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German Pages 184 Year 2015
Franz Werfel und der Genozid an den Armeniern
Europäisch-jüdische Studien Beiträge
Herausgegeben vom Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien, Potsdam, in Kooperation mit dem Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg Redaktion: Werner Treß
Band 22
Franz Werfel und der Genozid an den Armeniern Herausgegeben von Roy Knocke und Werner Treß
ISBN 978-3-11-033904-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-033908-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-039572-3 ISSN-2192-9602 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Dr. Rainer Ostermann, München Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Inhalt Roy Knocke, Werner Treß Einleitung 1
Biografische Hinführung Peter Stephan Jungk Franz Werfel – ein Weltfreund zwischen den Welten
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Herkommen und Hingehen Hans Dieter Zimmermann Franz Werfel und die Prager deutsche Literatur
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Olga Koller Judentum und Christentum im Leben und Werk Franz Werfels
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Roy Knocke Franz Werfel als Kulturkritiker Individualismus, Kollektivismus und die moralisch-ästhetische Stellung des Dichters 44
„Das Unerhörte, was im Orient geschehen war …“ Andreas Meier Franz Werfel und Armin T. Wegner in Palästina Zur Entdeckung des Armenienthemas in der deutschen Literatur Rolf Hosfeld
Völkermord und Moderne bei Franz Werfel Martin Tamcke Fiktion und Wirklichkeit: Wegner und Werfel
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Inhalt
Lesen und Rezipieren Werner Treß Franz Werfel – ein verfemter und verbotener Schriftsteller
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Ulrike Schneider Kulturelle und religiöse Konzeptionen des Jüdischen im Werk von Franz Werfel 117 Raffi Kantian Von Musa Dagh nach Hollywood und zurück Franz Werfels Roman als Objekt diplomatischer Verwicklungen
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Frank Stern Die jüdische und die armenische Erfahrung in Filmen nach Franz Werfel 140 Hacik Gazer Die armenische Übersetzung von „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ Eine Spurensuche 148
Literaturverzeichnis
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Über die Autorinnen und Autoren Personenregister
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Roy Knocke, Werner Treß
Einleitung
In dem posthum herausgegebenen Essay-Band des amerikanischen Ökonomen Arcadius Kahan wird eine Szene aus dem Warschauer Ghetto geschildert. Der junge Widerstandskämpfer Kahan beobachtet: After the meeting [of the house committee], the person in charge of book circulation hands over to the woman a package wrapped in a paper and whispers: „You’ve got to return it in three days; twenty people are waiting their turn, this is the real thing.“ A glance into the package convinces the woman that it is the real thing, Forty Days of Musa Dagh, the novel by Franz Werfel about the Turkish massacre of the Armenians. This is the most popular novel among the Adults in the ghetto. They’ll read it aloud this evening, if there is electricity.1
Eine ähnliche, in Heimlichkeit vollzogene Übergabe wird auch in den Ghettos Wilna und Białystok zu beobachten gewesen zu sein.2 Was dort von Hand zu Hand ging, war Franz Werfels Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh, der im November 1933 erschien. Dieser ist eine literarische Nachzeichnung des wohl ersten systematischen Völkermords des 20. Jahrhunderts, des Genozids an den Armeniern im Osmanischen Reich während des Ersten Weltkrieges. Rückblickend ahnte Werfel mit seinem Buch die vernichtenden Gewalten des nationalsozialistischen Regimes gegen die europäischen Juden voraus und schuf mit seiner poetischen Verarbeitung der „Armenier-Greuel“ eine Metapher kollektiver Gewalt und kollektiven Widerstands, die sich durch das „Jahrhundert des Genozids“ bis heute zieht.3 Dieser Band versammelt interdisziplinäre Beiträge, die auf Franz Werfel und den Genozid an den Armeniern fokussieren und somit eine Lücke in der Werfel-Forschung füllen.4 Leitende Fragen sind: Was brachte Werfel zu seinem lite1 Kahan, Arcadius: Essays in Jewish Social and Economic History. Edited by Roger Weiss. Chicago 1986, S. 180f. 2 Vgl. die Ausführungen in Auron, Yair: The Banality of Indifference. Zionism and the Armenian Genocide. New Brunswick 2000, S. 293–311. 3 Die Bezeichnung „century of genocide“ stammt von Parsons, William P. und Totten, Samuel (Hrsg.): Century of Genocide. Critical Essays and Eyewitness Accounts. London 2008. 4 Auch wenn der Verweis auf Werfels Roman in vielen Darstellungen über den Genozid an den Armeniern erwähnt wird, gibt es nur wenige gehaltvolle Einzelstudien. Hervorzuheben sind Kirby, Rachel: The Culturally Complex Individual: Franz Werfel’s Reflections on Minority, Identity and Historical Depiction in The Forty Days of Musa Dagh. London 1999; Rouart, Marie-France: Le Barbare comme solution, ou l’art dejouer avec les phobies culturelles. Les Quarante jours du Musa Dagh (Werfel) et Clea (Durrell). In: Le barbare. Images phobiques et réflexions sur l’altérité dans la culture européenne. Hrsg. von Philippe Alexandre und Jean Schillinger. Bern 2007, S. 303–320 und Bartl, Andrea: Roman der Unmöglichkeiten: Franz Werfels Die vierzig Tage des
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rarischen Engagement für die Armenier in Die vierzig Tage des Musa Dagh? Wie sind Fiktion und historisches Geschehen in dem Roman umgesetzt und kinematografisch verarbeitet worden? Welche Rolle spielten dabei christliche und jüdische Anschauungen im Werk von Werfel? Welche Rezeptionslinien lassen sich aus armenisch-jüdisch-türkisch-deutscher Perspektive ziehen? Den wissenschaftlichen Beiträgen ist eine biografische Hinführung des Schriftstellers Peter Stephan Jungk vorangestellt. Jungk arbeitete in den 1980erJahren vier Jahre an der Lebensgeschichte des Dichters und verfasste nach intensiven Recherchen und Begegnungen mit rund dreißig Zeitgenossen Franz Werfels die bis heute maßgebliche Biografie.5 Danach folgen drei Abschnitte, die die Einflüsse Werfels (Herkommen und Hingehen), die Findung des „Armenierstoffes“ („Das Unerhörte, was im Orient geschehen war ...“) und die Rezeption des Romans auf verschiedenen Ebenen (Lesen und Rezipieren) thematisieren. Hans Dieter Zimmermann geht in seinem Beitrag dem Einfluss der Prager deutschen Literatur auf Werfel nach. Die Arbeiten des Kreises um Franz Kafka, Max Brod und Egon Erwin Kisch unterschieden sich von der tschechischen Literatur durch ihren expressionistischen und identitätsüberschreitenden Charakter. Dem spürte auch der frühe Werfel nach, der in sich „drei Herzen trug“: ein tschechisches, ein deutsches und ein jüdisches. Diese transnationale Perspektive, gepaart mit der mehrmaligen Flucht vor den Nationalsozialisten, stellten Werfel immer wieder vor die Frage nach Heimat und Identität. Sein gesamtes Werk legt davon Zeugnis ab. Olga Koller nimmt diese Identitätsfragen in ihrem Artikel auf. Sie erläutert Phasen des Verhältnisses der verschiedenen Konfessionen im Leben des Dichters: Zuerst war Werfel dem Katholizismus nahe. Kurz vor der Heirat mit Alma Mahler wandelte sich seine Einstellung zu der Überzeugung einer möglichen Synthese von Christentum und Judentum. Besonders deutlich, wird das in seinem 1929 erschienen Roman Barbara oder Die Frömmigkeit in der Gestalt des Alfred Engländer reflektiert, der als Jude die Wahrheit des Christentums erkennt. Ihm wird die Taufe jedoch nicht erlaubt, so dass er eine synkretistische Form von Religiosität auslebt. In seinen letzten Jahren verwarf Werfel eine solche Vereinigung wieder. Der Beitrag von Roy Knocke stellt die ästhetisch-politischen Essays Werfels aus den 1930er-Jahren in den Mittelpunkt, die in Bezug auf das Konzept des Dichters bei Franz Werfel interpretiert werden. Dabei zeigt sich, dass der Dichter eine poetische Vermittlerrolle zur Verkündung der Wahrheit einnimmt, die sich aus Werfels christlich-jüdischen Humanismus speist. Verglichen mit anderen Dichter-Bildern der Zeit, die eine ästhetische Totalisierung anstrebMusa Dagh. In: Judentum in Leben und Werk von Franz Werfel. Hrsg. von Hans Wagener und Wilhelm Hemecker. Berlin 2011, S. 79–94. 5 Jungk, Peter Stephan: Franz Werfel: Eine Lebensgeschichte. Frankfurt a. M. 2000.
Einleitung
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ten, eröffnet sich in diesem Kontrast das ganze kritische Potenzial der Arbeiten Werfels gegen jede Art von totalitärer Bewegung, wie sie zeitgebunden im Nationalsozialismus und Kommunismus ihren Ausdruck fanden. Andreas Meier konstruiert in seinem Aufsatz eine Parallelgeschichte zweier Ehepaare, die unabhängig voneinander den Nahen Osten bereisen: die Werfels und die Wegners. Inspirierte die Begegnung mit armenischen Waisen in Damaskus Franz Werfel zu seinem großen Roman, den er innerhalb von acht Monaten schrieb, so wollte Armin T. Wegner auf Basis seiner Diavorträge über den Völkermord ebenso einen Roman schreiben, der aber, unter anderem wegen Werfels Zuvorkommen, nur als Fragment zustande kam. Der Artikel von Rolf Hosfeld thematisiert die historischen Hintergründe der Ereignisse auf dem Musa Dagh, die Werfel gut kannte. Unter Führung des Widerstandskämpfers Moses Der Kalousdian, der in Werfels Roman der Figur das Gabriel Bagradian nahekommt, zogen sich im Sommer 1915 ca. 5.000 Armenier, nur mir Sattelpistolen und Jagdgewehren bewaffnet, auf den Musa Dagh zurück. Drei Angriffswellen der Türken wurden zurückgeschlagen, bis am 12. September 1915 das französische Kriegsschiff „Guichon“ den eingekesselten Armeniern zu Hilfe kam. Martin Tamcke vertieft in seinem Beitrag die schon bei Meier angeklungene Geschichte der romanhaften Verarbeitung des Völkermordes, wobei die Frage nach der Zeugenschaft und Authentizität von Fiktion im Mittelpunkt steht. Seine These, dass Fiktion oft näher an der Wirklichkeit sein kann, unterstreicht er durch eine genaue Analyse des literarischen Streites zwischen Werfel und Wegner. Werner Treß analysiert einige Beispiele dafür, dass Werfel aufgrund seiner Identität als Jude schon vor 1933 zahlreichen Anfeindungen in der völkischantisemitischen Publizistik ausgesetzt war. Anfang Mai 1933 fanden sich Werfels Werke auf den ersten, noch provisorischen Schwarzen Listen, am 10. Mai 1933 brannten sie auf den Scheiterhaufen der nationalsozialistischen Bücherverbrennungen. Während das Verbot seiner Romane zunächst nur teilweise umgesetzt wurde und auch Die vierzig Tage des Musa Dagh noch an den Buchhandel in Deutschland ausgeliefert werden konnte, wurde ein wiederum im Februar 1934 erlassenes Verbot polizeilich durchgesetzt. Mit der Vereinheitlichung des sogenannten Buchverbotswesens durch die Reichsschrifttumskammer erfolgte 1935 schließlich das vollständige Verbot. Auf der von der Reichsschrifttumskammer ausgefertigten „Liste 1 des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ wurden die verbotenen Werke Werfels nicht mehr einzeln aufgeführt, sondern nur noch vermerkt: „Werfel, Franz: Sämtliche Werke“. Einen ganz anderen Aspekt betont Ulrike Schneider in ihrem Beitrag. Sie greift die schon mehrfach thematisierte Spannung des Christlichen und Jüdischen in Werfels Person und Werk auf und diskutiert diese am Beispiel der Metaphysik des Körpers in dem Roman von 1928 Der Abituriententag. Die leiblich-physiognomische Konkurrenzsituation der
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Roy Knocke, Werner Treß
Protagonisten Franz Adler und Ernst Sebastian spiegelt das deutsch-jüdischen Verhältnis am Ende der Weimarer Republik wider und bildet durch einen stilistischen Männlichkeitsdiskurs latent antisemitische Klischees ab. Raffi Kantians Artikel schildert Franz Werfels Roman als Objekt diplomatischer Verwicklungen und stellt die politischen Dimensionen dar, die ein Film über den Völkermord auslösen kann. Dabei geht es um den Versuch der Metro-Goldwyn-Mayer (MGM) Filmproduktionsgesellschaft, die Werfels Buch Die vierzig Tage des Musa Dagh 1935 verfilmen wollte. Die Arbeiten dazu lösten ungeahnte diplomatische Reaktionen von Seiten der Türkei aus. So gab es einen massiven offiziellen Druck der türkischen Regierung und innerhalb des Landes wurde mit Repressionen gegen die armenische Bevölkerung gedroht. Die türkischen Behörden drohten schließlich mit dem Verbot aller MGM-Produktionen in der Türkei und ihrem Einflussgebiet und unterstellten die Verbreitung von Propaganda einer „jüdisch-armenischen Verschwörung“. Der Film kam nie in die Kinos. Frank Stern beschreibt die Schwierigkeiten der Recherche zu Verfilmungen von Werfels Schriften, da sie in der ganzen Welt verstreut sind und es keine Übersicht dazu gibt. Er analysiert dann die ästhetische Umsetzung der schon vielfach diskutierten Spannung zwischen Judentum und Christentum und arbeitet die Parallelität zwischen armenischen und jüdischen Erfahrungen heraus. Im letzten Beitrag begibt sich Hacik Gazer auf eine Spurensuche über die armenische Übersetzung von Die vierzig Tage des Musa Dagh. Durch die Auswertung von Briefen des Paul Zsolnay Verlages zeichnet sich eine nicht problemlose, auch politischwirtschaftlich beeinflusste Übersetzungsgeschichte ab.6 Der Sammelband geht zurück auf die Tagung „Genozid und Literatur. Franz Werfel aus armenisch-jüdisch-türkisch-deutscher Perspektive“, die vom 10.–12. März 2013 im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte in Potsdam stattfand. Veranstalter waren das Lepsiushaus Potsdam und das Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien in Potsdam. Richtet sich das Interesse des Lepsiushauses auf den Völkermord an den Armeniern im Kontext anderer ethnischer und genozidaler Gewalt, so fokussiert das Moses Mendelssohn-Zentrum auf die Geschichte, Religion und Kultur der Juden und des Judentums in den Ländern Europas. In der Analyse von Franz Werfels Die vierzig Tage des Musa Dagh im Zusammenhang mit dem Genozid an den Armeniern lässt sich eine thematische Konvergenz beider Einrichtungen beobachten. Dieser Band soll einen Beitrag dazu leisten, einem großen Roman des 20. Jahrhunderts auf die Spur zu kommen. Potsdam, im November 2014 6 Wir danken dem Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek für die Möglichkeit der Veröffentlichung des diesbezüglichen Briefwechsels.
Biografische Hinführung
Peter Stephan Jungk
Franz Werfel – ein Weltfreund zwischen den Welten Im Jahr 1987 habe ich im S. Fischer Verlag die erste umfassende Biografie Franz Werfels vorgelegt. Zweieinhalb Jahre der Recherche und eineinhalb Jahre der Niederschrift hat mir diese Arbeit – nein, nicht geraubt: Es waren vier Jahre einer ungemein intensiven Auseinandersetzung nicht nur mit der Lebensgeschichte eines außergewöhnlichen Menschen und seines Umfelds, sondern auch eine faszinierende Reise durch die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Rückblickend erschreckt mich: Von den etwa dreißig Zeitzeugen, die ich damals, Mitte der 1980er-Jahre zu Franz Werfel befragt habe, lebt heute niemand mehr. Einer der prominentesten deutschsprachigen Schriftsteller der Zwischenkriegszeit ist heute weitgehend in Vergessenheit geraten. Woran aber mag das liegen? Ich erzähle oft: Will man heute Interesse für Werfel erwecken, sei es in Frankreich, Italien, England, den Vereinigten Staaten, sogar innerhalb des deutschen Sprachraums, reagieren Gesprächspartner oft nur dann auf den Namen des bedeutenden Schriftstellers, wenn man hinzufügt: Er war einer der Ehemänner von Alma Mahler … „Ah!“ lauten dann die Reaktionen. Und dabei bleibt es leider – nahezu ausnahmslos. Werfel scheute das Pathos nicht. Zu einer Zeit, da etwa Franz Kafka, Robert Musil, Hermann Broch, Alfred Döblin zu einer ungemein modernen Sprache fanden, öffnete Werfel die Schleusen seines Herzens, formulierte, als lebe er noch inmitten des 19. Jahrhunderts, schuf Romanwerke, die eher an Victor Hugo, an Balzac, an Dostojewski erinnern, als an den Anbruch einer neuen Epoche. Seine eigenen experimentellen, expressionistischen Anfänge aber sollte er 1944, am Ende seines Lebens, diffamieren: Es habe damals „keinen verzehrenderen, frecheren, höhnischeren, teufelsbesesseneren Hochmut“ gegeben als jenen der „avantgardistischen Künstler und radikalen Intellektuellen“, zu denen er sich selbst zählte. Er kam zu dem Schluss: „[…] wir waren die unansehnlichen Vorheizer der Hölle, in der nun die Menschheit brät.“ Ich möchte im Folgenden in knapper Form seine Lebensgeschichte skizzieren – ein sehr reiches Leben, das mit 55 Jahren früh endete: Franz Werfel kam am 10. September 1890 in Prag zur Welt, als Sohn des Handschuhfabrikanten Rudolf Werfel und seiner Frau Albine, geborener Kussi, der Tochter eines vermögenden Mühlenbesitzers. Seine Eltern waren Juden, keineswegs religiös, nur die hohen Feiertage wurden eingehalten. Trotzdem, das sei betont: Franz wurde am achten Tag nach seiner Geburt beschnitten. Von klein auf betreute ihn eine katholische, böhmische Kinderfrau, Barbara Šimůnková, der Heranwachsende begleitete sie,
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die er liebte, jeden Sonntag zur Messe, ein Erlebnis, das ihn ungemein prägen sollte. Schon von den ersten Jahren an lebt er in einem Spannungsfeld zwischen Judentum und Christentum, zwischen der deutschen und der tschechischen Sprache. Er ist ein schlechter Schüler, muss die Schulen mehrmals wechseln, er kränkelt oft, erst mit etwa sechzehn, siebzehn kommt er zu Kräften. Doch schon ab dem zwölften Lebensjahr gibt es eine Passion, die ihn zeit seines Lebens begleiten sollte: die Oper. Im Neuen Deutschen Theater in Prag fanden die jährlichen Mai-Festspiele statt, der berühmte Impresario Angelo Neumann führte die Werke Verdis, Wagners, Bellinis, Donizettis auf. Im Jahr 1904 kam Enrico Caruso nach Prag, ein Schlüsselerlebnis in Werfels Entwicklung, das ihn berauschte wie kaum ein anderes Moment seiner Jugend. Als er sechzehn war, verdichteten sich die Erlebnisse, die Gefühle zu lyrisch-überhöhter Sprache: Das ist die Zeit, in der er von den Mädchen schwärmt, dem Fremdwesen Frau. Er begann, Gedichte zu schreiben – sie gefielen seinem Klassenkameraden, dem aus ähnlichen Prager Verhältnissen stammenden Willy Haas so gut, dass er Franz vorschlug, er müsse sie Zeitungen zum Abdruck vorlegen. Werfel war dazu nur bereit, wenn Haas die eigene Adresse als Absender angab, damit sein zorniger Vater (der übrigens Franz Kafkas strengem Vater in vieler Hinsicht ähnlich war) nichts davon erfahre. Alle angeschriebenen Zeitschriften sandten die Gedichte postwendend zurück. Doch Werfel schrieb weiter, sein Freund verschickte die Seiten von neuem. Und eines Tages geschah das Wunder: Die Sonntagsausgabe des Wiener Tagblatts Die Zeit hatte eines der Werfel-Gedichte abgedruckt, ein eher schwerfälliges – Die Gärten der Stadt. Aber der 17-Jährige fühlte sich wie noch nie: Von nun an, so dachte er, würde man in ihm den zum Dichter Geborenen erkennen müssen. Und von dem Tag an hat Werfel nie wieder zu schreiben aufgehört. Nach dem Abitur – ein Wunder, dass er es geschafft hat! – bestand sein Vater darauf, der Sohn müsse entweder studieren oder in eine kaufmännische Lehre gehen. Er tat weder das Eine noch das Andere, zog durch die Nächte, rauchend, trinkend, singend, dichtend, und sobald ein neues Poem fertig war, trug er es bereits lautstark seiner Freundesgruppe vor, zu der neben Willy Haas auch Max Brod, Franz Kafka, Egon Erwin Kisch, Otto Pick, Oskar Baum, Paul Kornfeld zählten. Im Jahr 1910 hatte er genügend Gedichte beisammen, um einen ersten Sammelband zu publizieren. Max Brod brachte seinen eigenen Verleger, Axel Juncker, dazu, diesen ersten Gedichtband zu drucken. „Ich will es Der Weltfreund nennen“, schrieb Werfel an Juncker, „der Titel ist ganz hübsch? Nicht wahr?“ Der Weltfreund erschien 1911 in einer ersten Auflage von 4.000 Stück, die sofort vergriffen waren. Mehrmals musste im Verlauf der folgenden Wochen nachgedruckt werden – der Name Franz Werfel war innerhalb kürzester Zeit im ganzen deutschen Sprachraum bekannt. Ein neuer Klang töne aus diesen hymni-
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schen Versen, diesem Gefühlsgesang, hieß es in den Lobesbezeugungen der Kritiker, zu denen kein geringerer als Karl Kraus zählte, mit dem er sich schon kurze Zeit später überwerfen sollte. Gleichsam über Nacht war der junge Sohn eines Handschuhfabrikanten aus Prag zu einem der meistgenannten Lyriker deutscher Sprache geworden. Der Expressionismus hatte in Werfel einen seiner wichtigsten Repräsentanten gefunden. Unter dem Datum 18. Dezember 1911 vermerkte Franz Kafka in seinem Tagebuch: „Ich hasse W. nicht – weil ich ihn beneide, aber ich beneide ihn auch. Er ist gesund, jung und reich, ich in allem anders ...“ Johannes Urzidil sollte noch 35 Jahre später in seinen Erinnerungen unter dem Titel Der Weltfreund festhalten: „Wir liebten den jungen Werfel wie vielleicht selten ein Dichter von dem Kreise seiner Freunde geliebt wurde. Wenn er aus seinen Gedichten rezitierte […] lauschten wir jedem Wort mit größter Spannung, ja mit Verzückung.“ Übrigens konnte sich Werfel für Kafkas Prosa keineswegs begeistern. Max Brod gegenüber bemerkte er einmal: „Das geht doch nie über TetschenBodenbach hinaus!“ Womit er die damalige Grenzstation zwischen Böhmen und dem Deutschen Reich meinte. In den Jahren 1912 bis zum Frühjahr 1915 wirkte Franz Werfel – wiederum dank Max Brods Vermittlung – als Lektor des Kurt Wolff Verlags in Leipzig; wohlgemerkt, ohne je studiert zu haben. Zugleich schrieb er weiter Gedichte und verfasste erste Theaterdialoge, publizierte die Lyrikbände Wir Sind und Einander. Ein gleichsam paradiesisches Leben, das erst durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs unterbrochen wurde. Zunächst als untauglich eingestuft, musste er im April 1915 doch einrücken, wenn man dem bekanntermaßen kriegsfeindlich eingestellten Dichter auch eine Ausnahmeregelung zugestand: Er wurde fern des damaligen Kampfgeschehens nach Bozen versetzt und kam auf eigene Kosten in einer Pension unter. In diese Zeit fällt ein vehementer Briefwechsel mit Max Brod, der sich immer mehr der zionistischen Idee und dem religiösen Judentum angenähert hatte, während Werfel immer entschiedener für den Katholizismus schwärmte: Er liebte die Bildhaftigkeit, die Opulenz der Kirche, in der er eine Verwandtschaft zur berauschenden Üppigkeit der italienischen Oper zu erkennen glaubte. Das Judentum, Tora und Talmud, erschienen ihm im Vergleich allzu abstrakt und unsinnlich. In Zukunft, so hoffte er, würden nach und nach alle Menschen jüdischer Herkunft zum Christentum konvertieren. Dank einer Beinverletzung erneut vom Militärdienst suspendiert, musste Werfel erst im Mai 1916 erneut ins Feld, dieses Mal allerdings ohne Sonderrechte: Er wurde einem Feldartillerieregiment unterstellt, im Örtchen Elbe-Kostelec, in Böhmen, wo die Kaserne sein Zuhause war. Kurz zuvor, während eines Spitalaufenthaltes in Prag, hatte er Gertrud Spirk, eine 30-jährige evangelische Krankenschwester kennengelernt, die ihm sehr gefiel. Mit ihr korrespondierte er nun fast
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täglich, sprach sie bald als sein „Ewiges, Geliebtestes“ an, begann bereits Pläne für ein gemeinsames Leben nach dem Krieg zu schmieden. Als sein Regiment an die russische Front, nach Galizien versetzt wurde, mitten ins Kampfgeschehen, setzte man ihn als Telefonist und sogenannten Meldegänger ein, wiederum vor den anderen Soldaten bevorzugt: Er musste nie in den Schützengräben stehen. In seiner schriftstellerischen Arbeit, die nun auch mitten im Chaos des Kriegsgeschehens entstand, bekannte er sich erstmals öffentlich als christlicher Schriftsteller: In der Neuen Rundschau erschien im Herbst 1916 ein offener Brief an den Kulturkritiker Kurt Hiller unter dem Titel Die christliche Sendung. Kein geringerer als Martin Buber, der Werfel persönlich kannte, versuchte ihn während eines Kurzurlaubs zu Weihnachten 1916 auf den Pfad der jüdischen Ethik und Philosophie zurückzuführen – ohne großen Erfolg. Eine russische Offensive hatte gerade begonnen, da erfuhr Franz Werfel, dass er auf Betreiben des deutschen Diplomaten und Kunstmäzens Harry Graf Kessler zu einer Vortragsreise in die neutrale Schweiz eingeladen werden sollte. Dem k. u. k Kriegspressequartier in Wien unterstellt, durfte er – zu seiner unendlichen Befriedigung – die Front verlassen. Kaum war er abgereist, da fiel jenes Gebäude, in dem er seit Monaten gelebt und Telefondienst geleistet hatte, einem Volltreffer der Russen zum Opfer und wurde bis auf die Grundmauern zerstört. Ein neuer Lebensabschnitt begann: In Wien dem Kriegspressequartier unterstellt, gab er sich nun wieder ganz dem Künstlerdasein hin; zwar schrieb er tagsüber brave Propagandatexte für die verhasste Kriegsmaschinerie, sein Kompromiss dafür, dass er die Front hatte verlassen dürfen, aber seine Freizeit, die Nächte vor allem, verbrachte er in den Wiener Kaffeehäusern. Am liebsten im Café Central, in der Herrengasse. Sein Prager Freund, der „rasende Reporter“ Egon Erwin Kisch führte ihn in die Wiener Bohème ein, er lernte u. a. Otto Gross, Franz Blei, Robert Musil, Peter Altenberg, Alfred Polgar, Egon Friedell kennen – und während er seinem unstillbaren „Hunger nach Menschen“ frönte, beteuerte er in den Briefen an Gertrud Spirk, sich nach Reinheit, Strenge und Zucht zu sehnen. Er flehte sie an, ihn so bald wie möglich aus der „Verkommenheitsatmosphäre“ zu erretten, in der er seit der Übersiedlung nach Wien geraten sei. Doch als sie ihn tatsächlich besuchen kam, erschien ihm die abgezehrte, ein wenig kränkelnde Geliebte plötzlich fremd. Er glaubte zwar noch, in ihr die künftige Braut zu sehen, der früheren Leidenschaft aber fehlte der Funke. Genau in diesen Tagen stellte ihn sein neuer Café-Central-Freund, der Schriftsteller Franz Blei, der damals stadtbekannten Witwe Gustav Mahlers und Ehefrau des Architekten Walter Gropius vor. Frau Mahler-Gropius unterhielt einen Salon, hier war Werfel als 27-Jähriger, im November 1917, eines Nachmittags erstmals zu Besuch und fühlte sich in der Gegenwart seiner Gastgeberin besonders wohl. Er sprach nahezu ununterbrochen, erzählte von seiner Passion für das Christentum und die
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Russische Revolution, für die italienische Oper und den Sozialismus. Er blieb bei ihr bis tief in die Nacht. Der „fette, o-beinige Jude“ mit seinen „wulstigen Lippen […] schwimmenden Schlitzaugen“ und nikotingelben Fingern hatte Alma keineswegs missfallen, wie sie ihrem Tagebuch anvertraute. Sein „sozialistisches Getue“ hingegen enervierte sie extrem. Trotzdem freute sie sich, als er sie einige Wochen später wieder besuchte, dieses Mal sang er Verdi-Arien, am Klavier von Alma begleitet. Und dann kam er immer häufiger und Alma freuten diese Stunden mit dem um elf Jahre Jüngeren immer mehr. Die Beziehung zu seiner Prager Freundin Gertrud Spirk wurde für Werfel nun immer belastender, seine Briefe lassen zwischen den Zeilen erkennen, dass er sich von ihr abzuwenden begann. Und nachdem er zum ersten Mal eine Liebesnacht mit Alma verbracht hat, notiert Alma: „Wäre ich 20 Jahre jünger, ich ließe sofort alles liegen und stehen und folgte meinem Götterliebling bis ans Ende der Welt.“ Auf einer Vortragsreise durch die Schweiz, Ende 1917, schrieb er zahlreiche Briefe an Alma, in denen er sie wissen ließ, sie sei zum Mittelpunkt seines Lebens geworden. Trotzdem machte er Gertrud Spirk noch monatelang Versprechungen, ließ sie zu sich nach Wien kommen, versicherte ihr: „Glaube nicht, ich entschwinde Dir – das ist unmöglich.“ Diese Worte zur selben Zeit, da er „heiß, süß und schmerzlich“ von Alma träumte. „Du bist mir das, was ich in meiner Knabenzeit als Heimat fühlte. […] Ich bete Dich an – Du bist das Hinreißendste, was ich erlebt habe.“ Alma war bereits im sechsten Monat schwanger, sehr wahrscheinlich von Franz Werfel (dass Gropius, der nur für kurze Tage von der Front nach Wien gekommen war, der Vater des werdenden Kindes sei, konnte sie beinahe ganz ausschließen), als Werfel Gertrud mitteilte, er wolle bei seinem nächsten PragBesuch Pläne für ihre gemeinsame Zukunft schmieden. Und kaum angekommen, legte er endlich ein Geständnis ab: seit etwa acht Monaten einer anderen Frau zu gehören. Der intensive Briefwechsel der beiden brach nach dieser letzten Begegnung jäh ab. Einen Tag nach Kriegsende, am 12. November 1918, sah man Werfel, mit Egon Erwin Kisch als Mitglied der kommunistischen Roten Garden, auf den Wiener Barrikaden die Republik ausrufen. Als er am späten Abend abgerissen und erschöpft zu Alma in die Wohnung kam, schickte die überzeugte Monarchistin ihren Geliebten fort, wandte sich angewidert von ihm ab. Doch wenige Tage später ließ sie ihn wieder zu sich – und die Beziehung intensivierte sich mehr denn je. „Wenn ich der Alma nicht begegnet wäre“, hat Franz Werfel in späteren Jahren bekannt, „dann hätt’ ich noch ein paar gute Gedichte geschrieben und wär’ selig verkommen!“ Frau Mahler-Gropius aber verwandelte den Flaneur und Genießer nach und nach in einen täglich regelmäßig arbeitenden Erfolgsschrift-
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steller: Romancier und Dramatiker zugleich. Auch hier wieder Werfel zwischen den Welten: der wilde, expressionistische Lyriker, der die Nacht zum Tag machte einerseits, der in die Hochbourgeoisie geratene seriöse „Großschriftsteller“ anderseits. Der Ort, an dem er in den Jahren 1918 bis 1938 die meisten seiner Werke verfasst hat, lag zwei Stunden Bahnreise von den Ablenkungen der Wiener Kaffeehausszene entfernt: auf dem Semmering, in schönster Voralpenlandschaft, auf rund tausend Metern Seehöhe. Dort besaß Alma die Villa Mahler, auf einem Grundstück, das Gustav Mahler noch ausgesucht hatte. Im Hochsommer 1918 kam es in dieser Villa zu einer dramatischen Situation, als Alma nach einer wilden Liebesnacht eine heftige Blutung erlitt. Sie schwebte in Lebensgefahr, musste eiligst nach Wien ins Spital gebracht werden, der Sohn kam zwei Monate zu früh auf die Welt. „Diese Wochen der Aufregung um Alma und das Kind haben Werfel bis an sein Lebensende beschäftigt“, erzählte mir Anna Mahler, Almas und Gustav Mahlers Tochter: „Er sprach kaum davon, aber in seinem Werk taucht diese Zeit immer wieder auf.“ Der Sohn Martin Carl Johannes entwickelte bald nach der schweren Geburt einen monströsen Wasserkopf – sein Befinden verbesserte sich nicht; er verstarb im Alter von nur zehn Monaten. Einige Wochen nach jener Blutung, Alma befand sich noch im Sanatorium, sollte Walter Gropius die Wahrheit erfahren – und er hat Werfel, dessen Dichtung er schätzte, großzügig vergeben: „Liebend und geheilt von Hass schwebe ich über Dir“, schrieb er seinem Nebenbuhler, „ich sauge Deinen Geist in mich ein, ich lese Deine Werke und nähere mich Dir immer mehr […]. Du, Werfel, großer Dichter und Neuentdecker des menschlichen Herzens, mußt dieses einzige Leben der Welt in Deinem besten Werk verewigen.“ Kurz nach Kriegsende zu Besuch bei seinen Eltern, erkannte Werfel „vaterlandslos“ geworden zu sein, empfand das Nachkriegs-Prag als „eine tief fremde Stadt“. Und als man ihn auf der Straße Deutsch sprechen hörte, wurde er von tschechischen Nationalisten niedergeschlagen. Ständige Angst begleitete ihn fortan bei seinen Pragbesuchen. Wien und Semmering wurden zu seiner neuen Heimat. Drei Jahre später hieß es anlässlich eines Aufenthalts in der Stadt seiner Kindheit und Jugend in einem Brief an seine „einzige Königin“: Prag erscheine ihm mehr denn je als „Traumgespenst“. Unentwegt verglich er Alma Mahler mit seinen Eltern, beklagte die kaum erträgliche Diskrepanz zwischen diesen beiden Welten: „Ich gehöre nirgendhin, nirgends, in keine Stadt, in kein Land, in keine Zeit – ich gehöre nur zu Dir.“ In den nächsten Jahren entstanden in rascher Folge drei Theaterstücke, Spiegelmensch, Bocksgesang und Schweiger sowie die Novelle Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig. Darüber hinaus begann Werfel mit der Arbeit an seinem ersten großen Prosawerk: Verdi, Roman der Oper. Der Roman erschien in einem
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eigens für Werfel gegründeten Verlagshaus, dem Paul Zsolnay Verlag. Almas Tochter Anna wurde darüber hinaus auch noch mit Zsolnay verheiratet. Verdi, Roman der Oper bedeutete einen Wendepunkt in Werfels Schaffen, das Werk ließ die Facette des Romanciers erstmals deutlich erkennen: Offensichtlich ging ihm die belletristische Form ebenso leicht von der Hand wie die lyrische, wie die dramatische, rückte den Autor aber auch in die Nähe gefälliger Unterhaltungsliteratur – auf jenes Terrain also, auf welchem sein erklärter Feind Karl Kraus den Verachteten bereits Jahre zuvor angesiedelt hatte. Das Buch wurde zu Werfels erstem „Bestseller“, wenn es dieses Wort im Jahr 1924 auch noch nicht gegeben hat. Das Liebespaar Franz und Alma lebte teils in Wien, teils in Venedig, in Almas neuem Haus, einem kleinen Palazzo, das sie Casa Mahler taufte, aber auch in einem Luxushotel an der ligurischen Küste, in Santa Margherita, und nach wie vor in Breitenstein am Semmering. Werfel schrieb seine Werke in großer Geschwindigkeit: die erfolgreichen Theaterstücke Juarez und Maximilian und Paulus unter den Juden sowie zahlreiche Novellen, von denen hier nur Der Tod des Kleinbürgers und ein weiterer großer Verkaufserfolg, Der Abituriententag, erwähnt sei – eine Erinnerung an seine Gymnasialzeit. Barbara oder Die Frömmigkeit, ein Schlüsselroman, umspannte die Wiener Jahre 1917 bis 1920 und erschien 1929. Packender ist die Stimmung des Zusammenbruchs, der Selbstauflösung der Habsburgermonarchie selten geschildert worden. Im selben Jahr haben Werfel und Frau Mahler standesamtlich geheiratet – allerdings erst, nachdem Franz, den Alma übrigens gerne ihr „Mannkind“ nannte – sich zumindest amtlich vom Glauben seiner Vorväter getrennt hatte: Eine Woche vor der Hochzeit, am 27. Juni 1929, trat er offiziell und amtlich beeidet aus der jüdischen Religionsgemeinschaft aus. Zu Beginn des Jahres 1930 unternahm das Ehepaar eine Nahostreise (die zweite innerhalb von fünf Jahren); sie besuchten zunächst Ägypten, fuhren dann nach Palästina weiter. Und von Jerusalem nach Syrien und in den Libanon. Ein schwerbewaffneter Fremdenführer begleitete sie, führte die beiden durch das zerfallene Damaskus, zeigte ihnen, unter anderem, eine große Teppichweberei. Um die vielen Webstühle herum kauerten verkrüppelte Jugendliche, die tatenlos vor sich hinzudämmern schienen. „Wir gingen die Webstühle entlang“, heißt es in Alma Mahler-Werfels Tagebuchaufzeichnungen, „und überall fielen uns ausgehungerte Kinder auf, mit bleichen El Greco-Gesichtern und übergroßen dunklen Augen.“ Auf Werfels Frage, wer denn diese Erbarmungswürdigen seien, entgegnete der Fabrikherr, er habe sie einst aufgenommen, um sie vor dem Hungertod zu retten – es seien Waisen, Kinder armenischer Christen. In den Jahren 1915 bis 1917 waren über eine Million Menschen einem Völkermord unvorstellbaren Ausmaßes zum Opfer gefallen. Bei Alma Mahler-Werfel heißt es: „Franz Werfel und ich gingen tief betroffen weg, nichts wollte uns nun wichtig oder schön erschei-
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nen. […] Die Armenier gingen (Werfel) nicht aus dem Sinn.“ In der Folge entstanden Die 40 Tage des Musa Dagh. In die Zeit der Niederschrift des so umfangreichen Werks fallen auch Hitlers Aufstieg zur Macht und seine Machtergreifung. Noch vor den Reichstagswahlen am 5. März 1933 erhielten alle Mitglieder der Preußischen Akademie für Dichtkunst ein Rundschreiben mit der Aufforderung, das neue Präsidium davon in Kenntnis zu setzen, ob man in Anbetracht der „veränderten geschichtlichen Lage“ bereit sei, der Akademie der Künste weiterhin zur Verfügung zu stehen. Eine solche Loyalitätserklärung verpflichte den Unterzeichnenden zur Mitarbeit im „national-kulturellen“ Sinne. Neun der 27 Mitglieder der Abteilung Dichtkunst antworteten sofort mit „Nein“, darunter Alfred Döblin, Thomas Mann und Jakob Wassermann. Franz Werfel hingegen unterschrieb die Treuebekundung gegenüber den neuen Machthabern mit „Ja“. Ein Schritt, zu dem er sich wohl (nicht zuletzt auch auf Anraten seines jüdischen Verlegers Paul Zsolnay) entschlossen haben mochte, um den Verkauf des Musa Dagh nicht zu gefährden, der im November 1933 erscheinen sollte. Das „Ja“ half Werfel wenig: Schon wenige Wochen später brannten auch seine Werke auf den Bücherverbrennungs-Scheiterhaufen deutscher Städte. Und dennoch bemühte er sich noch im Herbst 1933, man kann es kaum fassen, in den von Joseph Goebbels neu gegründeten Reichsverband Deutscher Schriftsteller aufgenommen zu werden, obwohl es in der Satzung unmissverständlich hieß, nur „deutschblütige“ Autoren seien willkommen! „Ich bitte Sie, zur Kenntnis zu nehmen, dass ich czechoslowakischer Staatsbürger bin“, hieß es in seiner Petition (die naturgemäß unbeantwortet blieb), „und meinen Wohnsitz in Wien habe. Zugleich möchte ich erklären, dass ich jeglicher politischen Organisation und Tätigkeit immer fern stand und fern stehe. Als Angehöriger der deutschen Minorität in der Czechoslowakei, der seinen Wohnsitz in Österreich hat, unterstehe ich den Gesetzen und Vorschriften dieser Staaten.“ Bereits 1931 war das Ehepaar aus der Wiener Innenstadt in eine von dem berühmten Architekten Josef Hoffmann erbaute herrschaftliche Villa im Vorort Grinzing, auf der Hohen Warte, übersiedelt; nun galt Werfel in der Wiener Gesellschaft endgültig als der arrivierte Großschriftsteller schlechthin. Politisch sah man in ihm ohnehin längst einen Verräter: Unter Almas Einfluss hatte er sich immer mehr in einen erklärten Feind der Linken verwandelt, pflegte enge Kontakte zu Österreichs klerikalfaschistischem Bundeskanzler Kurt von Schuschnigg, einem gern gesehenen Gast auf der Hohen Warte. So sehr das pompöse, dreistöckige Gebäude zu Alma passte, so wenig fühlte sich Werfel allerdings hier je zuhause. Auch die rauschenden Feste, die in dieser Villa stattfanden, behagten ihm nicht, immer öfter zog er sich in die Einsamkeit von Breitenstein am Semmering zurück.
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Im Jahr 1935 reiste das Ehepaar zum ersten Mal nach Amerika, um der Premiere von Werfels Bibelspiel Der Weg der Verheißung, The Eternal Road unter Max Reinhardts Regie mit Kompositionen von Kurt Weill am Manhattan Opera House beizuwohnen. Doch die Produktion wurde von endlosen Pannen heimgesucht, die Premiere verzögerte sich immer und immer wieder, sodass die beiden nach Monaten des Aufenthalts in New York nach Europa zurückkehrten. Aber Werfel, durch und durch Europäer, stellte fest, er fühle sich in den USA erstaunlich wohl, empfand sogar etwas wie „Zuhausegefühl“. In New York rückte er auch erstmals seit Jahren wieder näher an sein Judentum heran, bekannte vor einem jüdischen Auditorium, er sei zwar vom Glauben der Väter in den letzten Jahren beträchtlich abgerückt, doch „durch Leid und Erkenntnis“ bewege er sich nun langsam wieder zu seinen Wurzeln zurück. Er sprach von einer „neuen Verfolgung“, der das Judentum in Europa ausgesetzt sei, wobei er seine Überzeugung zum Ausdruck brachte, „dass Israel durch keine Verfolgung vernichtet werden kann“. Anfang März 1936 trafen die Werfels wieder in Wien ein, in einem Brief an Max Reinhardts Sekretär hieß es damals: „Komischerweise habe ich […] gewissermaßen ein Heimweh nach New York.“ Konsequenterweise sollte sein nächstes großes Vorhaben zugleich auch sein jüdischstes Buch werden: der Prophetenroman Jeremias – Höret die Stimme. Ein Buch, das er gewissermaßen gegen Almas Willen konzipiert und geschrieben hat. In die Zeit der Niederschrift fällt die Eskalation des Spanischen Bürgerkriegs, zwischen den Ehepartnern konstanter Grund für Streitigkeiten, da Werfel mit der linksgerichteten spanischen Regierung, Alma jedoch mit Franco sympathisierte. Im Frühjahr 1937 trennten sich die beiden sogar für einige Zeit, Werfel zog zu seiner Schwester nach Zürich, und Alma fasste den Plan, das Palais in Wien demnächst zu verkaufen, sie empfand es nun als ein „Unglückshaus“, in dem ihr Mann überdies kaum je gearbeitet hatte. Mitte Juni 1937 wurde im Garten ein Abschiedsfest gefeiert, zu dem noch einmal die Elite der Wiener Gesellschaft, Hochadel, Finanzbarone, Politiker und Künstler geladen waren. Und schon wenige Monate später holte die Realität alles ein: Ihr Freund Kurt von Schuschnigg „wich“, so seine eigenen Worte in einer Radioansprache, „der Gewalt“. Er demissionierte am 11. März 1938, bereits am nächsten Morgen marschierte die deutsche Wehrmacht in Österreich ein, vom Großteil der Bevölkerung stürmisch begrüßt. Werfel hielt sich gerade auf Capri auf, Alma in Wien, das sie nun fluchtartig verließ; in Mailand fand das Wiedersehen mit ihrem verzweifelten Mann statt. „Oh Haus in Breitenstein, wo ich 20 Jahre gearbeitet habe, soll ich dich nie mehr wiedersehen?“, notierte er in sein Tagebuch, eine Angina mit hohem Fieber ließ ihn „diese entsetzlichen Tage, die nun zum 3ten Mal seit 33 Jahren mich zu einer neuen Lebensepoche zwingen“ nur noch „verschleiert“ mitbekommen. Das Flüchtlingspaar zog zunächst nach Paris, doch Franz Werfel übersiedelte bald in
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den Vorort St. Germain-en-Laye, in eine kleine Hotelpension, während Alma in Südfrankreich nach einer neuen Bleibe für sie beide suchte. Im Fischerstädtchen Sanary-sur-Mer, nahe Marseille, fand sie die geeignete Wohnstätte: einen alten Sarrazenenturm, hoch über der Ortschaft gelegen, mit weitem Blick auf das Meer. Währenddessen erlitt Werfel in St. Germain einen leichten Herzinfarkt – Schwäche und akute Todesangst bestimmten seine Tage. Vier Wochen später zogen Franz und Alma nach Sanary. Ein kreisrunder Raum unter dem Dach, mit zwölf windgerüttelten Fenstern, gefiel Werfel besonders gut, es gelang ihm hier, konzentriert zu arbeiten. Einer der aus meiner Sicht besten Texte, die er je geschrieben hat, ist hier entstanden, leider blieb das Manuskript Fragment: Cella oder die Überwinder, eine schonungslose Nachzeichnung der Atmosphäre Österreichs in den Monaten vor dem Anschluss. Anlässlich eines Wiedersehens mit seinen Eltern, im November 1938, in Zürich, beriet die Familie in großer Erregung, ob man Europa so rasch wie nur möglich verlassen sollte, bevor ein neuer Weltkrieg ausbreche. „Der Papa quält mich mit dem Gejammer: ,rettet Euer Leben, Du und Alma‘“, schrieb Franz an seine Frau. „Er bildet sich ein, wir werden von der Gestapo erschossen werden, wenn wir in Europa bleiben.“ Doch vorerst blieb man in Sanary, Werfel brach die Arbeit an Cella ab und widmete sich dem Roman Der veruntreute Himmel, die Geschichte einer Magd, den er bereits nach zehn Wochen abgeschlossen hatte. Das Buch sollte ein großer internationaler Verkaufserfolg werden, allein in den USA verkauften sich innerhalb kürzester Zeit 150.000 Exemplare. Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, am 1. September 1939, veranlasste Werfel, sich freiwillig zur tschechoslowakischen Legion zu melden: „Ich hätt’s nicht für möglich gehalten, dass ich noch einmal vor der Maßmaschine einer Assentkommission stehen werde“, schrieb er seiner Mutter, „ich musste in meiner adamitischen Nacktheit über mich lachen. […] Alles ist wie ein grotesker Traum.“ Der Regimentsarzt erklärte den Weltfreund, keineswegs überraschend, für kriegsdienstuntauglich. Und bereits kurze Zeit später verwandelte sich der „groteske Traum“ in einen Alptraum: Als Hitler Anfang 1940 in Frankreich einmarschierte und am 14. Juni Paris eroberte, brachen Franz Werfel und Alma Mahler fluchtartig aus Sanary auf. Ihr Plan: Spanien und Portugal zu durchqueren und ein rettendes Schiff nach Amerika zu besteigen. Es folgte eine wahre Odyssee, die sie zunächst über Marseille, Bordeaux, Biarritz, Hendaye nach St. Jean-de-Luz führte. Überall begegneten ihnen Tausende Verzweifelte in ähnlicher Lage, bis sie schließlich in den Wallfahrtsort Lourdes in den Pyrenäen gelangten. Während der fünf Wochen ihres Aufenthalts hier, erfuhr Werfel erstmals Genaueres über die wundersame Müllerstochter Bernadette Soubirous, der als 14-Jähriger mehrmals die Mutter Gottes erschienen war, Visionen, welche die Kirche zunächst keineswegs anerkannt hatte. Bevor er Lourdes verließ, um nach Marseille zurückzukehren, wo er
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die noch nötigen Ausreisepapiere zu ergattern hoffte, legte er in der berühmten Grotte ein Gelübde ab: Sollte ihm die Flucht nach Amerika glücken, so wollte er, zuallererst, ein Buch zu Ehren der Heiligen Bernadette verfassen. Eine entscheidende Wendung des Schicksals brachte die Intervention des jungen amerikanischen Quäkers Varian Fry mit sich, der dem Ehepaar Werfel half, ohne die erforderlichen Papiere zu fliehen. Gemeinsam mit Golo und Heinrich Mann sowie Heinrich Manns Frau Nelly überquerten Alma und Franz zu Fuß die Pyrenäen, und es grenzte wirklich an ein Wunder, dass sie es geschafft haben: Auf Ziegenpfaden gelangten sie nach Spanien, reisten schließlich weiter nach Lissabon. Mit dem griechischen Dampfer „Nea Hellas“ gelangten sie im Oktober 1940 nach New York. Bis Weihnachten blieben sie in Manhattan, dank des Erfolgs von Der veruntreue Himmel aller finanziellen Sorgen enthoben. Zum Jahresende übersiedelten sie nach Los Angeles. Das milde Klima, die Ungezwungenheit der kalifornischen Gesellschaft, nicht zuletzt die Filmstudios lockten eine große Zahl deutschsprachiger Emigranten an, darunter Thomas Mann und Heinrich Mann, Alfred Döblin, Bert Brecht, Lion Feuchtwanger, aber auch Arnold Schönberg und Max Reinhardt. Kaum eingezogen in ihr erstes kleines Häuschen in den Hollywood Hills, eineinhalb Jahre später sollten sie in den vornehmen Villenbezirk Beverly Hills übersiedeln, begann der Dichter Mitte Januar 1941 mit der Niederschrift des Lourdes-Romans Das Lied von Bernadette. Es sollte der größte Erfolg seines Lebens werden: über eine Million verkaufter Exemplare innerhalb eines Jahres in Amerika allein, zugleich der bis dahin wohl größte Bestseller-Erfolg in der Verlagsgeschichte der Vereinigten Staaten. Die Verfilmung des Romans durch Henry King – mit Jennifer Jones in der Hauptrolle – wurde, darüber hinaus, ein enormes Boxoffice-Geschäft. Der Prager Weltfreund hatte den Gipfel des Ruhms erreicht – und das, ausgerechnet, in den USA. Alma hingegen genoss ihr neues Leben keineswegs: Immer wieder machte sie ihrem Mann bittere Vorwürfe. Nur seines Judentums wegen habe sie das geliebte Österreich verlassen müssen, verurteilt, in einem geist- und kulturlosen Land ihr Exildasein zu fristen, statt im Kreis ihrer Freunde und ihrer Familie in Wien zu leben. Es gab nur einen Fluchtweg, um Almas Unmut zu entkommen, den in die Arbeit. Er zog sich nach Santa Barbara zurück, etwa 130 km nördlich von Los Angeles, und mietete hier einen Bungalow, der zu dem Luxushotel Biltmore gehörte. Innerhalb von nur zehn Tagen entstand im Spätsommer 1942 das Theaterstück Jakobowsky und der Oberst, basierend auf den abenteuerlichen FluchtErzählungen eines Stuttgarter Bankiers namens Jacobowitz, den Werfel in Lourdes kennengelernt hatte. Einer der Gründe, warum Werfel sich zu diesem Stoff entschieden hatte, mochte der Umstand sein, dass er nach dem BernadetteErfolg nahezu ausschließlich als christlicher Autor gesehen wurde, man nahm
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allgemein an, er habe sich längst taufen lassen. Zwar hielt er den Katholizismus für die „reinste von Gott auf die Erde gesandte Kraft […] um die Übel des Materialismus und (des) Atheismus zu bekämpfen“, wie es in einem Brief an den Erzbischof von New Orleans hieß; da das Judentum jedoch eine Zeit grausamster Verfolgung durchmache, widerstrebe es ihm, sich gerade jetzt „aus der Schar der Verfolgten zu drücken“. Im Mai 1943 begann Franz Werfel mit ersten Notizen zu einem Roman, der bald Formen annahm, die ihn selbst überraschten. Er versank mehr und mehr in einem Geschehen, das 100.000 Jahre nach 1943 angesiedelt war, auf einem gänzlich flachen, von zahllosen Kriegen heimgesuchten, von grauem Rasen überzogenen und weitgehend unterirdisch bewohnten Erdball. Stern der Ungeborenen nannte er seinen absonderlichen, mit keiner seiner anderen Arbeiten vergleichbaren Science-Fiction-Roman – aus meiner Sicht das interessanteste, seltsamste und zugleich persönlichste Werk, das er je verfasst hat. Obwohl in fernster Zukunft angesiedelt, erzählt F. W., wie er im Text heißt, als Astralleib zu einer Hochzeit in ferner Zukunft eingeladen, detailgetreu seine Prager Kindheit und Jugend, sein Erwachsenenleben in Wien nach – eine Art Lebens- und Werkzusammenfassung, die dem Buch Aspekte einer nur halb versteckten Autobiografie verleihen. Einem Reporter gegenüber betonte er, der „Reiseroman“ werde sein allerbestes und wichtigstes Buch. Es ist wohl das unbekannteste geblieben. Während der Arbeit an diesem Roman erlitt Werfel, im September 1943, einen schweren Herzinfarkt, weit gefährlicher als jener Anfall in St. Germain, fünf Jahre zuvor. Einige Wochen lang schwebte er in Lebensgefahr. Er hatte das Gefühl, „in Wehen mit dem Tode“ zu liegen, wie er sich Alma gegenüber äußerte. Dennoch schrieb er, so gut er konnte, weiter an seinem „Reiseroman“, nicht selten im Bett aufsitzend – und erlitt Mitte Mai 1944 einen neuerlichen Infarkt, der ihn für weitere Wochen, sogar Monate an das Krankenlager fesselte. Fieberanfälle, Atemnot, Todesangst begleiteten seine Tage und Nächte. Dennoch schrieb er weiter und weiter, zumeist in Santa Barbara – ein Arzt und ein Sekretär begleiteten ihn in der Regel, die Wochenenden verbrachte er bei Alma in Beverly Hills. Das Kriegsende erlebte er als eines der größten Glücksmomente seines Lebens. „Die Niederlage Deutschlands“, schrieb er für eine deutschsprachige New Yorker Tageszeitung, „ist ein Faktum, das seinesgleichen in der Weltgeschichte nicht hat“, ein Ereignis, welches den Deutschen zu Bewusstsein bringen werde, „dass sie von einem Höllengeiste besessen waren“. Sein utopischer Roman umfasste im Juni 1945 bereits 1.000 Schreibmaschinenseiten. Als seine Freunde Ernst und Anuschka Deutsch ihn aufforderten, doch etwas weniger intensiv zu arbeiten, nicht gleich wieder nach Santa Barbara zurückzukehren, entgegnete er: „Das Buch muss fertig werden – früher als ich ...!“ Im Juli und August 1945 entstanden die letzten Kapitel des Sterns der
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Ungeborenen. Werfel bat seine „süße, einzig geliebte Alma“: „Sei nicht bös, dass ich Dich so viel allein lasse.“ Er arbeitete am vorletzten Kapitel, als die Atombomben Fat Man und Little Boy die Städte Hiroshima und Nagasaki auslöschten. Er begab sich für einige Tage nach Los Angeles, um ein wenig auszuruhen. Kaum dort angekommen, ereilte ihn ein neuer Kollaps, doch nach einer Woche strenger Bettruhe redigierte er, am 26. August 1945, eine Lyrikauswahl der ihm liebsten seiner Gedichte aus nahezu vierzig Jahren. Kurz vor 18 Uhr hörte sein Herz endgültig zu schlagen auf. Wenige Stunden später hat Alma mithilfe zweier katholischer Geistlicher, eine sogenannte „Begierdetaufe“ durchgeführt, die für jene Menschen gilt, die sich nach der Taufe sehnen, sie jedoch zu Lebzeiten – aus welchen Gründen auch immer – nicht empfangen konnten. In einen Frack und ein Seidenhemd gekleidet, so wie Werfel das eigene Begrabensein in kalifornischer Erde im Stern der Ungeborenen beschrieben hatte, ließ Alma Mahler ihr „Mannkind“ beisetzen. Dreißig Jahre nach seinem Tod, im Juli 1975, wurden seine sterblichen Überreste – in deutlicher Missachtung seines letzten Willens, jedoch Almas Testament Genüge tuend (sie selbst liegt in Wien begraben) – aus der Erde Hollywoods ausgegraben und mit einer Linienmaschine der TWA in die ehemalige Hauptstadt des k. u. k. Imperiums geflogen. Als Adresse hatte man versehentlich das Palais Wilczek, den Sitz der Österreichischen Gesellschaft für Literatur angegeben. Der Leiter der Gesellschaft konnte im letzten Moment verhindern, dass die für ein Ehrengrab auf dem Wiener Zentralfriedhof bestimmte Holzkiste aus Hollywood in den roten Plüschräumen seines Büros abgegeben wurde. Er eilte zum Flughafen. In seinem Beisein öffneten die Herren der Zollabfertigung den Deckel der Kiste. Sekundenlang und tief erschrocken sah der Herbeigerufene auf weißliche Knochenreste, sie waren dicht gebündelt und lagen fest in eine dicke Plastikplane verpackt.
Herkommen und Hingehen
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Franz Werfel und die Prager deutsche Literatur O Land der Mitte, Zweivölkerland, Dreivölkerland, Böhmerland! O Land des Blutes, das sich dreifach durchdringt und das dreifach vergossen wird in unaufhörlichen Opferungen seit tausend Jahren! Deiner Stämme Zahl, Deutsche, Slawen, Hebräer, umarmt einander in inbrünstiger Feindschaft. Aber vielleicht sieht Gott nur die Umarmung und nicht die Feindschaft! Land der unendlich ruhenden Saatfelder, Land der gierigen Industrien, Land grobschlächtiger Leiber, Land entschwebender Geister! Viele deiner Kinder sendest du aus, damit sie dein vergessen. Dann aber schickst du ihnen eifersüchtig über die fremden Meere Träume nach, die ihre Glieder in mystischer Lähmung erstarren lassen!1
Das schreibt Franz Werfel im 15. Kapitel des ersten „Lebensfragments“ seines Romans Barbara oder Die Frömmigkeit. Es ist der fast unvermittelte Ausruf des Erzählers, der seinen Helden Ferdinand in den Böhmerwald begleitet, wo er sein Kindermädchen Barbara in dessen tschechischer Familie besucht. Es ist der Ausruf Franz Werfels, dessen ambivalentes Verhältnis zu seiner Heimat darin zum Ausdruck kommt, einer Heimat, die von drei Völkern bewohnt war: den zahlreichen Tschechen, den weniger zahlreichen Deutschen, den wenigen Juden. Die Ambivalenz kommt darin zum Ausdruck: Er fühlt sich dort nicht recht zu Hause und doch hat er in der Ferne Sehnsucht nach diesem Heimatland. Sein emotionales Verhältnis zu Böhmen unterscheidet Werfel, sehe ich recht, von den anderen deutschsprachigen Autoren, die wie Werfel Prag verließen – ohne Sentimentalität. Etwa Willy Haas und Emil Faktor, die zu den wichtigsten Kritikern der Weimarer Republik in Berlin zählten, oder Paul Kornfeld, der Dramaturg bei Max Reinhardt war. Und die Berühmten, die nach Wien gingen, wohin auch Werfel schließlich zog: Sigmund Freud und Karl Kraus. Von den anderen, die in Prag blieben und erst von den Nationalsozialisten vertrieben oder ermordet wurden, ganz zu schweigen: Felix Weltsch etwa und Max Brod, zwei Zionisten, die in Prag zu Hause waren, sich dort wohlfühlten und Prag wohl nicht verlassen hätten, wenn die Nationalsozialisten sie nicht dazu gezwungen hätten. Max Brod war eigentlich erst in der Tschechoslowakischen Republik des großen Präsidenten Tomas G. Masaryk zu Hause. Masaryk war ein Judenfreund. Er hatte als Einziger 1900 gegen ein Heer von Antisemiten gekämpft, als der jüdische Schuster Leopold Hilsner wegen Ritualmords zum Tode verurteilt worden war. Masaryk erreichte eine Revision des Prozesses und wurde längere Zeit von Antisemiten verfolgt. Max Brod gehörte zum Jüdischen Nationalrat, den der Prä1 Werfel, Franz: Barbara oder Die Frömmigkeit. Wien 1929, S. 82.
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sident 1919 eingerichtet hatte, und war ein einflussreicher Kritiker, der sowohl mit der deutschen als auch mit der tschechischen Kultur der Stadt verbunden war. Überhaupt ist die Generation von Max Brod diejenige, die eine Beziehung zwischen den deutschsprachigen Pragern und den tschechischen absichtsvoll herstellte: durch Übersetzungen von Rudolf Fuchs und Otto Pick, durch Rezensionen von Max Brod, der alle Premieren des tschechischen Nationaltheaters besprach und nicht nur die des Deutschen Theaters. Das war eine Ausnahme. Egon Erwin Kisch berichtete, dass die Deutschen nie ins Narodni Divadlo gingen und die Tschechen nie ins Deutsche Theater. Doch Präsident Masaryk und die Seinen erreichten nach anfänglichen Schwierigkeiten ein auskömmliches Leben zwischen den drei Nationen, das erst durch die Nationalsozialisten getrübt wurde und durch die sogenannten Sudetendeutschen, die diesen scharenweise nachliefen. Wir brauchen noch 30 Jahre, sagte Masaryk 1930 im Gespräch mit Karel Capek. Diese 30 Jahre waren der tschechoslowakischen Republik nicht gegönnt. Und so endete diese einzigartige Blüte deutschsprachiger Literatur in Prag mit dem Einmarsch der deutschen Truppen im März 1939. Die Prager deutsche Literatur ist nicht die Literatur von Deutschen. Weder der Nationalität, noch der Staatsangehörigkeit nach waren die deutschsprachigen Prager Deutsche. Sie waren meistens Juden – mehr als Zweidrittel – und bis 1918 österreichische und danach tschechoslowakische Staatsbürger. Um 1850 machte die deutschsprachige Bevölkerung Prags noch 60 % der gesamten Bevölkerung der Stadt aus, vor und nach dem Ersten Weltkrieg waren es nur noch 6 %. Um 1850 war die Literatur dieser Bevölkerung eine Art Heimatliteratur, deren Wichtigkeit nicht unterschätzt werden sollte, die aber nicht über die Region hinausragte. Dasselbe gilt für die Literatur der deutschsprachigen Bevölkerung der Randgebiete Böhmens und Mährens bis auf wenige Ausnahmen. Diese Literatur der sogenannten Sudetendeutschen wurde schließlich immer nationalistischer, zum Teil tschechen- und judenfeindlich und unterschied sich dadurch scharf von der Prager deutschen Literatur. Das Besondere der Prager deutschen Literatur ist es eben, dass diese Literatur einer kleinen Minderheit in einer ansonsten tschechischen Stadt eine bedeutungsvolle ist, die in mindestens drei ihrer Vertreter in die Weltliteratur ragt und die weiterhin eine beachtliche Zahl von bemerkenswerten Schriftstellern und Publizisten hervorbrachte; Jürgen Serke hat eine große Zahl dieser Autoren festgehalten.2 Franz Kafka gehört sogar zu dem Dutzend wichtigster Schriftsteller europäischer Literatur des 20. Jahrhunderts. Dafür gibt es sonst kein Beispiel in der Literaturgeschichte. Was sind die Gründe für diese außerordentliche Erschei2 Serke, Jürgen: Böhmische Dörfer. Wanderungen durch eine verlassene literarische Landschaft. Wien 1987.
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nung? Einmal war diese Minderheit nicht so isoliert, wie es zunächst aussieht. Deutsch war die Verwaltungs- und Verkehrssprache im weiten Habsburgerreich, die dominierende Sprache unter den verschiedenen Völkern der Monarchie. So gab es auch in Czernowitz, wo drei bis vier Sprachen gesprochen wurden, eine Dominanz des Deutschen, nicht zuletzt durch die deutschsprachige Universität, die zu einigen bedeutenden deutschsprachige Autoren führte wie Rose Ausländer und Paul Celan. Zum andern gab es für die Prager deutschsprachigen Autoren einen Resonanzraum über die Stadt hinaus: in Österreich und in Deutschland. Wien und Berlin waren wichtige Orte der Orientierung und der Rezeption. Der Hauptgrund für die erstaunliche Entfaltung einer großen Literatur kann aber im Judentum der meisten Autoren gesehen werden. Es gab zwei, drei christliche Autoren, vor allem natürlich Rainer Maria Rilke, den ich aber für einen Einzelgänger halte. Eine Begabung wie die Rilkes kann auch ohne den literarischen Boden einer Stadt hervortreten. Etwa zur selben Zeit wie Rilke wurde ein anderer großer Autor des Symbolismus, nämlich Stefan George, in Bingen am Rhein geboren, wo es seit der Hl. Hildegard von Bingen kein besonderes geistiges Leben mehr gab. Rilke ist eine Ausnahme, die nichts über die Prager deutschsprachige Literatur sagt, wenn er auch in seinen Anfängen Prag eng verbunden war. Aber er strebte bald fort. Die Prager deutschsprachige Literatur ist also vor allem die Literatur von Juden. Die Juden waren Jahrhunderte lang eine winzige Minderheit im christlichen Europa, die sich zu behaupten wusste trotz aller Verfolgungen. Die Juden hielten unverdrossen an ihrer Religion, ihrer Tradition, ihrer Sprache fest. Sie bildeten eine eigene Literatur aus, unbeeindruckt von der umgebenden Mehrheit. Das waren natürlich die heiligen Schriften, deren Druck, Lektüre und Deutung, das waren aber auch Werke der Unterhaltung und Erbauung, hier in der jiddischen Sprache, der Sprache des Alltags neben der heiligen Sprache des Hebräischen. Diese Jahrhunderte lange Schulung im Lesen und Schreiben und Deuten und die Beharrlichkeit, eine eigene Sprache gegen die der Mehrheit zu bewahren, kam den Prager deutschen Autoren zustatten, die ihr Deutsch gegen die tschechische Mehrheit behaupteten. So kenne ich nur ein Beispiel, das mit der Prager deutschsprachigen Literatur Ähnlichkeiten aufweist. Es ist nicht die Literatur Dublins, die manchmal genannt wird. Die Iren haben der englischen Literatur großartige Schriftsteller geschenkt, aber diese gehörten nicht einer Minderheit in Dublin an, sondern der Bevölkerung der Stadt, die nur aus Iren bestand. Englisch war die Verkehrssprache für alle Iren, die ihre eigene Sprache weitgehend verloren. Hier lässt sich die ungleich stärkere Unterdrückung der Iren durch die Engländer erkennen, stärker als die der Tschechen durch die Habsburger. Erst in blutigen Kriegen konnten die Iren sich befreien, ihrer eigenen Sprache weitgehend beraubt. Hätten die
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Tschechen nicht ihre Sprache ergriffen und ausgearbeitet, sondern Deutsch geschrieben, also auch Karel Čapek und Jaroslav Hašek, dann wäre Dublin einen Vergleich wert. Nein, ein Modell, das Ähnlichkeiten mit dem Prager Modell bietet, ist die jiddische Literatur in New York in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Viele Juden aus Osteuropa entflohen dem Hunger und den Pogromen nach den USA. In New York entwickelte sich eine beachtliche jiddische Gemeinschaft mit eigenen Zeitungen, Zeitschriften und Verlagen, mit einer eigenen Literatur, die in enger Beziehung zur jiddischen Literatur der Herkunftsländer stand. Und sie ragte in die Weltliteratur hinein, bekannteste Beispiele: Scholem Alejchem und Isaac B. Singer, der Nobelpreisträger. Auch diese jiddische Literatur ist ihrem Ende nahe, der Resonanzraum in Osteuropa ist ihr verloren gegangen, Millionen Juden wurden ermordet, die jiddische Kultur ist dort nahezu verschwunden. Und die jüngeren Generationen von Juden in New York sprechen und schreiben Englisch. Das war auch das Ende der Prager deutschsprachigen Literatur, die eine kurze Blüte erreichte: zwischen der Emanzipation der Juden im 19. Jahrhundert, wodurch sie Zugang zur Kultur der Umgebung erhielten, und ihrer Vertreibung und Ermordung durch deutsche, österreichische und sudetendeutsche Nationalsozialisten, die zielstrebig die deutsche Kultur zerstörten, wo sie ihrer habhaft werden konnten. In wenigen Überlebenden, unter denen H. G. Adler der bedeutendste Autor ist, überdauerte diese Literatur noch eine Generation. Sie wäre jedoch auch ohne die Nationalsozialisten zu Ende gegangen. Sie hätte ihr sanftes Ende in der tschechischen Kultur gefunden. Die meisten Juden hätten sich – viele hatten es schon vorher getan – der nach 1918 dominierenden tschechischen Sprache angepasst; die meisten bekannten sich nun zur jüdischen Nation, nicht mehr zur deutschen. Das war einzig in Masaryks Prag möglich. Die Kinder von Kafkas Schwestern besuchten tschechische Schulen; ihre Mütter hatten noch deutsche besucht. Hier wäre eine Eigenart, die Prager jüdische Intellektuelle von anderen im deutschen Sprachraum unterscheidet: Viele neigten zum Zionismus, etwa Max Brod, Felix und Robert Weltsch, Oskar Baum, schließlich Hugo Bergmann, der einzige, der schon 1920 nach Palästina ging. Max Brod hat das mit der besonderen Situation der Stadt erklärt. Da die tschechische und die deutsche Kultur gegeneinander standen, blieb den Juden, wollten sie sich nicht für die eine Seite entscheiden und gegen die andere, nur ein dritter Weg, den ihnen der Zionismus öffnete. Sie wurden jüdische Juden, wie das Brod nennt, freilich nicht alle, auch H. G. Adler ist in der Regel nicht gut auf den Zionismus zu sprechen, den er in einigen Personen kennenlernte. Die Rückkehr zum Judentum, zu der sie durch die tschechischen und deutschen Antisemiten gezwungen wurden und schließlich durch die Nationalsozialisten, ließ die wenigsten zu frommen Juden werden.
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Jeder suchte sich sozusagen seine private jüdische Religion wie H. G. Adler oder auch seine private jüdisch-christliche Religion wie Franz Werfel. Franz Kafka, der sich als assimilierten Westjuden sah und sich nach dem Ostjudentum sehnte, das er idealisierte, wurde kein frommer Jude, sondern ein Reformhaus-Freund, der sich von vegetarischer Kost und Freikörperkultur mehr versprach als vom Studium des Talmuds. Ludwig Winder wiederum hat in seinem kleinen Roman Die jüdische Orgel die strenge orthodoxe Familie als ein Gefängnis dargestellt, aus dem sein Held entfliehen muss in die säkulare Umwelt. Kafka hat die Situation seiner Generation in einem Bilde trefflich ausgedrückt: Mit den Hinterbeinen klebten sie noch am Judentum, mit den Vorderbeinen griffen sie in die Luft, nach einem andern Halt zu suchen. Das konnte auch der Spiritismus sein oder die Mystik, siehe Hugo Bergmann, Willy Haas, Franz Baermann-Steiner und H. G. Adler wenigstens zeitweise. Das konnte auch der Marxismus sein, siehe wiederum Baermann-Steiner zeitweise und Egon Erwin Kisch, der Kommunist wurde und blieb. Sein Bruder Paul Kisch ließ sich taufen und wurde deutsch-national. Die Nazis haben ihn trotzdem als Juden umgebracht. Dies mag ein Gemeinsames der Prager gewesen sein. Das Judentum, das ihnen kaum überliefert wurde, war noch so weit vorhanden, dass sie sein Fehlen schmerzhaft empfanden und nach einem anderen Halt suchten, ja nach einem Sinn im Leben, den sie sich mit philosophischen und theologischen Gedanken zu bauen strebten, jeder für sich und immer noch dem deutschen Idealismus verpflichtet. So etwa Felix Weltsch, so Max Brod, so Hugo Bergmann, schließlich auch H. G. Adler und Franz Baermann-Steiner. Es sind immer eigene, individuelle Lösungen, die sie sich erarbeiteten. Aber ist das nicht der Weg aller Suchenden im 20. Jahrhundert bis heute, wenn sie nicht den alten Religionsgemeinschaften sich anschließen und nicht den großen säkularen Bewegungen wie Nationalismus, Rassismus, Kommunismus? Insofern sind die Prager wenig unterschieden von den anderen. Es wird auch schwer, eine Gemeinsamkeit im literarischen Schaffen der Autoren zu finden. Vielleicht am ehesten in der Lyrik, die von Werfel und Brod zu Adler und Baermann-Steiner führt: Hier gibt es eine gewisse Ähnlichkeit in diesem Übergang von traditioneller Form und neuer Gestaltung. In der Prosa wird die Gemeinsamkeit schwerlich zu finden sein. Je mehr man liest, umso weniger findet man Gemeinsames. Sie sind alle Juden, sie tragen alle an der Erfahrung dieser seltsamen Stadt Prag und sie verfassen doch höchst unterschiedliche Texte. Das Individuelle tritt hervor. Und findet man Ähnlichkeiten, dann zu anderen Nicht-Prager Autoren: Die Gesellschaftsromane Max Brods, heute fast unbekannt, haben mehr Ähnlichkeit mit den immer noch gelesenen Novellen der Wiener
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Arthur Schnitzler und Stefan Zweig als mit der Prosa Kafkas oder Baums. Der Prager Jude Leo Perutz hat eine Nähe zum christlichen Österreicher Alexander Lernet-Holenia. Kafka hat einen zarten Berührungspunkt ausgerechnet zu christlichen Autoren: zu Paul Leppin und zu Alfred Kubin, immerhin der eine Prager, der andere aus Leitmeritz. Die Lyrik des jungen Werfel und die Prosa des jungen Brod wurden von der Berliner Kritik als Meisterwerke des Expressionismus gefeiert, der wiederum keine Prager Eigentümlichkeit war. Die Prager deutschsprachige Literatur ist eben Teil der übrigen deutschsprachigen Literatur. Von der tschechischen Literatur, die in derselben Stadt geschrieben und publiziert wurde, hebt sie sich deshalb ab. Diese kennt keinen Expressionismus, der französische Surrealismus, der italienische Futurismus interessierte die Tschechen mehr. Die tschechische Literatur, die in derselben Zeit eine Blüte erlebte, kennt ebenfalls bedeutende jüdische Autoren; wenigstens ein Dutzend aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ließe sich aufzählen. Aber auch diese Autoren, wiewohl sie zur Mehrheit gehörten, in der Sprache der Mehrheit der Stadt Prag schrieben, hatten mitunter Probleme mit ihrer Zugehörigkeit. So fragte Richard Weiner, den man manchmal einen tschechischen Kafka nennt: „Wo ist mein Platz?“3 Er gehöre nicht zur tschechisch jüdischen Bewegung und auch nicht zu den Zionisten. Er sei ein tschechischer Schriftsteller und ein Jude. Seine Zugehörigkeit zum tschechischen Volk lasse er sich von niemandem nehmen. Er zitiert ein Beispiel: So habe ein Kritiker über einen jüdischen Autor gesagt, ein tschechischer Jude sei als Mitstreiter willkommen, aber das Recht auf nationale Zugehörigkeit stehe ihm denn doch nicht zu. Also auch hier im tschechischen Lebensbereich ist die Fremdheit des Juden nicht aufgehoben. Er gehört zu einer allzu oft diffamierten Minderheit. Die Deutschen sind für Weiner „die anderen“, er sieht sie also abgetrennt von den seinigen, ist ihnen aber freundlich gesonnen und hält dies für ein Erbteil seines Judentums, das Verständigung und Versöhnung fordere. Gewissermaßen waren die deutschsprachigen Juden in Prag sogar in einer besseren Position als die tschechischen, denn sie bildeten innerhalb des deutschen Lebensbereichs die Mehrheit: Mehr als Zweidrittel der Prager Deutschen waren Juden. In den Klassen des von katholischen Piaristen geführten Gymnasiums waren in der Regel von 20 Schülern 15 Juden, wenn nicht mehr. Unter den Prager Deutschen gab es deshalb kaum Antisemiten. Die gab es unter den Tschechen und unter den sogenannten Sudetendeutschen und dort schließlich immer mehr. Nach 1933 wuchs dort die Henlein-Bewegung, die sich ab 1937 offen als nationalsozialistisch zu erkennen gab. In den Kommunalwahlen vom März 1938 3 Weiner, Richard: Kreuzungen des Lebens. Erzählungen, Essays, Feuilletons, Briefe. Ausgewählt und kommentiert von Steffi Widera. München 2005, S. 45.
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errang die Partei Henleins rund 90 Prozent der Stimmen im sogenannten Sudetenland, also in den deutschsprachigen Randgebieten Böhmens und Mährens. In keinem Land, in keiner Gegend haben die Nationalsozialisten je ein solches Wahlergebnis bei freien Wahlen erzielt. Selbst im März 1933 bei den halbfreien Wahlen in Deutschland kamen sie nur auf 43,9 Prozent. Die Hälfte der Deutschen hatten also für andere Parteien gestimmt. Wie klein diese Prager deutsche Welt war, praktisch eine deutsche Kleinstadt in einer tschechischen Großstadt, zeigt die enge Beziehung der bekannten Autoren. Franz Kafka und Hugo Bergman gingen in dieselbe Klasse. In Werfels Klasse im Stefans-Gymnasium saßen auch Willy Haas, Paul Kornfeld, Franz Janowitz und der später berühmte Schauspieler Ernst Deutsch. In Werfels Roman Der Abituriententag finden wir einen Abglanz dieser Klasse und dieses Gymnasiums. Auch des fröhlichen Lebens der jungen Leute, vor allem Ernst Deutsch war ein treuer Begleiter des schlechten Schülers Werfel. Sie zogen abends durch die Kneipen und endeten meistens im berühmtesten und teuersten Bordell der Stadt, im „Gogo“, wo Werfel bei den Damen sehr beliebt war, weil er viele schönen Arien Verdis mit guter Stimme auswendig zu singen wusste, vom Bar-Pianisten unwillig begleitet. Natürlich schwänzten die beiden dann am nächsten Tag die Schule. Auf 80 Fehlstunden kam Werfel in einem Jahr, kein Wunder, dass er auch einmal sitzen blieb. Die Mutter von Brod und die Mutter von Haas waren befreundet. So ließ Willy Haas Max Brod über die Mütter wissen, er habe einen begabten Poeten in der Klasse. Max Brod, sechs Jahre älter als der 1890 geborene Werfel und schon Doctor iuris, so dass ihn die beiden Gymnasiasten respektvoll als „Herr Doktor“ anredeten, empfing den jungen Werfel und war begeistert. Es kostete ihn einige Mühe, seinen Berliner Verleger Axel Juncker zu überzeugen, die Gedichte des jungen Mannes zu drucken. Es ist erstaunlich, wie viel Brod für andere Künstler tat: für Kafka und Werfel, für Jaroslav Hašek und Leoš Janáček, immer mit gutem Gespür für Qualität. Werfels Gedichtband Der Weltfreund, 1911 erschienen, wurde ein Erfolg. Franz Kafka schrieb in einem Brief an Felice vom 12. 12. 1912: „Weißt Du, Felice, Werfel ist tatsächlich ein Wunder; als ich sein Buch „Der Weltfreund“ zum ersten Mal las (ich hatte ihn schon früher Gedichte vortragen hören) dachte ich, die Begeisterung für ihn werde mich bis zum Unsinn fortreißen. Der Mensch kann Ungeheures.“4 Heute ist dieser Erfolg schwer zu verstehen, einige Gedichte sind schwach, einige gut, aber den Erfolg, den sie sogleich errangen, können wir nicht mehr nachempfinden, wohl weil wir nicht mehr Werfel sie vortragen hörten, der sie 4 Kafka, Franz: Briefe an Felice. Und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit. Frankfurt a. M. 2009, S. 112.
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so feurig vortrug, dass er als Dichter Feuermaul im Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil karikiert wird. Musil war eifersüchtig auf den Erfolg anderer Autoren, die er für weniger bedeutend hielt als sich selbst. Und das waren fast alle. Dass Werfel früh von Prag wegging, hatte weniger mit den Tschechen zu tun, als er in einer Umfrage des Prager Tagblatts von 1922 behauptet. Die Redaktion stellte die Frage „Warum haben sie Prag verlassen?“ Werfel antwortete: 1912, in meinem zweiundzwanzigsten Lebensjahr, habe ich Prag endgültig verlassen. Es war damals ein halb auch unbewusster Rettungsversuch. Mein Lebensinstinkt wehrte sich gegen Prag. Für den Nichttschechen, so scheint es mir, hat diese Stadt keine Wirklichkeit, sie ist ihm ein Tagtraum, der kein Erlebnis gibt, ein lähmendes Ghetto, ohne auch nur die armen Lebensbeziehungen des Ghetto zu haben, eine dumpfe Welt, aus der keine oder falsche Aktivität herkommt. […] Der deutsche Prager, der zur Zeit fortging, ist schnell und radikal expatriiert, und doch liebt er seine Heimat, deren leben ihm wie ein ferner Wahn vorkommt; er liebt sie mit einer mysteriösen Liebe. Für die gesunde, einfach kräftige Rasse, die jetzt Herr im Lande ist, bedeutet Prag Leben, Hauptstadt, Kultur, Kulmination – das Geheimnis der Stadt versteht der Heimatlose daheim und in der Fremde besser.5
Ein Grund seines Weggangs war sein Vater. Franz war der einzige Sohn – er hatte noch zwei Schwestern – des erfolgreichen Handschuhfabrikanten Rudolf Werfel, der mehrere Fabriken besaß mit seinem Compagnon Böhm und Filialen in Berlin, Paris und London. Die anderen Prager Autoren sind nicht aus reichem Hause wie Franz Werfel, sondern aus gut bürgerlichen Verhältnissen. Die Eltern oder doch die Großeltern waren noch als kleine Handelsleute nach Prag gekommen, die Söhne und die Enkel wuchsen schon in wohlhabenden Familien auf, die ihnen das Studium ermöglichten, was die Söhne nicht immer den Vätern dankten. Rudolf Werfel war reich und hatte einen anderen Status als die Brods oder Kafkas. Natürlich erwartete der Vater von seinem Sohn, dass er die Firma übernähme. Franz wurde deshalb 1910 nach Hamburg zu einer befreundeten Firma geschickt, damit er dort sein Handwerk lerne. Das ging schief. Dann kam er 1912 nach Leipzig zu Kurt Wolff als ein Lektor, der wiederum mehr die Kneipen und die Bordelle der Stadt besuchte als den Verlag. Der Vater hatte sich inzwischen damit abgefunden, dass der Sohn nicht die Fabrik übernahm. So blieb Franz Werfel denn auch nach dem Militärdienst, den er in Prag absolvierte, und nach dem Krieg in Wien, wo er sich als Autor etablierte. Immerhin unterschied ihn das von den anderen Prager deutschen Autoren, die das tschechische Prag dem Wien der deutsch-nationalen Antisemiten und des Karl Kraus, der die Prager Autoren hasste, vorzogen. Wenn 5 Werfel, Franz: Zwischen oben und unten. Prosa, Tagebücher, Aphorismen, literarische Nachträge. München 1975, S. 592.
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sie weggingen, dann ins liberale Berlin. Dass Werfel in Wien blieb, hatte wohl vor allem seinen Grund in Alma Mahler, die er im November 1917 kennengelernt hatte und die er 1929 heiratete. Als Österreicher sah sich Werfel nicht. In seinem Roman Barbara oder Die Frömmigkeit gibt er ein eher düsteres Bild dieses alten Österreich, in das er hineingeboren wurde. Im Krieg zeigte es sein wahres Gesicht. Der Titel täuscht, das Buch hieße besser: „Habsburgs Untergang“. Dann stünde es neben dem Radetzkymarsch von Joseph Roth, wenn ihm auch jede verklärende Absicht fehlt. Es bringt die nackte Wahrheit, könnte man sagen, also das, was Werfel erlebt hat, ungeschönt. Es erzählt keineswegs die Geschichte einer Kindheit und Jugend unter dem Schutz eines frommen tschechischen Kindermädchens, wie der Titel glauben machen will. Davon handelt nur der erste Teil, der wesentlich kürzer ist als der zweite und der dritte Teil; der erste hat etwa 100 Seiten, die beiden folgenden das doppelte und es endet mit einem etwa 50 Seiten langen vierten Teil, in dem Barbara noch einmal auftritt, die im zweiten Teil kurz erscheint und im dritten Teil gänzlich fehlt. Die Teile heißen Lebensfragmente und erzählen die Lebensgeschichte des Helden Ferdinand. Es gibt eine im Grunde unnötige Rahmenhandlung: Ferdinand ist Schiffsarzt auf einem Schiff im Mittelmeer, wo auch noch eine Filmcrew mitfährt. Und er erinnert sich dann seiner Lebensgeschichte, die in der Er-Perspektive berichtet wird. Barbara hat als Vorbild Franz Werfels eigenes Kindermädchen Barbara Šimůnková eine einfache fromme Frau, die nie von der Kirche sprach, sondern selbstverständlich in ihrem Glauben lebte und voll Güte war. Franz besuchte gern mit ihr den Gottesdienst und seine Liebe zur katholischen Kirche wird hier ihren Grund haben. So also auch diese Barbara im Roman, doch ihr Zögling ist der Sohn eines hohen österreichischen Offiziers und einer hübschen jungen Frau, die ein Verhältnis mit einem anderen Offizier hat. Die Eltern trennen sich, beide sterben bald und das Waisenkind kommt in Internate. Hier wird das österreichische Militär vor dem Krieg sehr eindrucksvoll und in einem brillanten Stil vorgeführt: als lebensfroh und leichtfertig oder als streng und beschränkt, jedenfalls mit einem Gesichtskreis, der nur die Kaserne und das Casino kennt. Und mit der Erwartung, dass „wir wieder mal auf dem Balkan dreinschlagen müssen“. Im zweiten Teil bringt Werfel eine Schilderung des Ersten Weltkriegs, Ferdinand ist Leutnant geworden, er kommt an die Front. Hier hat Werfel eigene Erfahrungen verwertet von der galizischen Front. Diese Fronterfahrung zeichnet ihn vor anderen Prager Autoren wie Kafka und Brod aus, die das Entsetzliche nicht erleben mussten, sondern nur ahnten. Hier erreicht Werfel die Wucht von Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues, der wie Barbara oder Die Frömmigkeit 1929 erschien, und Edlef Köppens Heeresbericht, der 1930 erschien.
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Die Brutalität des Krieges, die Aggressivität einzelner Offiziere, die ihre Mannschaften ins Feuer jagen, das grauenhafte Sterben der Pferde, die wahnsinnigen Überlebenden des Grabenkampfes, all dies breitet Werfel aus. Das Misstrauen der Deutschsprachigen gegen die anderen wird auch deutlich, vor allem gegen die Tschechen. Hinter der Front sind Maschinengewehre aufgebaut, die verhindern, dass die Truppen zurückweichen oder gar fliehen. Ferdinand ist Telefonist, wie Werfel es war. Er soll drei Deserteure hinrichten und lässt sie im letzten Moment laufen. Zur Strafe wird er in einen Graben geschickt, wo ihm der Tod sicher ist. Er überlebt, schwer verwundet. Im Lazarett erscheint Barbara. Sie ist das Gegenbild dieser entsetzlichen Mordmaschinerie: Sie ist demütig, selbstlos und treu, voll Nächstenliebe. Der dritte Teil bietet ein einmaliges Panorama. Nirgends sonst habe ist die Verantwortungslosigkeit der Intellektuellen, die nur an sich denken, so scharf dargestellt gefunden wie hier. Es ist der Herbst des Untergangs der Monarchie, die Truppen laufen auseinander, die Hungernden sammeln sich in Wien. Im Kaffeehaus sitzen die Intellektuellen und beraten, Ferdinand stößt zu ihnen, auch hier wieder Werfels Erfahrungen in Wien 1918 und 1919. Die Intellektuellen sind vor allem mit sich und ihren Eitelkeiten und Marotten beschäftigt, ein wichtiges Problem, das sie umtreibt: Wo gibt es jetzt noch Kokain? Natürlich fasziniert sie auch die Revolution, vor allem Roland Weiß, dessen Vorbild Egon Erwin Kisch ist. Er ist ein fabelhafter Redner, der sich von seiner eigenen Gabe hinreißen lässt und so in die Rolle eines Anführer kommt, der er nicht gewachsen ist. Von diesen Menschen ist nichts zu erwarten zum Heil der Menschheit. Und vom Marxismus, den ein Gesandter Lenins mit blutigen Opfern durchsetzen will, auch nicht. Hellsichtig Werfels schlichte Analyse des Marxismus. Im letzten Teil kehrt Ferdinand in seine böhmische Heimat zurück, die nicht mehr seine Heimat ist; es ist jetzt die tschechoslowakische Republik. Das zeigen auch zwei Textstellen, die Werfels Ambivalenz noch einmal beleuchten: Seitdem er gestern die Grenze seines Geburtslandes überschritten hatte, lebte er in einer beengenden Verlegenheit. Er kam sich wie ein Mann vor, der in eine fremd – abgeschlossene Welt geraten ist, in der er zwar geduldet, aber nicht aufgenommen wird. Er gehörte der besiegten gestürzten Herrenschicht an (ach, wie wenig gehörte er ihr in Wirklichkeit an), er sprach deutsch und auch sein Aussehn verwies ihn zu jenen, die als überwundene Feinde galten. Jeder Blick der Grenzbeamten, die seinen Paß verlangten, das Benehmen der Eisenbahner, Kellner, Träger schuf, obgleich ihm niemand unfreundlich begegnete, diese Distanz. Nichts und alles hatte sich verwandelt. Es waren dieselben Menschen, dieselben Straßen, Häuser, Läden, doch sie trugen alle einen anderen Ausdruck, der sich selber stark betonte. […] Wäre Ferdinand anstatt hierher nach Amerika gekommen, er hätte sich nicht
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entrückter und unbeteiligter fühlen können als in diesem Lande, das seine Heimat war, und unter diesem Volke, dem er nicht zugehörte.6
In der untergegangenen Monarchie freilich ging es ihm auch nicht gut: Der Sohn des Obersten hatte den Herrscher und seinen Staat niemals geliebt, denn der Staat war ihm ein harter, liebloser Vorgesetzter gewesen: Militärschule, Major Krispin, der Klassenfeldwebel, das Alumnat, schlechte Ernährung, ärarische Kleidung, Gefängnisleben, neuerdings Kaserne, Krieg, Unterstände, Todesurteile, Steidler, Ferdinandowka III (der Todesgraben an der Front), Spitalsgestank – dies alles war der Staat. Er verdiente kein liebendes Angedenken.
Doch dann heißt es: Dort war er zwar nicht gut behandelt worden, aber doch zu Hause gewesen. Heute besaß er nur einen Paß aber keine Heimat.7
Erst spät, als die Nationalsozialisten die Tschechoslowakei zerschlugen, da war Werfel schon im Exil, beschrieb er die Größe seiner Heimat. Er veröffentlichte zwei großartige Essays, in denen er den Charakter dieses alten Königsreichs Böhmen und den des tschechischen Volkes trefflich darstellte. Dass er es kannte und dass er wusste, was dieses Land einmal war und was es sein könnte, beweist er hier. Der erste Essay heißt Das Geschenk der Tschechen an Europa, in dem er die wichtige zwischen Ost und West verbindende Rolle der Tschechen in der Mitte Europas darlegt. Der zweite Essay heißt Die kulturelle Einheit Böhmens. Er schrieb ihn, als nach dem Münchener Abkommen 1938 die sogenannten sudetendeutschen Gebiete abgetrennt wurden. Dass die meisten Sudetendeutschen von diesem alten Königreich Böhmen, das sie zerrissen und schon 1918 zerreißen wollten, weniger verstanden als der Prager Jude Werfel, zeigt sich hier. Zum Schluss zwei Tagebucheintragungen, ebenfalls im Sammelband Zwischen oben und unten, in dem auch die Essays stehen. Unter dem 13. März 1938 notierte er nach der Besetzung Österreichs: „Heute am Sonntag, den 13. März, will mein Herz vor Leid fast brechen, obwohl Österreich nicht meine Heimat ist.“8 Und unter dem 23. September 1938 schreibt er: „Höhepunkt des Grauens und der Schmach! Ich fühle mehr mit Böhmen, als ich jemals geahnt hätte.“9 So fühlte er doch mit seiner Heimat. Und die war Böhmen, das 1938 zerstört wurde, und die war Prag, das 1939 zerstört wurde. 6 Werfel, Franz: Barbara oder Die Frömmigkeit, Frankfurt a. M. 2009, S. 550f. 7 Werfel, Zwischen oben und unten, S. 571. 8 Werfel, Zwischen oben und unten, S. 743. 9 Werfel, Zwischen oben und unten, S. 743.
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Judentum und Christentum im Leben und Werk Franz Werfels Das Leben Franz Werfels spielt sich zwischen Judentum und Christentum ab. Erzogen von einer katholischen Kinderfrau in einer Prager jüdischen Familie wächst er in einem religiösen Zwiespalt auf, der ihn bis zu seinem Tod nicht loslässt. Werfels religiöse Heimatsuche widerspiegelt sich in seinen Werken, und auch wenn es literaturwissenschaftlich fragwürdig ist, aus dem Inhalt der Werke und aus der Darstellung der Figuren auf die Biografie des Autors Rückschlüsse zu ziehen, kommt man bei Werfel nicht umhin, die biografischen Anspielungen in seinen Werken wahrzunehmen und zumindest als ein stets aktuelles Thema seines literarischen Schaffens zu betrachten. Werfels Auseinandersetzung mit der religiösen Problematik wird nicht ausschließlich durch seine familiäre Situation bestimmt, vielmehr machen politische Entwicklungen in den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts ein intensives Nachdenken über sein Glaubensbekenntnis unumgänglich. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten sowie die darauf folgende Judenverfolgung zwingen viele Menschen in die Flucht. Aus der eigenen Heimat verbannt, ihres Eigentums beraubt, versuchen diese, mit ihrem Schicksal zurechtzukommen, zu verstehen, was sich in Europa abspielt und sich ein neues Leben aufzubauen. Genauso ergeht es Werfel, der seine persönlichen Erfahrungen in den Werken, die in dieser Zeit entstehen, verarbeitet, wobei Religion immer eine wesentliche Rolle spielt. Im Folgenden werden die Wechselbeziehungen zwischen Werfels persönlichem Glauben und seiner Tätigkeit als Schriftsteller an einigen Beispielen aus seinen Werken thematisiert, um die Komplexität einer Religiosität aufzuzeigen, die einer Gratwanderung zwischen zwei Religionen gleicht, aber eine eindeutige Entscheidung für eine von den beiden unmöglich macht.
Geschichtlich-biografischer Hintergrund Als Werfel 1890 auf die Welt kommt, bildet die jüdische Bevölkerung in Prag eine beachtliche Gemeinde, die die bürgerliche Mittelschicht der Stadt ausmacht. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Familie Werfel nicht von den anderen Prager Juden. Auch die Tatsache, dass eine katholische Tschechin, Barbara Šimůnková, als Kinderfrau angestellt wird, entspricht den Gepflogenheiten des jüdischen Bürgertums. Vielleicht stellt lediglich die emotionale Bindung, die
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das kränkliche Kind zu seiner Erzieherin entwickelt, eine Ausnahme dar: Franz begleitet Barbara zur Messe, betet mit ihr und nimmt dadurch unbewusst ihren Glauben als etwas Wertvolles und Bedeutsames wahr. Die glückliche Kindheit an ihrer Seite nimmt ein Ende, als Werfel seine berufliche Laufbahn aufnimmt, oder besser gesagt, als er sich beharrlich weigert, eine solche einzuschlagen und so seinen Lebensunterhalt zu sichern. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges bringt einen weiteren entscheidenden Einschnitt in Werfels Leben. Als Angehöriger der österreichisch-ungarischen Armee nimmt er an Kampfhandlungen teil, bis er im Kriegspressequartier in Wien eine weniger gefährliche Arbeit verrichten darf. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland und der Anschluss Österreichs bedeuten einen nächsten Schritt im Leben des Schriftstellers, der nun als Angehöriger der mosaischen Glaubensgemeinschaft mit denselben Repressalien zu rechnen hat wie viele Juden im gesamten Europa. Die einzige Lösung, die er für sich sieht, ist die Flucht in die Vereinigten Staaten, wo er bis zum Ende seines Lebens bleibt.
Auseinandersetzung mit religiösen Themen in den Werken Werfels Das religiöse Thema wird in vielen Werken Werfels unterschiedlich dargestellt. In der Jugend schwärmt er für das Christentum, was vor allem in seinen Gedichten und Erzählungen zu beobachten ist. Später setzt er sich vermehrt mit dem Judentum auseinander, insbesondere angesichts der Verfolgungen in den Dreißigerjahren. Nach der Flucht in die Vereinigten Staaten von Amerika finden sich sowohl christliche als auch jüdische Schwerpunkte in seinen Veröffentlichungen. Alle diese Texte bezeugen das konstante Interesse des Autors an Religionen sowie die Versuche, einen Ausgleich zwischen beiden zu finden. Franz Werfel kommt in einer assimilierten jüdischen Familie zur Welt, in der die Religion im Grunde nur eine untergeordnete Rolle spielt, umso bedeutsamer erscheint ihm die Religiosität der Kinderfrau Barbara. Erst in der Schulzeit, als Werfel den jüdischen Religionsunterricht besucht, wird er zum ersten Mal in seinem Leben bewusst mit seiner Zugehörigkeit zum Judentum konfrontiert, die er allerdings nicht ernst nimmt und sich als einen Christen betrachtet. Was ihn an Barbara fasziniert, ist ihr selbstverständlicher, unbeschwerter Umgang mit Religion, die einfach einen Teil ihres Wesens ausmacht und nicht aufgesetzt erscheint. In diesem Zusammenhang kann man bereits den ersten Anknüpfungspunkt an seine Literatur wagen: Im Roman Barbara oder Die Frömmigkeit beschreibt er ein Kindermädchen, das nicht nur im Hinblick auf ihren Namen,
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sondern vor allem in Bezug auf ihren Glauben sowie auf die Gestaltung der emotionalen Bindung, die sie dem von ihr zu betreuenden Kind entgegenbringt, stark an die Erzieherin Werfels erinnert: Barbara ruhte ahnungslos in der Religion, wie ein Tier des Waldes, ein Vogel der Luft ahnungslos in seinem Element lebt. Wie diese Wesen in einer den Menschen unfaßbaren Weise naturnah sind, so war Barbara gottnahe. Die Nähe aber zeigte sich in keinerlei heiligem Gehaben, nicht in frommen Anrufungen und Gebeten, oder gar in einer leidenschaftlichen Kirchlichkeit, sie zeigte sich in einer tiefen und gleichmäßigen Ruhe, die Barbaras Lebenszustand war.1
In einer Zeit, in der sich Werfel immer bewusster zum Christentum bekennt, sind Martin Buber und Max Brod diejenigen, die, in assimilierten Familien aufgewachsen, erst als Erwachsene das Judentum als ihre eigene Religion entdeckt und zu ihrem Lebensinhalt gemacht haben. Um ihre Freundschaft nicht aufs Spiel zu setzen, beginnt er sich ernsthaft mit seiner angestammten Religion zu befassen, seine Bindung ans Christentum will er allerdings nicht aufgeben. Auf einen Artikel von Kurt Hiller, in dem der Aktionismus als die treibende Kraft der Menschheit angepriesen wird, antwortet Werfel mit einem Lobgesang auf das Christentum und dessen Werte. Diese Entgegnung wird unter seinen jüdischen Freunden als ein öffentliches Bekenntnis zum Christentum gewertet und ruft eine Reihe empörter Reaktionen hervor. Noch vor dem Ende des Ersten Weltkrieges lernt Franz Werfel die Liebe seines Lebens, Alma Mahler, kennen und um sie zu heiraten, ist er bereit, aus der jüdischen Glaubensgemeinschaft auszutreten. Mittlerweile erscheint die religiöse Problematik aber als so bedeutsam, dass gerade seit dem Austritt aus dem Judentum eine ernsthafte Beschäftigung mit der religiösen Thematik in seinen Werken zu erkennen ist. Zunächst versucht Werfel, das Judentum und das Christentum auf einen Nenner zu bringen. Die beiden Religionen müssten nach seiner Ansicht in einer Art Symbiose miteinander leben, damit die Menschheit eine friedliche Zukunft erwarten könne. Nicht nur im Hinblick auf die politischen Entwicklungen sieht er den Wert einer Vereinigung, ein derartiger Schritt würde auch die Lösung des persönlichen religiösen Dilemmas für viele Menschen bringen. Eine besondere Prägnanz erfährt diese Problematik in zwei Werken: im Roman Barbara oder Die Frömmigkeit sowie im Drama Paulus unter den Juden. In beiden werden Figuren vorgestellt, die die Religion als den Mittelpunkt ihres Lebens betrachten, wodurch sie sich in einer Gesellschaft, die auf ein Entweder-Oder besteht, nicht zurechtfinden.
1 Werfel, Franz: Barbara oder Die Frömmigkeit. Frankfurt a. M. 1996, S. 34.
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Eine der bedeutsamsten Gestalten in Barbara oder Die Frömmigkeit ist Alfred Engländer, ein Jude, der zwar erkannt hat, dass Jesus tatsächlich der von Gott gesandte Messias ist, angesichts seiner Zugehörigkeit zum Judentum diesen Glauben aber unter keinen Umständen ausleben darf. Er empfindet sich als in einem jüdischen Körper gefangen, der einen ehrlichen Religionswechsel nicht zulässt. Um sein Problem zu lösen, wendet er sich an den Erzbischof von Wien und an den Oberrabbiner und möchte sie davon überzeugen, dass eine Überwindung der Jahrhunderte alten Trennung einen wichtigen Schritt in der Geschichte der Menschheit bedeuten würde und daher unbedingt anzustreben sei. Die Unwilligkeit der Entscheidungsträger sowie seine inneren Kämpfe wirken sich so negativ auf seine Persönlichkeit aus, dass er letztendlich in eine Anstalt für psychisch Kranke gebracht wird. Ein ähnliches Schicksal erleidet der Apostel Paulus, die Hauptfigur des Dramas Paulus unter den Juden, der ebenfalls bereit ist, den Glauben an Christus als den Erlöser anzunehmen, dadurch aber die Zugehörigkeit zum Judentum verleugnen müsste, was ihm schwere innere Kämpfe bereitet. Er erkennt, dass Jesus Christus der von Gott gesandte Messias ist, und möchte diese Erkenntnis allen Juden mitteilen, damit sie von nun an in der messianischen Zeit ihren Glauben fortsetzen können. Was für Paulus allerdings selbstverständlich erscheint, ist für seine Glaubensgenossen nicht nachvollziehbar. Sie verlangen, dass er seine Ansichten widerruft oder die Synagoge verlässt. Auch die Apostel, denen sich Paulus anschließen will, sind skeptisch: Sie können nicht vergessen, dass er am Tod einiger von ihnen die Schuld trägt, und sie finden es gefährlich, ihm lediglich aufgrund seiner Behauptung, er hätte eine Vision von Christus gehabt, zu vertrauen. Paulus nimmt die Frage nach der religiösen Zugehörigkeit nicht auf die leichte Schulter. Er ist gläubig, er hat Gründe für seine Entscheidung für das Christentum und ersucht seinen Lehrer, sich für eine Implementierung des Christentums ins Judentum einzusetzen. Erst wenn das nicht möglich sein sollte, erwartet er Verständnis und Zustimmung für seinen Religionswechsel. In beiden Werken geht es um innere Kämpfe der Figuren, denen Religion sehr wichtig ist und die um Erlösung von ihren Qualen flehen. Beiden Romanfiguren ist klar, wer sie sind, was ihnen erlaubt ist, aber sie leiden darunter, dass niemand sie versteht und unterstützt. Übertragen auf die Biografie Werfels handelt es sich um die Zeit, in der er immer noch für das Christentum schwärmt, sich aber seiner ererbten Verpflichtung gegenüber dem Judentum bewusst ist. Er ist verzweifelt, weil er keinen Platz in der religiösen Welt findet, er möchte aber auf keinen Fall auf eine der beiden Religionen verzichten. In den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts erweist sich die Religionszugehörigkeit nicht als eine persönliche, sondern als eine politische Frage. Auch wenn sich Werfel nicht in die Politik einmischen will, wird er von den an die Macht
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gekommenen Nationalsozialisten als Jude angesehen und muss mit denselben Verfolgungen rechnen wie die anderen Angehörigen dieser Religionsgemeinschaft. Er beginnt, sich mit den Leidenden zu identifizieren. In seinen Werken nehmen die Beschreibungen der Gräueltaten zu, die an verschiedenen Orten in Europa vermehrt stattfinden. Auf der Flucht vor den Nationalsozialisten begibt er sich in die Vereinigten Staaten, wo er – diesmal aus einer räumlichen Distanz heraus – seine religiösen Überzeugungen anstellen und seinen Lesern mitteilen kann. Die letzten Jahre seines Lebens verbringt er mit einer endgültigen Standortbestimmung in Bezug auf die beiden Religionen, die sein Leben geprägt haben. Bereits im Jahr 1939 entstehen zwei Werke, die entweder das Judentum oder das Christentum zum Gegenstand haben: Cella oder Die Überwinder und Der veruntreute Himmel. In beiden Romanen kämpfen die Figuren nicht mehr um die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft, denn diese ist ganz klar. Mit großem Einfühlungsvermögen berichtet der Erzähler über das tragische Schicksal von Juden, die von einem Tag auf den anderen zu Staatsfeinden erklärt, aus allen gesellschaftlichen Bereichen ausgeschlossen und ohne den geringsten Grund verfolgt werden. Mit demselben Verständnis schildert er allerdings auch die Geschichte einer gläubigen, naiven Frau, die ihr gesamtes Geld einem Betrüger zukommen lässt, weil sie hofft, dadurch das ewige Leben zu erlangen.
Cella oder Die Überwinder Cella ist eine begabte junge Klavierspielerin. Ihre Mutter ist Christin, ihr Vater Jude. Sie nimmt Klavierstunden bei einem jüdischen Lehrer, der angesichts des Einmarsches der Nationalsozialisten in Österreich aus dem Fenster seiner Wohnung springt und Selbstmord begeht. Eines Tages wird ihr Vater, Hans Bodenheim, gemeinsam mit anderen Juden gezwungen, die Aufschrift „Österreich für ewig“ von einer Straße in Wien zu reinigen: Die Darsteller dieser Posse waren etwa ein Dutzend Menschen, in der Mehrzahl Männer und drei elegant gekleidete Frauen. Über die Hälfte davon zählten, das sah ich sogleich, den Unsrigen zu. Der Rest bestand aus notorischen Vaterlandstreuen, welche die lachende Meute ringsum auf der Straße zusammengefangen hatte, nicht anders als mich.2
2 Werfel, Franz: Cella oder Die Überwinder. Versuch eines Romans. Frankfurt a. M. 1982, S. 133.
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Das Werkzeug, mit dem die Straße geputzt werden soll, müssen sich die Juden selbst kaufen. Während sie arbeiten, werden sie von Passanten ausgelacht, verspottet, bespuckt, beleidigt: Mir wurde das zweite r in Österreich zur Austilgung zugeteilt. Der köstliche Witz der Komödie, welche das goldene Gemüt unseres Publikums so ausgiebig erlustigte, bestand in der völligen Untauglichkeit unseres Werkzeugs. Mit Strömen von Terpentin hätte man vielleicht die blutige Ölfarbe zum Weichen gebracht. Wie aber rieben mit unseren kleinen Handbürsten und dem schwachen Seifenschaum lächerlich-vergebens an den mächtigen Buchstaben herum.3
Bodenheim wird aufgrund antinationalsozialistischer Aktivitäten verhaftet und ins Gefängnis gebracht. Er teilt sich die Zelle mit einem Kleinkriminellen, einem Adeligen und einem katholischen Priester. Damit ihnen die Zeit schneller vergeht, erzählen sie sich Geschichten. Kaplan Felix wurde verhaftet, weil er den Juden, die aus dem burgenländischen Parndorf vertrieben wurden, geholfen hat. Obwohl diese bereits seit Jahrhunderten in Frieden mit den Katholiken im Dorf zusammenleben, werden sie nach Hitlers Einmarsch gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Einige jugendliche Nazis begleiten die Gemeinde bis zur ungarischen Grenze. Während die Juden auf die Erlaubnis warten, die Grenze zu passieren, basteln die Jugendlichen aus einem von einem Friedhof gestohlenen Kreuz ein Hakenkreuz und zwingen den Rabbiner, Aladar Fürst, dieses zu küssen. Aladar Fürst nahm das Hakenkreuz entgegen und trat einen Schritt zurück. Jetzt aber geschah etwas völlig Unerwartetes. […] Ein jüdischer Rabbi hat das getan, was eigentlich ich, der Priester, hätte tun sollen … Er stellte das geschändete Kreuz wieder her …4
Nach dieser Tat läuft Fürst weg und wird erschossen. Der Grenzbeamte, der die Szene beobachtet, ist so erschüttert, dass er allen Juden erlaubt, die Grenze zu passieren, auch wenn sie – nach den Vorschriften der neuen Regierung – die dafür erforderlichen Dokumente nicht vorweisen können. Bereits das erste Ereignis in dem Romanfragment, der Selbstmord des Klavierlehrers, würde als Darstellung der Grausamkeiten der Nazis ausreichen und den Lesern die verzweifelte Lage der Juden, die sich nicht sicher sein können, wie lange sie noch zu leben haben, vor Augen führen. Diese Tragödie wird aber von der Sequenz auf der Straße, wo nicht nur die Nazis, sondern auch ganz gewöhnliche Bürger sich an der Erniedrigung von Juden ergötzen und aktiv beteiligen, übertroffen. Das ist aber noch immer nicht alles. Die Vertreibung der Juden aus einem Ort, in dem sie seit Generationen 3 Werfel, Cella oder Die Überwinder, S. 134. 4 Werfel, Cella oder Die Überwinder, S. 175.
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leben, ist ein wahres Verbrechen. Sie haben ja keine Heimat, in die sie zurückkehren könnten, sie werden dazu verurteilt, heimatlos zu sein. Franz Werfel gibt sich nicht damit zufrieden, bloß einen Aspekt der Judenverfolgung in seinem Roman darzustellen, er zeigt vielmehr auf, wie komplex die gesamte gesellschaftliche Lage war; die Schilderungen sind so detailliert, dass man die persönliche Betroffenheit des Autors über die Erzählerebene hinaus spürt.
Der veruntreute Himmel Im selben Jahr wie Cella oder Die Überwinder erscheint der Roman Der veruntreute Himmel, der das Schicksal Teta Lineks, einer katholischen Magd, zum Thema macht. Teta ist eine gläubige Frau, für die das irdische Leben lediglich eine Vorstufe zum ewigen Leben im Himmel ist. Dieses Ziel will sie auf keinen Fall aufs Spiel setzen, daher schmiedet sie einen Plan, der ihr den Himmel sichern soll: Sie übernimmt die Ausbildungskosten ihres Neffen, unter der Bedingung, dass er Priester wird. Sie ist überzeugt, wenn sie der Kirche einen Priester schenkt, wird dieser ihr Fürsprecher werden, und so wird sie nach dem Tod sicherlich in den Himmel kommen. Im Laufe der Jahre schickt ihr der Neffe immer wieder Rechnungen, er hält sie per Brief über seine geistliche Karriere auf dem Laufenden. Manchmal gibt es auf seinem Weg zum Priestertum kleine Stolpersteine, die sie aber als normal hinnimmt. Nicht ein einziges Mal lässt er sich bei seiner Tante blicken. Da er sie nicht einmal zu seiner Primiz einlädt, entschließt sie sich, ihn in seiner Pfarre zu besuchen. Sie reist nach Hustopec, wo er arbeiten soll, und glaubt, in dem dort angetroffenen Pfarrer ihrem Neffen zu begegnen. Es stellt sich heraus, dass sie über Jahre betrogen wurde, also macht sie sich auf die Suche nach ihrem Neffen und findet ihn in einer Prager Vorstadtwohnung, wo er mit einer Frau zusammenlebt und seinen Lebensunterhalt damit verdient, Rätsel für eine Zeitung zu verfassen. Teta ist verzweifelt. Nicht nur der Verlust des Geldes macht ihr zu schaffen, sondern vor allem die Vorstellung, dass ihr gesamter Lebensplan zunichte gemacht worden sein könnte. Nun sieht sie keine Möglichkeit mehr, den Himmel zu erreichen. Verzweifelt schließt sie sich einer Pilgergruppe an, die nach Rom fährt. Dort begegnet sie einem jungen Priester, der ihr erzählt, seine Schwester hätte seine Ausbildung bezahlt, wofür er ihr sehr dankbar wäre. Während einer Audienz beim Papst verliert Teta das Bewusstsein, wird ins Spital gebracht und stirbt dort. Der Lebensplan, den die Magd entwickelt hat, zeugt von größter Naivität. Man könnte sagen, es geschehe ihr recht, wenn sich alle ihre Träume in der Luft auflösen. Werfel lässt sie aber nicht scheitern. Ein Bote des Papstes besucht sie
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in ihrem Krankenzimmer, überbringt ihr einen Rosenkranz und teilt ihr mit, dass der Papst selbst in einer Messe für sie beten wird: Seine Heiligkeit sendet mich zu Ihnen, meine Tochter, um dieses persönliche, mit eigener Hand geweihte Geschenk zu überreichen. Der Sehr Heilige Vater lassen ferner gute Besserung wünschen und erneuern den heute mittags erteilten Segen. Seine Heiligkeit beauftragen mich schließlich mit der Botschaft, daß sie morgen bei der Frühmesse Ihrer, meine Tochter, um Gebete gedenken wollen […].5
Der Erzähler rechtfertigt die Vorgangsweise Tetas nur insofern, als er meint, sie hätte es nicht besser gewusst. Wenn sich aber der Papst für sie einsetzt, wenn er für sie betet, dann hat sie letztendlich den Fürsprecher, den sie sich erhofft hat, allerdings ohne dafür bezahlen zu müssen. Sie stirbt in der Überzeugung, das Ziel ihres Lebens erreicht zu haben. Die Intensität, mit der sich Werfel mit dem Judentum und dem Christentum befasst, wird offenbar, wenn man sich vor Augen führt, dass der Autor 1941 wiederum zwei Romane schreibt, die ihn als einen erscheinen lassen, der vollkommen in der jeweiligen Religion aufgeht: Das Lied von Bernadette über die Heilige, die Erscheinungen der Mutter Christi erlebt hat und Eine blaßblaue Frauenschrift, wo das Schicksal von Juden in der Zeit des Nationalsozialismus thematisiert wird. 1942 erscheint das Drama Jacobowsky und der Oberst, in dem der Ewige Jude gemeinsam mit dem heiligen Franziskus von Assisi im besten Einvernehmen durch das Europa des Zweiten Weltkrieges reist.
Stern der Ungeborenen Der letzte Roman Werfels, Stern der Ungeborenen, stellt eine abschließende Überlegung des Autors zum Thema Religion dar. Aus der Perspektive eines sicheren Kontinents, ohne Angst vor Verfolgungen, aber im Bewusstsein dessen, was sich in Europa abspielt, fragt er darin noch einmal nach der Zukunft des Judentums und des Christentums. Die Hauptfiguren sind keine Juden, keine Christen, das Thema ist auch nicht die Suche nach einer religiösen Identität. Diese hat für ihn offenbar an Bedeutung verloren. Kann das Judentum überleben? Ist es möglich, dass nach dem Ende des Nationalsozialismus die mosaische Religion noch Bestand und Sinn hat? Wie wirkt sich diese Zeit auf das Christentum aus? Diese Fragen stehen im Vordergrund des letzten Romans Werfels.
5 Werfel, Franz: Der veruntreute Himmel. Die Geschichte einer Magd. Roman. Frankfurt a. M. 1985, S. 266.
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Die Handlung spielt in ferner Zukunft, in einer „astromentalen“ Gesellschaft. Die Menschen können nicht mehr auf der Erdoberfläche leben, sie ernähren sich von synthetisch hergestellten Flüssigkeiten und bewegen sich fort, indem sie in Gedanken ihr Ziel visualisieren. Religionszugehörigkeit spielt keine Rolle, aber die katholische Kirche und das Judentum existieren weiterhin. Die Hauptfigur, ein gewisser F. W., der erstaunlicherweise in vielfacher Hinsicht an Franz Werfel erinnert, unternimmt gemeinsam mit seinem Freund B. H., der gewisse Ähnlichkeiten mit Werfels Jugendfreund Willy Haas aufweist, eine Zeitreise und lernt die Gebräuche in einer von seiner Realität gänzlich unterschiedlichen Epoche. Die katholische Kirche wird in der Welt der Zukunft von einem einzelnen Bischof repräsentiert, der seinen Gast mit Brot und Wein empfängt, ihn einem Exorzismus unterzieht und mit ihm theologische Gespräche führt. Die Planeten haben die Namen der Apostel bekommen, auf „Apostel Petrus“ landet man mit dem Kopf nach unten, weil Petrus auf diese Weise gekreuzigt wurde. Es gibt einen Orden der „Brüder vom kindlichen Leben“, der die Menschen unterstützt, die dem astromentalen Sterbevorgang entkommen wollen. In der astromentalen Zeit gibt es einen einzigen Juden, den Juden des Zeitalters, Saul Minjonmann. Dieser vertritt das Judentum nicht nur, er verkörpert es. Bereits sein Name verweist auf den Minjan, er geht regelmäßig auf Wanderschaft, fühlt sich ständig beobachtet, verfolgt, und findet keinen Ort, an dem er sich zu Hause fühlen würde. F. W. kehrt von seiner Reise beruhigt in die Gegenwart des 20. Jahrhunderts zurück, weil ihm der Jude des Zeitalters versichert hat, dass die Kirche so lange existieren wird wie das Judentum und das Judentum so lange wie die Kirche: „Die Kirche wird so lange leben“, fuhr er während seiner Tätigkeit fort, „wie wir leben, um zu zeugen für Abraham, Isaak und Jakob, die den wahren Gott zuerst erkannten […].“ „Meines Wissens, Saul Minjonmann“, versetzte ich, „formuliert es die Kirche genau umgekehrt. Sie meint, Israel werde so lange leben, wie sie lebt, also bis zum Ende der Dinge, um für den Messias zu zeugen […].“6
Damit kommen auch die Überlegungen der Hauptfigur zum Abschluss: Die beiden Religionen, die ihm wichtig sind, leben nebeneinander und miteinander, und dieser Zustand wird sich bis zum Ende der Welt nicht ändern.
6 Werfel, Franz: Stern der Ungeborenen. Ein Reiseroman. Frankfurt a. M. 1958, S. 289.
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Resümee Bis zu seinem Tod steht Religion im Mittelpunkt des Lebens und des Werks Franz Werfels. Zuerst versteht er sich als Christ, dann wird er quasi gezwungen, sich zum Judentum zu bekennen. Er akzeptiert seine Religionszugehörigkeit. Vor allem angesichts der Verfolgungen, denen die Juden in der Zeit des Nationalsozialismus ausgesetzt sind, identifiziert er sich mit ihnen und mit ihren Schicksalen. Auch wenn er ihnen nicht wirklich helfen kann, schreibt er so, dass diese Menschen und das, was ihnen aufgrund ihrer Religion angetan wurde, nicht vergessen werden. Seine erste Idee, dass man sich seine Religion aussuchen könnte, verwirft er. Genauso geschieht es mit dem Vorschlag, eine Synthese des Judentums mit dem Christentum herbeizuführen. In den Dreißigerjahren leidet und fühlt er mit den Juden, er schätzt fromme Katholiken, auch wenn ihr Glaube jeglicher Logik entbehrt. Letztlich bezeichnet sich Werfel selbst als einen Juden und einen Christen zugleich. Aus dem Judentum ist er ausgetreten, in die katholische Kirche tritt er aber nicht ein. Auch wenn er eine Zeitlang auf einem Grat zwischen den beiden Religionen geht, am Ende seines Lebens akzeptiert er seine sonderbare persönliche Religiosität, fühlt sich beiden Gemeinschaften gleich verbunden und überlässt alle Unsicherheit und Zweifel in Bezug auf die Lösung der religiösen Frage in seinen Werken den Leserinnen und Lesern.
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Franz Werfel als Kulturkritiker Individualismus, Kollektivismus und die moralisch-ästhetische Stellung des Dichters In seinem Essay Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit von 1935/1936 zählt Walter Benjamin den Dichter Franz Werfel zu den „besonders reaktionären Autoren“, die es scheinbar nicht verstanden, den Wechsel der Medien von der Malerei zur Fotografie zum Film mit der Frage, ob „der Gesamtcharakter der Kunst sich verändert habe“1, zusammen zu denken. Stattdessen interpretieren solche Autoren „mit einer Rücksichtslosigkeit ohnegleichen kultische Elemente“ in den Film herein, suchen seine Bedeutung „nicht geradezu im Sakralen so doch im Übernatürlichen“.2 Adorno kommentiert das in einem Brief an seinen Freund Benjamin applaudierend: „Der Schlag gegen Werfel hat mir helle Freude gemacht.“3 Auch wenn Benjamin und Adorno sich über eine naive Auffassung Werfels zum Medium Film austauschen, kann diese Kritik als Indiz dafür gelten, den Dichter schon zu Lebzeiten epochengeschichtlich einordnen zu wollen. In seiner Ablehnung der Neuen Sachlichkeit und seiner Distanzierung gegenüber dem Expressionismus, gepaart mit kritischen Tönen zu Utopismus und Fortschrittsdenken, gebunden in rhetorischen Affinitäten zu religiöser Moral und Ästhetik, scheint Werfel das Prädikat eines reaktionären und eben nicht modernen Schriftstellers zu bekommen. So ist Franz Brunner der Überzeugung, dass Die Geschwister von Neapel (1931) – ein Buch, das Werfel selbst sehr schätzte – neben Robert Musils zeitgleichem Roman Der Mann ohne Eigenschaften nur ein altmodisches Familienbuch sei.4 Die ersten ausführlichen Rezeptionen von Werfel fokussieren sich noch sehr stark auf religiös-philosophische Elemente in Werk und Leben, was dem Prädikat eines besonders reaktionären Autors nicht weniger Glanz verleihen sollte.5 Aber auch neuere Analysen des umfangreichen Romans Die vierzig des Musa Dagh (1933), der die Geschichte der Vernichtung der Armenier thematisiert
1 Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt a. M. 2012, S. 22. 2 Benjamin, Kunstwerk, S. 23. 3 Adorno, Theodor W.: Briefe und Briefwechsel, Bd. 1. Frankfurt a. M. 1994, S. 172. 4 Brunner, Franz: Franz Werfel als Erzähler. Zürich 1955, S. 78. 5 Zur frühen literaturwissenschaftlichen Rezeption vgl. Michael, Jennifer E.: Franz Werfel and the Critics. Columbia 1994, S. 23f.
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und die Schatten der nationalsozialistischen Gräuel ahnte, verdächtigen Werfel unmodern zu sein. Der Roman habe „keine Zeitgemäßheit, er wirkt auch trotz der oft bildmächtig formulierten Kritik am Nationalismus rückwärtsgewandt. […] Die Moderne erlaubt kein derart naives Erzählen, vor allem nicht in einem Roman über den modernen Massenmord.“6 Wo also lässt sich Franz Werfel verorten? Dieser Beitrag nähert sich der Frage durch eine Analyse der, bisher wenig beachteten, kulturkritisch-philosophischen Aufsätze, die Werfel in den 1930er-Jahren als Vorträge hielt. Diese Texte sind dicht formuliert, oft ohne Referenzen anzugeben oder auf klare Argumentation zu achten.7 Schon deshalb ist es notwendig, diese Essays in ihrem literarischen Umfeld zu analysieren und zu kontextualisieren. Dafür werde ich ein moralischästhetisches Profil entwerfen, das die gesellschaftskritischen Ausführungen Werfels mit seiner Ansicht von der Aufgabe eines Dichters nachzeichnet und mit zeitgenössischen Auffassungen kontrastiert.
Kritik an der „entwirklichten Welt“ In seinem am 6. Mai 1931 im Kulturbund Wien gehaltenen Vortrag Realismus und Innerlichkeit konstatiert Franz Werfel eine Todesgefahr, die der Innerlichkeit des Menschen droht. Ganz im Duktus der zeitgenössischen „modernen Kulturphilosophie, allen Auf- und Untergängen des Abendlandes“8 finden wir hier auf engstem Raum eine breite Kritik bestehender Verhältnisse, die mit einem Hofmannsthal’schen Lord-Chandos-Gefühl anhebt und den gegenwärtigen radikalen Realismus anprangert. Darunter versteht Werfel im weitesten Sinne ein Bild des Menschen unter rationalistisch-technischen Gesichtspunkten der Nutzbarkeit. Im Gegensatz zu den „Seufzern um eine verlorene Gemütlichkeit“,9 die
6 Dittmann, Ulrich: Den Völkermord erzählen? Franz Werfels Die vierzig Tage des Musa Dagh und Edgar Hilsenraths Das Märchen vom letzten Gedanken. In: Hilsenrath, Edgar: Das Unerzählbare erzählen. Hrsg. von Thomas Kraft. München 1996, S. 163–177, hier S. 175. Vgl. auch Eke, Norbert Otto: Planziel Vernichtung. Zwei Versuche über das Unfaßbare des Völkermords: Franz Werfels Die vierzig Tage des Musa Dagh (1933) und Edgar Hilsenraths Das Märchen vom letzten Gedanken (1989). In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 71 (1997), H. 4, S. 701–723, hier S. 715. 7 Diese Essays sind gesammelt erst postum 1944 auf Englisch, 1946 auf Deutsch erschienen. Einzelne Essays sind zu Lebzeiten in unterschiedlichen Zeitschriften publiziert worden. 8 Werfel, Franz: Zwischen oben und unten. Prosa, Tagebücher, Aphorismen, literarische Nachträge. München 1975, S. 18. 9 Werfel, Zwischen oben und unten, S. 19.
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der „feigste und widerlichste Ausdruck unheilbarer Spießerseelen sind“10 und die lieber wieder mit Postkutschen statt mit dem Zug fahren wollen, geht Werfel von einer Transformation der Seele des Menschen aus, die eine wirkliche Gefahr darstellt: „Technik“, so Werfel, „ist unser furchtbares Schicksal. Wir dürfen ihm nicht unterliegen.“11 Vielmehr gilt es, den radikalen Realismus im Gang einer „Weltgeschichte der Wert- und Idealbildungen“12 zu verstehen, also seine normativen Dimensionen freizulegen, gleichsam eine Genealogie der Moral zu entwerfen. Deshalb spricht Werfel im Folgenden nur noch von Realgesinnung, um die gesellschaftsgestalterische Kraft des Realismus und seinen spaltenden Charakter hervorzuheben: „Jede Gesinnung wertet. Jede Wertung spaltet. Jede Spaltung wirkt fanatisch aggressiv. Der Feind, das Haßprojekt der Realgesinnung, ist die Innerlichkeit des Menschen, seine Seele, der schöpferische Geist.“13 Damit ist ein Gegensatzpaar benannt – Realgesinnung und Innerlichkeit oder positivistischer Geist und schöpferischer Geist –, an dem sich Werfel abarbeitet. In der Analyse dieses Gegensatzes wird sowohl eine metaphysische als auch eine historische Perspektive eingenommen. Betrachten wir zuerst die historische Auslegung, die einer Kritik der kapitalistischen Welt das Wort redet: „Zauberhaft schnell verwandelte sich die Welt. Dem materiellen Impuls erlag sie masochistischer, als sie je einem geistigen erlegen ist.“14 Über diesen Masochismus heißt es weiter: „Der sinnlose Sinn der Arbeit ist es nicht, Bedürfnisse zu befriedigen, sondern Bedürfnisse hervorzurufen.“15 Und: „Die Dinge sind zum Maß des Menschen geworden.“16 Die Ökonomisierung von Lebenszeit und Lebenswelt kann als Wert nur das Messbare erfassen. So vertraut die Realgesinnung auf den rechnenden, konstruktiven Geist, der den Gegenstand in Zahlen und Formeln auflöst. Der Herrschaftsanspruch, der in dem Willen, die Dinge fassbar zu machen, zutage tritt, wird durch das Versprechen der Realgesinnung, die „Lebensfrage [i. e. die Frage nach dem Glück] durch völlige Unterwerfung der kosmischen Kräfte unter ihre Zwecke und durch den lückenlos rationalen Aufbau der Gesellschaft“17 zu lösen, gerechtfertigt. Der Gegenstand erhält seinen Sinn durch seine Verwendbarkeit, was sich am besten durch Verzicht auf Eigenständigkeit erreichen lässt. Dieser Sog der Realgesinnung erfasst mit dem Ding auch den Menschen, der sie bejaht, und tendiert zur Vereinheitlichung. „Das genormte 10 Werfel, Zwischen oben und unten, S. 19. 11 Werfel, Zwischen oben und unten, S. 19. 12 Werfel, Zwischen oben und unten, S. 38. 13 Werfel, Zwischen oben und unten, S. 20. 14 Werfel, Zwischen oben und unten, S. 22. 15 Werfel, Zwischen oben und unten, S. 23. 16 Werfel, Zwischen oben und unten, S. 27. 17 Werfel, Zwischen oben und unten, S. 28.
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Hirn triumphiert“, schreibt Werfel zusammenfassend. Hat sich diese Haltung zur Wirklichkeit, dieses „seelische Banausentum“, erst einmal in den Köpfen eingeschliffen, ist es auch nicht mehr so weit von einer Kritik des Kapitals zu einer Kritik der politischen Verhältnisse. Sowohl kommunistische als auch nationalistische Strömungen sind als soziale Formen durch die Realgesinnung gekennzeichnet. In dem Romanfragment Cella oder Die Überwinder (1938/1939 entstanden, 1952 postum veröffentlicht) finden wir eine sehr eindrückliche Beschreibung der genormten Hirne von SS-Männern. Dabei beschreibt Werfel diese Männer erst äußerlich als „[…] durchwegs schöne Männer, einer wie der andre, hochgewachsen, wohl gebildet, schlank, mit kleinen, militärisch geschorenen Blondköpfen, breiten Schultern und schmalen Hüften“,18 um diese falsche Schönheit dann mit ihrer seelischen Verfasstheit zu kontrastieren: Auf den Gesichtern dieser Männer lag eine grandiose Leere und Ichverlassenheit, die es wahrscheinlich im Laufe der Geschichte noch nicht gegeben hatte. Sie scheinen nichts anderes zu sein als Transmissionen eines fremden Willens, der für sie das Leben selbst bedeutet. Sie lebten so sauber, so exakt, so ohne Gedanken, so ohne Gewissen, wie Motore leben. Sie warteten nur darauf, angelassen oder abgestellt zu werden.19
Das entscheidende Wort in dieser Passage ist „Ichverlassenheit“. Es drückt den Zustand der „Tatmenschen“, der „Tuer“ oder der „Macher“20 aus, wie es an einigen Stellen heißt, und kontrastiert zu einem Menschenbild, das durch Innerlichkeit gekennzeichnet ist. Mit der Innerlichkeit, die das Ich fokussiert, ist auch die metaphysische Dimension benannt. Der Gegenstand der Realgesinnung ist nicht das Ich, sondern der „Motorenmensch“, der immer dem Willen eines anderen von außen unterworfen ist. Diese Menschen sind nur noch instrumentell verständig, ohne Vernunft und Selbst, das nicht mehr im Geringsten zu erfahren, zu erleiden ist. Dem gegenüber stellt Werfel den „schöpferischen Geist“, den „geistig-seelischen“ Menschen, dessen Grundposition nicht rational und positivistisch, sondern ästhetisch bedingt ist. Dieser Mensch, so unser Autor weiter, „offenbart sich in den drei Sphären der Religion und Sittlichkeit, der Wissenschaft und Spekulation, der Kunst und Phantasie.“21 Interessant ist hier die Möglichkeit der Verwirklichung des „schöpferischen Geistes“ in zwei anderen Bereichen der Gesellschaft, nicht nur in der Kunst. Religion und Wissenschaft seien auch geeignet, die Innerlichkeit des Menschen zu fördern. Allerdings, so Werfel, ist der „Abfall von den konfessionellen Religionen jedenfalls beträchtlich“ und 18 Werfel, Franz: Cella oder Die Überwinder: Versuch eines Romans. Frankfurt a. M. 1997, S. 190. 19 Werfel, Cella oder Die Überwinder, S. 191. 20 Werfel, Zwischen oben und unten, S. 27, 31. 21 Werfel, Zwischen oben und unten, S. 29.
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die „moderne Wissenschaft zum allergrößten Teil im Lager der Realgesinnung“.22 Es bleibt einzig die Kunst, die sich verstärkt dem Sachglauben widersetzt: „Nur der musische Mensch vermag die durch den Sachglauben zerstörte Innerlichkeit wieder aufzubauen“.23 Alle Menschen, so Werfel weiter, haben einen musischen Kern, nur scheint dieser bei der Mehrzahl durch die Realgesinnung verschüttet; es gilt, diesen wiederzuentdecken. Diese Ansicht tradiert sich im Topos der Wiedererinnerung, wie er zum Beispiel in klassischer Form in Platons Dialogen Menon und Phaidon zu finden ist. Dieses Konzept der Anamnesis, der (Wieder-) Erinnerung, dient bei Platon dazu, den Erkenntnisprozess von Sinnlichem zu Nicht-Sinnlichem zu verdeutlichen und spielt im Beweis der Unsterblichkeit der Seele ein Rolle. Für unseren Kontext ist jedoch vielmehr die Verwendung der Anamnesis im Rahmen des sokratischen Gesprächs von Bedeutung, denn hier knüpft Werfel mit seiner Vorstellung vom Künstler an. In Platons Menon drängt Sokrates einen Sklavenjungen, der über kein mathematisches Schulwissen verfügt, zur Lösung eines geometrischen Problems (die Verdoppelung der Fläche eines Quadrats).24 Sokrates betont dabei immer wieder, nichts lehren zu wollen, sondern den Jungen nur durch seine mäeutische Kunst zu eigenen Gedanken anzuregen, die schließlich zum Verständnis des geometrischen Sachverhalts führen sollen. Nach einigen typisch sokratisch-aporetischen Zuständen löst der Junge schließlich das Problem, indem er die doppelte Fläche als Quadrat auf der Diagonalen des Ausgangsquadrates bildet. Damit will Sokrates seine Behauptung beweisen, dass diese mathematische Erkenntnis auf einer vorgeburtlichen Einsicht beruht, die der Junge entweder immer besessen oder zu einem bestimmten Zeitpunkt vor seinem jetzigen Leben erworben hat. Allgemeingültige Sätze wie die der Geometrie sind demnach in der Seele des Menschen bereits angelegt. Durch diese sokratische Stimulation kann ein Nichtwissender dazu gebracht werden, selbst einen Zugang zu einem in ihm verborgenen Wissen zu finden, das nicht der Erfahrungswelt seines gegenwärtigen Daseins entstammt. Werfel interpretiert diese Idee der Anamnesis auf ästhetische Weise. In seinem Vortrag Von der reinsten Glückseligkeit des Menschen, gehalten 1937 vor der Völkerbundliga Wien, heißt es: Diese platonische Erinnerung erklärt auch die so sonderbaren Erschütterungen, die wir der Kunst verdanken. In einem Leben der Zermürbung erinnert sich unsere Seele plötzlich der ihr eingeborenen Kräfte, sie wird vorübergehend geistsichtig, sie kommt zu sich selbst in ihrer ursprünglichen Fülle. Im strengen Sinne versetzt uns also einzig und allein diese 22 Werfel, Zwischen oben und unten, S. 29f. 23 Werfel, Zwischen oben und unten, S. 29f. 24 Platon: Menon 82b–84.
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Geistsichtigkeit, durch Bild, Lied, Gedanken in uns hervorgerufen – Plato nennt sie μανία – in den Zustand der reinen Glückseligkeit. Alle anderen Freuden gehören zu der niedrigen Ordnung der Triebbefriedigungen.25
Die Sphäre der Kunst vermag es also, den „musischen Menschen“ in jeder Person zu wecken. Dabei zeichnet Werfel, im Gegensatz zu Platon, diesen Menschen nicht als einen, der Schritt für Schritt erinnernd-erkennend vorwärts strebt. Vielmehr scheint es um die Betonung eines Gefühls zu gehen, das in den Bereich des Absoluten durchbrechen will, um einen glücklichen Zustand der Seele zu evozieren. Die Bewegung, die dabei vollzogen wird, ist die einer Schau, die erschütternd in uns tritt. Von „geistsichtig“ im Gegensatz zu „natursichtig“ spricht Werfel. Die Wiedererinnerung im „geistsichtigen“ Sinn probt und fördert ein Verhältnis zur Innerlichkeit. Nur dann kann der „natursichtigen“ Realgesinnung etwas entgegengesetzt werden. In dieser inspirativen Auffassung von Ästhetik ist der Künstler derjenige, der durch das Kunstwerk diese Schau auslöst. Anders formuliert: Der Künstler ist ein mediengeschwängerter Sokrates, der durch mäeutisch-materielle Plötzlichkeit Glückseligkeiten hervorbringt. Wie aber ist dieses Glück strukturiert? Soll es mit dem Joch der Realgesinnung versöhnen? Oder eine religiöse Schau anregen? Wird hier nicht einem anästhetischen Gefälle das Wort gesprochen? Diese Fragen drängen zu einer Betrachtung der Auffassung des Dichters bei Werfel.
Eine orphische Auffassung des Dichters Franz Werfel begann seine Existenz als Schriftsteller mit Lyrik und Dramatik, die unter den zur geronnenen Formel gewordenen Begriff Expressionismus gezählt werden können. Doch die Beschreibung der Aufgabe und Struktur des Dichters hat sich bei Werfel im Laufe seiner Hinwendung zur Epik nicht geändert. Es verwandelte sich lediglich der zu verkündende Inhalt des Poeten mit zunehmender Verschärfung religiöser und realgeschichtlich totalisierender Entwicklungen. In dem frühen Theaterstück Die Versuchung (1912) fragt der Dichter: „Gott, Gott, bin ich das Medium, das das ahnungslos in Dir Beruhende mit der Welt verbindet, bin ich jener leitende bewußte Stoff zwischen Dir und der Unendlichkeit?“26
25 Werfel, Zwischen oben und unten, S. 100. 26 Werfel, Franz: Die Versuchung. In: Schrei und Bekenntnis. Expressionistisches Theater. Hrsg. von Karl Otten. Darmstadt 1959, S. 622–636, hier S. 624.
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Er gibt sich selbst, umschreibend, die Antwort: „Das ist es ja. Die Andern sind Menschen!“27 An einer anderen Stelle desselben Werks heißt es: Kennt ihr euch denn, ihr Menschen? Ihr Armen, Armen, einfältig Schlauen! Und du, überlegener Herr Professor, wackerer Monist, was weißt Du denn von der Welt? Armer, einfältig Schlauer! Nur ich, nur ich verstehe euch!28
In diesen Zeilen wird eine Trennung zwischen Welt und Gott aufgemacht, die Werfel später immer wieder mit der vertikalen Wendung „Zwischen oben und unten“ bezeichnet. Das Zwischen deutet die Stellung des Menschen an, wobei der Dichter einen vermittelnden Sonderstatus innehat. Er scheint mit priesterlicher Würde ausgestattet; in ihm entstehen die Bilder, die allein gültig sind. In dem späteren Essayband Zwischen oben und unten bezieht sich Werfel dafür immer wieder auf Orpheus, im Gegensatz zum realgesinnten Prometheus, wenn er ein Bild davon geben möchte, wie der Dichter Innerlichkeit hervorruft. Orpheus, Sohn der Muse Kalliope und wahrscheinlich des Apollon, war ein begnadeter Leierspieler, der durch seine Weisen Tiere zähmte und Steine bewegte. Unter seinem Spiel stand das Rad des Ixion still, ruhte Sisyphos einen Moment auf seinem Stein; selbst Hades ließ sich bezaubern und gab Eurydike frei. Diese Bewegung der Bannung, des Innehaltens, des Stillstands kann zum Zustand der Innerlichkeit führen. Um zu verstehen, wie diese Mittlerrolle des Orpheus-Dichters bei Werfel strukturiert ist, möchte ich den Blick auf ein anderes Orpheus-Dichter-Bild kontextualisierend heranziehen: jenes von Werfels poetischem Zeitgenossen Rainer Maria Rilke, der ein eigenständiges Orpheus-Dichter-Bild im Anschluss an Friedrich Nietzsche entwickelte. Dieser Vergleich liegt insofern nahe, als dass Werfel höchst bedeutend über Rilke in seiner Aufzeichnung Begegnungen mit Rilke schreibt: „Rilke hat mir den ersten Begriff vom Dichter gegeben: Ein unendliches Offensein und ständige Empfängnis des Lebens. Wenn mir dieser Begriff in seiner Passivität später nicht mehr genügen konnte – so erschien Rilke doch als seine reinste Verkörperung. […] Er war für mich der große Dichter.“29 Das Moment der Passivität wird von Werfel andeutend kritisiert. Was genau ist damit gemeint? Rilke setzte sich schon früh mit Nietzsche auseinander, hat aber die Radikalität seiner umwertenden Philosophie erst spät umgesetzt.30 Gilt der ringende, religiöse Ansatz im Stundenbuch, gleichsam eine künstlerische Gebetshaltung, als unver27 Werfel, Die Versuchung, S. 626. 28 Werfel, Die Versuchung, S. 626. 29 Werfel, Franz: Gesammelte Werke in Einzelbänden, Bd. 6. Frankfurt a. M. 1992, S. 310f. 30 Für eine ausführliche Darstellung von Rilkes Nietzsche-Rezeption vgl. Hillebrand, Bruno: Nietzsche. Wie ihn die Dichter sahen. Göttingen 2000, S. 78–84.
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einbar mit Nietzsches Absage eines substanzlosen Gottesbegriffs, so nähert sich Rilke in den Duineser Elegien und den Sonetten an Orpheus der „Artistenmetaphysik“ des Röckener Denkers stark an. Rilkes Ausgangspunkt ist eine Klage, die sich, ausgehend vom sezierten Elend des Menschen in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, wandeln soll. Wohin? In eine Zukunft, die nicht in eine nie erreichbare und nie aussprechbare Transzendenz projiziert wird, sondern sich im Augenblick des Hier und Jetzt manifestiert. In der neunten Duineser Elegie heißt es: „Ein Mal/jedes, nur ein Mal. Ein Mal und nicht mehr.“ Die augenblickliche Bejahung des ganzen Erfahrungshorizonts in Form des Rühmens und Preisens über alle Abgründe hinweg misst einen metaphysischen Charakter von Affirmation aus. In den Sonetten an Orpheus formt sich diese Haltung in eine Aufforderung zu einer Metaphysik der Wandlungen der Klage durch den Orpheus-Dichter. Diese Bewegung hebt im dritten Sonett an mit „Ein Gott vermags. […] Gesang ist Dasein“,31 geht über in ein „Rühmen, das ists!“32 im siebten Sonett hin zum achten mit „Jubel weiß, und Sehnsucht ist geständig, – /nur die Klage lernt noch“33 und „Nur im Raum der Rühmung darf die Klage/gehn.“34 Wie bei Werfel vollzieht sich beim Orpheus-Dichter Rilke ein Ruck zur Innerlichkeit. Doch werden diese der Welt immanenten Klagen in den Dingen gesehen, muss das Subjekt der Klage auf die eigene Subjektivität verzichten, indem es die Dinge „in einem Prozess der Wahrnehmung penetriert“.35 Es wird damit nicht mehr dem erkennenden Subjekt untergeordnet, „sondern offenbart seine Wesensgleichheit mit dem entpersönlichten Subjekt“.36 In dieser neuen Immanenz der Dinge löst sich die Grenze zwischen Subjekt und Objekt auf. „Sie zelebrieren ihr ästhetisch geformtes, gleichzeitiges Einssein in einer Welt, die zum Bewusstsein seines Selbst gelangt ist.“37 Durch diesen „lyrischen Monismus“38 werden die Bezeichnungen Subjekt und Objekt relativ und lassen nur diejenige Erkenntnis übrig, die man als Einheit allen Seins bezeichnen kann. Das entspricht der dionysischen Erkenntnis bei Nietzsche: „[…] während unter dem mystischen Jubelruf des Dionysos der Bann der Individuation zersprengt wird und der Weg zu den Müttern des Seins, zu dem innersten Kern der Dinge offen liegt.“39 31 Rilke, Rainer Maria: Die Gedichte. Frankfurt a. M. 2006, S. 724f. 32 Rilke, Die Gedichte, S. 725. 33 Rilke, Die Gedichte, S. 726. 34 Rilke, Die Gedichte, S. 725. 35 Szabó, László V.: Dionysos und Orpheus: Mythos als Daseinsbejahung bei Nietzsche und Rilke. In: Publicationes Universitatis Miskolciensis. Sectio Philosophica. Tomus X. – Fasciculus 1. Miskolc 2005, S. 55–64, hier S. 60. 36 Szabó, Mythos, S. 60. 37 Szabó, Mythos, S. 60. 38 Meyer, Theo: Nietzsche und die Kunst. Tübingen 1993, S. 197. 39 Nietzsche, Friedrich: Kritische Studienausgabe, KSA, Bd. 1. München 2003, S. 103.
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Dieser ästhetische Standpunkt verneint jede Trennung von Ich und Welt, Subjekt und Objekt, Mensch und Dingen und lehnt in letzter Konsequenz jede Art von principium individuationis in einem Ineinanderschmelzen von Immanenz und Transzendenz ab. Nietzsches Diktum aus Die Geburt der Tragödie, „[…] dass nur als ein aesthetisches Phänomen das Dasein und die Welt gerechtfertigt scheint […]“40, korreliert hier mit Rilkes Bemerkung in einem Brief an seinen Übersetzer Witold Hulewicz: „Es gibt weder ein Diesseits noch Jenseits, sondern die große Einheit […]“ und, so Rilke weiter: „Ja, denn unsere Aufgabe ist es, diese vorläufige, hinfällige Erde uns so tief, so leidend und leidenschaftlich einzuprägen, daß ihr Wesen in uns ,unsichtbar‘ wieder aufersteht […]“.41 Rilke als Dichter formuliert hier den Anspruch, die Tragik des Daseins vollkommen zum Ausdruck zu bringen, indem er die elendige Welt in sich einholt und diese Innerlichkeit mit dem Zaubermittel des Augenblicks gegen den Raum des principium individuationis ausspielt.42 Der Mensch ist Erlöser seines Selbst und erlebt diesen ewigen Augenblick mit dem höchsten Jubel, der nicht nur jedes irdische Leiden übersteigt und überwindet, sondern auch schöpferisch macht. So Rilke pointiert: „Der Künstler ist die Ewigkeit, welche hineinragt in die Tage.“43
Die Notwendigkeit des principium individuationis Nach diesem kurzen Exkurs zur Auffassung des Orpheus-Dichters Rilke, lässt sich ein großer Unterschied zum Orpheus-Dichter Werfel konstatieren. Beide Dichter betonen zwar eine Art von Innerlichkeit, die das Vermögen ist, eine fremde Welt, die Umwelt, im Ich einzuschmelzen, um sie von innen zu bewältigen. Der entscheidende Unterschied besteht in der Anerkennung des principium individuationis als eines Vermittlers. Rilkes Orpheus scheint ein Verklärer des Daseins, der den Bann der Individuation zersprengt, um dem Menschen den Weg zum dionysischen „innersten Kern der Dinge“ aufzuzeigen. Diese Auflösung soll durch das Kunstwerk die Betrachter und den Dichter selbst ereilen. Im zweiten Vorwort zur Geburt der Tragödie schreibt Nietzsche: „In der That, das ganze Buch kennt nur einen Künstler-Sinn und -Hintersinn hinter allem Geschehen, – einen ,Gott‘,
40 Nietzsche, KSA 1, S. 152. 41 Rilke, Rainer Maria: Briefe. Zweiter Band 1919–1926. Frankfurt a. M. 1991, S. 376. 42 Genau diesen Vorwurf erhebt Günther Anders gegenüber dem jungen Werfel, der sich noch nah an Rilkes Begriff vom Dichter orientierte. Vgl. Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen. 1. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. München 1956, S. 135. 43 Rilke, Rainer Maria: Florenzer Tagebuch. Frankfurt a. M. 1994, S. 29.
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wenn man will, aber gewiss nur einen gänzlich unbedenklichen und unmoralischen Künstler-Gott […].“44 Sicherlich: Nietzsches „Artistenmetaphysik“ kennt auch das Apollinische, das die Eindeutigkeit in der Perspektive anstrebt und im dionysischen Vorstoß zum „innersten Kern der Dinge“ eine Erkenntnis sieht, die seine Wesensgleichheit mit den Dingen hinter der Welt des schönen Scheins entdeckt.45 Letztlich bleibt aber mit dem Blick auf Rilkes eigenwillige Nietzsche-Rezeption zu bedenken: Die Verhaftung am Augenblick schließt jede Art von prästabilierten Wahrheiten aus. Wahrheit kann letztlich nur in konkreten Ausprägungen eines Zeitgeistes erreicht werden. Reicht das, um einem katastrophischen Triumph der Realgesinnung entgegenzuwirken? Die Ästhetisierung der Wirklichkeit ohne moralischen Maßstab und die Anästhetisierung des Künstlers selbst scheinen hier nicht fern. Denn auch wenn Rilkes Orpheus nach der Zersprengung des principium individuationis sein Selbst nicht kollektiv auffängt, so ist die entstandene Selbstlosigkeit der Nährboden instrumenteller Fremdbestimmung. Stellen wir uns nur vor, was ein krummgesinnter Orpheus-Dichter Rilke mit seinem Gesang beim Brochschen Schlafwandler anstellen könnte!46 Das scheint auch Werfel zu sehen, wenn er in Realismus und Innerlichkeit schreibt, dass der „[…] luziferisch-prometheische Versuch, das Jetzt und Hier Gott gegenüber autonom zu machen“47 die allergrößte Gefahr darstellt. Die Innerlichkeit, die bei Werfel vor den „genormten Gehirnen“ der Realgesinnung schützt, erlangt ihre Sprengkraft auch mittels der moralisch-religiösen Unterordnung des Geschöpfes unter den Schöpfer. Die Einübung der Innerlichkeit durch den Einzelnen, gleichsam als Wachstum von unten nach oben, ist die Gewähr, dass das Ich nicht bedrängt wird.48 So kann es auch nicht dem auf den Leim gehen, was Werfel als „Dämon-Geist“ oder „bösen Geist“ bezeichnet. In dem letzten Roman Stern der Ungeborenen, wird diese ästhetischethische Kritik an der Realgesinnung in einem philosophiegeschichtlichen Bild zusammengefasst. Es ist eine Szene aus dem elften Kapitel, in der ein Priester mit einem Exorzismus herausfinden will, ob der Protagonist des Romans, F. W., ein böser Geist ist. Der Priester fragt: 44 Nietzsche, KSA 1, S. 17. 45 Vgl.: Szabó, Mythos, S. 59. 46 Es ist hier nur von einer Möglichkeit die Rede. Keinesfalls unterstelle ich Rilke realiter totalitäre Gesinnungen, auch wenn seine bewundernden Äußerungen zu Mussolini in einem Briefwechsel mit der Herzogin Gallarati Scotti im Frühjahr 1926 schwer verständlich sind. Vgl. dazu die gründliche Auseinandersetzung von Joachim W. Storck im Nachwort zu Rilke, Rainer Maria: Briefe zur Politik. Frankfurt a. M. 1992, S. 697–725. 47 Werfel, Zwischen oben und unten, S. 20. 48 Dem Einfluss christlicher und jüdischer moralischer Elemente in Werfels Werk wird in den Beiträgen von Olga Koller und Ulrike Schneider in diesem Band genauer nachgegangen.
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[…] hängst du an den Philosophen, die sich Positivisten nennen, weil sie von nichts als vom großen Negativum überzeugt sind, an Auguste Comte und Spencer, an dem Verneiner Gottes aus Wehleidigkeit, Schopenhauer, und an dem Aufrührer Nietzsche, der von Anfang zum Ende, er reiße und tobe wie er wolle, ans Kreuz des Gekreuzigten mit Eisenketten geschmiedet ist, weshalb er genannt sei der Kettenhund Christi, der die Gläubigen verbellt, – betest du gar zu jenem Stefan George, und sein Name stehe für alle von Herrschsucht berstenden Kalligraphen, die anstatt in Sack und Asche, mit stark geschweiften Röcken, gebauschten Krawatten und falschen Danteköpfen einherwandeln und ihre Schultern und Hüften drehn, wobei sie einen kranken Lustknaben öffentlich zum Heiland machen und die blecherne Geistesarmut in kostbaren Gefäßen umherreichen, während die von ihnen Verführten dem rohesten und blutigsten aller Teufel schließlich ins Garn gehen […].49
Wie zu erwarten, verneint F. W. diese Denk- und Handlungsweisen. In diesem Ausschnitt lassen sich drei verwobene Motive finden, die uns schon in Werfels Essays begegneten: die Selbstentfremdung des Menschen durch die Realgesinnung, hier in Form des Positivismus, der Wahn moralischen Maßstäben durch die Verneinung Gottes entfliehen zu wollen und die Bedrohung des Menschen durch falsche Autorität, hier in Form der ästhetischen Vergottung Stefan Georges. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie durch utopistisch gefärbte Entwürfe, in denen nicht auf den Einzelnen Rücksicht genommen wird, ihre Ordnung zu verwirklichen suchen. Wir begegnen in Werfels Werken immer wieder solchen Gestalten, die eine Identität von Macht und Realgesinnung lehren und ausüben: Der Psychiater in dem Trauerspiel Schweiger (1922), Dr. Grauh in dem Romanfragment Schwarze Messe (1919), die realgeschichtliche Figur des Enver Pascha in Die vierzig Tage des Musa Dagh (1933) und der Animator im Stern der Ungeborenen. Ihnen ist ein Sachglaube gemeinsam, der jede Form des Einzelnen außer sich selbst ausschließt: „Sie treiben die Menschen als Zahlen zusammen, sie helfen von der Höhe ihrer Bürokratie herab, um ja nur die Verpflichtung loszuwerden, dem andern Menschenleben mit ihrem Menschenleben zu helfen.“50 Hier klingt schon eine Vorahnung der eindringlichsten Ausformung des Verhältnisses von Macht und Realgesinnung an: In genozidalen Ereignissen ist der einzelne Mensch nur noch eine Zahl, die in eine Buchhaltung utopistischer Färbung einfügt wird. In diesen Momenten der Geschichte triumphieren der Dostojewskische Großinquisitor mit seiner Erlösung, die sich außerhalb des Menschen vollzieht, immer konkret, so wie die von Werfel kritisierten Formen des Nationalismus und Kommunismus. Solche Formen der Erlösung sind in ihrer Dynamik immer revolutionär verfasst und werden vom Werfel der 1930er-Jahre zugunsten der widerständigen, vertika-
49 Werfel, Franz: Stern der Ungeborenen. Ein Reiseroman. Frankfurt a. M. 2010, S. 270f. 50 Werfel, Zwischen oben und unten, S. 568.
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len Erfahrung des principium individuationis abgelehnt:51 „Die Welt hat über der alten öden Parlamentsgeographie von Rechts und Links vergessen, daß es Oben und Unten gibt.“52 Den „bösen Geistern“ werden kontinuierlich Figuren entgegengestellt, die Werfels Forderung nach Innerlichkeit schon verwirklicht haben – wie z. B. die unerschütterliche Barbara in Barbara oder Die Frömmigkeit (1929) und jener Johannes Lepsius in die Die vierzig Tage des Musa Dagh – oder sie im Laufe des fiktionalen Geschehens verwirklichen, wie Lala im Stern der Ungeborenen. In diesem Sinne lässt sich mit Werfel hoffen, dass es in allen Zeiten die Möglichkeit der Abkehr von der Realgesinnung, hin zur moralisch durchsetzten Innerlichkeit, der Schätzung des Einzelnen gibt. Der Orpheus-Dichter Werfel hat dafür ein Œuvre geschaffen, mit dem er gegen die Todesgefahr der Innerlichkeit durch die Realgesinnung anschreibt.53
51 Man kann diese Kritik auch als biografische Selbstkritik Werfels über seine politisch-revolutionäre Tätigkeit im November 1918 lesen. Vgl. dazu Jungk, Peter Stephan: Franz Werfel. Eine Lebensgeschichte. Frankfurt a. M. 1987, S. 109–112. 52 Werfel, Zwischen oben und unten, S. 61. 53 Ich danke Ellen Rinner und Maria Rugenstein für Hinweise und Anmerkungen.
„Das Unerhörte, was im Orient geschehen war …“
Andreas Meier
Franz Werfel und Armin T. Wegner in Palästina Zur Entdeckung des Armenienthemas in der deutschen Literatur Am „16. Jänner 1925“ traten der vierunddreißigjährige Franz Werfel und seine sechsundvierzigjährige Lebensgefährtin Alma Mahler, die illustre Witwe von Gustav Mahler und Walter Gropius, an Bord des Schiffs „Vienna“ eine auf mehrere Wochen angelegte Reise an, die sie von Triest nach Alexandria, Kairo, die Königsgräberstädte Luxor und Theben und schließlich über El Kantara nach Jerusalem führte. Während dieser Reise legte Werfel ein kleines, 19 Seiten umfassendes handschriftliches Notizbuch an, das als Tagebuch. Franz Werfel. 1925. Reise nach Ägypten und Palästina in seinem Nachlass in der University of California in Los Angeles aufbewahrt wird1 und im Rahmen der Werfel-Ausgabe als „Ägyptisches Tagebuch“ ediert vorliegt.2 Man kann diesem entnehmen, dass bereits die Schiffspassage zur ersten, einstimmenden Reisestation gerät. Denn Werfel hält gleich zu Beginn fest: Juden auf dem Schiff, die nach Palästina auswandern. Zwei Gruppen: Alte und Junge. Ein Alter in Ghetto-Pelzmütze des 16. Jahrhunderts ist mit uns von Wien schon gefahren. Rührend. Sieht aus wie ein Schicksalsbild jüdischer Vergangenheit. Doch zugleich wie einer, der ein Bauer sein kann. Die andern: Intellektuelle Großstadtjugend. Doch merkwürdige Vitalität und eine sichtbare Erwartungsfreude, ja Begeisterung. Alle fahren dritter Klasse. Sie treiben sich auf dem Hinterdeck herum. Einer davon, der lebhafteste (Alma nennt ihn den jüdischen Csokor), hat etwas ganz unghettohaft Frisches. […] Er dürfte […] der unsichtbare Sänger sein, der stundenlang Lieder zum besten gibt. Dieses jüdische Vibrato mit der decrescierenden Fermate auf dem letzten Ton klingt wie eine Kreuzung von Belkanto und Bauerngesang. […] Wenn er noch so schlecht und ungeschlacht singt, applaudieren die andern z.B. zum zur Arie gedehnten Tannhäusermarsch.3
1 Vgl. u. a. Lunzer, Heinz/Lunzer-Talos, Victoria (Hrsg.): Franz Werfel. 1890–1945. Katalog einer Ausstellung, gemeinsam veranstaltet vom Bundesministerium für Auswärtige Angelegenheiten und von der Dokumentationsstelle für Neuere Österreichische Literatur in Wien. Wien 1990, S. 42–44. 2 Werfel, Franz: Zwischen oben und unten. Prosa, Tagebücher, Aphorismen, literarische Nachträge. München 1975, S. 705–742. 3 Werfel, Zwischen oben und unten, S. 705f.
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Mit durchaus gemischten Gefühlen begegnet Werfel den jungen zionistischen wie den alten orthodoxen Auswanderern. Einerseits zeigt er sich von ihrer „gesteigerten Stimmung“ fasziniert, zugleich jedoch auch bedrückt von ihrer seiner Ansicht nach deprimierenden Zukunft: Ach, alle Völker die den Nationalismus noch nicht hinter sich haben, müssen all diese Formen durchleben. Trauriges Durcheinander und Nebeneinander. Der größte Teil der Menschheit ist Anachronismus. Und jetzt die Juden!4
So wird gleich zu Beginn der Reise dieses Tagebuch zum Ort der Reflexion der modernen „conditio judaica“5 und damit auch zum Ort der Konfrontation Werfels mit seinem eigenen Judentum. Die Juden haben heute für mich an Reiz verloren. Welch ein starker Automatismus der Rasse, wenn man sie in der Nähe sieht. Allerdings dieser Automatismus (jüd. Gesten, Vorsichhinsingen und Niggen) hat das Volk gerettet. Der Assimilant kämpft einen verzweifelten Kampf gegen diesen Automatismus, der uns in den Gliedern steckt.6
Werfel allerdings versteht den Begriff „Rasse“ keineswegs in einem biologischdeterministischen Sinne, sondern als Milieuprägung.7 Mein Gedanke, daß Rassen weniger physiologisch zu definieren sind, als daß sie Ausdrucksgemeinschaften darstellen, müßte ausgeführt werden. […] Rassen sind keine ursprünglich biologischen Tatsachen, sondern symbiotische Resultate heterogener Elemente. Sie zeigen sich nicht so sehr an konstitutionell somatischen Eigenschaften, wie in der Gestensprache des Menschen, im Arrangement seiner Erscheinung, das er trifft, um der herrschenden Klasse seiner Welt sich anzupassen. Die Konditionen des Milieus spielen natürlich eine große Rolle […] Aber letzten Endes macht die Sprache ein Volk. Und Sprache ist die Gesamtheit des Ausdrucks, also auch Miene, Tonfall, Gebärde – Ausdrucksrasse.8
Weiterhin berichtet das „Ägyptische Tagebuch“ für den Rest der Reise von Seekrankheiten, und im umfangsmäßig größten Teil von den Aversionen gegen 4 Werfel, Zwischen oben und unten, S. 706. 5 Lunzer/Lunzer-Talos, Franz Werfel, S. 42. 6 Werfel, Zwischen oben und unten, S. 706. 7 Also durchaus im Gegensatz zur naturalistischen Theorie und deren Begriffen von „race“ und „milieu“ wie sie etwa Hippolyte Taine auffasst. Vgl. Taine, Hippolyte: Histoire de la littérature anglaise. Paris 1864. 8 Werfel, Zwischen oben und unten, S. 709.
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die als chaotisch empfundene orientalische Lebensart, die von „Lärm als Gesinnung“ und einer „ganz ohne Zweck“ geübten vermeintlichen „Schnelligkeit“ geprägt ist.9 Die Frühformen des Tourismus stoßen Werfel trotz aller auch von ihm bewunderten historischen Denkmäler ab. Besonders empfindet er „die Hetze durch Tempel und Landschaft kulturlos und seelenvernichtend“.10 Besonders unerträglich werden ihm sogenannte gesellschaftliche Anlässe wie „ein großer Engländer-Maskenball im Hotel“, der ihm die „starr-amusische Unbegabtheit der Engländer! Diese Unsinnigkeit von Hotelmenschen“ vor Augen führt. Sein neuer Begriff der „Ausdrucksrasse“ scheint hier durchaus berechtigt, da er gerade „die Nerven- und Ausdruckslosigkeit dieser Rasse“ als unerträglich empfindet.11 Als Werfel dann am 11. Februar 1925 zum ersten Mal palästinensischen Boden betritt, ändert sich der Stil des Tagebuchs auffällig. War der Text bislang stets ausformuliert, so finden sich nun immer wieder lange Stichwortpassagen als Indiz einer zunehmenden inneren Unruhe, die er selbst auch an sich bemerkt. Hier bin ich vom ersten Augenblick an in Zwiespalt gestürzt. Die Schilderung von Eindrücken genügt nicht mehr, ja das Sehen nimmt nur einen geringen Raum des Tages ein. Meine Hand ist nicht mehr frei. Mein Gemüt nicht mehr ruhig.12
Neben diese inneren Anspannungen treten äußere. Die palästinensischen Juden führen den österreichischen Juden Werfel durch ihre Siedlungen, wo ihm in den kollektiven Lebensformen Ideen begegnen, „für die er selbst so viele Jahre gestritten“ hatte.13 Schließlich kommt noch hinzu, daß Alma gegen das Jüdische hier an sich, weiters (selbstverständlich) gegen das Kommunistisch-Jüdisches, die furchtbarsten Widerstände hat, und daß ich ununterbrochen in die falsche Rolle des Mittlers eines Polemikers nach beiden Seiten hin gedrängt bin. Ich bin tatsächlich hin und her gerissen […].14
Dieses innere wie äußere Unbehagen drückt sich schließlich in einer zunehmenden Verknappung der Tagebucheinträge aus, sodass kaum mehr als vier der insgesamt etwa 37 Druckseiten des Tagebuchs den in Palästina verbrachten Teil der Reise einschließlich Rückkehr über Kairo ausmachen. Gleichwohl wird als Resultat dieser ersten Palästinareise deutlich, wie sehr das dortige aufkeimende jüdi9 Werfel, Zwischen oben und unten, S. 709. 10 Werfel, Zwischen oben und unten, S. 729. 11 Werfel, Zwischen oben und unten, S. 732. 12 Werfel, Zwischen oben und unten, S. 738. 13 Werfel, Zwischen oben und unten, S. 738. 14 Werfel, Zwischen oben und unten, S. 739.
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sche Leben „ihn mit dem eigenen Judentum“ konfrontierte, ihn zwang, „seine Beziehungen dazu auszuloten“.15 Wobei seine Interessen weniger den verschiedenen Formen religiöser Orthodoxie als den neuen sozialen Lebensmodellen gelten. Franz Werfels Reisetagebuch wird ergänzt durch die (leider nicht immer zuverlässigen) Erinnerungen in Alma Mahler-Werfels Autobiografie Mein Leben, die jedoch dort ausführlicher werden, wo Werfel zu schweigen beginnt, insbesondere über die Reise nach Jerusalem und ans Tote Meer. Alma MahlerWerfel datiert die Reise nicht allein fälschlich ins Jahr 1924, ihre Schilderungen tragen zudem deutlich von Ressentiments geprägte Züge. Im ägyptischen Teil ihres Berichts mokiert sie sich etwa über die „gräßlich langweilige englische Küche“ und ihre dadurch ausgelösten „Eß-Phantasien“16, während sie das jüdische Leben in statu nascendi noch als sehr improvisiert empfindet, von einem unübersehbaren „Chauvinismus“, wie Alma formuliert, geprägt. Die Hotels seien schmutzig, die jüdischen Siedlungen noch im „Anfang und alles war noch im Negligé“. Man servierte „Tee in verrosteten Eierschalen“17 und mutete den Gästen eine Übernachtung im Zelt zu, weshalb die Werfels in ein englisches Hotel nach Nazareth flohen. Die vermeintliche Peinlichkeit eines ihnen zu Ehren angekündigten Mahler-Fests umging man schließlich durch vorzeitige Abreise. So machte das kommunale Leben der Siedlergemeinden auf Alma Mahler-Werfel einen sehr bedenklichen Eindruck. Die Kwuzahs und Farmen der ersten Jahre waren zu wenig durchdacht. Uns gefielen die Familiensiedlungen besser als die kommunistischen Kwuzahs. Die Vögel fraßen die frischgepflanzten Bäume, die Heuschober waren nicht geschützt, ich sah viele Dinge, die hätten besser sein können. Aber wir spürten den ungeheuren Auftrieb.18
Gute fünf Jahre später, Anfang 1930, reisten Alma und Franz Werfel erneut nach Palästina. Ein halbes Jahr zuvor, am 6. Juli 1929, war man trotz der anti-semitischen Grundeinstellung Almas eine Ehe eingegangen. Da für diese Reise von Seiten Franz Werfels leider kein Bericht vorliegt, sieht man sich erneut gezwungen, auf die unzuverlässigen, schon in der Datierung auf Anfang 1929 falschen Memoiren Alma Mahler-Werfel zurückgreifen zu müssen.19 Schon in der Schilderung der Reiseplanung scheinen ihre Erinnerungen anekdotisch verzerrt:
15 Lunzer/Lunzer-Talos, Franz Werfel, S. 42. 16 Mahler-Werfel, Alma: Mein Leben. Frankfurt a. M. 1998, S. 164. 17 Mahler-Werfel, Mein Leben, S. 166. 18 Mahler-Werfel, Mein Leben, S. 166. 19 Vgl. Vorwort von Willy Haas. In: Mahler-Werfel, Mein Leben, S. 7–10.
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Ich wollte nach Indien, dem Lande meiner Sehnsucht. Er widersetzte sich dem mit der Begründung, es sei zu weit, zu anstrengend.20
Werfel allerdings hatte schon in seinem „Ägyptischen Tagebuch“ unter dem 18. Jänner ausdrücklich hervorgehoben: „Ich glaube, uns wird auch die künftige Indien- und Ostasienreise nichts antun.“21 Auf dieser zweiten Reise folgte man, schenkt man Mahler-Werfel Glauben, der Route der ersten, reiste also über Alexandria, Kairo, El Kantara nach Jerusalem. Unübersehbar schien das Land von Fortschritten gezeichnet, so auch, wie Alma erleichtert vermerkt, all jenen Segnungen der Zivilisation, die „ein neues, sauberes und modernes Hotel“ zu bieten vermochten. Wir fanden nach der kurzen Zeitspanne von fünf Jahren, in denen wir nicht da gewesen waren, ein ungemein gewachsenes, verschönertes, viel interessanteres Palästina.22
Auf Werfels Wunsch organisierte man von Jerusalem aus eine Weiterfahrt nach Syrien und in den Libanon, nach Damaskus, Baalbek und Beirut. Während des Aufenthalts in Damaskus, besichtigte man auch „die größte Teppichweberei“ der Stadt: Der Besitzer erschien und übernahm die Führung durch sein riesiges Etablissement. Wir gingen die Webstühle entlang, und überall fielen uns ausgehungerte Kinder auf, mit bleichen El Greco-Gesichtern und übergroßen dunklen Augen. Sie rollten auf dem Boden herum, hoben Spulen und Fäden auf, fegten wohl auch manchmal den Boden mit einem Besen rein. Franz Werfel frug den Besitzer, was das für merkwürdige Kinder seien. Er antwortet: „Ach, diese armen Geschöpfe, die klaube ich auf der Straße auf und gebe ihnen zehn Piaster pro Tag, damit sie nicht verhungern. Es sind die Kinder der von den Türken erschlagenen Armenier. Wenn ich sie hier nicht beherberge, verhungern sie, und niemand kümmert sich darum. Leisten können sie ja nicht das geringste, sie sind zu schwach dazu.“ Franz Werfel und ich gingen tief betroffen weg, nichts wollte uns nun wichtig oder schön erschienen.23
Wenngleich Alma Mahler-Werfel auf den folgenden wenigen Seiten zur zweiten Palästinareise mit Franz Werfel vordringlich die pittoreske Szenerie und das touristische Programm neben all den schwer erträglichen Reisestrapazen beschreibt, 20 Mahler-Werfel, Mein Leben, S. 206. 21 Werfel, Zwischen oben und unten, S. 708. 22 Mahler-Werfel, Mein Leben, S. 207. 23 Mahler-Werfel, Mein Leben, S. 208.
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wobei vor allem Beirut und der Berg Karmel in besonders schlechter Erinnerung verbleiben, so zieht sich doch von nun an als roter Faden durch diese kurze Reiseskizze das Leid der Armenier. Seit Damaskus gingen auch Franz Werfel „die Armenier […] nicht aus dem Sinn“ und auf seinem „Bett häuften sich […] die Notizen über die an den Armeniern begangenen Greuel.“24 Auch auf der Fahrt durch den Libanon, von Baalbek nach Beirut, nahm man die Spuren der Vertriebenen wahr: Früh fuhren wir an vielen armenischen Dörfern vorbei, von Überlebenden erbaut, die sich von den türkischen Siedlungen durch Reinlichkeit und Blumenpracht abhoben […]25
Trotz aller Reisewidrigkeiten und Zollschikanen blieb in Franz Werfels Seele haften: das Unglück der Armenier. Er skizzierte noch während der Reise eine Romanidee. Unser Freund, der Gesandte Graf Clauzel, sandte Werfel auf seine Bitte alle Protokolle über die türkischen Greuel aus dem Pariser Kriegsministerium, und Werfel schrieb später von 1932 bis 1933 den Roman: „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ nieder.26
Werfels Palästinareisen hinterließen in seinem Werk nachhaltige Spuren. Sie reichen von einer postum in den gesammelten Werken publizierten Liste der Geschenke „Israels an die Menschheit“,27 die wohl unter dem Eindruck noch der ersten Palästinareise entstand, bis zur Klärung seines Begriffs von „Rasse“ als „Ausdrucksrasse“, als einer von Sprache im allgemeinsten Sinne geprägten Gemeinschaft, wie er noch in seinem Festvortrag zur fünfzehnten Jahrhundertfeier der armenischen Bibelübersetzung begegnet; hier bei dem Versuch, das Wesen des armenischen Volks zu bestimmen. Es wurzelt nach Werfel in mythischer Vorzeit: Die Geistesgeschichte eines Volkes beginnt mit seiner Schrift. Die politische und kulturelle Geschichte der Armenier freilich ist weit älter, [...] es gab noch keine Schrift, aber es gab Dichter. Sie zogen von Ort zu Ort und prägten ins Gehör des Volkes ihre schwermütig schönen Strophen […]. Die Poesie war da und damit im höchsten Sinn die Nation.28
Mit Werfels Palästinareisen datieren also nicht nur Reflexionen sein eigenes Judentum betreffend, auf ihnen kommt Werfel auch zur persönlichen Klärung zentraler Momente des zeitgenössischen Diskurses wie etwa des Begriffs „Rasse“ 24 Mahler-Werfel, Mein Leben, S. 208. 25 Mahler-Werfel, Mein Leben, S. 209. 26 Mahler-Werfel, Mein Leben, S. 210. 27 Werfel, Zwischen oben und unten, S. 322–329. 28 Werfel, Zwischen oben und unten, S. 537f.
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und den hiermit häufig verbundenen Termini wie „Volk“ und „Nation“, die Werfels kulturhistorischer Denkansatz aus den chauvinistischen Kontexten seiner Zeit zu lösen vermag. In seiner Studie Zur Wahrnehmung und Darstellung des Orients bei Hermann Hesse, Armin T. Wegner und Annemarie Schwarzenbach, die Behrang Samsami 2011 unter dem Titel Die Entzauberung des Orients veröffentlichte,29 den er aus Wegners Einleitung zu Im Hause der Glückseligkeit entlieh, bietet Samsami unterschiedliche Erklärungsmodelle zum modischen Interesse am Orient gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts an, welche sich allerdings insgesamt auf ein Modernemodell beziehen, das von Krisen und ihren individuellen und sozialen Auswirkungen geprägt ist. Flucht aus der Großstadt, Suche nach Ordnung, ja „Moderne-Flucht“30 überhaupt treffen um diese Zeit auf ökonomisch wie politisch motivierte Kolonialisierungsinteressen, welche insgesamt die ambivalente Position des Westens gegenüber dem Osten markieren. Hinzukomme der sich um die Jahrhundertwende rasch verbreitende Zionismus Theodor Herzls, in dem sich religiös-spirituelle mit politisch-ökonomischen Idee verbinden. Werfels Palästinareise, auf die Samsami nicht explizit eingeht, scheint sich in dieses bipolare Modell nur bedingt zu fügen, wurde die Reise doch zunächst aus bildungstouristischen Ambitionen geplant, wenngleich auch während ihres Verlaufs ein tiefer zivilisationskritischer Ekel bei Werfel ausbricht, der seinen Reflexionen zum eigenen Judentum eine zunehmend skeptische Prägung verleiht. Ein Jahr vor der zweiten Palästinareise des Ehepaars Werfel hatte sich auch ein anderes Schriftstellerpaar auf eine Reise nach Palästina begeben, die damals sechsunddreißigjährige Lyrikerin Lola Landau, die in zweiter Ehe mit dem vierundvierzigjährigen Lyriker, Erzähler und Publizisten Armin T. Wegner verheiratet war. Auch sie schifften sich in Triest ein, auch sie hatten vergleichbare Erlebnisse auf der Passage, die sie jedoch nicht nach Alexandria, sondern nach Haifa führte. Wie der Altersunterschied verhält sich auch die religiöse Rollenverteilung reziprok zu den Werfels. Landau ist Jüdin, Wegner ein christlich getaufter intellektueller Kulturpatriot. Während Wegner sich von der technischen wie sozialen Entwicklung der jüdischen Gesellschaft vor allem in ihren Kolonien fasziniert zeigt, wird für Lola Landau die Begegnung mit Palästina wie für Franz Werfel zu einer ihr weiteres Leben geistig prägenden Erfahrung. Die Parallelen reichen bis ins Ikonografische. Landau und Wegner reisten mit einem Motorradgespann, das Wegner sich speziell für diese Reise von dem damals bekannten Motorradbauer Arno Dietrich in Nürnberg hat bauen lassen; eine Maschine, der er 29 Samsami, Behrang: Die Entzauberung des Orients. Zur Wahrnehmung und Darstellung des Orients bei Hermann Hesse, Armin T. Wegner und Annemarie Schwarzenbach. Bielefeld 2011. 30 Samsami, Entzauberung, S. 56.
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den Namen „weißer Fuchs“ gab. Sie basierte wohl auf der Ardie Motoconfort 8 (240 ccm)31 und wurde zum fotografischen Leitmotiv jener Fotos, die Wegner von dieser Reise mitbrachte.32 Auch das Ehepaar Werfel ließ sich 1930 vor einem Motorrad in der Wüste abbilden, vermutlich einer Royal Enfield Model 180 (8 PS aus 965 ccm),33 wenngleich nur schwer vorstellbar ist, dass Alma Mahler-Werfel sich eines solchen Fortbewegungsmittels bediente. Wegner gestaltet seine Jagd durch das tausendjährige Land zu einer atavistischen Expedition mit hoch-technischer Ausrüstung, zu welcher neben dem Motorradgespann, ein Klepperfaltboot mit Segelvortrieb und Außenbordmotor sowie eine umfangreiche Campingausrüstung gehörte. Zum wichtigsten Reiseinstrument wurde allerdings die Leica, denn anders als bei seinem großen Vorbild Sven Hedin,34 der etwa Tibet noch zu Pferd kartografierte, war Ziel dieser Fahrt nicht die Entdeckung des Unbekannten sondern die fotografische Dokumentation des Reisens. Landau und Wegner reisten in einer den Werfels entgegengesetzten Richtung. Von Haifa aus durchquerte man Palästina, befuhr den Jordan, den See Genezareth und das Tote Meer, um nach einem Abstecher ins benachbarte Syrien, ebenfalls nach Damaskus und schließlich über den Sinai bis zu den Cheops-Pyramiden bei Kairo zu gelangen. Wie bei der ersten Reise der Werfels 1925 wurde auch für Wegner und Landau schon während der Passage deutlich, dass für einen der jeweiligen Partner, für Werfel beziehungsweise für Landau, die Reise eine intensivere Auseinandersetzung mit dem eigenen Judentum zur Folge haben würde. Auch Landau und Wegner begegneten auf ihrer Schiffspassage, die Wegner absichtlich dritter Klasse gebucht hatte, während Landau im Oberdeck der zweiten Klasse geborgen schien, jüdischen Auswanderern. Sowohl die Talmud lesenden Alten wie die aus-
31 Später wird es hier motorradbegeisterte Nachahmer geben, die ebenfalls mit einer Ardie durch die afrikanischen Wüsten reisen. Vgl. Leichner, Georg: Durch drei Wüsten. Durch Sinai-, Libysche und Nubische Wüste nach Abessinien. Leipzig 1936. 32 Vgl. etwa die im Nachlass Wegners im Deutschen Literaturarchiv, Marbach a. N., wie auch die im Privatnachlass Wegners im Besitz von Mischa Wegner (z. Z. Depositum an der Bergischen Universität Wuppertal) aufbewahrten Bilder, die in Auszügen in der Ausstellung Armin T. Wegner Am Kreuzweg der Welten Fotografien 1915–1929 (Altenburg u. a. 2011) gezeigt wurden; vgl. ferner die Fotografien Wegners in Wegner, Armin T.: Jagd durch das tausendjährige Land. Berlin 1932. 33 Vgl. Lunzer/Lunzer-Talos, Franz Werfel, S. 43. 34 Vgl. sein Gedicht „Das Zelt“, das im Erstdruck 1916 in Bab, Julius: Der Deutsche Krieg im Deutschen Gedicht. „Nach tausend Tagen“. Berlin 1916, S. 19–20 erschien. Danach nochmals erschienen in der Zeitschrift Das Zelt (1. Jg. 1924. H. 1, S. 34) und im gleichen Jahr mit der Widmung an Hedin in der Lyriksammlung: Wegner, Armin T.: Die Straße mit den tausend Zielen. Dresden 1924, S. 79.
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gelassen tanzenden jungen Juden stimmten das Paar ein,35 prägten ihren Blick für die Reise, auf der sie weniger die historischen Altertümer als das jüdische Leben der Gegenwart suchten: ein Purimfest in Tel Aviv,36 die Urbarmachung der Wüste durch Orangenplantagen, der Bau des Jordan-Kraftwerks,37 vor allem die Besuche in den hier noch Kolonien genannten Kibbuzim,38 und damit die neu erwachende jüdische Kultur in Palästina waren es, die mit ihren anfänglich kollektivistischen Zügen das Ehepaar begeisterten. Wegner lernte ein von Gegensätzen geprägtes Land kennen, Gegensätze die nicht nur zwischen der arabischen und jüdischen Bevölkerung sich aufbaute, sondern auch die eingewanderten Juden tief zu spalten schienen: „Ein junger Pionier [...] lächelte: ‚Sabbatruhe? … Wir spielen Fußball!‘“39 Wobei der durch die Einwanderungen ausgelöste demografische wie modernistische Wandlungsprozess durch christliche Missionare feindlich beargwöhnt wurde: „Ich sprach einen christlichen amerikanischen Pfarrer. Er trug einen langen Rock und ein Fernglas darüber. Er sagte: ‚England hat Palästina an die Juden verkauft. Aus dem heutigen Jordan ein Kraftwerk zu machen, ist eine Beleidigung für jedes christliche Herz.‘“40 Auch in Ägypten begegneten ihnen erste Zeichen des Aufbruchs in die Moderne, junge Frauen etwa, die ihren Schleier abgelegt hatten,41 doch dominierten hier das Leben der Frauen noch starke religiös archaische Ordnungsmuster und Moralvorstellungen.42 Die ungeheure Faszination Wegners für das moderne jüdische Leben, den „neuen jüdischen Menschen“43 schien sich auch darin auszudrücken, dass sich Erinnerungen an die Gräuel des armenischen Völkermords, die Wegner zwischen 1919 und 1925 als „Austreibung des armenischen Volkes in Wüste“ noch heftig propagierte, weder in Jerusalem noch in Damaskus einstellten.44 In seiner Begeis35 Vgl. besonders das Kapitel „Das singende Schiff“ in Wegner, Armin T.: Jagd durch das tausendjährige Land. Berlin 1932. 36 Wegner, Jagd, S. 55–57. 37 Wegner, Jagd, S. 147–149. 38 Wegner, Jagd, S. 106–108. 39 Wegner, Jagd, S. 200. 40 Wegner, Jagd, S. 200. 41 Wegner, Jagd, S. 243. 42 Wegner, Jagd, S. 200. 43 Wegner, Jagd, S. 158. 44 Anders als bei Werfel finden sich in Wegners Aufzeichnungen vom Aufenthalt in Damaskus keinerlei Hinweise auf die Armenier. Bei der Besichtigung des syrischen Waisenhauses in Jerusalem ist ihm „die Gestalt eines armenischen Knaben […], der hier erzogen wurde, und den ich während des Krieges unter den armenischen Flüchtlingen in der mesopotamischen Wüste traf“ (Wegner, Jagd, S. 42) zwar vertraut. Wie die früheren Publikationen Wegners aber dokumentieren, muss ihm durchaus bewusst gewesen sein, dass es sich bei den Armeniern in der meso-
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terung für die Technisierung des Osten, für die Maschinen im Märchenland,45 treten Positionen gegenüber dem orientalischen Leben zutage, die bei Wegner, so Behrang Samsami, schon länger fixiert waren, wenngleich Samsami nicht auf Wegners Reisebücher eingeht, sondern sich in seiner Analyse auf die „Aufzeichnungen aus der Türkei“ Im Hause der Glückseligkeit (1920) und die türkischen Novellen Der Knabe Hüssein (1921) beschränkt. Wegner gehe, so Samsami, bereits hier so weit, „eine vollkommene ,Amerikanisierung‘ von Staat und Gesellschaft“ zu fordern.46 Für ihn stünde „die Verwestlichung des Landes für künftigen Fortschritt und Rationalität, Erneuerung und Prosperität“, demgegenüber ein „hauptsächlich von türkisch-orientalischen Traditionen und Islam dominiertes Denk- und Lebensmodell gewissermaßen von Rückständigkeit und Armut gekennzeichnet“ sei.47 Samsami stützt seine Lesart vor allem auf eine Passage aus Wegners Einleitung zu Im Hause der Glückseligkeit: „Denn ich glaube, daß die Entzauberung des Orients kommen muß, ich glaube an die Zukunft dieses neuen Amerika.“48 Ein solches „neues Amerika“ glaubte Wegner in den jüdischen Siedlungen erkennen zu können, obwohl diese gerade auf einer „unamerikanisch“ kollektivistischen Lebensweise basierten; ein Dissenz, den Wegners in seiner sympathetischen Begeisterung nicht präzis fokussierte und in seiner expressiv vitalistischen Emphase über den „neuen Menschen“ ausblendete. Auch Lola Landau zeigte sich tief bewegt vom neuen jüdischen Leben in Palästina, doch anders als für Wegner war ihr eine intellektuelle Distanz zum Beobachteten nur schwer möglich. Wie für Werfel stellte sich auch ihr die Identitätsfrage. An ihre Eltern schreibt sie im Mai 1929 nach dem Besuch eines Kibbuz aus Jerusalem: Dabei wird, je länger man in diesem Lande ist, die ganze Problematik des neuen Judenstaates und des schwierigen Aufbaus erst klar. Das merkwürdige Nebeneinander von praktischem Kommunismus dieser Insel inmitten des kapitalistischen Landes, die Frage der Kwuza, dieser neuen menschlichen Lebensform überhaupt.49
potamischen Wüste keineswegs um Flüchtlinge, sondern um gewaltsam Deportierte handelte, die man in der Wüste ihrem Schicksal überließ. 45 Vgl. hier Wegner, Armin T.: Maschinen im Märchenland. 1000 Kilometer durch die mesopotamische Wüste. Berlin 1932. 46 Samsami, Entzauberung, S. 196. 47 Samsami, Entzauberung, S. 196. 48 Samsami, Entzauberung, S. 196; vgl. auch Sölcün, Sargut: Entzauberte Nation. Literarische Entdeckung türkischer Mentalität. Duisburg 2008, S. 288f.; ferner: Bogdal, Klaus-Michael: Maschinen im Morgenland. Der Orient nach der Entdeckung des Öls. In: Orientdiskurse in der deutschen Literatur. Hrsg von Klaus-Michael Bogdal. Bielefeld 2007, S. 329–350. 49 Brief von Lola Landau an Doadus (d. i. ihr Vater Theodor Landau) zitiert nach: Hamann, Brigitte: Lola Landau: Leben und Werk; ein Beispiel deutsch-jüdischer Literatur des 20. Jahrhunderts in Deutschland und Palästina/Israel. Berlin 2000, S. 56.
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Auch ihr begegnete wie Werfel eine komplexe kulturelle wie politische Gemengelage, die auch sie mit einem im Kern noch Herderschen „Volksbegriff“ zu verstehen suchte. Im gleichen Brief heißt es weiter: Wie gern würde ich mich mit euch über das aufwühlende Problem des jüdischen Aufbaus, der jüdischen Volkswerdung aussprechen. Und wieviel Quälerei bei allem Beglückenden erlebe ich in mir! […] Ich sehe die Schwierigkeiten, die eigenen Volksgenossen, die arabisierten Juden zu kultivieren, und ich sehe den starken Einfluß der Orthodoxie, des streng gläubigen Judentums auf das ganze Leben, das ein Stück Mittelalter, ja ein Stück Ghettoleben hier hineingesetzt hat und das ja der neuen Jugend fremd ist.50
Diese neue Jugend begrüßte Landau wie Wegner ganz im Tone einer expressionistischen Anthropologie: Ich sehe auf der einen Seite die wunderbaren heroischen Versuche einer neuen Lebensordnung in den Kwuzoth und ich sehe auf der anderen Seite Levantinertum, Talmibildung, Kapitalismus unter dem Protektorat Englands. Ich sehe den neuen jüdischen Menschen, besonders den Chaluz, kräftig, einheitlich, schön an Leib und Seele und ich weiß zugleich, daß das Judentum auch hier noch eine Insel ist, eine Minorität, dass es das eigene Land nicht regiert […].51
Hier dokumentiert sich eine innere Bewegung, die vermutlich Werfel sein Tagebuch der ersten Palästinareise beim Betreten palästinensischen Bodens hat abbrechen lassen, und die nun auch die Differenz zwischen Landau und der journalistisch-technisch-heroischen Perspektive Wegners markiert: Aber dann rühren einen diese Dinge selber zu sehr an, um sie unbeteiligt zu erleben, nur vom ästhetischen Gesichtspunkt aus. Die Palästinafrage ist die Frage auch jedes einzelnen Juden in der Welt. Es geht jeden brennend an, man wird förmlich hier zur Gewissensentscheidung gezwungen.52
In Landaus 1987, drei Jahre vor ihrem Tod erschienenen Autobiografie Vor dem Vergessen. Meine drei Leben bricht sich in diese innere Erschütterung selbst nach 60 Jahren noch spürbar Bahn, zumal sie wohl auch der Beginn einer zunehmenden Distanz zu Armin T. Wegner datiert: Ich war drinnen, nicht draußen. Das Land meiner Urväter kam mir entgegen, sauste auf mich zu. Nicht ich besuchte Palästina, Palästina suchte mich heim. Als ob ich hierher und nirgendwo anders hingehörte. Aus der Verschüttung brach es bei mir hervor, das jüdi50 Hamann, Lola Landau, S. 56. 51 Hamann, Lola Landau, S. 56. 52 Hamann, Lola Landau, S. 56.
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sche Empfinden, das ich vergessen hatte. Ich entdeckte nicht ein fremdes Land, ich entdeckte mich. Doch zugleich wehrte ich mich in panischer Angst und Verstörtheit dagegen. Ich klammerte mich fest an das Vertraute, Heimatliche. Armins Zuhause war auch mein Zuhause, unser Heim in den nordischen Wäldern […] Und dennoch zog mich Palästina so gewaltig an, als könnte ich mich nie mehr davon lösen. Dieser Zwiespalt verließ mich nicht während der Reisewochen […].53
Sieben Jahre später fand Lola Landau, die zunächst ins Exil nach London geflohen war, in Palästina ihre neue Heimat, wohin ihr Armin T. Wegner jedoch nicht zu folgen vermochte. Die Trennung und darauf folgende Scheidung war, auch aus privaten Gründen, nicht mehr zu vermeiden. Werfel hatte, wie Peter Stephan Jungk in seiner Studie über die Entstehung der Vierzig Tage des Musa Dagh, dessen verschiedene Manuskriptversionen und Arbeitsstufen 1989 ausführlich beschreibt,54 in einer intensiven Schreibphase zwischen Juli 1932 und März 1933 seinen Roman beendet, nachdem er ihn bereits Ende November 1932 in öffentlichen Lesungen u. a. in Berlin bekannt gemacht hatte. Im November 1933 erschien der Roman dann zeitgleich mit Übersetzungen ins Französische55 und Englische56 im Paul Zsolnay Verlag. Sowohl Werfel als auch Wegner hatten von den literarischen Projekten des jeweils anderen zum armenischen Völkermord keinerlei Kenntnis. Wegner kannte bis zu diesem Zeitpunkt von Werfel wohl dessen Gedichtband Einander. Oden, Lieder, Gestalten in der 1915 bei Kurt Wolff erschienenen Erstausgabe, die sich mit deutlichen Lesespuren in seiner Bibliothek erhalten hat.57 Ob er Werfel darüber hinaus als Schriftsteller wahrgenommen hat, ist nicht belegt. Wegner war zu diesem Zeitpunkt selbst seit über einem Jahrzehnt mit einem eigenen Armenienroman befasst. In einem öffentlichen Lichtbildvortrag über Die Austreibung der Armenier in die mesopotamische Wüste58 hatte er bereits seit 1919 mehrfach auf das Schicksal des armenischen Volkes hingewiesen. Im November 1921 war ihm dann über die Vermittlung
53 Landau, Lola: Vor dem Vergessen. Frankfurt a. M. 1992, S. 266f. 54 Jungk, Peter Stephan: Die vierzig Tage des Musa Dagh. In: Franz Werfel. An Austrian Writer Reassessed. Hrsg. Von Lothar Huber. New York 1989, S. 175–191. 55 Les quarante Jours du Musa Dagh. Trad. de l’allemand par Paule Hofer-Bury, préface de Pierre Benoit. Paris 1933. 56 The Forty Days of Musa Dagh. Transl. by Geoffrey Dunlop. New York 1933. 57 Armin T. Wegner Archiv, Stadtbibliothek Wuppertal, Kasten „Lyrik des Expressionismus IV“. Ohne Lesespuren hingegen blieb Werfels Lyrikband „Die Versuchung“ ebenfalls in der Wolffschen Erstausgabe von 1913. 58 Vgl. Wegner, Armin T. : Die Austreibung des armenischen Volkes in die Wüste. Ein Lichtbildvortrag. Hrsg. von Andreas Meier. Göttingen 2011.
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der armenischen Botschaft ein Stipendium in Höhe von 10.000 Reichsmark59 zur Vollendung seines Armenienromans zur Verfügung gestellt worden, doch scheint Wegner das folgende Jahr 1922 über mit seinem heute kaum mehr genießbaren Roman Das Geständnis beschäftigt gewesen zu sein, in welchem er, vermutlich das Tagebuch seiner Geliebten Magda Jonas benutzend, das Leben einer sich in ihren Leidenschaften verlierenden Frau in Form einer trivialisierten Beichte à la Dostojewski nachzeichnet. Auch in den folgenden Jahren ist Wegner ein durchaus produktiver Schriftsteller. So erscheint 1924 sein vierter großer Gedichtband Die Straße mit den tausend Zielen. Zwei Jahre später publiziert er eine Anthologie eigener Arbeiten unter dem Titel Das Zelt. Aufzeichnungen, Briefe, Erzählungen aus der Türkei sowie die mit seiner Frau Lola Landau verfasste „türkische Komödie“ Wazif und Akif oder Die Frau mit den zwei Ehemännern. 1928 gibt er dann einen Band eigener Erzählungen heraus, Wie ich Stierkämpfer wurde, sodass man den Eindruck gewinnen kann, Wegner habe im Laufe der 1920er-Jahre das Armenienprojekt aus den Augen verloren. Wegners im Übrigen schon Anfang der 1920er-Jahre indifferente Position gegenüber der Armenienfrage konstatiert auch Samsami nach seiner Lektüre von Im Hause der Glückseligkeit und Der Knabe Hüssein: Dabei verstärkt eben diese jeweils besondere Darstellung der Orientalen, d. h. in diesem Fall der Türken und Armenier die Frage nach der Intention des Verfassers. Sieht Wegner beide Ethnien bzw. ihre „einfache“ Bevölkerung als Opfer des modernen Krieges, worauf er vor allem im Hause der Glückseligkeit andeutet? Und ist die Art und Weise seiner Darstellung in diesem Zusammenhang auch eine Folge des Verdachts, die zwei Seiten, die protürkischen und proarmenischen Stimmen in Deutschland zufrieden zu stellen?60
Zwar hatte Wegner immer wieder umfassend Material recherchiert, was sich in den ungeheuren Konvoluten zum Romanprojekt Die Austreibung in seinem Nachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach niedergeschlagen hat. Hierunter finden sich auch auf den 3. Juli 1930 datierte Exzerpte des „I. R. H. Pressedientes“,61 in 59 Wegner an Lola Landau, 4. November 1921, Deutsches Literaturarchiv Marburg, Nachlass Wegner. Dank an Thomas Hartwig für diesen Hinweis! 60 Samsami, Entzauberung, S. 211. 61 Deutsches Literaturarchiv Marbach B 78: 1, A: Kasten 19 „Die Austreibung“, 7. Mappe. Hier findet sich auf einer „78“ paginierten Seite ein Hinweis, dass Gräueltaten der Türken an den Armeniern aus Lepsius geschöpft wurden. So der Bericht, dass ein Armenier, der gezwungen wird, in das Minarett zu steigen und die Gläubigen zu rufen, anschließend erschossen wird, „Lepsius 39“. Folgende Faszikel enthalten getippte Berichte des I. R. H. Pressedienstes, z. T. datiert, 3. Juni 1930, z. T. nummeriert, Nr. 35, 38, 28. Sie enthalten Erzählungen und Berichte über Gräueltaten, Folterungen in Griechenland, Bessarabien; über einen Feuilleton-Aufsatz „Von Posten zu Posten. Erzählung eines bessarabischen Bauers“, unterzeichnet mit „Ion Martiru (Landwirt)“ notiert Wegner: „Beginn der Austreibung“ (Kasten 20, 2. Mappe).
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denen von Gräueltaten und Folterungen in Griechenland und Bessarabien die Rede ist, nähere Indizien für eine literarisch produktive Manuskriptarbeit am Armenienprojekt lassen sich jedoch erst wieder ab Januar 1932 finden. Wegner, der sich auch privat in einer Krise befand, hatte sich aus gesundheitlichen Gründen eine Kur in Schloss Melans bei Hall in Tirol verordnet, auch um dort seinen Armenienroman weiterzubringen, wie er brieflich an Landau berichtet. Doch dürfte er Ende der 1920er-Jahre stärker mit seiner Karriere als Reiseschriftsteller befasst gewesen sein. Im Jahr 1929 veröffentlicht er ein Buch über eine Reise in die Sowjetunion aus Anlass des 10. Jahrestages der Oktoberrevolution, zu dessen Feierlichkeiten er mit einer größeren Delegation europäischer Schriftsteller eingeladen worden war: Fünf Finger über dir – Aufzeichnungen einer Reise durch Russland, den Kaukasus und Persien. Im gleichen Jahr erscheint auch noch das seiner sechsjährigen Tochter Sibylle Anusch gewidmete Kinderbuch Moni oder Die Welt von unter, dem dann 1930 der rasch populär werdende Band Am Kreuzweg der Welten. Eine Reise vom Kaspischen Meer zum Nil folgt, der leicht modifizierte Auszüge aus Fünf Finger über dir nachdruckt, in welche auch Schilderungen seiner Reise mit Landau durch Palästina aufgenommen werden. Diese legt er nun 1932 als selbstständige Monografie unter dem Titel Jagd durch das tausendjährige Land vor und lässt nahezu gleichzeitig noch den Reisebericht Maschinen im Märchenland drucken, der nochmals Auszüge aus Am Kreuzweg der Welten enthält. Wegner ist also von 1929 bis 1932 durchaus produktiv, denn zu den erwähnten Büchern kommen noch zahlreiche verstreut überlieferte Nachdrucke in Auszügen in diversen Zeitschriften62 sowie Vorträge über seine zwei großen Reisen in den Orient 1927/1928 und 1929. Es überrascht jedoch, dass in all diesen Publikationen dem Schicksal der Armenier während des Ersten Weltkrieges nicht gedacht wird. Während seines Aufenthalts in Eriwan „als Gast der armenischen Regierung“, wie er in Fünf Finger über dir betont, lernt Wegner im Dezember 1927 Esther und Agop Sorian kennen, die er in einer Fußnote seines Buches als „ein junges, aus der Türkei ausgewandertes und mit dem Verfasser befreundetes armenisches Ehepaar, das in Deutschland studiert hat“63, vorstellt. Auch bei der Wiederbegegnung mit einem armenischen Freund aus früheren Berliner Jahren erwähnt Wegner zwar seinen Vortrag, den er „über die Austreibung der Armenier“ 1919 in der Urania hielt, übernimmt aber im Buch in einer Fußnote die offizielle türkische Sprachregelung, wenn er sich als Zeugen der „armenischen Deportation in Kleinasien“64 bezeichnet. Wegner zielte mit seinen Reiseberichten offensichtlich auf ein Publikum, das 62 Vgl. Bieber, Hedwig: Armin T. Wegner: Bibliographie. Dortmund 1973. 63 Wegner, Armin T.: Fünf Finger über dir. Bekenntnis eines Menschen in dieser Zeit. Berlin 1929, S. 159. 64 Wegner, Fünf Finger, S. 161.
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weniger am Schicksal der Armenier als an den gelegentlich reißerisch formulierten und reich illustrierten Reisebänden interessiert war. Die Ankündigung eines Armenienromans von Franz Werfel und mehr noch dessen Lesereise im November 1932 mögen daher bei Wegner eine gewisse Bestürzung ausgelöst haben. Am 19. Dezember 1932 schreibt er aus Charlottenburg an seine Geliebte und spätere zweite Frau, Irene Kowaliska, dass „schwere Sorge [ihn] in den Tagen der Heimkehr erfüllt und gelähmt hat. Es ist der schwerste Schicksalsschlag, der mich in diesem Augenblick treffen konnte.“65 Wegner versuchte umgehend, seinen Namen wieder in Zusammenhang mit dem Schicksal des armenischen Volkes zu bringen und reichte beim Berliner Tageblatt seine kleine Erzählung Der Knabe Atam ein, die auch am Sonntag, dem 25. Dezember 1932, gedruckt wurde.66 Gleichzeitig nahm er mit Franz Werfel Kontakt auf und muss in einem leider nicht überlieferten Brief an diesen von vermutlich Mitte Dezember 1932 auf das literarische Projekt und seine ihn dazu legitimierende Augenzeugenschaft hingewiesen haben. Werfels Antwort hierauf datiert vom 23. Dezember und ist gelassen, beinahe jovial dem älteren Kollegen gegenüber: Recht besehen besitzen Sie in Ihrem großen Erlebnis und Ihrer schicksalhaften Verbundenheit einen ungeheuren Vorteil mir gegenüber, der nicht aus Erfahrung, Lebensdetail, Sinneswissen sein Werk schaffen kann, sondern nur aus Phantasie, Erfindungskraft und aus einigen geschichtlichen Dokumenten. Bei einem derartigen Wettbewerb müßte demnach die Unruhe weit mehr auf meiner Seite sein. Ich glaube aber, lieber Wegner, daß wir beide sehr ruhig sein können, denn unsere Werke werden sicherlich ganz und gar verschieden sein. Das meine benutzt von den dokumentierten Tatsachen nur eine einzige Episode, die in der Aktensammlung von Lepsius einige wenige Seiten umfaßt. Diese Episode dient mir zum weiten Rahmen für ein allgemein menschliches Geschehen, für symbolhafte Entwicklung, für die Geschichte rein erfundener Gestalten, sie ist nicht Selbstzweck, sondern nur Anlaß.67
Werfel, der hier wohl auf die von ihm literarisch gestaltete und historisch dokumentierte Begegnung zwischen Johannes Lepsius und Enver Pascha im Jahre 1915 anspielt, eine Episode, die er auch bei seinen Lesungen öffentlich vortrug, scheint Wegner jedoch keineswegs beruhigt zu haben. Man kann annehmen, dass eine eingerückte Notiz im Berliner Tageblatt vom 30. Dezember 1932 von Wegner 65 Wegner an Irene Kowaliska, 19. Dezember 1932, Deutsches Literaturarchiv Marburg, Nachlass Wegner. Dank an Thomas Hartwig für diesen Hinweis! 66 Übrigens nicht in der Fassung, die in der neuen Armin-T.-Wegner-Ausgabe (Wegner, Armin T.: Der Knabe Hüssein und andere Erzählungen. Hrsg. von Volker Weidermann. Göttingen 2012) gedruckt wird, obwohl diese das Berliner Tageblatt vom 25. Dezember 1932 als Quelle angibt. 67 Werfel an Wegner, 23. Dezember 1932, Deutsches Literaturarchiv Marburg, Nachlass Wegner.
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veranlasst worden war, in welcher sowohl Werfels Lesung in der Akademie wie auch sein hier zum ersten Mal öffentlich beim Titel genannter „drei- oder vierbändiger“ Roman Die Austreibung68 Erwähnung finden. Wegner muss sich nochmals an Werfel gewandt haben, ein knappes Billet von Alma Mahler-Werfel an ihn vom 12. Januar 193269 beendet jedoch diese kurze Korrespondenz. Tatsächlich kann Wegners Erzählung Der Knabe Atam als Keimzelle des ersten Bandes seines großen epischen Mehrteilers gelten, wie er heute im Wegner-Nachlass des Deutschen Literaturarchivs vorliegt. Er beginnt mit der Geschichte Atam Akinians, der nach dem Armenierpogrom von 1896/1897 als einziger Überlebender seiner Familie in Kharput in das Haus Konstantin Worperians aufgenommen wird, einer literarischen Figur, die derjenigen Gabriel Bagradians in Werfels Musa Dagh nicht unähnlich ist und über welche es im bislang unveröffentlichten Romanmanuskript heißt: Konstantin Worperian hatte vor dreißig Jahren Vorlesungen in Edinburgh über Philosophie und Geschichte gehört und gemeinsam mit einer Russin den Preis für die Lösung einer wissenschaftlichen Aufgabe erhalten. Diese Russin wurde später seine Frau. Fast zehn Jahre hatten beide in England zugebracht, Worperian hatte sogar die englische Staatsangehörigkeit erworben und drückte sich noch jetzt mit Vorliebe in englischer Sprache aus. Seine Kleidung, von ausgeprägt europäischem und vornehmem Geschmack, erhöhte das Aussehen seiner schlanken männlichen Gestalt, dabei vermochte niemand hinter die unbeweglichen Züge seines schönen regelmäßigen Gesichts zu sehen. Seine vier erwachsenen Kinder hatte er nach englischem Muster erzogen; aber weit mehr als diese Erziehung, die vor allem in kalten Abreibungen und im Lesen Dickensscher Romane bestand, erregte das Erscheinen einer Badewanne unter den Einwohnern Meserehs Aufsehen, die er nach Kharput kommen ließ, sowie der vergebliche Versuch, in seiner Wohnung ein Wasserklosett einzurichten.70
Doch der große Armenienroman, zu dem die ersten Vorstufen bereits im Kriegstagebuch 1916 nachweisbar sind und auf den 1919 noch Glossen in Wegners Arbeitsexemplar von Johannes Lepsius’ Bericht über die Lage des Armenischen Volkes in der Türkei hinweisen,71 wird nicht vollendet werden. Lola Landau fährt Mitte Januar 1933 einige Tage mit ihrer Mutter nach Ober-Schreiberhau ins Riesengebirge. Wegner bleibt in Berlin und schreibt ihr am 22. Januar 1933:
68 Anonym: Franz Werfel und Armin T. Wegner, in: Berliner Tageblatt 30. Dezember 1932 (Morgenausgabe). 69 Mahler-Werfel an Wegner, 12. Dezember 1932, Deutsches Literaturarchiv Marburg, Nachlass Wegner. 70 Manuskript „Die Austreibung“, Deutsches Literaturarchiv Marburg, Nachlass Wegner. 71 Vgl. Arbeitsexemplar in der Bibliothek Armin T. Wegners, Stadtbibliothek Wuppertal; hier sind etwa „Atam“ und „Kharput“ als Glossen am Rand zu finden.
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Ich arbeite jetzt angestrengt an meinem Roman; aber leider geht es nur sehr langsam vorwärts. Es fehlt mir nicht an Gestaltungskraft, im Gegenteil eine Fülle von Ideen drängt sich mir in unaufhaltsamem Strom auf, beglückende und fruchtbare Gedanken; aber ich arbeite zersplittert, kann mich nur schwer beschränken und zusammenhalten und wie in der Schule irren meine Gedanken immerzu ab. Ich wünschte, ich könnte auf dem Lande sein, wo es mir immer besser gelingt, nur bei einer Sache tatkräftig zu bleiben.72
Tatsächlich dokumentiert Wegners Tagebuch aus dem Jahre 1933 diese schockartig gesteigerte Betriebsamkeit. Findet sich noch unter dem 8. Januar eine lange Namensliste von Kritikern, denen er sein Reisebuch Jagd durch das tausendjährige Land zusenden lassen möchte, so beginnt der 9. Januar mit dem schlichten Eintrag „Die 40 Tage des Musa Dagh“73 – und von da an dominieren im Tagebuch Exzerpte, Entwürfe und Materialsammlungen, die mitunter täglich unter der Überschrift „Für Austreibung“ zu finden sind. Diese letzte Arbeitsphase, die im Sommer in seinem „Zeltschloss Krähenorgel“ im Wald am Sacrower See bei Potsdam fortgesetzt wird, endet abrupt am 11. August, dem Tag seiner Verhaftung durch die Gestapo. Nach einer Odyssee durch diverse Gefängnisse und Konzentrationslager, nach Folter wie erzwungenem Arrangement stürmen Anfang 1934 gleich mehrere Projekte gedanklich auf Wegner ein, die das Armenienbuch für nun lange Zeit in den Hintergrund drängen. Die Erlebnisse in den Konzentrationslagern sollten in einem Roman mit dem Titel Die Peitsche74 und das Heraufziehen des Nationalsozialismus in einem Erzählprojekt Die Mühle Gottes weitgehend parallel gestaltet werden. Erneut war Wegner dabei, sich zu verzetteln.
72 Wegner an Lola Landau, 22. Januar 1932, Deutsches Literaturarchiv Marburg, Nachlass Wegner. Ich danke Thomas Hartwig für diesen Hinweis! 73 Tagebuch 1933, Deutsches Literaturarchiv Marburg, Nachlass Wegner. 74 Vgl. MA-Arbeit von Schönwiesner, Judith: Armin T. Wegner. Die Peitsche. Edition eines Fragments. Unveröffentlichte Magisterarbeit, Bergische Universität Wuppertal 2008.
Rolf Hosfeld
Völkermord und Moderne bei Franz Werfel1 Franz Werfels Roman über die vierzig Tage des Musa Dagh beruht auf einer erstaunlich detailgenauen Recherche der historischen Ereignisse des Spätsommers 1915 an der Mittelmeerküste der heutigen Türkei. Er enthält aber auch überaus hellsichtige Reflexionen über die zeitbedingten Motive des osmanischen Völkermords an den Armeniern und alle künftigen modernen Genozide. Dieser Zusammenhang hat auch etwas mit dem besonderen Medium Literatur zu tun, der es nie ausschließlich um Fakten geht und gehen kann. Literatur lebt grundsätzlich von der Möglichkeit des sinnbildlichen Verweises und ist deshalb, wenn es um historische Ereignisse geht, ebenso grundsätzlich (zumindest latent) komparatistisch angelegt. Darüber hinaus entwickelte Werfel im Ansatz zukunftsweisende Ideen über Moralpolitik im Zeitalter der Genozide und baute sie in seine Erzählung ein, die man aus allen vorgenannten Gründen deshalb als frühen Schlüsselroman über eines der dunkelsten Kapitel der Moderne lesen kann. Werfel begegnete dem armenischen Thema aus eigener Anschauung zum ersten Mal 1930 in Damaskus, als er dort in der größten Teppichweberei ausgehungerte armenische Waisenkinder sah, Überlebende des Völkermords während des Ersten Weltkrieges. Vermutlich in Beirut erfuhr er die unglaubliche Geschichte des armenischen Widerstands am Berg Musa Dagh in der heutigen Südtürkei. Erste Romannotizen zu diesem Thema entstanden bereits während dieser Reise. Die Kernidee eines „Helden wider Willen“, die dem Roman seine eigene Färbung gab, kam ihm jedoch erst 1932 angesichts des wachsenden Antisemitismus in Deutschland. Er werde, so Werfel zu seiner Frau Alma im Sommer dieses Jahres, in seinem neuen Roman „den türkischen Nationalismus beleuchten und die Geschichte der armenischen Greuel berichten“.2 Als jemand, der in Prag mit seinen zunehmenden Spannungen zwischen Tschechen, Deutschen und Juden aufwuchs, hatte er schon früh ein Gespür für die destruktiven Tendenzen des modernen Nationalismus entwickelt. „In jedem Zeitalter“, schreibt er, „streuen sich die Menschen andere Ideengewürze auf die bittere Lebensspeise, um sie noch ungenießbarer zu machen.“3 Die Geschichte der armenischen Gräuel aber war für ihn vor allem ein Beispiel der Tödlichkeit des modernen Machtwillens, den er im Weltkrieg kennengelernt hatte, und der daraus resultierenden unbewussten „Sehnsucht nach Blutvergießen“.4 Schon 1 Dank an Margaret Lavinia Anderson (Berkeley) für kritisches Gegenlesen. 2 Mahler-Werfel, Alma: Mein Leben. Frankfurt a. M. 2000, S. 233. 3 Werfel, Franz: Die vierzig Tage des Musa Dagh. Frankfurt a. M. 1988, S. 29. 4 Werfel, Franz: Stern der Ungeborenen. Frankfurt a. M. 1946, S. 545.
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damals ging ihm zum ersten Mal der Gedanke durch den Kopf, sich literarisch mit dem armenischen Schicksal zu beschäftigen.5 Seine erste Orientreise hatte Werfel 1924 unternommen. Kurz darauf entstand sein Drama Paulus unter den Juden, für das er eine enorme Recherchearbeit auf sich nahm. Er las Sueton, den Flavius Josephus, die Bibel und andere Quellen sehr genau und im Detail. Werfel, so Alma, war sich in ganz anderer Weise als zu früheren Zeiten seiner Verantwortung für das historische Thema bewusst. Er war, auch unter dem Einfluss der Neuen Sachlichkeit, gegenüber seiner expressionistischen Phase in größerem Maße „ernst geworden“.6 Jede poetische Freiheit „ohne strenge Begründung“ erschien ihm seitdem als „unkünstlerischer und verletzender Leichtsinn“.7 Die Vierzig Tage des Musa Dagh, an denen er sofort nach der Rückkehr von seiner zweiten Orientreise 1930 zu arbeiten begann, war die zweite Geschichte, die er aus dem Nahen Osten mitbrachte. Hier wurde der Aufwand an Recherche wesentlich umfangreicher. Die Parabel des Romans sollte einer ernsthaften Überprüfung des Historikers standhalten können. Er verspürte gegenüber diesem Projekt, das vielleicht sein „Hauptwerk“ werden könnte, eine „ungeheure Verantwortung“.8 Das poetische und moralische Sinnbild, das sich aus der Erzählung ergab, sollte deshalb unanfechtbar aus sachlich überprüfbaren Fakten herausgelesen werden können, ohne dadurch seinen Charakter als Sinnbild zu verlieren. Der französische Gesandte in Wien, Comte Clauzel, stellte ihm Material zur Verfügung.9 Bibliothek und Archiv des armenischen Klosters der Mechitaristen in Wien wurden konsultiert. Die Schriften von Johannes Lepsius, darunter Der Todesgang des armenischen Volkes10 sowie seine unter dem Titel Deutschland und Armenien11 herausgegebene Sammlung von diplomatischen Akten über das Osmanische Reich waren andere wichtige Quellen, denen er enorm viele Details über den Verlauf der Ereignisse bis zur Charakterisierung einzelner Regierungsbeamter verdankte. Den Rahmen der Geschichte selbst entnahm Werfel jedoch den Aufzeichnungen des armenischen Pastors Dikran Andreasian, die zum ersten Mal 1916 in einer von James Bryce und Arnold Toynbee in London veröffentlichten Dokumentensammlung über die türkischen Gräuel an den Armeniern 5 Jungk, Peter Stephan: Franz Werfel. Frankfurt a. M. 2001, S. 396. 6 Mahler-Werfel, Mein Leben, S. 170. 7 Werfel, Franz: Die Dramen, Bd. 1. Frankfurt a. M. 1959, S. 257. 8 Werfel, Franz: Brief an die Eltern, 24. März 1933. Nach: Abels, Norbert: Franz Werfel. Reinbek 1990, S. 92. 9 Mahler-Werfel, Mein Leben, S. 210. 10 Lepsius, Johannes: Der Todesgang des armenischen Volkes. Potsdam 1919. 11 Lepsius, Johannes (Hrsg.): Deutschland und Armenien. Sammlung diplomatischer Aktenstücke. Potsdam 1919.
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erschienen waren,12 die er wahrscheinlich über Clauzel, auf jeden Fall aber in der deutschen Übersetzung von Lepsius kannte. Hinzu kamen hingebungsvolle Detailstudien über die mittelmeerische Landschaft am Berg Musa Dagh, über Handwerk, osmanische Sitten, Volkskultur, Landwirtschaft, Fauna und Flora, militärische Aspekte,13 sowie eine Fülle weiterer Literatur, darunter vermutlich die auf Deutsch erschienenen Erinnerungen des ehemaligen osmanischen Marineministers und Oberkommandierenden der Vierten Armee, Ahmed Cemal.14 Kurz gesagt, er hatte alle Voraussetzungen für ein gut orchestriertes Buch geschaffen. Franz Werfels Roman, der die Geschichte des Armeniers Gabriel Bagradian und seiner Leute erzählt, ist das bekannteste literarische Werk über den Völkermord an den Armeniern, und er beruht auf einer wahren Begebenheit. In Werfels Geschichte war Bagradian nach zwanzig Jahren Paris in seine Heimat zurückgekehrt und dort durch den Ausbruch des Krieges festgehalten worden. Die Geschichte hätte so sein können. Es gab mehrere solcher Fälle, und die Leute entkamen selten den Deportationen und Massakern, selbst wenn sie nominell Ausländer waren. Dikran Andreasian jedoch, auf dessen authentischem Bericht die Geschichte in Werfels Roman beruht, war Pastor einer protestantischen Kirche in Zeitun im Taurusgebirge. Die alte armenische Stadt, seit dem Ende der Kreuzfahrerreiche im Ruf eines traditionsreichen Widerstandsnests, war Anfang April 1915 während einer dem eigentlichen Geschehen des Völkermords vorgelagerten lokalen Aktion zwangsweise geräumt und mit bosnisch-muslimischen Flüchtlingen aus den Balkankriegen neu besiedelt worden.15 Werfel erzählt auch diese Ereignisse, gestützt auf die Unterlagen, die er in den diplomatischen Akten von Lepsius finden konnte, mit großer Genauigkeit.16 Andreasian – der bei Werfel den Namen Aram Tomasian erhält – hatte das Glück, dass sich amerikanische Missionare im benachbarten Marasch für ihn einsetzten. So kam er mit seiner Frau zurück in sein Heimatdorf Yoghonoluk am Musa Dagh, in dem Werfels Geschichte ihren Anfang nimmt.17 12 Bryce, James/Toynbee, Arnold (Hrsg.): The Treatment of the Armenians in the Ottoman Empire, 1915–1916. Documents Presented to Viscount Grey of Falloden by Viscount Bryce. London 1916. 13 Schulz-Behrend, George: Scources and Background of Werfel’s Novel Die Vierzig Tage des Musa Dagh. In: The Germanic Review, Vol. XXVI, No. 1, February 1951, S. 111f., 122. Sowie Jungk, Franz Werfel, S. 189–205. 14 Achmed Djemal Pascha: Erinnerungen eines türkischen Staatsmannes. München 1922. 15 Hosfeld, Rolf: Operation Nemesis. Die Türkei, Deutschland und der Völkermord an den Armeniern. Köln 2009, S. 155f. 16 Lepsius, Deutschland und Armenien, Aktenstücke 21, 22, 24, 25, S. 35–45. 17 Mousa, Jibal: The Defense of the Mountain and the Rescue of its Defenders by the French Fleet; Narrative of an Eye-Witness, the Rev. Dikran Andreasian, Pastor of the Armenian Protestant Church at Zeitun. In: Bryce/Toynbee, Treatment, Dokument 130.
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Ende Juli erreichte Yoghonoluk und fünf andere Dörfer die Aufforderung, sich innerhalb von acht Tagen zur „Umsiedlung“ bereitzuhalten. Andreasian, der den Untergang Zeituns miterlebt hatte, wusste, was das in der Konsequenz bedeuten würde. Die Vertreibungen von Zeitun, anfangs ein Einzelfall, hatten bald modellhaften Charakter angenommen und sich seit Ende Mai auf das ganze kleinasiatische Gebiet des Osmanischen Reichs ausgeweitet. Inzwischen war die Verantwortung für die Ausführung der Deportationen dem Innenministerium übertragen worden, das schon den sogenannten „Bevölkerungsaustausch“ zwischen Muslimen und Bulgaren 1913 in seinen Händen hatte. Die Fäden von „Bevölkerungspolitik“, Finanz- und Wirtschaftspolitik, innerer Staatssicherheit und Geheimpolizei liefen in diesem Ministerium zusammen.18 Hier wurde nun mit einer methodischen Präzision an einem flächendeckenden Säuberungs- und Vernichtungsprogramm gearbeitet, wie man es nach den Worten der New York Times von den Türken nie erwartet hätte.19 Dem war kaum zu entkommen. Ein Teil der Dorfbewohner kam zu der Überzeugung, dass jeder Widerstand Wahnsinn wäre. Der weitaus größte Teil – fünftausend – zog sich jedoch mit allem, was er hatte, Schafen, Ziegen, Lebensmitteln, Flinten und Pistolen, unter der Führung von Moses Der Kalousdian, einem ehemaligen Offizier der osmanischen Armee, auf die Höhen des Musa Dagh zurück. Im Roman spielt Gabriel Bagradian diese Rolle. Die Aktion geschah in der verzweifelten Hoffnung, ein Durchbruch der Alliierten an den Dardanellen oder eine Friedensinitiative des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson könnte in den kommenden Wochen vielleicht kriegsentscheidend sein. Solange wollten sie auf dem Berg aushalten. Bald schon begann der erste türkische Angriff mit einer kleinen Vorhut von zweihundert Mann. Er wurde zurückgeschlagen, und erst am 12. August erfolgte ein zweiter Vorstoß. Insgesamt, wie man osmanischen Militärdokumenten entnehmen kann, mit zwei Regimentern der 41. Division der Vierten Armee und einer Abteilung Bergartillerie.20 Am 16./17. August, von Werfel ausführlich geschildert, wurden die türkischen Truppen durch geschickte nächtliche Guerillataktik zum Rückzug von den Höhen des Berges gezwungen. Seitdem war der Berg von der Landseite aus mit Hilfe der aufgehetzten muslimischen Bevölkerung aus den umliegenden Dörfern eingekesselt, um die Verteidiger regelrecht auszuhungern.
18 Hosfeld, Operation Nemesis, S. 204f. 19 The New York Times, 21. 8. 1915. 20 Prime Ministry Directorate General of Press and Information: Commander of the Fourth Army and Secretary of the Navy, Cemal, to the Office of the Acting Supreme Commander. In: Documents on Ottoman Armenians Vol. 1. Ankara 1982, Dokument 36, S. 119.
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Inzwischen hatte man aus Laken zwei große weiße Fahnen angefertigt, die von See her als weit sichtbares Signal wahrgenommen werden konnten. Eine von ihnen zeigte ein riesiges rotes Kreuz, auf die andere war in großer schwarzer Schrift auf Englisch eingenäht: „Christen in Not: Hilfe“. Zypern mit seinen britischen Marinestützpunkten war nur vierzig Seemeilen entfernt. Tatsächlich bewegte sich eines Tages die „Guichen“, ein französischer Kreuzer, der die Signale bemerkt hatte, auf den landabgewandten Strand am Fuß des Musa Dagh zu und setzte ein Boot aus, das ein armenischer Schwimmer erreichen konnte. Der „Guichen“ folgten andere französische Schiffe, die nun ihre Rettungsboote zu Wasser ließen und alle 4.058 Überlebenden des Musa Dagh an Bord nahmen. Sie wurden nach Port Said in Ägypten gebracht, wo sie am 14. September 1915 eintrafen.21 Soweit die Aufzeichnungen Andreasians. Soweit auch Franz Werfels Geschichte. Sie endet mit dem Tod Gabriel Bagradians, der nicht mehr die innere Kraft hat, den Flüchtenden zu folgen und von anrückenden türkischen Truppen erschossen wird. In den Morgenstunden, nachdem die Armenier verschwunden waren, entnimmt man osmanischen Militärdokumenten aus diesen Tagen, stürmten die Türken tatsächlich das Lager auf dem Gipfel des Bergs. Was danach geschah, eröffnet unter historischen Gesichtspunkten einen weiteren Blick auf den Kontext. Die Armenier hätten in der Nacht auf feindlichen Kriegsschiffen Zuflucht genommen, stellte der Stab der Vierten Osmanischen Armee wie in einem Beweis erwarteter hochverräterischer Handlung fest, um in der gleichen Meldung anzukündigen: „Andere Armenier in Iskenderun und Antakya werden rasch aus dem Gebiet vertrieben.“22 General Fahri Pascha, der letzte Kommandeur am Musa Dagh, der in Werfels Roman Ali Risa heißt, wurde nun vom Oberbefehlshaber Syriens, Ahmed Cemal, angewiesen, die Verantwortlichen für die armenische Massenflucht zu bestrafen23 und nach Urfa abkommandiert, eine Stadt, so Cemal wörtlich in der Sprache ethnischer Säuberungen, wo eine „große feindliche Nationalität“ lebt.24 Die armenische Bevölkerung Urfas – unter der die Erinnerung an die großen Pogrome von Ende Dezember 1895 und die Verbrennung von tausenden eingeschlossenen Armeniern bei lebendigem Leib in ihrer Kathedrale25 noch
21 Mousa, Defense. Ergänzende Angaben finden sich in dem Bericht von Mgr. Thorgom. In: Bryce/Toynbee, Treatment, Dokument 131. 22 Prime Ministry Directorate, Documents, S. 119. 23 Prime Ministry Directorate, Documents, S. 119. 24 Prime Ministry Directorate, Documents, S. 125. 25 Hosfeld, Operation Nemesis, S. 40–42.
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lebendig war – befand sich im Aufstand gegen ihre bevorstehende Deportation und Vernichtung. Am 6. Oktober traf Fahri mit einer Truppe von 6.000 Mann dort ein.26 Doch die Eroberung des armenischen Quartiers gestaltete sich schwieriger, als Fahri sich das vorgestellt hatte. Es war von der Führung des Aufstands in zweiunddreißig Sektionen eingeteilt worden, die alle durch Kuriere miteinander in Verbindung standen, und die Zugänge waren hermetisch verbarrikadiert.27 Im Prinzip, so Jakob Künzler, der schweizerische Leiter des Lepsius-Hilfswerks in Urfa während des Weltkrieges, hätten die Armenier sich monatelang halten können. Nahrungsmittel hatten sie genug, und fast jedes Haus verfügte über einen Ziehbrunnen, so dass auch das Wasser nicht knapp werden konnte. Ahmed Cemal ordnete Artilleriebeschuss der „Rebellen“ an,28 um sie zum Aufgeben zu zwingen. Als ihr Anführer am fünfzehnten Belagerungstag von einem Granatsplitter verwundet wurde, brach der Widerstand tatsächlich zusammen.29 Fahri Pascha bestand auf bedingungsloser Kapitulation. Am Vormittag des 16. Oktober fand die Übergabe statt, und nun war für ihn die Stunde der Rache für den Musa Dagh gekommen. Frauen und Kinder mussten sich in verschiedenen Gruppen aufstellen, die Männer hatten sich mit erhobenen Händen an anderen Plätzen einzufinden. Noch am Abend setzten die Massenexekutionen der Männer auf dem Moscheeplatz ein. Über Tage ging es so weiter. Dann erst begann die Austreibung der Frauen und Kinder in die mesopotamische Wüste. „Es bedurfte mehrerer Wochen, bis ganz Urfa von Armeniern gesäubert war“, berichtet Künzler: „Über 15.000 Menschen auszutreiben, sie entweder abzuschlachten oder abzutransportieren, war offenbar keine leichte Arbeit.“30 Noch Ende November waren von Zeit zu Zeit Schüsse zu hören, wenn irgendwo ein Armenier in seinem Versteck aufgespürt wurde. Diese Nachgeschichte ist, wie gesagt, Teil des allgemeinen Kontexts und wirft einen Blick auf die Unbedingtheit des Machtwillens, mit dem der Genozid an den Armeniern 1915/1916 vollzogen wurde. In verdichteter Form bildeten die Ereignisse in Urfa das Muster dessen ab, was überall im Land geschah. Überall wurden bei den Räumungsaktionen zunächst die Männer umgebracht und anschließend
26 Jernazian, Ephraim K.: Judgment unto Truth. Witnessing the Armenian Genocide. New Brunswick 1990, S. 85. 27 Jernazian, Judgement, S. 86. 28 Prime Ministry Directorate, Documents, S. 125. 29 Künzler, Jakob: Im Land des Blutes und der Tränen. Erlebnisse in Mesopotamien während des Weltkrieges (1916–1918). Zürich 1999, S. 70. 30 Künzler, Land, S. 89.
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die Frauen und Kinder ins Nichts geschickt.31 Etwas weit Entsetzlicheres als zügellose Willkür, so Werfels klarsichtige Beurteilung, war dabei am Werk, nämlich machtgestützte Ordnung und ein flächendeckendes planvolles Vorgehen.32 Um den erzählerischen Rahmen nicht zu sprengen, konzentriert er sich in seinem Roman jedoch ganz auf die Ereignisse am Musa Dagh selbst und inkorporiert den Machtwillen im Zentrum der Macht in der Person des jungen Kriegsministers Ismail Enver Pascha, den er als handelnde Person an einem Parallelschauplatz auftreten lässt. Er ist zweifellos eine authentische historische Figur, aber auch das Sinnbild einer neuen Strömung des Zeitgeists. In Enver hat Werfel einen Typus wiederentdeckt, der ihm bekannt vorkam, seit Franz Kafka ihm und seinen beiden Schwestern im Dezember 1914 zu Hause seine Erzählung von der Strafkolonie vorgelesen hatte,33 die erst 1919 erschien. Darin geht es, wie Kurt Tucholsky einmal bemerkte, eigentlich um einen Menschentypus der Zukunft. Der dort geschilderte Offizier, der eine Foltermaschine verwaltet, sei keineswegs roh oder grausam. Er sei etwas viel Schlimmeres: „Er ist amoralisch.“34 Er ist, wie Werfel es in einem Essay formuliert, dem „Vampirismus des Apparats“ unterworfen, „der diejenigen aussaugt, denen er dienen soll“.35 Als Psychogramm der jungtürkischen Führungsschicht ist diese Charakterisierung keineswegs überzogen. Sie bestand aus Männern mit einer, wie Werfel schreibt, „fassungslosen Verehrung“ für alles Moderne36 und absolut funktionalen Moralvorstellungen. „Ich bin der Überzeugung, daßdie Welt es bewundert und moralisch für gerechtfertigt hält, wenn eine Nation die eigenen Interessen an die erste Stelle setzt und damit Erfolg hat“, pflegte Innenminister Mehmet Talaat, der neben Enver zweite Hauptverantwortliche für die Armenierverfolgungen, zu sagen.37 Er wurde von Zeitgenossen als ein vollkommen irreligiöser, kühl berech-
31 „The general methodology of the genocide consisted of killing the men and deporting those women and children who were not absorbed into Muslim households.“ In Üngör, Ugur U.: Center and Periphery in the Armenian Genocide: The Case of Diyarbekir Province. In: Der Völkermord an den Armeniern, die Türkei und Europa. Hrsg. von Hans-Lukas Kieser und Elmar Plozza. Zürich 2006, S. 80. 32 Werfel, Musa Dagh, S. 196 u. 142–144. 33 Abels, Werfel, S. 13. 34 Tucholsky, Kurt: In der Strafkolonie. In: Kurt Tucholsky. Gesamtausgabe, Bd. 4. Reinbek 1996, S. 224. 35 Werfel, Franz: Können wir ohne Gottesglauben leben? In: Ders.: Zwischen oben und unten. Prosa, Tagebücher, Aphorismen, literarische Nachträge. München 1975, S. 59. 36 Werfel, Musa Dagh, S. 24. 37 Hanum, Halide Edib: Memories of Halide Edib. London 1926, S. 387.
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nender Mensch beschrieben,38 dessen Blicke nie etwas über seine Absichten verrieten.39 Ismail Enver, wie Werfel ihn ausgesprochen kenntnisreich schildert, empfand sich in gleicher Weise als Repräsentant einer „alten heroischen Rasse“40 und als emotionslosen Vollstrecker eines türkischen „nationalen Willens“, den er „rücksichtlos“ durchzusetzen entschlossen war.41 Er war das Beispiel einer „atemberaubenden Gattung“, heißt es im Musa Dagh, wie Kafkas Offizier, die „alle Sentimentalität überwunden hat“ und deshalb „außerhalb der Schuld und ihrer Qualen steht“.42 Zwischen Menschen und einem nationalen „Pestbazillus“ wie den Armeniern, beschreibt Werfel Envers genozidales Weltbild,43 konnte es aus Gründen „unvermeidlicher Staatsnotwendigkeiten“44 nie Frieden geben. Auf solche Bilder aus der Pathologie berief sich übrigens Adolf Hitler, als er Enver Pascha vor dem Münchner Volksgericht 1924 als jemanden lobte, der in seinen Augen vorbildhaft den Geist einer neuen Nation in eine vergiftete Welt getragen hatte.45 Wusste Werfel das? Jedenfalls wusste er erstaunlich viel über die inneren Motive, die dem modernen Genozid zugrunde liegen. Es ist zudem, wie gesagt, ein Vorteil von Literatur, dass sie in dem Bemühen, einem konkreten Ereignis etwas Sinnbildhaftes abzugewinnen, von vorherein unter historischen Gesichtspunkten auf eine immanent komparatistische Perspektive hin angelegt ist. Franz Werfel wusste auch, unter anderem durch literarische Impulse (wie Kafka), dass hier eine unheilvolle politische Avantgarde am Werk war. Nicht nur im Hinblick auf den „palingenetischen Ultranationalismus“,46 als dessen modernes Urbild Hitler Enver Pascha sehen wollte. Talaat und Enver konnten auf eine lange Karriere als professionelle politische Konspirateure zurückblicken, als sie endgültig nach einem Staatsstreich 1913 an die Macht kamen, eine türkisch-völkisch ausgerichtete Einparteiendiktatur – die erste dieser Art in der modernen 38 Gooch, George P.: Recent Relevations of European Diplomacy. London 1927, S. 130. 39 Gooch, George P.: Under Six Reigns. London 1959, S. 134. 40 Werfel, Musa Dagh, S. 132. 41 Werfel, Musa Dagh, S. 129. 42 Werfel, Musa Dagh, S. 135. 43 Werfel, Musa Dagh, S. 132. 44 Werfel, Musa Dagh, S. 245. 45 Fandek, Philip/Freniere, Francis H./Karcic, Lucie (Hrsg.): The Hitler Trial before the People’s Court in Munich, Vol. 1. Arlington 1976, S. 180. 46 Roger Griffin bezeichnet diese auf „Wiedergeburt“ zielende Vorstellung als idealtypische Kernidee aller Faschismen. Vgl. Griffin, Roger: The Nature of Fascism. London 1991, S. 26–55. Eine der häufigsten nationalistischen Vokabeln, so Ernest Gellner, lautet deshalb nicht zufällig „Erwachen“, und es gibt nur einen Weg, die gewünschte Homogenität und „Wiedergeburt“ rasch zu erreichen: die mit Gewalt herbei geführte sogenannte ethnische Säuberung. Vgl. Gellner, Ernest: Nationalismus. Kultur und Macht. Berlin 1999, S. 23 u. 83.
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Geschichte47 – etablierten und damit die Gesellschaft in einen permanenten Ausnahmezustand versetzten. Der Ausnahmezustand der Balkankriege wurde nun zu einer inneren Verfassung. Die alte osmanische Politik der „Einigkeit der Bevölkerungselemente“ habe sich als Irrweg erwiesen, resümierte auf dieser Grundlage ein jungtürkischer Parteitag in Istanbul Anfang Oktober 1916 die seit Frühjahr 1915 praktizierte tödliche Agenda, und deshalb sei nun, so wörtlich, eine „Ära der Säuberungen“ angebrochen.48 Damit verbunden war eine gewaltsame „Türkisierung“ armenischen Eigentums – Werfel erzählt auch diese Geschichte –, den Schätzungen der Pariser Friedenskonferenz 1919/1920 zufolge in einer Höhe von etwa acht Milliarden französischer Francs nach dem Stand von 1919.49 „Die Türkei wollte türkisch werden“, wie der turkophile Liberale und spätere Mitbegründer der Deutschen Hochschule für Politik, Ernst Jäckh, die von ihm begrüßte nationale Revolution auf einen kurzen Nenner brachte.50 Diesem Ziel hatte sich jedes Mittel unterzuordnen. Der moralische Gegenpol zur Figur Enver war für Franz Werfel Johannes Lepsius. Er lässt ihn unter anderem in einem Kapitel im Streitgespräch mit Enver auftreten, das tatsächlich so im Sommer 1915 in Istanbul stattgefunden hat.51 Solche monströsen Träume wie die Envers, sagt Lepsius dabei zu sich selbst in Gedanken, erzeugte eben nur das neuzeitliche „Narkotikum des Nationalismus“.52 Schon 1897 hatte er sich in Maximilian Hardens Zeitschrift Die Zukunft entschieden gegen die Ansicht ausgesprochen, den Nationalismus zum Maßstab sittlichen Denkens und Handelns zu erheben.53 Weltpolitik bedeutete für den evangelischen Theologen Lepsius in erster Linie eine ethische Angelegenheit mit dem Ziel, eine nach den Grundsätzen des Evangeliums rechtsstaatlich eingerichtete gemeinsame Welt anzustreben.54 Sie sollte in der Nachfolge Christi 47 „The Young Turk Revolution resulted in the gradual emergence of a radically new type of regime that was to become frighteningly familiar in the twentieth century: one-party rule.“ In Hanioglu, M. Sükrü: A Brief History of the Late Ottoman Empire. Princeton 2008, S. 151. 48 Radowitz an Bethmann-Hollweg, 9. 10. 1916, Anlage Taswiri Efkiar, 7. 10. 1916. Politisches Archiv des Auswärtigen Amts Berlin, R 14093. 49 Gerlach, Christian: Nationsbildung im Krieg, Wirtschaftliche Faktoren bei der Vernichtung der Armenier und beim Mord an den ungarischen Juden. In: Der Völkermord an den Armeniern und die Shoah. Hrsg. von Hans-Lukas Kieser und Dominik W. Schaller. Zürich 2002, S. 368. 50 Jaeckh, Ernst: The Rising Crescent. Turkey Yesterday, Today and Tomorrow. New York 1944, S. 132. 51 Lepsius, Johannes, Mein Besuch in Konstantinopel Juli/Aug. 1915. In: Der Orient, Jg. 1919, Nr. 1/3. 52 Werfel, Musa Dagh, S. 132. 53 Feigel, Uwe: Das evangelische Deutschland und Armenien. Göttingen 1989, S. 63. 54 Meißner, Axel: Martin Rades „Christliche Welt“ und Armenien. Bausteine für eine internationale Ethik des Protestantismus. Berlin 2010, S. 92.
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auf der inneren Bereitschaft zur Friedfertigkeit als kategorischer Forderung – als regulativem Prinzip von Politik und Recht – beruhen. Im Prinzip bedeutete das aber auch, worauf Werfel anlässlich eines Gesprächs zwischen Lepsius und Staatssekretär Gottlieb von Jagow in der Wilhelmstraße hinweist, das Postulat der Einmischung in angeblich innere Angelegenheiten fremder Staaten bei groben Menschenrechtsverletzungen.55 „Alles auf dieser Welt“, lässt er Lepsius sagen, „ist zunächst eine moralische und viel später erst eine politische Frage“.56 Lepsius war für Franz Werfel ein früher Moralpolitiker, ein Exponent des modernen Prinzips ethisch begründeter Außenpolitik. Nicht alle Lepsius-Passagen im Musa Dagh sind Werfel gelungen, vielleicht auch deshalb, weil dessen Gedankenwelt den eigenen Überlegungen über das Verhältnis von Religion und Politik zu nahekam. Vor allem das zweite, in weiten Teilen frei erfundene Zwischenspiel der Götter ist mit bekenntnishaften Zügen geradezu überladen und nicht immer durch Wahrscheinlichkeit motiviert. Auch, weil Lepsius für Werfel jenes „Wunderbare“ im Menschen repräsentierte, in dem er 1931 – während der Vorarbeiten zum Musa Dagh – in einem Vortrag über Kunst und Gewissen allein ein wirksames Mittel gegen die Verrohung des Zeitgeists sah.57 Diese Figur war in gewisser Hinsicht er selbst. Das Buch aber, schreibt Werfel Ende März 1933 an seine Eltern, hatte durch die neuesten politischen Ereignisse in Deutschland plötzlich eine unerwartete Aktualität gewonnen, eine „symbolische Aktualität“, indem es die „Unterdrückung“, die „Vernichtung von Minoritäten durch den Nationalismus“58 zum Thema machte. Diese Aktualität, die bis in den jüdischen Widerstand der vierziger Jahre fortwirkte, war auch ein Ergebnis der historischen und psychologischen Genauigkeit seines Erzählens. Für die Armenier aber war es, wie ein gregorianischer Priester 1936 in einer New Yorker Kirche in Anwesenheit Werfels sagte, als habe er mit diesem Roman und dessen symbolischen Bezügen ihrem Martyrium und ihrem Widerstand erst eine Seele gegeben.59
55 Werfel, Musa Dagh, S. 529. 56 Werfel, Musa Dagh, S. 530. 57 Jungk, Werfel, S. 104f. 58 Werfel, Brief an die Eltern, S. 98. 59 Mahler-Werfel, Mein Leben, S. 256.
Martin Tamcke
Fiktion und Wirklichkeit: Wegner und Werfel Fiktion und Wirklichkeit sind nicht einfach zwei geschiedene Entitäten. Fiktionen erwachsen irgendwie immer aus Vorfindlichem und haben immer auch eine Quelle in der Wirklichkeit, die das fiktionale Repertoire speist, und zuweilen kommt das Fiktionale sogar der Wirklichkeit näher als die Versuche rein faktischer Wirklichkeitserfassung. Das gilt gerade da, wo wir versuchen, eine Person und das ihr Spezifische zu erfassen. Jörg Magenaus Feststellung im Vorwort seiner Walser-Biografie gilt auch über das Biografische hinaus für andere Bereiche: Eine Biographie ist eine Anmaßung. […] Ein Menschenleben wird sortiert nach Maßstäben, die Weltanschauung, Geschichte oder auch bloß die gegenwärtige Zeitstimmung vorgeben. Würde man dasselbe Leben zehn Jahre früher oder später erzählen, käme etwas anderes dabei heraus. Auf pathetische Begriffe wie „Wahrheit“ oder auch nur „Wirklichkeit“ sollte man also von vornherein verzichten, wenn man dieses Puzzle aus unzähligen Einzelteilen zusammensetzt.1
Und natürlich gilt auch jene zweite Grundeinsicht Magenaus, die sich auf die Intention einer Biografie bezieht: Eine Biographie ist nun eine Entbergung, die gerade das Verborgene im Werk zu lesen versucht. Sie erzählt etwas davon, was im Erzählen verschwiegen wird. Der Biograph ist damit der natürliche Feind des Autors. Er verdeutlicht, was doch verheimlicht werden sollte.2
So gilt es, eben jene inneren Gegenlager aufzufinden, die der Autor gerade nicht veräußert wissen möchte, weil er sich in seinem literarisch vermittelten Lebensentwurf fast immer irgendwie stimmig gestalten muss. Was im Autor zum Tragen kam, ging durch einen Entscheidungsprozess, der zumeist hinter seinen Publikationen und nur versteckt auch in seinen Publikationen hypothetisch aufzufinden ist. Der Biograf rekonstruiert dabei Plausibilitäten aufgrund seines eigenen Standortes in der Zeit: „Ist nicht jeder eine Anstalt zur Lizenzierung der unvereinbaren Widersprüche?“3 Und überhaupt, was ist wirklich? Im Widerstreit zwischen Werfel und Wegner ist die Frage danach, was Wirklichkeit und was Fiktion ist, verknüpft mit dem Anspruch auf den Stoff, aus dem eine literarische Schöpfung, in beider Fall ein Roman, sich speisen darf oder nicht. 1 Magenau, Jörg: Martin Walser. Eine Biographie. Hamburg 2008, S. 15. 2 Magenau, Martin, S. 17. 3 Walser, Martin: Ich vertraue. Querfeldein. Reden und Aufsätze. Frankfurt a. M. 2000, S. 33.
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Armin T. Wegner ist tatsächlich zur Zeit des Völkermords an den Armeniern in dem damals noch Osmanischen Reich gewesen und besonders seine Rückreise von Bagdad nach Konstantinopel/Istanbul macht ihn zu einem Augenzeugen. Er sieht sozusagen im Rückspiegel auf das, was er im Sichtfenster geradeaus nicht zu sehen bekommen hat. Aber diese Sicht in den Rückspiegel bestätigt, was er, wäre er bei den Maßnahmen direkt dabei gewesen, wohl auch direkt gesehen hätte: wie die Armenier einer für sie nicht abwendbaren Gewalt ausgeliefert waren und was das mit ihnen machte. Die Eigenart dessen, was Wegner als die Wirklichkeit des Völkermords an den Armeniern erlebte, spiegelt sich besonders klar in seinem unveröffentlichten Tagebuch zur Rückreise von Bagdad bis Konya wieder, das ich hier ohne Blick auf das veröffentlichte Tagebuch heranziehe, um ihn uns noch einmal in seiner Wahrnehmung des Geschehens zu vergegenwärtigen. Ersten Armeniern begegnet er erst am 15. Tag der Reise in Mehadina, aber es ist nur eine ferne Wahrnehmung, im Tagebuch nur beiläufig notiert: „Hier die ersten Armenier, elende, vergrämte Gestalten.“4 Sogar die für ihn überraschende Feststellung in Deir ez-Zorr, das doch als ein Zielpunkt der Deportationen bekannt ist: „Ich dachte, hier auf viele Armenier zu treffen, sehe aber nichts dergleichen. Sollten denn auch die Reste, die durch die Wüste hierher gelangten, tot sein? Man sagt es.“5 Angesichts eines eher provisorischen Massengrabes und umfangen von Leichengeruch folgt dann die Überwältigung durch das Leid, das er sieht: War dieses die letzte Leiche? Das ganze Armenierelend steigt wieder auf. Ich setze mich auch oben auf die Höhe und blicke in wunderbare Erhabenheit und weite Einsamkeit dieser Natur. Plötzlich treten mir, vor den letzten Spuren eines untergegangenen Volkes und vor dem gewaltigen Elend dieser Menschheit Tränen in die Augen. Über dem Fluß geht der Mond auf.6
Am 21. Tag, bei Hamam, erst sehen sie das erste Armenierlager.7 Die Zahl der Armenier ist zusammengeschmolzen. Wegner mutmaßt, dass die Elendsten wohl schon verstorben seien. Die Armenier sind bereits seit eineinhalb Jahren unterwegs.8 Seit vier Monaten sind sie in diesem Lager. Kinder und Frauen umringen den Wagen der Reisekolonne und schlagen sich blutig um ein Stück Brot. Er erlebt, wie eine alte Frau einem Kind das erbeutete Brot wegnimmt und so 4 Grebenstein, Sven/Tamcke, Martin: „Vor den letzten Spuren eines untergegangenen Volkes“: Armin T. Wegners Kriegstagebuch vom 23. September bis 31. Oktober 1916. In: Orientalische Christen und Europa. Kulturbegegnung zwischen Interferenz, Partizipation und Antizipation,. Hrsg. von Martin Tamcke. Wiesbaden 2012, S. 254. 5 Grebenstein/Tamcke, Wegners Kriegstagebuch, S. 255. 6 Grebenstein/Tamcke, Wegners Kriegstagebuch, S. 256. 7 Grebenstein/Tamcke, Wegners Kriegstagebuch, S. 257. 8 Grebenstein/Tamcke, Wegners Kriegstagebuch, S. 257f.
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einfach das Recht des Stärkeren durchsetzt. Bizarr wirkt, dass er den Totenschädel eines Armeniers mitnimmt, „als traurige Trophäe“, wie er sagt.9 Der Akt hat etwas Bezeichnendes für Wegners Verhalten: Er begegnet den Armeniern, sieht deren Schicksal, ist zu Tränen gerührt, ja, zugleich aber eignet er sich das Geschehen an, sinnt auf dessen literarische Verwendbarkeit, nutzt gesehene Realität für literarische Fiktion. Diese Fiktion ist bemüht, zugleich dicht an der erlebten Realität zu bleiben. Die Mitnahme des Totenschädels eines der ermordeten Armenier mutet bizarr an, ist zugleich aber charakteristisch für Wegner: Es gilt die Aneignung. Das Individuum, zu dem dieser Schädel gehörte, tritt nicht als solches in sein Bewusstsein ein, sodass es diesen Akt beeinträchtigt hätte. Der Begriff „Trophäe“ kann hier ja nicht Zeichen des Triumphes über einen Gegner im herkömmlichen Sinne bedeuten, sondern allenfalls ein Zeichen des Triumphes über eine Bedrohung, die ja in diesem Fall nicht die eigene ist. Es sei denn, Hintergrund dieser Bezeichnung wäre bei Wegner das Überstehen der Gefahren des Weltkrieges auf orientalischem Boden, aber dafür wäre der Schädel eines an der aktiven Kriegsteilnahme gehinderten Armeniers doch wenig oder gar nicht aussagefähig. Einzelne Begegnungen zeigen immerhin doch, dass Wegner auch direkten Kontakt mit Lagerinsassen sucht. So unterhält er sich mit einem armenischen Priester und einem älteren Armenier im Lager von Abu Rera. Wieder drängt es ihn da, sich symbolisch dem Geschehen näher zu verbinden als es der Wirklichkeit entspricht. Als der Priester sein Kreuz hervorholt, kann Wegner sich „nicht enthalten“, es an seine „Stirn zu drücken, den Zeugen so vielen menschlichen Kummers und Leidens“.10 Der Bitte des Priesters, Wegner möge seine Tochter mit nach Konstantinopel nehmen, entspricht er nicht. Er könne ja schon seines Soldatenseins wegen nicht einmal einen armenischen Jungen nach Deutschland mitnehmen. Typisch für Wegner auch das Ende dieser Begegnung, nachdem ihm die beiden erklärt haben, dass sie ihrer Tötung entgegen gehen: „Ich drücke ihm die Hände u[nd] weiß nichts anderes zu sagen, als daß ich ihnen all das Gute wünsche, daß ich im Herzen hege. Ich sage: ‚Ich will in Deutschland an Euch denken.‘“11 Ein einzelner Versuch zu aktiver Hilfe, das Bemühen, den Sohn des armenischen Lageraufsehers mit nach Deutschland zu nehmen, scheitert aus der Furcht vor türkischen Gendarmen seitens des mit seinen Vernichtern kooperierenden Armeniers.12 Das eigentliche Geschehen ist in all den Begegnungen Wegners mit den Armeniern in den Lagern Gegenstand seiner Gespräche: So z. B. in der Begeg9 Grebenstein/Tamcke, Wegners Kriegstagebuch, S. 258. 10 Grebenstein/Tamcke, Wegners Kriegstagebuch, S. 258. 11 Grebenstein/Tamcke, Wegners Kriegstagebuch, S. 259. 12 Grebenstein/Tamcke, Wegners Kriegstagebuch, S. 259f.
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nung mit einer auf der deutschen Schule in Beirut erzogenen armenischen Frau in einem Lager bei Deir Hafir, mit der er Deutsch sprechen kann.13 Er notiert, erfragt Details, hört sich Schicksale und Lebensläufe an. In Aleppo schließlich intensiviert er seine Bemühungen durch Befragungen und Gespräche mit sich versteckt haltenden Armeniern, um sich so Aufschlüsse über das Geschehen geben zu lassen. Einer erzählt ihm seine Geschichte bei der deutschen Schwester Beatrice Rohner, einer verkleidet sich als Amerikaner mit steifem Hut, um ihn zu besuchen, ein Gebildeter kommt nachts zu ihm.14 Und ihr Erzählen liefert den Hintergrund zu dem, was er täglich sieht: dass die Armenier etwa während ihres Transports, bei der Einfahrt nach Aleppo, mit Stockhieben und Fußtritten festgenommen werden oder dass die Arbeitertrupps beim Straßenbau bei Schammalan „hauptsächlich aus Armeniern“ bestehen.15 Wozu die Gespräche mit Armeniern, die dabei ein hohes Risiko für ihr Leben eingehen? Ihm dienen sie dazu, seiner Idee einer Erzählung über das Schicksal der Armenier den nötigen Stoff zu verschaffen. Während eines besonders eindrücklichen Gespräches mit einem Armenier, kommt es zu einer Neuausrichtung seiner Idee. Am 37. Tag seiner Rückreise notiert er in Bozanti: „Unterwegs beschäftigt mich der Gedanke stark meine Armeniererzählung im Ich-ton, ++ unter fingiertem Namen zu erzählen: ‚Leon Da+i+awans Austreibung in die Wüste‘ v[on] ihm selbst erzählt.“16 Fiktion und Wirklichkeit gehen hier schon eine unlösbare Verbindung ein. Es geht nicht einfach um das Sammeln erschütternder Dokumente zu einem grausigen Geschehen, es geht darum, sich das Geschehen zumindest fiktional anzueignen. Wegner findet sich mit dem Geschehen unauflöslich verbunden, sieht sich als Sprachrohr der ermordeten Armenier, auch wenn er nie den Roman oder die Erzählung aus der Sicht eines Armeniers schreibt: Der Titel, den die Erzählung im Ich-Ton hätte tragen sollen, wird stattdessen der Titel seines berühmten und weithin fiktiven Vortrags in der Urania in Berlin zugunsten einer politischen Option für die Armenier im Ringen um die Friedensabschlüsse.17 Seine ersten Vorträge während des Weltkrieges, in denen die Armenier beiläufig von ihm erwähnt werden, zeugen hingegen davon, wie sehr er sich der Heldengeschichtsschreibung im Blick auf den Generalfeldmarschall von der Goltz verschreibt und 13 Grebenstein/Tamcke, Wegners Kriegstagebuch, S. 260. 14 Grebenstein/Tamcke, Wegners Kriegstagebuch, S. 262f. 15 Grebenstein/Tamcke, Wegners Kriegstagebuch, S. 265. 16 Grebenstein/Tamcke, Wegners Kriegstagebuch, S. 265. 17 Tamcke, Martin: Armin T. Wegners „Die Austreibung des armenischen Volkes in die Wüste“. Einführung zum unveröffentlichten Vortragstyposkript vom 19. März 1919 in der Urania zu Berlin. In: Orientalische Christen zwischen Repression und Migration. Beiträge zur jüngeren Geschichte und Gegenwartslage. Hrsg. von Martin Tamcke. Hamburg 2001, S. 65–135.
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die Sache der Armenier zunächst in Rücksichtnahme auf das bei seinen Auftraggebern, etwa der Deutsch-Türkischen Vereinigung, Erlaubte und Gebotene beiseitelässt, wenn nicht gar verrät.18 Er, der erst mit dem Fortfall der Restriktionen am Ende des Weltkrieges seine Stimme gezielt für die Sache der Armenier erheben wird, bastelt immer weiter an seiner Idee zu einem Roman zum Völkermord an den Armeniern, lässt diesen immer weiter ausufern in ein riesiges Historiengemälde, lässt sich von Armeniern dafür bezahlen, diesen Roman zu schreiben, bleibt aber doch kläglich auf der Strecke, unfähig, die Arbeit zu einem literarisch schlüssigen Wurf werden zu lassen und scheitert letztlich am eigenen Gegenstand. Es muss ein Schock für ihn gewesen sein, zu erfahren, dass Franz Werfel sich nun just dieses Stoffes angenommen hatte. Armin Wegners Reaktion ist eindeutig. Sein Versuch, sich mit den Armeniern zu identifizieren, hat ihm nicht nur den Ruf eines Spezialisten eingebracht, sondern ihn auch in eine innere Unmöglichkeit gestoßen: Er, der sich durchaus ambivalent verhält in seinen Begegnungen mit den Armeniern, hätte nun seinem Selbstbild entsprechend nur noch als schlechthinnige Autorität diesen Roman schreiben können. Die aber war er zu keinem Zeitpunkt. Das eigene Versagen im Blick auf die Armenier ist für ihn in seinem Bewusstsein doch undenkbar, die Rolle des Helden ist vom greisen Generalfeldmarschall von der Goltz, den er noch ganz als Helden hatte beschreiben können, auf ihn übergegangen. Er, der Sammler der Geschichten der Betroffenen, ist nun auch seiner eigenen Wahrnehmung nach geradezu der Zeuge des Geschehens, selbst ein Betroffener. Unlösbar stand er innerlich auf der Seite der Armenier. Sein Selbstbild bleibt bis ins hohe Alter von dieser seiner Verortung an der Seite der Armenier bestimmt, allen seinen Opportunitätsmomenten zum Trotz. Es ist also ein seelisch durchaus labiles Ich, das sich nährt aus dem Mitleben und Miterleben mit Armeniern und später Juden, die er wiederum stets auch fundamental im Stich zu lassen imstande ist. Und während so Wegners Selbstbild geradezu abhängt von seiner Funktion für die Armenier, scheint er dieser Funktion verlustig gehen zu sollen durch einen Schriftstellerkollegen, der noch nicht einmal das Geschehen miterlebt hat. Der bemächtigt sich des Geschehens, in das er doch unauflöslich verwoben ist. Es ist verständlich, dass Wegner Werfel vorwirft, dass das, was der vorhat, Diebstahl sei. Dieser Stoff, der kann nur ihm gehören. Nur er ist doch Augenzeuge und hat von daher authentischen Zugang zum Geschehen. Und tatsächlich bescheinigt ihm auch Werfel bereitwillig seine 18 Tamcke, Martin: Armin T. Wegners erste Zeugnisse zum Völkermord an den Armeniern in seinem V. Vortrag „Mit dem Stabe des Feldmarschalls von der Goltz in Mesopotamien“. In: Koexistenz und Konfrontation. Beiträge zur jüngeren Geschichte und Gegenwartslage der orientalischen Christen. Hrsg. von Martin Tamcke. Hamburg 2003, S. 319–365.
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Sonderstellung im Blick auf den Völkermord: „Für die Welt und für mich werden Sie in der armenischen Sache durch Kenntnis, Erfahrung, Erlebnisverbundenheit eine große Autorität sein.“19 Diesen Besitzanspruch Wegners weist Werfel jedoch ab. Dabei finden durchaus noch Informationen von Wegner zu Werfel, aber Werfel geht sein Werk von vornherein nicht als ein den historischen Vorgängen verpflichtetes an. Allerdings wird er auch in der Veröffentlichung ausdrücklich darauf hinweisen, dass dem Roman eben doch auch ein historisches Ereignis zugrunde liegt. Doch Werfel geht weit über das Geschehen hinaus, das der Diakon Andreasian der Weltöffentlichkeit berichtet hat und das dann von Johannes Lepsius in seine Dokumentation der Akten nach dem Weltkrieg aufgenommen wird. Er tut dies nicht nur im literarischen Sinn, sondern auch im Hinblick auf die Verwendung weiterer Quellen. Gerade das Gespräch, das Johannes Lepsius mit Enver Pascha führte, weist Werfel selbst als von ihm fast wörtlich in seinen Roman übernommen aus. Hermann Goltz hat den Text, mit ausführlicher Einleitung versehen, ediert und mir kurz vor seinem Tod als Beitrag zur Konferenz anlässlich meines 55. Geburtstages übereignet.20 Als das Buch erschien, in dem der Text von Goltz veröffentlicht wurde, war sein Verfasser nach schwerem Leiden am 9. Dezember 2010 verstorben. Es ist für mich damit so etwas wie ein Vermächtnis meines Kollegen zu unserem gemeinsamen Arbeitsgebiet. Werfel nun antwortet Wegner ausführlich auf dessen Vorhaltungen am Tag vor Heiligabend, am 23. Dezember 1932, von Wien aus. Während für Wegner seine Augenzeugenschaft ihm als Recht und Pflicht auch zur literarischen Verarbeitung des Völkermordes erschien, ist für Werfel zwar auch direkte persönliche Betroffenheit mit ausschlaggebend für die Realisierung seines Projektes, aber doch nur als ein zu seinen schon vorhandenen Ideen zu einem literarischen Projekt hinzutretendes Element. Um sich Wegner verständlich zu machen, greift er daher auf die Entstehungsgeschichte seines Romans zurück.
19 Tamcke, Martin: Briefwechsel Franz Werfel – Armin T. Wegner. In: Spuren in der Vergangenheit – Begegnungen in der Gegenwart. Glauben, Lehren und Leben in orthodoxen, alttorientalischen und evangelischen Kirchen. Festschrift für Hans-Dieter Döpmann. Hrsg. von Katharina Gaede. Berlin 1999, S. 156. 20 Goltz, Hermann: Interferenz zwischen Humanität und Genozid. Der Disput zwischen Johannes Lepsius und Enver Pascha, Konstantinopel, 10. August 1915. In: Orientalische Christen und Europa. Kulturbegegnung zwischen Interferenz, Partizipation und Antizipation. Hrsg. von Martin Tamcke. Wiesbaden 2012, S. 71–91.
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Lassen Sie mich Ihnen vorerst kurz die Entstehungsgeschichte meines armenischen Romans erzählen. Ich habe mich seit dem Kriege zweimal im Orient längere Zeit (mehrere Monate) aufgehalten, das erstemal 1925, das zweitemal 1929.21
Schon diese Zeitangaben stellen Wegner gegenüber klar: Nein, zur Zeit des Hauptgeschehens, also 1915, war ich nicht im Orient. Nein, ich schreibe nicht aus der Betroffenheit eines Augenzeugen heraus. Aber dennoch hat auch mich das Geschehen erreicht im dunklen Spiegel der Überlebenden. In Damaskus hatte ich ein erschütterndes Erlebnis mit armenischen Kindern.22
Und hier eben liegt doch ein Motiv ganz nah bei dem des Augenzeugen. Dieses erschütternde Erlebnis war es, das in mir jenen epischen Plan gewissermaßen virulent machte, der dunkel und ungestalt schon vorhanden war, seitdem ich das erstemal von diesen Dingen gehört hatte; knapp nach dem Kriege wahrscheinlich, genau weiß ich es nicht mehr.23
Die Betroffenheitserfahrung trifft also auf eine schon vorhandene Idee zu einem literarischen Projekt, dessen Ursprung nun noch näher an die Zeitgenossenschaft herangerückt wird. Knapp nach dem Kriege. Da erst werden diese Dinge öffentlich in Deutschland verhandelt, die zuvor in breiter Öffentlichkeit verhandelt zu sehen, den politisch Verantwortlichen inakzeptabel erscheint. Werfels Argumentation hätte klarer nicht ausfallen können. Das Projekt entspringt einer Idee zu einem Werk, die lediglich auf Hörensagen fußt, worunter in seinem Fall aber wohl auch Gelesenes und Erlesenes zu verstehen sind. Zeitlich gibt Werfel vor, diese Erstbegegnung mit dem Sujet nicht mehr konkret verorten zu können. Dass er sie nach dem Weltkrieg ansetzt, deutet an, dass er sich da im Wissenskollektiv der Mehrheit der Deutschen versteht. Dass er sie allerdings knapp nach dem Krieg bekommen haben will, betont die Frische und Nähe der da erst der breiteren Öffentlichkeit zugänglich werdenden Fakten. Die reale Begegnung ist nicht die Basis seiner Idee. Die besteht längst, als die Wahrnehmung des Faktums des Völkermords in ihm einen Widerhall auslöst: Die Begegnung mit den Folgen des Völkermords in Gestalt der vom Völkermord gezeichneten Kinder. Nun wird der Idee die nötige Motivation zum Schreiben zuteil. Die Idee wird durch die Begegnung mit den Kindern „virulent“ gemacht, so Werfel.24 21 Tamcke, Briefwechsel, S. 155. 22 Tamcke, Briefwechsel, S. 155. 23 Tamcke, Briefwechsel, S. 155. 24 Tamcke, Briefwechsel, S. 155.
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Hierzu ein Verstehensversuch auf dem Umweg über eine grundlegende Einsicht der Literaturwissenschaft: Der künstlerische Ausdruck ist als Nachahmung der Wirklichkeit, niemals dessen bloße Fixierung, sondern immer dessen Steigerung zur Idee. Wer das Urbild des Nachgeahmten in der Realität aufsucht, wird dadurch das Nachgeahmte gewiß nicht besser verstehen können. Das Porträt ist ein Musterbeispiel dafür, daß wir, auch ohne zu wissen, wer der Porträtierte ist, sehr wohl sehen, was an ihm zur Darstellung kommt. Im künstlerischen Ausdruck ist das Ausgedrückte selbst da. Wer das Ausgedrückte in der vorausliegenden Wirklichkeit sucht, wird das, was tatsächlich zur Darstellung gekommen ist, gerade aus den Augen verlieren.25
Horst-Jürgen Gerigks fundamentale Einsicht zum Verständnis des literarischen Porträts möchte ich parallel zu den eingangs bereits genutzten Aussagen über das Schreiben einer Biografie auf Wegner und Werfel angewandt wissen. Wer mit dem literarischen Werk in der Hand die ihm vorausliegende Geschichte erkunden möchte, wird gerade an sie nicht herangelangen. „Der Schriftsteller ist nicht nur Beobachter, sondern immer auch Beteiligter.“26 Was er literarisch erschafft, enthält ihn mehr oder minder. Im Falle Werfels also: Die Idee blitzt nach dem Krieg auf, die Kinder zünden die Idee zur Tat. Das Medium aber eben ist Werfel. Und mehr noch als nur das Medium. Er erschafft auch durch Zusammenfügen und Trennen, durch Hinzuerfinden und Fortlassen. Es ist deshalb nur folgerichtig, wenn auch auf den Nationalsozialismus und die Bedrängung der Juden als Kontext für Werfels Roman hingewiesen wird. Das ist der zeitliche Ort, von dem her er sich das Geschehen erschließt, von dem her er den Plan zu einem Werk wachsen lässt. Eine monokausale Argumentationslinie für das Werk Werfels in Anschlag zu bringen, die allein auf die beiden von ihm benannten Triebkräfte abhöbe – die Idee angesichts dessen, was er zu wissen bekam, und die Ausführung aufgrund dessen, was er sah und erlebte – eine Argumentationslinie also, die dieses Werk nur im Bemühen um die Darstellung des Völkermords an den Armeniern begreifen will und gar durch den Roman das Geschehen sehen möchte, muss ins Abseits führen, weil sie nicht weiter kommt als bis zu Werfel und allenfalls erheben kann, was er an konkretem Material verarbeitete. Was Werfel bieten kann, ist Konstruktion mit einem eher kleinen Moment realer Begegnung mit dem Geschehen einerseits, es ist aber zugleich das, was dadurch in ihm entstand und durch ihn und seine Empfindungs- und Gedankenwelt anderen verständlich und zugänglich ist. Werfel geht es nicht um Anspruch auf Augenzeugenschaft. Wie soll es auch? Ihm geht es um Dichtung, wie er das nennt. Er ist sich bewusst, dass 25 Gerigk, Horst-Jürgen: Unterwegs zur Interpretation. Hürtgenwald 1989, S. 129. 26 Magenau, Martin Walser, S. 129.
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er nur aus „Phantasie, Erfindungskraft und aus einigen geschichtlichen Dokumenten“ schöpfen kann. Wegners Anspruch, sich als Augenzeuge zur Sprache zu bringen auch im literarischen Werk, ist ihm ohnehin verschlossen. Von daher ist Werfels Gelassenheit im schriftstellerischen Wettstreit verständlich. Wegners Ansatz und Anspruch haben mit dem seinen zunächst nichts zu tun. Ich glaube aber, lieber Wegner, daß wir beide sehr ruhig sein können, denn unsere Werke werden sicher ganz und gar verschieden sein. Das meine benutzt von den dokumentierten Tatsachen nur eine einzige Episode, die in der Aktensammlung von Lepsius einige wenige Seiten umfaßt. Diese Episode dient mir zum weiten Rahmen für ein allgemein menschliches Geschehen, für symbolische Entwicklung, für die Geschichte rein erfundener Gestalten, sie ist nicht Selbstzweck, sondern nur Anlaß. Auch wird in meinem Buch nicht viel die Rede sein von Greueln und Massakres, alles Dokumentarische will ich zurücktreten lassen, das menschliche Schicksal der erfundenen Figuren allein wird wichtig sein. Die von mir rezitierte Szene, deren Inhalt Ihnen durch die Zeitung bekannt ist, hat mit dem eigentlichen Roman sehr wenig zu tun.27
Werfel minimiert hier deutlich das Streitpotential zu Wegner. Tatsächlich hat er durchaus mehr als nur das Gespräch zwischen Enver und Lepsius in seinen Roman aufgenommen, ja, baut sein Roman erkennbar auf der Geschichte des Diakons Andreasian auf. Und wie viel diese Episode nun mit dem Roman zu tun haben mag oder nicht, kann durchaus strittig bedacht werden. Werfel geht es hier einerseits um die Reduzierung der strittigen Berichte, die ihm ebenso wie Wegner zugänglich waren. Zugleich betont er, dass das Armenische hier gerade nicht als das Konkrete und Historische zu nehmen sei, sondern mittels seiner Aneignung im Romanschaffen als ein über sich Hinausweisendes sein Gewicht erhalten solle. Die Geschichte betone „weniger das Armenische als das MythischMenschliche“.28 Wegner hält es für illegitim, dass Werfel sich eines Stoffes annahm, den er nicht durch eigene Erfahrung decken kann. Werfel ist diese Voraussetzung zum künstlerischen Schaffen fremd. Geschickt kommt er Wegners Anspruch weit entgegen: „Ich bekenne mich natürlich gerne zu Ihrer Priorität und beuge mich vor Ihrer Augenzeugenschaft.“29 Zum Verstummen bringt es ihn aber ebenso wenig wie zum Verzicht auf Quellentexte, die seine Dichtung mit historisch konkreter Substanz versetzen. Respekt gegenüber der Augenzeugenschaft: ja. Aber Anerkennung eines daraus folgenden Rechtes zur Verwertung historischer Quellentexte: nein. „Fast widerstrebt es mir jedoch, darauf hinzuweisen, daß es im Bereich der
27 Tamcke, Briefwechsel, S. 155f. 28 Tamcke, Briefwechsel, S. 156. 29 Tamcke, Briefwechsel, S. 155.
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Dichtung keine stoffliche Legitimität gibt.“30 Wegners ins Unfassbare greifender Ansatz, so etwas wie ein Gesamtbild des Geschehens literarisch zu erschaffen, ist in seiner Maßlosigkeit dem an sich auch nicht einfach ohne Maßlosigkeit agierenden Werfel doch keine ihm typische Arbeitsweise. So kann er hier einfach den auf Umfassung des Ganzen pochenden Wegner schlicht mit seinem Anspruch stehen lassen: „Ein vielbändiges Werk wie das Ihre wird ein großartiges Riesengemälde des Armenier-Schicksals mit zehntausend Einzelheiten entwerfen, der meine, so hoffe ich, wird eine auf einen bestimmten Landstrich und auf einen kleinen Volksteil beschränkte Geschichte sein.“31 Man mag darin eine grundsätzliche Skepsis Werfels gegenüber dem allzu großen Anspruch Wegners lesen. Man kann da auch Wegners Not gespiegelt finden, dass ihm eine so geradezu zur literarischen Ausgestaltung einladende Episode nun dadurch abhandenkommt, dass ein anderer sie zielgerichtet verwendet. Nicht von der Hand weisen lässt sich dabei, dass Wegner tatsächlich ein gigantisches Gemälde zu erschaffen versucht, während sich Werfel auf das Machbare, die konkrete literarische Ausgestaltung einer Episode, beschränkt, durch die hindurch er aber auch das dahinterliegende Gesamtgeschehen mit zum Klingen bringt. „Obwohl jeder Kollege jedem Kollegen ein Monstrum wird, ein unersättliches, gibt es Kollegen, die ihr Monströses immer wieder zum Verschwinden bringen.“32 Dieses Statement Martin Walsers zu Max Frisch, dass deren Freundschaft mitbegründete, könnte auch das Wegners zu Werfel sein, ist es so in dieser Form aber nicht. Wegner weiß, was er mit der Episode verliert, auch wenn er sie niemals zum Brennpunkt seines Vorhabens macht. Daher kämpft er nicht nur mit der Waffe des Legitimitätsanspruchs, sondern erhebt konkrete Vorwürfe und verdächtigt Werfel des geistigen Diebstahls. Werfel habe von Wegners Arbeit an seinem Armenierroman über die Wegnersche Korrespondenz mit der Preußischen Akademie und die Korrespondenz mit dem Paul Zsolnay Verlag erfahren und habe darüber für sich die Anregung zur Abfassung seines Armenierromans erhalten. Werfel geht mit dieser die narzisstische Kränkung seines Kollegen ventilierenden Vorhaltung erstaunlich rücksichtsvoll um. Er müsse sich doch über diesen „leisen Verdacht wundern“.33 Wegners Vermutung ließ sich leicht abweisen, da Werfel den Sitzungsraum der Akademie erstmals im Dezember 1932 betreten wird. Den Realitätsverlust Wegners spießt er knapp auf und zeigt verbal zumindest keine Spur von Verletztheit, wendet aber den Gedankengang ganz ins Grundsätzliche: „Ist es aber möglich, daß Sie im Ernst glauben, mich könnte die 30 Tamcke, Briefwechsel, S. 155. 31 Tamcke, Briefwechsel, S. 156. 32 Martin Walser an Max Frisch am 19. April 1964; zitiert nach: Magenau, Martin Walser, S. 198. 33 Tamcke, Briefwechsel, S. 156.
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Tatsache Ihrer Arbeit zu einer Stoffwahl anregen oder von ihr abhalten?“34 Hier nun führt er aus, was für die Genese des Werkes nur angedeutet geblieben war: sein ans Religiöse reichendes Selbstverständnis dichterischen Schaffens. „Sie sind ein Dichter und daher wissen Sie, daß nicht wir die Stoffe wählen, sondern die Stoffe uns. Nichts ist mir bewußter, als daß alles, was auch ich schreibe, schicksalhaft ist, d. h. von innen diktiert.“35 Er ahnt nicht, dass wohl gerade hier Wegners Problem liegt. Wegner, dem er zubilligt „aus Erfahrung, Lebensdetail, Sinneswissen“36 sein Werk zu schaffen, schafft weniger aus Ideen als aus dem ihm zu Gebote stehenden Stoff. Oskar Loerke meint zu Wegner: „Wegner begnügt sich zuweilen, Zuträger des Erlebnisstoffes zu bleiben. Ein Teil seiner Wirkung kommt sogar dadurch zustande, daß er berichtet, statt zu verdichten.“37 Das kann mit kritischem Unterton gelesen werden, aber wie Werfels Verbeugung vor dem Erlebnis Wegners, so nimmt Loerke ihn hier bei dem, was tatsächlich weite Teile des Wegnerschen Werkes auszeichnet: seine menschlich einfühlsame Darstellung von Erlebtem, Erreistem, Ersehenem. Daneben bescheinigt ihm Werfel „Glut“.38 Ob sie Wegner tatsächlich so zu Gebote steht, wie er sie in einer Form von Selbststilisierung in seinen Gedichten und seiner politischen Agitation vorgibt? „Ich bin kein Idealist. Bekenntnisse ziehe ich Argumenten vor“, meinte Hans Magnus Enzensberger einmal. „Widerspruchsfreie Weltbilder brauche ich nicht. Im Zweifelsfall entscheidet die Wirklichkeit.“39 Was immer es ist, das Wegner nicht seine eigene Widersprüchlichkeit stärker nutzen lässt, es hielt ihn fest und verhinderte auch über die Jahrzehnte hin die Fertigstellung seines Werkes. Darin liegt ein Element seiner persönlichen Tragödie. Wie leicht hätte er es haben können, hätte er den ursprünglichen Impulsen nachgegeben, und etwa das Leben des Armeniers Georg zum Gegenstand gemacht. Nach allem, was von ihm heute vorliegt, hätte das ein eindrücklich ins Geschehen einführendes Werk werden können.
34 Tamcke, Briefwechsel, S. 156. 35 Tamcke, Briefwechsel, S. 156. 36 Tamcke, Briefwechsel, S. 155. 37 Loerke, Oskar: Der Bücherkarren. Darmstadt 1965, S. 113–114. 38 Tamcke, Briefwechsel, S. 156. 39 Zitiert nach Magenau, Martin Walser, S. 243.
Lesen und Rezipieren
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Franz Werfel – ein verfemter und verbotener Schriftsteller Vergegenwärtigt man sich den Kulturkampf zwischen den progressiven- und völkisch-nationalistisch gesonnenen Kräften, durch den vor allem die Phase der späten Weimarer Republik bis 1933 geprägt war, so lässt sich gewiss nicht konstatieren, dass die Werke von Franz Werfel im Fokus der literaturpolitischen Auseinandersetzungen gestanden hätten. Um Werfels Bücher wurden seitens der politischen Rechten nicht derartige Skandale inszeniert, wie etwa um die Theateraufführungen von Schnitzlers Stück Reigen oder die Kinoverfilmung von Remarques Im Westen nichts Neues. Gleichwohl war auch Werfel vor 1933 immer wieder das Ziel von Anfeindungen völkisch-antisemitischer Akteure. Der rassistisch motivierte Eifer, Franz Werfel als Juden zu stigmatisieren, war dabei auch eine Reaktion auf die große Anerkennung, die Werfel in den 1920er-Jahren nicht nur vom lesenden Publikum und der Literaturkritik, sondern auch in Fachkreisen von einflussreichen Germanisten, entgegengebracht wurde. Einer dieser Germanisten, die Werfels Werke geradezu in den Olymp der jüngeren deutschsprachigen Literaturgeschichte hoben, war – und das mag aus heutiger Sicht verwundern – der zunächst in Frankfurt am Main, später in Bonn lehrende Ordinarius Hans Naumann. In seiner 1923 veröffentlichten Monografie Die deutsche Dichtung der Gegenwart schreibt er: „Wie aber nach Schillers Wort ein geweihter Zeitgeist auch in wirklichen Kunstwerken leben kann, lehrt Franz Werfels tiefe symbolisch-dramatische Dichtung in den Versen [von] ‚[Der] Spiegelmensch‘[…].“1 Und schließlich bilanziert er über Werfel: „In ihm gipfelt vorläufig diese ganze Welle der jüngsten Lyrik […].“2 Als Naumann diese Zeilen schrieb, ahnte wohl noch niemand, dass am 10. Mai 1933 derselbe Hans Naumann als Redner bei der Bücherverbrennung in Bonn – während der nachweislich auch die Werke von Franz Werfel in Flammen aufgingen – auftreten würde.3
1 Naumann, Hans: Die Deutsche Dichtung der Gegenwart. Stuttgart 1927 [1923], S. 127. 2 Naumann, Deutsche Dichtung, S. 366. 3 Vgl. Treß, Werner: „Wider den undeutschen Geist“. Bücherverbrennung 1933. Berlin 2003, S. 168–172.
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Verfemungen vor 1933 Und so war acht Jahre zuvor auch die Empörung beim Wortführer des deutschen Literaturantisemitismus, Adolf Bartels, groß, als dieser sich in seinem 1925 erschienenen Pamphlet mit dem Titel Jüdische Herkunft und Literaturwissenschaft über das Lob von Hans Naumann mit folgenden Worten ausließ: Von den Darstellern der allerjüngsten Entwicklung will ich hier nur Hans Naumann, Professor zu Frankfurt a. M. und Verfasser einer „Deutschen Dichtung der Gegenwart“, anführen. Bekanntlich hat die Zahl der jüdischen Dichter, gerade der Dichter, in der letzten Zeit prozentualiter sehr stark zugenommen: in der ersten Auflage meiner „Jüngsten“ [gemeint ist Bartels Buch „Deutsche Dichtung der Gegenwart. Die Jüngsten“ von 1921/1922 – Anm. d. Verf.] stellte ich fest, daß von den im letzten Kapitel genannten 166 Dichtern reichlich 80 Juden seien. Naumann bringt es nun fertig, deutsche Dichter wie Ferdinand Avenarius, August Sperl, Karls Schönherr, Fritz Stavenhagen, […] Hans Friedrich Blunck usw. einfach wegzulassen und die neueste deutsche Dichtung in Thomas Mann, Hugo von Hofmannsthal, Franz Werfel, […] gipfeln zu lassen, die doch alle Juden oder Judengenossen sind. Das ist denn die Höhe.4
In die gleiche Richtung ging die Polemik im von Theodor Fritsch herausgegebenen Handbuch der Judenfrage, worin das Kapitel „Das Judentum im deutschen Schrifttum“ seit 1931 von einem unter Pseudonym schreibenden „Alfred Eisenmenger“5 verantwortet wurde. Über Werfel heißt es darin ebenfalls in Anspielung auf die erwähnte Würdigung durch Hans Naumann: „Zum größten deutschen Dichter der Gegenwart möchte man Franz Werfel (aus Prag, 1890 geb.) erheben, der den Roman ,Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig‘, die Dramen ,Der Spiegelmensch‘ und ,Bocksgesang‘, ,Juarez und Maximilian‘, die Romane ‚Verdi‘, ‚Abituriententag‘, ‚Barbara‘ verfasst hat – es langt dazu aber nicht.“6 Es ist durchaus typisch für die antisemitisch motivierte Literaturkritik bei Bartels, Fritsch und in den einschlägigen NS-Periodika, dass sie sich darin genügte, Autorennamen und Buchtitel mitunter seitenweise hintereinander weg bloß aufzuzählen, ohne auch nur auf eines dieser Werke genauer einzugehen. Man beschränkte sich auf die Grundmotivation, einen Autor und seine Werke als jüdisch zu kennzeichnen. Auf diese Weise waren derartige Publikationen wie die von Adolf Bartels und Theodor Fritsch bereits eine Vorarbeit zu den Literaturin-
4 Bartels, Adolf: Jüdische Herkunft und Literaturwissenschaft. Leipzig 1925, S. 30. 5 Bei diesem Pseudonym handelt es sich offenbar um eine Referenz an den frühneuzeitlichen Hebraisten Johann Andreas Eisenmenger (1654–1704), der mit seiner Schrift „Entdecktes Judenthum“ zu einem Vordenker des modernen Antisemitismus wurde. 6 Fritsch, Theodor (Hrsg.): Handbuch der Judenfrage. 35. Aufl. Leipzig 1933, S. 388.
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dizierungen in Gestalt der groß angelegten Verbotslisten während des Nationalsozialismus. Als Oberregierungsrat und Sachbearbeiter für Autorenfragen in der Abteilung VIII (Schrifttum) im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda wirkte auch Rudolf Erckmann am Aufbau des sogenannten Buchverbotswesens im NS-Staat mit. Seinen literaturpolitischen Einfluss hatte sich der gelernte Gymnasiallehrer und Schriftsteller ebenfalls schon in der Zeit vor 1933 erworben, indem er unter anderem im Völkischen Beobachter immer wieder Hetzartikel gegen die von den Nationalsozialisten angefeindete Literatur veröffentlichte. Einer dieser Artikel erschien am 6. September unter der Überschrift „Götzendämmerung der Literaten“. Im routinierten Namedropping-Stil à la Bartels und Fritsch kündigte Erckmann bereits im Herbst 1932 die ab 1933 einsetzende Verbotspolitik an, indem er schrieb: Weder Stefan Zweigs blenderische Stiltiraden, noch Emil Ludwig Cohns raffinierte Geschichtsklitterungen, weder Thomas Manns vergreiste Produktionen, noch Franz Werfels jüdische Offenbarungen, weder Gerhard Hauptmanns unzulängliches, modernes Schreiben, noch Döblins Berliner Asphaltschreiberei haben noch breiten Widerhall, wenn wir von Ewiggestrigen auf der Hochschule und sonstwo absehen; […]. Nur in einem Fall wird man sich noch für sie interessieren: sollten sie draußen oder drinnen versuchen, unser völkisches Wollen zu sabotieren […], dann wird es Wege geben, solchem Beginnen zu begegnen! – Schon heute führen alle Bücher jüdischer und judengenössischer Künstelei, die sanft säuselnden Pazifistenromane, die paneuropäischen Elaborate, die blutleeren Ästhetenverse und die haßgezeugten Marxistenschmöker nur noch ein mühsam hochgepäppeltes Scheindasein. Und die Zeit ist nicht mehr ferne, da auf den Bücherleichen der letzten 14 Jahre und ihrer Vorgänger das Deutsche Buch im Dritten Reiche triumphiert.7
Frappierend an diesem Artikel von Erckmann aus dem Jahr 1932 ist, dass er nicht nur die nationalsozialistische Verbotspolitik ankündigt, sondern darüber hinaus die Vertreibung der angefeindeten Schriftsteller ins Exil. Darin, dass Erckmann in seinem Artikel bei der Erwähnung Franz Werfels speziell gegen dessen „jüdische Offenbarungen“, wie er es nannte, polemisierte, muss man genauso wenig einen tieferen Sinn sehen, wie darin, dass er Thomas Manns Werke als „vergreiste Produktionen“ geißelte. Vermutlich hatte Erckmann die Werke Werfels zumindest insoweit registriert, dass er in ihnen eine starke religiöse Grundmotivation erkannte, um dies dann wiederum zum Anknüpfungspunkt seiner boshaften Polemik zu machen. Was das bisher Erwähnte und insbesondere der Artikel von Erckmann im Völkischen Beobachter belegt, ist, dass Franz Werfel schon vor 1933 zunächst von völkisch-antisemitischen Akteuren und dann auch von der nationalsozia7 Völkischer Beobachter, 6. 9. 1932.
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listischen Presse registriert wurde, wobei sich die Anfeindungen gegen ihn fast ausschließlich auf seine Identität als Jude konzentrierten.
Vertreibung und Verbot nach 1933 Und tatsächlich sollte sich die Drohkulisse, die vor 1933 in Hetzartikeln wie dem von Rudolf Erckmann aufgebaut worden war, im Fall von Franz Werfel ab 1933 mehr als bewahrheiten. Es erfolgten sein Ausschluss aus der preußischen Dichterakademie, die öffentliche Verbrennung und das Verbot seiner Werke in Deutschland und schließlich die Vertreibung über Südfrankreich ins Exil nach Amerika. Durchaus umstritten sind heute die Vorgänge, die im Frühjahr 1933 schließlich zum Ausschluss Werfels aus der Preußischen Akademie der Künste und ihrer Abteilung für Dichtkunst führten. 1926 war Werfel als auswärtiges Gründungsmitglied in die Sektion für Dichtkunst gewählt worden. Noch im Dezember 1932 zeigte er sich sehr couragiert, als er in der Abteilung einen Antrag stellte, der darauf hinwirken sollte, eine öffentliche Protestresolution gegen das kurz zuvor von Paul Fechter mit einer sehr hohen Auflage veröffentlichte Buch Dichtung der Deutschen, das mit einem antisemitischen Unterton geschrieben war, zu verabschieden. Die Mitglieder der Abteilung für Dichtkunst schafften es aber bis in den Februar 1933 hinein nicht, sich auf eine scharfe Resolution im Sinne Werfels zu einigen, weil zahlreiche Mitglieder davor angesichts der politisch unübersichtlichen Lage in Deutschland zurückschreckten. Es mag auch die Enttäuschung über diese mangelnde Solidarität der Sektionsmitglieder, die seiner Initiative gegen Paul Fechters Buch die Unterstützung versagt hatten, gewesen sein – und nicht nur der Blick auf den Absatz seiner Bücher speziell des in Arbeit befindlichen Musa Dagh –, die Werfel dazu bewogen, im Frühjahr 1933 politisch nichts mehr für die Dichterakademie zu riskieren. Durch die Forschungen u. a. von Inge Jens ist bekannt, dass Heinrich Mann am 15. Februar 1933 auf Betreiben des neuen, nationalsozialistischen preußischen Kultusministers, Bernhard Rust, durch den Präsidenten der Preußischen Akademie der Künste, Max von Schillings, dazu genötigt wurde, sein Amt als Vorsitzender der Abteilung für Dichtkunst niederzulegen und aus der Akademie auszutreten. Er hatte zusammen mit Käthe Kollwitz, die ebenfalls austreten musste, einen Aufruf unterzeichnet, der unter der Überschrift „Dringender Appell“ dazu aufrief, dass Sozialdemokraten und Kommunisten nun zusammenstehen müssten, um die drohende endgültige Machtübernahme der Nationalsozialisten noch abzuwenden. Nachdem die Ablösung von Heinrich Mann bereits unter
Franz Werfel – ein verfemter und verbotener Schriftsteller
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undemokratischen Bedingungen abgelaufen war, übernahm Gottfried Benn den kommissarischen Vorsitz der Preußischen Dichterakademie und avancierte dabei zur treibenden Kraft ihrer politischen Gleichschaltung. Eines der dabei eingesetzten Mittel war eine so genannte Loyalitätserklärung, die alle verbliebenen Mitglieder der Dichterakademie unterschreiben sollten. Darin hieß es: Sind Sie bereit, unter Anerkennung der veränderten geschichtlichen Lage weiter ihre Person der Preußischen Akademie zur Verfügung zu stellen? Eine Bejahung dieser Frage schließt die öffentliche politische Betätigung gegen die Regierung aus und verpflichtet Sie zu einer loyalen Mitarbeit an den satzungsgemäß der Akademie zufallenden nationalen kulturellen Aufgaben im Sinne der veränderten geschichtlichen Lage.8
Während unter anderem Thomas Mann, Alfred Döblin, Ricarda Huch, Alfons Paquet und Rudolf Pannwitz die Unterzeichnung der Loyalitätserklärung ablehnten, erklärte Franz Werfel am 19. März per Telegramm aus Santa Margherita an der italienischen Riviera, wo er gerade am Musa Dagh schrieb, sein „Ja“. Diese Loyalitätserklärung Werfels, die bis heute Unverständnis hervorruft, änderte indes nichts daran, dass Franz Werfel wenige Wochen später auf Grundlage des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ dennoch aus der Preußischen Dichterakademie ausgeschlossen wurde. Bernhard Rust hatte nämlich die völlige Neuordnung der Dichterakademie angeordnet und ließ eine Reihe völkischer und nationalsozialistischer Schriftsteller, darunter Hanns Johst, Börries von Münchhausen und Hans Carossa in die Dichterakademie nachwählen, während die verbliebenen politisch und rassisch missliebigen Mitglieder am 5. Mai 1933 per Einschreiben durch Max von Schillings aus der Dichterakademie ausgeschlossen wurden. Dies betraf neben Werfel zudem Ludwig Fulda, Bernhard Kellermann, Georg Kaiser, Alfred Mombert, Fritz von Unruh und Leonhard Frank.9 Am darauffolgenden 6. Mai 1933 hielt Bernhard Rust im Anschluss an den Staatsakt zur Übergabe des neuen Studentenrechts in der Berliner Universität eine Pressekonferenz ab, wobei er die Neuordnung der Dichterakademie bekannt gab. Vier Tage später brannten auf dem Opernplatz vor der Universität in Berlin unter anderem die Werke der gerade aus der Preußischen Dichterakademie ausgetretenen und ausgeschlossenen Mitglieder, darunter auch Werke von Franz Werfel. Am Tag zuvor, am 9. Mai 1933, triumphierte der hochrangige nationalsozialistische Kulturfunktionär Rainer Schlösser in seinem Artikel „Das neue Antlitz der 8 Zitiert nach Jens, Inge: Dichter zwischen rechts und links. Die Geschichte der Sektion für Dichtkunst der preußischen Akademie der Künste dargestellt nach Dokumenten. Frankfurt a. M. 1994, S. 207. 9 Vgl. Jens, Dichter zwischen rechts und links, S. 255.
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preußischen Dichterakademie“ im Völkischen Beobachter mit folgenden Worten über die ausgetretenen und ausgeschlossenen Mitglieder: Das siegreiche Vordringen des „total platten Landes“, worunter der jüdische Autor Döblin etwa das verstand, was wir als das uns gemäße Schrifttum bewerten, hat […] das Ausscheiden verschiedener früherer Mitglieder der Akademie zur Folge gehabt. Wir können das nur begrüßen. Wer das „grandiose bolschewistische Experiment“ bewunderte wie Thomas Mann, wer die N.S.D.A.P. als den „verderblichen Auswurf der Zeit“ bezeichnete wie Wassermann, wem die Anhänger Adolf Hitlers nichts als „bösartige Kerle“ deuchten wie Franz Werfel […] für den war u. E. kein Platz mehr in der Akademie einer neuen Zeit, […].10
Bei den deutschlandweiten Bücherverbrennungen am 10. Mai 1933 wurde Franz Werfel nicht unter den in den neun bekannten Feuersprüchen ausgerufenen Autorennamen genannt. Belegen lässt sich die Verbrennung seiner Werke vor allem dadurch, dass sein Name auf den „Schwarzen Listen“ eines Indizierungsausschusses stand, auf deren Grundlage die zur Verbrennung bestimmten Bücher in den Tagen vor dem 10. Mai in einer groß angelegten „Büchersammelaktion“ beschafft wurden. Dies geschah, indem die örtlichen Studentenschaften Buchhandlungen, gewerbliche Leihbüchereien und öffentliche Bibliotheken mit sogenannten Stoßtrupps heimsuchten und auf die auf den Schwarzen Listen stehenden Namen hin durchsuchten. Dabei gingen diese studentischen Stoßtrupps je nach Ort zum Beispiel in Breslau relativ oberflächlich, in anderen Universitätsstädten wie z. B. in Würzburg hingegen mit äußerster Akribie vor. Bei dem Indizierungsausschuss, der diese ersten im Kontext des frühes NS-Staates eingesetzten Schwarzen Listen erstellt hatte, handelte es sich um den „Ausschuß zur Neuordnung der Berliner Stadt- und Volksbüchereien“, der, beauftragt von der Stadt Berlin, unter der Leitung der Volksbibliothekare Dr. Wolfgang Herrmann und Dr. Max Wieser Ende März 1933 damit begonnen hatte, Aussonderungslisten für alle Literaturgattungen zu erstellen, die zunächst nur für den Bereich des Berliner Bibliothekswesens Geltung erlangen sollten. Im Kontext der Vorbereitungen auf die studentischen Bücherverbrennungen im Rahmen der Aktion „Wider den undeutschen Geist“ kam es im Vorfeld des 10. Mai 1933 zu einem Schriftwechsel zwischen Wolfgang Herrmann und der Reichsführung der Deutschen Studentenschaft, in dessen Verlauf die ständig aktualisierten Schwarzen Listen des Berliner Indizierungsausschusses an die Deutsche Studentenschaft weiter geleitet wurden.11 Der noch sehr improvisierte Charakter dieser Schwarzen Listen, wird auch in Bezug auf die Indizierung der Werke von 10 Völkischer Beobachter, 9. 5. 1933. 11 Zur Entstehung der Schwarzen Listen des Berliner Indizierungsausschusses siehe Treß, Werner: „Wer ist der eigentliche Feind?“ Die Bücherverbrennungen in Deutschland und der Beginn
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Franz Werfel deutlich. In der Schwarzen Liste „Schöne Literatur“, die von Wolfgang Herrmann am 1. Mai 1933 mit einem Begleitschreiben an die Reichsleitung der Deutschen Studentenschaft übersandt wurde, heißt es: „Werfel: alles ausser: ‚Barbara‘, ‚Verdi‘, ‚Tod des Kleinbürgers‘“.12 Zunächst fehlte bei der Nennung Werfels der Vorname, der bei der Indizierung anderer Autoren – wenn auch oft falsch, so z. B. „Zweig, Stephan“ – in den meisten Fällen mit angegeben wurde. Interessanter ist jedoch, dass Werfel zu den wenigen Autoren gehörte, bei dem ein Teil seiner Werke ausdrücklich von der Indizierung ausgenommen wurde. Vergleicht man diese „alles ausser“-Indizierung mit denen bei anderen Autoren, so etwa bei Waldemar Bonsels – „alles ausser: Biene Maja, Himmelsvolk“ – oder bei Erich Kästner – „alles ausser: Emil“, so sind diese Ausnahmeregelungen vermutlich nur dadurch zu erklären, dass man seitens des Berliner Indizierungsausschusses anfangs nicht so rabiat gegen solche Werke der von den Verfemungen betroffenen Autoren vorgehen wollte, die sich in breiten Leserschichten einer besonders großen Beliebtheit erfreuten. Dies war der Fall bei dem Kinderbuch Biene Maja von Bonsels, dem Jugendroman Emil und die Detektive von Kästner und unter anderem beim Verdi-Roman von Werfel. Ob dann im Verlaufe der zahlreichen Bücherverbrennungen tatsächlich auf diese Ausnahmen Rücksicht genommen wurde, ist schon dadurch zweifelhaft, als sich nachweisen lässt, dass allein im Mai 1933 weitaus mehr Bücher von den Verbrennungsaktionen betroffen waren als bis dahin auf den Schwarzen Listen standen.13 Anfang Mai 1933, noch vor den Bücherverbrennungen des 10. Mai 1933, konstituierte sich an der Deutschen Bücherei in Leipzig ein konzertierter Indizierungsausschuss, dessen noch umfassendere Schwarze Listen in der Folgezeit an die Stelle derjenigen des Berliner Indizierungsausschusses treten sollten. Unter der Leitung des Kampfbundes für deutsche Kultur gehörten diesem Ausschuss zudem Vertreter des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda,
der Literaturindizierungen im Zeitumbruch des Jahres 1933. Dissertation FU-Berlin. Berlin 2012, S. 183–272. 12 Bundesarchiv Berlin (BA Berlin), NS 38, Nr. 2416, unpaginiert. In einer zum Teil nochmals erweiterten Version erschien die Schwarzen Liste „Schöne Literatur“ im Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, 100. Jg. (1933), Nr. 112 vom 16. 5. 1933; Die Zeitschrift der Leihbücherei, Sonderausgabe vom 5. 5. 1933; Bücherei und Bildungspflege, 13. Jg., H. 2/1933 sowie in der Tagespresse. Insbesondere anhand der Veröffentlichungen in den genannten Periodika lässt sich belegen, dass der Wirkungsgrad der Schwarzen Listen des Berliner Indizierungsausschusses nicht allein im Kontext des Berliner Bibliothekswesens und der studentischen Bücherverbrennungen zu sehen war, sondern darüber hinaus deutschlandweit zumindest eine Orientierungshilfe bei den „Säuberungen“ im Bereich des Buchhandels, des kommunalen Bibliothekswesens und der gewerblichen Leihbüchereien darstellte. 13 Vgl. Treß, „Wer ist der eigentliche Feind?“, S. 40–70 und passim.
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der Staatsanwaltschaft, Fachberater der Universitäten Berlin und Leipzig, des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler und der Deutschen Bücherei an. Insbesondere durch die Beteiligung von Vertretern des Propagandaministeriums und des aus dem Kampfbund für deutsche Kultur später hervorgehenden Amtes Rosenberg verfügte dieser Indizierungsausschuss von Beginn an über reichsweite Befugnisse. Mit der Anbindung an die Deutsche Bücherei, deren Bestände und Kataloge bekanntlich zugleich als Archivfunktion für sämtliche in Deutschland erscheinende Literatur dienten (Pflichtexemplar), war im Zuge der politisch motivierten Literaturindizierungen zudem ein wesentlich vollständigerer Zugriff möglich als dies beim auf Basis kommunaler Bibliothekskataloge arbeitenden Berliner Indizierungsausschuss der Fall war.14 Neben den Schwarzen Listen zu den verschiedenen Bereichen der Sachliteratur wurde im Rahmen der Arbeit dieses konzertierten Indizierungsausschusses bereits am 22. Mai 193315 ein erster Entwurf für eine Schwarze Liste „Schöne Literatur“ vorgelegt, die in den folgenden Wochen durch weitere Versionen für die Bereiche des Buchhandels, der Volksbüchereien, sowie sortiert nach Autoren und nach Verlagen ergänzt wurden.16 Im Vergleich zu den Schwarzen Listen des Berliner Indizierungsausschusses fällt bei den entlang der Kataloge der Deutschen Bücherei erstellten Listen des konzertierten Indizierungsausschusses sofort auf, dass diese relativ fehlerfrei und mit jeweils vollständigen bibliografischen Angaben zusammengestellt waren. Besonders interessant ist die Begebenheit, dass zu jedem indizierten Autor ein kurzer Vermerk angefügt wurde, der die Begründung der politisch motivierten Verbotsabsicht enthielt. Bei Franz Werfel sah das wie folgt aus: Werfel, Franz: Der Abituriententag. Berlin: Zsolnay 1928. Werfel, Franz: Barbara oder die Frömmigkeit. Berlin: Zsolnay 1929. Werfel, Franz: Die Geschwister von Neapel. Berlin: Zsolnay 1931. Werfel, Franz: Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig. München: K. Wolff 1915.17 14 Vgl. Treß, „Wer ist der eigentliche Feind?“, S. 276–289. 15 Vgl. Treß, „Wer ist der eigentliche Feind?“, S. 282. 16 Ein vollständiges Konvolut der Schwarzen Listen des konzertierten Indizierungsausschusses unter der Leitung des Kampfbundes für deutsche Kultur findet sich u. a. in den Akten des Amtes Rosenberg/Kanzlei Rosenberg: BA Berlin, NS 8/288. 17 „Schwarze Liste für Volksbüchereien, Schöne Literatur, B. Einzelschriften“, in: BA Berlin, NS 8/288, S. 15. Als Verlagsort für den Paul Zsolnay Verlag wird hier immer nur Berlin angegeben. Das war der erste, der drei in den Titeleien der Bücher des Paul Zsolnay Verlages genannten Verlagsorte Berlin, Wien, Leipzig. Der Hauptsitz des Verlages war indes Wien, was, wie sich im Folgenden noch zeigen wird, durchaus nicht unwichtig war, weil es sich damit aus Sicht der deutschen Zensurbehörden bis 1938 um einen im Ausland ansässigen Verlag handelte.
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Der Auflistung dieser vier Titel folgte dann der Vermerk „Zersetzende Asphaltliteratur“. Auch im Falle der Schwarzen Listen des konzertierten Indizierungsausschusses erfolgte keine vollständige Indizierung der Werke Werfels, wobei anders als beim Berliner Indizierungsausschuss nicht nach der erwähnten „alles ausser“-Regelung verfahren wurde, sondern „nur“ vier Titel aufgeführt wurden, der Großteil der Werke Werfels also von der Indizierung unberührt blieb, wobei ein weiterer Widerspruch darin bestand, dass einer der vier indizierten Titel, nämlich Barbara oder Die Frömmigkeit auf der Berliner Schwarzen Liste „Schöne Literatur“ noch ausdrücklich von der Indizierung ausgenommen worden war. Wesentlich improvisierter war wiederum der Index, der am 28. August 1933 unter dem Titel Vorläufige Richtlinien für die Auslese der Bestände der öffentlichen Büchereien nach völkischen Gesichtspunkten im Amtsblatt des Thüringischen Ministeriums für Volksbildung veröffentlicht wurde und damit für den Geltungsbereich des Reichslandes Thüringen Gesetzeskraft erhielt. Für den Bereich „Schöne Literatur“ wurden hierin unter der Direktive „Folgende Schriftsteller und Bücher sind auszuschalten“ mit der Indizierung von „Werfel, Franz“ sämtliche seiner Werke im Reichsland Thüringen verboten. Interessant an diesem Index ist der Umstand, dass daran der erwähnte Nestor des Literaturantisemitismus, Adolf Bartels, als Fachberater mitgewirkt hatte und die Thüringer Schwarzen Listen durch die auf einen handschriftlichen Listenentwurf von Bartels zurückgehenden Verbote von Autoren wie Ludwig Börne, Heinrich Heine oder Karl Emil Franzos wesentlich stärker durch das antisemitische Leitmotiv geprägt waren als dies bei den anderen Schwarzen Listen der Jahre ab 1933 der Fall war.18 Die Beispiele der bisher erwähnten Schwarzen Listen belegen bereits hinreichend den Umstand, dass sowohl die Organisation und als auch die praktische Umsetzung des Buchverbotswesens im frühen NS-Staat sehr uneinheitlich verlief. Das Aufkommen an verschiedenen Verbotslisten unterschiedlicher Stellen mit und ohne Gesetzeskraft erreichte bereits im Jahr 1933 ein derart unüberschaubares Ausmaß, dass im Dezember 1933 der Schriftsteller Willem Jaspert einen Beschwerdebrief an das Propagandaministerium richtete, worin er darauf hinwies, dass reichsweit inzwischen mindestens 21 Stellen Literaturverbote erlassen würden und dass hier durch eine einheitliche Regelung Abhilfe geschaffen werden müsse.19 Eine ebenfalls eher improvisierte Form, mit diesem „Wildwuchs“ von sich für zuständig erklärenden Institutionen und ihren Literaturverboten umzugehen, 18 Zu den näheren Hintergründen der Schwarzen Listen des Thüringischen Volksbildungsministeriums siehe Treß, „Wer ist der eigentliche Feind?“, S. 289–297. 19 Schreiben von Willem Jaspert an das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda vom 6. 12. 1933, in: BA Berlin, R 56 V, 158, Bl. 4–5.
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wurde 1934 von der Bayerischen Politischen Polizei umgesetzt, indem sie gleichsam rezeptiv sämtliche reichsweit ermittelbaren und vornehmlich von polizeilichen Stellen erlassenen Literaturverbote in einer zentralen Kartei registrierte. Ein Zwischenstand dieser „V-Kartei“ der späteren Gestapo-Leitstelle München wurde 1934 unter dem Titel Verzeichnis der polizeilich beschlagnahmten und eingezogenen, sowie der für Leihbüchereien verbotenen Druckschriften mit dem Zusatz „herausgegeben von der Bayerischen Politischen Polizei“ in den Druck gegeben.20 Dieser Index wurde jedoch keineswegs der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, sondern mit dem Sperrvermerk „Nur zum Dienstgebrauch“ lediglich für den innerpolizeilichen Gebrauch vervielfältigt.21 Mit Bezug auf Franz Werfel – und nicht nur auf ihn – ist das Verzeichnis der Bayerischen Politischen Polizei deshalb von besonderem Interesse, weil es einen Gradmesser dafür abbildet, welche Titel eines jeweiligen Autors mit Stand des Jahres 1934 bereits von Verboten polizeilicher und anderer Stellen betroffen waren und welche nicht. Im Falle von Werfel stellt sich dies im Verzeichnis wie folgt dar: Werfel, Franz Die 40 [vierzig] Tage des Musa Dagh Der Abituriententag Barbara oder Die Frömmigkeit Die Geschwister von Neapel Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig [Der] Tod des Kleinbürgers Geheimnis eines Menschen Juarez und Maximilian Spiegelmensch Beschwörungen Einander Gesänge aus den [drei] Reichen Der Weltfreund Wir sind Der Gerichtstag22
Auch wenn es sich bei dieser ebenfalls nicht fehlerfreien Auflistung von 15 Titeln bei weitem noch nicht um alle bis dahin erschienenen Werke Werfels handelte, 20 Verzeichnis der polizeilich beschlagnahmten und eingezogenen, sowie der für Leihbüchereien verbotenen Druckschriften, hrsg. von der Bayerischen Politischen Polizei, [München 1934], in: Institut für Zeitgeschichte (IfZ), Akq 7. 21 Näheres zum Verzeichnis der Bayerischen Politischen Polizei in: Treß, „Wer ist der eigentliche Feind?“, S. 297–301. 22 Verzeichnis der polizeilich beschlagnahmte Druckschriften [1934]. In eckigen Klammern immer die Hinweise auf die richtige Schreibweise.
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fällt an der Zusammenstellung doch eine gewisse innere Systematik auf. Die Titel sind zwar nicht chronologisch geordnet, dafür aber nach Gattungen – wenn auch nicht nach der klassischen Reihung Epik, Lyrik, Dramatik. Vier Romanen, folgen in der Auflistung drei Titel mit Erzählungen, gefolgt von zwei Stücken und schließlich sechs Lyrikbänden. Darüber, warum das lyrische Werk Werfels sogar die größte Gruppe in dieser Auflistung bildete, kann man nur spekulieren.
Zum Verbot des Romans Die vierzig Tage des Musa Dagh Gleich an erster Stelle tauchte in der Auflistung des Verzeichnisses der Bayerischen Politischen Polizei nunmehr auch der Mitte November 1933 im Wiener Paul Zsolnay Verlag erschienene Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh auf. Murray G. Hall hat in seiner Monografie über die frühe Geschichte des Paul Zsolnay Verlages anhand der Akten des Verlagsarchives rekonstruiert, wie es in Deutschland schon kurz nach Erscheinen zum Verbot dieses bis heute bedeutendsten literarischen Epos über den Völkermord an den Armeniern kam.23 Danach intervenierte schon vier Tage nach Veröffentlichung des Romans der türkische Gesandte in Wien beim Verleger Paul Zsolnay, um die Verbreitung des Buches zu verhindern. Zsolnay bemühte sich, die Einwände des türkischen Diplomaten zu entschärfen, indem er – entgegen der Handlung des Romans und vor allem der ihm zu Grunde liegenden tatsächlichen Begebenheiten – den Stellenwert des Völkermords an den Armeniern zu relativieren und die im Buch auch beschriebenen „Vorzüge“ der türkischen Nation hervorzuheben suchte.24 Den Ausschlag für das Verbot des Musa Dagh gaben jedoch die Recherchen und Interventionen eines in Deutschland arbeitenden türkischen Journalisten. Am 3. Februar 1934 sandte der Berliner Buchhändler Rolf Heukeshoven an Paul Zsolnay folgende Nachricht: Ein mir bekannter türkischer Journalist und Schriftsteller, der in Deutschland weilt, befasst sich mit diesem Buch und wird demnächst an die zuständigen Stellen das Anliegen richten, dieses Buch verbieten zu lassen. Die näheren Gründe sind mir nur soweit bekannt als ich weiss, dass sich das Buch aggressiv gegen türkische Kreise und das türkische Volk überhaupt wendet. Es wäre außerordentlich für den Buchhandel zu bedauern, wenn das Verbot durchkommen würde, da das Buch an sich für uns ganz tendenzlos ist und lediglich der 23 Hall, Murray G.: Der Paul Zsolnay Verlag. Von der Gründung bis zur Rückkehr aus dem Exil. Tübingen 1994, S. 492–497. 24 Vgl. Hall, Paul Zsolnay Verlag, S. 492f.
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Wunsch dieses einen Herrn befriedigt würde, bei dem ausserdem noch nicht einmal fest steht, dass er im Namen des türkischen Volkes handelt.25
Ob es sich bei diesem nicht näher benannten türkischen Journalisten tatsächlich nur um einen solchen handelte und ob die diplomatischen Vertreter der Türkei, nachdem sie ja in Wien gegen den Roman tätig geworden waren, dies in Berlin möglicherweise auch taten, kann hier nicht geklärt werden. Fest steht, dass bereits am 4. Februar 1934 auf Grundlage der Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze des Deutschen Volkes, die exakt ein Jahr zuvor erlassen worden war und die polizeiliche Beschlagnahme von „die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdenden Druckschriften“ ermöglichte, das Buchverbot gegen Die vierzig Tage des Musa Dagh verfügt wurde. Die Bekanntmachung des Verbotes erfolgte am 7. Februar 1934 im Deutschen Kriminalpolizeiblatt und am 10. Februar 1934 zudem im Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel.26 Die besondere Schärfe dieses Verbotes bestand zudem darin, dass es offenbar zum Anlass genommen wurde, darüber hinaus den Vertrieb sämtlicher Werke Franz Werfels in Deutschland zu verbieten. Dieses generalisierte Verbot, so führt Murray G. Hall weiter aus, konnte jedoch am 2. Juni 1934 durch Verhandlungen des Lektors und Prokuristen des Paul Zsolnay Verlages Felix Costa mit dem Berliner Polizeipräsidium rückgängig gemacht und auf das Verbot „nur“ des einzelnen Titels Die vierzig Tage des Musa Dagh beschränkt werden, so dass die anderen Werke Werfels vom Kommissionshaus F. Volckmar in Leipzig zunächst wieder an den Buchhandel geliefert werden durften.27
Zur Frage der Wirksamkeit von Literatur indizierungen im frühen NS-Staat Das Beispiel des Zugeständnisses des Berliner Polizeipräsidiums an den Paul Zsolnay Verlag nimmt Hall zum Anlass für die These, dass damit auch „die vielen Legenden von den ‚verbrannten Dichtern‘“28 widerlegt seien. Damit möchte er zum Ausdruck bringen, dass vom Ereignis der Bücherverbrennungen 1933 nicht
25 Zitiert nach Hall, Paul Zsolnay Verlag, S. 494. 26 Vgl. Hall, Paul Zsolnay Verlag. 27 Vgl. Hall, Paul Zsolnay Verlag, S. 495. 28 Hall, Paul Zsolnay Verlag, S. 495.
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automatisch auch darauf geschlossen werden kann, dass die betroffenen Bücher damit verboten waren. Zunächst: Darauf, dass die praktische Durchsetzung der zweifellos durch die Bücherverbrennungen mit initiierten Literaturindizierungen im frühen NS-Staat bis zum Frühjahr 1936 auch tatsächlich vonstattenging, gibt Hall selbst einen Hinweis, indem er schreibt „Generell ist festzuhalten, dass sich die vier WerfelTitel, die nach der Machtübernahme Hitlers erschienen, schlecht verkauften. Bis auf Musa Dagh wurden sie nicht nach Deutschland eingeführt.“29 Wie nun die praktische Durchsetzung der Literaturindizierungen erfolgte, darüber legen bis zu einem gewissen Grad die Ausführungen Halls über das Verhalten des Paul Zsolnay Verlages gegenüber den deutschen Behörden ebenfalls bereits Zeugnis ab. Vielmehr noch als bei diesem außerhalb Deutschlands ansässigen Verlag, sahen sich Verleger, Buchhändler, gewerbliche und öffentliche Bibliothekare in Deutschland spätestens mit den Bücherverbrennungen und den erwähnten Veröffentlichungen erster Schwarzer Listen dazu gezwungen, genötigt oder auch aus eigenem Antrieb dazu veranlasst, die Weitergabe der vom NS-Staat offen angefeindeten Literatur an die Leser ganz einzustellen oder zumindest drastisch zu reduzieren. Die eigentliche Wirksamkeit der Literaturindizierungen vor Erlass der Liste 1 des schädlichen und unerwünschten Schrifttums von 1935 bestand also weniger in der Herstellung einer einheitlichen, staatlichen und gesetzlich fixierten Verbotspraxis, sondern vielmehr in der kumulativen Schaffung eines diffusen Klimas der Verunsicherung, einer uneinheitlichen Praxis aus vorrauseilendem Gehorsam, Einschüchterung, Willkürmaßnahmen unterschiedlichster politischer Akteure, zum Teil aber auch – wie u. a. am Beispiel der Verbotsliste des Reichslandes Thüringen zu ersehen war – in der Ausfertigung staatlicher Erlasse und Gesetze. In Bezug auf die von Hall monierte Tatsache, dass die Werke Werfels – mit Ausnahme des Musa Dagh – auch nach 1933 bzw. 1934 in Deutschland noch grundsätzlich lieferbar, wenn auch nicht mehr so gut verkäuflich waren, ist jedoch ein anderer Umstand noch viel entscheidender. Zwischen November 1933 und Februar 1934 führte der Kampfbund für deutsche Kultur in Abstimmung mit dem Propagandaministerium und unter Nutzung der Strukturen des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler auf Grundlage der erwähnten Schwarzen Listen des konzertierten Indizierungsausschusses auf dem Gebiet des Deutschen Reiches eine umfassende Säuberung der Verlagssortimente durch. Umgesetzt wurde diese Säuberung, indem der Justiziar des Börsenvereins beauftragt wurde, an jene Verlage, die zuvor auf den Schwarzen Listen indizierte Buchtitel in ihrem
29 Hall, Paul Zsolnay Verlag, S. 497.
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Programm hatten, unter dem Betreff „Werke, deren Vertrieb nicht gewünscht wird“ ein standardisiertes Anschreiben mit folgendem Inhalt zu schicken: In Uebereinstimmung mit dem Kampfbund für deutsche Kultur teilen wir Ihnen mit, dass das Angebot und der Vertrieb der unten genannten Werke aus nationalen und kulturellen Gründen nicht erwünscht ist und deshalb unterbleiben muss. Wenn trotzdem diese Werke weiterhin in den buchhändlerischen Verkehr gebracht werden, müssten Sie damit rechnen, dass der Börsenverein auf Grund des § 9 der Satzung vorgeht. Er hat es übernommen, mit den ihm zur Verfügung stehenden Machtmitteln den Wünschen der maßgebenden Stellen Geltung zu verschaffen.30
Unterschrieben und wahrscheinlich auch formuliert wurde das Anschreiben an die Verlage vom Justiziar des Börsenvereins Dr. Max Freyer. Nach der Androhung des Ausschlusses aus dem Börsenverein, falls den Vertriebsverboten nicht nachgekommen werde, endete der Brief mit einer weiteren Strafandrohung, die sich auf die strenge Vertraulichkeit des Briefes bezog: „Ganz besonders machen wir darauf aufmerksam, dass diese Benachrichtigung streng vertraulich zu behandeln ist. Die Zuständigen Behörden werden gegen jede Indiskretion mit strengsten Mitteln vorgehen.“31 Die Anzahl der an jedem Briefende aufgeführten und mit Vertriebsverbot belegten Buchtitel betrug im Durchschnitt etwa zehn Titel. Waren bei der zum Hugenberg-Konzern gehörenden August Scherl GmbH lediglich drei Titel von Otto B. Wendler betroffen,32 so handelte es sich beim S. Fischer Verlag um 67 Titel, darunter die Gesammelten Schriften von Alfred Kerr, die Werke von Alfred Döblin, Arthur Holitscher, Emil Ludwig, Walter Mehring, Arthur Schnitzler und Jakob Wassermann. Dem Anschreiben an den Malik Verlag war gar eine Vertriebsverbotsliste mit insgesamt 69 Titeln beigefügt, darauf unter anderem die Gesammelten Werke von Ilja Ehrenburg, Maxim Gorki und Upton Sinclair.33 Auf dem Anschreiben an den Malik Verlag wurde unter dem Adressfeld noch ein Vermerk für den Postzusteller angefügt: „Falls in das Ausland verlegt, nicht nachsenden!“ Der letztere Vermerk verweist meines Erachtens auf den entscheidenden Grund, aus dem erklärbar wird, weshalb die Titel von in Deutschland verfemten Autoren, deren Verlage – soweit es sich nicht bereits um reine Exilverlage handelte – im Ausland ansässig waren, zumindest bis 1936 in Deutschland noch an 30 BA Berlin, R 55/684 (Propagandaministerium), Bl. 229f. und passim. Die Akten dieser Säuberungsaktion gegen die Verlagssortimente befinden sich in den Beständen des Propagandaministeriums, initiiert wurde sie jedoch vom Kampfbund für deutsche Kultur. 31 BA Berlin, R 55/684 (Propagandaministerium), Bl. 229f. 32 Vgl. BA Berlin, R 55/684 (Propagandaministerium), Bl. 337. 33 Vgl. BA Berlin, R 55/684 (Propagandaministerium), Bl. 303–305.
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den Buchhandel ausgeliefert werden konnten, also auch die Bücher von Werfel. In der zitierten Akte aus dem Propagandaministerium, in der die Anschreiben mit den Auslieferungsverboten an die in Deutschland ansässigen Verlage enthalten sind, findet sich zudem eine Liste mit der Überschrift „Nicht benachrichtigt wurden die Verlage im Ausland“. Auf der Liste stehen 13 Verlage, darunter der „Promachos-Verlag, Belb-Bern“, der „Internationale Verlag, Zürich“ und eben der Verlag „P. Zsolnay, Wien“.34 Das erläuterte Beispiel verdeutlicht, dass es auch vor 1935/36 im NS-Staat gegen die verfemte Literatur Säuberungsaktionen beträchtlichen Ausmaßes gab, die sich auf die Schwarzen Listen eines oder mehrerer Indizierungsausschüsse stützten. Diese Säuberungsaktionen verliefen aperiodisch, asymmetrisch, uneinheitlich und fanden in einer rechtlichen Grauzone statt. Sie waren deshalb aber nicht weniger wirksam. Das geschilderte Vorgehen des Kampfbundes für deutsche Kultur in Verbindung mit dem Börsenverein entsprach beispielhaft der von Ernst Fraenkel vorgenommenen Klassifizierung der NS-Diktatur als Maßnahmenstaat.35 Ohne über eine tatsächliche rechtliche Handhabe zu verfügen, was in dem zitierten Standardbrief an die Verlage geschickt versucht wurde zu verschleiern, ging der Kampfbund als NS-Verband ohne jegliche staatlichen Hoheitsrechte Ende 1933 daran, eine breit angelegte Säuberung der Verlagssortimente durchzusetzen. Statt mit einer staatlichen Verordnung wurde mit der Satzung des Börsenvereins gedroht. Und um die mehr als zweifelhafte Rechtsgrundlage dieses Vorgehens nicht publik werden zu lassen, wurden die Verlage zusätzlich eingeschüchtert und unter Strafandrohung zum Schweigen verpflichtet. Es war also kaum verwunderlich, dass der Kampfbund kein Interesse daran hatte, einem im Ausland ansässigen Verlag gegenüber sein dubioses Vorgehenoffenkundig zu machen. Dort wäre das Standard-Anschreiben bestenfalls Gegenstand einer kritischen Presseberichterstattung geworden, weshalb der Kampfbund von einer Einbeziehung der Titel u. a. des Paul Zsolnay Verlages in seine Säuberungsaktion strikt absah. Die (noch) in Deutschland ansässigen Verlage jedoch waren derartigen Willkürmaßnahmen relativ schutzlos ausgeliefert, weil der NS-Staat seine repressive Politik eben nicht entlang rechtlicher Normen ausrichtete, sondern von Beginn an im wahrsten Sinne des Wortes als Unrechtsstaat durchzusetzen wusste. Genau diese Haltung kommt in den zitierten Standardbrief zum Ausdruck, indem es heißt: „Er [der Börsenverein, Anm. d. Verf.] hat es übernommen, mit den ihm zur Verfügung stehenden Machtmitteln den Wünschen der maßgebenden Stellen Geltung zu verschaffen.“ 34 BA Berlin, R 55/684 (Propagandaministerium), Bl. 303–305. 35 Vgl. Fraenkel, Ernst: Der Doppelstaat. Hamburg 2001 [1941], S. 55.
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Bis 1935 wurde eine reichsweite Vereinheitlichung des Buchverbotswesens vor allem deshalb verhindert, weil sich insbesondere das Propagandaministerium, die dem Amt Rosenberg zugehörige Reichsstelle zur Förderung des Deutschen Schrifttums und die Polizei der jeweiligen Länder als nachgeordnete Behörden der Innenministerien nicht auf eine zentrale Zuständigkeit verständigen konnten.36 Das Propagandaministerium konnte sich hier am Ende durchsetzen, indem es Kraft seiner quasi legislativen Kompetenz auf Grundlage des Reichsschrifttumskammergesetzes vom 1. November 1933 als einer dem Propagandaministerium nachgeordneten Behörde innerhalb der Reichskulturkammer darauf hinwirkte, dass am 25. April 1935 eine Anordnung des Präsidenten der Reichsschrifttumskammer über schädliches und unerwünschtes Schrifttum erlassen wurde. Im § 1 dieser Anordnung steht: Die Reichsschrifttumskammer führt eine Liste solcher Bücher und Schriften, die das nationalsozialistische Kulturwollen gefährden. Die Verbreitung dieser Bücher und Schriften durch öffentlich zugängliche Büchereien und den Buchhandel in jeder Form (Verlag, Ladenbuchhandel, Versandbuchhandel, Leihbüchereien usw.) ist untersagt.37
Die in der Anordnung erwähnte Liste wurde mit Stand von Oktober 1935 erst Anfang 1936 unter der Bezeichnung Liste 1 des schädlichen und unerwünschten Schrifttums in den Druck gegeben und mit dem Vermerk „Streng vertraulich! Nur für den Dienstgebrauch“ versehen.38 Auch diese, nunmehr mit Gesetzeskraft und für das gesamte Deutsche Reich geltende Verbotsliste war nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Als umfassender Index der verbotenen Bücher hatte die Liste 1, die im Wesentlichen eine Kompilation der oben erwähnten Schwarzen Listen darstellte, inzwischen selbst den Umfang eines Buches angenommen. Unter dem Buchstaben W findet sich darin auch der Eintrag „Werfel, Franz: Sämtliche Werke“. Nachdem die Liste 1 des schädlichen und unerwünschten Schrifttums Anfang 1936 vorlag, wurde im März 1936 u.a. durch die Gestapo nochmals eine umfassende, deutschlandweite Säuberungsaktion gegen die verfemte Literatur durchgeführt, durch die nunmehr auch die indizierten Titel der im Ausland ansässigen Verlage erfasst wurden.
36 Vgl. Treß, „Wer ist der eigentliche Feind?“, S. 302–306. 37 Liste 1 des schädlichen und unerwünschten Schrifttums, hrsg. von der Reichsschrifttumskammer. Berlin 1935, S. 3. 38 Vgl. Dahm, Volker: Das jüdische Buch im Dritten Reich. München 1993, S. 167; Barbian, Jan-Pieter: Literaturpolitik im „Dritten Reich“. Institutionen, Kompetenzen, Betätigungsfelder. Frankfurt a. M. 1995, S. 523.
Franz Werfel – ein verfemter und verbotener Schriftsteller
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„Die natürliche Reaktion eines emporwollenden Nationalstaates gegen den Fremdkörper!“. Zum Urteil der SS über Werfels Musa Dagh Es war aber nicht so, dass die Werke Franz Werfels im NS-Staat gleichsam unter „ferner liefen“ verboten wurden. Dass sich die Nationalsozialisten insbesondere durch seinen Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh provoziert fühlten, belegt ein Artikel, der im Januar 1936 in der SS-Zeitung Das Schwarze Korps erschien. Darin heißt es über Werfel und seinen Roman: In Deutschland wurde dieses Buch gleich nach seinem Erscheinen v e r b o t e n , so wie wir jedes Buch verbieten werden, das das Ansehen eines selbständigen und souveränen Staates in gehässiger Form herabsetzt. Franz Werfel hat uns jedoch – und auch der übrigen Welt – bewiesen, daß das Judentum eben nichts anderes kann, als Zwietracht, Haß und Verleumdung säen. […] Dieser christlich-jüdische Literat hat nun gelegentlich einer Reise in der Türkei vom Schicksal der Armenier gehört, die den Türken viel zu schaffen machten, weil sie ihre Sonderinteressen immer über das Gesamtwohl des Staates stellen zu müssen glaubten. Den Türken ist schließlich die Geduld gerissen und sie sind gegen die Armenier nicht gerade sehr sanft vorgegangen. Die natürliche Reaktion eines emporwollenden Nationalstaates gegen den Fremdkörper! Die Parallelen lagen für Herrn Werfel nahe. Der Ausbruch des Dritten Reiches lag ihm ohnedies schwer genug im Magen. […] Dieser Roman ist ein Pamphlet nicht nur gegen die junge Türkei, sondern auch ein Pamphlet gegen einen gesunden Nationalismus überhaupt. Der ganze Haß des Juden gegen die Kraft und den Aufbauwillen der Gemeinschaft wird hier sichtbar. Das Buch trieft in der widerlichsten Weise von Sadismus und Grausamkeit. Die Verwandtschaft mit der Greuelpropaganda gegen Deutschland ist unleugbar festzustellen.39
Nicht nur das offene Bekenntnis zum Literaturverbot und das antisemitische Leitmotiv, aus dem dies im Falle von Franz Werfels Musa Dagh geschah, wird in dieser Polemik aus den Reihen der SS deutlich. Denn offenbar lagen nicht nur für „Herrn Werfel“ sondern auch für den Autor dieses Artikels die Parallelen zwischen dem Regime der Jungtürken, ihrem Völkermord an den Armeniern und der nationalistischen Agenda des NS-Staates zum Greifen nahe. Das „nicht gerade sehr sanfte“ Vorgehen gegen den „Fremdkörper“ war für Das Schwarze Korps nichts anderes als „die natürliche Reaktion eines emporwollenden Nationalstaates“. Das Begehen eines Völkermordes, so lässt sich daraus folgern, war also auch für die SS des Jahres 1936 schon eine offene Option. Und deshalb 39 Das Schwarze Korps, Folge 2 vom 9. 1. 1936, S. 10, hier zitiert nach Hall, Paul Zsolnay Verlag, S. 494f.
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fühlte Das Schwarze Korps sich durch Werfels Musa Dagh auch angesprochen: Nicht nur, weil dieser Roman die Anklageschrift gegen einen Völkermord war, sondern – und das wird in dem Zitierten überdeutlich – weil es ein Jude war, der diese Anklageschrift verfasst hatte, ein Angehöriger jener Gruppe also, die die Nationalsozialisten als „Fremdkörper“ betrachteten. Interessant ist nicht zuletzt das Motiv der Schuldumkehr, das ebenfalls im Zitierten zum Ausdruck kommt. Das Triefen „von Sadismus und Grausamkeit“ und zwar „in der widerlichsten Weise“ wird nicht etwa den Völkermördern zur Last gelegt, sondern dem Autor, der es beschreibt, womit wiederum Werfel als Jude gemeint ist: „Franz Werfel hat uns jedoch – und auch der übrigen Welt – bewiesen, daß das Judentum eben nichts anderes kann, als Zwietracht, Haß und Verleumdung säen.“ Zu all dem passt weniger der Inhalt, denn der Titel eines anderen Werkes von Franz Werfel, das von den Nationalsozialisten ebenfalls verboten wurde: Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig. Spätestens mit dem Jahr 1936 war der Vertrieb der Werke Franz Werfels in Deutschland gänzlich unmöglich geworden. Mit der Besetzung Österreichs und der ehemals zur k. u. k. Monarchie gehörenden Tschechoslowakei 1938 war von diesem Verbot auch seine Heimat und der Paul Zsolnay Verlag, dem er trotz aller Widrigkeiten treu geblieben war, betroffen. Franz Werfel war nun in jeder Hinsicht ein Exil-Autor, dem mit seinem Roman Das Lied der Bernadette (1941) nochmal ein großer Erfolg vergönnt war, bevor er im August 1945 in Beverly Hills verstarb.
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Kulturelle und religiöse Konzeptionen des Jüdischen im Werk von Franz Werfel Franz Werfel gehört zu den wenigen deutschsprachigen Autoren, denen es gelang, ihre schriftstellerische Laufbahn im Exil erfolgreich fortzusetzen. Neben Thomas Mann, Lion Feuchtwanger, Stefan Zweig und Robert Neumann, der seine Romane ab Anfang der 1940er-Jahre in englischer Sprache verfasste, zählte Werfel laut Hans Wagener zu den meist publizierten Exilautoren, vor allem auf dem amerikanischen Buchmarkt.1 Und dies nicht allein während der 1930er- und 1940erJahre, sondern darüber hinaus. Bereits vor seiner Ankunft in den USA 1940, nach Exilstationen in der Schweiz und Frankreich, war Werfel einem Teil des amerikanischen Lesepublikums aufgrund der englischen Übersetzungen seiner Werke, insbesondere seiner Romane und Erzählungen, bekannt. So erschienen u. a. 1929 die Übersetzung des Abituriententags und 1934 Die vierzig Tage des Musa Dagh. Die englischsprachige Veröffentlichung des Romans ging mit einer Neubewertung Werfels einher, der laut Wagener nun als „großer europäischer Autor“2 gerühmt wurde. 1937 folgten das Drama Der Weg der Verheißung, 1938 der Exilroman Jeremias. Höret die Stimme und zwei Jahre nach seiner Flucht aus Frankreich der zum Bestseller avancierende Roman Das Lied von Bernadette. Die Auswahl der angeführten übersetzten Titel verweist, bis auf die Romane Musa Dagh und Das Lied von Bernadette, auf Werke, in denen sich Werfel mit jüdischen Themen auseinandergesetzt hat. Werfels Position zwischen Christentum und Judentum ist mehrfach verhandelt worden und bildet einen Hauptaspekt der Werfel-Forschung.3 Sein 1917 in der Neuen Rundschau veröffentlichter Artikel Die Christliche Sendung enthielt ein öffentliches Bekenntnis zum Christentum, welches er im Sommer 1941 um die Aussage, ein „christusgläubiger Jude“ zu sein, ergänzte. In diesem betont er seine ausdrückliche Zugehörigkeit zu und Solidarität mit den jüdischen „Verfolgten“, die auf dem Verständnis einer Schicksalsgemeinschaft gründen: „Israel durchlebt die schwerste Stunde seiner Verfolgung. Dem Verfasser widerstrebt es, sich auch nur dem Anschein nach
1 Vgl. Wagener, Hans: Franz Werfel in der amerikanischen Literaturkritik. In: Franz Werfel im Exil. Hrsg. von Wolfgang Nehring und Hans Wagener. Bonn 1992, S.1–20, hier S. 9. 2 Wagener, Franz Werfel, S. 18. 3 Vgl. als eine der aktuelleren Veröffentlichungen den Aufsatz von Lionel B. Steiman, in dem er u. a. dem Versuch Werfels, Christentum und Judentum zusammenzuführen, nachgeht. Steiman, Lionel B.: The Formation of a non-Jewish Jew, In: Judentum in Leben und Werk von Franz Werfel. Hrsg. von Hans Wagener und Wilhelm Hemecker. Berlin 2011, S. 1–18.
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aus der Schar der Verfolgten zu drücken.“4 Die Aufnahme und Verarbeitung jüdischer Stoffe und zeitgeschichtlicher jüdischer Problematiken sehen Vertreter-/innen der Werfel-Forschung vor allem seit Mitte der 1920er-Jahre gegeben, in der sogenannten nach-expressionistischen Phase Werfels und als Nachwirkungen seiner Reise nach Palästina im Jahr 1925. Sein wachsendes Interesse an jüdischen Gegenwarts- und Vergangenheitsfragen stand im Gegensatz zu Alma Mahler-Werfels Reiseeindrücken von Palästina, die zu einer zunehmend antisemitischen Haltung führten.5 Die verstärkte Bezugnahme auf jüdische Motive und Topoi beginnt ab den 1930er-Jahren mit der Entwicklung des Dramas Der Weg der Verheißung. Neben dem Rückgriff auf Texte der Hebräischen Bibel lässt sich jedoch auch die Behandlung aktueller Exilerfahrungen verifizieren, nicht nur in der „Komödie einer Tragödie“: Jacobowsky und der Oberst,6 sondern ebenso in dem Roman Höret die Stimme. Zweifellos gehört der Romancier und Dramatiker Franz Werfel aufgrund der gewählten Themenfelder zum Kanon einer deutsch-jüdischen Literatur. Unter Berücksichtigung der problematischen Begriffsgeschichte des Terminus und der sehr verschiedenen Bestimmungen – „als eine Literatur der deutsch-jüdischen Symbiose, als deutsche Literatur jüdischer Autoren oder als jüdische Literatur in deutscher Sprache“7 – kann Werfel einerseits in eine deutsch-jüdische Literatur als Bestandteil und Ausdruck einer deutsch-jüdischen Symbiose, wie Ludwig Geiger und Margarete Susman es reflektierten und deren Definitionsversuche nach 1945 obsolet erschienen, eingeordnet werden. Dafür spricht Werfels Versuch, eine Synthese von jüdischen und christlichen Positionen zu vollziehen, widersprüchliche kulturelle Welten zusammenzuführen. Andererseits lassen sich aufgrund der inhaltlichen und strukturellen Ausrichtung, die in der Aufnahme jüdischer Stoffe und der expliziten Darstellung der Exilerfahrung besteht, Gemeinsamkeiten mit Lampings Definition des Begriffes ableiten. Jüdische Lite-
4 Werfel, Franz: Israel, der fleischliche Zeuge der Offenbarung. In: Franz Werfel: Zwischen oben und unten. Hrsg. von Adolf D. Klarmann. München 1975, S. 614–618, hier S. 615. 5 Vgl. Jungk, Peter Stephan: Franz Werfel. Eine Lebensgeschichte. Frankfurt a. M. 1992, S. 161. Vgl. weiterhin u. a. Wallas, Armin A.: Franz Werfel. In: Lexikon der deutsch-jüdischen Autoren. Hrsg. von Andreas Kilcher. Frankfurt a. M. 2003, S. 611–616. 6 Werfel, Franz: Jacobowsky und der Oberst. Komödie einer Tragödie in drei Akten. Frankfurt a. M. 1997 (erstmals 1959). 7 Lamping, Dieter: Einleitung und Begriffsbestimmung. In: Ders.: Von Kafka bis Celan. Göttingen 1998, S. 9–36, hier S. 10. Vgl. weiterhin Jasper, Willi: Zu Begriff und Geschichte der deutschjüdischen Literatur. Versuch einer Ortsbestimmung. In: Juden und Judentum in der deutschsprachigen Literatur. Hrsg. von Willi Jasper [u. a.]. Wiesbaden 2006, S. 19–41. Kilcher, Andreas: Was ist „deutsch-jüdische Literatur“? Eine historische Diskursanalyse. In: Weimarer Beiträge 4 (1999), S. 485–517.
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ratur in deutscher Sprache stellt für ihn eine „Teilmenge der deutsch-jüdischen Literatur“8 dar und ist durch zwei Kriterien gekennzeichnet: 1. das Selbstverständnis des Autors, das eine Zugehörigkeit zum Judentum implizieren muss; 2. die Aufnahme und Verarbeitung „traditionell jüdischer Stoffe und Motive“9 sowie die Darstellung dezidiert jüdischer Erfahrungen wie Exil, Shoa oder die Verhandlung des Assimilationsprozesses. In diesem Zusammenhang sind zwei Punkte zu betonen: Es geht im Folgenden weder um die Zuschreibung einer jüdischen Identität an den Schriftsteller Franz Werfel noch um eine Reduzierung des sehr komplexen und umfangreichen Werkes zugunsten einer Dominanz des jüdischen Gegenstandes. Vielmehr soll zum einen anhand der Aufnahme des biblischen Jeremias-Stoffes am Beispiel des Exilromans Höret die Stimme den Darstellungsweisen des Exils als zeitgeschichtlicher Erfahrung nachgegangen, zum anderen die Frage von kulturellen Entwürfen des Jüdischen in der Moderne und vor dem Hintergrund des sich ankündigenden Endes der Habsburgermonarchie anhand der Erzählung Der Abituriententag erörtert werden. Auf der Basis dieser Textauswahl, die um das bereits angeführte Exildrama Jacobowsky und der Oberst erweitert wird, wird die Breite jüdischer Thematiken in Werfels Werk demonstriert, vor allem aber seine Deutungen von kulturellen und gesellschaftspolitischen Entwicklungen untersucht. Für die Analyse werden Paratexte, wie Briefaussagen, herangezogen. Der Fokus liegt jedoch nicht auf der Herausarbeitung von autobiografischen Bezügen zum Werk, sondern auf der Entwicklung von Interpretationsansätzen auf der Folie der narrativen Struktur und inhaltlichen Konzeptionen der Texte unter Berücksichtigung der soziokulturellen Kontexte. In Anbetracht der zahlreichen biografisch motivierten Untersuchungen zu Werfel wird damit eine diskursorientierte Zugangsweise gewählt, für die auch Helga Schreckenberger plädierte: In dieser Arbeit wird die These vertreten, dass es Werfel weniger um die Verarbeitung autobiographischer Erlebnisse geht, sondern dass die im Roman [Barbara oder Die Frömmigkeit] geschilderten Ereignisse die Kulisse für seine Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten jüdischer Identität in der postemanzipatorischen Phase des Modernisierungsprozesses abgeben, für ein Thema also, mit dem sich der Autor auf verschiedene Weise in nahezu allen seinen Werken auseinandersetzt.10
8 Lamping, Von Kafka bis Celan, S. 31 9 Lamping, Von Kafka bis Celan, S. 29. 10 Schreckenberger, Helga: Verurteilung zu raffinierter Ausweglosigkeit. Juden und Judentum in Franz Werfels „Barbara oder Die Frömmigkeit“. In: Judentum in Leben und Werk von Franz Werfel. Hrsg. von Hans Wagener und Wilhelm Hemecker. Berlin 2011, S. 61–77, hier S. 62.
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1. Kulturelle Konzeptionen – die Metaphorik des 1. Körpers 1928 publizierte Franz Werfel im Paul Zsolnay Verlag die Erzählung Der Abituriententag, die den Untertitel Die Geschichte einer Jugendschuld trägt, womit zugleich die Motivierung des literarischen Textes angesprochen ist: Die Schuld des Protagonisten Ernst Sebastian an seinem Schulkameraden Franz Adler. Auslöser der Betrachtung der eigenen Schuldfrage nach 25 Jahren ist die Befragung eines Angeklagten durch den als „Untersuchungsrichter“11 tätigen Sebastian, der in dem Angeklagten einen ehemaligen Mitschüler wiederzuerkennen glaubt. Neben der vorhandenen Namensgleichheit zwischen Angeklagtem und einstigem Mitschüler wird die Verwechslung durch die am selben Abend stattfindende Feier des „Abituriententages“ unterstützt, mit der die Hauptfigur in die Tiefen seiner Vergangenheit zurückgeführt wird. An diese Basiserzählung, die von einem extradiegetisch-heterodiegetischen Erzähler präsentiert wird, schließt sich eine intradiegetisch-autodiegetische zweite Erzählung an, die durch zahlreiche Analepsen gekennzeichnet ist.12 Innerhalb dieser Analepsen rekonstruiert der zum schreibenden Erzähler werdende Sebastian die Ereignisse der Jahre 1900/1901, die in Form eines autobiografischen Bekenntnisses in Differenz zwischen erzählendem und erlebendem Ich wiedergegeben werden. Als neuer Schüler in die Sexta des Nikolausgymnasiums aus Wien in eine Kleinstadt kommend, „reizte“ Sebastian das „Äußere“13 des Mitschülers Franz Adler bereits am ersten Tag. Daraus entwickelt sich ein zwischen Sympathie und Antipathie, Bewunderung und Eifersucht, Zuneigung und Hass changierendes Verhältnis Sebastians zu Adler, das schließlich zu einem „Werk der Vernichtung“14 wird, indem es zur seelischen Zerstörung Adlers sowie seiner durch Sebastian eingeleiteten Flucht aus der Stadt führt. Die letzte Sequenz, in der Adler auftritt, beschreibt das Zerstörungswerk anhand der Physiognomie des Protagonisten aus der Perspektive des Konkurrenten: „Und auch ich [Sebastian, Anm. d. Verf.] erblickte durch ein wolkiges Fensterglas Adlers schlummerndes Haupt, undeutlich und entrückt diese kolossale Knabenstirn, die jetzt leichenhaft gelb war 11 Werfel, Franz: Der Abituriententag. Die Geschichte einer Jugendschuld. Wien 1928, S. 9. 12 Die Basiserzählung umfasst Kapitel 1–2; das Ende von Kapitel 6 und Kapitel 7. Vgl. zur Einordnung der Erzählinstanz auch Wynfried Kriegleder, der einer anderen Terminologie folgt. Kriegleder, Wynfried: Juden und Jugendschuld bei Franz Werfel: „Der Abituriententag“ und „Eine blaßblaue Frauenschrift“. In: Judentum in Leben und Werk von Franz Werfel. Hrsg. von Hans Wagener und Wilhelm Hemecker. Berlin 2011, 43–60, hier S.43 u. 46. 13 Werfel, Abituriententag, S. 99. 14 Werfel, Abituriententag, S. 133.
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unter dem rötlichen Haar.“15 Angekündigt wird die Tendenz der Textes bereits im ersten Satz der Erzählung, in dem durch das Verb „töten“, verwendet in Zusammenhang mit dem Ausdrücken der Zigarette durch Sebastian, das Leitmotiv des Textes eingeführt wird. Die im Rückblick unternommene Beschreibung Adlers, die durch die Erzählperspektive Sebastians bestimmt wird und durch die interne Fokalisierung keine Gegenperspektive erhält, ist von einer auffallenden Metaphorik des Körpers durchzogen. Zwar weist Wynfried Kriegleder in seiner Interpretation der Frage der jüdischen Identität hinsichtlich der Figur Adlers keine größere Bedeutung zu – „Sebastian quält ihn nicht, weil er ein Jude ist, sondern weil ihm Adler überlegen ist. An keiner Stelle entlarvt sich Sebastian als antisemitisch.“16 – und begründet dies mit dem Entstehungskontext des Textes, den er ausdrücklich von der späteren Rezeption der Erzählung, insbesondere durch Werfel selbst, trennt.17 Im Gegensatz zu dieser Deutung sieht Frank Stern in der Darstellung Sebastians den „Werdegang des antijüdischen Bewusstseins“18 repräsentiert. Stern diagnostiziert meines Erachtens damit einen wesentlichen Aspekt des Textes: die Thematisierung von Abgrenzung und Ausgrenzung innerhalb der Habsburgermonarchie, aber auch der Ersten Republik, vollzogen über den Körper des „Anderen“, der als Jude identifiziert wird. In Rekurs auf kulturwissenschaftliche Untersuchungen lässt sich diese Lesart des Textes im Gegensatz zu Kriegleders Aussage auch produktionsästhetisch begründen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kommt es zur Ablösung bzw. Erweiterung des biologischen Terminus von Geschlecht durch eine kulturelle Vorstellung von Geschlechterzugehörigkeit.19 Doch wurde die den Juden zugeschriebene biologische „Andersartigkeit“ keineswegs aufgehoben, sondern durch eine kulturelle „Andersartigkeit“ ergänzt. Ausdruck fand dies vor allem in der Zuordnung von negativen Eigenschaften, wie Schwäche, Krankheit und Hässlichkeit sowie Nervosität, Weiblichkeit und Nicht-Authentizität. 15 Werfel, Abituriententag, S. 297. 16 Kriegleder, Juden, S. 53. 17 Vgl. Kriegleder, Juden, S. 52: „Als Franz Werfel 1937 für den englischsprachigen Sammelband seiner Erzählungen, ‚Twilight of a World‘, eine Einleitung zum ‚Abituriententag‘ verfasste, hob er die jüdische Identität des Opfers Franz Adler wesentlich stärker hervor, als durch den Text gerechtfertigt. Hier fließen zweifelsohne Werfels an verschiedenen Stellen niedergelegte Überlegungen über das Wesen des Judentums ein, die er seit den frühen 1930er Jahren anstellte. Außerdem steht natürlich die Erfahrung des Nationalsozialismus Pate.“ 18 Stern, Frank: Brüchige Akkulturation. Jüdisches in Filmen nach Franz Werfel. In: Judentum in Leben und Werk von Franz Werfel. Hrsg. von Hans Wagener und Wilhelm Hemecker. Berlin 2011, S. 169–180, hier S.176. 19 Vgl. Braun, Christina von: Der sinnliche und der übersinnliche Jude. In: Der schejne Jid. Das Bild des „jüdischen Körpers“ in Mythos und Ritual. Hrsg. von Sander L. Gilman [u. a.]. Wien 1998, S. 97–108, hier S. 102.
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Die Verbindung von männlichen und weiblichen Eigenschaften und die damit einhergehende uneindeutige Identifizierung erzeugten das gesellschaftliche Stereotyp des „undefinierbaren Juden“, der von „Körperlosigkeit“20 geprägt sei. In der Charakterisierung Adlers durch Sebastian sind Termini erkennbar, die die Mangelhaftigkeit des jüdischen Körpers implizieren und den Diskurs der Jahrhundertwende wiedergeben. So sei Adler ein „Wesen, das keinen rechten Körper zu haben schien“; „Sein riesiger Kopf mit der scharfen Brille, sein matter Hals, sein schmaler aber saftloser Körper, seine Beine, die sich steif fortbewegten […] bot[en] keinen erfreulichen Anblick.“21 Neben der körperlichen Deformiertheit, die durch die hervorgehobene Unsportlichkeit verstärkt wird, werden die „starke Kurzsichtigkeit“,22 die das Klischee des jüdischen Intellektuellen transportiert, und seine Sprechweise angeführt, die durch „Zischlaute“23 gekennzeichnet sei. Sebastians wiederholt akzentuierte Beschreibung der Physiognomie und Stimme Adlers kann als indirekte Anspielung auf den „verborgenen, häßlichen Juden“24 gelesen werden. Die auf die Herabsetzung des jüdischen Körpers ausgerichtete Beschreibung Sebastians wird an zwei Textstellen revidiert. In diesen wird nicht allein auf die körperliche Stärke Adlers, sondern vor allem auf die Vollkommenheit seines Körpers verwiesen, der vorher mehrfach angeführten Makelhaftigkeit eine Makellosigkeit entgegengesetzt: Der junge Mensch stand nackt vor uns. Wir konnten sehen, daß uns seine Haltung und der schlechtgeschneiderte Anzug bisher verborgen hatten, daß er keinen saftlos-alten, sondern einen weißen und ebenmäßigen Körper besaß. Im Traumreich dieses Augenblicks erstaunten wir alle über Adlers Schönheit.25
Sowohl die zitierte als auch die zweite Passage stehen in Zusammenhang mit Schilderungen, in denen sich Sebastian an unerwartete Handlungen Adlers erinnert. Zugleich repräsentieren diese den Widerstand Adlers gegen Sebastian, mit dem dieser versucht, sich dem Zerstörungswerk zu entziehen. Der negativen Beschreibung des Körpers steht eine positive Darstellung der intellektuellen und 20 Von Braun, Jude, S. 103 u. 102. 21 Werfel, Abituriententag, S. 100 u. 126. 22 Werfel, Abituriententag, S. 126. 23 Werfel, Abituriententag, S. 18. 24 Gilman, Sander L.: „Die Rasse ist nicht schön“ – „Nein, wir Juden sind keine hübsche Rasse!“ Der schöne und der hässliche Jude. In: Der schejne Jid. Das Bild des „jüdischen Körpers“ in Mythos und Ritual. Hrsg. von Sander L. Gilman [u. a.]. Wien 1998, S. 57–74, hier S. 60. Vgl. weiterhin Sander L. Gilman: The Jew’s Body. New York 1991. 25 Werfel, Abituriententag, S. 167.
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vor allem schriftstellerischen Fähigkeiten Adlers gegenüber, die gleichzeitig den Auslöser für Sebastians Feindschaft bilden: Adler erträumte Menschen, lenkte Schicksale und stümperte dies nicht nur fetzenhaft hin, sondern führte es planvoll zu Ende. Wie er es tat, und wie er es las, das war so versunken, so absichtslos, so rein! […] Ich entdeckte in seinem allzu großen Kopf das Werden einer höheren Schönheit. Eine geistige, eine charismatische Schönheit war über ihn ausgegossen, während er las.26
Die von Sebastian inszenierten Konkurrenzsituationen hinsichtlich der Dichtung, indem er sich gleich Adler als „Dichter“ ausgibt, jedoch im Gegensatz zu diesem keineswegs ernsthaftes Interesse am Schreiben hegt und literarische Texte plagiert, wird durch die „Wahrhaftigkeit“,27 die Adler mit dem Schreiben verbindet, zum Ausgangs- und Endpunkt des Kampfes. Der intellektuell überlegene Adler wird auf der körperlichen Ebene zum Unterlegenen, worüber von Sebastian ein Herrschaftsprinzip initiiert wird, in dem der Körper über den Geist triumphiert. Die Abneigung Sebastians gegenüber sowie die gleichzeitige Affinität zu Adler, die über die Metaphorik des Körpers transportiert werden, können als kulturelle Mechanismen des österreichisch-jüdischen Verhältnisses gelesen werden. Indem der Protagonist Sebastian als „werdende[r] Antisemit“,28 wie Stern hervorhob, gedeutet werden kann, wird auf die vorhandenen antisemitischen Strukturen in der Habsburgermonarchie und der Ersten Republik verwiesen. Auf der Oberflächenstruktur des Textes wird diese Tendenz nur einmal explizit erwähnt, durch den Protagonisten selbst in einer retrospektiven Befragung seines Verhaltens: „War mein Widerstand vielleicht dadurch bestimmt, daß ich in Adler den Juden fühlte, die Rasse also, von der man gerne alles hinnimmt, nur nicht Herrschaft?“29 Innerhalb der Tiefenstruktur des Textes wird der antisemitische Diskurs über die Inszenierung von Männlichkeitsbildern thematisiert. Die Effeminierung des jüdischen Protagonisten durch die Darstellung Sebastians dient zugleich seiner eigenen männlichen Aufwertung. Er repräsentiert den österreichischen, körperlich starken, autarken, rational handelnden Mann. Diesem Inbegriff von Männlichkeit, die sich zudem in der Überlegenheit gegenüber dem weiblichen Geschlecht ausdrückt, steht mit Adler der „Anti-Typus des modernen Mannes“30 gegenüber. Gerade die
26 Werfel, Abituriententag, S. 111. 27 Werfel, Abituriententag, S. 107. 28 Stern, Brüchige Akkulturation, S. 176. 29 Werfel, Abituriententag, S. 113. 30 Kanz, Christine: Differente Männlichkeiten. Kafkas „Das Urteil“ aus gendertheoretischer Perspektive. In: Kafkas „Urteil“ und die Literaturtheorie. Hrsg. von Oliver Jahrhaus und Stefan Neuhaus. Stuttgart 2010, S. 152–175, hier S. 168.
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latente Darstellungsweise antisemitischer Stereotype durch die Verwendung exponierter Metaphern und Motive sowie die damit verbundene und den Text kennzeichnende Repräsentation des Männlichkeitsdiskurses der Moderne verdeutlichen die Komplexität des Textes hinsichtlich kultureller Konzeptionen.
2. Traditionelle und zeitgeschichtliche 2. Deutungen des Jüdischen – die Metaphorik 2. des Exils Während Der Abituriententag sowohl von der Thematik als auch der Entstehungszeit an den österreichisch-jüdischen Kontext gebunden ist und den vermeintlich erfolgreichen Emanzipationsprozess befragt, sind der Roman Jeremias. Höret die Stimme und die Komödie Jacobowsky und der Oberst der Exilthematik verhaftet. Obwohl Werfel den Roman noch vor seiner Exilierung verfasste und veröffentlichte, er entstand 1936/1937 und wurde 1937 im Paul Zsolnay Verlag publiziert, kann dieser aufgrund signifikanter Merkmale ebenso wie die Komödie der Exilliteratur zugeordnet werden. Bernhard Spieß hat in seiner Analyse der Exilliteratur drei inhaltliche Tendenzen hervorgehoben: eine „moralisch-politische Intention“, die sich in einer engagierten Literatur gegen den Nationalsozialismus zeige; der Versuch, „literarisch-ästhetische Konzepte“ zu entwickeln, die sich an literarischen Traditionen orientierten, sowie eine Literatur, die eine „psychologisch-anthropologische Deutung“ der Ereignisse unternehme.31 Stellt die Komödie aufgrund ihrer Ausrichtung als „moralisches Welttheater“32 ein Beispiel für die erste Richtung der Exilliteratur dar, kann Werfels Jeremias als Vertreter der zweiten Richtung gelten. Guy Stern und weitere Exilforscher haben im Zusammenhang mit der Rückwendung zu traditionellen literarischen Stoffen auf den Fakt verwiesen, dass jüdische und nicht-jüdische Exilschriftstellerinnen und -schriftsteller auf bestimmte historische Ereignisse sowie „Topoi, Motive, [Erzählungen] aus der Hebräischen Bibel, dem Talmud und anderen jüdischen“,33 aber 31 Spieß, Bernhard: Exilliteratur – ein abgeschlossenes Kapitel? Überlegungen zu Stand und Perspektiven der literaturwissenschaftlichen Exilforschung. In: Exilforschung. Bd. 14. Rückblick und Perspektiven. Hrsg. von Claus-Dieter Krohn [u. a.]. München 1996, S. 11–30, hier S. 12. 32 Spieß, Bernhard: Die Komödie in der deutschsprachigen Literatur des Exils. Würzburg 1997, S. 83. 33 Stern, Guy: Literarische Kultur im Exil. Literature and Culture in Exil. Dresden 1998, S. 63. Vgl. weiterhin Braun, Michael: „Unverlierbares Exil, du trägst es in Dir.“ Exil und Exodus. In: Die Bibel in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts, Bd. 1: Formen und Motive.
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auch christlichen Schriften rekurrierten. Der Rückgriff auf Texte der jüdischen Tradition bzw. die Aufnahme und Ausdeutung biblischer Stoffe und Figuren implizierte jedoch keinesfalls die Rückkehr oder Umkehr zur Religion. Vielmehr boten gerade kanonische Schriften wie das Buch Exodus, die Prophetenbücher oder das Buch Hiob Möglichkeiten, die Exilerfahrungen narrativ zu verarbeiten sowie Deutungsversuche hinsichtlich der Gegenwart zu unternehmen. Ganz der Thematik verhaftet, enthält Werfels Beschreibung des Romanvorhabens vom Mai 1936 selbst prophetische Züge: Der Plan wäre: Den Roman der Propheten, der Künder Gottes zu schreiben, wahrscheinlich das Epos des Propheten Jeremiah, weil es dramatisch und geschehensmäßig am fruchtbarsten ist. – Ich ging in eine Buchhandlung mir eine Bibel kaufen. Ich schlug sie unbewußt auf. Die Seite war das Buch Jeremiah.34
Stefan Zweig, der 1917 den Jeremias-Stoff vor dem Hintergrund des Ersten Weltkrieges dramatisierte, unterstützt diese Ausrichtung. Er erhebt Werfel nach der Lektüre des Romans zum Propheten, indem er ihn in die Linie der jüdischen Künder einreiht, was sich auch auf die wissenschaftliche Rezeption des Romans auswirkte: Immer erreichst Du eine höhere Form der Wahrheit als die bloß realistische, und mehr als Du es selber bewußt bist, warst Du vielleicht in diesem Buche inspiriert von eben denselben Mächten, die Macht hatten über diesen Bruder und Urahn unseres Blutes.35
Werfels Wiedergabe der Lebensgeschichte der Prophetenfigur folgt der Gliederung des biblischen Buches. Die biblische Charakterisierung des Propheten Jeremiah, die Übereinstimmungen zum bedeutendsten Propheten der jüdischen Religion – Moses – enthält, übernimmt und akzentuiert Werfel. Wie Moses wirkte Jeremiah 40 Jahre, im Gegensatz zu diesem erlebte er den umgekehrten Exodus. Ihm wird zudem eine wiederholte Exilierung zuteil: Auf die Erfahrung des ägyptischen Exils folgt die des babylonischen. Die detaillierte Beschreibung der israelitischen, aber auch altägyptischen und vor allem babylonischen Kultur, die auf einem intensiven Quellenstudium beruhte, besticht durch Werfels literarische
Hrsg. von Heinrich Schmidinger. 2. Aufl. Mainz 2002, S. 358–384. Während Stern den Rückbezug auf die jüdische Tradition nur jüdischen Autor/innen zuschreibt, erweitert dies Braun auch auf nichtjüdische Autor/innen. 34 Werfel, Franz: Planskizze „Höret die Stimme“. In: Werfel, Franz: Zwischen oben und unten. Hrsg. von Adolf D. Klarmann. München 1975, S. 787. 35 Stefan Zweig an Franz Werfel, Brief vom 11. 10. 1937. In: Modern Austrian Literature 2 (1991), S. 105.
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Ausformungen.36 So steht die schillernde, farbenreiche Darstellung Ägyptens und Babylons neben der Schilderung der Stadt Jerusalem und des israelitischen Volkes, die vom Wechsel zwischen Aufbau und Zerstörung gekennzeichnet sind. Werfels umfassende Ausschmückungen sowie die Gestaltung des Textes erinnern an Thomas Manns Tetralogie Joseph und seine Brüder, deren erste drei Bände zwischen 1933 und 1936 erschienen und Werfel bekannt waren. Ebenso wie Mann gelingt es Werfel eine Psychologisierung und Individualisierung der Figuren zu unternehmen, mit der sie jegliche Abstraktheit verlieren und als handelnde Individuen agieren. Mit der Wahl der Thematik rückt Werfel eines der wichtigsten Ereignisse der jüdischen Geschichte ins Zentrum: das babylonische Exil und die Zerstörung des Ersten Tempels. Die Aufnahme dieser zentralen Erinnerungsfigur und ihre Aktualisierung bilden das Zentrum des Romans. Die wiederkehrende Darstellung des israelitischen Lebens- und Kulturbereiches und dessen Kontrastierung mit der fremden altägyptischen und babylonischen Lebenswelt verdeutlichen das Spannungsfeld zwischen Heimat und Fremde und fungieren als Vermittlung der Erfahrung von Exil und Zerstörung. Signifikantes Element ist die über die Prophetenfigur dargestellte Differenz zwischen den unterschiedlichen Glaubensformen und die Betonung der Einzigartigkeit und Singularität des jüdischen Gottes. Die Gottesbeziehung, repräsentiert durch Jeremias Prophetentum, bildet den thematischen Mittelpunkt des Textes. Über die Figur wird die Frage des Bundes verhandelt und die Gegenwart Gottes im Exil bezeugt: Während Jeremias gegen seinen Willen also die Hoffnung der – von ihm gar nicht geschätzten – Bewohner Jerusalems wird, wandert Gott mit ins Exil. Hoffnung gibt es also für beide, für Juden in der Diaspora und in Israel, Hoffnung, die allein und einzig aus der immer neu zu erfolgenden Zuwendung zu Gott und dem konkreten Handeln nach seinem Willen erwächst.37
Mit dieser Konzeption und literarischen Umsetzung orientiert sich Werfel an Auslegungen der jüdischen Literatur und legt seinem Roman die jüdische Geschichtsschreibung zugrunde. Dies wird nicht allein durch die Wortwahl deutlich, die hebräische Termini aufnimmt, sondern vor allem über die Darstellung des Gottesbildes und des Gottes-Bekenntnisses. Werfel nimmt zugleich eine Aktualisierung der Exilerfahrung der 1930er-Jahre vor. Indikator dessen ist der Aufbau des Romans in eine Rahmen- und Binnenerzählung, der keineswegs, wie 36 Vgl. Steiner, Carl: Franz Werfels Jeremias-Roman „Höret die Stimme“. Ein Bekenntnis zum Judentum. In: Modern Austrian Literature 3/4 (1994), S. 239–255, hier S. 241. 37 Langer, Gerhard: Höret die Stimme. Franz Werfels Jeremias-Roman. In: Judentum in Leben und Werk von Franz Werfel. Hrsg. von Hans Wagener und Wilhelm Hemecker. Berlin 2011, S. 95– 108, hier S. 107.
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Alma Mahler-Werfel es darlegte, zufällig und konzeptionslos gewählt wurde. Die Binnenhandlung umfasst den Großteil des Textes – 512 Seiten, die Rahmenhandlung besteht dagegen nur aus drei Kapiteln und dem Epilog – 37 Seiten. Beide Handlungsstränge sind eng miteinander verwoben. Zum einen durch den zentralen Handlungsort Jerusalem, der in der Verdichtung des Tempels bzw. Tempelplatzes dargestellt wird. Zum anderen durch den das erste Kapitel der Binnenerzählung kennzeichnenden Titel „Im Tempel. Incipit vita Hieremiae prophetae“, der im Epilog in abgewandelter Form aufgenommen wird und sich nun auf die Gegenwart und das Leben des Protagonisten Clayton Jeevs bezieht: „Auf dem Tempelplatz. Incipit vita nova“.38 Die dritte Verbindung wird durch intertextuelle Bezüge hergestellt, die zwischen den beiden Erzählsträngen bestehen. Dem Signalwort „fremd“/„Fremdheit“ kommt dabei die wesentlichste Funktion zu. Der Schriftsteller Jeevs, der „dem Bunde“ angehört, ringt mit der „Fremdheit“, die durch diesen begründet wird: „Es gibt keine Heilung für uns, keine irdische Regelung und Befriedigung, solange ER will, daß wir in Bezug auf jede menschliche Gemeinschaft die Ewig-Anderen sind […].“39 Ist diese „Fremdheit“ zum einen, wie Leuenberger es interpretierte, als „Allegorie für das jüdische [Schicksal]“40 zu lesen, die Ausgrenzung als „Anderer“ innerhalb christlicheuropäischer Gemeinschaften, kann sie zum anderen – trotz der englischen Nationalität des Schriftstellers – als aktuelle Fremdheitserfahrung im Sinne des Exils verstanden werden. Demgegenüber steht die doppelte Fremdheitserfahrung Jeremias. Einerseits wird er als „Navi“, Seher, aufgrund seiner Gerichtsreden und der Ankündigungen der Zerstörung des jüdischen Tempels und der Stadt Jerusalem vom eigenen Volk verfolgt und erlebt Fremdheit inmitten seines Volkes. Andererseits erfährt er sowohl in Ägypten als auch in Babylon stellvertretend für sein Volk die Fremdheit aufgrund der jüdischen Religion: Denn auch in den Völkern der Länder war ein Schauder vor Israel. Er sieht diesen Schauder in der raschen Begegnung mit einem Augenpaar, in der abweisenden Feindschaft eines Gesichts, das sein Herkommen verspürt hat. Er aber weiß auch, daß die Ursache des gegenseitigen Schauderns der ewige Gott ist, der aus dem süßen irrenden Traum der Völker sich ein schwaches Volk erweckt und mit der Bürde des Wachens und Entwirrens beladen hat.41
In der heutigen Lesart des Romans, die durch das Wissen um die Shoa begleitet wird, nimmt Werfel die zur Entstehungszeit des Romans existierende und sich 38 Werfel, Franz: Jeremias. Höret die Stimme. Frankfurt a. M. 1991, S. 40 u. 553. 39 Werfel, Jeremias, S. 26f. 40 Leuenberger, Stefanie: Schrift-Raum Jerusalem. Identitätsdiskurse im Werk deutsch-jüdischer Autoren. Köln [u. a.] 2007, S. 166. 41 Werfel, Jeremias, S. 189.
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zuspitzende Fremdheitserfahrung der jüdischen Exilanten vorweg. Im Gegensatz zu Jeremias und dem Protagonisten Clayton Jeevs, denen aufgrund ihrer Verpflichtung gegenüber dem „Bund“ eine Hoffnungszusage zuteilwird, bestand diese für einen Großteil der Exilierten nicht mehr, sondern nur die „abweisende Feindschaft“. Die „Komödie einer Tragödie“ Jacobowsky und der Oberst war eines der erfolgreichsten Exildramen und zählte auch in der Nachkriegszeit zu den meist gespielten Stücken.42 Im Sommer 1942 entstanden, durch die Theatre Guild mehrfach überarbeitet, um das Stück dem „amerikanischen Publikumsgeschmack“43 anzugleichen und politische Kritik aufzuweichen, wurde die Komödie am 14. März 1944 am Broadway uraufgeführt. Werfel thematisiert in dem dramatischen Text auf äußerst gekonnte Weise die zeitgeschichtlichen Erfahrungen des Exils und ironisiert kulturelle Stereotype des Jüdischen. Die beiden Hauptfiguren, der polnisch-deutsch-österreichische Jude S. L. Jacobowsky und der polnische Offizier Tadeusz Stjerbinsky, verkörpern disparate „menschlich-moralische“44 Grundsätze. Jacobowsky zeichnet eine unerschütterliche Menschlichkeit aus, die durch eine Reihe von „Wundern“ begleitet wird, die er selbst allein auf seine Eigenschaft als „Logiker“ zurückführt: „Leider bin ich kein Zauberer, sondern nur ein besorgter Logiker. Unsereins muß Minen legen in die Zukunft […].“45 Dem polnischen Oberst ist zu Beginn eine Durchsetzungskraft inhärent, die auf den Idealen des Militärs beruht, gleichzeitig von chauvinistischen und antisemitischen Überzeugungen geprägt ist, die er im Gegensatz zu der frühen Figur Ernst Sebastian keineswegs verschlüsselt. Während der gemeinsamen Flucht kommt es zu einer Angleichung der beiden Hauptfiguren hinsichtlich der Erfahrung des Exils, insbesondere Stjerbinsky verliert seine auf militärischen Traditionen und auf einem festen Nationalitätenkonzept gründende Selbstsicherheit und wird zum schutz- und heimatlosen Emigranten, der sich nicht mehr von der Masse unterscheidet:
42 Vgl. zur Entstehungsgeschichte Nehring, Wolfgang: Judentum und Christentum: Polarität und Vermittlung in Werfels Dramen „Paulus unter den Juden“, „Der Weg der Verheißung“ und „Jacobowsky und der Oberst“. In: Judentum in Leben und Werk von Franz Werfel. Hrsg. von Hans Wagener und Wilhelm Hemecker. Berlin 2011, S. 19–41, hier S. 36. Weiterhin: Nehring, Wolfgang: Komödie der Flucht ins Exil: Franz Werfels „Jacobowsky und der Oberst“. In: Franz Werfel im Exil. Hrsg. von Wolfgang Nehring und Hans Wagener: Bonn 1992, S. 111–128, hier S. 113–116; Spieß, Bernhard: Die Legende – Franz Werfel: Jacobowsky und der Oberst. In: Spieß, Bernhard: Die Komödie der deutschsprachigen Literatur des Exils. Würzburg 1997, S. 108–115, hier S. 109. 43 Nehring, Judentum und Christentum, S. 36. 44 Spieß, Die Legende, S. 111. 45 Werfel, Jacobowsky, S. 31.
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Ich bin gesunken von Stufe zu Stufe. Zuerst verrückt! Jetzt blind! Und morgen vielleicht gelähmt! […] Wenn es klopft, erschrecke ich. Wenn die Nazis über den Platz marschieren, bekomm ich Herzklopfen: Ich! Ich! Ich bin angesteckt mit der Angst der Niedrigen und Verfolgten. […] Ich bin kein Soldat mehr. Ich bin ein nervöser Mensch […].46
Die Selbstbezeichnung als „nervöser Mensch“ deutet auf die Übernahme der Jacobowsky’schen Eigenschaft hin, mit der Jacobowsky an mehreren Stellen des Dramas auf seine durch die mehrmaligen Fluchten beeinträchtige Konstitution verweist. Die von Werfel gewählte Darstellungsweise Jacobowskys changiert zwischen stereotypen Zuschreibungen und der Ironisierung dieser sowie einer zutiefst moralischen Ausrichtung der Figur. Damit gelingt es Werfel die zeitgenössischen Vorurteile hinsichtlich jüdischer Emigranten zu entlarven und zugleich die Absurdität des Exilalltags zu vermitteln. Die politische Ausrichtung der Komödie beruht nicht allein auf der Beschreibung des Prozesses der Exilierung, der einerseits durch das Spannungsfeld zwischen vermeintlicher Sicherheit und wiederkehrendem Verlust neu erworbener Schutzräume geprägt ist, andererseits durch ein bürokratisches System, in dem die Beschaffung gültiger Visa zum ausweglosen Unterfangen wird. Sie enthält mit dieser Schilderung zugleich eine direkte Kritik an der Flüchtlingspolitik der Alliierten, mit der Werfel ihre Mitverantwortung „an den politischen Entwicklungen und am Schicksal der Juden in Europa [aufgrund ihrer Trägheit und Untätigkeit]“47 anzeigt. Ebenso wie mit dem Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh verweist Werfel auf die Verpflichtungen nicht nur des Einzelnen, sondern von Staatssystemen, jeglicher Verfolgung, Bedrohung und der Vernichtung von ethnischen Gruppen Widerstand entgegenzusetzen. Die „Pflicht zur gegenseitigen Einmischung“, so Nehring, wird von ihm als „Staatsgesetz propagiert“.48 Dass in der Bearbeitung des Dramas durch die Theatre Guild gerade die Passage gekürzt wurde, in der die Figur Jacobowsky die unterbliebene Pflichterfüllung der Alliierten kritisiert, verdeutlicht die nicht unproblematische Rezeption des Textes während des Zweiten Weltkrieges. Neben dem politischen Charakter weisen die der Komödie inhärenten absurden Elemente, das Wechselspiel zwischen realistischem und symbolischem Geschehen, jedoch noch auf eine andere Ebene hin.49 Indem Werfel dem Prinzip der Menschlichkeit, verkörpert durch Jacobowsky, eine wunderbare Rettung zuteilwerden lässt, hält er an der Idee einer Weltordnung fest, in der, mit Spieß gesprochen, „das Unmögliche gerade das Wahrscheinlichste ist“.50 In den beiden vorgestell46 Werfel, Jacobowsky, S. 138f. 47 Nehring, Komödie der Flucht, S. 119. 48 Nehring, Komödie der Flucht, S. 120. 49 Vgl. Spieß, Die Legende, S. 114. 50 Spieß, Die Legende, S. 115.
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ten Exilwerken Franz Werfels kommt dem Hoffnungsmoment somit eine exponierte Funktion zu, über das zugleich eine politische Haltung transportiert wird, die die Weigerung enthält, sich mit der gegenwärtigen politischen Situation abzufinden und die zum Handeln aufruft. Abschließend bleibt festzuhalten, dass jüdische Thematiken von Werfel sehr differenziert und gebunden an zeitgeschichtliche und gesellschaftspolitische Kontexte bearbeitet wurden. Mit seinen Werken eröffnet Franz Werfel auch heute neue Perspektiven auf ambivalente kulturelle Konzeptionen, die meines Erachtens noch keineswegs erschöpfend behandelt sind. Es ist damit ein Schriftsteller wieder und neu zu entdecken, der ein meisterhafter Erzähler war.
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Von Musa Dagh nach Hollywood und zurück Franz Werfels Roman als Objekt diplomatischer Verwicklungen Zur besseren Einordnung meiner Ausführungen möchte ich einige Anmerkungen zur Lage der nicht-muslimischen Minderheiten in der Türkei seit der Gründung der Republik im Jahre 1923 machen. Denn ihnen wies – wie unten zu zeigen sein wird – der Staat bei seinem „Abwehrkampf“ gegen die Verfilmung von Werfels Die vierzig Tage des Musa Dagh eine bedeutende Rolle zu. Wie sie diese Rolle „ausgefüllt“ haben, besonders dafür sind diese Ausführungen von Bedeutung.1
Rechtliche und gesellschaftliche Stellung der nicht-muslimischen Minderheiten nach Gründung der Republik Türkei im Jahre 1923 Als 1924 das türkische Parlament die Verfassung verabschiedete, wurde im Art. 88 Folgendes festgelegt: „Die Bevölkerung der Türkei wird ohne Ansehen des Glaubens und der Rasse im staatsbürgerlichen Sinne als Türke bezeichnet.“ („Türkiye ahalisine din ve ırk farkı olmaksızın vatandaşlık itibariyle Türk ıtlak olunur[denir].“)2 Zuvor war die anderslautende Version „Die Bevölkerung der Türkei wird ohne Ansehen des Glaubens und der Rasse als Türke bezeichnet“ auf Widerstand gestoßen und wurde verworfen. Welche Funktion die Formulierung „in staatsbürgerlicher Hinsicht“ hatte, sah man im Art. 4 des Beamtengesetzes aus dem Jahr 1926. Dort stand, dass Anwärter im ethnischen Sinne Türken sein mussten. Von Staatsbürgern der Türkei oder Menschen mit türkischer Staatsbürgerschaft war keine Rede. Ebenso stand in einer Anzeige vom 2. Juli 1938, dass Bewerber einer militärischen Veterinärschule folgende Bedingungen erfüllen 1 Für weitergehende Informationen zur Minderheitenpolitik der Republik Türkei siehe Güven, Dilek: Nationalismus und Minderheiten: Die Ausschreitungen gegen die Christen und Juden der Türkei. 6./7. September 1955. München 2012, und Bali, Rıfat: Cumhuriyet Yıllarında Türkiye Yahudileri – Bir Türkleştirme Serüveni (1923–1945 (Die Juden der Türkei während der Republikzeit – Ein Türkisierungsabenteuer [1923–1945]). Istanbul 2010. 2 Yeğen, Mesut: Yahudi-Kürtler ya da Türklüğün Yeni Hudutları (Jüdische Kurden oder Die neuen Grenzen des Türkentums). In: Doğu Batı (Ost West), H. 29, 2005. Zitiert nach Mahçupyan, Etyen: Vatandaşlık itibariyle Türk (Türke im staatsbürgerlichen Sinne). Zaman, 10. 4. 2005.
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mussten: Sie mussten Bürger der türkischen Republik sein und der türkischer Rasse angehören.3 So unterschied der Staat je nach Bedarf zwischen einer politischen und einer ethnischen Definition, wer als Türke zu gelten hatte. Die Verlierer waren zweifelsohne die Juden, die Griechen und die Armenier, denn nach Art. 4 des Beamtengesetzes war ihnen zukünftig dieser Weg versperrt. Und jene, die 1926 bereits Beamte waren, mussten den Staatsdienst verlassen. Der Soziologe Mesut Yeğen ist der Ansicht, dass die Unklarheit in der Definition des „Türken“ vom Gesetzgeber erwünscht war und er fährt fort: „Aus Sicht des Staates bzw. des Gesetzes gibt es verschiedene Grade des Türkentums […], das Türkentum ist ein Zustand, den Nichttürken einnehmen können, aber es ist kein Zustand, den nicht alle Nichttürken einnehmen können.“ Diese Debatte gibt es auch noch heute, wenn auch der entsprechende Art. 66 der aktuellen türkischen Verfassung anders lautet („Jeder, den mit dem Türkischen Staat das Band der Staatsangehörigkeit verbindet, ist Türke“).4 Auch die Praxis des Lausanner Vertrages aus dem Jahre 1923 ist im Kontext meiner Ausführungen von Interesse. Die Türkei hatte sich in den Artikeln 37–44 dieses Vertrages auf die Rechte der nicht-muslimischen Minderheiten – nach offizieller Interpretation Juden, Griechen und Armenier – geeinigt. Art. 88 des türkischen Grundgesetzes aus dem Jahre 1924 und seine oben angedeutete Praxis verstießen gleich gegen zwei Artikel des Lausanner Vertrages, womit die darin den nicht-muslimischen Minderheiten gewährten Rechte quasi aufgehoben wurden. So steht in Art. 37: „Die Türkei verpflichtet sich zur Anerkennung der in Art. 37 bis 44 festgelegten Bedingungen als Grundgesetze; kein Gesetz, keine Verordnung oder offizielle Handlung darf diese Bedingungen beeinträchtigen oder verletzen.“ Und in Art. 39 lesen wir u. a.: „Türkische Staatsbürger, die nicht-muslimischen Minderheiten angehören, sollen die gleichen bürgerlichen und politischen Rechte genießen wie Muslime.“ Mit der im Januar 1928 initiierten Kampagne „Bürger, sprich Türkisch“, die auf breiter Front in den öffentlichen Raum hineinwirkte, wurden auch die nichtmuslimischen Minderheiten angehalten, sich statt ihrer Muttersprache des Türkischen zu bedienen.5 Art. 39, Abschnitt 3, des Lausanner Vertrages hingegen garantierte ihnen Folgendes: „Kein türkischer Staatsbürger darf einer Beschrän-
3 Yeğen, Mesut, zitiert nach Mahçupyan, Etyen: Kararsız kimlik ve uygulama (Unbestimmte Identität und Praxis), Zaman, 11. 4. 2005. 4 Für eine umfassendere Erörterung dieser bis in die Gegenwart relevanten Debatte siehe Oran, Baskın: Türkiye’de Azınlıklar (Minderherheiten in der Türkei). Istanbul 2004, S. 87–93. 5 Yıldız, Ahmet: „Ne Mutlu Türküm Diyebilene“: Türk Ulusal Kimliğinin Etno-Seküler Sınırları (1919–1938) („Glücklich sei der, der von sich sagen kann, dass er Türkei sei: Die ethnischsäkularen Grenzen der türkischen Nationalidentität“. Istanbul 2007, S. 286–287.
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kung beim Gebrauch irgendeiner Sprache im persönlichen Verkehr, im Handel, der Religion, in der Presse oder Veröffentlichungen jeglicher Art oder öffentlichen Versammlungen unterliegen.“ Schließlich ein dritter Bereich: Recht bald nach ihrer Gründung bemühten sich die neuen Eliten, das Türkentum und die türkische Sprache „wissenschaftlich“ zu erkunden. „Anthropologen“ sahen in Schädelvermessungen ganz nach europäischem Vorbild ein geeignetes Mittel, um die erste Frage zu beantworten. Und so wurden 1926 in Istanbul Studien „über die unterschiedlichen Rassen“ der Stadt gemacht. An 2.200 Griechen, 1.600 Armeniern, 1.340 Juden und 720 Levantinern – allesamt Schülerinnen und Schüler – wurden die Schädel vermessen. Sehr viel umfassender war ein späteres Projekt aus den Jahren 1937/1938, bei dem landesweit 64.000 Probanden für Schädelvermessungen herangezogen wurden. Im Resultat „ergaben“ diese Schädelvermessungen, dass die Türken mehrheitlich „der alpinen Rasse“ angehörten, woraus ganz im Sinne der damals sehr populären „Sonnensprachtheorie“ gefolgert wurde, dass sie Europäer waren oder die Europäer eigentlich Türken waren. Konsequenterweise wurde Türkisch zur „Mutter der indoeuropäischen Sprachen“ deklariert. Was war aber mit den Juden, Griechen und Armeniern? Für die „Anthropologen“ stand nach deren Schädelvermessungen fest: Diese waren minderwertiger als die Türken. Und so stellten sie fest: „Die Geduld und Sanftmut des Türken als Herren des Landes haben dem Griechen, Juden und Armenier […] erlaubt, [mit uns] unter demselben Himmel zu leben.“6 Und als 1943, also einige Jahre nach der erfolgreichen Verhinderung der Verfilmung von Werfels Musa Dagh, die sogenannte Vermögensteuer (Varlık Vergisi) erhoben wurde und zu fast 90 Prozent von Juden, Griechen und Armeniern aufgebracht werden musste – ein Prozess, bei dem ganze Existenzen vernichtet wurden – sagte der damalige türkische Ministerpräsident Şükrü Saraçoğlu: „Dieses Gesetz wird mit der vollen Härte gegen jene zur Anwendung kommen, die dank der Gastfreundschaft dieses Landes zu Reichtum gelangt sind, sich aber in dieser für das Land so schicksalhaften Stunde ihrer Pflicht entzogen haben.“7 Zu erwähnen ist, dass die Menschen, von denen hier die Rede ist, Bürger der Republik Türkei waren, also Landeskinder und nicht Ausländer, die sich bei der WerfelAffäre „um das Vaterland verdient gemacht hatten“.
6 Maksudyan, Nazan: Türklüğü Ölçmek – Bilimkurgusal Antropoloji ve Türk Milliyetçiliğinin Irkçı Çehresi 1925–1939 (Das Türkentum messen – Wissenschaftlich-fiktionale Anthropologie und das rassistische Gesicht des türkischen Nationalismus 1925–1939). Istanbul 2005. 7 Der türkische Ministerpräsident Şükrü Saraçoğlu zur Vermögensteuer (Varlık Vergisi), zitiert nach Cumhuriyet vom 21. Januar 1943.
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Der „Abwehrkampf“ der Republik Türkei gegen die Verfilmung von Werfels Roman8 Werfels Roman ist im November 1933 erschienen. Kurze Zeit danach, am 25. Dezember 1933, schrieb der einflussreiche türkische Journalist, Autor und Abgeordnete Falih Rıfkı Atay – während des Ersten Weltkrieges war er Privatsekretär von Cemal Pascha, der zusammen mit Talat und Enver das jungtürkische Triumvirat bildete – in der Zeitung Hakimiyeti Milliye (Nationale Herrschaft) u. a.: „All die Gerüchte, Behauptungen und Unterstellungen, die seit 15 Jahren in den Zeitungen kursieren, wurden mit Erfindungen der Fantasie vermengt und zu einem Roman gemacht.“ Und dann fuhr Falih Rıfkı Atay fort: „Unser Freund von Papen, der während des Ersten Weltkrieges das Geschehen aus nächster Nähe beobachtet hat und jetzt in der Nähe des Reichskanzlers tätig ist, kann die beste Gegenreaktion [zu diesem Buch] zeigen.“ Tatsächlich war Franz von Papen während des Ersten Weltkrieges Generalstabschef der 4. Türkischen Armee.9 Und von Januar 1933 bis Juli 1934 war er Vizekanzler des Kabinetts Hitler. Der von Falih Rıfkı Atay kaum kaschierten Aufforderung zur Intervention kam die deutsche Seite bald nach. Ende Januar 1934 meldete Hakimiyeti Milliye, dass Reichspropagandaminister Goebbels Werfels Buch verboten habe. Nazideutschland wolle so „seine aufrichtigen freundschaftlichen Gefühle für die Türkei zum Ausdruck bringen“. Wenige Tage danach, Anfang Februar 1934, wurden gemäß § 7, Abschnitt II, der Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze des Deutschen Volkes vom 4. Februar 1933, wonach Druckschriften, deren Inhalt geeignet ist, die öffentliche Sicherheit oder Ordnung zu gefährden, polizeilich beschlagnahmt und eingezogen werden können, viele Bücher, so auch Werfels Die vierzig Tage des Musa Dagh, in ganz Deutschland verboten und eingezogen. Dass eine Verfilmung von Werfels Roman beabsichtigt war, erfuhr der türkische Botschafter in Washington im November 1934. Angeblich sei die Firma Paramount an der Sache interessiert. Sollte es dazu kommen, könne das zu einem Anwachsen der antitürkischen Gefühle in den USA führen, so der Botschafter bei einem Besuch der Nahost-Abteilung des State Departments. Der Abteilungsleiter wandte sich nun an Motion Pictures Producers and Distributors of America Inc. und wollte wissen, ob der Film tatsächlich gedreht werden würde. Motion Pictures bejahte das und fügte hinzu, dass im für Metro Goldwyn Meyer (MGM) geschriebenen Drehbuch es im Wesentlichen um den Haupthelden Gabriel Bagra-
8 Bali, Rıfat: Musa Dağ’da Kırk Gün’ün Hikayesi („Die Geschichte der 40 Tage auf dem Mosesberg“). In: Tarih ve Toplum, Februar 1998, Bd. 29, H. 170, S. 21–33. 9 Dadrian, Vahakn: German Responsibility in the Armenian Genocide. Watertown 1996, S. 199.
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dian und sein privates Umfeld ginge und der Schwerpunkt ganz und gar nicht bei den „armenischen Vorgängen“ liege. Nun schaltete sich auch das türkische Außenministerium ein und wollte von den Amerikanern wissen, ob sie die Produktion des Films stoppen würden. Diese bejahten die Frage. Doch als Mitte April 1935 der Washington Herald berichtete, dass in Werfels Buch es um ein „von Türken begangenes Massaker in Armenien“ ginge und der Plan, daraus einen Film zu machen, nach wie vor auf der Tagesordnung sei, kam wieder Bewegung ins Spiel. Motion Pictures behauptete, dass es noch kein Drehbuch gebe und sollte dieses doch geschrieben werden, darin nichts stehen würde, was der Türkei schaden könnte. Auch versprach Motion Pictures, das Drehbuch nach der Fertigstellung zur Genehmigung der türkischen Botschaft in Washington vorzulegen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die türkische Presse noch nicht über die Vorgänge in Zusammenhang mit der Produktion des Films berichtet. Das änderte sich am 29. Mai 1935. Die Zeitung Haber Akşam Posta (Abendnachrichten) berichtete, dass MGM den Film drehen und die Hauptrolle Clark Gable spielen würde. Daraufhin schaltete sich der amerikanische Botschafter in Ankara, Robert Skinner, in die Debatte ein und berichtete an das State Department, dass der türkische Außenminister ihm inoffiziell seinen Wunsch, den Film verbieten zu lassen, vorgetragen habe. Botschafter Skinner ergänzte, dass dieser Film den Armeniern in der Türkei eher schaden als helfen würde. Der türkische Botschafter in Washington, Mehmet Münir, seinerseits steigerte den Druck. Er suchte den Vizepräsidenten von MGM, J. Robert Rubin, auf und drohte ihm, sein Land würde den Import aller Filme von MGM in die Türkei verbieten. Diese Drohung wurde später ausgeweitet. Eine türkische Firma, die die Importgenehmigung für die MGM-Filme hatte, berichtete, auch Jugoslawien, Griechenland, Rumänien und Bulgarien würden ähnlich verfahren. Vielleicht als Folge dieser Entwicklungen schrieb der amerikanische Außenminister Cordell Hull am 9. Juni 1935 an den amerikanischen Botschafter in Ankara und teilte diesem mit, dass MGM den Film nur nach Absegnung des Drehbuchs durch die türkische Botschaft in Washington drehen würde. Dessen ungeachtet kam eine neue Nuance hinzu. Haber Akşam Posta (Abendnachrichten) brachte am 3. September den jüdischen Faktor ins Spiel. MGM sei ein jüdisches Unternehmen und dieses sei dabei, das Werk eines der ihrigen zu verfilmen. Schließlich gelte es, andere jüdische Unternehmen, die „mit uns Handel treiben und gezwungen sind, ein einvernehmliches Verhältnis zu uns zu haben“ darauf aufmerksam zu machen. Wenn man dieser antitürkischen Propaganda nicht Einhalt gebieten würde, würden die Juden den Schaden davon tragen. Die Zeitung vergaß auch nicht, indirekt eine Drohkulisse aufzubauen, in dem sie daran „erinnerte“, dass es in der Türkei keine Judenfeindschaft gebe. Die Türkei sei, was die Juden anbe-
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trifft, „das neutralste und barmherzigste Land“. Zwei Tage später, am 5. September 1935, wurde Haber Akşam Posta (Abendnachrichten) wesentlich deutlicher: „Jüdische Unternehmen, seid vorsichtig! Ärgert die Türken wegen des Profits an diesem Film nicht. Sie waren bislang nicht die Feinde eurer Rasse.“ Auf diesen Zug sprangen auch andere türkische Zeitungen auf. So wandte sich der bekannte Kolumnist Abidin Daver in der überaus einflussreichen Tageszeitung Cumhuriyet (Republik) am 24. September 1935 an die jüdischen Bürger der Türkei: „Den ersten Angriff auf die jüdischen Türkenfeinde müsst ihr reiten. Das schuldet ihr diesem Land, dazu seid ihr verpflichtet.“ Als im Oktober 1935 der Motion Pictures Herald berichtete, Werfels Roman stünde auf der Liste der 1936 zu drehenden Filme, gab es eine erneute Steigerung der Kampagne. Yunus Nadi, der Herausgeber der Cumhuriyet, hatte in seinem Leitartikel vom 12. Dezember 1935 Werfel als einen „jüdischen Halunken“ bezeichnet und die Armenier und die Juden des Landes daran erinnert, dass sie die Regierung der USA auf diesen „infamen Anschlag“ aufmerksam machen könnten. Übrigens vertrat er die Ansicht, dass das Verbot von Werfels Roman durch die Nazis „im Einklang mit der Menschenwürde und dem internationalen Frieden“ stände. Der amerikanische Botschafter in Ankara leitete den Leitartikel noch am selben Tag nach Washington weiter. Daraufhin verhandelte die US-Regierung mit den Verantwortlichen von MGM. Im Ergebnis wurde der Roman von der Liste der zu verfilmenden Werke gestrichen. Der Druck der türkischen Medien hatte schon davor die Juden des Landes zu einer öffentlichen Stellungnahme genötigt. So erklärte Lem’i Gülman in einem Leserbrief, der am 14. September 1935 in Haber Akşam Posta (Abendnachrichten) abgedruckt wurde: Die Türkei behandele die Juden außerordentlich gut. Propagandawerke wie Werfels Die vierzig Tage des Musa Dagh seien das Werk jener, die es nicht ertragen könnten, dass die Juden in diesem Land so willkommen seien. Im Übrigen lehnten die türkischen Juden diese abscheuliche Unterstellung an die Adresse der Türkei entschieden ab, so Lem’i Gülman. Yunus Nadis Leitartikel in Cumhuriyet vom 12. Dezember 1935 und die darin enthaltene Empfehlung an die Armenier und die Juden, die Regierung der USA auf diesen „infamen Anschlag“ aufmerksam zu machen, verfehlte bei ihnen ihre Wirkung nicht. Der Herausgeber von Le Journal D’Orient, deren Leserschaft überwiegend aus Juden bestand, der jüdische Journalist Albert Karasu, schrieb einen Tag danach, dass die anti-türkische Haltung von Werfel bei den türkischen Juden Entrüstung und Hass hervorgerufen habe. Im Übrigen seien die Juden patriotisch gesinnt und dem Land treu ergeben. Neben den Juden standen auch die Armenier unter Druck. Denn in einem Artikel von Cumhuriyet vom 6. September 1935 war behauptet worden, Franz Werfels Roman sei ein von Armeniern angestiftetes und finanziertes Werk.
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Bei seiner außerordentlichen Versammlung befasste sich der Rat der Armenier am 15. Dezember 1935 mit dieser Angelegenheit. In der Presseerklärung betonten auch die Armenier ihre unverbrüchliche Treue zur Heimat, bedienten sich dabei einer überaus pathetischen Sprache. Das eigentlich Dramatische fand ebenfalls am 15. Dezember statt. Eine Gruppe von Armeniern versammelte sich im Hof der armenischen Kirche des Istanbuler Stadtteils Pangaltı, wo zu den Klängen der türkischen Nationalhymne Werfels Buch und sein großformatiges Foto verbrannt wurden. Eine Rede wurde gehalten: Da war vom Paradies die Rede, das Atatürk geschaffen habe, in dem sie, Armenier und Türken, brüderlich zusammenlebten. Werfel habe ein Attentat auf dieses heilige Vaterland verübt usw. usf. Diese patriotische Gefühlsaufwallung ging so zu Ende: „Nieder mit denen, die sich am Türkentum vergreifen.“
Statt eines Schlussworts Den gesellschaftlich-politischen Rahmen, in dem die nicht-muslimischen Minderheiten seit Gründung der Republik 1923 lebten, hatte ich eingangs zusammengefasst. Sie hatten allen Grund, sich vorsichtig zu verhalten und hatten im Prinzip drei Optionen: Auswanderung (diese Option wurde vornehmlich nach Ende des Zweiten Weltkrieges gewählt, die Juden machten davon nach Gründung des Staates Israel Gebrauch, die Armenier bei der letztendlich gescheiterten Repatriierung der Jahre 1946/1947 und ganz besonders nach den Pogromen von 6./7. September 1955), innere Emigration gekoppelt mit apolitischem Verhalten sowie in bestimmten Fällen das Gegenteil davon, um den Staat von der eigenen Loyalität zu überzeugen. Die schändliche Verbrennung von Werfels Die vierzig Tage des Musa Dagh fällt in die letzte Kategorie und ist als ein Zeichen von angeblich extremer Distanzierung von Werfels Buch im Sinne eines Selbstschutzes zu sehen. Ein Weiteres kam hinzu: 1935 waren gerade eben 20 Jahre nach dem Völkermord vergangen, so gesehen hatten die Armenier mehr Gründe als die Juden, denen zwar 1915 nichts zugestoßen war, sie jedoch 1934 Opfer des „Thrakien-Pogroms“ wurden,10 sich nach außen hin besonders patriotisch zu geben, so unglaubwürdig das auch für die türkischen Zeitgenossen letztendlich war. Die Affäre „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ war für die offizielle Türkei ein voller Erfolg. MGM hat den Film nicht gedreht. Das Zusammenspiel des türkischen Außenministeriums, der türkischen Botschaft, der türkischen Zeitungen und der Druck auf die Juden und Armenier im Lande haben das bewirkt. Und 10 Guttstadt, Corry: Die Türkei, die Juden und der Holocaust. Berlin 2008, S. 186–193.
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erstmalig hat die damals junge Republik Lobbyarbeit in den USA gemacht, und das mit Erfolg. Auch heute wird diese Arbeit fortgesetzt. Der Anlass ist nicht mehr Franz Werfels Buch, sondern die Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern durch den US-Kongress. Und auch heute werden bei der Abwehr im Kern die gleichen Bausteine benutzt, nur dass weitere hinzugekommen sind wie starke protürkische Lobbygruppen, PR-Unternehmen und vor allem sehr viel Geld. Das war 1935 noch nicht nötig. Zum Schluss einige Anmerkungen zur türkischen Ausgabe von Werfels Buch. Sie erschien erst 1997, also nach 64 Jahren. Möglich gemacht haben das Ayşe Nur und Ragıp Zarakolu in ihrem Belge Verlag, der bis heute sowohl bei der armenischen als auch der kurdischen Frage als Tabubrecher fungiert. In seinem Interview mit dem Ehepaar Zarakolu (erschienen in der Wochenzeitung Agos vom 1. August 1997) stellte der im Januar 2007 von einem türkischen Nationalisten ermordete Hrant Dink auch Fragen zum Buch. Dazu Ragıp Zarakolu: Da der Autor ein deutscher (deutscher Jude) ist, war er gewissermaßen der Seher des späteren Völkermordes an den Juden. […] Es war ein mit der Intuition des Künstlers niedergeschriebener Schrei, damit dagegen Maßnahmen ergriffen werden. Es war eigentlich ein Aufruf an die Adresse des deutschen Volkes. […] Ein Buch, wo man zwischen den Zeilen die Rolle der Deutschen bei den Ereignissen im Osmanischen Reich findet. Ein prophetisches Buch. Die Aufrufe, die wir heute machen, hat Werfel damals mit diesem Buch gemacht.
Dennoch ist es eher wenig rezensiert worden. Emin Karaca stellte es am 17. Juli 1997 in der Tageszeitung Radikal vor. Insgesamt ist seine Herangehensweise eher vorsichtig, aber sachlich und völlig anders als im Jahr 1935. Werfels Buch habe einen berechtigten Platz unter den Weltklassikern, stellte Karaca fest. Es sei in viele Weltsprachen übersetzt worden. Als 1936 die französische Ausgabe erschien, führte das in den türkischen Zeitungen zu einem kleineren Erdbeben. Eine weitere, dieses Mal eine kundige Vorstellung des Buches mitsamt dem Hintergrund stammt von der Publizistin Ayşe Hür in der Zeitung Taraf vom 18. 12. 2011.11 Wenn auch mit sehr großer Verspätung gibt es in der Türkei heute einen sachlicheren Umgang mit Werfels großem Werk, mit dem er den Armeniern ein Denkmal gesetzt hat. Die Armenier haben es ihm weltweit gedankt. So besorgten sie die Überführung seiner sterblichen Überreste nach Wien, wo er im Juli 1975 auf dem Zentralfriedhof beigesetzt wurde. Im Jahr 2000 wurde im Auftrag der 11 http://www.taraf.com.tr/ayse-hur/makale-franz-werfel-ve-musa-dag-da-kirk-gun.htm (22.4. 2014)
Von Musa Dagh nach Hollywood und zurück
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Republik Armenien im Wiener Schillerpark ein Werfeldenkmal enthüllt. Der Bildhauer Ohan Petrosjan schuf die Bronzebüste, Roland Martirosjan gestaltete den Granitpfeiler, auf dem mit armenischen Schriftzeichen „Musa Dagh“ eingemeißelt ist sowie die Aufschrift: „In Dankbarkeit und Hochachtung. Das armenische Volk“. Und im Oktober 2006 wurde ihm posthum die armenische Ehrenbürgerschaft verliehen. Die Plakette wurde in der Österreichischen Nationalbibliothek feierlich überreicht. So gesehen ist die Verbrennung seines Buches und Fotos am 15. Dezember 1935 ein der Not und dem immensen Druck geschuldetes, absolut singuläres Ereignis, das eher die innenpolitische Verfasstheit des Landes verrät.
Frank Stern
Die jüdische und die armenische Erfahrung in Filmen nach Franz Werfel Filmproduzenten und Filmregisseure, erst in Hollywood, dann in Österreich, Deutschland und der Tschechischen Republik griffen seit 1933 immer wieder zu den Romanen und Theaterstücken von Franz Werfel. Sie ließen sich von seiner kreativen Fantasie, der Besteller-Qualität vieler seiner Werke leiten und unterwarfen seine bildkräftigen Texte einer visuellen Transformation in die bewegten Bilder der siebten Kunst. Hierbei handelt es nicht allein um Film-Narration, Text, sondern genauso um Traum, Vision, filmische Utopie; denn Werfels Prosa ist – in seinen eigenen Worten – „durchflochten von einer atemlosen Bilderflucht“.1 Manches, aber nicht alles aus dieser atemlosen Bilderflucht findet sich in Filmen nach Werfel. Bei einer Sichtung dieser Filme – wie generell im Verhältnis von literarischer und visueller Imagination – kann es nicht allein um narrative Werktreue gehen, sondern eher um ein Verständnis von Werfel als Ideengeber, um Fragen der filmisch-ästhetischen Umsetzung und insbesondere um den zeitgeschichtlich-kulturellen Kontext der Filmproduktion. Es ist bis heute ein kleines Filmœuvre, das auf Werfels literarische Vorgaben, Ideen, Charaktere, Milieus und Beziehungsgeschichten zurückgreift, doch nur auf jene Spielfilme und Fernsehspiele möchte ich mich beziehen, in denen unmittelbar oder assoziativ die jüdische Erfahrung um adäquate Bilder ringend die Gräuel jungtürkischer Täter aufscheinen lassen kann. Film und Fernsehen griffen bisher vor allem auf Werfels zeit- und kulturgeschichtlich motivierte Novellen und Romane zurück, die sich auch deswegen für filmisches Arbeiten anbieten, weil die für den Film so wichtigen Beziehungen von Macht und Individuum, Leidenschaft und Begehren, Liebe, Hass und Verrat, Glaube und Toleranz stets zentral sind. Alles Jüdische ist bei Werfel mit einer Umwelt verwoben, deren narrative, visuelle und historische Aura stets den Zusammenhang der „Unsrigen“ umhüllt, wie es der Jude Bodenheim im Roman Cella oder Die Überwinder formuliert, ein Zusammenhang der aus der Perspektive der anderen, auf „diese Leute“, wie es der Nichtjude Leonidas Tahetzy in der Blaßblauen Frauenschrift sagt,2 seine Spannung gewinnt. Literarisches Werk und filmische Rezeption leben von Nuancierungen und Darstellungen im Identitäts- und Alteritätsgeflecht, die über emotionale Befindlichkeiten bis zu tödlichen und geplanten Gewaltexzessen reichen. 1 Werfel, Franz: Cella oder Die Überwinder. Frankfurt a. M 1982, S. 146. 2 Werfel, Franz: Eine blaßblaue Frauenschrift. Frankfurt a. M 1990, S. 12.
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Werfel selbst ist im Laufe der Jahrzehnte vor allem mit Bezug auf Alma Mahler und auf den Genozid an den Armeniern zur Filmfigur geworden. Filmdarstellungen leben stets von der jeder Annäherung innewohnenden ästhetischen Vielschichtigkeit, die allerdings bei jüdisch konnotierten historischen Stoffen eine genauere Bestimmung der Perspektiven, eine visuelle Einfühlung in die jüdische Erfahrung erfordert.3 Zwei Überlegungen zu kontextuellen Dimensionen der Filme nach Werfel daher vorab: Erstens ist der historische Kontext der Filmproduktionen zu nennen. Ein in Hollywood vor dem Kriegseintritt der USA auf die Leinwände gebrachter Film von 1939 wie Juarez nach Werfels erfolgreichem Theaterstück über die mexikanische Revolution gegen den Habsburger Maximilian unterscheidet sich aufgrund des antifaschistischen Charakters schon hinsichtlich des amerikanischen Publikums von einer österreichisch-deutschen Fernsehproduktion wie Cella oder Die Überwinder von 1978 oder Die vierzig Tage des Musa Dagh, einem Hollywood-Film von 1982, – ganz zu schweigen von dem Dany-Kaye-Film Jacobowsky und der Oberst aus dem Jahr 1958. Die jeweiligen Filmverhältnisse, filmpolitische Anforderungen, die Produktionsbedingungen, das Zielpublikum und die Orientierung auf bekannte Filmstars spielen stets eine Rolle. Insbesondere in den österreichischdeutschen Fernsehfilmen ist der Stand des kulturellen und öffentlichen Diskurses über Jüdisches, Judentum und die fehlende oder partiell stattfindende Auseinandersetzung um die Bedeutung der Auswirkungen der Shoa für die österreichische und deutsche Nachkriegsgesellschaft mehr als deutlich. In diesem Zusammenhang ist nicht allein wichtig, was in den Filmen narrativ und ästhetisch gezeigt wird, sondern in viel stärkerem Ausmaß, was weggelassen, was zur Leerstelle der künstlerischen Aneignung von Werfel wird. Das betrifft Jüdisches und nach Werfels Damaskus-Reise 1929 und der konkreten Konfrontation mit dem Elend der überlebenden Armenier ab 1933 gleichermaßen seine Beschäftigung mit der jüdischen und der armenischen Erfahrung. Solche verfilmt-nicht-gefilmten Leerstellen beziehen sich unsichtbar-sichtbar vor allem auf eine nur halbherzige und doch so notwendige Einfühlung in die Diskriminierungs- und Verfolgungs-Erfahrung. Jüdisches ist in der deutschsprachigen Filmkultur seit 1945 trotz zahlreicher Spiel- und Dokumentarfilme zu einer Leerstelle des Zögerns, der Unsicherheiten, der gestischen, sprachlichen und narrativen Zuschreibungen und der oft unbewusst naiven oder einschaltquoten-orientierten Kontinuitäten geworden, die mit den wirklichen jüdischen Lebenswelten vor und nach der Shoa oft nur sehr wenig zu tun haben.
3 Vgl. Stern, Frank/Eichinger, Barbara (Hrsg.): Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938. Akkulturation – Antisemitismus – Zionismus. Wien 2009.
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Doch die visuelle Filmpolitik der Leerstellen ist in Bezug auf unser Thema vor allem durch das Versagen Hollywoods gekennzeichnet, Werfels Musa Dagh adäquat auf die Leinwand zu bringen. Auf Youtube kann man aktuell immer noch visuelle Aufrufe der Unterstützung, zuletzt auch für Silvester Stallone, für die Produktion eines Films über den Genozid an den Armeniern finden. Seit Mitte der 1930er-Jahre geistern Roman und Filmideen durch die Hollywood-Studios, stets begleitet von politischen Erwägungen, Bündnisallergien, armenischer Lobby und staatlichen Interventionen von türkischer Seite. Genauso wenig wie es bis heute einen herausragenden Film über die Verfolgungs- und Vernichtungsgeschichte von Roma und Sinti gibt, existiert auch kein Epos über den organisierten Massenmord an den Armeniern. Zweitens ist ein Spielfilm, der sich auf eine literarische Vorlage bezieht, immer auch das Werk des Regisseurs und des Drehbuchautors. Wenn der Exilant William Dieterle bei Juarez Regie führt und der Exilant Erich Wolfgang Korngold die Filmmusik komponiert, dann müssen wir nicht lange suchen, um zu wissen, dass Werfels Erfolg mit dem Theaterstück in Max Reinhardts visueller Interpretation der 1920er-Jahre mitgedacht und mitgesehen wird – zumindest in New York und Los Angeles. Cella oder Die Überwinder ist auch deshalb von bedrückender Eindringlichkeit, weil hier Schauspielerinnen und Schauspieler der österreichischen Nachkriegsgeneration zusammenkommen, die sich in die historische Situation und Teile von Werfels Romanfragment unter die Haut gehend einfühlen, und Eine blaßblaue Frauenschrift lässt uns nicht los, weil der 1933 in Paris geborene geschichtskritische ORF-Radio- und Fernsehautor, der Filmemacher Axel Corti hiermit ein Meisterwerk des Fernsehspiels vorlegt, während Jacobowsky und der Oberst unter der Regie von Peter Glenville eine eher gefällige Verfilmung einer Bühneninszenierung der „Theatre Guild“ ist, die sich mit Dany Kaye und Curd Jürgens Zuschauerinnen und Zuschauer gleichermaßen im englisch- wie im deutschsprachigen Raum verspricht – eine Art in Frankreich spielendes Märchen über die Shoa, über die 1958 filmisch noch weitestgehend geschwiegen werden konnte. Die Filme nach Werfel sind visuelle Reflexe des österreichisch-jüdischen und deutsch-jüdischen Zusammenhangs in Kultur, Gesellschaft und Religion. Integration und Identität werden im Gefolge der Emanzipation und der Rolle sich entwickelnder Judenfeindschaften im Hinblick auf die Veränderung des politischen Klimas in den 1920er- und 1930er-Jahren individualisiert. Die Österreichspezifische Anpassung einer Mehrheit an die Auswirkungen der Geschehnisse beim nördlichen Nachbarn seit 1933 und die immer deutlicher werdende Brüchigkeit der jüdisch-österreichischen und jüdisch-deutschen Akkulturation seit dem Fin de Siècle und verstärkt nach dem Ersten Weltkrieg – all dies findet sich
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in überschlagenden literarischen Formen, die, wie Werfel sagen würde, aus der Bilderflut ragen. In diesen Kontext gehören seine zeitgeschichtlichen Werke von Die vierzig Tage des Musa Dagh bis Cella oder Die Überwinder. Werfel war nicht der einzige, der – wie Wolf Gruner formuliert – „das Schicksal der Armenier als Warnung für die deutschen Juden nach 1933“ betrachtete und Parallelen zwischen den türkischen Gräueltaten und dem Boykott gegen die Juden 1933 herstellte.4 Die Verfolgungserfahrung bildet den Kontext noch in den intimsten Schilderungen, wobei Tätermentalitäten und der immer wieder auftauchende jüdisch-christliche Zusammenhang, personifiziert in einzelnen Gestalten – Rabbiner, katholischer Pfarrer, orthodoxer armenischer Priester – das Narrativ tragen. Und das ist einer der zentralen literarischen Topoi, die das gesamte Schaffen von Werfel durchziehen. Er stellt literarisch etwas her, um das sich unter anderem auch Franz Rosenzweig in seinem Stern der Erlösung mühte: Wie bringen wir Einheit und Differenz von Judentum und Christentum jenseits persönlicher und Liebesbeziehungen so zum Ausdruck, dass in ihnen eine zu lebende Utopie aufscheint. In Cella oder Die Überwinder lauschen wir immer wieder dem jüdischen Erzähler, der von den „Unsrigen“ spricht, die „schon ebenso lange im Lande“ leben „wie die andern, wenn nicht länger, denn wir sind schon hier gewesen, als die Türken herrschten“, was auch ein selbst-referentieller Bezug auf die Armenier und deren vortürkische Geschichte ist. Und angesichts der „Unglücksjahre in Deutschland“ wächst unter der jüdischen Bevölkerung auch ein heimliches Gefühl, „zwischen den Unsrigen und den andern eine gewisse Verschiedenheit zu bemerken.“5 Die zunehmende Brüchigkeit der Akkulturation wird literarisch und dann filmisch durch eine immer antagonistischer werdende Wahrnehmung repräsentiert. Juden nehmen die wachsende vorurteilsbeladene Distanz zu ihnen bei den Nichtjuden wahr und befragen sich selbst nach einem Unterschied, einer kulturellen Differenz. Und die anderen, die Nichtjuden, wie der sich zum Mitläufer entwickelnde Leonidas in der Blaßblauen Frauenschrift denken sich eine „Fremdartigkeit“ herbei, die sie in der Tradition des sexualisierten antijüdischen Vorurteils erotisch bannt, ein sinnlich-verstörender Bann, den die Juden mit wachsendem Druck des Antisemitismus als einen Bannfluch empfinden. Die innere Entwicklung, das Gefühl abgestoßen zu werden oder die anschwellende Rückweisung des Jüdischen, weil der antijüdische Habitus zunehmend politisch korrekt ist, entsprechen literarisch einer Dialektik innerer Stimmen, die förmlich 4 Gruner, Wolf: „Armenier-Greuel“ – Was wussten jüdische und nichtjüdische Deutsche im NSStaat über den Völkermord von 1915/16? In: Steinbacher, Sybille (Hrsg.): Holocaust und Völkermorde. Die Reichweite des Vergleichs, Fritz Bauer Jahrbuch 2012. Frankfurt a. M, 2012, S. 31–54. 5 Werfel, Cella oder die Überwinder, S. 12f.
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nach der mehrdimensionalen Tiefenwirkung des Films verlangt. Dieser auratischen Logik folgt auch Musa Dagh. Doch zunächst zu Eine blaßblaue Frauenschrift (Ö 1984, R: Axel Corti nach der Novelle von Werfel mit Friedrich von Thun, Gabriel Barylli, Friederike Kammer, Krystyna Janda). Der Zweiteiler bleibt großteils im Rahmen des 1940 im Exil in Sanary-sur-Mer geschriebenen Romans, der sich auf die Zeit vor 1938 in Wien konzentriert. Die filmische Qualität zeigt sich insbesondere in der Durchdringung des Zeitgeistes in den Geschlechterbeziehungen. Die Stärke der literarischen Vorlagen sollte daher nicht auf das Politische, die behutsam vermittelte Wahrnehmung jener brüchigen Akkulturation beschränkt bleiben. Die Verhältnisse, in denen das Jüdische immer stärker auf eine Position der Verteidigung zurückgeworfen wurde, sind in den Romanen und nun viel stärker noch in der visuellen Umsetzung, stets Beziehungen zwischen Frauen und Männern, in denen aus dem Gefühl, aus Liebe, Leidenschaft, Begehren und Überzeugung – auch wankelmütiger – agiert wird. Werfel und seine Regisseure verbinden jüdische Selbstbestimmung und weibliche Selbstbestimmung. Eine blaßblaue Frauenschrift ist auch eine leidenschaftsvolle Liebesentwicklung, in der der Protagonist Leonidas Tahetzy (auf Hebräisch bedeutet „vachetzy“: „und ein halb“) beide, seine Ehefrau und seine einstige jüdische Geliebte Vera Wormser verrät. Damit lässt er sich nicht allein ins Lager der opportunen Antisemiten fallen, sondern gibt auch den letzten Rest von Ehre und Humanismus auf. Diesen Prozess zeichnet der Film nicht allein durch das körperliche Agieren eines männlichen Opportunisten nach, sondern auch durch die literarische Überhöhung einer inneren und erzählenden Stimme aus dem Off. Es ist kein Zufall, dass der langjährige Radioredakteur und Regisseur des Films, Axel Corti, diese Stimme selbst spricht und damit dem Film einen ganz besonderen, zunächst befremdlich anmutenden, Charakter verleiht. Die filmische Narration aus dem Off durchdringt die visuellen Ebenen, überdeckt auch Schwächen. Die Jüdin und die Nichtjüdin bewahren sichtbar etwas, was der Mann in der neuen nationalsozialistischen Zeit negiert und seiner überflüssigen Karriere zum Opfer bringt. Er verliert sich am System, weil er kein Leben zu retten imstande ist. Doch dies ist keine griechische Tragödie, sondern eine Mahnung für die individuelle Entscheidungsfreiheit, und damit ist weder der Roman noch der Film an eine geschichtliche Periode gebunden; denn durch die genaue Zeichnung der historischen Umstände, behält er in der Charakterisierung der handelnden Personen, der alltäglichen stereotypisierten Mentalitäten zeitlose Aktualität. Nicht zufällig kommt der Roman heute auch immer wieder als Taschenbuch in die Buchhandlungen. Sehen wir eine letzte Begegnung zwischen dem zum Nazi gewordenen Opportunisten und der Jüdin in Wien.
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Der Antisemit weiß, dass sein Gefühl belanglos geworden ist, rassistisch wegerklärt werden muss angesichts der politischen Entwicklung, in der er Karriere machen wird. Die Jüdin weiß, dass sie die Werte und Lebensweise einer akkulturierten Jüdin weder in Deutschland noch in Österreich mehr leben kann. Die Emigration ist die einzige Antwort. Leonidas innere Stimme, die Stimme eines gesellschaftlich konsensfähigen Antisemitismus, verrät sich allerdings nur uns – den Leser/-innen und Zuschauer/-innen. In derartigen, im Roman und im Film dann beschleunigt aufscheinenden Szenen spielt die Auswanderung, die erste Exilerfahrung von Werfel und anderen eine große Rolle. Paris und Sanary-sur-Mer zeigen in der Tat, dass die Frauen sehr oft nicht allein die Initiative zur Auswanderung, so wie Vera Wormser in der Frauenschrift und Gretl Bodenheim in Cella ergriffen, sondern im Exil auch eine neue, bestimmende Rolle übernahmen, die Werfel hier bereits literarisch reflektiert. Der Rückblick auf die Wiener Erfahrung wird mehr und mehr durch die Exilerfahrung gefärbt, die Rolle der Frauen unter den Bedingungen der nun wieder neu zu gestaltenden Akkulturation verändert sich. Brüchig wird die alte virile Selbstwahrnehmung bei den Werfels, bei den Feuchtwangers und vielen anderen. Die beginnende Exilliteratur reflektiert diese Positionierung von sensibel-asservativer Weiblichkeit mit entsprechenden Projektionen auf die Veränderung der Rolle der Frauen seit dem Fin de Siècle. Den jüdischen Männern bleibt dann jenes von Werfel beschriebene „Erbteil von Schwermut und Schüchternheit“,6 das in den Filmen von den Regisseuren – leider in der antijüdischen Tradition verharrend – als Tollpatschigkeit und feminine Weichheit interpretiert wird. Dass Bodenheim in Cella zunehmend die Wahrheit der Stunde wahrnimmt, doch, mit den Konsequenzen zögert, kommt im Film nicht voll zum Tragen. Im Roman erkennt er im März 1938 in Wien, als sich die Massen „in der Blutwolke des Massenrausches wanden […]: ,In diesem Augenblick begann mein Exil.‘“7 Und an anderer Stelle heißt es: […] „du fremde, du todfremde Heimat!“8 Der Film versagt es sich, diesen für die jüdische Erfahrung zentralen Aspekt sichtbar zu machen. Werfel vermerkte am Rand des Manuskriptes, wie um sich selbst zu vergewissern, „Musa Dagh“. Heimatbegriffe, Leidenschaften, Geschlechterbeziehungen, religiöse Differenz, Verfolgung und die Möglichkeit des Widerstehens entsprechen sich in den Wiener zeitgenössischen und in den armenischen literarischen Verarbeitungen der jüdischen Erfahrung durch Werfel. Die in diesem Zusammenhang wohl eindringlichsten Filme sind zwei Fernsehproduktionen, die auf dem zwischen Wien, Eisenstadt und dem Exil spie6 Werfel, Cella oder die Überwinder, S. 22. 7 Werfel, Cella oder die Überwinder, S. 114. 8 Werfel, Cella oder die Überwinder, S. 232.
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lenden Roman Cella oder Die Überwinder basieren. Den Roman schrieb Werfel 1938/1939 im Exil in Frankreich, doch wurde er erst 1955 als Fragment veröffentlicht, da Werfel ihn nie abschloss. Die Filmgeschichte dieses Romans ist spannend und wahrscheinlich noch nicht zu Ende. Auf den Fernsehbildschirmen erschien zunächst Die wahre Geschichte vom geschändeten und wiederhergestellten Kreuz (D, TV-SFB 1963, R: Tome Toelle). Der Film spielt 1938 und zeigt die Vertreibung der Parndorfer jüdischen Gemeinde im Burgenland aus der Perspektive des örtlichen katholischen Priesters, dem Erzähler dieses Romanteils. Die an die ungarische Grenze deportierten Jüdinnen und Juden werden von der SA drangsaliert, der örtliche Pfarrer, ein Freund des Rabbiners versucht sie zu retten, begleitet sie und wird passiver Zeuge, wie der Rabbiner ein zum Hakenkreuz geschändetes Kreuz wiederherstellt und daraufhin vom SA-Führer erschossen wird. Jüdisches und Christliches verbinden sich in der Abwehr des Inhumanen, der nächtliche Marsch erinnert an die Flucht der Armenier auf den Musa Dagh. Die letztendliche Hilfe der ungarischen Grenzsoldaten verweist auf die Rettung tausender Armenier durch die französische Kriegsflotte. In Parndorf im Burgenland wird dieser Film regelmäßig gezeigt, ist Teil der Bildungsarbeit. In Werfels Romanfragment Cella oder Die Überwinder ist die Erzählung vom wiederhergestellten Kreuz zentral, genauso wie die textlich nicht ausgeführte Plünderung der Wiener Leopoldstadt 1938 durch die Wiener Bevölkerung. Die Bezüge auf Musa Dagh sind in den Exilromanen überall zu finden, so wenn die Juden in der Geschichte vom Kreuz an die Geografie der Rettung, die ungarische Grenze, glauben wie die armenischen Bauern an den Berg Moses als Ort der Rettung. 15 Jahre später folgt eine umfassendere Bezugnahme auf den Roman, die aber Die wahre Geschichte vom geschändeten und wiederhergestellten Kreuz auslässt. War diese 1963 – also nach den antisemitischen Umtrieben in der BRD und dem Eichmann-Prozess – vom SFB produziert worden, so ist Cella oder Die Überwinder (Ö 1978, R: Eberhard Itzenplitz) eine ORF-Produktion. Von allen zu nennenden Filmen bleiben diese beiden am dichtesten an Werfels Intention und Text. Die vierzig Tage des Musa Dagh wurde in den USA erst 1982 unter der Regie von Sarky Mouradian produziert, nachdem frühere Versuche von MGM 1934, Silvester Stallone und Mel Gibson in den vergangenen Jahren, wie bereits diskutiert, an türkischen und diplomatisch-brachialen Protesten scheiterten. Der Film von 1982 ist ähnlich wie frühe Shoa-Filme ein Appell, in dem Leiden, Widerstand und die Brutalität der Täter im Zentrum stehen, doch ist ihm leider anzusehen, dass es eine Low-Budget-Produktion war, die vom Roman bis auf die Grund-Narration sowie jungtürkische Grausamkeiten und armenischen Heldenmut nur wenig übrig lässt, was dem Film auch keinen Erfolg bescherte.
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Doch bereits vor dem US-Spielfilm hatten ORF und 3Sat 1995 eine umfassende als Doku-Drama aufgebaute Version von Musa Dagh gesendet, in der aufgrund des österreichischen Kontextes die Verbindung zwischen dem Völkermord an den Armeniern und der Shoa hergestellt und die Person des Roman-Autors ins Zentrum gerückt wird. Es ist ein Film des österreichisch-armenischen Historikers Artem Ohandjanian, der durch zahlreiche Fernsehdokumentationen zur armenischen Geschichte hervorgetreten ist und 12 Bände mit circa 9.000 Seiten faksimilierte Dokumente über österreichisch-armenische Beziehungen, darunter die Berichte Wiener Diplomaten über den Völkermord an den Armeniern publiziert hat. In einer Spielsequenz des Doku-Dramas Franz Werfel – Die 40 Tage des Musa Dagh (Ö, ORF/3Sat 1995) schreibt Franz Werfel im März 1933 an seine Eltern über die Arbeit am Musa Dagh. Werfel versteht den Roman als eine Mahnung, doch die Konsequenzen aus dem Aufstieg des Nationalsozialismus, die unvermeidbare Flucht vor dem Zugriff der Gestapo, das Fehlen von Solidarität und Hilfe wird er wie viele andere in Wien erst 1938 realisieren.
Hacik Gazer
Die armenische Übersetzung von „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ Eine Spurensuche Franz Werfels Romans Die vierzig Tage des Musa Dagh erschien am 16. November 1933 im Verlag Paul Zsolnay Berlin/Wien/Leipzig in zwei Bänden und hatte einen Umfang von 1.139 Seiten. Der historische Roman wurde zunächst in 16.500 Exemplaren gedruckt. Bereits in den beiden folgenden Jahren 1934 und 1935 trug die sehr zeitnahe Übersetzung des Romans in zahlreiche Sprachen dazu bei, dass die Auflagenzahl deutlich stieg. Es waren in verschiedenen Ländern Aufträge an Verleger erteilt worden, den Roman ins Englische, Französische, Italienische, Niederländische, Dänische, Norwegische, Finnische, Schwedische, Ungarische, Tschechische, Polnische, Serbokroatische sowie ins Armenische zu übersetzen. Es wurde in den folgenden Jahren von vielen Übersetzern in kurzer Zeit eine großartige Arbeit geleistet, dieses umfangreiche Werk in ihre jeweiligen Sprachen zu übertragen. Hier soll ein – allerdings nicht ganz vollständiger – Überblick über die zahlreichen Übersetzungen gegeben werden. In den Jahren 1934 und 1935 erschienen Übersetzungen in sechs Sprachen. Eine englische Übersetzung, The Forty Days of Musa Dagh, von Geoffrey Dunlop, wurde 1934 in New York veröffentlicht. Parallel erschien eine weitere englische Ausgabe 1934 in London. Im Mai 1934 erschien im Albin Michel Verlag in Paris die französische Übersetzung: Les Quarante Jours du Musa Dagh. 1935 wurde die polnische Ausgabe Muza Dag: Powieść in der Übersetzung von Olgier Mierowski im Ars Verlag in Warschau herausgebracht. Im selben Jahr erschienen die dänische Übersetzung: De 40 Dage Paa Musa Dagh, Kopenhagen 1935, die norwegische Übersetzung: De fotri dagene pa Musa Dagh, Oslo 1935, die schwedische: De fyrtio dagarna pa Muas Dagh, Stockholm 1935 sowie die finnische: Neljäkymmenta päivää Musa Daghilla, Hämeenlinna 1935. Im Jahre 1936 erschien die italienische Übersetzung: I quaranta giorni del Mussa Dagh, Mailand 1936. Hier sei auch auf weitere Übersetzungen und Ausgaben hingewiesen: Los cuarenta dias de Musa Dagh, Santiago de Chile 1937 (spanisch); A Musa Dagh, Negyven napja, Budapest 1943 (ungarisch); Os 40 dias de Musa Dagh, Rio de Janeiro 1946 (portugiesisch); Los cuarenta dias de Musa Dagh, Buenos Aires 1945 (spanisch); Čtyřicet Dnu, Prag 1947 (tschechisch); De Veertig dagen van de Musa
Die armenische Übersetzung von „Die vierzig Tage des Musa Dagh“
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Dag, Den Haag 1948 (niederländisch); Styridsat dni Musa Daghu, Bratislava 1951 (slowakisch); Arbaim hajamim schel Musah Dag, Tel Aviv 1951 (hebräisch). 40 dni na Muza Daghu, Ljubljana 1959 (slowenisch); Crterdriescl dni Musa Dagh, Warschau 1959 (polnisch); A Musza Dag negyven napja, Budapest 1966 (ungarisch); Cele partuzece de pe Musa Dagh, Bukarest 1970 (rumänisch). Musa Dag’da Kirk Gün, Istanbul 1989 (türkisch); Hoi saranta meres tu Muza Ntagk, Athen 1991 (griechisch); Mosesan-no-shijunichi, Tokio 1993 (japanisch); Al-Ayam al-arba un li-Gabal Musa, Lathakia/Syrien 1995 (arabisch), Cetrdeset dana Musa Daga, Belgrad 2001 (serbisch).
Die ersten Versuche einer armenischen Übersetzung des Romans Zeitnahe zum Erscheinen des Romans meldeten sich Armenier aus Persien, den USA und Deutschland bei Franz Werfel und beim Paul Zsolnay Verlag in Wien. Es gab großes Interesse an der Übersetzung des Romans Die vierzig Tage des Musa Dagh ins Armenische. Im Folgenden sollen Auszüge aus der diesbezüglichen Korrespondenz zwischen dem Paul Zsolnay Verlag und einigen Armeniern veröffentlicht und ausgewertet werden. Das hierfür herangezogene Material liegt im Österreichischen Literaturarchiv in Wien. Darüber hinaus wird eine Bibliografie der armenischen Übersetzungen des Romans in Beirut und Jerewan in Auswahl vorgestellt. Bereits am 10 Juni 1934 kam es zu einem Schriftwechsel zwischen dem armenischen Arzt Dr. med. D. Melikian aus Tauris in Persien und dem Paul Zsolnay Verlag in Wien: An den Paul Zsolnay Verlag zu Wien
Tauris (Perse) 10 Juni 1934
S. G. H. Hiermit möchte ich die Übersetzung des Romans von Franz Werfel „Die Vierzig Tage des Musa Dagh“ in den russischen und armenischen Sprachen übernehmen. Bitte teilen Sie mir Ihre Bedingungen mit und ob Ihr werter Verlag die Herausgabe des Buches übernehmen würde. Zur Übersicht bin ich bereit, die Übersetzung des ersten Kapitels zu schicken. Hochachtungsvoll D. Melikian1
1 Dokument 286/B950 im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek Wien.
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Hacik Gazer
Das Antwortschreiben des Verlags an Herrn Melikian datiert vom 21. Juni 1934. Der Verlag teilte dem armenischen Mediziner aus Persien mit, dass die Übersetzungsrechte an Werfels Roman nicht an eine Privatperson, sondern nur an einen Verlag übertragen werden können. Aus dem Übersetzungsvorhaben von Dr. med. D. Melikian sind in der Folge keine Übersetzungen ins Armenische bzw. ins Russische hervorgegangen. Zum zweiten Versuch, den Roman ins Armenische zu übersetzen, kam es wenige Monate später im Anschluss an das Erscheinen der englischen Ausgabe 1934 in den Vereinigten Staaten. Aus Fresno meldete sich ein weiterer Armenier mit Namen M. Hampar beim Verlag der englischen Ausgabe, „The Viking Press“, in New York. Ziel war es, den Roman auch in einer armenischen Übersetzung für die Armenier in Amerika zugänglich zu machen. Es ging um den zweiten Versuch den Roman ins Armenische zu übersetzen: M. Hampar Attorney-at-law Rooms 9–10 Republican Bldg. Fresno, California
January 26, 1935.
The Viking Press, 18 East 48th Street, New York City, New York. Gentlemen: The undersigned besides being an attorney at law, is a modest writer; has been, in the past, the editor in chief of a leading Armenian daily in this country, and is desirous of translating into Armenian „The Forty Days of Musa Dagh“ by Franz Werfel. Thinking that you probably have bought all the rights to translate the said book into any and languages in use in this country, I take the liberty to write to you and ask for permission to translate the said book into the Armenian language. In case my supposition proves to be unfounded, will you kindly oblige me by furnishing me with the name and address of the party from whom I may secure such right? Thanking you in advance for your courtesies. Very truly yours, M. Hampar2
Die Anfrage wurde von Viking Press an den Paul Zsolnay Verlag weitergeleitet, der an Hampar folgendes Schreiben sandte:
2 Dokument 286/B951 im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek Wien.
Die armenische Übersetzung von „Die vierzig Tage des Musa Dagh“
M. Hampar Fresno, California Rooms 9/10 Republican Bld
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Vienna, February 18th, 1935
Dear Sirs, […] Viking Press have passed on your letter of the 26th ult to us. The Armenian rights in „The Forty Days“ by Werfel still are free but we are negotiating with several firms. Should you be able to interest a publishing house for this book we shall be glad to consider his offer. The translation, however, ought to be made from the German original text. With many thanks Yours very truly3
Biografische Notizen zu Artasches Abeghian und seinem Übersetzungsvorhaben Über die beiden genannten Personen, M. Melikian und M. Hampar, liegen kaum Informationen vor. Interessant ist, dass mit Artasches Abeghian ein weiterer Armenier aus Berlin sich im Januar 1935 wegen eines Übersetzungsvorhabens direkt an Franz Werfel wandte. Über das Leben und Werk von Abeghian liegen viele Informationen vor. Als Theologe, Philologe, Pädagoge, Politiker, Journalist, Historiker und Übersetzer zählt er zu einer der zentralen Gestalten der deutscharmenischen Beziehungen des 20. Jahrhunderts. Daher wird seine Biografie im Folgenden kurz vorgestellt. Danach soll auf seinen Briefwechsel mit Franz Werfel bzw. mit dem Paul Zsolnay Verlag eingegangen werden. Artasches Abeghian wurde am 1. Januar 1878 in Asdabad in der Provinz Nachitschewan geboren. Nach der Grundschule 1884–1887 besuchte er bis 1890 die Diözesan-Schule in Schuschi. Danach absolvierte er in Tiflis von 1890 bis 1895 die Nersesian-Schule. 1895 trat Abeghian in Etschmiadzin in die Geistliche Georgian-Akademie ein und beendete dort 1899 seine Ausbildung. Im September 1900 wurde er als Stipendiat des „Notwendigen Liebeswerkes“ zum Studium der Theologie nach Deutschland gesandt. Zum Wintersemester 1900 begann er sein Theologiestudium an der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Marburg. Nach einem Semester in Leipzig studierte er ab dem Wintersemester 1902/1903 in Berlin. Im Sommer 1904 hielt er sich in London auf, um seine Englischkenntnisse zu verbessern. Während dieses Aufenthaltes traf er Anna, die Witwe des armeni3 Dokument 286/B951 im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek Wien.
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schen Schriftstellers Raffi (Hakob Melik-Hakobian), und deren Söhne. Mit diesen hatte er die Nersesian-Schule in Tiflis besucht. Später übersetzte Abeghian einige Werke Raffis ins Deutsche. Im Dezember 1904 promovierte er in Marburg an der Philosophischen Fakultät über das Thema „Vorfragen zur Entstehungsgeschichte der altarmenischen Bibelübersetzungen“. Ab Januar 1905 hielt sich Abeghian zur weiteren Ausbildung in Sankt Petersburg auf. In den Jahren 1905 bis 1919 war Tiflis Zentrum seines Wirkens. 1909 heiratete er die aus Lori stammende Natalia Israelyan, sie bekamen zwei Kinder, Vace und Ruzan. In Tiflis unterrichtete er an der Nersesian-Schule und der Hownanian-Mädchenschule die Fächer Armenisch, Deutsch, Religion und Geografie. Schon früh hatte Abeghians besonderes Interesse deutsch-armenischen Themen gegolten. Noch von Leipzig aus veröffentlichte er 1902 in der in Tiflis erscheinenden Zeitung Lumay einen Artikel zu „Friedrich Bodenstedt über Chatschatur Abowian“, d. h. über zwei Männer, die sich bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts um den deutsch-armenischen Kulturaustausch verdient gemacht hatten. Auch jetzt war er neben seiner Lehrtätigkeit in vielfältiger Weise schriftstellerisch tätig. Außerdem nahmen Übersetzungsarbeiten einen breiten Raum in seinem Schaffen ein. 1906 übersetzte er aus den Arbeiten Werner Sombarts zur sozialen Frage. Es war ein Versuch, dessen marxistisch beeinflusstes Gedankengut unter den Armeniern zu verbreiten. Abeghian publizierte auch eigene Werke mit politischen Themen, z. B. 1906 eine Schrift mit dem Titel Demokratische Wahlen. Es war seine Absicht, elementares Wissen über Demokratie und demokratische Wahlen zu verbreiten. Angesichts der gegenwärtigen Verhältnisse in Armenien hat dieses Werk auch bis heute nichts an Aktualität verloren. 1905 war Abeghian in die Partei Daschnakzutyun eingetreten, deren gemäßigter Anhänger er blieb. Abeghian nahm auch aktiv Anteil am politischen Leben Armeniens und wurde 1918 in der neugegründeten Republik Armenien Abgeordneter des Parlamentes. Vor allem arbeitete er als Berater bei juristischen Angelegenheiten. Zu den bedeutenden schriftstellerischen Arbeiten Abeghians gehören auch pädagogische Werke. In den Jahren 1907 bis 1914 publizierte er in Tiflis mehrere Werke geografischen Inhaltes, genannt seien u. a. Die Geographie Armeniens und Unterricht der Erdkunde – Eine Richtlinie für Lehrende. Sehr große Verbreitung fand auch seine Landkarte von Armenien, die 1914 ebenfalls in Tiflis erschien. Nicht zuletzt auf Grund seiner politischen Tätigkeit in der Republik Armenien war Abeghian nach der Sowjetisierung Armeniens gezwungen, seine Heimat zu verlassen und ins Exil zu gehen. Sein Weg führte ihn über Tiflis nach Istanbul. Dort unterrichtete er zwei Jahre an der Esayan-Schule und hielt Vorträge in der Getronagan-Schule. In Istanbul gab er auch eine Auswahl seiner Werke in westarmenischer Sprache neu heraus. Im Jahre 1922 wanderte er mit seiner Familie nach Deutschland aus, wo er in verschiedenen Städten, neben Berlin und
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Dresden, in Stuttgart, Rottweil, Tuttlingen und München, lebte und arbeitete. Nach einigen Jahren der Vorbereitung nahm er 1925 in Berlin eine akademische Laufbahn auf und unterrichtete ab 1925 am Seminar für Orientalische Sprachen an der Berliner Universität Armenisch. Die Professoren Josef Marquart und Martin Rade sowie Dr. Johannes Lepsius hatten sich beim preußischen Erziehungsministerium für die Einrichtung dieser Stelle eingesetzt. Von 1936 bis 1945 unterrichtete Abeghian auch an der Auslandshochschule der Berliner Universität. An der Arbeit der Deutsch-Armenischen Gesellschaft (DAG) nahm er aktiv teil und war mehrere Jahre deren stellvertretender Vorsitzender. Von 1934 bis 1944 gab er mit Paul Rohrbach die Zeitschrift der DAG unter dem Titel Armenien, Mitteilungsblatt der Deutsch-Armenischen Gesellschaft heraus. 1934 war Abeghian an der Herausgabe der in Potsdam erscheinenden Schrift Armeniertum – Ariertum – eine Sammelschrift der Deutsch-Armenischen Gesellschaft beteiligt. Angesichts des politischen Klimas in Deutschland war diese Schrift ein früher Versuch, Armenier vor Verfolgungen durch die Nationalsozialisten zu schützen. Daneben setzte Abeghian seine Übersetzungstätigkeiten fort. Er übertrug sowohl aus dem Armenischen ins Deutsche als auch umgekehrt. Nur wenige dieser Übersetzungen wurden in armenischen oder deutschen Zeitungen publiziert, die meisten blieben unveröffentlicht, z. B. eine Sammlung von vierzig armenischen Erzählungen. Diese Übersetzung ins Deutsche befindet sich in seinem Nachlass in Jerewan. Mitte der 1930er-Jahre veröffentlichte Abeghian in Berlin ein weiteres wichtiges Werk unter dem Titel Neuarmenische Grammatik, Ost und Westarmenisch, mit Lesestücken und einem Wörterverzeichnis, ein Lehrbuch der modernen armenischen Sprache. Im Sommer 1939 verbrachte er einen Forschungsaufenthalt am Universitätsarchiv im baltischen Dorpat. Aus diesen Forschungen gingen mehrere Arbeiten zu den akademischen Beziehungen zwischen Dorpat und Armenien hervor, z. B. Die armenischen Studenten von Dorpat, Wien 1941, oder Kerope Patkanian in Dorpat, Wien 1949. Auch aus dieser Phase blieben eine Reihe seiner Arbeiten, allein über Chatschatur Abowian, unveröffentlicht und befinden sich in seinem Nachlass. Anfang der 1940er-Jahre erschien in Berlin sein Buch Das armenische Volksepos. Sein Onkel, der Gelehrte Manuk Abeghian, hatte ihn schon im Jahr 1899 dazu angeregt. Während des Zweiten Weltkrieges zog Abeghian im Winter 1944/1945 nach Dresden und übersetzte dort einige Werke Goethes. Ab 1946 setzte er diese Übersetzungstätigkeiten in Süddeutschland, vor allem in Tuttlingen und in Stuttgart, fort. Er plante, Goethes Werke in sechs Bänden auf Armenisch herauszugeben. 1953 konnte in Kairo ein erster Band erscheinen. Die 1995 in Jerewan erschienene Ausgabe ist als zweiter Band der ursprünglich geplanten Reihe zu verstehen.
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Abeghians Bemühungen für die armenischen Kriegsgefangenen im Zweiten Weltkrieg müssen ganz besonders hervorgehoben werden. Unermüdlich setzte er sich in Berlin, Warschau, Wien, aber auch in vielen süddeutschen Städten, für die Belange der armenischen Kriegsgefangenen ein. Dieses Kapitel aus dem Leben Abeghians verdient noch einmal eine eigene ausführlichere Behandlung. Seit 1951 lebte er in München. Bis zu seinem Tode am 13. März 1955 unterrichtete er an der Philosophischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität Armenisch. Abeghian war ein unermüdlicher Vermittler zwischen Armenien und Deutschland, sein Lebenswerk ist für die deutsch-armenischen Beziehungen bis heute von großer Bedeutung.
Artasches Abeghians Korrespondenz mit Franz Werfel und dem Paul Zsolnay Verlag Als ständiger Mitarbeiter der in Boston erscheinenden Zeitung Hairenik meldete Abeghian sich am 25. Januar 1935 direkt bei Franz Werfel. Er stellte Werfel die Pläne der Zeitung zur Übersetzung und Veröffentlichung des Romans vor und ging auch auf die finanziellen Möglichkeiten des Verlags und das sich daraus für Werfel ergebende Honorar ein: Berlin-Charlottenburg, den 25. 1. 35 Dahlmannstr. 12 Dr. Artasches Abeghian am Seminar für Oriental. Sprachen a. d. Universität Berlin Orient-Schriftsteller. Mitglied des R.D.S. Nr. 9306 Früher in Tiflis, Eriwan und Konstantinopel Herrn Franz Werfel, p. Adr. Paul-Zsolnay-Verlag Wien IV, Prinz Eugen-Str. 30 Sehr verehrter Herr Werfel! Im Auftrag der in Boston/Amerika erscheinenden armenischen Tageszeitung „Hairenik“ (Vaterland) und als ihr ständiger Mitarbeiter gestatte ich mir hierdurch, Sie um ihre Erlaubnis für die Uebersetzung Ihres, auch armenischerseits so hoch geschätzten Romanes „Vierzig Tage des Mussa Dagh“ ergebenst zu bitten. Die Hairenik-Redaktion hat mich gebeten, dass ich selber die Uebersetzung ihres Armenier-Romans übernehme, wenn ich erst freilich ihre Bewilligung dazu habe. Sie gedenkt ihn zuerst als Feuilleton zu bringen, später aber auch in Buchform zu veröffentlichen.
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Die Redaktion ist leider nicht imstande, Sie entsprechend und in erwünschtem Masse zu honorieren, da es ja in Amerika verhältnismässig nicht viele Armenier gibt. Ausserdem ist nur ein Teil von ihnen überhaupt schriftkundig. Die dort geborene und erwachsene armenische Generation versteht und liest (leider) nur wenig Armenisch. Die Druckkosten des Buches in Amerika sind ebenfalls immer sehr gross. Dennoch ist die Redaktion gern bereit, sehr verehrter Herr Werfel, ihr Mögliches zu tun und ein bescheideneres Honorar für Sie zu bestimmen. Die Redaktion bittet Sie, (auch) berücksichtigen zu wollen, dass die armenische Uebersetzung Ihres Romans leider und erklärlicherweise nicht auch in Armenien selbst verbreitet werden kann. Sein armenischer Leserkreis wird also sehr klein sein und sich so gut wie gänzlich in der Diaspora und hauptsächlich in Amerika beschränken. Indem ich Sie, sehr geehrter Herr Werfel, um Ihre freundliche baldige und positive Antwort bitte und im Voraus meinen und der „Hairenik“-Redaktion herzlichsten Dank ausspreche, verbleibe ich mit vorzüglicher Hochachtung Ihr sehr ergebener A. Abeghian4
Franz Werfel leitete den Brief an den Paul Zsolnay Verlag weiter. Am 1. Februar 1935 nannte der Verlag die Honorarvorstellungen für die armenische Übersetzung mit der Vorgabe an Abeghian, dass dafür ein Vertrag mit der Zeitung Hairenik abgeschlossen werden sollte: Herrn Dr. Artasches Abeghian Berlin-Charlottenburg Dahlmannstrasse 12
Wien, 1. II. 1935
Sehr geehrter Herr Doktor! Franz Werfel übergibt uns ihr geschätztes Schreiben vom 25. I. Wir würden es ausserordentlich begrüssen, wenn eine armenische Ausgabe des Romanes „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ zustandekommen könnte. Wir denken an ein Honorar für den von ihnen geplanten Zeitungsabdruck in „Hairenik“ und für die armenische Buchausgabe von 1000 Dollar und bitten Sie, da wir nur mit einem Verlag bezw. einer Zeitung direkt abschliessen können, diese zwecks Vertragsabschluss an uns zu weisen. Ihre Rückäusserung gerne entgegensehend zeichnen wir in vorzüglicher Hochachtung5
4 Dokument 286/B951 im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek Wien. 5 Dokument 286/B951 im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek Wien.
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Wenige Tage später teilte Abeghian dem Paul Zsolnay Verlag mit, dass die Honorarvorstellungen des deutschen Verlags angesichts der Situation der Zeitung und der geplanten Auflagenhöhe der Buchausgabe nicht zu realisieren waren: Berlin-Charlottenburg den 9. 2. 35 Dahlmannstr. 12 Dr. Artasches Abeghian Dozent am Seminar für Oriental. Sprachen a. d. Universität Berlin Orient-Schriftsteller, Mitglied des R.D.S. Nr. 9306 Früher in Tiflis, Eriwan und Konstantinopel An den Verlag Paul Zsolnay Wien, IV Prinz Eugenstr. 30 Mit bestem Dank bestätige ich hiermit den Empfang Ihres w. Schreibens vom 1. d. Mts. Und danke Ihnen herzlichst für Ihre freundliche Zusage zur armenischen Ausgabe des Werfelschen Romans „Die vierzig Tage des Musa Dagh“. Ich muss Ihnen aber leider mitteilen, dass das Honorar, 1000 Dollar, das dafür erwartet wird, überhaupt nicht für eine auslandsarmenische Zeitung in Betracht kommen kann. Das Blatt „Hairenik“ hat, soweit ich unterrichtet bin, eine Auflage von kaum 2 bis 3000 Exemplaren (die anderen Zeitungen noch weniger), eine Buchauflage aber durchschnittlich nicht mehr als 1000 Exemplare, die nur im Laufe von mehreren Jahren bestenfalls ausverkauft wird. Die armenischen ZeitungsUnternehmungen besitzen keinen kaufmännischen Charakter, sie werden vielmehr von aufopfernden patriotischen Intellektuellen geleitet, die in der Regel selber grosse Entbehrungen erleiden müssen: Herausgeber, Mitarbeiter und alle übrigen. Sie werden nur selten und nur im winzigen Masse für ihre Arbeiten honoriert. Aus diesem Grunde möchte ich Sie ganz ergebenst bitten, in dieser Angelegenheit weitgehend entgegenkommen und einen für armenische Verhältnisse annehmbaren Vorschlag machen zu wollen, damit ich ihn auch weiter übermitteln kann. Nur auf diese Weise kann auch das Zustandekommen der Armenischen Ausgabe ermöglicht werden. Ihrem verständnisvollen Entgegenkommen und Ihrer freundlichen Rückäusserung gerne entgegensehend zeichne ich Hochachtungsvoll Dr. A. Abeghian6
Offensichtlich war der Paul Zsolnay Verlag bereit mit dem Honorar runterzugehen. Dies wurde auch Abeghian mit einem Schreiben vom 23. Februar 1935 mitgeteilt. Abeghian leitete den gesamten Vorgang an die Zeitung nach Boston weiter:
6 Dokument 286/B951 im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek Wien.
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Berlin-Charlottenburg den 26. 2. 35 Dahlmannstr. 12 Dr. Artasches Abeghian Dozent am Seminar für Oriental. Sprachen a. d. Universität Berlin Orient-Schriftsteller, Mitglied des R.D.S. Nr. 9306 Früher in Tiflis, Eriwan und Konstantinopel An Paul Zsolnay-Verlag, Wien, IV Prinz-Eugenstr. 30 Sehr geehrter Herr Paul Zsolnay! Mit bestem Dank bestätige ich hiermit den Empfang Ihres werten Schreibens vom 23. d. M. und teile Ihnen höflichst mit, dass ich davon und von Ihrem ersten Schreiben die Redaktion der armenischen Zeitung „Hairenik“ in Boston in Kenntnis setze. Sobald ich Antwort erhalte, werde ich mir gestatten, auf die uns interessierende Angelegenheit zurückzukommen. Mit vorzüglicher Hochachtung Dr. A. Abeghian7
Inzwischen tauchten aber weitere Probleme auf, die die Übersetzung verzögerten. In Bulgarien hatten die Armenier in Sofia ohne die Genehmigung des Paul Zsolnay Verlages mit der Übersetzung des Romans ins Armenische angefangen. Davon hatte vor allem Artasches Abeghian Kenntnis erhalten. Er informierte mit einem Brief von 11. April 1935 den Paul Zsolnay Verlag darüber. Inzwischen war ein Vertrag für die Übersetzungsrechte zwischen dem Paul Zsolnay Verlag und der armenischen Zeitung Hairenik in Boston ausgearbeitet worden, der am 15. April 1935 an Artasches Abeghian geschickt wurde. 500 Dollar waren als Honorar für den Verlag vereinbart. Darüber hinaus wurde auch darauf verwiesen, dass der Verlag Masis in Sofia für die Übersetzung über keinerlei Autorisierung verfügt: Paul Zsolnay Verlag Aktiengesellschaft Wien IV. Prinz Eugenstrasse 50 An den Verlag „Hairenik“ Boston
7 Dokument 286/B951 im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek Wien.
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Auf Grund der zwischen uns geführten Verhandlungen geben wir Ihnen die Autorisation zur Herstellung einer Übersetzung und Veranstaltung einer Buchausgabe des Werkes „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ von Franz Werfel in armenischer Sprache unter nachfolgenden Bedingungen: 1) Als Honorar erhalten wir resp. der Autor einen einmaligen Betrag von 500 Dollar, wofür es Ihnen freisteht, das genannte Werk in armenischer Buchausgabe oder als Fortsetzungsroman in Ihrer Zeitung zu veröffentlichen. 2)
Als Vorauszahlung erhalten wir resp. der Autor den Betrag von 500 Dollar, der bis 15. Mai 1935 fällig ist.
3)
Die Erstauflage des in Rede stehenden Werkes beträgt mindestens 1000 Exemplare.
4) Die in Rede stehende Übersetzung erscheint spätestens innerhalb Jahresfrist. Sollte dieser Erscheinungstermin nicht eingehalten werden, fallen alle Rechte an uns resp. den Autor zurück, unbeschadet der bereits bezahlten Beträge. 5)
Sobald die erste Auflage vergriffen ist, haben Sie die Verpflichtung, sogleich eine neue Auflage zu veranstalten, widrigenfalls alle Rechte an dem in Rede stehenden Werk an uns resp. den Autor zurückfallen. Die Bestimmung dieses Punktes gilt für alle Auflagen der in Rede stehenden Übersetzung.
6) [Text im Vertrag gestrichen, Anm. d. Verf.] Die Abrechnung über den Verkauf erfolgt jedes Jahr mit den Stichtagen 31. März und 30. September und ist uns samt dem sich eventuell zu unseren Gunsten ergebenden Guthabensaldo spätestens zwei Monate nach diesen Terminen zu übersenden. Die Verpflichtung zur Rechnungslegung besteht auch dann, wenn die ganze Auflage vorausbezahlt sein sollte. 7)
Sie verpflichten sich, die Übersetzung einem qualifizierten Übersetzer zu übertragen und dafür zu sorgen, daß sie allen Ansprüchen genügen wird.
8) [Text im Vertrag gestrichen, Anm. d. Verf.] Sollten sich ....................... Zeitungen oder Zeitschriften für den Abdruck des in Rede stehenden Werkes interessieren, sind Sie verpflichtet, zu jedem Abdruck unsere Zustimmung einzuholen. Von den sich ergebenden Honoraren erhalten wir resp. der Autor ..................... 9) Von jeder Auflage des in Rede stehenden Werkes erhalten wir resp. der Autor jeweils bei Erscheinen je 5 gebundene und 5 broschierte Freiexemplare. 10) Sollten Sie beabsichtigen, eine billige Volksausgabe des in Rede stehenden Werkes zu veranstalten, so ist dazu unbedingt unsere Zustimmung einzuholen. 11) [Text im Vertrag gestrichen, Anm. d. Verf.] Wenn die sich aus diesem Vertrag ergebenden Zahlungen und Abrechnungen nicht pünktlich bei uns eintreffen sollten, sind wir bereit, Ihnen jeweils eine Nachfrist von 14 Tagen einzuräumen. Sollten wir die ausstehenden Beiträge resp. Abrechnungen innerhalb dieser Frist nicht erhalten, gilt dieser Vertrag unbeschadet aller bereits bezahlten Beträge als erloschen und sämtliche Rechte fallen an uns resp. den Autor zurück. 12) Für den Fall eines Rechtsstreites aus diesem Rechtsverhältnis ist der Gerichtsstand Wien.
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13) Dieser Vertrag tritt erst dann in Gültigkeit, wenn wir bis zum 15. Mai 1935 im Besitz des Betrages von 500 Dollar sind. Hochachtungsvoll Wien, den 15. April 19358
Im Juni 1935 bat Artasches Abeghian den Paul Zsolnay Verlag, der Zeitungsredaktion Hairenik die ausschließlichen Übersetzungsrechte zu übertragen, da man über die Nachrichten von konkurrierenden Übersetzungen beunruhigt sei.
Wien, den 15. April 1935
Berlin-Charlottenburg den 25. 6. 35 Dahlmannstr. 12
Dr. Artasches Abeghian Dozent am Seminar für Oriental. Sprachen a. d. Universität Berlin Orient-Schriftsteller, Mitglied des R.D.S. Nr. 9306 Früher in Tiflis, Eriwan und Konstantinopel An den Paul Zsolnay Verlag Wien IV Prinz Eugenstr. 30 Die Redaktion Hairenik-Boston sagte mir, dass sie gerne den Vertrag unterzeichnen und die armenische Übersetzung des „Musa Dagh“ herausgeben wird, wenn sie nur sicher [Unterstreichungen im Original, Anm. d. Verf.] sein kann, dass sie die einzige sein wird. Sie will also die Bürgschaft haben, dass etwaige Versuche von anderen und insbesondere der von Bulgarien unterbunden wird. Ich hörte neuerlich, dass auch von einem anderen armenischen Buchhändler in New-York ein ähnlicher Schritt getan worden ist. Meiner Meinung nach genügte es, wenn im Namen von Herrn F. Werfel in ein paar armenischen Zeitungen des Auslandes eine Anzeige oder eine Notiz veröffentlicht würde, dass das einzige und autorisierte Übersetzungsrecht der Redaktion Hairenik gegeben wird, dann würde auch kein anderer Armenier, so nehme ich an, sich gestatten, eine unerlaubte Ausgabe zu unternehmen. Solange diese Versicherung nicht vorhanden ist, kann auch die Hairenik-Redaktion unmöglich eine Verpflichtung übernehmen. Mit vorzüglicher Hochachtung. Dr. A Abeghian9
8 Dokument 286/B952 im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek Wien. 9 Dokument 286/B953 im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek Wien.
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Allerdings konnten sich beiden Parteien bis November 1935 nicht endgültig einigen. Soweit bekannt ist, hat Abeghian das Buch selbst nie übersetzt. Inzwischen hatte E. D. Andreasyan 1935 in Sofia tatsächlich die erste armenische Übersetzung des Romans angefertigt. Sie erschien in der Reihe „Masis“ als 11. Band ohne Autorisierung durch die Inhaber der Rechte an dem Roman. Մուսա լեռան քառասուն օրը: Հայկական հերոսապատում: Հայկական հերոսապատում: Բախտորոշ դիւցազներգութիւն կռիւով, հերոսութեամբ, սիրով եվ յաղթանակով զեղուն: Թարգմ. Ե. Տ. Անդրեասեան, հտ. 1-2, Սոֆիա, 1935, Մատենաշար ,,Մասիս,, թիվ 11, Հտ. 1, 466 էջ, հտ. 2, 489 էջ: Im folgenden Jahr, 1936, musste der Paul Zsolnay Verlag juristische Schritte gegen den armenischen Verlag Masis in Sofia unternehmen. Am 24. Juli 1936 wurde der Rechtsanwalt Dr. Klein eingeschaltet. Am 20 November 1937 wurde auch der armenische Geistliche in Wien, Jegische Utudjan, vom Verlag Paul Zsolnay darüber informiert, dass rechtliche Schritte gegen den Verlag Masis in Sofia eingeleitet worden waren.10 Nicht nur in den Ländern des Balkans, sondern auch in einigen Ländern des Nahen Ostens hatten Überlebende des Genozids seit den 1920er-Jahren eine neue Heimat gefunden. Im Libanon hatten die Armenier in Beirut neben neuen Kirchen, Schulen und Zeitungen auch Verlagshäuser gegründet. Die Aztag war eine solche Zeitung mit einem eigenen Verlagshaus. Die Redaktion von Aztag verlegte in Beirut 1940 eine eigene Ausgabe der Übersetzung, die Andreasyan in Sofia angefertigt hatte. Մուսա լեռան քառասուն օրը: Հայկական հերոսապատում: Բախտորոշ դիւցազներգութիւն կռիւով, հերոսութեամբ, սիրով եվ յաղթանակով զեղուն: Թարգմ. Ե. Տ. Անդրեասեան, Պէյրութ, 1940, Մատենաշար Ազդակի, թիվ 54, Հտ. Առաջին, 703 էջ: Diese Ausgabe aus Beirut von 1940 wurde nach dem Zweiten Weltkrieg 1949/1950 in Beirut bei demselben Verlag Aztag in der „zweiten“ Auflage herausgebracht. Վերֆել Ֆ.: Հայկական հերոսապատում: Մուսա լեռան քառասուն օրերը: Բախտորոշ դյութազներգություն կռվով, հերոսությամբ, սիրով և հաղ թանակով զեղուն, գրված 1933. Թարգմ. 1935 Անդրեասեան, Բեյրութ, 1949– 1950. In Antilias bei Beirut erschien darüber hinaus in den Jahren 1984 und 1985 eine weitere armenische Übersetzung. Sie wurde von P. Papazyan angefertigt und der Katholikos des Großen Hauses von Kilikien, Karekin II. steuerte für die Ausgabe eine Einleitung bei.
10 Dokument 286/B953 im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek Wien.
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Մուսա տաղի քառասուն օրերը: Թարգմ. տոքթ. Բ. Փափազեան: Առա ջաբան` Գարեգին Բ. Կաթողիկոս: Անթիլիաս, 1984–1985, Հտ. 1, Գիրք Ա., Մոտ ալուտ դեպքեր. 1984, 269 էջ, հտ. 2, Գիրք Բ, Տկարներուն կռիվը, 1984. In Armenien selber, d. h. in Sowjetarmenien, erschien die erste Übersetzung 1964. Մուսա լեռան քառասուն օրը: Գերմ. թարգմ. Պ. Միքայելյան, Առաջաբան` Էդ. Թոփչյան, Երևան, 1964. Zwei weitere Ausgaben erschienen 1987 in Jerevan. Վերֆել Ֆ.: Մուսա լեռան քառասուն օրը: Առաջաբան մ. Դուդին, Երևան, 1987 und Վերֆել Ֆ.: Մուսա լեռան քառասուն օրը, Վեպ: Երևան, Լույս, 1987. Schließlich erschien auch 1990 noch eine armenische Ausgaben in Jerevan. Մուսա լեռան քառասուն օրը: Գերմ. թարգմ. Պ. Միքայելյան: Առաջաբան Մ. Դուդին: Երևան, 1990 und h 2010 eine Ausgabe in Beirut. Մուսա լեռան քառասուն օրը: Գերմ. թարգմ.` Պ. Միքայելյան, խմբ. Պ. Անապեան. Պեյրութ, 2010, 892 էջ, Հայպետհրատ, 1964. Alle diese zuletzt genannten Ausgaben beruhen auf der Übersetzung von Parujr Mikayelyan von 1964. Mikayelyan hatte diese Übersetzung im Vorfeld des Gedenkens an den Genozids vor 50 Jahren, 1965, vorbereitet. Nach dem Tode Stalins Mitte der 1950er-Jahre hatte in Sowjetarmenien eine öffentliche Auseinandersetzung mit dem Genozid an den Armeniern begonnen. Der Bau und die Öffnung der Gedenkstätte „Ziternakaberd“ im Jahre 1965/1966 kann als Ergebnis dieser Auseinandersetzung betrachtet werden und als ein sehr deutliches Zeichen in Sowjetarmenien. 1995 wurde an der Gedenkwand eine Gedenktafel für Franz Werfel enthüllt.
Zwischen Erscheinen, Übersetzungen, Verboten, Verbrennungen und Verfilmungen Werfels Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh wurde kurz nach seinem Erscheinen nicht nur in viele andere Sprachen übersetzt, es erfolgten auch das rasche Verbot seiner Verbreitung sowie seine Verbrennung in Deutschland. Im Hintergrund stand die Intervention der Türkei. In der Türkei wurde das Buch am 15. Dezember 1935 in Istanbul verbrannt. Die Türkei trat in den Jahren 1934 und 1935 auch erfolgreich für ein Verbot der englischen Übersetzung sowie der Verfilmung der Romanvorlage in den USA ein. Die Einzelheiten dieser Vorgänge wurden 1998 von Rıfat N. Bali in der Zeitschrift Tarih ve Toplum veröffentlicht.11 Viel ausführ11 Bali, Rıfat: Musa Dağ’da Kırk Gün’ün Hikayesi. In: Tarih ve Toplum, Februar 1998, Bd. 29, H. 170, S. 21–33.
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licher aber sind diese Vorgänge von Edward Minasian in seiner umfangreichen Studie beschrieben worden.12 Seit März 1933 wurden in zahlreichen Städten in Deutschland Bücher verbrannt. Bereits am 25. Dezember 1933 hatten die Türken erste Reaktionen in der Türkei auf den Roman gezeigt. Anfang Februar 1934 hatten sie nun auch in Berlin mit Erfolg interveniert. Am 5. Februar 1934 wurde das Verbot für Werfels Roman ausgesprochen sowie am 7. Februar im Deutschen Kriminalpolizeiblatt und am 10. Februar 1934 im Börsenblatt bekanntgemacht. Seit Februar 1934 war Franz Werfels Roman Musa Dagh gut 90 Tage nach seinem Erscheinen in Deutschland verboten worden. Zwar wurde als formaler Grund der berüchtigte Paragraf 7 der Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze des Deutschen Volkes vom 4. 2. 1933 angegeben. Auf der Grundlage dieses Paragrafen konnten die öffentliche Sicherheit oder Ordnung gefährdende Druckschriften polizeilich beschlagnahmt und eingezogen werden. Durch außenpolitische Interessen bewegt, kam Deutschland dem Wunsch seines alten Verbündeten Türkei nach. Zur Interventionsgeschichte selber sollen nun an dieser Stelle einige Einzelheiten in der gebotenen Kürze geschildert werden. Bereits am 25./26. Dezember 1933 gab es die ersten türkischen Reaktionen auf den Roman. In der Zeitung Hakimiyeti Milliye schrieb Falih Rıfkı Atay13 und brachte zunächst seine Verwunderung darüber zum Ausdruck, dass es einer Persönlichkeit, die in der osmanischen Armee tätig gewesen war, erlaubt sein sollte, solch einen Roman in Deutschland erscheinen zu lassen. Mit genannter Persönlichkeit war der Reichskanzler Franz von Papen gemeint. Er hatte während des Ersten Weltkrieges in der osmanischen Armee als Generalstabschef gedient. Atay selbst war auch als türkischer Offizier während des Ersten Weltkrieges tätig gewesen. Nach seiner Abdankung als Reichskanzler war Franz von Papen in den Jahren 1934 bis 1938 zunächst in Wien und anschließend von 1939 bis 1944 in Ankara als Botschafter im diplomatischen Dienst. Schon im Januar und Februar 1934 fühlte man sich in der Türkei im eigenen Kurs bestätigt. Die Intervention war „erfolgreich“ gewesen. Die Türkei versuchte danach, auch in den USA zu intervenieren. Am 11. Juni 1930 war in New York die Organisation „American Friends of Turkey“ (Amerikanische Freunde der Türkei)
12 Minasian, Edward: Musa Dagh: A chronicle of the Armenian Genocide factor in the subsequent suppression, by the intervention of the United States government of the movie based on Franz Werfel’s The Forty Days of Musa Dagh, Nashville 2007. 13 Falih Rıfkı Atay (1894–1971) war ein türkischer Journalist und Schriftsteller. Während des Ersten Weltkrieges nahm er als Offizier in Syrien und Palästina am Krieg teil. Später wurde er Abgeordnete des türkischen Parlaments in Ankara. Vgl. auch. Jungk, Peter Stephan: Franz Werfel. Eine Lebensgeschichte, Frankfurt a. M. 1992, S. 215–216.
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gegründet worden. Die Gründung ging auf die Initiative von türkischen Studenten in den USA zurück. Die Vereinsmitglieder sollten für freundschaftliche Beziehungen zwischen beiden Ländern sorgen. Darüber hinaus sollte die Bekanntheit der Türkei in den USA vorangetrieben werden. Das wichtigste Ziel war es, in den USA das negative Bild von der Türkei, das in den 1920er- und 1930er-Jahren durch die armenischen und griechischen Auswanderer entstanden war, revidieren. Die Übersetzung des Romans von Franz Werfel ins Englische bestätigte das negative Bild und trug zusätzlich dazu bei, dass die Türkei in der amerikanischen Gesellschaft in negativem Licht erschien. Als es im Laufe des Jahres 1934 darum ging, den Roman zu verfilmen, schalteten sich die Mitglieder des Vereins in Zusammenarbeit mit dem türkischen Botschafter ein in den Protest gegen die Filmproduktionsfirma Paramount. Außerdem wurde der Botschafter der Türkei, Mehmet Münir Erlegün, beim Außenministerium der USA, Abteilung Naher Osten, vorstellig und setzte sich dafür ein, dass die Verfilmung nicht gestattet werden sollte. Er argumentierte, dass durch die Verbreitung eines solchen Films die antitürkischen Gefühle in den USA gestärkt würden. Das amerikanische Außenministerium fragte am 19. November bei Paramount zu dem Vorhaben nach. Die Filmfirma Paramount teilte am 20. November 1934 dem Außenministerium mit, dass es in dem Film um das private Leben von Gabriel Bagradian und seine Beziehung zu einer Französin gehe und nicht um die armenischen Ereignisse von 1915. Der Filmfirma versicherte, dass eine künftige Verfilmung keine antitürkischen Passagen beinhalten werde. Das amerikanische Außenministerium gab die Stellungnahme Paramounts an die türkische Botschaft weiter. Der damalige Außenminister der Türkei, Tevfik Rüştü Aras, intervenierte auch vor Ort in Ankara beim amerikanischen Botschafter. Die Amerikaner in Ankara rieten den Türken davon ab, auf dem Verbot der Verfilmung zu insistieren mit der Begründung, dass dies für den Film eher als Werbung dienen könnte. Am 29. Mai 1935 wurden die ersten Meldungen über die Verfilmung des Romans in der türkischen Presse verbreitet. Nihat Ferit, ein türkischer Student aus USA, berichtete, dass die Verfilmung des Romans nach wie vor aktuell sei und die Amerikaner alles glaubten, was Werfel in dem Roman über die Türken sagten. Nun drohte die Türkei alle Filme der Firma Metro Goldwyn Mayer (MGM) zu verbieten. Der türkische Botschafter besuchte die Firma MGM und teilte diese Drohung dem stellvertretenden Firmenleiter J. Robert Rubin mit.14
14 Bali, Musa Dağ’da, S. 88.
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Ab Herbst 1935 eskalierte die Haltung in der Türkei selber. Franz Werfel sei ein Jude und die Inhaber der Firma MGM seien ebenfalls amerikanische Juden, und damit sei das Filmprojekt ein jüdisch-armenisches Komplott gegen die Türkei. Am 3. September 1935 wurden die in der Türkei lebenden Juden aufgefordert, sich bei der MGM dafür einzusetzen, dass Werfels Roman nicht verfilmt wird.15 Darüber hinaus wurde geplant, dass die Türkei mit allen Nachbarländern einen Vertrag abschließt, die sich bereit erklärten, den Film im Falle der Verfilmung nicht auszustrahlen. In verschiedenen türkischen Zeitungen gab es öffentliche Ermahnungen, ja Drohungen gegen Juden und Armenier in der Türkei. Die armenischen Bürger der Türkei wurden durch Journalisten öffentlich unter Druck gesetzt. Am 5. Dezember und am 12. Dezember forderte Yunus Nadi Abalioğlu in der Tageszeitung Cumhuriyet Armenier und Juden in der Türkei auf, Schritte gegen die Verfilmung des Romans zu unternehmen.16 Der Herausgeber der Zeitung Le Journal d’Orient, Albert Karasu, nahm am 13. Dezember 1935 dazu Stellung. Franz Werfel sei kein Jude. Selbst wenn er Jude wäre, seien die jüdischen Bürger der Türkei für die Fehler von einem ihrer Religionsangehörigen nicht mitverantwortlich. Die Juden in der Türkei seien loyale Bürger des Landes.17 Am 14. Dezember 1935 versammelten sich die Vertreter der armenischen Gemeinden in Istanbul, um gegen die Verfilmung des Romans zu protestieren. Wegen mangelnder Beteiligung wurde die Versammlung auf den 15. Dezember verschoben. An diesem Tag versammelten sich die Vertreter der armenischen Gemeinde um 10.30 Uhr im Istanbuler Stadtteil Beyoglu und verfassten ein Protestschreiben. 18 Noch am selben Tag, eine halbe Stunde später gegen 11.00 Uhr versammelten sich einige Armenier im Stadtteil Pangalti auf dem dortigen armenischen Friedhof. Auf einem Podest wurden ein Bild von Franz Werfel sowie sein Roman (englische Fassung) aufgestellt. Asot Kecyan, der armenische Korrespondent der Zeitungen Azatarar und Norlur, zündete Werfels Bild und Buch an. Währenddessen wurde die türkische Nationalhymne gesungen. Anschließend hielt einer der armenischen Kirchenvorsteher, Aram Aslan, eine Ansprache mit folgendem Inhalt: „Wir Armenier leben in dem von Atatürk gegründeten Paradies geschwisterlich. Wir zeigen der Welt, dass ein Attentat [Suikast, Anm. d. Verf.] wie das, das von Franz Werfel gegenüber unserem Land
15 Bali, Musa Dağ’da, S. 89. 16 Cumhuriyet 12. Dezember 1935, S. 5. 17 Le Journal D’Orient, 13. Dezember 1935. 18 Bali, Musa Dağ’da, S. 94.
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ausgeübt wurde, mit dem Tod erwidert werden muss. Verflucht seien alle die, die gegen das Türkentum reden und handeln.“19 Werfel schrieb aus Santa Margherita an seine Schwiegermutter Anna Moll: Ich stehe gewissermaßen in den sogenannten besten Jahren nach pausenloser Arbeit auf den Ruinen meiner selbst […]. In Deutschland werde ich aus dem Buch und aus den Büchern der Lebendigen gestrichen und da ich doch schließlich ein deutscher Autor bin, hänge ich im leeren Weltraum.20
19 Bali, Musa Dağ’da, S. 94f. 20 Jungk, Peter Stephan: Franz Werfel. Eine Lebensgeschichte, S. 216.
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Über die Autorinnen und Autoren
Über die Autorinnen und Autoren
Prof. Dr. Hacik Gazer ist Professor für Geschichte und Theologie des Christlichen Ostens an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Er studierte Evangelischen Theologie, Orthodoxe Theologie sowie Altarmenisch in Bethel, München und Tübingen. Zwischen 1994 und 1999 führten ihn Forschungsaufenthalte nach Beirut, Jerewan, Istanbul, Paris und Wien. Wichtige Publikationen sind: Die Reformbewegungen in der Armenisch-Apostolischen Kirche im ausgehenden 19. und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, Göttingen 1996; Die armenische Kirche in Sowjetarmenien zwischen den Weltkriegen: Anatomie einer Vernichtung, Münster 2001; Sultane, Patriarchen und Missionare am Bosporus. Zum Forschungsprogramm einer ökumenischen Kirchengeschichte in interreligiösem Kontext auf der Grenze zwischen Europa und Asien seit 1453, in: Tamcke, Martin (Hrsg.): Koexistenz und Konfrontation Beiträge zur jüngeren Geschichte und Gegenwartslage der orientalischen Christen, Münster 2003, S. 1–34. Dr. Rolf Hosfeld, Historiker und freier Schriftsteller, ist wissenschaftlicher Leiter des Lepsiushauses Potsdam. Er studierte Germanistik, Politikwissenschaft, Neuere Geschichte und Philosophie, lehrte an der Freien Universität Berlin und war Feuilletonchef der Wochenzeitung „Die Woche“ und Chefredakteur der Buchreihe „Kulturverführer“, sowie Film- und Fernsehproduzent und Regisseur. Hosfeld erhielt 2010 den Preis „Das politische Buch“ der Friedrich-Ebert-Stiftung. Zahlreiche Publikationen zu zeit- und kulturgeschichtlichen Themen, insbesondere des 19. und 20. Jahrhunderts, darunter: Die Welt als Füllhorn: Heine, Berlin 1984; Operation Nemesis: Die Türkei, Deutschland und der Völkermord an den Armeniern, Köln 2005; Die Deutschen 1815 bis heute (4 Bände plus 12 DVDs von Hermann Pölking), München 2006f.; Die Geister, die er rief: Eine neue Karl-Marx-Biografie, München 2009; Tucholsky. Ein Deutsches Leben, München 2012; Johannes Lepsius – Eine deutsche Ausnahme. Der Völkermord an den Armeniern, Humanitarismus und Menschenrechte (Hrsg.), Göttingen 2013; Heinrich Heine. Die Erfindung des europäischen Intellektuellen, München 2014. Peter Stephan Jungk ist ein österreichisch-US-amerikanischer deutschsprachiger Schriftsteller. Er wuchs in Berlin und Wien auf und studierte am „American Film Institute“ in Los Angeles. 1973 Regieassistent am Theater Basel, 1977 Regieassistent von Peter Handke. 2011 Gastprofessor für Deutsche Gegenwartsliteratur an der Washington University in St. Louis; 2012 Gastprofessor an der Universität Salzburg. Jungk ist Verfasser von Romanen, Essays und Drehbüchern, u. a. Franz Werfel: Eine Lebensgeschichte, Frankfurt a. M. 1987; Die Unruhe der Stella Federspiel, München 1996; Die Reise über den Hudson, Stuttgart 2005; Das elektrische Herz, Wien 2011. Dr. Raffi Kantian ist Publizist, Autor und Übersetzer. Unter anderem übersetzte er Gottfried Benn, Franz Kafka und T. S. Eliot ins Armenische. Seit 1999 Vorsitzender der Deutsch-Armenischen Gesellschaft. Herausgeber mehrerer Bücher über Armenien: Phönix aus der Asche. Armenien 80 Jahre nach dem Genozid, Frankfurt a. M. 1996; Armenien. Geschichte und Gegenwart in schwierigem Umfeld, Frankfurt a. M. 1999; Dort das ferne Europa. Zeitgenössische Dichtung aus Armenien, Jerewan 2006; 100 Jahre Deutsch-Armenische Gesellschaft – Erinnern. Gedenken. Gestalten, Frankfurt a. M. 2014.
Über die Autorinnen und Autoren
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Roy Knocke, M.A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Lepsiushaus Potsdam und Lehrbeauftragter am Institut für Jüdische Studien der Universität Potsdam. Er studierte Philosophie und Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin und schloss mit einer Magisterarbeit über soziale Dimensionen von Prozessmetaphysiken ab. Seine gegenwärtigen Forschungsinteressen sind Sozialphilosophie, „Genocide Studies“, Theorien der Gewalt und Politische Philosophie. Seit 2012 arbeitet er an seiner Dissertation zum Thema „Gebrochene Kollektive. Philosophie, Genozid und Identität.“ Dr. Olga Koller, ist leitende Mitarbeiterin am Theresianum in Wien. Sie studierte Deutsche Philologie und katholische Theologie in Wien und promovierte 2009 mit einer Arbeit über religiöse Themen im Werk Franz Werfels. Prof. Dr. Andreas Meier ist apl. Professor für Neuere Deutsche Literaturgeschichte an der Bergischen Universität Wuppertal. 1988 Promotion mit einer Arbeit über Faustlibretti und danach Forschungsaufenthalte an der Yale University, sowie im Goethe-Schiller-Archiv und der HerzoginAnna-Amalia-Bibliothek in Weimar. Gründung und Leitung der Else-Lasker-Schüler-Arbeitsstelle an der Universität Wuppertal. Wichtige Veröffentlichungen sind: Faustlibretti – Geschichte des Fauststoffs auf der europäischen Musikbühne, Frankfurt a. M. 1990; Der Brief in Klassik und Romantik – Aktuelle Probleme der Briefedition (Hrsg.), Würzburg 1993; Jakob Michael Reinhold Lenz – Zwischen Sturm und Drang und Klassischer Moderne (Hrsg.), Heidelberg 2001; Christian August Vulpius. Eine Korrespondenz zur Kulturgeschichte der Goethezeit, 2 Bde., Berlin 2003; Armin T. Wegner. Die Austreibung des armenischen Volkes in die Wüste. Ein Lichtbildvortrag (Hrsg.), Göttingen 2011. Dr. Ulrike Schneider ist akademische Mitarbeiterin an der Universität Potsdam, Funktionsstelle deutsch-jüdische Literatur- und Kulturgeschichte. Sie studierte Germanistik und Jüdische Studien an der Universität Potsdam und war 2005 freie Mitarbeiterin der Stiftung Topographie des Terrors. 2011–2012 Projektleitung des von der EU geförderten internationalen Projektes „Jewish Histories in Europe“. Seit 2013 ist sie Redaktionsmitglied der Zeitschrift „Argonautenschiff“ der Anna-Seghers-Gesellschaft. Schneider hat insbesondere Publikationen zur deutsch-jüdische Literaturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts vorgelegt: Die Erinnerungsfigur des Exodus als literarisches Mittel einer zeitgeschichtlichen jüdischen Geschichtsschreibung, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, H. 3 (2006), S. 243–262; Makom. Orte und Räume im Judentum (Mitherausgeberin), Hildesheim 2007; Jean Améry und Fred Wander. Erinnerung und Poetologie in der deutsch-deutschen Nachkriegszeit, Berlin 2012; Versöhnung als Konzept der Verdrängung? Die Darstellung von jüdischen Protagonisten in der frühen (west-)deutschen Nachkriegsliteratur, in: Bilder des Jüdischen. Selbst- und Fremdzuschreibungen im 20. und 21. Jahrhundert, hrsg. von Juliane Sucker und Lea Wohl von Haselberg, Berlin 2013, S. 305–328. Prof. Dr. Frank Stern ist Professor für visuelle Zeit- und Kulturgeschichte an der Universität Wien. Er studierte Germanistik, allgemeine und jüdische Geschichte, politische Wissenschaft, englische und amerikanische Literatur an der Freien Universität Berlin und der Hebräischen Universität in Jerusalem. 1989 Promotion mit einer Arbeit über Antisemitismus und Philosemitismus in der Nachkriegszeit. Zahlreiche Forschungsaufenthalte und Gastprofessuren u. a. in Berlin, Tel Aviv, Innsbruck, Mainz, Bochum, Oldenburg, der Columbia University, Indiana University, Georgetown University. Wichtige Veröffentlichungen: Im Anfang war Auschwitz. Antisemitismus und Philosemitismus im deutschen Nachkrieg, Gerlingen 1991; Dann bin ich um den Schlaf gebracht. Ein
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Über die Autorinnen und Autoren
Jahrtausend jüdisch-deutsche Kulturgeschichte, Berlin 2002; Die deutsch-jüdische Erfahrung. Beiträge zum kulturellen Dialog (Hrsg.), Berlin 2003; Filmische Gedächtnisse. Geschichte – Archiv – Riss (Hrsg.), Wien 2007. Prof. Dr. Martin Tamcke ist Professor für Ökumenische Theologie unter besonderer Berücksichtigung der orientalischen Kirchen- und Missionsgeschichte an der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität zu Göttingen. Er studierte evangelische Theologie, Philosophie und Orientalistik in Göttingen. Von 1984 bis 1999 war er Pfarrer der evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannover in Uelzen. 1985 Promotion in Marburg mit einer Arbeit über Armin T. Wegner. Zahlreiche Veröffentlichungen: Armin T. Wegner und die Armenier, Anspruch und Wirklichkeit eines Augenzeugen, Göttingen 1993; Orientalische Christen zwischen Repression und Migration, Beiträge zur jüngeren Geschichte und Gegenwartslage, Hamburg 2001; Das orthodoxe Christentum, München 2004; „Dich, Ararat, vergesse ich nie!“, Neue Beiträge zum Schicksal Armeniens und der Armenier, Berlin 2006; Tolstojs Religion. Eine spirituelle Biographie, Berlin 2010. Dr. Werner Treß ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Moses Mendelssohn Zentrums für europäisch-jüdische Studien in Potsdam und wissenschaftlicher Mitarbeiter (PostDoc) am Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg sowie dem Institut für Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er studierte Geschichte und Philosophie an der Freien Universität und an der Humboldt-Universität zu Berlin. Treß hat insbesondere Publikationen zur jüdischen Geschichte und Kulturgeschichte vorgelegt: „Wider den undeutschen Geist“. Bücherverbrennung 1933, Berlin 2003; Orte der Bücherverbrennungen in Deutschland 1933 (Hrsg.), Hildesheim 2008; Verbrannte Bücher 1933. Mit Feuer gegen die Freiheit des Geistes (Hrsg.), Bonn 2009; „… und handle mit Vernunft! Beiträge zur europäisch-jüdischen Beziehungsgeschichte (Hrsg.), Hildesheim 2012; Der Tag von Potsdam. Der 21. März 1933 und die Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur (Hrsg.), Berlin 2013. Prof. em. Dr. Hans Dieter Zimmermann ist Professor emeritus für Literaturwissenschaft an der Technischen Universität Berlin. Er studierte Literaturwissenschaft, Geschichte und Philosophie in Mainz und Berlin. 1968 Promotion bei Walter Höllerer mit einer Arbeit zur politischen Rhetorik. 1975–1987 Professor für neuere deutsche Literatur an der Goethe-Universität Frankfurt a. M. Gastprofessuren in Jerusalem und Rom. 1999–2007 Geschäftsführender Herausgeber der Tschechischen Bibliothek in deutscher Sprache in 33 Bänden. Zahlreiche Veröffentlichungen: Die politische Rede. Zum Sprachgebrauch Bonner Politiker, Stuttgart 1969; Vom Nutzen der Literatur. Vorbereitende Bemerkungen zur literarischen Kommunikation, Frankfurt a. M. 1977; Der babylonische Dolmetscher. Zu Franz Kafka und Robert Walser, Frankfurt a. M. 1985; Kafka und das Judentum (Hrsg.), Frankfurt a. M. 1987; Berlin und der Prager Kreis, Würzburg 1991; Heinrich von Kleist. Eine Biographie, Reinbek 1992; Literaturbetrieb Ost/West. Die Spaltung der deutschen Literatur von 1948 bis 1998, Stuttgart 2000.
Personenregister
Personenregister
Abalıoğlu, Yunus Nadi 164 Abeghian, Artasches 151, 152, 153, 154, 155, 156, 157, 158, 160 Abeghian, Manuk 153 Abowian, Chatschatur 152, 153 Adler, Franz 4, 120, 121, 122, 123 Adler, Hans Günther (auch H.G.) 26, 27 Adorno, Theodor W. 44 Alejchem, Scholem 26 Aslan, Aram 164 Altenberg, Peter 10 Andreasian, Dikran 77, 78, 79, 80, 94 Apollon 50 Aras, Tevfik Rüştü 163 Atay, Falih Rıfkı 134, 162 Ausländer, Rose 25 Baermann-Steiner, Franz 27 Bagradian, Gabriel 3, 78, 79, 80, 163 Bali, Rıfat N. 161 Balzac, Honoré de 7 Bartels, Adolf 100, 101, 107 Barylli, Gabriel 144 Bauer, Felice 29 Baum, Oskar 8, 26, 28 Bellini, Vincenzo 8 Benjamin, Walter 44 Bergmann, Hugo 26, 27 Bingen, Hildegard von 25 Blei, Franz 10 Bodenheim, Gretl 145 Bodenheim, Hans 38, 140, 145 Bonsels, Waldemar 105 Börne, Ludwig 107 Brecht, Bertolt 17 Brunner, Franz 44 Broch, Hermann 53 Brod, Max 2, 8, 9, 23, 24, 26, 27, 28, 29, 30, 31, 36 Bryce, James 77 Buber, Martin 10, 36 Capek, Karel 24 Carossa, Hans 103
Caruso, Enrico 8 Celan, Paul 25 Cemal, Ahmed (Pascha) 78, 79, 80, 81, 134 Clauzel, Comte 64, 77, 78 Corti, Axel 142, 144 Costa, Felix 110 Daver, Abidin 136 Der Kalousdian, Moses 3, 79 Deutsch, Anuschka 18 Deutsch, Ernst 18, 29 Dieterle, William 142 Dietrich, Arno 64 Dink, Hrant 138 Döblin, Alfred 7, 14, 17, 101, 103, 104, 112 Donizetti, Gaetano 8 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 7, 54, 71 Dunlop, Geoffrey 70, 148 Ehrenburg, Ilja 112 Engländer, Alfred 2, 37 Enver, Ismail (Pascha) 54, 73, 82, 83, 84, 91, 94, 134 Erckmann, Rudolf 101, 102 Eurydike 50 Faktor, Emil 23 Fechter, Paul 102 Ferit, Nihat 163 Feuchtwanger, Lion 17, 117, 145 Franco, Francisco 15 Frank, Leonhard 103 Franzos, Karl Emil 107 Freyer, Max 112 Friedell, Egon 10 Frisch, Max 95 Fritsch, Theodor 100, 101 Fry, Varian 17 Fuchs, Rudolf 24 Fulda, Ludwig 103 Fürst, Aladar 39, 40 Gable, Clark 135 Geiger, Ludwig 118
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Personenregister
George, Stefan 25, 54 Gerigk, Horst-Jürgen 93 Gibson, Mel 146 Glenville, Peter 142 Goebbels, Joseph 14, 134 Goethe, Johann Wolfgang 143 Goltz, Colmar von der 89, 90 Goltz, Hermann 91 Gorki, Maxim 112 Gropius, Walter 10, 11, 12, 59 Gross, Otto 10 Gülman, Lem’i 136 Haas, Willy 8, 23, 27, 29, 42 Hades 50 Hall, Murray G. 109, 110 Hampar, M. 150, 151 Harden, Maximilian 84 Heine, Heinrich 107 Henlein, Konrad 28, 29 Herrmann, Wolfgang 104, 105 Herzl, Theodor 65 Heukeshoven, Rolf 109 Hiller, Kurt 10, 36 Hilsner, Leopold 23 Hitler, Adolf 39, 83, 104, 111, 134 Hofmannsthal, Hugo von 45 Hoffmann, Josef 14 Holitscher, Arthur 112 Huch, Ricarda 103 Hugo, Victor 7 Hulewicz, Witold 52 Hull, Cordell 135 Israelyan, Natalia 152 Itzenplitz, Eberhard 146 Ixion 50 Jacobowitz, Stefan 17 Jacobowsky, S. L. 41, 118, 119, 124, 128, 129, 141, 142 Jäckh, Ernst 84 Jagow, Gottlieb von 85 Janda, Krystyna 144 Jaspert, Willem 107 Jeevs, Clayton 127, 128 Jens, Inge 102
Johst, Hanns 103 Jonas, Magda 71 Jones, Jennifer 17 Josephus, Flavius 77 Juncker, Axel 8 Jürgens, Curd 142 Kafka, Franz 2, 7, 8, 9, 24, 26, 27, 28, 29, 30, 31, 82, 83 Kahan, Arcadius 1 Kaiser, Georg 103 Kalliope 50 Kammer, Friederike 144 Karaca, Emin 183 Karasu, Albert 136, 164 Kästner, Erich 105 Kaye, Dany 141, 142 Kecyan, Asot 164 Kellermann, Bernhard 103 Kerr, Alfred 112 Kessler, Harry Graf 10 Kisch, Egon Erwin 2, 8, 10, 24, 32 Kisch, Paul 27 Kollwitz, Käthe 102 Köppen, Edlef 31 Kornfeld, Paul 8, 23, 29 Korngold, Erich Wolfgang 142 Kraus, Karl 9, 13, 23, 30 Kriegleder, Wynfried 121 Kubin, Alfred 28 Künzler, Jakob 81 Landau, Lola 65, 68, 69, 70, 71, 74 Leppin, Paul 28 Lepsius, Johannes 55, 73, 74, 77, 78, 81, 84, 85, 91, 94, 153 Lernet-Holenia, Alexander 28 Leuenberger, Stefanie 127, Linek, Teta 40 Loerke, Oskar 96 Ludwig, Emil 101, 112 Magenau, Jörg 86 Mahler, Alma 2, 7, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 31, 36, 59, 61, 62, 63, 66, 74, 76, 77, 118, 127, 141 Mahler, Anna 12, 13,
Mahler, Gustav 10, 12, 59 Mahler, Martin Carl Johannes 12 Mann, Golo 17 Mann, Heinrich 17 Mann, Nelly 17 Mann, Thomas 14, 17, 100, 101, 103, 126 Marquart, Josef 153 Martirosjan, Roland 139 Masaryk, Thomas G. 23, 24, 26 Mehring, Walter 112 Melik-Hakobian, Hakob (auch Raffi) 152 Melikian, M. 149, 150, 151 Mierowski, Olgier 148 Mikayelyan, Parujr 161 Minasian, Edward 162 Minjonmann, Saul 42 Moll, Anna 15 Mombert, Alfred 103 Mouradian, Sarky 146 Münir, Mehmet 135, 163 Musil, Robert 7, 10, 30, 44 Naumann, Hans 99, 100 Neumann, Angelo 8 Neumann, Robert 117 Nietzsche, Friedrich 50, 51, 52, 53, 54 Ohandjanian, Artem 147 Orpheus 50, 51, 52, 53, 55 Pannwitz, Rudolf 103 Papazyan, P. 160 Papen, Franz von 134, 162 Paquet, Alfons 103 Pascha, Fahri 80, 81 Perutz, Leo 28 Petrosjan, Ohan 139 Pick, Otto 8, 24 Platon 48, 49 Polgar, Alfred 10 Rade, Martin 84 Reinhardt, Max 15, 17, 23, 142 Remarque, Erich Maria 31, 99 Rilke, Rainer Maria 25, 50, 51, 52, 53 Risa, Ali 80
Personenregister
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Rohner, Beatrice 89 Rosenzweig, Franz 143 Roth, Joseph 31 Rubin, Robert J. 135, 163 Rust, Bernhard 102, 103 Scherl, August 112 Schillings, Max von 102, 103 Schlösser, Rainer 103 Schnitzler, Arthur 28, 99, 112 Schönberg, Arnold 17 Schreckenberger, Helga 119 Schuschnigg, Kurt von 15 Sebastian, Ernst 4, 120, 121, 122, 123, 128 Serke, Jürgen 24, Šimůnková, Barbara 7, 31, 34 Sinclair, Upton 112 Singer, Isaac B. 26 Sisyphos 50 Skinner, Robert 135 Sokrates 48, 49 Sombart, Werner 152 Sorian, Agop 72 Sorian, Esther 72 Soubirous, Bernadette 16 Spieß, Bernhard 123 Spirk, Gertrud 9, 10, 11 Stallone, Silvester 142, 147 Stern, Guy 124 Stjerbinsky, Tadeusz 128 Sueton 77 Susman, Margarete 118 Tahetzy, Leonidas 140, 144 Talaat, Mehmet 82, 83 Thun, Friedrich von 144 Toelle, Tome 146 Tomasian, Aram 78 Toynbee, Arnold 77, 78, 80 Tucholsky, Kurt 82 Unruh, Fritz von 103 Urzidil, Johannes 9 Utudjan, Jegische 160 Verdi, Giuseppe 8, 11, 12, 13, 29, 101, 105
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Personenregister
Wagener, Hans 117, 119, 120, 121 Wagner, Richard 8 Walser, Martin 88, 95 Wassermann, Jakob 14, 112 Weltsch, Felix 23, 26, 27 Weltsch, Robert 26 Wegner, Armin T. 3, 59, 65, 66, 67, 68, 69, 70, 71, 72, 73, 74, 75, 86, 87, 88, 89, 90, 91, 92, 93, 94, 95, 96 Weill, Kurt 15 Weiner, Richard 28 Weiß, Roland 32 Wendler, Otto B. 112 Werfel, Albine (geb. Kussi) 7 Werfel, Rudolf 7, 30
Wieser, Max 104 Wilson, Woodrow 79 Winder, Ludwig 27 Wolff, Kurt 9, 30, 70, 106 Wormser, Vera 144, 145 Worperian, Konstantin 74 Yeğen, Mesut 131, 132 Zarakolu, Ragıp 138 Zsolnay, Paul 4, 13, 14, 70, 95, 106, 109, 110, 111, 113, 116, 120, 124, 148, 149, 150, 151, 154, 155, 156, 157, 159, 160 Zweig, Stefan 28, 101, 105, 117, 125