Frankophone digitale Literatur: Geschichte, Strukturen und Ästhetik einer neuen Mediengattung 9783839434987

After the digital revolution: with the aid of contemporary francophone works, digital literature is imagined as a distin

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German Pages 338 Year 2016

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort: Frankophone digitale Literatur
1. Was ist „Digitale Literatur“?
1.1 Eine neue Literaturgattung
1.2 Kriterien einer genuin digitalen Literatur
1.3 Die Untergattungen der digitalen Literatur
1.4 Eine französische Hyperfictionbibliografie
1.5 Internationale Bestandsaufnahme
2. Situierung der digitalen Literatur
2.1 Der Kontext der Postmoderne
2.2 Der technologische Rahmen
2.3 Interdisziplinäre Beiträge
2.4 Strukturalismus und Poststrukturalismus
2.5 (Post-) moderne Kultur und Literatur
3. Veränderungen der Literatur im digitalen Medium
3.1 Neue Ausdrucksmittel
3.2 Die Kommunikationssituation: Autor, Leser, Werk
3.3 Das digital erweiterte Kommunikationsmodell
4. Beispielanalysen französischer Hyperfictions
4.1 Hypertext-Inkunablen
4.2 François Coulon & die „fictions interactives“
4.3 Die „hyperfiction“ Le Noeud
4.4 Der „hyperoman“ Edward_Amiga
4.5 Apparitions inquiétantes
4.6 Der Feuilleton Hypermedia Les Cotres furtifs
4.7 Der „roman multimédia“ NON-roman
5. Digitale Narrativik
5.1 Die mediale Form: Hypertext
5.2 Makrostruktur
5.3 Mikrostruktur und literarische Effekte
5.4 Diskursstruktur
6. Ästhetik der Hyperfiction
6.1 Disruption
6.2 Aleatorik, Interaktion & Metafiktionalität
6.3 Intertextualität, Intermedialität, Synästhesie
6.4 Deautomatisierung der Mensch-Maschine-Kommunikation
7. Eine andere Welt: Die digitale Poesie
7.1 Hyperfiction und digitale Poesie im Kontrast
7.2 Oulipo und seine historische Filiation
7.3 Die neuen revues littéraires
7.4 Interaktive Hypertext-Lyrik
7.5 Konkrete/Visuelle digitale Poesie
7.6 Eine postmoderne Neuauflage der Lyrik?
8. Literatur als algorithmischer Prozess
8.1 Die algorithmische Poesie des Philippe Bootz
8.2 Jean-Pierre Balpe und die computergenerierte Literatur
9. Zusammenfassung und Ausblick
Literatur
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Frankophone digitale Literatur: Geschichte, Strukturen und Ästhetik einer neuen Mediengattung
 9783839434987

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Elisabeth Carolin Bauer Frankophone digitale Literatur



machina | Band 9

Editorial Das lateinische Wort »machina« bedeutet – wie seine romanischen Entsprechungen – nicht nur Maschine, sondern auch List, bezeichnet zugleich den menschlichen Kunstgriff und das technische Artefakt. Die mit diesem Wort überschriebene Reihe versammelt Studien zur romanischen Literatur- und Medienwissenschaft in technik- und kulturanthropologischer Perspektive. Die darin erscheinenden Monographien, Sammelbände und Editionen lassen sich von der Annahme leiten, dass literarische, theatralische, filmische oder andere mediale Produktionen nur mit gleichzeitiger Rücksicht auf ihre materielle Gestalt und ihren kulturellen Gebrauch angemessen zu beschreiben sind. Die Reihe wird herausgegeben von Irene Albers, Sabine Friedrich, Jochen Mecke und Wolfram Nitsch.

Elisabeth Carolin Bauer (Dr. phil.), geb. 1972, hat in Regensburg Romanistik mit Schwerpunkt Französische Literaturwissenschaft sowie Linguistische Informationswissenschaft mit besonderem Schwerpunkt auf Softwareergonomie und Information Retrieval studiert. Sie ist als Pressesprecherin in einem international operierenden Hightech-Unternehmen tätig.

Elisabeth Carolin Bauer

Frankophone digitale Literatur Geschichte, Strukturen und Ästhetik einer neuen Mediengattung

Für Nick, Maja und Sophie

Die Arbeit wurde im Jahr 2010 von der Fakultät für Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften der Universität Regensburg als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld Zugl.: Regensburg, Univ., Diss., 2010

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Maksym Yemelyanov: E-learning. Concept of education. Internet labrary. Book and Lap / fotolia Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3498-3 PDF-ISBN 978-3-8394-3498-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort: Frankophone digitale Literatur | 7 1 Was ist „Digitale Literatur“? | 13

1.1 Eine neue Literaturgattung | 13 1.2 Kriterien einer genuin digitalen Literatur | 14 1.3 Die Untergattungen der digitalen Literatur | 17 1.4 Eine französische Hyperfictionbibliografie | 20 1.5 Internationale Bestandsaufnahme | 24 2 Situierung der digitalen Literatur | 47

2.1 Der Kontext der Postmoderne | 47 2.2 Der technologische Rahmen | 50 2.3 Interdisziplinäre Beiträge | 52 2.4 Strukturalismus und Poststrukturalismus | 57 2.5 (Post-) moderne Kultur und Literatur | 59 3 Veränderungen der Literatur im digitalen Medium | 63

3.1 Neue Ausdrucksmittel | 63 3.2 Die Kommunikationssituation: Autor, Leser, Werk | 78 3.3 Das digital erweiterte Kommunikationsmodell | 89 4 Beispielanalysen französischer Hyperfictions | 95

4.1 Hypertext-Inkunablen | 95 4.2 François Coulon & die „fictions interactives“ | 111 4.3 Die „hyperfiction“ Le Nœud | 116 4.4 Der „hyperoman“ Edward_Amiga | 125 4.5 Apparitions inquiétantes | 169 4.6 Der Feuilleton Hypermedia Les Cotres furtifs | 198 4.7 Der „roman multimédia“ NON-roman | 205 5 Digitale Narrativik | 211

5.1 Die mediale Form: Hypertext | 212 5.2 Makrostruktur | 213 5.3 Mikrostruktur und literarische Effekte | 216 5.4 Diskursstruktur | 235

6 Ästhetik der Hyperfiction | 243

6.1 Disruption | 245 6.2 Aleatorik, Interaktion & Metafiktionalität | 255 6.3 Intertextualität, Intermedialität, Synästhesie | 265 6.4 Deautomatisierung der Mensch-Maschine-Kommunikation | 268 7 Eine andere Welt: Die digitale Poesie | 273

7.1 Hyperfiction und digitale Poesie im Kontrast | 273 7.2 Oulipo und seine historische Filiation | 276 7.3 Die neuen revues littéraires | 278 7.4 Interaktive Hypertext-Lyrik | 280 7.5 Konkrete/Visuelle digitale Poesie | 285 7.6 Eine postmoderne Neuauflage der Lyrik? | 291 8 Literatur als algorithmischer Prozess | 293

8.1 Die algorithmische Poesie des Philippe Bootz | 294 8.2 Jean-Pierre Balpe und die computergenerierte Literatur | 300 9 Zusammenfassung und Ausblick | 311 Literatur | 319

Vorwort: Frankophone digitale Literatur

Das ästhetische Zusammenspiel von Literatur und Neuen Medien eröffnet der (nicht nur romanistischen) Literaturwissenschaft ein neues, ausgesprochen spannendes Gebiet, das in der vorliegenden Arbeit am Beispiel der französischen digitalen Literatur in verschiedensten Dimensionen vorgestellt wird. Gegenstand und Theorie der Literaturwissenschaft sind in der unmittelbaren Gegenwart von Literatur und Literaturwissenschaft situiert. Drei Eckpunkte spannen das Thema auf: „französisch“, „digital“ und „Literatur“. Jedes neue Medium bringt seine ihm ganz eigene Kunstform hervor. Mediengeschichte ist immer auch eine Kulturgeschichte, jedes Medium ist aus seiner Epoche heraus entstanden und hat seinerseits dazu beigetragen, sie zu formen. Insbesondere seit der Moderne eignet sich künstlerisches Schaffen aus dem Streben nach künstlerischer Originalität die Spezifik seines Mediums ästhetisch an, um daraus neue Ausdrucksmöglichkeiten zu entwickeln. Auch Literatur hat sich schon immer auch anhand von anderen Künsten wie der Malerei inspiriert – wie Claude Simon bemerkt, sogar von so (auf den ersten Blick) literaturfremden Disziplinen wie etwa der Mathematik.1 Umgekehrt katalysiert neues Handwerkszeug neue Denkweisen: „Unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken“, stellt Friedrich Nietzsche fest, der als erster Philosoph eine Schreibmaschine zur Niederschrift seiner Ausführungen benutzte.2 Auch die Printliteratur ist eine medial definierte Literatur, nur ist uns ihr Medium so selbstverständlich, dass sich der Zusatz „Print-“, „Buch-“ etc. erübrigt. Das Buch steht synekdochisch für Printliteratur schlechthin. Erst das Aufkommen weiterer Medien und, in ihrem Gefolge, weiterer „Medienliteraturen“ macht eine Differenzierung erforderlich und sinnvoll. So hat das Radio das Hörspiel hervorgebracht, und „Film“ bezeichnet zugleich Medium und Gattung. Komplet-

1

Vgl. Vandendorpe (1999), S. 48.

2

„Brief an Heinrich Köselitz“, Ende Februar 1882. In: Colli, Montinari (1986), S. 172.

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tiert wird das heutige Medienpanorama durch die so genannten Neuen Medien, Computer und Internet.3 Die auf ihnen aufsetzende digitale Literatur stellt eine enge Verbindung zur Informations- und Kommunikationstechnologie4 her. Das Entstehen und die Blütezeit dieser Mediengattung nicht aus der historischen Distanz, sondern zeitgleich beobachten und begleiten zu können, war ein Privileg dieses Moments. Während die Forschungen zu den verschiedensten Facetten von Literatur und Neuen Medien vorwiegend im anglo-amerikanischen Raum gut etabliert sind, reicht das Forschungsinteresse für das Französische über kurze Grundlagendarstellungen und historische Abrisse bislang nicht hinaus.5 Der deutsche Hyperfiction-Forscher Roberto Simanowski, der an der Brown University in Providence tätig ist, beklagte beispielsweise noch im Jahr 2000 – mitten in ihrer Blütezeit – das Fehlen der Kontinentaleuropäer beim Thema Hyperfiction.6 In der deutschen romanistischen Literaturwissenschaft fristet die Betrachtung digitaler Literatur nach wie vor ein Nischendasein. Plakativ zeigt sich dies an der immer wieder aufgekommenen Frage, ob Literaturwissenschaft an sich geeignet sei, sich mit den Neuen Medien zu befassen, oder ob sie dies nicht besser der Medienwissen-

3

„Medien“ wird hier in der Redeweise der Kommunikationstechniken verwendet, vgl. Faulstich (1994), S. 19. Zum Begriff „Medium“ vgl. Maletzke (1998), S. 50-54. Mit „Internet“ und „Netz“ ist im Folgenden, soweit nicht anders angemerkt, der Hauptbereich des WWW (World Wide Web) gemeint, also der über Webbrowser zugängliche, hypertextuell organisierte Teilbereich des Internets. „Son usage [i.e. de l’Internet] est multiple: courrier électronique, accès à des informations de toutes natures, jeux, forum interactif de discussion (chat), ou encore groupes de discussion (newsgroups) qui s’auto-organisent sur des thèmes plus ou moins précis.“ Lexikon des Ministère de la culture et de la communication zur Médiation culturelle et politique de la ville (2006), Eintrag „T“.

4

Frz. TIC, oder auch NTIC für „(nouvelles) technologies de l’information et de la communication.“ Das o.g. Lexikon zur Médiation culturelle et politique de la ville (2006) definiert den Begriff wie folgt: „Ce terme générique englobe l’ensemble des technologies de l’information, c’est-à-dire l’informatique dans ces aspects matériels et logiciels, et de communication, en particulier les réseaux de communication vus à la fois sous les angles du contenu et du support de communication. La création de cet acronyme marque le fait que cet ensemble vague, hétéroclite et évolutif est néanmoins considéré comme un concept homogène et circonscrit.“

5

Grundlegende historische Darstellungen finden sich bei Bernard (1995), Vandendorpe (1999), Vuillemin (1999) und Burgaud (2002).

6

Vgl. Simanowski (2000).

V ORWORT

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schaft überlassen sollte; mitunter erweckte die Diskussion den Eindruck einer neu aufgelegten Querelle des Anciens et des (Post-) Modernes. Dabei verfügt gerade die Literaturwissenschaft über eine hervorragende Grunddisposition, sich mit digitalen literarischen Werken zu befassen, und hat anderen Disziplinen Entscheidendes voraus: Die Nähe der digitalen zur traditionellen Literatur ist, wie sich im Zug der Arbeit zeigen wird, zu ausgeprägt, als dass man sie guten Gewissens anderen Instrumentarien überlassen könnte. Dazu muss sich die Literaturwissenschaft nur einige zusätzliche Theorieaspekte aus anderen Wissenschaften aneignen, z.B. aus der Informations- und Medienwissenschaft, aber dies wird ja auch in den anerkannteren Mediengattungen Film und Hörspiel praktiziert. Der vorliegende Ansatz ist eine eigenständige Methode, sich mit digitaler Literatur zu befassen: Er nähert sich dem Phänomen aus literaturwissenschaftlicher Perspektive und unterscheidet sich hierin sowohl von den in Frankreich als auch in Deutschland üblichen Ansätzen. Während in Deutschland die Zauberformel Netz lautet und durch die Betonung des Vernetzungsparadigmas das technosoziale System im Vordergrund steht, dient das Computermedium in Frankreich vorwiegend als nützliches Werkzeug für eine computerunterstützte Literaturanalyse. Die vorliegende Arbeit schlägt der Gattung der „Digitalen Literatur“ ein eigenes Kapitel in der romanistischen Literaturwissenschaft auf und schafft einen weitgehend kompletten Überblick über das mittlerweile aufgrund veränderter technischer Rahmenbedingungen abgeschlossene Gebiet. Das Thema bietet selbstverständlich noch viel Raum und Potential für die weitere Auseinandersetzung mit dem Gegenstand, nicht zuletzt unter dem Aspekt der Möglichkeiten der künftigen Weiterentwicklung der Gattung. Eine wesentliche Rahmenbedingung für die Gattung Digitale Literatur ist ihre Epoche: die Postmoderne. Die digitale Literatur ist aus ihr heraus entstanden und schreibt sich auch explizit in ihren Kontext ein. Die vorliegende Arbeit soll vor einem bestimmten Hintergrund, der französischen Literaturwissenschaft in Deutschland, eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Thema leisten. Insbesondere die wiederholten Vorwürfe der Beliebigkeit und mangelnden Originalität der digitalen Literatur sowie einer oberflächlichen Klick-Praxis können dadurch widerlegt werden. Zentral ist die Untersuchung der Frage, wie digitale Literatur zu lesen und zu verstehen ist. Ihre Analysierbarkeit wird durch die Anwendung der klassischen literaturwissenschaftlichen Methoden und Instrumente im digitalen Medium erprobt. Die Merkmale und medialen Besonderheiten, die die digitale Literatur im Unterschied zur Printliteratur und anderer Medien-Literaturen auszeichnen, werden anhand der Mediengattung Digitale Literatur erörtert. Grundlage der Unter-

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suchung ist das Korpus einer eigens zusammengestellten Bibliografie französischsprachiger Werke, die aus einer intensiven Such- und Recherchearbeit erwachsen ist und in ihrer Fokussierung auf den literarischen Charakter der Werke einzigartig ist. Das Herz der Arbeit stellen die Beispielanalysen einiger wichtiger Werke digitaler französischsprachiger Literatur dar. Der Fragenkatalog „Wie funktioniert digitale Literatur? Wie werden die medienspezifischen Besonderheiten gewinnbringend für den literarischen Zweck genutzt, und wie sind sie für den Rezipienten zu lesen und zu entziffern? Ist die digitale Literatur in den Gesamtkontext zeitgenössischer französischer Literatur als Bruch oder Kontinuität einzuordnen?“ zielt auf die Quintessenz der digitalen Literatur und deren Verständnis. Mit dem Ausblick auf die im Grenzbereich der Literatur befindlichen Werke automatischer Textgeneration schließlich öffnet die Arbeit die Perspektive zu radikalen, neuen Literaturkonzepten. Die Erstellung einer repräsentativen Anthologie digitaler Literatur mit einer Klassifizierung in Hyperfictions und digitale Poesie ist nicht trivial. Für das hier zugrunde liegende Korpus stand an erster Stelle das Kriterium der medienspezifischen Literarizität. Diese ist einfach feststellbar: Die Werke dürfen aufgrund ihrer Hypertextstruktur und ihres multimedialen Inhalts nicht ohne entscheidende Abstriche ausdruckbar sein. Ein weiteres Auswahlkriterium ist die französische Sprache. Ohne hier näher auf Fragen der Internationalisierung und Globalisierung bzw. der Frankophonie im Kontext des Internet eingehen zu wollen, hat es sich für die Untersuchung des Symbolsystems Digitale Literatur als sinnvoll erwiesen, neben der Literatur des hexagonalen Frankreich auch Werke aus anderen frankophonen Ländern mit einzubeziehen. Das vorliegende Korpus erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, viele zweifellos interessante Werke sind bereits vor den ersten Recherchen der Verfasserin aus dem Internet verschwunden. Es gibt aber einen umfassenden Überblick über das französischsprachige digital-literarische Schaffen und gewährt einen anschaulichen Einblick in die Funktionsweisen digitaler Literatur. Zur Methodik: Aufgrund der Nähe zum Gegenstand wurde das Internet selbst recht ausführlich als Recherchequelle genutzt. Die meisten Primärwerke und viele Sekundärquellen befinden sich hier, außerdem gewährt die Recherche in Foren, Blogs und auch bei Wikipedia aufschlussreiche Erkenntnisse über den Diskurs zum Thema. Der Umgang mit diesen Quellen verlangt dennoch eine besondere wissenschaftliche Sorgfalt: Neben einer prinzipiell kritischen Beurteilung der Inhalte ist eine spezifische Methodik im Umgang mit diesen Quellen vonnöten. Außerdem wird die Integration zahlreicher Abbildungen zur anschaulichen Illustration des behandelten Gegenstands notwendig – was der Medialität des Gegenstands Rechnung trägt. Die von digitalen Werken angefertigten

V ORWORT

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Screenshots wurden aus verschiedenen Programmen, meist Webbrowsern, in verschiedenen Versionen angefertigt. Daher kann der Softwarerahmen einiger Screenshots abweichen, was keinerlei inhaltliche Relevanz hat. Die wissenschaftliche Nutzung des Internets bedeutet auch die Notwendigkeit formaler Anpassungen an die neuen Gegebenheiten: Web-„Seiten“ verfügen nicht über die bei Druckseiten übliche Paginierung, dafür sind sie aber eindeutig durch eine unverwechselbare Quellenangabe, die URL (Unified Resource Locator), identifiziert. Sie enthält kompakt in formalisierter Notation den exakten Kontext einer Webseite. Jede URL ist für sich eine komplette und hinreichende Referenz und muss beim Zitieren und Bibliografieren zur eindeutigen Bezeichnung der Quelle angegeben werden. Dabei empfiehlt es sich, stets die volle Adresse beginnend mit „http://“ aufzuführen, da nicht jede URL über den Bestandteil „www.“ verfügt. Das WWW ist schließlich nur ein Teil des Internet. Soweit vorhanden, kann auch spezifizierend der textliche Titel der einzelnen Seite (sichtbar in der Titelleiste des Browserfensters) zur URL hinzu angegeben werden. Analog der Zitierkonvention der Aufsatztitel werden diese Seitentitel in doppelten Anführungsstrichen angezeigt. Zur Unterscheidung von Text und Link in wörtlichen Zitaten wird jeweils das Ankerwort des Links unterstrichen, um die operative Doppelfunktion des Worts im Originaltext anzudeuten. Zur Orientierung während der Navigation ist am besten eine Art Protokoll anzufertigen, das nachvollziehbar macht, welche Benutzeraktionen ausgeführt wurden, beispielsweise nach dem Schema: Auf der Seite „Seitentitel 1“ (http://www.xxx1.fr) führt der Klick auf den Link xy zur Seite „ Seitentitel 2“ (http://www.xxx2.fr).

Alle URLs tragen, soweit nicht anders angemerkt, das Datum des letzten gültigen Aufrufs am 10.04.2016.

1 Was ist „Digitale Literatur“?

1.1 E INE

NEUE

L ITERATURGATTUNG

Das ausgehende 20. Jahrhundert steht unter zwei Ägiden, die nicht automatisch in einen ästhetischen Zusammenhang gebracht werden. Die Postmoderne prägt bereits seit den 1950er-Jahren das philosophische und literaturtheoretische Denken der Gegenwart, die digitale Revolution am Ende des 20. Jahrhunderts hat die Welt des Menschen in der industrialisierten Gesellschaft in allen Lebensbereichen tiefgreifend verändert. In den bildenden Künsten lässt sich insbesondere seit der Moderne eine Vielzahl von Konvergenzen und Grenzüberschreitungen feststellen, so dass sich die digitale Literatur quasi ganz natürlich in der Schnittmenge von Postmoderne und digitaler Technisierung wiederfindet. Allerdings ist das postmoderne Credo des „anything goes“ allgegenwärtig und wird, wo es thematisiert wird, gern als Legitimierung der Beliebigkeit verstanden, so dass sich die digitale Literatur unversehens ererbtermaßen in einem ideologischen Minenfeld wiederfindet – einer der Gründe für den schweren Stand, den sie mitunter in der Literaturwissenschaft hat. Eine eigene Literatur des digitalen Mediums muss zwangsläufig eine neue Gattung innerhalb des Systems Literatur sein, sonst würde sich für ihre Bezeichnung entweder das Prädikat „Literatur“ oder „digital“ erübrigen. Das Kriterium der Literarizität ist die grundlegende Prämisse für die digitale Literatur, es gelten aber auch die Merkmale der materiellen Zweckfreiheit und der Fiktionalität. Was die digitale Literatur allerdings signifikant von der Printliteratur unterscheidet, ist der sinnstiftende und literarischen Mehrwert erzeugende Einsatz medienspezifischer Stilmittel. Möglich wird diese mediale Erweiterung des Gegenstands durch die semiotische Öffnung der Literaturwissenschaft weg vom monomedialen Textbegriff, sodass nun auch andere Zeichensysteme als Text zulässig sind. Die Semiose ist schließlich nicht auf das Symbolsystem der Schrift

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beschränkt. Um den neuen Zeichenelementen gerecht zu werden, ist eine ergänzende Zuhilfenahme von Methoden der Informatik, Informations-, Kultur- und Medienwissenschaft in die als Rahmen definierte Literaturwissenschaft erforderlich. Ihre Fähigkeit, sich andere Medien zu erschließen, hat die Literaturwissenschaft bereits in anderen Gebieten unter Beweis gestellt, z.B. bei Film und Hörspiel. Das „Digitale“ an der digitalen Literatur ist das Computermedium als unverwechselbarer, spezifischer Ort für Literatur. 1

1.2 K RITERIEN EINER

GENUIN DIGITALEN

L ITERATUR

In der Schnittmenge zwischen postmoderner Kunst und Theorie und dem digitalen Medium befindet sich ästhetisch die digitale Literatur. Zunächst klingt der Begriff unproblematisch: Sie ist ganz offenkundig die Literatur des digitalen Mediums. Grundbedingung für das Prädikat „Digitale Literatur“ ist aber der schöpferische Umgang mit den Spezifika des Mediums; das bloße Vorhandensein des digitalen Mediums ist noch kein ausschlaggebendes Kriterium für digitale Literatur. Schließlich ist nicht jeder „écrit d’écran“, also jeder digitale Text automatisch digitale Literatur, und nicht jede Literatur im Computermedium darf sich gleich digital nennen. Nur die Literatur, die als ästhetisches Symbolsystem ihren literarischen Mehrwert aus den technischen Charakteristika ihres Trägermediums zieht, ist eine genuin digitale. Für das digitale Medium stehen insbesondere drei neue mediale Gestaltungsmittel zur Verfügung: das Strukturkonzept Hypertext, das Füllmaterial Multimedia und die literarisierende Autoreferentialität der Software anhand der Grafischen Benutzeroberfläche (GUI). Ein viertes Gestaltungsmittel sind die Algorithmen, die aber durch ihren Prozesscharakter die Grenzen der hier im Fokus stehenden digitalen Literatur sprengen. Die Prämisse einer technischen Ästhetisierung der Literatur schließt eine beträchtliche Zahl digitaler Phänomene von der literaturwissenschaftlichen Betrachtung aus. Vorsicht ist demnach geboten bei der digitalisierten Literatur, also der Printliteratur, die etwa durch Einscannen 1:1 ins digitale Medium übertragen

1

Weitere Wechselwirkungen zwischen Neuen Medien und Literatur, die hier nicht zum Zuge kommen, sind der Computer als Schreibmaschine, als bloßem Werkzeug, der Computer als Gegenstand und Motiv z.B. in der Science Fiction, und der Aufschwung des Internets als mächtiger Vertriebs- und Marketingplattform für den Buchhandel, beispielsweise über http://www.amazon.fr.

1 W AS IST „DIGITALE L ITERATUR “?

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wurde.2 Man spricht hier auch von Retrodigitalisierung. Sie behält die Charakteristika des Printmediums im digitalen Speicher- und Wiedergabemedium bei. Als Faustregel zur Unterscheidung digital – digitalisiert gilt: Lässt sich ein Text verlustfrei ausdrucken, bedeutet dies, dass man ihn problemlos ins Printmedium zurückführen kann, und damit gehört er in die Kategorie der digitalisierten Texte. Ein recht bekanntes Beispiel für digitalisierte Werke sind eBooks, die in der Regel einem einfachen Medienwechsel unterliegen. In der vorliegenden Perspektive sind auch Mitschreibeprojekte aus der Betrachtung digitaler Literatur ausgeschlossen. Beim kollaborativen Schreiben kann sich eine beliebige Zahl von Lesern als Co-Autoren einschalten, so dass eher (literatur-) soziologische Aspekte und die spezielle Produktionssituation des Texts im Mittelpunkt stehen.3 Das Prinzip der romans à plusieurs mains ist aber, in Deutschland wie auch in Frankreich, ein recht bekanntes und beliebtes Phänomen und wird häufig spontan, wenn auch nicht sachlich exakt, mit digitaler Literatur in Verbindung gebracht.4

2

Vgl. im Französischen das Gegensatzpaar „numérique“ bzw. „numérisé“, z.B. Bootz (2006). Beispiele für solche Digitalisierungsprojekte sind das Projekt Gutenberg http://www.gutenberg.org (international) sowie für das Französische Gallica http:// gallica.bnf.fr auf den Seiten der Bibliothèque nationale de France (BnF). Gallica ist das ambitionierteste europäische Digitalisierungsprojekt. Recht kontrovers diskutiert wird die Initiative Google Book Search (http://books.google.com/googlebooks/ about.html), die es sich seit 2004 zum Ziel gesetzt hat, als Serviceleistung des Suchmaschinenriesen Google alles Buchwissen auch digital (exakt: digitalisiert) zur Verfügung zu stellen. Vehementen Widerstand leistete hier insbesondere der Direktor der BnF Jean-Noël Jeanneney, da er auch für diesen Bereich eine US-amerikanische Vormachtstellung befürchtete; vgl. Hesse (2007). Den Stellenwert dieser Frage zeigt auch ein im Juni 2007 erschienener Rapport des französischen Kulturministeriums zum Projekt Livre 2010, in dem dieser Aspekt eigens hervorgehoben wird: „le soutien accru aux projets de numérisation de contenus sous droit respectueux du droit d’auteur, ainsi qu’aux initiatives de numérisation patrimoniale des collectivités territoriales [...]“. Barluet (2007), S. 48.

3

Das Phänomen des collaborative writing wird auch von Lyotard thematisiert, Schlagworte: Technologie, freier Zugang und Gruppenphantasie. Vgl. Welsch (1991), 219 f.

4

Das bekannteste französische Mitschreibeprojekt ist L’Escroc à Tokyo (2002).

16 | FRANKOPHONE DIGITALE L ITERATUR

Ebenfalls unberücksichtigt bleiben Phänomene wie der Selbstverlag5, InternetTagebücher (Webdiaries) und Weblogs oder kurz Blogs6, da hier, wie bei den kollaborativen Projekten, die Medienspezifik bei der Werkgenese ansetzt und nicht das ästhetische Symbolsystem ausschlaggebend ist. Bildbasierte visuelle Ausprägungen wie ASCII Art, net.art (Netzkunst) etc. sind generell zu literaturunspezifisch und gehören, trotz fließender Übergänge und großem Potential, in den Kontext einer allgemeinen Medienkunst.7 Nicht zuletzt ist der ganze Bereich der Computerspiele vom Wesen der Literatur zu weit entfernt, um noch in eine Betrachtung digitaler Literatur zu passen, obwohl sich hier gerade bei den handlungsgetragenen Spielen höchst interessante Überschneidungen ergeben.8 Wenn nun festgelegt ist, was digitale Literatur nicht ist, was ist sie dann? Definiert man sie in Abgrenzung zur gedruckten Literatur, so beruht die Differenz

5

Für viel Wirbel gesorgt hat im Jahr 2000 Stephen Kings Publishing-Experiment der Download-Fortsetzungsgeschichte The Plant, das letztlich gescheitert ist. Vgl. http:// www.wired.com/culture/lifestyle/news/2000/11/40356.

6

Blogs sind Internetforen, deren Herausgeber Beiträge zu bestimmten Themen veröffentlichen und mit einer Community diskutieren können. Gerade im Kontext von Web 2.0 gewinnen Blogs immer mehr an Bedeutung. Allerdings sind sie eher dem journalistischen Bereich als der Literatur zuzuordnen.

7

Zur Abgrenzung von anderen Formen digitaler ästhetischer Produktion wie ascii art etc. vgl. Bauer (2009), S. 282.

8

Sie zeichnen sich zumeist durch eine realistische 3D-Gestaltung der Schauplätze und Szenen aus und laufen, interaktiv durch die Eingaben des Spielers gesteuert, filmähnlich ab; der Spieler versetzt sich in eine Figur und nimmt als ihr alter ego an einer mehr oder minder elaborierten Geschichte nach triadischem Schema teil. Eines der bekanntesten Action-Adventure-Games ist zweifellos Tomb Raider (1996-2003). Zur Veranschaulichung: Die Archäologin Lara Croft sucht sagenhafte, geheimnisumwitterte Artefakte an mythologisch aufgeladenen Orten, z.B. in Atlantis, im Himalaya, dem Tal der Könige usf. Erfolgreich ist ihre Mission nur, wenn der Spieler raffinierte Rätsel löst und virtuell gefahrvolle Kämpfe meistert. Ziel ist es zu verhindern, dass Lara Crofts bösartige Widersacher die Weltherrschaft an sich reißen. Die Schwarzweißmalerei ist klar ausgeprägt, es gibt einen vorgezeichneten Weg, den der Spieler mehr oder minder rasch meistert, je nach Geschick und Wissen. Wesentlichen Anteil am Erfolg des Spiels hat die elaborierte Grafik – nicht zuletzt auch die zum „Superweib“ stilisierte Figur der Lara Croft. Die Analyse von Computerspielen unter verschiedenen Blickwinkeln (gender studies, Ludologie) ist ein eigener Forschungsgegenstand.

1 W AS IST „DIGITALE L ITERATUR “?

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auf den spezifischen Eigenschaften des Mediums, die sich in Form neuer technischer Prämissen für die Produktion, Wiedergabe und Charakteristik der digitalen Literatur präsentieren. Ästhetisch interessant sind demnach die Werke, die das vorhandene medialtypische Zeicheninventar für neue literarische Effekte sinnstiftend einsetzen, d.h. die die Medialität des Werks in den Vordergrund rücken und sie autoreferentiell und oft metafiktional nutzen. Das digitale Medium bereichert einerseits die Literatur um neue Elemente und verleiht ihr dadurch neue Impulse oder radikalisiert Entwicklungen, die sich im Printmedium bereits ankündigen; zugleich werden aber auch die vorhandenen Elemente im neuen Kontext umgewertet und medial modifiziert. Vehikel dieser Veränderungen in der digitalen Literatur sind die genannten distinktiven Merkmale Hypertext, Multimedia, Interaktivität und Algorithmen, die im Dienste einer neuen Werkästhetik einer literarischen Umdeutung unterzogen werden.

1.3 D IE U NTERGATTUNGEN

DER DIGITALEN

L ITERATUR

Die Mediengattung der digitalen Literatur umfasst eine recht vielfältige Sammlung literarischer Phänomene, die ihrerseits wie auch die (Print-) Literatur weiter strukturiert werden können. Gerade im Französischen finden sich innerhalb der digitalen Literatur recht heterogene Bezeichnungen und Neologismen. Dieser Wildwuchs fächert sich z.B. auf in „littérature numérique“, „fiction hypertextuelle“,9 „hypertexte de fiction“,10 „fiction arborescente“,11 „hyperfiction“,12 „hyperlittérature“ bzw. „littérature rhizomathique“,13 „récit hypertexte“,14 „littérature informatique“15 und „roman hypermédia“16 oder auch „cyberfiction“, wie der NON-roman 2003 von Bootz17 genannt wurde.

9

http://alain.salvatore.free.fr/

10 http://hypermedia.univ-paris8.fr/jean/articles/allc.htm 11 http://hypermedia.univ-paris8.fr/jean/fiction/table.html 12 http://home.total.net/~amnesie/ (nicht mehr verfügbar; zuletzt: 06.02.2010) 13 http://www.larevuedesressources.org/rubrique.php3?id_rubrique=39 (nicht mehr verfügbar; zuletzt: 10.08.2007) 14 http://www.0m1.com/Theories/theorie8.htm 15 http://www.0m1.com/index.htm 16 http://www.synesthesie.com/boutiny/ 17 http://transitoireobs.free.fr/to/html/novsemiotiq.htm/

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Ein prägnantes Beispiel für die Begriffs-Uneinigkeit liefert die Liste von Typen elektronischer Literatur18 des Département Hypermédias (Université de Paris 8), die eine sehr interessante Aufschlüsselung digitaler Werke enthält: „Textes classiques“, das sind die digitalisierten Printklassiker, „Textes hypertextualisés“ für Hypertextadaptionen von Printwerken, und „Fictions interactives“, die sich eher spiele-affin zeigen. Bezeichnenderweise ist sich die betreffende Seite ob ihres Gegenstands selbst uneins: Im Fließtext spricht sie von La Bibliothèque numérique, im Fenstertitel dagegen von La Bibliothèque électronique. Da es sich um das zentrale Schlagwort handelt, wäre wohl eine einheitliche Benennung zu erwarten gewesen. Eine übergreifende Typologisierung lässt sich gegenwärtig immer noch kaum feststellen. Und wenn Bouchardon seine Hyperfiction-Auswahl „récits interactifs“ nennt, tut er dies mit einem nicht unproblematischen Begriff, denn „Fiction interactive“ bezeichnet nicht nur interaktiv zu bedienende Hyperfictions wie Boutinys NON-roman, sondern in einem recht engen (aber verbreiteten) Wortsinn auch Textadventures und sogar MUDs (Multi User Dungeons),19 wie das Spieleportal FICTION-FR zeigt, das sich „Le carrefour français de la fiction interactive“ nennt.20 Eins ist zudem auffallend: Viele der Neologismen sind singulär nur einem einzigen Werk zugeordnet. So kokettieren die Autoren mit den Begriffen des etablierten Printmediums, und die Bezeichnungen manifestieren, nomen omen, die Abgrenzung zu anderen Werken. In der Tat sind die Werke auch untereinander sehr unterschiedlich, so dass sich ein gemeinsamer kleinster Nenner oft wirklich auf mikroskopisch kleiner Ebene feststellen lässt und eine deskriptive Kategorisierung auf Grundlage der augenfälligsten Strategie gestatten würde, z.B. des ausgiebigen Gebrauchs von Hypertextlinks oder eines charakteristischen Einsatzes von Multimedia, Flash, JavaScript etc. Aussagekräftiger ist die Betonung der Filiation zur (Print-) Literatur, denn die Parallelen zur Gattungstrias Lyrik, Narrativik und Drama sind ausgeprägt und Vergleiche erweisen sich als fruchtbar. Demnach findet die Narrativik ihr

18 http://hypermedia.univ-paris8.fr/biblio.htm 19 Der Blick ins französische Wikipedia belegt nur diesen letzteren Sinn und liefert auch ein anschauliches Beispiel, vgl. http://fr.wikipedia.org/wiki/Fiction_interactive. Auch der englischsprachige Eintrag definiert „interactive fiction“ als die im angelsächsischem Raum verbreiteten Textadventures, vgl. http://en.wikipedia.org/wiki/Inter active_Fiction. 20 http://ifiction.free.fr/

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digitales Pendant in der Hyperfiction, die Lyrik ihre Fortschreibung in der Digitalen Poesie. Nur das Drama findet kein digitales Pendant, spendet jedoch den beiden anderen Untergattungen (jeweils in unterschiedlichem Maß) neue Eigenschaften wie Interaktivität, Performativität und Plurimedialität.21 Ein medialer Unterscheid zum Drama bleibt aber bestehen: Die Vermittlungsebene fällt im digitalen Medium nie weg! Während die digitale Poesie eindeutig und explizit an Vorbilder aus dem Printmedium anknüpft, zeigt sich die Parallele zwischen Hyperfiction (aus engl. hypertext und fiction)22 und der Narrativik in der Analyse: Auch in der Hyperfiction werden Geschichten durch Erzählung vermittelt, die narratologische Strukturanalyse (in medialer Modifizierung) ist möglich. Die Besonderheit der Hyperfiction liegt in der noch genauer zu behandelnden Fragmentierung der Handlung und des Diskurses, die, wie Jean Clément zusammenfasst, aber auch schon in der klassischen Printliteratur zu finden sind: Enfin l’hypertexte lui aussi a engendré une nouvelle littérature, fondée sur la rupture de la linéarité. Cette littérature du fragment et de la bifurcation n’est pas sans rappeler les digressions jubilatoires d’un Laurence Sterne ou la feinte interactivité de Jacques le fataliste.23

Hyperfiction und digitale Poesie unterscheiden sich aber nicht nur in den ererbten Merkmalen ihrer Print-Vorbilder, sondern auch in einer diametral entgegen-

21 Interessante Ansatzpunkte liefern Chats und Communities, die allerdings ohne Drehbuch und in aller Regel auch ohne literarische Ambition ablaufen. Susanne Berkenhegers aus einem Chat entstandenes Theaterstück „ich sterbe gleich schatz“ (2004) entdeckt einen verblüffenden gemeinsamen Nenner zwischen Chatkonvention und Dramennotation: In beiden gibt es Äußerungen der Protagonisten, die in direkter Rede und durch Angabe des Sprechers abgebildet werden. Aus einem solchen OriginalChatprotokoll ist ein erfrischendes Theaterstück entstanden, bei dem sie ihre MitChatter durch konsequentes Schweigen und indirekte Rede provozierte. Zunehmend gewinnen auch virtuelle Welten wie Second Life (http://secondlife.com) an Bedeutung. Hier handelt es sich um Grafikchats, bei denen die Anonymisierung des Spielers einerseits und die Inszenierung seines Avatars andererseits eine visuell-interaktive Bühne erhalten. 22 Da deutsch „Fiktion“ und englisch „fiction“ semantisch nicht identisch sind, wird im Folgenden der englische Ausdruck „Hyperfiction“ bevorzugt. 23 http://www.crdp-montpellier.fr/ressources/frdtse/F044021A.html

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gesetzten medialen Umsetzung. Wo Hyperfiction den Hypertext als ihr primäres Merkmal nutzt (daher auch der Name) und Multimedia ein fakultatives, eher selten genutztes Merkmal bleibt, ist die digitale Poesie ganz von Multimedia dominiert und greift kaum einmal zu hypertextuellen Komponenten. Diese harte Abgrenzung setzt sich im jeweiligen Trägermedium fort: Hyperfiction findet sich nahezu ausnahmslos frei zugänglich im Internet, wohingegen die multimedialen Gedichte auf CD-ROM in Literaturmagazinen veröffentlicht werden. (Mehr zum Vergleich der Gattungen in Kapitel 7.1). Setzt man die beiden digitalen Untergattungen zueinander ins Verhältnis, hat die Hyperfiction quantitativ den weitaus größten Anteil an der digitalen Literatur – was so weit geht, dass „Hyperfiction“ häufig synekdochisch mit ihrem Oberbegriff „Digitale Literatur“ gleichgesetzt wird. Daher richtet sich das Augenmerk in dieser Untersuchung hauptsächlich auf sie, insbesondere da hier der Stand der Forschung bisher noch nicht in einen einheitlichen Kontext gesetzt worden ist. Der digitalen Poesie ist das Kapitel 7 gewidmet.

1.4 E INE

FRANZÖSISCHE

H YPERFICTIONBIBLIOGRAFIE

Durch beharrliches Explorieren und Surfen im Internet, das Abonnieren einschlägiger Mailinglisten sowie diverse Empfehlungen ist ein Korpus französischsprachiger Hyperfictions entstanden, das eine fruchtbare Grundlage für eine ästhetisch motivierte literaturwissenschaftliche Erschließung der digitalen Literatur bietet. Diese Zusammenstellung erwies sich als schwierig, weil es – zumindest unter den hier geforderten Aspekten – keine Kanonbildung gegeben hat und die Autoren keine homogene Szene z.B. durch Webringe wie den deutschen bla bilden. Das Kriterium des Regensburger Ansatzes für die digitale Literatur ist die ästhetische Erschließung des Neuen Mediums. Unter der Prämisse der Literarizität konzentriert sich die Auswahl daher auf weitgehend textdominierte Werke aus dem Internet. Der folgende Überblick umfasst die „bibliografischen“ Angaben für die wesentlichen Werke aus dieser Epoche der französischen Literatur, von denen bedauerlicherweise einige auf Nimmerwiedersehen aus dem Internet verschwunden sind. Die Auswahl der einzelnen Werke spiegelt durch deren visuelle Charakteristik die Vielfalt der kreativen Ansätze sehr anschaulich wider.

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Tabelle 1: Digitale Werke und ihre Situierung in der Frankophonie Autor

Titel

Ort

Entstehung

François Coulon

L’Égérie, la vie d’Amandine Palmer24

F

1991-1994

François Coulon

20% d’amour en plus (CD-ROM)25

F

1996

Captage Production (Frédéric Kaplan & Silvère Tajan)

Le Bal du Prince26

F

1997

Pascale Trudel

Amazone27

CAN

1997

oVosite (Groupe d’auteurs autour Luc Dall’Armelina)

oVosite28 (z.B. Récits voisins, etc.)

F

1997-1998

Jean-François Verreault

Le Nœud29

CAN

1997-2001

Anne-Cécile Brandenbourger

Apparitions inquiétantes30

B

1997-1999

Jean-Paul

Les Cotres furtifs31

F

1998-2007

24 Download von http://www.francoiscoulon.com/rencontres 25 Download von ebd. 26 http://captage.nvdcms.org 27 http://studiodragon.ca/ssd.html. Auf der Seite http://studiodragon.ca/ (nicht mehr verfügbar; zuletzt: 06.02.2010) befinden sich weitere Werke aus den Jahren 1998, 2001 und 2006, die durch Sound- und Video-Einsatz ebenfalls multimedial ausgerichtet sind und durch ihre Kürze sowie die fehlende Hypertextualität eher in den Bereich der digitalen Poesie bzw. der net.art gehören. 28 http://hypermedia.univ-paris8.fr/oVosite/ 29 http://home.total.net/~amnesie/ (nicht mehr verfügbar; zuletzt: 06.02.2010) 30 http://www.anacoluthe.be 31 http://www.cotres.net/

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Pierre-Olivier Fineltin

24 heures d’Adrien32

F

1998

Lucie de Boutiny

NON-roman33

F

1997-2000

Robin Hunzinger

Vade-mecum34

F

1998

Alain Salvatore

Ecran Total35

F

1998-2002

Fred Romano

Edward_Amiga36

F

1998-2006

François Coulon

Pause (CD-ROM)

F

2001

Xavier Malbreil, Gérard Dalmon

Livres des morts37

F

2001

Myriam Bernardi

Ce qui me passe par la tête38

F

2002

Xavier Malbreil

Serial Letters39

F

2002

Pierrick Calvez

Days in a Day40

F

2002

32 http://pofineltin.free.fr/24h/. Mehr dazu vgl. auch http://www.hatt.nom.fr/rhetorique/ artic15b.htm 33 http://www.synesthesie.com/boutiny/index.htm 34 http://www.ressources.org (nicht mehr verfügbar; zuletzt: 03.08.2006). 2001 ist der „récit hyper-texte“ Vademecum als ein unbedeutendes Büchlein erschienen, das allein noch im Klappentext einen Bezug zur Hypertextvorlage herstellt: „Ce manuscrit est la suite du récit hyper-texte publié dans la revue desressources.“ 35 http://alain.salvatore.free.fr/ 36 http://fredromano.eu.pn 37 http://www.livresdesmorts.com/ 38 http://www.cequimepasseparlatete.com (nicht mehr verfügbar, zuletzt 22.01.2002). Das Konzept klang vielversprechend: Die Hypertexte ahmen in übereinander gelagerten Browserfenstern Denkprozesse nach, „qui progresse[nt] par digressions successives“. Bouchardon (2005), S. 147. 39 http://www.0m1.com/Serial_Letters/sla.htm 40 http://www.daysinaday.com/

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François Coulon

Le Réprobateur41 (Download)

F

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2008

Als erste Offline-Werke gelten neben 20% d’amour en plus das auf 3,5"Diskette verbreitete Werk Frontières Vomies von Jean-Marie Pelloquin (1995) und der „drame interactif“ Sale Temps (1997) von Franck Dutour, Jacky Chiffot und Gilles Armanetti. Online sind weiterhin die recht anschauliche, in binärer Verzweigung strukturierte Etüde La Pyramide truquée (1997/98) von François Debyser und die Hypertextadaption Locus Solus (1995/96) von Harald Winkler nennenswert. Ein bemerkenswerter Versuch, digitale (hyperfictionnahe) Werke gleichberechtigt in das Verlagswesen zu integrieren, sind die ansatzweise hypertextuellen PDF-Romane der Editions 00h00.com; ganz abgesehen davon setzten sie auch für die digitale Literatur recht interessante Konzepte um. (Mehr dazu vgl. Kapitel 4.1.2) Typisch für das Medium und wirklich gravierend ist, dass über den im Netz publizierten Hyperfictions immer das Damoklesschwert des Verschwindens schwebt. Im flüchtigen Medium ist die Dauerhaftigkeit eines Werks permanent gefährdet: Der Verlag 00h00 hat zugemacht, Vademecum ist im Jahr 2002, Apparitions inquiétantes 2006 spurlos aus dem Netz verschwunden und glücklicherweise einige Jahre später unter einer anderen Domain wieder aufgetaucht, auf NON-roman wurden einige Seiteninhalte bei gleich gebliebener URL verändert, Les Cotres furtifs wurde in einem Maß überarbeitet, dass es im Grunde durch ein neues Werk des gleichen Namens ersetzt wurde, Edward_Amiga hat mehrere Domainumzüge durchlaufen, so dass sich immer wieder die Pfade der URLs und Links geändert haben, wenn auch die Seiten selbst unverändert erhalten blieben und weiterhin zugänglich sind, Le Nœud ist (sehr bedauerlich!) komplett verschwunden, und die Primärwerke auf der noch bestehenden Seite Mélusine sind ebenfalls für die Öffentlichkeit verloren. Von der Existenz einer ganzen Reihe weiterer Werke zeugen heute nur noch vereinzelte Spuren, die die reiche Produktion französischsprachiger Hyperfictions gegen Ende des Millenniums nur mehr erahnen lassen. Beispielsweise befand sich bei Fred Romano42 eine Liste von weiteren Primärwerken aus der Zeit um 1998, die ausnahmslos aus dem Netz verschwunden sind. Bezeichnenderwei-

41 http://www.francoiscoulon.com/le_reprobateur.html 42 http://www.terra.es/personal/fromano/Edw_amiga/excite.htm (nicht mehr verfügbar; zuletzt: 06.02.2010)

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se ist diese Liste selbst auch nicht mehr verfügbar. Der Topos „Das Internet vergisst nicht“ bewahrheitet sich in diesem Fall leider nicht. Auch die Betrachtung der digitalen Poesie orientiert sich an exemplarisch ausgewählten Einzelwerken. Angefangen bei „La Ville“, einem der wenigen hypertextuell strukturierten Gedichte im Internet, von Pierre de la Coste auf der Seite Mélusine, über die OuLiPo-nahen bilderrätselartigen Werke von Richard Barbeau und die Aktionskunstgedichte von Benjamin Gomez führt die Zusammenschau hin zur multimedialen Aktualisierung Visueller und Konkreter Poesie im Lyrik-Magazin DOC(K)S. Eric Serandour gab ein Poesie-Magazin heraus, LÔÔP, dessen herunterladbare Gedichte mit deutlichem visuellem Gewicht sich durch steigende Entropie verändern, ja auflösen. Die Entwicklung kulminiert in der algorithmischen Poesie, die, so der Anspruch, rein prozedural und nicht mehr als Objekt definiert ist; damit entfernt sie sich weitest möglich von den gedruckten Gedichten. Mehr dazu vgl. Kapitel 7.

1.5 I NTERNATIONALE B ESTANDSAUFNAHME Im Kontext eines Rhizoms von Grenzen zu sprechen, scheint paradox, ist das Rhizom doch die Metapher par excellence der Assoziativität. In postmoderner Manier kann man aber zugleich von der dissoziativen Kraft des Rhizoms sprechen, denn fehlen die kohäsiven Kräfte zwischen den Elementen des Rhizoms, erlangt das normalerweise verbindende Element das Potential zum Trennen. Politisch-wirtschaftliche (Landes-) Grenzen sind für die Betrachtung des Symbolsystems digitale Literatur im Grunde unerheblich. Es sind vielmehr die Sprachbarrieren, die für eine „Cluster“-Bildung der Seiten sorgen und die Redeweise von einer französischen, englischen oder deutschen digitalen Literatur erlauben. Dennoch finden sich die entsprechenden Phänomene in unmittelbarster Nähe und in ein und demselben Kontext, nämlich dem Internet, dessen einzelne Seiten bzw. Domains durch die Suchmaschinen rasch in einen kontigen Kontext gesetzt werden können, tatsächlich als „information at your fingertips“, wie Bill Gates 1994 mit Blick auf das Internet prophezeit hatte. Dass inmitten dieser grenzüberschreitenden Produktivität die französische digitale Literatur ihren eigenen, unverwechselbaren Charakter zu finden vermocht hat, wird ein kurzer, vergleichender Blick über die Sprachengrenzen weisen.

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1.5.1 Die USA, „Mutter aller Hyperfictions“ Wie so viele computertechnologische Innovationen entstammt auch der Hypertext letztlich dem US-amerikanischen Umfeld, das sich als fruchtbar sowohl für die Theorie als auch die Praxis der Hyperfiction erwiesen hat. Legendär ist das als erste Hyperfiction geltende, 1987 von Michael Joyce verfasste und 1991 von Eastgate verlegte Werk Afternoon, a Story, da es als erstes rein digitales Werk offizielle Anerkennung außerhalb der Nische der Neuen Medien erfuhr: Es wurde als erste Hyperfiction in den Kanon der Norton Anthology of Postmodern American Fiction aufgenommen.43 Seither haben sich, ausstrahlend aus den Vereinigten Staaten und dem Vorbild Joyce’ und Co. folgend, auch in anderen Ländern innovative, zunehmend ernst zu nehmende Literaturformen etabliert. Die englischsprachige Szene digitaler Kunst und Literatur ist weltweit tonangebend. Einen förderlichen, aber zugleich auch kanalisierend einschränkenden Einfluss auf die US-amerikanischen Hyperfictions hat der bereits genannte Verlag Eastgate, der die Software Storyspace („the tool of choice for hypertext writers“) und besonders gelungene, damit erzeugten Werke vertreibt.44 Seine Rolle für die vorurteilsfreie Akzeptanz von Hyperfictions als kreativem, der Zeit und ihren Medien angemessenem Highlight kann man nicht hoch genug einschätzen. Als Verlag kann Eastgate natürlich nicht anders, als seine Hyperfictions in Buchtradition herauszugeben: Die Werke werden auf Diskette bzw. CD-ROM zwischen Buchdeckeln verkauft. Natürlich hat aber auch Eastgate nicht das Monopol auf die vorwiegend englischsprachige Hypertextliteratur, und so stehen mittlerweile viele Werke auch frei zugänglich im Netz. Die literarische Produktion und Akzeptanz und Forschung sind in den USA deutlich weiter fortgeschritten als in Europa. Das akademische, vor allem geisteswissenschaftliche Interesse an Hypertext in Theorie und Praxis ist dort riesig; künstlerisch, und populärkulturell sowieso, führt in den Vereinigten Staaten seit den 1990er-Jahren kein Weg am Computer vorbei.45

43 Geyh et al. (1997) S. 576-580. Auch „I Have Said Nothing“ von J. Yellowlees Douglas befindet sich in dieser Anthologie, S. 573-576. Die tatsächlich „erste“ Hyperfiction ist Afternoon aber nicht: Bereits 1981 hatte Alan Lance Andersen ein „electronic storybook“ für den Commodore für Kinder veröffentlicht mit dem Titel Elfland Catacombs, vgl. http://en.wikipedia.org/wiki/Elfland_catacombs 44 http://www.eastgate.com 45 Mayer & Schneck (1995), S. 2.

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Dementsprechend findet sich im US-amerikanischen Raum eine schier unüberschaubare Vielzahl von (Online-) Publikationen zum Thema Hyperfiction. Einen Überblick über die englischsprachigen Listen (die fast ausnahmslos USamerikanisch sind) liefert die Seite Cyberfiction.46 Bekannte Spezialisten für die digitale Literatur in den USA sind Jay David Bolter, Noah Wardrip-Fruin, N. Katherine Hayles, Marie-Laure Ryan, George P. Landow,47 Lev Manovich sowie eine Riege internationaler Forscher wie Espen Aarseth, Raine Koskimaa, Jan van Looy und Roberto Simanowski, der das im deutsch- und englischsprachigen Raum hoch geachtete Online-Magazin dichtung-digital48 betreibt. Da Afternoon, a Story diese immense Bedeutung als „erste Hyperfiction“ erlangt hat, ist eine etwas genauere Betrachtung dieses quasi „Urtexts“ interessant. Afternoon wird als Kaufprodukt vertrieben, in Form eines kartonierten Umschlags, der eine Diskette und ein Booklet enthält. Dem Erscheinungsbild nach gleicht es somit einem Printwerk. Abbildung 1: Erste Seite von Afternoon mit bibliografischen Angaben

Quelle: Screenshot aus Afternoon

46 http://www.cyberfiction.ch/beluga/hyplist.html#ENG 47 Empfehlenswert auch Landows’ Website zu Cyberspace, Hypertext, and Critical Theory. http://www.cyberartsweb.org/cpace/ 48 http://www.dichtung-digital.org

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Tatsächlich ist aber das traditionell Offensichtliche (das Beiheft) die Beigabe und die beigefügte Diskette das Hauptsächliche, ganz so als benötigte die Diskette zur Daseinsberechtigung das gedruckte Heft als Trägermedium. Auch die Eingangsseite der eigentlichen Hyperfiction orientiert sich deutlich an Printmedien, da hier die üblichen bibliografischen Informationen angezeigt werden. Das Beiheft enthält eine Anleitung für den interaktiven Umgang mit dem Programm im Kapitel „Navigating“. There are always options, wherever you are reading. The lack of clear signals is not an attempt to vex you, but rather an invitation to read inquisitively, playfully or at depth. Click on words that interest or invite you. (S. 4)

Außerdem werden dem Leser Logik und digitale Besonderheit des Werks vorab erklärt, die auf der hypertextuellen Interaktivität basieren. The story exists at several levels; the story changes depending on decisions you make. A screen you have read before may lead to something unfamiliar, because of a choice you make, or choices you have made on other screens of that reading. (S. 4) There is no indication of which words yield; but they are often character names, pronouns, and words which seem particularly interesting. (S. 8)

Bezeichnend doppeldeutig ist nicht zuletzt die folgende Rubrik im Beiheft, „THE READER TOOLS“. Dies sind die Funktionen, die das WiedergabeProgramm „Storyspace Reader“ enthält, zugleich aber auch die Werkzeuge, derer sich der menschliche Leser für die Lektüre bedienen kann. Aufschlussreich für das Selbstverständnis ist aber insbesondere die Redeweise vom Hypertext als „book“ zur Erläuterung der Lesezeichen: You may want to save your place in the book – so that you can resume reading at that page as if you had never gone away. (S. 8)

Und so funktioniert schließlich die Lektüre des Texts, des „Buchs“: Die Fabel ist einfach, der Schriftsteller Peter hat ein verunglücktes Auto gesehen und befürchtet, es könnte seiner Ex-Frau gehören und sein Sohn könnte in dem Wrack gestorben sein. Für die Lektüre kann nahezu jedes Wort angeklickt werden, was, wie oben bereits erwähnt, nicht so offensichtlich ist wie in den heutigen Hypertexten im WWW: Die Schlagworte sind nicht markiert, beeinflussen also die Lesepräferenz nicht; der Leser ist in den Entscheidungen, welches Wort er als Ausgangs-

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punkt aus dem vorliegenden Textbaustein wählen soll, formal völlig frei, während die farblichen und typografischen Merkmale der im WWW sonst üblichen HTML-Links bereits optisch zum Klicken einladen. In Afternoon wird die Markierung erst im Moment des Klickens sichtbar, eine dünne rote Rahmenlinie umzeichnet das angeklickte Wort in dem Moment, in dem die Auswahl bereits getroffen ist. Auf der Seite mit dem Fenstertitel „Peter, Peter“ führt der Klick auf ein beliebiges Wort („fireflies“, „child“, „romantic“, „decipher“, etc.) oder auf den weißen Hintergrund den Leser zur Seite „Henry Ford“. Ausnahmen sind die Links „wife“, der zur Seite „ex-wife“ führt, bzw. „Wert“, der auf die Seite „Werther2“ verweist. Auch jeder Klick ins Weiße der Textoberfläche führt zu einer neuen Textseite. Am unteren Bildschirmrand finden sich einige Icons, die zusätzliche Interaktionsmöglichkeiten gestatten. Dazu gehört eine Funktion, mit dem System in interaktiven Dialog zu treten: Auf eine im Text gestellte Frage kann man durch Klick auf den entsprechenden „Y“- oder „N“-Button bejahend oder verneinend antworten und so die Anzeige der nächsten Seite beeinflussen. Abbildung 2: Explizite Entscheidungsaufforderung an den Leser

Quelle: Screenshot aus Afternoon

Eine weitere Orientierungshilfe bietet die History, die die Titel der besuchten Seiten auflistet und so für eine reizwort-ähnliche Synopse sorgt, z.B. „start –

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begin – she – Nausicaa2 – Giulia – Giulia? – Jean Tinguely – metamechanics – Siren – Hermes“. Afternoon ist ein rein textbasierter Hypertext, ganz ohne multimediale Elemente, was der frühen Entstehungszeit und ihren noch eher rudimentären technischen Möglichkeiten zuzurechnen ist.49 Das Werk besticht durch die überraschende Visualisierung der (post-) strukturalistischen Wahrnehmung von Wörtern als nicht vorhersehbaren, untereinander vernetzten Wortbedeutungen, die eine Logik jenseits der Textbedeutung zwischen den einzelnen Elementen erkennt. Der Klappentext auf der Seite von Eastgate beschreibt die Leistung von Afternoon wie folgt: Afternoon is a rich and lyrical exploration of the tangled strands of knowing and memory, the interconnections that bind and unravel the intersecting lives of its postmodern characters.50

Als Visualisierung und Metapher der Intertextualität verweist Afternoon auch direkt auf andere Literatur, z.B. das Gedicht von Robert Creeley, „Pieces“. Durch die Umsetzung im Hypertext wird ein anderer, introspektiver und intimer Zugang zu der Geschichte gewährt als beim linearen Lesen, die Perspektive des Ich-Erzählers wird durch die Technik der Assoziationen und Entscheidungszwänge, der unsicheren Erinnerungsfetzen und frei wählbaren Gedankensprünge ideal ergänzt. Auch wenn man bei ausgiebigem „Explorieren“ im Text das gesamte Textkorpus entdeckt, eröffnet der innovative Zugang zur Geschichte ein ganz eigenes Rezeptionserlebnis. 51

49 Das Angebot multimedialer Anwendungen hängt eng mit der Verbindungstechnik und ihrer Verbreitung in den Haushalten zusammen. Wirklich komfortabel wird die Übertragung datenintensiver Anwendungen erst durch DSL-/Breitbandanschlüsse, denn der langsame Zugang über Modem machte bis zum Ende der 1990er-Jahre einen aufwändigeren Multimedia-Einsatz unzumutbar. 50 http://www.eastgate.com/catalog/Afternoon.html 51 Genauer: vgl. Harpold (1998), S. 637-648.

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Weitere Klassiker der US-amerikanischen Hyperfiction bei Eastgate sind:52 • • • • • • • •

Stuart Moulthrop: Victory Garden. 1991 (Diskette) Carolyn Guyer: Quibbling. 1992 (Diskette) Mary-Kim Arnold, J. Yellowlees Douglas: Lust. I Have Said Nothing. 1994 (Diskette) Shelley Jackson: Patchwork Girl. 1995 (CD-ROM) Michael Joyce: Twilight, A Symphony. 1996 (CD-ROM)53 Judy Malloy: its name was Penelope. 1993 (CD-ROM) Bill Bly: We Descend. 1997. (CD-ROM)54 M. D. Coverley: Califia. 2000. (CD-ROM)

Neben den bei Eastgate verlegten Werken gibt es aber auch noch etliche Meilensteine der englischsprachigen Hyperfiction frei zugänglich im Internet. Sie zeichnen sich durch unterschiedliche Ansätze und Anliegen aus. Da diese Literaturszene, wie eingangs erwähnt, bereits wohl dokumentiert ist, sollen sie hier nur genannt werden: • • •

Rick Pryll: Lies.55 1994. Michael Joyce: Twelve Blue.56 1996. Rosemary Joyce, Carolyn Guyer, Michael Joyce: Sister Stories.57 2000.

52 Einen anschaulichen Fundus an Hyperfictions bei Eastgate und im Internet bietet die Übersicht zu „Original Hypertext“ von Michael Shumate (http://www.duke.edu/ ~mshumate/original.html, nicht mehr verfügbar; zuletzt: 06.02.2010). Ein Whoiswho vor allem der englischsprachigen liefert die ausführliche Datenbank ELO (Electronic Literature Directory). Für die französischsprachigen Autoren und Werke ist aber auch sie nicht ergiebig. 53 Auch Joyces erster Roman The War Outside Ireland (1982) wird von Eastgate verlegt, aus geschicktem Kalkül: Immerhin ist er der Hyperfictionautor, der auch schon eine Karriere im Printmedium aufweisen kann, und Eastgate nimmt ihn so ganz für sich in Beschlag. Er hat 1983 für o.g. Roman den Great Lakes New Writers Award in fiction erhalten. 54 Ein Exzerpt befindet sich im Netz: http://wordcircuits.com/gallery/descend/Sky Banner.htm 55 http://benz.nchu.edu.tw/~garden/lies/lies.html 56 http://www.eastgate.com/TwelveBlue/ 57 http://www.nyupress.org/sisterstories/ (nicht mehr online, zuletzt: 06.02.2010)

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Geoff Ryman: 253. a novel for the Internet about London Underground in seven cars and a crash.58 1995. Mark Amerika: GRAMMATRON.59 (1995) Shelley Jackson: my body – a wunderkammer.60 1997. Pipsqueak Productions: The Company Therapist.61 1996-1999. Rob Swigart: About Time. A Digital Interactive Hypertext Fiction. Two Braided Parallel Paths. A Double Helix.62 2002. Judy Malloy: Dorothy Abrona McCrae.63 2000. Nick Montfort: Ad Verbum.64 2000.

Andere digitale Genres wie die Visuelle Poesie, new media art, net art, media poetry, holopoetry, digital poetry, biopoetry etc. haben mit Kreativen wie Eduardo Kac, Jim Rosenberg, Jim Andrews, jodi, Loss Pequeño Glazier und Noah Wardrup-Fruin eine umfassende Blüte erfahren.65

58 http://www.ryman-novel.com/. 253 ist auch als Buch veröffentlicht worden und hat 1998 den Philip K. Dick Award erhalten. Geoff Ryman kann eine beeindruckende Liste von Science-Fiction- und Fantasy-Preisen für seine Printwerke aufweisen – von denen es auch etliche gibt. Vgl. http://www.fantasticfiction.co.uk/r/geoff-ryman/ 59 http://www.grammatron.com/. Laut Amerika (o. Jahr) „a narrative project [...]. GRAMMATRON is a multi-media, virtual reality writing-machine that translates your experience *for* you *as* you experience it. It takes place in a near future environment modeled after the Net but with Alt-X styled writing mixed with music, graphics, movies, theory, etc.“ 60 http://www.altx.com/thebody/ 61 http://www.thetherapist.com 62 http://wordcircuits.com/gallery/abouttime/title.html 63 http://www.judymalloy.net/dorothy/ 64 http://nickm.com/if/adverbum_web.html 65 Einen Überblick über die internationale e-poetry-Szene liefert die Seite Electronic Poetry Center der University at Buffalo (The State University of New York): http://epc.buffalo.edu/e-poetry

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1.5.2 Die exception culturelle française Die Situation in Frankreich ist auch mit Blick auf den Entwicklungsstand der Neuen Medien durch eine exception culturelle gekennzeichnet.66 Frankreich hatte sehr früh, bereits in den 1980er-Jahren, das Bildschirmtextsystem Minitel eingeführt und damit eine frühe e-Commerce- und Kommunikationsplattform breitflächig nutzbar gemacht; deren Erfolg behinderte in den 1990er-Jahren jedoch die Einführung des Internets, so dass der digitale Fortschritt in Frankreich anderen Ländern um rund zwei Jahre hinterher hinkte,67 obwohl eigentlich die französische Kulturpolitik unter Jack Lang mit dem Motto des tout culturel dezidiert eine Ausdehnung des Kulturbegriffs auf alle Bereiche der populären und Jugendkulturen sowie auf industrielle, technologische und mediale Produktionen anstrebte.68 Erst als sich ab 1998 die staatlich initiierte Aufholjagd mit einer Senkung der Preise für Computer und den Internetzugang verband, setzten sich die Computer in den Haushalten durch.69 Wie die Entstehungszeiten insbesondere der Hyperfiction-Werke zeigen, haben sich die französischsprachigen Medienschaffenden angesichts dieses gesellschaftskulturellen Umfelds sehr früh mit den neuen technischen Möglichkeiten beschäftigt, so dass eine Hochphase digitaler Schaffenskraft bereits in den Jahren 1999-2000 stattfand. Die ausgewählten Werke belegen es. Dennoch war und blieb ihnen insbesondere im eigenen Land wenig öffentliche Resonanz und Anerkennung beschieden. Ab 1998 wurden im Zuge des Programme d’action gouvernemental pour préparer l’entrée de la France dans la société de l’information (PAGSI) verschiedene Initiativen lanciert:70 Espaces Culture Multimédia (ECM), Espaces publics numériques (EPN), die Point-Cyb des Ministère de la Jeunesse et des sports, und die Point d’accès public à Internet (PAPI), die einer breiten Bevölkerungsschicht den Zugang zu den Neuen Medien gewähren sollten – sogar mit dem klaren Ziel, ihnen dadurch „outils d’expression et de création“ an die Hand

66 Mehr zur Entwicklung und den Zielen der französischen Kulturpolitik liefert Asholt (2005), leider bleiben die Neuen Medien Computer und Internet von der Zusammenfassung ausgespart. 67 Vatter (2004), S. 238 ff. 68 Vgl. Fumaroli (1991), S. 272. Allerdings haftet dem Begriff wie bei anything goes schnell der Vorwurf der Nivellierung an. 69 Vgl. Vatter (2004) S. 240 und Donnat (2007), S. 108. 70 Das offizielle Organ im Internet ist Le Portail Société de l’Information, http:// archives.internet.gouv.fr/archives/index.html

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zu geben.71 Trotz aller Bemühungen musste aber noch 2003 für die Nutzung des Internets im Vergleich zu den Vereinigten Staaten ein Rückstand festgestellt werden: „La part prise par l’Internet reste plutôt modeste (6h 47 minutes, contre 9h 41 minutes aux États-Unis).“72 Aus L’État de la France lassen sich auch die Tendenzen in ihrem Zeitverlauf ablesen: Wird selbst in der Ausgabe von 2004 das Internet noch als „Média potentiel“73 betrachtet, billigt ihm die Ausgabe 2007 zu, „Média en pleine expansion et évolutif“74 zu sein. Immerhin sind 2007 die „progrès spectaculaires de l’équipement en ordinateur (plus de la moitié des ménages en ont un chez eux) et des usages d’Internet“75 unzweifelhaft. Vor dem Hintergrund einer eher zähen Erfolgsgeschichte mag es überraschend erscheinen, dass das akademische Interesse an Computern und Literatur (bzw. Text) sehr früh einsetzt. Ab Anfang der 1990-er Jahre publizieren renommierte Wissenschaftler wie Jean-Pierre Balpe, Philippe Bootz, Jean Clément, Pierre Lévy und Gérard Verroust am Département Hypermédias der Université de Paris 8 über die veränderten medialen Bedingungen beim Schreiben, und mit dem Aufkommen des Internets ist auch das Interesse am Phänomen der (USamerikanisch geprägten) Hyperfiction da.76

71 http://www.ecm.culture.gouv.fr/. Auch regional gibt es ein empfindliches Gefälle in Bezug auf den Zugang zu Computern und Internet, das als fracture numérique bezeichnet wird; vgl. Ducourtieux (2002): „La Bretagne rompt avec le désert numérique français“ in Le Monde vom 22.10.2002. 72 Cordellier & Netter (2003), S. 161. Eine zusätzliche, allerdings auch nicht zu überbewertende Rolle mag ein gewisses Misstrauen der Franzosen gegenüber der USamerikanischen Herkunft der Technologie gespielt haben; vgl. Vatter (2004) S. 240. Die zunehmende Internationalisierung des Internets wird mit einer Anglifizierung gleichgesetzt und unterminiert nach französischem Selbstverständnis die Rolle des Staates; vgl. hierzu Cordellier & Netter (2003), S. 157. 73 Ebd. 74 Charon (2007), S. 127 75 Donnat (2007), S.108. Von 61 Millionen Franzosen haben laut Médiamétrie 19,7 Millionen Menschen das Internet genutzt, bei einer Zahl der Internetanschlüsse von 12 Millionen, vgl. Charon (2007), S. 131. Allerdings relativiert sich diese Erfolgsmeldung, wenn man sie mit der Zahl der Internetnutzer in Deutschland vergleicht: wie die ARD/ZDF-Online-Studie für 2007 ermittelt, überschritt die Internet-Nutzung erstmals 40 Millionen, was einem Anteil der Internet-Nutzer von 62,7 Prozent entspricht. Vgl. http://www.ard-zdf-onlinestudie.de/fileadmin/Onlinestudie_2007/PM2007.pdf 76 Vgl. die Publikationsliste von Jean Clément, http://hypermedia.univ-paris8.fr/jean/ clement.htm. Heutige Schwerpunkte der Lehre und Forschung sind die „Création et

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Eine breitenwirksame Diskussion zu französischsprachigen Hyperfictions kam aber nicht richtig in Gang, und auch wenn es durchaus interessierte Rezensionen oder Einzeluntersuchungen gab, noch 2006 wurde der digitalen Literatur im Lexikon des französischen Kulturministeriums das Zeug zur eigenen Narrativik abgesprochen: Le récit du XXIe siècle s’annonce comme un road movie sur décor d’autoroutes de l’information. La nouvelle conception du déroulement de l’histoire ne propose, ni de nouveaux modes d’interprétation, ni une nouvelle dramaturgie.77

Möglicherweise war die digitale Literatur aber auch einfach nicht in die Betrachtung einbezogen. Ein zunehmendes Interesse am Dreigestirn Internet, Literatur & französische Sprache zeigte im Herbst 2005 die Konferenz L’Internet littéraire francophone78, organisiert von Henri Béhar und Michel Bernard von der Equipe de recherche Hubert de Phalèse (littérature et informatique) der Université Paris 3 Sorbonne Nouvelle, Lettres Modernes et Outils informatiques79. Sie vertreten eine andere Position als die selbst digitalliterarisch ambitionierten Hypermedia-Spezialisten der Université Paris 8, stellen die Frage, was der Mehrwert der Kombination von Literatur und Neuen Medien sein kann – und sein darf: In Frankreich wird der Computer traditionell nicht als Medium für Literatur, sondern meist nur als Werkzeug für die computerunterstützte Literaturanalyse anerkannt. Diese Sicht ist zugleich Ursache und Folge einer Auffassung des Computers als eines „pur instrument“. 80 Auch anhand von Mailinglisten lassen sich der Diskurs und das akademische und öffentliche Interesse an den Wechselwirkungen zwischen Literatur und den Neuen Medien ersehen.81 Federführend ist hier die Liste e-critures,82 gegründet

édition numérique“, „Technologies de l'hypermédia“ und „Numérique: enjeux et technologies“. 77 Lexikon des Ministère de la culture et de la communication zur Médiation culturelle et politique de la ville (2006), Eintrag „T“ für „TIC“. 78 http://www.berlol.net/ILF2005/ILF2005x.htm 79 http://www.cavi.univ-paris3.fr/phalese/ 80 Baetens (2002) S. 122, besonders deutlich auch bei Bernard (1999). Welche weiteren vielfältigen institutionellen, nicht unbedingt ästhetisch motivierten Beziehungen sich in Frankreich zwischen Literatur und Internet etablieren, liest sich auch bei Cramer (1999) und Pognant (2003). 81 Vgl. zur Rolle der Mailinglisten bei der Problematik der Kanonbildung Hartling (2003).

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von Xavier Malbreil, in der so gut wie alle französischsprachigen Künstler vertreten sind.83 Vergleicht man den Diskurs auf e-critures mit ihrem deutschen Pendant, der Liste Netzliteratur, so lässt sich anhand einer quantitativen Stichprobe ein weiterer Beweis für den verzögerten digitalen Diskurs in Frankreich feststellen. Von Oktober bis Dezember 2004 gingen über die Netzliteratur-Liste ca. 72 Mails, über e-critures dagegen 260. Als daher am 02.06.2004 der Administrator der Netzliteratur-Liste Oliver Gassner, selbst ein Netzliterat, eine EMail mit dem schlichten Betreff „RIP“ zum Tode des Autors Reinhold Döhl verschickte, schien sich dieser Titel auf den ersten Blick auf den Tod der Liste selbst zu beziehen, deren Beiträge zeitweise, etwa im Mai 2004, stets Testrufe ins Leere blieben und inhaltslos verhallt waren. Auch was die Qualität und den Bezug zum Thema der Beiträge betrifft, fiel die deutsche gegen die französische Liste ab, da hier die Liste als allgemeiner Kommunikationskanal Gleichgesinnter genutzt wurde und nicht unbedingt das gemeinsame Thema im Vordergrund stand.84 Nichtvirtuell fanden von Februar 2003 bis Mai 2004 in Paris regelmäßige Treffen Kunstschaffender rund um François Coulon statt, die sogenannten „Mardis numériques“, zu denen es auch aufschlussreiche comptes rendus nachzulesen gab. 85 Generell spielen aber die digitalen Medien im Literaturbetrieb eine höchst vernachlässigbare Rolle. Der Blick in die Fachpresse zeigt, dass beispielsweise in Lire: Le magazine littéraire. L’actualité de la littérature française et de la littérature étrangère86 nur Inhalte für ein buchinteressiertes Massenpublikum angeboten wurden (was unter kommerziellen Gesichtspunkten natürlich auch zu erwarten ist), aber auch in der Rubrik „Web littéraire“ wurden nur Sites

82 http://www.e-critures.org 83 Wer sich für diese Liste interessiert, muss erst einen Aufnahmeantrag an den Moderator der Liste senden, und alle Nachrichten, die über die Liste verbreitet werden, passieren ebenfalls diese Kontrollinstanz. 84 Potentiell interessant ist auch die Mailingliste LITOR, die sich als eine „Liste de discussion francophone sur les études littéraires et l’ordinateur“ versteht, als ein „outil de communication et d’échanges électroniques proposé et dirigé depuis octobre 1999 par l’équipe de recherche Hubert de Phalèse“ (http://www.cavi.univ-paris3.fr/ phalese/litor1.htm). Auch LITOR liefert für die digitale Literatur wie hier betrachtet kaum nennenswerte Beiträge – sie ist entsprechend ihrer französischen akademischen Herkunft dem konservativen Geist des Computers als outil anstelle média verhaftet. 85 Vgl. http://www.francoiscoulon.com/rencontres/ (nicht mehr verfügbar; zuletzt: 30.08.2007) 86 http://www.lire.fr (nicht mehr verfügbar; zuletzt: 30.08.2007)

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empfohlen, die in einem weiteren Bezug zu Literatur im Sinne einer Printliteratur stehen. Dass beispielsweise die Hypertextliteratur-affine Seite Mélusine hierhin geraten ist, liegt nicht an der Relevanz des digitalen Mediums, sondern an ihrem Interesse an neuen Formen der écriture. Die traditionelle édition und die cyberédition, also die elektronische Veröffentlichung, werden unterschiedlich bewertet, die online vertriebenen „Bücher“, meist eBooks, unterliegen auch nicht wie die gedruckten Bücher einem ermäßigten Mehrwertsteuersatz, sondern wie Datenträger dem Standardsatz. Digitale Literatur hat auf dem Literaturmarkt einfach keine Lobby gefunden. Und dies lässt sich allenthalben spüren: Wo sich der interessierte Leser im Internet als dem natürlichen Medium dieser Literaturgattung problemlos und ausführlich über deutsche oder englischsprachige digitale Literatur informieren kann, gestaltete sich die Informationssuche nach frankophoner digitaler Literatur deutlich schwieriger. Der Schweizer Beluga Verlag, der sich auf Hyperfiction spezialisiert hat, stellt auf seiner Website die „Liste aller Listen“ zur Hyperfiction bereit, für drei Sprachen: Deutsch, Englisch und, immerhin, Französisch. Die Hoffnungen auf eine einfache Korpusermittlung anhand dieser französischen Liste erfüllen sich jedoch nicht: Die Meta-Liste enthält für Französisch die magere Ausbeute von nur drei Verweisen:87 ein Verzeichnis elektronischer Literatur von der Uni Swarthmore (USA), das sich auf die traditionelle (also digitalisierte) Literatur im Netz beschränkt (clicnet)88, eine frankokanadische Seite (Alexandrie – la bibliothèque virtuelle), die ganz wie ihr historisches Vorbild verschwunden ist, und eine Liste über Online-Literatur von Le Monde aus dem Jahr 1999, die ebenfalls nicht mehr abrufbar ist. Diese Liste des Scheiterns ließe sich fortführen; im Artikel „Numériquement littéraire...“ vom 09.06.2005 in Le Monde etwa werden genau fünf Werke digitaler literarischer Produktion aufgezählt, davon gerade mal zwei auf Französisch. Besonders aufschlussreich für die Stellung der Hyperfiction im Kontext der französischen Literatur ist die Rubrik Création en ligne innerhalb der Kategorie „Literatur des 21. Jahrhunderts“ der BnF: Alle hier aufgeführten Werke entstammen der digitalen Poesie und der Netzkunst, kein einziges der Hyperfiction.89 Erst 2005 stellt Serge Bouchardon von der Université de Technologie de

87 http://www.cyberfiction.ch/beluga/hyplist.html#FRA 88 http://clicnet.swarthmore.edu/litterature/litterature.html 89 http://signets.bnf.fr/html/categories/c_840xxi_creation.html (nicht mehr online; zuletzt: 29.08.2007)

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Compiègne eine erste Übersicht über frankophone Hyperfictions zusammen,90 und wiederum erst im September 2007 erschienen zugleich eine Website zur Fiction interactive91 und bei der Bpi ein erstes Werk über digitale Werke im Internet.92 1.5.3 Netzliteratur in Deutschland und der Regensburger Ansatz Die Schwerpunktsetzung bei der Kombination von Computermedium und Literatur ist, wie im Vorigen bereits angeführt, länderspezifisch verschieden. Wo die Forschung in Frankreich den Computer als nützliches Werkzeug für eine computerunterstützte Literaturanalyse auf eine Hilfsfunktion reduziert und die USA sich auf die Hypertextualität konzentrieren, steht in Deutschland das Vernetzungsparadigma und damit die Wahrnehmung eines technosozialen Systems im Fokus. Dies lässt sich beispielhaft im Diskurs in dem bereits genannten OnlineMagazin dichtung-digital von Roberto Simanowski nachprüfen,93 und es zeigt sich exemplarisch bereits im Namen der Mailingliste Netzliteratur.94 Charakteristisch für die Behandlung in Deutschland war (theorieseitens) viel teminologischer Wildwuchs, immer wieder haben einzelne Forscher vergeblich versucht, dem Thema durch neue Begriffsschöpfungen ihren eigenen Stempel aufzudrü-

90 Vgl. http://www.berlol.net/ILF2005/ILF2005x.htm#BOUCHARDON. Der recht ähnliche Überblick über die französischen Hyperfictions bei Bauer & Mecke (2006) ist bereits 2003 zusammengestellt worden. 91 Damit erfasst Bouchardon einen Großteil der Hyperfictions, auf die sich auch die vorliegende Arbeit stützt, nimmt aber zu den „récits interactifs“ in einem weiter gefassten Kontext „autres œuvres interactives“ hinzu, die eher der net.art zuzurechnen sind. Vgl. http://www.utc.fr/~bouchard/recit/consultation/ 92 Bouchardon (2005). Weite Teile des Werks widmen sich erst ausführlich den Entstehungsbedingungen wie dem Editionsprozess und den Rollen von Autor und Leser im sozialen Verbund, ehe es in einem dritten, letzten Teil konkret um einzelne Werke geht. 93 http://www.dichtung-digital.org 94 Der Begriff Netzliteratur ist in sich nicht unproblematisch. Dies zeigt sich beispielhaft daran, dass die Subsumierung aller digitalen Werke unter den Begriff Netzliteratur an ihre Grenzen stößt, wie die paradox scheinende Rubrik „Netzliteratur offline (CDs)“ auf Oliver Gassners Seite Netzliteratur zeigt. http://www.netzliteratur.de/

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cken.95 Mittlerweile sind neben dem Leitparadigma „Netzliteratur“ die Begriffe „Hyperfiction“ und „Digitale Literatur“ akzeptiert. Der Regensburger Ansatz nimmt eine von allen genannten (inter-) nationalen Kontexten und Traditionen abweichende Sichtweise ein und stellt das Symbolsystem Frankophone digitale Literatur in den Mittelpunkt der literarischästhetischen Untersuchung, aus einem dezidiert literaturwissenschaftlichen Verständnis heraus.96 Damit sind sowohl die Definition des Gegenstands als auch die eingenommene methodisch-analytische Ausgangsposition erfasst. In einem Kurzdurchgang seien die einschlägigen Größen der deutschsprachigen akademischen Forschung genannt: Friedrich W. Block, Heiko Idensen, Roberto Simanowski, Christiane Heibach, Uwe Wirth, Karin Wenz, Beat Suter etc. – sie sind alle auf der Site www.netzliteratur.de versammelt, die einen guten Ausgangspunkt für weitergehende Recherchen bietet. Einen Überblick über das Schaffen in Theorie und Praxis insbesondere im deutschsprachigen Raum mit Ausblick auf internationales, hauptsächlich USamerikanisches Wirken liefert die kommentierte Liste auf der CyberfictionWebsite.97 Weitere Zusammenstellungen über die deutschsprachigen Projekte finden sich auf den Seiten von Netzliteratur98 und Hyperfiction99. Die digitale Schaffensszene hat sich in Deutschland, anders als in Frankreich, schon seit langem in einem wohldokumentierten Kreis zusammengeschlossen. Trotz der starken Betonung des Netzcharakters in der deutschen Forschung sind auch im deutschsprachigen Raum Hyperfictions zu finden. Die Begriffe sind bei unterschiedlicher Fokussetzung durchaus kompatibel. Wegweisend sind hier die Hyperfictions der Autorin Susanne Berkenheger. Zwar haben ihre Werke keine feststellbare Relevanz für das französische Schaffen (die Berührungspunkte zwischen den Ländern sind in Bezug auf die Hyperfiction höchst marginal), als ein Grundlagentext für die „Alphabetisierung“ des

95 Schröder (1999), S. 43, spricht von „Webfictions“, Simanowski (2002) schlägt „Interfictions“ vor, gebräuchlich, aber zu schwammig sind „Literatur im Netz“, „Computerliteratur“, z.B. bei Ortmann (2001), S. 46. Dies sind typische Versuche, sich dem Thema durch Klassifikationsentwürfe anzunähern, zeugen dabei letztlich von einer gewissen Hilflosigkeit dem Neuland gegenüber. 96 In die Richtung gehen van Looy & Baetens (2003) für die US-amerikanischen Hyperfictions. 97 http://www.cyberfiction.ch/du_liste.html 98 http://www.netzliteratur.net/netzliteratur_projekte_a.php 99 http://www.hyperfiction.ch/sprungbrett/ (nicht mehr verfügbar; zuletzt: 06.02.2010)

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Hyperfiction-Neulings sind sie aber außerordentlich aufschlussreich, wie die folgende kurze Behandlung zeigt. Berkenhegers Hyperfiction Zeit für die Bombe hat 1997 den legendären Internet-Literaturwettbewerb der ZEIT gewonnen und macht sich die Eigenarten des digitalen Mediums und des wiedergebenden Browsers auf innovative, spielerisch leichte Weise zu eigen. Die Ausdrucksmittel sind recht einfach, Text in vielfältigen typografischen Variationen, eine Seitengestaltung in farblicher und räumlicher Komposition, der innovative Einsatz der Links und Seitentitel als zusätzlicher Textorte und die eigenmächtige Selbststeuerung der Software, die dem Leser die Aktionshoheit abnimmt und ihn so vom aktiv Klickenden zum überraschten Zuschauer mutieren lässt. Bereits die erste Seite100 liefert Indizien darauf, was den Leser erwartet. Abbildung 3: Erste Seite von Zeit für die Bombe

Quelle: Screenshot aus Zeit für die Bombe

Auf schwarzem Hintergrund ist der Titel „Zeit für die Bombe“ in roten Lettern zu lesen, darunter befinden sich drei Symbole, „>>>“, die als Link den Leser zum Weiterlesen animieren. Die Seite ist oben und unten durch je einen plakativen roten Rahmen eingefasst. Als Anleitung (und Omen) fungiert der Seitentitel des Browserfensters („Folgt einfach der blutigen Spur!“), und sofort wird klar,

100 http://www.wargla.de/zeit.htm

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dass der rote, in Leserichtung nach rechts deutende Prompter der Wegweiser in eine blutrünstige Geschichte ist. Die Schlagworte „Bombe“ und „blutig“ lassen keinen Zweifel daran aufkommen. Die Farbe Rot zieht sich in der Farbe der Links als buchstäblicher roter Faden durch die Geschichte, bis sie als pulsierend aufleuchtende Schrift das Ticken der Bombe kookkurrent simuliert.101 Anhand der rot gekennzeichneten Linkwörter sind unterschiedliche Verzweigungen in der Geschichte auswählbar, z.B. auf der folgenden Seite:102 Abbildung 4: Verzweigungsmöglichkeiten durch Links im Text

Quelle: Screenshot aus Zeit für die Bombe

Zeit für die Bombe ist ein Ort vielfältiger mises en abyme und Anspielungen zwischen den Textebenen. Beispielsweise endet der Text auf der Seite „Und Iwan tickt der Schweiß auf der Stirn.“103 mit den Sätzen „[...] als Veronika schon längst weg war. Was interessierte sie schon, daß Vladimir ihr nachrief, sie ginge zur falschen Tür hinaus.“ Der Link „falschen Tür“ führt zu einer Seite mit der typischen Fehlermeldung einer obsoleten URL: „404 Not Found The requested URL /bombe/veronika/falsche/türe.htm was not found on this server.“104 Dass

101 http://www.wargla.de/22Dollar.htm 102 http://www.wargla.de/93Dollar.htm 103 http://www.wargla.de/82Dollar.htm#2Cents 104 http://www.wargla.de/33Dollar.htm

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dies aber eine gefälschte, fiktional genutzte Seite ist, zeigt der Blick in den Seitentitel, der „Oh Gott!“ lautet, und nach wenigen Sekunden erscheint automatisch weitergeleitet eine neue Seite: „‚Wo geht’s hier raus?‘ rief Veronika, kurz und spitz, als eine Maus in einem unsichtbaren Nichts von Loch verschwand.“ Diese Seite enthält ihrerseits keine anklickbaren Links, scheint als Sackgasse das Ende der Lektüre zu bedeuten. Ein wichtiges Indiz liefert aber der Seitentitel, der die Aufforderung an den Leser enthält: „Ihr müßt es suchen!“105 Im Kontext des Seiteninhalts liegt die Vermutung nahe, dass sich „es“ auf „das Loch“ bezieht, und allmählich entdeckt der Leser, dass „Maus“ und „unsichtbares Loch“ verschlüsselte Anweisungen sind, mit dem Zeigegerät der Computermaus einen unsichtbaren Link zu finden – unsichtbar, da er als weiße Schrift auf weißem Grund gehalten ist. Mit einem Trick wird der verborgene Text sichtbar: Die Tastenkombination [STRG] + [A] markiert den ganzen Seiteninhalt und der Linktext wird lesbar: „Ab durchs Loch von Zeit und Raum“. Der Klick darauf bringt den Leser (und auch Veronika) in der Geschichte weiter, so dass die Involvierung des Lesers durch ein Erfolgserlebnis gekrönt wird. Ebenfalls recht beliebt sind metafiktionale Ansprachen von einem IchErzähler aus der Hyperfiction heraus an das Leserkollektiv, wie das Beispiel zeigt: „Wer wäre dieser Stimme nicht wie ein wehendes Halstuch gefolgt? Ihr etwa nicht?“106 Wie in den Rollenspiel-Abenteuern wird den Lesern vorgegaukelt, sie seien als Figur von der Handlung direkt betroffen, z.B. auf der Seite „Währenddessen rasen Taxis mit bekannten Gestalten irgendwo vorbei.“, wo den Lesern im Seitentext beschieden wird: Tja, dann muß [ich] Euch leider sagen: Der Wirt schnappte Euch. Spüldienst. Tut mir leid. Während draußen die Geschichte in immer größeren Brocken voranrollt, dümpelt Ihr in Sergejews Pub [...].107

Metafiktional spezifischer für die Lese-Situation ist die Stelle: Was wollt Ihr hier? Verfolgt Ihr mich? Treibt Euch die Angst hierher? Wer hier weiterliest, ist kein braver Leser mehr. Der reißt ja der halbnackten Geschichte auch noch die Dessous vom Leib.108

105 http://www.wargla.de/42Dollar.htm 106 Z.B. http://www.wargla.de/87Dollar.htm 107 http://www.wargla.de/73Dollar.htm 108 http://www.wargla.de/99Dollar.htm

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Ebenfalls charakteristisch für die Hyperfiction ist die metaphorisch-interaktive Identifizierung von Figur und Leser, wie das folgende Beispiel zeigt: Iwans Finger zuckten. ‚Nur einmal kurz den kleinen roten Schalter drücken‘, dachte er mit weit ausgestreckten Augen. Ganz schnell, ganz kurz, das würde niemand merken. […] Das wäre schön vvv Also ich verstehe Iwan: Wollen wir nicht alle immer etwas drücken oder drehen, irgendwo draufklicken und ganz ohne Anstrengung etwas in Bewegung setzen? Das ist doch das Schönste. Iwan, tu’s doch einfach, drück den kleinen Schalter!109

Wenn das Erzähler-Ich die Figur Iwan bearbeitet, aufs Knöpfchen zu drücken, richtet sich die Verführerstimme zugleich an den realen Leser, der sich in einer parallelen Situation wiederfindet: Auch er kann der Versuchung des KnopfDrückens durch Klicken nachgeben; tut er es, setzt er den tickenden Countdown der Bombe in Gang. Obwohl die Handlung letztlich mit der Explosion ein Ende findet, gelangt die Hyperfiction an keinen zu benennenden Endpunkt. Ein Ende wird zwar angedeutet, als Iwan durch die Bombe getötet wird und der Blick zu Veronika schwenkt: Ein Fetzen ihres Koffers traf Veronika jetzt an der Backe, bevor sie zurücksank aufs Polster. Das Ende? >>>110

Dass dieses Ende mit einem Fragezeichen versehen ist, offenbart die rhetorische Frage. Tatsächlich sind (offenbar) weder Veronikas Leben noch die Lektüre noch die Handlung wirklich beendet, was der weiterleitende Link beweist, der traumähnlich in Szenen der Geschichte zurückführt. Zyklisch werden immer wieder bereits besuchte Seiten aufgerufen, innerhalb derer die angeklickten und die noch jungfräulichen Links sich farblich unterscheiden; je länger man liest, auf umso mehr bekannte Seiten stößt man und umso weniger neue Links bleiben übrig, bis der Leser die Lust verliert und einfach irgendwann aufhört. Durch das Wissen der vorherigen Durchläufe verändert sich die Sicht auf die erneut vorgefundenen Seiten. Ein weiteres Werk von Susanne Berkenheger, Hilfe! Ein Hypertext aus 4 Kehlen (2000)111, wurde beim Internet-Literaturwettbewerb in Ettlingen 1999 als

109 http://www.wargla.de/96Dollar#5cents.htm 110 http://www.wargla.de/63Dollar.htm

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beste Arbeit ausgezeichnet. Das charakteristische Element in Hilfe! sind kleine, betitelte Browserfenster mit Meldungen und Durchsagen, über die das Computersystem scheinbar mit dem Leser kommuniziert, z.B. auf der Eingangsseite „Schließen Sie alle Fenster auf Ihrem Monitor [...]. Sonst fallen Sie raus!“. Zahlreiche kleine Browserfenster öffnen sich unvorhersehbar und schüren die Flugangst der Passagiere in der Geschichte, bis das Flugzeug auch wirklich abstürzt. Die Schwimmmeisterin (2002) ist die vorerst letzte Hyperfiction von Susanne Berkenheger. Durch unklare Perspektivenwechsel, rasch wechselnde Fenster und Systemmeldungen ist dieses Werk ziemlich anspruchsvoll. Auf der Seite „Große Blase .. / um Moll woanders wieder abzulegen.“ führt der Klick auf den Link „Weg ins Warme“ zu einem JavaScript-Eingabefenster, in das der Leser eine Art Passwort eingeben kann:112 Abbildung 5: Dialogmöglichkeit mit dem Programm

Quelle: Screenshot-Ausschnitt aus der Schwimmmeisterin

Der Blick in den Quelltext trifft ins Schwarze, denn hier hat die mysteriöse Figur „Hai 75“ für den Praktikanten (mit dem sich der Leser identifiziert) eine Nachricht hinterlassen: //mitteilung an schlaue praktikanten: ja, hier im quelltext bist du prinzipiell auf dem richtigen weg. es wird wärmer. das passwort wäre schon ganz nah, wenn nicht ... aber sieh selbst! hai75.113

Während die Schwimmmeisterin (im Dienst!) ein Nickerchen macht, dringt „Hai 75“ ein und installiert einen Virus. Möglicherweise ist er auch selbst dieser eindringende Virus. Die Schwimmmeisterin flirtet mit ihm und versucht ihn mit Hilfe des frisch eingestellten Praktikanten (dem Platzhalter des Lesers in der Di-

111 http://www.wargla.de/hilfe.htm. Daneben ist das Werk aber auch als CD-ROM im Update-Verlag in der Reihe cyberfiction erschienen. 112 http://www.schwimmmeisterin.de/ 113 http://www.berkenheger.netzliteratur.net/ouargla/websprudel/oda.htm

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egese) zu harpunieren – durchbohrt wird nahezu immer wie in surrealistischer Traumlogik allerdings das Hai-Tattoo auf ihrer Brust und sie ist selbst tot.114 Weitere Klassiker der deutschen digitalen Literatur im Internet, die nicht eigens behandelt, sondern nur durch Nennung gewürdigt werden sollen, sind:115 • • • •

Frank Klötgen: Die Aaleskorte der Ölig. (1998)116 Martina Kieninger: Der Schrank. Die Schranke. 1 Stück Theater für 1 Denker im Denktank. (1996)117 Michael Rutschky: Berlinroman (Romanadaption für das WWW) (1999)118 Susanne Wolf. Meine Stimme ist weiß. (2000)119

Ebenfalls durch ihre Bekanntheit nennenswert sind die Projekte, die als innovative Formen der Mitschreibeprojekte von der Zusammenarbeit mit der InternetCommunity leben: • • •

Carola Heine et al.: Beim Bäcker. (2000)120 Martin Auer: Die Lyrikmaschine. (1996-2007)121 Alvar C. H. Freude, Dragan Espenschied: Assoziationsblaster. (1999)122

114 Laut http://berkenheger.netzliteratur.net/ouargla/websprudel/schwimmmeisterin.htm kann bei genug Aufmerksamkeit, Geschick und/oder Übung auch der Virus erwischt werden. 115 Genaueres lässt sich hierzu z.B. bei Simanowski (2002) nachlesen. 116 http://www.aaleskorte.de/. In der Aaleskorte erstellt der Leser erst aus einer multilinearen Auswahl von Themen-Teasern ein Drehbuch und sieht sich dann seinen ausgewählten Pfad am Stück an; Interaktivität und Ergebnis sind hier also zeitlich getrennt. 117 http://kieninger.netzliteratur.net/schrank/s1.htm 118 http://berlin.heimat.de/home/softmoderne/SoftMo99/rutschk/home.html 119 http://susanne-wolf.dopa.de/literatur/meine-stimme.html. Der Online-Krimi (Flash) erreichte filmische Qualitäten und wurde 2000 mit dem Marianne-von-WillemerPreis ausgezeichnet. 120 http://claudia-klinger.de/archiv/baecker/index.htm. Beim Bäcker ist das bekannteste deutsche Mitschreibeprojekt. 121 http://www.martinauer.net/lyrikmas/_start.htm. „In ihrem n-dimensionalen Raum simuliert sie die assoziative Verknüpfung der poetischen Formeln im Gedankenuniversum des Dichters.“ Einzelne Gedichte sind anhand von Schlagworten hypertextuell miteinander verlinkt – ganz nach dem Schema von Michael Joyce’ Afternoon.

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• • •

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Guido Grigat: 23.40. (1997-2007)123 Florian Cramer: Permutationen (1996)124 Günter Gehl: Poetron 4G (Version 5.0) (1999-2007)125

Zusammengefasst: Im Kontext eines Rhizoms wie dem Netz des WWW von Grenzen zu sprechen zu wollen ist ein Anachronismus. Die Sprachbarrieren sorgen aber für Gruppierung zu einer französischen, englischen oder deutschen digitalen Literatur und schaffen Brücken und Filiationen – oder eben auch nicht, wenn der trennende Aspekt zu dominant wird. Durch die Suchmaschinen können über die Suchanfragen einzelne Webseiten rasch in einen unmittelbaren Kontext gesetzt werden.

122 http://www.assoziations-blaster.de/. Das Projekt beschreibt sich selbst mit dem Worten: „Der Assoziations-Blaster ist ein interaktives Text-Netzwerk in dem sich alle eingetragenen Texte mit nichtlinearer Echtzeit-Verknüpfung(TM) automatisch miteinander verbinden. Jeder Internet-Benutzer ist aufgerufen, die Datenbank mit eigenen Texten zu bereichern.“ Nebenbei: Das Fazit, dass es um den Spaß am Mitschreiben geht, hat Simanowski (2002), S.49, dem Assoziationsblaster selbst entnommen – und dort eingetragen hatte es im Zuge ihrer Forschungen die Verfasserin. 123 http://www.dreiundzwanzigvierzig.de/. Das „kollektive Gedächtnis“ liefert bietet für jede Minute eines Tages eine leere Eintragsmöglichkeit, die vom Besucher genau dieser Minute zum Mitschreiben genutzt werden kann. Ist in der momentanen Minute bereits ein Eintrag vorhanden, kann nichts mehr eingegeben werden und der Besucher der Seite muss auf eine neue „leere Minute“ warten. 124 http://userpage.fu-berlin.de/~cantsin/permutations/index.cgi (nicht mehr online; zuletzt: 12.08.2007). 125 https://www.poetron-zone.de/poetron.php. Aus vier Schlagworten in den Kategorien Person, Substantiv, Verb und Adjektiv wird vom Programm ein Gedicht generiert.

2 Situierung der digitalen Literatur

Die digitale Literatur ist in vieler Hinsicht ein Hybrid und eingebunden in ein Geflecht aus Rahmenbedingungen und entstehungsnotwendigen Faktoren. Vielfältige Einflüsse haben zu ihrer Gestaltwerdung beigetragen; ihre Interdisziplinarität trägt diesem Umstand Rechnung. Zusammen mit ihrer zeitlichen Situierung am Ende des 20. Jahrhunderts setzt dies die digitale Literatur sehr augenscheinlich in den Kontext der Postmoderne, die nach dem Ende des 2. Weltkriegs einen Wandlungsprozess eingeleitet hatte und bis heute in allen Dimensionen unserer Welt wirkt, von Geschichte, Gesellschaft, Politik und Kultur bis in die alltägliche Erlebenswelt. Neben dem Postmodernismus ist die digitale Literatur im Wesentlichen von der digitalen Revolution geprägt. Weitere Einflüsse gehen auf das Konto der Kognitionspsychologie und Aphasieforschung sowie der Medien- und der Informationswissenschaft. Dass all die genannten Phänomene in dem zentralen Kontext nicht nur eine zufällige Zeitgleichheit zum Wirken des Postmodernismus, sondern eine typische, geradezu paradigmatische Artikulation desselben sind, soll im vorliegenden Kapitel gezeigt werden.

2.1 D ER K ONTEXT

DER

P OSTMODERNE

Zeitgeschichtlich fällt die Entstehung der digitalen Literatur am Ende des 20. Jahrhunderts in die Epoche der Postmoderne, die, wie der Name nahe legt, auf die Epoche der Moderne folgt.1 Das Verhältnis zwischen Moderne und Postmo-

1

Die Lesart der Anti-Moderne als Bruch zwischen den Epochen wie etwa bei den Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts ist eine zu weit gehende Deutung und wird auch am Beispiel der Digitalen Literatur nicht belegbar. Somit ist die Postmoderne

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derne ist aber nicht so einfach, sondern überaus ambivalent und seinerseits postmodern komplex, da viele Phänomene der Postmoderne regelmäßig auch schon als charakteristisch in der Moderne auftraten. Damit lässt die Feststellung solcher Phänomene per se keinen eindeutigen Rückschluss auf die Zuordnung zu Moderne oder Postmoderne zu. Besonders charakteristisch ist die Feststellung Lyotards, dass der Postmodernismus nicht das Ende des Modernismus bedeute, sondern vielmehr dessen Geburt.2 So stellt sich die Postmoderne bei genauerer Betrachtung als die inhaltliche Wiederaufnahme der Moderne dar und nimmt dort, wo letztere in Totalitarismus und dem Ende der „großen Erzählungen“ gescheitert ist, ihren Anfang.3 Als Leitinstanzen zu ihrer Propagierung fungieren Wissenschaft und Kunst. Plakativ stellt Wolfgang Welsch fest: Wo die Hermeneutik keine Unverträglichkeit unterstellen darf, geht es [h]eutiger Philosophie [...] – seit Nietzsche, Adorno, Lyotard, Lyotard und ebenso bei Derrida, Kofman und anderen – nicht um ein Begreifen der Kunstwerke als hermeneutischer Objekte, sondern um die Wahrung ihrer Unbegreiflichkeit. Es geht nicht um Interpretationsarbeit, sondern um den Abbau hermeneutischer Overkill-Arsenale, um Widerstand gegen den furor hermeneuticus.4

Für eine empirische Annäherung an die Postmoderne ist es dennoch praktikabel, sich problembewusst an einem Indizienraster zu orientieren. Die klassischen postmodernen Topoi, die die radikale Pluralität mit sich bringt, sind das „Ende der Meta-Erzählungen, Dispersion des Subjekts, Dezentrierung des Sinns, Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die Unsynthetisierbarkeit der vielfältigen Lebensformen und Rationalitätsmuster“.5 Stark schematisiert und auf eine praktische Ebene heruntergebrochen manifestiert sich die Postmoderne in Pluralismus und Auffächerung, daraus resultierend in Partikularismus und Fragmentierung sowie in der Absage an Kontinuität,

nicht im Wortsinne „post-modern“, sondern „radikal-modern“. Vgl. Welsch (2002), S. 6. In diesem Sinne spricht auch Klotz (1996) im Zusammenhang mit der digitalen Revolution von einer „Zweiten Moderne“. 2

Lyotard (1990), S. 45.

3

Engelmann (1990), S. 12.

4

Welsch (1996), S. 222.

5

Welsch (2002), S. XVII.

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Kohärenz, Teleologie und jegliche Form der Einheit und Einheitlichkeit,6 den einstigen Errungenschaften der Neuzeit. Konsequente Folge: Die genannten großen „Meta-Erzählungen“ der Religionen und Ideologien wie Aufklärung, Faschismus und Marxismus verlieren in der Postmoderne endgültig ihren Status als Garanten der Konsistenz und Verlässlichkeit. Wenn Gott als ultimative Referenz und oberste Instanz ausgedient hat, füllt das menschliche Subjekt gewissermaßen osmotisch dieses Vakuum aus. Zwar ist die Verlorenheit des Menschen keine Erfindung der Postmoderne – thematisiert doch bereits die Bibel die Vertreibung aus dem Paradies; dennoch ergibt sich nun eine qualitative Verschiebung des Fremdseins, da nach der Erfahrung der industrialisierten Kriege des 20. Jahrhunderts humanistisch-teleologische Vorstellungen wie der Glaube an die Evolution der Menschheit unwiederbringlich verloren sind. Wo die hermeneutische Gesellschaft das Bedürfnis nach Totalität in der Suche nach einem letztlichen Sinn zu stillen suchte, betont die poststrukturalistische Theorie die Relativität eines jeden Texts, in dem sich vielfältige Einflüsse kreuzen und zur unvorhersehbaren, einmaligen Wirkung kommen.7 Die schier endlose Zersplitterung und Partikularisierung dieser eklektizistischen Lesart kann in „Indifferenz“ münden, also in die undifferenzierte Gleichschaltung aller Elemente, auf die der Mensch mit resignierter Gleichgültigkeit oder wertendem Fundamentalismus reagieren kann. Das „Endziel Konsum“ regiert.8 Die postmoderne Literatur zeigt sich als eine ästhetisch-politische, selbst jedoch unideologische Revolte gegen eine Gesellschaftsordnung, die als sinnlos und nihilistisch erfahren wird.9 Sie wendet sich bewusst von der ModerneIdeologie mit ihrem selbstgewählten Sozialauftrag und Engagement ab: „Die Kunst kann nicht Praxis der Versöhnung sein, da sie immer die Produktion von Differenzen ist.“10 Demgemäß muss man sich gerade beim Umgang mit digitaler Literatur immer vor Augen halten: Konsens und Massenwirkung sind nicht das letztlich Erstrebenswerte, ihr Fehlen verurteilt das Konzept an sich nicht zum Scheitern.

6

Eine ähnliche Merkmalsmatrix erstellt Hassan (2002), S. 47-56. So praktisch solche Raster für eine erste Annäherung sind, so sehr sind sie für eine differenzierte Auseinandersetzung auch mit Vorsicht zu genießen.

7

Vgl. Engelmann (1990), S. 31.

8

Herzinger (2000), S. 58.

9

Vgl. Zima (2001), S. 270.

10 Oliva (1982), S. 87.

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2.2 D ER TECHNOLOGISCHE R AHMEN Die digitale Revolution ist zugleich Folge und Motor des postmodernen Wandlungsprozesses. Sie ist nach der Industriellen Revolution im 19. Jahrhundert die technische Umwälzung, die unseren Alltag heute am meisten prägt, und die zu einer rasanten Digitalisierung, einer „Computerisierung“, aller Lebensbereiche geführt hat. Hatte der IBM-Vorstandsvorsitzende Thomas Watson noch 1943 (so will es zumindest die Legende) verkündet, dass er einen Weltmarkt für nicht mehr als fünf Computer erwarte, gab es mit Konrad Zuses Z4 bereits ab 1949 erste kommerzielle Computer, und ab 1951 den wegweisenden amerikanischen UNIVAC (Universal Automatic Computer). Die Erfindung des Mikrochips und die kontinuierliche, rapide Leistungssteigerung der Computer gestattete einen raschen Wandel von unpraktischen Ungetümen zu immer kleineren, schnelleren und einfacher zu handhabenden Geräten auch für den privaten Gebrauch. Weitere weitreichende Konsequenzen waren die Umstellung der industriellen Produktionsweise auf eine flexible Automatisierung und die Einführung von weltweiten Informationsnetzen wie dem Internet. Innerhalb der digitalen Revolution bedeutete das Aufkommen von Multimedia einen weiteren Sprung für die Beliebtheit der Personal Computer (PCs). Die gesellschaftliche Bedeutung zeigt sich beispielhaft daran, dass „Multimedia“ zum Wort des Jahres 1995 in Deutschland gekürt wurde, als der Boom seinen Höhepunkt erreichte. Vom Hackerspielzeug hat der Computer dank einer raschen technologischen Selbstüberholung einen rasanten Siegeszug in die Welt gestartet: Als neues Supermedium kann der Computer die Funktionen vieler anderer Geräte übernehmen oder deren Funktionalität unterstützen und ist so aus Wissenschaft und Forschung, Beruf und Freizeit nicht mehr wegzudenken.11 Diese allumfassende Durchdringung des Alltags durch das Internet hat einen entscheidenden Anteil an der digitalen Revolution. Wegbereitende Konzepte, die in direkter Linie zum Internet führen sollten, gibt es bereits seit den 1940erJahren. Das Konzept des Memex („Memory Extender“) wurde 1945 von Vannevar Bush als elektromechanisches Informationssystem zur assoziativen Verwaltung von Informationen formuliert und nahm so das Prinzip des Hypertexts vorweg, auf dem Internet und WWW weitgehendst basieren.12 Der Begriff „Hypertext“ selbst taucht schließlich 1965 auf, geprägt von Ted Nelson in seiner welt-

11 Vgl. Kaiser (1999), S. 283-529. 12 Vgl. Bush (1945).

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bekannt gewordenen Definition eines nichtlinearen Texts, den er charakterisiert als [...] non-sequential writing – text that branches and allows choices to the reader, best read at an interactive screen. As popularly conceived, this is a series of text chunks connected by links which offer the reader different pathways. 13

Die Ära des Internets begann Ende der 1960er-Jahre mit dem in militärischem Auftrag entstandenen ARPANET (Advanced Research Projects Agency Network). Im Zuge seiner Säkularisierung wurde es zuerst zur Vernetzung von Universitäten und Forschungseinrichtungen in den USA, später auch weltweit eingesetzt. Den entscheidenden Impuls erhielt das Internet Anfang der 1990er-Jahre mit dem World Wide Web (WWW), das am CERN in Genf entwickelt wurde. Mit Einführung der Webbrowser wurde das Internet auch für Laien attraktiv, so dass es ca. ab 1993 seinen technischen und technologischen Siegeszug um die Welt antrat und rasch einer zunehmenden Kommerzialisierung anheim fiel.14 Allerdings folgte auf die Goldrausch-Stimmung der dot-coms im Herbst 2001 eine jähe Ernüchterung, als die Technologiewerte auf den Aktienmärkten einbrachen. „Die Internetblase ist geplatzt“ wurde weltweit in diversen Varianten wie „burst of the dot-com bubble“ und „explosion de la bulle internet“ etc. zum geflügelten Wort, der Mythos Internet (zumindest der alten Version „Web 1.0“) war dahin. Heute hat sich die Haltung zum Internet zu einer unaufgeregten Selbstverständlichkeit normalisiert. In Anerkennung dieser nachhaltigen Veränderung unseres Alltags durch das Internet wurde 2004 Tim Berners-Lee, der Erfinder des WWW, symbolkräftig durch die englische Königin zum Ritter geschlagen.15 Ein Konzept hat die Vorstellung des Internets grundlegend verändert: Web 2.0.16 Die Meinungen divergieren: die einen feiern die Freiheiten, die Web 2.0 dem einzelnen Benutzer bietet, die anderen halten das Konzept für bereits tot, da das WWW schon immer die Möglichkeiten zur individuellen Interaktion geboten hat – die Geschichte der Postmoderne ist immer wieder eine Geschichte der proklamierten Enden.

13 Vgl. Nelson (1981), S. 132. 14 Mehr zur Geschichte der Medien vgl. Kübler (2000) S. 2 ff. oder Vatter (2004), S. 233 ff. 15 http://www.w3.org/2004/07/timbl_knighted.html.en 16 Mehr zu Web 2.0 vgl. z.B. O’Reilly (2005).

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Dennoch, kaum jemand kommt an der „zweiten Generation“ des Web vorbei. Wikis, Weblogs, Podcasts, RSS und andere Web-2.0-Technologien ermöglichen eine interaktive Individualisierung des Internets, wie es sie nie zuvor gegeben hat. Für die Hyperfictions bedeuten diese Trends allerdings das Ende einer Ära.

2.3 I NTERDISZIPLINÄRE B EITRÄGE Neben dem Einfluss der digitalen Revolution sind entscheidende Impulse denjenigen wissenschaftlichen Disziplinen zu verdanken, die den theoretischen Hintergrund für das Phänomen der digitalen Literatur geliefert haben. Es lässt sich ein Netz interdependenter Theorien und Forschungsergebnisse feststellen, die im Folgenden genauer behandelt werden. 2.3.1 Kognitionspsychologie Die Informationsgesellschaft ist – Stichwort digitale Revolution – vom Informationsüberfluss geprägt und daher gezwungen, Strategien zur praktikablen Handhabung ihrer Informationen zu entwickeln. In diesem Zusammenhang hat die Kognitionspsychologie, insbesondere die Assoziations- und Aphasieforschung, Anteil an der Hypertextentwicklung. Für die Untersuchung kognitiver Prozesse ist Sprache ideal geeignet, da sie die empirisch feststellbare „Transportform“ kognitiver Repräsentationen ist. Die aus der Künstlichen-Intelligenz-Forschung stammende These der Kognitiven Plausibilität erkennt eine Strukturhomologie zwischen den strukturellen Merkmalen von Hypertexten und der assoziativen Wissensrepräsentation im menschlichen Gehirn.17 So ist aus der Assoziationsforschung bekannt, dass die kognitive Repräsentation des Wortschatzes als Netzwerk interpretiert werden kann.18

17 Vgl. z.B. Overmann (2004). Ohnehin ist die Verbindung zwischen Computertechnologie und dem menschlichen Denken intrinsisch motiviert, wie bereits frühe theoretische Schriften belegen, z.B. die Frage, ob Maschinen mittels Algorithmen denken können, vgl. Turing (1950), S. 433-460. Allerdings weist auch er dort eine zu kurz gegriffene Analogie zwischen der elektronischen Impulsübermittlung im Computer und dem organischen Zentralnervensystem als „superstition“ zurück: „Since Babbage’s machine was not electrical, and since all digital computers are in a sense equivalent, we see that this use of electricity cannot be of theoretical importance. Of course electricity usually comes in where fast signalling is concerned, so that it is not surprising that we find it in both these connections. In the nervous system chemical phenomena

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Ein Beispiel: Der assoziativ-semantische Zusammenhang zwischen den Begriffen „Bier“ und „durstig“ ist offenkundig, beide verbinden die semantischen Merkmale „flüssig“ und „Lebensmittel“. Der eine Begriff ist durch eine Is-aBeziehung charakterisiert („Bier ist ein flüssiges Lebensmittel“), der andere als dessen Mangelzustand, so dass der direkte Bezug zwischen den beiden Begriffen recht einfach als „Bier löscht Durst“ beschrieben werden kann. Bei bestimmten Schädigungen der rechten Hemisphäre des Gehirns wird die semantische Brücke, gewissermaßen der „Link“, zwischen den beiden Begriffen gekappt und die betroffenen Personen erkennen keinen Zusammenhang mehr.19 Aphasiebedingte Wortfindungsstörungen, bei denen Patienten bestimmte Begriffe zwar passiv richtig verstehen, aber nicht mehr aktiv benennen können, legen außerdem den Schluss nahe, dass hier zwar der Signifié präsent ist, aber die Zuordnung zur phonologischen Repräsentation des Signifiant verloren gegangen ist. Ähnliche Befunde der Tiefendysphasie-Forschung zeigen, dass krankheitsbedingte Wortvertauschungen nicht idiosynkratisch erfolgen, sondern auf semantischer Nähe basieren. Wird etwa im Versuch der Begriff „Ballon“ vorgesprochen, verwendet der Patient statt der geforderten wörtlichen Wiederholung einen semantisch ähnlichen Begriff, z.B. „Drachen“, ohne dass er sich der Abweichung bewusst ist.20 Die gemeinsamen Wurzeln zwischen Kognitionspsychologie und Hypertext zeigen sich auch im Ur-Manifest zum Hypertext von Vannevar Bush, in dem er die Notwendigkeit einer assoziativen Wissensorganisation mit der Informationsexplosion begründete. Um die exponentiell wachsende Komplexität möglichst redundanzfrei verwalten zu können, sollten die Daten, maschinell unterstützt, assoziativ umstrukturiert werden.21 Paradoxerweise hat das Internet als leicht zu-

are at least as important as electrical. In certain computers the storage system is mainly acoustic. The feature of using electricity is thus seen to be only a very superficial similarity. If we wish to find such similarities we should look rather for mathematical analogies of function.“ 18 Vgl. Sucharowski (1996) S. 36. 19 Vgl. Heeschen, Reischies (1981), S. 13. 20 Vgl. Sucharowski (1996), S. 67. 21 Die Notwendigkeit zu assoziativen Verweisen gibt es natürlich schon sehr viel länger. Sinnvolle Verwendung finden Verweise im „Discours préliminaire“ der Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers (1751-1772). D’Alembert entwirft hier das Konzept einer Organisation von Informationen, bei der die Bezüge, die „liaisons“ zwischen den verschiedenen Wissenschaften durch „renvois“ angezeigt werden. Die Enzyklopädie ist mit zunehmender Komplexität auch das

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gängliches Informationsmedium selbst viel zur Informationsexplosion beigetragen. Wie Jean Baudrillard prägnant formuliert, „Nous sommes dans un univers où il y a plus en plus d’information, et de moins en moins de sens.“22 Strukturierende Mechanismen wie das Hypertextrhizom sind in Kombination mit soliden Verfahren des Information Retrieval eine schlichte Notwendigkeit. Heutige Wissenswelten – Wikipedia ist ein Paradebeispiel – in einer sauberen Baumhierarchie zu organisieren, ist ein Ding der Unmöglichkeit, da sich zu viele interne Querverbindungen ergeben. Die Assoziativität erlaubt es dabei, auch unüberschaubare Informationsmengen nach thematischer Zusammengehörigkeit zu gruppieren und zueinander in Bezug zu setzen. 2.3.2 Medienwissenschaft Nicht nur in der Philosophie der Postmoderne, auch in der Medientheorie ist das Rhizom ein wichtiges Paradigma, da es Strukturen von mentalen Assoziationen, sozialen Netzwerken sowie Computernetzen und Hypertext abzubilden vermag. Mediengeschichtlich gehen die einzelnen Entwicklungsphasen von der Oralität zur Literalität über die Initialzündung der Massenmedien, den Buchdruck, bis ins elektronische Zeitalter. Jedes Medium wirkt formend auf seine Gesellschaft zurück; daher hat der technologische Wandel der digitalen Revolution und ihrer Massenmedien auch eine entscheidende gesellschaftliche Transformation bewirkt, den Übergang von der Produktions- zur Informationsgesellschaft, die den gesellschaftlichen Rahmen für die digitale Literatur bildet.23 An die Stelle der Gutenberg Galaxy (McLuhan 1962) tritt nun eine Art Internet-Galaxie. Ein Kennzeichen der Postmoderne ist das Vermischen von einst als unvereinbar geltenden Bereichen. Die Gesetze der Medien durchdringen zunehmend die Wirklichkeitserfahrung des Alltags, Medien- und Alltagswirklichkeit verwi-

letzte Werk, das eine umfassende Systematik des Wissens in einem Klassifikationssystem anstrebt. 22 Baudrillard (1981), S. 119. 23 Man spricht oft auch von der postindustriellen Gesellschaft. Die Prädikate „postmodern“ und „postindustriell“ sind aber nicht gleichzusetzen: Das Ziel der postindustriellen Gesellschaft Bell’scher (1973) Lesart ist eine Fortsetzung und Steigerung der Moderne, nicht eine Revision, wie sie typisch für den Postmodernismus ist. Die postmoderne Gesellschaft ist dagegen entschieden anti-technokratisch, ständig bestrebt, sich selbst zu transformieren, und lebt ihre Pluralität autonom. Vgl. Etzioni (1968).

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schen sich,24 sich auflösende Grenzen lassen Homologien bei Medien, Theorien und in der Kunst erkennen. So lesen sich die Züge einer Ontologie des digitalen Mediums ganz erstaunlich wie neuere philosophische Wirklichkeitsbeschreibungen, insbesondere bei den poststrukturalistischen Denkern Derrida und Deleuze25. Virtuelle wie reale Wirklichkeit sind demnach durch prinzipielle Offenheit und Unabgeschlossenheit, durch Vernetzung und Sinnverschiebungen beschreibbar. Bemerkenswert ist, dass diese Theorien und das digitale Medium in etwa zeitgleich entstanden sind; Derrida thematisiert dies sogar explizit. Derartige neue Wahrnehmungen des Konzepts Wirklichkeit werten die Medien generell stark auf: In der Philosophie wird man sich angesichts der elektronischen Medien bewusst, dass sich das Denken dem Einfluss seiner Medialität nicht entziehen kann. Prägnant zum Ausdruck kommt dies in Marshall McLuhans bekanntem Diktum „Das Medium ist die Botschaft“, wobei Derrida die Erkenntnis zu verdanken ist, dass auch die Medien produktiv bedeutungskonstituierend wirken und nicht erst nachträglich aufgepfropft werden.26 Laut Innis (1950) prägen die dominierenden Medien ihre Gesellschaft hinsichtlich ihrer Organisationsstruktur und Kultur. Der (Buch-) Druck löste als raumbindendes (space-biased) Medium die zeitbindenden (time-biased) Medien wie z.B. gesprochene Sprache ab, mit der Folge für die Gesellschaft, dass sie sich als offener erweist und zukunftsorientiert agiert. Kommt mit dem digitalen Medium erneut ein zeitbindendes Medium zum Tragen, bedeutet dies erst einmal eine Erhöhung der Komplexität; beide Medientypen treten gemeinsam auf, zugleich findet eine Emanzipation vom Primat des Printmediums statt, ohne allerdings einen Rückfall in ein Zeitalter der Zeitbindung. Die Subjektivität wird durch die neue Flüchtigkeit der Medien aufgewertet. Spezifischer bewertet wird die Computertechnologie bei McLuhan, der sie, in seiner Auffassung der Medien als verbessernden, erweiternden „Prothesen“ des menschlichen Körpers, als eine Erweiterung des menschlichen Zentralnervensystems sieht.27 In Gestalt des Hypertexts stellt diese Auffassung einen interessanten Konnex zur kongruenten Assoziativität des menschlichen Gehirns dar und begünstigt die Funktion des Internets als eines kollektiven, externen Gedächtnisses. Auch McLuhan beobachtet, dass die Gesellschaft mit einer Aufwertung der elektroni-

24 Vgl. Welsch (1996), S. 309. 25 Vgl. Derrida (1967) bzw. Deleuze (1968). 26 Welsch (1996), S. 305 f. 27 Vgl. McLuhan (1964), S. 156 f.

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schen Medien einen Wandel zu einer stärkeren Oralität durchlebt. Hier schließt sich der Kreis insbesondere zu den Hyperfictions: Die gesprochene, mündliche Kommunikation lebt von der Interaktion; gerade die Dialogsituation ist aber vor dem Aufkommen des Internets in den Medien, auch den Massenmedien, nicht (Print) oder nur eingeschränkt (TV, Radio) möglich. Erst im operablen Hypertextmedium erfährt der Dialog eine nennenswerte Umsetzung. Hier kommt mit der Berücksichtigung der Partizipation des Empfängers der Terminus der „cool media“ (McLuhan 2001) ins Spiel, ist doch die (nicht nur geistige) Interaktion ein wesentliches Charakteristikum bei der digitalen Literatur, vor allem bei der Hyperfiction. Zugleich ist aber durch das Telekommunikationsnetz die Bedingung der lokalen Anwesenheit aufgehoben. Guattari/Deleuze (1977) sprechen hier auch vom Leitparadigma der Netzwerk- oder RhizomStrukturen in der heutigen Gesellschaft. Für die digitale Literatur bedeutet dies, dass sich ihr Wesen durch die mediengegebenen Charakteristika deutlich von dem der Printliteratur unterscheidet. Man spricht vom Computer als einem tertiären Medium, da sowohl zur Erstellung der Software (Senderseite) als auch zu ihrer Bedienung (Empfängerseite) technische Geräte benötigt werden. Es sind die gleichen Geräte für beide Rollen.28 Das Internet hat sich als ein verteiltes, dezentrales Informationsmedium etabliert, das sich zusätzlich durch die Möglichkeit zur Interaktion von den anderen Medien abhebt. Das Sender-Empfänger-Modell der Massenmedien kann dem nicht länger unverändert standhalten. 2.3.3 Informationswissenschaft Die Informationswissenschaft schlägt die Brücke zwischen Technologie (Informatik) und Geisteswissenschaften (Psychologie, Linguistik). Sie untersucht Wissen (als statische Repräsentation) und Information (die „Transportform“ des Wissens). Ein wichtiger Aspekt ist die Mensch-Maschine-Interaktion. Einzeldisziplinen der Linguistischen Informationswissenschaft oder Computerlinguistik sind Software-Ergonomie und Usability, Information Retrieval, Hypertext, Spracherkennung, maschinelle Übersetzung, Sprachsynthese, etc. Von besonderem Interesse für die digitale Literatur sind das Vernetzungsparadigma des Hypertexts und die Regelung der Softwaregestaltung durch die Software-Ergonomie: Die digitalen Werke sind auf einer generischen Ebene schlicht „Anwendungen“ und können als solche von der Software-Ergonomie genau wie alle anderen Computerprogramme untersucht werden. Damit steht ein

28 Pross (1972), S. 224.

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elaboriertes Analyseinstrumentarium bereit, das die literaturwissenschaftliche Analyse übernehmen und zu ihrem Erkenntnisgewinn nutzen kann. Mehr dazu in Kapitel 3.1.5.

2.4 S TRUKTURALISMUS

UND

P OSTSTRUKTURALISMUS

In der postmodernen Literaturtheorie, zeitgleich zur Hypertextentstehung, ist der Poststrukturalismus tonangebend, dessen Redeweise sich durch eine frappierende Ähnlichkeit zu den Hypertextkonzepten auszeichnet. Dies gilt zum Teil auch schon für den Strukturalismus. Auch wenn die einzelnen postmodernen Philosophen und Literaturtheoretiker wie Jean-François Lyotard (der Paradephilosoph der Postmoderne), Jacques Derrida, Gilles Deleuze, Félix Guattari bzw. Roland Barthes, Michel Foucault uvm. insgesamt durchaus divergierende Positionen einnehmen (etwas Anderes wäre in der Postmoderne auch ein Anachronismus!), bedienen sie sich einer Sprache, die sich aus heutiger Sicht rückblickend wie eine Beschreibung der Hyperfiction liest.29 Um es mit Wolfgang Welsch zu sagen: Die Kongruenz postmoderner Phänomene in Literatur, Architektur, in den Künsten überhaupt sowie in gesellschaftlichen Phänomenen wie der Ökonomie bis zur Politik und darüber hinaus in wissenschaftlichen Theorien und philosophischen Reflexionen ist geradezu eklatant.30

Obwohl der elektronische Hypertext als konkrete, realweltliche Umsetzung noch gar nicht gegeben war, sprechen alle poststrukturalistischen Denker metaphorisch von Netzwerk und Assoziativität, z.B. Derrida: ... scheint das Wort Bündel das geeignetste zu sein, um zu verdeutlichen, daß die vorgeschlagene Zusammenfassung den Charakter eines Einflechtens, eines Webens, eines Bindens hat, welches die unterschiedlichen Fäden und die unterschiedlichen Linien des Sinns [...] wieder auseinanderlaufen läßt, als sei sie bereit, andere hineinzuknüpfen.31

29 Vgl. Mecke (2004), S. 145 f. 30 Welsch (2002), S. 6. 31 Derrida (1990), S. 77. Hervorhebungen im Text von der Verfasserin.

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Die Zeit der Assoziativität war gekommen.32 Bei Deleuze und Guattari gibt es das „Rhizom“ und „nomadische Zentren“; bei Barthes „texture“ als TextGewebe und den „texte scriptible“, den offenen Text, an dessen Konstitution der Leser mitzuarbeiten hat;33 bei Derrida und Lyotard die „Dezentrierung“, usw. Eines der markantesten postmodernen Axiome ist der „Tod des Autors“ (Barthes), dem zufolge nicht ein allwissender Schöpfer für das Werk verantwortlich ist; stattdessen wird jeder Text als eine individuelle Menge aus Diskursschnittpunkten aufgefasst. Dieses Konzept schließt sich unmittelbar an Kristevas Absage an den Autor als Folge einer universalen Intertextualität an. Auch Foucault spricht vom „Tod des Autors“, meint damit aber eine auf die Epoche der Moderne begrenzte diskursive Funktion.34 Kurz, der Autor kann nicht (mehr) als die sinnstiftende Ordnungsinstanz wie früher fungieren, ebenso kann dem Leser nicht mehr aufoktroyiert werden, wie er die Geschichte „richtig“ zu verstehen hat. Kein semantischer Raum existiert ohne rezeptiven und seinerseits produktiven Kontext, ohne ein interdependentes nahes und fernes Umfeld – zum inneren Sinn gehören immer auch externe Komponenten. Das ist typisch: Die Postmoderne verneint eine stabile, sichere Bedeutungszuweisung, im Poststrukturalismus weicht das Hegemoniat der formalen und semantischen Schlüssigkeit, Geschlossenheit und Eindeutigkeit der Diskontinuität mit ihren Brüchen, Rissen, Sprüngen. Doch Vorsicht: Solche abstrakten Redeweisen sind, auch wenn dies verführerisch nahe liegt, nicht zu wörtlich auf den Hypertext zu übertragen. Man darf nicht glauben, dass die Forscher etwas wie den Hypertext (oder gar Hyperfiction!) im Kopf hatten, als sie ihre Thesen formulierten. So wird leicht der Barthes’sche „Tod des Autors“35 zu wörtlich verstanden, da vermeintlich der Leser im Hypertext seinen eigenen Text „schaffen“ kann (was tatsächlich nur im Rahmen der vom Autor vorgegebenen Möglichkeiten gestattet ist), oder gar als Mitglied eines kollektiven Schreibprojektes zugleich realer Leser und realer Autor wird.36 Hypertext kann zwar als eine höchst anschauliche Illustration der postmodernen Literaturtheorie dienen, ist aber nicht die nachträglich ermöglichte Realisierung dieser abstrakten Konzepte.

32 Vgl. Simanowski (2002), S. 67. 33 Barthes (1970), S. 10 ff. 34 Vgl. Jannidis et al. (1999), S. 3. 35 Barthes (1984), S. 60. 36 Insbesondere bei Landow (1997) finden sich diesbezügliche Ungenauigkeiten. Auch Simanowski (2002) weist auf das Potential der Missverständnisse hin, vgl. ebd. S. 67.

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2.5 (P OST -) MODERNE K ULTUR

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Unsere heutige Realität und gesamte Lebenswelt sind (ohne dass man sich dessen letztlich permanent bewusst sein muss) postmodern geworden. Die postmoderne Sicht der Gegenwart macht ästhetisch deutlich, dass der postmoderne Mensch Bestandteil einer unübersichtlichen Welt ist, in der Leitlinien umfassender Erklärbarkeit und einfacher Weltentwürfe nicht mehr erlaubt sind. Stattdessen ist die postmoderne Ästhetik von Paradigmen der Begriffslosigkeit, Vielfalt und Heterogenität geprägt. Pluralität und Transversalität37 bestimmen die Realität des Menschen, der in einer immer stärker beschleunigten, konsumgeprägten und uneindeutigen Realität vom Zweifel geplagt bleiben muss. Es gibt keine sichere Bedeutungszuweisung mehr. Für die Literatur heißt das, dass auch sie nicht auf einen sinn- und bedeutungsmächtigen Wirklichkeitszusammenhang aufbauen kann.38 Es gibt keine verbindliche Lesart für den Leser mehr. Außerdem ist für die postmoderne Kunst die Thematisierung des radikalen Orientierungsverlusts in der Gegenwart charakteristisch. Radikale Pluralität (radikal im Unterschied zu den früheren Formen der modernen Pluralität oder auch des Pluralismus) ist der Schlüsselbegriff der Postmoderne. Anstelle einfacher Binärkategorien wird eine höchst differenzierte Wahrnehmung und Würdigung der Vielfalt von Traditionen möglich, die sich außerhalb moderner Selektionsmuster mit neuen Phänomenen in Lyotards Sinn „bastelnd“ auseinandersetzen kann, ohne dabei der Beliebigkeit anheim zu fallen. Im Zuge der Pluralität ist Grenzüberschreitung das Programm der postmodernen Literatur, wie Leslie Fiedler in seinem legendär gewordenen Artikel „Cross the Border – Close the Gap“, bezeichnenderweise im Playboy erschienen, feststellt. Die Unterscheidung in hohe Literatur für eine gebildete Elite und Trivialliteratur für die ungebildeten Massen bedeute eine Klassengesellschaft, die in der Postmoderne nicht mehr sein dürfe. Dass dieser Anspruch kein unlösbares Paradox mehr ist, beweisen beispielhaft Robbe-Grillet und Eco, denn ihre postmoderne Verbindung anspruchsvoller Literatur und trivialer Genres ist überaus geglückt und erreicht die Massen. Eco beschreibt das Erfolgsrezept explizit in einem postmodernen Kontext als „il ritrovamento non solo dell’intreccio ma anche della piacevolezza“.39 Die Postmoderne versucht also, den elitären Anspruch der Avantgarden der Moderne zu

37 Vgl. Welsch (2002), S. 315 ff. 38 Engler (1994), S. 305. 39 Eco (2000), S. 528.

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überwinden, indem sie in einer Mehrfachkodierung (dies gilt insbesondere für die Literatur) Gattungsgrenzen überschreitet und so nicht nur eine elitäre Sprache spricht, sondern zugleich auch eine populäre. Hierzu nochmals Eco: Il romanzo post-moderno ideale dovrebbe superare le diatribe tra realismo e irrealismo, formalismo e „contenutismo“, letteratura pura e letteratura dell’impegno, narrativa d’élite e narrativa di massa...40

Die erste Lektüre eines Werks soll zumindest die Lust zum erneuten Lesen wecken, und zwar „sia per gli specialisti che per i non specialisti“.41 Derridas Textexperiment Glas (1974), das formgebend selbst als das Modell postmoderner Textualität gilt, weicht die Grenzen zwischen Philosophie und Literatur auf und läutet durch nicht zeilenförmig angeordnete, sondern „synchron“ zu lesende Textfelder der inhaltlichen und formalen Lineargliederung die Totenglocke.42 Zur Wirkung von Glas stellt Rorty fest: „Es ist keine Kleinigkeit, dergleichen aufs Papier zu bannen, doch was wir in Glas vorfinden, ist kein Neuland, sondern die realistische Darstellung eines Standorts, auf dem wir schon seit einiger Zeit hausen.“43

40 Ebd. S. 528. 41 Ebd., S. 530. 42 Dabei schließt sich allmählich auch die Kluft zwischen literarischer und literaturtheoretischer Produktion. Im Deutschen ist Arno Schmidt (1970) bekannt für synchron angezeigte, nichtlineare Texte. 43 Zitiert nach Zima (2001), S. 178.

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Abbildung 6: Nichtlineare Seitengestaltung bei Derrida

Quelle: Derrida, Glas. S. 8

Solche Konzepte der Pluralität, der Massenpopularität und der Nichtlinearität nun auch digital zu aktualisieren ist technisch naheliegend, da sie im neuen Medium besser denn je umgesetzt werden können; zudem ist die ästhetische Umdeutung historisch markierter Ausdrucksmittel als Remix im neuen Kontext eines der grundlegenden Verfahren der Postmoderne. Die digitale Literatur erweist sich als eine ziemlich typische postmoderne Kunstform – so „typisch“ ein Phänomen in der Postmoderne nur sein kann. In der literarischen Praxis experimentiert insbesondere der Nouveau roman mit neuen Erzählweisen, indem er auf der Ebene der Makro- und der Diskursstruktur bisher gültige Konstruktionsprinzipien des Balzac’schen Romans zerstört, wie Kausalität und Kohärenz der Geschichte, die Stimmigkeit (Homogenität) der Figurenpsychologie, die Identität der Erzählerfigur, die chronologische Finalität, etc. Der postmoderne Roman wie auch die Hyperfiction brechen mit jeder Form von narrativischer Kohärenz – im digitalen Medium ergeben sich sogar aus der Software-Ergonomie heraus besonders viele und prägnante Möglichkeiten zum Bruch. Disruptive Leitmotive der Hyperfiction finden sich programmatisch bereits in den Domainnamen der Einzelwerke, z.B. das Anakoluth bei

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Apparitions inquiétantes, die kohärenz- und kohäsionslose Amnesie bei Le Nœud, etc. Ästhetisch umgesetzt wird diese kritische Anti-Haltung wie auch schon im Absurden Theater durch die Fragmentierung der Handlung in kurze nichtlinear erzählte Sequenzen, deren Kohärenz von Anonymisierung und dem Verlust der Verankerung in Raum, Zeit und Identität abgelöst wird. Das Fragment wird zum inhaltlichen und formalen Leitmotiv, ergänzt durch das Prinzip der variierenden Wiederholung z.B. in Parodie und Remake. Die Pluralität artikuliert sich auch in Multiperspektivität und Vielstimmigkeit, Collage und Heterogenität. Altbewährte Stilmittel wie die mise en abyme kommen zu neuen Ehren, es werden aber auch neue Techniken wie écriture, kinematografisches Schreiben, autopoetische Verfahren etc. eingeführt. Mehr zur Ästhetik der Hyperfiction in Kapitel 6. Zusammenfassend lässt sich feststellen: Unterschiedlichste Faktoren und Wechselwirkungen haben, angefangen bei der digitalen Revolution mit ihrer Informationsexplosion und basierend auf Erkenntnissen der Kognitionspsychologie über die Theorien der Postmoderne, den Weg für das neue Leitparadigma des Rhizoms geebnet. Die digitale Literatur hat von den postmodernen Paradigmen wie dem Verwischen der Grenzen zwischen Populär- und Hochkultur sowie einer Auflösung traditioneller Stilgrenzen profitiert und situiert sich in einem künstlerischästhetischen Kunstdiskurs. Dabei weisen die poststrukturalistischen Literaturtheorien eine höchst auffällige Kongruenz zu Phänomenen der digitalen Literatur auf, das Paradigma der Assoziativität findet eine ideale Umsetzung im Hypertext.

3 Veränderungen der Literatur im digitalen Medium

Die digitale Literatur hat eindeutige Gemeinsamkeiten mit der „traditionellen“ Literatur in Form von Parallelen zu den Printgattungen und der Einbettung in die Literaturwissenschaft. Ihre unverwechselbare Eigenart gewinnt die digitale Literatur aber aus dem medialen Rahmen. Die medienbedingten Unterschiede zur Printliteratur fallen in ihrer ontologischen Differenz rasch ins Auge, da der Computer als tertiäres Medium für die Kommunikation nicht nur auf der Senderseite, sondern auch auf der Empfängerseite auf technische Geräte angewiesen ist.1 Ausgehend von einer Übersicht über die neuen Elemente, die die Literatur im digitalen Medium bereichern, wird untersucht, wie sich die Rollen von Autor, Leser und Werk und die digitale Kommunikation insgesamt unter diesen Bedingungen verändern.

3.1 N EUE AUSDRUCKSMITTEL Das Medium prägt das Erscheinungsbild seiner Kunstformen und wirkt sich auf ihre Theoriegebung zurück. Für eine konkrete und angemessene Behandlung des neuen Gegenstands im Licht der Literaturwissenschaft sind daher die neuen (medien-)spezifischen Phänomene entscheidend. Dem neuen Gegenstand soll schließlich keine unflexible, anachronistische Methodik aufgezwungen werden. Für die Analyse der ausgewählten Hyperfictionwerke ist es notwendig, ein Glossar einschlägiger Begriffe und Konzepte aus der Computer- und insbesondere der Hypertexttechnologie vorauszuschicken. Dabei beschränkt sich die Dar-

1

Vgl. Pross (1972), S. 224.

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stellung zunächst auf die Beschreibung der technischen Phänomene. Wie sie literarisch eingesetzt werden und welche Erkenntnisse die Literaturwissenschaft daraus ableiten kann, wird in späteren Kapiteln am Beispiel erläutert. 3.1.1 Die Grafische Benutzeroberfläche (GUI) Computer sind Hilfsmittel, die dem Menschen durch das Zusammenspiel von Hard- und Software die Erledigung seiner alltäglichen Aufgaben erleichtern. Dies funktioniert über eine Form der Kommunikation, die aus einem Austausch von Befehlen und Daten zwischen Mensch und Maschine besteht. Die Software bietet das Interface, die Kommunikationsschnittstelle, über die der Mensch, fortan ein Benutzer, mit dem Computer interagieren kann, um seine Aufgaben schneller, einfacher, effizienter, kostengünstiger etc. zu erledigen. Grundlage dieser Interaktion ist die Grafische Benutzeroberfläche (GUI), die dem Benutzer das Erlernen des Umgangs mit der Software erleichtern soll. Die heutigen Betriebssysteme sowie einzelne Programme, die Anwendungen, basieren auf der Desktopmetapher, d.h. viele Bedienungskonventionen basieren auf Übertragungen aus der realen Welt, indem leicht erkennbare und möglichst selbsterklärende Parallelen gebildet werden. Grafisch heißt die Benutzeroberfläche, weil Piktogramme durch die Verknüpfung von neuem und altem Wissen das Erlernen dieser Bedienkonventionen fördern. Vorherrschend ist die Schreibtischmetapher mit typischen Elementen wie Papierkorb, Ordnern und Dateien (als Analogiebildung zu den früheren Karteien). Diese Elemente werden durch engl. Icons (griechisch: εικων = Bild) auf dem Bildschirm dargestellt und erklären somit zumindest teilweise ihre Funktion: Das Icon eines Papierkorbs oder einer Mülltonne evoziert z.B. die Aktion „wegwerfen“, „loswerden“ und im übertragenen Sinn „löschen“. Dieses Erkennen wird durch die Übertragung räumlicher Bewegungen von Hand und Maus von der realen in die virtuelle Welt unterstützt. So wird der Eindruck erweckt, dass der Benutzer die auf dem Desktop sichtbaren Objekte und Daten deiktisch „direkt“ bearbeiten kann („manipulieren“ von englisch: manipulate). Man spricht hier auch von der Direktmanipulation. Veranschaulicht wird diese Logik durch das WYSIWYG-Prinzip, „What You See Is What You Get“, demzufolge das Ergebnis einer solchen „direkten Manipulation“ unmittelbar einzutreten und zu beobachten sein muss. Eine andere, mächtige Metapher, die über den Schreibtischbereich hinausgeht, ist die Fenstertechnik. Fenster bilden den Rahmen, in dem die Funktionen und die zu bearbeitenden Daten eines Programmes optisch zusammengefasst werden. Fenster ermöglichen den zeitgleichen Zugriff auf verschiedene Pro-

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gramme. Jedes geöffnete Programm wird visuell in einem eigenen Fenster angezeigt. Da der Raum auf dem Bildschirm begrenzt ist, werden die Fenster gewissermaßen palimpsestisch „hintereinander“ angeordnet, wobei bei mehreren geöffneten Programmen das momentan bearbeitete Programm den Fokus hat und als das aktuelle Programm im Vordergrund steht; die anderen gruppieren sich optisch dahinter. Ein Fenster besteht aus verschiedenen Strukturelementen. Die Titelleiste beinhaltet den Namen des Programms oder des Dokuments und bildet die obere Randlinie des Fensters. In der Regel befinden sich im oberen Teil des Fensters außerdem Werkzeug- und Menüleisten, die verschiedene Funktionen zur Datenbearbeitung zur Verfügung stellen. Diese Menüpunkte sind meist horizontal dargestellt und stehen als Oberbegriffe für Kategorien, deren konkrete Handlungsalternativen beim Anklicken meist vertikal in Pulldownmenüs ausgefahren werden.2 Die Menüstruktur kann hinsichtlich ihrer Dimensionen klassifiziert werden: einfaches Menü, lineares Menü, hierarchisches Menü, einfache vs. mehrfache Auswahl aus einer Menüseite, permanente vs. temporäre Menüdarbietung, einstufige vs. zweistufige Auslösung. Den unteren Fensterabschluss bildet die Statuszeile, sie liefert dem Benutzer recht unauffällig gestaltete zusätzliche Informationen, wie z.B. die Erläuterung von Werkzeugoptionen. Neben einem Inventar von Optionen, die der Benutzer nach Bedarf aus dem Menü auswählen kann, bietet heutige Software auch immer eine automatische Hilfestellung bei falschen Benutzereingaben („falsch“ zumindest nach Verständnis des Programms, da sie als nicht zielführend verstanden werden), für Krisensituationen oder auch nur als einfache Orientierungshilfen und Bedienungstipps. Dazu wird das System durch Dialogfenster aktiv. Diese erscheinen immer dann, wenn dem Benutzer ein wichtiges Ereignis mitgeteilt werden soll, und erzwingen eine Benutzerreaktion. Als Kommunikationskanal zwischen Benutzer und System stehen mit dem Instrument der Dialogfenster Bedienelemente mit vorgegebenen Antwortalternativen zur Verfügung, die meist als anklickbare Schaltflächen, sogenannte Buttons, realisiert sind. Einfache Mitteilungs- oder Informationsfenster, die Message Boxes, enthalten je nach Software lediglich einen Frage- oder Hinweistext und eine oder mehrere Schaltflächen. Der Nutzer quittiert die Kenntnisnahme des Lesers durch Klicken auf die Schaltfläche „OK“; hier ist dann nur ein Button vorhanden.

2

Dies gilt für die Windowsversionen vor Windows 7, das seit September 2008 am Markt ist. Hier wird diese Tradition massiv durch die Einführung von sogenannten Ribbons verändert, das sind Menüleisten, die die vertikalen Pulldownmenüs ersetzen.

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Andere Typen von Dialogfenstern verfügen über zwei bis drei Schaltflächen und geben damit Raum für mehr Entscheidungsfreiheit, z.B. bietet die Frage „Möchten Sie die Änderungen in Dok1.doc speichern?“ in Microsoft Word drei Handlungsalternativen an: „Speichern“, „Nicht speichern“ und „Abbrechen“. Die getroffene Entscheidung wirkt sich entsprechend auf die vorgeschlagene Aktion des Systems aus. Dadurch entsteht auch eine einfache Möglichkeit der Verzweigung auf Ebene der Dialogfenster, die sonst keine Möglichkeit dazu bieten, da sie z.B. keine Links enthalten. Ein dritter Typ von Dialogfenster ist die Eingabeaufforderung. Hier kann der Benutzer einen frei bestimmbaren Text in ein Textfeld eingeben, z.B. bei einer Passwortabfrage. Dialogfenster sind in der Regel modal, d.h. sie blockieren alle Aktionen des Programms und auch des Benutzers, solange letzterer nicht auf die vorgesehene Weise reagiert hat. Weitere direktmanipulative Standardelemente sind Checkboxes und Radiobuttons, die dem Nutzer die Spezifizierung von Optionen gestatten. Für die digitale Literatur sind sie aber ungebräuchlich und finden daher keine weitere Beachtung. 3.1.2 Hypertext Der informationstechnologische Begriff Hypertext, nicht mit Genettes (1992) „hypertexte“ (frz.) aus der Intertextualitätsforschung zu verwechseln,3 ist die digitale Umsetzung einer assoziativen Organisationsstruktur. Er bildet ein navigierbares Netz aus Knoten (meist Webseiten, aber auch anderen Dateitypen) und Kanten (den Hyperlinks) ab, die diese Knoten miteinander verbinden.4 Interaktiv erschließbar ist dieser virtuelle Informationsraum durch das direktmanipulative Anklicken von Links über das wiedergebende Interface von Webbrowsern. Eine konkrete Umsetzung erfährt Hypertext im weltumspannenden Informationsnetz des Internets, und hier vor allem in dessen Hauptbereich, dem WWW (World Wide Web), dem über Webbrowser zugänglichen, hypertextuell organisierten Teil des Internets. Das Internet ist letztlich selbst ein einziger, riesiger Hypertext: Der einende Kontext ist das erste Element der Internetadresse http („Hypertext Transfer Protocol”).5 Da das WWW plattformunabhängig funktioniert, ist eine weitere Differenzierung nach Betriebssystem oder Gerätetyp

3

Der Genette’sche hypotexte ist der Urtext, alle auf ihn zurückgehenden Derivate werden als hypertextes klassifiziert.

4 5

Vgl. Herczeg (1994), S. 133. Andere Dienste im Internet sind z.B. ftp für die Dateiübertragung, smtp für Versenden von E-Mails.

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(IBM-PC-kompatibler Computer versus Apple-Macintosh-Modell) für die weitere Untersuchung unerheblich.6 Daher kann auch der generische Begriff „Computer“ in dieser allgemeinen Form verwendet werden, auch wenn die Verbreitung der Plattformtypen länderspezifisch durchaus verschieden ausfällt. Technisch wird Hypertext im WWW hauptsächlich durch HTML (Hypertext Markup Language) realisiert, eine relativ einfache, standardisierte Auszeichnungssprache für die Darstellung von Text und Bildern in Dokumenten.7 Der Quellcode enthält zu den auf dem Bildschirm sichtbaren Text- und Bildelementen Informationen zu Attributen in Form von Tags, die als Befehle für die Anzeige fungieren. Die Tags sorgen beispielsweise für den gewünschten Schriftschnitt und das Layout aller Elemente auf der Bildschirmseite und legen die Verknüpfungen von Dateien wie anzuzeigenden Bildern oder verlinkten Seiten fest. Durch diese Integration der Gestaltungsmöglichkeiten in HTML sind Inhalt und Form untrennbar verbunden.8 Hypertextsysteme werden über die sogenannten (Web-) Browser angezeigt und auch bedient, die sich als Programme ins Betriebssystem integrieren. Die Gestaltung ihrer visuellen Bedien- und Strukturelemente basiert auf der Desktopmetapher. Browser zeigen die Webseiten in einer Bildschirmansicht und können über Plug-ins das Medienmaterial abspielen (Ton beispielsweise als MP3, MIDI oder WAV, Videos als MP4, Flash-Animationen, etc.). Die Doppelung der Textzustände Quellcode und Bildschirmansicht kann im Browser in beiden Fassungen sichtbar gemacht werden: Über die Funktion „Quelltext ansehen“ wird auch die programmierte Version des Texts im HTML-Code zugänglich. Der Hyperlink (kurz: Link) ist das charakteristische Funktionselement des Hypertexts. Der Link ist ein aktivierbarer Verweis von einer Datei zu einer anderen. Ausgelöst durch die Benutzereingabe des Anklickens bewirkt er die automatische Anzeige des verbundenen Dokuments. Wo die Verbindung bei dem ver-

6

Aber nicht prinzipiell: Berkenhegers Schwimmmeisterin kann beispielsweise nicht auf einem Apple-Computer abgespielt werden, es erscheint ein expliziter Hinweis dazu. Die Wiedergabe mit dem Mac-eigenen Browser Safari lässt die Manipulation des Internet Explorer nicht zu, so dass die Wiedergabe nicht wie gewünscht ausfallen würde.

7

Erwähnt werden sollen noch XML (Extensible Markup Language) und XHTML (Extensible HTML). Sie sind neueren Ursprungs als HTML und werden in den untersuchten Hyperfictions nicht eingesetzt.

8

Dies ist bei der Entwicklung von Anwendungen aber unerwünscht. Daher gehen neuere Techniken dazu über, durch Stylesheets (CSS) das Layout wie z.B. Absatzformatierungen zu zentralisieren und von der einzelnen Webseite zu trennen.

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wandten Konzept der Fußnote eher symbolischer Natur ist, bedeutet der Link eine explizite, physische Verbindung. Der Link hat Auswirkungen auf mehrere Dimensionen. Durch den Aufruf des nächsten Knotens hat er eine räumlich verbindende, operationalisierbare Funktion, dazu kommt eine semantische Dimension: der Signifié des Ankers. Auf der Oberfläche (d.h. im Browserfenster) ist der Anker (i.e. das anklickbare Wort) sichtbar; unsichtbar ist hier dagegen die Pfadangabe, die das Ziel des Verweises spezifiziert, sowie der HTML-Befehl (), der die automatische Weiterleitung zu dieser Seite bewirkt. Ausgangspunkt des Linksprungs ist der Anker oder Linktext, also das, was gemeinhin als „Link“, als das aktivierbare, anklickbare Textelement der Oberfläche wahrgenommen wird. Genau genommen ist der Anker aber nur ein Bestandteil des Gesamtparadigmas „Link“. Als Pars pro toto ist die Redeweise vom Ankertext als „Link“ aber eingebürgert und verständlich und auch nicht ganz falsch. Das Sprungziel (auch: Target) bleibt auf der oberflächlichen Textebene vorerst verborgen; der Klick auf den Link bringt die neue Seite mit der angegebenen URL auf den Bildschirm. Der Quellcode macht dieses Zusammenspiel aus Ankertext, URL des Sprungziels und Referenz-Befehl sichtbar: Ankertext Aufgrund der Pfadangabe und des HTML-Befehls führt jeder Link eindeutig und linear zu einem Zieldokument; die semantische Beziehung zwischen dem Anker-Signifiant und dem verknüpften Dokument ist recht einfach und folgt einer gewissen Fußnotenlogik. Auch wenn anspruchsvollere Linkkonzeptionen theoretisch möglich sind, finden sie im WWW mit seinen referentiellen Seiten bislang keine Umsetzung.9 Immerhin sind noch öffnende und schließende Links zu unterscheiden, die auch als syntagmatische (fortsetzende) bzw. paradigmatische (unterbrechende, schließende) Links bezeichnet werden.10 Die multilineare Vernetzung zur Hypertextstruktur entsteht zwischen den Knoten, indem innerhalb eines Knotens mehrere (beliebig viele) Links als Verknüpfungsmöglichkeiten zur Auswahl stehen. Was die Gestalt des Ankers betrifft, so kann jedes Zeichen eine Linkfunktion erhalten. Meist handelt es sich um Text, genauer um Einzelwörter oder auch Syntagmen. Ganze Sätze sind zwar ungewöhnlich, aber auch möglich. Der Linktext ist im Browser in der Regel typografisch mehrfach markiert, durch eine Unterstreichung und abweichende Farbe vor und nach dem ersten Anklicken, außerdem verändert sich der normalerweise pfeilförmige Mauszeiger beim Kon-

9

Vgl. Hammwöhner (1997), S. 22.

10 Vgl. Suter (1999), S. 142 f. und Alamán (2004).

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takt mit dem Link in ein Zeigehändchen – ein Indiz für die Interaktionsmöglichkeit, im wahrsten Sinne die „Mani-Pulierbarkeit“. Aber auch Bilder können Linkfunktion gewinnen, sie sind allerdings schwerer als Hyperlink zu erkennen, da die textlichen Markierungen auf sie nicht anwendbar sind. Die assoziative Textorganisation ist in ihrer Form freier als ein linear strukturierter Text. Geflügelt geworden ist die Gefahr „lost in hypertext“ zu sein, was beim frei assoziativen Surfen nach wechselnden Schlagworten leicht auftreten kann. Die bekannten Mechanismen der Kohäsion (Zusammenhalt auf mikrostruktureller Ebene) und Kohärenz (Zusammenhalt auf makrostruktureller Ebene) verlieren ihre Relevanz im Hypertext, daher gibt es eine Reihe von Browserfunktionen, die die fehlenden Orientierungshilfen wie Seitenzahlen, Buchdicke etc. für das Hypertextmedium ausgleichen. Neu ist im Vergleich zum Printmedium insbesondere die Seitenhistorie, die den Verlauf der besuchten Seiten protokolliert und über den Back-Button zugänglich macht. Eine Interaktion über die Linkfunktionalität hinaus gewinnen HTML-Seiten durch den Einsatz der Skriptsprache JavaScript.11 Dadurch können Webseiten (HTML-Seiten) ein so elaboriertes Oberflächendesign wie Desktopanwendungen erhalten, was sich insbesondere für die Interaktion mit dem Leser nutzen lässt. JavaScript wird hauptsächlich zur dynamischen Verarbeitung von Eingabe- und Auswahlfeldern verwendet. Während Links Abfragen sind, die über den Webserver gehen, handelt es sich bei mit JavaScript getroffenen interaktiven Entscheidungen um vorgeschaltete, lokal verarbeitete Abfragen. Mit JavaScript lassen sich beispielsweise Hovering-Effekte durch Mouse-over erzeugen: Bei schwebendem Mauskontakt (nicht Klicken!) erscheinen unvermittelt neue Elemente wie z.B. Textfelder, die bei Wegziehen der Maus wieder verschwinden. Auch Pop-up-Fenster, ein typisches Element bei Webseiten, sind mit JavaScript zu realisieren. Es handelt sich um kleine Fenster, die plötzlich aufgehen (englisch: to pop up) und das Hauptfenster überdecken, und die auch von selbst wieder verschwinden können. In der Praxis werden Pop-ups im Internet überwiegend für Werbung genutzt und sind dementsprechend verpönt; moderne Browser verfügen daher über die Möglichkeit, solche Pop-ups zu unterdrücken.12

11 Zumindest was den Stand der behandelten Hyperfictions angeht; es gibt auch noch andere Skriptsprachen. 12 Diese Sicherheitseinstellung führt zu Anzeigeproblemen bei den Hyperfictions, die solche Pop-up-Fenster einsetzen. In dem Fall muss der Browser so eingestellt werden, dass zumindest die Pop-ups der betreffenden Seite angezeigt werden – sie funktionieren sonst nicht!

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Die Links bestimmen durch die Verknüpfungsart die gesamte Struktur des Hypertexts. Ist die Grundform des Hypertexts das Netz, das im idealen Maximalrhizom alle Knoten miteinander verbindet, so kann sie durch Regeln zu Sonderformen variiert werden, z.B. zum Binärbaum, bei dem jeder Knoten genau zwei Folgeknoten hat, oder zu einer Linie, das ist der Fall, wenn jeder Knoten nur einen einzigen Folgeknoten hat. Formal ist dies der Fall bei der Printliteratur. Durch wiederholten Aufruf gleicher Knoten ergeben sich gerichtete zyklische Verknüpfungsformen, Verzweigungen aus einem gemeinsamen Zentrum führen zu einer Sternstruktur.13 Alle Mischformen sind denkbar. Der Regelfall sind Hybridtypen. Abbildung 7: Häufige Verknüpfungstypen

Quelle: Eigene Darstellung nach Sager (1997), S. 118.

Zusätzliche Möglichkeiten für die Analyse von Hypertexten bieten Tools zur grafischen Visualisierung. So liefert WebTracer14 eine Übersicht über die Struktur aus Knoten und Kanten, die das händisch erstellte Diagramm (empfehlenswert für die Untersuchung einzelner, verbundener Seiten) nicht ersetzt, aber einen Gesamteindruck einer Webseite vermittelt.

13 Vgl. Sager (1997), S. 118. 14 http://www.nullpointer.co.uk/-/webtracer.htm

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Abbildung 8: Visualisierung einer Website mit Webtracer

Quelle: Screenshot-Ausschnitt erzeugt mit WebTracer15

Ein anderes, für die vorliegende Untersuchung verwendetes, aber mittlerweile nicht mehr verfügbares Tool ist Aharef: Websites as graphs,16 das die Programmierung in HTML analysiert und so gewissermaßen den Programmierstil visuell ermittelt. Abbildung 9: Schematische Darstellung des HTML-Codes

Quelle: Screenshot-Ausschnitt erzeugt mit Aharef17

15 http://www.nullpointer.co.uk/-/webtracer/cybergeog3.gif 16 http://www.aharef.info (nicht mehr verfügbar ; zuletzt: 06.02.2010) 17 http://www.aharef.info/static/htmlgraph/?url=http://www.anacoluthe.be/bulles/ apparitions/inquietantes/decapotable.html (nicht mehr verfügbar; zuletzt: 06.02.2010)

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Im Unterschied zu WebTracer bildet die mit Aharef erzeugte Grafik die Machart des programmierten Quellcodes einer Seite ab, ist also trotz der Rhizomform nicht mit einer Landkarte der Verknüpfung mehrerer Hypertextknoten zu verwechseln. Die farbig markierten Knoten stehen für HTML-Tags (d.h. Befehle) und zeigen die hierarchische Verschachtelung von Tags ineinander an. Das an sich ist für die literaturwissenschaftliche Analyse von eher geringem Nutzen, doch im Gesamtkontext der Interpretation konnte dieses Tool doch immer wieder einen interessanten Beitrag leisten. 3.1.3 Multimedia Multimedia ist ein recht umfassendes Schlagwort für die Vereinbarkeit unterschiedlicher Einzelmedien im gemeinsamen Supermedium Computer. Dank der binären Speicherung der Daten als Zustände von 0 und 1 können alle Daten auf diesen kleinsten gemeinsamen Nenner gebracht werden und vom Computer verarbeitet werden. Genau genommen spricht man erst dann von Multimedia, wenn statische Medien (das ist der Standardfall, also Text und/oder Bild) und mindestens ein dynamisches Medium (Ton, Video, Animation, etc.) in ein gemeinsames elektronisches Medium integriert sind. 18 In der Kombination der Hypermedia lassen sich die charakteristischen Merkmale von Hypertext (vernetzte Struktur, Interaktion) und Multimedia (zusätzliche Dateiformate) in einen gemeinsamen Kontext bringen: Die Webbrowser sind über Plug-ins in der Lage, gängige multimediale Formate wie MIDI, MP3, WAV, Flash, MPEG4, MOV, WMA etc. abzuspielen. Allerdings setzt die Hypertextarchitektur dem Einsatz von Multimedia praktische Grenzen: Je mehr Multimediamaterial mit den einzelnen Hypertext-Seiten vom zentralen Server auf den Clientrechner geladen wird, umso langsamer wird, je nach Übertragungsrate, die Anzeige dieser Elemente, und die Auslastung des Servers wächst. Außerdem sollten Animationen stets wohldosiert und maßvoll eingesetzt werden, da sie aufgrund ihrer Bewegung eine starke visuelle Dominanz besitzen. 3.1.4 Computergesteuerte Abläufe Ein Algorithmus ist eine genau definierte Handlungsvorschrift zur Lösung eines Problems in endlich vielen Schritten. Typischerweise spricht man von Algorithmen im Zusammenhang mit Computerprogrammen. Ausgeführt steuern sie alle Abläufe auf dem Computer. Solche computergesteuerten Abläufe können einen

18 Hasebrook (1995), S. 43.

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eigenen Wert als Gestaltungsmittel der digitalen Literatur erlangen, der über den einfachen Einsatz von Multimedia hinausgeht, indem sie beispielsweise offene Parameter mit Zufallsdaten füllen und so selbstständig formgebend wirken. Ein solcher computergesteuerter Ablauf wird je nach Parametersetzung und Konkretisierung anders ablaufen. Von Multimedia heben sich diese Abläufe durch eine höhere Komplexität und variierbare Konkretisierung ab: Während ein Film die fixierte Wiedergabe eines Ablaufs ist, ist der algorithmisch erzeugte Ablauf selbst das Originalereignis, das in Echtzeit generiert und rezipiert wird. Gewinnen solche Programme einen autoreferentiellen Eigenwert, können sie zu literarischen Zwecken genutzt werden. Im engen Sinn eines anspruchsvollen, literarisierten Programmablaufs wird der Begriff „algorithmische Literatur“ im Folgenden im Kontext der digitalen Literatur verwendet. In der digitalen Poesie ist ein algorithmisches Gedicht ein Programm, das ausgeführt werden muss. 3.1.5 Software-Ergonomie Die bisher vorgestellten neuen Zeichensysteme des digitalen Mediums unterliegen als einzelne Elemente einer Pragmatik, ja, man kann von einer Grammatik der wünschenswerten Anwendung sprechen. Die Software-Ergonomie nun ist die Disziplin, die die Vorgaben für eine optimale Gestaltung der technischvisuellen Elemente des digitalen Mediums in ihrer praktischen Anwendung ermittelt hat. Ihr Ziel ist eine strikt referentielle Optimierung der Mensch-MaschineInteraktion bei der Bedienung von Computerprogrammen,19 sie soll dem Benutzer eine maximale Handhabbarkeit der Software bei minimaler kognitiver Belastung ermöglichen. „Effizienz“ lautet die Prämisse. Die plakative Faustregel „Don’t make me think!“20 besagt, dass der kognitive Aufwand für die Bedienung des Programms so weit in den Hintergrund rücken soll, dass alle geistigen Kapazitäten des Benutzers auf die eigentliche Problemlösung konzentriert werden können. Damit sollen Computerprogramme, ganz im Sinne McLuhans, als technologische „Extensionen“ menschlicher Sinne so selbstverständlich werden, dass ihre Künstlichkeit in den Hintergrund tritt und nicht mehr wahrgenommen wird.

19 Genauer: Benutzerschnittstellen mit interaktiver Funktionalität, zu denen Software und Internetseiten gehören. Ihre Gemeinsamkeit ist die Schnittstelle, d.h. das am Bildschirm sichtbare Graphic User Interface (GUI), auf das sich die Grundregeln des Software-Designs beziehen. Mehr dazu vgl. Herczeg (1994), S. 2 ff. 20 Krug (2000)

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Die Bedienung erfolgt dann automatisch auf einer ressourcenschonenden Bewusstseinsebene.21 Zu diesem Zweck legt die Software-Ergonomie Regeln und Richtlinien für die optimale Form von Benutzerinterfaces und Dialogabläufen fest. Ihre gelungene Umsetzung ist die Ästhetik eines klaren Funktionalismus.22 Interessant ist eine Paradigmenverschiebung, die sich bei Herzceg beobachten lässt: Betont er in der ersten Auflage seines Grundlagenwerks Software-Ergonomie (1994) den Aspekt einer Funktionserfüllung von Software, weicht er dieses Vorgabenszenario in der zweiten Auflage, Softwareergonomie (2005), auf. Er trägt damit dem Umstand Rechnung, dass viele Benutzer nicht aus Gründen einer Arbeitserledigung, sondern zum Vergnügen Software bedienen, z.B. in Form von Spielen. Dieser erweiterte Blickwinkel fügt dem bestehenden Regelinventar einige neue Kriterien hinzu, z.B. die Zufriedenheit des Benutzers. An der Gültigkeit der vorher in DIN-Normen festgelegten Regeln zur sachbezogenen Effizienz ändert aber auch dieser ludic turn nichts. Wenn Orthografie, Lexikon und Grammatik den normativen Rahmen des Sachtexts bilden, ist die Software-Ergonomie als „Grammatik“ der InterfaceGestaltung eine ideale Folie für den deautomatisierenden Einsatz im Sinne einer Deviationspoetik. Sie berücksichtigt dazu sehr genau die physischen und vor allem psychischen Fähigkeiten und Grenzen des Menschen. Dies beginnt bei der sensorischen Aufnahme von Informationen und reicht über ihre entschlüsselnde Wahrnehmung und kognitive Verarbeitung bis zum reagierenden Handeln und der dazu gehörenden Motorik.23 Wie wichtig es ist, diese Beschränkung der kognitiven, menschlichen Ressourcen für die Darstellung am Bildschirm und die reibungslose Interaktion zu kennen (und auch, einer perzeptiven und unwillkürlichen Interpretationsleistung des Menschen Rechnung zu tragen), zeigen besonders anschaulich Wahrnehmungstäuschungen wie z.B. Akiyoshi Kitaokas „Rotating Snakes“ (2003), die sich diese Grenzen zu nutze machen. Die Ringe, die sich im peripheren Blickfeld des Menschen befinden, scheinen sich zu drehen, so dass der Eindruck einer kontinuierlichen Bewegung entsteht, während das direkte Fixieren die fokussierte Stelle erstarren lässt. Da das Auge ganz unwillkürlich auf Bewegungen im peripheren Blickfeld achtet, lässt der Betrachter das Auge unablässig über die Gra-

21 Vgl. McLuhan (1964), S. 156 f. 22 Gardner (2006) bringt es auf den Punkt: „The message is clear: Businesses need to provide simple and easy-to-navigate layouts, whilst focusing on speed and uptime.“ Entscheidend ist dabei die Ausrichtung auf den sachlichen Bezug. 23 Herczeg (1994), S 49.

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fik gleiten und versetzt dadurch scheinbar das gesamte Bild in Bewegung. Durch die Präsentation auf einem beleuchteten Bildschirm verstärkt sich der optische Effekt, da hier das Auge noch stärker beansprucht wird. Abbildung 10: Sinnestäuschung durch perzeptive Interpretation

Quelle: Screenshot-Ausschnitt aus „Rotating Snakes“24

Dieses Phänomen kann für bewusste Effekte wie im obigen Beispiel genutzt werden, kann aber natürlich auch in unerwünschtem Maß auftreten. Erstaunlich häufig finden sich beispielsweise Fälle chromatischer Aberration: Aufgrund der Physiologie des Auges werden blaue Objekte vor und rote Objekte hinter der Netzhaut scharf abgebildet, so dass es unmöglich ist, das Auge gleichzeitig auf rote Schrift auf blauem Grund scharf einzustellen.25 Verstöße gegen die Regeln und Richtlinien der Software-Ergonomie werden von keiner Instanz geahndet, aber bei Nichtbefolgung drohen dennoch Konsequenzen für die Mensch-Maschine-Kommunikation, und zwar für den Benutzer. Das plastischste Szenario: 2006 diagnostizierte das britische Social Issues Research Centre eine neue Krankheit, die Internet-Nutzer befallen kann: das Mouse Rage Syndrome. Als Ursache wird schlechtes Webseitendesign identifiziert, erkennbar insbesondere an „Excessive pop-ups, Slow to load pages, Confusing / difficult to navigate layouts, Unnecessary advertising, Faulty links“.26 Designfehler durch Frustration und Stress sind heuristisch ein häufiges Problem bei der Arbeit am Computer.

24 http://www.ritsumei.ac.jp/~akitaoka/rotsnake.gif 25 Vgl. Herczeg (1994), S. 53. 26 Marsh & Khor (2006), S. 9.

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Für die digitale Literatur werden nun die Richtlinien der Software-Ergonomie zu ästhetisierenden Zwecken bewusst außer Kraft gesetzt, sie finden im „Missbrauch“ eine pragmatische, kookkurrente Umdeutung. Die strenge Funktionalität und Referentialität der Bedienelemente des GUI fordern eine literarisierende Deautomatisierung des Mensch-Maschine-Dialogs geradezu heraus, sie wird zu ihrem funktionellen und ästhetischen Eckpfeiler. Formuliert werden die Grundsätze der Software-Ergonomie in normierenden Katalogen mit Empfehlungscharakter. In Deutschland ist das Software-Design durch DIN 66234 Teil 8 für Bildschirmarbeitsplätze festgelegt, das Pendant in Frankreich ist AFNOR Z-67-110; von internationaler Gültigkeit sind ISO 9241 (Teil 10) und ISO 13407.27 2006 wurde die Norm ISO 9241 Teil 10 überarbeitet und durch den Teil 110 abgelöst, so dass ihr Geltungsbereich erweitert wird: Betont wird nun, wie bereits der Titel besagt, die allgemeine „Ergonomie der Mensch-System-Interaktion“ – vorher lautete der Titel noch „Ergonomische Anforderungen für Bürotätigkeiten mit Bildschirmgeräten“. Besonderes Augenmerk gilt nun den interaktiven Systemen, die Beschränkung auf die Büroarbeit wurde aufgehoben. Die sieben Grundsätze der Dialoggestaltung sind die gleichen geblieben, die Definitionen wurden aber deutlicher formuliert. Das Schlüsselwerk Software-Ergonomie (1994) von Michael Herczeg bezieht sich noch auf Teil 10, in dem fünf Grundsätze für die Gestaltung der Dialogschnittstelle beschrieben werden.28 Es sind dies die Postulate Aufgabenangemessenheit, Selbstbeschreibungsfähigkeit, Steuerbarkeit, Erwartungskonformität und Fehlerrobustheit, die im Folgenden kurz behandelt werden.29 In der Neuauflage von 2005 sind noch Individualisierbarkeit und Lernförderlichkeit hinzugekommen. Von Aufgabenangemessenheit spricht man, wenn ein Interface „die Erledigung der Arbeitsaufgabe des Benutzers unterstützt, ohne ihn durch Eigenschaften des Dialogsystems unnötig zu belasten.“30 Das ist überhaupt die grundlegende Prämisse der Software-Ergonomie. Zu ihrer Erreichung ist die klare Trennung der Funktionselemente des Programms von der inhaltsseitigen Aufgabe des Users gefordert. Diese Trennung ist sehr grundlegend und betrifft beispielsweise

27 Zum genaueren Zusammenhang zwischen Regeln und Stilmitteln vgl. Bauer (2004). 28 Vgl. Herczeg (1994), S. 105. 29 Einschlägige Werke zur Software-Ergonomie sind insbesondere auch die Arbeiten von Jakob Nielsen zur web usability, vgl. z.B. Nielsen (1990), (1993), (2000). 30 Herczeg (1994) S. 106. Die Redeweise vom „Dialog“ betont übrigens sehr anschaulich die Auffassung von der Computerbedienung als einer Kommunikationsform.

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die allgemeine Lesbarkeit der Bildschirminhalte mit Vorgaben zur Textdichte, Schriftart, -größe und -farbe und zur Anordnung auf der Bildschirmseite. Konkrete Angaben zur Schriftgröße finden sich in der DIN 66234 Teil 1, z.B. zur Höhe und Breite der einzelnen Buchstaben (empfohlen werden 7x5 Pixel für Großbuchstaben, 5x4 Pixel für Kleinbuchstaben), zum Abstand zwischen den Wörtern und Zeilen, zur Anzahl von max. 60 Zeichen pro Zeile, etc.31 Eine weitere Forderung der Software-Ergonomie ist die der Selbstbeschreibungsfähigkeit. Diese liegt vor, [...] wenn dem Benutzer auf Verlangen Einsatzzweck sowie Leistungsumfang des Dialogsystems erläutert werden können und wenn jeder einzelne Dialogschritt unmittelbar verständlich ist oder der Benutzer auf Verlangen dem jeweiligen Dialogschritt entsprechende Erläuterungen erhalten kann.32

Der Benutzer soll also keine langwierige Einarbeitung auf sich nehmen müssen, um seine Aufgabe zu erledigen. Die Software soll unsichtbar in den Hintergrund treten. Umgesetzt wird diese Forderung durch die o.g. Prinzipien der Desktopmetapher und der Direktmanipulation. Die Steuerbarkeit der Anwendungen definiert sich nach DIN 66234 Teil 8 folgendermaßen: Ein Dialog ist steuerbar, wenn der Benutzer die Geschwindigkeit des Ablaufs sowie die Auswahl und Reihenfolge von Arbeitsmitteln oder Art und Umfang von Ein- und Ausgaben beeinflussen kann.33

Die Kontrolle über die ablaufenden Prozesse muss beim Benutzer liegen, ein Wechsel zur systemgesteuerten Kontrolle darf nur unterstützende Funktion haben. Zugleich bedeutet dies, dass der Benutzer interaktiv die Möglichkeit hat, seine Aktionen aus einem Katalog auszuwählen und dem System mitzuteilen. Auch umgekehrt muss der Benutzer durch Systemmeldungen stets auf dem Laufenden über die ausgeführten Operationen sein. Zum Begriff der Erwartungskonformität legt die DIN 66234 Teil 8 fest: Ein Dialog ist erwartungskonform, wenn er den Erwartungen der Benutzer entspricht, die sie aus Erfahrungen mit bisherigen Arbeitsabläufen oder aus der Benutzerschulung mit-

31 Vgl. Herczeg (1994), S. 73. 32 Herczeg (1994), S. 108. 33 Herczeg (1994), S. 110.

78 | FRANKOPHONE DIGITALE L ITERATUR bringen sowie den Erfahrungen, die sie sich während der Benutzung des Dialogsystems und im Umgang mit dem Benutzerhandbuch bilden.34

Eng mit dem Begriff der Erwartung verbunden ist der Begriff der Einheitlichkeit, der sich auf drei Ebenen ansiedeln lässt: Die innere Konsistenz, die sich auf die Dialoggestaltung innerhalb eines Anwendungssystems bezieht und die Erwartungskonformität im engeren Sinne darstellt, die äußere Konsistenz,35 die systemübergreifende Einheitlichkeit, die sich auf Standards in der Bedienung zwischen verschiedenen Programmen stützt, und schließlich die metaphorische Konsistenz, die Parallelen zur realen Arbeitswelt gestattet.36 Fehlerrobustheit bedeutet laut DIN 66234 Teil 8: Ein Dialog ist fehlerrobust, wenn trotz erkennbarer fehlerhafter Eingaben das beabsichtigte Arbeitsergebnis mit minimalem oder ohne Korrekturaufwand erreicht wird. Dazu müssen dem Benutzer die Fehler zum Zwecke der Behebung verständlich gemacht werden.37

Auch dies bedeutet, dass dem Benutzer die Bedienung so leicht und intuitiv wie möglich zu machen ist. Er soll so durch die Bedienung der Software geführt werden, dass Irrtümer und Fehler aufgrund von Verwirrung und Verwechslung ausgeschlossen sind.

3.2 D IE K OMMUNIKATIONSSITUATION : AUTOR , L ESER , W ERK Literatur ist Kommunikation. Sie wird zwischen den Konstituenten Sender, Empfänger und Botschaft aufgespannt, oder literaturspezifischer ausgedrückt, zwischen deren Konkretisierungen Autor, Leser und Werk. Wie bei den anderen Mediengattungen, z.B. dem Film und dem Hörspiel, hat bei der digitalen Literatur die Technik einen erheblichen Anteil am Werk. Daher stellt sich die Frage nach den besonderen Eigenschaften von Code und Kanal, die sich auf das paradigmatische Gestaltungsmittel des Hypertexts als Bauprinzip und das syntagmatische Gestaltungsmittel der Multimedia-Inhalte konzentrieren.

34 Herczeg (1994), S. 111. 35 Vgl. Herczeg (1994), S. 112. 36 Vgl. Herczeg (1994), S. 111 f. 37 Herczeg (1994), S. 112.

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Dazu wurde das Grundmodell der Kommunikation von Jakobson38 auf die spezifische Kommunikationssituation der digitalen Literatur übertragen. Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass nicht nur Literatur eine Kommunikationsform ist, sondern dass, Stichwort Benutzerpartizipation, ganz dezidiert auch die Bedienung des Computers eine solche darstellt – nicht zuletzt spricht man in der Informationswissenschaft von Mensch-Maschine-Kommunikation oder auch von Mensch-Maschine-Interaktion. In der Adaption des Jakobson’schen Kommunikationsmodells für die digitale Literatur fungiert der Sender (der Autor) als Programmierer, Designer und Texter. Er vereint so ein Kollektiv von Fertigkeiten in sich, die für die Erstellung eines digitalen Werks nötig sind. Dass neue Mediengegebenheiten eigene Rezeptionsmodi erfordern, ist evident. Eine Besonderheit des digitalen Mediums ist, dass auch der Leser, im Printmedium eigentlich ein reiner Empfänger, aufgrund seiner Partizipation z.B. bei der Auswahl der Links in einem gewissen Rahmen mit zur Senderseite gerechnet werden kann. Das Dispositiv des Werks wird daher von zwei Faktoren bestimmt: der echten Autorinstanz, die für die Generierung und Schaffung des Inhalts verantwortlich ist, und einer arrangierenden Leserinstanz – gemeint ist die Zusammenstellung des konkreten Lektürepfades aus der Menge der potentiellen AuswahlParameter, die der Leser während der Lektüre erzeugt. Mehr zum Leser vgl. Kapitel 3.2.2, zum Autor in Kapitel 3.2.3. Der Computer als technisches Gerät ist das wiedergebende Medium. Über entsprechende Interfaces und Ausgabegeräte können ohne Probleme andere Medien, z.B. eine Filmsequenz oder ein Hörbeitrag (auf digitaler Datengrundlage), abgespielt werden: das Bild über den Monitor, der Ton über die Lautsprecher. Die jeweils charakteristische vermittelnde Instanz (Kamera beim Film, Mikrofon beim Hörspiel) bleibt dabei erhalten. Genauer gesagt, hat die Software des wiedergebenden Programms die Funktion der vermittelnden Instanz inne, da das Werk für diese Präsentationsform programmiert worden ist. Wie bei den Medienliteraturen des Dramas und des Films ist auch in der digitalen Literatur der Kanal audiovisuell geprägt, das digitale Zeicheninventar erfährt im Vergleich zum Printmedium weitreichende Erweiterungen. Neu sind für den Code auf der Signifikantenseite die Zeichensysteme Bild, Ton, bewegtes Bild sowie die Fähigkeit zur Interaktion, die den dominierenden Text ergänzen; der Hypertext als Sonderform des Texts ist für die Syntax der direktmanipulierbaren Links verantwortlich. Zu der bekannten lexikalischen und kontextuellen Semantik des Texts kommt eine Verstärkung der visuellen Dimension des Texts hinzu.

38 Vgl. Jakobson (1971), S. 142-178.

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Um dem Eventcharakter der interaktiven Kommunikation gerecht zu werden, muss weiterhin eine performative Komponente eingeführt werden. Es macht einen Unterschied, ob nur gelesen wird, oder ob der Leser aktiv/konstitutiv in den Lektüreprozess eingebunden ist. Mittels der Direktmanipulation führt der Benutzer nach dem WYSIWYG-Prinzip in der Realwelt Aktionen mit der Maus aus, die in eine analoge Bewegung am Monitor, d.h. in der virtuellen Welt, umgewandelt werden. Die Verdoppelung der Maus in Real- und digitaler Welt ist das Scharnier, das eine Umkehrung der Kommunikationsrichtung gestattet: Der Leser gibt die passive, neutrale Lesehaltung auf und versetzt sich immer aktiver in die Rolle einer Figur der Diegese. Das digitale Medium begünstigt so eine explizite Identifizierung, ein konvergentes Verschmelzen der Realwelt mit der virtuellen, elektronischen Welt, so dass eine ausgeprägte Immersion des Lesers in die diegetische Welt stattfinden kann. Zusammengefasst: Die mediale Situation eröffnet der digitalen Literatur neue Möglichkeiten der Rezeption. Vor allem die vielfältigen neuen Zeichensysteme wirken sich distinktiv auf die Instanzen der Literatur aus, so dass sich jedes Element der Trias Autor-Leser-Werk dadurch neu definiert, wie in den folgenden Kapiteln genauer erläutert wird. Schlagworte dieser Neuorientierung sind die Flüchtigkeit des Werks und die Benutzerpartizipation mit ihren Konzepten Direktmanipulation, Performativität und Operationalisierbarkeit. 3.2.1 Der Gegenstand der Neuerungen: Das digitale Werk Im digitalen Medium ändert das Werk durch die verwendeten medialen Eigenschaften seinen Charakter, und die Abweichungen setzen bei grundlegendsten Fragestellungen an. Im Unterschied zum Buch ist der physische Körper des Werks entfallen – man benötigt zwar ein physisches Wiedergabegerät, doch das Werk selbst ist, wie die französischen Begriffe anschaulich machen, nicht matériel, sondern logiciel. Diese Nicht-Materialhaftigkeit zeigt sich plakativ daran, dass digitale Literatur nicht verlustfrei ausgedruckt werden kann. Durch den zentralen Speicherort auf einem Webserver gehen die Zeiten lokaler Datenhaltung zu Ende, und auch die einst eindeutige Unterscheidung in Original und Kopie verliert ihre Klarheit. Zwar sind die digitalen Werke auf Datenträger speicherbar, einige sind zum Download gedacht, andere befinden sich bereits auf Diskette oder CDROM, und auch die Webseiten kann man über entsprechende Tools lokal abspeichern; doch im Grund kann man Webseiten durch die Client- und ServerArchitektur des WWW nur nutzen, nicht aber physisch besitzen.

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Das, was wir als das „Werk“ empfinden, ist die Bildschirmansicht der auf dem Server gespeicherten Daten. Damit ergeben sich mehrdimensional verschiedene Zustände jedes digitalen Werks: einmal die sichtbare Bildschirmrepräsentation, die auf dem Datenträger im Binärcode gespeichert ist, zum anderen ein (in der Regel unsichtbarer) Quelltext. Dies führt zu der Frage, was das Werk im digitalen Medium überhaupt ist. Wolfgang Welsch bezeichnet die elektronischen Medien als „eine Welt der Instantaneität. [...] [A]uch die Ontologie ist binär.“39 Entweder sind die digitalen Zeichen sofort am Monitor sichtbar, oder sie sind es nicht. Wo das Fernsehen flüchtig, in seiner Aufzeichnung aber wiederholbar ist, steigert die digitale Literatur die Flüchtigkeit ihres interaktiven Lektüreablaufs aufgrund der fehlenden Wiederholbarkeit. Nur das Jetzt hat Bestand, die Erscheinung ist auch schon das Sein gewesen. Tatsächlich verstärkt der Hypertext die allgemeine Flüchtigkeit sichtbarer Abläufe durch sein eigenes flüchtiges Wesen. Daher ist es wichtig, eine Unterscheidung in einen flüchtigen Ansichts- und einen bleibenden, digitalen Speichermodus zu treffen.40 Methodisch folgt aus dieser technischen Differenzierung die Unterscheidung in zwei Textzustände der digitalen Literatur: Der Genotyp bezeichnet hier die Gesamtheit der Textmöglichkeiten, der Phänotyp ist deren konkrete Aktualisierung, d.h. die Parameter sind gefüllt, der Phänotyp stellt damit als rezipierbare Version einen potentiell einmaligen Lektürepfad dar.41 Diese Begrifflichkeiten

39 Welsch (1996), S. 301. 40 Hieraus zieht Welsch (1996), S. 303, den Schluss, dass keine Sachdifferenz zwischen Erscheinung und Wesen bestehe, und stellt fest: „Monitorexistenz und Speicherexistenz sind völlig deckungsgleich.“ Dies beruht sicherlich auf einem allzu wörtlichen Verständnis des WYSIWYG-Prinzips („What You See Is What You Get“, dem Leitsatz der Direktmanipulation) der digitalen Prozesse sowie auf der unhinterfragten Hypothese, dass diese beobachtbare Erscheinung schlicht identisch mit ihrem Wesen sei. Im digitalen Medium findet sich in bestimmten Konstellationen tatsächlich eine scheinbare Aufhebung des ontologischen Unterschieds zwischen Erscheinung und Wesen. Aufgrund des WYSIWYG-Prinzips kann der Benutzer den Eindruck haben, die Daten direkt bearbeiten zu können, die dann zugleich auf der Präsentations- und der Speicherebene verändert werden. Allerdings finden Anzeige und Bearbeitung über metaphorische Elemente statt, so dass Welschs Annahme einer direkten Bearbeitung der Speicherebene nicht greifen kann. 41 Die Begriffe sind eine eigene Schöpfung der Verfasserin. Die Begriffsgleichheit zu géno-texte/phéno-texte bei Julia Kristeva (1969, S. 219-228) hat sich zufällig ergeben, ist aber konzeptuell vereinbar und für den Hypertext metaphorisch aktualisierbar:

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sind insbesondere für die verzweigende Literatur der Hyperfiction eine wichtige Einführung; wo in der Printliteratur die Unterscheidung der beiden Zustände unmöglich und damit letztlich uninteressant ist, kann man unter der Annahme eines Genotexts auch weiterhin von einer Hyperfiction sprechen, auch wenn sie im Idealfall jedem Leser ein anderes, individuelles Gesicht zeigt und sich in eine Vielheit von gleichberechtigten Handlungs- und Diskurspfaden aufgliedert. Die semiotische Bedeutung des individuellen Lektürevorgangs (d.h. des Phänotexts) zeigt sich in der Konkretisierung der Potentialität durch den Leser. Für die individuelle, subjektive Werk-Werdung ist erst noch die Aktion des Lesers notwendig. Der Leser ist eine feste Größe in der Grunddisposition der digitalen Literatur, ist Auslöser und zugleich Beobachter des von ihm ausgelösten Phänomens. So gäbe es ohne ihn in doppelter Hinsicht kein Werk; und von einem objektiven Werk im Sinne einer fixierten Datengrundlage kann keine Rede mehr sein. Das digitale literarische Werk besteht aus einem Datenpool und dem Ereignis seiner Konkretisierung, so dass sich in der performativen Komponente doch noch eine überraschende Parallele zum Drama offenbart: die vorgefertigten Links funktionieren wie die Didaskalie des Dramentexts. Analysehandwerklich kann man bei den Hyperfictions über die Browserfunktion „Quelltext anzeigen“ einen Zugriff auf den Genotext erlangen, zumindest in einem gewissen Umfang; aus dem HTML-Code lässt sich so ein gewisser Einblick in die Arbeitsweise des Autors gewinnen, der über die im Printmedium sichtbare Textebene hinausgeht. Der Quelltext kann aber immer nur punktuell Informationen zu einer einzelnen Seite liefern, kann daher nicht ein Schlüssel zum gesamten Genotext sein. Übrigens sorgt die Unterscheidung in Geno- und Phänotext nicht nur im Hypertext für konzeptuelle Klarheit: Bei den algorithmisch gesteuerten Abläufen der digitalen Poesie und der Textgeneratoren verwirklicht sich dieser Dualismus in den offenen Parametern, die als variierbare Stellen verschieden implementiert werden und sich so (zumindest theoretisch) bei jedem Aufruf in neuer Form präsentieren. Die antihierarchische Vernetzung des Hypertexts setzt den aus dem Printmedium bekannten Kategorien hierarchischer Ordnung, Linearität und einfacher Dichotomien ein Ende, so dass die seit Aristoteles geltenden Instanzen von Anfang und Ende sowie Kontinuität in der Multilinearität des Rhizoms nicht mehr greifen. Auch wenn es in Form von Domains Gruppierungen gibt, sind diese

Kristevas Phänotext ist der dem Leser vorliegende konkrete Text, der strukturell untersucht werden kann, während Genotext für das offene Spiel der assoziativen Bedeutungserweiterung steht.

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nicht nur in sich verlinkt, sondern auch aus sich heraus mit anderen Seitengruppierungen. In Apparitions inquiétantes z.B. führt das Bild eines Revolvers42 aus der Diegese hinaus in die nicht-fiktionale Welt des referentiellen Internets. Klickt der Leser nichtsahnend darauf, landet er unverhofft auf der Seite des amerikanischen RAF-Spezialisten Richard Huffman. 43 Eine teleologische Präsentation der Geschichte wird unmöglich, so dass nicht nur inhaltlich die Geschichte ihre scharfen Ränder verliert, sondern auch ihr Diskurs, und zwar – und das ist das völlig Neue an der digitalen Literatur – dieser auch in seiner medialen Präsentation. Insgesamt erlangt das Werk dadurch einen dynamischen, diskontinuierlichen und divergenten Charakter: Da insbesondere das Ende keine relevante Kategorie des Hypertexts ist, herrscht im Unterschied zum Printmedium eine prinzipielle Uneindeutigkeit des Werks. Der Anspruch, ein Werk in seiner Gänze verstehen und zu diesem Zweck „von vorne bis hinten“ durcharbeiten zu wollen, entstammt der Analysepraxis der Printliteratur und ist in der Ästhetik des Verlusts bzw. Verzichts der postmodernen Literatur sowieso auch nicht mehr gültig; Barthes verweist explizit auf das Recht des Lesers, ganze Passagen zu überspringen oder nur flüchtig zu lesen.44 Damit integriert sich die digitale Literatur nahtlos in die gewandelte Konzeption des Kunstwerks seit der Moderne, die ausgehend vom visuell und oft haptisch erfahrbaren Kunstwerk zunehmend prozessorientiert ausfällt, zur Aktionskunst übergeht und dann nur als Handlungsanweisung existiert, so dass die Trennung zwischen Objekt und Betrachter, Kunst, Spiel und Alltag aufgehoben ist. Beispielhaft zeigt sich dieser dynamische Charakter an der oben bereits erwähnten algorithmischen Literatur; die Textgeneratoren mit ihren Zufallsalgorithmen schließlich liefern die Datengrundlage für ein offenes, erlebbares und unfixierbares Kunstwerk auf der Bildschirmebene, das sich bei Wiederholung selbst neu zu erfinden vermag. Doch dazu später mehr, in Kapitel 8.2.1. Wie das erweiterte Kommunikationsmodell gezeigt hat, ist ein wesentliches, differenzierendes Merkmal der digitalen Literatur ihre Operationalisierbarkeit, d.h. ihre Ausführbarkeit; weitere, damit eng verbundene Merkmale sind die Interaktivität und Performativität des Hypertexts. Der performative Text gestattet dem Leser die aktive Teilhabe und verändert dessen Rolle tiefgreifend. Die Speicherung von digitalen Werken im Internet bedingt zugleich noch einen weiteren Unterschied, den man aus der Printproduktion nicht kennt. Er be-

42 http://www.anacoluthe.be/bulles/apparitions/inquietantes/reunions.html 43 http://www.baader-meinhof.com/ 44 Barthes (1973), S. 19.

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trifft das Verschwinden ganzer Werke. Zwar können Auflagen auf dem Buchmarkt vergriffen sein, doch sind die einzelnen Bücher immer noch autonome physische Objekte. Durch die dynamische Struktur des Internets ist es aber ein recht häufiges Phänomen, dass ganze Websites nicht mehr auffindbar sind, die Meldung „Error 404 – Page not found“ ist in den verschiedensten Varianten das Schreckgespenst des Internets. Mit dem zentral abgespeicherten „Mutter“-Werk führen alle Links dorthin, alle Bookmarks, die die Leser eingerichtet haben, und „das Werk“ an sich existieren nicht mehr. Wie bereits in Kapitel 1.4 ausführlich bei der Präsentation des verwendeten Korpus an digitalen Werken erläutert, ist diese Gefahr allgegenwärtig. Während der Forschungsarbeiten waren die Hyperfictions Vade-mecum, Apparitions inquiétantes und andere spurlos aus dem Internet verschwunden. Unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten ist es daher unerlässlich, jedes untersuchte Werk, so sehr dies dem Wesen der flüchtigen digitalen Literatur im Grund auch zuwiderlaufen mag (und immer wieder auch nicht bis ins letzte Detail möglich ist), durch lokale Sicherungskopien zu fixieren. Neben Sein oder Nicht-Sein aufgrund der Abhängigkeit von einem zentralen Speicher- und Verwaltungsort gibt es im digitalen Medium eine Abstufung, die sich für das gedruckte Werk gar nicht stellt: Das digitale Werk ist prinzipiell nicht abgeschlossen, es befindet sich in einem offenen, jederzeit veränderbaren Zustand. Es gilt das Prinzip des work in progress. Der Druck eines Werks bedeutet immer einen fixierten Abschluss der Arbeiten; Veränderungen sind höchstens in späteren Auflagen möglich und sind werkgenealogisch anhand des Publikationsjahres leicht zu dokumentieren. Das Computermedium hingegen gestattet verschiedene Inhalte in gleicher Hülle; ein und dieselbe URL kann zeitabhängig zu verschiedenen Inhalten führen; diese wissenschaftlich zu datieren gelingt dem Forscher nur empirisch anhand von Stichproben. Dass dies nicht nur eine theoretische Überlegung bei der Bearbeitung digitaler Literatur ist, zeigt sich anhand der Hyperfictions Les Cotres furtifs und NON-roman, die 2004 bzw. 2005 eine Neuauflage erfuhren, in der sich, wenn nicht der grundlegende Charakter, so doch das Erscheinungsbild einzelner Seiten stark veränderte. Für den Publikationsort Internet gibt es keine standardisierte Aufbereitung durch Verlage, daher gibt es auch keine durch das Publikationsformat vorgegebene, verbindliche bibliografische Nomenklatur. Einzig notwendig für die eindeutige Beschreibung eines digitalen Werks im Internet ist die Pfadangabe der URL in der Adresszeile. Fakultativ sind die Angaben des Werktitels und des Autors, die sich meist gut erkennbar auf der Eingangsseite finden lassen. Als Ort lässt sich bestenfalls aus der Länderkennung der URL noch das Land (zumindest

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das der Domainanmeldung) erkennen. Nach der Angabe des Jahrs muss man in der Regel suchen, da sie oft fehlt oder an unorthodoxer Stelle (z.B. im Quelltext) versteckt ist. Durch die Gleichschaltung aller verbundenen Textelemente im Assoziationsnetz verschiebt sich das Zentrum des Rhizoms im Laufe der Navigation stets auf den gerade fokussierten Knoten. Dadurch werden Kategorien von Innen und Außen, Zentrum und Peripherie, Fußnote und Haupttext obsolet, so dass sich als unmittelbare Folge auch die Vorstellung von Paratext wandelt. Wo im Printmedium bereits eine Differenzierung in Text und Paratext aufgrund der Textorte (Klappentext, Einband, Vorsatzblatt, etc.) möglich ist, gibt es dieses Indiz im digitalen Medium nicht; die verbundenen HTML-Seiten sind einander funktional gleich, sodass die Identifikation eines Paratexts nur inhaltlich möglich ist. Es ist im Gegenteil eine typische Beobachtung, dass vor allem in der Hyperfiction Text und (inhaltlicher) Paratext nahtlos ineinander übergehen, der Leser unversehens vom Text in den Paratext gelangt und umgekehrt – was durch die einfache Verlinkbarkeit aller Knoten und die nicht-hierarchische Struktur der Hypertextseiten auch leicht zu bewerkstelligen ist. Bei Edward_Amiga beispielsweise ist die allererste Seite45 der Hyperfiction ein Tutorial, das dem Leser anhand von verschiedenen Links erklärt, auf welche medialen Besonderheiten er bei der bevorstehenden Lektüre zu achten hat; einer der Links in dieser Einführung leitet ihn schließlich hinüber in die eigentliche Geschichte. Eine neue Art von Paratext hingegen bietet sich aus dem einsehbaren Quelltext, der Einblicke in die technische Machart der Seite gestattet. Einige paratextuelle Informationen können standardmäßig im HTML-Code angegeben werden. HTML-Tags nach dem Schema Titel bezeichnen den in der Titelleiste des Browsers angezeigten Seitentitel, Autor eben den Autor. Diese Tags sind fakultativ; ihre Angabe kann technisch entfallen, und in der Tat erscheint in Hyperfictions insbesondere der Autor so gut wie nie in dieser verklausulierten Zuordnung.46

45 http://fredromano.eu.pn 46 Die obligatorischen Elemente, die eine HTML-Seite als spezifikationskonforme Minimalanforderung enthalten muss, sind sehr begrenzt. Über ..., das den Bereich für einige metatextuelle Angaben wie Verschlagwortung etc. angibt, sowie ... für den eigentlichen Seiteninhalt reichen sie nicht hinaus.

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3.2.2 Der Leser – ein User In einem interdependenten Gewebe bedingt die Stärkung eines Faktors meist eine Schwächung der damit verbundenen anderen Faktoren. So auch hier: Auf eine vielfach postulierte Schwächung der Autorrolle trifft die wirkungs- und vor allem rezeptionsästhetische Aufwertung des Lesers. Erst im Akt des Lesens gewinnt der literarische Text schließlich seine Wirkung. Selbst bei einer unangetastet bleibenden Bedeutung des Autors als Textschöpfer ist das Werk auf den Leser zur Entfaltung seiner potentiellen Signifikate angewiesen. Dabei ist der Text seine eigene Rezeptionsvorgabe. Auch hier spitzt das digitale Medium die Situation zu: Der Autor muss angesichts der Möglichkeiten des digitalen Mediums seine Kompetenzen erweitern, aber auch der Leser benötigt eine gewisse Medienkompetenz, die ihn befähigt, die medialen Besonderheiten wahrzunehmen. Zu seinen Schlüsselfertigkeiten gehört es, Computerkenntnisse bei der Bedienung von Windows und insbesondere der Webbrowser zu haben, die über das reine Lesen hinausgehen. Der „Sinn“ literarischer Texte wird nach heutiger Auffassung als Konkretisierung während der Lektüre anhand der im Text enthaltenen Leseanweisungen erzeugt. Diese „Vorstellungsakte“ sind nach Iser (1976) Hypothesen der Imaginierung und werden mit fortschreitender Lektüre, dem weiteren Sammeln von sinnstiftenden Indizien, permanent revidiert; darin gleicht sich die Rezeption eines komplexen Printtexts der Rezeption des zersplittert auftretenden Hypertexts an. Wo komplexe Beziehungen auf der Seite des Signifié bei der avantgardistischen Literatur Sinnerzeugungsprozesse auslösen, ist dies bei der Hyperfiction ein raffiniertes Spiel auf Seiten eines komplexen Signifiant. Wobei zu differenzieren ist: Die Textzeichen an sich sind nicht ausgefallener als sonst, es sind vielmehr die Textorte, die raffiniert neue Signifiants beisteuern. Die Rolle des Lesers wandelt sich daher im digitalen Medium zum User, dem Benutzer einer Software. Aufgrund der spezifischen Leitlinien der Interaktivität und Direktmanipulation47 verlangt der Lektüreprozess eine über das Umblättern der Buchseiten hinausgehende Aktivität, ein „Mitspielen“, das sich in einer verstärkten Benutzerpartizipation und Immersion in die digitale Diegese auswirkt. Der bisherige Pakt zwischen Autor und Leser kann angesichts des performativen Charakters des Werks in der bisherigen Form nicht mehr funktionieren. Im interaktiven Medium ändert sich das Leseverhalten bei Hypertexten und

47 Direktmanipulation ist ein Leitparadigma in der Gestaltung interaktiver Software seit Einführung der grafischen Benutzeroberfläche, in Kombination mit dem Zeigegerät Maus. Vgl. Kapitel 3.1.1.

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wird zur Navigation, dem Durchsteuern eines virtuellen Raums mit multiplen Entscheidungsmöglichkeiten. In Anpassung an die technisch begründete Spezifik des Werks muss der Leser aus einer Menge von Alternativen durch Mausklick eine auswählen – welche Systematik er dabei zugrunde legt, bleibt ihm selbst überlassen. Denkbar ist etwa die Strategie, stets den ersten ungelesenen Link auf einer Seite zu wählen, doch auch die Wahl des reizvollsten und reißerischsten ist legitim. Das Lesen im Hypertext unterscheidet sich daher vom Buchlesen durch eine verstärkte Aktivität des Lesers, denn dessen Involviertheit steuert die Wahl der Links. Abgesehen davon ist ein Klick-Aktivismus allerdings noch kein qualitativer Unterschied zum Blättern; der ergibt sich insbesondere durch systemseitige Reaktionen auf Benutzereingaben. Das Werk bietet dem Leser eine Handlungsaufforderung, wenn er dieser nachkommt, führt dies wiederum zu einer Systemreaktion. Das Lesen wird daher ergänzt um das Agieren, und (lesendes) Agieren wird erst dann interessant, wenn es sich um ein wechselseitiges Interagieren wie in einem Dialog handelt. Allerdings sind weder die Aktionen des Benutzers noch die Systemreaktionen spontan entstanden, sondern in der Regel vom Autor geplant und so vorgesehen. Das hypertextuelle Lesen findet unter anderen Vorzeichen statt als das Lesen linearer Printliteratur. Der Unterschied liegt in der Ausgangsposition und der Verarbeitung durch den Leser. Abbildung 11: Handeln des Lesers in Printmedium und Hypertext

Quelle: Eigene Darstellung

Wo der Leser im Printmedium passiv einer vorgegebenen linearen Struktur folgt und sie dadurch annimmt, „normalisiert“ er im Hypertext das multilinear vorliegende Textrhizom und erstellt aktiv aus einer ungeordneten Mehrdimensionalität von Alternativen eine konkrete, und begradigte Handlungslinie. Dieses Ergebnis ist stets linear, da sich der lesende Mensch im Zeitkontinuum befindet.

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3.2.3 Der Autor im neuen Medium Im juristischen Sinn ist der Autor der Urheber des literarischen Werks. In der traditionellen Literaturwissenschaft gilt der Autor als ein Subjekt, das intentional Sinn in den Text legt und so schöpferisch tätig ist. Damit ist er der Ursprung der Trias Autor-Leser-Werk. Im poststrukturalistischen Diskurs ist der Autor Gegenstand einer bewegten Diskussion, er wird entpersonalisiert und als eine Funktion des Textes wahrgenommen. Verschärft wird diese Position durch die medialen Besonderheiten insbesondere des Hypertexts, der symbolhaft eine weitere Entmachtung des Autors durch den Leser nahe zu legen scheint. Im digitalen Kontext entsteht leicht der Eindruck, dass der Autor nicht mehr alleiniger Schöpfer dessen ist, was der Leser als Werk vor Augen hat. Durch die Selektionsmöglichkeit der Links erhält der Leser ja einen eigenen Anteil an der Gestaltung des discours, dies wird gelegentlich sogar als wörtliche Umsetzung des Postulats vom „Tod des Autors“ verstanden. Fälschlich, denn das bewusste Verweben der aufgefächerten, potentiell verschiedenen Pfade im Hypertext bewirkt gerade eine Stärkung der Autorenfunktion, da diese Dimension mit berücksichtigt werden muss. Im Hypertext-Rhizom muss der Autor, anders als ein Leser, einen auktorialen Überblick über die Gesamtstruktur und die einzelnen Pfade bewahren, wenn das Werk nicht in eine aleatorische Beliebigkeit der Kombinations- und Anschlussmöglichkeiten abgleiten soll. Daher werden auch die Mitschreibeprojekte aus der Untersuchung der digitalen Literatur ausgeschlossen, da hier die Frage nach der Autorschaft eher der nach der soziologischen Werkgenese weicht. Zudem muss nun der digital aktive Autor mehr Kompetenzen aufweisen, da er außer der literarischen Kreativität auch das technische Handwerkszeug zur Umsetzung der Ideen und Konzepte mitbringen sollte. Fakt ist dennoch, dass – auch für den Hypertext geltend – eine poststrukturalistische Verschiebung weg von der Schöpfer-Ikone des Autors stattgefunden hat. Zur Lokalisierung des Autors ist allen Werken (wie für Websites generell üblich) eine Kontakt-E-Mail angegeben, so dass der interessierte Leser sehr einfach in unmittelbaren Kontakt mit dem Autor treten kann; eine Interaktionsform, die von den Autoren explizit gewünscht ist. Hier zeugt der Paratext von einer weiteren Rückwirkung des Mediums auf die Rolle des Autors. Das Publikationsmedium ist zugleich auch das Kommunikationsmedium, der Kontakt zum Autor gerät somit zu einer Funktion des Texts. Der Autor integriert sich als (scheinbar?) real existierende Person in den Paratext des Werks, während er im Printmedium nur als Name und vielleicht noch im Klappentext in Erscheinung tritt. Tatsäch-

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lich beantworten die Autoren digitaler Werke (Romano, Boutiny, Verreault, Castellin, etc.) auch bereitwillig die an sie adressierten E-Mails. Das Schreiben im digitalen Medium ist ausgiebig untersucht worden, z.B. durch die Schreibprozessforschung von Kellogg (1994).48 So zeigt sich ein reges Interesse an Randbereichen der elektronischen Literatur wie dem Lesen und Schreiben im elektronischen Medium und einer Geschichte der Alphabetisierung.49 Insbesondere der Übergang zu den computer-generierten Texten wirft die Frage auf, wer ihr Autor ist – natürlich handelt es sich um ein Werk menschlicher Kreation, aber nicht so unmittelbar, wie man das sonst von der Literatur (auch der digitalen!) gewohnt ist. Das eigentliche Werk ist hier der Algorithmus, dessen Ablauf sich dem Leser als ein (einmaliges, im wahrsten Sinne einmaliges) Ereignis offenbart. Die Dichotomie zwischen Genotext (der den Algorithmus enthält) und dem Phänotext (d.h. dem „Rezipierbaren“, also dem, was wir gemeinhin als „das Werk“ wahrnehmen) ist hier mehr noch als bei der Hyperfiction mit einer divergenten Autorschaft verbunden. Mehr zur Algorithmischen Literatur in Kapitel 8.

3.3 D AS

DIGITAL ERWEITERTE

K OMMUNIKATIONSMODELL

Wie im Vorigen erläutert, fordert insbesondere die Hyperfiction eine Interaktivität ein, die das Printmedium nicht kennt. Interaktion bedeutet, dass der Benutzer eine Aktion ausführt, die eine Antwort des Systems bewirkt, auf die wiederum der Benutzer reagieren kann. Diese Dialogizität der Mensch-Maschine-Kommunikation unterscheidet den Prozess der Hypertext- und Software-Benutzung vom traditionellen Leseprozess im Printmedium. Der Wechsel der Senderichtung bedeutet dabei einen Rollentausch: Der Empfänger „dreht den Spieß um“ und wird seinerseits zu einem Sender. Welche Modifikationen sich durch diese Benutzerpartizipation für die Kommunikation in der digitalen Literatur ergeben, zeigt das erweiterte vierstufige Kommunikationsmodell nach Pfister50.

48 Aber auch bei Flower & Hayes (1980), Gregg & Steinberg (1980), Hartley (1980), Frederiksen & Dominic (1981), uvm. 49 Eisenstein (1980), uvm. 50 Pfister (1988), S. 20.

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Abbildung 12: Erzählerfunktion für den Leser

Quelle: Eigene Darstellung nach Pfister (1988)

Das Überschreiten der Rollengrenzen von Sender und Empfänger bedeutet eine Zuordnung des realen Lesers E4 zum Erzähler S2 (E4 → S2), da der Leser direktmanipulativ über die Linkauswahl in die Chronologie des konkreten Lektürepfades eingreifen kann. Dies gilt nicht nur für den realen Leser E4, sondern sogar für den idealen Leser E3, d.h. die dem Text implizierten Wirkungsstrukturen. So gewinnt der Leser Einfluss auf den discours, die Präsentation der Geschichte (und je nach Werk sogar auf die Geschichte selbst). Aus dem multilinear angelegten Rhizom erzeugt der reale Leser spontan eine neue Chronologie des Lektürepfads, da die einzelnen Knoten im realen Zeitkontinuum sequentiell nacheinander aufgerufen werden. Der Leser erlangt also durch die chronologische Auswahl der Stationen eine gewisse arrangierendordnende Mitbestimmung und übernimmt hierin einen Teil der Erzählerfunktion. Er besetzt damit eine im Text vorgesehene Leerstelle und ist für die konkrete Weichenstellung bei der Auswahl des Lektürepfads verantwortlich, denn er beeinflusst das Erscheinungsbild des Werks aktiv. Die Auswahl der Links erfolgt dabei idealerweise handlungsgetrieben – d.h. nicht durch zufälliges Herumklicken (das wäre passiv, entspräche dem Umblättern im Buch), sondern durch ein semiotisch aufgeladenes Navigieren nach der Logik: Welcher Link verlockt am meisten zum Weiterlesen? Diese Entscheidungen müssen allerdings gewissermaßen tastend erfolgen, da der Erzähler ja zugleich Leser ist und daher – ganz wie im richtigen Leben – keine allwissende Erzählerrolle (oder gar Autorrolle!) einnehmen kann. Die immer wieder postulierte „Entmachtung des Autors“ durch den Leser erweist sich bei einer genaueren Betrachtung des Kommunikationsmodells als Legende. Ein Rollentausch zwischen E4 und S4 wie beim Autorenkollektiv, bei dem die Kompetenz des Autors auf den Leser übergeht (was auch nur funktioniert, indem sich der Leser zu einem echten Autor wandelt!), findet für die Hyperfiction nicht statt, da hier die Instanz des ursprünglichen Lesers nicht wirklich eigenen Inhalt generiert, sondern lediglich eine vorgegebene Auswahl des

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Autors anordnet. Wie Borges prägnant formuliert: „Der von Eitelkeit verblendete Leser meint, er hätte sie [d.h. die Plots] erfunden.“51 Auch bei Perec findet sich eine ähnliche Absage an die vermeintliche, neue Allmacht des Lesers: […] l’ultime vérité du puzzle: en dépit des apparences, ce n’est pas un jeu solitaire: chaque geste que fait le poseur de puzzle, le faiseur de puzzle l’a fait avant lui; chaque pièce qu’il prend et reprend, […], chaque combinaison qu’il essaye et essaye encore […], chaque espoir, chaque découragement, ont été décidés, calculés, étudiés par l’autre.52

Beide Autoren sind übrigens besonders interessant für die digitale Literatur, weil sie experimentell im Printmedium zahlreichen Konzepten der digitalen Literatur vorgreifen. Doch dazu später mehr, in Kapitel 6.1.2. Neben der Implikation für den Erzähler und ihren Folgen für den discours bedingt die Benutzerpartizipation auch eine starke Immersion des Lesers E4 in die Diegese, da ihm in der Regel nur die Identifizierung mit den Figuren der Ebene N1 bewusst wird, in deren Rolle er zu schlüpfen vermeint. Abbildung 13: Gefühlte Partizipation des Lesers

Quelle: Eigene Darstellung nach Pfister (1988)

Dem Leser scheint das aktive „Hineinfassen“ in die Diegese durch die deiktische Interaktionsform der Direktmanipulation möglich zu sein. Wie im Computerspiel kann er selbst als Figur bzw. als Repräsentant der Figuren Entscheidungen treffen und so in gewissem Umfang lenkend in die Diegese eingreifen. Durch die Interaktion leistet der Leser sowohl Aktionen als auch Reaktionen, er avanciert somit vom passiven Empfänger zu einem eigenen Sender von Informationen, auf die das System in der vom Autor vorgesehenen Weise reagieren kann (das ist die

51 Borges (1992), S. 66. 52 Perec (1978), S. 20.

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traditionelle Senderichtung), und es kann sich ein wahrhafter Dialog zwischen Mensch und Maschine, eine Interaktion zwischen Leser und Werk entspinnen.53 Ein Beispiel für diese immersive Unmittelbarkeit, die bedingt durch die mediale Situation zwischen E4 und S1/E1 eintreten kann, ist die Passwortabfrage in Edward_Amiga,54 die den Leser erst nach dem Eingeben des geheimen Codeworts in der Diegese fortfahren lässt.55 Der Leser wird an einer Schlüsselstelle der Handlung unvermutet mit einer technisch realisierten Passworteingabe konfrontiert, als der paranoide Wohnungsinhaber Edward die Besucherin Marlène erst dann einlassen will, wenn sie das richtige Passwort gewissermaßen als „Passierschein“ genannt hat. Dazu wird technisch ein Dialogfenster verwendet, das im Vordergrund steht und dem Leser keine andere Aktion gestattet, als ein Passwort in das vorgesehene Feld einzutippen. Gibt der Leser an dieser Stelle auf, ist für ihn die Lektüre beendet; zugleich ist natürlich auch die Geschichte an einem Endpunkt angelangt. So ist der Leser ganz explizit gezwungen, verschiedene Passwörter auszuprobieren, sonst gelangt weder die Figur Marlène auf der Ebene der histoire in die Wohnung, noch kommt er selbst im discours voran. Er muss also, um seine Lektüre fortsetzen zu können, in die Rolle von Marlène schlüpfen, Hypothesen für ein mögliches Passwort treffen, erhält nach einer Weile den entscheidenden Hinweis und muss dann nur noch das Passwort („istambul“) in richtiger Schreibung eingeben. Die Wiedersehensfreude der beiden Figuren spiegelt dann sein eigenes Erfolgserlebnis wider. Durch den ludischen Charakter und die interaktive Disposition der Hyperfiction wird der reale Leser ganz natürlich bei seinem Ehrgeiz gepackt, die Lösung zu verschiedenen Aufgaben, vor die das digitale Werk ihn stellt, zu finden. Diese Integration des Lesers in die Diegese erinnert an die Identifikation des Spielers mit seinem Avatar bei Computerspielen. Wie die vorstehenden Überlegungen zeigen, liefert die Übertragung des Pfister’schen Kommunikationsmodells auf die digitale Literatur aufschlussreiche Erkenntnisse. Die digitale Literatur unterscheidet sich in wesentlichen Punkten

53 Unterzeichnet ist die Einführungsseite mit dem Namen der Autorin, „Fred Romano“, der als Link das E-Mail-Programm des Benutzers öffnet und so einen direkten Kontakt zur real existierenden Person herstellt. Wäre dieser Link in die Diegese integriert statt in die Präambel, könnte man sogar von einer möglichen direkten Verbindung zwischen E4 (typischerweise der Leser ) und S4 (typischerweise der Autor) erstellen. 54 http://fredromano.eu.pn/ 55 Zu erreichen auf der Seite http://fredromano.eu.pn/Edw_amiga/filla.htm durch Klick auf den Link "RÉPOND".

3 V ERÄNDERUNGEN

DER

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von den anderen Gattungen und stellt so eine neuartige Variation bekannter Literaturschemata dar. In der Hyperfiction verschwimmen nicht nur die Kategorien von Sender und Empfänger, von Rezipient und Produzent, es kommt auch zu einer Überschneidung des inneren (N1), des vermittelnden (N2) und des äußeren (N3, N4) Kommunikationssystems. Wo beispielsweise das Kommunikationsmodell des Dramas durch eine Überlappung des inneren und äußeren Kommunikationssystems auf der Produzentenseite gekennzeichnet ist, erlangt der Leser in der Hyperfiction Züge des Protagonisten, erhält aber zugleich, aufgrund der Selektierbarkeit der Links, eine gewisse Erzählerfunktion. Dadurch werden die Grenzen der realen und der virtuellen, diegetischen Welt durchlässig – eine Grundbedingung für die in Postmoderne und Hyperfiction beliebten metafiktionalen Effekte.

4 Beispielanalysen französischer Hyperfictions

Die Gattung der digitalen Literatur ist phänomenologisch durch eine recht klare Dichotomie zwischen digitaler Untergattung und medialer Charakteristik gekennzeichnet. So weist die Hyperfiction als entscheidendes technisches Merkmal den Hypertext auf, während bei digitaler Poesie multimediale Elemente dominieren. Die Hyperfiction hat den innovativeren Anteil innerhalb der digitalen Literatur, ihr gilt im vorliegenden Kapitel das besondere Augenmerk. Die frankophonen Hyperfictions zeichnen sich durch eine ausgeprägte Vielfalt aus, Unterschiede ergeben sich aus der Art der verwendeten Zeichensysteme und ihrer praktischen Anwendung. Bei Verreault steht beispielsweise der Hypertext als Charakteristikum im Vordergrund, bei Romano das Spiel mit JavaScript und der dadurch realisierten besonderen Interaktion des Lesers mit der Geschichte, bei Boutiny ist eine bunte Multimedialität das zentrale Ausdrucksmittel, etc.

4.1 H YPERTEXT -I NKUNABLEN Erste hypertextuelle Werke sind aus dem Spannungsfeld zwischen Printliteratur und dem digitalen Medium heraus entstanden und stellen als relativ naheliegende Hypertextadaptionen gedruckter Werke ein Verbindungsglied zu den eigenständigen Hyperfictions dar. Diese Adaptionen sind von eher mittelmäßigem Interesse für die digitale Literatur, illustrieren aber als Entwicklungsstufen, gewissermaßen als eine Art missing link, die Kontinuität zwischen Print- und digitaler Literatur. Nächste, ebenfalls noch eher unspektakuläre Etappen sind die minimal hypertextuellen PDF-Romane von 00h00, die aber als Etüden für die eigentliche Hyperfiction gewertet werden können.

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4.1.1 Adaptierte Printliteratur Der Klassiker Locus Solus1 (1996) ist aus dem Kurs „Approches hypertextuelles du texte littéraire“ von Jean Clément (Université Paris VIII) erwachsen. Es handelt sich um eine „version hypertextualisée“ des 1914 erschienenen Romans von Raymond Roussel. Nach eigenen Angaben hat der Hypertextautor Winckler den Text in 84 Einheiten zerschnitten, die er assoziativ neu gruppiert hat, um so die innere semantische Struktur des Texts offen zu legen. „La lecture du texte en est peut-être facilitée; mais surtout l’accès à un passage recherché du livre est amélioré“,2 stellt er im Editorial zur Umsetzung als Hypertext fest. Daraus wird die Aufgabenstellung einer computerunterstützten Annäherung an den Text deutlich. Das Bemerkenswerte an diesem Hypertext ist, dass im Unterschied zu einer reinen digitalisierten Fassung, wie es das Einscannen und das Konvertieren in HTML wäre, die lineare Struktur des Genette’schen Hypotexts aufgebrochen und die inhärente, aber nicht manifeste Nichtlinearität der Buchvorlage durch die Links visualisiert wird. Allerdings ist die Frage berechtigt, die Winckler sich stellt: „Jusqu’à quel point peut-on transformer un texte sans le déformer?“3 Die so erarbeitete Hypertextfassung stellt schließlich in nicht unerheblichem Ausmaß eine Interpretation der Vorlage dar. Die starke Verhaftung ins Buchmedium spiegelt auch die Gattungsspezifikation „hyperlivre“ der Vaisseaux brûlés4 (1998) von Renaud Camus wider, die der Autor als ausführlich annotierte, verzweigende Hypertextedition seines Werks P.A. Petite Annonce (1997) selbst ins Hypertextmedium übertragen hat und kontinuierlich ergänzt. Auffällig ist, dass auch im Hypertext eine zusätzliche Gliederung die einzelnen kurzen Textabschnitte begleitet. Es gibt, auf verschiedene Webseiten verteilt, eine fortlaufende Aufzählung der paragraphes von 1 bis 999 (das sind die 999 Paragrafen aus der Buchvorlage), die wie Querverweise auf einer gleichen Hierarchieebene verlinkt sind. Teilweise führen sie aber auch zu nicht in der Vorlage enthaltenen Paragrafen, erkennbar an einer komplexen Nummerierung mit Bindestrichen, z.B. „1-1.“5 oder „2-2-12-013-1-1.“6 etc. Die-

1

http://hypermedia.univ-paris8.fr/bibliotheque/LOCUS_SOLUS/plan0.htm

2

http://hypermedia.univ-paris8.fr/bibliotheque/LOCUS_SOLUS/editor.htm

3

Ebd.

4

http://pagesperso-orange.fr/renaud.camus/ (nicht mehr verfügbar; zuletzt: 06.02.2010); Auszüge befinden sich mittlerweile hier: https://www.renaud-camus.net/vaisseauxbrules/

5

http://pagesperso-orange.fr/renaud.camus/vaisseaux/1-1.html#1-1 (nicht mehr verfügbar; zuletzt: 06.02.2010)

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se kryptische Zahl lässt sich interpretieren: Die erste Zahl bezeichnet den Paragrafen aus der Vorlage P.A., auf den sich diese Ergänzung bezieht, in den beiden genannten Beispielen sind dies also Paragraf 1 bzw. 2; die anschließenden Ergänzungen kennzeichnen die nur in der HTML-Fassung zu findenden neuen Abschnitte. Gerade für die ersten beiden Paragrafen (1 und 2) finden sich äußerst viele solcher Ergänzungen; sie allein machen bereits ein Drittel der Gesamtzahl von Paragrafen aus. Der ganze Rest der Paragrafen (3 bis 999) hat nahezu keine neuen Ergänzungen mehr. Nicht jeder Paragraf liegt separat auf einer eigenen HTML-Seite, dennoch lässt sich über eine elaborierte Struktur von Binnenlinks jeder Abschnitt eindeutig in einer URL angeben.7 Auch Fußnoten kommen vor, sind verlinkt und anhand ihrer Notation im Haupttext erkennbar, z.B. „([*18])“8. Die aufgerufene URL trägt zudem die Bezeichnung „note“9. Die Linkanker sind entweder textlicher Natur, können einzelne Wörter (z.B. „177. Oh! Reprenons, reprenons...“10) oder sogar ganze Sätze sein (z.B. „35. [...] C’est même une des rares choses en quoi je crois vraiment.“11). Häufig dient auch einfach die Kennzahl des Zielabschnitts als Querverweis, z.B. „461. C’est là une bonne structure pour la sincérité, certainement. (272)“12. Als weitere Orientierungsinstanz dient eine Art Index, in dem alle Seiten aufgelistet sind, unter Angabe ihrer Nummer (linear in aufsteigender Zahlenreihe

6

http://pagesperso-orange.fr/renaud.camus/vaisseaux/2-2-12-013-1-1.html#2-2-12-0131-6 (nicht mehr verfügbar; zuletzt: 06.02.2010)

7

Die Seite http://pagesperso-orange.fr/renaud.camus/vaisseaux/122.html enthält die Paragrafen 122 bis 999. Die eindeutige URL für Paragraf 678 lautet dann: http://pagesperso-orange.fr/renaud.camus/vaisseaux/122.html#678. Gibt man diesen Binnenlink an, scrollt die Ansicht im Browserfenster automatisch zu Paragraf 678. (Seiten nicht mehr verfügbar; zuletzt: 06.02.2010)

8

http://pagesperso-orange.fr/renaud.camus/vaisseaux/630.html#653 (nicht mehr verfügbar; zuletzt: 06.02.2010)

9

Z.B. http://pagesperso-orange.fr/renaud.camus/vaisseaux/note-02.html (nicht mehr verfügbar; zuletzt: 06.02.2010)

10 http://pagesperso-orange.fr/renaud.camus/vaisseaux/122.html#177 (nicht mehr verfügbar; zuletzt: 06.02.2010) 11 http://pagesperso-orange.fr/renaud.camus/vaisseaux/1.html#35 (nicht mehr verfügbar; zuletzt: 06.02.2010) 12 http://pagesperso-orange.fr/renaud.camus/vaisseaux/122.html#461 (nicht mehr verfügbar; zuletzt: 06.02.2010)

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sortiert) und einer Art Überschrift, die auf der Seite selbst nicht mehr auftaucht; die Nummer dient direkt als Link zu der gewünschten Seite. Die „Kleinanzeigen“ eignen sich in ihrer fragmentarischen Form ideal für eine Adaption im digitalen Medium. Der Leser kann sich bei der Lektüre ganz dem freien Assoziieren hingeben, diejenigen Links verfolgen, deren Anker ihm vielversprechend erscheinen, oder von denen er sich weitere Informationen zum gerade gelesenen Paragrafen erhofft. Zahlreiche strukturierende Mechanismen sind – sehr symptomatisch! – dazu gedacht, dem Leser die im neuen Medium entlinearisierte Präsentationsform nicht allzu fremd und unübersichtlich zu präsentieren. Allerdings fällt die digitale Version deutlich hinter die Printvorlage zurück, die den Leser intensiver beschäftigt: Zwar ist die Anordnung der Paragrafen erst einmal linear, zwar sind die einzelnen Paragrafen durchnummeriert, aber Camus bricht die Linearität des Buchs auf vielfältige Weise: Durch Pfeilverweise auf andere Zahlen deutet er, noch unspektakulär, auf den dort stehenden Absatz. Bereits auf der dritten Seite treten kleine, im Folgenden eskalierende Unregelmäßigkeiten auf, die erst noch einen Fehler des Lektorats denken lassen: Die Absätze der Seite 11 erscheinen in der unregelmäßigen Reihenfolge 9, 10, 12, 16, 11, 13, 14, 15. Die Absätze 16, 11, 13, 14 und 15 sind außerdem durch Querstriche getrennt, und, höchst ungewöhnlich, das Zeilenende ist bei allen außer Absatz 16 durch ein sichtbares Carriage Return-Symbol (¶) markiert. Nach kurzer Überraschung erkennt der Leser den Sinn: Der Satz in Paragraf 16 ist am Zeilenende abrupt abgeschnitten, das fehlende Symbol ist also ein idiosynkratisches Indiz, dass es eine Fortsetzung für den Satz gibt. Wo diese allerdings zu finden ist, bleibt unspezifiziert. Es bleibt dem Leser überlassen, den Satz trotz der mehrfachen Trennung der Absätze 16 und 11 über die formalen Grenzen hinweg semantisch fortzusetzen. Ab Seite 20 findet ein comble de déroutement statt: Der Schriftsatz wechselt plötzlich in einen zweispaltigen Modus, bei dem die Reihenfolge der Absätze sich an der Spalte und nicht der Seite orientiert und damit die Linearität der Seitenreihenfolge auf den ersten Blick aushebelt. Die linke Seitenspalte ist durchnummeriert von Absatz 47 beginnend auf S. 20 bis Absatz 67 auf Seite 32, die rechte Spalte beginnt bei Absatz 68, allerdings wieder vorne bei Seite 20 und endet mit Absatz 79 auf Seite 32. Ähnlich wie Derrida in Glas setzt Camus kurze Abschnitte mit kleinerer Schrift in die Hauptpassagen ein, und verweist darin auf literarische Zitate bekannter Autoren. Erschwert wird die Orientierung zwischen den Paragrafen durch zahlreiche unmarkierte Textabbrüche, die formal wie ein eigener Paragraf aussehen, aber keine eigene Nummer haben und als Fragment sowohl am Zeilenanfang als auch -ende abgeschnitten sein können.

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Abbildung 14: Gestörte Linearität und Textfragmente

Quelle: Camus (1999), S. 29.

Wie die Abbildung zeigt, ist der Text in dieser Form nicht mehr linear zu lesen – eine Option, die Werke mit einer vergleichbaren formalen Entlinearisierung, z.B. bei Queneau und Cortázar, dem Leser immer noch frei stellen. Das Suchen nach der syntaktisch und semantisch passenden Fortsetzung erfordert daher eine PräLektüre anschließender Paragrafen – was den Lektürevorgang ungewohnt repetitiv gestaltet und in ein konsequentes Vorwärtstasten im Labyrinth verwandelt. Die in der Hypertextversion entmystifizierte, eindeutige Verbindung durch den Link beraubt den Leser einer für das Printwerk essentiellen Texteigenschaft und vereinfacht die Lektüre, was einen Verlust für das einst charakteristische Leseerlebnis bedeutet. Damit entspricht überraschenderweise die Textversion eher dem Geist der Hyperfiction als die „digitalisierte“ Fassung. Dies ist eine wichtige Erkenntnis: Bedeutsamer als die formale Hypertextualität ist eine be-

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sondere interne Hypertextualität, die durch Hypertext kookkurrent umgesetzt werden kann, aber nicht allein durch das formale Strukturmerkmal Hypertext erreicht wird. 4.1.2 Die Editions 00h00.com Als symptomatisch für den steinigen Weg der Literatur im digitalen Kontext mag das Schicksal des Verlags 00h00.com gelten (gesprochen als „zéro heure“), der sich dem digitalen Medium auf den unterschiedlichsten Ebenen öffnete. Gegründet 1998 als Start-up von Jean-Pierre Arbon, vorher directeur général bei Flammarion, und Bruno de Sa Moreira, dem ehemaligen directeur de Flammarion Multimédia, versuchte 00h00 so unterschiedliche Bereiche wie Verlagswesen, das Buchmedium, die Publikationsform sowie den Vertriebsmodus auf die Rahmenbedingungen eines digitalen Zeitalters anzupassen – es sei vorweg gesagt, vergeblich. Die Ambitionen der Gründer waren hoch: C’est en effet la première fois au monde que la publication sur Internet de textes au format numérique est envisagée dans le contexte d’un site commercial, et qu’une entreprise propose aux acteurs traditionnels de l’édition (auteurs et éditeurs) d’ouvrir avec elle sur le réseau une nouvelle fenêtre d’exploitation des droits.13

Auch der Name ist Programm. „Editions 00h00.com“ ist eine selbstbewusste Anspielung auf die „Editions Minuit“ und markiert zugleich die Stunde Null einer neuen Verlagsgeneration sowie den Aufbruch in ein neues, digitales Zeitalter. 00h00 verstand sich als vollwertiges Verlagshaus und wagte den Spagat zwischen Verbreitung und Kommerzialisierung elektronischer Literatur. Das Verlagsprogramm bestand ausschließlich aus elektronisch vorliegenden Werken.14 Ausgestattet mit allen bibliografischen Angaben einschließlich einer

13 Arbon (1999). 14 Anders als beim gedruckten Werk ist die Gefahr der Raubkopie natürlich beim digital vorliegenden Werk enorm, da die Kopie überaus einfach angefertigt werden kann und vor allem anfangs kaum ein Bewusstsein einer Rechteverletzung beim raschen Kopieren von Dateien existierte. Die Sicherung der Autorenrechte war daher 00h00.com ein großes Anliegen, und auch ein Stück weit die Grundlage ihres Geschäftsmodells; daher waren die verbreiteten PDF-Dokumente kopiergeschützt, in einer sehr archaischen Form des Digital Rights Management (DRM): Es wird bei jedem Öffnen ein Passwort verlangt, für das die E-Mail-Adresse des Käufers gewählt wurde und das verdeckt eingegeben werden muss. Wie unkomfortabel dies sein kann, zeigt die E-Mail-

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ISBN-Nummer handelte es sich um digitalisierte Werke wie z.B. um Reeditionen rechtefreier Klassiker von Hugo, Flaubert, Maupassant, Zola, aber auch um publikumswirksam Neues wie Houellebecq, Extension du domaine de la lutte, und Bourdieu, La Domination masculine (1998), dessen elektronische Version bei 00h00.com sogar zeitgleich mit der Printausgabe bei den Editions du Seuil veröffentlicht wurde.15 Aber auch Vorläufer digitaler Hypertext-Literatur wurden in der Rubrik Inédits herausgebracht. Für Autoren digitaler Literatur bot 00h00.com daher die richtige Bühne, ihre Werke einerseits zu präsentieren, andererseits natürlich auch sie zu verkaufen. Der Vertrieb geschah über den Online-Shop des Verlags; die Bestellung wurde über ein Formular abgeschickt, der Kunde bezahlte online per Kreditkarte (bereits damals mit Sicherheitsprotokoll!) und nach Zahlungseingang wurden die verkauften Werke einfach als E-Mail-Attachment an den Kunden verschickt. Die Kaufabwicklung erfolgte umgehend – es dauerte nur eine Viertel- bis halbe Stunde, bis die bestellten Werke auf dem Rechner des Käufers vorlagen. Mit diesem Konzept war 00h00 seiner Zeit um viele Jahre voraus, viele Online-Shops ziehen tatsächlich erst heute auf diesen Standard nach.16 Immerhin hatte 00h00.com 1999 über 400 Titel im Programm und bereits 5.000 Kunden – bezeichnenderweise trotz der französischen Sprache der Werke 40% davon aus den USA. 85% der Verkäufe erfolgten in rein digitaler Form, den Rest machte der Bereich „print-on-demand“ aus.17 Dennoch blieben die Jahresumsätze (Anfang 1999 auf 1,5 Millionen Francs geschätzt) mit nur 1 Million deutlich hinter den Erwartungen zurück,18 und bereits im September 2000 wurde

Adresse der Verfasserin, deren Standardadresse der Universität Regensburg immerhin 43 Zeichen umfasst! 15 Vgl. Ressouches (2004). 16 Erst 2006 erlebte das Thema des legalen und kostenpflichtigen Downloads größere Bedeutung, wie Zeitungsartikel belegen: „Le téléchargement payant exploserait en France“ (PC InPact, 18.01.2006), „Le téléchargement légal prend son essor en France“ (La Tribune, 20.03.2006), etc. Die Umsätze des Musikdownloads in Frankreich betrugen nach Angaben des SNEP (Syndicat National de l'édition Phonographique) in den ersten drei Quartalen 2006 32 Millionen Euro. Zum Vergleich eine Erhebung des Marktforschungsinstituts GfK für den BITKOM über die gesamte Downloadsparte in Deutschland im gleichen Zeitraum: Für insgesamt 88 Millionen Euro wurden Musikdateien, Hörbücher, Videos, Spiele und Softwareprogramme legal heruntergeladen. Vgl. BITKOM (2006). 17 Vgl. Guerrier (1999). 18 Vgl. Grenier (2000).

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00h00.com vom US-amerikanischen Medien-Dienstleister Gemstar aufgekauft. Zuvor hatte Gemstar 2000 zwei Hersteller von eBooks geschluckt, NuvoMedia, Hersteller des Rocket eBook, und Softbook Press, Hersteller des Softbook Reader.19 Mit 00h00.com wollte sich Gemstar Zugriff auf die französischen elektronischen Werke sichern, und die Werke, für die ein Vertrag über eBooks bestand, sollten dann auch als eBook erscheinen. Nun erwies sich das eBook vorerst als evolutionäre Sackgasse,20 und 2003 hat 00h00.com seine Aktivitäten eingestellt – wie übrigens auch Gemstar seine eBook-Sparte. Als reine Recherchequelle mit inaktivem Shop blieb 00h00.com darüber hinaus noch einige Zeit online, die Werke selbst waren aber bereits mit Ausnahme kleiner Auszüge nicht mehr verfügbar. Arbon und Sa Moreira haben zwar eine neue Art mit Literatur umzugehen Realität werden lassen, sind aber letztlich genau dem mangelnden Gedächtnis des Internets zum Opfer gefallen – noch nicht einmal auf Wikipedia findet sich ein Eintrag zu 00h00.com, obwohl es als „site de référence“ für die édition numérique galt. Und so mutet der einstige ambitionierte Anspruch des Verlags heute wie sein Epitaph an: Internet est un lieu sans passé, où ce que l’on fait ne s’évalue pas par rapport à une tradition. Il y faut inventer de nouvelles manières de faire les choses.

Doch nun zu den Werken, die als kleines Korpus beispielhaft für die Aktivitäten von 00h00.com vorliegen. Im Folgenden werden kurz einige für den Kontext der digitalen Literatur interessante Besonderheiten gestreift. Einige PDF-Romane – nicht alle – sind interaktiv und hypertextuell angelegt. • • • • • • • •

Pierre Marmiesse: La Coupe est pleine. 1998. PDF. Lucie de Boutiny: N’importawaque. 1998. PDF. Yann Queffélec et al.: Trente jours à tuer. 1999. PDF. Anne-Cécile Brandenbourger: Apparitions inquiétantes. 2000. PDF. Hélène Honnorat: Poids de naissance. 2000. PDF. Mylène Pétremand: Géographie du ventre. 2000. PDF. Pierre de la Coste: Qui veut tuer Fred Forest? 2000. PDF. François Taillandier: Intrigues. 2001. PDF.

19 Vgl. Lebert (2001). 20 Letztlich haben sich eBook-Lesegeräte wie Kindle von Amazon, Tolino, PocketBook und die Geräte von Kobo für das papierlose Lesen dann doch noch durchgesetzt.

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Marmiesse (1998) erweist seine Besonderheit weniger durch eine stilistische oder strukturelle Eigenart, sondern illustriert vielmehr, ganz im Sinne der Editions 00h00, einen großen Vorteil der édition numérique: Der Krimi wurde unmittelbar nach der Bekanntgabe der Auslosung der Begegnungen der Fußballteams bei der Fußballweltmeisterschaft 1998 geschrieben und nimmt anhand realer Daten und Orte die Fußball-WM in der Handlung seines Krimis vorweg. Dies ist nur möglich bei einer so kurzen Produktionszeit, wie sie die nichtgedruckte, elektronische Ausgabe bietet.21 Bei Honnorat (2000) verfügt das PDF-Dokument über einfache Hyperlinks, die als Wörter im Text durch Unterstreichung gekennzeichnet sind und jeweils einen Exkurs einleiten. Die Hypertextualität steht damit eher im Dienst einer Fußnotenstrategie. Der Exkurs führt stets wieder zur Ausgangsstelle im Haupttext zurück. Die Beziehung zwischen dem Exkurslink und dem Back-Link ist meist die einer wörtlichen Wiederholung. D.h. das Wort bzw. Syntagma, das den Exkurs ausgelöst hat, nimmt ihn auch wieder zurück, z.B. führt der Link „jeunes chiens morts-nés“ von Seite 10 zu Seite 56, von dort führt ein Link gleichen Wortlauts (i.e. „jeunes chiens morts-nés“) wieder zurück zur Seite 10; das Gleiche gilt für „maison“ auf den Seiten 11 und 57, „Singapour“ auf den Seiten 12 und 57, etc. Auffällig sind, wenn der Leser die Logik durchschaut hat, die Abweichungen von dieser Regel; stets aber lassen sich zumindest Relationen zwischen den Begriffspaaren erkennen: „petite fille“ (S. 12) und „tendresse“ (S. 58), „croire“ (S. 29) und „pensées“ (S. 67), „souffrances“ (S. 31) und „invention de Dieu“ (S. 69), „décibels“ (S. 37) und „assourdissant“ (S. 71). Die semantische Verbindung zwischen den Linkankern basiert, wenn sie nicht in einer direkten wörtlichen Wiederholung besteht, zumindest auf einer spielerischen, metonymischen Nähe. Abgesehen von dieser „symmetrischen“ Rücknahme des Exkurses ist das Strukturprinzip dem der aleatorischen Romane wie bei Cortázar (1963) und Okopenko (1996) gleich, wenn auch weniger umfangreich. Auch bei Pétremand (2000) handelt es sich um einen einfachen Hypertext, der nach dem Vorbild eines Lexikons mit Vorschlägen zur Lesereihenfolge ausgestattet ist: Die anklickbaren Kapitelzahlen sind die Querverweise, die jeweils vor dem zugeordneten Text stehen. Interessant, dass dieses Werk im Jahr 2000 sogar eine Würdigung in Form eines Literaturpreises erhalten hat: den „Prix de la société genevoise des écrivains, offert par la ville de Genève“. (S. 5)

21 Vgl. http://00h00.giantchair.com/livre/?GCOI=27454100722860 (nicht mehr verfügbar; zuletzt: 06.02.2010)

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In der Auswahl ihrer Autoren – wie Arbon betonte, besteht die Arbeit eines Verlags insbesondere darin, eben nicht zu veröffentlichen22 – bewies 00h00.com eine geschickte Hand, denn es gelang ihnen, neben zugkräftigen Namen wie Houellebecq und Beigbeder auch am digitalen Medium interessierte renommierte Autoren zu gewinnen. An erster Stelle ist hier Yann Queffélec zu nennen, der Gewinner des Prix Goncourt 1985. Viel Beachtung erntete die Veröffentlichung seines „interkreativen“ Internetromans 30 jours à tuer. Auf Anregung durch France Loisirs konzipierte Queffélec das Ausgangsszenario dieses Mitschreibeprojekts, dieses premier roman créé sur Internet, wie der Untertitel laut ankündigt, und schrieb selbst das anschlussfähige erste Kapitel, in dem die US-Amerikanerin Clara Turner am festgesetzten Tag ihrer Hinrichtung noch einen Aufschub von 30 Tagen erhält. Das Projekt stieß auf große Resonanz, und alle zwei Wochen wurde ein Beitrag als Folgekapitel der Fortsetzungsgeschichte ausgewählt. Die Jury, der auch Queffélec angehörte, achtete dabei auf kohärente Fortschreibung, literarische Qualität und Originalität. Klares Ziel des Projekts war die „expérience littéraire portée par le Web“ (Préface, S. 12), die auf einem ungewöhnlichen Weg zu einem anspruchsvollen Buch führen sollte, das 1999 unter geradezu euphorischem Pressejubel bei France Loisirs erschien. Mit einem ausgeprägten Sinn für werbewirksame und zugleich ins Konzept passende Werke erhielten Arbon und Sa Moreira die Rechte für die digitale Vermarktung im gleichen Jahr. Mit Hyperfiction hat das kollaborative Projekt nichts zu tun; dennoch verdient es als Meilenstein der medial experimentierfreudigen Literaturszene am Ende des 20. Jahrhunderts unbedingt eine Erwähnung, auch im Kontext der digitalen Literatur. Unter all den Autoren bei 00h00 lässt neben der für die digitale Literatur bedeutendsten Autorin Anne-Cécile Brandenbourger, die natürlich auch bei 00h00.com publiziert hat (mehr zu ihrer wegweisenden Hyperfiction Apparitions inquiétantes in Kapitel 4.5), besonders der Name Lucie de Boutiny aufhorchen. Sie ist die von den Medien am meisten beachtete Webautorin. Auch im Vorwort ihres bei 00h00 erschienenen Romans N’importawaque (1998) wird auf Seite 7 auf ihren hypertextuellen Hintergrund hingewiesen: Lucie de Boutiny qui vient just d’avoir trente ans, a publié de nombreuses nouvelles en revue (L’Infini, NRV…). En parallèle à ‚N’importawaque’, elle diffuse un roman hypertextuel sur l’Internet: NON.

22 Vgl. Guerrier (1999).

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Allerdings werden die Erwartungen, die sich mit diesem Hyperfiction-Kontext verbinden, enttäuscht – N’importawaque ist eine linear präsentierte Kurzgeschichte, eine minimale Interaktivität besitzt sie allenfalls durch eine Blätterfunktionalität; der Händchencursor zeigt immer nach unten und per beliebigem Klick ins Dokument kann der Leser auf einfache Weise blättern, ohne scrollen zu müssen. Er könnte stattdessen auch einfach mit den Pfeiltasten navigieren; dieses einfache Vorwärtsklicken hat nichts mit einer Entlinearisierung im eigentlichen Sinn zu tun. Interessanter ist die Editionsgeschichte des Werks, denn es ist 1998 gleichzeitig als PDF und gedrucktes Buch bei Fleuve Noir erschienen, jeweils unter dem gleichen Titel, aber mit verschiedener ISBN. Ein weiterer bekannter Protagonist in der Szene der digitalen Literatur ist Pierre de la Coste, dessen Website Mélusine sich ganz besonders die Propagierung des digitalen Mediums in der Literatur auf die Fahnen geschrieben hat. Von besonderer Bedeutung ist sein Hypertextgedicht „La Ville“, das im Kapitel 7.4 noch genauer besprochen wird. Sein Werk Qui veut tuer Fred Forest? ist erstaunlicherweise (und im Gegensatz zu den meisten anderen Werken) auch heute noch recht präsent im Internet. Das hat mehrere Gründe: Zum einen ist Pierre de la Coste selbst recht angesehen, zum anderen hat er die Veröffentlichung dieses Werks sehr geschickt betrieben: Es erschien anlässlich des „Salon du livre et de la Fête de l’Internet 2000“ und wurde als erster französischer Roman für ein eBook gefeiert. Ein weiterer Coup sicherte ihm die ultimative Aufmerksamkeit: Der im Titel genannte Protagonist Fred Forest ist eine real existierende Person, ein renommierter Allround-Künstler der neuen Medien, ein Pionier der Video Art und Net.Art und heute vor allem im Bereich Multimedia und Internet tätig. Er ist Begründer des Art sociologique (1974) und der Esthétique de la communication (1983). Der Titel, wer denn diesen anerkannten Wissenschaftler und Künstler töten möchte, ist natürlich denkbar reißerisch und provokant. Natürlich handelt es sich im Roman um einen fiktionalen „Fred Forest“ – auch wenn der reale das Nachwort verfasst hat. Auch die Webseite „QUI VEUT TUER FRED FOREST?“ 23 beginnt gleich mit der realweltlichen Versicherung: SOYEZ RASSURES , PERSONNE NE VEUT TUER FRED FOREST, C’EST LUIMEME, LE PRINCIPAL INTERESSE, QUI VOUS LE CONFIRME, ICI, ET DANS LES TEXTES QUI SUIVENT...

23 http://www.fredforest.org/tuer/

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Ganz im Sinne der Mission de la Costes steht Qui veut tuer Fred Forest? eine Gebrauchsanweisung voran, in der die ästhetische Absicht beim Einsatz von Hypyertext erklärt wird. Der Roman wird in zweierlei Fasson dargeboten: „l’une, traditionnelle et linéaire; l’autre électronique et hypertextuelle. Il s’agit de deux versions d’un même roman.“ (S. 2). Hypertext versteht er nicht als simple technische Gegebenheit, sondern als „un mode d’écriture lié au sens profond du roman.“ Genutzt wird die Hypertext-Funktionalität vor allem für Rückblicke, in denen sich der Leser bereits gelesene Passagen noch einmal vergegenwärtigen kann. Formal und inhaltlich bietet Qui veut tuer Fred Forest? eine Reflektion über zeitgenössisches künstlerisches Schaffen, da Pierre de la Coste großen Wert auf die Anwendung der neuen kreativen Möglichkeiten legt, die ihm Internet und Multimedia bieten. Durch das Spiel mit der fiktiven Gestalt, die den Namen einer realen Person trägt, bzw. den fiktionalen Geschehnissen um diese Person wird in prägnanter Weise der Wechsel zwischen Realität und Virtualität und Fiktion praktiziert. Die Vorstellung von Identität wird, begünstigt durch das digitale Medium, subtil und doch nachhaltig in Frage gestellt. De la Coste sieht seinen Roman am Anfang einer neuen Gattung, die von der Mitarbeit der Leser geprägt ist.24 Auch François Taillandier, dessen Roman Anielka (1999) mit dem Grand prix du roman de l’Académie française ausgezeichnet wurde, präsentiert mit Intrigues (2001) bei 00h00 neue Reflektionen und Perspektiven für die narrative Gattung. Acht Handlungsstränge sind durch Links miteinander vernetzt. Eine andere Präsentation erschiene dem Autor als Verzerrung. Denn: Intrigues nous montre combien la nécessité de constituer un récit linéaire rectifie inexorablement la réalité, élaborant pour ainsi dire, une nouvelle épistémologie de la narration. (S. 5)

Es gibt Links im Text und Icons am Seitenrand, die der Orientierung dienen. Über Querverweis-Zahlen am Seitenende kann ebenfalls navigiert werden; anders als Seitenzahlen bezeichnen sie allerdings das Ziel des Links. Die Optik ist die eines Druckwerks, denn das PDF-Format der Datei (Portable Document Format) ist als ein am Print-Layout orientiertes Format generell nur ein behelfsmäßiges Hypertextszenario. Taillandier lobt die Hypertexttechnologie als „meilleur moyen de figurer la complexité du réel“ (S. 5).

24 Vgl. de la Coste (2000), S. 2.

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Dennoch ist auch dieser Vorstoß letztlich als Seifenblase ohne bleibende Spuren zerplatzt; vielsagend ist, dass Intrigues und seine doch mit einem bedeutenden literarischen Anspruch versehenen digitalen Bestrebungen in Taillandiers Bibliografien, ob im Web oder im Paratext der gedruckten Bücher, heute unerwähnt bleiben. Der Überblick auf die bei 00h00 veröffentlichten digitalen Werke liefert folgende Erkenntnis: eBooks (auf PDF-Grundlage) und die am PC-Bildschirm lesbaren PDFs weisen mit einer eher rudimentären Linktechnologie und einer einfachen Bookmarkfunktion nur einen recht eingeschränkten Mehrwert gegenüber dem gedruckten Buch auf, zudem waren die Lesegeräte unhandlich und nicht sonderlich ansprechend. Die Konsequenz, mit der die Werke von 00h00 von der Bildfläche verschwunden ist, ist äußerst bedauerlich. Paradoxerweise sind nur die Werke noch zugänglich, die zusätzlich zur digitalen Ausgabe auch gedruckt wurden – nicht zuletzt deshalb, weil es für digitale Werke keinen Vertriebskanal wie für die Masse der gedruckten (auch antiquarisch bestellbaren) Bücher gibt. Dennoch: Die meisten wichtigen Hyperfiction-Autoren haben sich hier versammelt, anderen „traditionellen“ Autoren erleichterte 00h00 den Kontakt als Verbindungsglied zwischen dem bekannten Literaturbetrieb und den neuen Strömungen. Welchen Einfluss 00h00.com auf die weitere Hyperfiction-Kultur in Frankreich bzw. im französischsprachigen Raum hätte nehmen können, wenn der Verlag denn hätte durchhalten können, ist gar nicht abzuschätzen. 4.1.3 François Debyser: La Pyramide truquée La Pyramide truquée. Roman d’arcades initiatique (1997/98) von François Debyser ist im Unterschied zu den PDF-Romanen bei 00h00 ein echter, auch heute noch im Internet vorzufindender literarischer Hypertext und wurde wie Locus Solus an der Université Paris VIII erstellt. Die Struktur ist einfach und wird durch zahlreiche binäre Entscheidungen charakterisiert – die „Pyramide“ des Titels bezieht sich somit zugleich auf die Hypertextstruktur. Dass es sich um eine Hyperfiction handelt, zeigen die paratextuellen Elemente: Der Untertitel lautet roman d’arcades initiatique, und in der URL wird explizit das Prädikat „fiction“ genannt: http://hypermedia.univparis8.fr/jean/fiction/pyramide/01.htm. Hilfreich ist auch die detektivische Suche im Paratext. Im Verzeichnis „Index of /jean/fiction/pyramide“25 findet sich eine Übersicht aller Dateien, die In-

25 http://hypermedia.univ-paris8.fr/jean/fiction/pyramide/ (zuletzt: 07.01.2005). Leider ist dieses Verzeichnis mittlerweile nicht mehr zugänglich.

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formationen zur Machart und Logik der Mini-Hyperfiction enthält. Aus ihr wird ersichtlich, dass der Hypertext aus nur 90 (noch dazu sehr kurzen) HTML-Seiten besteht. Eine weitere Orientierungshilfe bietet die lineare Zusammenfassung,26 die alle einzelnen Seiten mit vollem Inhalt linear nacheinander schaltet. Die Verzweigungen werden durch Querverweise angezeigt. Bezeichnend für den Etüdencharakter des Werkes ist, dass die einzelnen Knoten keine Namen tragen, sondern aus systematischen Gründen mit Zahlen bezeichnet werden. La Pyramide truquée wurde noch für Minitel konzipiert. Es handelt sich um eine typische „fiction arborescente“, nach dem Schema des „livre dont vous êtes le héros“, einem Solo-Abenteuer für Rollenspieler. Diese Bücher der Kategorie „livre-jeu“ hatten ihren Höhepunkt in Frankreich in den 1980er- und 1990erJahren mit der Collection „Un livre dont VOUS êtes le héros“ bei Editions Folio Gallimard.27 Abbildung 15: Startseite von La Pyramide truquée

Quelle: Screenshot aus La Pyramide truquée28

Die phantastische Geschichte dreht sich um die Suche nach dem „secret de la narratologie des pharaons“.29 Beim Durchwandern einer Pyramide zur Zeit des

26 http://hypermedia.univ-paris8.fr/jean/fiction/pyramide/PYROK.txt%20story 27 http://hypermedia.univ-paris8.fr/jean/fiction/pyramide/07.htm 28 http://hypermedia.univ-paris8.fr/jean/fiction/pyramide/01.htm 29 http://hypermedia.univ-paris8.fr/jean/fiction/pyramide/02.htm

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Alten Ägypten wählt der Leser, der von einem allwissenden Erzähler Handlungsdirektiven erhält, aus verschiedenen Alternativen seinen Pfad. Diese Entscheidungsstellen stehen als mises en abyme für die Verzweigungen im Wegelabyrinth der Pyramide. La Pyramide truquée sieht sich und das ganze Genre durchaus augenzwinkernd als Bindeglied zwischen gedruckter (auch postmoderner!) und interaktiver Literatur: Als der Leser in der Pyramide einem Riesenskorpion gegenüber steht, wird er vor die Wahl gestellt, zu fliehen oder zu kämpfen.30 Entscheidet er sich für die Flucht, wird er für nicht geeignet befunden, im Hypertextabenteuer fortfahren zu dürfen, und wird konsequent mit den folgenden Worten verabschiedet: Un héros est courageux. Si vous vous enfuyez au premier danger, vous n’êtes pas digne de connaître le secret de la pyramide truquée. Vous arrivez tant bien que mal à ressortir du souterrain et vous rentrez penaud à Paris où vous vous résignez à ne lire et à n’écrire désormais que des romans traditionnels du genre Balzac et Robbe-Grillet. Votre aventure est terminée.31

Lässt sich dies der Leser als Held der Geschichte in seinen Handlungen eine Lehre sein, darf er verschiedenste fantastische Abenteuer erleben, u.a. umgarnt ihn eine mysteriöse Schöne namens Barlat,32 im Leib des getöteten Riesenskorpions findet er eine Pillendose mit einer grünen und einer roten Pille darin und hat die Wahl, welche davon er zu sich nehmen will.33 Die Verwandtschaft zu den Rollenspielabenteuern und dem Trivialgenre der Fantasy-Literatur ist offenkundig. Aufschlussreich ist die in La Pyramide truquée thematisierte Reflektion über die Rolle des Lesers. Er wird von Anfang an direkt mit „vous“ angesprochen. Auf der ersten Seite der Geschichte wird kurz der Hintergrund der mit „vous“ angesprochenen Figur erklärt: Vous êtes un jeune romancier; vous avez tout essayé: roman d’amour, noir, gothique, policier, psychologique, autobiographique, historique, nouveau roman... rien n’a marché.34

Die letzte Hoffnung auf schriftstellerischen Erfolg bietet nun eine Reise ins Innere der Pyramide (als Metapher für den meist binär strukturierten Hypertext) –

30 http://hypermedia.univ-paris8.fr/jean/fiction/pyramide/06.htm 31 http://hypermedia.univ-paris8.fr/jean/fiction/pyramide/10.htm 32 http://hypermedia.univ-paris8.fr/jean/fiction/pyramide/26.htm 33 http://hypermedia.univ-paris8.fr/jean/fiction/pyramide/21.htm 34 http://hypermedia.univ-paris8.fr/jean/fiction/pyramide/02.htm

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zugleich eine Zeitreise in die Zeit des Alten Ägypten. Als in der Pyramide die erste Verzweigung der Handlung erscheint,35 werden dem Leser vier Anschlusspunkte angeboten, die verschiedenen Kategorien entstammen: Eine bleibt auf der Handlungsebene und wendet sich an die Figur: „Vous continuez à avancer.“, die anderen sind metafiktional motiviert und wenden sich an den eigentlichen Leser, z.B. „Vous demandez qui est ‚vous‘?“ Eine zentrale Frage in der Hyperfiction! Der Klick auf diesen Link liefert eine Antwort: „Vous, c’est vous, vous le lecteur et le héros d’un roman d’arcades.“36 Ein Paradebeispiel postmoderner Kombination ist die Verbindung zwischen den trivialen Abenteuerrollenspielen bei Folio Gallimard für Jugendliche und den literarisch unverhältnismäßig anspruchsvolleren Beispielen wie Butor, La Modification und Calvino, Si una notte, un viaggiatore...“37. Beides sind Genres, die auf den ersten Blick verschiedener nicht sein könnten, hier sind sie nur durch einen Klick voneinander entfernt und: Sie weisen in der Tat überraschende Parallelen auf. Die Identifikation zwischen realem Leser und diegetischer Figur, eben dem „héros“, wird expliziert, zugleich wird die Immersion des Lesers dadurch verstärkt. Als User stehen dem Leser verschiedene einfache Interaktionsmodi zur Verfügung. Es gibt eindimensionale Links in Form eines Pfeilbuttons, der einfach weiter zur nächsten Seite führt; interessanter sind aber die Links im Text, die dem Leser verschiedene parallele Optionen anbieten, meist zwei bis vier Handlungsalternativen, aus denen er sich für eine entscheiden muss. Verschiedene Schlusspunkte des verzweigenden Baums sind möglich, je nach Entscheidung. Wählt der Leser beispielsweise den Link „Vous avalez la dragée rouge“38 und schluckt damit der Held in der Handlung unvorsichtigerweise die rote Pille, so ist letzterer tot und das Abenteuer für beide, Held und Leser, vorbei.39 Metadiegetisch zirkulär endet die Geschichte, wenn der Leser die Aufgabe, das Geheimnis der Narratologie der Pharaonen zu ergründen, nicht erfüllen kann und daher beschließt, sein Abenteuer zumindest aufzuschreiben, just unter dem Titel der rahmengebenden Hyperfiction: „La Pyramide truquée. Roman d’arcades initiatique“. Durch das ganze Werk hindurch thematisiert, ja persifliert La Pyramide truquée die Literaturinstanzen. Dazu gehört beispielsweise die vorgebliche Aufgabe, eine altägyptische Literaturform mit einem neuen Textformat

35 http://hypermedia.univ-paris8.fr/jean/fiction/pyramide/05.htm 36 http://hypermedia.univ-paris8.fr/jean/fiction/pyramide/07.htm 37 http://hypermedia.univ-paris8.fr/jean/fiction/pyramide/12.htm 38 http://hypermedia.univ-paris8.fr/jean/fiction/pyramide/21.htm 39 Vgl. http://hypermedia.univ-paris8.fr/jean/fiction/pyramide/23.htm

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wiederzufinden, aber auch das fortwährende Wechselspiel zwischen Sender und Empfänger, mit Leser, Figur und navigierendem Erzähler in Personalunion. Ein zirkuläres Ende kann die Hyperfiction finden, wenn der als Leser angesprochene Held in der Irrenanstalt landet und selbst als „scribe accroupi“40 in die fiktionale Welt aufgesogen wird.

4.2 F RANÇOIS C OULON & DIE „ FICTIONS

INTERACTIVES “

Der gemeinsame Nenner von La Pyramide truquée und den Werken François Coulons sind die Rollenspiele, die „aventures dont vous êtes le héros“. Während La Pyramide truquée das Konzept der nichtlinear zu lesenden Entscheidungen durch reinen Hypertext mit einigen wenigen Abbildungen realisiert, verheiratet François Coulon das Hyperfictionkonzept mit der Formensprache der grafisch orientierten Adventure Games. Coulon ist in jeder Hinsicht ein Ausnahmefall. Schon sein professioneller Hintergrund ist bemerkenswert: Seit Mitte der 1980er-Jahre Entwickler für Apple-Computerspiele, hat er 1988 sein erstes eigenes Adventure herausgebracht, Bill Palmer. 1991 erschien L’égérie d’Amandine Palmer, das er zum kostenlosen Download auf seiner Website zur Verfügung stellte. L’égérie ist das erste Werk einer Mischform aus Roman und Computerspiel. Die nächsten Werke in einem vernachlässigbaren Spieleformat waren 1992 La Belle Zohra und Tout a disparu. Trois nouvelles numériques, die erst 1994 nach der Übertragung auf das Mac-Format die Öffentlichkeit auf sich aufmerksam machten. Sie unterschieden sich von den bis dahin bekannten Spielen durch eine größere Bedeutung der enthaltenen Texte und ein offenes Ende.41 Coulon ist der einzige französische Hyperfiction-Autor, der Werke verkauft (einige gibt es auch kostenlos von seiner Webseite herunterzuladen), und ist dementsprechend der einzige frankophone Hyperfiction-Autor für OfflineWerke. Auch in einer anderen Hinsicht ist Coulon eine Ausnahmeerscheinung: Er verfasst nicht nur sprachlich anspruchsvolle Texte, sondern entwickelt die gesamte Programmanwendung des Spiels selbst. Als fictions interactives sind 20% d’amour en plus (1996) und Pause (2001) auf CD-ROM bei KAONA erschienen, einem Verlag, der Multimedia-Software

40 http://hypermedia.univ-paris8.fr/jean/fiction/pyramide/90.htm 41 Der Originalartikel von Coulon selbst ist nicht mehr online; Teile daraus sind aber auf der Seite http://atarigames.atarizone.com/_authors/coulon.htm zitiert, die jedoch auch nicht mehr verfügbar ist (zuletzt: 06.02.2010).

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für Kinder herausbrachte. Erinnern die Werke optisch auch an Computerspiele für Kinder, straft der Inhalt in Bezug auf Thema und Niveau diesen Eindruck Lügen, es geht um das durchaus verwickelte (Liebes-, Berufs- etc.) Leben erwachsener Menschen. Die fictions interactives sind Ausdruck eines spielerischen Literaturexperiments für Erwachsene. 4.2.1 20% d’amour en plus (CD-ROM) 1996 ist 20% d’amour en plus als CD-ROM bei KAONA erschienen. Der Protagonist ist Léo, ein Träumer, im Leben eine „verkrachte Existenz“, der sich als Texter durchschlägt, u.a. verfasst er bezahlte Leserbriefe für ein Porno-Magazin. Seine Umwelt besteht aus seinen Katzen Hégésippe und Cromalin, seinem Freund Igor und der angebeteten Nachbarin Warda. Als typischen „Roman“ kann man das Werk kaum mehr bezeichnen, denn die Texte sind lediglich wie kleine Sprechblasen in ein grafisch ausgefeiltes, aufwändig gezeichnetes Szenario eingebettet; der visuelle Charakter des Werks dominiert. Für die damalige Zeit und im Vergleich zu anderen visuellen Werken waren die bunten Zeichnungen von Fabrice Le Minier von einer sensationellen Qualität; heute wirken sie wie Bilderbuchillustrationen und gehen natürlich auf den Einfluss des Verlags zurück. Der Leser (oder Spieler?) sollte sich mit dem knollnasigen Antihelden als einem ganz normalen Menschen identifizieren können. Abbildung 16: Grafische Dominanz

Quelle: Screenshot aus 20% d’amour en plus

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Multimedial wird 20% d’amour durch meist recht abrupt einsetzenden Ton, beispielsweise schreckt ein lauter, erst undefinierbarer Lärm den Protagonisten aus einer heroischen Situation (es gibt verschiedene, beispielsweise ein Basketballturnier, einen mittelalterlichen Kampf mit einem Drachen, die Erforschung einer verlassenen Raumstation), und nach dem Szenenschnitt erkennt der Leser erst, dass dies ein Traum war, denn Léo wacht gerade von einem penetranten Telefonläuten auf. Der Effekt ist übrigens durchschlagend, denn auch der Leser wird durch das schrille Geräusch aufgeschreckt. Die grafische Umsetzung, die genannte Dominanz des Bildes, wirkt insgesamt etwas eigenartig, als wäre ein Film in statischen Einzelaufnahmen eingefroren. Multimedial sind nur die darübergelegten Geräusche, die hauptsächlich untermalende, ergänzende Funktion haben. Der Text des „Romans“ erschließt sich erst durch die Interaktion des Lesers, der in den bunten Gemälden nach Hinweisen und Schlüsseln für das Verständnis dieser Seite und zum Weiterkommen zur nächsten Seite suchen muss, ganz im Sinne von Adventure Games. Der Leser tastet dazu die Objekte des Szenen„Fotos“ mit der Maus ab, und sobald er eine sensible Stelle gefunden hat (von denen es auf jeder Seite ausnehmend viele gibt), kann er sie anklicken und erhält in einem kleinen Fenster die dazugehörigen Informationen, oder es wird, transkribiert in direkte Rede, stumm ein Gespräch wiedergegeben. Außerdem ist ein ausführliches, wenn auch nicht sehr intuitives Navigationsmenü außerhalb der Diegese beigegeben; über längere Zeit wird die Bedienung des Werks ermüdend, denn die Brüche zwischen den kurzen Szenen sind zu beherrschend und stören das vertiefte Eintauchen des Lesers in die Geschichte. Über die Interaktion mit der Maus erhält das Werk einen gewissen hypertextuellen Charakter. 20% d’amour en plus besteht aus rund 200 Seiten mit knapp tausend kleinen Texten. Eine definitive Geschichte gibt es nicht, es sind 24 verschiedene Enden vorgesehen. Damit erwirbt sich das Werk einen wichtigen Platz in der Hall of fame der Hyperfiction. Die Anpreisung des Klappentexts lautet sicher zu Recht: „Un titre salué par la presse comme précurseur de ‚l’hyper-roman‘.“ 4.2.2 Pause (CD-ROM) 2001 ist Coulons nächstes Werk bei KAONA veröffentlicht worden, Pause. Les vies de Dominique Noblet. Da der Verlag seine multimedialen Aktivitäten mittlerweile eingestellt hat, bietet Coulon mittlerweile die Neuauflage in technischem Upgrade zum kostenlosen Download von seiner Website an, da es eine wichtige Etappe in seinem Schaffen darstellt. Im Unterschied zu den bei KAONA verlegten „fictions interactives“ nennt er seine Werke ab diesem Moment „fictions numériques“.

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In Pause werden neue Seiten nicht nur durch Klicken angezeigt, sondern auch durch eine spezifische direktmanipulative Aktion, die Drag-and-Drop-Technik: Grafische Objekte können mit der Maus festgehalten und an einem vorgegebenen Ort losgelassen werden. Die dahinter stehende Logik ist recht komplex; beispielsweise macht es manchmal für die Anzeige der bildbegleitenden Texte durch die Berührung mit der Maus einen Unterschied, welches Bild vorher angeklickt wurde. Der Text ist nach einem palimpsestischen Prinzip animiert: Durch Mauskontakt werden innerhalb einer gleich bleibenden Satzschale einzelne Syntagmen ausgetauscht, was sehr an das assoziative Prinzip des texte scriptible von Barthes erinnert. Alle einander abwechselnden Lesarten, zusammen mit dem Bildmaterial und der Hintergrundmusik, ergeben den „Text“ einer Seite. Abbildung 17: Zusammenspiel von Bild und Text

Quelle: Screenshot aus Pause

Inhaltlich kann der Leser, je nach den ausgewählten Objekten, den Protagonisten Dominique verschiedene „Leben“ (eben die genannten vies des Titels) führen lassen; die auftauchenden Figuren sind aber oft die Gleichen, meistens kommt die Geliebte Marjorie vor. Das Besondere an dem Werk ist, wie Coulon selbst angibt, dass ausgehend vom dem angeklickten Bild die Handlung rückwärts erfolgt; das Bild ist also der Schlusspunkt der vorher geschehenen Handlung.42 Auch in Pause ist die Navigation sehr aufmerksamkeitsintensiv und erfordert eine konzentrierte Auseinandersetzung mit Medium und Werk.

42 Vgl. http://www.totonium.com/pause/

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4.2.3 Le Réprobateur (Download) 2008 ist Coulons letztes Projekt erschienen, Le Réprobateur. Une force entre vous et la tentation, ein „roman graphique“ mit interaktiver Navigation durch Klick auf die Bilder.43 Der „Réprobateur“ Gildas Noblet wird angestellt, um den kleinen Schwächen (Faulheit, Unbeherrschtheit, Kaufsucht, etc.) seiner Auftraggeber Einhalt zu gebieten, indem er sich stirnrunzelnd, mit missbilligendem Blick neben sie stellt und so ihr personifiziertes schlechtes Gewissen verkörpert. Die steife Korrektheit in Haltung und Mimik bewahrt den Protagonisten Gildas Noblet letztlich aber nicht vor eigener Schwäche, er muss Hilfe beim Psychiater suchen. Die Handlung entspinnt sich um mehrere Figuren über einen Zeitraum von 20 Jahren. Die insgesamt 20 Seiten präsentieren sich, wie schon von Coulon gewohnt, in hoher grafischer Sorgfalt, mit Textvignetten, farbigen Grafiken und gefilmten Videosequenzen, die durch Klick auf das Standbild abgespielt werden. Fährt man mit der Maus über die kurzen Texte, ändern sich gelb markierte Passagen und werden paradigmatisch durch ähnliche Ausdrücke ersetzt, in der Optik eines zerfließenden Texts. Dabei bilden sie eine kaleidoskopische Auffächerung nicht nur des abgebildeten Inhalts, sondern auch der Erzählperspektive: Abbildung 18: Multiple Perspektivierung mit Detail rechts unten

Quelle: Screenshot aus Le Réprobateur (Download)

43 Das Werk ist als Download über Coulons Webseite http://www.totonium.com erhältlich, mittlerweile kostenlos.

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In den Videos tritt Gildas Noblet nicht nur als außerhalb der Handlung stehender Ich-Erzähler seiner eigenen Erlebnisse auf (beispielsweise wenn er an seinem Schreibtisch sitzt und direkt in die Kamera spricht), sondern berichtet auch intradiegetisch (beispielsweise als er gerade selbst auf der Couch des Psychiaters liegt). Außerdem ist er auch der Erzähler der Geschichte anderer Figuren; die Erzählstimme in den Texten dagegen klingt antiquiert-geschraubt, die Nullfokalisierung verweist auf einen allwissenden Erzähler. 44 Weitertransportiert wird die Handlung über ein Navigationsprisma, dessen anklickbare Oberflächenfacetten für die entsprechende Seite stehen. Die Handlung kann daher prinzipiell nicht entlang eines Handlungsstrangs verfolgt werden, inhaltlich kohärente Passagen müssen nachträglich aus dem Sinn zusammengefunden werden. Den ästhetischen Kontext lieferte Coulon höchst zeitgemäß gleich selbst: In fünf „bandes-annonces“, in die Webseite eingebetteten Videos, klärte Coulon in Interviewform die grundlegenden Fragen und setzte sich dabei selbst humorvollhumoristisch in Szene. Die Hauptaussage lautete: „C’est de l’art que vous pouvez double-cliquer.“ Coulon mischt Wirklichkeit und Fiktion auf eine recht humorvolle, aber subtile Weise; zum einen durch die wichtigen Videosequenzen als Stilmittel im Werk selbst sowie im Diskurs darüber; auch der Kauf-Link wird von einer Abbildung des streng auf den Beobachter blickenden „Réprobateurs“ begleitet; und schließlich hat Gildas auch im Internet Spuren hinterlassen: In verschiedenen Portalen zur Personensuche wie 123people fanden sich Fotos und Abbildungen von Gildas Noblet, als wäre er eine real existierende Person. Interessanterweise hat dieses Werk im Vergleich zu anderen französischsprachigen Werken auch eine recht beachtliche internationale Beachtung erfahren, was sicher auch seiner Zugänglichkeit durch die englische Übersetzung zu verdanken ist.

4.3 D IE „ HYPERFICTION “ L E N ŒUD Mit Le Nœud ist eines der zentralen Werke in der Hyperfictionlandschaft nach diversen Domainwechseln und URL-Änderungen – leider – aus dem Internet verschwunden. Suchte man noch 2010 im französischsprachigen Internet nach dem Schlagwort „hyperfiction“, wurde an erster Stelle ein Primärwerk angezeigt, Le Nœud, das einzige, das auch den Untertitel Hyperfiction trägt. „Hyperfiction“ ist kein Gattungsbegriff, der sich im Französischen etabliert hat; dass dieses

44 Eine ausführliche Analyse liefert Picot (2008).

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frankokanadische Werk dennoch (als einziges) so benannt ist, erklärt sich unbedingt aus der Nähe zum mächtigen Einflussbereich der US-amerikanischen Hyperfictions. Le Nœud ist in den Jahren 1997-2001 entstanden, die letzte Aktualisierung erfolgte laut Eingangsseite im November 2001. Abbildung 19: Startseite von Le Nœud mit Rhizom-Grafik

Quelle: Screenshot aus Le Nœud 45

Auch hier ist eine Gebrauchsanleitung beigegeben, in der der Autor JeanFrançois Verreault das Werk als einen „essai littéraire profitant à fond des capacités d’organisation et de recoupement de l’hypertexte“ charakterisiert.46 Gleich auf der Startseite findet man die Information, dass das Werk aus „120 fragments“ besteht. Der Eingangsbildschirm wird beherrscht von einer Grafik, einem stilisierten Rhizom aus Knoten und wurzelartig verzweigten Kanten, vor dem Hintergrund eines unendlich großen Netzwerks. Die grafisch visualisierten Knoten des zentralen Mini-Rhizoms sind Links. Deutet der Leser mit der Maus auf den zentralen Knoten, erscheinen als Hovering-Effekt links und rechts davon kleinere sekundäre Knotenelemente, die die Funktion des Links genauer bezeichnen, z.B. „Entrée“, „Quoi de neuf?“ und „Mode d’emploi“. Selbst sind sie aber nicht als Links anklickbar.

45 http://home.total.net/~amnesie/ (nicht mehr verfügbar; zuletzt: 06.02.2010) 46 http://home.total.net/~amnesie/notes.html (nicht mehr verfügbar; zuletzt: 06.02.2010)

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Klickt der Leser auf den „Entrée“-Knoten, landet er auf einer Seite, die ihm verschiedene Links als Einstieg in die Geschichte bietet. Er hat die Wahl zwischen „Tu peux partir. Personne ne le saura.“ und „Tu peux rester. Personne ne le saura.“47 Welcher Link verspricht die interessantere Lektüre? Stilistisch geschickt mischt der Autor hier Parallelismen und Opposition, so dass sich der Unterschied zwischen den Links und damit den Handlungsalternativen in einem einzigen Wort manifestiert: „partir“ vs. „rester“. Was genau damit gemeint ist, ist dem Leser allerdings in diesem Moment noch nicht klar. Bedeutet „partir“ etwa, die Hyperfiction zu verlassen? Oder im Gegenteil, sich in die Diegese zu begeben? In der Hyperfiction hat der Leser, anders als bei der referentiellen Nutzung des Internets, kein klar definiertes Informationsbedürfnis, das ihn bei der Auswahl leiten könnte. Hier entscheidet einfach die ästhetisch gelenkte Neugier des Lesers, wobei jede Linkwahl zugleich auch eine Absage an alle anderen gleichzeitig angebotenen Links bedeutet. Für welche Option der Leser sich auch entscheidet, es gibt keine richtige oder falsche Entscheidung, das Leseerlebnis ist, wie es ist. Dies betont auch der beiden Links gemeinsame Schluss „Personne ne le saura.“ In dem anleitenden Text auf der gleichen Seite steht eine sehr wichtige Regel: „Surtout, ne te retourne pas.“ Metaphorisch mag der Leser dies als eine Ermutigung auffassen, nie aufzugeben, doch hat es auch eine ganz konkrete, wörtliche Dimension: In Hyperfictions soll der Leser die Back-Funktion des Browsers nicht benutzen, sondern sich der spontanen Entwicklung der Lektüre hingeben. Unauffällig befindet sich unter dem beiden Links noch ein dritter, „(Ici, de l’aide)“. Er scheint sich funktional von den beiden anderen diegetischen Links zu unterscheiden, da er als Paratext eine Hilfefunktion insinuiert. Der Leser, der sich unsicher fühlt, wird wahrscheinlich diesen unverfänglichen Link mit vermeintlichen Metainformationen wählen, doch siehe da: Durch eine List ist er bereits in die Geschichte gelockt worden, die vorgebliche Hilfe ist nichts anderes als ein weiterer Zugangslink. Der Kontrollblick mit Aharef zur Machart der HTML-Seite birgt keine Überraschungen: Klar und übersichtlich programmiert, befinden sich auf der Seite drei Links (blaue Tag-Knoten) sowie drei Abbildungen (violette Tag-Knoten), die ohne weitere Verlinkung nur dekorativ auf der Seite integriert sind.

47 http://home.total.net/~amnesie/entree.html (nicht mehr verfügbar; zuletzt: 06.02.2010)

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Abbildung 20: Visualisierung des HTML-Codes

Quelle: Screenshot-Ausschnitt erzeugt mit Aharef48

Titel und die grafische Gestaltung des Eingangsbildschirms sind erste Indizien für die von Le Nœud verkörperte Schaffung einer ästhetischen Parabel für das Internet – ein Hypertextmodell, in dem der Leser sich im Kleinen auf eine ästhetische Erforschung des Internets vorbereiten kann. Gemäß der Rhizommetapher der Startseite folgt die Hypertextstruktur keinen Regelmäßigkeiten, die Zahl der Links pro Seite variiert ohne erkennbares Muster. Es gibt zwar einige wiederkehrende Figuren, auch immer wieder einen Ich-Erzähler, doch lässt sich darüber hinaus kein kohärenter inhaltlicher Bezug entdecken. Der einzige rote Faden, der sich durch die Hypertextknoten zieht, ist, wenn man so will, das freie Assoziieren auf einer strukturellen Mikroebene. Die Dezentriertheit des Mediums Hypertextrhizom avanciert (metaphorisch) zum Protagonisten. Die Zusammensetzung der Seiten, durch die Links eher getrennt als verbunden, ist sehr heterogen; mal kurz, mal lang, sind sie grafisch recht sorgfältig aufbereitet, die Texte stehen durchgängig in einem umrahmten Kasten vor einem farbigen Hintergrund; in „Zone 2“ ist das beispielsweise eine fleischfarbene Struktur wie unter dem Mikroskop vergrößerter Hautzellen, in „Zone 3“ erinnert der grünliche Hintergrund an Gehirnwindungen. Charakteristisch sind viele aufwändige Abbildungen auf den einzelnen Seiten, Fotos, Diagramme und gezeichnete Vignetten, die aber keine spezifische Funktion haben; sie illustrieren professionell und ziemlich witzig den zugehörigen Text. Auf der Seite „Allégorie II: Antenne“49 befällt das erzählende Ich plötzlich ein seltsames Leiden: Es kann plötzlich Radiowellen empfangen, d.h. es kann

48 http://www.aharef.info/static/htmlgraph/?url=http://home.total.net/~amnesie/ entree.html (nicht mehr verfügbar; zuletzt: 06.02.2010) 49 http://home.total.net/~amnesie/zone2/antenne.html (nicht mehr verfügbar; zuletzt: 06.02.2010)

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(vielmehr: muss) ohne technisches Gerät Radio hören. In einer solchen Sammlung von meist kurzen Texten (einige sind auch so lang, dass dem Leser empfohlen wird, die Seite doch vorher auszudrucken!) gerät das Navigieren im Hypertext zum Surfen und der Leser stößt in einer literarisierten Veranschaulichung des Serendipity-Effekts auf verschiedene Kurzgeschichten,50 eine Anekdote,51 ein (metaphorisches) Rezept,52 ein Gedicht,53 die Mitschrift eines Radiobeitrages,54 einen Liedtext,55 eine Fehlerseite etc. Die Seite „Christophe Lambert rencontre Christophe Lambert“56 bietet gar einen kurzen Dramentext, in dem sich die als Christophe Lambert vorgestellte Figur mit sich selbst unterhält. Das Kaleidoskop bleibt Kaleidoskop, kurze Texte finden sich als einzelne Mosaiksteinchen zu zufälligen Strukturen zusammen, lassen sich aber in kein kohärentes oder gar einheitliches Ganzes zwängen – mit allen Konsequenzen, denn so muss die Sinnsuche des Lesers scheitern, übrig bleiben Gefühle der Verwirrtheit und der Unsicherheit. Das Netzwerk als zufälliges Patchwork? Der Autor selbst erklärt in seinem „mode d’emploi“, was der Gedanke hinter dem Projekt ist: „Je vous convie donc à une exploration littéraire à travers fictions, essais et intensité.“57 Die Seiten sind dabei nicht einfach idiosynkratisch angeordnet: Das kohäsive Element sind oberflächlich semantisierte Links. So entstehen Begriffspaare zwischen dem Link und dem Titel der Zielseite, die beide dem gleichen Begriffsfeld entstammen, z.B. der Link „sortir“58 und der Titel der zugeordneten Seite

50 Z.B. http://home.total.net/~amnesie/zone2/odeur.html, http://home.total.net/~amnesie/ zone3/issue.html, etc. (Seiten nicht mehr verfügbar; zuletzt: 06.02.2010) 51 http://home.total.net/~amnesie/zone2/colporte.html (nicht mehr verfügbar; zuletzt: 06.02.2010) 52 http://home.total.net/~amnesie/zone3/recette.html (nicht mehr verfügbar; zuletzt: 06.02.2010) 53 http://home.total.net/~amnesie/zone3/matiere.html (nicht mehr verfügbar; zuletzt: 06.02.2010) 54 http://home.total.net/~amnesie/zone3/digest.html (nicht mehr verfügbar; zuletzt: 06.02.2010) 55 http://home.total.net/~amnesie/zone3/hiver.html (nicht mehr verfügbar; zuletzt: 06.02.2010) 56 http://home.total.net/~amnesie/zone3/lambert.html (nicht mehr verfügbar; zuletzt: 06.02.2010) 57 http://home.total.net/~amnesie/notes.html (nicht mehr verfügbar; zuletzt: 06.02.2010) 58 http://home.total.net/~amnesie/zone3/bureau.html (nicht mehr verfügbar, zuletzt: 06.02.2010)

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„L’issue“59, „nausée“ (auf der Seite „Plafond de fièvre“60) und „Transcription d’une digestion“61. Der Link „ma blonde“62 leitet über zu „Les Aimants“63, so dass sich auf phonetischer, morphologischer und semantischer Ebene ein engmaschiges Beziehungsnetz zwischen „aimer“, „aimant“ (das das ähnlich klingende „amant“ evoziert) und den im Text genannten „magnétismes ésotériques“ aufspannt. Eine makrostruktuell kohärente Geschichte wird über die Beziehungen von Link zu Zieldokument aber nicht verwirklicht. Die semantisierten Links der Hyperfiction sind im Kontext der gewohnten sachbezogenen Hypertextverwendung eine Anomalie, da Links sonst semantisch neutral sind und lediglich eine Verbindung zwischen dem Schlagwort, das der Link präsentiert, und weiteren dazu passenden Informationen herstellen. Im Normalfall lässt sich in der Hyperfiction die Art, gewissermaßen die „Sinnrichtung“, der kohäsiven Verbindung interpretativ aus dem kohärenten Inhalt ableiten. Bei Le Nœud ist das Gegenteil der Fall: Die Linkverbindung ist oberflächlich motiviert, die linkräumliche Kontiguität an sich disparater Dokumente wird nur auf Wortebene hergestellt und dadurch betont. So ist die Zäsur das den Navigationspfad bestimmende Element, der Kontext, den jeder Vorgängerknoten bietet, wird bei jedem Seitenwechsel als aleatorische Zufälligkeit konsequent gelöscht, der gemeinsame Nenner ist auf eine metonymische Überleitung durch den Link reduziert. Nicht umsonst trägt der Ordner, in dem sich auf dem Server die Dateien zu Le Nœud befinden, den Namen „amnésie“, wie der Blick auf den URL-Pfad verrät. Damit ist jede verlinkte Seite äußerst unvorhersehbar; die bunte Auswahl von aufeinanderfolgenden Seiten zeigt dies. Unerwartetheit ist das Motto des Werks. Dennoch nutzt sich dieses Prinzip durch die geschickte Variation der Überraschungsmomente nicht ab; besonders irritiert ist der Leser beispielsweise, wenn der Link „brèches“64 zu der unten abgebildeten, offensichtlich fehlerhaften

59 http://home.total.net/~amnesie/zone3/issue.html

(nicht

mehr

verfügbar, zuletzt:

06.02.2010) 60 http://home.total.net/~amnesie/zone3/fievre.html (nicht mehr verfügbar, zuletzt: 06.02.2010) 61 http://home.total.net/~amnesie/zone3/digest.html (nicht mehr verfügbar, zuletzt: 06.02.2010) 62 Ebd. 63 http://home.total.net/~amnesie/zone3/aimants.html (nicht mehr verfügbar, zuletzt: 06.02.2010) 64 http://home.total.net/~amnesie/zone3/niereh.html (nicht mehr verfügbar, zuletzt: 06.02.2010)

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Seite „WP¹ÿÿ2 Àò®÷“65 führt. Die Seite enthält passagenweise nur Buchstabensalat aus kryptischen Sonderzeichen, wie er durch Konvertierungsfehler in Textverarbeitungsprogrammen oder durch kaputte Datenträger entstanden sein könnte. Abbildung 21: Vorgetäuscht fehlerhafte Seite

Quelle: Screenshot aus Le Nœud

Allerdings ist der Ausgangspunkt „brèches“ bereits ein Indiz für die Absicht des vorgetäuschten Fehlers, die Seite ist durch funktionierende Links organisch in die Hyperfiction eingebaut. Die Links auf dieser Seite sehen unorthodox aus, z.B. „C:\DRVSPACE.000“ oder „DIVIDE OVERFLOW“ oder, besonders eigentümlich, „WP¹ÿÿ2Àò®÷ÑIX_ƒÄ ë“. Alle Links führen zu HTML-Seiten, die im üblichen Layout der Hyperfiction gestaltet sind und so die Lektüre fortsetzen, der Leser muss sie nur als Links erkennen. Wozu das Manöver? Den Leser zu verunsichern ist zwar reizvoll, wäre als Selbstzweck aber etwas dürftig. Exemplarisch werden dadurch die semantischen Beziehungen zwischen Ausgangs- und Zieltext affirmiert, denn funktional sind alle Kriterien erfüllt; zugleich wird aber das Prinzip durch die semantische Lücke ad absurdum geführt. Die defekte Seite kann als Sinnbild für die mangelnde Qualität und Fehleranfälligkeit des Internetangebots betrachtet werden, von der sich der Leser aber nicht die gesamte Nutzung vergällen lassen soll, denn er kann sie überwinden.

65 http://home.total.net/~amnesie/zone3/ovl-003.html (nicht mehr verfügbar, zuletzt: 06.02.2010)

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Dass dabei das Aktivieren eines unsinnigen Links aus der Nonsens-Seite zurück in die Hyperfiction führt, ist eine paradoxe Doppelung, die aber zugleich sehr wirkmächtig demonstriert, dass selbst ein Fehler keine letztliche Katastrophe und keinen Endpunkt darstellt, da das Netz an sich schließlich keinen Anfang und auch keinen Schlusspunkt kennt. Eine Ausnahme von der ziemlich anarchischen Zusammenfügung einzelner Seiten kommt ab der Seite „Une Boucle“ zustande.66 Ein Erzähler-Ich wendet sich direkt an den Leser und entschuldigt sich, dass nun doch eine Strukturvorgabe für die folgenden Texte eingeführt wird, gibt vor, sie habe sich mehr oder weniger eingeschlichen: C’est encore moi... Ici je te parle comme à un ami, et il faut que je te dise: tu viens d’arriver dans un recoin un peu spécial, qui ne fonctionne pas tout à fait comme les autres. Il s’agit d'une boucle, d’une circonférence, [...] Je ne sais pourquoi une telle structure est présente ici [...]

Das besagte Schema, dessen Abbildung an ein eingeschlagenes Lenkrad oder einen schief stehenden Mercedes-Stern erinnert, legitimiert eine lineare Verlinkung der anschließenden Sequenz, ausgehend von der „Radnabe“ sollen die Punkte (entsprechend Knoten bzw. einzelnen Seiten) auf der Kreislinie vom hellsten zum dunkelsten Punkt abgearbeitet werden. Inhaltlich geht es hier um eine Reise durch die USA in einem Oldtimer, einem „Muscle Car“,67 mit Station in San Francisco, Los Angeles, Death Valley, Chicago, etc. Zwar räumt der Erzähler ein, der Leser könne durchaus auch eine andere Reihenfolge wählen, doch: „[...] je ne sais pas ce que ça peut donner; peut-être est-ce la solution? Faut-il vraiment chercher une solution?“ Denn natürlich ist auch in einem verteilt und assoziativ organisierten Medium die Befolgung einer linearen Logik erlaubt.

66 http://home.total.net/~amnesie/zone2/amont.html (nicht mehr verfügbar, zuletzt: 06.02.2010) 67 http://home.total.net/~amnesie/boucle/muscle.html (nicht mehr verfügbar; zuletzt: 06.02.2010)

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Abbildung 22: Landkarte der linearen Linksequenz

Quelle: Screenshot-Ausschnitt aus Le Nœud68

Le Nœud setzt die Hypertext-Prinzipien Aleatorik, Zersplitterung, Fragmentierung und Heterogenität konsequent in ein ästhetisches Konzept um und erzeugt hierin eine Simulation des WWW im Kleinen. Der Name des Werks ist Programm: Knoten und Kanten bilden das Netzwerk des WWW; wo der Link als symbolische Kante auftritt, ist der Knoten die eigentliche „Substanz“. Der „nœud“ ist die Einzelseite im Hypertext; betont wird synekdochisch im Namen wie im ganzen Werk nicht das gesamte Netz, sondern dessen einzelnes Element, nicht die Verbindung zu einem Ganzen, sondern die Autonomie ihrer Bestandteile. In dem Miniatur-Nachbau des WWW deutet Verreault dessen unüberschaubare Vielfalt an und vermittelt dem Leser der Hyperfiction in kondensierter Form die Erfahrungen und Empfindungen des Benutzers im WWW wie Verlorenheit, Orientierungsverlust etc. Eine Vielzahl heterogener und autonomer Knoten, die ihren assoziativen Zusammenhalt allein durch einzelne verlinkende Schlagwörter herstellen, fügt sich in diesem Rahmen unter der Logik des freien Assoziierens zu einem lockeren Cluster zusammen. Die Komplexität dieser Sammlung von Knoten ist auch die Ursache für die geringe Innovativität mancher Elemente, z.B. der Abbildungen und der einfachen Titel – sie sorgen für eine gewisse Konstanz in dem ansonsten sehr fluiden Text-Gewebe.

68 http://home.total.net/~amnesie/zone2/amont.html (nicht mehr verfügbar; zuletzt: 06.02.2010)

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4.4 D ER „ HYPEROMAN “ E DWARD _A MIGA In den Jahren 1997-1999 entstand mit Edward_Amiga69 eine der ersten und bis heute bekanntesten französischsprachigen Hyperfictions im Internet. Im Ausland war Edward_Amiga stets ein größerer Erfolg als im eigenen Land beschieden: Bereits im Jahr 2000 wurde das Werk in die Sektion Europa des ersten InternetLiteraturwettbewerbs von Bill Gates aufgenommen. Mit einem Durchschnitt von beispielsweise 36 Besuchern pro Monat im Jahr 2003 zählte sie über Jahre hinweg zu den meistbesuchten frankophonen Hyperfictions.70 Edward_Amiga ist, was die Zahl der Seiten und die Dauer der Lektüre betrifft, von relativ überschaubarem Umfang, zeichnet sich aber durch eine hohe Dichte aus und hat einen ausgeprägt einführenden Charakter. Die Autorin Fred Romano ist nicht nur digital aktiv. Sie hat nach Edward_Amiga einige Novellen in einschlägigen, heute nicht mehr existierenden Magazinen wie L’Evénement de jeudi und Cyber Zone veröffentlicht, dazu einige Bücher, darunter die zwischen journalistischem Stil und Science Fiction oszillierende Novellensammlung Contaminations (2001) und ihre Autobiografie Le Film pornographique le moins cher du monde (2000), in der sie von ihrem Leben an der Seite des französischen Skandalkomikers Coluche erzählt. „Avec une étonnante spontanéité et un talent d’écriture prometteur“ urteilt laut Klappentext Jean-Claude Lamy in Le Figaro über dieses Buch. Nach einer krankheitsbedingten Pause ist Romano 2006 mit dem Blog Mirall Mogut71 wieder ins aktive Netzleben zurückgekehrt, mittlerweile konzentrieren sich ihre Online-Aktivitäten auf Facebook. Weitere nicht-digitale Werke sind Basque Tanger (2006), Normal (2011) und die Vampirgeschichte Crimes de sang / Damm (2014), außerdem hat sie die modernisierte Topographie et histoire Générale d’Alger (2015), erstmals 1612 erschienen, herausgegeben, die sie Miguel de Cervantès zuschreibt.

69 http://fredromano.eu.pn (frühere Adressen: http://leo.worldonline.es/federica/edam sowie http://www.terra.es/personal/fromano) 70 Ein Zahlenvergleich: Über ein Icon der Eingangsseite konnte sich der Websitebesucher statistische Daten über die Rezeption in Form von Visits auf der Seite anzeigen lassen. Einsehbar waren die letzten Aufrufe samt Rechnerbezeichnung der Besucher sowie die durchschnittliche Zahl der Besucher der Seite in unterschiedlichen Zeiträumen, z.B. an einzelnen Tagen, aber auch über einen längeren Zeitraum (20 Monate) hinweg. Dabei zeigte sich beispielsweise, dass die monatlichen Seitenaufrufe noch 2002 36,05 Hits betrugen (06.03.2002), während sie 2007 auf 12,55 gesunken waren (Stand 11.11.2007). 71 http://fredromano.canalblog.com

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Der Name „Fred Romano“ ist natürlich ein Pseudonym. Der Quelltext von Edward_Amiga enthält einen versteckten Paratext, der verrät, dass sich dahinter Federica Michot verbirgt – daher auch der Bestandteil „federica“ in der URL http://leo.worldonline.es/federica/edam einer älteren Version. Eines der Anliegen, das sie mit Edward_Amiga verbindet, ist, ihrer Frustration über die Zurückweisung des französischen Literaturestablishments einen ästhetisierten Ausdruck zu verleihen; inhaltlich lassen sich etliche Parallelen zwischen ihr und der Figur Marlène_PC herauslesen, die eine starke Befürworterin der kreativen Nutzung des Internets ist; diese finden sich vor allem auf den letzten Seiten der Hyperfiction, die bereits sehr komplex mit Frametechnik gestaltet sind. Die folgende Analyse stützt sich aber werkimmanent auf die narrativen Besonderheiten und die medienspezifischen Innovationen vor allem der Diskursstruktur. Der Titel des Werks ist auf der Startseite in der Titelleiste zu finden und lautet komplett: „©©©©© Edward_Amiga, un hyperoman de Fred Romano en français & JavaScript ©©©©©©©©“. Er enthält wesentliche Hinweise für das (Selbst-) Verständnis des Werks: Die idiosynkratische Wortbildung „hyperoman“ ist ein Neologismus, den als Gattungsbezeichnung niemand sonst übernommen hat. Als eine Variante zu „Hyperfiction“ hebt er sich zugleich von der zu erwartenden Morphologie des „hyperroman“ ab – ein symptomatischer Ausdruck für das Bestreben der Autorin, einen neuen Typ Roman zu schaffen. Auf der Startseite wird dann auch explizit erklärt, was dieser „hyperoman“ sein soll, ein Werk, das Wert legt auf die Machart „Hypertext“ und die Textsorte „Roman“: „Un hyperoman combine le système de narration linéaire et les particularités de l’hypertexte.”72 Bemerkenswert ist die Gleichsetzung der natürlichen Sprache des Französischen mit der Programmiersprache JavaScript. In einer 2000 im Internet veröffentlichten E-Mail erklärte die Autorin: „Programmation to me is just a part of literature. JavaScript belongs to linguistics.“73 Tatsächlich sind diese beiden Codes, so unterschiedlich ihre kommunikative Verwendbarkeit als Sprache sein mag, gleichermaßen konstitutiv für das Erscheinungsbild der Hyperfiction. Ihre ausdrückliche Kombination ist signifikant und sinnstiftend: Sie tragen auf verschiedenem Wege dazu bei, dem Leser Ansätze und Anregungen zum Verständnis der Geschichte zu geben. Der „hyperoman“ zieht seine ästhetische Differenz aus dem ausgeklügelten Einsatz von JavaScript.

72 JavaScript-Fenster auf http://fredromano.eu.pn, Klick auf „hyperoman“. 73 http://www.burningpress.org/wreyeting/archives/wr_eye_tings_Di01_14_00.html (nicht mehr verfügbar; zuletzt: 15.03.2002)

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4.4.1 Gebrauchsanleitung für eine ganze Mediengattung Wie viele andere Hyperfictions bietet auch Edward_Amiga vor Beginn der Lektüre eine Gebrauchsanleitung (s. folgende Abbildung), die den Leser auf das kommende Erlebnis der Hyperfiction einstimmt und ihn durch den expliziten Hinweis der verwendeten Medientechniken auf die bevorstehende Lektüre vorbereitet. Mit der Nennung aber nicht genug, der Leser kann die Techniken auf dieser Seite auch gleich selbst ausprobieren und sich so die geforderten Fertigkeiten praktisch aneignen. Bereits 1997 entstanden, musste die Hyperfiction damit rechnen, dass der Leser Schwierigkeiten angesichts der ungewohnten Mischung aus Literatur und neuem Medium haben würde. Daher nimmt ihn das Tutorial einführend an die Hand. Schließlich soll er zwar nach den Informationen tasten, sie vor allen Dingen aber auch finden können. Bezeichnend ist, dass dies gleich auf der Startseite als der ersten Hauptseite passiert, so dass der Leser gezwungen ist, die technische und literarisch-pragmatische Anleitung zur Kenntnis zu nehmen. Abbildung 23: Vorgeschaltete Gebrauchsanleitung

Quelle: Edward_Amiga74

Diese Einführung „verrät“ viele der Besonderheiten digitaler Literatur, so dass sie durchaus als Urtext von Hyperfictions zu lesen ist. Das Tutorium, das unter

74 Heute aufzurufen unter http://fredromano.eu.pn.

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dem Motto steht: „Quelques détails pour être à vos aises chez Edward_Amiga“, lässt den Leser vor der Lektüre erst einmal praktische Fingerübungen machen. Die URL, für jeden Hypertext eine schlichte Notwendigkeit, leistet in Edward_Amiga auch einen kleinen Beitrag, aus vielen Mosaikstückchen ein gemeinsames Bild zusammenzufügen. Die eigentliche Startseite wird als Präambel zur Einführung in die Besonderheiten der Hyperfiction genutzt, daher bleibt für die erste Handlungsseite nur mehr der Dateiname „indexb.htm“ übrig (das ist der Name, unter dem die Originaldatei auf dem Server gespeichert ist). Auch zur Definition der Fokalisierung leistet die URL einen kleinen, doch funktionalen Beitrag: Der Dateiname der zweiten Handlungsseite, die sich um Marlène dreht, lautet „filla.htm“ und liefert so ein Kontextteilchen für die Ich-Perspektive dieser Seite. Doch dazu später mehr. 4.4.1.1 Drei Typen von Fenstern Erst einmal gilt es festzuhalten, dass der Leser es mit drei Typen von Fenstern zu tun haben wird. Der Haupttext der Browserfenster ist, typografisch leicht erkennbar, durch ungewöhnlich viele Links akzentuiert. Der Klick auf einen solchen Link löst Ereignisse aus: Es werden neue Fenster geöffnet, die ein wesentlicher Bestandteil des récit sind: „Les fenêtres qui surgiront font partie de la narration (ce n’est pas de la publicité, ne les fermez pas!).“ Dass sich hinter den Links verschiedene Ereignisse verbergen können, wird in der Handlungsanweisung „Cliquez pour découvrir la nature de l’attache.“ angedeutet. Tatsächlich werden dem Leser drei Arten von Fensterereignissen präsentiert, die in Edward_Amiga vorkommen: eine neue HTML-Hauptseite, ein Dialogfenster oder ein kleines HTML-Teilfenster, das sogenannte Pop-up-Fenster. Die Links „Vous allez entrer sur le site d’Edward_Amiga.“ sowie „Allonsy!“ führen den Leser linear weiter zur nächsten Hauptseite, die das erste Browserfenster mit den einführenden Hinweisen ersetzt. Dies ist auch an einer neuen URL erkennbar. Dieser Linktypus ist Standard im referentiell genutzten Hypertext, tritt aber in Edward_Amiga am seltensten auf. Linktyp 2 aktiviert einen JavaScript-Befehl, der kein eigentliches Fenster, sondern ein Dialogfenster anzeigt, wie man sie sonst als Systemmeldung für Bedienungs- oder Programmfehler kennt. Als Antwort auf einen Link ist das Erscheinen eines solchen Dialogfensters eine überraschende, da völlig unübliche Nutzung. Klickt der Leser den Link im Satz „Sachez auparavant qu’il s’agit d'un hyperoman.“ an, erscheint ausgegliedert aus dem Haupttext ein Dialogfenster mit der Definition eines „hyperoman“.

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Abbildung 24: Dialogfenster mit Definition eines „hyperoman“

Quelle: Screenshot-Ausschnitt aus Edward_Amiga

Eine interessante Handlungsaufforderung für den User innerhalb dieser Dialogfenster bergen die Buttons, die wie Links anklickbar sind und die Möglichkeit der Willensäußerung bieten: Mit „OK“ stimmt der User beispielsweise dem Inhalt des Dialogfensters zu, mit „Abbrechen“ lehnt er ihn ab. Abbildung 25: Sich metafiktional selbst erklärendes Pop-up-Fenster

Quelle: Screenshot-Ausschnitt aus Edward_Amiga

Der dritte Linktyp schließlich wird musterhaft vorgeführt durch den Klick auf das Ankerwort „fenêtres“, das wie Linktyp 2 JavaScript-basiert aktiv wird, dann allerdings ein Pop-up-Fenster öffnet. Im Unterschied zum Dialogfenster ist dieses ein vollständiges eigenes Fenster, im Unterschied zur vollwertigen Seite ersetzt es aber die Herkunftsseite nicht, sondern überlagert sie und zeigt darin seine untergeordnete Funktion. Das Schließen erfolgt meist automatisch nach einer vorgegebenen Zeitspanne. In Edward_Amiga ist dieser dritte Linktypus der häufigste, während Linktyp 2 sicherlich der markanteste ist.

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Anders als auf der Vorstellungsseite erfahren die Dialogfenster später in der eigentlichen Geschichte eine besondere Semantisierung, die ganz im Dienst einer werkspezifischen, autochthon entwickelten Diskursstruktur steht, auf die im Folgenden noch gesondert einzugehen sein wird. Der Link namens „links“ variiert das bisher präsentierte Schema, denn das ihm zugeordnete Dialogfenster öffnet nach dem Klick auf den OK-Button ein weiteres Dialogfenster und demonstriert so die rekursive Verschränkung verschiedener Funktionsebenen: Nicht nur der Klick auf einen Link kann ein unerwartetes Dialogfenster öffnen, auch der Klick auf die Schaltfläche eines Dialogfensters seinerseits. 4.4.1.2 Die Statuszeile Der Rat „Soyez attentifs aux changements, n’oubliez pas la "status bar".“ weist im einführenden Tutorial auf das GUI-Element der Statuszeile hin. Dieser Informationsort ist in zweierlei Hinsicht ungewohnt: Im Printmedium generell unbekannt, wird er auch im digitalen Medium kaum beachtet. Durch den ausgiebigen Einsatz von JavaScript ist daher in Edward_Amiga die Statuszeile ein wichtiger, aber auch sehr subtiler Kanal für zusätzliche Informationen. Die sinnstiftende Kollusion zwischen den verschiedenen Funktionselementen demonstriert der folgende Ablauf: Der Link „status bar“ öffnet ein Dialogfenster, das die Handlungsaufforderung enthält: „Regardez ci-dessous“. Blickt der reale Leser daraufhin nach unten in die Statuszeile des Browsers, entdeckt er dort tatsächlich eine ergänzende Information: „..... NE PERDEZ PAS LA STATUS BAR DE VUE ... “ Beim Wegklicken des Dialogfensters ist der Leser, sensibilisiert durch das soeben festgestellte Erfolgserlebnis, in der Lage, selbstständig die Fortsetzung des Satzes in der Statuszeile zu sehen: „IL S’Y PASSE TOUT LE TEMPS DES CHOSES ....“ Tatsächlich wirkt sich, achtet man erst einmal darauf, jeder Linkkontakt des Mauszeigers mit einer Veränderung des Texts in der Statuszeile aus. Die bloße Berührung (ohne zu klicken) der Links mit der Maus zeigt funktional entweder die verbundene URL (Linktyp 1) oder den aufgerufenen JavaScript-Befehl (Linktyp 2) an. Welche Aktion der JavaScript-Befehl auslöst, ist daraus aber noch nicht erkenntlich. Jeder angezeigte JavaScript-Befehl trägt, wie aus der Anzeige in der Statuszeile erkennbar, einen verständlichen, natürlichsprachlichen Namen, der auch für Programmier-Laien verständlich und interpretierbar ist. So lautet der mit dem Link „status bar“ angezeigte Befehl humorvoll „javascript:coucou()“. Durch diese nicht-funktionale Belegung mit Text erfährt die Statuszeile eine dezidierte Literarisierung.

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4.4.1.3 Die Erzählstimme Die vorgeschaltete Gebrauchsanleitung hat über die im Detail präsentierten Stilmittel auch eine interessante Bewandtnis für die Erzählstimme. Nimmt man den einführenden, nichtfiktionalen Paratext als integralen Bestandteil des literarischen Werks wahr, wird bereits hier die auktoriale Erzählsituation sichtbar, die erzähltechnisch die ganze Hyperfiction charakterisiert: Sie impliziert eine metafiktionale Doppelung von Sender und Empfänger. Mit der Gebrauchsanleitung erteilt die Autorin Fred Romano als Sender S4 dem real existierenden Leser als Empfänger E4 Instruktionen auf einer „höheren“ Kommunikationsebene und noch außerhalb der eigentlichen Geschichte und vermittelt ihm so ein konkretes, in seiner Realität anwendbares Wissen. Das folgende Beispiel illustriert den formenden Einfluss des Lesers auf den discours höchst anschaulich: Auf der Seite „Marlène_PC est la fille [...]“75 liefert der Klick auf den Link „RÉPOND“ ein Dialogfenster mit dem Text: „Que se passe-t-il? Est-ce que je dois intervenir? Amicalement, Fred Romano...“. Zwei Aktionsoptionen stehen dem Leser zur Auswahl: Wählt er „OK“ und nimmt so gesehen die Hilfe der Erzählerin in Anspruch, so gelangt er zur nächsten Etappe der Handlung, antwortet er mit „Abbrechen“, findet die Hyperfiction erst nach verschiedenen Schleifen ihren Fortgang zur nächsten Seite. Ohnehin ist die Verwischung der Kategorien Autor und Erzähler durch deren Namensidentität im digitalen Medium verwirrender als sonst. Im nichtfiktionalen Teil von Edward_Amiga unterzeichnet die Autorin die Gebrauchsanleitung mit ihrem Namen und bietet dem Leser auch die Möglichkeit der realweltlichen Kontaktaufnahme über E-Mail an; soweit klingt alles noch unproblematisch. Diffiziler ist, dass sich auch in der Diegese eine Figur namens Fred Romano vorstellt, so dass unwillkürlich die Assoziation zur Autorin entsteht. Und doch kann es sich hierbei nur um den Erzähler, genauer: die Erzählerin, handeln. Das Spiel mit den literarischen Instanzen ist subtil, es wird erzähltechnisch in spielerischer Mehrdeutigkeit die Illusion der Gleichschaltung erweckt. So wird auf der einführenden Seite, die von der Autorin Fred Romano unterzeichnet ist, die nur scheinbar rhetorische Frage „Vous êtes prêts?“ mit der Aufforderung „Allons-y!“ beantwortet, die beim Anklicken zur Willenserklärung des realen Lesers wird. Denn nur wenn die potentielle Bereitschaft des Links auf die konkrete Handlung des Lesers trifft, kommt das Lektüreerlebnis zustande. Der Klick auf den Link bedeutet den Eintritt in das Erzähluniversum von Edward_Amiga und damit den Beginn der eigentlichen narration. So eng mit dem Haupttext

75 http://fredromano.eu.pn/Edw_amiga/filla.htm

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verzahnt erlangt die nichtfiktionale Präambel gleichzeitig – und ganz ungewöhnlich – die Funktion eines Erzählrahmens. Zusammengefasst: Die Einführungsseite von Edward_Amiga liefert wichtige Hinweise für die Rezeption der Hyperfiction, die gerade mit Blick auf die Deautomatisierung aufschlussreich sind. Wie in einem Tutorium werden dem Leser die vom eingespielten Software-Usus abweichenden medienspezifischen Ausdrucksmittel gezeigt und erläutert. So wird auf so Grundlegendes wie den Einsatz von Maus und Direktmanipulation und auf Cursorreaktionen als Anzeichen von Links hingewiesen, aber auch auf echte Neuerungen. Programmatisch ist beispielsweise die Aufforderung an den Leser, beim Entdecken eines Links diesen stets auch zu aktivieren, „pour découvrir la nature de l’attache [...]“. Diese „neugierige“ Lesehaltung gilt für alle unerwarteten Elemente, mit der die Hyperfiction aufwarten kann. 4.4.2 Kollusion von Struktur und narrativer Funktion 4.4.2.1 Inhalt und Figuren Die Makrostruktur von Edward_Amiga lässt sich mit Blick auf Inhalt und Figuren recht schnell erfassen. Die Kurzfassung des Inhalts lautet: Der in Ultrecht [sic!] zurückgezogen lebende Computerexperte und Spezialist für „digital art“ Edward_Amiga erhält unerwarteten Besuch von seiner einer neuen Generation von Computer-Künstlern angehörenden Tochter Marlène_PC. Aus inneren Monologen und Rückblenden schält sich anhand von Gegenüberstellung der beiden Figuren ihre Unvereinbarkeit heraus. Sie stehen für völlig gegensätzliche Werte. Zerrüttete Beziehungen kommen ans Licht, auch die glückliche Wiedervereinigung ist nur ein scheinbares Happy End, die Annäherung findet nur oberflächlich statt. Das Verhältnis der Figuren wird bestimmt durch Gegensätze wie alt/jung, heute/gestern, Mann/Frau, Konservatismus/Fortschritt, Paranoia/Gutgläubigkeit. Eine utopische Austauschbarkeit von Mensch und Maschine scheint bedrohlich nahe, das letzte Wort behält die sarkastische Stimme aus dem Computer. Dem Leser fällt die Aufgabe zu, die Begegnung innerhalb relativ enger Grenzen voranzutreiben und, unterstützt durch explizite Kommentare des sich als Autorin Fred Romano äußernden Erzählers, die Protagonisten einem Schlusspunkt zusteuern zu lassen.

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4.4.2.2 Hypertextstruktur Interessant wird dieses einfache Handlungsschema durch die Hypertextstruktur, die ausgehend von einem Ursprungsknoten über eine überschaubare Zahl von Hauptknoten in einen klaren Schlusspunkt mündet. Inhaltlich verfolgt dieser Pfad einen einzigen Handlungsstrang. Die Gesamtstruktur ist spindelförmig organisiert. Die einzelnen Hauptseiten weisen eine Sternform auf, da von ihnen sehr viele Links als Sackgassen (d.h. mit einer sehr kurzen Pfadtiefe, meist nur einen einzigen Knoten weit) wegführen. Diese Links öffnen entweder Dialogoder Pop-up-Fenster mit nur sehr kurzen Tentakelpfaden. Dadurch sind die Links pro Knoten problemlos sequentiell abarbeitbar. Abbildung 26: Hypertextstruktur von Edward_Amiga (Ausschnitt)

Quelle: Eigene Darstellung76

Inhaltlich dienen diese Sackgassen als Exkurse, die das Oberflächengeschehen – im wahrsten Sinne die Handlung der Oberflächenrepräsentation des Browserfensters – ergänzen. Sie dienen einem detektivischen Sammeln von Erkenntnissen, die das Verständnis der Handlung kaleidoskopisch zersplittert erhöhen. Es sei vorab verraten: Die link-induzierten Exkurse präsentieren sich wie comicähnliche Denkblasen, sie liefern Rückblicke, verraten geheime Gedanken und subvertieren als Dialogfenster mit auktorialem Kommentar die Aussagen des Haupttexts.

76 Legende: Die Kreise sind die Hauptseiten, Pop-up-Fenster werden als schwarze Punkte, Dialogfenster als kleine Quadrate abgebildet. Die Kanten sind spezifiziert durch ein Schlagwort des Linksyntagmas.

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4.4.2.3 Das grafische Layout Das grafische Layout jeder Hauptseite unterscheidet sich in Edward_Amiga deutlich von den anderen. Den beiden ersten Seiten ist der Aufbau gemeinsam: eine Überschrift, dann lineare Absätze über die ganze Fensterbreite. Die Hauptseiten unterscheiden sich aber klar in ihrer Farbgebung. Die Startseite weist grellgrüne Schrift vor schwarzem Hintergrund auf, die auf Edward fokalisierte erste Handlungsseite eine orange Schrift vor hellblauem Hintergrund; Marlènes Seite besteht aus drei roten Textspalten vor einer braun gemusterten „Tapete“ im Hintergrund, und die Vereinigung der beiden Figuren spielt sich in einem pinkfarbigen Fenster ab. Dadurch wird über das Layout ein gewisser konzeptueller Abstand vor allem zwischen den Seiten von Edward und Marlène erreicht. Hält man sich vor Augen, dass vor der Einführung der Farbdisplays die Monitore monochrom waren (meist mit neongrüner Schrift auf schwarzem Hintergrund!), lässt sich eine aufschlussreiche Parallele erkennen: Durch die Farbgestaltung simuliert die Startseite einen alten Amiga-Bildschirm, Edwards Welt wird bereits etwas farbiger abgebildet, und die immer farbiger und schriller werdende Reihe der Hauptseiten unterstreicht den Fortschritt der Entwicklung der digitalen Medien. Nur die allerletzte Seite, die ihrerseits auch außerhalb der Handlung steht, ist wieder unscheinbar in Grau gestaltet. Das Layout der Pop-up-Fenster unterscheidet sich abermals deutlich von der Gestaltung der Hauptfenster. Tabelle 2: Layoutvergleich der Fenstertypen (Browserfenster) Hauptfenster

Pop-up-Fenster

Neutral und altbacken

Schrill

Nur Text + helle Farben (z.B. himmelblau, helllila)

Typ A: Text + Hintergrundbild (Totenschädel bzw. Computerplatinen) Typ B: nur Text + grelle Farben

Wie bereits angesprochen, liefert die Hintergrundgestaltung der Pop-up-Fenster Indizien für einen Verdacht der Disharmonie, der an der Oberfläche (d.h. dem Haupttext) verborgen bleibt: Ein Totenschädel ist immer ein starkes Signal, gilt als Metonymie für Tod und Lebensgefahr, wird stilisiert als Piktogramm für Giftstoffe verwendet. Im Kontext der Geschichte sorgt das Bild des (als grinsend wahrgenommenen) Totenschädels daher für Unruhe und setzt einen warnenden

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Akzent, der zusammen mit den anderen Indizien auf die Überlegenheit der Maschine (Stichwort: „systèmes éternels“!) gegenüber der menschlichen, organischen Vergänglichkeit abzielt. Dass dieser Hinweis subliminal geschieht, auf einer faktisch sekundären Ebene, über eine auf der Oberfläche verborgene LinkSackgasse, ist durchaus metaphorisch interpretierbar: Erst wer „tiefer“ bohrt und unter die harmlose Oberfläche blickt, erkennt die Probleme – und ihr Ausmaß. Dadurch wird eine Wertung im Sinne einer Überlegenheit für die Maschine angedeutet. Einige Pop-up-Fenster sind darunter, die nicht nur im Sinne der misanthropischen Menschensicht Edwards zu sehen sind, sondern die perzeptiv provozieren, wie z.B. das Pop-up-Fenster „3 longs jours“77: Sowohl Schrift- als auch Hintergrundfarbe sind äußerst knallig und einander in ihrer Intensität sehr ähnlich. Abbildung 27: Provozierende Farbgestaltung im Pop-up-Fenster

Quelle: Screenshot aus Edward_Amiga

Es ist kaum möglich, direkt auf die Schrift zu fokussieren: So wie kognitionspsychologisch Rot und Blau in unmittelbarer Nachbarschaft nicht scharf fokus-

77 Aufzurufen auf der ersten Handlungsseite http://fredromano.eu.pn/Edw_amiga/ indexb.htm durch Klick auf den Link „Ca faisait au moins trois jours“.

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sierbar sind (vgl. Kapitel 3.1.5), wird auch mit Grün auf Rot ein ähnlicher Effekt erzielt, die Schrift scheint über dem Hintergrund zu schweben und das Lesen wirkt geradezu schmerzhaft. 4.4.3 Die Diskursanalyse der ersten Handlungsseite Die erste handlungstragende Seite präsentiert die Figur Edward_Amiga in ihrem chaotischen Refugium. Wie der Seitentitel bereits andeutet, steht er im Zentrum, auf ihn wird fokussiert und fokalisiert. Das erste Hauptfenster zeichnet sich durch eine markante farbliche Gestaltung des Texts aus: orange Schrift auf hellblauem Grund mit leicht erkennbaren violetten Links. Abbildung 28: Gestaltung der ersten Handlungsseite

Quelle: Screenshot aus Edward_Amiga78

4.4.3.1 Chronotopos Untersucht man den Chronotopos dieser ersten Handlungsseite, wird rasch klar, dass eine richtige Handlung noch nicht stattfindet, da expositorisch erst ein Psychogramm der Figur Edward aus Rückblenden und aus Einblicken in ihre Denkwelt erstellt wird. Dazu später mehr. Die Diegese setzt unvermittelt ein, eine explizite Situierung in einen raumzeitlichen Kontext fehlt. Indirekt kann man zeitlich auf die Mitte der 1990er-Jahre schließen, da Edwards Computer ein

78 http://fredromano.eu.pn/Edw_amiga/indexb.htm

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10 Jahre alter Commodore Amiga ist, ein Gerätetyp, der seit den 1980er-Jahren recht verbreitet war. Mitte der 1990er-Jahre kam zudem das Internet auf, für Edward das Gegenkonzept zum Amiga.79 Zur räumlichen Situierung werden zwei Orte in den Niederlanden genannt: Edward hat früher an der Ecole des Visual Arts in Rotterdam gearbeitet, der Vermieter kommt aus Ultrecht (einem Phantasie-Derivat von Utrecht, etwa einem „Ultra-Utrecht“), und es gibt Yuppies, die aus Wohnungen, wie Edward eine besitzt, nach Amsterdam pendeln. Genauer ist der Ort nicht spezifizierbar, er spielt aber (wie generell in der Hyperfiction) für die Geschichte auch keine Rolle. 4.4.3.2 Hypertextstruktur Die Hypertextstruktur zeigt sich recht wenig vernetzt. Es gibt zwar zahlreiche Links (insgesamt können 12 Links angeklickt werden), doch diese führen in der Regel nicht weit weg von Hauptseite. Abbildung 29: Visualisierung des HTML-Codes

Quelle: Screenshot-Ausschnitt erzeugt mit Aharef80

Wie die Abbildung zeigt, ist die HTML-Programmierung der Seite sehr schlicht und transparent gehalten, mit nur wenigen Tags. Die 12 Link-Tags (blaue Kno-

79 Der Amiga war der Vorgänger des heutigen PC und diente als erste multimediafähige Maschine als Spielkonsole, konnte aber auch zu Programmiertätigkeiten herangezogen werden. Darüber hinaus genoss der Amiga den Ruf, sehr stabil zu laufen, wohingegen es heute ein Gemeinplatz ist, über Microsoftprogramme und ihre Unzulänglichkeiten zu klagen. Dieses Versatzstück findet sich in Form von Andeutungen auch im Text: „[...] une technologie en tous points supérieure aux plus récents modèles, le légendaire Commodore Amiga [..]“ sowie hinter dem Link zu „s’offrir ce luxe“: „Et dire que les jeunes continuaient à croire aux sornettes débitées de Microso!!!“ 80 http://www.aharef.info/static/htmlgraph/?url=http://www.terra.es/personal/fromano/ Edw_amiga/indexb.htm (nicht mehr verfügbar, zuletzt: 06.02.2010)

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ten) sind deutlich zu erkennen. Es handelt sich vorwiegend um Pop-up-Fenster (9 Stück). Die restlichen Links führen zu drei einfachen Dialogfenstern. Einzig der letzte Link („propre fille“) führt, wie die Autorin in der Präambel versprochen hat, zu einer neuen Hauptseite – allerdings nicht ohne zuvor zwei weitere Dialogfenster nacheinander anzuzeigen. Es handelt sich also hauptsächlich um paradigmatische, d.h. unterbrechende Links, da sie Sackgassen des Lektürepfads bilden. Die Hypertextstruktur der ersten handlungstragenden HTML-Seite lässt sich daher im Wesentlichen als Stern beschreiben. Der Zusammenhang zwischen Form und Inhalt ist stimmig: Die Sternstruktur kommt zustande, weil die Links der Hauptseite fast alle zu kleinen Sackgassen führen, d.h. es wird kein eigentlicher Pfad über mehrere Knoten hinweg eröffnet. Inhaltlich dienen diese kleinen „Fußnoten“ dazu, das Bild der Figur Edward, das zentral im Haupttext der Seite gezeichnet wird, durch Zusatzinformationen zu ergänzen. Da jeder Exkurs nach einem minimalen Umweg sofort wieder zum zentralen Knoten zurückführt, wird dessen Bedeutung hervorgehoben: Alle fortführenden Links verweisen den Leser wieder auf diese Hauptseite. Abbildung 30: Sternförmige Hypertextstruktur

Quelle: Eigene Darstellung

4.4.3.3 Der Protagonist Edward_Amiga Die Hauptperson der ersten Handlungsseite ist Edward_Amiga. Er steht im Zentrum der Beschreibung, es ist sein Innenleben, in das der Leser recht ausführlichen Einblick erlangt. Dabei bleibt die Figurencharakteristik rudimentär. Aus Textindizien lässt sich ableiten, dass Edward mittleren Alters ist, da er eine erwachsene Tochter hat.

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Wichtiger ist aber ohnehin das Psychogramm Edwards. Auf der äußerlich ereignislosen ersten Handlungsseite durchlebt er recht schwankende Emotionen, die eine Entwicklung rapider Degradation beschreiben. Triumphierende Euphorie schlägt um in Besorgnis und steigert sich gar zu Panik: Bei Einsetzen der Handlung ist Edward von Freude über den Erfolg eines entscheidenden Durchbruchs erfüllt, angesichts erlebter beruflicher Enttäuschungen und Demütigungen ein schadenfroher Triumph. Abgelöst wird diese angenehme Stimmung durch die Sorge um sein körperliches Befinden, und als es an der Tür schellt und die „heile“ Abgeschlossenheit seiner Welt gestört wird, gerät er unversehens in übermächtige Panik. Geht man der Ursache dieser Gemütszustände nach, entsteht ein ziemlich vernichtendes Psychogramm Edwards. Als galliger Misanthrop hat er für die Menschen seiner Umwelt nur Groll übrig. Spürbar wird dies sprachlich durch Schimpfwörter und pejorative Begriffe; so bezeichnet er seine ehemaligen Studenten als „étourdis“, einen bestimmten als „hurluberlu aux cheveux graisseux“, die Lehre sieht er als von „contraintes stupides“ geprägt, sein Kollege Gus van Vond, immerhin ein Professor, wird dem Leser als „imbécile“ und „ignare“ vorgestellt, und die Firma „Microso“ verbreitet nach seiner Meinung „des sornettes débitées“, gemeint ist das Internet. Die unrealistischen Hypothesen, wer der unbekannte, auf jeden Fall aber ungebetene Gast sein mag, zeigen aber noch eine andere Facette seines Charakters: Edward hasst und verachtet seine Mitmenschen nicht einfach, er fürchtet sich vor ihnen. Auch die Beziehung zu seiner Tochter, die nur kurz angedeutet wird, zeugt von einer ambivalenten Mischung aus Autismus und Zuneigung. Er liebt seine Tochter und empfindet auch diffuse „remords“, geht aber den Problemen, die sie angeblich für ihn bedeutet, lieber aus dem Weg. Obwohl der Text kurz ist, lässt sich in der Analyse eine hohe Dichte von Stilmitteln herausarbeiten. Es sind überraschend viele Gegensätze, die sich bereits auf der ersten Handlungsseite von Edward_Amiga auftun. Die Kontraste sind parodistisch überzeichnet und recht plakativ und erweisen sich hierin als typisch postmodern. Sie beginnen bei der Inkompatibilität Edwards mit allen anderen Menschen und setzt sich fort in den Stellvertreter-Antagonisten des Commodore Amiga versus PC: Der Amiga ist Edwards Gerät der Wahl, den PC hat sonst jeder andere. „Microso“ ist als Verballhornung von „Microsoft“ synekdochisch mit dem PC gleichgesetzt. Dieser Kontrast führt sich fort in der Dichotomie der dem Amiga zugeordneten Programmierung (mit ihren selbstablaufenden Algorithmen) und dem von Edward verteufelten Internet, für das symptomatisch der Hypertext steht. Auch das Gegensatzpaar Ordnung/Unordnung spielt eine wichtige Rolle: Die Programmierung bedeutet für Edward Ordnung, während

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sein sonstiges Leben in Unordnung versinkt. So ist seine Wohnung ein totales Chaos: „le légendaire Commodore Amiga qui trônait dans son atelier, imperturbable au milieu du menaçant désordre.“ Daraus resultiert eine weitere Dichotomie, die für die Charakteristik Edwards ganz entscheidend ist: Verstand versus Körper. Der Verstand (bzw. logiciel als Pendant dazu auf Seiten der Maschine) steht in deutlichem Kontrast zu allem Menschlichen, Körperlichen. Durch geistige Leistung hat Edward einen triumphalen Durchbruch in der Programmierung geschafft, doch dem steht seine eher peinliche körperliche Befindlichkeit gegenüber, denn er leidet an einer chronischen Verstopfung. Die körperliche Unzulänglichkeit wird durch den Kontrast mit der geistigen Errungenschaft stark betont. Geistiges (und das damit assoziierte Maschinelle) ist für Edward positiv konnotiert, Körperliches negativ. Er ist auf einem Weg der Entmenschlichung. In Bezug auf die Multimedialität der französischen Hyperfictions ist Edward_Amiga keine Ausnahme, denn auch hier finden sich nur sehr wenig multimediale Elemente. Von der Seite http://fredromano.eu.pn/Edw_amiga/indexb. htm führt der Klick auf den Link „oeuvre infinie et indépendante“ zu einem kleinen JavaScript-Fenster mit dem Titel „Tangente des désirs humains“. Darin bewegt sich der Schriftzug „création“ auf einer Kreislinie durch das Fenster. Dies ist eine erläuternde (und dennoch ziemlich kryptisch bleibende) Visualisierung der Erfindung Edwards, die Animation spielt aber auch auf die kreisenden Gedanken Edwards an. Die Animation im Pop-up-Fenster verstärkt das Psychogramm Edwards. 4.4.3.4 Die Literarisierung der GUI-Elemente Wie von der vorweggeschickten Gebrauchsanweisung verheißen, findet bei Edward_Amiga eine außergewöhnliche Literarisierung der GUI-Elemente statt. Spezifisch ist hierbei die Anzeige von Teilen der narration an unüblichen Orten für inhaltliche Information. Hierzu gehört insbesondere auch wieder der Text in der Statuszeile, der Textteilen des vorliegenden Hauptfensters je nach Mausposition zugeordnet ist und sie aus der Sicht von Edward kommentiert. Liest man die Kommentare der Statuszeile im Kontext, entsteht ein neuer Text, der wie eine Geheimbotschaft den Haupttext ergänzt und auf die bereits genannte, wichtige Dichotomie zwischen chair und machine hinweist: EDWARD

NE

MENT

JAMAIS

PUISQU’IL

CONCOIT

DES

SYSTEMES

ETERNELS........ LE MENSONGE EST RESERVE A CEUX QUI PENSENT LE TEMPS A COURT TERME!!!!........

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L’ETERNITE QUANT A ELLE ELEVE AU-DESSUS DE LA TRIVIALITE........" LAQUELLE

REGNE

TOUTE-PUISSANTE

DANS

CE

MONDE

SANS

PERSPECTIVE........ MAIS HELAS LE PROBLEME SE SITUE DANS LA CHAIR DU SUJET........ ET PARFOIS, PLUS INQUIETANT ENCORE, DANS LA CHAIR DE LA CHAIR!........

Der Kontrast zwischen der Wertschätzung der Maschine und der Geringschätzung des Menschen wird auch durch die grafische Gestaltung der kleinen HTML-Fenster betont. Die thematisch den Menschen zugeordneten Fenster sind mit Totenschädeln hinterlegt, die dem Maschinenthema zugeordneten dagegen mit einem grünen Platinen-Muster. Das pervertierte Werteverständnis Edwards und seine Entmenschlichung werden in seinem gestörten Verhältnis zur eigenen Körperlichkeit bestätigt: „sentant s’y [= à son ventre] dérouler un périlleux combat échappant aux lois de l’informatique.“81 Damit bringt dieser neue Text das in den Dialogfenstern nur angedeutete Verlangen Edwards, sein Menschsein zu unterdrücken, klar und unverschlüsselt zum Ausdruck: Als antagonistische Begriffe werden „ETERNITE“ und „CHAIR DU SUJET“ explizit genannt, wobei diese organische Existenz als Metonymie für das Menschlich-Sein bzw. den Menschen an sich als Ursache gilt für Probleme wie „MENSONGE“, „TRIVIALITE“ und Perspektivlosigkeit. Ergeht sich Edward in Bezug auf seine menschliche Umwelt in Hasstiraden mit negativ konnotierten Begriffen, so stammen die Signifiés rund um seinen „Commodore Amiga“ aus dem Wortfeld des Wohlfühlens, z.B. „quiétude“, „au comble de la béatitude“, „se laissa bercer par la mélodie“, etc. 4.4.3.5 Textliche Korrespondenzen funktionaler Elemente Die Feinuntersuchung der Mikrostruktur ist insbesondere im Hinblick auf das assoziative Zusammenspiel einander zuzuordnender Textstellen interessant. So lassen sich die Linkwörter und die durch sie ausgelösten Skripte in semantischen Kontext bringen.

81 http://fredromano.eu.pn/Edw_amiga/indexb.htm

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Tabelle 3: Textliche Korrespondenzen zwischen funktionalen Elementen Linksyntagma

Attribut

se sourit à lui-même

youpi

l’environnement hostile de ses collègues!

stupid

oeuvre infinie et indépendante

glouglou

machine hurluberlu aux cheveux graisseux

fouet microsft

s’offrir ce luxe

bourg

périlleux combat

warn

Ca faisait au moins trois jours

reten

sonna à la porte

dring

propriétaire bureau de placement propre fille

proprio chomedu (Link öffnet Seite „filla.htm“)

Zwischen den Begriffspaaren besteht eine semantische Nähe. Dabei sind manche Metonymien recht humorvoll, z.B. das Ereignis des Läutens und das dadurch erzeugte Geräusch, das lautmalerisch als „dring“ wiedergegeben wird, oder der frech wirkende Stilbruch bei „chomedu“ als umgangssprachlicher Ausdruck für „chômage“. Neben dem inhaltlichen Beitrag dienen die JavaScript-Befehle einer stilistischen Situierung, denn insgesamt greift Edward_Amiga häufig auf Versatzstücke der Trashliteratur zurück, was sich in zahlreichen Klischees und Überspitzungen, an der Wortwahl, aber auch den in den Begriffspaaren behandelten Themen zeigt. Vergleichbares lässt sich für die Beziehung zwischen Link und dem Titel des dazu gehörigen HTML-Pop-up-Fensters feststellen. Hier entsteht zur räumlichen hinzu auch eine semantische Beziehung. Da die Dialogfenster über keinen Fenstertitel verfügen, spielen sie im folgenden Vergleich keine Rolle.

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Tabelle 4: Zuordnung Linksyntagmen zu Fenstertiteln Linksyntagma se sourit à lui-même

Titel des Pop-up-Fensters Edward Amiga: Les conséquences

l’environnement hostile de ses collègues!

Ce crétin de Gus Van Vond

oeuvre infinie et indépendante

Tangente des désirs humains

machine

Edward n’est pas rassuré

hurluberlu aux cheveux graisseux

Salauds de: - - - -

s’offrir ce luxe

Salauds de gosses!

périlleux combat Ca faisait au moins trois jours

Aujourd’hui 3 longs jours...

sonna à la porte

QUI?...QUI?... QUI?...

QUI?

QUI?...QUI?... QUI?...

QUI?

Qui cela pouvait-il bien être? Ceux-là!

Auch hier lässt sich ein semantischer Zusammenhang zwischen den auslösenden Links und den Fenstertiteln erkennen. Die Beziehungen sind unterschiedlichster Natur: Sie liefern eine Interpretation („se sourit à lui-même“→ „Edward Amiga: Les conséquences“) oder eine Spezifizierung der Aussage des Links („environnement hostile“ → „Ce crétin“), auch eine Semantisierung des an sich neutralen Linkbezugs ist sichtbar, z.B. ein adversativer Bezug, als das Loblied auf die „machine“ zu dem Fenster mit der Information führt, dass Edward dennoch nicht beruhigt sei; der Bezug von „sonna à la porte“ zu „QUI?“ ist dagegen kausal. Die Fenstertitel können dabei als Motto der Pop-up-Fenster gewertet werden; sie enthalten in Kürzestfassung das Wesentliche des Fensters. Setzt man die Linksyntagmen, Fenstertitel und die Skriptbefehle in Kontext, so ergibt sich ein Schema aus Dreiertupeln, die ein semantisches Netz zwischen sich aufspannen, das ebenfalls kookkurrent wirkt.

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Tabelle 5: Zwischen drei Funktionselementen aufgespannter semantischer Raum Linksyntagma

Skript

Titel Pop-up-Fenster

se sourit à lui-même

youpi

Edward Amiga: Les conséquences

l’environnement hostile de ses collègues!

stupid

Ce crétin de Gus Van Vond

microsft

Salauds de: - - - -

périlleux combat

warn

Aujourd’hui

Ca faisait au moins trois jours

reten

3 longs jours...

sonna à la porte

dring

QUI?...QUI?... QUI?...

hurluberlu aux cheveux graisseux

Das assoziative Zusammenspiel verschiedenster Ebenen ist durch das ganze Werk hindurch explizit gewünscht: Auf der ersten Handlungsseite http://fredromano.eu.pn/Edw_amiga/indexb.htm lautet der Titel in voller Länge: ........"Edward_Amiga" de Fred Romano BCN 08/99 ........ Sans espoir face a:- - - - - - -

Das Werk ist für den Internet Explorer 4+ konzipiert, und so erklärt sich das fehlende Komplement nach der Präposition „à“, denn der Internet Explorer fügt seinen Namen automatisch rechts in der Titelzeile ein, so dass der folgende Satzkontext entsteht: „Sans espoir face à Internet Explorer“. Durch den offenen Parameter wird das Werk adaptiv stets die Gegenposition zu dem Browser des Lesers einnehmen. Da Edward nur den Amiga schätzt, wird diese Taktik wohl in jedem Falle aufgehen. In der Regel ist zu erwarten, dass der verwendete Browser eine Microsoftanwendung sein wird, so dass die Aussage stimmig zur Opposition Edwards gegenüber Microsoft ist. So wettert er beispielsweise im Fenster „Salauds de gosses!“ gegen Microsoft („Microso“) und die Benutzer von deren Programmen („crasse plèbe“). Ein weiteres Beispiel für die semantische Einbeziehung des Browsernamens steht im Dienst der Kontrastierung zwischen Edward und Marlène, denn nach dem beschriebenen Schema wird Marlène in Bezug auf ihre Gerätevorliebe so charakterisiert: „..... Marlene_PC est la fille d’Edward_Amiga, mais ce qu’elle préfére, c’est:- - - - - - - - [Internet Explorer]“

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4.4.3.6 Dramatisierung durch literarisierte GUI-Elemente In diese emotional ereignisreiche, äußerlich aber ereignislose Szene bricht zweimal wie eine beunruhigende Vorahnung ein signalrotes Pop-up-Fenster herein, „AUJOURD’HUI, CE DEVAIT ETRE AUJOURD’HUI!“, dessen unbestimmt bleibendes „ce“ die Bedrohlichkeit des Unbekannten und Ungewissen, aber Bevorstehenden betont und den Leser unruhig werden lässt. Diese Plötzlichkeit wird unterstrichen durch die grellen Farben (eine neongrüne Schrift auf grellrotem Grund), die stark von der in Pastelltönen gehaltenen Farbgebung des Hauptfensters (Orange auf Hellblau) abstechen. Abbildung 31: Dramatisierung durch literarisierte GUI-Elemente

Quelle: Screenshot aus Edward_Amiga

Durch die aufdringlichen Farben, die unverhoffte Überlagerung des Haupttextes und die durch die Schriftgröße verstärkte Intensität der Großbuchstaben gewinnt der Fensterinhalt eine besondere Dringlichkeit und Lautstärke. So erscheint das Hauptfenster zugleich mit diesem Pop-up-Fenster, aber auch bei Klick auf den Link „périlleux combat“, kurz bevor die dramatische Zuspitzung des Läutens geschieht. Die durch interne Fokalisierung gekennzeichnete Szene erfährt am Ende der Seite eine Störung von der Außenwelt: Ein an sich harmloses Klingeln an der Tür stürzt Edward in einen Zustand der Panik, der durch eine Vielzahl unkontrollierbar aufgehender, giftgrüner Pop-up-Fenster mit dem Inhalt „QUI? QUI?“82 visualisiert wird: Die rasche, einstürmend wirkende Aufeinanderfolge der Fenster in greller Signalfarbe lässt den Leser die Wirkung der Klingel auf Edward synästhetisch nachempfinden, so dass er wie Goethes Zauberlehrling die gerufenen Geister nicht mehr selbst beherrscht, sondern sich vielmehr hilflos beherrschen lassen muss.

82 http://fredromano.eu.pn/Edw_amiga/dring4.ht

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Anhand dieser Flut von Pop-up-Fenstern zeigt sich ein weiteres Charakteristikum von Hyperfictions allgemein und Edward_Amiga im Besonderen: das Zusammenspiel von Desktopmetapher und Metafiktionalität. Klickt man, sobald dies möglich ist, auf den Link „QUI?“, wird man jeweils zu verschiedenen Ereignissen weitergeführt, u.a. öffnet einer dieser Links das folgende Pop-upFenster: Abbildung 32: Mehrdeutige Begrifflichkeit

Quelle: Screenshot aus Edward_Amiga

Dieses Pop-up-Fenster ist ein Bilderbuchbeispiel für das metafiktionale Spiel mit Mehrdeutigkeiten an sich identischer Signifiants durch die Literarisierung der Desktopmetapher. Die Aufforderung, Türen und Fenster zu schließen, ist doppelt gerichtet: Die auf der Desktopmetapher basierenden mehrdeutigen Begriffe erhalten eine Relevanz in beiden Welten, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Diegese. Innerhalb der Diegese können Fenster im wörtlichen Sinn (Lesart: Bestandteil einer Wohnung oder eines Hauses) von den Figuren geschlossen werden. Dies macht Sinn, da es den Impuls Edwards verbalisiert, sich aus Angst vor dem unwillkommenen Gast im Haus zu verbarrikadieren. Außerhalb der Diegese liegt dagegen eine metafiktionale Handlungsaufforderung an den Leser vor, die Softwarefenster zu schließen. Die Aufforderung wird durch das Dialogfenster, das der Klick auf „FENETRES“ öffnet, noch genauer artikuliert, die Kommunikationssituation verdoppelt sich erneut:

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Il faut fermer toutes les fenetres avant de passer a la suite! Verifiez dans la status bar qu’aucune fenetre n’est restee active. Ne laissez pas les frayeurs d’Edward entraver votre lecture!

4.4.3.7 Die medienspezifisch neue Gestaltung des Erzählers Von besonderer Aufschlusskraft ist die zweckentfremdete Nutzung von Softwareelementen für die medienspezifisch neue Gestaltung des Erzählers: Auf der ersten Seite gibt es kaum szenische Handlung, das Hauptfenster gibt in heterodiegetischer Erzählsituation intern fokalisierte Einblicke in Edwards Gedankenwelt, die aber von einer recht neutralen Erzählerstimme präsentiert werden. Zahlreiche recht heterogene und einander rasch abwechselnde Gedankenfetzen zeichnen den Protagonisten als einen der Menschenwelt abgewandten, verbitterten Eigenbrötler, der Lebenssinn und Befriedigung nur in der Beschäftigung mit Computern (und hier auch nur dem Amiga) findet. Dieser Oberflächendiskurs wird mehrdimensional zugespitzt und auf einer sekundären Textebene durch die verschiedenen Funktionselemente des Browsers ergänzt, vor allem durch die Fenstertechnik und die Einbeziehung der Statuszeile. So versorgen die Pop-up-Fenster den Leser mit Hintergrundinformationen, die Edwards innerste, unausgesprochene Gedanken unverhohlen laut werden lassen. Erkennbar ist dies an ihrer gesteigerten Subjektivität, die sich an Interjektionen (mit dreifachem Ausrufezeichen: „!!!“), an stark intern fokalisierten Wertungen sowie an umgangssprachlich markiertem Vokabular festmachen lässt, was im Haupttext sorgfältig vermieden wird. So liefert der Link mit der dezenten Kritik „l’environnement hostile de ses collègues“ ein Pop-up-Fenster mit der Titelzeile „Ce crétin de Gus Van Vond“, dessen Inhalt, erkennbar an der Polemik und dem emphatischen Nachdruck, eindeutig Edwards Sicht entspringt. Der Kollege, vermutlich auch Rivale, Gus Van Vond wird im Pop-up, obschon ein „professeur d’esthétique“, herablassend mit „le pauvre“ tituliert, sein Urteil über die Arbeit Edwards als „Grotesque!“ abgetan und durch die rhetorische Konzessivität des Folgesatzes abgehakt. Unterstrichen wird die Subjektivität dieses Pop-upFensters durch den Namen des aufrufenden JavaScript-Befehls, der „stupid“ lautet. Auffällig ist, dass aus den Dialogfenstern eine andere Stimme als in den Popup-Fenstern spricht, nämlich die eines auktorialen und allwissenden Erzählers. Als es an der Tür klingelt, findet eine anschauliche Aufteilung der Sichtweisen auf die Situation statt: Der Haupttext zeigt, welche Schreckensszenarien sich Edward ausmalt, wer da wohl in die Abgeschiedenheit seiner Wohnung einzudringen versucht. Diese durch das personale Erzählen scheinbar besonders authentische und glaubwürdige Rede- bzw. Gedankenwiedergabe zerstört der auk-

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toriale Erzähler aber sogleich über den Kanal des Dialogfensters. Der Link „propriétaire“ führt zum auktorialen Kommentar eines personalisierten Erzählers, der sich direkt an den Leser zu richten scheint: „Vous ne croyez pas Edward, n’estce pas? Vous avez raison, ce n’est pas le vrai motif de sa terreur“. Dieser Kommentar relativiert den auf Edward fokalisierten, personal-parteiischen Inhalt der Hauptseite. Eine emotionale Steigerung bietet der nächste Link, der Edwards Vermutung Ausdruck verleiht, der Läutende könne jemand vom „bureau de placement“ sein – was in dem dazu gehörigen Dialogfenster geradezu höhnisch von einem sich nun explizit in Ich-Form präsentierenden Erzähler quittiert wird: „La bonne blague! Edward n’est pas plus terrorise par les fonctionnaires hollandais que vous ou moi!“ Als Höhepunkt der Vermutungen wird als schlimmster denkbarer Urheber des Läutens schließlich überraschend Edwards Tochter genannt. Über ein weiteres Dialogfenster erfährt der Leser, dass die Ursache für das komplizierte VaterTochter-Verhältnis Edwards schlechtes Gewissen ist. Der Eindruck eines übergeordneten Netzadministrators oder auch eines steuernden Moderators wird durch den Charakter der Systemmeldung gestärkt; an anderer Stelle83 wird gar der Autorin selbst ein Kommentar zugeschrieben: „Amicalement, Fred Romano“ – und doch kann auch diese Zuweisung in der narration nur fiktional sein. Genau genommen ist diese kreative Nutzung der Dialogfenster (Dialog als wörtliche Interpretation der Metapher!) als Informationsträger in Edward_Amiga ein Verstoß gegen die Software-Ergonomie, denn die Vermischung von Funktion und Inhalt ist ihr zufolge eigentlich nicht gestattet. Technisch gesehen handelt es sich um einen Missbrauch der Dialog-Funktionalität, da der vorliegende Typ von Dialogfenster ausschließlich in kritischen Situationen zu Fehlermeldungen und Warnhinweisen erlaubt ist – so dass der User bei ihrem Anblick geradezu auf das Erschrecken vor einem Problem konditioniert ist.84 Im Dienste der Literarizität tragen solche Dialogfenster aber interessante neue Aspekte für die digitale Literatur bei. Beim ersten Klick, der ein JavaScript-Dialogfenster erzeugt, wird der Leser aufgerüttelt; die Überraschung weicht dann einem faszinierten Erkennen der Verwendungslogik. Insgesamt kommt damit den grauen Dialogfenstern als Sprachrohr des Erzählers eine eindeutige, differenzierende Funktion für das Verständnis des Haupttexts zu. Die Systematik der Erzählerparameter in Abhängigkeit ihres Erscheinungsorts sieht tabellarisch wie folgt aus:

83 http://fredromano.eu.pn/Edw_amiga/filla.htm, Klick auf „RÉPOND“. 84 Eine wünschenswert deutliche Beurteilung der Dialogfenster in der referentiellen Kommunikationssituation liefert Seibert (2005).

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Tabelle 6: Erzählergestaltung in verschiedenen Fenstertypen Textort

Erzähleridentität „Wer spricht?“

Hauptfenster

Pop-up-Fenster

Dialogfenster

Fokalisierung „Wer sieht?“

Erzählsituation (-perspektive)

extradiegetischheterodiegetisch; nicht personalisiert

interne Fokalisierung: Edward

personal/figural: Edward

extradiegetischheterodiegetisch; nicht personalisiert

interne Fokalisierung: Edward

personal/figural: Edward

extradiegetischheterodiegetisch; personalisiert

Nullfokalisierung auktorial und allwissend: (wechselnde Fokalisierung): Erzähler/Autorin; Ich-Perspektive Erzähler

Fingierte Systemmeldungen finden über den neuen Informationskanal eine kookkurrente Verwendung als „Sprechblasenkanal“ und dienen, wie in diesem Fall, als Sprachrohr für den auktorialen Erzähler, der die ansonsten weitgehend personale Erzählsituation des Haupttexts ironisch-kritisch kommentiert. Dadurch scheint er aus der Diegese herauszutreten und den Leser direkt anzusprechen; es wird die Illusion erweckt, dass so der Erzähler durch die funktionale Verschiedenheit und die darin enthaltene Polyphonie von Haupttext und Kommentar die Erzählung vom Erzähler befreien könne. Durch die duplizierte Subjektivität (die erzählerseitig subjektive Infragestellung von Edwards subjektiven Meinungen) wird dem Leser der Anschein einer neuen Objektivität vermittelt. Zusammenfassend: Im Hauptfenster und den von dieser Seite abzweigenden Pop-up-Fenstern berichtet ein Erzähler, der sich nicht als Bestandteil der Diegese zu erkennen gibt und auch nicht als Person in Erscheinung tritt. Es wird intern auf die Figur Edward fokalisiert, präsentiert von einer recht neutral klingenden Erzählstimme. Davon abweichend findet in den Dialogfenstern, die ebenfalls von dieser Hauptseite aus aufgerufen werden, ein Wechsel der Erzählsituation statt: Hier meldet sich ein personalisierter Erzähler namens Fred Romano wie die Autorin in der Ich-Form zu Wort, mit allen Rede-Eigenschaften, die eine Figur hat (Ironie, direkte Rede, rhetorische Fragen, etc.). Hier ist die Erzählstimme subjektiv, die Ausdrucksweise stark emotional. Dadurch wird, höchst ungewöhnlich, die in der internen Fokalisierung aufgebaute Glaubwürdigkeit Edwards aus

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dem Haupttext durch die erzähltechnisch und optisch außerhalb der Diegese situierten Kommentare systematisch demontiert und unrettbar zerstört. Das Spiel mit den inner- und außerdiegetischen Realitäten setzt sich zudem in der Identität der Erzählinstanz fort. Die Namensgleichheit des Erzählers und der Autorin erweckt den Eindruck, dass Fred Romano höchstselbst sich spontan in den Dialogfenstern in den discours eingeklinkt hat. Die Folge sind eine verstärkte Authentizität und Eindringlichkeit der Äußerungen in den Dialogfenstern. Zugleich gestaltet sich die Lektüre dadurch recht lebendig und frisch. 4.4.3.8 Die Redewiedergabe Eng verbunden mit den Parametern des Erzählers ist die Redewiedergabe. Die Seite beginnt mit einer direkten Rede: Elle est absolument indépendante, se répéta Edward, ému, avant de lancer la boucle.

Einmal abgesehen von der fehlenden typografischen Markierung durch Anführungs- oder Gedankenstriche ist dieser Satz nicht ganz eindeutig zuzuordnen: Tempusgestaltung und Inquit-Formel legen eine direkte Rede nahe, doch ob sie laut ausgesprochen wurde, bleibt ungeklärt. Daher kann man sie, durchaus auch mit Blick auf den sonstigen introvertiert klingenden Erzähl-Tonfall, als (kurzen) inneren Monolog werten. Die hauptsächlich verwendete Redewiedergabe ist dagegen die erlebte Rede. Comme il était heureux d’être enfin débarrassé [...]! Enfin! Ca faisait au moins trois jours!

Dass hier nicht vordergründig der Erzähler spricht, verrät der Tempusgebrauch der indirekten Rede und die Wortwahl: „Enfin“ enthält eine subjektive Wertung der Ungeduld, die dem Erzähler nur angemessen ist, wenn er sich im Sinne Edwards äußert. Außerdem kommen stilistisch abwertend markierte Wörter wie „contraintes stupides de l’enseignement“ vor, die Edward zugeschrieben werden müssen. Die thematischen Sprünge rücken die erlebte Rede inhaltlich sogar in die Nähe des inneren Monologs: Mal sind es Erinnerungen an eine zurückliegende Vergangenheit (seine ehemalige Arbeitsstelle), mal gerät er beim Blick auf seinen Amiga über dessen Vorzüge ins Schwärmen, dann wiederum ist seine körperliche Befindlichkeit Auslöser für eine Gedankensequenz. Dies alles sorgt für einen äußerst persönlichen, intimen Einblick in die Gedankenwelt Edwards. Dass auch ein an sich sehr privates, in der Öffentlichkeit durchaus peinliches

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Verdauungsproblem als Teil seiner Gedanken berichtet wird (wenn auch in verschämten Andeutungen elliptisch umschrieben), erweckt den Eindruck einer völligen Ungestörtheit der Figur. Integriert in die erlebte Rede Edwards finden sich auch Beispiele für indirekte Rede. Diese gibt die genaue, d.h. Edward-fokalisierte, subjektive Erinnerung an Schlüssel-Dialoge wieder. Un autre de ses étudiants [...] lui avait [...] demandé comment il se faisait que lui [...] ne soit pas sur Internet. Edward avait répondu [...] que [...]

Am seltensten kommt der Redebericht vor, z.B. „Il porta soudain ses mains à son ventre“. Diese Beobachtung ist auch einem extern fokalisierten Erzähler möglich. Damit ergibt sich folgendes Bild: Auf der Hauptseite ist der Erzähler in seiner Dominanz bei der Redewiedergabe schwach ausgeprägt, alle Aufmerksamkeit konzentriert sich auf die Figur Edward. Am häufigsten findet die erlebte Rede Anwendung. In den Pop-up-Fenstern wird die Fokalisierung durch eine ausschließliche Verwendung der erlebten Rede ausgedrückt, die sich von den Beispielen auf der Hauptseite durch eine gesteigerte Emotionalität unterscheidet: Comme l’arrogance de ce petit vendeur de software l'avait fait rire!!! Grotesque! Comme si les microprocesseurs avaient une âme et le besoin de s’exprimer!

Verschiedene Schriftgrößen, Fettdruck zur Steigerung der Nachdrücklichkeit und insbesondere die Ausrufezeichen sind untrügliche Indizien für die Erregung Edwards. In direkter Rede präsentiert wären diese typografischen Auszeichnungen als Schreien zu interpretieren. Die Dialogfenster sind dagegen, äquivalent zur Fokalisierung, durch direkte Rede gekennzeichnet. Sie erweckt, im Zusammenspiel mit den Erzählerparametern, den Eindruck einer direkten Kommunikation zwischen dem Erzähler, gar der Autorin selbst, und dem Leser, wie die folgenden Ausschnitte belegen: Vous ne croyez pas Edward, n’est-ce pas? Vous avez raison. Ce n’est pas la le vrai motif de sa terreur. La bonne blague! Edward n’est pas plus terrorise par les fonctionnaires hollandais que vous ou moi!

Die Sprache ist in den Dialogfenstern recht umgangssprachlich und von Mündlichkeit geprägt. Damit machen die Dialogfenster ihrem Namen alle Ehre. Der

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Tempusgebrauch ist eindeutig der der direkten Rede, Ausrufe und freche Kommentare wie „La bonne blague!“ unterscheiden die Fenster nochmals deutlich vom Haupttext. Damit bildet der Kontext der erzählerfernen Gestaltung der Diskursstruktur im Haupt- und in seinen Pop-up-Fenstern einen optimalen Hintergrund für die wirkungsvolle „Erzählereinschaltung“, wie sie in den Dialogfenstern geschieht. 4.3.3.9 Zusammenfassung Das kookkurrente Auftreten von Erzähleridentität, Fokalisierung und dazu passender Redewiedergabe zeichnet also ein stimmiges Bild: Im Hauptfenster und mit gesteigerter Intensität auch in den Pop-up-Fenstern wird recht „nah“ von Edward als Protagonist berichtet. Der Erzähler hält sich sowohl in seiner Identität als auch in der Erzählweise in Distanz, ist kaum zu bemerken. Umso stärker der Paukenschlag in den Dialogfenstern: Erzähleridentität, die ungewöhnliche Fokalisierung auf die personalisierte Erzählerinstanz und die direkte Rede sprechen den Leser über das Gestaltungsmittel der Dialogfenster sehr direkt an. Die Umsetzung über Dialogfenster ist ein genialer Kniff, den Wandel zu der besonderen Erzählsituation zu legitimieren und natürlich erscheinen zu lassen. Tabelle 7: Konstellationen der Erzählergestaltung und Redewiedergabe Textort

Erzähleridentität „Wer spricht?“

Fokalisierung „Wer sieht?“ (Erzählsituation)

Redewiedergabe

Hauptfenster

extradiegetischheterodiegetisch; nicht personalisiert

interne Fokalisierung: Edward (personal/figural)

innerer Monolog, erlebte Rede, indirekte Rede

Pop-up-Fenster

extradiegetischheterodiegetisch; nicht personalisiert

interne Fokalisierung: Edward (personal/figural)

erlebte Rede mit starker Emotionalisierung

extradiegetischheterodiegetisch; personalisiert

Nullfokalisierung (wechselnde Fokalisierung): Erzähler (auktorial und allwissend)

direkte Rede: Erzähler wendet sich „unmittelbar“ an Leser

Dialogfenster

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Natürlich stellt sich die Frage nach dem Zweck der Differenzierung. Es ist das in der Postmoderne so beliebte Konzept des „déroutement“, das den Leser auf eine falsche Fährte lockt, um ihm dann die Hinweise zum Erkennen seines Irrtums anzubieten. Der naive Ton und die hyperbolische Überzeichnung der Figuren und der Szenen sind bereits ein gewisses Alarmzeichen, das der aufmerksame Leser an sich gar nicht wörtlich ernst nehmen kann. Dennoch wirkt die Stimme aus dem Off überraschend, wie von einem „deus ex machina“ wird die Handlung polyphon präsentiert. Der Leser wird gewissermaßen dazu erzogen, insbesondere im Internet den angebotenen Informationen zu misstrauen und nicht nur allzu Offensichtliches kritisch zu hinterfragen. 4.4.4 Die Analyse der zweiten Hauptseite Über die Linkschnittstelle „propre fille“ wird die neue Hauptseite „..... Marlene_PC est la fille d’Edward_Amiga, mais ce qu’elle préfére, c’est:- - - - - - - -“ geöffnet, die sich optisch und vor allem aber erzähltechnisch von der ersten Hauptseite unterscheidet: Nun steht Edwards Tochter Marlène im Zentrum, das szenische Geschehen verlagert sich auf die andere Seite der Tür. Die Fabel ist ebenfalls recht einfach und ereignislos: Marlène steht vor Edwards Tür und wartet, dass sie eingelassen wird. Auch die Hypertextstruktur der zweiten Haupthandlungsseite folgt einem Sternschema. Im Vergleich zur ersten Seite erfährt es nun eine Diversifikation. Abbildung 33: Sternförmige Hypertextstruktur der zweiten Hauptseite

Quelle: Eigene Darstellung

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Auch hier stehen zwölf typografisch leicht erkennbare Links zur Verfügung, die nur kurze Exkurse weg von der Hauptseite erlauben. Beim Anklicken öffnen sie fünf Dialog- und sieben Pop-up-Fenster. Im Unterschied zur ersten Seite ist allerdings das Schema der sich öffnenden Fenster komplexer: Zwei Links („contrat inespéré“ und „voyage à Londres pour pratiquer l’anglais“) führen beim Anklicken zu jeweils zwei Ereignissen, es erscheinen gleichzeitig ein Dialog- sowie ein Pop-up-Fenster. Außerdem verfügen die Pop-up-Fenster über eine anspruchsvollere Funktionalität, denn sie sind mit eigenen Links ausgestattet und eröffnen kurze Pfade, die allerdings alle (wieder bis auf den letzten) auf der Hauptseite verharren. Der längste Tentakel geht aus vom Link „contrat inespéré“ und spielt in einer Kette von elf anspruchsvoll miteinander verknüpften Dialog- und Pop-up-Fenstern das Gespräch des Jobangebots für Marlène nach. Auf der zweiten Seite ist Marlène die Hauptperson. Das erste Indiz dafür liefert die Titelleiste: Wo vorher als Protagonist der ersten Hauptseite Edward im Titel genannt wurde, erscheint nun Marlène. Sie ist hier die Figur, die in der IchPerspektive erzählt und auf die fokalisiert wird. Auch zu ihrer Lebenssituation gibt es nur spärliche Informationen, der Figurencharakter wird nur in Ausschnitten mitgeteilt. Sie ist die Tochter von Edward, 20 Jahre alt, lebt in einer lesbischen Beziehung und studiert. Ihre Figurencharakteristik lässt sich in erster Linie indirekt erstellen: So präsentiert sich Marlène in der Ich-Perspektive euphorisch-überschäumend, mit emphatischen Ausrufen wie „Comme je suis heureuse!“. Sie ergeht sich in ziemlich freien Gedankensprüngen, erinnert sich beispielsweise mit Bitterkeit daran, wie die Mutter Edward und sie verlassen hat, denkt verliebt an ihre Freundin Erika, und grübelt voll Zuneigung gemischt mit Sorge über Edward und seine Probleme. Während der Wartezeit wird sie immer ungeduldiger und ungehaltener, was im letzten Satz auf der Seite kulminiert: „ET MAINTENANT IL NE ME RÉPOND MÊME PAS!!!“ Großbuchstaben und die drei Ausrufezeichen sind deutliche Indizien für ihre Emotionalität und Ungeduld. Bezeichnend ist die Szene, in der Marlène das Berufseinstellungsgespräch rekapituliert: Dass sie bei einer solchen Anhäufung von einander übertreffenden Angeboten nicht misstrauisch wird, zeugt von einer gewissen Naivität und Gutgläubigkeit. Insgesamt erweckt Marlène den Eindruck einer sprunghaften, naiven, dabei aber freundlichen jungen Frau. Der Vergleich der Figuren Edward und Marlène ist von klaren Gegensätzen gekennzeichnet, wie die Merkmalsmatrix zeigt:

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Tabelle 8: Vergleich der Charaktermerkmale der Protagonisten Merkmal

Edward

Marlène

Geschlecht

männlich

weiblich

alt

jung

Familienstatus

Vater

Tochter

Bevorzugter Computer

Amiga

PC

pessimistisch

optimistisch

Einstellung zum Internet

Ablehnung

Euphorie

Einstellung zu Microsoft

Ablehnung

Euphorie

krankhaft menschenscheu

aufgeschlossen und naiv

Alter

Lebenseinstellung

Verhältnis zu Mitmenschen

Wie auf der ersten Handlungsseite werden auch hier medienspezifische Elemente literarisch genutzt. Der Klick auf den Link im Satz „j’allais pouvoir montrer de quoi j’étais capable!“ produziert ein Pop-up-Fenster, das einen bunten Rahmen aus einem bunten, kleinteiligen Muster um den eigentlichen Text aufweist. Die Hintergrundgrafik ist zudem einfach animiert, erscheint erst positiv und dann gespiegelt, was eine unübersichtliche Wirkung wie bunten, chaotischen flimmernden „Schnee“ am Fernsehbildschirm erzielt. Der ungewöhnlich lange Seitentitel des Pop-up-Fensters lautet: „Vous voici sur le seuil de la première porte. Oubliée, la dispute, l’avenir commence ici“. Durch die direkte Ansprache („Vous“) hebt sich dieser Titel vom Rest der Seite ab und streicht die Bedeutung des Fensters heraus: Nun soll eine neue Ära beginnen, grafisch umgesetzt durch die bunte Animation des Fensterhintergrunds – sie erscheint als der Inbegriff von Multimedia, was ja auch in Edward_Amiga selten vorkommt.

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Abbildung 34: Auf Marlène intern fokalisiertes Pop-up-Fenster

Quelle: Screenshot aus Edward_Amiga

In kookkurrentem Zusammenhang steht übrigens auch der Dateiname „capaz.htm“ des Pop-up-Fensters, der den Ausgangslink „capable“ aus dem Haupttext wieder aufgreift. Eine weitere bewegte Komponente ergibt sich eher sekundär: Der Klick auf den Link „souvenir de maman“ führt zu dem Fenster „Le départ de maman“, das diesmal als dominanten Seiteninhalt ein Bild ganz ohne Text enthält. Bei genauerem Hinsehen allerdings entdeckt man, dass in der Statuszeile ein Textband durchläuft: „MAMAN MENT TOUT’L’TEMPS!!! MAMAN MENT TOUT’L’TEMPS!!! MAMAN MENT TOUT’L’TEMPS!!! “ Wie in einem hänselnden Kinderreim häuft sich der Nasalvokal /ã/; die kindliche Ausdrucksweise zeigt, unterstrichen durch die dreifachen Ausrufezeichen, die Verletzung, die das Kind Marlène durch das Weggehen der Mutter erlitten hat. Diese „Textanimation“ veranschaulicht die besondere Wirkung von Bewegungen im peripheren Blickfeld: Obwohl die Schrift klein und unauffällig vor einem grauen Hintergrund erscheint (an einer Stelle, die sonst kaum Beachtung findet), wird das Auge unwillkürlich davon angezogen, das Textband gewinnt eine starke Auffälligkeit. So wirken verschiedenste Elemente sinnstiftend in einem semantischen Netz zusammen. Die minimale Handlung der Seite besteht darin, dass Marlène darauf wartet, dass sich Edwards Tür öffnet. Zentral sind die Gedanken Marlènes. So durchlebt sie beim Klick auf „contrat inespéré“ ihr triumphales Einstellungsgespräch in

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einem stream of consciousness noch einmal. Diese Szene ist besonders interessant für das innovative Zusammenspiel neuer Ausdrucksformen und narrativer Strategien. Genau wie Edwards Seite beginnt auch Marlènes Seite mit der Freude über ein Erfolgserlebnis, in ihrem Fall ist es ein unglaublich gutes Jobangebot der Software-Firma Cybercable Netherlands, die im Pop-up-Fenster „MISS.....“85 durch ein christliches Auge der Vorsehung grafisch ironisiert wird. Nun sieht Marlène ihre Zukunft ganz euphorisch, wie die Statuszeile verrät: „...... PARCE QU’AUJOURD’HUI, MA VIE VA COMMENCER!!! ...“ Die Emotionalität des Ausrufs wird typografisch durch die „lauten“ Großbuchstaben und das dreifache Ausrufezeichen wiedergegeben. Klickt der Leser den Link „VOICI NOTRE PROPOSITION“ an und signalisiert dadurch sein (und metafiktional auch Marlènes) Interesse am Köder, setzt er eine Maschinerie von acht nacheinander erscheinenden Dialogfenstern mit wohldosierten Informationshäppchen in Gang. Jedes Dialogfenster bleibt solange stehen, bis es vom Leser mit „OK“ weggeklickt wird, was jedoch automatisch das nächste Dialogfenster öffnet, so dass der Zugriff auf die HTML-Seite die ganze Sequenz lang blockiert ist. Dadurch wird dem Leser die Kontrolle über die Bedienung der Anwendung aus der Hand genommen. Dieser am eigenen Leib erfahrene Kontrollverlust des Lesers (auf der Kommunikationsebene N4!) ist eine sinnige Übertragung der Empfindungen Marlènes in die reale Welt, sie werden ikonisch nachfühlbar. Normalerweise liegt die Kontrolle über die ablaufenden Prozesse beim Benutzer, ein Wechsel zur systemgesteuerten Kontrolle darf nur unterstützende Funktion haben (vgl. Kapitel 3.1.5). Die mit jedem Fenster attraktiver werdenden Konditionen prasseln förmlich auf Marlène ein, so dass sie keine Zeit zum kritischen Nachdenken findet. Das realweltliche Analogon dazu ist, dass der Leser einfach die Fenster wegklickt. Dies geschieht über den OK-Button, was metafiktional der Zustimmung zur Bedingung gleich kommt, die der Leser für Marlène, gar in ihrer Rolle vornimmt. Der Dialog wirkt dabei sehr plastisch, obwohl tatsächlich keine einzige direkte Rede von Marlene vorkommt; „wahrnehmbar“ ist nur der Monolog der Versprechungen seitens der Firma. Der Part Marlènes, die Zustimmung in allen Punkten, wird nicht verbal wiedergegeben, sondern in einer höchst innovativen Variation durch die Aktivität des Lesers ersetzt.

85 http://fredromano.eu.pn/Edw_amiga/propo.htm

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Tabelle 9: Schematische Abfolge der Dialogfenster Vous serez chargee de concevoir une page web attractive pour un public 15-25. Budget de base: 50.000 fl [OK]

⇓ Vous aurez une entiere liberte de conception et nous mettrons a votre disposition notre equipment le plus performant. [OK]

⇓ NET! [OK]

⇓ Vos frais rembourses jusqu’a 2.000 fl par mois! [OK]

⇓ y compris les frais de transport! [OK]

⇓ En echange vous nous devez une exclusivite totale. [OK]

Quelle: Eigene Darstellung

Die Überredung endet mit der Warnung: „N’y pensez pas a deux fois! Signez cidessous: [OK]“. Mit diesem letzten „OK“ wird der Vertrag endgültig angenommen, der Leser ist daran schuld, und doch blieb ihm nichts Anderes übrig: Ein intérêt désinvolte ist nicht möglich, er muss sich einmischen, sonst bleibt seine Neugier unbefriedigt. Interessant auch die konsequent wörtliche Umsetzung des Abbrechen-Buttons: Es verschwindet nicht nur das gerade angezeigte Dialogfenster, was zu erwarten wäre, sondern auch das während des ganzen Dialogs im Hintergrund stehen gebliebene Pop-up-Fenster („MISS.....“), das Einstellungsgespräch ist beendet.

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Der plötzliche Wechsel der Dialogkontrolle über die Systemabläufe bewirkt vordergründig eine deautomatisierende Verunsicherung des Lesers, ganz im Sinne des Spiel- und Experimentcharakters der digitalen Literatur, dient aber im Fall der geglückten Enträtselung semantisch-pragmatisch im narrativischen Spiel mit den Erzähl- (und Realitäts-) ebenen auch seiner Unterhaltung, da der geschilderte Inhalt dadurch eine ungeahnte Plastizität erfährt. Anschließend träumt Marlène („Grâce à ce contrat inespéré, j’allais pouvoir montrer de quoi j’étais capable!“) von einem eigenen Projekt, wie sie bei Klick auf den Link „capable“ erläutert; welches Projekt das ist, wird beim Klick auf „tout particulièrement“ im Pop-up-Fenster „Vous voici sur le seuil [...]“ ersichtlich: Es ist ein hyperoman im Netz, der sich in wesentlichen Punkten von einem Papierroman unterscheiden soll, und siehe da, es erscheint im kleinen Pop-upFenster die minimal abgewandelten Startseite86 von Edward_Amiga: Nun wird als Autorin statt Fred Romano eben Marlène_PC genannt. Das Werk scheint sich als Hyperfiction in der Hyperfiction iterativ selbst aufzurufen. Dennoch handelt es sicht nicht um eine einfache zyklische Hypertextform, denn der Link „Allonsy!“ führt hier nicht wie eingangs zur Seite „Edward_Amiga“ als Einstieg in die Geschichte, sondern führt den Leser folgerichtig sofort zu Marlènes Seite, die auf Edward konzentrierte Seite wird also weggelassen. Die mise en abyme verweist daher wie das Bild La reproduction interdite (1937) von Magritte rekursiv auf sich selbst – doch mit kleinen Variationen, die dafür umso stärker wirken. Als Marlène weiter vor der Tür wartet, werden im Zusammenspiel mit eingefügtem Bildmaterial auch Rückblicke in ihre Kindheit lebendig, insbesondere die hässliche Abschiedsszene, mit der die Mutter sie und ihren Vater vor Jahren verlassen hat. Die gesprungene Glasscheibe von Edwards Tür dient wie die Proust’sche Madeleine als Vehikel des Erinnerns, und anhand der gebrochenen Scheibe wird dieses Erlebnis auch für den Leser metaphorisch eindringlich in Szene gesetzt: Die zerstörerische Bedeutung, die das Ereignis für Marlène hat, wird dadurch transparent. In einem Pop-up-Fenster, das sich bei Verharren der Maus auf der Abbildung zeigt, erscheint die Erinnerung an die wüste Schimpfkanonade der Mutter gegenüber Marlènes Vater Edward: „SALAUD! ENFLURE! [...] PAUVRE MERDE! TU N’AS MEME PAS ETE CAPABLE DE NOUS NOURRIR! [...]“ Das Bild der zersprungenen Scheibe ist aber außerdem noch ein Link und liefert ein Dialogfenster, das den fotografisch-metaphorischen Bezug zum Geschehen erklärt: „La porte qui claque, le carreau qui se brise. Ses mots coupants comme le verre.“ Das Bezeichnende hier ist nicht die Metaphorik, die innerdiege-

86 http://fredromano.eu.pn/Edw_amiga/indexb1.htm

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tisch funktioniert und in dieser Form auch in traditioneller Literatur vorkommen kann; es ist vielmehr die Aufwertung des nichtsprachlichen Bildcodes, die in die Textgestalt eingeflochten wird und, wie die metafiktional begründeten Aktionen des Lesers eine besondere ikonische Verständlichkeit bewirken. Nun zur Diskursstruktur dieser Seite. Auch hier wird zu klären sein, was sich zu Fokalisierung, Erzählstimme und Redewiedergabe herausfinden lässt, und welchen Beitrag die mikrostrukturellen Gestaltungsmittel dazu leisten. Vergleicht man die zweite Handlungsseite mit der vorherigen, so wird die Handlung nahtlos fortgeführt, doch mit dem Schnitt, den der Link und der Knotenwechsel darstellen, hat zugleich ein Wechsel im Diskurs stattgefunden, die Erzählparameter haben sich grundlegend geändert. Tabelle 10: Seitenspezifisches Zusammenspiel der Erzählparameter Erzählparameter Protagonist Seitenlayout

Fokalisierung

Erste Handlungsseite

Zweite Handlungsseite

Edward

Marlène

Pastellfarben, Hintergrund uni, Text in Fensterbreite

kräftige Farben, Hintergrund gemustert, Text in 3 Spalten

Edward

Marlène

Erzähleridentität

heterodiegetisch (nicht genauer spezifiziert)

autodiegetisch (Marlène)

Redewiedergabe

erlebte Rede; auch: direkte & indirekte Rede

innerer Monolog/ direkte Rede

Schon der Haupttext präsentiert sich völlig anders, denn hier spricht autodiegetisch Marlène selbst, großenteils als direkte Rede übergangslos gemischt mit innerem Monolog. Auch die Dialogfenster werden nun bei „Marlène_PC“ ganz anders als auf der Seite „Edward_Amiga“ genutzt, nämlich als Kanal einer direkten Rede, als Marlène das erfolgreiche Einstellungsgespräch in Dialogfenstern Revue passieren lässt (Link „contrat inespéré“, s.o). Die Szene dieser Bewerbung ist reduziert auf die Äußerungen, die in direkter Rede wiedergegeben werden, und genauer, nur auf die an Marlène gerichteten Äußerungen der Firmenvertreter. Ihre Repliken dagegen werden nicht zitiert, denn dafür agiert der

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Leser an ihrer Stelle, indem er die „propositions“ gewissermaßen wortlos durch Klicken auf den OK-Button akzeptiert. Dadurch wird der Leser direkt in die Rolle Marlènes (auch hier wird streng intern auf sie fokalisiert) versetzt. In gewisser Weise stellt daher diese Szene auch eine Mini-Binnenerzählung dar, da sie völlig losgelöst von dem sonstigen Geschehen auf der zweiten Hauptseite ist und direkt vermittelt wird. Damit ist dieser Teil der Geschichte intradiegetisch und homodiegetisch, sogar autodiegetisch, da auf beiden Erzählebenen (extra- und intradiegetisch) Marlène in der Ich-Perspektive erzählt – wobei interessanterweise in der Binnenerzählung das Personalpronomen „ich“ nie fällt. Es wird wie beim auf die Kameraperspektive intern fokalisierten Film direkt „gesehen“. An diesem Beispiel ist auch anschaulich erkennbar, welch Mehrleistung an Interpretation nötig wird, um die fehlenden Strukturmerkmale der Sprecherzuschreibung auszugleichen; unterstützend wirken die vom Haupttext ausgegliederten Dialogfenster, die genügend Distanz zur Haupt-Erzählsituation schaffen. Aber auch hier kommt eine relativierende Zusatzinformation über den Kanal der Dialogfenster zum Zug: Als Marlène einen Hauch von Argwohn formuliert, wieso das alles so glatt gegangen sei, liefert der Klick auf den Link „ils devaient savoir.“ einen weiteren Dialog der Firmenvertreter von Cybercable, in dem klar wird, dass sie Marlène nur aus einem Grund eingestellt haben: um an die ominösen „systèmes éternels“ ihres Vaters zu gelangen; sie selbst wird sogar abschätzig als „petite gourde“ bezeichnet. In diesem Dialogfenster findet sich außer der direkten Rede auch die Angabe der Sprechsituation: (Voici la conversation qui s’etait deroulee entre le directeur de Cybercable et son chef de programmation, apres qu’ils aient pris connaissance de la lettre de presentation de Marlene)

Da Marlène nicht Urheberin dieser Szene sein kann, handelt es sich um eine Nullfokalisierung, die nur einem nicht manifesten, allwissenden Erzähler zu verdanken sein kann. Nach dem Wegklicken dieses Dialogfensters wird in einem neuen Dialogfenster die abschätzige Bezeichnung „gourde“ der Firmenvertreter mehrmals wiederholt, was einen wertenden Tonfall gewinnt, so dass dadurch die Erzählerfigur deutlicher in Erscheinung tritt. Die Unterschiede in der diskursstrukturellen Machart setzen sich fort: Wo der Text in der Statuszeile der ersten Hauptseite kommentierend wirkt und auf Edward fokalisiert ist (z.B. erkennbar an emphatischen Ausdrücken wie „HÉLAS!“) ist, stammen die erläuternden Kommentare auf Marlènes Seite aus der erzählenden Ich-Perspektive Marlènes (interne Fokalisierung auf sie, direkte

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Rede, innerer Monolog). Die kurz durch Mouseover eingeblendeten Zusätze können sogar als eine kookkurrente Visualisierung der assoziativen Gedankensprünge eines stream of consciousness gelten und sind so ein neues, technisches Verfahren zu dessen erzähltechnischer Realisierung. Der Blick in den Quelltext zeigt diese Kommentare der Statusleiste im kontigen Zusammenhang, wie sie der Leser sonst nur absatzweise durch ein vorsichtiges Abtasten des Texts mit seiner Maus entdecken kann: ET ME VOICI A PRESENT DEVANT LA PORTE CLOSE DE MON PERE. MAIS C’EST SANS IMPORTANCE ET DE PLUS, J’AI INSTALLE EXPLORATOR 5 DE MICROSO COMME NAVIGATEUR PREDETERMINE YES, I’M GON-NA SPEAK ENGLISH ... DADDY YOU CAN DRIVE MY CAR UNE PERVERSION POLYMORPHE PLUS OU MOINS REUSSIE ET S’IL ETAIT AGONISANT, EFFONDRE FOUDROYE SUR SON ORDINATEUR?! PAPA, EN DEPIT DE LA SYSTEMATIQUE, NE PARVIENT PAS A ECHAPPER A LA POESIE ENTRE PAPA ET ERIKA, UN ABIME DE DOUTES TROUBLANTS ... VERTIGES ON ALLAIT VOIR CE QU’ON ALLAIT VOIR, NOM D’UNE PETITE BONNE FEMME!!! PARCE QU’AUJOURD'HUI, MA VIE VA COMMENCER!! ENCORE UN EXEMPLE FREUDIEN DE DIALOGUE TRAUMATIQUE Diese Kommentare sind in engem, semantischem Kontext zu ihrer Umgebung auf der Browseroberfläche zu sehen, Zusammenhänge bestehen zwischen dem Absatz des Haupttexts, dem Link und dem Statuszeilentext. 4.4.5 Analyse der Folgeseiten bis zum Schluss Es folgt die Konfrontation der Figuren Edward und Marlène auf der dritten Hauptseite, die vorerst noch durch die Tür voneinander getrennt sind.87 Der Dialog zwischen ihnen wird durch die Nebeneinanderstellung der beiden Hintergründe (hellblau wie auf der Edward-zentrierten Seite und rot-braun gemustert wie auf Marlènes Seite) visualisiert. Die Unterhaltung selbst erfolgt in Dialog-

87 http://fredromano.eu.pn/Edw_amiga/index2.htm

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fenstern, wobei die in ihrer Größe variierenden Hintergründe als Ersatz für die fehlenden Inquit-Formeln die Sprecherzuordnung erleichtern: Spricht Edward, ist der hellblaue Hintergrund größer, spricht Marlène, dominiert ihr Hintergrundmotiv. Wie aus dieser Konstellation ersichtlich wird, steht das Layout im Dienst der Fokalisierung und spielt eine wichtige Rolle für die Diskursstruktur. Wie ein musikalisches Motiv repräsentiert der Seitenhintergrund die Fokalisierung auf die zugeordnete Figur, so dass die wechselnde Fokalisierung auf eine einfache und keine ausführlichen Erklärungen erfordernde Weise visualisiert werden kann – dies ist angesichts der fehlenden Mechanismen des Printmediums, eine Fokalisierung erkennen zu lassen, eine innovative Kompensation dieser Unterstrukturierung. Abbildung 35: Fokalisierung durch Layout

Quelle: Screenshot aus Edward_Amiga

Eine „Schlüssel“-Szene – im wahrsten Sinne des Wortes – in Edward_Amiga und für die Hyperfiction generell ist die Passwortabfrage, mittels derer Marlène Zutritt in die Wohnung Edwards erhält. Technisch gelöst ist dies durch ein Dialogfenster mit Eingabefeld, was im Zusammenhang mit den beiden Technokraten Edward und Marlène stilistisch angemessen erscheint, ansonsten aber eher wie eine ironisch motivierte Metapher wirkt. Inhaltlich will Edward Marlène im Laufe dieses Gesprächs nur gegen ein korrektes Passwort einlassen, das der Leser für Marlène eingeben muss. Solange er dabei scheitert, scheitert auch Marlène. Tatsächlich berichtet Fred Romano in einem Interview mit der Verfasserin am 28.02.2007, dass an dieser Stelle ein Großteil der Leser ausscheidet: „Malheureusement, à ce stade, la plupart des lec-

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teurs sont si traumatisés par cette question qu’ils en oublient de lire le password qui s’affiche.“88 Nach diversen notwendig eintretenden Fehlversuchen des Lesers wird nämlich das Passwort „istambul“ preisgegeben. Diese Passworteingabe ist eindeutig diskurslogisch motiviert: Gibt man diese Passwort bei der wiederholten Lektüre bereits beim ersten Vorkommen des Eingabefelds ein, wird es nicht akzeptiert! Erst nach dem obligatorischen Umherirren funktioniert die Freischaltung. Gibt man hier übrigens an der entscheidenden Stelle ein falsches Passwort ein, dreht man eine Strafrunde, und man wird an den Anfang der Passwortszene katapultiert, muss die gesamte Schleife bis zum bekannten „offiziellen“ Mitteilen des Passworts erneut absolvieren. Eine Abkürzung gibt es nicht. Die Belohnung für die Mühen folgt dann aber umgehend: Die diegetische Tür öffnet sich, was technisch durch das Erscheinen eines neuen Hauptfensters mit rosa Seitenlayout umgesetzt wird. Als die beiden Figuren endlich in herzlicher Wiedersehensfreude vereint sind (diegetisch sowie formal in einem Browserfenster), erscheint ein neuer rosaroter Hintergrund, der in seiner Auffälligkeit gleich verdächtig erscheint. Wo der Text kein Indiz dafür liefert, ist es hier die Farbe, die semantisiert in ironischer Übertreibung den ersten Anlass zum Misstrauen liefert. Das Geschehen wird durch den Seitenhintergrund kommentiert, mehr noch, es wird durch ihn subvertiert. Der Seitenhintergrund, sonst keine nennenswerte Größe in der traditionellen Literatur, wird nun literarisch semantisiert. Die Seite der Wiedersehensfreude trägt den sprechenden Titel: „La porte s’ouvre sur de nouvelles possibilités de nos cyberhéros....“89 und ist in einem schnulzigen Ton gehalten. . . . dans un élan incontrôlé, elle s’est jetée à son cou. Edward_Amiga, tout d’abord surpris, la serra alors contre son coeur. Ils avaient tant attendu cet instant. [...] Ils n’avaient guère besoin de mots, leurs larmes de joie leur suffisaient.90

Der sentimentale Ton gepaart mit dem rosa Hintergrund ist an sich schon verdächtig; vollends gewarnt ist der Leser durch das zugleich erscheinende Dialogfenster, in dem wieder die personalisierte Erzählerin hervortritt. Doch wie auch schon zuvor werden auch hier die allzu unkritischen Passagen in Frage gestellt: Im Vordergrund erscheint zugleich mit der rosa Seite ein Dialogfenster, das die

88 Zitiert nach Bauer (2009), auf der CD-ROM: ../module/hyperfiction/hf_hs/hf1_ ann/hf1_04_inter.htm 89 http://fredromano.eu.pn/Edw_amiga/rencon.htm 90 http://fredromano.eu.pn/Edw_amiga/faux.htm

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ketzerische Frage stellt: „Vous y croyez, a ces retrouvailles?“91 Antwortet der Leser mit „OK“, äußert er darin seine Erwartung, die er prompt auch anhand des rosa Seitenhintergrunds und des süßlichen Textes erfüllt sieht. Verneint er dagegen die Frage, so ist er bereits geimpft. Bei genauerem Hinsehen wird nämlich klar, dass die rosa Seite aus zwei Frames besteht und vertikal in zwei optisch nicht unterscheidbare Teile getrennt wird. Der Schnitt erfolgt nach dem Schlusswort „Puis“, das verstärkt durch drei retardierende Punkte ein konkretes Indiz gegen eine allzu sentimental-idyllische Auflösung ist und eine Denkpause förmlich erzwingt. Tatsächlich ist „une autre possibilité“ 92 im subvertierten Kontext sehr viel plausibler: Marlène_PC est entrée bravement. Son père s’est effacé pour lui laisser le passage. Le silence s’installa. Embarrassée, elle promena son regard dans la pièce.

Auf den letzten Seiten wird die Verlinkung außerordentlich komplex, die Hypertextstruktur bildet viele zirkuläre Formen, erkennbar beispielsweise an der Wiederholung des Linkworts „jamais“. Abbildung 36: Sternförmige Hypertextstruktur der letzten Seiten

Quelle: Eigene Darstellung

91 Das Dialogfenster erscheint zugleich mit http://fredromano.eu.pn/Edw_amiga/ren con1.htm 92 http://fredromano.eu.pn/Edw_amiga/faux1.htm

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Nach dem erfolgreichen Streuen des Misstrauens sind alle Links auf der rosafarbenen Seite typografisch nicht mehr von den normalen Textelementen zu unterscheiden, d.h. sie sind nicht mehr wie vorher farbig oder fett gekennzeichnet. Um die Falle nicht zu perfekt zu machen, erfordert dieser neuerliche Strukturmangel wieder eine Rezeptionshilfe, ein automatisch erscheinendes Dialogfenster mit der Aufforderung „Cherchez les links du bout des doigts“. Erst bei Mausberührung wird das Linkwort typografisch hervorgehoben, in Fettdruck, Blockschrift und abweichender Farbe. Die so getarnten Links führen zu Kommentaren in Dialogfenstern, die als Sprachrohr für die unterschwelligen Gedanken Marlènes dienen. Ihre Kommentare entlarven Edward als notorischen Lügner: So erzeugt der Link „Pardon“ die Meldung „Papa me sidere de sa capacite prodigieuse a inventer des excuses. [...]“ und der Link „Kosovars“ führt zu dem expliziten Kommentar: „Il ment!!! [...] Deja qu’avec sa propre fille...“.Die Folgeseite besitzt nur einen einzigen Link, „avenir“, der sehr unauffällig im oberen Teilframe in einem tabellarisch wiedergegebenen Dialog platziert ist und ein fazitartiges Dialogfenster öffnet: ... Constat d’impuissance: parfois les reves s’egarent et se diluent, d’autres fois, ils prennent de bien etranges voies On ne peut JAMAIS savoir......

Daran schließt sich die Schlussseite der Hyperfiction an, die den explorierenden Leser, der bis an dieses Ziel gelangt ist, mit Lob und Lorbeeren empfängt. Abbildung 37: Schlusspunkt der Hyperfiction

Quelle: Screenshot aus Edward_Amiga93

93 http://fredromano.eu.pn/Edw_amiga/porte1.htm

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4.4.6 Fazit Bei Edward_Amiga handelt es sich um eine spindelförmige, geschlossene Hyperfiction, denn von dieser Endseite führen keine weiteren Links in die Diegese zurück. Die Hyperfiction endet, wie sie begann: mit einem außerdiegetisch situierten Dialog zwischen der Autorin und dem Leser. Nach Absolvieren der Aufgaben, dem Umgehen der diversen Fallen und Hürden hat er die Prüfung der Hyperfiction-Tauglichkeit bestanden. Er hat sein technisches, vor allem aber inhaltliches Verständnis des Werks (und nicht nur dieses einen Werks!) unter Beweis gestellt und stößt die „porte“ in ein nächst höheres „Spiellevel“ auf – da sich diegetisch keine (schwierigere) Fortsetzung findet, bleibt allein der Schluss, dass der Nutzen beim realen Leser liegt, der nun die jüngste Gattung der Medienliteraturen, die Hyperfiction, für sich erobern kann. Das Schlusswort formuliert die große Prämisse der Hyperfiction: „C’est aussi vous l’écrivain...“ Der Leser hat eine praktische Umsetzung des Barthes’schen Diktums vom „Tod des Autors“ durchexerziert. Der Autor stirbt nicht aus, der Leser löst ihn auch nicht in seiner Schöpfungsleistung ab, aber aus der konstruierend und dekonstruierend wirkenden Lektüre werden ihm erst die tieferen Dimensionen des literarischen Werks zugänglich gemacht. Edward_Amiga macht deutlich: Erst durch die Interaktion des Lesers entsteht das eigentliche Werk. Der materielle Teil, der Signifiant, ist nicht mehr statisch fixiert wie der Text eines Buchs, das Werk ist auch Ereignis, Aktion und vor allem Interaktion. Durch letztere transformiert der Leser die Textvorlage in ein szenisches Ereignis und verleiht dem Werk die notwendige „touche finale“. Ein Schlüsselsatz ist in dem Zusammenhang „L’internet ne fonctionne pas sans les humains!“, wie Marlène ihrem Vater an den Kopf wirft. Das Medium des Computers fördert durch die Fragmentarisierung und die nonlineare Textorganisation sowie durch das Spiel mit den Lesererwartungen das Erleben des Texts als literarisches Experimentierfeld. Die Geschichte des sich schwierig gestaltenden Zusammentreffens von Edward_Amiga und seiner Tochter Marlène_PC wird zwar linear erzählt, eine Vielstimmigkeit der Perspektiven und Kontexte wird aber sehr attraktiv und plausibel durch Systemmeldungen und Seitenlayout in JavaScript erzielt. Das Inventar der technischen Gestaltungsmittel umfasst die Elemente Link, Typografie, Bild & Seitenkomposition, Multimedia und GUI-Elemente. Sie werden alle auf Edward_Amiga zu literarischen Zwecken eingesetzt. Der Text ist, wie bei einem „hyperoman“ auch nicht anders zu erwarten, gut sichtbar durch zahlreiche Links akzentuiert, die verschiedene Arten von Fenstern öffnen. Besonders elaboriert und innovativ ist die Gestaltung des Erzählers durch eine

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Technik der narrativen Ebenen, die GUI-Elementen zugeordnet werden. So liefern die Pop-up-Fenster durch erinnernde Rückblenden Ergänzungen zu den Informationen der Hauptebene des Browserfensters, die einen direkteren Einblick in die Gedankenwelt Edwards gewähren. Sie wirken daher in Bezug auf die Aussagen des Hauptfensters affirmierend und verstärkend. Die Dialogfenster dagegen erfüllen eine völlig andere Aufgabe: Sie subvertieren die Informationen, die in den Browserfenstern (sowohl Haupt- als auch Pop-up-Fenster) geliefert werden, sind damit gewissermaßen „Sprechblasen“ eines personalisierten IchErzählers, der sich als die Autorin Fred Romano zu erkennen gibt. Der Textort des Dialogfensters visualisiert so auch formal die aus der Diegese ausgegliederte Erzählinstanz, und der Begriff „heterodiegetisch“ wird sehr anschaulich erklärt. Wesentlich für die besondere Stellung von Edward_Amiga aber ist, über die Ebene der Einzelphänomene hinaus, das semantisch dichte, konzertierte und medienspezifische Zusammenwirken aus Erzähleridentität, Fokalisierung und Redewiedergabe. Die Abweichungen von den software-ergonomischen Konventionen leisten hierfür wertvolle Dienste, da sie neue deautomatisierende Mechanismen in Gang setzen, die ein aktives Partizipieren des Lesers in ungewohnter Intensität und Selbstverständlichkeit fördern. Geradezu parabelhaft stehen die verborgenen Informationen als neue, nicht routinekonforme Medientechniken für die Zwischenebene, die der Leser dem „texte scriptible“ hinzufügt und ihn über den existierenden Signifiant hinaus erst zum wahrhaft reichen (und individuellen) Signifié macht. Denn es ist, um erneut Barthes zu bemühen, auch legitim, dass der Leser die zusätzlichen Informationsebenen eben nicht findet. Diese Einschichtigkeit geht allerdings auf Kosten des „plaisir du texte“ – dem Text mangelt es dann an Mehrschichtigkeit und Mehrdimensionalität. So gesehen ist Edward_Amiga als erste echte, französischsprachige Hyperfiction nicht nur eine für die gesamte Gattung der Hyperfiction bedeutende Anleitung und Exemplifizierung möglicher Medientechniken, sondern auch ein Lehrstück postmoderner Lektürepraxis. Aus der Kombination der verschiedenen Textorte (und Textebenen) resultiert eine strukturierte Polysemie zwischen den dort befindlichen Texten, die aufeinander bezogen sind und nur im Zusammenspiel ihren synergetischen Informationsmehrwert entfalten. Es entsteht ein Spektrum semantischer Oszillationen zwischen den verschiedenen Textschichten: Die assoziativen Wechselwirkungen sind ein Paradebeispiel für die (post-) strukturalistischen Denkweisen der Entgrenzung und Multiplikation der Bedeutungen. Schließlich, und nicht zuletzt, lässt uns Edward_Amiga in all seiner Eigenwilligkeit einen erfrischend ungewohnten Blick auf die zeitgenössische Literatur werfen.

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4.5 A PPARITIONS

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INQUIÉTANTES

Der „hyper-roman“94 Apparitions inquiétantes der Belgierin Anne-Cécile Brandenbourger (http://www.anacoluthe.be/bulles/apparitions/jump.html) entstand in den Jahren 1997-1999. Als „cyber-polar“95 präsentiert er sich als eine umfangreiche und reichhaltige Hypertext-Collage aus Bildern, Animationen und Textsplittern, die in ihrer überbordenden Fragmentstruktur surrealistisch anmuten. Auch hier werden ästhetische Prinzipien der Postmoderne in den Hypertext verwoben; so greift die Kriminalgeschichte parodistisch Elemente von TV-Serien auf und setzt dabei auf Überraschungseffekte. Bemerkenswert früh beschäftigte sich die Journalistin Anne-Cécile Brandenbourger mit der „fiction en ligne“. Die Domain www.anacoluthe.com wurde am 05. August 1996 angemeldet.96 Wie bei Fred Romano der Fall, begegnet auch ihr Vorstoß in die digitale Literatur einem generellen Unverständnis, das sie pointiert wie folgt charakterisiert: ‚Ah oui?‘, me balbutiait-on, en regardant sa montre, ‚Vous écrivez sur internet? Il paraît que c’est l’avenir...‘ Cette formule ‚il paraît que c’est l’avenir‘, suivie d’une longue diatribe sur les charmes du papier, son odeur surtout (à croire que les gens sniffent leurs livres, ou alors ils se mouchent dedans?) qui nous manquera quand cette saloperie de monde électronique, encore une invention américaine qui vient nous pourrir la vie, aura envahi notre belle planète... toutes ces paroles encourageantes m’ont renforcée dans ma conviction: Internet, c’est l’avenir.97

Die Apparitions inquiétantes sollten eine wechselhafte Geschichte erfahren. Von 1996-1999 entstand als Fortsetzungsroman das Pionierwerk Apparitions inquiétantes, das sich als „une longue histoire à lire dans tous les sens, un labyrinthe de crimes [...].“98 versteht. Die Version „avatar n° 10“ war bis Dezember 2006 auf http://www.anacoluthe.com frei zugänglich im Netz, dann plötzlich spurlos verschwunden. Ergänzte Versionen dieses „livre en constante mutation“ erschienen im Januar 2000 als „livre numérique“ („avatar n° 11“) bei den Éditions 00h00

94 http://www.anacoluthe.be/index_passe.html 95 http://www.zazieweb.fr/archives/1999/slittinteractive.html (nicht mehr verfügbar, zuletzt: 06.02.2010) 96 Laut Domainregistrar Tucows, Stand 06.02.2010. 97 Brandenbourger (2000a). 98 http://www.anacoluthe.be/index_passe.html

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und im August 2000 als Papierversion („avatar n° 12“) unter dem Titel La Malédiction du parasol bei den Éditions Florent Massot. Geplant als Krönung des Projekts einer „littérature vagabonde, laboratoire de nouvelles narrations“, mit dem Anspruch „qui sème une graine de folie dans le jardin bien ordonnée de la littérature francophone“ schaffte die Printpublikation den erhofften Durchbruch aber nicht. Erst verschwand 2003 die digitale PDF-Version, als die Editions 00h00 ihren Online-Shop einstellten, dann machte der Verlag Florent Massot zu, 2006 war dann auch die Onlineversion aus dem Internet getilgt – und zwar so radikal, dass sogar die Domain www.anacoluthe.com aufgegeben wurde. Damit schien ein bemerkenswertes Werk der französischsprachigen Gegenwartsliteratur verloren zu sein, bis es unerwartet Anfang 2010 unter der seit Februar 2009 reservierten Adresse99 www.anacoluthe.be mit Länderkennung Belgiens wiederauferstanden ist. Die Werkgeschichte der Apparitions inquiétantes ist programmatisch für den Hunger der Hyperfictionautoren nach Anerkennung durch das „Establishment“ – was sich in einem Bemühen manifestiert, den Durchbruch auch im Printmedium zu schaffen. Elektronische Werke zeigen – und dies ist als Kompensations- und Legitimationsbestreben angesichts der Krise der digitalen Literatur zu sehen – eine paradoxe Tendenz, ihren Erfolg an der Übertragbarkeit in die kommerziellen Strukturen des Printwesens zu messen. Das Printmedium ist nach wie vor die unbedingte Königsdisziplin. Alle bedeutenden digitalen Autoren (Romano, Balpe, Boutiny, Taillandier, etc.) publizieren auch „traditionelle“ Literatur und versuchen, den Erfolg ihrer digitalen Werke durch die an sich paradoxe Rückkehr ins Printmedium zu krönen. Sogar für das Mitschreibeprojekt Escroc à Tokyo existieren seit Jahren Pläne, es zu publizieren, sollten sich genug Subskribenten finden. Besonders tragisch wirkt Brandenbourgers Versuch, den Online-Erfolg der erfolgreichen Hyperfiction Apparitions inquiétantes als La Malédiction du parasol im Buchmedium fortzusetzen, denn das Erscheinen der Buchfassung markiert bezeichnenderweise den Wendepunkt ihrer Erfolgsgeschichte. Die charakteristische Dynamik und Flüchtigkeit, die die Hyperfiction auszeichnen, sind nicht ins Buchmedium übertragbar. Der Tribut an den dynamischen Urtext, den Genette’schen Hypotext, sind Blätteranweisungen für die Anschlussstellen der Lektüre, so dass das Buch den Rollenspielbüchern der 1970er-Jahre für Kinder und Jugendliche gleicht. In die Richtung der Jugendbücher deutet auch die vom Verlag stolz präsentierte Besonderheit einer Flip-Animation (eines sogenannten

99 Domaininformation können beispielsweise bei united domains (https://www.uniteddomains.de/whois-suche/suche.html) abgefragt werden.

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„Wackelbilds“) auf dem Buchtitel, die je nach Neigungswinkel ein geöffnetes oder geschlossenes Schirmchen zeigt: [...] avec une couverture originale: pour la première fois, un livre avec une couverture qui bouge en fonction de l’orientation et en 3D!

Handwerklich ist die Erweiterung gegenüber der digitalen Version, dem 10. Avatar, eher halbherzig durchgeführt; die Bonusseiten, die das Buch dem digitalen Werk voraus hat, sind wie ein Anhang nach dem multinearen Korpus einfach linear angeordnet und nicht mehr nennenswert vernetzt. Unmissverständlich erweist sich, dass zwar der Fragmentcharakter reproduziert werden kann, die Linearität des Mediums aber entscheidenden Anteil an der Charakteristik des Werks hat. Im Grund kastriert sich das Werk im Medienwechsel selbst, beraubt sich just seiner medialen Besonderheit, und degradiert die erfolgreiche digitale Fassung zum Präludium einer Hauptpublikation, die nur als Misserfolg gewertet werden kann. Die Flip-Animation wurde zum Symbol für den Publikationsflop. 4.5.1 Die paratextuelle Einstimmung aufs Werk Bevor die Lektüre starten kann, ist auch hier, wie bei den meisten Hyperfictions, ein einführender Paratext vorgeschaltet. Die Startseite des Webauftritts zeigt eine Übersicht über mehrere Werke, wobei Apparitions inquiétantes prominent an erster Stelle steht. Der Text führt einige Informationen zur Geschichte der Publikation des Werks auf, und es ist gar nicht so einfach, unter den sechs Alternativen den richtigen Einstieg ins eigentliche Werk zu erkennen. Der Link „version originale“ ist der richtige, er führt zu einer weiteren vorgeschalteten Seite,100 die den Leser in Empfang nimmt und ihm immerhin vier verschiedene Zugangsmodi anbietet: Ein Paradebeispiel für die vielfältigen Freiheiten und Lesemodi, die die Multilinearität des Hypertexts bietet, aber auch für die subtile Lenkung des (unerfahrenen) Lesers. Er hat hier die Wahl zwischen verschiedenen Zugangs-Interfaces der Handlungs- und der Erstellungschronologie. Eine expositorische Startseite („Tout simplement: commencez par le début.“); die jüngst hinzugekommenen Seiten („Résolument, découvrez les derniers développements.“); ein Zufallsgenerator („Avec audace, plongez au hasard dans le coeur du récit.“); und, höchst ungewöhnlich, eine kurze inhaltliche Zusammenfassung, die einen verlinkten Überblick über die handelnden Figuren und ihre Konstellation gibt: „Méthodiquement, lisez ce petit aperçu des événe-

100 http://www.anacoluthe.be/bulles/apparitions/jump.html

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ments.“ So wird dem Leser bereits vor Lektürebeginn eine Vorstellung der Handlung vermittelt, deren Stationen er beim eigenen Lesen wiedererkennen kann und die ihm das Gefühl der Sicherheit und Orientierung geben. Dennoch wird nicht zu viel verraten, denn auch in der Inhaltsangabe finden sich noch zahlreiche Leerstellen, die als explizit formulierte, offene Fragen an den Leser weiter gereicht werden. Doch damit nicht genug: Eine richtiggehende Gebrauchsanleitung findet sich im Navigationsmenü am Seitenfuß, hinter dem Link „Indices de navigation“.101 Der wichtigste Hinweis gilt auch hier der hypertextuellen, verbindenden Organisation des Werks und den Linkprinzipien der Kontinuität („logique“) bzw. der Kontiguität („(presque) logique“): Un, deux, trois hyperliens vous permettent d’enchaîner la lecture des épisodes de manière (presque) logique.102

Interessant an dieser eher lapidaren Erwähnung des Hypertextprinzips ist sicherlich der Hinweis, dass der Leser für die Verkettung verantwortlich ist und damit die Reihenfolge der einzelnen Knoten der Logik des Lesers entspringt. Ein weiterer zentraler Hinweis gilt den Bildern, denn hier wird das Augenmerk auf eine der Besonderheiten der Hyperfiction gerichtet: Vous remarquerez bien vite que les images qui illustrent ‚apparitions inquiétantes‘ sont ‚actives‘. Les destinations qu’on peut atteindre en cliquant sur les images ... sont une surprise!103

Der Rest der Gebrauchsanleitung wird von einem recht ausführlichen Kommentar zu den werkeigenen Navigationsmenüs eingenommen: Die Inhaltsseiten der Apparitions inquiétantes verfügen über zwei eigene Navigationsleisten: eine makrostrukturelle und eine funktionale mit Bedienfunktionen, die jeweils redundant zum Navigationsmenü des Browsers sind. Die makrostrukturelle Navigationsleiste bietet Abkürzungen zu bereits besuchten Seiten, z.B. den Sprung zur unmittelbar vorherigen Seite sowie zur letzten Seite, die mindestens zwei Entscheidungsalternativen enthält, den Sprung zum Fixpunkt der Startseite des Diegese und schließlich auch hier einen aleatorischen Sprung ins Blaue. Das Hin- und Hernavigieren im Rhizom wird dadurch

101 http://www.anacoluthe.be/bulles/apparitions/navigation.html 102 Ebd., Fettdruck wie im Original. 103 Ebd.

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ausdrücklich gefördert. In der zweiten Navigationsleiste, dem Funktionsmenü, gewährt der „Atlas des Chemins“104 mit einem systematisch nach Figuren geordneten Index sogar noch eine weitere Orientierungshilfe: Der Leser kann in der Übersicht der Dokumente ungelesene Seiten entdecken und Zusammenhänge nachlesen. Die anderen Tools wie die Kontaktmöglichkeit zur Autorin per E-Mail, der Sprung an den Seitenkopf bei langen Seiten sowie ein Notausgang sind für die Lektüre der Hyperfiction von marginalem Interesse. Dass sich der Hypertext-Roman (übrigens ganz im Sinne der SoftwareErgonomie!) so ungewöhnlich viel Mühe gibt, dem Leser Fixpunkte als Orientierungshilfen im Hypertext zu bieten, ist ein untrügliches Indiz dafür, dass dies auch notwendig ist. Begibt man sich lesend in das Werk, entpuppt sich der Text als ein bewegliches Mobile, das sich in seinen Verbindungen und Kreuzungen nur langsam als ein kohärent-offenes Ganzes zu erkennen gibt. Beim konkreten Lesevorgang wird aus der multilinear angelegten Hypertextstruktur der Handlung wieder eine monolineare Lesechronologie hergestellt. Das Komplexe dabei ist, dass der Link als elliptische Figur auf explizite Konjunktionen hinsichtlich Handlungslogik, -chronologie etc. verzichtet, so dass traditionelle, strukturierende Merkmale fehlen, erst recht in der relinearisierten Reihenfolge der einzelnen Hypertextdokumente. Damit die Lektüre nicht zu sehr unter diesem ästhetisch bedingten Strukturmangel leidet, werden neue strukturierende Mittel eingeführt, und die zahlreichen Mechanismen zur Orientierung im virtuellen Raum gehören dazu. Ein Abstract einzufügen, ist dabei sogar ein ganz altes Verfahren und stellt sich literaturgeschichtlich in eine Reihe mit den ausführlichen Kapitelüberschriften mit Inhaltsangabe, mit denen historisch das noch junge Printmedium fehlende Strategien des mündlichen Erzählen kompensierte, um dem Leser die Orientierung im Text zu erleichtern.105 Auf das neue digitale Medium gemünzt, dient der Vortext ebenfalls der Beruhigung des Lesers, leistet Verständnishilfen und hilft, für den Leser nötige Strukturen zu bilden. Aus der unmarkierten Aneinanderreihung der Textfragmente müssen die Kohäsion und inhaltliche Kohärenz durch Interpretation schließlich erst herausgearbeitet werden. Hierbei wirken medienspezifische Strukturen unterstützend.

104 http://www.anacoluthe.be/bulles/apparitions/ 105 Vgl. dazu u.a. Ong (1990) sowie (1988).

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4.5.2 Die makrostrukturelle Basis 4.5.2.1 Inhalt und Figuren „à la Hyperfiction“ Erzählt wird die kriminalistische Rekonstruktion der Ermordung des Chirurgen Dr. Ernesto Marbella, eines notorischen Frauenhelden, der in seinem SwimmingPool ertränkt wurde. Aus einer Vielzahl zufälliger Begegnungen und Perspektiven kristallisiert sich quasi en passant die offizielle Lösung heraus: Marbella fiel zufällig einem Serienmörder zum Opfer. So wird bereits auf der Makroebene der Kontext der langen Tradition von Kriminalromanen parodiert, in denen mit viel Raffinesse ein unglaublicher Tathergang, das perfekte Verbrechen eines genialen Superhirns, konstruiert wird. Ob die angebotene Lösung befriedigend ist, bleibt aber letztendlich offen. Die Geschichte präsentiert sich als eine De(kon)struktion des Textganzen in kaleidoskopische Textsplitter, die durch Links verbunden sind. Diese außerordentlich dichte Vernetzung der einzelnen Textknoten im Rhizom des Werks macht eine detailliertere Inhaltsangabe kaum möglich. Es sind verschiedenste Handlungsstränge, die sich zum Teil in mikroskopisch kleinen gemeinsamen Nennern assoziativ berühren, zum Teil aus verschiedenen Perspektiven und Handlungsabläufen einen Beitrag zur Haupthandlung der Aufdeckung der Kriminalgeschichte und ihrer Hintergründe leisten. So werden nicht weniger als 23 Figuren namentlich eingeführt, die in verschiedene Handlungskontexte eingeordnet werden; die disparaten Personenkreise schließen sich später oft unerwartet zusammen. Die Haupthandlung geht der Frage nach, die mit der ersten Seite aufgeworfen wird: Wer ist der Mörder? Im Text sind zu den verschiedenen Figuren verschiedene Spuren, Indizien und Motive angelegt, die aufgrund ihrer unkohärenten Wiedergabe am besten schematisch zusammengefasst werden: 1. Carmella a. verfolgt einen rätselhaften Plan, der gegen Dr. Marbella gerichtet zu sein scheint b. ist (wahrscheinlich) seine Tochter c. ist (wahrscheinlich) seine Geliebte d. hat „visions“, dass sie ihn umgebracht hat und sich nicht daran erinnern kann (Parasol, S. 99) 2. Paméla a. ist eine von Dr. Marbellas Geliebten b. ist um die 30 Jahre alt c. hat ihn wahrscheinlich als Letzte lebend gesehen

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d. e. 3. Hélène a. b. c. d. e. f. 4. Marina a. b. c.

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ist überstürzt von Dr. Marbella weggefahren kommt in aufgelöstem Zustand bei ihrem anderen Liebhaber an ist wahrscheinlich eine von Dr. Marbellas Geliebten leugnet dies bei der Polizei ist frustriert, alternd, vom Leben gebeutelt etrachtet Männer als „Beute“ hat die Leiche gefunden wollte ihn selbst verführen, nachdem alle Konkurrentinnen weg waren scheint ernsthaft in Dr. Marbella verliebt zu sein ist wahrscheinlich die unbekannte Blondine am SwimmingPool am Vorabend des Mordes ist wahrscheinlich gekränkt wegen der „offiziellen“ anderen Geliebten Paméla

5. Roberto a. ist der (kleine?) Bruder von Dr. Marbella b. fühlte sich als Kind von der Mutter ungeliebt, Bruder wurde ihm immer vorgezogen c. leidet unter seiner unglücklichen Kindheit d. hat eine pessimistische, depressive Lebenseinstellung e. hasst den erfolgreichen Bruder f. ist Mitglied einer militanten, terroristischen Kleingruppe 6. Bob a. ist der neurotische Nachbar, der Dr. Marbellas Frauen heimlich beobachtet b. kann sich selbst nicht verlieben c. ist ein Stalker, der es auf David Bowie abgesehen hat Immerhin liefert die Startseite eine konstante Ausgangssituation im Sinn einer klassischen Exposition: Die zentralen Figuren werden eingeführt, ihre Konstellation wird skizziert und der Kontext der Vorgeschichte gesetzt. Auffächerung und narrative Fragmentarisierung prägen das Werk wie kein Anderes. Der Name der Domain http://www.anacoluthe.be der Online-Fassung fasst das Programm sprechend zusammen: Die rhetorische Figur des Anakoluth stellt das dominierende Prinzip des Hypertexts dar, der sich einer hypertextuellen Zäsur als Bruch zwischen den verknüpften Elementen bedient. Die Link-Ellipse

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als Verfahren des Nichtexpliziten dient zugleich der Öffnung und Schließung eines Knotens:106 Wie eine Brücke zugleich trennt und verbindet, bewirkt der Link eine fortwährende De- und Rekontextualisierung. 4.5.2.2 Makrostrukturelle Schematisierung als Basiskonstante Wie die außerordentlich ausführlichen Hinweise zum „Gebrauch“ der Hyperfiction auch zeigen, ist die Makrostruktur einfach; komplex wird das Werk durch die raffinierten und komplexen Präsentationstechniken der Diskursstruktur, ein Spannungsverhältnis, auf dem die spezifische ästhetische Differenz der Apparitions inquiétantes beruht, wie sich im Folgenden noch genau zeigen wird. Es ist insbesondere die innovative diskursive Ausformung, die sie von traditionellen Literaturformen unterscheidet. Die stilisierte Makrostruktur erfüllt dabei die Funktion einer wichtigen Basiskonstante für die diskursstrukturelle Experimentierfreude. Stilistisch zeigt sich von der ersten Seite an, dass Apparitions inquiétantes stark mit Versatzstücken aus der Trivialliteratur hantiert. Die einzelnen Handlungssequenzen sind bekannte narrative Muster aus dem Trivialgenre, z.B. die Verführungsszene am Swimmingpool, der verstohlene Blick hinter verbotene Türen oder die heimlichen Verabredungen eines Liebespaars in einem Motel namens Blue Beach. Sie erlauben dem Leser, sie rasch in die entsprechenden makrostrukturellen Schubladen (erotische Erzählung, Kriminalgeschichte, sogar das Science-Fiction-Genre kommt kurz vor) zu kategorisieren – auch eine Form der Automatisierung, die Entlastung und Spielraum auf anderer Ebene ermöglicht – diesmal auf Seiten der Diskursstruktur. Zwar sind solche klischeehaften Situierungen schon aus der gedruckten Gegenwartsliteratur bekannt, dort stehen sie jedoch im Dienste einer Ästhetik der Inauthentizität.107 Auch wenn die Kombination makrostruktureller Schemata wild erscheinen mag, bietet die genreumspannende Architextualität dem Leser mindestens eine Vergleichsfolie mit vertrauten Eckpunkten, an denen er sich orientieren kann.108 Auf diese Weise schafft die schematisierte Makrostruktur mit ihrem expositorischen Startpunkt einen festen Bezugsrahmen für die anarchisch anmutende Variabilität des Hypertextgefüges; die prinzipielle Unterstrukturierung des Hypertexts wird durch eine narrative Überstrukturierung abgefangen.109

106 Vgl. hierzu auch Alamán (2004). Sie wendet die Begriffe allerdings auf die Linklogik (Kontinuität vs. Kontiguität) an. 107 Vgl. Mecke (2000a). 108 Genette (1992), S.12. 109 Vgl. Chklovski (1965).

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Nicht zuletzt sind parodistische Anleihen bei einschlägigen TV-Serien und Sitcoms für die Apparitions inquiétantes charakteristisch, was aus der Wahl von Namen wie Paméla, Cindy Texas, Zack und Saphira, Tom Tuckson, Ricky Le Dingue sowie Schauplätzen wie dem „Blue Beach Hotel“ und der mexikanischen Bar „Le Cactus Rouge“ ersichtlich wird. Die Versatzstücke werden extrem überspitzt und parodieren so auf ganz amüsante Art die makrostrukturellen Schemata; so wimmelt es förmlich von Todesfällen in der Geschichte, fast jede Figur hat irgendwie mit dem einen oder anderen Mord zu tun. Ricky Le Dingue ist als Serienmörder gleich für mehrere dieser Morde verantwortlich, seine Lust am wahllosen Töten macht ihn geradezu zu einem Superbösewicht. Unschädlich gemacht wird er aber ausgerechnet durch die etwas simpel veranlagte Cindy Texas, die seit der Lektüre des Bestsellers Bonjour mon ange, dessen Autor der bekehrte Massenmörder Johnny Moreno ist, an Schutzengel glaubt und eine völlige Metamorphose zum angstfreien Dasein durchmacht. Die starke Markierung als Trashliteratur trägt ebenso dazu bei, von der Komplexität des verteilten Hypertextkonzepts abzulenken. 4.5.3 Die Hypertextstruktur Die Analyse der Verlinkung liefert das Diagramm eines aufwändigen Rhizoms mit komplexer Struktur, bei dem viele einzelne Hauptseiten miteinander verbunden sind. Pro Knoten sind nicht selten bis zu sieben fortführende Links zu verzeichnen, die meistens auch nicht rekurrent sind, d.h. nur selten werden die gleichen Zielseiten von verschiedenen Herkunftsseiten angesprochen, sehr wenige Knoten werden wieder verwendet. Das Diagramm des Hypertexts lässt sich durch eine dichte Kombination aus Stern- und Netzstruktur abbilden. Alle Pfade enden früher oder später als Sackgasse: Es wird eine Endseite erreicht, die ohne weitere inhaltliche Verlinkungen einen Schlusspunkt setzt. An diesen Stellen wird, wenn der Leser die Lektüre fortsetzen will, die zusätzliche Funktionalität des Browsers (Back-Button) oder der proprietären Navigationsmenüs notwendig, die ein Zurückgehen im Lektürepfad zu Seiten mit noch nicht besuchten Links gestatten. Das mit dem Tool WebTracer erstellte Diagramm der Hypertextstruktur ist für das umfangreiche Werk eher unübersichtlich; doch eine Besonderheit der Hyperfiction, sie sei damit schon vorweggenommen, lässt sich damit auch grafisch erkennen:

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Abbildung 38: Automatisch erstellte Hypertextstruktur

Quelle: Screenshot-Ausschnitt erzeugt mit WebTracer

Die waagrecht nach links weisende Menge von Pfaden sind die Hauptseiten, die in dem Ordner „inquiétantes“ abgelegt sind; die von diesen senkrecht nach oben weisenden sind die kurzen Tentakel der Gedankenassoziation im Ordner „inconscient“. (Die anderen, langen Links führen zu anderen Teilen der Domain.) Abbildung 39: Struktur des HTML-Codes

Quelle: Screenshot-Ausschnitt erzeugt mit Aharef

Wie die Abbildung zeigt, ist eine Besonderheit dieser Seite, wie auch aller folgenden Seiten, dass die Bilder in der Regel Links sind (ein violetter Bildknoten

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an einem blauen Link-Tag hängend als Endglied der Kette); allerdings ist nicht automatisch jede Abbildung verlinkt. Wie wichtig die Bildlinks für die Diskursstruktur des Werks sind, kann man schon an dem expliziten Hinweis in der paratextuellen Hinführung erkennen. Sie eröffnen anders als die Textlinks keine Pfade (d.h. von ihnen gehen keine Linkketten aus), sondern sie führen als minimale Tentakel automatisch wieder zur Herkunfts-HTML-Seite zurück. Dies geschieht technisch durch einen RefreshBefehl, der eine Weiterleitung zurück zur Vorgängerseite ausführt. Bildlinks enthalten meist nur einen kurzen Text, wie einen Nadelstich der Erinnerung oder der freien Assoziation. Die Folge solch schneller Schnitte ist ein unruhiger und beunruhigender, distanziert wirkender Erzählstil, dessen Stakkato die spannungsgeladene Atmosphäre der Apparitions inquiétantes unterstreicht. 4.5.4 Aufwertung der visuellen Zeichencodes Die Ausdrucksmittel auf der mikrostrukturellen Ebene sind in der Hyperfiction typischerweise mit einem erzähltechnischen Nutzen verbunden, daher werden sie sinnvoll zusammen behandelt. Ein Element soll dennoch durch sein besonderes Gewicht eigens behandelt werden: der Einsatz der Bilder im Kontext des Seitenlayouts. Abbildung 40: Layout der Startseite mit Text und Bildern

Quelle: Screenshot aus Apparitions inquiétantes

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Die diegetische Startseite110 führt gleich den die Szene beobachtenden Voyeur ein, der den leitmotivischen Kontext für das Werk setzt: die Bildlinks spielen eine zentrale Rolle als Vehikel unkontrollierbarer geistiger Assoziationen in den Apparitions inquiétantes, und dementsprechend wichtig ist der gesamte visuelle Aspekt. Das Layout der Startseite präsentiert sich ziemlich textlastig, die grafische Gestaltung ist unaufwändig. Der Fließtext in Schreibmaschinenoptik enthält eine Reihe von textlichen Links sowie mehrere kleine Abbildungen, die in den Text eingestreut sind. Auch diese Abbildungen stellen Links dar. Insgesamt sind die einzelnen Seiten recht verschieden aufgebaut, jede Hauptseite weist mindestens ein grafisches Element auf, dies sind Bilder, Fotos und manchmal auch einfache Animationen. Diese eingestreuten Abbildungen lockern das äußere Erscheinungsbild des Werks mit seinem sonst eher kargen Layout in charakteristischer Weise auf. Die Bedeutung des grafischen Materials betont Brandenbourger, als sie ihre Autorenaktivität beschreibt:111 [...] j’ai découvert PhotoShop et je me suis de plus en plus amusée, pendant que des tas de gens s’emmerdaient dans leurs bureaux et que d’autres déprimaient devant leurs télés...

Brandenbourger entwickelt zu ihrem präzisen Schreibstil hinzu eine prägnante Bildsprache, die nicht einfach nur illustrierend wirkt. Die Bilder stehen stets in kontigem Zusammenhang zum Inhalt einer Seite und gewinnen dadurch synergetische Relevanz. Sie sind wohlgesetzte Informationselemente, die eigens und recht aufwändig für die Szene, in der sie erscheinen, erstellt wurden. Oft haben sie textlogisch eine gewisse Rebusfunktion, denn sie integrieren sich mit eigenem semantischem Wert in das assoziative Netz auf und zwischen den Textseiten. Die ikonische Zeichenwiedergabe ist bei emphatischen Themen wie der erotisch aufgeladenen Stimmung der Startseite eine Strategie, beim Leser direktere Emotionen als durch die symbolisch wirkenden Textzeichen zu wecken.

110 http://www.anacoluthe.be/bulles/apparitions/inquietantes/blafard.html 111 Auch wenn sie als Hauptautorin auftritt, nennt Brandenbourger auf der Seite „L’auteur et ses invités“ (http://www.anacoluthe.be/bulles/apparitions/credits.html) zwei weitere Ko-Autoren, die sie bei der Erstellung des Materials unterstützt haben: Olivier Lefèvre („Intégration HTML“ und „images & traitements d’images“) sowie Simon Rigot, der die Midi-Files erstellt hat. Für sich selbst beansprucht Brandenbourger die Bereiche: „scénario, textes & architecture“ sowie „images & traitements d'images“. Nicht zuletzt durch das Autorenkollektiv erklärt sich die Vielschichtigkeit des Werks.

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Doch die Bilder sind nicht nur ikonisch motiviert. So wird die brutale Ermordung des Gerichtsmediziners Jannings durch ein Bild illustriert, das seinerseits in feine Streifen zerschnitten ist; dadurch steht es als Metapher für die schlimm zugerichtete Leiche bzw. als Metonymie für einen brutalen Mord. Schon George Rodenbach hat 1892 in Bruges-la-morte, symbolistisch beseelt, auf die visuelle Verstärkung von melancholisch-depressiven Abbildungen gesetzt, bei den Apparitions inquiétantes wird die Strategie des Verwebens von Informationsdosen verschiedenster Art noch viel konsequenter verfolgt. Interessant zum Aufdecken der Semantisierung der Bilder ist der Blick in den Quelltext: Alle Abbildungen sind sorgfältig in einem eigenen Dateiverzeichnis für Bilder abgespeichert, innerhalb dessen jeder HTML-Seite ein eigener Ordner zugewiesen ist. Bezeichnend ist der Name dieses Bildverzeichnisses: „enluminures“, ein anachronistischer Bezug auf die Buchilluminationen mittelalterlicher Handschriften, der aber gleichzeitig, leicht ironisch, auf die visuelle Attraktivität der Abbildungen verweist. Und angesichts der überall praktizierten Interdependenz und Assoziativität von Elementen ist wohl auch der Beitrag der zugrunde liegenden Wortbedeutung im Sinne von „erhellend“ oder im übertragenen Sinn „erläuternd“ nicht verfehlt. Eine weitere unvermutete, aber außerordentlich aufschlussreiche Informationsquelle im HTML-Code ist das Attribut „Alt=“ der Grafikreferenzen. Es dient dazu, einen Alternativtext anzuzeigen, falls eine Abbildung nicht angezeigt werden kann. Das Alt-Attribut trägt dazu bei, ein kohärentes Beziehungsgeflecht zwischen Seitentitel, -inhalt, Bild- und Alternativnamen sowie Bildinhalt zu weben.112 So lautet der Alt-Text als „Synonym“ für das Bild der Tür auf der „DU BOUT DES ONGLES“ betitelten Seite „porte.html“,113 kurz bevor Paméla die Beziehung zu ihrer Jugendliebe Alan beendet, „cette distance entre nous...“. Auf „chateau.html“114 ist der Ersatzname für das Traumschloss, das die arme Halbwaise Lena zu erben hofft, „Il etait une fois...“. Diese ersehnte Hoffnung auf ein Happy End formuliert auch der Seitentitel „TROIS CERISES ALIGNEES“, der an den Jackpotgewinn bei Glücksspielautomaten anspielt, und dessen naive Bildlichkeit das Märchenhafte einer solchen Aschenputtelgeschichte noch einmal betont. Das verzerrte, wie ein Spiegel zersplitterte Bild einer Straße auf der „APRES LE MEURTRE“ betitelten Seite „serial-killer.html“115 trägt den Alt-

112 Zur ausführlichen Darstellung der Titelproblematik in der Hyperfiction vgl. Mecke (2000b). 113 http://www.anacoluthe.be/bulles/apparitions/inquietantes/porte.html 114 http://www.anacoluthe.be/bulles/apparitions/inquietantes/chateau.html 115 http://www.anacoluthe.be/bulles/apparitions/inquietantes/serial_killer.html

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Beinamen „une rue au coucher du soleil“, so dass aus den an verschiedensten Orten gesammelten Informationsfragmenten rekonstruiert werden kann, dass der Psychopath Ricky Le Dingue nach der Ermordung des Gerichtsmediziners Jannings nun zufrieden wegspaziert. Charakteristisch ist also, dass dieser Beschreibungstext sich nicht wie im Standardfall auf das Bild selbst bezieht und den Bildinhalt verbal ersetzt, sondern parallel zum Bild auf den Seitenkontext referiert; dadurch erlangt die Hilfsfunktion des Bildes eine eigenständige Rolle im Assoziationsgeflecht der Hyperfiction. 4.5.5 Das diskursstrukturelle Zusammenspiel 4.5.5.1 Text- und Bildlink und Handlungsstrang Über ihren Bildwert hinaus haben die Bilder in den Apparitions inquiétantes eine ganz entscheidende strukturelle Funktion als Link. Text- bzw. Bildlinks entwickeln dabei jeweils ihre eigene Semantik: Semantische Kontinuität zwischen Anker und Linkziel findet sich in den Linkketten, die einen Erzählstrang chronologisch verfolgen, Kontiguität in denen, die durch Linkassoziationen einen neuen Erzählfaden beginnen und so die Rhizomgestalt der Hypertextstruktur bedingen. Die Textlinks bilden Linkketten nach beiden Konzepten; charakteristisch für die Apparitions inquiétantes ist aber, dass in den kurzen Tentakeln der Bildlinks nur das Konzept der Assoziativität vorkommt. Abbildung 41: Chronologisch-kausal aufgebauter Erzählstrang

Quelle: Eigene Darstellung

Eine chronologisch organisierte Linkkette liegt beispielsweise vor, als 1.) der Privatdetektiv Chris Winter seinen Auftrag erhält,116 2.) am Tatort ein Streichholzbriefchen der Bar „Le Cactus Rouge“117 findet, und 3.) der Klick auf „une

116 http://www.anacoluthe.be/bulles/apparitions/inquietantes/fils.html 117 http://www.anacoluthe.be/bulles/apparitions/inquietantes/client.html

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pochette d’allumettes“ den Leser sofort in diese Bar führt118 – was der logisch nächste Gang des Ermittlers ist. Ein Beispiel für die assoziativ motivierte Linkkette liefert dagegen die folgende Sequenz: Der Voyeur Bob Wafelson belauert nicht nur heimlich das Treiben auf dem benachbarten Grundstück des Dr. Marbella, sondern auch seine Nachbarin Cindy Texas;119 im nächsten Textfragment geht der Fokus auf eben diese Cindy über, die völlig im Bann eines Lebenshilfebuchs steht, das sie vor kurzem gelesen hat,120und der nächste Link transportiert den Leser zu einer Seite mit der Abbildung des Covers dieses Bestsellers.121 Abbildung 42: Assoziativ motivierter Erzählstrang

Quelle: Eigene Darstellung

Aus dieser Folge wird nicht unmittelbar eine Geschichte ersichtlich; der narrative Zusammenhang ergibt sich erst aus dem Gesamtkontext. (Cindy gewinnt durch die Lektüre des Buches so viel Unerschrockenheit, dass sie später den Serienmörder, der auch Dr. Marbella auf dem Gewissen hat, überwältigt und im Handgemenge ersticht.) Für diesen Gesamtkontext sind die assoziativen Indizkombinationen wertvolle Hintergrundinformationen. Der Leser lernt die dargestellte Welt recht genau „von innen“ kennen. Der Prozess einer solchen Erkenntnisgewinnung ist allerdings langwierig. Die strukturelle Besonderheit der bildinduzierten Linktentakel steht im Dienst einer narrativen Semantisierung. Während die textlichen Links Handlungsfragmente von einer HTML-Seite zur nächsten fortführen und so Handlungsstränge erzeugen (können), führen die Bilder als Vehikel der Erinnerung zu kurz aufleuchtenden Seiten mit aufschlussreichen Zusatzinformationen, die den Leser nach einigen Sekunden automatisch als Link-„Sackgassen“ zur Ausgangsszene zurückbringen. Die Bildlinks dienen im ganzen Werk als Katalysatoren Proust’scher Prägung für eine mémoire involontaire und rufen längst vergessen

118 http://www.anacoluthe.be/bulles/apparitions/inquietantes/chili.html 119 http://www.anacoluthe.be/bulles/apparitions/inquietantes/voyeur.html 120 http://www.anacoluthe.be/bulles/apparitions/inquietantes/solitude.html 121 http://www.anacoluthe.be/bulles/apparitions/inquietantes/revelation.html

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geglaubte oder verdrängte Erinnerungen ins Bewusstsein zurück. Die Tentakelstruktur des Hypertexts visualisiert die unwillkürlich erscheinenden Erinnerungsfetzen, die durch die Bilder ausgelöst werden. Die Kombination aus Link und Bild ahmt den assoziativen Erinnerungsprozess nach. So ist auf der Seite „DES HEURES INDUES“122 das Bild des SpielzeugFeuerwehrautos eine unwillkürliche Assoziation zu dem brennenden Zimmer, in dem Michaël sich gerade befindet, und löst (indem der Leser darauf klickt) im Angesicht der Katastrophe die Erinnerung an eine kurze Szene aus glücklichen Kindertagen aus, wie eine Übersprungshandlung, die dem Wunsch nach Flucht entspringt: „Michaël! Ton cacao!! – J’arrive, m’man...“.123 Doch die Bilder können außer einer solchen auf die Figur fokalisierten Erinnerung auch auktorial motivierte Kommentare auslösen. So versucht in der Eingangsszene die alternde Hélène die Konkurrentin Paméla im Wetteifer um die Gunst des Lebemanns Dr. Marbella auszustechen, indem sie ihn in deren Abwesenheit verführt. Die Szene am Pool (textlich: das Abwerfen des Bademantels) wird durch die Illustration einer attraktiven Frau in einem schwarzen Badeanzug begleitet – die sexuelle, voyeuristische Motivation des Blicks zeigt der Bildausschnitt auf die Hüften der Frau. Durch die Verlinkung erlangen die beiden Elemente Bild und folgendes Fenster eine große Nähe, die sich in einem besonderen semantischen Bezug zeigt. Der Klick auf das Bild „yellow.gif“124 (mit dem Bildausschnitt auf den weiblichen Unterleib) liefert ein neues HTML-Hauptfenster125, dessen Layout sich deutlich von der Vorseite unterscheidet. Wo die Startseite, mit Bildern versehen, eine schwarze Schrift auf weißem Grund aufweist, präsentiert sich die neue Seite mit ihrem invertiertem Schriftlayout als das genaue Gegenteil. Noch dazu ist der Text äußerst kurz, nur ein Satz, der auf den ersten Blick auch kaum etwas mit der Vorgängerseite zu tun hat: „Un cheveu de femme est assez fort pour tenir en laisse un éléphant.“ Das Überraschendste ist, dass sich das Fenster während des Rätselns über seine mögliche Interpretation automatisch schließt und wieder die Vorgängerseite erscheint. Den entscheidenden Hinweis liefert die Titelzeile „PROVERBE JAPONAIS“: Es handelt sich also um einen Kommentar, der assoziativ abgegeben wird – eine Sprecherinstanz, der er zugeordnet werden könnte, ist nicht auszumachen. Man kann auch kaum von einem „Erzähler“ sprechen, so autonom und unvermittelt scheint dieses Fenster eingeblendet worden zu sein. Die Funktion des Kommentars

122 http://www.anacoluthe.be/bulles/apparitions/inquietantes/indues.html 123 http://www.anacoluthe.be/bulles/apparitions/inconscient/indues2.html 124 http://www.anacoluthe.be/~images/apparitions/enluminures/blafard/yellow.gif 125 http://www.anacoluthe.be/bulles/apparitions/inconscient/blafard2.html

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besteht im Wesentlichen darin, einen Kontext zu setzen, doch wie das Sprichwort auf die Szene anzuwenden ist, bleibt offen. Ob der Aphorismus, auf Hélène fokalisiert, ihre Hoffnung ausdrückt, Marbella für sich zurückzugewinnen, oder ob er einem auktorialen Erzähler zuzurechnen ist, der gerade auf die Aussichtslosigkeit ihres Unterfangens verweist, ist ohne strukturelle Richtungsweisung offen. Dieses Informationsdefizit mit Sinn zu füllen, bleibt der assoziativen Leistung des Lesers überlassen. Seine Funktion, einen kurzen Interpretationsimpuls wie einen Gedankenflash zu liefern, hat das Fenster auf jeden Fall erfüllt. Insgesamt führen die Bildlinks zu sehr verschiedenartigen Zielobjekten, es gibt z.B. lexikonartige Definitionen, Erinnerungsfragmente, Gesprächsfetzen, Gebrauchsanleitungen, Redensarten, weitere Bilder, Animationen und Soundfiles. Durch Bilder evoziert, symbolisieren diese Links den Zugang zu den unbegrenzten Möglichkeiten unterbewusster Wahrnehmung und setzen so die poststrukturalistische Vorstellung von der Sprache als Kreuzungspunkt verschiedenster Assoziationen und Konnotationen exemplarisch in die Tat um.126 Gehirn und Hypertext sind vergleichbar nach assoziativen, anti-hierarchischen Prinzipien organisiert, daher ergibt sich eine natürliche Kongruenz zwischen der Linktechnologie und den Digressionen der Diskursebene, die durch die Bilder ausgelöst werden, und die wie comic-artige Denkblasen nach kurzer Anzeigezeit wieder von selbst verschwinden. Das Charakteristische an einer flüchtigen „apparition“ ist schließlich die „disparition“. So dienen die zeitgesteuerten Fenster als Kanal für ergänzende Informationen und spielen eine wichtige Rolle für die Gestaltung der Diskursstruktur, insbesondere für die Informationsvermittlung und Fokalisierung. Hilfreich ist zudem die Untersuchung von GUI-Elementen wie z.B. Quelltext, Statusleiste und Adressfeld für die URL, die software-ergonomisch unorthodoxe Orte inhaltlicher Information darstellen, aus denen man aber Strukturinformationen ablesen kann. 4.5.5.2 Narrative Über- vs. Unterstrukturierung In Apparitions inquiétantes lässt sich ein besonders reiches und literarisch sinnstiftendes Zusammenspiel der spezifischen mikro- und diskursstrukturellen Funktionen des Hypertexts beobachten. Im Sinne der Deviationsästhetik werden die poetischen Verfahren der Deautomatisierung und Überstrukturierung bewusst gegen das Paradigma der Usability eingesetzt. Durch die Abweichung von den Bedienkonventionen referenzieller Hypertexte trägt die Deautomatisierung kommunikativer Normen der Technizität des Mediums Rechnung: Den funktionalen und automatisiert „unsichtbaren“ Elementen werden semantische Werte

126 Vgl. z.B. Barthes (1984), S. 69; sowie ders. (1970), S. 10 ff.

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zuerkannt. Daraus ergeben sich ungeahnte Möglichkeiten zur multiplen Sinnkonstruktion, wie das folgende Beispiel zeigt.127 Bereits im ersten Satz wird der erwähnte „voyeur“ eingeführt und mit ihm das Motiv des Sehens: Sans se douter qu’au même moment, un voyeur ajustait ses jumelles et l’observait attentivement, Hélène défit la ceinture de son peignoir de bain et l’envoya au diable.128

In der erotisch-pornografischen Szene wird automatisch auch der Leser zum Voyeur – das Lösen des Gürtels ist ein altbekanntes Versatzstück und lässt eine Verführungsszene antizipieren, mit dem Leser als gebanntem Beobachter. Auch die Abbildungen dieser Seite verstärken das Motiv des Voyeurismus, sie wirken wie flüchtig aufgenommene, unscharfe Fotos in verwackelten Bildausschnitten. Zusammen mit dem Motiv der halbnackten Frauenkörper stehen sie metonymisch für das verstohlene Beobachten und fügen sich mit dem textlichen Inhalt in das kookkurrente Assoziationsnetz der Seite ein. Eine zusätzliche Bedeutungsnuance tragen die Alt-Texte der Bilder im Quelltext bei: Wo das Bild der Palme durch die räumliche Nähe zum Text („piscine“, „chlore“, etc.) die Assoziation weckt, die Palme stehe wohl neben dem Swimmingpool, lässt der Alt-Text daran keine Zweifel: „au bord de la piscine“. Zusammen „malen“ also Text und Bild die imaginierte Szene. Über die bloße affirmierende Funktion hinaus geht der Alt-Text des folgenden undeutlichen Bildes, offenbar eines leicht bekleideten Frauenkörpers; unter dem Eindruck der Szene am Pool ist die Interpretation nahe liegend, dass es wohl eine Frau im schwarzen Badeanzug sei. Dass sich dagegen eine weniger harmlose Situation dahinter verbirgt, verrät der Quelltext, denn die Frau befindet sich „dans le boudoir“ – und schon sind der voyeuristische Aspekt, die sexuelle Anspielung verstärkt und die Lesart der schwarzen Unterwäsche gewinnt an Plausibilität. Das oben bereits erwähnte, mit dem Bild verbundene, kurz auftauchende „Tentakelfenster“ mit dem „proverbe japonais“ über die sexuelle Macht

127 Chagny et al. (2004) konzentriert sich in seiner kurzen Analyse der Apparitions inquiétantes auf die Effekte der Fragmentarisierung des Hypertextes, die als Risiko aufgefasst wird, „de perdre de vue l’intrigue elle-même“. Aber auch hier gilt, wie beim assoziativen Surfen im Internet, dass das Serendipity-Prinzip sowohl Lust als auch Last sein kann, je nach der (poetischen oder referentiellen) Motivation des Users. Die These, dass der Link neben der Linearität des Textes auch die „interdépendance des fragments narratifs“ (ebd.) aufhebt, lässt sich wohl nur auf formaler Ebene aufrechterhalten. 128 http://www.anacoluthe.be/bulles/apparitions/inquietantes/blafard.html

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der Frauen liefert dann nur noch ein letztes Mosaikteilchen in der Reihe der eindeutigen Andeutungen. Folgt nun der Leser dem verlockenden Link „voyeur“, gelangt er unter der URL „../bulles/apparitions/inquietantes/voyeur.html“ zu einer neuen Hauptseite. Hier wird erst einmal ein neuer Name eingeführt, „Bob Wafelson“, wobei die Zuordnung des vorherigen Linkworts „voyeur“ zur vorliegenden Seite „voyeur.html“ zwingend annehmen lässt, dass Bob und der Voyeur ein und dieselbe Person sind. Den inhaltlichen Beweis dafür liefert der Text dieses folgenden Fensters, der die Obsessivität beschreibt, mit der Bob seine Nachbarinnen belauert. Das beliebteste Objekt der Begierde ist anfangs die rothaarige Cindy Texas, die er auf Schritt und Tritt beobachtet; als er ihrer etwas müde wird, weil nie etwas Aufregendes passiert (sie hat noch nicht einmal Freundinnen zu Besuch), entdeckt er seine Passion für den Garten des Dr. Marbella, denn hier bietet sich ihm ein wahrer Reigen an begehrenswerten Frauen. Den etwas kryptischen Titel „ALI BABA MARBELLA“ der Seite .../voyeur.html129 erklärt der Kontext: Marbella ist für Bob der Besitzer eines „Frauen-Schatzes“. Pour Bob Wafelson, la propriété du Docteur Marbella était une vraie mine d’or. La caverne d’Ali Baba. Chaque jour, le spectacle était différent. Les femmes défilaient, se suivaient mais ne se ressemblaient pas.

Begleitet wird diese Charakterisierung Bobs (aber auch Marbellas!) wieder durch eine kleine „Illumination“, die eine attraktive junge Frau im Bikini zeigt, in einer verwaschenen, unscharfen Bildqualität. Der Dateiname lautet „jumelles.gif“, was sich in der Form des Bilds wieder findet: Der Rahmen ist wie eine liegende Ziffer 8 geformt, so als würde der Leser mit Bob gemeinsam durch ein Fernglas spähen – eine Variation des verstohlenen Blicks durch das Schlüsselloch. Auch hier wird der Leser unversehens zum mit-sehenden Komplizen des Voyeurs. Über seinen unmittelbaren Bildinhalt hinaus kommt auch dieser „enluminure“ in den Apparitions inquiétantes eine Link-Funktion zu. Der Klick auf die Frau führt zu der kurz sichtbaren Seite „../bulles/apparitions/inconscient/ voyeur1.html“ mit dem Titel „INQUIETUDE SOUDAINE“. Es sind Bobs Gedanken, die in diesem Fenster wiedergegeben werden: „Elle se lève... Pourvu qu’elle ne rentre pas....“ Bemerkenswert ist der Pfadwechsel, denn während die Hauptseite „voyeur.html“ im Verzeichnis /inquietantes/ liegt, findet sich die „aufblitzende“ Seite „voyeur1.html“ im Verzeichnis /inconscient/.

129 http://www.anacoluthe.be/bulles/apparitions/inquietantes/voyeur.html

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Abbildung 43: Bildperspektive erzwingt voyeuristischen Blick des Lesers

Quelle: Screenshot-Ausschnitt aus Apparitions inquiétantes130

Bobs Obsession wird in dem kurzen Aufscheinen des inneren Monologs anschaulich vermittelt: Er empfindet unbewusst die besagte „plötzliche Unruhe“, als er befürchtet, sein Opfer könnte sich erheben und sich so seinen Blicken entziehen. 4.5.5.3 Perspektivierung durch Bildlinks Auf der Seite „REVE SUAVE“ mit der URL ../apparitions/inquietantes/ fourmi.html131 schnauzt der Vorgesetzte René den Polizisten Marcel ordentlich an, der sich darüber ärgert und sich in einer imaginären Szene Luft macht, die sich durch den Klick auf das Ameisenbild (abgespeichert unter dem Dateinamen ant.gif) materialisiert. Es öffnet sich das zeitlich begrenzte Fenster „DIALOGUE DE COMPTOIR“ unter der Adresse ../apparitions/inconscient/fourmi.html,132 und Marcel stellt sich darin vor, wie er René in vielsagenden Andeutungen mit einer Ameisenkönigin vergleicht. Typografisch sind solche inneren Monologe (eigentlich handelt es sich hier sogar um einen imaginären Dialog, in dem auch René zu Wort kommt) durch Kursivsatz markiert. Zurück im Ausgangsfenster kann Marcel dann das Telefonat sehr gefasst und friedlich weiterführen. So findet das Gespräch auf zwei Ebenen statt: auf einer beobachtbaren, die in ihrer Dialogform weitgehend extern fokalisiert ist und diegetisch „real“ passiert, und auf einer intern fokalisierten und unausgesprochen bleibenden, die das kurz erscheinende Fenster beisteuert. Die Adressen dieser beiden verlinkten Seiten sind mit Ausnahme der Verzeichnisse „inquiétantes“ (echter Dialog) und „inconscient“ (innerer Monolog) identisch. Die Dateistruktur wiederholt so die auf der diegetischen Oberfläche fest-

130 http://www.anacoluthe.be/~images/apparitions/enluminures/voyeur/jumelles.gif 131 http://www.anacoluthe.be/bulles/apparitions/inquietantes/fourmi.html 132 http://www.anacoluthe.be/bulles/apparitions/inconscient/fourmi.html

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stellbare Gabelung in zwei parallele Welten. Tatsächlich sind die „inconscient“Seiten in der Regel die eigentlich beunruhigenden! Auch die systemseitige Zeitsteuerung der Anzeigedauer dieser Digressionsfenster wird sinnstiftend eingesetzt: Der Klick auf das Fußballbild der Seite „PAUVRE ROBERTO“133 liefert für einen winzigen Sekundenbruchteil ein Fenster mit dem Inhalt „Pourquoi moi?“, was software-ergonomisch ungeeignet für die Informationsvermittlung ist, für den Leser aber anschaulich nachstellt, wie eine blitzartig ausgelöste Erinnerung die Gedanken Robertos durchzuckt und seine traumatische Kindheit wieder erstehen lässt. Durch die Verankerung der Textfragmente im Unterbewusstsein der gerade fokalisierten Figur wird über die Browserfunktionen ein intuitiv und kookkurrent wirkender medialer Träger der narrativen Perspektivierung geschaffen. Durch die wechselnde, interne Fokalisierung wird dem Leser so manches ansonsten wohl gehütete Geheimnis offenbart; der Geruch von Chlor (synästhetisch repräsentiert durch das Bild eines Poolbeckens) weckt bei dem sympathischen Gerichtsmediziner Ben unfreiwillig die Erinnerung, dass er als Kind den Ertrinkungstod seiner lästigen kleinen Schwester Zoé verschuldet hat;134 die Zeugin Déborah verspielt ihren Anspruch auf Integrität, als sie sich beim Anzünden einer Zigarette unwillkürlich daran erinnert, wie sie das wertvolle Feuerzeug gestohlen hat.135 Durch diese kleinen, verräterischen Erinnerungsfetzen erklärt sich auch der Titel der ganzen Hyperfiction: Die „apparitions“ sind kurz aufblitzende Gedankensplitter, die, wie Nathalie Sarrautes Tropismes,136 unkontrollierbar die Oberfläche des Unterbewussten durchbrechen, und, da sie intimste Geheimnisse enthüllen, eben „inquiétantes“ sind: Jeder hat seine Leiche im Keller. Auf diese Weise entsteht – ähnlich wie bei Edward_Amiga – eine reizvolle Spannung zwischen der sichtbaren Oberfläche und den unausgesprochenen, hässlichen Geheimnissen, die durch den spezifischen Kanal „erscheinender“ Fenster preisgegeben werden.

133 http://www.anacoluthe.be/bulles/apparitions/inquietantes/roberto.html 134 http://www.anacoluthe.be/bulles/apparitions/inquietantes/dossier_suite.html 135 http://www.anacoluthe.be/bulles/apparitions/inquietantes/deborah_again.html 136 Vgl. Sarraute: Tropismes (1957); dies.: Le Planétarium (1972)

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4.5.5.4 Fragmentierung, Chronologie und Kohärenz Die Fragmentierung durch syntagmatische Links teilt den discours in einzelne Einheiten auf; wie Zeit und Handlung sich über diese recht schnell erfolgenden Schnitte in Handlung und Diskurs verhalten, soll die Besprechung der folgenden Sequenz demonstrieren. Es handelt sich um einen Handlungsstrang, bei dem sich die chronologische und assoziative Kohärenz sich abwechseln. Auf der Seite „ATTENDRE ENCORE...“137 wartet Detektiv Chris am Nachmittag frustriert und deprimiert über die Schlechtigkeit der Welt in einer Kneipe auf seinen Schwager Ben, der sich verspätet. Die nächste Seite, ANGOISSES EXISTENTIELLES,138 führt die im Vor-Knoten eingeführte Szene unterbrechungslos fort: Ben kommt endlich und ist ebenfalls ziemlich fertig, denn er hat soeben eine Autopsie an einem Arbeitskollegen durchgeführt. Er sinniert über die „fragilité de la vie“ nach. Es schließt sich die Seite „MORT D’UN MEDECIN LEGISTE“139 an. Hier hat nun eine assoziative Analepse (immerhin befindet man sich noch im gleichen Handlungsstrang) stattgefunden, der Leser wird Zeuge einer bizarren Szene: Ben befindet sich noch in der Pathologie und beginnt gerade die Autopsie des Kollegen. Erst erblickt der Leser den Leichensack, soweit ist die Perspektive unfokalisiert. Wie wir aus der vorher geschilderten (wenn auch chronologisch später stattfindenden) Seite wissen, ist Ben über den Tod und die Autopsie des Kollegen ziemlich außer sich. Auf dieser Seite wird die Schwere der Aufgabe lediglich durch kleinste Indizien wie das langsame Öffnen des Leichensacks angedeutet. Dass Ben den Eindruck hat, die Leiche lächle, und zu hören vermeint, dass der Verstorbene in spöttischem Ton (erzähltechnisch: in direkter Rede) zu ihm spricht, rechnet der Leser erst einmal seiner nervlichen Überreizung zu und der Ironie des Schicksals, denn der ermordete Jannings war selbst mit Leib und Seele Gerichtsmediziner. Doch dann wird es gewissermaßen unheimlich: Die letzten Augenblicke im Leben des Dr. Jannings werden in erlebter Rede aus seiner Perspektive erzählt. Die Details, die in diesen Äußerungen mitgeteilt werden, können jedenfalls nur vom Ermordeten selbst stammen, denn es werden kurze Erinnerungen an das Erleiden der Gewalt und das Sterben geschildert: „Il n’aurait jamais cru que ça puisse faire aussi mal. Il n’aurait jamais cru non plus qu’il mourrait de cette façon.“ Begleitet wird der Text durch die Abbildung eines Skeletts in lässiger Pose, die an eine Figur der danse macabre erinnert. Das Bildmotiv selbst ist unregelmäßig

137 http://www.anacoluthe.be/bulles/apparitions/inquietantes/journal.html 138 http://www.anacoluthe.be/bulles/apparitions/inquietantes/autopsie.html 139 http://www.anacoluthe.be/bulles/apparitions/inquietantes/legiste.html

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in kleine Streifen zerschnitten, eine Anspielung auf Dr. Jannings’ Tod durch ein Messer.140 Ausgehend von dieser Szene gabeln sich die Anschlusspfade: Durch Klick auf „Il n’avait jamais vu cet homme.“ wird der Leser in eine Szene versetzt, in der der Mörder Ricky Le Dingue nach vollbrachter Tat (Seitentitel: „APRÈS LE MEURTRE“) selbstzufrieden seiner Wege geht; schließt sich der Leser der Frage an, was Dr. Jannings denn dem Unbekannten getan haben mag, und klickt den alternativen Link „Mais quoi?“ an, so kommt die Lösung auf der nächsten Seite „LITTERALEMENT DECHIQUETE“141: Es liegt eben kein klassisches Mordschema mit einem kausal ermittelbaren Motiv vor; wem diese Erkenntnis zuzuordnen ist, bleibt offen, im Grund bleibt nur der allwissende Erzähler, denn für die Figuren spielt diese Überlegung weder vorher noch nachher eine Rolle. Eine weitere in Streifen zerteilte Abbildung, diesmal ein Schuh mit Schnürsenkeln, die zusammen mit dem Seitentitel metaphorisch auf die übel zugerichtete, in „Streifen geschnittene“ Leiche verweist, führt, um im Bild zu bleiben, mit einem scharfen Schnitt wieder zum Dialog zwischen Ben und Chris. Die schauerliche Beschreibung des Zustands der Leiche war eine erlebte Rede, intern fokalisiert auf Ben. Das Kaleidoskop der Informationssplitter wird also nicht nur durch die Knotengrenzen, sondern auch noch durch eine systematische Unterstukturierung innerhalb des Knotens gebildet. 4.5.5.5 Literarisierung durch Deautomatisierung Die Semantik der Bildlinks, die kurz erscheinende Zusatzinformationen in interner Fokalisierung beisteuern, schafft eine mächtige innere Konsistenz und Erwartungshaltung. Die damit auch im Sinne einer Deviationspoetik subvertierbar sind, wie sich an einigen Ausnahmen zeigt: Auf der Seite „MON PETIT, MON TOUT PETIT“142 führt die Ausgangssituation eines Bildlinks kohärent zu dem erwarteten Fenster mit Zusatzinformation, doch anstatt automatisch wieder zur Ausgangsseite zurückgeführt zu werden, erscheint diesmal systemgesteuert ein weiteres Fenster, das automatisch „nach vorne“ zu einer ganz anderen Seite weiterverlinkt: Analog zur irregulären Repräsentationsform nimmt auch inhaltlich eine Katastrophe („BURN! BURN!! BURN!!!“) ihren Lauf.143 Auf einer weniger idiosynkratischen Ebene, nämlich aus dem Bruch mit allgemein üblichen Software-Konventionen, ziehen die Apparitions inquiétantes

140 http://www.anacoluthe.be/~images/apparitions/enluminures/legiste/bones.gif 141 http://www.anacoluthe.be/bulles/apparitions/inquietantes/depecage.html 142 http://www.anacoluthe.be/bulles/apparitions/inquietantes/attente.html 143 http://www.anacoluthe.be/bulles/apparitions/inconscient/indues1.html

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weitere literarisch-ästhetische Feinheiten. Die Software-Ergonomie (vgl. Kapitel 3.1.5) legt unter anderem fest, dass die auf dem Computerbildschirm abgebildeten Texte leicht lesbar sein sollen, denn das Lesen von Text vor der Lichtquelle, die der Monitor ja letztlich darstellt, ist kognitiv anstrengender als vom Papier zu lesen. Völlig verfehlt ist nach dieser Maßgabe ein Einsatz verschiedener Schriftgrößen, wie er auf der Seite mit dem Titel „Voyeur“ 144 praktiziert wird: Abbildung 44: Sinnstiftende Verstöße gegen die Software-Ergonomie

Quelle: Screenshot aus Apparitions inquiétantes

Von Zeile zu Zeile verringert sich die Schriftgröße bis an die Grenze der Entzifferbarkeit. Eine Zumutung für den Leser, aber sinnstiftend: Das Thema eines abstürzenden Vogels, inhaltlich eine Metapher, wird auch auf der Schrifteben metaphorisch durch die immer kleiner werdenden Buchstaben visualisiert, die zugleich als leiser werdend bis verstummend-erlöschend interpretiert werden kann. Da es sich um ein temporär angezeigtes Fenster handelt, ausgelöst durch einen Bildlink, ist es nicht möglich, den Text in der zur Verfügung stehenden Zeit zu lesen, man muss das Fenster immer und immer wieder anzeigen. Über die visuell-textuelle Ebene hinaus schweifen inhaltlich die Gedanken des „voyeur“ immer weiter ab, zu einer peinlichen, gewissermaßen „unaussprechlichen“ Szene, in der er sich auf der Jagd nach einer kranken Taube den Kopf an der Lampe stößt. In dieser Sichtweise macht der schrumpfende Text den

144 http://www.anacoluthe.be/bulles/apparitions/inconscient/voyeur2.html

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Eindruck, er (bzw. sein Signifié, der peinliche Gedanke) könne nur durch verschämtes Gemurmel zugelassen werden. Die Lautstärkenzuordnung zur Schriftgröße ist üblich in Comics, im Internet sind Großbuchstaben vor allem beim Mailen, Chatten und Bloggen als Stilmittel für emphatische Betonung gebräuchlich. Auch multimediale Komponenten wie einfache Bild- und Textanimationen bieten ein interessantes Potential für die Literarisierung. Der Liebesrausch von Carmellas Mutter (mit Dr. Marbella) wird durch ein animiertes Gedicht namens „Visual Poem“ veranschaulicht: Vers 3 und 5 sind dynamisch, in stolpernd unregelmäßigem Rhythmus finden permutierende Ersetzungen statt – sie übersetzen in bescheidenem Ausmaß das Prinzip der Cent mille milliards de poèmes von Queneau in eine medienaktualisierte Form, denn auch hier bleiben Metrik, Rhythmus und Reim bei der Ersetzung erhalten: Tabelle 11: Schematische Darstellung des Permutationsgedichts L’amour est enfant

serpent

passe-temps

de Bohème

Carême

problème.

Quelle: Eigene Darstellung nach Apparitions inquiétantes145

Die Indizien für das spätere Scheitern der Liebesbeziehung („serpent“ und „problème“) sind nur für Sekundenbruchteile zu sehen, so als würden sie dem Leser subliminal eine Information wie eine kaum fassbare, unterbewusste Ahnung heimlich unterzuschieben versuchen – es handelt es sich wieder um eine apparition aus dem Unterbewussten. Auch auf diese Weise kann also eine Subvertierung des oberflächlich erkennbaren Texts stattfinden. Ein ähnliches Beispiel enthält die Szene, in der der Detektiv Chris Winter sein Kündigungsschreiben erhält: Plötzlich, kaum wahrnehmbar, verändert sich der Brieftext für einen Moment, so dass der Leser (in Analogie zum Protagonisten) zunächst eine optische Täuschung oder eine Überanstrengung der Augen vermutet. In der Wiederholung machen die vor den Augen tanzenden Buchstaben oberflächlich die Ungläubigkeit der Figur angesichts der Kündigung deut-

145 http://www.anacoluthe.be/bulles/apparitions/inconscient/red_beach.html

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lich, andererseits wird auch der von Chris Winter herausgelesene Subtext manifest: Was auf den ersten Blick als ein höfliches, wenn auch unpersönliches Kündigungsschreiben erscheint, erweist sich als gehässige, aggressive Botschaft. Abbildung 45: Vergleich der beiden Briefvarianten

Quelle: Screenshot-Ausschnitte aus Apparitions inquiétantes146

Damit steht die Anzeige des Briefs im Dienst der Diskursstruktur, denn die zweite Lesart gewährt dem Leser intern fokalisiert Einblick in die Befürchtungen, die Chris Winter beim Lesen bewegen – ohne dass dies vom Erzähler umständlich expliziert werden müsste. Eine weitere Besonderheit stellt schließlich die filmisch überblendungsähnliche Linklogik dar, die immer wieder Anwendung findet. Auf der vorwiegend auf Déborah fokussierten Seite „PROBLEMES DOMESTIQUES“147 beispielsweise ist der Link „ce que ce type foutait dans son salon“ die Schnittstelle (filmisch wie softwaretechnisch) zu der Seite „QUOI FAIRE?“,148 die die Sicht Chris Winters (der im Link genannte „type“) auf die gleiche Szene präsentiert. Chris stellt dabei gewissermaßen das Überblendungselement dar. Auch in dem Zeitungsartikel, der die offizielle Lösung des Falles präsentiert, liefert der Klick auf das abgebildete Mordwerkzeug als verbindendes, beiden Fenstern bzw. Szenen gemeinsames Element einen Rück- und Ausblick auf die im Artikel unerwähnt bleibenden Geschehnisse. Die im Zeitungsausschnitt präsentierte Lösung des Mordfalls Marbella scheint einen Schlusspunkt zu setzen, denn damit werden alle Fragen rund um die Serienmorde beantwortet. Dem aufmerksamen Leser aber, der aus der bisherigen Erfahrung mit unerwarteten Wendungen und Bezügen den einfachen Lösungen nicht traut, zeigt sich tatsächlich auch noch eine Fortführung des Pfads: Das Bild im Zeitungsausschnitt ist

146 http://www.anacoluthe.be/~images/apparitions/enluminures/courrier/lettre.gif 147 http://www.anacoluthe.be/bulles/apparitions/inquietantes/deborah.html 148 http://www.anacoluthe.be/bulles/apparitions/inquietantes/deborah_suite.html

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ein Link, der den Leser an den Schauplatz des Geschehens zurückführt, kurz nachdem Cindy Ricky in dessen Schlafzimmer dessen eigenes Messer in den Leib gestoßen hat. Abbildung 46: Durch Link realisierte Überblendung

Quelle: Screenshot-Ausschnitte aus Apparitions inquiétantes149

Wie sich der Vorfall genau abgespielt hat, fällt dem Schnitt zwischen den Szenen bzw. Fenstern zum Opfer, das einzige Indiz auf den Tathergang liefert die Titelzeile: „TUER OU ETRE TUE“. Den tatsächlichen Schlusspunkt liefert die Schilderung von Cindy Texas’ Geisteszustand angesichts der überstandenen Lebensgefahr und Gewalt, vielleicht auch die Erkenntnis der Tragweite ihrer Tat. Ab dem Satz „Quelques mètres à peine la séparaient du monde extérieur.“ wechselt die externe zu einer internen Fokalisierung, werden Cindys benommene Gedankengänge in erlebter Rede im wahrsten Sinne für den Leser „erlebbar“ gemacht. Die Abbildung des Messers ist dabei Ausdruck ihres Entsetzens, und wie so oft kommt der Animation auch hier eine Schlüsselrolle zu: Auf dem blutroten Bettlaken erscheint allmählich ein großes Messer mit feststehender Klinge, eine perfekte Mordwaffe. Einerseits verkörpert es durch sein plötzliches Erscheinen aus dem Nichts die unverhoffte Rettung für Cindy, auf metaphysischer Ebene

149 Abbildung

links

vgl.

http://www.anacoluthe.be/bulles/apparitions/inquietantes/

news.html, rechts vgl. http://www.anacoluthe.be/bulles/apparitions/inquietantes/ couteau.html

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hingegen ist eine andere Deutung möglich: Gewissermaßen pulsierend drängt sich das Messer in Cindys verstörtes Bewusstsein, wobei das Werkzeug synekdochisch für die Tat steht. Die Szene wird in weitgehend externer Fokalisierung wiedergegeben; minutiös werden die Handlungen Cindys geschildert, emotionslos die letzten Zuckungen Rickys zur Kenntnis genommen – und doch ist es diese Kargheit, die die extreme Situation sehr prägnant vermittelt. Als (möglichem) Schlusspunkt der Präsentation der Geschichte kommt dieser Seite natürlich ein besonderes Augenmerk zu. Und so erstaunt es auch nicht, wenn der seicht-leichte Tonfall des Werks in dieser Szene nicht mehr festzustellen ist. 4.5.6 Fazit Das Krimigenre wird oft als Alibi genutzt, um anhand des sozialen Extremfalls eines Mords (und verbrämt als „human interest story“) Gesellschaften zu skizzieren und sie dadurch meistens auch zu kritisieren. Auch bei Brandenbourger ist nicht die Aufklärung des Falls das Spektakuläre am Werk; genau besehen ist die Auflösung ebenso platt, überzeichnet und unglaubwürdig wie die ganze Story – in einem Maß, dass es schon wieder unterhaltsam ist. Das Besondere ist die vielschichtige, unübersichtliche Präsentation, die dennoch die Lösung in sich trägt. Die unübersichtliche Zahl von Personen, die im Kontext einzelner Seiten kurzfristig als Protagonisten auftreten, zeichnet ein facettenreiches Bild menschlicher Abgründe; nur in der satirischen Überspitzung bleibt diese Erkenntnis erträglich. Die unausgesprochen bleibenden, bildinduzierten Erinnerungsfetzen zeugen von der Unkontrollierbarkeit der kognitiven Assoziationen. Da in Apparitions inquiétantes nahezu jede Figur ihre Leiche im Keller hat, sind die an die Bewusstseinsoberfläche dringenden Assoziationen in der Tat „beunruhigende Erscheinungen”. Die hypertextuelle Aufsplitterung ist eine Analogie zu der unübersichtlichen Ermittlung einer Straftat. Im Krimi ist es sonst üblich, dem Leser aus der Vielzahl der möglichen Indizien eine Auswahl derer zu präsentieren, die für die Lösung des Falls relevant sind. Selbst wenn noch ein oder zwei „red herrings“ dabei sind, die den Leser auf eine falsche Fährte führen sollen, ändert dies doch nichts an der stilisierten Realitätsferne einer solchen Ermittlung. Wie bei einer realen enquête ist auch das Explorieren in der Hyperfiction unübersichtlich, es finden sich beim Stöbern im Leben der beteiligten Personen viele unzusammenhängende Informationen, und dem Leser der Geschichte ergeht es wie dem Detektiv: Er muss erst einmal Informationen sammeln, und sich daraus ein Bild erstellen, muss erkennen, welche Hinweise wichtig und welche nur Beiwerk sind.

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Damit ist die einzige Konstante die alle Daten vereinende Instanz des Lesers. Um ihn nicht zu sehr zu verunsichern, führt die Verfasserin ein ganzes Inventar von ordnunggebenden Mechanismen ein. So fungieren, als Gegenmittel gegen diese Desorientierung in Hypertext und Hypermedia (die durch die multilineare Verlinkung narrativer Sequenzen, eine multimediale Überformung der Geschichte und die elliptische Verknüpfung einzelner Handlungsstränge auftreten kann), narrative Verfahren wie zum Beispiel architextuelle Gattungsbezüge, triviale Figurenkonstellationen und Handlungsschemata sowie das vorausgeschickte Resümee der Handlung. Neben einer klaren Strukturierungsfunktion, die zur Kompensation der mit dem neuen Medium und seiner Gattung einhergehenden Desorientierung dient, gewinnen diese Verfahren gerade aus dem Spannungsverhältnis zu den entgegengesetzten Tendenzen des Hypertexts eine ästhetisch reizvolle Wirkung. Über ihre Funktion für bzw. wider eine Desorientierung des Lesers hinaus erlangen die narrative Unterund Überstrukturierung eine poetische Dimension im Dienste der Deautomatisierung. Während diese narrativen Verfahren zur Konstruktion der Geschichte und zur Orientierung des Rezipienten eingesetzt werden, entwickelt die Hyperfiction gleichzeitig eigene ästhetische Verfahren, die im neuen Medium und bezogen auf dessen spezifischen Code eine ähnliche dekonstruierende Wirkung erzielen wie sie der nouveau roman in Bezug auf die Linearität der Handlung und der Homogenität der Figuren des traditionellen Balzac’schen Roman erreicht. Dies geschieht durch eine Deautomatisierung des medienspezifischen Codes der neuen Gattung, das heißt durch die Durchbrechung der Regeln der SoftwareErgonomie unter Einbeziehung und literarischer Zweckentfremdung der medialen Spezifika Hypertext und Link, Bild und Multimedia und diverser GUIElemente (URL, Quelltext, etc.). Ergänzt und verstärkt wird dieses Wirken durch das mächtige Konzept der Überraschung, das Schlagwort der Deviationspoetik. Das Genre der Kriminalgeschichte, die parodistischen, komisch-grotesken Elemente und die kleinen filmischen Anleihen rücken den Roman in den Kontext der postmodernen Literatur. Der Grundsatz der gezielten Subversion bestehender medienspezifischer Codes und software-ergonomischer Regeln wird in den Apparitions inquiétantes durchgehend in unterschiedlichsten Ausprägungen und immer wieder unerwartet befolgt. Gerade diesen Anspruch erhebt das Werk ja, nämlich ein Werk zu sein, „qui ne fait rien comme tout le monde!“.

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4.6 D ER „FEUILLETON HYPERMEDIA“ L ES C OTRES FURTIFS Der „feuilleton hypermedia“ Cotres furtifs150 von Jean-Paul arbeitet mit einer aufwändigen, palimpsestartigen Inszenierung von unsichtbarem Text, der sich dem Leser erst erschließt, wenn er ihn aktiv sucht. Technisch realisiert wird dieses Konzept durch Hypertext ergänzt durch Flash (in die Webseiten sind *.swfDateien eingebettet). Als Systemmetapher dienen hier „Kutter“, die vom Wind getrieben das Meer durchschneiden und dabei im Internet Verbindungen herstellen, wobei sich der Autor Jean-Paul selbst als „facteur“, als Bote, sieht. In der Tradition Rimbauds und diesen gleichzeitig parodierend hält er programmatisch fest: „Je est un cotre.“ Allerdings ist diese moderne Alterität des Subjekts flüchtig. Das Subjekt ist nur noch zeitweiliger Kreuzungspunkt von Bedeutungen („Le maître mot y est ‚chantier en cours‘.“). Das Resultat ist allerdings ähnlich: „[…] plus rien n’est sûr.“151 Das Bild des Kutters greift die gängige SchiffsMetaphorologie des Internets auf. Der internaute navigiert, surft, entdeckt neue Welten; als „Piratenschiff“ macht der Kutter die Meere unsicher.152 Abbildung 47: Eingangsbildschirm mit Bildlinks

Quelle: Screenshot aus Cotres furtifs

150 http://www.cotres.net/ 151 http://www.etudes-francaises.net/entretiens/010101/2003chapitre2.htm 152 http://www.etudes-francaises.net/entretiens/jeanpaul.htm#1999

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Interessant auch, dass man an den Cotres furtifs das Umarbeiten beobachten konnte, das Wort von der Baustelle hat auch Relevanz für das Werk selbst: 2004 wurde die Seite überarbeitet, erste Fingerübungen im Umgang mit Flash und Experimente mit der Textualität sind dabei entfernt worden. Komplett lautet der Titel der Seite „Littérature numérique....furtifs, les cotres, mais présents...“. Drei recht detaillierte Abbildungen sind auf der Seite verteilt, dazu eine kleine Grafik, die durch ihre Stilisierung ein Icon mit Informationen zur Seitenbedienung vermuten lässt. Tatsächlich leiten die Bildlinks zu einzelnen Projekten auf der Seite. Wer ganz genau hinsieht, entdeckt einen subtilen Hinweis, dass sich auf der Seite noch mehr verbirgt: Der Rollbalken rechts zeigt, dass die HTML-Seite eigentlich gut doppelt so lang ist wie im Bildschirmausschnitt zu sehen. Beim Scrollen nach unten jedoch bleibt der Bildschirm schwarz, bis man bei nochmals genauerem Hinsehen bemerkt, dass sich dort unsichtbare Links befinden, schwarz auf Schwarz. Nur beim zufälligen Berühren mit der Maus ändert sich der Mauscursor zu dem bekannten Zeigehändchen. Sichtbar wird der Text mit Tricks, indem man entweder die ganze HTML-Seite markiert oder einen Blick in den Quelltext wirft: Hier wird die Gattungsbezeichnung „littérature numérique“ aus dem Titel aufgriffen und als „Metatext“ durch eine Reihe von Links zum Theoriediskurs ergänzt. Durchaus widerspenstig wirkt daher die Seite, die ihr Geheimnis in früheren Fassungen (z.B. noch 2010) dem Leser nur äußerst widerwillig preisgab und sich anders als Apparitions inquiétantes, Edward_Amiga etc. nicht in ihrer medialen Besonderheit herausstrich; mittlerweile ist aber auch bei Cotres furtifs die eigene Würdigung Bestandteil des Werks als „une oeuvre littéraire singulière à plusieurs égards si nous la comparons à l’ensemble de la production qui se trouve sur le Web.“153 So wird hier der ästhetische Rahmen gleich eingangs explizit geliefert, das Werk Agression 93 sei ein „fait-divers“, die Besonderheit der verborgenen Ebenen wird frei Haus geliefert, und der Hemmschwelle, sich mit Hyperfictions zu befassen, wird dem Leser durch eine Prognose der überschaubaren Lesedauer begegnet: +/- 4 minutes pour les paresseux & les spidés, en suivant les V et les > en bas à droite. Les retraités, les rentiers, les aventuriers, les conquérants et les en-salle-d’éveil pourront s’amuser à découvrir les dessous de l’histoire en explorant le 1er sous-sol (passer la souris) et parfois le 2ème en poussant jusqu’à cliquer, ,la curiosité de découvrir les interstices

153 http://www.cotres.net/

200 | FRANKOPHONE DIGITALE L ITERATUR de cette affaire, et l’intrigue sait susciter de telles envies.‘ Compter alors entre 10 & 15 minutes.

Darüber hinaus ist auch hier der Blick in den Quelltext erhellend, das Programm der Aktivitäten sowie die mit dem Werk verbundenen Ambitionen finden sich auch auf dieser Seite: Feuilleton hypermedia, y croisent nos cotres et d autres, furtifs ou pas: Apollinaire, Ader, Gainsbourg. Et Arthur. Puisque je est un cotre, en litterature informatique aussi. Parait-il. litterature informatique, litterature informatique, digital literature, literatura digital, hyperfiction, hypertexte, cyberfiction, hypermedia, hypertext, hyperlitterature, cyberlitterature, hyperliterature, hyperfeuilleton, litterature, literature, ecriture, hyperroman, hypernovel, short novels, short novel, le livre 010101, Marie Lebert, entretiens, cotre, cotres, aux cotres, des cotres, cotres furtifs154

Einschlägige Relevanz für die Hyperfiction-Untersuchung erlangt die Seite durch das fiktionale Werk L’agression 93,155 zu erreichen über die Abbildung des „Walfischs“ in der Mitte des Startbildschirms. Die Mausberührung blendet den Titel ein, im Moment des Anklickens erscheint für einen Sekundenbruchteil wie ein Gedankenblitz oder eine rasche Warnung der Text „souvenir de guerres“. Der Text auf der Seite ist kurz, jedes einzelne Wort im Satz wird schleppend, mit einer gewissen filmischen Schwere angefügt. Retardierende Pausen betonen den Ernst des Geschehenen. Der Beginn lässt einen Krimi erwarten: „Samedi, vers 10H, Garonne a été agressée devant le pavillon et jetée à terre“.156 Das nächste Fragment zeigt, dass es einen Ich-Erzähler gibt, Garonnes Partner. Entsetzt lässt er sich zunächst von ihr den Vorfall schildern. Rekonstruiert ergeben sich aus der Transkription drei Textebenen. Ebene (2) und (3) werden erst durch die Interaktion des Lesers sichtbar.157

154 Anmerkung: Quelltext ohne Sonderzeichen wie Akzente und Apostrophe. 155 http://www.cotres.net/agressi/samedi/01-l-agression-de-garonne.html 156 http://www.cotres.net/agressi/samedi/01-l-agression-de-garonne.html 157 http://www.cotres.net/agressi/samedi/02-la-resille.html; der Kursivdruck markiert Abweichungen am Haupttext, die erscheinen, wenn die nächste Textebene eingeblendet wird.

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Tabelle 12: Schematische Darstellung der Textebenen (1) Je suis arrivé au pavillon en début d’après-midi / J’ai poussé la grille en début d’après-midi. ⇓ (2) J’ai posé les deux pots de peinture devant la porte du garage, et je suis allé la réjoindre. Elle était à demi allongée dans la balancelle du jardin. Elle avait un air ouvertement dolent, j’ai cru que c’était pour prolonger la querelle sur laquelle on s’est séparés jeudi. (1) J’ai enfin remarqué la résille qui retenait un pansement autour de son coude ⇓ (2) - Tu t’es blessée? Elle a répondu évasivement. Il a fallu qu je pose des questions pour avoir un récit suffisamment clair: ⇓ (3) le matin, le „jardinier“ était venu. Elle lui avait montré les branches à élaguer, notamment celles qui débordaient sur le trottoir, par dessus la grille. Pour mieux lui montrer, elle était sortie avec lui dans la rue. La voisine d’en face a commencé à l’insulter, avant de sortir de son jardin. Son mari a suivi. Il l’a frappée. Elle est tombée, c’est l’élagueur qui l’a ramenée chez elle. (1) Comme un robot, j’ai fait demi-tour, traversé la rue Quelle: Eigene Darstellung nach Cotres furtifs

Inhaltlich handelt es sich um keine besonders ausgefallene Situation, das Besondere daran ist die mediale Präsentation, denn der Text steht niemals in seiner Gänze passiv und lesebereit da, sondern entzieht sich dem Leser in einer wörtlich zu nehmenden De(kon)struktion. Erst durch das Berühren sensibler Stellen mit der Maus füllt sich die Seite mit Text; allerdings nicht von Dauer, denn mit dem Entfernen der Maus erlöscht auch der „nomadische“ Text. Auf dieser Seite gehen die unsichtbaren Passagen stark ins Detail, während die „feststehenden“ Sätze nur die makrostrukturellen Ereignisse wiedergeben, so dass sich in diesen eine Mischung aus Ich-Erzähler und einer merkwürdig unemotionalen statt internen Fokalisierung ergibt. Insbesondere die Textebenen des Berichts über den vorgefallenen Übergriff und der Erzählsituation müssen erst angefordert werden. Die Lücken im Text registriert der Leser zum Teil erst dann, wenn die Textergänzung erscheint.

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Der Grund für Garonnes Verletzung ist banal, ein Streit mit zwei Nachbarinnen. Um sich über den Vorfall zu beschweren, stellt der Ich-Protagonist die Nachbarinnen zur Rede, was zu einem handfesten Streit mit hochkochenden Aggressionen auf beiden Seiten eskaliert, die Atmosphäre explodiert förmlich. Das Interessante an dieser Szene ist die Umsetzung der streng intern fokalisierten Perspektivierung. Die Seite präsentiert sich nicht mehr wie vorher mit zusammenhängendem Text, der durch unsichtbare Passagen ergänzt wird, nun stehen nur noch Schlagworte da, der Textzusammenhang zeigt sich erst durch die Interaktion des Lesers. So ergänzen sich die Textbruchstücke „robot“, „demi-tour“, „traversé la rue“, „empoigné le portail“ und „entré dans leur jardin“ zu dem ausformulierten Absatz: Comme un robot, j’ai fait demi-tour, traversé la rue. Arrivé à la grille bleue d’en face, j’ai empoigné le portail J’ai eu un éclair: „Si ça ne s’ouvre pas?“ pendant que mes yeux fusillaient la sonnette. Le portail a cédé, je suis entré dans leur jardin. (Hervorhebungen im Text von der Verfasserin)

Abbildung 48: Statischer Textrumpf vor Benutzerinteraktion

Quelle: Screenshot aus Cotres furtifs

Die Korrelation zwischen der Emotionalität des Ich-Erzählers und der Zerfledderung der kohärenten Sprache ist offensichtlich. Die palimpsestische Lesart beider Erzählungen potenziert die Subjektivität, die sichtbare Kurzfassung stellt die grundlegenden, primitiven Regungen des Protagonisten dar. Die Ausformulie-

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rung nimmt sich mehr Zeit für die Schilderung und ist daher weniger direkt in der Szene situiert, die Distanz zur erlebten Szene wird spürbar. So wird die Unterscheidung in das erlebende (von Weißglut geprägte) und das erzählende (besonnenere) Ich pragmatisch abgebildet. Die Wirkung dieses Verfahrens ist überraschend stark: Das Flackern und Verschwinden der Signifiants bedeutet eine Dramatisierung der Szene, dem Leser wird die ohnmächtige Wut, ja die Raserei des Protagonisten höchst anschaulich demonstriert, es ist, als ob er immer wieder kurze Blackouts hat. Inhaltlich ergänzen unverbundene Eindrücke wie das Hundegebell und der zu Tode erschreckte Zwergpudel den Eindruck schnell im Gehirn eintreffender Wahrnehmungen, die aufgrund der Stresssituation gar nicht mehr kognitiv verarbeitet werden können. Eine metaphorische Inszenierung erfährt der Text an der Stelle „la poliiiiiiiiice!“. Berührt die Maus das an sich schon lautmalerisch abgebildete Wort, löst es sich von der Zweidimensionalität der Seite und fliegt hin- und hergepeitscht über das gesamte Fenster, die Buchstabengröße schwillt an und ab und visualisiert so das schrille und laute Kreischen der Nachbarinnen. Abbildung 49: Lautmalerische Textanimation

Quelle: Screenshot aus Cotres furtifs

Ebenso plakativ in Methode und Wirkung ist das Zuschlagen der Gartentür, zu beobachten anhand des folgenden Satzes (Unterstreichung durch Verfasserin): Je le passe, me retourne, l’empoigne et le ferme avec toute la

enfin permise.

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Sobald der Leser mit der Maus die provozierende weiße Lücke im Satz berührt, um zu sehen, was sich dahinter verbirgt (es ist das Wort „violence“), füllt plötzlich das lautmalende Wort „PHRA K!“ in dicken schwarzen Lettern den ganzen Bildschirm, begleitet von einem lauten Krachen.158 Die vorher zwar verspürte, aber noch unterdrückte Aggression manifestiert sich nun im Zuknallen des Gartentors und erschreckt den Leser auch in seiner sicheren Position außerhalb der Diegese. Auch das Ende des kurzen Experiments ist postmodern uneindeutig – es gibt zwei verschiedene Ausgänge der Geschichte, doch welche von beiden die „echte“ und welche imaginiert ist, kann nicht am Text festgemacht werden. Das eine Ende ist unspektakulär: Die gerufenen Polizisten ziehen einfach wieder ab, weil der gemeldete Einbruch erfunden war. Der andere, bizarre Schluss dagegen wird durch (gefakete) Nachrichten auf einer Webseite mitgeteilt, die spärlichen Informationen sind im Grund kaum mehr als Indizien für die Rekonstruktion des Handlungsausgangs: Die Verfolgungsjagd mit der Polizei endet für die Diebe mit einem Unfall, sie werden gefasst.159 Das kinetische Textkonzept in L’agression 93 ist innovativ und weist ein interessantes Potential für die Gestaltung narrativer Texte im digitalen Medium auf; sie bedient sich im Grund der Ausdrucksmittel der Visuellen Poesie. Allerdings ist das Werk mit nur sechs kurzen, flashunterstützten HTML-Seiten kaum mehr als ein Muster und keinesfalls mit dem Erfindungsreichtum von Edward_Amiga oder Apparitions inquiétantes zu vergleichen. Obwohl es sich nicht wirklich um einen Hypertext handelt, spielen Interaktion und das multimediale Zusammenwirken mehrerer Textebenen eine wichtige Rolle. Die Abbildung des Seepanoramas links oben verändert sich bei Mausberührung: Zwei kleinere Kreise mit schräg gestellten Horizontlinien fügen sich links und rechts wie Micky-Maus-Ohren an. Es handelt sich tatsächlich um Neujahrswünsche für 2007, die sich in Form einer interaktiven, animierten und mit Klang untermalten Meditation über das Universum präsentieren. Die Abfolge der „Szenen“ (eine Handlung findet kaum statt) gestaltet sich ziemlich esoterisch-traumähnlich mit zahlreichen absurden Elementen; beispielsweise fallen sprechende Meteore („Bah! Ici, Chu“) vom Himmel. Die Überblendung des nächtlichen Firmaments mit Courbeaus Origine du monde und eine verzerrte Stimme wie die eines unsichtbaren Gottes evozieren archaische Vorstellungen vom Universum und der Schöpfung, so dass in einem solchen Kontext selbst ein etwas schwülstiges Liebesgedicht („[...] La petite seconde d’éternité / Où tu m’as embrassé

158 http://www.cotres.net/agressi/samedi/05-la-ricane-du-herobot.html 159 http://www.cotres.net/agressi/samedi/06-police-3-cow-boys.html

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[...]“) surrealistisch verbrämt wirkt. Letztlich ist es ist das Erlebnis der neuen Medialität, das in diesem kurzen Schaustück gefeiert wird. Für Hyperfiction sind die Werke von Jean-Paul aber insgesamt nur interessante Randerscheinungen, von denen man sich nach US-amerikanischem Vorbild einfach mehr Strahlkraft gewünscht hätte.

4.7 D ER „ ROMAN

MULTIMÉDIA“

NON- ROMAN

Ein über die Grenzen Frankreichs hinaus bekanntes Werk ist der NON-roman160 von Lucie de Boutiny, der in sechs verschiedenen Episoden vorliegt, entstanden in den Jahren 1997 bis 2000. Die Synästhesie des Domainnamens ist die Leitlinie dieses mit zahlreichen Animationen und Multimedia aufwartenden „roman hypermédia“. Dem Leser eröffnet sich eine knallig bunte Pop-Welt, mittels derer die Werbung, das Fernsehen und das eigene Medium Internet, z.B. durch ChatRooms, parodiert wird. Eine besondere Pointe liegt darin, dass sich hier die Protagonisten, Monsieur und Madame, von Medien konsumieren lassen statt umgekehrt. Mit seiner Vermischung verschiedener Genres des Populärromans (komisch und gesellschaftskritisch, melodramatisch, etc.) und der Verwendung grafischer Elemente der Popkultur reiht sich auch Boutinys Werk in die Ästhetik der Postmoderne ein. Sie unterwirft die Gegenwart einer allgemeinen Ästhetisierung durch Überzuckerung mit anerkannt Schönem; Lifestyle ist das Bedürfnis einer ästhetisierten Inszenierung des Alltags, die sich exemplarisch in Ökonomie und Werbung äußert. Der Schein, das Oberflächliche, erlangt mehr Wert als das Sein, der ästhetische Mehrwert überwiegt über das funktionelle Bedürfnis.161 Wenn die Werbung heute die Aufgabe der Kunst von früher erfüllt, ästhetische Inhalte ins alltägliche Leben zu bringen,162 bleibt der Kunst als Konsequenz nur der Weg der Parodie. NON-roman arbeitet stark mit dem Stilmittel der Parodie, die vor allem auf die Werbung abzielt, und setzt dabei ausgiebig auf multimediale Effekte mit Shockwave und animierten Gifs. Es werden z.B. getürkte Werbebanner und verballhornte Firmennamen wie die fiktiven Automarken „Toyata“ und „BWM“ verwendet, die so subtil wie subvertierend wirken. Genau das ist das Perfide, Raffinierte am Konzept: Wer nicht merkt, dass es sich um fingierte Werbeele-

160 http://www.synesthesie.com/boutiny/ 161 Welsch (1996), S. 11 ff. 162 Vgl. Schirner (1991), S. 12.

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mente handelt, sondern im Dienst einer automatisierten Webseitenbedienung handelt, blendet sie einfach aus der Betrachtung aus. Und doch ist dies das Kennzeichnende am Werk, denn: „Faites-vous plus voyeur que lecteur“163 empfiehlt sie dem Leser – und es ist doppeldeutig, denn nicht nur ist das Visuelle dominierend, sondern durch die zahlreichen Anzüglichkeiten wird der Leser auch im verbotenen Sinne sehend, als Voyeur. Nach dem Eintreten in die Sphäre des NON-roman Episode # 1 zeigt sich dem Leser ein neues Browserfenster mit dem Titel „Bienvenue sur le réseau Joystick de NON-roman“,164 das von einem bewegten Schrifthintergrund umgeben ist. Abbildung 50: Erste Seite im NON-roman #1

Quelle: Screenshot aus NON-roman #1

In einer älteren Version vom 31.12.2003 lautete der Fenstertitel noch etwas klarer: „La rencontre de Monsieur & Madame sur le réseau Joystick“; die beiden Protagonisten, um die es im Folgenden geht, werden anonym einfach „Monsieur“ und „Madame“ genannt. Aus dem Fensterinhalt geht hervor, dass „Joystick“ eine internationale Partnerbörse ist. Im peripheren Blickfeld des Benutzers fallen Bewegungen besonders auf. Auf dieser Seite (wie auch auf vielen weiteren) wird dies bewusst als Störeffekt eingesetzt: Die auf und ab wabernden, an

163 http://www.synesthesie.com/boutiny/non1/1infonon.htm 164 http://www.synesthesie.com/boutiny/non1/pubjoy1.htm

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Null und Eins erinnernden Zeichen des Rahmens um den Textbereich des Fensters herum lenken unweigerlich die Aufmerksamkeit des Lesers auf sich, wobei das eigentliche Interesse selbstverständlich dem Fensterinhalt gelten müsste. Schenkt man der lästigen Animation schließlich direkte Aufmerksamkeit, so kann man entdecken, dass die Hintergrundseite das Wort „oui“ unendlich oft auf ihrer Oberfläche wiederholt. Wie der Blick in den Quelltext des Fensters bestätigt, trägt auch das Hintergrundbild selbst den Dateinamen „oui1.gif“. Doch worum geht es eigentlich? Auch hier verteilt sich der Text auf verschiedene Orte; den Seitenkopf nimmt ein sich vom rosa Seitenhintergrund deutlich abhebendes grünes Querbanner ein, dessen Text offenbar die Gedanken des darin abgebildeten Mannes wiedergibt: „Oui, elle m’aime. Mais aimera-t-elle Mon…!?“ Die an sich schon verständliche Ellipse wird gegen die Leserichtung von dem Titel „Joystick“ in der linken oberen Ecke ergänzt. Der obere Teil des Herzlogos ähnelt übrigens höchst verdächtig dem Firmenlogo von McDonalds. Diese Rekontextualisierung lässt das rhythmische Auf und Ab der Hintergrundschrift in einem ganz neuen Licht erscheinen – einmal ist „oui“ die wörtliche Beantwortung der Frage, zum anderen aber ist die Bewegung auch metaphorisch die explizierende Bestätigung und Betätigung der sexuell motivierten „Joystick“Metapher. Die einzig ausführbare Aktion auf dieser Seite ist ein Klick auf das Banner – den sonst jeder erfahrene Internetnutzer tunlichst vermeidet – und man gelangt zur nächsten Seite mit dem Titel „Document sans titre“,165 dessen absichtliche Irreführung des Lesers und Paradoxie sich darin zeigt, dass dieser Nichttitel nicht etwa automatisch durch eine fehlende Eingabe generiert wird, sondern von der Autorin-Programmiererin explizit so benannt werden musste. Dies ist eine bewusste Täuschung des Lesers, wie auch schon in Le Nœud. Die Seite wird dadurch entkontextualisiert und kommentarlos präsentiert. Der Einsatz der himmelblauen und der rosa Schriftfarbe stellt eine geschlechtsspezifische Assoziation her; kleine Jungen, Babies, werden ja traditionell in Hellblau gekleidet, was wiederum mit den Worten „homme, UN VRAI“ kontrastiert. Dass diese Maskulinität durch die Majuskeln noch besonders betont wird, spitzt die Ironisierung weiter zu. Dieses Farbspiel wird dichotomisch und provozierend mit Rosa für die „coquine“ wieder fortgesetzt. Egal, ob man als Mann reagiert und der Aufforderung folgend scrollt – es geht nur nach rechts – oder als Frau, indem man der Aufforderung des Anfassens durch Klick auf den roten Pfeil nachkommt, man landet in beiden Fällen erneut beim Motiv des Joysticks, einmal metaphorisch in Gestalt eines mit einer phallusartigen Phantasiewaffe heftig herumfuchtelnden Monsters, zum anderen durch einen

165 http://www.synesthesie.com/boutiny/non1/transit.htm

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blinkenden Pfeil, der aufdringlich auf einen Eingriffslip deutet. Folgt der Leser nun der durch die animierten Pfeile nahegelegten Aufforderung, auf diesen Slip zu klicken, wird er erst einmal enttäuscht, denn hier gibt es gar keinen Link; dieser verbirgt sich statt dessen darüber in dem Bild des martialischen Monsters. Text und Bilder sind gleichermaßen Versatzstücke der Trashliteratur, verweisen auf das Science-Fiction-Genre und auf die erotische Literatur. Auch hier gibt es keine echte Hypertextualität, denn es gibt über eine einzige Klickmöglichkeit nur eine lineare Verschaltung zur nächsten Seite. Hier bietet eine grelle Werbungsimitation namens „pubdadadada“ Männern gewisse Dienste an, und hebt dabei die wichtigsten Begriffe, die der potentielle Kunde lesen soll, laut Schriftgröße und -farbe hervor. Am Fuß der Seite wird der euphemistisch (oder auch dysphemistisch?) wirkende Hinweis „Service de dépannage à domicile. 24 hours emergency sex service“ durch ein echt wirkendes Kreditkartenbanner ergänzt. Die Wirklichkeitssimulation der Werbung wird durch das kleine Pop-upFenster weiter getrieben, das den Leser bei Berührung des Texts mit der Maus auffordert: „Visitez notre partenaire financier“. Die eingangs angezeigte rosaromantische Partnerseite entpuppt sich so als dünne, kosmetische Schicht über den wahren Motiven. Als Hintergrund dient wieder das Bild der „coquille“ zur eindeutigen, kookkurrenten Einordnung der Seite: die abgebildeten Muscheln sind aphrodisierende Austern, mit der vorher genannten „coquine“ ergibt sich lautassoziativ ein Wortspiel zu „coquette“ sowie metaphorisch zum Begriffsfeld des Argot rund um Meeresfauna und Sexualität.166 Die beiden Links der Seite führen beide zur gleichen Folgeseite, die einen fingierten Chat beinhaltet. Im Chatroom von „Joystick“ findet die „1ère rencontre“ (so der Titel des Fensters) zwischen Monsieur und Madame statt. Auch hier wird die Sprecherzuordnung durch die Schriftfarbe symbolisiert, hellblau für Monsieur, rosa für Madame. Vereindeutigend wirkt die typografisch vereinfachte Anrede „OM“ statt „homme“ als Indiz für die weibliche Sprecherin. Die Simulation eines Chats wird neben der typischen Schreibökonomie durch den Einsatz von einfachen Emoticons verstärkt, z.B. dieses: ~:-)) Am Ende des durchaus interessanten, hier aber nicht weiter analysierten Dialogs zwischen den beiden findet sich eine binäre Linkauswahl als Antwort auf die Aufforderung der Frau an den Mann, ihr seine „photo-techtoniques“ zu schicken. Klickt der Leser „dans la peau pixel de Monsieur“ auf „OUI!“, ist dies der Beginn einer eifrigen und anzüglichen Chat-Beziehung, „NON“ dagegen schließt mit unerwarteter Konsequenz sofort den gesamten NON-roman.

166 http://www.synesthesie.com/boutiny/non1/smformen.htm

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Abbildung 51: Fingiertes Chatfenster mit Werbebanner

Quelle: Screenshot aus NON-roman167

Die mediale Innovativität des NON-romans erweist sich weniger durch die hypertextuelle Raffinesse, denn die Seiten sind mit wenigen Ausnahmen linear verknüpft, als durch die einfallsreiche Sub- und Pervertierung bekannter Handlungsschemata (Chatten, Surfen) und grafischer Elemente wie fingierter, „parasitärer“ Werbebanner und postmodern bunt zusammengewürfelter Abbildungen. So entwickelt sich ein vielschichtiges Spiel aus visuellen und textuellen Metaphern, Symbolen und Rollenklischees in einer selbstverständlich wirkenden Verbindung von Text und grafischen sowie technisch-funktionalen Elementen. Ironisch macht sich der NON-roman das Motto „Sex sells“ der Werbung zu eigen, als sarkastisch-scharfzüngigen Parabel zu den allgegenwärtigen Paradigmen der Werbung und der Kommerzialisierung, ein Vexierspiegel unserer Zeit.

167 http://www.synesthesie.com/boutiny/non1/joy1.htm

5 Digitale Narrativik

Wie das Zusammenspiel traditioneller, modifizierter und neuer Elemente im Sinne der Kookkurrenz und Äquivalenz techno-literarisch sinnstiftend in eine Interpretation integriert werden kann, hat das vorige Kapitel anhand ausgewählter französischer Hyperfictions exemplarisch vorgeführt. Die Ästhetisierung der technischen Ausdrucksmittel des Mediums ist der entscheidende Unterschied zwischen gedruckter und digitaler Literatur. Die Legitimation der literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit Hyperfiction ist vordergründig deren narrativer, vermittelter Charakter, denn auch im digitalen Medium werden ja noch Geschichten erzählt. Bekanntes aus der Narratologie schließt sich an neue mediale Phänomene an. Durch die mediale Organisationsstruktur des Hypertexts sind die Instanzen Makro-, Diskurs- und Mikrostruktur aber Modifikationen unterworfen. Im Folgenden werden die Besonderheiten der digitalen narrativen Analyse systematisch zusammengetragen. Diskussionsgrundlage ist die strukturalistische Erzähltextanalyse nach Genette mit ihrer herausragenden Trennschärfe, die sich auch für das Computermedium als eine tragfähige, verallgemeinerbare Ausgangsbasis erweist. Von der bekannten Reihenfolge der Strukturanalyse, die ausgehend von der Makro- über die Diskurs- zuletzt die Mikrostruktur untersucht, weicht die folgende Zusammenstellung bewusst ab. Die prägende Rahmenbedingung ist der Hypertext, er hat unmittelbare Auswirkungen auf Makro- und Mikrostruktur; die tiefgreifenden Änderungen der Diskursstruktur ergeben sich als Funktionen und Abhängigkeiten daraus und bilden daher den Abschluss des Vergleichs. In Kapitel 3 wurden die medientypischen Ausdrucksmittel bereits als Phänomen vorgestellt. Im Folgenden wird anhand der im Vorigen durchlaufenen Detailbetrachtung ein systematischer Überblick über ihr literarisches Potential erbracht.

212 | FRANKOPHONE DIGITALE L ITERATUR

5.1 D IE

MEDIALE

F ORM : H YPERTEXT

Der entscheidende Katalysator für die Erweiterung der narrativischen Strukturanalyse ist der Hypertext, da er als formgebender Rahmen eine Übersteuerung der bekannten narrativischen Strukturen bedeutet. Als digitale Umsetzung der nichtlinearen, assoziativen Organisationsstruktur definiert er das Bauprinzip der Hyperfiction (vgl. Kapitel 3.1.2) und setzt bei der medialen Erscheinungsform der Literatur an – ein Aspekt, der für das Printmedium bisher völlig irrelevant war. Dies ist nicht zu verwechseln mit einer Nichtlinearität des Diskurses und auch nicht mit der inhaltlich-chronologischen Gliederung der Makrostruktur. Die mediale Entlinearisierung der Hyperfiction bedeutet, dass anstelle einer rezeptionsfertigen Struktur ein offenes Labyrinth potentieller Alternativen und Verzweigungen vor dem Leser liegt, der konkrete Lektürepfad muss erst einmal aus einem multilinearen Korpus erzeugt werden. Für die Interpretation sind daher zwei Schritte der rekonstruierenden Linearisierung erforderlich: Zuerst, und das ist neu, die mediale Erzeugung eines linearen Phänotyps, also überhaupt erst der Erzählung im gewohnten Sinn, dann die daraus zu erarbeitende Rekonstruktion der Chronologie etc. der histoire, der erzählten Handlung. Für die Analyse der zugrunde liegenden Struktur des Genotyps ist daher zu klären, welche Hypertextformen und Verzweigungsmuster charakteristisch für ein Werk sind. Dazu kann, wenn man sehr formalistisch arbeiten möchte, anhand einiger Durchgänge eine Sitemap erstellt werden, die wie eine Landkarte einen Überblick über die Pfade und Verzweigungsmöglichkeiten bietet. Dies händisch umzusetzen lohnt sich aber nur bei überschaubaren Werken und als Fingerübung; computerunterstützt ist dies durch Tools wie z.B. WebTracer möglich (vgl. Kapitel 3.1.2). Wichtig: die Struktur der Links im Rhizom berücksichtigt nur die Tatsache und Anordnung der Verlinkung, nicht aber ihre Richtung. Wenn die Knoten A und B durch eine Kante verbunden sind, lässt dies noch keine Aussage zu, ob A zu B führt oder umgekehrt. Für die Analyse kann dies aber durchaus bedeutsam sein. Ein bekanntes Beispiel für einen multilinear angelegten Text lange vor den eigentlichen Hyperfictions ist Queneaus „Conte à votre façon“ (1967). Auf ecritures wurde dessen visuelle Landkarte mit allen multilinearen Verzweigungen wie folgt erstellt:

5 D IGITALE NARRATIVIK

| 213

Abbildung 52: Strukturgraf zu „Un conte à votre façon“

Quelle: http://www.infolipo.org/ambroise/cours/immediat/images/conte_graph.jpg

Da die einzelnen Absätze im Originaltext bereits durchnummeriert sind, fällt die Benamsung zur Identifikation der Knoten bzw. Absätze leicht. Aussagekräftig ist ihre Struktur für sich, beispielsweise durch wiederholt angesteuerte Knoten, die dadurch eine größere, „zentralere“ Bedeutung erlangen, vor allem aber durch die Kongruenz, die sich zwischen dieser Struktur und der von ihr transportierten Handlung erkennen lässt; mehr dazu im folgenden Kapitel. Klare, einfache Verknüpfungsformen finden sich bei Edward_Amiga, das auf dem Sternprinzip aufbaut, und bei Le Nœud mit einer klassischen Rhizomstruktur. Jede Seite hat in der Regel mindestens zwei Links, die sich nach einiger Zeit auch zirkulär wiederholen. Komplexer ist die hypertextuelle Gestaltung bei Apparitions inquiétantes. Hier findet sich eine eng verwobene Mischung aus Sternund Netzstruktur, die (als Struktur) durch das Ausbilden einer internen Konsistenz übersichtlich bleibt.

5.2 M AKROSTRUKTUR In einem nächsten Schritt findet eine Zusammenführung der formalen Verzweigungslogik und des Inhalts statt. Der Genotext besteht aus einem Bündel von verschiedenen Phänotexten, je nachdem, welche Verzweigungsalternativen beim konkreten Lektürevorgang vom Leser ausgewählt werden (vgl. Kapitel 3.2.1). Man kann von einer gewissen Permutation der Elemente sprechen, die nach bestimmten Regeln über die Links verknüpft sind. Jede Hyperfiction hat dem-

214 | FRANKOPHONE DIGITALE L ITERATUR

nach nicht eine, sondern mehrere bis viele Strukturen. Diese können in einem unterschiedlichen Verhältnis zueinander stehen. Daher lautet die Frage par excellence: Gibt es über das Erzählungsbündel hinaus eine gemeinsame makrostrukturelle Klammer, oder führt die hypertextuelle Auffächerung von einer gemeinsamen Ausgangssituation über verschiedene Pfade zu verschiedenen Lösungen? Gibt es ein Ende – oder gar mehrere? Oder führen alle Wege zu einem einzigen Ziel? Unterschiedliche Lesarten ergeben sich zumeist aufgrund von Lücken, die beim weiteren Navigieren aber geschlossen werden können. Dies muss aber nicht der Fall sein, und so ist die Uneindeutigkeit ein durchaus integraler Bestandteil des Lektüreerlebnisses. 5.2.1 Handlung Die verschiedenen Pfade des Phänotexts können prinzipiell jeweils eine andere Handlung bergen, wobei ein einzelner Lektürepfad durchaus verschiedene Handlungsstränge durchkreuzen kann. Prinzipiell beruht jeder Lektüredurchgang auf einer veränderlichen Basis, so dass das Werk, d.h. das Ereignis der Lektüre, flüchtig und einmalig wird (vgl. Kapitel 3.2.1). Daher empfiehlt es sich, mehrere Durchgänge durchzuexerzieren, und an besonders interessanten Stellen ähnlich wie beim Film ein Protokoll der Linkstruktur mit inhaltlichen Bezügen zu skizzieren. In der Regel sind die einzelnen Phänotexte einander sehr ähnlich, so dass dieses Vorgehen empirisch gerechtfertigt und praktikabel erscheint. Die französischen Hyperfictions zeichnen sich dadurch aus, dass sie über eine Handlung verfügen, die sich aus unterschiedlich zusammengewürfelten Bausteinen und Pfaden ergibt. Hinsichtlich der Handlung bleibt lediglich zu klären, ob es eine einzige (Haupt-) Handlung gibt, die sich ihren Weg durch das Rhizom sucht, oder ob sie sich in verschiedene Handlungen verzweigt. Bei Edward_Amiga ist die makrostrukturelle Gestaltung einfach. Die erste Sternstruktur konzentriert sich auf Edward, die zweite auf Marlène. Eine richtige Handlung findet kaum statt, da erst einmal ein Psychogramm der beiden erstellt wird. Der Inhalt der ersten beiden Seiten lautet schlicht: Edward wird durch den Besuch seiner Tochter Marlène gestört. Die Beziehung zwischen den beiden Figuren ist seit der ersten Nennung von Marlène klar, die Kohärenz eindeutig. Die beiden „Handlungsstränge“, vielmehr Fokussierungen, werden mit der Vereinigung der beiden Protagonisten ab der dritten Seite zu einem zusammengeführt. Ganz anders der Fall bei Apparitions inquiétantes: Die Hypertextstruktur ist zwar in sich komplex, aber leicht zu ermitteln; das Ausmaß ihrer Komplexität zeigt sich in voller Tragweite im Zusammenspiel von Form und Inhalt. Auch hier ist die Fabel rasch zusammengefasst, es geht um die Aufklärung des Mordes

5 D IGITALE NARRATIVIK

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an einem Jetset-Arzt.1 Diese Erkenntnis zu gewinnen kostet den Leser Engagement; die kaleidoskopische Brechung der Handlung führt den Leser lange in die Irre, mit jeder neuen Seite prasseln neue Namen und Situationen auf ihn nieder, deren (logische, chronologische, etc.) Verbindungen vorerst völlig undurchsichtig bleiben. Kohäsion und Kohärenz scheinen völlig außer Kraft gesetzt. Durch die Vielzahl der ausschnitthaften Einblicke in einzelne Handlungsstränge und Figuren sowie durch die Dekontextualisierung der Erzählfragmente ist es streckenweise nicht einmal möglich zu erkennen, wer (im Gesamtkontext) eigentlich Protagonist ist und ob es überhaupt eine Haupthandlung gibt. Erst spät und daher umso beeindruckender gibt die Hypertextstruktur die Beziehungen zwischen den Figuren preis, in Form eines lockeren Geflechts aus unterschiedlichsten, oft offen bleibenden Erzählsträngen, die sich kontig aus zufälligen Überschneidungen ergeben. Dennoch lässt sich eine einheitliche maktrostrukturelle Linie herausarbeiten, die sogar einen Endpunkt vorschlägt, wenn auch kein physisches Ende des Hypertexts. In anderen Werken lässt sich die Synopse nicht so einfach erstellen. In Ecran total geht es in unverzahnt bleibenden Handlungssträngen um ein ominöses „complot“, und es bleibt diffus, ob Professore Palerno, ein brillanter aber gewalttätiger Wissenschaftler, Opfer oder Täter, sympathisch oder abstoßend ist. Die Lücken zwischen den Fragmenten bleiben bestehen und lassen den Leser unbefriedigt zurück. Doch das Mysterium ist gewollt, wie das „Vorwort des Herausgebers“2 enthüllt: Ecran total sei demnach der Rest einer authentischen Aufzeichnung, die von alten, defekten Floppy-Disketten teilweise wiederhergestellt werden konnte. Der Leser ist somit Zeuge einer Verschwörung, die eben noch nicht aufgeklärt worden ist – und die er selbst auch nicht aufklären wird. Diese Klammer legitimiert als makrostruktureller Kniff das offene Konzept der Lücke, bei der sowohl Form als Inhalt Fragment bleiben. 5.2.2 Figuren Was die Figurenpsychologie betrifft, bleibt sie, wie man das bei postmoderner Literatur erwarten kann, äußerst rudimentär. Explizite, komplett plausible Charakterisierungen gibt es nicht; anhand von Indizien kann sich der Leser aber aus dem kommentarlos Beobachteten ein Bild machen. Aufgrund der fehlenden Kohärenz tauchen die Figuren oft völlig kontextlos als gesichtslose Schemen auf und gewinnen erst allmählich Konturen.

1

Zur genaueren Analyse vgl. Bauer & Mecke (2005).

2

http://alain.salvatore.free.fr/palhtml/avert.htm

216 | FRANKOPHONE DIGITALE L ITERATUR

Ein Paradebeispiel für die inkonsistente, den Leser verunsichernde Schilderung einer Figur findet sich in Ecran total, denn je nachdem, in welcher Szene sich der Leser befindet, wird die Figur Raffaele Palerno in positivem oder negativem Licht gezeichnet. Auf der Seite „Grand désordre à la Sorbonne“3 ermordet er aus schlechter Laune einen demonstrierenden Studenten, auf der Seite „Tenants et aboutissants“4 erweist er sich als unbestechlicher Held, dem es gelingt, seine Entführer zu überwältigen. Die Unterschiede sind so ausgeprägt, dass der Leser zwei Figuren annehmen würde, wäre da nicht die Klammer des Namens. Eine einheitliche Figurenpsychologie herauszuarbeiten ist bei so gegensätzlichen Beschreibungen unmöglich, die Figur wird unscharf und schwer zu fassen. Die Vagheit der Figuren äußert sich wie im postmodernen Roman häufig in ihren Namen, die parodistisch stark überzeichnet sind, z.B. „Cindy Texas“ für die hübsche Naive in Apparitions inquiétantes oder „Eugene Packlefree“ als Gangsterboss in Ecran total. Edward_Amiga und Marlène_PC sind stellenweise gar nur Allegorien, Cluster gegensätzlicher Merkmale, so dass sich eine genauere Charakterstudie erübrigt. Wieder ganz anders der Fall bei Le Nœud: Hier gibt es zwischen den einzelnen Seiten gar keine wiederkehrenden Figuren; die formale Inkohärenz wird hier auch inhaltlich unterstrichen und verstärkt das Bild des Patchworkmusters als Lehrstück des Internets/WWW.

5.3 M IKROSTRUKTUR

UND LITERARISCHE

E FFEKTE

Die Mikrostruktur der Hyperfiction ist geprägt durch die neuen Stilmittel, die das digitale Medium gestattet (vgl. Kapitel 3.1). Wird das neue Inventar dort nur präsentiert, so geht es in der Mikrostrukturanalyse um mehr als nur die Nennung dieser als Stilmittel eingesetzten Zeichensysteme: Viel bedeutsamer ist ihre Funktion für discours und auch histoire, also eine Pragmatik der neuen Stilmittel. Diese orientiert sich an einer bereits bestehenden, nicht-literarischen Pragmatik des digitalen Mediums, der Software-Ergonomie, übernimmt sie aber nicht einfach, sondern baut darauf ihre eigene Grammatik der Deautomatisierung auf. Die neuen Zeichensysteme, die das digitale Medium der Literatur beschert, sind zum Teil aus anderen Medien bereits bekannt, überstehen den Prozess der digitalen Literarisierung aber nicht ohne Veränderung.

3

http://alain.salvatore.free.fr/palhtml/06.htm

4

http://alain.salvatore.free.fr/palhtml/46.htm

5 D IGITALE NARRATIVIK

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Überraschenderweise ergibt sich aus neuen Elementen und „alten“ Verfahren ein fruchtbares Szenario neuer sinnstiftender Effekte. Die folgende Zusammenstellung erläutert, wie diese neuen Zeichensysteme (Links, Typografie, Bilder, Multimedia sowie die Funktionselemente des GUI) „in Aktion“ für die digitale Literatur genutzt werden. Schon aus dieser kurzen Übersicht wird eine starke Betonung visueller Elemente deutlich. Die Integration textfremden Materials in die Literatur ist keine Erfindung der postmodernen Literatur, sondern findet mit Typografie und Bild Vorläufer (wie ja auch die Postmoderne selbst) in einer teils sogar recht weit zurückreichenden Vergangenheit. Typisch für die Postmoderne ist allerdings ihre starke Aufwertung, die ganz dem Bestreben nach der Vereinbarung heterogener Ansätze und traditionell klar getrennter Disziplinen entspricht. Die bekannten Figuren und Tropen werden hier für eine Analyse der digitalen Literatur beiseite gelassen; ihre Funktionsweise ist hinlänglich bekannt und bedarf, soweit sich keine Interaktion mit medialen Besonderheiten ergibt, keines weiteren Kommentars.5 Ohnehin legen die Hyperfictions deutlich mehr Wert auf ihre ureigensten distinktiven Stilmittel, also Stilmittel, die eine mediale Abstraktion erfahren; in der digitalen Erweiterung der Mikrostruktur tritt die ästhetische Differenz zwischen traditionellem Erzählen und Hyperfiction besonders prägnant in Erscheinung.

5

Was die traditionelle Stilistik betrifft, wird immer wieder die sprachliche Qualität der Hyperfiction bemängelt. Besonders deutlich wird Basting (2003), wenn sie ihre Kritik betitelt mit: „Noch kein Netz-Ulysses in Sicht“. Damit fällt die Hyperfiction als eine Erscheinungsform zeitgenössischer ästhetischer Produktion einer pauschalen Postmoderne-Kritik zum Opfer, für die Postmoderne das Synonym für Beliebigkeit und trivialen Mischmasch ist. Doch kann man eine neue Literaturform nach den Maßstäben ihrer Vorgänger bewerten? Unter diesem Vorzeichen sind schon immer die Avantgarden beim Establishment durchgefallen. Für die Postmoderne gilt in verstärktem Maß, dass die kulturelle Vorbildung eines „lector doctus“ zur Würdigung erforderlich ist. Auf der anderen Seite ist die literarische Erscheinungsform im elektronischen Medium bereits schwierig genug; um eine gewisse Handhabbarkeit zu garantieren, muss als Gegengewicht zumindest der Inhalt verständlich und überschaubar bleiben, und dies trägt der digitalen Literatur oft genug genau diesen Vorwurf der Beliebigkeit und den Ruf einer fehlenden Literarizität ein.

218 | FRANKOPHONE DIGITALE L ITERATUR

5.3.1 Der Link Legt das Hypertextprinzip mit seinem assoziativen Netz aus Knoten und Kanten die Struktur der Hyperfiction fest (vgl. Kapitel 3.1.2), so ist der Link das Mittel, diese Struktur manifest werden zu lassen. Eigentlich Bestandteil der technischen Funktionselemente des GUI, hat er eine so zentrale Bedeutung für die Hyperfiction, dass ihm die gesonderte Behandlung in einem eigenen Kapitel zukommt. Als ein aktives, in der Regel textuelles Element stellt der Link eine Verknüpfung zwischen Objekten her. Er erfährt eine doppelte Instrumentalisierung durch seine räumlich verbindende, operationalisierbare Dimension, aber auch durch seinen eigenen semantischen Gehalt, die Bedeutung des Ankertexts: Zum einen ist dieser syntagmatisch innerhalb der Seite wie jedes Wort im Text ein einfacher Signifiant und sticht allenfalls durch die typografische Auszeichnung aus dem Text heraus; zum anderen steht er paradigmatisch über die Dateigrenzen hinweg in einer assoziativen Verbindung zur Folgeseite.6 In der referentiellen Kommunikation beruht diese (Is-a-) Beziehung meist auf Äquivalenz, d.h. das Ankersyntagma dient, wie der klassische Verweis im Printmedium, als einfaches Schlagwort oder auch als eine Art Titel für die Folgeseite und stellt so eine einfache Referenz her. Auf eine plakative Formel gebracht sollte daher, wo Hilfe „drauf“ steht, gemäß den Vorgaben der SoftwareErgonomie auch Hilfe „drin“ sein. Solche Rigidität bietet natürlich idealen Spielraum für die metonymische, temporale, kausale etc. Semantisierung der formal stets neutralen Ellipse.7 Das bedeutet, dass in den Hyperfictions der Link semantisch aus dem Kontext mit Bedeutung aufgeladen wird – wichtig ist hier die präzise Lesart von „Link“ nicht als dem sichtbaren Ankerwort, sondern in seiner kohäsiven, verbindenden Funktion. Beschreibungen der Linksemantik sind immer nur ex post möglich, da die Verlinkung als Signifiant unspezifizierbar neutral bleibt. Je nach Art der Verbindung lässt sich der Link in einen paradigmatischen (die Handlung der Vorgängerseite unterbrechenden) und einen syntagmatischen (die Handlung fortsetzenden) Typ unterscheiden.8 Mit Alamán (2004) kann man auch von öff-

6

Damit ist er eine anschauliche Versinnbildlichung der Funktionsweise der poststrukturalistischen Textauffassung!

7 8

Vgl. hierzu auch Wenz (2001), S. 47. Vgl. Suter (1999), S. 142 f. Das „zerteilende“ Moment ist das Charakteristische am Hypertext, der als Strukturprinzip auf einer Makroebene der Hyperfiction seinerseits einen paradigmatischen Charakter aufweist. Der syntagmatische, also fortsetzende und vereinende Aspekt des Links auf Mikroebene ist aber die Ausnahme in den

5 D IGITALE NARRATIVIK

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nenden Links („ouverture“) und schließenden („clôture“) sprechen, Jean Clément verwendet die Begriffe „liens unidirectionnels“ und „bi-directionnels“, wobei letztere ideal für Digressionen geeignet sind, wenn sie als Sackgasse zum Ausgangsknoten zurückführen.9 Anschauliche Beispiele für eine raffinierter ausgearbeitete Linksemantik, d.h. eine aus dem Kontext semantisierte Beziehung der verbundenen Seiten, liefert Le Nœud (vgl. Kapitel 4.2). Folgt man dem Link „sortir“ auf der Seite „Le bureau de l’existence“10, gelangt man (metonymisch) auf die Seite „L’issue“11; der Link „ma blonde“ auf derselben Seite leitet zu der Seite „Les Aimants“12, die sich als ein Beziehungsgeflecht aus „aimer“, „amant“ und den im Text genannten „magnétismes ésotériques“ entpuppt und so den assoziativen Charakter der Hyperfiction auf den verschiedensten Ebenen demonstriert. Auf die Spitze getrieben wird die Linkbenamsung bei Ecran total auf der Seite „Le chauffeur de remise et son ami disparu“:13 Hier verbergen sich entgegen aller Erwartung hinter dem einen Ankerwort „disparu“ zwei eigenständige Verweise, nämlich „disp“ und „aru“, wie der Blick in den Quelltext zeigt: disp aru

Dadurch gewinnt die an sich intentionale Linkauswahl wieder einen gewissen aleatorischen Charakter, denn es ist einfach vom Zufall der motorischen Mausbewegung abhängig, ob der Leser eher in den linken oder in den rechten Abschnitt klickt. Dies ist keine Spielerei zum Selbstzweck, denn „disparition“ ist ein zentrales Motiv in Ecran total, und die Linkgabelung führt zu zwei verschwundenen Personen, die eine Ankerhälfte verweist auf den entführten Wissenschaftler Mi Lang Pham, die andere auf den Sprengstoffattentäter Wolfgang, der bei seiner letzten Aktion verunglückt und daher ebenfalls nicht mehr aufgetaucht ist.

Hyperfictions, so dass sich eine stimmige Kongruenz zur Charakteristik des Hypertexts als paradigmatischem Strukturprinzip ergibt. 9

Clément (2002).

10 http://home.total.net/~amnesie/zone3/bureau.html (nicht mehr verfügbar; zuletzt: 06.02.2010) 11 http://home.total.net/~amnesie/zone3/issue.html

(nicht

mehr

verfügbar, zuletzt:

06.02.2010) 12 http://home.total.net/~amnesie/zone3/aimants.html (nicht mehr verfügbar; zuletzt: 06.02.2010) 13 http://alain.salvatore.free.fr/palhtml/10.htm#disp

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Doch bereits vorher ist die Seite „Avant lire“14 auffällig, da nahezu ihr kompletter Seiteninhalt als Link markiert ist. Auf den ersten Blick einfach ein ellenlanges Linksyntagma – doch die grafische Visualisierung des HTML-Codes dieser Seite mit Aharef zeigt Überraschendes: Abbildung 53: Ungewöhnliche Linkhäufung in Ecran total

Quelle: Screenshot-Ausschnitt erzeugt mit Aharef15

Wie die in der Originalgrafik dunkelblauen Knoten im Diagramm verraten, enthält die Seite außerordentlich viele Links, die aber, auf der Oberfläche nicht voneinander getrennt, als einzelne Links nicht zu erkennen sind. So wird die Aleatorik der Linkauswahl durch die Gestaltung der Linkanker nochmals ins buchstäblich Unüberschaubare potenziert. Auch wenn der Linktext textbasierte und auch spontane Assoziationen (und damit Erwartungen) im Leser weckt, bleibt doch letztlich offen, was sich dahinter verbirgt – im digitalen Medium ist alles verlinkbar, technisch sind alle im digitalen Medium darstellbaren Dateitypen als Sprungziel des Links realisierbar. Zudem ist die postmoderne Heterogenität der kombinierten Elemente eines der großen Paradigmen der Hyperfiction. Die Unvorhersehbarkeit, welche Aktion durch einen Link ausgelöst wird, führt Edward_Amiga anschaulich vor. Die ausgelösten Ziel-„Aktionen“ sind uneinheitlich, es bleibt unvorhersehbar, ob sich ein Pop-up-Fenster, eine neue Hauptseite oder ein Dialogfenster auftun wird

14 http://alain.salvatore.free.fr/palhtml/avert.htm 15 http://www.aharef.info/static/htmlgraph/?url=http://alain.salvatore.free.fr/palhtml/ avert.htm (nicht mehr verfügbar, zuletzt: 06.02.2010)

5 D IGITALE NARRATIVIK

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– oder gar kombiniert verschiedene solcher Aktionen. Der Leser ist so stets aufs Neue gespannt, was passieren wird. 5.3.2 Typografie Der Bildhaftigkeit der Schrift ist sich die Literatur schon seit der Antike bewusst. Bekannte historische französische Formgedichte stammen von Rabelais und Panard, im frühen 20. Jahrhundert sind die Calligrammes von Apollinaire für ihre Korrespondenz zwischen Inhalt und verspielter Form bekannt. Im digitalen Medium gewinnt die Typografie durch den Beitrag einer visuellen Dimension zum Signifié erneut an Prägnanz. Allerdings bringt die empirische Untersuchung eine klare Paradigmenverschiebung ans Licht: Waren diese Abweichungen vom einheitlichen Zeilenschriftbild historisch in der Regel der Lyrik vorbehalten, finden sie nun Eingang in die digitale Narrativik. Technisch ist die Veränderung der Schrift aufgrund der Flexibilität der Anzeige äußerst einfach zu realisieren. Dem Buchstabenmaterial kann bildlicher Eigenwert in einer Vielzahl von Parametern zuerkannt werden, so dass der vom normalen Druckbild abweichenden Schriftauszeichnung immens viele künstlerische Freiheiten offen stehen. So sind Variationen möglich in Schriftart, Zeichengröße, im Zeichenschnitt, der die Attribute fett, kursiv und unterstrichen zuweist, in der Schriftfarbe, die keineswegs immer schwarz ist, uvm. Oft erhält der Signifiant durch solche Auszeichnungen didaskalieartig wirkende Informationen in Bezug auf die Intensität geäußerter Rede, z.B. hebt Fettdruck den Signifiant (und damit auch dessen Signifié) optisch hervor, Wörter aus Großbuchstaben erlangen wie in der Grafik der Comics metonymisch eine Dimension der Lautstärke, die Symbolkraft roter Farbe erhöht die Dringlichkeit und Bedeutung, etc. Die Schrift kann auch die Grenzen zu Multimedia überschreiten, indem sie kontinuierlichen Veränderungen unterworfen ist, kann beispielsweise blinken, sich auf der Bildschirmseite bewegen, etc. Die Positionierung der Schrift im Bildschirmausschnitt ist nicht an die strenge Zeilengestalt gebunden; zwar ist sie eine Standardfunktion bei der Texterstellung, aber leicht zu umgehen. Damit sind die typografische Variation der Buchstaben und ihr räumliches Arrangement auf der Seite als voneinander abhängige Parameter untrennbar miteinander verbunden (mehr zur Seitenkomposition im folgenden Kapitel 5.3.3). Dass die typografische Variation nicht nur potentieller Natur ist, sondern ein beliebtes Stilmittel, beweist die hyperliterarische Praxis. Der Vergleich zwischen dem Kalligramm „La Colombe poignardée et le jet d’eau“ (1918) von Apolli-

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naire und der Seite „L’OISEAU MORT“16 aus der Hyperfiction Apparitions inquiétantes, die beide kategoriell völlig entgegengesetzt scheinen, zeigt überraschende Parallelen im literarisierenden Einsatz der Typografie einst und jetzt. Die Umsetzungen sind bei allem historischen, gattungstypischen und technischen Abstand auffallend kongruent: Bei beiden Beispielen liegen ein kookkurrenter Bezug zwischen Form und Inhalt und eine typografische Semantisierung vor. Abbildung 54: Verbildlichung der Typografie bei Apollinaire

Quelle: Apollinaire (1919)17

Während Apollinaire ikonisch-mimetisch durch die figürliche Anordnung der Verszeilen die Form der toten Taube, der Wunde und des Brunnens aus dem Inhalt des Gedichts nachbildet, geht es bei Brandenbourger zwar ebenfalls um einen toten Vogel, allerdings weniger verspielt und gegenständlich. Die Schrift wird hier streng linear eingesetzt und visualisiert einen Verlauf: Die von Zeile zu Zeile immer kleiner werdende Schrift entspricht in einer synästhetischen Metapher einem Verstummen der Geschichte und einem Ersterben der Er-

16 http://www.anacoluthe.be/bulles/apparitions/inconscient/voyeur2.html 17 Zitiert nach Apollinaire (2015), S. 74.

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zählerstimme sowie, auf den Vogel bezogen, metonymisch dessen Dahinscheiden. Zugleich wird das im Text genannte Abstürzen, „Un oiseau mort tomba du ciel.“, in einer indiziell-metonymischen Kongruenz perspektivisch nachgestellt. Der heimlich aus einem Dachfenster lugende „voyeur“ beobachtet von oben, wie sich das fallende Objekt (Schrift alias Signifié) aus seinem Blickfeld entfernt. Die letzten Wörter sind selbst am Monitor nur mit Mühe zu entziffern – wo es nichts mehr zu sehen gibt, endet für den Leser die Lektüre, für den Voyeur die Szene und für den Vogel das Leben. Das kookkurrente Zusammenspiel der Seite macht deutlich: Der Tod ist in einem reichen Beziehungsgeflecht vielfach präsent. Folgt die typografische Abweichung bei Apollinaire und Brandenbourger einer ordnenden Logik, geht die chaotisch anmutende Schriftgestaltung in NONroman einen Schritt weiter. Auch hier lassen sich literarische Anknüpfungspunkte in die Moderne entdecken, wie die folgende Abbildung illustriert: Abbildung 55: Vergleich typografischer Anarchie

Quellen: links: Ausschnitt aus Hausmann18 (1919, © VG Bild-Kunst, Bonn 2016); rechts: Screenshot Boutiny19

Einer anarchischen Befreiung von kulturellen Konventionen folgend, ist das dadaistische Lautgedicht „kp’erioum“ (1919) von Raoul Hausmann als sinnfreie Buchstabencollage, als reines Signifiant, auf seine visuelle Materialität reduziert. Immerhin birgt die eigenwillige Typografie, wie die Bezeichnung „optophonetisch“ nahe legt, auch einen entsprechenden Lautwert. Während Hausmanns Ge-

18 Korte, Kupczynska (2015), S. 87. 19 http://www.synesthesie.com/boutiny/non1/comerce.htm

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dicht durch die Sinnentleertheit der Zeichen provoziert, zielt die Werbungsparodie in Lucie de Boutinys NON-roman auf das Gegenteil ab: Die Ästhetik der Werbewelt mit grellen Farben, sich aufdrängenden Schlagwörtern aus unterschiedlich großen, unruhigen Buchstaben und schrillen, lautmalerischen Aufregern („COMPETTITITITITITI“) berauben sonst sinnvolle Worte ihrer Bedeutung. Die inhaltsleere Oberflächlichkeit des Konsums wird entlarvt und eine Entzivilisierung der konsumgetriebenen Welt zurück zum Primitiven diagnostiziert. Das dadaistische „Destruieren, Demolieren, Deformieren, Protestieren“20 des Texts erfährt hierin eine postmoderne Umkehrung. Auf einer etwas weniger spektakulären Ebene wird die Typografie auch im Dienst der Redewiedergabe genutzt, etwa im NON-roman durch rosa und blaue Schrift für eine weibliche und eine männliche Stimme, oder in den Apparitions inquiétantes durch Kursivsatz zur Markierung des inneren Monologs, der sonst durch keine anderen kontextschaffenden Strukturen erkennbar wäre. Eine besondere Kultur erfährt diese lautliche Dimension auch in der BD. Zum Vergleich, links lautmalerische Typografie bei Tintin in Le secret de la Licorne und rechts bei Spirou et Fantasio in Qui arrêtera Cyanure ? Abbildung 56: Typografie im Dienst der Lautmalerei in der BD

Quellen: links: Hergé (1943), S. 23; rechts: Tome & Janry (1985, © VG Bild-Kunst, Bonn 2016), S. 26

Das alle Beispiele verbindende Element ist, wie vielsagend, ihre Zugehörigkeit zu einer literarischen Randgruppe.

20 Korte, Kupczynska (2015), S. 9.

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5.3.3 Bild und Seitenlayout Die Typografie als Hybrid zwischen Schrift und Bild schafft den Übergang zum nicht-textlichen semiotischen Zeichen, dem vorwiegend ikonisch motivierten Bild. Bildern kommt traditionell in der Literatur keine besondere Bedeutung zu, sie sind hübsches Beiwerk und wiederholen und illustrieren Szenen aus dem Text; daher sind sie redundant und analysetechnisch verzichtbar. Weitergehende Ansätze finden sich in der frühen Moderne, bekannt ist hier etwa Rodenbachs Bruges-la-morte (1892), das bewusst Bilder als feste Bestandteile in den Diskurs integriert.21 Bei der Bande Dessinée als Hybridform zwischen Literatur und den Bildenden Künsten erhält schließlich der visuelle Aspekt im Zusammenspiel von Text, Bild und Geschichte seinen eigenen Wert. So entsteht eine eigenständige, sehr interessante Bildsprache mit elaborierten visuellen Umsetzungen narrativischer Einheiten wie z.B. Perspektiven- und Fokalisierungswechseln.22 Einen richtigen Fortschritt nimmt die emanzipierte Literarisierung des Bildes mit den Fotoromanen z.B. von Frédéric Fajardie, dessen Roman photo (2002) verblüffende Layout-Ähnlichkeiten zu Apparitions inquiétantes aufweist. Wie Comics und Fotoroman ist die digitale Literatur visuell-narrativ ausgerichtet und teilt ihr Schicksal als medial erweiterte Randerscheinungen in der (romanistischen) Literaturwissenschaft. Das Bild ist in der digitalen Literatur fester Bestandteil des Zeicheninventars, wenn auch nicht in dem Ausmaß wie bei der BD. Die Schrift bleibt (da digitale Literatur) das dominierende Zeichensystem, doch dem Visuellen wird in Layout und Design viel Aufmerksamkeit gewidmet, so dass jede Seite, also auch Text-

21 Die Stadt Brügge spielt nach dem Willen des Autors mit ihrer dekadent-morbiden Atmosphäre die geheime Hauptrolle, und diese Stimmung soll über die eingefügten bildlichen Stadtimpressionen möglichst direkt transportiert werden. Dazu erscheint Rodenbach, ganz im Geiste des Symbolismus, das ikonisch wirkende Medium des Fotos ideal, wie er im vorangestellten „avertissement“ erklärt, vgl. Rodenbach (1998), S. 49 f. Einen Durchbruch stellt dies nicht dar; in späteren Ausgaben sind immer wieder die Bilder weggelassen worden. 22 In Frankreich genießt die BD seit langem einen unvergleichlich höheren Stellenwert als die Comics in Deutschland. Im französischsprachigen Raum genießt die BD zur literarischen Kunstform hochstilisiert und 1971 von Francis Lacassin gar zur 9e art erklärt worden – eine offizielle Aufnahme in die Bildenden Künste.

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seiten, als Komposition und letztlich damit als Bild erscheint.23 Nicht zuletzt spricht man von ihrem Wiedergabeort, dem Bildschirm, als einer Grafischen Benutzeroberfläche! Bestandteile dieses visuellen Inventars sind die Funktionselemente der Grafischen Benutzeroberfläche (vgl. Kapitel 3.1.1) sowie innerhalb der Fenster die Schrift in allen räumlichen Dimensionen (vgl. vorheriges Kapitel 5.3.2), die Links (vgl. Kapitel 5.3.1), der Bildhintergrund, die Farbgestaltung aller Elemente sowie die Integration einzelner Bilder oder anderer Medien. Grafische Kontexte ergeben sich syntagmatisch innerhalb einer Seite, aber auch paradigmatisch in einem Gesamtkontext über Seitengrenzen hinaus. Alle visuellen Elemente sowie das gesamte Erscheinungsbild können semantisiert werden. Und das ist auch eine wesentliche Bedingung für ihren Einsatz: Das in der digitalen Literatur verwendete Bildmaterial geht über die rein dekorative Funktion hinaus. In Apparitions inquiétantes ergänzen die verwendeten Bilder, Fotos und Animationen den Inhalt, sind daher nicht völlig zu ihm redundant. Natürlich greifen sie das Thema ihres textlichen Kontexts auf, stehen aber mindestens in kontiger Beziehung zum textlichen Signifié und schaffen für den Leser eine emotional aufgeladene Stimmung (z.B. die erotische Eingangsszene). Sie leisten einen eigenständigen Beitrag zur Etablierung des assoziativen Netzes von Informationen auf der HTML-Seite (zusammen mit den textlichen Signifiants und den genannten medienspezifischen Elementen). Außerdem erfüllen sie eine wichtige strukturelle Funktion, denn sie fungieren nahezu alle als anklickbare Bildlinks und ermöglichen, kombiniert mit der Verlinkung, eine unüberbietbare Realisierung der unwillkürlichen Gedankensprünge, denen das Werk seinen Namen verdankt. Die Abbildungen sind ikonisch, aber auch metaphorisch zu interpretieren. Bei Edward_Amiga steht das Layout im Dienst der Fokalisierung. Jeder der beiden Figuren wird ein bestimmtes Seitenlayout zugewiesen, so dass der Leser aufgrund der grafischen Gestaltung auch eine unverbunden präsentierte Rede (und die Fokalisierung) einer der beiden Figuren zuordnen kann. Besonders sinnvoll ist dies, als in zwei nebeneinanderstehenden Frames Texte beider Figuren in ein und demselben Fenster erscheinen, wobei die eine Hälfte des Fensters von Edwards Farben, die andere von Marlènes Layout eingenommen wird; die Aufteilung spiegelt die diegetische räumliche Trennung der Figuren wider. Je nach äußerndem Subjekt wird der jeweilige Hintergrund etwas größer, so dass

23 Daher ist es methodisch auch unerlässlich, mit zahlreichen Screenshots der behandelten Werke zu arbeiten, da die Informationen eben nicht mehr nur im textlichen Signifiant stecken.

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die direkten Reden der Dialogfenster auch aus dem angepassten Hintergrund ihrem Sprecher zugeordnet werden können. Angesichts der fehlenden Mechanismen aus dem Printmedium, die die Fokalisierung erkennen lassen würden, ist dies eine innovative Kompensation dieser Unterstrukturierung. Als die beiden Figuren einander endlich wiedersehen, wird ein neues gemeinsames Layout in süßlichem Rosa eingeführt, das eine rührselige Wiedersehensfreude aufgreift, aber durch die Überspitztheit verdächtig wird und ein erstes Indiz für die keinesfalls glückselige Vereinigung der Figuren ist. Die Farbe des Seitenhintergrunds wird ironisch semantisiert und stellt sich in eine Reihe mit den den Haupttext subvertierenden Dialogfenstern der vorherigen Seiten. 5.3.4 Multimediale Zeichen Bestimmt Hypertext die Struktur der Hyperfiction, so bezieht sich Multimedia als syntagmatisches Gestaltungsmittel auf den Seiteninhalt, den es mit Ton und Animation oder Videosequenzen ausstatten kann (vgl. Kapitel 3.1.3). Kurz, Multimedia ist die Inszenierung von Text mit Bild und Ton. Wie Theater und Film ist die digitale Literatur plurimedial, allerdings in der spezifisch digitalen Ausprägung der Multimedialität. Wo die Semiotik das Monopol der Schrift als interpretierbarem Zeichen zugunsten einer Gleichberechtigung mit anderen Zeichensystemen beseitigt hat, normalisiert die binäre Codierung all diese Medien zu Multimedia: Im Unterschied zum monomedialen Printmedium kann das digitale Medium Informationen multimodal durch verschiedene Zeichensysteme vermitteln. Die Einbettung in ein gemeinsames oder durch Plug-ins erweitertes Interface lässt (ikonisch) eine Übernahme aller anderen Medien und Zeichensysteme zu. Hyperfiction ist internetbasiert, daher werden multimediale Elemente hier sehr maßvoll eingesetzt. Dies hat zum einen praktische Gründe, da zum Zeitpunkt der Entstehung der meisten französischen Hyperfictions Hypermedia im Internet noch ganz am Anfang stand, geschieht aber auch auf Empfehlung der Software-Ergonomie, da aus der Kognitionspsychologie bekannt ist, wie stark alles Bewegte, Blinkende die Aufmerksamkeit des menschlichen Auges anzieht. Die digitale Poesie, die nicht über das Internet verbreitet wird, sondern vorwiegend offline auf CD-ROMs, ist literaturgeschichtlich und technisch viel stärker multimedial orientiert (vgl. Kapitel 7). Dennoch liefert auch die Hyperfiction anschauliche Beispiele für einen innovativen Einsatz multimedialer Zeichen. Insbesondere der NON-roman, der ja schon den Untertitel „roman multimédia“ trägt, brilliert hier. Nahezu auf jeder einzelnen Seite finden sich kleine Animationen, die zwar recht einfach, aber in ihrer Häufung charakteristisch sind.

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Realisiert sind diese Animationen als animated gifs, dem technisch einfachsten Fall eines dynamischen Wechsels von zwei oder mehreren Bildern einer Abfolge, die wie ein Film die Illusion einer kontinuierlichen Bewegung erzeugen. Eingesetzt werden diese Animationen zu verschiedensten Zwecken; neben bewegten Illustrationen, die den Text ergänzen, setzt ein rhythmisch zuckender Bildschirmhintergrund den Kontext für den vor ihm angezeigten Haupttext, als der Leser aufgefordert wird, auf einer sehr breiten Seite den sichtbaren Bildschirmausschnitt nach rechts zu verschieben, setzt ein Science-Fiction-Monster die Bewegung des Lesers durch bedrohliches Schwenken einer Fantasiewaffe fort, und in einem fingierten Werbebanner fährt ruckelnd ein kleines Auto kopfüber-kopfunter den inneren Rahmen entlang.24 Interessant ist das Indiz für die literarische Fälschung, denn das Logo-Element mit dem echten Fahrzeughersteller-Logo steht nicht wie zu erwarten still, sondern ruckelt in großen Sprüngen in seinem Rahmen herum. Bezeichnenderweise wirken die visuellen Elemente in NON-roman schreierisch, im eigentlichen Sinn ist das Werk aber stumm – es wird völlig auf Sound verzichtet. Auch in den Apparitions inquiétantes finden sich kleine Animationen. So ist beispielsweise eine Fahrt im Cabrio einen Boulevard entlang durch ein animated gif mit minimalem Aufwand realisiert. Die Illusion der Fahrtbewegung entsteht raffiniert durch die Immersion des Lesers: Eigentlich wandert eine Laterne über den Bildausschnitt, verschwindet und erscheint erneut; doch mit dem Wissen, dass er mit Paméla im Cabrio unterwegs ist, interpretiert der Leser die Bewegung kognitiv aus Sicht der Figuren der Diegese. Nicht die Laternen ziehen am statischen, unbeteiligten Beobachter vorüber, sondern er sitzt mit im Wagen. So gaukelt ihm also der interpretierende kognitive Apparat vor, dass er selbst in die Diegese integriert ist. Der Minimalismus dieser stark stilisierten Bewegung fällt dem Leser intuitiv überhaupt nicht auf; die optische Täuschung, die sich die kognitive Interpretationsfähigkeit des Gehirns zunutze macht, so dass man sie gar eine diegetische Täuschung nennen kann, wird erst bei genauerer Analyse offenkundig. Ergänzt wird das Fahrerlebnis durch ein gesondert dazuzuklickendes Motorengeräusch. Die Apparitions inquiétantes sind übrigens bislang die einzige französische Hyperfiction mit Tonelementen. Neben untermalenden, Authentizität andeutenden Geräuschen wie dem Dröhnen des Motors sind dies ironischüberzeichnende Tonsequenzen, z.B. ein Weihnachtslied25, das ertönt, als der De-

24 http://www.synesthesie.com/boutiny/non1/joy1.htm 25 http://www.anacoluthe.be/midi/debsuite.mid

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tektiv beim Herumschnüffeln bei der Zeugin Déborah in ein Zimmer voller Püppchen eindringt.26 Die einfachen Musiksequenzen werden nicht, wie man das aus dem Film gewohnt ist, synchron mit der Bildanzeige abgespielt, sondern sequentiell in einem jeweils eigenen Fenster – eindeutig ein Tribut an den technischen Stand zur Zeit ihrer Entstehung ab 1997. Der Effekt, wenn auch sicherlich ungewollt, passt allerdings ins Bild: Der Leser hat auswählende Macht über die diegetische Welt, und für manche Aktionen wird er eben nicht nur visuell, sondern auch akustisch belohnt – mit einem multimedialen Mosaiksteinchen, das das Bild der Hyperfiction komplettiert. Das digitale interaktive Werk wird anders konsumiert als beispielsweise ein Film, in dem der Regisseur die Vorgabe erteilt, wann der Leser welchen Ton zu hören hat. Ganz anders dagegen der Fall bei François Coulon: Seine fictions numériques stehen in der Tradition von Computerspielen wie den Adventure Games. Ihre grafische Ausgestaltung ist sehr aufwändig, von Werk zu Werk hat er die visuelle Komponente seiner Werke weiter verfeinert; in sein letztes Werk sind neben sorgfältig „traditionell“ erstellten Bildern auch Videos integriert. Soundeffekte und Hintergrundmusik runden das bunte Bild ab. Auch Ecran total setzt eine recht prägnante Animation ein. Die Seite mit dem vielsagenden Titel „Dyslexie“ zeichnet sich durch eine geradezu hypnotisierende Farbgestaltung aus: Abbildung 57: Unergonomische Grafik

Quelle: Screenshot-Ausschnitt aus Ecran total27

Der kräftige Kontrast grüner und blauer, nach außen wandernder Kreisen illustriert und legitimiert zugleich die ablehnende Haltung des Protagonisten Raffaele

26 http://www.anacoluthe.be/bulles/apparitions/inquietantes/deborah_suite.html 27 http://alain.salvatore.free.fr/palhtml/lecture/index.htm

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Palerno dem Fernsehen gegenüber, in einer kookkurrenten Doppelung durch die Wiedergabe auf einem lichtausstrahlenden Computerbildschirm einerseits und den Kontext der Geschichte andererseits. 5.3.5 Die Grafische Benutzeroberfläche (GUI) Während Bild, Animation etc. der eigentlichen Literatur zwar fremd, als Zeichensystem aber aus anderen Medien bekannt sind, bedeutet die Einbettung der Literatur in eine wiedergebende Software eine völlig neue Rahmenbedingung. Wie in Kapitel 3.1.1 erläutert, werden Funktionselemente der Software auf der Grundlage der Desktopmetapher durch sprechende Bildübernahmen aus der realen Welt visualisiert, die Programmbedienung erfolgt direktmanipulativ durch Übertragung der deiktischen Bewegungen des Benutzers auf den Bildschirm. Elemente der Benutzeroberfläche sind der Fenstertitel, Dialog- und Pop-upFenster, die Statuszeile und nicht zuletzt der Quelltext. Eine Sonderrolle unter diesen Funktionselementen nimmt der bereits behandelte Link ein. In der literaturwissenschaftlichen Betrachtung sind mit Mecke (2000b) diese „neuen Textorte“ als Randbezirke des Texts zu verstehen. Während die klare Trennung zwischen Funktion und Inhalt, d.h. zwischen der Bedienung und der eigentlichen Problemlösung durch den Benutzer, eine der grundlegenden Forderungen der Software-Ergonomie ist, nutzt die Hyperfiction die beschriftbaren Funktionselemente der GUI zu einer überstrukturierenden Multiplikation der Textorte. An Stellen, die sonst Programmfunktionen vorbehalten sind, befinden sich in der Hyperfiction häufig palimpsestartig Informationen, so dass die GUIElemente literarisch zweckentfremdet (und nach software-ergonomischen Maßstäben missbraucht) werden. Dies ist nur möglich bei einer gewandelten Auffassung von Text, da seine bekannten Grenzen aufgebrochen werden. Der ans Printmedium gewöhnte Leser erkennt eine im Browser geöffnete HTML-Seite als Analogon zur Buchseite und erwartet gar keine weiteren Informationsorte; für den erfahrenen Internetbenutzer treten die bedienungsrelevanten GUIElemente als wohlvertraute Werkzeuge kognitiv in den Hintergrund, wie dies für eine optimale Computerbenutzung gefordert ist. Dies sind, verschiedensten Erwartungshintergründen entstammend, zwei gewichtige Gründe, die das Auffinden der zusätzlichen Informationen erschweren. Und tatsächlich haben Untersuchungen der Verfasserin mit unerfahrenen Hyperfictionlesern gezeigt, dass keine der Versuchspersonen, deren erster Kontakt mit Hyperfictions beobachtet und analysiert wurde, diese zusätzlichen Informationsquellen auf Anhieb wahrnahm. Der Hinweis darauf hatte allerdings bei allen Versuchspersonen einen unmittelbaren Aha-Effekt zur Folge: Funk-

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tionsweise und Zusammenspiel der Informationssplitter leuchteten ihnen intuitiv sofort ein. Die Versuchspersonen waren gewohnt, gewissermaßen detektivisch auf Besonderheiten im literarischen Text zu achten, und die Ausweitung dieser Indiziensuche um neue Strategien erschien ihnen attraktiv und ansprechend. Die Suche nach versteckten Informationen, nach Indizien und Schlüsseln an ungewöhnlichen Stellen nimmt dann einen spürbaren Anteil an der Lektürearbeit ein. Würde nur der Seiteninhalt im engeren Sinn beachtet, entginge dem Leser ein Großteil der wirklich spannenden digital-literarischen Elemente. Der Titel spielt, wie auch in der Printliteratur, eine wichtige Rolle. Im digitalen Medium ändert sich das Konzept des Titels aber grundlegend: Es gibt, bedingt durch die überstrukturierenden Bedienfunktionen der Software, gewissermaßen eine Inflation von Titeln. Jedes Browserfenster hat eine Titelzeile, in der neben dem Namen der Software auch ein eigener Seitentitel angezeigt werden kann. Realisiert wird er im Quellcode durch Seitentitel, der explizit vom Webautor eingegeben wird. In der Regel bestehen diese Seitentitel aus einem einzelnen Wort, das einen einfachen Bezug zum Seiteninhalt herstellen, aber auch Syntagmen oder ganze Sätze sind möglich. Der Seitentitel ist zur Spezifizierung der Seite beispielsweise zum Zitieren nützlich, bedeutender ist aber, dass er, vor allem in der Hyperfiction, eine explizite Metainformation zum Haupttext darstellt. Die prägnante Zusammenfassung als Nennung des Themas ist ja der Standardfall, der beispielsweise stets in Le Nœud vorkommt: Auf der Seite „La recette“28 befindet sich auch ein (zwar metaphorisches) Rezept, die Seite „Plafond de fièvre“29 enthält eine kurze Erzählung, die entweder als übernatürliches Phänomen oder durch einen fiebrigen Wahn in der Hitze Mexikos zu erklären ist. Jede HTML-Seite enthält in ihrem Textkörper einen Titel, der den Titel des Browserfensters wiederholt. Raffinierter ist die Verwendung der Seitentitel dagegen in Apparitions inquiétantes, denn hier leistet er einen Beitrag zum semantischen Netz aller sinnstiftenden Elemente; beispielsweise scheint der Titel „TROIS CERISES ALIGNEES“30 auf den ersten Blick gar nichts mit dem Seiteninhalt zu tun zu haben, denn Léna träumt von ihrem zu erwartenden immensen Erbe; erst aus dem Kontext des Seiteninhalts wird klar, dass es sich um eine Metapher aus der Glücksspielwelt handelt, denn die drei gleichen Symbole stehen für

28 http://home.total.net/~amnesie/zone3/recette.html (nicht mehr verfügbar; zuletzt: 06.02.2010) 29 http://home.total.net/~amnesie/zone3/fievre.html (nicht mehr verfügbar; zuletzt: 06.02.2010) 30 http://www.anacoluthe.be/bulles/apparitions/inquietantes/chateau.html

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den ganz großen Gewinn – und stellen damit eine subtile Ergänzung, gleich einem auktorialen Kommentar, dar. Besonders eigentümlich ist die Gestaltung der Titel schließlich in Edward_Amiga, denn hier ist der Titel ein kurzer Text für sich, der sich in eine Reihe mit den Texten des Haupttexts und der Dialog- und Pop-up-Fenster stellt. Nach der Episode mit dem Passwort erscheint das schon des öfteren erwähnte rosa Pop-up-Fenster31 mit dem langen Titel: „La porte s’ouvre sur de nouvelles possibilités pour nos cyberhéros“. Der Satz ist sehr offen angelegt, so dass die Doppeldeutigkeit sehr auffällig wird: Wer ist gemeint, sind die „cyberhéros“ die Figuren oder die Leser, bezieht sich die „für neue Möglichkeiten öffnende Tür“ auf die Handlung oder die Lektüre weiterer Hyperfictions? Auf diese Weise liefert allein die Überschrift ein ganz neues Indiz für das Verständnis der Seite und leistet einen eigenen, wichtigen Beitrag im semantischen Netz, das sich durch die Verteilung der Informationen auf unterschiedlichste Orte zwischen den weiteren seitenbenennenden Instanzen aufspannt. Ein weiterer Titel ist, für den Leser meist unbedeutend, der Titel des einzelnen Dokuments: der Dateiname. Im Unterschied zum Seitentitel ist dies eine auf die Datei und nicht ihren Inhalt bezogene Metainformation. Meistens wird sie nur intern im Quellcode für die Spezifizierung der Linkpfade genutzt. Allerdings ist der Dateiname als Bestandteil der URL eines der quelltextlichen Elemente, die auch auf der Browseroberfläche in Erscheinung treten, nämlich im Webadressfeld. Der Dateiname kann kryptisch formuliert sein (z.B. „index2c.htm“32 in Edward_Amiga oder „32.html“33 in Ecran Total), dann ist eine Indiz liefernde Absicht weniger anzunehmen, aber auch sprechend, und dann fällt er in die Masse der sinntragenden und interpretierbaren Zeichen (z.B. verweist der Dateiname der Seite mit dem Titel „MOURIR SANS REGRET“34 auf das gleiche semantische Feld, denn er lautet „vieillard.html“, und im Textkörper steht der „vieux Walter“ im Mittelpunkt, der gerne noch sein Testament für Léna geändert hätte. Fast unnötig, noch darauf hinzuweisen, dass Walter nicht nur der Protagonist der Seite ist, sondern dass auch intern auf ihn fokalisiert wird. Neben diesen intratextuellen Relationen setzt sich das semantische Geflecht aus Metainformationen auch intertextuell-syntagmatisch fort. Betrachtet man den Dateinamen in seinem ganzen Kontext, so besteht die URL auch aus dem Namen der Domain, die den Gesamtkontext oder das Motto liefert, z.B. die Sy-

31 http://fredromano.eu.pn/Edw_amiga/rencon1.htm 32 http://fredromano.eu.pn/Edw_amiga/index2c.htm 33 http://alain.salvatore.free.fr/palhtml/32.htm 34 http://www.anacoluthe.be/bulles/apparitions/inquietantes/vieillard.html

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nästhesie bei NON-roman (www.synesthesie.com), das Anakoluth bei Apparitions inquiétantes (www.anacoluthe.be), und im erweiterten Domainkontext die kontextlöschende Amnesie bei Le Nœud (http://home.total.net/~amnesie/, zuletzt: 06.02.2010), etc. Der URL-Pfad bildet die Verzeichnisstruktur der Dateien ab; bei einer geeigneten Disposition können sich aus deren Untersuchung (das Verzeichnis selbst ist in der Regel nicht zugänglich) interpretatorische Rückschlüsse ergeben. Ein besonders geglücktes Beispiel dafür ist in Apparitions inquiétantes die Parallelität der Verzeichnisse „inconscient“ (die die Dateien mit den Assoziationsfetzen enthalten) und „inquiétantes“ (in dem die Dateien mit der Handlung abgelegt sind), so dass bereits der Verzeichnisname den Kontext für die darin abgespeicherten Dateien liefert; die Erkenntnis der Dateistruktur einer Doppelhelix ist ja ein wesentlicher Impuls für die Interpretierbarkeit der Geschichte. In intertextuell-paradigmatischem Kontext stellt die History die Seitentitel in einen räumlichen Kontext. Diese Browserfunktion zeichnet die chronologische Reihenfolge der besuchten Seiten auf und zeigt ihre Seitentitel in einer Liste an. Dadurch entsteht ein neuer Text: die stark verknappte Übersicht und Kurzfassung der bisherigen Lektüre. Die graue Statuszeile am Seitenfuß ist Bestandteil des Fensterrahmens und als Ort für literarische Informationen äußerst unauffällig, denn die hier angezeigten Texte sind, um den normalen Arbeitsprozess nicht unnötig zu stören, als kleine Schrift auf grauem Grund kaum zu erkennen. Die deutschsprachige Hilfe des Browsers Firefox beschreibt die Funktion der Statusleiste wie folgt: „Diese befindet sich unten im Fenster und zeigt nützliche Informationen zur aktuellen Website an, die nicht für jedermann von Bedeutung sind.“35 Sie liefert Metainformationen, die sonst nur über den Quelltext zu erfahren sind. Deutet der Leser beispielsweise mit der Maus auf einen Link, erscheint standardmäßig in der Statusleiste die Voranzeige der Ziel-URL. Aber auch weitere Informationen, beispielsweise durch Mausberührung ausgelöste Kommentare zu Textabschnitten oder durchlaufende Schrift können hier angezeigt werden und machen die Leiste zu einem subtilen Ort für Information. Insbesondere bei Edward_Amiga findet der Informationskanal der Statusleiste eine bewusste und elaborierte Anwendung. Die Methode schlechthin, mit dem Benutzer zu kommunizieren, bieten schließlich die Dialogfenster. Als Funktionselemente sind sie grau hinterlegt und dienen der Warnung oder erzwingen eine Entscheidung des Benutzers. Viele Dialogfenster enthalten bereits die vom System vorgesehenen Antworten des

35 http://support.mozilla.com/de/kb/Menü-Referenz

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Benutzers, z.B. Schaltflächen mit Bestätigung, Ablehnung und Abbruch. Die Interaktion ist einfach: Durch Klick auf die entsprechenden Schaltflächen teilt der Benutzer dem System die Antwort mit. Programmiertechnisch kann jede Art von Text in ein solches Dialogfenster eingetragen werden. Beste Beispiele dafür liefert Fred Romano mit Edward_Amiga, wo die Dialogfenster zu sprechblasenartigen, auktorialen Erzählerinsertionen funktionalisiert werden, die die Aussagen des Haupttexts subvertieren. Abbildung 58: Literarisiertes Dialogfenster

Quelle: Screenshot aus Edward_Amiga

Im Unterschied zu den Dialogfenstern sind Pop-up-Fenster vollwertige Webseiten, die in einem neuen, zusätzlichen Browserfenster geöffnet werden. Sie können automatisch und systemgesteuert oder durch eine Klickaktion aufgerufen werden und stehen immer im Vordergrund, weil sie den Fokus tragen. Dadurch wird der Eindruck gleichzeitig übereinanderliegender Textschichten erzeugt. Dezidierten Einsatz finden auch sie hauptsächlich bei Edward_Amiga, wo sie, beispielsweise auf der ersten Hauptseite, vertiefende Ergänzungen zu der Innensicht der Figur beisteuern. Informationen im Quelltext ergänzen den auf dem Bildschirm sichtbaren Text. Ecran total gibt seine literaturtheoretischen Anschlussstellen explizit an, denn im unsichtbaren Quelltext der Startseite36 finden sich die programmatischen Schlagworte:

36 http://alain.salvatore.free.fr/

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Ecran Total, cyberfiction, lecture, littérature, literature, hypertexte, hypertext, littérature hypertextuelle, littérature virtuelle, récit, roman, roman policier, polar, fiction, Ecran Total, fiction hypertextuelle, texte, post-modern, post moderne, alt-literature, art et culture, humanisme, humanities, études littéraires, literary studies, illustration, dessin, Ecran Total, texte et illustration, télévision, TV, émissions, télé, média, médiologie, audimat, médiamat, astrologie, rationalisme, philosophie, Oulipo, Rabelais, Raymond Queneau, Gilles Deleuze, Guy Debord, Jacques Derrida, Milan Kundera, Paul Auster, Ecran Total

Dass „Ecran Total“ dabei selbst dreimal erwähnt wird, hat keinerlei technische Notwendigkeit; die Seite erscheint dadurch bei Google auch nicht höher im Seitenranking, so dass das nicht zu kleine Selbstbewusstsein und der Anspruch des Werks darin recht unverblümt zum Ausdruck kommen. Aber auch die Machart der interaktiven Elemente und die Benennung von Dateinamen und JavaScriptBefehlen, wie z.B. „javascript:coucou()“37 sowie das Entdecken sonstiger auf der Bildschirmebene unsichtbarer Informationen gewähren dem Leser abrundende Einblicke in die Arbeitsweise des Autors und ergänzen zugleich den eigentlichen Text. Philippe Bootz hat der Verfasserin 2004 bestätigt, dass ihre Methodik, auch im Quelltext nach Indizien zur Entschlüsselung der Geschichte zu suchen, ein bislang einmaliger, aber fruchtbarer Ansatz im Umgang mit digitalen Werken ist.

5.4 D ISKURSSTRUKTUR Wie die Konzentration auf die neuen Stilmittel gezeigt hat, steht bei den Hyperfictions die Art und Weise des Erzählens deutlich stärker im Vordergrund als das Erzählte. Die Inhalte sind meist eher rudimentär und trivial, die Raffinesse der Werke zeigt sich dafür an der Diskursstruktur. Hyperfiction sorgt vor der Folie der Erwartungen aus der Printliteratur für zahlreiche Brechungen, die in ihrer Wirkmächtigkeit durch eine Unerfahrenheit des Lesers im Umgang mit den neuen Phänomene potenziert werden. 5.4.1 Zeitformung Der Umgang der Hyperfiction mit Zeit ist Ausdruck einer radikalen postmodernen Zeitkonzeption der Chronophobie: Fehlende kohäsive Elemente überlassen dem Leser die chronologische Sortierung der Ereignisse und beweisen letztlich,

37 http://fredromano.eu.pn

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dass Zeit eine menschengemachte Projektion ist. Wichtig für die konkrete Zeitformung in der Hyperfiction ist, dass Zeitstrukturen zugunsten einer Verräumlichung des Texts aufgegeben werden. Der Fragmentcharakter der Hypertextstruktur hat entscheidende Auswirkungen auf die Zeitdauer. Während innerhalb der Knoten die bekannten Zeitstrukturen vorherrschen und meist eine szenische Wiedergabe der Ereignisse feststellbar ist (wenn es sich um inneren Monolog handelt, dann ist sogar Zeitdehnung recht häufig), bedeutet der Schnitt zwischen den Knoten (vergleichbar dem Filmschnitt) in der Regel auch einen Zeitsprung. Beispielsweise findet in Apparitions inquiétantes der Detektiv Chris Winter auf einer Seite „une pochette d’allumettes“, der Klick auf den Link führt ihn (und den Leser) sogleich in die dazugehörige Bar.38 In Ecran total wiederum wird dagegen diese sich im Grund natürlich ergebende Logik ausgehebelt: Hier gibt es logische und chronologische Schnitte innerhalb der Knoten und lineare Fortsetzungen über die Knotengrenze hinweg. Auf der Seite „Renée“39 sind die diegetischen Ebenen des eigentlichen Berichts sowie des Berichtens über die Entführung des Wissenschaftlers Mi Lang Pham dafür nur durch einen Querstrich getrennt und dadurch unterschieden. Die Zeitstrukturen des Phänotexts sind in der Hyperfiction durch ihre häufige Unterstrukturierung komplex, denn die üblichen Zeitindizien der Ordnung wie die Abfolge der Ereignisse im discours, wie Verbtempora, Pronominalbezüge und kohäsive Zeitangaben fehlen oder sind als Parameter je nach Kontext resemantisierbar. Wenn eine Seite von verschiedenen Ausgangspositionen angesprochen werden kann, werden die Thema-Rhema-Bezüge unscharf und ihre kontextabhängig verschieden zu füllende Parametrisierung gerät zur Interpretationsleistung. Zwar sind unmarkierte Zeitsprünge oder eine undeutliche, mehrdeutige Zeitordnung längst aus dem Printmedium bekannt, z.B. bei En attendant Godot (1948), aber im digitalen Medium wird ihre Wirkung der schwebenden Uneindeutigkeit in der Kombination mit der kohäsions- und kohärenzarmen Hyperstruktur verstärkt; die mediale Abgeschlossenheit der Hypertextseiten und ihre kohäsionslose Distanz betont die Zufälligkeit der Ereignisse stark und erschwert dadurch das hermeneutische Erkennen von Zusammenhängen. Aus der Juxtaposition einzelner Ereignisse lassen sich in der Regel ohne weitere Anhaltspunkte Sinnzusammenhänge und Handlungschronologie nur aus der neu arrangierenden Erinnerung des Lesers rekonstruieren. Zeit, und schon gar li-

38 http://www.anacoluthe.be/bulles/apparitions/inquietantes/client.html, der Klick auf den genannten Link führt anschließend zur Seite http://www.anacoluthe.be/bulles/ apparitions/inquietantes/chili.html 39 http://alain.salvatore.free.fr/palhtml/30.htm

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neare Zeit, spielt generell eine untergeordnete Rolle in der Hyperfiction; Verräumlichung ist das wichtige Konzept für die Hypertextstruktur der digitalen Literatur. In der Frequenz der wiedergegebenen Ereignisse scheint die nächste Anomalie des Hypertexts auf: Durch die uneingeschränkt erlaubte Verlinkung der Seiten sind zirkuläre Pfadbeschreitungen möglich, so dass eine Seite im Laufe einer Lektüre durchaus mehrfach angesprochen werden kann und ihr Inhalt daher repetitiv, mehrmals identisch, erzählt wird. Hier greift allerdings der postmoderne Begriff der nietzscheanischen Wiederholung, wie er von Derrida und Deleuze formuliert wird. Demnach verstärkt Wiederholung den Sinn nicht, sondern dekonstruiert ihn: In anderem Kontext kann das an sich identische Objekt Anderes bedeuten. Wenn die betreffende Seite bei wiederholtem Aufruf von verschiedenen Herkunftsseiten angesteuert und jeweils mit verschiedenen Vorgeschichten und Kontexten aufgeladen wird, handelt es sich aufgrund der Rekontextualisierung letztlich nicht um eine Reproduktion. Echten Repetitiv, also durch die Verlinkung bedingte Handlungsschleifen, aus denen der Leser u.U. nur mit Mühe ausbrechen kann, gibt es natürlich trotzdem. 5.4.2 Redewiedergabe Die Hyperfiction kennt natürlich die bekannten Arten der Redewiedergabe aus dem Printmedium und nutzt sie auch. Interessant sind hier die spezifischen Besonderheiten, die sich aus der medialen Situation ergeben. Leitlinien sind dabei die symptomatische Unterstrukturierung der Hyperfiction, ihre schwach ausgeprägte Kohärenz und Kohäsion und die fehlende kontextuelle Einbettung. Die Trennung von Sprechsituation und Redewiedergabe in verschiedenen Fenstern verkürzt bzw. kappt wesentliche strukturierende Informationen. Es wird unklar, wer spricht – gar, in welcher Form die Rede denn vorliegt. So werden, z.B. in den Apparitions inquiétantes und in Edward_Amiga, innerer und echter Monolog eins, wenn die Inquit-Formel der Ellipse der Knotengrenze zum Opfer gefallen ist. In Ecran total beispielsweise wird auf eine Zuordnung zwischen Sprecher und Äußerung verzichtet, so dass die Grenzen zwischen den Figuren unscharf werden und sie ineinander überzugehen zu scheinen. In Edward_Amiga dagegen findet eine konsistente Verlagerung der Figurenrede vom Haupttext in Dialog- und Pop-up-Fenster statt, beispielsweise bei dem überschäumenden Bericht Marlènes über ihr Vorstellungsgespräch, der einerseits als Bericht für den Vater sowie andererseits auch als introspektives Rekapitulieren eines triumphalen Moments zu verstehen ist. Insbesondere die Verwendung

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von Dialogfenstern ist eine gelungene, kookurrente Neuinterpretation dieser Systemfunktion. Andere Werke gleichen die durch diese narrative Unterstrukturierung entstandene Komplexität durch eigene Kompensationsstrategien aus: In Apparitions inquiétantes sind innere Monologe in einem eigenen Fenster typografisch durch Kursivsatz markiert, und in NON-roman steht beispielsweise in der Chat-Szene rosa Schrift für den weiblichen und hellblaue für den männlichen Sprecher.40 5.4.3 Erzähler Einmal abgesehen von der Aufspaltung der Erzählerfunktion durch die außerdiegetisch stattfindende, arrangierende Partizipation des Lesers im Hypertext bieten die französischen Hyperfictions eine Vielzahl von Variationen der klassischen Erzählerparameter. Die Fragmentierung der Erzähleinheiten in heterogen abfolgende, schnell geschnittene Szenen bedeutet auch bei der Untersuchung der Erzählerinstanz für die Fokalisierung eine gesteigerte Komplexität. Bei jedem Seitenwechsel muss nicht nur die Figurenkonstellation geprüft werden, sondern auch, ob nicht doch ein spontaner Fokalisierungswechsel stattgefunden hat. Der Schnitt zwischen den Hypertextknoten wird oft als erzählerischer Bruch genutzt. Es gibt aber medienspezifische Hilfsmittel, die die vollständige Anarchie im Zaum halten: So zeigt bei Edward_Amiga das Seitenlayout die Fokalisierung in den Hauptseiten an; aber auch aus der Software-Funktionalität ergeben sich medientypische Besonderheiten für die Fokalisierung. Fingierte Systemmeldungen in zweckentfremdeten Dialogfenstern finden über den neuen Informationskanal eine kookkurrente Verwendung als „Sprechblase“, die auktorialen ErzählerEinlassungen in den meist intern fokalisierten Haupttext werden über den eigenen Kanal der Dialogfenster realisiert. Sie liefern ironisch-hinterfragende Erzählerkommentare, die den Eindruck eines spontanen Dialogs mit einem „allwissenden“ und scheinbar zeitsynchron physisch anwesenden Erzähler erwecken, gar mit dem realweltlichen Autor, der aus der Blackbox des Computers spöttisch-subvertierend zum Leser spricht. Zugleich wird der Erzähler auf diese Weise auch sehr anschaulich als außerhalb der Diegese stehend situiert. Und nicht nur das: Dieses Phänomen der Auslagerung der Erzählerstimme wirkt sich zugleich auf die Erzähleridentität aus, denn dadurch materialisiert sich auch der Erzähler als Figur, der in auktorialer Einmischung die weitgehend personale Erzählsituation des Haupttexts ironisch-kritisch kommentiert. Er scheint so den Le-

40 http://www.synesthesie.com/boutiny/non1/joy1.htm

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ser direkt anzusprechen. Damit erfährt der personalisierte, fingierte Erzähler der Aufklärung eine überraschende Aktualisierung. Abbildung 59: Meldung mit auktorialem Erzählerkommentar

Quelle: Screenshot-Ausschnitt aus Edward_Amiga

Besonders ausgeprägt ist dieser, wie gezeigt, bei Edward_Amiga, aber auch Le Nœud liefert anschauliche Beispiele, etwa auf den Seiten „Le Tranchant“ und „La Boucle“: (Excuse-moi pendant que je quitte la pensée. Peux-tu m’indiquer ce que tu vois de loin?)41 C’est encore moi... Ici je te parle comme à un ami, et il faut que je te dise: tu viens d’arriver dans un recoin un peu spécial, qui ne fonctionne pas tout à fait comme les autres. […] au milieu de cet amas sans direction où nous errons tous les deux... 42

Der fingierte Erzähler der Aufklärung, der den (fiktiven) Leser expressis verbis anspricht, erlebt dadurch eine digitale Renaissance; die Parallelen zu bekannten

41 http://home.total.net/~amnesie/zone3/tranchan.html (nicht mehr verfügbar; zuletzt: 06.02.2010) 42 http://home.total.net/~amnesie/zone3/tranchan.html (nicht mehr verfügbar; zuletzt: 06.02.2010)

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Beispielen wie Diderot, Jacques le fataliste et son maître (1796), sind offenkundig. Vous voyez, lecteur, que je suis en beau chemin, et qu’il ne tiendrait qu’à moi de vous faire attendre, un an, deux ans, trois ans, le récit des amours de Jacques, en le séparant de son maître et en leur faisant courir à chacun tous les hasards qu’il me plairait. [...] Qu’il est facile de faire des contes! mais ils en seront quittes l’un et l’autre pour une mauvaise nuit, et vous pour ce délai. (S. 14 f.)

Während in späteren Epochen derartige Leseradressen selten werden, da sie als schulmeisterlich empfunden werden, erfahren sie in der Hyperfiction eine überraschende Aktualisierung. Sie sind die Folge eines symptomatischen Anleitungsbedürfnisses, aufgrund einer medialtypischen Unterstukturierung des Werks kombiniert mit einem gewissen Mangel an medialen Fertigkeiten beim Leser. Die digitale Literatur zelebriert postmodern Konzepte der Desorientierung und des „déroutement“ und so zieht sich die Handreichung für den (medial unmündigen?) Leser wie ein roter Faden durch nahezu alle Werke, erkennbar auch an zahlreichen Gebrauchsanleitungen. Selbst in der digitalen Poesie kann es sich Bootz nicht verkneifen, dem Leser Tipps zum Umgang mit dem (lyrischen!) Werk zu geben und leitet diese im Gedicht Passages (2004) gar mit „Ami lecteur“ ein. Die Erzählerrolle, die unterstützt durch die besondere Situation im interaktiven Medium in der Aufweichung des Kommunikationsmodells gipfelt, erfährt eine weitere Variation, als in einem Dialogfenster bei Edward_Amiga der Leser mit der Frage konfrontiert wird, „Est-ce que je dois intervenir?“, die mit „Amicalement, Fred Romano“, dem Namen der Autorin, unterschrieben ist. Im digitalen Umfeld der Computeranwendung entsteht der Eindruck, dass der SoftwareEntwickler (bzw. Webautor) dem Leser sehr viel näher steht als im Printmedium (nicht nur die Information ist „at your fingertips“, sondern auch das Subjekt der énonciation), was wiederum in einer positiven Rückkopplung durch die häufigen mises en abyme gefördert wird. Nicht zuletzt ist es eine der Aufgaben des Erzählers, die Verschränkung von Erzählebenen zu organisieren. In Bezug auf eine anspruchsvollere Verschachtelung von Erzählebenen sind die untersuchten Hyperfictions zurückhaltend. Aber dies ist auch kein Wunder: Die Mehrdimensionalität der Hypertextstruktur lässt eine Schichtung der Erzählebenen aufgrund der Unterstrukturierung kaum zu – wo keinerlei fixe Strukturen mehr gegeben sind, gleitet die Variation in Beliebigkeit und Chaos ab, die Herausarbeitung von Strukturen wird ohne Indizien und vor allem ohne eine ausge-

5 D IGITALE NARRATIVIK

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prägte semantische Kohärenz unmöglich. Die Komplexität der hypertextuellen Erzählung (und das Verwirrungspotential für den Leser) ist auch ohne eine diegetische Verschachtelung bereits beträchtlich. Auch wenn die Parallelität der Metaphern zwischen Handlungsstrang und Lektürepfad verführerisch ist, kann man meist nicht einmal von richtigen Handlungssträngen sprechen, geschweige denn von Erzählebenen. Es ist eher die Ausnahme als die Regel, wenn sich direkte Handlungsfortsetzungen über Knotengrenzen erstrecken, viel öfter handelt es sich um kontig angeordnete Handlungssplitter. Die Bezüge bilden sich ja meist erst rückblickend heraus. Immerhin, als gewisse Binnenerzählung kann man die im Verhältnis zum sonstigen Text sehr ausführlichen direkten Reden in Ecran total betrachten, insbesondere dann, wenn sie nicht dialogisch unterbrochen sind. Damit werden durch den fehlenden Kontext sonst so klar getrennte Phänomene wie Erzählebene und Redewiedergabe ununterscheidbar. Aus allen genannten Punkten zeichnet sich daher die digitale Narrativik als eine affirmierende Aktualisierung der „traditionellen“ Narrativik ab, sie ist in der Lage, bestimmte erzähltechnische Paradigmen durch die neue technische Umsetzbarkeit besonders prägnant umzusetzen. Die topografische Vielschichtigkeit, die sich aus ungewöhnlichen Textorten und neu bewerteten Zeichensystemen ergibt, ermöglicht ein postmodern reiches Spiel von Assoziationen, das strukturell unterversorgte Dispositiv des Hypertexts durch detektivisches Suchen nach Indizien interpretativ zu erschließen.

6 Ästhetik der Hyperfiction

Hyperfiction greift häufig bekannte Verfahren aus der Narrativik auf und aktualisiert sie durch neue mediale Umsetzungen. Aus den im Vorigen erarbeiteten Erkenntnissen werden im folgenden Kapitel Elemente einer Ästhetik der Hyperfiction zusammengefasst. Der Paradigmenwechsel weg vom Computer als Arbeitswerkzeug eröffnet ein reiches Spektrum ästhetischer Produktion und Rezeption. Die digitale Literatur setzt sich mit den Möglichkeiten und Grenzen ihres Mediums auseinander und lotet es ästhetisch auf seine Ausdrucksfähigkeit und künstlerische Verwertbarkeit aus. Damit schreibt sie sich in die Kunst-„Tradition“ des 20. Jahrhunderts ein, mit Anknüpfungspunkten in der Moderne und vor allem der Postmoderne. So lässt sich Lyotards Beschreibung des postmodernen Künstlers bzw. Schriftstellers geradezu als Motto der digitalen Literatur werten: Der Text, den er schreibt, das Werk, das er schafft, sind grundsätzlich nicht durch bereits feststehende Regeln geleitet und können nicht nach Maßgabe eines bestimmenden Urteils beurteilt werden, indem auf einen Text oder auf ein Werk nur bekannte Kategorien angewandt würden. Diese Regeln und Kategorien sind vielmehr das, was der Text oder das Werk suchten.1

Die zentralen Fragen für die digitale Literatur sind daher, wie sich empirisch eine spezifische Ästhetik der Gattung ausbilden kann, und auf welche Verfahren sich die ästhetische Wirkung gründet. Was unterscheidet die Zeichenprozesse der Hyperfiction ästhetisch von anderen, im Vergleich zur Gebrauchsliteratur und vor allem aber den anderen literarischen (Medien-) Gattungen? Gibt es bestimmte Arten von Beziehungen zwischen Zeichen und Bezeichnetem, die zu ästhetischen Erlebnissen führen?

1

Lyotard (1990), S. 46 f.

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Die ästhetische Differenz lässt sich aus den Unterschieden, genauer dem Mehrwert digitaler Literatur gegenüber der narrativen Printliteratur ableiten. Untersucht wird daher ontologisch und epistemologisch anhand von intermedialen Beispielen, inwiefern sich die Konzepte des traditionellen Kunst- und Literaturbegriffs im digitalen Medium verändern. Auf der Suche nach den poetischen und ästhetischen Prinzipien der Hyperfictions werden die in verschiedenen Kontexten bereits genannten Einzelphänomene und Besonderheiten nun im Licht ihres ästhetischen Potentials beleuchtet.2 Emblematisch äußert sich die große Vielfalt ästhetischer Ansätze in Domainnamen wie Synesthésie, Anacoluthe und Amnésie. Es sei vorausgeschickt: Die Hyperfiction befindet sich im Spannungsfeld mehrerer Medienästhetiken. Eine wichtige Leitlinie ist, dass im Sinne der Deviationsästhetik der russischen Formalisten die poetischen Verfahren der Deautomatisierung und Überstrukturierung bewusst gegen das softwaretechnische Paradigma der Usability eingesetzt werden. George P. Landow mag recht haben mit seiner Beobachtung, dass poststrukturalistische Literaturtheorien Strukturen des Hypertexts antizipiert haben, und umgekehrt, dass Hypertext und Hyperfiction einige poststrukturalistische Theoreme technisch umsetzen. Eine gewisse Konvergenz der am Printmedium entwickelten Literaturtheorie und -praxis sowie der Technologie des Computermediums ist schließlich feststellbar und für die Beschreibung der Technologie auch nutzbar. Die Ästhetik der Hyperfiction lässt sich davon aber beileibe nicht erfassen, wie sich am Grundsatz der gezielten, deautomatisierenden Subversion bestehender medienspezifischer Codes und software-ergonomischer Regeln zeigt.

2

Heibach identifiziert für die bei ihr als multimedial aufgefasste Ästhetik des künstlerischen Schaffens im elektronischen Medium drei Faktoren: Epistemologie, Ontologie (Synästhesie) und Vernetzung. Sie stellt sich damit in die deutsche Tradition des Vernetzungsparadigmas, im Zentrum ihres Interesses stehen „Vernetzungskultur“ und „die Entstehung neuer Formen kollektiver Kreativität, die Kunst und Wissenschaft von einer individualisierten Kultur zu einer kooperativen, interdisziplinären Kommunikationskultur werden lassen.“ Vgl. http://www.netzaesthetik.de/, JavaScript-Link „Visionen“. Aus der Perspektive der vorliegenden Arbeit lässt sich dieser analytische Entwurf allerdings vereinfachen, da Multimedia als Merkmal der digitalen Literatur und nicht als eigenes Paradigma aufgefasst wird. Der Unterschied zwischen ihrem und dem vorliegenden Ansatz lässt sich symptomatisch beschreiben: Wo Heibach von „computer- und netzbasierter Kunst und Literatur“ spricht, ist das Äquivalent hier einfach „digitale Kunst und Literatur.“

6 Ä STHETIK DER H YPERFICTION

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Die vielfältigen Konzepte, die sich aus dem Hypertextprinzip ergeben, sind keinesfalls disparate Phänomene, sondern eins ergibt sich jeweils als gewissermaßen natürliche Folge aus dem anderen. Die mediale Zersplitterung bedeutet eine Aufteilung in autonome Elemente (Fragmentierung), die rhizomatisch miteinander verbunden sind (Nichtlinearität); die Mischung paradigmatischer und syntagmatischer Elemente wie Hypertext und Multimedia bedingt eine Collage heterogener Elemente und impliziert hierin allgemeine Aspekte von Intermedialität. Das Dispositiv der GUI-Elemente erlaubt ihre subversive Zweckentfremdung durch Deautomatisierung und Über-, aber auch Unterstrukturierung und liefert metafiktionale Paradebeispiele. Aleatorik ist das Prinzip, das auf alle Gebiete (ein wenig) abfärbt, sich im Hypertext in einer gewissen Unwägbarkeit der Auswahl und bei den Textgeneratoren in einem neuen Erscheinungsbild äußert. Die Ästhetik einer digitalen Literatur spannt sich nichtlinear und mit zahlreichen Querverweisen zwischen den sie charakterisierenden Momenten Rhizom, handelnde Interaktion und Multimedia auf.

6.1 D ISRUPTION Dass Hypertext das Konzept der hierarchischen, linearen Ordnung ersetzt, hängt eng mit zwei Faktoren zusammen, die je nach Fokussetzung in das Zentrum des Interesses rücken: 1.) Es muss ein disruptives Element vorliegen; und 2.) dieses Element zerteilt die vorherige formale, chronologische, inhaltliche etc. Einheit in Einzelteile. Auf die Hyperfiction übertragen heißt das, die einzelnen Seiten sind Fragmente im Docuverse der gesamten Hyperfiction und haben als formal abgeschlossene Einzeltexte (Dateien) modularen Charakter; die verbindenden Anschlussstellen für die weitere Lektüre sind die Links. 6.1.1 Fragment und fehlende Kohärenz Die heutige Zeit ist durch eine zunehmende Ästhetik der Beschleunigung und der Rastlosigkeit gekennzeichnet. Ein Symptom dieser Reizüberflutung in unserer visuell dominierten Alltagskultur sind Videoclips. Sie sind bunt und schrill und schnell. Es bleibt keine Zeit, eine Geschichte „langatmiger“, ausführlicher, zu erzählen; was zählt, ist der entscheidende Moment, im Stakkato gefolgt von einer ähnlich attraktiven Impression. Nur die Spannung nicht abflauen lassen, scheint oftmals die Devise in Werbespots und Musikvideos, und lässt sie u.U. gerade dadurch in eine belanglose Berieselung abgleiten. Schnelle Schnitte, hohe Szenendynamik, kurze Aufmerksamkeitsspannen und scheinbar zusammenhang-

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lose Szenenfolgen übersetzen das Prinzip des Fragments auch in das lineare Medium des Films. Seinen Anfang nimmt das mächtige Konzept des Fragments im frühen 20. Jahrhundert in der modernen Malerei, im Kubismus z.B. bei Picasso und Braque.3 Das Interesse des Künstlers verlagert sich von der Simulation einer visuellen Wahrnehmung, einer Oberflächenabbildung „nach der Natur“ zu anderen Objektattributen und deren Wechselwirkung im Raum und gipfelt in einer gleichzeitigen Abbildung der Multiperspektivität, die nicht der realen Erfahrung des Sehens entspricht, sondern eher einer Umsetzung vorkognitiver Wahrnehmung. Auf den ersten Blick erkennt der Betrachter nur Ecken und Kanten, im wahrsten Sinne Splitter: eben das Motiv der „Kuben“. Diesen Oberflächeneindruck gilt es zu überwinden, um Raum für eine neue Erkenntnis zu schaffen: Die Zersplitterung löst das Bild nur scheinbar auf, denn sie trennt die Bildelemente nicht, sondern eint sie zu einem neuen Ganzen – eine völlig neue Sichtweise, die die Dekonstruktion des Objekts in der Postmoderne vorwegnimmt und so den Weg für die kommenden Kunstepochen bereitet. Der Verweis auf die Malerei mag als anschauliche Parabel für das Wirken fragmentarischer Literatur dienen, die ja beileibe keine Erfindung der Hyperfiction ist, wenn sie auch in der Literatur seit der Moderne eine besondere Beachtung erfährt. Das Experimentieren mit der fehlenden Kohärenz setzt lange vor der Existenz des digitalen Mediums ein. Bei Céline Voyage au bout de la nuit (1932) bedeutet der Mangel an grammatischen Determinanten ein programmatisches Verständnisproblem. Durch unklare, im Grunde grammatikalisch falsche Pronominalbezüge „zertrümmert“ Céline die Kohärenz der Erzähleinheiten und lässt sie vom Leser neu montieren.4 Ganz ähnlich Claude Simon, der in Les Géorgiques (1981) die Handlungsstränge verschiedener Protagonisten vermengt, sie oft unmarkiert ineinander übergehen lässt und dadurch den Leser verwirrt. Die Darstellung der Geschichte ist in Handlungssplitter zerfasert, Identitätszuschreibungen fehlen. Auch die literarischen Kurzformen der postmodernen Literatur, wie bei Bergounioux, Volodine, Garcin, Michon u.a. zu finden, sprechen eine beredte Sprache; für Ombres errantes hat Qignard 2002 sogar den Prix Goncourt erhalten. Die genannten Stichproben mögen exemplarisch für eine Tendenz seit der Moderne gelten, die fixierten, sicheren, abgeschlossenen und hierin letztlich affirmativ wirkenden Kriterien des realistischen Romans aufzulösen. Wo die feh-

3

Vgl. Bernadac & du Bouchet (1986), S. 54.

4

Vgl. Blank (1991).

6 Ä STHETIK DER H YPERFICTION

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lende Kohäsion die (gedruckte) Literatur schwer verständlich macht, ist sie in der Hyperfiction Bestandteil der allgemeinen Desorientierung. Die Fragmentierung bezieht sich im Kontext der Hyperfiction vor allem auf die Struktur des Mediums, betrifft aber auch den Inhalt. Zur Fragmentierung gehört auch die Verteilung der Informationen auf ungewöhnliche Orte: Informationsschnipsel finden sich an unorthodoxen Stellen im GUI, z.B. im Seitentitel und in der Statusleiste; das wirkmächtigste Mittel der Fragmentierung in der Hyperfiction ist natürlich der Hypertext. Das Fragment macht auf die Zäsur zwischen den Einzeltexten aufmerksam, denn es lässt den nach ganzen Zusammenhängen strebenden, hermeneutisch beseelten Leser unbefriedigt zurück: Die Geschichte verläuft stolpernd, endet abrupt. Dies gilt innerhalb der formalen Erzähleinheit eines Knotens; aber auch über die Knotengrenzen hinweg sorgt das Verfolgen vielversprechender Links nicht unbedingt für eine Fortsetzung der eben erlebten Szene. Verschärft wird die Ruptur der inhaltlichen Unterversorgung durch eine strukturelle Unterversorgung: Die formale Abgeschlossenheit jedes Moduls bewirkt eine Verknappung, gar eine Kappung der Kohäsionsmechanismen (mit Ausnahme des Links), die auf die Kohärenz zurückwirkt. Zwar sind im Hypertext die einzelnen Seiten durch Links zu einem Rhizom verbunden, dennoch findet von Dokument zu Dokument eine kontinuierliche Löschung des Kontexts statt, kombiniert mit einer neuen gesamtassoziativen Rekontextualisierung. Bedeutet Fragment sehr grundlegend das einfache Vorliegen von Einzelteilen, so stellt der Link zwischen diesen Elementen in der Lesart der Hypertextknoten nichtlineare, genauer: multilineare Beziehungen her, die unter dem Einfluss einer gewissen Auswahlaleatorik vom Zustand des Genotexts in den konkreten Phänotext umgewandelt werden. Die Fragmentierung der medialen Präsentationsform (und des Inhalts) leitet unmittelbar über zur Nichtlinearität, dem großen Paradigma der Hyperfiction. Wo im Printmedium der (chronologische, erzählerische, etc.) Schnitt eine zusammenhängende Handlung zerteilt und das Verfolgen der Verweise die Handlungskohärenz über die Fugen hinweg wiederherstellt, verbindet der Hyperlink prinzipiell Disparates, das sich erst in einem deutlich größeren Kontext wieder einer gewissen Kohärenz unterwirft. Die inhaltlichen Brüche fallen unverhältnismäßig stärker ins Gewicht. Die Folge: Fragmentierung führt zur Orientierungslosigkeit des Lesers, der sich die Geschichte aus einem Kaleidoskop von Mosaikstückchen erarbeiten muss. Strategien der digitalen und der gedruckten modernen und postmodernen Literatur treten so in eine fruchtbare Interaktion.

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6.1.2 Nichtlinearität & Labyrinth Nichtlinearität bezeichnet die achron mediale Präsentation der Hypertextfragmente in ihrem rhizomatischen Gesamtkontext. Fragment und Nichtlinearität sind zwei nicht voneinander zu trennende Symptome eines Phänomens. Auch sie sind keine Schöpfung der Hyperfiction. Die Bestrebungen gegen die allzu dominante Strenge der Linearität gibt es im Grund so lange wie die Literatur selbst. Ein Blick in die Mediengeschichte der Schrift unterstreicht das ambivalente Verhältnis zwischen Linearität und Unterbrechung. Aus der Oralität entstanden, findet historisch in der Phase der Literalität eine konsequente Abbildung des „Redeflusses“ statt, der wie das Verstreichen der Zeit streng monolinear abläuft. Meilensteine der Schriftkultur des Scriptographeums ist die Einführung der Wortgrenzen sowie später der Interpunktion.5 Die Fragmentierung erweist sich in diesem Zusammenhang als eine stringente Fortführung der Unterbrechungstendenzen aus dem Formalen in eine in sich zwiespältige, formalinhaltliche Dimension. Auch textgeschichtliche Versuche, von der Errungenschaft der Linearität durch die Erfindung von Fußnote, Verweis, ausführlicher Kapitelüberschrift und Index abzuweichen, begleiten die Linearität als deren notwendiger Schattenwurf durch alle Epochen, Kulturen und Disziplinen.6 In der Postmoderne wird die Ablehnung der Linearität dann zum kulturübergreifenden Diktum. Der traditionelle narrative Diskurs wird als „verbraucht” empfunden, wie Milorad Pavić programmatisch für diese Zeit feststellt: Die Sprache der Literatur zwängt unsere Gedanken und Träume, Gefühle und Erinnerungen in ein eingleisiges System, das, gelinde gesagt, schwerfällig ist und allzu träge für die Zeit, in der wir leben. 7

Zur Transformation dieses Diskurses scheint die Nichtlinearität mithin ideal geeignet, und so wird ein achroner, fragmentarischer, elliptischer Erzählstil favorisiert, der den Leser zwingt, sich die Geschichte aus Erzählfragmenten assoziativ

5 6

Vgl. Ong (1988). Auch das Layout kann nichtlineare Funktion gewinnen: So umranden im Mittelalter volkssprachliche Glossen den lateinischen Bibeltext, erläutern lateinische Kommentare den spanischen Haupttext der Siete Partidas. Vgl. Eggert (2007), S. 402. Sie nehmen dadurch die Verräumlichung von Textexperimenten wie Derridas Glas und Arno Schmidts Zettels Traum vorweg.

7

http://www.zeit.de/1999/17/199917.jh-pavic_perec_.xml

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selbst zu erarbeiten. Das macht jeder Leser ohnehin, sobald er einen texte scriptible vor sich hat; es findet hier jedoch verschärft statt, da drei Ebenen der Linearität zu unterscheiden sind: Inhalt, Diskurs und – neu – dessen mediale Präsentationsform (vgl. Kapitel 3.2.1). Diese ästhetischen Verschiebungen weg vom Paradigma der Linearität sind seit der Moderne zu beobachten und laufen in verschiedenen Phasen ab.8 Noch marginal hinsichtlich einer echten Nichtlinearität, aber dennoch wegweisend in der modernen Reform der Narrativik sind diskursstrukturelle Zersetzungen. Zeit wird als ultimative Linearität wahrgenommen, und so setzt hier das Zerstörungsbestreben des nouveau roman an. Eines der innovativsten Projekte von Zeitmanagement in der postmodernen Printliteratur ist Michel Butors L’emploi du temps (1957), das ein Labyrinth aus Zeit errichtet, um die Geschichte in einer dreidimensionalen Komplexität wiedererstehen zu lassen, anstatt sie zu begradigen und auf die Papierebene zu verflachen. Die Abweichungen von der formalen Linearität beginnen bei einer literarisierten Kompositionslogik im vorerst unangetastet linearen discours. Ein Meilenstein sind E.T.A. Hoffmanns Lebensansichten des Katers Murr. Nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern (1819-1821) mit einer entlinearisierten Diskurslogik, die das Fragment stärker als die Nichtlinearität betont. Hoffmann genießt als romantischer Dichter des „fantastique“ des frühen 19. Jahrhunderts in Frankreich eine nachhaltige Rezeption,9 und so ist von der Kenntnis des „chat Murr“ bei den mit der Linearität experimentierenden französischen Autoren auszugehen, weisen sie doch alle eine, wie man in deutschem Kontext sagen würde, solide literaturwissenschaftliche Bildung auf. Kater Murr vermischt auf äußerst unorthodoxe Weise zwei Geschichten, die Memoiren des gebildeten Katers und die Geschichte des Kapellmeisters Kreisler: ein „Fake“, das einen Fehler des Buchbinders als Legitimation vorschützt, der als Löschpapier benutzte Einzelseiten eines gefledderten Werks versehentlich im Buch beließ. Bereits der Titel macht keinen Hehl aus dieser ungewöhnlichen

8

Gide beispielsweise wertet 1925 die Chronie in den Faux-Monnayeurs labyrinthisch zum wahren Protagonisten der Handlung auf, und James Joyce nimmt 1922 im Ulysses gar den Signifiant selbst aufs Korn, verabschiedet sich von der Vorstellung darstellbarer Zeit und konfrontiert den Leser mit einer Odyssee durch ein weitgehend kohärenzlos erscheinendes Mammutwerk.

9

Vgl. Lelièvre (2002). Außerdem erschien z.B. 1984 Sarah Kofmann: Autobiogriffures du chat Murr de Hoffmann. Galilée, 1984, und 1988 hat Jean-Luc Steinmetz für eine weitere Ausgabe das Vorwort verfasst.

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Struktur des Romans, im Französischen spricht der Mammuttitel: Le Chat Murr. Les sages réflexions du chat Murr entremêlées d’une biographie fragmentaire du maître de chapelle Johannès Kreisler présenté au hasard de feuillets arrachés sogar eine noch deutlichere Sprache. Wie bei allen strukturvariierenden Romanen ist auch hier ein klärendes, einstimmendes Vorwort beigegeben: Keinem Buche ist ein Vorwort nötiger als gegenwärtigem, da es, wird nicht erklärt, auf welch wunderliche Weise es sich zusammengefügt hat, als ein zusammengewürfeltes Durcheinander erscheinen dürfte. [...] Wie erschrak [der Herausgeber] aber, als er gewahrte, daß Murrs Geschichte hin und wieder abbricht und dann fremde Einschiebsel kommen, die einem andern Buch [...] angehören. (S. 9f.)

Die Markierung der Schnitte wird in der Gebrauchsanleitung explizit erklärt. Die unterschiedlichen „Autoren“ der Fragmente werden durch bestimmte Markierungen im Text bezeichnet, Inquit-Formeln gleich, die dem Leser den Wechsel der Erzählerstimme anzeigen. M.f.f. steht für „Murr fährt fort“ und leitet die Murr-Texte ein, Mak.bl. kennzeichnet als Kürzel für „Makulaturblatt“ die Kreisler-Stellen. So werden dem Leser bereits im Vorwort Lesehinweise in einer im wahrsten Sinne des Wortes „Legende“ gegeben. In Frankreich hat insbesondere OuLiPo (Ouvroir de Littérature Potentielle) seit den 1960er-Jahren mit einer mathematisch motivierten Diskurslogik experimentiert und eine weltweite Strahlkraft bewiesen. Queneau hat in Exercices de style (1947) eine einfache Fabel (zwei Männer begegnen sich in einem Bus) anhand verschiedenster Stilkriterien in 99 Variationen durchexerziert. Perec ließ in La Vie mode d’emploi. romans (1978) die Diskurslogik auf einer topografischen Metapher basieren: Der Querschnitt durch ein Pariser Mietshaus öffnet dem Betrachter simultan alle Räume und legt so als Erzählraster die Geschichten ihrer Bewohner offen. Das Haus fungiert als Schnittpunkt, darin sich die verschiedenen Schicksale und Lebenswege (und es sind viele) kreuzen.10 Die Folge ist ein schieres Überquellen von Figuren, Erzählsträngen und Geschichten, die eine plurale Lektüre bedingen; medial-erzähltechnisch aber kommen all diese Geschichten nur sequentiell an die Reihe. Andere Strategien beruhen anstelle der chronologisch oder diskurspolitisch motivierten Informationsvergabe des realistischen Romans auf einer Kompositionslogik, die zugleich eine Metapher der Nichtlinearität ist, etwa das Tarockspiel bei Italo Calvino, Il Castello dei destini incrociati (1973), das Kreuzwort-

10 Digital wird dieses Prinzip 1995 von Geoff Ryman mit seiner U-Bahn-Hyperfiction 253 (http://www.ryman-novel.com/) aufgegriffen.

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rätsel bei Milorad Pavić, Predeo slikan čajem (1988, deutsch: Landschaft in Tee gemalt), uvm. Auch Aleatorik und Spiel sind beliebte Konzepte. In nächster Konsequenz zielen die entlinearisierenden Experimente der Literatur genau auf die dritte Linearität ab, die eigentliche, strukturelle Variation des Mediums, für die sich zahlreiche Beispiele in der labyrinthischen Literatur finden. Ist die Nichtlinearität vorher auf die lineare Anachronie innerhalb des Diskurses beschränkt, wird sie hier insofern medial in die Tat umgesetzt, als der Leser im linearen Printmedium selbst die vorgegebene Chronologie der Seitenabfolge umstellen muss, was in der Populärkultur der 1970er- und 1980er-Jahre in Form von Spielbüchern, Rollenspiel-Lese-Abenteuern und Solo-Abenteuern (frz. livre dont vous êtes le héros) sehr beliebt war. Hier liegt wie bei der traditionellen Printliteratur vor und nach dem Lesevorgang eine Linearität vor, der Leser gibt jedoch seine passive Rolle auf und stellt die Reihenfolge nach den Vorgaben des Texts um. Abbildung 60: Umarrangierendes Handeln des Lesers

Quelle: Eigene Darstellung

Damit erweist sich die verzweigende Printliteratur nicht nur als eine zufällige Zeitgleichheit, sondern als konzeptuell verbindendes Glied, als Übergang zwischen der linearen Print- und der nichtlinearen Hypertext-Literatur. Aber auch in der Literatur hinterließ die Aleatorik der Fortsetzungsentscheidungen ihre Spuren: So präsentierte Queneau den Oulipiens 1967 „Un conte à votre façon“, das dem Leser nach fast jedem Satz eine binäre Entscheidung darüber auferlegt, was er als Nächstes lesen möchte, so dass die didaskalische Umsetzung der Nichtlinearität tatsächlich mehr Raum einnimmt als das Werk selbst: 1 – Désirez-vous connaître l’histoire des trois alertes petits pois? si oui, passez à 4 si non, passez à 2 2 – Préférez-vous celle des trois minces grands échalas?

252 | FRANKOPHONE DIGITALE L ITERATUR si oui, passez à 16 si non, passez à 311

Durch den als Spielleiter erkennbaren Erzähler verschmelzen Handlungsanweisung und Text. Der Leser erzeugt daraus den kohärenten diskursiven Pfad, d.h. den konkreten Phänotext. Bei Julio Cortázar ist das Hüpfspiel „Himmel und Hölle” die Grundmetapher des Romans Rayuela (Buenos Aires 1963). Das Vorwort enthält die Anleitung über eine antilineare Lesereihenfolge der einzelnen Kapitel, die zum nichtlinearen Blättern animieren. Die lineare Lesart ist aber explizit auch vorgesehen: Auf seine Weise ist dieses Buch viele Bücher, aber es ist vor allem zwei Bücher. Der Leser ist eingeladen, eine der beiden Möglichkeiten wie folgt für sich auszuwählen: Das erste Buch läßt sich in der üblichen Weise lesen. Es endet mit dem Kapitel 56, unter dem sich drei auffällige Sternchen befinden, die gleichbedeutend sind mit dem Wort Ende. [...] Das zweite Buch läßt sich so lesen, daß man dem Kapitel 73 anfängt und dann in der Reihenfolge weitermacht, die am Fuß eines jeden Kapitels angegeben wird. Falls man dabei durcheinanderkommt und etwas vergisst, genügt es, das folgende Verzeichnis zu befragen: 73-1-2-116-3-84-4-71-5-81-74-6-7-8-[...].12

Eine postmoderne Steigerung erfahren die Entlinearisierungsbestrebungen durch die Literarisierung funktionaler, nichtlinearer Textelemente wie der Fußnote, dem enzyklopädischen Querverweis etc., die, zu Stilmitteln erster Ordnung aufgewertet, in den Diskurs integriert sind. Die Liste der bekannten Beispiele ist international. So basieren Milorad Pavić, Hazarski rečnik. Roman-leksikon u 100.000 reči (Belgrad 1984, deutsch: Das Chasarische Wörterbuch. Lexikonroman) sowie Andreas Okopenko, Lexikon-Roman. Lexikon einer sentimentalen Reise zum Exporteurtreffen in Druden (Wien 1996) auf einer Lexikonmetapher,13 der Schwede Peter Cornell lässt seinen Roman Paradisets vägar. Noter

11 Queneau (1981), S. 223. 12 Cortázar (1987), S. 7. 13 Im Lexikon-Roman wird die alphabetische Organisationsstruktur des Lexikons mit Verweisen genutzt: „Dieses Buch hat eine Gebrauchsanweisung, denn es wäre hübsch, wenn Sie sich aus ihm einen Roman basteln wollten. [...] Das Material liegt bereit [...]. Das Material ist alphabetisch geordnet, damit Sie es mühelos auffinden. [...] Wie im Lexikon haben Sie die Freiheit, jeden Hinweispfeil zu beherzigen oder zu übergehen.“ S. 5.

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till ett förlorat manuskript (Schweden 1987; deutsch: Wege im Paradies. Anmerkungen zu einem verlorenen Manuskript) als fragmentarischen Fußnotenroman erscheinen. Die Parallele zur Literarisierung der funktionalen GUI-Elemente wie in der Hyperfiction praktiziert ist frappierend. Wie die Beispiele zeigen, stehen die internationalen (Massen-) Medien seit den 1970er-Jahren ganz im Zeichen der Interaktivität. Nichtlineare Ansätze finden sich sogar beim Film, wo die Herausforderung natürlich in der rein linearen Struktur des Mediums liegt, und doch unternimmt er Anstrengungen, sich des Zwangs der strengen Monolinearität zu entledigen. Auch hier kann, wie beim Buch, die Linearität des Mediums letztlich nicht überwunden werden, und auch hier gibt es Verfahren, sie auf der Diskursebene zumindest konzeptuell aufzubrechen. Verzweigungen in der Diskursstruktur können hier in der Regel durch Wiederholungen und eine Rückkehr an eine Weggabel umgesetzt werden, so dass sich ein repetitives, in der Zusammenschau dreidimensionales Erzählen ergibt. In Akira Kurosawas oscarprämiertem Samurai-Film Rashomon (Japan 1950) wird aus der Sicht verschiedener beteiligter Personen die Geschichte eines Überfalls zu rekonstruieren versucht, doch anstatt einer inhaltlich repetitiven Schilderung des Geschehnisses liefert jeder Zeugenbericht eine andere Wahrheit, eine subjektiv andere Version des vermeintlich Objektiven. Durch eine andere Art repetitives Erzählen, ästhetisch motiviert, werden in Tom Tykwers Lola rennt (Deutschland 1998) paradigmatisch angelegte, verschiedene Enden einer Ausgangssituation nacheinander, also syntagmatisch, erzählt. Es handelt sich um die sequentiell aufgeschnittene Simulation eines einfachen Rhizoms verschiedener Pfade und Handlungsenden. Das gedruckte und damit streng monolineare Medium Buch wird aber die Linearität nicht los, erst die Rezeption durch den die Reihenfolge durchbrechende Leser setzt die inhärente Interaktivität frei. Einzig Max Aubs Kartenspiel Juego de cartas (Mexico 1964) entkommt dem Definiens der Linearität – und das ist eben kein gebundenes Buch. Formal bleibt die Linearität stets erhalten, auch wenn der Autor versucht, den Leser zu einem antilinearen, „interaktiven“ Verhalten durch manuelles Vor- und Zurückblättern anzustiften. Die mediale Nichtlinearität ist erst seit der Erfindung des Hypertexts im digitalen Medium möglich. Allerdings ist festzustellen, dass die ästhetisch reizvollen Spannungen immer einer gewissen Gegensätzlichkeit bedürfen – wo sich die Geradlinigkeit des Printmediums nach der formalen Unmöglichkeit der Multilinearität sehnt, braucht die mediale Vielverzweigtheit des Hypertexts inhaltlich oft die Konstanz eines schlichten linearen Assoziationsstrangs bei der Relinearisierung durch das Lesen, wie beschrieben in Kapitel 3.2.2.

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6.1.3 Die Notwendigkeit einer Gebrauchsanleitung Durch die Fragmentierung, die Nichtlinearität und die vom Leser erwartete Interaktion in der Aleatorik findet sich der Leser, der eine printmedial geprägte Vorbildung genossen hat, oftmals in einer Notlage der Desorientierung und des Misstrauens, ob das, was ihm hier vorgesetzt wird, wirklich ein ästhetisches Erlebnis ist – die Erfahrung einer Fremdheit, die dem Leser durch die Interaktion und die persönliche Involviertheit seiner eigenen mentalen Welt in die Welt der Diegese besonders nahe geht. Dem tragen die meisten der untersuchten Hyperfictions (Edward_Amiga, Ecran total, Le Nœud, NON-roman, etc.) Rechnung, indem sie, wie ihre Vorgänger in der experimentellen Belletristik, eine Gebrauchsanleitung bieten. Dies ist beruhigend, da sie dem Leser Halt suggerieren, einen Fixpunkt der Orientierung in einem fortwährend um einen beweglichen Fokus rotierenden Rhizom interdependenter Knoten. Und zugleich beunruhigend, wie sich herausstellt, da der Leser trotz allem noch verwirrt sein wird. Hier zeigt sich ein Rückgriff von Hyperfictionwerken auf eine unerwartete Literaturepoche: Im 19. Jahrhundert gibt es kaum einen Roman, der nicht ein Vorwort des Autors aufweist; darin wird das Werk präsentiert, sein Programm, und vor allem wird es, da der Roman noch eine junge Gattung war, auch gleich verteidigt. Auch in der Hyperfiction wird eine gewisse Strukturschwäche ausgeglichen, wenn es auch nicht eine der Diskursebene ist.14 Über die pragmatisch-semantische Funktion als Orientierungshilfe hinaus kann die Gebrauchsanweisung der Hyperfictions aber auch eine ästhetische Dimension gewinnen. In den Apparitions inquiétantes (vgl. Kapitel 4.5) zeigen die zahlreichen strukturierenden Mechanismen neben inhaltlichen Fakten und einer kurz zusammengefassten Handlung die Einfachheit der Makrostruktur, die in einem reizvollen Widerspruch zur raffinierten Präsentationsform steht. In der Regel dienen Gebrauchsanleitungen der ästhetischen Kontextsetzung (z.B. Edward_Amiga, Le Nœud), indem sie den Leser auf eine nichtreferentielle Lektüre einstimmen und ihm einfach sagen, dass er es mit einem ästhetischen Erlebnis zu tun hat. „Was hier Kunst ist und was nicht, hängt [im Internet] noch sehr viel mehr von der Etikettierung als Kunst ab, als dies im „materiellen“ Kunstbetrieb der Fall ist.“ betont Heibach. 15 Das ist wichtig und Teil des Beruhigenden, da der Leser sich dann zumindest nicht betrogen fühlt. Dass ihm eventuell noch grundlegende Bedienungshinweise

14 Vgl. Noiray (2007). 15 Heibach (2003), S. 109.

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angetragen werden, ihm beispielsweise erklärt wird, dass er sich mittels Klicks durch das Werk bewegen soll, ist eher einer fehlenden Vertrautheit mit dem Medium geschuldet, stellt aber letztlich kein Mittel gegen die Verwirrung des Lesers beim literarischen Surfen dar. Irgendwann erreicht jeder Leser in der Hyperfiction einen toten Punkt, an dem er den Eindruck hat, das Werk entziehe sich ihm; es gibt ja auch keine paratextuellen Anhaltspunkte für eine Auflösung, da der Leser nicht etwa rasch an den Schluss blättern kann, um zu sehen, wie die Geschichte endet, oder anhand der Buchdicke abschätzen kann, ob ein Ende schon bald in Sicht ist. Das ist der Moment, an dem spätestens die Gebrauchsanleitung für nötig gehalten wird.16 Die Gebrauchsanleitungen der digitalen Literatur sind aber in Wirklichkeit keine Interpretationsschlüssel. Tatsächlich ist das Phänomen des „lost in hypertext“ ein häufiger Nebeneffekt beim Surfen im Internet. Durch die De- und vor allem die Rekontextualisierung von einem Knoten zum nächsten vergisst der Leser leicht, welchen Links er ursprünglich gefolgt ist; zwar gibt es neue, gegensteuernde Ordnungs- und Orientierungsmechanismen, auch diese können jedoch die hermetisch erscheinende Lektüre nicht erklären. Daher ist die fehlende Selbsterklärung die conditio sine qua non für das Funktionieren der Deautomatisierung in der digitalen Literatur. Es ist schließlich nicht im Sinne des Barthes’schen texte scriptible, dem Leser die Pointe bis ins Letzte zu erklären. Der Topos von der Gebrauchsanleitung ist daher eher ein Symptom als ein Gegenmittel gegen die „Verlorenheit“ des Lesers bei der Lektüre.

6.2 ALEATORIK , I NTERAKTION & M ETAFIKTIONALITÄT 6.2.1 Aleatorik und Spiel Hand in Hand mit dem Prinzip der Entlinearisierung geht der Begriff der Aleatorik, die eine improvisierte, zufällig kombinatorische Ästhetik hervorbringt. Genauer, aus einem nichtlinearen Text mit multiplen, simultan vorliegenden Anknüpfungsstellen, dem Genotext, wählt der Leser aktiv, d.h. in einer echten handelnden Interaktivität, seinen eigenen linearen Lektürepfad aus, den Phänotext.

16 „RTFM“ („Read The F*** Manual“) ist eine Abkürzung aus dem Chat-Jargon und bezieht sich auf das durch software-ergonomische Leitsätze begünstigte Phänomen, dass Software-Handbücher und Anleitungen generell nicht oder nicht aufmerksam genug gelesen werden. Stattdessen wird versucht, durch intuitives Tun den aktiven Lernprozess zu ersetzen.

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Bedeutet aleatorisch aber ohnehin nicht „beliebig“ oder „willkürlich“, so darf dies in der Hyperfiction gar nicht sein, da ohne die Prämisse einer erwartungsvollen Bedeutungskonstruktion – und die schließt die bewusste Verbindung mit Assoziationen zu einem Ankerwort ein – nur ein mechanisches Herumklicken angenommen werden kann. Die Auswahl des einen statt eines anderen Links unterliegt verschiedenen Gründen, deren Movens in der individuellen Lektürestrategie zu finden ist; systematisches strukturelles „Abarbeiten“, d.h. den ersten unbekannten Link im Text anzuklicken, ist ebenso legitim wie eine interessegetriebene Auswahl, die bei offenen Leerstellen Hypothesen zu deren Beantwortung erstellt und sie anhand des Links zu überprüfen hofft.17 Alle Mechanismen, die (Hyper-) Text zur Steuerung der Aufmerksamkeit besitzt, können hier eine Rolle spielen. Reißerische Reizwörter, eine klare Kennzeichnung des Links, eine farbige, typografische etc. Hervorhebung ebenso wie ein Verbergen oder die spiel-erfahrene Ablehnung (zu) offensichtlicher Auswahlangebote können Gründe für Klicken oder nicht Klicken sein. Im referentiell organisierten (und zunehmend finanziell motivierten) Internet gibt es Auswertungen, welcher Link mit welcher Präferenz angeklickt wird. Anhand der dynamischen Blickverlaufsmessung liefert das sog. Eye-TrackingVerfahren Erkenntnisse zur Prominenz und Attraktivität bestimmter Webseitenbereiche. Das Lesen unterliegt also einem spontanen, teilweise „tropistischen“ Klick-Impetus, wie es auch beim Surfen der Fall ist. Eine wichtige Rolle für die Benutzerintentionalität spielt hier der Serendipity-Effekt. Serendipity, im Französischen „heureux hasard“, bezeichnet das Finden einer nicht gesuchten, aber im Finden wertvoll werdenden Information.18 Wird der Zufall als formgebender Faktor für das ästhetische Erscheinungsbild eines Kunstwerks integriert, gewinnt die Kompositionslogik Spielcharakter. Nicht umsonst spricht man auch vom aleatorischen Spiel. Gerade in der Postmo-

17 Verreault empfiehlt in seiner Gebrauchsanweisung, der Leser solle erst den Text der Seite lesen und dann erst die Links auswählen. Vgl. http://home.total.net/ ~amnesie/notes.html (nicht mehr verfügbar, zuletzt: 06.02.2010). 18 Horace Walpole prägte in einem Brief an Horace Mann vom 28. Januar 1754 den Begriff Serendipity aus dem Titel einer orientalischen Erzählung. „This discovery indeed is almost of that kind which I call serendipity, a very expressive word […]. I once read a silly fairy tale called The Three Princes of Serendip [das heutige Sri Lanka]: as their highnesses travelled, they were always making discoveries, by accident and sagacity, of things which they were not in quest of […].“ Lewis (1960), S. 407 f. Die Bedeutung des Serendipity-Effekts zeigt sich in der Entdeckung Amerikas, des Penizillins und des Dynamits.

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derne ist das Paradigma des Spiels bedeutend, es charakterisiert insbesondere den Roman der 1980er-Jahre nachhaltig, Flügge (1993) spricht gar von der „Wiederkehr der Spieler“. Länderübergreifend ist die Eroberung des literarischen Freiraums, den die Nichtlinearität bietet, mit dem Aspekt des Spielens verbunden. Im „roman-jeu” z.B. bei Le Clézio verbindet sich die „Halluzination auf der Seite der écriture und die Kombinatorik im Lesevorgang“ zu einem Paradigma postmoderner Uneindeutigkeit.19 Das Internet bietet ein reiches Betätigungsfeld für die Interaktion. Eine exemplarische Artikulation findet der Spielcharakter des Internets in interaktiven Spielen im Netz, z.B. den textbasierten MUDs (Multi User Dungeons). Neben dieser Hypertext-Aleatorik auf Seiten des Lesers gibt es aber auch eine weiterreichende auf Seiten der Maschine, in Form von Zufallsgeneratoren in der algorithmischen Literatur. Hypertext, algorithmische Literatur und Textgeneratoren bilden eine Reihe aufsteigender Komplexität in Sachen Aleatorik. 6.2.2 Interaktivität und Wirklichkeitssimulation In der Hyperfiction bedeutet Lesen, dass die Rezeption von Worten (über den Signifiant soll ein Signifié evoziert werden) mit einem intuitiv-sinnlichen Erlebnis gleichgesetzt wird. Wo die traditionelle Literatur von ihrem Zeichensystem Schrift her ein symbolisches Dekodieren vom Leser einfordert, nähert sich die „Lektüre“ der Hyperfictions durch die Interaktion des User-Lesers interessanterweise wieder einer ikonischen Beziehung an. Die Zeichen in Diegese und Realwelt beruhen auf einer metaphorischen Gleichsetzung, doch just wie das komplexe „Zeichen“ einer diegetischen Passwort-Eingabe auf die Wirklichkeit referiert, wird diese mentale Zuordnung vom realen Leser in eine entsprechende Aktion umgesetzt. Damit wird die tatsächliche Erfahrbarkeit des ästhetischen Zeichens in der Hyperfiction wieder von einer abstrakten auf eine konkrete Ebene zurückgebracht, der Effekt der vermittelten Authentizität wird dadurch unmittelbar erlebbar und die Immersion des Lesers in die Diegese wird durch die empirische Verwischung der Grenzen zwischen Werk und Realität gesteigert. Dies ist eine wichtige Voraussetzung für die Wirkmächtigkeit der eingesetzten Mittel. Gerade auch die moderne Literatur kennt raffinierte Interaktionsfor-

19 Engler (1994), S. 302.

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men, aufgespannt von Kategorien wie Interaktion, Beteiligung, Handlungsspielraum des Lesers und Illusionsgrad der Fiktion.20 Die Interaktivität der Hyperfiction (die ja meist im Internet stattfindet) sticht von den äußerst interaktionsarmen Leitmedien wie Buchmedium und Massenmedien deutlich ab. Pierre de la Coste, Dichter und Hypertext-Literaturtheoretiker, formuliert die Bedeutung der Interaktion in unüberbietbarer Klarheit: Il ne s’agit pas d’une simple fonctionnalité technique, mais d’un mode d’écriture lié au sens profond du roman.21

Zur metaphorischen Interaktion, die nach dem Motto des Barthes’schen texte scriptible in Form einer Assoziationsleistung bei der Sinnkonstruktion mitwirkt, gesellt sich also in der Hyperfiction ein echtes Handeln, das durch das Verfahren der mise en abyme sowohl in der Diegese N1 als auch in der realen Rezeptionssituation N4 verankert ist. Dadurch bezieht das Werk den Leser in den als ästhetischen Prozess wahrgenommenen Lesevorgang anhand impliziter, im Text angelegter Leerstellen mit ein. Interaktion bedeutet einen Akt des Handelns mit wechselseitigem Impuls. In der Mensch-Maschine-Kommunikation gibt es einen Kanon von „Spielregeln“, nach denen der Leser vorgehen kann. Dazu gehört, dass er eine Systemaufforderung erhält, sie als Aufforderung zum Handeln erkennt und eine angemessene Re-Aktion ausführt, d.h. diskurslogisch eine Antwort gibt. Diese wird als Botschaft an das System zurück übermittelt, das seinerseits eine neue Aktion ausführen kann. In metaphorischer Redeweise „spielt“ der Leser den Ball zurück. Möglich wird dies durch die Interaktivität des Mediums: Über die Eingabegeräte Maus und Tastatur kann das dynamisch funktionierende System des lebendigen, denkenden Benutzers auf das operationalisierbare, d.h. potentiell dynamische System des Computers Einfluss nehmen; beim Buch bliebe dies eine Einbahnstraße. Das Ausgabegerät Monitor kann, multimodal durch Lautsprecher unterstützt, durch sein flexibles Display die benutzerinitiierten Zustandsveränderungen als unmittelbare Information zurückgeben. Diese handelnde Dialogizität weicht literaturwissenschaftlich die Grenzen zwischen Produzent und Rezipient auf (vgl. Kapitel 3.3). Zwar bleiben die Kategorien an sich bestehen, aber ihre realweltliche Besetzung hat sich verändert: Eine realweltliche Person kann abwechselnd beide Rollen besetzen, so dass der

20 Ausgehend von den vorliegenden Überlegungen ist Raum für eine weitere, umfassendere Analyse der Handlungstheorie des User-Lesers. 21 De la Coste (2000), S. 2.

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Leser eben nicht nur passiver Rezipient, sondern auch formgebender Arrangeur und je nach Identifizierung mit der diegetischen Ebene auch als Protagonist involvierter Agent wird. Kennzeichnend aber ist vor allem, dass auch die verschiedenen Welten und Realitätswahrnehmungen durchlässig werden. Die Aktionen des Lesers finden in seiner realen Welt statt (denn er hat wirklich physisch geklickt), zugleich wird diese simple Aktion aber in die Symbolsprache des Systems übersetzt (Klick auf „Speichern“ heißt, die binäre Entscheidung über „Speichern“ oder „Nicht speichern“ wird zum Algorithmus „Speichern“ weitergeleitet) und erlangt so eine Thirdness, eine spezielle Bedeutungsdimension, die eine Reaktion des Systems zurück in reale Welt des Lesers bewirkt. Die Interaktion findet semiotisch als eine ästhetische Illusion, als eine Simulation (oder, je nach Wahrnehmungsgrad, als ein Spiel) statt. Zugleich wird aber diese Reaktion als ein fiktionales, organisch und natürlich auftretendes Ereignis aus der Diegese, der virtuellen Welt, wahrgenommen. Die Aktion des Klickens, die der reale Leser vornimmt, kann je nach inhaltlichem Kontext ein Symbol für verschiedenste Aktionen der Figuren sein; angefangen von z.B. dem Eintreten in eine Bar oder dem Beobachten einer bestimmten anderen Figur kann die mise en abyme auch noch direkter auf die Aktionen übertragen werden, beispielsweise durch die Aufforderung, ein Fenster zu schließen, oder durch das Drücken des roten Knopfs eine Bombe zu zünden. Durch die Immersion in die Handlung wird sich der Leser der verschiedenen Semantisierung der stets gleichen Aktion, des Klickens, kaum bewusst. Die Vermischung von Realität und Virtualität des Mediums sowie der Diegese trifft auf ein symptomatisches Bedürfnis des heutigen Menschen „nach Wirklichkeit“ in den neuen Medien, wie Florian Rötzer diagnostiziert: Wir wollen keine Fenster mehr, durch die wir hindurchschauen, wir wollen Türen, durch die wir in Welten eintreten können. Wir wollen Wirklichkeit, also nicht nur auf uns wirkende Bilder, sondern auch solche, auf die wir [...] einwirken können.22

22 Vgl. Klotz (1994), S. 190. Das Internet ist heute bereits ein mächtiges Wirklichkeitsmodell: Wenn der Verweis im Internet fehlt, ist das ein starkes Indiz, dass das Objekt auch in der technokratischen Realwelt nicht existiert, beispielsweise ist ein Restaurant, von dem man gehört hat, das aber über Google nicht zu finden ist, oder eine fremdsprachliche Formulierung, die frequenzanalytisch mit nur drei Treffern belegt werden kann und daher höchstwahrscheinlich falsch, zumindest ungebräuchlich ist. Eine gesellschaftspolitische Vertauschung der Pertinenz von realer und virtueller Welt ist da nicht weit weg, wie auf der Ars Electronica 2007 (http://www.aec.at) die fikti-

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Die ästhetische Illusion des Kunstwerks zielt darauf ab, dem Leser die fiktive Welt und Wirklichkeit „echt“ erfahren zu lassen, und dies kann er nicht als klinischer Beobachter, sondern nur als handelndes Element der virtuellen Welt. Nach Rötzer haben wir es daher, plakativ formuliert, mit einem Paradigmenwandel „[v]om Bild zur Umwelt“ zu tun.23 In Realweltsimulationen wie den Adventure Games oder Second Life fällt die Integration durch die ikonisch gleiche Gestalt der Elemente (ein Avatar entspricht einem Menschen, das deiktische, mausgesteuerte Navigieren im Cyberspace geschieht analog zu realweltlichen Vorstellungen, etc.) leichter als die symbolisch organisierte Präsentation des (Hyper-) Texts, dennoch sind die deautomatisierenden Interaktionsmöglichkeiten vor der Folie des Printtexts auffälliger als im ohnehin dafür vorgesehenen Medium der virtuellen 3D-Welt. Ein fundamentaler Unterschied zwischen Games und Hyperfictions besteht aber dennoch: Wo Computerspiele den Spieler auf ein Ziel zustreben lassen, das er über mehr oder weniger schwierigen Hürden zu erreichen hat (so gesehen ist die Spiellogik eine streng lineare, teleologische), entzieht sich die digitale Literatur dieser simplizistischen Weltanschauung, ist „gegen“ den Leser geschrieben, verheißt ihm keine Befriedigung ob des erreichten Endpunkts und versagt ihm letztlich affirmierende Rückmeldungen. Seit der Moderne strebt die künstlerische Avantgarde danach, durch Simulation die Simulation gewissermaßen tautologisch zu überwinden und so „die Kunst in die Wirklichkeit zu entgrenzen.“24 Im digitalen Medium kommt man dem so nahe wie nie zuvor: Für den Leser sind in der Regel die beiden Dimensionen der Weltwahrnehmung oft ununterscheidbar, so dass sich heuristisch eine Überlappung der beiden Wirklichkeiten ergibt.25

ven Reportagen von Second-Life-Mitgliedern über das Wirklichkeitsmodell „First Life“ zeigen. Die Verhältnisse der bekannten Ordnung von Genette’schem Hypo- und Hypertext, von Bild und Abbild, von Original und Kopie kehren sich auch für die Wahrnehmung der Wirklichkeit um, der Informationsdienst sekundärer Wirklichkeitsordnung avanciert zu einer eigenen Wirklichkeit. 23 Vgl. Klotz (1994), S. 190. 24 Klotz (1994), S. 190 25 Ins Spiel oder die Lektüre vertieft, hat der Leser den Eindruck, dass sein Bewusstsein in die imaginierte Welt der Diegese eintaucht und er somit ein Bestandteil dieser Welt wird. Bildlich gesprochen trägt der Benutzer seine Phantasie in die Computerwelt. Gefährlich wird es im umgekehrten Fall, wenn die fiktionale Welt aus dem Computer heraustritt, der Benutzer die Maßstäbe der Kunstwelt so verinnerlicht, dass er die Spiel-

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6.2.3 Metafiktionalität Eine spezielle Form der Interaktion entspinnt sich in der Metafiktionalität zwischen Erzähler und Leser, wie sich aus den expliziten Lektüreanweisungen des Erzählers bei nichtlinearen Werken zeigt. Das Präfix „meta-“ spezifiziert das relationale Wesen der Metafiktion, bei der die Fiktion sich selbst beobachtet, oder anders formuliert, bei der eine fiktionale Ebene sich auf die andere(n) bezieht.26 Metafiktionale Verfahren überschreiten diegetische Grenzen, lenken das Augenmerk des Lesers auf die Gemachtheit von Literatur, die sonst unhinterfragt hingenommen wird. Sie sind eine deautomatisierende Reflexionsaufforderung an den Leser und wirken dadurch illusionsbrechend. Damit dieser Illusionsbruch gelingen kann, ist ein Pakt zwischen Autor und Leser, d.h. eine bestimmte Vorstellung von Fiktion, vorauszusetzen, die auf der Dichotomie von fiktionaler und realer Welt beruht, laut Iser „Elementarbestandteile unseres ‚stummen‘ Wissens“.27 Dieser Pakt funktioniert über die Spielregeln des Erkennens der Illusion der Fiktion und des Sich-Darauf-Einlassens. Genau wie die anderen binären Oppositionen von Anfang und Ende, Innen und Außen etc. im Rhizom der digitalen Literatur obsolet werden, kann aber auch diese Unterscheidung im digitalen Medium nicht unverändert fortbestehen. Metafiktionale Texte versuchen, über metaleptische Ebenensprünge einen Dialog explizit stattfinden zu lassen.28

welt in die reale Wirklichkeit trägt. So werden gewaltrelativierende und -verherrlichende Computerspiele oft als Ursache von Amokläufen gesehen. 26 Metafiktion bezeichnet im Folgenden die genauere Lesart, die die (latent) stets vorhandene allgemeine Selbstreferentialität der Literatur ausschließt. Vgl. Nünning (2001). Wo Metanarration sich auf das Erzählen und das Erzählte bezieht, z.B. in einleitenden Rahmenhandlungen, zielt die Metafiktion auf die Fiktionalität ab. 27 Iser (1991), S. 18. Auch was das Verwischen der Realitätsebenen (mise en abyme) angeht, finden sich Beispiele im Film. In eXistenZ (David Kronenberg CAN/GB 1999) sieht sich der Leser die präsentierte diegetische Ebene wie gewohnt an, bis ihm ein plötzlicher Schnitt klar macht, dass er einer Binnenerzählung aufgesessen ist und die „richtige“ Geschichte gerade erst angefangen hat – bis zur nächsten Fuge zwischen den diegetischen Ebenen, denn auch dies war eine diegetische Illusion. 28 Für das Italienische treibt Calvino in seinem Roman Se una notte d’inverno un viaggiatore... (1979) das Spiel mit der Metafiktionalität durch die (scheinbare!) Einbeziehung des Lesers in die Geschichte auf die Spitze. Bemerkenswert ist, dass zeitgleich mit den französischen Hyperfiction eine Blüte metafiktionaler Printliteratur in Italien stattfindet, z.B. mit Sandro Veronesis Venite venite B52 (1995), Stefano Bennis Kurzgeschichte „Il destino di Gaetano“ (1997) und, etwas früher, Luigi Malerbas Roman Il

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Während der Fokus sonst streng auf innerreferentiellen Gegebenheiten der Fiktion liegt, hat die Metafiktionalität bei der digitalen Literatur eine darüber hinausgehende Spezifizität: Durch den interaktiven Kommunikationsmodus ergibt sich eine erzählerische mise en abyme (der Erzähler spricht aus der Diegese heraus den Leser an), sowie eine spielerische Integration (der Leser kann in die Diegese hinein „greifen“). Es ist eine wesentliche Besonderheit der Hyperfiction, dass die mise en abyme in der Regel durch eine interaktive Komponente unterstützt wird, die das tatsächliche Verschmelzen der diegetischen Ebenen plausibel macht. Die mises en abyme ergeben sich sehr natürlich durch die mediale Rezeptionssituation und vor allem durch die Interaktion. Wie in Kapitel 3.1.5 erläutert, nutzt die Mensch-Maschine-Kommunikation eine visuell orientierte Metaphernsprache, um dem Benutzer das intuitive Zurechtfinden in der virtuellen Welt zu erleichtern. Sie erfüllt dadurch die software-ergonomische Forderung nach metaphorischer Konsistenz.29 Objekte des Interfaces (in der Sprache der Metafiktion die innerdiegetische Welt) werden analog zu Objekten aus der täglichen Erlebenswelt (die außerdiegetische Welt) abgebildet und benannt und per Direktmanipulation aktiviert. Der verlängerte Arm des Benutzers (seine „Extension“) ist dabei die Maus, die ihn scheinbar direkt in die virtuelle Welt hineinfassen lässt. Die Metaphernverwendung führt so zu einer Doppelung der Begriffe, denn „Fenster“, „Papierkorb“, „Maus“, „Ordner“, etc. existieren in einer begrifflichen Ambiguität zwischen der Erlebenswelt der Figur und des Rezipienten, meist im Kontext der Interaktivität verbunden. Die Redesituationen sind doppelt gerichtet, einmal innerhalb der Diegese, zum anderen aus ihr heraus, scheinbar den Benutzer direkt ansprechend. Eine solche doppelt gerichtet interpretierbare Aufforderung zeigt sich bei Edward_Amiga, wo „Ferme la fenêtre!“ zugleich eine Handlungsaufforderung an die Protagonistin und an den Leser ist, denn wenn er die (Browser-) Fenster

pianeta azzurro (1986), vgl. Pichler (2007). Insbesondere bei Veronesi gewinnt der Text didaskalische Dimensionen, da der personalisierte fiktive Erzähler seinen Counterpart, den fiktiven Leser, zu paratextuellen Aktivitäten ermutigt, etwa das Buch zu schließen. Im Unterschied zum digitalen Medium aber bleibt der reale Leser davon in der Regel ziemlich unberührt – wenn er möchte, kann er zwar den Anweisungen Folge leisten, wird es aber nicht in jedem Falle tun, vor allem dann nicht, wenn sich die Handlung zu weit vom Lektüreprozess entfernt. Hin- und Herblättern ist plausibler als sich den erwähnten Film anzusehen. 29 Vgl. Herczeg (1994), S. 112.

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nicht schließt, schließt Marlène die Fenster ihrer diegetischen Welt nicht und der Leser kommt in der Geschichte nicht weiter.30 Dieses durch direktmanipulatives Handeln unterstützte Lesen mündet direkt in eine starke Einbezogenheit des Benutzers und seine Illusion, die „Anwendungswelt direkt zu bearbeiten“.31Auch die Printliteratur kennt direkte Aufforderungen zum Handeln an den Leser; so soll in Veronesi (1995) beispielsweise der Leser das Buch beiseite legen und sich „gefälligst“ den Film Ultima tentazione di Cristo von Martin Scorsese anschauen: Non hai visto quel film, lettore? Male. Allora sei invitato a chiudere il libro, precipitarti dal primo noleggiatore di videocassette e vedertelo subito. [....] Buona visione, comunque, e a più tardi.32

Bis hierher macht auch die Hyperfiction nichts Anderes; wäre nicht die Kookkurrenz, die sich aus der Interaktivität des Mediums ergibt, es handelte sich bei den mises en abyme nur um einen unspektakulären Medienwechsel. Aber: Veronesi muss sich im interaktionsarmen Buchmedium eines Tricks behelfen und deutet einfach durch zwei Sternchen an, dass sich der Leser offenbar wirklich gehorsam entfernt hat und daher in der Zwischenzeit eine wesentliche Szene der Handlung verpasst hat. Dem realen Leser, der dies nicht getan hat, ist der Unterschied zum fiktiven Leser sofort klar, die Illusion kann daher nur schwach wirken, das gewollte Spiel mit den Realitätsebenen ist leicht durchschaubar und wirkt künstlich. In der Hyperfiction dagegen kann der Autor anders: Vermittels der Performativität des Systems kann er den Leser zu der gewünschten Aktion zwingen, so dass die Systemreaktion (bzw. die diskursspezifische Fortsetzung der Analyse) bruchlos erfolgt, der Leser sich von Handlungsaufforderungen angesprochen fühlt, leicht selbst darauf reagieren kann und eine passende Systemreaktion erhält. Dass er dabei nicht seinen freien Willen ausleben kann, sondern sich auf festgelegten Bahnen bewegt, ist für die starke Dialogillusion letztlich unerheblich. Bei genauerem Betrachten ist der Unterschied zwischen Veronesis Beispiel und der Hyperfiction minimal; der Grad der Immersion in die Diegese wird aber unterschiedlich empfunden. Im Spiel mit den verschiedenen Realitäts- und

30 Auf http://fredromano.eu.pn/Edw_amiga/filla.htm, Link „voyage à Londres pour pratiquer l’anglais“. 31 Vgl. Herczeg (1994), S. 115 f. 32 Veronesi (1995), S. 230.

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diegetischen Ebenen sind in der Printliteratur stets nur die Grenzen zwischen den verschiedenen innerdiegetischen Ebenen durchlässig, in der Hyperfiction wird durch die spezifische Anwendungssituation (geistige Immersion und physische Beteiligung) scheinbar sogar die Realitätsebene des Lesers integriert (vgl. Kapitel 3.2.2). Ein besonders markanter metafiktionaler Übergriff findet statt, als bei Edward_Amiga ein vorerst unbekanntes Passwort verlangt wird, das der reale Leser nicht kennt; probiert er einfach irgendein Wort aus, erntet er, über den Kanal des Dialogfensters, eine Abfuhr, da das Passwort offensichtlich falsch war, und der unbekannte Besucher wird verdächtigt, gar nicht Marlène zu sein: Abbildung 61: Systemantwort auf falsche Passworteingabe

Quelle: Screenshot aus Edward_Amiga33

Die erste Passwortkontrolle scheitert übrigens immer, selbst bei Eingabe des bereits bekannten, richtigen Passworts. Die „Schizophrenie“ des realen Lesers, das Bewusstsein, gleichzeitig Figur und Leser zu sein, wird in der anschließenden Szene deutlich. Nicht der Erzähler, oder das System (wie sonst bei Dialogfenstern), sondern die Figur Edward spricht die am Passwort herumrätselnde Figur an. Da die direkte Rede ohne Kontext, also ohne Inquit-Formel erscheint, ist ihre Zuordnung zu einer diegetischen Ebene unmöglich. Mit dem Zusatz im Haupttext nach dem Schema „Edward fragte:“ wäre eindeutig, dass der Erzähler Edward zum Unbekannten an der Tür sprechen lässt; befände sich die unvermittelte Frage im Haupttext, wäre wiederum klar, dass der Erzähler den fiktiven Leser anspricht.

33 http://fredromano.eu.pn/Edw_amiga/index2.htm, nach „OK“ im ersten Dialogfenster „[…] OUVRE-MOI!!!“

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So aber bleibt diese Zuordnung offen, und die Verwendung der direkten Anrede mit „vous“ ist eine starke Illusionsunterstützung. Durch den Eintritt in die virtuelle Welt kann plötzlich das Virtuelle auch real sein, und die realen Aktionen gewinnen eine direkt zuzuordnende, virtuelle Dimension. Pointiert wird dieses Gefühl in der selben Szene, als ein erneutes Dialogfenster den Leser anstachelt, weiter nach dem Passwort zu suchen, denn die sich als Autorin zu erkennen gebende Erzählerstimme droht dem Leser mit einer nur in seiner surfenden Realität greifenden Gefahr: Vous devez introduire n’importe quel password, sinon Edward_Amiga va nous faire un bug Amicalement, Fred Romano...

Durch ihre metaphorische, aber in der Hyperfiction auch tatsächliche Interaktion zwischen verschiedenen diegetischen Ebenen haben metafiktionale Verfahren Spielcharakter, und hierin schließt sich der Kreis zur Interaktion. Wo die bekannten Spielregeln besagen, dass der Leser die Illusion der Fiktion durchaus erkennt und sich willentlich darauf einlässt, wird er in der digitalen Metafiktion zum aktiven Teilnehmer und Mitspieler, sogar in gewissem Rahmen zu einem Entscheider.

6.3 I NTERTEXTUALITÄT , I NTERMEDIALITÄT , S YNÄSTHESIE Einerseits ist Intertextualität im Hypertext eine Selbstverständlichkeit, ist doch das assoziative Verlinkungsprinzip die Parabel der Intertextualität schlechthin. In einem spezifischeren Sinne ist hier aber die metaphysische Verbindung zwischen (medialen) Texten gemeint, die sich in gradueller Ähnlichkeit von ihrem „Hypertext“ Genette’scher Lesart unterscheiden. 6.3.1 Intertextuelle Bezüge Die Parodie als die wertende, ironische und oft auch derb überspitzte Form des Zitats aus der postmodernen Literatur schlägt eine direkte Brücke zur französischen Hyperfiction, wo sie bis zur Verzerrung ins Groteske präsent ist, z.B. in Apparitions inquiétantes mit Versatzstücken aus Trash-Literatur und Roadmovies, oder im NON-roman, der schrille Anleihen in Pop-Kunst und -Literatur nimmt und eine Karikatur der Konsumgesellschaft liefert. Die stilistischen Gren-

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zen zwischen hoher und trivialer Literatur sind in der Postmoderne schließlich aufgehoben. Auch wenn die Parodie ein mächtiges und sehr häufig eingesetztes Instrument ist, muss nicht jede intertextuelle Orientierung wertend sein, wie Ecran total zeigt. Das nichtsubversive intertextuelle Experimentieren mit Traditionen und Vorbildern funktioniert hier durch ein explizites „Name-Dropping“, die blanke Nennung der Anknüpfungspunkte. Die gewünschte Einbettung (und die damit verbundenen Ambitionen) verrrät der Quelltext: Ecran Total, cyberfiction, [...] post-modern, post moderne, [...] Oulipo, Rabelais, Raymond Queneau, Gilles Deleuze, [...] Jacques Derrida, Milan Kundera, Paul Auster, Ecran Total.34

Intertextuelle, interliterarische Anknüpfungspunkte finden sich nicht nur in der Gegenwart (Deleuze, Derrida, Auster), sondern auch deutlich weiter zurückliegende Epochen wie die Renaissance werden nicht verschont. Insbesondere die Aufklärung, die in vielem einen Gegenpol zur postmodernen Philosophie darstellt, bietet literarisch immer wieder Aktualisierungspotential. Auffällig ist in der digitalen Literatur die Wiederkehr eines fingierten Erzählers, der sich z.B. in Edward_Amiga heterodiegetisch als Person in den discours einschaltet; der Unterschied zu anderen meta-narrativen Einlassungen liegt in der Ambivalenz der Erzähler-Aussagen: Dem Eindruck, den die personale Erzählsituation erweckt, widerspricht der sich manifestierende Erzähler, der sich nur über den Kanal der System-Dialogfenster zu Wort meldet; dieses „schizophrene“ Agieren dekonstruiert zugleich die einst unumstößliche Respektsposition des Erzählers. Auch die variierende Wiederholung, die auf die mathematischen Kompositionsregeln von OuLiPo zurückgeht, ist typisch für die Postmoderne, und sie zeigt sich als Neo-Realismus und in Gestalt des Pastiche. Dies ist eine durchaus neue ästhetische Auffassung, denn es ist nicht der Fall, „[...] dass den Autoren und Künstlern nichts Neues mehr einfällt (dies widerlegt schon die mit den Neuen Medien operierende Kunst).“35 Aber sie haben die „anxiety of influence“ abgelegt,36 die Angst, mit Bekanntem zu operieren, die seit Anbeginn der „modernen“ Zeit seit der Renaissance in Gestalt von Originalität und Genie-Ästhetik das Merkmal gelungener Kunst war.

34 http://alain.salvatore.free.fr/ 35 Grabes (2004), S. 6. 36 Bloom (1973).

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Der demokratisch funktionierende Link erlaubt die Juxtaposition verschiedenster Textsorten, wie Le Nœud vor Augen hält: Das Patchwork der heterogenen, pluralen Rhizomelemente wiederholt die antihierarchische Struktur des Internets metaphorisch im Fiktionalen und erinnert in seinem Konzept heute eher an einen Blog. Der Collagen-Charakter offenbart sich aber auch in der intratextuellen Einbeziehung der Oberflächenelemente des Interfaces in den discours: Die Aufwertung funktionaler Elemente wie Quelltext und die Funktionselemente der wiedergebenden Software machen das Werk zu einem palimpsestisch verwobenen Text. 6.3.2 Synästhesie Die ästhetische Differenz zwischen Print- und digitaler Literatur zeigt sich besonders prägnant in den digitalen Modifikationen der Mikrostruktur, hier vor allem beim multimedialen Zeichenmaterial. Geradezu synonym mit dem Konzept der Collage ist das Parallelkonzept der Synästhesie: Verschiedene Zeichentypen werden in einen gemeinsamen Kontext vereint, was sich genau wie die Definition von Multimedia liest. Wo bei den bildenden Künsten dem Hauptmedium fremde Objekte zugefügt werden und ihren eigenen medialen Charakter in einer physischen Koexistenz bewahren, ist im digitalen Medium eine Zusammenführung verschiedener Zeichentypen (Bild, Text, Ton, Film/Animation und Interaktion) nur über ihre digitale Speicherform im Virtuellen möglich. Sie werden unter semiotischer Gleichbehandlung aller Zeichen in einen einheitlichen medialen Kontext eingebettet. 37 Doch auch über die Seitengrenzen hinweg kann synästhetische Pluralität herrschen, die Intermedialität verschmilzt durch Hypermedia mit den Konzepten von Collage und Synästhesie. Das Internet ist ein Schmelztiegel; viele verschiedene, heterogene Aspekte und Phänomene befinden sich in seinem Rhizom in Koexistenz und können sich nicht ohne Interaktion oder Wechselwirkung berühren. Hat seit der Renaissance eine Ausdifferenzierung der Kunstdisziplinen (in Analogie zu den Sinnen) stattgefunden, so setzt das digitale Supermedium im Zuge der Konvergenz von Theorien, Medien und Künsten einen konsequenten Kontrapunkt und verleiht der Idee des Gesamtkunstwerks neue Nahrung.38 Paradoxerweise ist Multimedia als synästhetisches Erlebnis par excellence in der Hypertextmetapher assoziativer kognitiver Repräsentation nicht besonders charakteristisch. Auch die grafische Ausgestaltung ist meistens, was das Seiten-

37 Heibach (2003) S. 92, S. 104, etc. spricht hier auch von Intersemiozität. 38 Vgl. Heibach (2003), S. 105.

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design betrifft, von einer eher einfachen Ästhetik. Multimedia ist zwar eines der differenzierenden Merkmale der digitalen Literatur, doch gemessen an den Video-Installationen der 1980er-Jahre ist (soweit empirisch feststellbar) der Einsatz in der Hyperfiction vergleichsweise unbedeutend. Allerdings findet er auf einer anderen Ebene statt: Vergegenwärtigen wir uns die Konzepte des Remake, ist der ironische, spöttische Ton des NON-roman, der Multimedia und Hypertext am elaboriertesten vereint, typisch für die Lust an der Parodie. Die Ästhetik der Multimedialität ist eher eine der digitalen Poesie, die in der visuellen Dichte des Signifiant an die Dichte des Signifié in der sprachlichen Dichtung anknüpft.

6.4 D EAUTOMATISIERUNG DER M ENSCH -M ASCHINE -K OMMUNIKATION Die mächtigste ästhetisierende Technik der Hyperfiction ist die Deautomatisierung. In der Literatur ist dies ein Verfahren, das die Literarizität eines Texts durch die Differenzierung von der allzu eingeübten Gebrauchssprache erzeugt. Wo die Kommunikation sonst ressourcen-ökonomisch in automatisierten Bahnen verläuft, wirken literarisch bewusst eingesetzte Verfahren störend (und belebend), heben die unsichtbare Dienstleistungsfunktion der Kommunikation auf und lenken dadurch autoreferentiell die Aufmerksamkeit des Lesers auf das Medium selbst zurück. Der literarische Informationsmehrwert ergibt sich durch die Mechanismen der Kookkurenz und Äquivalenz aus dem sinnstiftenden Zusammenspiel von Form und Inhalt, das das Erschließen eines implizierten Ko-Textes erlaubt. Botho Strauß spricht davon, dass der Schriftsteller „inmitten der Kommunikation zuständig [ist] für den unterbrochenen Kontakt, die Dunkelphase, die Pause.“39 Der Regelverstoß ist also zugleich Wagnis und Vergnügen. Statt vereinheitlichender Gefälligkeit und, im digitalen Medium, unmarkierter Funktionalität setzen disruptive Konzepte wie Fremdheit, Störung, Unterbrechung und Anderssein ästhetische Maßstäbe für die künstlerische Produktion und gegen eine langweilige Orthodoxie der Regeln.40 Denn:

39 Strauß (1994), S. 130. 40 Derrida (1990), S. 76.

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Die Kunst soll keine Augenweide bieten, wie die alltägliche Ästhetisierung das schon so erfolgreich tut, sondern sie muß zum Ärgernis bereit sein und Anstoß erregen.41

Genau hier zeigt sich die Anschlussstelle zur digitalen Literatur: Die bewusste Abkehr von standardisierten Kommunikationsformen, wie die Mensch-MaschineKommunikation eine darstellt, wird in der Durchbrechung bestimmter Regeln/Richtlinien der Repräsentation im digitalen Medium umgesetzt. Eine solche Erzeugung literarisch-ästhetischer Effekte verrät eine ausgeprägte, postmodern spielerische „Lust am Fehler“, und auch im Ziel des vom Autor einkalkulierten déroutement scheint die Postmoderne auf. Wie im Printmedium gibt es auch für das digitale Medium eine Aufspaltung in literarische und referentielle Texte, die sich durch die Literaturkriterien und den Bezug zur Realität unterscheiden. Die große Mehrheit der digitalen Anwendungen ist streng funktional-referentiell konzipiert. Das Internet macht diesen Verweischarakter deutlich: Kommerziell definierte Internetauftritte liefern als leicht zugänglicher, abrufbarer Index Verweise auf das real life, z.B. über Webshops oder Kontaktinformationen. Hyperfictions sind dagegen ihres unmittelbaren Realitätsbezugs autoreferentiell entbunden. Da das digitale Medium über eine Reihe neuer Gestaltungsmittel verfügt, werden die bekannten Deautomatisierungsverfahren modifiziert, erweitert oder erscheinen zumindest in einem neuen Licht. Im Widerstreit zwischen referentiellen und ästhetisierten digitalen Anwendungen kommt die Software-Ergonomie ins Spiel. Die formulierten Richtlinien der Software-Ergonomie (Aufgabenangemessenheit, Selbstbeschreibungsfähigkeit, Steuerbarkeit, Erwartungskonformität und Fehlerrobustheit) dienen alle einem Zweck: dem Benutzer die Handhabung von Computeranwendungen so einfach (und effizient) wie möglich zu machen. Das Wesen von Software-Ergonomie und Literatur steht daher in einem ambivalenten Verhältnis. Die Maximen der Software-Ergonomie wie Usability, Transparenz und die Ökonomie von Zeit und kognitiven Ressourcen sind der Literaturpraxis widersprüchlich. Die im Zusammenhang mit Literatur besonders paradoxe Prämisse der Software-Ergonomie „Don’t make me think“ löst sich aber bei genauerer Betrachtung in eine Differenzierung zwischen der physikalischen Informationsaufnahme und der mentalen Sinnkonstitution auf. Tatsächlich müssen grundlegende Regeln der materiellen Les- und Bedienbarkeit als kleinster gemeinsamer Nenner durchaus auch von der digitalen Literatur respektiert werden, um die Kommunikation zu gewährleisten. Die Soft-

41 Welsch (1996), S. 208 f.

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ware-Ergonomie sorgt für einen standardisierten, konsistenten Rahmen des Software-Designs und ist so für eine bestimmte Erwartungshaltung verantwortlich. Damit ist aber auch klar, dass die Literatur vor diesem Hintergrund eine ideale Folie für neue Deautomatisierungsverfahren gefunden hat: Nur wenn es eine bestimmte Erwartung gibt, kann sie (ästhetisierend) unterlaufen werden. Solche Stilmittel zielen gerade auf den Überraschungseffekt ab und benötigen die Erwartung, um sich durch den Regelverstoß klar davon abzuheben. Wie die konkreten Beispiele gezeigt haben, hat die digitale Literatur aus softwareergonomischer Sicht so gut wie keinen Design-„Fehler“ nicht gemacht. Die Metaphorik der GUI-Elemente bietet der Hyperfiction einen mächtigen Rahmen für metafiktionale Umdeutungen, und so ließe sich eigentlich ein dilettantisches Chaos aus den unvermuteten Informationsquellen und den Verstößen gegen die Regeln zu Textdichte, Farbgestaltung etc. erwarten. In dieser Manier stellte sich die Website des Künstlers b-l-u-e-s-c-r-e-e-n (eigentlich ein net.artist) mit den Worten vor: „un site expérimental tentant de désorienter l’internaute dans ses habitudes d’utilisation.“42 Digitale Kunst als Ausdruck ultimativer Anarchie auf Kosten des Lesers? Beileibe nicht: Die Lektüre von Hyperfictions erweist sich als unerwartet kurzweilig und von zahlreichen postmodernspielerischen Aha!-Erlebnissen begleitet. Die „Lust am Fehler“ ist in Wahrheit eine gekonnte Virtuosität im Umgang mit der Software-Ergonomie, das Verhältnis von Pflicht und Kür, ein Wechselspiel aus notwendiger Befolgung und elegant sinnstiftender Überwindung, die der Leser nachvollziehen kann. Es herrscht Über-, aber auch eine Unterstrukturierung, allerdings auf verschiedenen Ebenen: Die Unterstrukturierung (hinsichtlich der paradigmatischen Hypertextstruktur) basiert auf fehlender Kohärenz und Kohäsion, die Überstrukturierung auf der Nutzung neuer Textorte (innerhalb der Hypertextstruktur ein syntagmatisches Element). Hier schließt sich der Kreis, die zirkuläre Struktur im Rhizom der Bezüge und Phänomene. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die digitale Literatur, und hier insbesondere die Hyperfiction, über ein ganz klares Inventar von Stilmitteln und Mechanismen zu ihrer Ästhetisierung verfügt. Die Poetik der Hyperfiction hebt sich von der Rhetorik der referentiellen Hypertextgestaltung als ihrer Standardfolie ab und nutzt deautomatisierend die medienspezifischen neuen Elemente abseits ihrer eingeschriebenen Verwendbarkeit. Dabei ermöglicht das Zeichenmaterial des digitalen Mediums einen Reigen interdependenter Konzepte wie Fragmentgestalt, Zersplitterung, Nicht- bzw. Multilinearität, Sy-

42 http://www.b-l-u-e-s-c-r-e-e-n.net (nicht mehr verfügbar, zuletzt: 06.02.2010).

6 Ä STHETIK DER H YPERFICTION

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nästhesie, Metafiktionalität und direktmanipulative Interaktion, die zwar schon aus dem Printmedium bekannt sind, im neuen Medium aber eine weitreichendere Implikation für die Wahrnehmung des Werks haben. Damit ist die Hyperfiction ein Kind ihrer Zeit, denn im 20. Jahrhundert distanziert sich die Ästhetik aller Künste von einfachen und einheitlichen Sachverhalten. Eine charakteristische ästhetische Differenz ergibt sich zudem aus dem reizvollen Kontrastspiel zwischen einer einfachen Makrostruktur und der komplexen Gestaltung der Mikro-, und auf ihren Flügeln, der Diskursstruktur. Eine dem Hypertext inhärente Neigung zur Unterstrukturierung wird durch kompensierende überstrukturierende Techniken ergänzt. Stilistisch sind die Hyperfictions unterhaltsam und erschließen sich dem willigen Leser nach einer Phase der Erforschung leicht. So sind sie, nicht zuletzt dank der Aufhebung der Grenzen zwischen hoher und niedriger Literatur, ein exzellentes Beispiel postmoderner, konsumierbarer Literatur.

7 Eine andere Welt: Die digitale Poesie

Die Aktualisierung der Narrativik im digitalen Medium bringt eine ganze Reihe von tiefgehenden Änderungen, Erweiterungen und Modifikationen im postmodernen Raum mit sich. Auch wenn der Fokus der Untersuchung auf der Hyperfiction liegt, lohnt es sich, gerade im Kontrast auch die Poesie auf ihre digitale Fortsetzung hin in Augenschein zu nehmen. Tatsächlich zeigt der Vergleich zwischen Hyperfiction und digitaler Poesie eine für das Französische spezifische, im internationalen Vergleich überraschende Ausprägung: Gegensätzlicher könnten „Geschwistergattungen“ nicht ausfallen.

7.1 H YPERFICTION

UND DIGITALE

P OESIE

IM

K ONTRAST

2001 stellte der US-amerikanische Pionier der postmodernen Literatur Robert Coover einige Hypothesen zu Vergangenheit und Zukunft der digitalen Literatur auf und kam zu der optimistischen Einschätzung: Poesie hat im Grund großen Erfolg im neuen Medium, mehr sogar als Prosa. [...] Die narrative Methode [...] hatte mit der [...] gegensätzlichen Natur des multidirektionalen Netzwerks der Hyperfiction fertigzuwerden, während die lyrische Methode – in der typischerweise ein einzelnes Motiv das Zentrum vieler peripherer Überlegungen wird – diese Netzwerke oft als sehr geistesverwandt empfand.1

Linearität ist in der Tat für die Lyrik kein besonders zu subvertierendes oder affirmierendes Paradigma (die Formgedichte einmal ausgenommen), da die Chronologie erzählter Handlung für die Lyrik meist irrelevant ist und sie in ihrer poetischen Dichte ohnehin alinear zu enträtseln ist. Dennoch ist die Prognose heute,

1

Coover (2001), S. 28.

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zumindest für die französische Situation, zu relativieren. Nicht Hypertext, sondern Multimedia heißt das Zauberwort für die programmierte, animierte, kinetische Poesie. Während die Hyperfiction ganz im Zeichen des Hypertexts steht, der die Strukturen der Narrativik durch die übergeordnete (Hyper-) Organisationsstruktur des Mediums vielfältig bricht und variiert, hat sich dieser im französischsprachigen Raum für die Lyrik nicht durchsetzen können; stattdessen ist es die multimediale Ausrichtung, die der digitalen Poesie ihr Gesicht gibt. Die diametral entgegengesetzte Abgrenzung setzt sich im Distributionsmedium der digitalen Literatur fort: Hyperfiction findet sich frei zugänglich im Internet, die multimedialen Gedichte werden auf CD-ROM in Literaturmagazinen publiziert und reihen sich so in die Tradition der französischen revues littéraires ein. Ein praktischer Grund liegt darin, dass die französischen Verlage die digitale literarische Produktion ignorieren. Eine andere Ursache ist die neoparnassische Ablehnung des Internets durch die digitalen Dichter, da es mit Beliebigkeit und Konsum assoziiert wird. „L’Internet est incompatible avec un graphisme de qualité“, erklärt Philippe Bootz in einem Interview.2 Auch der Diskurs der digitalen Poesie unterscheidet sich von dem der Hyperfiction: Die digitale Poesie ist viel besser etabliert und auch nach außen einheitlicher organisiert. Die Ursache dafür ist sicherlich darin zu sehen, dass der Gattungsbegriff der Poesie traditionell offener (und als solcher besser akzeptiert) ist als der der Narrativik. Immerhin bildeten die auf der Seite der BnF versammelten Werke einer französischsprachigen Création en ligne des 21. Jahrhunderts ausschließlich Werke digitaler Poesie und der Netzkunst ab! 3 Durch eine weitere Aufwertung des Visuellen und Prozessualen ist die Grenze zwischen digitaler Poesie und anderen visuellen, netzbasierten Kunstformen durchlässig, hier ist in erster Linie die Netzkunst stark vertreten. Letzterer trug 2003 eine Sondernummer des Internetmagazins dichtung-digital unter dem Titel Paris Connection4 Rechnung, die sich dem Schaffen französischer Künstler des digital art wie Jean-Jacques Birgé, Jean-Luc Lamarque, Antoine Schmitt, Frédéric Durieu und „Servovalve“ widmet. Ein Whoiswho international renommierter Netzkünstler umfasst weiterhin beispielsweise Christophe Bruno5 (net.art, per-

2

Vgl. Sablon (2001). Für die digitale Poesie mag dieser Pessimismus aus Sicht des Programmierers zum Teil auch heute noch zutreffend sein.

3

http://signets.bnf.fr/html/categories/c_840xxi_creation.html (nicht mehr verfügbar; zuletzt: 29.08.2007)

4

Vgl. Simanowski (2003).

5

https://christophebruno.wordpress.com

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formances), Frédéric Madre6 (net.art, spam art), Julien d’Abrigeon7 (poésie sonore, MP3), Philippe Boisnard8 (net.art, vidéopoèmes, vidéogrammes, phonogrammes), Annie Abrahams9 (net performances), Isabelle Hayeur10 (video art, web art, net.art), uvm. Außerdem versammelt das Portal Incident.net Künstler mit ihren Werken aus den Bereichen „internet / installation / performance / audio / video“. Einen ziemlich umfassenden Überblick über die französische net.artSzene liefert die englischsprachige Seite JavaMuseum.org des new media curator Agricola de Cologne.11 Allerdings stehen diese Werke im Kontext einer allgemeinen digitalen Kunst und sind nicht literaturspezifisch. Auf welche Anlaufschwierigkeiten im wissenschaftlichen Diskurs auch die digitale Poesie trifft, zeigt sich bei Jan Baetens, der erst einen treffenden Überblick über die Landschaft digitaler ästhetischer Phänomene liefert,12 dann am konkreten Objekt allerdings in einen (die Neuen Medien ab-) wertenden Konservatismus verfällt.13 So bespricht er das Gedicht „Raphel“ von Bernardo Schiavetta unter dem Schlagwort „poésie digitale“ als „œuvre capitale“14– wobei das Gedicht zu dem Moment gar nicht in digitaler Form vorlag.15 Stattdessen lobt er den intertextuellen Netzcharakter des Gedichtes als besonders wegweisende Leistung, denn unter dem Motto der babylonischen Sprachverwirrung ist jeder Vers der aus dizaines bestehenden Rondeau-Variation ein Zitat, entweder aus einem weltberühmten Werk, z.B. von Victor Hugo oder Jorge Luis Borges, oder liegt in so exotischen Sprachen wie Gälisch, Hebräisch, Wolof etc. vor. Als Refrain tritt der Phantasie-Satz „Raphel may amech zabi almi“ [sic!] aus Dantes Divina Commedia, Inferno XXXI, auf, gefolgt z.B. von „Àlekake nd’ôngógó l’akíndo“ (I, V. 9), das einem Gedicht auf Mongo entnommen ist, laut mitgelieferter Quellenangabe einer zentralafrikanischen Sprache.16 Die Originalität und

6

http://pleine-peau.com/

7

http://tapin.free.fr/

8

http://databaz.org/xtrm-art/

9

http://www.bram.org

10 http://isabelle-hayeur.com/ 11 http://www.javamuseum.org/2002/2nd/frenchfeature/feature.html 12 Vgl. Baetens (2002), S. 121-124. 13 Ebd., S. 124-130. 14 Ebd., S. 125. 15 Baetens und Schiavetta haben in verschiedenen Projekten eng zusammengearbeitet, unter anderem 2001 gemeinsam den Colloque de Cerisy zum Thema „Ecritures et lectures à contraintes“ geleitet. Vgl. Baetens & Schiavetta (2004). 16 Vgl. Baetens (2002), S. 126 und 128.

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kookkurrent-intertextuelle Fülle von „Raphel“ ist unleugbar; dennoch ist das Werk denkbar weit von einer medial erneuerten Literaturgattung entfernt. Dass die Literatur im neuen Medium die traditionellen, bekannten Mechanismen der Printliteratur auf ihre ganz eigene Art zu überbieten vermag, entgeht Baetens. Er postuliert im Einverständnis mit Schiavetta, „la vision de l’ordinateur est strictement instrumentale“,17 und dass Schiavetta sich dem inhaltslosen „fétichisme“18 des Computers zu Recht verweigere.

7.2 O ULIPO

UND SEINE HISTORISCHE

F ILIATION

Der Überblick über die digitale Lyrik, wie sie sich heute präsentiert, zeigt eine breite Auffächerung von der Übernahme und Aktualisierung experimenteller Printliteratur im neuen Medium bis hin zu neuen medienspezifischen Ausprägungen. Literaturgeschichtlich sind es vor allem der Surrealismus und die konkrete und visuelle Poesie, die der digitalen Poesie ihren Stempel aufdrücken. Ihren Anfang nimmt die digitale Literatur in deutlich vor-digitaler (und vortechnologischer) Zeit mit einer Form der Programmierung in der potentiellen Literatur. Oulipo, der „Ouvroir de Littérature Potentielle“, gegründet 1960 von Raymond Queneau und François Le Lionnais, hat es sich zum Ziel gesetzt, eine spielerische Form der Literatur durch den Einsatz mathematischer Methoden zu erreichen.19 Dies geschieht durch die Vorgabe eines „contraint“, dem der literarische Schöpfungsprozess gehorcht. Bekannte Beispiele sind Perecs La Disparition (1969), die auf ganzen 300 Seiten den Buchstaben e verschwinden lässt, oder Queneaus Exercices de style (1947), die 99mal die gleiche kurze Szene schildern, jedesmal unter einem anderen Motto. In der Lyrik ist vor allem das

17 Baetens (2002), S. 129. 18 Ebd., S. 129. 19 Eine Art einfachster Textpermutation ist das paradigmatische Durchwechseln von im Versmaß passenden Wörtern (als einer Art Parameter) bei Quirinus Kuhlmann mit seinem Gedicht „Libes-Kuß“ (1671) Über die Sprachengrenzen hinweg ist Kuhlmann den französischen Permutationslyrikern und ihren digitalen Erben sehr genau bekannt, vgl. z.B. Braffort (2002). Aber auch der Dadaist Tristan Tzara beschreibt Permutation als kreative Texterzeugungslogik in seiner Anleitung „Um ein dadaistisches Gedicht zu machen“ (1921): „Nehmt eine Zeitung. Nehmt eine Schere. Wählt in dieser Zeitung einen Artikel [...] Schneidet dann sorgfältig jedes Wort dieses Artikels aus und gebt es in eine Tüte. Schüttelt leicht. Nehmt dann einen Schnipsel nach dem anderen heraus. [...]“ zitiert nach Korte, Kupczynska (2015), S. 50.

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zeilenweise Permutationsgedicht Cent mille milliards de poèmes (1961) weltbekannt. Mit seiner ästhetischen Einbeziehung mathematischer und früher informatischer Verfahren kommt Oulipo die Bedeutung eines Brückenkopfs für die digitale Umsetzung zu: Die Oulipiens interessierten sich in der Theorie bereits für Möglichkeiten, die der Computer später für ihre Literatur eröffnete, die sie selbst aber noch nicht, oder nur in Andeutung, realisieren konnten. Die digitale Fortsetzung der Aktivitäten von Oulipo übernahm ab 1987 Infolipo, „Informatique et Littérature Potentielle“ in Genf, unter der Leitung von Ambroise Barras und Pascal Delhom. Ihr zentrales Anliegen ist die „création littéraire informatique“.20 Seit 1988 stellen sie Adaptionen experimenteller Printliteratur in programmierter Form vor, unter anderem natürlich Queneaus Cent mille milliards de poèmes und Michel Butors Kartenspiel Matériel pour un Don Juan (1977). Nach der Konzentration auf programmierte Poesie z.B. bei Philippe Bootz in den Jahren 1998-1999 wandte sich die Arbeitsgruppe 1999-2000 dem (allerdings narrativisch genutzten) Hypertextlink zu. In der französischen digitalen Literatur spielen Gedichtgeneratoren eine bedeutende Rolle. Auch hier lassen sich vor-digitale Traditionslinien erkennen, denn bereits Tristan Tzara beschrieb in seinem 1920 entstandenen „Manifeste sur l’amour faible et l’amour amer“21 eine Art einfachsten Textgenerator: Alle Wörter eines Textes sollen einzeln auf Papierschnipseln vorliegend durchgeschüttelt und per Losverfahren neu zusammengesetzt werden – die Verknüpfungslogik ist rein aleatorischer Natur. 1964 schrieb der Franko-Kanadier Jean Baudot das erste automatisch erzeugte, elektronische Gedicht, „La machine à écrire“, aber es dauerte noch bis 1981, der Gründung der Gruppe ALAMO („Atelier de Littérature Assistée par la Mathématique et les Ordinateurs“) durch Paul Braffort und Jacques Roubaud, bis ein dezidiert literarisch-informatisches Projekt geboren war. Auch ALAMO sieht sich explizit als Nachfolger von Oulipo, vertritt aber die konservative Sicht, dass ein Computer nur ein assistierendes Werkzeug und nicht ein förderliches Medium für Literatur sein kann oder darf.22 Einer der Schwerpunkte von ALAMO war dementsprechend die automatische Textgeneration.

20 http://www.infolipo.org/varia/historique.html 21 Tzara (1979), S. 64. 22 Vgl. Burgaud (2002).

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7.3 D IE

NEUEN REVUES LITTÉRAIRES

Das Literatur-Magazin DOC(K)S ist das dienstälteste Literaturmagazin. Es erscheint seit 1976, widmet sich der konkreten/visuellen Poesie und wendet sich zunehmend dem digitalen Medium zu.23 Seit 1990 wird es von der MultimediaGruppe Akenaton um den Dichter Philippe Castellin und den Bildhauer Jean Torregrosa herausgegeben.24 Ihr Ziel ist „de développer des pratiques dans les zones frontières de la création contemporaine“,25 gemeint ist die Übertragung der experimentellen, überwiegend visuellen Poesie in die Neuen Medien Video und Computer. Akenaton sieht sich explizit in einer Reihe mit Dichtern wie Mallarmé und Apollinaire bis Michaux, Char, Ponge, Saint-John Perse,26 gemäß der Prämisse „l’écriture poétique n’était plus seulement celle des mots mais aussi celle des signes, des sons, des images, des figures, des gestes, des voix, des corps.“27 Dies ist eine plurimediale, im digitalen Zeitalter auch eine multimediale Sicht der Dinge und ein klares Erbe der konkreten/visuellen Poesie: „[...] les poésies numériques accomplissent un fantasme ou une utopie qui les précèdent, elles exaucent un vœu, et tout particulièrement celui de la ‚fusion des codes’.“28 Zugleich erlaube das digitale Medium, den Faktor Zeit in die Rezeption der Gedichte einzurechnen. Als Literaturmagazin bietet DOC(K)S zugleich dem Gegenstand der digitalen Poesie und ihrem Diskurs ein Forum. Generell ist es ein auffälliges Phänomen, dass bei den digitalen Dichtern der poetologische Diskurs wieder deutlich mehr Raum einnimmt als die eigentliche literarische Produktion. Die einzelnen Ausgaben zeichnen sich durch ein ausgesprochen voluminöses Erscheinungsbild aus: in der Regel umfasst eine Ausgabe drei bis vier Nummern und gut 400 Seiten.29

23 Zu Programm und Geschichte von DOC(K)S vgl. http://www.akenaton-docks.fr/ AKENATON_f/INDEX-ake_f/INDEX-ake.html 24 Die Anspielung auf Akhénaton, Echnaton, den „Erfinder“ des Monotheismus und selbst Gottheit, ist natürlich provozierend, zeigt aber ihre Ambitionen. 25 http://www.akenaton-docks.fr/AKENATON_f/INDEX-ake_f/INDEX-ake.html 26 Vgl. Castellin (2002), S. 21. 27 Alain Vuillemin, „Poésie et informatique, les approches critiques“, in Soft-DOC(K)S. Alire/DOC(K)S.

1997,

http://www.akenaton-docks.fr/DOCKS-datas_f/forums_f/

theory_f/VILLEMIN_f/vuillemin.html 28 E-Mail an die Verfasserin vom 02.07.2006. 29 Damit nicht genug: Castellin selbst hat für gebührende Würdigung und Beachtung gesorgt, in der bereits genannten, knapp 500-seitigen Abhandlung DOC(K)S mode d’emploi. Vgl. Castellin (2002).

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Mit dem Literaturmagazin alire entstand 1989 das erste rein elektronisch publizierte CD-ROM-Literaturmagazin weltweit. Auch bei alire ist der Name Programm, eine Mischung von „à lire“ und „a-literarisch“. Einige Autoren um Philippe Bootz und Tibor Papp gründeten die Gruppe L.A.I.R.E. („Lecture–Art–Innovation– Recherche–Ecriture“), die sich dezidiert zum Computer als Literaturmedium bekannte; ihr Interesse galt der interaktiven und multimedialen Inszenierung von Texten, was die traditionellen Vorstellungen von Literatur erschütterte und deutlich über das Programm von Oulipo, ALAMO & Co. hinausging. 2003 formierten sich Bootz, Papp und Gherban zum Kollektiv Transitoires Observables, das die neuen Sichtweisen konsequent weiter denkt; mehr dazu in Kapitel 8.1. Die poetologische Abgrenzung zwischen DOC(K)S und alire ist heute fließend. Sie teilen sich die Künstler, die Herausgeber selbst publizieren regelmäßig sowohl in der eigenen als auch der anderen revue. 1997 erschien sogar eine gemeinsame Sondernummer SOFT DOC(K)S POESIE & ELECTRONIQUE.30 2005 gründete Eric Serandour das Magazin für (digitale) Gegenwartspoesie LÔÔP, das sich selbst als „une revue de poésie contemporaine“31 charakterisiert. Auffällig ist, dass das Stichwort „digital“ nirgends fällt. Damit eröffnet Serandour in der Reihe der Magazine zur digitalen Literatur eine neue Dimension, denn sein Lyrik-Magazin ist zwar ebenfalls ausschließlich digital, findet sich aber auf einer Website im ansonsten verschmähten Internet. Allerdings kann es dort nicht rezipiert werden: Um der Einzelwerke habhaft zu werden, muss der Leser entweder die CD-ROMs bestellen oder sich die einzelnen Nummern 001 bis 003 herunterladen und dann auf dem Rechner installieren. Dies widerspricht der postulierten Unvereinbarkeit zwischen Poesie und Internet, doch auch Serandour hat dem acte gratuit des beiläufigen Gedichtlesens einen Riegel vorgeschoben, indem er den Leser kommentarlos mit Downloads und nichtreferentiell nutzbaren Programmen konfrontiert (eben den Gedichten), die ein Verhalten aufweisen wie sonst nur programmierte Schädlinge. Nur wer vorher schon weiß, was ihn ungefähr erwartet, und die Seite gezielt aufsucht, kann dem Künstler in Zeiten der Invasion durch Viren, Würmer, Trojaner und Hoaxes diesen Vertrauensvorschub gewähren.32

30 Nur kurz (1990-1994) erschien unter der Leitung des Spezialisten für Textgeneratoren Jean-Pierre Balpe das Literaturmagazin KAOS, das sich als missing link zwischen den einander entgegengesetzten Sichtweisen des Computers als Werkzeug und als Medium verstand. 31 http://serandour.com/loop/ 32 Weitere revues sind EvidenZ1, Tija2, éc/art3 ou Talkie-Walkie4, die alle um das Jahr 2000 gegründet wurden.

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Das vorliegende Florilegium „konkreter“ Beispiele digitaler Poesie setzt bei der Aktualisierung der kombinatorischen Literatur durch Hypertext an, befasst sich mit der in Frankreich historisch etwas unterrepräsentierten Gattung der konkreten und visuellen Poesie, die ihre Renaissance in multimedial unterstützten Gedichten z.B. bei DOC(K)S auf der beigefügten CD-ROM findet, und kulminiert schließlich in der digitalen Innovation der algorithmischen Multimedia-Poesie z.B. von Philippe Bootz.

7.4 I NTERAKTIVE H YPERTEXT -L YRIK Kombinatorische Literatur und die produktive Rezeption (im eigentlichen und uneigentlichen Sinn) haben eine lange Tradition in Frankreich. Prototyp des kombinatorischen Gedichts sind natürlich die Cent mille milliards de poèmes von Queneau. Die Verse der zehn Sonette sind, auf dickem Papier gedruckt und zeilenweise in Querstreifen geschnitten, durchpermutierbar, so dass sich daraus insgesamt 1014 verschiedene Gedichte erzeugen lassen.33 Grammatikalische Strukturen, Rhythmen und Reime bleiben bei allen Versen der gleichen Ebene erhalten, so dass immer ein sprachlich und metrisch korrektes Gedicht entsteht – wenn auch die Qualität schwanken kann. Das Lesen aller Sonette erfordere, wie Queneau im Vorwort anmerkt, rund „190 258 751 années“.34 Eine solche syntagmatische Potentialität des Werks, das bestimmbare Verhältnis aus Geno- und Phänotext ist in der Linearität des Printmediums nicht ohne weiteres möglich. Das Aufbrechen der Zweidimensionalität der Seite kann nur durch einen paratextuellen Kniff,35 die kammartige Auffächerung der Seiten in Versstreifen, erreicht werden. Für derlei Variationen und Mammutkalkulationen ist der Computer prädestiniert und das Werk hat zahlreiche Bewunderer dazu verleitet, Queneaus Werk als Hypertextadaption vermeintlich zu perfektionieren.36 Dieses Ansinnen war

33 Philippe Bootz verweist auf eine interessante andere Lektüre: Lässt man die Prämisse der Sonettform außer Acht, können die Verse auch als ein einziger Text gelesen werden, so dass die Möglichkeiten der Permutation noch weiter ins Unermessliche steigen. Vgl. Bootz (2004), S. 59-81, S. 64-65. 34 Queneau (1961), S. VIII. 35 Je nach Schwerpunktsetzung ist der Kniff paratextuell oder medial einzuordnen. 36 So konnte sich der Leser beispielsweise aus der Übersicht der einzelnen Verse bestimmte aussuchen und sich dann das daraus zusammengestellte Gedicht ansehen, sodass die Mühe des papierenen Blätterns entfiel. Bei einem anderen Ansatz beschränkt

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nicht nur literaturwissenschaftlich, sondern auch noch in einer weiteren Dimension naiv: Da die Veröffentlichung im Internet ohne die Zustimmung des Sohns und alleinigen Rechteinhabers Jean-Marie Queneau geschehen war, wurde der Fall in seinem Namen als Präzedenzfall für die Wahrung der Autorenrechte genutzt, in dessen Folge die digitale/digitalisierte Nutzung 1997 gerichtlich untersagt wurde.37 Dennoch zeigen die in der Folge entfernten Online-Fassungen, dass das eine Gedicht in Papier- und elektronischer Form als potentielle Literaturform einen gewissen Handlungsspielraum für den Leser erlaubt, ein Mitbestimmungs- und Mitgestaltungsrecht, das, wenn auch nicht im strengen Sinn der Handlungstheorien, doch eine Manipulations- und Einwirkensmöglichkeit bietet, die der Hypertext in idealer Anschaulichkeit umsetzt. Diese contraints bleiben überschaubar und die Möglichkeiten berechenbar, der erzeugte Text ist daher in der Terminologie Pierre Lévys (1998) typisch potentieller Natur.38 Die identische Wiederholung der Lektüre eines Einzelgedichtes im Komplex der Cent mille milliards de poèmes ist in der Zahl der Möglichkeiten kaum zu erwarten, das Werk ist, unabhängig von semiotischen Vorstellungen individueller Dekonstruktion, nicht mehr physisch fixiert, nicht mehr eindeutig und wiederholbar. Darin nähert es sich oberflächlich den digitalen algorithmischen Gedichten an, den „poèmes à-lecture-unique“,39 die als virtuelle Literatur (dem Gegenpol zur potentiellen Literatur nach Lévy) in einem offenen System unberechenbare Parameter enthalten und daher zu weniger vorhersehbaren Ergebnissen führen.40 Allerdings entbehrt es wiederum der dichterischen Originalität, wenn im dafür prädestinierten Medium das avantgardistische Prinzip der Permutation nachgestellt wird. Hat Queneau seine Cent mille milliards de poèmes in dem dafür nicht geeigneten Medium des Buches hypertextuell konzipiert, so verleiht er damit einer neuen Denkweise Ausdruck und versucht die Grenzen des Mediums zu sprengen. Zwar ist eine Adaptation hypertextueller Strukturen aus dem Printme-

sich die Aktivität des Lesers auf die Aktivierung eines Zufallsgenerators, der auf Knopfdruck automatisch eine neue Gedichtvariante erstellt. http://x42.com/active/ queneau.html 37 http://www.liberation.fr/ecrans/1997/06/06/queneau-interdit-de-web-le-fils-de-lecrivain-gagne-un-proces-pour-contrefacon-en-ligne_207696 38 Das Paradebeispiel des virtuellen im Gegensatz zum potentiellen Text sind die Textgeneratoren von Jean-Pierre Balpe, deren sichtbares Ergebnis völlig unwägbar ist. 39 Bootz (2003). 40 Zur Erläuterung der Konzepte Lévys („potentiel“ vs. „réel“ und „virtuel“ vs. „actuel“) anhand verschiedener Werke (z.B. bei Queneau) vgl. Bootz (2004), S. 60-69.

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dium ins elektronische Medium naheliegend und lässt sich leicht bewerkstelligen, doch ändert sich der Charakter des Werkes durch die mediale Umgebung grundlegend: Die innovatorische Leistung wird in der Hypertextfassung zum banal normalen Feature degradiert. Wie Mecke (2004) zum Wechselverhältnis aus Medium und Konzept ausführt: „Erst aus der komplexen Relation zwischen experimentellen Techniken und einem Medium, das sich gegen sie sperrt, zwischen medialer Textualität und konzeptueller Hyperfiktionalität entsteht in diesem Fall die tatsächliche ästhetische Wirkung.“41 Hypertext mag das Prinzip sehr anschaulich illustrieren, unter medienästhetischen Gesichtspunkten bietet er als eine Wiederholung und reiner Medienwechsel wenig Originalität, wird tautologisch. Eines der seltenen Beispiele eigens für das elektronische Medium geschaffener hypertextueller Lyrik fand sich im Internet auf der Seite Mélusine, die sich den Beinamen „le site des nouvelles formes d’écriture“ gab.42 Mélusine war eine Arbeitsgruppe, die sich seit 1995 der Förderung neuer Formen der Literatur im elektronischen Medium gewidmet hat. Ihr Manifest verriet, dass die Gruppe um Pierre de la Coste auf die Auslotung des Einsatzes von Hypertext in der Literatur und den Wissenschaften abgezielt hat. Die Namensgleichheit zu Henri Béhars Cahiers du Centre de Recherche sur le Surréalisme, die ebenfalls Mélusine heißen, war sicher nicht zufällig: Das Projekt trug den Namen der Fee Mélusine, die dem, der an sie glaubt, zu Ruhm, Macht und Reichtum verhelfen soll. Das auf Mélusine veröffentlichte nichtlineare Gedicht „La Ville“ von Pierre de la Coste trug den Titelzusatz „poème hypertexte illustré au flash-brou de noix“. Es folgte nicht wie die Cent mille milliards de poèmes dem Prinzip der Vers-Permutation, sondern reihte die elf abgeschlossenen Einzelgedichte immer wieder neu aneinander, so dass sie refrainartig in unterschiedlich langen Schleifen wiederkehrten. Die Verknüpfung fand über Hypertextlinks statt, wobei jeweils ein ganzer Vers als Link fungierte. Durch Anklicken gestatteten diese Hyperverse ein NeuArrangement der verschiedenen Einzelgedichte. Je nach Lektürepraxis geschah dieser Schnitt mitten in der Strophe, so dass der Leser warten musste, bis sie wieder auftauchte, um sie ganz zu lesen. Durch die zirkuläre Verlinkung konnte der Leser auch zu fast allen Einzelgedichten zurückkehren. Auch eine andere Strategie ist denkbar: Das vorliegende Gedicht erst in seiner Gänze zu lesen und dann den vielversprechendsten Link auszuwählen. Dies hängt vom Verständnis des Lesers des Absprung-Kontexts ab, ob nämlich die Verzweigung punktgenau

41 Mecke (2004), S. 150. 42 http://www.melusine.org/ (nicht mehr verfügbar; zuletzt: 06.02.2010).

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an der Stelle des Link-Verses ansetzt, oder ob das ganze Gedicht als Herkunftskontext dienen soll. Abbildung 62: Verse als Hyperverse

Quelle: Screenshot aus „La Ville“43

Wie die Abbildung zeigt, war das Verlinkungsparadigma recht dominant, es gab viele Anschlussmöglichkeiten, obwohl es insgesamt nur elf verschiedene Seiten waren. Je mehr Links man schon angeklickt hatte, umso mehr zirkuläre Zusammenschlüsse ergaben sich daher. Dennoch lohnte es sich, bisher noch nicht besuchte Links auszuprobieren, den Textraum zu „erwandern“, denn einige der Seiten waren häufig verlinkt, andere dagegen sehr selten. Das Navigieren kam daher dem Flanieren an bekannten Orten gleich, von denen ausgehend man plötzlich einen ungeahnten neuen Winkel entdecken konnte. Es ist ein häufiges Phänomen in der digitalen Literatur, dass eine Gebrauchsanweisung beigefügt ist oder eine eigene Interpretation mitgeliefert wird. So lieferte auch Mélusine selbst einige Schlüssel zum Verständnis des Gedichts im Kapitel „Introduction“.44 Demnach war „La Ville“ die topografische Metapher einer utopischen Stadt, durch deren Viertel der Leser spaziert und sie durch das Anklicken der Verse virtuell erforscht. Ihre Gestaltung sollte realen Stadtvierteln in Venedig, Prag, Paris, Pompeji etc. nachempfunden sein. Ohne diesen Hinweis dürften die Städte aus den illustrierenden Impressionen aber kaum zu erkennen gewesen sein.

43 http://www.melusine.org/ (nicht mehr verfügbar; zuletzt: 06.02.2010). 44 http://www.melusine.org/edition/introd.htm 06.02.2010)

(nicht

mehr

verfügbar;

zuletzt:

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Was das Gedicht insbesondere schwer zu erfassen machte, ist sein ausgesprochen flüchtiger Charakter. Kann man bei den Hyperfictions stets per BackButton den Connex (und den Kontext) zum Ausgangsort des Linksprungs noch einmal überprüfen, war dies aufgrund der Flash-Umsetzung des Gedichtes nicht möglich. Einmal „Back“ beendete die komplette Flash-Navigation und warf den Leser aus der Lektüre. Die Hypertextstruktur erzwang so eine streng monolineare, unidirektionale Leseweise, rigider noch als das Buchmedium, bei dem ein gelegentliches Zurückblättern zwar nicht explizit vorgesehen, aber doch möglich ist. Ein weiteres Beispiel sind die Werke des Franko-Kanadiers Richard Barbeau, der auf seiner Seite Alpha Bêta oulipo-nahe hypertextuelle Werke ausstellt, die (ohne so bezeichnet zu sein) durchaus Gedichtcharakter haben. Abbildung 63: Varianten von „Hyperpangramme“

Quelle: Screenshots aus „Hyperpangramme“45

Das Werk „Hyperpangramme“46 etwa zeigt vier Variationen des klassischen französischen Pangramms „Portez ce vieux whisky“, bei dem jeder Konsonant des Alphabets nur einmal vorkommt. Diese vier Pangramme können über einen Hypertextindex („1-2-3-4“) angeklickt werden. Rasch erkennt der Leser, dass einige gleiche Versatzstücke verwendet werden. Der Blick in den Quellcode liefert den Schlüssel für das Verständnis des Hyper-Pangramms: Das Bild besteht aus einzelnen grafischen Links, denen im Unterschied zu Textlinks im Browser kei-

45 http://abcdfghijklmnopqrstuvwxyz.com/Hyperpangramme/portez.htm

bzw.

http://

abcdfghijklmnopqrstuvwxyz.com/Hyperpangramme/cafe.htm. Die Seiten sind nicht mehr verfügbar; zuletzt: 03.08.2006. 46 http://abcdfghijklmnopqrstuvwxyz.com/Hyperpangramme/index.php (nicht mehr verfügbar; zuletzt: 03.08.2006), einen gewissen Eindruck vermittelt die Slideshow auf der Seite http://nt2.uqam.ca/fr/repertoire/hyperpangramme.

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ne sichtbare Markierung zugewiesen werden kann. Beim Anklicken bleibt allein das Wort-Bild wie bei einer filmischen Überblendung stehen. Insgesamt zeugen die Werke Barbeaus vom Vergnügen am typografischen Spiel mit „contraints“ nach oulipo’schem Vorbild und bringen mit der hypertextuellen Querverbindung eine neue Komponente ins Spiel, deren Umsetzung die Denkweise des Lesers antizipiert und deren Entdeckung dem Leser einen AhaEffekt beschert. Dennoch bleibt das Schema sehr nah am Mechanismus der Print-Permutation.

7.5 K ONKRETE /V ISUELLE

DIGITALE

P OESIE

In Frankreich ist die Aufwertung des typografischen Zeichens gegenüber dem semantischen Gehalt bereits seit der Moderne, vor allem seit Apollinaire und Dadaismus, vorhanden, dennoch verlief die Hoch-Zeit der konkreten/visuellen Poesie in den 1950er- bis 1970er-Jahren deutlich ruhiger als etwa in Deutschland.47 Eine Brücke von Oulipo zur visuellen Poesie schlagen die Werke von Benjamin Gomez, der selbst im Kontext von Infolipo anzusiedeln ist. Während z.B. Pierre Garnier eine Aktionslyrik praktiziert, die, sobald fertig, bildlich in fixierter Form vorliegt, stellen die experimentellen Texte von Gomez einen vergleichbaren Entstehungsprozess, eine dynamische Lyrik-Werdung, mit offenem Ende dar. Durch die initiale Klickaktion des Lesers setzt sich z.B. bei „Graph2“48 eine Metamorphose des Textes in Gang. Der Leser ist Verursacher und Zeuge eines Text-Happenings, das die Entropie ins Chaos steigert. Ein vorerst neutral formatierter Text beginnt sich dabei nach Mauskontakt zu verändern, bestimmte Buchstaben projizieren ihre Schatten über den Monitor und verwandeln den Text immer mehr in ein grafisches Bildobjekt.

47 Vgl. z.B. Gomringer (1972). 48 http://gomb.free.fr/data2/graph2.dcr

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Abbildung 64: Textverfremdung sofort und ca. 5 Minuten nach Anklicken

Quellen: Screenshots aus „Graph2“

In retrospektiver Betrachtung erinnern Werke von Garnier daher an Momentaufnahmen aus den „Filmen“ von Gomez, der in ungewöhnlicher Qualität Programmierfertigkeiten mit originellen ästhetischen Ideen verbindet. Eine zentrale Rolle für die digitale konkrete/visuelle Poesie nimmt das Magazin DOC(K)S ein, das einen fließenden Übergang ins digitale Medium schafft. Bei vielen Werken findet in der Tat nur ein Medienwechsel statt. Ob ein visuelles Gedicht gedruckt oder am Monitor ausgegeben wird, ist für den Charakter des Werkes schlichtweg unerheblich, Burgaud (2002) setzt noch eins drauf: „A poem created to be read in a book is terribly boring on a computer screen.“ Erst der ästhetische Einsatz nicht ausdruckbarer, also medienspezifischer Eigenschaften macht das Werk medial innovativ. Die Werke und Ideen, die in DOC(K)S ihr Forum finden, zeigen ein äußerst heterogenes ästhetisches Panorama. Die auf dem Bildschirm unsichtbaren Schlagworte für die Internet-Suchmaschinen liefern eine Kurzcharakteristik des Selbstverständnisses: „poesie experimentale, poesie visuelle, poesie sonore, poesie animee par ordinateur, performance“, ergänzt durch die Kategorien der Poesie „#concrète“, „#visuelle“, „#sonore“, „#action“ und „web@“ im Intro der Startseite.49 All diese heterogenen Konzepte schreiben sich konvergent in eine Kontinuität international und medial grenzüberschreitender Kreativität ein, ganz im Sinne einer allumfassenden „poésie totale“.50 Digital ist an DOC(K)S dreierlei: Einmal bietet es großzügigen Raum für theoretische Abhandlungen der Autoren/Dichter über Fragen zu digitalen Kunstformen, zweitens fungiert es als Index zum Aufsuchen digitalen Schaffens im

49 http://www.akenaton-docks.fr 50 Adriano Spatola (1978), zitiert nach Castellin (2002) S. 11.

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Internet,51 und schließlich liegt ihm als echter Hybrid-Publikation seit 1996 ein digitaler Datenträger bei, eine CD-ROM bzw. eine DVD. Daher sieht sich DOC(K)S als „un dispositif tri-polaire - web, CD ou DVD, papier“,52 als ein profund transmediales Phänomen. Damit ist es von der vordigitalen Plurimedialität beispielsweise des surrealistischen Kunstmagazins Minotaure, in dem sowohl Literatur als auch Gemälde abgedruckt wurden, zur digitalen Multimedialität avanciert. Zwei aussagekräftige Beispiele aus der CD-ROM „web“ von 1999 mögen die Linie von DOC(K)S exemplarisch erläutern. „Bleu Fin“ von G. Richard53 lässt den Leser beobachten, wie der Künstler mit schwarzem Stift in kühnem Schwung ein Gesicht zeichnet. Wie Picasso auf der transparenten Glasscheibe54 scheint Richard höchstpersönlich auf die Innenseite des Monitorglases zu zeichnen. Die Illusion, einer künstlerischen Performance beizuwohnen, wird durch den kleinen Balken mit der Aufschrift „Unregistered HyperCam“ verstärkt, so als sei der Leser unmittelbarer Zeuge des Geschehens. Abbildung 65: Momentaufnahme kurz vor Zerstörung

Quelle: Screenshot aus „Bleu fin“

51 Vgl. insbesondere Akenaton (Hrsg.), „un notre web. poésies en ligne“, in DOC(K)S & CD-Rom, Nr. 21/22/23/24 (Ajaccio 1999), und die Folgenummer: Akenaton (Hg.), „nature: ... de l’imitation au Clone/Age“, in DOC(K)S + DVD ROM, Nr. 34/35/36/37 (Ajaccio 2004/05). 52 http://www.sitec.fr/users/akenatondocks/DOCKS-live_f/index-live_f/Nouveau.html 53 G. Richard, „Bleu fin“, in Akenaton 1999 (CD-ROM). 54 Paul Haesaert, Ein Besuch bei Picasso, Film 16 mm, 20 ½ Min., Paris 1950.

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Begleitet wird dieser Film, der keine echte Interaktion des Benutzers erlaubt und immer gleich abläuft, von einer Stimme aus dem Off, die permanent exaltiert „bleu“ ruft, untermalt von hysterischem Lachen. Höhepunkt dieser Inszenierung ist das Zerstören des Werks durch ekstatisches Verkritzeln. „Collines“55 von Akenaton selbst ist ein weiteres anschauliches digitales Ereignis. Das Abspielen des Films zeigt sofort, dass mit „Collines“ nicht etwa eine Landschaft gemeint ist, sondern ein weiblicher Torso mit einer wollüstig agierenden weiblichen Protagonistin. Akustisch begleitet wird das recht monotone Schauspiel von Maschinengewehrsalven. Dass eine reine pornografische Interpretation ausgeschlossen ist, wird klar, als nacheinander die Einzelwörter „Dien“, „Bien“ und „Phu“ wie Blitzschläge eingeblendet werden. Abbildung 66: Momentaufnahme mit abrupt eingeblendetem Text

Quelle: Screenshot aus „Collines“

Die vorerst kaum miteinander zu vereinbarenden Stränge des visuellen und des auditiven Kanals laufen zusammen, entlarven die Obszönität des sinnlosen und vernichtenden Kriegseinsatzes in Indochina 1954 und durchbrechen so die Mauer der visuellen Abstumpfung beim Anblick von Kriegsbildern. Nicht umsonst gilt das vietnamesische Dien Bien Phu als das französische Stalingrad. Der Stil des französischen Poesie-Magazins LÔÔP56, von dem unter der ISSN 1773-0651 von 2005 bis 2006 drei Nummern erschienen sind, steht ebenfalls der konkreten/visuellen Poesie nahe. Nr. 001 wurde von Eric Serandour selbst herausgegeben, Nr. 002 von Alexandre Gherban, Nr. 003 von dem Austra-

55 Akenaton, „Collines“, in Akenaton 1999 (CD-ROM). 56 http://serandour.com/loop/

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lier Time Gaze. Eric Serandour programmiert seine Werke selbst, meist in Delphi. Es fällt schwer, seine Werke als reine Gedichte anzuerkennen, teilweise enthalten sie gar keinen Text mehr. Der Name der ehemaligen Domain „eNtROPie“ ist Schlagwort und Programm zugleich: Je größer die Entropie als Maß für die Menge an Zufallsinformation, umso ungeordneter erscheint das Werk. LÔÔP Nr. 001 zeigt z.B. beim Klick auf eines der nicht näher bezeichneten Quadrate der Eingangsseite ein Textereignis, bei dessen Start für einen Sekundenbruchteil der Satz „une fourchette s’est dissoute dans le mousse de vaisselle“ erscheint. Abbildung 67: Momentaufnahme der Bildauflösung

Quelle: Screenshot aus „Une fourchette s’est dissoute...“

Sobald der beobachtbare „Spülprozess“ in Gang gesetzt ist, werden die Buchstaben durcheinander gewirbelt und zunehmend verwaschen. Dabei entstehen reizvolle abstrakte Bilder am Bildschirm. Irritierend ist vor allem, dass das Programm nicht durch eine Benutzereingabe wie einen Mausklick oder die EscapeTaste beendbar ist. Der Leser muss sich gedulden und dem Auflösungsprozess der Sprache bis zur völligen Auslöschung alles sichtbaren Materials am Monitor beiwohnen. Als Computerbenutzer muss er sich also erst einmal blind darauf verlassen, dass die ausführbaren Dateien, die er sich von der Website herunterlädt, harmloser Natur sind. Tatsächlich findet sich nach der Installation keine Anleitung, die ihn darauf vorbereiten könnte, was ihn erwartet. Der Klick auf aktivierbare Felder führt in der Regel zum Ablauf eines Programms und beraubt den Leser der Herrschaft über die Maus, die er wie bei „Ceci est une mouche“ gerade einmal kurz oszillierend vom fremden Kurs abweichen lassen kann – eine Entmachtung, die fatal an schädliche Programme wie Viren erinnert. Serandour reiht sich in die

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Phalanx der hardcore-programmierenden Autoren ein. Auf jeden Fall braucht man Geduld und den Willen, sich auf Ungewohntes einzulassen. Entschleunigung ist aber gerade im Internet ein ungewohnter Luxus. Ein Phänomen, das die Türen in eine ganz neue Richtung öffnet, ist „Le poète-rabot“ von Philippe Bootz. Seine Beschreibung macht das Kategorisierungsdilemma deutlich: Durch schnelles Auf- und Niederfahren mit der Maus, dem „Hobeln“, wird der Text gewissermaßen frei gerubbelt, doch das Freilegen zerstört ihn just im Moment des Offenbarens.57 Abbildung 68: Textauflösung durch Benutzeraktion

Quelle: Screenshot aus „Le poète-rabot“58

Das Werk hat einen unernsten Spiel- und Rätselcharakter und erfordert vor allem eine starke physische Aktion, die an die Bewegungen von Spielern an der Spielkonsole Wii erinnert. Als Ausblick: Der technologischen Entwicklung angepasst, befasst sich DO(C)KS 2004/05 ausgiebig mit Video und (Kurz-) Film; dabei wird mehr als eine Gattungsgrenze überschritten; dokumentarische, essayistische, narrative und poetische Ausprägungen halten sich die Waage, die Entfernung zum ursprünglichen Dispositiv des Gedichts wird, durch das Medium potenziert, maximal.

57 Das Werk ist leider nicht zu beschaffen; die Beschreibung stammt von Bootz (2006) selbst. Der Titel ist zugleich eine Anspielung auf Boris Vians Artikel über den „robotpoète“ von 1953. Mehr dazu in Kapitel 8.2.1. 58 http://www.olats.org/livresetudes/basiques/litteraturenumerique/images/rabot20.jpg

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7.6 E INE

POSTMODERNE

N EUAUFLAGE

DER

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L YRIK ?

Das Interesse an den Neuen Medien erweist sich in Frankreich als ambivalent, aber verhältnismäßig groß. Es gab und gibt eine Reihe von Initiativen, die das neue Medium in die etablierte Kunst integrieren wollen – oder, innovativer, die Kunst allgemein ins neue Medium tragen wollen. Auffällig ist, dass zusätzlich zu einem breit geführten Diskurs viele Dichter ihre Werke regelmäßig durch eigene Interpretationen ergänzen, so als gehörten diese schon zum Rezeptionsgegenstand (oder seien notwendig zum Verständnis). Bei aller, typisch postmodernen, Heterogenität findet die innovative MedienPoesie doch zu einem gemeinsamen Nenner, denn sie setzt durchwegs stark auf nicht-textliche Ausdrucksmittel. Angefangen bei der deutlichen Betonung des Visuellen sowie einer gewissen Interaktivität als Bestandteil der produktiven Rezeption bis hin zur Aufwertung bislang unbekannter, gar nicht vorhandener und/oder als irrelevant erachteter Bereiche wie der Algorithmen setzen sie zudem vielfach einen dezidierten Gegenakzent zur Schnelllebigkeit des Internets und zelebrieren die Entschleunigung. Bezeichnend bleibt allerdings, dass das Prädikat „postmodern“ in den einschlägigen Diskursen keine Rolle spielt. Das kommt nicht von ungefähr: Wie die Beispiele aus Kapitel 7.5 zeigen, beruft sich die digitale Poesie dezidiert auf moderne Vorbilder, erscheint als eine ganz „klassische“ visuelle bzw. konkrete Poesie, nur eben mit multimedialen Mitteln, mit dem Ziel, „offene Potentiale der Moderne zu realisieren.“59 Der Bezug zur Postmoderne ergibt sich dann lediglich als Zitat und Querverweis, wobei die ästhetische Differenz zu genuin postmodernen Paradigmen wie dem wertenden Zitat letztlich fehlt. Darf sich die digitale Poesie also gar nicht im Licht einer postmodernen Literatur präsentieren? Konzepte „richtiger“ postmoderner Dichtung zeigen, dass eine postmoderne Anpassung der Gattung möglicherweise Ergebnisse zeitigt, die im Zuge der Auflösung der Grenzen gar nicht mehr als Lyrik aufgefasst werden und das Dispositiv verlassen, etwa in Gestalt von Musik, was den Konservatismus der Form zumindest teilweise erklärt. „Vielleicht ist der Wechsel [in der Lyrik] von der Moderne zur Postmoderne deshalb undurchsichtig, weil er medial unterwandert ist. Der Schritt zur Postmoderne ist möglicherweise (auch) ein Medienwechsel.“60 Und tatsächlich bekräftigte Philippe Castellin in einem Interview mit der Verfasserin: „[...] pour moi ce qui est convenu d’appeler postmodernité correspond au fond largement à l’époque, ultramoderne, de l’expansion

59 Vgl. Penzkofer (2007), S. 11. 60 Ebd., S. 15.

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tous azimuts des nouveaux medias.“61 Zumindest ist die digitale Poesie damit als medienangepasste Literaturform in der Postmoderne legitimiert. Eine spannende Entdeckung ist es, dass sich innerhalb der digitalen Literatur im Vergleich zu den Printgattungen überraschende, autonome Verschiebungen ergeben, aber nach bestimmten Leitlinien und keinesfalls einfach pêle-mêle. Während die digitale Narrativik Requisiten der experimentellen Lyrik wie die Materialität der Typografie und die Räumlichkeit des Textes für sich entdeckt, nähert sich die digitale Lyrik an die sonst eher mit Narrativität assoziierten Filme an. Allerdings ist innerhalb der kinetischen Poesie eine fundamentale paradigmatische Differenzierung erforderlich, denn nicht jede Animation ist identisch mit ihrem Oberflächenphänomen. Während in der visuellen (auch animierten) digitalen Poesie das sichtbare Werk als das primäre ästhetische Objekt betrachtet wird, wird in der Weiterführung der algorithmischen Poesie die unsichtbare Seite der Algorithmen aufgewertet.

61 E-Mail an die Verfasserin vom 02.07.2006.

8 Literatur als algorithmischer Prozess

Die Flüchtigkeit des Werks, mithin seine Prozesshaftigkeit und sein Eventcharakter sind sowohl in der Hyperfiction als auch in der digitalen Poesie recht ausgeprägt (wenn auch in unterschiedlichen Graden) und mit Blick auf die Printliteratur distinktiv. Diese Konzepte sind aber, das Medium macht’s möglich, noch ungemein steigerbar. Einen interessanten Ansatz liefern die algorithmischen Gedicht-Programme von Philippe Bootz, dessen Innovationskraft vor allem in der theoretischen Konzeption seiner Werke zu finden ist; das Nonplusultra einmaliger, flüchtiger Literatur bieten die Textgeneratoren, das sind Programme, die dem Leser einen einmaligen, nur für diesen einen Rezeptionsdurchgang erstellten Text erzeugen. Der Autor schafft in gewisser Weise einen sekundären, künstlichen „Autor“, ein Programm, der wiederum das, was der Leser als „Werk“ empfindet, anhand der ihm eigenen Regeln erst erzeugt – ohne dass der Autor erster Ordnung allzu direkten Einfluss auf das Ergebnis mehr nehmen kann. Dass dieses Konzept unsere Vorstellung von Literatur komplett auf den Kopf stellt, liegt auf der Hand. Zwar sind Beispiele für Textgeneratoren und die Kombinatorik in der französischen Literatur schon seit langem Teil des Kanons. Dennoch muss bei der Übertragung ins digitale Medium ein Paradigmenwechsel mit Blick auf „das Werk“ vollzogen werden, wie eine von Burgaud (2002) berichtete Anekdote zeigt: 1985 erzeugten in der Ausstellung Les immatériaux im Centre Georges Pompidou Gedichtgeneratoren automatisch Gedichte, archiviert wurden dann allerdings nur einige Papier-Ausdrucke erzeugter Beispielgedichte, nicht aber die namensgebenden „immateriellen“ Programme, die sie generiert hatten. Initiiert vom Cci (Centre de Création Industrielle), sollte die Ausstellung den Namen „Nouveaux matériaux de création“ tragen, doch unter dem Einfluss von Jean-François Lyotard als commissaire wurde sie zu einem Manifest der Post-

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moderne.1 Paradoxerweise, denn die französische Sprache unterscheidet besonders sprechend zwischen ‚Hardware’ (matériel) und ihrem nichtmateriellen Gegenstück logiciel2, so dass die Erkenntnis, dass das Zentrale eigentlich der Software gelten sollte, bereits im Titel der Ausstellung vorgegeben gewesen wäre. Es ist generell ein auffallendes Phänomen, dass die Papierversion gegenüber digitalen Werken auch in der Hyperfiction noch höher bewertet wird, zu sehen daran, dass die Print-Veröffentlichung einer Hyperfiction einer Art Ritterschlag des Werks (und des Autors) gleich kommt – auch wenn durch den Medienwechsel zurück ins Printmedium der medienspezifische Reiz und Witz verloren ist. Beispiele für eine solche Fehlbewertung sind Anne-Cécile Brandenbourger, La malédiction du parasol (2000) und Robin Hunzinger, Le Vademecum (2001), im Deutschen auch ähnlich Rainald Götz, Abfall für alle (1999). Der Blick auf die computer- und literaturaffine Szene vor allem der Kaderschmiede des Département Hypermédias der Université de Paris 8 zeigt ein außergewöhnlich hohes Niveau technologischer Kompetenz, und die ist eine essentielle Voraussetzung für eine anspruchsvolle Programmierung, wie sie die algorithmische Literatur darstellt. Tatsächlich sind es die zwei Galionsfiguren Balpe und Bootz des genannten département, die entscheidende Impulse (und mehr noch, ausgefeilte Konzepte und auch Werke) für eine in verschiedenen Graden computergenerierte Literatur vorlegen: Bootz für die digitale Poesie, Balpe für die rein textgenerierte Literatur.

8.1 D IE

ALGORITHMISCHE

P OESIE

DES

P HILIPPE B OOTZ

Will man nun Philippe Bootz, dem Vorreiter der algorithmischen MultimediaDichtung, Glauben schenken, ist alles digitalpoetische Schaffen mit den Konzepten von Hypertext, Interaktivität, Visualität und Kinetik ein digitalisierter Aufguss des längst Dagewesenen. Das wahrhaft Neue, über die räumliche und zeitliche Konstruktion der Zeichen hinaus liefere allein die algorithmische Poesie. Dazu stellt er die Theorie der „transitoires observables“ auf und betrachtet die Lyrik unter dem Aspekt eines prozeduralen Modells als:

1

Vgl. https://www.centrepompidou.fr/cpv/resource/cRyd8q/r6rM4jx

2

Vgl. Burgaud (2002).

8 L ITERATUR

ALS ALGORITHMISCHER

P ROZESS

| 295

[…] form as a specific management in programming of arbitrary aesthetic constraints that are posed by the author in his management of the situation of communication created by the work whatever the surface aesthetics is on screen. 3

Damit beraubt er die algorithmische Poesie erst einmal ihres Objekts – denn was wir gemeinhin als „Gedicht“ erkennen, verliert in der dualen Sichtweise der Algorithmen des Quelltexts und der sichtbaren, flüchtigen Umsetzung seinen Werkcharakter. Erst die konkrete Lektüre verleiht ihm einen beobachtbaren „Körper“, der selbst wiederum flüchtig ist. Dies potenziert die Offenheit der Interpretation eines solchen Gedichts – die Semiose findet ja bei jeder Form von Zeichenentzifferung erst durch die Interpretationsleistung eines Beobachters statt (mit, wie wir wissen, einem individuell offenen Interpretationsergebnis), aber ihr liegt doch stets ein unveränderliches Korpus zugrunde. Philippe Bootz ist ein typischer Vertreter der jungen Generation digitaler Dichter, weist ursprünglich keinen sonderlich literaturaffinen Hintergrund auf. Er hat eine Agregation in Quantenphysik, ist Doktor der Physik und „professeur de communication“, findet 1978 nach einem Selbstmordversuch zur Literatur. Einen Namen hat er sich als Herausgeber des Literaturmagazins alire gemacht, seine Spezialität sind aber vor allem die „poèmes programmés“. Eines seiner bekanntesten Gedichte ist das „poème à lecture unique“ namens „Passage“, hier der Teil „Variation sur la série U“, erschienen in alire Nr. 12.4 Melodisch untermalt, bewegen sich Wort- und Satzteile langsam über den Bildschirm, gruppieren, ja permutieren ihre Bestandteile wie visuelle Wortspiele zu neuen Sinneinheiten. So lassen sich chronologisch auftauchende Buchstaben und Wortteile assoziativ statt linear zu neuen syntaktischen Zusammenhängen gruppieren. Die Abbildung zeigt eine Momentaufnahme, als „le passe“ durch das an die richtige Position schwebende L und ein langsam auftauchendes E zu „elle passe“ oder „elle le passe“ transformiert wird. Akustisch untermalt wird dieses gemächlich fließende Werden und Vergehen durch meditative Musiksequenzen, die (laut Bootz) bei jedem Lektüredurchgang, insbesondere aber von einer Maschine

3

Bootz (2005a). Die „constraints“ sind natürlich die „contraints“ von Oulipo. Die Sprachbarriere stellt nach wie vor eine beträchtliche Restriktion für die internationale Rezeption der französischen Theorien dar, daher beginnen ambitionierte französische Autoren zunehmend, auf Englisch zu publizieren, z.B. Bootz (2005a) oder Burgaud (2002).

4

Bootz (2004).

296 | FRANKOPHONE DIGITALE L ITERATUR

zur anderen, variieren – die kookkurrente Tonillustration eines „passage“, der sich zum „passé“ wandelt. Abbildung 69: Palimpsestische Text-Transformation

Quelle: Screenshot aus „le passe“5

Dem sich phänotypisch wie eben beschriebenen Werk liegen zwei Programme zugrunde: Ein visueller Generator passt die Bewegung an die Rechenleistung des Computers an, ein Soundgenerator sorgt für die jedes Mal neu erstellte Musikuntermalung. Dabei sind die beiden kontinuierlichen Abläufe auf eine recht einfache, aber wirkungsvolle Weise aneinander gekoppelt: Die Musik ändert sich nur mit einer Änderung auf der visuellen Ebene.6 Der Leser hat keine aktive Einflussmöglichkeit auf das Gedicht, er kann es starten und abbrechen und ansonsten aber nur beobachten, was am Bildschirm geschieht. Während die Linearität der Handlung durch seine Eingriffsmöglichkeiten in der Hyperfiction vielfach gebrochen, ja minutiös seziert wird, kultiviert Bootz also das genaue Gegenteil: Der Leser verliert die Kontrolle über die Abläufe auf seinem Computer und muss seine Interaktionshoheit aufgeben. Symptomatisch zeigt sich dies daran, dass der Mauszeiger als direktmanipulative Exekutive im Fenster von „Passage“ nicht angezeigt werden kann, sondern scheinbar dahinter verschwindet. Ein ungeduldiger Maus-Aktivismus, auf den das Internet den Leser förmlich konditioniert, wird bei Bootz in einem Systemfenster frei nach La Fontaine mahnend gerügt: „patience et longueur de temps / font plus que clic ni que hâte“. Die Computermaus nehme sich „le rat“ aus der Fabel zum Vorbild. Die wohl ir-

5

„Passage. La série des U“ (CD-ROM).

6

Vgl. Bootz (2006).

8 L ITERATUR

ALS ALGORITHMISCHER

P ROZESS

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ritierendste Erfahrung bei der Rezeption des Gedichtes ist der Zwang, die ungewohnte Entschleunigung hinzunehmen. In einem Interview betont Bootz die Bedeutung der Langsamkeit in der postmodernen Zeit: „Je crois que c’est un défi de notre époque: refuser d’aller vite.“7 Damit scheint hier ein betonter Gegensatz zum Konzept des Werks in der Hyperfiction auf: Wo der Leser dort an der Konstruktion der Geschichte mitarbeiten kann und durch seine Aktionen ein „dreidimensionales“ Werk entstehen lässt, übernimmt in Bootz’ Philosophie diesen Part das Werk selbst, bzw. die Parameter, die als Weichen für die konkrete Umsetzung des Ergebnisses sorgen; denn auch hier entfaltet das Werk sein Wesen erst im Ablauf. Was das Inventar von Ausdrucksmitteln betrifft, wird die Materialität des Zeichens auch im informatischen Gedicht stark betont. Bei Bootz bilden Text als Symbolsystem und Zeichenmaterial, Fläche und (leerer) Raum als konstitutive Elemente des Textes, seine Räumlichkeit und Zeitlichkeit, die Farbgestaltung sowie gesprochene Sprache und Musik ein kompositorisches Ganzes, aus dem sich in crossmedialen Überblendungen allmählich sinnhafte Sentenzen entwickeln. Damit scheint sich die algorithmische Poesie kaum von den „Filmen“ der digitalen visuellen Dichtung und Performance-Kunst etwa bei DOC(K)S zu unterscheiden. Diese Gemeinsamkeit ist aber nur oberflächlicher Natur, die dahinter stehende Logik eröffnet der algorithmischen Poesie tatsächlich eine neue Dimension. Für den inszenatorischen Ablauf der temporären, sichtbaren Prozesse sind Regeln verantwortlich, die offenen, vom Benutzer nicht steuerbaren Parametern gehorchen. Das Gedicht erscheint im Gewand eines Multimedia-Films, wobei im Unterschied zum gewöhnlichen Videoclip das zeitliche und räumliche Verhalten bei jedem Lektüredurchgang (leicht) variiert. Die Pluralität dieser Abläufe wird bei Bootz durch interdependente und von äußeren Faktoren wie Hardwarevoraussetzungen abhängende Systemparameter automatisch generiert, wie die in Echtzeit erzeugte und geschnittene Musik im oben beschriebenen Beispiel „Variation sur la série des U“. Der Leser/Zuhörer wird dennoch aufgrund einer die Generatoren steuernden Metalogik den Eindruck haben, dass Musik und Animation speziell aufeinander abgestimmt sind.8 Damit ist der Autor nicht mehr allein für die Gestalt seines Werks verantwortlich. Noch eine Stufe konsequenter als im Hypertext, in dem er selbst noch alle Knoten im Rhizom des Hypertextes generiert, liefert er hier nur einen be-

7

Sablon (2001).

8

Vgl. Bootz (2005a).

298 | FRANKOPHONE DIGITALE L ITERATUR

stimmten Rahmen, der innerhalb der Vorgaben frei gefüllt werden kann und damit einen „virtuellen“ Text im Sinne Lévys erzeugt. Es handelt sich also um eine création créante mit offenen Parametern, die sich zugleich vorhersehbar und nicht vorhersehbar erschafft. Deutlicher sichtbar als bei „Passage“ wird dieser Wunsch in Simulation (2005). Abbildung 70: Verschiedene Phänotexte je nach Rechnerleistung

Quelle: Screenshot aus „Simulation“9

Wie die Abbildung zeigt, führt ein und derselbe Programmcode zu verschiedenen phänotypischen Repräsentationen; allerdings handelt es sich, wie der Name schon sagt, um eine Simulation: Während ein Programmablauf die individuellen Parameter der Programmumgebung einkalkuliert, wird im zweiten Fenster ein langsamer Rechner simuliert. Damit ist „Simulation“ schlicht und einfach eine Illustration für Bootz’ ästhetisches Konzept, das ja aus „Passage“ selbst nicht völlig eindeutig heraustritt. Eine wesentliche Prämisse für die innovatorische Kraft der algorithmischen Poesie ist die Auffächerung des Textes in zwei Facetten, in den Autorentext und die Potentialität der Konkretisierung, der sichtbaren Repräsentation. Während Barthes auf die Relativierung des Autors verweist, da kein Autor die potentiellen Bedeutungen seines Werkes beim Leser absehen kann, bleibt in der traditionellen Literatur doch zumindest das Werk als eine feste, objektive Größe bestehen. Bei Bootz ist im Unterschied dazu durch die Dualität der komplementären, generativen Textzustände nur der Autorentext unveränderlich. Der Fokus liegt also

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http://www.olats.org/livresetudes/basiques/litteraturenumerique/images/bootz_ simulation.jpg

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nicht auf dem Ergebnis, dem sichtbaren Werk, denn dies ist ja nur das Nebenprodukt eines „transitoire observable”,10 sondern auf dem Funktionieren des Programms. Will man das Werk in seiner textlichen Bipolarität wirklich erfassen, müsste man, in einer Analogie zur semiotischen Thirdness, zu den beiden Instanzen des fixen Autoren- und des variablen Lesertexts die Sicht eines Meta-Reader einnehmen, wie Bootz (2005a) ihn nennt. Gemeint ist eine Superinstanz, die Zugang zu allen Repräsentationsformen des Gedichtprogramms hat, also die Autorensicht einnimmt und den unveröffentlichten Quelltext sowie die Logik der Algorithmen kennt, und zugleich auch die konkreten, vom Leser in Unkenntnis der Zusammenhänge ausgelösten und für den Autor selbst unvorhersehbaren Ausprägungen würdigt. Darin vereint er die wirkungsästhetische Vorstellung Isers vom impliziten Leser (den er nicht zu kennen scheint) mit dem idealen Autor in einer Instanz. Dass aber ein solcher Meta-Reader utopisch bleiben muss, liegt auf der Hand: Den Quellcode kennt nur Bootz selbst, und in einem Interview mit der Verfasserin zeigte er sich geradezu entsetzt ob der Vorstellung, ihn der Leserschaft zugänglich zu machen. Es hat also doch System bei Bootz, dem Leser das tiefere Verständnis seiner Gedichtprogramme letztlich zu verwehren: Je vise à perturber le lecteur, à faire en sorte que sa lecture influe sur l’œuvre, et modifie le texte sans qu’il en ait lui-même conscience.11

Das sagt er, und das tut er auch. Dem Leser kommt dabei nur die Rolle einer Funktion des Programms zu: „le lecteur est considéré comme une composante du dispositif technique du poème“.12 Auch wenn der Algorithmus den Benutzer benötigt, um in Gang gesetzt zu werden, und, wie Bootz in zahlreichen Eigeninterpretationen seinen Werke darlegt, der Leser in verschiedener Weise unbewusst als Parameter für die sichtbare Ausprägung fungiert, genügt im Grund das ästhetische Gesamtereignis sich selbst. Dies gemahnt an eine Neuauflage hermetischer Literatur, wie Penzkofer (2007)13 feststellt. Letztlich interpretieren kann seine Gedichte nur Bootz selbst, da nur ihm alle Daten vorliegen. Er tut dies ausführlich und erinnert darin an Schiavetta, dessen Interpretation gleich als Bestandteil des Gedichts mitgeliefert wird.

10 Vgl. Gherban & Papp (2003). 11 Vgl. Sablon (2001). 12 Bootz und Papp, zitiert nach d’Atabekian (o. Jahr). 13 Vgl. Penzkofer (2007), S. 15.

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Die algorithmische Poesie des Philippe Bootz existiert in mehrfacher Doppelung: Programm und Daten sowie der physische Laufprozess sind zwei verschiedene, aber komplementäre Teile des Werks. Dem Autor (Programmierer) ist ein anderer Text zugeordnet als dem Leser, ein Unterschied, der beim normalen Buchlesen nur nicht zum Tragen kommt. Der Text des Lesers ist als eine Funktion des Autorentexts das veränderliche Element, der beobachtbare Textzustand wird aus dem unsichtbaren erzeugt. Das multimediale Ereignis, das an die Oberfläche tritt, ist dabei nur ein „transitoire observable“, kein „Werk“ im landläufigen Sinn, sondern entsteht als Ablauf, als Ereignis, wenn das Programm das macht, was seine raison d’être ist: ausgeführt werden. Das Verhältnis zwischen Autorentext und seiner Konkretisierung entspricht dem von Syndrom zu Symptom. Dabei sind die Konkretisierungen potentiell polymorph, abhängig von externen Parametern wie der Hardware-Ausstattung des abspielenden Computers. Bootz sieht den ultimativen Mehrwert der (zukünftigen) digitalen Poesie also in einer Kombination aus autorendefinierten Regeln, die aus offenen Parametern nicht vorhersehbare Phänomene erzeugen. Dies ist in einem gewissen Rahmen bereits Realität, wenn auch nicht in der nachprüfbaren Prägnanz, die man aus den Eigeninterpretationen erwarten könnte. Einen veranschaulichenden Versuch unternimmt immerhin, wie gezeigt, „Simulation“. Noch steht diese Entwicklung erst am Anfang. Die Vision geht dahin, einen emanzipiert agierenden Computer aus einem algorithmischen Vorgabenrahmen eine happeningartige, ästhetische „Lektüre“ des Imprévu erzeugen zu lassen.

8.2 J EAN -P IERRE B ALPE UND DIE COMPUTERGENERIERTE

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Einem spezifischen Gebrauch des Computermediums nicht nur bei der Wiedergabe verdanken sich die computergenerierten Texte, denn hier schreibt der menschliche Autor ein Programm, das über verschiedene Algorithmen eine jeweils einmalige Bildschirmansicht des Werks erzeugt. Hierin übertreffen die Textgeneratoren die Flüchtigkeit und die Einmaligkeit des Phänotexts in der Hyperfiction. Eigentlich sind die Textgeneratoren ein Grenzfall der digitalen Literatur, da sie nur indirekt von menschlicher Kreativität zeugen und ihre Originalität nur mittelbar auf den Menschen zurückgeht. Da sie aber insbesondere in Frankreich eine besondere Kultur genießen und dort aus der digitalen Literatur nicht wegzudenken sind, sollen sie dennoch nach innen abschließend und nach außen Ausblicke eröffnend in die Betrachtung mit einbezogen werden.

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8.2.1 Künstliche Intelligenz (KI) und Textgeneratoren Der menschengeschaffene Kunstmensch ist ein Topos, bei dem Literatur und (fiktionale) Wissenschaft seit dem 19. Jahrhundert zur Science Fiction zusammentreffen. Wissenschaftlich relevant wird er als Teilbereich der Informatik in der KI, insbesondere der Weak Artificial Intelligence, die sich mit der Simulation menschlicher Intelligenz (anhand intelligenten Verhaltens) mittels Algorithmen befasst.14 Zum Nachweis intelligenten Verhaltens muss eine Maschine den Turing-Test bestehen, den der Informatik-Pionier Alan Turing 1950 vorgeschlagen hat, um die Frage „Can machines think?“ zu beantworten. Bei dem Test, einem „imitation game“, soll ein Testkandidat durch gezielte Fragestellung über eine anonymisierte Schnittstelle herausfinden, welcher seiner beiden Gesprächspartner der Mensch und welcher die intelligente Maschine ist, damals bereits ein „digital computer“.15 Den Test in dieser strengen Form hat bisher noch kein KISystem bestanden. Eine der Königsdiziplinen der KI ist das schöpferische Schreiben, denn, wie es Selmer Bringsjord 1998 plakativ formuliert, „Chess is too easy“. Als Paradedisziplin menschlicher Intelligenz gilt schließlich die menschliche Sprachfähigkeit, die aufgrund ihrer pragmatischen Flexibilität dem Gebilde menschlicher Sprache ästhetischen Mehrwert abgewinnen kann. Daher bescheidet Turing (1950) dem Computer, „We do not wish to penalise the machine for its inability to shine in beauty competitions“ und erklärt für den Turing-Test: „the interrogator cannot demand practical demonstrations“. Aber schon 1952 erweist sich Turing auch als einer der Vorväter der computergenerierten Texte, gar einer solchen Lyrik. Er benutzte mit Christopher Strachey den Computer der University of Manchester, The Blue Pig, dazu, Liebesbriefe in einer etwas holprigen, aber bildreichen Gedichtform zu generieren. Weltbekannt geworden ist der folgende Computer-Output: Darling Sweetheart, You are my avid fellow feeling. My affection curiously clings to your passionate wish. My liking yearns to your heart. You are my wistful sympathy: my tender liking. Yours beautifully, MUC16

14 Im Gegensatz dazu steht die „starke künstliche Intelligenz“, die eine Nachahmung menschlicher Intelligenz einschließlich eines Bewusstseins und Emotionen anstrebt. 15 Turing (1950), S. 433 ff. 16 Hodges (1992), S. 478. „MUC“ steht für „Manchester University Computer.“

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In genau dieser Zeit, 1953, schlägt ein Artikel von Boris Vian Wellen, der das Thema im Grund nur oberflächlich tangiert, doch das Wort wird geflügelt: „Un robot-poète ne nous fait pas peur“ (S. 220). Natürlich war es nur eine Frage der Zeit (und des Fortschritts der Hard- und Softwareentwicklung), bis auch längere narrativisch angelegte Projekte in Angriff genommen wurden. 1991 war es mit Brutus.1 soweit: Der bekannteste story generator für kreatives Schreiben von Selmer Bringsjord am Rensselaer Polytechnic Institute in Troy (NY) sorgte für viel Aufsehen – kratzen Textgeneratoren doch ontologisch am Selbstverständnis des Menschen als Wesen mit der höchstentwickelten Intelligenz.17 Die Erzeugung grammatikalisch korrekter Syntax ist an sich schon nicht trivial, wenn man einen stereotypen Subjekt-Prädikat-Objekt-Stil vermeiden will, für ganze Texte müssen aber satzübergreifend Kohärenz erzeugende und makrostrukturell wirkende Verfahren eingesetzt werden. Dies setzt eine Analyse und Modellierung narrativer Funktionen voraus, die in maschinenverständlicher Form aufbereitet sein müssen. Überraschenderweise kommt der Literatur erwartende Leser recht gut mit computergenerierten Texten aus – sie profitieren von der Selbstreferentialität der Literatur, denn so können selbst offensichtliche Lücken noch semantisiert und assoziativ „weich“ geschlossen werden. Texte mit einem referentiellen Bezug sind dagegen auf einer objektiven Ebene nachprüfbar. Eine ähnliche Eigenheit computergenerierter Texte zeigt das einfache Dialogsystem ELIZA, 1966 von Joseph Weizenbaum 1966 vorgestellt, das als erster Chatterbot einen enormen Erfolg erfahren hat: Die Simulation menschlicher Intelligenz kann durchaus von der Projektion des Testkandidaten leben. ELIZA macht sich das simple Frage-Schema der psychiatrischen Praxis zunutze, in der die Person des Therapeuten völlig in den Hintergrund tritt und den Patienten (vermeintlich besonders teilnahmsvoll) zum Reden animiert. Typische Dialogmuster sind daher das triggernde Wiederholen einer Äußerung als Frage und ein einfaches assoziatives Schema, wie z.B. die Relationen broader term – narrower term. „Es ist die Interpretation des Spielers, [die] die Bedeutung schafft“, so

17 2005 ging der Fall der drei Studenten Jeremy Stribling, Daniel Aguayo und Maxwell Krohn weltweit durch die Medien, die für die Fachtagung World Multiconference on Systemics, Cybernetics and Informatics (WMSCI) ein computergeneriertes Paper mit dem Titel „Rooter: A Methodology for the Typical Unification of Access Points and Redundancy“ einreichten und damit zum Vortrag eingeladen wurden. Sie hatten den Text mit dem Generator SCIgen erstellt und gaben vor, die laxen Kontrollbedingungen der Tagung anprangern zu wollen.

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Weizenbaum,18 denn ein Sinn ist dem phänotypisch erscheinenden Text von keiner bedeutungstransportierenden Instanz eingeschrieben. Eins zeigt auch dieses Experiment: Die Grenzen zwischen Fiktionalität und Referentialität sind bei den computergenerierten Texten (im Fall von ELIZA insbesondere durch die Interaktion bedingt) nicht so eindeutig festzumachen, wie man das von Texten sonst gewohnt ist. Wissen und Akzeptanz spielen im Hinblick auf die Charakteristik des Gegenübers eine wichtige Rolle. Als Modell eines echten, turing-test-ähnlichen Mensch-Maschine-Dialogs ist der Situation stets ein gewisser Aspekt der Fiktionalität zu eigen – wenn sich der Benutzer seines Gegenübers als Software bewusst ist und dennoch mit ihr wie mit einem menschlichen Gesprächspartner kommuniziert. Dann begibt er sich wissentlich in die Fiktion. Glaubt er dagegen, ein anonymer menschlicher Therapeut tippe ihm die Antworten zu, dann spiegelt dies das Verständnis einer referentiellen Situation, einer „echten“ Sitzung beim Psychotherapeuten, wider und der Benutzer wird sich der Fiktionalität selbst nicht bewusst. Diese offenbart sich nur dem außenstehenden Beobachter.19 Ein bekanntes deutschsprachiges Projekt mag einen ersten Einblick in die Performanz von Textgeneratoren geben: Hartmut Landwehrs Die Dadamaschine. Dadadata – die transelektrischen Verse20 bot dem Leser an, per Knopfdruck zehn Sätze in Dadamanier zu kreieren. Das Zufallsprogramm generierte laut Autor „völlig neue Satzkonstellationen und bisher nicht benutzte Redewendungen“. Landwehr griff dabei auf eine Datenbank von Wörtern zurück, die jedes Mal neu kombiniert wurden. Tatsächlich kamen dabei dadaistische Sätze heraus, beispielsweise: „Das Betreuende ist sukzessiv polyphon“. Landwehr gelang so mit seiner Maschine eine gut gemeinte Persiflage auf die Produktion von Literatur. Allerdings schien der Algorithmus zur Erzeugung der Dada-Texte recht einfach zu sein, wie einige wenige Wiederholungen zeigten. Aus den recht stereotypen Texten ließ sich rasch das Produktionsschema ablesen, eine stets gleiche Struktur, die willkürlich mit Wörtern bestimmter Wortarten gefüllt wird. Die Generatoren Balpes sind unverhältnismäßig fortgeschrittener; mehr zu seinen Werken im folgenden Kapitel.

18 Zitiert nach Leßmöllmann (2003). 19 Im Internet finden sich einige Online-Versionen von ELIZA, die aber im Test enttäuschend ausfallen. Kleine Tippfehler hebeln die Antworten des Programms sehr schnell aus, sinnvolle Dialoge entspinnen sich kaum einmal, so dass man gar nicht in die Nähe eines bestandenen Turing-Tests gerät. 20 http://www.hsl.com/dada/ (nicht mehr verfügbar; zuletzt: 03.08.2006)

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Textgeneratoren stellen einen Grenzbereich zwischen Literatur dar. Sie sind durch Computerprogramme ausgeführte Prozesse, deren Output, also das Ergebnis der Operation, als literarischer Text verstanden sein will. Eine tiefgreifende Veränderung ist daher die Rolle des Produzenten: Sender in dieser Kommunikationssituation ist zum einen der Autor als Urheber des Algorithmus, zum anderen aber (und letztlich verantwortlich für die konkrete Besetzung der Parameter) auch der algorithmische Schöpfungsprozess selbst, der Algorithmus „in Aktion“. Der menschliche Autor ist daher nur indirekt, in zweiter Instanz, für das, was als Werk wahrgenommen werden kann, verantwortlich. Dies erfordert eine Verschiebung der Fokussierung: Wo in der traditionellen Literatur das fixierte Endergebnis als Gegenstand der literaturwissenschaftlichen Betrachtung dient, ist das eigentlich Innovative an den Textgeneratoren ihre Prozessualität, ihr Ereignischarakter. Dies erscheint einleuchtend, will man nicht anthropomorphisierend die literarische „Kreativität“ eines Computerprogramms bewerten. Anders als bei Hypertext und Multimedia ist bei den Textgeneratoren offen, welches Oberflächenphänomen (Text, Verlinkung) sich dem Betrachter darbieten wird. Jeder angezeigte Text ist, und das spricht für die Qualität der Programmierer, absolut einmalig und unverwechselbar. Hierin unterscheiden sich sowohl Hyperfiction als auch digitale Poesie grundlegend von den Textgeneratoren: Hyperfiction gestattet dem Leser zwar ebenfalls eine gewisse Freiheit der Interaktion und wäre ohne diese um eine Dimension ärmer, doch die individuellen Änderungen des Korpus betreffen aus dieser Perspektive „nur“ ein Neuarrangement fertiger Einzelelemente. Der Genotext, eine feste Zahl vom Autor fertig verfasster Texte, wird anhand von festgelegten Verknüpfungsregeln durch den Leser zum Phänotext zusammengesetzt. Die Aleatorik liegt in der Unvorhersehbarkeit dieser Reihenfolge, die aber in der Regel auf eine bestimmte Zahl der Möglichkeiten begrenzt ist. Bei algorithmischer Literatur ist der Genotext eine als Code existierende Handlungsanweisung, die ihre Parameter je nach Vorgabe durch einen Zufallsgenerator aleatorisch, aber selbstständig füllt und daher selbst für den Autor zu letztlich unvorhersehbaren Ereignissen führt. Die algorithmische Poesie des Philippe Bootz geht zwar in diese Richtung, aber nicht durch die Veränderung des Textkorpus, sondern durch eine beabsichtigte Veränderung des Arrangements von Ton und Bild. Das Prinzip der Aleatorik gewinnt daher in den Textgeneratoren eine beherrschende Rolle, konsequent wie nie zuvor. Bei den Textgeneratoren geht dies soweit, dass jede Ausführung des Codes zu einem anderen Ergebnis führt, die untereinander äußerst heterogen ausfallen. In den meisten Fällen, von Java-

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Script-Befehlen einmal abgesehen, ist der Quellcode dieser Computeralgorithmen dem Leser unzugänglich. Wo das Interesse Bringsjords der Imitation kognitiver durch elektronische Algorithmen gilt und sich der Aufgabe einer kohärenten Geschichte als anspruchsvoller Messlatte bedient (abgesehen davon, dass die Qualität der von Brutus.1 generierten Werke durchaus diskussionswürdig ist), verbindet JeanPierre Balpe literarische Ambitionen mit seinen Textgeneratoren. Auch er wird als einer der wenigen Autoren digitaler Literatur des 21. Jahrhunderts bei der BnF geführt, wenn auch nicht als Autor; die Anerkennung als „Author of generated fiction“ zollt ihm dafür aus den Vereinigten Staaten das internationale Electronic Literature Directory. 8.2.2 Die Vermischung von Hypertext, Textgeneratoren & Blogs Jean-Pierre Balpe genießt ein außerordentliches Ansehen, sowohl im akademischen Diskurs (er war von 1990 bis 2005 Professor an der Université de Paris VIII und hat dort das département hypermédia geleitet), als auch in Bezug auf die Qualität seiner eigenen Werke, die von einer überbordenden Kreativität sind, immer auf der Höhe der Zeit und immer technisch ausgefeilt. Ein über das Hyperfictionkonzept hinausreichendes Werk war Trajectoires, das Balpe im Jahr 2000 zusammen mit dem Team @graphe.org realisiert hat und das im gleichen Jahr mit dem „prix multimédia de la fondation Hachette“ ausgezeichnet worden ist. Leider ist das eigentliche Werk nicht mehr online; durch die im Hintergrund auf dem Server laufenden Programme zur Textgeneration war es auch nicht möglich, eine lokale Arbeitskopie des Werks zu erstellen. Aufgrund seines einmaligen, innovativen Ansatzes (und seiner außerordentlichen Qualität) wird das Werk trotzdem kurz in die Betrachtung aufgenommen. Trajectoires21 (2000) bezeichnete sich als einen „roman policier interactif et génératif“, der eine reiche Fülle von Bildern, Animationen und Ton sowie interaktiven Elementen mit Erzähltexten und lyrischen Texten durch ProgrammAlgorithmen zu einem dynamischen Ganzen synthetisiert. Dies geschah in Echtzeit während der Lektüre, war nicht gespeichert und nicht wiederholbar. Jede, wirklich jede Seite wurde ad hoc generiert und war damit einmalig. Selbst ein Reload lieferte bei gleicher URL eine völlig neue Seite. Dadurch wurde der Moment betont, in dem das Phänomen sichtbar, präsent und „da“ war: Er war einzigartig und gehörte allein dem einen Leser.

21 http://trajectoires.univ-paris8.fr/

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Abbildung 71: Eingangsbildschirm von Trajectoires

Quelle: Screenshot aus Trajectoires

Trajectoires hat zum ersten Mal Textgeneratoren ins Internet übertragen. Dabei ist Hypertext kein besonderes Steckenpferd von Balpe, es ist nur eine von vielen nutzbaren technischen Möglichkeiten. Mit Algorithmen (d.h. die automatische Generativität von Texten), Hypertext und Multimedia vereint Trajectoires mehr medienspezifische Mittel als alle anderen digitalen Werke. Waren Benutzerintervention und der Zufall des computergenerierten Texts stets variable Größen, verfügte Trajectoires auch über strukturierende Fixpunkte, hier war das die Makrostruktur, eine Fabel, die im Vorwort verraten wurde: Ausgehend von einer immer gleichen Anfangssituation – ab dem 1. August 2009 werden 24 Personen im Gâtinais von einem anonymen Denunzianten per E-Mail erst mit dem Tode bedroht und erleiden dann immer schlimmere Unfälle – bot Trajectoires eine Geschichte schier unendlicher Möglichkeiten, deren Verlauf erst durch die Aktivitäten des Lesers Gestalt annahm. Bis zum 24. Oktober musste das Rätsel gelöst sein. Dabei stellte sich rasch heraus, dass ein enger Bezug zwischen dem Terror, der durch diese E-Mails ausgeübt wird, und der Terreur des Jahres 1793 besteht. Wo im normalen Krimi-Raster ein Verbrechen die Moral- und Sicherheitsvorstellung der Gesellschaft erschüttert und sukzessive und rückblickend aufgeklärt, rekonstruiert wird, ist das Verbrechen in Trajectoires noch gar nicht passiert. Durch extensives Lesen und Navigieren soll der Leser als Detektiv in der Lage sein, das Massaker am 24. Oktober zu verhindern. Eine zahllose Menge von Indizien präsentiert sich ihm, und wie im echten Leben muss er entscheiden,

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welche relevant sind. Auch viele Nebenfiguren sind vorgesehen, eine dieser Figuren ist der Leser selbst, denn er kann sogar E-Mails von den Textgeneratoren erhalten. Balpe will zeigen: „Le lecteur —individuel ou collectif— n’est plus externe à la fiction, il en est un élément essentiel.“22 Es gab eine feste Struktur von 96 Seiten, die variabel gefüllt werden konnten; der Leser konnte zudem frei navigieren, hatte die Wahl zwischen dem Klick auf Kalender, Uhrzeit, die Buchstaben des Worts „trajectoires“, etc. Eine Seite setzte sich aus einem festen Titel, einem von Menschen verfassten Text, einem visuellen Element (statisch oder animiert), und einem generierten Text zusammen. Auch eine Hilfe war natürlich dabei. Die Buchstaben von „trajectoires“ verlinkten aber nicht wie sonst unzweideutig, sondern nach einer aleatorischen Logik. Die erzeugten Texte waren von hervorragender Qualität und stilistischer Vielfalt, so dass ihr „origine informatique“ aus ihnen eigentlich nicht zu erkennen war.23 Von Anfang an wies Trajectoires aber den Leser auf seine Entstehungsbesonderheit hin, indem es bekannte, das Produkt eines „écrivain automatique“ zu sein. Die Anspielung auf die écriture automatique ist offensichtlich und gewollt. Den Leser nicht im Unklaren zu lassen, war natürlich im Einklang mit dem ästhetischen Interesse des Werks: Es ging ihm nicht darum, den Leser durch eine besonders überlegene KI-Umsetzung zu täuschen, sondern um ein ästhetisches, einmaliges Erlebnis ganz eigener Art; zu dessen Verständnis muss der Leser um die Generiertheit wissen. Erst das volle Bewusstsein des Lesers, dass die Fiktion der Trajectoires letzlich selbst eine Fiktion ist, ermöglicht den Pakt zwischen ihm und dem „Autor“ des Werks, der die besondere Ästhetik des Werks anerkennt. Ähnlich ist das kombinierte Projekt aus Hypertext und Installation FICTION (fictions), das Balpe 2004 für die Maison des Cultures populaires de Montreuil mitgestaltet hat. Dabei handelt es sich um einen „roman interactif et génératif hypermedia“, der Webcams integriert.24 Auch FICTION (fictions) ist nicht mehr online. Nachdem er an einer Reihe von multimodalen und interaktiven Installationen mit Projektionen seiner generierten Texte mitgewirkt hat wie z.B. Labylogue (2000)25 und MeTapolis (2002), und 2001 das Genre ‚Briefroman’ mit seinem mail-roman Rien n’est sans dire26 aktualisierte, hat sich Balpe bislang zuletzt auf Blogs spezialisiert, die er ästhetisch als Trägermedium seiner Werke

22 http://www.ciren.org/ciren/colloques/061200/balpe-ri.html 23 http://trajectoires.univ-paris8.fr/traj.html 24 http://fiction.maisonpop.fr 25 Mehr dazu vgl. http://www.benayoun.com/Labylogb.html 26 Vgl. http://www.ciren.org/ciren/productions/mail-roman/

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einsetzt. Blogs, die in Frankreich ja ganz außerordentlich florieren, folgen der Logik von Tagebucheinträgen (Blog ist ja die Kurzform von Weblog), die einzelnen Einheiten sind jeweils chronologisch sortiert, der neueste Eintrag steht an erster Position; ein Zugriff auf Archive ist möglich. Ein Eintrag kann neben Text auch Fotos, Abbildungen, Musik- oder Videosequenzen beinhalten. Für dieses Medium ist ab 2005 die tatsächlich so bezeichnete „Hyperfiction“ La disparition du Général Proust27 entstanden, die, ganz im Sinne von Web 2.0, die Konzepte des Bloggens und des kollaborativen Schreibens vereint: Der Starttext „Lettre-Néant“ war zuerst auf den Seiten von Libération erschienen. 17 verschiedene Blogs (darunter z.B. Ganançay,28 Romans,29 Le journal de Charlus30) haben sich im Lauf der Zeit an dem Projekt beteiligt. Das Werk ist auf verschiedene, voneinander unabhängige Blogs und Communities verteilt, die im Rahmen des Projekts aufeinander verweisen; nicht alle aber erklären das literarische Experiment, so dass vom Surfer im Web, der zufällig darüber stolpert, aber auch vom gezielten Besucher einiges abverlangt wird. Die Erzähllinien verlaufen unabhängig voneinander, können sich durchaus gegeneinander entwickeln; immer wieder finden sich metafiktionale Überkreuzungen, beispielsweise lesen die Figuren jeweils in den anderen Blogs, kommen immer wieder auch Balpe und Marc Hodges selbst vor. 31 Durch die heterogenen Fortschreibungen sind die Schwerpunkte, Figuren, auch der Tonfall jeweils sehr verschieden. So ist in dem namensgebenden Blog La disparition du Général Proust jeweils ein Zitat von Marcel Proust oder Racine der intertextuell-assoziative Auslöser für den Eintrag, während beispielsweise die Sequenz „Albertine revient“32 um die Kommissarin Albertine Mollet Texte in kohärenter Erzählweise erscheint. Die Dynamik der Erstellung wird durch ihre mehrfache Medienspezifik potenziert. Anstelle einer fragmentierten Präsentation in Form von Hypertextknoten wird die Zertrümmerung der Geschichte in Fragmente durch die Blogs, und hier wiederum durch die einzelnen Einträge geschaffen. Die damit verbundenen Erwartungen werden von Balpe auf der Seite http://www.blogg.org/blog22481-billet-l_hyperfiction_-265025.html beschrieben: „Cet ensemble constitue

27 http://generalproust.oldiblog.com/ (nicht mehr verfügbar; zuletzt: 06.02.2010); mehr dazu vgl. http://nt2.uqam.ca/fr/repertoire/la-disparition-du-general-proust 28 http://ganancay.livejournal.com/ 29 http://romans.over-blog.com/ 30 http://www.bloghotel.org/journaldecharlus/ 31 http://hyperfiction.canalblog.com/tag/Balpe bzw. http://hyperfiction.canalblog.com/ tag/Marc%20Hodges 32 http://hyperfiction.canalblog.com/

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un jeu de renvois, de reprises en miroir, de variations définissant une approche inédite de l’écrit littéraire.“ Aus dieser und vielen anderen Äußerungen scheint auf, dass es nicht in erster Linie um die Geschichte geht, sondern um das hypertextuell-verteilte Literaturexperiment. Dass dies in intertextueller Anlehnung an eine Ikone französischer Literatur geschieht, entspringt natürlich einer nicht geringen Respektlosigkeit und ironischem Selbstbewusstsein. Ein Teil des Projekts La disparition du Général Proust ist Balpes Fotoroman IMC 25.33 Das Konzept des literarischen Blogs wird in diesem photo-roman in modifizierter Weise umgesetzt. Alle Einträge stammen vom 01.01.2007 und wurden zwischen 00:00 und 11:33 gepostet, einer pro Minute, eigenartigerweise von Marc Hodges, so dass sich ein leiser Verdacht an der Identität Balpes und Hodges regen mag. Die chronologischen Einträge sind bei IMC 25 keine Texte, sondern Bilder, deren Machart die eigentliche Innovation darstellt: Abbildung 72: Blogeintrag aus Bild und Text

Quelle: Screenshot-Ausschnitt aus dem Blog Photo-roman34

Auf ein Foto wird ein grafisch aufbereiteter Text aufgebracht, der mit Balpes Textgenerator Vies erzeugt wurde,35 im Quelltext skizzieren die keywords für die Suchmaschinen stichwortartig das Programm des Projekts: „roman-photo littérature photographie art Balpe Frespech“. Die meisten Fotos stammen von Balpe selbst, der Fotograf Nicolas Frespech wird aber als Mit-Urheber genannt.

33 http://photoroman.canalblog.com/ 34 http://p1.storage.canalblog.com/19/08/234635/23712095_p.jpg 35 Vgl. http://www.blogg.org/blog-22481-themes-hyperfictions-41332.html

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Die Überschrift des Eintrags und der Text auf dem Bild bilden meistens eine syntaktische Einheit, z.B. um 10:36: „l’enquêteur découvre“ (Titel) – „entre les protagonistes de ce récit des réseaux de liens“ (Bildtext). Nebenbei ist dieser Satz auch programmatisch für die semantische Vernetztheit der an sich chronologisch-linearen Einträge nach ihren Schlagwörtern. Andere Einträge spielen fiktional mit echten Namen, z.B. lautet die Überschrift des Eintrags vom 01.01.2007, 00:18 „dénonciation anonyme“ und der Bildtext „Gilles Gambler [ein fiktiver Name] couche avec Marc Hodges [der den Eintrag gepostet hat]“. Jedem Eintrag werden Schlagworte zugewiesen, die dann für eine Informationssuche zur Verfügung stehen. Je nach Beliebtheit werden diese Suchworte in der Tag-Wolke (tag cloud) größer angezeigt. Hier finden sich neben real existierenden Personen wie der mexikanischen Sängerin Lila Downs und dem polnischen Rennfahrer Edward Jancarz (hier genannt Edwarda Jancarza) auch fiktive Figuren, z.B. entstammen Charlotte Pitt und Isadora Underhill den historischen Krimibestsellern von Anne Perry. Interessant ist der Effekt der verteilten, aber zusammengehörigen Informationen auf verschiedene Trägermedien, sprich Webseiten. Nicht nur reale Personen werden fiktional einbezogen, sondern fiktive Gestalten gewinnen im Virtuellen plötzlich eine Existenz. Beim Recherchieren nach den Personennamen tauchen sie an unerwarteten Stellen im Netz auf und ergänzen so die Fiktion, beispielsweise auf dem Portal der Foto-Community Flickr,36 ganz so als würden die Figuren wie echte Personen Spuren im Netz zurücklassen. Die Grenzen zwischen echter und virtueller Existenz werden durchlässig, so dass der Leser insgesamt verunsichert ist, ob es sich überhaupt um eine Fiktion handelt. Balpe transportiert damit den Hypertext in eine „ère du soupçon“ – und doch ist dies, was die Hyperfiction schon seit ihren ersten Versuchen auszeichnet. Dies ist eine Vernetzung, die als Realitätssimulation die Bezeichnung „Hyperfiction“ verdient, wenn auch in einem anderen Sinn als den anderen Werken dieser Arbeit zugrunde gelegt.

36 Z.B. finden sich hier Infos zu Isadora Underhill: http://www.flickr.com/photos/ un_autre_roman/2345697894/, die auf den Blog Un autre roman verweisen, einem Bestandteil von La disparition du Général Proust.

9 Zusammenfassung und Ausblick

Die frankophonen Autoren haben der digitalen Literatur einen unverwechselbaren Stempel aufgedrückt. Ihre Werke belegen zugleich die Kontinuität der Literaturentwicklung zur neuen Mediengattung. Bei der digitalen Poesie sind die Parallelen zu verwandten Vorgängerkonzepten explizit, sie unterscheiden sich lediglich in der medialen Umsetzung. Auch die Hyperfiction setzt auf verwandte Konzepte vor allem experimenteller Narrativik, doch hier sind die Unterschiede zum Printmedium spürbarer, sind schmerzhafter erlebbar in Form von Frustration und Verwirrung beim Rezipieren. Hyperfictions sind eine radikale Fortführung einer Reihe von alternativen Literaturästhetiken etwa von den Calligrammes Apollinaires und Mallarmés bis zu den Schreibübungen von Oulipo. Sie ist aber auch, mit anderen Mitteln, die Fortsetzung der innovativen Romantechniken des nouveau roman wie der Destruktion bisher gültiger, für Kohärenz sorgender Konstruktionsprinzipien des Romans wie eine einheitliche Geschichte, plausible Figurenpsychologie, manifeste Erzählerfigur, lineare zeitliche Strukturen, etc.; diese Unterstrukturierung kennt, medial verstärkt, auch die Hyperfiction. Um einer völligen Form- und Strukturlosigkeit entgegenzuwirken, werden hier medientypische überstrukturierende Mechanismen für den (notwendigen) Ausgleich der inhärent unterstrukturierten Hypertextfragmente eingeführt. Zusätzlich erfahren andere konstruktive ästhetische Prinzipien eine starke Aufwertung, in erster Linie die Poetik der Deautomatisierung softwareergonomischer Vorgaben. Wenn man sich weiterhin vergegenwärtigt, dass das 20. Jahrhundert einen nie dagewesenen Aufschwung der écritures du moi, mithin der Subjektivität in der Literatur, erfahren hat, so ist die rigorose Versubjektivierung in der Hyperfiction aufgrund der Handlungsvarianten und der resultierenden polymorphen Gestalt nur eine logische, wenn auch radikale Konsequenz am Ende des Jahrtausends.

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Ab Mitte/Ende der 1990er-Jahre galt das Interesse der medial aufgeschlossenen Autoren der Erforschung des Mediums in Bezug auf hyperfictionspezifische Ausdrucksfähigkeit. Die Werke setzen die medienspezifischen Konzepte Hypertext und Interaktivität, Multimedia und GUI-Elemente durchwegs höchst einfallsreich ein, so dass eine wahre Idiosynkratie der charakteristischen Phänomene erblüht. Ihre stilistische Eigenständigkeit zeigt sich an unterschiedlichsten ästhetischen Programmen, so stellen bei Edward_Amiga die Dialogfenster eine narrative Besonderheit dar, Apparitions inquiétantes zeichnet sich durch eine reiche und vielschichtige Kollusion aus interner Fokalisierung und Handlungsfragmenten auf der Grundlage der GUI-Elemente aus, NON-roman setzt auf bunte Multimedialität, Verreault modelliert das Erlebnis der Serendipity im Fiktionalen, Cotres furtifs gesteht dem Text ein widerspenstiges Eigenleben zu. Jeder Autor war für sich Pionier und fand eigene, originäre Ausdrucksformen, die sich auf der Grundlage der mikrostrukturellen Besonderheiten wie der neuen Zeichencodes in besonderer Weise auf die Diskursstruktur auswirken. Vor allem psychologisch motivierte Verfeinerungen der Perspektivierung und eine differenzierte Erzähleridentität profitieren davon. Beispielsweise erfährt der auktoriale Erzähler in der Hyperfiction eine dezidierte Aufwertung, es gibt wieder Erzählerfiguren, die sich im Dienst einer Realweltsimulation als vermeintlicher Autor zu erkennen geben, mit allen Attributen einer Figur wie direkter Rede, respektlos-flapsigem Stil und vom Kontext abweichenden Meinungen. Charakteristisch ist aber auch eine extensive mise en abyme, die auf der Grundlage der Desktopmetapher gleichermaßen auf die Grenzen der Fiktion hinweist und sie zu negieren versucht; dies ebenfalls im Zuge der Illusion einer Verschmelzung von Realität und Diegese. Diese wird durch die interaktive Integration des Lesers in das Werk aufgegriffen, so dass die Auffassung von Werk, Leser und literarischer Kommunikationssituation durch die neuen Rezeptionsmodi angepasst werden müssen. Andere narrative Größen verlieren in der Hyperfiction (wie auch schon im nouveau roman) ihre Bedeutung, z.B. finden Chronotopos und Figurenpsychologie nur noch rudimentäre Verwendung. Nicht zuletzt müssen auch einige ganz neue Kategorien eingeführt werden, die der Medialität der Hyperfiction gerecht werden. Dazu gehört die Aufnahme neuer Zeichencodes wie die Funktionselemente der GUI und multimediale Zeichen, und ganz entscheidend die besondere Berücksichtigung des Hypertextparadigmas, das sich dominant über die anderen Ebenen der Strukturanalyse legt. Noch vor der Makrostruktur kann die Untersuchung der Hypertextstruktur Aussagen über ein Werk zulassen. Eine neue Anforderung ist auf dieser Grundlage auch die doppelte Differenzierung des Werkkorpus in den potentiellen, allumfassenden Genotext und den konkret beobachteten Phänotext.

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Kurz, als mediale Facette der Narrativik gewährt die Hyperfiction aus ungewohnter Perspektive einen besonders klaren Blick auf allgemeine Funktionsweisen von Literatur und macht unmissverständlich klar, dass das Trägermedium nicht ein passives, unwesentliches Hintergrundrauschen für die Literatur ist, sondern dem Werk durchaus eigene Impulse verleiht, die das bekannte Inventar von Stilmitteln und Ausdrucksformen zu erweitern und zu präzisieren vermag. Eine Folge der Hypertextualität ist die angesprochene Veränderung der Rezeption, die interaktiv durch physische Benutzeraktionen charakterisiert ist. Die Interaktion modifiziert die Rolle des Werks, und untrennbar damit verbunden, auch die des Lesers und des Autors, kurz, sowohl das Kommunikationsmodell als auch die spezifische literarische Kommunikationssituation. Dabei ist der konzeptuelle Abstand geringer als gedacht: Interaktion ist schließlich nichts Anderes als durch Handeln unterstütztes Kommunizieren. Für die literarische Kommunikationssituation bringt dies eine ungewohnte Änderung: die Einrechnung einer Dialogizität der Kommunikationssituation aus Lesersicht. Der Leser hat formgebend und meist auch stark involviert an der Werkwerdung Teil, indem er das rhizomatisch-plural aufgefächerte Werk wieder in einen einheitlichen Lesevorgang normalisiert, „begradigt“. Dadurch lässt sich eine metafiktionale Konvergenz der Erzählebenen belegen, denn der Leser erlebt die Illusion, als E4 in die Diegese eintauchen zu können und (natürlich immer noch von außen) als Figur agieren zu können: Er fühlt sich durch die deautomatisierenden Strategien beispielsweise über den Kanal der Dialogfenster scheinbar direkt angesprochen und vermeint umgekehrt direkt in die Handlung hineinzugreifen. Diese Partizipation resultiert in einer spielsituationsähnlichen Immersion. Was keine Illusion ist: als arrangierender Faktor hat der reale Leser tatsächlich Teil an der Komposition des Diskurses neben der Rolle des werkimmanten Erzählers, und dies teilweise sogar intentional, wenn er sich durch die SignifiantSeite der Links beeinflussen lässt. Dies ist nur möglich, wenn man sich der doppelten Nichtlinearität der Diskursstruktur bewusst wird. Im Diskurs wird die Chronologie der Handlung ja ganz traditionell verändert, ihre Linearität dadurch gebrochen, doch nun kommt auch signifiant-seitig, als Potenzierung der Zerstörung einer solchen Linearität, die fragmentierte Form der medialen Repräsentation dazu. Für das Werk bedeutet dies, dass es nicht mehr als Signifiant fixiert und lesebereit vorliegt, sondern einen prozessualen, „dreidimensionalen“ Charakter gewinnt und erst durch die Interaktion des Lesers als Ereignis stattfindet. Die Performativität und Interaktivität des Texts rücken das hyperfiktionelle Werk insbesondere in den Kontext der Aktionskunst.

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Insgesamt ist die digitale Literatur eingebettet in einen kohärenten Kontext von Strömungen und Kunstgattungen, stellt überraschende Verbindungen zwischen vorher disparaten Gattungen her, greift Tendenzen anderer Kunstgattungen auf, subvertiert und verstärkt sie in neuer Interpretation. Der Übergang von experimenteller Print- zur Hyperfictionliteratur erweist sich als fließend. Der Sprung über die Mediengrenzen wird dabei durch die Einbettung in einen allgemeinen postmodernen Kontext abgefedert, die Grenzen zwischen den Mediengattungen verschwimmen in dem Medium, das alle anderen Medien in sich aufzunehmen vermag. Hyperfiction kann geradezu als Paradebeispiel postmoderner Literatur gelten, sofern es so etwas überhaupt geben kann. Die spezifische Ästhetik der Hyperfiction, die am prägnantesten auf der Spannung zwischen dem poetischen Verfahren der Deautomatisierung und dem referentiellen Vorgabenrahmen der Software-Ergonomie basiert, reiht sich mit Konzepten der Fragmentierung, Unterstrukturierung und einer Vielzahl unernster und intertextueller Anspielungen in den Kontext der postmodernen Ästhetisierung des Alltäglichen ein. Darüber hinaus füllen die Hyperfictions über ästhetische Betrachtungen hinaus eine ganz spezifische Lücke in der Kultur unseres Alltags. Das Computermedium, insbesondere das Internet, trägt als Leitmedium der heutigen Zeit zur Fragmentierung der Gesellschaft bei und ist zugleich Ausdruck ihrer. Die fortschreitende Medialisierung hat das Bedürfnis geschaffen, das Verhältnis von Mensch, Kultur und Netz zu thematisieren. Wo der Mensch die Wirklichkeit vereinfacht, um kognitiv besser mit Vielheit und Pluralität zurechtzukommen, gestattet ihm Hypertext eine solche Vereinfachung von Wirklichkeit nicht; er visualisiert vielmehr die Erfahrung geistiger Prozesse, Unlogik und Traum, bildet Sprünge und unlogische Assoziationen ab und spiegelt die manchmal beunruhigenden Facetten unserer geistigen Landschaft wider. Damit leisten die Experimente der Hyperfiction, die Pluralität der postmodernen Welt in einem literarisch-ästhetischen Modellumfeld aufzugreifen und wie ein Vexierspiegel an den Betrachter zurückzuwerfen, einen für diese Zeit typischen Beitrag, mit einer unübersichtlichen Welt zurechtzukommen. Sie bieten ein Mittel der Wiedererkennung oder gar der zur Reflexion anregenden Explikation und haben das Potential, die Wahrnehmung der Gegenwart zu schärfen und den Leser zur weiteren Reflexion anzuregen. Auch die multiple Fragmentierung der Geschichte im Hypertext bewirkt eine postmoderne Desorientierung des Lesers, die ihn zur Arbeit mit dem texte scriptible wie im Labyrinth des alltäglichen Lebens anzustiften vermag – oder eben auch nicht. Wohlgemerkt: Die digitale Literatur plädiert nicht für die Orientierungslosigkeit, sie bedient sich ihrer deskriptiv-illustrierend, ist damit ein Spie-

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gel der Erlebenssituation – aber es ist der zersplitterte Spiegel, der die Unübersichtlichkeit der postmodernen Gegenwart kaleidoskopisch wiederaufgreift. Tragisch nur, dass solch mächtigen und fruchtbaren Ansätzen nicht mehr Erfolg und Anerkennung beschieden war. Ohne eigene Lobby und in Ermangelung eines Furore machenden Bestsellers als Eisbrecher fällt es dem heutigen Publikum schwer, kostenlose Werke ästhetisch wertzuschätzen, noch dazu, wenn sie ihr ästhetisches Geheimnis nicht rasch konsumierbar preisgeben. Auch akademisch ist (insbesondere in Deutschland) die Beurteilung der digitalen Literatur immer noch ambig; während die digitale Poesie als exotisch bestaunte digitale Blüte eher zur Kenntnis genommen ist, fristet die Hyperfiction immer noch ein vernachlässigtes Nischendasein. Es mag bezeichnend sein, dass die Autorin Fred Romano am 13. August 2015 auf ihrer Facebook-Seite1 beklagt, dass nach wie vor die einzige Würdigung, die ihr wegweisender Internet– roman Edward_Amiga jemals erfahren hat, die Publikation aus dem Umfeld einer deutschen Universität sei. Es bleibt zu hoffen, dass der Faktor Zeit noch hilfreich wirken kann, denn das Phänomen der französischen Hyperfiction als analysierbares Symbolsystem, wie es in der Arbeit anhand ausgewählter Werke beschrieben wurde, ist heute als weitgehend abgeschlossenes Kapitel zu betrachten, dessen Hochphase um die Jahrtausendwende 1997-2000 anzusetzen ist. Die technologische Entwicklung der Medien Computer und Internet hat sich von den ersten einfachen Konzepten von Hypertext und Multimedia mittlerweile so weit entfernt, dass neue Werke, die nur auf diese technologische Grundlage setzen, als technisch überholt gelten. Das heißt aber nicht, dass sich die Hyperfiction angesichts weiterer neuer Möglichkeiten nicht wieder neu erfinden könnte. Vereinzelte Ausnahmen wie Coulons Le Réprobateur (2008) bestätigen die Regel und öffnen die Türen zu anderen Dispositiven wie dem Computerspiel und dem Videobloggen. Mit dem Trend von Web 2.0 ist ohnehin eine starke soziotechnische Prämisse für digitales Schaffen entstanden. Am plakativsten ist das interaktiv-kollaborative Prinzip von Web 2.0 an den social (oder auch professional) networking platforms erkennbar, das Spektrum reicht von zahllosen Webportalen wie Facebook (privat, international) über LinkedIn (Business, international), Xing (Business, vorwiegend deutsch), Viadeo (Business, französisch) bis zum Kurznachrichtendienst Twitter. Wie neueste Ansätze mit Wikis (Jacques Tramu), Blogs (Jean-Pierre Balpe) und spam littéraire (David Christoffel) zeigen, wird für zukünftige digitale Projekte die demokratisch-dezentrale Mitarbeit des Lesers eine wichtige Rolle spie-

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https://www.facebook.com/romano.fred

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len. Andererseits verstärkt sich auch der technische Aufwand deutlich, so dass die Werke sich von der ursprünglichen Textauffassung immer weiter entfernen. Ein wichtiger Faktor wird in Zukunft auch das bewegte Bild sein, Animationen, Videos und Installationen, Video-Conferencing, Screen- und VideoPodcasts und natürlich YouTube-Filme sorgen nach dem Motto „Video für alle“ für Aufsehen und lassen alles Nichtanimierte rasch veraltet aussehen. Aber auch Computerspiele haben in ihrer 3D-Grafik bereits jetzt eine filmische Qualität erreicht, dass sie sich von animierten Filmen so gut wie nicht mehr unterscheiden. Hier wird die virtuelle Welt des Spiels zur diegetischen der Geschichte. Interessanterweise sind bei heutigen Computerspielen wie dem FantasyRollenspiel Dragon Age: Origins (2009) Weichen eingebaut, so dass je nach getroffener Entscheidung des Spielers die Handlung (streckenweise) einen anderen, individuellen Verlauf nimmt. Im Zuge einer Annäherung an die „totale Kunst“ des Medienzeitalters, in der Bild, Bewegung und Interaktivität möglich sind, ist auch der Schritt zur fiktionalen, virtuellen Parallelwelt ein kleiner. So entstand beispielsweise das fiktive Ausstellungszentrum „La Bergerie – Lieu d'art contemporain“ des selbsternannten „artiste post-conceptuel burlesque“ Pierre Monjaret gewissermaßen als ein logischer Schritt. Lokalisiert auf http:// www.labergerie-lac.com/ (zuletzt: 06.02.2016) verweist diese Galerie nicht auf die Realität, sondern ist, Stichwort Unterstrukturierung, selbst eine Fiktion, die sich in entscheidender Verkürzung nicht an den Pakt mit dem Leser bzw. Zuschauer hält. Sie überquert als medial-metafiktionale Verselbstständigung die Grenzen zwischen Schöpfer und Geschöpf. Und dies tut sie überzeugend, wie Xavier Malbreil am 11.02.2010 in der Mailingliste e-critures schreibt: Die per EMail verschickten Einladungen zu neuen Ausstellungseröffnungen in der Bergerie täuschten mitunter unwillkürlich sogar ihn selbst, der ja um das Fake wusste. Kurz, die technischen Grundlagen und künstlerischen Konzeptionen entwickeln sich rasant weiter und bieten ein weites Feld für neue Experimente. Umso wichtiger ist die wissenschaftliche Behandlung einer époque, die Gefahr läuft, von der (Literatur-) Geschichte vergessen zu werden: Weil ihr erst die eigentlich gebührende Aufmerksamkeit nicht zukam, und weil die Werke mittlerweile von einem plötzlichen spurlosen Verschwinden bedroht sind. Die Pionierleistung ist den ersten hyperfiktionalen Werken nicht zu nehmen. Die Geschichte der Postmoderne ist eine Geschichte der proklamierten Enden. So soll die vorliegende Arbeit auch schließen: In jedem Ende lässt sich, ganz im Geist von Rhizom und Postmoderne, ein neuer Anfang erkennen. Wie Ruth Nestvold und Jay Lake bereits 2005 feststellten, sei die Hyperfiction beileibe nicht tot und ihre Wirkung verpufft, sondern: „It seems to us somewhat premature to declare the death of hypertext fiction—but just as premature to de-

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clare that the golden age has come and gone.“2 Die Wirkungsgeschichte einer digitalen Literatur, zu der im weiteren Sinne ja auch das Blog- und Wikiinteresse gehören, ist noch lange nicht ausgeschrieben, eine Retrospektive auf die Zeit der Hyperfictions hat die vorliegende Arbeit versucht. Literatur hat sich stets neu zu erfinden vermocht, und die weiteren technologischen Neuerungen werden auch einer Weiterentwicklung der digitalen Literatur neues Material liefern. Seien wir gespannt.

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http://www.irosf.com/q/zine/article/10174

Literatur

Der Übersichtlichkeit halber und zur Nutzung als Referenzinstrument ist das Literaturverzeichnis in Primärwerke und Sekundärliteratur, nach den in der Untersuchung berücksichtigten Sprachen (Deutsch, Englisch und natürlich hauptsächlich Französisch) untergliedert. Das Thema hat es mit sich gebracht, dass für eine geisteswissenschaftliche Untersuchung überdurchschnittlich viele Internetquellen herangezogen wurden. Sie wurden mit den üblichen Angaben zu Verfasser, Veröffentlichungsdatum etc. versehen, soweit dies möglich und sinnvoll war. Alle aktiven URLs tragen das Datum ihres letzten Aufrufs vom 10.04.2016. Obsolete URLs sind kommentiert und mit dem Datum ihrer letzten gesicherten Sichtung versehen. Französischsprachige Primärwerke o. A.: L’Escroc à Tokyo. in Kamakura. Des Romans à plusieurs mains. 2002. http://kamakura.shodana-fr.net/roman/intro.htm (nicht mehr verfügbar; zuletzt: 06.02.2016) Akenaton (Hrsg.): „un notre web“. poésies en ligne. DOC(K)S & CDRom. Série 3, Nr. 21/22/23/24. Akenaton, Ajaccio. 1999. Akenaton (Hrsg.): nature: ... de l’imitation au Clone/Age. DOC(K)S +DVD ROM. Nr. 34/35/36/37. Akenaton, Ajaccio. 2004/05. Balpe, Jean-Pierre: Trajectoires (2000). http://trajectoires.univ-paris8.fr/ Balpe, Jean-Pierre; et al.: FICTION (fictions) (2004). http://fiction.maisonpop.fr Barbeau, Richard: „Hyperpangramme“. http://abcdfghijklmnopqrstuvwxyz.com/ Hyperpangramme/index.php (nicht mehr verfügbar; zuletzt: 03.08.2006) Bootz, Philippe (Hrsg.): alire. poésie et art programmés. Nr. 12. Mots-Voir, Villeneuve d’Ascq. 2004. CD-ROM. Boutiny, Lucie de: NON-roman. 1997-2000. http://www.synesthesie.com/ boutiny/

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