Französische Ereignisnominalisierungen: Abstrakte Bedeutung und regelhafte Wortbildung 9783110259735, 9783110259742

In word formation, the French suffixes -ment and -age have similar meanings (e.g. gonflement - swelling, gonflage - infl

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German Pages 334 [336] Year 2011

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Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Vorwort
Verzeichnis der Abkürzungen und Akronyme
1 Einleitung
2 Semantik und Derivationsmorphologie
2.1 Abstrakte Bedeutung
2.1.1 Das ‘Skeleton’/‘Body’-Modell von Lieber (2004)
2.1.2 Primat der Bedeutung in der Derivationsmorphologie
2.1.3 Kompositionalität und Ko-Indizierung
2.1.4 Kombinierbarkeit und Produktivitätsrestriktionen
2.1.5 Semantisch-pragmatische Angemessenheit
2.2 Abstrakte Bedeutung und attestierte Derivate
2.2.1 Die Generative Perspektive
2.2.2 Die Emergentistische Perspektive
2.2.3 Attestierte Derivate und morphologische Kompetenz
2.2.4 Die moderat-emergentistische Perspektive
2.2.5 Moderater Emergentismus und duale Stratifizierung
2.3 Fazit: Der theoretische Ausgangspunkt
3 Der Bedeutungsunterschied zwischen -age und -ment
3.1 Kriterien zur Unterscheidung zwischen -age und -ment
3.1.1 Aspektuelle Unterschiede
3.1.2 Der Agentivitätskontrast
3.1.3 Diachrone Differenzierung und Bezeichnungsgruppen
3.1.4 Die Kriterien aus moderat-emergentistischer Sicht
3.2 Zur Semantik von Ereignisnominalisierungsprozessen
3.2.1 Ereignisnominalisierung und Ereignisreifizierung
3.2.2 Ereignisnominalisierung und Ereignisperspektivierung
3.3 Die abstrakte Bedeutung von -age und -ment
3.3.1 Deverbales -age im Neufranzösischen
3.3.2 Die neufranzösische -ment-Nominalisierung
3.3.3 -Age und -ment und die Perspektivierung von Ereignissen
3.3.4 Die Unterschiede zwischen den -ment- und -age-Nomina
3.4 Fazit: Der Bedeutungsunterschied zwischen -ment und -age
4 Die synchrone empirische Untersuchung
4.1 Methodologische Vorüberlegungen
4.1.1 Die Frage der Datenbasis
4.1.2 Die Auswahl der Nominalisierungen
4.1.3 Die Klassifizierung der Basisverben
4.1.4 Einschränkung des Untersuchungsumfangs
4.2 Dynamische Basen mit Zustandswechsel
4.2.1 Reine Zustandswechsel-Verben
4.2.2 Rein inchoative Basisverben
4.2.3 Aspektuelle Verben
4.2.4 Verben für körperbezogene Aktivitäten
4.3 Dynamische Basen ohne Zustandswechsel
4.3.1 Verben für Aktivitäten mit Emission als Beiprodukt
4.3.2 Reine Emissionsverben
4.3.3 Verben für homogene Aktivitäten
4.4 Denominale Basen
4.5 Fazit: Die Verwendung der -ment- und -age-Nomina
5 Die diachrone Perspektive
5.1 Die Diachronie von -age
5.1.1 Der gebrauchsbasierte Ansatz von Fleischman (1980)
5.1.2 Die Reanalyse der -age-Derivate im Altfranzösischen
5.1.3 Semantische Reanalyse und Emergenz
5.1.4 Zum Status der Gruppennomina
5.1.5 Die Domänenspezifizierung im 19. Jahrhundert
5.2 Die Diachronie von -ment
5.2.1 Die abstrakte Bedeutung des altfranzösischen -ment
5.2.2 Frz. -ment, lat. -mentum und idg. *-to
5.2.3 Zur Überlappung von -ment und -e´/e´e
5.2.4 Zum Verhältnis von -ment und -(at)ion
5.3 Fazit: Die diachrone Verschiedenheit von -age und -ment
6 Schlussbetrachtung
6.1 -Age und -ment im moderat-emergentistischen Modell
6.2 Offene Fragen und Desiderata
Literaturverzeichnis
Appendix
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Französische Ereignisnominalisierungen: Abstrakte Bedeutung und regelhafte Wortbildung
 9783110259735, 9783110259742

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Linguistische Arbeiten

540

Herausgegeben von Klaus von Heusinger, Gereon Müller, Ingo Plag, Beatrice Primus, Elisabeth Stark und Richard Wiese

Melanie Uth

Französische Ereignisnominalisierungen Abstrakte Bedeutung und regelhafte Wortbildung

De Gruyter

D 93

ISBN 978-3-11-025973-5 e-ISBN 978-3-11-025974-2 ISSN 0344-6727 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Gesamtherstellung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

IX

Verzeichnis der Abk¨urzungen und Akronyme . . . . . . . . . . . . . . .

XI

1

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

2

Semantik und Derivationsmorphologie . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Abstrakte Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Das ‘Skeleton’/‘Body’-Modell von Lieber (2004) . . 2.1.2 Primat der Bedeutung in der Derivationsmorphologie 2.1.3 Kompositionalit¨at und Ko-Indizierung . . . . . . . . 2.1.4 Kombinierbarkeit und Produktivit¨atsrestriktionen . . 2.1.5 Semantisch-pragmatische Angemessenheit . . . . . 2.2 Abstrakte Bedeutung und attestierte Derivate . . . . . . . . 2.2.1 Die Generative Perspektive . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Die Emergentistische Perspektive . . . . . . . . . . 2.2.3 Attestierte Derivate und morphologische Kompetenz 2.2.4 Die moderat-emergentistische Perspektive . . . . . . 2.2.5 Moderater Emergentismus und duale Stratifizierung 2.3 Fazit: Der theoretische Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . .

3

Der Bedeutungsunterschied zwischen -age und -ment . . . . . . . . . 60 3.1 Kriterien zur Unterscheidung zwischen -age und -ment . . . . . 60 3.1.1 Aspektuelle Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . 60 3.1.2 Der Agentivit¨atskontrast . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 3.1.3 Diachrone Differenzierung und Bezeichnungsgruppen . 65 3.1.4 Die Kriterien aus moderat-emergentistischer Sicht . . . 72 3.2 Zur Semantik von Ereignisnominalisierungsprozessen . . . . . . 75 3.2.1 Ereignisnominalisierung und Ereignisreifizierung . . . . 75 3.2.2 Ereignisnominalisierung und Ereignisperspektivierung . 82 3.3 Die abstrakte Bedeutung von -age und -ment . . . . . . . . . . . 92 3.3.1 Deverbales -age im Neufranz¨osischen . . . . . . . . . . 92 3.3.2 Die neufranz¨osische -ment-Nominalisierung . . . . . . . 96 3.3.3 -Age und -ment und die Perspektivierung von Ereignissen 103 3.3.4 Die Unterschiede zwischen den -ment- und -age-Nomina 106 3.4 Fazit: Der Bedeutungsunterschied zwischen -ment und -age . . . 116

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9 10 11 16 17 23 27 30 32 35 40 45 53 57

VI 4 Die synchrone empirische Untersuchung . . . . . . . . . . . . . 4.1 Methodologische Vor¨uberlegungen . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Die Frage der Datenbasis . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Die Auswahl der Nominalisierungen . . . . . . . . 4.1.3 Die Klassifizierung der Basisverben . . . . . . . . 4.1.4 Einschr¨ankung des Untersuchungsumfangs . . . . 4.2 Dynamische Basen mit Zustandswechsel . . . . . . . . . . 4.2.1 Reine Zustandswechsel-Verben . . . . . . . . . . 4.2.2 Rein inchoative Basisverben . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Aspektuelle Verben . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.4 Verben f¨ur k¨orperbezogene Aktivit¨aten . . . . . . 4.3 Dynamische Basen ohne Zustandswechsel . . . . . . . . . 4.3.1 Verben f¨ur Aktivit¨aten mit Emission als Beiprodukt 4.3.2 Reine Emissionsverben . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3 Verben f¨ur homogene Aktivit¨aten . . . . . . . . . 4.4 Denominale Basen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Fazit: Die Verwendung der -ment- und -age-Nomina . . . 5

. . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . .

118 118 118 121 124 132 135 136 148 151 155 160 160 172 178 185 193

Die diachrone Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Die Diachronie von -age . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Der gebrauchsbasierte Ansatz von Fleischman (1980) 5.1.2 Die Reanalyse der -age-Derivate im Altfranz¨osischen 5.1.3 Semantische Reanalyse und Emergenz . . . . . . . . 5.1.4 Zum Status der Gruppennomina . . . . . . . . . . . 5.1.5 Die Dom¨anenspezifizierung im 19. Jahrhundert . . . 5.2 Die Diachronie von -ment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Die abstrakte Bedeutung des altfranz¨osischen -ment 5.2.2 Frz. -ment, lat. -mentum und idg. *-to . . . . . . . . ¨ 5.2.3 Zur Uberlappung von -ment und -´e/´ee . . . . . . . . 5.2.4 Zum Verh¨altnis von -ment und -(at)ion . . . . . . . 5.3 Fazit: Die diachrone Verschiedenheit von -age und -ment . .

. . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . .

197 197 198 204 217 220 228 234 235 243 255 262 271

6 Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 6.1 -Age und -ment im moderat-emergentistischen Modell . . . . . . 275 6.2 Offene Fragen und Desiderata . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Appendix . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317

Abbildungsverzeichnis

2.1 3.1 4.1 4.2 4.3

4.4

4.5

4.6

4.7

4.8

4.9 5.1 5.2 5.3

Anteile der -ation- und der allomorphen -ion-Types ohne lateinische Entsprechung im synchronen FRANTEXT-Korpus . . . . . . . . .

48

Der up/down-Operator zur Repr¨asentation von Nominalisierungsund Pr¨adikativierungsprozessen nach Chierchia (1998: 349) . . . . .

80

Typefrequenz der deverbalen, deajektivischen und denominalen ment- und -age-Derivate im synchronen FRANTEXT-Korpus . . . . Typefrequenz der -ment- und -age-Derivate von +CH-, −CH- und STA-Verben im synchronen FRANTEXT-Korpus . . . . . . . . . . Anteile der -ment- und -age-Types von aspektuellen Verben (+CH asp), Verben f¨ur k¨orperbezogene Aktivit¨aten (+CH ba), reinen Zustandswechselverben (+CH cos) und rein inchoativen Verben (+CH inch) an +CH -ment- bzw. -age-Nominalisierungen im synchronen FRANTEXT-Korpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anteil der Ereignislesarten (E), ambigen Lesarten (E/R) und Resultatslesarten (R) an den -ment-Tokens von +CH cos-Verben im synchronen FRANTEXT-Korpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anteil der Ereignislesarten (E), ambigen Lesarten (E/R) und Resultatslesarten (R) an -age-Tokens von +CH cos-Verben im synchronen FRANTEXT-Korpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anteile der Ereignis-, Resultatszustands- und Resultatsobjektdefinitionen f¨ur -ment- und -age-Types von +CH cos-Verben im Petit Robert 2007 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anteile der -ment- und -age-Types von Verben f¨ur homogene Aktivit¨aten (−CH act), Verben f¨ur Aktivit¨aten mit Emission als Beiprodukt (−CH act+em) und reinen Emissionsverben (−CH em) an −CH -ment- bzw. -age-Nominalisierungen im synchronen FRANTEXT-Korpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Datierung der Erstbelege f¨ur die denominalen -ageNominalisierungen des synchronen FRANTEXT-Korpus nach dem Petit Robert 2007 und dem CNRTL . . . . . . . . . . . . . . . Die Membership-Funktion zur Repr¨asentation der Denotation von Gruppentermen nach Barker (1992: 77) . . . . . . . . . . . . . . .

124 128

136

138

147

147

161

188 192

Lesartenverteilung der -age-Types im altfranz¨osischen NCA . . . . 206 Typefrequenz der -age-Derivate mit Kollektivlesart im NCA und im diachronen FRANTEXT-Korpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Lesartenverteilung der -age-Types im NCA und im diachronen FRANTEXT-Korpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229

VIII 5.4 5.5

5.6 5.7 5.8 5.9

Typefrequenzen der -ment-Derivate von +CH-, −CH- und STAVerben im NCA und im synchronen FRANTEXT-Korpus . . . . . . Anteile der -ment-Types von aspektuellen Verben (+CH asp), Verben f¨ur k¨orperbezogene Aktivit¨aten (+CH ba), reinen Zustandswechsel-Verben (+CH cos) und rein inchoativen Verben (+CH inch) an +CH -ment-Nominalisierungen im NCA und im synchronen FRANTEXT-Korpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anteile der -ment-Types von den verschiedenen −CH-Verben im NCA und im synchronen FRANTEXT-Korpus . . . . . . . . . . . . Typefrequenzen der -ment-, -(ai)son- und -(at)ion-Derivate im NCA Entwicklung der Typefrequenzen der -ment- und -(ai)sonNominalisierungen im NCA und im diachronen FRANTEXT-Korpus Typefrequenzen und Anzahl der lateinischen Entsprechungen und franz¨osischen Basisverben der -(at)ion-Nominalisierungen im NCA und im diachronen FRANTEXT-Korpus . . . . . . . . . . . . . . .

236

237 238 263 264

267

Vorwort

Diese Arbeit entstand im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Sonderforschungsbereichs Incremental Specification in Context am Institut f¨ur Linguistik/Romanistik der Universit¨at Suttgart. Zu ihrer Entstehung haben verschiedene Personen beigetragen, bei denen ich mich an dieser Stelle herzlich bedanken m¨ochte. Achim Stein, der mir in den verschiedenen Entstehungsphasen der Arbeit durch gemeinsame Diskussionen wichtige inhaltliche Impulse gab, danke ich herzlich f¨ur die qualifizierte Betreuung, die umfassende Auseinandersetzung mit meinen Manuskripten und die weitgehende technische Unterst¨utzung bei der Erstellung der Publikationsvorlage. Martin Becker hat mich zu der Besch¨aftigung mit dem faszinierenden Thema der Ereignisnominalisierung gebracht. Bei ihm bedanke ich mich herzlich f¨ur die kontinuierliche Betreuung, die fachliche Anleitung und die zahlreichen Diskussionen, Anregungen und Verbesserungsvorschl¨age, welche die vorliegende Arbeit sowohl inhaltlich als auch methodologisch maßgeblich gepr¨agt haben. Fritz Hamm, Antje Roßdeutscher, Torgrim Solstad und Kurt Eberle danke ich f¨ur die Gelegenheit, meine zum Teil sehr unausgereiften Ideen zur Bedeutung von franz¨osischen Nominalisierungssuffixen wiederholt im Rahmen ihrer Projekttreffen pr¨asentieren zu k¨onnen. Auch die in diesem Rahmen erhaltenen Vorschl¨age und Anregungen haben die vorliegende Arbeit entscheidend beeinflusst. Rochelle Lieber danke ich herzlich f¨ur ihren Besuch in Stuttgart, die fachlichen Ratschl¨age und die Bereitschaft, sich mit meiner Arbeit auseinanderzusetzen. Gleiches gilt f¨ur die weiteren externen Teilnehmer des Workshops Semantic Features in Derivational Morphology, der vom 30. bis 31. Mai 2008 in Stuttgart stattfand, namentlich Manfred Bierwisch, Geert E. Booij, Bernard Fradin, Maria Goldbach, Ingo Plag, Andrew Spencer, Carola Trips. Artemis Alexiadou und Klaus von Heusinger danke ich f¨ur das Interesse an meiner Arbeit und die qualifizierten Anregungen und Diskussionen, durch welche die vorliegende Arbeit ebenfalls inspiriert wurde. Sehr herzlich bedanke ich mich auch bei den Kollegen des Instituts f¨ur Linguistik/Romanistik, welche mich auf verschiedenste Weise tatkr¨aftig unterst¨utzt haben. Ein besonderer Dank gilt zun¨achst Dennis Spohr f¨ur seine kontinuierliche Hilfsbereitschaft und technische Unterst¨utzung, ohne welche weder die vorliegende Arbeit noch so manche Korpusuntersuchung in der heutigen Form vorliegen w¨urden.

X Simone Heinold danke ich f¨ur den herzlichen Empfang in Stuttgart und inspirierende Diskussionen u¨ ber Neologismen, Derivationsmorphologie und Nominalisierungssuffixe. Bei Fabienne Martin bedanke ich mich herzlich f¨ur die Kooperationsbereitschaft, die zahlreichen fachlichen Diskussionen zur Bedeutung und Bedeutungsanalyse von Nominalisierungssuffixen und die Unterst¨utzung bei der Analyse von Korpusbeispielen. Ein herzliches Dankesch¨on geht auch an Beatrice Bischof f¨ur die Hilfe bei der Glossierung der altfranz¨osischen Daten und an Benjamin Massot f¨ur die ¨ ¨ Uberpr¨ ufung der Ubersetzungen zu den neufranz¨osischen Korpusbeispielen. Silke B¨ohm und Tanja Ottmann danke ich f¨ur die engagierte Unterst¨utzung bei der Datenaufnahme. Bei Madeleine Turcaud bedanke ich mich f¨ur die ortho¨ graphische Uberpr¨ ufung der vorliegenden Arbeit. Mo¨ıra Berger, Franc¸oise Joly, Benjamin, Chantal und Mauricette Massot und ihren Freunden, Mait´e Naudan und Judith Yacar danke ich f¨ur die Bereitschaft, sich an unserer Sprecherumfrage zu beteiligen. Bei den Herausgebern der ‘Linguistischen Arbeiten’ bedanke ich mich f¨ur die Aufnahme der Arbeit in ihre Serie. Insbesondere bedanke ich mich in diesem Zusammenhang sehr herzlich bei Elisabeth Stark und Ingo Plag f¨ur die detaillierte Auseinandersetzung mit meinem Manuskript und die zahlreichen fundierten Korrekturvorschl¨age, durch welche die Arbeit noch einmal deutlich verbessert werden konnte. Henriette Slogsnat und Norbert Alvermann von de Gruyter danke ich f¨ur die engagierte Betreuung im Rahmen der Buchherausgabe. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft bin ich f¨ur die Finanzierung des Projekts zu Dank verpflichtet.

Verzeichnis der Abk¨urzungen und Akronyme

aengl. afrz. ATILF +CH +CH asp +CH ba +CH cos +CH inch −CH −CH act −CH act+em −CH em cbp-Verben CNRTL DLG DYN EK engl. FAP FEW frz. gr. gro-Verben idg. ital. kat. lat. LCS n.Chr. NCA nfrz. ntm-Verben ODEE OED PER PPP RAR span. STA TLFi WFR

altenglisch altfranz¨osisch Analyse et Traitement Informatique de la Langue Franc¸aise Ereignis mit Zustandswechsel aspektuelle Verben Verben f¨ur K¨orper-bezogene Aktivit¨aten reine Zustandswechsel-Verben rein inchoative Verben Ereignis ohne Zustandswechsel Verben f¨ur homogene Aktivit¨at Verben f¨ur Aktivit¨aten mit Emission als Beiprodukt Emissionsverben change in body posture verbs Centre Nationale de Ressources Textuelles et Lexicales Dictionarium Latinogallicum Dynamisches Ereignis/Verb Ereigniskomplex englisch Future Active Participle Franz¨osisches Etymologisches W¨orterbuch franz¨osisch griechisch grooming verbs indogermanisch italienisch katalanisch lateinisch Lexical Conceptual Structure nach Christus Nouveau Corpus d’Amsterdam neufranz¨osisch nontranslational motion verbs Oxford Dictionary of English Etymology Oxford English Dictionary Perseus Project Perfect Passive Participle Readjustment Rule spanisch Zustand Tr´esor de la Langue Franc¸aise informatis´e Word Formation Rule

1

Einleitung

Diese Arbeit besch¨aftigt sich mit der kontrastiven Untersuchung der franz¨osischen Nominalisierungssuffixe -age und -ment, die mitunter als rivalisierende Suffixe angesehen werden, da sie nicht selten dieselben Basisverben ableiten (vgl. 1). (1)

abattement blanchissement d´efilement gonflement grattement pavement plissement tassement

(‘Mattigkeit’) (‘Ausbleichen’) (‘Vorbeiziehen’) (‘Anschwellen’) (‘Kratzen’) (‘Pflaster(n)’) (‘Faltung’) (‘Abflachung’)

abattage blanchissage d´efilage gonflage grattage pavage plissage tassage

(‘F¨allen’) (‘Bleichen’) (‘Abziehen’) (‘Aufpumpen’) (‘Kratzen’) (‘Pflastern’) (‘Faltung’) (‘Einebnung’)

W¨ahrend einzelne Dublettenpaare wie z.B. gonflement/gonflage oder abattement/abattage bereits Gegenstand verschiedener morpho-semantischer Untersuchungen sind, soll hier eine Bedeutungsanalyse entwickelt werden, die prinzipiell allen entsprechenden Nominalisierungsdaten, darunter beispielsweise auch bisher kaum untersuchten -ment- und -age-Nominalisierungen des unter (2) illustrierten Typs, gerecht werden kann. (2)

agissement bruissement e´ ternuement gueulement maniement ronronnement tambourinement tutoiement

(‘Machenschaft’) (‘L¨arm’) (‘Niesen’) (‘Gebr¨ull’) (‘Handhabung’) (‘Schnurren’) (‘Getrommel’) (‘Duzen’)

aboyage appareillage d´emarrage essayage persiflage pilotage radotage toisage

(‘Bellen’) (‘Ablegen’) (‘Start’) (‘Anprobe’) (‘Sp¨ottelei’) (‘Steuerung’) (‘Geschw¨atz’) (‘Mustern’)

Das prim¨are Ziel der Arbeit ist, eine konsistente semantische Untersuchung der Suffixe mit einer systematischen empirischen Auswertung der mit diesen Suffixen gebildeten Ereignisnominalisierungen in ihren konkreten Verwendungskontexten zu verbinden, wobei sowohl die synchronen Differenzen zwischen den entsprechenden Nominalisierungen als auch die unterschiedliche diachrone Entwicklung der Suffixe miteinbezogen werden sollen. Diese Analyse ist Gegenstand der Kapitel 3 bis 5 der vorliegenden Arbeit. Vorher ist allerdings zu u¨ berlegen, was u¨ berhaupt unter “der Bedeutung” von Nominalisierungssuffixen zu verstehen ist und wie die Bedeutung der Suffixe auf der Basis der konkreten Derivate als einziger zur Verf¨ugung stehender Datenquelle ermittelt werden kann. Daher wird der oben angesprochenen Bedeutungsanalyse ein morphologietheoretischer Teil vorangestellt, in welchem ein

2 auf die semantisch-pragmatischen Bedingungen der Wortbildung konzentriertes derivationsmorphologisches Modell entwickelt wird, auf dessen Grundlage in der Folge die synchronen empirischen Daten und die diachrone Entwicklung der franz¨osischen -ment- und -age-Nominalisierung auf koh¨arente Weise zu einer umfassenden Charakterisierung der beiden Suffixe zusammengef¨uhrt werden sollen. Von zentraler Relevanz ist dabei die Einbeziehung der angemessenen Wortverwendung als pragmatischem Faktor, der, in Interaktion mit der Bedeutungsebene, die Distribution und den Status des jeweiligen Derivats entscheidend mitbestimmt. Konkret wird argumentiert, dass ‘semantische Inkompatibilit¨aten’ von Wortbildungselementen und pragmatische Inkompatibilit¨aten, wie sie z.B. von Plag (2003: 60) beschrieben werden, letztlich einheitlich auf die semantisch-pragmatische Angemessenheitsbedingung zur¨uckzuf¨uhren sind, nach welcher die Kombination von Derivationsmorphemen zu einer angemessenen Versprachlichung der intendierten Inhalte f¨uhren muss (vgl. Abschnitt 2.1.5). Insbesondere wird in diesem Zusammenhang deutlich gemacht, dass die semantische Inkompatibilit¨at nicht von der pragmatischen Unangemessenheit zu trennen ist, da Wortbildungselemente immer genau dann semantisch kompatibel sind, wenn sie im jeweiligen Kontext im Sinne der Angemessenheitsbedingung sinnvoll verwendet werden k¨onnen (ebd.). Aus der morphologietheoretischen Diskussion ergeben sich interessante Hypothesen u¨ ber die Natur von Derivationsmorphemen, u¨ ber den Unterschied zwischen regelhafter und nicht-regelhafter derivationsmorphologischer Struktur und Strukturbildung sowie u¨ ber das Wesen der derivationsmorphologischen Kompetenz der Sprecher, wobei sich die morphologietheoretischen Er¨orterungen und die Untersuchungen zu der franz¨osischen -ment- und -age-Nominalisierung in den Kapiteln 3 bis 5 in dieser Arbeit gegenseitig bedingen und erg¨anzen: W¨ahrend die Untersuchung der Suffixe die Entwicklung eines fundierten derivationsmorphologischen Modells erforderlich macht, erh¨alt das vor diesem Hintergrund entwickelte Modell seine Berechtigung und seinen Plausibilit¨atsanspruch erst aus dem Grad der Koh¨arenz der Datenbeschreibung. Eine derartige komplexe Bedeutungsanalyse existiert bisher weder f¨ur franz¨osisch -ment und -age im Speziellen, noch f¨ur Nominalisierungssuffixe im Allgemeinen. Im Vergleich zu der hohen Anzahl an u¨ berblicksartigen oder auf formale Aspekte konzentrierten morphologischen Arbeiten ist die Bedeutung von Derivationsmorphemen bisher generell ein kaum erforschtes Gebiet (vgl. jedoch Plag 1999, Lieber 2004, Trips 2009 und die weiteren einschl¨agigen Referenzen in der vorliegenden Arbeit). Dies gilt insbesondere f¨ur den Bereich der Ereignisnominalisierungssuffixe. F¨ur die franz¨osischen Nominalisierungssuffixe -age, -ment und -(at)ion gibt es zwar mit Dubois (1962), L¨udtke (1978), Dubois & Dubois-Charlier (1999), Kelling (2004), Martin (2010) u.a. bereits einige Untersuchungen, in welchen eine Reihe an Kontrastph¨anomenen zusammengetragen werden. Die Suffixe werden sowohl im Hinblick auf syntaktische Eigen-

3 schaften der Basisverben als auch im Hinblick auf Eigenschaften der mit ihnen gebildeten Nominalisierungen verglichen. Beispielsweise wird beobachtet, dass -ment eher intransitive Basisverben und -age eher transitive Basen “selegiert”, dass -ment eher terminativisch, -age eher durativ “ist”, dass -age “agentivischer ist” als -ment und dass die Referenten der -ment-Nomina anderen Bezeichnungsdom¨anen angeh¨oren als diejenigen der -age-Nominalisierungen (vgl. f¨ur n¨ahere Erl¨auterungen Kapitel 3 der vorliegenden Arbeit). Hierbei handelt es sich um interessante Ph¨anomene, die jede Untersuchung dieser beiden Nominalisierungssuffixe ber¨ucksichtigen sollte. Allerdings wird die in der vorliegenden Arbeit durchgef¨uhrte semantischpragmatische Untersuchung der Suffixe zum einen zeigen, dass die verschiedenen in der Literatur gebotenen Ans¨atze nicht alle Kontrastph¨anomene zwischen -ment- und -age-Nominalisierungen erfassen, und dass die einzelnen von den Autoren beobachteten Ph¨anomene zudem alle in die hier vorgeschlagene Analyse integriert werden k¨onnen. Zum anderen ist zu beachten, dass es sich bei den oben genannten Arbeiten mit Ausnahme von L¨udtke (1978) um knappe Skizzierungen einzelner Ph¨anomene handelt, die zwar zum Teil recht subtile Unterschiede zwischen den einzelnen -ment- und -age-Nominalisierungen aufdecken, im Rahmen derer aber aufgrund ihrer weitestgehenden Theoriefreiheit weder die grunds¨atzlichen Eigenschaften der Suffixe noch die Grundprinzipien der Interaktion zwischen Basisbedeutung, Affixbedeutung und pragmatischen Kriterien der Wortbildung analysiert werden k¨onnen. Lediglich in L¨udtke (1978) wird versucht, die Beschreibung der Datenlage in eine mehr oder weniger koh¨arente Wortbildungstheorie zu implementieren, wobei der Autor f¨ur eine analogiebasierte Herangehensweise argumentiert, nach welcher die Sprecher neue -ment- und -age-Nominalisierungen analog zu den bereits existierenden Derivaten bilden und sich dabei insbesondere durch die Zugeh¨origkeit der Referenten der Nominalisierungen zu bestimmten Bezeichnungsdom¨anen leiten lassen. Im Verlauf der vorliegenden Arbeit wird allerdings deutlich werden, dass die in jener Arbeit vorgeschlagene Herangehensweise einen Großteil der im Zusammenhang mit franz¨osisch -age und -ment zu analysierenden Ph¨anomene unber¨ucksichtigt l¨asst. Neben der Problematik der weitestgehenden Theoriefreiheit der oben genannten Arbeiten gibt es im Bereich der Untersuchung von Nominalisierungssuffixen zwei weitere Forschungsl¨ucken, zu deren Schließung die vorliegende Arbeit beitragen m¨ochte. Die erste L¨ucke besteht darin, dass die zu untersuchenden Ableitungsverfahren generell kaum auf ihre “Wirkung” in konkreten Verwendungskontexten hin u¨ berpr¨uft werden. Die empirische Basis der oben genannten Arbeiten besteht beispielsweise aus weitestgehend kontextfreien lexikalischen Einheiten, wobei die introspektive Beurteilung und quantitative Untersuchungsmethoden vorherrschen. In der vorliegenden Arbeit soll dagegen deutlich gemacht werden, dass das “Funktionieren” bzw. die abstrakte Bedeutung von

4 Wortbildungsverfahren, und darunter insbesondere die abstrakte Bedeutung von Ereignisnominalisierungssuffixen, letztendlich nur auf der Basis einer theoretisch fundierten Auswertung ausreichend großer realsprachlicher Datenmengen untersucht werden kann, bei welcher qualitative und quantitative Aspekte ebenso einbezogen werden, wie die Bedeutung der Wortbildungseinheiten und die situativen und/oder pragmatischen Bedingungen der Konzeptversprachlichung. Erst die hier vorgeschlagene Untersuchungsmethode, bei welcher auf der Basis eines semantisch-pragmatischen Modells der Wortbildung f¨ur verschiedene Klassen an Basisverben untersucht wird, wie die einzelnen -ment- und -ageNominalisierungen de facto in realsprachlichen Kontexten verwendet werden, macht die systematische Verschiedenheit der Derivate, welche in der vorliegenden Arbeit auf die unterschiedliche abstrakte Bedeutung der Suffixe zur¨uckgef¨uhrt wird, in vollem Umfang deutlich. Die zweite Forschungsl¨ucke ergibt sich aus dem Umstand, dass die diachrone Perspektive in Untersuchungen zu Nominalisierungssuffixen bis auf wenige Ausnahmen wie z.B. Fleischman (1980) oder Demske (1999) generell nicht ber¨ucksichtigt wird. In den weiter oben genannten Arbeiten zu den franz¨osischen Nominalisierungssuffixen wird die Diachronie beispielsweise, wenn u¨ berhaupt, nur hinzugezogen, um synchron nicht erkl¨arbare Daten ad hoc auf etwaige diachrone Ver¨anderungen zur¨uckzuf¨uhren. Die in den wenigen diachronen Untersuchungen angef¨uhrten Daten weisen jedoch darauf hin, dass sich Nominalisierungssuffixe im Speziellen und Derivationsaffixe im Allgemeinen durch eine extrem hohe diachrone Stabilit¨at auszeichnen, welche letztlich auf den bloßen Umstand zur¨uckgef¨uhrt werden kann, dass die Bedeutung der Morpheme u¨ ber die (Verwendung der) konkreten Derivate von Generation zu Generation weitergegeben wird. Vor diesem Hintergrund wird in der vorliegenden Arbeit die Ansicht vertreten, dass sich eine synchrone Analyse von Derivationsaffixen immer auch daran messen lassen muss, inwieweit sie mit der diachronen Entwicklung der entsprechenden Formen vereinbar ist. Gem¨aß dieser Vorgabe soll im diachronen Teil der Arbeit gezeigt werden, dass die synchronen Eigenschaften der -age- und -ment-Nominalisierung auf der Basis des hier gew¨ahlten Ansatzes direkt auf die diachrone Entwicklung der Suffixe zur¨uckgef¨uhrt werden k¨onnen, und dass sich der mit der -age-Nominalisierung verbundene morpho-semantische Wandel in dem hier veranschlagten morphologischen Modell zudem auf kognitiv plausible Weise auf eine massive gebrauchsinduzierte Ver¨anderung im Input der Sprecher zur¨uckf¨uhren l¨asst. Der Aufbau der Arbeit ist wie folgt. In Kapitel 2 werden zun¨achst die grundlegenden morphologietheoretischen Fragen bez¨uglich der abstrakten Bedeutung von Derivationsmorphemen und dem Zusammenhang zwischen dieser und den mit den jeweiligen Morphemen gebildeten konkreten Derivaten diskutiert. Auf der Grundlage der morpho-semantischen Theorie von Lieber (2004) wird eine streng kompositionelle Sichtweise auf die Derivationsmorphologie entwi-

5 ckelt, die auf der Annahme basiert, dass sich die Bedeutung komplexer lexikalischer Einheiten aus der bloßen Kombination kleinster bedeutungstragender Einheiten ergibt. Weiterhin wird daf¨ur argumentiert, dass die Bedeutung in der Derivationsmorphologie eine prim¨are Stellung einnimmt, da komplexe lexikalische Einheiten in erster Linie gebildet werden, um neue Kommunikationsund Ausdrucksmittel zu generieren bzw. noch nicht versprachlichte Konzepte zu versprachlichen, und dass nicht-formale Inkompatibilit¨aten zwischen Bedeutungskomponenten (d.h. z.B. zwischen Basis- und Affixbedeutung) generell nicht von den pragmatische Bedingungen der Konzeptversprachlichung getrennt werden k¨onnen (Abschnitt 2.1). Um den Zusammenhang zwischen der abstrakten Bedeutung von Derivationsaffixen und der Verwendung bzw. Interpretation der konkreten Derivate zu modellieren, wird im Anschluss auf der Basis einer Gegen¨uberstellung der generativen Wortbildungstheorie von Aronoff (1976) mit der emergentistischen Herangehensweise von Blevins (2003b), Hay & Baayen (2005), Bybee (2007a) und anderen ein sogenanntes moderatemergentistisches Modell entwickelt, nach welchem sich die abstrakte Bedeutung von morpho-semantisch transparenten Derivationsaffixen aus der Abstraktion u¨ ber die Gesamtheit der einzelnen mit diesem Affix gebildeten Derivate im Input der Sprecher ergibt. Dieses Modell integriert etliche Vorteile der emergentistischen Sichtweise, h¨alt aber an der in generativen Modellen u¨ blichen kategorischen Unterscheidung zwischen regelhafter und nicht-regelhafter Wortverarbeitung fest (Abschnitt 2.2). In Kapitel 3 wird anschließend die semantische Analyse der -ment- und -ageNominalisierung entwickelt. Hierf¨ur werden zun¨achst die oben angef¨uhrten Arbeiten zur Unterscheidung von franz¨osisch -ment und -age vorgestellt sowie die bereits angedeuteten Einw¨ande diskutiert. Entgegen der verbreiteten Ansicht, dass das unterschiedliche Verhalten von -ment- und -age-Nominalisierungen auf einen Komplex von qualitativ verschiedenen Eigenschaften der Suffixe zur¨uckzuf¨uhren ist, wird auf der Basis des moderat-emergentistischen Ansatzes argumentiert, dass die verschiedenen Ph¨anomene auf einen einzigen abstrakt-semantischen Unterschied zwischen beiden Affixen zur¨uckgef¨uhrt werden k¨onnen (Abschnitt 3.1). Zur Vorbereitung der hier intendierten Bedeutungsanalyse wird daraufhin in Abschnitt 3.2 zun¨achst die Reifizierungstheorie von Chierchia (1988; 1998) rekapituliert (Abschnitt 3.2.1) und die in der vorliegenden Arbeit zugrundeliegende Sichweise auf die sprachlich verankerte Perspektivierung von Ereignissen erl¨autert (Abschnitt 3.2.2). Im Anschluss daran wird in Abschnitt 3.3 die Bedeutungsanalyse der franz¨osischen -age- und -ment-Nominalisierung entwickelt. F¨ur die -age-Nominalisierung wird auf der Grundlage erster Korpusdaten argumentiert, dass das Suffix die von den Basispr¨adikaten an Individuen zugewiesenen Eigenschaften in Chierchias (1988; 1998) Sinne zu Ereignistypen reifiziert, ohne etwaige dar¨uber hinausgehende aspektuelle Modifizierungen einzuf¨uhren (Abschnitt 3.3.1). F¨ur -ment wird

6 dagegen zun¨achst festgestellt, dass das Interpretationsspektrum der -mentNominalisierungen stark demjenigen von Partizipien des dritten Status, d.h. ¨ z.B. deutschen ge–t- Partizipien, a¨ hnelt. Durch die Ubertragung der monosemantischen Analyse deutscher Vergangenheitspartizipien nach Roßdeutscher (2000) auf die franz¨osische -ment-Nominalisierung ergibt sich die Generalisierung, dass die durch -ment abgeleiteten Ereignispr¨adikate nicht mehr generell den Ereignispartizipanten die Eigenschaft der Ereignispartizipation, sondern nunmehr speziell dem Geschehnisbetroffenen die Eigenschaft der Resultatszustandspartizipation zuweisen (Abschnitt 3.3.2). Abschließend wird gezeigt, wie die in der entsprechenden Literatur beobachteten Unterschiede zwischen franz¨osischen -ment- und -age-Nominalisierungen im Rahmen der hier entwickelten Bedeutungsanalyse auf den grundlegenden abstrakt-semantischen Unterschied zwischen den Suffixen zur¨uckgef¨uhrt werden k¨onnen (Abschnitt 3.3.4). ¨ Kapitel 4 dient der empirischen Uberpr¨ ufung der zuvor entwickelten Bedeutungsanalyse. Nach verschiedenen methodologischen Vor¨uberlegungen bez¨uglich der Art der Datenbasis, der Auswahl der Nominalisierungen und der Klassifizierung der Basisverben in Abschnitt 4.1 schließt die empirische Untersuchung zun¨achst mit der Auswertung von Nominalisierungen an, deren Basisverben Ereignisse mit Zustandswechsel bezeichnen, also z.B. gonfler (‘anschwellen, aufpumpen’) oder rougir (‘(er)r¨oten’), wobei neben Nominalisierungen von kausativ/inchoativ alternierenden Zustandswechselverben auch solche von rein inchoativen Basisverben wie s’´evanouir (‘ohnm¨achtig werden’ u.¨a.), von aspektuellen Verben wie achever (‘beenden’) und von Verben f¨ur k¨orperbezogene Aktivit¨aten wie s’´etirer (‘sich strecken’) untersucht werden (Abschnitt 4.2). Im Anschluss daran folgt die Untersuchung von Nominalisierungen, deren Basisverben Ereignisse ohne Zustandswechsel bezeichnen, also z.B. hurler (‘schreien, johlen’) oder piloter (‘steuern, f¨uhren’). In diesem Bereich werden Nominalisierungen von sogenannten Verben f¨ur Aktivit¨aten mit Emission als Beiprodukt wie laper (‘schlabbern’), von reinen Emissionsverben wie vrombir (‘brummen, dr¨ohnen’) und von Verben f¨ur homogene Aktivit¨aten wie accompagner, essayer (‘begleiten’ bzw. ‘anprobieren’) oder manier (‘handhaben’) untersucht (Abschnitt 4.3). Schließlich wird die Untersuchung auch auf denominale Nominalisierungen ausgedehnt, wobei in den Korpusdaten abgesehen von einer hinsichtlich der Basiskategorie unklaren -ment-Nominalisierung (i.e. pi`etement, ‘Fuß eines M¨obels’) ausschließlich -age-Nominalisierungen mit nominaler Basis enthalten sind (Abschnitt 4.4). Das Ergebnis der empirischen Untersuchung wird sein, dass sich alle untersuchten Kontraste zwischen -ment- und -ageNominalisierungen koh¨arent auf die im Vorwege entwickelte Bedeutungsanalyse der Suffixe zur¨uckf¨uhren lassen. Unter anderem auf dieser Grundlage wird in der vorliegenden Arbeit argumentiert, dass das zentrale Verfahren zur Bildung von deverbalen -ment- und -age-Nominalisierungen offensichtlich nicht die analogiebasierte Ableitung ist, sondern dass die Bildung von deverbalen -ment-

7 und -age-Nominalisierungen in erster Linie auf einer abstrakt-kreativen Wortbildungskompetenz beruht, welche die Sprecher dazu bef¨ahigt, die durch die regelhaften Verfahren bereitgestellten Optionen der Ereignisperspektivierung flexibel zur Versprachlichung der intendierten Inhalte einzusetzen. In Kapitel 5 wird schließlich u¨ berpr¨uft, inwieweit die diachrone Entwicklung der Suffixe mit der hier entwickelten Bedeutungsanalyse von -ment und -age vereinbar ist. F¨ur die -age-Nominalisierung wird festgehalten, dass sie durch eine Reanalyse substantivierter lateinischer Relationsadjektive auf -aticu entstanden ist, bei welcher das Suffix mit der abstrakten “Art-Bedeutung” assoziiert wurde, die das kleinste gemeinsame Merkmal der urspr¨unglichen Kopfnomina, wie z.B. censu (‘Zins’) in censu terraticu bzw. der substantivierten Form terraticu (‘Landzins’), darstellte. Die Annahme, dass alle semantisch inkorporierten Kopfnomina generell einen Artenbezug aufweisen, wird in Anlehnung an McNally & Boleda (2004) getroffen, welche daf¨ur argumentieren, dass relationale Adjektive Eigenschaften von Arten bezeichnen. Da derivierte Artenterme nach der Reifizierungstheorie von Chierchia (1988; 1998) gewissermaßen die denominale Entsprechung von derverbalen Ereignistypenbezeichnungen darstellen, kann die in Kapitel 3 vorgeschlagene synchrone Analyse der -age-Suffigierung durch die diachrone Untersuchung vollst¨andig best¨atigt und erg¨anzt werden. Im Zusammenhang mit den vereinzelten rein kollektiv interpretierten -age-Nominalisierungen wird argumentiert, dass sie entweder auf einer systematischen metaphorisch-metonymischen Bedeutungsverschiebung von artenbezogenen Derivaten beruhen oder eine Randkategorie der -age-Derivation darstellen, welche sporadisch durch konkret-analogische Ableitungen erweitert wird (Abschnitt 5.1). F¨ur die -ment-Nominalisierung wird zun¨achst empirisch nachgewiesen, dass sich die altfranz¨osischen -ment-Derivate weitestgehend wie ihre neufranz¨osischen Entsprechungen verhalten, wobei die Korpusdaten aller¨ dings gleichzeitig stark auf eine Uberschneidung der Bezeichnungsbereiche des altfranz¨osischen -ment mit denjenigen der aus lat. -(at)us/(at)a hervorgegangenen -´e/´ee-Ableitung einerseits und der von der lateinischen -(at)io-Derivation stammenden -(at)ion/(ai)son-Ableitung andererseits hindeuten. Weiterhin wird auf eine in der sprachwissenschaftlichen Literatur des 19. und fr¨uhen 20. Jahrhunderts verbreitete Einsch¨atzung hingewiesen, nach welcher der Vorg¨anger von frz. -ment, d.h. lat. -mentum, unter anderem auf der Basis der sogenannten indogermanischen *-to-Form entstanden ist, f¨ur die in der vorliegenden Arbeit angenommen wird, dass sie in allen mutmaßlich auf diese Form zur¨uckzuf¨uhrenden Ableitungsverfahren einheitlich eine f¨ur die Partizipialmorphologie des dritten Status typische, resultative Ereignisperspektivierung einf¨uhrt. Dieser Umstand, zusammen mit der Tatsache, dass auch die mit -ment u¨ berlappenden und ebenfalls resultativen Nominalisierungsverfahren auf -´e/´ee und -(at)ion/(ai)son in der entsprechenden Literatur auf die indogermanische *-toForm zur¨uckgef¨uhrt werden, wird als ein starkes Indiz f¨ur die Annahme gewer-

8 tet, dass auch die franz¨osische -ment-Nominalisierung letztlich mit dem indogermanischen *-to-Formativ in Verbindung zu bringen ist. Auch im Zusammenhang mit der -ment-Nominalisierung kann die in Kapitel 3 vorgeschlagene synchrone Bedeutungsanalyse der Suffixe somit durch die diachrone Untersuchung weitestgehend best¨atigt werden (Abschnitt 5.2). In Kapitel 6 werden die in der Arbeit vorgenommenen Untersuchungen in einen Gesamtzusammenhang gestellt (Abschnitt 6.1) und es wird auf Vertiefungsm¨oglichkeiten und auf offene oder durch die Arbeit angestoßene Forschungsfragen hingewiesen (Abschnitt 6.2).

2

Semantik und Derivationsmorphologie

Die folgende Diskussion hat zum Ziel, die hier zugrundeliegende Sichtweise auf die Bedeutung von Derivationsmorphemen zu pr¨azisieren. Von zentraler Relevanz ist dabei das Konzept der morpho-semantischen Stratifizierung, nach welchem sich die Bedeutung von sprachlichen Einheiten aus Merkmalen verschiedener Abstraktionsgrade zusammensetzt, wobei die Bedeutung von lexikalischen Einheiten wie Verben, Substantiven und Adjektiven sowohl abstrakte als auch konkrete Bedeutungsmerkmale beinhaltet, w¨ahrend die Bedeutung von Derivationsaffixen ausschließlich aus abstrakten Bedeutungsmerkmalen besteht.1 Die Hypothese der morpho-semantischen Stratifizierung wurde bisher am deutlichsten in der Arbeit von Lieber (2004) entwickelt, welche daher den Ausgangspunkt der folgenden Untersuchung darstellt. Im Zusammenhang mit der Diskussion um die abstrakte Bedeutung von derivationsmorphologischen Einheiten stellt sich zudem die Frage nach der Natur dieser abstrakten Repr¨asentationsebene, wobei f¨ur die vorliegende Arbeit neben der Frage der Entstehung (Auf welchem Wege kommen die entsprechenden Morpheme zu ihrer abstrakten Bedeutung?) vor allem die Frage relevant ist, wie konkrete und abstrakte Bedeutungsrepr¨asentationen zusammenh¨angen. Der Grund hierf¨ur ist, dass die in den folgenden Kapiteln veranschlagte Bedeutungsanalyse von frz. -ment und -age gr¨oßtenteils auf einer Untersuchung der mit diesen Suffixen gebildeten Derivate in ihren konkreten Verwendungskontexten basiert. Die vorliegende Arbeit u¨ bernimmt in diesem Zusammenhang in weiten Teilen eine sogenannte emergentistische Sichtweise, nach welcher die abstrakte Bedeutung eines Derivationsmorphems als Epiph¨anomen durch die Verarbeitung und/oder Speicherung zahlreicher konkreter Derivate desselben Ableitungsschemas entsteht, indem die Sprecher von den konkreten Kontexten abstrahieren und der sprachlichen Form, d.h. dem Suffix diejenigen abstrakten Bedeutungsmerkmale zuordnen, die alle mit diesem Suffix gebildeten Derivate gemeinsam haben. Allerdings soll den abstrakten Bedeutungsrepr¨asentationen hier deutlich mehr Eigenst¨andigkeit zugesprochen werden, als es in den emergentistischen Modellen f¨ur gew¨ohnlich der Fall ist. W¨ahrend in einem streng emergentistischen Ansatz wie z.B. demjenigen von Bybee (1985; 1988; 2006) u.¨o. das Konzept der symbolischen Verarbeitung sprachlicher Einheiten, und damit 1

Der Begriff der Stratifizierung wird in morphologischen Arbeiten traditionell verwendet, um Affixe hinsichtlich ihrer formalen Eigenschaften in verschiedene Klassen einzuteilen (vgl. Bauer 2003: 174–177 u.a.). Die genaue Art der Stratifizierung ist allerdings Gegenstand zahlreicher Kontroversen (vgl. z.B. Giegerich 1999), die in der vorliegenden Arbeit aufgrund ihrer semantischen Ausrichtung nicht thematisiert werden sollen.

10 auch dasjenige der Wortbildungsregeln, kategorisch abgelehnt wird, soll in der vorliegenden Arbeit argumentiert werden, dass die Wortverarbeitung ab einem gewissen Abstraktionsgrad durchaus auch in symbolische Verarbeitung u¨ bergehen kann, wobei der Abstraktionsgrad maßgeblich durch den Grad der morphosemantischen Transparenz der Derivate sowie die Typefrequenz des Ableitungsverfahrens bestimmt wird. Es wird also ein moderat-emergentistischer Ansatz vertreten, welcher im Hinblick auf die grundlegenden Ideen der Stratifizierung und der abstrakten Bedeutung von Derivationsmorphemen stark demjenigen von Lieber (2004) a¨ hnelt (vgl. jedoch Abschnitt 2.1), welcher allerdings den Zusammenhang zwischen abstrakter Suffixbedeutung und konkreten Derivaten in Anlehnung an emergentistische Ans¨atze modelliert. Im Folgenden soll zun¨achst anhand einer Diskussion der Grundannahmen von Lieber (2004) die eigene Sicht auf die abstrakte Bedeutung von Derivationsaffixen pr¨azisiert werden (Abschnitt 2.1). Daraufhin wird in Abschnitt 2.2 die Frage nach dem Zusammenhang zwischen abstrakter Suffixbedeutung und konkreter ¨ Derivatsbedeutung behandelt. Abschnitt 2.3 fasst die wichtigsten Uberlegungen ¨ zusammen und gibt somit einen Uberblick u¨ ber den morphologietheoretischen Ausgangspunkt f¨ur die in den Kapiteln 3 bis 5 folgende Untersuchung.

2.1

Abstrakte Bedeutung

In der folgenden Auseinandersetzung mit dem morpho-semantischen Modell von Lieber (2004) sollen die Thesen der Autorin zur abstrakten Bedeutung von Derivationsmorphemen diskutiert werden. Nach einer kurzen Einf¨uhrung in das Modell in Abschnitt 2.1.1 macht Abschnitt 2.1.2 die hier vertretene Sichtweise auf die Rolle der Bedeutung in der Derivationsmorphologie deutlich und leitet eine Hypothese zur Bedeutung der franz¨osischen Nominalisierungssuffixe -ment und -age ab. Abschnitt 2.1.3 setzt sich mit den Vorstellungen von Lieber bez¨uglich der Modellierung der semantischen Ableitungsprozesse auseinander und argumentiert f¨ur eine streng kompositionelle Herangehensweise. In Abschnitt 2.1.4 wird der Status sogenannter Wortbildungsrestriktionen aus semantischer Sicht beleuchtet, wobei die Frage nach den Gr¨unden f¨ur die NichtExistenz bestimmter Basen-Affix-Kombinationen zun¨achst im Allgemeinen diskutiert werden soll. In Abschnitt 2.1.5 wird schließlich f¨ur die verschiedenen von Lieber (2004) beobachteten semantischen Wortbildungsrestriktionen im Speziellen argumentiert, dass sie in einem streng kompositionellen Ansatz alle auf die semantisch-pragmatische Bedingung zur¨uckgef¨uhrt werden k¨onnen, dass die Kombination von Derivationsmorphemen zu einer angemessenen Versprachlichung der intendierten Inhalte f¨uhren muss.

11 2.1.1 Das ‘Skeleton’/‘Body’-Modell von Lieber (2004) Nach Lieber (2004) setzen sich Wortbedeutungen aus abstrakt-semantischen und konkret-konzeptuellen Bedeutungskomponenten zusammen. Der Unterschied zwischen abstrakt-semantischen und konkret-konzeptuellen Bedeutungskomponenten wird durch die Metapher von “skeleton” und “body” illustriert. Die abstrakt-semantischen Eigenschaften bilden das “skeleton”, den sprachlich determinierten Kern des lexikalischen Eintrags, die konzeptuell gespeisten Informationen den “body”, der sprecherspezifisch variieren kann und in weit h¨oherem Maße Wandelerscheinungen erkennen l¨asst als das “skeleton”. Die Konzeption des “skeletons” ist nach Liebers eigenen Angaben an das Konzept der Lexikalisch Konzeptuellen Strukturen (LCS) von Jackendoff (1995) u.¨o. angelehnt. Allerdings sind Liebers skeletale Merkmale bewusst abstrakter gehalten als Jackendoffs LCS. Auf der abstrakten Ebene ist die semantische Information in Form von semantischen Primitiva wie [± materiell] und [± dynamisch] repr¨asentiert, die laut Lieber (2004) einerseits die zentralen “ontologischen Klassen” definieren und andererseits die Klasse der morphosyntaktisch relevanten Merkmale bilden. Der zweite Unterschied zu dem Modell von Jackendoff ist, dass nach Lieber neben der abstrakt-semantischen Komponente auch die “body”-Komponente Teil der Repr¨asentation lexikalischer Einheiten ist: The skeleton . . . will be the decompositional part of the representation, hierarchically arranged, as Jackendoff’s LCSs are. . . . This part of the representation will be relatively rigid and formal. . . . The other part of the semantic representation, the body, will be encyclopedic, holistic, nondecompositional, not composed of primitives, and perhaps only partially formalizable. It will comprise those bits of perceptual and cultural knowledge that form the bulk of the lexical representation. (Lieber 2004: 10)

Derivationsaffixe werden als lexikalische Einheiten verstanden, deren Repr¨asentation gr¨oßtenteils abstrakt-semantisch, d.h. nicht mit konzeptueller Information angereichert ist. Wie im Folgenden deutlich werden wird ist die Derivation komplexer lexikalischer Einheiten allerdings nach Lieber auch teilweise von Informationen determiniert, die der “body”-Ebene zuzurechnen sind. Die Bedeutung eines Derivats wird zu einem Teil duch die abstrakte Bedeutung des Affixes, zu einem anderen Teil durch die abstrakten und konkreten Bedeutungsmerkmale der Basis und zu einem weiteren Teil durch den Prozess bestimmt, der dem Denotationswechsel von der Denotation der Basis zur Denotation des Derivats zugrundeliegt. In Lieber (2004) wird vorgeschlagen, diesen Prozess mit Hilfe der “Ko-Indizierung” von Argumenten zu formalisieren, wobei Liebers Ko-Indizierung in etwa dem traditionelleren Konzept der Argu-

12 mentbindung entspricht.2 Dieser Mechanismus hat den Zweck, die referentiellen Eigenschaften des Affixes mit denjenigen der Basis zu synthetisieren (“to integrate the referential properties of an affix with that of its base”, Lieber 2004: 25). Da die zur Ko-Indizierung hinzugezogenen Basisargumente bei deverbalen Ableitungen prinzipiell zwischen dem referentiellen Argument und den verschiedenen thematischen Argumenten des Basisverbs variieren k¨onnen, hat dieser Prozess einen entscheidenden Einfluss auf die Interpretation des Derivats. Im Detail wird vorgeschlagen, dass sich der Prozess nach einem allgemeinen KoIndizierungsprinzip richtet, nach welchem das referentielle Argument des Affixes generell mit dem h¨ochsten Argument des Basisverbs ko-indiziert wird, sofern die semantische Spezifikation des ersteren zu derjenigen des letzteren passt: (1)

Prinzip der Ko-Indizierung (Lieber 2004: 61) In a configuration in which semantic skeletons are composed, co-index the highest nonhead argument with the highest (preferably unindexed) head argument. Indexing must be consistent with semantic conditions on the head argument, if any.

Dieses Prinzip l¨asst sich anschaulich anhand der Derivation von Agens- bzw. Patiensnomina mittels -er bzw. -ee im Englischen illustrieren. Der Unterschied zwischen beiden Verfahren ist, dass die Derivate auf -er tendenziell den Agens oder das Instrument des vom Basisverb bezeichneten Ereignisses denotieren, wohingegen die Derivate auf -ee tendenziell eher auf den Patiens des Basisereignisses Bezug nehmen: (2)

a.

x writes y x opens y x prints y

⇒ ⇒ ⇒

writ-er open-er print-er

b.

x employs y x nominates y x deports y

⇒ ⇒ ⇒

employ-ee nomin-ee deport-ee

Mit Bezug auf Barker (1998) betont Lieber (2004), dass sich diese Generalisierung allerdings vor allem im Bereich von -ee mit einer hohen Anzahl an Abweichungen konfrontiert sieht. So k¨onnen -ee-Nomina neben dem Patiens zum Beispiel auch den Benefizienten des Basisereignisses bezeichnen (adressee, ‘Adressat/in’). Sogar das Agens kann Denotat der -ee-Nomina sein, wie in standee (‘Stehende/r, Stehplatzinhaber/in’). Barker (1998) stellt aus diesem Grund die zus¨atzliche Generalisierung auf, dass das Affix -ee sich nur mit Argumenten verbinden kann, die episodisch mit dem Basisverb verbundenen sind, d.h. einen 2

Das Konzept der Argumentbindung zur Modellierung von Ableitungsprozessen ist in der generativen Literatur weit verbreitet und hat verschiedene Auspr¨agungen angenommen. F¨ur n¨ahere Erl¨auterungen vgl. z.B. Williams (1981), Selkirk (1982), Bierwisch (1989) oder Grimshaw (1990) u.a..

13 empfindungsf¨ahigen und in Bezug auf das vom Basisverb denotierte Ereignis willenlosen Teilnehmer an eben diesem Ereignis bezeichnen. Diese Bedingung ist nach Lieber (2004) durch die konkret-konzeptuellen Merkmale [sentient] und [non-volitional] in der semantischen Repr¨asentation des Affixes verankert, welche das referentielle Argument des Affixes spezifizieren. Wie Beispiel (3a.) illustriert wird die Derivationsbasis nach Lieber (2004) im Zuge der Ko-Indizierung als ein Argument in die derart spezifizierte abstrakt-semantische Repr¨asentation des Affixes integriert, womit die hierarchische Relation zwischen Affix und Argument verdeutlicht wird. Das referentielle Argument der -er-Suffigierung beinhaltet dagegen keine derartige Spezialisierung ( vgl. 3b.). (3)

a. [+material, dynamic ([sentient, nonvolitional ], )] -ee b. [+material, dynamic ([ ], )] -er (Lieber 2004: 62)

Das referentielle Argument der -ee-Suffigierung kann nicht mit dem externen Argument der Derivationsbasis ko-indiziert werden, das als [volitional] spezifiziert ist, womit sich im Fall von z.B. employee die Ko-Indizierung in (4a.) ergibt und die Patiensausgerichtetheit angemessen widergespiegelt werden kann. Das nicht-spezifizierte Argument der -er-Suffigierung wird dagegen gem¨aß dem KoIndizierungsprinzip mit dem h¨ochsten, d.h. dem externen, Argument des Basisverbs ko-indiziert (4b). (4)

a. employee [+material, dynamic ([sentient, nonvolitional-i ], [+dynamic ([ ],[i ])])] -ee employ b. writer [+material, dynamic ([i ], [+dynamic ([i ],[ ])])] -er write (Lieber 2004: 63, 68)

Um auch semantisch marginale Derivationsmuster wie z.B. standee in ihre Analyse integrieren zu k¨onnen, nimmt Lieber (2004) an, dass das Prinzip der Ko-Indizierung in bestimmten Kontexten verletzt werden kann und dass Derivationsmuster, die auf einer solchen Verletzung beruhen, weniger produktiv bzw. markierter sind als Derivationsmuster, die ohne Verletzung des KoIndizierungsprinzips entstanden sind. Die Derivation standee beruht beispielsweise auf einer Verletzung des zweiten Teils des Ko-Indizierungsprinzips, wonach die semantische Spezifizierung des Affixarguments mit derjenigen des Basisarguments kompatibel sein muss (vgl. (5)). Aus dieser Verletzung ergibt sich

14 nach Lieber (2004) die besondere Interpretation des Derivats, dessen Denotat laut der Autorin “not clearly volitional, but also not clearly nonvolitional” ist. (5)

standee [+material, dynamic ([sentient, nonvolitional-i ], [+dynamic ([?volitional-i ])])] -ee stand (Lieber 2004: 65)3

Zu beachten ist, dass Selektionsrestriktionen wie diejenige des referentiellen Arguments von -ee laut Lieber (2004) Teil der Bedeutung der Suffixe sind. Nur so kann die Autorin in Bezug auf die ansonsten mit [+material] und [dynamic] bedeutungsgleichen Suffixe -ee und -er zu dem Schluss kommen, “that each of these suffixes has a unitary meaning and . . . that [both] meanings . . . are closely related.“ (vgl. Lieber 2004: 18). Zu betonen ist weiterhin, dass der semantische Unterschied zwischen den Suffixen von der konzeptuellen Bedeutungskomponente der Basisverben her determiniert wird, die allerdings nicht im Fokus von Liebers Untersuchung steht.4 Neben den konkret-konzeptuellen Restriktionen in Bezug auf die Ko-Indizierung des Affix-Argumentes k¨onnen mitunter aber auch die “skeletalen” semantischen Primitiva der Affixe die Selektion bestimmter Basen determinieren. So verbinden sich Pr¨afixe wie engl. re- und un- in reestablish oder uncover beispielsweise aus semantischen Gr¨unden ausschließlich mit Basen, deren Denotation nicht-permanente Resultatszust¨ande impliziert. Als Evidenz dienen Lieber Wortbildungen wie *rekill, die von ihr als ungrammatisch eingestuft werden. Weitere Beispiele, wie die von Zimmer (1964) attestierte Seltenheit von nonDerivaten mit negativ konnotierter Basis (vgl. *non-ugly) oder die von Plag (1999: 76) betonte Seltenheit von abstrakten Derivaten mit abstrakter Basis (vgl. *concentrationage), f¨uhrt Lieber auf die folgende “Redundanzrestriktion” zur¨uck: (6)

Die Redundanzrestriktion (Lieber 2004: 161) Affixes do not add semantic content that is already available within a base word (simplex or derived).

Diese Generalisierung kann laut Lieber (2004) als ein pragmatisches Prinzip verstanden werden, welches semantisch leere Wortbildungsprozesse aus 3

4

Die semantische Repr¨asentation von stand ist hier gegen¨uber Liebers Beispiel leicht vereinfacht. Vgl. Lieber (2004: 72): “Whether in a given case a verbal argument is ultimately construed as volitional or not follows from the selectional properties of the verb of which it is an argument, which in turn are probably represented either directly or indirectly in the semantic body of the verb. Exactly what the verbal body looks like we will leave open here.”

15 Gr¨unden der Redundanz ausschließt. Das heißt, es gibt laut Lieber (2004) drei verschiedene Arten von semantisch-pragmatischer Beschr¨ankung: verletzbare Ko-Indizierungsrestriktionen, die Inkompatibilit¨at semantischer Primitiva sowie die pragmatische Redundanzrestriktion. Die Restriktionen ersetzen dabei nicht die traditionell fokussierten phonologischen, morphologischen und syntaktischen Produktivit¨atsrestriktionen,5 sondern sind als zus¨atzliche Einschr¨ankungen der Kombinierbarkeit von Wortbildungselementen zu verstehen. Lieber betont, dass die Hervorhebung der semantischen Restriktionen nicht die Rolle der phonologischen, morphologischen und syntaktischen Restriktionen relativieren soll: What [the] literature has shown us is that there are indeed different sorts of restrictions that limit the combinatorial possibilities of affixes: categorial, phonological, and perhaps purely morphological ones. But their existence should not prevent us from looking for semantic restrictions as well. (Lieber 2004: 158)

Die Untersuchung von Nominalisierungssuffixen ist in Lieber (2004) kein zentrales Thema. Allerdings geht auch Lieber davon aus, dass Nominalisierungssuffixe abstrakt-semantische Merkmale realisieren, n¨amlich f¨ur gew¨ohnlich die Merkmale [−material] und [dynamic], die alle abstrakten dynamischen Substantive kennzeichnen. Von Lieber & Baayen (1999) wird vorgeschlagen, dass die Nominalisierungssuffixe aufgrund ihrer Bedeutungsgleichheit in ein- und demselben morphologischen Paradigma organisiert sind. Mit Verweis auf Booij & Lieber (2004) macht Lieber (2004: 73) zudem deutlich, dass sie die “morphologischen Paradigmen” durch die abstrakt-semantischen Primitiva definiert sieht, welche die Kernbedeutungen der Affixe ausmachen. Diese Paradigmen lassen sich, ebenfalls auf der Basis semantischer Unterscheidungen, in Sub-Paradigmen gliedern, wobei z.B. im Fall der englischen -eeund -er-Derivationen die unterschiedliche Ko-Indizierung den Ausschlag zur sub-paradigmatischen Aufteilung der Suffixe gibt. Lieber (2004) ordnet zwar die verschiedenen Nominalisierungssuffixe aufgrund ihrer Bedeutungsgleicheit in das Paradigma der [−material, dynamic]-Bildungen ein, eine entsprechende sub-paradigmatische Aufteilung wird allerdings nicht diskutiert. Dar¨uber hinaus werden Nominalisierungssuffixe von der Autorin nur im Zusammenhang mit der Analyse von synthetischen Komposita wie z.B. meat preparation (‘Fleischzubereitung’) als weitere positive Evidenz f¨ur das Wirken des KoIndizierungsprinzips behandelt. Und zwar nimmt Lieber (2004) an, dass Nominalisierungssuffixe wie engl. -ment oder -ation zun¨achst durch Ko-Indizierung das externe Argument binden, das von Lieber als das h¨ochste Argument der Basisverben angesetzt wird. Werden die Nominalisierungen mit einer modifizieren5

In der generativen Literatur zur Derivationsmorphologie ist es u¨ blich, die NichtExistenz bestimmter Basis-Affix-Kombinationen auf verschiedene Produktivit¨atsre¨ striktionen zur¨uckzuf¨uhren. Eine aufschlussreiche Ubersicht bietet zum Beispiel Rainer (2005a). Weitere Erl¨auterungen dazu werden in Abschnitt 2.1.4 gegeben.

16 den Konstituente wie meat kombiniert, kann diese nur noch mit dem Patiensargument des Basisverbs der Nominalisierung ko-indiziert werden. So trifft Lieber die richtige Voraussage f¨ur die Interpretation von Komposita des Typs meat preparation, d.h. von Komposita mit Patiensmodifizierung. Wie Lieber selbst anmerkt wird diese Analyse allerdings weder allen entsprechenden Komposita gerecht, noch k¨onnen nicht-komponierte Ereignisnominalisierungen damit angemessen analysiert werden. Lieber (2004) verweist in diesem Zusammenhang auf die Notwendigkeit weiterer Untersuchungen.

2.1.2 Primat der Bedeutung in der Derivationsmorphologie Lieber (2004) liefert eine umfang- und aufschlussreiche Analyse der englischen Wortbildung, die zahlreiche semantische Unterschiede und Interpretationsnuancen auf koh¨arente Weise in das stratifizierte Modell einbindet. Ein großes Verdienst von Liebers Untersuchung ist, dass die semantischen Eigenschaften der Derivationsmorpheme in den Mittelpunkt der Diskussion ger¨uckt werden. So kann die Autorin verschiedene morphologische Ph¨anomene wie z.B. das “Clustering” von Wortbildungsverfahren wie engl. -er, -ee, -ant/ent und -ist oder die Nicht-Existenz und/oder Markiertheit bestimmter Derivationsmuster auf die semantischen Eigenschaften der Suffixe zur¨uckf¨uhren, w¨ahrend andere Autoren auf rein morphologische Prinzipien zur¨uckgreifen m¨ussen, an welchen generell der ad hoc-Charakter und der damit einhergehende mangelnde Erkenntnisgewinn zu kritisieren sind (vgl. f¨ur Details Abschnitt 2.1.4). Auch in der vorliegenden Arbeit wird es f¨ur wichtig erachtet, die semantischen Aspekte in den Vordergrund derivationsmorphologischer Untersuchungen zu r¨ucken. Ohne die Existenz von morphologischen, geschweige denn phonologischen Wortbildungsrestriktionen negieren zu wollen (vgl. ebenfalls Abschnitt 2.1.4), basiert die Arbeit auf der Annahme, dass phonologische und vor allem morphologische Faktoren erst dann zur Erkl¨arung hinzugezogen werden sollten, wenn sich die zu untersuchenden Ph¨anomene (wie z.B. spezifische Derivatsinterpretationen oder die Nicht-Existenz oder Markiertheit bestimmter Ableitungen) nicht auf die Bedeutung der Wortbildungselemente zur¨uckf¨uhren lassen. Der Grund f¨ur diese Position ist, dass derivationsmorphologische Prozesse zur Generierung neuer Kommunikations- und Ausdrucksmittel dienen. Das heißt, Wortbildungselemente werden verwendet, um noch nicht versprachlichte Konzepte zu versprachlichen. Restriktionen, die auf das phonologische oder morphologische System der Sprache zur¨uckzuf¨uhren sind, sind in dieser Hinsicht von sekund¨arer Relevanz: sie “filtern” nur den Prozess der Kombination der Bedeutungsbestandteile.6 6

Es sei betont, dass diese Generalisierung nicht auf die Flexionsmorphologie zu u¨ bertragen ist, wo die formalen Kriterien der jeweiligen Paradigmen kognitiv ein weitaus

17 Ausgehend von der Pr¨amisse, dass f¨ur derivationsmorphologische Besonderheiten zun¨achst nach semantischen Ursachen zu suchen ist, ist die Ausgangshypothese f¨ur die hier anstehende Untersuchung der franz¨osischen Nominalisierungssuffixe -ment und -age, dass die in den Kapiteln 3 bis 5 zutage tretenden Unterschiede zwischen -ment- und -age-Nominalisierungen auf einen abstrakt-semantischen Unterschied zwischen den beiden Nominalisierungssuffixen zur¨uckzuf¨uhren sind. Diese unter (7) vorgestellte Hypothese kann gewissermaßen als heuristisches Prinzip der in den Kapiteln 3 bis 5 vorgestellten Untersuchung der franz¨osischen -ment- und -age-Suffigierung gelten: Hypothese zur Bedeutung von -ment und -age

(7)

Die Suffixe -ment und -age lassen sich u¨ ber ihre abstraktsemantischen Eigenschaften eindeutig definieren und voneinander abgrenzen.

2.1.3

Kompositionalit¨at und Ko-Indizierung

Mit der Ausgangshypothese eines abstrakt-semantischen Unterschieds zwischen -ment und -age unterscheidet sich die vorliegende Arbeit deutlich von Liebers Konzeption, nach welcher derartig bedeutungsnahe Suffixe aufgrund identischer abstrakt-semantischer Merkmale in morphologischen Paradigmen organisiert sind. Liebers Annahme, dass sich abstrakt-semantisch gleiche Suffixe in Bezug auf etwaige konkret-konzeptuelle Merkmale ihrer referentiellen Argumente unterscheiden k¨onnen, wie oben anhand ihrer Analyse von engl. -er versus -ee dargestellt, k¨onnte zwar prinzipiell als Grundlage f¨ur die Untersuchung der semantischen Unterschiede zwischen -ment und -age herangezogen werden. Allerdings sind sowohl das Konzept der mit “body”-Merkmalen ausgestatteten Affix-Argumente als auch das Prinzip der Ko-Indizierung zur Determinierung der variierenden Derivatsdenotation bedeutungsnaher Suffixe nicht unproblematisch. Ein Problem im Zusammenhang mit der Spezifizierung von AffixArgumenten mit Hilfe konkret-konzeptueller Merkmale ist beispielsweise, dass h¨ohere Rolle zu spielen scheinen als im derivationsmorphologischen Bereich, vgl. hierf¨ur z.B. Maiden (1992), Aronoff (1994), Stump (2001), Maiden (2005) u.a.. Bei der Abgrenzung von Flexions- und Derivationsmorphologie orientiert sich die vorliegende Arbeit an den u¨ blichen Kriterien, wie sie beispielsweise von Scalise (1986b), Dressler (1989), Plank (1994) oder auch Booij (2004) beschrieben werden, wobei Ph¨anomene wie z.B. die Stammalternation oder die Partizipialmorphologie differenziert zu betrachten sind (vgl. Kapitel 3.3.2 sowie insbesondere 5.2.2 der vorliegenden Arbeit). Die Kontroverse um die kategorische Unterscheidung zwischen Flexions- und Derivationsmorphologie soll hier dennoch nicht nachvollzogen werden (vgl. hierzu z.B. Booij 1994 und die dortigen Referenzen), da -ment und -age nach den g¨angigen Kriterien eindeutig als Derivationsmorpheme zu klassifizieren sind.

18 dieses Konzept nicht zur kategorischen Unterteilung von “skeletalen” Merkmalen und “body”-Merkmalen passt. Wie beschrieben begr¨undet Lieber die Unterteilung unter anderem mit der Evidenz, dass der “body” lexikalischer Einheiten sprecherspezifisch variieren kann und in weit h¨oherem Maße Wandelerscheinungen erkennen l¨asst als das “skeleton”: The skeleton forms the foundation of what we know about morphemes and words. It is what allows us to extend the lexicon through various word-formation processes. The body fleshes out this foundation. It may be fatter or thinner from item to item, and indeed from the lexical representation of a word in one person’s mental lexicon to the representation of that “same” word in another individual’s mental lexicon. . . . Bodies can change with the life of a lexical item - gain or lose weight, as it were. Skeletons, however, are less amenable to change. (Lieber 2004: 10)

Die Annahme, dass auch Affixe u¨ ber ihre referentiellen Argumente mittels “body”-Merkmalen spezifiziert werden k¨onnen, k¨onnte zwar als Flexibilisierung dieser starken Generalisierung gewertet werden. Weder die von Lieber (2004), noch die in der vorliegenden Arbeit untersuchten Affixe zeigen allerdings die f¨ur die “body”-Merkmale charakteristische Variation und/oder Wandelneigung. F¨ur die hier untersuchten Suffixe wird im Gegenteil in den Kapiteln 3 und 4 aus den synchronen Daten eine hohe interpretative Koh¨arenz seitens der Sprecher deutlich werden. Die diachrone Untersuchung in Kapitel 5 wird zeigen, dass die abstrakt-semantischen Eigenschaften der Suffixe vom Mittelalter bis zur heutigen Zeit ebenfalls gleich geblieben sind. Auch die von Lieber (2004) angef¨uhrten Affixe zeichnen sich durch eine hohe semantische Uniformit¨at aus. Durch Liebers Analyse der englischen Agensnominalisierungen wird beispielsweise deutlich, dass es sich zwar um ein komplexes und nuanciertes Paradigma bedeutungsverwandter Formen handelt, dass den einzelnen Affixen aber genau eine, innersprachlich nicht variierende Bedeutung zukommt. Andernfalls w¨are die M¨oglichkeit der Generalisierung gar nicht in dem Maße gegeben, wie sie Lieber f¨ur die Suffixe -ee, -er, -ist und -ant/ent aufzeigt. Es ist ja gerade eine Besonderheit der von Lieber (2004) analysierten Derivationsaffixe, dass ihre Bedeutung (einschließlich der von Lieber auf konkret-konzeptuelle Merkmale zur¨uckgef¨uhrten Eigenschaften) offensichtlich nicht variiert.7 ¨ Eine kurze Uberpr¨ ufung lexikographischer Angaben weist zudem darauf hin, dass die englischen Agensnominalisierungen auch diachron eine starke semantische Kontinuit¨at aufweisen. Wie die unter (8) gegebenen Lexikoneintr¨age und die folgenden Erl¨auterungen verdeutlichen, l¨asst sich die Agens- bzw. Patiensgerichtetheit der verschiedenen Suffixe beispielsweise jeweils bis in die Vorgeschichte des entsprechenden Suffixes zur¨uckverfolgen. 7

Dass die “volitionality” (ausgerechnet und ausschließlich) in Derivaten wie standee nicht zwangsl¨aufig gegeben ist, verst¨arkt diesen Eindruck noch, weil sich zeigt, dass die konzeptuellen Merkmale der Basis, und nicht diejenigen des Affixes, f¨ur die hinsichtlich [volitional] uneindeutige Interpretation verantwortlich sind.

19 (8)

-er

. . . partly from Old French -ier, -iere, from Latin -arius; partly from Anglo-French -ere, from Latin -ator, -or . . .

-ant/ent

Middle English, from Anglo-French, from -ant, present participle suffix, from Latin -ant, -ans, present participle suffix of first conjugation, . . .

-ist

French -iste, from Latin -ista, -istes, . . .

-ee

Middle English -e, from Anglo-French -´e, from -´e, past participle ending, from Latin -atus . . .

(Merriam Webster’s Collegiate Dictionary, 11. Edition, online-Version, http://www.merriam-webster.com 04.01.2010) Was die Vorg¨anger der englischen -er-Derivation, d.h. lat. -arius bzw. -ator, anbelangt, so machen lateinische Grammatiken deutlich, dass es sich schon im Latein um Verfahren zur Agensnominalisierung gehandelt hat. Beispielsweise attestiert Meyer-L¨ubke (1894: 507) der -arius-Suffigierung, sie sei “urspr¨unglich adjektivisch, wird aber schon im Lateinischen substantiviert und bezeichnet an Nominalst¨amme tretend diejenige Person, die sich mit einem Gegenstand berufsm¨aßig abgibt, ihn verarbeitet, mit ihm Handel treibt (...)” , z.B. asinarius (‘Eseltreiber’, ebd.). Auch lat. -(at)or bildete den Grammatiken zufolge ausschließlich Agensnominalisierungen (vgl. z.B. K¨uhner & Holzweissig 1966: 963). Pr¨asenspartizipien wie frz. -ent/ant stellen das vom Basisverb denotierte Ereignis in seiner Verlaufsform dar. Sofern ein Agens konzeptualisiert wird, resultiert aus der Darstellungsweise eine agentivische Perspektive (vgl. z.B. frz. adh´erent: ‘haftend’ → ‘Anh¨anger’). Lat. -ista, istes dient ebenfalls “zur Bezeichnung handelnder Personen” (Meyer-L¨ubke 1894: 559). Der Vorg¨anger der englischen -ee-Derivation, d.h. das lateinische “past participle”, wird gelegentlich auch als Partizip Perfekt Passiv bezeichnet und stellt den Nachzustand einer vorangegangenen Handlung aus der passivischen Perspektive dar (vgl. z.B. Alsdorf-Boll´ee 1970: 45). Dieses Partizip wird in Kapitel 5.2.2 noch ausf¨uhrlicher behandelt. In Abschnitt 2.1.5 werden kurz einige Beispiele f¨ur englische -ee-Derivate aus Lieber (2004) diskutiert.8 Hier ist zun¨achst lediglich relevant, dass die Substantivierung eines solchen Partizips generell, d.h. auch in anderen Sprachen, zu der f¨ur die engl. -ee-Derivate charakteristischen Interpretation f¨uhrt (vgl. z.B. dt. Sie wurde von dem Unternehmen angestellt → die Angestellte). Die hohe diachrone Stabilit¨at der hier betrachteten Sprachdaten spricht vor dem Hintergrund von Liebers eigener Generalisierung stark daf¨ur, dass die Bedeutung von Affixen keine konkret-konzeptuellen Merkmale beinhaltet. 8

In Kapitel 3.3.2 wird zudem die mutmaßlich von substantivierten Partizipien bewirkte Verschiebung kurz in Abgrenzung zu dem durch -ment eingef¨uhrten Perspektivwechsel behandelt.

20 Ein zweites Problem an der Annahme, dass Affix-Argumente durch konkretkonzeptuelle Merkmale spezifiziert sind, betrifft den Status dieser Merkmale. Was heißt es, dass das referentielle Argument eines Affixes beispielsweise f¨ur das Merkmal [volitional] spezifiziert ist? Das Problem wird deutlich, wenn das derartig spezifizierte Affix mit einer a¨ hnlich spezifizierten Basis verglichen wird, denn bei Basisverben wie write oder employ stellt sich die Frage des Status von Merkmalen wie [volitional] nicht mit der gleichen Dringlichkeit. Es kann zwar u¨ ber die kognitive Entsprechung oder den theoretischen Nutzen derartiger Merkmale diskutiert werden. Unabh¨angig davon ist aber leicht verst¨andlich, dass mit der Merkmalszuschreibung eine naheliegende Definition des Konzepts der Aktivit¨at schreiben bzw. einstellen/besch¨aftigen gegeben werden soll. Im Bereich der Affixe entbehren die Merkmale jedoch gerade dieser Konkretheit. Sie sind ebenso abstrakt wie alle u¨ brigen abstrakten Merkmale in der semantischen Repr¨asentation der Suffixe. In diesem Zusammenhang ist zudem zu beachten, dass im Falle der -ist-Derivation das Merkmal [volitional] auch bei Lieber (2004) bereits nicht mehr nur als Ko-Indizierungsrestriktion dient, sondern eine semantische Komponente in der Derivatsbedeutung selbst darstellt (vgl. z.B. guitarist).9 W¨ahrend Lieber (2004) die -ist-Ableitung trotz allem in den Ko-Indizierungsansatz integrieren m¨ochte, bewegt sich die hier vertretene Auffassung in die Richtung, die sich im Zusammenhang mit Derivaten wie guitarist bereits andeutet. Das heißt, es wird angenommen, dass bestimmte abstraktsemantische Eigenschaften des Suffixes selbst die Besonderheiten der Derivatsinterpretation bedingen und dass konkret-konzeptuelle Merkmale nur von der Derivationsbasis in das Ableitungsprodukt eingebracht werden. Liebers Vorschlag ist allerdings nicht nur in Bezug auf die konkretkonzeptuellen Merkmale von Affix-Argumenten problematisch. Auch das Prinzip der Ko-Indizierung bzw. Bindung von thematischen Argumenten als Erkl¨arung f¨ur das Zustandekommen der Bedeutung deverbaler Nominalisierungen wirft einige Fragen auf. Erstens stellt sich die Frage nach dem Erkenntnisgewinn einer solchen Modellierung. Generative morphologische Theorien gehen generell davon aus, dass das Suffix als Kopf der Konstruktion die grammatischen Eigenschaften des Derivats determiniert, wobei u¨ blicherweise die Bedeutung der Basis durch den hierarchischen Verkettungsprozess Teil des Derivats wird (vgl. z.B. Selkirk 1982). Genauer gesagt symbolisiert die hierarchische Verkettung der referentiellen Argumente von Affix und Basis die “Einverleibung” der Basisdenotation seitens des Affixes. Nach Ansicht der Proponenten der KoIndizierung bzw. Argumentbindung (vgl. die in Abschnitt 2.1.1 zitierten Arbeiten) beruht ein Prozess, der bewirkt, dass nicht die Denotation der Basis, sondern diejenige eines ihrer thematischen Argumente in das Derivat miteinfließt, auf genau demselben hierarchischen Verh¨altnis zwischen Affix und Derivationsbasis. 9

Und zwar unabh¨angig davon, ob die Basis f¨ur das entsprechende Merkmal spezifiziert ist oder nicht.

21 Das heißt, auch in einem solchen Fall wird das oben beschriebene hierarchische Verh¨altnis zwischen Basis und Affix angenommen. In diesem Zusammenhang stellt sich allerdings die Frage, wodurch ein “Umschwenken” des allgemeinen Prinzips der Denotationsvererbung motiviert sein sollte, wenn nicht durch die Bedeutung des Suffixes? Es wird deutlich, dass in einem nicht-semantischen Ansatz zur Argumentvererbung f¨ur jedes Affix die Vererbungsfunktion als idiosynkratische Information aufgelistet werden muss. Mit einer solchen Auflistung kommt man allerdings der Natur der Derivationsaffixe nicht n¨aher, sondern es handelt sich um eine bloße Beschreibung der mit der Interpretation der entsprechenden Derivate zusammenh¨angenden Ph¨anomene. Ein weiterer Einwand gegen das Konzept der Ko-Indizierung mit bzw. Bindung von thematischen Argumenten ist, dass die Entsprechung der Bedeutung von deverbalen Nominalisierungen mit derjenigen bestimmter Argumente des Basisverbs keinesfalls eine erwiesene Tatsache darstellt. Beispielsweise ist auff¨allig, dass Kriterien f¨ur die Bestimmung der Bedeutungsgleichheit der thematischen Basisargumente mit den entsprechenden Nominalisierungen (also z.B. von he in he employs mit employer) nie aufgestellt wurden. In diesem Zusammenhang ist zudem der Hinweis von Detges (2004) interessant, dass das vermeintlich gebundene thematische Argument und das Derivat l¨angst nicht immer gleich distribuiert sind. Beispiele wie (9) sprechen nach Detges gegen die Annahme, dass die Bedeutung von sogenannten Agens- bzw. Instrument- und Patiensnominalisierungen aus einer Bindung der jeweiligen thematischen Basisargumente resultiert.10 (9)

a. *Der H¨orerN h¨orteV Frau Meier nicht. b. *Dieser Schl¨agerN schl¨agtV bloß Tennisb¨alle.

(Detges 2004: 21)

Auch die diachrone Entwicklung vieler Verfahren spricht daf¨ur, dass bereits die bloße Interaktion der Basisbedeutung mit der abstrakten Bedeutung der Suffixe f¨ur das Zustandekommen der jeweiligen Derivatsinterpretationen verantwortlich gemacht werden kann. Die exhaustive diachrone Analyse der englischen Nominalisierungssuffixe -hood, -dom und -ship von Trips (2009) stellt beispielsweise eine u¨ berzeugende Evidenz f¨ur die Wechselwirkung zwischen der diachronen Entwicklung und den synchronen Eigenschaften von Derivationsaffixen dar. In dieser Studie wird gezeigt, wie die altenglischen hoch-polysemen relationalen Substantive h¯ad (‘rank, office of N’), d¯om (‘authority/judgment of N’) und scipe (‘created/resultant state of N’) im Mittelenglischen (f¨ur -h¯ede und -shipe) bzw. wenig sp¨ater (f¨ur -d¯om) aufgrund ihres h¨aufigen Auftretens in N-N10

Die Position von Detges (2004), nach welcher die Derivationsmorpheme die metonymische Verschiebung innerhalb eines konzeptuellen Frames symbolisieren, wird hier allerdings nicht u¨ bernommen, da im Verlauf der folgenden Kapitel deutlich werden soll, dass sich Prozesse der Ereignisnominalisierung semantisch gesehen nicht auf metonymische Verschiebungen reduzieren lassen.

22 und Adj-N-Komposita zu Derivationsaffixen reduziert wurden, wobei sich aus der Gesamtheit der polysemen Lesarten des jeweiligen Substantivs/Suffixes eine abstrakte Bedeutung herauskristallisierte, welche Trips (2009: 224) f¨ur -hood mit [state], f¨ur -dom mit [process] und f¨ur -ship mit [achievement] angibt.11 Im Zuge dieser Untersuchung gelangt die Autorin ebenfalls zu der Schlussfolgerung, dass die diachrone Betrachtung derivationsmorphologischer Ph¨anomene eine kompositionelle Analyse nahelegt, welche die Bedeutung eines Derivats auf die bloße Interaktion von Basisbedeutung und Affixbedeutung zur¨uckf¨uhrt: The assumption that it is both the features of the base noun and the suffix that result in a specific meaning of a derivative is a natural one if we take into account the development of derivatives . . . (Trips 2009: 221f)12

Von den bereits angesprochenen Nominalisierungsverfahren des Englischen sind in diesem Zusammenhang insbesondere die -ee- und die -ant/ent-Suffigierung aufschlussreich, die sich beide aus der Substantivierung lateinischer Partizipien heraus entwickelten (s.o.). Die partizipiale Morphologie des Englischen hat sich zwar anders entwickelt als die lateinische, weshalb diese Formen im Englischen nicht als partizipiale Substantivierungen interpretiert werden. Ungeachtet dessen ist vor dem Hintergrund von Untersuchungen wie Trips (2009) allerdings davon auszugehen, dass die diachrone Entwicklung der Formen auch ihre synchrone Bedeutung beeinflusst hat. Aus dieser Perspektive liegt die Annahme nahe, dass die Suffixe mittels ihrer semantischen Eigenschaften a¨ hnlich der lateinischen partizipialen Morphologie auch im Neuenglischen einen Perspektivwechsel bewirken, welcher im Zuge der Nominalisierung in der attestierten Interpretation resultiert (vgl. erneut Abschnitt 2.1.5 bzw. Kapitel 5.2.2).13 In einem streng kompositionellen Ansatz muss eine formale Verkettungsoperation zudem lediglich zur Erkl¨arung der Tatsache hinzugezogen werden, dass die Denotation der Basis in diejenige des Derivats einfließt. Diese Operation kann einheitlich mittels einer hierarchischen Verkettung der referentiellen Argumente von Basis und Affix modelliert werden, was zu einer erheblichen Systematisierung der Analyse f¨uhrt. Aus diesen Gr¨unden soll f¨ur die hier anste11

12

13

¨ Die Ubersetzungen stammen aus Trips (2009: 165, 201, 222). Die Begr¨undung f¨ur die Reduktion zu Derivationsaffixen ist, dass die hoch-frequente Kookkurrenz der drei Substantive mit bestimmten Nomina und Adjektiven zu einer massiven Redundanz der die Substantive spezifizierenden Merkmale f¨uhrte, so dass diese Merkmale mit der Zeit aus der semantischen Repr¨asentation der Substantive getilgt wurden (vgl. ebd.: 231). Wobei in Trips (2009) allerdings Derivationsmorpheme im Vordergrund stehen, welche nachweislich aus freien Morphemen entstanden sind. Weitere Evidenzen f¨ur den engen Zusammenhang zwischen Synchronie und Diachronie im Bereich der affixalen Bedeutung werden in Kapitel 5 gegeben. Weitere Erl¨auterungen und Beispiele f¨ur den Zusammenhang zwischen Suffixbedeutung und Perspektivwechsel folgen in den Kapiteln 3 und 4.

23 hende empirische Untersuchung ein streng kompositioneller Ansatz zugrundegelegt werden, nach dem sich die Bedeutung von Derivaten durch die bloße hierarchische Komposition von Basis- und Affixbedeutung im oben beschriebenen Sinn ergibt. Inwieweit diese Konzeption eine generelle Alternative zur Ko-Indizierung bzw. Bindung von thematischen Argumenten darstellt, kann im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht gekl¨art werden. Der kurze Blick auf die Diachronie von engl. -ee und -ant/ent l¨asst allerdings vermuten, dass diese Herangehensweise auch auf weitere Suffixe u¨ bertragbar ist. Aufgrund der Systematizit¨at und des mutmaßlichen Erkenntnisgewinns des streng kompositionellen ¨ Ansatzes w¨urde es sich empfehlen, die Frage der Ubertragbarkeit durch die semantische Untersuchung weiterer Derivationsaffixe zu pr¨ufen.

2.1.4

Kombinierbarkeit und Produktivit¨atsrestriktionen

Ein entscheidener Vorteil des Ansatzes von Lieber (2004) ist, dass die semantische Ebene in den Fokus der Diskussion um die phonologischen, syntaktischen und morphologischen Produktivit¨atsrestriktionen gestellt wird. Die vorliegende Arbeit schließt sich zwar Lieber in der Einsch¨atzung an, dass die Existenz von formalen Restriktionen im Zuge der Fokussierung auf die semantischen Aspekte nicht per se in Frage gestellt werden sollte. Dennoch soll an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass die Missachtung von semantischen und pragmatischen Faktoren im Bereich der Wortbildungsrestriktionen in der derivationsmorphologischen Forschung zu der Aufstellung einer ganzen Reihe von syntaktischen und morphologischen Prinzipien gef¨uhrt hat, deren Existenz keineswegs unumstritten ist. So wird in einer Vielzahl derivationsmorphologischer Arbeiten beispielsweise die Unitary Base Hypothesis von Aronoff (1976: 48) u¨ bernommen, nach welcher Affixe hinsichtlich der syntaktischen Kategorie ihrer Basen spezifiziert sind.14 Zum Beispiel wird angenommen, dass engl. -en wie in soften (‘aufweichen, mildern’) auf die Ableitung von Adjektiven, engl. oder frz. -able wie in drinkable (‘trinkbar’) oder faisable (‘machbar’) auf die Derivation von transitiven Verben beschr¨ankt ist usw.. In Arbeiten wie Plag (2004) oder Trips (2009) wird dagegen darauf hingewiesen, dass Affixe in den seltensten F¨allen auf eine syntaktische Kategorie beschr¨ankt sind. Diese Arbeiten kommen vielmehr zu dem Schluss, dass sich die vermeintlichen Kategorienrestriktionen als Epiph¨anomene aus den seman14

Vgl. z.B. Anderson (1992), Bauer (2003), Castairs-McCarthy (1992), Schpak-Dolt (1992) u.a.. Die Bezeichnung “syntaktische Kategorie” wird hier, in Teilen Plag (2004) folgend, synonym zu den Bezeichnungen “Wortklasse”, “lexikalische Kategorie”, “part-of-speech” verwendet. Die Kategorien-Zugeh¨origkeit einer lexikalischen Einheit kann insofern als syntaktische Eigenschaft aufgefasst werden, als sie unter anderem u¨ ber deren Distribution im Satz bestimmt werden kann.

24 tischen Eigenschaften der Wortbildungselemente ergeben.15 Als Beispiel kann einmal mehr die englische Agens- bzw. Patiensnominalisierung auf -ee dienen, f¨ur welche laut Plag (2004) neben Verben und Nomen (employee s.o., giftee ‘Beschenkter’) auch Adjektive und phrasale Elemente als Basen dienen k¨onnen (redundantee ‘eingespartes Personal’, blind datee ‘Blind date-Teilnehmer’). Nach Plag (2004) zeigen diese Daten, dass eine semantische Erkl¨arung f¨ur die Basenselektion der syntaktischen vorzuziehen ist, da das Selektionsmuster von engl. -ee direkt auf die Bedeutung des Suffixes zur¨uckgef¨uhrt werden kann: Die Derivate bezeichnen Teilnehmer des von der Basis denotierten bzw. mit der Basis assoziierten Ereignisses. Da Ereignisse meist von Verben denotiert werden, sind die meisten -ee-Derivate deverbal. Ebensogut kann -ee jedoch an Nomen oder Elementen anderer Wortarten applizieren, sofern diese ein Ereignis bezeichnen (oder evozieren), dessen Konzeptualisierung einen von einem -eeDerivat denotierbaren Teilnehmer enth¨alt. Das geschilderte Ph¨anomen ist kein Einzelfall. Eine ganz a¨ hnliche Analyse schl¨agt Plag (2004) f¨ur die englischen -able-Derivate vor, welche ebenfalls neben verbalen auch nominale Basen ableiten (vgl. ebd.: 206–210). Auch auf die oben erw¨ahnte englische -en-Derivation und weitere F¨alle l¨asst sich dieser Erkl¨arungsansatz problemlos ausweiten. Diese und die weiteren von Plag (2004) angef¨uhrten Evidenzen illustrieren eindrucksvoll den Nutzen der Fokussierung auf semantische Aspekte in derivationsmorphologischen Untersuchungen. Der Status von syntaktischen Restriktionen in der Derivationsmorphologie ist vor diesem Hintergrund a¨ ußerst zweifelhaft. ¨ Ahnliche Kritik l¨asst sich in Bezug auf verschiedene in der fr¨uhen generativen Literatur postulierte rein morphologische Produktivit¨atsbedingungen anbringen. Ein Beispiel f¨ur eine rein morphologische Erkl¨arung spezifischer Ableitungsbzw. Produktivit¨atsmuster liefert Bierwisch (1989), der die im Zusammenhang mit deutschen Nominalisierungsverfahren attestierten Ableitungs- bzw. Produktivit¨atsmuster auf ein komplexes System morphologisch ausspezifizierter Basisverben und Affixe zur¨uckf¨uhrt. Bierwisch (1989) geht davon aus, dass die menschliche Sprachf¨ahigkeit neben dem Mentalen Lexikon als Speicherort f¨ur lexikalische Einheiten ein Lexikalisches System impliziert, in welchem unter anderem die “morphologischen Idiosynkrasien” der derivationsmorphologischen Einheiten ausspezifiziert sind.16 Ein Beispiel f¨ur lexikalische Idiosynkrasien ist die Existenz sogenannter “lexikalischer L¨ucken”, d.h. die Nicht-Existenz von formal bildbaren Derivaten wie dt. *H¨orung oder *H¨upfung (ebd.: 25). Generell geht Bierwisch (1989) davon aus, dass die verschiedenen deutschen Nominalisierungssuffixe bedeutungsgleich sind und dass die attestierten Verb-SuffixKombinationen durch rein morphologische Spezifizierungen im lexikalischen 15 16

Eine derartige Interpretation der Daten zieht auch Rainer (2005a: 347f) in Erw¨agung. In der vorliegenden Arbeit wird das Konzept des Mentalen Lexikons grunds¨atzlich u¨ bernommen, wobei die Frage, ob zus¨atzlich eine Wortbildungskomponente anzunehmen ist, offen gelassen werden soll.

25 Eintrag der Basisverben determiniert sind. Die Nicht-Existenz der obigen Derivate wird in diesem Modell durch die Annahme erkl¨art, dass die entsprechenden Verben eine morphologische Spezifikation in ihrer lexikalischen Repr¨asentation aufweisen, laut derer sie nicht durch das “unmarkierte Suffix” -ung derivierbar sind. Die Vorstellung ist dabei, dass die bedeutungsgleichen Suffixe in Paradigmen organisiert sind, worin sie aufgrund ihrer rein morphologischen Spezifikation einen festen Platz einnehmen. Der unmarkierte Fall ist, wie angedeutet, die Derivation mittels -ung. Alle verbalen lexikalischen Eintr¨age, die von diesem Derivationsmuster abweichen, enthalten als morphologische Spezifikation die Affix-“Adresse” mit Paradigma sowie innerparadigmatischer Position des entsprechenden Nominalisierungsaffixes.17 F¨ur eine detaillierte Auseinandersetzung mit den Hypothesen von Bierwisch (1989) w¨are im Grunde eine semantische Untersuchung der angesprochenen Suffixe n¨otig, die in der vorliegenden Arbeit nicht geboten werden kann. Allerdings k¨onnen rein morphologische Erkl¨arungen der obigen Art auch generell im Hinblick auf ihre deskriptive oder explanatorische Ad¨aquatheit diskutiert werden. So ist zum Beispiel in Bezug auf die Plausibilit¨at von Bierwischs Konzeption anzumerken, dass die vom Autor angenommene massive Bedeutungsbzw. Funktionsgleichheit der Suffixe in deutlichem Widerspruch zur allgemeinen Funktionsgerichtetheit der menschlichen Sprache steht. Dabei ist zu beachten, dass sich laut Bierwisch die einzige Unterscheidung, die durch die Suffixe signalisiert wird, auf das sprachliche System selbst bezieht. Ein solches Paradigma stellt im Vergleich zum einzelnen Suffix eine massive Komplikation des sprachlichen Systems dar, welche ohne weitere Begr¨undung erst einmal unplausibel ist. In Bezug auf den explanatorischen Gehalt des rein morphologischen Ansatzes ist anzumerken, dass die oben beschriebenen morphologischen Prinzipien allein dazu dienen, die Kombinationsm¨oglichkeiten der Wortbildungselemente so einzuschr¨anken, dass sie zu den vorgefundenen Sprachdaten passen. Derartige Ans¨atze beschreiben also h¨ochstens die Distribution der Suffixe in den untersuchten Sprachdaten. Es k¨onnen nur sehr vage Vorhersagen u¨ ber das Verhalten der Suffixe bzw. Derivate in neuen Bildungen bzw. bisher nicht untersuchten Kontexten gemacht werden. Ein zus¨atzliches Problem ist, dass die Darstellungsweise bereits jegliche weiterf¨uhrende Suche nach einer unabh¨angigen Begr¨undung f¨ur die attestierten Muster auschließt: Die R¨uckf¨uhrung der 17

Die Suffixe Ge- wie in Gesinge und -erei wie in Singerei stellen insofern Ausnahmen dar, als sie Bierwischs Darstellung zufolge die einzigen Nominalisierungssuffixe sind, deren Kombinierbarkeit u¨ ber eine semantische Restriktion (mit-)determiniert ist. Da die semantische Repr¨asentation von Ge- und -erei impliziert, dass das vom Basisverb denotierte Ereignis wiederholt stattfindet, m¨ussen die Basisverben n¨amlich zwangsl¨aufig wiederholbare Aktivit¨aten denotieren. Es wird also deutlich, dass der Autor die Kombinierbarkeit von Nominalisierungsaffixen und Basisverben zwar vor allem durch rein morphologische Spezifizierungen determiniert sieht, dass er aber in bestimmten F¨allen auch semantische Gr¨unde in Erw¨agung zieht.

26 entsprechenden Ph¨anomene auf rein morphologische Kriterien impliziert bereits die Hypothese, dass sie nicht durch semantische oder phonologische Faktoren determiniert sind. In einem solchen Ansatz ist ein Erkenntnisgewinn in Bezug auf die semantischen Eigenschaften der Suffixe von vornherein ausgeschlossen. Nach dem hier vertretenen Ansatz sollte dagegen eine R¨uckf¨uhrung bestimmter Ableitungsmuster oder -l¨ucken auf rein morphologische Restriktionen generell immer mit dem Nachweis verbunden sein, dass unabh¨angige Faktoren ausgeschlossen werden k¨onnen. Auch f¨ur die von Bierwisch (1989) untersuchten Ph¨anomene sollte somit gepr¨uft werden, ob sie nicht auf semantische bzw. nicht-morphologische Einflussfaktoren zur¨uckgef¨uhrt werden k¨onnten. Die vorliegende Arbeit, in welcher a¨ hnlich wie in Lieber (2004), Plag (2004) oder Trips (2009) die Besonderheiten der zu untersuchenden Affixe vornehmlich auf deren abstrakte Bedeutung zur¨uckgef¨uhrt werden, bringt weitere Evidenzen f¨ur die Vorteile einer semantisch ausgerichteten Herangehensweise im Bereich der Derivationsmorphologie. Wie bereits angedeutet soll mit dieser einseitigen Fokussierung keinesfalls die Existenz von formalen Produktivit¨atsrestriktionen geleugnet werden. So gibt es eine Vielzahl von Evidenzen f¨ur das Einwirken phonologischer Restriktio¨ nen auf die Kombinierbarkeit von Wortbildungselementen (vgl. f¨ur einen Uberblick z.B. Rainer 2005a: 344f). Ein bekanntes Beispiel f¨ur phonologische Restringiertheit ist das englische -en, das ausschießlich einsilbige Basen selegiert, welche zudem auf einem Obstruenten enden m¨ussen (blacken vs. *finen, Plag 2008: 551). Weitestgehend unkontrovers ist zudem, dass spezifische BasenAffix-Kombinationen durch haplologische und andere mit der Wortverarbeitung in Verbindung zu bringende Faktoren ausgeschlossen oder zumindest stark restringiert werden k¨onnen.18 Auch die Existenz von rein morphologischen Restriktionen ist nicht prinzipiell auszuschließen. In vielen derivationsmorphologischen Studien wird beispielsweise das morphologische Merkmal [± nativ] bzw. [± latinate] hinzugezogen, um das Ph¨anomen zu beschreiben, dass sich aus dem Latein entlehnte St¨amme tendenziell eher mit entlehnten Suffixen verbinden (vgl. z.B. Aronoff 1976: 51f). Eine rein morphologische Kategorisierung von Wortbildungselementen in entlehnte und nicht-entlehnte Einheiten ist erstens insofern nicht unplausibel, als sich das Merkmal der Nicht-Nativit¨at auch in anderen Effekten wie in einer Register- und/oder stilistischen Beschr¨anktheit (vgl. Schpak-Dolt 1992: 56f) oder in besonderen lautlichen Merkmalen (Booij 2007b: 66) oder Allomorphien (Schpak-Dolt 1992: 72) niederschl¨agt. Dar¨uber hinaus ist eine naheliegende Vorstellung, dass die Sprecher des Englischen bzw. Franz¨osischen im

18

Vgl. hierzu z.B. Hay (2002), Hay & Plag (2004) u.a. sowie die interessante Diskussion zu haplologischen Effekten in der franz¨osischen Wortbildung in Corbin & Pl´enat (1994), Rainer (2008) und den dortigen Referenzen.

27 Zuge der massiven Konfrontation mit dem nicht-nativen Vokabular unbewusst eine entsprechende Kategorisierung vorgenommen haben. Ungeachtet der Stichhaltigkeit dieser formalen Restriktionen zeigt der große Anteil an formbezogenen derivationsmorphologischen Arbeiten allerdings, dass die semantischen Bedingungsfaktoren in der bisherigen Forschung zu wenig Beachtung finden. Auf die Notwendigkeit der verst¨arkten Untersuchung semantischer Aspekte in der Derivationsmorphologie weist neben den oben genannten Arbeiten auch Plag (1999) hin: [T]he role of semantic compatibility of suffixes certainly deserves further attention since it seems that in this domain a number of interesting restrictions can be located. (Plag 1999: 64)

Vor diesem Hintergrund ist eines der Ziele der in den Kapiteln 3 bis 5 vorzustellenden Untersuchung, den Ertrag einer detaillierten semantischen Analyse derivationsmorphologischer Einheiten aufzuzeigen.

2.1.5

Semantisch-pragmatische Angemessenheit

Wie in Abschnitt 2.1.1 beschrieben f¨uhrt Lieber (2004) drei Arten semantischer und pragmatischer Beschr¨ankung von Wortbildungsprozessen an, i.e. erstens die verletzbaren Ko-Indizierungsrestriktionen, zweitens Beschr¨ankungen im Zusammenhang mit der Kombinatorik bestimmter semantischer Primitiva und drittens die pragmatische Redundanzrestriktion. Im Folgenden soll argumentiert werden, dass diese drei Beschr¨ankungen in einem rein kompositionellen Ansatz (vgl. Abschnitt 2.1.3) und unter dem Primat der Bedeutung in der Derivationsmorphologie (Abschnitt 2.1.2) alle auf die pragmatische (i.S.v. funktionelle) Bedingung zur¨uckgef¨uhrt werden k¨onnen, dass die Kombination von Wortbildungseinheiten der angemessenen Versprachlichung von bis zum Zeitpunkt der Wortbildung nicht versprachlichten Inhalten dienen muss. Da diese Anforderung genau genommen auch von der Bedeutung der Wortbildungselemente abh¨angt, wird sie in der vorliegenden Arbeit als semantisch-pragmatische Bedingung, genauer als semantisch-pragmatische Angemessenheitsbedingung definiert. (10)

Semantisch-pragmatische Angemessenheitsbedingung Die Kombination von Derivationsmorphemen muss zu einer angemessenen Versprachlichung der intendierten Inhalte f¨uhren.

Das Konzept der Ko-Indizierung wurde weiter oben bereits aus unabh¨angigen Gr¨unden in Frage gestellt. Der Umstand, dass dieses Prinzip von Lieber (2004) im Hinblick auf die Interpretation von Derivaten wie standee als ein verletzbares Prinzip konzeptionalisiert wird, kommt einer Einbeziehung pragmatischer Faktoren zwar gleich, denn die Motivation f¨ur eine Verletzung des Prinzips ist

28 das (pragmatische) Bed¨urfnis der Sprecher, das entsprechende Konzept zu versprachlichen. So weist Lieber (2004: 64) in diesem Zusammenhang darauf hin, dass standee beispielsweise oft im Kontext von “bus travelers whose standing is under their control, but who have no choice in a crowded bus but to stand” (ebd.) verwendet wird, und betont wenig sp¨ater die pragmatische Determiniertheit der Ko-Indizierungsverletzung: We might speculate that words like standee and escapee are coined only when the argumental mismatch seems to allow for a nuance of interpretation that is useful or in some way contextually or pragmatically forced. That is, violation of the Principle of Co-indexation is possible, but it is not a preferred word-formation strategy and it happens only when it is dictated by pragmatic concerns.

Das Konzept des verletzbaren Ko-Indizierungsprinzips ist allerdings in zweierlei Hinsicht problematisch. Erstens ist generell der Status des verletzbaren Prinzips zwischen Gesetzm¨aßigkeit und Richtlinie fraglich. Zweitens ist unklar, worin der prinzipielle Unterschied zwischen einer Derivation ohne Prinzipienverletzung (z.B. employee) und einer Derivation mit Prinzipienverletzung (z.B. standee) besteht. Lieber selbst betont, dass die Besonderheit in der Interpretation von standee aus dem Zusammentreffen der gegens¨atzlichen Bedeutungsmerkmale von Basis- und Affixargumenten resultiert, dass also die Bedeutung beider Derivate einheitlich auf die Kombination der Bedeutung des Suffixes mit derjenigen der jeweiligen Basis zur¨uckgef¨uhrt werden kann. Vor dem Hintergrund dieser Einheitlichkeit ist fragw¨urdig, weshalb letztere Ableitung auf einer Prinzipienverletzung beruhen sollte, w¨ahrend erstere als prinzipientreue Operation anzusehen ist. Aus diesem Grund wird in der vorliegenden Arbeit auch f¨ur Derivate wie standee eine streng kompositionelle Analyse vorgezogen, nach welcher sich die spezifische Bedeutung dieser Derivate wie diejenige aller anderen, “normalen” -ee-Derivate aus der bloßen Kombination der Basisbedeutung mit der abstrakten Bedeutung des Suffixes herleitet. Die Marginalit¨at von Derivaten wie standee kann dabei mit Lieber (2004) auf den bloßen Umstand zur¨uckgef¨uhrt werden, dass die mit diesen Wortbildungen bezeichneten Konzepte naturgem¨aß selten der Gegenstand sprachlicher Interaktion sind. Es handelt sich demnach um ein pragmatisches Ph¨anomen, das mit der unter (10) definierten semantischpragmatischen Angemessenheitsbedingung bereits vollst¨andig erfasst ist. Interessanterweise l¨asst sich diese Analyse auch auf Derivate wie rekill u¨ bertragen, welche nach Lieber (2004) aufgrund der Inkompatibilit¨at der semantischen Primitiva von Affix und Basis ausgeschlossen sind. Die von Lieber (2004: 147) aufgestellte Generalisierung, dass re- sich nicht mit Verben verbinden l¨asst, welche einen permanenten oder nicht-reversiblen Vorgang implizieren, ist zwar unzweifelhaft. Jedoch kann auch diese Generalisierung direkt auf die in (10) definierte Angemessenheitsbedingung zur¨uckgef¨uhrt werden, denn der Grund f¨ur diese Beschr¨ankung liegt darin, dass die Umkehrung irreversibler Resultatszust¨ande außerhalb der menschlichen Vorstellungskraft liegt und

29 somit kein Konzept existiert, das mit einer derartigen Bedeutungskombination versprachlicht werden k¨onnte. Die konsequente Einbeziehung der pragmatischen Ebene hat zudem den Vorteil, die Untersuchung derivationsmorphologischer Ph¨anomene insofern zu pr¨azisieren, als die zahlreichen marginal attestierten Derivate nicht mehr als ungrammatisch oder abweichend ausgeschlossen werden m¨ussen, sondern unter besonderer Ber¨ucksichtigung ihrer Marginalit¨at in die Analyse des entsprechenden Derivationsverfahrens miteinbezogen werden k¨onnen. So ist ein Derivat wie rekill beispielsweise nicht wirklich unableitbar. Sofern der mit kill assoziierte Resultatszustand als nicht permanent konzeptualisiert wird, wie es z.B. in Computer- und Rollenspielen oder im Kontext von wiederbelebbaren Zombies der Fall ist, handelt es sich um ein v¨ollig u¨ bliches und standardisiertes Ableitungsmustert (vgl. 11). (11)

a. Kearny, New Jersey, outside Newark: One zombie rekilled during the ‘New Jersey zombie Incident’. Investigators now believe a local man was keeping a separate reanimate in a secluded lock-up garage, . . . . (http://www.zombieworldnews.com/archives/americas/coverup.htm 30.03.2009) b. I don’t complain about the ads . . . but can u move the AD that appears in the middle of the screen, it’s annoying, can’t see much with that ad . . . and the one that appears after u die ... all the image is black and that big ad is blocking almost the whole screen. I’ve been rekilled several times because of that one. (http://phpbb.acclaim.com/9dragons/mod/viewtopic.php?p=137589 30.03.2009)

Nach dem hier vertretenen Ansatz haben diese Derivate im Hinblick auf die Gebrauchsfrequenz einen a¨ hnlichen Status wie z.B. standee. Das heißt, sie sind marginal, weil das zu versprachlichende Konzept in der sprachlichen Interaktion selten ben¨otigt wird.19 In der vorliegenden Arbeit wird es als ein genereller Vorteil der Einbeziehung pragmatischer Faktoren verstanden, dass verschiedenste vermeintlich ungrammatische Ableitungsmuster mitsamt den zahlreichen graduellen Unterschieden in Bezug auf Gebrauchsfrequenz und Akzeptabilit¨atsgrad in die Untersuchung integriert werden k¨onnen. Dass die universelle Abh¨angigkeit semantischer Restriktionen von Faktoren des Sprachgebrauchs von Lieber (2004) nicht in dem Maße nachvollzogen wird, ist daran zu erkennen, dass die Autorin kategorisch zwischen semantischen und pragmatischen Restriktionen unterscheidet. So ist *rekill nach Lieber 19

Aus außersprachlichen Gr¨unden, d.h. im Hinblick auf die gesellschaftliche Pr¨asenz von Computer- und Rollenspielen, ist allerdings wahrscheinlich, dass die Gebrauchsfrequenz von rekill gegen¨uber derjenigen von standee leicht erh¨oht ist.

30 (2004) beispielsweise aus semantischen Gr¨unden ausgeschlossen, w¨ahrend die Ungrammatikalit¨at von *concentrationage auf der pragmatischen Redundanzrestriktion beruht (s.o.). Eine genauere Betrachtung macht jedoch deutlich, dass die weitestgehende Nicht-Existenz der Derivate in beiden F¨allen auf ein und dieselbe Interaktion zwischen semantischer und pragmatischer Ebene zur¨uckzuf¨uhren ist: In beiden F¨allen w¨urde die Kombination der entsprechenden Bedeutungsbestandteile zu einem Ergebnis f¨uhren, das keinen kommunikativen Zweck erf¨ullt. Somit wird erstens deutlich, dass semantische und pragmatische Restringiertheit nicht voneinander zu trennen sind. Die entsprechende Restringiertheit h¨angt generell sowohl von der Bedeutung der einzelnen Wortbildungsbestandteile als auch von pragmatischer Angemessenheit ab. Zweitens zeigt sich, dass sowohl der semantische als auch der pragmatische Einfluss auf die Kombinierbarkeit von Wortbildungselementen durch die semantisch-pragmatische Angemessenheitsbedingung bereits vollst¨andig erfasst ist, nach welcher die Kombination von Bedeutungsbestandteilen nur dann erfolgt, wenn das Ergebnis zu einer angemessenen Versprachlichung bisher nicht versprachlichter Inhalte f¨uhrt. Der Zusammenhang zwischen der semantisch-pragmatischen Angemessenheitsbedingung und der Nicht-Existenz oder Marginalit¨at bestimmter Ableitungen oder Ableitungsmuster wird in der vorliegenden Arbeit insbesondere bei der in Kapitel 4 vorgestellten empirischen Untersuchung von -ment- und -ageNominalisierungen in konkreten Kontexten von Relevanz sein.

2.2

Abstrakte Bedeutung und attestierte Derivate

Die vorliegende Arbeit untersucht die abstrakte Bedeutung von frz. -ment und -age vor dem Hintergrund der Tatsache, dass mit diesen Einheiten im Neufranz¨osischen systematisch neue Ereignisnominalisierungen gebildet werden k¨onnen. Die abstrakte Bedeutung der Suffixe wird damit als ein Teil der kreativen derivationsmorphologischen Kompetenz der franz¨osischen Sprecher ausgewiesen. Dabei ist zu beachten, dass die Sprecher diese Kompetenz nur mittelbar, d.h. durch die Verarbeitung der entsprechenden Derivate in ihrer konkreten Verwendung, ausgebildet haben k¨onnen. Zudem wird sich die in Kapitel 4 vorzustellende empirische Analyse der -ment- und -age-Suffigierung, wie bereits angek¨undigt, haupts¨achlich auf die entsprechend gebildeten lexikalischen Einheiten in ihrer konkreten Verwendung st¨utzen. Vor der in den Kapiteln 3 bis 5 gebotenen Analyse ist es daher erforderlich, die dieser Untersuchung zugrundeliegenden Vorstellungen u¨ ber das Zustandekommen der abstrakten Bedeutung von Derivationsmorphemen bzw. u¨ ber das Verh¨altnis zwischen der abstrakten

31 Suffixbedeutung und der Interpretation bzw. Verwendung der konkreten Derivate explizit zu machen.20 Genauer gesagt geht es um die folgenden zwei Fragen: (12)

a. Wie ist es dem Sprecher m¨oglich, aus dem Input an konkret verwendeten Derivaten eine kreative Kompetenz in Bezug auf die entsprechenden Derivationsaffixe auszubilden? b. Wie kann die abstrakte Bedeutung von Derivationsaffixen durch die Untersuchung der entsprechenden Derivate in ihrer konkreten Verwendung empirisch ermittelt werden?

Die Vorstellungen u¨ ber die Repr¨asentation der konkreten Derivate sowie ihr Zusammenhang mit den Wortbildungsprozessen sind also ganz entscheidend f¨ur die abstrakt-semantische Untersuchung von Nominalisierungssuffixen. Um die in der vorliegenden Arbeit zugrundeliegende Sicht auf diesen Zusammenhang zu verdeutlichen, werden im Folgenden zwei morphologische Modelle im Hinblick auf ihre Vorstellungen u¨ ber den Status von derivationsmorphologischen Regularit¨aten im Lexikon kontrastiert. Zun¨achst wird die generative Konzeption vorgestellt, welche derivationsmorphologische Regularit¨aten generell mit Hilfe von Wortbildungsregeln modelliert, deren Einf¨uhrung auf die hier zur Illustration herangezogene Arbeit von Aronoff (1976) zur¨uckgeht (Abschnitt 2.2.1). Daraufhin wird die sogenannte emergentistische Sichtweise beschrieben, welche auf der Annahme beruht, dass sich derivationsmorphologische Regularit¨aten als Epiph¨anomene aus der Anordnung von phonologischen, orthographischen und semantischen Merkmalen gespeicherter lexikalischer Einheiten im Mentalen Lexikon ergeben (Abschnitt 2.2.2). Die kontrastive Herangehensweise wurde trotz der Tatsache gew¨ahlt, dass Aronoff (1976) in erster Linie die Untersuchung von formalen Regularit¨aten zum Gegenstand hat und die vorliegende Arbeit sich dementsprechend vor¨ubergehend mit nicht-semantischen Aspekten der Wortbildung besch¨aftigen muss. Der Grund f¨ur diese Entscheidung ist, dass die Kontrastierung der emergentistischen mit der generativen Sichtweise in idealer Weise die Wichtigkeit herausstellt, die der Relation zwischen attestierten Regularit¨aten und Wortbildungskompetenz bei der Untersuchung von Derivationsmorphemen generell zukommt. In der darauffolgenden Diskussion wird argumentiert, dass das Modell von Aronoff (1976) dieser Relation nicht gen¨ugend Bedeutung beimisst, weshalb sich die vorliegende Arbeit im Hinblick auf die Relation zwischen derivationsmorphologischer Kompetenz bzw. abstrakter Suffixbedeutung und konkreten Derivaten zun¨achst an den Emergenz-Modellen orientiert (Abschnitt 2.2.3). Daraufhin wird allerdings argumentiert, dass die streng emergentistische Herangehensweise, wie sie beispielsweise von Bybee (2007a) u.a. vertreten wird, insofern problematisch ist, als sie jegliche Trennung zwischen den 20

Die Bezeichnung “konkret” bezieht sich hier nicht auf die Denotation der Derivate, sondern darauf, dass die abstrakte Suffixbedeutung im Zuge der Derivation in einen konkret(er)en Kontext eingebettet wird. Die Unterscheidung zwischen Interpretation und Verwendung kann im Rahmen der vorliegenden Arbeit vernachl¨assigt werden.

32 attestierten konkreten Derivaten und der abstrakten Wortbildungskompetenz der Sprecher von vornherein ausschließt. In der vorliegenden Arbeit soll dagegen ein moderat-emergentistisches Modell vorgeschlagen werden, in welchem die enge Relation zwischen konkretem In- und Output und abstrakter Regularit¨at bzw. Bedeutung, also letztendlich zwischen Performanz und Kompetenz, zwar im Vordergrund der Untersuchung steht, in welchem abstrakt-sprachlichen Regularit¨aten andererseits aber auch eine gewisse Eigenst¨andigkeit gegen¨uber dem unmittelbar rezipierten Input zugestanden wird (Abschnitt 2.2.4). Im Anschluss daran werden die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen der moderatemergentistischen und der dual stratifizierten Sicht auf lexikalische Einheiten herausgestellt, wobei deutlich wird, dass das moderat-emergentistische Modell im Hinblick auf die Derivationsmorphologie als eine besondere Auspr¨agung dual stratifizierter Ans¨atze aufgefasst werden kann (Abschnitt 2.2.5).

2.2.1 Die Generative Perspektive Aronoff (1976) definiert das Hauptziel des morphologischen Unternehmens als die Bestimmung der derivationsmorphologischen Kompetenz der Sprecher: The speaker always has the capacity to make up new words, . . . . It thus remains the task of a morphology to tell us what sort of new words a speaker can form. (Aronoff 1976: 19)

Dar¨uber hinaus betont Aronoff, dass die bereits in der Sprache existierenden Derivate im Lexikon gespeichert werden k¨onnen und in diesem Fall dazu neigen, Item-spezifische Idiosynkrasien aufzuweisen. Nichtsdestotrotz zeigen auch die im Lexikon gespeicherten Einheiten gewisse Regularit¨aten, die laut Aronoff (1976) ebenfalls Gegenstand einer derivationsmorphologischen Theorie zu sein haben (vgl. ebd.: 19). In dem generativen Modell von Aronoff (1976) wird die derivationsmorphologische Kompetenz der Sprecher mit Hilfe von Wortbildungsregeln (‘Word Formation Rules’, im Folgenden WFRs) modelliert, welche sowohl die M¨oglichkeit der Neologismenbildung als auch die Analysierbarkeit gespeicherter Derivate gew¨ahrleisten. Die in der Wortbildungskomponente und im Lexion operierenden WFRs sind “verschieden und doch gleich”, wie Aronoff (1976: 31) es ausdr¨uckt. Sie sind insofern gleich, als es im Lexikon nur solche Regeln zur morphologischen Analyse komplexer Einheiten gibt, die auch zur Bildung neuer Derivate hinzugezogen werden. Nach Aronoff (1976) ist die morphologische Analyse gespeicherter Einheiten also “as a backward sort of word formation” anzusehen (ebd.: 34). Die Regeln sind insofern verschieden, als die Anwendung der analytischen WFRs, im Gegensatz zu derjenigen der generativen WFRs, nicht zwangsl¨aufig zu einer vollst¨andigen Analyse bzw. Dekomposition der Derivate f¨uhren muss. Es ist genauso m¨oglich, und aufgrund der eigenst¨andigen diachronen Entwicklung vieler gespeicherter Derivate auch

33 durchaus u¨ blich, dass die gespeicherten Einheiten nur zum Teil in ihre Bestandteile zerlegt werden k¨onnen. Auf diesem Unterschied beruht beispielsweise der unterschiedliche Charakter der von Aronoff ad hoc derivierten Neubildung communalization und der etablierten Form cranberry: Die erste ist durch generative WFRs abgeleitet und somit vollst¨andig motiviert, d.h. morpho-semantisch transparent. Die zweite ist eine etablierte Form, die im synchronen Englisch nicht mehr vollst¨andig auf ihre Bestandteile zur¨uckgef¨uhrt werden kann. Die analytischen WFRs gew¨ahrleisten in diesem Fall eine partielle Dekomposition: nur das Morphem berry kann von den Sprechern identifiziert werden. Die analytischen WFRs zeigen also die partiellen Regularit¨aten im Lexikon an. Aronoff (1976) bezeichnet sie daher mit Verweis auf Jackendoff (1975) als Redundanz-Regeln. Im Unterschied zu den von Jackendoff (1975) angenommenen Redundanz-Regeln sind Aronoffs analytische WFRs aber durch die Pr¨amisse restringiert, dass im Lexikon nur Regeln zur Anwendung kommen, die auch Bestandteil der generativen Wortbildungskomponente sind: [T]he only sorts of facts which can count as redundancies or generalizations in the analysis of existing words are those which enter into the formation of new ones. (Aronoff 1976: 31)

Neben diesen beiden Regelarten beinhaltet das Modell sogenannte Anpassungsregeln (‘Readjustment Rules’, im Folgenden RARs), die laut Aronoff ebenfalls Teil der generativen derivationsmorphologischen Kompetenz der Sprecher sind. Die RARs haben die Funktion, den Output aus den generativen WFRs an bestimmte sprachspezifische morphologische Gesetzm¨aßigkeiten anzupassen. Ein eindrucksvolles Beispiel f¨ur das Wirken der RARs sieht Aronoff in den verschiedenen Ausformungen gegeben, die Ereignisnominalisierungen auf -ion im Englischen aufweisen. Es gibt in diesem Bereich eine ganze Reihe von Subregularit¨aten. Beispiel (13) vermittelt einen Eindruck von der Komplexit¨at der Alternationen: (13)

subsume prescribe permit destroy deceive convert apprehend decide satisfy

→ → → → → → → → →

subsumption prescription permission destruction deception conversion apprehension decision satisfaction

Nach Aronoff sind die in (13) illustrierten Alternationen auf die Einwirkung verschiedener Allomorphie-Regeln zur¨uckzuf¨uhren. Zum einen postuliert der Autor eine Reihe von Regeln, die f¨ur die Ausspezifizierung der St¨amme im Kontext von -ion verantwortlich sind, beispielsweise d → s/n f¨ur F¨alle wie apprehend/apprehension, d → z f¨ur Alternationen des Typs decide/decision, sch →

34 t f¨ur Umformungen der Art abolish/abolition etc..21 Ableitungen wie exhume → exhumation oder prohibit → prohibition zeigen, dass die Alternationen nicht phonologisch konditioniert sind. Zum anderen gibt es verschiedene auf spezifische St¨amme bezogene Allomorphie-Regeln wie -stroy → -struct, -mit → -miss, -ceive → -cept, -vert → -vers (bzw. -verd) etc.. Eine weitere Allomorphie-Regel ist schließlich f¨ur die Alternation des Suffixes zwischen -ation, -ion und -tion verantwortlich (vgl. Aronoff 1976: 104).22 Mit Verweis auf die Liste der allomorphen Bildungen unter (14) argumentiert Aronoff (1976: 103), dass nicht etwa nur das h¨aufige -ation, sondern auch alle zugeh¨origen Allomorphe ‘produktiv angeh¨angt’ werden k¨onnen, da es sich nach Aronoff um morphologische Varianten ein und desselben Suffixes handelt, welche ebenso Teil der derivationsmorphologischen Kompetenz der Sprecher sind, wie die regul¨aren Bildungen, die ohne die Einwirkung der oben beschriebenen Allomorphieregeln zustande kommen: One supposition which [(14)] dispels is that only the nonrestricted form of the affix, +Ation, can be productively attached. Such a supposition is actually counter to the entire theory of WFRs that we have proposed. If the variants of ion are indeed merely morphologically determined variants of one suffix, which they are, and if productivity is determined solely by the base of a WFR and not by the variants of the suffix, which are really not available for reference at the point of application of a WFR, then this supposition (that only the unrestricted variant can be productive) (...) must be false. It is, as we see below: (14)

21

22

receive deceive conceive perceive apperceive

reception deception conception perception apperception

deduce reduce seduce induce conduce produce introduce reproduce

deduction reduction seduction induction conduction production introduction reproduction

Die obigen Regeln sind direkt aus Aronoff (1976) reproduziert. Insbesondere anhand der Regeln d → z f¨ur Alternationen wie decide/decision und sch → t f¨ur den Typ abolish/abolition wird deutlich, dass der Autor hier verschiedentlich phonemische und graphemische Notationen bzw. Umformungsregeln vermischt. Da die genaue Formulierung der hier vorgestellten Allomorphie-Regeln f¨ur die folgende Diskussion irrelevant ist, soll die Aronoffsche Notation an dieser Stelle nicht weiter diskutiert werden. Aronoff (1976) zeichnet die verschiedenen Alternationen im Rahmen der englischen -ion-Nominalisierung um Einiges genauer nach, als es hier wiedergegeben wird. Neben den Alternationen im -ion-Bereich f¨uhrt der Autor zudem noch die K¨urzung von -ate-Verben (educate → education) sowie vereinzelte Allomorphien im Bereich der -al- sowie der -ous-Adjektivierung als Beispiele f¨ur das Wirken von RARs an. F¨ur die hier verfolgten Zwecke (d.h. die Diskussion in den Abschnitten 2.2.3 und 2.2.4) ist die obige Skizzierung allerdings ausreichend.

35 Die derivationsmorphologische Kompetenz der englischen Sprecher setzt sich also laut Aronoff (1976) aus den generativen WFRs und den die Form modifizierenden RARs zusammen. Diese Regeln sind auch f¨ur die Regularit¨aten verantwortlich, welche gespeicherte Derivate im Lexikon aufweisen. Aufgrund der Tatsache, dass die morpho-semantische Transparenz gespeicherter Derivate oft durch deren diachrone Entwicklung eingeschr¨ankt ist, sind die analytischen Redundanz-Regeln laut Aronoff (1976) zwar als “degenerierte Versionen” (ebd.: 34) der generativen Wortbildungsregeln anzusehen. Es soll an dieser Stelle aber nochmals betont werden, dass die zur Analyse bereits bestehender Derivate verwendeten Redundanzregeln nach dem generativen Modell per Definition immer auch zur Bildung neuer Derivate herangezogen werden k¨onnen, da “the only sorts of facts which can count as redundancies or generalizations in the analysis of existing words are those which enter into the formation of new ones” (s.o.).

2.2.2 Die Emergentistische Perspektive Im Rahmen sogenannter Emergenz-Modelle wird eine Sichtweise auf morphologische Regularit¨aten vertreten, die sich im Hinblick auf regelhafte Wortbildungsmuster grundlegend von dem Aronoffschen Modell unterscheidet. Emergentistische Modelle haben die Annahme gemeinsam, dass sich sprachliche Regularit¨aten aus der Verarbeitung und/oder Speicherung konkreter sprachlicher Instanzen, d.h. ‘Exemplare’, ergeben (zu den spezifisch ‘Exemplar basierten’ Modellen s.u.). Die Emergenz-Idee ist damit als ein im weitesten Sinne psycholinguistisches Konzept zu verstehen. In diesem Forschungsparadigma geht man davon aus, dass Wort- bzw. Strukturbildungsregeln als Epiph¨anomene von Gleichf¨ormigkeiten der gespeicherten lexikalischen Einheiten zu verstehen sind, wobei je nach Theorie und Modell auf unterschiedliche Aspekte der Gleichf¨ormigkeit fokussiert wird.23 Eine in der Flexionsmorphologie weit verbreitete Auspr¨agung der Emergenz-Idee ist die Auffassung, dass sich morphologische Struktur letztlich aus der Anordnung der voll flektierten Formen im zugeh¨origen Flexionsparadigma ergibt (vgl. z.B. Blevins 2003b, Baayen 2003, Hay & Baayen 2005 und die dortigen Referenzen), wobei die Sprecher einer Sprache neue komplexe Formen in gr¨oßtm¨oglicher Analogie zu dem von ihnen vorgefundenen morphologischen System bilden. Damit stehen die entsprechenden Autoren den analogiebasierten Exemplar Models nahe, die davon ausgehen, dass die Sprecher neue sprachliche Instanzen wie z.B. neue Wortbildungen auf der Basis eines differenzierten analogischen Algorithmus in das bestehende System integrieren, indem ¨ in den vorhandenen Daten nach Ahnlichkeiten mit der neuen Instanz gesucht 23

Eine allgemeine Einf¨uhrung in die Grundprinzipien von Emergenz-Ans¨atzen liefert MacWhinney (2001). F¨ur weitere Erl¨auterungen vgl. z.B. die einschl¨agigen Artikel in der Sonderausgabe von Lingua 118, Nr. 4, darunter insbesondere O’Grady (2008).

36 wird, um letztere daraufhin in gr¨oßtm¨oglicher Analogie zu dem bereits bestehenden System zu behandeln (vgl. z.B. Skousen 1989, Eddington 2000: 283– 287, Eddington & Lonsdale 2007, sowie die Beitr¨age des Sammelbandes von Skousen et al. 2002, darunter insbesondere Skousen 2002 und Chandler 2002). Baayen (2003), Hay & Baayen (2005) u.a. sehen den entscheidenden Vorteil der analogiebasierten Herangehensweise darin, dem ‘graduellen Charakter’ der Morphologie gerecht werden zu k¨onnen, welcher sich darin ausdr¨uckt, dass lexikalische Einheiten nicht etwa kategorisch in nicht-komplexe und komplexe Einheiten unterteilt werden k¨onnen, sondern dass ihre morphologische Strukturiertheit bzw. Segmentierbarkeit vielmehr graduell variiert. Der graduelle Charakter der Morphologie zeigt sich zum Beispiel in der unterschiedlichen morphosemantischen Transparenz komplexer lexikalischer Einheiten wie teacher, dresser oder corner, welche mit Hilfe einschl¨agiger Priming-Experimente auch psycholinguistisch nachgewiesen werden konnte (vgl. z.B. Gonnerman et al. 2007). Ein anderer Effekt der graduellen Segmentierbarkeit ist die variierende phonetische Ausspezifizierung rekurrenter Wortbildungsbestandteile. So kann Hay (2003: 124–137) beispielsweise nachweisen, dass komplexe lexikalische Einheiten mit einer im Vergleich zur Wortbildungsbasis hohen Gebrauchsfrequenz, wie z.B. swiftly, phonetischen Ver¨anderungen (d.h. hier der ‘t-deletion’) unterliegen, welche bei phonologisch a¨ hnlichen Einheiten mit im Vergleich zur Basis niedriger Gebrauchsfrequenz, wie z.B. softly, nicht in dem Maße attestiert werden k¨onnen. Dabei ist zu beachten, dass auch traditionelle Simplizia Effekte gradueller Regularit¨at aufweisen, sobald sie aufgrund u¨ berlappender formaler und/oder semantischer Merkmale paradigmatische Strukturen ausbilden. Ein bekanntes Beispiel hierf¨ur sind sogenannte Phonaestheme wie fl- in engl. flow, float, flood etc., deren psychologische Realit¨at ebenfalls anhand von einschl¨agigen PrimingExperimenten nachgewiesen werden konnte (vgl. z.B. Bergen 2004). Im Unterschied zu Formen wie z.B. -(a)ble in doable, drinkable, portable oder -er in teacher, leader oder baker weisen Phonaestheme allerdings eine relativ geringe morpho-semantische Transparenz und eine h¨ohere ‘Verbindungswahrscheinlichkeit’ (“well-formed junctural phontactics”, Hay & Baayen 2005: 344) auf, was ihre relativ geringe Segmentierbarkeit bedingt. Die hier beschriebenen analogiebasierten Ans¨atze erkl¨aren den graduellen Charakter der Morphologie dadurch, dass die jeweilige morphologische Struktur in der Gesamtheit der Exemplare des entsprechenden morphologischen Paradigmas verankert ist, sodass der Grad der Segmentierbarkeit einer Ableitung sowohl von der morpho-semantischen Transparenz und Phonotaktik jedes einzelnen Exemplars als auch von der relativen Gebrauchsfrequenz der komplexen Formen bzw. der rekurrierenden Bestandteile abh¨angt: The more the parts ‘stand out’ in the whole, the stronger the paradigmatic relations that the whole entertains. Affixes represented by more words which are infrequent

37 relative to their bases, and which contain low probability phontactics, are . . . the most likely to be more highly segmentable and to develop stronger independent representations, . . . . (Hay & Baayen 2005: 345).

Eine andere Auspr¨agung der emergentistischen Sichtweise findet sich in der konnektionistischen Modellierung morphologischer Regularit¨aten wieder, welche sich an neurologischen Lernmodellen orientiert und letztendlich auf das Modell von Hebb (1949) zur¨uckgeht. Die Grundidee des konnektionistischen Ansatzes, wie er z.B. Seidenberg & Gonnerman (2000) vorgeschlagen wird, ist, dass sich die von den Individuen aus der Umgebung aufgenommenen sprachlichen Stimuli in vielschichtigen neuronalen Netzen organisieren, welche deren formale und semantische Merkmale repr¨asentieren und durch versteckte Berechnungseinheiten (‘hidden layers’) miteinander verbunden sind. Die neuronalen Strukturen werden mit Hilfe von Knoten modelliert, die einen gewichteten Aktivationswert haben und durch exzitatorische und inhibitorische Konnektionen verbunden sind. Bei der Verarbeitung eines Stimulus aktiviert eine Verbindungseinheit alle kongruenten Knoten und inhibiert gleichzeitig diejenigen Knoten, welche nicht mit dem Stimulus u¨ bereinstimmen. Das Modell sieht dabei keine diskreten Repr¨asentationen vor. Die Verarbeitung von Stimuli erfolgt durch die Identifizierung spezifischer Aktivierungsmuster, in denen die mit den lexikalischen Einheiten verbundene phonologische und semantische Information auf eine Vielzahl einfacher Verarbeitungseinheiten distribuiert ist. Die Speicherung lexikalischer Einheiten entspricht damit der Entstehung von Aktivierungsmustern, wobei die Gebrauchsfrequenz eine große Rolle bei der Entstehung sprachlicher Strukturen spielt: Je o¨ fter ein Merkmal im Input vorkommt, desto niedriger ist der Ruhezustand des entsprechenden neuronalen Knotens. Das heißt, Knoten, die Einheiten mit der gleichen Gebrauchsfrequenz repr¨asentieren, lassen sich u¨ ber das gleiche Ruhe- bzw. Aktivierungspotenzial definieren und somit gegen¨uber allen anderen Knoten abgrenzen. Hinzu kommt, dass durch die gleichzeitige Aktivierung zweier oder mehr Knoten die diese verbindenden Konnektionen verst¨arkt werden. So k¨onnen systematisch gleichzeitig eingehende semantische und/oder phonologische Merkmale (z.B. von Suffixen) eine Repr¨asentation aufbauen, die zu einem gewissen Grad unabh¨angig von der Basisrepr¨asentation ist:24 [U]nits [traditionally called morphemes] might be perceptually salient not because there is a distinct morphological level but because they happen to make consistent orthographic, phonological and semantic contributions to different words. (Seidenberg & Gonnerman 2000: 355) 24

F¨ur weitere Erl¨auterungen in Bezug auf die hier beschriebene neuronale Simulation vgl. Seidenberg & McClelland (1989), oder auch Dennis & McAuley (1997). Wie bereits angedeutet wird die Unabh¨angigkeit der regul¨aren Strukturen bzw. “patterns” in der vorliegenden Arbeit allerdings h¨oher eingesch¨atzt, als es vermutlich im konnektionistischen Modell der Fall ist, vgl. dazu auch die Einleitung zu Abschnitt 2.2 sowie die Abschnitte 2.2.4 und 2.2.5.

38 Im Hinblick auf die Derivationsmorphologie sind f¨ur Seidenberg & Gonnerman (2000) die versteckten Einheiten zwischen den Repr¨asentationsebenen entscheidend, in welchen die phonologischen, orthographischen und semantischen Informationen aus dem Input hinsichtlich ihrer Frequenz miteinander “verrechnet” werden. Diese versteckte Repr¨asentationsebene gibt wieder, welche phonologischen, orthographischen und semantischen Merkmale mit welcher Frequenz gleichzeitig im Input vorkommen und stellt damit gewissermaßen die morphologische bzw. strukturelle Komponente des Systems dar. Das der morphologischen Struktur zugrundeliegende Prinzip wird von Seidenberg & Gonnerman (2000) daher als “convergence between codes” betitelt: [A]s the network learns to map from one domain to another (e.g. sound to meaning) it picks up on regularities in the mappings. Morphology arises as a consequence of the correlations between codes. This approach predicts that effects of semantic, phonological and orthographic similarity on morphological processing should be graded, reflecting the degree of convergence between codes. (Seidenberg & Gonnerman 2000: 356)

Konnektionistische Ans¨atze wie Seidenberg & Gonnerman (2000) stellen ebenfalls heraus, dass morphologische Einheiten nur selten kategorisch, sondern meistens mehr oder weniger transparent oder opak sind. Diese generelle Eigenschaft der partiellen Transparenz bzw. Opazit¨at l¨asst sich laut den Autoren mit dem neuronalen Modell besonders gut beschreiben, da die Repr¨asentation einer Wortbildungseinheit jeweils von allen ihren Okkurenzen abh¨angt. Wenn also beispielsweise Komposita wie cranberry oder boysenberry zu verarbeiten sind, deren eine Konstituente nicht bzw. kaum in unabh¨angiger Form existiert, wird sich dies auch in der neuronalen Netzstruktur bemerkbar machen: Es werden morpho-semantische Repr¨asentationen f¨ur die Komposita sowie f¨ur die Kopfnomina, nicht jedoch f¨ur die modifizierenden Konstituenten ausgebildet. Ein weiteres emergentistisches Modell ist Joan Bybees Network Model.25 Wie f¨ur Seidenberg & Gonnerman (2000) ist auch f¨ur Bybees Modell die Vorstellung grundlegend, dass sich die morphologische Struktur aus der Konvergenz bestimmter phonologischer und semantischer Merkmale ergibt: Zwischen Merkmalen, die o¨ fter gleichzeitig verarbeitet werden, entwickeln sich st¨arkere Verbindungen als zwischen weniger oft kookkurierenden Merkmalen (vgl. z.B. Bybee 1988: 126f). Daraus leitet Bybee einerseits ab, dass hoch frequente irregul¨are Formen immer eigenst¨andiger werden, derart, dass sie sich zum Beispiel in Form von Suppletion ganz aus einem Paradigma herausbegeben.26 Die gleiche Verst¨arkung ereignet sich aber auch im Fall von frequenten 25

26

Die Grundlegung des Ansatzes erfolgte in Bybee (1985). Die folgenden Ausf¨uhrungen basieren auf Bybee (1988; 2006; 2007a) sowie Bybee (2007b). Diese Erkl¨arung gibt Bybee (2007a: 171) beispielsweise f¨ur das englische went, das aus dem wend-Paradigma herausgefallen ist und als Vergangenheitsform im Paradigma von go eingesetzt wurde.

39 phonologisch-semantischen Korrelationen auf der Subwort-Ebene. Auf dieser Ebene verst¨arken sich besonders frequente Korrelationen zu abstrakten morphologischen Ableitungsschemata, die in Bybees Modell das Pendant zu den generativen Wortbildungsregeln darstellen:27 [W]hat are usually thought of as morphological rules do not have a representation that is independent of the lexical items to which they are applicable. Rather, rules are highly reinforced representational patterns or schemas. A schema may be thought of as an abstraction from existing lexical forms which share one or more semantic properties. (Bybee 1988: 135)

Bybees Network Model kann somit prinzipiell in ein konnektionistisches Modell der Wortverarbeitung implementiert werden. In neueren Arbeiten weist die Autorin allerdings auf die Unterschiede zwischen ihrem und bestehenden konnektionistischen Modellen hin (vgl. z.B. Bybee 2007a: 173) und schl¨agt selbst eine Einbettung in analogiebasierte Exemplar Models (s.o.) vor. Bybee (2006) orientiert sich beispielsweise an der von Johnson (1997) bzw. Pierrehumbert (2001) verfolgten Auspr¨agung der Exemplar Theory, nach welcher neue sprachliche Instanzen (Tokens) erstens die Repr¨asentation von identischen Repr¨asentationen verst¨arken und sich zweitens lokal gesehen in der N¨ahe von a¨ hnlichen Repr¨asentationen anordnen (vgl. Bybee 2006: 716f). Nach Bybee (2006) hat dieses Modell den Vorteil, dass sich erstens die Gebrauchsfrequenz der einzelnen Instanzen direkt in den sprachlichen Regularit¨aten abbildet. Zweitens wird auch der Umstand, dass sprachliche Kategorien (also sowohl Wortbildungsmuster als auch Wortklassen etc.) typischere und weniger typische Vertreter haben, direkt durch die Anordnung der gespeicherten Instanzen abgebildet. Bybee spricht in diesem Fall von ‘Prototypeneffekten’ (“Exemplar clusters are categories that exhibit prototype effects. They have members that are more or less central to the category, rather than categorial features.”, ebd.: 717) und stellt die Exemplar Theory damit in Verbindung zur sogenannten Prototypentheorie, die beispielsweise f¨ur Rosch (1975; 1978), Posner (1986) oder Geeraerts (1997) die Forschungsgrund¨ lage bildet (vgl. z.B. die Uberblicksdarstellung in Geeraerts 1997: 6–31). Auch die Prototypentheorie ist in die Klasse der kognitiv orientierten, gebrauchsbasierten Ans¨atze einzuordnen, wobei ebenfalls davon ausgegangen wird, dass sich sprachliche Regularit¨aten (Prototypen, oder auch Schemata) auf der Basis von Einzelinstanzen aus dem sprachlichen Input herauskristallisieren (vgl. ebd.). Die oben skizzierten Ans¨atze (d.h. die verschiedenen analogiebasierten Modelle, der konnektionistische Ansatz, Bybees Network Model und die Prototypentheorie) weisen zwar bei genauerer Betrachtung zum Teil erhebliche Unterschiede auf (vgl. dazu z.B. Skousen 1995, Ross & Makin 1999 oder Chand27

Vgl. f¨ur eine a¨ hnliche Sicht auf derivationsmorphologische Regularit¨aten auch Booij (2005; 2007a) u.¨o., wo die Korrelationen gleicher Merkmale wie in den neueren Arbeiten von Bybee (s.u.) nicht als Schemata, sondern als Konstruktionen bezeichnet werden.

40 ler 2002). Diese k¨onnen in der vorliegenden Arbeit jedoch vernachl¨assigt werden, da hier nur auf die allen oben beschriebenen Theorien zugrundeliegende Emergenz-Hypothese fokussiert werden soll, nach welcher sich sprachliche Regularit¨aten als Epiph¨anomene auf der Basis der Verarbeitung und/oder Speicherung sprachlicher Einzelinstanzen herausbilden. Im Gegensatz zur Auffassung von Aronoff (1976), nach der sich die Regularit¨aten im Lexikon aus den generativen Wortbildungsregeln ergeben, geht man im emergentistischen Forschungsparadigma also davon aus, dass die Verarbeitung und/oder Speicherung konkreter sprachlicher Instanzen zu der Herausbildung abstrakter “patterns” oder Schemata f¨uhrt, die unmittelbar mit den gespeicherten Einzelinstanzen zusammenh¨angen.

2.2.3 Attestierte Derivate und morphologische Kompetenz Die Arbeit von Aronoff (1976) ist vor allem wegen ihrer theoretischen Koh¨arenz und ihrer detaillierten Beschreibung bestimmter Bereiche der englischen Derivationsmorphologie zu w¨urdigen. Der Autor entwickelt ein effizientes Regelwerk, durch das verschiedenste vor allem formale Eigenheiten diverser Wortbildungsmuster auf relativ wenige Wortbildungs- und Anpassungsregeln zur¨uckgef¨uhrt werden k¨onnen. Aufgrund seines enormen deskriptiven Potenzials und seiner Einpr¨agsamkeit hatte das Aronoffsche Modell großen Einfluss auf die gesamte nachfolgende morphologietheoretische Forschung (vgl. dazu z.B. Scalise 1986a, Spencer 1991, oder auch Grewendorf et al. 1996: 269–297). Der Umstand, dass die Arbeit stark auf (morphologische) Transformationsregeln fokussiert, erkl¨art sich aus dem theoretischen Umfeld: Aronoff diskutiert sein Modell vornehmlich vor dem Hintergrund von bzw. in Abgrenzung zu der transformationellen Arbeit von Chomsky & Halle (1968), deren Ziel es war, alle phonologischen Regelm¨aßigkeiten des Englischen auf geeignete Ableitungsregeln zur¨uckzuf¨uhren. Der generative Ansatz bringt es mit sich, dass Aronoff auch die irregul¨aren Bildungen, wie zum Beispiel die oben beschriebenen verschiedenen Derivationsmuster im Bereich der -ion-Ableitung im Englischen, auf das Wirken bestimmter derivationsmorphologischer Regeln zur¨uckf¨uhrt, da die Sprecher des Englischen diese Formen produzieren k¨onnen und diese F¨ahigkeit nach dem generativen Ansatz ebenso mit Hilfe generativer Regeln modelliert werden muss wie die F¨ahigkeit, regelhafte Ableitungen zu produzieren. Eine n¨ahere Betrachtung der Datenlage l¨asst allerdings Zweifel daran aufkommen, ob es sinnvoll ist, der Regelkomponente ein derart großes Gewicht beizumessen. Wie oben beschrieben f¨uhrt Aronoff zum Beispiel die verschiedenen Derivationsmuster im Bereich der -ion-Ableitung im Englischen auf ein komplexes Zusammenspiel zwischen einer generativen WFR und den verschiedensten Formspezifizierenden Allomorphie-Regeln zur¨uck. Auff¨allig ist dabei allerdings, dass

41 zur Illustration der verschiedenen Regeln ausschließlich Derivate herangezogen werden, die bereits in den romanischen Sprachen und im Latein etablierte lexikalische Einheiten darstellen. Von den in Abschnitt 2.2.1 unter (14) aufgef¨uhrten Derivaten, die Aronoff als Evidenz f¨ur die Produktivit¨at der entsprechenden allomorphischen Verfahren heranzieht, gibt beispielsweise das Merriam Webster’s Dictionary 8 der 13 Nominalisierungen als aus dem Latein und/oder Mittelfranz¨osischen entlehnte Einheiten aus.28 Dabei ist zu beachten, dass diese mutmaßlich entlehnten Wortbildungen keine Einzelf¨alle darstellen. F¨ur den u¨ berwiegenden Teil, wenn nicht f¨ur die Gesamtheit der von Aronoff angef¨uhrten Nominalisierungen lassen sich lexikographische Belege anf¨uhren, welche die entsprechenden Derivate als romanische Lehnw¨orter ausweisen. Vor dem Hintergrund, dass das Englische vom 12. bis zum 15. Jahrhundert eine massive Entlehnung aus dem Romanischen erfahren hat (vgl. z.B. Dalton-Puffer 1996: 7–13, Trips & Stein 2008: 218f und die dortigen Referenzen), ist eine Erkl¨arung u¨ ber Entlehnung auch gar nicht unwahrscheinlich. Wie die Hinzuziehung des Lateins zeigt r¨uhrt die Vielseitigkeit des Ableitungsmusters von der Ursache her, dass die -io-Formen nicht von den Verbst¨ammen selbst, sondern vom Stamm der zugeh¨origen Vergangenheitspartizipien abgeleitet wurden: (15)

28

repetere → (‘wiederholen’) consumere → (‘verbrauchen’) recipere → (‘aufnehmen’) introducere → (‘hineinf¨uhren’) → revidere (‘wieder hinsehen’) abradere → (‘abkratzen’) → convenire (‘¨ubereinkommen’) permittere → (‘erlauben’) convertere → (‘wenden’)

repetitus/m

→ repetitio

→ repetition

consumptus/m → consumptio → consumption receptus/m

→ receptio

→ reception

introductus/m → introductio → introduction revisus/m

→ revisio

→ revision

abrasus/m

→ abrasio

→ abrasion

conventus/m

→ conventio

→ convention

permissus/m

→ permissio

→ permission

conversus/m

→ conversio

→ conversion

Die u¨ brigen 5 Derivate der Liste sind production, reproduction, deduction, induction und conduction, die es bis auf reproduction alle mit a¨ hnlicher Bedeutung bereits im klassischen Latein gab. Es ist allerdings h¨ochst unwahrscheinlich, dass gerade hochsprachlich frequente bzw. saliente Derivate wie deduction und induction nicht aus dem Romanischen ins Englische entlehnt worden sind. Der Fall von reproduction ist ungewiss, da es sich um eine re-Pr¨afigierung handeln kann.

42 Beispiel (15) zeigt die lateinischen de-partizipialen Ableitungen mitsamt den entsprechenden englischen Nominalisierungen exemplarisch f¨ur die verschiedenen -ion-Allomorphien. Nat¨urlich wird die Frage der Entstehung der Allomorphien mit der in (15) vorgeschlagenen R¨uckf¨uhrung nicht gel¨ost, sondern lediglich von der Englischen -ion-Nominalisierung auf die lateinische Partizipienbildung verschoben. Auch ist evident, dass die verschiedenen Ableitungsmuster im Bereich der -ion-Ableitung von englischen Muttersprachlern erkannt werden k¨onnen, zumal die Ableitungen weitestgehend semantisch transparent geblieben sind. Im Rahmen eines generativen Wortbildungsmodells nach Aronoff (1976) ist es daher durchaus folgerichtig, f¨ur die verschiedenen Subregularit¨aten generative Regeln zu postulieren, um dieses Wissen synchron abzubilden. Vor dem Hintergrund verschiedener Studien, die darauf hindeuten, dass die einzige -ionForm, mit der im Neuenglischen de facto neue Ereignisnominalisierungen gebildet werden, -ation ist (vgl. z.B. Bauer 1983: 221, Bauer 2001: 181ff, DaltonPuffer 1996: 93),29 stellt sich dennoch die Frage, ob die Generalisierung des Regelkonzepts auf alle attestierten Subregularit¨aten eine der sprachlichen Realit¨at angemessene Beschreibung der derivationsmorphologischen Kompetenz der englischen Sprecher leistet, dies zumal das Modell von Aronoff (1976) darauf festgelegt ist, dass die zur Analyse bereits bestehender Derivate verwendeten Redundanzregeln immer auch zur Bildung neuer Derivate herangezogen werden k¨onnen (da “the only sorts of facts which can count as redundancies or generalizations in the analysis of existing words are those which enter into the formation of new ones”, s.o.). F¨ur den generativen Ansatz ist zwar letztlich unerheblich, ob die postulierten Regeln auch zur Bildung neuer Derivate f¨uhren, oder de facto nur f¨ur die Analyse bereits bestehender Formen eingesetzt werden. Unabh¨angig davon ist es im Hinblick auf die deskriptive Ad¨aquatheit des Modells allerdings problematisch, dass die aufgestellten Regeln nie zur Ableitung von Derivaten f¨uhren, die im Latein noch nicht existierten. Die (weitestgehende) Nichtexistenz genuin englischer allomorpher -ion-Nominalisierungen neben den zahlreichen genuin englischen -ation-Nominalisierungen ist ein sprachliches Datum, dem der Ansatz von Aronoff (1976), der alle Formen einheitlich auf das Wirken generativer Wortbildungsregeln zur¨uckf¨uhrt, nicht gerecht werden kann. Abgesehen davon stellt sich auch die Frage, weshalb die postulierten Regeln nie zu der Ableitung von Formen eingesetzt werden, die es im Latein noch nicht gab.30 In der 29

30

Was nat¨urlich damit zusammenh¨angt, dass die einzigen produktiven Verbalisierungssuffixe -ize und -ify sind, welche ihrerseits nur von -ation abgeleitet werden (vgl. Bauer 1983: 222f). Auch f¨ur -ion-Nominalisierungen von -ate-Verben kann meines Erachtens nicht ausgeschlossen werden, dass die Ableitung durch -ation erfolgt. Der relevante Punkt ist aber, dass auch bei diesem Derivationsmuster keine Allomorphien vorliegen, die mit denjenigen in (15) vergleichbar w¨aren. ¨ Ganz a¨ hnlich argumentiert im Ubrigen Goldbach (2009) im Zusammenhang mit spanischen und portugiesischen allomorphen -ion-Nominalisierungen, welche ihrer Einsch¨atzung nach ebenfalls in der u¨ berwiegenden Mehrheit der F¨alle nicht als genu-

43 vorliegenden Arbeit wird vor diesem Hintergrund letztlich ein Modell bevorzugt, in welchem qualitativ zwischen abstrakt-regelhaften regelm¨aßigen Ableitungen wie dem englischen -ation einerseits und semiregul¨aren Subregularit¨aten wie den englischen allomorphen -ion-Nominalisierungen andererseits unterschieden wird (vgl. Abschnitt 2.2.4). In Bezug auf die Modellierung der semiregul¨aren Subregularit¨aten hebt sich die emergentistische Herangehensweise zun¨achst positiv von der generativen Konzeption nach Aronoff (1976) ab, da die unproduktiven partiellen Regularit¨aten nicht auf die Einwirkung von Wortbildungsregeln zur¨uckgef¨uhrt werden m¨ussen, sondern nach dieser Ansicht neben den regul¨aren Bildungen im Lexikon zu verorten sind, woraus sie bei Bedarf vollst¨andig ausspezifiziert abgerufen werden k¨onnen. Die emergentistischen Ans¨atze sind im Rahmen der vorliegenden Untersuchung vor allem deshalb zu ber¨ucksichtigen, da sie detaillierte Antworten auf die eingangs gestellten Fragen zum Zusammenhang zwischen der abstrakten Bedeutung von Derivationsaffixen und der Interpretation der entsprechenden Derivate in ihren konkreten Vorkommenskontexten bereithalten, die im Folgenden noch einmal unter (16) aufgelistet sind und deren Kl¨arung in der vorliegenden Arbeit als eine Voraussetzung der semantischen Untersuchung von Derivationsaffixen angesehen wird. (16)

a. Wie ist es dem Sprecher m¨oglich, aus dem Input an konkret verwendeten Derivaten eine kreative Kompetenz in Bezug auf die entsprechenden Derivationsaffixe auszubilden? b. Wie kann die abstrakte Bedeutung von Derivationsaffixen durch die Untersuchung der entsprechenden Derivate in ihrer konkreten Verwendung empirisch ermittelt werden?

Die zentrale emergentistische Hypothese ist, dass die derivationsmorphologische Kompetenz in Bezug auf ein Affix bzw. Ableitungsverfahren als eine Abstraktion von der Gesamtheit der entsprechend gebildeten Derivate zu verstehen ist. Die emergentistische Antwort auf Frage (16a.) ist also, dass die Konfrontation mit einer hohen Anzahl an gleich abgeleiteten Derivaten den Sprecher dazu bef¨ahigt, f¨ur diejenigen Merkmale, die alle Derivate gemeinsam haben, eine abstrakte Repr¨asentation zu entwickeln. Nach dieser Perspektive l¨auft die in Frage (16b.) angesprochene Untersuchung der abstrakten Bedeutung eines Derivationsaffixes darauf hinaus, den kleinsten gemeinsamen semantischen Nenner der Gesamtheit der attestierten Derivate zu ermitteln. in spanische bzw. portugiesische Wortbildungen analysiert werden k¨onnen, vgl. dazu auch Abschnitt 2.2.4. F¨ur das Franz¨osische wird ebenfalls erstens auf eine massive Entlehnung der allomorphen Formen aus dem Latein hingewiesen (vgl. z.B. Kerleroux 2008: 127f) und zweitens angenommen, dass die einzig produktive -ion-Form -ation ist (Kerleroux 2008: 127f, Schmitt 1988: 193, Thiele 1981: 34 u.a.). Entsprechende Daten f¨ur das Franz¨osische werden ebenfalls in Abschnitt 2.2.4 diskutiert.

44 Dar¨uber hinaus erm¨oglicht es die emergentistische Konzeption, die attestierten Derivate im Hinblick auf ihre Transparenz bez¨uglich der abstrakten Suffixbedeutung angemessen zu gewichten. Wie oben dargestellt kann der Grad der Zugeh¨origkeit einzelner Ableitungen zum entsprechenden Ableitungsmuster laut Bybee stark variieren. Der Hauptfaktor ist die Gebrauchsfrequenz: Wird eine einzelne Form besonders h¨aufig verwendet, steht ihre Einheit aufgrund verst¨arkter Konnektionen gegen¨uber der Paradigmenzugeh¨origkeit im Vordergrund. Die Gebrauchsfrequenz muss allerdings nicht zwangsl¨aufig der Hauptgrund f¨ur diese Art von “Vereinzelung” sein: Es kann auch vorkommen, dass sich der Gebrauch von niedrig-frequenten Bildungen derart spezifiziert, dass bestimmte semantische Merkmale den Vorzug erhalten, die nicht zum allgemeinen Ableitungsmuster geh¨oren.31 Aus der Perspektive der Sprechergemeinschaft ist die Spezifizierung auf bestimmte Lesarten nach der emergentistischen Sicht allerdings meist eine Frage der Zeit: Insgesamt gesehen dauert es f¨ur gew¨ohnlich eine Weile, bis sich die einzelne Ableitung durch hoch-frequenten und/oder spezifischen Gebrauch von dem Ableitungsparadigma “gel¨ost” hat. F¨ur die in den folgenden Kapiteln vorgestellte Untersuchung der franz¨osischen -ment- und -age-Suffigierung ergibt sich daraus die Voraussage, dass hoch-frequente und a¨ ltere Bildungen wie bˆatiment (‘Geb¨aude, Bauwesen’) oder passage (‘Durchgang, Durchreise, Gang etc.’) die abstrakte Bedeutung der Suffixe weniger deutlich widerspiegeln als niedrig-frequente und relativ junge Bildungen wie fleurissement (‘das (Er-)Bl¨uhen’) oder griffage (‘das Abkratzen’).32 Gleichzeitig wird aber auch deutlich, dass die Untersuchung der abstrakten Bedeutung von Nominalisierungssuffixen durchaus u¨ ber die Analyse etablierter Derivate erfolgen kann, dass sie also nicht ausschließlich auf Neologismen beruhen muss: Da die abstrakte Bedeutung eines Affixes Teil jeder zugeh¨origen Bildung ist, k¨onnen prinzipiell alle mit dem Affix gebildeten Derivate zur Untersuchung herangezogen werden. Es ist lediglich zu bedenken, dass das Alter, die Gebrauchsfrequenz sowie etwaige Bedeutungsspezifizierungen der untersuchten Derivate bei der Analyse ber¨ucksichtigt werden sollten. Diese Konzeption des Verh¨altnisses zwischen konkreten Derivaten und abstrakter Suffixbedeutung wird die Auswahl und Analyse der in Kapitel 4 untersuchten -ment- und -age-Nominalisierungen maßgeblich mitbestimmen (vgl. dazu insbesondere Abschnitt 4.1.2). Abgesehen davon f¨uhrt die im emergentistischen Forschungsparadigma verbreitete kategorische Ablehnung von Wortbildungsregeln allerdings zu demselben Problem wie die sehr weitreichende Generalisierung des Regelkonzepts im 31

32

Geeraerts (1997: 22) spricht in diesem Zusammenhang auch von der ‘non equality’ zwischen ‘core members’ und ‘peripheral members’ einer Kategorie bzw. eines Prototyps. Die Einsch¨atzungen zu Frequenz und Alter der vier Bildungen beziehen sich auf die in der vorliegenden Arbeit verwendeten Lexika und Textkorpora, die in den Kapiteln 4 und 5 vorgestellt werden.

45 generativen Modell. So bieten auch die emergentistischen Ans¨atze keine Gelegenheit, kategorisch zwischen morpho-semantisch hoch transparenten Verfahren und semi-transparenten bzw. subregul¨aren Mustern zu unterscheiden. Dieser Umstand wird im n¨achsten Unterabschnitt weiter verdeutlicht, in welchem ein moderat-emergentistisches Modell entwickelt werden soll, das dem Unterschied zwischen regelhafter und subregul¨arer Derivationsmorphologie gerecht wird, ohne die oben beschriebenen Vorteile der emergentistischen Herangehensweise aufgeben zu m¨ussen.

2.2.4 Die moderat-emergentistische Perspektive Nach der streng emergentistischen Konzeption entstehen in der Grammatik als h¨ochste Abstraktionsform also “patterns” oder Schemata als Generalisierungen ¨ u¨ ber die Einzelinstanzen. Uber die kognitiven Mechanismen, die zur Ableitung komplexer Strukturen wie etwa komplexer lexikalischer Derivate zum Einsatz kommen, werden dabei keine expliziten Hypothesen formuliert. Es wird lediglich betont, dass die Strukturen ausschließlich unter Zuhilfenahme der Schemata d.h. ohne Rekurs auf sprachliche Regeln gebildet werden. Morphological structure and organization emerge from the connections made among related stored items. Even forms produced by combination are produced in the lexicon by accessing a stem and utilizing a schema that is available in the lexicon. (Bybee 2007a: 190)

Vereinzelt, beispielsweise im Forschungszweig der sogenannten Kognitiven Linguistik (im Folgenden KL),33 finden sich jedoch Hinweise darauf, dass regelhafte Verarbeitung in emergentistischen Ans¨atzen nicht per se negiert, sondern lediglich auf außersprachliche bzw. Dom¨anen-unspezifische kognitive Probleml¨osungskapazit¨aten zur¨uckgef¨uhrt wird. Laut den Proponenten der KL ist das sprachliche Wissen also rein deklarativ: The potential for [the] novel form [apricoty] is obvious, given the schema [[N/...][Y/y]] and the classificatory unit [[N/...]→[APRICOT/apricot]], but actually noting and exploiting this potential in a way that responds to immediate communicative objectives amounts to a problem-solving activity on the part of the speaker. (Langacker 1987: 73)34

Die Frage der Dom¨anenspezifizit¨at von sprachlichen Regeln kann an dieser Stelle zwar nicht diskutiert werden. Unabh¨angig von der Diskussion um die Natur 33

34

Da unter den Term “Kognitive Linguistik” nur ein kleiner Teil kognitiv ausgerichteter Sprachtheorien f¨allt, ist die Bezeichnung im Grunde ung¨unstig. Sie wird hier aber der Konvention halber beibehalten. ¨ Ahnlich sind vermutlich auch die Algorithmen in analogiebasierten Modellen wie der Exemplar Theory aus kognitiver Sicht zu deuten.

46 sprachlicher Regeln (und damit auch unabh¨angig von der Nativismusdebatte) soll hier allerdings hinterfragt werden, ob die Relation zwischen den verarbeiteten und/oder gespeicherten Performanzdaten und den abstrakt-sprachlichen Regularit¨aten immer so unmittelbar ist, wie von den streng emergentistischen Ans¨atzen angenommen wird; dies insbesondere vor dem Hintergrund, dass die emergentistischen Modelle auch die Gesamtheit der syntaktischen Regeln in der oben beschriebenen Weise als epiph¨anomenal und die gesamte Grammatik als eine “ritualization of often-repeated routines” (Bybee 2006: 730) ansehen (vgl. neben den oben zitierten Autoren beispielsweise Croft 2001, Goldberg 1995, Hopper 1998, Langacker 1991, Lee 2004, Tomasello 2006 sowie die Beitr¨age in Geeraerts 2006). Wie bereits Jackendoff (1996) anmerkt mag zwar ein gewisser Teil der syntaktischen Stellungsregularit¨aten semantischpragmatisch bzw. situativ bedingt sein, so dass diese strukturellen Gesetzm¨aßigkeiten in der Tat unmittelbar mit der Verarbeitung konkreter sprachlicher Instanzen zusammenh¨angen k¨onnten. Es gibt allerdings auch h¨ochst abstrakte syntaktische Ph¨anomene, die sich l¨angst nicht so eindeutig auf die Performanzebene zur¨uckf¨uhren lassen. Ein eindeutiges Beispiel ist die Wortstellung im Deutschen, f¨ur welche vor allem aufgrund der Verb-Zweit-Stellung in Haupts¨atzen bei frequenzm¨aßig u¨ berlegenem SVO-Input l¨angst nicht erwiesen ist, dass die n¨otigen Generalisierungen durch eine “ritualization of often-repeated routines” herausgebildet werden k¨onnen.35 Zudem scheint es, dass sich die von Jackendoff angesprochenen Regularit¨aten (neben der Verb-Zweit-Stellung beispielsweise auch die Grundwortstellung innerhalb der VP, oder die Ungrammatikalit¨at von nichtpr¨apositionalen Doppelobjektkonstruktionen des Typs They denied Bill his pay in Sprachen wie dem Franz¨osischen) auch insofern von den mutmaßlich heterogenen Generalisierungen auf der Gebrauchsebene absetzen, als sie eine relativ hohe diachrone Kontinuit¨at und synchrone Stabilit¨at aufweisen.36 Im Hinblick auf die derivationsmorphologische Ausrichtung der vorliegenden Arbeit kann die syntaktische Diskussion hier nicht weiter vertieft werden. Wie in den Abschnitten 2.1.1 und 2.1.3 mit Verweis auf Lieber (2004) betont wurde ist diachrone und synchrone Stabilit¨at allerdings ebenfalls ein Charakteristikum derivationsmorphologischer Regularit¨aten, was durch die in den folgenden Kapiteln vorgestellte synchrone und diachrone Untersuchung der franz¨osischen Nominalisierungssuffixe -ment und -age weiter bekr¨aftigt wird. So wird sich beispielsweise f¨ur die -age-Suffigierung zeigen, dass, obwohl sich die Verwendung der -age-Nominalisierungen im Laufe der Jahrhunderte mehr oder weniger betr¨achtlich ge¨andert hat, die abstrakte Bedeutung des Suffixes dennoch unver¨andert geblieben ist. Die Untersuchung der synchronen Daten wird zudem zeigen, dass die Sprecher mit den Suffixen auf systematische Weise a¨ ußerst sub35

36

Jackendoff (1996: 98–103) gibt eine Liste mit weiteren derartig abstrakten syntaktischen Ph¨anomenen. Diese intuitive Differenzierung w¨are allerdings erst noch empirisch zu pr¨ufen.

47 tile Bedeutungsnuancen ausdr¨ucken, wobei Bezeichnungsdom¨anen und a¨ hnliche f¨ur analogiebasierte Verarbeitung relevante Relationen zu bestehenden Formen letztlich keine Rolle zu spielen scheinen (vgl. dazu insbesondere die Diskussionen in den Abschnitten 3.1.3, 3.1.4 und 3.3.4 des 3. Kapitels, sowie die empirische Untersuchung in den Abschnitten 4.2 und 4.3 in Kapitel 4). Unter anderem deshalb wird in der vorliegenden Arbeit die Ansicht vertreten, dass es sinnvoll ist, neben den unmittelbar gebrauchsbasierten Regularit¨aten ein weiteres Abstraktionsniveau mit Regularit¨aten anzunehmen, die sich, z.B. aufgrund hoher morpho-semantischer Transparenz, gewissermaßen “verselbst¨andigt” haben und daher nicht exemplarbasiert, sondern symbolisch verarbeitet werden. Dieser Ansatz muss der emergentistischen Herangehensweise allerdings nicht zwangsl¨aufig entgegengesetzt sein. Eine m¨ogliche Vorgehensweise im Rahmen der obigen Konzeption ist zum Beispiel, die von Seidenberg & Gonnerman (2000) betonten semi- oder “quasi-regul¨aren” Ableitungsmuster streng emergentistisch zu behandeln, die “highly reinforced representational patterns or schemas” aber als eine aus dem Input herauskristallisierte regelhafte Komponente aufzufassen. In einer “Emergenz-nahen” Auspr¨agung dieses Ansatzes k¨onnte beispielsweise angenommen werden, dass das menschliche Abstraktionsverm¨ogen ausreicht, um auf der Basis der Input-Daten bei entsprechenden Bedingungen (wie z.B. morpho-semantische Transparenz) zu der Ableitung von Generalisierungen zu gelangen, die universell angewendet werden k¨onnen, wobei sich im Zuge dessen ein qualitativer Wandel von nichtsymbolischer zu symbolischer Verarbeitung vollzieht.37 Wie genau eine entsprechende Sprachtheorie auszusehen hat, kann in der vorliegenden Arbeit nicht gekl¨art werden. F¨ur eine Unterscheidung zwischen deklarativ verarbeiteten semi-regul¨aren Mustern und auf symbolischer Verarbeitung beruhenden voll-regul¨aren Verfahren sprechen allerdings neben den oben genannten Evidenzen noch einige weitere Punkte. Der erste Punkt ergibt sich im Zusammenhang mit der in Abschnitt 2.2.3 angef¨uhrten Beobachtung, dass die lateinische departizipiale -io-Ableitung unter anderem im Franz¨osischen anscheinend nur in der Form von -ation als produktives Wortbildungsverfahren weiterbesteht. Diese Generalisierung wird durch eine eigens ausgef¨uhrte Untersuchung franz¨osischer -ion-Nominalisierungen aus dem dieser Arbeit zugrundeliegenden synchronen FRANTEXT-Korpus weiter best¨atigt.38 So zeigt sich, dass 37

38

¨ Dieser Ansatz a¨ hnelt im Ubrigen der (generativen) Interpretation der Nativismushypothese nach Haider (1993), nach welcher die menschliche Sprachf¨ahigkeit auf einem exaptiven kognitiven System beruht, welches auf die Verarbeitung von Sprache und sprach¨ahnlichen Strukturen spezialisiert ist und daher auf der Basis des Inputs effektiv und schnell sprachspezifische Subroutinen ausbilden kann, vgl. insbesondere (ebd.: 11–13). F¨ur n¨ahere Informationen zu dem hier verwendeten Korpus vgl. Anhang A.2 bzw. Kapitel 4.1.1. Als lateinisches Referenzkorpus diente die Datenbank des Perseus Project (PER), vgl. Anhang D.1. Bei der Ausz¨ahlung wurden die Pr¨afixe generell nicht

48 immerhin 164 von den 522 im Korpus enthaltenen -ation-Nominalisierungen (d.h. 30%) im PER keine lateinische Entsprechung haben, wohingegen f¨ur die allomorphen Formen in nur sechs von 359 F¨allen (d.h. zu knapp 2%) keine lateinische Entsprechung im PER gefunden wurde (vgl. Abbildung 2.1).39

Abbildung 2.1: Anteile der -ation- und der allomorphen -ion-Types ohne lateinische Entsprechung im synchronen FRANTEXT-Korpus

Eine Einzelpr¨ufung der sechs allomorphen Formen ohne lateinische Entsprechung ergab zudem, dass zwei von diesen nicht als deverbale Ableitungen zu werten sind (vgl. 17a. und b.). Drei der u¨ brigen vier Formen, i.e. comparution, e´ closion und parution, werden vom CNRTL-Lexikon interessanterweise als departizipiale Ableitungen ausgewiesen (vgl. 17c. bis e.). (17)

39

a. bastion (‘Bastion’) = d´er. de bastia, suff. augm.-one (‘Deriviert von bastia, mit augmentativem Suffix -one’)

ber¨ucksichtigt. Das heißt, f¨ur Nominalisierungen wie z.B. ind´efinition wurde definitio als lateinische Entsprechung und d´efinir als franz¨osisches Basisverb gez¨ahlt. Bei dieser Z¨ahlung wurden die insgesamt 17 im Korpus attestierten Ableitungen des Typs amplifier (‘ausweiten’) > amplification (‘Ausweitung’) mit zu den regul¨aren -ation-Nominalisierungen gez¨ahlt, da die Allomorphie laut Schpak-Dolt (1992: 72) auf das vorangehende {-ifi-}-Morphem zur¨uckzuf¨uhren ist. Ebenso k¨onnte zwar argumentiert werden, dass es sich bei diesem Muster, das sich ebenfalls durch einen hohen Anteil genuin franz¨osischer Derivate (d.h. 13 von 17) auszeichnet, um ein subregul¨ares Nominalisierungsverfahren (d.h. -ifier > -ification) handelt, dessen Derivate in Bezug auf ihre morpho-semantische Transparenz und Produktivit¨at einen Zwischenstatus zwischen den oben angesprochenen assoziativ-deklarativen semi- und irregul¨aren -ion-Mustern und dem vollst¨andig regul¨aren Verfahren auf -ation einnehmen. Auch nach dieser Analyse ließen sich die Daten aber ohne Weiteres in den in der Folge entwickelten prototypischen Morphembegriff integrieren.

49 b. implosion (‘Implosion’) = form´e sur explosion* par substitution du pr´ef. im- a` ex-. (‘Gebildet auf der Basis von explosion durch Substitution des Prefixes ex- durch im-’) c. comparution (‘gerichtlicher Vergleich’) = D´er. de comparaˆıtre* d’apr. le part. pass´e comparu; suff. -tion*. (‘Deriviert vom Vergangenheitspartizip von comparaˆıtre, mit Suffix -tion’) d. e´ closion (‘Ausschl¨upfen, Entfaltung’) = D´er. de e´ clos, part. pass´e de e´ clore*; suff. -ion*. (‘Deriviert von e´ clos, Vergangenheitspartizip von e´ clore, mit Suffix -ion’) e. parution (‘Ver¨offentlichung’) = D´er. de paru, part. pass´e de paraˆıtre1*; suff. -tion*. (‘Deriviert von paru, Vergangenheitspartizip von paraˆıtre, mit Suffix -tion’) (CNRTL)40

F¨ur das verbleibende Derivat disparition (‘Verschwinden, Wegfall’) gibt das CNRTL zwar an, dass es auf der Basis von disparaˆıtre (‘verschwinden, vergehen’) durch Suffigierung von -ition gebildet wird. Weiterhin ist allerdings zu erfahren, dass das Derivat im 17. und 18. Jahrhundert in der Form disparution verwendet wurde, welche ebenfalls als departizipial zu analysieren ist. Bei diesen vier Derivaten scheint es sich also in der Tat um vereinzelte analogische Nachahmungen der urspr¨unglichen departizipialen Ableitungen lateinischer Art zu handeln. Alle u¨ brigen allomorphen Formen k¨onnen dagegen prinzipiell auch bereits im Latein entstanden und als Simplizia ins Franz¨osische entlehnt worden sein. In Anbetracht der Tatsache, dass die allomorphen Formen ebenfalls nicht unfrequent sind, bliebe im Rahmen eines streng emergentistischen Ansatzes ebenso wie im generativen Modell die Frage offen, weshalb die allomorphen Formen nicht in a¨ hnlichem Maße als Modell zur Ableitung neuer, genuin franz¨osischer Derivate herangezogen werden wie die -ation-Variante. Vor dem Hintergrund der oben angef¨uhrten Daten ist also stark zu bezweifeln, dass die morpho-semantisch relativ opaken allomorphen Formen und die hoch-transparenten -ation-Formen im Franz¨osischen denselben Status haben. Es wird vielmehr nahegelegt, dass die hohe Frequenz und Transparenz der -ationFormen zu der Herausbildung eines regelhaften Ableitungsverfahrens gef¨uhrt hat, welches sich nicht nur quantitativ im Hinblick auf die Typefrequenz, sondern auch qualitativ im Hinblick auf den Verarbeitungsmodus von den allomorphen Mustern unterscheidet. Wie im vorigen Abschnitt angedeutet findet sich eine ganz a¨ hnliche Argumentation im Zusammenhang mit spanischen und portugiesischen -ionNominalisierungen in Goldbach (2009), wobei die Zahlen, welche die Autorin f¨ur beide Sprachen nachweist (i.e. 98% allomorphe -ion-Formen mit lateinischer Entsprechung im Spanischen, 99% im Portugiesischen), ein zu der 40

F¨ur n¨ahere Informationen zum CNRTL-Lexikon vgl. Anhang A.1 bzw. erneut Kapitel 4.1.1.

50 oben beschriebenen Situation im Franz¨osischen identisches Bild ergeben. Es ist zu vermuten, dass eine n¨ahere Untersuchung weiterer entlehnter Verfahren im Franz¨osischen und anderen Sprachen, mindestens jedoch eine genauere Analyse der englischen -ion-Derivate, zu dem gleichen Resultat f¨uhren w¨urde. Den zweiten Hinweis f¨ur eine qualitative Unterscheidung zwischen nichtregelhafter und regelhafter Derivationsmorphologie stellen die von Ullman (2001; 2004; 2007) u.a. angef¨uhrten neurolinguistischen Evidenzen f¨ur eine lokale wie funktionale Dissoziation von deklarativen und prozeduralen Sprachverarbeitungsarealen im Gehirn dar. Nach Ullman spielt das in assoziativen Gehirnarealen zu lokalisierende deklarative Verarbeitungssystem (“declarative memory system”, Ullman 2001: 718) eine wichtige Rolle bei der Erlernung und Speicherung von Faktenwissen und von sogenanntem lexikalischen Wissen, w¨ahrend das prozedurale Verarbeitungssystem (“procedural memory system”, ebd.), das in motorischen Gehirnarealen zu verorten ist, bei der Erlernung und Durchf¨uhrung von Handlungsabl¨aufen (“action sequences”, ebd.) und bei der Verarbeitung regul¨arer sprachlicher Strukturen im Vordergrund steht. Ullman zitiert in seinen Arbeiten eine Vielzahl psycho- und neurolinguistischer Studien sowie pathologischer Befunde zur Bekr¨aftigung der bimodalen Hypothese (vgl. z.B. Ullman 2001: 721–723 oder Ullman 2004: 249–256), die hier nur exemplarisch wiedergegeben werden k¨onnen. So weisen neurologische Studien mit Bild-gebenden Verfahren wie Breitenstein et al. (2005) beispielsweise auf eine erh¨ohte Aktivit¨at der assoziativen Areale beim Erlernen von lexikalischen Einheiten hin. Postle & Corkin (1998) zeigen grob gesagt, dass amnesische Patienten, deren assoziative Gehirnareale beeintr¨achtigt sind, Schwierigkeiten bei der Erlernung neuer Worte bzw. beim Aufbau neuer Form-Bedeutung-Assoziationen haben (vgl. auch Ullman 2007: 272). Im Gegensatz dazu haben Patienten, welche bestimmte Formen der motorisch beeintr¨achtigenden Parkinson- oder Corea Huntington-Krankheit aufweisen, Ullman zufolge gravierende Probleme mit regul¨arer Flexionsmorphologie (vgl. z.B. Ullman 2001: 722f). Dabei ist darauf hinzuweisen, dass sich Ullmans Dissoziationshypothese nur auf die Verarbeitung von lexikalischen Einheiten bezieht, nicht auf deren Speicherung. Dass auch regul¨ar abgeleitete Einheiten in assoziativen Netzwerken “detactable traces” (de Vaan et al. 2007: 1) hinterlassen, ist in neuro- und psycholinguistisch orientierten Arbeiten der oben genannten Art inzwischen Konsens (vgl. neben den bereits zitierten Arbeiten auch Baayen 2007, Clahsen 2006, Bertram et al. 2000, Pinker 1999, Clahsen 1999 u.a.), wobei meist angenommen wird, dass der Verarbeitungsmodus durch Faktoren wie die Frequenz der komplexen Einheit und ihrer Konstituenten, der Grad der morpho-semantischen Transparenz (vgl. z.B. Plag 2003: 49f, Clahsen 2006: 4, u.a.), oder das Talent und die Neigungen des jeweiligen Sprechers (Ullman 2007: 276) mitdeterminiert wird. Ullman zufolge ist die massive Speicherung regul¨arer Derivate alles andere als verwunderlich, da sich biologische Systeme wie das menschliche Gehirn

51 seiner Ansicht nach generell durch ein hohes Maß an Redundanz auszeichnen (vgl. Ullman 2004: 245, Ullman 2007: 275–277, Ullman 2005). Baayen (2007) lehnt die Redundanzhypothese dagegen aus o¨ konomieprinzipiellen Gr¨unden ab (ebd.: 83) und vermutet, dass die Redundanz anzeigenden Effekte von einer anders gearteten subtilen Interaktion der deklarativen und der prozeduralen Komponente herr¨uhren (ebd.: 96). Die Details dieser Diskussion sind f¨ur die Zwecke der vorliegenden Arbeit nicht relevant. Entscheidend ist lediglich, dass es massive Evidenz f¨ur eine bimodale Verarbeitung komplexer sprachlicher Strukturen gibt, wobei die Verarbeitung morpho-semantisch transparenter Formen tendenziell eher prozedural zu erfolgen scheint, w¨ahrend irregul¨are Formen eher assoziativ verarbeitet werden. Dieser Umstand bekr¨aftigt die hier vertretene Hypothese, dass die Verarbeitung sprachlicher Strukturen zwar von dem assoziativen Modus ausgeht und auch bis zu einem gewissen Grad auf assoziative Prozesse zur¨uckzuf¨uhren ist, dass die assoziative Verarbeitung allerdings im Fall von hoch transparenten und universell anwendbaren morphologischen Einheiten aufgrund des hohen Abstraktionsniveaus in symbolische Verarbeitung u¨ bergehen kann. Eine a¨ hnliche Sicht auf die Relation zwischen Analogiebildung und Regel ¨ vertritt im Ubrigen Motsch (1979), welcher mit Bezug auf Paul (1898) f¨ur ein Kontinuum zwischen Analogie und Regel pl¨adiert und annimmt, dass Regeln gewissermaßen die allgemeinste Form der jeweils zugrundeliegenden Analogien darstellen (ebd.: 31). Es sei an dieser Stelle allerdings betont, dass die Analogiebildung und die regelhafte Ableitung hier als qualitativ verschiedene Verarbeitungsmodi angesehen werden. Der hier vertretene Ansatz grenzt sich damit deutlich von Arbeiten wie Becker (1990) ab, welcher von dem von Motsch beschriebenen Kontinuum auf die qualitative Identit¨at von Analogiebildung und regelhafter Ableitung schließt (vgl. z.B. ebd.: 187). Die vorliegende Arbeit vertritt also einen moderat-emergentistischen Ansatz, der zwischen einer abstrakten und einer oder mehreren konkreten Bedeutungsebenen unterscheidet, wobei die abstrakte Bedeutungsebene einerseits zwar noch mit der Gesamtheit der sie begr¨undenden Derivate zusammenh¨angt, andererseits aber aufgrund ihrer Abstraktheit auch eine gewisse Eigenst¨andigkeit besitzt. Ganz a¨ hnlich wie in der vorliegenden Arbeit in Abschnitt 2.2.3 in Anlehnung an den streng emergentistischen Ansatz vorgeschlagen wurde kann allerdings auch nach der moderat-emergentistischen Sichtweise davon ausgegangen werden, dass sich die abstrakte Bedeutung der Suffixe in der konkreten Distribution bzw. Interpretation der attestierten Derivate manifestiert. Nach dieser Sichtweise determiniert die Gesamtheit der Derivate eines Ableitungsverfahrens die abstrakte Bedeutung des entsprechenden Affixes. Zur Ableitung neuer Derivate wird wiederum die abstrakt-semantische Information genutzt, die mit der emergenten morphologischen Struktur assoziiert ist. Das heißt, dass die Relation zwischen abstrakter Bedeutung und konkreten Derivaten im moderatemergentistischen Modell wechselseitig ist: W¨ahrend einerseits die Verwendung

52 bereits gebildeter Derivate die abstrakte Bedeutung des Affixes determiniert, determiniert andererseits die abstrakte Bedeutung des Affixes die Verwendung neu abgeleiteter Formen. Die abstrakte Bedeutung der Affixe ist das, was die verschiedenen Lesarten, Interpretationen und Verwendungsweisen der attestierten Derivate miteinander verbindet. Dabei ist zu beachten, dass Ableitungskategorien wie -ment, -age oder -(at)ion auch aus der moderat-emergentistischen Sichtweise auf der deklarativassoziativen Ebene prototypisch organisiert ist, dass es also typische und weniger typische Vertreter gibt, wobei weniger typische Vertreter, die nicht mehr unter die f¨ur die regelhafte Verarbeitung konstitutive allgemeing¨ultige Generalisierung fallen, assoziativ, d.h. z.B. analogiebasiert, verarbeitet werden. Neben lexikalisierten Derivaten wie bˆatiment (Bauwerk, Bauwesen’) oder passage (‘Durchreise, Durchfahrt’) (vgl. Abschnitt 2.2.3) stellen auch die oben analysierten allomorphen -ion-Formen des neufranz¨osischen FRANTEXT-Korpus ein Beispiel f¨ur eine derartige Randkategorie dar. W¨ahrend die hoch regul¨aren -ation-Derivate des Neufranz¨osischen nach dem hier vertetenen Ansatz also auf eine regelhafte Verarbeitung zur¨uckzuf¨uhren sind, sind die vier departizipialen Formen comparution, e´ closion, parution und disparition bzw. *disparution (s.o.) also als analogische Ableitungen zu analysieren. Wie in Kapitel 5.1.4 deutlich werden wird, zeichnen sich genuin franz¨osische -age-Nominalisierungen mit kollektiver Interpretation wie outillage (‘Werkzeug’) durch einen a¨ hnlich sporadischen Charakter aus, wie die vermutlich genuin franz¨osischen allomorphen -ion-Nominalisierungen, weshalb naheliegt, auch diese Formen als Exponenten einer analogisch verarbeiteten Randkategorie eines im prototypischen Bereich regelhaften Ableitungsverfahrens zu analysieren.41 Ungeachtet dessen entspricht die abstrakte Bedeutung eines im obigen Sinne regelhaften Derivationsverfahrens, die in Abschnitt 2.1 ausf¨uhrlich thematisiert ist, der Menge derjenigen semantischen Merkmale, die alle durch das Affix abgeleiteten Derivate gemeinsam haben. In den folgenden Kapiteln soll gezeigt werden, dass die franz¨osischen Nominalisierungssuffixe -ment und -age in ihrer prototypischen Form als hochgradig abstrakte, regelhafte Ableitungsverfahren zu klassifizieren sind und dass die Verwendung der -ment- und -age-Nominalisierungen letztlich durch die abstrakte Bedeutung der Suffixe und nicht durch Analogien zu bereits bestehenden 41

Vgl. jedoch die Diskussion zur diachronen Datenlage in Abschnitt 5.1.4. Es ist zudem anzumerken, dass der marginale Status des letzteren Musters vor allem auf dessen niedrige Typefrequenz zur¨uckzuf¨uhren ist. Nat¨urlich w¨are es bei entsprechenden gesellschaftlich-pragmatischen Konditionen (vgl. dazu z.B. Kapitel 5.1.5) m¨oglich, dass dieses Muster an Frequenz zunimmt und sich zu einem eigenst¨andigen regul¨aren Ableitungsverfahren entwickelt. Der hier vertretene Ansatz ist also durchaus mit der Beobachtung von Baayen (2009: 27) bzw. Bybee & Slobin (1982) kompatibel, dass auch weniger prototypische Muster diachron als “attractors” fungieren k¨onnen.

53 Bildungen (z.B. in Bezug auf die Zugeh¨origkeit der Denotate zu bestimmten Bezeichnungsdom¨anen) determiniert wird. Die grundlegende Methode wird dabei sein, u¨ ber die Untersuchung der Distributions- und Interpretationsmuster der attestierten Derivate f¨ur beide Suffixe den jeweils kleinsten gemeinsamen semantischen Nenner der zugeh¨origen Derivate zu ermitteln.

2.2.5 Moderater Emergentismus und duale Stratifizierung Der oben entwickelte moderat-emergentistische Ansatz vereint Ideen des emergentistischen Forschungsparadigmas mit Konzepten aus dual stratifizierten Ans¨atzen. Um die in der vorliegenden Arbeit zugrundeliegenden Vorstellungen bez¨uglich der Unterscheidung sowie der Relation zwischen abstrakter Suffixbedeutung und konkreten Derivaten weiter zu verdeutlichen, empfiehlt es sich, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der hier vertretenen moderat-emergentistischen Sichtweise und bestehenden dual stratifizierten Ans¨atzen transparent zu machen. Das Ergebnis der folgenden Erl¨auterungen wird sein, dass das moderat-emergentistische Modell zumindest im Hinblick auf die Modellierung derivationsmorphologischer Ph¨anomene als eine besondere Auspr¨agung dual stratifizierter Ans¨atze aufgefasst werden kann. Wie bereits in Abschnitt 2.1.1 deutlich wurde, ist der Grundgedanke dual stratifizierter Ans¨atze, dass die abstrakte Bedeutung lexikalischer Einheiten den Rahmen f¨ur deren Interpretation bzw. Verwendung vorgibt (vgl. z.B. die entsprechenden Erl¨auterungen zu Liebers ‘skeleton/body’-Metapher). Genauere Vorstellungen dar¨uber, wie die abstrakte Bedeutung den Rahmen f¨ur die konkrete Interpretation lexikalischer Einheiten vorgibt, werden zum Beispiel von Bierwisch (1983) entwickelt. Bierwisch (1983) argumentiert daf¨ur, dass sich ¨ die Bedeutung von lexikalischen Einheiten in Außerungen aus rein sprachlichen semantischen und außersprachlichen konzeptuellen Informationen zusammensetzt. Dabei geht der Autor davon aus, dass die m¨oglichen Interpretationen einer lexikalischen Einheit zwar durch konzeptuelles Wissen bereit gestellt werden, dass sie aber auf der rein sprachlichen Ebene durch eine semantische Repr¨asentation determiniert sind. Dass beispielsweise eine lexikalische Einheit (LE) wie dt. Schule in Beispiel (18) als eine Institution, ein Geb¨aude, ein “Ensemble von Prozessen” oder eine “Institution als Prinzip” interpretiert werden kann, begr¨undet sich durch außersprachliches Wissen. Es handelt sich um verschiedene Konzepte, die mit der LE Schule bezeichnet werden k¨onnen. (18)

a. Die Schule spendete einen gr¨oßeren Betrag. Schule1 ⊂ Institution b. Die Schule hat ein Flachdach. Schule2 ⊂ Geb¨aude c. Die Schule macht ihm großen Spaß.

54 Schule3 ⊂ Ensemble von Prozessen d. Die Schule ist eine Grundlage der Zivilisation. Schule4 ⊂ Institution als Prinzip

(Bierwisch 1983: 81)

Dass Schule jedoch in genau dieser Weise alterniert, dass dieses Alternationsmuster auch von bestimmten weiteren LEn u¨ bernommen wird (vgl. Theater, Oper, Universit¨at), wohingegen es f¨ur andere LEn mit a¨ hnlicher Denotation systematisch ausgeschlossen ist (vgl. z.B. Museum), ist auf die semantischen Eigenschaften der jeweiligen lexikalischen Einheiten zur¨uckzuf¨uhren. Die grundlegende Annahme von Bierwisch (1983) ist, dass die semantische Repr¨asentation auf der sprachlichen Ebene eine Familie von Konzepten determiniert, von welcher eine Interpretationsfunktion im konkreten Kontext eine kontextad¨aquate Variante ausw¨ahlt. Das Hauptargument f¨ur die Trennung von konzeptueller und semantischer Ebene ist die hohe Systematizit¨at zusammen mit den diese begleitenden sprachspezifischen Idiosynkrasien im Bereich der konzeptuellen Verschiebung: Es gibt systematische Muster konzeptueller Variation, die sich aber nicht generell f¨ur alle sprachlichen Einheiten reproduzieren lassen, sondern durch eine sprachspezifische semantische Ebene gefiltert zu sein scheinen. Es ist zu betonen, dass die Variantendeterminierung in diesem Ansatz nicht der einzige Beitrag der semantischen Ebene ist. Bierwisch schreibt den lexikalischen Einheiten außerdem eine abstrakte Bedeutungsrepr¨asentation zu, aus der alle Interpretationsvarianten abgeleitet werden k¨onnen. In (19) ist diese Zweiteilung f¨ur die LE Schule dargestellt, wobei (19a.) die abstrakte semantische Repr¨asentation (‘SEM’) und (19b.) die konzeptuellen Interpretationsvarianten angibt. (19)

ˆ [ZWECK XW] a. X W= LEHR- UND LERNPROZESSE ˆ [INSTITUTION X UND SEM X] b. X ˆ [GEBAUDE ¨ X X UND SEM X] ˆ [PROZESS X UND SEM X] X ˆ [ENTITAT ¨ X UND SEM X] X

(Bierwisch 1983: 87)

In Bierwisch (1989) wird dar¨uber hinaus expliziert, dass die in (19) aufgelisteten Interpretationsvarianten als eine Art Interpretationsschablonen (“SFtemplets”) aufzufassen sind, welche ebenfalls einen Teil des rein sprachlichen semantischen Wissens ausmachen. Bei diesen Interpretationsschablonen handelt es sich laut Bierwisch um Operatoren, die unabh¨angig von spezifischen lexikalischen Einheiten im Lexikalischen System vorhanden sind und an konzeptuell ad¨aquate lexikalische Einheiten applizieren k¨onnen, um so eine konzeptuelle Verschiebung zu erm¨oglichen. Diesen Interpretationsschablonen kommt vor allem im Zusammenhang mit der von Bierwisch (1989) thematisierten Interpretation von Ereignisnominalisierungen eine zentrale Rolle zu. Das “SF-templet”

55 f¨ur die Resultatsinterpretation von Nominalisierungen wie in (20) ist nach Bierwisch (1989: 41) zum Beispiel [[xRESe] : [x e]], was bedeutet, dass es die Denotationsvariante ‘Resultat des vom Basisverb bezeichneten Ereignisses’ als Interpretationsm¨oglichkeit bereitstellt, welche unter (20b.) illustriert ist. (20)

¨ a. Die Ubersetzung dauerte nur wenige Wochen. ¨ b. Die Ubersetzung der Bibel enth¨alt einige Fehler.

(Ereignis) (Resultat)

Bierwisch bezieht die abstrakte Bedeutung von Derivationsaffixen nicht in seine Betrachtung der Lesartenausbildung mit ein. In st¨arker morpho-semantisch orientierten Arbeiten, wie zum Beispiel Lieber (2004), werden Bedeutungdifferenzen zwischen Nominalisierungssuffixen zwar in der Regel ebenfalls nicht untersucht. Generell spielt die Bedeutung von Derivationsaffixen aber eine wichtige Rolle. So ist eine implizite Grundannahme von Lieber (2004), dass das abstrakt-semantische Ergebnis der Verkettung von Derivationsbasis und Suffix den Rahmen f¨ur die Lesartenausbildung vorgibt (vgl. auch Abschnitt 2.1.1). Die in emergentistischen Arbeiten zentrale Frage, wie die abstrakten Bedeutungen generiert werden bzw. zustande kommen, wird in den oben genannten Arbeiten allerdings nicht behandelt. Interessanterweise argumentiert Bierwisch (1999) in einem Kommentar zu dem streng assoziativen Ansatz von Friedemann Pulverm¨uller (d.h. Pulverm¨uller 1999), dass viele zentrale Eigenschaften lexikalischer Einheiten nicht als emergente Regularit¨aten aufgefasst werden k¨onnen, da der deklarative Input nicht die Informationen liefert, die offensichtlich von den lexikalischen Einheiten transportiert werden: Standard examples from theoretical linguistics . . . show that lemmas and lexemes have properties that go beyond coincidence-based assemblies. In particular, they are inherently disposed toward combinatorial operations; push-down storage, modelled by decreasing reverberation in cell assemblies, cannot capture this. Hence, even if the language capacity has an associationist characterization at some level, it cannot just be co-occurrence-based assembly formation. (Bierwisch 1999: 278)

Als Evidenz f¨ur diese Hypothese f¨uhrt Bierwisch unter anderem Verben wie engl. buy und sell in S¨atzen wie John sold the car to Bill versus Bill bought the car from John an, welche dem Autor zufolge dieselbe ‘coincidental activation’ ausl¨osen und daher in einem assoziativen Ansatz nicht unterschieden werden k¨onnten (ebd.: 281). Auch die systematische Polysemie von Verben wie engl. rent (‘mieten, vermieten’) in S¨atzen wie John did not buy the house, but he ended up renting it versus John bought the house, but he ended up renting it stellt laut Bierwisch ein Problem f¨ur assoziative Ans¨atze dar, weil zwei verschiedene semantische Repr¨asentationen mit derselben Form rent assoziiert werden m¨ussten (ebd.). Unter anderem aus diesen Gr¨unden argumentiert Bierwisch, dass assoziative Ged¨achtnisinhalte streng von den Regeln zu deren Verwendung bzw. Kombination zu trennen sind, da letztere von einer g¨anzlich anderen Qualit¨at zu sein scheinen:

56 The essential point is rather that a different type of representational organization is needed, one that might use coincidental cell assemblies recruited from different cortices, providing the basis for rather different organizational principles and structural operations, that is, operations of the sort theoretical linguistics has made explicit over the past decades. (Bierwisch 1999: 281)

Im Zusammenhang mit der semantischen N¨ahe von buy und sell kann zwar aus der hier eingenommenen, moderat-emergentistischen Sichtweise angemerkt werden, dass sich die unterschiedliche Perspektive, welche von buy im Verh¨altnis zu sell eingef¨uhrt wird, sehr wohl in einem assoziativen Ansatz in unterschiedlichen Repr¨asentationen abbilden kann. Das Problem der verbalen Polysemie k¨onnte in assoziativ ausgerichteten Ans¨atzen zudem unter R¨uckgriff auf das Konzept der Prototypizit¨at von Kategorien gel¨ost werden, da in einer entsprechenden prototypischen Struktur durchaus verschiedene Lesarten eines Verbs repr¨asentiert werden k¨onnen. Die sprachspezifischen Details dieser Diskussion k¨onnen in der vorliegenden Arbeit allerdings vernachl¨assigt werden, da es hier nur darum gehen soll, die prinzipielle Vereinbarkeit der moderatemergentistischen Sichtweise und dual stratifizierter Ans¨atze im Bereich der Analyse regelhafter Derivationsmorphologie aufzuzeigen. So bel¨auft sich die generelle Gemeinsamkeit zwischen Bierwischs Ansatz und dem hier entwickelten Modell offensichtlich auf die Annahme, dass Sprache bimodal verarbeitet wird. Die beiden Ans¨atze unterscheiden sich lediglich insofern, als z.B. Bierwisch (1999) davon ausgeht, dass sprachliche Regeln nicht durch Abstraktion aus dem Input abgeleitet werden k¨onnen. Bei der Analyse der abstrakten Bedeutung von Derivationsmorphemen kommt dieser Unterschied zwischen der moderat-emergentistischen Konzeption und letzterer Auffassung allerdings nicht zum Tragen. In diesem Zusammenhang ist entscheidend, dass die Relation zwischen der (emergenten) Affixbedeutung und den konkreten Ableitungen im moderat-emergentistischen Modell als wechselseitig aufgefasst wird: Die abstrakte Bedeutung der Suffixe ergibt sich zwar nach dieser Sichtweise aus der Gesamtheit der attestierten Ableitungen. Neue Derivate werden aber auch nach dem hier vertretenen Ansatz unter R¨uckgriff auf die abstrakte Suffixbedeutung gebildet. Die neuen Bildungen werden zudem u¨ ber das Suffix in das Ableitungsparadigma eingegliedert, womit bereits ein gewisser Rahmen f¨ur die Interpretationsm¨oglichkeiten der Derivate festgelegt ist. Das heißt, die abstrakte Bedeutung produktiver Wortbildungsaffixe bzw. -verfahren hat auch nach dem moderat-emergentistischen Ansatz einen erheblichen Einfluss auf die Interpretations- und Verwendungsm¨oglichkeiten der Derivate. Es wird ersichtlich, dass die moderat-emergentistische Untersuchung derivationsmorphologischer Ph¨anomene letzten Endes auch auf eine gewisse duale Stratifizierung hinausl¨auft. Im Rahmen der hier intendierten Untersuchung der Bedeutung franz¨osischer Nominalisierungssuffixe k¨onnen etwaige Unterschiede zwischen der moderat-

57 emergentistischen und der dual stratifizierten Auffassung somit vernachl¨assigt werden. F¨ur die vorliegende Arbeit ist lediglich die in beiden Ans¨atzen implizite Annahme relevant, dass Derivate des selben Suffixes a¨ hnliche Interpretationsvarianten bzw. Verwendungsm¨oglichkeiten aufweisen, wohingegen sich Derivate verschiedener Suffixe systematisch in ihren Interpretationsvarianten und Verwendungskontexten unterscheiden.42 Im empirischen Teil der vorliegenden Arbeit soll die G¨ultigkeit dieser Generalisierung f¨ur die franz¨osischen Nominalisierungssuffixe -ment und -age untersucht werden. Mit der empirischen Untersuchung wird somit nicht nur die in Abschnitt 2.1.2 aufgestellte Hypothese u¨ ber den semantischen Unterschied zwischen -ment und -age gepr¨uft. Der Grad der Systematizit¨at, mit der sich die beiden Suffixe unter der hier zugrundegelegten Herangehensweise unterscheiden lassen, ist gleichzeitig ein Indiz f¨ur die Stichhaltigkeit sowohl der moderat-emergentistischen als auch der dual stratifizierten Modellierung von Derivationsmorphemen.

2.3

Fazit: Der theoretische Ausgangspunkt

In diesem Kapitel wurde der morphologietheoretische Rahmen f¨ur die in den Kapiteln 3 bis 5 vorgestellte Untersuchung der franz¨osischen Nominalisierungssuffixe -ment und -age etabliert. Die folgenden Abs¨atze fassen die wichtigsten Ergebnisse aus den Abschnitten 2.1 und 2.2 zusammen und geben damit eine ¨ Ubersicht u¨ ber die theoretischen Annahmen, die bei der Interpretation der in den folgenden Kapiteln zu untersuchenden Sprachdaten zugrundegelegt werden. Das Primat der Bedeutung in der Derivationsmorphologie und der mutmaßliche Bedeutungsunterschied zwischen frz. -ment und -age Derivationsmorphologie bel¨auft sich in erster Linie auf die Komposition von bedeutungstragenden Einheiten. Die Bedeutung hat in der Derivationsmorphologie insofern einen besonderen Stellenwert, als die derivationsmorphologischen Einheiten von den Sprechern eingesetzt werden, um zum Zeitpunkt der jeweiligen Neubildung noch nicht versprachlichte Konzepte zu versprachlichen. Auch die Nominalisierung mittels -ment bzw. -age dient der Versprachlichung von neuen Konzepten. Das Primat der Bedeutung in der Derivationsmorphologie legt somit nahe, dass die durch die empirische Untersuchung zutage tretenden Unterschiede zwischen -ment- und -age-Nominalisierungen auf einen abstraktsemantischen Unterschied zwischen den Suffixen zur¨uckzuf¨uhren sind. 42

Womit nicht ausgeschlossen ist, dass sich die Interpretationsm¨oglichkeiten und Verwendungskontexte der Derivate in bestimmten Bereichen u¨ berschneiden, vgl. dazu Kapitel 5.2 der vorliegenden Arbeit.

58 Bedeutungskonstitution und semantisch-pragmatische Angemessenheit Der hier vertretene Ansatz ist streng kompositionell. Auf der rein sprachlichen Ebene ergeben sich die Interpretations- und Verwendungsm¨oglichkeiten der Derivate ausschließlich aus der Interaktion zwischen der Bedeutung der Derivationsbasen und der abstrakten Bedeutung der Affixe. Da komplexe lexikalische Einheiten gebildet werden, um die Artikulations- bzw. Bezeichnungsbed¨urfnisse der Sprecher in konkreten Situationen zu befriedigen, hat die Wortbildung dar¨uber hinaus allerdings auch eine pragmatische Dimension. So sind Kombinationsrestriktionen, -l¨ucken und -idiosynkrasien vornehmlich auf die semantischpragmatische Angemessenheitsbedingung zur¨uckzuf¨uhren, nach welcher neue komplexe Lexeme nur zu dem Zweck abgeleitet werden, um noch nicht versprachlichte Konzepte angemessen zu versprachlichen. Phonologische und morphologische Kombinationsrestriktionen k¨onnen eine (sekund¨are) Rolle spielen, sind aber f¨ur die hier anstehende Untersuchung irrelevant.

Moderat-emergentistische Morphologie und abstrakte Wortbildungsregeln Der hier vertretene Ansatz ist moderat-emergentistisch. Die Bedeutung von Derivationsaffixen entspricht der Abstraktion u¨ ber die Gesamtheit der einzelnen Instanzen des entsprechenden Ableitungsverfahrens im Input der Sprecher. Der Grad der Abstraktion richtet sich nach der morpho-semantischen Transparenz der Derivate und der Typefrequenz des Ableitungsschemas. Bei extrem hoher morpho-semantischer Transparenz und Typefrequenz kann ein derart hohes Abstraktionsniveau erreicht werden, dass die assoziative Verarbeitung in symbolische Verarbeitung u¨ bergeht. Die abstrakte Bedeutung von hoch transparenten und frequenten Affixen h¨angt also einerseits mit der Gesamtheit der sie begr¨undenden Derivate zusammen, besitzt aber andererseits aufgrund des hohen Abstraktionsniveaus auch eine gewisse Eigenst¨andigkeit. Nach dieser Sichtweise determiniert die Gesamtheit der Derivate eines Ableitungsverfahrens die abstrakte Bedeutung des entsprechenden Affixes. Zur Ableitung neuer Derivate wird wiederum die abstrakt-semantische Information genutzt, die mit der emergenten morphologischen Struktur bzw. Regel assoziiert ist. Die Relation zwischen abstrakter Bedeutung und konkreten Derivaten ist im moderatemergentistischen Modell also wechselseitig: W¨ahrend einerseits die Verwendung bereits gebildeter Derivate die abstrakte Bedeutung des Affixes determiniert, determiniert anderseits die abstrakte Bedeutung des Affixes die Verwendung neu abgeleiteter Formen. Eine geeignete Methode f¨ur die empirische Untersuchung der abstrakten Bedeutung von regelhaften Nominalisierungsverfahren ist demnach, u¨ ber die detaillierte Untersuchung der Verwendungs- und Interpretationsmuster einer hohen Anzahl konkreter Ableitungen deren kleinsten gemeinsamen semantischen Nenner zu ermitteln.

59 In den Kapiteln 3 bis 5 wird die moderat-emergentistische Methode zur Untersuchung der franz¨osischen -ment- und -age-Nominalisierungen angewendet. Wie bereits in Abschnitt 2.2.5 betont wurde kann der Grad der Koh¨arenz, den die Datenbeschreibung erreicht, als ein Indiz f¨ur die Stimmigkeit der moderatemergentistischen Modellierung von Nominalisierungssuffixen im Speziellen und von Derivationsaffixen im Allgemeinen gewertet werden. Eine diesbez¨ugliche Auswertung erfolgt in Kapitel 6.

3

Der Bedeutungsunterschied zwischen -age und -ment

Gem¨aß den Ausf¨uhrungen in Kapitel 2 geht es in diesem Kapitel darum, den kleinsten gemeinsamen semantischen Nenner f¨ur die in den Korpora attestierten -ment- bzw. -age-Nominalisierungen zu ermitteln. Hierf¨ur werden in Abschnitt 3.1 zun¨achst die in der Einleitung erw¨ahnten Untersuchungen zu -ment und -age vorgestellt. Wie in der Einleitung angedeutet sprechen sich die zitierten Autoren mehrheitlich daf¨ur aus, dass das unterschiedliche Verhalten von -ment- und -ageNominalisierungen auf einen Komplex von qualitativ verschiedenen suffixalen Eigenschaften zur¨uckzuf¨uhren ist. In den Abschnitten 3.2 und 3.3 wird entgegen dieser Ansicht argumentiert, dass die verschiedenen Ph¨anomene auf einen einzigen abstrakt-semantischen Unterschied zwischen beiden Affixen zur¨uckgef¨uhrt werden k¨onnen. In Abschnitt 3.2 werden zun¨achst die dem Ansatz zugrundeliegenden Vorstellungen u¨ ber die mit Nominalisierungsprozessen im Allgemeinen einhergehenden Bedeutungsver¨anderungen explizit gemacht. In Abschnitt 3.3 wird daraufhin die abstrakte Bedeutung der -ment- und -age-Nominalisierung analysiert. Abschnitt 3.4 fasst die wichtigsten Ergebnisse zusammen und stellt die Verbindung zu den nachfolgenden Kapiteln 4 und 5 her.

3.1

Kriterien zur Unterscheidung zwischen -age und -ment

Es gibt in der Literatur nur wenige Untersuchungen, die sich explizit mit dem Bedeutungsunterschied zwischen -ment und -age befassen. Meist wird ein Katalog verschiedener Unterscheidungskriterien vorgeschlagen, wobei zwei Kriterien im Mittelpunkt stehen, welche in den folgenden Abschnitten unter Aspektualit¨at (3.1.1) und Agentivit¨at (3.1.2) zusammengefasst werden. Im Anschluss werden die in der Literatur vorgeschlagenen Unterscheidungskriterien zun¨achst im Hinblick auf ihre deskriptive Ad¨aquatheit diskutiert (Abschnitt 3.1.3). Daraufhin erfolgt eine generelle Diskussion der in der Literatur getroffenen Generalisierungen vor dem Hintergrund des in Kapitel 2 entwickelten moderatemergentistischen Ansatzes (Abschnitt 3.1.4).

3.1.1

Aspektuelle Unterschiede

Als eines der h¨aufigsten Kriterien zur Unterscheidung von -ment und -age werden die bereits in Kapitel 1 angef¨uhrten aspektuellen Unterschiede zwischen den -ment- und -age-Nominalisierungen genannt, wobei -age-Nominalisierungen als

61 tendenziell durativ, imperfektiv bzw. generell nicht-terminativ beschrieben werden, wohingegen den -ment-Nomina eine tendenziell punktuelle, perfektivische bzw. terminative Referenzweise zugesprochen wird.1 So hebt beispielsweise Dubois (1962: 29–32) hervor, dass sich -ment-Nomina durch ihren “sens terminatif” (‘terminative Bedeutung’) auszeichnen und meist auf “r´esultats acquis” (‘erreichte Zust¨ande’) Bezug nehmen. Bally (1965: 181) beobachtet, dass -age ‘oft durativen und iterativen Aspekt ausdr¨uckt’ (“[-age d´esigne] tr`es souvent l’aspect duratif et it´eratif”), w¨ahrend -ment ‘gerne den punktuellen oder terminativen Aspekt’ bezeichnet (“-ment d´esigne volontiers l’aspect ponctuel ou terminatif”, ebd.). L¨udtke (1978) stellt zwar einerseits die Hypothese auf, dass “man aspektuelle Unterschiede zwischen beiden Suffixen kaum annehmen kann” (ebd.: 101). Andererseits hebt der Autor allerdings die “durative” Bedeutungskomponente von -age-Nominalisierungen hervor (ebd.: 147) und betont die H¨aufigkeit sogenannter “deadjektivischer -ment-Nominalisierungen”, d.h. -ment-Nominalisierungen, die L¨udtkes Analyse zufolge von partizipialen Basen abgeleitet sind, wie z.B. abattement (‘Niedergeschlagenheit’), d´er`eglement (‘Unregelm¨aßigkeit’) oder enneigement (‘Eingeschneitsein’) (ebd.: 98, 162f). Ganz a¨ hnlich betonen Dubois & Dubois-Charlier (1999) den oft partizipialen Ursprung der -ment-Nomina und attestieren den Nominalisierungen eine “pr´evalence du sens ‘´etat, r´esultat’ sur celui de ‘action”’ (‘Vorrang der Bedeutung ‘Zustand, Resultat’ vor derjenigen der ‘Aktion”, ebd.: 20). -AgeNomina zeichnen sich dagegen laut Dubois & Dubois-Charlier (1999) durch die “pr´edominance du sens ‘action”’ (‘Vorrang der Bedeutung ‘Aktion”, ebd.) aus. Im Hinblick auf -ment und -age beobachtet Martin (2010), dass die Verben, die l¨angere Ereignisse bezeichnen, mit -age nominalisiert werden, w¨ahrend die Verben, die das k¨urzere Ereignis bezeichnen, -ment selegieren. Mit Hilfe des Pr¨adikats assister a` (‘beiwohnen’) zeigt Martin beispielsweise f¨ur das Dublettenpaar gonflage/gonflement (‘Aufpumpen/Anschwellen, Aufgehen’), dass die -age-Bildung das verursachende Ereignis mitdenotiert (es muss miterlebt worden sein, damit ein Satz wie (1a.) wahr ist), wohingegen die -ment-Bildung auch verwendet werden kann, wenn das verursachende Ereignis nicht miterlebt wurde (vgl. (1b.)). Die Denotation der verursachenden Komponente kann zwar durch ein Agenskomplement beigesteuert werden (vgl. (1c.)). Dieser Umstand a¨ ndert aber nichts an der Denotation der entsprechenden -ment-Nominalisierungen. (1)

1

2

a. Pierre a assist´e au gonflage des ballons. ‘Pierre hat dem Aufpumpen der B¨alle beigewohnt.’2 Die Begriffe terminativ und nicht-terminativ zur Beschreibung der aspektuellen Eigenschaften der -age- und -ment-Nominalisierungen werden in der entsprechenden Literatur in einem recht vagen, pr¨atheoretischen Sinn verwendet. ¨ Bei dieser und allen folgenden deutschen Ubersetzungen handelt es sich um die ei¨ gene Ubersetzung der franz¨osischen Beispiele aus Martin (2010), Dubois & DuboisCharlier (1999) u.a. ins Deutsche.

62 > Pierre witnessed the whole causation b. Pierre a assist´e au gonflement des ballons. ‘Pierre hat dem Aufgehen der B¨alle beigewohnt.’ > Pierre witnessed the change of state only c. Pierre a assist´e au gonflement des ballons par X. > Pierre witnessed the whole causation

(Martin 2010: 118f)

Laut Martin (2010) zeigt sich der Unterschied in a¨ hnlicher Weise bei Nominalisierungen von iterativ/semelfaktiv alternierenden Basisverben. So k¨onnen beispielsweise nur -age-Nomina in iterativen Kontexten im Singular vorkommen (vgl. (2a.) vs. (2b.)). -ment-Nominalisierungen m¨ussen dagegen in iterativen Kontexten pluralisiert werden (2c.). (2)

a. Une session de ◦ miaulage/secouage3 ‘Eine Periode des Miauens/Sch¨uttelns’ b. *Une session de miaulement/secouement c. Une session de miaulements/secouements

(Martin 2010: 120)

Der zweite von Martin (2010) beschriebene aspektuelle Unterschied zwischen -ment- und -age-Nominalisierungen ist, dass -age-Nominalisierungen von Verben mit affizierten Argumenten wie plisser nur Ereignisse denotieren k¨onnen, welche eine inkrementelle Relation zu der von ihnen affizierten Entit¨at aufweisen, w¨ahrend diese Einschr¨ankung f¨ur -ment-Nomina nicht gilt.4 Dadurch erkl¨art sich laut Martin die Inkompatibilit¨at von -age-Nomina mit thematischen Argumenten, die durch das von dem -age-Derivat bezeichnete Ereignis nichtinkrementell affiziert w¨urden, wie es f¨ur die Augen in Beispiel (3b.) oder f¨ur den Passanten in Beispiel (4b.) angenommen werden kann. (3)

a. Marie a intentionnellement pliss´e sa jupe ‘Marie hat absichtlich ihren Rock gefaltet.’ > Le plissement/plissage de la jupe b. Marie a intentionnellement pliss´e les yeux. ‘Marie hat absichtlich die Augen zusammengekniffen.’ > Le plissement/#plissage des yeux (Martin 2010: 124)

(4)

Pierre a e´ cras´e la banane/ le pi´eton ‘Pierre hat die Banane p¨uriert / den Fußg¨anger u¨ berfahren’ a. L’´ecrasage de la banane b. # L’´ecrasage du pi´eton c. OK L’´ecrasement du pi´eton

3

4

(Martin 2010: 125)

Die Markierung “◦ ” soll anzeigen, dass es sich um eine nicht-etablierte, d.h. nicht in lexikographischen Referenzwerken aufgenommene Bildung handelt. F¨ur eine Definition der hier angesprochenen inkrementellen Relation von Ereignis und affiziertem Thema vgl. Martin (2010: 125) bzw. Krifka (1998).

63 3.1.2 Der Agentivit¨atskontrast Ein weiteres zentrales Kriterium zur Unterscheidung von -ment- und -ageNominalisierungen steht im Zusammenhang mit der Argumentstruktur der Basisverben. So beobachten sowohl Dubois (1962: 62) als auch L¨udtke (1978: 98) und Dubois & Dubois-Charlier (1999: 21–23), dass -ment haupts¨achlich intransitive, passivische oder reflexive Basen ableitet, w¨ahrend die Basisverben von deverbalen -age-Nominalisierungen meist transitiv sind. Zur Illustration dieser Differenz werden von den Autoren Dublettenpaare wie gonflage/gonflement (‘Aufpumpen/Anschwellen’) oder abattage/abattement (‘Holzf¨allen u.a./Niedergeschlagenheit’), aber auch -ment-Nominalisierungen von sogenannten unergativen intransitiven Basisverben wie gazouiller (‘zwitschern’) angef¨uhrt:5 (5)

a. Paul est abattu apr`es ce r´esultat. ‘Paul ist niedergeschlagen nach dem Resultat.’ → L’abattement de Paul apr`es ce r´esultat. ‘Pauls Niedergeschlagenheit nach dem Resultat’ (Dubois & Dubois-Charlier 1999: 23) b. Le coutelier affute ˆ les couteaux. ‘Der Messerschmied schleift die Messer.’ → L’affutage des couteaux par . . . . ˆ ‘Das Schleifen der Messer durch . . . ’ (Dubois & Dubois-Charlier 1999: 21) c. Les oiseaux gazouillent. ‘Die V¨ogel zwitschern.’ → Le gazouillement des oiseaux. ‘Das Zwitschern der V¨ogel’ (Dubois & Dubois-Charlier 1999: 22)

Diese Generalisierung wird von Kelling (2004) als Transitivit¨atshypothese bezeichnet. Einer ihrer Einw¨ande gegen die Transitivit¨atshypothese ist, dass sie erstens im Falle von -ment zu einer gewissen unn¨otigen Komplexit¨at f¨uhrt, da f¨ur das Suffix verschiedene Selektionsrestriktionen, d.h. “Intransitivit¨at, Reflexivit¨at und Zustandspassiv”, angegnommen werden m¨ussen (ebd.). Zweitens f¨uhrt Kelling gegen die Transitivit¨atshypothese eine Reihe von Gegenbeispielen an, wie etwa furetage (‘Frettchenjagd’) vom intransitiven Verb fureter (‘Frettchen 5

Erl¨auterungen zu der in erster Linie syntaktischen Einteilung von intransitiven Verben in unergative Verben und unakkusative Verben geben z.B. Burzio (1986) oder Grewendorf (1989) bzw. Grewendorf (2002: 64–66). In der vorliegenden Arbeit wird diese Einteilung in Abschnitt 3.2.2 aus semantischer Sicht diskutiert und schließlich nicht u¨ bernommen. F¨ur eine n¨ahere Beschreibung von -ment-Nominalisierungen mit sogenannten unergativen Basisverben vgl. Abschnitt 3.3.3 sowie insbesondere Kapitel 4.3.1 und 4.3.2.

64 jagen’) oder essoufflement (‘Atemlosigkeit’), wobei die Autorin davon auszugehen scheint, dass essouflement von der transitiven Variante des Verbs essoufler mit der Bedeutung ‘jm den Atem rauben’ abgeleitet ist. Um die Transitivit¨atshypothese zu modifizieren, schl¨agt Kelling (2004) vor, dass die kontrastive Analyse von nfrz. -ment und -age auf einer genauen Untersuchung der thematischen Rollen der Argumente des Basisverbs beruhen sollte, wobei sie sich an Dowtys (1991) Prinzip der Protorollen orientiert. Dowty (1991) flexibilisiert die strikte Dichotomie von Agens und Patiens insofern, als er die thematischen Rollen als “Protorollen” auffasst, deren Charakteristika von Argumenten zu verschiedenem Grad realisiert werden k¨onnen. Einschl¨agige Eigenschaften f¨ur eine ausgepr¨agte Agenshaftigkeit sind beispielsweise die bereits in Kapitel 2 thematisierten Merkmale volitionality und sentience (vgl. f¨ur die entsprechenden Beispiele aus Dowty 1991 Kelling 2004: 347). Laut Kelling verbinden sich Basisverben mit prototypischem Agens als erstem Argument mit -age. Basisverben, deren erstes Argument keine prototypische Agenshaftigkeit aufweist, verbinden sich hingegen mit -ment: (6)

Protoagensprinzip (Kelling 2004: 347) Das franz¨osische Suffix -age wird von Verb-Pr¨adikaten selegiert, deren erstes Argument ein prototypischer Agens ist, w¨ahrend das franz¨osische Suffix -(e)ment sich mit Pr¨adikaten verbindet, deren erstes Argument kein prototypischer Agens ist, also nur wenige Agenseigenschaften aufweist.

Bei Nominalisierungen wie furetage erf¨ullt beispielsweise das erste Argument des Basisverbs fureter die Kriterien f¨ur prototypische Agenshaftigkeit, wohingegen das erste Argument von eˆ tre gonfl´e, d.h. der Struktur, die Kelling als Basisstruktur von gonflement angibt, die Kriterien nicht erf¨ullt. Ein weiteres Argument f¨ur das Protoagensprinzip ist nach Kelling (2004), dass diachron gesehen gelegentlich sowohl -ment-Nominalisierungen durch Dubletten auf -age als auch -age-Nomina durch Dubletten auf -ment ersetzt werden und dass diese Ersetzung dem Protoagensprinzip zu folgen scheint. So wird laut (Kelling 2004) beispielsweise babillement diachron durch babillage (‘Geplapper’) ersetzt, weil das erste Argument von babiller (‘plappern’) protoagentivisch ist, wohingegen d´eferlage diachron von d´eferlement (‘Brandung’) verdr¨angt wird, weil das erste Argument von d´eferler (‘branden’) nicht protoagentivisch ist. Martin (2010) stimmt zwar mit Kelling (2004) in der Annahme u¨ berein, dass -age-Nomina agentivischer (“more agentive”, ebd.: 11) sind als -ment-Nomina. Das entscheidende Kriterium ist laut Martin allerdings nicht der Grad der Agentivit¨at des externen Basisarguments, sondern erneut die Beschaffenheit der von den Nominalisierungen denotierten Ereigniskette. So beobachtet Martin, dass die von -age-Nomina denotierten Ereignisketten entweder mit einer (intentionalen) Handlung beginnen oder durch eine Handlung herbeigef¨uhrt worden sind, wohingegen die von -ment-Nomina bezeichneten Ereignisse eine intentionale

65 Handlung implizieren k¨onnen, aber nicht m¨ussen. Als eine Evidenz f¨ur diese Generalisierung zeigt Martin, dass -age-Nomina im Unterschied zu -ment-Nomina mit nicht-agentivischen par-Phrasen inkompatibel sind (vgl. (7b.)). Eine weitere Evidenz ist laut Martin, dass -age-Nomina in nicht-agentivischen Kontexten wie (7c.) kategorisch ausgeschlossen sind. (7)

a. Le d´ecollement des tuiles par le vent/ par l’ouvrier ‘Die Abl¨osung der Dachziegeln durch den Wind/durch den Handwerker’ b. Le d´ecollage des tuiles par #le vent/ par l’ouvrier c. Le miaulement/#◦ miaulage d’une porte qui grince ‘Das Miauen einer T¨ur, die quietscht’ (Martin 2010: 122f)

3.1.3

Diachrone Differenzierung und Bezeichnungsgruppen

Bereits ein Vergleich der oben angef¨uhrten Arbeiten macht deutlich, dass die darin vorgeschlagenen Generalisierungen haupts¨achlich Tendenzen beschreiben, die systematisch durch Gegenbeispiele eingeschr¨ankt werden. So listet bereits L¨udtke (1978: 142) insgesamt 27 Beispiele f¨ur -age-Nomina mit “reflexiver Bedeutung” auf, welche die Transitivit¨atshypothese schw¨achen. Ein Ausschnitt aus L¨udtkes Liste ist unter (8) wiedergegeben: (8)

accrochage couchage d´ecolletage d´egonflage

(‘Zusammenstoß’) ¨ (‘Ubernachtung’) (‘Dekolletierung’) (‘R¨uckzieher’)

rattrapage remplissage maquillage mouchage

(‘Besserung’) (‘F¨ullung’) (‘Schminke(n)’) (‘Naseputzen’)

Ein weiteres Beispiel gegen die Transitivit¨atshypothese ist das von Kelling (2004) angef¨uhrte furetage (‘Frettchenjagd’) mit dem intransitiven Basisverb fureter. Dagegen stellen die von Dubois & Dubois-Charlier (1999) angef¨uhrten Beispiele f¨ur -ment-Nomina von ‘unergativen’ Verben wie gazouillement (‘Gezwitscher’), neben vielen vergleichbaren Nomina aus dem in der vorliegenden Arbeit verwendeten Korpus wie miaulement, (‘Miauen’), hurlement, (‘Geschrei’) lapement, (‘Schlabbern’) etc., Gegenbeispiele gegen das Protoagensprinzip dar, nach welchem das erste Argument der Basisverben von -mentNominalisierungen kein prototypisches Agens sein darf. Weiterhin stellen Daten wie die in Abschnitt 3.1.1 unter (3a.) oder (4c.) aus Martin (2010) zitierten Strukturen Beispiele f¨ur -ment-Nominalisierungen dar, deren Basisverben transitiv sind und ein (proto-)agentivisches externes Argument aufweisen. Die Daten sind daher sowohl f¨ur die Transitivit¨atshypothese als auch f¨ur das Protoagensprinzip problematisch. In den f¨ur die vorliegende Arbeit relevanten Korpora finden sich zudem Beispiele f¨ur -age-Nomina von inchoativen Basen, welche weder durch die Transitivit¨atshypothese noch durch die Protoagenshypothese erfasst werden k¨onnen

66 (vgl. (9a.,b.)). Dar¨uber hinaus weisen die Korpusdaten zahlreiche Belege f¨ur perfektivische -age-Nominalisierungen sowie Beispiele f¨ur -ment-Nomina in imperfektivischen Kontexten auf, die Gegenbeispiele zu der oben beschriebenen aspektuellen Differenzierung zwischen -ment und -age darstellen (vgl. (9c., d.)).6 (9)

a. En fait il ne s’assied pas, semble brutalement tir´e en sens contraire par le d´emarrage subit de la voiture, . . . ‘Genau genommen setzt er sich nicht hin, sondern scheint durch das pl¨otzliche Losfahren seines Wagens brutal in die entgegengesetzte Richtung geschleudert zu werden.’ (clef)7 b. . . . la voix interne est comme le cri du silence, une force atomique liant les cellules entre elles, l’esquisse d’un autre corps e´ chappant au d´ecoupage cadavre. ‘. . . die innere Stimme ist wie der Schrei der Stille, eine atomare Kraft, die die Zellen miteinander verbindet, die Skizze eines anderen K¨orpers, der dem Zerfall des Kadavers entrinnt.’ (cœur) c. Huit ol´eoducs ont explos´e a` la suite d’un sabotage commis aux premi`eres heures de la matin´ee de mardi aux environs de Barcelone . . . ‘Acht Pipelines sind infolge einer Sabotage, die in den ersten Dienstagmorgenstunden in der Umgebung von Barcelona ver¨ubt wurde, explodiert.’ (lyc´een) d. Acteur “professionnel”, j’avais connu la rumeur houleuse d’une grande salle, et l’aplanissement progressif des bruits quand la lumi`ere baisse tandis que . . . . ‘Als professioneller Schauspieler hatte ich das unruhige Gemurmel eines großen Saales kennengelernt, und die schrittweise Abnahme der Ger¨ausche, wenn das Licht schw¨acher wird, w¨ahrend . . . .’ (pas)

Am wenigsten sind die detaillierten Generalisierungen von Martin (2010) von Gegenevidenzen betroffen. Doch auch in diesem Zusammenhang finden sich Gegenbeispiele. Wie die Kookkurrenz von plissage mit de(s) yeux in den Beispielen unter (10) illustriert, existieren auf franz¨osischen Internetseiten beispielsweise nicht wenige Strukturen, in welchen -age-Nominalisierungen mit nicht-inkrementell affizierten Thema-Argumenten kookkurieren, wohingegen 6

7

N¨ahere Erl¨auterungen zur perfektivischen und imperfektivischen Referenzweise werden in Abschnitt 3.3.1 gegeben, wo die einschl¨agigen -age-Beispiele auch glossiert werden. Die entsprechenden -ment-Beispiele werden in Abschnitt 4.2.1 in den im Folgenden vorgeschlagenen Analyseansatz integriert und glossiert. Sofern nicht anders gekennzeichnet beziehen sich die geklammerten K¨urzel hier und in allen folgenden Beispielen des Kapitels auf den jeweiligen Originaltext des dieser Arbeit zugrundeliegenden synchronen FRANTEXT-Korpus, das in Kapitel 4.1.1 sowie Anhang A.2 beschrieben wird. In Anhang A.2 wird auch eine Aufschl¨usselung der Textk¨urzel gegeben.

67 Martin (2010) Konstruktionen wie plissage des yeux aufgrund der fehlenden inkrementellen Affizierung des Thema-Arguments durch das vom Basisverb bezeichnete Ereignis als unakzeptabel einstuft. (10)

a. Kas, fais attention qd mˆeme car le plissage des yeux a` cause du soleil, on le paie avec les rides! ‘Kas, gib trotzdem Acht, denn das Zusammenkneifen der Augen aufgrund der Sonne bezahlt man mit Falten!’ (http://forum.doctissimo.fr/grossesse-bebe/bebes annee/....html 04.01.2010) b. Apr`es quelques secondes de plissage de yeux et de massage de front, Elrohir e´ tait r´eveill´e. ‘Nach einigen Sekunden des Augenzusammenkneifens und der Stirnmassage war Elrohir aufgewacht.’ (http://naheulbeuk.kanak.fr/l-entre-f135/arrive-de-baboum-t80630.html 04.01.2010) c. [C.Lambert] reprend le rˆole de raiden ds “mortal kombat 3” – j’aime beaucoup son plissage des yeux pour paraitre asiatik. ‘[C.Lambert] u¨ bernimmt die Rolle des Raiden in“mortal kombat” – ich mag sein Zusammenkneifen der Augen, um asiatisch zu wirken, sehr.’ (http://forum.hardware.fr/hfr/Discussions/Cinema/films-forum-listesujet 64 18.htm 04.01.2010)

In der Literatur werden f¨ur gew¨ohnlich drei verschiedene zus¨atzliche Prinzipien vorgeschlagen, um die Suffixwahl bzw. die Distribution von -ment und -age weiter einschr¨anken zu k¨onnen. Erstens wird argumentiert, dass der Agentivit¨atskontrast zwischen -age und -ment neu ist und a¨ ltere Basen dem nicht entsprechen m¨ussen. So existiert das Protoagensprinzip laut Kelling erst seit dem 19. Jahrhundert, als -age im deverbalen Bereich produktiv wurde (vgl. Kelling 2004: 351). Diese Hypothese wirft allerdings die Frage auf, wie und wodurch das Prinzip entstanden sein k¨onnte, eine Frage, die von Kelling (2004) nicht thematisiert wird. Im diachronen Teil (Kapitel 5) der vorliegenden Arbeit soll dar¨uber hinaus gezeigt werden, dass sich die abstrakte Bedeutung von -ment und -age gerade dadurch auszeichnet, diachron weitestgehend konstant geblieben zu sein. Die im entsprechenden Kapitel angef¨uhrten Sprachdaten stellen eindeutige Gegenevidenzen gegen die Hypothese dar, dass sich -ment und -age im 19. Jahrhundert hinsichtlich des Agentivit¨atsprinzips ver¨andert haben. Als zweites zus¨atzliches Prinzip wird vorgeschlagen, dass sich -ment- und -age-Nomina bez¨uglich der ontologischen Dom¨anen bzw. Bezeichnungsgruppen unterscheiden, welchen ihre Referenten angeh¨oren.8 So betont Dubois (1962), 8

Der Begriff der Bezeichnungsgruppe wird hier in Anlehnung an L¨udtke (1978) bzw. Sammet (1968) verwendet, um auf den Umstand Bezug zu nehmen, dass die Nomi-

68 dass das neufranz¨osische -age Nominalisierungen ableitet, die haupts¨achlich auf industrielle Operationen oder Fabrikationsphasen Bezug nehmen, (“[L]e suffixe -age . . . indique une op´eration industrielle, une phase de fabrication, . . . ”, ‘das Suffix -age zeigt eine industrielle Operation, eine Fabrikationsphase an’, Dubois 1962: 29), w¨ahrend die Referenten der -ment-Nomina tendenziell aus den Bereichen “psychologie” (‘Psychologie’), “attitudes individuelles ou sociales” (‘individuelle oder soziale Verfassungen’), und “´economie politique” (‘Volkswirtschaft’) stammen (ebd.: 31). Nach L¨udtke (1978) stellt die Zugeh¨origkeit zu Bezeichnungsgruppen sogar das zentrale Kriterium zur Unterscheidung von -ment und -age dar, wobei sich diese Zugeh¨origkeit laut dem Autor nur f¨ur -ageNomina feststellen l¨asst. Neben dem Bezeichnungsfeld der “technischen Operationen” (ebd.: 145) nennt L¨udtke als zweite Bezeichnungsgruppe von -age die pejorative Verwendung der Nominalisierungen zur Bezeichnung von “mehr oder weniger gering eingesch¨atzten Handlungen” (ebd.: 146). Einschl¨agige Beispiele sind bavardage (‘Geschwafel’), cafouillage (‘Wirrwarr’), persiflage (‘Spott, Sp¨ottelei’) etc.. Das Suffix -ment ist dagegen nach L¨udtke (1978: 102) “nicht auf einen Bereich spezialisiert, sondern neutral.” Dubois & Dubois-Charlier (1999) gehen dagegen a¨ hnlich wie Dubois (1962) davon aus, dass f¨ur -ment die Bezeichnungsgruppen Psychologie, Tierlaute und Bewegungen einschl¨agig sind, w¨ahrend die Referenten der -age-Nomina meist zu den “op´erations techniques” (‘technischen Operationen’) zu rechnen sind: [La nominalisation] en -ment int´eresse le lexique psychologique, les cris d’animaux, les mouvements, celle en -age, dominante dans les op´erations industrielles, remplace celle en -ment rel´egu´ee dans les techniques anciennes; . . . . ‘F¨ur die Nominalisierung auf -ment ist der Bereich des psychologischen Wortschatzes, der Tierlaute, der Bewegungen wichtig, die Nominalisierung auf -age, die im Bereich der industriellen Operationen dominiert, ersetzt diejenige auf -ment, die auf den Bereich der antiquierten Techniken zur¨uckgedr¨angt wird; . . . ’ ¨ (Dubois & Dubois-Charlier 1999: 20, eigene Ubersetzung ins Deutsche)

Kelling (2004) sieht die Zugeh¨origkeit zu Bezeichnungsgruppen sogar als ein Prinzip an, welches das Wirken des Protoagensprinzips einschr¨anken kann. In diesem Zusammenhang nennt Kelling (2004: 351) unter anderem das Beispiel int´eressement (‘Gewinnbeteiligung’), bei welchem die Argumentstruktur des Basisverbs nach Kellings Analyse die Ableitung durch -age erwarten lassen w¨urde. Da das Ziel der Nominalisierung von int´eresser (‘interessieren’) aber die Bildung neuen Finanz- bzw. Handelsvokabulars war, haben die Sprecher ment selegiert und das Protoagensprinzip missachtet. Ganz a¨ hnlich zieht auch Martin (2010) die Zugeh¨origkeit zu Bezeichnungsgruppen als Prinzip zur Erkl¨arung von Gegenbeispielen gegen ihre weiteren drei Prinzipien (L¨ange der Ernalisierungen eines bestimmten Ableitungsverfahrens dazu neigen, Bedeutungen desselben Begriffsfeldes auszubilden. Sammets (1968) Definition dieses “Prinzips” soll im Folgenden allerdings noch diskutiert werden.

69 ¨ eigniskette, Inkrementalit¨at und Agentivit¨at) heran. Ahnlich wie L¨udtke (1978) ist Martin (2010) dabei der Ansicht, dass -age generell f¨ur den physischen Bereich markiert ist (“marked for the physical domain”, ebd.), wohingegen -ment ontologisch unmarkiert (“ontologically unmarked”, ebd.) ist. Dieser Umstand zeigt sich laut Martin in der Tatsache, dass -age nur von Verben selegiert wird, die mindestens eine physische Lesart (“physical reading”, ebd.) aufweisen.9 W¨ahrend in den neueren der oben zitierten Arbeiten u¨ ber den Status des “Prinzips” der Bedeutungsgruppenzugeh¨origkeit nicht reflektiert wird, macht L¨udtke (1978: 80) mit Bezug auf Sammet (1968) deutlich, dass er die Ausbildung von Bezeichnungsgruppen als analogisch motiviert versteht, wobei der Autor sich der folgenden Definition von Sammet (1968: XI) anschließt. Wir verstehen unter einer Bedeutungsgruppe eine Anzahl von W¨ortern . . . , die eine bedeutungsm¨aßige Einheit bilden, d.h. begrifflich verwandte W¨orter darstellen. . . . In der Bedeutungsgruppe sehen wir einen wichtigen Ansatzpunkt f¨ur die Erforschung der suffixalen Ableitungen im Hinblick auf ihre Entstehung. . . . Damit wird ausgesprochen, daß Neubildungen in Analogie zu bereits gel¨aufigen W¨ortern bzw. analog zu bestehenden Ableitungsverh¨altnissen geschaffen werden. (Sammet 1968: XI)

Die Annahme ist hier also, dass z.B. zur Bezeichnung eines neu zu versprachlichenden psychologischen Zustandes am ehesten eine -ment-Nominalisierung abgeleitet wird, weil bereits etliche -ment-Nomina mit Referenten derselben ontologischen Dom¨ane im Vokabular der Sprecher existieren. In diesem Zusammenhang ist zun¨achst zu betonen, dass es sich bei diesem “Prinzip” ebenfalls lediglich um eine mehr oder weniger starke Tendenz handelt, zu der vor allem f¨ur die -age-Ableitung, aber auch f¨ur -ment systematisch Gegenbeispiele angef¨uhrt werden k¨onnen, vgl. f¨ur -age z.B. blocage affectif (‘affektive Blockade’), clivage du moi (‘Spaltung des Ich’), d´eblocage (‘Deblockierung (psych)’), ratage (‘Scheitern’), r´eglage de compte (‘Kontore¨ gulierung’), surmenage intellectuel (‘geistige Uberbeanspruchung’) etc. sowie f¨ur -ment beispielsweise ajustement (‘Justierung’), brassement (‘Bierbrauung’), e´ chappement (‘Entl¨uftung’), enregistrement (‘Tonaufnahme’). Wie bereits in Kapitel 2.2.4 angedeutet werden in Kapitel 4 noch weitere Gegenbeispiele diskutiert. Derartige Nominalisierungen sind mit der Annahme einer analogischen 9

Die wenigen F¨alle von -age-Nominalisierungen mit vollst¨andig “nicht-physischen” Basen wie effrayage (‘Erschrecken’) beruhen nach Ansicht der Autorin auf metaphorischer Verschiebung. Das heißt, laut der Autorin wurde effrayage zun¨achst gebildet, um eine konkrete Entit¨at zu bezeichnen und wurde daraufhin uminterpretiert, um mit ihr auf einen im Sinne der metaphorischen Similarit¨at a¨ hnlichen abstrakten Gegenstand Bezug nehmen zu k¨onnen. Diese problematische Hypothese soll im Folgenden nicht weiter diskutiert werden, da sie die weitreichende Annahme impliziert, dass die metaphorische Verschiebung anderen Prinzipien unterliegt als das “Prinzip” der Zugeh¨origkeit zu Bedeutungsgruppen.

70 “Wirkung” der Bezeichnungsgruppen letztlich unvereinbar, denn aus welchem Grund sollten -ment- und -age-Nominalisierungen mit der obigen Interpretation abgeleitet bzw. verwendet werden, wenn die Derivate in erster Linie in Analogie zu den weiter oben skizzierten typischen Bezeichnungsgruppen gebildet werden w¨urden? In den neueren der oben genannten Arbeiten kommt als Problem noch hinzu, dass die Ausbildung von Bezeichnungsgruppen als ein “Prinzip” aufgefasst wird, welches den aspektuellen und argumentstrukturellen Besonderheiten der -ment- bzw. -age-Nominalisierung relativierend entgegenwirkt. Diese Auffassung ist besonders problematisch, da sie sich einerseits auf die analogische Wirkung von Bezeichnungsgruppen beruft bzw. berufen muss, w¨ahrend gleichzeitig Unterscheidungskriterien angenommen werden, die von dieser analogischen Wirkung gerade g¨anzlich unabh¨angig sind. In diesen Arbeiten ist somit v¨ollig unklar, inwiefern die oben skizzierten Generalisierungen im Zusammenhang mit den f¨ur -ment und -age einschl¨agigen Bedeutungsgruppen u¨ ber eine bloße Beschreibung des Ph¨anomens hinausgehen. Wie in den folgenden Abschnitten, darunter vor allem in Abschnitt 3.3.4 und in Kapitel 4, noch ausf¨uhrlicher argumentiert werden soll f¨uhren die oben zitierten Einsch¨atzungen zudem insofern zu einer unvollst¨andigen Beschreibung der Datenlage, als der Umstand, dass die Ausbildung der Bezeichnungsgruppen im Fall von -ment und -age eindeutig im Zusammenhang mit den abstrakten Bedeutungsmerkmalen der Suffixe steht, weitestgehend ignoriert wird. Der hier angesprochene Zusammenhang klingt zwar bereits in Dubois (1962) sowie L¨udtke (1978) an. So vermutet Dubois (1962: 31): “Sans doute est-ce ce sens terminatif qui donne au suffixe son extension particuli`ere dans le vocabulaire e´ conomique . . . ” (‘Wahrscheinlich ist es diese terminative Bedeutung, die dem Suffix zu seiner charakteristischen Ausbreitung im o¨ konomischen Wortschatz verhilft’), w¨ahrend L¨udtke (1978: 147) annimmt, dass “[d]ie Einheit der Bezeichnungsgruppen [der -age-Nomina] in der Bezeichnung einer durativen Handlung [liegt]”.10 In beiden Arbeiten wird dieser Zusammenhang aber nicht weiterverfolgt bzw. im Fall von L¨udtke (1978) sogar mit gegenteiligen Einsch¨atzungen an anderer Stelle wieder verdunkelt. Wird die Zugeh¨origkeit zu Bezeichnungsgruppen allerdings als ein Prinzip verstanden, das den eigentlichen semantischen Merkmalen der Suffixe entgegenl¨auft oder zumindest von diesen unabh¨angig ist, muss der Zusammenhang zwischen der abstrakten Bedeutung der Suffixe und der Ausbildung von Bezeichnungsgruppen zwangsl¨aufig ignoriert werden. Die oben zitierten Arbeiten sind also unter anderem insofern deskriptiv unangemessen, als sie der augenscheinlichen Relation zwischen den tendenziellen Bezeichnungsgruppen der -ment- und -age-Nomina und der abstrakten Bedeutung der Suffixe unter anderem aufgrund der Gegen¨uberstellung von 10

Dies, wie bereits angedeutet, ungeachtet der Tatsache, dass er selbst aspektuelle Unterschiede zwischen -ment und -age an anderer Stelle negiert (s.u.).

71 abstrakten semantischen Eigenschaften und Bezeichnungsgruppenzugeh¨origkeit nicht gerecht werden k¨onnen. Das dritte Prinzip, das zur Erkl¨arung f¨ur das idiosynkratische Verhalten verschiedener -ment- und -age-Nomina herangezogen wird, ist die Bedeutungsdifferenzierung im Fall von Dubletten, d.h. Paaren von -ment- und -ageNominalisierungen desselben Basisverbs. Dubois (1962) f¨uhrt zur Illustration der von ihm angenommenen Bedeutungsdifferenzierung z.B. das Dublettenpaar arrosage versus arrosement an, wobei arrosage die Handlung der Bew¨asserung mit technischen Hilfsmitteln bezeichnet, wohingegen arrosement zur Bezeichnung des Umstands verwendet wird, dass ein Territorium durch Regen mit Wasser versorgt wird. Im Unterschied zu den oben beschriebenen Bedeutungsauspr¨agungen im Fall von -ment f¨uhrt Dubois die Bedeutungsdifferenzierungen im Kontext von Dubletten allerdings nicht auf etwaige abstrakte Eigenschaften der beiden unterschiedlichen Verfahren zur¨uck, sondern die Dubletten gelten bei ihm als “simples variantes morphologiques” (‘einfache morphologische Varianten’, ebd.). Auch hier stellt sich zun¨achst wieder die Frage nach der Natur des Prinzips. Handelt es sich um das Bestreben der Synonymievermeidung, welches unter R¨uckgriff auf die pragmatische Angemessenheitsbedingung dadurch erk¨art werden k¨onnte, dass Derivate nur dann gebildet werden, wenn der intendierte Inhalt noch nicht versprachlicht ist?11 Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass auch bei der Dublettenspezifizierung der Zusammenhang zu der abstrakten Bedeutung der Suffixe deutlich zu erkennen ist (vgl. hierzu die entsprechenden Erl¨auterungen in Abschnitt 3.3.4). Es ist zwar durchaus m¨oglich, dass sich die -mentund -age-Nomina in diesem Bereich vor dem Hintergrund der pragmatischen Angemessenheitsbedingung beeinflussen. Ungeachtet dessen zeigen die in den folgenden Abschnitten und in Kapitel 4 vorgestellten Daten, dass die Differenzierung der Dubletten genauso von der abstrakten Bedeutung der Suffixe (mit)determiniert wird wie die Zugeh¨origkeit der Nominalisierungen zu bestimmten Bezeichnungsgruppen. Daraus folgt erstens, dass die bloße Beobachtung von Bedeutungsdifferenzen zwischen Dubletten dem Unterschied zwischen -age und -ment letzten Endes nicht gerecht wird, da die der Bedeutungsdifferenzierung zugrundeliegende Systematik ignoriert wird. Zweitens folgt, dass weder die Zugeh¨origkeit der -ment- und -age-Nomina zu bestimmten Bezeichnungsgruppen noch die Bedeutungsdifferenzierung im Fall von Dubletten als Zusatzprinzipien herangezogen werden k¨onnen, welche die prim¨aren semantischen Unterschiede zwischen den Suffixen neutralisieren. Abgesehen davon wird die diachrone Untersuchung der beiden Nominalisierungsverfahren in Kapitel 5 zeigen, dass die Bedeutungsdifferenz zwischen den Suffixen zeitlich betrachtet schon vor der Entstehung der meisten Dubletten existierte, was bereits ausschließt, dass

11

Vgl. dazu die Definition der semantisch-pragmatischen Angemessenheit unter (10) in Kapitel 2.1.5.

72 der/die Bedeutungsunterschied/e durch Dublettendifferenzierung erkl¨art werden k¨onnen. Auch Martin (2010) versteht die Bedeutungsdifferenzierung im Fall von Dubletten (von Basisverben mit physischen und nicht-physischen Lesarten) als weitere Evidenz f¨ur die Hypothese der Dom¨anenzugeh¨origkeit, da -age in diesem Kontext generell die physische, -ment hingegen die nicht-physische Variante nominalisiert (vgl. z.B. le gonflement des prix, ‘der Anstieg der Preise’ versus le gonflage du ballon, ‘das Aufpumpen des Balles’, ebd.). Martin (2010) geht allerdings noch einen Schritt weiter und nimmt an, dass alle vier von ihr zur Unterscheidung von -ment und -age aufgestellten Generalisierungen als Prinzipien gegeneinander wirken und sich damit gegebenenfalls gegenseitig neutralisieren. So kann Martin (2010) die oben genannten Oberfl¨achenph¨anomene im Zusammenhang mit -ment und -age in der Tat bis auf einzelne Gegenbeispiele (s.o.) auf die Interaktion der vier von ihr aufgestellten Prinzipien zur¨uckf¨uhren. Allerdings stellt sich auch bei diesem System hierarchischer Prinzipien zum einen die weitreichende Frage nach der Natur der Prinzipien bzw. deren Hierarchisierung. Handelt es sich hierbei um einen Teil der derivationsmorphologischen Kompetenz der Sprecher? Zum anderen wird auch dieser Ansatz nicht der engen Relation zwischen den von den -ment- und -age-Nominalisierungen gezeigten Oberfl¨achenph¨anomenen und der abstrakten Bedeutung der Suffixe gerecht, die in den folgenden Abschnitten und Kapiteln verdeutlicht werden soll.12

3.1.4 Die Kriterien aus moderat-emergentistischer Sicht In der obigen Zusammenfassung wird bereits das in der vorliegenden Arbeit im Vordergrund stehende Bestreben deutlich, die verschiedenen von den -mentund -age-Nominalisierungen aufgewiesenen Oberfl¨achenph¨anomene auf einen zugrundeliegenden abstrakt-semantischen Unterschied zwischen den Suffixen zur¨uckzuf¨uhren. Die vorliegende Arbeit richtet sich in diesem Punkt deutlich gegen die Mehrheit der oben besprochenen Autoren, die eine R¨uckf¨uhrung auf 12

¨ Ein weiterer Kernbereich der Studie von Dubois (1962) ist im Ubrigen ein quantitativer Vergleich der Verfahren in Form eines Vergleichs der Typefrequenz der Derivate in zwei verschiedenen Ausgaben des Petit Larousse, wobei der Autor zu dem Schluss kommt, dass “le suffixe -age tend a` s’imposer au d´etriment de -ment” (‘das Suffix -age tendiert dazu, sich gegen¨uber -ment zu dessen Nachteil zu profilieren’, vgl. Dubois 1962: 29). Die Frage der Produktivit¨at der Suffixe wird in der vorliegenden Untersuchung allerdings ausgeklammert, da sie erstens f¨ur die Untersuchung der Bedeutung der Suffixe nicht von zentraler Relevanz ist und zweitens aufgrund der Komplexit¨at der Fragestellung im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht gel¨ost werden k¨onnte, vgl. dazu auch das negative Ergebnis der Produktivit¨atsuntersuchung in Fradin (2008a).

73 einen einzigen (abstrakt-)semantischen Unterschied nicht f¨ur m¨oglich halten.13 Entgegen der Mehrheit der oben zitierten Arbeiten wird in der vorliegenden Arbeit die Ansicht vertreten, dass die R¨uckf¨uhrbarkeitshypothese nicht aufgegeben werden sollte, solange keine umfassende Distributionsanalyse von -ment- und -age-Nominalisierungen existiert. Diese Sichtweise leitet sich aus dem in Kapitel 2 entwickelten moderat-emergentistischen Ansatz ab, nach welchem die Erkenntnisse u¨ ber derivationsmorphologische Einheiten aus der Untersuchung der entsprechenden Derivate in ihren konkreten Kontexten gewonnen werden sollten. Diese Information entspricht am ehesten dem Input, auf dessen Basis sich die entsprechenden abstrakten Inhalte herauskristallisieren, und ist somit konstitutiv f¨ur die abstrakte Bedeutung von Derivationsmorphemen (im Sinne der Ausf¨uhrungen in den Kapiteln 2.2.2 bis 2.2.5). Drei weitere Gr¨unde sprechen gegen eine verfr¨uhte Ablehnung der R¨uckf¨uhrbarkeitshypothese. Erstens ist noch einmal ausdr¨ucklich auf den Umstand hinzuweisen, dass die beobachteten Ph¨anomene bereits auf dem jetzigen Forschungsstand enge Relationen zueinander aufweisen, die teilweise von den oben zitierten Autoren selbst angemerkt werden. Hier sind beispielsweise die Mutmaßungen von Dubois (1962) und L¨udtke (1978) zu nennen, dass die Zugeh¨origkeit der -ment- bzw. -age-Nomina zu spezifischen Bezeichnungsgruppen durch aspektuelle Merkmale der Suffixe bedingt ist. In einem (moderat-)emergentistischen Ansatz folgt diese Abh¨angigkeitsrelation von selbst, wobei die Abh¨angigkeit allerdings, wie in Kapitel 2.2 erl¨autert, als eine beidseitige Relation aufgefasst wird: Die abstrakte Bedeutung der Suffixe stellt einerseits das Kondensat der Verwendungskontexte der konkreten Nominalisierungen dar und bildet andererseits den Rahmen f¨ur die Verwendung von Neubildungen. Die Pr¨aferenz der -ment-Ableitung, ‘erreichte Resultate’ zu bezeichnen, und der Gebrauch der Ableitungen in emotionalen, mentalen oder politisch-¨okonomischen Kontexten k¨onnen nach dieser Ansicht beispielsweise nicht getrennt von der abstrakten Bedeutung des Suffixes untersucht werden. Dieses Argument ist dabei keinesfalls nur auf die Bezeichnungsgruppen beschr¨ankt. Wie in Abschnitt 3.3.4 verdeutlicht werden soll lassen sich auch die u¨ brigen in der Literatur beobachteten Charakteristika der -mentund -age-Nominalisierungen (wie etwa die Ph¨anomene der Pr¨aferenz inkrementeller Thema-Argumente oder l¨angerer Ereignisketten im Fall von -age) auf die abstrakte Bedeutung der Suffixe zur¨uckf¨uhren. Die Frage der R¨uckf¨uhrbarkeit ist zwar auf der Basis der bisher betrachteten Daten noch nicht zu kl¨aren. Selbst die wenigen bisher betrachteten Daten sprechen jedoch aus der hier vertretenen moderat-emergentistischen Perspektive keinesfalls gegen, sondern vielmehr f¨ur eine genauere Pr¨ufung der R¨uckf¨uhrbarkeitshypothese. 13

¨ Auch Fradin (2008a) kommt im Ubrigen nach einer detaillierten Studie der Lesartenausbildung von -(at)ion-, -ment- und -age-Nominalisierungen zu dem Schluss, dass die M¨oglichkeit einer solchen grundlegenden Generalisierung h¨ochst unwahrscheinlich ist.

74 Zweitens stellt die R¨uckf¨uhrbarkeitshypothese vor dem Hintergrund von Lernbarkeits¨uberlegungen gerade eine sehr plausible Herangehensweise dar. W¨ahrend n¨amlich laut der R¨uckf¨uhrbarkeitshypothese in der spracherwerbenden Generation je Verfahren aus dem Input nur eine abstrakte Suffixbedeutung abgeleitet werden muss, ist die im Zuge des Spracherwerbs zu bew¨altigende “derivationsmorphologische Aufgabe” nach der kontr¨aren Ansicht bedeutend umfangreicher. Die Ablehnung der R¨uckf¨uhrbarkeitshypothese impliziert letztendlich, dass der Sprecher mit dem jeweiligen Derivationssuffix bzw. -verfahren nicht eine semantische Eigenschaft, sondern ein ganzes B¨undel an verschiedenen Eigenschaften assoziieren muss. Auch aus dieser Perspektive ist die R¨uckf¨uhrbarkeitshypothese als Ausgangshypothese f¨ur die empirische Untersuchung also um Einiges naheliegender als deren Ablehnung. Der dritte Grund, die pessimistische Sicht auf die R¨uckf¨uhrbarkeitshypothe¨ se nicht zu teilen, ergibt sich aus methodischen Uberlegungen. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass sich die Ablehnung der R¨uckf¨uhrbarkeitshypothese in den zitierten Arbeiten fast ausschließlich auf lexikographische Informationen und Akzeptabilit¨atsurteile der Verfasser gr¨undet, wobei das gr¨oßte Problem ist, dass die Untersuchungen auf weitestgehend kontextfreien Daten basieren. Wie vor allem im Zuge der in Kapitel 4 vorzustellenden empirischen Untersuchung deutlich werden wird tritt der grundlegende Unterschied zwischen -ment und -age allerdings erst bei einer detaillierten Untersuchung der entsprechenden Nominalisierungen in ihren konkreten Verwendungskontexten zutage. In den folgenden Abschnitten wird argumentiert, dass der Unterschied zwischen -ment und -age in der Perspektive liegt, aus welcher mit der jeweiligen Nominalisierung auf das von der Verbbasis bezeichnete Ereignis Bezug genommen wird. Bereits aus diesem Grund ist zu erwarten, dass sich der Bedeutungsunterschied zwischen den Suffixen erst unter Ber¨ucksichtigung entsprechend großer bzw. komplexer Verwendungskontexte zeigt. Martin (2010), und auch Dubois & Dubois-Charlier (1999), st¨utzen ihre Generalisierungen zwar zum großen Teil auf kreierte Kontexte, in welchen -ment- und -age-Nominalisierungen Akzeptabilit¨atsunterschiede aufweisen. Auch kreierte Kontexte sind allerdings oft nicht komplex genug, um die Referenzweise der betreffenden Nominalisierungen (d.h. die Perspektive, aus der die Nominalisierungen auf das Basisereignis Bezug nehmen) eindeutig bestimmen zu k¨onnen. Zudem ist an dieser Vorgehensweise problematisch, dass kreierte Kontexte erstens nur wenig Authentizit¨at haben und zweitens eine gegen¨uber der Interpretation von Korpusdaten zwangsl¨aufig erh¨ohte subjektive Gerichtetheit bzw. Beeinflussung der Daten seitens der Autoren aufweisen (vgl. hierzu auch Kapitel 4.1.1). In diesem Abschnitt wurde daf¨ur argumentiert, dass die R¨uckf¨uhrbarkeitshypothese nicht ausgeschlossen werden sollte, bevor die Distribution von -mentund -age-Nominalisierungen in ihren konkreten Verwendungskontexten untersucht wurde. Abschnitt 3.3 wird dar¨uber hinaus zeigen, dass die R¨uckf¨uhrbarkeit

75 der oben diskutierten Ph¨anomene auf einen abstrakt-semantischen Unterschied zwischen -ment und -age bei genauerer Betrachtung weit weniger unwahrscheinlich ist, als es durch die Mehrheit der oben zitierten Arbeiten suggeriert wird.

3.2

Zur Semantik von Ereignisnominalisierungsprozessen

Bevor allerdings in Abschnitt 3.3 die kontrastive Analyse der -ment- und -ageNominalisierung erfolgen kann ist es zun¨achst erforderlich, die dem hier intendierten Ansatz zugrundeliegenden Vorstellungen u¨ ber die mit Nominalisierungsprozessen im Allgemeinen einhergehenden Bedeutungsver¨anderungen explizit zu machen. Daher soll in Abschnitt 3.2.1 zun¨achst die hier vertretene Sichtweise u¨ ber die Semantik des Nominalisierungsprozesses an sich erl¨autert werden. In Abschnitt 3.2.2 wird eine theoretische Vor¨uberlegung hinsichtlich des Verh¨altnisses zwischen der vornehmlich syntaktischen Dreiteilung in transitive, intransitiv-unakkusative und intransitiv-unergative Verben und der sprachlich verankerten Ereignisperspektivierung eingef¨ugt, wobei argumentiert wird, dass Unergativit¨at und Unakkusativit¨at letzten Endes genauso wenig mit spezifischen Verben assoziiert werden k¨onnen wie Aktivit¨at oder Passivit¨at, sondern dass es sich in allen F¨allen um verschiedene Arten der Konzeptversprachlichung handelt, die sich in der Perspektive unterscheiden, aus welcher auf das vom entsprechenden Verb bezeichnete Ereignis Bezug genommen wird. Da der -age- und der -ment-Nominalisierung in der vorliegenden Arbeit eine ganz a¨ hnliche Funktion zugeschrieben wird wie den oben genannten syntaktischen Konstruktionen, ist es unerl¨asslich, im Vorwege auf die Flexibilit¨at der sprachlichen Mittel zur Ereignisperspektivierung hinzuweisen.

3.2.1

Ereignisnominalisierung und Ereignisreifizierung

In Bezug auf die semantische Analyse von Nominalisierungsprozessen orientiert sich die vorliegende Arbeit an der Sichtweise von Chierchia (1988), nach welchem Nominalisierungen wie englische Infinitiv- oder Gerundivphrasen (z.B. in Being home/To be home is nice) “semantisch mit Eigenschaften zu assoziieren sind” (ebd.: 7), wobei der Nominalisierungsprozess als ein Vorgang aufzufassen ist, bei dem “pr¨adikative Ausdr¨ucke in singul¨are Terme transformiert werden” (ebd.: 47).14 Diese Generalisierung soll im Folgenden im Hinblick 14

¨ Es handelt sich hier um eigene Ubersetzungen der englischen Textpassagen aus Chierchia (1988). F¨ur eine n¨ahere Bestimmung von “pr¨adikativen Ausdr¨ucken” und “singul¨aren Termen” s.u..

76 auf zwei Aspekte erl¨autert werden. Zun¨achst wird pr¨azisiert, was es f¨ur einen sprachlichen Ausdruck bedeutet, “semantisch mit Eigenschaften assoziiert” zu sein. Zweitens wird u¨ berlegt, inwiefern sich Nominalisierungen qua ihrer Eigenschaft als singul¨are Terme von pr¨adikativen Ausdr¨ucken unterscheiden, welche ebenfalls “semantisch mit Eigenschaften assoziiert” sind. Die Einbeziehung der moderat-emergentistischen Perspektive erweist sich dabei aus zwei Gr¨unden als sinnvoll. Erstens stellt sie den Bezug zu den derivationsmorphologischen Er¨orterungen in Kapitel 2 dar. Zweitens liefert das moderat-emergentistische Modell eine gute M¨oglichkeit, Chierchias formal-semantische Konzeption in die hier u¨ bernommene kognitiv-linguistische Ausrichtung zu u¨ bersetzen. Pr¨adikative Ausdr¨ucke wie tapfer in Johann ist tapfer oder denken in Johann denkt schreiben Individuen Eigenschaften zu. In der wahrheitsfunktionalen Semantik werden sie daher f¨ur gew¨ohnlich als Funktionen dargestellt, die durch Argumente zu s¨attigen sind.15 Das Adjektiv tapfer wird beispielsweise auf Individuen angewendet und ergibt innerhalb des gegebenen Modells den Wert wahr (f¨ur die Individuen, die tapfer sind) oder falsch (f¨ur die Individuen, die nicht tapfer sind). Aus der wahrheitsfunktionalen Perspektive k¨onnte angenommen werden, dass sich die Bedeutung pr¨adikativer Ausdr¨ucke in der Menge aller Individuen ersch¨opft, die (relativ zu einer gegebenen Zeit oder Situation) die vom Pr¨adikat zugeschriebene Eigenschaft besitzen. Ob und wie dar¨uber hinaus f¨ur sprachliche Ausdr¨ucke eine Intension, d.h. eine Bedeutung zu bestimmen ist, die u¨ ber die Extension hinausgeht, wird kontrovers diskutiert. Ein prominenter Bef¨urworter dieser Ansicht ist Frege, der diese “zus¨atzliche Bedeutung” den Sinn des Zeichens nennt (vgl. z.B. Frege 1994: 41f). Eine negative Antwort auf die Frage gibt beispielsweise Quine (1948). In neueren wahrheitsfunktionalen Modellen wird f¨ur gew¨ohnlich eine Art zust¨atzliche Bedeutung angenommenen, um die Interpretation von sprachlichen Ausdr¨ucken in intensionalen Kontexten ¨ ad¨aquat modellieren zu k¨onnen, da sich intensionale Außerungen nicht extensional verifizieren lassen. So kann f¨ur einen Satz wie Johann glaubt, tapfer zu sein beispielsweise argumentiert werden, dass in diesem Fall auf die Intension des Adjektivs Bezug genommen wird, dass sich die Wahrheitsbedingungen also nicht nach der außersprachlichen Welt, sondern nach der Vorstellungswelt des Referenten des Matrixsubjekts richten. Zur Modellierung der Bedeutung solcher Konstruktionen greifen Montague (1973) u.a. auf die Theorie von Carnap (1947) zur¨uck, nach welcher die Intension eines Begriffs als die Gesamtheit der Extensionen in allen m¨oglichen Welten verstanden werden kann.16 Genauer gesagt definiert Carnap (1947) die Intension eines Begriffes als eine Funktion, 15

16

Die wahrheitsfunktionale Semantik geht auf Tarski (1936) zur¨uck. Diese Art der Semantik versucht, f¨ur Fragmente nat¨urlicher Sprachen Modelle aufzustellen, in welchen die Bedeutung einer Aussage mit ihren Wahrheitsbedingungen identifiziert werden kann. F¨ur n¨ahere Erl¨auterungen vgl. z.B. Portner (2005: 12–27) und s.u.. Vgl. dazu auch Chierchia & McConnell-Ginet (2000: 264), wo Intensionen als Funktionen von “possible circumstances” zu Individuenmengen beschrieben werden. F¨ur

77 die jeder m¨oglichen Welti die Extension des Begriffes in dieser Welti zuordnet, und somit die Wahrheitsbedingungen f¨ur den Begriff angibt. Diese Auffassung von Intensionen weist allerdings bereits modellintern einige Probleme auf. So macht Chierchia (1988) unter anderem auf das Problem aufmerksam, dass Nominalisierungen wie Being home ebenso wie referentielle Terme wie z.B. John als Subjekt von Pr¨adikaten wie is nice vorkommen k¨onnen, welche normalerweise durch Individuenargumente ges¨attigt werden (vgl. John () is nice () bzw. die Kritik an Montagues “schwacher Intensionalit¨at” in Chierchia 1988: 22–38, 40–45 sowie die dort zitierten Referenzen). Die formal-semantische Diskussion um den Intensionsbegriff soll hier aus dem Grund nicht weiter vertieft werden, weil die in Kapitel 2 getroffene Festlegung auf den moderat-emergentistischen Ansatz bereits eine spezifische Sicht auf die Frage der Intension von sprachlichen Ausdr¨ucken impliziert. So sind nach der moderat-emergentistischen Perspektive nicht nur die Derivationsmorpheme einer Sprache als Produkte der menschlichen Abstraktionsf¨ahigkeit aufzufassen, sondern die M¨oglichkeit der Abstraktion ist genauso auf der Ebene der nicht-derivationellen lexikalischen Einheiten gegeben. Durch die h¨aufige Verwendung einer lexikalischen Einheit in den gleichen oder a¨ hnlichen Kontexten entsteht nach der in Kapitel 2 entwickelten moderat-emergentistischen Sichtweise eine abstrakte semantische Repr¨asentation, die zwar mit den einzelnen Verwendungsweisen zusammenh¨angt, die andererseits aber einen gewissen Grad an Unabh¨angigkeit von den konkreten Realisierungen besitzt. Nach dieser Ansicht ergibt sich aus der Vielzahl a¨ hnlicher Verwendungen eines sprachlichen Ausdrucks also eine abstrakte Repr¨asentation, und somit eine Begriffsbedeutung bzw. Intension, d.h. ein abstraktes Konzept, als mentales Konstrukt.17 Pr¨adika¨ tive Ausdr¨ucke wie denken in Außerungen wie Johann denkt haben demnach eine Intension und eine Extension. Die Intension ist das mit denken assoziierte abstrakte Konzept, die Extension entspricht der Gesamtheit der Individuen, auf die das Konzept zutrifft bzw. die unter anderem im Hinblick auf dieses Konzept charakterisiert werden k¨onnen (vgl. dazu auch L¨obner 2002: 25). Ein h¨aufig bem¨uhtes Argument f¨ur die (Wahrscheinlichkeit der) Existenz abstrak¨ ter mentaler Repr¨asentationen ist im Ubrigen die bloße Existenz von sprachlichen Ausdr¨ucken, die auf abstrakte Objekte Bezug zu nehmen scheinen (vgl. z.B. Chierchia & McConnell-Ginet 2000: 266). Ganz a¨ hnlich wird auch in der vorliegenden Arbeit die Ansicht vertreten, dass bereits das Ph¨anomen der Nominalisierung von pr¨adikativen Ausdr¨ucken als eine Evidenz f¨ur die Existenz entsprechender mentaler Repr¨asentationen gelten kann.

17

eine informelle Definition des Begriffs der m¨oglichen Welten vgl. Lewis (1973: 84) sowie die Erl¨auterungen in Chierchia & McConnell-Ginet (2000: 261–266). In Bezug auf die Konzeption von abstrakten Objekten a¨ hnelt dieser Ansatz demjenigen von Asher (1993).

78 Was Substantive in singul¨aren Termen wie z.B. Hund in Der Hund anbelangt, so gleicht das Verh¨altnis von Intension und Extension demjenigen, das oben f¨ur verbale Pr¨adikate beschrieben wurde. Auch Substantive sind “semantisch mit Eigenschaften assoziiert”, im obigen Fall beispielsweise mit den Eigenschaften, die f¨ur gew¨ohnlich Hunden zugesprochen werden. Unabh¨angig von der Verwendung des sprachlichen Ausdrucks entsprechen diese Eigenschaften der Intension, dem abstrakten Konzept, das sich aus den verschiedenen Verwendungen des Substantivs (Hund) ergibt. Die Unterscheidung zwischen sprachlichen Ausdr¨ucken in pr¨adikativer Funktion (d.h. ‘Pr¨adikaten’) und sprachlichen Ausdr¨ucken in referentieller Funktion (d.h. ‘singul¨aren Termen’) ist daher funktional zu bestimmen. Ein sprachlicher Ausdruck wie tapfer in Johann ist tapfer schreibt “seiner” Denotation, d.h. der Menge der potentiellen Referenten, eine Eigenschaft zu. Singul¨are Terme wie Der Hund sind dagegen als Ausdr¨ucke definiert, die der Bezugnahme auf Individuen dienen.18 Ungeachtet dessen entspricht die Denotation der in singul¨aren Termen enthaltenen Substantive (wie z.B. Hund) allerdings der Menge an Individuen, auf welche die entsprechenden Eigenschaften zutreffen. Der entscheidende Punkt f¨ur die vorliegende Arbeit ist, dass von Adjektiven wie tapfer oder Verben wie denken nicht sinnvoll angenommen werden kann, dass ihre Denotation in referentieller Position der Gesamtheit der Individuen entspricht, auf welche die entsprechenden Eigenschaften zutreffen. Zun¨achst einmal ist auff¨allig, dass Adjektive und Verben im Unterschied zu Substantiven nicht ohne Weiteres in vergleichbarer referentieller Position stehen k¨onnen (vgl. nur die Inkompatibilit¨at von *Der tapfer). Um in referentieller Position vorkommen zu k¨onnen, m¨ussen erstere Ausdr¨ucke nominalisiert werden, zum Beispiel zu Tapferkeit. Da es jeglicher Intuition widerspricht, das Denotat von Tapferkeit als die Menge aller tapferen Individuen zu bestimmen, schließt sich die vorliegende Arbeit Chierchia (1988) an, demzufolge Nominalisierungen formalsemantisch als Terme zu analysieren sind, die auf abstrakte Einzelobjekte bzw. Einzelindividuen Bezug nehmen: . . . the unsaturated structures associated with predicative expressions . . . can somehow be “projected” as individuals, or have individual counterparts, which is what nominalized expressions refer to. (Chierchia 1988: 54)

Nach dieser Sichtweise ist die Denotation von Nominalisierungen wie Tapferkeit die Intension des Pr¨adikats, das abstrakte Konzept, und also die Eigenschaft, die von der Basis in pr¨adikativer Funktion Individuen zugesprochen wird. Wie sich bereits andeutet, beinhaltet dieser Prozess des “Denotationswechsels” eine Vergegenst¨andlichung bzw. Reifizierung der mit dem Basispr¨adikat assoziierten 18

Vgl. f¨ur n¨ahere Erl¨auterungen z.B. K¨unne (2007: 24ff). Es ist zu beachten, dass ‘singular count nouns’ in Sprachen wie dem Deutschen in der referentiellen Position nur mit Determinierern vorkommen k¨onnen, da die Referenz auf ein bestimmtes Individuum, bzw. eine bestimmte Anzahl an Individuen explizit signalisiert werden muss.

79 Eigenschaft: Durch die Abstraktion von den Individuen, u¨ ber die das Basispr¨adikat pr¨adiziert wird, entsteht die Eigenschaft als ein mentales Konstrukt, das als Denotat f¨ur die Nominalisierung fungiert.19 Auch im Zuge der Ereignisnominalisierung werden die Eigenschaften vergegenst¨andlicht, welche die Basispr¨adikate Individuen zuschreiben. Die Denotation von Nominalisierungen wie Sprechen in Sprechen ist eine T¨atigkeit entspricht also der vergegenst¨andlichten Intension des Basispr¨adikats im oben definierten Sinn. Der einzige Unterschied zu Eigenschaftsnominalisierungen wie Tapferkeit ist, dass es sich bei der reifizierten Intension im Fall von Ereignisnominalisierungen nicht um eine Eigenschaft, sondern um ein universelles Ereignis, ein Ereignis als abstrakten Typ handelt, was aber lediglich der Tatsache geschuldet ist, dass bereits die entsprechenden Basispr¨adikate Ereignisse bzw. Ereigniskomplexe bezeichnen.20 Das heißt, die Denotation von Nominalisierungen entspricht generell den vergegenst¨andlichten Eigenschaften, die in den jeweiligen pr¨adikativen Basiskonstruktionen Individuen zugesprochen werden. Folgerichtig k¨onnen ‘singular count nouns’ wie Hund laut Chierchia einem ganz a¨ hnlichen Abstraktionsprozess unterzogen werden, der, unter anderem im Englischen, durch ‘bare plurals’ lexikalisiert wird (vgl. whales in (11)). (11)

whales are

extinct mammals numerous in short supply loved by John

(Chierchia 1988: 17)

F¨ur die Analyse dieser ‘bare plurals’ verbindet Chierchia (1988) den Ansatz von Carlson (1977), der annimmt, dass ‘bare plurals’ Namen von Arten sind, mit demjenigen von Cocchiarella (1976), der davon ausgeht, dass Arten mit vergegenst¨andlichten Eigenschaften im oben beschriebenen Sinn gleichzusetzen sind. Nach Chierchias Analyse von (11) entsteht durch die Abstraktion von den einzelnen Individuen, auf welche die Eigenschaft whale zutrifft, eine abstrakte Eigenschaft als mentales Konstrukt, ein abstraktes Konzept. ‘Bare plurals’ wie

19

20

Ontologische Fragen k¨onnen an dieser Stelle nicht diskutiert werden. F¨ur eine interessante Diskussion in diesem Zusammenhang vgl. K¨unne (2007: 310ff). Die Annahme, dass reifizierte abstrakte Ereigniskonzepte als Ereignistypen aufzufassen sind, findet sich sowohl in Chierchia (1998: 349), wo die Bezeichnung ‘action types’ vorgeschlagen wird (s.u.), als auch im Rahmen der formal-semantischen Theorie der Reifizierung nach Hamm & van Lambalgen (2002), vgl. insbesondere (ebd.: 13f). N¨ahere Erl¨auterungen zu den Begriffen ‘Ereignis’ und ‘Ereigniskomplex’ werden in Kapitel 4.1.3 gegeben.

80 whales denotieren dieses Konzept, das laut Chierchia einem Artenindividuum entspricht.21 Chierchia (1998: 348ff) schl¨agt vor, die oben beschriebenen Reifizierungsprozesse einheitlich mit Hilfe einer Nominalisierungs- bzw. Pr¨adikativierungsfunktion zu modellieren, die gew¨ahrleistet, dass systematisch miteinander verbundene Eigenschafts- und Individuenterme mit Hilfe der Operatoren ∪ und ∩ ineinander u¨ berf¨uhrt werden k¨onnen, wie Abbildung 3.1 illustriert: Der Typ s, e,t ist die formal-semantische Entsprechung f¨ur die Eigenschaft (e,t) von Individuen (e) relativ zu einer Situation (s). Die Nominalisierung pr¨adikativer Ausdr¨ucke vergegenst¨andlicht die Eigenschaft zu einem Individuum (e).

Abbildung 3.1: Der up/down-Operator zur Repr¨asentation von Nominalisierungs- und Pr¨adikativierungsprozessen nach Chierchia (1998: 349)

Die bisherigen Erl¨auterungen zur Nominalisierungs- und Pr¨adikativierungsfunktion beziehen sich zwar ausschließlich auf die Reifizierung der Intension nominaler Pr¨adikate. Wie bereits angedeutet kann die Theorie laut Chierchia allerdings ebenso auf die Vergegenst¨andlichung der Intension verbaler (und der Hypothese nach adjektivischer) Pr¨adikate u¨ bertragen werden. The individual counterparts of the properties associated with common nouns are kinds (while, e.g., the individual correlates of properties associated with verbs, might be, say, action types). So kinds can be regarded as the ‘nominalization’ of (predicative) common nouns and predicative common nouns as the ‘predicativization’ of kinds. The ‘down’-operator nominalizes, and the ‘up’-operator predicativizes. (Chierchia 1998: 349)

Die vorliegende Arbeit wird sich Chierchias einheitlicher Analyse der Nominalisierung pr¨adikativer Ausdr¨ucke anschließen, wobei allerdings in Bezug auf die denominalen Nominalisierungen zwei Hinweise angebracht sind. Erstens ist zu betonen, dass der oben erl¨auterten Auffassung die folgende relativ freie Interpretation des Artenbegriffs zugrunde liegt. To any natural property, like the property of being a dog, there corresponds a kind, viz. the dog-kind. . . . By ‘natural’ kinds, we do not necessarily mean, in the present 21

Die indefinit-existentielle Interpretation von ‘bare plurals’ in S¨atzen wie Hunde spielen in unserem Garten kann an dieser Stelle nicht thematisiert werden, vgl. dazu jedoch Kapitel 5.1.4 der vorliegenden Arbeit.

81 context, biological ones or even ‘well-established’ ones. Artifacts (like chairs or cars) or complex things (like intelligent students or spots of ink) can qualify as kinds, to the extent that we can impute to them a sufficiently regular behaviour. (Chierchia 1998: 348)

Diese Definition des Artenbegriffs ist aus formal-semantischer Perspektive nicht unproblematisch. Ein Problem ist beispielsweise die Interpretation von Termen, die nach der obigen Definition als Artenterme aufzufassen sind, obwohl sie in bestimmten Kontexten mit Bezug auf die Ebene der einzelnen Instanzen, d.h. auf die Objektebene zu interpretieren sind, wie z.B. rat in The rat reached Australia in 1770 (vgl. Krifka et al. 1995: 64).22 Ungeachtet der formal-semantischen Diskussion um die Interpretation von Artentermen mit Objektreferenz erlaubt Chierchias Ansatz aber eine koh¨arente Interpretation der in der vorliegenden Arbeit zu untersuchenden synchronen und diachronen Daten und wird sich insbesondere f¨ur die Analyse der -age-Nominalisierung von Vorteil erweisen, weil er eine einheitliche Analyse der deverbalen und denominalen Ableitungen erm¨oglicht (vgl. dazu Kapitel 4.4 sowie insbesondere Kapitel 5.1). Der zweite Hinweis bezieht sich auf den semantischen Unterschied zwischen der Nominalisierung von (Adjektiven und) Verben einerseits und der ‘Nominalisierung’ von ‘singular count nouns’ andererseits, welcher sich in der unterschiedlichen Relation zwischen der durch die Nominalisierung denotierten reifizierten Abstraktion und der durch das Pr¨adikat denotierten Individuenmenge manifestiert. Zu Artentermen derivierte ‘singular count nouns’ wie Wale oder Hunde denotieren nach der hier zugrundegelegten Sichtweise eine Art, von der die Individuen, auf welche die Pr¨adikatseigenschaften zutreffen (d.h. z.B. die Hunde), konkrete Instanziierungen darstellen. Im Fall der deverbalen Nominalisierungen stellen die Individuen, auf welche die Pr¨adikatseigenschaften zutreffen (z.B. die Menge der denkenden Individuen), hingegen keine Instanziierungen des durch die Nominalisierung denotierten reifizierten Konzepts dar. Die Instanziierungen des abstrakten Typs sind dagegen situationell verankerte Einzelereignisse bzw. Ereignistokens.23 Dieser Unterschied wird bei der Analyse denominaler -age-Derivate mit Kollektivlesart in den Kapiteln 4.4 und 5.1.4 von zentraler Relevanz sein. 22

23

Die Vorteile der obigen Analyse gegen¨uber alternativen Ans¨atzen zur Semantik von Artentermen werden in Carlson (1977: 96–104) sowie Krifka et al. (1995: 65) herausgestellt. In diesen Arbeiten wird der extensionale Bezug von Artentermen u¨ ber die Instanziierungsrelation R zwischen der Art und den zugeh¨origen Instanziierungen modelliert, welche in der vorliegenden Arbeit in Kapitel 4.4 im Zusammenhang mit der Analyse denominaler -age-Nominalisierungen eingef¨uhrt wird. Vgl. f¨ur den Begriff der Ereignistokens z.B Hamm & van Lambalgen (2002). Den Unterschied zwischen denominalen Abstraktionen einerseits, und deverbalen bzw. deadjektivischen Nominalisierungen andererseits betont auch Menne (2001: 25), wenn er Gattungs- bzw. Artbegriffe hinsichtlich ihres Abstraktheitsgrades von eigentlichen abstrakten Begriffen wie Tapferkeit unterscheidet.

82 3.2.2 Ereignisnominalisierung und Ereignisperspektivierung F¨ur formal-semantische Nominalisierungstheorien wie Chierchia (1988) sind etwaige Bedeutungsunterschiede zwischen den unterschiedlichen Nominalisierungsverfahren nicht besonders relevant. Die vorliegende Arbeit wird sich dagegen in erster Linie auf den zentralen Unterschied zwischen der -ment- und der -age-Nominalisierung konzentrieren, der sich letztlich auf die unterschiedliche Perspektive bel¨auft, aus welcher die jeweiligen Nominalisierungen das vom Basisverb bezeichnete Ereignis darstellen bzw. in den Diskurs einf¨uhren. Aus diesem Grund ist es unerl¨asslich, vor der in den Abschnitten 3.3.1 und 3.3.2 vorzustellenden Bedeutungsanalyse der -ment- und -age-Nominalisierung die hier zugrundeliegende Sichtweise auf die verschiedenen sprachlichen Mittel der Ereignisperspektivierung explizit zu machen. Die folgende Diskussion wird sich dabei auf die wichtigsten f¨ur die Ereignisperspektivierung verantwortlich zu machenden syntaktischen Einbettungen konzentrieren, d.h. auf die transitiv-aktivischen und passivischen Strukturen einerseits, und auf die intransitiven ‘unakkusativen’ und ‘unergativen’ Konstruktionen andererseits. Zun¨achst wird in der vorliegenden Arbeit mit Rekurs auf Lambrecht (1994) und Strawson (1964) die Auffassung zugrunde gelegt, dass Subjekte “unmarkierte Topics” (ebd.: 132) darstellen und dass viele Verben meist in sogenannte kategorische Topic-Comment-Strukturen eingebettet werden, in welchen das Subjekt des Satzes informationsstrukturell das Thema bzw. Topic des Satzes dartstellt, wohingegen das Verb mitsamt den etwaigen weiteren Argumenten und/oder Erg¨anzungen informationsstrukturell als Pr¨adikat bzw. als neue Information, d.h. als Comment fungiert.24 Diese Informationsstruktur wird in Sprachen wie dem Englischen, Italienischen oder Spanischen in der “Grundwortstellung” Subjekt-Verb-Objekt (SV(O)) kodiert, welche aus den oben genannten informationsstrukturellen Gr¨unden als die unmarkierte Wortstellung anzusehen ist.25 Jegliche informationsstrukturelle Abweichung muss prosodisch oder syntaktisch markiert werden. Zur prosodischen Markierung einer abweichenden Informationsstruktur kann es allerdings nur in Sprachen mit variabler Zuweisung 24

25

Auf die Affinit¨at von Subjekt- und Topic-Status wird in zahlreichen einschl¨agigen Arbeiten wie z.B. Chafe (1976), Comrie (1981), Reinhart (1981) u.a. hingewiesen. Die Bezeichnung kategorisch r¨uhrt von der sprachphilosophischen Unterscheidung zwischen ‘kategorischen Urteilen’ und ‘thetischen Urteilen’ her. Kategorische Urteile bestehen zum einen aus der Erkennung des Subjekts und zum anderen aus dem Akt der Pr¨adizierung u¨ ber dieses, wohingegen thetische Urteile lediglich aus einer einfachen Anerkennung oder Zur¨uckweisung eines Sachverhalts o.¨a. bestehen, vgl. Lambrecht (1994: 139) und die dort zitierten Referenzen, insbesondere Sasse (1987) und Ulrich (1985), und s.u.. Auf die konkreten Argumente von Lambrecht (1994) f¨ur die Unmarkiertheit dieser “pragmatic sentence articulation” kann hier nicht eingegangen werden, vgl. dazu die detaillierte Argumentation in Lambrecht (1994: 117–181).

83 des Satzakzentes wie dem Englischen kommen. Da prosodische Eigenschaften im Zusammenhang der hier intendierten Untersuchung nicht von Relevanz sind, wird sich die folgende Diskussion auf syntaktische Mittel der informationsstrukturellen Markierung konzentrieren. Eine weitere Grundannahme f¨ur die folgende Untersuchung ist, dass in Akkusativsprachen wie dem Englischen oder den romanischen Sprachen generell alle perspektivisch bzw. informationsstrukturell unmodifizierten Basisverben pragmatisch gesehen in erster Linie die Funktion haben, etwas u¨ ber den Geschehnistr¨ager auszusagen, w¨ahrend der oder die etwaige/n Geschehnisbetroffene/n lediglich als Teil der Pr¨adikation dargestellt werden.26 Das heißt, die Extension transitiver Verben besteht zwar formalsemantisch aus einer Menge von Individuenpaaren, denn transitive Verben schreiben die Eigenschaft der Ereignisteilhabe nicht nur dem Geschehnistr¨ager, d.h. demjenigen der z.B. sabotiert, sondern auch dem Geschehnisbetroffenen, d.h. demjenigen der sabotiert wird, zu. Informationsstrukturell dienen Verben in unabgeleiteter und uneingebetter Form allerdings dennoch dazu, zusammen mit etwaigen weiteren Argumenten und/oder Erweiterungen u¨ ber den Geschehnistr¨ager zu pr¨adizieren. Soll der Geschehnisbetroffene zu Thema des Diskurses gemacht werden, muss das entsprechende Argument in die Subjektposition gelangen, was im allgemeinen durch die Passivierung der Struktur erreicht wird. Die passivische Perspektive entspricht demnach der Topikalisierung des Geschehnisbetroffenen, welcher z.B. in prototypisch transitiven Strukturen durch das direkte Objekt angezeigt wird und meist dem Thema-Argument entspricht, w¨ahrend der Geschehnistr¨ager in Passivkonstruktionen optional einen Teil des Comments bilden kann (vgl. x est lav´e par y, ‘x wird von y gewaschen’). Dass die passivische gegen¨uber der aktivischen Kodierung die markierte Form der Ereignisperspektivierung darstellt, ist in der einschl¨agigen Literatur weitgehend unumstritten (vgl. z.B. Leiss 1992: 74, 144–149 sowie die dortigen Referenzen, Langacker 1991: 335, Radtke 1998: 261f, 269 oder den Eintrag zu Genus Verbi in Gl¨uck 2000). Allerdings herrscht bisher wenig Einigkeit bez¨uglich der Frage, auf welcher Abstraktionsebene die Perspektivierung zu lokalisieren ist. In vielen Grammatiken wird der Unterschied zwischen Aktiv und Passiv beispielsweise u¨ ber die Agensorientiertheit des Aktiv im Gegensatz zum Vorgangspassiv definiert (vgl. z.B. Helbig & Buscha 2004: 136f, Sommerfeldt & Starke 1992: 80 etc.). Dabei ist zu beachten, dass alle formal aktivischen Strukturen, in welchen der Geschehnistr¨ager nicht agentivisch ist, nach dieser Definition ebenfalls als passivisch zu klassifizieren w¨aren. Dies w¨urde sowohl f¨ur wenig prototypische transitive Strukturen wie z.B. x schmerzt y oder x gef¨allt y als auch f¨ur Strukturen mit intransitiven Verben gelten, sofern der Geschehnistr¨ager (wie z.B. bei anschwellen, rollen, fallen etc.) nicht agentivisch ist. Die26

Die Differenzierung zwischen Geschehnistr¨ager und Geschehnisbetroffenem stammt aus Eichler & B¨unting (1996: 116), vgl. dazu auch Radtke (1998: 263) und s.u..

84 se Sichtweise ist aus mehreren Gr¨unden problematisch f¨ur die hier intendierte Analyse. Unter anderem g¨abe es im Rahmen dieses Ansatzes keine M¨oglichkeit, zwischen nicht-agentivischen Geschehnistr¨agern (z.B. der Ball in Der Ball rollt) und Geschehnisbetroffenen (z.B. das Bild in Das Bild wird verunstaltet) zu differenzieren. In der vorliegenden Arbeit wird dagegen die Ansicht vertreten, dass der Aktiv/Passiv-Gegensatz sorgf¨altig von der traditionellen Agens/PatiensDichotomie zu trennen ist und dass bei transitiven Verben die aktivische Kodierung den unmarkierten, die passivische Kodierung hingegen den markierten Fall der Ereignisperspektivierung darstellt, unabh¨angig davon, welche spezifischen thematischen Rollen die Ereignispartizipanten, d.h. Geschehnistr¨ager und Geschehnisbetroffener, konkret innehaben. Bei prototypisch transitiven Basisverben wie z.B. saboter (‘sabotieren’) oder laver (‘waschen’) kommt es aus den oben genannten Gr¨unden im unmarkierten Fall zur Einbettung in die (aktivische) SVO-Struktur, in welcher das Subjekt als Topic fungiert. Die Notion der prototypischen bzw. hohen Transitivit¨at geht auf Hopper & Thompson (1980) zur¨uck, die hohe Transitivit¨at durch ein B¨undel an Eigenschaften wie z.B. die Dynamizit¨at und Telizit¨at des Ereignisses, die Agentivit¨at des Geschehnistr¨agers und die Affiziertheit des Geschehnisbetroffenen definieren (vgl. ebd.: 252). Niedrig transitive Verben zeichnen sich dagegen dadurch aus, dass es pragmatisch nicht sinnvoll ist, den Geschehnistr¨ager und/oder den Geschehnisbetroffenen zum Gegenstand bzw. Thema, d.h. Topic der Aussage zu machen (vgl. z.B. x gef¨allt y, x f¨allt y ein, x schmerzt y(dat), vgl. Lambrecht 1994: 133ff). Dieser Umstand macht sich darin bemerkbar, dass die entsprechenden Verben entweder (bei “schlechtem” Gehschehnistr¨ager) selten in die kanonische SV(O)-Strukturen eingebettet oder (bei “schlechtem” Geschehnisbetroffenen) selten passiviert werden. Die entsprechenden Ereigniskonzepte k¨onnen zwar durch alternative Strukturen mit topikalisiertem Subjekt in SV(O)-Form versprachlicht werden, wie es beispielsweise oft f¨ur ‘Experiencer’-Konstruktionen des obigen Typs zu beobachten ist (vgl. z.B. frz. J’ai mal au cou, ‘Ich habe Halsschmerzen’). Sollen allerdings die entsprechenden niedrig transitiven Verben eingesetzt werden, l¨asst sich beobachten, dass eine SV(O)-Einbettung bzw. eine Topikalisierung des zugeh¨origen Geschehnistr¨agers eher selten ist (vgl. ebd.).27 Derartige Verben werden hingegen vorzugsweise in thetische Konstruktionen eingebettet, welche sich dadurch auszeichnen, dass der Geschehnistr¨ager, welcher in der kategorischen Entsprechung der Strukturen als pr¨averbales Subjekt realisiert ist, invertiert und damit enttopikalisiert wird (vgl. z.B span. Me duele la cabeza, ‘Mir schmerzt der Kopf’, ital.

27

Ganz zu schweigen von einer Passivierung bzw. Topikalisierung des Geschehnisbetroffenen, die sich in den oben genannten F¨allen aufgrund der spezifischen Bedeutung der Verben gar nicht realisieren l¨asst.

85 Mi fa male il collo, ‘Mir schmerzt der Hals’ etc., Lambrecht 1994: 137 bzw. die entsprechenden Beispiele in Wandruszka 1981 oder Wehr 1984).28 Thetische Konstruktionen haben die Funktion, neue Referenten in den Diskurs einzuf¨uhren, wobei nach Lambrecht (1994) dahingehend zwischen Argument-Pr¨asentativkonstruktionen (‘presentational constructions’) wie Once there was a wizard (ebd.: 180) und Ereignis-Pr¨asentativkonstruktionen (‘eventreporting constructions’) wie z.B. Mi fa male il collo (s.o.) zu unterscheiden ist, als erstere den neuen Referenten direkt einf¨uhren, wohingegen letztere eine Situation auf informationsstrukturell neutrale Weise beschreiben, wobei der oder die Referenten indirekt, d.h. zusammen mit dem Ereignis als neue Elemente in den Diskurs eingef¨uhrt werden.29 In der einschl¨agigen Literatur werden eine Reihe verschiedener Einteilungen und Bezeichnungen f¨ur die entsprechenden Konstruktionen vorgeschlagen, die hier nicht im Einzelnen diskutiert werden sollen (vgl. dazu Lambrecht 1994: 138 und die dort zitierten Referenzen, insbesondere Sasse 1987). F¨ur die hier intendierte Analyse ist lediglich entscheidend, dass thetische Konstruktionen die Enttopikalisierung des Geschehnistr¨agers bewirken und daher vor allem im Zusammenhang mit denjenigen Verben verwendet werden, die ein Ereignis bezeichnen, dessen Geschehnistr¨ager ohnehin nicht ¨ oder nur selten sinnvoll zum Topic der Außerung gemacht werden kann. Eine vergleichbare Unterscheidung zwischen Verben mit prototypischen Geschehnistr¨agern und Verben mit wenig prototypischen Geschehnistr¨agern gibt es interessanterweise auch im intransitiven Bereich, wo f¨ur gew¨ohnlich ‘unergative Verben’ und ‘unakkusative Verben’ unterschieden werden. Die Einteilung in unergative und unakkusative Verben wurde urspr¨unglich durch die Beobachtung motiviert, dass sich das Subjekt in unakkusativen Strukturen hinsichtlich verschiedener syntaktischer Gesichtspunkte wie das direkte Objekt transitiver Verben verh¨alt, w¨ahrend das Subjekt in unergativen Strukturen dem Subjekt transitiver Verben gleicht (vgl. neben den bereits in Abschnitt 3.1.2 zitierten Referenzen Burzio 1986 Grewendorf 1989 und Grewendorf 2002: 64–66 insbesondere ¨ auch Belletti 1988; Belletti 1999 sowie die Uberblicksdarstellung in Mackenzie

28

29

Vgl. Lambrecht (1994: 144): “It is . . . the absence of a topic relation between the proposition and that argument which functions as the topic in the categorical counterpart. ...[I]n the unmarked case this categorical topic argument is the subject.” Vgl. Lambrecht (1994: 144): “What both functions have in common is that the sentence expressing the thetic proposition introduces a new element into the discourse without linking this element either to an already established topic or to some presupposed presupposition. . . . The difference between the presentational and the eventreporting type is that in presentational sentences proper the newly introduced element is an ENTITY (a discourse referent) while in event-reporting sentences it is an EVENT, which necessarily involves an entity.”

86 2006: 1–16).30 Eine oft zitierte Beobachtung ist beispielsweise, dass sogenannte unakkusative Verben wie arossire (‘err¨oten’) oder arrivare (‘ankommen’) zusammengesetzte Tempora im Italienischen einheitlich mit dem auch f¨ur Passivkonstruktionen typischen essere (‘sein’) bilden, (Giovanni e` arrivato, ‘Giovanni ist angekommen’), w¨ahrend ‘unergative’ Verben wie lavorare (‘arbeiten’) das Perfekt wie transitive Verben mit avere (‘haben’) bilden (Giovanni ha lavorato, ‘Giovanni hat gearbeitet’).31 Eine weitere Evidenz f¨ur die Unterscheidung von unakkusativen und unergativen Verben wird oft in dem Umstand gesehen, dass Verben des ersteren Typs im Franz¨osischen in durch Expletivum gest¨utzten Inversionsstrukturen wie Il est arriv´e trois amis (‘Es sind drei Freunde angekommen’, Burzio 1986: 137) vorkommen, w¨ahrend diese Konstruktionen f¨ur Verben des letzteren Typs f¨ur gew¨ohnlich nicht zug¨anglich sind (vgl. ??Il a t´el´ephon´e trois amis, ‘Es haben drei Freunde angerufen’, ebd.). Burzio (1986) registriert zwar, dass diese Konstruktionen auch marginal mit dem Auxiliar avoir (‘haben’) gebildet werden (vgl. z.B. Il a manqu´e trois e´ l`eves, ‘Es haben drei Sch¨uler gefehlt’, ebd.: 138), was ja laut seiner eigenen Auxiliarselektionsgeneralisierung f¨ur das Italienische zun¨achst ein Indiz f¨ur die Unergativit¨at dieser Verben ist. Der Autor weist allerdings darauf hin, dass die entsprechenden Verben im Italienischen das Auxiliar essere selegieren, und f¨uhrt die marginalen Konstruktionen des ‘Expletiv-avoir’-Typs unter anderem aus diesem Grund darauf zur¨uck, dass “French has a somewhat different system of auxiliary assignment” (ebd.). Eine dritte Evidenz f¨ur die Unterscheidung zwischen unergativen und unakkusativen Verben wird von Grewendorf (2002: 66) angef¨uhrt, welcher beobachtet, dass ein attributives Partizip des dritten Status im Deutschen generell “von einem direkten Objekt pr¨adiziert [wird]” (ebd.) und dass intransitive Verben sich dahingehend aufteilen, ob sie in dieser “Objekt pr¨adizierenden” Weise verwendet werden k¨onnen (Partizipien sogenannter unakkusativer Verben, vgl. der eingeschlafene Student) oder nicht (Partizipien sogenannter unergativer Verben, vgl. *der gearbeitete Student). Eine weitere h¨aufig angef¨uhrte Evidenz f¨ur die Unterscheidung zwischen unakkusativen und unergativen Verben ist schließlich das unterschiedliche Verhalten der beiden Verbgruppen im Zusammenhang mit der italienischen ne-Klitisierung (vgl. z.B. Burzio 1986: 23–35). So kann f¨ur gew¨ohnlich nur das Subjekt unakkusativer Verben ne-klitisiert werden (vgl. Ne sono arrivati molti, ‘Von ihnen sind viele angekommen’), wohingegen das Subjekt unergativer Verben wie dasjenige transitiver Strukturen von der Klitisierung ausgeschlossen ist (*Ne hanno telefonati molti, ‘Von ihnen haben viele telephoniert’, Grewendorf 2002: 65f). Aus diesen und anderen Evidenzen folgern Burzio (1986), Grewendorf (2002) und andere Autoren, dass . . . 30

31

Die Bezeichnung unakkusativ geht auf Perlmutter (1978) zur¨uck. Burzio bezeichnet diese Verben beispielsweise als ergativ. F¨ur Erl¨auterungen zu den Benennungskonventionen vgl. z.B. Mackenzie (2006: 187). Vgl. f¨ur eine syntaktische Erkl¨arung dieser Entsprechungen Burzio (1986: 53–63).

87 . . . [unakkusative] Verben kein thematisches Subjekt besitzen und dass ihr Oberfl¨achensubjekt ein D-strukturelles Objekt ist, das jedoch aufgrund der lexikalischen Eigenschaft der Unakkusativit¨at von diesen Verben keinen Akkusativ erhalten kann [und daher in die Subjektposition bewegt werden muss, um dort Nominativkasus zu erhalten (MU)]. (Grewendorf 2002: 66)32

Nach dieser Ansicht sind intransitive Verben wie ankommen also dadurch gekennzeichnet, dass ihr einziges Argument ein internes Argument (mit den f¨ur diese Argumente typischen thematischen Rollen wie Thema oder Experiencer) ist, w¨ahrend intransitive Verben wie arbeiten als einziges Argument ein externes Argument (mit den f¨ur externe Argumente typischen thematischen Rollen wie z.B. Agens, Instrument usw.) besitzen, womit nahegelegt wird, dass die unterschiedliche Ereignisperspektivierung eine den intransitiven Verben inh¨arente Eigenschaft ist (wohingegen prototypisch transitive Verben ohne weitere Markierung einheitlich die Topikalisierung des Geschehnistr¨agers implizieren, welche nur durch eine zus¨atzliche Markierung wie z.B. Passivierung aufgehoben bzw. auf den Geschehnisbetroffenen verschoben werden kann). Die neuere Syntaxforschung zeichnet ein sehr differenziertes Bild sowohl der ‘unakkusativen’ als auch der ‘unergativen’ Strukturen, das hier nicht im Einzelnen wiedergegeben werden kann (vgl. dazu z.B. die verschiedenen detaillierten Analysen romanischer Inversionsstrukturen in Mensching 2005, Mensching & Remberger 2006 sowie den dort zitierten Referenzen). Unabh¨angig davon, in welchen syntaktischen Strukturpositionen die Argumente der genannten Verben jeweils realisiert werden, soll hier dagegen argumentiert werden, dass in Akkusativsprachen wie dem Englischen oder Franz¨osischen neben den transitiven Verben auch alle perspektivisch unmodifizierten und nicht eingebetteten intransitiven Verben, d.h. sowohl arbeiten, tanzen etc. als auch ankommen, anschwellen usw., informationsstrukturell einheitlich u¨ ber den Geschehnistr¨ager pr¨adizieren, d.h. eine Topikalisierung des Geschehnistr¨agers beinhalten, wobei diese Topikalisierung entweder durch die Einbettung in eine ‘unergative’ Konstruktion fixiert oder durch die Einbettung in eine ‘unakkusative’ Konstruktion aufgehoben werden kann. Als perspektivisch modifizierende Konstruktionen werden dabei hier neben den weiter unten beschriebenen syntaktischen Strukturen auch einzelne Morpheme wie z.B. die u.a. im Franz¨osischen prominente se-Markierung angesehen.33 Unakkusativit¨at und Unergativit¨at werden also in 32

33

In der Literatur werden die verschiedenen Differenzen um Einiges ausf¨uhrlicher behandelt als hier dargestellt werden kann. Auch werden noch einige weitere Daten zur Bekr¨aftigung der Analyse angef¨uhrt, wie z.B. der Unterschied, dass u.a. im Italienischen die Partizipien von unakkusativen Verben im Unterschied zu denjenigen von unergativen Verben mit dem Subjekt kongruieren (vgl. z.B. Burzio 1986: 348–355). ¨ Der obige kurze Uberblick ist f¨ur die hier intendierte Vorstellung der Kontroverse um den Status der unakkusativ-unergativ Unterscheidung allerdings v¨ollig ausreichend. Die verschiedenen Analysen der se-Markierung, nach welchen se eine ‘Fokussierung auf den Resultatszustand’ einf¨uhrt oder die ‘Affiziertheit des Subjekts’ markiert,

88 der vorliegenden Arbeit nicht als den Verben inh¨arente Eigenschaften, sondern vielmehr als syntaktische Mittel verstanden, um die den Basisverben inh¨arente Topkalisierung des Geschehnistr¨agers zu fixieren bzw. aufzuheben. Die ‘unergative’ Einbettung eines intransitiven Verbs entspricht der Topikalisierung des Geschehnistr¨agers, wohingegen die ‘unakkusative’ Einbettung gew¨ahlt wird, wenn der Geschehnistr¨ager enttopikalisiert werden soll. Der Eindruck, dass intransitive Verben inh¨arent unakkusativ oder unergativ sind, entsteht nach dieser Sichtweise dadurch, dass sich die Partizipanten der von diesen Verben bezeichneten Ereignisse besonders schlecht (bei ‘unakkusativen’ Verben) bzw. besonders gut (bei ‘unergativen’ Verben) f¨ur eine Topikalisierung anbieten. Das Hauptargument f¨ur diese Sichtweise ist, dass ‘unergative’ Verben systematisch auch in ‘unakkusativen’ Konstruktionen vorkommen und umgekehrt, wobei sich die Informationsstruktur unabh¨angig von der Art des eingesetzten Verbs ebenfalls systematisch in der oben beschriebenen Weise a¨ ndert. So macht Lambrecht (1994; 2000) u.¨o. beispielsweise deutlich, dass ‘unergative’ Verben z.B. im Italienischen ohne Weiteres mit postverbalem Subjekt vorkommen und dass es in diesem Zusammenhang genauso zu einer Enttopikalisierung des Geschehnistr¨agers kommt, wie bei vergleichbaren Strukturen mit typisch ‘unakkusativen’ Verben. Lambrecht f¨uhrt in diesem Zusammenhang Inversionsstrukturen wie Ha telefonato Giovanni (‘Es hat Giovanni angerufen’) an, die laut dem Autor nicht-agentivisch interpretiert werden, da die Agentivit¨at ‘der Pr¨asentativkonstruktion untergeordnet’ wird: Presentational sentences sometimes contain intransitive predicates . . . whose subject arguments can be said to be agentive to a certain degree. In such cases, the agentivity of the predicate is subordinated to the presentational functions of the proposition and the predicate is in fact pragmatically construed as non-agentive. (Lambrecht 1994: 181)

Weitere Beispiele f¨ur eine derartige Enttopikalisierung des Geschehnistr¨agers im Kontext von ‘unergativen’ Verben f¨uhrt z.B. Mackenzie (2006) an, der beispielsweise mit Verweis auf Bouchard (1995), Legendre & Sorace (2003) und andere Arbeiten darauf hinweist, dass die traditionell mit unakkusativem Verbstatus assoziierten Expletiv-gest¨utzten Inversionsstrukturen wie Il est arriv´e trois amis systematisch auch mit unergativen Verben vorkommen (vgl. (12a.-g.)). (12)

a. Il vole des milliers de corbeaux au-dessus de la ville. ‘Es fliegen tausende Raben u¨ ber der Stadt.’ b. Il a r´egn´e trois rois m´erovingiens. ‘Es haben drei merovingische K¨onige regiert.’

k¨onnen hier nicht diskutiert werden, vgl. dazu z.B. Heidinger (2010: 172–184) und die dortigen Referenzen zum Franz¨osischen oder auch typologische Arbeiten wie Klaiman (1988) zur se-Markierung im Allgemeinen. Vgl. jedoch die vereinzelten Randbemerkungen zu Chierchia (2004) und zur se-Markierung in der Folge dieses Abschnitts und in Kapitel 4.3.3 der vorliegenden Arbeit.

89 c. Il a couru beaucoup de gens dans le marathon. ‘Es sind viele Leute beim Maraton gelaufen.’ d. Il voyage un homme seul. ‘Es reist ein Mann allein.’ e. Il souffle un vent chaud. ‘Es weht ein warmer Wind.’ f. Il brillait un soleil impitoyable. ‘Es strahlte eine erbarmungslose Sonne.’ g. Il a r´egn´e un silence de mort. ‘Es herrschte eine Totenstille.’ (Mackenzie 2006: 19f, 33)

Wie Lambrecht (1994) beobachtet der Autor, dass sich die entsprechenden Konstruktionen alle durch eine “presentational information structure” (Mackenzie 2006: 35) auszeichnen, welche der Autor darauf zur¨uckf¨uhrt, dass die Subjekt-Theta-Rolle in diesen Strukturen unterdr¨uckt bzw. nicht zugewiesen wird. Diese Analyse weitet Mackenzie auf franz¨osische durch Expletivum gest¨utzte Inversionsstrukturen mit passivischer Bedeutung (Il a e´ t´e construit beaucoup d’immeubles dans cette ville, ‘Es sind viele Geb¨aude in dieser Stadt errichtet worden’), spanische Inversionsstrukturen des Typs Llegaron unos amigos (‘Es kamen einige Freunde’) und andere Inversionsstrukturen aus und kommt a¨ hnlich wie Lambrecht (1994; 2000) zu dem Schluss, dass die mit diesen Strukturen verkn¨upfte “presented function” (ebd.: 33) durch die spezifische syntaktische Struktur, d.h. die Inversion des Subjekts, bedingt ist. Wenn diese Strukturen zu kanonischen Subjekt-Verb-Strukturen umgeformt werden, verlieren sie ihren spezifischen Pr¨asentativcharakter, da der Subjektreferent (d.h. Geschehnistr¨ager) durch die Zuweisung der Subjekt-Theta-Rolle wieder zum Thema bzw. Topic der Darstellung wird (vgl. z.B. Unos amigos llegaron, ‘Einige Freunde kamen’, ebd.: 33). Vor diesem Hintergrund gelangt der Autor zu der Schlussfolgerung, dass die traditionell auf die lexikalische unakkusativ-unergativ Distinktion zur¨uckgef¨uhrten Ph¨anomene vielmehr darauf zur¨uckzuf¨uhren sind, dass sich syntaktische Strukturen systematisch im Hinblick auf ihre Informationsstruktur unterscheiden und dass Verben aufgrund ihrer Bedeutung tendeziell in verschiedene Informationsstrukturen eingebettet werden, wobei ‘unakkusative’ Verben einen hohen Pr¨asentativcharakter (“presentational capability”, ebd.: 33) haben und daher oft in Pr¨asentativkonstruktionen eingebunden werden, wohingegen ‘unergative’ Verben kaum “presentational capability” haben und daher in TopicComment-Kontexten dominieren.34 Ganz a¨ hnlich wird in der vorliegenden Arbeit argumentiert, dass ‘unakkusative’ Verben wie ankommen, abfahren oder 34

Bei der bin¨aren Einteilung in ‘unakkusative’ und ‘unergative’ Konstruktionen handelt es sich genau genommen um eine betr¨achtliche Vereinfachung des komplexen Zusammenspiels zwischen der syntaktischen, der semantischen und der informationsstrukturellen Komponente. So argumentiert beispielsweise Neumann-Holzschuh (1997) auf der Basis einer detaillierten Untersuchung dieser Zusammenh¨ange f¨ur das Spani-

90 verschwinden, nur deswegen unakkusative Konstruktionen beg¨unstigen, weil sie ein Ereignis bezeichnen, das dem Geschehnistr¨ager nicht oder nur selten sinnvoll als Eigenschaft zugeschrieben werden kann, wohingegen ‘unergative’ Verben wie arbeiten, tanzen oder bellen meist in Topic-Comment-Strukturen vorkommen, da sich die mit diesen Verben bezeichneten Ereignisse besonders gut dazu eignen, die Ereignisteilhabe des Geschehnistr¨agers zu thematisieren bzw. den Geschehnistr¨ager zu topikalisieren. Prinzipiell k¨onnen jedoch beide Arten von Verben je nach informationsstrukturellen Vorgaben sowohl in Topic-CommentStrukturen als auch in Pr¨asentativkonstruktionen eingebettet werden. Mit diesem Unterschied ist allerdings eine weitere zentrale Verschiedenheit zwischen ‘unakkusativen’ und ‘unergativen’ Verben verbunden, die in der Literatur bisher weniger Beachtung findet. Und zwar kann der einzige Partizipant ‘unergativer’ Verben (vermutlich aufgrund seiner Eigenschaft als “idealer Geschehnistr¨ager”) nicht als Geschehnisbetroffener konzeptualisiert werden, weshalb sich eine entsprechende Interpretation oder Topikalisierung weder aus der Nachzustandsperspektive (vgl. z.B. 12b.,c.) noch in passivischen Strukturen (z.B. Es wird getanzt etc.) einstellen kann. Letztere Strukturen haben mit der Pr¨asentativkonstruktion die Unterdr¨uckung (“suppression”) der Subjekt-ThetaRolle bzw. die Enttopikalisierung des Geschehnistr¨agers und die damit verbundene nicht-agentivische Interpretation gemeinsam.35 Im Gegensatz dazu ist f¨ur die von ‘unakkusativen’ Verben bezeichneten Ereignisse charakteristisch, dass der einzige Partizipant Geschehnistr¨ager und Geschehnisbetroffener zugleich ist und dass sich eine Topikalisierung des Partizipanten als Geschehnisbetroffener insbesondere anbietet, sobald das Ereignis abgeschlossen ist bzw. aus einem Nachzustand heraus betrachtet wird, da zu diesem Zeitpunkt die Betroffenheit des Partizipanten konzeptuell klar im Vordergrund steht.36 Aus diesem Umstand

35

36

sche u¨ berzeugend, dass die kategorische und die thetische Informationsstrukturierung letztlich keine kategorischen Unterscheidungen, sondern vielmehr “skalare Bereiche” (ebd.: 154ff) darstellen, wobei die Autorin mit Verweis auf Bossong (1982), Oesterreicher (1989), Wandruszka (1984) u.a. davon ausgeht, dass “von bestimmten Merkmalkonfigurationen abh¨angige informationsstrukturelle Abstufungen . . . den pragma¨ tischen Status der jeweiligen Außerdung differenziert zum Ausdruck bringen k¨onnen” (Neumann-Holzschuh 1997: 156). F¨ur die in der vorliegenden Arbeit verfolgten Zwecke ist die vereinfachte, nicht-skalare Unterscheidung zwischen thetischen und kate¨ gorischen Außerungen allerdings ausreichend. Der Hinweis auf eine Herabstufung (“demotion”) des Geschehnistr¨agers in unpers¨onlichen Passivkonstruktionen findet sich auch in Blevins (2003a), Comrie (1977), Giv´on (1981), Shibatani (1985), Siewierska (1984) und anderen typologischen und/oder funktionalistischen Arbeiten, vgl. auch Sans´o (2006) sowie Vogel (2006: 17– 30) und die dortigen Referenzen. Nach Sans´o (2006) w¨aren die von Mackenzie (2006) vorgestellten “presentational constructions” z.B. als “agent de-emphasised bare happenings” (ebd.: 267) zu analysieren. ¨ Diese Generalisierung klingt im Ubrigen auch in dem Ansatz von Chierchia (2004) an, welcher in einer semantischen Analyse die f¨ur unakkusative, reflexive und pas-

91 ergibt sich eine systematische Verschiebung der Perspektive vom Geschehnistr¨ager zum Geschehnisbetroffenen, sobald das Ereignis als abgeschlossen betrachtet wird (vgl. z.B. Die Blume bl¨uht auf versus Die Blume ist aufgebl¨uht). Das heißt, w¨ahrend die Einbettung des Verbs in eine unakkusative Struktur bereits insofern der Passivierung gleicht, als beide Perspektivierungen zu einer Enttopikalisierung des Geschehnistr¨agers f¨uhren, kann die partizipiale unakkusative Struktur dar¨uber hinaus durch ihre resultative Perspektive a¨ hnlich der Passivierung eine zus¨atzliche Topikalisierung des Geschehnisbetroffenen bewirken. Im Gegensatz dazu fixieren unergative und transitiv-aktivische Stukturen gleichermaßen die den Verben inh¨arente Topikalisierung des Geschehnistr¨agers. Verben bieten sich zwar aufgrund der Beschaffenheit der von ihnen bezeichneten Ereignisse/Ereigniskonzepte f¨ur bestimmte Konstruktionen besonders an. Die Perspektivierung ist den Verben aber nicht inh¨arent, sondern die Pr¨adestinationen k¨onnen u¨ berschrieben werden (z.B. wenn ein ‘unergatives’ Ereignis beschrieben werden soll, ohne den Geschehnistr¨ager zu topikalisieren, s.o.). Zusammenfassend soll an dieser Stelle als der entscheidende Aspekt f¨ur die in den folgenden Kapiteln intendierte Analyse der -age- und -ment-Nominalisierung festgehalten werden, dass sich der hier verfolgten Hypothese nach alle uneingebetteten und perspektivisch unmodifizierten verbalen Basispr¨adikate durch eine inh¨arente Topikalisierung des Geschehnistr¨agers auszeichnen. Bei prototypisch transitiven Pr¨adikaten wird diese entweder durch die kanonische SV(O)Struktur fixiert oder im Zuge der Passivierung dahingehend umgekehrt, dass der Geschehnisbetroffene topikalisiert, der Geschehnistr¨ager hingegen enttopikalisiert wird. Niedrig oder nicht-prototypisch transitive Verben sind pr¨adestiniert f¨ur thetische Konstruktionen, da sich eine Topikalisierung von Ereignispartizipanten aufgrund der spezifischen Bedeutung des jeweiligen Verbs kaum oder gar nicht anbietet. Bei intransitiven Verben wiederholt sich diese Dreiteilung in Topikalisierung des Geschehnistr¨agers, neutrale, d.h. thetische Konstruktionen und Topikalisierung des Geschehnisbetroffenen, wobei die Topikalisierung des Geschehnistr¨agers durch die aktivische SV-Struktur haupts¨achlich mit ‘unergativen’ Verben realisiert wird, wohingegen ‘unakkusative’ Verben Ereigniskonzepte bezeichnen, deren Geschehnistr¨ager nicht oder nur selten sinnvoll topikalisiert werden k¨onnen, weswegen diese Verben vorzugsweise in thetische Konstruktionen eingebettet werden. Eine zweite gebr¨auchliche Verwendungsweise ist die Einbettung in resultative Konstruktionen, wobei sich in diesem Fall aufgrund der resultativen Perspektive eine Konzeptualisierung des einzigen Partizipanten als Geschehnisbetroffener ergibt.

sivische Strukturen im Italienischen gleichermaßen charakteristische Selektion des essere-Auxiliars auf die Affiziertheit des Subjekts (“subject affectedness”, ebd.: 47) zur¨uckf¨uhrt, w¨ahrend die Selektion von avere laut dem Autor mit dem Fehlen von Subjektaffiziertheit in Verbindung zu bringen ist.

92

3.3

Die abstrakte Bedeutung von -age und -ment

In diesem Abschnitt soll gezeigt werden, dass Nominalisierungssuffixe wie -ment und -age eine ganz a¨ hnliche Perspektivierungsleistung erbringen wie die oben beschriebenen syntaktischen Konstruktionen (wobei sich nat¨urlich der Umstand bemerkbar macht, dass der Nominalisierungsprozess im Unterschied zur syntaktischen Einbettung generell mit einer Reifizierung des Basispr¨adikats einhergeht, vgl. dazu insbesondere Abschnitt 3.3.3 und s.u.). So wird zun¨achst daf¨ur argumentiert, dass die -age-Nominalisierung der bloßen Reifizierung der von den perspektivisch unmodifizierten Basisverben bezeichneten Ereigniskonzepte dient, womit zu erwarten ist, dass -age, ganz a¨ hnlich wie die ‘kanonische SV(O)Struktur’ in Sprachen wie dem Italienischen, die den Verben inh¨arente Topikalisierung des Geschehnistr¨agers fixiert und dass die -age-Nominalisierungen daher f¨ur gew¨ohnlich, z.B. im Kontext von dynamischen Basisverben, den vom Geschehnistr¨ager durchlaufenen Prozess zum Gegenstand haben (Abschnitt 3.3.1). F¨ur die -ment-Nominalisierungen wird dagegen gezeigt, dass sie a¨ hnlich wie Vergangenheitspartizipien eine Verschiebung der Betrachtungsperspektive auf den Resultatszustand des vom Basisverb bezeichneten Ereignisses, u.U. bei gleichzeitiger Topikalisierung des Geschehnisbetroffenen, bewirken. Vor diesem Hintergrund ist zu erwarten, dass im Bereich der -ment-Nominalisierung die passivische, die resultative oder auch, z.B. bei niedrig transitiven Verbbasen, die thetische Ereignisperspektive vorherrscht (Abschnitt 3.3.2). Im Anschluss daran wird auf einige Besonderheiten bei der Perspektivierungsleistung der Suffixe gegen¨uber den entsprechenden syntaktischen Konstruktionen hingewiesen, die im Zusammenhang mit der Reifizierungsleistung der Suffixe und mit ihrem Status als Wortbildungselemente stehen (Abschnitt 3.3.3). Schließlich wird gezeigt, wie sich die verschiedenen in der Literatur angef¨uhrten Unterschiede zwischen -ment- und -age-Nominalisierungen unter der Pr¨amisse, dass alle perspektivisch unmodifizierten Basisverben gleichsam die Topikalisierung des Geschehnistr¨agers implizieren, einheitlich auf den grundlegenden abstrakt-semantischen Unterschied zwischen den Suffixen zur¨uckf¨uhren lassen (Abschnitt 3.3.4).

3.3.1 Deverbales -age im Neufranz¨osischen Bereits ein vorl¨aufiger Blick auf die in Kapitel 4 im Detail vorgestellten Korpusdaten deutet darauf hin, dass die Funktion der -age-Nominalisierung generell in der bloßen Reifizierung der von den Basispr¨adikaten an Individuen zugesprochenen Eigenschaften in dem in Abschnitt 3.2.1 beschriebenen Sinne besteht.37 37

Die folgenden Erl¨auterungen beschr¨anken sich zun¨achst auf deverbale Nominalisierungen. Die denominalen Formen werden in Kapitel 4.4 in die Beschreibung integriert.

93 Erstens ist hervorzuheben, dass die -age-Nomina in ihren konkreten Kontexten eine klare Tendenz zur nicht-episodischen Referenzweise zeigen. Die Nomina werden beispielsweise h¨aufig zur Bildung von Komposita herangezogen, in welchen direkt auf universelle Ereignisse bzw. Ereignistypen Bezug genommen wird (vgl. (13a.)). Dar¨uber hinaus ist die hohe Anzahl an habituellen (13b.), generischen (13c.) und modalen (13d.) nicht-episodischen Lesarten auff¨allig.38 (13)

a. canal de drainage ‘Entw¨asserungskanal’ (clef) poudre d’astiquage ‘Polierpuder’ (acacia) s´eance de pliage ‘Faltsitzung’ (champs) b. Et le monde est d’abord du linge. Du linge, des lessives, des courses, des commissions, de la cuisine, du ravaudage. ‘Und die Welt besteht in erster Linie aus W¨asche. Aus W¨asche, Waschmitteln, Erledigungen, Eink¨aufen, Kochen, Ausbessern.’ (douane) c. On sait o`u m`ene le nettoyage. ‘Man weiß, wo das Putzen hinf¨uhrt.’

(secret)

d. Lavage, repassage, je suis prˆet a` tout, tellement j’ai faim. ‘Waschen, B¨ugeln, ich bin zu allem bereit, dermaßen Hunger habe ich.’ (puissance)

Zweitens zeigen die empirischen Daten, dass -age in den seltenen episodischen Kontexten, in welchen die -age-Vorkommen auf konkrete Episoden bzw. Ereignistokens Bezug nehmen, keinen direkten Einfluss auf die Betrachtungsperspektive (‘viewpoint’) zu haben scheint, aus welcher das durch die Basis bezeichnete Ereignis dargestellt wird. Die Betrachtungsperspektive bestimmt das ¨ Verh¨altnis zwischen dem in der Außerung geschilderten Ereignis (bzw. dessen temporaler Ausdehnung) und der Referenzzeit bzw. dem Referenzzeitintervall.39 Aus perfektivischer Perspektive ist das Ereignis innerhalb der Referenzzeit abgeschlossen, aus imperfektivischer Perspektiv dauert das Ereignis u¨ ber die Referenzzeit hinaus an (vgl. z.B. Smith 1997: 3).40 Wie die Beispiele in (14) zeigen, 38

39

40

F¨ur die hier zugrundeliegende Sicht auf Generizit¨at und Habitualit¨at vgl. Krifka et al. (1995: 2–18). Modale Referenz und modale Kontexte sind nach von Fintel (2006) bzw. Kratzer (1991) bestimmt. F¨ur n¨ahere Erl¨auterungen zur Referenzzeit bzw. zum Refernzzeitintervall vgl. Borik (1985: 120–164) oder auch Comrie (1985: 13–18). In einem Intervall-semantischen Ansatz ist Imperfektivit¨at dementsprechend als Betrachtungsperspektive zu verstehen, aus der das Referenzzeitintervall innerhalb des Ereigniszeitintervalls liegt. Perfektivit¨at ist dagegen die Betrachtungsperspektive, aus der das Ereigniszeitintervall innerhalb des Referenzzeitintervalls liegt, vgl. z.B. von Fintel (2001: 123f).

94 kommen -age-Nomina sowohl mit imperfektivischer (14a.) als auch mit perfektivischer Bezugnahme vor (14b.,c.). Die perspektivische Verankerung erfolgt augenscheinlich durch den Kontext, und zwar entweder durch im Satz kookkurrierende Elemente wie Verben, Partizipien und Determinierer (14a.,b.) oder supra-sententiell, beispielsweise durch phrasale Konkatenation (14c.). (14)

a. Le moteur hurlait au freinage. Der Motor aufheulen:PST. IPFV.3 SG beim Bremsen ‘Der Motor heulte beim Bremsen auf.’

(zone)

b. Huit ol´eoducs ont explos´e a` la suite Acht Pipelines AUX : PRS .3 PL explodieren:PTCP in der Folge d’un sabotage commis aux premi`eres heures de einer Sabotage begehen:PTCP in den ersten Stunden des .... ... ‘Acht Pipelines sind infolge der Sabotage, die in den ersten Morgenstunden des . . . ver¨ubt wurde, explodiert.’ (lyceen) fallut le transporter a` n¨otig sein:PST. PFV.3 SG ihn transportieren in l’hˆopital. Lavage d’estomac. Perfusion. Tout le das Krankenhaus Waschung des Magens Infusion All der cirque de la technique et de l’humanit´e. Zirkus der Technik und der Humanit¨at ‘Er musste ins Krankhaus gebracht werden. Magensp¨ulung. Infusion. Der gesamte Zirkus der Technik und der Humanit¨at.’ (bonheur)

c. Il

EXPL

Diese Flexibilit¨at deutet darauf hin, dass die -age-Nominalisierung streng auf den Prozess der Eigenschaftsnominalisierung im Sinne von Abschnitt 3.2.1 beschr¨ankt bleibt. Das heißt, die einzige Funktion von -age ist, die Denotation des Pr¨adikats in eine Ereignistypendenotation umzuformen. Die situationelle, temporale und aspektuelle Ausspezifizierung erfolgt erst auf der Satzebene. Die von transitiven Verben abgeleiteten -age-Nominalisierungen in (13) und (14) zeigen dar¨uber hinaus deutlich, dass die -age-Nominalisierungen die an den Geschehnistr¨ager zugeschriebenen Eigenschaften zum Gegenstand haben bzw. das der Geschehnistr¨ager topikalisiert ist. Das heißt, es geht bei diesen Nominalisierungen um den Prozess, den der Geschehnistr¨ager vorantreibt oder durchl¨auft, und nicht um dessen Wirkung auf den Geschehnisbetroffenen. Die Ereignisteilhabe des Geschehnisbetroffenen wird, genauso wie etwaige resultative Komponenten des Ereigniskomplexes, lediglich als Teil der durch -age reifizierten und dem Geschehnistr¨ager zugeschriebenen Eigenschaft mitverstanden.41 41

Diese Perspektivierungsleistung ist nicht auf die -age-Nominalisierung beschr¨ankt, sondern sie ist auch bei denjenigen Nominalisierungsverfahren zu erkennen, die

95 Eine M¨oglichkeit, diesen Effekt in die hier intendierte Analyse der -ageNominalisierung zu integrieren, w¨are nat¨urlich die Annahme, dass er auf eine spezifische Topikalisierungsfunktion des Suffixes zur¨uckzuf¨uhren ist. Gegen diese Annahme spricht allerdings die diachrone Entwicklung von -age, die darauf hinweist, dass -age einheitlich, d.h. unabh¨angig von der syntaktischen Kategorie der Ableitungsbasis, ausschließlich die Funktion der Eigenschaftsnominalisierung im oben beschriebenen Sinne erf¨ullt. Dieser Aspekt, der in den Kapiteln 4.4 und 5.1 n¨aher erl¨autert wird, ist nat¨urlich alleine noch kein Grund, dem deverbalen -age auch im synchronen Stadium die Topikalisierungsleistung auf die Eigenschaften des Geschehnistr¨agers abzusprechen. Hinzu kommt allerdings, dass die Annahme einer suffix- bzw. verfahrensspezifischen Topikalisierungsleistung nicht ben¨otigt wird, wenn man der im vorigen Abschnitt erl¨auterten Pr¨amisse folgt, dass perspektivisch unmodifizierte Basispr¨adikate in Akkusativsprachen wie dem Deutschen oder den romanischen Sprachen bereits generell eine Topikalisierung des Geschehnistr¨agers implizieren. Wie oben erl¨autert geht es nach dieser Hypothese bereits bei perspektivisch unmodifizierten Basispr¨adikaten wie sabot(er) um den Prozess, den der Geschehnistr¨ager durchl¨auft, w¨ahrend der Geschehnisbetroffene lediglich als Teil der Pr¨adikation dargestellt wird. Im Fall von -age bietet sich diese Sichtweise besonders an, denn mit ihr er¨ubrigen sich alle Spekulationen u¨ ber eine etwaige zu einem bestimmten Zeitpunkt entstandene Topikalisierungsleistung des Suffixes. Die synchronen Eigenschaften des Suffixes k¨onnen so direkt aus dessen diachroner Entwicklung abgeleitet werden (vgl. dazu insbesondere Kapitel 5.1). Die Grundannahme der hier vorgeschlagenen Analyse von -age ist also, dass die perspektivisch nicht modifizierten Basisverben bereits eine Topikalisierung des Geschehnistr¨agers beinhalten und dass sich diese auf die -ageNominalisierungen u¨ bertr¨agt, da -age die von den Basispr¨adikaten zugeschriebenen Eigenschaften reifiziert, ohne etwaige aspektuelle oder perspektivische Modifizierungen einzuf¨uhren. Die den Basisverben inh¨arente Topikalisierung wird gewissermaßen an die -age-Nominalisierung weitergegeben, sodass es im Zuge der Reifizierung der vom Basisverb an die Partizipanten zugeschriebenen Eigenschaften der Ereignispartizipation zu einer Konzentration auf die Ereignisteilhabe des Geschehnistr¨agers kommt, woraus sich die prozessuale bzw. nichtresultative Interpretation der -age-Nominalisierungen ergibt.

sprach¨ubergreifend eine gewisse funktionale Equivalenz zum franz¨osischen -age zeigen, wie z.B. die Infinitivnominalisierung im Deutschen (vgl. z.B. Schreiben ist eine T¨atigkeit) oder die -ing-Nominalisierung im Englischen (vgl. z.B. Writing is an activi¨ ty). Indizien f¨ur eine funktionale Aquivalenz der franz¨osischen -age-Nominalisierung, der englischen -ing-Suffigierung und dem nominalisierten Infinitiv im Deutschen gibt ¨ z.B. Heinold (2010: 108–152). Die Frage des Ausmaßes dieser funktionalen Ahnlichkeit kann hier nicht thematisiert werden.

96 (15)

Generalisierung zur abstrakten Bedeutung von -age -age reifiziert die Ereigniseigenschaften, die perspektivisch unmodifizierte Ereignispr¨adikate Individuen zuschreiben. Durch die den Basispr¨adikaten inh¨arente Topikalisierung des Geschehnistr¨agers tritt dessen Ereignisteilhabe im Zuge der Reifizierung als Thema in den Vordergrund.

3.3.2 Die neufranz¨osische -ment-Nominalisierung Das auff¨alligste Charakteristikum der -ment-Nominalisierungen ist die Tendenz zur terminativen Bezugnahme, die bereits Dubois (1962) hervorgehoben hat. Wie in den Kapiteln 4 und 5 deutlich werden wird weist die u¨ berwiegende Mehrheit der -ment-Vorkommen in den hier untersuchten Korpora eine resultative Lesart auf, wobei diese Nomina u¨ berwiegend auf resultierende Zust¨ande (16a.) oder Individueneigenschaften (16b.) Bezug nehmen. Relativ h¨aufig sind auch Beispiele, in welchen der Resultatszustand antizipiert wird (16c.). In den seltenen eventiven Kontexten werden passivische (16d.) oder abgeschlossene (16e.) Ereignisse denotiert: (16)

a. Voil`a un demi-si`ecle que cette langue vit dans l’isolement complet, tr`es rarement parl´ee, s’attaquant a` une r´ealit´e e´ trang`ere a` sa nature, . . . . ‘Seit einem halben Jahrhundert lebt diese Sprache nun in g¨anzlicher Isoliertheit, u¨ beraus selten gesprochen, sich mit einer Realit¨at konfrontierend, die ihrer Wesensart fremd ist, . . . .’ (testament) b. Je reste muet. Il s’acharne. Que me veut-il? Il a l’entˆetement du policier qui croit tenir un criminel. ‘Ich bleibe stumm. Er l¨asst nicht von mir ab. Was will er von mir? Er hat den Starrsinn eines Polizisten, der glaubt, einen Kriminellen gefasst zu haben.’ (puissance) c. Il voyait venir . . . l’effondrement babylonien de nos derni`eres chances de salut, d’int´egration. ‘Er sah ihn kommen, den babylonischen Untergang unserer letzten Chancen auf Rettung, auf Integration.’ (lyceen) d. . . . le r´etablissement du dimanche [a] une premi`ere cons´equence: on se reposera un jour sur sept au lieu d’un jour sur dix. ‘Die Wiedereinf¨uhrung des Sonntags hat eine erste Folge: man wird sich an einem von sieben, anstatt an einem von zehn Tagen ausruhen.’ (douane) e. J’avais r´ecup´er´e mon poids d’avant l’amaigrissement par le zona, c’est-`a-dire soixante-dix kilos. ‘Ich hatte mein Gewicht von vor der Abmagerung durch die G¨urtelrose, das heißt sechzig Kilo, wieder erlangt.’ (ami)

97 Diese Beschreibung r¨uckt die -ment-Nominalisierungen in die N¨ahe von Partizipien des dritten Status, wie beispielsweise die deutschen ge–t- Partizipien. Bei der Einteilung der Verbformen in verschiedene Status folgt die vorliegen¨ de Arbeit Roßdeutscher (2000) bzw. Bech (1983). Ahnlich wie Chierchia geht Roßdeutscher (2000) davon aus, dass die grundlegende Funktion von Verben die Zuschreibung von Eigenschaften an diejenigen Individuen ist, die relativ zur Evaluationszeit als “Mitspieler” des bezeichneten Ereignisses konzeptualisiert werden. Welche mit dem jeweiligen Ereignis verbundenen Eigenschaften allerdings in einer konkreten Pr¨adikation genau pr¨adiziert werden, h¨angt unter anderem von der durch die partizipiale Morphologie eingef¨uhrten Statusinformation ab. So schreiben Partizipien des ersten Status (z.B. heilend in der den Patienten heilende Arzt) dem Geschehnistr¨ager die Eigenschaft zu, “Mitspieler” eines sich im Verlauf befindlichen Ereignisses zu sein. Partizipien des zweiten Status wie zu heilend in der zu heilende Partient schreiben dem Thema-Argument bzw. Geschehnisbetroffenen die Eigenschaft zu, “Mitspieler eines noch ausstehenden Resultats (...) eines Ereignisses (...) zu sein” (ebd.: 58), w¨ahrend Partizipien des dritten Status wie geheilt in der geheilte Patient dem Geschehnisbetroffenen die Eigenschaft zuschreiben, sich im Resultatszustand des durch das Basisverb bezeichneten Ereignisses zu befinden. Wie -ment-Nomina k¨onnen Partizipien des dritten Status ebenfalls Teil von Konstruktionen sein, in welchen Individuen eine aus dem Basisereignis resultierende Eigenschaft zugeschrieben wird (vgl. Der Patient ist geheilt.). Ganz a¨ hnlich wie die unter (16) illustrierten -ment-Nominalisierungen k¨onnen sie allerdings dar¨uber hinaus mindestens in den folgenden vier Kontexten verwendet werden (vgl. von Stechow 1998: 1): (17)

a. Der Arzt hat den Patienten geheilt.

(Perfekt Aktiv)

b. Der Patient wurde von dem Arzt geheilt.

(Vorgangspassiv)

c. Der Patient ist geheilt.

(Zustandspassiv)

d. Der geheilte Patient

(Attributiv)

In der neueren Literatur zur Semantik der Partizipien des dritten Status wird f¨ur gew¨ohnlich die Ansicht vertreten, dass die partizipiale Morphologie nicht mit einer bestimmten Bedeutung assoziiert werden kann: There is no such thing as a core meaning of the participle II morphology. (von Stechow 1998: 3)

Man ist sich dagegen weitestgehend einig, dass die Partizipien in den verschiedenen Konstruktionen zumindest teilweise eine verschiedene Semantik aufweisen. So wird beispielsweise in einer Reihe einschl¨agiger Arbeiten betont, dass die Partizipien in Perfekt- und Vorgangspassiv-Konstruktionen verbalen Charakter haben, wohingegen Partizipien in attributiver Verwendung und in Zustandspassiv-S¨atzen als Adjektive bzw. Adjektiv-¨ahnlich zu analysieren sind

98 (vgl. z.B. Lieber 1981, Williams 1981, Kratzer 1994, Levin & Rappaport-Hovav 1996, Rapp 1997).42 Zudem wird kontrovers diskutiert, ob der Unterschied zwischen Resultatszustandskonstruktionen (Die Kinder sind schlampig (*un)gek¨ammt) und Eigenschaftszuschreibungen (Die Kinder sind ungek¨ammt) auf der semantischen Ebene anzusiedeln ist (Kratzer 2000) oder auf der kontextuellpragmatischen Ausspezifizierung einer dahingehend unterspezifizierten Partizipiensemantik beruht (Maienborn 2009 und s.u.). Selbst die beiden letztgenannten Arbeiten sprechen der partizipialen Morphologie an sich allerdings keine semantischen Merkmale zu. Laut Kratzer (2000: 7) hat die partizipiale Morphologie beispielsweise lediglich die Funktion “to signal the absence of verbal inflection”. Maienborn (2009: 40) analysiert die Partizipialmorphologie der Zustandspassivformen als ein ‘adjektivisches Nullsuffix’ (“adjectival zero affix”). Die umfangreiche und kontroverse Diskussion um die Einteilung und Semantik der verschiedenen partizipialen Konstruktionen soll hier nicht im Deteil rekapituliert werden, da die in der vorliegenden Arbeit u¨ bernommene moderatemergentistische Perspektive bereits eine mono-semantische Analyse der partizipialen Morphologie nahelegt. Aus diesem Grund baut die im Folgenden vorgestellte Analyse auf der Ansicht von Roßdeutscher (2000) auf, nach welcher die Partizipien des dritten Status in allen verschiedenen Konstruktionen dieselbe Bedeutungskomponente beisteuern, w¨ahrend die offensichtlichen Bedeutungsunterschiede der Konstruktionen auf das Zusammenspiel der einzelnen Konstituenten, und darunter vor allem auf die Bedeutung der Auxiliare zur¨uckzuf¨uhren sind. Wie bereits angedeutet wird die spezifische Relation, in der die konzeptuellen Mitspieler in der aktuellen (partizipialen) Pr¨adikation zu dem vom Verb bezeichneten Ereignis stehen, nach diesem Ansatz erst durch die Interaktion zwischen den involvierten lexikalischen Einheiten, der Statusinformation der Partizipien und allen weiteren aspektuell-temporal einwirkenden Konstituenten bestimmt bzw. explizit gemacht. Die verschiedenen Formen und Konstruktionen, in welchen das Partizip im konkreten Kontext erscheint (z.B. x heilt y versus y wird von x geheilt), spielen also eine entscheidende Rolle bei der Frage, welche Eigenschaft genau welchem Individuum zugeschrieben wird.43 Kontextfreie Partizipien von komplexen Verbbasen wie geheilt bezeichnen die Eigenschaft, sich in einem Zustand zu befinden, welcher aus einem vorhergehenden Prozess resultiert. In Zustandspassiv-Konstruktionen wie Der Pa42

43

F¨ur eine Zusammenfassung h¨aufig diskutierter Unterscheidungskriterien vgl. z.B. Emonds (2006: 19–25). ¨ Hier besteht nat¨urlich eine offensichtliche Uberschneidung zu der in Abschnitt 3.2.2 diskutierten wortstellungs- und/oder prosodisch bedingten Topikalisierung des Geschehnistr¨agers bzw. Geschehnisbetroffenen. Wie im Folgenden deutlich wird interagiert die partizipiale Morphologie zwar mit dieser Kategorie der Ereignisperspektivierung. Prinzipiell ist die durch die Partizipialmorphologie bedingte perspektivische Verschiebung aber unabh¨angig von der durch die informationsstrukturelle Komponente geleisteten Ereignisperspektivierung.

99 tient ist geheilt hat die Kopula die Funktion, die Relation zwischen dieser Eigenschaft und dem als Subjekt des Satzes fungierenden Thema-Argument bzw. Geschehnisbetroffenen explizit zu machen.44 Wie bereits angedeutet k¨onnen Zustandspassiv-Konstruktionen verschiedene Lesarten haben. Maienborn (2009) unterscheidet beispielsweise zwischen einer Nachzustandslesart, bei welcher dem Geschehnisbetroffenen die Eigenschaft zugeschrieben wird, sich im entsprechenden Nachzustand zu befinden (vgl. Kontext 18a.), und einer Eigenschaftslesart, bei welcher der Geschehnisbetroffene hinsichtlich der vom Partizip bezeichneten Eigenschaft klassifiziert wird, wobei der resultierende Charakter der vom Partizip bezeichneten Eigenschaft in den Hintergrund tritt (18b.). (18)

Das Manuskript ist eingereicht . . . a. . . . jetzt k¨onnen wir uns an den Projektantrag machen. b. . . . aber nicht angenommen / ver¨offentlicht.

Nachzustand Eigenschaft

(vgl. Maienborn 2009: 33)

Was die Beschreibung dieses Unterschieds anbelangt, orientiert sich die vorliegende Arbeit an der Ansicht von Maienborn (2009), dass beide Konstruktionen eine einheitliche Semantik aufweisen und der oben genannte Unterschied erst im Zuge kontextueller Ausspezifizierung auftritt, dass es sich also um einen pragmatischen Unterschied handelt.45 F¨ur die hier verfolgten Zwecke ist allerdings in erster Linie relevant, dass der Geschehnisbetroffene in beiden F¨allen als “Mitspieler” des Resultatszustands konzeptualisiert wird. In einem Passivsatz wie Der Patient wird geheilt wird der Geschehnisbetroffene hingegen als Verlaufszeitmitspieler konzeptualisiert. Das heißt, dem Geschehnisbetroffenen wird die Eigenschaft zugesprochen, zur Verlaufszeit am Ereignis teilzuhaben. Laut Roßdeutscher (2000) ist dieser Interpretationsunterschied aber nicht in der Verschiedenheit der Partizipien, sondern in dem Bedeutungsunterschied zwischen der sein-Kopula und dem werden-Auxiliar zu suchen. W¨ahrend die Kopula lediglich dazu dient, dem Individuum, u¨ ber das pr¨adiziert wird, die vom Pr¨adikat bezeichnete Eigenschaft zuzuschreiben, ist werden als eine Funktion zu verstehen, welche Zust¨ande den diese herbeif¨uhrenden Ereignissen zuordnet.46 Um die verschiedenen Konstruktionen einheitlich 44

45

46

Daher kann diese Konstruktion nur gebildet werden, sofern das vom Verb bezeichnete Ereignis die Konzeptualisierung des bzw. eines der Partizipanten als Geschehnisbetroffenem zul¨asst, vgl. *x ist gearbeitet. Zur Bedeutung der sein-Kopula vgl. Roßdeutscher (2000: 45f, 54). Einen Vorschlag f¨ur eine formale Darstellung der unterspezifizierten Adjektivierungsoperation gibt Maienborn (2009: 40). F¨ur n¨ahere Erl¨auterungen zum Prozess der Ausspezifizierung bzw. zur Integration der kontextuellen und enzyklop¨adischen Infomationen vgl. (ebd.: 41–43). Zur kompositionellen Semantik des werden-Passivs vgl. Roßdeutscher (2000: 77–79).

100 behandeln zu k¨onnen, unterscheidet Roßdeutscher (2000: 12) zwischen formalen und konzeptuellen Mitspielereigenschaften. W¨ahrend die formale und die konzeptuelle Mitspielereigenschaft in Kopula-S¨atzen koinzidieren, bedingt das werden-Auxiliar eine konzeptuelle Verschiebung der vom Partizip bezeichneten Mitspielereigenschaft. Aus diesem Grund wird der Geschehnisbetroffene als Verlaufszeitmitspieler des Ereignisses konzeptualisiert, das dem vom Partizip formal eingef¨uhrten Resultatszustand vorausgeht. In dieser Konstruktion ist der Geschehnisbetroffene somit formaler Resultatszeitmitspieler und konzeptueller Verlaufszeitmitspieler. Das verbindende Element zwischen den Konstruktionen ist das Partizip, dessen einheitliche Funktion es ist, den durch das interne Argument realisierten Geschehnisbetroffenen “als formalen Resultatszeitmitspieler auszuzeichnen” (Roßdeutscher 2000: 97). Der wichtigste Unterschied zwischen der Zustandspassiv- und der Prozesspassiv-Konstruktion ist, dass erstere im Unterschied zu letzterer zwischen einer reflexiven und einer nicht-reflexiven Lesart ambig ist.47 Das heißt, in einem Satz wie Die Kinder sind gek¨ammt kann der Subjektreferent mit dem Agens koreferent sein (Die Kinder haben sich selbst gek¨ammt) oder nicht (Die Kinder wurden von jemandem gek¨ammt). In einem Satz wie Die Kinder werden/wurden gek¨ammt ist die reflexive Lesart ausgeschlossen. Es ist zu betonen, dass dieser Referenzunterschied nach Roßdeutscher (2000: 48) ebenfalls auf die durch das werden-Auxiliar eingef¨uhrte Konzeptualisierungsverschiebung zur¨uckzuf¨uhren ist, wobei die Argumentation auf den folgenden zwei Beobachtungen beruht. Erstens weist die Autorin darauf hin, dass der durch werden in den Vordergrund ger¨uckte Prozess bei Verben des heilen-Typs nicht ohne Agens konzeptualisiert werden kann. Die zweite entscheidende Beobachtung von Roßdeutscher ist, dass die Koreferenz von Agens- und Thema-Argumenten im Falle von Ereignis- (im Gegensatz zu Zustands-) Referenz im Deutschen durch ein reflexives Pronomen explizit gemacht werden muss (ebd.: 46). Da in Prozesspassiv-Konstruktionen wie Die Kinder werden/wurden gek¨ammt keine derartige explizite Markierung vorhanden ist, werden Agens und Thema automatisch als nicht koreferent interpretiert. In Kopula-Konstruktionen wie Die Kinder sind gek¨ammt steht hingegen der Resultatszustand im Vordergrund, welcher auch bei fehlender Reflexivmarkierung nicht zwangsl¨aufig als extern verursacht konzeptualisiert wird. Eine Grundannahme von Roßdeutscher (2000) ist also, dass die Kodierung der Argumentstruktur davon abh¨angt, welche Ereigniseigenschaften mit der jeweili¨ gen Außerung welchen Mitspielern zugeschrieben werden. Die Argumente des Verbs sind “von Ereignissen getragen” (ebd.: 86). Die Abh¨angigkeit der Argu¨ mentstruktur von der durch die Außerungsbestandteile signalisierten Konzep-

47

Die Bezeichnungen ‘Zustandspassiv’ und ‘Prozesspassiv’ sind in Anlehnung an Kratzers (2000) Unterscheidung zwischen ‘state passives’ und ‘process passives’ gew¨ahlt.

101 tualisierung der Mitspielereigenschaften ist auch f¨ur den hier verfolgten Ansatz zur Differenzierung zwischen -ment und -age von zentraler Relevanz.48 ¨ Ahnlich wie in Prozesspassiv-Konstruktionen wird in Perfekt-S¨atzen wie Der Arzt hat den Patienten geheilt das externe Argument durch die Funktion des Auxiliars (hier haben) motiviert, dem Geschehnistr¨ager die Eigenschaft zuzuschreiben, Mitspieler in dem durch dieses Auxiliar eingef¨uhrten Zustand zu sein, welcher laut Roßdeutscher (2000) mit dem partizipialen Nachzustand identifiziert wird (ebd.: 70). Die deutsche Perfektkonstruktion verbalisiert allerdings keine eindeutige Konzeptualisierung des durch das Basisverb bezeichneten Ereignisses, sondern ist mindestens unterspezifiziert zwischen einer Ereignislesart (19a.) und einer Zustandslesart (19b.), vgl. (ebd.: 73–76).49 (19)

a. . . . Der Arzt hat . . . den Patienten geheilt. Danach hat . . . er sofort die Rechnung geschickt. Ereignislesart b. Der Arzt hat . . . den Patienten geheilt. Der ist . . . (jetzt) umgehend aus dem Krankenhaus zu entlassen. Zustandslesart (vgl. Roßdeutscher 2000: 73)

Beispiel (19a.) zeigt, dass partizipiale Konstruktionen durchaus auch eventiv interpretiert werden k¨onnen, sofern das Ereignis durch den Kontext (hier die durch Danach eingef¨uhrte Relation zwischen Ereignissen) als Gegenstand der Pr¨adikation ausgewiesen wird. Ungeachtet dessen hat das Partizip in Perfektkonstruktionen jedoch genauso wie in den oben besprochenen Strukturen die Funktion, den Geschehnisbetroffenen als formalen Resultatszeitmitspieler auszuweisen. Schließlich k¨onnen Partizipien des dritten Status auch attributiv verwendet ¨ werden (vgl. (17d.)). Ahnlich wie die Eigenschaftslesarten bei ZustandspassivKonstruktionen dienen die attributiven Partizipien dazu, das Individuum, u¨ ber das pr¨adiziert wird, hinsichtlich der durch das Partizip zugeschriebenen Eigenschaft zu klassifizieren. Roßdeutscher unterscheidet in diesem Zusammenhang in Anlehnung an Bech (1983) zwischen partizipialen Ereignis- und Zustandspr¨adikaten in pr¨adikativer Verwendung (Supina) und Eigenschaftspr¨adikaten in attributiver Verwendung (Partizipien). Allerdings bleibt auch bei der attributiven Verwendung der partizipialen Formen die Information erhalten, dass es sich um eine Eigenschaft handelt, die aus einem vorhergehenden Ereignis resultiert. Daher kann auch in diesem Fall, beispielsweise durch anteriorische Adverbien wie 48

49

Vgl. z.B. die Erl¨auterungen zur Ereignisperspektivierung in Abschnitt 3.2.2, die Gegen¨uberstellung der -ment- und -age-Nominalisierung in Abschnitt 3.3.4, aber auch die Detailuntersuchungen in Kapitel 4. Eine a¨ hnliche Sicht auf argumentstrukturelle Kodierung findet sich u.a. auch bei Gehrke & Grillo (2009). F¨ur eine detaillierte Diskussion zu den verschiedenen Lesarten des deutschen Perfekts im Vergleich mit dem Schwedischen und dem Englischen vgl. Rothstein (2008a: 23– 66) u.¨o..

102 soeben, ein Umschwenken der Konzeptualisierung von der Resultatszeit auf die Verlaufszeit stattfinden, derart, dass der Geschehnisbetroffene nicht als Resultatszeitmitspieler, sondern als Verlaufszeitmitspieler konzeptualisiert wird. Dies ist laut Roßdeutscher (2000: 44) in Nominalphrasen wie der soeben geschminkte Schauspieler der Fall. F¨ur Partizipien des dritten Status von Verben des heilen-Typs kann also festgehalten werden, dass sie in jedem Fall dem Geschehnisbetroffenen die Eigenschaft zuschreiben, sich im Resultatszustand des durch das Basispr¨adikat bezeichneten Ereignisses zu befinden. Die oben beschriebenen Interpretationsverschiebungen liegen außerhalb der Partizipiensemantik selbst. Der Umstand, dass mit den Partizipien informationsstrukturell gesehen u¨ ber den Geschehnisbetroffenen, und nicht u¨ ber den Geschehnistr¨ager, pr¨adiziert wird, bewirkt die tendenzielle nicht-aktivische Ausrichtung der Partizipien. In der Denotation dieser Partizipien taucht der Geschehnistr¨ager, wenn u¨ berhaupt, lediglich (qua seiner Eigenschaft als Ereigniszeitmitspieler) als Teil der Pr¨adikation auf. Es deutet sich an, dass diese mono-semantische Analyse deutscher Partizipien gewinnbringend f¨ur die Analyse der hier zu untersuchenden -ment-Nominalisierungen eingesetzt werden kann, welche ebenfalls vornehmlich resultierende Zust¨ande (vgl. (16a. und c.)) und resultierende Individueneigenschaften (16b.), zu geringerem Anteil aber auch passivische Ereignisse (16d.) und abgeschlossene Ereignisse (16e.) bezeichnen. In Anlehnung an Roßdeutschers Analyse soll daher f¨ur die franz¨osische -ment-Nominalisierung vorgeschlagen werden, dass mit dem durch -ment eingeleiteten Nominalisierungsprozess eine Perspektiven¨anderung einhergeht, die dazu f¨uhrt, dass -ment nicht wie -age allgemein Ereigniseigenschaften reifiziert, sondern dass durch -ment vielmehr die Eigenschaft reifiziert wird, die Partizipien dem Geschehnisbetroffenen des vom Basisverb bezeichneten Ereignisses zuschreiben, d.h. die Eigenschaft, sich in dem aus dem Basisereignis resultierenden Zustand zu befinden.50 Alle weiteren Interpretationsvarianten sind entweder (wie im Fall von Individueneigenschaftslesarten) auf pragmatische Verschiebung oder (wie im Fall der eventiven Lesarten) auf kontextuelle Spezifizierung, z.B. durch das Matrixverb samt dessen Tempus- und Aspektinformationen, zur¨uckzuf¨uhren. Demnach denotieren Resultatszustandslesarten wie (16a.) und (16c.) reifizierte resultierende Zust¨ande, wohingegen Eigenschaftslesar50

Es ist zu beachten, dass der hier angestellte Vergleich der -ment-Nomina mit Partizipien des dritten Status nicht darauf hinausl¨auft, -ment-Nominalisierungen mit substantivierten Partizipien gleichzusetzen. Substantivierte Partizipien k¨onnen in der vorliegenden Arbeit nicht ausf¨uhrlich behandelt werden. Es liegt jedoch die Vermutung nahe, dass diese Bildungen reifizierte Individueneigenschaften bezeichnen, die nicht mehr in dem Sinne mit einem vorhergehenden Ereignis in Verbindung gebracht werden, wie es oben f¨ur -ment beschrieben wurde. Vgl. auch die entsprechenden Hinweise zur Semantik von Partizipiensubstantivierungen in Kapitel 2.1.3.

103 ten wie (16b.) reifizierte resultierende Eigenschaften denotieren. ProzesspassivLesarten wie (16d.) denotieren reifizierte resultierende Zust¨ande in passivischen Kontexten und eventive Lesarten wie (16e.) denotieren reifizierte resultierende Zust¨ande in eventiven Kontexten.51 Es soll also argumentiert werden, dass sich die Eigenschaft, die im Zuge des durch -ment eingeleiteten Reifizierungsprozesses vergegenst¨andlicht wird, nicht wie im Fall der -age-Nomina auf die Teilhabe des Geschehnistr¨agers und ggf. -betroffenen am perspektivisch unmodifizierten Basisereignis, sondern vielmehr auf die Teilhabe des Geschehnisbetroffenen an dem aus dem Basisereignis resultierenden Zustand bel¨auft. (20)

Generalisierung zur abstrakten Bedeutung von -ment -ment reifiziert die Eigenschaft des Geschehnisbetroffenen, sich in dem aus dem Basisereignis resultierenden Zustand zu befinden.

3.3.3 -Age und -ment und die Perspektivierung von Ereignissen Die Interaktion der von -age und -ment geleisteten perspektivischen Verschiebung bzw. Fixierung mit den semantischen Eigenschaften der verschiedenen Verben und den jeweiligen semantisch-pragmatischen Kriterien der Ereignisperspektivierung soll in Kapitel 4 f¨ur ausgew¨ahlte Verbklassen im Detail untersucht werden. Hierf¨ur soll an dieser Stelle nochmals betont werden, dass die den Nominalisierungsprozessen zugrundeliegenden Basisverben dem hier entwickelten Ansatz zufolge alle eine Topikalisierung des Geschehnistr¨agers implizieren, dass bestimmte Verben (wie z.B. ‘unakkusative’ Zustandswechselverben) allerdings Ereignisse bezeichen, deren Geschehnistr¨ager pragmatisch gegesehn selten sinnvoll zum Topic der Aussage gemacht werden kann, w¨ahrend andere Verben (wie die “agentive activity predicates”) Ereignisse bezeichnen, deren einziger Partizipant nicht als Geschehnisbetroffener konzeptualisiert werden kann. Wie bereits erl¨autert folgt aus der in den beiden vorigen Abschnitten vorgestellte Bedeutungsanalyse der -age- und -ment-Nominalisierung ausgehend von dieser Pr¨amisse, dass die Ableitung mittels -ment a¨ hnlich wie die unakkusative und die passivische Einbettung zu einer Enttopikalisierung des Geschehnistr¨agers, gegebenenfalls bei gleichzeitiger Topikalisierung des Geschehnisbetroffenen, weswegen naheliegt, dass -ment im ‘unakkusativen’ und wenig prototypischtransitiven Bereich besonders produktiv ist. F¨ur -age folgt hingegen, dass das 51

Dabei wird angenommen, dass das von Basisverben wie amaigrir in Kontexten wie (16e.) bezeichnete Ereignis Gegenstand der Pr¨adikation sein kann, weil es in der semantischen Repr¨asentation der entsprechenden -ment-Nominalisierung enthalten (‘entailed’) ist. F¨ur die hier relevante Definition von Enthaltensein (‘entailment’) vgl. z.B. Chierchia & McConnell-Ginet (2000: 18–21).

104 Verfahren die den Basisverben inh¨arente Topikalisierung des Geschehnistr¨agers fixiert, weshalb sich die -age-Nominalisierung vor allem zur Ableitung von ‘unergativen’ und prototypisch-transitiven Basisverben anbietet. Wie f¨ur den verbalen Bereich anhand der Gegenbeispiele gegen die Unakkusativit¨atshypothese bereits deutlich wurde handelt es sich hierbei jedoch lediglich um Pr¨aferenzen bzw. Pr¨adestinationen, die bei entsprechenden Bezeichnungsbed¨urfnissen der Sprecher auch u¨ berschrieben werden k¨onnen. F¨ur den hier relevanten derivationsmorphologischen Bereich ist zudem zu beachten, dass sich die Suffixe bereits aufgrund ihres Status als Wortbildungselemente in verschiedener Hinsicht von der syntaktisch basierten informationsstrukturellen Kodierung auf der Satzebene unterscheiden. Eine wichtige Besonderheit der -mentNominalisierung ist beispielsweise, dass sie nicht nur f¨ur die Topikalisierung des Geschehnisbetroffenen, sondern auch und vor allem f¨ur die Einf¨uhrung einer resultativen Perspektive (im oben definierten Sinne) verantwortlich zu machen ist. Ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen der syntaktischen Kodierung der Informationsstruktur und der -age- und -ment-Nominalisierung ist, dass es bei der Nominalisierung anders als bei der syntaktischen Einbettung der Basisverben zu einer Reifizierung der an die Ereignispartizipanten zugeschriebenen Eigenschaften kommt und dass die im Zuge dessen entstehenden Individuenbezeichnungen durch ihren substantivischen Status zum Teil andere Interpretationsm¨oglichkeiten bieten und/oder anders mit den weiteren Mitteln der Ereignisperspektivierung interagieren, als es f¨ur die entsprechenden verbalen Konstruktionen angenommen werden kann (vgl. hierf¨ur bereits die Beispiele f¨ur -age- und -ment-Nominalisierungen in den obigen Abschnitten). Hinzu kommt noch, dass bei der Wortbildung zum Teil andere semantischpragmatische Kriterien und Benennungskonventionen im Spiel sind als bei der syntaktischen Einbettung. Ein markantes Beispiel stellen in diesem Zusammenhang -ment-Nominalisierungen von ‘unergativen’ Verben (z.B. miaulement von miauler, ‘miauen’) dar, die durch die oben vorgeschlagene Analyse von -ment noch nicht erfasst werden, da die Basisverben sich dadurch auszeichnen, dass der Subjektreferent im Normalfall ausschließlich als Geschehnistr¨ager, nicht jedoch als Geschehnisbetroffener konzeptualisiert werden kann (vgl. dazu erneut Abschnitt 3.2.2). Die entsprechenden Situationen bzw. Ereigniskonzepte implizieren also keinen Referenten, dem die Resultatszustandseigenschaft sinnvoll zugeschrieben werden k¨onnte. An dieser Stelle soll kurz auf die Ergebnisse der empirischen Untersuchung in Kapitel 4.3 vorgegriffen und festgehalten werden, dass -ment-Nomina von derartigen Verben im untersuchten Korpus generell die produzierten Laute oder andere aus dem intransitiven Prozess resultierende Effekte, nicht jedoch die intransitiven Prozesse bzw. die Produktion der Laute/Effekte selbst, bezeichnen, was sich unter anderem an der hohen Anzahl von -ment-Nominalisierungen zeigt, die mit Wahrnehmungsverben (21a.,c.) oder Emissionsverben (21b.,d.) kookkurrieren:

105 (21)

a. On entendait le pas des bˆetes, le ruissellement des robinets ouverts sur l’abreuvoir, un peu plus loin le grincement du chariot qui emportait le lait. ‘Man h¨orte den Schritt der Tiere, das Rinnen der ge¨offneten Wasserh¨ahne an der Tr¨anke, ein wenig weiter das Quietschen des Wagens, der die Milch brachte.’ (amour) b. Flairant le cheval royal, le tarpan fit entendre un hennissement de contentement. ‘Als er das k¨onigliche Pferd gewittert hatte, ließ der Tarpan ein Wiehern der Zufriedenheit h¨oren.’ (horde) c. [Il] disait encore, debout, le B´en´edicit´e, avant de verser le vin (. . . ) et de tracer vite, avec un couteau, une croix sur le pain inentam´e (J’entends encore le raclement bref sur la croˆute). ‘Er sagte nochmals, im Stehen, das Tischgebet, bevor er den Wein einschenkte (. . . ) und schnell mit einem Messer ein Kreuz in das noch nicht angeschnittene Brot zog (Ich h¨ore noch das kurze Kratzen auf der Kruste).’ (secret) d. Pris de court et ne trouvant dans ma m´emoire aucun e´ claircissement sur ce point, j’´emis un balbutiement h´esitant. ‘In Verlegenheit gebracht und in meinem Ged¨achtnis keinerlei diesen Punkt betreffende Erhellung findend gab ich ein z¨ogerndes Stammeln von mir.’ (testament)

F¨ur diese -ment-Nominalisierungen wird in den Kapiteln 4.3.1 und 4.3.2 vorgeschlagen, dass auch sie eine Komponente des Ereigniskomplexes bezeichnen, die in gewissem Sinn aus einem vorhergehenden Prozess resultiert. In Abschnitt 4.1.3 wird hierf¨ur die kognitiv orientierte Definition von Ereigniskomplexen nach Moens & Steedman (1988) eingef¨uhrt, welche auf der Idee beruht, dass die Relation zwischen den Teilereignissen eines Ereigniskomplexes nicht temporal sondern kausal ist.52 Auf dieser Grundlage wird argumentiert werden, dass -ment-Nomina von Emissionsverben gerade deswegen das Emissionsprodukt bezeichnen, weil es keinen Geschehnisbetroffenen gibt, dem die Resultatzustandseigenschaft zugeschrieben werden k¨onnte. Aus diesem Grund reifiziert -ment in diesem Fall eine Partizipanten-unabh¨angige resultierende Eigenschaft, d.h. gewissermaßen die resultierende Eigenschaft der Situation an sich. Das Ergebnis ist augenscheinlich, dass die entsprechenden -ment-Nomina auf das Produkt des Emissionsprozesses Bezug nehmen.53 Eine derart eindeutige Verschiebung auf die Produktkomponente des Ereigniskomplexes findet im Zuge der syntaktisch bedingten Enttopikalisierung des Geschehnistr¨agers durch die 52

53

Das Konzept des Ereigniskomplexes an sich wird wie bereits angedeutet ebenfalls in Kapitel 4.1.3 n¨aher erl¨autert. Auch in diesem Fall mag eine Verschiebung der Denotation auf die Ereigniskomponente bei entsprechendem Kontext m¨oglich sein, vgl. dazu ebenfalls Kapitel 4.3.1.

106 Pr¨asentativkonstruktion (z.B. Es bellt ein Hund) o.¨a. vermutlich deswegen nicht statt, weil letztere Konstruktion nicht mit einem der Nominalisierung vergleichbaren Reifizierungsprozess einhergeht.

3.3.4 Die Unterschiede zwischen den -ment- und -age-Nomina Gem¨aß den Ausf¨uhrungen in den vorigen Abschnitten ist der grundlegende Unterschied zwischen -age und -ment also, dass -age Ereigniseigenschaften, -ment hingegen Resultatszustandseigenschaften (im oben definierten Sinn) reifiziert. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie die in Abschnitt 3.1 zitierten Beobachtungen der verschiedenen Autoren bez¨uglich der Unterschiede zwischen -mentund -age-Nominalisierungen auf den oben etablierten abstrakt-semantischen Unterschied zwischen den beiden Suffixen zur¨uckgef¨uhrt werden k¨onnen. Was die tendenziellen aspektuellen Differenzen zwischen -ment- und -ageNominalisierungen anbelangt, so resultiert der in Abschnitt 3.1.1 beschriebene Eindruck der Nicht-Terminativit¨at der -age-Nominalisierungen nach der in 3.3.1 vorgeschlagenen Analyse von -age beispielsweise bereits aus der bloßen Tatsache, dass aufgrund der den Basispr¨adikaten inh¨arenten Topikalisierung des Geschehnistr¨agers die an den Geschehnistr¨ager zugeschriebenen Eigenschaften im Mittelpunkt des Diskurses stehen. Wie bereits in Abschnitt 3.3.1 erl¨autert geht es bei den Nominalisierungen in erster Linie um den Prozess, den der Geschehnistr¨ager durchl¨auft, und nur indirekt um die mit diesem verbundene Wirkung auf den Geschehnisbetroffenen bzw. um das Resultat des Prozesses. Aus diesem Umstand ergibt sich f¨ur -age-Nominalisierungen von komplexen Basisverben des Typs saboter eine Fixierung der Betrachtungsperspektive auf den dem resultierenden Zustand vorangehenden Prozess. Das heißt, sofern der resultierende Zustand u¨ berhaupt Teil der Denotation einer solchen Nominalisierung ist, ist er dies genauso wie der Geschehnisbetroffene lediglich als Bestandteil der an den Geschehnistr¨ager zugeschriebenen Ereigniseigenschaft. Die Herabstufung (‘demotion’) der etwaigen resultativen Komponente und des Geschehnisbetroffenen (und damit die Nicht-Terminativit¨at der -age-Nomina) zeigt sich besonders deutlich bei den zahlreichen -age-Nominalisierungen, die auf Ereignistypen Bezug nehmen (vgl. z.B. Abschnitt 3.3.1, Beispiel (13)). Der Grund hierf¨ur ist, dass die Ereignistypen offensichtlich nicht in Bezug auf die Evaluationszeit lokalisiert werden k¨onnen. Die von den Basisverben bezeichneten Ereignisse k¨onnen somit nicht aus der perfektivischen Perspektive betrachtet werden, was bedeutet, dass in diesem Fall, anders als z.B. bei den episodischen Beispielen unter (14), keine M¨oglichkeit besteht, den Abschluss (und somit das Resultat) des Ereignisses durch den sprachlichen Kontext kenntlich zu machen. Die tendenzielle Terminativit¨at der -ment-Nominalisierungen folgt hingegen direkt aus der mit der Nominalisierung einhergehenden perspektivischen Verschiebung der Basispr¨adika-

107 te: Im Fall von -ment ist der Gegenstand der Reifizierung die von der Basis an den Geschehnisbetroffenen zugeschriebene Resultatszustandseigenschaft, weshalb die resultative Komponente des Basisverbs zwangsl¨aufig im Mittelpunkt des Diskurses steht. Eventive -ment-Nomina referieren daher f¨ur gew¨ohnlich auf abgeschlossene Ereignisse, bei welchen der Resultatszustand zumindest mitthematisiert wird. Im Zusammenhang mit der aspektuellen Differenz zwischen -ment und -age wurde in Abschnitt 3.1.1 weiterhin die Beobachtung von Martin (2010) zitiert, dass sowohl im Fall von kausativ/inchoativ-alternierenden Verben als auch im Fall von semelfaktiv/iterativ-alternierenden Verben die mereologisch gesehen l¨angere Variante der von den Verben bezeichneten Ereigniskette durch -age, die mereologisch k¨urzere Variante der Ereigniskette durch -ment nominalisiert wird. Auch diese Beobachtung kann auf die hier entwickelte Generalisierung zur abstrakt-semantischen Differenzierung zwischen -age und -ment zur¨uckgef¨uhrt werden, sofern die pragmatische Komponente der Derivationsmorphologie (im Sinne von Kapitel 2.1.5) mit einbezogen wird. Im Folgenden soll zun¨achst der Fall der kausativ/inchoativ-alternierenden Basisverben des Typs gonfler betrachtet werden, vgl. Martins Beispiel unter (1), hier wiederholt als (22). (22)

a. Pierre a assist´e au gonflage des ballons. ‘Pierre hat dem Aufpumpen der B¨alle beigewohnt.’ > Pierre witnessed the whole causation b. Pierre a assist´e au gonflement des ballons. ‘Pierre hat dem Aufgehen der B¨alle beigewohnt.’ > Pierre witnessed the change of state only c. Pierre a assist´e au gonflement des ballons par X. > Pierre witnessed the whole causation

(Martin 2010: 118f)

Zun¨achst ist in diesem Zusammenhang erneut darauf hinzuweisen, dass -ageNomina von inchoativen Verben prinzipiell ebenso ableitbar sind wie -mentNomina (vgl. z.B. 3.1.3, (9a.,b.) sowie Kapitel 4.2). Auch von kausativen Verben k¨onnen ebenso -ment- wie -age-Nomina gebildet werden, vgl. z.B. Abschnitt 3.3.2, (16d.) sowie ebenfalls Abschnitt 4.2). Dieser Umstand deutet darauf hin, dass die Aufteilung von -ment und -age im Bereich der kausativ/inchoativAlternation des gonfler-Typs nicht allein durch die abstrakte Bedeutung der Suffixe erkl¨art werden kann. Vielmehr nehmen -ment-Nomina aus dem Grund vornehmlich auf die stark resultatsorientierten inchoativen Zustandswechselereignisse Bezug, wie sie durch inchoative Verben des Types gonfler(inch) bezeichnet werden, weil die Nominalisierungen das Ereignis aufgrund der spezifischen Bedeutung des Suffixes aus der Perspektive darstellen, aus welcher am h¨aufigsten auf derartige Ereignisse Bezug genommen wird. Wenn Sprecher mit Hilfe einer Nominalisierung auf ein inchoatives Zustandswechselereignis Bezug nehmen, dann soll das Ereignis meist unter Topikalisierung des bei diesen Ereignissen

108 hoch salienten Geschehnisbetroffenen, und damit aus der ebenfalls salienten resultativen Perspektive dargestellt werden, weshalb meist nur die Verwendung einer -ment-Nominalisierung ad¨aquat ist (vgl. zum Zusammenhang zwischen den Perspektivierungspr¨adestinationen von Verben und der Beschaffenheit der von diesen bezeichneten Ereignisse auch Abschnitt 3.2.2). Zus¨atzlich werden die -ment-Nominalisierungen f¨ur die F¨alle ben¨otigt, in welchen auf ein kausatives Ereignis aus einer passivischen Perspektive Bezug genommen werden soll, weil nur die -ment-Nomina die entsprechende Perspektive einf¨uhren k¨onnen. Auf die kausative Variante des Ereignisses wird besonders h¨aufig unter Topikalisierung des Geschehnistr¨agers Bezug genommen, weswegen in diesem Fall -age-Nominalisierungen das ad¨aquateste Mittel zur Versprachlichung der intendierten Inhalte darstellen (vgl. ebd.). Die in (22) gezeigte Aufteilung der -mentund -age-Nominalisierungen im Bereich der kausativ/inchoativ-alternierenden Basisverben ergibt sich nach dem hier vorgeschlagenen Ansatz also genau genommen aus der Interaktion der jeweiligen Suffixbedeutung mit der semantischpragmatischen Angemessenheitsbedingung (vgl. Abschnitt 2.1.5, Definition (10)): Aufgrund der durch das Suffix bedingten Prozessausgerichtetheit der -age-Nominalisierungen werden diese Formen selten verwendet, um auf nichtextern verursachte Zustandswechselereignisse Bezug zu nehmen, denn die auf den Resultatszustand ausgerichteten -ment-Nomina sind zur Versprachlichung der intendierten Inhalte in diesem Bereich besser geeignet. Die auf den Resultatszustand ausgerichteten -ment-Nomina werden hingegen im kausativen Bereich nur in passivischen Kontexten ben¨otigt, denn in allen anderen Kontexten sind die Prozessnomina auf -age zur Versprachlichung der intendierten Inhalte besser geeignet.54 Im Fall des im Franz¨osischen bereits seit geraumer Zeit etablierten Dublettenpaares gonflage/gonflement und a¨ hnlichen Paaren (wie z.B. abattage/abattement, ‘Holzf¨allen u.a./Niedergeschlagenheit’, adoucissage/ adoucissement, ‘Einweichen/Milderung’, blanchissage/blanchissement, ‘Bleichen/ Weißwerden’ etc.) k¨onnte argumentiert werden, dass den beiden Ausdr¨ucken die unterschiedlichen Interpretationen aus dem Bestreben der Synonymievermeidung zugeschrieben werden (vgl. z.B. die in Abschnitt 3.1.3 zitierten Beobachtungen zur Dublettendifferenzierung von Dubois 1962 und Dubois & DuboisCharlier 1999). Diese Argumentation w¨urde sich ebenfalls dem Kriterium der semantisch-pragmatischen Angemessenheit bedienen, nach welchem Derivate nur dann gebildet werden, wenn sie einen bisher noch nicht versprachlichten Inhalt versprachlichen (vgl. erneut 2.1.5, Definition (10)). Wie in Abschnitt 3.1.3 angedeutet ist die Beobachtung, dass Dublettenpaare wie gonflage/gonflement 54

Das Verhalten von Nominalisierungen des Typs gonflage/gonflement wird in Kapitel 4.2.1 noch n¨aher diskutiert, wo auch die auf den ersten Blick nicht-terminativen -mentNominalisierungen des gonflement-Typs zur Sprache kommen, die in Abschnitt 3.1.3 unter (9 d.) gezeigt wurden.

109 ¨ des Ofteren der semantischen Differenzierung unterliegen, allerdings noch nicht alles, was u¨ ber diese Differenzierung ausgesagt werden kann.55 F¨ur ein umfassendes Verst¨andnis der Differenz zwischen -ment und -age ist vielmehr entscheidend, dass sich die Dublettendifferenzierung durch die Gegen¨uberstellung von auf den Prozess ausgerichteten -age-Nominalisierungen wie abattage, adoucissage, blanchissage, gonflage und auf den Resultatszustand ausgerichteten -mentNominalisierungen wie abattement, adoucissement, blanchissement, gonflement direkt mit der abstrakten Bedeutung der Suffixe in Verbindung bringen l¨asst. Diesem Umstand wird die bloße Feststellung der Existenz der Dublettendifferenzierung von Dubois (1962) und Dubois & Dubois-Charlier (1999) nicht gerecht. Selbst wenn man davon ausgeht, dass die Differenzierung von Dubletten auf das Bestreben zur Synonymievermeidung zur¨uckzuf¨uhren ist, bedarf es also einer umfassenden Analyse der abstrakten Suffixbedeutung nach der Art des hier entwickelten Ansatzes, um die Systematik der Bedeutungsdifferenzierung erfassen zu k¨onnen. Das von Martin (2010) gegebene Beispiel f¨ur die Differenzierung im Bereich der semelfaktiv/iterativ-alternierenden Verben, im Folgenden in Teilen als (23) wiederholt, ist allerdings etwas anders geartet. (23)

a. Une session de ◦ miaulage ‘Eine Periode des Miauens’ b. *Une session de miaulement c. Une session de miaulements

(Martin 2010: 120)

Erstens ist zu beachten, dass es sich bei dem Beispiel (23) um einen nichtepisodischen Kontext handelt, in welchem zudem kontextuell eine iterative Interpretation nahegelegt wird. Gem¨aß den Ausf¨uhrungen in Abschnitt 3.3.1 ist bereits aus diesem Grund zu erwarten, dass die -age-Nominalisierung als iterativer Ereignistyp interpretiert wird. Was die obligatorische Pluralisierung der -ment-Nominalisierung anbelangt, so ist diese nach der hier vertretenen Analyse dem Umstand geschuldet, dass -ment-Nomina von ‘unergativen’ Verben wie miauler generell die produzierten Emissionen, und nicht die Emissionsprozesse, denotieren.56 Demnach denotieren -ment-Nominalisierungen von Tierlautemissionsverben Tierlaute. Vor diesem Hintergrund erkl¨art sich die Inkompatibilit¨at der singul¨aren -ment-Nominalisierung in (23b.) bereits aus dem Umstand, dass der entsprechende Tierlaut bzw. das Tierlautkonzept von den Sprechern mit einer geringeren zeitlichen Ausdehnung assoziiert wird als die durch session bezeichnete Zeitspanne. Insgesamt wird deutlich, dass sich auch Martins Ereig55

56

Ganz abgesehen davon, dass etwaige Dublettendifferenzierungen diachron betrachtet ohnehin nicht f¨ur die Bedeutungsdifferenz zwischen -ment und -age verantwortlich gemacht k¨onnen, vgl. hierzu die entsprechenden Hinweise in Abschnitt 3.1.3 und in Kapitel 5. S.o. und vgl. Kapitel 4.3.

110 nisl¨angen-Kriterium auf die in der vorliegenden Arbeit entwickelte semantische Differenzierung zwischen -ment und -age zur¨uckf¨uhren l¨asst, sofern die pragmatische Dimension der Wortbildung miteinbezogen wird. Die zweite in Abschnitt 3.1.1 zitierte Beobachtung von Martin (2010) zur aspektuellen Differenz zwischen -ment- und -age-Nominalisierungen ist, dass -age-Nomina im Gegensatz zu -ment-Derivaten interne Argumente pr¨aferieren, die von dem entsprechenden Basisereignis inkrementell affiziert werden, vgl. Beispiel (3), hier wiederholt als (24). (24)

a. Marie a intentionnellement pliss´e sa jupe ‘Marie hat absichtlich ihren Rock gefaltet.’ > Le plissement/plissage de la jupe b. Marie a intentionnellement pliss´e les yeux. ‘Marie hat absichtlich die Augen zusammengekniffen.’ > Le plissement/#plissage des yeux (Martin 2010: 124)

Die R¨uckf¨uhrung dieses Ph¨anomens auf die hier als ausschlaggebend erachtete abstrakt-semantische Differenz zwischen -ment und -age beruht auf derselben Argumentation, die oben bereits im Bereich der kausativ/inchoativalternierenden Verben angewendet wurde. So kann auch f¨ur die von Martin (2010) angef¨uhrten Beispiele plisser les yeux oder e´ craser un pi´eton (vgl. Abschnitt 3.1.1, Beispiel (4)) angenommen werden, dass es sich um Bezeichnungen f¨ur Zustandswechsel handelt, die sich durch die hohe Salienz der resultativen Komponente (pliss´e) bzw. des im Resultatszustand vom Geschehnis betroffenen Partizipanten (les yeux) auszeichnen, wobei in diesem Zusammenhang noch hinzu kommt, dass das vom Geschehnistr¨ager (entweder ebenfalls les yeux oder die zugeh¨orige Person) durchlaufene Ereignis minimal ist. Vor diesem Hintergrund kann in diesem Kontext ebenfalls argumentiert werden, dass auf die entsprechenden Ereignisse aus dem Grund selten aus der durch -age eingef¨uhrten Prozessperspektive Bezug genommen wird, weil die Prozesskomponente bei gleichzeitiger Enttopikalisierung der resultativen Komponente selten Thema des Diskurses ist. Wie f¨ur die gonfler(inch) -Verben wird in der vorliegenden Arbeit also auch f¨ur die hier relevanten Verben angenommen, dass sie aus pragmatischen Gr¨unden am h¨aufigsten mit -ment nominalisiert werden, da mit einer Nominalisierung in diesem Kontext in den meisten F¨allen entweder ausschließlich auf den Resultatszustand oder auf ein abgeschlossenes Ereignis Bezug genommen werden soll, bei welchem der Resultatszustand ebenfalls mitthematisiert wird. Wie erwartet zeigt bereits ein kurzer Blick in die FRANTEXT-Datenbank, dass die entsprechenden -ment-Nominalisierungen in der Tat entweder auf Resultatszust¨ande (25 a., b.) oder auf abgeschlossene Ereignisse (25c.) Bezug nehmen.57 57

F¨ur n¨ahere Erl¨auterungen zur FRANTEXT-Datenbank vgl. erneut Anhang A.2 bzw. Kapitel 4.1.1. Die folgenden K¨urzel beziehen sich auf die “zus¨atzlich zitierten FRANTEXT-Texte” in Anhang A.2.

111 (25)

a. Je lui vis, pour la premi`ere fois, dans le plissement des yeux, quelque chose comme un sourire. ‘Ich sah bei ihm, zum ersten Mal, in der Faltenbildung der Augen, etwas wie ein L¨acheln.’ (loin) b. Ils parlent et je n’entends pas ce qu’ils disent. Leurs paroles ne passeraient pas dans la peinture. Ce qui passe, c’est la forme de leur bouche, le plissement de l’œil. ‘Sie sprechen und ich verstehe nicht, was sie sagen. Ihre Worte w¨urden nicht in das Gem¨alde herein dringen. Das Einzige, was hereindringt, ist die Form ihres Mundes, die Faltung des Auges.’ (pa¨ıen) c. Les traits de ton visage s’animaient si rarement que tu pouvais d´eclencher le rire ou l’intimidation par un simple plissement de l`evres. ‘Deine Gesichtsz¨uge bewegten sich derart selten, dass du durch ein einfaches Zusammenkneifen deiner Lippen Lachen oder Einsch¨uchterung ausl¨osen konntest.’ (suicide)

Der Ansatz sagt weiterhin voraus, dass -age-Nomina in diesem Bereich dann zum Einsatz kommen, wenn der Geschehnisgtr¨ager topikalisiert werden soll bzw. damit einhergehend die Prozesskomponente im Mittelpunkt des Diskurses steht. Diese Vorhersage wird durch die bereits in 3.1.3 unter (10) angef¨uhrten, hier unter (26) wiederholten Beispiele aus franz¨osischen Internetquellen best¨atigt, die zeigen, dass plissage problemlos mit de(s) yeux kookkurieren kann, sofern mit der Nominalisierung auf die Eigenschaften des Geschehnistr¨agers bzw. auf die Prozesskomponente abgehoben wird: (26)

a. Kas, fais attention qd mˆeme car le plissage des yeux a` cause du soleil, on le paie avec les rides! ‘Kas, gib trotzdem Acht, denn das Zusammenkneifen der Augen aufgrund der Sonne bezahlt man mit Falten!’ (http://forum.doctissimo.fr/grossesse-bebe/bebes annee/....html 04.01.2010) b. Apr`es quelques secondes de plissage de yeux et de massage de front, Elrohir e´ tait r´eveill´e. ‘Nach einigen Sekunden des Augenzusammenkneifens und der Stirnmassage war Elrohir aufgewacht.’ (http://naheulbeuk.kanak.fr/l-entre-f135/arrive-de-baboum-t80630.html 04.01.2010) c. [C.Lambert] reprend le rˆole de raiden ds “mortal kombat 3” – j’aime beaucoup son plissage des yeux pour paraitre asiatik. ‘[C.Lambert] u¨ bernimmt die Rolle des Raiden in“mortal kombat” – ich mag sein Zusammenkneifen der Augen, um asiatisch zu wirken, sehr.’ (http://forum.hardware.fr/hfr/Discussions/Cinema/films-forum-listesujet 64 18.htm 04.01.2010)

112 Auch im Bereich von Verben des plisser-Typs stellt das Verhalten der -mentund -age-Nomina also kein Gegenbeispiel f¨ur die hier vertretene R¨uckf¨uhrungshypothese dar, wenn die pragmatische Angemessenheitsbedingung mitber¨ucksichtigt wird.58 Dar¨uber hinaus deutet sich bereits der Vorteil des hier entwickelten Ansatzes an, die attestierten Daten erfassen zu k¨onnen, ohne einen Teil, d.h. hier die gelegentlichen -age-Nominalisierungen im Kontext von nichtinkrementellen Objekten, als Ausnahmen aus der Analyse ausklammern zu m¨ussen. Dieser Umstand wird sich insbesondere auch bei der in Kapitel 4 vorgestellten empirischen Detailanalyse synchroner Nominalisierungsdaten als Vorteil erweisen. Die Hinzuziehung der pragmatischen Angemessenheitsbedingung bietet zudem eine Erkl¨arung f¨ur die quantitativen Unterschiede zwischen -mentund -age-Nominalisierungen im Bereich der nicht-inkrementellen Ereignisse. Der in Abschnitt 3.1.2 beschriebene Agentivit¨atsunterschied zwischen -mentund -age-Nomina l¨asst sich ebenfalls auf die oben vorgestellte unterschiedliche abstrakte Bedeutung von -ment und -age zur¨uckf¨uhren. So folgt die tendenzielle Nicht-Agentivit¨at der -ment-Nomina aus dem Umstand, dass -ment die Resultatszustandseigenschaft von Geschehnisbetroffenen reifiziert und dass Geschehnisbetroffene h¨ochst selten agentivisch sind (außer in reflexiven und a¨ hnlichen Kontexten, welche wiederum auch f¨ur -ment einschl¨agig sind). Dar¨uber hinaus ist es v¨ollig unerheblich, ob der entsprechende Resultatszustand durch ein Agens herbeigef¨uhrt wurde oder nicht. Liegt aufgrund der Verbbedeutung und/oder aufgrund kontextueller Informationen die agentivische Verursachung nahe, wird die -ment-Nominalisierung passivisch interpretiert (vgl. (27a.)). Ist eine agentivische Verursachung aufgrund der Bedeutung des Basisverbs oder aufgrund kontextueller Informationen unwahrscheinlich, wird die entsprechende -mentNominalisierung inchoativ interpretiert (27b.). Da der ‘disjoint reference’-Effekt genauso unabh¨angig von der Bedeutung der -ment-Nominalisierungen ist, wie er auch keinen Aspekt der Bedeutung von Partizipien des dritten Status darstellt, sind die -ment-Nomina schließlich genauso wie Partizipien des dritten Status dann ambig zwischen der passivischen und der inchoativen Lesart, wenn die Verbbedeutung beide Lesarten zul¨asst und die kontextuelle Information nicht zu einer definitiven Interpretation ausreicht (27c.). (27)

58

59

a. La suppression du d´ecadi, le r´etablissement du dimanche ont une premi`ere cons´equence: on se reposera un jour sur sept au lieu d’un jour sur dix. ‘Die Abschaffung der Zehntagewoche, die Wiedereinf¨uhrung des Sonntags haben eine erste Folge: man wird sich an einem von sieben, anstatt an einem von zehn Tagen ausruhen.’ (douane)59

Auf Nominalisierungen von Verben f¨ur k¨orperbezogene Aktivit¨aten wird auch Kapitel 4.2.4 noch einmal eingehen. Diese und die folgenden K¨urzel beziehen sich wieder auf das in Anhang A.2 vorgestellte Teilkorpus.

113 b. Un des signes les plus certains qui me d´enoncent le relatif appauvrissement du dernier tiers du si`ecle en cours est la disparition . . . de juges contemporains . . . dont l’opinion . . . . ‘Eines der eindeutigsten Signale, die mir die relative Verarmung des letzten Drittels des laufenden Jahrhunderts verraten, ist das Verschwinden . . . von zeitgem¨aßen Richtern . . . deren Meinung . . . . (chemin) c. J’assistais de la porte a` l’enlaidissement de ma m`ere. ‘Ich wohnte von der T¨ur aus der Verunstaltung / dem H¨asslicherwerden meiner Mutter bei.’ (chasseur)

Die Tendenz der -age-Nomina, haupts¨achlich auf agentivische Ereignisse Bezug zu nehmen, folgt hingegen aus dem Umstand, dass -age perspektivisch unmarkierte Basispr¨adikate ableitet, welche sich durch eine inh¨arente Topikalisierung des Geschehnistr¨agers auszeichnen. Aus diesem Grund stehen die an den Geschehnistr¨ager zugewiesenen Eigenschaften automatisch im Mittelpunkt des Diskurses (s.o.), und der Geschehnistr¨ager ist sehr oft gleichzeitig das Agens des entsprechenden Ereignisses (vgl. f¨ur Details z.B. J¨arventausta 2003). Allerdings muss der Geschehnistr¨ager keinesfalls zwangsl¨aufig ein Agens sein, weshalb in bestimmten Bereichen auch nicht-agentivische -age-Nominalisierungen ableitbar sind. Nicht-agentivische -age-Nominalisierungen finden sich besonders h¨aufig im Bereich von Bewegungsverben wie d´ecoller oder d´emarrer (vgl. (28a.)), in geringerer Anzahl aber auch im Bereich anderer Zustandswechselverben (28b.).60 (28)

a. En fait il ne s’assied pas, semble brutalement tir´e en sens contraire par le d´emarrage subit de la voiture, . . . ‘Genau genommen setzt er sich nicht hin, sondern scheint durch das pl¨otzliche Losfahren seines Wagens brutal in die entgegengesetzte Richtung geschleudert zu werden.’ (clef) b. . . . la voix interne est comme le cri du silence, une force atomique liant les cellules entre elles, l’esquisse d’un autre corps e´ chappant au d´ecoupage cadavre. ‘. . . die innere Stimme ist wie der Schrei der Stille, eine atomare Kraft, die die Zellen miteinander verbindet, die Skizze eines anderen K¨orpers, der dem Zerfall des Kadavers entrinnt.’ (cœur)

Schließlich kann auch die von Martin (2010) im Zusammenhang mit dem Agentivit¨atsunterschied zwischen -ment und -age angef¨uhrte Beobachtung, dass -age-Nominalisierungen in Konstruktionen wie (7), hier wiederholt als (29), nicht mit nicht-intentionalen Subjektkomplementen kookkurieren k¨onnen, auf 60

Dieser Produktivit¨atsunterschied wird in Kapitel 4.2.2 ebenfalls auf die abstrakte Bedeutung des Suffixes bzw. auf die Interaktion von Suffix- und Basisbedeutung zur¨uckgef¨uhrt.

114 den Umstand zur¨uckgef¨uhrt werden, dass bei der -age-Nominalisierung die an den Geschehnistr¨ager zugeschriebene Ereigniseigenschaft im Mittelpunkt steht. (29)

a. Le d´ecollement des tuiles par le vent/ par l’ouvrier ‘Die Abl¨osung der Dachziegeln durch den Wind/durch den Handwerker’ b. Le d´ecollage des tuiles par #le vent/ par l’ouvrier c. Le miaulement/#◦ miaulage d’une porte qui grince ‘Das Miauen einer T¨ur, die quietscht’ (Martin 2010: 122f)

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass beispielsweise d´emarrage in (28a.) problemlos mit einem nicht-intentionalen Subjektkomplement (d.h. la voiture) vorkommt. Nach der hier vorgeschlagenen Analyse von -age ist der Grund f¨ur die Akzeptabilit¨atsdifferenz zwischen (28a.) und (29b.), dass Autos ohne Weiteres als Geschehnistr¨ager von Start- bzw. AnfahrEreignissen konzeptualisiert werden k¨onnen, w¨ahrend le vent nicht im eigentlichen Sinne als Geschehnistr¨ager eines mit d´ecoller les tuiles beschriebenen Ereignisses konzeptualisiert werden kann. Le vent kann zwar mit aller Wahrscheinlichkeit mit d´ecoller les tuiles zu le vent d´ecolle les tuiles verbunden werden. Jedoch bedeutet diese M¨oglichkeit noch nicht, dass le vent bei w¨ortlicher Interpretation als Geschehnistr¨ager im Bereich der Denotation von d´ecoller les tuiles liegen kann. Es ist vielmehr anzunehmen, dass die oben genannte Basisstruktur nicht im Wortsinne zu verstehen ist, sondern auf einer semantischpragmatischen Anpassung der Konstituenten beruht. Das heißt, die Inkompatibilit¨at von d´ecollage und le vent in (29b.) kann dadurch erkl¨art werden, dass dem expliziten Geschehnistr¨ager le vent die Eigenschaft des “Ziegeln vom Dach L¨osens” nicht sinnvoll zugeschrieben werden kann, sodass es keine Eigenschaft gibt, die aus dieser Perspektive heraus reifiziert werden k¨onnte. -ment reifiziert hingegen Eigenschaften, die dem Geschehnisbetroffenen des Basispr¨adikats zugeschrieben werden. F¨ur die -ment-Nominalisierung existiert die Restriktion, dass das Pr¨adikat d´ecoller les tuiles auf le vent anwendbar sein muss, somit nicht. Noch evidenter ist in diesem Zusammenhang Beispiel (29c.), da la porte (im eigentlichen Sinne) eindeutig nicht als ein Geschehnistr¨ager von miauler konzeptualisiert werden kann. Im hier verfolgten Ansatz ergibt sich die Tendenz von -age, bevorzugt Basispr¨adikate mit (proto-)typischen Agensargumenten zu nominalisieren, also aus dem Umstand, dass im Zuge der -age-Nominalisierung die an den Geschehnistr¨ager zugeschriebenen Eigenschaften thematisiert werden. Daher d¨urfen mit einer -age-Nominalisierung nur Subjektkomplemente kookkurieren, welche auch als m¨ogliche Geschehnistr¨ager des Basispr¨adikats konzeptualisiert werden k¨onnen. Diese Einschr¨ankung gilt f¨ur -ment nicht, weil -ment nicht die an den Geschehnistr¨ager zugeschriebene Ereigniseigenschaft, sondern die an den Geschehnisbetroffenen zugeschriebene Resultatszustandseigenschaft reifiziert. Erneut deutet sich bereits der Vorteil des hier vorgeschlagenen Ansatzes an, die

115 attestierten Daten sowohl im Hinblick auf ihre qualitativen als auch hinsichtlich ihrer quantitativen Eigenschaften erfassen zu k¨onnen, ohne einzelne Strukturen als Gegenbeispiele oder Ausnahmen, z.B. zur sogenannten Agentivit¨atshypothese, aus der Analyse ausklammern zu m¨ussen. Dieser Vorteil wird bei der in Kapitel 4 vorgestellten Detailanalyse synchroner FRANTEXT-Daten noch weiter verdeutlicht. Wie bereits mehrfach angedeutet l¨asst sich schließlich auch die in Abschnitt 3.1.3 erw¨ahnte Zugeh¨origkeit der -ment- und -age-Nominalisierungen zu bestimmten Bezeichnungsgruppen mit der hier verfolgten Analyse der beiden Nominalisierungsverfahren in Verbindung bringen. Die Beobachtung, dass -ageNomina vor allem Ereignisse im Bereich der ‘technischen Operationen’ (z.B. fraisage ‘Fr¨asen’, zingage ‘Verzinken’, L¨udtke 1978: 146) und abgewerteten Handlungen (z.B. babillage ‘Geplapper’, bafouillage ‘Gestammel’, caquetage ‘Geschw¨atz’, ebd.) denotieren, erkl¨art sich nach dem hier vorgeschlagenen Ansatz daraus, dass zur Bezeichnung von Konzepten aus den entsprechenden ontologischen Dom¨anen haupts¨achlich Nominalisierungen von Ereigniseigenschaften (im oben definierten Sinn) ben¨otigt werden, da im Rahmen von Diskursen u¨ ber technische Operationen oder abgewertete Handlungen die Ereigniseigenschaft bzw. -teilhabe des Geschehnistr¨agers im Mittelpunkt steht, wohingegen resultierende Zust¨ande samt etwaigen Geschehnisbetroffenen entweder gar nicht oder lediglich als ein Bestandteil der Ereigniseigenschaft thematisiert werden. -age-Nomina werden also aus dem Grund besonders h¨aufig zur Benennung der entsprechenden Konzepte herangezogen, weil sie sich aufgrund der spezifischen Bedeutung des Suffixes durch die Topikalisierung des Geschehnistr¨agers auszeichnen. Die Salienz der -ment-Nomina im Bereich der “attitudes individuelles ou sociales” (‘individuelle oder soziale Verfassungen’) sowie der “´economie politique” (‘Volkswirtschaft’, Dubois 1962: 31) kann wiederum darauf zur¨uckgef¨uhrt werden, dass in diesem Bereich haupts¨achlich Nominalisierungen ben¨otigt werden, die resultierende Eigenschaften bzw. Zust¨ande denotieren (vgl. z.B. assagissement ‘Ausgeglichenheit’, abatissement ‘Niedergeschla¨ genheit’ etc. bzw. int´eressement ‘Gewinnbeteiligung’, sur´equipement ‘Uberausstattung’ usw., Dubois 1962: 31). -ment-Nomina sind zur Bezugnahme in diesem Bereich somit deswegen besonders ad¨aquat, weil sie aufgrund der Bedeutung von -ment Resultatszustandseigenschaften von Geschehnisbetroffenen reifizieren. Im Unterschied zu der analogiebasierten Analyse von L¨udtke (1978) sagt der hier verfolgte Ansatz allerdings voraus, dass -age-Nominalisierungen ebenso im psychischen Bereich eingesetzt werden, wenn die Rolle des Geschehnistr¨agers im Mittelpunkt des Diskurses stehen soll, wie -ment-Nominalisierungen zur Bezeichnung von technischen Operationen und Prozessen zum Einsatz kommen, sofern mit diesen in Verbindung stehende Eigenschaften des Geschehnisbetroffenen thematisiert werden sollen. Somit ist es nach dem hier vertretenen Ansatz alles andere als verwunderlich, dass die oben beschriebene Zuordnung

116 der -ment- und -age-Nominalisierungen zu den entsprechenden Bezeichnungsgruppen nicht absolut ist, sondern lediglich Pr¨adestinationen anzeigt. Insgesamt macht die obige Diskussion deutlich, dass es sich bei den verschiedenen in der Literatur beobachteten Differenzen zwischen neufranz¨osischen -ment- und -age-Nominalisierungen um Oberfl¨achenph¨anomene handelt, die letztlich alle auf die hier vorgeschlagene abstrakte Bedeutung von -age und -ment zur¨uckgef¨uhrt werden k¨onnen, sofern die in Abschnitt 2.1.5 definierte semantisch-pragmatische Angemessenheitsbedingung in die Analyse einbezogen wird. Bereits die M¨oglichkeit der systematischen R¨uckf¨uhrung ist ein starkes Indiz f¨ur die Hypothese, dass die verschiedenen Ph¨anomene nicht zuf¨allig in der oben beschriebenen Art und Weise korrelieren, sondern dass das beobachtete Muster durch die abstrakte Bedeutung der Suffixe mitdeterminiert wird. Diese Argumentation wird in Kapitel 4 im Zusammenhang mit der empirischen Analyse der neufranz¨osischen -ment- und -age-Derivate in ihren konkreten Kontexten im Detail fortgesetzt. Die Detailuntersuchung wird zeigen, dass sich -ment- und -age-Nominalisierungen im Hinblick auf ihre typischen Vorkommenskontexte und speziellen kombinatorischen Eigenschaften insgesamt gesehen systematisch voneinander unterscheiden lassen, was als eine weitere empirische Evidenz f¨ur einen grundlegenden Bedeutungsunterschied zwischen den beiden Suffixen gewertet werden kann.

3.4

Fazit: Der Bedeutungsunterschied zwischen -ment und -age

In Kapitel 2 wurde die Hypothese der abstrakt-semantischen Determiniertheit derivationsmorphologischer Oberfl¨achenph¨anomene auf der Basis von ge¨ ¨ nerellen sprachtheoretischen Uberlegungen hergeleitet. Die Ubertragung der Ausgangshypothese auf die Analyse der franz¨osischen Nominalisierungssuffixe -ment und -age sieht sich mit der in der Literatur h¨aufig vertretenen Hypothese konfrontiert, dass die Komplexit¨at der Unterschiede zwischen den -ment- und -age-Nominalisierungen deren R¨uckf¨uhrung auf einen einzigen Bedeutungsunterschied zwischen den Suffixen ausschließt. Im vorliegenden Kapitel wurde dennoch argumentiert, dass -ment und -age durch einen einzigen abstraktsemantischen Unterschied differenziert werden k¨onnen. Der Unterschied bezieht sich auf die Perspektive, aus der die nominalisierten Formen auf das von der Verbbasis bezeichnete Ereignis Bezug nehmen: Im Fall der -ageNominalisierung steht die Eigenschaft des Geschehnistr¨agers im Mittelpunkt, an dem vom Basisverb bezeichneten Ereignis teilzuhaben, wohingegen -ment die Eigenschaft des Geschehnisbetroffenen reifiziert, sich in dem aus dem Basisereignis resultierenden Zustand zu befinden.

117 In Abschnitt 3.3.4 wurde gezeigt, dass eine R¨uckf¨uhrung der in der entsprechenden Literatur beobachteten Differenzen zwischen -ment- und -age-Nominalisierungen auf den obigen Unterschied zwischen -age und -ment l¨angst nicht so unwahrscheinlich ist, wie es durch die bisherigen Arbeiten zu diesem Thema suggeriert wird. Der hier vorgeschlagene Ansatz bietet eine Gelegenheit, die verschiedenen in der Literatur genannten Unterschiede zwischen -ment- und -age-Nominalisierungen in eine koh¨arente Analyse zu integrieren, welche neben der abstrakt-semantischen Ebene auch konkret-pragmatische Aspekte der Wortbildung ber¨ucksichtigt. Drei weitere Vorteile des hier elaborierten Ansatzes kamen im Laufe der Er¨orterung zur Sprache. Erstens bietet sich eine Erkl¨arung f¨ur den bereits von etlichen Autoren beobachteten Umstand, dass die verschiedenen in der Literatur angef¨uhrten Kontrastph¨anomene im Zusammenhang mit -ment- und -age-Nominalisierungen auf eine subtile Art zusammenzuh¨angen scheinen. Zweitens k¨onnen die attestierten Sprachdaten erfasst werden, ohne dass marginale Strukturen als Gegenbeispiele oder Ausnahmen zu den generellen Prinzipien aus der Untersuchung ausgeklammert werden m¨ussten. Drittens verspricht der hier vorgeschlagene Ansatz, nicht nur die qualitativen Differenzen zwischen -ment- und -age-Nominalisierungen auf die abstrakte Bedeutung der Suffixe zur¨uckf¨uhren zu k¨onnen, sondern es zeichnet sich ab, dass die Analyse dar¨uber hinaus auch den je nach Kategorie der Basisverben unterschiedlich gearteten Produktivit¨atsdifferenzen zwischen den beiden Verfahren gerecht wird. Die beiden folgenden Kapitel dienen der weiteren Bekr¨aftigung des hier vorgeschlagenen Analyseansatzes. In Kapitel 4 soll gezeigt werden, dass der hier entwickelte Vorschlag eine koh¨arente Analyse der Nominalisierungsdaten aus einem spezifischen neufranz¨osischen Korpus erlaubt, die mit den in 3.1 beschriebenen Ans¨atzen nicht ohne Weiteres m¨oglich w¨are. Kapitel 5 nimmt eine diachrone Perspektive auf die entsprechenden Nominalisierungsverfahren ein. Es wird sich zeigen, dass die diachronen Daten mit dem hier vorgeschlagenen Ansatz nicht nur kompatibel sind, sondern dass sie eine weitere, unabh¨angige Evidenz f¨ur dessen Stichhaltigkeit darstellen.

4

Die synchrone empirische Untersuchung

Im Folgenden soll der im vorigen Kapitel entwickelte Ansatz zur Analyse von -ment und -age empirisch u¨ berpr¨uft bzw. gest¨utzt werden. Nach einigen metho¨ dischen Uberlegungen in Abschnitt 4.1, werden in den Abschnitten 4.2 bis 4.4 verschiedene Korpusdaten vorgestellt, welche unterschiedliche Differenzen zwischen -ment- und -age-Nominalisierungen illustrieren. In Abschnitt 4.2 werden -ment- und -age-Nominalisierungen von verbalen Basen kontrastiert, die Ereigniskomplexe mit Zustandswechsel bezeichnen.1 Abschnitt 4.3 stellt deverbale Nominalisierungen vor, deren Basen Ereigniskomplexe ohne Zustandswechsel bezeichnen. Abschnitt 4.4 behandelt Nominalisierungen von nominalen Basen. Es wird sich zeigen, dass sich die verschiedenen Kontrastph¨anomene zwischen den -ment- und age-Nominalisierungen systematisch auf die im vorigen Kapitel etablierte abstrakte Bedeutung der Suffixe zur¨uckf¨uhren lassen. In Abschnitt 4.5 werden die wichtigsten Ergebnisse zusammengefasst.

4.1

Methodologische Vor¨uberlegungen

In diesem Abschnitt soll die Auswahl der zur empirischen Untersuchung herangezogenen Sprachdaten vorgestellt werden. Erstens wird die Frage nach der geeigneten Datenbasis auf allgemeiner Ebene diskutiert, wobei der Schwerpunkt auf Korpora und Sprecherurteilen liegt (Abschnitt 4.1.1). Zweitens werden die Kriterien erl¨autert, die bei der Auswahl der zur Untersuchung geeigneten Nominalisierungen zugrundegelegt wurden (Abschnitt 4.1.2). Drittens wird die Klassifizierung der Basisverben vorgestellt, an welcher sich die im Anschluss vorgestellte empirische Untersuchung ausrichtet (Abschnitt 4.1.3). Schließlich wird der Umfang der empirischen Untersuchung im Hinblick auf drei Aspekte leicht eingeschr¨ankt (Abschnitt 4.1.4).

4.1.1 Die Frage der Datenbasis In den Kapiteln 2 und 3 der vorliegenden Arbeit wurden bereits verschiedene Argumente angef¨uhrt, weshalb die semantische Analyse von Derivationsaffixen generell auf der Untersuchung der entsprechenden Derivate in ihren konkreten Kontexten erfolgen sollte. In den Abschnitten 4.2 bis 4.4 werden daher Nomi1

F¨ur eine Definition des “Zustandswechsels” vgl. Abschnitt 4.1.3.

119 nalisierungen untersucht, die aus einem Ausschnitt der FRANTEXT-Datenbank extrahiert wurden. Die FRANTEXT-Datenbank bel¨auft sich zum jetzigen Stand auf 4000 u¨ berwiegend literarische, aber auch wissenschaftliche und technische Texte aus dem 16. bis 21. Jahrhundert mit u¨ ber 210 Millionen Worten (vgl. Anhang A.2). Der untersuchte Ausschnitt wurde aus der ‘kategorisierten Version’ (“FRANTEXT cat´egoris´e”) entnommen, in welcher die einzelnen Wortvorkommen (Tokens) eines Großteils der literarischen Texte des 20. Jahrhunderts hinsichtlich ihrer syntaktischen Kategorie (‘part of speech’) spezifiziert sind. Der f¨ur die vorliegende Untersuchung gew¨ahlte Ausschnitt enth¨alt 44 literarische Texte aus den Jahren 1987 bis 1997 mit insgesamt 3.015.325 Wortvorkommen d.h. Tokens (vgl. ebd.). Die Auswahl ist haupts¨achlich durch technische Gr¨unde bedingt. Einer der Hauptgr¨unde, auf die FRANTEXT-Datenbank zur¨uckzugreifen, ist, dass die Datenbank neben neu- auch mittelfranz¨osische Datensammlungen anbietet, die zudem leicht auf das gew¨unschte Jahrhundert und die gew¨unschte Gr¨oße eingeschr¨ankt werden k¨onnen. So konnten f¨ur die diachrone Analyse von -ment und -age vier weitere FRANTEXT-basierte Korpora derselben Gr¨oße (d.h. ca. 3 Millionen Worte) f¨ur das 16., 17., 18. und 19. Jahrhundert extrahiert werden (vgl. Anhang B.2), womit beispielsweise im Hinblick auf allgemeine Frequenzentwicklungen eine hohe diachrone Vergleichbarkeit der verwendeten Daten gew¨ahrleistet ist. Ein Grund, f¨ur das Neufranz¨osische nur Texte der rein literarischen kategorisierten Version einzubeziehen, ist, dass die Wortarten-Kategorisierung der Tokens vor allem im Hinblick auf die -ment-Nominalisierung zu einer betr¨achtlichen Vereinfachung der Datenextraktion f¨uhrt, weil die -ment-Nomina von den -ment-Adverbien getrennt extrahiert werden k¨onnen. Der Grund daf¨ur, die Gr¨oße der einzelnen Korpora auf 3 Millionen Worte einzugrenzen, ist, dass sich die f¨ur das Altfranz¨osische vorliegende Textsammlung, das Nouveau Corpus d’Amsterdam (NCA, vgl. Anhang C.2 sowie Kapitel 5.1.2), ebenfalls auf diese Gr¨oße bel¨auft. Obwohl die in der vorliegenden Arbeit verwendeten Korpora weder repr¨asentativ noch balanciert sind,2 weisen sie doch einige Vorteile gegen¨uber den introspektiven Sprecherurteilen auf, die in der bisherigen Literatur zur Analyse von -ment und -age beigesteuert wurden (vgl. Kapitel 3.1). Neben dem fehlenden Kontext ist das gr¨oßte Manko von introspektiven Sprecherurteilen der Art, wie sie im Zusammenhang mit der Untersuchung von franz¨osisch -ment und -age gegeben werden, dass sie von den Autoren selbst getroffen werden und daher Gefahr laufen, auf einer unbemerkt gerichteten Interpretation zu beruhen (vgl. f¨ur eine detaillierte Diskussion hierzu z.B. Gilquin & Gries 2009, Lehmann 2007, Lemnitzer & Zinsmeister 2006 oder Wasow & Arnold 2005). Dar¨uber hinaus wurde bereits in Kapitel 3.3.4 der vorliegenden Arbeit deutlich, dass es insbesondere f¨ur F¨alle semantischer Inkompatibilit¨at nicht selten mehrere m¨ogliche 2

Vgl. z.B. die Definitionen von Repr¨asentativit¨at und Balanciertheit von Textkorpora in Gilquin & Gries (2009: 6).

120 Erkl¨arungen gibt, wenn einzelne Ph¨anomene isoliert, d.h. ohne Kontext betrachtet werden. Ein weiteres Problem der Introspektionsmethode ist, dass die empirischen Daten nicht aus einem “natural communicative setting” (Gilquin & Gries 2009: 6) stammen. Daher wird in der vorliegenden Arbeit die Ansicht vertreten, dass auch bereits Daten aus nicht-repr¨asentativen und/oder nicht-balancierten Korpora eine sinnvolle Erg¨anzung zu den introspektiv gewonnenen Daten darstellen k¨onnen.3 Die f¨ur die vorliegende Arbeit verwendeten Korpusdaten werden durch verschiedene weitere empirische Hilfsmittel erg¨anzt. Erstens wurde in Kooperation mit Simone Heinold, Universit¨at Stuttgart, eine Befragung von 13 franz¨osischen Muttersprachlern durchgef¨uhrt, die pointierte Erg¨anzungen zu der grundlegenden Korpusstudie liefern soll, wobei die grunds¨atzlichen Anforderungen im Hinblick auf die Aufgabenstellung, wie sie beispielsweise von Sch¨utze (1996) formuliert werden, ber¨ucksichtigt wurden.4 Zweitens werden sporadisch Nominalisierungsbeispiele aus ausgew¨ahlten franz¨osischen Internetseiten beigesteuert, die mit Hilfe der Dom¨anen-eingeschr¨ankten Google-Suche extrahiert wurden und meist aus sogenannten Blogs oder Foren stammen. Das gr¨oßte Problem bei der qualitativen Untersuchung von Internetbeispielen ist, dass die Herkunft bzw. die Muttersprache des Sprechers selbst bei einer Dom¨anen-eingeschr¨ankten Suche nicht einwandfrei ermittelt werden kann (vgl. hierzu auch Heinold 2010: 61). Dieses Manko wird in der vorliegenden Arbeit in Kauf genommen, da das Internet andererseits durch seine Gr¨oße und seine Aktualit¨at besticht. Ein weiterer Vorteil speziell der Blogs und Foren ist, dass die in diesem Rahmen verwendete Sprache eine betr¨achtliche N¨ahe zu gesprochenen Registern sowie eine a¨ ußerst geringe Ausrichtung an etablierten Sprachnormen aufweist. Dem Problem der vielen nicht-authentischen Beispiele, welche die vermeintliche Existenz eines im Grunde nicht existierenden Ableitungsmusters vort¨auschen k¨onnten, wurde durch eine genaue Pr¨ufung der entsprechenden Internetbeispiele begegnet.5 Drittens wird gelegentlich das einsprachig-franz¨osische W¨orterbuch Petit Robert in seiner 2007 erschienenen dritten Auflage sowie die bereits in Kapitel 2 bem¨uhte lexikographische Datenbank des CNRTL (Centre National de Ressources Textuelles et Lexicales) als Erg¨anzung zu den oben beschriebenen Datenbasen herangezogen (vgl. erneut Anhang A.1). Wie das hier verwendete nicht-balancierte 3

4

5

Weitere eindrucksvolle Belege f¨ur den Nutzen von Korpusstudien im Rahmen derivationsmorphologischer Forschung liefern Fradin et al. (2008). Zum Beispiel konnten die Sprecher graduelle Urteile abgeben und ihre Einsch¨atzungen u¨ ber -age in Relation zu denjenigen u¨ ber -ment formulieren. Der Fragebogen ist im Anhang unter A.3 einzusehen. Vgl. zum Problem der nicht-authentischen Konstruktionen z.B. die interessante Internetstudie u¨ ber modifizierende Suffixe im Italienischen von Necker (2009). F¨ur eine positive Einsch¨atzung von ‘Web-basierten’ derivationsmorphologischen Untersuchungen sowie eine Diskussion der ad¨aquaten Methodologie im Rahmen von Internetabfragen vgl. die Beitr¨age von Hathout et al. (2008) und Hathout et al. (2009).

121 Korpus, wie Google und wie die introspektiven Sprecherurteile, stellen auch einsprachige W¨orterb¨ucher keine unzweifelhafte Datenbasis dar. Ein Problem von W¨orterb¨uchern wie dem Petit Robert ist, dass ihre Eintr¨age oft inkoh¨arent gestaltet sind und ihre Zusammenstellung auf keiner erkennbaren derivationsmorphologischen Theorie basiert (vgl. auch die ausf¨uhrliche Kritik von Corbin 1983). Auch die Definitionen sind oftmals inkoh¨arent und stark von den Intuitionen der einzelnen Verfasser abh¨angig (vgl. hierzu Corbin 1987: 21–35). Im Rahmen von Ereignisnominalisierungen wird die Redaktion der Lexikoneintr¨age zudem dadurch erschwert, dass die lexikalischen Einheiten meist verschiedene, nicht selten idiosynkratische Lesarten ausbilden. Unter diesen Vorbehalten werden die entsprechenden Eintr¨age in der vorliegenden Arbeit dennoch als eine weitere muttersprachliche Einsch¨atzung der zu untersuchenden Formen verwendet. Insgesamt wird deutlich, dass jede Art von Datenbasis bei genauer Betrachtung Vor- und Nachteile aufweist. Zudem ist nicht zu vermeiden, dass auch die im Rahmen von Korpusuntersuchungen n¨otige Interpretation und Kategorisierung der Daten einen Einfluss auf das Ergebnis der Datenuntersuchung hat.6 In der vorliegenden Arbeit werden m¨oglichst viele verschiedene Quellen einbezogen, um so die Nachteile der einzelnen Datenbasen zu relativieren – wobei korpusgest¨utzte Untersuchungen neben der kommunikativen Authentizit¨at den Vorteil aufweisen, besonders ausf¨uhrliche Kontexte bereitzustellen. Die Arbeit schließt sich mit dieser Einsch¨atzung u¨ ber den Nutzen empirischer Daten in der Linguistik der Ansicht von Chafe (1992) an: My principal message is that we should combine all available techniques of observation, keeping in mind the advantages and disadvantages of each, and that corpora occupy a favored place among them. (Chafe 1992: 88)

Im Laufe der Untersuchung wird sich zeigen, dass die aus den einsprachigen W¨orterb¨uchern gewonnenen muttersprachlichen Urteile bez¨uglich der Bedeutung von -age und -ment dieselben eindeutigen Tendenzen aufweisen wie die Korpusstudie und die Sprecherbefragung.

4.1.2

Die Auswahl der Nominalisierungen

Aus dem oben beschriebenen FRANTEXT-Korpus wurden u¨ ber das FRANTEXT-eigene Web-Interface alle nominalen Okkurrenzen auf -ment und -age extrahiert, wobei fremdsprachliche bzw. entlehnte Termini (z.B. engl. containment ‘Eind¨ammung’, cottage ‘Landhaus’, gr. œsophage ‘Speiser¨ohre’ etc.), falsch-kategorisierte Adverbien und Adjektive (sauvage, ‘wild’) sowie Nominalisierungen, die im Neufranz¨osischen keine Derivationsbasis mehr 6

Eine interessante Diskussion u¨ ber die Manipulationsgefahren im Rahmen der Erhebung und Analyse von Korpusdaten bietet Lehmann (2004).

122 haben (z.B. document ‘Dokument’, s´ediment ‘Sediment’, d´etriment ‘Lasten’, pˆaturage ‘Weide’, breuvage ‘Gebr¨au’ etc.), aussortiert wurden. Neuere empirisch ausgerichtete derivationsmorphologische Arbeiten werden meist von den folgenden zwei Bestrebungen geleitet. Erstens wird daf¨ur argumentiert, dass derivationsmorphologische Studien vorzugsweise auf Neologismen beruhen sollten, da diese tendenziell den geringsten Lexikalisierungsgrad aufweisen und die Bedeutung der einzelnen Konstituenten somit am deutlichsten widerspiegeln (vgl. z.B. Plag 2003: 54). Zweitens gibt es die Tendenz, sogenannte “lexikalisierte Derivate” aus der Untersuchung auszuschließen, da die Bedeutung der Bestandteile nicht mehr rekonstruiert werden kann (vgl. z.B. Melloni 2007: 17f, Gaeta 2002), wobei argumentiert wird, dass ein Derivat lexikalisiert ist, wenn “[its] transpositional meaning . . . no longer accessible” ist (Melloni 2007: 17). Von Melloni (2007) wird dabei allerdings gleichzeitig das Problem angesprochen, dass die Grenze zwischen Rekonstruierbarkeit und NichtRekonstruierbarkeit oft fließend ist und die Derivate daher hinsichtlich dieses Kriteriums im Grunde nicht eindeutig klassifiziert werden k¨onnen (vgl. die Diskussion zu ital. habitazione in Melloni 2007: ebd.). ¨ Ahnliche Probleme ergeben sich bei der Bestimmung von Neologismen im Korpus (vgl. f¨ur eine detaillierte Diskussion Heinold 2010: 51–62), wobei in diesem Fall noch hinzukommt, dass die Pr¨amisse, Neologismen oder niedrig frequente W¨orter seien morpho-semantisch transparenter, nicht immer zutreffen muss. Die Entstehungsgeschichte eines Derivats ist f¨ur gew¨ohnlich stark von soziolinguistischen und/oder pragmatischen Faktoren gepr¨agt. Beispielsweise gibt es “Ereignisnominalisierungen”, die den lexikographischen Ressourcen zufolge zun¨achst mit Objektlesart attestiert wurden, da sie sich aus außersprachlichen Gr¨unden f¨ur eine nicht-eventive Lesart anbieten. Das unter (1) dargestellte mouillage, das laut den W¨orterb¨uchern der Acad´emie Franc¸aise zuerst mit lokativer Lesart gebildet wurde und erst im 20. Jahrhundert eine eventive Lesart erhalten hat, ist dabei l¨angst kein Einzelfall. (1)

a. MOUILLAGE. s. f. v. Fond propre pour mo¨uiller l’anchre. ‘Meeresboden, der dazu geeignet ist, den Anker auszuwerfen’ (Dictionnaire de L’Acad´emie Franc¸aise, 1st Edition, 1694) b. MOUILLAGE. s.m. Fond propre pour jeter l’ancre. ‘Meeresboden, der dazu geeignet ist, den Anker auszuwerfen’ (Dictionnaire de L’Acad´emie Franc¸aise, 4th Edition, 1762) c. MOUILLAGE. s. m. Fond propre pour jeter l’ancre. ‘Meeresboden, der dazu geeignet ist, den Anker auszuwerfen’ (Dictionnaire de L’Acad´emie Franc¸aise, 5th Edition, 1798) d. MOUILLAGE. s. m. Lieu de la mer propre a` y jeter l’ancre. ‘Stelle des Meeres, die dazu geeignet ist, den Anker auszuwerfen’ (Dictionnaire de L’Acad´emie Franc¸aise, 6th Edition, 1832-1835) e. MOUILLAGE. n. m. Action de mouiller.. . .

123 ‘Handlung des Ankerns / Benetzens’ Il d´esigne aussi l’Action d’ajouter de l’eau a` certains liquides . . . . ‘Es bezeichnet auch die Handlung, bestimmten Fl¨ussigkeiten Wasser zuzuf¨ugen.’ Il se dit sp´ecialement, en termes de Marine, de l’Action de jeter l’ancre. ‘Es bezeichnet speziell im Schifffahrtswesen die Handlung, den Anker auszuwerfen.’ Il se dit, par extension, du Lieu de la mer propre a` y jeter l’ancre. ‘Es bezeichnet im u¨ bertragenen Sinne eine Stelle des Meeres, die dazu geeignet ist, den Anker auszuwerfen.’ (Dictionnaire de L’Acad´emie Franc¸aise, 8th Edition, 1932-1935)

Ein weiteres Problem bei der Arbeit mit Neologismen ist, dass Neologismen zwangsl¨aufig seltener sind und damit weniger M¨oglichkeiten bieten, konkrete Okkurrenzen, d.h. Tokens in konkreten Vorkommenskontexten zu analysieren. In den folgenden Abschnitten wird deutlich werden, dass sich der Bedeutungsunterschied zwischen -ment und -age meist in tendenziellen Unterschieden zwischen den -age- und -ment-Nominalisierungen niederschl¨agt, die allerdings oft erst ab einer gewissen Anzahl an kontextuell eingebetteten Nominalisierungen in vollem Umfang zutage treten. Dem in Kapitel 2 entwickelten moderat-emergentistischen Ansatz zufolge ist f¨ur die empirische Untersuchung dagegen im Grunde nicht prim¨ar relevant, ob eine Nominalisierung neu gebildet bzw. morpho-semantisch transparent ist oder nicht. Wie in Kapitel 2.2.3 betont ergibt sich die abstrakte Bedeutung eines Affixes aus moderat-emergentistischer Sicht aus der Gesamtheit der Derivate eines Ableitungsverfahrens. Da die Affixbedutung somit Teil jeder zugeh¨origen Bildung ist, w¨are es prinzipiell nicht notwendig, hoch-frequente oder stark lexikalisierte Bildungen aus der folgenden empirischen Untersuchung auszuschließen. An gleicher Stelle wurde allerdings dargelegt, dass der Grad der Zugeh¨origkeit einzelner Ableitungen zum entsprechenden Ableitungsmuster stark variieren kann, wobei vor allem die Gebrauchsfrequenz und das Alter des Derivats eine Rolle spielen. Da bei der Analyse stark lexikalisierter Derivate die Untersuchung der Lexem-spezifischen Bildungsgeschichte vor die Untersuchung der Gemeinsamkeiten der -ment- bzw. -age-Derivate treten w¨urde, wurden sowohl die hochfrequenten Derivate als auch Derivate mit einer hohen Autonomie gegen¨uber dem jeweiligen Ableitungsparadigma (d.h. stark morpho-semantisch opake Derivate) aus der hier verwendeten Datenbasis aussortiert. Konkret ist das erste Ausschlusskriterium eine Token-Frequenz von u¨ ber 30. Zweitens wurden diejenigen deverbalen -ment- und -age-Nominalisierungen ausgeschlossen, deren Definition im Petit Robert 2007 keine Paraphrasierung mittels action de . . . (‘Handlung des . . . ’), e´ tat/disposition de . . . (‘Zustand Disposition des . . . ’), fait d’ˆetre . . . (‘Sachverhalt, . . . zu sein’) oder r´esultat de . . . (‘Resultat des . . . ’) beinhaltet. Beispiele f¨ur derart lexikalisierte Nominalisierungen sind zur Illustration unter (2) gegeben.

124 (2)

accommodement - r`eglement a` l’amiable ‘g¨utliche Einigung’ entendement

- ensemble des facult´es intellectuelles ‘Gesamtheit der geistigen F¨ahigkeiten’

entrebˆaillement

- intervalle form´e par ce qui est entrebˆaill´e ‘Abstand geformt durch etwas, das einen Spalt weit ge¨offnet ist’

chˆomage

- inactivit´e forc´ee due au manque de travail ‘unfreiweillige Unt¨atigkeit aufgrund von Arbeitsmangel’

Abz¨uglich der oben genannten Nominalisierungen enth¨alt die -mentDatenbasis 512 Lexeme, die -age-Datenbasis 274 Lexeme. Hinsichtlich der syntaktischen Kategorie der Derivationsbasen ergibt sich eine Aufteilung von 511 deverbalen, 1 deadjektivischen und 0 denominalen Derivaten im Fall von -ment, w¨ahrend die -age-Derivate sich in 225 deverbale, 5 deadjektivische und 44 denominale Bildungen aufteilen (vgl. Abbildung 4.1).

Abbildung 4.1: Typefrequenz der deverbalen, deajektivischen und denominalen -mentund -age-Derivate im synchronen FRANTEXT-Korpus

4.1.3 Die Klassifizierung der Basisverben In Kapitel 3 wurde bereits implizit angenommen, dass Verben “Ereigniskomplexe” (Engelberg 2000: 31) bezeichnen. Ereigniskomplexe sind Ereigniskonzepte, die aus mehreren hinsichtlich ihrer internen Struktur zu unterscheidenden Phasen oder Teilereignissen bestehen (s.u.). Die vorliegende Arbeit orientiert sich

125 an der kognitiv ausgerichteten Beschreibung von Ereigniskomplexen bzw. Ereigniskonzepten nach Moens & Steedman (1988), nach welcher Ereigniskomplexe als eine Menge von Teilereignissen zu verstehen sind, die der Sprecher als kausal zusammengeh¨orig konzeptualisiert.7 Beispielsweise ist ein Faltereignis nicht ohne eine resultierende Faltung und eine Tierlautemission nicht ohne das kausal folgende Ger¨ausch denkbar. Es ist zu beachten, dass die kausalen Zusammenh¨ange nicht unbedingt mit der chronologischen Abfolge der Teilereignisse bzw. Ereignisphasen u¨ bereinstimmen m¨ussen. Moens & Steedman (1988) sprechen von einer ‘kausal motivierten (kognitiven) Kontingenz der Teilereignisse’: . . . the speaker’s predications about events will typically be coloured by the fact that those events are involved in sequences that are planned, predicted, intended, or otherwise governed by agencies of one kind or another. For want of some established term to cover this very general class of dependencies between events, we will use the term contingency. (Moens & Steedman 1988: 16)

Weiterhin wurde bereits in Kapitel 3 darauf hingewiesen, dass es verschiedene Arten von Ereigniskomplexen gibt und dass die Klassenzugeh¨origkeit der Basisverben einen großen Einfluss auf die Interpretation der -ment- und -ageNominalisierungen haben kann.8 Aus diesem Grund ist es notwendig, bei der kontrastiven empririschen Untersuchung der -ment- und -age-Nominalisierungen die Klassenzugeh¨origkeit der Basisverben zu beachten. Die vielleicht bekannteste Klassifizierung von Verben nach ihren ‘Aktionsarten’ geht auf Vendler (1967) bzw. Vendler (1957) zur¨uck, welcher, an Ryle (1949) ankn¨upfend, eine Unterteilung in die vier “time schemata” ‘activity terms’ (z.B. running), ‘accomplishment terms’ (running a mile), ‘achievement terms’ (reaching the top) sowie ‘state terms’ (loving) vorschl¨agt, vgl. z.B. Vendler (1957: 143–145). Die Unterscheidung zwischen activities und accomplisments einerseits und achievements und states andererseits beruht darauf, dass Situationen der ersten beiden Kategorien im Gegensatz zu jenen der letzteren Kategorien eine zeitliche Ausdehnung haben, weshalb laut Vendler nur diejenigen Verben, die Situationen der ersteren Kategorien bezeichnen, den Progressiv zulassen (vgl. ebd.: 145). Der entscheidende Unterschied zwischen beiden Klassen ist, vereinfacht gesagt, dass die Verben der ersteren im Unterschied zu denjenigen der letzteren Klasse unter anderem auf Prozesse Bezug nehmen. Die Besonderheit von achievement-Situationen gegen¨uber state-Situationen ist dar¨uber hinaus, dass sie sich zu einem bestimmten Zeitpunkt ereignen. Activity terms und 7

8

Die Begriffe Ereigniskomplex und Ereigniskonzept werden in der vorliegenden Arbeit synonym verwendet und gleichermaßen kognitiv interpretiert. Vgl. z.B. den bereits in Abschnitt 3.3.3 angedeuteten Unterschied zwischen -mentNominalisierungen von Verben mit prototypisch-thematischem Argument wie gonflement (‘Aufgehen, Anschwellen’) und -ment-Nominalisierungen von ‘unergativen’ Verben, d.h. von Verben, deren einziges Argument nicht als Geschehnisbetroffener konzeptualisiert werden kann (z.B. miaulement, ‘Miauen’).

126 accomplishment terms unterscheiden sich schließlich dahingehend, dass erstere zu jedem Subintervall der zeitlichen Ausdehnung der bezeichneten Situation wahr sind (“. . . any part of the process is of the same nature as the whole”, Vendler 1967: 101), wohingegen sich letztere ausschließlich auf die Situation in seiner gesamten zeitlichen Ausdehnung beziehen (“. . . they proceed towards a terminus which is logically necessary to their being what they are.”, ebd.). Die obige Eigenschaft von activity terms wird in Bennett & Partee (1972) als ‘subinterval property’ bezeichnet. In nachfolgenden formal-semantischen Arbeiten wird sie als ‘additivity’ (Bach 1981: 70) bzw. ‘Kumulativit¨at’ (Krifka 1989: 141) der ‘antisubdivisibility’ (Bach 1981: ebd.) bzw. ‘Gequanteltheit’ (Krifka 1989: 41) von accomplishment terms gegen¨ubergestellt.9 Es ist zwar zu bedenken, dass die ‘Aktionsart’-Klassifizierung generell nicht auf die Verben oder Ereigniskomplexe, sondern entweder auf ganze Verbalphrasen oder auf die von diesen Verbalphrasen bezeichneten Situationen zu beziehen ist. So fasst Smith (1997) die ‘Aktionsarten’ beispielsweise als ‘situation types’ auf. Ganz a¨ hnlich bezeichnet Sasse (2002) die ‘Aktionsart’-Klassen als ‘intrinsische Typen temporaler Eigenschaften von Situationen’ (“intrinsic types of temporal characteristics of situations”, ebd.: 203). Nach Sasse (2002) haben bestimmte Situationen also bestimmte temporale Eigenschaften gemeinsam und weisen somit die gleiche Zeitkonstitution auf.10 Andererseits kann die Unterscheidung zwischen stativischen Verben wie lieben, wissen etc. und dynamischen Verben wie laufen oder einschlafen durchaus auch auf der Ebene kontextuell nicht eingebetteter Verben bzw. auf der nicht-situativen Ebene der Ereigniskomplexe getroffen werden, sofern die im verbalen Bereich allgemein u¨ bliche hohe Polysemie mitber¨ucksichtigt wird. Da sich stativische Verben von nichtstativischen Verben auch auf dieser Ebene unter anderem in den Eigenschaften unterscheiden, die sie ihren Subjekt- und etwaigen Objektreferenten zuschreiben, und da dieser Unterschied f¨ur die hier zu untersuchenden -ment- und -ageNominalisierungen relevant ist, orientiert sich die hier vorzustellende empirische Untersuchung zun¨achst an der grundlegenden Einteilung der Derivationsbasen in stativische und dynamische Verben. In Anlehnung an Kratzer (1995) werden in der vorliegenden Arbeit alle “stage-level predicates” als nicht-stativisch klassifiziert, wobei das entscheidende Kriterium die M¨oglichkeit der raum-zeitlichen Verankerung (“spatiotemporal location”, ebd.: 128) ist, welche unter anderem 9

10

Bekannte Weiterentwicklungen der Vendlerschen Klassifizierung sind neben Bennett & Partee (1972), Bach (1981) bzw. Bach (1986) und Krifka (1989), auch Kenny ¨ (1963), Mourelatos (1978) oder Dowty (1979), u.a.. Uberblicksdarstellungen bieten z.B. Krifka (1989: 95–154), Engelberg (2000: 35–48) oder Tatevosov (2002: 317– 321). Der Begriff der Zeitkonstitution geht auf Krifka (1989) zur¨uck, wo die Parallele zwischen nominaler und verbaler Referenzweise, mit der sich neben Krifka (1989) auch Taylor (1977), ter Meulen (1984) und Bach (1986), u.a. besch¨aftigen, einen besonderen Stellenwert hat (vgl. z.B. Krifka 1989: 96).

127 durch temporale oder lokale Adverbiale angezeigt werden kann (vgl. etwa die relative Inkompatibilit¨at von wissen und eine Stunde in #eine Stunde wissen, verglichen mit eine Stunde laufen). Die zweite f¨ur die Untersuchung von -ment und -age getroffene Distinktion a¨ hnelt der Unterscheidung zwischen gequantelten und kumulativen Pr¨adikaten nach Krifka (1989). Allerdings ist eine eindeutige Klassifizierung hinsichtlich dieses Parameters der Zeitkonstitution auf der Ebene kontext-freier Verben bzw. Ereigniskomplexe nur in den F¨allen m¨oglich, in welchen das Verb hinsichtlich dieses Merkmals eindeutig klassifiziert werden kann, wie es z.B. f¨ur eindeutig gequantelte Pr¨adikate wie ankommen oder zerbrechen gelten mag (vgl. hierzu z.B. Ramchand 2008: 32). Die Mehrheit der Verben, darunter insbesondere prototypische activity- bzw. accomplishment- Terme wie laufen oder schreiben, ist hinsichtlich der ‘Aktionsart’ ambig (vgl. z.B. die Beispiele zur Unterscheidung von activity-Termen und accomplishment-Termen aus Vendler 1957). F¨ur unsere Belange ist zudem vielmehr relevant, ob der vom jeweiligen Basisverb bezeichnete Ereigniskomplex einen Geschehnisbetroffenen impliziert, welcher im Verlauf der Teilereignisse in seiner a¨ ußeren oder inneren Konstitution ver¨andert wird (wie bei gonfler, ‘aufpumpen/anschwellen’ oder plisser, ‘(sich) falten’) oder nicht (wie bei lire, ‘lesen’ oder visiter, ‘besuchen’). Die Ver¨anderung von Geschehnisbetroffenen wird in der vorliegenden Arbeit als “Zustandswechsel” bezeichnet. Prototypisch transitive Verben wie arroser (‘bew¨assern’), fendre (‘zerteilen’), aber auch Verben wie d´em´enager (‘(etw.) umziehen’) donner (‘geben’) etc. und ‘unakkusative’ Verben wie s’´evanouir (‘in Ohnmacht fallen, vergehen’) sind der Kategorie der Verben mit Zustandswechsel zuzuordnen, da mindestens ein Partizipant des Ereignisses (unter anderem) als von diesem affizierter Geschehnisbetroffener interpretiert werden kann (vgl. f¨ur Details hierzu erneut Abschnitt 3.2.2). Diese Kategorie umfasst also sowohl gequantelte Pr¨adikate wie ankommen als auch kumulative Pr¨adikate wie k¨uhlen. Niedrig transitive Verben wie accompagner (‘begleiten’), visiter (‘besuchen’) etc. und ‘unergative’ Verben wie travailler (‘arbeiten’) oder voyager (‘reisen’), bezeichnen hingegen Ereigniskomplexe ohne Zustandswechsel, da keiner der Partizipanten des Ereignisses von selbigem affiziert wird (vgl. ebd.). Diese Unterteilung wird insbesondere durch die in Kapitel 3 vorgestellte Analyse der -ment-Nominalisierung nahegelegt, denn Verben, welche eine Ver¨anderung eines Geschehnisbetroffenen beschreiben, haben im Unterschied zu den in dieser Hinsicht homogenen Verben einen tendenziell resultativen Charakter. Wenn es stimmt, dass -ment die Resultatszustandseigenschaften des Geschehnisbetroffenen reifiziert, dann ist somit zu erwarten, dass sich -ment-Nominalisierungen von homogenen Verben systematisch anders verhalten als -ment-Derivate von Verben, welche die Ver¨anderung eines Geschehnisbetroffenen implizieren. Insgesamt beruht die im Folgenden vorgestellte empirische Untersuchung also auf der Unterteilung von Pr¨adikaten f¨ur Ereigniskomplexe ([EK]) in stativi-

128 sche Verben ([STA]) und dynamische Verben ([DYN]), wobei letztere dar¨uber hinaus in Verben ohne Zustandswechsel ([−CH]) und Verben mit Zustandswechsel ([+CH]) unterteilt werden:11 (3)

Klassifizierung der Basisverben der -ment- und -age-Nominalisierungen des neufranz¨osischen FRANTEXT-Korpus hinsichtlich Dynamizit¨at und Zustandswechsel: EK STA

DYN −CH

+CH

Die Ausz¨ahlung des hier verwendeten synchronen Korpus ergab f¨ur die -ment- und -age-Nominalisierungen ein Verh¨altnis von 356 zu 191 Bildungen von dynamischen Verben mit Zustandswechsel, von 146 zu 34 Derivaten von dynamischen Verben ohne Zustandswechsel und von 9 zu 0 Nominalisierungen von stativischen Basen (vgl. Abbildung 4.2).

Abbildung 4.2: Typefrequenz der -ment- und -age-Derivate von +CH-, −CH- und STAVerben im synchronen FRANTEXT-Korpus 11

Gem¨aß der hier zugrundeliegenden Sicht auf die Semantik der Basisverben m¨ussten die zur Untersuchung stehenden Derivate in der vorliegenden Arbeit im Prinzip als Ereigniskomplexnominalisierungen bezeichnet werden. Bei der Verwendung von Komposita wie Ereignisnominalisierung, Ereignislesart und Ereignistyp etc. folgt die vorliegende Arbeit allerdings auch weiterhin der etablierten Benennungskonvention, die auf einer Gleichsetzung der Termini Ereignis und Ereigniskomplex beruht.

129 Eine andere Verbklassifizierung wird in Levin (1993) f¨ur das Englische vorgestellt. Levin (1993: 19) weist zwar ausdr¨ucklich daraufhin, dass ihre Klassifizierung keine Eigenschaften ber¨ucksichtigt, welche die ‘Aktionsart’ bzw. Zeitkonstitution der von den zu klassifizierenden Verben bezeichneten Einheiten betreffen. Ganz a¨ hnlich wie die oben beschriebenen ‘Aktionsart’-Klassifizierungen beruht jedoch auch Levins Einteilung auf der Annahme, dass Verben hinsichtlich bestimmter gemeinsamer Bedeutungskomponenten klassifiziert werden k¨onnen, wobei die f¨ur Levin (1993) relevanten Bedeutungskomponenten allerdings weniger abstrakt sind als diejenigen der ‘Aktionsart’-Klassifizierungen. Kategorien aus Levins Klassifizierung sind beispielsweise “verbs of putting [which] refer to putting an entity at some location” (ebd.: 111f), “verbs of removing [which] relate to the removal of an entitiy from a location” (ebd.: 122f), “pure change of state verb[s] [which] only express a change of state . . . without specifying how this change of state comes about” (ebd.: 242f) oder “touch verbs [which] describe surface contact with no necessary implication that the contact came about through impact . . . ” (ebd.: 155f). Die prinzipielle Evidenz f¨ur gemeinsame Bedeutungskomponenten ist nach Levin das gleiche “syntaktische Verhalten” der Verben einer Gruppe, wobei die Verben vor allem hinsichtlich der von ihnen aufgewiesenen argumentstrukturellen Alternationen klassifiziert werden. Ein Beispiel sind die “pure change of state verbs” wie break, die systematisch zwischen einer kausativen Lesart (x breaks y) und einer inchoativen Lesart (y breaks) alternieren (vgl. z.B. ebd.: 14f). In Anbetracht der Tatsache, dass die von Levin (1993) vorgeschlagene Verbklassifizierung in vielen F¨allen auch die Eigenschaftszuschreibung an potentielle Partizipanten betrifft, wurden die Basisverben der hier zu untersuchenden -ment- und -age-Nominalisierungen in Unterklassen eingeteilt, die sich an ¨ dem von Levin (1993) vorgestellten System orientieren. Eine genaue Ubertragung von Levins Klassen wurde dabei allerdings aus den folgenden zwei Gr¨unden nicht angestrebt. Erstens sind die Verbklassen im Rahmen der hier unternommenen Untersuchung als Unterklassen zu den u¨ bergeordneten Kategorien [+CH] und [−CH] zu konzipieren, und zweitens ist bei der hier intendierten Untersuchung zus¨atzlich zu beachten, dass sich die Basisverben auch dahingehend unterscheiden, welche Resultatslesarten die von ihnen abgeleiteten -ment- und -age-Nominalisierungen ausbilden k¨onnen (s.u.). Aus diesen und ¨ a¨ hnlichen Gr¨unden sind im Ubrigen auch weder die von Saint-Dizier (1999) ¨ geleistete Ubertragung von Levins Klassifizierung ins Franz¨osische noch die exhaustive Klassifizierung franz¨osischer Verben von Dubois & Dubois-Charlier (1997) direkt auf die hier relevanten Nominalisierungsdaten anwendbar.12 Wie Levin (1993: 18) selbst betont, besteht allerdings auch keine Notwendigkeit, die Anzahl und Art der von ihr und den obigen Autoren vorgeschlagenen Verbklas12

F¨ur n¨ahere Erl¨auterungen zu der Verbklassifizierung von Dubois & Dubois-Charlier (1997) vgl. z.B. Franc¸ois et al. (2007).

130 sen bei jeder neuen Kategorisierung beizubehalten. Die hier zugrundegelegte Klassifizierung der Basisverben folgt vielmehr Levins Idee der gemeinsamen Bedeutungskomponenten im Allgemeinen, wobei das Ziel ist, die Verben hinsichtlich derjenigen Bedeutungskomponenten zusammenzufassen, welche den Kontrast zwischen den entsprechenden -ment- und -age-Nominalisierungen am ehesten beeinflussen. Gem¨aß den Ausf¨uhrungen in Kapitel 3 konzentriert sich die Einteilung daher auf die resultierende Komponente bzw. auf die Art der Beeinflussung des Geschehnisbetroffenen. Eine umfassende Analyse des Zusammenhangs zwischen der Bedeutung von Basisverben und der Lesartenausbildung der zugeh¨origen Ereignisnominalisierungen bietet Melloni (2007) f¨ur das Italienische.13 Melloni geht davon aus, dass verschiedene abstrakte Bedeutungskomponenten des Basisverbs f¨ur die Art und Auspr¨agung etwaiger Resultatslesarten der entsprechenden Ereignisnominalisierung verantwortlich sind, wobei vor allem die Komponenten der Affiziertheit/Effiziertheit von Thema-Argumenten und der Inkrementalit¨at die Auspr¨agung von Resultatslesarten beg¨unstigen (ebd.: 183). Demnach be¨ ruht beispielsweise die metonymische Verschiebung von traduzione (‘Ubersetzung’) zu einer resultativen Interpretation auf dem Umstand, dass das Basisverb ein ‘semantisches Argument’ (“semantic argument”, ebd.: 240) beinhaltet, welches das im Verlauf des durch das Verb bezeichneten Ereigniskomplexes entstehende Produkt als Pfad repr¨asentiert. In diesem Sinne unterscheidet Melloni (2007: 163–201) zwischen auf das Produkt orientierten Verben wie “verbs of creation” (costruire, ‘erbauen’), “image creation verbs” (illustrare, ‘illustrieren’), “creation verbs by representation” (imitare ‘imitieren’, tradurre ‘¨ubersetzen’), “creation verbs by modification” (correggere ‘korrigieren’, cambiare ‘¨andern’), “verbs of assembling and combining” (ammassare/si, ‘(sich) anh¨aufen’ u.a.) und nicht auf das Produkt orientierten Verben wie “activity verbs” (correre, ‘rennen’), “directed motion verbs” (spostare/si, ‘(sich) bewegen’), “non productive change of state verbs” (lisciare, ‘polieren’) oder “consumption/destruction verbs” (distruggere, ‘zerst¨oren’). Obwohl die von Melloni (2007) analysierten resultativen Lesarten in der vorliegenden Arbeit nur eine marginale Rolle spielen (vgl. dazu Abschnitt 4.1.4), ist der Grundgedanke, dass die Interpretation von Ereignisnominalisierungen u¨ ber die +CH/−CHEinteilung hinaus stark durch die resultativen Bedeutungskomponenten der oben beschriebenen Art beeinflusst wird, nat¨urlich auch f¨ur die vorliegende Arbeit, vor allem im Hinblick auf die resultative -ment-Nominalisierung, von Relevanz. Die f¨ur die vorliegende Untersuchung getroffene Subklassifizierung der Basisverben ist daher neben Levin (1993) auch von Melloni (2007) inspiriert worden. ¨ (4) und (5) bieten eine Ubersicht u¨ ber die getroffene Subklassifizierung der Basisverben im Bereich der +CH-Kategorie (4) und −CH-Kategorie (5). Im −CH13

Vgl. jedoch auch die Hinweise von Levin (1993: 8f) zur variierenden Interpretation der regressiven Ableitung im Englischen.

131 Bereich wurden diejenigen Verben zusammengruppiert, deren Ereignisreferenten mit a¨ hnlichen Effekten, wie z.B. Emissionsprodukten, einhergehen, bzw. auf a¨ hnliche Art und Weise zu diesen Effekten f¨uhren (vgl. z.B. die Verben f¨ur Aktivit¨aten mit Emission als Beiprodukt). Im +CH-Bereich zeichnen sich die in den entsprechenden Gruppen zusammengefassten Verben jeweils dadurch aus, dass die geschehnisbetroffenen Partizipanten im Verlauf des durch das Basisverb bezeichneten Ereigniskonzeptes in a¨ hnlicher Weise affiziert werden. (4)

Subklassifizierung der +CH-Basisverben: +CH +CH +CH +CH +CH +CH

an´eantir paver d´evoiler commencer attrouper s’´etirer

‘vernichten’ ‘pflastern’ ‘enth¨ullen’ ‘beginnen’ ‘versammeln’ ‘sich strecken’

sonder

‘sondieren’

avaler d´evouer

‘verschlucken’ ‘widmen’

+CH cos

Beseitigung ¨ Hinzufugung Erscheinen Aspekt Sammlung k¨orperbezogene Aktivit¨aten ¨ Anderung des epist. Zustands Konsumierung ¨ Anderung der Besitzverh¨altnisse Reiner Zustandswechsel

enlaidir

+CH +CH +CH +CH +CH +CH +CH +CH +CH

Kreation Verschwinden zielgerichtete Bewegung Binden & Freilassen Reine Inchoativa Wegnahme Reproduktion Trennen, Teilen Umfangsver¨anderung

dessiner escamoter d´eplacer engager arriver d´esarmer copier cliver prolonger

‘verunstalten, h¨asslich werden’ ‘zeichnen’ ‘beseitigen’ ‘umlagern’ ‘anheuern’ ‘ankommen’ ‘entwaffnen’ ‘kopieren’ ‘spalten’ ‘verl¨angern’

abol add app asp ass ba

+CH ces +CH cons +CH cop

(5)

crea disapp disloc eng inch rem rep sep shape

Subklassifizierung der −CH-Basisverben: −CH act

homogene Aktivit¨at (+/- Thema) −CH act+em Aktivit¨at+Emission (von einer Emission begleitete Aktivit¨aten) −CH com Kommunikationsverben −CH em Emissionen

accompagner ‘jmd. begleiten’ laper

‘schlabbern’

remercier

‘danken’

132

−CH mm

audibel visibel taktil Bewegung+Art (nicht-zielgerichtet)

bruire scintiller chatouiller trembler

‘rascheln’ ‘funkeln’ ‘kribbeln’ ‘zittern’

So haben beispielsweise die Verben der +CH abol-Klasse gemeinsam, dass der geschehnisbetroffene Partizipant abgeschafft wird, w¨ahrend die +CH addVerben Ereigniskomplexe bezeichnen, bei welchen dem Geschehnisbetroffenen eine Entit¨at hinzugef¨ugt wird. +CH app-Verben beschreiben Ereigniskomplexe, bei welchen der Geschehnistr¨ager in das Blickfeld des Geschehnisbetroffenen gelangt, w¨ahrend +CH ass-Verben Ereigniskomplexe bezeichnen, bei welchen sich mehrere Geschehnistr¨ager bzw. -betroffene zu einer Gruppe zusammenfinden oder zu einer Gruppe vereint werden usw.. Die Eigenschaften der verschiedenen Verbklassen sollen hier nicht im Einzelnen diskutiert werden, da die Charakteristika der zur Untersuchung herangezogenen Verbgruppen an gegebener Stelle in den beiden folgenden Abschnitten erl¨autert werden. Das Problem der ausgepr¨agten Polysemie im Bereich verbaler Pr¨adikate wurde bei der Klassifizierung insofern umgangen, als die Basisverben lediglich im Hinblick auf die Lesart klassifiziert wurden, welche als konstitutiv f¨ur die Bedeutung der entsprechenden Nominalisierung verstanden werden kann. Beispielsweise wurde engager (‘engagieren, beginnen’) als Basisverb aufgrund der Bedeutung von engagement (‘Einsatz, Verpflichtung, Zusage’) in die Kategorie +CH eng eingeordnet (Lesart ‘engagieren’) und nicht in die prinzipiell ebenfalls angemessene Kategorie +CH asp (Lesart ‘beginnen’) etc.. 4.1.4 Einschr¨ankung des Untersuchungsumfangs Wie eingangs angek¨undigt werden in Abschnitt 4.2 zun¨achst Nominalisierungen aus der Kategorie der +CH-Verben vorgestellt. Abschnitt 4.3 bietet daraufhin eine Analyse von Nominalisierungen des −CH-Bereichs und Abschnitt 4.4 stellt die denominalen -age-Nominalisierungen vor. Die oben vorgestellte relativ feine semantische Klassifizierung der Datenbasis im verbalen Bereich ist durch das Bestreben motiviert, Verbklassen zu ge¨ nerieren, die sich hinsichtlich etwaiger inkrementeller Komponenten, der Anderungsrichtung, der Art der Affizierung von geschehnisbetroffenen Partizipanten etc. m¨oglichst homogen verhalten, damit der mutmaßlich durch das Suffix bedingte Effekt nicht durch eine zu hohe Variabilit¨at in der Semantik der Basisverben verschleiert wird. Weitere Vorteile der hohen Differenzierung in diesem Bereich sind, dass sich die Verbklassen aufgrund ihrer u¨ berschaubaren Gr¨oße insbesondere auch f¨ur die hier intendierten Detailuntersuchungen anbieten und dass sie dar¨uber hinaus auch f¨ur empirische Untersuchungen verwendet werden

133 k¨onnen, die u¨ ber die vorliegende Arbeit hinausgehen, wie etwa die Untersuchung der Entwicklung der verschiedenen resultativen Lesarten, die sich z.B. auf der Grundlage der in diesem Rahmen erstellten Datenbasis leicht in Anlehnung an Melloni (2007) durchf¨uhren ließe (s.u.). Eine exhaustive Beschreibung und Analyse der erhobenen Daten unter Einbeziehung aller Verbklassen, Lesarten usw. w¨urde den Rahmen der vorliegenden Arbeit allerdings weit u¨ bersteigen. Um eine u¨ bersichtliche und effiziente Analyse gew¨ahrleisten zu k¨onnen, wurde der Untersuchungsumfang hinsichtlich dreier Aspekte auf bestimmte Teilbereiche eingeschr¨ankt. So k¨onnen erstens in den folgenden Abschnitten nicht alle Nominalisierungen der 24 Verbklassen im Detail untersucht werden, sondern es wird im Folgenden vielmehr darum gehen, das gegens¨atzliche Verhalten der Suffixe bzw. Nominalisierungen anhand einiger charakteristischer Klassen exemplarisch zu illustrieren. Die zweite Einschr¨ankung betrifft das Lesartenspektrum der Nominalisierungen. Wie in den verschiedensten Arbeiten betont wird zeichnen sich Ereignisnominalisierungen durch die Eigenschaft aus, neben den hier relevanten eventiven Lesarten eine ganze Reihe von Resultatslesarten auszubilden (vgl. z.B. L¨udtke 1978, Bierwisch 1989 bzw. die entsprechenden Ausf¨uhrungen in Kapitel 2.2.5 der vorliegenden Arbeit sowie insbesondere Melloni 2007 und die dortigen Referenzen). Die auf Resultatslesarten konzentrierte Arbeit von Melloni (2007) unterscheidet sich insofern von der hier intendierten Untersuchung, als in Mellonis Arbeit die Bedeutung der Basisverben sowie die resultativen Lesarten der Nominalisierungen im Vordergrund stehen, w¨ahrend etwaige Bedeutungsdifferenzen zwischen einzelnen Suffixen nicht thematisiert bzw., mit Verweis auf Gaeta (2004), weitestgehend negiert werden (vgl. Melloni 2007: 71–74).14 In der vorliegenden Arbeit wird zwar die Ansicht vertreten, dass das Lesartenspektrum einer Nominalisierung im eventiven wie im resultativen Bereich sowohl durch die Bedeutung der Derivationsbasen als auch durch die abstrakte Bedeutung der Suffixe mitbestimmt wird. Allerdings ist weiterhin davon auszugehen, dass die Interaktion zwischen der abstrakten Bedeutung des Suffixes und dem Spektrum an (metonymisch ausgebildeten) resultativen Lesarten h¨ochst komplex ist und sich nur auf sehr indirekte und subtile Weise zeigt. Der Grund hierf¨ur ist, dass die Ausbildung von Resultatslesarten in einem weit h¨oheren Maß von individuellen pragmatischen bzw. situativen Faktoren abh¨angt als die Ableitung von eventiven Derivaten, da es sich bei der metonymischen Uminterpretation der sprachlichen Einheiten um einen komplexen kognitiven Prozess handelt, bei welchem je nach den individuellen Bed¨urfnissen bzw. situativen Erfordernissen 14

Um der Tatsache gerecht zu werden, dass die Lesarten nicht nur nicht-materielle dynamische, sondern auch materielle stativische Lesarten ausbilden, schl¨agt Melloni allerdings vor, Nominalisierungssuffixe generell als zwischen einer Ereignis- und einer Resultatslesart polysem zu analysieren (vgl. ebd.: 121–145). Diese Einsch¨atzung wird hier nicht u¨ bernommen.

134 der Konzeptversprachlichung kreativ auf die Wortbildungsstruktur eingewirkt wird. Ein Beispiel hierf¨ur ist die in Kapitel 4.1.2 vorgestellte Etymologie von mouillage nach den ATILF-Ausgaben der Acad´emie (vgl. ebd., Beispiel (1)). Die Schwierigkeit bei der Einbeziehung s¨amtlicher m¨oglicher Resultatslesarten wird auch im Zusammenhang mit den -ment-Nominalisierungen von Emissionsverben deutlich, welche, wie bereits in Kapitel 3.3.3 angedeutet, vornehmlich nicht-eventiv interpretiert werden, da sie gewissermaßen themalose Resultatszustandseigenschaften reifizieren (wobei der Hypothese nach in diesem Fall bereits der Reifizierungsprozess an sich zu der (Emissions-)Produktinterpretation f¨uhrt, vgl. ebd. sowie die Abschnitte 4.3.1 und 4.3.2 des vorliegenden Kapitels). Da jedoch die von z.B. Lautemissionsverben bezeichneten Konzepte in jedem Fall eine “Ger¨auschkomponente” beinhalten oder evozieren, ist nicht ausgeschlossen, dass die Sprecher auch f¨ur entsprechende -age-Nominalisierungen im Zweifelsfall (zum Beispiel bei introspektiver Beurteilung) u¨ ber eine metonymische Verschiebung zu einer resultativen Interpretation gelangen k¨onnen (vgl. ebd.).15 Die zum Teil h¨ochst indirekte Relation zwischen der kompositionellen Bedeutung der Derivate und ihren resultativen Lesarten erkl¨art auch, weshalb -ment- und -age-Nominalisierungen gelegentlich trotz verschiedener Suffixbedeutung a¨ hnliche metonymische Lesarten ausbilden (vgl. z.B. pavement und pavage, beides ‘Pflaster’ u.a.). Die vorliegende Arbeit umgeht dieses Problem zwar, indem nicht untersucht wird, auf welche verschiedenen Weisen die Nominalisierungen im Zweifelsfall interpretiert werden k¨onnen, sondern wie die Nominalisierungen de facto in einem Referenzkorpus verwendet werden. Beispielsweise wird sich in den Abschnitten 4.3.1 und 4.3.2 zeigen, dass -mentund -age-Nominalisierungen von Emissionsverben insgesamt gesehen dennoch vollst¨andig unterschiedlich “funktionieren”. Aufgrund der zus¨atzlichen Komplexit¨at, die mit der Untersuchung der resultativen Lesarten verbunden w¨are, werden diese im Folgenden dennoch nur in die Analyse einbezogen, wenn sie f¨ur die kontrastive Analyse der Suffixe unmittelbar relevant sind (wie z.B. im Fall der -ment-Nominalisierungen von Emissionsverben, s.o.). In allen anderen F¨allen beschr¨ankt sich die Untersuchung auf eventive, d.h. dynamische und stativische, Lesarten. Ein dritter Aspekt, der in der folgenden Untersuchung nicht zur Sprache kommen wird, ist die Analyse von PP-Komplementen wie de la voiture (‘des Autos’) in le d´emarrage de la voiture (‘der Start des Autos’) oder de la braise (‘der Glut’) in le rougeoiement de la braise (‘die R¨ote der Glut’). Zwar w¨urden diese Daten den hier vorgeschlagenen Ansatz weiter unterst¨utzen, da bereits eine vorl¨aufige Durchsicht zeigt, dass das Verhalten derartiger PP-Komplemente in bestimmten Konstruktionen, wie beispielsweise den intransitiven rein inchoati15

Unter anderem aufgrund dieser Flexibilit¨at in der Interpretation der Nominalisierungen sind introspektive Urteile nur unter Vorbehalt f¨ur die semantische Analyse von Ereignisnominalisierungen zu nutzen, vgl. dazu auch Abschnitt 4.1.1.

135 ven Verben, insofern koh¨arent ist, als diese im Kontext von -age Geschehnistr¨ager, im Kontext von -ment dagegen Geschehnisbetroffene bezeichnen. Allerdings ist erstens zu beachten, dass derart komplementierte Nominalisierungen vor allem im Bereich von -age nur einen a¨ ußerst geringen Teil der Korpusdaten darstellen. Zweitens bilden diese Komplemente einen Teil des sprachlichen Kontextes der Nominalisierungen und werden damit ohnehin schon indirekt in die Analyse einbezogen. Drittens k¨onnten die PP-Komplemente nicht ohne eine differenzierte Analyse der verschiedenen Typen von Komplementierungen eingebunden werden, was zu einer erheblichen Verkomplizierung der hier intendierten Untersuchung f¨uhren w¨urde (vgl. neben le rougeoiement de la braise beispielsweise le froncement des sourcils, ‘das Stirnrunzeln’). Viertens w¨are eine Einbeziehung der PP-Komplemente vor allem f¨ur eine Analyse der aspektuellen oder informationsstrukturellen Komposition auf der Ebene der Nominalphrasen und/oder auf der Satzebene dienlich (vgl. dazu z.B. die Vorschl¨age in Heinold 2010) und w¨urde somit von der hier intendierten morpho-semantischen Untersuchung wegf¨uhren. In den folgenden Abschnitten wird sich allerdings zeigen, dass die hier unternommene empirische Untersuchung die in Kapitel 3 etablierte semantische Analyse der franz¨osischen Nominalisierungssuffixe -ment und -age trotz dieser Einschr¨ankungen nachhaltig best¨atigen kann.

4.2

Dynamische Basen mit Zustandswechsel

Im Folgenden sollen die -ment- und -age-Nominalisierungen von Verben aus vier charakteristischen Basisverbklassen des +CH-Bereichs vorgestellt werden. In Abschnitt 4.2.1 geht es um die Nominalisierungen von Basisverben, die reine Zustandswechsel (+CH cos) bezeichnen. In Abschnitt 4.2.2 werden die Nominalisierungen rein inchoativen Verben (+CH inch) vorgestellt. Abschnitt 4.2.3 stellt die Nominalisierungen von aspektuellen Verben (+CH asp) vor und Abschnitt 4.2.4 kontrastiert -ment- und -age-Nominalisierungen von Verben f¨ur k¨orperbezogene Aktivit¨aten (+CH ba). Diagramm 4.3 zeigt die Anteile der -ment- und -age-Nominalisierungen der entsprechenden Verbklassen gemessen an der Gesamtzahl der im Korpus f¨ur das jeweilige Suffix attestierten +CH-Types (d.h. 356 -ment-Types und 191 -age-Types, vgl. Abschnitt 4.1.3). Auff¨allig ist einerseits, dass die -ment-Nominalisierungen im Bereich dieser Verben quantitativ deutlich u¨ berwiegen. Andererseits ist zu beachten, dass von fast allen Kategorien auch -age-Nominalisierungen im Korpus attestiert wurden.

136

Abbildung 4.3: Anteile der -ment- und -age-Types von aspektuellen Verben (+CH asp), Verben f¨ur k¨orperbezogene Aktivit¨aten (+CH ba), reinen Zustandswechselverben (+CH cos) und rein inchoativen Verben (+CH inch) an +CH -ment- bzw. -ageNominalisierungen im synchronen FRANTEXT-Korpus

4.2.1 Reine Zustandswechsel-Verben Die Kategorie der reinen Zustandswechsel-Verben entspricht ungef¨ahr Levins change-of-state-Kategorie. Die Verben zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Ver¨anderung eines Geschehnisbetroffenen beschreiben, wobei die Ver¨anderung bzw. der resultierende Zustand im Mittelpunkt steht, da die Art und Weise der Herbeif¨uhrung des Zustands nicht thematisiert wird (“their meaning provides no information about how the change of state came about”, Levin 1993: 242). Diese Gruppe enth¨alt viele deadjektivische Verben, wobei die Adjektive meist physische resultierende Eigenschaften der Thema-Argumente bzw. Geschehnisbetroffenen beschreiben (vgl. z.B. enlaidir ‘h¨asslich(er) machen/werden’ < laid, ‘h¨asslich’). F¨ur die Verben ist weiterhin charakteristisch, dass sie f¨ur gew¨ohnlich sowohl kausative (‘h¨asslich(er) machen’) als auch inchoative (‘h¨asslich(er) werden’) Ereigniskomplexe bezeichnen k¨onnen. Die kausativen Verbvarianten haben zwei konzeptuell sowie syntaktisch getrennte Partizipanten, d.h. einen Geschehnistr¨ager und einen Geschehnisbetroffenen. Die durch die inchoativen Verbvarianten beschriebenen Ereigniskomplexe zeichnen sich dagegen dadurch aus, dass Geschehnistr¨ager und Geschehnisbetroffener koreferent sind und durch ein und dasselbe syntaktische Argument realisiert werden (vgl. erneut Abschnitt 3.2.2). Die Interaktion dieser Verben mit der -ment- und -age-Nominalisierung wurde bereits in Kapitel 3.3.4 im Zusammenhang mit der Diskussion um den Unterschied zwischen gonflement (‘Anschwellen’) und gonflage (‘Aufpumpen’)

137 verdeutlicht: Aufgrund der Resultats- und Geschehnisbetroffenenbezogenheit der -ment-Nominalisierung werden die inchoativen Verben vornehmlich durch -ment nominalisiert, da auf die entsprechenden Ereigniskomplexe mit Nominalisierungen meist aus der Perspektive des Nachzustandes bzw. des Geschehnisbetroffenen Bezug genommen wird, wobei sich die letzeren beiden Perspektivierungen in der in Abschnitt 3.2.2 dargestellten Weise gegenseitig beg¨unstigen. -ment-Nomina von kausativ/inchoativ alternierenden Verben bezeichnen daher meist abgeschlossene inchoative Ereignisse, resultierende Zust¨ande oder Individueneigenschaften. Durch den Kontext kann eine etwaige kausative Interpretation nahegelegt werden, wobei sich dann eine passivische Perspektivierung ergibt. Bei unzureichendem Kontext sind die -ment-Nominalisierungen daher genauso wie die entsprechenden Partizipien des dritten Status zwischen der inchoativen und der kausativen Lesart ambig. -age-Nomina bezeichnen dagegen mehrheitlich die weitestgehend resultatsunabh¨angige Prozesskomponente der kausativen Verbvarianten, da sie aufgrund ihrer Prozessausgerichtetheit in diesem Bereich am ehesten zur Versprachlichung diskursad¨aquater Inhalte geeignet sind. Im Folgenden sollen diese Vorhersagen zum einen anhand der entsprechenden aus dem Korpus extrahierten Sprachdaten u¨ berpr¨uft werden. Zum anderen soll versucht werden, die vereinzelten kumulativ referierenden -mentNominalisierungen (vgl. z.B. Kapitel 3.1.3, Beispiel (9d.), l’aplanissement progressif des bruits) in die Analyse zu integrieren. Wie Abbildung 4.3 zeigt, zeichnet sich -ment im Bereich der reinen Zustandswechsel-Verben mit einem Anteil von 28% (d.h. 98 von 356 +CH -ment-Types) durch eine relativ hohe Produktivit¨at aus. Die -ment-Nominalisierungen bezeichnen wie erwartet zum Großteil Resultatszust¨ande oder Individueneigenschaften. Eine Ausz¨ahlung der einzelnen Nominalisierungen in ihren konkreten Kontexten ergab, dass 395 der insgesamt 483 zugeh¨origen Tokens (d.h. 82%) die entsprechenden resultativen Lesarten aufweisen, was im Korpus beispielsweise durch die auffallend h¨aufige Kookkurrenz der Nominalisierungen mit dans (Resultatszust¨ande) und avec (Individueneigenschaften) angezeigt wird (vgl. z.B. (6a.,c.) und (d.)). Lediglich 73 Tokens (15%) nehmen auf Ereignisse Bezug. Weitere 15 Tokens (3%) sind ambig zwischen Resultatszustands- und Ereignislesart (vgl. Abbildung 4.4). ¨ In Ubereinstimmung mit der Beobachtung von Dubois (1962) bezeichnen die -ment-Nomina mit 274 von 483 Tokens vor allem emotionale Zust¨ande (6a.) oder psychische Individueneigenschaften (6b.,c.), die von der inchoativen Variante der entsprechenden Zustandswechsel-Verben abgeleitet sind. Die u¨ brigen 121 resultativen Nomina bezeichnen “normale” Resultatszust¨ande, die meist hinsichtlich des kausativ/inchoativ-Merkmals unterspezifiziert sind. So kann beispielsweise f¨ur den Zustand der Isoliertheit in (6d.) nicht bestimmt werden, ob dieser durch einen Agens hervorgerufen wurde, was einer passivischresultativen Interpretation entspr¨ache (d.h. die entsprechende Sprache ist isoliert

138

Abbildung 4.4: Anteil der Ereignislesarten (E), ambigen Lesarten (E/R) und Resultatslesarten (R) an den -ment-Tokens von +CH cos-Verben im synchronen FRANTEXTKorpus

worden), oder ob sich der Zustand ohne das Einwirken eines Agens eingestellt hat, was der inchoativ-resultativen Interpretation entspr¨ache (d.h. die Sprache hat sich von alleine isoliert). Wie bereits betont ist diese Flexibilit¨at in der Interpretation nach dem hier vertretenen Ansatz darauf zur¨uckzuf¨uhren, dass die -ment-Nominalisierung lediglich f¨ur die Einf¨uhrung einer resultativen Perspektive im Sinne von Kapitel 3.3.2 verantwortlich ist und damit gleichzeitig sowohl passivierend als auch “unakkusativierend” wirken kann. (6)

a. Quand la cloche sonna, dans l’abrutissement qui suivit, je r´ealisais que j’avais tenu le rˆole de mon grand-p`ere. ‘Als die Glocke l¨autete, wurde mir in der darauffolgenden Benommenheit bewusst, dass ich die Rolle meines Großvaters u¨ bernommen hatte.’ (chasseur)16 b. Il y avait en lui une telle force, un tel acharnement qu’il aurait e´ t´e capable de la frapper. ‘Er hatte in sich eine derartige Gewalt, eine derartige Verbissenheit, dass er im Stande gewesen w¨are, sie zu schlagen.’ (horde) c. Et tous ces gens bougeaient, gesticulaient et se reconnaissaient avec ravissement. ‘Und all diese Leute bewegten sich, gestikulierten und erkannten sich mit Entz¨ucken wieder.’ (medianoche)

16

Die K¨urzel dieses und aller folgenden Beispiele des Kapitels beziehen sich erneut auf die in Anhang A.2 vorgestellten Originaltexte des hier zugrundegelegten synchronen FRANTEXT-Korpus.

139 d. Voil`a un demi-si`ecle que cette langue vit dans l’isolement complet, tr`es rarement parl´ee, s’attaquant a` une r´ealit´e e´ trang`ere a` sa nature, . . . . ‘Seit einem halben Jahrhundert lebt diese Sprache nun in g¨anzlicher Isoliertheit, u¨ beraus selten gesprochen, sich mit einer Realit¨at konfrontierend, die ihrer Wesensart fremd ist, . . . .’ (testament)

Die 73 eventiven Nominalisierungen bezeichnen mehrheitlich entweder passivische oder abgeschlossene inchoative Ereignisse (vgl. (7a.) und (7b.) sowie die Beispiele aus Kapitel 3, Abschnitt 3.3.2), wobei auch im eventiven Bereich nicht wenige -ment-Nominalisierungen zwischen einer inchoativ-resultativen und einer kausativ-passivischen Interpretation ambig sind (vgl. (7c.) bzw. Kapitel 3.3.4). Ungeachtet dessen steht in allen F¨allen jedoch der Geschehnisbetroffene, d.h. in (7a.) der Sonntag, in (7b.) die Beziehung zwischen juif und prot´eg´e und in (7c.) die Mutter, im Mittelpunkt des Diskurses. (7)

a. La suppression du d´ecadi, le r´etablissement du dimanche ont une premi`ere cons´equence: on se reposera un jour sur sept au lieu d’un jour sur dix. ‘Die Abschaffung der Zehntagewoche, die Wiedereinf¨uhrung des Sonntags haben eine erste Folge: man wird sich an einem von sieben, anstatt an einem von zehn Tagen ausruhen.’ (douane) b. Seul ce colosse de Gontran ne s’aperc¸ut de rien et se f´elicita du brusque refroidissement entre le juif et son prot´eg´e. ‘Nur Gontran, jener Koloss, bemerkte nichts und erfreute sich an der pl¨otzlichen Abk¨uhlung zwischen dem Juden und seinem Schutzbefohlenen.’ (horde) c. J’assistais de la porte a` l’enlaidissement de ma m`ere ‘Ich wohnte von der T¨ur aus der Verunstaltung / dem H¨asslicherwerden meiner Mutter bei.’ (chasseur)

Beispiel (7c.) illustriert allerdings bereits, dass eventive -ment-Nominalisierungen von sogenannten ‘Degree Achievements’ (s.u.) auch kumulativ auf den vom Basisverb bezeichneten Ereigniskomplex Bezug nehmen k¨onnen, was zun¨achst nicht mit der hier entworfenen Analyse der -ment-Nominalisierung vereinbar scheint. Im Korpus existieren etliche weitere kumulativ referierende -ment-Nominalisierungen von ‘Degree Achievements’: (8)

a. Acteur “professionnel”, j’avais Schauspieler professionell, ich AUX : PST. IPFV.1 SG la rumeur houleuse d’une grande salle, et das Gemurmel unruhige eines großen Saals und l’aplanissement progressif des bruits quand das Abnehmen schrittweise der Ger¨ausche wenn baisse tandis que . . . . schw¨acher werden:PRS .3 SG w¨ahrend . . .

connu kennen:PTCP

la lumi`ere das Licht

140 ‘Als professioneller Schauspieler hatte ich das unruhige Gemurmel eines großen Saals kennengelernt, und die schrittweise Abnahme der Ger¨ausche, wenn das Licht schw¨acher wird, w¨ahrend . . . .’ (pas) b. Quant aux effets a` long terme de l’attachement, Bez¨uglich der Langzeiteffekte der Verbundenheit, poursuis-je, a` proprement parler ils sont fortfahren:PRS .1 SG-ich, sie sein:PRS .3 PL genau genommen effroyables. Promiscuit´e puante. Abˆetissement grauenhaft Zusammengepferchtsein stinkend Verdummung lent. langsam ‘Was die Langzeiteffekte der Verbundenheit betrifft, fahre ich fort, sind sie genau genommen grauenhaft. Stinkendes Zusammengepferchtsein. Schleichende Verdummung.’ (puissance)

In diesem Zusammenhang ist allerdings zu beachten, dass ‘Degree Achie¨ vements’ nach Rothstein (2008b) Mengen von unmittelbaren Anderungen von Werten auf einer Skala (“[instantaneous (MU)] changes in values on a scale”, ebd.: 195) bezeichnen, wobei die einzelnen unmittelbaren Wandelereignisse durch eine spezielle Summenoperation, die ‘S-summing operation’, zu einem komplexen Ereigniskonzept zusammengefasst werden k¨onnen. Das heißt, die ‘Degree Achievements’ bezeichnen Rothsteins Ansicht nach entweder atomische Wandelereignisse oder aber Aneinanderreihungen einer unbestimmten Menge an unmittelbaren, atomischen Wandelereignissen. Die Aneinanderreihung der einzelnen Wandelereignisse mittels der ‘S-summing-operation’ wird dadurch erm¨oglicht, dass der Resultatszustand eines atomischen Wandelereignisses jeweils den Input(wert) f¨ur das darauffolgende Wandelereignis liefert.17 Aufgrund ihrer spezifischen Bedeutung k¨onnen ‘Degree Achievements’ einerseits als achievement-Terme interpretiert werden, wobei sie in dem Fall ein einzelnes atomisches Wandelereignis bezeichnen (vgl. In an instant, the sky brightened, Rothstein 2008b: 190). Sie k¨onnen aber auch kumulativ referieren, indem sie eine nicht-spezifizierte Aneinanderreihung einzelner atomischer Wandelereignisse bezeichnen (vgl. The soup cooled for hours, Rothstein 2008b: 191). Wenn sie mit Konstituenten verbunden werden, die das Ausmaß der Ver¨anderung vorgeben, bilden diese kumulativen Verben zudem wie activity-Verben accomplishment-Terme (vgl. The soup cooled (3 degrees) in ten minutes, Rothstein 2008b: 194). F¨ur unsere Belange ist zudem wichtig, dass jedes atomische Wandelereignis auf das Engste mit “seinem” Resultatszustand verbunden ist, da der 17

Die S-Summierungsoperation ist insofern besonders, als ihr Output jeweils ein einziges komplexes Ereigniskonzept, und keine Pluralit¨at von Einzelereignissen, darstellt. Dies ist nur m¨oglich, wenn die atomischen Teilereignisse in der oben beschriebenen Weise u¨ berlappen. F¨ur weitere Erl¨auterungen sowie eine Formalisierung der SSummierungsoperation vgl. Rothstein (2008b: 185–189).

141 Definition nach kein Intervall zwischen dem einzelnen Wandelereignis selbst und dessen Resultatszustand (d.h. dem resultierenden Wert) interveniert (vgl. Rothstein 2008b: 193 und s.u.). Das heißt, dass auch die zu der kumulativen Referenz f¨uhrende Aneinanderreihung von atomischen Wandelereignissen nicht von der Aneinanderreihung der aus diesen Ereignissen resultierenden Zust¨ande bzw. Grade getrennt werden kann. Vor diesem Hintegrund liegt f¨ur die kumulativ referierenden -ment-Nominalisierungen von ‘Degree Achievement’-Verben aus dem hier untersuchten Korpus nahe, dass sie nicht auf eine dynamische Ver¨anderung, sondern auf eine Aneinanderreihung von resultierenden Zust¨anden bzw. Graden Bezug nehmen. Ein Indiz f¨ur die Richtigkeit dieser Interpretation ist der Umstand, dass auch die -ment-Nominalisierungen von ‘Degree Achievements’ mehrheitlich auf Resultatszust¨ande Bezug nehmen (s.o.). Weiterhin weisen Beispiele mit resultativen -ment-Nominalisierungen von ‘Degree Achievements’, bei welchen der erreichte Grad durch den Kontext spezifiziert wird (vgl. 9 a.c.), darauf hin, dass nicht-punktuelle -ment-Nomina von ‘Degree Achievements’ generell eine Sequenz von Graden bereitstellen, aus welcher durch den sprachlichen Kontext bestimmte Gradwerte ausgew¨ahlt werden k¨onnen. (9)

a. Un des signes les plus certains qui me d´enoncent le relatif appauvrissement du dernier tiers du si`ecle en cours est la disparition . . . de juges contemporains . . . dont l’opinion . . . . ‘Eines der eindeutigsten Signale, die mir die relative Verarmung des letzten Drittels des laufenden Jahrhunderts verraten, ist das Verschwinden . . . von zeitgem¨aßen Richtern . . . deren Meinung . . . . (chemin) b. . . . Mais c’est peut-ˆetre au prix d’un certain dess`echement, interm´ediaire de la s`eve, d’une incorporation plus an´emique des esprits vitaux de la terre. ‘. . . Aber dies geschieht vielleicht zum Preis einer gewissen Austrocknung . . . , einer blut¨armeren Eingliederung der Lebensgeister der Erde.’ (chemin) c. On savait, en fait, que grand-p`ere correspondait depuis quelque temps avec les plus hautes autorit´es de l’´etat, signe d’un certain vieillissement, quand rien n’impressionne plus des vanit´es terrestres. ‘Wir wussten im Prinzip, dass Großvater seit einiger Zeit mit den h¨ochsten Funktion¨aren des Staates in Kontakt stand, Zeichen einer gewissen Alterung, wenn nichts mehr die weltlichen Eitelkeiten beeinflusst.’ (champs)

Drittens ist in Kapitel 3 bereits deutlich geworden, dass -ment-Nomina von Zustandswechselverben, da sie resultierende Zust¨ande denotieren, immer auch auf ein vorhergehendes Ereignis schließen lassen. Die Adjazenz von unmittelbarem Wandel und Resultatszustand im Fall der ‘Degree Achievements’ legt f¨ur die entsprechenden -ment-Nomina somit die Vermutung nahe, dass ihre Resultatszustandsdenotation bereits ausreichend ist, um auf das Resultat und das

142 Ereignis des skalaren Wertwandels gleichermaßen Bezug nehmen zu k¨onnen. Hinzu kommt, dass Sequenzen von steigenden oder fallenden Werten bereits einen dynamischen Charakter aufweisen und somit die Aneinanderreihung der steigenden oder fallenden Werte selbst bereits leicht als Zustandsver¨anderung interpretiert werden kann. In der Tat zeigt sich f¨ur die meisten einschl¨agigen -ment-Nomina aus unserem neufranz¨osischen Korpus, dass sie auf (den Wandel als) eine Sequenz von fallenden oder steigenden Werten Bezug nehmen. Die Beispiele in (10), in welchen solche Wertsequenzen als Wahrnehmungsgegenst¨ande dargestellt werden, welche erfahren (10a.,c.) oder kennengelernt (vgl. (10b.)) werden, stellen typische Kontexte f¨ur die Verwendung der entsprechenden Nomina im hier zugrundegelegten Korpus dar. (10)

a. Mais il faudra aussi me rappeler ce gonflement de joie que j’´eprouve en ce moment. ‘Aber es wird auch n¨otig sein, mir dieses Anschwellen von Freude, die ich in diesem Moment empfinde, in Erinnerung zu rufen.’ (œufs) b. J’avais connu la rumeur houleuse d’une grande salle, et l’aplanissement progressif des bruits quand la lumi`ere baisse tandis que . . . . ‘Als professioneller Schauspieler hatte ich das unruhige Gemurmel eines großen Saales kennengelernt, das schrittweise Abnehmen des L¨arms, wenn das Licht abnimmt w¨ahrend . . . .’ (pas) c. Dois-je avouer, cependant, que j’´eprouve, dans cette guerre, une sorte d’apaisement. ‘Ich muss doch zugeben, dass ich in diesem Krieg eine Art Beruhigung erlebe. (puissance)

Eine weitere Evidenz f¨ur die Hypothese, dass auch -ment-Nominalisierungen von ‘Degree Achievements’ generell im weiter oben beschriebenen Sinne resultativ sind, ergibt sich aus der in Abschnitt 4.1.1 vorgestellten Sprecherbefragung, die zeigt, dass franz¨osische Sprecher -ment-Nominalisierungen von ‘Degree Achievements’ in ausschließlich eventiven Kontexten kategorisch ablehnen. Die befragten franz¨osischen Muttersprachler sollten die unter (11 a.-c.) aufgef¨uhrten Satzpaare hinsichtlich ihrer Akzeptabilit¨at vergleichen. (11)

a.

(i) (ii)

Il lui a fallu 3 heures pour le gonflement du ballon. Il lui a fallu 3 heures pour le gonflage du ballon. ‘Er ben¨otigte 3 Stunden f¨ur das Aufpumpen des Balles.’

b.

(i) (ii)

Le gonflement du ballon lui a pris 3 heures. Le gonflage du ballon lui a pris 3 heures. ‘Das Aufpumpen des Balles hat ihn drei Stunden gekostet.’

143 c.

(i) (ii)

Il s’essaya 3 heures au gonflement du ballon (mais il n’a pas r´eussi). Il s’essaya 3 heures au gonflage du ballon (mais il n’a psa r´eussi). ‘Er hat drei Stunden lang versucht, den Ball aufzupumpen (aber es ist ihm nicht gelungen).’

In diesem Zusammenhang gaben 12 der 13 Sprecher an, dass die drei S¨atze unter (ii) nat¨urlicher sind als diejenigen unter (i), wobei die unter (12 a.-j.) angef¨uhrten Begr¨undungen zeigen, dass die entsprechenden -ment-Nominalisierungen ohne Kontext als reine Resultatszustandsbezeichnungen interpretiert werden: (12)

a. “gonflement” est un objet. [(a.i), (b.i) et (c.i) veulent] dire qu’il faut 3 heures pour fabriquer le gonflement (= l’endroit du ballon qui forme une boule qui d´epasse). “gonflement’ ist ein Objekt. Die Beispiele (a.i), (b.i) und (c.i) dr¨ucken aus, dass es drei Stunden dauert, um die Schwellung herzustellen (= die Stelle des Luftballons, die eine herausragende W¨olbung bildet).’ b. je trouve que “gonflage” insinue l’action de gonfler un objet mais que “gonflement” serait plutˆot la cons´equence de l’action. ‘Ich finde, dass ‘gonflage’ die Handlung, ein Objekt aufzublasen, andeutet, wogegen ‘gonflement’ eher die Konsequenz dieser Handlung w¨are.’ c. . . . gonflement [est] utilis´e pour des e´ l´ements d´ej`a gonfl´es, alors que gonflage est donn´e pour l’action de gonfler. “gonflement’ [wird] f¨ur bereits aufgebelasene Gegenst¨ande verwendet, wogegen ‘gonflage’ f¨ur die Handlung des Aufpumpens gegeben wird.’ d. pour moi, le mot gonflage correspond mieux a` l’action d´ecrite que le mot gonflement. ‘Meiner Meinung nach entspricht das Wort ‘gonflage’ mehr der beschriebenen Handlung als das Wort ‘gonflement’.’ e. . . . il me semble que la deuxi`eme convient mieux, puisque finalement le gonflage a bien eu lieu, mais le gonflement n’a pas e´ t´e r´eussi. ‘Die zweite [Alternative] scheint mir angemessener, da die ‘gonflage’ sehr wohl stattgefunden hat, aber das ‘gonflement’ nicht gelungen ist.’ f. “Gonflement” e´ voque pour moi plutˆot le sentiment d’ˆetre gonfl´e plutˆot que le fait de gonfler. “Gonflement’ erinnert meiner Meinung nach eher an das Gef¨uhl, angeschwollen zu sein, als an den Sachverhalt des Aufpumpens.’ g. . . . l’action (humaine) de gonfler le ballon = gonflage. Le gonflement en est l’effet. ‘Die (menschliche) Handlung, einen Ball aufzupumpen = ‘gonflage’. Das ’gonflement’ ist das Ergebnis davon.’

144 h. . . . gonflage e´ tant l’action de gonfler et gonflement e´ tant le description de quelque chose d´ej`a gonfl´e . . . . ‘. . . wobei ‘gonflage’ die Handlung des Aufpumpens ist und ‘gonflement’ die Beschreibung von etwas bereits Angeschwollenem . . . .’ i. le gonflement fait plutˆot penser au ventre et a` un r´esultat alors que gonflage est l’action. ‘Das ‘gonflement’ erinnert eher an den Bauch und an ein Resultat, wogegen ‘gonflage’ eine Handlung ist.’ j. gonflage convient mieux que gonflement car il s’agit d’une action et gonflement correspond plus a` un e´ tat (de ce qui est gonfl´e). “Gonflage’ passt besser als ‘gonflement’, denn es handelt sich um eine Handlung und ’gonflement’ entspricht eher einem Zustand (von etwas, das aufgebl¨aht ist).’

Es gibt also verschiedenste Evidenzen, die darauf hinweisen, dass sich auch die im Korpus attestierten vereinzelten kumulativen -ment-Nomina von reinen Zustandswechsel-Verben in die in Kapitel 3 vorgeschlagene Analyse der neufranz¨osischen -ment-Nominalisierung integrieren lassen. Der Anteil der -age-Nominalisierungen an Derivaten im Bereich der reinen Zustandswechsel-Verben ist mit 17% (d.h. 32 von 191 +CH -age-Types) deutlich geringer als derjenige der -ment-Nomina. Genau genommen wurden im Korpus sogar nur 8 Types und 31 Tokens auf -age von reinen Zustandswechselverben attestiert. Diese wurden f¨ur die im Folgenden vorgestellte quantitative Untersuchung lediglich durch weitere 24 -age-Lexeme (62 Tokens) von Transformationsverben im weiteren Sinne aufgestockt, um eine bessere Vergleichbarkeit mit den -ment-Nominalisierungen zu gew¨ahrleisten. Transformationsverben k¨onnen f¨ur die hier verfolgten Zwecke als Verben definiert werden, die Ereigniskomplexe bezeichnen, durch welche ein Geschehnisbetroffener affiziert, aber in seiner Existenz unver¨andert gelassen wird (z.B. repasser oder drainer).18 Eine genauere Betrachtung der 31 -age-Tokens von reinen Zustandswechsel-Verben ergibt zun¨achst, dass alle entsprechenden Tokens ausschließlich auf die kausative Variante der von diesen Verben bezeichneten Ereigniskomplexe Bezug nehmen. Zudem zeigt sich, dass die Tokens in einem Verh¨altnis von 25 zu 6 Beispielen mehrheitlich Ereignistypen bezeichnen (vgl. 13a.), wobei vor allem die h¨aufige Verwendung von -age-Nomina als spezifizierendes Element in zusammengesetzten Ausdr¨ucken auff¨allt (vgl. 13b.). Wie bereits in Kapitel 3 erl¨autert k¨onnen die durch die -age-Nomina bezeichneten Ereignistypen allerdings auch durch den Kontext instanziiert werden, wobei sie je nach Kontext imperfekti18

Diese Verben sind den reinen Zustandswechsel-Verben somit sehr a¨ hnlich. Sofern die Unterschiede nicht relevant sind, werden beide Gruppen im Folgenden gelegentlich auch als “transformationelle Verben” anderen Verbklassen wie z.B. den Bewegungsverben gegen¨ubergestellt.

145 visch oder perfektivisch auf das von der Derivationsbasis bezeichnete Ereigniskonzept Bezug nehmen (13c.). (13)

a. C’est la pi`ece qui sent comme c¸a, l’odeur ne reste pas sur les vˆetements, elle part au s´echage. ‘Es ist das Zimmer, das derart riecht, der Geruch bleibt nicht auf der Kleidung haften, er verschwindet beim Trocknen.’ (weekend) b. Dans l’entreprise de nettoyage, mes coll`egues s’´etonnaient de ce qu’avec mon aptitude au bavardage, je ne me lance pas plutˆot dans une carri`ere de repr´esentant de commerce. ‘In der Reinigungsfirma wunderten sich meine Kollegen dar¨uber, dass ich mich mit meiner Eignung f¨ur das Schwatzen nicht eher auf eine Karriere als Handelsvertreter konzentrierte.’ (organisation) c. Comment ce vide fonctionne-t-il lors de l’allumage de la combustion et de l’explosion de la fus´ee? ‘Wie funktioniert dieses Vakuum w¨ahrend der Z¨undung der Verbrennung und der Explosion der Rakete?’ (medianoche)

Wie eingangs und in Kapitel 3.3.4 anhand der Diskussion um das Dublettenpaar gonflage/gonflement angedeutet k¨onnen die Unproduktivit¨at und das Verhalten der -age-Nominalisierungen in diesem Bereich nach dem in der vorliegenden Arbeit entwickelten Ansatz direkt aus dem resultativen Charakter der Zustandswechsel-Verben (im Sinne von Levin 1993, s.o.) abgeleitet werden: Da inchoative Zustandswechsel-Verben selten nominalisiert werden, um unter Topikalisierung des Geschehnistr¨agers auf den Wandelprozess selbst Bezug zu nehmen, nominalisiert -age erstens weniger Verben aus diesem Bereich und selegiert zweitens f¨ur gew¨ohnlich die kausative Variante der Verben. Ebenso wurde allerdings im Laufe des 3. Kapitels bereits deutlich, dass es sich hierbei lediglich um eine Tendenz handelt, da -age prinzipiell auch die inchoative Variante von alternierenden Zustandswechselverben nominalisieren kann, sofern auf den entsprechende Ereigniskomplex unter Topikalisierung des Geschehnistr¨agers Bezug genommen werden soll. Beispiele wie (14a. und b.) zeigen, dass sich diese M¨oglichkeit nicht auf spezifische Zustandswechselverben beschr¨ankt, sondern f¨ur diese Verben allgemein zur Verf¨ugung steht: (14)

a. La matin´ee s’est achev´ee avec un e´ nervage bref mais intensif de mon oncle . . . . ‘Der Vormittag hat mit einer kurzen, aber intensiven Nervenkrise meines Onkels . . . geendet.’ (http://lucifel.cowblog.fr/ commentaires-953643.html 15.10.2009)

146 b.

Sprecher A:

Merci pour tes conseils. Il me tarde d’ˆetre vieux pour relire tout c¸a. ‘Danke f¨ur deine Ratschl¨age. Ich kann es kaum erwarten alt zu sein, um all das nochmal zu lesen.’

Sprecher B:

- Alors, bon “vieillissage”! ‘Na dann, sch¨ones Altwerden!’ (http://aerobic.free.fr/viewtopic.php?p=79651&sid=68b47d0fd7d5b5b64c2f734d78e336f9 15.10.2009.)

Derartige Beispiele sind jedoch marginal, weil eine Bezeichnung von inchoativen Zustandswechsel-Ereignissen unter Topikalisierung des Geschehnistr¨agers und damit einhergehender Thematisierung der Prozesskomponente selten diskursiv ad¨aquat ist. Die quantitative Untersuchung ergab ebenfalls, dass die hier zusammengefassten -age-Nominalisierungen haupts¨achlich kausative Ereigniskomplexe bzw. Ereignistypen bezeichnen. Genauer gesagt ergab die Korpusausz¨ahlung, dass 79 der 93 Tokens (85%) kausative Ereigniskomplexe bzw. Ereignistypen bezeichnen und nur 14 Tokens (15%) nicht-eventiv zu interpretieren sind (vgl. Abbildung 4.5). Bei den wenigen nicht-eventiven Lesarten handelt es sich zudem gr¨oßtenteils um Bezeichnungen f¨ur Instrumente (z.B. allumage = ensemble des organes assurant l’allumage, ‘Gesamtheit der Apparaturen, welche die Beleuchtung gew¨ahrleisten’, Petit Robert 2007), die Art und Weise (z.B. r´eglage = mani`ere dont un appareil . . . est r´egl´e,‘Art, in der ein Apparat eingestellt wird’, ebd.), Orte (z.B. mouillage = emplacement favorable pour mouiller un navire, ‘g¨unstige Stelle, um mit einem Schiff vor Anker zu gehen’, ebd.) oder resultierende Objekte (z.B. d´ebourrage = d´echets provenant du travail de la laine, ‘bei der Webarbeit entstehender Abfall’, ebd.), die in Abschnitt 4.1.4 als metonymische Verschiebungen identifiziert wurden und daher in der vorliegenden Arbeit nicht behandelt werden k¨onnen (vgl. f¨ur Analysem¨oglichkeiten erneut Melloni 2007, oder auch Detges 2004).19 Der f¨ur die hier intendierte Analyse entscheidende Punkt ist in diesem Zusammenhang lediglich, dass die -ageNominalisierungen in keinem Fall auf einen Resultatszustand Bezug nehmen. Diese Generalisierung wird durch eine Durchsicht der Definitionen bekr¨aftigt, die der Petit Robert 2007 f¨ur die entsprechenden -ment- und -age-Nomina anf¨uhrt. So zeigt der mittlere Balken des Diagramms 4.6, dass die 98 -mentTypes von reinen Zustandswechselverben im Petit Robert 2007 in 58 F¨allen unter anderem mit Hilfe von Phrasen wie “´etat de . . . ” (‘Zustand des . . . ’) oder “fait d’ˆetre . . . ” (‘Sachverhalt des . . . ’) umschrieben werden, w¨ahrend derartige 19

Derartige Resultatslesarten werden im Folgenden unter dem Begriff Resultatsobjektlesarten zusammengefasst, vgl. z.B. Abbildung 4.6.

147

Abbildung 4.5: Anteil der Ereignislesarten (E), ambigen Lesarten (E/R) und Resultatslesarten (R) an -age-Tokens von +CH cos-Verben im synchronen FRANTEXT-Korpus

Umschreibungen im Zusammenhang mit den entsprechenden -age-Nomina gar nicht vorkommen.

Abbildung 4.6: Anteile der Ereignis-, Resultatszustands- und Resultatsobjektdefinitionen f¨ur -ment- und -age-Types von +CH cos-Verben im Petit Robert 2007

Gradsequenzen oder Nominalisierungen von Emotionsverben sind unter den age-Nominalisierungen des FRANTEXT-Korpus ebenfalls nicht zu finden. Wie in Kapitel 3 erl¨autert wird letzterer Umstand meist auf den Einfluss von Bezeichnungsgruppen und die wichtige Rolle der Analogie als strukturierendes Prinzip von Ableitungsprozessen zur¨uckgef¨uhrt. Die vorliegende Untersuchung macht

148 allerdings deutlich, dass die Grenze zwischen der Produktivit¨at und der Unproduktivit¨at von -age nicht zwischen abstrakter und konkreter Denotation, sondern zwischen resultierenden Eigenschaften von Geschehnisbetroffenen und prozessbezogenen Eigenschaften von Geschehnistr¨agern verl¨auft. Bereits im Bereich der reinen Zustandswechsel- bzw. Transformationsverben zeigen sich also deutlich die Vorteile der in Kapitel 3 entwickelten Analyse von -ment und -age, nach welcher -ment die Eigenschaft des Geschehnisbetroffenen reifiziert, sich in dem aus dem Basisereignis resultierenden Zustand zu befinden, w¨ahrend -age die Topikalisierung des Geschehnistr¨agers und die damit einhergehende prozessorientierte Perspektivierung der entsprechenden Ereigniskomplexe von den Basisverben u¨ bernimmt, ohne weitere aspektuelle oder informationsstrukturelle Modifizierungen einzuf¨uhren.

4.2.2 Rein inchoative Basisverben In der vorliegenden Arbeit werden die Verben f¨ur nicht-extern verursachte Zustandswechsel wie s’´evanouir (‘in Ohnmacht fallen, vergehen’) oder mourir (‘sterben’) und die Verben f¨ur zielgerichtete Bewegungen wie arriver (‘ankommen’) oder d´emarrer (‘starten’) unter der Kategorie der rein inchoativen Verben zusammengefasst. Diese Pr¨adikate geh¨oren zu den ‘unakkusativen’ Verben, was sich unter anderem in dem Umstand bemerkbar macht, dass der einzige Partizipant der von diesen Verben bezeichneten Ereigniskomplexe zugleich Geschehnistr¨ager und Geschehnisbetroffener des Ereignisses ist und dass bei resultativer Betrachtung die Betroffenheit des Partizipanten im Vordergrund steht (vgl. z.B. x est mort, ‘x ist gestorben’, x est arriv´e, ‘x ist angekommen’ bzw. Kapitel 3.2.2). Da die Art und Weise der Herbeif¨uhrung des Zustands nicht thematisiert wird (“their meaning provides no information about how the change of state came about”, Levin 1993: 242), sind auch diese Verben als inh¨arent resultativ zu betrachten, weshalb auch in diesem Bereich eine Pr¨aferenz f¨ur -ment zu erwarten ist. Wie f¨ur transitive Verben ist auch f¨ur rein inchoative Verben dennoch zu erwarten, dass die entsprechenden Ereigniskomplexe sowohl unter Topikalisierung des Geschehnistr¨agers als auch unter Topikalisierung des Geschehnisbetroffenen konzeptualisiert werden k¨onnen und dass -age-Nominalisierungen die erstere, -ment-Nominalisierungen dagegen die letztere Perspektive versprachlichen (vgl. dazu erneut Kapitel 3.2.2 bzw. 3.3.3). Entsprechend der obigen Erwartung u¨ bersteigt der Anteil der -mentNominalisierungen von rein inchoativen Verben mit 7% (d.h. 24 der 356 +CH -ment-Types) deutlich den Anteil der -age-Nominalisierungen mit 3% (6 von 191 -age-Types, vgl. Abbildung 4.3). Auch dieser Produktivit¨atsunterschied kann darauf zur¨uckgef¨uhrt werden, dass mit Nominalisierungen auf die entsprechenden Ereigniskomplexe selten unter Topikalisierung des Geschehnis-

149 tr¨agers Bezug genommen wird. Diese Hypothese wird durch die Detailanalyse der entsprechenden Nominalisierungen weiter bekr¨aftigt. So verhalten sich die 10 -ment-Nominalisierungen von rein inchoativen Zustandswechselverben ganz a¨ hnlich wie die -ment-Nominalisierungen von alternierenden +CH cosVerben. Das heißt, sie bezeichnen Resultatszust¨ande (15a.), Individueneigenschaften (15b.) oder abgeschlossene Ereignisse (15c.). (15)

a. Estienne, e´ cras´e par l’´emotion, au bord de l’´evanouissement, s’´etait laiss´e tomber sur un si`ege. ‘Estienne hatte sich, von Gef¨uhlen u¨ berw¨altigt, nahe einer Ohnmacht, auf einen Sitz fallen lassen.’ (douane) ` b. [A] Naples, dix ans apr`es la fin de la guerre: tani`eres aux parois humides, grottes polies par l’industrie des hommes, o`u r´egnait une p´enombre que rendait complexe le rougeoiement de la braise dans un foyer de fortune. ‘Neapel, zehn Jahre nach Ende des Krieges: Schlupfl¨ocher an feuchten W¨anden, vom Werken des Menschen gegl¨attete H¨ohlen, in denen ein D¨ammerlicht herrschte, das die R¨ote der Glut in der Feuerstelle des Schicksals vielschichtig machte.’ (pas) c. Elle se prend la tˆete a` deux mains, guettant le surgissement irr´epressible des souvenirs. ‘Sie nimmt ihren Kopf zwischen beide H¨ande, w¨ahrend sie dem unbezwinglichen Auftauchen der Erinnerungen auflauert.’ (œufs)

Die u¨ brigen zehn Nominalisierungen sind von Verben abgeleitet, die in gewissem Sinne als Bewegungsverben bezeichnet werden k¨onnen. Allerdings handelt es sich hierbei ausschließlich um Verben, die eine Bewegung des Partizipanten aus etwas heraus (´echapper, ‘entrinnen’) oder u¨ ber etwas hin¨uber (franchir, ‘¨uberqueren’) bezeichnen. Ein Teil der entsprechenden Nominalisierungen bezeichnet Resultatszust¨ande (16a.) oder abgeschlossene Ereignisse bzw. Bewegungen (16b.), impliziert also, dass der vom Basisverb mitbezeichnete Endpunkt erreicht wurde. Die u¨ brigen Nominalisierungen, wie etwa le d´efilement (‘das Vor¨uberziehen’) in (16c.) oder l’envahissement (‘das Verrinnen’) in (16d.), zeichnen sich dadurch aus, dass sie auff¨allig oft mit Wahrnehmungsverben wie suivre oder voir (16c.) oder a¨ hnlichen Effekt-bezogenen Kontexten (16d.) kookkurrieren, was darauf hinweist, dass die Nominalisierungen nicht auf den Prozess Bezug nehmen, den der Geschehnistr¨ager durchl¨auft, sondern dass sie vielmehr eine Wiederholung von abgeschlossenen atomischen Wandelereignissen aus der Perspektive der Geschehnisbetroffenen, d.h. z.B. der Sachen in (16c.) oder der Ziffern in (16d.), beschreiben. Die Kumulativit¨at dieser Nominalisierungen ist demnach als Folge einer Aneinanderreihung von atomischen Wandelereignissen bzw. den daraus resultierenden Zust¨anden zu interpretieren, a¨ hnlich derjenigen, auf welche in Abschnitt 4.2.1 die Kumulativit¨at von -ment-Nominalisierungen im Bereich von ‘Degree Achievements’ zur¨uck-

150 gef¨uhrt wurde (vgl. z.B. voir le d´efilement des choses in (16c.) mit assister a` l’enlaidissement de ma m`ere in (7c.), ebenfalls Abschnitt 4.2.1). (16)

a. Le moment o`u, se livrant lui-mˆeme, il l’innocenterait. Cette perspective le maintenait e´ veill´e dans un d´ebordement de joie lucide qui faisait de lui une sorte de . . . . ‘In dem Moment, in welchem er sich selbst stellen w¨urde, w¨urde er ihn ¨ freisprechen. Dieser Ausblick hielt ihn wach in einem Uberborden heller Freude, die aus ihm eine Art . . . machte.’ (marchande) b. Les premi`eres difficult´es avaient surgi avec le franchissement de la fronti`ere croate . . . . ¨ ‘Die ersten Schwierigkeiten waren mit der Uberschreitung der kroatischen Grenze aufgetreten . . . .’ (organisation) c. [L]a fenˆetre est plus basse, on ne peut pas s’appuyer et il n’y a pas assez d’ouverture pour voir le d´efilement des choses. ‘Das Fenster ist niedriger, man kann sich nicht aufst¨utzen und es gibt ¨ keine ausreichend große Offnung, um das Vorbeiziehen der Dinge zu betrachten.’ (clef) d. [L]es d´epartements, en ce temps-l`a, avaient encore leur saveur, leurs belles couleurs, leur sonorit´e inimitable, ils n’avaient pas battu en retraite devant l’envahissement des chiffres ni des ordinateurs . . . . ‘Die Departements zu jener Zeit hatten noch ihren Charme, ihre sch¨onen Farben, ihre unnachahmliche Sonorit¨at, sie waren weder vor dem Eindringen der Zahlen noch vor den Computern ausgewichen . . . .’ (chemin)

Die Tokens der 6 im Korpus attestierten -age-Nominalisierungen von inchoativen Verben sind vollst¨andig komplement¨ar zu den obigen -mentNominalisierungen distribuiert. Alle Nominalisierungen sind von Verben f¨ur zielgerichtete Bewegungen im eigentlichen Sinne abgeleitet und bezeichnen den Prozess, den der Geschehnistr¨ager durchl¨auft. So wird in (17 a.) ein w¨ahrend dieses Prozesses aufkommendes Gef¨uhl beschrieben, w¨ahrend die Prozesshaftigkeit der -age-Nominalisierungen in (17b. und c.) durch die auf die entsprechenden Prozesse Bezug nehmenden Adjektive concentr´e und subit angezeigt wird. (17)

a. . . . que j’aimais e´ prouver ce sentiment de l’appareillage qu’aucune autre ville n’a pu me donner. ‘. . . wie ich dieses Gef¨uhl des Ablegens liebte, das mir keine andere Stadt hat geben k¨onnen.’ (collines) b. D´ecollage tr`es enlev´e, net, trajectoire br`eve mais d´ecisive au-dessus du guidon, et atterrissage concentr´e droit sur le ciboulot. ‘Ein sehr abgehobener, sauberer Start, kurze, aber entschlossene Flugbahn u¨ ber dem Lenker und eine auf den Kopf konzentrierte Landung.’ (lyc´een)

151 c. En fait il ne s’assied pas, semble brutalement tir´e en sens contraire par le d´emarrage subit de la voiture, . . . ‘Genau genommen setzt er sich nicht hin, sondern scheint durch das pl¨otzliche Losfahren seines Wagens brutal in die entgegengesetzte Richtung geschleudert zu werden.’ (clef)

Ungeachtet der Tatsache, dass bei rein inchoativen Ereigniskomplexen nur ein Partizipant konzeptualisiert wird, reproduzieren die -ment- und -age-Nominalisierungen von rein inchoativen Verben also den bereits in 4.2.1 f¨ur +CH cosVerben beschriebenen Kontrast: Die resultativen -ment-Nomina bieten sich insbesondere zur Bezugnahme auf inchoative Transformationsereigniskonzepte ¨ bzw. Ereigniskonzepte des Uberquerens und Sich-Herausbewegens an, weil sie die Resultatzustandseigenschaften des einzigen Partizipanten in seiner Rolle als Geschehnisbetroffener reifizieren. Dies kommt dem Sprecherbed¨urfnis entgegen, da die Sprecher bei der Bezugnahme auf die entsprechenden Ereigniskomplexe augenscheinlich ebenfalls meist den Resultatszustand in den Mittelpunkt stellen bzw. als Endpunkt mitthematisieren (vgl. die Beispiele unter (15) und (16)). Die prozessausgerichteten -age-Nominalisierungen bieten sich im Bereich der +CH inch-Verben, wenn u¨ berhaupt, vor allem zur Bezugnahme auf zielgerichtete Bewegungen im eigentlichen Sinne an, weil es sich bei dieser Art von inchoativen Ereigniskomplexen noch am ehesten anbietet, den Geschehnistr¨ager zum Thema bzw. Topic der Aussage zu machen. Folgerichtig wird in den Beispielen unter (17) der vom Geschehnistr¨ager durchlaufene Prozess thematisiert, w¨ahrend der Resultatszustand in den entsprechenden Diskursen eine untergeordnete Rolle spielt. Diese Daten zeigen erneut, dass sich -ment- und -age-Nominalisierungen nur durch ihre auf subtile Weise unterschiedlichen Perspektivierungsleistungen voneinander unterscheiden lassen und stellen somit eine weitere Gegenevidenz zu der in der Literatur vorgebrachten Hypothese dar, dass die -ment- und -age-Nominalisierungen in Analogie zu bestehenden Bezeichnungsgruppen abgeleitet werden. Demgegen¨uber best¨atigt sich erneut die in Kapitel 3 vorgeschlagene Analyse, nach welcher -ment die Resultatszustandseigenschaft von Geschehnisbetroffenen reifiziert, w¨ahrend -age die den Basisverben inh¨arente Topikalisierung des Geschehnistr¨agers u¨ bernimmt.

4.2.3 Aspektuelle Verben In der anglophonen Literatur sind die Standardbeispiele f¨ur aspektuelle Verben begin, start, finish, end, complete, keep und continue.20 F¨ur begin, start, finish, 20

Die folgende Darstellung basiert auf den Beschreibungen aspektueller Verben von Newmeyer (1975) und Freed (1979), wobei mit repeat und resume zwei weitere Standardbeispiele keine Beachtung finden.

152 end und complete wird angenommen, dass diese Verben “either a left- or righthand time boundary for the verbal . . . form that they operate on” einf¨uhren (Freed 1979: 20). “[B]egin, start, and commence assert occurrence after an implied nonoccurrence. Stop, finish, and end assert non-occurence after a presupposed occurrence” (Newmeyer 1975: 25). Die Verben des Beginnens und des Endens sind somit der achievement-Klasse zuzuordnen: Beginnen resultiert zwangsl¨aufig und unmittelbar in der “occurrence after an implied non-occurrence” einer Situation, ebenso wie enden zwangsl¨aufig und umittelbar in der “non-occurrence after a presupposed occurrence” resultiert. Somit ist auch f¨ur diese Verben anzunehmen, dass die resultative Komponente gegen¨uber der Prozesskomponente im Vordergrund steht, was gem¨aß den Ausf¨uhrungen in Abschnitt 3.2.2 bedeutet, dass die entsprechenden Ereignisse zumindest im nominalen Kontext mehrheitlich aus der Sicht des Geschehnisbetroffenen dargestellt werden, an welchem sich der Effekt des im Vorwege durchlaufenen Ereignisses manifestiert. Keep und continue werden dagegen f¨ur gew¨ohnlich als durative Operatoren bzw. als Imperfektivierer beschrieben: “[K]eep and continue can indicate the unbounded or unspecified nature of their operands, and in such cases are imperfectivizers” (Freed 1979: ebd.). Im untersuchten FRANTEXT-Korpus haben -ment-Nominalisierungen von aspektuellen Verben einen Anteil von 4% (14 von 356 +CH -ment-Types), w¨ahrend -age-Nomina von aspektuellen Verben in der Datenbasis nicht attestiert sind (vgl. erneut Abbildung 4.3). Nominalisierungen wie d´emarrage (‘Starten, Losfahren’) k¨onnten zwar unter Umst¨anden als aspektuell klassifiziert werden (s.u.). Speziell d´emarrage wurde allerdings aufgrund der in den entsprechenden Korpusbeispielen stets implizierten lokativen Ver¨anderung zu den Nominalisierungen von rein inchoativen Bewegungsverben gez¨ahlt. In Anlehnung an die in der Literatur u¨ bliche Dreiteilung der aspektuellen Verben in Verben des Beginnens, des Endens und des Fortdauerns k¨onnen auch die -ment-Nominalisierungen weitestgehend in drei Gruppen eingeteilt werden. Die erste Gruppe bezeichnet den Beginn einer Situation ((vgl. 18a.), 5 Types), die zweite Gruppe denotiert das Erreichen eines Endpunktes bzw. das Enden eines Ereignisses ((18b.), 3 Types), und die dritte Gruppe nimmt auf den Fortgang einer Situation Bezug ((18c.,d.), 3 Types). Die u¨ brigen 3 der 14 -ment-Types werden wie in Beispiel (18e.) zur Bezeichnung von resultierenden Zust¨anden oder Individueneigenschaften verwendet. (18)

a. Mais Vanessa, a` tout prix, devait rentrer en Angleterre avant le d´echaˆınement des e´ l´ements. ‘Aber Vanessa musste um jeden Preis vor dem Ausbruch der Elemente nach England zur¨uckkehren.’ (bonheur) b. Si jamais nous nous retrouvons un jour, apr`es l’ach`evement du rapport, nous pourrons nous atteler ensemble a` un livre qui . . . .

153 ‘Wenn wir uns nach der Beendigung des Berichts jemals wieder begegnen sollten, werden wir uns zusammen an ein Buch machen k¨onnen, das . . . .’ (douane) c. Grˆace au d´eveloppement des moyens de communication, la v´en´eration obscure d’une histoire dont on ne saura plus grand-chose se sera r´epandue dans tous les coins de l’univers. ‘Dank der Weiterentwicklung der Kommunikationsmittel wird sich die obskure Verkl¨arung einer Geschichte, von der man nicht mehr viel wissen wird, bis in alle Ecken des Universums ausgebreitet haben.’ (douane) d. Le climat e´ tait a` la suspicion. A` la longue, c’est devenu gˆenant pour le d´eroulement des op´erations. ‘Das Klima war von Argwohn gepr¨agt. Mit der Zeit ist das f¨ur den Fortgang der Operationen hinderlich geworden.’ (lyc´een) e. . . . . Je comprends a` pr´esent que cet inach`evement e´ tait celui de ma propre vie. ‘Jetzt verstehe ich, dass diese Unfertigkeit diejenige meines eigenen Lebens war.’ (œufs)

Anders als keep und continue zeichnen sich die Nominalisierungen der dritten Gruppe allerdings dadurch aus, dass sie entweder wie in (18c.) abgeschlossene Ereignisse oder wie in (18d.) ein schritt- bzw. stufenweises Fortschreiten bezeichnen. So gibt der Petit Robert 2007 beispielsweise die Bedeutung von se d´erouler (‘sich entwickeln’) mit “prendre place dans le temps, en parlant d’une suite ininterrompue d’´ev´enements, de pens´ees” (‘in der Zeit stattfinden, wenn von einer ununterbrochenen Abfolge von Ereignissen [oder] Gedanken die Rede ist’) und die Bedeutung von d´eroulement unter anderem mit “Le fait de se succ´eder dans le temps” (‘Der Sachverhalt, in der Zeit aufeinanderzufolgen’) an, wobei zu beachten ist, dass die einzelnen Schritte einer zeitlichen Entwicklung generell aufeinander aufbauen und somit in der Art der atomischen Wandelereignisse von ‘Degree Achievements’ an ihren R¨andern u¨ berlappen (vgl. hierzu Abschnitt 4.2.1). Es liegt also nahe, dass auch Ereignisnominalisierungen wie d´eroulement in (18d.) Iterationen von atomischen Wandelereignissen bezeichnen, bei welchen das Resultat eines atomischen Ereignisses jeweils den Input f¨ur das darauffolgende Ereignis liefert. Es l¨asst sich somit feststellen, dass die -ment-Nominalisierungen die aspektuellen Wandelereignisse gem¨aß der abstrakten Bedeutung des Suffixes ausschließlich unter Einbeziehung eines oder mehrerer Resultatszust¨ande beschreiben. Weiterhin legen die obigen Daten nahe, dass diese Referenzweise die u¨ bliche Form ist, in der die franz¨osischen Sprecher mit Hilfe von Ereignisnominalisierungen auf Ereigniskomplexe des Beginnens, Sich-Entwickelns und Endens Bezug nehmen. Da aus dieser Perspektive der einzige Partizipant generell als Geschehnisbetroffener konzeptualisiert bzw. in seiner Rolle als Geschehnisbetroffener topikalisiert wird (vgl. erneut die ent-

154 sprechenden Hinweise in Abschnitt 3.2.2), werden -age-Nominalisierungen in diesem Kontext kaum ben¨otigt. Nominalisierungen wie d´emarrage (‘Anfahren, Start’), das auch zur Bezeichnung nicht-dislokativer Start-Ereignisse verwendet werden kann (vgl. z.B. den entsprechenden Eintrag im Petit Robert 2007), machen deutlich, dass -age-Nomina allerdings nicht prinzipiell von der Bezugnahme aus aspektuelle Ereignisse ausgeschlossen sind. Es ist vielmehr zu vermuten, dass sie in solchen Kontexten zum Einsatz kommen, in welchen auf das entsprechende aspektuelle Ereignis unter Topikalisierung des Geschehnistr¨agers Bezug genommen werden soll. Diese Generalisierung m¨usste f¨ur Nominalisierungen wie d´emarrage zwar noch im Detail verifiziert werden. Ein Vergleich von d´emarrage mit dem ganz a¨ hnlichen commencement (‘Beginn’) liefert allerdings bereits gewisse Indizien f¨ur diese Vermutung. So ist darauf hinzuweisen, dass d´emarrer in englisch-franz¨osischen lexikographischen Werken generell mit start u¨ bersetzt wird, w¨ahrend ¨ als Ubersetzung von commencer das englische begin gegeben wird (vgl. z.B. http://www.wordreference.com/fren 09.01.10). Weiterhin ist interessant, dass start im Unterschied zu begin f¨ur gew¨ohnlich eine nicht-resultative Bedeutung zugeschrieben wird: In other words, the significant difference between begin and start is that while sentences with both presuppose the prior non-occurrence of the event named in the operand of the sentence, only a sentence with begin necessarily has the consequence that the nucleus (or characteristic activity) of the event has been initiated, . . . . (Freed 1979: 111)

Vor diesem Hintergrund kann spekuliert werden, dass d´emarrage in der aspektuellen Lesart generell der Bedeutung von engl. start und nicht derjenigen von begin entspricht und damit ebenso wenig resultativ ist, w¨ahrend commencement wie begin eine klassische achievement-Bedeutung aufweist. Wie bereits angedeutet m¨usste diese Hypothese zwar erst durch eine detaillierte kontrastive Untersuchung der entsprechenden Nominalisierungen in ihren konkreten Kontexten u¨ berpr¨uft werden.21 Ungeachtet dessen wird aber auch bereits auf der Grundlage der oben betrachteten Korpusbeispiele deutlich, dass die quantitativen und qualitativen Kontraste zwischen den -ment- und -age-Nominalisierungen des hier untersuchten Korpus auch im Bereich der aspektuellen Basisverben auf der Basis des in Kapitel 3 entwickelten Ansatzes koh¨arent auf die grundlegende Bedeutung der Suffixe zur¨uckgef¨uhrt werden k¨onnen, sofern die pragmatische Komponente der Wortbildung in die Untersuchung einbezogen wird.

21

W¨ahrend von d´emarrage im Korpus keine rein aspektuellen Vorkommen enthalten sind, wurde commencement aufgrund der hohen Tokenfrequenz nicht untersucht, vgl. dazu Abschnitt 4.1.2.

155 4.2.4 Verben f¨ur k¨orperbezogene Aktivit¨aten Verben f¨ur k¨orperbezogene Aktivit¨aten beschreiben Ereigniskomplexe “involving actions carried out on or through one’s own body” (Kemmer 1993: 53). Zu dieser Klasse geh¨oren Verben wie se raser (‘sich rasieren’) oder s’habiller (‘sich anziehen’), aber auch s’asseoir (‘sich setzen’), s’´etirer (‘sich strecken’) oder ¨ froncer les sourcils (‘die Stirn runzeln’). Ahnlich wie die durch reine Inchoativa beschriebenen Ereigniskomplexe zeichnen sich die +CH ba-Ereigniskonzepte dadurch aus, dass Geschehnistr¨ager und Geschehnisbetroffener meist koreferent sind. Von klassischen reflexiven Ereigniskomplexen (z.B. s’abuser soi-mˆeme, ‘sich selbst betr¨ugen’ o.¨a.) grenzen sich die reflexiven +CH ba-Ereignisse insofern ab, als Geschehnistr¨ager und Geschehnisbetroffener in letzteren konzeptuell weniger voneinander getrennt werden k¨onnen. Kemmer (1993: 72) spricht in diesem Zusammenhang von einem “lack of conceptual differentiation of the entity serving as Initiator and Endpoint”, wobei die Differenzierung zwischen ‘Initiator’ und ‘Endpoint’ der in der vorliegenden Arbeit getroffenen Unterscheidung zwischen dem prozessbezogenen Geschehnistr¨ager und dem resultatsbezogenen Geschehnisbetroffenen entspricht.22 Wie bei den durch rein inchoative Verben beschriebenen Ereigniskomplexen ist also auch f¨ur den Bereich reflexiver +CH ba-Ereignisse zu erwarten, dass dasselbe “one-participant event” (ebd.: 73) sowohl mit der den unmodifizierten Basisverben inh¨arenten Topikalisierung des Ereignispartizipanten in seiner Funktion als Geschehnistr¨ager als auch unter Topikalisierung des Partizipanten in seiner Funktion als Geschehnisbetroffener konzeptualisiert werden kann und dass -age-Nominalisierungen die erstere, -ment-Nominalisierungen dagegen die letztere Perspektive versprachlichen. Diese Vorhersage best¨atigt sich durch die Untersuchung der entsprechenden -ment- und -age-Nominalisierungen aus dem synchronen FRANTEXT-Korpus. So werden die im Korpus enthaltenen 30 -ment-Types bzw. 101 -ment-Tokens mehrheitlich daf¨ur verwendet, um Zust¨ande zu bezeichnen, die aus der k¨orperbezogenen Aktivit¨at resultieren (vgl. 19a.). Relativ h¨aufig finden sich außerdem Bezeichnungen f¨ur abgeschlossene Ereignisse (19b.), wobei es auch hier zu einer kontextinduzierten iterativen Interpretation kommen kann (vgl. 19c.).23 Auch im Bereich der Verben f¨ur K¨orperbewegungen stellen Wahrnehmungsverben wie voir oder sentir oder a¨ hnliche wahrnehmungsgerichtete Umgebungen 22

23

¨ Kemmer (1993) kommt im Ubrigen zu dem Schluss, dass der Grad der Unterscheidbarkeit der Partizipanten (“degree of distinguishability of participants”) mit dem Grad der Unterscheidbarkeit der Teilereignisse (“degree of elaboration of events”) einhergeht, wobei die in diesem Zusammenhang angesprochenen Teilereignisse in etwa der Prozesskomponente und der resultativen Komponente entsprechen. F¨ur n¨ahere Erl¨auterungen vgl. Kemmer (1993: 119–123). Bei diesem Beispiel handelt es sich allerdings nicht um ein graduelles Fortschreiten in der Art der ‘Degree’-Ereigniskomplexe, sondern um “normale” Iteration.

156 die u¨ blichsten Vorkommenskontexte f¨ur -ment-Nominalisierungen dar (vgl. z.B. 19d.). Das heißt, auch im Fall der Bezeichnung von K¨orperbewegungen durch -ment-Nominalisierungen steht der Resultatszustand des Geschehnisbetroffenen (der ‘Endpoint’) im Mittelpunkt des Diskurses (19a.,d.) bzw. wird zumindest als erreicht betrachtet (19b.,c.). (19)

a. . . . une singuli`ere verrue noirˆatre qui, a` la hauteur de la bouche, disparaissait pour aussitˆot r´eapparaˆıtre entre deux replis des bajoues, lorsque ses l`evres accentuaient l’´etirement qu’exige le a, ou . . . . ‘. . . eine eigenartige schw¨arzliche Warze auf der H¨ohe des Mundes, die verschwand und sogleich zwischen zwei Falten der großen Backen wieder auftauchte, als seine Lippen die Streckung verst¨arkten, die das ‘a’ erfordert, oder . . . .’ (pas) b. [La m´emoire] envahit tout le corps. Les spasmes inexpliqu´es, les rougeurs subites, les picotements, le dressement soudain de quelques poils (l’horripilation) ne sont que souvenirs. ‘Die Erinnerung ergreift den ganzen K¨orper. Die ungekl¨arten Spasmen, die pl¨otzlichen R¨otungen, das Prickeln, die unvermittelte Aufrichtung einiger Haare (der Schauder) sind nichts als Erinnerungen.’ (amour) c. Elle jouissait de sa propre agilit´e qui lui permettait mˆeme des gestes inutiles - comme ce cambrement cadenc´e de sa jolie croupe muscl´ee. ‘Sie erfreute sich an ihrer eigenen Flinkheit, die ihr sogar unn¨otige Gesten erlaubte - wie dieses rhythmische (Sich) Biegen ihrer sch¨onen, muskul¨osen Kruppe.’ (testament) d. J’ai toujours senti un petit serrement de cœur quand je voyais, sur le devant des locomotives, ces calicots annonc¸ant le d´epart a` la retraite des conducteurs de train. ‘Ich habe immer eine leichte Beklommenheit versp¨urt, wenn ich diese Spruchb¨ander an der Vorderseite der Lokomotiven sah, welche das Ausscheiden der Lokf¨uhrer in den Ruhestand verk¨undeten.’ (clef)

Die 38 Tokens der 9 -age-Nominalisierungen werden hingegen dazu verwendet, um die mit dem Geschehnistr¨ager assoziierte Prozesskomponente zu thematisieren (vgl. 20a.,b.). In diesem Bereich bilden die -age-Nomina zwar systematisch Resultatslesarten aus. Allerdings wird in keinem Fall eine resultatsbezogene Perspektive im oben beschriebenen Sinne eingenommen, sondern die resultativen -age-Nomina nehmen a¨ hnlich wie im Bereich der additiven Verben (+CH add unter (4)) meist auf additive oder instrumentale Komponenten Bezug (vgl. 20c.). (20)

a. O`u est mon peignoir ? On ne retrouve jamais rien dans cette piaule! - Il est au lavage. T’´enerve pas, quoi! ‘Wo ist mein Bademantel? Man findet nie etwas wieder in dieser Bude! - Er ist in der W¨asche. Nun reg’ Dich nicht auf!’ (poche)

157 b. Et pour ne pas trahir mon aˆ ge r´eel, je tournai vers moi le r´etroviseur, sortis de mon sac le mat´eriel a` maquillage et j’´etalai une bonne couche de rose ambr´e sur mes l`evres. ‘Und um mein tats¨achliches Alter nicht zu verraten, drehte ich den R¨uckspiegel zu mir, entnahm meiner Tasche das Schminkzeug und verteilte eine geh¨orige Schicht bernsteinfarbenen Rosas auf meinen Lippen.’ (poche) c. Les larmes dessinaient sur son maquillage excessif des traces brillantes semblables au cheminement des limaces ou a` la Voie lact´ee. ‘Die Tr¨anen zeichneten auf ihre u¨ berm¨aßige Schminke gl¨anzende Spuren, die der Kriechbewegung von Nacktschnecken oder der Milchstraße a¨ hnelten.’ (corfu)

Die Beispiele unter (19) und (20) deuten bereits darauf hin, dass es sich bei den Verben f¨ur k¨orperbezogene Aktivit¨aten um eine heterogene Gruppe handelt. Kemmer (1993: 67–70) schl¨agt eine Dreiteilung in grooming verbs (z.B. se raser, ‘sich rasieren’, im Folgenden gro-Verben), nontranslational motion verbs (z.B. s’´etirer, ‘sich strecken’, hier ntm-Verben) und change in body posture verbs (z.B. s’agenouiller, ‘niederknien’, hier cbp-Verben) vor. Das zentrale Unterscheidungskriterium ist laut Kemmer erneut der Grad der Differenzierbarkeit von ‘Initiator’ und ‘Endpunkt’, d.h. von prozessbezogenem Geschehnistr¨ager und resultatsbezogenem Geschehnisbetroffenen. Laut Kemmer (1993) ist der Grad der Unterscheidbarkeit bei gro-Verben am gr¨oßten, danach folgen die ntm-Verben, wiederum gefolgt von den cbp-Verben. Vor diesem Hintergrund ist interessant, dass 8 der 9 -age-Nominalisierungen von +CH ba-Verben aus dem untersuchten Korpus von gro-Verben abgeleitet sind. Die verbleibende Nominalisierung raccrochage ist dem ntm-Bereich zuzuordnen, da sie gem¨aß des Kontexts auf eine Situation des Klammerns oder Festhaltens Bezug nimmt (s.u.). Die -ment-Nominalisierungen bieten hingegen ein gemischtes Bild. Die Derivate von gro-Verben (z.B. armement, ‘Bewaffnung’) machen mit 8 Types allerdings nur einen geringen Teil der Gesamtmenge aus, der nur noch von den -mentNominalisierungen von cbp-Verben (z.B. accroupissement, ‘Hocke(n)’) mit 3 Types unterboten wird. Den gr¨oßten Anteil haben -ment-Nominalisierungen von ntm-Verben wie e´ tirement (‘Streckung’) mit 18 Types. Mit Verweis auf Kemmers grundlegendes Unterscheidungskriterium der Distingierbarkeit von ‘Initiator’ und ‘Endpunkt’ lassen sich auch diese Produktivit¨atsunterschiede auf die in Kapitel 3 der vorliegenden Arbeit entwickelte Bedeutungsanalyse von -ment und -age zur¨uckf¨uhren, sofern die in Kapitel 2 definierte semantisch-pragmatische Angemessenheitsbedingung mitber¨ucksichtigt wird. So folgt aus der Beschreibung von Kemmer (1993), dass durch die relativ hohe Unterscheidbarkeit von ‘Initiator’ und ‘Endpoint’ und somit von Prozessund Resultatskomponente bei den durch gro-Verben bezeichneten Ereigniskomplexen die Topikalisierung des Geschehnistr¨agers bzw. die Thematisierung der Prozesskomponente pragmatisch angemessen ist, sodass es in diesem Bereich

158 durchaus Bedarf an -age-Nominalisierungen gibt. Die von ntm-Verben bezeichneten Ereigniskomplexe sind dagegen wie die rein inchoativen Zustandswechsel aufgrund der a¨ ußerst geringen Unterscheidbarkeit von ‘Initiator’ und ‘Endpunkt’ inh¨arent resultativ, so dass eine Thematisierung der Prozesskomponente bzw. eine Reifizierung der Ereignisteilhabe des Geschehnistr¨agers selten diskursiv angemessen sind. Dies gilt in noch h¨oherem Maße f¨ur cbp-Verben wie ¨ s’accroupir (‘(sich nieder)hocken’). In Kapitel 3.3.4 wurde im Ubrigen bereits anhand des Dublettenpaares plissement/plissage (‘Faltenbildung/Faltung’) darauf hingewiesen, dass aus der durch -age eingef¨uhrten Prozessperspektive aus Gr¨unden der pragmatischen Angemessenheit selten auf ntm-Ereigniskomplexe Bezug genommen wird. Wie rein inchoative Zustandswechselverben werden also auch ntm- und cbpVerben kaum durch -age nominalisiert, weil die Thematisierung der Eigenschaften des Geschehnistr¨agers selten diskursiv ad¨aquat ist. Ebenso wie in den vorigen Abschnitten bzw. in Abschnitt 3.3.4 best¨atigt sich diese Generalisierung dadurch, dass die entsprechenden -ment-Nomina ausschließlich auf resultierende Zust¨ande oder abgeschlossene Ereignisse Bezug nehmen (vgl. (19a.-c.) sowie (21)) und damit eine der Referenzweise von Vergangenheitspartizipien a¨ hnliche Bezugnahme aufweisen. (21)

a. Et sa bouche qui e´ tait a` la hauteur de la mienne, e´ tant donn´e son agenouillement, s’est approch´ee de la mienne. ‘Und ihr Mund, der, da sie kniete, auf der H¨ohe des meinen war, n¨aherte sich meinem an.’ (gouttiere) b. . . . non pas la jetant mais la laissant tomber, desserrant simplement les doigts et se remettant a` observer les grenouilles, parfaitement immobile, dans cette position d’accroupissement simiesque, insensible a` l’´ecoulement du temps, . . . . ‘. . . sie nicht werfend aber sie fallenlassend, lediglich die Finger lockernd und sich wieder der Beobachtung der Fr¨osche zuwendend, vollst¨andig unbeweglich, in dieser affen¨ahnlichen Hockposition, unempfindlich gegen¨uber dem Verstreichen der Zeit, . . . .’ (acacia) c. . . . une souplesse s’´etait communiqu´ee a` leur d´emarche, un sourire dessinait la bouche de la femme, e´ clairait son regard; chez l’homme, le front s’´etait d´egag´e du froncement obstin´e des sourcils; . . . . ‘. . . eine Weichheit hatte sich auf ihre Schritte u¨ bertragen, ein L¨acheln umspielte den Mund der Frau, erhellte ihren Blick; bei dem Mann war die Stirn von dem hartn¨ackigen Stirnrunzeln befreit; . . . .’ (pas)

In Abschnitt 3.3.4 und in den diesem Abschnitt vorangehenden Teilkapiteln wurde weiterhin bereits deutlich, dass die Restringiertheit der -ageNominalisierungen im Bereich von “one-participant” Ereigniskomplexen aufgrund ihrer pragmatischen Natur allerdings nur tendenziell ist. So konnte bereits wiederholt f¨ur verschiedene Verbgruppen sowie am Beispiel von plissage gezeigt werden, dass auch Basisverben, die im obigen Sinne als resultatsbezogen

159 einzustufen sind, dann mittels -age nominalisiert werden, wenn der Sprecher die Prozesskomponente in den den Mittelpunkt des Diskurses stellen m¨ochte. Zusammen mit den Beispielen unter (10) aus Abschnitt 3.1.3 und (14) aus Abschnitt 4.2.1 weisen die Beispiele unter (22) darauf hin, dass diese M¨oglichkeit nicht auf spezifische Nominalisierungen beschr¨ankt ist, sondern in den verschiedenen Ableitungsbereichen generell zur Verf¨ugung steht. (22)

a. Pourquoi tu me griffes? . . . Tu vas arrˆeter de me griffer, oui? C’´etait un griffage minuscule. Pas de m´echancet´e. De raccrochage - Tu te prends pour qui? Pour le lion de Belfort? Je me prenais pour aucun lion. . . . Je voulais juste qu’on . . . . ‘Warum kratzt du mich? . . . Du wirst aufh¨oren, mich zu kratzen, ja? Es war ein winziger Kratzer. Nicht aus Boshaftigkeit. [Sondern] zum Anklammern - Du h¨alst Dich f¨ur wen? F¨ur den L¨owen von Belfort? Ich hielt mich f¨ur keinen L¨owen. . . . Ich wollte nur, dass man . . . ’ (gouttiere) b. merci bcp a tous pour ces conseils. @Devil Killer: . . . j’avai pas calculer du tout le coup des courbatures aux cuisses a coz du rampage et de l’accroupissage! jle sorai pr la prochaine fois! ‘Vielen Dank f¨ur die ganzen Ratschl¨age. @Devil Killer: . . . ich hatte den Muskelkater in den Schenkeln durch das Sich-Anschleichen und das Hocken u¨ berhaupt nicht bedacht! Das n¨achste Mal weiß ich es!’ (http://www.franceairsoft.fr/forum/lofiversion/index.php/t3709.html 13.01.10) c. Un v´eritable duo de dieux infernaux se pourchassant bientˆot l’un l’autre sous forme d’un e´ talon galopant, d’un poisson, de serpents ou d’insectes volants. “Brahma, please. Stop it!”, supplie bientˆot la d´eesse Shiva, fronc¸age de sourcils et roulades d’yeux surlign´es d’un trait de kˆohl a` l’appui. ‘Ein wahrhaftes Duo teuflischer G¨otter, die sich bald gegenseitig in Form eines galoppierenden Hengstes, eines Fisches, in Form von Schlangen oder fliegenden Insekten jagen. ‘Brahma, please. Stop it!’ fleht bald darauf die G¨ottin Shiva, Runzeln der Augenbrauen und Rollen der mit einem Kohlestrich unterlegten Augen zur Betonung.’ (http://imagesetmusiques.free.fr/nathalieleboucher.html 15.10.2009)

¨ Ahnlich wie die entsprechenden Beispiele in Kapitel 3.3.4 und Abschnitt 4.2.1 sind jedoch auch Beispiele wie (22a.-c.) marginale Erscheinungen, weil eine Topikalisierung des Geschehnistr¨agers bzw. eine Thematisierung der Prozesskomponente im Zusammenhang mit reifizierten ntm- und cbp-Ereigniskomplexen selten diskursiv ad¨aquat ist. Es wird deutlich, dass auch die -ment- und -age-Nominalisierungen von +CH ba-Verben den in den Abschnitten 4.2.1– 4.2.3 gezeigten Kontrast reproduzieren: Die resultativen -ment-Nomina bieten sich insbesondere zur Bezugnahme auf ntm- und cbp-Ereigniskomplexe an, weil sie die Resultatszustandseigenschaft des Geschehnisbetroffenen in den Diskurs

160 einf¨uhren. Die prozessausgerichteten -age-Nominalisierungen bieten sich dagegen an, um auf die Prozesskomponente von gro-Ereigniskomplexen Bezug zu nehmen, da sie die den aspektuell unmodifizierten Basisverben inh¨arente Topikalisierung des Geschehnistr¨agers beibehalten. Wenn allerdings die Ereignisteilhabe des Geschehnistr¨agers in den Mittelpunkt des Diskurses gestellt werden soll, werden auch im ntm- und cbp-Bereich -age-Nominalisierungen verwendet. Auch diese Daten best¨atigen also die in Kapitel 3 vorgeschlagene Analyse von -ment und -age, nach welcher -ment die an den Geschehnisbetroffenen zugeschriebene Resultatszustandsteilhabe reifiziert, wohingegen -age im Zuge der Reifizierung die den Basisverben inh¨arente Topikalisierung des Geschehnistr¨agers fixiert.

4.3

Dynamische Basen ohne Zustandswechsel

Entsprechend der Vorgehensweise im vorigen Abschnitt sollen im Folgenden die f¨ur den −CH-Bereich typischen Unterschiede zwischen den -ment- und -ageNominalisierungen des untersuchten Korpus anhand von charakteristischen Unterklassen vorgestellt werden. So werden in Abschnitt 4.3.1 die -ment- und -ageNominalisierungen von Verben f¨ur Aktivit¨aten mit Emission als Beiprodukt (−CH act+em) kontrastiert. Abschnitt 4.3.2 stellt die -ment-Nominalisierungen von reinen Emissionsverben (−CH em) vor und gibt eine Erkl¨arung f¨ur die weitestgehende Nicht-Existenz von -age-Nominalisierungen in diesem Bereich. Abschnitt 4.3.3 vergleicht die -ment- und -age-Nominalisierungen von Verben f¨ur sogenannte homogene Aktivit¨aten (−CH act). Abbildung 4.7 zeigt die Anteile der -ment- und -age-Nominalisierungen der entsprechenden Verbklassen gemessen an der Gesamtzahl der im Korpus f¨ur das jeweilige Suffix attestierten −CHTypes (d.h. 145 -ment-Types und 34 -age-Types, vgl. Abschnitt 4.1.3). Auff¨allig ist, dass -age-Nomina laut dieser Abbildung vor allem zur Bezeichnung homogener Aktivit¨aten verwendet werden, wohingegen -ment-Nomina in erster Linie im Emissionsbereich vertreten sind.

4.3.1

Verben f¨ur Aktivit¨aten mit Emission als Beiprodukt

Verben f¨ur Aktivit¨aten mit Emission als Beiprodukt bezeichnen Prozesse, die eine Emission audibler, visibler oder taktiler Reize zur Folge haben. Beispielsweise bezeichnet aboyer (‘bellen’) einen Prozess, der von einem spezifischen Ger¨ausch begleitet wird, w¨ahrend der mit pincer (‘kneifen, pieksen’ u.a.) bezeichnete Prozess einen spezifischen taktilen Reiz hervorbringt. In Anlehnung an das Konzept des Ereigniskomplexes von Moens & Steedman (1988) basiert

161

Abbildung 4.7: Anteile der -ment- und -age-Types von Verben f¨ur homogene Aktivit¨aten (−CH act), Verben f¨ur Aktivit¨aten mit Emission als Beiprodukt (−CH act+em) und reinen Emissionsverben (−CH em) an −CH -ment- bzw. -age-Nominalisierungen im synchronen FRANTEXT-Korpus

die folgende Untersuchung auf der Annahme, dass die von den hier angesprochenen Verben bezeichneten Ereigniskonzepte insofern komplex sind, als sie sich aus einer Emissionsprozesskomponente und einer Emissionsproduktkomponente zusammensetzen, die vom Sprecher als kausal zusammengeh¨orig konzeptualisiert werden. Diese Beschreibung bietet sich insbesondere f¨ur Tierlautemissionsverben wie aboyer und f¨ur Verben der menschlichen Rede wie hurler (‘schreien’ u.a.) an. In der vorliegenden Arbeit werden allerdings auch alle weiteren Aktivit¨aten zu dieser Gruppe gerechnet, welche in irgendeiner Weise zu einer Reizemission f¨uhren, wie z.B. e´ ternuer (‘niesen’), laper (‘schlabbern’), grignoter (‘knabbern’ u.a.) oder auch racler (‘kratzen’), da die entsprechenden -ment-Nominalisierungen bis auf wenige Ausnahmen augenscheinlich alle ausschließlich auf die audiblen, visiblen oder taktilen Emissionsprodukte Bezug nehmen, die mit den entsprechenden Prozessen bzw. Aktivit¨aten verbunden sind (vgl. auch die entsprechenden Hinweise in Kapitel 3.3.3). Die hier untersuchte Klasse beinhaltet sowohl intransitive wie transitive Verben, wobei f¨ur die intransitiven Verben charakteristisch ist, dass der Subjektreferent den Geschehnistr¨ager repr¨asentiert und nicht als Geschehnisbetroffener des Ereigniskomplexes konzeptualisiert werden kann (vgl. aboyer, hurler, e´ ternuer etc.), was diese Pr¨adikate als ‘unergative’ Verben ausweist. Die transitiven Verben zeichnen sich durch die tendenziell geringe Salienz des Geschehnisbetroffenen aus, die darauf zur¨uckzuf¨uhren ist, dass die vom Geschehnistr¨ager ausge¨ubte Aktivit¨at bzw. die

162 Art und Weise der Aus¨ubung im Vordergrund steht (vgl. laper, racler, grignoter usw.).24 Wie Abbildung 4.7 zeigt, zeichnen sich die -ment-Nomina in diesem Bereich durch eine im Vergleich zu -age auffallend hohe Typefrequenz aus. Die -ment-Tokens lassen sich nach der Art ihrer Referenten in Bezeichnungen f¨ur audible, taktile und visible Reize einteilen, wobei die bereits in Kapitel 3.3.3 angedeutete spezifisch resultative Interpretation der -ment-Nomina in allen Untergruppen eindeutig durch den sprachlichen Kontext angezeigt wird. Die Bezeichnungen f¨ur audible Reize, die mit 213 von insgesamt 271 Tokens die gr¨oßte Gruppe der entsprechenden Nominalisierungen bilden, kookkurrieren beispielsweise in 94 F¨allen mit Wahrnehmungsverben wie entendre (‘h¨oren’, 29x), percevoir (‘wahrnehmen’, 10x), eˆ tre alert´e par . . . (‘gewarnt werden durch . . . ’) oder a¨ hnlichen Kontexten, welche sich auf die Wahrnehmung des von der -mentNominalisierung bezeichneten Ger¨auschs beziehen (23a.). In weiteren 29 Beispielen kookkurriert die -ment-Nominalisierung mit einem Emissionsverb wie pousser (‘ausstoßen’, 7x), e´ mettre (‘von sich geben’, 7x) o.¨a., welches zur Bezeichnung des Emissionsprozesses dient (23b.). In 55 F¨allen erscheint die -mentNominalisierung mit Pr¨apositionen wie apr`es (‘nach’), au-dessus de (‘¨uber’), autour de (‘um herum’), avec (‘mit’, 11x), dans (‘in’, 9x), mit Verben wie remplir (‘ausf¨ullen’) und accompagner (‘begleiten’) oder in a¨ hnlichen Kontexten, die darauf hindeuten, dass die -ment-Nominalisierungen Hintergrundger¨ausche ¨ beschreiben (23c.). In 17 Beispielen wird die gegenseitige Uberlagerung von Ger¨auschen beschrieben, wobei die -ment-Nomina mehrheitlich mit Verben wie se m´elanger, se mˆeler (‘sich mischen’), se confondre (‘verschmelzen’ u.a.) etc. kookkurrieren (23d.). In weiteren 9 F¨allen werden die -ment-Nomina schließlich verwendet, um die Art eines Ger¨auschs zu beschreiben, was durch die Kookkurrenz der Nominalisierungen mit den Pr¨apositionen comme (‘wie’, 4x) und une sorte de . . . (‘eine Art . . . ’, 3x) angezeigt wird (23e.). (23)

a. Kontext I: Wahrnehmung (94x) Je compris rapidement que ce ronronnement, personne d’autre que moi ne l’entendait. ‘Ich verstand schnell, dass keiner außer mir dieses Surren h¨orte.’ (chasseur) Je perc¸us alors le bruit des pas. D’abord, le claquement des talons sur l’argile humide de la berge, puis, le tambourinement sur le bois d’une passerelle. ‘Dann nahm ich den L¨arm der Schritte wahr. Zuerst das Geklapper der Abs¨atze auf den feuchten Ziegeln des Ufers, dann das Getrommel auf dem Holz einer Fußg¨angerbr¨ucke.’ (testament)

24

Letzteres gilt zumindest in den f¨ur die -ment-Nominalisierungen einschl¨agigen Lesarten (s.u.).

163 b. Kontext II: Emission (29x) Il poussa en mˆeme temps que lui un petit g´emissement aigu ‘Er stieß zur selben Zeit wie jener ein kleines, schrilles Wimmern aus.’ (classe) Charles e´ mit un sifflement: - Tr`es fort le bonhomme! ‘Charles stieß einen Pfiff aus: - Nicht schlecht, der Kerl!’

(horde)

c. Kontext III: Hintergrundger¨ausche (55x) Je poussai la porte. Un courant d’air agita avec un claquement mat les battants d’une fenˆetre ouverte. ‘Ich stieß die T¨ur auf. Ein Luftzug schwenkte mit einem dumpfen Klacken die Fl¨ugel eines ge¨offneten Fensters.’ (testament) Ils m’aperc¸urent. “Frantsouz! Frantsouz . . . ”, ce chuchotement m’accompagna un moment, puis s’effac¸a dans la premi`ere vague de la musique. ‘Sie bemerkten mich. “Frantsouz! Frantsouz . . . ”, dieses Tuscheln begleitete mich einen Moment lang, dann verwischte es sich in der ersten Welle der Musik.’ (testament) ¨ d. Kontext IV: Uberlagerung (17x) Un jour, je fus e´ veill´e par des bruits de voix montant du jardin qui se mˆelaient aux murmures d’un jet d’eau et au grattement paisible d’un rˆateau sur le sable des all´ees. ‘Eines Tages wurde ich durch Stimmen geweckt, die aus dem Garten aufstiegen und sich mit dem Pl¨atschern einer Wasserfont¨ane und dem friedlichen Kratzen eines Rechens auf dem Sand der Alleen mischten.’ (medianoche) Ma cuill`ere tremble dans ma main. Qu’il s’arrˆete, mon Dieu, faites qu’il s’arrˆete! Dix fois je vais parler, dix fois un lapement m’arrˆete. ‘Mein L¨offeln zittert in meiner Hand. Er soll aufh¨oren, mein Gott, sorgt daf¨ur, dass er aufh¨ort! Zehnmal werde ich sprechen, zehnmal h¨alt mich ein Schlabbern auf.’ (chasseur) e. Kontext V: Art (9x) [L]e brigadier entendit le bruit: imm´emorial, . . . insidieux, comme un l´eger grignotement de rat, un gr´esillement qui . . . . ‘Der Brigadef¨uhrer h¨orte das Ger¨ausch: . . . hinterlistig, wie das leise Knabbern einer Ratte, ein Rauschen, das . . . .’ (acacia) Tout d’un coup j’entends un petit souffle, une cr´ecelle pour ainsi dire a` cˆot´e, une sorte de ricanement e´ touff´e. ‘Pl¨otzlich h¨ore ich nebenan einen Atemzug, ein Rasseln sozusagen, eine Art unterdr¨ucktes Kichern.’ (lyc´een)

164 Die u¨ brigen 8 der 213 -ment-Tokens von Verben f¨ur Aktivit¨aten mit audiblen Emissionen als Beiprodukt k¨onnen zwar nicht in die unter (23) entworfene Kategorisierung eingeordnet werden und sind zudem eventiv zu interpretieren. Auff¨allig ist allerdings, dass diese Nominalisierungen den vom Basisverb bezeichneten Prozess unabh¨angig vom Geschehnistr¨ager pr¨asentieren. Das heißt, wenn im +CH act-em-Bereich eine -ment-Nominalisierung kontextbedingt eventiv interpretiert wird, macht sich die durch -ment geleistete Umperspektivierung des Basisereignisses a¨ hnlich wie beim unpers¨onlichen Passiv oder in Pr¨asentativkonstruktionen durch die bloße Enttopikalisierung des Geschehnistr¨agers und die damit einhergehende nicht-agentivische Interpretation des Basisereignisses bemerkbar (vgl. hierzu die Beispiele unter (24) sowie die entsprechenden Hinweise zur Enttopikalisierung des Geschehnistr¨agers in Pr¨asentativkonstruktionen und beim unpers¨onlichen Passiv in Abschnitt 3.2.2). (24)

a. Bertrand s’´eclipse, s’en revient un e´ pais lainage a` la main. “Mettez c¸a sur vos e´ paules: un simple e´ ternuement, mon chˆateau est si fragile!” ‘Bertrand verschwindet, kehrt unverrichteter Dinge mit einem dicken Wollstoff in der Hand zur¨uck. ‘Legt euch das auf die Schultern: ein einfaches Niesen, mein Schloss ist so zerbrechlich” (greniers) b. Ainsi, j’apprenais, par cette tr`es br`eve missive, que j’avais eu raison. Mais pourquoi, soudain, cet emballement du cœur, ce hal`etement, cette agitation qui frˆolait l’ivresse? ‘Durch diesen kurzen Brief erfuhr ich also, dass ich Recht gehabt hatte. Aber warum pl¨otzlich diese u¨ berschw¨angliche Begeisterung, dieses Japsen, diese Aufregung, die schon fast an einen Rausch grenzte?’ (pas)

Die oben beschriebene Systematik wiederholt sich im Bereich der Basisverben f¨ur Aktivit¨aten mit visiblen und taktilen Emissionsprodukten, wobei die -ment-Nominalisierungen im ersteren Bereich am h¨aufigsten Zeichen (9x, vgl. 25a.), Wahrnehmungsgegenst¨ande (7x, vgl. 25b.) und Hintergrundger¨ausche (5x, vgl. 25c.), im letzteren Bereich haupts¨achlich Wahrnehmungsgegenst¨ande (18x, vgl. 25d.) und Hintergrundger¨ausche (4x, vgl. 25e.) bezeichnen. (25)

a. J’aurais pu lui faire un petit signe, un clignement pour l’en remercier. ‘Ich h¨atte ihm ein kleines Zeichen geben k¨onnen, ein Zwinkern, um ihm zu danken.’ (gouttiere) b. [Je] me retiens sur le balcon plus d’une heure, excit´e par la d´ebauche d’´energie insens´ee, le bouillonnement de la cuve blanche qui crachote ses geysers saliveux . . . . ‘Ich bleibe l¨anger als eine Stunde auf dem Balkon, erregt durch Orgie der sinnfreien Energie, das Sprudeln des weißen Bottichs, der seine Font¨ane ausspuckt . . . .’ (chemin) c. Il e´ tait impressionn´e de l’assurance avec laquelle Maxime Ribotton, d’ordinaire apathique, traitait de ces questions. “Des monstres!” r´ep´etait-il avec un ricanement f´eroce, comme si . . . .

165 ‘Er war beeindruckt von der Selbstsicherheit mit der Maxime Ribotton, der f¨ur gew¨ohnlich apathisch war, seine Fragen behandelte.“Monster!”, wiederholte er mit einem wilden Gekicher, so als ob . . . .’ (classe) d. Elle percevait le chatouillement d’une goutte qui glissait sous l’oreillette de sa chapka, et le battement de son cœur, . . . . ‘Sie sp¨urte das Kribbeln eines Tropfens, der an der Ohrenklappe ihrer Kosakenm¨utze hinabglitt, und das Schlagen ihres Herzens, . . . .’ (testament) e. Comme quand on r`egle une lorgnette, que . . . , elle vit celui avec qui elle avait v´ecu si longtemps; et, avec un pincement d’amertume, elle dut admettre qu’il e´ tait charmant. ‘Wie wenn man ein Opernglas einstellt, das . . . , sah sie denjenigen, mit dem sie so lange zusammengelebt hatte; und mit einem Stich der Bitterkeit musste sie zugeben, dass er liebenswert war.’ (œufs)

Die Daten lassen also keinen Zweifel an der Resultativit¨at bzw. unpers¨onlichen Referenzweise der -ment-Nominalisierungen; dies zumal sich die oben beschriebene Systematik der Vorkommenskontexte im Bereich der Tierlautemissionsverben und der Verben f¨ur menschliche Rede fortsetzt. So zeichnen sich die 61 ausschließlich resultativen -ment-Tokens von Tierlautemissionsverben mit 23 Beispielen insbesondere durch die h¨aufige Kookkurrenz mit Emissionsverben aus (26a.). In weiteren 18 Beispielen wird die resultative Perspektive der Nominalisierungen durch die Kookkurrenz mit einem Wahrnehmungsverb angezeigt (26b.). Die restlichen 21 der 62 -ment-Tokens von Tierlautemissionsverben lassen sich ebenfalls den verbleibenden unter (23) aufgef¨uhrten Vorkommenskon¨ texte, d.h. Hintergrundger¨ausch (7x, (26c.)), Uberlagerung (1x, (26d.)) und Art (13x, (26e.)), zurechnen: (26)

a. Flairant le cheval royal, le tarpan fit entendre un hennissement de contentement. ‘Als er das k¨onigliche Pferd gewittert hatte, ließ der Tarpan ein Wiehern der Zufriedenheit h¨oren.’ (horde) b. On n’entendait pas d’autre bruit, dans ce s´eduisant bout-du-monde, que le meuglement des vaches laiti`eres et le froissement de la petite brise de mer dans les peupliers. ‘Man h¨orte an diesem bezaubernden Ende der Welt kein anderes Ger¨ausch als das Muhen der Milchk¨uhe und das Rascheln des leichten Seewindes in den Pappeln.’ (chemin) c. Enfin je retrouvai avec un rugissement de triomphe la lettre de Bertet dans le manuscrit d’un roman commenc´e, abandonn´e, repris, puis d´efinitivement oubli´e. ‘Schließlich fand ich mit einem Triumphschrei den Brief von Bertet in dem Manuskript eines angefangenen, aufgegeben, wieder aufgenommen . . . Romans wieder.’ (medianoche)

166 d. . . . cette nouvelle qualit´e de silence, . . . encore ponctu´e de loin, derri`ere lui, par l’appel du coucou domin´e maintenant par un cacophonique et t´enu p´epiement d’oiseaux a` travers lequel . . . . ‘. . . diese neue Qualit¨at der Stille, . . . noch interpunktiert, hinter ihm, durch den Ruf des Kuckucks, der nun durch ein kakophonisches und schwaches Vogelpiepsen dominiert wird, durch welches . . . .’ (acacia) e. Le type a cri´e, comme un couinement de souris, et est tomb´e a` genoux. ‘Der Kerl hat geschrien, wie das Fiepen einer Maus, und ist auf die Knie gefallen.’ (clef)

Ganz a¨ hnlich bezeichnen schließlich auch die 28 resultativen Beispiele der insgesamt 32 -ment-Tokens von Verben f¨ur menschliche Rede Wahrnehmungsgegenst¨ande (12x, (27a.)), von Menschen emittierte Ger¨ausche (4x, (27b.)), Hintergrundger¨ausche (10x, (27c.)) und sich u¨ berlagernde Ger¨ausche (2x, (27d.)):25 (27)

a. Mais je ne sentis rien, absolument rien jusqu’au moment o`u le hurlement du chasseur fondit sur moi. ‘Aber ich f¨uhlte nichts, u¨ berhaupt nichts bis zu dem Zeitpunkt als das Geschrei des J¨agers mich erreichte.’ (chasseur) b. Tout a` coup, Gontran poussa un hurlement de joie. ‘Pl¨otzlich stieß Gontran einen Freudenschrei aus.’

(horde)

c. Tous les bruits me parlaient du chasseur. Tous les bruits portaient en puissance le hurlement du chasseur. O`u me cacher? ‘Alle Ger¨ausche erz¨ahlten mir von dem J¨ager. Alle Ger¨ausche verst¨arkten da Geschrei des J¨agers. Wo sollte ich mich verstecken?’ (chasseur) d. La terre vibrait sous cette galopade, et une trompette sonna pour se mˆeler au gueulement des hussards. ‘Die Erde bebte unter diesem Galopp, und eine Trompete ert¨onte, um sich mit dem Gebr¨ull der Husaren zu mischen.’ (bataille)

Was die vereinzelten -age-Nominalisierungen von Verben f¨ur Aktivit¨aten mit Emission als Beiprodukt anbelangt, ist zun¨achst einmal interessant, dass 8 der insgesamt 9 Types bzw. 27 von 50 Tokens von Verben f¨ur menschliche Rede abgeleitet sind. Von diesen 27 Tokens beziehen sich 20 auf den durch das Basisverb bezeichneten Prozess (28a.-f.). In 7 Beispielen ist die Bedeutung der -ageNominalisierung vom Prozess auf den Inhalt der vom Basisverb bezeichneten menschlichen Rede verschoben (28g.-h.). (28)

25

a. Dans l’entreprise de nettoyage, mes coll`egues s’´etonnaient de ce qu’avec mon aptitude au bavardage, je ne me lance pas plutˆot dans une carri`ere de repr´esentant de commerce.

Die vier eventiven Beispiele zeichnen sich erneut durch eine nicht-agentivische bzw. nicht-prozessuale Perspektive aus und sind somit analog zu den unter (24) illustrierten Vorkommen zu analysieren.

167 ‘In der Reinigungsfirma wunderten sich meine Kollegen dar¨uber, dass ich mich mit meiner Eignung f¨ur das Schwatzen nicht eher auf eine Karriere als Handelsvertreter konzentrierte.’ (medianoche) b. Rires. Rideau. Apr`es quoi vient le tour de Jeff, cinq minutes de bafouillage et de cafouillage. “Ton spectacle e´ tait magnifique.” ‘Gel¨achter. Vorhang. Und danach ist Jeff an der Reihe, f¨unf Minuten Gestammel und Durcheinander. ‘Deine Vorstellung war hervorragend’.’ (secret) c. Le lieutenant se recoupa une e´ paisse tranche de terrine et continua son bavardage: . . . . ‘Der Oberleutnant schnitt sich eine dicke Scheibe von der Pastete ab und setzte sein Geschwafel fort: . . . .’ (bataille) d. Apr`es le caquetage des adieux, un air d’absence environne les pr´esents; .... ‘Nach dem mit den Abschieden verbundenen Geschw¨atz umgibt die Anwesenden ein Klima der Abwesenheit; . . . .’ (pas) e. J’arrˆete l`a, monsieur le juge, le persiflage sur moi-mˆeme. ‘Hier beende ich, Herr Richter, die Verspottung meiner selbst.’ (puissance) f. Et pourquoi tant de disgrˆace a` bˆabord comme a` tribord. Pourquoi donc ce face a` face Sans aˆ me au-del`a du corps? Ne m’accus’ pas de radotage. ‘Weshalb also dieses Streitgesp¨ach. Ohne Seele jenseits des K¨orpers? Beschuldige mich keiner Schwafelei.’ (chansons) g. Pusillanime je n’´ecoutais que d’une oreille inattentive . . . c¸a me paraissait du radotage, ces histoires fl´etries . . . . ‘Zaghaft h¨orte ich nur mit einem unaufmerksamen Ohr hin . . . dies schien mir Geschw¨atz zu sein, diese verblichene Geschichten . . . .’ (enfance) h. On reconnaˆıt imm´ediatement l’auteur. Ce n’est pas comme vos satan´es bouquins qui ne sont qu’un immense bavardage. ‘Man erkennt den Autor sofort. Es ist nicht wie mit euren verfluchten Schm¨okern, die nichts weiter als immenses Geschw¨atz sind.’ (cœur)

Die verbleibende -age-Nominalisierung ist tapage (‘L¨arm, Spektakel’), deren Basisverb taper (‘klatschen, schlagen’ u.a.) wie laper (‘schlabbern’) oder grignoter (‘knabbern’ u.a.) den allgemeinen Verben f¨ur Aktivit¨aten mit Emission als Beiprodukt zuzurechnen ist. Das Korpus enth¨alt somit keine -age-Nominalisierung von Tierlautemissionsverben. Was die 23 tapage-Tokens anbelangt, so weisen diese allerdings u¨ berwiegend resultative Lesarten auf und k¨onnten zun¨achst als Gegenevidenz zu der hier intendierten Analyse aufgefasst werden, da sie sich auf die durch den Basisprozess verursachten Effekte zu beziehen scheinen und in a¨ hnlichen Kontexten vorkommen wie die oben beschriebenen

168 -ment-Nominalisierungen. Allerdings lassen die Korpusdaten weiterhin erkennen, dass sich tapage in den einschl¨agigen Beispielen immer auch auf den zu den Ger¨auschen f¨uhrenden Prozess bezieht (vgl. 29a.-d.). Auff¨allig ist zudem, dass die Nominalisierungen in keinem Fall mit Wahrnehmungsverben wie entendre (‘h¨oren’) oder percevoir (‘wahrnehmen’) kookkurrieren, wohingegen sich die entsprechenden -ment-Nominalisierungen wie oben betont insbesondere durch ihre h¨aufige Kookkurrenz mit eben diesem Verbtyp auszeichnen. Diese Umst¨ande deuten darauf hin, dass die mehrheitlich nicht-eventiven tapageBeispiele auf einer metonymischen Verschiebung vom Prozess zu deren (unspezifischen) Nebeneffekten beruhen, welche durch die konzeptuelle Kontingenz dieser beiden Konzepte erm¨oglicht wird, welche aber durch die abstrakte Bedeutung des Suffixes nicht besonders beg¨unstigt wird. 26 (29)

a. . . . peu a` peu l’effroyable tapage de ses organes s’apaisait par degr´es [et] il recommenc¸ait a` entendre les bruits menus de la forˆet . . . . ‘. . . nach und nach beruhigte sich schrittweise das entsetzliche Spektakel seiner Organe und er begann, die zarten Ger¨ausche des Waldes wieder zu h¨oren . . . .’ (acacia) b. Les marches menaient a` une assez vaste cave aux voˆutes tr`es basses . . . . Un monsieur rondelet, fris´e, p´etillant, nous y accueille avec tapage; il regorge de potins et de rires impatients que de sa main potel´ee il s’empresse d’´etouffer. . . . ‘Die Stufen f¨uhrten in einen recht weitl¨aufigen Keller mit niedrigen Gew¨olben . . . . Ein rundlicher, kraushaariger, u¨ berspr¨uhender Herr empf¨angt uns dort mit Spektakel; er offeriert in H¨ulle und F¨ulle Klatsch und ungeduldiges Gel¨achter, das er mit seiner f¨ulligen Hand eifrig zu unterdr¨ucken versucht.’ (pas) c. Finalement . . . les deux fr`eres sont oblig´es de rentrer en France sans tapage. ‘Schließlich . . . sind die beiden Br¨uder gezwungen, ohne Spektakel nach Frankreich zur¨uckzukehren.’ (lyc´een) d. Et tout d’un coup, quel tapage! Tout le monde entraˆın´e par une inclination occulte essaie de se faire place au premier rang; . . . . ‘Und pl¨otzlich, was f¨ur ein Spektakel! Von einem geheimnisvollen Bestreben mitgerissen versuchen alle, sich einen Platz in der ersten Reihe zu verschaffen; . . . .’ (pas)

26

In diesem Zusammenhang ist an die Erl¨auterungen zur Ausbildung von Resultatslesarten in Abschnitt 4.1.4 zu erinnern, wo betont wurde, dass -ment- und -ageNominalisierungen gelegentlich u¨ ber verschiedene Interpretationsprozesse zu denselben resultativen Lesarten gelangen. In Anbetracht der Tatsache, dass die -ment- und -age-Nominalisierungen allerdings auch in dem hier untersuchten Bereich insgesamt gesehen komplement¨ar verteilt sind, zeigt sich am Beispiel von tapage erneut die Unabdingbarkeit von exhaustiven Korpusuntersuchungen f¨ur die semantische Analyse von Ereignisnominalisierungssuffixen.

169 Die oben beschriebenen -ment- und -age-Nominalisierungen von Verben f¨ur Aktivit¨aten mit Emission als Beiprodukt lassen sich folgendermaßen in den in Kapitel 3 entwickelten Analyseansatz integrieren. Was zun¨achst die qualitativen Unterschiede anbelangt, so folgt die Prozessausgerichtetheit der -age-Nominalisierungen in (28a.-f.) direkt aus dem Umstand, dass -age die den Basisverben inh¨arente Topkalisierung des Geschehnistr¨agers beibeh¨alt und -age-Nominalisierungen infolge dessen die Ereignisteilhabe des Geschehnistr¨agers thematisieren. Der Umstand, dass die wenigen resultativen -ageNominalisierungen im Bereich der menschlichen Rede nicht auf das durch das Basisereignis verursachte Ger¨ausch, sondern auf den Inhalt der Rede Bezug nehmen, ist ein Hinweis darauf, dass sich die resultative Lesart wie bei tapage und den unter Abschnitt 4.2.1 beschriebenen resultativen -age-Nomina durch eine metonymische Verschiebung ergibt, wobei die f¨ur die Verschiebung n¨otige Kontiguit¨atsrelation in diesem Fall durch die konzeptuelle N¨ahe zwi¨ schen dem Verlautbaren einer Außerung und deren Inhalt sichergestellt ist, ohne dass die Ausbildung der resultativen Lesarten in besonderer Weise durch die abstrakte Bedeutung des Suffixes beg¨unstigt worden w¨are (vgl. dazu erneut die Hinweise u¨ ber die Ausbildung von Resultatslesarten bei -age- und -mentNominalisierungen in Abschnitt 4.1.4). Die -ment-Nominalisierungen sind weitestgehend komplement¨ar zu den -ageNominalisierungen distribuiert. Sie bezeichnen nur in seltenen F¨allen den Emissionsprozess, in keinem Fall den Inhalt menschlicher Rede. Die Systematizit¨at, mit der die -ment-Nominalisierungen das aus dem Emissionsprozess resultierende Emissionsprodukt bezeichnen, und der beachtliche Unterschied zu den gelegentlichen Bedeutungsverschiebungen der -age-Nomina legen nahe, dass der zu den resultativen -ment-Nomina f¨uhrende Interpretationsprozess nicht mit demjenigen vergleichbar ist, welcher zu den vereinzelten resultativen -ageNominalisierungen f¨uhrt. Die obigen Daten weisen vielmehr darauf hin, dass die resultativen -ment-Nomina durch die spezifische Bedeutung des Suffixes (mit)determiniert werden, indem -ment in diesem Bereich eine Resultatszustandseigenschaft reifiziert, die keinem Geschehnisbetroffenen zugeschrieben werden kann, da im Zusammenhang mit den entsprechenden Ereigniskomplexen kein (salienter) Geschehnisbetroffener konzeptualisiert wird. Gem¨aß den Ausf¨uhrungen in Abschnitt 3.2.2 folgt daraus, dass die -ment-Nominalisierung in diesem Bereich zu einer bloßen Enttopikalisierung des Geschehnistr¨agers und damit einhergehend zu einer nicht-agentivischen Interpretation f¨uhrt, welche hinsichtlich der Herabstufung (‘demotion’) des Subjektreferenten in etwa mit unpers¨onlichen Passivkonstrukturen wie Es wird getanzt, oder auch mit Pr¨asentativkonstruktionen wie Ha telefonato Gianni (‘Es hat Giovanni angerufen’) vergleichbar ist (f¨ur n¨ahere Erl¨auterungen vgl. erneut Abschnitt 3.2.2). Diese Analyse ist direkt auf die entsprechenden eventiven -ment-Nominalisierungen im Korpus anwendbar, f¨ur welche oben bereits erl¨autert wurde, dass sie

170 sich a¨ hnlich wie unpers¨onliche Passivkonstruktionen und Pr¨asentativkonstruktionen durch eine nicht-agentivische Interpretation auszeichnen (vgl. die Beispiele unter (24) samt den entsprechenden Erl¨auterungen). Die a¨ ußerst frequente resultative Interpretation der entsprechenden -ment-Nomina kann im Rahmen dieses Ansatzes auf den Umstand zur¨uckgef¨uhrt werden, dass im Zuge der durch das Suffix eingef¨uhrten resultativen und nicht-agentivischen Perspektivierung gewissermaßen die Resultatszustandseigenschaften der Situationen an sich in den Mittelpunkt ger¨uckt werden und dass es sich im Kontext von Emissionssituationen (wie bellen etc.) dabei um die audiblen u.a. Reize handelt, welche im Zuge des Emissionspozesses emittiert werden (d.h. das Gebell etc.). Die ment-Nominalisierungen im Bereich der Verben f¨ur Aktivit¨aten mit Emission als Beiprodukt sollen hier also durch die Annahme in den in Kapitel 3 entwickelten Analyseansatz integriert werden, dass -ment die Betrachtungsperspektive auch im Bereich der unergativen Verben auf eine resultative Komponente verschiebt und dass die u¨ berwiegend auf das Emissionsprodukt bezogene Interpretation der -ment-Nominalisierungen durch die perspektivische Verschiebung auf die von Ereignispartizipanten unabh¨angigen Resultatszustandseigenschaften zustande kommt, welche die Sprecher f¨ur gew¨ohnlich mit den entsprechenden Basisereignissen assoziieren.27 Dar¨uber hinaus h¨alt der in Kapitel 2 und 3 entwickelte semantisch-pragmatische Ansatz zur Analyse von Derivationsaffixen auch einen Erkl¨arungsansatz f¨ur die quantitativen Unterschiede der -ment- und -age-Nominalisierungen im Bereich der Verben f¨ur Aktivit¨aten mit Emission als Beiprodukt bereit. In diesem Zusammenhang ist nochmals hervorzuheben, dass die prozessbezogenen -age-Nomina im Emissionsbereich abgesehen von dem Kontext der menschlichen Rede nur marginal vorhanden sind und zudem durch die “konkurrierende” Konstruktion ‘Emissionsverb + -ment-Nominalisierung’ (vgl. z.B. (26a.)), mit welcher die Sprecher auf den Emissionsprozess Bezug nehmen, ohne eine -ageNominalisierung zu verwenden, weiter eingeschr¨ankt werden. Diese Daten weisen stark darauf hin, dass zumindest in den im FRANTEXT-Korpus enthaltenen Texten eine Bezugnahme auf im Andauern befindliche Emissionsprozesse samt Topikalisierung des Geschehnistr¨agers mit Hilfe einer -age-Nominalisierung f¨ur die Sprecher h¨ochst selten erforderlich ist und dass die Sprecher vielmehr Nominalisierungen ben¨otigen, welche auf das wahrgenommene Ereignis oder Produkt als Ganzes referieren. Dabei ist zu beachten, dass die prozessbezogenen -age-Nominalisierungen in diesem Bereich keinesfalls kategorisch ausgeschlossen sind. So zeigt die 27

In diesem Zusammenhang zeigt sich die Relevanz des von Moens & Steedman (1988) u¨ bernommenen nicht-temporalen Konzepts des Ereigniskomplexes besonders deutlich, denn die obige Analyse beruht auf der Annahme, dass Emissionsprozess und Emissionsprodukt konzeptuell auf der Basis einer kausalen Relation miteinander assoziiert werden.

171 in Abschnitt 4.1.1 vorgestellte Sprecherbefragung, dass alle bis auf eine Sprecherin die Ableitbarkeit verschiedenster -age-Nominalisierungen von Tierlautemissionsverben nicht kategorisch ausschließen, wobei Nominalisierungen wie gazouillage (‘Zwitschern’), couinage (‘Quieken’), miaulage (‘Miauen’) oder aboyage (‘Bellen’) teilweise als “acceptable” (‘akzeptabel’), teilweise als “un ¨ peu bizarre” (‘ein wenig seltsam’) klassifiziert werden. Weiterhin wird des Ofteren betont, dass die -ment-Nomina dem standardisierten Gebrauch entsprechen, wohingegen die -age-Nomina umgangssprachlich sind, pejorative Bedeutungsnuancen tragen oder nur metaphorisch verwendet werden k¨onnen. Derartige Sprecherurteile lassen zwar zun¨achst darauf schließen, dass die in der Literatur im Zusammenhang mit der “Rivalit¨at” von -ment und -age hervorgehobenen Bezeichnungsgruppen zumindest in diesem Kontext entgegen der hier vertretenen Sichtweise doch eine hohe Relevanz haben. Allerdings kann die Aufteilung der -age- und -ment-Nominalisierungen auf die verschiedenen Bezeichnungsgruppen auch in diesem Bereich ebenso auf den Einfluss der unterschiedlichen Bedeutung der Suffixe zur¨uckgef¨uhrt werden: F¨ur die -mentNomina wurde dieser Zusammenhang oben bereits detailliert er¨ortert. Demnach bezeichnen -ment-Nominalisierungen im Bereich der Verben f¨ur Aktivit¨aten mit Emission als Beiprodukt deshalb haupts¨achlich Emissionsprodukte, weil durch die durch -ment eingef¨uhrte Enttopikalisierung des Geschehnistr¨agers die Resultatszustandseigenschaften der Situationen an sich in den Mittelpunkt der Betrachtung ger¨uckt werden, welche wiederum den im Zuge des Emissionsprozesses emittierten audiblen, visiblen oder taktilen Reizen entsprechen. Ganz a¨ hnlich kann die Verwendung der -age-Nomina zur Bezeichnung von pejorativen Handlungen und in metaphorischen Kontexten darauf zur¨uckgef¨uhrt werden, dass speziell in diesen Kontexten Nominalisierungen ben¨otigt werden, welche den Emissionsprozess thematisieren, da in den entsprechenden Kontexten speziell der jeweilige Emissionsprozess verunglimpft bzw. metaphorisiert werden soll. Die hier verfolgte Analyse ersch¨opft sich also nicht wie der analogiebasierte Ansatz in der Beobachtung, dass -ment im Bereich der Tierlautemissionen produktiv ist, w¨ahrend -age h¨aufig in den pejorativen und metaphorischen Kontexten Verwendung findet, sondern sie erm¨oglicht es, diese zwei Einzelph¨anomene auf koh¨arente Weise in das Gesamtbild der -ment/-age-Relation zu integrieren und zudem den Charakteristika der einzelnen Nominalisierungen bzw. deren Verwendung in konkreten Kontexten im Detail gerecht zu werden. Es ist schließlich interessant zu beobachten, dass diejenige Teilnehmerin der in Abschnitt 4.1.1 vorgestellten Sprecherbefragung, welche die Fragen auf dem hier veranschlagten Abstraktionsniveau beantwortet, in Bezug auf den Bedeutungsunterschied zwischen den entsprechenden -age- und -ment-Nominalisierungen am Beispiel der Dubletten gazouillage/gazouillement und aboyage/ aboiement selbst zu der hier vorgeschlagenen Analyse gelangt (vgl. (30a.-b.)).

172 (30)

a. L’aboiement c’est le bruit que j’entends quand le chien donne de la voix. ‘Das ‘aboiement’ ist das Ger¨ausch das ich h¨ore, wenn der Hund Laut gibt.’ L’aboyage, ce serait l’action du chien en train de donner de la voix. ‘Das ‘aboyage’ w¨are die Aktion des Hundes, der dabei ist, Laute zu produzieren.’ b. Si je dis: “J’entends le gazouillement d’un oiseau”, cela signifie que c’est agr´eable et qu’un son m´elodieux frappe mes oreilles. ‘Wenn ich sage: ‘Ich h¨ore das ‘gazouillement’ eines Vogels’, dann bedeutet das, dass es angenehm ist, und dass ein melodischer Klang meine Ohren erf¨ullt.’ Si je dis: “J’entends le gazouillage d’un oiseau”, cela veut dire que je sais qu’il y a un oiseau dans les parages parce que je l’entends. ‘Wenn ich sage: ‘Ich h¨ore das ‘gazouillage’ eines Vogels’, dann bedeutet das, dass ich weiß, dass ein Vogel in der Gegend ist, weil ich ihn h¨ore.’

Derartige Sprecherurteile sind nicht mit der analogiebasierten Erkl¨arung vereinbar, dass -ment-Nominalisierungen im Tierlautemissionsbereich eingesetzt werden, weil es bereits viele -ment-Derivate in dieser Verwendung gibt, wohingegen -age-Nomina in Analogie zu bestehenden pejorativ oder metaphorisch verwendeten Derivaten gebildet bzw. interpretiert werden. Somit wird deutlich, dass der hier vorgeschlagene Ansatz auch im Bereich der Verben f¨ur Aktivit¨aten mit Emission als Beiprodukt eine Beschreibung der Sprachdaten erm¨oglicht, deren Koh¨arenz und Ad¨aquatheit u¨ ber diejenige der bisherigen Ans¨atze hinausgeht, wobei nicht nur die qualitativen, sondern auch die quantitativen Unterschiede innerhalb der einzelnen Untergruppen auf koh¨arente Weise auf die abstrakte Bedeutung der Suffixe zur¨uckgef¨uhrt werden k¨onnen, sofern die semantisch-pragmatische Angemessenheitsbedingung in die Analyse miteinbezogen wird.

4.3.2 Reine Emissionsverben F¨ur die Analyse der Nominalisierungen von reinen Emissionsverben folgt die vorliegende Arbeit Levin & Rappaport-Hovav (1995), Rappaport-Hovav & Levin (1992) sowie Rothmayer (2009) in der Annahme, dass es sich bei reinen Emissionsverben um intransitive ‘unergative’ Verben handelt, deren einziges Argument nur als Geschehnistr¨ager, nicht aber als Geschehnisbetroffener konzeptualisiert werden kann (s.o.). Einschl¨agige Beispiele f¨ur reine Emissionsverben sind craquer (‘knarren’ u.a.), bruire (‘rascheln, rauschen’), scintiller (‘glitzern’)

173 oder clignoter (‘blinken’).28 Wie im Fall anderer homogener intransitiver Verben (z.B. to sleep, to wait, vgl. Maienborn 2003: 172) besteht auch in Bezug auf reine Emissionsverben in der Literatur keine Einigkeit bez¨uglich der Frage, ob sie als stativisch oder als dynamisch zu klassifizieren sind (vgl. z.B. die Zusammenfassung der Kontroverse in Levin & Rappaport-Hovav 1995: 169f). Levin & Rappaport-Hovav (1995: 169) ordnen die Emissionsverben an der Grenze zwischen stativischer und dynamischer Aktionsart ein, “verbs of smell emission being the most stative, verbs of light emission being slightly less stative, and verbs of sound emission and substance emission being the most process-like”. Da die Abgrenzung von dynamischen und stativischen Pr¨adikaten im Zuge der hier unternommenen empirischen Untersuchung allerdings analog zu der Unterscheidung zwischen “individual-level”- und “stage-level”-Pr¨adikaten nach Kratzer (1995) erfolgt (vgl. Abschnitt 4.1.3), fallen Verben wie craquer oder scintiller, die raum-zeitlich verankert werden k¨onnen, hier mit in die dynamische Klasse. Die Diskussion um den Status von reinen Emissionsverben zwischen stativischer und dynamischer Aktionsart ist f¨ur die Untersuchung der entspre¨ chenden -ment- und -age-Nominalisierungen letztlich im Ubrigen ohnehin nicht prim¨ar relevant, weil die Sprachdaten nahelegen, dass die entsprechenden Verben von -ment und -age analog zu den Verben f¨ur Aktivit¨aten mir Emission als Beiprodukt “behandelt” werden. In der vorliegenden Arbeit kann also letztlich offengelassen werden, ob die Verben als dynamische Basen in den Derivationsprozess eintreten oder ob sie im Laufe dieses Prozesses aufgrund der Bedeutung der Suffixe “dynamisiert” werden. Was die zu untersuchenden Sprachdaten anbelangt ist zun¨achst festzuhalten, dass im Bereich von reinen Emissionsverben im Korpus ausschließlich -mentNominalisierungen attestiert sind (vgl. auch Abbildung 4.7), wobei 16 Types bzw. 156 Tokens auf audible Emissionen wie craquer und 9 Types bzw. 52 Tokens auf visible Emissionen wie scintiller Bezug nehmen. Diese Nominalisierungen bezeichnen ausschließlich Emissionsprodukte, verhalten sich also weitestgehend analog zu den oben beschriebenen -ment-Nominalisierungen von Aktivit¨aten mit Emission als Beiprodukt. So lassen sich beispielsweise f¨ur die Nominalisierungen von Verben f¨ur audible Emissionen dieselben systematischen Vorkommenskontexte definieren, die oben bereits f¨ur -ment-Nominalisierungen von Verben f¨ur Aktivit¨aten mit Emission als Beiprodukt hervorgehoben wurden: -ment-Nomina von Emissionsverben werden mit 74 Beispielen am h¨aufigsten 28

Vgl. f¨ur n¨ahere Erl¨auterungen zu englischen reinen Emissionsverben insbesondere Levin & Rappaport-Hovav (1995: 138–142) sowie die empirische Untersuchung deutscher Emissionsverben in Rothmayer (2009: 162–172). Perlmutter (1978) stuft reine Emissionsverben zwar als “unakkusativ” ein, da sie im Niederl¨andischen nicht in unpers¨onlichen Passivkonstruktionen aufreten k¨onnen. Wie Levin & Rappaport-Hovav (1995: 141f) zeigen kann dieses Kriterium allerdings nicht in allen F¨allen zur Unterscheidung zwischen ‘unakkusativen’ und ‘unergativen’ Verben herangezogen werden.

174 zur Bezeichnung von Hintergrundger¨auschen verwendet, wobei auch hier die Kookkurrenz der -ment-Nomina mit den Pr¨apositionen avec (‘mit’, 11x) und dans (‘in’, 16x) hervorsticht (31a.). Auch die Bezeichnung von Wahrnehmungsgegenst¨anden stellt mit 52 Beispielen und der h¨aufigen Kookkurrenz mit entendre (‘h¨oren’, 26x) und weiteren Wahrnehmungsverben (percevoir ‘wahrnehmen’, eˆ tre attentif a` ‘achtsamt sein auf’ etc.) ein auff¨alliges Charakteristikum der entsprechenden Nominalisierungen dar (31b.). Die u¨ brigen unter 4.3.1 auf¨ gef¨uhrten Vorkommenskontexte, d.h. Emission (31c.), Uberlagerung (31d.) und Art (31e.) finden sich ebenfalls bei den Nominalisierungen von reinen Emissionsverben wieder, wobei die niedrige Frequenz des Emissionskontexts sowie die Existenz einer weiteren Kategorie Ausbreitung/R¨uckgang (31f.) mit großer Wahrscheinlichkeit pragmatisch bedingt sind. Auch in diesen Kontexten nehmen die entsprechenden -ment-Nominalisierungen also eindeutig auf das Produkt des Emissionsprozesses Bezug. (31)

a. Kontext I: Hintergrundger¨ausch (74x) La terre tanguait, les tuiles, une rang´ee apr`es l’autre, glissaient du toit et se brisaient avec un craquement sec sur les marches du perron. ‘Die Erde schwankte, die Ziegeln, eine Reihe nach der anderen, glitten vom Dach und zerbarsten mit einem trockenen Krachen auf den Stufen der Außentreppe.’ (testament) Un mur entourait le jardin et les ch`evres, le matin, descendaient des collines et d´efilaient le long du mur dans un tintement de cloches. ‘Eine Mauer umgab den Garten und die Ziegen stiegen morgens die H¨ugel herab und zogen in einem Gebimmel der Glocken an der Mauer entlang.’ (douane) b. Kontext II: Wahrnehmung (52x) On pouvait entendre ce l´eger bruissement de salive, cette contraction de la gorge, tandis que son visage d’ivoire se concentrait sur l’aiguille. ‘Man konnte dieses leichte S¨auseln von Speichel h¨oren, diese Zusammenziehung des Rachens, w¨ahrend sein Elfenbeingesicht sich auf die Nadel konzentrierte.’ (champs) . . . et puis il s’´etait e´ tendu, attentif a` tous les bruits, un hennissement, une conversation sourde, le cr´epitement du bois dans le feu de bivouac, le son m´etallique d’une cuirasse jet´ee au sol. ‘. . . und dann hatte er sich ausgestreckt, achtsam auf alle Ger¨ausche, ein Wiehern, eine dumpfe Unterhaltung, das Knistern des Holzes im Feuer des Biwak, den metallischen Ton einer auf den Boden geworfenen Panzerung.’ (bataille) c. Kontext III: Emission (7x)

175 Elle caresse du doigt l’encrier de porcelaine, avec ses petits pots a` couvercles: il fait entendre un l´eger tintement, comme s’il se moquait, comme s’il savait . . . . ‘Sie ber¨uhrt sanft mit dem Finger das Tintenfass aus Porzellan, mit seinen kleinen gedeckelten K¨astchen: es l¨asst ein leichtes Gebimmel h¨oren, als wenn es sich lustig machen wollte, als wenn es w¨usste . . . .’ (testament) Elle produisait en s’approchant un bourdonnement de plus en plus fort, Nicolas avait peur, mais . . . . ‘Sich ann¨ahernd produzierte sie ein immer st¨arker werdendes Surren, Nicolas hatte Angst, aber . . . .’ (classe) ¨ d. Kontext IV: Uberlagerung (9x) ` leurs voix se mˆelaient les cris des mouettes et des canards regroup´es [A] sur le fleuve tout proche, et le tintinnabulement des tramways longeant les quais. ‘In ihre Stimmen mischten sich die Schreie der M¨owen und der Enten, die sich auf dem nahen Fluss gruppiert hatten, und das Klingeln der Straßenbahn, die an den Anlegepl¨atzen entlang fuhr.’ (medianoche) Le cr´epitement r´egulier qui vrillait le plafond m’empˆechait de comprendre ce qu’il essayait de me dire, . . . . ‘Das regelm¨aßige Krachen, das die die Decke durchdrang, hinderte mich daran zu verstehen, was er mir zu sagen versuchte, . . . .’ (pas) e. Kontext V: Art (7x) [T]out - c’est-`a-dire l’ ascenseur lui-mˆeme - . . . chutait avec une plainte rauque, une sorte de crissement venant expirer devant la porte du rez-de-chauss´ee.. . . ‘Alles - das heißt der Aufzug selbst - st¨urzte mit einer heiseren Klage ab, mit einer Art Knirschen, das eben vor der T¨ur des Erdgeschosses erl¨oschte.’ (lyc´een) . . . [L]e brigadier entendit le bruit: imm´emorial . . . , insidieux, comme . . . un gr´esillement qui tout d’abord . . . s’ajoutait simplement a` celui de la pluie, . . . . ‘Der Obergefreite h¨orte das Ger¨ausch: undenklich . . . , heimt¨uckisch, wie Knistern, das sich zun¨achst lediglich zu dem des Regens gesellte, . . . .’ (acacia) f. Kontext VI: Ausbreitung/R¨uckgang (7x) Et puis, le bruissement gagna les autres rang´ees. ‘Und dann erreichte das Rascheln die anderen Reihen.’ Le vrombissement d’h´elicopt`ere s’est tu. ‘Das Dr¨ohnen des Helikopters ist zum Schweigen gekommen.’ (weekend)

(horde)

176 Ganz a¨ hnlich bezeichnen die -ment-Nomina von Verben f¨ur visible Emissionen haupts¨achlich Wahnehmungsgegenst¨ande (18x, (32a.)), Hintergrundeffekte (27x, (32b.)) und Zeichen (5x, (32c.)). (32)

a. On perc¸oit le battement des cœurs, les vibrations des cerveaux, le rayonnement des aˆ mes. ‘Man vernahm das Klopfen der Herzen, die Schwingungen der Gehirne, das Strahlen der Seelen.’ (horde) b. L’´elys´ee apparaissait dans l’´eclat des lustres et le miroitement des glaces. ‘Der Elyseepalast erschien im Glanz der Kronleuchter und in den Spiegelungen der Spiegel.’ (testament) c. Tantˆot l’ombre l’avale et puis je la retrouve, frapp´ee de lumi`ere. Ce clignotement m’avertit qu’une fois de plus une femme va disparaˆıtre, comme dans certains caf´es, tard le soir . . . . ‘Bald verschluckt sie der Schatten und dann finde ich sie wieder, in Licht getaucht. Das Flackern warnt mich davor, dass wieder einmal eine Frau verschwinden wird, wie in bestimmten Caf´es, sp¨at in der Nacht . . . .’ (amour)

Die Tatsache, dass die oben beschriebenen -ment-Nomina das gleiche Interpretationsspektrum aufweisen wie die -ment-Nominalisierungen von Verben f¨ur Aktivit¨aten mit Emission als Beiprodukt, legt nahe, die -ment-Nomina von reinen Emissionsverben analog zu den im vorigen Abschnitt beschriebenen Nominalisierungen zu analysieren. Das heißt, auch f¨ur die -ment-Nominalisierungen von reinen Emissionsverben kann angenommen werden, dass sie deshalb auf Emissionsprodukte Bezug nehmen, weil im Zuge der -ment-Nominalisierung aufgrund der durch das Suffix eingeleiteten perspektivischen Verschiebung und in Ermangelung eines geschehnisbetroffenen Partizipanten unpers¨onliche Resultatszustandseigenschaften des durch das Basisverb bezeichneten Ereigniskom¨ plexes reifiziert werden. Ahnlich wie im Bereich der Nominalisierungen von Verben f¨ur Aktivit¨aten mit Emission als Beiprodukt kann die Nicht-Existenz der -age-Nominalisierungen im untersuchten Korpus zudem auf den Umstand zur¨uckgef¨uhrt werden, dass auf den Emissionsprozess u¨ blicherweise mit der ‘Emissionsverb + -ment’-Konstruktion Bezug genommen wird (vgl. (31c.)), wobei die niedrige Frequenz dieser Konstruktion in diesem Bereich nahelegt, dass im Bereich der reinen Emissionsverben generell selten auf den Emissionsprozess selbst Bezug genommen wird. Wie die folgenden Beispiele von franz¨osischen Internetseiten belegen, k¨onnen allerdings auch reine Emissionsverben mittels -age abgeleitet werden. Den hier verfolgten Ansatz best¨atigend zeigen die Beispiele zudem, dass -age immer dann gew¨ahlt wird, wenn die Prozesskomponente im Mittelpunkt des Diskurses steht, etwa weil der Prozess als Funktion oder Modus thematisiert

177 wird, wie in (33a.-c.), oder weil der Prozess bzw. dessen Beginn als Referenzzeitpunkt f¨ur ein kookkurierendes Ereignis angegeben wird, wie in (33d.). (33)

a. J’ai besoin de votre aide car j’ai un souci avec ma guirlande a` led de 4 couleurs . . . . Elle s’est e´ teinte d’un seule coup. Et quand je la rebranche elle s’allume et s’´eteint aussitˆot lorsqu’elle est en fonction clignotage .... ‘Ich ben¨otige Ihre Hilfe, denn ich habe ein Problem mit meiner 4-farbigen LED-Lichterkette . . . . Sie ist auf einmal erloschen. Und wenn ich sie wieder anschließe, leuchtet sie auf und erlischt sofort wieder, wenn sie in der Blinkfunktion ist . . . .’ (http://forum.hardware.fr/hfr/Discussions/Viepratique/guirlande-noelsujet 77448 1.htm 02.11.2009) b. Tu peux aussi ajouter a` ton notify-send un petit coup de clignotage de led sur le clavier via le paquet . . . . C ¸ a permet d’un coup d’œil en passant devant la machine de savoir si un nouveau mail est arriv´e. ‘Du kannst Deiner Empfangsbenachrichtigungsfunktion mit dem Paket . . . auch eine kleine LED-Blinkfunktion auf der Tastatur hinzuf¨ugen. Das erm¨oglicht es, wenn man an der Maschine vorbeikommt mit einem Blick zu wissen, ob eine neue E-mail angekommen ist.’ (http://www.generation-linux.fr/index.php?post/2008/11/03/Xubuntu%3A-Notificateur-de-mail-integre-a-Xfce 02.11.2009) c. . . . dans l’´etat actuel des choses, les avatars sont tous reconvertis au mˆeme format et ne sont pas permis: clignotage, scintillage, brillage, . . . . Voil`a, on est coinc´e sous image FIXE. On attend que le Beta soit plus intelligent pour revenir a` un mode d’animation d’avatar. ‘. . . auf dem aktuellen Stand der Dinge sind die Avatare alle im selben Format konvertiert, und Folgendes ist nicht erlaubt: Blinken, Funkeln, Strahlen, . . . . Wir sind also an ein unbewegliches Bild gebunden. Wir warten, bis die Betaversion intelligenter ist, um zu einem Modus animierter Avatare zur¨uckzukehren.’ (http://forum.doctissimo.fr/sante/aide-forums/avatar-clignotantsujet 10541 1.htm 02.11.2009) d. . . . ce matin ma freebox ne passait pas en PPP, comme si elle e´ tait d´egroup´ee, mais elle bloquait au moment du clignotage du rectangle et recommenc¸ait au d´ebut . . . . ‘. . . heute Morgen hatte meine Freebox keine Verbindung, als ob sie degruppiert gewesen w¨are, aber sie blockierte in dem Moment, in dem das Rechteck blinkte, und fing wieder vom Anfang an . . . .’ (http://iphone.freenews.fr/spip.php?page=ispiparticle&id article=2505 02.11.2009)

178 ¨ Ahnlich wie bei den in Abschnitt 4.3.1 angef¨uhrten -age-Nominalisierungen von Tierlautemissionsverben handelt es sich bei den unter (33) aufgelisteten -age-Nominalisierungen um marginale Beispiele, weil erstens im Bereich der reinen Emissionsverben a¨ ußerst selten auf die Ereignisteilhabe des Geschehnistr¨agers Bezug genommen wird und weil zweitens auch in diesem Bereich prinzipiell die u¨ blichere ‘Emissionsverb + ment’-Konstruktion f¨ur die Bezugnahme auf den Emissionsprozess zur Verf¨ugung steht. Trotz ihrer Marginalit¨at stellen die obigen Nominalisierungen allerdings eindeutige Gegenevidenzen zu dem in der Literatur vorgeschlagenen analogiebasierten Ansatz dar, welcher bei konsequenter Anwendung zu der Vorhersage gelangen w¨urde, dass Nominalisierungen von reinen Emissionsverben nur mit Hilfe von -ment abgeleitet werden. Auch im Bereich der reinen Emissionsverben lassen sich die qualitativen und quantitativen Unterschiede zwischen den neufranz¨osischen -ment- und -ageNominalisierungen also mit dem hier entwickelten Analyseansatz um Einiges genauer beschreiben als z.B. mit dem analogiebasierten Ansatz.

4.3.3 Verben f¨ur homogene Aktivit¨aten Die Klasse der homogenen Verben ist in der vorliegenden Arbeit negativ definiert. Das heißt, es wurden alle Verben als homogene Verben klassifiziert, die im Sinne von Abschnitt 4.1.3 keinen Zustandswechsel implizieren, die weder zu den Verben f¨ur nicht-zielgerichtete Bewegungen noch zu den Kommunikationsverben gez¨ahlt werden k¨onnen und die dar¨uber hinaus u¨ ber keine genuine Emissionsprodukt-Komponente verf¨ugen. Die Klasse beinhaltet somit intransitiv-homogene Verben wie agir (‘handeln’) ebenso wie transitive Verben mit nicht-affizierten Thema-Argumenten wie accompagner (‘begleiten’) oder soutenir (‘st¨utzen’). Die Schwierigkeit bei der Analyse der entsprechenden -ment- und -age-Nominalisierungen ist, dass es sich erstens um eine relativ heterogene Gruppe an Basisverben handelt und dass die Verben sich zweitens nicht in dem Maße wie z.B. die Verben f¨ur Aktivit¨aten mit Emission als Beiprodukt in prozess- und produktbezogene Komponenten einteilen lassen. Wie im Folgenden deutlich werden soll zeigt sich jedoch auch bei dieser Gruppe der grundlegende Unterschied zwischen auf den Geschehnistr¨ager bzw. die Prozesskomponente ausgerichteten -age-Nominalisierungen und auf den Geschehnisbetroffenen und den Resultatszustand ausgerichteten bzw. von dem oder den Partizipanten unabh¨angigen -ment-Nominalisierungen, so dass auch diese Nominalisierungen letztlich in die in Kapitel 3 entwickelte semantische Analyse von -ment und -age integriert werden k¨onnen. Die Geschehnistr¨ager- und Prozess-Ausgerichtetheit der -age-Nominalisierungen tritt bei der Detailanalyse der entsprechenden Beispiele deutlich zutage. Die 46 Tokens der 20 -age-Types k¨onnen in sechs Kategorien eingeteilt werden,

179 die sich im Hinblick auf den Kontext unterscheiden, aus dem heraus mit der -age-Nominalisierung auf den vom Basisverb bezeichneten Prozess Bezug genommen wird. In der ersten Gruppe treten die -age-Nominalisierungen zum Beispiel als modifizierendes Element in zusammengesetzten Ausdr¨ucken auf und beziehen sich auf die prozessbezogene Funktion der durch das Kopfnomen denotierten Referentenklasse (16x, vgl. (34a.)). In einem zweiten charakteristischen Kontext werden die -age-Nominalisierungen verwendet, um auf den Umstand Bezug zu nehmen, dass bestimmte Individuen der durch die Nominalisierung bezeichneten (Straf-)Tat verd¨achtigt werden (6x, (34b.)). Eine dritte Gruppe von -age-Nominalisierungen thematisiert das Verhalten von Individuen, das in dem entsprechenden Diskurs bewertet wird (7x, (34c.)). F¨unf -age-Nomina thematisieren viertens den Prozess als ein Desideratum (34d.), vier weitere einen Prozess, der eingegangen oder vertieft wird (34e.). Schließlich werden acht weitere Nominalisierungen dazu verwendet, um direkt auf einen Prozess Bezug zu nehmen, etwa um dessen L¨ange oder dessen Nicht-Existenz zu assertieren (34f.). (34)

a. Kontext I: Prozess als Funktion des Kopfreferenten (16x) Pottier et moi fr´equentons assidˆument ce type, qui nous ennuie a` mourir avec ses pauvres projets de salon de massage et ses rˆeves de scaphandrier. ‘Pottier und ich besuchten diesen Typen gewissenhaft, der uns mit seinen armseligen Massagesalonprojekten und seinen Tauchertr¨aumen zu Tode langweilte.’ (lyc´een) [J]e me souviens de son enjouement r´etrospectif lorsqu’elle e´ voquait la gaiet´e de “B´eb´e” B´erard assis par terre dans le salon d’essayage, . . . . ‘Ich erinnere mich an ihre nachtr¨agliche Heiterkeit, als sie sich an die F¨ohlichkeit von ‘Baby’ B´erard erinnerte, der in der Umkleidekabine auf dem Boden saß.’ (pas) b. Kontext II: Tat-Verd¨achtigung (6x) Exp´edi´e a` toute allure, le proc`es de Carlos Romero et de Simon Finkelstein pour “espionnage au profit d’une puissance e´ trang`ere” e´ tait en train de toucher a` sa fin. ‘Mit h¨ochster Geschwindigkeit abgefertigt war der Prozess von Carlos Romero und Simon Finkelstein wegen ‘Spionage zugunsten einer ausl¨andischen Macht’ dabei, sich seinem Ende zuzuneigen.’ (bonheur) Le flic pensait peut-ˆetre que moi, Alexandra . . . e´ tait de nouveau soupc¸onn´ee et, cette fois, du braquage de la banque du Cr´edit Lyonnais, .... ‘Der Polizist dachte vielleicht, dass ich, Alexandra . . . erneut verd¨achtigt w¨urde, und dieses Mal des Raub¨uberfalls auf die Bank der Cr´edit Lyonnais, . . . .’ (poche)

180 c. Kontext III: Verhaltensbewertung (7x) Ni le pilotage de Romain ni la s´er´enit´e d’Arnaud, qui “assure”, comme toujours, ne me sont d’aucun secours. ‘Weder die Leitung durch Romain noch die Abgekl¨artheit von Arnaud, der ‘sich auskennt’, wie immer, sind mir die geringste Hilfe.’ (samourais) Il me regarde. Mais pas comme on regarde qui on a envie de massacrer. Ce n’est pas du toisage. Je ne vois pas du d´efi dans ses yeux jaune pisse. ‘Er sieht mich an. Aber nicht so, wie man jemanden ansieht, den man gerne massakrieren w¨urde. Es handelt sich nicht um eine Musterung. Ich sehe keine Provokation in seinen Augen.’ (gouttiere) d. Kontext IV: Prozess als Desideratum (5x) . . . un peu abrupt la faction X exploite imm´ediatement les premiers r´esultats de la faction Y, ce qui ne les empˆeche pas l’une et l’autre de recourir a` l’arbitrage de la faction Z, laquelle . . . . ‘. . . ein wenig abrupt macht sich die Gruppe X umgehend die Resultate der Gruppe Y zunutze, was weder die eine noch die andere davon abh¨alt, auf das Schiedsverfahren der Gruppe Z zur¨uckzugreifen, die . . . .’ (secret) Les journalistes bien intentionn´es nous tomberont dessus comme des sauterelles pour chanter nos louanges et les autres pour crier au gaspillage de l’argent public! ‘Die wohlwollenden Journalisten werden sich auf uns st¨urzen wie die Heuschrecken, um unser Lob zu singen, und die anderen, um die Verschwendung o¨ ffentlicher Gelder anzuprangern!’ (marchande) e. Kontext V: Prozessvertiefung (4x) En se livrant au marchandage, en qu´emandant l’aide des Francs, ne s’´etait-il pas abaiss´e au rang d’interm´ediaire jusqu’`a tomber au bas de l’´echelle? ‘Hatte er sich nicht, indem er sich auf das Feilschen eingelassen und um die Hilfe der Franken gebeten hatte, auf einen mittelm¨aßigen Rang erniedrigt, bis dahin, ganz nach unten zu fallen?’ (horde) L’insolente cr´eature poussa le d´evergondage jusqu’`a lui offrir de faire l’essai sur elle, et elle . . . . ‘Die unversch¨amte Kreatur trieb das z¨ugellose Verhalten bis dahin, ihr anzubieten, sie auszuprobieren, und sie . . . .’ (cœur) f. Kontext V: Prozess an sich (8x) Rires. Rideau. Apr`es quoi vient le tour de Jeff, cinq minutes de bafouillage et de cafouillage. “Ton spectacle e´ tait magnifique.”

181 ‘Gel¨achter. Vorhang. Und danach ist Jeff an der Reihe, f¨unf Minuten Gestammel und Durcheinander. ‘Deine Vorstellung war hervorragend’.’ (secret) Le gaspillage n’existe pas. Tout est fonction de l’id´ee qu’on se fait de l’autre et de soi-mˆeme. ‘Verschwenderisches Verhalten gibt es nicht. Alles ist abh¨angig von der Vorstellung, die man von dem anderen und von sich selbst hat.’ (zone)

In jedem der Kontexte beziehen sich die -age-Nominalisierungen eindeutig auf die Prozesskomponente des vom Basisverb bezeichneten Ereigniskomplexes, was im Rahmen des hier vertretenen Ansatzes auf den Umstand zur¨uckgef¨uhrt werden kann, dass -age perspektivisch unmodifizierte Basispr¨adikate ableitet und diesen dar¨uber hinaus ebenfalls keine perspektivische Modifizierung zuf¨ugt. Das Interpretationsspektrum der -ment-Nominalisierungen von homogenen Verben ist weniger einheitlich, da die Interpretation der -ment-Nomina von der Relation zwischen der Basissituation und dem etwaigen geschehnisbetroffenen Partizipanten bzw. von der Existenz etwaiger resultativer Komponenten abh¨angt. Wie im Folgenden deutlich wird zeichnen sich allerdings alle 55 Tokens der insgesamt 16 -ment-Types von homogenen Verben einheitlich durch eine nichtagentivische bzw. nicht-prozessuale Referenzweise aus, die sich nach dem hier verfolgten Ansatz aus dem Umstand ergibt, dass mit der -ment-Nominalisierung a¨ hnlich wie bei Pr¨asentativkonstruktionen und beim unpers¨onlichen Passiv eine Enttopikalisierung des Geschehnistr¨agers einhergeht. 13 der im Korpus enthaltenen 16 einschl¨agigen -ment-Types haben transitive Basen. Die Token-Analyse ergibt, dass 5 dieser Lexeme, d.h. financement, investissement, maniement, recensement und ressassement, generell aus der passivischen Perspektive auf den vom Basisverb bezeichneten Ereigniskomplex Bezug nehmen, was direkt aus der in Kapitel 3 aufgestellten Generalisierung folgt, dass -ment die Resultatszustandseigenschaft des geschehnisbetroffenen Partizipanten reifiziert. Beispielsweise denotiert financement in (35a.) den Umstand, dass etwas finanziert wird, so wie investissement in plans d’investissement (35b.) und maniement in maniement des id´ees (35c.) auf die Art und Weise Bezug nehmen, in der etwas investiert wird bzw. die Ideen gehandhabt werden. (35)

a. . . . et plus nous d´enichions d’argent pour le financement de mon film, plus mon d´ecouvert en banque se creusait. ‘. . . und je mehr Geld wir f¨ur die Finanzierung meines Films auftrieben, desto mehr wurde mein Bankkredit ausgeh¨olt.’ (ami) b. Cachettes, . . . pr´eparation psychologique, plans d’investissement sur la com`ete, etc.. L’autre g´elatineux n’arrˆete pas de se coiffer machinalement maintenant, avec un peigne lumineux pay´e a` Brighton de ses derniers pence . . . .

182 ‘Verstecke, . . . psychologische Vorbereitung, Pl¨ane f¨ur die Investition auf dem Kometen, etc.. Der andere Gallertartige h¨ort nicht auf sich mechanisch mit einem gl¨anzenden Kamm zu k¨ammen, den er in Brighton mit seinen letzten Pence bezahlt hat.’ (lyc´een) c. Il n’y avait pas, dans son discours, la moindre trace de recherche. Et cette simplicit´e mˆeme dans le maniement des id´ees avait quelque chose de bouleversant. ‘Es gab in seiner Rede nicht die geringste Spur von Forschung. Und diese Anspruchslosigkeit selbst in der Handhabung der Ideen hatte etwas Ersch¨utterndes.’ (bonheur)

Die Passivit¨at der u¨ brigen 8 -ment-Nominalisierungen von transitiven homogenen Verben, d.h. accompagnement, coudoiement, effleurement, harc`element, redoublement, sout`enement, tutoiement und vouvoiement, ist zwar nicht in dem Ausmaß offensichtlich. Auch diese Nomina zeichnen sich allerdings einheitlich dadurch aus, dass der Geschehnistr¨ager des Basisereignisses in dem jeweiligen Diskurs enttopikalisiert ist und die Bezugnahme aus einer nichtagentivischen bzw. nicht-prozessualen Perspektive erfolgt. So referiert accompagnement in (36a.) beispielsweise auf den Zustand des Begleitens bzw. Begleitet-Werdens, harc`element in (36b.) auf den Zustand des Gest¨ort- bzw. Bedr¨angt-Werdens, redoublement in (36c.) auf den Umstand des WiederholenM¨ussens bzw. Wiederholtwerden-M¨ussens, sout`enement in (36d.) auf den Zustand des St¨utzens bzw. Gest¨utzt-Werdens und tutoiement in (36e.) auf den Zustand des Duzens bzw. Geduzt-Werdens, wobei an diesen Nominalisierungen vor allem das weitestgehende Fehlen jeglicher Partizipantenbezogenheit auff¨allt. (36)

a. Mais, curieusement, cet aspect-l`a n’existe que comme un faible accompagnement rehaussant le prix de ce qui demeure. ‘Aber seltsamerweise existiert dieser Aspekt nur als eine schwache Begleiterscheinung, die den Preis des Bestehenden in die H¨ohe treibt.’ (œufs) b. Je voudrais me dire que, dans l’´enervement des jours et le harc`element des gens, il me suffira de me recueillir un moment pour tout me rappeler. ‘Ich w¨urde mir gerne sagen, dass es mir in der Aufgeregtheit der Tage und der Bedr¨angung durch die Leute gen¨ugen w¨urde, mich einen Moment zu sammeln, um mir alles wieder zu vergegenw¨artigen.’ (œufs) c. Ce jour-l`a, donc, pas un mot a` poser sur le papier. On serait derniers, c’est sˆur. C’´etait le redoublement assur´e. ‘An diesem Tag [hatte ich] also kein Wort auf’s Papier zu bringen. Wir w¨urden sicher die Letzten sein. Es bedeutete die sichere Wiederholung [der Klasse].’ (lyc´een) d. On d´egagea l’angle avant le plateau et le lourd dentier fut plac´e l`a en sout`enement, qui pr´evenait de sa masse les affaisements a` la base.

183 ‘Man legte die Ecke vor dem Plateau frei und das schwere Traggestell, das durch seine Masse das Einsinken der Basis verhinderte, wurde dort als St¨utze plaziert. (champs) e. Si la derni`ere formule se ressentait d’une mise au point peu favorable a` la conversation, elle m’´etonna moins que le tutoiement qu’Ana y avait introduit. ‘Wenn die letzte Formulierung auch von einer f¨ur die Unterhaltung wenig vorteilhaften Fokussierung zeugte, verwunderte sie mich [dennoch] weniger als das Duzen, das Anna eingef¨uhrt hatte.’ (pas)

Mit Verweis auf die Ausf¨uhrungen in Kapitel 3.2.2 sollen die unter (36) illustrierten Beispiele im Folgenden als Instanzen der nicht-agentivischen “presentational information structure” analysiert werden, welche Lambrecht (1994: 177– 181), Mackenzie (2006: 17–38) u.a. ‘unergativen’ Verben zuschreiben, wenn diese in unakkusative Kontexte eingebettet werden. Wie in Abschnitt 3.2.2 erl¨autert kann die in diesem Zusammenhang beobachtete nicht-agentivische Interpretation darauf zur¨uckgef¨uhrt werden, dass die Einbettung verbaler Pr¨adikate in die entsprechenden Konstruktionen (d.h. z.B. in die unakkusative Syntax, die Pr¨asentativkonstruktion oder auch die -ment-Nominalisierung) mit einer Enttopikalisierung des Geschehnistr¨agers einhergeht, was bei Ereigniskomplexen ohne geschehnisbetroffene Partizipanten zur bloßen Unterdr¨uckung (“suppression”, ebd.: 34) der Subjekt-Theta-Rolle f¨uhrt. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die unter (36) illustrierten Nominalisierungen alle Ereigniskomplexe mit einer a¨ ußerst niedrigen Transitivit¨at bezeichnen,29 im Zuge derer die geschehnisbetroffenen Partizipanten kaum affiziert werden. Dementsprechend gibt es auch keine saliente Resultatszustandseigenschaft, die dem jeweiligen Geschehnisbetroffenen sinnvoll zugewiesen werden k¨onnte, sodass der durch -ment reifizierte Zustand als von ¨ allen Partizipanten unabh¨angig interpretiert wird. Ahnlich wie f¨ur die -mentNominalisierungen von Verben f¨ur Aktivit¨aten mit Emission als Beiprodukt ist somit auch f¨ur die unter (36) aufgef¨uhrten Nominalisierungen anzunehmen, dass sie sich aufgrund der spezifischen Interaktion von Basisbedeutung und Suffixbedeutung durch die bloße Einf¨uhrung einer nicht-agentivischen, nichtprozessualen Gegebenheitsperspektive auszeichnen. Die Basisverben der drei u¨ brigen einschl¨agigen -ment-Nominalisierungen affairement, empressement und agissement werden im Rahmen der vorliegenden Untersuchung zwar zu den homogen-dynamischen Verben gerechnet, da sie, anders als z.B. die rein inchoativen Verben, keinen Zustandswechsel zu implizieren scheinen. Genau genommen ist der Status des Arguments von s’affairer und s’empresser zwischen Geschehnistr¨ager und Geschehnisbetroffenem allerdings weit weniger eindeutig als z.B. bei laufen oder arbeiten. Dieser Um29

Zur graduellen Unterscheidung zwischen hoch und niedrig transitiven Verben vgl. ebenfalls Kapitel 3.2.2

184 stand wird bereits durch das sprachtypologische Indiz angezeigt, dass Verben wie s’empresser in vielen Sprachen mit einer se-¨ahnlichen Markierung versehen werden.30 Unabh¨angig von dieser Diskussion zeigen die f¨ur die im Korpus attestierten Beispiele einschl¨agigen Definitionen von empressement und affairement des Petit Robert 2007, dass diese Nominalisierungen Ereigniskonzepte bezeichnen, deren jeweiliger Partizipant eindeutig als Geschehnisbetroffener konzeptualisiert wird (vgl. 37a.-b.). Ob diese Interpretation durch die Derivationsbasis bereitgestellt wird oder erst durch die Nominalisierung mittels -ment initiiert wird, soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden. F¨ur die hier vorzustellende Untersuchung ist lediglich relevant, dass -ment offensichtlich auch im Fall von empressement und affairement eine den Partizipien des dritten Status a¨ hnliche Perspektivenverschiebung auf den Zustand bewirkt, in dem sich der Partizipant des Ereigniskonzepts als Geschehnisbetroffener befindet. (37)

a. affairement = e´ tat d’une personne affair´ee ‘Zustand einer gesch¨aftigen Person’ (Petit Robert 2007) Il y a dans la mer qui monte - calme ou houleuse, peu importe - toujours une animation, un affairement de branle-bas, . . . . ‘Es gibt im ansteigenden Meer, egal, ob es ruhig oder st¨urmisch ist, immer eine Lebendigkeit, eine aufgeregte Gesch¨aftigkeit, . . . .’ (chemin) b. empressement = Complaisance, Z`ele, . . . ‘Zuvorkommenheit, Eifer, . . . ’ (Petit Robert 2007) L’empressement d’Olga gˆena Li Xulan; . . . . ‘Die Eilfertigkeit von Olga st¨orte Li Xulan; . . . .’

(samourais)

Der Fall von agissement ist auf den ersten Blick problematisch, weil hier eine Umdeutung des Partizipanten zum Geschehnisbetroffenen kaum angenommen werden kann. Diese Nominalisierung kann allerdings durch die Annahme in die hier zugrundegelegte Analyse integriert werden, dass sie wie die unter (36) angef¨uhrten Nominalisierungen auf den vom Basisverb bezeichneten Ereigniskomplex aus einer nicht-agentivischen und nicht-prozessualen Gegebenheitsperspektive Bezug nimmt und in dieser Hinsicht mit Pr¨asentativkonstruktionen und 30

Wie bereits in Aschnitt 3.2.2 angedeutet gibt es in der entsprechenden Literatur verschiedene Bem¨uhungen, der franz¨osischen se-Markierung sowie deren sprach¨ubergreifenden Entsprechungen eine abstrakte Gesamtbedeutung zuzuordnen, wobei vielfach davon ausgegangen wird, dass derartige Morpheme im Indoeurop¨aischen die Affiziertheit des Geschehnistr¨agers anzeigen (vgl erneut Klaiman 1988 oder auch Barber 1975), womit der Geschehnistr¨ager in die N¨ahe des Geschehnisbetroffenen ger¨uckt wird (vgl. dazu auch den Hinweis auf die Subjektaffiziertheitsanalyse der italienischen essere-Selektion nach Chierchia 2004 in Abschnitt 3.2.2). Wie in Abschnitt 4.2.4 erl¨autert f¨uhrt Kemmer (1993) dieses Merkmal ganz a¨ hnlich auf eine geringe Differenzierbarkeit von Initiator bzw. Geschehnistr¨ager und Endpunkt bzw. Geschehnisbetroffenem zur¨uck (s.o.).

185 nicht-resultativen unpers¨onlichen Passivkonstruktionen des Typs Es wird getanzt bzw. Es wird gehandelt vergleichbar ist. Eine Evidenz f¨ur diese Analyse ist der Umstand, dass mit agissement f¨ur gew¨ohnlich auf die Art und Weise Bezug genommen wird, in der gehandelt wird (vgl. (38)) (38)

a. agissement = Mode d’action, fac¸on d’agir ‘Handlungsweise, Art zu agieren’ (CNRTL) b. Je me suis abstenu de raconter a` Domenica l’´episode du chˆale imbib´e d’urine: elle y aurait vu l’approbation de son agissement accord´ee par la seule instance qu’elle respectait: les seigneurs aux yeux omniscients, qui . . . . ‘Ich habe davon abgesehen, Domenica die Begebenheit der mit Urin durchn¨assten Stola zu erz¨ahlen: sie h¨atte darin die Best¨atigung ihres Handelns gesehen, gew¨ahrt durch die einzige Instanz, die sie respektierte: die Herren mit den allwissenden Augen, die . . . .’ (pas)

W¨ahrend sich die -age-Nominalisierungen von homogenen Verben also einheitlich durch ihre Prozessausgerichtetheit auszeichnen, werden die entsprechenden -ment-Nomina aufgrund der durch -ment bewirkten Perspektivenverschiebung entweder passivisch interpretiert (35a.-c.) oder nehmen auf Resultatszust¨ande bzw. resultierende Individueneigenschaften (37a.-b.) Bezug. Wenn kein Geschehnisbetroffener konzeptualisierbar ist bzw. dem Geschehnisbetroffenen keine Resultatszustandseigenschaft sinnvoll zugewiesen werden kann, f¨uhren die -ment-Nominalisierungen die Basissituation aus einer nichtagentivischen und nicht-prozessualen Gegebenheitsperspektive in den Diskurs ein ((36), (38)). Ungeachtet ihres breiten Interpretationsspektrums lassen sich also auch die -ment-Nominalisierungen von Verben f¨ur homogene Aktivit¨aten durch ihre nicht-agentivische und nicht-prozessuale Referenzweise eindeutig von den entsprechenden -age-Nominalisierungen abgrenzen. Es zeigt sich, dass auch die -ment- und -age-Nomina von Verben f¨ur homogene Aktivit¨aten in die in Kapitel 3 entwickelte Analyse integriert werden k¨onnen, nach der -ment die Resultatszustandseigenschaft des Geschehnisbetroffenen reifiziert, w¨ahrend -age die den Basisverben inh¨arente Topikalisierung des Geschehnistr¨agers beibeh¨alt, aufgrund welcher die dem Geschehnistr¨ager zugeschriebenen Eigenschaften im Zuge der Reifizierung des Basisereignisses in den Mittelpunkt der Betrachtung ger¨uckt werden.

4.4

Denominale Basen

Im Zusammenhang mit den denominalen Ableitungen ist zun¨achst erneut auf die folgenden zwei grundlegenden Hypothesen in Bezug auf selektionale Restrik-

186 tionen und Affixbedeutungen hinzuweisen, welche in den Kapiteln 2.1.4 sowie 2.2.3 bis 2.2.5 erl¨autert wurden. Erstens wurde in Kapitel 2.1.4 in Anlehnung an Plag (2004) daf¨ur argumentiert, dass sich vermeintliche Restriktionen hinsichtlich der syntaktischen Kategorie der Derivationsbasis eines Ableitungsverfahrens als Epiph¨anomene aus den semantischen Eigenschaften der Wortbildungselemente ergeben. Vor diesem Hintergrund ist auch die Pr¨adominanz deverbaler Ableitungen im Bereich von -ment und -age als ein semantisches Ph¨anomen zu betrachten. Zweitens wurde in den Kapiteln 2.2.3 bis 2.2.5 erl¨autert, dass nach dem in der vorliegenden Arbeit entwickelten moderat-emergentistischen Modell die Gesamtheit aller Derivate eines Ableitungsverfahrens sowie deren Lesarten, Interpretationen und Verwendungsweisen durch die abstrakte Bedeutung der Affixe miteinander verbunden sind, wobei die Relation zwischen abstrakter Bedeutung und konkreten Derivaten wechselseitig ist: W¨ahrend einerseits die Verwendung bereits gebildeter Derivate die abstrakte Bedeutung des Affixes determiniert, determiniert anderseits die abstrakte Bedeutung des Affixes die Verwendung neu abgeleiteter Formen. An gleicher Stelle wurde allerdings ebenfalls betont, dass einzelne Bildungen bei hohem Alter oder Lexikalisierungsgrad eine betr¨achtliche Autonomie gegen¨uber dem Ableitungsparadigma erreichen k¨onnen. Folglich geht es im Folgenden darum, zu u¨ berpr¨ufen, ob die denominalen (-ment- und) -age-Derivate eine semantische Gemeinsamkeit mit den deverbalen Nominalisierungen aufweisen und ob diese Gemeinsamkeit auf die in den vorigen Abschnitten sowie in Kapitel 3 dargestellte abstrakte Bedeutung der Suffixe zur¨uckgef¨uhrt werden kann. Mit -ment werden f¨ur gew¨ohnlich keine denominalen Derivate abgeleitet. Im Korpus findet sich zwar mit pi`etement (“ensemble de pieds et traverses d’un meuble”, ‘Gesamtheit der F¨uße und Querstreben eines M¨obelst¨ucks’, Petit Robert 2007) eine -ment-Nominalisierung, die laut dem Petit Robert 2007 und dem CNRTL als denominal einzustufen ist. Allerdings ist zu beachten, dass es auch eine verbale Form se pi´eter (“se planter, se raidir sur ses pieds”, ‘sich auf seinen F¨ußen vor jemandem aufbauen, anspannen’, Petit Robert 2007) gibt, welche unter semantischen Gesichtspunkten ebenfalls eine geeignete Ableitungsbasis f¨ur pi`etement darstellt, sofern die mit -ment verbundene perspektivische Verschiebung samt deren Auswirkung im Bereich der homogen intransitiven Verben sowie eventuelle metonymische Bedeutungsver¨anderungen mitber¨ucksichtigt werden. Nach der in Abschnitt 4.3.3 vorgeschlagenen Analyse ist beispielsweise nicht unwahrscheinlich, dass pi`etement das durch se pi´eter bezeichneten Ereigniskonzept aus einer nicht-agentivischen und nicht-prozessualen Gegebenheitsperspektive als (resultierenden) Zustand darstellt und dass diese Interpretation die Grundlage f¨ur die metonymische Bedeutungsverschiebung liefert, welche zu der Interpretation von pi`etement als ‘ensemble de pieds et traverses d’un meuble’ (s.o.) f¨uhrt. Die zu der Zielinterpretation f¨uhrende metonymische Verschiebung w¨urde demnach auf einer Kontiguit¨atsrelation zwischen dem von

187 der -ment-Nominalisierung bezeichneten Zustand (d.h. dem Zustand der “Gefußtheit”) und dem Objekt, das sich in diesem Zustand befindet, beruhen. 31 Im ¨ Ubrigen ergibt sich auch die generelle Nicht-Existenz von denominalen -mentNominalisierungen aus der in den Kapiteln 2 und 3 entwickelten Bedeutungsanalyse, denn es gibt der Hypothese nach kaum Inhalte, d.h. Konzepte, die mittels eines durch -ment abgeleiteten nominalen Pr¨adikats sinnvoll versprachlicht werden k¨onnten. Nominale Pr¨adikate sind also mit der durch -ment eingef¨uhrten perspektivischen Verschiebung aus semantisch-pragmatischen Gr¨unden f¨ur gew¨ohnlich nicht kompatibel. Im Gegensatz zu -ment haben die denominalen -age-Nominalisierungen mit 44 Types (innerhalb der Tokenfrequenz bis 30, vgl. Abschnitt 4.1.2) immerhin einen Anteil von rund 16% an der Gesamtmenge der im untersuchten Korpus enthaltenen -age-Lexeme. Bei den im Korpus attestierten denominalen -ageDerivaten handelt es sich zwar u¨ berwiegend um Relikte fr¨uherer Sprachstufen. Wie Abbildung 4.8 zeigt wird die Entstehungszeit der Derivate im Petit Robert 2007 und dem CNRTL u¨ berwiegend auf den Zeitraum vom 12. bis 16. Jahrhundert datiert, wobei der entscheidende Aspekt in diesem Zusammenhang ist, dass von den denominalen -age-Nominalisierungen des synchronen FRANTEXTKorpus laut den Datierungen des CNRTL bzw. Petit Robert 2007 keine im 20. Jahrhundert gebildet wurde.32 Die denominalen -age-Derivate werden in der vorliegenden Arbeit daher haupts¨achlich im Rahmen der in Kapitel 5.1 vorzustellenden diachronen Analyse des Suffixes behandelt. Gem¨aß der hier zugrundeliegenden moderat-emergentistischen Hypothese sollten allerdings auch diese mutmaßlich lexikalisierten Derivate bestenfalls eine semantische Gemeinsamkeit mit den deverbalen Derivaten aufweisen, auch wenn diese von den Sprechern nicht bewusst nachvollzogen werden kann. Im Folgenden soll daher auf die in Kapitel 5 folgende diachrone Analyse der denominalen -age-Nomina vorgegriffen werden, um zu pr¨ufen, inwiefern die mutmaßlich lexikalisierten 45 denominalen -age-Types des synchronen FRANTEXT-Korpus mit der in Kapitel 3 erl¨auterten abstrakten Bedeutung der -age-Nominalisierung in Verbindung gebracht werden k¨onnen. Die denominalen Derivate weisen eine gewisse Lesartenbreite auf, die allerdings keinesfalls willk¨urlich ist. So bezeichnen 59 der insgesamt 249 einschl¨agi31

32

Aus diesem Grund wurde pi`etement im Rahmen der in Abschnitt 4.1.2 beschriebenen Ausz¨ahlung zu den deverbalen Nominalisierungen gerechnet. Nach den hier verwendeten lexikalischen Ressourcen ist die oben angegebene Bedeutung von se pi´eter zwar j¨ungeren Datums als die Nominalisierung selbst. Das Verb an sich existierte allerdings mit ganz a¨ hnlicher Bedeutung auch laut dem CNRTL-Lexikon und dem Petit Robert 2007 bereits im Altfranz¨osischen bzw. in der Form von peditare bereits im Sp¨atlatein. Vgl. zu der Seltenheit denominaler -age-Ableitungen mit kollektiver Interpretation zudem Kapitel 5.1.4. Bei den wenigen Datierungsabweichungen zwischen dem CNRTL und dem Petit Robert 2007 wurde jeweils die fr¨uhere Datierung als Richtwert einbezogen.

188

Abbildung 4.8: Datierung der Erstbelege f¨ur die denominalen -age-Nominalisierungen des synchronen FRANTEXT-Korpus nach dem Petit Robert 2007 und dem CNRTL

gen -age-Tokens die Zugeh¨origkeit zu einer sozialen Gruppe, den Stand oder Status (39a.), 46 Tokens weisen eine eventive Interpretation auf (39b.), ein Token zeigt die im Altfranz¨osischen verst¨arkt vertretene Steuerlesart (39c.), 137 Tokens nehmen auf Gruppenindividuen bzw. Kollektionen Bezug (39d.) und 7 Tokens bezeichnen Orte oder Pl¨atze (39e.). (39)

a. . . . alors que le mariage, nous le savons tous, est la rivi`ere de diamants de la condition humaine, et que deux tiers des prˆetres allemands vivent en concubinage, . . . . ‘. . . auch wenn die Ehe, wie wir alle wissen, das Diamantenkollier des Menschseins ist, und wenn zwei Drittel der Priester in einer ehe¨ahnlichen Lebensgemeinschaft leben, . . . .’ (secret) b. Ils e´ taient vˆetus et arm´es a` la mani`ere des Hamads, une tribu qui ranc¸onnait les caravanes en toute impunit´e parce qu’elle n’omettait jamais de payer l’impˆot de brigandage au khalife Muhamad. ‘Sie waren gekleidet und bewaffnet nach der Art der Hamaden, ein Stamm, der die Karawanen v¨ollig ungestraft erpresste, weil er nie vers¨aumte, dem Kalifen Muhamad die Straßenraubsteuer zu zahlen.’ (horde) c. Son fils – propri´etaire, a` l’entendre, d’un immense domaine agricole, devant lequel s’inclinait toute une province d’Espagne, et le premier a` e´ tablir un syst`eme de fermage plus juste – ses fermiers, ses ouvriers, leurs familles l’avaient port´e en pleurs jusqu’`a cette demeure ultime, .... ‘Sein Sohn – selbstverst¨andlich Besitzer eines riesigen landwirtschaftlichen Gutes, vor dem sich eine ganze spanische Provinz verneigte, und der erste, der ein gerechteres Steuersystem eingef¨uhrt hatte – seine P¨achter, ihre Familien hatten ihn unter Tr¨anen bis zu dieser letzten Ruhest¨atte getragen, . . . .’ (pas)

189 d. [I]l n’avait pas h´esit´e a` loger chez lui un e´ norme cacato`es du Br´esil. Je me souviens de la splendeur de son plumage . . . . ‘Er hatte nicht gez¨ogert, einen riesigen Kakadu aus Brasilien bei sich unterzubringen. Ich erinnere mich an den Glanz seines Gefieders . . . .’ (pas) e. [I]l fallait emprunter une passerelle sans garde-fou pour rejoindre une esp`ece de cabine pos´ee au bord du vide et oubli´ee l`a comme une cahute de berger sur un alpage d´esert´e. ‘Man musste eine schmale Fußg¨angerbr¨ucke ohne Gel¨ander u¨ berqueren, um auf eine Art F¨uhrerhaus zu treffen, das am Rande des Nichts postiert und vergessen war wie eine Sch¨aferh¨utte auf einer verlassenen Alm.’ (carrefour)

Die Status- und Standesterme wie concubinage (‘Konkubinat’), e´ chevinage (‘Sch¨offenschaft’) oder parrainage (‘Patenschaft’) sind f¨ur die vorliegende Untersuchung von besonderem Interesse, da sie direkt aus der in Kapitel 3 entwickelten Analyse der -age-Nominalisierung abgeleitet werden k¨onnen. So wurde im 3. Kapitel betont, dass Chierchias Reifizierungsanalyse des Nominalisierungsprozesses auf alle Wortklassen gleichermaßen zu beziehen ist, wobei im Zuge der Reifizierung der von den nominalen Pr¨adikaten zugewiesenen Eigenschaften nicht, wie im deverbalen Bereich, Ereignistypen, sondern Artenterme entstehen. In Anlehnung an diese Ausweitung des Nominalisierungsbegriffs auf den Bereich der nominalen Pr¨adikate kann f¨ur denominale -ageNominalisierungen wie concubinage oder parrainage angenommen werden, dass -age wie im deverbalen Bereich auch hier die Funktion hat, die von den Basispr¨adikaten bezeichneten bzw. an Individuen zugewiesenen Eigenschaften zu reifizieren. Nach dieser Analyse beruht die Interpretation von concubinage in (39a.) beispielsweise auf der Vergegenst¨andlichung der Eigenschaften von Individuen des Typs concubin (‘Lebenspartner’), ebenso wie die Bedeutung von cousinage (‘Vetternschaft’) in (40a.), von esclavage (‘Sklavenschaft’) in (40b.), von p`elerinage (‘Pilgerschaft’) in (40c.) und von veuvage (‘Witwenschaft’) in (40d.) auf die Reifizierung der Eigenschaften von Individuen des Typs cousin (‘Vetter’), esclave (‘Sklave’), p`elerin (‘Pilger’) bzw. veuve (‘Witwe’) zur¨uckgeht, etc.. (40)

a. Comme il lui demandait si la puissante famille de Montserrat, de lointain cousinage, existait encore, il s’entendit r´epondre sur un ton qui l’´etonna: . . . . ‘Als er ihn fragte, ob es die m¨achtige Familie Montserrat, die von weit entfernter Verwandtschaft war, noch gab, h¨orte er sich in einem Ton antworten, der ihn u¨ berraschte: . . . .’ (horde) b. Maˆıtre et possesseur de toute la nature, l’homme est seul sur une Terre qu’il a r´eduite en esclavage et dont il fait ce qu’il veut.

190 ‘Herr und Besitzer der gesamten Natur ist der Mensch allein auf einer Erde, die er in die Sklaverei eingeengt hat und mit der er macht, was er m¨ochte.’ (douane) c. [B]ras dessus, bras dessous et sifflotant du Tr´enet, nous partions en p`elerinage. ‘Arm in Arm und leise [etwas von] Tr´enet vor uns hinpfeifend brachen wir zur Pilgerschaft auf.’ (amour) d. Elle vivait maintenant seule avec sa m`ere, une vieille dame au visage dolent, empreint par le veuvage et la perte de sa cadette d’une expression de d´esolation chronique, . . . . ‘Sie lebte jetzt allein mit ihrer Mutter, einer alten Dame mit wehleidigem Gesicht, das durch die Wittwenschaft und den Verlust ihrer J¨ungsten von einem Ausdruck chronischer Verzweiflung gezeichnet war.’ (acacia)

Anders als die von Chierchia (1988) beschriebenen Artenterme bieten die obigen -age-Nominalisierungen zwar augenscheinlich Raum f¨ur eine gewisse pragmatisch bedingte Bedeutungsspezifizierung: W¨ahrend cousinage in (40a.) die f¨ur Individuen des Typs cousin typische Relation denotiert, nimmt esclavage in (40b.) auf den Status von Individuen des Typs esclave Bezug, und w¨ahrend p`elerinage sowohl die f¨ur Individuen des Typs p`elerin charakteristische Aktivit¨at als auch deren Status denotieren kann, nimmt veuvage entweder auf den f¨ur Individuen des Typs veuve charakteristischen Lebensumstand oder aber ebenfalls auf deren Status Bezug. Dieser Interpretationsspielraum mag durch den bloßen Umstand bedingt sein, dass der Reifizierungsprozess auf einer derivationsmorphologischen Operation beruht (welche, anders als die Pluralisierung, die Bildung neuer lexikalischer Einheiten zum Ziel hat). Er k¨onnte auch historisch bedingt sein (vgl. dazu z.B. Kapitel 5.1.1) oder sogar auf einer sporadischen, bewussten Ausnutzung von analogischen Bedeutungsmustern seitens der Sprecher beruhen (vgl. hierzu die Erl¨auterungen zur Prototypizit¨at morphosemantisch transparenter Ableitungskategorien des -age-Typs in Kapitel 2.2.4). F¨ur die synchrone Untersuchung der Derivate ist allerdings lediglich relevant, dass alle oben beschriebenen Bedeutungsspezifizierungen auf einer intensionalen Interpretation der Basispr¨adikate beruhen und dass die Intensionen eine f¨ur nominale Pr¨adikate un¨ubliche Eigenst¨andigkeit bzw. Unabh¨angigkeit von ihrer Extension erreichen: Mit p`elerinage wird ebenso wenig auf (einige oder alle) Individuen der Extension von p`elerin Bezug genommen, wie cousinage auf einige oder alle Individuen der Extension von cousin Bezug nimmt, etc.. Dieser Umstand deutet darauf hin, dass der Bedeutungsentwicklung der obigen Derivate ein Eigenschaftsreifizierungsprozess im Sinne von Chierchia (1988) vorangeht und dass diese -age-Derivate somit trotz ihres relativ breiten Bedeutungsspektrums letztlich auf dem gleichen Ableitungsprozess beruhen wie die deverbalen -age-Nominalisierungen.

191 Interessanterweise l¨asst sich diese Analyse auch auf eventive denominale Nominalisierungen wie brigandage (‘Straßenraub’, vgl. (39b.)) und auf Steuerterme wie fermage (‘Pachtzins’, (39c.)) ausweiten. So bezeichnet brigandage in (39b.) zwar einen Ereigniskomplex, an welcher u¨ blicherweise Individuen der Extension von brigand (‘Wegelagerer’) beteiligt sind, genauso wie fermage auf eine Steuer Bezug nimmt, die u¨ blicherweise f¨ur die Individuen der Extension von ferme (‘Bauerngut’) aufzubringen ist. Die Derivate dienen allerdings keinesfalls dazu, auf die Individuen in der Extension dieser Pr¨adikate selbst Bezug zu nehmen. Gem¨aß der obigen Argumentation beruhen also auch diese Derivate auf der intensionalen Interpretation ihrer Basispr¨adikate bzw. auf der Reifizierung der von diesen an Individuen zugewiesenen Eigenschaften. Der Verweis auf das Zusammenspiel der abstrakten Suffixbedeutung und der in Kapitel 2 diskutierten Abh¨angigkeit derivationsmorphologischer Prozesse von pragmatischen Anforderungen w¨are zwar f¨ur die Analyse der bisher betrachteten denominalen -age-Derivate ausreichend. Es soll an dieser Stelle allerdings noch einmal betont werden, dass v.a. f¨ur Derivate wie fermage o.¨a. die M¨oglichkeit von bewusster Analogiebildung seitens der Sprecher genauso wenig prinzipiell ausgeschlossen werden soll, wie weiter oben das Streben nach der Bedeutungsdifferenzierung von Dubletten prinzipiell ausgeschlossen wurde. Es wird lediglich argumentiert, dass das gesamte Spektrum deverbaler und denominaler -age-Nominalisierungen nur unter der Annahme koh¨arent analysiert werden kann, dass das Sprecherverhalten (inklusive etwaiger konkreter Analogiebildungen) durch die abstrakte Bedeutung der Nominalisierungssuffixe mitbestimmt wird. Etwas anders verh¨alt es sich mit denominalen -age-Nominalisierungen wie plumage (‘Federkleid’) in (39d.), die auf Gruppenindividuen Bezug nehmen (wobei in der vorliegenden Arbeit auch Ortsbezeichnungen wie z.B. alpage, ‘Alm’ in (39e.) als Gruppennomina analysiert werden). Im Zusammenhang mit der Analyse von Gruppentermen stellt Barker (1992) die interessante Hypothese auf, dass ein Gruppenterm mereologisch gesehen ein atomisches Individuum bezeichnet, welches mit der Pluralit¨at der Gruppenmitglieder u¨ ber die ‘Mitgliedsfunktion’ (“membership funtion”) f verbunden ist (“A group then is any entity which f maps onto a proper sum”, vgl. Barker 1992: 77 bzw. Abbildung 4.9). Gruppenterme sind demnach quantitativ hybrid, d.h. sie nehmen sowohl auf das singul¨are Gruppenindividuum als auch auf das Pluralindividuum Bezug, das den Gruppenmitgliedern entspricht. Barkers Hauptargument f¨ur diese Hypothese ist, dass die Extension eines Gruppenterms l¨angst nicht immer mit der Extension des Pluralpr¨adikats identisch ist, das die Gruppenmitglieder denotiert. Beispielsweise kann Bill ein Mitglied des ‘Komitees A’ sein, was f¨ur ‘Komitee A’ nicht gilt (vgl. ebd.: 73).33 Analog kann z.B. f¨ur plumage argumentiert werden, dass In33

Zu demselben Ergebnis kommt u¨ brigens Carlson (1977: 62), wo ein vergleichbares Argument vorgebracht wird.

192

Abbildung 4.9: Die Membership-Funktion zur Repr¨asentation der Denotation von Gruppentermen nach Barker (1992: 77)

dividuen des Typs plume einen Bestandteil von Individuen des Typs plumage bilden k¨onnen, was f¨ur Individuen des Typs plumage nicht in dem Maße gilt. Der entscheidende Unterschied zwischen Gruppennomina wie plumage und denominalen Status-, Ereignis- oder Steuernominalisierungen wie concubinage, brigandage oder fermage ist, dass erstere im Gegensatz zu letzteren auf einer extensionalen Interpretation ihrer Basispr¨adikate beruhen. Der Zusammenhang der Gruppenterme zu der hier angenommenenen grundlegenden Bedeutung der -age-Nominalisierung ist daher nicht ohne Weiteres offensichtlich. In Kapitel 3.2.1 wurde allerdings bereits betont, dass denominale Nominalisierungen im Unterschied zu deverbalen Nominalisierungen generell einen Zusammenhang zu der Extension der Basispr¨adikate erkennen lassen, da sie Arten denotieren, von welchen die Individuen in der Extension der Basispr¨adikate konkrete Instanziierungen darstellen.34 Das heißt, die Relation zwischen der Extension eines Basispr¨adikats und der Extension des zugeh¨origen nominalisierten Terms bel¨auft sich darauf, dass die Individuen, die unter erstere fallen, Instanziierungen von letzerer darstellen. In Kapitel 5.1.4 wird vor diesem Hintergrund argumentiert, dass die Gruppeninterpretation von -age-Nominalisierungen diachron auf einer komplexen metaphorisch-metonymischen Verschiebung beruht, die durch parallele Similarit¨ats- und Kontiguit¨atsrelationen erm¨oglicht wird. Die Similarit¨at zwischen durch -age-Nomina denotierten Artindividuen und Gruppenindividiuen bel¨auft sich auf die quantitative Struktur der Referenten, da es sich in beiden F¨allen um singul¨are Individiuen mit assoziierten Pluralindividuen handelt. Parallel dazu besteht eine Teil-Ganzes-Relation zwischen den Instanziierungen der Art und den Mitgliedern der Gruppe, welche die extensionale (Re)Interpretation der Basispr¨adikate der entsprechenden -age-Nominalisierungen erm¨oglicht. In Kapitel 5.1.4 werden diese Zusammenh¨ange im Detail verdeutlicht, mit Beispielen illustriert und auf die diachrone Entwicklung der -ageNominalisierung zur¨uckgef¨uhrt. An dieser Stelle ist zun¨achst lediglich relevant, dass auch die -age-Derivate, die auf Gruppenindividuen Bezug nehmen, einen 34

F¨ur n¨ahere Erl¨auterungen zur Instanziierungsrelation vgl. Krifka et al. (1995: 66) sowie Kapitel 5.1.4 der vorliegenden Arbeit.

193 Bedeutungszusammenhang zu den u¨ brigen -age-Nominalisierungen erkennen lassen. Selbst wenn die vereinzelt gebildeten Gruppenterme auf -age auf einem dem Sprecher bewussten konkret-analogischen Ableitungsprozess beruhen sollten, ist auch dieser Prozess mit der abstrakten Bedeutung des Suffixes bzw. der (auf deklarativer Ebene) prototypisch organisierten Ableitungskategorie vereinbar. Es ist ein weiterer Vorteil der hier verfolgten Analyse, die denominalen -age-Ableitungen auf denselben Prozess der Eigenschaftsnominalisierung zur¨uckf¨uhren zu k¨onnen, welcher der Hypothese nach auch den deverbalen Derivaten zugrundeliegt. Dar¨uber hinaus wird die hier entwickelte kontrastive Analyse von -ment und -age auch dem Umstand gerecht, dass -age und nicht -ment neben deverbalen auch denominale Derivate ableitet: W¨ahrend die Nominalisierung mittels -age aufgrund der spezifischen Bedeutung des Suffixes auch im Rahmen von nominalen Basispr¨adikaten brauchbare Eigenschaftsreifizierungen erm¨oglicht, w¨urde die Ableitung nominaler Pr¨adikate mittels -ment in den meisten F¨allen zu semantisch-pragmatisch unbrauchbaren und h¨ochstwahrscheinlich uninterpretierbaren lexikalischen Einheiten f¨uhren und unterbleibt daher.

4.5

Fazit: Die Verwendung der -ment- und -age-Nomina

In diesem Kapitel wurde gezeigt, dass es der in der vorliegenden Arbeit entwickelte Ansatz zur semantischen Analyse von -ment und -age erlaubt, die attestierten Daten sowohl im Hinblick auf ihre qualitativen als auch hinsichtlich ihrer quantitativen Eigenschaften zu erfassen, ohne dass einzelne Strukturen als Gegenbeispiele oder Ausnahmen, z.B. zur sogenannten Agentivit¨atshypothese, aus der Untersuchung ausgeklammert werden m¨ussten. Der grundlegende Unterschied zwischen -ment und -age ist, dass -ment die Eigenschaft des Geschehnisbetroffenen reifiziert, sich im Resultatszustand des vom Basisverb bezeichneten Ereigniskomplexes zu befinden, wohingegen -age die von verbalen Pr¨adikaten zugewiesenen Eigenschaften unter Beibehaltung der den Basisverben inh¨arenten Topikalisierung des Geschehnistr¨agers reifiziert. Es folgt, dass die -ment-Nominalisierungen die von den Basisverben bezeichneten Ereigniskomplexe entweder aus einer resultativen Perspektive (Resultatszustands- und Individueneigenschaftslesarten) oder aus der Perspektive des Geschehnisbetroffenen (passivische Lesarten), zumindest aber aus einer nicht-agentivischen und nicht-prozessualen Gegebenheitsperspektive (eventive Bezugnahme auf Ereigniskomplexe ohne salienten Geschehnisbetroffenen) darstellen, w¨ahrend -ageNominalisierungen sich durch ihre allgemeine Prozess-Ausgerichtetheit auszeichnen.

194 In diesem Kapitel wurde deutlich, dass sich eine solide und umfassende kontrastive Analyse der -ment- und der -age-Nominalisierung nur durch eine detaillierte Untersuchung der Interaktion zwischen der abstrakten Suffixbedeutung und den abstrakten Bedeutungskomponenten der Basisverben bzw. letztlich der Beschaffenheit der durch diese bezeichneten Ereigniskomplexe hinsichtlich naheliegender Perspektivierungen erzielen l¨asst, da sich der semantische Einfluss der Suffixe je nach den Bedeutungskomponenten der Basisverben unterschiedlich auf die Perspektivierung des Basisereignisses auswirkt: Im Bereich der reinen Zustandswechselverben fixiert -age im kausativen Bereich die aktivischtransitive Perspektivierung (vgl. z.B. s´echage, ‘Trocknung’ in (13)), w¨ahrend -ment aufgrund der resultativen Bedeutung des Suffixes passivische Lesarten ableitet (z.B. r´etablissement, ‘Wiedereinf¨uhrung’ in (7)). Die inchoativen Lesarten werden hingegen gr¨oßtenteils mit -ment zu Resultatszustands- und Individueneigenschaftslesarten abgeleitet (z.B. acharnement, ‘Verbissenheit’ in (6)), weil reine Zustandswechselereignisse aufgrund deren spezifischer Beschaffenheit von den Sprechern meist aus resultativer Perspektive (d.h. unter Topikalisierung des Geschehnisbetroffenen bzw. aus der Perspektive des sich anhand diesem manifestierenden Resultatszustands) in den Diskurs eingef¨uhrt werden. Ganz a¨ hnlich zeigt sich auch f¨ur die rein inchoativen und die aspektuellen Verben sowie f¨ur die Verben f¨ur k¨orperbezogene Aktivit¨aten, dass die Sprecher in den meisten F¨allen ein resultatives Ableitungsverfahren des -ment-Typs ausw¨ahlen, um auf die entsprechenden Ereigniskomplexe Bezug zu nehmen, da sich diese Ereigniskomplexe aufgrund ihrer spezifischen Beschaffenheit besonders f¨ur eine Topikalisierung des Geschehnisbetroffenen bzw. f¨ur eine Darstellung aus der resultativen Perspektive anbieten. -Age-Nominalisierungen werden hingegen dann gew¨ahlt, wenn im entsprechenden Diskurs die Ereignisteilhabe des Geschehnistr¨agers thematisiert bzw. die den Basisverben inh¨arente Topikalisierung des Geschehnistr¨agers beibehalten werden soll. Vor dem Hintergrund der semantisch-pragmatischen Angemessenheitsbedingung ist es somit ganz nat¨urlich, dass beispielsweise im rein inchoativen Bereich nur -age-Nomina f¨ur zielgerichtete Bewegungen wie appareillage (‘Ablegen’), bzw. im Bereich von k¨orperbezogenen Aktivit¨aten nur -age-Nomina von gro-Verben wie maquiller (‘schminken’), jedoch keine Ableitungen von ntm-Verben wie s’´etirer (‘sich strecken’), im Korpus vorkommen, denn die Sprecher greifen haupts¨achlich dann auf das prozessausgerichtete Nominalisierungsverfahren zur¨uck, wenn sich die zu versprachlichenden Ereigniskonzepte f¨ur eine Topikalisierung des Geschehnistr¨agers bzw. eine Thematisierung der Prozesskomponente anbieten. Im Bereich der homogen-dynamischen Verben wie essayer (‘anprobieren’ u.a.) oder accompagner (‘begleiten’) kommen hingegen beide Nominalisierungsverfahren zum Zuge, da sich die entsprechenden Ereigniskomplexe sowohl zur Darstellung aus einer prozessual-agentivischen als auch zur Bezugnahme aus einer nicht-prozessualen, nicht-agentivischen Perspektive anbieten.

195 Hier zeigt sich die subtile Interaktion zwischen der Bedeutung der Basisverben und der abstrakten Bedeutung der Nominalisierungssuffixe besonders deutlich am Beispiel der -ment-Nominalisierung: W¨ahrend Ereigniskomplexe mit salienten geschehnisbetroffenen Partizipanten durch die -ment-Nominalisierungen eine passivische Perspektivierung erfahren, f¨uhrt die -ment-Ableitung im Fall von intransitiven Verben wie agir (‘handeln’) und von niedrig transitiven Verben wie accompagner zu einer bloßen nicht-agentivischen bzw. von allen Partizipanten unabh¨angigen Perspektivierung. Der Grund hierf¨ur ist entweder, dass (wie im Fall von agir) kein Partizipant als Geschehnisbetroffener konzeptualisierbar ist, oder dass (wie im Fall von accompagner) dem Geschehnisbetroffenen durch das vom Basisverb bezeichnete Ereignis keine salienten Resultatszustandseigenschaften zugeschrieben werden. In diesen beiden Bereichen reifiziert -ment Eigenschaften, welche gewissermaßen als “Resultatszustandseigenschaften der Situation an sich” aufgefasst werden k¨onnen, was aufgrund der Nichtexistenz zus¨atzlicher resultativer Komponenten zu der attestierten nicht-prozessualen, nicht-agentivischen Interpretation der -ment-Nominalisierungen f¨uhrt. Weist das durch das Basisverb bezeichnete Ereignis allerdings, wie im Fall der Aktivit¨aten mit Emission als Beiprodukt oder der reinen Emissionsereignisse, weitere, der Hypothese nach zum Ereigniskonzept geh¨orige resultative Komponenten auf, werden diese im Zuge der -ment-Nominalisierung reifiziert, da sie eine saliente resultative Komponente von Emissionsereignissen darstellen. Daraus ergibt sich die generelle Produktbezogenheit der -ment-Nominalisierungen im Emissionsbereich (vgl. lapement, ‘Schlabbern’ in (23), couinement, ‘Fiepen’ in (26), hurlement, ‘Geschrei’ in (27) etc). Dar¨uber hinaus zeigt sich, dass die in Kapitel 3 entwickelte Bedeutungsanalyse von -ment und -age auch dem Umstand gerecht wird, dass f¨ur gew¨ohnlich nur -age und nicht -ment neben deverbalen auch denominale Derivate ableitet: Die im Zuge der -age-Nominalisierung vollzogene bloße Eigenschaftsreifizierung kann auch im denominalen Bereich zur Ableitung von Derivaten dienen, die auf die vom Basispr¨adikat bezeichnete Eigenschaft Bezug nehmen, ohne dessen Extension miteinzubeziehen. Demgegen¨uber sind nominale Pr¨adikate mit der durch -ment eingef¨uhrten perspektivischen Verschiebung f¨ur gew¨ohnlich nicht kompatibel, da es der Hypothese nach kaum Konzepte gibt, die mittels eines derart abgeleiteten nominalen Pr¨adikats versprachlicht werden k¨onnten. Dabei ist zu beachten, dass der in Kapitel 3 entwickelte Ansatz zum einen alle typischen Tendenzen der -ment- und -age-Nominlisierungen voraussagt, dass sich zum anderen aber auch die “Ausnahmen” bzw. die den Tendenzen gegenl¨aufigen Beispiele leicht in die Analyse integrieren lassen, da die von den Verben durch die Beschaffenheit der Ereignisse mitgebrachten Pr¨adestinationen hinsichtlich der Darstellungsperspektive nat¨urlich bei entsprechenden Bezeichnungsbed¨urfnissen u¨ berschrieben werden k¨onnen. Wenn ein Sprecher beispielsweise speziell die Rolle des Geschehnistr¨agers bzw. die Prozesskomponente von

196 inchoativen Zustandswechselereignissen wie s’´enerver (‘sich aufregen’), von ntm-Ereignissen wie s’accroupir (‘(sich nieder)hocken’) oder von reinen Emissionsereignissen wie clignoter (‘blinken’) usw. thematisieren m¨ochte, w¨ahlt er (offensichtlich) die -age-Nominalisierung, und zwar ungeachtet der Tatsache, dass die entsprechenden Verben u¨ blicherweise aus den oben genannten Gr¨unden mittels -ment nominalisiert werden (vgl. u.a. die Beispiele unter (10) in Kapitel 3.1.3 sowie diejenigen im vorliegenden Kapitel unter (14) in Abschnitt 4.2.1, unter (22) in Abschnitt 4.2.4, unter (30), in Abschnitt 4.3.1 und unter (33) in Abschnitt 4.3.2). Insgesamt gesehen zeigen diese und die weiteren Korpusdaten, dass die Ableitung neuer -ment- und -age-Nominalisierungen letztlich nicht durch das Bestreben determiniert wird, die Derivate in gr¨oßtm¨oglicher konkreter Analogie zu bestehenden Ableitungen zu bilden. Die hier untersuchten Sprachdaten stellen also eindeutige Gegenevidenzen zu dem analogiebasierten Ansatz dar, in welchem die den generellen Mustern gegenl¨aufigen Ableitungen nicht analysiert werden k¨onnen, da sich diese gerade nicht nach den generell u¨ blichen Mustern richten. Insbesondere die von den allgemeinen Tendenzen abweichenden F¨alle zeigen, dass die Bildung von deverbalen -ment- und -age-Nominalisierungen augenscheinlich auf einer abstrakten, kreativen Wortbildungskompetenz beruht, die es den Sprechern erm¨oglicht, die durch die hoch transparenten, regelhaften Ableitungsverfahren bereitgestellten Perspektivierungsoptionen je nach Derivationsbasis und Perspektivierungsanforderungen flexibel zur Versprachlichung der intendierten Inhalte einzusetzen. Das grunds¨atzliche Ergebnis der hier durchgef¨uhrten Korpusuntersuchung ist also, dass sowohl der in Kapitel 3 entwickelte Ansatz zur mono-semantischen Analyse der neufranz¨osischen -ment- und -ageNominalisierung als auch das in Kapitel 2 elaborierte moderat-emergentistische Modell durch die untersuchten Sprachdaten nachhaltig best¨atigt werden. Im folgenden Kapitel, welches die synchronen Eigenschaften von -ment und -age mit der Entstehungsgeschichte der Suffixe in Zusammenhang bringt, werden sowohl die mono-semantische Analyse als auch der moderat-emergentistische Ansatz zudem eine unabh¨angige diachrone Best¨atigung erfahren.

5

Die diachrone Perspektive

Dieses Kapitel behandelt die diachrone Entwicklung von -age und -ment, wobei sich Abschnitt 5.1 mit der Diachronie von -age und Abschnitt 5.2 mit der Diachronie von -ment besch¨aftigt. In Abschnitt 5.3 werden die Ergebnisse zusammengefasst. F¨ur beide Suffixe soll gezeigt werden, dass sich ihre abstrakte Bedeutung vom Altfranz¨osischen bis heute nicht ge¨andert hat, sondern dass sich Ver¨anderungen, wenn u¨ berhaupt, nur auf der Ebene der Derivatsverwendung ereignet haben. Der einzige semantisch-grammatische Wandel, der im Zusammenhang mit den beiden Suffixen zu verzeichnen ist, betrifft die Neuinterpretation der -age- bzw. -aticu-Derivate w¨ahrend der Entwicklung vom Latein zum Altfranz¨osischen. Dieser Wandel bel¨auft sich gr¨oßtenteils darauf, dass die abstrakte Bedeutung des Ableitungsverfahrens neu auf die zur Verf¨ugung stehenden Strukturelemente verteilt wird (d.h. dass die ‘Form-Inhalt-Gleichung neu gel¨ost’ wird, sinngem¨aß nach Eckardt 2006: 13, vgl. Abschnitt 5.1.3). Die -ment-Suffigierung entwickelte sich aus dem lateinischen Nominalisierungssuffix -mentum, das vor der klassischen Epoche entstanden ist und sich daher nicht mehr mit Gewissheit nachvollziehen l¨asst. Abschnitt 5.2 zeigt allerdings eine Reihe von Indizien f¨ur die Hypothese, dass sich auch die -mentNominalisierung durch die abstrakt-semantische Kontinuit¨at ihrer Bedeutungsbestandteile auszeichnet. Somit wird in diesem Kapitel erstens eine diachrone Best¨atigung f¨ur die in den Kapiteln 3 und 4 veranschlagte mono-semantische Differenzierung zwischen nfrz. -ment und -age gegeben. Zweitens best¨atigt die Analyse auch die bereits von Lieber (2004) aufgestellte und hier in das moderatemergentistische Modell u¨ bertragene Generalisierung, dass die mit Derivationsmorphemen assoziierten abstrakten Bedeutungsmerkmale weit weniger anf¨allig f¨ur Bedeutungswandel sind als die konkreteren Bedeutungen der komplexen Derivate und a¨ hnlicher lexikalischer Einheiten. Drittens ist die große Diskrepanz zwischen der hohen diachronen Stabilit¨at der abstrakten Bedeutungsmerkmale der Derivationsaffixe und den zahlreichen Bedeutungsver¨anderungen auf der Ebene komplexer Derivate eine weitere Bekr¨aftigung f¨ur die Hypothese der dualen Stratifizierung bzw. f¨ur das moderat-emergentistische Modell an sich.

5.1

Die Diachronie von -age

In diesem Abschnitts wird die diachrone Entwicklung der franz¨osischen -ageSuffigierung untersucht. Den Ausgangspunkt der Untersuchung bildet die um-

198 fassende gebrauchsbasierte Studie u¨ ber die Entwicklung der -age-Suffigierung von Fleischman (1980), welche in Abschnitt 5.1.1 vorgestellt wird. W¨ahrend Fleischman das Suffix ausschließlich im Zusammenhang mit den von diesem gebildeten Derivaten vorstellt, soll hier argumentiert werden, dass der -ageSuffigierung auf der Grundlage des aus dem Latein stammenden Inputs bereits im Altfranz¨osischen die abstrakte Bedeutung zukam, die das Suffix der hier entwickelten Analyse zufolge auch im Neufranz¨osischen noch innehat, und dass diese abstrakte Bedeutung auch bereits in nur leicht abweichender Form f¨ur den lateinischen Vorl¨aufer der -age-Nominalisierung konstitutiv war. Nach Fleischman (1980) gliedert sich die Entwicklung von -age in zwei Etappen. Der erste Wandel ereignet sich vom Latein zum Altfranz¨osischen, der zweite vom Alt- zum Neufranz¨osischen. In Anlehnung an diese Einteilung wird in den Abschnitten 5.1.2 bis 5.1.4 zun¨achst die Entwicklung der -age-Suffigierung vom Latein zum Altfranz¨osischen thematisiert, welche sich im Wesentlichen auf die Reanalyse von lateinischen substantivierten relationalen Adjektiven auf -aticu bel¨auft. In Abschnitt 5.1.5 wird daraufhin gezeigt, dass die Ver¨anderung, die die -age-Suffigierung vom Alt- zum Neufranz¨osischen aufweist, ausschließlich die Ebene der konkreten Derivate bzw. der Derivatsverwendung betrifft und die Bedeutung des Suffixes von dieser Ver¨anderung nicht ber¨uhrt wird. Das Ergebnis der Untersuchung wird also sein, dass die -aticu- bzw. -age-Suffigierung im Laufe der Entwicklung vom Latein zum Neufranz¨osischen nur einen einzigen Reanalyseprozess durchlaufen hat.

5.1.1 Der gebrauchsbasierte Ansatz von Fleischman (1980) Laut Fleischman (1980) entwickelte sich die franz¨osische -age-Nominalisierung auf der Basis der lateinischen -aticu-Suffigierung, mittels welcher relationale Adjektive abgeleitet wurden, die die Zugeh¨origkeit oder eine charakteristische Eigenschaft des mit dem Adjektiv spezifizierten Individuums bezeichneten (z.B. fluvi-aticu ‘im/am Fluss lebend, zum Fluss geh¨orig’, lun-aticu ‘auf dem Mond lebend, zum Mond geh¨orig’, (caesu) form-aticu ‘in der Form produzierter K¨ase’ etc., vgl. ebd.: 8).1 Wie auch von Leumann et al. (1963: 339) herausgestellt wird, existierte neben zahlreichen denominalen Derivaten auch eine gewisse Anzahl deverbaler Ableitungen (z.B. vol-aticu ‘fliegend’, err-aticu ‘fahrig, unstet’, ven-aticus ‘jagend, zur Jagd geh¨orig’). Außerdem stimmt Fleischman 1

¨ Bei diesen und den folgenden Ubersetzungen lateinischer und altfranz¨osischer Lexe¨ me handelt es sich entweder um eigene Ubersetzungen der englischen Paraphrasen ¨ von Fleischman (1980), um eigene Ubersetzungen der englischen Definitionen aus dem Lateinlexikon von Lewis & Short (1963) (vgl. f¨ur eine n¨ahere Beschreibung auch ¨ Anhang D.2) oder um Ubersetzungen aus der lateinischen Grammatik von Leumann et al. (1963).

199 (1980: 9f) mit der obigen lateinischen Grammatik in der Ansicht u¨ berein, dass die -aticu-Adjektive bereits im Sp¨atlatein, also nach der Datierung von M¨ullerLanc´e (2006: 34ff) in der Zeit zwischen 180 bis 650 n.Chr., erstens eine starke Tendenz zeigten, Steuern, Abgaben oder Abkommen des Feudalwesens zu bezeichnen, und zweitens h¨aufig in substantivierter Form auftraten (z.B. agraticum < agru ‘Steuer auf Agrarprodukte’, cenaticum < cena ‘Bezahlung f¨ur eine Mahlzeit’, etc.). So gelangt Fleischman (1980) nach einer Durchsicht der Urkunden Pippins, Karlmanns und Karls des Großen (vgl. M¨uhlbacher et al. 1906) sowie der Auflistung des Steuervokabulars in dem von DuCange im 17. Jahrhundert redigierten Glossarium Ad Scriptores Mediae et Infimae Latinitatis (vgl. Du Cange 1954) zu der Schlussfolgerung, dass -aticu bereits am Ende des 8. Jahrhunders “a productive suffix in the formation of fiscal terms on nouns stems of any type” bzw. “the dominant designator of taxes, dues, services, and the like” war (ebd.: 12). Die Produktivit¨at der -aticu-Derivate im fiskalen Bereich f¨uhrt Fleischman (1980: ebd.) mit Verweis auf Meyer (1934) auf den Einfluss des griechischen -(α)τ ιχoυ zur¨uck, mit welchem laut Fleischman (1980) bzw. Meyer (1934) ebenfalls insbesondere Steuerterme sowie monet¨are oder administrative Bezeichnungen gebildet wurden. Die Substantivierung dieser Adjektive beschreibt Fleischman als einen elliptischen Prozess, bei welchem die Bedeutung des Kopfnomens in diejenige des substantivierten Adjektivs eingeht:2 [T]he substantivization of the adjective endowed the new nominalization (henceforth termed “N2 ”) with the meaning of the original Noun + Adjective phrase: CENSU (N1 ) ‘payment, rent’ + PULVER-ATICU (Adj.) ‘relating to dust’ > PULVERATICU (N2 ) ‘payment to surveyors for work that raises the dust’ . . . . (Fleischman 1980: 10)

Neben den zahlreichen fiskalen Termen finden sich laut Fleischman in mittellateinischen Texten und in den ersten mundartlichen Texten, also nach der Datierung von M¨uller-Lanc´e (2006: 38ff) ebenfalls im 7. und 8. Jahrhundert, zwar auch vereinzelte mit -aticu- bzw. -age abgeleitete Gruppen- und Massennomina sowie denominale Abstrakta.3 2

3

Ganz a¨ hnlich ist dieser Prozess nach Blank (1997: 288ff) sowie Rainer (2005b: 425) als eine Art “Absorption der F¨ugungsbedeutung durch das Lexem, das in der F¨ugung die Rolle des Determinans innehatte” (Blank 1997: 293) zu verstehen. Hier wie im Folgenden wird die nominale Verwendung der -aticu-Adjektive als Substantivierung bezeichnet, um sie von dem sp¨ateren suffixalen Nominalisierungsverfahren abzugrenzen. Um von der phonologischen Entwicklung zu abstrahieren, wird im Folgenden im Zweifelsfall von der “-aticu/age-Suffigierung” die Rede sein. Die phonologische Entwicklung von -aticu bzw. -age wird in der vorliegenden Arbeit nicht behandelt, da sie weder auf die semantische Entwicklung der Derivate noch auf die unten zu er¨orternde Reanalyse des Suffixes Einfluss gehabt hat. F¨ur Details zur phonologischen Entwicklung von -aticu bzw. -age vgl. Fleischman (1980: 46–62).

200 In Medieval Latin documents and the earliest vernacular texts, . . . we already find evidence of -age/-agium serving to mark collectives (i.e. groups of count nouns, in the strict sense) and mass nouns as well as (denominal) abstracts, cf. FORMATICU > OFr. for-, mod. fro-mage ‘cheese’; MISSATICUM > OFr. message ‘message’ . . . , TERRATICU > OFr. terrage ‘field, piece of land’, VIATICU > OFr. voyage ‘provisions for a journey’ later ‘journey’ itself, etc. (Fleischman 1980: 14)

Aufgrund der geringen Anzahl derartiger Derivate kommt Fleischman (1980: ebd.) allerdings zu dem Schluss, dass die Entstehung letzterer Formen ‘sicherheitshalber’ im Altfranz¨osischen zu lokalisieren ist, w¨ahrend die lateinischen -aticu-Derivate einheitlich als fiskale Terme analysiert werden sollten (“[i]t is perhaps safer to contend that the suffix’s collective and abstract functions arose in the vernacular [and that] the only productive function of substantival -ATICU was a designator of fiscal terms”). Nach Fleischman kommt es dabei im Sp¨atlatein zu einer Reinterpretation der -aticu-Suffigierung, in Folge welcher das Suffix selbst als “Steuersuffix” interpretiert wird. Diesen Reinterpretationsprozess beschreibt die Autorin als Transfer einer Bedeutungskomponente vom urspr¨unglichen Kopfnomen zum Suffix. As an increasing number of such words [d.h. Steuerbegriffe (MU)] are produced, their common semantic element . . . tends to become associated with the suffix itself. Thus, -ATICU, and more significantly its descendant -age, came to acquire a specialized function in the area of fiscal terminology. That is to say, . . . the notion ‘tax’ or ‘payment’ (ultimately traceable to CENSU) was transferred from the noun (N2 ) as a whole to one of its component parts – the suffix. (Fleischman 1980: 11)

Nach Fleischman ist also davon auszugehen, dass -aticu als “Steuersuffix” in das Altfranz¨osische einging. Den altfranz¨osischen -age-Derivaten attestiert Fleischman (1980) dagegen eine a¨ hnliche Bandbreite an Lesarten, wie sie in der vorliegenden Arbeit in Abschnitt 4.4 bereits f¨ur die denominalen -age-Nominalisierungen des Neufranz¨osischen vorgestellt wurde. So k¨onnen altfranz¨osische -age-Nominalisierungen nach Fleischman neben fiskalen Termen auch Status-, Standes- oder Berufsbezeichnungen (“designations of status, rank position, dignitiy, office or jurisdiction”, z.B. cousinage ‘Vetternschaft’, ebd.: 69f), “right” terms (z.B. pasquage ‘Weiderecht bzw. -erlaubnis’, ebd.: 75), “abstracts” (z.B. damage ‘Schaden’, ebd.: 68f), “action nouns” (z.B. marriage ‘Heirat’, ebd.: 69) oder “collectives” (z.B. plumage ‘Federkleid’, ebd. 66ff) ableiten. Im Zusammenhang mit diesen lexikalischen Einheiten wendet sich Fleischman gegen die Ansicht von Iv˘anescu (1959: 196), nach welchem diese Formen ebenfalls auf die Substantivierung lateinischer Adjektive und damit auf die Absorption der Bedeutung eines ehemaligen Kopfnomens zur¨uckzuf¨uhren sind. Fleischman (1980: 65f) sowie (ebd.: 70–83) argumentiert dagegen, dass die entsprechenden Derivate ganz im Gegensatz zu den zahlreichen substantivierten Steuertermen nie in adjektivischer Verwendung attestiert wurden und dass es daher sinnvoller ist, die obigen Derivate alle als uminterpretierte Steuerterme aufzufassen. An anderer Stelle erkennt Fleischman allerdings an, dass die sogenannten “abstrakten

201 Bildungen” aus dieser Generalisierung auszunehmen sind, da diese scheinbar direkt vom Latein ins Altfranz¨osische u¨ bertragen wurden (vgl. ebd.: 71).4 Das heißt, nach Fleischmans Ansicht sind die oben genannten Lesarten durch metonymische Verschiebungen der “abstrakten” -aticu/-age-Derivate und der Steuerterme entstanden, wobei das Lehnswesen bzw. die Grundherrschaft als außersprachlicher Kontext den n¨otigen Rahmen f¨ur die erforderlichen Kontiguit¨atsrelationen zwischen den verschiedenen Konzepten geliefert hat. So beruhen die kollektiven -age-Derivate Fleischman zufolge auf der Tatsache, dass Steuern auf Waren oder Agrarprodukte oft in Form von Naturalien gezahlt wurden und dass diese Naturalien oft als Gruppenindividuen konzeptualisiert wurden (z.B. cortillage ‘Steuer auf Gartenprodukte’ > ‘Gartenprodukte’, porcage ‘Steuer, die in Form von Schweinen gezahlt wurde’ > ‘Schweineherde’ etc., vgl. Fleischman 1980: 70). Ganz a¨ hnlich sind die “action nouns” auf -age laut Fleischman dadurch entstanden, dass die Vasallen im Rahmen der Lehnsherrschaft erstens f¨ur verschiedene Dienstleistungen des Lehnsherren Steuern aufbringen mussten und dass zweitens verschiedene Aktivit¨aten nur unter Entrichtung entsprechender Bezahlung durchgef¨uhrt werden konnten (z.B. entrage ‘entrance fee’ > ‘entrance’, guionage ‘fee to a lord to safe-conduct across his lands’ > ‘escort, safe-conduct’, ebd.: 73). Ganz a¨ hnlich ist die Entstehung von Begriffen f¨ur Rechte oder Konzessionen nach Fleischman darauf zur¨uckzuf¨uhren, dass diese Rechte entsprechend bezahlt werden mussten (z.B. pasturage ‘Weiderecht’ > ‘Weidesteuer’), und die Status-, Standes- und Berufsbezeichnungen sind laut Fleischman entweder auf der Basis von abstrakten Bezeichnungen f¨ur Zeitr¨aume (z.B. veuvage ‘Witwenzeit’ > ‘Witwenschaft’, ebd.: 76) oder durch die Verschiebung von ‘kollektiven Ortsbezeichnungen’ (“collectives of place”, z.B. bailliage ‘Regierungsbezirk’ > ‘Regentschaft’, ebd.: 76) entstanden. Im ersten Fall ist nach Fleischman die Kontiguit¨at zwischen dem Zeitraum, in dem sich das durch die Basis bezeichnete Individuum befindet, und dessen Status zu dieser Zeit ausschlaggebend. Im zweiten Fall beruht die Metonymie auf der Kontiguit¨at zwischen dem Einflussbereich (“jurisdiction”, ebd.) des durch die Derivationsbasis bezeichneten Individuums und dem Status, der dem Individuum aus diesem Einfluss erw¨achst. Dabei scheint Fleischman davon auszugehen, dass -age im Zuge dieser Verschiebungen direkt mit den jeweils abgeleiteten Interpretationen assoziiert wird, so dass -age in der Folge z.B. auch direkt Kollektiva u.¨a. ableiten konnte. So spricht die Autorin beispielsweise im obigen Zusammenhang davon, dass die verschiedenen “Funktionen von -age” alle “offshoots of the fiscal function” sind (ebd.: 66), dass verschiedene “Funktionen des Suffixes” sich gegenseitig (wieder)beleben (ebd.: 64–81) und dass 4

Wie sich hier und im Folgenden zeigt weist Fleischmans Argumentation einige Inkonsistenzen und Unstimmigkeiten auf. Diese sollen allerdings nicht im Detail diskutiert werden, da es an dieser Stelle nur darum geht, die grundlegende Hypothese der Autorin vorzustellen, nach welcher -age als “Steuersuffix” in das Franz¨osische einging.

202 in der Arbeit das “semantic development of -age [in Old French]” (ebd.: 82) rekonstruiert wurde. Charakteristisch f¨ur die Studie von Fleischman ist insbesondere die soziolinguistische Begr¨undung f¨ur das Lesartenspektrum der -aticu/age-Bildungen und f¨ur deren mutmaßlichen Produktivit¨atszuwachs im Laufe des 7. bis 13. Jahrhunderts. So argumentiert Fleischman, dass das “Steuersuffix” -aticu aus dem Grund als produktives Suffix in die franz¨osische Sprache aufgenommen wurde, weil die feudal-staatlichen Verh¨altnisse in der entsprechenden Periode eine große Menge neuer fiskaler und abstrakter Begriffe als Bezeichnungen f¨ur die neu eingef¨uhrten Steuern, Abgaben, Rechte und Pflichten von Lehnsherren und Vasallen erfordelich machten. Western Europe feudal society, with its newly evolved abstract concepts and intricate network of payments and services, provided an ideal medium for the growth of a derivational morpheme which already functioned both as a tax suffix and as an abstract formative. (Fleischman 1980: 100)

Nach Fleischmans Analyse konnte diese Funktion aus dem Grund von -age u¨ bernommen werden, weil es bereits im Vorwege als “Steuersuffix” verwendet wurde. We recall from previous chapters that as early as the Merovingian and Carolingian periods -age/ATICU was employed as a “fiscal suffix”; it was no doubt this early link between -age and taxes that provided the initial stimulus for its entr´ee into the domain of feudal vocabulary. (Fleischman 1980: 128)

Das Bindeglied zwischen den altfranz¨osischen Steuertermen und den neufranz¨osischen Ereignisnominalisierungen auf -age sind laut Fleischman (1980: 147) die zu “action nouns” uminterpretierten Steuerterme, welche auch nach dem Untergang des Feudalismus in der Sprache erhalten blieben. In Anlehnung an die vergleichende Studie verschiedener altfranz¨osischer Nominalisierungssuffixe von Mark (1970) geht Fleischman (1980: 151ff) davon aus, dass die verschiedenen Nominalisierungssuffixe im Altfranz¨osischen weitestgehend synonym waren. Die Autorin ist der Ansicht, dass es sich dabei um ein f¨ur eine ¨ junge Sprache charakteristisches Ubergangsph¨ anomen handelt und dass derartige Synonymien im Laufe der weiteren Entwicklung einer Sprache f¨ur gew¨ohn¨ lich reduziert werden. Ahnlich wie f¨ur L¨udtke (1978) sind die entscheidenden Faktoren dabei auch f¨ur Fleischman die Ausbildung von Bezeichnungsgruppen und die Bedeutungsdifferenzierung von Dubletten (vgl. Fleischman 1980: 153– 157). By the late 16th century in French [the] earlier state of confusion had essentially resolved itself, with semantic and morphological overlapping drastically reduced. This tightening was accomplished in two ways: (1) through semantic differentiation of previously equivalent suffixes and, as a consequence, differentiation of the doublets . . . to which they had given rise, and (2) through loss of one or more lexi-

203 cal items in cases where several signifiants distinct only in the suffix corresponded to a single siginifi´e. (Fleischman 1980: 153)

Wie bereits die Herausbildung der Steuerfunktion im Latein bzw. Altfranz¨osischen f¨uhrt Fleischman allerdings letztlich auch die zum Funktionsspektrum des neufranz¨osischen -age f¨uhrende Spezialisierung auf soziolinguistische Faktoren zur¨uck, wobei bei dieser zweiten Bedeutungsspezialisierung der -ageSuffigierung nach Fleischman neben den soziolinguistischen Faktoren auch der Sprachkontakt mit dem Englischen eine zentrale Rolle einnimmt. So weist Fleischman im Zusammenhang mit der Entwicklung von -age vom Alt- zum Neufranz¨osischen zun¨achst auf den Umstand hin, dass das Suffix im Laufe der Jahre ins Englische entlehnt wurde und im Englischen im 18./19. Jahrhundert zur Ableitung von Technologievokabular diente, das zu der Zeit in großer Menge ben¨otigt wurde, um die im Zuge der Industriellen Revolution stark angestiegenen technischen Innovationen benennen zu k¨onnen.5 Weiterhin nimmt Fleischman an, dass die -age-Suffigierung daraufhin mit den aus England nach Frankreich importierten technischen Innnovationen und Prozessen aus dem Englischen ins Franz¨osische ‘r¨uckentlehnt’ wurde. The case of “technical -age” provides another illustration of a grammatical phenomenon whose development was conditioned by factors of a “cultural” nature, namely the rise of technology in English-speaking countries. (Fleischman 1980: 168) Given the strategic role of -age in the manufacturing of technological vocabulary in English, and in view of the fact that this vocabulary lent itself to exportation, together with the corresponding processes and operations, to the various industrializing nations, it was a relatively simple matter for French to utilize its own suffix – borrowed back, as it were – for the same purpose which it was currently serving in English, namely the derivation of technical action nouns denoting concrete processes, cf. drainage, telpherage, which penetrated French. (Fleischman 1980: 166)

W¨ahrend Fleischman ihre Vorstellungen bez¨uglich des R¨uckentlehnungsprozesses an dieser Stelle nicht weiter konkretisiert, wendet sie sich im Zusammenhang mit der Entwicklung von -aticu/age im Okzitanischen gegen die Sichtweise, dass die -age- bzw. -atge-Suffigierung durch die direkte Entlehnung lexikalischer Einheiten in das Okzitanische u¨ bertragen wurde. In Anlehnung an Sapir (1921) und Greenberg (1963) scheint Fleischman vielmehr davon auszugehen, dass die Entlehnung derivationsmorphologischer Einheiten als ein Prozess zu verstehen ist, bei welchem die Verwendung eines Affixes oder Verfahrens der Ursprungssprache in der entlehnenden Sprache nachgeahmt wird. 5

Es ist anzunehmen, dass sich die Entlehnung im Zuge der zahlreichen Entlehnungsprozesse ereignete, welche das Englische im 14. bis 15. Jahrhundert aus dem Romanischen erfahren hat (vgl. die in Kapitel 2.2.3 zitierten Referenzen, z.B. Dalton-Puffer 1996: 7–13). N¨ahere Angaben bez¨uglich der Datierung dieses Entlehnungsprozesses finden sich bei Fleischman allerdings nicht.

204 It seems preferable to think in terms of (1) cognate speech areas individually preserving a function common to the parent language: (2) “drift”, as postulated by Sapir and elaborated by J.H. Greenberg as “convergence” among genetically related languages, or (3) borrowing in more nuanced forms such as calques, “loantranslations”, “loan-renditions”, or “loan creations”, rather than wholesale importation of lexical items in their entirety. (Fleischman 1980: 55)

Vor diesem Hintergrund ist es sehr wahrscheinlich, dass Fleischman die R¨uckentlehnung von -age aus dem Englischen ins Franz¨osische ebenfalls auf “loantranslations” (‘Lehn¨ubersetzungen’), “loan-renditions” (‘Lehn¨ubertragungen’) und/oder “loan-creations” (‘Lehnsch¨opfungen’) zur¨uckf¨uhrt.6 Gleichzeitig betont die Autorin allerdings, dass mit Hilfe von -age eine Vielzahl von “English action nouns in -ing” ins Franz¨osische u¨ bertragen wurden, obwohl auch -ing als Lehnsuffix im Franz¨osischen existiert (ebd.: 167). Diesen Umstand erkl¨art Fleischman damit, dass das Franz¨osische die R¨uckentlehnung seines eigenen Suffixes der Lehn¨ubersetzung mittels -ing ‘vorzieht’ (“French seems to prefer its own highly productive suffix to an import in the process of grammaticization”, ebd.).

5.1.2

Die Reanalyse der -age-Derivate im Altfranz¨osischen

Fleischman (1980) bietet eine umfassende und detailreiche Untersuchung der diachronen Entwicklung des Lesartenspektrums lateinischer -aticu- und franz¨osischer -age-Derivate. Fleischmans Herangehensweise deckt sich insofern mit der hier vertretenen semantisch-pragmatischen Sicht auf derivationsmorphologische Strukturbildungsprozesse, als auch nach dieser das Hauptziel der Ableitung komplexer lexikalischer Einheiten in der Versprachlichung bisher nicht versprachlichter Konzepte besteht. Wie im vorigen Abschnitt beschrieben vertritt daher auch Fleischman (1980) die Ansicht, dass die Entwicklung und Produktivit¨at von Ableitungsmuster wie der -age-Nominalisierung eng mit gesellschaftlichen Entwicklungen verkn¨upft ist. Der Unterschied zwischen Fleischmans Abhandlung und der hier vorgestellten Analyse der -age-Nominalisierung ist, dass die Untersuchung von Fleischman (1980) auf der Ebene der Derivatsverwendung, d.h. der Bedeutung der -age-Derivate in ihren konkreten Kontexten, verbleibt, wohingegen in der vorliegenden Arbeit zwischen dieser konkreten Repr¨asentationsebene und einer Ebene abstrakter Bedeutungsrepr¨asentationen unterschieden wird. Der Argumentation in den Kapiteln 2 bis 4 folgend soll in diesem und den folgenden Abschnitten gezeigt werden, dass sich die -age-Suffigierung auch diachron in idealer Weise f¨ur eine im Sinne von Kapitel 2 stratifizierte Beschreibung anbietet und dass die -age-Derivate aus dem 6

F¨ur die Definition der Begriffe Lehn¨ubersetzung, Lehn¨ubertragung und Lehnsch¨opfung vgl. Hope (1971: 618f).

205 Grund bevorzugt in den von Fleischman beschriebenen Bezeichnungsdom¨anen verwendet werden, weil sie durch die abstrakte Bedeutung des Suffixes f¨ur die Bezeichnung der entsprechenden Konzepte pr¨adestiniert sind. Die zwei zentralen Probleme an der Studie von Fleischman (1980) sind zum einen, dass das altfranz¨osische -age als ein “Steuersuffix” analysiert wird, und zum anderen, dass das Konzept der “Funktion” eines Suffixes in der Arbeit weitestgehend unklar bleibt. So ergibt eine n¨ahere Betrachtung altfranz¨osischer Korpusdaten, dass die Analyse des altfranz¨osischen -age als “Steuersuffix” empirisch nicht best¨atigt werden kann. Bereits im vorigen Unterabschnitt ist deutlich geworden, dass -aticu bzw. -age zwar besonders h¨aufig, jedoch l¨angst nicht ausschließlich in der Steuerdom¨ane auftrat. So weist erstens Fleischman selbst auf die Existenz von denominalen “Abstrakta” und Kollektivnomina im Sp¨atlatein hin. Zweitens zeigt ein Vergleich mit weiteren einschl¨agigen Arbeiten wie Iv˘anescu (1959), dass die Etymologie vieler mit dem Lehenswesen in Verbindung gebrachter -age-Derivate bisher nicht gekl¨art werden konnte, dass die Hypothese, nach welcher die entsprechenden Lesarten als “offshoots of the fiscal function of -age” und nicht als genuine Substantivierungen von lateinischen -aticu-Derivaten aufzufassen sind, also auf der Grundlage der bisherigen Untersuchungen nicht zu belegen ist.7 Drittens wird die Klassifizierung des altfranz¨osischen nominalisierenden -age als “Steuersuffix“ durch eine eigens durchgef¨uhrte empirische Analyse der -age-Nominalisierungen des Nouveau Corpus d’Amsterdam (im Folgenden NCA) in Frage gestellt, bei welcher sich die von Fleischman (1980) beschriebene Pr¨adominanz der Steuerlesarten nicht nachweisen l¨asst.8 Im Zuge dieser Untersuchung wurde f¨ur die 94 im Korpus enthaltenen -age-Lexeme ermittelt, welche Lesarten die jeweils zugeh¨origen Tokens in ihren konkreten Verwendungskontexten aufweisen, wobei jede attestierte Lesart pro Type nur einmal gez¨ahlt wurde. Das heißt, wenn ein Lexem wie barnage im Korpus beispielsweise sowohl in der Standes- oder Statuslesart (barnage 1 = ‘Ritterlichkeit’) als auch in der Gruppenlesart (barnage 2 = ‘Rit7

8

Wie bereits in Kapitel 2.2.4 angedeutet wird in der vorliegenden Arbeit die Ansicht vertreten, dass die einzigen verf¨ugbaren historischen Quellen, d.h. Lexika und Korpora, unter anderem aufgrund der geringen Gr¨oße und Repr¨asentativit¨at nicht als verl¨assliche Ressourcen gelten k¨onnen, wenn es darum geht, die Entstehungsgeschichte bestimmter Wortbildungen im Detail nachzuvollziehen. Noch weniger kann auf der Grundlage dieser Quellen Gewissheit u¨ ber das Entstehungsdatum von Derivaten erlangt werden (vgl. dazu auch die einschl¨agigen Beispiele in Alsdorf-Boll´ee 1970: 173). F¨ur eine a¨ hnlich pessimistische Sicht auf die Quellenlage in der diachronen Linguistik vgl. z.B. Labov (1982). F¨ur n¨ahere Informationen zum NCA vgl. erneut Anhang C.2 bzw. Stein et al. (2006), Gleßgen & Gouvert (2007) oder Kunstmann & Stein (2007). Die Auswahl der Nominalisierungen folgt weitestgehend den in Kapitel 4.1.2 erl¨auterten Kriterien, wobei allerdings bei der Auswahl der altfranz¨osischen Daten keine Frequenzbeschr¨ankungen zugrunde gelegt wurden.

206 terheer’) verwendet wurde, wurde es zu diesen beiden Klassen gerechnet. Die Gesamtzahl der derart ermittelten Typeverwendungen bel¨auft sich auf 134. Wie Abbildung 5.1 zeigt ergibt diese Ausz¨ahlung, dass von den 94 -age-Types im NCA nur 20 Types unter anderem zur Bezeichnung von feudalen Steuern, Regulierungen oder Rechten verwendet werden (15% der 134 verschiedenen Typeverwendungen, z.B. terrage ‘Landzins’, chevage ‘Kopfsteuer, Tribut’, fornage ‘Backabgabe an den Backofenbesitzer’ etc., s. auch das weiter unten folgende Beispiel (1a.)).9

Abbildung 5.1: Lesartenverteilung der -age-Types im altfranz¨osischen NCA

Zu 21% (28 Types) dienen die -age-Lexeme des NCA der Bezeichnung des Standes, des Status oder einer charakteristischen Eigenschaft der durch die Derivationsbasis bezeichneten Personengruppe (z.B. barnage ‘Ritterstand’, prestage ‘priesterlicher Stand’, parentage ‘Verwandtschaft’, vgl. auch Beispiel (1b.), ebd.). 14 Types werden unter anderem zur Bezeichnung von Zust¨anden verwendet (10% der Typeverwendungen, z.B. hontage ‘Schande’, forsenage ‘Wahnwitz’, malage ‘Krankheit’ bzw. Beispiel (1c.)). 31 Types bezeichnen unter anderem Gruppenindividuen (23% der Typeverwendungen, z.B. barnage ‘Ritterheer’, plumage ‘Federkleid’, boschage ‘Waldung’ bzw. Beispiel (1d.)). 14 Types nehmen unter anderem auf Orts- oder Fl¨achenbezeichnungen Bezug (10% der Typeverwendungen, z.B. rivage ‘Ufer’, finage ‘Gemarkung’, marage ‘Sumpf, Dickicht’, pasturage ‘Weide’ bzw. Beispiel (1e.)). 4 Types referieren auf Zeitabschnitte oder -verl¨aufe (3% der Typeverwendungen, z.B. hivernage ‘Winter’, charnage ‘Fleischzeit’ bzw. Beispiel (1 f.)). 15 Types werden unter anderem zur Bezugnahme auf Ereignisse verwendet (11% der Typeverwendungen, z.B. mariage ‘Heirat’, laborage ‘Feldarbeit’, pelerinage ‘Pilgerfahrt’ bzw. Beispiel 9

¨ Wenn nicht anders angegeben richten sich diese und alle folgenden Ubersetzungen altfranz¨osischer Nominalisierungen und Textbeispiele nach den Angaben des ToblerLommatzsch- bzw. Godefroy-Lexikons, welche in Anhang C.1 beschrieben werden. F¨ur den ToblerLommatzsch vgl. auch Blumenthal & Stein (2002).

207 (1g.)). Weitere 8 Types stellen schließlich rein resultativ verwendete Ereignisnominalisierungen dar, f¨ur welche eine deverbale Ableitung aus formalen und semantischen Gr¨unden naheliegt, welche aber im NCA nicht mit eventiver Interpretation vorkommen (6% der Typeverwendungen, z.B. bevrage ‘Getr¨ank’, chaufage ‘Heizung’, provage ‘Zustimmung’ bzw. Beispiel (1h.)). (1)

a. apres vient la foire del pre . . . , qu il danach kommen:PRS .3 SG der Markt der Wiese . . . wo EXPL covient le porcage rendre .... sich geb¨uhren:PRS .3 SG den Schweinezins entrichten:INF . . . ‘Danach kommt der Wiesenmarkt . . . , wo u¨ blicherweise der Schweinezins entrichtet wird . . . .’ (verson)10 b. et cele claciele guardoit en zz und dieses Schl¨usselchen verwahren:PST. IPFV.3 SG in einem escrignet k il avoit quanqu estovoit Schrein den er haben:PST. IPFV.3 SG als sein:PST. IPFV.3 SG a monniage. in M¨onchsstand. ‘und er verwahrte diesen kleinen Schl¨ussel in einem Schrein, den er bekam, als er im M¨onchsstand war.’ (mous) c. prianz vos mande que vos li Prianz Euch bitten:PRS .3 SG dass Ihr ihm rendez esyona sa sereur que maint jor wiedergeben:PRS .2 PL Esyona seine Schwester die viele Tage avez tenue en hontage. AUX : PRS .2 PL halten: PTCP in Schande. ‘Prianz bittet Euch, ihm seine Schwester Esyona wieder auszuh¨andigen, die Ihr viele Tage in Schande gehalten habt.’ (troi) d. tos li barnages lou prist a esgarder, all die Ritterschaft ihn nehmen:PST. PFV.3 SG zu schauen dist l un a l autre .... sagen:PST. PFV.3 SG der eine zu dem anderen . . . ‘Die gesamte Ritterschaft nahm ihn in Augenschein, dann sagte der eine zum andern . . . .’ (nimd) e. si

parlerent ensanle tantque li dux de sprechen:PST. PFV.3 PL zusammen bis der Herzog von venice dist qu il iroit Venedig sagen:PST. PFV.3 SG dass er gehen:PRS . COND .3 SG devant a toute se gent et qu il voran allen seinen Leuten und dass er PRT

10

¨ Die im Anschluss an die Ubersetzungen folgenden K¨urzel der in diesem Kapitel zitierten Beispiele beziehen sich wie in den vorigen Kapiteln auf die im Korpus enthaltenen Quellentexte und sind in Anhang C.2 aufgeschl¨usselt.

208 prenderoit le rivage. einnehmen:PRS . COND .3 SG das Ufer ‘. . . so sprachen sie zusammen bis der Herzog von Venedig sagte, dass er seinen Leuten voranginge und das Ufer einn¨ahme . . . .’ (clari2)11 f. veez coment il est enfant com il sehen:IMP.2 PL wie er sein:PRS .3 SG Kind wie er est fol e non savant veez sein:PRS .3 SG verr¨uckt und nicht wissen:GER sehen:IMP.2 PL quant il vent en eage com il wie er kommen:PRS .3 SG in Alter wie er s orgoille de corage . . . . u¨ berm¨utig werden:PRS .3 SG vor Mut ‘Seht, wie kindlich er ist, wie verr¨uckt und unwissend, und seht wie er, als er in die Jahre kommt, vor Mut u¨ berm¨utig wird.’ (best) g. ne ne la fieres ne ne und nicht ihr schaden:PRS . SUBJ .2 SG und nicht bates car vous n iestes pas schlagen:PRS . SUBJ .2 SG denn Ihr nicht sein:PRS .2 PL NEG ensamble par mariage. zusammen durch Heirat ‘und schade ihr nicht und schlage Sie sie nicht, denn Ihr seid nicht durch Heirat vereint.’ (amo) h. ensint a

ma dame meine Dame chativoison et cil qui Gefangenschaft und diejenigen die tantque dieu merci or l bis Gott danke schließlich sie li baron et rendue die Barone und wiedergeben.PTCP et son heritage. und ihr Erbe ADV

AUX : PRS .3 SG

est´e longuement en sein:PTCP lange in avec li estoient, mit ihr sein:PST. IPFV.3 PL ont recovree AUX . PRS .3 PL retten: PTCP li ont sa terre ihr AUX . PRS .3 PL ihr Land

‘So waren meine Dame und die Ihrigen lange in Gefangenschaft, bis die Barone sie schließlich errettet haben und ihr ihr Land und ihr Erbe zur¨uckgegeben haben.’ (lanc)

In Anbetracht der Tatsache, dass feudale Herrschaftsformen in Frankreich auch im 12. bis 14. Jahrhundert noch praktiziert wurden (vgl. z.B. Bloch 1961: 448f), ist es vor dem Hintergrund der gleichm¨aßigen Streuung des Lesartenspektrums der -age-Derivate wenig sinnvoll, -age als ein “Steuersuffix” 11

In diesem und in allen folgenden Beispielen wird ‘PRT’ als Glosse f¨ur ‘Partikel’ verwendet.

209 zu bezeichnen. Zudem ist sehr wahrscheinlich, dass die quantitativen Unterschiede zwischen Fleischmans Sch¨atzung und der oben beschriebenen NCAAusz¨ahlung auf der Verschiedenheit der Textsorten beruhen, aus welcher sich die jeweils zugrundegelegte Datenbasis zusammensetzt. So untersucht Fleischman mit den Urkunden Pippins etc. juristische Abhandlungen und mit der Enzyklop¨adie DuCanges eine Ansammlung von Definitionen gemeinsprachlicher Begriffe des mittelalterlichen Lateins, die aufgrund ihrer Komplexit¨at und ihrer aus der Perspektive des 17. Jahrhunderts schwer nachvollziehbaren Bedeutung der Erl¨auterung bedurften. In beiden F¨allen ist die hohe Anzahl von Steuer- und Rechtsbegriffen aus dem Bereich des Feudalwesens bereits durch die inhaltliche Ausrichtung angelegt. Demgegen¨uber besteht das NCA haupts¨achlich aus Versliteratur und Chroniken, in welchen fiskale Konzepte eine weit weniger wichtige Rolle spielen. Der Umstand, dass die quantitative Verteilung der -age-Lesarten von der Sorte der untersuchten Texte abh¨angt, zeigt allerdings, dass es sich bei dem angesprochenen Unterschied und damit auch bei der Prominenz von Steuerlesarten im Bereich der -aticu/age-Derivation um ein Ph¨anomen des Sprachgebrauchs handelt und dass die Steuerdom¨ane nur einen der verschiedenen Verwendungsbereiche des mittelalterlichen -aticu bzw. -age darstellt. Bereits aus diesem Grund empfiehlt es sich nicht, das altfranz¨osische -age als ein “Steuersuffix” zu klassifizieren. Dieses Vorgehen ist allerdings auch aus dem Grund problematisch, dass das Konzept der “Suffixfunktion” in Fleischman (1980) nicht wirklich definiert wird. Der Autorin gelingt zwar eine a¨ ußerst aufschlussreiche Skizzierung des Zusammenhangs zwischen der Lesartenausbildung der -age-Derivate und den gesellschaftlichen Verh¨altnissen. Welche derivationsmorphologische Konzeption allerdings im Hintergrund steht, wenn von den verschiedenen “Funktionen des Suffixes -age” bzw. von der “Steuerfunktion von -age” die Rede ist, bleibt v¨ollig unklar. Nach der vorliegenden Arbeit ist die “Funktion” eines Suffixes hingegen mit seiner abstrakten Bedeutung gleichzusetzen, welche als der kleinste gemeinsame semantische Nenner der Gesamtheit der mit diesem Suffix gebildeten Derivate definiert werden kann. F¨ur das mittelalterliche nominalisierende -aticu bzw. -age ist demnach eine Bedeutungsrepr¨asentation anzunehmen, welche den kleinsten gemeinsamen Nenner aller attestierten Derivatsverwendungen bildet. Dies schließt z.B. die Status- und die Ereignisbezeichnungen genauso ein wie die Steuerterme. Im Folgenden soll im Zuge einer diachronen Herleitung argumentiert werden, dass sich die abstrakte Bedeutung von -age bereits im Altfranz¨osischen in der Reifizierung der durch das Basispr¨adikat an Individuen zugeschriebenen Eigenschaften ersch¨opft und dass die Steuerterme entweder auf lateinische -aticuSubstantivierungen zur¨uckzuf¨uhren sind (wie es Iv˘anescu 1959 vorschl¨agt, s.o.) oder ein Beispiel f¨ur die semantisch-pragmatisch bedingte Ausspezifizierung der abstrakten Reifizierungsfunktion darstellen. Die Er¨orterung basiert auf der

210 formal-semantischen Analyse relationaler Adjektive von McNally & Boleda (2004), die es zum einen erm¨oglicht, den mit der Entwicklung von -age verbundenen “Transfer” semantischer Merkmale als strukturelle Reanalyse zu erfassen und damit weiter zu pr¨azisieren. Zum anderen bietet der Ansatz von McNally & Boleda (2004) eine ideale M¨oglichkeit, den kleinsten gemeinsamen Nenner aller substantivierten -aticu- bzw. -age-Derivate zu bestimmen, welcher der Hypothese nach im Zuge des oben angedeuteten Reanalyseprozesses mit der -ageSuffigierung assoziiert wurde. McNally & Boleda (2004) weisen zun¨achst auf den besonderen Status relationaler Adjektive zwischen intersektiven und nicht-intersektiven Adjektiven hin. Intersektive Adjektive wie carnivorous sind Adjektive, welche in der Konstruktion N1 is a Adj N2 direkt auf Individuen Bezug nehmen, d.h. extensional referieren: Ein carnivorous mammal hat beide Eigenschaften {x|x is carnivourous} und {x|x is a mammal} (vgl. Partee 1995: 324). Nicht-intersektive Adjektive wie skillful nehmen dagegen in der N1 is a Adj N2 -Konstruktion nicht direkt auf Individuen Bezug. Beispielsweise kann ein Satz wie Francis is a skillful surgeon nicht dazu verwendet werden, um Francis die Eigenschaft der skillfulness zuzuschreiben, Francis ist zwar skillful as a surgeon, aber nicht skillful an sich (ebd.). Nicht-intersektive Adjektive werden also nicht extensional interpretiert, sondern k¨onnen lediglich dazu verwendet werden, um die Extension des zu modifizierenden Elements (z.B. surgeon) auf eine Untergruppe (z.B. die surgeons, auf die skillful zutrifft) einzugrenzen (ebd.). Nicht-intersektiven Adjektiven wird daher f¨ur gew¨ohnlich die Funktion zugeschrieben, u¨ ber die Operation der Predicate Modification (PM) auf der Basis der nominalen Pr¨adikate komplexe Eigenschaften (z.B. skilfull surgeon oder small elephant, former president etc.) zu bilden (vgl. ebd.: 325–330 sowie z.B. Heim & Kratzer 1998: 65–71, oder auch Siegel 1976). Nicht-intersektive Adjektive bezeichnen also keine Eigenschaften von Individuen, sondern Eigenschaften von Eigenschaften und zeichnen sich damit durch eine intensionale Referenzweise aus (vgl. Partee 1995: 330). Auch relationale Adjektive k¨onnen im obigen Sinne intensional sein, wie McNally & Boleda (2004: 179) anhand des folgenden Beispiels aus dem Katalanischen zeigen, wo der Satz (2b.), nicht aber der Satz (2c.) in einer Implikationsbeziehung zu dem Satz (2a.) steht. (2)

a. El Mart´ı e´ s arquitecte t`ecnic. ‘Martin ist technischer Architekt.’ b. |= El Mart´ı e´ s arquitecte. c. #El Mart´ı e´ s t`ecnic.

(McNally & Boleda 2004: 179)

Auf der anderen Seite zeigen relationale Adjektive allerdings etliche Gemeinsamkeiten mit intersektiven Adjektiven wie male in male architect und unterscheiden sich damit von klassischen nicht-intersektiven Adjektiven wie former oder alleged. Zum Beispiel stehen nicht-intersektive Adjektive wie kat. presumpte (‘angeblich’) in den romanischen Sprachen generell pr¨anominal (vgl.

211 #un assass´ı presumpte, ‘ein angeblicher M¨order’, ebd.: 181), wohingegen relationale Adjektive wie kat. pulmonar (‘die Lunge betreffend’) wie intersektive Adjektive in der Regel postnominal stehen (vgl. z.B. una malaltia pulmonar, ‘eine Lungenkrankheit’, ebd.). Zweitens sind prototypische nicht-intersektive Adjektive in pr¨adikativer Position ausgeschlossen (vgl. #L’assass´ı era presumpte, ‘Der M¨order war angeblich’, ebd.: 182), wohingegen relationale Adjektive durchaus auch in bestimmten pr¨adikativen Positionen vorkommen k¨onnen:12 (3)

a. El domini del Tortosa va ser nom´e territorial. ‘Die Dominanz der Tortosa [Fußballmannschaft] war nur auf das Gebiet beschr¨ankt.’ b. Aquest congr´es e´ s internacional. ‘Dieser Kongress ist international.’ c. El conflicte e´ s pol´ıtic. ‘Der Konflikt ist politisch.’

(McNally & Boleda 2004: 182)

Eine weitere Evidenz f¨ur die Zuordnung relationaler Adjektive zu der intersektiven Klasse ist der Umstand, dass sie in Kombination mit weiteren Adjektiven nicht die f¨ur nicht-intersektive Adjektive charakteristischen Skopuseffekte zeigen, welche sich dadurch bemerkbar machen, dass die Reihenfolge der Adjektive im Satz bedeutungsunterscheidend ist: (4)

a. jove presumpte assass´ı (‘junger angeblicher M¨order’) b. presumpte jove assass´ı (‘angeblich junger M¨order’) (McNally & Boleda 2004: 186)13

Wie Beispiel (5) zeigt ist die Reihenfolge relationaler Adjektive dagegen f¨ur die Interpretation der entsprechenden Nominalphrasen irrelevant, ein Umstand, der laut McNally & Boleda zeigt, dass sowohl mundial als auch pesquera in (5a. und b.) Eigenschaften von Individuen bezeichnen, anstatt, wie es f¨ur nichtintersektive Adjektive f¨ur gew¨ohnlich angenommen wird, auf Eigenschaften von Eigenschaften Bezug zu nehmen. (5)

a. producci´o mundial pesquera (‘weltweite Fischproduktion’) b. producci´o pesquera mundial (‘weltweite Fischproduktion’) & Boleda 2004: ebd.)

12

13

(McNally

Die Nicht-Akzeptabilit¨at von S¨atzen wie (2c.) ist dementsprechend laut McNally & Boleda nicht direkt auf die pr¨adikative Verwendung des Adjektivs zur¨uckzuf¨uhren, s.u.. F¨ur eine Diskussion von Levis (1978) Hypothese, nach welcher die pr¨adikative Verwendung auf der Ellipse eines Bezugsnomens beruht, vgl. McNally & Boleda (2004: 182). ¨ Sofern deutsche Paraphrasen gegeben werden, handelt es sich um eigene Ubersetzun¨ gen der englischen Ubersetzungen aus McNally & Boleda (2004).

212 Im Zusammenhang mit dem nicht-intersektiven Verhalten relationaler Adjektive in Beispielen wie (2c.) machen die Autorinnen in Anlehnung an Larson (1998) darauf aufmerksam, dass Adjektive oft nur ganz bestimmte Bedeutungskomponenten des Bezugsnomens modifizieren.14 Nach Larson (1998) k¨onnen beispielsweise deverbale Agensnominalisierungen wie engl. dancer mit ereignismodifizierenden Adjektiven wie good kombiniert werden, weil sie unter anderem eine Ereigniskomponente enthalten. Die Nicht-Intersektivit¨at von good in S¨atzen wie Olga is a good dancer ergibt sich dabei aus der Tatsache, dass good (in der entsprechenden Lesart) eine Eigenschaft von Ereignissen, nicht aber von Personen bezeichnet. Nach diesem Ansatz k¨onnen Adjektive wie good trotz der nicht-intersektiven Interpretation von S¨atzen wie Olga is a good dancer also insofern mit den klassischen intersektiven Adjektiven gleichgestellt werden, als sie wie z.B. kat. jove Eigenschaften von Individuen (d.h. im Fall von good Eigenschaften von Ereignisindividuen) bezeichnen. In Anlehnung an die Analyse von Larson (1998) und mit Verweis auf Bolinger (1967) sowie Bosque & Picallo (1996) schlagen McNally & Boleda (2004: 188) f¨ur relationale Adjektive des Typs pulmonar vor, dass sie Eigenschaften von Artenindividuen bezeichnen und dass die Unakzeptabilit¨at von S¨atzen wie El Mart´ı e´ s t`ecnic (vgl. (2c.)) auf eine sortale Unstimmigkeit zur¨uckzuf¨uhren ist, die sich daraus ergibt, dass mit Eigennamen wie El Mart´ı in (2c.) keine Artenindividuen bezeichnet werden k¨onnen. McNally & Boleda gehen dabei in Anlehnung an Carlson (1977) davon aus, dass Artenterme u¨ ber eine spezielle Instanziierungsrelation R mit der Objektebene verbunden sind, wobei R(y,x) die Relation zwischen einer Art (x) und der Gesamtheit ihrer Instanziierungen (y) repr¨asentiert.15 Weiterhin nehmen die Autorinnen an, dass die Extension von nominalen Pr¨adikaten, neben der Gesamtheit der entsprechenden Individuen auf der Objektebene, immer auch ein Artenindividuum enth¨alt. Die Denotation von nominalen Pr¨adikaten wie arquitecte nach McNally & Boleda (2004) ist unter (6) wiedergegeben, wo (xk ) die Extension auf der Artenebene und (yo ) die Extension auf der Objektebene angibt. (6)

Denotation von nominalen Pr¨adikaten nach McNally & Boleda (2004: 188) For all common nouns N, T(N) = λxk , λyo [R(yo ,xk ) ∧ N(xk )]

Die von McNally & Boleda vorgeschlagene Repr¨asentation f¨ur relationale Adjektive ist in (7) illustriert. (7)

Denotation von relationalen Adjektiven nach McNally & Boleda (2004: 188) For all relational adjectives Arel , T(Arel ) = λxk [Arel (xk )]

14

15

Die hier angesprochenen Bedeutungskomponenten sind, auch laut den Autorinnen selbst, in etwa mit Pustejovskys (2002) Qualia vergleichbar. Die Instanziierungsrelation wird wie bereits angek¨undigt in Abschnitt 5.1.4 erl¨autert.

213 McNally & Boleda betont wird l¨auft diese Analyse auf die a¨ ußerst plausible Annahme heraus, dass relationale Adjektive dazu dienen, das durch das Bezugsnomen bezeichnete Artenindividuum auf eine Unterart einzuschr¨anken: If noun N translates as λxk , λyo [R(yo ,xk ) ∧ N(xk )] and adjective phrase AP translates as λxk [A(xk )], then [N AP] translates as λxk , λyo [R(yo ,xk ) ∧ N(xk ) ∧ A(xk )]. The effect of this rule is to restrict the kind described by the modified noun to one of its subkinds. (McNally & Boleda 2004: 189)

An dieser Stelle sind zwei Anmerkungen zu machen. Erstens ist McNally & Boledas Annahme, dass nominale Pr¨adikate generell auch Arten denotieren, die ¨ im Ubrigen in a¨ hnlicher Form auch in Krifka et al. (1995: 66) vertreten wird, keine notwendige Voraussetzung f¨ur die oben beschriebene Analyse von relationalen Adjektiven. Ebensogut kann angenommen werden, dass die relationalen Adjektive die Arteninterpretation des Bezugsnomens im Zuge der Komposition erst erzwingen, dass also die Adjektive gewissermaßen eine Reifizierung der vom Bezugsnomen an Individuen zugeschriebenen Eigenschaft bewirken. Diese Interpretation w¨urde ebenfalls zu der oben angegebenen Denotation der entsprechenden nominalen Konstruktionen (d.h. λxk , λyo [R(yo ,xk ) ∧ N(xk ) ∧ A(xk )]) f¨uhren, ohne allerdings die von McNally & Boleda vorgeschlagene weitreichende Generalisierung u¨ ber die grundlegenden Referenzeigenschaften nominaler Pr¨adikate zu implizieren. Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass die Analyse von McNally & Boleda (2004) auf derselben relativ freien Interpretation des Artenbegriffs basiert, die oben im Zusammenhang mit der Reifizierungstheorie von Chierchia (1998) bzw. Chierchia (1988) vorgestellt wurde. Das heißt, auch McNally & Boleda gehen davon aus, dass ‘jeder nat¨urlichen Eigenschaft ein Artenindividuum entspricht’ (“[t]o any natural property . . . there corresponds a kind . . . ”, vgl. Chierchia 1998: 348 und s.o.), wobei die Autorinnen annehmen, dass das jeweilige Artenindividuum durch den Kontext identifiziert wird. Die semantische Repr¨asentation der entsprechenden Nominalphrasen enth¨alt daher ein Artenargument, dessen Kontextabh¨angigkeit mit Hilfe einer freien Variable angezeigt wird (vgl. (8)). (8)

Denotation von arquitecte t`ecnic mit Art-Referenz nach McNally & Boleda (2004: 189) λyo [R(yo ,kj ) ∧ arquitecte(kj ) ∧ t`ecnic(kj )]

Nach dieser Analyse beruht die Nicht-Intersektivit¨at von t`ecnic in S¨atzen wie El Mart´ı e´ s arquitecte t`ecnic auf dem Umstand, dass t`ecnic nur Artenindividuen modifiziert, die entsprechende Eigenschaft also nicht Einzelobjekten zusprechen kann, wie sie f¨ur gew¨ohnlich mit Eigennamen wie El Mart´ı denotiert werden. Zudem geh¨ort das mit Mart´ı bezeichnete Individuum keiner Art an, die mit t`ecnic modifiziert werden k¨onnte. Die Tatsache, dass der entsprechende Satz dennoch interpretiert werden kann, ist dabei auf die Instanziierungsrelation R

214 zur¨uckzuf¨uhren, welche es den Sprechern erm¨oglicht, das durch den Eigennamen denotierte Individuum als Instanz der durch Bezugsnomen und Adjektiv bezeichneten Art zu interpretieren (vgl. (9)). (9)

Denotation von arquitecte t`ecnic mit spezifischer Referenz nach McNally & Boleda (2004: 189) λyo [R(m,kj ) ∧ arquitecte(kj ) ∧ t`ecnic(kj )]

Der Ansatz von McNally & Boleda (2004) wird verschiedenen subtilen interpretativen Nuancen und Besonderheiten von relationalen Adjektiven gerecht, so z.B. der Tatsache, dass relationale Adjektive nur bei der Modifizierung von Artenindividuen intersektiv sind (vgl. z.B. (4) versus (5)), oder dem Umstand, dass die Bedeutung von relationalen Adjektiven intuitiv taxonomisch ist (d.h. ein arquitecte t`ecnic ist eine Art arquitecte, eine malaltia pulmonar ist eine Art ¨ malaltia etc.). Wie im Folgenden deutlich werden soll er¨offnet die Ubertragung dieses Ansatzes auf die Bedeutung der lateinischen relationalen -aticu-Adjektive zudem die M¨oglichkeit, den zu der (alt-)franz¨osischen -age-Suffigierung f¨uhrenden Reanalyseprozess im Detail nachzuvollziehen und die “neue” abstrakte Bedeutung der -age-Suffigierug pr¨azise in einer semantischen Repr¨asentation anzugeben, welche sich in die Nominalisierungstheorie von Chierchia (1988) bzw. Chierchia (1998) u¨ bersetzen l¨asst. In (10) ist die semantische Repr¨asentation der relationalen -aticu-Konstruktion anhand des Beispiels census terraticus (‘Landzins’) illustriert, wobei das Suffix hier allerdings aus der Konstellation ausgenommen bleibt, da dieses hier in Anlehnung an Fradin (2008b) bzw. Fradin (2008c) als ein morphologisches Mittel angesehen wird, das die Relation zwischen den zwei nominalen Pr¨adikaten bzw. Artentermen anzeigt.16 (10)

Denotation von census terraticus in Anlehnung an McNally & Boleda (2004) λyo [R(yo ,kj ) ∧ census(kj ) ∧ terr-(kj )]

Zu beachten ist dabei die hohe morpho-semantische Transparenz dieser Konstruktion. So kann, wie (11) zeigt, jedem Morphem genau eine Funktion bzw. Bedeutungskomponente zugeordnet werden. Andererseits ist jede Funktion/Bedeutungskomponente durch genau ein Morphem repr¨asentiert: 16

Es l¨asst sich dar¨uber streiten, ob die Relationskomponente in die semantische Repr¨asentation der relationalen Konstruktion einzuf¨ugen ist. Fradin schl¨agt vor, eine unterspezifizierte Relation R(x,y) in die Repr¨asentation zu integrieren, welche je nach den in Bezugs- oder Basisnomen enthaltenen Bedeutungsaspekten bzw. der zwischen den Pr¨adikaten bestehenden semantischen Verbindung (“lien s´emantique”, Fradin 2008b: 79) im Zuge der Komposition unterschiedlich ausspezifiziert wird. Da allerdings die unterspezifizierte Relation semantisch bereits durch die Konkatenation der Pr¨adikate gegeben ist, soll sie hier nicht explizit in der semantischen Repr¨asentation notiert werden.

215 (11)

λyo [R(yo ,kj ) ∧ census(kj ) ∧ terr-(kj )] census terr-

[Relation] aticus/age

Im Zuge der Substantivierung der -aticu/age-Adjektive, bei welcher das Bezugsnomen semantisch in das Adjektiv inkorporiert (vgl. Abschnitt 5.1.1) und die morpho-phonologische Repr¨asentation der Relation zwischen Bezugsnomen und Basispr¨adikat damit hinf¨allig wird, ger¨at das Verh¨altnis von Form und Funktion in ein Ungleichgewicht (vgl. (12)). F¨ur einen Sprecher, dem der substantivierte Status der entsprechenden Formen nicht bewusst ist, birgt die Struktur in (12) die folgenden zwei Form-Funktion-Diskrepanzen. Erstens existiert eine semantische Komponente (d.h. ‘census(kj )’) ohne Morphem, zweitens existiert ein Morphem (d.h. -aticus bzw. -age) ohne Funktion. (12)

λyo [R(yo ,kj ) ∧ census(kj ) ∧ terr-(kj )] [] terr-

[] aticus/age

Diese Form-Funktion-Diskrepanz existiert allerdings nicht nur f¨ur die substantivierten fiskalen Derivate, sondern sie ist auch f¨ur alle weiteren -aticuSubstantivierungen charakteristisch, und zwar unabh¨angig davon, ob ihre Interpretation durch genuine Substantivierung (wie Iv˘anescu 1959 meint) oder durch metonymische Verschiebung auf der Basis der Steuerlesart (wie Fleischman 1980 annimmt) zustande gekommen ist. Das heißt, alle substantivierten -aticu/age-Terme haben gemeinsam, dass erstens eine semantische Komponente ohne Morphem existiert und dass zweitens dem Suffix keine Funktion zugeordnet werden kann, dass sich also nur das Basisnomen eindeutig zuordnen l¨asst (vgl. (13a.)).17 Dabei ist entscheidend, dass sich dem in Kapitel 2 entwickelten moderat-emergentistischen Modell zufolge auf der Basis eines solchen Inputs nicht nur die phonologische Gleichf¨ormigkeit von -aticus bzw. -age in einer entsprechenden abstrakten phonologischen Repr¨asentation niederschl¨agt, sondern dass sich auch die semantische Gemeinsamkeit der Derivate, d.h. deren kleinster gemeinsamer semantischer Nenner, in der Form einer abstrakten semantischen Repr¨asentation herauskristallisiert. Wie (13a.) deutlich zeigt ist der kleinste gemeinsame semantische Nenner der Derivate deren Art-Bezogenheit. Die entsprechende abstrakte Repr¨asentation ist in (13b.) illustriert, wo ‘XKind ’ die Bedeutungskomponente des inkorporierten Bezugsnomens und ‘NBasis ’ diejenige des Basisnomens anzeigt. (13)

17

a. λyo [R(yo ,kj ) ∧ census(kj ) ∧ terr-(kj )] [] terr-

[] aticus/age

Bei der Auswahl der lateinischen Lexeme zur Illustration der -aticu/age-Substantivierung in (13a.) orientiert sich die vorliegende Arbeit an den von Fleischman (1980) gegebenen Beispielen, wobei messi hibernaticus, virtus coraticus und versus alleluia¨ ticus bei w¨ortlicher Ubersetzung mit ‘Wintermonat’, ‘Herzenstugend’ bzw. ‘Lobpreisungsvers’ paraphrasiert werden k¨onnen.

216 λyo [R(yo ,kj ) ∧ messis(kj ) ∧ hibern-(kj )] [] hibern-

[] aticus/age

λyo [R(yo ,kj ) ∧ virtus(kj ) ∧ cor-(kj )] [] cor-

[] aticus/age

λyo [R(yo ,kj ) ∧ versus(kj ) ∧ allelui-(kj )] [] allelui-

[] aticus/age

b. λyo [R(yo ,kj ) ∧ XKind (kj ) ∧ NBasis -(kj )] [] NBasis -

[] aticus/age

Die vorliegende Arbeit folgt also Fleischman (1980) bzw. Rainer (2005b) in der Annahme, dass die Form-Funktion-Diskrepanz der substantivierten -aticu/age-Derivate zu einer Reanalyse der Wortbildungen gef¨uhrt hat, bei welcher das “funktionslose” Suffix mit der “formlosen” Bedeutungskomponente assoziiert wird. Wie jedoch die Illustration in (13b.) zeigt wird das Suffix nach der hier vorgeschlagenen Analyse im Zuge dieses Prozesses nicht zum “Steuersuffix”, sondern zu einem Element, das die Umformung nominaler (und verbaler) Pr¨adikate in Artenterme und damit Chierchia (1988) bzw. den Ausf¨uhrungen in Kapitel 3 der vorliegenden Arbeit zufolge die Reifizierung der durch das Basispr¨adikat an Individuen zugewiesenen Eigenschaften veranlasst (vgl. (14)). ¨ Die Ubertragung dieser Analyse auf den verbalen Bereich soll zwar erst in Abschnitt 5.1.5 vollzogen werden. Jedoch wird bereits an dieser Stelle deutlich, dass die in (14) illustrierte Funktion des altfranz¨osischen -age der Reifizierungsfunktion entspricht, welche in Kapitel 3 als Charakteristikum der neufranz¨osischen -age-Suffigierung ausgemacht wurde. (14)

λyo [R(yo ,kj ) ∧ XKind (kj ) ∧ NBasis -(kj )] aticu/age NBasis -

[]

Diese abstrakte Bedeutung bildet dem hier vertretenen Ansatz nach den Rahmen f¨ur das Verwendungs- bzw. Interpretationsspektrum aller in Folge der Reanalyse gebildeten -age-Derivate. Wie bereits in den Kapiteln 2 bis 4 mehrfach betont wurde sind allerdings neben der abstrakten Bedeutung des Suffixes auch die von Fleischman (1980) untersuchten pragmatischen Konditionen mitentscheidend f¨ur die Frage, in welchem Kontext welche Derivate gebildet werden. Sollten also mit dem “neuen” Suffix weiterhin fiskale Bezeichnungen gebildet worden sein, so ist dies auf die Interaktion zwischen der abstrakten Bedeutung von -age, wie sie in (14) illustriert ist, und dem pragmatischen Bed¨urfnis der Versprachlichung bis zum Zeitpunkt der Wortbildung nicht-versprachlichter Konzepte zur¨uckzuf¨uhren. Die vorliegende Arbeit geht also a¨ hnlich wie Fleischman (1980) davon aus, dass das Verwendungsspektrum der -age-Derivate von den sozio-kulturell determinierten Bed¨urfnissen der Konzeptversprachlichung mitbestimmt wird. Ungeachtet dessen wurde durch die obigen Erl¨auterungen

217 deutlich, dass f¨ur eine umfassende Analyse der -age-Derivation auch die Ebene der abstrakten Bedeutungsrepr¨asentation hinzugezogen werden muss, welche sowohl f¨ur die Variationsbreite der Derivatslesarten im Altfranz¨osischen als auch f¨ur die weitere Entwicklung des Suffixes den abstrakt-semantischen Rahmen vorgibt (vgl. zu letzterem Punkt insbesondere Abschnitt 5.1.5).

5.1.3

Semantische Reanalyse und Emergenz

Die oben beschriebene strukturelle Reanalyse der -aticu/age-Derivate (wie im ¨ Ubrigen auch der von Fleischman (1980) postulierte “Transfer” von Bedeutungsmerkmalen) l¨asst sich in Anlehnung an Eckardt (2006) als das Aufl¨osen einer semantischen Gleichung (“solving [of] a semantic equation“, ebd.: 13) verstehen: Wie in (13b.) illustriert zeichneten sich die substantivierten -aticu/ageDerivate dadurch aus, dass sowohl die Bedeutung des gesamten Derivats als auch diejenige des Basispr¨adikats eindeutig zu bestimmten Strukturelementen (d.h. der gesamten Struktur und dem Basisnomen) zugeordnet werden konnten, so dass sich die “neue” Bedeutung der -age-Suffigierung durch eine Substraktion der Bedeutung des Basispr¨adikats von der Gesamtbedeutung des Derivats gewissermaßen von selbst ergab. Eckardt (2006) geht f¨ur a¨ hnliche Form-FunktionDiskrepanzen davon aus, dass sie bei den Sprechern der Sprache einen Restrukturierungsprozess in Gang setzen, welcher dazu f¨uhrt, dass sich das Verh¨altnis ¨ von Form und Funktion der entsprechenden Außerung in einer f¨ur die Sprecher ad¨aquateren Weise l¨ost, als es in der nicht-reanalysierten Struktur gegeben ist. Dieser Restrukturierungsprozess kann laut Eckardt bewusst oder unbewusst ablaufen, wobei es sich der Autorin zufolge im letzteren Fall um eine unbewusste Adaptation des Mentalen Lexikons handelt: By redistributing the semantic labour between the parts of a sentence [or derivative (MU)] in some specific utterance situation, the hearer will hypothesize about new meanings for old words, [morphemes (MU)] and constructions. These hypotheses may sometimes be consciously reflected, but more often unconscious adaptations of the hearer’s mental lexicon. (Eckardt 2006: 236)

¨ Die Auffassung Eckardts zeigt somit durchaus Ahnlichkeiten mit den in Kapitel 2 beschriebenen emergentistischen Modellen, die jeglichen diachronen Wandel als “unconscious adaptations of the hearer’s mental lexicon”, d.h. als Input-geleitete Emergenz neuer Form-Funktion-Beziehungen auffassen (vgl. insbesondere Bybee 1985; Bybee 1988 u.¨o., MacWhinney 2001 oder auch Diessel 2007 sowie die weiteren in diesen Arbeiten und in Kapitel 2.2.2 zitierten Referenzen). Ganz a¨ hnlich sagt auch das in Kapitel 2 entwickelte moderat-emergentistische Modell vorher, dass sich die von den -aticu/ageSubstantivierungen aufgewiesene Form-Funktion-Diskrepanz bei entsprechender Frequenz von selbst reorganisiert. Das heißt, nach diesem Modell f¨uhrte die

218 konstante Zunahme der -aticu/age-Substantivierungen im Sp¨atlatein bzw. Altfranz¨osischen dazu, dass sich die oben beschriebene “semantische Gleichung” gewissermaßen automatisch l¨oste, indem sich die bis zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht miteinander assoziierten Strukturkomponenten (d.h. -aticu/age und ‘kind’) durch deren h¨aufige Kookkurrenz in der entsprechenden diskrepanten Struktur zu einer Form-Funktion-Einheit entwickelten. In der Folge konnte diese Assoziation von den Sprechern als abstraktes Schema bzw. als Wortbildungsregel (vgl. f¨ur diese Diskussion Kapitel 2.2.4) zur Generierung neuer Wortbildungen verwendet werden. Dieses zun¨achst intuitiv plausible Szenario wirft einige in der diachronen Literatur kontrovers diskutierte Fragen auf, die hier nur grob skizziert werden k¨onnen, da bereits eine ann¨ahernde Auseinandersetzung mit diesen Themen den Rahmen der vorliegenden Arbeit bei weitem u¨ bersteigen w¨urde. Eine wichtige Frage, die bei einer theoretischen Sprachwandeldiskussion im Zusammenhang mit der diachronen Entwicklung von -age zu kl¨aren w¨are, ist beispielsweise, ab welcher Frequenz die substantivierten -aticu/age-Substantivierungen im Input den Reanalyseprozess initiiert haben. Diese Frage des “Schwellenwerts” kann hier schon allein deswegen nicht vertieft werden, da sie weder im Rahmen der emergentistischen Herangehensweise noch in anderen Sprachwandelmodellen ansatzweise gel¨ost ist. So erkl¨art Bybee (2006: 715) beispielsweise, dass “[t]he impossibility at the moment of specifying ranges for extreme high, medium and low [frequency (MU)] is only a function of the state of our knowledge. As more empirical studies appear, absolute frequency ranges for each phenomenon will eventually be specifiable.” Dasselbe Problem ergibt sich im Zusammenhang mit Lightfoots (1999) “cue-based” Ansatz zur Analyse syntaktischen Wandels, in dem der Autor die das jeweils von ihm diskutierte Wandelph¨anomen ausl¨osende ¨ Input-Ver¨anderung lediglich vage als das Uberoder Unterschreiten einer ‘gewissen Schwelle’ (“some threshold’, ebd.: 164, 179 u.¨o.) beschreibt. Eine zweite interessante Frage, die im Zusammenhang mit der diachronen Entwicklung von -age aus sprachwandeltheoretischer Perspektive gestellt werden m¨usste, ist, ob die hohe Zahl an -aticu/age-Substantivierungen bereits eine Auswirkung auf die Sprache bzw. die Grammatik erwachsener Sprecher gehabt hat oder ob der beschriebene Wandel zwangsl¨aufig eine Spracherwerbsphase voraussetzt, in welcher die spracherwerbende Generation mit der massiven Pr¨asenz substantivierter -aticu/age-Derivate konfrontiert war, ohne sich der im Vorwege vonstatten gegangenen Substantivierung bewusst gewesen zu sein. Streng emergentistische Modelle gehen davon aus, dass der Wandel allein durch die Vorkommensfrequenz der entsprechenden Strukturen determiniert wird und daher als prinzipiell unabh¨angig vom Erstspracherwerb zu verstehen ist (vgl. z.B. Bybee 2006 u.¨o.). Eine andere plausible Sichtweise ist diejenige von Eckardt (2006), nach welcher “local shifts can occur in adult grammars, while global reorganizations most likely occur in first language acquisition” (ebd.:

219 41). Auch die Frage der “Spracherwerbsbedingtheit” von derivationsmorphologischem Wandel muss hier offengelassen werden, wobei an dieser Stelle betont werden soll, dass die Skizzierung der Kontroversen hier wie im Folgenden weitestgehend auf die Ebene der Wortbildung beschr¨ankt bleibt. Im Bereich des syntaktischen Wandels wird die Diskussion durch den Umstand verkompliziert, dass die Oberfl¨achenstrukturen in vielen F¨allen weit weniger direkte Evidenzen f¨ur die zugrundeliegenden Schemata oder Regeln darstellen, als es auf der derivationsmorphologischen Ebene der Fall ist (vgl. hierzu erneut Kapitel 2.2.4).18 Eine weitere in der einschl¨agigen Literatur kontrovers diskutierte Frage ist, ob sich Sprachwandel graduell oder abrupt vollzieht. Von Lightfoot (1999), Eckardt (2006) und anderen wird in diesem Zusammenhang vorgeschlagen, dass sich die Gradualit¨at des Wandels auf der gesellschaftlichen Ebene einstellt, w¨ahrend sich der Wandel auf der Ebene der einzelnen Individuen abrupt vollzieht. Eine andere g¨angige Hypothese ist, dass sich die Reanalyse abstrakter Repr¨asentationen abrupt vollzieht, w¨ahrend sich die Auswirkungen dieses Prozesses auf der Ebene der Oberfl¨achenstrukturen graduell ausbreiten (vgl. z.B. Harris & Campbell 1995: 49). Streng emergentistische Autoren wie Bybee (2006) gehen dagegen gem¨aß ihrer in Kapitel 2.2.4 beschriebenen ‘Exemplar’-basierten Sicht auf sprachliche Regularit¨aten davon aus, dass jeglicher Sprachwandel als “gradual change in the exemplar cluster[s]” (ebd: 721) aufgefasst werden sollte (vgl. f¨ur eine a¨ hnliche Sichtweise auch Langacker 1987, Haspelmath 1998, Hopper 1998, Goldberg 2003, Tomasello 2003 u.a.). Diese Autoren sind der Ansicht, dass der Wandel auch auf der individuellen Ebene graduell in das Sprachsystem integriert wird, dass es des Konzepts der Reanalyse im eigentlichen Sinne also gar nicht bedarf, da es gar keine zugrundeliegenden Strukturen gibt, die reanalysiert werden m¨ussten. Auch diese Kontroverse kann im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht ersch¨opfend behandelt werden, zumal sich in diesem Zusammenhang die Frage anschließt, ob sich die sprachlichen Repr¨asentationen auf den verschiedenen Ebenen im Hinblick auf die Frage der Gradualit¨at des Wandels uniform verhalten oder ob zum Beispiel zwischen leicht ver¨anderlichen phonologischen Repr¨asentationen und stabileren semantischen Repr¨asentationen unterschieden werden muss. Wie in Kapitel 2.2.4 erl¨autert h¨alt die vorliegende Arbeit allerdings an dem Konzept der zugrundeliegenden abstrakten Repr¨asentationen fest und stellt folglich den Wandel der lateinischen -aticu- bzw. altfranz¨osischen -ageSubstantivierungen als Reanalyse dar. Es wird zwar die emergentistische Vor18

Da im syntaktischen Bereich also weit weniger offensichtlich ist, welche Oberfl¨achenstrukturen einen Restrukturierungsprozess initiieren und welche nicht, liegt die Spracherwerbsbedingtheit aus logischen Gr¨unden bei syntaktischem Wandel um Einiges n¨aher als bei derivationsmorphologischem Wandel. F¨ur eine Diskussion des Reanalysekonzepts im Zusammenhang mit syntaktischem Wandel vgl. Harris & Campbell (1995) oder Lightfoot (1999).

220 stellung vertreten, dass sich die Reanalyse epiph¨anomenal zu der massiven (graduellen) Ver¨anderung im Input der Sprecher gewissermaßen von selbst eingestellt hat. Dennoch impliziert die hier vertretene Sicht auf die abstrakte Bedeutung derivationsmorphologischer Einheiten, dass sich dieser nicht-intentionale Wandel auf der Ebene des einzelnen Sprechers notwendigerweise abrupt vollzogen haben muss, da das jeweilige Sprecherbewusstsein notwendigerweise abrupt von einem Zustand ohne das entsprechende universelle “abstract pattern” bzw. die Wortbildungsregel in einen Zustand mit diesem “pattern” bzw. dieser Wortbildungsregel wechselt (vgl. zur Diskussion um den Regelbegriff erneut Kapitel 2.2.4). Die dar¨uber hinausgehenden Fragen bez¨uglich des Konzepts der Reanalyse m¨ussen hier im Hinblick auf den thematischen Rahmen der vorliegenden Arbeit offengelassen werden. Im Zusammenhang mit der Entwicklung der -age-Substantivierungen kann an dieser Stelle dennoch festgehalten werden, dass die Reanalyse der substantivierten -aticu/age-Derivate zu der Genese eines Nominalisierungsverfahrens gef¨uhrt hat, das von zun¨achst vornehmlich nominalen Basispr¨adikaten Artenterme ableitet und somit in Anlehnung an Chierchia (1988; 1998) als ein Verfahren charakterisiert werden kann, dessen zentrale Funktion es ist, die von den Basispr¨adikaten an Individuen zugeschriebenen Eigenschaften zu reifizieren. Wie eingangs und in Abschnitt 5.1.2 angek¨undigt werden im folgenden Abschnitt die Gruppenterme auf -age in die Beschreibung integriert. In Abschnitt 5.1.5 wird daraufhin die Entwicklung der deverbalen Derivate vom Alt- zum Neufranz¨osischen behandelt.

5.1.4 Zum Status der Gruppennomina Was die Gruppennomina auf -age anbelangt so ist zun¨achst erneut darauf hinzuweisen, dass die kollektive Interpretation der substantivierten -aticu/ageDerivate Fleischman zufolge auf einer metonymischen Verschiebung der Steuerterme beruht, wobei die f¨ur die Verschiebung n¨otige Kontiguit¨atsrelation laut Fleischman durch den Umstand gew¨ahrleistet war, dass Steuern auf Waren oder Agrarprodukte oft in Form von Naturalien gezahlt wurden und dass diese Naturalien oft als Gruppenindividuen konzeptualisiert wurden (z.B. cortillage ‘Steuer auf Gartenprodukte’ > ‘Gartenprodukte’, porcage ‘Steuer, die in Form von Schweinen gezahlt wurde’ > ‘Schweineherde’ etc., s.o.). W¨ahrend die vorliegende Arbeit Fleischman in der Annahme folgt, dass die kollektiven -ageDerivate als Resultat einer Bedeutungsverschiebung von lateinischen -aticuSubstantivierungen bzw. altfranz¨osischen -age-Nominalisierungen aufzufassen sind, weicht sie insofern von Fleischmans Ansatz ab, als gest¨utzt durch Korpusdaten daf¨ur argumentiert werden soll, dass -age trotz der relativ h¨aufigen kollektiven Lesarten der -age-Derivate diachron gesehen zu keinem Zeitpunkt die

221 Funktion eines “Kollektivsuffixes” innehatte, sondern dass die entsprechenden Lesarten generell durch eine Bedeutungsverschiebung von im Vorwege derivierten Artentermen zustande gekommen sind (wobei allerdings auch sporadische Analogiebildungen nicht von vornherein ausgeschlossen werden sollen, s.u. und vgl. erneut Kapitel 2.2.4). Im Rahmen der genannten Studie wurden die im NCA enthaltenen -ageDerivate mit Kollektivlesart mit den entsprechenden Kollektivnomina aus f¨unf FRANTEXT-Korpora verglichen, welche ann¨ahernd der Gr¨oße des NCA (d.h. ca. 3.000.000 Worte) entsprechen. Die Korpora wurden aus der in Kapitel 4 beschriebenen FRANTEXT-Datenbank extrahiert und enthalten Sprachdaten aus den Jahrhunderten 16 bis 20.19 F¨ur die -age-Derivate mit kollektiver Interpretation des NCA ist zun¨achst festzuhalten, dass sich 18 der 31 Lexeme (d.h. 58%) durch eine hohe Polysemie auszeichnen, wobei die Tokens generell zwischen einer kollektiven Lesart und einer im Sinne von Abschnitt 5.1.2 artenbezogenen Lesart variieren (vgl. (15a. versus b.), (15c. versus d.), (15e. versus f.)). F¨ur diese 18 Lexeme ist in Anbetracht der Entstehungsgeschichte der -ageNominalisierung also von vornherein anzunehmen, dass die kollektiven Lesarten durch eine Bedeutungsverschiebung der (im Sinne von Abschnitt 5.1.2) artenbezogenen Derivationen entstanden sind. (15)

19

a. mainte pucelle savoreuse et bachelers de jone aage viel M¨adchen anmutig und J¨unglinge von jungem Alter et chevaliers de grant barnage vi und Ritter von großem Edelmut sehen:PST. PFV.1 SG celui jor aval ces pres an diesem Tag hinunter diese Wiesen ‘An diesem Tag sah ich manch anmutiges M¨adchen, J¨unglinge und Ritter von großem Edelmut unten auf diesen Wiesen.’ (chauvency) b. challe, le bon roy de cezille, vint Challe, der gute K¨onig von Cezille, kommen:PST. PFV.3 SG a romme, dedens la ville, et avec lui son grant nach Rom, in die Stadt, und mit ihm sein großes barnage, . . . . Ritterheer, . . . . ‘Challe, der gute K¨onig von Cezille, kam nach Rom in die Stadt, und mit ihm sein großes Ritterheer . . . .’ (gepa) c. senpronia estoit une de celes fame [sic!] de Senpronia sein:PST. IPFV.3 SG eine von diesen Frauen von grant lignage et de merveilleuse biaute ... großer Abstammung und von wundervoller Sch¨onheit

F¨ur die Korpora der Jahrhunderte 16 bis 19 vgl. Anhang B.2. Das Korpus f¨ur das 20. Jahrhundert ist dasselbe, aus welchem die in Kapitel 4 analysierten deverbalen Derivate extrahiert wurden, vgl. erneut Anhang A.2.

222 ‘Senpronia war eine jener Frauen von vornehmer Abstammung und wundervoller Sch¨onheit . . . .’ (fetrom) d. ce dist li sires ki rois est dies sagen:PRS / PST. PFV.3 SG der Herr der K¨onig sein:PRS .3 SG sor israel: . . . tu destruiras la maison et le u¨ ber Israel: . . . Du zerst¨oren:FUT.2 SG das Haus und die linage achab ki tes sires fu ... Sippe Achab der dein Gebieter sein:PST. PFV.3 SG . . . ‘Der Herr, der K¨onig von Israel ist, sagt(e): . . . Du wirst das Haus und die Sippe Achabs zerst¨oren, der Dein Gebieter war . . . .’ (reis) e. preudome ert et de grant lignage et tapfer sein:PST. IPFV.3 SG und von großer Abstammung und si avoit mout vasselage asses ritterliches Wesen viel PRT haben: PST. IPFV.3 SG viel estoit haus hon et prous de ses sein:PST. IPFV.3 SG ehrbarer Mann und tauglich mit seinen armes chevalerous. Waffen ritterlich ‘Er war tapfer und von vornehmer Abstammung und hatte ein ritterliches Wesen, war ein ehrbarer Mann und an der Waffe tauglich und ritterlich.’ (robert) f. . . . mut li est mal mut li est . . . sehr ihm sein:PRS .3 SG schlecht sehr ihm sein:PRS .3 SG gref e recoilt sun grant vasselage e leid und sammeln:PRS .3 SG seine große Vasallenschaft und asaut celui par tel rage ke en un u¨ berfallen:PRS .3 SG Jenen mit solcher Wut dass in einem randun cent coups li dune ... Anlauf hundert Schl¨age ihm versetzen:PRS .3 SG ‘Er ist schlecht gesonnen und leidvoll und versammelt seine Vasallenschaft, und u¨ berf¨allt Jenen [Ipomedon (MU)] mit solch einer Wut, dass er ihm mit einem Mal hundert Schl¨age versetzt.’ (ipo)

Von den u¨ brigen 13 -age-Derivaten mit kollektiver Interpretation sind sieben Types in verschiedenen Quellen bereits als lateinische Derivate verzeichnet, d.h. erbage (‘Gras, Kr¨auter’) < erbaticu(m/s), ramage (‘Ge¨ast’) < ramaticu(m/s), somage (‘Leib’) < somaticu(m/s), village (‘Dorf’) < villaticu(m/s) in Fleischman (1980), language (‘Sprache’ u.a.) < linguaticu(m/s) in MarcosMar´ın (1983), orage (‘Sturm’) < oraticu(m/s) in Nagore La´ın (1994) sowie plumage (‘Federkleid’) < plumaticu(m/s) in Antonini (1770). Diese Derivate stellen somit ebenfalls keine Evidenz f¨ur ein altfranz¨osisches “Kollektivsuffix” dar.20 20

Zudem deuten die in den oben genannten lexikographischen Werken gegebenen Definitionen darauf hin, dass auch die entsprechenden lateinischen -aticu-Bildungen nicht als genuine Kollektivierungen zu analysieren sind, vgl. ebd.

223 Die u¨ brigen sechs -age-Derivate mit kollektiver Lesart im NCA sind boschage (‘Waldung’), corsage (‘K¨orper’), cortillage (‘Gartenprodukte’), eschevinage (‘Sch¨offengruppe’), potage (‘Getr¨anke’) und visage (‘Gesicht’). Von diesen ist boschage im ToblerLommatzsch unter anderem als Adjektiv verzeichnet, was darauf hinweist, dass das Derivat ebenfalls keine genuine Kollektivnominalisierung darstellt. Die Kollektivlesarten von cortillage (‘Steuer auf Gartenprodukte’ > ‘Gartenprodukte’) und potage (‘Steuer auf alkoholische Getr¨anke’ > ‘Getr¨anke’) k¨onnen in Anlehnung an Fleischman (1980: 70, 117) ebenfalls auf eine Bedeutungsverschiebung von Artentermen zur¨uckgef¨uhrt werden, dasselbe gilt f¨ur eschevinage, das im ToblerLommatzsch ausschließlich als Statusterm mit der Bedeutung ‘Sch¨offenschaft, Sch¨offenamt’ aufgef¨uhrt wird. Somit ist, wenn u¨ berhaupt, nur f¨ur corsage und visage eine genuin kollektivierende Ableitung in Erw¨agung zu ziehen. Auf diese M¨oglichkeit wird weiter unten noch einmal Bezug genommen. Ein zweites Indiz gegen die Annahme, dass -age unter anderem zur Bildung genuiner Kollektivnomina eingesetzt wurde, ist die Entwicklung der Typefrequenzen der entsprechenden -age-Derivate in den untersuchten Korpora vom 12. bis zum 20. Jahrhundert, welche in Diagramm 5.2 illustriert wird.

Abbildung 5.2: Typefrequenz der -age-Derivate mit Kollektivlesart im NCA und im diachronen FRANTEXT-Korpus

Diagramm 5.2 zeigt, dass die Anzahl der -age-Types mit Kollektivlesart diachron gesehen konstant niedrig bleibt, wobei zun¨achst im 17. Jahrhundert ein leichter R¨uckgang zu verzeichnen ist, bevor die Typefrequenz vom 18. bis zum 20. Jahrhundert wieder etwas zunimmt. Der leichte R¨uckgang im 17. Jahrhundert kann vermutlich auf die zu dieser Zeit besonders stark ausgepr¨agten, maßgeblich von Franc¸ois de Malherbe vorangetriebenen Bestrebungen zur Normierung der franz¨osischen Sprache zur¨uckgef¨uhrt werden, die eine “Reinigung”

224 haupts¨achlich des literarischen Stils von Archaismen, Neologismen, fachsprachlichen Vokabeln und volkst¨umlichen Wendungen zum Ziel hatte und somit zu einer drastischen Reduzierung des franz¨osischen Vokabulars f¨uhrte (vgl. z.B. Sergijewskij 1963: 163–165, von Wartburg 1993: 171–180, Berchem 2006: 495f, oder auch Brunot 1969). Wie sich in den folgenden Abschnitten zeigen wird scheint dieses Ph¨anomen einen starken Einfluss auf die Frequenz von Nominalisierungen im Allgemeinen gehabt zu haben, so dass anzunehmen ist, dass der R¨uckgang der -age-Kollektiva im 17. Jahrhundert im Zusammenhang mit der Bedeutungsentwicklung der -age-Suffigierung nicht spezifisch relevant ist. Was zweitens den Zuwachs kollektiver -age-Derivate im 19. und 20. Jahrhundert anbelangt, so ergibt eine n¨ahere Betrachtung der Daten, dass die “neuen” kollektiven -age-Nominalisierungen bzw. -Lesarten alle auf die bereits von Fleischman (1980: 79) beobachtete metonymische Verschiebung von Ereignisnominalisierungen zur¨uckzuf¨uhren sind, wie sie z.B. im Fall von paquetage (‘Gep¨ack’ u.a. < paqueter, ‘als Paket verpacken’) leicht ersichtlich ist. Der wichtigste durch Abbildung 5.2 illustrierte Aspekt im Zusammenhang mit der Entwicklung kollektiv interpretierter -age-Derivate ist allerdings, dass den hier verwendeten lexikographischen Quellen CNRTL, Petit Robert 2007 und ToblerLommatzsch zufolge von den in den Korpora des 12. bis 20. Jahrhunderts attestierten einschl¨agigen -age-Nomina insgesamt u¨ berhaupt nur 22 -age-Types nach 1400 zu datieren sind, wobei noch entscheidender ist, dass von diesen 22 Types gem¨aß den oben genannten Lexika sowie den entsprechenden Korpusdaten nur f¨unf Types ausschließlich kollektiv interpretiert werden, d.h. chenevage (‘Leinen, W¨asche’), nuage (‘Gew¨olk’), pennage (‘Federkleid’), treillage (‘Gitterwerk’) und outillage (‘Werkzeug’). Die u¨ brigen 17 im Mittelund Neufranz¨osischen gebildeten kollektiven -age-Derivate werden gleichzeitig auch als Ereignisnominalisierungen (wie paquetage, s.o.) oder Standesbezeichnungen (wie rabutinage, ‘Gruppe/Stand der ‘Rabutins”) verwendet. Die aus den hier verwendeten lexikographischen Ressourcen zu entnehmenden Informationen hinsichtlich der Entstehungsgeschichte und der Datierung der entsprechenden -age-Derivate sind zwar naturgem¨aß letztendlich ebensowenig zuverl¨assig wie die von Fleischman konsultierten Werke (vgl. dazu erneut Alsdorf-Boll´ee 1970: 173 bzw. Labov 1982). Dennoch sprechen die oben angef¨uhrten Sprachdaten in ihrer Gesamtheit gegen die Annahme, dass -age vor¨ubergehend auch in kollektivierender Funktion verwendet worden ist. Die Daten weisen vielmehr darauf hin, dass die in den alt-, mittel- und neufranz¨osischen Korpora attestierten -age-Nomina mit Kollektivlesart mehrheitlich auf eine Bedeutungsverschiebung im Vorwege derivierter und (im Sinne von Abschnitt 5.1.2) artenbezogener -ageDerivate zur¨uckzuf¨uhren sind. Im Zusammenhang mit der Analyse der neufranz¨osischen Gruppenterme wurde in Kapitel 4.4 bereits die Hypothese von Barker (1992: 77) vorgestellt, nach welcher ein Gruppenterm mereologisch gesehen ein atomisches Individu-

225 um bezeichnet, das mit der Pluralit¨at der Gruppenmitglieder u¨ ber die ‘Mitgliedsfunktion’ f verbunden ist. Wie ebenfalls in Abschnitt 4.4 erl¨autert ist der entscheidende Unterschied zwischen Gruppennomina wie barnage 2 mit der Bedeutung ‘Ritterheer’ und z.B. denominalen Statustermen wie barnage 1 mit der Bedeutung ‘Ritterstand, Ritterlichkeit’, dass die Bedeutung von ersteren im Gegensatz zu derjenigen von letzeren auf einer extensionalen Interpretation des Basispr¨adikats beruht: Ein Gruppenterm wie barnage 2 zeichnet sich dadurch aus, auf in der aktuellen Welt zur Zeit t existierende Ritter Bezug zu nehmen, wohingegen mit barnage 1 eine Welten-unabh¨angige Bezugnahme auf Ritter bzw. den Ritter im Allgemeinen erfolgt. In Anlehnung an McNally & Boleda (2004) wurde weiterhin in Abschnitt 5.1.2 bereits die Instanziierungsrelation R(y,x) eingef¨uhrt, durch welche ein Artenterm der Hypothese nach mit der Extension des zugeh¨origen nominalen Basispr¨adikats verbunden ist. Wie McNally & Boleda (2004) andeuten geht die Instanziierungsrelation auf Carlson (1977) zur¨uck, wo sie unter anderem eingef¨uhrt wird, um die Ambiguit¨at von englischen ‘bare plurals’ zwischen Art-Referenz (vgl. Dogs are mammals) und indefinit existentieller Referenz (z.B. Dogs are running) auf die Verschiedenartigkeit der mit den ‘bare plurals’ kookkurrierenden Pr¨adikate zur¨uckzuf¨uhren, und zudem eine nicht-quantifikationelle (‘non-quantificational’) Analyse der indefinit existentiellen Interpretation vorschlagen zu k¨onnen.21 So bedingen ‘individual level predicates’ wie be a mammal Carlson zufolge, dass die kookkurrierende plurale NP ebenfalls auf ein Individuum, d.h. ein Artenindividuum, Bezug nimmt (ebd.: 104f). ‘Stage level predicates’ wie are running (in der ‘present progressive’-Lesart), welche nicht u¨ ber Individuen, sondern u¨ ber ‘stages’ von Individuen pr¨adizieren, sind dagegen lediglich durch die Instanziierungsrelation (bzw. bei Carlson die Realisierungsrelation) R mit dem entsprechenden Individuum verbunden. Die indefinit existentielle Interpretation von Artentermen wie Dogs in Dogs are running ist demnach dadurch bedingt, dass das verbale Pr¨adikat nicht u¨ ber das Arten-Individuum, sondern u¨ ber dessen ‘stages’ pr¨adiziert (vgl. ebd.: 78 bzw. 109). Carlson (1977) selbst u¨ bertr¨agt die Realisierungs- bzw. Instanziierungsrelation bereits auf das Verh¨altnis zwischen einer Art und ihren Instanziierungen, ¨ wobei seine Begr¨undung f¨ur diese Ubertragung ist, dass die Extension einer Art zwar ungleich der Extension des zugeh¨origen Basispr¨adikats ist, dass zur Interpretation von Artentermen allerdings oftmals eine Relation zu der Extension des Basispr¨adikats hergestellt werden muss.22 Eine Evidenz daf¨ur, dass die Extension eines Artenterms ungleich derjenigen des zugeh¨origen nominalen Pr¨adikats ist, wird durch Artenterme beigesteuert, die, obwohl die Extension der zugeh¨origen nominalen Pr¨adikate in der aktuellen Welt der Nullmenge ent21

22

Die Nachteile einer quantifikationellen Behandlung indefinit existentieller ‘bare plurals’ sind in Carlson (1977: 34–55) aufgef¨uhrt. Dieselbe Argumentation findet sich auch in Krifka et al. (1995: 64ff).

226 spricht, dennoch eindeutig voneinander unterschieden werden k¨onnen. Beispiele hierf¨ur sind Terme f¨ur ausgestorbene Tierarten, wie z.B. Tyrannosaurus im Unterschied zu Brontosaurus (vgl. Krifka et al. 1995: 64), oder Terme f¨ur andere definitiv nicht-existente Arten wie quadratische Kreise im Unterschied zu 95 ¨ britische Pfund wiegende Hauskatzen (vgl. Carlson 1977: 96, eigene Ubersetzung der englischen Beispiele ins Deutsche). Dass die Interpretation von Artentermen andererseits wiederum auf einer konzeptuellen Verbindung zwischen der Art und der Extension des Basispr¨adikats, d.h. den Instanziierungen der Art, beruht, wird bei einer n¨aheren Betrachtung der Wahrheitsbedingungen von Pr¨adikationen u¨ ber Arten deutlich. So ist beispielsweise die Bedingung f¨ur die Wahrheit eines Satzes wie The dodo is extinct, “that there have been realizations of this kind in the past, that there are no present realizations of this kind now, and, perhaps, that there will be no more in the future” (Krifka et al. 1995: 79). Wie Carlson (1977) und McNally & Boleda (2004) f¨uhren daher auch Krifka et al. (1995) die Instanziierungsrelation R(y,x) ein, wobei sie darauf hinweisen, dass ein Artenterm mit Hilfe dieser Relation generell in der Form von (16) u¨ ber die Instanziierungen der von ihm bezeichneten Art und somit u¨ ber die Extension des Basispr¨adikats definiert werden kann.23 (16)

Relation zwischen Art und Basispr¨adikat nach (Krifka et al. 1995: 66) δ k = ιx∀y[δ p (y) ↔ R(y,x)] δ k equals that kind of which every object in the extension of δ p is a realization.

¨ Vor dem Hintergrund dieser Uberlegungen kann auch f¨ur die artenbezogenen denominalen -age-Nominalisierungen wie barnage 1 (‘Ritterschaft, -status’) des (Alt-)Franz¨osischen angenommen werden, dass sie zwar Arten denotieren, dass ihre Interpretation aber dennoch unter anderem auf der Instanziierungsrelation R beruht, welche zwischen der entsprechenden Art und ihren Instanziierungen existiert. Wie bereits in Kapitel 4.4 angedeutet kann die Entstehung der z.B. unter (15b.,d.,f.) illustrierten Gruppenlesarten auf dieser Grundlage auf eine komplexe metaphorisch-metonymische Bedeutungsverschiebung von der Artenlesart zur Gruppenlesart zur¨uckgef¨uhrt werden: Erstens besteht insofern eine konzeptuelle Similarit¨atsrelation zwischen einer Art und einer Gruppe, als beide Formen von abstrakten Individuen darstellen, die in a¨ hnlicher Weise quantifikationell hybrid sind. So ist die Gruppe als singul¨ares Individuum u¨ ber die ‘Mitgliedsfunktion’ f ebenso mit der Pluralit¨at ihrer Mitglieder assoziiert wie die Art als singul¨ares Individuum u¨ ber die Instanziierungsrelation R mit der 23

Die Notation unter (16) beruht auf der Annahme, dass die Objekt-bezogene Referenz die zugrundeliegende Referenzweise von Substantiven darstellt; eine Annahme, die ¨ an dieser Stelle allein aus Gr¨unden der Ubersichtlichkeit und einfacheren Darstellung u¨ bernommen wird, obwohl sich auch Krifka et al. (1995: 66) in dieser Hinsicht explizit nicht festlegen.

227 Pluralit¨at ihrer Instanziierungen verbunden ist. Im Fall der denominalen -ageNominalisierungen kommt dabei noch unterst¨utzend hinzu, dass diese quantifikationelle Hybridit¨at durch die Struktur der -age-Derivate widergespiegelt wird, da das Basispr¨adikat N und das Arten- bzw. Gruppen-bildende Suffix -age konkatenativ zusammengef¨ugt werden. Die quantifikationell-strukturelle Similarit¨at zwischen artenbezogenen -age-Derivaten und kollektiven -age-Derivaten ist unter (17) illustriert, wo die ‘Mitgliedsfunktion’ f in der semantischen Repr¨asentation der Gruppenterme das Pendant zu der f¨ur die Artenterme einschl¨agigen Instanziierungsrelation R bildet, w¨ahrend die g-Indizierung in (17b.) als Gegenst¨uck zu der k-Indizierung in (17a.) anzeigt, dass die entsprechenden Variablen auf Gruppenindividuen beschr¨ankt sind. (17)

a. λyo λxk [XKind (xk ) ∧ R(yo ,xk ) ∧ NBasis -(xk )] age 1 baronb. λyo λxk [XGroup (xg ) ∧ f (yo ,xg ) ∧ NBasis -(xg )] age 2 baron-

Neben dieser quantifikationell-strukturellen Similarit¨at zwischen Arten- und Gruppentermen auf -age besteht zwischen den Instanziierungen einer Art und den Mitgliedern der entsprechenden Gruppe eine Kontiguit¨atsrelation in Form einer Teil-Ganzes-Beziehung,24 welche die Grundlage f¨ur die metonymische Verschiebung von der ersteren auf die letztere Individuenmenge und somit die Verschiebung zur extensionalen Interpretation der Basispr¨adikate erm¨oglicht. Wie ebenfalls bereits in Kapitel 4.4 angedeutet ist in dieser komplexen metonymisch-metaphorischen Relation zwischen Arten- und Gruppentermen die Voraussetzung f¨ur die kollektive Interpretation denominaler -age-Derivate zu sehen (vgl. jedoch die unten folgenden Anmerkungen zur M¨oglichkeit einer sporadischen analogischen Motivation einiger kollektiver -age-Derivate). Die Tatsache, dass im deverbalen Bereich keine entsprechende Bedeutungsverschiebung zu finden ist, kann als eine Evidenz f¨ur die Stichhaltigkeit der Analyse gewertet werden. Der entscheidende Punkt ist in diesem Zusammenhang, dass bei der deverbalen Reifizierung im Unterschied zur Reifizierung von nominalen Pr¨adikaten der Zusammenhang zwischen der Intension und der Extension des Basispr¨adikats nicht erhalten bleibt, da reifizierte verbale Pr¨adikate Ereignistypen denotieren, von welchen die Individuen in der Extension der Basispr¨adikate keine konkreten Instanziierungen darstellen (vgl. Kapitel 3.2.1 sowie erneut Kapitel 4.4). Demnach ist also die kollektive Interpretation der Derivate bzw. die M¨oglichkeit der extensionalen Interpretation der Basispr¨adikate eine Besonderheit der nominalen Dom¨ane, weil die entsprechenden Similarit¨atsund Kontiguit¨atsrelationen im deverbalen Bereich nicht vorliegen. Etwaige kollektive Lesarten von -age-Nominalisierungen im deverbalen Bereich beruhen 24

Beispielsweise bilden die zur Extension von barnage 2 (‘Ritterheer’) zu z¨ahlenden Individuen eine Teilgruppe der Instanziierungen von barnage 1 (‘Ritterschaft, -status’).

228 ausschließlich auf der kollektiven bzw. iterativen Bedeutung der Basisverben (welche nat¨urlich durch die von -age eingef¨uhrte Prozesshaftigkeit bzw. NichtResultativit¨at weiter in den Vordergrund r¨uckt, vgl. z.B. Kapitel 3.3.4) oder auf der gelegentlichen Ausbildung von kollektiven Resultatslesarten (s.o.). Da die diachronen Sprachdaten die Hypothese unterst¨utzen, dass -age zu keiner Zeit zur Ableitung genuiner Kollektivnomina gedient hat, sollen die in den verschiedenen Korpora attestierten kollektiven -age-Derivate hier auf die oben beschriebene metonymisch-metaphorische Relation zwischen Arten- und Gruppenindividuen bzw. -termen zur¨uckgef¨uhrt werden. Diese Analyse liegt im ¨ Ubrigen insbesondere auch f¨ur die in der bisherigen Untersuchung ausgesparten Orts- und Periodenbezeichnungen auf -age wie z.B. rivage (‘Ufer’) oder hivernage (‘Winter, Winterzeit’) nahe, wo die Relation zwischen der (reifizierten) Zugeh¨origkeit (z.B. die Eigenschaft, zum Fluss oder zum Winter zu geh¨oren) und dem entsprechenden Ort (d.h. dem Fluss) oder der entsprechenden Zeit (dem Winter) offensichtlich ist. In diesem Zusammenhang kann ebenfalls argumentiert werden, dass die (extensionale) kollektive Interpretation auf einer TeilGanzes-Relation zwischen z.B. zum Ufer geh¨origen L¨andereien im Allgemeinen und in der aktuellen Welt zur Zeit t existierenden Uferabschnitten existiert. F¨ur die sieben -age-Derivate, die in den oben beschriebenen Korpora vom 12. bis zum 20. Jahrhundert nur mit kollektiver Lesart attestiert wurden (d.h. corsage, visage, chenevage, nuage, pennage, treillage, outillage), soll zwar nicht prinzipiell ausgeschlossen werden, dass sie auf einer im Sinne von Kapitel 2.2.4 konkretanalogischen Ableitung beruhen. Allerdings w¨urde selbst der Nachweis u¨ ber die Nicht-Existenz der Arteninterpretation f¨ur diese Derivate nicht zwangsl¨aufig eine analogiebasierte Analyse erforderlich machen, denn ebensogut k¨onnen die rein kollektiven Beispiele auch durch die systematische Ausnutzung der oben beschriebenen metonymisch-metaphorischen konzeptuellen Relation zwischen Gruppen- und Artenindividuen zustande gekommen sein. Inwieweit die Motivation f¨ur die Bildung der rein kollektiven -age-Derivate dadurch erh¨oht wird, dass es bereits -age-Nomina mit dieser Interpretation in der Sprache gibt, kann auf der Grundlage von Korpus- und a¨ hnlichen Daten nicht ermittelt werden. Unabh¨angig von der Motivation f¨ur die sporadische Generierung von Kollektivbegriffen auf -age kann allerdings festgehalten werden, dass sich die in diesen realisierten Form-Bedeutung-Assoziationen als marginale Vertreter in das Gesamtschema der -age-Ableitung eingliedern und somit die mono-semantische Analyse der -age-Ableitung nicht beeintr¨achtigen.

5.1.5 Die Dom¨anenspezifizierung im 19. Jahrhundert Die Vermutung von Fleischman (1980), dass die deverbalen -age-Nominalisierungen in Frankreich erst im Zuge des industriellen Zeitalters frequent geworden

229 sind, best¨atigt sich durch eine eigens durchgef¨uhrte diachrone Studie, bei welcher die sechs im vorigen Abschnitt beschriebenen vom 12. bis zum 20. Jahrhundert reichenden Korpora im Hinblick auf die Verteilung der Lesarten der in ihnen enthaltenen -age-Nominalisierungen untersucht wurden. Genauer gesagt belief sich die Untersuchung darauf, die in Abschnitt 5.1.2 bereits f¨ur das NCA vorgestellte Analyse des Lesartenspektrums der -age-Tokens auf die Folgejahrhunderte auszuweiten. Das heißt, f¨ur jedes der sechs Korpora wurden die Lesarten gez¨ahlt, mit welchen die Tokens der entsprechenden Types im jeweiligen Korpus vorkommen, wobei jede Lesart nur einmal ber¨ucksichtigt wurde (vgl. die Erl¨auterungen in Abschnitt 5.1.2). Das Ergebnis der Studie deckt sich insofern mit Fleischmans Einsch¨atzung, als die Ereignisbezeichnungen auf -age im 19. Jahrhundert in der Tat ihren deutlichsten Zuwachs verzeichnen (vgl. Abbildung 5.3).

Abbildung 5.3: Lesartenverteilung der -age-Types im NCA und im diachronen FRANTEXT-Korpus

Neben vereinzelten Steuertermen (z.B. fermage ‘Pachtzins’) und Statusbezeichnungen (cousinage ‘Vetternschaft’) sowie etlichen Gruppennomina (z.B. branchage ‘Astwerk’, outillage ‘Werkzeug’) und Ortsbezeichnungen (z.B. pˆaturage ‘Weide’, alpage ‘Alm’) finden sich in den Korpora des 19. und 20. Jahrhunderts also haupts¨achlich Ereignisnominalisierungen wie espionnage (‘Spionage’) massage (‘Massage’) etc., wobei unter die Kategorie “ENom-Resultate” in Abbildung 5.3 erneut diejenigen Ereignisnominalisierungen gefasst wurden, welche in den Korpora ausschließlich resultative Lesarten aufweisen, wie z.B. alliage (nur ‘Legierung(res) ’) oder arrivage (nur ‘Lieferung(res) ’). Typische Beispiele f¨ur “technische” -age-Nominalisierungen aus dem FRANTEXT-Korpus des 19. Jahrhunderts sind z.B. coulage (‘Leckage’), creusage (‘Ausschachtung’), d´egommage (‘Degummierung’), e´ clairage (‘Beleuchtung’).

230 In den Kapiteln 3 und 4 der vorliegenden Arbeit wurde bereits betont, dass die Verwendung der -age-Nominalisierung zur Ableitung von Ausdr¨ucken f¨ur technische Operationen etc. im Rahmen des hier intendierten Ansatzes insofern auf die abstrakte Bedeutung des Suffixes zur¨uckgef¨uhrt werden kann, als zur Benennung der entsprechenden Konzepte Verfahren ben¨otigt werden, welche die den Basisverben inh¨arente Topikalisierung des Geschehnistr¨agers beibehalten. Was den neuerlichen Zuwachs der -age-Derivate im Neufranz¨osischen anbelangt, kann im Rahmen dieses Ansatzes spekuliert werden, dass er auf den Ausbau bereits existierender sowie die Entstehung weiterer Technologien zur¨uckzuf¨uhren ist, da durch diese Entwicklung eine ganze Reihe weiterer Konzepte entstanden sein d¨urften, die f¨ur eine Topikalisierung des Geschehnistr¨agers bzw. f¨ur eine Thematisierung dessen Ereignisteilhabe pr¨adestiniert sind. W¨ahrend die hier intendierte Analyse also Fleischmans Annahme folgt, dass der technische Fortschritt als einer der tragenden Stimulatoren der Entwicklung von -age zum neufranz¨osischen Ereignisnominalisierungssuffix aufzufassen ist, weicht sie in den folgenden zwei Punkten von Fleischman (1980) ab. Erstens werden gem¨aß den Erl¨auterungen in den vorigen Abschnitten nicht, wie Fleischman vorschl¨agt, die fiskalen Terme als Ausgangspunkt f¨ur die Ausbildung von “action nouns” auf -age erachtet, sondern die neuere Entwicklung des Ableitungsverfahrens wird auf den Umstand zur¨uckgef¨uhrt, dass sich -age im Zuge der in Abschnitt 5.1.2 beschriebenen Reanalyse in ein in Chierchias Sinne prototypisches Nominalisierungssuffix gewandelt hat. Diese Sichtweise wird vor allem durch die Koh¨arenz gest¨utzt, durch welche sich die hier vorgeschlagene synchrone und diachrone Analyse der -age-Nominalisierung auszeichnet. An dieser Stelle sei nochmals darauf hingewiesen, dass die von Chierchia (1988) bzw. Chierchia (1998) u¨ bernommene Reifizierungstheorie auf verbale und nominale Pr¨adikate gleichermaßen anwendbar ist, wobei Chierchia selbst bereits zu dem Schluss kommt, dass die Reifizierung von Eigenschaften, die verbale Pr¨adikate zuweisen, zu der Entstehung von Ereignistypen bzw. Ereignistyp-Bezeichnungen f¨uhrt, wohingegen die Reifizierung der von nominalen Pr¨adikaten zugewiesenen Eigenschaften in der Bildung von Artentermen resultiert. Die Anwendung dieser Nominalisierungstheorie auf die Diachronie von -age macht deutlich, dass sich die Reifizierungsfunktion als zentrales Charakteristikum durch die gesamte Entwicklung des Suffixes vom Alt- bis zum Neufranz¨osischen zieht: Nachdem sich die kategorien¨ubergreifende Reifizierungsfunktion im Altfranz¨osischen durch die in Abschnitt 5.1.2 beschriebene Reanalyse herausgebildet hatte und das Suffix vom 15. bis zum 18. Jahrhundert eher moderate Verwendung fand, konnte es ab dem 19. Jahrhundert zur Bildung von Bezeichnungen f¨ur die im Zuge der Industriellen Revolution entwickelten technischen Operationen und Prozesse eingesetzt werden, weil es die Basisverben aufgrund seiner spezifischen abstrakten Bedeutung in der hierf¨ur erforderlichen Weise abzuleiten vermochte. Wie bereits in den vorigen Kapiteln angedeutet ist

231 die abstrakte Bedeutung von -age also der hier vorgeschlagenen Analyse zufolge im Altfranz¨osischen dieselbe wie im Neufranz¨osischen. Zweitens unterscheidet sich der hier entwickelte Ansatz insofern von Fleischman (1980), als hier gem¨aß den Ausf¨uhrungen in den Kapiteln 2 und 3 angenommen wird, dass die Interaktion zwischen der emergenten abstrakten Bedeutung des Suffixes und den semantisch-pragmatisch determinierten Bed¨urfnissen der Konzeptversprachlichung als Erkl¨arung f¨ur den Zuwachs der Ereignisnominalisierungen auf -age im 19. Jahrhundert ausreicht, bzw. dass Verweise auf eine etwaige Dublettendifferenzierung und auf einen R¨uckentlehnungsprozess aus dem Englischen zur Herleitung dieser Entwicklung weder n¨otig sind noch empirisch naheliegen. Was die Hypothese der Dublettendifferenzierung anbelangt, so wurden in den vorigen Kapiteln bereits zahlreiche Evidenzen daf¨ur gebracht, dass sich die Verschiedenheit von -ment und -age letztlich nicht auf die Dublettendifferenzierung in Richtung bestimmter Bezeichnungsdom¨anen zur¨uckf¨uhren l¨asst. Zum Beispiel gibt es im Neufranz¨osischen zahlreiche Belege f¨ur -ment/-ageDubletten, die derselben Bezeichnungsdom¨ane angeh¨oren, und sogar zahlreiche -ment/-age-Dubletten, welche auf das gleiche Ereignis Bezug nehmen (vgl. erneut die in Kapitel 3 und 4 analysierten Sprachdaten). Der Umstand, dass derartige Dubletten in großer Anzahl in der Sprache existieren, vertr¨agt sich kaum mit der Annahme, dass eine der Hauptmotivationen der Bedeutungsentwicklung von -age die lexikalisch-semantische Bedeutungsdifferenzierung gegen¨uber den -ment- (und -(at)ion-)Dubletten gewesen sei, und auch die im Laufe dieses Kapitels zu verdeutlichende diachrone Verschiedenheit von -age und -ment vertr¨agt sich wie bereits betont a¨ ußerst schlecht mit der Hypothese der Dublettendifferenzierung. Die R¨uckentlehnungshypothese ist zwar mit Studien zum englisch-franz¨osischen Sprachkontakt und zur Zusammensetzung des franz¨osischen Wortschatzes kompatibel, welche darauf hinweisen, dass der Einfluss des Englischen auf den Wortschatz des Franz¨osischen im 19. Jahrhundert im Vergleich zu den vorhergehenden Jahrhunderten in den verschiedensten Bereichen deutlich zunimmt (vgl. z.B. Behrens 1927: 125–171, Gebhardt 1975, Stefenelli 1981: 235f, Walter 2005, Wise 1997: 81–86 u.a.). Allerdings ist erstens zu beachten, dass die Frage der Motivation f¨ur die funktionale Ausspezifizierung von -age durch diese Herleitung nicht beantwortet, sondern lediglich vom Franz¨osischen ins Englische verschoben wird, wo neben dem entlehnten -age auch weitere, ebenfalls entlehnte Nominalisierungssuffixe, darunter auch -ment, existieren. Zweitens wird die R¨uckentlehnungshypothese von Fleischman dadurch in Zweifel gezogen, dass laut ihren Angaben auch die englische -ing-Suffigierung ins Franz¨osische entlehnt wurde. Zur Erkl¨arung des Umstandes, weshalb -age und nicht -ing als entlehntes Suffix zur Bildung des technischen Vokabulars eingesetzt wurde, muss die Autorin daher auf die fragw¨urdige Hypothese zur¨uckgreifen, dass das Franz¨osische die Verwendung des r¨uckentlehnten Suffixes ‘vorziehe’. Drit-

232 tens gibt zu denken, dass in den oben zitierten Arbeiten zum englisch-franz¨osischen Sprachkontakt im 19. Jahrhundert auch darauf hingewiesen wird, dass die sprachliche Beeinflussung keinesfalls einseitig war, sondern dass auch der “Einstrom franz[¨osischer] W¨orter in das Englische . . . in der ersten H¨alfte des 19. Jahrhunderts erneut [ansteigt]” (Gebhardt 1975: 294), so dass auch im Falle der hier zur Diskussion stehenden -age-Derivate eine entgegengesetzte Entlehnungsrichtung nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann.25 Dar¨uber hinaus ist schließlich darauf hinzuweisen, dass sich weder in den obigen zum Teil a¨ ußerst detaillierten Beschreibungen des englisch-franz¨osischen Sprachkontakts im 19. Jahrhundert noch in etymologischen lexikographischen Werken wie dem Franz¨osischen Etymologischen W¨orterbuch von von Wartburg (FEW, vgl. Anhang A.1) ein Hinweis darauf findet, dass es sich bei den technischen -ageNominalisierungen des 19. Jahrhunderts um Lehn¨ubersetzungen, Lehn¨ubertragungen oder Lehnsch¨opfungen handelt. Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass die R¨uckentlehnung von -age aus dem Englischen ins Franz¨osische in den oben genannten Arbeiten lediglich keine Beachtung gefunden hat, kann diese Frage hier zwar nicht endg¨ultig gekl¨art werden.26 Die Annahme einer R¨uckentlehnung der -age-Suffigierung aus dem Englischen ins Franz¨osische ist vor dem Hintergrund der obigen Er¨orterung allerdings dennoch stark zu bezweifeln. Ein Aspekt, der unter Umst¨anden anstatt des englisch-franz¨osischen Sprachkontakts bei der Analyse der Entwicklung der -age-Suffigierung miteinzubeziehen w¨are, ist, dass mit dem nominalisierten Infinitiv ein mutmaßlich der -age-Nominalisierung bedeutungs¨ahnliches Nominalisierungsverfahren bereits lange vor den f¨ur -age entscheidenden Entwicklungen aus der Sprache abhanden gekommen zu sein scheint.27 Autoren wie Sch¨affer (1911: 211), Grevisse (2004: 257), Fournier (1998: §388f) und Buridant (2008) gehen beispielsweise davon aus, dass der nominalisierte Infinitiv als produktives Verfahren bereits im 17. Jahrhundert aus der Sprache eliminiert wurde.28 Diese Hypothese 25

26

27

28

Gebhardt (1975: 303) f¨uhrt diesen “zweiten Entlehnungsh¨ohepunkt der Gallizismen ¨ im N[euenglischen]” auf “die Uberwucherung des Gemeinwortschatzes durch den un¨ubersehbar angeschwollenen Bildungs- und Fachwortschatz bestimmter Berufe und Sachgebiete” zur¨uck. Vgl. beispielsweise Gebhardt (1970) f¨ur eine Problematisierung der Behandlung von Anglizismen im FEW. Hinweise auf eine funktionale N¨ahe der -age-Suffigierung mit Infinitivnominalisierungen finden sich z.B. in Heinold (2010). Die Gr¨unde f¨ur diesen Umstand sind bisher nicht eindeutig gekl¨art. W¨ahrend Sch¨affer (1911: 202) darauf hinweist, dass “gegen Ende der altfrz. Sprachperiode der Gebrauch des tonlosen Personalpronomens vor dem I[nfinitiv] u¨ blich wurde” und man daher bei Infinitiven transitiver Verben nie wusste, “ob ein vor ihnen stehendes le oder l’ als Artikel oder als Personalpronomen anzusehen sei”, f¨uhrt Buridant (2008) diese Ver¨anderung auf die “´evolution typologique du franc¸ais e´ liminant progressivement ses composantes de Type ‘germanique”’ (‘typologische Entwicklung des Franz¨osischen,

233 wird zwar unter anderem durch die Beobachtung von Kerleroux (1996) in Frage gestellt, dass der nominalisierte Infinitiv in bestimmten Bezeichnungsdom¨anen selbst im Neufranz¨osischen ein relativ gebr¨auchliches Verfahren zu sein scheint. Unter Verweis auf Schapira (1995) merkt Buridant (2008) allerdings an, dass die neufranz¨osischen nominalisierten Infinitive erstens sowohl im Hinblick auf ihre syntaktische Flexibilit¨at als auch in Bezug auf ihre diaphasische Zugeh¨origkeit nicht mit dem altfranz¨osischen Verfahren vergleichbar seien und dass die nominalisierten Infinitive des 20. Jahrhunderts zweitens auf einer “r´eanimation” (‘Reanimierung’, ebd.) des mittelalterlichen Verfahrens beruhen. Die Tatsache, dass die Infinitivnominalisierung im 19. Jahrhundert nicht als Mittel zur Versprachlichung von Ereigniskonzepten zur Verf¨ugung stand, stellt zusammen mit der ¨ mutmaßlichen funktionalen Ahnlichkeit von Infinitivnominalisierung und -ageSuffigierung ein starkes Indiz f¨ur die Annahme dar, dass die -age-Suffigierung im 19. Jahrhundert verst¨arkt zur Bezeichnung der innovativen technischen Operationen und Prozesse herangezogen wurde, weil sie als einziges oder eines der wenigen verf¨ugbaren Nominalisierungsverfahren die den Basisverben inh¨arente Topikalisierung des Geschehnistr¨agers beibeh¨alt.29 Die Hypothese u¨ ber den Zusammenhang zwischen dem Untergang der Infinitivnominalisierung und der Ausnutzung der -age-Nominalisierung zur Generierung von Bezeichnungen f¨ur technische Operationen und Prozesse ist zum jetzigen Forschungsstand zwar kaum u¨ berpr¨ufbar. Allgemein ist fraglich, ob f¨ur den stark soziolinguistisch bedingten Wandel im Gebrauch von Wortbildungsverfahren u¨ berhaupt jemals die Determiniertheit durch spezifische Einflussfaktoren nachgewiesen werden kann, denn meist scheint es f¨ur derartige Wandelerscheinungen mehrere m¨ogliche Erkl¨arungen zu geben. Ungeachtet dieser Unklarheiten kann im Hinblick auf den in Kapitel 3 etablierten Ansatz zur Bedeutungsdifferenzierung zwischen -ment und -age jedoch festgehalten werden, dass die Bedeutung der -age-Suffigierung direkt aus der diachronen Entwicklung des Suffixes, d.h. aus der Reanalyse der substantivierten relationalen -aticu/ageAdjektive im Altfranz¨osischen, hergeleitet werden kann und dass das Suffix im 19. Jahrhundert aus dem Grund zur systematischen Ableitung von Bezeichnungen f¨ur technische Terme und Operationen herangezogen werden konnte, weil

29

das schrittweise seine ‘germanischen’ Bestandteile eliminiert’) bzw. mit Verweis auf Wulff (1875) auf die zunehmende Bildung neuer abstrakter Begriffe und die damit nach Ansicht von Wulff (1875: 59f) einhergehende Pr¨adominanz von -(at)ion zur¨uck. Vgl. z.B. die im Zusammenhang mit Abbildung 5.3 gegebenen einschl¨agigen Beispiele f¨ur “technische” -age-Nominalisierungen des 19. Jahrhunderts. W¨ahrend die genaue Rolle von -(at)ion als einem weiteren zentralen Nominalisierungsverfahren des Franz¨osischen in diesem Zusammenhang erst noch zu kl¨aren w¨are (vgl. dazu die kurze Diskussion in Abschnitt 5.2.4), wird in der vorliegenden Arbeit die Auffassung vertreten, dass eine Entlehnung der englischen -ing-Suffigierung im 19. oder auch 20. Jahrhundert ins Franz¨osische zweifelhaft ist; vgl. jedoch die Diskussion in Heinold (2010: 156–162).

234 es bereits seit dem Altfranz¨osischen die Funktion eines klassischen Nominalisierungsverfahrens in Chierchias (1988; 1998) Sinne besitzt. Der Umstand, dass die Diachronie des Suffixes direkt in den in Kapitel 3 entwickelten Ansatz integriert werden kann, stellt eine weitere, unabh¨angige Evidenz f¨ur die in der vorliegenden Arbeit vorgestellte semantische Analyse der franz¨osischen -ageNominalisierung dar. Zudem erfahren sowohl Liebers (2004) Generalisierung u¨ ber die hohe diachrone Stabilit¨at abstrakter Bedeutungsmerkmale von Derivationsaffixen als auch, damit einhergehend, die Hypothese der dualen Stratifizierung und der moderat-emergentistische Ansatz an sich eine umfassende diachrone Best¨atigung. Im folgenden Abschnitt soll gepr¨uft werden, ob die synchronen Eigenschaften der -ment-Nominalisierung in a¨ hnlicher Weise mit der diachronen Entwicklung des Suffixes in Verbindung gebracht werden k¨onnen.

5.2

Die Diachronie von -ment

Die franz¨osische -ment-Nominalisierung entwickelte sich aus der lateinischen -mentum-Suffigierung, die bereits im Latein zur Nominalisierung von verbalen Pr¨adikaten gedient hat (vgl. z.B. R¨odiger 1904, Perrot 1961, Meyer-L¨ubke 1894: 488f). Wie eingangs erw¨ahnt kann u¨ ber die Entstehung der lateinischen -mentum-Suffigierung aufgrund des Mangels an vorklassischen Quellen und entsprechender Sekund¨arliteratur kaum mehr Gewissheit erlangt werden. In den vereinzelten einschl¨agigen Untersuchungen gibt es jedoch starke Indizien f¨ur einen abstrakt-semantischen Zusammenhang zwischen der -ment-Suffigierung, ihrer lateinischen Entsprechung und der Morphologie indogermanischer Partizipien des dritten Status, die eine diachrone Untersuchung der -ment-Nominalisierung nicht unber¨ucksichtigt lassen sollte. Der m¨ogliche Zusammenhang zwischen der abstrakten Bedeutung der hier angesprochenen indogermanischen Ableitung, dem lateinischen -mentum und der (alt- und neu-)franz¨osischen -ment-Suffigierung ist Gegenstand der Abschnitte 5.2.1 und 5.2.2. Die Beobachtung, dass zwischen der lateinischen -mentumNominalisierung und der altfranz¨osischen -ment-Ableitung ein drastischer Produktivit¨atsunterschied bestanden haben muss, f¨uhrt daraufhin zu der Frage, ob die altfranz¨osischen -ment-Nominalisierungen als Ersatz f¨ur andere, bedeutungsverwandte Nominalisierungsverfahren eingesetzt wurden, welche aus bestimmten Gr¨unden nicht (sofort) in die franz¨osische Sprache u¨ bernommen wurden. In diesem Zusammenhang finden auch die Entwicklung der franz¨osischen e´ /´ee-Derivation sowie diejenige der -(at)ion- bzw. -(ai)son-Ableitung kurze Ber¨ucksichtigung, da f¨ur dieses Teilparadigma franz¨osischer Nominalisierungssuffixe (d.h. -ment, -´e/´ee, -(at)ion und -(ai)son) auf der Basis diachroner

235 Sprachdaten einerseits ein gewisser Formenaustausch und andererseits eine relativ hohe semantische N¨ahe nachgewiesen werden kann (Abschnitte 5.2.3 und 5.2.4).30 Sowohl f¨ur -´e/´ee als auch f¨ur -(at)ion gilt, dass selbst eine ann¨ahernde Analyse dieser Ableitungsverfahren den Rahmen der vorliegenden Arbeit weit u¨ bersteigen w¨urde. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass beide Nominalisierungsverfahren mit aller Wahrscheinlichkeit gleichermaßen auf der Basis der eingangs erw¨ahnten indogermanischen Partizipialmorphologie entstanden sind, kann ihre offensichtliche semantische N¨ahe zu -ment dennoch als ein weiteres Indiz f¨ur die Annahme verstanden werden, dass auch die franz¨osische -mentNominalisierung u¨ ber das lateinische -mentum diachron mit der indogermanischen Partizipialmorphologie verbunden ist. Insgesamt gesehen stellt die folgende Untersuchung damit zum einen eine unabh¨angige Evidenz f¨ur die in Kapitel 3 aufgestellte Hypothese dar, dass die franz¨osische -ment-Nominalisierung mit der Bedeutung partizipialer Morphologie des dritten Status in Verbindung zu bringen ist. Zum anderen werden starke Indizien f¨ur die Annahme geliefert, ¨ dass auch die -ment-Nominalisierung (sowie im Ubrigen auch die -´e/´ee- und die -(at)ion-Ableitung) durch die diachrone, sprach-¨ubergreifende Kontinuit¨at abstrakter Bedeutungsmerkmale gekennzeichnet ist.

5.2.1 Die abstrakte Bedeutung des altfranz¨osischen -ment Im Zusammenhang mit der Diachronie der -ment-Nominalisierung ist zun¨achst darauf hinzuweisen, dass die altfranz¨osischen -ment-Nominalisierungen grunds¨atzlich dasselbe Interpretationsspektrum aufweisen, wie die neufranz¨osischen -ment-Derivate. So weist bereits Meyer-L¨ubke (1921: 75f) unter anderem auf die resultative und passivische Tendenz alt- und neufranz¨osischer -mentNomina hin und stellt zudem mit Verweis auf R¨odiger (1904) fest, dass -mentNominalisierungen bei “subjektiven Verben” generell den Zustand und allgemein h¨aufig das Ergebnis bezeichnen. Eine Untersuchung der im NCA enthaltenen -ment-Nominalisierungen ergab, dass die Verteilung der Lexeme auf die drei grundlegenden Basisverbklassen +CH (d.h. Basisverben mit Zustandswechsel), −CH (Basisverben ohne Zustandswechsel) und STA (stativische Basisverben) in etwa das Muster der neufranz¨osischen -ment-Nomina widerspiegelt.31 Das heißt, am h¨aufigsten sind die Nominalisierungen von +CH-Verben, am zweith¨aufigsten diejenigen von −CH-Verben, am niedrigsten ist die Frequenz der Nominalisierungen von stativischen Verben (s. Abbildung 5.4), wobei in dem leicht erh¨ohten Anteil der Ableitungen von stativischen Verben im Altfranz¨osischen gegen¨uber dem Neufranz¨osischen kein qualitativer Unterschied 30 31

Die Notation bzw. Kategorie -´e/´ee wird zu Beginn des Abschnitts 5.2.3 erl¨autert. F¨ur Erl¨auterungen zu den obigen Siglen und zur Klassifizierung der Basisverben vgl. auch Kapitel 4.1.3.

236

Abbildung 5.4: Typefrequenzen der -ment-Derivate von +CH-, −CH- und STA-Verben im NCA und im synchronen FRANTEXT-Korpus

zu sehen ist.32 Weiterhin entspricht das Lesartenspektrum der altfranz¨osischen -ment-Nomina auch auf der Ebene der hinsichtlich konkreter Bedeutungskomponenten der Basisverben unterschiedenen Subklassen in weiten Teilen dem neufranz¨osischen Muster, wie Abbildung 5.5 f¨ur die in Kapitel 4.2 analysierten Basisverbklassen des +CH-Bereichs illustriert. So enth¨alt beispielsweise auch das altfranz¨osische Korpus die f¨ur das Neufranz¨osische charakteristischen -ment-Nominalisierungen von Verben f¨ur k¨orperbezogene Bewegungen (+CH ba-Verben, guigner ‘blinzeln’ > guignement ‘Blinzeln’), von rein inchoativen Verben (+CH inch, z.B. reverdir ‘neu ergr¨unen’ > reverdissement ‘Gr¨unen, Gr¨unwerden’) und von aspektuellen Verben (+CH asp, z.B. finer ‘ein Ende nehmen, aufh¨oren’ > finement ‘Ende’, s. ebd.). Eine weitere Parallele zwischen den altfranz¨osischen und den neufranz¨osischen +CHNominalisierungen besteht in dem Umstand, dass der Anteil an Derivaten von reinen Zustandswechsel-Verben (+CH cos, z.B. espurgement ‘Reinigung’) sowohl im neufranz¨osischen als auch im altfranz¨osischen Korpus die Anteile der u¨ brigen Klassen klar u¨ bersteigt (vgl. ebd.). Auff¨allig ist außerdem der in beiden Korpora hohe Anteil an Nominalisierungen mit Referenten aus dem psychologischen Bereich, der sich beispielsweise im Bereich der Nominalisierungen von +CH cos-Verben auch im NCA auf immerhin 46 von 81 Types bel¨auft (vgl. z.B. corrocement ‘Erz¨urnung, Zorn’). Schließlich weisen die altfranz¨osischen +CHNominalisierungen des NCA auch einen relativ hohen Anteil an Nominalisierungen von sogenannten ‘Degree Achievements’ auf (z.B. reverdissement (s.o.), 32

Wie die neufranz¨osischen Nominalisierungen von stativischen Pr¨adikaten k¨onnen auch deren altfranz¨osische Entsprechungen in der folgenden Untersuchung nicht ber¨ucksichtigt werden.

237

Abbildung 5.5: Anteile der -ment-Types von aspektuellen Verben (+CH asp), Verben f¨ur k¨orperbezogene Aktivit¨aten (+CH ba), reinen Zustandswechsel-Verben (+CH cos) und rein inchoativen Verben (+CH inch) an +CH -ment-Nominalisierungen im NCA und im synchronen FRANTEXT-Korpus

acroissement ‘Zunahme’ etc.), was in Kapitel 4 ebenfalls als charakteristisch f¨ur die neufranz¨osischen -ment-Derivate herausgestellt wurde. F¨ur den −CH-Bereich zeigt sich, dass die Referenten der -ment-Nomina des NCA ebenfalls denselben ontologischen Dom¨anen angeh¨oren wie die -mentNominalisierungen des neufranz¨osischen FRANTEXT-Korpus. Das heißt, die altfranz¨osischen -ment-Nomina bezeichnen wie ihre neufranz¨osischen Entsprechungen homogene Aktivit¨aten (−CH act), Aktivit¨aten mit Emission als Beiprodukt (−CH act+em), Kommunikationsakte bzw. die daraus resultierenden Kommunikationseinheiten (Fragen, Bitten, Antworten etc., −CH com, s.u.), reine Emissionen bzw. Emissionsprodukte (s.u.) und Bewegungen bzw. Bewegungsarten (−CH mm, s. Abbildung 5.6).33 Schließlich zeigt ein Vergleich der altfranz¨osischen und neufranz¨osischen Daten auf der Token-Ebene, dass sich diejenigen Interpretationen, die sich in Kapitel 4 als besonders charakteristisch f¨ur die neufranz¨osischen -mentNominalisierungen herausgestellt haben, alle auch f¨ur die altfranz¨osischen -ment-Nomina des NCA nachweisen lassen. So bezeichnen die altfranz¨osischen -ment-Tokens wie ihre neufranz¨osischen Entsprechungen im +CH-Bereich vornehmlich Resultatszust¨ande oder aus Zustandsver¨anderungen resultierende Individueneigenschaften (vgl. (18a.,b.)). Die wenigen prozesshaften -mentNominalisierungen bezeichnen entweder passivische Ereignisse (18c.), inchoative abgeschlossene Ereignisse (18d.) oder Gradsequenzen, sofern es sich bei 33

Die quantitativen Differenzen werden weiter unten im Detail analysiert.

238

Abbildung 5.6: Anteile der -ment-Types von den verschiedenen −CH-Verben im NCA und im synchronen FRANTEXT-Korpus

dem Basisverb um ein ‘Degree Achievement’ handelt, wobei in diesen F¨allen genau wie im Neufranz¨osischen auch im Altfranz¨osischen offensichtlich mittels Grad-spezifizierenden Adjektiven auf einen mehr oder weniger spezifischen Wert der durch die -ment-Nominalisierung bezeichneten Sequenz Bezug genom¨ men werden konnte (18e.). Auff¨allig ist die Ahnlichkeit zwischen alt- und neufranz¨osischen -ment-Nomina zudem im Bereich der rein inchoativen Verben f¨ur zielgerichtete Bewegungen, wo -ment-Nomina a¨ hnlich wie im neufranz¨osischen Korpus haupts¨achlich attestiert werden, wenn der Resultatszustand bzw. das Bewegungsziel im Mittelpunkt stehen (18f.). (18)

a. ne und e und

rait entr eus adoucement e concorde strahlen:PRS .3 SG unter ihnen Milde und Eintracht ajostement. Einigkeit

‘Und unter ihnen herrscht Milde, Eintracht und Einigkeit.’ (benoit) b. mult sehr se sich

fu de grant acointement [et] sein:PST. PFV.3 SG von großer einschmeichelnder Art und fist amer a .... machen:PST. PFV.3 SG lieben:INF bei . . .

‘Er hatte eine u¨ beraus einschmeichelnde Art und machte sich beliebt bei . . . .’ (jouf) c. et und lou den

soi meisme resuscitai [sic!] il des morz sich selbst auferstehen:PST. PFV.3 SG er von den Toten tierz jor de son crucefiemant. dritten Tag seiner Kreuzigung

239 ‘Und am dritten Tag nach seiner Kreuzigung erhob er sich von den Toten.’ (barlaam) e d. apres la mienuit s armerent nach der Mitternacht sich bewaffnen:PST. PFV.3 PL und sagement tresik apras l’ajornement qu’il s geduldig bis nach dem Tagesanbruch dass sie sich embuschierent en uns vals, . . . . in einen Hinterhalt legen:PST. PFV.3 PL in einem Tal . . . ‘Nach Mitternacht bewaffneten sie sich und legten sich geduldig bis nach Tagesanbruch in einem Tal in einen Hinterhalt.’ (guil) catons, qui fu e. apres dit danach sagen:PRS / PST. PFV.3 SG Catons, der sein:PST. PFV.3 SG saiges, se lon faut en maintes weise, wenn man ben¨otigen:PRS .3 SG bei vielen usaiges, en maint leu et en maint Gewohnheiten, an mancher Stelle und bei mancher afaire, on le repuet trop bien Angelegenheit, man es wieder k¨onnen:PRS .3 SG sehr gut refaire et amander sotivemant et sanz wieder machen:INF und verbessern:INF listig und ohne moult grant empirement ... viel große Verschlimmerung . . . ‘Und danach sagte Catons, der weise war, dass man es [= die Unterjochung der Feinde (MU)], wenn man es bei irgendeiner Gewohnheit, an irgendeinem Ort oder bei irgendeiner Angelegenheit ben¨otigt, sehr gut ohne große Verschlimmerung wieder machen und listig verbessern k¨onnte.’ (mace) f. et quant il ot acont´e le und als er AUX . PST. PFV.3 SG berichten:PTCP den trespassement de galaad et la mort perceval, si ¨ Ubertritt von Galaad und den Tod Perceval PRT en furent tuit moult dolent . . . . davon sein:PST. PFV.3 PL alle sehr betr¨ubt ‘Und als er vom Ableben des Galaad und vom Tod des Perceval berichtet hatte, waren alle sehr betr¨ubt . . . .’ (mortatu)

Auch im −CH-Bereich ist anhand der NCA-Daten deutlich zu erkennen, dass die altfranz¨osischen -ment-Tokens weitestgehend dieselben Interpretationen aufweisen, die sich in Kapitel 4 als charakteristisch f¨ur die neufranz¨osischen Entsprechungen erwiesen haben. Wie die neufranz¨osischen -ment-Tokens bezeichnen auch die altfranz¨osischen Derivate des NCA beispielsweise systematisch Emissionsprodukte anstatt Emissionsprozesse (19a.), wobei auch im NCA die Bezeichnungen f¨ur lautliche Emissionen, und darunter insbesondere diejenigen f¨ur Tierlaute (19b.) sowie f¨ur menschliche Lautemissionen (19c.), beson-

240 ders h¨aufig sind. Wie im neufranz¨osischen Korpus finden sich im NCA daneben aber auch etliche Bezeichnungen f¨ur visible und taktile Emissionsprodukte (19d.). Weiterhin bezeichnen die -ment-Nomina des NCA wie diejenigen des neufranz¨osischen FRANTEXT-Korpus Verhaltensarten (19e.) und Arten nichtzielgerichteter Bewegungen (19f.). Die -ment-Nominalisierungen von Kommunikationsverben sind im NCA zwar frequenter als im synchronen FRANTEXTKorpus. Auch die Kommunikationsnominalisierungen des NCA bezeichnen wie die neufranz¨osischen -ment-Nominalisierungen allerdings nicht den Kommunikationsprozess, sondern entweder einen abgeschlossenen Sprechakt (19g.) oder die daraus resultierenden Kommunikationseinheiten (19h.).34 (19)

a. de yy lieues estet la noise oie que von yy Meilen sein:PST. IPFV.3 SG der L¨arm h¨oren:PTCP den il faizoent e li sonz et li sie machen:PST. IPFV.3 PL und das Ger¨ausch und das fremissemenz . . . Get¨ose ... ‘Der L¨arm, das Ger¨ausch und das Get¨ose, das sie machten, wurde meilenweit vernommen.’ (turp) b. al terz jor quant ele est levee e am dritten Tag als sie AUX : PRS .3 SG erheben:PTCP und de sa fosse fors alee donc jette un grant aus der H¨ohle heraus gehen:PTCP dann wirft ein großes mugissement qu oem la poet oir Gebr¨ull dass man sie k¨onnen:PRS .3 SG h¨oren:INF clerement par trestot le pais entor. deutlich von u¨ berall das Land ringsumher ‘Am dritten Tag, als er [= der Panther (MU)] sich erhoben hat und aus seiner H¨ohle herausgegangen ist, gibt er alsdann ein Gebr¨ull von sich, so dass man ihn u¨ berall im ganzen Land deutlich h¨oren kann.’ (best) c. li sires del ciel la terre esguardad que der Herr des Himmels die Erde ansehen:PST. PFV.3 SG dass il oist le gemissement del lii´ed que er h¨oren:PST. PFV.3 SG das Seufzen des Gebundenen dass il deliast les filz de mort . . . er entbinden:PST. PFV.3 SG die S¨ohne vom Tod . . . ‘Der Herr des Himmels betrachtete die Erde, so dass er das Seufzen desjenigen, der gebunden war, h¨orte und die S¨ohne vom Tod befreite . . . .’ (psautier)

34

¨ Diese Daten decken sich im Ubrigen weitestgehend mit den von R¨odiger (1904: 29– 103) f¨ur die altfranz¨osische -ment-Nominalisierung herausgestellten Bezeichnungsgruppen, wobei R¨odiger den nicht-eventiven Lesarten allerdings mehr Beachtung schenkt als die vorliegende Untersuchung.

241 d. aucuns se delite en escript de keiner sich erg¨otzen:PRS .3 SG an Geschriebenem von champions ou en mouvablete de jangleeurs . . . ou en Helden oder an Beweglichkeit von Schw¨atzern . . . oder an resplendissement de pierres precieuses . . . Schein von Steinen wertvollen ‘Keiner [von ihnen (MU)] erg¨otzt sich an Geschichten von Helden, an der Beredtheit von Schw¨atzern . . . oder am Glanz kostbarer Steine . . . .’ (abe) e. ici m estot hier mir m¨ussen:PRS .3 SG me puis de mich k¨onnen:PRS .1 SG von fol contenement wahnsinniges Verhalten lur bon parent . . . ihren Verwandten

la mort entendre kar ne den Tod h¨oren:INF denn nicht co defendre ke par mun dem befreien:INF dass durch mein n aient perdu NEG haben: PRS .3 SG verlieren: PTCP

‘Ich h¨ore den Tod kommen, denn ich kann mich nicht davon befreien, dass sie durch mein wahnsinniges Verhalten ihren Verwandten verloren haben.’ (gibv) f. . . . et ancois que ele issist de l eglise, . . . und sobald dass sie gehen:PST. PFV.3 SG aus der Kirche, ele fu si delivre de cele trembloison sie sein:PST. PFV.3 SG so befreien:PTCP von diesem Zittern et de cel demenement desus dit und von dieser Hin-und-Her-Bewegung oben nennen:PTCP de ses membres que apres ce ele n en von ihren Gliedmaßen dass nach dem sie NEG davon senti riens. f¨uhlen:PST. PFV.3 SG nichts ‘Und sobald sie aus der Kirche ging, war sie dermaßen befreit von jenem Zittern und jenen Zuckungen ihrer Gliedmaßen, dass sie hernach nichts mehr davon f¨uhlte.’ (loys) g. or nos dist apres li ewangelistes que nun uns sagen:PRS / PST. PFV.3 SG danach der Evangelist dass nostre sire ne respondi mie la bone unser Herr NICHT antworten:PST. PFV.3 SG NEG der guten feme al promier huchement . . . Frau bei der ersten Anrufung ‘Nun sagt(e) uns der Evangelist danach, dass unser Herr der guten Frau nicht auf die erste Anrufung hin antwortete.’ (carem)

242 h. nostre dame sainte marie recust le tiers unsere Dame heilige Maria erhalten:PST. PFV.3 SG die dritte anoncement en fin et en commencement enfin Benachrichtigung am Ende und am Anfang schließlich de circoncision en commencement d’oncion ... der Beschneidung am Anfang der Salbung . . . ‘Unsere heilige Maria erhielt die dritte Benachrichtigung am Ende der Beschneidung und am Anfang der Salbung.’ (remi)

Was die quantitativen Unterschiede zwischen den altfranz¨osischen und den neufranz¨osischen -ment-Derivaten von −CH-Verben (mehr Nomina mit Emissionsbedeutung im synchronen FRANTEXT-Korpus, mehr Nominalisierungen von Kommunikationsverben im NCA) anbelangt, k¨onnte eventuell argumentiert werden, dass sie auf den Umstand zur¨uckzuf¨uhren sind, dass sich die beiden Korpora aus zum Teil unterschiedlichen Textsorten zusammensetzen, in welchen unterschiedliche Stile vorherrschen und unterschiedliche Themen behandelt werden. Die hohe Anzahl der -ment-Nominalisierungen von Kommunikationsverben im NCA kann allerdings auch, wie in der vorliegenden Arbeit in ¨ Abschnitt 5.2.3 argumentiert wird, durch die mutmaßliche funktionale Uberschneidung der Bezeichnungsbereiche der -ment-Nominalisierung mit denjenigen der aus der lateinischen -(at)us/(at)a-Nominalisierung hervorgegangenen Ableitungsmuster (d.h. frz. -´e/´ee bzw. den Stammkonversionen) bedingt sein (vgl. z.B. afrz. demandement > nfrz. demande ‘Anfrage’, afrz. conseillement > nfrz. conseil ‘Rat’, afrz. apelement > nfrz. appel ‘Aufruf’ etc.). Ein weiterer quantitativer Unterschied zu den neufranz¨osischen Daten ist, dass die -mentNomina im Altfranz¨osischen scheinbar auch verst¨arkt im religi¨osen Kontext eingesetzt wurden. W¨ahrend dieser Kontext bei den neufranz¨osischen -mentNomina kaum vertreten ist, existieren im NCA immerhin mindestens 28 -mentLexeme mit einer ausschließlich “religi¨osen” Verwendung. Dieser quantitative Unterschied ist entweder ebenfalls auf die zum Teil unterschiedlichen Textsorten der Korpora oder, wie in der vorliegenen Arbeit in Abschnitt 5.2.4 argumen¨ tiert wird, auf eine Uberlappung des Bezeichnungsbereichs der altfranz¨osischen -ment-Nominalisierung mit demjenigen der -(at)ion-Nominalisierung zur¨uckzuf¨uhren (vgl. z.B. afrz. concevement > nfrz. conception ‘Empf¨angnis’, afrz. escommengement > nfrz. excommunication ‘Kirchenbann’ etc.). ¨ Abgesehen von der Uberlappung von -ment mit den “Nachfolgern” der lateinischen -(at)us- bzw. -(at)a-Derivation, auf die Abschnitt 5.2.3 eingeht, und der leicht erh¨ohten Verwendung von -ment-Nominalisierungen im religi¨osen Bereich, die in Abschnitt 5.2.4 behandelt wird, gibt es allerdings lediglich leichte quantitative Unterschiede zwischen den -ment-Nominalisierungen im NCA und denjenigen des neufranz¨osischen FRANTEXT-Korpus. Da die oben beschriebenen f¨ur das Neufranz¨osische untypischen -ment-Nominalisierungen erstens nur einen kleinen Teil der -ment-Nomina des NCA ausmachen und zweitens ledig-

243 lich zus¨atzlich zu den f¨ur das Alt- und Neufranz¨osische gleichermaßen typischen resultatszustandsbezogenen -ment-Nominalisierungen existieren, kann aus den Daten geschlossen werden, dass sich die Bedeutung des Suffixes im Laufe der Jahrhunderte nicht bedeutend ge¨andert hat, was wiederum bedeutet, dass die in den Kapiteln 3 und 4 entwickelte Analyse des neufranz¨osischen -ment auf die altfranz¨osische -ment-Suffigierung u¨ bertragbar ist.

5.2.2

Frz. -ment, lat. -mentum und idg. *-to

Die alt- und neufranz¨osische -ment-Nominalisierung entwickelte sich aus dem lateinischen Nominalisierungssuffix -mentum, dessen Entwicklung und Charakteristika sich auf der Basis der sp¨arlichen Sekund¨arliteratur nicht vollst¨andig nachvollziehen lassen. In verschiedenen philologischen Arbeiten sind allerdings zwei interessante Beobachtungen zu finden, die darauf hindeuten, dass auch im Fall der -ment-Nominalisierung die abstrakte Bedeutung des Suffixes bzw. der Suffixbestandteile als das Bindeglied zwischen der lateinischen Suffigierung und deren (alt- und neu-)franz¨osischer Entsprechung aufzufassen ist. Erstens ist in diesem Zusammenhang der Hinweis von Perrot (1961) anzuf¨uhren, dass sich -mentum vom lateinischen -men durch seinen resultativen Charakter unterscheidet. W¨ahrend -men-Nominalisierungen wie agmen (‘Zug, Marsch’) laut Perrot (1961) ‘reine Verbalsubstantive darstellen’ (“[les d´eriv´es en -men] repr´esentent des substantifs verbaux a` l’´etat le plus pur”, ebd.: 274) und daher den Prozess als solchen in seinem Verlauf bezeichnen k¨onnen, ist diese Interpretation f¨ur die -mentum-Nomina nicht in der Weise m¨oglich:35 Si les mots en -mentum parviennent a` des sens abstraits, c’est par d’autres voies: ils indiquent une manifestation particuli`ere de l’id´ee verbale et se rattachent par l`a au type r´esultatif: ils ne font pas voir ce proc`es en d´eroulement et par l`a se trouve exclue la repr´esentation du proc`es-chose. ‘Wenn die Worte auf -mentum zu abstrakten Bedeutungen gelangen, dann auf anderen Wegen: sie zeigen eine bestimmte Manifestierung der verbalen Idee an und geh¨oren daher zum resultativen Typus: sie lassen den Prozess nicht in seinem Verlauf erkennen und daher ist die Darstellung der Prozess-Sache ausgeschlossen.’ ¨ (Perrot 1961: 273, eigene Ubersetzung ins Deutsche)

Der zweite interessante Hinweis im Zusammenhang mit der diachronen Entwicklung von -ment ist die in der einschl¨agigen Literatur des 19. und fr¨uhen 20. Jahrhunderts h¨aufig ge¨außerte Vermutung, dass ein Bestandteil der lateinischen 35

Diese Einsch¨atzung wird in den wenigen weiteren Abhandlungen zur lateinischen -mentum-Suffigierung, wie z.B. R¨odiger (1904) oder Cressman (1915), weitestgehend geteilt. Die zitierten Autoren weisen zudem auf die h¨aufige instrumentale Interpretation der -mentum-Nominalisierungen hin, der hier allerdings weniger Gewicht beigemessen wird.

244 -mentum-Suffigierung das sogenannte indogermanische *-to-Formativ ist (vgl. z.B. Pott 1836: 594, Schleicher 1861: 206, Osthoff & Brugmann 1879: 220f, Br´eal 1991: 69, Brugmann & Delbr¨uck 1906: 234f, Meillet 1937: 274f), das im Latein unter anderem passivisch verwendete Vergangenheitspartizipien ableitet (s.u.) und eine Reihe von Stamm- und Endungsallomorphien aufweist, wobei die Form im Lateinischen meist, je nach Auslaut des Verbstamms, entweder als -tus bzw. -t- (explere, ‘ausf¨ullen’ > expl¯etus, ‘ausgef¨ullt’), oder als -sus bzw. -s- (sentire, ‘f¨uhlen’ > sensus, ‘gef¨uhlt’) realisiert wird.36 Den obigen Autoren zufolge f¨uhrt das indogermanische *-to bzw. das lateinische -t/s-Morphem im deverbalen Bereich eine resultative Perspektive derselben Art ein, wie sie in der vorliegenden Arbeit in Anlehnung an Roßdeutscher (2000) sowohl der Morphologie deutscher Partizipien des dritten Status als auch der neufranz¨osischen -ment-Nominalisierung zugesprochen wird (vgl. dazu auch (20a.,b.)). (20)

a. facere (‘tun, produzieren’) factum quom iam diu est schon lange sein:PRS .3 SG . IND . ACT tun:PTCP. SG . ACC als . . . abiisti ad forum. fortgehen:PST. PFV.2 SG . IND . ACT zum Forum ‘Es ist schon lange her, seit Du zum Forum aufgebrochen bist.’ (Pl. As. 2.1) b. constituere (‘bestimmen, (fest)setzen’) Avilius, ut erat constitutum, Avilius so sein:PST. IPFV.3 SG . IND . ACT vereinbaren:PTCP. SG . ACC simulat se aegrotare. vort¨auschen:PRS .3 SG . IND . ACT sich krank sein:PRS . INF. ACT ‘Wie es vereinbart worden war, gibt Avilius vor krank zu sein.’ (Cic. Clu. 13)37

Hinweise auf einen derartigen resultativen Einfluss von idg. *-to bzw. lat. -t/s finden sich zudem auch in Brugmann (1895: 93ff), Ernout (1953: 220–230), Georges (1968: 369f), Alsdorf-Boll´ee (1970: 26f), Joffre (1986; 1987; 1994), 36

37

Beispiele f¨ur weitere Allomophien sind flectere (‘biegen’) > flexus (‘gebogen’), mordere (‘beißen’) > morsus (‘gebissen’), cavere (‘sichern, sich vorsehen’) > cautus (‘gesichert, vorsichtig’) etc.. Das Allomophiespektrum wird beispielsweise von Ernout (1953: 220–228) im Detail beschrieben. Von diesen Allomorphien abstrahierend werden im Folgenden alle entsprechenden Formen als “*-to-Ableitung” bzw. in Anlehnung an Embick (2000) als “-t/s-Morphem” bzw. “-t/s-Formativ” zusammengefasst. Sofern nicht anders gekennzeichnet handelt es sich bei diesen und allen folgenden lateinischen Satzbeispielen um eigens extrahierte S¨atze aus der bereits in Kapitel 2 verwendeten lateinischen Datenbank Perseus Project (PER), vgl. erneut Anhang D.1.

245 Laurent (1999: 15–40), Embick (2000) oder auch Remberger (2009). So ist eine zentrale Funktion von *-to laut Alsdorf-Boll´ee (1970: 26) u.a. die Bildung von sogenannten passivischen Perfektpartizipien (im Folgenden PPP), welche “die Verbalhandlung in der Form einer durch sie bewirkten Eigenschaft oder eines aus der Aktion resultierenden Zustands” (ebd.: 45) darstellen. In der entsprechenden Literatur wird allerdings auch bereits darauf hingewiesen, dass die lateinischen *-to- bzw. -t/s-Formen l¨angst nicht nur in Passivkonstruktionen verwendet werden, sondern dass sie in einer Reihe weiterer Kontexte Verwendung finden, die nicht immer direkt mit Passivit¨at oder Resultativit¨at in Verbindung gebracht werden k¨onnen. Vor diesem Hintergrund gelangen Autoren wie beispielsweise Georges (1968) zu der Ansicht, dass ein mit *-to abgeleitetes Verb ganz a¨ hnlich wie ein deutsches Partizip des dritten Status lediglich dazu dient, einem Partizipanten des Basisereignisses Resultatszustandseigenschaften zuzuschreiben: This suffix [d.h. *-to (MU)] lacked close connection with any particular tense or voice; . . . [i]ts main function, then, was verbal, assigning to the object or person modified the result of the action expressed by the verb. (Georges 1968: 369)

Gerade aufgrund des breiten Verwendungsspektrums der *-to-Form ist die mono-semantische Analyse in der einschl¨agigen Literatur aber l¨angst nicht unumstritten. Der meist beachtete Aspekt ist in diesem Zusammenhang das Partizip Futur Aktiv (im Folgenden PFA), das sich aus dem *-to- bzw. -t/s-Formativ und dem Formativ -¯ur zusammensetzt und das Basisereignis nach Garuti (1954: 80) bzw. Vincent (2008) u.a. aus einer prospektivischen Perspektive darstellt (z.B. am¯at¯urus ‘about to love’, Embick 2000: 215, fact¯urus ‘about to do’, Aronoff 1994: 32, etc.). Mit Verweis auf Matthews (1972) argumentiert Aronoff (1994) beispielsweise, dass es sich bei dem -t/s-Formativ der PPPs und demjenigen der PFAs zwar um das gleiche Element handeln muss, weil sich die beiden Paradigmen grunds¨atzlich in der Ausbildung von Allomorphien gleichen. So gibt es neben der durch den Stammauslaut bedingten Allomophie zwischen -t- und -seine Reihe weiterer Allomorphien, die nicht (mehr) auf phonologische Konditionierung zur¨uckgef¨uhrt werden k¨onnen. In diesen F¨allen weist das PFA jedoch systematisch dieselben unvorhersagbaren Allomorphien auf wie das PPP, so z.B. l¯at¯urus zu l¯atus (‘getragen’ u.a.) auf der Basis von ferre (‘tragen, erdulden’) oder stat¯urus zu status (‘gestellt’) auf der Basis von sistere (‘stellen’), neben regelm¨aßigen Formen wie am¯at¯urus zu amatus (‘geliebt’) auf der Basis von am¯are (‘lieben’), vgl. Aronoff (1994: 33)). Laut Aronoff (1994) ist eine mono-semantische Analyse des -t/s-Formativs allerdings ausgeschlossen, da das PPP seiner Einsch¨atzung nach “usually passive” ist, w¨ahrend das PFA “always active” ist (ebd: 32f). F¨ur Aronoff stellen die formalen Entsprechungen der PFAs mit den PPPs vielmehr eine zentrale Evidenz f¨ur die Hypothese dar, dass es sich bei der -t/s-Form bzw. der entsprechenden partizipialen Stammform um eine semantisch leere, rein morphologische

246 Kategorie handelt, welche die Sprecher sowohl zur Ableitung von PPPs als auch zur Bildung von PFAs einsetzen, weil dies dem morphologischen System ihrer Sprache entspricht. My claim is that . . . both participles are formed on the same stem and that this stem is semantically neither active nor passive. In fact, when the nature of stems is properly understood, the semantic question becomes irrelevant, because, being purely a sound form, this Latin stem has no semantic value at all. (Aronoff 1994: 34)

Wie weiter oben angedeutet ist der partizipiale Stamm bzw., nach Aronoff, der “dritte Stamm” zudem nicht nur Bestandteil von Partizipien, sondern er wird auch zur Generierung einer Reihe weiterer verbaler und nominaler Ableitungen verwendet. Neben den in (21a.,b.) illustrierten PPPs und PFAs werden mit dem -t/s-Formativ z.B. sogenannte Supinum-Substantive gebildet, welche, der vierten Deklination angeh¨orend, systematisch mit ire (‘gehen’) u.a. kookkurrieren und in diesem Kontext eine den PFAs vergleichbare Interpretation aufweisen (vgl. (21c.)). Dar¨uber hinaus werden auf Basis der -t/s-Form desiderative und iterative Verben (21d.,e.) sowie verschiedene Ereignisnominalisierungen (21f.) gebildet. (21)

a. iam diu est schon lange sein:PRS .3 SG . IND . ACT . . . abiisti ad fortgehen:PST. PFV.2 SG . IND . ACT zum

factum quom tun:PPP. SG . ACC als forum. Forum

‘Es ist schon lange her, seit Du zum Forum aufgebrochen bist.’ (Pl. As. 2.1) b. Cenaturus eram. essen:PPP. PFA . SG . NOM sein:PST. IPFV.3 SG . IND . ACT ‘Ich war im Begriff zu essen’ c. Sessum it praetor. setzen:PPP. SG . ACC gehen:PRS .3 SG . IND . ACT Statthalter ‘Der Statthalter war dabei, sich zu setzen.’

(vgl. Aronoff 1994: 35)

d. Dictum est a Cicerone de sagen:PPP. SG . ACC sein:PRS .3 SG . IND . ACT von Cicero u¨ ber die philosophis, morturiunt, Philosophen sterben:PPP. DES . PRS .3 PL . IND . ACT, mori desiderant. sterben:PRS . INF. PASS w¨unschen:PRS .3 PL . IND . ACT ‘Es wird von Cicero u¨ ber die Philosophen gesagt, dass sie zu sterben w¨unschen.’ (Cic. Fragm. 50, 29, p. 146 B. and K.) e. scribere (‘schreiben’) > scriptus (‘geschrieben’) > scriptit¯o (‘ich schreibe wiederholt’) f. sanatio (‘Heilung’), saltus (‘Sprung’), pictura (‘Gem¨alde’)

247 Aronoff (1994) ist der Ansicht, dass die obigen Derivationsverfahren abgesehen von der formalen Relation keine weitere offensichtliche Verbindung aufweisen und dass die einzige Gemeinsamkeit aller Ableitungsmuster in dem (morphologischen) Umstand besteht, dass sie vom sogenannten “dritten Stamm” abgeleitet sind. Um ihren rein morphologischen Charakter zu betonen, f¨uhrt Aronoff zur Bezeichnung derartiger Ableitungskategorien den Begriff des Morphoms bzw. der morphomischen Form ein: A fairly exhaustive search reveals a good number of morphological types built on the third stem but no semantic or morphological evidence that any of them is basic to any other. I will therefore adopt the null hypothesis: that all third-stem types are based on the category verb . . . and built on a particular mophomic form of the verb, the third stem. (Aronoff 1994: 37–38)

Ohne Zweifel besticht Aronoffs (1994) Generalisierung durch ihre Schlichtheit und ihre generelle Anwendbarkeit auf die hier relevanten Sprachdaten. Zudem zeigen flektionsmorphologische Analysen wie die bereits in Kapitel 2.1.2 zitierten Arbeiten von Maiden (1992; 2005), Stump (2001), Aronoff (1994) u.a., dass Stammalternationen sehr wohl auch rein morphologisch bzw. “morphomisch” bedingt sein k¨onnen. Aus der in der vorliegenden Arbeit u¨ bernommenen ¨ moderat-emergentistischen Perspektive w¨are dieser Ansatz im Ubrigen auch gar nicht unbedingt abwegig. Im Gegenteil wurde der emergentistische Ansatz in Kapitel 2 gerade aus dem Grund als Grundlage der hier intendierten Untersuchung herangezogen, weil er eine ideale M¨oglichkeit bietet, “quasi-regul¨are” Muster wie z.B. die partielle Gleichf¨ormigkeit morphologischer Einheiten wie turn (Verb) und Turner (Eigenname), als rein formale, meist diachron begr¨unde¨ te Uberschneidungen zu analysieren, ohne f¨ur diese eine Wortbildungsregel annehmen zu m¨ussen (vgl. dazu insbesondere Kapitel 2.2.2). Genauso k¨onnte das -t/s-Formativ im Rahmen des moderat-emergentistischen Modells als eine im ¨ Sinne von Abschnitt 2.2.2 rein formale Uberschneidung analysiert werden, die, wie beispielsweise die lateinische Stammerweiterung auf -sc-, in a¨ lteren Sprachstufen einen umfassenden Desemantisierungsprozess durchlaufen hat und daher den Bedeutungszusammenhang zwischen den hier diskutierten Ableitungsverfahren nur f¨alschlicherweise suggeriert.38 Eine morphomische Analyse der lateinischen -t/s-Form nach der Art von Aronoff (1994) ist allerdings insofern problematisch, als sie viele semantische Eigenschaften der oben beschriebenen Ableitungen sowie alle eventuellen Bedeutungszusammenh¨ange zwischen den einzelnen -t/s-enthaltenden Verfahren ignoriert, bevor ansatzweise gekl¨art ist, ob es f¨ur die -t/s-Formen einschl¨agi¨ ge semantische Merkmale gibt oder nicht. Ubertr¨ agt man dagegen die streng kompositionelle Analyse deutscher Partizipialmorphologie des dritten Status 38

Interessante Diskussionen zu dem von der lateinischen -sc--Erweiterung durchlaufenen Desemantisierungs- bzw. Grammatikalisierungsprozess bieten z.B. Haverling (2000), Maiden (2003) oder auch Schwarze (2009).

248 nach Roßdeutscher (2000) auf die lateinische -t/s-Form, wird deutlich, dass eine mono-semantische Analyse weit weniger unwahrscheinlich ist, als Aronoff es annimmt. So ist erstens zu betonen, dass die *-to-Partizipien im Latein zusammen mit esse (‘sein’) und habere (‘haben’) ganz a¨ hnlich wie die deutschen ge–t-Partizipien zur Bildung perifrastischer Perfektkonstruktionen eingesetzt werden, deren Urspr¨unge Brugmann (1895: 108) in “uritalischer Zeit” vorortet. Der Bedeutungszusammenhang zwischen -t/s-Partizipien in passivischer Verwendung und solchen in perfektivischer Verwendung folgt direkt aus dem in Kapitel 3.3.2 erl¨auterten kompositionellen Ansatz von Roßdeutscher (2000), nach welchem partizipiale Morphologie des dritten Status die Referenzweise des Basisverbs derart verschiebt, dass das abgeleitete Verb den Ereignispartizipanten nicht mehr generell die Ereigniseigenschaft, sondern anstatt dessen dem Geschehnisbetroffenen die Resultatszustandseigenschaft zuweist. Interessanterweise wird die Entstehung der periphrastischen Perfektkonstruktion u¨ berlicherweise auf die Reanalyse sekund¨arer Predikationen des Typs Habeo cibum coctum (‘Ich habe gekochtes Essen’) zur¨uckgef¨uhrt, was bedeutet, dass die von Roßdeutscher (2000) beschriebene Assoziation des partizipialen Resultatszustands des Geschehnisbetroffenen mit dem durch das haben-Auxiliar eingef¨uhrten Zustand des Geschehnistr¨agers zun¨achst als kreativer Akt von den Sprechern selbst vollzogen worden sein muss (vgl. Pinkster 1987: 210–214 bzw. zur Verbreitung dieser Konstruktion gegen¨uber dem synthetischen Perfekt Brugmann 1895: 94– 100, 108f, Ernout 1953: 216f, Mellet 1994a: 417f, Laurent 1999: 32 u.a.). Weiterhin treten die *to-Partizipien genauso wie die deutschen Partizipien des dritten Status h¨aufig in attributiven Konstruktionen wie homo potus (‘betrunkener Mensch’, Brugmann 1895: 93) und Kopulakonstruktionen wie tacitus est (‘ist schweigsam’, ebd.: 103) oder amatus est (‘ist/wird geliebt’, ebd.) auf, die sich gem¨aß den Ausf¨uhrungen in Abschnitt 3.3.2 ebenfalls direkt in die auf Roßdeutscher (2000) basierende Analyse integrieren lassen. F¨ur die hier verfolgten Zwecke ist an den obigen Konstruktionen insbesondere die aktivische Interpretation der Partizipien interessant. Auch Leumann et al. (1963), Joffre (1994) u.a. weisen auf die Existenz aktivischer Partizipien wie z.B. congenucl¯atus (‘der auf die Knie gefallen ist’), iuratus (‘der geschworen hat’) oder p¯otus (‘der getrunken hat’) hin, wobei die in der Literatur gebotenen Paraphrasierungen dieser Substantivierungen ganz im Sinne der vorliegenden Arbeit daf¨ur sprechen, dass auch diese Formen ein Argument der Basisstruktur als Geschehnisbetroffenen pr¨asentieren (vgl. z.B. Brugmann (1895: 93):“Lat. homo potus . . . bedeute[t] einen Menschen, dem man die Handlung des Trinkens ansieht, einen Trunkenen”). Eine n¨ahere Untersuchung der obigen Partizipien ergibt dar¨uber hinaus, dass sie in vielen F¨allen sowohl in aktivischen als auch in passivischen Kontexten verwendet werden k¨onnen. So ist potus in lateinischen Korpora beispielsweise ebenso mit der Bedeutung ‘das Getrunkene, Getr¨ank’ zu finden (vgl. z.B. Vini avidum genus, affectans ad vini similitudinem multiplices potus, ‘Es ist eine

249 nach Wein d¨urstende Rasse/Gattung, die nach vielerlei dem Wein a¨ hnlichen Getr¨anken trachtet.’ PERSEUS, Amm. 15.12). Ganz a¨ hnlich ist auch tacitus in den Korpora sowohl mit der oben angegebenen Bedeutung als auch mit der passivischen Bedeutung ‘verschwiegen, geheim’ zu finden (vgl. tacitus iudicius ‘ein geheim gehaltenes Urteil’, Cic., Att. IV, 17,3, zitiert nach Joffre 1994: 312), usw.. Diese Beispiele stellen weitere, unabh¨anige Belege f¨ur die Hypothese dar, dass die lateinischen *-to-Partizipien nicht im traditionellen Sinne passivisch sind, sondern lediglich wie die deutschen Partizipien des dritten Status dazu verwendet werden, einem als Geschehnisbetroffener konzeptualisierten Ereignispartizipanten Resultatszustandseigenschaften zuzuweisen, wobei sowohl in intransitiven als auch in transitiven Kontexten aus der durch die Partizipien eingef¨uhrten resultativen Perspektive mitunter scheinbar sogar der Geschehnistr¨ager des Basisereignisses als Geschehnisbetroffener umkonzeptualisiert werden kann. Schließlich ist auch die von Brugmann (1895) bzw. Joffre (1994) u.a. betonte Existenz von -t/s bzw. *-to in Partizipien von (vermeintlich) stativischen und/oder nominalen Basispr¨adikaten (z.B. maestus, ‘traurig, betr¨ubt’ bzw. corn¯utus, ‘geh¨ornt’) nach der von Roßdeutscher vorgeschlagenen Analyse nicht verwunderlich, denn auch diese Partizipien sind derart zu interpretieren, dass sie dem einzigen Partizipanten als Geschehnisbetroffenem eine aus einem Ereignis resultierende Eigenschaft zuschreiben. Was die Analyse der PFAs anbelangt, ist zun¨achst auf die Einsch¨atzung von Vincent & Delia (2001: 146) hinzuweisen, nach welcher die Formen “distinct semantic values from the inflectional future, characterized as . . . intention, predestination and imminence” kodieren (vgl. f¨ur eine a¨ hnliche Analyse auch Mellet 1994b: 323, Fortsen 2007 u.a.). Die von Vincent & Delia (2001) als intention (‘Vorhaben’) oder imminence (‘Bedrohung’) betitelten Bedeutungsmerkmale lassen den resultierenden Zustand mindestens als Teil des (intendierten oder bef¨urchteten) zuk¨unftigen Ereignisses antizipieren, sodass eine kompositionelle Analyse der PFAs nach dieser Interpretation ebenfalls um Einiges wahrscheinlicher ist als nach Aronoffs Darstellung. Im Zusammenhang mit den PFAs ist zudem auf die Analyse von Embick (2000) hinzuweisen, der Aronoff (1994) zwar sowohl in der Einsch¨atzung folgt, dass das lateinische -t/s-Partizip “passiv” und das PFA “aktiv” ist, als auch der Hypothese zustimmt, “that there is no coherent morphosyntactic content, in terms of voice or aspect, to be associated with -t-/-s-” (Embick 2000: 216). Gleichzeitig macht Embick allerdings darauf aufmerksam, dass die mit dem -t/s-Morphem abgeleiteten Derivate generell aspektuelle Eigenschaften besitzen, was der Autor gem¨aß der syntaktischen Ausrichtung seines Ansatzes darauf zur¨uckf¨uhrt, dass die entsprechende syntaktische Struktur die funktionalen Projektionen ν (verbal) und Asp (Aspekt) beinhalten. Die aspektuelle Ebene ist generell Teil von jeglichen als (de-)verbal interpretierten Strukturen. Sie wird laut Embick im Latein immer dann mit Hilfe des -t/s-Morphems realisiert, wenn keine spezifischere aspektuelle Information

250 f¨ur die jeweilige Ableitung zur Verf¨ugung steht.39 In diesem Sinne bezeichnet Embick (2000: 218) das -t/s-Morphem als eine “default realization of an Asp head”.40 Die Hypothese, dass die PFAs auf der Basis der PPPs abgeleitet werden, ist nach Embick (2000) in diesem Ansatz unproblematisch, da der Bedeutungsunterschied zwischen den beiden Ableitungen durch die Annahme erfasst werden kann, dass das -¯ur-Morphem modale Bedeutungsmerkmale versprachlicht, die zusammen mit dem ebenfalls in den PFAs enthaltenen ‘Default Asp’Morphem zu der f¨ur die PFAs charakteristischen Interpretation f¨uhren. [T]he conclusion is that -t-/-s- are the default realization of an Asp head, which is a component common to the various deverbal structures. The appearance of these exponents in both the “past passive” and “future active” participles presents no contradiction; each of the structures associated with these two participles contains an Asp head, which is realized with the default affix. In the case of the future active, I assume that additional structure is present, pertaining to the modal nature of the interpretation ‘about to . . . ’. (Embick 2000: 218)

Als weitere Evidenz f¨ur die Hypothese, dass die -t/s-Form generell allgemeinaspektuelle Information zur jeweiligen Derivation beitr¨agt, weist Embick mit Verweis auf Joffre (1986) und Brugmann (1895) auf m¨oglicherweise destativische Ableitungen des Types maestus (‘betr¨ubt’) oder barbatus (‘b¨artig’) hin und argumentiert vor diesem Hintergrund, dass die mit der -t/s-Form assoziierte aspektuelle Operation gleichermaßen an eventivischen Verben, stativischen Verben und Substantiven applizieren kann (Embick 2000: 220). Embick benennt die Bedeutung dieser aspektuellen “default-Ableitung” zwar nicht explizit, macht aber indirekt deutlich, dass es sich seiner Ansicht nach um eine Art Stativierungsoperation (“stativization”, ebd.) handelt. Der Autor tendiert also zu einer mono-semantischen Analyse, er ist sich allerdings dar¨uber im Unklaren, wie die vermeintliche Aktiv/Passiv-Dichotomie in diese Analyse integriert werden k¨onnte (ebd.: Fußnote 61). In diesem Zusammenhang ist auch auf die Analyse der komplexen -t¯urusForm von Remberger (2009) hinzuweisen, die auf derjenigen von Embick (2000) aufbaut. Interessanterweise schlussfolgert die Autorin vor dem Hintergrund der verschiedenen Verwendungskontexte von -t/s- und -t¯urus-Partizipien, dass die -t/s-Form “der beiden Partizipien . . . zu einer Art nominalem Aspekt . . . (etwa mit der Bedeutung ‘betroffen/affiziert’) unifiziert werden kann” (ebd.: 8). Auch in dieser Arbeit bleibt die Frage der vermeintlichen Aktiv/Passiv-Dichotomie 39

40

Die zus¨atzliche Bedingung, dass die Asp-Phrase nicht von einer T(empus)-Phrase selegiert werden darf, kann in der vorliegenden Arbeit nicht diskutiert werden. Die Motivierung von derartigen ‘default realizations’ beruht auf dem Subset Principle, eines der grundlegenden Konzepte der Distributed Morphology im Zusammenhang mit der Einsetzung von vocabulary items in die Strukturbildungskomponente, worauf an dieser Stelle nicht n¨aher eingegangen werden kann. Vgl. Embick (2000: 187) bzw. Halle (1997: 427) f¨ur n¨ahere Erl¨auterungen.

251 zwischen den Partizipien des dritten Status und den PFAs zwar ungekl¨art. Im Rahmen des hier von Roßdeutscher (2000) u¨ bernommenen ereignisbasierten Ansatzes zur Unterscheidung von aktivischen und passivischen Lesarten ist allerdings anzunehmen, dass sich die vermeintliche Passivit¨at der *-to-Partizipien epiph¨anomenal aus der durch die -t/s-Morphologie bedingten Einf¨uhrung des resultierenden Zustands des Basisereignisses ergibt (vgl. erneut Kapitel 3.3.2) und dass die Aktivit¨at der PFAs aus der Kombination von *-to mit dem prospektivischen -¯ur-Morphem hergeleitet werden kann, welches die Perspektive wieder auf das dem Resultatszustand vorangehende Ereignis lenkt.41 Modifiziert man die Ans¨atze von Embick (2000) und Remberger (2009) hinsichtlich dieser Generalisierung, k¨onnen sie als mono-semantische, kompositionelle Analysen der lateinischen -t/s und -¯ur-Formative der rein morphologischen Analyse von Aronoff (1994) gegen¨ubergestellt werden. Eine a¨ hnliche Analyse k¨onnte auch f¨ur Supinstrukturen des Typs Sessum it praetor (vgl. 21c.) und Desiderativa des Typs morturiunt (21d.) erwogen werden, da sich auch diese Konstruktionen durch die Antizipation des zu erreichenden Resultatszustands auszeichnen (vgl. f¨ur weitere Belege desiderativer Verben z.B. Risch 1954). So dr¨uckt die Supinumkonstruktion in (21c.) aus, dass der Statthalter im Begriff ist, den vom Partizip bezeichneten Resultatszustand zu erreichen, wohingegen der Resultatszustand in Beispiel (21d.) von den potentiellen geschehnisbetroffenen Ereignispartizipanten herbei gesehnt wird. Im Zusammenhang mit den iterativen Verbformen ist dar¨uber hinaus auf die Einsch¨atzung von Rothstein (2008b) hinzuweisen, nach welcher die iterative Interpretation von Ereigniskomplexen auf einer Aneinanderreihung atomischer Einzelereignisse beruht, deren Anfangs- und Endpunkte sich im Unterschied zu den atomischen Einzelereignissen homogener Aktivit¨aten oder ‘Degree Achievements’ gerade nicht u¨ berlappen d¨urfen (vgl. ebd.: 8–12 bzw. die Erl¨auterungen zur S-Summierungsoperation und der Interpretation von ‘Degree Achievements’ in Kapitel 4.2.1 der vorliegenden Arbeit). In Sprachen wie dem Englischen ist Iterativit¨at lexikalisch kodiert (vgl. z.B. jump vs. run, Rothstein 2008b: 186). Rothstein (2008b: 187) weist allerdings darauf hin, dass Iterativit¨at beispielsweise in einigen slavischen Sprachen durch die Affigierung spezifischer Suffixe markiert wird, wobei sich die derart abgeleiteten Verben durch ihre inh¨arente Perfektivit¨at auszeichnen. Preliminary investigation of some Slavic languages indicates that the activity/semelfactive distinction is indeed lexicalised differently, with activity verbs having imperfective aspect, and semelfactives having perfective aspect and being derived from activity predicates via affixation. (Rothstein 2008b: 187) 41

In diesem Zusammenhang ist interessant, dass prospektive Verbformen in Aspektsprachen wie dem Russischen auf der Basis perfektiver Verbformen gebildet werden, welche das durch das Basisverb bezeichnete Ereignis als abgeschlossen darstellen (vgl. z.B. Gl¨uck 2000: 556).

252 Im Rahmen einer solchen kompositionellen Analyse iterativer Ereignisbezeichnungen liegt auch f¨ur die lateinischen iterativen Derivate die Vermutung nahe, dass die in diesen enthaltene -t/s-Form die Funktion hat, durch die Einf¨uhrung eines Resultatszustands die f¨ur die iterative Interpretation n¨otigen nicht-¨uberlappenden atomischen Einzelereignisse bereitzustellen, deren abgeschlossener Charakter daraufhin auch unter der zur iterativen Interpreation f¨uhrenden Summierungsoperation erhalten bleibt. Was schließlich die unter (21f.) illustrierten -t/s-enthaltenden Nominalisierungen anbelangt, so wird der resultative Charakter der -(at)us/(at)aNominalisierung bereits durch die Beobachtung nahegelegt, dass die Bezeichnungsdom¨anen, welche die lateinischen -(at)us-Nominalisierungen laut Benveniste (1948: 96f) realisieren, d.h. “´etats physiques ou affectifs” (‘physische oder affektive Zust¨ande’, z.B. affectus ‘Stimmung’), “sens ou sensations physiques” (‘physische Empfindungen oder Gef¨uhle’, z.B. sensus ‘Bewusstheit’), “apparence et comportement” (‘Erscheinung und Verhalten’, z.B. habitus ‘Haltung’), “cris, sons, bruits” (‘Schreie, Laute, Ger¨ausche’, z.B. mugitus ‘Gebr¨ull’), “mouvements” (‘Bewegungen’, z.B. saltus ‘Sprung’) u.a., stark dem Lesartenspektrum a¨ hneln, das in der vorliegenden Arbeit als charakteristisch f¨ur die altund neufranz¨osische -ment-Nominalisierung herausgestellt wurde. In Abschnitt 5.2.4 wird zudem verdeutlicht, dass lat. -(at)io bzw. frz. -(at)ion ebenfalls durch eine resultative Perspektivierung gekennzeichnet ist, so dass auch f¨ur diese beiden Formen ein genetischer Zusammenhang mit der indogermanischen *-toAbleitung naheliegt. ¨ Eine Uberpr¨ ufung der hier vorgestellten Hypothesen bez¨uglich der kompositionellen Analyse lateinischer Supina, Desiderativa, Iterativa und resultativer Ereignisnominalisierungen, welche detaillierte Untersuchungen der Interpretation bzw. Verwendung der entsprechenden Formen in lateinischen Korpora erfordern w¨urde, steht zwar noch aus.42 Auch im Fall dieser Ableitungsmuster ist die M¨oglichkeit einer kompositionellen Herangehensweise bzw. einer Eingliederung der Formen in die mono-semantische Analyse der indogermanischen *-to-Form vor dem Hintergrund der obigen Indizien allerdings weitaus wahrscheinlicher als es durch den morphomischen Ansatz suggeriert wird. 42

Keine Beachtung fanden bisher zudem die lateinischen Agensnominalisierungen des Typs vincere (‘siegen’) > victor (‘Sieger’). Diese zun¨achst wenig kompatiblen Derivate k¨onnten ebenfalls durch die Annahme in die Analyse integriert werden, dass ihre habituell-agentivische Interpretation auf der Iteration abgeschlossener Einzelereignisse beruht, wie es z.B. von Soare (2007: 389f) f¨ur die rum¨anischen -torNominalisierungen vorgeschlagen wird (vgl. ebd.: “[The Rumanian] Supine/Participle stem encodes Aspect; its basic value could be considered to be telicity. . . . Some contexts, however, may involve shifting to an iterative-habitual reading ... cf. dansator ‘dancer’; it is reasonable to say that you have to do some dance (to have some dancing experience) in order to be a ‘dancer’.”).

253 Wie weiter oben bereits betont schließt der moderat-emergentistische Ansatz zwar keinesfalls die M¨oglichkeit aus, dass es sich bei synchron gleichen Formen in verschiedenen Funktionsbereichen um nicht-bedeutungsverwandte Homonymien handelt, welche f¨ur gew¨ohnlich diachron durch Laut- und/oder Bedeutungswandel entstehen und somit bei jeder semasiologischen Untersuchung von lexikalischen Einheiten und Wortbildungselementen einkalkuliert werden m¨ussen (vgl. dazu auch die Abschnitte 2.2.2 bis 2.2.4 in Kapitel 2). ¨ Wird eine formale Ahnlichkeit allerdings zu schnell auf rein morphologische Prinzipien zur¨uckgef¨uhrt, ergibt sich das Problem, dass etwaige semantische Zusammenh¨ange in den Hintergrund r¨ucken und ihre eventuell zentrale Rolle kei¨ ne Beachtung mehr findet. Die Schlussfolgerung aus dieser Uberlegung ist, dass formal identische morphologische Einheiten genau auf etwaige semantische Gemeinsamkeiten gepr¨uft werden m¨ussen, bevor ihrer Relation ein rein formaler Charakter attestiert werden kann. Mit dieser Einsch¨atzung schließt sich die Arbeit dem von M¨uller (2005) aufgestellten heuristischen Synkretismus-Prinzip an, nach welchem “[i]dentity of form implies identity of function (in a certain domain, and unless there is evidence to the contrary)” (ebd.: 236), das der Autor allerdings nicht nur der linguistischen Analyse zugrundelegen m¨ochte, sondern auch als Nullhypothese f¨ur den Erstspracherwerb ansieht. Dem Synkretismus-Prinzip folgend wird in der vorliegenden Arbeit argumentiert, dass auch die semantischen Gemeinsamkeiten zwischen den oben und in Abschnitt 5.2.1 beschriebenen lateinischen -t/s-enthaltenden Ableitungen st¨arker in den Vordergrund ger¨uckt werden sollten. Das heißt, wenn auch zum jetzigen Stand der Forschung die Entstehung und/oder Zusammensetzung der einzelnen -t/s-enthaltenden Formen nicht in allen F¨allen nachvollzogen werden kann, sind die offensichtlichen semantischen Zusammenh¨ange zwischen den oben beschriebenen Derivationsverfahren dennoch ein starkes Indiz f¨ur die Hypothese, dass die entsprechenden Ableitungen letztendlich alle semantisch mit dem indogermanischen *-to-Formativ in Verbindung zu bringen sind. Auf der Grundlage dieser Argumentation und vor dem Hintergrund der eingangs gegebenen Indizien kann dar¨uber hinaus auch f¨ur die (alt- und neu-)franz¨osische -ment-Nominalisierung vermutet werden, dass sie semantisch mit der indogermanischen *-to-Ableitung in Verbindung steht. Zwar signalisiert die *-Indizierung der -to-Form bereits, dass ein indogermanisches -to als separates Morphem nie attestiert wurde. Perrot (1961: 291–308) wendet sich daher beispielsweise entschieden gegen die Hypothese, dass diese Form einen Bestandteil der lateinischen -mentum-Nominalisierung darstellt: Et, surtout, rien ne permet de reconnaˆıtre dans -mentum l’effet s´emantique de la pr´esence de *-to-. Tandis qu’on attribue a` *-to- un sens passif, on reconnaˆıt souvent une valeur “active” a` de nombreux d´eriv´es en -mentum. De la confrontation des sens de str¯amentum et de str¯amen, ou encore de m¯omentum et de m¯omen, il ne ressort pas que les seconds se diff´erencient des premiers par une nuance de sens correspondant a` celle qu’apporterait un suffixe *-to-.

254 ‘Und vor allem gibt es nichts, was erlauben w¨urde, in -mentum den semantischen Effekt der Pr¨asenz von *-to- zu erkennen. W¨ahrend man *-to- eine passivische Bedeutung zuschreibt, erkennt man zahlreichen Derivaten auf -mentum einen “aktivischen” Wert zu. Aus der Gegen¨uberstellung der Bedeutungen von str¯amentum und str¯amen oder m¯omentum und m¯omen geht nicht hervor, dass die letzteren [Nominalisierungen] sich von den ersteren durch eine Bedeutungsnuance unterscheiden, die derjenigen entspricht, welche das Suffix *-to- beitragen w¨urde.’ (Perrot ¨ 1961: 295, eigene Ubersetzung ins Deutsche)

Allerdings ist Perrots Pr¨amisse, dass die *-to-Formen passivisch seien, bereits durch die oben angef¨uhrten Erl¨auterungen widerlegt, aus welchen deutlich wird, dass die *-to-Partizipien lediglich f¨ur die Versprachlichung der passivischen Perspektive pr¨adestiniert sind, weil sie den Resultatszustand explizit machen, den der Geschehnisbetroffene nach Durchlaufen des Basisereignisses erreichen wird. Dar¨uber hinaus wurde in der vorliegenden Arbeit ausf¨uhrlich gezeigt, dass die Bedeutung eines Derivationsmorphems nicht unabh¨angig von der Gesamtheit der Vorkommenskontexte der mit diesem Element gebildeten Derivate ermittelt werden kann (vgl. Kapitel 3 und 4). Auf der Basis eines bloßen Vergleichs von str¯amentum und m¯omentum und anderen kontextfreien -mentumNominalisierungen einerseits und str¯amen und m¯omen oder weiteren isolierten -men-Nominalisierungen andererseits kann somit nach der hier vertretenen Ansicht nicht ermittelt werden, ob die Bedeutung des rekonstruierten *-to ein Bestandteil der -mentum-Nominalisierung ist oder nicht. Schließlich ist zu beachten, dass die Hypothese, nach welcher die *-to-Form einen Bestandteil von -mentum bildet, noch nicht gleichbedeutend mit der Annahme ist, dass sich -mentum aus dieser *-to-Form und dem lateinischen Nominalisierungssuffix -men zusammensetzt. Es gibt zwar einige Gr¨unde, die f¨ur eine solche Analyse sprechen, wie z.B. die Vielzahl der “suffixalen Weiterbildungen und Zusammensetzungen” (Osthoff & Brugmann 1879: 220), die in den zahlreichen junggrammatisch-deskriptiven Arbeiten u¨ ber die indogermanischen Sprachen herausgestellt werden (vgl. die oben zitierten Referenzen, insbesondere aber Osthoff & Brugmann 1879: 220–237). Allein die große Menge der Suffixe, die laut diesen Arbeiten aus suffixalen Formerweiterungen und -verschmelzungen entstanden sind (darunter z.B. -aticu, -(at)io, -manie, -erie, -antia usw.), wird den junggrammatischen Forschern als Motivation daf¨ur gedient haben, die -mentum-Suffigierung ebenfalls als eine solche suffixale Zusammensetzung zu analysieren. Letztendlich handelt es sich dabei aber nur um Vermutungen. Die genaue Entstehung bzw. Zusammensetzung der -mentumSuffigierung bleibt ungekl¨art (vgl. Leumann et al. 1963: 371). Die Aufkl¨arung der genauen Entstehungsgeschichte von lat. -mentum ist allerdings keine zwingende Voraussetzung f¨ur die Hypothese, dass die *-to-Form bzw. das -t/s-Element im Laufe der Jahrhunderte in das komplexe Suffix integriert wurde, denn ungeachtet der Unklarheiten in Bezug auf die genaue Entstehungsgeschichte von -mentum sprechen die oben angef¨uhrten Daten in ih-

255 rer Gesamtheit stark daf¨ur, dass die Bedeutung des indogermanischen *-toFormativs die abstrakt-semantische Relation zwischen der alt- und neufranz¨osischen -ment-Nominalisierung und dem lateinischen -mentum darstellt. Somit liegt auch im Fall von -ment die Vermutung nahe, dass die abstrakte Bedeutung des Suffixes bzw. eines Suffixbestandteils als das konstitutive Element verstanden werden kann, das die verschiedenen Interpretationen und Verwendungsweisen der mit dem Suffix abgeleiteten Derivate sowohl synchron als auch diachron miteinander verbindet. ¨ 5.2.3 Zur Uberlappung von -ment und -´e/´ee Bei der Untersuchung der semantischen Gemeinsamkeiten zwischen der indogermanischen *-to-Ableitung, der lateinischen -mentum- und der franz¨osischen -ment-Nominalisierung ergeben sich mindestens zwei gravierende Schwierigkeiten, die auch in der vorliegenden Arbeit nicht vollst¨andig gekl¨art werden k¨onnen. Erstens handelt es sich bei dem lateinischen -mentum der hier pr¨aferierten Analyse zufolge um eine zusammengesetzte Form, die zwar unter anderem die indogermanische *-to-Ableitung enth¨alt, deren zweite Komponente allerdings in der bisherigen Diskussion keine Beachtung gefunden hat. F¨ur eine vollst¨andige Analyse der Relation zwischen lat. -mentum und afrz./nfrz. -ment gen¨ugt es nat¨urlich noch nicht, auf eine mutmaßliche gemeinsame Bedeutungs¨ komponente hinzuweisen. Zweitens ergab eine Uberpr¨ ufung der in Abschnitt 5.2.1 beschriebenen -ment-Nominalisierungen des NCA, dass sich die Produktivit¨at und das Lesartenspektrum der altfranz¨osischen -ment-Nomina deutlich von derjenigen der lateinischen -mentum-Nomina unterschieden haben muss. So wurde im Rahmen der hier angesprochenen Analyse mit Hilfe lateinischer Korpora (haupts¨achlich dem PER, vgl. erneut Anhang D.1) sowie lateinischfranz¨osischer W¨orterb¨ucher aus dem 16. Jahrhundert (haupts¨achlich dem Dictionarium Latinogallicum, DLG von Henri Estienne, vgl. Anhang B.1) f¨ur die 386 im NCA enthaltenen -ment-Nominalisierungen ermittelt, dass selbst bei großz¨ugiger Berechnung lediglich 57 der 386 im NCA enthaltenen -ment-Types eine entsprechende lateinische -mentum-Nominalisierung aufweisen.43 Dieser Umstand ist insbesondere vor dem Hintergrund auff¨allig, dass andere Nominalisierungsverfahren im NCA einen extrem hohen Anteil an Derivaten mit direkter 43

Die Berechnung war insofern großz¨ugig, als auch -mentum-Nominalisierungen als “lateinische Entsprechungen” gez¨ahlt wurden, welche nicht in direkter morphologischer Verbindung zur entsprechenden altfranz¨osischen -ment-Nominalisierung ste¨ hen, z.B. wenn die altfranz¨osische Nominalisierung im DLG als Ubersetzung einer semantisch a¨ hnlichen -mentum-Nominalisierung gegeben wird (z.B. complementum, ‘Erg¨anzung’ > accomplissement ‘Erf¨ullung’), oder wenn generell eine eindeutige semantische Verbindung besteht (z.B. accroissement < incrementum ‘Wachstum, Zuwachs’).

256 Entsprechung im Latein aufweisen. So wird in Abschnitt 5.2.4 beispielsweise gezeigt, dass die im NCA enthaltenen altfranz¨osischen -(at)ion-Derivate offensichtlich vollst¨andig aus dem Latein entlehnt sind. Hinzu kommt, dass -ment mit 386 Types im Vergleich zu -age (93 Types), -(at)ion (28 Types) und -(ai)son (ca. 33 Types)44 eine quantitativ auffallend starke Gruppe an Ereignisnominalisierungen bildet, w¨ahrend lat. -mentum im Vergleich mit -(at)io und -(at)us/(at)a in der einschl¨agigen Literatur als das Suffix mit der geringsten Produktivit¨at eingestuft wird (vgl. z.B. Alsdorf-Boll´ee 1970: 23, oder auch Mark 1970: 204ff). Diese Daten weisen darauf hin, dass sich die Verwendung der -mentum/mentSuffigierung vom Latein zum Altfranz¨osischen in drastischer Weise ver¨andert haben muss. Vor dem Hintergrund der letzteren Beobachtung gewinnt der in Abschnitt 5.2.2 mit Verweis auf Benveniste (1948) angedeutete Umstand an Bedeutung, dass das Lesartenspektrum der alt- und neufranz¨osischen -ment-Nomina starke Parallelen zu demjenigen der lateinischen -(at)us-Nomina aufweist, wobei im +CH-Bereich vor allem die f¨ur lat. -(at)us und afrz./nfrz. -ment gleichermaßen hohe Salienz von resultierenden Zust¨anden hervorsticht (vgl. attendrissement/fletus ‘R¨uhrung’, lassement/lassatus, lassus ‘Ersch¨opfung’, enclinement/inclinatus ‘Neigung, Geneigtheit’ etc.), w¨ahrend sich die Gemeinsamkeit im −CH-Bereich auf die Auspr¨agung verschiedener gleicher Bezeichnungsdom¨anen, wie z.B. Bewegungen (movement/motus ‘Bewegung’) oder Emissionsprodukte (ullement/ululatus ‘Geheul’, gemissement/gemitus ‘Seufzen, St¨ohnen’), bel¨auft. Hierzu passt die in Abschnitt 5.2.1 angef¨uhrte Beobachtung, dass sich der Verwendungsbereich der altfranz¨osischen -ment-Nominalisierung zudem scheinbar mit demjenigen der Derivationsverfahren u¨ berschneidet, welche laut Alsdorf-Boll´ee (1970: 150–175) bzw. Collin (1918) als franz¨osische Weiterentwicklungen der lat. -(at)us- bzw. -(at)a-Derivation aufgefasst werden k¨onnen, d.h. der heutigen (nicht-departizipialen) -´e/´ee-Derivation und den sogenannten Stammkonversionen. Neben der bereits in Abschnitt 5.2.1 angespro¨ chenen Uberschneidung im Bereich der Kommunikationsverben (vgl. erneut afrz. conseillement > nfrz. conseil ‘Rat’, afrz. saluement > nfrz. salut ‘Gruß’, ¨ afrz. anoncement > nfrz. annonce ‘Ank¨undigung’ etc.) zeigt sich eine Uberlappung der Funktionsbereiche insbesondere auch im Zusammenhang mit Nominalisierungen von Verben f¨ur zielgerichtete Bewegungen (vgl. z.B. descendement > descente ‘Abstieg’, volement > vol ‘Flug’, approchement > approche ‘Ann¨aherung’) und bei Nominalisierungen von stativischen Verben (vgl. z.B. afrz. pensement > nfrz. pens´ee ‘Denken, Gedanke’, afrz. avisement > nfrz. avis 44

Bezieht man die bereits betr¨achtlichen Wandelerscheinungen unterlegenen -sonFormen, abstammend vom lateinischen -sio, mit in die Untersuchung ein, ist die Zahl der Derivate nicht mit Sicherheit zu ermitteln, da sich deren Entstehungsgeschichte nicht in allen F¨allen nachvollziehen l¨asst. Die erstaunlich niedrige Typefrequenz der -(ai)son-Derivate wird in Abschnitt 5.2.4 n¨aher diskutiert.

257 ‘Ansicht, Meinung’ etc.). Auff¨allig ist, dass diese spezifisch altfranz¨osischen -ment-Nomina im Vergleich zu den auch heute noch gebr¨auchlichen -mentNominalisierungen in der Lesartenausbildung insofern eingeschr¨ankt sind, als sie ausschließlich entweder abgeschlossene Ereignisse oder konkrete, im weitesten Sinne resultierende, Objekte bezeichnen (ersteres vorwiegend im Bereich der zielgerichteten Bewegungen (vgl. 22a.,b.), letzteres haupts¨achlich im Bereich von Kommunikationsereignissen, vgl. (22c.) sowie (19h.), hier wiederholt als (22d.)). (22)

a. . . . avant enveient isnaument por denuncier lor . . . vorher schicken:PRS .3 PL schnell um ank¨undigen:INF ihre venement. Ankunft. ‘Vorher schicken sie schnell [einen Boten (MU)], um ihre Ankunft anzuk¨undigen.’ (michel) b. . . . el a penes de tel ator come de . . . er haben:PRS .3 SG Federn von solcher Art wie des faucon ou d ostor mes el n a pas Falken oder des Habichts aber er nicht haben:PRS .3 SG NEG son vollement a voler ysnellement . . . seinen Flug zu fliegen:INF schnell ... ‘Er [der Vogel (MU)] hat Federn der Art eines Falken oder Habichts, aber er kann nicht so schnell fliegen.’ (mace) c. se suis si corrociez de ce que ge urnen:PTCP u¨ ber dies dass ich PRT AUX : PRS .1 SG so erz¨ ai malvaisemant tenu ton comandement halten:PTCP dein Gebot AUX : PRS .1 SG schlecht que tu ne me porroies tant faire dass du nicht mir k¨onnen:COND .2 SG so sehr machen:INF de maul quam ge ai deservi a avoir. ¨ Ubel wie ich AUX : PRS .1 SG verdienen:PTCP zu haben:INF ‘Ich bin so erz¨urnt dar¨uber, dass ich Deinem Gebot schlecht gefolgt bin, dass Du mich nicht in dem Maße bestrafen k¨onntest, wie ich es verdient habe.’ (barlaam) d. nostre dame sainte marie recust le tiers unsere Dame heilige Maria erhalten:PST. PFV.3 SG die dritte anoncement en fin et en commencement enfin Benachrichtigung am Ende und am Anfang schließlich de circoncision en commencement d’oncion ... der Beschneidung am Anfang der Salbung . . . ‘Unsere heilige Maria erhielt die dritte Benachrichtigung am Ende der Beschneidung und am Anfang der Salbung.’ (remi)

Der entscheidende Punkt ist in diesem Zusammenhang, dass diese im Neufranz¨osischen weitestgehend nicht attestierten -ment-Nominalisierungen erstens

258 nicht zur Bezeichnung von Resultatszust¨anden verwendet werden und zweitens in eventiver Lesart ausschließlich perfektivisch zu interpretieren sind (vgl. erneut (22a.,b.)). Diese Nominalisierungen a¨ hneln damit auch im Hinblick auf die Perspektivierung des Basisereignisses stark den aus der lateinischen -(at)us/(at)aNominalisierung hervorgegangenen -´e/´ee-Derivaten und Stammkonversionen, f¨ur welche Ferret et al. (2009) zeigen, dass sie zur Einf¨uhrung einer perfektivischen Perspektive eingesetzt werden. Ganz a¨ hnlich weist bereits Collin (1918: 155) darauf hin, dass diese Ableitung in den verschiedensten romanischen Sprachen die “unit´e de l’action” (‘Einheit der Handlung’) hervorhebt.45 Drittens l¨asst sich auch die f¨ur die im NCA attestierten altfranz¨osischen -mentNominalisierungen von Kommunikationsverben auff¨allige Neigung zur nichteventiven Objektlesart bei den franz¨osischen “Nachfolgern” der -(at)us/(at)aDerivation beobachten (vgl. z.B. accord ‘Abkommen’, demande ‘Gesuch’, r´eponse ‘Antwort’, recours ‘Einspruch’ etc.).46 Es gibt also einige Gr¨unde f¨ur die Annahme, dass die im Neufranz¨osischen nicht attestierten -ment-Nomina einen Bezeichnungsbereich abdecken, der im heutigen Franz¨osisch (wieder) von den Deszendenten der lateinischen -(at)us/(at)a-Derivation u¨ bernommen wird. Dabei ist zu betonen, dass die abstrakte Bedeutung des altfranz¨osischen -ment trotz dieser aus neufranz¨osischer Perspektive untypischen -ment-Derivate nicht von der Bedeutung des neufranz¨osischen -ment verschieden gewesen sein muss, denn die oben beschriebenen untypischen -ment-Derivate k¨onnen dennoch auf der Basis der heutigen Suffixbedeutung zustande gekommen sein. So wurde in den Kapiteln 3 und 4 bereits ausf¨uhrlich daf¨ur argumentiert, dass auch die vereinzelten eventiven -ment-Tokens im neufranz¨osischen Korpus auf die abstrakte Bedeutung des Suffixes, wie sie in Kapitel 3 dargestellt wurde, zur¨uck¨ der Bezeichnungsbereiche gef¨uhrt werden k¨onnen.47 Was die Uberschneidung der -ment- und -´e/´ee-Nominalisierungen im Altfranz¨osischen anbelangt, liegt vielmehr die Vermutung nahe, dass sich die Bezeichnungsdom¨anen beider Suf45

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Vgl. ebenfalls die Studien zur italienischen -ata-Nominalisierung von Mayo et al. (1995), Gaeta (2000) und von Heusinger (2005), wo -ata mit der Vereinzelung von Ereignissen in Verbindung gebracht wird. Auch die Bedeutungsanalyse der -´e/´ee- bzw. -ata-Nominalisierung w¨are allerdings im Grunde empirisch durch eine Korpusstudie der in Kapitel 4 vorgestellten Art zu u¨ berpr¨ufen. Diese mag darauf zur¨uckzuf¨uhren sein, dass zwischen abgeschlossenen Kommunikationsakten und den daraus in gewissem Sinne resultierenden Kommunikationseinheiten bzw. -sequenzen eine hohe konzeptuelle Kontiguit¨at besteht. Die Objektlesarten wurden in den entsprechenden Kapiteln zwar nur am Rande thematisiert (vgl. z.B. die Hinweise auf resultative Lesarten in den Abschnitten 4.1.4, 4.2.1 sowie 4.3.1). Jedoch wurde auch in jenem Rahmen bereits angedeutet, dass Objektlesarten wie die oben im Kontext der -ment-Nominalisierungen beschriebenen Interpretationen auf Bedeutungsverschiebungen beruhen, die verfahrens¨ubergreifend zu den typischen Resultatslesarten von Ereignisnominalisierungen f¨uhren (vgl. hierf¨ur insbesondere Abschnitt 4.1.4).

259 fixe zwar im Bereich der abgeschlossenen Ereignisse und Kommunikationssequenzen u¨ berschneiden, dass die -ment-Nominalisierungen diese Interpretationen allerdings nur durch die Einf¨uhrung eines Resultatszustands vermittelt und bei entsprechendem Kontext aufweisen, wohingegen -´e/´ee zumindest die Perfektivit¨at der Nominalisierungen auf direktem Wege einf¨uhrt.48 ¨ Die obige “Uberschneidungshypothese” wirft nat¨urlich die Frage auf, ¨ weshalb eine solche Uberlappung der Bezeichnungsbereiche der -mentNominalisierung und der franz¨osischen Entsprechungen zur lateinischen -(at)us/(at)a-Derivation existiert haben sollte. In diesem Zusammenhang k¨onnte eine formale Entwicklung des Vulg¨arlatein relevant sein, welche hier bisher noch keine Beachtung gefunden hat. Und zwar bildete die lateinische -(at)us/(at)aDerivation maskuline und feminine Substantiva, die urspr¨unglich der sogenannten u-Deklination (mit den Endungen us, u¯ s, u¯ i, um, u¯ im Singular) angeh¨orten, welche allerdings im Zuge der bereits im klassischen Latein beginnenden Reduktion des Deklinationssystems in der sogenannten o-Deklination (mit den Endungen us, ¯ı, o¯ , um, o¯ im Singular) aufging (vgl. z.B. Grandgent 1907: 148, V¨aa¨ n¨anen 1981: 106f oder Gaeng 1984: 95). Nach dem Muster der o-Deklination wurden allerdings auch die “Verbaladjektive” bzw. Partizipien des dritten Status gebildet, welche im Latein systematisch substantiviert wurden und in substantivierter Form formal nur noch dadurch von den -(at)us- bzw. -(at)aDerivaten zu unterscheiden waren, dass sie vornehmlich der Genusklasse der Neutra angeh¨orten (vgl. z.B. datum ‘Gabe’, scriptum ‘Schrift’, permissum ‘Erlaubnis’, erratum ‘Irrtum’ etc.); und dies auch nur in den F¨allen, in welchen die Bildungen nicht im Akkusativ verwendet wurden (vgl. z.B. Meyer-L¨ubke 1894: 23f). In diesem Zusammenhang ist weiterhin die Beobachtung von Pomino & Stark (2009) interessant, dass sich die lateinischen Demonstrativpronomina des neutralen Genus (z.B. istud) von maskulinen und femininen Demonstrativpronomina (z.B. istum, istam) im Latein semantisch durch den Umstand unterschei¨ den, dass ihre Referenten bei der Interpretation entsprechender konkreter Außerungen nicht individuiert werden m¨ussen, was die Autoren durch die Generalisierung formalisieren, dass neutrale Demonstrativpronomina im Unterschied zu maskulinen und femininen Pronomina nicht durch das Merkmal [discrete] spezifiziert (“not specified for the feature [descrete]”, ebd.: 225) sind. Diese Hypothese weiten die Autoren auf die lateinischen Neutra im Allgemeinen aus, wobei sich deren Unterspezifiziertheit hinsichtlich des [descrete]-Merkmals nach Pomino & Stark (2009) durch den Umstand zeigt, dass sie unter anderem nichtindividuiert interpretiert werden k¨onnen (vgl. pratum ‘Weideland’ bzw. ‘Futter’,

48

Wie bereits angedeutet w¨are f¨ur eine n¨ahere Bestimmung der Relation zwischen -ment und -´e/´ee allerdings eine empirische Analyse der -´e/´ee-Nominalisierung in der in Kapitel 4 veranschlagten Art n¨otig.

260 gubernaculum ‘Ruder’ bzw. ‘F¨uhrerschaft’ etc., zitiert nach Pomino & Stark ¨ 2009: 226, eigene Ubersetzung der englischen Paraphrasen ins Deutsche). Im Franz¨osischen wird das neutrale Genus nun aber nicht mehr realisiert, so dass substantivierte Partizipien sp¨atestens im Franz¨osischen formal nicht mehr von den franz¨osischen Entsprechungen zu den lateinischen -(at)us- bzw. -(at)aAbleitungen, d.h. der nicht-departizipialen -´e- bzw. -´ee-Derivation, mit Bildungen wie z.B. crois´e (‘Kreuzzug’) oder rinc´ee (‘Sturzregen’), zu unterscheiden sind. Alsdorf-Boll´ee (1970: 150–175) macht zudem die interessante Beobachtung, dass die lateinische -(at)a-Suffigierung zwar durch die franz¨osische -´eeDerivation fortgesetzt wird, dass die Ableitung von entsprechenden maskulinen -(at)us-Derivaten allerdings nicht mittels eines franz¨osischen Ableitungsmusters weitergef¨uhrt wird, sondern dass es sich bei den entsprechenden -´e-Bildungen entweder um lateinische Erbw¨orter (z.B. march´e ‘Markt’, p´ech´e ‘S¨unde’) oder um substantivierte Partizipien (z.B. abr´eg´e ‘Kurzfassung’, r´esum´e ‘Inhaltsangabe’ etc.) handelt (vgl. insbesondere ebd.: 165). Ganz a¨ hnlich beobachtet auch Meyer-L¨ubke (1894: 23), dass lat. “tus, sus [aus dem Grund] im Romanischen stark beschr¨ankt [ist], weil es mit den im Romanischen viel mehr gebrauchten Partizipien zusammenfiel” (vgl. a¨ hnlich auch Collin 1918: 22). Vor diesem Hintergrund dr¨angt sich im Zusammenhang mit den oben be¨ schriebenen Uberschneidungen die Vermutung auf, dass der formale Zusammenfall der -(at)us/(at)a-Derivate mit den substantivierten Partizipien und der gleichzeitige Wegfall des neutralen Genus bzw. der Diskretheitsopposition zwischen dem neutralen Genus und den nicht-neutralen Genera im Altfranz¨osischen zu einer Irritation im Hinblick auf die Einsetzbarkeit von -(at)usNominalisierungen gef¨uhrt hat, welche wiederum die vermehrte Einsetzung von -ment-Derivaten nach sich zog.49 Der mutmaßliche Suffixaustausch bzw. ¨ die Uberschneidung von Bezeichnungsdom¨anen mag dabei durch den Umstand erm¨oglicht worden sein, dass sich die abstrakte Bedeutung der -mentNominalisierung insofern mit derjenigen der -´e/´ee-Suffigierung u¨ berschneidet, als mit beiden Verfahren Nominalisierungen abgeleitet werden, die auf abgeschlossene Ereignisse Bezug nehmen k¨onnen. Weiterhin liegt nahe, dass sich auf der Grundlage des in diesem Zuge ver¨anderten Gebrauchs der -mentum- bzw. -ment-Nominalisierung, der Partizipiensubstantivierung und der -(at)us/(at)abzw. -´e/´ee-Derivation nach und nach neue Bedeutungsoppositionen zwischen diesen drei Ableitungsverfahren etabliert haben. Der Versuch, die mutmaßlichen funktionalen Unterschiede zwischen dem lateinischen -mentum und altfranz¨osischen -ment sowie zwischen dem alt- und dem neufranz¨osischen -ment auf die Irritation zur¨uckzuf¨uhren, welche der formale Zusammenfall der -(at)us/(at)a-Derivate mit den substantivierten Partizi49

Wie im n¨achsten Abschnitt argumentiert wird k¨onnte der Produktivit¨atsunterschied ¨ dabei durch eine weitere Uberschneidung mit der -(at)ion- bzw. -(ai)son-Nominalisierung noch zus¨atzlich versch¨arft worden sein.

261 pien bzw. der Wegfall der mit dem neutralen Genus verbundenen Diskretheitsopposition bei den Sprechern ausgel¨ost haben mag, ist allerdings nicht unproblematisch. So ist erstens zu bedenken, dass die obigen Vermutungen eine gewisse Redundanz im Bezeichnungsspektrum der -mentum- und der -(at)us/(at)aSuffigierung voraussetzen, die erst einmal empirisch zu u¨ berpr¨ufen w¨are. Zweitens w¨aren im Grunde neben den -´e/´ee-Nominalisierungen auch die alt- und neufranz¨osischen -ade-Nominalisierungen (sowie im Grunde weitere verwandte altfranz¨osische Ableitungsverfahren) in die Untersuchung einzubeziehen, da -ade eine “teils aus Norditalien und S¨udfrankreich, teils aus Spanien stammende” weitere suffixale Entsprechung der lateinischen -(at)us/(at)a-Derivation darstellt (vgl. Meyer-L¨ubke 1894: 527; f¨ur Beispiele und weitere verwandte Formen im Altfranz¨osischen vgl. Alsdorf-Boll´ee 1970: 151–175). Eine weitere Frage, die die oben vorgeschlagene “Irritationshypothese” aufwirft, ist, weshalb die -´ee-Suffigierung trotz der Homonymie der Derivate mit den substantivierten Partizipien als Ableitungsverfahren in der Sprache erhalten blieb, w¨ahrend die -´e-Ableitung untergegangen ist. Wenn dieser Einwand eventuell noch mit dem Hinweis auf die Ver¨anderung der Relation zwischen Genuskategorisierung und Ereignisnominalisierung entkr¨aftet werden k¨onnte (d.h. im Gegensatz zum Latein weist das Franz¨osische eine Eins-zu-eins-Beziehung zwischen Nominalisierungstyp und Genus auf und ben¨otigt daher neben -´ee nicht zus¨atzlich -´e), so ist dennoch zu bedenken, dass Homonymien oder Synkretismen a¨ hnlich derjenigen zwischen dem partizipialen -´e und dem nominalisierenden -´e im Franz¨osischen in anderen Bereichen nicht unbedingt Anlass zu Irritationen geben.50 Ein vierter Einwand gegen die obige Beschreibung der Entwicklung von -ment im Verh¨altnis zu -´ee betrifft den Status von Konzepten wie “Suffixaustausch” oder “Irritation in der Suffixverwendung” im Rahmen der in der vorliegenden Arbeit zugrundeliegenden moderat-emergentistischen Modellierung von derivationsmorphologischen Strukturbildungsprozessen; dies zumal die in der Literatur gebotenen Erkl¨arungen zur Entwicklung von Nominalisierungsverfahren unter R¨uckgriff auf die Idee der gegenseitigen “Verdr¨angung” in der vorliegenden Arbeit bisher a¨ ußerst kritisch beurteilt wurde, vgl. beispielsweise die Diskussion der Differenzierungshypothese von Fleischman (1980) im Zusammenhang mit der -age-, -ment- und -(at)ion-Nominalisierung in Abschnitt 5.1.5. In diesem Zusammenhang ist allerdings zu beachten, dass die formale Irritation im Fall der -´e-Formen nicht stipuliert werden muss, sondern de facto vorhanden war und zudem unmissverst¨andlich auf den unabh¨angig erwiesenen Zusammenfall des lateinischen Deklinationssystems und den Wegfall des neutralen Genus 50

Ein Beispiel w¨are hier die Homonymie zwischen dem nominalisierenden und dem adverbialisierenden -ment – wobei diese Bildungen sich allerdings aufgrund der deutlich getrennten Verwendungskontexte von Substantiven und Adverbien um Einiges offensichtlicher voneinander unterscheiden, als es bei substantivierten Partizipien und -´e-Derivaten der Fall ist.

262 zur¨uckgef¨uhrt werden kann. In Fleischman (1980) wird hingegen lediglich die Behauptung aufgestellt, dass die Sprecher die Bedeutungen bzw. Verwendungsweisen formal unterschiedlicher Suffixe aufgrund der f¨ur eine junge Sprache typischen Irritationen nicht eindeutig voneinander unterscheiden konnten, eine Behauptung, f¨ur welche die Autorin abgesehen von einigen kontextfreien bedeutungsdifferenten Dubletten des Neufranz¨osischen keinerlei Evidenzen gibt. Die hier aufgestellte “Irritationshypothese” kommt zwar u¨ ber den Status einer ersten Forschungshypothese nicht hinaus. Um im Zusammenhang mit der Diachronie der franz¨osischen -ment-Nominalisierung zu fundierten Ergebnissen zu gelangen, m¨ussten die oben miteinander in Verbindung gebrachten No¨ minalisierungsverfahren in der Ubergangszeit vom Latein zum Franz¨osischen um Einiges eingehender untersucht werden, als es in der vorliegenden Arbeit realisiert werden kann. In Anbetracht der Tatsache, dass die lateinische -(at)us/(at)a-Nominalisierung der in Abschnitt 5.2.2 zitierten Literatur zufolge ebenfalls auf die indogermanische *-to-Ableitung zur¨uckzuf¨uhren ist, stellt die ¨ Uberschneidung der Bezeichnungsdom¨anen der -ment-Nominalisierung und der aus der lateinischen -(at)us/(at)a-Suffigierung hervorgegangenen Ableitungsverfahren allerdings ungeachtet der obigen Unklarheiten ein weiteres Indiz f¨ur die Hypothese dar, dass auch die abstrakte Bedeutung von -ment in einem direkten Zusammenhang zu derjenigen des indogermanischen *-to-Formativs steht bzw. dass der resultative Charakter der (alt- und neu-)franz¨osischen -mentNominalisierungen genauso wie derjenige der lateinischen -(at)us/(at)a-Nomina letztendlich auf die abstrakte Bedeutung der indogermanischen *-to-Ableitung zur¨uckgef¨uhrt werden kann. 5.2.4 Zum Verh¨altnis von -ment und -(at)ion Im vorigen Abschnitt wurde bereits darauf aufmerksam gemacht, dass die NCADaten auch auf einen drastischen Produktivit¨atsunterschied zwischen den -mentNominalisierungen einerseits und den -(at)ion- und -(ai)son-Nominalisierungen andererseits hinweisen. So ist zun¨achst die hohe Typefrequenz der -mentNomina mit 386 Types gegen¨uber derjenigen der -(at)ion- und -(ai)son-Nomina mit 28 bzw. 33 Types auff¨allig.51 Wie ebenfalls bereits betont kommt hinzu, 51

F¨ur die -(at)ion-Nominalisierung wurden alle auf -ion endenden Formen gez¨ahlt, im Fall der -(ai)son-Derivation wurden alle auf -son enden Formen ber¨ucksichtigt, sofern eine altfranz¨osische Ableitung nicht v¨ollig ausgeschlossen werden konnte. Das heißt, Lexeme wie prison (‘Gef¨angnis’) wurden ber¨ucksichtigt, Lexeme wie poisson (‘Fisch’) hingegen nicht. Wie bereits im vorigen Abschnitt angedeutet ist dieses Abgrenzungskriterium allerdings nur bei ausreichend verl¨asslichen etymologischen Angaben hilfreich. Daher ist davon auszugehen, dass die Frequenzen bei einer noch genaueren Untersuchung wahrscheinlich noch einmal leicht nach unten abweichen w¨urden.

263 dass f¨ur die 386 -ment-Lexeme in den im vorigen Abschnitt zitierten lexikographischen Werken in nur 57 F¨allen eine lateinische Entsprechung nachgewiesen werden konnte, wohingegen f¨ur die 33 -(ai)son-Nomina in 16 F¨allen, f¨ur die 28 -(at)ion-Types sogar in allen F¨allen lateinische Entsprechungen zu finden sind (vgl. Abbildung 5.7).

Abbildung 5.7: Typefrequenzen der -ment-, -(ai)son- und -(at)ion-Derivate im NCA

Vor dem Hintergrund, dass die -(at)ion-Suffigierung bereits der Form nach ein latinisiertes Morphem darstellt, das erst nach Vollziehung der zum Altfranz¨osischen f¨uhrenden Lautwandlungen des Latein in die franz¨osische Sprache gelangt sein kann, ist die Nicht-Existenz dieser Ableitung im NCA nicht verwunderlich. Weniger selbstverst¨andlich ist hingegen die niedrige Typefrequenz der -(ai)son-Derivate, da -(ai)son die lautlich dem Altfranz¨osischen entsprechende Weiterentwicklung von -(at)ion ist und generell als die altfranz¨osische bzw. volkssprachliche Entsprechung zur -(at)ion-Derivation aufgefasst wird (vgl. z.B. Nyrop 1908: 92f, Meyer-L¨ubke 1894: 539 oder auch Schpak-Dolt 1992: 66). In der entsprechenden Literatur wird dabei, meist implizit, angenommen, dass die -(ai)son-Derivate als volkssprachliche Entsprechung zum lateinischen -(at)io zun¨achst, d.h. wahrscheinlich im Altfranz¨osischen, produktiv waren und erst im Nachhinein durch die latinisierte Variante -(at)ion “verdr¨angt” wurden (vgl. die oben zitierten Referenzen sowie Dubois 1962: 31, L¨udtke 1978: 154, Thiele 1981: 34f, Schmitt 1988: 193ff, Grevisse 2004: 217 u.a.). Um zu u¨ berpr¨ufen, inwieweit diese Hypothese durch die Entwicklung der -(ai)son-Typefrequenzen in den hier verwendeten diachronen Korpora best¨atigt wird, wurde die Frequenzentwicklung der entsprechenden Nominalisierungen im NCA und in den in Abschnitt 5.1 beschriebenen f¨unf FRANTEXT-Korpora des 16. bis 20. Jahrhunderts mit der Frequenzentwicklung der -ment-Types verglichen. Das Ergebnis

264 der Untersuchung ist, dass die Typefrequenz der -(ai)son-Derivate zwar wie diejenige aller Nominalisierungen aus den bereits in Abschnitt 5.1.4 erl¨auterten Gr¨unden zum 17. Jahrhundert hin leicht abnimmt, dass sie allerdings nicht etwa bis zum heutigen Franz¨osisch stetig geringer wird, sondern vielmehr von vornherein derart niedrig ist und niedrig bleibt, dass von einer genuin franz¨osischen -(ai)son-Ableitung kaum die Rede sein kann (vgl. Abbildung 5.8); dies zumal die wenigen in den entsprechenden Korpora attestierten -(ai)son-Nomina in allen Jahrhunderten gr¨oßtenteils dieselben Basen haben und mehrheitlich aus dem Latein ererbte Derivate darstellen.52

Abbildung 5.8: Entwicklung der Typefrequenzen der -ment- und -(ai)sonNominalisierungen im NCA und im diachronen FRANTEXT-Korpus

Wenn man bedenkt, dass -(at)io generell als eines der produktivsten Nominalisierungssuffixe des Latein gilt (vgl. z.B. Olcott 1898: 34, Collin 1918: 27 sowie Alsdorf-Boll´ee 1970: 23, auf der Basis einer Ausz¨ahlung der Nominalisierungen in Georges 1951), das in verschiedensten Bezeichnungsdom¨anen eingesetzt wurde (vgl. Cooper 1895: 3f), stellt sich vor dem Hintergrund der Unproduktivit¨at von -(ai)son die Frage, wie die im Latein mittels -(at)io-Nominalisierungen versprachlichten Konzepte in der Volkssprache ausgedr¨uckt wurden. In diesem Zusammenhang ist die in Abschnitt 5.2.1 angef¨uhrte Beobachtung interessant, dass die altfranz¨osischen -ment-Nominalisierungen unter anderem auch im eigentlich -(at)ion vorbehaltenen religi¨osen Bereich eingesetzt wurden. Eine n¨ahere Untersuchung der im NCA attestierten “religi¨osen” -ment-Nominalisierungen ergab, dass die 28 entsprechenden Konzepte im heutigen Franz¨osisch immerhin in 21 F¨allen unter anderem und in 14 F¨allen ausschließlich mittels einer -(at)ionNominalisierung bezeichnet werden, wobei 8 dieser 14 F¨alle auch auf derselben Wurzel basieren (vgl. (23)). 52

Vgl. jedoch Schmitt (1988: 191–197) f¨ur eine andere Einsch¨atzung.

265 (23)

afrz. concevement afrz. escommengement afrz. espurgement afrz. glorif¨ıement afrz. preechement afrz. purifiement afrz. saintefiement afrz. saluement

       

nfrz. conception nfrz. excommunication nfrz. purgation nfrz. glorification nfrz. pr´edication nfrz. purification nfrz. sanctification nfrz. salutation

(‘Empf¨angnis’) (‘Kirchenbann’) (‘L¨auterung’) (‘Lobpreisung’) (‘Predigt’) (‘Reinigung’) (‘Heiligung’) (‘Begr¨ußung’)

Zusammen mit den in Abbildung 5.8 illustrierten Typefrequenzentwicklungen von -ment und -(ai)son legt diese Beobachtung die Vermutung nahe, dass das lateinische -(at)io im Altfranz¨osischen und eventuell zum Teil auch im Mittelfranz¨osischen nicht durch -(ai)son, sondern vielmehr durch die altfranz¨osi¨ sche -ment-Nominalisierung ersetzt worden ist, was auf eine semantische Uberschneidung zwischen -ment und -(at)ion bzw. -(ai)son hindeutet, die in etwa mit derjenigen vergleichbar ist, welche oben zwischen -ment und den Deszendenten der -(at)us/(at)a-Derivation vermutet wurde. ¨ Diese neuerliche “Uberschneidungshypothese” wird durch einige weitere lexikalische Ressourcen best¨arkt, die ebenfalls eine gewisse N¨ahe zwischen lateinischen -(at)io-Derivaten und (alt)franz¨osischen -ment-Nominalisierungen erkennen lassen. So f¨allt erstens die H¨aufigkeit von -(at)io-Nominalisierungen im Kontext der Definitionen auf, die der ToblerLommatzsch f¨ur altfranz¨osische -ment-Nominalisierungen angibt (z.B. degetement: deiectio, ‘Durchsp¨ulung’, esjoement: exsultatio, ‘Jubel, estruisement: instructio, ‘Anordnung’, laborement: laboratio, ‘Arbeit, M¨uhe’, moutepliement: multiplicatio, ‘Vervielfachung’, recouvrement: recuperatio, ‘Besserung’, repidement: repropitiatione, ‘Vers¨ohnung’ u.v.m.). Eine a¨ hnliche Evidenz liefert die bereits zitierte Studie der suffixalen Entsprechungen von Mark (1970), wo unter anderem untersucht wird, mittels welcher Art von Derivationen die lateinischen -(at)io-Nominalisierungen dreier aus der gleichen Zeit stammender Manuskripte des lateinisch-altfranz¨osischen Abavus-Glossars (vgl. Roques 1936) ins Altfranz¨osische u¨ bersetzt werden. Im Zuge dieser Untersuchung beobachtet der Autor eine systematische Ersetzung lateinischer -(at)io-Derivate mittels altfranz¨osischer -ment- (und -ance-)Derivate und zieht eine der oben ausgef¨uhrten Hypothese sehr a¨ hnliche Schlussfolgerung: On est en droit de se demander comment la masse des mots lat. en -(t)io ont e´ t´e traduits en fr. dans notre glossaire. Les grands profiteurs sont e´ videmment -ance et -ment. ‘Eine berechtigte Frage ist, wie die große Menge an Worten auf lat. -(t)io in unserem Glossar ins Franz¨osische u¨ bersetzt worden ist. Die großen Nutznießer sind ¨ augenscheinlich -ance und -ment.’ (Mark 1970: 206, eigene Ubersetzung ins Deutsche)

Schließlich ist in diesem Zusammenhang auf eine eigens durchgef¨uhrte Untersuchung des DLG von Henri Estienne hinzuweisen (vgl. erneut Anhang B.1), wo

266 sich ebenfalls die Tendenz best¨atigt, dass -ment-Nominalisierungen h¨aufig zur ¨ Ubersetzung von lateinischen -(at)io-Derivaten herangezogen werden. So ergab ¨ eine Ausz¨ahlung der Ubersetzungen, welche Estienne f¨ur die im Lexikon enthaltenen 1373 -(at)io-Derivate angibt, dass die Eintr¨age in 695 F¨allen (also zu u¨ ber 50%) unter anderem mit -ment und in nur 660 F¨allen (zu knapp 50%) unter anderem mit -(at)ion u¨ bersetzt wurden. Im Zusammenhang mit der Lexikographie Henri Estiennes ist zu beachten, dass sein W¨orterbuch zwar aus dem 16. Jahrhundert stammt, dass der Autor aber daf¨ur bekannt ist, dem Franz¨osischen gegen¨uber den u¨ brigen romanischen Sprachen inklusive dem Latein einen u¨ bergeordneten Stellenwert beizumessen (vgl. Estienne 1579, Estienne & Feug`ere 1853 bzw. Sergijewskij 1963: 157f). Es ist also gut m¨oglich, dass sich die Auswirkungen der Relatinisierung im 15. und vor allem 16. Jahrhundert im DLG weniger deutlich zeigen als in anderen Sprachdenkm¨alern.53 Die Annahme, dass die -ment-Nominalisierung den altfranz¨osischen Sprechern eventuell unter anderem als Ersatz f¨ur das hochsprachliche -(at)ion gedient haben k¨onnte, f¨uhrt zu der Vorhersage, dass die diachrone Entwicklung der Typefrequenzen der -(at)ion-Nomina in franz¨osischen Korpora mit derjenigen der -ment-Nomina korrelieren sollte; dies zumindest bis zu dem Zeitpunkt, an dem -(at)ion nicht mehr als diastratisch von den u¨ brigen Suffixen verschieden behandelt bzw. in der Form von -ation als franz¨osisches Nominalisierungssuffix reanalysiert wird (s.u.). Um diese Vorhersage zu u¨ berpr¨ufen, wurden die -(at)ion-Types des NCA sowie die entsprechenden Lexeme der weiter oben beschriebenen f¨unf diachronen FRANTEXT-Korpora erstens auf die Entwicklung ihrer Typefrequenzen, zweitens auf etwaige lateinische Entsprechungen und drittens auf die Existenz eines franz¨osischen Basisverbs im jeweiligen Jahrhundert hin untersucht und mit der in Abbildung 5.8 illustrierten Entwicklung der -ment-Typefrequenzen verglichen. Das Ergebnis dieser Untersuchung ist, dass sich die Typefrequenzen der beiden Ableitungsverfahren im Neufranz¨osischen zwar weitestgehend unabh¨angig voneinander entwickeln, dass jedoch in der Zeit vom 12. bis 16. Jahrhundert eine deutliche Korrelation zwischen dem starken Anstieg der -(at)ion-Derivate und dem R¨uckgang der -ment-Nominalisierungen zu verzeichnen ist (s. Abbildung 5.9 im Vergleich mit Abbildung 5.8).54 53

54

F¨ur eine Beschreibung der verschiedenen Relatinisierungsphasen des Franz¨osischen vgl. erneut die bereits in Abschnitt 5.1.4 angegebenen sprachgeschichtlichen Referenzen Sergijewskij (1963), von Wartburg (1993) oder Schmitt (2006) sowie insbesondere Raible (1996: 127f). Wobei allerdings zu beachten ist, dass erstens die erh¨ohte Typefrequenz der -mentNominalisierung im Altfranz¨osischen unter anderem auch durch die im vorigen ¨ Abschnitt thematisierte Uberschneidung mit den Deszendenten der lateinischen -(at)us/(at)a-Derivation bedingt sein kann und dass zweitens die Ersetzung des altfranz¨osischen bzw. lateinischen -(at)io laut Mark (1970) nicht nur durch -ment, sondern zum Teil auch durch -ance erfolgt ist, wobei die Interpretation der jeweiligen -(at)io-Nominalisierung in ihrem konkreten Kontext eine entscheidende Rolle bei der

267

Abbildung 5.9: Typefrequenzen und Anzahl der lateinischen Entsprechungen und franz¨osischen Basisverben der -(at)ion-Nominalisierungen im NCA und im diachronen FRANTEXT-Korpus

Die Entwicklung der Typefrequenzen der -ment- und -(at)ion-Derivate in den Jahrhunderten 17 bis 20 h¨angt von verschiedenen Faktoren ab, die hier nicht im Einzelnen diskutiert werden k¨onnen. Zu ber¨ucksichtigen w¨are beispielsweise der Einfluss der bereits angesprochenen puristischen Bewegung zur “Reinigung” der franz¨osischen Sprache, die im 17. Jahrhundert maßgeblich von Franc¸ois de Malherbe initiiert wurde (vgl. erneut die oben und in Abschnitt 5.1.4 angegebenen sprachgeschichtlichen Referenzen). Vor dem Hintergrund der in Kapitel 2.2.3 und 2.2.4 diskutierten Daten, welche zeigen, dass sich der große Anteil an allomorphen -(t)ion-Nominalisierungen im Franz¨osischen und anderen Sprachen mit aller Wahrscheinlichkeit vollst¨andig aus systematisch aus dem Latein entlehnten Derivaten zusammensetzt, liegt auf der Basis von Abbildung 5.9 zudem die Vermutung nahe, dass sich die franz¨osische “-tion-Nominalisierung” erst im 19./20. Jahrhundert in Form von -ation als franz¨osisches Nominalisierungssuffix etablierte, w¨ahrend es sich bei den a¨ lteren -(at)ion-Formen haupts¨achlich um aus dem Latein entlehnte Derivate handelt. Ungeachtet der Komplexit¨at der Entwicklungen vom Mittel- zum Neufranz¨osischen bekr¨aftigt die obige Korpusstudie aber die Vermutung, dass lateinische -(at)io-Nominalisierungen vom 12. bis zum 14. Jahrhundert unter anderem durch altfranz¨osische -ment-Derivate ausgetauscht bzw. u¨ bersetzt wurden, welche daraufhin im Zuge der Relatinisierung im 15.und 16. Jahrhundert wieder durch aus dem Latein entlehnte -(at)ion-Derivate ersetzt wurden. Es deutet sich also an, dass das mutmaßlich hochsprachliche -(at)io gar nicht, d.h. auch nicht in der lautgesetzlichen Weiterentwicklung als -(ai)son, in die altfranz¨osische SpraSuffixwahl gespielt haben d¨urfte. Diese Details im Zusammenhang mit der suffixa¨ len Ersetzung in lateinisch-franz¨osischen Ubersetzungen k¨onnen hier nicht diskutiert werden.

268 che eingegliedert wurde, sondern dass die Sprecher des Altfranz¨osischen zur Bezeichnung der im Latein durch -(at)io-Nominalisierungen versprachlichten Konzepte auf die bedeutungsverwandte -ment-Nominalisierung (und eventuell weitere bedeutungsverwandte Nominalisierungsverfahren) ausgewichen sind. Interessanterweise wird in einigen Arbeiten zur Konkurrenz zwischen der -(at)io- und der -(at)us/(at)a-Nominalisierung des Latein die Ansicht vertreten, dass sich die beiden Ableitungsverfahren (neben etwaigen Bedeutungsunterschieden) diastratisch insofern unterscheiden lassen, als -(at)io dem “schriftsprachlichen Typ”, -(at)us/(at)a hingegen der “Volkssprache” zuzuordnen ist (vgl. Alsdorf-Boll´ee 1970: 56, mit Verweis auf Olcott 1898 und Frank 1913). Vor diesem Hintergrund dr¨angt sich die Auffassung auf, dass es im Altfranz¨osischen durch die Hinzunahme von -mentum zu einer Neuordnung der aus der -(at)us/(at)a-Derivation hervorgegangenen volkssprachlichen resultativen Suffixe kam, wobei die -(at)io-Nominalisierung auch in ihrer franz¨osischen Lautform -(ai)son von dieser Entwicklung nicht ber¨uhrt wurde, weil sie zun¨achst gar nicht u¨ bernommen wurde. Nimmt man an, dass lateinische -(at)io-Nominalisierungen im Altfranz¨osischen unter anderem mit Hilfe von -ment-Derivaten u¨ bersetzt wurden, stellt sich die Frage, ob -ment und -(at)ion aufgrund ihrer spezifischen diachronischen Entwicklung im Neufranz¨osischen synonym sind, oder ob sie sich trotz allem im Hinblick auf bestimmte abstrakte Bedeutungskomponenten unterscheiden. In der Literatur finden sich bez¨uglich etwaiger Bedeutungsdifferenzen zwischen -ment und -(at)ion vorwiegend knappe, meist vage gehalten Einsch¨atzungen. Dubois (1962: 32) und L¨udtke (1978: 118) stimmen darin u¨ berein, dass sich -ment und -(at)ion insofern gleichen, als sie u¨ berwiegend Nominalisierungen mit resultativen und/oder passivischen Lesarten ableiten. Dubois & Dubois-Charlier (1999: 28) geben einerseits an, dass die Nominalisierungen auf -ment und auf -(at)ion “relativement synonymes” (‘relativ synonym’) sind, unterscheiden allerdings andererseits insofern zwischen -ment und -(at)ion, als sie die Bedeutung der -(at)ion-Nomina generell mit “action” (‘Handlung’) oder “r´esultat concret de l’action” (‘konkretes Resultat der Handlung’) umschreiben (ebd.: 24), wohingegen sie f¨ur die Mehrheit der -ment-Nomina angeben, dass “le sens r´esultatif de ‘´etat’ ou de ‘r´esultat’ pr´evaut sur le sens de ‘action”’ (‘die resultative Bedeutung ‘Zustand’ oder ‘Resultat’ ist gegen¨uber der Bedeutung ‘Handlung’ vorherrschend’, ebd.: 22, vgl. auch Kapitel 3.1.1 der vorliegenden Arbeit). Eine a¨ hnliche Differenzierung trifft Martin (2010), die -(at)ion als “more ‘causation’oriented”, -ment hingegen als “more ‘result’-oriented” beschreibt (ebd.: 129). Als eine Evidenz f¨ur diese tendenzielle Differenz gibt Martin an, dass -mentNominalisierungen mehr als -(at)ion-Nomina dazu tendieren, rein inchoative Zustandswechsel zu bezeichnen (“[I]t is harder to adjunct them a par-object than with -ion [nominalizations]”, ebd.), was die Autorin mit dem Kontrast unter (24a. vs. b.) illustriert.

269 (24)

a. L’oppression/l’excitation des enfants par Paul ‘Die Unterdr¨uckung/Aufregung der Kinder durch Paul’ b. L’oppressement/l’excitement des enfants #par Paul

(Martin 2010: 129)

Als zweiten Bedeutungsunterschied zwischen -ment und -(at)ion gibt Martin (2010: 132) an, dass -(at)ion “more ‘prototypically telic”’ ist als -ment, womit die Autorin sich auf den Umstand bezieht, dass -(at)ion-Nominalisierungen auff¨allig oft verwendet werden, um sogenannte diskontinuierliche Ereignisse als eine Einheit darzustellen. Laut Martin (2010: ebd.) erfordert -(at)ion sogar eine gewisse Diskontinuit¨at des Basisereignisses. -ment hingegen “seems to preferably select bases denoting an event conceived by default as taking place without interruption” (ebd.). Als Evidenz f¨ur diese Hypothese f¨uhrt Martin Kontrastbeispiele wie (25a.) an, wo die -ment-Nominalisierung der Autorin zufolge ungrammatisch ist, weil das diskontinuierliche Basisereignis nur durch die -(at)ionNominalisierung, nicht aber durch die -ment-Ableitung bezeichnet werden kann. In (25b.) sind laut der Autorin demgegen¨uber die -(at)ion-Nominalisierungen im Gegensatz zu den -ment-Nominalisierungen ungrammatisch, weil das durch das Basisverb bezeichnete Ereignis nicht diskontinuierlich ist. (25)

a. Samira a alphab´etis´e Pierre en plusieurs e´ tapes. ‘Samira hat Pierre in mehreren Schritten alphabetisiert. > alphab´etisation/*alphab´etisement b. Il m’a e´ tonn´e/affol´e #en plusieurs e´ tapes. ‘Er hat mich in mehreren Schritten u¨ berrascht/erschreckt. > e´ tonnement, affolement/ *´etonnation, *affolation (Martin 2010: 132)

Es w¨are interessant, diese Daten vor dem Hintergrund der in der vorliegenden Arbeit etablierten semantisch-pragmatischen Herangehensweise zu interpretieren. Wie bereits angedeutet k¨onnen die Bedeutungsdifferenzen zwischen -ment und -(at)ion hier allerdings nicht im Detail untersucht werden. Gem¨aß dem in den Kapiteln 2 und 3 etablierten Ansatz k¨onnte die Diskussion um die genaue Bedeutungsdifferenz zwischen der -(at)ion- und der -ment-Nominalisierung, wenn u¨ berhaupt, ohnehin nur auf der Basis einer Korpusstudie der in Kapitel 4 vorgestellten Art gekl¨art werden. Ungeachtet dessen legen die obigen Einsch¨atzungen bereits zum jetzigen Forschungsstand nahe, dass die -(at)ionSuffigierung zwar mit der -ment-Nominalisierung den im weitesten Sinne resultativen Charakter gemein hat, dass ersteres Verfahren aber a¨ hnlich wie -´ee erstens weniger auf Resultatszust¨ande bezogen ist als die -ment-Ableitung und zweitens eine perfektivische Perspektive einzuf¨uhren scheint, welche bewirkt, dass die Einheit des von der Nominalisierung bezeichneten Ereignisses in den Vordergrund ger¨uckt wird (s.o. bzw. Kapitel 3.3.1 f¨ur Erl¨auterungen zur perfektivischen Perspektive). Da die in diesem Zusammenhang relevante Literatur a¨ ußerst rar ist und vor allem, weil f¨ur die -(at)ion-Nominalisierungen bisher keine entsprechende

270 Korpusuntersuchung existiert, muss die Frage nach der exakten Bedeutungsdifferenz zwischen -ment und -(at)ion hier offen bleiben. F¨ur die zahlreichen -ment- und -(at)ion-Nominalisierungen aus a¨ lteren Jahrhunderten ist zus¨atzlich zu bedenken, dass ihre Relation durch die mutmaßlich in fr¨uheren Jahrhunderten existente diastratische Variation zwischen den beiden Ableitungsverfahren beeinflusst ist. Dies gilt insbesondere f¨ur die auch im Neufranz¨osischen u¨ beraus zahlreichen -(at)ion-Nominalisierungen mit attestierter lateinischer Entsprechung (vgl. Abbildung 5.9). Nichtsdestotrotz kann auf der Grundlage der obigen Er¨orterungen vermutet werden, dass zwischen -(at)ion und -ment zwar einerseits subtile Bedeutungsunterschiede existieren, dass die beiden Suffixe sich aber andererseits im Hinblick auf ihren resultativen Charakter stark a¨ hneln. Wie im vorigen Abschnitt im Zusammenhang mit der Ersetzung von Derivaten der -(at)us/(at)a-Deszendenten durch altfranz¨osische -ment-Nominalisierungen kann also auch im Hinblick auf die Ersetzung von lat. -(at)io bzw. afrz. -(ai)son durch -ment vermutet werden, dass die mutmaßliche Austauschrelation der beiden Suffixe im Altfranz¨osischen aus dem Grund m¨oglich war, weil sich die Verwendungsbereiche der beiden Nominalisierungsarten aufgrund der semantischen N¨ahe der beiden Suffixe bis zu einem gewissen Grad u¨ berschnitten. Wie bereits in Abschnitt 5.2.2 erw¨ahnt ist die lateinische -(at)io-Nominalisierung ebenfalls mit der indogermanischen *-to-Ableitung in Verbindung zu bringen, da es sich bei dem Verfahren genau genommen um eine Ableitung von Partizipien des dritten Status mittels -io handelte (vgl. hierzu auch Kapitel 2.2.3). Von der Gesamtmenge der -(at)ion-Formen sind zwar im Franz¨osischen wie im Englischen nur diejenigen auf -ation und -(i)cation im Franz¨osischen produktiv (s.o. sowie Kapitel 2.2.3). Geht man jedoch wie in der vorliegenden Arbeit davon aus, dass sich die abstrakte Bedeutung eines Suffixes durch den massiven Input einer Form-Bedeutung-Korrelation gewissermaßen von selbst generiert, ist anzunehmen, dass der (im Sinne von Abschnitt 5.2.2) resultative Charakter der indogermanischen *-to-Ableitung u¨ ber die lateinische -(at)io-Nominalisierung auch an die genuin franz¨osischen -ation-Nominalisierungen “vererbt” wurde, da die abstrakte Bedeutung des Ableitungsverfahrens durch die massive Entlehnung von -(at)io-Ableitungen des -¯a-Typs zu einem hochfrequenten “pattern” bzw. einer Wortbildungsregel gef¨uhrt hat, deren Form -ation und deren Inhalt die abstrakte Bedeutung der auf der Basis des *-to-Formativs entstandenen lateinischen -(at)io-Nominalisierung ist.55 In Anbetracht dieser Umst¨ande ist einerseits nicht verwunderlich, dass sich auch die franz¨osischen -ation-Nominalisierungen durch einen im weitesten Sinne resultativen Charakter auszeichnen. Andererseits ist die offensichtliche Bedeutungs¨ahnlichkeit von -ment und -(at)ion vor diesem Hintergrund ein weiteres 55

F¨ur eine detailliertere Darstellung der hier angesprochenen Reanlyse des Typs lat. dissimulatus (‘verschleiert’) > lat. dissimulat-io > frz. dissimul-ation (‘Verschleierung’) vgl. erneut Kerleroux (2008: 127f).

271 Indiz f¨ur die Hypothese, dass der resultativ-perfektivische Charakter dieser Suffixe ebenso wie derjenige der -(at)us/(at)a- bzw. -´e/´ee-Nominalisierung maßgeblich durch die abstrakte Bedeutung der indogermanischen *-to-Ableitung determiniert ist. Der mutmaßliche Bedeutungszusammenhang zwischen der indogermanischen *-to-Ableitung und diesen drei Nominalisierungssuffixen ist wiederum ein starkes Indiz f¨ur die Hypothese des moderaten Emergentismus bzw. der dualen Stratifizierung, dass sich die Bedeutung von (Nominalisierungs-)Suffixen auf einige wenige, h¨ochst abstrakte Bedeutungsmerkmale reduzieren l¨asst, welche nicht nur den Rahmen f¨ur die synchrone Verwendung der entsprechenden Ableitungen vorgeben, sondern auch die semantische Verbindung zwischen den diachronen Entsprechungen eines Ableitungsverfahrens in den jeweiligen miteinander verwandten Sprachen darstellen.

5.3

Fazit: Die diachrone Verschiedenheit von -age und -ment

In diesem Kapitel wurde die diachrone Entwicklung von -age und -ment untersucht, wobei zum einen die in Kapitel 3 etablierte Bedeutungsdifferenz zwischen den Suffixen mit diachronen Daten best¨atigt und zum anderen Evidenz f¨ur die diachrone Kontinuit¨at der abstrakten Bedeutung von Derivationsmorphemen erbracht werden sollte. F¨ur die -age-Suffigierung wurde argumentiert, dass sie auf eine Reanalyse substantivierter lateinischer Relationsadjektive auf -aticu zur¨uckzuf¨uhren ist, bei welcher das Suffix mit derjenigen abstrakten Bedeutungskomponente des semantisch inkorporierten Bezugsnomens assoziiert wurde, die alle -aticuSubstantivierungen gemeinsam haben, d.h. mit der abstrakten Art-Referenz (vgl. (13b.) in Abschnitt 5.1.2). Im Zuge dessen entwickelte sich die -age-Suffigierung zu einem prototypischen Nominalisierungssuffix in Chierchias (1988; 1998) Sinne, welches dazu dient, die vom Basispr¨adikat an Individuen zugeschriebenen Eigenschaften zu reifizieren. Die im Alt- und Neufranz¨osischen gleichermaßen marginalen kollektiven -age-Derivate wurden als eine wenig typische Randkategorie des Derivationsmusters eingestuft, die aber mit der “typischen” abstrakten Bedeutung des Ableitungsverfahrens u¨ ber komplexe Similarit¨ats- und Kontiguit¨atsrelationen in Verbindung steht. Was den Produktivit¨atszuwachs der -age-Ableitung im deverbalen Bereich im 19. Jahrhundert anbelangt wurde Fleischmans Fleischman (1980) Hypothese, dass dieser mit dem Beginn des industriellen Zeitalters in Verbindung zu bringen ist, durch empirische Untersuchungen best¨atigt. Anders als in Fleischman (1980) wird der Grund daf¨ur, dass -age im 19. Jahrhundert zur Bildung der ben¨otigten Ereignisbezeichnungen herangezogen werden konnte, in der vorliegenden Arbeit allerdings darin gese-

272 hen, dass sich die -age-Suffigierung im Zuge der oben beschriebenen Reanalyse in ein im Sinne von Kapitel 3.2.1 reines Nominalisierungssuffix gewandelt hat und somit aus den in Kapitel 3 erl¨auterten Gr¨unden die den Basisverben inh¨arente Topikalisierung des Geschehnistr¨agers beibeh¨alt. Die Quellen und die Sekund¨arliteratur bez¨uglich der -ment-Nominalisierung sind weniger eindeutig, weshalb die Untersuchung in diesem Fall auf die Sammlung von Indizien und ersten Forschungshypothesen hinauslief. Zun¨achst wurde gezeigt, dass sich die altfranz¨osischen -ment-Nominalisierungen weitestgehend wie ihre neufranz¨osischen Entsprechungen verhalten, wobei allerdings im ¨ Altfranz¨osischen Uberschneidungen mit den Bezeichnungsbereichen der -´e/´eeAbleitung einerseits und der -(at)ion-Ableitung andererseits aufgezeigt wurde. F¨ur diese drei Nominalisierungsverfahren ist nicht nur anzunehmen, dass sie im Altfranz¨osischen in einer gewissen Austauschrelation standen. Zus¨atzlich zeichnen sich alle drei Verfahren auch durch ihren a¨ hnlich resultativen Charakter aus. Im Zusammenhang mit der Diachronie der -ment-Nominalisierung wurde weiterhin auf die im 19. und fr¨uhen 20. Jahrhundert verbreitete Hypothese hingewiesen, dass sich der lateinische “Vorl¨aufer” des Verfahrens, d.h. -mentum, unter anderem aus der indogermanischen *-to-Ableitung zusammensetzt, welche sich ebenfalls durch einen resultativen Charakter auszeichnet. Neben der Tatsache, dass auch -mentum in der einschl¨agigen Literatur eine resultative Bedeutung zugesprochen wird, ist der Umstand, dass die -ment in verschiedener Hinsicht nahen Ableitungsverfahren auf -´e/´ee und -(at)ion der entsprechenden Literatur zufolge auch diachron mit dem indogermanischen *-to-Formativ verbunden sind, ein weiteres Indiz f¨ur die Hypothese, dass die franz¨osische -ment-Nominalisierung letztlich ebenfalls mit dieser indogermanischen Urform in Verbindung zu bringen ist. Es w¨are interessant, diese Zusammenh¨ange durch zuk¨unftige Forschungsarbeiten zu u¨ berpr¨ufen und weiter zu erhellen. Durch die diachrone Untersuchung wird der in den Kapiteln 2 bis 4 entwickelte Ansatz zur Bedeutungsanalyse von -ment und -age im Speziellen und von Derivationsaffixen im Allgemeinen in verschiedener Hinsicht best¨atigt. Erstens ist die durch die historische Betrachtung zutage tretende Verschiedenheit der diachronen Entwicklung von -ment und -age ein deutlicher Beleg f¨ur die in Kapitel 3 vorgeschlagene Bedeutungsdifferenzierung der Suffixe. -Age reiht sich in das Paradigma nicht-resultativer Suffixe ein, ohne jedoch eine imperfektivische Perspektive einzuf¨uhren, da das Suffix durch seine spezifische Entwicklungsgeschichte eine bloße Reifizierung der durch die Basispr¨adikate zugewiesenen Eigenschaften bewirkt und somit die den aspektuell unmodifizierten Basisverben inh¨arente Topikalisierung des Geschehnistr¨agers beibeh¨alt. -Ment u¨ berlappt als typisch resultatives Suffix mit -´e/´ee und -(at)ion, wobei die historischen Quellen nahelegen, dass dieser Umstand von einer genetischen Verbindung zwischen den drei Nominalisierungsverfahren und der ebenfalls resultativen indogermanischen *-to-Ableitung herr¨uhrt.

273 Zweitens ist hervorzuheben, dass die hier vorgestellte diachrone Analyse ohne weitere Zusatzannahmen in das moderat-emergentistische Modell eingegliedert werden kann, nach welchem sich die derivationsmorphologische Kompetenz der Sprecher auf der Basis morpho-semantisch transparenter und frequenter Form-Funktion-Korrelationen im Input der Sprecher entwickelt. So konnten die synchronen Eigenschaften der -age-Suffigierung hier genauso darauf zur¨uckgef¨uhrt werden, dass das Ableitungsverfahren auf der Basis artenbezogener Relationsadjektive entstanden ist, wie die synchronen Eigenschaften der -ment-Nominalisierung diachron auf dessen mutmaßliche Verwandtschaft mit der indogermanischen *-to-Ableitung zur¨uckgef¨uhrt werden konnten. Der hier vorgeschlagene Ansatz ist also nicht auf die gelegentlich in der Literatur ad hoc aufgestellten Hypothesen u¨ ber etwaige diachrone Diskontinuit¨aten im Zusammenhang mit -ment und -age angewiesen, denn unter Einbeziehung der semantisch-pragmatischen Angemessenheitsbedingung ist das unabh¨angige moderat-emergentistische “Prinzip” v¨ollig ausreichend, um die diachrone Entwicklung der -age- und -ment-Suffigierung ohne weitere Zusatzannahmen umfassend herzuleiten. Im Speziellen widerlegt der Blick auf die diachrone Entwicklung drittens auch die in der Literatur mehrfach ge¨außerte Vorstellung, dass sich die Unterschiede zwischen den neufranz¨osischen -ment- und -age-Nominalisierungen entweder vollst¨andig oder zum Teil auf die Differenzierung von Dubletten und/oder die Ausbildung von Bezeichnungsgruppen zur¨uckf¨uhren lassen und dass sich die beiden (bedeutungsgleichen) Verfahren erst im Laufe der Zeit auseinanderentwickelt haben, denn vor dem Hintergrund der komplett divergierenden Entstehungsgeschichten von -ment und -age ist es a¨ ußerst abwegig, dass die Suffixe jemals auch nur ann¨ahrend bedeutungsgleich waren. Im Zusammenhang mit der -age-Suffigierung macht die diachrone Untersuchung zudem deutlich, dass die abstrakte Bedeutung des neufranz¨osischen -age bereits vor den f¨ur das heutige Suffix charakteristischen Bezeichnungsgruppen existierte. Daraus folgt zwangsl¨aufig, dass sich die Verwendung des Suffixes diachron gesehen nicht nach den f¨ur das heutige -age charakteristischen Bezeichnungsgruppen richtet, sondern dass sich im Gegenteil die Bezeichnungsdom¨anen nach der abstrakten Bedeutung des Suffixes ausgebildet haben. Viertens ist zu beachten, dass die diachrone Konsistenz der Suffixe auch eine deutliche Best¨atigung f¨ur die von Lieber (2004) aufgestellte und hier in das moderat-emergentistische Modell u¨ bertragene Generalisierung ist, nach welcher die mit den Derivationsaffixen assoziierten abstrakten Bedeutungsmerkmale denjenigen Teil komplexer Lexeme darstellen, der diachron die h¨ochste Stabilit¨at besitzt. So konnte gezeigt werden, dass die abstrakten Bedeutungsmerkmale der Suffixe bzw. Suffixbestandteile als konstitutive Elemente der Ableitungsverfahren nicht nur den Rahmen f¨ur die synchrone Verwendung der entsprechenden Ableitungen vorgeben, sondern auch die semantische Verbindung zwischen

274 den diachronen Entsprechungen eines Ableitungsverfahrens in den jeweiligen miteinander verwandten Sprachen darstellen. Damit bieten die Ergebnisse der diachronen Untersuchung zudem auch eine weitere Best¨atigung f¨ur die duale Stratifizierungshypothese bzw. das moderat-emergentistische Modell an sich.

6

Schlussbetrachtung

Im Folgenden sollen zun¨achst die in der vorliegenden Arbeit durchgef¨uhrten Untersuchungen res¨umiert und in einen Gesamtzusammenhang gestellt werden. (Abschnitt 6.1). Im Anschluss wird auf m¨ogliche Vertiefungen der hier vorgestellten Analyse und auf einige offene oder durch die Arbeit angestoßene Forschungsfragen hingewiesen (Abschnitt 6.2).

6.1 -Age und -ment im moderat-emergentistischen Modell

In dieser Arbeit wurde zum einen eine umfassende synchrone und diachrone Bedeutungsanalyse der franz¨osischen -ment- und -age-Nominalisierung durchgef¨uhrt, die sowohl den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen den im neufranz¨osischen Korpus attestierten -ment- und -age-Derivaten als auch der diachronen Entwicklung der Suffixe gerecht wird. Als theoretische Basis wurde zum anderen eine Position hinsichtlich der Frage entwickelt, was u¨ berhaupt unter “der Bedeutung” von morpho-semantisch transparenten Ableitungsverfahren des -ment- und -age-Typs zu verstehen ist und wie diese Bedeutung mit derjenigen der konkreten Derivate zusammenh¨angt. Die letzteren beiden Fragen bildeten den Ausgangspunkt der Arbeit, da sich aus der Positionierung hinsichtlich des morpho-semantischen Modells bereits etliche methodologische Grunds¨atze ableiten lassen. Begonnen wurde die morphologietheoretische Diskussion mit dem Konzept der abstrakten Bedeutung an sich, wobei das morpho-semantische Modell von Lieber (2004) als Grundlage herangezogen wurde. Von Lieber (2004) wurde hier die grunds¨atzliche Idee der dualen semantischen Stratifizierung in der Wortbildung u¨ bernommen, nach welcher sich Wortbedeutungen aus abstraktsemantischen und konkret-konzeptuellen Bedeutungskomponenten zusammensetzen. Dar¨uber hinaus weicht das hier entwickelte Modell allerdings insofern von Lieber (2004) ab, als in der vorliegenden Arbeit eine streng kompositionelle morpho-semantische Analyse angestrebt wurde, in welcher phonologische, vor allem aber rein syntaktische und rein morphologische Restriktionen und Prinzipien jeglicher Art im Rahmen der Derivationsmorphologie explizit als sekund¨ar eingestuft werden. Die schlichte Begr¨undung f¨ur diese Herangehensweise ist, dass derivationsmorphologische Prozesse in erster Linie den Zweck haben, neue Kommunikations- und Ausdrucksmittel zu generieren bzw. noch nicht versprachlichte Konzepte zu versprachlichen.

276 Die erste Diskussion betraf das Konzept der morphologischen Paradigmen, in welchen nach Lieber (2004) Affixe organisiert sind, die zwar die gleichen abstrakt-semantischen Merkmale aufweisen, die sich aber unter Umst¨anden in konkret-konzeptuellen Merkmalen wie [volitional], [sentient] usw. unterscheiden. Vor dem Hintergrund, dass Affixe wie -er im Verh¨altnis zu beispielsweise Haus oder einkaufen eben gerade abstrakte Bedeutungen repr¨asentieren, wurde in der vorliegenden Arbeit erstens der unklare Status von derartig konkreten suffixalen Bedeutungskomponenten hinterfragt. Was soll es heißen, dass ein Suffix mit [volitional] spezifiziert ist? Das zweite Problem wurde darin gesehen, dass die von Lieber untersuchten Suffixe in der Tat die von der Autorin beobachtete diachrone und synchrone Stabilit¨at aufweisen und dass dieses Ph¨anomen schlecht zu der Annahme passt, dass Suffixe unter anderem durch konkretkonzeptuelle Merkmale der obigen Art spezifiziert sind. Vor diesem Hintergrund wurde hier argumentiert, dass die Bedeutung von Suffixen wie -er, -ee, -ment oder -age rein abstrakt ist und dass sich die Suffixe bereits in ihrer abstrakten Bedeutung, und nicht in zus¨atzlichen konkret-konzeptuellen Merkmalen, voneinander unterscheiden. Das zweite Konzept, das in der vorliegenden Arbeit nicht u¨ bernommen wurde, ist das der Ko-Indizierung bzw. Bindung von Argumenten zur Modellierung der Derivatsinterpretation. In dieser Hinsicht wurde zun¨achst erneut der Status des Prinzips an sich bzw. dessen hoch stipulativer Charakter problematisiert. Genauer gesagt wurde argumentiert, dass die Spezifizierung einer allgemein anzunehmenden Verkettungsoperation zwischen Basis und Affix auf eine spezifische, den Argumenten des Basispr¨adikats gleiche oder a¨ hnliche Bedeutung in den Termini der Ko-Indizierung bzw. Argumentbindung einer bloßen Ph¨anomenbeschreibung gleichkommt und den Charakter bzw. die Eigenschaften von Derivationsaffixen letztlich nicht weiter erhellen kann. Ein weiteres Problem mit dem Konzept der Argumentbindung/Ko-Indizierung ist, dass Bedingungen zur Bestimmung der Bedeutungsgleichheit zwischen den auf Argumentbindung zur¨uckgef¨uhrten Derivaten und den entsprechenden Verbargumenten nie definiert wurden (vgl. dazu erneut Detges 2004). Die hier entwickelte Bedeutungsanalyse basiert dagegen auf der Annahme, dass sich die “argumentartige” Interpretation von Suffixen wie beispielsweise engl. -ee aus deren abstrakt-semantischen Eigenschaften ergibt, welche dazu f¨uhren, dass die vom Basispr¨adikat (z.B. to employ) an Individuen zugewiesenen Eigenschaften durch die spezifische Suffixbedeutung aus einer ganz bestimmten Betrachtungsperspektive heraus abgeleitet bzw., wie im Fall von Nominalisierungssuffixen, reifiziert werden. Drittens wurde schließlich die von Lieber angenommene Dreiteilung bedeutungsbezogener Restriktionen in Ko-Indizierungsrestriktionen, semantische Restriktionen und pragmatische Restriktionen auf die generelle semantischpragmatische Angemessenheitsbedingung zur¨uckgef¨uhrt, welche lediglich den

277 Umstand festh¨alt, dass die Sprecher nur dann auf derivationsmorphologische Strukturbildung zur¨uckgreifen, wenn die gebildeten Einheiten auch zur angemessenen Benennung zu versprachlichender Konzepte eingesetzt werden k¨onnen. Vor diesem Hintergrund ist die Kombination von engl. re- mit Basen, welche die Einf¨uhrung von nicht reversiblen Zust¨anden bezeichnen, ebenso pragmatisch, d.h. im Hinblick auf die Wortverwendung, unangemessen wie die Konkatenation von -ation und -age zu z.B. *concentrationage. Auch f¨ur semantisch marginale Derivate wie standee wurde argumentiert, dass die Annahme von spezifischen semantischen Restriktionen, d.h. in diesem Fall KoIndizierungsrestriktionen, u¨ berfl¨ussig ist, weil sich die Marginalit¨at von Derivaten wie standee bereits aus dem Umstand ergibt, dass die mit derartigen Derivaten bezeichneten Konzepte selten der Gegenstand sprachlicher Interaktion sind. (1)

Bedeutungskonstitution und semantisch-pragmatische Angemessenheit Die Bedeutung komplexer lexikalischer Einheiten ergibt sich aus der bloßen Kombination kleinster bedeutungstragender Einheiten, wobei aus logischen Gr¨unden nur eine einzige Verkettungsoperation zugelassen werden sollte. Inkompatibilit¨aten zwischen Bedeutungskomponenten ergeben sich aus der Bedingung der semantisch-pragmatischen Angemessenheit der Konzeptversprachlichung. Phonologische und etwaige weitere formale Restriktionen wirken als Filter.

Im Anschluss wurde die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der abstrakten Affixbedeutung und den entsprechenden konkreten Derivaten er¨ortert, was aus zwei verschiedenen Gr¨unden f¨ur die vorliegende Arbeit von besonderer Relevanz war. Erstens ist zu bedenken, dass die Sprecher ihre derivationsmorphologische Kompetenz nur im Zuge der Verarbeitung der entsprechenden Derivate in ihren konkreten Vorkommenskontexten entwickelt haben k¨onnen. Zweitens stehen f¨ur eine empirische Untersuchung der abstrakten Bedeutung von Derivationsaffixen nur die mit dem jeweiligen Affix gebildeten konkreten Derivate zur Verf¨ugung. Zun¨achst wurde darauf hingewiesen, dass zwischen vollst¨andig regelhaften d.h. morpho-semantisch transparenten Derivationsverfahren einerseits und partiell regul¨aren und irregul¨aren Ableitungsmustern andererseits offensichtlich ein Statusunterschied besteht, welcher sich in dem Umstand a¨ ußert, dass Neologismen f¨ur gew¨ohnlich nur mit vollst¨andig regul¨aren Verfahren gebildet werden. In diesem Zusammenhang wurde argumentiert, dass ein generatives Wortbildungsmodell wie dasjenige von Aronoff (1976), in welchem alle partiellen Regularit¨aten zusammen mit den voll regul¨aren Verfahren in einer generellen Regelkomponente behandelt werden, dem offensichtlich existierenden Statusunterschied nicht gerecht werden kann. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass f¨ur die von Aronoff zitierten allomorphen englischen -(t)ion-Nominalisierungen

278 generell eine lateinische Entlehnung entweder attestiert ist oder naheliegt, wurde argumentiert, dass sich eine R¨uckf¨uhrung der allomorphen Formen auf eine Wortbildungsregel mit der Frage konfrontiert sieht, weshalb die postulierten Regeln nie zu der Ableitung von Formen eingesetzt werden, die es im Latein noch nicht gab. Aus diesen Gr¨unden wurde in der vorliegenden Arbeit in Zweifel gezogen, dass das Modell von Aronoff (1976) das Verh¨altnis zwischen Regeln bzw. abstrakter derivationsmorphologischer Kompetenz und Regularit¨aten bzw. den konkreten Performanzdaten f¨ur die vorliegenden Zwecke angemessen beschreibt, bzw. dass die in der vorliegenden Arbeit vordringliche Frage, wie die abstrakte Bedeutung von Derivationsaffixen auf der Basis der konkreten Derivate ermittelt wird, unter Rekurs auf Aronoffs Modell beantwortet werden kann. Im Hinblick auf diese Frage wurde daher zun¨achst auf die emergentistische Sichtweise zur¨uckgegriffen, welche es erstens erlaubt, die abstrakte Bedeutung eines Derivationsaffixes als den kleinsten gemeinsamen semantischen Nenner aller mit diesem Suffix abgeleiteten Derivate zu definieren, und welche es zweitens erm¨oglicht, die konkreten Derivate hinsichtlich ihrer Eigenst¨andigkeit (morpho-semantischer Opazit¨at) bzw. paradigmatischer Eingebundenheit (morpho-semantischer Transparenz) graduell zu gewichten. So lieferte Bybees (2007a) u.¨o. Network-Modell, nach welcher die Gesamtheit der Derivate eines Ableitungsverfahrens die (abstrakte) Bedeutung des entsprechenden Affixes determiniert, der vorliegenden Arbeit die methodologische Grundlage f¨ur die empirische Untersuchung der neufranz¨osischen -ment- und -ageNominalisierungen. Allerdings ist zu beachten, dass streng emergentistische Autoren wie Bybee das Konzept der Wortbildungsregel bzw. die kategorische Unterscheidung zwischen nicht-regelhafter oder semi-regul¨arer Wortbildung einerseits und vollst¨andig regelhafter Ableitung andererseits entschieden ablehnen. Daher bleibt die Frage, weshalb allomorphe -(t)ion-Formen nicht in a¨ hnlichem Maße als Modell zur Ableitung neuer, genuin franz¨osischer (bzw. spanischer, portugiesischer oder englischer) Derivate herangezogen werden, wie die -ationVariante, im Rahmen eines streng emergentistischen Ansatzes ebenso offen wie in Aronoffs generativem Modell. Auch Liebers Beobachtung, dass die von ihr untersuchten abstrakten und weitestgehend morpho-semantisch transparenten Suffixe eine im Vergleich mit den “body”-Komponenten der lexikalischen Einheiten auff¨allig hohe synchrone und diachrone Stabilit¨at aufweisen, vertr¨agt sich schlecht mit der streng emergentistischen Konzeption, nach welcher die Unterschiede zwischen irregul¨aren (konkreten) und regul¨aren (abstrakten) Bedeutungskomponenten nicht kategorisch, sondern graduell sind. Weitere Evidenzen f¨ur eine kategorische Unterscheidung zwischen regelhaften und nichtregelhaften Wortbildungsstrukturen werden in Arbeiten wie Ullman (2007) u.¨o. angef¨uhrt, der auf der Grundlage einer Vielzahl psycho- und neurolinguistischer Studien f¨ur eine qualitative Unterscheidung zwischen deklarativ-assoziativ und

279 prozedural-symbolisch verarbeiteten (derivations-)morphologischen Strukturen argumentiert. Vor dem Hintergrund dieser Evidenzen und in Anbetracht der Tatsache, dass auch die in der vorliegenden Arbeit untersuchten Sprachdaten gegen den von Bybee und anderen vertretenen strengen Emergentismus sprechen (s.u.), wurde in der vorliegenden Arbeit ein moderat-emergentistisches Modell entwickelt, nach welchem die Verarbeitung sprachlicher Strukturen zwar von einem assoziativen Modus ausgeht und auch bis zu einem gewissen Grad auf assoziative Prozesse zur¨uckgef¨uhrt werden kann, nach welchem sich aus den assoziativen “Netzen” allerdings bei hoher morpho-semantischer Transparenz und Frequenz auch regelhafte Strukturen herausbilden k¨onnen, welche nicht mehr analogiebasiert, sondern symbolisch verarbeitet werden. Weiterhin wurde angenommen, dass die Ableitungskategorien auf der deklarativen Ebene nichtsdestotrotz assoziativ und der Hypothese nach prototypisch organisiert sind, so dass mit Hilfe ein und desselben Ableitungsverfahrens (wie z.B. -(at)ion) prinzipiell durchaus sowohl vollst¨andig regelhafte Ableitungen als auch partiell nicht-regelhafte Analogiebildungen generiert werden k¨onnen. Da das moderat-emergentistische Modell eine wechselseitige Beziehung zwischen konkreten Derivaten und abstrakter Suffixbedeutung veranschlagt, nach welcher die Verwendung bereits gebildeter Derivate einerseits die abstrakte Bedeutung des Affixes determiniert, w¨ahrend anderseits die abstrakte Bedeutung des Affixes den Rahmen f¨ur die Verwendung neu abgeleiteter Formen vorgibt, wurde argumentiert, dass es als eine spezifische Form der dual stratifizierten Ans¨atze verstanden werden kann. (2)

Moderater Emergentismus Die abstrakte Bedeutung von morpho-semantisch transparenten Derivationsaffixen entwickelt sich aus der Abstraktion u¨ ber die Gesamtheit der einzelnen Instanzen des entsprechenden Ableitungsverfahrens im Input der Sprecher. Umgekehrt determiniert allerdings auch die mit der emergenten morphologischen Struktur bzw. Regel assoziierte abstrakte Affixbedeutung die Interpretation und Verwendung neuer Derivate (duale Stratifizierung). Auch hoch transparente Ableitungskategorien sind auf der deklarativen Ebene assoziativ-prototypisch organisiert.

Die franz¨osischen Nominalisierungssuffixe -ment und -age wurden der hoch transparenten, regelhaften Wortbildung zugeordnet.1 Gem¨aß der moderatemergentistischen Ausrichtung wurde dar¨uber hinaus argumentiert, dass die verschiedenen Kriterien, welche in der Literatur zur Unterscheidung zwischen -ment und -age angef¨uhrt werden, alle auf einen einzigen abstrakt-semantischen Unterschied zwischen den beiden Suffixen zur¨uckgef¨uhrt werden k¨onnen. F¨ur 1

Wobei insbesondere im Hinblick auf die -age-Nominalisierung auch nicht prinzipiell ausgeschlossen wurde, dass vereinzelte weniger prototypische Ableitungen dieser Suffixe im assoziativen Bereich verbleiben (s.u.).

280 die Analyse der abstrakten Bedeutung der beiden Suffixe st¨utzte sich die Arbeit zun¨achst auf die in der Literatur verf¨ugbaren Analysen, nach welchen -age-Nominalisierungen als tendenziell durativ, agentivisch und zur technischen und/oder physischen Bezeichnungsdom¨ane geh¨orig, -ment-Nominalisierungen dagegen als tendenziell terminativ, nicht-agentivisch und zur Bezeichnungsdom¨ane der psychologischen Zust¨ande oder Einstellungen geh¨orig beschrieben werden. Aus der Tatsache, dass diese Generalisierungen durch eine betr¨achtliche Menge an Gegenbeispielen relativiert werden, wurde in der vorliegenden Arbeit allerdings geschlossen, dass der Zusammenhang zwischen der abstrakten Suffixbedeutung und den in der Literatur beobachteten tendenziellen Unterschieden zwischen -ment- und -age-Nominalisierungen nicht so direkt sein kann, wie es in den entsprechenden Arbeiten angenommen wird. Im Zusammenhang mit -age wurde anhand der extrahierten Korpusdaten beobachtet, dass die -age-Nominalisierungen erstens eine klare Tendenz zur nichtepisodischen Referenzweise zeigen und dass -age zweitens in den seltenen episodischen Kontexten keinen Einfluss auf die Betrachtungsperspektive des Basisereignisses zu haben scheint, da -age-Nominalisierungen im Korpus genauso mit perfektivischer wie mit imperfektivischer Referenzweise vorkommen. Daraus wurde geschlossen, dass -age die von den Basispr¨adikaten an Individuen zugewiesenen Eigenschaften in Chierchias (1988; 1998) Sinne zu Ereignistypen refiziert, ohne etwaige dar¨uber hinausgehende aspektuelle Modifizierungen einzuf¨uhren. Auch der Umstand, dass bei -age-Nominalisierungen von komplexen Basisverben die prozessuale Komponente der entsprechenden Ereigniskonzepte im Mittelpunkt steht, wurde auf die “aspektuelle Neutralit¨at” von -age zur¨uckgef¨uhrt, wobei dieser Analyse die Annahme zugrundeliegt, dass perspektivisch unmodifizierte dynamische Ereignispr¨adikate generell eine Topikalisierung des Geschehnistr¨agers des von ihnen bezeichneten Ereignisses implizieren und dass diese Perspektivierung durch die -age-Nominalisierung lediglich im Zuge des Reifiizierungsprozesses fixiert wird. (3)

Generalisierung zur abstrakten Bedeutung von -age -age reifiziert die Ereigniseigenschaften, die perspektivisch unmodifizierte Ereignispr¨adikate Individuen zuschreiben. Die den Basispr¨adikaten inh¨arente Topikalisierung des Geschehnistr¨agers wird beibehalten, sodass dessen Eigenschaften im Zuge der Reifizierung als Thema in den Vordergrund treten.

Was -ment anbelangt wurde zun¨achst beobachtet, dass das Interpretationsspektrum der -ment-Nominalisierungen stark demjenigen von Partizipien des dritten Status a¨ hnelt, da erstere wie letztere entweder auf resultierende Zust¨ande oder Individueneigenschaften referieren oder zur Bezugnahme auf passivische oder abgeschlossene Ereignisse verwendet werden. F¨ur die Datenanalyse wurde der mono-semantische Ansatz zur Analyse deutscher ge–t-Partizipien von Roßdeutscher (2000) hinzugezogen, da dieser auf der Annahme basiert, dass

281 die Partizipien des dritten Status in allen verschiedenen Konstruktionen dieselbe Bedeutungskomponente beisteuern, w¨ahrend die Bedeutungsunterschiede zwischen den Konstruktionen auf das Zusammenspiel der verschiedenen Satzkonstituenten zur¨uckzuf¨uhren sind, womit der Ansatz vollst¨andig mit der moderatemergentistischen Hypothese kompatibel ist, dass sich die Bedeutung von Affixen aus der Gesamtheit der Verwendungsweisen der entsprechend abgeleiteten Derivate ergibt. Die f¨ur die vorliegende Arbeit zentrale Hypothese von Roßdeutscher ist, dass die partizipiale Morphologie das Basisverb derart ableitet, dass es nicht mehr dem Geschehnistr¨ager und dem eventuellen Geschehnisbetroffenen die Eigenschaft zuweist, am entsprechenden Ereignis teilzuhaben, sondern dass es nunmehr dem Geschehnisbetroffenen die Eigenschaft zuweist, sich im Resultatszustand des durch das Basispr¨adikat bezeichneten Ereignisses zu befinden. Es wurde argumentiert, dass diese Analyse direkt auf die -ment-Nominalisierung u¨ bertragen werden kann, wobei passivisch sowie eventiv-perfektiv interpretierte -ment-Nomina mit Roßdeutscher (2000) auf die kontextuelle Einbettung und die Individueneigenschaftsbezeichnungen auf -ment mit Maienborn (2009) auf pragmatische Verschiebung zur¨uckgef¨uhrt wurden. (4)

Generalisierung zur abstrakten Bedeutung von -ment -ment nominalisiert die Eigenschaft des Geschehnisbetroffenen, sich in dem aus dem Basisereignis resultierenden Zustand zu befinden.

Auf der Basis der Generalisierungen (3) und (4) wurde der von den -age-Nominalisierungen hinterlassene Eindruck der Nicht-Terminativit¨at auf den Umstand zur¨uckgef¨uhrt, dass -age die den Basisverben inh¨arente Topikalisierung des Geschehnistr¨agers beibeh¨alt und somit dessen Ereignisteilhabe als Thema des Diskurses einf¨uhrt, w¨ahrend die terminativische Tendenz der -mentNominalisierungen auf die Tatsache zur¨uckgef¨uhrt wurde, dass der Gegenstand der Reifizierung im Fall von -ment die an den Geschehnisbetroffenen zugeschriebene Resultatszustandseigenschaft ist, sodass in diesem Fall die resultative Komponente im Mittelpunkt steht. Die von Martin (2010) beobachteten subtilen aspektuellen Unterschiede zwischen -ment- und -age-Nominalisierungen im Bereich von kausativ/inchoativ-alternierenden Ereignissen und k¨orperbezogenen Aktivit¨aten wurden unter Einbeziehung der semantisch-pragmatischen Angemessenheitsbedingung und unter Ber¨ucksichtigung der durch die Beschaffenheit der Basisereignisse vorgegebenen Perspektivierungspr¨adestinationen der Basisverben in die Analyse integriert. Es wurde argumentiert, dass sowohl inchoative Verben als auch Verben f¨ur sogenannte “non-translational motions“ (Kemmer 1993) aus dem Grund haupts¨achlich mit -ment abgeleitet werden, weil die entsprechenden Ereignisse aufgrund ihrer inh¨arenten Resultativit¨at f¨ur eine Darstellung aus der mittels -ment eingef¨uhrten Perspektive pr¨adestiniert sind. F¨ur -age wurde dagegen festgestellt, dass mit diesem Suffix vornehmlich Ereignisbezeichnungen f¨ur nicht- bzw. weniger resultative Ereignisse abgeleitet werden, da sich diese eher f¨ur eine Topikalisierung des Geschehnistr¨agers anbieten.

282 Ganz a¨ hnlich wurde die tendenzielle Agentivit¨at der -age-Nominalisierungen auf den Umstand zur¨uckgef¨uhrt, dass der Geschehnistr¨ager oft gleichzeitig das Agens des entsprechenden Ereignisses ist, w¨ahrend die tendenzielle NichtAgentivit¨at der -ment-Nomina damit erkl¨art wurde, dass der Geschehnisbetroffene selten agentivisch ist. Schließlich wurde argumentiert, dass die durch die Suffixe bedingte unterschiedliche Perspektivierung der Basisereignisse ebenfalls daf¨ur verantwortlich ist, dass sich im Zusammenhang mit der Verwendung von -ment- und -age-Nominalisierungen f¨ur die Suffixe bestimmte charakteristische Bezeichnungsbereiche herauskristallisieren. Die Argumentation ist hier, dass -age-Nominalisierungen vor allem zur Bezeichnung von technischen Operationen und Prozessen herangezogen werden, weil sie sich aufgrund der abstrakten Bedeutung des Suffixes durch die Topikalisierung des Geschehnistr¨agers und die damit einhergehende Thematisierung dessen Ereignisteilhabe auszeichnen, w¨ahrend -ment-Nomina besonders zur Bezugnahme auf psychologische Zust¨ande und Eigenschaften geeignet sind, weil sie aufgrund der Suffixbedeutung Resultatszust¨ande von Geschehnisbetroffenen bezeichnen. Es wurde betont, dass dieser Ansatz die M¨oglichkeit bietet, die verschiedenen in der Literatur genannten Unterschiede zwischen -ment- und -age-Nominalisierungen in eine koh¨arente Analyse zu integrieren, welche neben der abstrakt-semantischen Ebene auch konkret-pragmatische Aspekte der Wortbildung ber¨ucksichtigt. Ein weiterer Vorteil des Ansatzes wurde darin gesehen, dass sich eine Erkl¨arung f¨ur den bereits in der Literatur angemerkten Eindruck der Zusammengeh¨origkeit der verschiedenen Kontrastph¨anomene bietet. Die zwei wichtigsten Vorteile des in der Arbeit entwickelten Analyseansatzes sind allerdings, dass dieser erstens nicht nur die qualitativen Differenzen zwischen -ment- und -age-Nominalisierungen ber¨ucksichtigt, sondern auch den je nach Kategorie der Basisverben unterschiedlich gearteten Produktivit¨atsdifferenzen zwischen den beiden Verfahren gerecht wird, und dass zweitens sowohl die Tendenzhaftigkeit der von den -ment- und -age-Nominalisierungen aufgezeigten Unterschiede als auch die systematischen “Ausnahmen” bzw. marginalen Abweichungen ganz nat¨urlich aus den Charakteristika der sprachlich verankerten Ereignisperspektivierung folgen (denn nat¨urlich k¨onnen die durch die Beschaffenheit der Basisereignisse vorgegebenen Perspektivierungspr¨adestinationen bei entsprechender pragmatischer Notwendigkeit u¨ berschrieben werden). (5)

Vorteile der mono-semantischen Differenzierung Die mono-semantische Differenzierung zwischen -ment und -age erkl¨art den Eindruck der Zusammengeh¨origkeit der verschiedenen Kontrastph¨anomene zwischen -ment- und -age-Nomina, ber¨ucksichtigt auch quantitative Differenzen zwischen den Ableitungsverfahren, bietet eine nat¨urliche Erkl¨arung f¨ur die Tendenzhaftigkeit der von den -ment- und -age-Nomina gezeigten Charakteristika und integriert die marginalen Beispiele mit ihren spezifischen Eigenschaften genauso in die allgemeine Analyse wie die prototypischen Okkurrenzen.

283 Die Vorteile der mono-semantischen Differenzierung zwischen -ment und -age wurden insbesondere auch im Rahmen der anschließenden empirischen Untersuchung deutlich, bei welcher versucht wurde, die verschiedenen im Zusammenhang mit den neufranz¨osischen -ment- und -age-Nominalisierungen im Korpus attestierten Ph¨anomene m¨oglichst detailliert auf die Interaktion zwischen der abstrakten Bedeutung der Suffixe, der Bedeutung der Basisverben bzw. der Beschaffenheit der Basisereignisse und der semantisch-pragmatischen Kriterien der Ereignisperspektivierung zur¨uckzuf¨uhren. Untersucht wurden im Bereich der Verben mit Zustandswechsel (+CH) kausativ/inchoativ alternierende reine Zustandswechsel-Verben (+CH cos), rein inchoative Verben (+CH inch), aspektuelle Verben (+CH asp) und Verben f¨ur k¨orperbezogene Aktivit¨aten (+CH ba), sowie im Bereich der Verben ohne Zustandswechsel (−CH) Verben f¨ur Aktivit¨aten mit Emission als Beiprodukt (−CH act+em), reine Emissionsverben (−CH em) und Verben f¨ur homogene Aktivit¨aten (−CH act). Im Bereich der +CH cos-Verben ist die -ment-Nominalisierung deutlich produktiver als die -age-Nominalisierung. Die -ment-Nominalisierungen bezeichnen u¨ berwiegend resultierende Zust¨ande, wobei sie wie Partizipien des dritten Status bei unzureichendem Kontext zwischen einer inchoativen und einer passivischen Lesart ambig sind. Zu einem geringen Teil nehmen die Nominalisierungen auf passivische Ereignisse Bezug oder bezeichnen Gradsequenzen. Die -age-Nominal sind deutlich weniger frequent und bezeichnen ausschließlich kausative Ereignisse aus der aktivischen Perspektive. W¨ahrend die Verteilung im kausativen Bereich sowie die u¨ berwiegende Resultativit¨at inchoativer -mentNominalisierungen direkt aus der abstrakten Bedeutung der Suffixe folgt, ergibt sich die Rarit¨at von inchoativen -age-Nominalisierungen aus dem Umstand, dass auf die inh¨arent resultativen reinen Zustandswechsel-Ereignisse selten unter Topikalisierung des Geschehnistr¨agers Bezug genommen wird. Dass es sich hierbei um keine semantische Restriktion handelt, zeigen die systematisch vorkommenden Abweichungen. Das heißt, obwohl die -ment-Nominalisierung aufgrund der inh¨arenten Resultativit¨at der inchoativen +CH cos-Verben in diesem Bereich das “dominante” Ableitungsverfahren ist, sind -age-Nominalisierungen in diesem Kontext keinesfalls kategorisch ausgeschlossen, sondern werden im Gegenteil immer dann verwendet, wenn das Ereignis aus einer aktivisch-prozessualen Perspektive dargestellt bzw. die Ereignisteilhabe des Geschehnistr¨agers zum Thema des Diskurses gemacht werden soll. Diese Generalisierung wird durch die Ergebnisse in den u¨ brigen +CHKlassen weiter best¨atigt. Beispielsweise zeigte die Korpusuntersuchung f¨ur den Bereich der +CH inch-Verben, dass sich -age-Nominalisierungen genau in den Kontexten finden lassen, in welchen die zielgerichtete Bewegung an sich und somit die Ereignisteilhabe des Geschehnistr¨agers gegen¨uber dem Ziel der Bewegung im Mittelpunkt des Diskurses steht. Im +CH asp-Bereich wurde auf den Kontrast zwischen dem mutmaßlich aktivischen d´emarrage (‘Start’) und dem re-

284 sultativen und nicht-aktivischen commencement (‘Beginn’) hingewiesen, und im Bereich der +CH ba-Verben war auff¨allig, dass im Korpus haupts¨achlich -ageNominalisierungen von sogenannten “grooming verbs” (Kemmer 1993) existieren (z.B. lavage ‘Waschen’, maquillage ‘Schminke(n)’ etc.), wobei sich die durch diese Verben bezeichneten Ereigniskonzepte nach Kemmers Einsch¨atzung durch eine verh¨altnism¨aßig hohe Distingierbarkeit der Prozesskomponente von der resultativen Komponente auszeichnen, und sich somit f¨ur eine Darstellung unter Topikalisierung des Geschehnistr¨agers um Einiges eher anbieten als z.B. die inh¨arent resultativen “non translational motion”-Verben (ntm-Verben, ebd.) bzw. -Ereigniskonzepte. Gleichzeitig zeigen die Sprachdaten allerdings, dass erstens durchaus auch ntm-Verben mittels -age abgeleitet werden und dass dies zweitens immer dann geschieht, wenn insbesondere die Prozesskomponente thematisiert werden soll. Vor allem im Hinblick auf die marginalen Beispiele wurde in der vorliegenden Arbeit geschlussfolgert, dass das vorherrschende Prinzip bei der Ableitung der entsprechenden Nominalisierungen nicht deren Analogie zu bereits bestehenden Derivaten sein kann, d.h. dass die Sprecher bei der Bildung von -ment- und -age-Nominalisierungen offensichtlich nicht durch das Bestreben geleitet sind, analog zu bestimmten generell u¨ blichen Mustern zu verfahren, sondern dass die durch die regelhaften Ableitungsverfahren bereitgestellten Perspektivierungsoptionen je nach Derivationsbasis und Perspektivierungsbed¨urfnissen flexibel zur Versprachlichung der intendierten Inhalte eingesetzt werden. Diese Hypothese best¨atigte sich insbesondere auch im Bereich der −CHVerben, welche sich neben dem weitestgehenden Fehlen einer resultativen Komponente vor allem durch die mehr oder weniger geringe Salienz etwaiger Geschehnisbetroffener auszeichnen. So bezeichnen -age-Nominalisierungen im Bereich der −CH act-Verben beispielsweise generell prozessual-aktivische Ereignisse, w¨ahrend die Interpretation der -ment-Nominalisierungen von der Salienz des vom Basisereignis “betroffenen” Partizipanten abh¨angt. W¨ahrend Ereigniskonzepte mit salienten geschehnisbetroffenen Partizipanten durch die -mentNominalisierung eine passivische Perspektivierung erfahren, f¨uhrt die -mentAbleitung im Fall von intransitiv-homogenen Verben wie agir (‘handeln’) und von niedrig transitiven Verben wie accompagner (‘begleiten’) lediglich zu einer nicht-prozessualen Partizipanten-unabh¨angigen Gegebenheitsperspektivierung, die auf eine bloße Enttopikalisierung des Geschehnistr¨agers zur¨uckzuf¨uhren ist; dies entweder weil kein Geschehnisbetroffener konzeptualisierbar ist (wie im Fall von agissement ‘Handlungsweise, Art zu agieren’), oder weil es nicht sinnvoll bzw. semantisch-pragmatisch nicht angemessen ist, die dem Geschehnisbetroffenen zugewiesene Resultatszustandseigenschaft als solche, d.h. als Eigenschaft des Geschehnisbetroffenen zu reifizieren (wie im Fall von accompagnement ‘Begleitung’ u.a.). Die Folge ist, dass -ment in diesen F¨allen nicht die Resultatszustandseigenschaft des Geschehnisbetroffenen, sondern gewissermaßen die Resultatszustandseigenschaft der Situation an sich reifiziert.

285 Ganz a¨ hnlich zeichnen sich auch die wenigen eventiv interpretierten -mentNomina von Verben f¨ur Aktivit¨aten mit Emission als Beiprodukt wie aboyer (‘bellen’) und von reinen Emissionsverben wie bruire (‘rauschen’ u.a.) durch die f¨ur niedrig transitive -ment-Nominalisierungen von −CH act-Verben typische Referenz aus nicht-prozessualer Gegebenheitsperspektive aus, da der einzige Partizipant der entsprechenden Basisereignisse nicht als Geschehnisbetroffener konzeptualisiert werden kann. Mehrheitlich bezeichnen die -ment-Nomina in diesem Bereich aber die durch den Emissionsprozess emittierten Emissionsprodukte, da es sich bei dem Emissionsprodukt um eine saliente resultative Komponente von Emissionsereignissen handelt und da auf den Emissionsprozess selbst im Franz¨osischen offensichtlich u¨ berwiegend mit Hilfe von Konstruktionen des Typs ‘Emissionsverb + -ment-Nominalisierung’ Bezug genommen wird. -ageNominalisierungen werden im Emissionsbereich selten abgeleitet. Die wenigen in diesem Bereich attestierten -age-Nominalisierungen stellen das Basisereignis jedoch gem¨aß den Vorhersagen des hier entwickelten Ansatzes im Gegensatz zu den -ment-Nominalisierungen ausnahmslos aus einer aktivisch-prozessualen Perspektive d.h. unter Topikalisierung des Geschehnistr¨agers dar. Zusammen mit der Tatsache, dass die -ment-Nomina mit u¨ berwiegender Mehrheit auf Emissionsprodukte Bezug nehmen, w¨ahrend die wenigen -age-Nomina systematisch auf Emissionsprozesse referieren, deutet die Pr¨adominanz von -ment in diesem Bereich darauf hin, dass auf die entsprechenden Ereignisse generell vorwiegend aus der im obigen Sinne resultativen Perspektive heraus Bezug genommen wird. Auf der Basis dieser Daten wurde argumentiert, dass sich auch die im Korpus attestierten −CH-Nominalisierungen problemlos in den im Vorwege entwickelten moderat-emergentistischen Analyseansatz integrieren lassen, wohingegen der von L¨udtke (1978) und anderen vorgeschlagene analogiebasierte Ansatz mit der Frage konfrontiert w¨are, weshalb beispielsweise im Emissionsbereich u¨ berhaupt Verben mit -age abgeleitet werden, obwohl das u¨ bliche Verfahren -ment ist. Die Begr¨undung f¨ur die Tatsache, dass f¨ur gew¨ohnlich nur -age, und nicht -ment, neben deverbalen auch denominale Derivate ableitet, wurde schließlich in dem Umstand gesehen, dass die im Zuge der -age-Nominalisierung vollzogene bloße Eigenschaftsreifizierung auch im denominalen Bereich zur Ableitung von Derivaten dienen kann, die auf die vom Basispr¨adikat an Individuen zugewiesene Eigenschaft Bezug nehmen, ohne die entsprechenden Individuen selbst, d.h. die Extension des Pr¨adikats miteinzubeziehen. Demgegen¨uber sind nominale Pr¨adikate mit der durch -ment eingef¨uhrten perspektivischen Verschiebung f¨ur gew¨ohnlich nicht kompatibel, da es kaum Konzepte gibt, die mittels eines derart abgeleiteten nominalen Pr¨adikats versprachlicht werden k¨onnten (vgl. jedoch die Hinweise zu pi`etement ‘Gesamtheit der F¨uße und Querstreben eines M¨obelst¨ucks’, in Kapitel 4.4). Es konnte somit gezeigt werden, dass sich alle im Korpus attestierten Kontraste zwischen -ment- und -age-Nominalisierungen koh¨arent auf den im Vorwege

286 entwickelten Analyseansatz zur¨uckf¨uhren lassen, wobei sowohl die Tendenzhaftigkeit der Kontraste als auch die marginalen Ableitungen als eine nat¨urliche Folge der u¨ berschreibbaren Perspektivierungspr¨adestinationen der jeweiligen Basisverben bzw. -ereignisse dargestellt werden konnten. Insbesondere die marginalen Sprachdaten w¨aren in einem analogiebasierten Ansatz nach der Art von L¨udtke (1978) und anderen kaum analysierbar, da sie darauf hindeuten, dass die Sprecher neue Derivate offensichtlich nicht immer in konkreter Analogie zu bestehenden Nominalisierungen ableiten bzw. dass die Ableitung neuer -mentund -age-Nominalisierungen offensichtlich nicht durch das Bestreben determiniert wird, die Derivate in gr¨oßtm¨oglicher Analogie zu bestehenden Ableitungen zu bilden. Insbesondere die marginalen F¨alle weisen also darauf hin, dass die Bildung von deverbalen -ment- und -age-Nominalisierungen auf einer abstraktkreativen Wortbildungskompetenz beruht, welche es den Sprechern erm¨oglicht, die durch die regelhaften Verfahren bereitgestellten Optionen der Ereignisperspektivierung je nach Basisereignis und Perspektivierungsanforderungen flexibel zur Versprachlichung der intendierten Inhalte einzusetzen. Das grundlegende Ergebnis der synchronen empirischen Untersuchung ist also, dass nicht nur der im Vorwege entwickelte Ansatz zur semantischen Analyse der neufranz¨osischen -ment- und -age-Nominalisierung, sondern auch das eingangs elaborierte moderat-emergentistische Modell durch die untersuchten Sprachdaten eine eindeutige Best¨atigung erfahren. (6)

Ergebnis der synchronen Untersuchung Alle untersuchten Kontraste zwischen -ment- und -age-Nominalisierungen lassen sich koh¨arent auf den im Vorwege entwickelten Analyseansatz zur¨uckf¨uhren. Sowohl die Tendenzhaftigkeit der Kontraste als auch die “Ausnahmen” sind eine nat¨urliche Folge der u¨ berschreibbaren Perspektivierungspr¨adestinationen der jeweiligen Basisverben bzw. -ereignisse. Die Bildung von deverbalen -ment- und -age-Nominalisierungen beruht offensichtlich auf einer abstrakt-kreativen Wortbildungskompetenz, welche es den Sprechern erm¨oglicht, die durch die regelhaften Verfahren bereitgestellten Optionen der Ereignisperspektivierung flexibel zur Versprachlichung der intendierten Inhalte einzusetzen.

Um die oben vorgestellte Bedeutungsanalyse der -ment- und -age-Nominalisierung sowie das moderat-emergentistische Modell durch unabh¨angige Evidenzen zu bekr¨aftigen, wurde schließlich auch die diachrone Entwicklung der beiden Suffixe in die Analyse miteinbezogen. F¨ur die -age-Suffigierung wurde argumentiert, dass sie durch eine Reanalyse substantivierter lateinischer Relationsadjektive auf -aticu entstanden ist, wobei -aticu in der urspr¨unglichen Konstruktion N1 N2 -aticu die Funktion hatte, die Relation zwischen dem Kopfnomen (N1 ) und dem Basisnomen (N2 ) explizit zu machen. Genauer gesagt wurde argumentiert, dass die Reanalyse der -aticu-Derivate durch die massive Form-Funktion-Diskrepanz motiviert worden ist, welche sich aus der systema-

287 tischen semantischen Inkorporation des Kopfnomens ergeben hatte, denn diese hatte dazu gef¨uhrt, dass einerseits das Suffix gewissermaßen funktionslos geworden war und dass andererseits die gesamte derivierte Struktur mit dem inkorporierten Kopfnomen eine u¨ bersch¨ussige semantische Komponente besaß. Diese Form-Funktion-Diskrepanz wurde aufgel¨ost, indem das funktionslose Suffix mit der u¨ bersch¨ussigen semantischen Komponente, d.h. mit demjenigen semantischen Merkmal assoziiert wurde, welches als der kleinste semantische Nenner der Gesamtheit der inkoporierten Kopfnomina angesehen werden konnte. Da durch relationale Adjektive spezifizierte nominale Pr¨adikate die Gemeinsamkeit haben, auf Arten Bezug zu nehmen (vgl. McNally & Boleda (2004) bzw. Kapitel 5.1.2 der vorliegenden Arbeit), handelt es sich bei dem kleinsten gemeinsamen semantischen Nenner der semantisch inkorporierten Kopfnomina der -aticu-Substantivierungen um eine abstrakte “Art-Bedeutung”. Der moderatemergentistische Ansatz stellte sich dabei als ein a¨ ußerst geeignetes Modell heraus, um den hypothetischen kognitiven Reanalyseprozess auf plausible Weise mit der Ver¨anderung im Sprachgebrauch in Verbindung zu bringen. So konnte die oben angesprochene Reanalyse in der vorliegenden Arbeit darauf zur¨uckgef¨uhrt werden, dass sich die neue Funktion bzw. Bedeutung der -aticu/ageSuffigierung aus der massiven Kookkurrenz des funktionslosen Suffixes mit der u¨ bersch¨ussigen, “formlosen” semantischen Komponente gewissermaßen automatisch einstellte, wobei sich das Suffix sp¨atestens im 19. Jahrhundert aufgrund der hohen Frequenz und Transparenz des Ableitungsmusters ebenso automatisch zu einem allgemein g¨ultigen, regelhaften Ableitungsverfahren entwickelte. In Anbetracht der Tatsache, dass die Bildung von Artentermen, wie z.B. Wale in Wale sind S¨augetiere, nach Chierchia (1988; 1998) ebenfalls auf der Reifizierung der von den Basispr¨adikaten an Individuen zugewiesenen Eigenschaften beruht, konnte die diachrone Entwicklung des Suffixes dar¨uber hinaus direkt mit dessen neufranz¨osischer Entsprechung in Verbindung gebracht werden, welche bereits im Vorwege aus unabh¨angigen Gr¨unden als in Chierchias (1988; 1998) Sinne arten- bzw. ereignistypenbildend analysiert worden ist (s.o.). Das heißt, es wurde argumentiert, dass es sich bei der alt- und der neufranz¨osischen -age-Suffigierung gleichermaßen um ein Verfahren zur Reifizierung der vom Basispr¨adikat an Individuen zugeschriebenen Eigenschaften handelt, wobei der Wechsel von vornehmlich nominalen Basen im Altfranz¨osischen zu vornehmlich verbalen Basispr¨adikaten im Neufranz¨osischen a¨ hnlich wie in Fleischman (1980) auf semantisch-pragmatische Kriterien der Konzeptversprachlichung bzw. letztlich auf gesellschaftliche Ver¨anderungen zur¨uckgef¨uhrt wurde. So ist f¨ur die beschriebene Entwicklung zum einen entscheidend, dass der Bedarf an prozessual-aktivischen Ereignisnominalisierungen im Zuge der Industrialisierung in Frankreich ab dem 19. Jahrhundert drastisch anstieg (vgl. Fleischman 1980). Zum anderen wurde in Betracht gezogen, dass die Infinitivnominalisierung, die semantisch gesehen wahrscheinlich

288 ebenfalls f¨ur die Bildung der entsprechenden Derivate geeignet gewesen w¨are, im 19. Jahrhundert aus bisher nicht gekl¨arten Gr¨unden im Franz¨osischen nicht mehr verf¨ugbar war. Vor diesem Hintergrund wurde erwogen, dass die -ageSuffigierung gewissermaßen als Ersatz f¨ur den nominalisierten Infinitiv zur Versprachlichung der neuen technischen Konzepte herangezogen worden sein k¨onnte, da auch die -age-Nominalisierung aufgrund ihrer spezifischen diachronen Entwicklung prozessual-aktivische Ereignisnominalisierungen ableitet. Was die im Alt- und Neufranz¨osischen gleichermaßen marginalen kollektiven -ageDerivate anbelangt, wurde offen gelassen, ob es sich um sporadische Analogiebildungen, um systematische metonymisch-metaphorische Bedeutungsverschiebungen oder um beides handelt. Ungeachtet ihres Zustandekommens wurden diese Derivate als eine wenig typische Randkategorie des Derivationsmusters eingestuft, die aber mit der “typischen” abstrakten Bedeutung des Ableitungsverfahrens u¨ ber komplexe Similarit¨ats- und Kontiguit¨atsrelationen in Verbindung steht. Das Ergebnis der diachronen Untersuchung von -age ist demnach, dass sich die abstrakte Bedeutung des Suffixes bis auf die Reanalyse der lateinischen -aticu-Substantivierungen diachron nicht ver¨andert hat, wobei auch der letztere Wandel lediglich die automatische Aufl¨osung einer massiven gebrauchsinduzierten Form-Funktion-Diskrepanz im Input der Sprecher darstellt. (7)

Diachronie von -age Die -age-Suffigierung entwickelte sich durch die Aufl¨osung der Form-Funktion-Diskrepanz substantivierter artenbezogener relationaler -aticu-Adjektive, indem das funktionslose Suffix mit dem kleinsten gemeinsamen semantischen Nenner der semantisch inkorporierten Kopfnomina, d.h. dem Artenbezug, assoziiert wurde. Aus der Perspektive des moderat-emergentistischen Modells ergab sich diese Reorganisation automatisch aus dem ver¨anderten, weil substantivierten Gebrauch der -aticu-Adjektive. Abgesehen von dieser strukturellen Reorganisation hat sich die Bedeutung des Verfahrens seit der Substantivierung der relationalen -aticu-Adjektive nicht ver¨andert.

Was die Diachronie von -ment anbelangt, konnte zun¨achst empirisch nachgewiesen werden, dass sich die altfranz¨osischen -ment-Nominalisierungen weitestgehend wie ihre neufranz¨osischen Entsprechungen verhalten, wobei gleichzeitig ¨ darauf hingewiesen wurde, dass die Korpusdaten stark auf eine Uberschneidung der Bezeichnungsbereiche des altfranz¨osischen -ment mit denjenigen der aus lat. -(at)us hervorgegangenen -´e/´ee-Ableitung (vgl. afrz. venement ‘Ankunft’, vollement ‘Flug’ etc.) einerseits und der von der lateinischen -(at)io-Derivation stammenden -(at)ion/(ai)son-Ableitung (vgl. espurgement ‘L¨auterung’, glorif¨ıement ‘Lobpreisung’ etc.) andererseits hindeuten. Weiterhin wurde auf die in der Literatur des 19. und fr¨uhen 20. Jahrhunderts ge¨außerte Hypothese hingewiesen, dass sich der lateinische Vorl¨aufer -mentum unter anderem aus der indogermanischen *-to-Ableitung zusammensetzt, die sich ebenfalls durch einen resultati-

289 ven Charakter auszeichnet. Vor dem Hintergrund der moderat-emergentistischen Ausrichtung und unter Verweis auf Roßdeutschers (2000) Analyse der deutschen Partizipialmorphologie wurde argumentiert, dass das indogermanische *-to in allen mutmaßlich mit dieser Form in Verbindung zu bringenden Ableitungsverfahren, d.h. unter anderem auch frz. -´e/´ee und -(at)ion, dieselbe resultative Bedeutungskomponente einf¨uhrt und dass sich die Unterschiede zwischen den Verfahren aus der unterschiedlichen Bedeutung der kookkurrierenden Wortbildungseinheiten etc. ergeben. ¨ Im Zusammenhang mit der durch die Korpusdaten nahegelegten Uberschneidung der Bezeichnungsbereiche des altfranz¨osischen -ment mit denjenigen der -´e/´ee- und der -(at)ion/(ai)son-Ableitung wurde die Forschungshypothese entwickelt, dass der Verwendungsbereich der -ment-Nominalisierung auf die Bereiche der letzteren beiden Ableitungsverfahren ausgeweitet wurde, da diese aus unabh¨angigen Gr¨unden im Altfranz¨osischen nicht zur Nominalisierung von Ereignispr¨adikaten herangezogen wurden. Genauer gesagt wurde vermutet, dass die -´e/´ee-Ableitung aufgrund der Homonymie der Derivate mit den substantivierten Partizipien nicht weitergef¨uhrt wurde, w¨ahrend die -(at)ionNominalisierung aufgrund ihres hochsprachlichen Charakters vor der Relatinisierung im Franz¨osischen gar nicht, d.h. auch nicht in ihrer lautgesetzlichen Weiterentwicklung zu -(ai)son, existent war. Zumindest f¨ur die -(at)ion/(ai)sonNominalisierung konnte deren Nichtexistenz als produktives Ableitungsverfahren im Altfranz¨osischen und in weiten Bereichen des Neufranz¨osischen durch Korpusstudien nachgewiesen werden. Dabei wurde betont, dass die drei Ableitungsverfahren dennoch nicht zwangsl¨aufig synonym (gewesen) sein m¨ussen. Vielmehr wurde daf¨ur argumentiert, dass die -ment-Nominalisierung die oben genannte Funktion lediglich aufgrund ihrer semantischen N¨ahe zu den beiden anderen ebenfalls resultativen Ableitungsverfahren erf¨ullen konnte, wobei erwogen wurde, dass die mutmaßliche Hinzuziehung der -ment-Nominalisierung zur Kompensation der “fehlenden” -´e/´ee- und -(at)ion/(ai)son-Ableitungen zu einer Reorganisation des Spektrums resultativer Nominalisierungssuffixe gef¨uhrt hat. Die genaue Relation zwischen den verschiedenen resultativen Ableitungsverfahren sowie die mutmaßlich durch den Einfluss von -mentum/ment bewirkte paradigmatische Reorganisation konnten in der vorliegenden Arbeit nicht umfassend ermittelt werden. Hierzu wurde auf die zuk¨unftige Forschung verwiesen (vgl. dazu auch Abschnitt 6.2). Ungeachtet dessen wurden in der Tatsache, dass auch lat. -mentum in der entsprechenden Literatur als resultativ klassifiziert wird, und in dem Umstand, dass sowohl lat. -mentum als auch die -ment in verschiedener Hinsicht nahen Ableitungsverfahren auf -´e/´ee und -(at)ion in der einschl¨agigen Literatur diachron auf das indogermanische *-to-Formativ zur¨uckgef¨uhrt werden, weitere Indizien f¨ur die Hypothese gesehen, dass die franz¨osische -ment-Nominalisierung letztlich ebenfalls mit der indogermanischen *-to-Form in Verbindung zu bringen ist. Diese (vorl¨aufige) Analyse legt

290 nahe, dass sich auch die abstrakten Bedeutungsbestandteile der franz¨osischen -ment-Suffigierung durch eine extrem hohe diachrone Stabilit¨at auszeichnen. (8)

Diachronie von -ment Franz¨osisch -ment ist wie lat. -mentum seit jeher ein resultatives Nominalisierungssuffix. Die Erweiterung des Verwendungsbereichs der altfranz¨osischen -ment-Nomina auf Bereiche der -´e/´ee- und der -(at)ionbzw. (ai)son-Ableitung wird durch die semantische N¨ahe der Suffixe erm¨oglicht. Alle drei resultativen Ableitungsverfahren sind vermutlich mit dem ebenfalls resultativen indogermanischen *-to-Formativ in Verbindung zu bringen. Auch die -ment-Suffigierung zeichnet sich also mit großer Wahrscheinlichkeit durch die hohe diachrone Stabilit¨at ihrer abstrakten Bedeutungskomponenten aus.

Durch die diachrone Untersuchung konnte der in den Kapiteln 2 bis 4 entwickelte Ansatz zur Bedeutungsanalyse von -ment und -age im Speziellen und von Derivationsaffixen im Allgemeinen in verschiedener Hinsicht best¨atigt werden. So stellt die diachrone Untersuchung erstens eine weitere Evidenz f¨ur die synchrone Bedeutungsanalyse der beiden Suffixe dar, nach welcher -age zur bloßen Reifizierung der von den Basispr¨adikaten an Individuen zugewiesenen Eigenschaften herangezogen wird, w¨ahrend -ment die Resultatszustandseigenschaft des Geschehnisbetroffenen reifiziert und daher Resultatszustandsbezeichnungen u.¨a. ableitet. -Age reiht sich in das Paradigma nicht-resultativer Suffixe ein, ohne jedoch eine imperfektivische Perspektive einzuf¨uhren, da das Suffix durch seine spezifische Entwicklungsgeschichte eine bloße Reifizierung der durch die Basispr¨adikate zugewiesenen Eigenschaften bewirkt. -Ment u¨ berlappt dagegen als typisch resultatives Suffix mit -´e/´ee und -(at)ion, wobei die historischen Quellen nahelegen, dass dieser Umstand von einer genetischen Verbindung zwischen den drei Nominalisierungsverfahren und der ebenfalls resultativen indogermanischen *-to-Ableitung herr¨uhrt. Zweitens hat die diachrone Analyse durch ihre hohe Koh¨arenz in Bezug auf die veranschlagten Sprachwandelprozesse auch eine gewisse kognitive Plausibilit¨at, welche die gelegentlich in der Literatur ad hoc angenommenen Diskontinuit¨aten im Zusammenhang mit -ment und -age nicht unbedingt aufweisen. So konnten die synchronen Eigenschaften der -age-Suffigierung hier genauso darauf zur¨uckgef¨uhrt werden, dass das Ableitungsverfahren auf der Basis einer strukturellen Reorganisation substantivierter artenbezogener Relationsadjektive entstanden ist, wie die synchronen Eigenschaften der -mentNominalisierung diachron auf dessen mutmaßliche Verwandtschaft mit der indogermanischen *-to-Ableitung zur¨uckgef¨uhrt werden konnten. Das Ergebnis der diachronen Analyse l¨asst sich also ohne zus¨atzliche Annahmen in eine moderatemergentistische Konzeption des Sprachwandels eingliedern, nach welcher sich die derivationsmorphologische Kompetenz der Sprecher auf der Basis morphosemantisch transparenter und frequenter Form-Funktion-Kookkurrenzen im In-

291 put entwickelt. Unter Einbeziehung der semantisch-pragmatischen Angemessenheitsbedingung ist dieses unabh¨angige Prinzip v¨ollig ausreichend, um die Diachronie der -age- und -ment-Suffigierung umfassend nachzuvollziehen. Insbesondere widerlegt der Blick auf die diachrone Entwicklung der Ableitungsverahren drittens auch die in der Literatur ge¨außerte Vorstellung, dass sich -ment und -age als bedeutungsgleiche Suffixe erst im Laufe der Zeit durch Dublettendifferenzierung oder Festigung von Bezeichnungsgruppen auseinanderentwickelten, denn vor dem Hintergrund der komplett divergierenden Entstehungsgeschichten von -ment und -age ist es a¨ ußerst abwegig, dass die Suffixe jemals bedeutungsgleich waren. Insbesondere im Zusammenhang mit der age-Suffigierung zeigt die diachrone Untersuchung zudem deutlich, dass sich die Verwendung des Suffixes diachron gesehen nicht nach den Bezeichnungsdom¨anen der Referenten der Nominalisierungen richtet, sondern dass sich im Gegenteil die Bezeichnungsdom¨anen je nach der abstrakten Bedeutung des Suffixes ausbilden. Dies wird bereits aus dem bloßen Umstand deutlich, dass die abstrakte Bedeutung von -age bereits vor den f¨ur die heutigen -age-Nomina charakteristischen Bezeichnungsgruppen attestiert werden konnte. Viertens konnte mit Hilfe der diachronen Untersuchung gezeigt werden, dass die abstrakten Bedeutungsmerkmale der Suffixe bzw. Suffixbestandteile als konstitutive Elemente der Ableitungsverfahren nicht nur den Rahmen f¨ur die synchrone Verwendung der jeweiligen Derivate vorgeben, sondern auch die semantische Verbindung zwischen den diachronen Entsprechungen eines Ableitungsverfahrens in den verschiedenen miteinander verwandten Sprachen darstellen. Die diachrone Konsistenz der Suffixe ist eine deutliche Best¨atigung f¨ur die von Lieber (2004) aufgestellte und hier in das moderat-emergentistische Modell u¨ bertragene Generalisierung, dass die mit den Derivationsaffixen assoziierten abstrakten Bedeutungsmerkmale denjenigen Teil komplexer Lexeme darstellen, der diachron die h¨ochste Stabilit¨at besitzt. Die große Diskrepanz zwischen der hohen diachronen Stabilit¨at der abstrakten Bedeutungsmerkmale der Derivationsaffixe einerseits und den zahlreichen Bedeutungsver¨anderungen auf der Ebene komplexer Derivate andererseits stellt schließlich auch eine weitere Bekr¨aftigung f¨ur die Hypothese der dualen Stratifizierung bzw. f¨ur das moderatemergentistische Modell an sich dar. (9)

Ergebnis der diachronen Untersuchung Die diachrone Untersuchung best¨atigt die synchrone Bedeutungsanalyse von -ment und -age und die mono-semantische Herangehensweise. Die Ergebnisse lassen sich ohne Zusatzannahmen in das moderatemergentistische Modell eingliedern, was sowohl der diachronen Analyse als auch dem moderat-emergentistischen Modell eine gewisse kognitive Plausibilit¨at verleiht. Auch im Hinblick auf seine duale Stratifizierungshypothese erf¨ahrt das moderat-emergentistische Modell durch die diachronen Evidenzen eine unabh¨angige Best¨atigung.

292 Insgesamt gesehen besteht die Attraktivit¨at der in der vorliegenden Arbeit entwickelten Analyse in der Konsistenz zwischen den morphologietheoretischen Ausf¨uhrungen in Kapitel 2, der Bedeutungsanalyse der neufranz¨osischen -mentund -age-Nominalisierung in Kapitel 3 und den synchronen und diachronen empirischen Untersuchungen in den Kapiteln 4 und 5. Wie in Kapitel 2.3 erl¨autert kann die hohe Koh¨arenz der Datenbeschreibung allgemein als ein Indiz f¨ur die Stichhaltigkeit der moderat-emergentistischen Modellierung von Derivationsaffixen gewertet werden.

6.2

Offene Fragen und Desiderata

Es ist allerdings offensichtlich, dass sowohl auf der Ebene der suffixalen Untersuchung als auch auf der Ebene der morphologietheoretischen Er¨oterungen eine Reihe an Fragen offen gelassen werden mussten bzw. neue Fragen aufgeworfen wurden. Wie bereits in Kapitel 4.1.4 erl¨autert war beispielsweise der Umfang der empirischen Untersuchung der -ment- und -age-Suffigierung aus Kapazit¨ats- und Effizienzgr¨unden notwendigerweise begrenzt. Es w¨are mit Sicherheit lohnenswert, die hier vorgeschlagene Analyse durch eine detaillierte Untersuchung von Nominalisierungen aus weiteren Unterklassen zu u¨ berpr¨ufen. Insbesondere k¨onnten in diesem Zusammenhang die Nominalisierungen von stativischen Basisverben wie fonctionnement (‘Betrieb’) oder ratage (‘Scheitern’) weiteren Aufschluss u¨ ber die Interaktion von Basis- und Affixbedeutung liefern. F¨ur die oben genannten Nominalisierungen w¨are die Voraussage beispielsweise, dass beide Suffixe die Ereignisbezeichnungen in unterschiedlicher Weise dynamisieren, wobei auch hier -age eine Topikalisierung des Geschehnistr¨agers implizieren wird (ratage als Prozess des Scheiterns), wohingegen -ment mit aller Wahrscheinlichkeit eine nicht-prozessuale Perspektive einf¨uhrt, sodass die entsprechende Konstruktion eine Gegebenheitslesart aufweist. Im Hinblick auf die Ausf¨uhrungen in Kapitel 4.3.3 w¨are dabei zu erwarten, dass Nominalisierungen wie fonctionnement a¨ hnlich wie agissement aus diesem Grund f¨ur gew¨ohnlich auf die Art und Weise Bezug nehmen, in welcher das Basisereignis sich vollzieht bzw. vollzogen wird. Ein erstes Desiderat der vorliegenden Arbeit ist also die Erweiterung der empirischen Untersuchung synchroner -age- und -mentNominalisierungen auf weitere Basisverbklassen. Wie ebenfalls bereits in Kapitel 4.1.4 erl¨autert mussten aus der empirischen Untersuchung der synchronen -ment- und -age-Nominalisierungen zwei weitere interessante Aspekte ausgeklammert werden. So wurden erstens die verschiedenen metonymisch entstandenen Resultatslesarten nur in die Analyse einbezogen, wenn sie direkt auf den zentralen Kontrast zwischen der -ment- und der -age-

293 Nominalisierung zur¨uckzuf¨uhren waren, dass -age vornehmlich Ereigniseigenschaften von Geschehnistr¨agern, -ment dagegen Resultatszustandseigenschaften von Geschehnisbetroffenen reifiziert (vgl. z.B. die Er¨orterung im Zusammenhang mit den Emissionsprozess- versus -produktlesarten in den Kapiteln 4.3.1 und 4.3.2). Der Grund f¨ur diese Einschr¨ankung im Bereich der Resultatslesarten ist, dass die Ausbildung der hier angesprochenen Resultatslesarten auf einer komplexen Interaktion zwischen der Bedeutung der Basisverben, der Bedeutung der Suffixe und individuellen semantisch-pragmatischen sowie situativen Kriterien der Konzeptversprachlichung basiert. Damit ist nicht gesagt, dass die Bedeutung der Suffixe auf der Basis der Resultatslesarten nicht ermittelt werden k¨onnte. Allerdings ist zu beachten, dass es sich bei der metonymischen Uminterpretation der sprachlichen Einheiten um einen komplexen kognitiven Prozess handelt, bei welchem je nach den individuellen Bed¨urfnissen und/oder situativen Erfordernissen der Konzeptversprachlichung kreativ auf die Wortbildungsstruktur eingewirkt wird (vgl. als ein Beispiel erneut die Etymologie von mouillage nach den Editionen eins bis acht des Acad´emie-W¨orterbuchs in Kapitel 4.1.2 sowie die entsprechenden Erl¨auterungen in Kapitel 4.1.4). Ein weiteres Desiderat der vorliegenden Arbeit ist somit die Verbindung der hier vorgeschlagenen Bedeutungsanalyse von -ment und -age bzw. von Nominalisierungssuffixen im Allgemeinen mit einer elaborierten Theorie zur Ausbildung von nicht-eventiven Lesarten, welche sowohl die Erkenntnisse aus Melloni (2007) als auch die Rolle der pragmatisch-situativen Faktoren bei der Wortbildung ber¨ucksichtigt. Der weitere in Kapitel 4.1.4 aus der Untersuchung ausgeklammerte Aspekt betrifft die pr¨apositional eingeleiteten Komplemente von Ereignisnominalisierungen. An entsprechender Stelle wurden als Gr¨unde f¨ur die Ausklammerung die Trivialit¨at der Evidenz bei eindeutiger Interpretation (wie z.B. in le rougeoiement de la braise ‘die R¨ote der Glut’), die Komplexit¨at der PPKomplementierung und die damit verbundenen Schwierigkeiten bei der Analyse uneindeutiger Komplemente (vgl. z.B. le froncement des sourcils ‘das Stirnrunzeln’) sowie die thematische Ausrichtung der vorliegenden Arbeit angef¨uhrt. Wie ebenfalls bereits in Kapitel 4.1.4 betont w¨are eine Einbeziehung der PPKomplemente vor allem f¨ur Fragen der aspektuellen oder informationsstrukturellen Komposition auf der Ebene der Nominalphrasen und/oder auf der Satzebene interessant. Der hier entwickelte kompositionelle Ansatz w¨urde sich zwar insbesondere auch f¨ur eine Analyse der Aspektkomposition und Informationsstruktur gr¨oßerer Struktureinheiten anbieten. Indem in der vorliegenden Arbeit die abstrakte Bedeutung zweier franz¨osischer Nominalisierungssuffixe im Detail untersucht wurde, wurde zudem bereits eine gewisse Vorarbeit f¨ur eine solche Untersuchung geliefert. Dennoch konnte die Thematik hier nicht auf diese h¨ochst komplexen Themen ausgeweitet werden (vgl. f¨ur diesbez¨ugliche Vorschl¨age Heinold 2010). Ein drittes Desiderat der vorliegenden Arbeit ist also die Verkn¨upfung der hier vorgeschlagenen streng kompositionellen Bedeutungsana-

294 lyse von -ment und -age bzw. von Nominalisierungssuffixen im Allgemeinen mit Arbeiten zur Aspektkomposition und zur Informationsstruktur auf der phrasalen und/oder auf der Satzebene. Einen anderen Themenkomplex, der in der vorliegenden Arbeit nicht ersch¨opfend behandelt werden konnte, bilden die paradigmatischen Relationen, welche die hier untersuchten Suffixe mit großer Wahrscheinlichkeit mit bedeutungsverwandten Suffixen unterhalten, sowie deren mutmaßlich damit verbundene gegenseitige diachrone Beeinflussung. Im Zusammenhang mit der -ageSuffigierung wurde zwar darauf hingewiesen, dass deren diachrone Entwicklung bzw. deren Produktivit¨atszuwachs im 19. Jahrhundert durch den auf das 17. Jahrhundert datierten Schwund der Infinitivnominalisierung aus dem Franz¨osischen beg¨unstigt worden sein k¨onnte. Weiterhin wurden verschiedene Indizien geliefert, die auf eine Wechselwirkung zwischen der Produktivit¨at bzw. dem breiten Verwendungsspektrum der -ment-Nominalisierung und der stockenden Entwicklung der lateinischen -(at)io- und -(at)us-Derivationen im Franz¨osischen hindeuten. Wie bereits in Kapitel 5.3 betont sind die in der vorliegenden Arbeit diesbez¨uglich getroffenen Generalisierungen allerdings lediglich als erste Forschungshypothesen zu werten, an welchen sich eine weiterf¨uhrende Besch¨aftigung mit dieser Thematik orientieren k¨onnte. Gesicherte Erkenntnisse u¨ ber die genauen paradigmatischen Relationen der oben angesprochenen Nominalisierungssuffixe k¨onnen, wenn u¨ berhaupt, nur durch eine detaillierte synchrone und diachrone Bedeutungsuntersuchung der entsprechenden Suffixe gewonnen werden, welche den Rahmen der hier vorgenommenen Untersuchung bei Weitem u¨ berschritten h¨atte. Ein viertes Desiderat der vorliegenden Arbeit ist also die Ausweitung der hier entwickelten synchronen und diachronen Bedeutungsanalyse auf diejenigen Suffixe, welche synchron und/oder diachron in enger paradigmatischer Relation zu -ment und -age stehen bzw. gestanden haben. ¨ Weiterhin w¨urde sich die hier unternommene Untersuchung im Ubrigen auch besonders f¨ur komparative Studien anbieten. In diesem Zusammenhang ist zu erwarten, dass das Spektrum der zu versprachlichenden Ereignisperspektivierungen bereits im nominalen Bereich in verschiedenen Sprachen mehr oder weniger unterschiedlich auf verschiedene Verfahren aufgeteilt ist. Vor dem Hintergrund, dass beispielsweise in keiner der weiteren romanischen Sprachen eine mit dem Schwund des franz¨osischen nominalisierten Infinitivs vergleichbare Entwicklung stattgefunden hat, k¨onnte bereits ein innerromanischer Vergleich der entsprechenden Paradigmen f¨ur die Frage nach der gegenseitigen innerparadigmatischen Beeinflussung der Suffixe bzw. Verfahren h¨ochst aufschlussreich sein. Auch ein Vergleich von -ment und -age mit bedeutungsnahen Suffixen anderer Sprachfamilien k¨onnte zu vertieften Erkenntnissen auf diesem Gebiet f¨uhren. Ein derartiger Vergleich w¨urde allerdings eine differenzierte Analyse der abstrakten Bedeutung der entsprechenden Suffixe sowie im Prinzip der gesamten entsprechenden suffixalen Teilparadigmen der zu kontrastierenden Spra-

295 chen voraussetzen, welche in der vorliegenden Arbeit nicht unternommen werden konnte (vgl. f¨ur Vorschl¨age erneut Heinold 2010). Dar¨uber hinaus ist letztlich auch die in Kapitel 2 gebotene morphologietheoretische Er¨orterung prim¨ar als ein Ausgangspunkt f¨ur vertiefte Diskussionen und weiterf¨uhrende Untersuchungen zu verstehen. So wurde bereits an entsprechender Stelle darauf hingewiesen, dass die Frage nach der genauen Relation zwischen assoziativ-deklarativer und prozedural-symbolischer Sprachverarbeitung ein Gegenstand kontinuierlicher kontroverser Diskussionen ist (vgl. hierzu erneut Baayen 2007). In der vorliegenden Arbeit wird zwar die Ansicht vertreten, dass diese Frage mit rein linguistischen Forschungen der hier vorgestellten Art letztlich nicht zu beantworten ist, sondern dass vertiefte Erkenntnisse bez¨uglich dieses Aspekts der Sprachverarbeitung nur durch eine Weiterentwicklung psycho- und neurolinguistischer Forschungsmethoden gewonnen werden k¨onnen. Um die moderat-emergentistische Hypothese weiter zu pr¨ufen, w¨are es dennoch sinnvoll, f¨ur verschiedene Sprachen das Verh¨altnis zwischen morphosemantisch transparenten, der Hypothese nach regelhaft gebildeten Derivaten und weniger oder kaum transparenten Ableitungen unter Einbeziehung der entsprechenden diachronen Entwicklungen vertieft zu untersuchen. Vor dem Hintergrund der Diskussion in Kapitel 2.2.3 l¨age beispielsweise nahe, f¨ur die englische -(at)ion-Nominalisierung zu pr¨ufen, ob es im Neu- oder Mittelenglischen auch genuin englische allomorphe Ableitungen gibt bzw. gegeben hat oder ob diese Derivate, wie hier vermutet wurde, generell als lateinische bzw. franz¨osische Lehnw¨orter zu betrachten sind. Gem¨aß den Ausf¨uhrungen in Kapitel 2.2.4 u.a. ist in diesem Zusammenhang zu erwarten, dass sich die an entsprechender Stelle f¨ur frz. -(at)ion (sowie span. -(ac)i´on) beschriebenen Ergebnisse f¨ur eine Vielzahl a¨ hnlich komplexer Ableitungsmuster reproduzieren lassen. Best¨atigt sich diese Hypothese, w¨urde dies zu der Frage f¨uhren, ob der Status der irregul¨aren Morphologie des allomorphen -(t)ion-Typs unter Einbeziehung der jeweiligen diachronen Gegebenheiten in dem in den Kapiteln 2.2.3 und 2.2.4 erl¨auterten Sinn neu bewertet werden muss (vgl. f¨ur eine a¨ hnliche Hypothese erneut Goldbach 2009). Wie ebenfalls bereits zum Teil in Kapitel 2 deutlich geworden ist gibt es dar¨uber hinaus im Zusammenhang mit dem Ph¨anomen der Derivationsmorphologie noch eine Reihe weiterer grundlegender Fragen, welche keinesfalls als gekl¨art betrachtet werden k¨onnen. Hierunter f¨allt die Kontoverse um eine etwaige separate Wortbildungskomponente bzw. um die Autonomie der Morphologie gegen¨uber der Syntax genauso wie die Frage nach der Existenz und dem Status von rein morphologischen und/oder syntaktischen Wortbildungsrestriktionen. Hinsichtlich dieser und a¨ hnlicher grunds¨atzlicher Fragen konnte die vorliegende Arbeit aufgrund ihrer thematischen Ausrichtung keine definitiven Positionen entwickeln. Ganz ausgeblendet wurde zudem das Verh¨altnis bzw. die etwaige Interaktion von Phonologie und Semantik in der Wortbildung.

296 Eine eindeutige Position wurde hingegen im Hinblick auf die elementare Rolle der Semantik und der Pragmatik bei der Untersuchung von Wortbildungsverfahren vertreten. So ist eines der grunds¨atzlichen Ergebnisse der hier vorgenommenen Untersuchung die Best¨atigung des Primats der Bedeutung in der Derivationsmorphologie. Anhand der franz¨osischen Nominalisierungssuffixe -ment und -age konnte gezeigt werden, dass sich die Sprecher bei der regelhaften Wortbildung in erster Linie nach der abstrakten Bedeutung der Wortbildungseinheiten sowie nach den pragmatischen Bed¨urfnissen und/oder Anforderungen einer angemessenen Konzeptversprachlichung richten. Im Hinblick auf ihre grunds¨atzliche morphologietheoretische Ausrichtung reiht sich die Arbeit damit in das Spektrum derivationsmorphologischer Abhandlungen wie Plag (1999), Lieber (2004) und Trips (2009) ein, in welchen ebenfalls daf¨ur argumentiert wird, dass die verst¨arkte Einbeziehung semantischer Aspekte f¨ur die derivationsmorphologische Forschung einen erheblichen Erkenntnisgewinn zur Folge haben kann.

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Appendix

A

Lexika und Quellen f¨ur das Franz¨osische des 20. Jahrhunderts

A.1 Lexika Petit Robert 2007 Le Nouveau Petit Robert. Diactionnaire Alphab´etique et Analogique de la Langue Franc¸aise Robert, Paul (1967): Le Petit Robert; (2 1993) Le Nouveau Petit Robert: Dictionnaire Alphab´etique et Analogique de la Langue Franc¸aise [60 000 mots–300 000 sens], von Josette Rey-Debove und Alain Rey u¨ berarbeitete Neufassung; (3 2007) Neuauflage. Paris: Dictionnaires Le Robert. CNRTL-Lexikon Das CNRTL-Lexikon ist Teil des Portail lexical des Centre Nationale de Ressources Nationales et Textuelles, das an das Laboratoire ATILF (Analyse et Traitement Informatique de la Langue Franc¸aise) bzw. CNRS (Centre Nationale de Recherche Scientifique) angeschlossen ist. Zusammensetzung: TLFi (Tr´esor de la Langue Franc¸aise informatis´e) 4., 8. und 9. Auflage des W¨orterb¨uches der Acad´emie Franc¸aise BDLP (Base de Donn´ees Lexicographiques Panfrancophone de l’Universit´e Laval de Qu´ebec), Base Historique du Vocabulaire Franc¸ais des ATILF Dictionnaire du Moyen Franc¸ais, 1330–1500 des ATILF Internetseite: http://www.cnrtl.fr/definition 17.01.2010 FEW Wartburg, Walther von (1928–): Franz¨osisches Etymologisches W¨orterbuch (FEW). Eine Darstellung des Galloromanischen Sprachschatzes. Bd. I–XXV, Bonn: Klopp / Ba¨ sel: Zbinden. 25 vol. + Beiheft. Ortsnamenregister. Literaturverzeichnis. Ubersichtskarte; (2 1950), T¨ubingen: Mohr. + Supplement zur 2. Auflage des Bibliographischen Beiheftes. Redigiert von Margarete Hoffert. 1957, Basel: Zbinden.

A.2 FRANTEXT synchron Combettes, Bernard & Pierrel, Jean-Marie (2009). FRANTEXT: ATILF Text-Datenbank vom 16. bis 21. Jahrhundert. Nancy: CNRS/Universit´e Nancy2.

318 FRANTEXT - version int´egrale ist eine franz¨osische Text-Datenbank mit 4000 Texten/¨uber 210 Millionen Tokens aus den Bereichen Litteratur (zu 80%) sowie Wissenschaft, Kunst und Technik (zu 20%) aus dem 16. bis 21. Jahrhundert. FRANTEXT - version categoris´e: 1940 literarische Texte/ca. 127 Millionen Tokens des 19. bis 21. Jahrhunderts sind mit Wortklasseninformationen versehen. Internetseite: http://www.atilf.fr/frantext.htm 17.01.2010 Das hier verwendete Korpus besteht aus 44 Texten aus der FRANTEXT - version categoris´e aus den Jahren 1987 bis 1997 mit einer Tokenanzahl von 3.015.325 Worten. In der Arbeit zitierte Texte: acacia ami amour bataille bonheur carrefour champs chansons chasseur chemin classe clef coeur collines douane enfance gouttiere greniers horde lyceen marchande medianoche oeufs organisation ouest pas pleurante poche puissance samourais secret stella testament weekend zone

SIMON.C/L’ACACIA/1989 GUIBERT.H/A L’AMI QUI NE M’A PAS SAUVE LA VIE/1990 ORSENNA.E/GRAND AMOUR/1993 RAMBAUD.P/LA BATAILLE/1997 ORMESSON.JD/LE BONHEUR A SAN MINIATO/1987 GIRAUD.R/CARREFOUR BUCI/1987 ROUAUD.J/LES CHAMPS D’HONNEUR/1990 TRENET.C/CHANSONS 1960-1992/1992 ROZE.P/LE CHASSEUR ZERO/1996 GRACQ.J/CARNETS DU GRAND CHEMIN/1992 CARRERE.E/LA CLASSE DE NEIGE/1995 POUY.J-B/LA CLEF DES MENSONGES/1988 SOLLERS.P/LE COEUR ABSOLU/1987 GRACQ.J/AUTOUR DES SEPT COLLINES/1988 ORMESSON.JD’/LA DOUANE DE MER/1993 BOUDARD.A/MOURIR D’ENFANCE/1995 FORLANI.R/GOUTTIERE/1989 RHEIMS.M/LES GRENIERS DE SIENNE/1987 LANZMANN.J/LA HORDE D’OR/1994 BAYON/LE LYCEEN/1987 PENNAC.D/LA PETITE MARCHANDE DE PROSE/1989 TOURNIER.M/LE MEDIANOCHE AMOUREUX/1989 ROMILLY.J DE/LES OEUFS DE PAQUES/1993 ROLIN.J/L’ORGANISATION/1996 MOHRT.M/VERS L’OUEST/1988 BIANCIOTTI.H/LE PAS SI LENT DE L’AMOUR/1995 GERMAIN.S/LA PLEURANTE DES RUES DE PRAGUE/1992 AVENTIN.C/LE COEUR EN POCHE/1988 SALVAYRE.L/LA PUISSANCE DES MOUCHES/1995 KRISTEVA.J/LES SAMOURAIS/1990 SOLLERS.P/LE SECRET/1993 BECK.B/STELLA CORFOU/1988 MAKINE.A/LE TESTAMENT FRANCAIS/1995 BRISAC.G/WEEK-END DE CHASSE A LA MERE/1996 DEGAUDENZI.JL/ZONE/1987

319 Zus¨atzlich zitierte FRANTEXT-Texte: loin pa¨ıen suicide

PONTALIS Jean-Bertrand/Loin/1980 PERRY Jacques/Vie d’un pa¨ıen/1965 ´ LEVE´ Edouard/Suicide/2008

A.3 Sprecherumfrage Befragung von 13 franz¨osischen Muttersprachlern in Kooperation mit Simone Heinold, Universit¨at Stuttgart Fragebogen: Verbes: aboyer (chien), beugler (bovin), couiner (porcelet), feuler (tigre), gazouiller (oiseau), glapir (chien, renard), glousser (poule), grogner (sanglier), hennir (cheval), miauler (chat), meugler (bovid´e), p´epier (oiseau), piailler (oiseau), rugir (lion), vagir (li`evre) 1- Si vous deviez former un nom a` partir de ces verbes en haut, lequel formeriez-vous? 2- Pourriez-vous former un nom qui se termine en -age de tous ces bruits des animaux? 3- Comment les noms en -age vous semblent-ils: (Si n´ecessaire distinguez parmi les mots. Utilisez seulement les jugements donn´es). a. mot franc¸ais compl`etement naturel b. acceptable c. un peu bizzarre d. inacceptable 4- Comparez les noms que vous avez form´es en -age avec les mots correspondants en -ment: a. Est-ce qu’il y a une diff´erence de sens entre eux? b. Si oui: pourriez-vous la d´ecrire? 5- Lisez les paires des phrases suivantes. a. Il lui a fallu 3 heures pour le gonflement du ballon b. Il lui a fallu 3 heures pour le gonflage du ballon a’. Le gonflement du ballon lui a pris 3 heures. b’. Le gonflage du ballon lui a pris 3 heures. a”. Il s’essaya 3 heures au gonflement du ballon (mais il n a pas r´eussi) b”. Il s’essaya 3 heures au gonflage du ballon (mais il n a pas r´eussi) Est-ce qu’il y a une phrase des deux (dans chaque couple) qui est moins acceptable que l’autre? Si oui: pourriez-vous expliquer pourquoi?

320 B

Lexika und Quellen f¨ur das Franz¨osische des 16. bis 19. Jahrhunderts

B.1 Lexika DLG Estienne, Robert (3 1552). Dictionarium Latinogallicum; Bearbeitung und elektronische Aufbereitung durch Suzanne Laurent (Institut National de la Langue franc¸aise, Nancy) und Terence Russon Wooldridge (University of Toronto); Elektronische Versionen von Terence Wooldrige, Universit¨at Toronto und ARTLF (American and French Research on the Treasury of the French Language), Universit¨at Chicago, in Kooperation mit ATILF. Internetseiten: Universit¨at Chicago: http://artfl.atilf.fr/dictionnaires/ESTIENNE/index.htm 17.01.2010; Universit¨at Toronto: http://www.chass.utoronto.ca/ wulfric/tiden 17.01.2010

B.2 FRANTEXT diachron Die diachronen Korpora entstammen der FRANTEXT-Datenbank, version int´egrale (vgl. Anhang A.2). Korpus des 16. Jahrhunderts: 83 Texte von 1515 bis 1565, 3.234.039 Worte Korpus des 17. Jahrhunderts: 89 Texte von 1680 bis 1690, 3.124.625 Worte Korpus des 18. Jahrhunderts: 45 Texte von 1784 bis 1790, 3.133.980 Worte Korpus des 19. Jahrhunderts: 35 Texte von 1875 bis 1878, 3.130.281 Worte

C

Lexika und Quellen f¨ur das Franz¨osische des 10. bis 14. Jahrhunderts

C.1 Lexika Tobler-Lommatzsch Altfranz¨osisches W¨orterbuch / Tobler-Lommatzsch. Adolf Toblers nachgelassene Materialien, bearb. u. hrsg. von Erhard Lommatzsch, weitergef¨uhrt von Hans Helmut Christmann. Stuttgart: Franz Steiner Verlag Elektronische Version: Blumenthal, Peter & Stein, Achim, eds. (2002): Tobler-Lommatzsch: Altfranz¨osisches ´ W¨orterbuch, Edition e´ lectronique. Stuttgart: Franz Steiner Verlag. Godefroy Godefroy, Fr´ed´eric (1881–1902). Dictionnaire de l’Ancienne Langue Franc¸aise et de ´ Tous ses Dialectes du IXe au XVe Si`ecle, 10 B¨ande. Paris: F. Vieweg/Emile Bouillon.

321 Elektronische Version: Blum, Claude (2002). Godefroy - Dictionnaire de l’Ancienne Langue Franc¸aise et de ´ Tous ses Dialectes du IXe au XVe Si`ecle, Edition e´ lectronique. Paris: Universit´e de ParisSorbonne. Internetseite: http://www.classiques-garnier.com 17.01.2010

C.2 NCA Nouveau Corpus d’Amsterdam. Elektronisches Textkorpus mit ungef¨ahr 300 Texten und u¨ ber 3.000.000 Worten Stein, Achim & Kunstmann, Pierre (eds.). Le Nouveau Corpus d’Amsterdam. Suttgart: Universit¨at Stuttgart. Institut f¨ur Linguistik/Romanistik. Erweiterte elektronische Edition, basierend auf Dees, Anthonij (1987). Atlas des Formes Linguistiques des Textes Litt´eraires de l’Ancien Franc¸ais; erste elektronische Version von Piet van Reenen (Free University of Amsterdam). Internetseite: http://www.uni-stuttgart.de/lingrom/stein/corpus 17.01.2010 In der Arbeit zitierte Texte: abe abreja amo barlaam benoit best carem chauvency clari2 fetrom gepa gibv guil

ipo jouf lanc loys mace michel

1280, prose, J. de Meun, Traduction de la premi`ere epˆıtre de P. Ab´elard, v. 1-821 1290, vers, Li abrejance de l’ordre de chevalerie, v. 1–2266 1250, vers, L’art d’amors und li remedes d’Amors von Jacques d’Amiens 1250, prose, L’histoire de Barlaam et Josaphat, p. 29,1–102,43 1175, vers, Chronique des ducs de Normandie par Benoit, tome 1, ms. T, v. 1–2428 1211, vers, Le Bestiaire de Guillaume le Clerc 1215, prose, Sermons de Carˆeme en dialecte wallon 1285, vers, Le tournoi de Chauvency de Jacques Bretel, v. 1–2765, ms. M 1216, prose, La conquˆete de Constantinople de Robert de Clari 1213, prose, Li fet des Romains, p. 5–31, ms. V nil, vers, Chronique m´etrique attribu´ee a` Geffroy de Paris, v. 1–2004 1170, vers, La vie de Saint Gilles par Guillaume de Berneville 1226, vers, [PVR] L’Histoire de Guillaume le Marechal, Comte de Striguil et de Pembroke, v.1–804 P. Meyer, Paris 1891–94 t.I bibl. Phillips Cheltenham n verm 1185, vers, nil 1250, vers, Joufroi de Poitiers, v. 1–800 1220, prose, Lancelot, roman en prose du XIIIe si`ecles ms. A, par. 1.1–4.2 1297, prose, Les miracles de saint Louis de Guillaume de St Pathus, par. 1–54 1300, vers, La Bible de Mac´e de la Charit´e, t.II, v. 8581–10336 1163, vers, [PVR] Le roman du Mont Saint-Michel par Guillaume de Saint-Pair, v.1–796 Francisque Michel, Caen 1856 nv nv

322 mortartu mous nimd psautier reis remis robert troi turp

verson

D

1213, prose, La mort le roi Artu, par. 1–35 1243, vers, Chronique rim´ee de Philippe Mouskes 1150, vers, Le charroi de Nimes, ms. D 1165, prose, nil nil, prose, nil 1274, vers, La vie de saint Remi, po`eme du XIIIe s. par Richier. v. 1–3000 1200, vers, Robert le diable, v. 1–808 1288, prose, Le roman de Troie en prose, par. 1–19 1250, prose, [PVR] Chronique dite Saintongeaise, chap.1–11 A. de Mandach, Beihefte zur ZfRP, Tuebingen 1970 Ms Lee,Aberystwyth Nation.Lib. of Wales ms 5005 13e s. 1247, vers, Le conte des vilains de Verson par Estout de Gox

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