor Ostrovski, Begründer und Mitglied des geschäftsführenden Vorstandes des Kultur- und Integrationszentrums „Phoenix-Köln e.V.“ und Vorstandsmitglied des „Bundesverbandes russischsprachiger Eltern e.V.“ vertrat die große Zahl der aus der ehemaligen Sowjet Union zugewanderter Aussiedler, Spätaussiedler und Kontingentflüchtlinge. Als Vertreter der nach 1990 – vorwiegend als Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien – Zugewanderten, nahm Emran Elmazi von Amaro Drome.V.2, einer interkulturellen Jugendselbstorganisation von Roma und Nicht-Roma, an der Podiumsdiskussion teil. Bei einem moderierten Gespräch zum Thema der Gesamttagung „Von der Integration zur Teilhabe“ bei dem es um die selbstverständliche Einbeziehung der Migranten und um gesellschaftliche Partizipation gehen sollte, war es wichtig, Vertretern von Migrantenorganisationen den angemessenen Raum für die Darstellung ihrer Sicht zur Verfügung zu stellen.
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Jochen Welt war von August 2014 bis März 2017 Geschäftsführer der Otto Benecke Stiftung e.V.
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Romanes für „Unser Weg“.
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Da Integration – wie immer wieder betont wird – vor Ort, in den Kommunen (und in den Kreisen) stattfindet, war die Gesprächsrunde um Sybille Haußmann erweitert worden. Als Leiterin des Kommunalen Integrationszentrums des Kreises Düren (2005 bis 2010) und als Leiterin der Stabsstelle für Migrationsangelegenheiten (bis 2015) 3 war sie eine kompetente Ansprechpartnerin, die die Sichtweise der (Kreis-)Verwaltung darstellte. Der Gastgeber, die Otto Benecke Stiftung e.V., war in diesem Kreis durch ihren langjährigen Referatsleiter für Migrations- und Integrationsprojekte, Hans-Georg Hiesserich, vertreten. Da in dieser Gesprächsgruppe ja deutlich gemacht werden sollte, wie sich die Integrationsarbeit im Laufe der Jahre verändert hat, bat der Moderator die einzelnen Teilnehmer, sich in einer ersten Runde in die Vergangenheit zurückzuversetzen und sich mit den Fragen zu befassen: „Wie war das denn damals mit der Integration?“, „Bestand überhaupt ein gesellschaftliches Bewusstsein für die Bedeutung von Integration von Zugewanderten?“, „Gab es Ansätze zu einer Integrationsarbeit?“ und „Wie agierten damals die verschiedenen, mit der Integrationsproblematik konfrontierten Akteure?“
Fürsorgende Arbeit zu Beginn Der Moderator, Jochen Welt, erinnerte daran, dass er damals noch an einer Einrichtung studierte, die sich „Seminar für Wohlfahrtspflege“ nannte. Auch die dort angebotene Ausbildung sei – so Welt – ganz auf eine fürsorgende Arbeit ausgerichtet gewesen. Dann bat er Hans-Georg Hiesserich, der während seiner langjährigen Tätigkeit für die Otto Benecke Stiftung e.V. die Entwicklungen in der Integrationsarbeit über eine lange Zeit teilnehmend beobachten konnte, kurz über die fürsorgende, sozialarbeitende Ausrichtung in der Frühzeit der institutionalisierten Integrationsarbeit zu berichten. Als besonders charakteristisch für diese frühe Phase empfand Hans-Georg Hiesserich die starke und klare Fraktionierung, die damals bestimmend war. Eine ganz klare Einteilung in die Gruppen der „Ausländer“ einerseits und in die der Aussiedler andererseits führte dazu, dass die Schranken zwischen diesen Gruppierungen unüberwindbar waren. Die Gruppenzugehörigkeit entschied darüber, ob und welche Art der Förderung den Personen zu Teil wurde. Es bestand auch eine klare Zuordnung der einzelnen Zuwanderergruppen zu bestimmten Betreu3
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Heute leitet Sybille Haußmann das Amt für Schule, Bildung und Integration des Kreises Düren. Sie ist Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen, war Mitglied des 13. Landtags von Nordrhein-Westfalen (2000 – 2005) und ist Sprecherin der Landesarbeitsgemeinschaft EinwanderInnen NRW und Delegierte für die Bundesarbeitsgemeinschaft Migration und Flucht der Partei Bündnis 90/Die Grünen.
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ungsorganisationen. Die Otto Benecke Stiftung e.V. sei – so Hiesserich – stets in der glücklichen Lage gewesen, Integrationsangebote auf sehr hohem Niveau anbieten zu können. Ihre Zielgruppen seien Menschen mit einem klaren Rechtsstatus als Aussiedler oder als Asylberechtigte gewesen, die darüber hinaus alle mit einer akademischen Vorbildung nach Deutschland gekommen seien. Doch auch das Wissen über den hohen Bildungsgrad der Zugewanderten, habe damals nichts daran geändert, dass, diese Menschen defizitorientiert wahrgenommen worden wären. Den Zugewanderten sei eine Bringschuld zugewiesen worden, die sie durch eine von ihnen erwartete, besondere Leistungsbereitschaft abzuarbeiten hatten. Man sei ganz auf Hilfe für Menschen und noch nicht auf Hilfe zur Selbsthilfe ausgerichtet gewesen, denn eine wirkliche Partizipation der Zugewanderten habe man noch wenig im Blick gehabt. Heute – so Hiesserich – habe man Gott sei Dank davon Abstand genommen Leistungen für Individuen erbringen zu wollen. Vielmehr gehe es darum, dies zeige auch der Titel des 19. Forums Migration, gemeinsam mit Migranten Leistungen zu erbringen, ihre Potentiale zu erkennen und ihnen weitere Kompetenzen zu vermitteln, damit Teilhabe in der Gesellschaft gelingen könne. Aufgabe sei heute, Kompetenzen zu vermitteln, die gebraucht werden, um in unserer multikulturellen, vielschichtigen Gesellschaft partizipieren zu können. Die Angebote, die hierzu gemacht werden müssten, richteten sich auch nicht mehr allein an Zugewanderte, sondern gleichermaßen an alle Gesellschaftsmitglieder. Als nächster hob in der Gesprächsrunde Enis Güleğen die große Bedeutung der Migrantenselbstorganisationen für die Integration der Zugewanderten hervor. Die „Gastarbeiter“ – so Güleğen – hätten sich in einem hohen Maße selber integriert. Die Migrantenselbstorganisationen stellen für Enis Güleğen die hauptsächlichen Akteure und die wichtigste Säule in der Integrationsarbeit dar. Entstehung und Wirken der Selbstorganisationen beschrieb er als eine Reaktion auf das Versagen der deutschen Einwanderungspolitik. Obwohl gerade die Migrantenorganisationen sehr gute Integrationshilfen geboten hätten, seien ihre Leistungen nicht nur nicht anerkannt worden, sondern wären von Vertretern der Mehrheitsbevölkerung häufig auch von oben herab behandelt worden. Man habe sie kaum und auch in letzter Zeit nicht durchgehend, als gleichberechtigter Partner auf Augenhöhe gesehen. Obwohl die in Selbsthilfeorganisationen aktiven Menschen die eigentlichen Experten der Migrations- und Integrationspolitik seien, und so auch auf Probleme aufmerksam gemacht hätten, die von der deutschen Ausländerpolitik nicht erkannt worden seien, so würde dies – so Güleğen – bis heute nicht oder zu wenig anerkannt. Auf die Frage des Moderators, ob sich hier tatsächlich noch nichts geändert habe, unterstrich Enis Güleğen nochmals, dass die Migrantenselbstorganisationen bis heute Aufgaben übernehmen müssten, die der Staat nicht übernehme und seit einiger Zeit auch solche aus denen sich die Länder und Kommunen zurückgezogen hätten, wie etwa eine muttersprachliche Förderung und bilinguale Arbeit.
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Auch wenn heute viel von „Willkommenskultur“ die Rede sei, so sei es doch eine Tatsache, dass das Ankommen in Deutschland vor allem von den Migrantenvereinen und nicht vom Staat erleichtert werde. Ausländervereine, Migrantenorganisationen waren und sind die ersten Adressen, an die sich Neuhinzukommende immer noch wendeten. Der durch Zuwanderung entstandene Bedarf in den Bereichen Bildung, Kultur und politische Partizipation würde – so Güleğen – in einem hohen Maße bis heute von den Migrantenselbsthilfeorganisationen abgedeckt. Migrantenselbstorganisationen sind für Enis Güleğen die tragende Säule der Integration. Auf die Frage, welche Forderungen man daraus ziehen sollte, wollte er im späteren Verlauf der Gesprächsrunde zurückkommen.
Frühes Bedürfnis nach Teilhabe Sybille Haußmann, Stabsstellenleiterin für Migrationsangelegenheiten des Kreises Düren, wurde von Jochen Welt danach gefragt, wie die Gemeinden, die ja als erste eine Willkommenskultur präsentieren – oder eben auch nicht – präsentieren, zum ersten Mal in den frühen Jahren der Zuwanderung mit dem Thema Integration konfrontiert worden seien. Sybille Haußmann verwies darauf, dass sie zur Zeit der ersten Einwanderungsphase der sogenannten Gastarbeiter selber noch ein Kind gewesen sei und sich für diese Zeit auf Angelesenes und von Freunden und Bekannten Erfahrenes beziehen müsse. Sie meinte, ein starkes Bedürfnis nach Teilhabe sei schon in den Anfängen der Arbeitsmigration erkennbar gewesen. Sie erinnerte an die schon in den 1960er Jahren gegründeten türkischen Arbeitervereine und daran, dass türkische Arbeiter beim „Ford-Streik“ 1973 eine große Rolle gespielt hatten. Schon früh hätten sich – so Haußmann – auch griechische Migranten vor allem bei der SPD politisch beteiligt. Spanische Elternvereine wandten sich schon zu Beginn der 1970er Jahre gegen die Separierung ihrer Kinder in „nationalen Klassen“ und setzten sich für die Integration in die deutsche Regelschule und für eine gute Schulbildung ein. Sybille Haußmann wies darauf hin, dass eine Integration anfänglich auch durch die irrtümliche Annahme der Ausländer wie auch der einheimischen Bevölkerung erschwert wurde, der Aufenthalt von Ausländern sei lediglich ein vorübergehendes Phänomen. Die langeanhaltende starke Rückkehrorientierung vieler Eltern, ihre Ausrichtung auf das Schulsystem des Herkunftslandes aus dem Grund, den Kindern nach der vorgesehenen Rückkehr einen unproblematischen Wechsel ins nationale Bildungssystem zu ermöglichen, einerseits und Sprachbarrieren bei Schülern, Eltern und Lehrern andererseits führten zur Herausbildung von zum Teil national homogenen Ausländerklassen. Sybille Haußmann berichtete, dass ihr in Düren von Zugewanderten immer wieder erzählt worden sei, sie seien in den ersten Schuljahren, vereinzelt bis zu vier, fünf Jahre unter sich geblieben, bevor sie dann überhaupt die Chance bekommen hätten, in einer deutschen Schule Deutsch zu lernen. Damalige Fehlentscheidungen im Bildungssystem wirkten sich negativ auf den späteren Lebensweg der Betroffenen aus. 90
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Sybille Haußmann erkannte eine stärkere Öffnung und vermehrte Zuwendung zum Themenkomplex „Integration“ in Folge des Zuwanderungsgesetzes von 2005. Erst dieses habe auch auf Kreis- und Kommunalebene Impulse gegeben, mehr für „Integration“ zu tun. Die Schaffung der Stelle einer Integrationsbeauftragten im Kreis Düren – die sie von 2005 bis 2010 inne hatte – sah Sybille Haußmann in einem Zusammenhang mit dem Zuwanderungsgesetz und mit der Ernennung Armin Laschets als NRW-Landesminister für Generationen, Familie, Frauen und Integration. Man habe nun offenbar verstanden, dass Integration ein wichtiges Thema sei – so Haußmann. Das Gespräch mit Viktor Ostrovski leitete Jochen Welt mit der Frage an ihn ein, wie die Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, die große Zahl der Aussiedler und die Kontingentflüchtlinge aufgenommen worden sei? Die Ansätze seien vermutlich paternalistisch gewesen. Viktor Ostrovski pflichtete ihm bei und meinte, diese paternalistische Haltung der Behörden hätte auch dazu geführt, dass neben den vielen, die sich erfolgreich integriert hätten, auch viele auf längere Zeit in die Sozialhilfe abgeglitten seien. Einige seien von Sozialleistungen tatsächlich ähnlich abhängig gewesen, wie von Drogen. Es habe sich eine große Gruppe hochqualifizierter aber arbeitsloser Menschen gebildet. Das Ziel seiner Institution, Phoenix e.V., sei es gewesen, als Selbsthilfeverein den eigenen Leuten zu helfen, in Arbeit zu kommen; daher habe man sich an das Arbeitsamt in Köln gewandt und eine Zusammenarbeit mit diesem angeboten. Lange Zeit jedoch sei keine Antwort erfolgt. Nach eineinhalb Jahren erst sei dann ein ablehnendes Schreiben eingetroffen. Die Bemühungen, den Ratsuchenden zu einer Arbeitsstelle zu verhelfen, seien trotz allem fortgesetzt worden. Die erzielten Erfolge hätten das Arbeitsamt wohl so beeindruckt, dass es dann doch noch zu einer Kooperation gekommen sei. Nun sei man seit zwölf Jahren im Auftrag der Arbeitsverwaltung tätig und zu einem festen Bestandteil der beruflichen Infrastruktur in Köln geworden. Bei der Vorstellung seines nächsten Gesprächspartners, Emran Elmazi von Amaro Drom e.V., erinnerte Jochen Welt daran, dass er als Bundesbeauftragter für die Aussiedler auch für die nationalen Minderheiten zuständig gewesen sei und daran, dass Sinti und Roma seit 1995 als eine solche Minderheit anerkannt seien. Er meinte – anspielend auf die Berichterstattung in den Medien und die Stellungnahmen der Politik zur „Armutseinwanderung“ aus den 2007 in die Europäische Union aufgenommenen Ländern Bulgarien und Rumänien – gegenwärtig stünden Roma in einem besonderen Maße im Fokus der öffentlichen Diskussion. Elmazi korrigierte Welts Hinweis, Sinti und Roma seien als nationale Minderheit in Deutschland nur begrenzt anerkannt, was bedeute, dass dieser Minderheitenstatus nur jenen deutschen Sinti und Roma, die sich schon seit Jahrhunderten in Deutschland aufhalten, nicht aber den zugewanderten, ausländischen Roma, gewährt werde. Trotz der späten Anerkennung – so Elmazi – sei die Situation auch der deutschen Sinti und Roma schwierig gewesen und sie sei es zum Teil
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immer noch. Ihre Integration sei behindert worden, die Mehrheitsgesellschaft zeige den Sinti und Roma immer wieder, dass man sie nicht integrieren wolle. Er führte eine Reihe von Beispielen an, die die zeitlich weit zurückreichende aber auch die gegenwärtige Ablehnung dieser Minderheit durch viele Menschen der Mehrheitsbevölkerung belegen. Emran Elmazi gab den Zuhörenden die wichtige Information, dass ausländische Roma zu unterschiedlichen Zeiten und aus unterschiedlichen Beweggründen nach Deutschland zugewandert seien. Als erste wären hier jene Roma zu nennen, die als Arbeitsmigranten in den 1960er und -70er Jahren gekommen waren. Die meisten von ihnen gaben sich in Westeuropa nicht als Roma zu erkennen und galten hier einfach als Jugoslawen oder etwa Spanier. Die wichtigsten Gruppen bildeten die Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem Bosnien- und Kosovokrieg. Die momentane Zuwanderung von asylsuchenden Roma aus dem westlichen Balkan und von Roma aus Bulgarien und Rumänien, die hier Arbeit und ein besseres Leben suchen, bilden das letzte Glied einer längeren Kette. Der Gesprächsleiter dankte Emran Elmazi für seine Informationen und wies das Publikum auf die Vorträge am Nachmittag zu einer angeblichen „Armuts“- oder „Roma“-Zuwanderung der letzten Monate hin. In seiner kurzen Zusammenfassung der ersten Gesprächsrunde nannte Jochen Welt den fürsorgenden, paternalistischen und defizitorientierten Ansatz als charakteristisch für die frühen Jahre der Integrationsarbeit in Deutschland. Er erwähnte nochmals die klare Zuweisung einzelner Zuwanderergruppen zu bestimmten Betreuungsorganisationen. Als großen Fortschritt bezeichnete Jochen Welt die Schaffung einer Stelle eines Ausländerbeauftragten der Bundesregierung im Jahr 1978. Vom Memorandum des ersten Beauftragten, Heinz Kühn, hätten damals wichtige Impulse ausgehen können, wenn es ernsthaft diskutiert und umgesetzt worden wäre. Einen wesentlichen Schritt hin zu gesellschaftlicher Teilhabe sah Welt in der Bildung von Ausländerbeiräten.
„Ausländerbeiräte“ und „Ausländerbeauftragte“ Den Themenkomplexen „Ausländerbeiräte“ und „Ausländerbeauftragte“ galt der erste Teil der zweiten Gesprächsrunde. Jochen Welt stellte eingangs fest, in Hessen würde man heute noch von Ausländerbeirat sprechen, während man in Nordrhein-Westfalen nun einen Integrationsbeirat etabliert habe. Sybille Haußmann korrigierte ihn: die korrekte Bezeichnung laute „Landesintegrationsrat“. Welt wollte daraufhin wissen, ob es sich lediglich um ein neues Aushängeschild handele oder ob es auch um neue Inhalte ginge? Sybille Haußmann berichtete darüber, dass es in Nordrhein-Westfalen seit der laufenden Legislaturperiode für Kommunen die Möglichkeit gäbe, Integrationsräte oder Integrationsausschüsse zu bilden. Als ein Problem sah sie die
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Zusammensetzung der Integrationsausschüsse, da diese mehrheitlich mit Ratsmitgliedern und nur zu einer Minderheit mit direkt gewählten Migranten besetzt seien. Die Integrationsräte dagegen setzten sich aus zwei Drittel direkt gewählter Zuwanderer und einem Drittel Ratsmitgliedern zusammen. Der Landesintegrationsrat strebe im Landtag eine Änderung des Gesetzes an, die nur noch Integrationsräte und keine Ausschüsse mehr vorsehe. Zudem sollten deren Möglichkeiten durch größere Ressourcenzuteilungen verbessert werden. Dadurch, dass die Wahlen zu den Integrationsräten gleichzeitig mit den Kommunalwahlen stattfinden sollen, solle eine Aufwertung der Integrationsräte erzielt werden. Trotz all dieser Verbesserungen, meinte Haußmann, bliebe diese Form der Vertretung der Migranten dennoch unbefriedigend. Es bestünde weiterhin eine Unterordnung der Integrationsräte unter die Stadträte. Solange es kein kommunales Wahlrecht für Ausländer gäbe – so Haußmann – sei eine tatsächliche Partizipation eines großen Teils der Menschen in den Kommunen nicht möglich. Der auf die Partizipationsmöglichkeiten der zugewanderten Bevölkerung in Hessen angesprochene Enis Güleğen sah eine Modernisierung und Weiterentwicklung der Ausländerbeiräte als dringend notwendig an. Mit der neuen Landesregierung wolle man dieses Thema erörtern. Enis Güleğen wies im weiteren Verlauf des Gespräches auf eine interessante Tatsache zur Zusammensetzung der Ausländerbeiräte in Hessen hin: Laut Güleğen sollen bis zu über 55 Prozent der Delegierten in den Ausländerbeiräten entweder im Besitz eines deutschen Passes, also Eingebürgerte, oder EU-Bürger sein. Ein Großteil der Delegierten seien also Menschen, die im Grunde schon alle Partizipationsmöglichkeiten hätten. Viele von ihnen seien in den Parteien sehr aktiv; einige seien sogar gewählte Mitglieder von Kommunalparlamenten. Güleğen stellte dann die rhetorische Frage, warum diese Leute, die gerade die Phase der Integration hinter sich gelassen und nun eine volle Teilhabe erreicht hätten, sich doch weiterhin in untergeordneten Beiräten engagierten? Seine Antwort lautete, diese neu Eingebürgerten hätten offenbar die Erfahrung gemacht, dass sie ihre Anliegen, ihre Interessen nicht genügend in die Gremien der Gesamtgesellschaft einbringen können. Der deutsche Pass schütze eben nicht vor Diskriminierung. Das allgemeine Wahlrecht sei kein Garant für eine gleichberechtigte Teilhabe. Enis Güleğen regte Überlegungen zu einer Art von „Minderheitenschutz“ an.
Problematische Parallelstrukturen Jochen Welt wollte nun von Sybille Haußmann wissen, ob solche Parallelstrukturen, wie Integrationsräte oder Ausländerbeiräte, heute noch notwendig seien oder ob es nicht sinnvoller wäre, die Zugewanderten engagierten sich in den gesellschaftlichen Strukturen, die vorhanden seien – also in den Regelinstitutionen. Er fragte, ob man so nicht einem partizipativen Ansatz, einem Teilhabeansatz wesentlich näher komme? 93
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Sybille Haußmann nahm auf ihre frühere Tätigkeit als Frauenbeauftragte Bezug und meinte, man dürfe bei der Frage der Teilhabe von Zugewanderten, wie in der Frauenfrage nicht einen Ansatz gegen einen anderen Ansatz ausspielen, sondern müsse verschiedene Ansätze neben einander verfolgen. Die Frage laute nicht: Gender-Mainstreaming oder Frauenbeauftragte? Man brauche beides. Ebenso brauche man – so Haußmann – Ausländerbeiräte nach wie vor. Man müsse sich aber stets bewusst sein, dass es strukturelle Machtunterschiede (zwischen Stadträten und Ausländerbeiräten) gäbe. Es bestünden – so Haußmann – bei den Parteien noch Vorbehalte gegenüber den Zugewanderten. Immer noch seien Versuche, politisch interessierte und in Beiräten aktive Ausländer für die Partei und somit auch für die politische Arbeit in der Gesamtgesellschaft zu gewinnen, defizitär. Es gälte noch viel zu tun, was die interkulturelle Öffnung der Parteienlandschaft angehe. Von Jochen Welt darauf angesprochen, ob die Otto Benecke Stiftung e.V., deren Aufgabe es ja sei, Menschen so zu qualifizieren, dass sie eine Chancen haben, in der Gesellschaft partizipativ tätig zu sein, etwas für Zugewanderte tue, meinte Hans-Georg Hiesserich, man habe einen einstmaligen Paternalismus überwunden und würde zunehmend mehr mit, als für Zugewanderten arbeiten. Man dürfe – so Hiesserich – Integration nicht einseitig von der etablierten deutschen Betreuungsgesellschaft aus betreiben, sondern müsse dies in Netzwerken, in Kooperation mit Regelinstitutionen wie Schule, Polizei, Gewerkschaft und selbstverständlich auch mit den Migranten tun. Bei diesen Integrations-Netzwerkkonferenzen, Versuchen der Öffnung und stärkeren Einbeziehung auch von Migranten, sei man anfänglich doch weitgehend unter sich geblieben. Auf dem Podium seien stets nur einheimisch deutsche Vertreter deutscher Institutionen gewesen. Im Publikum habe sich vielleicht der eine oder andere Migrant befunden, der aber nicht zu Wort gekommen sei. Dies – so Hiesserich – habe sich grundlegend ändern müssen. Eine stärkere Zusammenarbeit mit Migrantenselbstorganisationen habe sich schon deshalb ergeben müssen, weil die etablierten Organisationen zwar in der Lage gewesen seien, Projektmittel einzuwerben und Projektteams zu bilden, aber Schwierigkeiten gehabt hätten, avisierte Zielgruppen zur Mitwirkung zu gewinnen. Anfänglich hätte man gedacht, man könne auf Migrantenorganisationen zugehen und sie dazu bringen, die Zielgruppen zu „liefern“. Diese hätten aber darauf bestanden, als gleichwertige Partner am jeweiligen Projekt beteiligt zu werden. Die Forderung der Migrantenorganisationen habe gelautet: „Wir wollen eine win-win-Situation, wir wollen beide profitieren und müssen das zusammen machen.“ So seien unterschiedliche Kompetenzen in sehr positiver Weise zusammen gekommen: Etablierte Organisationen, wie die Otto Benecke Stiftung e.V., die Erfahrung in der Einwerbung von Mitteln und über ein Know-How in der regelgerechten Verausgabung dieser Mittel hatten, schlossen sich mit Migrantenorganisationen zusammen, die nahe am Geschehen, nahe an den betroffenen Menschen waren und so deren Bedürfnisse kannten. Die Organisation würde – so Hiesserich – wahrscheinlich die Zielgruppe sehr schnell
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wieder verlieren, wenn man unter sich bliebe. Die Otto Benecke Stiftung e.V. habe dies schnell erkannt und habe deshalb eine Reihe von Kooperationen mit den verschiedensten Migrantenorganisationen geschlossen. Die Zusammenarbeit sei nicht immer leicht, beide Partner müssten bereit sein, dem jeweils anderen Zugeständnisse zu machen. Beide Seiten müssten lernen; doch immer dann, wenn es gelänge, hätten auch beide Seiten ihren Gewinn davon.
Miteinander auf Augenhöhe Der Gesprächsleiter, Jochen Welt, berichtete, dass er in seiner ehemaligen Funktion als Aussiedlerbeauftragter der Bundesregierung immer wieder beobachtet habe, dass das angesprochene Miteinander auf Augenhöhe eher Ideal als Wirklichkeit gewesen sei. Vielfach hätten die einheimisch deutschen Organisationen die Mittel eingeworben und auch hauptsächlich für sich verausgabt, die mitwirkende Migrantenorganisation habe vielfach nur die Krümel, die abfielen, erhalten. Er fragte die anwesenden Vertreter der Migrantenorganisationen, wie sie es erreichten, dass sie angemessen beteiligt würden. Viktor Ostrovski von Phoenix-Köln e.V. meinte, seine Organisation hätte das anfänglich fehlende Wissen und Können, Projekte zu beantragen, einfach von außen eingekauft. „Wir haben uns interkulturell geöffnet für Deutsche.“ So hätte man sich in die Lage gebracht, mit Politik, mit Ministerien und Verwaltungen auf Augenhöhe zu kommunizieren. Gegenüber Emran Elmazi vermutete Jochen Welt, auch Amaro Drom e.V. würde sich wohl nicht einfach als Helfer, als Zuträger anderer vorhandener Organisationen verstehen. Elmazi führte aus, dass Amaro Drom e.V. eine Jugendorganisation von und für Roma und Nicht-Roma sei und ihr Schwerpunkt in der Förderung von Romajugendlichen liege. Aus Projektmitteln sei man in der Lage – so Elmazi – ein paar wenige Angestellte zu finanzieren. Man lege Wert darauf, dass unter den Projektmitarbeitern auch ein Teil Romajugendliche seien, die so lernten, Projekte später selber zu beantragen und durchzuführen. Welt wandte sich danach nochmals an Viktor Ostrovski und meinte, Ostrovski und Phoenix-Köln e.V. hätten erkannt, dass es nicht ausreiche, Projektanträge stellen zu können und es nicht genüge nach innen beratend tätig zu sein, sondern dass es darum gehen müsse, wie man sich als Lobby-Organisation auf Bundesebene für die Belange der russischsprachigen Menschen in Deutschland einsetzen könne. Mit der Gründung eines Verbandes der Russischsprachigen sei man nun gesellschaftspolitisch aktiv und trage zu einem neu verstandenen Integrationsprozess bei. Ostrovski ergänzte Welts Aussagen durch Hinweise auf die Ausgangslage, die Möglichkeiten und Ziele einer bundesweiten Verbandstätigkeit. Er unterstrich
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nochmals, dass in der von ihm vertretenen Gruppe viele Menschen hochqualifiziert seien und gerne im Bildungsbereich tätig wären. Man sähe eine wichtige Aufgabe in der Förderung von sozial benachteiligten Kindern und Jugendlichen. Diese Verbandsziele seien vom Bund anerkannt worden und deshalb erhalte der Bundesverband russischsprachiger Eltern nun eine Strukturförderung durch die Bundesregierung. Jochen Welt beglückwünschte Viktor Ostrovski und seinen Verband für die Strukturförderung, die – wie er meinte – sonst nur sehr etablierten, alt eingesessenen Organisationen zu Teil würde. Auch Hans-Georg Hiesserich von der OBS schloss sich dem Glückwunsch an. Die Otto Benecke Stiftung e.V. sei froh darüber, dass sie auch ein wenig habe mithelfen können, diesen Bundesverband aus der Taufe zu heben. Bedauerlich sei aber, dass die Stiftung ihre Strukturförderung 2009 verloren habe und nun allein von Projektmitteln leben müsse. Hier sähe man – so Hiesserich – dass das Zusammenspiel von einheimischen etablierten Organisationen der Integrationsförderung und von Migrantenorganisationen auch von einem Konkurrenzverhältnis geprägt sei. Ein solches Konkurrenzverhältnis existiere ebenfalls zwischen Migrantenorganisationen. Man bemerke diese Problematik jetzt wieder bei der sogenannten Neuzuwanderung aus Südost-Europa in ihrem Miteinander mit schon länger hier lebenden Zuwanderergruppen. Diejenigen, die schon vor längerer Zeit gekommen seien, empfänden sich als Gemeinschaft und diejenigen, die als letzte dazu gekommen seien, würden als „Fremde“ betrachtet.
Willkommenskultur – Realität oder Utopie? Nachdem Jochen Welt das Publikum aufgefordert hatte, sich am Gespräch zu beteiligen, wurden Begriff und Phänomen „Willkommenskultur“ kritisch angegangen. Rahim Öztürker meinte, er möchte nach 30 Jahren in Deutschland nicht mehr willkommen geheißen werden: „Ich bin ja hier in diesem Land.“ Klaus J. Bade äußerte, man begrüße am Hauseingang Leute, nähme aber nicht zur Kenntnis, dass im Haus selber schon seit drei Generationen Hinzugekommene wohnen würden. Dies sei auch keine „Willkommenskultur“, allenfalls eine „Willkommenstechnik“. Bade führte weiter aus, Integrationsförderung sei in der Bundesrepublik Deutschland ja nicht von oben nach unten verlaufen. Von oben sei Integration über Jahrzehnte eher behindert worden. Wichtige Programme – wie etwa Zuwanderungsgesetz und Anerkennungsgesetz– seien dreißig Jahre zu spät gekommen. Integrationsarbeit sei damals in den Kommunen und von den Migrantenselbstorganisationen geleistet worden. Dann fragte er die Vertreter der Migrantenorganisationen, inwiefern sie heute Hilfestellung leisten würden für die, die jetzt neu ankommen.
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In einer weiteren Wortmeldung aus dem Publikum beklagte Ismeta Stojković, dass die Gesellschaft die von den Zugewanderten erbrachten Integrationsleistungen nicht zu Kenntnis nähme und nicht schätzen würde. Auch die von den Migrantinnen und Migranten mitgebrachten Fähigkeiten würden nicht anerkannt und würden daher brach liegen. Die sei kein Zeichen von „Willkommen“. Sie fühle sich nicht willkommen geheißen. Gefragt wurde aus dem Publikum auch, wie Zugewanderte stärker in die politische Arbeit mit einbezogen werden könnten. Eine interessante Frage, die ebenfalls aus dem Publikum kam, richtete sich kritisch an Migrantenorganisationen: Ethnisieren sich diese Organisationen selbst? Migrantenorganisationen würden – so wurde gesagt – durch ihre Betonung der Kulturen der Herkunftsländer, dem Import von politischen, religiösen, ethnischen Problemen usw. den Integrationsprozess hier nicht nur fördern, sondern auch beeinträchtigen. Sich wieder auf den Kreis der Podiumsgäste konzentrierend, richtete Jochen Welt die Frage Klaus J. Bades nach dem Engagement der Migrantenorganisationen für die jetzt ankommenden Zuwanderer an die anwesenden Vertreter der Organisationen. Viktor Ostrovski berichtete, dass Phoenix-Köln e.V. in Zusammenarbeit mit dem Job-Center Erfolge bei der Beratung und Arbeitsvermittlung von Neuzuwanderern aus Bulgarien erzielt habe. Damit habe man auch einen Beitrag zur Kriminalitätsverhütung geleistet. Man sei sehr stolz darauf, ein enger Partner des Jobcenters Köln zu sein. Auch Emran Elmazi konnte Erfolge seiner Organisation Amaro Drom e.V. schildern. Ihre Beratungsstelle in Berlin heiße offiziell Beratung für „EU-Neubürger“. Dort würden nicht nur Roma, sondern alle, die sich beraten lassen wollen bei der Suche nach Wohnraum, nach Arbeit und in schulischen Fragen etwa unterstützt. Niemand werde nach seiner Staatsbürgerschaft oder nach seiner ethnischen Identität gefragt. Danach kam Emran Elmazi nochmals auf den Integrationsbegriff und auf die Förderung von Romajugendlichen – dem Vereinszweck von Amaro Drom e.V. – zu sprechen. Er vermeide – so sagte er – den Begriff „Integration“. Ihm fehle eine klare Definition. Wichtiger als Integration sei es, jungen Menschen Freiräume zu schaffen, so dass sie sich selbst entwickeln und eigenverantwortlich bestimmen könnten, welchen Weg sie gehen wollen. Amaro Drom e.V. habe ganz anders als alteingesessene Vereine und Organisationen der Integrationsförderung direkte Kontakte zu den Jugendlichen, spreche deren Sprache und besitze deren Vertrauen. Hans-Georg Hiesserich zweifelte daran, dass es Migrantenorganisationen leicht gelinge, multiethnisch zu agieren. Meist entwickele sich eine Konzentration auf Personen aus dem angestammten kulturellen Raum. Er bezog sich auf Erfahrungen aus dem Projekt MIGoVITA, in dem die Otto Benecke Stiftung e.V. mit Phoenix-Köln e.V., Amaro Drom e.V. und der Stiftung Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung zusammengearbeitet hat, um im Rahmen
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der Jugendarbeit von Migrantenorganisationen attraktive Bildungs- und Mitwirkungsangebote zu schaffen. Auch im dritten Jahr des Projektes sei immer noch die Konzentration der einzelnen Projektpartner auf die je eigenen Leute zu bemerken. Die Zukunft gehöre aber einem Ansatz, bei dem sich die verschiedenen zusammenarbeitenden Organisationen gemeinsam fit machten für ihre Arbeit an der multikulturellen Gesellschaft und nicht nur an einzelnen Teilausschnitten. Man müsse die Fraktionierung, zu der es bei der Integrationsarbeit der „Gastarbeiter“ gekommen sei, überwinden. Dann könne sich vielleicht ein Prototyp einer Organisation entwickeln, dem im Integrationsbereich/Partizipationsbereich die Zukunft gehöre. Auf die davor im Publikum gestellte Frage nach einer Selbstethnisierung durch Migrantenverbände, meinte Hans-Georg Hiesserich, man müsse hier immer zwei Aspekte beachten: zum einen die Aufgaben, die diese Organisationen hier und zum andern diejenige, die sie in den Herkunftsländern zu leisten hätten. Nach seiner Erfahrung gehe es diesen Organisationen um beides: sowohl darum, den nach Deutschland gekommenen Landsleuten, als auch den im Herkunftsland verbliebenen Menschen zu helfen. Er erinnerte daran, dass Migranten mit ihren Geldüberweisungen in die Herkunftsländer eine doppelt so hohe Entwicklungshilfe leisteten wie staatliche Stellen. Jochen Welt dankte für die verschiedenen Stellungnahmen und stellte dann die Frage, was geschehen müsse, um ein Mehr an Teilhabe für alle in der Gesellschaft erreichen zu können? Aus dem Kreis der Gesprächsteilnehmer wurde gefordert, die Migrantenselbstorganisationen sofort als gleichberechtigte Partner anzuerkennen und sie mit denselben Mitteln zu fördern, ihnen dieselben Möglichkeiten zu bieten, wie man dies jedem deutschen Verband gewähre. Der Bundesverband russischsprachiger Eltern sei die einzige hier vertretene Migrantenorganisation, die eine Strukturförderung erhalten würde. Alle andern müssten ihre Arbeit auf ehrenamtlicher Basis und allein auf eigene Mittel gestützt leisten. Sybille Haußmann wollte noch einmal auf die im früheren Verlauf des Gespräches genannte Konkurrenz zwischen den verschiedenen Organisationen und Einrichtungen der Integrations- bzw. der Partizipationsförderung eingehen. Wenn man weiteren Gruppen Teilnahmechancen eröffnen wolle, ende das auch in Konkurrenz, weil die Ressourcen begrenzt seien. Sie brachte abschließend noch einen wichtigen, bislang noch nicht genannten Aspekt ein und meinte, wenn man Teilhabe fördern wolle, dann gehöre auch eine konsequente Antidiskriminierungsstrategie dazu. Abschließend bekundeten die Teilnehmer der Gesprächsrunde, dass es nun wichtig sei, nicht nur über eine Verbesserung der Teilhabechancen zu sprechen, sondern dies auch politisch umzusetzen und das Thema seriös anzugehen. Man müsse sich auf die Lösung von Problemen konzentrieren. Integration bzw. Partizipation seien Themen, die man nicht den Populisten überlassen dürfe.
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Zusammenfassend skizzierte Jochen Welt nochmals kurz den Weg von der paternalistischen Fürsorge für Migranten über verschiedene Integrationskonzepte hin zu einem Mehr an gesellschaftlicher Teilhabe und Partizipation für alle.
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Zuwanderer aus Südosteuropa – Wer kommt?
Max Matter Zuwanderer aus Südosteuropa – Wer kommt? Plädoyer für eine differenzierte Wahrnehmung und präzisere Maßnahmen Mit meinem Beitrag zu dieser Tagung möchte ich zu einer differenzierteren Wahrnehmung der Zuwanderung bzw. der Zuwandererinnen und der Zuwanderer aus dem östlichen Europa, insbesondere aus Bulgarien und Rumänien beitragen. Bislang scheint der Blick auf die gekommenen Menschen stark pauschalisierend, durch Vorurteile geprägt und von Fremdenangst bestimmt zu sein. Lassen Sie mich zeitlich etwas ausholen. Auch schon vor der ersten EUOsterweiterung, als zum 1. Mai 2004 zehn neue Staaten – davon acht ehemals kommunistisch geprägte Länder – in die Europäische Union aufgenommen worden waren, fanden sich in vielen Medien stark dramatisierende und Ängste schürende Berichte, die vor einer „Flut von Armen“ warnten, die über Westeuropa hereinbrechen könnte. Verwiesen wurde auf die vielen armen Roma, die in einigen dieser Staaten lebten.1 Doch der befürchtete „Ansturm“2 der Armen blieb aus. Ende 2004 lebten sogar rund 42.000 Staatsbürger aus den acht neuen EU-Mitgliedsstaaten weniger in Deutschland, als Ende 2003. Einen geringen Wanderungsüberschuss wiesen lediglich Litauen, die Slowakische und die Tschechische Republik auf. Auch wenn es in den darauf folgenden Jahren Zuwächse aus allen acht Ländern gab, stiegen die Zuwanderungssaldi erst nachdem am 30. April 2011 die Bürger dieser Länder die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit erhalten hatten, merklich an. Der massenhafte Zuzug von Roma aus der Slowakischen Republik und aus Ungarn, den man erwartet hatte, unterblieb. Wenn auch ein paar zusätzliche Straßenmusikanten oder Bettler aus dem Kreis slowakischer und ungarische Roma-Gruppen ihre Wege in deutsche Städte gefunden haben mögen, so waren dies – wie die 1
So schrieb etwa das Magazin „STERN“ am 6. April 2004 unter dem Titel „Dritte Welt in Europa“ über Roma-Slums in der Ostslowakei: „Bretterbuden aus Holz mit kaum wetterfesten Blechdächern, dazwischen Trampelpfade (…) Eine geregelte Arbeit hat keiner hier. Kindergeld und Notstandshilfe sind die wichtigsten Einnahmequellen.“ Thanei, Christoph: Dritte Welt in Europa. In: STERN vom 6.4.2004.
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Zur Umschreibung von Migrationsvorgängen bedient man sich gerne Metaphern aus den Bereichen der Naturkatastrophen (Flut, Welle, Sturm usw.) oder der Militärsprache (Invasion usw.).
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slowakischen Soziologen Imrich und Michal Vašečka festgestellt haben – meist Angehörige einer nach der Wende von 1989 verarmten Roma-Mittelschicht aus Städten oder größeren Dörfern (Vašečka/Vašečka 2003), nicht aber die Ärmsten aus den segregierten, slumartigen Roma-Siedlungen. 3 Diese wenig spektakuläre Entwicklung nach der ersten Osterweiterungsrunde mag mit dazu beigetragen haben, dass man zum 1. Januar 2007 die beiden südosteuropäischen Staaten Bulgarien und Rumänien in die Europäische-Union aufnahm, obwohl es beträchtliche Zweifel daran gegeben hatte, ob diese Länder die Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft erfüllen würden4. Beim Minderheitenschutz wurden damals erhebliche Defizite festgestellt, die insbesondere die am meisten diskriminierte Minderheit 5 – die der Roma – betrafen. So heißt es im Monitoring-Bericht 2005 der Europäischen Kommission zu Bulgarien: „Im Bereich der Menschenrechte und des Minderheitenschutzes besteht weiterer Handlungsbedarf, vor allem im Hinblick auf die Integration der Roma-Minderheit“ (Europäische Kommission 2005). Anders als bei der Erweiterung von 2004 stiegen die Zuwandererzahlen aus Bulgarien und Rumänien nach Deutschland im ersten Mitgliedsjahr um rund 19.000, das sind knapp 17 Prozent, an. In den beiden Folgejahren gingen die Zahlen dann aber wieder merklich zurück, um 2010 auf 34.500 Zuwanderer und 2011 auf 51.700 Zuwanderer mehr als im Vorjahr anzusteigen (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, 2013). Im Jahr 2012 sind insgesamt 116.000 Menschen aus Rumänien und 58.000 aus Bulgarien nach Deutschland eingereist. Im selben Zeitraum sind aus Deutschland aber auch 70.500 rumänische Staatsbürger und 33.500 bulgarische Staatsbürger ausgereist. Der Wanderungssaldo 2012 lag also für beide Länder zusammen bei rund 70.000 Menschen, dies ist eine Steigerung der Einwanderung nach Deutschland im Vergleich zum Vorjahr um fast 28 Prozent (Statistisches Bundesamt 2013).6 Trotz der beträchtlichen Zunahme der in Deutschland lebenden bulgarischen und rumänischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger von 112.000 beim EU-Beitritt auf 324.000 Ende 2012 – die Zahlen haben sich also in den sechs Jahren fast verdreifacht – kann man bei einer Gesamtbevölkerung von knapp 82 Millionen Menschen nicht eigentlich von einer Massenzuwanderung sprechen. Bulgaren und Rumänen machen zusammen nicht 3
Diese Siedlungen werden in der Slowakischen Republik als „Rómske Osady“ bezeichnet.
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Vor allem in den Bereichen Bildung und Arbeit, Gesundheit und Wohnen, Menschenrechte und Minderheitenschutz wurden beträchtliche Defizite festgestellt. Besonders prekär wurde der Schutz der Minderheit der Roma eingeschätzt.
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Die EU spricht hier von „the most vulnerable minority“, was mit „meist verletzliche oder meist gefährdete Minderheit“ wohl nur annähernd übersetzt ist.
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Diese Zahl dürfte aber immer noch zu hoch sein, da hier auch Saisonkräfte – etwa für landwirtschaftliche Arbeiten – die sich nur kurzfristig in Deutschland aufhalten, miteingerechnet sind.
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einmal 0,4 Prozent der Gesamtbevölkerung der Bundesrepublik Deutschland aus. Die Mehrzahl der zahlreich aus ihren Herkunftsländern abgewanderten Bulgaren und Rumänen suchten andere Zielländer auf. Für Migranten aus Rumänien waren dies schon aus Gründen der sprachlichen Verständigung in erster Linie Länder romanischer Sprachen: Italien, Spanien, Frankreich und zum Teil auch Belgien. Dass sich dennoch in der Bevölkerung ein Bild festgesetzt hat, in welchem die Menschen aus Bulgarien und Rumänien nicht nur bevorzugt und in Massen nach Deutschland strömen, sondern in dem es sich hierbei auch stets um Massen von Armen handelt, ist unter anderem das Ergebnis einer reißerischen Berichterstattung7 in den Regionalmedien sowie in Talkshows mit dem Thema „Armutsmigration“ zur besten Sendezeit. Stellungnahmen einzelner Politiker, nicht zuletzt des Bundesinnenministers, taten ein Übriges. Dieser sprach in einem Interview, das Claus Kleber im „heute-journal“ vom 19. Februar 2013 mit ihm führte, von einem Missbrauch der Freizügigkeit, den man bekämpfen müsse. „Es kommen sehr viele Bürger (…) aus Rumänien und Bulgarien zu uns, um hier zu arbeiten (und) zu studieren. Aber es gibt eine bestimmte Zahl, die nur hierher kommt, um Sozialleistungen zu bekommen. Das können wir nicht akzeptieren. Wenn ein solcher Betrug nachgewiesen werden kann – und das ist Aufgabe auch der Behörden vor Ort – dann kann man die Ausweisung dieser Person verlangen. (…) Wir haben ein großes Problem, nämlich, wenn man die Menschen wieder heimschickt nach Osteuropa, dann können sie sofort wieder kommen – und das darf nicht sein. Wir müssen es erreichen, dass diejenigen, die heimgeschickt werden, weil sie hier betrogen haben, weil sie hier vielleicht auch Dokumente gefälscht haben, eine Einreisesperre nach Deutschland bekommen. (…) Ich hoffe, dass wir sehr schnell dazu kommen können, auch Wiedereinreisesperren für diejenigen, die betrügen, lügen, Dokumente fälschen (…) umsetzen zu können“ (Friedrich 2013).
Dass der Bundesinnenminister das Thema „Missbrauch der Freizügigkeitsrechte“ durch Zuwanderer aus Bulgarien und Rumänien stark verzerrt darstellt, zeigen die Zahlen. Im Jahr 2012 sind von den damals rund 300.000 bulgarischen oder rumänischen Staatsbürgern lediglich 306 Personen aus Deutschland ausgewiesen und 690 zur Ausreise aufgefordert worden. Zu einer ausgewogenen Stellungnahme hätte der Hinweis gehört, dass Deutschland von der Freizügigkeit im EU-Raum massiv profitiert. Erwähnenswert wären auch Hinweise darauf gewesen, dass 72 Prozent der Bulgaren und 7
Ganz anders, als in den Medien dargestellt, wissen wir über die Zusammensetzung der Gruppen der in Deutschland lebenden Staatsbürger aus Bulgarien und Rumänien sehr wenig. Man kennt zwar die Anteile weiblicher und männlicher Personen, die altersmäßige Zusammensetzung und kann Angaben über die bisherige Aufenthaltsdauer machen. Daten zur regionalen, sozialen und ethnischen Verortung existieren aber nicht.
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Rumänen im Alter zwischen 25 und 44 Jahren in Deutschland einer Erwerbstätigkeit nachgehen und 20,9 Prozent der aus Bulgarien und Rumänien Zugewanderten über einen akademischen Abschluss verfügen, während lediglich 18,1 Prozent der einheimischen Bevölkerung einen solchen Abschluss vorweisen können. Von den rund 325.000 Personen mit bulgarischer oder rumänischer Staatsbürgerschaft, die sich Ende Dezember 2012 in Deutschland aufhielten, waren nach vorläufigen Angaben der Statistik der Bundesagentur für Arbeit knapp 110.000 sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Die Quote lag so nur unbedeutend unter jener der deutschen Beschäftigten. Die Arbeitslosenquote der Bulgaren und Rumänen belief sich im Dezember 2012 auf 9,6 Prozent und war damit signifikant niedriger, als bei den Ausländern insgesamt (16,4 Prozent). Die Vorsitzende des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration, Christine Langenfeld, bemerkte bei der Vorstellung des Jahresgutachtens 2013, dass Armutswanderung bislang die Ausnahme und nicht die Regel sei (Sachverständigenrat Deutscher Stiftungen für Integration und Migration SVR 2013; Bax 2013). EU-Sozialkommissar Lázsló Andor hatte schon Anfang März 2013 verlauten lassen, Armutswanderung sei im Augenblick kein wirkliches Problem, „sondern nur eine Wahrnehmung in (einzelnen) Mitgliedsstaaten, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun“ habe (Busse 2013).
Besondere Problematik strukturschwacher Städte Auch wenn Freizügigkeit für die Europäische Union ein hohes Gut darstellt und Deutschland insgesamt mehrheitlich Vorteile aus der EU-Freizügigkeit zieht, stellt sich das Problem für die vom Zuzug aus Bulgarien und Rumänien besonders betroffenen Städte etwas anders dar. Der Zuzug erfolgte vor allem in Städte, die über einen hohen Wohnungsleerstand und günstigen Wohnraum verfügten. Das waren oder sind in der Regel vormals stark industriell geprägte Städte, die sich seit einigen Jahren in einem Strukturwandel befinden. Mit dem Niedergang der Industrie war oft ein Rückgang der Bevölkerung verbunden und dies führte teils zu einem Wohnungsleerstand und zu günstigem Wohnraum. Als ehemalige Industriestandorte haben diese Städte meist einen hohen Bevölkerungsanteil mit Migrationshintergrund. Auch der Anteil der Menschen, die auf staatliche Transferleistungen angewiesen sind, ist hier überdurchschnittlich hoch. Da die Finanzsituation dieser Kommunen meist prekär ist, können sie Angebote auf Länder-, Bundes- und EU-Ebene zur Integrationsförderung von Zugewanderten nur bedingt in Anspruch nehmen, da sie als eigentliche Träger von Integrationsmaßnahmen den ihnen abverlangten Eigenanteil oft nicht aufbringen können. Die Zuwanderung aus Südosteuropa traf die Kommunen weitgehend unvorbereitet und stellt für sie – nicht nur finanziell – eine große Herausforderung dar. 104
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Der Druck, der auf immer mehr Städten lastete, führte bereits 2011, besonders aber 2012 dazu, dass diese Städte sich verstärkt untereinander austauschten und miteinander kooperierten. Der Städtetag nahm sich der sogenannten Armutswanderung an (Deutscher Städtetag 2013). Eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe nahm im Februar 2013 ihre Arbeit auf, zu der sie im Oktober einen Bericht vorlegte (Freie und Hansestadt Hamburg 2013). Auf Fachtagungen berichteten Referentinnen und Referenten über Erfahrungen, die man in ihren Kommunen gemacht hatte und stellten „Best-Practice“-Beispiele vor, die diskutiert wurden. So veranstaltete etwa Anfang Mai 2012 die Evangelische Akademie Villigst gemeinsam mit dem Kompetenzzentrum für Integration eine Tagung zum Thema „Die uneingeschränkte EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit in der Praxis: Hoffnungen erfüllt oder Befürchtungen bestätigt?“ Eigentlicher Anlass der Tagung war, dass die Übergangsfrist bis zur Erreichung der völligen Arbeitnehmerfreizügigkeit für Menschen aus den Staaten, die im Mai 2004 neu in die EU aufgenommenen worden waren, am 30. April 2011 abgelaufen war. Thematisiert wurden aber auch Fragen zur Zuwanderung aus den Ländern Bulgarien und Rumänien. Am 16. November 2012 führte die Stadt Offenbach einen Workshop zum Thema „Neue Zuwanderung aus Südosteuropa – Herausforderung für die Kommune“ durch. Das Deutsche Institut für Urbanistik lud zum 5. Dezember 2012 zum Fortbildungsseminar „Mišto avilen? Zuwanderung von Roma in deutsche Städte: Probleme, Herausforderungen, Lösungen“ nach Berlin ein. Bemerkenswert scheint, dass auf der Veranstaltung des Deutschen Instituts für Urbanistik zwei Vorträge gehalten wurden, die den Teilnehmerinnen und Teilnehmern Einblicke in die Wanderungsmotive und in die Lebensweise von Roma bieten sollten.8 Die von der Zuwanderung besonders betroffenen Städte entwickelten und diskutierten 2013 ihre Strategiepapiere und Handlungskonzepte zur Eingliederung der Zugewanderten weiter (siehe dazu etwa: Abgeordnetenhaus Berlin 2012; Bezirksamt Neukölln 2011; Bezirksamt Neukölln 2012; Stadt Duisburg 2012). Wenden wir uns der Tatsache zu, dass es bei der Berichterstattung zur Situation in einzelnen Städten, bei den Beratungen und der Ausarbeitung von Strategiepapieren immer wieder auch um Roma ging und geht! Schon als im Frühjahr 2008 Tageszeitungen im Ruhrgebiet über die Zuwanderung aus Bulgarien und Rumänien berichteten, hatten Bevölkerung und
8
Es handelt sich hier um den Vortrag von Herbert Heuß vom Zentralrat Deutscher Sinti und Roma zum Thema: „Zuwanderung von Roma nach Deutschland“ und um den Vortrag von Daniel Strauss, dem Vorsitzenden des Verbandes Deutscher Sinti und Roma, Landesverband Baden-Württemberg, zum Thema: „Lebensverhältnisse von deutschen Sinti und Roma: Ausgangslage, Perspektiven, Empfehlungen“. Ohne den Inhalt dieses Vortrages zu kennen, ist es natürlich äußerst schwierig, darüber zu urteilen, in wie weit er etwas zum Seminarthema, der gegenwärtigen Zuwanderung von Menschen aus Südosteuropa in deutsche Städte, beitragen konnte. Eine positive Vermutung liegt aber nicht gerade nahe.
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Journalisten diese Zuwanderer schnell als „Sinti und Roma“ ausgemacht.9 Auch als sich im Mai 2009 im Görlitzer Park in Berlin eine Gruppe von ca. vierzig Menschen, angeblich eine rumänische Großfamilie aus der Minderheit der Roma niedergelassen hatte, wusste die Presse nicht, wie sie diese Menschen politisch korrekt bezeichnen sollte. Stil und Inhalte der Zeitungsartikel zeigen, dass die Journalisten offenbar mit der Berichterstattung über diese Zuwanderer ihre liebe Not hatten. Man bezog sich deshalb auf angebliche Aussagen der Stadtverwaltung und der Polizei. So war neutral und politisch korrekt von bulgarischen und rumänischen Staatsbürgern oder von Südosteuropäern die Rede, aber eben auch von „Sinti und Roma“ und von Menschen aus aller Herren Länder bzw. von Menschen, die mit Autos mit Kennzeichen aus halb Europa gekommen waren10, und die sich nicht an die hier geltenden Regeln gehalten hatten. Dass hier fälschlicherweise von „Sinti und Roma“ gesprochen wird, hängt u.a. mit der Wahrnehmung der Roma als Angehörige eines in sich geschlossenen „Roma-Volkes“ zusammen. Roma bilden aber weder sprachlich, noch kulturell oder religiös oder in irgendeinem anderen Verständnis von „Wir-Gruppe“ eine in sich geschlossene Einheit; sie sind in diesem Sinne nicht ein Volk, sondern wohl eher ein Konglomerat zwar verwandter, aber eben doch auch verschiedener ethnischer Gruppen. Den damals noch wenigen Städten bzw. Stadtbezirken, die sich mit Problemen im Zusammenhang mit dieser „neuen“ Zuwanderung aus Südosteuropa konfrontiert sahen, war es 2008 und 2009 noch gelungen, die Zugewanderten – wenn auch erst nach mehreren Wochen – zur Weiterwanderung oder zur Rückkehr zu bewegen. Erreicht wurde dies durch eine erhöhte Präsenz von Beamten des Ordnungsamtes und der Polizei, durch häufige Kontrollen, Bußen wegen Ruhestörung, illegaler Müllentsorgung und schlecht gewarteter Autos bis hin zur Androhung, die Kinder einzelner Familien in Heime einzuweisen. Zudem zahlte man „Rückkehrprämien“ von meist zwei- bis dreihundert Euro pro Person. Ab dem Jahr 2010 kamen aber immer mehr Menschen aus Südosteuropa, und immer mehr Kommunen waren von einer Zuwanderung armer Menschen betroffen. Einige Städte versuchten anfänglich noch durch ein rigoroses Durchgreifen, die unerwünschten „Gäste“ wieder los zu werden. Andernorts erkannte man schnell, dass eine – auch rechtlich problematische – Vertreibung das Problem nicht würde lösen können.
9
In einem Artikel in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung vom 3. Juni 2013, überschrieben mit „Weiter Ärger mit Zugewanderten“, heißt es: „Nach Angaben der Behörden handelt es sich um Sinti und Roma“. Siehe: Weiter Ärger mit Zugewanderten. In: Westdeutschen Allgemeinen Zeitung vom 03.06.2008. Online: http://www.derwesten.de/staedte/duisburg/ weiter-aerger-mit-zugewanderten-id1775305.html (Letzter Aufruf: Nov. 2013).
10
Dies ruft die Assoziation mit „Fahrenden“ hervor.
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Beschreibung der Zugewanderten Die einzelnen Kommunen benennen und beschreiben in ihren Handlungskonzepten die Zugewanderten sehr unterschiedlich. Mehr oder weniger übereinstimmend wird betont, dass es sich bei den Zugewanderten um eine sehr heterogene Gruppe handele. Klar ist auch, dass sie Bürger Bulgariens und Rumäniens und so Bürger der Europäischen Union sind. Während die Berliner Strategie schon im Namen Bezug auf ausländische Roma nimmt und bereits eingangs feststellt, dass es sich bei den Zuwanderern „zu einem großen Teil um Roma“ handele, verzichtet der Duisburger Sachstandsbericht zum Handlungskonzept vom Januar 2013 fast gänzlich auf eine ethnische Zuschreibung. Da es sich im Wesentlichen um eine Armutsmigration handele, so heißt es da, wolle man in dem „Bericht auf eine Einteilung der Menschen in Roma und Nicht-Roma verzichten und stattdessen lediglich auf das gemeinsame Merkmal der bulgarischen oder rumänischen Staatsbürgerschaft zurückgreifen“.11 Doch ohne den dann doch folgenden Hinweis, dass unter den Zugezogenen auch Roma seien und diese in ihren Herkunftsländern massiv ausgegrenzt und benachteiligt würden, hätte man den Aspekt der Wanderungsmotivation nicht vermitteln können. Wird man – so ist zu fragen – der mit der Zuwanderung verbundenen Probleme besser gerecht und kann sie eher einer Lösung zuführen, wenn man konsequent von Armutsmigranten aus Bulgarien und Rumänien spricht und möglichst von ethnischen Zuschreibungen absieht?12 Oder führt eine solche Behandlung der Thematik nicht eher, dazu, dass viele wichtige Aspekte nicht angesprochen werden können, die aber für ein Verständnis der Situation zwingend erforderlich sind und ohne deren Beachtung eine Reihe von Lösungsansätzen gar nicht erst angedacht werden können? Ist es wirklich so, dass eine auf Roma ausgerichtete Hilfe, „die mitgebrachten, aber auch bei uns gepflegten Kulturalisierungen und Etikettierungen nur weiter“ verstärken?13 Wenn man dem Vorschlag folgt, 11
Stadt Duisburg, Referat für Integration: Zuwanderung von Menschen aus Südost-Europa. Sachstandsbericht zur Umsetzung des Duisburger Handlungskonzeptes. Januar 2013. S. 3f.
12
Ein gewichtiges Argument dafür, auch Roma unter den Zugewanderten nicht als Angehörige dieser ethnischen Gruppe, sondern als Staatsbürger ihres Herkunftslandes zu betrachten, ist die Tatsache, dass sie u.a. wegen ihrer Diskriminierung als Roma ihr Herkunftsland verlassen haben. Einige bringen zum Ausdruck, dass sie hoffen, dass sie und ihre Kinder in Deutschland nicht wiederum wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit ausgegrenzt und benachteiligt werden. Sie der Kategorie „Roma“ zuzuweisen hätte u.U. auch Auswirkungen auf das Verhalten der Mehrheitsgesellschaft ihnen gegenüber. Die Kategorisierung und mehr noch ein daraus resultierendes Verhalten der Mehrheit würde deutschen Antidiskriminierungsregelungen, aber auch dem Sinn des Rahmenübereinkommen des Europarats zum Schutz von Minderheiten und u.U. der Sicherung von Individualrechten gemäß der Menschenrechtsdeklaration widersprechen.
13
Bukow, Wolf-D. und Jonuz, Elizabeta: Wissenschaftliche Begleitung für eine inter kommunale Kooperation zur Entwicklung eines Handlungskonzepts „Zuwanderung aus Südosteuropa‟. Forschungskolleg Siegen, Projekte. Online: http://www.unisiegen.de/fokos/
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diese Zuwanderer ganz allgemein als Menschen zu betrachten, die aus ihren Herkunftsländern als Minderheitenangehörige geflüchtet sind, weil ihnen dort, trotz des Beitritts „zur EU, immer noch die sozialen, rechtlichen und kulturellen Normen der EU vorenthalten werden“, dann fällt der nicht ganz unwesentliche Aspekt weg, dass es sich in großen Teilen um Angehörige der seit Jahrhunderten europaweit am stärksten diskriminierten Minderheit handelt. Eine auf eine Ethnie bezogene Wahrnehmung des Phänomens „Zuwanderung aus Südosteuropa“ kann die Gefahr einer Essentialisierung und Pauschalisierung mit sich bringen. Aber auch die Kategorien „Armut“14, „Armutswanderung“ oder gar „Armutsflüchtlinge“15 sind alles andere als wertneutral. Armut wird oft mit einem gewissen Selbstverschulden assoziiert.
forschungsschwerpunkte/mobilitaet_und_diversitaet/projekte/zuwanderer_aus_suedosteuropa.html. 14
Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert wird Armut nicht mehr als Schicksal begriffen, sondern als mindestens teilweise selber verursachtes Phänomen. Der Arme wird für seine Armut selber verantwortlich gemacht. Armut führt – je länger, je mehr – auch in Deutschland zu Diskriminierung und Stigmatisierung. „Armut“ ist ein hoch komplexes Phänomen, das man durch Armutsindikatoren empirisch zu fassen versucht. Der frühere Weltbankpräsident Robert McNamara führte 1973 in Nairobi den Begriff der „absoluten Armut“ in die entwicklungspolitische Diskussion ein. „In absoluter Armut leben alle Personen mit einem Tageseinkommen unterhalb eines bestimmten US-Dollar-Betrages, gerechnet in Kaufkraftparität.“ Siehe: Armut. In: Gablers Wirtschaftslexikon. Online: http://wirtschaftslexikon.gabler.de/Definition/absolute-armut.html (Letzter Aufruf: Febr. 2013. Die Weltbank hat für Südosteuropa zwei Armutskategorien aufgestellt: 1. die absolute Armut, die die Menschen betrifft, die von weniger als von 4,30 $ pro Tag leben müssen und 2. die extreme Armut, die die Menschen betrifft, die von weniger als 2.15 $ pro Tag leben müssen. In wie weit die aus Bulgarien und Rumänien zugewanderten Menschen in ihren Herkunftsländern tatsächlich unterhalb dieser Grenzen gelebt haben, lässt sich nur schwer feststellen. Einige Indikatoren weisen aber darauf hin, dass es nicht „die Ärmsten der Armen“ sind, die im Zuge des Migrationsprozesses nach Deutschland gekommen sind.
15
Zu Recht ist darauf hingewiesen worden, dass es sich bei den Zuwanderern um EU-Binnenwanderer und nicht um Flüchtlinge handelt. Höhere Einkommen bzw. höhere Lebensstandards in der Zuwanderungsregion im Vergleich zu denen der Herkunftsregion beeinflussen Migrationsentscheidungen im positiven Sinn. Gleiches gilt im abstoßenden Sinn für Armut und Perspektivlosigkeit in der Herkunftsregion. Zuwanderer aus Bulgarien und Rumänien sind also ganz „normale“ Migranten. Zu berücksichtigen ist auch, dass Menschen, die für sich einen Flüchtlingsstatus geltend machen, denen man aber – zu Recht oder Unrecht – wirtschaftliche Gründe für ihre Migration unterstellt oder gar nachweisen kann, oft als „unechte“ Flüchtlinge diffamiert werden. Von daher sollte man im Zusammenhang mit Zuwanderern aus Bulgarien und Rumänien nicht von „Flüchtlingen“ oder „Armutsflüchtlingen“ sprechen.
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Kommunen packen an Inzwischen ist in den betroffenen Kommunen viel geschehen: Träger sozialer Arbeit bildeten Kooperationen, „runde Tische“ wurden etabliert und mehrere Kommunen bildeten Arbeitskreise, Lenkungsgruppen etwa, die Handlungskonzepte, -empfehlungen und Strategien für den weiteren Umgang mit den Zugewanderten ausarbeiten. Fast alle diese Städte haben mittlerweile solche Konzepte beschlossen16 und erste Sachstandsberichte über die Umsetzung ihrer Strategien liegen vor.17 Parlamentarier auf Bundes-, Länder- und kommunaler Ebene stellten Anfragen an die Regierungen und forderten Mittel und Unterstützung von der nächst höheren Ebene ein. So stellt etwa die Handlungsempfehlung der Stadt Mannheim fest, „dass es für eine tatsächliche Lösung der fortschreitenden Armutsmigration aus Rumänien und Bulgarien eine unbedingte Mitverantwortungsübernahme seitens des Bundes und der Europäischen Union sowohl finanzieller als auch politischer Art bedarf.“18
Die von 2009 bis 2013 amtierende schwarz-gelbe Bundesregierung verhielt sich dem Ansinnen der EU-Kommission gegenüber, eine nationale Strategie zur Integration der Roma in Deutschland auszuarbeiten, von Anfang an recht zurück16
Um hier nur die Aktivitäten einiger Städte zu nennen: Das Berliner Abgeordnetenhaus billigte am 12. Januar 2012 die Richtlinien der Regierungspolitik (Drucksache 17/0077), in der festgelegt wurde, dass „der Senat (…) zusammen mit den Bezirken Angebote für Roma koordinieren und Wege zu ihrer Einbeziehung finden“ (werde). Am 8. August 2012 legte der Senat dem Abgeordnetenhaus den Bericht „Berliner Strategie zur Einbeziehung von ausländischen Roma“ vor. Am 9. März 2012 legte die Stadt Dortmund das Papier „Kommunalisierung der Folgen von Regelungsdefiziten im EU-Erweiterungsprozess“ vor. Am 26. März 2012 beschoss der Rat der Stadt Duisburg das Handlungskonzept zum Umgang mit der Zuwanderung von Menschen aus Südost-Europa anzunehmen, das im Jahr 2011 ausgearbeitet und am 12.12.2011 bereits dem Rat zur ersten Lesung vorgelegen hatte. Der Gemeinderat der Stadt Mannheim verabschiedete am 18. Dezember 2012 einen Sachstandsbericht und erste Handlungsempfehlungen „Neuere EU-Binnenzuwanderung aus Bulgarien und Rumänien“. Daneben wurden von einzelnen Kommunen Informationsmaterialien und Handreichungen für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Verwaltung ausgearbeitet.
17
Das Bezirksamt Neukölln von Berlin publizierte einen ersten „Roma-Statusbericht“ schon im September 2011. Ein „2. Roma-Statusbericht“ zur „Entwicklung der Zuzüge von EU-Unionsbürger aus Südosteuropa“ folgte im April 2012 und im März 2013 veröffentlichte man den 3. Statusbericht „Entwicklung der Zuzüge von EU-Unionsbürgern aus Südosteuropa“. Die Stadt Duisburg informierte im Januar 2013 über ihre Fortschritte aber auch über Grenzen der Handlungsmöglichkeiten bei der Integration der Zugewanderten aus Südosteuropa.
18
Stadt Mannheim, der Oberbürgermeister: Beschlussvorlage. Neuere EU-Binnenzuwanderung aus Bulgarien und Rumänien. Sachstandsbericht und erste Handlungsempfehlungen. (Az. 19.29.40; Nr. V674/2012) 30.11.2012. S. 5.
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haltend. Bereits im Juni 2011 – bei der Beantwortung der Kleinen Anfrage der Fraktion DIE LINKE – ließ sie verlauten: „Aufgrund der unterschiedlichen nationalen Rahmenbedingungen und Roma-Bevölkerungsanteile besteht keine Notwendigkeit für eine generelle Verpflichtung zur Einführung exklusiver Roma-Strategien und zur Durchführung enger politischer Maßnahmen und Aktivitäten.“19
Diese Meinung wurde so in den Bericht an die EU-Kommission vom 23. Dezember 2011 übernommen. Im Blick auf die ausländischen zugewanderten Roma bezog man sich auf das Ausländerrecht und auf allgemeine Integrationsmaßnahmen für sich rechtmäßig in Deutschland aufhaltende Ausländer nach dem „Zuwanderungsgesetz“.20 So heißt es weiter: Spezielle „Integrationsmaßnamen für ausländische Roma (gibt es nicht). Ihnen stehen alle Integrationsmaßnahmen offen, die Migranten mit rechtmäßigem Aufenthaltsstatus und Bleibeperspektive angeboten werden.“21 Bis heute lehnt die Bundesregierung eine nationale Roma-Strategie im Rahmen der EU-weiten Bemühungen um eine Verbesserung der Lage der Roma für Deutschland ab. Im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD zur 18. Legislaturperiode findet man auf Seite 108 unter „Armutswanderung innerhalb der EU – Akzeptanz der Freizügigkeit erhalten“ zuerst den Hinweis darauf, dass die neue zu bildende Bundesregierung „der ungerechtfertig-
19
Dort heißt es weiter: „Eine nationale Strategie (erscheint) unmittelbar für Deutschland nicht erforderlich. Dem liegen folgende Erwägungen zugrunde: In Deutschland leben nach groben Schätzungen ca. 70 000 deutsche Sinti und Roma, die sich selbst als gut in die Gesellschaft integriert sehen. Demzufolge bedarf es für diesen Personenkreis keiner nationalen Integrationsstrategie und auch für diejenigen Sinti und Roma, die im Zuge der Zuwanderung oder als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sind und ein Recht zum dauernden Inlandsaufenthalt haben, ist eine spezielle nationale Integrationsstrategie nicht erforderlich. Denn diesen Personen stehen – unabhängig von ihrer Ethnie – dieselben Integrationsprogramme offen wie anderen Ausländern.“ Siehe: Deutscher Bundestag, 17. Wahlperiode: Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke, Petra Pau, Jens Petermann, Frank Tempel und der Fraktion DIE LINKE. „Nationale Strategie zur Integration der Roma und Sinti in Deutschland“. Drucksache 17/6230 vom 17.06.2011. Online: http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/17/062/1706230.pdf (Letzter Aufruf: Nov. 2013).
20
Das „Zuwanderungsgesetz“ von 2005 heißt eigentlich „Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet“ und besteht aus dem Aufenthaltsgesetz und dem EU-Freizügigkeitsgesetz.
21
Bundesministerium des Innern: Bericht der Bundesrepublik Deutschland an die Europäische Kommission. EU-Rahmen für die nationale Strategie zur Integration der Roma bis 2020 – Integrierte Maßnahmenpakete zur Integration und Teilhabe der Sinti und Roma in Deutschland. Bonn 2011. S. 21. Online: http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Downloads/ DE/Kurzmeldungen/pstb_roma.pdf?__blob=publicationFile (Letzter Aufruf: Dez. 2012).
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ten Inanspruchnahme von Sozialleistungen durch EU-Bürger entgegenwirken“22 wolle. Dazu werden Maßnahmen aufgelistet, die die Niederlassung erschweren, die Rückführungen leichter ermöglichen und die Wiedereinreise unmöglich machen sollen. Daneben will sich die Bundesregierung für eine Verbesserung der Lebensbedingungen in den Herkunftsländern stark machen. Einzig positiv zu vermerken ist, dass die Bundesregierung anerkennt, die Armutswanderung führe in einzelnen großstädtisch geprägten Kommunen zu erheblichen sozialen Problemlagen bei der Integration, Existenzsicherung, Unterbringung und Gesundheitsversorgung:. „Wir erkennen die Belastung der Kommunen bei der Bewältigung ihrer Aufgaben an. Besonders von Armutsmigration betroffene Kommunen sollen zeitnah die Möglichkeit erhalten, bestehende bzw. weiterzuentwickelnde Förderprogramme des Bundes (z. B. Soziale Stadt) stärker als bisher zu nutzen.“23
Dass es sich bei einem Teil der Zuwanderer um Angehörige von Roma-Minderheiten handelt, wird im Koalitionsvertrag ausgeklammert. Damit gerät auch aus dem Blickfeld, dass es sich hier um Menschen handelt, denen wir mit unseren Standardintegrationsangeboten nur ungenügend gerecht werden können. Aufgrund langjähriger Diskriminierungserfahrungen – insbesondere auch durch Behörden – verweigern sie die Annahme von Ratschlägen und Hilfsangeboten von Seiten mehrheitsgesellschaftlicher Einrichtungen. So wendet man sich lieber an bereits in Deutschland niedergelassene Familienmitglieder, Verwandte oder doch wenigstens an andere Roma, denen man mehr Vertrauen als den Nicht-Roma entgegen bringt. Dies führt dann auch dazu, dass Roma – wie andere Migranten auch – besonders dorthin ziehen, wo schon Verwandte sind. Aus meines Erachtens recht zuverlässigen Quellen weiß man, dass es zwischen Städten in Bulgarien und Rumänien mit Roma-Bevölkerungen und den Städten in Deutschland, in die zahlreiche Menschen aus Südosteuropa zugewandert sind, regelmäßige Bus- und Minibusverbindungen gibt, deren Betreiber über den Transport hinaus noch weitere Dienste, wie etwa Hilfestellungen nach der Ankunft, Hilfe bei der Suche nach einer Unterkunft und nach einer irregulären Beschäftigung sowie beim Ausfüllen von Anträgen anbieten. Diese Dienste sind selbstverständlich nicht kostenlos zu haben. Oft werden überhöhte Beträge an „die eigenen Leute“ gezahlt, obwohl Ratschläge und Hilfen von offizieller Seite kostenfrei zu haben wären. Höchst problematisch ist, dass Menschen, die diese Kosten nicht aufbringen können, Kredit gewährt wird, und so Abhängigkeiten von den Kreditgebern entstehen können. 22
SPD: aktuelles. Der Koalitionsvertrag. Online: http://www.spd.de/aktuelles/112760/2013 1127_koalitionsvertrag_uebersicht.html (Letzter Aufruf: Nov. 2013).
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SPD: aktuelles. Der Koalitionsvertrag. Online: http://www.spd.de/aktuelles/112760/2013 1127_koalitionsvertrag_uebersicht.html (Letzter Aufruf: Nov. 2013).
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Gerade im Bereich der Erstinformation und der Maßnahmen, die einen schnellen Zugang der neu Angekommenen zu Integrationsmaßnahmen gewährleisten können, ist – trotz aller Fortschritte – noch ein hoher Bedarf zu konstatieren. Der sonst nur schwer zu erreichenden Zielgruppe könnte durch entsprechend geschulte Mitglieder der Roma-Communities im Rahmen aufsuchender Sozialarbeit bei einer schnellen Integration geholfen werden. Dies gilt neben dem Bildungsbereich ab dem 1. Januar 2017 gerade auch für die Integration in den Arbeitsmarkt. Beachten wir, dass die Menschen aus Bulgarien und Rumänien dann in der gesamten EU die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit besitzen, und dass eine Erschwerung der Niederlassung und Arbeitsaufnahme oder gar eine Wegweisung – von dem der Koalitionsvertrag noch ausgeht – kaum mehr möglich sein wird. Um von den europaweiten Möglichkeiten der Förderung von Roma partizipieren zu können, ist der neuen Bundesregierung dringend anzuraten, den Beschluss, keine explizite Roma-Strategie zu beschließen, noch einmal zu überdenken. Die Lösung der mit einer als „Armutszuwanderung“ oder als „Roma-Zuwanderung“ verbundenen Probleme dürfen nicht auf die „lange Bank“ geschoben werden. Je länger mit Maßnahmen gewartet wird, desto teurer wird die Integration der Zuwanderer werden, von denen die meisten zum Ausdruck bringen, dass sie bleiben wollen und werden. Diese Zuwanderung und mit ihr verbunden die Lage der Roma im östlichen Europa ist zweifellos eine internationale Frage, die EU-weit angegangen werden muss und deren Lösung einen langen Atem und viel, viel Geld erforderlich machen wird.
Literatur Abgeordnetenhaus von Berlin: Berliner Strategie zur Einbeziehung von ausländischen Roma. Berlin, 2012 (= Drucksache 17/0440 vom 08. 08. 2012). URL: http://www.parlament-berlin.de/ados/17/IIIPlen/vorgang/d17-0440.pdf (letzter Aufruf: Juni 2016). Abgeordnetenhaus von Berlin: Berliner Aktionsplan zur Einbeziehung ausländischer Roma. (Drucksache 17/1094 vom 19.07.2013). Berlin, 2013 URL: http://www.parlament-berlin.de/ados/17/IIIPlen/ vorgang/d17-1094.pdf (letzter Aufruf: Juni 2016). Bax, Daniel: Deutschland profitiert von Freizügigkeit. Falsche Angst vor Zuwanderern. In: TAZ, DIE TAGESZEITUNG vom 12.04.2013. URL: http://www.taz.de/!5069504/ (letzter Aufruf: Juni 2016).
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Bezirksamt Neukölln von Berlin: Abteilung Bildung, Schule, Kultur und Sport: Roma Statusbericht Berlin. Neukölln, September 2011. URL: http://www.berlin.de/imperia/md/content/baneukoelln/romastatusberichtseptember2011.pdf?start&ts=1333626132&file=romastatusberichtseptember2011. pdf (letzter Aufruf: Juni 2016). Bezirksamt Neukölln von Berlin: Abteilung Bildung, Schule, Kultur und Sport: 2. Roma Statusbericht. Entwicklung der Zuzüge von EU-Unionsbürgern aus Südosteuropa. April 2012. Neukölln, 2012. URL: http://www.berlin.de/imperia/md/content/baneukoelln/romastatusberichtapril2012.pdf?start&ts=1333626146&file=romastatusberichtapril2012.pdf (letzter Aufruf: Juni 2016). Bezirksamt Neukölln von Berlin: Abteilung Bildung, Schule, Kultur und Sport: 3. Roma Statusbericht. Entwicklung der Zuzüge von EU-Unionsbürgern aus Südosteuropa. März 2013. Neukölln, 2013. URL: https://www.berlin.de/imperia/md/content/baneukoelln/flyer/3._romastatusbericht.pdf?start&ts=1428930358&file=3._romastatusbericht.pdf (letzter Aufruf: Juni 2016). Bundesagentur für Arbeit (Hrsg.): Arbeitsmarkt in Zahlen. Beschäftigungsstatistik. Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte nach Staatsangehörigkeiten und Geschlecht. Nürnberg, 2013. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Hrsg.): Migrationsbericht 2011. Nürnberg, 2013. URL: http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/Migrationsberichte/migrationsbericht-2011.pdf;jsessionid=50E26D7C1CB093B690F0B3B970C880A3.1_cid286?__blob=publicationFile (letzter Aufruf: Juni 2016). BMI/Bundesministerium des Innern: Bericht der Bundesrepublik Deutschland an die Europäische Kommission. EU-Rahmen für die nationale Strategie zur Integration der Roma bis 2020 – Integrierte Maßnahmenpakete zur Integration und Teilhabe der Sinti und Roma in Deutschland. Bonn, 2011. Online: http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Kurzmeldungen/pstb_roma.pdf?__ blob=publicationFile (letzter Aufruf: Juni 2016). Busse, Nikolas: EU-Kommission bezweifelt Armutseinwanderung. In: FAZ, FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG vom 07.03.2013. URL: http://www.faz.net/aktuell/politik/europaeische-union/friedrich-es-droht-flaechenbrand-eu-kommission-bezweifelt-armutseinwanderung-12106669. html (letzter Aufruf: Juni 2016). Deutscher Bundestag (2011): Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke, Petra Pau, Jens Petermann, Frank Tempel und der Fraktion DIE LINKE. „Nationale Strategie zur Integration der Roma und Sinti in Deutschland“. (= Drucksache 17/6230 vom 17.06.2011). URL: http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/17/062/1706230.pdf (Letzter Aufruf: Juni 2016). Deutscher Städtetag (2013): Positionspapier des Deutschen Städtetages zu den Fragen der Zuwanderung aus Rumänien und Bulgarien. Berlin. URL: http://www.deutscherstaedtetag.info/imperia/ md/content/dst/internet/fachinformationen/2013/positionspapier_zuwanderung_2013.pdf (letzter Aufruf: Juni 2016).
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Max Matter
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Sinti und Roma in Deutschland
Uwe Wenzel Sinti und Roma in Deutschland Neuer Bedarf und neue Chancen der Selbstorganisation Mit dem Schlagwort der „Armutszuwanderung“ und der populistischen Parole „Wer betrügt, der fliegt“ reagierte die CSU im Wahljahr 2014 auf die wachsende Zuwanderung aus Südosteuropa. Die seit dem 1. Januar 2014 geltende Freizügigkeitsregelung für Rumänen und Bulgaren beschere der Bundesrepublik – so der Tenor – eine massive Zuwanderung in die Sozialsysteme und führe zu deutlichen Wohlstandsverlusten. Damit trieben Politik und Medien eine Diskussion um den Zuzug von „Armutsmigranten“ in städtische Ballungszentren auf die Spitze, die auf dem Deutschen Städtetag bereits im Frühjahr 2013 begonnen hatte. Wenn auch unterschwellig, so knüpften CSU, Städtetag und viele Medien in ihrer Darstellung der Zuwanderer dabei auch an die tradierten Klischees und Negativbilder über Roma und Sinti an, die – so die verbreitete Unterstellung – einen Großteil der „Armutszuwanderer“ ausmachen würden. Bilder von heruntergekommenen Roma-Siedlungen in Skopje oder Bukarest bestimmten die Berichterstattung ebenso wie die Müllberge vor dem „Roma-Haus“ in Duisburg-Rheinhausen oder dem Mannheimer Jungbusch. Dabei hat diese Art der öffentlichen Debatte eine lange Tradition: Bereits 1990 dokumentierte das Wochenmagazin „Der Spiegel“ die negativen Reaktionen der Mehrheitsgesellschaft und die Probleme im kommunalen Raum rund um die „Asyl- und Armutszuwanderung“ der südosteuropäischen „Zigeuner“. Die Verbindung der sogenannten „Armutszuwanderung“ aus Südosteuropa mit den spezifischen Problemlagen der Roma-Zuwanderer verstärkt soziale Problemlagen ebenso wie die tradierten Negativvorstellungen über die Angehörigen der Minderheit innerhalb der deutschen Mehrheitsgesellschaft (Wenzel 2015, Seiten 177 bis 179). Jenseits populistischer Aufwallungen wie im Frühjahr 2014 spielen zugewanderte Roma aus Südosteuropa ebenso wie die deutschen Sinti und Roma in der Wahrnehmung der deutschen Mehrheitsgesellschaft wie auch bei den politischen Handlungsträgern bisher eine untergeordnete Rolle.1 1
Die Bezeichnung „Roma“ als umfassendster Oberbegriff hat sich in den meisten Staaten Europas und auf der Ebene internationaler Organisationen durchgesetzt. Im deutschsprachigen Raum überwiegt die Kombination „Sinti und Roma“, um der dortigen Selbstbezeichnung der Minderheit gerecht zu werden. „Roma“ oder auch „Rom“ bedeutet in der Minderheitensprache Romanes „Mann“ bzw. „Ehemann“ (Bogdal 2011, S. 15).
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Eine sachlich orientierte, an Problemlagen und den Chancen der Neuzuwanderung orientierte politische Auseinandersetzung unter Einbeziehung der neu zugewanderten Roma selbst findet bisher wenn überhaupt nur sehr eingeschränkt in lokalen Kontexten statt. Verantwortlich dafür ist neben einer populistischen Grundströmung auch die eingeschränkte Präsenz von Selbstorganisationen der deutschen Sinti und Roma wie auch der zugewanderten Roma aus Südosteuropa in der politischen Auseinandersetzung. Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden gefragt werden, ob und auf welchen Ebenen sich angesichts der skizzierten Neuzuwanderung Perspektiven für die Mobilisierung von Initiativen und Organisationen der Roma und Sinti ergeben können. Dabei sind sowohl die bestehenden organisatorischen Strukturen und die Potentiale der aktuellen Zuwanderung zu berücksichtigen. Roma und Sinti verfügen bis heute trotz vielfacher Ansätze weder auf internationaler noch auf nationalstaatlicher Ebene über eine einheitliche politische Interessenvertretung. Unterhalb dieser Ebenen allerdings formieren sich aktuell eine Vielzahl innovativer Selbstorganisationen insbesondere von jungen Roma und Sinti. Die Erfahrungen mit Ausgrenzung und Paternalismus durch Organisationen der Mehrheitsgesellschaft haben im westlichen Nachkriegseuropa und später dann auch in den postkommunistischen Gesellschaften die Bildung von Eigenorganisationen der Roma und Sinti befördert. Kennzeichnend für diese Minderheit war und ist ihre besondere Heterogenität in Hinsicht auf ihre Sprache, ihre Religionen und regionalen Traditionen sowie ihren sozioökonomischen Status. Die Vielfalt unterschiedlicher Kulturen und Interessen spiegelt sich dabei auch in der Vielfalt der Selbstorganisationen, die sich nicht selten in Konkurrenz zueinander entwickelt haben. Auf europäischer Ebene haben bereits anfangs der 1970er Jahre Roma und Sinti aus ganz Europa im Rahmen der „Internationalen Romani Union“ erste Aufmerksamkeit für die Belange der Minderheit geschaffen, beispielsweise durch ihr Engagement für die Einführung eines internationalen Roma-Tages (8. April) und einer eigenen Flagge.
Interessenvertretung der Sinti und Roma Die Mobilisierung auf internationaler Ebene hat wichtige Impulse für die Formierung einer eigenständigen sozialen Bewegung der deutschen Sinti und Roma gegeben. Noch bedeutsamer aber war der wachsende selbstorganisierte Widerstand gegen die Kriminalisierung und Entrechtung der überlebenden Sinti in der jungen Bundesrepublik. Der zunächst als Aktionen einzelner „politischer Unternehmer“ gestartete öffentlichkeitswirksame Protest (beispielsweise in Form eines Hungerstreiks im ehemaligen KZ-Dachau 1980) richtete sich ebenso gegen die verbreitete lokale Ausgrenzungspolitik wie gegen die erneute Stigmatisierung in polizeilichen Untersuchungen und den Ausschluss von Wiedergutma-
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chungsleistungen durch deutsche Behörden. Die Professionalisierung dieser Protestbewegung führte im Jahr 1982 zur Gründung des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma als bundesweit ausgerichteter Interessenvertretung. Schwerpunkt der Arbeit des Zentralrats, der in seiner Etablierung durch die institutionelle Förderung aus Bundesmitteln stark unterstützt wurde, war zunächst die Anerkennung der Sinti als Opfer des NS-Völkermordes durch die deutsche Bundesregierung und die damit verbundene Entschädigungsarbeit zugunsten der Betroffenen. Der als Dachorganisation strukturierte Verband, dem 16 Mitgliedsvereine (Landesverbände und regionale Vereine) angehören, reklamiert für sich die Interessenvertretung der in Deutschland lebenden Sinti und Roma auf nationaler wie internationaler Ebene. Dies gilt insbesondere für die Frage der Wiedergutmachung: Seit Mitte der Achtzigerjahre konnte der Zentralrat für die überlebenden KZ-Opfer eine grundlegende Änderung der diskriminierenden Entschädigungspraxis bewirken und in mehreren Tausend Einzelfällen Neuentscheidungen der zuständigen Behörden zugunsten der Betroffenen durchsetzen. Darüber hinaus leistet der Zentralrat seit seiner Gründung eine systematische Aufarbeitung und Dokumentation des Völkermords an den Sinti und Roma. Ein wichtiges Ergebnis dieser Arbeit ist die Einrichtung des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg im Jahr 1997, in dem die erste dauerhafte Ausstellung zur Geschichte dieser Minderheit präsentiert wird. Der Zentralrat richtet sich immer wieder einmal deklamatorisch gegen die ausgrenzenden Praktiken gegenüber den südosteuropäischen Roma in ihren jeweiligen Heimatländern, bietet den nach Deutschland zugewanderten Roma allerdings keine konkreten Hilfestellungen im Integrationsprozess an. Die dem Zentralrat angeschlossenen Landesverbände gestalten dagegen in begrenztem Umfang eigenständige lokal bezogene Integrationsangebote. Herauszuheben ist hier die Beratungsstelle für Roma als Einrichtung des Landesverbandes der Deutschen Sinti und Roma im Baden-Württembergischen Mannheim, die sich für die sozialen- und bürgerrechtlichen Angelegenheiten von Roma einsetzt und darüber hinaus für alle zugewanderten Roma lebenspraktische Hilfestellungen anbietet. Insgesamt aber fokussieren der Zentralrat wie seine angeschlossenen Verbände primär auf die Situation der deutschen Sinti. Die Gründung weiterer eigenethnischer Organisationen ist eng mit der spezifischen Zuwanderungsgeschichte der Roma nach Deutschland verknüpft. Neben denjenigen Roma, die seit den 1960er Jahren im Rahmen der sogenannten „Gastarbeiterzuwanderung“ eine dauerhafte Perspektive für sich und ihre Familien in Deutschland entwickeln konnten (Schätzungen gehen von ca. 40.000 bis 60.000 Personen aus), wanderten seit dem Ende der kommunistischen Regimes vor allem Roma-Flüchtlinge aus den Bürgerkriegsregionen des ehemaligen Jugoslawiens zu. Konservative Angaben gehen hier von ca. 50.000 bis 60.000 Angehörigen der Minderheit aus, die in Deutschland eine mehr oder weniger gesicherte Bleibeperspektive gefunden haben. Die aktuellste Zuwanderung ent-
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wickelte sich mit dem Beitritt mittel- und südosteuropäischer Staaten zur Europäischen Union. Insbesondere seit der Aufhebung aller Beschränkungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit für EU-Bürger aus Bulgarien und Rumänien Anfang 2014 ist eine deutlich verstärkte Migrationsbewegung aus diesen beiden Staaten nach Deutschland zu verzeichnen. Die zugewanderten südosteuropäischen Roma haben sich nur in Einzelfällen dem bis dahin dominierenden Zentralrat Deutscher Sinti und Roma oder den übrigen bestehenden Selbstorganisationen der Minderheit angeschlossen und haben sich stattdessen zumeist in eigenständigen Vereinen organisiert. Dabei konnten sie in Einzelfällen, wie die seit 1986 aktive Organisation Rom e.V. im Kölner Raum, durchaus professionelle Verbandsstrukturen aufbauen. Deutlich wird dies spätestens mit der Entwicklung und Übernahme der Trägerschaft für ein lokales Bildungsprojekt in Zusammenarbeit mit der Stadt Köln und dem Land Nordrhein-Westfalen. Eine weitere Pluralisierung des Spektrums ist mit der Gründung eigenständiger Jugendorganisationen von Roma und Sinti in der vergangenen Dekade eingetreten. Ausgehend von lokalen und regionalen Initiativen engagieren sich Angehörige der Minderheit auch an anderen Standorten oft gemeinsam mit Nicht-Roma in Integrations- oder Kulturprojekten sowie beim Abbau von Vorurteilen und Selbststigmatisierungen. Erklärtes Ziel der engagierten Jugendlichen ist die Stärkung der Eigeninitiative und damit die Verbesserung der individuellen und kollektiven Teilhabechancen (Brüggemann /Hornberg/ Jonusz, Seiten 111 bis 113). Beispielhaft dafür stehen die Aktivitäten von Amaro Drom e.V. in Berlin, die Jugendliche aus der Minderheit für politisches Engagement gewinnen, Kultur- und Bildungsangebote gestalten und zunehmend auch eigenständige Beratungsangebote für zugewanderte Roma organisieren. Insgesamt aber bleiben die Aktivitäten dieser Selbstorganisationen auf wenige regionale Schwerpunkte konzentriert und weisen nach wie vor einen relativ geringen Professionalisierungsgrad auf. Wie im Fall anderer Zuwanderungsgemeinschaften bleiben die Aktivitäten vor allem auf den Freizeitbereich und die Bewältigung von Alltagproblemen beschränkt (Sauer 2013, Seite 368).
Defizite der Selbstorganisation Die Defizite der Selbstorganisation haben vielfältige Ursachen, wobei strukturelle Diskriminierungen und mangelnde finanzielle Ressourcen (Letzteres betrifft den Zentralrat Deutscher Sinti und Roma nicht) eine große Rolle spielen. So belegen die Ergebnisse der bisher umfangreisten Erhebung zur Haltung der bundesdeutschen Gesellschaft gegenüber Roma und Sinti, die im Jahr 2013 im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes durchgeführt wurde, die Aktualität altbekannter Feindbilder und ein hohes Maß individueller Ablehnung
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gegenüber Angehörigen der Minderheit (Antidiskriminierungsstelle 2014). In vergleichbarer Weise offenbaren die Ergebnisse der aktuellen Rechtsextremismus-Studie „Die stabilisierte Mitte“ der Universität Leipzig einen wachsenden Antiziganismus2 im Zeitraum zwischen 2011 und 2014 bei gleichzeitiger Abnahme der Zahl an manifest rechtsextrem eingestellten Personen. Dabei gaben 56 Prozent der Befragten an, Roma und Sinti neigten zur Kriminalität und bestätigten damit eines der nachhaltigsten Zerrbilder über die sogenannten „Zigeuner“ (Decker/Kiess/Brähler 2014, Seiten 49 bis 50). Ebenso gravierend wie die verbreitete gesellschaftliche Ablehnung scheint zu sein, dass sich die bestehenden Organisationen der Minderheit oftmals als Vertretung ihrer jeweiligen Teilpopulationen und eben nicht als Anwälte aller Sinti und Roma inklusive der Neuzuwanderer begreifen. Darin spiegelt sich letztendlich die Heterogenität der gesamten Gruppe wieder. Obwohl sie im heutigen Europa gut 11 bis 12 Millionen Menschen umfasst, gibt es keine eigenständige Identität innerhalb der Gruppe, die sich beispielsweise über eine gemeinsame Kultur oder Religion bilden könnte. So spielt auch die historische Erfahrung rassischer Verfolgung und Ermordung für viele osteuropäische Roma nur eine untergeordnete Rolle. Nicht einmal die Sprache Romanes dient in ihren vielfältigen Varianten als tragfähiges Band und im Gegensatz zu den meisten anderen Zuwanderergruppen profitieren Sinti und Roma nicht von den Bezügen zu einem „Heimatland“ bzw. einem „kin state“, der Belange der Minderheit aufgreifen und eine kollektive Identität befördern könnte. Im Gegenteil werden sie in ihren jeweiligen Heimatländern trotz Jahrhunderte langen Zusammenlebens heute zumeist als Fremdkörper wahrgenommen. Dementsprechend distanziert und wenig kooperationsbereit verhalten sich viele Angehörigen der Minderheit gegenüber den Institutionen des deutschen Staates. Die Erfahrungen aus ihren Heimatländern prägen ganz erheblich das Handeln der zugewanderten Roma in ihren neuen Kontexten. Bestehende institutionelle Arrangements und die etablierten Formen der politischen Aushandlung in Deutschland verstärken die Probleme der Selbstorganisierung von Zuwanderungsminderheiten noch. Über mehr als ein Jahrhundert hinweg hat sich in Deutschland eine Tradition korporatistischer Interessenaushandlung entwickelt, in der Kommunalverwaltungen mit etablierten Organisationen aus dem Feld „Arbeit und Soziales“ Bedarfe definieren und Maßnahmen anbieten und durchführen. Hier ist es für jede „neue“ Zuwanderungsgemeinschaft erst einmal sehr schwierig, auf dem Terrain der etablierten Akteure Fuß zu fassen. Zwar werden Migrantinnen und Migranten heute zunehmend als Sub2
Mit dem Begriff des „Antiziganismus“ werden feindliche Haltungen gegenüber Sinti und Roma verstanden, die von Vorurteilen über Diskriminierungen bis hin zu Mord und massenhafter Vernichtung reichen (Koch 2010, S. 260–261). Aufgrund seiner Ableitung von der Bezeichnung „Zigeuner“ wird dieses begriffliche Konzept nicht von allen Angehörigen unterstützt (vgl. zur Problematisierung End 2013, S. 28–29).
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jekte in die Gestaltung von Integrationsangeboten wie auch in politische Aushandlungsprozesse einbezogen, vielfach offenbaren sich gerade in der kommunalen Praxis aber auch noch paternalistische Herangehensweisen. Exemplarisch für eine solche Grundhaltung mag auf den Kommentar eines Fachbereichsleiters Arbeit und Soziales einer deutschen Großstadt verwiesen sein, der angesichts der Probleme der Minderheitenförderung in den Herkunftsländern im Rahmen einer öffentlichen Debatte anmerkte: „Gebt uns die 20 Millionen der EU für die Roma-Integration, die die Osteuropäer nicht abgerufen haben, wir wissen dann schon wie wir sie sinnvoll für die Armutsflüchtlinge einsetzen können.“
Von einer auch nur annährend gleichrangigen Einbindung der Zugewanderten und ihrer organisatorischen Repräsentanten, wie sie mittlerweile auch im nationalen Integrationsplan verankert ist, kann also noch keine Rede sein.
Teilhabe erfordert Empowerment Dass gesellschaftliche Teilhabe Empowerment und Selbstorganisation erfordert, ist zumindest in der Migrationsforschung und in maßgeblichen Teilen von Politik und Gesellschaft eine Selbstverständlichkeit geworden (Sauer 2014, Seiten 365–366). Dabei bleibt die konkrete Hilfeleistung wie auch die advokatorische Interessenvertretung beispielsweise durch Caritas und Diakonie auch zukünftig notwendig. Eine öffentlich präsente und handlungsfähige Selbstorganisation ist allerdings eine Grundvoraussetzung für gelingende Integration zugewanderter Roma. Wie kann angesichts der skizzierten Problemlagen bei Roma und Sinti der Aufbau neuer Selbstorganisationen der Zuwanderer aus den europäischen Partnerländern dann überhaupt gelingen? Wie lassen sich auch Brücken schlagen zwischen den verschiedenen Sinti und Roma-Gemeinschaften? Jede Form zivilgesellschaftlicher Organisation bedarf zunächst einer grundlegenden Bereitschaft auf Seiten der Mehrheitsgesellschaft, Partizipation zuzulassen, als integrationspolitisches Ziel zu definieren und entsprechend zu fördern (Cyrus 2008, Seite 8). Gerade im Fall der zugewanderten Roma, deren bleiberechtlicher Status nicht immer abgesichert ist, die aber de facto zu einem guten Teil in Deutschland verbleiben, stellt dies eine Aufgabe dar, die jeweils im kommunalen Kontext, aber ebenso durch Landes- und bundespolitische Akteure zu leisten ist. Auf organisatorischer Ebene kann der Aufbau tragfähiger Strukturen bei neuformierten Selbstorganisationen in Form von Tandem oder Mentoring-Projekten angegangen werden. Im Mittelpunkt steht hierbei eine Zusammenarbeit auf „Augenhöhe“ zwischen Roma-Selbstorganisationen und erfahrenen Orga-
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nisationen aus dem Feld der Integrationsarbeit (Boos-Nünning/Karakaşoğlu/ Reich 2015). Dabei gilt es unter anderem, das vorhandene Potential der Selbstorganisationen aufzugreifen und eine Professionalisierung der Verbandsarbeit zu erreichen. Dazu bedarf es nicht zuletzt auch der finanziellen Unterstützung bzw. der Beschäftigung und Qualifizierung von ehrenamtlichem und auch hauptamtlichem Personal in den Selbstorganisationen (ebd., Seite 161). Gilt dies für alle eigenethnischen Organisationen in vergleichbarer Weise, so ist die Mobilisierung zu zivilgesellschaftlichem Engagement in der Gruppe der Roma aufgrund der skizzierten Vorurteilsmuster innerhalb der deutschen Mehrheitsgesellschaft besonders voraussetzungsvoll. Viele Angehörige der Roma- und Sinti- Minderheiten verschweigen in der Öffentlichkeit ihre Minderheitenzugehörigkeit aus Furcht vor Negativreaktionen. Das Engagement im Rahmen einer Selbstorganisation setzt dementsprechend oftmals einen individuellen Bewusstseinswandel voraus, der nicht immer mit kurzfristigen Organisations- oder Projektzielen vereinbar ist. Beispielhaft für eine solche kooperative Projektarbeit steht das vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und der Bundeszentrale für politische Bildung geförderte Projekt „Juroma – junge Roma aktiv“. Geplant und durchgeführt wird das Vorhaben durch die Otto Benecke Stiftung e.V. in enger Kooperation mit der Roma-Selbstorganisation Amaro Drom e.V. und mit weiteren Roma-Jugendverbänden. Im Rahmen des Projektes werden junge Angehörige der Roma-Minderheit zu Multiplikatoren und Mentoren weitergebildet, damit diese innerhalb ihrer Community u.a. selbständig Bildungs- und Ausbildungsperspektiven aufzeigen und Kontakte zu Regelangeboten der Jugendhilfe oder zu lokalen Bildungseinrichtungen herstellen können. Inhaltlich sind die Weiterbildungsangebote sehr vielfältig gestaltet und reichen von Informations- und Diskussionsveranstaltungen zu Bildungsverläufen, vor-Ort-Besuchen in Betrieben bis zu einem Erfahrungsaustausch mit Experten über Diskriminierungserfahrungen und über die Möglichkeiten und Grenzen des Allgemeinen Gleichstellungsgesetzes (AGG). Ansatzpunkt für die Erreichung der Zielgruppe sind dabei in der Regel sehr niederschwellige Freizeit- oder Bildungsangebote ebenso wie eine entsprechende Präsenz und Kommunikation über Social Media-Plattformen. Ergänzend zu einer gezielten Jugendarbeit bieten die pädagogischen Mitarbeiter begleitende Elternforen an, um auch über die Unterstützung aus dem Elternhaus eine Aktivierung der Jugendlichen und ihre individuelle Berufsqualifizierung zu fördern. Auf dieser Grundlage konnten an verschiedenen Standorten vor allem in Nordrhein-Westfalen und in Berlin tragfähige Arbeitsstrukturen entwickelt werden. Von besonderer Bedeutung ist dabei, dass auf der Basis einer nicht immer konfliktfreien Zusammenarbeit der Projektpartner bestehende Vorurteile auf Seiten der Roma-Verbände und der beteiligten Roma gegenüber einer Kooperation mit Organisationen der Mehrheitsgesellschaft abgebaut werden konnten.
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Gleichwohl zeigen sich auch in diesem Projektkontext sehr deutlich die Schwierigkeiten einer zivilgesellschaftlichen Mobilisierung innerhalb einer ethnischen Gemeinschaft, deren Angehörige stark von individuellen Negativerfahrungen geprägt sind und in Teilen tradierten Wertvorstellungen anhängen, die eine gleichberechtigte Einbindung von Romnija in die Verbandsarbeit einschränken können. Zivilgesellschaftliches Engagement von Roma und für Roma bleibt damit alles andere als ein Selbstläufer. Weitere Perspektiven insbesondere für die Mobilisierung von Neuzuwanderern im kommunalen Kontext könnten sich in Zukunft durch eine systematische Verbindung mit Ansätzen und Maßnahmen der kooperativen Stadtentwicklung ergeben. Sozialraumorientierte Fachkonzepte, wie sie im Rahmen der Disziplin Soziale Arbeit seit einigen Jahren intensiv diskutiert werden, begreifen sich als Stärkemodelle, die bei den konkreten lebensweltlichen Erfahrungen von Menschen ansetzen (Budde/Früchtel 2005). Dabei geht es nicht mehr darum, Hilfesuchende in bestehende Maßnahmen „einzupassen“, auch wenn gezielte Beratungs- und Dialogangebote weiterhin einen hohen Stellenwert haben. Vielmehr wird das Wissen um Problemlagen und konkrete Lösungsansätze auf Seiten aller Bürgerinnen und Bürger eines Sozialraumes gemeinsam mit den etablierten Akteuren gewonnen und genutzt, um für alle Seiten angemessene Lösungen zu finden. Die Erfahrung als sachkundiger Nachbar und die Einbindung in lokale Netzwerke kann auch für die Zuwanderin oder den Zuwanderer (ebd., Seite 7) motivierend wirken, indem Gemeinsamkeiten erkannt, Vertrauen geschaffen und im gemeinsamen Aushandlungsprozess mit städtischen Akteuren Ergebnisse erzielt werden, die das eigene Lebensumfeld aufwerten. Gleichzeitig kann auch auf Seiten der Netzwerkpartner die Bereitschaft und das Verständnis wachsen, sich für die Belange der Neuzuwanderer einzusetzen. Seine Fortentwicklung findet das Fachkonzept der Sozialraumorientierung unter dem Schlagwort des „Quartiersmanagements“, dabei ist die Förderung von Selbstorganisationen ein erklärtes Ziel (Guhl 2016). Engagierte Ansätze für eine solche Kombination von Beratungsangeboten und Empowermentstrategien existieren beispielsweise mit dem vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge seit Ende 2012 geförderten Projekt „Integration Von Roma In Der Dortmunder Nordstadt“ in der Trägerschaft der dortigen Planerladen e.V. Neben der klassischen Sozialberatung und dem Aufbau einer Gesprächskultur im Stadtteil zählt die Gründung und Etablierung einer Selbst organisation der Neuzuwanderer zu den erklärten Zielsetzungen des Projektes. Kritisch gesehen wird heute vielfach, dass im Rahmen solcher Ansätze keine wirkliche Einbindung der benachteiligten Personen aus dem Quartier in kommunale politische Entscheidungsprozesse gelingt bzw. auch nicht intendiert ist (zusammenfassend Guhl 2016, Seiten 116 bis 117). Demgegenüber bleibt festzustellen, dass sich insbesondere der Aufbau von gegenseitigem Vertrauen und Respekt zwischen Roma und Nicht-Roma angesichts der diskursprägenden Vor-
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urteilsmuster oftmals nicht in kurzen Projektlaufzeiten und mit einer geringen Personalausstattung zu bewältigen ist. Auf Seiten etablierter Behörden und Leistungsanbieter sowie bei den Netzwerkpartnern im Quartier braucht es dazu mit der prinzipiellen Öffnung für neue Akteure und der Auseinandersetzung mit eigenen Fremdheitsvorstellungen gleich ein zweifaches Umdenken. Dies gilt gleichermaßen auch für die neu zugewanderten Roma. Neben einer Offenheit für die Zusammenarbeit mit Politik, Verwaltung und privatwirtschaftlichen Organisationen einerseits ist eine Auseinandersetzung mit eigenen tradierten Werthaltungen geboten, die – wie insbesondere in der Frage der Geschlechterbeziehungen – Integrationsprozesse behindern können und eine Kooperation auf Augenhöhe auch mit den Selbstorganisationen der Minderheit oftmals erschweren. Solchermaßen individuelle wie kollektive Neuorientierungen lassen sich im Sinne konfliktorientierter Integrationsmodelle sicher zunächst durch die Austragung und zivile Bearbeitung konkreter sozialer Problemlagen im kommunalen Raum gestalten. Dermaßen konzipierte Prozesse des Quartiersmanagements können hier einen wichtigen Rahmen bieten. Wichtig – und bisher noch unzureichend umgesetzt – ist die Einbeziehung von „Türöffnern“ oder „Brückenbauern“ aus dem Kreis der Roma-Zuwanderer selbst. Die Förderung und Einbindung von Selbstorganisationen ist eine wesentliche Voraussetzung für die Gleichstellung von Roma und Sinti. Die jahrelange Projektpraxis macht deutlich, dass dazu integrierte sozialräumliche Strategien gute Grundlagen darstellen können. Angesichts der konkreten Projektrealitäten besteht hier aber auch immer die Gefahr einer Überfrachtung mit zu weitgehenden Projektzielen. Unabdingbar bleibt daneben eine konsequente Antidiskriminierungspolitik, bei der bestehende rechtliche Instrumente von den Verantwortlichen in Politik, Verwaltung oder Justiz entschieden angewandt werden. Der Abbau der jahrhundertealten Klischeebilder und Vorbehalte gegenüber den Angehörigen der Roma-Minderheiten bleibt eine besonders relevante Aufgabe auch wenn es um die Förderung von Selbstorganisationen geht. Dies allerdings muss vor allem im Kontext der schulischen und der außerschulischen Bildungsarbeit geleistet werden.
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Norbert Cyrus Irreguläre Migration in Deutschland Zur Kontroverse zwischen ordnungspolitischer und menschenrechtlicher Sichtweise Die Frage, wie der gesellschaftliche Umgang mit irregulärer Migration gestaltet werden soll, ist politisch umstritten. Dabei stehen sich, sehr grob vereinfacht, eine ordnungspolitische und eine menschenrechtliche Sichtweise gegenüber (Cyrus 2004; Sinn u.a. 2006; BMI 2007, Rausch 2016). Die ordnungspolitische Perspektive betrachtet irreguläre Migration vor allem unter dem Aspekt der Gefährdung öffentlicher Sicherheit und Ordnung. Mit einer konsequenten Politik der Kontrollen an den Staatsgrenzen und im Inland sollen irreguläre Migrantinnen und Migranten an der unerlaubten Einreise gehindert und irreguläre Aufenthalte aufgedeckt und beendet werden (Schneider 2012). Dagegen betont die menschenrechtliche Perspektive, dass auch irreguläre Migrantinnen und Migranten unveräußerliche Menschenrechte besitzen (Bielefeldt 2006; Carens 2008), die durch die aktuell vorrangig verfolgte Politik der Bekämpfung irregulärer Migration in Deutschland insbesondere in den Bereichen des Rechts auf Gesundheit (Mylius/Bornschlegl/Frewer 2011; Falge/Fischer-Lescano/Sieveking 2009), des Zugangs von Kindern zur Bildung (SVR 2010; Laubenthal 2011) und des Schutzes von Beschäftigten vor Ausbeutung (Fischer-Lescano/Kocher/Nassibi 2012) verletzt würden. Zur Absicherung der Menschenrechte irregulärer Migrantinnen und Migranten werden daher rechtliche und institutionelle Veränderungen gefordert, die bis zur Anerkennung eines Rechts auf globale Bewegungsfreiheit (Cassee 2016) reichen. In diesem Beitrag wird darauf hingewiesen, dass die menschenrechtliche Perspektive einige rechtliche Veränderungen zugunsten irregulärer Migrantinnen und Migranten in der Legislaturperiode 2009 – 2013 bewirkt hat. Es wird dann der Frage nachgegangen, wie diese Veränderungen bewirkt werden konnten, wie sie sich konkret auswirken und wie die Veränderungen aus ordnungspolitischer Perspektive aufgenommen und interpretiert wurden. Abschließend wird der Versuch einer aktuellen Einordnung in Zeiten der internationalen Flüchtlingsschutzkrise unternommen.
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Der ordnungspolitische Standpunkt Der ordnungspolitische Standpunkt bestimmt seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland den politischen Umgang mit Zuwanderung. Das Bundesministerium des Innern (BMI), das für dieses Politikfeld zuständig ist, vertritt traditionell eine restriktive Linie der Durchsetzung aufenthaltsrechtlicher Regelungen mit umfassenden Maßnahmen zur Kontrolle und Beendigung unerlaubter Aufenthalte. Das BMI sieht keinen Bedarf für Schutzmaßnahmen zugunsten irregulärer Migrantinnen und Migranten. In einer Positionierung aus dem Jahr 2001 heißt es: „Ausländer, die ohne entsprechenden Aufenthaltstitel nach Deutschland einreisen oder sich hier aufhalten, verletzten das geltende Recht und sind sich (…) in aller Regel völlig darüber im Klaren, welche Konsequenzen dies für ihre Lebensumstände in Deutschland haben wird. Sie sind in diesem Sinne selbst für ihre „Illegalität“ verantwortlich. Aus dieser Position heraus können keine Ansprüche an den deutschen Staat oder die deutsche Gesellschaft abgeleitet werden“ (BMI 2001).
Diese Argumentation wurde vom BMI als Reaktion auf eine Eingabe an den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages vorgetragen. Mit der Eingabe hatte ein Zusammenschluss von Personen aus Kirche, Wohlfahrtspflege und Wissenschaft auf die menschenrechtlich prekäre Situation von Menschen ohne Aufenthaltsstatus in Deutschland aufmerksam gemacht und Maßnahmen zur Verbesserung der rechtlichen und sozialen Lage angeregt (Cyrus 2013). Das BMI hatte dieses Anliegen auch mit Hinweis auf die „Einheitlichkeit der Rechtsordnung“ zurückgewiesen und sich auf die Unterstützung und Zustimmung der Bundesländer berufen: „Auch die Länder teilen die Auffassung, dass die Rechte zugunsten von „Illegalen“ ausreichend sind und diese Personen aus ihrer selbst verursachten rechtswidrigen Situation heraus keine Ansprüche an den Staat stellen können“ (Seite 6). In einem „Prüfauftrag Illegalität“, der im Koalitionsvertrag der Regierungsparteien SPD und CDU/CSU vereinbart worden war, bekräftigte das BMI 2007 diese Auffassung und betonte mit Blick auf die Kritik an den Übermittlungspflichten öffentlicher Stellen: „Die Übermittlungspflicht kann unverändert beibehalten werden. Der Staat verfügt mit dieser Vorschrift über ein Mittel der Migrationskontrolle, das dazu beiträgt, dem Aufenthaltsrecht Geltung zu verschaffen. Eine abschreckende Wirkung ist beabsichtigt“ (BMI 2007).
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Veränderungen zugunsten irregulärer Migrantinnen und Migranten Vor dem Hintergrund dieser eindeutigen Positionierung des verantwortlichen Ministeriums ist es überraschend, dass in der darauf folgenden Legislaturperiode 2009 – 2013 rechtliche Veränderungen zugunsten irregulärer Migranten vorgenommen wurden. So wies der Gesetzgeber in der „Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsrecht“ vom 18. September 2009 erstmals ausdrücklich darauf hin, dass bei einer Notfallbehandlung irregulärer Migranten ein „verlängerter Geheimnisschutz“ besteht. Sozialbehörden haben in solchen Fall die Kosten auf Antrag zu erstatten, ohne dass die personenbezogen Daten der Patienten an die Ausländerbehörden weitergeleitet werden dürfen. Weiterhin hat der Gesetzgeber mit der Umsetzung Europäischer Richtlinien im Jahr 2011 den Paragraphen 98 a in das Aufenthaltsgesetz neu eingefügt.1 Danach sind Arbeitgeber irregulärer Migranten zur Zahlung vereinbarter Vergütung verpflichtet. Somit wurde klargestellt, dass Lohnforderungen aus unangemeldeter Beschäftigung vor einem deutschen Arbeitsgericht eingeklagt werden können. Ebenfalls im Jahr 2011 wurde die in § 87 Aufenthaltsgesetz festgelegte Übermittlungspflicht öffentlicher Stellen an die Ausländerbehörden zugunsten irregulärer Migranten eingeschränkt.2 Schulen sowie Bildungs- und Erziehungseinrichtungen sind danach von der Verpflichtung öffentlicher Stellen, Kenntnisse über einen irregulären Aufenthalt an die Ausländerbehörden zu melden, ausdrücklich ausgenommen worden. In der Legislaturperiode 2009 – 2013 wurde sogar über weiter gehende Maßnahmen zugunsten irregulärer Migrantinnen und Migranten diskutiert. Die Beauftragte für Migration, Flüchtlinge und Integration, Maria Böhmer, stellte im September 2012 Handlungsempfehlungen des Integrationsbeirats zum Umgang mit Flüchtlingen und Menschen ohne Aufenthaltsstatus vor. Der Beirat empfahl unter anderem, die Übermittlungspflichten in der Gesundheitsversorgung weiter einzuschränken, um den allgemeinen Zugang zur medizinischen Regelversorgung insbesondere für Kinder und Schwangere Personen ohne Aufenthaltsstatus zu gewährleisten. Weiterhin sollte ermöglicht werden, dass für den Besuch statusloser Kinder in Kitas und Kindergärten Leistungen nach Sozialgesetzbuch VIII gewährt werden. Maria Böhmer betrachtete diesen Beschluss als Ausdruck eines neuen Denkens und eines Paradigmenwechsel in der Integrationspolitik (Woratschka 2013). Diese und weitere Vorschläge rechtlicher Veränderungen zugunsten irregulärer Migranten wurden von Oppositionsparteien im 1
Die Vorschrift wurde eingefügt durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union und zur Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex vom 22.11.2011 (BGBl. I S. 2258ff.) m.W.v. 26.11.2011.
2 Ebda.
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Bundestag mitgetragen, so von der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen (BT-Dr. 17/6167). Aber auch die Bundestagsfraktion der Regierungspartei SPD hatte einen Gesetzentwurf in den Bundestag eingebracht, mit dem die Übermittlungspflicht grundsätzlich auf die Strafverfolgungsbehörden eingeschränkt werden sollte (BT-Dr. 17/56). Zudem wurde eine Herabstufung unerlaubter Einreise und Aufenthalt von einer Straftat zu einer Ordnungswidrigkeit vorgeschlagen (Cyrus 2010a, Hörich/Bergmann 2012 und 2013). In der darauf folgenden Legislaturperiode des Bundestags, die im Jahr 2013 begann, wurden diese Vorschläge von den jeweiligen Fraktionen allerdings nicht wieder aufgegriffen. Dies liegt aber nicht daran, dass humanitären Notlagen aufgrund der oben genannten rechtlichen Veränderungen behoben oder zumindest entschärft worden waren. Aktuelle Untersuchungen weisen darauf hin, dass die Problemlagen weiter bestehen: Der Zugang zur medizinischen Versorgung ist für Menschen ohne Aufenthaltsrechte nach wie durch Ängste vor einer Aufdeckung des Aufenthaltsstatus eingeschränkt, die Menschen oft davon abhalten, rechtzeitig medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen (Mylius 2016). Für Kinder statusloser Eltern wird der Zugang zur Bildung nach wie vor durch die unzutreffende, aber vorherrschende Auffassung blockiert, dass kein Anspruch auf Einschulung bestehe und das Schulpersonal Informationen über irreguläre Aufenthalte an die Polizei oder Ausländerbehörde zu melden habe (Funck u.a. 2015). Und nach wie vor ist die unzutreffende Auffassung vorherrschend, dass Menschen ohne Aufenthaltsrechte keine Möglichkeit haben, vorenthaltene Ansprüche aus einem Beschäftigungsverhältnis vor einem Arbeitsgericht einzuklagen (Cyrus/Kip 2015, Tschenker 2015). Vor dem Hintergrund einer Rückkehr zur Routine parlamentarischer Nichtbefassung mit der humanitären Dimension irregulärer Migration, die trotz weiterhin bestehender Hinweise auf Problemlagen vollzogen wurde, stellt sich die Frage, wie es dazu kam, dass der Bundestag sich mit diesem speziellen Aspekt der Zuwanderung beschäftigt und rechtliche Veränderungen vorgenommen hatte.
Wie konnten die Veränderungen erreicht werden? Wie ist es zu erklären, dass die vorgenommenen Veränderungen gegen die Überzeugung der in diesem Politikfeld eigentlich zuständigen und verantwortlichen Vertreter der ordnungspolitischen Sichtweise zustande kommen konnten? Im Anschluss und angeregt durch den theoretischen Ansatz der „pragmatischen Soziologie der Kritik“ (Boltanski/Thevenot 2007; Boltanski 2010; Cyrus 2010b) lassen sich vier zusammen wirkende Faktoren identifizieren: 1. Die menschenrechtlichen Anliegen wurden von einer breiten Allianz „großer“, von der Politik als seriös anerkannten Akteuren vertreten. Vor allem
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die Katholische Bischofskonferenz hatte seit Ende der 1990er Jahre die menschenrechtlichen Anliegen mit dem Katholischem Forum Illegalität kontinuierlich bearbeitet (Alt/Fodor 2001) und VertreterInnen anderer „großer“ Akteure wie die Evangelische Kirche, die Wohlfahrtsverbände, aber auch Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände und Wissenschaft mobilisiert (Cyrus 2013). 3 Dass die „großen“ humanitären Akteure sich mit irregulärer Migration zu befassen begannen, ist aber auch dem Einfluss radikalerer zivilgesellschaftlicher Organisationen wie der Initiative „Kein Mensch ist Illegal“ geschuldet, die dem Thema durch radikale Forderungen nach „Offenen Grenzen“ und „Legalisierung für Alle“ öffentliche Aufmerksamkeit verschafft hatten. Diese radikaleren Initiativen wurden wegen ihres konfrontativen Auftretens in diese Allianz allerdings nicht einbezogen. 2. Denn bei der advokatorischen Arbeit wurden polarisierende Forderungen und konfrontative Eskalationsstrategien vermieden. Ganz bewusst verlassen wurde der seit den frühen 1990er Jahren vorgegebene Rahmen politischer Kontroversen, der durch die konfrontativ vorgetragenen radikalen Forderungen geprägt war. Die Anliegen wurden nunmehr auf die eng gefassten Bereiche der Sicherstellung grundlegender Menschenrechte in Deutschland unabhängig vom Aufenthaltsstatus konzentriert. Dabei wurden praktische Ansätze zum Umgang mit der humanitären Notlagen von Menschen ohne Aufenthaltsrechte aufgezeigt. Es ging somit nicht mehr um die Frage, ob diese Menschen Unterstützung erhalten sollten, sondern um das wie. Die politische Frage des ob wurde in eine technische Frage des wie übersetzt und konkrete Lösungsansätze angeboten: Die humanitären Advokatinnen und Advokaten entwickelten Konzepte und erarbeiteten in juristischer Kleinarbeit Vorschläge für die Formulierung von Gesetzen, die dann im Bundestag eingebracht wurden. 3. Die vorgeschlagenen Maßnahmen wurden als allgemeinwohlorientiert beschrieben. Zurück gewiesen wurde damit die Ansicht, dass irreguläre Migration ein Ausdruck krimineller Praktiken sei, durch die nicht zur Einreise legitimierte Personen sich in unfairer Weise individuelle Vorteile verschaffen (Stange 2006). Dagegen wurde in der menschenrechtlichen Argumentation betont, dass der soziale Rechtsstaat aufgrund selbst eingegangener Verpflichtungen das Recht auf Gesundheit, Zugang zu Schulbildung und Rechtsschutz unabhängig vom Aufenthaltsstatus nicht nur auf dem Papier, sondern auch tatsächlich zu gewährleisten hat. Unterstützend wurden instrumentelle oder utilitaristische Argumente angeführt: Eine verzögerte Behandlung könne zu höheren Behandlungskosten und zur Verbreitung ansteckender Krankheiten führen. Rechtliche Verletzlichkeit und mangelnde Konfliktfähigkeit bildeten die Anreize für illegale Beschäftigung. Und statuslose Kinder dürften für Fehlverhalten ihrer Eltern nicht sanktioniert werden, sie seien auch besser in der Schule aufgehoben als auf der Straße (Cyrus 2004). 3
Informationen zu diesen Aktivitäten bietet die Website www.forum-illegalitaet.de.
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4. Die menschenrechtlichen Anliegen wurden in verschiedensten Formaten präsentiert: Wissenschaftliche Forschungsberichte, rechtliche Expertisen, statistische Untersuchungen, eine Petition an den Bundestag, Kommentare zu Gesetzesentwürfen, Initiierung von Anfragen an die Regierung, ein öffentliches Memorandum, ein gemeinsamer Brief mehrerer ‚großer‘ Organisationen an den Innenminister, eine jährliche öffentliche Tagung oder kontinuierliche Ansprache der zuständigen Funktionsträgerinnen und –träger in allen Bundestagsparteien. In einem zweimal im Jahr tagenden „informellen Arbeitskreis Illegalität“ stimmten die advokatorischen Akteure ihr Vorgehen mit den zuständigen Abgeordneten aller im Bundestag vertretenen Parteien ab. So konnte der durch Nichtwissen und Nichtwissenwollen bestimmte Umgang der Politik mit der sozialen Dimension irregulärer Aufenthalte aufgebrochen, die viel beschworene Tabuisierung der menschenrechtlichen Dimension durchbrochen werden. Die mehrjährigen und intensiven advokatorischen Bemühungen führten in ihrer Gesamtheit und Zusammenwirken schließlich zu den bereits dargestellten Maßnahmen und Vorschlägen zugunsten irregulärer Migranten.
Das ordnungspolitische Verständnis der Veränderungen Damit stellt sich die Frage, wie diese Veränderungen von der ordnungspolitischen Seite aufgenommen werden. Ich hatte bereits angedeutet, dass das BMI an der ordnungspolitischen Sichtweise festhält. Maßnahmen zugunsten irregulärer Migranten wurden und werden aus grundsätzlichen Erwägungen heraus weiterhin als falsches Signal, als Anreizfaktor für irreguläre Migration betrachtet und abgelehnt. Der Schwerpunkt der politischen Beschäftigung mit irregulärer Migration liegt – sowohl auf deutscher als auch auf europäischer Ebene – vorrangig und nachdrücklich auf Schutz der Grenzen sowie Verhinderung, Aufdeckung und Beendigung irregulärer Aufenthalte (Carrera/Merlino 2010). Diese Haltung wurde mit der Europäischen Migrationsagenda, die im Mai 2014 von Ratspräsident Juncker vorgestellt wurde, ausdrücklich bestätigt. Die Migrationsagenda bestimmt vier Schwerpunkte der europäischen Migrationspolitik: • Die Anreize für irreguläre Migration sollen u.a. durch Ausweitung und Vorverlagerung von Grenzkontrollen vermindert werden. • Das Grenzmanagement soll verstärkt werden, um Menschenleben zu retten und die Außengrenzen zu sichern. • Die europäische Union soll die Grundlagen einer gemeinsamen Asylpolitik neu bestimmen. • Und die Politik für die Ermöglichung legaler Einwanderung soll neu gestaltet werden.4 4 http://europa.eu/rapid/press-release_IP-15-4956_de.htm.
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An erster Stelle stehen somit nach wie vor die Abwehr und Verhinderung irregulärer Migration. Im Gefolge der internationalen Flüchtlingsschutzkrise (Cyrus 2016) hat diese Haltung zusätzlichen politischen Rückhalt bekommen und wird als alternativlos angesehen. Es ist allerdings bemerkenswert, dass erstmals auch die Rettung von Menschenleben als Aufgabe und Pflicht der Grenzsicherung ausdrücklich benannt wurde. Ansonsten wird die Frage des humanitären und sozialen Umgangs mit Menschen ohne Papiere, die sich bereits in der Europäischen Union aufhalten, überwiegend in der Verantwortung der Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten belassen. In Anbetracht der weiterhin vorherrschenden Dominanz der ordnungsrechtlichen Perspektive ist es bemerkenswert, dass die Maßnahmen zugunsten irregulärer Migranten, die lange vehement abgelehnt worden waren, bei ihrer Einführung nicht als Widerspruch oder Aufweichung des Vorrangs einer ordnungspolitischen Praxis bewertet wurden. Stattdessen wurden die Veränderungen ordnungspolitisch vereinnahmt und oder normalisiert. Dies verdeutlicht die Rede, die der damalige innenpolitischen Sprecher der CDU, Reinhard Grindel, im Bundestag vortrug, um die Zustimmung seiner Fraktion zu den beschlossenen Maßnahmen zugunsten irregulärer Migrantinnen und Migranten zu begründen (Grindel 2011). Mit Blick auf die Kostenerstattung durch die Sozialämter ohne Weitergabe von Patientendaten an die Ausländerbehörden erläuterte Grindel, dass „wir schon nach geltender Rechtslage die Situation [haben], dass die Übermittlungspflicht durch den so genannten verlängerten Geheimnisschutz beschränkt ist.“ Mit dieser Argumentation erfolgte eine ordnungspolitische Normalisierung. Weiter gehende Vorschläge zur Einschränkung der Übermittlungspflichten im Gesundheitsbereich werden jedoch abgelehnt: Bei der Stärkung von Rechtssicherheit und Konfliktfähigkeit in der Beschäftigung handele es sich lediglich um die Umsetzung der europäischen Arbeitgebersanktions-Richtlinie. Diese verfolgt das Ziel der Bekämpfung irregulärer Migration, indem Arbeitgeber, die irreguläre Migranten unangemeldet beschäftigen, bestraft werden sollen. Mit dieser ordnungspolitischen Vereinnahmung wird eine weiter gehende Einschränkung der Übermittlungspflicht bei Arbeitsgerichten – die erst die tatsächliche Gewähr böte, dass rechtsstaatliche Schutzangebote auch tatsächlich in Anspruch genommen werden – abgelehnt: „Nehmen wir nur den Gerichtsprozess im Falle eines Lohnstreits bei illegaler Beschäftigung. Es kann doch nicht sein, dass ein illegal Aufhältiger seinen Arbeitslohn aus illegaler Beschäftigung vor Gericht eintreibt, sich dann erneut illegaler Arbeit zuwendet und die Ausländerbehörde von alledem nichts erfährt“. Auch bei der dritten Veränderung, die statuslosen Kindern den angstfreien Zugang zur Bildung eröffnet, wird eine ordnungspolitische Normalisierung und Vereinnahmung vorgenommen: Die Änderung vollziehe nur die gängige Praxis in Bundesländern nach. Ansonsten habe die CDU/CSU Bundestagsfraktion
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sich aus zwei Gründen zu der Änderung „durchgerungen, illegalen Kindern den Schulbesuch zu ermöglichen“: Man wollte dazu beitragen, dass statuslose Kinder die Zeit in Deutschland nutzen, um Fertigkeiten und Fähigkeiten zu erwerben, die ihnen bessere Bildungs- und Berufsperspektiven in ihren Herkunftsländern eröffnen. Damit würde auch den Eltern diese Rückkehr in die Heimat leichter fallen, weil sich die Perspektive der Kinder verbessere. Zweitens solle vorgebeugt werden, dass die Kinder irgendwann eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung werden könnten. Kriminalpräventive Gründe sprächen für eine Öffnung der Schulen, denn „wer in der Schule ist, kann in der Zeit kein dummes Zeug anstellen“. Ordnungspolitische Normalisierung und Vereinnahmung sind zugleich Ausdruck und Mittel, den Dominanzanspruch der ordnungspolitischen Sichtweise aufrecht zu erhalten. Weiter gehende Vorschläge werden strikt abgelehnt, da „in diesem Fall die Illegalen selbst und nicht nur ihre Kinder Begünstigte einer Regelung wären, die nun wirklich gegen den Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung verstoßen würde“. Diese Auffassung wurde vom Bundesministerium des Innern geteilt. Im November 2012 wies das BMI nach einem Pressebericht die oben erwähnten Empfehlungen des Integrationsrates strikt zurück. Jede weitere Annäherung an die Rechtsstellung sowie die soziale und medizinische Versorgung legal hier aufhältiger Personen würde einen „unerwünschten Sogfaktor für illegale Zuwanderung schaffen und die Einheit der Rechtsordnung gefährden“ (Woratschka 2012). Das „alte Denken“ des ausschließlich repressiven Umgangs mit irregulärer Migration (Schneider 2012) besteht somit fort und hat, wenn man den Gesamtbereich des Politikfeldes irreguläre Migration betrachtet, tatsächlich auch nur in einem relativ kleinen und stark eingeschränkten Bereich an Boden verloren.
Die Kontroverse entwickelt sich weiter Die Kontroverse zwischen ordnungspolitischer und menschenrechtlicher hatte sich, darauf verweisen die dargestellten rechtlichen Veränderungen, in Deutschland in den Jahren 2009 – 2013 weiter entwickelt. Die öffentliche Kritik hatte nicht nur eine fundiertere Begründung und breitere Zustimmung für humanitäre Maßnahmen zugunsten irregulärer Migrantinnen und Migranten erreicht, sondern auch eine gewisse Verschiebung im politischen Gewicht der Positionen. In der darauf folgenden Legislaturperiode wurde die Debatte von der Allianz „großer“ Akteure allerdings nicht mehr mit dem gleichen Einsatz und Nachdruck fortgesetzt. Einige fachlich kompetente und engagierte „Advokatinnen“ gingen in andere Betätigungsfelder. Und die bisher aktiven „großen“ institutionellen Akteure haben keine systematische Analyse der neuen Rahmenbedingungen, die durch die rechtlichen Veränderungen bewirkt wurden, vorgenommen. Auch unter dem Eindruck der mit der Flüchtlingsschutzkrise verbundenen Anforde134
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rungen, die vorrangige Aufmerksamkeit abnötigen, pausiert die öffentliche und kritische Befassung mit den humanitären Lagen der in Deutschland lebenden Menschen ohne Aufenthaltsstatus. Dabei ist damit zu rechnen, dass die angekündigte Politik der Rückführung von Flüchtlingen, die kein Bleiberecht geltend machen können, zu einem Anstieg der Zahl der Menschen ohne Aufenthaltsstatus führen wird. Vor diesem Hintergrund wäre eine Wiederaufnahme der Kontroverse, die als Medium und Katalysator für gesellschaftliches Lernen wirkt, produktiv und würde dazu beitragen, den selbst gesetzten Ansprüchen eines sozialen Rechtsstaats nicht nur auf dem Papier sondern auch tatsächlich gerecht zu werden. Anzuknüpfen ist dabei auch an Debatten, die auf internationaler und europäischer Ebene geführt werden: In den letzten Jahren hat die rechtliche und soziale Lage von Menschen ohne Papiere eine zunehmende Aufmerksamkeit erhalten, die sich in einer Vielzahl wissenschaftlicher Forschungsprojekte und Abhandlungen, politischer Initiativen mit einer Forderung nach Verbesserung der sozialen und rechtlichen Stellung von Menschen ohne Papiere ausdrückt. 5 Inzwischen haben diese Initiativen dazu geführt, dass einige internationale politische Körperschaften das Thema irreguläre Migration aufgegriffen haben und nicht mehr ausschließlich aus einer Perspektive der öffentlichen Sicherheit und Kriminalitätsbekämpfung betrachten, sondern auch aus einer menschenrechtlichen und humanitären Perspektive. Auf internationaler Ebene hat zum Beispiel das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) in seinem Bericht (UNDP 2009) u.a. darauf hingewiesen, dass die vorrangige Orientierung der internationalen Migrationspolitik auf Kontrolle und Steuerung von Migration einseitig ist und die Rechte von Migrantinnen nicht hinreichend beachtet werden. Im Jahr 2014 hat das Büro des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte (OHCHR 2014) einen Bericht veröffentlich, der „die ökonomischen, sozialen und kulturellen Rechte von Migrant/innen in einer irregulären Situation“ untersucht und wichtige Klarstellungen vorgenommen. So wird betont, dass Menschenrechte unabhängig vom Aufenthaltsstatus Geltung haben. Staaten wird das Recht zugesprochen, über Einreisen und Aufenthalte zu entscheiden. Die unerlaubte Einreise bzw. der unerlaubte Aufenthalt darf nach Auffassung des Hohen Kommissars aber nicht kriminalisiert werden. In dem Bericht heißt es ausdrücklich: „Irreguläre Migranten sind Menschen; und als Menschen sind sie vom Internationalen Menschenrecht geschützt“ (OHCHR 2014: 2, eigene Übersetzung). 5
Bezogen auf Initiativen zur Verbesserung der sozialen und humanitären Lage von Menschen ohne Papiere sei hier nur hingewiesen auf europäischer Ebene z.B. auf das Netwerk PICUM (Picum lfd.), auf nationaler Ebene in Deutschland auf die Aktivitäten von Kirchen, Wohlfahrtsverbänden und Gewerkschaften (dazu Cyrus 2013), die unter anderem wissenschaftliche Studien zum Thema angeregt oder in Auftrag gegeben haben, wozu auch die beiden Studien im Auftrag der Diakonischen Werke zählen (Vogel/Assner 2009; Wilmes 2013).
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Sie haben daher Anspruch auf Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung, das Recht auf Gesundheit und das Recht auf angemessene Standards beim Lebensunterhalt, Unterkunft sowie Zugang zu Wasser, Sanitäreinrichtungen und Essen. Weiterhin haben sie Recht auf Bildung, soziale Absicherung sowie Arbeit und angemessene Arbeitsbedingungen. Auch auf europäischer Ebene wird die Frage des menschenrechtlichen Umgangs mit Menschen ohne Papiere in den letzten Jahren verstärkt betrachtet. Eine besondere Rolle nimmt hierbei die Grundrechteagentur der Europäischen Union (Fundamental Rights Agency, FRA) ein. In mehreren Studien hat die Europäische Grundrechteagentur die rechtliche und soziale Situation von Menschen ohne Papiere in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union untersucht, wobei u.a. der Zugang zur Gesundheitsversorgung (FRA 2015a), die Arbeitsausbeutung (FRA 2015b), die Kriminalisierung (FRA 2014), die Situation im Mittelmeer (FRA 2013), der rechtliche Umgang in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (FRAU 2010a), der Zugang zur Gesundheitsversorgung in bestimmten Mitgliedsstaaten (FRAU 2010b) und die Situation papierloser Haushaltsarbeiterinnen (FRA 2011) beschrieben und aus einer menschenrechtlichen Perspektive bewertet wurden. Mit Blick auf irreguläre Migration erklärt die Grundrechteagentur auf ihrer Website ausdrücklich: „Die Rechte von Drittstaatsangehörigen, die in die EU einreisen oder sich hier aufhalten, werden häufig missachtet. Die Gründe dafür sind mitunter mangelhafte Umsetzung der Rechtsvorschriften, ungenügende Kenntnis der Menschenrechte, unzureichend ausgebildete Beamte und in einigen Fällen schlicht Diskriminierung und Fremdenfeindlichkeit.“6 Die Veröffentlichungen des Büros des Hohen Kommissar für Menschrechte, der UNDP und der Grundrechteagentur belegen, dass die Rechtsansprüche von Menschen ohne Papiere inzwischen auch in internationalen und politischen Körperschaften thematisiert und ihre Achtung eingefordert wird. Die tatsächliche Umsetzung und Einhaltung menschenrechtlicher Standards, dies wird in den Publikationen auch deutlich, ist jedoch noch ein Desiderat. Die Studien und Positionsbestimmungen der Grundrechteagentur der Europäischen Union sind rechtlich unverbindliche Positionsbestimmungen, die gleichwohl eine starke Argumentationshilfe bieten. Es ist durchaus nachvollziehbar, dass das Bundesministerium des Innern sich – aufgrund der primären Zuständigkeit für öffentlichen Sicherheit und Ordnung – mit dem Thema irregulärer Migration wohl kaum anders als ordnungspolitisch beschäftigen kann. Um eine angemessene Berücksichtigung der humanitären und menschenrechtlichen Dimensionen zu erreichen, wäre daher die Zuständigkeit eines für Migration und Integration ganzheitlich zuständigen Ressorts anzustreben, das die humanitären Belange ausgewogener zur Geltung bringen könnte. 6 http://fra.europa.eu/de/theme/asyl-migration-grenzen.
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Irreguläre Migration in Deutschland
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Norbert Cyrus
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Migration und Qualifikation im historischen Wandel
Jochen Oltmer Migration und Qualifikation im historischen Wandel Zur Verknüpfung von Mobilität und Wissenstransfer „Fachkräftemobilität erhöhen, um ökonomische Wettbewerbsfähigkeit zu fördern“, „Lern- und Berufsbildungsmobilität ermöglichen“ oder „Arbeitsmobilitätshemmnisse beseitigen“ bilden nur einige der Schlagworte in der Diskussion um den Umgang mit dem in den vergangenen Jahren viel diskutierten Fachkräftemangel in der Bundesrepublik Deutschland. Wenig qualifizierte Arbeitskräfte werden immer seltener gesucht; deshalb haben sie mit geringerem Einkommen und längeren Phasen der Erwerbslosigkeit, folglich mit diskontinuierlichen Erwerbsbiographien zu rechnen, während die Nachfrage nach qualifizierten bzw. hoch qualifizierten Arbeitskräften wächst. Intensiv diskutiert wird nicht nur über die Möglichkeiten, Engpässe am Arbeitsmarkt durch die Förderung der Mobilitätsbereitschaft innerhalb der EU zu steuern. Vielmehr geht es auch um Perspektiven, (hoch) qualifizierte Arbeitskräfte aus Drittstaaten für die europäischen Arbeitsmärkte zu gewinnen. Die betroffenen europäischer Staaten befinden sich in dieser Hinsicht in einem globalen Wettbewerb; diverse der traditionellen Herkunftsländer von Zuwanderern nach EU-Europa unterliegen ebenfalls einem erheblichen demographischen und wirtschaftlichen Wandel; außerdem ist die Akzeptanz für eine Öffnung von Arbeitsmärkten für Zuwanderer in vielen europäischen Staaten weiterhin gering. Folglich lassen sich die Chancen für die vermehrte Ergänzung des Arbeitskräftepotentials um hoch qualifizierte Zuwanderer kaum sachgerecht einschätzen. Dass der Bedarf an (hoch) qualifizierten Arbeitskräften in den vergangenen Jahrzehnten stark angestiegen ist (bei sinkenden Geburtenraten und zunehmend kleineren Alterskohorten, die auf den Arbeitsmarkt drängen), resultiert vornehmlich aus der beschleunigten Entwicklung einer Dienstleistungsgesellschaft, die immer stärker auf Bildung und Wissen angewiesen ist. Das war in der Vergangenheit anders: Ein Großteil der Tätigkeiten in den Agrar- und Industriegesellschaften früherer Jahrzehnte und Jahrhunderte erforderten keine erheblichen formalen Qualifikationen.
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Jochen Oltmer
Chancen durch Migration – auch ohne Qualifikationen Was ist Migration? Migrationen sind räumliche Bewegungen von Menschen. Jedoch wird keineswegs jede dieser Bewegungen als Migration verstanden, wie etwa touristische Unternehmungen, Reisen oder das tägliche Pendeln zwischen Wohn- und Arbeitsort. Gemeint sind vielmehr jene Formen regionaler Mobilität, die weitreichende Konsequenzen für die Lebensverläufe der Wandernden haben und aus denen sozialer Wandel resultiert. Verschiedene Erscheinungsformen räumlicher Bevölkerungsbewegungen lassen sich unterscheiden: Dazu zählen Arbeitswanderungen, aber auch Siedlungs- und Bildungswanderungen, Nomadismus, Lebensstil- und Heiratsmigrationen sowie Gewaltmigrationen (Flucht, Vertreibung etc.). Sieht man von den Gewaltmigrationen ab, streben Individuen, Familien oder Gruppen danach, durch Bewegungen zwischen geographischen und sozialen Räumen Erwerbs- oder Siedlungsmöglichkeiten, Arbeitsmarkt-, Bildungs-, Ausbildungs- oder Heiratschancen zu verbessern bzw. sich neue Chancen zu erschließen (Oltmer 2016a, Seite 1 bis 12). Die Tabelle 1 verdeutlicht im Sinne einer typologisierenden Skizze die verschiedenen Hintergründe sowie raum-zeitlichen Dimensionen von Migration.
Hintergründe und raum-zeitliche Dimensionen von Migration Hintergrund
• • •
Raum
• • • •
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Chancen wahrnehmen, Handlungsmacht erschließen (z.B. Arbeits-, Siedlungs- oder Bildungswanderungen) Gewalt (Flucht, Vertreibung, Deportation, politisch und weltanschaulich bedingt oder Folge von Kriegen) Katastrophen (z.B. Abwanderung aufgrund von Naturund Umweltkatastrophen) intraregional (Nahwanderungen) interregional (mittlere Distanz) grenzüberschreitend (muss keine großen Distanzen umfassen, der Grenzübertritt hat aber in der Regel erhebliche rechtliche Konsequenzen für das Individuum) interkontinental (große Distanzen mit in der Regel relativ hohen Kosten)
Migration und Qualifikation im historischen Wandel
Richtung
• • • •
Dauer des Auf- • enthalts • • •
unidirektional (Wanderung zu einem Ziel) etappenweise (Zwischenaufenthalte werden eingelegt, vor allem um Geld für die Weiterreise zu verdienen) zirkulär (mehr oder minder regelmäßiger Wechsel zwischen zwei Räumen) Rückwanderung saisonal mehrjährig Arbeitsleben Lebenszeit und intergenerationell
Menschen, die migrieren, weil sie andernorts Chancen suchen, verfügen über wirtschaftliche und gesellschaftliche Potenziale: sie sind motiviert, ihre Kompetenzen und Kenntnisse, ihre Arbeitskraft und ihre Kreativität an ihrem Zielort einzusetzen. Dafür sind sie nicht selten auch bereit, Arbeitsbedingungen in Kauf zu nehmen, die Einheimische ablehnen. Migration verbindet sich oft mit (erwerbs-) biographischen Wendepunkten und Grundsatzentscheidungen wie der Wahl von Arbeits-, Ausbildungs- oder Studienplatz, dem Eintritt in einen Beruf oder der Partnerwahl und Familiengründung; der überwiegende Teil der Migranten sind Jugendliche bzw. junge Erwachsene. Die migratorische Chancenwahrnehmung ist verbunden mit spezifischen sozial relevanten Merkmalen, Attributen und Ressourcen, darunter vor allem Geschlecht, Alter und Position im Familienzyklus, Habitus, Qualifikationen und Kompetenzen, soziale (Stände, Schichten) und berufliche Stellung sowie die Zugehörigkeit und Zuweisung zu ‚Ethnien‘, ‚Kasten‘, ‚Rassen‘ oder ‚Nationalitäten‘, die nicht selten mit Privilegien und (Geburts-) Rechten einhergehen. Angesichts einer je unterschiedlichen Ausstattung mit ökonomischem, kulturellem, sozialem, juridischem und symbolischem Kapital erweisen sich damit die Grade der Autonomie von Migranten als Individuen bzw. in Netzwerken oder Kollektiven als unterschiedlich groß. Die Umsetzung eines Migrationsprojektes war in den vergangenen Jahrhunderten häufig das Ergebnis eines durch Konflikt oder Kooperation geprägten Aushandlungsprozesses in Familien, in Familienwirtschaften bzw. Haushalten oder in Netzwerken. Die Handlungsmacht derjenigen, die die Migration vollzogen, konnte dabei durchaus gering sein, denn räumliche Bewegungen zur Erschließung oder Ausnutzung von Chancen brachten keineswegs immer eine Stabilisierung oder Verbesserung der Lebenssituation der Migranten selbst mit sich. Familien oder andere Herkunftskollektive sandten vielmehr Angehörige häufig aus, um mit den aus der Ferne eintreffenden ‚Rücküberweisungen‘ oder anderen Formen des Geldtransfers die ökonomische und soziale Situation des zurückbleibenden Kollektivs zu konsolidieren oder zu verbessern. Ein zentrales Element wirtschaftlichen Wachstums, aber auch wirtschaftlicher In-
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Jochen Oltmer
tegration und Transformation in den Agrar- und Industriegesellschaften früherer Jahrzehnte und Jahrhunderte bildete die Verfügbarkeit des Produktionsfaktors Arbeit und die Bewegung von Arbeitskräften im Raum zur Erschließung standortgebundener natürlicher Ressourcen. Seit dem frühen 19. Jahrhundert wuchs die Zahl der Menschen rapide an, die Europa den Rücken kehrten. Der kleinere Teil der europäischen Interkontinentalwanderer nahm Pfade über Land und siedelte sich vornehmlich in den asiatischen Gebieten des Zarenreichs an. Der überwiegende Teil überwand die maritimen Grenzen des Kontinents: Von den 55 bis 60 Millionen Europäern, die zwischen 1815 und 1930 nach Übersee zogen, gingen mehr als zwei Drittel nach Nordamerika, wobei die USA gegenüber Kanada mit einer um mehr als das Sechsfache höheren Zuwandererzahl eindeutig dominierten. Rund ein Fünftel wanderte nach Südamerika ab, ca. 7 Prozent erreichten Australien und Neuseeland. Nordamerika, Australien, Neuseeland, große Teile Lateinamerikas sowie Sibirien bildeten in ihrer Funktion als europäische Siedlungsgebiete ein Neo-Europa. Diese millionenstarken Bewegungen waren vor allem ein Ergebnis einer hohen Nachfrage nach ungelernten und deshalb ‚billigen‘ Arbeitskräften, die mit ihrer Hände Arbeit Land für die an europäischen Bedürfnissen orientierte Agrarproduktion erschlossen, für die europäische und nordamerikanische Industrie wichtige Rohstoffe häufig ohne maschinelle Unterstützung förderten, als ‚Erdarbeiter‘ Eisenbahnlinien, Kanäle, Straßen und Hafenanlagen bauten oder in den Fabriken als un- oder angelernte Arbeiterinnen und Arbeiter Erwerb fanden (Oltmer 2016b, Kap. 3). Parallel zu den interkontinentalen Arbeits- und Siedlungswanderungen aus Europa gab es massive Bevölkerungsbewegungen im Kontext der europäischen Urbanisierung. Vor allem in West- und Mitteleuropa, wo sich die Industrialisierung beschleunigte, verschob sich das Gewicht des städtischen gegenüber dem ländlichen Bevölkerungsanteil. Im Jahr 1800 zählten die Statistiker 23 Großstädte in Europa mit mehr als 100.000 Einwohnern, in denen insgesamt 5,5 Millionen Menschen lebten. 100 Jahre später wohnten in den nun 135 Großstädten 46 Millionen Menschen (Bade 2000, Seite 69 bis 84). Das rapide Wachstum der europäischen Städte stand in enger Wechselbeziehung mit der fundamentalen Verschiebung der Gewichte einzelner Wirtschaftssektoren und dem Aufstieg von Gewerbe, Industrie und Dienstleistungen gegenüber der Landwirtschaft: Städtische Verdichtungszonen nahmen zentralörtliche Funktionen wahr, hier konzentrierte sich die industriell-gewerbliche Produktion, die Distribution der hergestellten Güter und das Angebot an Dienstleistungen. Die Urbanisierung war das Ergebnis umfangreicher interregionaler Arbeitswanderungen, die wiederum aus dem rapiden ökonomischen Strukturwandel durch die Industrialisierung resultierten. Bestimmend für die räumliche Mobilität im Kontext der Urbanisierung war eine fluktuierende Masse formal nicht qualifizierter jugendlicher Zuwanderer und junger Familien auf der Suche nach Arbeit und höherem Verdienst. Hinzu kamen die vielen – zumeist ebenfalls jungen – Saison-
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Migration und Qualifikation im historischen Wandel
wanderer zum Beispiel im Baugewerbe oder, bei Frauen, im Gastgewerbe bzw. im Bereich der haushaltsnahen Dienstleistungen (Dienstmädchen).
Transfer von Spezialkenntnissen In einzelnen Arbeitsmarktsegmenten und Branchen diente Migration dem Transfer von Spezialkenntnissen oder dem Erwerb von Qualifikationen. So behielten die traditionellen Gesellenwanderungen im 19. Jahrhundert zunächst ein ungebrochen hohes Gewicht im Migrationsgeschehen. Nach Wien, dem Gewerbe- und Dienstleistungszentrum im Deutschen Bund in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, kamen zum Beispiel weiterhin jährlich 140.000 bis 160.000 Handwerksgesellen bei einer Gesamtbevölkerung von 350.000. Die Gesellen unterlagen einem in Wanderordnungen festgeschriebenen Wanderzwang. Er zielte in je nach Handwerk unterschiedlichem Ausmaß auf Wissens- und Technologietransfer durch Migration. Außerdem bildeten die Wanderordnungen Steuerungsinstrumente in Arbeitsmärkten: Der Wanderzwang lag im Interesse der Meister, die die Beschäftigung der Gesellen möglichst flexibel halten wollten, weil sich der Arbeitskräftebedarf aufgrund von saisonalen Schwankungen permanent änderte und ausgesprochen sensibel auf konjunkturelle, demographische (zum Beispiel Seuchen) oder politische Krisen (wie Kriege) reagierte (Oltmer 2016a, Seite 18 bis 34). Die Gesellenwanderung umfasste in der Regel durchschnittlich drei bis fünf Jahre: Zum Teil europaweite Bewegungen zwischen verschiedenen Städten führten zu Arbeitsaufenthalten bei Arbeitgebern, die Tage, aber auch Monate oder sogar Jahre umfassen konnten. Phasen der Erwerbslosigkeit und der Wanderung lagen dazwischen. Der nicht selten saisongebundenen Produktion hatten sich Wanderung und Beschäftigung der Gesellen anzupassen. Starre Segmentation war ein zentrales Kennzeichen ihrer Arbeitsmärkte: Jedes einzelne Handwerk hatte einen eigenen Arbeitsmarkt und eigene Reglements für die Wanderung. Darüber hinaus waren die Arbeitsmärkte regional segmentiert, Wanderungsrouten ergaben sich mithin nicht zufällig. Über Jahrhunderte wirkende Wanderungssysteme, die mit dem Erwerb von Qualifikationen verbunden waren, lassen sich im weiteren Baugewerbe auch bei den Zieglern beobachten, unter denen die lippischen Ziegler die am besten dokumentierte Gruppe sind: Die Spezialisierung ursprünglich agrarischer Saisonwanderer aus Lippe auf die Produktion von Ziegeln und Dachpfannen erfolgte im 17. Jahrhundert. Innerhalb weniger Jahrzehnte monopolisierten sie den Arbeitsmarkt für Ziegler in Ostfriesland und im benachbarten niederländischen Friesland, im 19. Jahrhundert dann in Schleswig-Holstein und in Jütland. Lippische Ziegler gab es bis zum Ersten Weltkrieg in ganz Nordwesteuropa und im südlichen Skandinavien, zum Teil auch weit darüber hinaus (Russland, Österreich-Ungarn). Noch
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um 1900 war ein Viertel aller erwachsenen lippischen Männer als Saisonarbeiter im Ziegeleigewerbe tätig. Lippische Ziegler bieten ein Beispiel für berufsspezifische Migrationen, wie sie sich in der Frühen Neuzeit in einigen Gewerben ausgeprägt hatten. Dabei lassen sich die in Nischen angebotenen Qualifikationen keineswegs auf die je eng umgrenzten Herkunftsregionen zurückführen. Es waren nicht etwa bereits vorhandene Fachkräfte, die eine Wanderung aufnahmen, vielmehr war spezifisches berufliches Wissen erst Ergebnis der Arbeitswanderung. Ein ausgeprägtes Ziegeleigewerbe existierte zum Beispiel in Lippe nicht, auch dominierten dort Fachwerkhäuser und Lehmwände, die (informelle) Ausbildung zum Ziegler wurde in Gruppen in der Fremde absolviert, die in der Regel viele Jahre zusammenarbeiteten und in denen die einzelnen Positionen im Arbeitsprozess fest vergeben waren. Auch in weiten Teilen Europas tätige Zinngießer aus den italienischen Alpen erwarben ihre Kenntnisse erst mit dem Verlassen des Herkunftsgebietes, in dem es keine Tradition dieses Handwerks gab. Vermittelt wurden die Spezialkenntnisse solcher Migrantengruppen mit identischem Herkunftsraum innerhalb stabiler, oft verwandtschaftlicher Kommunikationsnetze. Pioniermigranten nahmen, mehr oder minder zufällig, Arbeitsmarktchancen wahr und gaben, falls sich das Segment als geeignet für die Entwicklung weiterer Marktchancen erwies, spezifisches Wissen an Bekannte und Verwandte weiter. Diese wiederum standen nach erfolgter Ausbildung als Anbieter von Wissen für neue Migranten im Kommunikationsnetz zur Verfügung. So konnte eine Gruppe bestimmte Arbeitsmarkt- und Produktnischen beherrschen und diese Dominanz über lange Zeit in bestimmten Regionen aufrechterhalten. Die Vermittlung solcher Spezialkenntnisse innerhalb fest umrissener Kommunikationsnetze ist keineswegs auf die Vergangenheit beschränkt: Beinahe alle Fish-and-Chips-Imbisse der Republik Irland liegen beispielsweise heute in der Hand von Personen, die aus dem Dorf Casalattico in der italienischen Provinz Frosinone stammen bzw. aus einem Umkreis von rund 10 Kilometern um dieses Dorf. Der erste von Italienern aus diesem Herkunftsgebiet betriebene Fish-andChips-Imbiss in Irland wurde 1904 eröffnet. Gegenwärtig stammen drei Viertel aller Migranten italienischer Herkunft in Irland aus dem Dorf Casalattico; das heißt gleichzeitig auch, dass beinahe alle Italiener in Irland Fish-and-Chips-Imbisse betreiben. In den USA leben gegenwärtig rund 50.000 Menschen aus der Gruppe der Patel, die aus der indischen Provinz Gujarat seit den 1950er Jahren eingewandert sind. Sie haben seither 18.000 Motels in den USA erworben und besitzen damit den größten Teil der nicht kettengebundenen Herbergen an den US-amerikanischen Fernstraßen (zahlreiche Beispiele für derartige Phänomene in: Bade/Emmer/Lucassen/Oltmer 2010). Zugewanderte Spezialisten waren häufig Pioniere in der gewerblichen Entwicklung, die beispielsweise in vielen Teilen Europas den Aufstieg von Standorten im Montan- und Hüttenwesen voranbrachten, weil sie neue Lagerstätten
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erschlossen. Der Transfer von Wissen durch wandernde Spezialisten war aber auch für die Einführung neuer Techniken in Maschinenbau, Textil- oder Schwerindustrie konstitutiv. Das galt vor allem für die Frühphase der Industrialisierung, in der sich Muster formalisierter Ausbildung von Technikern und Ingenieuren erst langsam ausprägten. In Frankreich beispielsweise konzentrierte sich die Zuwanderung britischer Techniker auf den Zeitraum von den 1820er bis zu den 1840er Jahren. Diese Zuwanderer von der britischen Insel blieben in der Regel nur für wenige Monate oder Jahre und fanden sich meist dort, wo der technologische Vorsprung der britischen Wirtschaft eine Modernisierung traditioneller Verfahren versprach. Das galt vor allem für den Bereich der Eisen- und Stahlindustrie, im Textilgewerbe oder in den Bereichen, in denen eine Umstellung auf die Nutzung von Dampfmaschinen erfolgte. Die englischen Puddler zum Beispiel stellten hochwertiges schmiedbares Eisen und Stahl her. Durch das Puddeln wurde das Roheisen mit Sauerstoff in Verbindung gebracht, der porös machende Kohlenstoff verbrannte. In England entwickelt, brachten Puddler das Verfahren zwischen 1820 und 1850 nach Belgien und Frankreich und schließlich nach Deutschland. Das Wissen der Puddler bildete sich in den auf der Suche nach hohen Löhnen von einem Arbeitsort zum anderen wandernden Gruppen aus. Bei den Puddlern zeigte sich die auch bei anderen Gruppen zu beobachtende Tendenz, Migration durch den Wissenstransfer wandernder Spezialisten überflüssig zu machen. Mitte des 19. Jahrhunderts gab es auf dem Kontinent genügend einheimische Puddler. Spätestens seit der Einführung neuer Verfahren zur Stahlherstellung (Thomas-, Bessemer- und Siemens-Martin-Verfahren) in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war der hoch spezialisierte Puddler dann nicht mehr gefragt. Der Export von Arbeitskräften aus der britischen ‚Werkstatt der Welt‘ mochte damit zwar an Bedeutung verlieren. Dennoch entfaltete Großbritannien noch lange eine starke Anziehungskraft auf Techniker, Ingenieure oder Unternehmer vom Kontinent, die dort ihre Kenntnisse über moderne Herstellungsverfahren und Distributionsformen zu verbessern suchten. Im späten 19. Jahrhundert verschoben sich angesichts des Aufstiegs der deutschen Industrie bei solchen Formen der Vermittlung technischer Innovationen die Gewichte: Immer häufiger kamen nun angehende Spezialisten nach Deutschland. In diesen Kontext gehört auch die wachsende Anziehungskraft von Universitäten und besonders Technischer Hochschulen für ausländische Studierende, die aus dem Aufstieg der ingenieur- und naturwissenschaftlichen Ausbildung im kaiserlichen Deutschland resultierte. Ähnliches galt für Landwirtschafts- und Handelshochschulen, Bergakademien und andere höhere technische Lehranstalten. Unter den 1912 rund 13.000 Studierenden der Technischen Hochschulen gab es ca. 4.400 ausländische Staatsangehörige, darunter als größte einzelne Gruppe fast 2.000 Untertanen des russischen Zaren. Der Hinweis auf die Gründung zahlreicher Akademien und Universitäten für
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Techniker und Ingenieure deutet bereits an, dass vor allem seit dem späten 19. Jahrhundert die Professionalisierung in diversen Erwerbsbereichen erheblich an Gewicht gewann. Ohne formelle Bildungsabschlüsse war der Zugang zu bestimmten Segmenten des Arbeitsmarkts nicht mehr möglich, vor dem Hintergrund eines rapiden technischen Fortschritts und einer Verwissenschaftlichung vieler Beschäftigungsfelder galt dieser Sachverhalt für immer mehr Berufe. Die Erwerbsmöglichkeiten für nicht qualifizierte Arbeitskräfte sanken zwar, verschwanden aber auch nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst noch längst nicht, wie die Geschichte der Anwerbung von Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten im Ausland von den 1950er bis zu den frühen 1970er Jahren zeigt: ‚Gastarbeiterinnen‘ und ‚Gastarbeiter‘ übernahmen in der Regel Tätigkeiten mit hoher körperlicher Beanspruchung, gesundheitlicher Belastung und Lohnbedingungen, die viele Einheimische nicht akzeptieren wollten. Bis 1973 wuchs in der Bundesrepublik die ausländische Erwerbsbevölkerung auf rund 2,6 Millionen an. Vom Ende der 1950er Jahre bis 1973 waren rund 14 Millionen ausländische Arbeitskräfte nach Deutschland gekommen, ca. 11 Millionen kehrten wieder zurück, die anderen blieben und holten ihre Familien nach. Die frühen 1970er Jahre brachten den Niedergang der alten Industrien (Eisen- und Stahlindustrie, Textilindustrie, Bergbau), die viele un- und angelernte Arbeitskräfte beschäftigt hatten. Der Stopp der Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte 1973 steht sinnbildlich für den Strukturwandel am Arbeitsmarkt. Rationalisierung und Automatisierung der Produktion ließen in den 1970er und 1980er Jahren das Angebot an Arbeitsplätzen, die keine erheblichen Qualifikationen erforderten, beschleunigt absinken. Die digitale Revolution seit den 1980er Jahren, die alle Erwerbsbereiche umfasste, forcierte diese Entwicklung. Gute Erwerbschancen hat seither nur mehr, wer berufliche Qualifikationen erwirbt. Räumliche Mobilität kann dabei Voraussetzung für den Erwerb solcher Qualifikationen sein und die Chancen erhöhen, sie berufsfeldadäquat einzusetzen; sie kann dem Transfer von Technologien und Spezialkenntnissen dienen. Eine unabdingbare Voraussetzung ist räumliche Mobilität allerdings in beiden Fällen nie gewesen und wird es auch in Zukunft nicht sein, zumal viel dafür spricht, dass die digitale Revolution die Notwendigkeit mobil zu sein verringern wird. Die Beeinflussung von Migration durch staatliche Akteure ist, das zeigen vielfältige historische Beispiele, ein ausgesprochen schwieriges Unterfangen; denn die Hintergründe für die Umsetzung von Mobilitätsbereitschaft sind unüberschaubar vielgestaltig, die individuelle Wahrnehmung der Chancen und Risiken von Migration sehr verschieden. Wie die Versuche politischer Einflussnahmen auf Migrationsoptionen wirken wird, lässt sich zudem kaum sachgerecht voraussagen. Weil Migrationsprozesse grundsätzlich ergebnisoffen sind, kann die Förderung von Mobilitätsbereitschaft beispielsweise auch zu unerwünschter dauerhafter Abwanderung führen.
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Füllhorn im Gepäck
Anette Kramme Füllhorn im Gepäck Uns allen liegt sicher noch der Spruch unserer Eltern im Ohr: „Lerne was Ordentliches, dann wird auch was Vernünftiges im Leben aus Dir!“ Und wenn ich so in die Reihen schaue, hat das ja in den allermeisten Fällen auch ganz gut funktioniert. Der Zugang zu schulischer, beruflicher und akademischer Aus- und Weiterbildung ist für uns schon lange zum selbstverständlichen Bestandteil unserer Lebensplanung und Lebenswirklichkeit geworden. In allen relevanten Lebenslagen können wir auf ein breites und niveauvolles Angebot von allgemeinen, akademischen und berufsbezogenen Bildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen zurückgreifen. Das ist ein wesentlicher Grund dafür, dass unser Bildungswesen weltweit ein hohes Ansehen genießt, und das Siegel „Made in Germany“ für Qualität und Leistungsfähigkeit unserer Produkte und Leistungen steht. Aber genau hier sehe ich auch eine der großen Herausforderungen der Zukunft: Wir werden dieses Niveau nur halten können, wenn es uns gelingt, alle Bürgerinnen und Bürger unseres Landes auf dem Weg zu einer Bildungsgesellschaft mitzunehmen. Die Auswirkungen des demografischen Wandels haben uns längst erreicht. Das Fehlen qualifizierter Fachkräfte ist inzwischen zu einem großen Problem herangewachsen. Wir können es uns einfach nicht mehr leisten, rund 75 Prozent der arbeitslos gemeldeten Ausländerinnen und Ausländer – laut einer Statistik der Bundesagentur für Arbeit von Januar 2015 – ohne abgeschlossene Berufsausbildung zu lassen. Demgegenüber lag der Anteil der arbeitslos gemeldeten Deutschen ohne abgeschlossene Berufsausbildung bei lediglich 37,4 Prozent.
Was gilt es also zu tun? Berufliches Können und handwerkliches Geschick sind bei uns nicht alleiniger Garant für beruflichen Erfolg. In Deutschland spielen Zertifikate und Zeugnisse eine wichtige Rolle. Daraus folgt, dass Menschen mit Migrationshintergrund, die nicht über deutschen Zertifikate verfügen, große Schwierigkeiten haben, auf dem deutschen Arbeitsmarkt eine adäquate Beschäftigung zu finden, und zwar unabhängig davon, ob sie hier schon längere Zeit leben oder gerade zugewandert sind. Und das gilt auch dann, wenn sie grundsätzlich über am Arbeitsmarkt nachgefragte Qualifikationen verfügen. Die Folge ist: Ihnen steht nur der Arbeitsmarkt für Un- und Geringqualifizierte zur Verfügung, der jedoch in der Regel unsichere und schlecht entlohnte Jobs bietet. Das war einer der wichtigen Gründe dafür, dass die Bundesregierung 2012 mit dem
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Anette Kramme
Anerkennungsgesetz das Verfahren für die Anerkennung von ausländischen Berufsabschlüssen zunächst für jene Berufe geregelt hat, für die der Bund zuständig ist. Inzwischen haben aber Gott sei Dank alle Bundesländer für die in ihre Zuständigkeit fallenden Berufe ebenfalls die erforderlichen landesrechtlichen Regelungen in Kraft gesetzt. Bis Ende 2014 fanden auf dieser Grundlage rund 37.500 Beratungen statt. 76 Prozent der beratenen Personen waren zwischen 25 und 44 Jahre alt. Zwölf Prozent der Beratenen hatten die deutsche Staatsangehörigkeit. Nach Polen mit zehn Prozent waren die Russische Föderation, acht Prozent, Rumänien, fünf Prozent, und die Ukraine mit 4,7 Prozent Hauptherkunftsländer der Beratungssuchenden. Wichtig ist aber auch, dass aus dieser Beratung möglichst viele Anerkennungsverfahren resultieren. Wegen der vielen zuständigen Behörden und Einrichtungen kennen wir bis jetzt leider erst die Ergebnisse zum Stichtag 31.12.2013. Zu diesem Zeitpunkt wurden insgesamt rund 26.500 Anträge auf Gleichwertigkeitsprüfung gestellt. Davon sind 13.300 bereits entschieden und der überwiegende Teil als gleichwertig anerkannt. Die Ablehnungsquote ist mit vier Prozent sehr, sehr gering. Alles spricht derzeit dafür, dass sich diese positive Entwicklung auch in 2014 fortgesetzt hat. Ein wesentlicher Erfolgsfaktor dafür ist das Vorhandensein einer zuverlässig funktionierenden bundesweiten Umsetzungsstruktur im Rahmen des Förderprogramms „Integration durch Qualifizierung (IQ)“. Aufbauend auf den seit 2005 existierenden Grundstrukturen des Förderprogramms wurde seit 2011 der Aufbau von rund hundert Informations- und Beratungsstellen vorangetrieben. Sie bieten eine intensive Erstberatung. Wir wissen aber auch, dass es in vielen Fällen neben einer fundierten Beratung auch konkreter Qualifizierungsangebote bedarf, um erfolgreich den Weg in eine dauerhafte Beschäftigung zu gehen. Das ist insbesondere dann erforderlich, wenn es im Ergebnis des Anerkennungsverfahrens nur zu einer Teilanerkennung gereicht hat oder gar eine Anerkennung gänzlich versagt wurde. Gemeinsam mit unseren Partnern im IQ-Programm, dem Bundesministerium für Bildung und Forschung und der Bundesagentur für Arbeit, gehen wir dieses Problem in der nunmehr vierten Förderphase von IQ an. IQ wird künftig auf dem Angebot von konkreten Qualifizierungsmaßnahmen im Kontext des Anerkennungsgesetzes fördern. Dabei handelt es sich um Maßnahmen mit folgendem Charakter: Qualifizierungsmaßnahmen bei reglementierenden Berufen, Anpassungsqualifizierungen im Bereich der dualen Ausbildung, Brückenmaßnahmen für Akademiker, Vorbereitungen auf die externen Prüfungen. Bis zunächst 2018 belaufen sich die Gesamtkosten dieses Programms auf rund 193 Millionen Euro; davon entfallen 114 Millionen Euro auf den Bund und rund 79 Millionen Euro kommen aus der Förderung des Europäischen Sozialfonds. An dieser Stelle sollte auch erwähnt werden, dass die Otto Benecke Stiftung mit drei Projekten in Berlin und Nordrhein-Westfalen einen schönen Beitrag im Förderprogramm IQ leistet.
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Füllhorn im Gepäck
Die Sprache ist der Schlüssel Natürlich stehen das Erlernen und der Umgang mit der deutschen Sprache in einem engen Zusammenhang zu einer beruflichen, erfolgreichen Integration. Neben dem allgemein sprachlichen Angebot im Rahmen der Integrationskurse sind seit vielen Jahren die berufsbezogenen Sprachkurse im Rahmen des ESF-BAMF-Programms ein wichtiges Förderinstrument, also die Sprachkurse des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. Kernansatz dieses Programms ist es, den Deutschunterricht mit Elementen der beruflichen Weiterbildung zu verknüpfen. Das Angebot reicht vom Sprachunterricht im klassischen Sinne unter Einbeziehung beruflichen Fachvokabulars bis zum konkreten Berufspraktikum im Betrieb. Auch wenn die primäre Ausrichtung des Programms auf die Beseitigung oder Verhinderung von Arbeitslosigkeit gerichtet ist, so trägt es mit seinen berufsbezogenen fachlichen und praxisbezogenen Sprachkurselementen auch zur Kompetenzerweiterung und Gewinnung von Fachkräften bei. Auch dieses Programm wird aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds mit finanziert und hat zwischen August 2008 bis Ende 2014 rund 135.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern in mehr als 7.000 Sprachkursen erreicht. Das erfolgreiche Programm wird deshalb auch in der neuen Förderperiode von ESF (, die sich von 2014 bis 2020 erstreckt) fortgesetzt, kann aber leider, jedenfalls nach dem jetzigen Stand, nicht die ganze Förderperiode hindurch finanziert werden, sondern wird wohl mangels weiterer zur Verfügung stehender ESF-Mittel vermutlich 2017 enden. Erste Kurse haben 2015 begonnen. Ich bin jedoch der festen Überzeugung, dass wir uns dieses Themas annehmen müssen und auch annehmen werden; Diskussionen laufen auf der Bundesebene bereits. Vielleicht kann man an dieser Stelle doch erreichen, dass zusätzliche Mittel zur Verfügung gestellt werden.
„Early Intervention“ Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen und Debatten in Deutschland ist die Integration der Flüchtlinge und Asylbewerber in Arbeitsmarkt und Gesellschaft eine aktuelle Herausforderung, der wir uns stellen müssen. Stichworte sind auch hier der Zugang in allgemeine und berufsbezogene Sprachkurse, die Anerkennung der ausländischen Berufsabschlüsse und der Einsatz der Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Die Integration in den Arbeitsmarkt öffnet auch den Weg zur gesellschaftlichen Teilhabe. Damit keine wertvolle Zeit verloren geht, wurde kürzlich der Arbeitsmarktzugang während des Anerkennungsverfahrens deutlich erleichtert. Die Wartefrist wurde von neun auf drei Monate verkürzt und die Prüfung, ob deutsche Arbeitnehmer für einen Arbeitsplatz vorrangig zur Verfügung stehen, entfällt bei Fachkräften und generell nach fünfzehn Monaten. An dieser Stelle möchte ich auch das Modellprojekt „Jeder Mensch hat Potenzial – Arbeitsmarktintegration von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern“ beschreiben. Es wird seit Januar 2014
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Anette Kramme
durch die Bundesagentur für Arbeit an neun Standorten, Augsburg, Bremen, Dresden, Freiburg, Hamburg, Köln, Berlin, Ludwigshafen und Hannover, erprobt. Nach dem Prinzip „Early Intervention“ sollen hier die Potenziale von Asylsuchenden stärker und früher für den Arbeitsmarkt nutzbar gemacht werden. Die Flüchtlinge werden frühzeitig und aktiv auch bereits vor dem Ende des Asylverfahrens in Maßnahmen zur Integration in den Arbeitsmarkt einbezogen. Wir wissen inzwischen, dass viele Menschen, die aus den verschiedensten Gründen und auf verschiedenen Wegen zu uns kommen, die hier Schutz oder ein Zuhause finden wollen, die bleiben, zurückkehren oder weiterwandern, vieles im Gepäck haben, das unser Land schöner, wohlhabender und stärker macht und dass es sich lohnt, diese Potenziale zu erschließen.
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Verzeichnis der Autorinnen, Autoren und Herausgeber
Verzeichnis der Autorinnen, Autoren und Herausgeber Dr. habil. Klaus J. Bade ist Professor em. der Universität Osnabrück, wo er bis 2007 den Lehrstuhl für Neueste Geschichte innehatte. Professor Dr. Klaus J. Bade ist Migrationsforscher, Publizist und Politikberater und lebt in Berlin. Er war u.a. Mitbegründer des Osnabrücker Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS), des bundesweiten interdisziplinären Rates für Migration (RfM), der ebenfalls bundesweiten Gesellschaft für Historische Migrationsforschung (GHM), stellvertretender Vorsitzender des Sachverständigenrates der Bundesregierung für Migration und Integration (Zuwanderungsrat) 2004/05 und von Ende 2008 bis Mitte 2012 Gründungsvorsitzender des von ihm konzipierten Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) in Berlin. Bade war Fellow/Gastprofessor an den Universitäten Harvard und Oxford, an der Niederländischen Akademie der Wissenschaften sowie am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Er hat zu Migration und Integration in Geschichte und Gegenwart zahlreiche Forschungsprojekte geleitet, einige Dutzend Bücher sowie einige hundert kleinere Schriften veröffentlicht und für sein Engagement in Forschung und kritischer Politikbegleitung diverse Auszeichnungen erhalten, u.a. das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse (www.kjbade.de).
Dr. Norbert Cyrus ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Interkulturelle Bildung der Universität Bremen im EU-geförderten Grundlagenforschungsprojekt „Nachfrageseitige Maßnahmen und Initiativen gegen Menschenhandel“ (DemandAT). Zuletzt veröffentlichte er: „Die Flüchtlinge und ihr Status. Praktische Implika tionen einer defizitären Rechtsstellung.“ in: Ghaderi, Cinur/Eppenstein, Thomas (Hrsg.): Flüchtlinge. Multiperspektivische Zugänge. Berlin: VS Verlag 2016, S. 113–127.
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Verzeichnis der Autorinnen, Autoren und Herausgeber
Dr. Naika Foroutan ist Professorin für Integrationsforschung und Gesellschaftspolitik an der Humboldt-Universität zu Berlin und stellvertretende Direktorin des Berliner Instituts für Integrations- und Migrationsforschung (BIM), das von der Hertie-Stiftung und dem DFB gefördert wird. Zu den Schwerpunkten ihrer Forschungs- und Lehrtätigkeit gehören u.a. die Themen Migration, Integration und postmigrantische Gesellschaften; Islam- und Muslimbilder in Deutschland; Identität und Hybridität. Sie ist Vorstandsmitglied des Rats für Migration e.V. und Mitglied in zahlreichen Gremien von Verbänden und Organisationen. Zuletzt veröffentlichte sie: „Religiöses Kapital als Element muslimischer Identitätsperformanzen“ in: Peter Antes/Rauf Ceylan (Hrsg.): Muslime in Deutschland. Historische Bestandsaufnahme, aktuelle Entwicklungen und Zukunftsfragen. Wiesbaden: VS Verlag 2016, S. 265–278; „Postmigrantische Gesellschaften“ in: Brinkmann, Heinz Ulrich/Sauer, Martina (Hrsg.): Einwanderungsgesellschaft Deutschland. Entwicklung und Stand der Integration. Wiesbaden: VS Verlag 2016, S. 227–255.; „Changing Perceptions? Effects of Multiple Social Categorization on German Population’s Perception of Muslims“ (gemeinsam mit Coskun Canan) in: Journal of Ethnic and Migration Studies, Volume 42, 2016 – Issue 12, S. 1905–1924. DOI:10.1080/1369183X.2016.1164591. http://www.bim.hu-berlin.de/de/personen/prof-dr-naika-foroutan/.
Anette Kramme ist seit 1998 Mitglied des Deutschen Bundestages, von 2011 bis 2013 war sie Mitglied im Bundesvorstand der SPD. Seit 2013 ist Anette Kramme Parlamentarische Staatssekretärin bei der Bundesministerin für Arbeit und Soziales. Ihr Wahlkreis umfasst die Stadt und den Landkreis Bayreuth sowie Teile des Landkreises Forchheim. In ihrem bürgerlichen Beruf ist Kramme Rechtsanwältin und Fachanwältin für Arbeitsrecht.
Dr. Lothar Theodor Lemper ist seit 1999 Vorsitzender des Vorstandes der Otto Benecke Stiftung e.V., von 2004 bis 2014 und seit April 2017 zudem deren Geschäftsführender Vorsitzender. Er ist Mitglied des Fachbeirates Migration beim Minister für Arbeit, Integration und Soziales Nordrhein-Westfalen sowie Mitglied in zahlreichen Gremien von Verbänden und Organisationen. Von 1975 bis 1980 war er Mitglied des nordrhein-westfälischen Landtages, von 2004 bis 2009 Mitglied des Rates und Vorsit-
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Verzeichnis der Autorinnen, Autoren und Herausgeber
zender des Kulturausschusses der Stadt Köln. Seit 2014 ist Lemper Mitglied des Kulturausschusses und u. a. des Gestaltungsbeirates und Mitglied der Jury des Heinrich-Böll-Preises der Stadt Köln.
Dr. Max Matter ist Professor em. für Volkskunde/Europäische Ethnologie; er war bis 2010 an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Brsg. tätig. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören u. a. Kultur und Lebensweise verschiedener ethnischer Gruppen in Europa, interethnische Beziehungen, Migration und Fremde in Deutschland sowie Umgang mit Fremdheit. Er ist Mitglied des vom Europarat und der EU initiierten European Academic Network on Roman Studies. Matter wirkte im bundesweiten Arbeitskreis zur Verbesserung der Bildungsbeteiligung und des Bildungserfolgs von Sinti und Roma mit. Seit 1997 ist er zudem Mitglied des Wissenschaftlichen Fachbeirats der Otto Benecke Stiftung e.V. Zuletzt veröffentlichte er: „Fremdheit und Migration: Kulturwissenschaftliche Perspektiven für Europa“ hrsg. zusammen mit Anna Caroline Cöster. Marburg: Tectum Verlag 2011; „Nirgendwo erwünscht. Zur Armutsmigration aus Zentral- und Südosteuropa in die Länder der EU-15 unter besonderer Berücksichtigung von Angehörigen der Roma-Minderheiten“. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag 2015.
Dr. phil. habil. Jochen Oltmer ist Apl. Professor für Neueste Geschichte und Mitglied des Vorstands des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück. Zuletzt veröffentlichte er u.a.: „The Encyclopedia of Migration and Minorities in Europe: From the Seventeenth Century to the Present“ hrsg. zusammen mit Bade, Klaus J./Emmer, Pieter C./Lucassen, Leo. 2. Ausg. Cambridge: Cambridge University Press 2013; „Handbuch Staat und Migration in Deutschland vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart“, Berlin/Boston: de Gruyter 2016; „Globale Migration. Geschichte und Gegenwart“ 2. überarb. und aktualisierte Aufl. München: C.H. Beck 2016; „Migration vom 19. bis zum 21. Jahrhundert“ (= Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 86) 3. überarb. und aktualisierte Aufl. Berlin/Boston: de Gruyter 2016; „Vom Ein- und Auswandern. Ein Blick in die deutsche Geschichte“ [Jugendsachbuch] gemeinsam mit Nikolaus Barbian. Berlin: Jacoby & Stuart 2016. http://www.imis.uni-osnabrueck.de/ oltmer_jochen/zur_person/profil.html.
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Verzeichnis der Autorinnen, Autoren und Herausgeber
PD Dr. Levent Tezcan habilitierte an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder für das Fach Soziologie. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Centrum für religionswissenschaftliche Studien (CERES) an der Ruhr-Universität Bochum. Davor arbeitete er mehrere Jahre im Interdisziplinären Institut für Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld und als Assistant Professor im Fachbereich Culture Studies der Universität Tilburg in den Niederlanden. Seine Forschungsschwerpunkte sind Religion und Migration in Deutschland sowie die politisch-kulturelle Geschichte der modernen Türkei mit einem besonderen Fokus auf Religion. Zuletzt veröffentlichte er: „Das muslimische Subjekt. Verfangen im Dialog der Deutschen Islam Konferenz“. Konstanz: Konstanz Univ. Press. 2012; „Immer auf der richtigen Seite? Fallstricke der Kritik an der Islamfeindlichkeit“ in: Soziologische Revue, Jg. 38, 2015, Heft 1., S. 92–106. http://ceres.rub.de/de/personen/levent-tezcan/.
Dr. Uwe Wenzel ist seit April 2016 Referatsleiter „Projektsteuerung“ bei der Otto Benecke Stiftung e.V. Der Politikwissenschaftler war Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Wissenschaftliche Politik der Universität Freiburg und als Lehrbeauftragter an verschiedenen Universitäten tätig – unter anderem an der Hochschule Mannheim, der Technischen Universität Kaiserslautern und der Universität Freiburg. Zuletzt veröffentlichte er: „Das Bild des Fremden: Zum Umgang mit antiziganistischen Stereotypen in der politischen Bildungsarbeit“; in: Rechter Terror und Rechtsextremismus. Aktuelle Erscheinungsformen und Ansätze der politischen Bildungspraxis, hrsg. zusammen mit Beate Rosenzweig und Ulrich Eith, Schwalbach/Ts. 2015, S. 175–189.
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