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German Pages 784 Year 2019
Für die Sache – Kriminalwissenschaften aus unabhängiger Perspektive Festschrift für Ulrich Eisenberg zum 80. Geburtstag
Herausgegeben von
Ingke Goeckenjan, Jens Puschke und Tobias Singelnstein
Duncker & Humblot . Berlin
Ingke Goeckenjan, Jens Puschke und Tobias Singelnstein (Hrsg.)
Für die Sache – Kriminalwissenschaften aus unabhängiger Perspektive
Schriften zum Strafrecht Band 335
Für die Sache – Kriminalwissenschaften aus unabhängiger Perspektive Festschrift für Ulrich Eisenberg zum 80. Geburtstag
Herausgegeben von
Ingke Goeckenjan, Jens Puschke und Tobias Singelnstein
Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2019 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Ochsenfurt-Hohestadt Druck: Das Druckteam Berlin Printed in Germany ISSN 0558-9126 ISBN 978-3-428-15288-9 (Print) ISBN 978-3-428-55288-7 (E-Book) ISBN 978-3-428-85288-8 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
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Vorwort Eine Festschrift ist Ausdruck höchster Wertschätzung. In ihr ehren akademische und persönliche Weggefährten den Jubilar und sein wissenschaftliches Lebenswerk. Eine zweite Festschrift – wie es die vorliegende ist – soll nicht nur die besondere wissenschaftliche Leistung des Jubilars und seine Bedeutung für Wissenschaft und Praxis hervorheben, sondern ist auch Zeugnis für eine ungebremste Schaffenskraft. Wohl kaum jemand hätte eine solche Festschrift zum 80. Geburtstag mehr verdient als Ulrich Eisenberg. Sein Werdegang, sein umfassendes wissenschaftliches Œuvre und sein Einfluss auf Wissenschaft, Rechtsprechung und Praxis wurden bereits in der Festschrift zum 70. Geburtstag eingehend gewürdigt. Ungebrochen und mit beeindruckender Intensität setzte Ulrich Eisenberg aber auch danach die Arbeit an seinem Werk, „die Sache“, für die er so kraftvoll eintritt, fort. In den vergangenen zehn Jahren veröffentlichte der Jubilar sieben Neuauflagen seines Standardkommentars zum Jugendgerichtsgesetz und vier Neuauflagen des Beweisrechts der StPO. Das Großlehrbuch der Kriminologie erschien 2017 in 7. Auflage, nunmehr zusammen mit Ralf Kölbel. Zudem publizierte er 50 Aufsätze, acht Ausbildungsbeiträge, 77 Rechtsprechungsanmerkungen und 41 Rezensionen. Eine beeindruckende Fortsetzung des ohnehin schon äußerst umfangreichen und ausgesprochen vielfältigen Lebenswerks des Jubilars, die einem höchsten Respekt abverlangt. Es ist uns eine Freude, eine Ehre und ein besonderes Bedürfnis, zum 80. Geburtstag von Ulrich Eisenberg zusammen mit vielen Autorinnen und Autoren aus Wissenschaft und Praxis diese Festschrift vorlegen zu können und dies mit unseren besten Wünschen an den Jubilar zu verbinden. Unser bester Dank gilt den mitwirkenden Autorinnen und Autoren, die mit ihren Beiträgen zu den vielfältigen Forschungsfeldern des Jubilars dieses Werk der Wertschätzung mit Leben gefüllt haben. Für die vorbereitenden und redaktionellen Tätigkeiten möchten wir uns bei unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sehr herzlich bedanken. Schließlich geht Dank an den Verlag Duncker & Humblot, bei dem unser Anliegen einer zweiten Festschrift sofort mit großer Bereitschaft aufgenommen wurde. Insbesondere Andreas Beck und Regine Schädlich waren Garanten für eine reibungslose Zusammenarbeit. Bochum/Marburg im September 2018
Ingke Goeckenjan, Jens Puschke und Tobias Singelnstein
Inhaltsverzeichnis
I. Kriminologie Stephan Barton „Das Fehlurteil gibt es nicht“ – gibt es doch! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ingke Goeckenjan Straftaten gegen Geflüchtete. Vorüberlegungen zu einer empirischen Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Günter Köhnken Prozedurale Gerechtigkeit und Respekt in der Justiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ralf Kölbel Sexualstrafgesetzgebung, Kriminalpolitik und Strafrechtsaffinität in der Kriminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Michael Lindemann Psychisch Kranke als Opfer von Gewalt – Vorüberlegungen zu einer empirischen Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Henning Ernst Müller „Moneyball“ in der Strafrechtspraxis? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Fritz Sack Einige aktuelle Überlegungen zur Sicherheitspolitik und ihrer Relevanz für die Kriminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Tobias Singelnstein und Julia Habermann Punitivität in Deutschland. Strafeinstellungen in der Bevölkerung und Möglichkeiten ihrer Messung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Renate Volbert und Jonas Schemmel Der Blick zurück als Schritt nach vorn – Anmerkungen zur Geschichte der Aussagepsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Klaus Wasserburg Blutrache – ein interdisziplinärer Forschungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163
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Inhaltsverzeichnis
Diana Willems und Jana Meier Jugenddelinquenz und Desistance. Junge mehrfachauffällige Straftäter zwischen Jugendhilfe und Justiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
II. Jugendstrafrecht Werner Beulke Verurteilte ohne Rechtsschutz? – Neue Ausjustierung des § 55 Abs. 2 S. 1 JGG 187 Margarete Gräfin von Galen und Raoul Beth Sind Diversionsentscheidungen nach §§ 45, 47 JGG ohne Beschwer? Eine Kritik der herrschenden Rechtsprechung aus verfassungsrechtlicher Sicht . . . . . . . . . . 201 Werner Gloss Das polizeiliche Legalitätsprinzip im Jugendstrafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Katrin Höffler Jugendliche im Maßregelvollzug: zwischen Entwicklung und Krankheit, zwischen Pädagogik und Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Theresia Höynck Die Neuregelung der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung – ein weiterer Schritt der „feindlichen Übernahme“ des Jugendstrafrechts? . . . . . . . . . . . . . . . 245 Florian Knauer Jugendstrafrecht und Terrorismus. Zur Anwendung des Jugendstrafrechts auf terroristische Straftaten von Heranwachsenden gem. § 105 Abs. 1 JGG . . . . . . . 259 Reinhold Schlothauer Das kann doch nicht das letzte Wort sein!? Zur Reihenfolge der Worterteilung an jugendliche Angeklagte und ihre gesetzlichen Vertreter bzw. Erziehungsberechtigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Lea Voigt Fluchtgefährdete Jugendliche? Zum Verhältnis zwischen § 72 Abs. 2 JGG und § 112 Abs. 3 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281
III. Vollzug Jochen Bung Das Geheimnis des Gefängnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289
Inhaltsverzeichnis
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Boris Burghardt Die kostenrechtliche Ungleichbehandlung von Sicherungsverwahrung und Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Christine M. Graebsch Die Gefährder des Rechtsstaats und die Europäische Menschenrechtskonvention. Von Sicherungsverwahrung und „unsound mind“ zum Pre-Crime-Gewahrsam? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Klaus Laubenthal Die Mitwirkung des Rechtsanwalts in Verfahren nach den Strafvollzugsgesetzen 325 Frank Neubacher Bleibende Eindrücke – Ein persönlicher Rückblick auf sieben Jahre Gewaltforschung im Jugendstrafvollzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339
IV. Strafverfahren Stephan Beukelmann Anwaltsvertraulich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Stefanie Bock Einige europarechtlich inspirierte Überlegungen zur psychosozialen Prozessbegleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 Stefan Conen Verlesungen nach § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO. Von der fortschreitenden Abschottung des Ermittlungsverfahrens gegen seine effektive Überprüfung in der Hauptverhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 Gunnar Duttge und Simone Klaffus Quo vadis, deutsches Strafprozessrecht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 Ralf Eschelbach Beweiserhebung des Tatgerichts über das polizeiliche Ermittlungsergebnis? . . . 409 Thomas Feltes und Andreas Ruch „Die wahren Täter sitzen nicht auf der Anklagebank“. Das Interesse des Nebenklägers an anklageübergreifender Sachaufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 Tobias Lubitz Die Entbindung des Sachverständigen von der Gutachtenpflicht gem. § 76 Abs. 1 S. 2 StPO und der hierauf zielende Antrag der Verteidigung . . . . . . . . . . 439
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Inhaltsverzeichnis
Carsten Momsen und Sarah Lisa Washington Wahrnehmungsverzerrungen im Strafprozess – die Beweisprüfung im Zwischenverfahren der StPO und US-amerikanische Alternativen . . . . . . . . . . . 453 Christine Morgenstern Verteidigung bei Untersuchungshaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 Ines Müller Der Ausschluss des nicht beschuldigten Elternteils von dem Einverständnis zur Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts für den aussagewilligen, aber verstandesunreifen Zeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489 Günther M. Sander Die strafgerichtliche Schätzung – und anderes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497 Hartmut Schneider Erweiterte Erreichbarkeit von Zeugen bei möglicher kommissarischer oder audiovisueller Vernehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 Gerhard Strate Das falsche Geständnis – zum Fall Holger Gensmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529 Sabine Swoboda Das Konfrontationsrecht des Angeklagten nach Maßgabe der Rechtsprechung des EGMR in Al-Khawaja und Tahery v. Vereinigtes Königreich und Schatschaschwili v. Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539 Hans Theile Die Übertragung bereits anhängiger Verfahren auf eine Hilfsstrafkammer – ein Verstoß gegen das Prinzip des gesetzlichen Richters aus Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG 559 Andreas Werkmeister Strafprozessuale Folgen außerstrafprozessualen Auskunftszwangs am Beispiel von § 97 Abs. 1 S. 3 InsO und § 393 Abs. 2 AO. Trendwende bei der Fernwirkung von nemo-tenetur-Verstößen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 575 Wolfgang Wohlers Die schützende Förmlichkeit des Strafprozessrechts. Zur aktuellen Bedeutung(slosigkeit) eines „alteuropäischen“ Konzepts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 593
V. Strafrecht, Strafrechtswissenschaft und Strafgesetzgebung Clemens Basdorf „Erst geköpft, dann gehangen“. Sicherungsverwahrung neben lebenslanger Freiheitsstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 607
Inhaltsverzeichnis
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Wolfgang Frisch Untauglicher Versuch oder Wahndelikt? Überlegungen zu einem dogmatischen Problem aus der Perspektive der Normen- und der Straftheorie . . . . . . . . . . . . . 617 Helmut Fünfsinn und Benjamin Krause Plattformen zur Ermöglichung krimineller Handlungen im Internet. Überlegungen zur strafrechtlichen Erfassung de lege lata und de lege ferenda . . . . . . . . . . 641 Thomas Hillenkamp Der Einzelfall als Strafgesetzgebungsmotiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 655 Günther Kräupl Der ambivalente Umgang der ostdeutschen Rechtswissenschaft mit den Strafrechtsgrundsätzen P. J. A. Feuerbachs zwischen 1950 und 1990 . . . . . . . . . . . . . 671 Hans Kudlich Der Fluch der guten Tat? – Zur strafrechtlichen Verantwortung von Ehrenamtlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 683 Jens Puschke Sicherheitsgesetzgebung ohne Zweck. Die Vorratsdatenspeicherung von Verkehrsdaten der Telekommunikation als Prototyp einer verfehlten neuartigen Sicherheitsarchitektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 695 Klaus Rolinski Pflichten und Freiheiten des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 717 Fjodor Romanowitsch Sundurow Probleme der Pönalisierung im Strafrecht Russlands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 731 Helena Válková Opfer von Straftaten und ihre Stellung in der Tschechischen Republik . . . . . . . 743 Schriftenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 753 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 781
I. Kriminologie
„Das Fehlurteil gibt es nicht“ – gibt es doch! Von Stephan Barton
I. Ausgangspunkte Seit jeher haben Justizirrtümer die Gesellschaft beschäftigt;1 auch aktuell rufen sie immer wieder enormes mediales Echo hervor.2 Jeder hat schon von Fehlurteilen gehört und wir alle meinen zu wissen, was wir uns darunter vorzustellen haben. Angesichts dessen erscheint es höchst bemerkenswert, geradezu paradox, wenn Kotsoglou dieser vermeintlichen Gewissheit in der Juristenzeitung eine deutliche Abfuhr erteilt. Unter der bezeichnenden Überschrift „Das Fehlurteil gibt es nicht“ führt er aus, dass alle Anstrengungen, ein Fehlurteil überhaupt als solches feststellen zu wollen, aus epistemologischen Gründen zum Scheitern verurteilt seien.3 Es sei zirkulär, von einem konkreten Fehlurteil zu sprechen. Denn „nach h.M.“, so Kotsoglou, sei ein Fehlurteil „ein Urteil, welches auf einer Fehlvorstellung des Entscheidenden über die Wirklichkeit beruht“; die Definition setze dabei aber voraus, dass allgemein bekannt sei, was wirklich geschehen ist.4 Diese Kenntnis zu erlangen sei aber unmöglich. Eine abstrakte Möglichkeit von Fehlurteilen sei zwar gegeben – solche seien im Strafverfahren gewissermaßen notgedrungen einkalkuliert.5 Aber „die Möglichkeit von Fehlurteilen (Plural) ist eine Sache; die Diagnose, dass wir mit einem konkreten Fehlurteil zu tun haben […], allerdings eine andere.“6 1
Vgl. dazu aus dem deutschen Schrifttum: Löffler, Die Opfer mangelhafter Justiz, 1868; Sello, Die Irrtümer der Justiz und ihre Ursachen, 1911; Alsberg, Justizirrtum und Wiederaufnahme, 1913; Hellwig, Justizirrtümer, 1914; Peters, Zeugenlüge und Prozeßausgang, 1939; Hirschberg, Das Fehlurteil im Strafprozeß, 1960; Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß, 3 Bände, 1970, 1972, 1974. 2 Als Fehlurteilsbeispiele werden für Deutschland insbesondere die Fälle „Bauer Rupp“, „Lehrer Horst Arnold“, „Harry Wörz“ und „Gustl Mollath“ diskutiert; daneben auch die Fälle „Ulvi Kulac“, „Monika de Montgazon“ und „Heinz-Dieter Gill“. Hinsichtlich amerikanischer Fälle vgl. die Fundstellen bei Kölbel, in: Barton/Dubelaar/Kölbel/Lindemann (Hrsg.), Vom hochgemuten voreiligen Griff nach der Wahrheit, 2018, S. 31 (39). 3 Kotsoglou, JZ 2017, 123 (125 ff.). 4 Kotsoglou, JZ 2017, 123 (126); Hervorhebung wurde übernommen. 5 Kotsoglou, JZ 2017, 123 (129). 6 Kotsoglou, JZ 2017, 123 (129); Hervorhebung wurde übernommen. Logischerweise muss allerdings das, was es im Plural gibt, auch im Singular existieren. Insofern würde die Überschrift „Die Feststellung des Fehlurteils gibt es nicht“ zur These Kotsoglous besser passen.
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Wie kann es dann aber sein, dass einerseits konkrete Justizfehler in journalistischen Beiträgen für breite Aufregung sorgen7 und sich in letzter Zeit auch die Wissenschaft verstärkt in Publikationen und auf Fachtagungen8 der Problematik von Fehlurteilen zugewandt hat – auf letzteren bestand weitgehende Einstimmigkeit darüber, dass das vorliegende erfahrungswissenschaftliche Wissen zu Ausmaß und Ursachen von Fehlurteilen als höchst defizitär anzusehen ist und daraus folgend wurden aktuelle erfahrungswissenschaftliche Studien gefordert –, wenn andererseits Fehlurteile bloß ein Hirngespinst sein sollen? Müssen wir uns von der Suche nach einem Fehlurteilsbegriff verabschieden und damit auch die empirische Forschung zu Fehlurteilen einstellen anstatt sie auszuweiten, weil alle Bemühungen vergebens wären? Ich möchte nachfolgend zeigen, dass sich die Realität auch anders darstellen kann, als Kotsoglou sie zeichnet. Wahrheit ist immer eine Frage des Blickwinkels. Aus diesem Grund möchte ich mich zunächst dem Begriff des Fehlurteils zuwenden. Aussagen zur Häufigkeit von Fehlurteilen schwanken zwischen 0,0018 und 25 Prozent.9 Neben divergenten Vorstellungen über das Zustandekommen von Fehlurteilen ist anzunehmen, dass auch die fehlende Harmonisierung des zugrundeliegenden Begriffs maßgebliche Ursache für dieses Auseinanderklaffen ist. Das Abstecken der Ecksteine des Fehlurteilsbegriffs ist daher essentiell und im Folgenden werden zunächst die relevanten Komponenten und Dimensionen beleuchtet, die bei dieser Betrachtung von Bedeutung sind. Aus diesen verschiedenen relevanten Komponenten wird in der Folge eine Fehlurteilsvariante besonders hervorgehoben, die hier als ein Fall eines faktischen Fehlurteils firmieren soll und eine Teilmenge des Fehlurteilsbegriffs insgesamt ist. In einer interdisziplinären Betrachtung wird dann gezeigt, dass eine Identifikation von konkreten Fehlurteilen möglich ist, ohne in der Lage sein zu müssen, den historischen Sachverhalt tatsächlich präzise zu rekonstruieren. Dadurch
7 Zu nennen sind hier insbesondere Rückert, Unrecht im Namen des Volkes, 2007; Darnstädt, Der Richter und sein Opfer, 2013. 8 So widmeten sich im zweiten Halbjahr von 2017 gleich mehrere Fachtagungen diesem Thema, nämlich die Veranstalter von „Psychologie im Strafverfahren“ am 11./12.8. in Bad Saarow; die „6. Bielefelder Verfahrenstage“ am 23./24.11. und der Verein „Deutsche Strafverteidiger“ am 30.11./1.12. in Berlin. 9 Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 10. Aufl. 2017, Rn. 2 und 913 weist auf methodische Probleme hin, den Anteil von Fehlurteilen zu berechnen, geht aber davon aus, dass falsche Freisprüche oder Verurteilungen nicht nur Ausnahmen darstellen. Böhme errechnet eine Quote von 0,0018 % – bezogen auf 13 Fälle von zuerkannter Strafrechtsentschädigung für das Jahr 2013; vgl. Böhme, in: Effer-Uhe/Hoven/Kempny/Rösinger (Hrsg.), Einheit der Prozessrechtswissenschaft?, 2016, S. 39 (53). Eschelbach, BeckOK StPO, 20. Ed. 15. 1. 2015, § 261 Rn. 63.2 sieht Fehlurteile bei „streitigen Strafsachen in Deutschland […] unter Abzug eines Sicherheitsabschlags grob geschätzt bei einem Viertel liegen“; in späteren Editionen wurde das etwas weicher formuliert, er siedelt Fehlurteile aber weiterhin im „zweiziffrigen Prozentbereich“ an; vgl. Eschelbach, BeckOK StPO, 29. Ed. 1. 1. 2018, § 261 Rn. 67.5. Dazwischenliegende Schätzungen stammen von Geipel, in: Miebach/Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, 2016, Rn. 95 (zwischen 9 und 14 % bezogen auf den irreversiblen Bereich) und Jehle, FPPK 2013, 220 (227) (0,4 bzw. 0,5 %).
„Das Fehlurteil gibt es nicht“ – gibt es doch!
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werden der Wert des öffentlichen Diskurses und auch die Notwendigkeit weiterer empirischer Forschung über die Fehlurteilsproblematik verdeutlicht.
II. Fehlurteile: Dimensionen, Komponenten und Begriffe Zunächst geht es also darum, was inhaltlich unter einem Fehlurteil verstanden wird. Primäres Ziel dieses Abschnitts ist es allerdings nicht, wertend den „einzig richtigen“ Fehlurteilsbegriff zu definieren, sondern das zugrundeliegende Koordinatensystem zu betrachten. Es geht also um die verschiedenen Komponenten und Dimensionen von Fehlurteilen und damit verbunden um unterschiedliche Fehlurteilsbegriffe. Das Gesetz definiert jedenfalls nicht, was unter einem Fehlurteil zu verstehen ist – auch nicht im Zusammenhang mit dem Rechtsinstitut der Wiederaufnahme (§§ 359 ff. StPO), die sicherlich rechtssystematisch und rechtshistorisch gesehen der Korrektur von Fehlurteilen dienen soll. 1. Fehlurteil und Fehlentscheidung Tatsächliche oder rechtliche Fehler sind bei allen Entscheidungen von Rechtspflegeorganen möglich, also bspw. bei Zwischen- (Anklagen, Eröffnungen von Hauptverfahren) oder Haftentscheidungen10 und keineswegs nur bei Urteilen. Fehlurteile bilden insofern eine Teilmenge der gesamten Palette der Fehlentscheidungen; das sollte auch sprachlich-begrifflich berücksichtigt werden.11 Auch wenn alle Fehlentscheidungen praktisch von Bedeutung und wissenschaftlich von Interesse sein können, wird nachfolgend wegen ihrer herausgehobenen Relevanz das Hauptaugenmerk den Fehlurteilen geschenkt. 2. Faktisches Fehlurteil a) Naiv-intuitiver Fehlurteilsbegriff Betrachten wir in diesem Zusammenhang zunächst das laienhaft-umgangssprachliche Verständnis. Laut Wikipedia stellt das Fehlurteil einen Unterfall eines Justizirrtums12 dar, wobei hierunter in „der öffentlichen Wahrnehmung […] eine strafrechtliche Verurteilung Unschuldiger verstanden“ wird.13 Zwei Elemente bilden 10 Vgl. dazu die Studie von Kinzig zu Freisprüchen nach erfolgter U-Haft, die als „Beifang“ auch Aussagen zu Fehlurteilen gestattet; Kinzig, in: Barton/Dubelaar/Kölbel/Lindemann (Hrsg.), Vom hochgemuten voreiligen Griff nach der Wahrheit, 2018, S. 81. 11 Vgl. dazu Jehle, FPPK 2013, 220 (222) zu Fehlurteilen und Fehlentscheidungen. 12 Zum Justizirrtum vgl. Theobald, Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, 1998, S. 7 f. 13 Wikipedia, Stichwort „Justizirrtum“ (zuletzt angesehen am 15. 6. 2018).
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hier also das Rückgrat dieses Fehlurteilsbegriffs, nämlich erstens eine strafrechtliche Verurteilung, die zweitens einen Unschuldigen trifft. Aber nicht nur Laien, auch ausgewiesene Fachleute folgen diesem Fehlurteilsbegriff, der nur Fehlurteile zum Nachteil des Beschuldigten kennt. So geht der Strafverteidiger und renommierte Wiederaufnahmeexperte Schwenn davon aus, dass auch „der Strafjurist“ von einem Fehlurteil dann spreche, „wenn der vermeintliche Täter die festgestellte Tat nicht begangen hat“,14 wenn es also zu einer fehlerhaften Sachverhaltsfeststellung gekommen ist. Insoweit kann man von einem faktischen Fehlurteil sprechen. b) Zugunsten und zuungunsten des Beschuldigten Es ist fraglich, ob in diesen Fällen von einem Fehlurteil nur dann gesprochen werden kann, wenn der Beschuldigte wegen eines Sachverhalts verurteilt wird, der nicht der Realität entspricht, oder auch dann, wenn er freigesprochen wird, obwohl er den Straftatbestand tatsächlich erfüllt hat. Ein Fehlurteil zugunsten des Beschuldigten fällt nach dem oben genannten Begriffsverständnis nicht in den Kernbereich des Fehlurteils, was aus Sicht der Verteidigung eher nicht stört – in anderen Kreisen dagegen Verwunderung auslösen könnte. Da auch ein solches Urteil nicht auf wahren Tatsachen beruht, liegt es nahe, es als faktisches Fehlurteil zu bezeichnen. Maßgeblich ist, ob man bei der Bewertung lediglich an den historischen Sachverhalt anknüpft oder eine solche Sicht zu eng ist.15 c) Materielle vs. formelle Wahrheit und richterlicher Fehler Abweichungen zwischen dem historischen und dem forensisch-prozessordnungsgemäß zustande gekommenen Sachverhalt sind durchaus möglich. Man denke an den Beschuldigten, zu dessen Gunsten ein Beweisverwertungsverbot greift oder der aufgrund des Zweifelssatzes freigesprochen wird.16 Ebenso kann das Gericht den Beschuldigten nicht der materiellen Wahrheit entsprechend verurteilen, wenn sich der Hauptbelastungszeuge dazu entschließt, von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch zu machen. Woran ist das Vorliegen eines Fehlurteils zu messen, wenn materielle Wahrheit und formell festgestellter Sacherhalt auseinanderfallen? Die Rechtsprechung des BVerfG könnte den Eindruck erwecken, dass es für die Richtigkeit des Urteils allein auf die materielle Wahrheit ankomme: Die Ermittlung des wahren Sachverhalts sei ein zentrales Anliegen des Strafprozesses, ohne den das 14
Schwenn, FPPK 2013, 258. Kölbel (Fn. 2), S. 31 (34) weist darauf hin, dass Fehlurteile zugunsten des Beschuldigten nicht unmittelbar mit rechtswidrigen Grundrechtseingriffen verbunden seien. 16 Im letztgenannten Fall liegt allerdings kein Widerspruch zwischen den festgestellten Tatsachen und der Wirklichkeit vor, da letztere nun gerade nicht verbindlich festgestellt wurde, wohl aber zwischen der faktischen Täterschaft und der nicht erfolgten Verurteilung. 15
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materielle Schuldprinzip nicht verwirklicht werden könne.17 Auch wenn aufgrund dieser Aussage die Wichtigkeit der Erforschung der materiellen Wahrheit deutlich wird, stellt diese nicht das einzige Ziel im Strafverfahren dar. Dem Beschuldigten müssen Tat und Schuld prozessordnungsgemäß nachgewiesen werden.18 Das ordnungsgemäße Verfahren spielt demnach ebenso eine große Rolle und setzt der Suche nach der materiellen Wahrheit Grenzen. Dementsprechend weist auch der BGH darauf hin, dass die Wahrheit nicht um jeden Preis erforscht werden dürfe.19 Aus der Rechtsprechung lässt sich daher nicht der Schluss ziehen, dass es für die Beantwortung der Frage nach einem Fehlurteil lediglich auf die materielle Wahrheit ankommt. In der Literatur werden dagegen kontroverse Standpunkte vertreten: Geipel misst das Vorliegen eines Fehlurteils – übereinstimmend mit einem rein faktischen Fehlurteilsverständnis – lediglich an der materiellen Wahrheit. Und konsequent folgert er daraus, dass ein Urteil, welches mit der materiellen Rechtslage nicht übereinstimmt, immer ein Fehlurteil sei – „ggf. aber ein vom Gesetz akzeptiertes“.20 Für ihn wäre der Freispruch eines materiell Schuldigen, der infolge des richtig angewandten Zweifelsgrundsatzes erfolgt, ein Fehlurteil, sei dies auch de lege artis ergangen.21 Pfister hält dagegen die historische Wahrheit für einen verfehlten Maßstab: „Das maßgebliche Kriterium kann nicht die an der historischen Wahrheit gemessene Unschuld oder Schuld eines Angeklagten sein.“22 Nach seiner Ansicht ist der prozessordnungsgemäß erfolgte Freispruch eines Schuldigen kein Fehlurteil. Böhme stimmt Pfister zu: Ein Sachverhalt sei „falsch (festgestellt), wenn er nicht auf der forensisch ermittelten Wahrheit basiert“.23 Dieser formelle Wahrheitsansatz geht zu Recht davon aus, dass der prozessordnungsgemäß gewählte Weg nicht zu einem Fehlurteil führen kann. Die materielle Wahrheit kann für die Bewertung, ob ein Fehlurteil vorliegt, nicht der einzig richtige Maßstab sein. Im Extremfall könnte ansonsten ein Urteil, welches sich auf ein durch Folter erlangtes wahrheitsgemäßes Geständnis stützt, nicht als Fehlurteil qualifiziert werden. Dies liefe dem Grundrechtsschutz des Beschuldigten zuwider. Doch auch die Orientierung am prozessordnungsgemäß festgestellten Sachverhalt kann nicht allein ausschlaggebend sein. Sie würde dazu führen, dass eine prozessordnungsgemäß erfolgte Verurteilung eines Unschuldigen kein Fehlurteil 17
BVerfGE 57, 250 (275); BVerfGE 133, 168 (199). BVerfGE 133, 168 (199). 19 BGHSt 14, 358 (365). 20 Geipel (Fn. 9), Rn. 64. 21 Geipel (Fn. 9), Rn. 65. Er verweist in diesem Zusammenhang auf die Legaldefinition des rechtswidrigen Verwaltungsaktes in § 44 SGB X, wonach ein solcher nicht nur gegeben sei, wenn das Recht unrichtig angewandt wurde, sondern auch, wenn „von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist“. 22 Pfister, FPPK 2013, 250 (253). 23 Böhme (Fn. 9), S. 39 (45). Ein Fehlurteil ist laut Pfister aber auch dann zu bejahen, wenn ein Freispruch darauf gründe, dass das Gericht sich anbietende Beweise nicht erhoben habe. 18
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wäre. Einen vorzugswürdigen Ausweg wählt Peters: Er stellt zwar primär auf die materielle Wahrheit ab, hält sie aber nicht immer für allein entscheidend. Peters differenziert dabei grundlegend zwischen Urteilen zugunsten und Urteilen zuungunsten des Verurteilten.24 Ein Fehlurteil zuungunsten des Beschuldigten liege zum einen vor, wenn dieser unschuldig, zum anderen aber auch, wenn aufgrund rechtsstaatlich unzureichender Absicherung der Verurteilte nur wahrscheinlich oder sogar nur möglicherweise unschuldig ist. Von einem Fehlurteil zugunsten des Verurteilten sei dagegen nur dann auszugehen, wenn dieses aufgrund von Beweisverfälschung oder aufgrund eines fehlerhaften Verhaltens des Richters ergangen sei. Eine prozessuale Ordnungsgemäßheit kann daher gewissermaßen die Entstehung eines Fehlurteils zugunsten des Angeklagten blockieren. Mit dem Wahrheitsproblem in gewisser Weise zusammenhängend und genauso kontrovers wird ferner die Frage behandelt, ob nur dann von einem Fehlurteil gesprochen werden darf, wenn ein richterlicher Fehler vorliegt, oder ein Fehlurteil auch ohne richterliches Verschulden denkbar ist. Für den Bundesrichter Pfister ist Voraussetzung für die Bejahung eines Fehlurteils ein „vorwerfbarer, wenn auch nicht notwendig vorsätzlicher Fehler des erkennenden Gerichts.“25 Nach Geipel, dem es lediglich um die materielle Wahrheit als Maßstab geht, spielt es keine Rolle, ob dem Richter ein Fehler unterlaufen sei.26 Dieser Streit muss hier nicht entschieden werden. Das Problem liegt nicht darin, den einen oder den anderen Fehlurteilsbegriff als den allein richtigen zu qualifizieren. Forschung dürfte in beiden Fällen möglich sein; aber gerade im Bereich des verschuldeten Fehlurteils erscheint jene besonders vielversprechend, um zukünftig Fehlerprävention in der Praxis zu ermöglichen. Denn es ist davon auszugehen, dass sich viele tatsächlich erfolgte Fehler vermeiden ließen.27 Im Rahmen der Forschung zu vermeidbaren bzw. verschuldeten Fehlurteilen sollte aber nicht nur das gerichtliche Verschulden in den Fokus genommen werden, sondern auch Versäumnisse anderer Verursacher: Die Wurzeln von Fehlurteilen sind vielfach schon im Ermittlungsverfahren zu verorten. Diese Fehler pflanzen sich dann häufig im Hauptverfahren fort, wenn sie weder durch das Gericht noch durch die Verteidigung behoben werden.28 Mit der Erwähnung des Verteidigers ist ein weiterer Verursacher genannt, dessen Aufgabe es ist, Fehlurteile zuungunsten seines Mandanten zu verhindern,29 und der damit ebenso kausal für ein Ergebnis zu dessen Lasten wird. Eine Fehlurteilsforschung, die begrifflich zwischen diesen unterschiedlichen Verantwortungsbereichen 24
Peters, Strafprozeß, 4. Aufl. 1985, S. 604 f. Pfister, FPPK 2013, 250 (253); ihm folgt Böhme (Fn. 9), S. 39 (45): „Die entscheidende Frage ist also, ob dem Gericht […] ein Fehler unterlaufen ist oder nicht.“ 26 Geipel (Fn. 9), Rn. 64. 27 Vgl. Peters, Fehlerquellen Bd. 2 (Fn. 1), S. 77 ff. 28 „Immer wieder stießen wir auf die Erkenntnis, daß weitgehend im Ermittlungsverfahren die Weichen auf das richtige oder falsche Urteil hin gestellt werden.“ So Peters, Fehlerquellen Bd. 2 (Fn. 1), S. 299. 29 Treffend dazu BGH, NJW 1964, 2402. 25
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differenziert und die Fehleranfälligkeit der jeweiligen Tätigkeiten deutlich macht, führt zu einem breit gefächerten Bewusstsein bei den verantwortlichen Akteuren vor und hinter der Richterbank und kann dazu beitragen, eine Kultur der Fehlervermeidung zu fördern. 3. Rechtliches Fehlurteil Bisher ging es um Fehler hinsichtlich des tatsächlichen Sachverhalts. Es stellt sich die Frage, ob ein Fehlurteil nur aufgrund falscher Tatsachenfeststellungen oder auch durch Rechtsfehler entstehen kann. Um dies an einem Beispiel zu demonstrieren: Wenn jemand wegen der Teilnahme an einem illegalen Straßenrennen, bei dem ein Mensch zu Tode gekommen ist, verurteilt wurde, an dem er gar nicht teilgenommen hat, liegt zweifellos ein falsche Tatsachenfeststellung vor; hier lässt sich ersichtlich leichter von einem Fehlurteil sprechen, als wenn es um die Frage geht, ob der richtig ermittelte Fahrer wegen fahrlässiger Tötung oder wegen Mordes zu verurteilen ist.30 Noch weiter ausgedehnt wird ein möglicher Fehlurteilsbegriff, wenn man auch Fehler bei der Rechtsfolgenbestimmung für relevant ansieht, also bspw. ein Fehlurteil schon dann annimmt, wenn die Strafe wegen fahrlässiger Tötung zur Bewährung ausgesetzt wird, obwohl sie von Rechts wegen hätte vollstreckt werden müssen.31 Und noch heikler wird es, wenn man auch Verfahrensrechtsfehler zur Bestimmung für Fehlurteile heranzieht, also wenn bspw. der Fahrer in seiner polizeilichen Erstvernehmung nicht auf sein Schweigerecht hingewiesen wurde.32
Der Wortlaut des Begriffs „Fehlurteil“ deutet allerdings darauf hin, dass grundsätzlich alle Fehler umfasst sind. Zudem dürfte auch der Forschungsbedarf über den engen tatsächlichen Bereich hinausgehen. Daher ist es sinnvoll, den Begriff des Fehlurteils als umfassenden Oberbegriff anzusehen, der sich sowohl in faktische Fehlurteile als auch in rechtliche Fehlurteile unterteilen lässt. Im Bereich des rechtlichen Fehlurteils hat Fischer auf einen weiteren Aspekt aufmerksam gemacht, der von anderen Fehlurteilsforschern nicht gleichermaßen gesehen und diskutiert wird. Er bezieht sich auf die Frage, welches Recht im Falle einer Rechtsänderung für die Bewertung, ob es sich um ein Fehlurteil handelt, maßgeblich ist.33 Er weist darauf hin, dass man Fehlurteile nicht ahistorisch bewerten dürfe. Er nennt dazu beispielhaft Verurteilungen aus früheren Jahrhunderten wegen Schadenszaubers, Buhlerei mit dem Teufel oder Gotteslästerung. Es sei unsinnig, diese Urteile nach heutigen Maßstäben zu messen und als Fehlurteile zu brandmarken.34 Selbst 30
Vgl. dazu BGH, NJW 2018, 1621 (Schwurgericht Berlin). So jedenfalls BGH, NJW 2017, 3011 im Fall des LG Köln. 32 In diesem Sinn geht Neuhaus, in: Barton/Kölbel/Lindemann (Hrsg.), Wider die wildwüchsige Entwicklung des Ermittlungsverfahrens, 2015, S. 93 (104 ff.) wie selbstverständlich von einem Fehlurteil aus. 33 Fischer, Warum lässt das Revisionsrecht Fehlurteile zu?, in: Barton/Dubelaar/Kölbel/ Lindemann (Hrsg.), Vom hochgemuten voreiligen Griff nach der Wahrheit, 2018, S. 263 (264 f.). 34 Fischer (Fn. 33), S. 263 (264 f.). 31
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wenn sich also später herausstellt, dass das zum Zeitpunkt der Tat geltende Recht rückblickend ungerecht oder unsinnig gewesen ist, sind Urteile, die sich an dem damals geltenden Recht orientiert haben, keine Fehlurteile. Die rechtliche Bewertung, die die Richter in diesem Fall vornehmen, hat der jeweiligen Gesetzeslage zu entsprechen; jene ist nach heutiger Sicht dem Gesetzlichkeitsprinzip (nulla poena sine lege) verpflichtet und rechtsstaatlich geboten. Es stellt deshalb natürlich kein Fehlurteil dar, wenn der Tatrichter bezogen auf die Autoraser-Fälle entsprechend dem Gesetzlichkeitsprinzip nicht wegen des neuen § 315d StGB verurteilt, wenn die Wettfahrt vor Inkrafttreten der neuen Norm erfolgte.
Zu einem solchen positivistischen Fehlurteilsbegriff gibt es keine sinnvolle Alternative; dieser Streitpunkt kann für die aktuelle Fehlurteilsforschung ad acta gelegt werden. 4. Rechtskraft Viele verstehen unter Fehlurteilen offenbar nur rechtskräftige Urteile, andere dagegen ersichtlich auch noch anfechtbare Urteile.35 Dass in beiden Fällen Fehler unterlaufen sind, steht außer Frage. Man könnte argumentieren, dass nur rechtskräftige Urteile vom Fehlurteilsbegriff umfasst sind, da sie aufgrund ihrer Unanfechtbarkeit eine besondere Härte für den Betroffenen darstellen. Zudem ist ihr Zustand im Gegensatz zu den noch anfechtbaren Urteilen nahezu unveränderlich. Anfechtbare Urteile, denen ein Fehler zugrunde liegt, erhalten ihre Eigenschaft als Fehlurteil endgültig erst dann, wenn auf Rechtsbehelfe verzichtet wird oder die Rechtsmittelfrist abgelaufen ist bzw. das Rechtsmittel erfolglos war. Man könnte den Eintritt der Unanfechtbarkeit somit als aufschiebende Bedingung für die Wirksamkeit eines Fehlurteils qualifizieren. Andererseits ist auch eine begriffliche Differenzierung („rechtskräftig“ und „anfechtbar“) geeignet, den jeweiligen Forschungsgegenstand klar zu umreißen. 5. Zwischenfazit Es ist deutlich geworden, dass Fehlurteilsforschung von unterschiedlichen Blickwinkeln aus erfolgen kann. Dabei bietet sich die Verwendung forschungspräzisierender Begriffe an: Zunächst ist zwischen faktischen und rechtlichen Komponenten von Fehlurteilen zu differenzieren. So wird deutlich, ob sich der Fehler des Urteils auf den festgestellten Sachverhalt oder auf die rechtliche Bewertung bezieht. Die erstge35
Zu den letztgenannten zählen bspw. Jehle, FPPK 2013, 220 (225 ff.) oder Eisenberg/ Kölbel, Kriminologie, 7. Aufl. 2017, § 31 Rn. 40 ff., wenn sie wie selbstverständlich die Frage von Fehlurteilen auch im Hinblick auf durch die Revision anfechtbare tatgerichtliche Urteile stellen; zu den erstgenannten zählt – praktisch gesehen – dagegen Peters, Fehlerquellen (Fn. 1), wenn er sein Augenmerk allein auf Wiederaufnahmeverfahren richtet.
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nannte Konstellation ist für Betroffene, die Bevölkerung, aber auch für die Wissenschaft von besonderer Bedeutung.36 Zudem ist klarzustellen, ob man sich mit rechtskräftigen oder noch anfechtbaren Fehlurteilen beschäftigt. Es ist auch nicht ausgeschlossen, Fehlentscheidungen im weiteren Sinne, z. B. die Anklage oder den Haftbefehlsbeschluss, in die Forschung einzubeziehen. Jedoch sollte dies mit dem Begriff der Fehlentscheidung deutlich gemacht werden.
III. Feststellung eines Fehlurteils Nachdem wir verschiedene Komponenten und Dimensionen von Fehlentscheidungen betrachtet und dabei das faktische Fehlurteil als Forschungsgegenstand besonderen Interesses hervorgehoben haben, können wir uns nun der Ausgangsfrage zuwenden, ob und ggf. wie sich ein solches faktisches Fehlurteil feststellen lässt.37 Kotsoglou hat diese Frage, wie eingangs dargestellt, verneint, da man den maßgeblichen Sachverhalt nicht kenne. Kotsoglou ist uneingeschränkt darin zuzustimmen, dass es Menschen nicht vergönnt ist, einen in der Vergangenheit liegenden Vorgang mit letzter Sicherheit zu rekonstruieren; eine wirklich „akkurate Sachverhaltsfeststellung“38 ist aus epistemologischer Sicht nicht möglich.39 Es sei an dieser Stelle auf Peters verwiesen, der zwar grundsätzlich die Feststellung eines Fehlurteils für möglich hält und dazu auch umfangreiche empirische Studien durchgeführt hat,40 allerdings unumwunden einräumt, dass selbst bei erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahren letztlich nicht feststehe, ob das neue Urteil nicht selbst ein Fehlurteil sei, während es sich bei dem aufgehobenen Urteil um das richtige gehandelt habe. Es sei, so Peters, möglich, dass im Wiederaufnahmeverfahren „in stärkerem Maße Beweisverfälschungen“ vorkämen als im Ausgangsverfahren.41 Allerdings setzt Peters dem hinzu, dass diese Gefahr auch nicht überbewertet werden dürfe. Und daraus ergibt sich der Schlüssel für die Lösung des zugrundeliegenden Erkenntnisproblems: Es kommt nämlich gar nicht darauf an, ob erkenntnistheoretisch betrachtet ein historischer Sachverhalt wirklich präzise rekonstruiert werden kann oder nicht. Das ist für die Feststellung eines Fehlurteils nicht ausschlaggebend. Dies sei bezogen auf drei verschiedene Sektoren unserer Welt kurz dargestellt. 36 „Konstellationen mit der tendenziell größten Bedeutung und Tragweite“; Kölbel (Fn. 2), S. 31 (33). 37 Für rechtliche Fehlurteile stellt sich dieses Problem nicht. 38 Vgl. Kotsoglou, JZ 2017, 123 (125). 39 Das Strafprozessrecht setzt einem solchen Unterfangen – wie gesehen – auch rechtliche Grenzen; vgl. dazu nur Hassemer, ZStW 2009, 829 ff. 40 Vgl. Fn. 1. 41 Peters (Fn. 24), S. 606 unter Bezugnahme auf die Fälle 5, 9, 18b in seinem Buch „Zeugenlüge und Prozeßausgang“ (Fn. 1).
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1. In der Lebenswelt Beginnen wir damit, wie Fehlurteile in der Alltagswelt festgestellt werden. Die Wirklichkeit des Alltags stellt sich für uns Menschen, ohne dass dies an dieser Stelle angemessen vertieft werden kann,42 als intersubjektive Welt dar, die wir mit anderen teilen. Dazu gehört ein gesellschaftliches Vorwissen, das in Generationen vorher gesammelt wurde – genauso wie ein gemeinsam geteilter gesellschaftlicher Wissensvorrat; dazu gehört auch „Jedermannswissen“,43 das grundsätzlich nicht infrage gestellt wird. Insofern steht, wenn wir uns mit der „natürlichen Einstellung“44 in der Alltagswelt bewegen, außer Frage, dass man zwischen wirklichen und vermeintlichen Straftätern unterscheiden kann und dass dies den Gerichten grundsätzlich möglich ist. In der Alltagswelt gilt die Korrespondenztheorie der Wahrheit, ohne dass man im Einzelfall darüber nachdenken würde. Deshalb gehen wir in der Alltagswelt – so schon eingangs erwähnt – wie selbstverständlich davon aus, dass es richtige Urteile, aber auch Fehlurteile gibt. Die Unterscheidung zwischen richtigen und falschen Urteilen erfolgt – wie alles soziale Handeln in der Alltagswelt – durch Kommunikation.45 Die Kommunikationen können ganz unterschiedlicher Art sein; sie können von Angesicht zu Angesicht oder (bspw. medial46 oder durch Akten vermittelt47) auf größere Distanz erfolgen. Durch Hören, Sprechen, Lesen und Schauen machen wir uns ein Bild von der Welt und erzeugen sie auf diese Weise. Das gilt auch, wie gerade gesagt, für die Frage, ob ein Urteil richtig oder falsch ist. So entsteht das in der Lebenswelt konkret, was vorangehend als naiv-intuitiver Fehlurteilsbegriff bezeichnet wurde. Erkenntnistheoretische Zweifel spielen bei alltagsweltlichen Kommunikationen keine Rolle; es geht eher darum, ob auf der Grundlage des gesellschaftlichen bzw. individuellen Vorwissens eine Zuordnung als normal, plausibel oder vernünftig erscheint.48
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Vgl. dazu die Erkenntnisse der phänomenologischen Soziologie und Wissenssoziologie; verwiesen sei insbesondere auf Schütz, Gesammelte Aufsätze Bd. I, Das Problem der sozialen Wirklichkeit, 1971, S. 237 ff. und Berger/Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, 4. Aufl. 1974. 43 Das „Wissen, welches ich mit anderen in der normalen, selbstverständlich gewissen Routine des Alltags gemein habe.“ Berger/Luckmann (Fn. 42), S. 26. 44 Vgl. dazu Schütz (Fn. 42), S. 238 ff. 45 Bevor ein Missverständnis entsteht: Diese Feststellung erfolgt aus wissenschaftlicher Sicht, nicht aus der Perspektive des Akteurs in der Lebenswelt. Jener reflektiert in der Alltagswelt nun gerade nicht sein Handeln, sondern agiert entsprechend den vorgegebenen Routinen und Konventionen. 46 Die Frage der journalistischen Wirklichkeitserzeugung ist spannend, kann hier aber nicht vertieft werden. 47 Zur Konstruktion von Wirklichkeit durch Akten vgl. Barton, MschrKrim 1980, 208. 48 Auf die Frage, inwieweit ggf. Expertenwissen herangezogen wird, um schwierige Zuordnungen zu klären, kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden; vgl. dazu Schütz, Gesammelte Werke Bd. II, Studien zur soziologischen Soziologie, 1972, S. 95 ff.
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Um dies an einem Beispiel zu demonstrieren:49 Ein Verteidiger hatte seine Mandantin, die geständig war, gut verteidigt; sie wurde zu einer relativ milden Freiheitsstrafe verurteilt. Im Anschluss dankte sie dem Verteidiger unter vier Augen und sagte, sie habe die Tat gar nicht begangen, sondern ein anderer. Der habe ihr aber reichen Lohn versprochen, wenn sie die Tat auf sich nähme. Für den betroffenen Verteidiger stellten sich nach dieser Erklärung ethische Fragen – aber der vertrauliche Hinweis auf ihre Unschuld war für den Anwalt äußerst glaubwürdig. Und das Urteil, an dem er mitgewirkt hatte, war für ihn objektiv ein Fehlurteil; auch wenn er erkenntnistheoretisch gesehen nicht wissen konnte, wie es nun tatsächlich gewesen ist.
Der Clou bei dieser Betrachtung besteht in Fällen wie diesen darin, dass Menschen zwar auf der Ebene der Lebenswelt meinen, sie würden einen Sachverhalt rekonstruieren, während sie – auf der Metaebene der wissenschaftlichen Reflektion betrachtet – Sachverhalte durch Kommunikation erzeugen; im konkreten Fall: die Entlarvung eines Urteils, an dem der Verteidiger mitgewirkt hat, im Nachhinein als ein Fehlurteil. Dahinter steht kein Zynismus und damit ist keine Relativierung von Wahrheit verbunden; für die Agierenden sind in der Selbst- wie Fremdwahrnehmung Vertrauen, Glaubwürdigkeit und unterstellte Ehrlichkeit vielmehr zentrale Kriterien für die Attribution eines Lebenssachverhalts als richtig oder falsch. Halten wir fest: Auf das Erkennen der Wirklichkeit kommt es in der Alltagswelt nicht an; sie wird vielmehr in der Lebenswelt geschaffen. 2. Im Strafverfahren Auch im Strafverfahren spielen theoretische Zweifel, dass es auch hätte anders sein können, keine Rolle. Das ist von der Revisionsrechtsprechung im Zusammenhang mit den Grenzen der Revisibilität tatrichterlicher Feststellungen herausgearbeitet worden: Im „Bereich der vom Tatrichter zu würdigenden Tatsachen ist der menschlichen Erkenntnis bei ihrer Unvollkommenheit ein absolut sicheres Wissen über den Tathergang, demgegenüber andere Möglichkeiten seines Ablaufs unter allen Umständen ausscheiden müßten, verschlossen.“50 Die Rechtsprechung trägt also der epistemologischen Skepsis durchaus Rechnung. Es genügt deshalb für tatrichterliche Sachverhaltsfeststellungen „ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit […], das vernünftige und nicht bloß auf denktheoretische Möglichkeiten gegründete Zweifel nicht zuläßt“.51 Zweifel, die nur „theoretischer Natur“52 sind, können dementsprechend einen Freispruch nicht tragen.53 Bloß mathe49
Vgl. dazu Barton, in: FS Beulke, 2015, S. 605. BGHSt 10, 208 (209); vgl. ferner BGH, NStZ-RR 2004, 238 (240). 51 BGH, StV 1994, 580; der BGH apostrophiert diese Aussage als „st. Rspr.“ und verweist auf BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 5, Einlassung 5, Überzeugungsbildung 20; BGH, NStZ 1988, 236 (237); BGH bei Pfeiffer/Miebach, NStZ 1985, 15 Nr. 17; zu weiteren Fundstellen vgl. KK-Ott, 7. Aufl. 2013, § 261 Rn. 4. 52 BGH, NJW 1993, 605 (607). 50
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matische oder epistemologische Grundsatzzweifel sind bei der tatrichterlichen Beweiswürdigung nicht ausschlaggebend. Hinzu kommt, dass die neuere Rechtsprechung Verantwortung dafür übernommen hat, tatrichterliche Tatsachenfeststellungen auch auf ihre Willkürfreiheit zu überprüfen. „Um [der] Gefahr einer willkürlichen Entscheidung vorzubeugen, muss die Überzeugung des Richters […] auf einer objektiv tragfähigen, verstandesmäßig einsehbaren Tatsachengrundlage beruhen.“54 Übertragen auf Fehlurteile heißt das: Ein faktisches Fehlurteil ist dann gegeben, wenn vernünftige Zweifel an den ursprünglichen tatrichterlichen Tatsachenfeststellungen bestehen. Es kommt nicht darauf an, ob die früheren Sachverhaltsfeststellungen mit mathematischer Gewissheit und unter Beachtung epistemologischer Grundsatzzweifel widerlegt sind – es reicht, wenn die ursprünglichen Feststellungen als willkürlich erscheinen, sie also nicht auf einer objektiv tragfähigen, verstandesmäßig einsehbaren Tatsachengrundlage beruhen. So klar und überzeugend diese Obersätze in der Theorie sind, gibt es doch Kritik an der Praxis, die allerdings nicht den Kern unserer Ausgangsfrage betrifft und insofern auf einem anderen Blatt steht. Diese Kritik betrifft sowohl die Revisionsrechtsprechung als auch die Praxis der Wiederaufnahme. Letztere erweist sich nach Meinung von Experten aus Wissenschaft und Praxis als viel zu restriktiv und rechtsstaatlich bedenklich:55 Die Wiederaufnahmegerichte lassen kaum einmal „vernünftige Zweifel“ daran aufkommen, dass das ursprüngliche Urteil ein Fehlurteil sein könnte, was regelmäßig zum Scheitern des Wiederaufnahmeantrags schon im Additionsverfahren führt. Und was Revisionsgerichte betrifft, haben diese, wie empirische Studien zeigen, in unterschiedlichem Maß Zweifel an der Richtigkeit von Urteilen – nämlich in Abhängigkeit vom Revisionsführer: Bei Revisionen von Staatsanwaltschaften sind nicht nur die Erfolgsquoten ungleich höher, sondern die Senate haben hier auch vergleichsweise häufiger Zweifel an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen in den angefochtenen Urteilen.56 Angeklagtenrevisionen werden dagegen geradezu routinemäßig als offensichtlich unbegründet verworfen – und Revisionsrichter sehen hier sehr selten tatgerichtliche Fehler bei der Beweiswürdigung.57
53 Ähnlich stellt sich dies in rechtsvergleichender Sicht dar. Auch im anglo-amerikanischen Recht wird auf reasonable doubts abgestellt; vgl. Martin, The English Legal System, 8th Ed. 2016, S. 6. 54 KK-Ott (Fn. 51), § 261 Rn. 3 (Hervorhebung nicht übernommen) unter Bezugnahme auf Eisenberg (Fn. 9), Rn. 91. 55 Vgl. aus neuerer Zeit nur den Beitrag von Eschelbach/Geipel/Hettinger/Meller/Wille, GA 2018, 238 (241 ff.). 56 Barton, FS Fezer, 2008, S. 333 (348 ff.). 57 Barton (Fn. 56), S. 333 (348 ff.).
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3. In der empirischen Sozialforschung Zunächst einmal: Es hat – wie gesehen – Forschung zu Fehlurteilen gegeben58 und auch aktuell gibt es einschlägige empirische Sozialforschung.59 Fehlurteilsforschung ist also offensichtlich möglich. Kein Fehlurteilsforscher kann und wird dabei behaupten, dass in den zugrundeliegenden Studien zweifelsfrei zwischen wirklichen und nur vermeintlichen Fehlentscheidungen getrennt werden konnte. Im Bereich der Sozialwissenschaften wäre ein solcher Anspruch auch vermessen, weil es stets um die Untersuchung von menschlich-kommunikativ erzeugten Konstruktionen geht und sozialwissenschaftliche Studien damit „Konstruktionen von Konstruktionen“ darstellen.60 Entscheidend ist etwas ganz anderes, nämlich ob und inwieweit die Studien dazu beitragen können, wissenschaftlich haltbare Aussagen über die jeweiligen Untersuchungsgegenstände zu machen. Das ist ihnen in dem Maß gelungen, in dem sie unter Einhaltung der gebotenen wissenschaftlichen Standards dazu beitragen konnten, neue Wahrheiten zu ergründen. Ohne dies hier vertiefen zu wollen, sind entsprechende Forschungen als umso ertragreicher anzusehen, je eindeutiger die forschungsleitenden Erkenntnis- und Verwertungsinteressen offen gelegt wurden, ferner je klarer die Begriffe geklärt und die Operationalisierung der zu untersuchenden Variablen gelungen ist und schließlich je besser die Gütekriterien empirischer Sozialforschung (Objektivität, Reliabilität, Validität) gewahrt wurden. Prononciert und überspitzt formuliert: Auf das zweifelsfreie Erkennen „der“ Wirklichkeit kann es in empirischen Forschungen nicht ankommen, weil dies auch angesichts der zugrundeliegenden menschlich erzeugten Wirklichkeit gar nicht möglich ist; entscheidend ist vielmehr die Einhaltung der Gütekriterien empirischer Sozialforschung. Wenn wir die genannten nationalen Studien betrachten und zusätzlich noch die Erträge der internationalen Fehlurteilsforschung einbeziehen, schließt sich der Kreis zu den eingangs dargestellten Befunden: Es gibt starke empirische Belege dafür, dass es eine nicht unerhebliche Zahl von Fehlentscheidungen gibt, dass ferner die Fehlerkorrektur durch die Rechtspflege an strukturellen Mängeln leidet61 und dass es gerade auch in Deutschland weiterer Forschung bedarf.
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Vgl. Fn. 1. Wenngleich zuweilen nur als „Beifang“ zu anders formulierten Erkenntnisinteressen; vgl. neben dem schon erwähnten Beitrag von Kinzig (Fn. 10) noch die Fehlurteilsstudie von Böhme (Fn. 9) und die KFN-Studie von Hoffmann/Leuschner, Rehabilitation und Entschädigung nach Vollstreckung einer Freiheitsstrafe und erfolgreicher Wiederaufnahme, KrimZ BMOnline Band 11, 2017; in beiden Studien geht es um erfolgreiche Verfahren nach dem Strafrechtsentschädigungsgesetz. 60 Schütz (Fn. 42), S. 7. 61 Ähnlich die Thesen Nr. 6 und 7 von Kinzig in seinem Beitrag zu Freisprüchen nach UHaft: Die Justiz immunisiere sich weitgehend gegen kritische Erkenntnisse rechtspsychologischer Forschung und ihr sei es nicht gelungen, in adäquater Weise einen Umgang mit möglichen Justizirrtümern zu entwickeln; Kinzig (Fn. 10), S. 81 (105). 59
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IV. Stellungnahme Die Feststellung von Fehlurteilen ist aber nicht nur praktisch möglich, sie ist auch bitter nötig. Damit ist Folgendes gemeint: Wer betont, dass man auch bei einem erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahren epistemologisch nicht ausschließen könne, dass die neue Erkenntnis falsch und das alte Urteil möglicherweise richtig war und wer gegenteilige Auffassungen als zirkulär ansieht,62 der nimmt dem Fehlurteilsbegriff dessen kritisches Potenzial. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn man das Risiko von Fehlurteilen zwar allgemein als „einkalkuliert“ ansieht, aber den Nachweis eines Fehlurteils in concreto für ausgeschlossen hält.63 Auch wenn das sicherlich nicht bezweckt ist, erscheint das Fehlurteilsproblem dann als geradezu naturgegeben, letztlich aber als praktisch nicht auflösbar. Man müsste mit Fehlurteilen leben; es gäbe sie zwar abstrakt, aber nie ein konkret nachweisbares. Wenn man so denkt, dann gibt es keinen plausiblen Aufhänger für Kritik an Gerichtsentscheidungen – egal wie unvernünftig, unplausibel oder gar willkürlich diese im Einzelfall sind. Dadurch wird die Justizpraxis, auch wenn sie im Einzelfall Kritik verdient, de facto legitimiert. Dann wären nicht nur die vielen überzeugenden, gut begründeten Urteile vor unberechtigter Kritik, sondern auch die wenigen zweifelhaften Urteile vor berechtigter Kritik geschützt. Es gibt aber nicht nur ein theoretisches Fehlurteilsrisiko, sondern auch ein praktisches. Gerichten fällt es wie gesehen schwer, Fehler zu erkennen und vor allem eigene einzugestehen. Immerhin sehen sie, wie zuvor dargestellt, die allgemeinen Risiken von Fehlurteilen.64 Am ehesten scheint ihnen das Eingeständnis eines konkreten Fehlurteils dann möglich, wenn Dritte – und nicht die Gerichte – dafür in Regress genommen werden können, wie dies bspw. im Fall BGH NJW 1964, 2402 einschlägig war, in welchem der Kläger vom Land Schadensersatz für eine fehlerhaft erfolgte Entziehung der Fahrerlaubnis forderte. Der BGH hielt den Amtshaftungsanspruch für unbegründet (§ 839 Abs. 1 S. 2 BGB) und verwies den Kläger auf die Möglichkeit, seinen Verteidiger in Regress zu nehmen. Zur Begründung führte er aus: Zwar hätten die Gerichte die Pflicht, von sich aus die materielle Wahrheit zu erforschen. „Aber gerade mit Rücksicht auf das nur unvollkommene menschliche Erkenntnisvermögen und die niemals auszuschließende Möglichkeit menschlicher Irrtümer“ sehe das Gesetz den Verteidiger als Helfer für den Beschuldigten vor.65 So richtig die Begründung im konkreten Fall auch ist, man würde sich gleichwohl wünschen, dass Revisions- und Wiederaufnahmegerichte ähnlich dächten, wenn es um Fehler geht, für die sie allein zu haften hätten. 62 „Die Handlungsanweisung an den Tatrichter, so wie sie von der h.M. erfasst wird, ist zirkulär“; Kotsoglou, JZ 2017, 123 (126). 63 Kotsoglou, JZ 2017, 123 (129). 64 Vgl. Fn. 50. 65 BGH, NJW 1964, 2402 (2403).
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Wie auch immer, eine besonders ausgeprägte Bereitschaft zur Entwicklung einer Kultur zur Korrektur von Justizirrtümern lässt sich den Entscheidungen der Revisions- und Wiederaufnahmegerichte wohl eher nicht entnehmen. Wie wohltuend und bescheiden sind dagegen die Worte Peters, die er nicht nur an Richter, sondern an alle Juristen richtet: „Die Tatsache des Justizirrtums bringt dem Juristen den hohen Grad seiner Verantwortung zum Bewußtsein. Die Befassung mit Fehlurteilen zeigt ihm, daß die Schwierigkeiten seines Berufs nicht allein in den theoretischen Problemen, sondern auch in der praktischen Verwirklichung liegen. Eine Fülle rechtlicher Streitfragen würde in den Hintergrund treten, wenn man sich wirklich dessen bewußt würde, wo die Gründe falscher Entscheidungen liegen.“66
Fehlurteilsforschung ist also geboten, weil sie innerhalb der Rechtspflege ein Bewusstsein dafür schaffen kann, dass und in welchem Maße jene fehleranfällig ist. Fehleranalysen gestatten es, Konsequenzen aus Versäumnissen zu ziehen und Fehlurteile zu reduzieren. Forschungsergebnisse zum tatsächlichen Vorkommen von Fehlurteilen können als Appell an die beteiligten Akteure dienen: Jene sollen sich nicht nur der theoretischen Fehleranfälligkeit der Rechtspflege bewusst sein, sondern auch ihres möglichen eigenen Beitrags und deshalb alles tun, um eigene Fehler zu vermeiden. Ein letzter Gedanke: Ein Rechtsstaat, in dem Kritik an willkürlichen Entscheidungen nicht greifen würde und Fehlurteile weder feststellbar noch korrigierbar wären, verlöre letztlich seine Legitimität. Der Rechtsstaat lebt auch von der Hoffnung der Bürger, Unrecht zu erkennen und korrigieren zu können. Fehlurteilsforschung kann Transparenz erzeugen, die dazu beiträgt, das Vertrauen der Bevölkerung in die Rechtspflege und in den Rechtsstaat zu stärken. Oder in den Worten von Ulrich Eisenberg, dessen gesamtes Werk durch den Einsatz für rechtsstaatliche Garantien und die Hoffnung, damit Gerechtigkeit zu erzeugen, gekennzeichnet ist: „Im Rahmen eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens (Art. 1 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3 GG) muss idealiter das Bemühen darum sichergestellt sein, dass jede Strafverfolgung und strafrechtliche Verurteilung auf wahrer materieller Grundlage beruht.“67
Halten wir fest: Es gibt konkrete Fehlurteile, die Fehlurteilsforschung muss sich ihrer annehmen; und sie müssen in der Praxis korrigiert werden.68
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Peters (Fn. 24), S. 606. Eisenberg (Fn. 9), Rn. 2. 68 Für wertvolle Hilfe bei der Erstellung dieses Beitrags danke ich Antonia Bahrdt, Jacqueline Gelhardt und Oliver Nißing. 67
Straftaten gegen Geflüchtete Vorüberlegungen zu einer empirischen Untersuchung Von Ingke Goeckenjan
I. Einführung Die Themen Zuwanderung und Asyl sowie der Umgang mit Geflüchteten bestimmen in Deutschland und europaweit seit 2015 die politischen und medialen Debatten. Hierzulande hat sich bekanntlich die öffentliche Wahrnehmung vor allem im Zusammenhang mit der Kölner Silvesternacht zum Jahreswechsel 2015/16 stark verschoben.1 Seither wird die Flüchtlingsaufnahme in erster Linie als Problem für die innere Sicherheit diskutiert; die aufgenommenen Geflüchteten werden vor allem als potentielle Straftäter wahrgenommen. Dass Geflüchtete vielfach selbst von Gewalt und Straftaten betroffen sind – in ihren von Kriegen in Mitleidenschaft gezogenen Herkunftsländern oder auf der oft lebensgefährlichen Flucht und nicht zuletzt in den Ländern, in denen sie Zuflucht suchen –, wird dabei zumeist vollständig ausgeblendet. Es ist eines der vielen Verdienste Ulrich Eisenbergs, in der Kriminologie zu wenig beachtete Personengruppen wissenschaftlich sichtbar zu machen und damit auch zur Wahrnehmung von Interessen und zur Durchsetzung von Rechten Marginalisierter beizutragen. Für ein in diesem Sinne noch uneingelöstes Forschungsdesiderat – die Untersuchung der Viktimisierungserfahrungen von Geflüchteten2 – sollen im Folgenden einige Vorüberlegungen angestellt werden. Dabei erweist sich auch
1 Siehe dazu nur die Analyse von Arendt/Brosius/Hauck, Publizistik 62, 135 ff. – Zur vorher in der veröffentlichten Meinung überwiegend in den Mittelpunkt gerückten „Willkommenskultur“ vgl. Haller, Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien. Tagesaktueller Journalismus zwischen Meinung und Information, 2017, online abrufbar unter: https://www.otto-brenner-stif tung.de/wissenschaftsportal/informationsseiten-zu-studien/studien-2017/die-fluechtlingskrisein-den-medien/ (zuletzt abgerufen am 17. Juli 2018). 2 Diese Vorüberlegungen beziehen sich auf das von der Verf. mitverantwortete und vom nordrhein-westfälischen Ministerium für Kultur und Wissenschaft finanzierte Projekt „Flucht als Sicherheitsproblem“, in dessen bevorstehendem zweiten Projektteil auch die Viktimisierungserfahrungen von Geflüchteten untersucht werden sollen. Siehe auch online unter http:// flucht.rub.de (zuletzt abgerufen am 17. Juli 2018). – Für die Vorarbeiten zu diesem Beitrag danke ich Frau wiss. Mit. Lara Schartau und Herrn wiss. Mit. Christian Roy-Pogodzik sehr herzlich.
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hier3 die Berücksichtigung der dem großen Lehrbuch4 des Jubilars zugrundeliegenden Systematisierung als erkenntnisreich, um auf relevante Aspekte dieses Forschungsthemas aufmerksam zu machen. Dieser Beitrag ist Ulrich Eisenberg in tief empfundener Dankbarkeit und größter Anerkennung gewidmet.
II. Gegenstand und Aufgabe kriminologischer Untersuchungen von Straftaten gegen Geflüchtete 1. Straftaten als Gegenstand kriminologischer Forschung Nach einem juristisch verstandenen Straftatbegriff5 bilden solche Verhaltensweisen den Gegenstand kriminologischer Forschung, deren Strafbarkeit vom Gesetzgeber in den einzelnen Straftatbeständen festgelegt ist. Für eine gegenstandsangemessene Erfassung von Kriminalitätsphänomenen genügt es jedoch nicht, die Untersuchung auf solche Verhaltensweisen zu beschränken, die von den dafür zuständigen Instanzen in Anwendung der gesetzgeberischen Vorgaben als Straftaten definiert werden. Vielmehr müssen neben den als Straftaten beurteilten Geschehensabläufen auch diejenigen informellen und formellen interaktiven Prozesse der Beurteilung in die Betrachtung einbezogen werden, die überhaupt erst zu einer Definition als Straftat führen.6 Dazu gehören auch Kriminalpolitik und Strafgesetzgebung, einschließlich der Genese strafrechtlicher Normen und der Bedingungen ihrer Erzeugung.7 Deren Relevanz für die Kriminologie ergibt sich schon daraus, dass der Gesetzgeber, indem er die geltenden Straftatbestände festlegt, maßgeblich über die qualitative Struktur der Kriminalität entscheidet.8 Die Besonderheiten des jeweiligen Forschungsgegenstandes sind dabei auf allen Ebenen strafrechtlicher Beurteilung zu berücksichtigen. Dabei stellt sich im Zusammenhang mit Straftaten gegen Geflüchtete das Problem, dass die strafrechtliche Einordnung von Übergriffen und Interessensbzw. Güterverletzungen gegenüber Geflüchteten zwischen den in Betracht kommenden Tatorten (Herkunftsland, Staaten auf der Fluchtroute, Aufnahmeland) erheblich variieren kann. Hinzu kommt, dass in vielen Herkunftsländern keine Staatlichkeit mehr garantiert ist, sodass auch keine geltende Strafrechtsordnung bestimmt werden 3 Wie auch schon in einem anderen dem Jubilar gewidmeten Beitrag, siehe Verf., in: Festschrift für Ulrich Eisenberg zum 70. Geburtstag, 2009, S. 705 ff. 4 Eisenberg, Kriminologie, 6. Aufl. 2005; weitergeführt mit Ralf Kölbel: Eisenberg/Kölbel, Kriminologie, 7. Aufl. 2017. 5 Zu den in der Kriminologie diskutierten Straftatbegriffen vgl. Eisenberg/Kölbel (Fn. 4), § 1 Rn. 30 ff. 6 Eisenberg/Kölbel (Fn. 4), § 1 Rn. 30, 34. 7 Siehe dazu auch Verf., in: Zabel, Strafrechtspolitik. Über den Zusammenhang von Strafgesetzgebung, Strafrechtswissenschaft und Strafgerechtigkeit (im Erscheinen). 8 Eisenberg/Kölbel (Fn. 4), § 22 Rn. 2.
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kann. Im Zusammenhang mit bewaffneten Konflikten kommt es weltweit zu systematischen Angriffen auf die Zivilbevölkerung, die auch Völkerstraftaten darstellen können.9 2. Aufgabe und Selbstverständnis der Kriminologie Welche Forschungsfragen ausgewählt werden, hängt auch davon ab, welches Verständnis die forschende Person von der Aufgabe kriminologischer Forschung hat.10 Dies gilt auch für die Auswahl konkreter Forschungsfragen zum Gegenstand „Straftaten gegen Geflüchtete“. Das Spektrum dessen, wie Kriminologie ihren eigenen Aufgabenbereich definiert, lässt sich typisierend mit den Begriffen „Bedarfsorientierung“ versus „Grundlagenforschung“ abmessen.11 Die Gegenüberstellung soll nicht verdecken, dass in vielen Fällen Mischformen beider Typen praktiziert werden.12 a) Bedarfsorientierte Forschung Die bedarfsorientierte Forschung zielt darauf ab, empirische Grundlagen zur Lösung konkreter Sachfragen zu liefern, die von der Kriminalpolitik und dem Kriminaljustizsystem als drängende Probleme identifiziert werden.13 Oftmals rufen spektakuläre Ereignisse, vor allem aber schwere bzw. – wie im Fall der Kölner Silvesternacht – gehäuft auftretende Straftaten, ein kurzfristiges politisches und mediales Interesse an erfahrungswissenschaftlichen Befunden hervor. Eine solche Bedarfsforschung beschränkt sich zumeist darauf, Kriminalität in ihrer Verhaltensbeschaffenheit zu thematisieren und Effekte einzelner Instrumente der offiziellen Kriminalpolitik zu untersuchen. Auf Grundlage ihrer Befunde sollen dann spezifische Interventionsmöglichkeiten abgeleitet und bestehende Kontrollwirkungen verbessert werden. Durch die Verflechtung mit den Erfordernissen und Erwartungen der Kriminalpolitik sowie den jeweiligen administrativen Strukturen ist der Erkenntnisgewinn anwendungsorientierter Untersuchungen jedenfalls dann begrenzt, wenn diese Einflüsse auf die Auswahl der konkreten Forschungsfragen sowie die (Veröffentlichung der) gewonnenen Ergebnisse nicht mitreflektiert werden. Während das politische und mediale Interesse an Befunden über die Kriminalitätsbelastung von
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Eisenberg/Kölbel (Fn. 4), § 22 Rn. 24. Zum Ganzen Eisenberg/Kölbel (Fn. 4), § 3 Rn. 1 ff. 11 Siehe dazu eingehend bereits Kunz, MschrKrim 1997, 165 ff.; hierzu und zum Folgenden auch Verf. (Fn. 7). 12 So wird etwa in vielen Fällen ein politisches oder behördliches Interesse den Ausschlag für die Aufnahme eines Forschungsvorhabens geben, wohingegen die Auswahl der konkreten Forschungsfragen und der methodischen Vorgehensweisen allein in der Autonomie der Forschenden liegt. 13 Kunz/Singelnstein, Kriminologie, 7. Aufl. 2016, § 1 Rn. 9 ff. 10
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Geflüchteten erheblich ist,14 werden empirische Erkenntnisse über Straftaten gegen Geflüchtete und über deren spezifische Viktimisierungserfahrungen offenkundig deutlich weniger nachgefragt.15 b) Kriminologische Grundlagenforschung Die kriminologische Grundlagenforschung hingegen wählt ihre Forschungsgegenstände autonom aus.16 Kritische Distanz und Unabhängigkeit von tagespolitischen Erfordernissen ermöglichen langfristiger angelegte Untersuchungen, die grundlegende Zusammenhänge erschließen, formulieren und überprüfen. Dadurch kann auch das soziale Konstrukt der Kriminalität in seiner Geschaffenheit durch Gesellschaft und Staat stärker in den Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses gerückt werden. Kriminalpolitische Entscheidungen und die Entscheidungen, in die sie 14 Vgl. nur die jüngeren Publikationen: Dehos, The Refugee Wave to Germany and Its Impact on Crime, 2017, online abrufbar unter: https://www.rwi-essen.de/media/content/pages/ publikationen/ruhr-economic-papers/rep_17_737.pdf (zuletzt abgerufen am 17. Juli 2018); Feltes/Goeckenjan/Hoven/Ruch/Schartau/Roy-Pogodzik, Zur Kriminalität von Geflüchteten zwischen 2014 und 2016 in NRW. Forschungskonzeption der Analyse der registrierten Kriminalität im Rahmen des Projekts „Flucht als Sicherheitsproblem“, 2017, online abrufbar unter: http://flucht.rub.de/images/arbeitspapiere/arbeitspapier01_flucht_als_sicherheitspro blem.pdf (zuletzt abgerufen am 17. Juli 2018); Glaubitz/Bliesener, Analyse der Entwicklung der Kriminalität von Zuwanderern in Schleswig-Holstein, 2018, online abrufbar unter: https:// kfn.de/wp-content/uploads/Forschungsberichte/FB_137.pdf (zuletzt abgerufen am 17. Juli 2018); Haverkamp, Geflüchtete Menschen in Deutschland. Zuwanderung, Lebenslagen, Integration, Kriminalität und Prävention – ein Überblick, 2. Aufl. 2016, online abrufbar unter: https://www.kriminalpraevention.de/files/DFK/schutz_von_fluechtlingen/2017_gefluechtete_ menschen_in_deutschland.pdf (zuletzt abgerufen am 17. Juli 2018); Pfeiffer/Baier/Kliem, Zur Entwicklung der Gewalt in Deutschland. Schwerpunkte: Jugendliche und Flüchtlinge als Täter und Opfer, 2018, online abrufbar unter: https://www.zhaw.ch/storage/shared/sozialearbeit/ News/gutachten-entwicklung-gewalt-deutschland.pdf (zuletzt abgerufen am 17. Juli 2018); Walburg, Migration und Kriminalität. Aktuelle kriminalstatistische Befunde, 2016, online abrufbar unter: https://mediendienst-integration.de/fileadmin/Dateien/Gutachten_Walburg_Kri minalitaet_Migration.pdf (zuletzt abgerufen am 17. Juli 2018). 15 Ausnahmen bilden etwa Teile der Untersuchungen von Fleischer/Kudlacek/Baier, Zuwanderung nach Niedersachsen, Ergebnisse einer migrationssoziologischen Untersuchung, 2017, S. 47 ff., online abrufbar unter: https://kfn.de/wp-content/uploads/Forschungsberichte/ FB_140.pdf (zuletzt abgerufen am 17. Juli 2018) und Brücker/Rother/Schupp, IAB-BAMFSOEP-Befragung von Geflüchteten: Überblick und erste Ergebnisse, 2016, S. 22 ff., online abrufbar unter: https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/Forschungsberich te/fb29-iab-bamf-soep-befragung-gefluechtete.pdf?__blob=publicationFile (zuletzt abgerufen am 17. Juli 2018). – Zu einem Überblick über den Stand der Forschung siehe Feltes/ Goeckenjan/Hoven/Ruch/Schartau/Roy-Pogodzik, Opfererfahrungen von Geflüchteten in Deutschland. Übersichtsarbeit zum Stand der Forschung, 2018, online abrufbar unter: http:// flucht.rub.de/images/arbeitspapiere/arbeitspapier02_flucht_als_sicherheitsproblem.pdf (zuletzt abgerufen am 17. Juli 2018). Um etwas zur Schließung dieser Forschungslücke beizutragen, versteht das Projekt „Flucht als Sicherheitsproblem“ (siehe Fn. 2) seinen Projekttitel in einem umfassenden Sinne und wird vor allem im zweiten Projektteil auch Sicherheitsbelange der Geflüchteten selbst zum Forschungsgegenstand machen. 16 Siehe dazu näher Verf. (Fn. 7).
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münden, sind zugleich Ausdruck gegenwärtiger politischer Machtverhältnisse. Welche gesellschaftlichen Gruppen auf welche Weise welche Interessen durchsetzen, ist damit auch eine zentrale kriminologische Fragestellung. Eine auf individualisierende Ursachenforschung und Verbesserung einzelner Handlungsinstrumente begrenzte Sichtweise kann zu ihrer Beantwortung wenig beitragen. Werden Kriminalität und ihre Kontrolle hingegen ausschließlich mit Blick auf Machtverhältnisse und Interessenlagen untersucht und kritisiert, bleibt die kriminologische Forschung losgelöst von konstruktiven Vorschlägen. Sie verschanzt sich in ihrer Gegnerschaft zur offiziellen Kriminalpolitik ohne zur Verbesserung sozialer Bedingungen beizutragen.17 c) Eigenes Verständnis von der Aufgabe kriminologischer Forschung Nach dem eigenen Verständnis der Verfasserin ist die Kriminologie als Hilfswissenschaft der Kriminalpolitik unzutreffend beschrieben.18 Sie ist gerade nicht darauf beschränkt, Verbesserungsvorschläge zu strafrechtlichen Anwendungsproblemen zu unterbreiten. Vielmehr ist sie eine Grundlagen-Wissenschaft, die autonom über ihren Forschungsgegenstand und ihre Methoden entscheidet. Das schließt auch eine kritisch-distanzierte Haltung gegenüber der offiziellen Kriminalpolitik ein, die es erlaubt, über die Grenzen des bestehenden Kriminaljustizsystems hinauszudenken. Dafür bedarf kriminologische Forschung auch einer zeitlichen Kontinuität; diese muss vor Zugriffen durch zunehmende Befristungen von Forschungsverträgen und einer sich ausweitenden Abhängigkeit von Drittmitteln bewahrt werden.19 Andererseits kann die Kriminologie ihre Themen nicht in sich selbst finden, sondern nur in den gesellschaftlichen Entwicklungen, in die sie selbst eingebettet ist. Sie sollte sich daher auch derjenigen drängenden Fragen annehmen, die von der Kriminalität als sozialem Phänomen und der mit ihr befassten Kriminalpolitik aufgeworfen werden. Indem Kriminologie überprüft, ob bestehende Instrumentarien die erstrebten Wirkungen entfalten oder wie sie verbessert werden können, kann sie die Voraussetzungen für eine rationalere Kriminalpolitik schaffen. Gegenwärtig erscheint es zunehmend dringlicher, der Kriminalpolitik einen erfahrungswissenschaftlichen Spiegel vorzuhalten und sie damit anzuhalten, ihre Debatten und Entscheidungen (wieder) an Kriterien wie Transparenz, Begründetheit, Überprüfbarkeit und Korrekturfähigkeit auszurichten. Kriminologisch Forschende müssen sich daher nicht im Sinne eines entwederoder zwischen Bedarfsorientierung und Autonomieanspruch entscheiden.20 Wenn die Kriminologie ein umfassendes Bild von Kriminalität und ihrer Kontrolle vermitteln will, muss sie die Devianz in ihrer Verhaltenbeschaffenheit ebenso im Blick behalten wie in ihrer sozialen Geschaffenheit. Dabei sollte sie – in einer Formulierung 17
So bereits Verf. (Fn. 7). Zur eigenen Positionsbestimmung siehe auch Verf. (Fn. 7). 19 Vgl. auch Eisenberg/Kölbel (Fn. 4), § 3 Rn. 8. 20 Anders jedoch der Vorschlag von Kunz, MschrKrim 1997, 165 (176 ff.).
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von Karl-Ludwig Kunz – einer „Strategie der Humanität“ verpflichtet sein, also einerseits an der Eindämmung von Leid als Folge von Kriminalität mitwirken, andererseits aber auch zu einer Linderung von Leid beitragen, das durch die Verbrechenskontrolle selbst verursacht wird, vor allem dann, wenn dieses sozial ungerecht, präventiv unnötig oder gar kontraproduktiv ist.21 Eine distanzierte Sichtweise fällt kriminologisch Forschenden aber schon deshalb schwer, weil Straftaten und Bestrafungsvorgänge ihre Untersuchungsgegenstände bilden. Diese schaffen nicht nur menschliches Leid, sondern lösen auch Emotionen aus, die sich zu Werthaltungen verdichten können, die wiederum die Wahrnehmung prägen.22 Als derjenige Teilbereich sozialen Handelns, der die negativste soziale Bewertung aufweist, kann Kriminalität kaum unbefangen thematisiert, dafür aber umso leichter politisch instrumentalisiert werden. Während dies die Arbeit kriminologisch Forschender erschwert, macht es das Strafrecht zu einem der beliebtesten Spielbälle der Politik. Beide Aspekte spitzen sich bei der Untersuchung von Straftaten von und gegenüber Geflüchteten noch weiter zu: Die überhitzte Debatte, die momentan über Migrationspolitik und Asylfragen geführt wird,23 erschwert eine allein wissenschaftlichen Maßstäben verpflichtete Herangehensweise zusätzlich, macht sie aber eben darum besonders dringlich. 3. Begriffliche Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes Will man sich der Untersuchung der Viktimisierungserfahrungen Geflüchteter widmen, bedarf es einer begrifflichen Klärung der gemeinten Personengruppe. Als „Flüchtlinge“ – oder in anderer Terminologie, die eine mitschwingende begriffliche Verdinglichung vermeiden soll: „Geflüchtete“ – werden im allgemeinen Sprachgebrauch gemeinhin Personen bezeichnet, die ihren Lebensmittelpunkt aufgrund politischer Zwänge, gewalttätiger Auseinandersetzungen oder anderer lebensbedrohlicher Notlagen vorübergehend oder dauerhaft verlassen und sich auf die Flucht begeben haben. Im rechtlichen Sinne ist der Begriff enger gefasst. Eine Definition findet sich in der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951, auf die auch § 3 Abs. 1 AsylG Bezug nimmt: „Ein Ausländer ist Flüchtling […], wenn er sich […] aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe […] außerhalb des Landes (Herkunftslandes) befindet […].“ Darüber hinaus ergeben sich weitere Formen legalen Aufenthalts für Schutzsuchende nach nationalem und internationalem Recht für Asylberechtigte nach Art. 16a Abs. 1 GG, für subsidiär Schutzberechtigte (§ 4 Abs. 1 AsylG), für national subsidiär Schutzberechtigte (§ 60 Abs. 5, 7 Aufent21
Kunz, MschrKrim 1997, 165 (182). Kunz, MschrKrim 1997, 165 (167 f.); Kunz/Singelnstein (Fn. 13), § 3 Rn. 1 ff. 23 Siehe dazu etwa Baumann, Die Angst vor den anderen – Ein Essay über Migration und Panikmache, 2016; Küpper/Rees/Zick, in: Melzer, Gespaltene Mitte – Feindselige Zustände. Einstellungen in Deutschland, 2016, S. 83 ff. 22
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hG), für sog. Kontingentflüchtlinge (§§ 23, 24 AufenthG), für Geduldete (§ 60a AufenthG) und für Asylbewerber im laufenden Asylverfahren (§ 14 AsylG). Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass die so zusammengesetzte Gruppe der Geflüchteten in ethnischer, kultureller, sozialer und religiöser Hinsicht äußerst heterogen ist.24 Dennoch dominiert sie die gegenwärtige sicherheitspolitische Debatte und wird hier oft nicht differenziert genug wahrgenommen. Für ein Forschungsdesign ist weiter zu klären, ob Personen mit endgültig abgelehntem Asylantrag oder ohne legalen Aufenthaltsstatus in die Untersuchung mit einbezogen werden. Einerseits können sie untersuchungswürdige besondere Risikofaktoren aufweisen, andererseits aber erscheint der methodische Zugang zu ihnen besonders erschwert.
III. Wege kriminologischer Untersuchungen von Straftaten gegen Geflüchtete Um Erkenntnisse über Straftaten gegen Geflüchtete zu gewinnen, können verschiedene methodische Wege beschritten werden. 1. Auswertung von Statistiken und Daten über Hellfeldkriminalität Ein Zugangsweg ist die Auswertung offizieller Statistiken hinsichtlich der darin ausgewiesenen Hellfeldkriminalität. Im Hinblick auf in Deutschland gegenüber Geflüchteten begangene Straftaten können etwa die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) oder das ab dem Erfassungszeitraum 2015 jährlich veröffentlichte Bundeslagebild „Kriminalität im Kontext von Zuwanderung“ ausgewertet werden. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass die offiziellen Kriminalstatistiken ganz allgemein nur sehr eingeschränkt Rückschlüsse auf die Kriminalitätswirklichkeit erlauben. Zahlreiche Einflussfaktoren (v. a. Veränderungen im Anzeigeverhalten, in polizeilichen Kontrollstrategien oder bei der Gesetzeslage) beeinflussen das Ausmaß der registrierten Straftaten, ohne dass sich damit die Kriminalitätswirklichkeit verändert.25 Außerdem sagt die Zahl der polizeilich erfassten Fälle und Tatverdächtigen nichts darüber aus, ob sich ein Tatverdacht im weiteren Verlauf des Strafverfahrens bestätigt und wie hoch der Anteil späterer Verurteilungen ist. 24 Siehe nur die Angaben über die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Staatsangehörigkeiten, zu Geschlechter- und Altersgruppen sowie die Angaben zu unterschiedlichen Entscheidungsarten über Asylanträge Bundesamt für Migration, Aktuelle Zahlen zu Asyl, Juni 2018, online abrufbar unter: http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Downloads/Info thek/Statistik/Asyl/aktuelle-zahlen-zu-asyl-juni-2018.pdf?__blob=publicationFile (zuletzt abgerufen am 17. Juli 2018). 25 Vgl. etwa Eisenberg/Kölbel (Fn. 4), § 15 Rn. 14 ff.; Feltes/Goeckenjan/Hoven/Ruch/ Schartau/Roy-Pogodzik (Fn. 14). – Zum Anzeigeverhalten siehe näher unten IV.
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Speziell im Hinblick auf Straftaten von und gegenüber Geflüchteten ist zu beachten, dass bei der polizeilichen Erfassung abweichende Begrifflichkeiten verwendet werden. Dabei wird bei Tatverdächtigen nicht die Eigenschaft, Geflüchteter zu sein, erfasst; stattdessen wird – allerdings auch erst seit 2016 – bei der Fallerfassung das Schlagwort „Zuwanderer“ verwendet. Darunter werden Personen verstanden, die als Angehörige eines Nicht-EU-Staates einzeln oder in Gruppen in das Bundesgebiet einreisen, um sich hier voru¨ bergehend oder dauerhaft aufzuhalten.26 Dieser Personenkreis umfasste zunächst Personen mit Aufenthaltsstatus „Asylbewerber“, „Duldung“, „Kontingentflüchtling/Bürgerkriegsflüchtling“ und „unerlaubter Aufenthalt“. Seit 2017 sind vom Begriff Zuwanderer zusätzlich „International/national Schutzberechtigte und Asylberechtigte“ (also Personen mit positiv abgeschlossenem Asylverfahren) erfasst, die vorher unter die Kategorie „sonstiger erlaubter Aufenthalt“ fielen.27 Bei den als Opfer von Straftaten registrierten Personen werden hingegen andere Zuordnungskriterien verwendet („Asylbewerber/Geflüchtete“); daher sind beide Personengruppen nur sehr eingeschränkt vergleichbar.28 Anhand der Daten, die im Verfassungsschutzbericht veröffentlicht werden, lassen sich Aussagen über das Ausmaß der registrierten politisch motivierten Kriminalität gegen Geflüchtete ableiten – etwa im Hinblick auf Übergriffe auf Flüchtlingsunterkünfte. Auch hierbei sind die Besonderheiten der Erfassungsmodalitäten zu berücksichtigen. Zwar gelten bundesweit dieselben Kriterien für die Einordnung einer (mutmaßlichen) Straftat als politisch motiviert bzw. extremistisch; Änderungen in der Kategorisierung29, weite Interpretationsspielräume und Unterschiede in der lokalen und regionalen polizeilichen Praxis wirken sich jedoch deutlich auf die Erfassung dieser Straftaten aus.30 Nichtregierungsorganisationen, Zeitungen und Wissenschaft zählten wiederholt deutlich mehr Fälle von rechtsextremen Straftaten, als es die polizei26
Bundesministerium des Innern, Bericht zur Polizeilichen Kriminalstatistik 2017, S. 23. Bundeskriminalamt, Kriminalität im Kontext von Zuwanderung. Bundeslagebild 2017, 2018, S. 3 online abrufbar unter: https://www.bka.de/DE/AktuelleInformationen/StatistikenLa gebilder/Lagebilder/KriminalitaetImKontextVonZuwanderung/KriminalitaetImKontextVonZu wanderung_node.html (zuletzt abgerufen am 17. Juli 2018). 28 Bundeskriminalamt, Bundeslagebild 2017 (Fn. 27), S. 50 Fn. 35. – Im Gegensatz zur Tat-/Tatverdächtigenerfassung des Lagebildes werden auch nicht aufgeklärte Fälle in die Statistik aufgenommen, weshalb häufig keine Tatverdächtigen-Opfer-Beziehung angegeben werden kann. Weiterhin ist zu beachten, dass bei der Opferzählung des BKA jede Opferwerdung einzeln erfasst wird. Eine Person, die mehrfach Opfer wurde, wird mehrfach in die Statistik aufgenommen; daher entsprechen die Opferzahlen nicht der tatsächlichen Personenanzahl der Opfer. 29 Siehe dazu jüngst Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2017, S. 23, online abrufbar unter: https://www.verfassungsschutz.de/embed/vsbericht-2017.pdf (zuletzt abgerufen am 17. Juli 2018). 30 Falk, Kriminalistik 2001, 9 ff.; Feustel, in: Forum für kritische Rechtsextremismusforschung, Ordnung. Macht. Extremismus. Effekte und Alternativen des Extremismus-Modells, 2011, S. 143 ff. 27
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liche Erfassung nahelegt.31 Es kann davon ausgegangen werden, dass die Zahl der rechtsextremistischen Straftaten (noch immer) höher liegt, als sich aus den polizeilichen Hellfelddaten ergibt.32 Neben den veröffentlichten polizeilichen Statistiken und Auswertungen können auch Daten aus polizeilichen Datenverarbeitungssystemen zu wissenschaftlichen Zwecken untersucht werden. So kann etwa die Analyse von Daten aus den polizeilichen Einsatzleitsystemen (für Nordrhein-Westfalen eCEBIUS33) oder den Vorgangsbearbeitungssystemen (für Nordrhein-Westfalen IGVP34) weiteren Erkenntnisgewinn versprechen.35 Vom Einsatzleitsystem eCEBIUS etwa können auch Vorgänge erfasst sein, die im Grenzbereich zwischen Hell- und Dunkelfeld liegen. Hierzu zählen Konfliktlagen und Streitigkeiten, die zwar möglicherweise strafrechtliche Relevanz aufweisen, von der Polizei aber geschlichtet werden und daher nicht zur Anzeige gelangen. Dies kann etwa bei Streitigkeiten und Auseinandersetzungen in oder im Umfeld von Flüchtlingsunterkünften relevant werden. Diese Vorgänge finden aufgrund der informellen Erledigung keinen Eingang in das Vorgangsbearbeitungssystem oder in die PKS, sind aber im Einsatzleitsystem gespeichert. Das Vorgangsbearbeitungssystem IGVP hat ebenfalls einen höheren Informationsgehalt und erlaubt damit mehr Auswertungsmöglichkeiten als die PKS, die eine um personenbezogene Daten bereinigte Teilmenge der IGVP-Daten darstellt. Es bietet ausführlichere Angaben zum soziostrukturellen Hintergrund, zu beteiligten Personen und zu den Adressdaten. Zu Tathintergründen kann der im IGVP enthaltene Abschlussbericht Aufschluss geben und auch qualitativ ausgewertet werden. Über die schon beschriebenen Einschränkungen hinaus können alle genannten Statistiken und Datenbestände ohnehin (fast36) ausschließlich über die Situation im Aufnahmeland Deutschland Auskunft geben. Eine – auch nur annäherungsweise – vergleichbare statistische Erfassung in den verschiedenen Staaten, in denen Geflüchtete Opfer von Straftaten werden, gibt es nicht. Zudem ist in vielen Herkunftsstaaten oder Ländern auf der Fluchtroute keine intakte Strafrechtsordnung und noch weniger ein statistisches Erfassungssystem vorhanden.
31 Brausam, Todesopfer rechter Gewalt seit 1990, 2017, online abrufbar unter: https:// www.mut-gegen-rechte-gewalt.de/news/chronik-der-gewalt/todesopfer-rechtsextremer-und-ras sistischer-gewalt-seit-1990 (zuletzt abgerufen am 17. Juli 2018). 32 Bericht des NSU-Untersuchungsausschusses, 2013, BT-Drs. 17/14600, S. 898. 33 Erweitertes Computer-Einsatz-Bearbeitungs- und Informations-Unterstützungssystem. 34 Integrationsverfahren Polizei. 35 Zum Ganzen näher Feltes/Goeckenjan/Hoven/Ruch/Schartau/Roy-Pogodzik (Fn. 14). 36 Sieht man von Vorfällen ab, die sich im Ausland ereignet haben, aber in Deutschland registriert werden. So wurden beispielsweise von der Zentralstelle für die Bekämpfung von Kriegsverbrechen und weiteren Straftaten nach dem Völkerstrafgesetzbuch (ZBKV) seit 2015 ca. 4.300 völkerstrafrechtlich relevante Hinweise registriert, die sich größtenteils auf Tatgeschehnisse in den Konfliktregionen Syrien und Irak beziehen (Bundeskriminalamt, Bundeslagebild 2017 [Fn. 27], S. 58).
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2. Dunkelfelduntersuchungen Zu der Analyse von Hellfelddaten bilden Dunkelfeldstudien eine wichtige Ergänzung, weil sie Aufklärung auch über nicht offiziell registrierte Straftaten ermöglichen. So können mündliche oder schriftliche Befragungen von Geflüchteten durchgeführt werden, in denen sie gebeten werden anzugeben, ob sie in ihrem Herkunftsland, auf der Fluchtroute oder in dem Aufnahmeland Deutschland Opfer von (bestimmten) Straftaten geworden sind.37 Dieses Vorgehen hat den Vorteil, dass Erkenntnisse über die Erlebnisse im gesamten Verlauf der Fluchtgeschichte und nicht nur in Deutschland gewonnen werden können. Zudem ermöglichen es Befragungen, die Geflüchteten selbst zu Wort kommen zu lassen und ihre Erfahrungen zum Gegenstand der Untersuchung zu machen, während nicht nur in den Medien38, sondern auch in der Wissenschaft zumeist nur über sie berichtet wird. Mit quantitativ angelegten Befragungsstudien können vor allem Erkenntnisse über das Ausmaß und die Ausprägungen von Opfererfahrungen gewonnen werden; qualitative Interviews ermöglichen dagegen auch die Untersuchung dahinterliegender Ursachen und Mechanismen. Bei solchen Befragungen ist jedoch zusätzlich zu deren allgemeinen methodischen Problemen39 die besondere Situation Geflüchteter zu bedenken, vor allem dann, wenn sie sich noch in einem laufenden Asylverfahren befinden. Selbst bei zugesicherter Anonymität kann die Bereitschaft zu wahrheitsgemäßen Angaben stark eingeschränkt sein – etwa aus Furcht vor negativen Konsequenzen für den Aufenthaltsstatus. Hinzu kommen Sprachbarrieren, unterschiedlich ausgeprägte Alphabetisierung und erhebliche kulturelle Unterschiede und Spezifika. Aufgrund der sensiblen Thematik der Interviews sind zudem methodische und vor allem auch forschungsethische Besonderheiten vor, während und nach Durchführung der Interviews zu berücksichtigen.40 Denkbar, aber mit besonderen rechtlichen, administrativen und forschungsethischen Herausforderungen behaftet ist die Durchführung teilnehmender Beobachtungen, etwa in Unterbringungseinrichtungen für Geflüchtete.
37 Siehe zu dieser Vorgehensweise etwa Fleischer/Kudlacek/Baier (Fn. 15); Brücker/Rother/Schupp (Fn. 15). 38 Siehe dazu nur Goedeke Tort/Guenther/Ruhrmann, Medien & Kommunikationswissenschaft 2016, 497 ff. 39 Eisenberg/Kölbel (Fn. 4), § 16 Rn. 1 ff., 11 ff. 40 Vgl. etwa Haug/Lochner/Huber, Methodische Herausforderungen der quantitativen und qualitativen Datenerhebung bei Geflüchteten, in: Deutsche Gesellschaft für Soziologie, Kongressband 38, 2017; Mangold, Methodische Herausforderungen bei der qualitativen Befragung von Flüchtlingen und Migrant/-innen in Deutschland, in: Deutsche Gesellschaft für Soziologie, Kongressband 38, 2017; Helfferich, in: Helfferich/Kavemann/Kindler, Forschungsmanual Gewalt. Grundlagen der empirischen Erhebung von Gewalt in Paarbeziehungen und sexualisierter Gewalt, 2016, S. 121 ff.
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IV. Zusammenhänge strafrechtlicher Beurteilung von Geschehensabläufen Im Zusammenhang mit den registrierten Hellfelddaten (oben III.1.) wurde darauf hingewiesen, dass bei deren Auswertung und Einordnung immer die Bedingungen deren Zustandekommens zu reflektieren sind. Eine zentrale Filterwirkung entfaltet dabei das Anzeigeverhalten von Betroffenen bzw. Beobachtern mutmaßlich begangener Straftaten. Dieses hängt höchst selektiv davon ab, ob ein strafrechtlich relevanter Geschehensablauf als solcher wahrgenommen und beurteilt wird und eine ausreichend große Motivation vorliegt, ihn den Strafverfolgungsbehörden zur Kenntnis zu bringen. Exemplarisch für die interaktiven Prozesse, die überhaupt erst zu einer Definition als Straftat führen, soll daher auf die Besonderheiten des Anzeigeverhaltens bei (mutmaßlichen) Straftaten gegen Geflüchtete im Aufnahmeland eingegangen werden. 1. Anzeigebereitschaft Geflüchteter im Aufnahmeland In Dunkelfeldstudien zeigt sich ganz allgemein der Befund, dass die in den offiziellen Statistiken angegebenen Zahlen zur Opferwerdung erheblich unter der Anzahl der von den Befragten selbst berichteten Viktimisierungen liegen.41 Bei Geflüchteten ist von einer noch höheren Diskrepanz zwischen registrierten und erlebten Viktimisierungen auszugehen.42 Sprachbarrieren, von Vorerfahrungen geprägte Einstellungen zu staatlichen Institutionen und die eigene als prekär erlebte Position als Asylsuchender können für Geflüchtete Hindernisse darstellen, Straftaten bei der Polizei anzuzeigen.43 Eine neuere Studie zur Situation in nordrhein-westfälischen Unterbringungseinrichtungen zeigt, dass geflüchtete Frauen bereits erstattete Anzeigen wegen häuslicher Gewalt oder Gewalt gegen die eigenen Kinder aus Angst vor dem Partner oder anderen Geflüchteten aus derselben Herkunftsregion häufig wieder zu-
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Birkel/Hummelsheim-Doss/Leitgöb-Guzy/Oberwittler, Opfererfahrungen und kriminalitätsbezogene Einstellungen in Deutschland. Vertiefende Analysen des Deutschen Viktimisierungssurvey 2012 unter besonderer Berücksichtigung des räumlichen Kontextes, 2017, online abrufbar unter: https://www.bka.de/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/Publikati onsreihen/PolizeiUndForschung/1_49_OpfererfahrungenUndKriminalitaetsbezogeneEinstellun genInDeutschland.pdf?__blob=publicationFile&v=4 (zuletzt abgerufen am 17. Juli 2018). 42 Siehe dazu näher bereits Feltes/Goeckenjan/Hoven/Ruch/Schartau/Roy-Pogodzik (Fn. 15). 43 European Union Agency for Fundamental Rights, Experience of discrimination, social marginalisation and violence: A comparative study of Muslim and non-Muslim youth in three EU Member States, 2010; Müller/Schröttle, Lebenssituation, Gesundheit und Sicherheit von Frauen in Deutschland. Eine repräsentative Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland, 2004, Teilpopulation 1 – Flüchtlingsfrauen, S. 93, online abrufbar unter: https:// www.bmfsfj.de/bmfsfj/studie-lebenssituation-sicherheit-und-gesundheit-von-frauen-in-deutsch land/80694 (zuletzt abgerufen am 17. Juli 2018).
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rückziehen.44 Eine qualitative Befragung geflüchteter Frauen ergab, dass diese im Fall erlebter Gewalt aus Angst vor Behörden und erwarteten Nachteilen für sich und/oder ihre Familie nur unter großen Vorbehalten Instanzen der sozialen Kontrolle aufsuchen.45 Auch in der qualitativen Befragung des Deutschen Jugendinstituts e.V. (DJI) zeigte sich, dass geflüchtete Jugendliche, insbesondere solche afrikanischer Herkunft, im Kontakt mit der Polizei häufig den Eindruck hatten, unter Generalverdacht zu stehen und verdachtsunabhängig kontrolliert zu werden.46 Dadurch nahmen die geflüchteten Jugendlichen die Polizei nicht als unabhängige Beschwerde- und Meldeinstanz wahr. Weiterhin befürchteten die befragten Jugendlichen, dass eine Beschwerde oder eine Anzeige negative Auswirkungen auf ihr Asylverfahren haben könnte und dass den Schilderungen ihrer Opfererlebnisse kein Glauben geschenkt werde. Studienergebnisse einer bundesweiten Repräsentativbefragung von Jugendlichen weisen darauf hin, dass einige Migrantengruppen den Kontakt mit der Polizei scheuen und der deutschen Exekutive eine Parteinahme für deutsche Tatverdächtige unterstellen.47 2. Anzeigebereitschaft von in Unterbringungseinrichtungen Tätigen Bei Konflikten oder Übergriffen in Unterbringungseinrichtungen ist zu berücksichtigen, dass auch das dort tätige – etwa für organisatorische Abläufe oder Sicherheit zuständige – Personal die Strafverfolgungsbehörden einschalten kann. Angaben aus der Praxis zufolge ist die Wahrscheinlichkeit des Einschaltens der Polizei in hohem Maß von den organisatorischen Gegebenheiten vor Ort abhängig. Gibt es keinen ständigen Ansprechpartner vor Ort, ist somit auch die Kontrolldichte erheblich gesenkt. Andererseits dürfte die Anzeigewahrscheinlichkeit auch stark davon beeinflusst sein, wie gut interne Konfliktbearbeitungsabläufe ausgebaut sind. Insgesamt zeigt sich, dass es sinnvoll ist, bei Befragungen von Geflüchteten zu ihren Opfererlebnissen auch ihre Reaktionsmuster und Einstellungen zu den Strafverfolgungsbehörden mitzuerheben. Daraus lassen sich Erkenntnisse ableiten, in welchem Verhältnis die Hellfeldkriminalität zu den nicht offiziell bekanntgewordenen Straftaten steht. 44 Christ/Meininghaus/Röing, „All Day Waiting“ – Konflikte in Unterkünften für Geflüchtete in NRW, 2017, S. 34, online abrufbar unter: https://www.connectnrw.de/media/con tent/BICC_Working_paper_Flucht_NRW_2017_05_12.pdf (zuletzt abgerufen am 17. Juli 2018). 45 Müller/Schröttle (Fn. 43), S. 93. 46 Lechner/Huber, Ankommen nach der Flucht. Die Sicht begleiteter und unbegleiteter junger Geflüchteter auf ihre Lebenslagen in Deutschland, 2017, S. 101 ff., online abrufbar unter: https://www.dji.de/fileadmin/user_upload/bibs2017/25854_lechner_huber_ankommen_ nach_der_flucht.pdf (zuletzt abgerufen am 17. Juli 2018). 47 Baier/Pfeiffer/Simonson/Rabold, Jugendliche in Deutschland als Opfer und Täter von Gewalt, 2009, online abrufbar unter: https://kfn.de/wp-content/uploads/Forschungsberichte/ FB_107.pdf (zuletzt abgerufen am 17. Juli 2018).
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V. Zusammenhänge strafrechtlich beurteilter Geschehensabläufe Phänomenologisch lassen sich Straftaten gegen Geflüchtete in solche in ihrem Herkunftsland, auf der Fluchtroute und im Aufnahmeland Deutschland differenzieren.48 Auf die spezifischen Viktimisierungsrisiken sollen im Folgenden einige Schlaglichter geworfen werden. 1. Viktimisierungsrisiken im Herkunftsland und auf der Fluchtroute Ein häufiger Grund für die Flucht sind kriegerische oder bewaffnete Konflikte in den Herkunftsländern.49 Damit verbunden sind Gefahren für Leib und Leben, unzureichende medizinische Versorgung in den Krisengebieten ebenso wie ein mangelhaftes Angebot an Nahrungsmitteln.50 Kriege gehen naturgemäß mit einer Zunahme schutzbedürftiger Personengruppen einher. Insbesondere für ältere Menschen, Kinder oder Menschen mit Behinderung bedeutet das Zusammenbrechen der medizinischen Infrastruktur eine Steigerung ihrer ohnehin gegebenen Vulnerabilität.51 In Syrien führen Bombenangriffe auf Wohngebiete zu einer ganzen Generation von teils schwerbehinderten Zivilisten. Seit 2011 sind dort durch den Bürgerkrieg 300.000 Menschen getötet und rund eine Million verletzt worden.52 Als zweithäufigster Fluchtgrund wird Verfolgung angegeben, insbesondere von Menschen aus Afghanistan, dem Irak und Iran.53 Neben der Verfolgung aus politischen Gründen spielt auch die Verfolgung wegen der sexuellen Identität oder Orientierung eine Rolle.54 Personen mit als abweichend wahrgenommener sexueller Orientierung werden in ihrem Herkunftsland häufig mit Drohungen, Erpressungen, Gewalt und sexualisierter Gewalt konfrontiert.55 Die Zahl der Menschen, die vor Krieg, Verfolgung oder anderen Gefahren für Leib und Leben fliehen, hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Nach Angaben des UNHCR waren bis Ende 2016 weltweit rund 65,4 Millionen Menschen innerhalb ihres Heimatlandes oder weltweit auf der Flucht. 1997 betrug die Anzahl aller Geflüchteten noch 33,9 Millionen. Konflikte in Ländern wie Syrien, Irak, Jemen, Bu-
48 Siehe zum Folgenden bereits Feltes/Goeckenjan/Hoven/Ruch/Schartau/Roy-Pogodzik (Fn. 15). 49 Brücker/Rother/Schupp (Fn. 15). 50 Colloseus, Forum Strafvollzug 2017, 84 ff. 51 Dinh, Zeitschrift Behinderung und Dritte Welt 2007, 30 ff. 52 Handicap International, Jahresbericht Deutschland 2016, 2017, S. 10. 53 Brücker/Rother/Schupp (Fn. 15), S. 23. 54 Colloseus, Forum Strafvollzug 2017, 84 ff. 55 Markard, Asylmagazin 2013, 74 ff.
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rundi, der Zentralafrikanischen Republik, Kongo und Südsudan haben die Zahl der Geflüchteten in den Jahren 2012 bis 2015 dramatisch ansteigen lassen.56 Von den Geflüchteten, die aus ihren Heimatländern in Nordafrika und dem Nahen Osten fliehen, haben viele Europa als Ziel. Seit den politischen Bestrebungen der Mitgliedsländer der Europäischen Union, die sogenannte Balkanroute zu schließen, hat die Zahl der Geflüchteten, die aus den Fluchtgebieten der Länder des Nahen Ostens über verschiedene Balkanländer in die Europäische Union gelangen, stark abgenommen. Auf der zentralen Mittelmeerroute, die in der Europäischen Union auf Lampedusa oder Sizilien endet, haben rund 375.000 Geflüchtete von Anfang 2014 bis Mitte 2017 ihr Ziel erreicht. Das ist ein Viertel der 1,5 Millionen Menschen, die über eine der drei Mittelmeer-Routen in die Europäische Union gelangten. Neben der zentralen Mittelmeerroute flohen Menschen auch auf den anderen beiden Mittelmeerrouten.57 Ein hohes Risiko besteht durch die Flucht und die Fluchtumstände selbst. Von 2014 bis 2017 starben etwa 14.500 Geflüchtete oder verschwanden auf den drei Mittelmeerrouten. Im Jahr 2016 erreichte die Zahl der toten und verschwundenen Geflüchteten mit 5.143 den Höhepunkt seit dem Jahr 2000.58 Auf der Flucht sind Menschen besonders vulnerabel, da sie auf Hilfestellungen und Hilfsangebote von anderen angewiesen sind. Insbesondere Frauen sind in diesem Kontext häufiger von sexualisierter Gewalt betroffen; aber auch Männer werden Opfer sexualisierter Gewalt.59 Traumatisierende Erlebnisse, also Situationen außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigen Ausmaßes, im Herkunftsland oder auf der Fluchtroute bergen zudem das Risiko, physische und psychische Krankheiten und Störungen zu verursachen, zu denen auch die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) zählt.60
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UNHCR, Global Trends. Forces Displacement in 2016, S. 5 ff., online abrufbar unter: http://www.unhcr.org/statistics/unhcrstats/5943e8a34/global-trends-forced-displacement-2016. html (zuletzt abgerufen am 17. Juli 2018). 57 UNHCR (Fn. 56), S. 64. 58 International Organization for Migration, Fatal Journeys. Improving Data on Missing Migrants. Volume 3 Part 1, S. 6, online abrufbar unter: http://publications.iom.int/system/files/ pdf/fatal_journeys_volume_3_part_1.pdf (zuletzt abgerufen am 17. Juli 2018). 59 Linke/Hashemi/Voß, in: Retkowski/Treibel/Tuider: Handbuch Sexualisierte Gewalt und pädagogische Kontexte. Theorie, Forschung, Praxis 1. Aufl. 2018, S. 369 (373). 60 Metzner/Reher/Kindler/Pawils, Bundesgesundheitsblatt, Gesundheitsforschung, Gesundheitsschutz 2016, 644; siehe dazu ausführlich Feltes/Goeckenjan/Hoven/Ruch/Schartau/ Roy-Pogodzik (Fn. 15).
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2. Viktimisierungsrisiken im Aufnahmeland Deutschland a) Befunde zur Allgemeinkriminalität Den registrierten Hellfelddaten zufolge wurden im Jahr 2017 in Deutschland 46.057 Asylbewerber/Flüchtlinge61 als Opfer von Straftaten registriert.62 Entgegen dem rückläufigen Trend bei der Gesamtzahl der registrierten Opfer nahm die Zahl der Asylbewerber/Flüchtlinge unter ihnen im Vergleich zum Vorjahr tendenziell zu. Wurde ein Asylbewerber/Flüchtling als Opfer einer Straftat registriert, handelte es sich in den meisten Fällen um Körperverletzungsdelikte (82 %, 37.645 Opfer).63 Eine Steigerung im Vergleich zum Vorjahr wurde vor allem im Bereich der Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung registriert (2017: 561, 2016: 374). Dieser Anstieg könnte jedoch – jedenfalls zum Teil – auf die veränderten Erfassungsmodalitäten als Konsequenz der Reform des Sexualstrafrechts zurückzuführen sein.64 Eine weitere Steigerung erfasster Fallzahlen zeigte sich im Bereich der vorsätzlichen Tötungsdelikte (2017: 297, 2016: 247). Im Jahr 2017 wurden 40 Personen durch vorsätzliche Tötungsdelikte getötet, 87 % der registrierten Tötungsdelikte blieben im Versuchsstadium.65 Während der Anteil der Asylbewerber/Flüchtlinge unter den registrierten Opfern insgesamt 4,6 % beträgt, liegt er bei Totschlag bei 12,7 %.66 Die überwiegende Mehrheit (80 %) der als Opfer einer Straftat registrierten Asylbewerber/Flüchtlinge waren männlich. 6 % der erfassten Straftatopfer waren Kinder, 13 % Jugendliche, 18 % Heranwachsende und 64 % Erwachsene.67 Der vergleichsweise niedrige Anteil weiblicher Opfer (20 % versus 40 % in der PKS insgesamt), der vergleichsweise hohe Anteil von jugendlichen und heranwachsenden Opfern (30 % versus 17 % in der PKS insgesamt) sowie der niedrige Anteil von Opfern über 60 Jahre (0,5 % versus 6 % in der PKS insgesamt) dürfte jedenfalls teilweise auf die besondere demografische Zusammensetzung der betreffenden Personengruppe zurückzuführen sein.68 Eine Ausnahme zur genannten Geschlechterstruktur stellt der Bereich der Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung dar, in dem 80 % der registrierten Opfer der Personengruppe Asylbewerber/Flüchtlinge weiblich waren.69 Mehr als die Hälfte der Asylbewerber/Flüchtlinge unter den Opfern (53 %) kamen aus den Ländern Syrien, Afghanistan und Irak.70 Diese Staatsangehörigkeiten waren 61
Zu den Begriffen siehe oben unter II.3. Bundeskriminalamt, Bundeslagebild 2017 (Fn. 27), S. 50. 63 Bundeskriminalamt, Bundeslagebild 2017 (Fn. 27), S. 51. 64 Bundeskriminalamt, Bundeslagebild 2017 (Fn. 27), S. 51. 65 Bundeskriminalamt, Bundeslagebild 2017 (Fn. 27), S. 51. 66 Bundesministerium des Innern, Bericht zur Polizeilichen Kriminalstatistik 2017, S. 28. 67 Bundeskriminalamt, Bundeslagebild 2017 (Fn. 27), S. 52. 68 Bundeskriminalamt, Bundeslagebild 2017 (Fn. 27), S. 52. 69 Bundeskriminalamt, Bundeslagebild 2017 (Fn. 27), S. 52. 70 Bundeskriminalamt, Bundeslagebild 2017 (Fn. 27), S. 53. 62
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auch unter den Asylantragstellenden im Erfassungszeitraum 2017 am meisten vertreten.71 Betrachtet man die insgesamt 95.148 im Berichtszeitraum 2017 polizeilich erfassten Opfer von Straftaten, zu denen mindestens ein Zuwanderer als tatverdächtig ermittelt wurde, waren von ihnen ein Drittel (33 %) Asylbewerber/Flüchtlinge.72 Im Bereich der vorsätzlichen Tötungsdelikte fielen 230 Asylbewerber/Flüchtlinge einer Straftat zum Opfer, an der mindestens ein Zuwanderer als tatverdächtig ermittelt wurde. 38 der Opfer wurden getötet.73 Bei den Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung wurden 380 Asylbewerber/Flüchtlinge Opfer einer Tat mit mindestens einem tatverdächtigen Zuwanderer. Diese Zahlen deuten darauf hin, dass Geflüchtete häufig Opfer von Straftaten anderer Geflüchteter werden. Diese Annahme steht in Einklang mit neueren kriminologischen Befunden, die auf eine mit persönlichen Umständen oder Eigenschaften zusammenhängende Täter-Opfer-Identität hindeuten. Personen, die in Befragungen angeben, in der Vergangenheit Straftaten verübt zu haben, berichten vielfach auch von der Erfahrung eigener Opferwerdung.74 Anzunehmen ist, dass es gerade aufgrund der schwierigen Lebensverhältnisse in Flüchtlingsunterkünften häufiger zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommt.75 Eine neuere Untersuchung hat bei der Entstehung von Konflikten in Unterkünften und den damit einhergehenden Prozessen der Opferwerdung systemische und strukturelle Ursachen wie Unterschiede in Verfahrensverläufen und damit auch im Zugang zu Integrationsmöglichkeiten identifiziert.76 Durch die mit der Bleibeperspektive verbundene unterschiedliche Stellung der Bewohner bilde sich häufig eine Hierarchisierung in den Unterbringungseinrichtungen heraus, die die weniger Privilegierten negativ erführen. Häufig entspreche die Hierarchisierung auch vorhandenen Vorurteilen bzw. rassistischen Einstellungen gegenüber anderen Nationalitäten, Kultur- oder Religionsgruppen.77 Ein weiteres strukturelles Viktimisierungsrisiko steht im Zusammenhang mit dem Asylverfahren. Um Asyl oder subsidiären Schutz gewährt zu bekommen, müssen Geflüchtete „stichhaltige Gründe“ für den Antrag vortragen und nachvollziehbar
71
Bundesamt für Migration, Aktuelle Zahlen zu Asyl, Dezember 2017, S. 5, online abrufbar unter: http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Downloads/Infothek/Statistik/Asyl/ aktuelle-zahlen-zu-asyl-dezember-2017.pdf?__blob=publicationFile (zuletzt abgerufen am 17. Juli 2018). 72 Bundeskriminalamt, Bundeslagebild 2017 (Fn. 27), S. 54. 73 Bundeskriminalamt, Bundeslagebild 2017 (Fn. 27), S. 54. 74 Vgl. Cops/Pleysier, European Journal of Criminology 2014, 361 (364). 75 Walburg, Forum Strafvollzug 2017, 93 ff. 76 Christ/Meininghaus/Röing (Fn. 44). 77 Christ/Meininghaus/Röing (Fn. 44).
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von Viktimisierungserfahrungen und -risiken im Herkunftsland wie erlebte (sexualisierte) Gewalt berichten. Es besteht die Gefahr einer sekundären Viktimisierung.78 b) Befunde zur politisch motivierten Kriminalität Die registrierten Gesamtzahlen zu politisch motivierten Straftaten von rechts können nur eingeschränkt als Erkenntnisquelle zu Viktimisierungen von Geflüchteten genutzt werden, weil in diese Kategorie u. a. auch Propagandadelikte fallen. Gleichwohl ist der Befund bemerkenswert und zugleich beunruhigend, dass die Anzahl registrierter politisch motivierter Straftaten von rechts von 14.725 im Jahr 2001 auf 23.555 im Jahr 2016 und damit um etwa 60 % gestiegen ist. Ebenso stiegen die registrierten Gewalttaten in diesem Zeitraum von 980 auf 1.698 Delikte um 73 %.79 Für das Berichtsjahr 2017 sind die Zahlen für die registrierten politisch motivierten Straftaten von rechts jedoch wieder auf 20.520 und die für registrierte Gewalttaten auf 1.130 zurückgegangen.80 Was die Anzahl der Straftaten gegen Asylunterkünfte betrifft (politisch motivierte Kriminalität von rechts und politisch motivierte Kriminalität nicht zuzuordnen), so zeigt sich in den Hellfelddaten ein drastischer Anstieg:81 Wurden 2014 199 Straftaten (davon 28 Gewaltdelikte) gezählt, erhöhte sich die Zahl der Angriffe im Jahr 2015 auf 1.031 (davon 177 Gewaltdelikte). Auch im Jahr 2016 blieb die Zahl der registrierten Straftaten mit 995 (davon 169 Gewaltdelikte) auf einem hohen Niveau. Für das 2017 wurde ein Rückgang auf 312 registrierte Fälle (davon 46 Gewaltdelikte) verzeichnet.82
VI. Ausblick Die Ausführungen haben gezeigt, dass es noch erheblichen Forschungsbedarf zu Straftaten gegen Geflüchtete gibt. Gleichwohl deuten schon die bisherigen Befunde darauf hin, dass jedenfalls die Organisation und Gestaltung der Unterbringungssituation von Geflüchteten erheblichen Einfluss auf deren Viktimisierungrisiko im Aufnahmeland Deutschland haben dürfte. Ebenso wie Wohn- und Lebenslagen das Entstehen von Kriminalität im städtischen Sozialraum begünstigen oder ihm entgegen78
Kunz/Singelnstein (Fn. 13), § 18 Rn. 20. Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2016, 2017, online abrufbar unter: https://www.verfassungsschutz.de/de/download-manager/_vsbericht-2016.pdf (zuletzt abgerufen am 20. Juli 2018); Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2001, 2002. 80 Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2017, 2018, online abrufbar unter: https://www.verfassungsschutz.de/de/download-manager/_vsbericht-2017.pdf (zuletzt abgerufen am 20. Juli 2018). 81 Bundeskriminalamt, Bundeslagebild 2017 (Fn. 27), S. 56. 82 Bundeskriminalamt, Bundeslagebild 2017 (Fn. 27), S. 56. 79
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wirken können, kann die Unterbringungssituation einen wesentlichen Faktor für Kriminalität gegenüber Geflüchteten darstellen.83 Der Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften wird auch deshalb häufig das Konzept einer dezentralen Unterbringung in Wohnungen gegenübergestellt. Eine Unterbringung in Wohnungen, die Privatsphäre und Autonomie im Alltag gewährt, wird nicht zuletzt aus kriminalpräventiven Gründen von Experten als zu bevorzugende Unterbringungsform angesehen.84 Es ist zu hoffen – wenngleich in der gegenwärtigen politischen Situation kaum zu erwarten –, dass diese – und auch zukünftig zu gewinnende – Erkenntnisse von der Politik wahrgenommen und in konkretes Handeln umgesetzt werden.
83
Christ/Meininghaus/Röing (Fn. 44). Bauer, Unterbringung von Flüchtlingen in deutschen Kommunen: Konfliktmediation und lokale Beteiligung, 2017, S. 8. 84
Prozedurale Gerechtigkeit und Respekt in der Justiz1 Von Günter Köhnken Prozedurale Gerechtigkeit und Respekt sind zwei Themen, die in der rechtswissenschaftlichen, aber auch in der (deutschen) rechtspsychologischen Literatur bisher kaum eine Rolle gespielt haben. Beide Themen hängen in mancherlei Hinsicht miteinander zusammen. Gleichwohl sind sie nur selten im Zusammenhang behandelt worden. Im Kontext prozeduraler Gerechtigkeit wird zwar wiederholt der Begriff „Respekt“ erwähnt, aber selten bis gar nicht weiter ausgeführt. Das Thema Respekt wurde bisher primär in der Sozialpsychologie behandelt, aber auch dort blieb es lange Zeit unterentwickelt. In Deutschland hat sich vor allem Simon mit dem Thema Respekt in der empirischen Forschung und in der Theoriebildung beschäftigt und kürzlich den Grundriss einer sozialpsychologischen Respekttheorie vorgelegt.2 Im Folgenden wird zunächst das Konzept der prozeduralen Gerechtigkeit vorgestellt und in seiner Bedeutung für die Justizpraxis erörtert. Danach wird auf das Thema Respekt und dessen Zusammenhang mit der prozeduralen Gerechtigkeit und der Justizpraxis eingegangen.
I. Prozedurale Gerechtigkeit Im Zusammenleben von Menschen, insbesondere bei der Lösung von Konflikten, die in diesem Zusammenleben entstehen, spielt die Gerechtigkeit – genauer gesagt: die von den Individuen subjektiv empfundene Gerechtigkeit – eine zentrale Rolle.3 Wenn Regeln als gerecht empfunden werden, ist die Bereitschaft, diese zu befolgen, größer als bei dem Eindruck, etwas sei unfair oder ungerecht zugegangen. Wir erleben gegenwärtig recht häufig, dass z. B. in der internationalen handelspolitischen Debatte mit dem gegenseitigen Vorwurf der Unfairness gestritten wird. Es überrascht deshalb nicht, dass die Gerechtigkeitsforschung vor allem in der Sozialpsychologie, aber auch in der Organisationspsychologie und erst deutlich später in der Rechtspsychologie (aber kaum in der Politikwissenschaft), besondere Aufmerksamkeit erlangt hat. Ihre Wurzeln lassen sich über mehrere Jahrzehnte zurückverfolgen. 1
Ich danke Herrn Prof. Dr. Bernd Simon für wertvolle Hinweise zu diesem Manuskript. Simon, Psychologische Rundschau 68 (2017), 241. 3 Z. B. Cohen, Justice: Views from the Social Sciences, 1986. 2
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Lerner4 hat in seiner Theorie von der gerechten Welt (Just World Theory) angenommen, dass Menschen zu der Annahme neigen, die Welt sei insgesamt fair und gerecht. Vereinfacht ausgedrückt wird von den Mitgliedern einer Gemeinschaft angenommen, dass jeder bekommt, was er verdient und jeder verdient, was er bekommen hat. Diese grundlegende Gerechtigkeitsannahme soll nach der Theorie von Lerner dazu beitragen, sich mit den in einer Gesellschaft geltenden Regeln zu arrangieren.5 Andere Autoren haben die Unterscheidung zwischen distributiver und prozeduraler Gerechtigkeit betont. Distributive Gerechtigkeit bezeichnet die subjektiv wahrgenommene Fairness des Ergebnisses eines Konflikts oder einer Entscheidung (etwa eines Gerichtsurteils) und dessen Konsequenzen,6 während die prozedurale Gerechtigkeit die subjektiv wahrgenommene (nicht: die objektive) Fairness des Entscheidungsprozesses (nicht: des Ergebnisses) und der persönlichen Behandlung innerhalb dieses Prozesses bezeichnet.7 1. Distributive Gerechtigkeit In der ersten Phase der Theoriebildung zur distributiven Gerechtigkeit wurde angenommen, dass ein Ergebnis als besser oder gerechter wahrgenommen wird, je vorteilhafter dieses für die betroffene Person ausfällt.8 Die damit verbundenen Erwartungen bestätigten sich in den empirischen Befunden jedoch nicht. Hinzu kam, dass offenbar nicht allein, möglicherweise nicht einmal vorrangig, das Ergebnis, der Ertrag, maßgeblich für die Zufriedenheit von betroffenen Personen ist, sondern die Art und Weise, wie diese sich behandelt fühlen.9 Damit war der Grundstein für das Konzept der prozeduralen Gerechtigkeit gelegt. 2. Prozedurale Gerechtigkeit – Definitionen und Forschungsansätze Die Ergebnisse mehrerer empirischer Untersuchungen hatten angedeutet, dass nicht allein das Ergebnis eines Verfahrens für die Zufriedenheit der Betroffenen entscheidend ist, sondern auch die Art und Weise, wie dieses Ergebnis zustande gekommen ist. Es waren vor allem Thibaut und Walker, die diesen Gedanken aufgenommen
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Lerner, The Belief in a Just World: A Fundamental Delusion, 1980. Dalbert, The Justice Motive as a Personal Resource: Dealing with Challenges and Critical Life Events, 2001. 6 Adams, in: Berkowitz, Advances in Experimental Social Psychology, 1965, S. 267 (272 ff.); E. Walster/G.W. Walster/Berscheid, Equity: Theory and Research, 1978. 7 Lind/Tyler, The Social Psychology of Procedural Justice, 1988; Thibaut/Walker, Procedural Justice: A Psychological Analysis, 1975. 8 Homans, Social Behaviour: Its Elementary Forms, 1961. 9 Z. B. Mikula/Petri/Tanzer, European Journal of Social Psychology 22 (1990), 133. 5
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und empirisch und theoretisch weitergeführt haben.10 Ihre Arbeiten waren eine wesentliche Weichenstellung für einen neuen Forschungsansatz, in dem die subjektiv empfundene Verfahrensgerechtigkeit oder prozedurale Gerechtigkeit im Vordergrund der Untersuchungen stand. Zahlreiche Untersuchungen lassen darauf schließen, dass selbst ungünstige Ergebnisse dann eher akzeptiert werden, wenn ihr Zustandekommen von den Betroffenen als fair beurteilt wird. Dieser recht stabile Befund wird in der Literatur als „Fair Process Effect“ bezeichnet. Er wurde nicht nur in Laborexperimenten,11 sondern auch in Fragebogenerhebungen in unterschiedlichen Bereichen wie Gerichten, Polizei-Bürger-Begegnungen und Politik relativ konsistent gefunden.12 Hieraus haben Lind und Tyler geschlossen, dass das Gerechtigkeitsempfinden eher von Verfahrensmerkmalen als von materiellen Ergebnissen bestimmt wird.13 In der frühen Forschung zur prozeduralen Gerechtigkeit, die vor allem von Thibaut und Walker14 geprägt war, standen formale Aspekte eines Verfahrens im Vordergrund. Dies lag vermutlich daran, dass die Modellbildung zunächst noch stark durch Überlegungen zur distributiven Gerechtigkeit beeinflusst war. Prozedurale Gerechtigkeit wurde vor allem im Kontext von Entscheidungen über die Zuteilung von materiellen Ressourcen diskutiert. In der weiteren Entwicklung verlagerte sich die Aufmerksamkeit dann zunehmend weg von Ressourcenentscheidungen und hin zu interpersonellen Aspekten des Verfahrens.15 Dieser Wandel zeigt sich z. B. darin, dass in den frühen Untersuchungen von Thibaut und Walker die Bedeutung der Mitsprache durch die Einwirkungsmöglichkeit auf die Entscheidungsträger erfasst wurde. Die Probanden wurden z. B. nicht danach gefragt, ob sie sich freundlich oder würdevoll behandelt fühlten. Diese Aspekte standen erst in den späteren Arbeiten zur Gerechtigkeitsforschung im Vordergrund. 3. Formale Merkmale prozeduraler Gerechtigkeit Welche formalen Merkmale eines Verfahrens zur Entscheidungsfindung wirken sich auf die prozedurale Gerechtigkeit aus? Diese Frage ist vor allem für die Justizpraxis von Bedeutung, aber leider nur schwer zu beantworten, weil es sich bei diesem Konzept nicht um einen „objektiv“ feststellbaren Zustand handelt, sondern um das 10
Thibaut/Walker, Procedural Justice: A Psychological Analysis, 1975. Z. B. van den Bos/Vermunt/Wilke, Journal of Personality and Social Psychology 72 (1997), 95. 12 Z. B. Tyler/DeGoey, Journal of Personality and Social Psychology 69 (1995), 482; Tyler/ Folger, Basic and Applied Social Psychology 1 (1980), 281. 13 Lind/Tyler, The Social Psychology of Procedural Justice, 1988. 14 Thibaut/Walker, Procedural Justice: A Psychological Analysis, 1975. 15 Tyler/Blader, Personality and Social Psychology Review 7 (2003), 349; Bierhoff, Zeitschrift für Sozialpsychologie 24 (1992), 163; Godt, Der Einfluss prozeduraler Gerechtigkeit auf die Akzeptanz von sorge- und umgangsrechtlichen Entscheidungen. Unveröffentlichte Dissertation, 2016. 11
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Resultat subjektiver Beurteilungsprozesse. Diese werden zudem, wie oben angedeutet, durch individuell unterschiedliche Dispositionen beeinflusst. Hinzu kommt, dass die wesentlichen Variablen in den verschiedenen Untersuchungen unterschiedlich operationalisiert worden sind. Prozedurale Gerechtigkeit wird durch vier Komponenten beeinflusst: Mitsprache (Voice), Respekt für die beteiligten Personen (Respectfulness), Vertrauenswürdigkeit (Trustworthiness) und Unvoreingenommenheit (Neutrality). Mitsprache wird teilweise auch als Prozesskontrolle bezeichnet.16 Demnach nehmen Personen ein Verfahren dann als fair wahr, wenn sie den Eindruck haben, dass sie (a) den Gang dieses Verfahrens beeinflussen konnten, sie (b) respektvoll behandelt worden sind, dass (c) die entscheidungsbefugte Instanz (z. B. das Gericht) ethischen Gesichtspunkten folgt und (d) unvoreingenommen und neutral entscheidet.17 In vielen Untersuchungen hat sich die Mitsprache (Voice) als eine besonders einflussreiche Variable erwiesen. Unter Mitsprache wird die Möglichkeit verstanden, in einem Verfahren zur Konfliktlösung (z. B. einem Gerichtsverfahren) die eigene Meinung vorbringen zu können. Wenn die Möglichkeit zur Mitsprache besteht, wird ein Prozess im Allgemeinen als fairer wahrgenommen als ohne derartige Mitsprache, und zwar selbst dann, wenn die tatsächliche Einflussnahme gering oder gar nicht vorhanden ist.18 Die prozedurale Gerechtigkeit wird nach einem Feldexperiment von Avery und Quiñones19 dann am höchsten eingeschätzt, wenn (1) eine Mitsprachemöglichkeit gegeben ist, (2) von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht wird und (3) sie auch als einflussreich erlebt wurde. Insgesamt hat sich der Mitspracheeffekt sowohl in Feld- als auch in experimentellen Studien als robust gezeigt. Es gibt bisher keine Befunde zu der Frage, wie eine Verteidigungsstrategie, in der einem Angeklagten geraten wird, im Prozess zu schweigen, auf dessen (subjektiv wahrgenommene) prozedurale Gerechtigkeit wirkt. Nach den vorstehend erwähnten Forschungsergebnissen könnte das Erlebnis einer nicht vorhandenen Mitsprache einen negativen Effekt auf die wahrgenommene Fairness des Verfahrens haben. Leventhal20 hat sechs strukturelle Merkmale beschrieben, die für die Beurteilung der prozeduralen Gerechtigkeit von Bedeutung sind: (1) Konsistenz: Faire Verfahren sind unabhängig von Zeit, Situation und Personen; (2) Unvoreingenommenheit: Die entscheidungsbefugten Personen sollten kein persönliches Interesse an einem bestimmten Ergebnis haben;
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Lind/Kanfer/Earley, Journal of Personality and Social Psychology 59 (1990), 952. Higgins/Jordan, Criminal Justice Studies 18 (2005), 81; Huo/Tyler, in: Greenberg/Cropanzano, Advances in Organizational Justice, 2001; Tyler, Law and Society Review 22 (1988), 103 ff.; ders., Behavioral Sciences and the Law 19 (2001), 215 ff. 18 Lind/Kanfer/Earley, Journal of Personality and Social Psychology 59 (1990), 952. 19 Avery/Quiñones, Group and Organization Management 29 (2004), 106. 20 Leventhal, in: Gergen/Greenberg/Willis, Social Exchange, 1980, S. 27. 17
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(3) Zuverlässigkeit/Genauigkeit: Für die Entscheidungsfindung werden zuverlässige und korrekte Informationen herangezogen. Je mehr entscheidungsrelevante Informationsquellen ausgewertet werden, desto fairer wird das Verfahren wahrgenommen; (4) Korrigierbarkeit: Ein Verfahren wird dann als fair wahrgenommen, wenn das Ergebnis nachträglich (z. B. bei neuen Erkenntnissen) modifiziert werden kann; (5) Repräsentativität: Wenn die Interessen aller beteiligten Parteien berücksichtigt werden, wird das Verfahren eher als fair wahrgenommen; (6) Ethische Grundsätze: Danach wird ein Verfahren dann als gerecht empfunden, wenn bei der Entscheidungsfindung ethisch-moralische Grundsätze berücksichtigt worden sind. Es wird angenommen, dass ein Verfahren im Allgemeinen dann als fair erlebt wird, wenn diese Kriterien erfüllt sind. 4. Interpersonelle Aspekte der prozeduralen Gerechtigkeit Wie oben bereits erwähnt, hat es nach den frühen, vor allem durch Thibaut und Walker21 geprägten Arbeiten zur prozeduralen Gerechtigkeit inhaltliche Änderungen an diesem Konzept gegeben, die Tyler und Blader als „dramatisch“ bezeichnen. Frühe Gerechtigkeitsforscher würden möglicherweise aktuelle Forschungsarbeiten aus diesem Bereich gar nicht mehr als Forschung zum Gerechtigkeitskonzept wahrnehmen. Statt wie früher Gerechtigkeit allein als durch formale oder strukturelle Verfahrensregeln determiniert zu betrachten, nach denen Ressourcenentscheidungen getroffen werden, wird die subjektive Wahrnehmung von Gerechtigkeit nun stärker in qualitativen Aspekten des interpersonellen Geschehens wie vor allem der persönlichen Wertschätzung, Höflichkeit und der einer Person entgegengebrachten Würde gesehen.22 5. Prozedurale Gerechtigkeit und Persönlichkeitsmerkmale Das Erleben prozeduraler Gerechtigkeit wird offenbar nicht nur durch situative Bedingungen und strukturelle Verfahrensmerkmale beeinflusst, sondern auch durch die Ausprägung bestimmter Persönlichkeitsmerkmale. Vor allem sind in diesem Zusammenhang Kontrollüberzeugungen und Ungerechtigkeitssensibilität untersucht worden. Als Kontrollüberzeugung wird die Art und Weise bezeichnet, in der jemand ein Ereignis (speziell: eine Verstärkung oder Bestrafung) als durch das eigene Handeln verursacht oder durch Zufall oder als durch mächtige anderen Per-
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Thibaut/Walker, California Law Review 66 (1978), 541. Tyler/Blader, Personality and Social Psychology Review 7 (2003), 349.
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sonen beeinflusst wahrnimmt.23 Untersuchungsergebnisse von Lind und Lissak24 lassen darauf schließen, dass die Effekte prozeduraler (Un-)Gerechtigkeit bei Personen mit externaler Kontrollüberzeugung stärker ausgeprägt sind.25 6. Prozedurale Gerechtigkeit und Rechtspsychologie Die prozedurale Gerechtigkeit ist als Forschungsthema für die Rechtspsychologie weitgehend vernachlässigt worden. Es war vor allem ein Thema in der Organisationspsychologie (im Hinblick auf die wahrgenommene Gerechtigkeit von materiellen Gratifikationen) sowie in der Sozialpsychologie. Zwar haben Sozialpsychologen wie etwa Thibaut und Walker ihre Modelle der prozeduralen Gerechtigkeit in einigen Simulationsstudien auch auf verschiedene Formen der Konfliktlösung, etwa im Rahmen von Gerichtsverhandlungen, angewandt, jedoch sind dies Ausnahmen geblieben. In der deutschen Rechtspsychologie ist dieses Thema bisher noch seltener bearbeitet worden. Im folgenden Abschnitt werden zwei Ansätze rechtspsychologischer Forschung zur prozeduralen Gerechtigkeit dargestellt: Zum einen gibt es einige empirische Studien, in denen individuelles Verhalten in oder nach Konfliktsituationen in Abhängigkeit von der wahrgenommenen Fairness des Verfahrens zur Konfliktlösung untersucht wurde (z. B. familiengerichtliche Entscheidungen in Sorgerechtsauseinandersetzungen). Zum anderen hat vor allem Tyler das Konzept der prozeduralen Gerechtigkeit in Verbindung mit restaurativer Gerechtigkeit und der intrinsischen Motivation zu regelkonformem Verhalten in Bezug auf die Verhaltenssteuerung in einer Gesellschaft durch strafrechtliche Maßnahmen diskutiert. 7. Prozedurale Gerechtigkeit in Gerichtsverfahren Die Bedeutung der prozeduralen Gerechtigkeit ist zunächst vor allem in der Sozialpsychologie sowie in der Organisationspsychologie (im Zusammenhang mit Entlohnung und Beförderungen) empirisch untersucht worden. Es waren vor allem Thibaut und Walker,26 die dieses Konzept auf Gerichtsverhandlungen angewandt haben. In einer Serie von Simulationsstudien haben sie untersucht, unter welchen Bedingungen diese Verfahren von den Betroffenen als fair oder gerecht wahrgenommen werden. In diesen Simulationen gab es zwei sich streitende Parteien und eine Instanz (das Gericht), die letztlich eine Entscheidung traf. Die Autoren unterschieden dabei fünf verschiedene Prozessarten:27
23
Rotter, Psychological Monographs 80 (1966), 1 ff. Lind/Lissak, Journal of Experimental Social Psychology 21 (1985), 19. 25 Zusammenfassend: Godt (Fn. 15). 26 Thibaut/Walker, Procedural Justice: A Psychological Analysis, 1975; dies., California Law Review 66 (1978), 541. 27 Bierhoff, Zeitschrift für Sozialpsychologie 23 (1992), 163. 24
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(1) Inquisitorisches Verfahren (entspricht im Wesentlichen dem deutschen Strafprozessrecht): Das Gericht leitet die Beweiserhebung (Prozesskontrolle) und trifft am Ende die Entscheidung (Entscheidungskontrolle); (2) Adversatorisches Verfahren (entspricht im Wesentlichen dem angelsächsischen Strafprozessrecht und dem deutschen Zivilprozessrecht): die Konfliktparteien präsentieren in eigener Initiative ihre Standpunkte und Beweise; das Gericht achtet auf die Einhaltung von Verfahrensregeln und trifft am Ende die Entscheidung; (3) Mediation oder Schlichtung: Die Konfliktparteien stellen jeweils ihren Standpunkt unter Anleitung eines Mediators dar und entscheiden dann, ob sie den Schlichtungsvorschlag des Mediators annehmen; (4) Erörterung: Eine Einigung ist nur im Konsens zwischen den Konfliktparteien und dem Entscheidungsträger möglich; (5) Verhandlung: Die Konfliktparteien verhandeln über eine Lösung ohne Einmischung einer dritten Partei. Thibaut und Walker28 schließen aus den Ergebnissen dieser Simulationsstudien, dass Gerichtsverfahren dann als besonders fair wahrgenommen werden, wenn die Konfliktparteien ein hohes Maß an Kontrolle über die Präsentation von Beweisen haben und wenn eine neutrale Instanz (das Gericht) die Entscheidung trifft. Dies soll vor allem für adversatorische Verfahren zutreffen. Allerdings kommt es hierbei, wie Bierhoff 29 zu Recht anmerkt, in hohem Maße darauf an, wie dieses Verfahren praktiziert wird. Wenn die Konfliktparteien unterschiedlich kompetent oder erfahren mit derartigen Situationen sind oder über unterschiedlich gute Ressourcen verfügen (z. B. unterschiedlich gute Anwälte haben), kann die Fairness sehr unterschiedlich wahrgenommen werden.30 Die höhere Einschätzung der prozeduralen Gerechtigkeit bei Verfahren nach einem adversatorischen Modell kann im Übrigen auch dadurch beeinflusst sein, dass dieses einer US-amerikanischen Probandenstichprobe vertrauter ist als das vor allem in Teilen Kontinentaleuropas in Strafverfahren praktizierte inquisitorische Modell. Godt31 hat die Auswirkungen prozeduraler Gerechtigkeit auf die Akzeptanz und Einhaltung von sorge- und umgangsrechtlichen Entscheidungen in Familiengerichtsverfahren in einer aufwändigen Studie untersucht. Nach den Ergebnissen einer früheren Untersuchung von Kitzmann und Emery32 wurde erwartet, dass prozedurale Gerechtigkeit vor allem bei einem hohen Konfliktniveau der Prozessteilnehmer be28
Thibaut/Walker, Procedural Justice: A Psychological Analysis, 1975. Bierhoff, Zeitschrift für Sozialpsychologie 23 (1992), 163. 30 Dähne/Tiedt/Godt/Köhnken, in: Fabian/Nowara, Neue Wege und Konzepte in der Rechtspsychologie, Bd. 3, 2006, S. 295. 31 Godt (Fn. 15); Godt/Köhnken, in: Fabian/Nowara, Neue Wege und Konzepte in der Rechtspsychologie, Bd. 3, 2006, S. 287. 32 Kitzmann/Emery, Law and Human Behavior 17 (1993), 553. 29
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deutsam ist. Ferner sollte sie besonders hinsichtlich der Zufriedenheit der „Verlierer“ eines Verfahrens eine Rolle spielen, während die Gewinner auch bei prozedural ungerechten Verfahren zufrieden sein sollten. Untersucht wurden 20 Personen, die an einem familiengerichtlichen Verfahren zum Sorge- und Umgangsrecht teilgenommen hatten. Von diesen nahmen 19 noch an der zweiten Erhebung sechs Monate nach dem Gerichtsverfahren teil. Die prozedurale Gerechtigkeit wurde mit einem standardisierten Fragebogen erfasst. Darüber hinaus wurde in Interviews erfragt, wie die Gerichtsentscheidungen zum Sorge- und Umgangsrecht in der Praxis gehandhabt wurden. Hinsichtlich der Praktizierung der vom Gericht getroffenen Umgangsregelung deutet sich eine Wechselwirkung zwischen zeitlichem Abstand zu der Entscheidung, der Wahrnehmung prozeduraler Gerechtigkeit und der Qualität der Praktizierung des Umgangsrechts an. Wenn der Umgang gut funktioniert, wird nach einem größeren Zeitabstand die prozedurale Gerechtigkeit höher eingeschätzt als unmittelbar nach dem Gerichtsverfahren und umgekehrt: Ein schlecht funktionierender Umgang verschlechtert mit der Zeit die ursprünglich bessere Wahrnehmung der prozeduralen Gerechtigkeit. 8. Prozedurale Gerechtigkeit, restaurative Gerechtigkeit und die Prävention von Regelverletzungen Tyler33 hat das Konzept der prozeduralen Gerechtigkeit in einen größeren Kontext der Einhaltung und der Verletzung von gesellschaftlichen Normen und Gesetzen gestellt. Dem fast überall in der westlichen Welt geltenden Strafrecht liegt ein (einseitiges) behavioristisches Menschenbild zugrunde. Verhalten, so wird implizit angenommen, wird durch die dem Verhalten folgenden Konsequenzen beeinflusst. Dies können positive (Verstärkung) oder negative Konsequenzen (Bestrafung) sein. Indem das Strafrecht negative Konsequenzen für Normverletzungen androht und ggf. vollzieht, soll im Sinne einer Individualprävention die Person, die eine Regelverletzung begangen hat, durch operantes Konditionieren lernen, künftig derartiges Verhalten nicht mehr auszuführen. Zugleich sollen generalpräventiv andere Personen davon abgehalten werden, Regelverstöße zu begehen. Lerntheoretisch handelt es sich hierbei um eine stellvertretende Bestrafung.34 Insofern dieses Modell der Verhaltenskontrolle auf Bestrafungen basiert, wird es auch als Abschreckungsmodell bezeichnet.35 Empirische Untersuchungen belegen, dass Verhalten zwar tatsächlich durch die Androhung von negativen Konsequenzen im Falle von Normverletzungen beeinflusst wird, jedoch sind diese Effekte sehr klein. So berichtet z. B. MacCoun36, dass lediglich 5 % der Varianz des Verhaltens 33 Tyler, Journal of Social Issues 62 (2006), 307; ders., Australian Journal of Psychology 61 (2009), 32. 34 Bandura, Journal of Personality and Social Psychology 1 (1965), 589. 35 Nagin, in: Tonry, Crime and Justice, 1998, S. 1 ff. 36 MacCoun, Psychological Bulletin 113 (1993), 497.
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in Zusammenhang mit illegalen Drogen durch die Schwere der angedrohten Strafe bzw. durch die Wahrscheinlichkeit, dass eine Strafe eintritt, erklärt werden kann. Tyler stellt diesem behavioristischen Modell der Verhaltenskontrolle ein Modell gegenüber, welches auf Überlegungen von Kurt Lewin37 basiert, aber auch in zahlreichen anderen Persönlichkeits- und Entwicklungstheorien wurzelt. Danach wird menschliches Verhalten zwar einerseits durch Belohnungen oder Bestrafungen gesteuert, die als Konsequenz auf ein Verhalten folgen. Lewin hat diesem Konzept externaler Motivation durch positive oder negative Konsequenzen ein Modell internaler (intrinsischer) Motivation gegenübergestellt. Demnach verhalten Menschen sich deshalb in bestimmter Weise, weil sie soziale Werte verinnerlicht haben und eine soziale Verpflichtung verspüren, sich entsprechend dieser Werte zu verhalten. Hierbei sind zwei Komponenten von Bedeutung: Rechtmäßigkeit oder Legitimität und ethisch-moralische Normen.38 Legitimität in diesem Sinne ist dann gegeben, wenn die Mitglieder einer Gesellschaft aus freien Stücken den Vorgaben durch eine Regel oder durch eine Behörde (z. B. der Polizei) folgen.39 Diese Wahrnehmung der Rechtmäßigkeit oder Legitimität wird wesentlich beeinflusst durch die Erfahrung, dass Regeln nach einem fairen, gerechten Verfahren zustande gekommen sind und fair angewandt werden. Dies wiederum soll nach Tyler das Gefühl für soziale Verantwortung und die Bereitschaft zur Befolgung von Regeln fördern.40 Die zweite Komponente dieses Modells einer intrinsischen Motivation zur Befolgung von Regeln besteht aus ethisch-moralischen Normen. Danach verhalten Menschen sich so, dass ihr Verhalten mit diesen Normen konsistent ist. Ethisch-moralische Normen werden im Zuge der Entwicklung erworben.41 Die internalisierten Normen stehen nicht immer in Einklang mit externen Regeln und Gesetzen. So kann jemand z. B. subjektiv der Meinung sein, dass Entscheidungen von Versicherungen durch Profitmaximierung determiniert sind und dies für unmoralisch halten. Er könnte sich dann für berechtigt halten, eine Versicherung durch falsche Angaben zu einem Schaden zu betrügen. Das Erlebnis von prozeduraler Gerechtigkeit im Handeln von Autoritäten soll nach Tyler ethisch-moralische Normen aktivieren und so zu regelkonformem Verhalten beitragen.42 Tyler betont ferner die Bedeutung restaurativer Gerechtigkeit für die Reaktion auf stattgefundene Regelübertretungen.43 Kurz gesagt wird nach diesem Modell auf eine Normverletzung nicht mit Bestrafung und Abschreckung reagiert, sondern durch Maßnahmen zur Förderung des Gefühls einer sozialen Verantwortung. 37
Lewin, A Dynamic Theory of Personality, 1935. Tyler/Blader, Personality and Social Psychology Review 7 (2003), 349. 39 Tyler, Journal of Social Issues 62 (2006), 307. 40 Tyler, Journal of Social Issues 62 (2006), 307. 41 Z. B. Kohlberg, Die Psychologie der Moralentwicklung, 1996; Freud, Der Untergang des Ödipuskomplexes, Studienausgabe Bd. V, 1924. 42 Tyler, Journal of Social Issues 62 (2006), 307. 43 Braithwaite, Restorative Justice and Responsive Regulation, 2002. 38
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An diesen Maßnahmen sollen Täter und Opfer sowie deren Familien teilnehmen. In gewisser Weise ähnelt das Modell der restaurativen Gerechtigkeit somit dem TäterOpfer-Ausgleich. Auch hierbei kommt der prozeduralen Gerechtigkeit eine besondere Bedeutung zu. Sie fördert nach Tyler44 selbstregulatorisches normkonformes Verhalten, welches unabhängig ist von externen Verstärkungs- und Bestrafungskontingenzen, während demgegenüber sanktionenorientierte Ansätze genau diesen Effekt untergraben würden. Die Ideen Tylers, die letztlich auf eine Ablösung punitiver Modelle zur Reaktion auf Regelverletzungen (retributive Gerechtigkeit) hinauslaufen, erscheinen auf den ersten Blick revolutionär. Skepsis ist aber vor allem angebracht hinsichtlich der Akzeptanz eines Modells prozeduraler und restaurativer Gerechtigkeit in Politik und Gesellschaft. Allerdings kann die begrenzte Effizienz von allein auf die Androhung und Vollstreckung von Sanktionen basierenden Modellen angesichts hoher Rückfallraten bei verurteilten Straftätern auch nicht übersehen werden. Empirische Befunde zur Wirkung von Maßnahmen der restaurativen Gerechtigkeit deuten darauf hin, dass hierdurch tatsächlich Rückfallhäufigkeiten reduziert werden können.45 Elliott, Thomas und Ogloff46 haben gezeigt, dass prozedurale Gerechtigkeit in Interaktionen mit der Polizei die Wahrnehmung der Legitimität polizeilicher Maßnahmen und in der Folge die Bereitschaft zu regelkonformen Verhalten fördern kann. Im Übrigen sind einige der in diesem Zusammenhang von Tyler diskutierten Ideen bereits erfolgreich in Ansätzen des Täter-Opfer-Ausgleichs, der Mediation sowie der Diversion in die Praxis umgesetzt worden.
II. Respekt Es gibt mehrere Verbindungen zwischen dem Konzept der prozeduralen Gerechtigkeit einerseits und Respekt andererseits. So hat das Respektkonzept, wie Simon47 ausführt, über Forschungen zur prozeduralen Gerechtigkeit Eingang in die Sozialpsychologie gefunden.48 Verschiedentlich wurde Respekt auch als eine wesentliche Variable für die prozedurale Gerechtigkeit identifiziert.49 Z. B. haben Heuer, Blumenthal, Douglas und Weinblatt50 ausgeführt, dass wenn Personen höflich und mit 44
Tyler, Journal of Social Issues 62 (2006), 307. Wenzel/Okimoto/Feather/Plato, Law and Human Behavior 32 (2008), 375. 46 Elliot/Thomas/Ogloff, Psychology, Public Policy, and Law 17 (2011), 592. 47 Simon, Psychologische Rundschau 68 (2017), 241. 48 Tyler/Blader, Cooperation in Groups: Procedural Justice, Social Identity, and Behavioral Engagement, 2000; dies., Personality and Social Psychology Review 7 (2003), 349. 49 Higgins/Jordan, Criminal Justice Studies 18 (2005), 81; Huo/Tyler, in: Greenberg/Cropanzano, Advances in Organizational Justice, 2001; Tyler, Law and Society Review 22 (1988), 103 ff.; ders., Behavioral Sciences and the Law 19 (2001), 215 ff. 50 Heuer/Blumenthal/Douglas/Weinblatt, Personality and Social Psychology Bulletin 25 (1999), 1279. 45
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Respekt von Autoritäten behandelt werden, ein Vorgang eher als gerecht wahrgenommen wird. Trotz dieser offenkundigen Verbindungen zwischen den beiden Forschungsbereichen haben sie sich jeweils weitgehend eigenständig entwickelt – beide primär in der Sozialpsychologie mit jeweils geringer Bezugnahme auf Rechtspsychologie und Justizpraxis.51 Es überrascht deshalb nicht, dass die Respektforschung sich vor allem auf Respekt in einer pluralistischen Gesellschaft fokussiert, d. h. Respekt, den Mitglieder einer Gruppe (z. B. Muslime, Juden, Schwule, Lesben) einer jeweils anderen Subgruppe einer Gesellschaft entgegenbringen.52 Damit ist gemeint, dass die Mitglieder der beteiligten Subgruppen auf Augenhöhe miteinander interagieren.53 Diese Herangehensweise ist natürlich nicht ohne weiteres auf eine Situation im Gericht zu übertragen, bei der sich nicht gesellschaftliche Subgruppen, sondern Funktionsträger in der Justiz einerseits und Zeugen, Angeklagte, Sachverständige, Kläger oder Beklagte andererseits gegenüberstehen. Dabei müssen sich die Verfahrensbeteiligten an strikt vorgegebenen Regeln des Prozessrechts orientieren. Komplizierend kommt noch hinzu, dass eine wesentliche Komponente respektvoller Interaktionen (die wiederum die prozedurale Gerechtigkeit beeinflussen kann) alterniert. So ist ein Zeuge, von dem wichtige Informationen für ein Strafverfahren erwartet werden, für diesen Sachverhalt gleichsam ein „Experte“, dem deshalb möglicherweise vorübergehend eine besondere Kompetenz zugeschrieben wird. Im nächsten Moment kann aber der oder die Vorsitzende Richter/in wieder eine dominierende Rolle in der Verhandlungsleitung einnehmen und auf die Einhaltung der prozessrechtlichen Regeln bestehen. Ähnlich ist die Situation bei der Kommunikation zwischen Sachverständigen und Mitgliedern eines Gerichts. Im Vortrag und der Erläuterung des Gutachtens gibt es ein Kompetenzgefälle zwischen Sachverständigem und Gericht, was ebenfalls sehr bald verändert werden kann, wenn der oder die Vorsitzende auf die Einhaltung prozessualer Regeln besteht, welche nicht immer mit den fachlichen Methoden eines Sachverständigen kompatibel sind (z. B. wenn ein Sachverständiger eine Frage stellt, die bereits beantwortet wurde, die aber für seine Befragungsstrategie und die Einleitung weiterer Fragen von Bedeutung sein kann). Es gibt bisher für diese komplizierte Gemengelage nach meiner Kenntnis keine empirische Forschung, aus der sich Handlungsanleitungen zum Thema Respekt für die Justizpraxis ableiten ließen. Angesichts dieser Sachlage soll dieser kurze Abschnitt als ein Aufruf zu einer anwendungsbezogenen Forschung zum Thema Respekt in der Justizpraxis betrachtet werden.
51 Es gibt einige Publikationen zur Bedeutung prozeduraler Gerechtigkeit in der Justiz, da diese jedoch fast ausschließlich in den USA erschienen sind, orientieren sie sich an dem dortigen Prozessrecht mit einem Geschworenenverfahren. Es ist fraglich, ob sich die dabei erhobenen Befunde auf das deutsche Prozessrecht übertragen lassen. 52 Simon, Psychologische Rundschau 68 (2017), 241. 53 Simon, Psychologische Rundschau 68 (2017), 241.
Sexualstrafgesetzgebung, Kriminalpolitik und Strafrechtsaffinität in der Kriminologie Von Ralf Kölbel
I. Der Ausbau des Sexualstrafrechts Seit dem 4. StrRG vom 23. 11. 1973 besteht der Kern des 13. StGB-Abschnitts in den Delikten der sexuellen Nötigung und der Vergewaltigung, die beide ursprünglich einen gewichtigen Erzwingungsakt (Gewalt oder schwere Drohung) voraussetzten und sich allein durch die Art des abgenötigten Kontaktes (sexuelle Handlungen vs. Beischlaf) unterschieden. In der Folge kam es zu einer kontinuierlichen Ausdehnung des strafbewehrten Bereichs – namentlich durch die Einbeziehung innerehelichen Geschehens, durch eine stärkere Ausdifferenzierung der sexuellen Modalitäten (bspw. erniedrigende Handlungen) und durch die Erweiterung der relevanten Einwirkungsformen (bspw. Ausnutzen einer Auslieferungslage). Im Falle von sog. widerstandsunfähigen Personen schloss dies solche Handlungsweisen („Missbrauch“) ein, „die den unterlegenen Teil physisch unversehrt ließen und sich auf den Anschein eines Konsenses beriefen“. Damit wurde für „das geschlechtlich-intime Feld (…) der Vertrag als normatives Gerüst ausgerufen“1 – und dann schließlich mit dem 50. StrÄndG vom 4. 11. 2016 in Gestalt der „Nein heißt Nein“-Modalitäten (§ 177 Abs. 1 und 2 StGB) zum allgemeinen sexualstrafrechtlichen Maßstab erklärt (vgl. Tab. 1).
1
Lautmann/Klimke, KrimJ BH 11, 2016, 5 (11).
62
Ralf Kölbel Tabelle 1 Entwicklung des Sexualstrafrechts (vereinfacht)
KonstellationsTyp
4. StrRG v. 23. 11. 1973 (BGBl. I S. 1725 ff.)
33. StrÄndG v. 1. 7. 1997 (BGBl. I S. 1607)
6. StrRG v. 26. 1. 1998 und SexualdelÄndG v. 27. 12. 2003 (BGBl. I S. 164 ff. und S. 3007)
50. StrÄndG v. 4. 11. 2016 (BGBl. I S. 10 ff.)
Sexuelle Belästigung
–
–
–
§ 184i StGB (bis 2 Jahre) sexuell bestimmte Berührungen2 (vgl. auch § 184j StGB bei Gruppenkontext)
Sexueller Übergriff
–
–
–
§ 177 Abs. 1 und 2 StGB (6 Monate bis 5 Jahre) sexuelle Handlungen trotz erkennbarer Willenswidrigkeit oder
–
–
–
Surrogate: • Überraschungsmoment oder Unzumutbarkeit der Ablehnung (einfache Drohung oder im Raum stehende Zwangslage) oder
2 Davor teilweise als Beleidigung auf sexueller Grundlage strafbar. Überhaupt ist bei allen Konstellationen immer auch die Strafbarkeit wegen „allgemeiner“ Delikte (Nötigung, Körperverletzung) zu berücksichtigen.
Sexualstrafgesetzgebung, Kriminalpolitik und Strafrechtsaffinität
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Tabelle 1 (Fortsetzung) § 179 StGB Ausnutzung von Widerstandsunfähigkeit zu sexuellen Handlungen (bis 5 Jahre, bei außerehelichem Beischlaf mit weiblichem Opfer 1 bis 10 Jahre)
§ 179 Ausnutzung von Widerstandsunfähigkeit (bis 5 Jahre; bei Vergewaltigung und anderen schweren Fällen 1 bis 10 Jahre)
auch Ausnutzung zu drittbezogenen Handlungen erfasst (§ 179 Abs. 2 StGB); neuer Strafrahmen (6 Monate bis 10 Jahre, in schweren Fällen 1, 2, 5 oder 10 Jahre bis lebenslang)
• eingeschränkte oder fehlende Fähigkeit der Willensbildung/-äußerung (bei Krankheit oder Behinderung des Opfers 1 bis 15 Jahre
Sexuelle Nötigung
§ 178 Abs. 1 StGB (1 bis 15 Jahre) nur außereheliche sexuelle Handlungen durch Gewalt oder schwere Drohung
§ 177 Abs. 1 StGB (1 bis 15 Jahre) durch Gewalt oder schwere Drohung oder Ausgeliefertsein
wie bislang
§ 177 Abs. 5 StGB (1 bis 15 Jahre) bei Gewalt oder schwerer Drohung oder Ausgeliefertsein (sei diese final angewandt oder nicht)3
Vergewaltigung
§ 177 Abs. 1 StGB (2 bis 15 Jahre; erzwungener Beischlaf, nur außerehelich und weibliches Opfer)
§ 177 Abs. 3 StGB, neben Beischlaf auch andere erniedrigende sexuelle Handlungen (2 bis 15 Jahre)
wie bislang, aber in § 177 Abs. 2 StGB
§ 177 Abs. 6 StGB (2 bis 15 Jahre) Vergewaltigung oder gemeinschaftliche sexuelle Nötigung4
Andere schwere sexuelle Nötigung
§§ 177 Abs. 3, 178 Abs. 3 StGB (5 bis 15 Jahre) Todesfolge
§ 177 Abs. 3 und 4 StGB (2 bzw. 5 bis 15 Jahre) dazu: gemeinschaftlich; Opfergefährdung; Misshandlung
wie bislang, aber in § 177 Abs. 2 bis 4, § 178 StGB (ab 2, 3, 5 oder 10 Jahre bis lebenslang), dazu Waffe/Werkzeug
ebenso, aber in § 177 Abs. 6 bis 8, § 178 StGB
3
Gewalt oder Drohung müssen für § 177 Abs. 5 und 6 StGB n.F. nur bei und nicht mehr als Nötigungsmittel zur Erzwingung der sexuellen Handlung, des Beischlafs usw. angewandt werden. 4 Vgl. daneben auch § 184j StGB (Begehung aus einer Gruppe).
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Seit Ende 2016 ist letztlich jede sexuelle Aktivität unter Strafe gestellt, die – ganz unabhängig von irgendeinem Zwangselement – unter einem Nichteinverständnis-Signal des Gegenübers (oder einem Widerspruchs-Äquivalent) erfolgt (einschließlich der unerwünschten sexuellen Berührung, vgl. § 184i StGB). Im Übrigen wird dieses Strafnormgefüge – wie auch die Nachbarbereiche des sexuellen Missbrauchs und der Pornographieverbote – von einer Reihe weiterer legislatorischer Maßgaben flankiert.5 Das betrifft die Ausweitung beim Ruhen der Verjährung (§ 78b StGB), die merkliche Anhebung der Strafdrohungen (insbesondere für schwerere und schwerste Deliktsvarianten) und die Gefahrenabwehr- und Sicherheitsausrichtung, die der gesamte sexualstrafrechtliche Komplex seit 1998 durch die Umgestaltung im Sanktions- und Maßregelrecht angenommen hat.6
II. Kriminologie der Strafgesetzgebung 1. Politik und Pressure Groups In der historischen Variabilität des Sexualstrafrechts wird dessen Kontingenz sichtbar. Die rigorosen Züge des aktuellen deutschen Rechtsregimes gehen also nicht aus Notwendigkeiten hervor, sondern aus untersuchungswürdigen gesellschaftlichen Prozessen.7 Deren Beobachtung fällt bekanntlich in die Zuständigkeit der Kriminologie, wobei diese die Zusammenhänge der Strafnormherstellung insbesondere in drei Forschungslinien verfolgt:8 Dabei handelt es sich einmal um die Untersuchung von Kriminalitätswahrnehmungen, -ängsten und -einstellungen, die sich zu Kriminalisierungserwartungen der Bevölkerung verdichten oder jedenfalls deren strafrechtspolitische Ansprechbarkeit und Resonanz prägen können. Zum anderen wird das unmittelbare und „technische“ Law-Making analysiert – d. h. also die Vorbereitung und Entwurfsherstellung und die sich daran anschließenden politischen Aushandlungsprozesse in den parlamentarischen Gremien. Von Interesse ist hier vor allem, ob bzw. wie sich darin die jeweiligen Handlungslogiken und Eigeninteressen der beteiligten und durchsetzungsmächtigsten Akteure (einschließlich eingebundener Interessen- und Expertengruppen) niederschlagen. Den dritten Forschungsbereich bildet die vorlegislative Phase der Agendasetzung und Problemkonstruktion, in der die (potenziellen) Regelungs- und Pönalisierungsgegenstände als 5 Zur Entwicklung des Ganzen Brüggemann, Entwicklung und Wandel des Sexualstrafrechts in der Geschichte unseres StGB, 2013, S. 106 ff., 254 ff.; Beck, Die Auswirkungen der Großen Strafrechtsreform auf die Gesetzgebung im Kernstrafrecht seit 1975, 2016, S. 189 ff.; BMJV (Hrsg.), Abschlussbericht der Reformkommission zum Sexualstrafrecht, 2017, S. 75 ff. 6 Näher bereits Albrecht, ZStW 111 (1999), 863 (869 ff., 876 ff.); Haffke, KJ 2005, 17 ff. 7 Die sich abzeichnende Konvergenz im neueren Sexualstrafrecht westlicher Staaten (differenzierend McAlinden, Punishment & Society 14 [2012], 166 [170 ff.]) spricht für eine Ähnlichkeit der maßgeblichen kulturellen und politischen Bedingungen. 8 Zum Folgenden jeweils m.w.N. Eisenberg/Kölbel, Kriminologie, 7. Aufl. 2017, § 23 Rn. 13 – 36, § 24 Rn. 4 – 19, 26 – 49.
Sexualstrafgesetzgebung, Kriminalpolitik und Strafrechtsaffinität
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solche selektiert, anerkannt und konturiert werden. Dabei zeichnet sich ein weites Spektrum an real auftretenden Kriminalisierungsanstößen ab (Skandalinduziertheit; verfassungsrichterliche oder europarechtliche Umsetzungsaufträge; längerfristige Vorhaben der Ministerialbürokratie und politischen Führung). In einer besonderen Spielart des Agenda-Settings gelingt es thematisierungsstarken Gruppen, für ihr spezifisches Pönalisierungsinteresse eine öffentliche Aufmerksamkeit zu erschließen – und zwar in einem Zeitfenster, in dem die Materie auch den Politikakteuren nutzt und daher aufgegriffen wird. Bisweilen handelt es sich bei diesen strafrechtsinitiierenden Aktivisten um Pressure Groups, die den Staat und das Strafrecht mit Blick auf solche gesellschaftlichen Zustände mobilisieren, die sie nicht nur als Problem, sondern als Anfechtung des von ihnen als allgemeinverbindlich ausgegebenen Moralsystems thematisieren. Dazu zählen nicht nur konservativ und etatistisch orientierte Kollektivakteure,9 sondern ebenso soziale Bewegungen, die an sich emanzipatorische, staats- und institutionskritische Anliegen verfolgen (bspw. in Umwelt- oder Menschenrechtsfragen).10 Auch von diesen Gruppierungen wird vielfach versucht, den Staat und dessen strafrechtliche Mittel für ihre jeweiligen Ziele in den Dienst zu nehmen. Wenn solche „progressiven“ Bewegungen dafür mit diversen Problematisierungsstrategien (durch mediale Platzierung und ähnliche Kampagnen)11 die (kriminal-)politischen Überzeugungen und Denkmuster der Legislativakteure ansprechen,12 ist es ihnen zwar meist „ehrlich“ um ihre jeweiligen Ziele zu tun (also nicht um einen politischen Missbrauch des Strafrechts).13 Aber dass es sich beim Strafgesetz um ein repressives Instrument handelt, „erscheint den neuen Kriminalisierern nicht mehr so wichtig: Hauptsache, es ist ihr Gesetz“.14 Speziell im Feld der Sexualdelikte wurde all dies insbesondere bei den Missbrauchsgesetzen kriminologisch im Detail rekonstruiert.15 Für die Übergriffs-, Nötigungs- und Vergewaltigungsnormen liegen dagegen nur allgemeinere Beobachtungen vor. Hiernach erfolgte bei den bisherigen Neuregelungen die initiale Problematisierung typischerweise durch die „Frauenbewegung sowie psychologisch und sozi9
Etwa die von Becker, Outsiders, 1963, S. 147 ff. angesprochenen klerikalen Gruppen. Klassisch Scheerer, KrimJ BH 1, 1986, 133 ff. („atypische Moralunternehmer“); ferner z. B. Schetsche, Die Karriere sozialer Probleme, 1996, S. 39 ff.; Barker, Law & Society Review 41 (2007), 619 ff.; Kunz, MschrKrim 100 (2017), 67 ff. 11 Allgemein zur Internetarbeit, der Kampagnenführung und den Lobbyaktivitäten von sozialen Bewegungen vgl. die Beiträge in Remus/Rademacher (Hrsg.), Handbuch NGOKommunikation, 2018. 12 Dazu am Bsp. der rechtspolitischen Opferzuwendung und der Opferverbände Kölbel/ Bork, Sekundäre Viktimiserung als Legitimationsformel, 2012, S. 103 f.; Aertsen, in: Snacken/Dumortier (Hrsg.), Resisting Punitiveness in Europe, 2012, S. 202 (210 ff.). 13 Weshalb es sich hier nach Peters (in: Schmidt-Semisch/Hess [Hrsg.], Die Sinnprovinz der Kriminalität, 2014, S. 155 [158 f.]) nicht um „echte“ Punitivität handeln soll. 14 Scheerer, KJ 1985, 245 f. 15 Schetsche (Fn. 10); Beckett, Making Crime Pay, 1997; zuletzt McAlinden, Brit. J. Criminol. 54 (2014), 140 ff. 10
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alarbeiterisch Tätige, später verstärkt durch Juristinnen“.16 Diese produzierten wissenschaftliche Texte, Gutachten oder Stellungnahmen und waren in Veranstaltungen sowie im Beratungs- und Vereinigungsalltag aktiv; sie trugen einen Diskurs, der sexuelle Viktimisierung mit patriarchalen Bedingungen und Diskriminierungsfragen verknüpft17 und medial mit wiederkehrenden Themenwellen befeuert wird (zuletzt bspw.: sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz, Sexismus in der Werbung usw.). Die Wahrscheinlichkeit, dass diese öffentliche Problemkonstruktion durch die nationale Politik und / oder internationale Institutionen aufgegriffen wird, ist relativ hoch. Unter den individualisierten Bedingungen der westlichen Welt wächst nämlich das Bewusstsein für die Verletzbarkeit der personal gestaltbaren Sexualität (wie überhaupt die der gesamten selbstverwirklichenden Daseinsform).18 Die Menschen (auch in der Politik) sind daher in diesem Gefährdungsbewusstsein empfänglich, so dass eine strafrechtliche Abschirmung von Sexualität für sie eine hohe Dringlichkeit erlangt und die dafür eintretenden Aktivisten eine beträchtliche Glaubwürdigkeit genießen. Für eine solche kollektive Mentalität ist der Schutz der sexuellen Selbstbestimmung ein absoluter Wert und keiner („verharmlosenden“) Relativierung zugänglich. 2. Gesetzwerdung der „Nein heißt Nein“-Regelung Geht man davon aus, dass die Strafstimmungen der Bevölkerung durch politische Akteure und Interessengruppen geschürt und instrumentalisiert werden (Top-DownModell), zugleich aber auch eigenlogisch entstehen und an die Politik herantreten (Democracy-at-Work-These),19 zeigt sich in der Entstehung des 50. StrÄndG ein aufschlussreicher Verlauf: Nachdem im Mai 2011 das „Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“ (Istanbul-Konvention) beschlossen worden war, gewannen in Deutschland die Debatten um eine Anpassung des Sexualstrafrechts an Fahrt. Der Koalitionsvertrag sah die Beseitigung von „inakzeptablen Schutzlücken und Wertungswidersprüchen“ vor, weshalb der Bundesminister für Justiz und Verbraucherschutz (BMJV) zur Vorbereitung einer umfassenden Neuregelung eine Reformkommission einberief (Frühjahr 2015). Zugleich wurde hinsichtlich einiger Konstellationen, die man im Minis-
16 Klimke/Lautmann, Z Sexualforsch 19 (2006), 97 (102). Dort und bei Lautmann/Klimke (in: Prittwitz/Böllinger u. a. [Hrsg.], Kriminalität der Mächtigen, 2008, S. 126 [133 ff., 147 ff.]) auch zum folgenden Text. 17 Lautmann/Klimke, KrimJ BH 11, 2016, 5 (10): Sexualgewalt wird „zum Kristallisationspunkt einer Demontage patriarchaler Ordnung“. 18 Vertiefend Klimke, in: Rettenberger/Dessecker (Hrsg.), Sexuelle Gewalt als Herausforderung für Gesellschaft und Recht, 2017, S. 69 ff.; ferner Fischer, in: Barton/Kölbel (Hrsg.), Ambivalenzen der Opferzuwendung des Strafrechts, 2012, S. 177 (180 ff.) sowie die Beiträge in Burnett (Hrsg.), Wrongful Allegations of Sexual and Child Abuse, 2016, S. 31 – 95. 19 Überblick bei Eisenberg/Kölbel (Fn. 8), § 24 Rn. 20 – 25.
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terium – nach Konsultation der Länderressorts20 – für straflos und zugleich strafwürdig hielt, eine „Sofortintervention“ initiiert. Am 14. 7. 2015 lag ein Referentenentwurf vor, der die Konstellation des „Ausgeliefertseins“ zur Schließung der fraglichen „Strafbarkeitslücken“21 erweitern und in § 179 StGB a.F. integrieren sollte.22 Außerparlamentarisch hatten einige Frauenverbände zu jener Zeit allerdings schon einen erheblichen Kampagnen-Druck aufgebaut. So war bspw. Anfang Mai 2014 dem BMJV eine groß angelegte Unterschriftensammlung vorgelegt worden.23 Im Juli 2014 wurden ein Gesetzgebungsentwurf des Deutschen Juristinnenbundes24 sowie durch den Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe auch eine Fallsammlung mit nicht-sanktionierbaren sexuellen Übergriffen25 publiziert. In sorgfältiger Abstimmung26 hiermit legte das Deutsche Institut für Menschenrechte im Mai 2014 zunächst ein Policy Paper27 und im Januar 2015 schließlich ebenfalls ein Gutachten mit Neuregelungsvorschlägen vor.28 Diese Vorstöße gingen allesamt über die kasuistische Schließung von Schutzlücken hinaus und liefen auf die Forderung nach einer „Nein heißt Nein“-Regelung hinaus. Unter dieser Formel wurden sie
20 Hierbei sollen aber durch (nur) drei Länder insgesamt (nur) fünf Beispiele für einen gesetzlichen Nachbesserungsbedarf mitgeteilt worden sein (http://www.spiegel.de/spiegel/ print/d-133262093.html – Aufruf 9. 5. 2018). 21 Konkret: Ausnutzen von Überraschungsmomenten, eines Klimas der Gewalt, einer einfachen Drohung oder einer nur subjektiv empfundenen Schutzlosigkeit (Referentenentwurf, S. 7 ff. [http://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/DE/SchutzSexuelleSelbstbe stimmung.html – Aufruf 9. 5. 2018]). Es spricht viel dafür, dass diese „Erfassungslücken“ weniger auf dem Gesetz als auf dessen enger Auslegung beruhten. Vgl. etwa Fischer, StraFo 2014, 485 (491 f.); Isfen, ZIS 2015, 217 (218 ff., 225 ff.); Frommel, NK 2015, 292 (293 f.). 22 Dies galt als vollkommen ausreichend, um die Maßgaben der Istanbul-Konvention zu wahren. Vgl. Referentenentwurf, S. 7; ferner Bezjak/Bunke, in: Rettenberger/Dessecker (Fn. 18), S. 19 (23). 23 Vgl. https://www.frauenrechte.de/online/index.php/themen-und-aktionen/haeusliche-undsexualisierte-gewalt/aktuelles/1336-unterschriftenaktion-vergewaltigung-schluss-mit-der-straflo sigkeit (Aufruf 9. 5. 2018). Zur Fragwürdigkeit der dort genutzten Daten siehe Wollmann/ Schaar, NK 2016, 268 (271 f.). 24 https://www.djb.de/verein/Kom-u-AS/K3/st14-07/ (Aufruf 9. 5. 2018). 25 https://www.frauen-gegen-gewalt.de/material/studien-und-dokumentationen/bff-fallanaly se-was-ihnen-widerfahren-ist-ist-in-deutschland-nicht-strafbar.html (Aufruf 9. 5. 2018). Dass die dort zusammengetragenen Einstellungen und Freisprüche jeweils lege artis erfolgten, ist fraglich. 26 Dazu näher der in Fn. 20 zitierte Pressebericht. 27 http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/publikationen/show/policy-paper-nr-24schutzluecken-bei-der-strafverfolgung-von-vergewaltigungen-menschenrechtlicher/ (Aufruf 9. 5. 2018). 28 http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/publikationen/show/menschenrechtlicheverpflichtungen-aus-der-istanbul-konvention-ein-gutachten-zur-reform-des-177-s/ (Aufruf 9. 5. 2018).
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auch in den Medien platziert und von den Oppositionsfraktionen mit hierzu passenden Gesetzgebungsvorstößen aufgegriffen.29 Der BMJV-Entwurf galt, obwohl er hinter den Forderungen der Frauenverbände zurückblieb, innerhalb des Kabinetts ursprünglich noch als zu weitgehend. Angesichts des Widerstands der unionsgeführten Häuser gab ihn das Kanzleramt deshalb erst am 22. 12. 2015 für die Anhörungen frei.30 Nur drei Monate (am 1. 4. 2016) später wurde er dann allerdings als (Mitte März beschlossener) Regierungsentwurf plötzlich als „besonders eilbedürftig“ (Art. 76 Abs. 2 S. 4 GG) dem Bundesrat zugeleitet31 und bereits am 25. 4. 2016 in den Bundestag eingebracht.32 Dort kam es dann noch vor der Sommerpause schon am 7. 7. 2016 zu seiner Verabschiedung. Realisiert wurde allerdings nicht das kasuistisch-lückenschließende BMJV-Konzept, sondern eine Regelung, die (wie von außen gefordert) jeden ungewollten Sexualkontakt unter Strafe stellt.33 Das Drängen der Pressure Groups hätte für diesen Umschwung freilich „kaum ausgereicht“ 34. Entscheidend war vielmehr die öffentliche Diskussion der 2015er Silvesternacht in Köln und anderen Städten.35 Die damaligen Ereignisse wurden in den Medien außerordentlich ex- und intensiv debattiert. Obwohl das vielfach unter ausländerbezogenen Vorzeichen geschah („Übergriffe als Ausdruck migrationsbedingter Problemlagen“),36 verband es sich stets auch mit den Aspekten einer diffusen sexuellen Bedrohung und einer Änderungsbedürftigkeit des dagegen gerichteten Strafrechts.37 Hier (wie auch bei der hinzukommenden Dauerberichterstattung zum Lohfink-Verfahren im Juni 2016)38 blieb eine klare Differenzierung zwischen der gegebenen Strafbarkeit der fraglichen Ereignisse und den unterschiedlichen Neuregelungsoptionen („Lückenschließung“ vs. „Nein heißt Nein“-Regelung) freilich vollständig aus. Angesichts der Dauererör29 Vgl. BT-Drs. 18/1969 (Entschlussantrag der Grünen vom 2. 7. 2014; zur diesbzgl. Sachverständigenanhörung im Rechtsausschuss vom 28. 1. 2015 vgl. Wortprotokoll 18/39); BT-Drs. 18/5384 und 18/7719 (Gesetzgebungsentwürfe der Grünen vom 1. 7. 2015 und der Linken vom 25. 2. 2016). 30 Dazu Högl/Neumann, RuP BH 2, 2018, 111 (114 f. Fn. 11); Bezjak/Bunke (Fn. 22), S. 24 sowie das Plenarprotokoll 18/183, S. 17999 ff. 31 BR-Drs. 162/16. 32 BT-Drs. 18/8210. 33 Vgl. BT-Drs. 18/9097 sowie Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz, Ausschussdrucksache 18(6)236 vom 4. 7. 2016. 34 So die Einschätzung der involvierten BMJV-Referentinnen (Bezjak/Bunke [Fn. 22], S. 25). 35 Hierzu Behrendes, NK 2016, 322 ff.; ferner http://www.zeit.de/thema/koeln-silvesteruebergriffe (Aufruf 9. 5. 2018). 36 Vgl. die Berichterstattungsanalyse bei Arendt/Brosius/Hauck, Publizistik 62 (2017), 135 ff. 37 Vgl. die Auswertung von Hoven, MschrKrim 100 (2017), 161 (167 ff.). 38 Hierzu http://www.sueddeutsche.de/thema/Gina-Lisa_Lohfink (Aufruf 9. 5. 2018). Zur politischen Instrumentalisierung des Falls vgl. Wollmann/Schaar, NK 2016, 268 (275 f.); für ein Bsp. vgl. http://ausnahmslos.org/ (Aufruf 9. 5. 2018).
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terung stieg aber nicht nur in der Bevölkerung die Unterstützung für eine Kriminalisierung aller ungewollten Sexualkontakte,39 sondern ebenso in den bislang zurückhaltenden Teilen der Politik.40 Darauf wurde durch die Frauenverbände auch sehr nachdrücklich hingewirkt (bspw. durch Postkartenaktion, Organisation einer Petition, lokale Demonstrationen und Konferenzen).41 Das Bündnis „Nein heißt Nein“, zu dem sich mehrere Frauenbewegungen im Frühjahr 2016 zusammengeschlossen hatten, übergab schließlich am 24. 4. 2016 – am Tag vor der ersten Lesung – einen entsprechenden (von zahlreichen Organisationen und Prominenten unterstützten) Forderungs-Brief an die Bundeskanzlerin und die Bundestagsmitglieder.42 Bei den legislatorischen Akteuren zeigte all dies eine erhebliche Wirkung. Die Redebeiträge während der ersten Lesung sprachen sich nunmehr fraktionsübergreifend fast ausnahmslos für eine „Nein heißt Nein“-Regelung aus.43 Unmittelbar danach, so wird es aus der Binnenperspektive vermerkt, „ergriffen einige Frauen der Koalitionsfraktionen die Initiative zur Erarbeitung eines Eckpunktepapiers“. Sie „waren übereinstimmend der Auffassung, dass sich eine historische Chance aufgetan hatte“. Die „Silvester-Debatte“ bot die Gelegenheit, über den als „halbherzig“ empfundenen BMJV-Entwurf deutlich hinauszugehen und den sog. Paradigmenwechsel im Sexualstrafrecht durchzusetzen.44 Angesichts der allgegenwärtigen Aufgeregtheit wagten nämlich Rechtspolitiker, die „bis dahin einer so weit gehenden Korrektur im Sexualstrafrecht (…) reserviert gegenüber gestanden haben, keinen Widerstand mehr.“45 Am 30. 4. 2016 bekannten sich die Vorsitzenden der Regierungsfraktionen zur „Nein heißt Nein“-Regelung.46 Auch der Bundesrat sprach sich in seiner Stellungnahme zum BMJV-Entwurf am 13. 5. 2016 hierfür aus, woraufhin sich die Bundesregierung dafür ebenso offen zeigte.47 Bei einer Anhörung im Rechtsausschuss 39 So Mitte Juni 2016 mit einem 86 %igen Zustimmungsanteil eine – methodisch indes anfechtbare – Infratest-Umfrage (https://www.infratest-dimap.de/umfragen-analysen/bundes weit/umfragen/aktuell/grosse-mehrheit-fuer-verschaerfung-des-sexualstrafrechts-bei-vergewalti gung/ – Aufruf 9. 5. 2018). 40 Kennzeichnend das sich andeutende Einschwenken der CDU in einem Beschluss des Bundesvorstands von Anfang Januar 2016 (https://www.cdu.de/system/tdf/media/dokumente/ 2016_01_09_mainzer_erklaerung.pdf?file=1 – Aufruf 9. 5. 2018). Dennoch beschloss das Kabinett zunächst noch den BMJV-Entwurf. 41 Ausschnitthaft dokumentiert unter https://www.frauen-gegen-gewalt.de/vergewaltigungverurteilen.html (Aufruf 9. 5. 2018). 42 https://www.frauen-gegen-gewalt.de/pm/breites-buendnis-fordert-zum-sexualstrafrechtein-nein-muss-reichen-341.html (Aufruf 9. 5. 2018). 43 Plenarprotokoll 18/167, S. 16386 ff. 44 Dazu mit den Zitaten Högl/Neumann, RuP BH 2, 2018, 111 (115). 45 Bezjak/Bunke (Fn. 22), S. 25. Zu den noch 10/2015 und 3/2016 vorhandenen Widerständen in den Koalitionsfraktionen vgl. die Debatten zum oben (Fn. 29) erwähnten Gesetzentwurf der Grünen (Plenarprotokolle 18/127, S. 12370 ff. und 18/161, S. 15882 ff.). 46 http://www.zeit.de/gesellschaft/2016-05/sexualstrafrecht-verschaerfung-thomas-opper mann-volker-kauder (Aufruf 9. 5. 2018). 47 BT-Drs. 18/8626, S. 1 f., 9.
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am 1. 6. 2016 wurde schließlich das besagte „Eckpunktepapier“ vorgelegt48 und die Runde der Sachverständigen nur noch zu der darin enthaltenen „Nein heißt Nein“Regelung (und gar nicht mehr zum BMJV-Entwurf) befragt.49 Der Inhalt des Papiers erfuhr später im Rechtsausschuss einige geringfügige Änderungen und ging letztlich in der verabschiedeten Neuregelung auf. Ein solcher Verlauf bietet insgesamt eher ein Beispiel für die Democracy-atWork-These, enthält aber durchaus auch gewisse Elemente des Gegenmodells: Dies zeigt sich darin, dass das 50. StrÄndG die sexualstrafrechtliche Neuregelung mit einer ausländerrechtlichen Umstellung verknüpfte – namentlich mit erleichterten Ausweisungs- und Abschiebemöglichkeiten, die auch in den Fällen des nunmehr niedrigschwelligen § 177 StGB bestehen (§§ 54 Abs. 1 Nr. 1a, Abs. 2 Nr. 1a, 60 Abs. 8 S. 3 AufenthaltsG).50 Augenscheinlich ging es zumindest einem Teil der Akteure darum, die öffentliche Vermengung sexualitäts- und migrationsbezogener Probleme für die ausländerrechtspolitische Interventionsbereitschaft zu nutzen. Ungeachtet dessen wurde der Umbau des Sexualstrafrechts aber auch für sich genommen breit unterstützt.51 Dabei standen zwar normative Erwägungen im Vordergrund (Istanbul-Konvention, Lückenschließung, Schutz der sexuellen Selbstbestimmung, Strafwürdigkeitserwägungen), dies aber vielfach in einer rhetorischen Melange mit empirischen Argumentationsanteilen – namentlich mit dem Hinweis auf die hohe Verfolgungsselektivität bei Sexualdelikten.
III. Die Rolle des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen 1. Schützenhilfe für die Reform-Kampagne In der medialen Debatte bildete die Frage der Sanktionshäufigkeit einen bestimmenden Aspekt.52 Typischerweise wurde dabei die geringe Zahl an Verurteilungen als eine Problemlage präsentiert und mit einer unzuträglichen Strafrechtsimplementierung erklärt. Dabei fungierte eine Arbeit des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) als eine oft zitierte Referenz. 2015 hatte das Institut die Ergebnisse einer Untersuchung publiziert,53 bei der es sich offenbar um eine erwei48
https://www.bundestag.de/blob/425890/…/tischvorlage-data.pdf (Aufruf 9. 5. 2018). Vgl. zu den Stellungnahmen und dem Wortprotokoll https://www.bundestag.de/ausschu esse/ausschuesse18/a06/anhoerungen/Archiv/sexualstrafrecht/422116 (Aufruf 9. 5. 2018). Vier der sieben Sachverständigen (Clemm, Freudenberg, Hörnle, Rabe) waren (Mit-)Autorinnen der in Fn. 23 ff. zitierten Forderungspapiere. 50 BGBl. I S. 2460. 51 Grüne und Linke enthielten sich (bei einstimmiger Zustimmung der Regierungsfraktionen) allein wegen der Änderungen im Aufenthaltsrecht. 52 Vgl. die Auswertung bei Hoven, MschrKrim 100 (2017), 161 (167 ff.). 53 Hellmann/Pfeiffer, MschrKrim 98 (2015), 527 ff. 49
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terte Vorstudie handelte, die zur Vorbereitung einer angedachten Erhebung durchgeführt worden war.54 Dies geschah auf Bitte der Justizminister/innen-Konferenz vom 25./26. 6. 2014, nachdem das KFN am 16. 4. 2014 eine erste, kleinere Version in Form einer Presseerklärung vorgestellt hatte.55 Dort heißt es: „Vor 20 Jahren erlebten 21,6 Prozent der eine Anzeige erstattenden Frauen die Verurteilung des Täters. 2012 waren es nur noch 8,4 Prozent.“ Dabei liege das Hauptproblem auch in den regionalen Unterschieden. Das Spektrum reiche von einer Bundesländer-Gruppe mit einem Wert von 4,1 % (sog. A-Länder) bis zur Gruppe der sog. F-Länder mit einem Wert von 24,4 % (jeweils für 2011/12). Gleichzeitig habe in diesen 20 Jahren das polizeilich erfasste Fallaufkommen bevölkerungsbezogen in den A-Ländern um 42,4 % zu- und in den F-Ländern um 30,1 % abgenommen. Das KFN sieht in den Daten einen Hinweis sowohl auf „die präventive Wirkung einer intensiven Strafverfolgung“ in den F-Ländern als auch auf die verurteilungsreduzierenden Effekte einer größeren institutionellen Arbeitsbelastung in den ALändern.56 Diese Interpretationen werden in der Presseerklärung sodann regelrecht skandalisiert. Dies beginnt mit der Überschrift („Vergewaltigung. Die Schwächen der Strafverfolgung – das Leiden der Opfer“) und setzt sich in einer alarmistischen Textaufmachung fort und mündet in der Aufforderung, der beschriebene Zustand „sollte nicht weiter hingenommen werden“. Der Text endet mit einem kritisch konnotierten Rekurs auf die enge Auslegung von § 177 StGB a.F. durch den BGH, ergänzt um den merklich affirmativen Hinweis auf die frauenrechtspolitischen Aktivitäten „für eine Reform des § 177“. Dies und der passgenaue Zeitpunkt der Publikation lassen jene als ein klares rechtspolitisches Statement erscheinen. Jedenfalls wurde die Vorstudie genau so rezipiert und von Befürwortern der „Nein heißt Nein“-Regelung fortan als Argument für deren Notwendigkeit ins Feld geführt.57 2. Einordnung der Befunde anhand bayerischer Daten Auch im Bundesland Bayern, das offenbar „zwischen“ der A- und der F-Gruppe liegt, zeigt sich der besagte Rückgang der Verurteilungsraten. Bezogen auf die polizeilich erfassten Fälle kam es bei der sexuellen Nötigung und Vergewaltigung zwischen 1988 und 1998 bei Anteilen von 21,2 % bis 25,7 % zu einer Verurteilung. 2000
54
Dazu HessLT-Drs. 19/483. Unterzeichnet von Pfeiffer und Hellmann und (nur) noch bis 4/2018 unter www.edit.kfn. de/versions/kfn/assets/Presseerklaerung_Vergewaltigung.pdf abrufbar. 56 Bezogen auf 2013 im Wesentlichen ebenso Hellmann/Pfeiffer, MschrKrim 98 (2015), 527 (535 ff.). 57 Sowohl in den Medien (etwa: http://www.sueddeutsche.de/panorama/studie-zu-vergewal tigungen-der-feind-im-freund-1.1938659), den Positionspapieren diverser Verbände (vgl. etwa Fn. 25 und 27), den Bundestagsdebatten (Plenarprotokoll 18/183, S. 18000) und Wissenschaftstexten (Hörnle, ZIS 2015, 206 [213 f.]). 55
72
Ralf Kölbel
bis 2003 lagen die Werte dann zwischen 17,7 % und 19,8 %.58 Seit den Jahren um die Jahrtausendwende ist nun zwar das PKS-Fallaufkommen (damals 1.750 bis 1.950 pro Jahr) deutlich gesunken, die Verurteilungshäufigkeit (damals 310 bis 390 pro Jahr) aber noch mehr. Dies bedingt eine fast kontinuierlich abnehmende Verurteilungsquote (siehe Tab. 2). Verurteilungen wegen §§ 177, 178 StGB gehen dabei auch stärker zurück als das gesamte Verurteilungsaufkommen.59 Tabelle 2 Verurteilungen nach §§ 177, 178 StGB in Bayern60 jährliche Gesamtzahl
Quote bezogen auf PKS (Anzahl polizeilich registrierter Fälle von §§ 177, 178 StGB)
Verurteilungsanteil (Gesamtzahl aller Verurteilungen)
2009
217
13,3 (1.631)
0,17 (126.576)
2010
232
15,0 (1.547)
0,18 (125.229)
2011
196
13,0 (1.505)
0,16 (125.410)
2012
165
11,4 (1.445)
0,14 (121.876)
2013
143
9,6 (1.493)
0,12 (122.693)
2014
152
11,0 (1.384)
0,13 (119.697)
2015
175
11,9 (1.471)
0,15 (113.475)
2016
159
10,3 (1.557)
0,13 (118.544)
Eine simple Gegenüberstellung von polizeilichen Falldaten und Verurteilungszahlen, wie sie in Tab. 2 und auch in der KFN-Studie vorgenommen wurde, ist indes problematisch.61 Abgesehen von den unterschiedlichen Erfassungszeitpunkten und -genauigkeiten bleiben bestimmte Erledigungsformen unberücksichtigt, etwa die bei Sexualdelikten oft relevanten rechtlichen Umwertungen.62 Die methodisch vorzugswürdigen Verlaufsuntersuchungen, die einen Verfahrensbestand von der Ein58 Errechnet nach Elsner/Steffen, Vergewaltigung und sexuelle Nötigung in Bayern, 2005, S. 24, 54. 59 Um das Jahr 2000 entfielen auf Verurteilungen nach §§ 177, 178 StGB noch 0,24 % aller Verurteilungen. 60 Tab. 2 – 4: Bayerische PKS; Abgeurteilte und Verurteilte in Bayern. 61 „Die Polizeiliche Kriminalstatistik ist mit der Strafverfolgungsstatistik der Justiz wegen unterschiedlicher Erfassungsgrundsätze, -daten und -zeitpunkte nicht vergleichbar.“ (1.2 der Richtlinien für die Führung der Polizeilichen Kriminalstatistik i. d. F. vom 1. 1. 2016). 62 Eisenberg/Kölbel (Fn. 8), § 45 Rn. 57 m.w.N.
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73
leitung bis zur abschließenden Entscheidung verfolgen, zeigen für Sexualdeliktsermittlungen in Deutschland allerdings ebenfalls eine eher geringe Verurteilungswahrscheinlichkeit auf (max. 30 %).63 Dieser Selektionsgrad markiert aber nicht von vornherein einen Mangel der institutionellen Ereignisverarbeitung.64 Auch wenn die Daten vom KFN in genau diesem Sinne gedeutet werden (gleichsam: „Schuldige kommen ungeschoren davon“),65 ist durchaus auch ein andersartiges „Framing“ möglich („Vermeidung von Fehlurteilen“66 oder „Belastung des Beschuldigten mit unbegründeten Verfahren“67). Für eine Bewertung bedarf es offensichtlich genauerer Informationen über Art und Gründe der Ausfilterung. In dieser Hinsicht spricht nun die internationale Üblichkeit geringer Verurteilungsquoten68 eher gegen die Annahme, dass der Grad der institutionellen Selektion primär auf Verfolgungsdefiziten beruht (denn diese Missstände müssten dann gleichsam universell wirksam sein69). Es liegt vielmehr näher, die Filterprozesse auf Eigenarten der jeweiligen Prozessmaterie zurückzuführen – etwa auf die bereichsspezifische Ambivalenz vieler Vorwurfssachverhalte und auf charakteristische Beweiskonstellationen (zentrale Bedeutung der Opferaussage usw.). Demgemäß zeigen die vorliegenden Aktenuntersuchungen, dass es v. a. wegen der Unaufklärbarkeit des Vorwurfs und dem Aussageverhalten der anzeigeerstattenden Personen (Widersprüche, Lücken, Widerruf, Zeugnisverweigerung) zu den zahlreichen Freisprüchen und Einstellungen nach § 170 Abs. 2 StPO kommt.70
63
Zusammenstellung bei Elz, in: Rettenberger/Dessecker (Fn. 18), S. 117 (126). Beim Umgang mit Jugenddelinquenz gilt gerade eine geringe Verurteilungsquote als wünschenswert (zur Relevanz dieses Aspekts für den hier erörterten Selektionsprozess vgl. Frommel, NK 2015, 292 [296]). 65 Hellmann/Pfeiffer, MschrKrim 98 (2015), 527 (539): „sekundäre Viktimisierung“ der anzeigenden Person. 66 US-Daten zur Häufigkeit von Fehlurteilen bei Sexualstrafverfahren unter: https:// www.law.umich.edu/special/exoneration/Pages/Exoneration-by-Year-Crime-Type.aspx (Aufruf 9. 5. 2018). 67 So Pollähne, StV 2016, 671 (673); Frommel, in: FS Kerner, 2013, S. 697 (704 f.); Fischer, StraFo 2014, 485 (485). 68 Dazu – bei eingeschränkter Vergleichbarkeit der rechtlichen, institutionellen und kulturellen Bedingungen – für etliche westliche Staaten Daly/Boughours, Crime and Justice 39 (2010), 565 ff.; Lovett/Kelly, Different Systems, Similar Outcomes?, 2009. 69 So in der Tat die These, der zufolge überall verbreitete Vorurteilsstrukturen bei der Normauslegung und Beweiswürdigung ursächlich seien. So etwa Temkin/Krahé, Sexual Assault and the Justice Gap, 2008; Lembke, ZfResoz 34 (2014), 253 (265 ff.); Hohl/Stanko, Eur J Crimin 12 (2015), 324 ff. 70 Elsner/Steffen (Fn. 58), S. 149; Hartmann/Schrage/Boetticher/Tietze, Untersuchung zu Verfahrensverlauf und Verurteilungsquoten bei Sexualstraftaten in Bremen, 2015, S. 27, 68; vgl. auch Elz (Fn. 63), S. 135 m.w.N.; speziell zu Freisprüchen Kinzig, in: Barton/Kölbel u. a. (Hrsg), ,Vom hochgemuten, voreiligen Griff nach der Wahrheit‘: Fehlurteile im Strafprozess, 2018 (i.E.); aufschlussreich zu einschlägigen Sachverhalten und Beweislagen Barton, in: FS Ostendorf, 2015, S. 41 (46 ff.). 64
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Ralf Kölbel
Ungeachtet dessen sind das Sinken der Verurteilungsquoten und die regionalen Unterschiede natürlich erklärungsbedürftig. Dabei dürfte der Rückgang der absoluten und relativen Verurteilungshäufigkeit zu erheblichen Teilen darauf beruhen, dass bei abnehmender Deliktsprävalenz und zugleich steigender Anzeigebereitschaft der Anteil von Nahbereichsereignissen in der polizeilichen Fallmenge steigt – womit in der Gesamtheit der Ermittlungsverfahren die Fälle mit einer virulenten sachimmanenten Beweisproblematik beständig an Bedeutung gewinnen.71 In Bayern ist dies (jedenfalls für die Vergewaltigung) auch noch in der jüngeren Vergangenheit von Belang (Tab. 3). Tabelle 3 Täter-Opfer-Beziehung bei polizeilich erfassten Sexualdelikten in Bayern Polizeilich erfasste Opfer insg.
2009
2013
2016
Opfer im familiären Nahraum (Anteil von insg.)
Opfer in informeller sozialer Beziehung (Anteil von insg.)
§ 177 Abs. 1 und 5 StGB a.F.
662
82 (12,4 %)
256 (38,7 %)
§§ 177 Abs. 2 – 4, 178 StGB a.F.
1002
193 (19,3 %)
441 (44,0 %)
§ 177 Abs. 1 und 5 StGB a.F.
580
90 (15,5 %)
200 (34,5 %)
§§ 177 Abs. 2 – 4, 178 StGB a.F.
932
306 (32,8 %)
289 (31,0 %)
§ 177 Abs. 1 und 5 StGB a.F.
653
112 (17,2 %)
211 (32,3 %)
§§ 177 Abs. 2 – 4, 178 StGB a.F.
914
303 (33,2 %)
382 (41,8 %)
Da aber die Nahbereichsfälle regional relativ gleichverteilt sind, können die regionalen Unterschiede in den Verurteilungsquoten nicht aus einer diesbzgl. unterschiedlichen Fallzusammensetzung hervorgehen.72 Pfeiffer und Hellmann führen die geringe Verurteilungshäufigkeit gerade in den sog. A-Ländern deshalb auf ein zunehmendes Auseinanderklaffen von polizeilich-justiziellen Ressourcen und dem dort besonders stark gestiegenen Anzeigeaufkommen zurück (oben III.1.). Allerdings ist es ebenso denkbar, dass dieser Anzeigezuwachs ein besonders ausgeprägtes Mehr an unbegründeten oder nicht beweisbaren Vorwürfen mit sich gebracht hat, was 71 Elsner/Steffen (Fn. 58), S. 37 ff., 55 f.; Hellmann/Pfeiffer, MschrKrim 98 (2015), 527 (530 ff.); Elz (Fn. 63), S. 136 ff. 72 Hellmann/Pfeiffer, MschrKrim 98 (2015), 527 (537).
Sexualstrafgesetzgebung, Kriminalpolitik und Strafrechtsaffinität
75
durch die Justiz in den A-Ländern sodann ausgeglichen wurde. Die stärkere Selektion wäre dann funktionsgerecht und gerade kein Ausdruck einer institutionellen Minderleistung. Für Bayern, wo die deliktseinschlägigen PKS-Zahlen nach der Jahrtausendwende teilweise bis zu 30 % gesunken sind (2003: 1940, 2014: 1384) und sich die Verurteilungszahl teilweise halbierte (1998: 391, 2013: 143), überzeugt freilich keine der beiden Deutungen.73 Augenscheinlich kann über die Gründe der besagten Entwicklungen ohne deren nähere Untersuchung nur spekuliert werden. Außerdem zeigt sich, dass der vom KFN gewählte Kontrastgruppenvergleich allenfalls für die betreffenden A- bzw. F-Länder sinnvoll, für das Gros der „dazwischen“ liegenden Regionen (wie Bayern) aber unergiebig und irreführend ist. Dies betrifft auch die Einordnung des Umstandes, dass etliche angezeigte Sachverhalte nach staatsanwaltschaftlicher Einschätzung nicht die erforderlichen Tatbestandsmerkmale erfüllen und viele Verfahren deshalb nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt werden.74 Durch das KFN wird in seiner Presseerklärung nahegelegt, dass die geringe bzw. sinkende „Verurteilungsquote auch mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung zusammenhängt“ (d. h. mit der engen Auslegung von § 177 StGB). Es soll hiernach also bis 2016 einen erheblichen Bestand an Fällen gegeben haben, die einerseits von den Betroffenen als strafwürdig empfunden und andererseits wegen ihrer juristischen Irrelevanz aus „rechtlichen Gründen“ eingestellt (oder gar nicht erst angezeigt) wurden.75 Träfe diese Annahme zu, müsste die Neukriminalisierung im 50. StrÄndG zu beträchtlichen kriminalstatistischen Veränderungen führen. Dies kann bislang76 nur anhand der Polizeidaten überprüft werden (Tab. 4), wobei der Vergleich zwischen den Angaben für 2017 und die Vorjahre wegen der strafrechtlichen Veränderungen erschwert ist. Da etliche einschlägige Konstellationen nunmehr durch eine andere Strafnorm erfasst werden (§ 177 Abs. 2 StGB statt § 179 StGB; §§ 177 Abs. 1 und 2, 184i StGB statt Beleidigung), können hier am ehesten noch die (Gesamt-)Summenwerte als aussagekräftig gelten.
73 Hier könnte der Rückgang an stattfindenden und angezeigten Ereignissen bei den klaren und eindeutigen Fällen besonders stark und bei den unklaren und beweisschwierigen Fällen weniger stark gewesen sein. 74 Vgl. m.w.N. Elz (Fn. 63), S. 132 ff.: bis zu 20 % der Einstellungen nach § 170 Abs. 2 StPO. 75 Kritisch etwa Elz (Fn. 63), S. 135. 76 Bei Fertigstellung des Beitrags (5/2018) lag die bayerische Strafverfolgungsstatistik für 2017 noch nicht vor.
76
Ralf Kölbel Tabelle 4 Entwicklung polizeilich erfasster Sexualdelikte in Bayern sex. sonst. Über- sex. griff77 Nötigung78
sex. § 179 Nötigung, StGB Vergewal- a.F. tigung79
Summe
Beleidigung auf sex. Grundlage
§ 184i StGB n.F.
Summe
gesamt
2009 -
637
994
237
1.868
4.071
-
4.071
5.939
2010 -
637
894
240
1.771
3.789
-
3.789
5.560
2011 -
631
874
245
1.750
3.559
-
3.559
5.309
2012 -
586
859
269
1.714
3.228
-
3.228
4.942
2013 -
566
927
264
1.757
3.250
-
3.250
5.007
2014 -
559
825
241
1.629
2.951
-
2.951
4.580
2015 -
618
853
264
1.735
2.629
-
2.629
4.364
2016 -
647
910
256
1.813
3.284
-
3.284
5.097
2017 541
191
1.086
16480
1.982
1.882
1.250
3.132
5.114
Die moderate Zunahme, die – im Übrigen anders als auf Bundesebene (!)81 – in den bayerischen polizeilichen Daten zu beobachten ist, dürfte zumindest teilweise den Debatten um sexualitätsbezogene Grenzüberschreitungen und einer hierdurch weiter gestiegenen Anzeigebereitschaft zu verdanken sein. Daneben sollte das Fallvolumen auch dadurch etwas gewachsen sein, dass § 177 StGB einige Konstellationen seit 2017 strafrechtlich ganz neu (Abs. 1 – 3) bzw. unter abgesenkten Voraussetzungen (Abs. 5 und 6) erfasst. Inwiefern es sich hierbei um einen „gerichtsfesten“ Fallzuwachs handelt, wird sich freilich erst anhand künftiger (mehrjähriger) Aburteilungsdaten einschätzen lassen.82 Unabhängig davon gibt Tab. 4 jedenfalls ganz und gar keine Hinweise auf einen besonders umfangreichen Ereignisbestand, der wegen seiner Unerträglichkeit bis 2016 auf eine Einbeziehung in den strafbaren Bereich und auf die Möglichkeit der strafrechtlichen Verfolgung dringend „gewartet“
77
Deliktsschlüssel 111600 (2017: § 177 Abs. 1 – 4, 7 – 9 StGB n.F.). Deliktsschlüssel 112000 (2009 – 2016: § 177 Abs. 1 StGB a.F.; 2017: § 177 Abs. 5, 7 – 9 StGB n.F.). 79 Deliktsschlüssel 111000 (§§ 177, 178 StGB a.F./n.F.), aber 2017 abzüglich sexuelle Übergriffe (Fn. 77). 80 Hierbei muss es sich um Sachverhalte aus den Vorjahren handeln. Bemerkenswerterweise weist die Bundes-PKS lediglich 117 weitere Fälle außerhalb Bayerns aus. 81 Von 2016 auf 2017 gingen auf Bundesebene die Summenwerte von 15.331 auf 14.541 (Spalte 6 in Tab. 4) bzw. von 36.983 auf 35.875 (Spalte 10 in Tab. 4) zurück (PKS OnlineZeitreihentab. 01). 82 Nach Elz (Fn. 63, S. 124 f.) wird die Verurteilungsquote allein deshalb steigen, weil Polizei und Justiz nach Wegfall von §§ 179, 240 Abs. 4 Nr. 1 StGB einheitlicher subsumieren und die Umdefinitionen abnehmen dürften. 78
Sexualstrafgesetzgebung, Kriminalpolitik und Strafrechtsaffinität
77
hätte. Bei einer wirklich erheblichen Prävalenz solcher Fälle hätte der Zuwachs polizeilicher Registrierungen von 2016 zu 2017 deutlicher ausfallen müssen.
IV. Zusammenfassung Aus kriminologischer Warte ist das Geschehen, das zum neuen § 177 StGB führte (oben II.2.), ein Belegstück für die gelegenheitsabhängige politische Interaktion gesellschaftlicher und legislatorischer Akteursgruppen. Normativ gesehen haftet die zynische Professionalität, mit der dabei die Gunst der Stunde genutzt wurde, der Regelung freilich als ein bleibendes Stigma an: „Nein heißt Nein“ geht keineswegs auf eine fundierte gesellschaftliche Übereinkunft, sondern genetisch auf eine „Moral Panic“83 zurück. Obendrein hat die aktionistische Machart ein legislatorisches Produkt hervorgebracht, dem – auch jenseits der von vornherein umstrittenen Randbereiche (§ 184j StGB; § 54 AufenthaltsG) – alsbald eine Fülle handwerklicher Fehler attestiert worden ist.84 Aus der deutschen Kriminologie heraus wurde zu diesem Geschehen ein problematischer Beitrag geleistet: nämlich die Verbreitung von Befunden, die die öffentliche alarmistischen Grundstimmung zu befeuern und deren Nutznießer argumentativ zu munitionieren geeignet und wohl auch bestimmt waren (oben III.1.). Ablehnung verdient dabei vor allem die Interpretation des präsentierten Zahlenmaterials, die nach der obigen Einordnung (III.2.) als ebenso ungesichert wie Partei ergreifend gelten muss.85 Dass „Nein“ in der sexuellen Interaktion auch „Nein heißt“, ist – wenngleich dies als Regel in volatilen und ambivalenten Situationen86 kaum orientierend wirkt – eine Selbstverständlichkeit. Allerdings bedeutet das nicht, dass diese Grenzsetzung gegenüber jeder nötigungsfreien Überschreitung (und nicht nur gegenüber erheblichen Übergriffsformen) einer Strafbewehrung bedarf. Vielmehr möchte man die Kriminalisierer – und zwar gerade jene, die sich generell als „gesellschaftskritisch“ begreifen und das „Nein heißt Nein“-Strafrecht (ausgerechnet, weil es Straf-Recht ist) für „progressiv“ oder „emanzipativ“ halten – daran erinnern, als welches Ordnungsmittel das Strafrecht amtiert: Mehr Staat und weniger Gesellschaft als dort gibt es nirgends. Das gilt besonders, wenn sich die Intervention ausschließlich auf die Strafdrohung beschränkt. Von den Wirkungen des heutigen Strafrechts weiß man im Übrigen nur, dass es die Strafadressaten und deren Umfeld (!) nachhaltig verletzt (euphemistisch: „Strafübel“). Dass es dem Opfer, der Gesellschaft oder dem Verurteilten daneben 83 Zu diesem auf Stanley Cohen zurückgehenden Konzept näher Krinsky, The Ashgate Research Companion to Moral Panics, 2013. 84 Zu Inkonsistenzen von § 177 StGB etwa Renzikowski, NJW 2016, 3553 (3554 ff.); Reformkommission (Fn. 5), S. 299 ff.; Fischer, in: Rettenberger/Dessecker (Fn. 18), S. 51 (56 ff.); Löffelmann, StV 2017, 413 (414 ff.). 85 Eingehende Kritik auch bei Elz (Fn. 63), S. 118 ff. 86 Dazu bspw. Villalobos/Davis/Leo, in: Burnett (Fn. 18), S. 129 ff.
78
Ralf Kölbel
einen Nutzen erbringt, ist (sieht man von einer zeitweiligen Sicherungswirkung ab) empirisch gesehen dagegen ziemlich spekulativ.87 Nun wird von den Kriminalisierern allerdings gar kein messbarer Effekt des § 177 StGB n.F. ins Auge gefasst;88 ihnen ist vielmehr schon die Symbolik genug.89 Aber weil es dabei um Strafrecht geht, geht es auch ums Prinzip. Und damit wird denn auch klar, was das alles mit Ulrich Eisenberg zu tun hat: Sicher ist vollständige kriminalpolitische Neutralität in der kriminologischen Forschung gar nicht möglich.90 Ganz sicher unterliegt die individuelle Bereitschaft, Legitimationswissen für den Strafrechtsausbau zur Verfügung zu stellen, eher dem persönlichen Selbst- und Wissenschaftsverständnis als einem allgemeinen Urteil.91 Und ebenso sicher übersieht man in der Auseinandersetzung mit außerwissenschaftlichen Kriminalisierungsaktivitäten allzu leicht manch ähnlichen Eigenimpuls.92 Aber gleichwohl bleiben merkliche Unterschiede in der innerkriminologischen Strafrechtsaffinität. So hat Ulrich Eisenberg stets eine deutliche Distanz zum Strafrecht gewahrt; er hat seine kriminologischen Untersuchungen immer als Kritik am Strafgedanken und seiner Institutionen verstanden – und er hat seine Arbeit nie zu Kriminalisierungszwecken angedient oder einspannen lassen. Das ist, wie die vorstehende Skizze zeigt, alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Daher finde ich seine dabei gezeigte Kompromisslosigkeit93 bewundernswert – und ich fühle mich auch deshalb geehrt, ihm an dieser Stelle von Herzen gratulieren zu können.
87
Zusammenfassend Eisenberg/Kölbel (Fn. 8), §§ 41, 42. Kennzeichnend für die punitive Spielart feministischer Rechtspolitik, die diesen Aspekt nicht gelten lässt, etwa Lembke, ZfResoz 34 (2014), 253 (259 f.). 88 Für das Mantra, dass keine erhöhte Verurteilungsrate zu erwarten sei, vgl. stellvertretend BT-Drs. 18/9097, 21; Hörnle, ZIS 2015, 206 (214); Bezjak/Bunke (Fn. 22), S. 26; Högl/Neumann, RuP BH 2, 2018, 111 (122). 89 Bezjak, KJ 2016, 557 (561): „wichtiges gesellschaftspolitisches Signal“; vgl. auch Högl/ Neumann, RuP BH 2, 2018, 111 (118): In den vielen Fällen von § 170 Abs. 2 StPO sei es für Opfer ein „Unterschied, ob sie in der Begründung eines Einstellungsbescheides lesen, die Tat sei dem Täter nicht nachweisbar gewesen, oder ob sie lesen müssen, die Tat sei gar nicht strafbar“. 90 Vgl. etwa Becker, Social Problems 14 (1967), 239 ff. 91 Vgl. Eisenberg/Kölbel (Fn. 8), § 2 Rn. 4. 92 Vgl. Hess, in: Böllinger/Lautmann (Hrsg.): Vom Guten, das noch stets das Böse schafft, 1993, S. 329 ff. 93 So bspw. – mit Bezug zum vorliegenden Thema – bei Eisenberg/Hackethal, ZStraVo 47 (1998), 196 ff.
Psychisch Kranke als Opfer von Gewalt – Vorüberlegungen zu einer empirischen Studie Von Michael Lindemann Nicht erst seit aufsehenerregenden Ereignissen wie dem Absturz der Germanwings-Maschine im Jahr 2015 oder der Amokfahrt in der Münsteraner Innenstadt im Jahr 2018 werden psychisch Kranke in der öffentlichen Wahrnehmung primär als Gefahrenquelle für sich selbst und andere und deutlich weniger als potentielle Opfer fremder Gewalthandlungen wahrgenommen. Tatsächlich handelt es sich jedoch bei der in Rede stehenden Personengruppe um einen besonders vulnerablen und mit einem erhöhten Viktimisierungsrisiko belasteten Teil unserer Gesellschaft. Soweit einschlägige Forschungsergebnisse vorliegen, beziehen diese sich allerdings weit überwiegend auf den Aspekt der primären Viktimisierung, kaum hingegen auf die justiziellen Reaktionen, welche psychisch kranke Gewaltopfer nach der Erstattung einer Strafanzeige erfahren. Tendenziell unterbelichtet sind bislang auch die Perspektiven der Strafverfolgung und der Strafjustiz auf den Umgang mit psychisch kranken Zeugen. Ein Kooperationsprojekt des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie der Universität Bielefeld mit der Forschungsabteilung der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie im Evangelischen Klinikum Bethel (EvKB), das durch die Stiftung Wohlfahrtspflege NRW gefördert wird, soll zur Schließung der vorhandenen Forschungslücken beitragen und – wo erforderlich – konkrete Handlungsempfehlungen entwickeln.
I. Einleitung Im umfangreichen Werk Ulrich Eisenbergs, das von einer bemerkenswerten Interessenvielfalt zeugt und auch nach seiner Emeritierung im Jahr 2007 stetig weiter wächst, finden sich zahlreiche an der Schnittstelle zwischen den Kriminal- und den Psychowissenschaften angesiedelte Arbeiten. Eine besondere Freude war es für den Verfasser dieses Beitrages in seiner Eigenschaft als verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift Recht & Psychiatrie stets, wenn der Jubilar für einen Aufsatz oder eine Entscheidungsbesprechung in dieser Zeitschrift gewonnen werden konnte, und stets aufs Neue verblüffend war die Geschwindigkeit, in der die ebenso tiefschürfenden wie materialreichen Analysen1 entstanden. In Anbetracht der Begeisterung für 1 Vgl. Eisenberg, R&P 2014, 80 ff.; R&P 2015, 230 ff.; R&P 2016, 116 ff.; R&P 2017, 86 ff.
80
Michael Lindemann
den interdisziplinären Austausch von Rechtswissenschaft, Kriminologie, Psychiatrie und Psychologie, die in vielen Arbeiten Ulrich Eisenbergs spürbar wird, hegt der Verfasser die Hoffnung, dass auch die nachfolgenden Vorüberlegungen zu einem im April 2018 begonnenen Forschungsprojekt, welches Berührungspunkte zu allen vorerwähnten Disziplinen aufweist, das Interesse des Jubilars finden werden.2 Psychische Störungen haben im Bereich der öffentlichen Gesundheit in den letzten 20 Jahren stetig an Bedeutung gewonnen.3 Neben einer gewachsenen Aufmerksamkeit für psychische Erkrankungen in der Öffentlichkeit ist auch faktisch eine steigende Bedeutung dieser Krankheitsbilder bei Fehlzeiten und Frühverrentungen festzustellen.4 Krankenkassen vermelden eine deutliche Zunahme von Krankschreibungen und gestiegene Kosten im letzten Jahrzehnt, die insbesondere durch die Störungsbilder der Angststörungen, Depressionen, Schlafstörungen und der Alkoholabhängigkeit begründet sind.5 Und auch auf europäischer Ebene gelten psychische Störungen als eine der größten Herausforderungen für die öffentliche Gesundheit, weil sie jährlich über ein Drittel der Bevölkerung (und dabei am häufigsten sozial benachteiligte Personen) betreffen, sowie in vielen Ländern die häufigste Ursache für Behinderung und Arbeitsunfähigkeit darstellen.6 Erhalt, Förderung und Prävention der psychischen Gesundheit wurden bereits 2005 im Grünbuch der europäischen Kommission als bedeutsame Unionsziele identifiziert und seitdem in verschiedenen Maßnahmen verfolgt; als Handlungsstrategie zur Verwirklichung dieser Ziele wurde unter anderem die Verbesserung der Lebensqualität von Menschen mit psychischen Störungen und Behinderungen genannt.7 Für den vorliegend erörterten Zusammenhang von Bedeutung ist die Unterscheidung zwischen psychischen Erkrankungen und psychischen Behinderungen: Art. 13 2
Der Verfasser dankt Frau Janita Sommer für die wertvolle Unterstützung bei der Vorbereitung dieses Beitrages sowie für dessen kritische Durchsicht. 3 Robert-Koch-Institut/Destatis, Gesundheit in Deutschland. Gesundheitsberichterstattung des Bundes 2015, 2015, 141. 4 RKI/Destatis (Fn. 3), 120. 5 RKI/Destatis (Fn. 3), 112. 6 World Health Organization WHO, Europäischer Aktionsplan für psychische Gesundheit 2013 – 2020, 2015, 2, 13. 7 Grünbuch „Die psychische Gesundheit der Bevölkerung verbessern – Entwicklung einer Strategie für die Förderung der psychischen Gesundheit in der Europäischen Union“, 2005 (im Internet abrufbar unter http://ec.europa.eu/health/ph_determinants/life_style/mental/green_pa per/mental_gp_de.pdf, zuletzt aufgerufen am 8. 5. 2018). Neben dem Grünbuch wurde beispielsweise 2008 eine EU-Konferenz zur psychischen Gesundheit organisiert, bei der ein „Europäischer Pakt für psychische Gesundheit und Wohlbefinden“ geschlossen wurde. Im Anschluss an den Pakt wurde mit der 2013 eingeleiteten „Gemeinsamen Maßnahme der EU zum Thema geistige Gesundheit und Wohlbefinden“ ein „Europäischer Aktionsrahmen zur Förderung von psychischer Gesundheit und Wohlbefinden“ geschaffen. Auf der Webpräsenz des „EU-Kompasses für Maßnahmen für psychische Gesundheit und Wohlbefinden“ (https:// ec.europa.eu/health/mental_health/eu_compass_en; zuletzt aufgerufen am 8. 5. 2018) werden Informationen über die Politik und die Tätigkeiten der Interessenträger im Bereich der psychischen Gesundheit in gebündelter Form vorgehalten.
Psychisch Kranke als Opfer von Gewalt
81
Abs. 1 der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) verpflichtet die Vertragsstaaten – zu denen die Bundesrepublik Deutschland gehört8 – dazu, Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen wirksamen Zugang zur Justiz zu gewährleisten. Auf die Konsequenzen, die sich aus dieser Verpflichtung für die Ausgestaltung von Verfahren ergeben, in denen psychisch Kranke ein gegen sie verübtes Gewaltdelikt zur Anzeige bringen, wird weiter unten (unter III. 1.) noch näher einzugehen sein; an dieser Stelle ist zunächst zu klären, wie sich die Begriffe der psychischen Störung und der psychischen Behinderung zueinander verhalten. Die UNBRK definiert in Art. 1 Abs. 2 Menschen mit Behinderung als solche, „die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können“. In Anlehnung an die Terminologie der WHO definiert der deutsche Gesetzgeber die (leistungsbegründende) Eigenschaft der Behinderung in § 2 SGB IX wie folgt: „Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist“. Entscheidend kommt es demgemäß auf die Teilhabe- bzw. Partizipationsbeeinträchtigung des Betroffenen durch die psychische Störung an.9 In der deutschen und internationalen Literatur findet sich des Weiteren der Begriff der sog. „severe mental illness“ (SMI), der weite Überschneidungen mit dem vorstehend skizzierten Verständnis der psychischen Behinderung aufweist.10 2015 litten in Deutschland schätzungsweise 1 – 2 % der Bevölkerung an einer SMI, wozu typischerweise Schizophrenie, bipolare Störungen und schwere Depressionen gezählt werden.11 Daraus ergibt sich für die oben genannte potentielle Opfergruppe in Deutschland eine Größe von 500.000 bis 1 Million Personen. Jenseits der vorstehend erörterten terminologischen Abgrenzungsfragen ist zu berücksichtigen, dass psychische Störungen auch in schwächerer Form oft chronisch verlaufen und deshalb ausgeprägte Negativfolgen und Beeinträchtigungen für die Teilhabe am gesellschaftlichen und beruflichen Leben mit sich bringen können, weshalb die Einschränkung der Lebenswelt durch psychische Erkrankungen von Betroffenen oftmals als schwerwiegender wahrgenommen wird als die Auswirkungen physischer Erkrankungen.12 8
Die Ratifizierung der UN-BRK erfolgte für die Bundesrepublik Deutschland durch Gesetz vom 21. 12. 2008 (BGBl. II S. 1419); die Konvention trat gemäß Bekanntmachung vom 5. 6. 2009 (BGBl. II S. 812) am 26. 3. 2009 in Kraft. 9 Zu den Voraussetzungen der Subsumtion geistiger und seelischer Beeinträchtigungen unter den Behinderungsbegriff des SGB IX vgl. Neumann/Pahlen/Majerski-Pahlen/Neumann, SGB IX, 12. Aufl. 2010, § 2 SGB IX Rn. 10 f. 10 Ausführliche Analyse verschiedener Definitionsansätze und des Verhältnisses von SMI und Behinderung bei Schinnar et al., American Journal of Psychiatry 1990, 1602 ff. 11 Gühne et al., Psychiatrische Praxis 2015, 415 (422). 12 Linden, Der Nervenarzt 2015, 29 (32).
82
Michael Lindemann
II. Viktimisierung von Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen 1. Primäre Viktimisierung Der Fokus wissenschaftlicher Arbeiten richtet sich – wie auch die gesellschaftliche Wahrnehmung13 – verbreitet auf die Gefahr, die von psychisch kranken Tätern ausgeht, und es liegen zahlreiche Studien zum Gewaltverhalten dieser Personengruppe vor.14 Weniger häufig findet die besondere Vulnerabilität Erwähnung, die psychisch beeinträchtigte Personen für gewaltsame Viktimisierungen aufweisen; dies bezieht sich sowohl auf Patienten in psychiatrischen Einrichtungen, als auch auf psychisch Kranke in ihrem persönlichen Lebensumfeld außerhalb einer Einrichtung.15 Die Gründe für dieses Ungleichgewicht dürften vielschichtig sein: Oft erleben psychisch Kranke eine Stigmatisierung, die zu Diskriminierung und Ausgrenzung vom sozialen Umfeld führen kann.16 Am stärksten betroffen von „Vorurteilen, Wohnungslosigkeit und sozialem Abstieg“17 sind Personen, die an schizophrenen oder bipolaren Störungen leiden. Darüber hinaus hält sich hartnäckig die Vorstellung, dass Personen mit bestimmten psychischen Erkrankungen nicht zuverlässig über die von ihnen erlebte Wirklichkeit berichten können.18 So handelt es sich zum einen um eine Minderheitengruppe, die sich nur schwer Gehör verschaffen kann und zum anderen 13
Vgl. dazu Kröber, FPPK 2016, 227 (228). Exemplarisch für die Tendenz, psychisch Kranke primär als Gefahrenquellen wahrzunehmen, ist der 2018 von der Bayerischen Staatsregierung vorgelegte Entwurf eines Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetzes (LT-Drs. 17/21573), dessen Eingriffsermächtigungen zu Zwangsmaßnahmen z. T. an diejenigen des Maßregelvollzugsgesetzes (BayMRVG) angelehnt waren (vgl. z. B. Art. 32 Abs. 5 BayPsychKHG-E), und der u. a. die Führung einer zentralen Unterbringungsdatei vorsah (Art. 33 BayPsychKHGE), in der Patientendaten fünf Jahre lang gespeichert werden sollten. An prominenter Stelle der Gesetzesbegründung wurde auf die „Interessen des Staates“ hingewiesen, „der die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten und seine Bu¨ rger zu schützen hat“ (a.a.O., 1). Nachdem das mediale Echo vernichtend ausfiel und heftige Kritik aus Expertenkreisen geäußert wurde (vgl. nur https://www.aerztezeitung.de/politik_gesellschaft/berufspolitik/article/961925/psychischkranken-hilfe-gesetz-bayern-psychisch-kranke-gefahr.html, zuletzt aufgerufen am 8. 5. 2018), hat die Bayerische Staatsregierung auf umstrittene Aspekte wie die Unterbringungsdatei und die Bezugnahmen auf das BayMRVG verzichtet (vgl. http://www.sueddeutsche.de/bayern/bay ern-staatsregierung-entschaerft-umstrittenes-psychiatriegesetz-1.3956804, zuletzt aufgerufen am 8. 5. 2018). 14 Ausf. Hollin, Criminal Behaviour, A psychological approach to explanation and prevention, 1992, 91 ff.; s.a. Hodgins, Neuropsychiatrie 2006, 7 (8 ff.); Steinert/Traub, Bundesgesundheitsblatt 2016, 98 ff. Zu den methodologischen Problemen, welche die Analyse des Zusammenhanges von psychischer Störung und Gewaltdelinquenz aufwirft, vgl. Newburn, Criminology, 2. Aufl. 2007, 872 f. 15 Steinert/Traub (Fn. 14), 98 (101). 16 Vgl. m.w.N. von Kardoff, in: Hormel/Scherr, Diskriminierung. Grundlagen und Forschungsergebnisse, 2010, 279 (286 ff.). 17 von Kardoff (Fn. 16), 279 (282). 18 Marley/Buila, Social Work 2001, 115 (116).
Psychisch Kranke als Opfer von Gewalt
83
entsteht, wenn das betroffene Opfer von seinen Erfahrungen berichtet, bei vielen Außenstehenden die Frage nach Beeinträchtigungen der Aussagefähigkeit aufgrund der psychischen Erkrankung.19 Forschungsergebnisse zeigen jedoch, dass die Zuverlässigkeit der Berichte psychisch kranker Personen über traumatische Viktimisierungserfahrungen keineswegs hinter denjenigen der Berichte gesunder Personen zurückbleiben muss.20 a) Inzidenz und Prävalenz Bereits eine 2001 veröffentlichte US-amerikanische Studie, der die Befragung von 234 psychisch kranken Menschen zu ihren Viktimisierungserfahrungen zugrunde lag, gelangte zu dem Ergebnis, dass für psychisch kranke Menschen im Vergleich zu der Durchschnittspopulation ein signifikant höheres Risiko bestehe, Opfer einer Straftat zu werden.21 Das darüber hinausgehende Risiko, mehr als eine Straftat und unterschiedliche Delikte zu erleben, sei sogar noch höher, wenn es sich um eine psychisch kranke Frau handele oder die Person an Schizophrenie erkrankt sei.22 Gerade psychisch kranke Frauen seien tendenziell häufiger von wiederholten Gewalttaten, sowohl im familiären als auch im gesellschaftlichen Umfeld, betroffen; meist handele es sich um Sexualdelikte.23 Eine im selben Jahr veröffentlichte, ebenfalls in den USA durchgeführte Studie gelangte zu dem Ergebnis, dass das Risiko, Opfer eines körperlichen Angriffs oder sexuellen Übergriffs zu werden, für Männer mit SMI im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung um das 10-fache erhöht sei, für Frauen sogar um das 16-fache.24 Dabei erlebten die befragten Frauen eine höhere Anzahl an sexuellen Übergriffen, wohingegen die befragten Männer vermehrt Opfer von körperlichen Angriffen wurden.25 Für Personen mit psychotischer Erkrankung wurde 2004 in Australien eine 3,5-fach erhöhte Gefahrenrate festgestellt.26 Auch eine US-amerikanische Studie aus dem Jahr 2005 konstatierte ein vier- bis sechsfach erhöhtes Risiko psychisch Kranker, Opfer eines Gewaltdeliktes zu werden.27 In einer aktuelleren englischen Studie aus dem Jahr 2015 gaben 40,2 % der psychisch schwer19 Marley/Buila (Fn. 18), 115 (115 f.). Zur Beurteilung der Aussagefähigkeit von Personen mit psychischer Beeinträchtigung im Strafprozess vgl. Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 10. Aufl. 2017, Rn. 1425 ff., der (m.w.N.) auf die Bedeutung der verwendeten Befragungstechniken für die zu erwartende Aussagegüte hinweist. 20 Goodmann et al., Journal of Traumatic Stress 1999, 587 (596). 21 Marley/Buila (Fn. 18), 115 (118). 22 Marley/Buila (Fn. 18), 115 (122). 23 Marley/Buila (Fn. 18), 115 (121). 24 Goodmann et al., Journal of Traumatic Stress 2001, 615 (627). 25 Goodmann et al. (Fn. 24), 615 (627). 26 Chapple et al., Social Psychiatry and Psychiatric Epidemiology 2004, 836 (838). 27 Teplin et al., Archives of General Psychiatry 2005, 911 (917 f.). Zu ähnlichen Ergebnissen gelangte eine in den Niederlanden durchgeführte Studie; vgl. Kamperman et al., PLOS ONE 2014, 1 ff.
84
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kranken Befragten im Gegensatz zu 14,1 % der Allgemeinbevölkerung an, im Laufe des vergangenen Jahres Opfer eines Verbrechens geworden zu sein.28 Ebenfalls bestätigte sich, dass speziell Frauen mit SMI gefährdet sind, Opfer einer Gewaltstraftat zu werden.29 In Bezug auf Tötungsdelikte gelangte schließlich eine schwedische Studie zu dem Befund, dass das Risiko psychisch Kranker, Opfer eines entsprechenden Deliktes zu werden, deutlich höher ist als das psychisch Gesunder.30 Es zeigt sich folglich, dass, unabhängig davon, wie die exakte Höhe der Risikosteigerung eingeschätzt wird, jedenfalls von einem deutlich erhöhten Viktimisierungsrisiko psychisch Kranker auszugehen ist.31 b) Ätiologie Wendet man sich den Gründen dafür zu, warum psychisch kranke Personen vermehrt Opfer von (Gewalt-)Straftaten werden, so ist zu konstatieren, dass diese Personengruppe in besonderem Maße mit Risikofaktoren für eine Viktimisierung belastet ist. Zu diesen Risikofaktoren zählen beispielsweise eine fehlende oder verminderte Sozialkompetenz, das Leben in sozial schwachen Milieus sowie das Erleiden von finanziellen Notlagen.32 Diese Faktoren werden nicht zuletzt bedingt oder verstärkt durch die Stigmatisierung, welcher sich viele psychisch Kranke ausgesetzt sehen, und die nicht selten zu Ausnutzung oder sozialer Ausgrenzung führt.33 Zu den weiteren Risikofaktoren zählen jüngeres Alter, Arbeitslosigkeit und auch der Missbrauch von Alkohol oder Drogen; denn oft bestehen komorbide Abhängigkeitserkrankungen.34 Nicht abschließend geklärt ist allerdings, ob und inwieweit der Alkohol- oder Drogenmissbrauch zu einer Viktimisierungserfahrung führt oder durch diese bedingt ist.35 Auch werden als weitere Faktoren das Unverheiratet-Sein36 und das Leben in einer Wohngemeinschaft37 genannt; diese Faktoren wirken sich allerdings offenbar nicht mit dem gleichen Gewicht auf Männer und Frauen aus.38 28
Khalifeh et al., British Journal of Psychiatry 2015, 275 (280). Khalifeh et al. (Fn. 22), 275 (280). 30 Crump et al., BMJ 2013, 1 (2). 31 Vgl. auch die Ergebnisse der Meta-Analyse durch Maniglio, Acta Psychiatrica Scandinavica 2009, 180. 32 Hart et al., Social Psychiatry and Psychiatric Epidemiology 2012, 1581 (1587); Steinert/ Traub (Fn. 14), 98 (101); zu den Risikofaktoren für an Schizophrenie Erkrankte vgl. Honkonen et al., Social Psychiatry and Psychiatric Epidemiology 2004, 606 (611); zu den Risikofaktoren für Psychosekranke vgl. Chapple et al. (Fn. 26), 836 (838 f.). 33 Hart et al. (Fn. 32), 1581 (1586). 34 De Mooij et al., British Journal of Psychiatry 2015, 512 (515); Hart et al. (Fn. 32), 1581 (1587). 35 Maniglio (Fn. 31), 180 (187). 36 Goodmann et al. (Fn. 24), 615 (627). 37 Marley/Buila (Fn. 18), 115 (122). 38 Khalifeh et al. (Fn. 28), 275 (280). 29
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Ein wichtiger Aspekt dürfte darüber hinaus sein, dass sich psychisch Kranke oft aufgrund der zuvor genannten Faktoren wie Alkohol- oder Drogenmissbrauch sowie Obdachlosigkeit an gefährlicheren Orten aufhalten und es ihnen schwerer fällt, sich aufmerksam selbst zu schützen.39 Die dergestalt exponierten Personen erscheinen für Täter leichter angreifbar; möglich ist auch, dass ihre psychischen Störungen ein auffälliges respektive provokantes Verhalten mit sich bringen, welches potentiell gewalttätige Konflikte heraufbeschwört.40 Dies gilt in besonderem Maße für Störungsbilder mit schwerer und für Außenstehende auffälliger Symptomatik wie beispielsweise manischen Symptomen der Schizophrenie.41 Eine in Neuseeland durchgeführte Studie konnte diesbezüglich sogar einen Zusammenhang zwischen der Art der Erkrankung und dem erlittenen Delikt feststellen.42 So wurden Personen mit Depressionen und Angststörungen statistisch eher Opfer von sexuellen Übergriffen, während Personen mit psychotischen Erkrankungen eher Bedrohungen und Angriffen ausgesetzt waren und Personen mit Abhängigkeitserkrankungen je nach Art der Substanz eher versuchte (Marihuana) oder vollendete (Alkohol) Körperverletzungen erlitten.43 Auch in der oben erwähnten schwedischen Studie zur Sterblichkeitsrate durch Tötungsdelikte wurden unterschiedliche Viktimisierungsrisiken für einzelne Störungsbilder gefunden; danach ist die Risikorate für Personen mit Substanzabhängigkeitserkrankungen am höchsten, gefolgt von Personen mit Persönlichkeitsstörungen, Depressionen, Angststörungen und Schizophrenie.44 c) Kurz- und langfristige Folgen Das Ereignis, Opfer einer Gewaltstraftat zu werden, wird nach den Kriterien des im deutschen Gesundheitssystem zur Klassifizierung von Krankheiten verwendeten ICD-10 Systems45 als interpersonelle Traumatisierung46 eingeordnet und geht im 39
Maniglio (Fn. 31), 180 (187). Silver et al., American Journal of Public Health 2005, 2015 (2019). 41 Fortugno et al., PLOS ONE 2013, 8; Walsh et al., British Journal of Psychiatry 2003, 233 (236). 42 Silver et al. (Fn. 40), 2015 (2019). 43 Silver et al. (Fn. 40), 2015 (2019). 44 Crump et al. (Fn. 30), 1 (3). 45 WHO (Hrsg.), International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, 10th Revision (im Internet abrufbar unter http://www.who.int/classifications/icd/en/, zuletzt aufgerufen am 8. 5. 2018). Zur Klassifikation psychischer Störungen nach Kapitel V (F) der ICD-10 vgl. Dilling/Freyberger (Hrsg.), Taschenführer zur ICD-10-Klassifikation psychischer Störungen, 8. Aufl. 2016. 46 Bei einem Trauma handelt es sich nach der Definition der ICD-10 (F43.1) um „ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde“. Ausführlich zum Traumabegriff nach den internationalen Klassifikati40
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Vergleich zu Traumatisierungen durch Naturkatastrophen oder Unfälle mit einem erhöhten Risiko für Traumafolgestörungen einher.47 Die Erfahrung belastender Lebensereignisse im Erwachsenenalter hat potentiell negative Konsequenzen für die psychische Gesundheit.48 Während jedoch ein Trauma grundsätzlich jeder Mensch erleiden kann, wirkt sich dieses Erlebnis nicht bei jedem Menschen gleich belastend aus.49 Bedeutung für die Folgen eines Traumas wird vor allem der Widerstandsfähigkeit einer Person, die auch als Resilienz bezeichnet wird, zugeschrieben.50 Danach trägt das Vorliegen von intrapersonellen und interpersonellen Bewältigungsressourcen (den sog. Copingfähigkeiten) maßgeblich dazu bei, ob das Opfer nach der Viktimisierung seinen Gesundheitszustand beibehalten oder zurückgewinnen kann; als maßgeblich gelten insofern verschiedenste Faktoren, zu denen u. a. das soziale Umfeld, persönliche Lebenserfahrungen und die Persönlichkeitsstruktur gezählt werden.51 Besonders „soziale Isolation, Gefühle der Verletzlichkeit, seelische Konflikte sowie entsprechende Vorerfahrungen“52 werden als geeignet angesehen, die Copingfähigkeiten negativ zu beeinflussen. Gelingt es dem Opfer nicht, das Trauma in einem überschaubaren Zeitraum von einigen Monaten zu verarbeiten und zu bewältigen, so können Störungsbilder wie die akute Belastungsreaktion (ICD-10 F43.0), Anpassungsstörungen (F43.2) oder die – auch vielen psychologischen Laien geläufige – posttraumatische Belastungsstörung (F43.1) eintreten. Oft gehen diese Störungsbilder mit komorbiden Störungen wie Drogenmissbrauch, Sucht oder Depression einher oder verstärken diese.53 Bei der Suche nach Risikofaktoren für die mögliche Entwicklung einer Traumafolgestörung gerät u. a. auch die prätraumatische Vulnerabilität in Gestalt psychiatrischer Vorerkrankungen in den Blick.54 Ein Grund für die Bedeutung dieses Umstandes wird in den Verarbeitungsstrategien zu sehen sein, welche die betroffenen Patienten einsetzen. So geht man davon aus, dass durch die Erkrankungen bedingt häufig dysfunktionale Strategien eingesetzt werden,55 zum Beispiel die Unterdrückung oder
onssystemen Tagay/Schlottbohm/Lindner, Posttraumatische Belastungsstörung – Diagnostik, Therapie und Prävention, 2016, 26 ff. 47 Pausch/Matten, Trauma und Traumafolgestörung, 2018, Kapitel 2, S. 5; Steuwe/Driessen/Beblo, Psychotherapeut 2017, 143 (144). 48 Lijffijt/Hu/Swann, Frontiers in Psychiatry 2014, Artikel 83, 1 (9 ff.). 49 Herman, Die Narben der Gewalt. Traumatische Erfahrungen verstehen und überwinden. 5. Aufl. 2018, 69 f. 50 Herman (Fn. 49), 71. 51 Sautner, Viktimologie. Die Lehre von Verbrechensopfern, 49. 52 Sautner (Fn. 51), 49. 53 Tagay/Schlottbohm/Lindner (Fn. 49), 53 f. 54 Ausführlich Tagay/Schlottbohm/Lindner (Fn. 49), 40 ff.; s.a. Brewin/Andrews/Valentine, Journal of Consulting and Clinical Psychology 2000, 748 (751). 55 Ausführlich dazu Berking, Training emotionaler Kompetenzen, 4. Aufl. 2017, 7 ff.
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Verdrängung der negativen Gefühle auf der einen Seite56 und die verstärkt negative Interpretation der erlebten Situation bis hin zur Katastrophisierung auf der anderen Seite.57 Zudem wird die Wahrscheinlichkeit, eine posttraumatische Belastungsstörung zu erleiden, offenbar durch Diskriminierungserfahrungen erhöht.58 Diskriminierungs- und Viktimisierungserfahrungen führen des Weiteren auch zu einer erhöhten Wahrscheinlichkeit, übermäßig Alkohol oder illegale Drogen zu konsumieren sowie obdachlos oder selbst kriminell zu werden.59 Führt man diesen Befund mit den oben genannten Risikofaktoren für eine Viktimisierung der hier in Rede stehenden Personengruppe zusammen, so liegt der Schluss nahe, dass eine primäre Viktimisierung bei psychisch kranken Betroffenen häufig zu einer Verstärkung der psychischen Beeinträchtigung bis hin zur Chronifizierung sowie zu zusätzlichen (posttraumatischen Belastungs-)Störungen und zu einer schlechteren Behandlungsadhärenz führen wird.60 Im ungünstigsten Fall entsteht so eine Art Abwärtsspirale; denn wenn die psychischen Belastungen durch die Viktimisierung verstärkt werden, führt dies wiederum zu einer erhöhten Wahrscheinlichkeit, erneut Opfer einer Straftat zu werden.61 2. Sekundäre Viktimisierung In der Literatur wird berichtet, dass psychisch Kranke, die Opfer einer Gewalttat geworden sind, in der Be- und Verarbeitung krimineller Erfahrungen häufig introvertiert reagieren und sich nur eingeschränkt und erst nach Überwindung individueller Hürden wie Angst, Scham oder sogar Schuldgefühlen anderen Menschen anvertrauen.62 Noch größer erscheinen diese Hemmungen, wenn zusätzlich institutionelle Erschwernisse wie eine sofortige ärztliche Untersuchung zur Beweissicherung hinzukommen.63 Entscheidet sich das Opfer dennoch, die erlebte Gewalttat nach außen zu tragen und seine Erfahrungen anderen Menschen zu eröffnen, so kann dies zwar Erleichterung oder sogar Genugtuung bringen; der durch die Offenbarung in Gang gesetzte Prozess und die mit ihm verbundenen Reaktionen des Um56 Beblo et al., Journal of Affective Dirsorders 2012, 474 (474 f.); Beblo et al., Psychiatry Research 2013, 505. 57 Beck/Clark/Alford, Scientific foundations of cognitive theory and therapy of depression, 1999, 115. 58 Capezza et al., Journal of Addiction Medicine 2012, 297 (302). 59 Bzgl. der Diskriminierungserfahrungen s. Capezza et al. (Fn. 58), 297 (302); bzgl. der Folgen einer Viktimisierungserfahrung s. Maniglio (Fn. 31), 180 (187). 60 Vgl. Mueser et al., Schizophrenia Research 2002, 123 (130 ff.). Khalifeh et al. (Fn. 28), 275 (280). In einer Studie mit depressiven Patienten wurde sogar festgestellt, dass diejenigen, welche im letzten Jahr Opfer eines Verbrechens geworden waren, eine erhöhte Anzahl von Suizidversuchen unternahmen; vgl. Wang et al., Archives of Suicide Research 2015, 202. 61 Vgl. Mohr, Journal of Conflict and Violence Research 2003, 49 (59). 62 Goodmann et al. (Fn. 20), 587 (595, 598). 63 Greve/Rühs/Kappes in: Guzy/Birkel/Mischkowitz, Viktimisierungsbefragungen in Deutschland: Band 1 – Ziele, Nutzen, Forschungsstand, 2015, 489 (501).
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felds können jedoch auch als belastend empfunden werden, was unter Umständen zu einer erneuten Opferwerdung, der sog. sekundären Viktimisierung, führen kann.64 Unter dem Begriff der sekundären Viktimisierung werden Beeinträchtigungen zusammengefasst, die dem Opfer einer (Gewalt-)Straftat durch subjektiv als unangemessen wahrgenommene Reaktionen von Polizei, Justiz, Medien und/ oder sozialem Umfeld entstehen.65 Während dem Konstrukt der sekundären Viktimisierung eine gewisse ad hocPlausibilität nicht abgesprochen werden kann, ist hier im Einzelnen noch manches unklar: So ist zunächst zu berücksichtigen, dass sich verallgemeinernde Annahmen zu den Reaktionen von Straftatopfern auf verfahrensbedingte Stressoren verbieten – die pauschale Rede von der „besonderen Schutzbedürftigkeit“ der (im Sinne aller) Opferzeugen (vgl. nur § 48 Abs. 3 S. 1 StPO66) ist vor diesem Hintergrund als simplifizierend zurückzuweisen. Hinzu kommt, dass die Forschungslage – nicht zuletzt bedingt durch methodische Schwierigkeiten bei der (isolierten) Feststellung sekundärer Viktimisierungsfolgen – keineswegs eindeutig ist.67 Soweit einschlägige Studien vorliegen, lassen sich diesen allerdings deutliche Hinweise auf aktuelle verfahrensbezogene Belastungen mancher Opfer von Straftaten in Form von Angst, Aufregung und psychosomatischen Symptomen entnehmen.68 In Opferbefragungen wurden überdies negative Auswirkungen des Strafverfahrens auf das weitere Wohlbefinden berichtet, wobei der subjektiven Bewertung der Verfahrensgerechtigkeit besondere Bedeutung zukam.69 Diskutiert werden insbesondere auch nachteilige Konsequenzen einer sekundären Viktimisierung für den Prozess der Bewältigung der primären Viktimisierung.70 Potentiell schädigende Reaktionen der Strafverfolgungsbehörden können natürlich nur dann erfolgen, wenn das Opfer überhaupt den Weg der Anzeigenerstattung wählt. Die Studienlage zur Anzeigebereitschaft psychisch erkrankter Personen ist uneinheitlich: So wurden in britischen Studien teilweise Probleme des Zugangs psy64 Vgl. Sautner (Fn. 51), 18 f.; auf die besonderen Belastungen, die eine Zeugenvernehmung gerade für hilflose und (psychisch) behinderte Menschen mit sich bringen kann, weist Eisenberg, HRRS 2011, 64 (67) hin. 65 I.d.S. Meier, Kriminologie, 5. Aufl. 2016, § 8 Rn. 35; Volbert, in: Volbert/Steller, Handbuch der Rechtspsychologie, 2008, 198. 66 Krit. zu dieser Vorschrift etwa auch Pollähne, StV 2016, 671, 676. 67 Vgl. Wemmers, International Review of Victimology 2013, 221 (223 f.). Krit. zum Fehlen einer belastbaren empirischen Grundlage für die Annahme der Gefahr sekundärer Viktimisierungen Neuhaus, StV 2017, 55 (56) unter Bezugnahme auf Kölbel/Bork, Sekundäre Viktimisierung als Legitimationsformel, 2012, 36. 68 Volbert (Fn. 65), 198 (199 ff.), die auf die methodischen Schwierigkeiten der Untersuchung möglicher sekundärer Viktimisierungen hinweist. s.a. dies., in: Barton/Kölbel (Hrsg.), Ambivalenzen der Opferzuwendung des Strafrechts, 2012, 197 ff. 69 Volbert (Fn. 65), 198 (204); vgl. zur Bedeutung prozeduraler Gerechtigkeit für den Verarbeitungsprozess auch Wemmers (Fn. 67), 221 (223) et passim. 70 Mohr (Fn. 61), 49 (61); Wemmers (Fn. 67), 221 (229).
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chisch Kranker zum Strafjustizsystem festgestellt;71 teilweise wurden jedoch auch keine Unterschiede zum Anzeigeverhalten der Durchschnittsbevölkerung gefunden.72 Die Gründe und Motive, die allgemein zur Nichtanzeige einer begangenen Straftat führen können, sind international eingehend erforscht worden;73 dabei gelten die Geringfügigkeit einer Tat und die erwartete Erfolglosigkeit der Anzeige trotz objektiv gravierender Opfererfahrungen als häufigste Ursachen für die Entscheidung, eine erlebte Straftat nicht anzuzeigen.74 Weniger aussagekräftige Daten liegen hingegen bislang zu den Gründen vor, die psychisch kranke Straftatopfer zu einer Nichtanzeige bewegen. Eine britische Studie gelangte allerdings zu dem Ergebnis, dass 36 % der befragten psychisch Kranken, die eine Straftat nicht zur Anzeige gebracht hatten, davon ausgegangen waren, ihnen werde ohnehin nicht geglaubt; ebenso viele Befragte gaben als Grund für die Nichtanzeige an, sie hätten den Prozess der Anzeigeerstattung vermeiden wollen.75 Dass die in diesen Befragungsergebnissen zum Ausdruck kommenden Befürchtungen nicht gänzlich unbegründet sein mögen, wird deutlich, wenn 60 % der psychisch Kranken, die eine erlittene Straftat zur Anzeige gebracht hatten, angaben, sie hätten den Eindruck gewonnen, dass die Strafverfolgungsbehörden den Vorfall nicht ernst genommen hätten.76 Auch nach einer weiteren britischen Studie waren psychisch kranke Anzeigeerstatter im Durchschnitt deutlich unzufriedener mit der Behandlung durch die Polizeibeamten als die (psychisch gesunden) Angehörigen der Kontrollgruppe.77 Die Gründe für die berichtete Unzufriedenheit psychisch kranker Anzeigeerstatter mit den Reaktionen der Ermittlungsbeamten können vielfältig sein. So ist es zunächst denkbar, dass eine psychische Erkrankung durch die Beamten nicht erkannt oder gar als Rauschzustand fehlinterpretiert wird.78 Darüber hinaus ist im psychologischen Schrifttum auf die Bedeutung der Entwicklung von Befragungstechniken hingewiesen worden, durch deren Einsatz Gefühle der Scham und der Stigmatisierung vermieden werden können.79 In einer US-amerikanischen Vignettenstudie 71
I.d.S. die Studie der britischen Wohlfahrtsorganisation Mind (Hrsg.), Another Assault: Mind’s Campaign for Equal Access to Justice for People with Mental Health Problems, 2007, 9. 72 Khalifeh et al. (Fn. 28), 275 (280). 73 Vgl. z. B. für einen Vergleich der Nichtanzeigegründe in dreizehn Ländern Goudriaan/ Lynch/Nieuwbeerta, Justice Quarterly 2004, 933 (955). 74 Goudriaan/Lynch/Nieuwbeerta (Fn. 73), 933 (955). 75 Mind (Fn. 71), 9. 76 Mind (Fn. 71), 15. 77 Khalifeh et al. (Fn. 28), 275 (280). Vgl. zum Vorstehenden auch noch Campbell et al., Journal of Interpersonal Violence 2001, 1239, in deren Studie mit Vergewaltigungsopfern 52 % der Befragten angaben, sie hätten den Kontakt mit dem Strafrechtssystem als schädigend empfunden. 78 Vgl. dazu Lamb/Weinberger/DeCuir, Psychiatric Services 2002, 1266 (1267) m.w.N. Zur Bedeutung spezieller Schulungen für Polizeibeamte zum Umgang mit psychisch Kranken vgl. Krammedine/Silverstone, Frontiers in Psychiatry 2015, Artikel 186, 1 (4). 79 Goodmann et al. (Fn. 20), 587 (598).
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wurde überdies festgestellt, dass Polizeibeamte weniger gewillt waren zu ermitteln, sobald ihnen mitgeteilt wurde, dass der Anzeigeerstatter psychisch erkrankt war.80 Forschungsergebnisse zeigen jedoch, dass gerade der Verlauf der Interaktion mit den Strafverfolgungsbehörden entscheidenden Einfluss darauf haben kann, wie Opfer einen Strafprozess erleben und sich psychisch von dem Erlebnis der Straftat und deren Folgen erholen.81 Opfer, die sich ungerecht behandelt oder nicht genügend berücksichtigt fühlten, zeigten in einer Studie mehr Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung und waren in ihrem Genesungsprozess stärker beeinträchtigt.82 Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, die rechtlichen Vorgaben in den Blick zu nehmen, die auf die Vermeidung verfahrensbedingter Beeinträchtigungen abzielen, und diese insbesondere daraufhin durchzumustern, inwieweit ihre Umsetzung gerade auch für die hier in Rede stehende Personengruppe der psychisch kranken Gewaltopfer Erleichterungen mit sich bringen könnte.
III. Rechtliche Rahmenbedingungen für den Zugang psychisch kranker Gewaltopfer zur Justiz 1. Völker- und europarechtliche Vorgaben Wie bereits eingangs (unter I.) dargelegt wurde, verpflichtet Art. 13 Abs. 1 UNBRK die Vertragsstaaten, Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt einen wirksamen Zugang zur Justiz zu gewährleisten. Die Erfüllung dieses Anspruches ist durch geeignete Schulungen der im Justizwesen tätigen Personen sicherzustellen (Art. 13 Abs. 2 UN-BRK).83 In Umsetzung der Verpflichtungen aus der UN-BRK wurde Nr. 21 der Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren (RiStBV) dahingehend ergänzt, dass Menschen mit Behinderungen auch im Strafverfahren mit besonderer Rücksichtnahme auf ihre Belange zu begegnen ist (Abs. 1). Weiter wird darauf hingewiesen, dass es sich bei Vernehmungen von geistig behinderten oder lernbehinderten Zeugen empfiehlt, in geeigneten Fällen darauf hinzuwirken, dass nach Möglichkeit eine Vertrauensperson der Person mit Behinderung an der Vernehmung teilnimmt, die in der Lage ist, sprachlich zwischen diesem und dem Vernehmenden zu vermitteln (Abs. 4).84 80
Watson/Corrigan/Ottati, The Journal of the American Academy of Psychiatry and the Law 2004, 378 (383). 81 Wemmers, International Review of Victimology 1999, 167 (176). 82 Wemmers (Fn. 67), 221 (229). 83 Vgl. dazu auch die im Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung vom 28. 6. 2016 vorgesehenen Maßnahmen; BMAS (Hrsg.), Unser Weg in eine inklusive Gesellschaft. Nationaler Aktionsplan 2.0 der Bundesregierung zur UN-Behindertenrechtskonvention (UNBRK), 2016, S. 199 f. 84 Vgl. dazu auch schon BGH NJW 1997, 2335. Im Bedarfsfalle wird man bei der Vernehmung psychisch kranker Zeugen ebenso zu verfahren haben.
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Nach Ansicht der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte bedeutet ein wirksamer Zugang zur Justiz, dass Opfer von Straftaten „befähigt werden [müssen], ihre Erfahrungen den zuständigen Einrichtungen zu melden, und anschließend die Unterstützung [zu] erhalten, die sie benötigen“.85 Nach erfolgter Anzeigenerstattung kann somit in einem nächsten Schritt Unterstützung im Verfahren und vor allem in der Hauptverhandlung geboten sein. Dies folgt daraus, dass für das Opfer in seiner Rolle als Zeuge insbesondere die erneute Begegnung mit dem Täter, lange Wartezeiten, eine insgesamt lange Verfahrensdauer, unzureichendes eigenes rechtliches Wissen und mehrfache Vernehmungen sehr belastend sein können.86 Auch die europäische Opferschutzrichtlinie87 hat Impulse für Deutschland gegeben, die sich auf die Bereitstellung von Opferunterstützungsdiensten und das Ergreifen von Maßnahmen zum Schutz von Opfern vor sekundärer Viktimisierung beziehen. 2. Gesetzeslage in Deutschland Der Umsetzung der EU-Opferschutzrichtlinie diente das 3. Opferrechtsreformgesetz vom 21. 12. 2015,88 mit dem der deutsche Gesetzgeber zum 1. 1. 2017 in § 406 g Abs. 3 StPO für bestimmte, als besonders vulnerabel eingestufte Verletzte einen Rechtsanspruch auf Beiordnung eines psychosozialen Prozessbegleiters geschaffen hat.89 Die Vorschrift nimmt Bezug auf die Voraussetzungen, unter denen dem Nebenkläger auf seinen Antrag ein Rechtsanwalt als Beistand zu gewähren ist (§ 397a Abs. 1 StPO); sie erklärt die Beiordnung in Fällen minderjähriger Verletzter schwerer Sexual- und Gewaltstraftaten für obligatorisch (§ 406 g Abs. 3 S. 1 i.V.m. § 397a Abs. 1 Nr. 4 und 5 StPO) und stellt sie in sonstigen Fällen schwerer Sexual- und Gewaltstraftaten in das Ermessen des Gerichts (§ 406 g Abs. 3 S. 2 i.V.m. § 397a Abs. 1 Nr. 1 – 3 StPO).90 85 So für die Opfer von Hasskriminalität FRA-Agentur der Europäischen Union für Grundrechte, Gerechtigkeit fu¨ r die Opfer von Hasskriminalita¨ t aus berufspraktischer Sicht (Zusammenfassung in deutscher Sprache), 2016, 1. Der Gesamtbericht in englischer Sprache ist im Internet abrufbar unter http://fra.europa.eu/en/publication/2016/ensuring-justice-hatecrime-victims-professional-perspectives (zuletzt aufgerufen am 8. 5. 2018). 86 Volbert (Fn. 65), 198 (204 f.). 87 Richtlinie 2012/29/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. 10. 2012 über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI. 88 Gesetz zur Stärkung der Opferrechte im Strafverfahren (3. Opferrechtsreformgesetz) vom 21. 12. 2015 (BGB1. I, S. 2525). Eine allgemeine Einführung in den Inhalt der Neuregelungen findet sich bei Ferber, NJW 2016, 279 ff. 89 Kritisch dazu Neuhaus (Fn. 64), 55; s.a. Stremlau, Praxis der Rechtspsychologie 2016, 125 ff. sowie kritisch zur Prozessbegleitung speziell im Jugendstrafverfahren Eisenberg, ZJJ 2016, 33. 90 Zu den ermessensleitenden Gesichtspunkten vgl. Satzger/Schluckebier/Widmaier/ Schöch, StPO, 3. Aufl. 2018, § 406 g Rn. 6. Für eine Ausweitung des Anwendungsbereichs de lege ferenda auf Zeugen, die häusliche Gewalt erlebt haben, spricht sich Wenske, JR 2017, 457 (466) aus.
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Konkretisierungen der von den psychosozialen Prozessbegleiterinnen und Prozessbegleitern zu erfüllenden Qualifikationsanforderungen, ihrer Aufgaben sowie der ihnen zu gewährenden Vergütung finden sich im Gesetz über die psychosoziale Prozessbegleitung im Strafverfahren (PsychPbG) vom 21. 12. 2015.91 Zu den Aufgaben eines Prozessbegleiters zählen gemäß § 2 Abs. 1 S. 2 PsychPbG „die Informationsvermittlung sowie die qualifizierte Betreuung und Unterstützung im gesamten Strafverfahren mit dem Ziel, die individuelle Belastung der Verletzten zu reduzieren und ihre Sekundärviktimisierung zu vermeiden“. Der Prozessbegleiter soll dem Verletzten Sicherheit und Orientierung vermitteln und ihm ermöglichen zu verstehen, was um ihn herum geschieht und was von ihm erwartet wird. Hingegen erstreckt sich die psychosoziale Prozessbegleitung nicht auf die rechtliche Beratung des Verletzten oder auf die Sachverhaltsaufklärung; sie „darf nicht zu einer Beeinflussung des Zeugen oder einer Beeinträchtigung der Zeugenaussage führen“ (§ 2 Abs. 2 S. 2 PsychPbG).92
IV. Forschungsbedarf in Deutschland Während den spezifischen Viktimisierungsrisiken psychisch kranker Personen, der Behandlung sowie der Gefahr einer Retraumatisierung dieser Opfergruppe im angloamerikanischen Raum erhebliches Interesse zuteil wird,93 existieren zu diesen Fragenkreisen für Deutschland und Mitteleuropa bislang nur wenige einschlägige Forschungsarbeiten. Allerdings weisen Studien zur Erfassung von emotionalem, körperlichem und sexuellem Missbrauch bzw. emotionaler und körperlicher Vernachlässigung im Kindes- oder Jugendalter darauf hin, dass in der Gruppe der psychisch Kranken die Viktimisierungserfahrungen auch in Deutschland häufiger und schwerer waren als die Erfahrungen in der gesunden Kontrollgruppe.94 Diese Studien geben jedoch weder Aufschluss über die Reihenfolge des Auftretens von Viktimisierungserfahrung und psychischer Erkrankung, noch gehen sie näher auf die Erfahrungen der Opfer nach der Viktimisierung ein. Angesichts der Tatsache, dass in einer jüngst vom Bundeskriminalamt erstellten Übersicht über den Forschungsstand der Viktimologie in Deutschland erneut defizitäre Erkenntnisse zu den Bewältigungsprozessen und 91 Verkündet als Art. 4 des 3. Opferrechtsreformgesetzes vom 21. 12. 2015, BGBl. I S. 2525. 92 Vgl. Meyer-Goßner/Schmitt/Meyer-Goßner, StPO, 60. Aufl. 2017, § 406 g Rn. 1: „Das Leitbild der psychosozialen Prozessbegleitung ist somit die klare Trennung von strafverfahrensbezogener Beratung und Begleitung“. 93 Vgl. z. B. Swartz/Bhattacharya, World Psychiatry 2017, 26 („Violence against persons with SMI is a pressing global health concern thwarting recovery and community integration“); Walsh et al. (Fn. 41), 233 (237: „It is becoming increasingly clear that there is a need to refocus the issue of community risk away from the danger posed by mentally ill individuals to the danger posed to them from other members of society.“). 94 Siehe dazu Wingenfeld et al., PPmP 2010, 442; Schulz et al., International Journal of methods in psychiatric research 2014, 387.
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Verarbeitungsstrategien nach erfolgter Viktimisierung bemängelt wurden,95 erscheinen weitere Forschungen angebracht. Auch ein von 2014 bis 2016 durchgeführtes, durch die Europäische Union gefördertes Evaluationsprojekt, welches die Implementierung der Opferschutzrichtlinie 2012/29/EU in den einzelnen Mitgliedsstaaten untersuchen sollte, gelangte zu dem Ergebnis, dass es an einer empirischen Fundierung der opferorientierten Reformen in Europa mangele.96 Da der Rechtsanspruch auf Beiordnung eines psychosozialen Prozessbegleiters erst zum 1. 1. 2017 geschaffen wurde, existieren naturgemäß noch keine systematischen Erkenntnisse darüber, ob das Instrument die durch den Gesetzgeber gehegten Erwartungen in der Praxis erfüllt. Die Erarbeitung empirischer Aussagen zu den Erfahrungen, die schutzbedürftige Zeugen, Verfahrensbeteiligte und Gerichte mit der psychosozialen Prozessbegleitung gemacht haben, ist mithin ein bislang uneingelöstes Forschungsdesiderat. Gleiches gilt für die Umsetzung des Anspruches von Straftatopfern mit psychischer Behinderung auf gleichberechtigten und wirksamen Zugang zur Justiz aus Art. 13 UN-BRK: Zur Frage, ob und inwieweit die aus Art. 13 UN-BRK erwachsenden Verpflichtungen in Strafverfahren umgesetzt werden, an denen Menschen mit psychischer Behinderung als Anzeigeerstatter/-innen und als Zeuginnen oder Zeugen beteiligt sind, existieren bislang keine systematisch erhobenen Erkenntnisse.97
V. Projekt „ViReO“ Das Projekt „Viktimisierung, Recht und Opferschutz (ViReO): Menschen mit psychischer Behinderung als Opfer von Gewalt – Multiperspektivische Analysen zu Viktimisierung und deren polizeilicher sowie justizieller Verarbeitung; Entwicklung konkreter Präventionsansätze“ soll zur Schließung der vorstehend skizzierten Forschungslücken beitragen und – wo erforderlich – konkrete Handlungsempfehlungen entwickeln. Das durch die Stiftung Wohlfahrtspflege NRW geförderte Vorhaben wird von April 2018 bis März 2021 als Kooperationsprojekt des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie der Universität Bielefeld und der For95
Greve/Rühs/Kappes (Fn. 63), 489 (489 f.). Biffi et al., IVOR Report: Implementing Victim-Oriented Reform of the criminal justice system in the European Union, 2016, 20. 97 Die im Auftrag verschiedener Bundesministerien durchgeführten Studien zur Lebenssituation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen (vgl. BMFSFJ (Hrsg.), Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen in Deutschland. Ergebnisse der quantitativen Befragung. Endbericht, 2013; BMFSFJ (Hrsg.), Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen in Deutschland. Qualitative Studie. Endbericht, 2013; BMAS (Hrsg.), Lebenssituation und Belastung von Männern mit Behinderungen und Beeinträchtigungen in Deutschland – Haushaltsbefragung. Abschlussbericht, 2013; Schröttle/Hornberg, Vorstudie für eine Repräsentativbefragung zur Teilhabe von Menschen mit Behinderung(en), 2014) sind mit Blick auf den Themenbereich „Recht/Justiz“ deutlich breiter und überdies nicht multiperspektivisch angelegt. 96
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Michael Lindemann
schungsabteilung der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie im Evangelischen Klinikum Bethel (EvKB) durchgeführt. Im Rahmen des Projektes sollen in ausgewählten deutschen Regionen empirische Daten erhoben werden, die sowohl die primäre und sekundäre Viktimisierung von psychisch behinderten Menschen98 als auch den justiziellen Umgang mit diesen Opfern betreffen. Auf der Grundlage dieser Daten sollen sodann Ansätze zur Vermeidung sekundärer Viktimisierung der Opfergruppe entwickelt werden. Besondere Aufmerksamkeit soll dem Instrument der psychosozialen Prozessbegleitung gewidmet werden, das zwar im einschlägigen Schrifttum durchaus kontrovers diskutiert wird,99 aus der Perspektive der hier in Rede stehenden Opfergruppe aber doch einen sinnvollen Baustein einer Präventionsstrategie bilden könnte. Die empirische Studie wird in zwei Teilprojekte aufgespalten sein, deren Ergebnisse anschließend zueinander in Beziehung gesetzt werden: Im ersten Teilprojekt soll der Frage nachgegangen werden, wie verbreitet gewaltsame Viktimisierungserfahrungen unter Menschen mit psychischer Behinderung sind, und welche Verarbeitungsstrategien diese Opfer nach erfolgter Viktimisierung anwenden. Dazu werden Menschen, die eine diagnostizierte psychische Behinderung haben und eine Einrichtungsambulanz aufsuchen, gezielt nach ihren subjektiven Gewalterfahrungen befragt. Von Interesse wird unter anderem sein, ob die Betroffenen Anzeige erstattet oder auf eine Anzeigenerstattung verzichtet haben, und welche Gründe sie für ihre jeweilige Entscheidung angeben. In einem nächsten Schritt werden dann die Erfahrungen derjenigen, die Anzeige erstattet haben, mit dem Strafjustizsystem und auch mit dem für besonders gravierende Fälle geschaffenen Anspruch auf Beiordnung eines psychosozialen Prozessbegleiters erforscht. Parallel dazu sollen im zweiten Teilprojekt die Erfahrungen von Vertretern der Strafverfolgungsbehörden (Polizei und Staatsanwaltschaft), der Richterschaft sowie der psychosozialen Prozessbegleitung mit Strafverfahren erfragt werden, in denen die Anzeige erstattende Person eine schwere psychische Krankheit aufwies.100 Zentral für dieses Teilprojekt sind die Kompetenzen der professionellen Verfahrensakteure im Umgang mit den besonderen Belangen von Menschen mit schwerer psychischer Erkrankung sowie die diesbezüglichen Schulungsangebote der Polizei- und Justizbehörden. Darüber hinaus soll in diesem Teilprojekt auch die Rolle beleuchtet
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Vor dem Hintergrund des mit der UN-BRK eingeführten Anspruches von Menschen mit Behinderungen auf gleichberechtigten und wirksamen Zugang zur Justiz (Art. 13 UN-BRK) erscheint es angebracht, den Fokus des Projektes auf Gewaltopfer mit psychischer Behinderung zu legen. Dabei sind sich die Verantwortlichen der weiten begrifflichen Überschneidungen mit dem Konzept der SMI bewusst. 99 Vgl. die Nachweise in Fn. 89. 100 Da den Juristinnen und Juristen sowie psychosozialen Prozessbegleiterinnen und -begleitern eine Subsumtion unter den Begriff der psychischen Behinderung (insbesondere mit Blick auf die vorausgesetzte Dauer der Störung) schwerfallen dürfte, wird in diesem Projektteil mit dem Begriff der schweren psychischen Krankheit (SMI) gearbeitet.
Psychisch Kranke als Opfer von Gewalt
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werden, welche die psychosoziale Prozessbegleitung in einschlägigen Strafverfahren einnimmt bzw. zukünftig einnehmen könnte. In einer weiteren Projektphase sollen die Ergebnisse aus den beiden Teilprojekten zusammengeführt werden und auf dieser Grundlage konkrete Handlungsempfehlungen für die Verfahrenspraxis formuliert werden. In methodischer Hinsicht sind am Beginn der Projektlaufzeit Fokusgruppengespräche und qualitative Interviews mit erfahrenen Praktikerinnen und Praktikern vorgesehen; zu einem späteren Zeitpunkt sollen dann in beiden Teilprojekten auch quantitative Erhebungsinstrumente zur Anwendung kommen. Im Ergebnis erhoffen sich die Projektverantwortlichen einen Erkenntnisgewinn, auf dessen Grundlage sich eine spürbare und nachhaltige Verbesserung der Lebenssituation psychisch behinderter Gewaltopfer in unserer Gesellschaft erreichen lässt.
„Moneyball“ in der Strafrechtspraxis? Von Henning Ernst Müller Ulrich Eisenberg hat immer wieder seinen kritischen Blick auf diejenigen empirischen Methoden und Erkenntnisse gerichtet, die Entscheidungen im System der Strafverfolgung und forensischen Psychiatrie maßgeblich mitbestimmen.1 Den zahlreichen Diskussionen, die wir in gut 30 Jahren zu dieser Thematik geführt haben, möchte ich den folgenden Beitrag als kleinen Mosaikstein hinzufügen.
I. „Moneyball“, der Film Der Spielfilm „Moneyball“ (Hauptrolle Brad Pitt)2 kam im Jahr 2011 heraus. Er spielte bei einem Budget von 50 Millionen US-Dollar weltweit 110 Millionen USDollar ein und war vor allem in den USA erfolgreich. In Deutschland kam er unter dem Titel „Moneyball. Die Kunst zu gewinnen“ in die Kinos und wurde im vergangenen Jahr auch im Fernsehen gezeigt. Aber nicht der Film selbst und auch nicht sein wirtschaftlicher Erfolg sind hier Thema, sondern der auf den ersten Blick erstaunliche Einfluss der Idee, die in diesem Film dargestellt und propagiert wird, auf die Strafrechtspraxis in den USA und darüber hinaus. Der Film „Moneyball“ beschreibt ebenso wie das Buch gleichen Titels3, wie das lange Zeit erfolglose und unterfinanzierte Baseball-Team „Oakland Athletics“ auf die Straße des Erfolgs gelangt. Dies gelingt bei vergleichsweise geringem Geldeinsatz durch eine an statistischen Auswertungen der Spielerleistungen orientierte Einkaufs- und Mannschaftsaufstellungsstrategie. Der Film überzeugte wegen seiner Orientierung an wahren Begebenheiten und einer geschickten Dramaturgie ein breites Publikum von der Nützlichkeit statistikbasierter Entscheidungsfindung.4 In sprachlich-kultureller Hinsicht werden das Substantiv „Moneyball“ und das Verb „to 1 Nur exemplarisch sei auf folgende Schriften Ulrich Eisenbergs hingewiesen: Eisenberg, Der Medizinische Sachverständige 1971, 10; Eisenberg, in: Müller-Dietz et al., FS Jung, 2007, S. 127; Eisenberg, DRiZ 2009, 219; Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 10. Aufl. 2017, Rn. 1814 ff.; Eisenberg, Kriminologie, 6. Aufl. 2005, § 21; Eisenberg/Kölbel, Kriminologie, 7. Aufl. 2017, § 21. 2 Spielfilm „Moneyball“, 2011, Regie: Bennett Miller. 3 Lewis, Moneyball. The Art of Winning an Unfair Game, 2003. 4 So heißt es in einer Filmrezension von Cavoli treffend: „,Moneyball‘ is not just a baseball story. It is a fascinating look at how breaking old thinking and applying new metrics can improve efficiency and generate better results.“ https://www.cnbc.com/id/44640782.
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moneyball“ mittlerweile nicht mehr allein im Zusammenhang mit Baseball verwendet, sondern auch in einer ganzen Reihe von weiteren Lebenswelten und Anwendungsgebieten. „Moneyball“ ist mittlerweile zum festen Bestandteil des amerikanischen Sprachwortschatzes avanciert und bezeichnet dort die Nutzung der statistischen Datenanalyse in ganz verschiedenen Zusammenhängen. In Europa wird das Wort „Moneyball“ ebenfalls gelegentlich im Sport (etwa Fußball5) verwendet, das Prinzip wird aber längst auch in diversen wirtschaftlichen Zusammenhängen befolgt.
II. „Moneyballing“ in der Strafjustiz: Vom „back end“ zum „front end“ Schon weit vor Entstehung des genannten Films oder seiner Buchvorlage wurde beschrieben, wie sich die amerikanische Sanktionierungspraxis durch die statistische Kriminalprognose graduell von den Annahmen und Vorgaben der traditionellen Straftheorien (Vergeltung, General- und Spezialprävention) entfernen könnte („New Penology“6). Mit der Entwicklung immer ausgefeilterer statistischer Instrumente und zugleich der Einrichtung des Internet-Zugangs zu elektronischen Datenbanken wurden diese Methoden ab etwa Mitte der 1990er Jahre immer tauglicher für die allgemeine und breite strafrechtliche Praxis.7 Der Film „Moneyball“ brachte dann insbesondere einen erheblichen Schub für die populäre Verbreitung und allgemeine Anerkennung dieser Methode mit sich. Wie diese Popularisierung von statten ging, kann beispielhaft etwa an einem TED-Vortrag von Anne Milgram gezeigt werden.8 Milgram war von 2007 bis 2010 Generalstaatsanwältin im US-Bundessaat New Jersey und hat in dieser Funktion das statistische Risk Assessment als zentrale Methode in die Praxis von Ermittlungsverfahren, Anklagen und Strafforderungen eingeführt. In ihrem Vortrag von 2013, der mittlerweile allein auf der offiziellen TED-Seite weit über 900.000-mal aufgerufen wurde, beschreibt sie ihre Zielsetzung so: „In short, I wanted to moneyball Criminal Justice“.9 „To moneyball criminal justice“ bedeutet für Milgram vor allem, dass die statistische Rückfallprognose von der Entscheidungsfindung am strafrechtlichen „back end“ nach vorn, zum „front end“, verlagert und dort möglichst flächendeckend ein5
Vgl. Nowroth, Der zwölfte Mann heißt Big Data, in: Wirtschaftswoche vom 3. 6. 2016. Vgl. Freeley/Simon, Criminology 30 (1992), 449 ff. 7 Vgl. zur Bedeutung in der (deutschen) psychiatrischen Prognosepraxis Kröber, Kriminalprognostische Begutachtung, in: Kröber et al., Handbuch der Forensischen Psychiatrie, Bd. 3, 2006, S. 69 (89 f.). 8 Milgram, Why smart statistics are the key to fighting crime, Vortrag TED 2013, abrufbar unter: https://www.ted.com/talks/anne_milgram_why_smart_statistics_are_the_key_to_fighting _crime?. 9 Milgram (Fn. 8), Minute 9 des Videomitschnitts. 6
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gesetzt werden sollte. Staatsanwaltschaften und Gerichte sollen schon bei Fragen der Kautionsstellung bzw. Untersuchungshaft, bei Deals im Ermittlungsverfahren („Pretrial“) und bei der Strafzumessung primär aufgrund statistisch fundierten Risk Assessments entscheiden.10 Statistische Rückfallprognose könne nämlich wesentlich besser zwischen hohem und geringerem Risiko differenzieren als intuitive oder erfahrungsbasierte „Bauchentscheidungen“, die meist auf der Grundlage von nur wenigen zufällig bekannten Personendaten des Tatverdächtigen bzw. Verurteilten erfolgten. Der in den vergangenen zehn Jahren eingetretene Schwenk zur statistischen Rückfallprognose als Strafzumessungskriterium wurde begünstigt durch die verbreitete Wahrnehmung, dass die in den USA seit Mitte der 1970er vorherrschende vergeltende und generalpräventive Sanktionierungsstrategie zu einer krass überhöhten Inhaftierungsrate und zugleich zu hohen Rückfallraten geführt hat.11 Die „Mass Incarceration“ in den USA wurde schon seit der Jahrhundertwende als zunehmend sozio-kulturelles und fiskalisches Problem erkannt, das dringend nach einer Reform verlange.12 Hierzu gaben auch die seit Mitte der 1990er Jahre kontinuierlich fallenden Kriminalitätsraten Anlass. Insofern fiel das positiv konnotierte Stichwort „Moneyball“ auf fruchtbaren Boden. Nach sich nun schnell verbreitender Überzeugung könne man die Diversionsrate und den Anteil von Bewährungssanktionen bei nicht-gewaltsamer Delinquenz entscheidend erhöhen und dadurch die Inhaftierung solcher Straftäter vermeiden, die ein relativ geringes bzw. weniger schwerwiegendes statistisches Rückfallrisiko aufweisen.13 Zudem könne man Resozialisierungsprogramme im Strafvollzug gezielter auf solche Strafgefangene beziehen, die davon am ehesten profitierten.14 Durch eine streng utilitaristische und objektiv durch Risikoabschätzung gesteuerte Strafverfolgung und -zumessung werde der Strafvollzug auf „gefährliche“ Straftäter konzentriert, um unter Berücksichtigung der Sicherheitsanforderungen der Öffentlichkeit die Insassenzahlen in amerikanischen Strafvollzugsanstalten zu reduzieren.15 Die Intention zur Reduktion der Masseninhaftierung wird dabei etwa von Monahan besonders betont: Risk Assessment bei der Straf10
Sidhu, Boston College Law Review (56), 2015, 671 (672 ff.). Warren, Univ. of San Francisco Law Review 43 (2009), 585 (588 ff.); Monahan, in: Erik Luna, Reforming Criminal Justice, Vol. 4, 2017, S. 77 ff. 12 Vgl. dazu das Stichwort „Criminal Justice Reform“, die – ausgelöst durch mehrere Entscheidungen des Supreme Courts und angeführt von der Obama-Regierung – auch in den meisten US-Bundesstaaten (in allerdings verschiedener Weise) zur Abschwächung der vormals strengen „Sentencing Guidelines“ geführt hat, um einer weiteren Masseninhaftierung entgegenzuwirken. Die wissenschaftliche Begleitung der Reform ist dokumentiert im vierbändigen Werk „Reforming Criminal Justice“, herausgegeben von Erik Luna, auch online publiziert. 13 Vgl. Monahan (Fn. 11), S. 78. 14 Warren (Fn. 11), S. 604 f. 15 Sidhu (Fn. 10), 673: „reserve incarceration for the most dangerous and save the low-risk from needlessly languishing in jail or prison“. 11
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zumessung solle vor allem zur Verringerung der Anzahl und Dauer von Strafen genutzt werden, indem man vor allem die limitierende Funktion der Vergeltungstheorie („limiting retributivism“) weiterhin beachten solle.16 Mittlerweile haben 20 US-Bundesstaaten statistische Rückfallprognosen in unterschiedlicher Weise als Strafzumessungskriterium gesetzlich etabliert.17 Damit einher geht eine Loslösung vom rein vergeltenden („just deserts“) Strafmodell, das seit den späten 1970er Jahren in den USA dominierte,18 sowie ein zwar mäßiger, aber kontinuierlicher Rückgang der Anzahl und Rate der Gefangenen.19 Trotz ihrer Popularität, ihrer objektivierten Evidenzbasis und ihrer Erfolge blieb die sich verbreitende Moneyball-Strafjustiz allerdings nicht ohne Kritik, auch von prominenter Seite: Der von 2009 bis 2015 unter Präsident Obama amtierende Justizminister Holder äußerte sich auf der Tagung der amerikanischen Strafverteidiger im Jahr 2014 skeptisch. Zwar seien sowohl computergesteuerte polizeiliche Einsatzstrategien wie „CompStat“20 als auch die Nutzung aktuarischer Rückfallprognosen bei Entscheidungen über vorzeitige Entlassungen, also am „back end“, zu begrüßen,21 aber der Einsatz solcher Instrumente am „front end“, also insbesondere bei der Strafzumessung, komme für ihn nicht in Betracht.22
III. Zur Kritik am statistischen Risk Assessment Die Kritik an der statistischen Rückfallrisiko-Prognose als ausschlaggebendem Kriterium zur Bemessung bzw. Abkürzung/Verlängerung von strafrechtlichen Sanktionen soll im Folgenden kurz zusammenfassend – ohne Anspruch auf Vollständigkeit in den Einzelheiten – dargestellt werden. Einige Kritikpunkte werden erst dann bedeutsam, wenn, wie für die USA aufgezeigt, Risk Assessment schon im Ermittlungsverfahren und bei der Strafzumessung eingesetzt wird. Andere ergeben sich auch, wenn solche Methoden erst bei der Entscheidung über eine (vorzeitige) Entlassung, also am „back end“ eingesetzt werden. 16
Monahan (Fn. 11), S. 84 ff. und S. 93. Sidhu (Fn. 10), 674; vgl. auch Monahan (Fn. 11), S. 81 ff., für die Beispiele Virginia und Pennsylvania. 18 Warren (Fn. 11), S. 633 f. 19 Kaeble/Cowhig, Correctional Populations in the United States, 2016, online unter Bureau of Justice Statistics: https://www.bjs.gov. 20 Ein computerbasiertes statistikgesteuertes Polizei-Management-Programm, das zunächst von der Polizei in New York City implementiert wurde, mittlerweile aber in den USA weit verbreitet ist. 21 Holder, Speech Presented at the National Association of Criminal Defense Lawyers 57th Annual Meeting and 13th State Criminal Justice Network Conference, Philadelphia, PA, 2014, zitiert nach: https://www.justice.gov/opa/speech/attorney-general-eric-holder-speaks-nationalassociation-criminal-defense-lawyers-57th. 22 Holder (Fn. 21). 17
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1. Menschenrechtliche oder grundrechtliche Limitierung Soweit die statistische Rückfallprognose Merkmale nutzt, die nach menschenrechtlichen Prinzipien nicht für benachteiligende Entscheidungen genutzt werden dürfen, ergeben sich grundlegende Bedenken. Es ist ganz offensichtlich unzulässig, Geschlecht, Herkunft, Hautfarbe, Bildungsstatus, Erwerbstätigkeit oder Einkommen unmittelbar als strafbegründende oder -schärfende Kriterien gesetzlich zu verankern.23 Nichts anderes kann aber gelten, wenn diese Merkmale mittelbar durch „moneyballing“ darüber mitentscheiden, ob Haft angeordnet, Anklage erhoben, eine bestimmte (längere) Strafe verhängt wird oder die Entlassung aus dem Strafvollzug früher oder später erfolgt. Insbesondere die in den USA auf jeder Stufe der Strafverfolgung beobachtete strukturelle Diskriminierung von Personen aufgrund ihrer Hautfarbe („race“) und die erheblich erhöhte Gefangenenrate bei Afroamerikanern begründet die Skepsis amerikanischer Autoren auch bei nur indirektem Einfluss auf Risikoscores (etwa durch Risikomerkmale wie Nachbarschaftsdeprivation oder Einkommen).24 Obwohl grundsätzlich derselbe Einwand beim Risikomerkmal (männliches) Geschlecht gilt, bleibt dies regelmäßig unhinterfragt.25 2. Das Schuldprinzip Der zweite Kritikpunkt bezieht sich weniger auf den konkreten Inhalt als auf die Frage, inwieweit Merkmale, die statistisch mit dem Rückfall korrelieren, mit dem Schuldprinzip in Einklang gebracht werden können. Das Schuldprinzip, das auch in den USA als wichtigste Legitimation der Strafe angesehen wird,26 wird dann ausgehebelt, wenn Merkmale für die Strafsanktion und ihre Höhe bzw. Schärfe herangezogen werden, für die das Individuum nicht selbst verantwortlich ist. Unvereinbar mit dem Schuldprinzip ist es, wenn das betreffende Individuum ein risikoerhöhendes Merkmal gar nicht oder nur sehr eingeschränkt willentlich beeinflussen kann. Dies betrifft etwa die strafrechtliche Vorbelastung der Eltern oder Geschwister, in welcher Nachbarschaft die Person aufgewachsen ist oder noch lebt, welches Geschlecht, welche Hautfarbe oder Herkunft sie hat. Auch Erwerbstätigkeit und Einkommen sind nur mit Einschränkungen vom Individuum steuerbar. Zwar liegen Alkohol- und Drogenkonsum grundsätzlich in der Verantwortlichkeit des Einzelnen, diese Verantwortlichkeit ist aber bei krankhafter Sucht ebenso vermindert bzw. ausgeschlossen wie die Verantwortung für (sonstige) psychische Störungen und Krankheiten.
23
Dies gilt auch für die USA: Sidhu (Fn. 10), 675. Vgl. Sidhu (Fn. 10), 695 ff. 25 Vgl. dazu Monahan/Skeem, Annual Review of Clinical Psychology 2016, 489 (502); problematisiert allerdings von Sidhu (Fn. 10), 699 ff. 26 Vgl. Sidhu (Fn. 10), 702 ff. 24
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Dieser Einwand richtet sich vor allem gegen eine Nutzung von statistischen Rückfallprognosen am „front end“ strafjustizieller Entscheidungsfindung, also bei der Anwendung im Ermittlungsverfahren, bei Diversionsentscheidungen oder bei der Strafbemessung und -zumessung. Nach einer Verurteilung, d. h. insbesondere für strafvollstreckungsrechtliche und strafvollzugliche Entscheidungen, ist weder in den USA noch in Europa eine strenge Befolgung des Schuldprinzips vorgesehen. Vielmehr ist eine Orientierung solcher Entscheidungen regelmäßig an aktueller „Gefährlichkeit“ bzw. prognostizierter Rückfallwahrscheinlichkeit gesetzlich geregelt.27 Das bedeutet aber nicht, dass jedes statistisch mit dem Rückfall korrelierende Merkmal, das vom Individuum nicht gesteuert werden kann, auch genutzt werden darf. So kann es insbesondere nach dem in Deutschland verfassungsrechtlich verankerten Resozialisierungsgebot28 unzulässig, zumindest aber fragwürdig sein, eine Entlassung aus der Strafhaft oder Sicherungsverwahrung dauerhaft an Merkmalen29 scheitern zu lassen, die der Strafgefangene ohne sein Zutun erworben hat bzw. die ihm aufgrund gruppenstatistischer Berechnungen zugeschrieben werden und die er durch sein Verhalten nicht ändern kann. Die Zuschreibung eines individuellen Risikoscores, der auf solchen Merkmalen beruht, bringt zudem die fragwürdige Konsequenz mit sich, dass Kriminalpolitik nicht veranlasst ist, mögliche gesellschaftliche kriminalitätsfördernde Ursachen zu beseitigen oder zu vermindern, weil man das straffällige Individuum „evidenzbasiert“ für diese Zustände „haften“ lassen kann. 3. Statisches Menschenbild und Labeling Ein weiterer Kritikpunkt ergibt sich aus den in der Rückfallprognose herangezogenen Daten: Aus praktischen Gründen werden vor allem solche Merkmale evaluiert, die sich äußerlich relativ eindeutig sowie ohne größeren Aufwand und ohne subjektive Bewertung messen lassen. Dies sind überwiegend Merkmale, die sich im Lebensverlauf gar nicht oder nur langsam ändern (Geschlecht, Nationalität/Herkunft/ Migrationshintergrund, vorherige Delinquenz, vorherige Inhaftierungszeiten, psychische Störungen oder Krankheiten) und deshalb auch als „statisch“ bezeichnet werden. Statistische Instrumente der Rückfallprognose beruhen daher zu einem guten Anteil auf der Annahme, dass ein Proband mit seinen angeborenen und erworbenen Merkmalen in seinem Risikoscore – mit Ausnahme des Lebensalters – relativ beständig bleibt. Dies steht aber im Widerspruch zur menschlichen Eigenschaft, sich im Verlauf des Lebens zu ändern, und auch im Widerspruch zum Anspruch des Strafrechts, durch Sanktionierung auf delinquente Menschen einzuwirken, damit sie sich ändern. Die Kritik an der Prognose aufgrund primär statischer Merkmale ist verbrei-
27
Vgl. Praxis und Kommentierungen zu § 57 StGB. Vgl. BVerfGE 35, 202 (Lebach); BVerfGE 98, 169 (Arbeitspflicht). 29 Siehe dazu noch sogleich unten II.3. 28
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tet und hat insbesondere zu Anstrengungen geführt, dynamische Merkmale in die Risikovorhersage einzufügen.30 Ein damit zusammenhängendes Problem wird in den entsprechenden Diskussionen seltener thematisiert: Risikoscores, die ganz oder überwiegend auf statischen Merkmalen (einschließlich vergangenen Straftaten) beruhen, sind zugleich „Etiketten“, die unmittelbar zu einer Stigmatisierung in der gegenwärtigen und künftigen Rechtsanwendung führen. Vermittelt über die nachteilige Wirkung härterer Bestrafung bzw. häufigerer Inhaftierung ergeben sich Elemente der sich selbst bestätigenden Prophezeiung. Ein erhöhter Risikoscore kann damit selbst zur Risikoerhöhung beitragen, also sich gleichsam selbst legitimieren. 4. Das „G2I“-Problem Schließlich ist noch auf ein grundlegendes Problem einzugehen. Die MoneyballStrategie aus dem gleichnamigen Film befasst sich mit der statistischen Analyse einzelner Baseball-Spieler. Da diese im hochregulierten Baseball-Spiel im Verlauf einer Saison immer wieder mit denselben Situationen konfrontiert sind, produzieren sie als Individuen tausende Verhaltensdaten dazu, wie sie in der gleichen sportlichen Situation agiert bzw. reagiert haben. Daraus und aufgrund der Tendenzen dieser Verhaltensdaten im Zeitverlauf kann auf das künftige Verhalten und den sportlichen Erfolg einzelner Spieler geschlossen werden. Entsprechendes wird auch bei der Personalbewertung in Unternehmen versucht, denn bei sich typischerweise wiederholenden Situationen im Berufsalltag kann aus dem bisherigen regelmäßigen Verhalten auf das künftige Verhalten einzelner Mitarbeiter geschlossen werden. Die beiden genannten Bereiche weisen aber entscheidende Unterschiede zur kriminologischen Vorhersage auf. In der Kriminologie geht es um im Lebensverlauf vergleichsweise seltene Handlungen in sich nicht regelhaft wiederholenden, sondern meist nur interpretativ ähnlichen Situationen. Selbst bei Seriengewalttätern oder professionellen Einbrechern genügt die Anzahl der bekannten Handlungen regelmäßig nicht zu einer statistischen Auswertung dieses Verhaltens wie im Sport. Die statistische Rückfallprognose muss deshalb methodisch völlig anders vorgehen. Statt Verhaltensdaten des Individuums zu nutzen, um eben dieses Individuum zu bewerten, zieht man die Verhaltensdaten von Personengruppen heran, um dann vom durchschnittlichen Verhalten der Gruppenangehörigen auf das Verhalten eines Individuums zu schließen, welches dieselben Gruppenmerkmale aufweist. Von einer merkmalsbestimmten Gruppe von Straftätern, in der eine bestimmte Anzahl von Rückfällen aufgetreten ist, wird so auf die Wahrscheinlichkeit geschlossen, mit der eine Einzelperson rezidiviert, die in ihren Merkmalen dieser Gruppe entspricht. Dass ein solcher Schluss wissenschaftlich nicht gerechtfertigt ist, liegt auf der Hand: Die gruppenbezogene Rückfallwahrscheinlichkeit lässt sich denkgesetzlich weder auf die Wahrscheinlichkeit eines ein30 Dahle, in: Kröber et al., Handbuch der Forensischen Psychiatrie, Bd. 3, 2006, S. 1 (34 ff.).
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zelnen Angehörigen dieser Gruppe übertragen noch auf ein Individuum, das dieser Gruppe lediglich merkmalsbezogen angehört.31 Der genannte Zusammenhang konstituiert das so genannte „Gruppe-zu-Individuum“ (G2I)-Problem,32 das jeder gruppenstatistischen Individualprognose inhärent ist.33 In knapperer Form kann man es so ausdrücken: Das Hauptproblem der gruppenstatistischen Individualprognose ist, dass sie gar nicht möglich ist.
IV. Statistische Kriminalprognose in Europa; das Beispiel OxRec Man könnte zur Beruhigung darauf verweisen, dass die USA fern sind, dass „Moneyball“ bislang in Kontinentaleuropa kaum populär ist und insbesondere die Problematik der Masseninhaftierung in europäischen Strafrechtsordnungen nicht besteht. Dennoch gibt es seit einigen Jahren auch in Europa Versuche, Risk Assessment als Bestandteil der individuellen Kriminalprognostik zu etablieren.34 Um dies zu illustrieren, soll hier auf ein noch relativ neues europäisches Instrument zur Rückfallvorhersage eingegangen werden. Im Jahr 2016 haben Fazel u. a. mit OxRec ein Prognoseinstrument für gewaltdelinquenten Rückfall nach Entlassung aus der Strafhaft publiziert.35 Es basiert auf einer Datenauswertung von mehr als 47000 von in den Jahren 2001 bis 2009 aus dem schwedischen Strafvollzug Entlassenen. Auf Grundlage von 14 Merkmalen, die in der Regel unproblematisch den Akten zu entnehmen sind, wird mit OxRec ein Risikoscore errechnet, der die Wahrscheinlichkeit der Begehung eines erneuten Gewaltdelikts innerhalb von ein bzw. zwei Jahren in Prozentwerten angibt. Im Unterschied zu den auch in Deutschland bereits verbreitet verwendeten Prognoseinstrumenten36 ist OxRec online verfügbar und kann von jedem ohne jegliche finanzielle oder sonstige Hürde eingesehen und bedient werden. Das damit universell zugängliche Instrument rühmt sich zudem einer relativ guten Zuverlässigkeit.37 Weder subjektive Einschätzungen noch psychologische Testverfahren oder Interviews sind zum Scoring erforderlich. Auch ein vorheriges Training ist nicht not31 Statt Vieler und mit statistischem Nachweis anhand des PCL-R-Scores vgl. Cooke/Michie, Law and Human Behavior 34 (2010), 259 ff. Für die Gegenauffassung, nach der Individualprognosen auf gruppenstatistischer Basis dennoch sinnvoll seien vgl. Monahan/Skeem (Fn. 25), 505 f. 32 Zum richtigen „Umgang“ mit diesem Problem beim Sachverständigenbeweis vgl. Faigman et al., University of Chicago Law Review 81 (2014), 417 ff. 33 Vgl. Dahle (Fn. 28), S. 1 (28). 34 Vgl. Dahle (Fn. 28), S. 1 (27 f.). 35 Fazel et al.: Prediction of violent reoffending on release from prison: derivation and external validation of a scalable tool (OxRec) Lancet Psychiatry (2016), S. 535 ff. Mittlerweile sind mit OxMIV, OxMIS und FoVOx drei weitere Risikovorhersageinstrumente im gleichen Stil hinzugekommen. 36 Systematisierte Übersicht bei Dahle (Fn. 28), S. 1 (32 ff.). 37 Fazel et al. (Fn. 31), S. 540.
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wendig. Nur wenige der Merkmale erfordern eine nähere Diagnose oder sachverständige Bewertung (etwa zum Alkohol- und Drogenkonsum und zur psychischen Gesundheit des Probanden), die aber bei Strafgefangenen regelmäßig nach früheren Diagnosestellungen schon aktenmäßig erfasst sind. Da das Online-Tool so programmiert ist, dass die Ergebnisse unmittelbar ohne Verzögerung angezeigt werden, kann durch Veränderung einzelner Faktoren jeweils geprüft werden, welche Merkmale größeren oder geringeren Einfluss auf die Risikoeinschätzung haben. Die 14 Merkmale, ihre Operationalisierungen und Ausprägungen bzw. Antwortmöglichkeiten:38 1.
Geschlecht [männlich/weiblich].
2.
Alter [Angabe in Jahren zwischen 16 und 75].
3.
Migrationshintergrund (Proband oder Elternteil außerhalb von Schweden geboren) [ja/nein], wobei Migrationshintergrund das Risiko verringert.
4.
Dauer der Inhaftierung für das jüngste Delikt [weniger als 6 Monate/6 bis 12 Monate/12 bis 24 Monate/mehr als 24 Monate], wobei kürzere Inhaftierung das Risiko erhöht.
5.
Jüngstes Delikt war Gewaltdelikt (Tötung, Körperverletzung, Raub, Brandstiftung, Sexualdelikt einschl. Exhibitionismus und sex. Belästigung, Bedrohung, Einschüchterung) [ja/nein], wobei Gewaltdelinquenz das Risiko erhöht.
6.
Vor dem jüngsten Delikt wurde ein Gewaltdelikt (wie oben) begangen [ja/nein], wobei ein früheres Gewaltdelikt das Risiko erhöht.
7.
Partnerschaftsstatus [alleinstehend/Partnerschaftsbeziehung (einschl. verheiratet, Kohabitation, geschieden, verwitwet)/unbekannt], wobei das Risiko erhöht ist, wenn bislang keine Partnerbeziehungen im Lebenslauf dokumentiert sind.
8.
Bildung [höchster Abschluss bis 16 Jahre/zwischen 16 und 18/später als 18/unbekannt], wobei frühere Beendigung des Bildungswegs das Risiko erhöht.
9.
Erwerbstätigkeit vor der jüngsten Inhaftierung? [ja/nein/unbekannt].
10. Verfügbares Einkommen [negativ/null/niedrig (unterste 20 %)/mittel (zw. 20 und 80 %)/hoch (obere 20 %)/unbekannt]. 11. Nachbarschaftsdeprivation (basierend auf einem Score, der z. B. für die Gemeinden in Großbritannien auf http://dclgapps.communities.gov.uk/imd/idmap.html ablesbar ist), [von 1 (unterste 10 %) bis 10 (oberste 10 %)]. Der Score indiziert den Anteil von Sozialhilfeempfängern, Erwerbslosen, Personen mit Migrationshintergrund, Scheidungsrate, Bildungsstatus, Wohnungsfluktuation, Kriminalitätsrate und verfügbaren Einkommen in der jeweiligen Gemeinde.
38 Fazel et al. (Fn. 31), S. 538 sowie Online-Tool OxRec: https://oxrisk.com/oxrec/; eigene Übersetzung.
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12. Alkoholmissbrauch? (Diagnose von „alcohol use disorder“ nach DSM vor oder während der Inhaftierungszeit) [ja/nein]. 13. Drogenmissbrauch? (Diagnose von „drug use disorder“ nach DSM vor oder während der Inhaftierungszeit) [ja/nein]. 14. Psychische Störung? („mental disorder“) [ja/nein], wenn ja: schwere psychische Störung? (Schizophrenie oder bipolare Störung) [ja/nein]. Die Antwortausgabe erfolgt in drei Positionen: 1. Rückfallgefahr innerhalb eines Jahres prozentual. 2. Rückfallgefahr innerhalb zwei Jahren prozentual. 3. Risikoscore (niedrig/mittel/hoch), wobei die Bewertung von Nr. 2 konkretisiert wird (niedrig: unter 10 %/mittel: 10 bis 50 %/hoch: über 50 %). Der maximale Risikoscore für die 2-Jahres-Vorhersage wird als „> 60 %“ angezeigt. Stellt man die 14 Kriterien so ein, dass sich ein maximales oder minimales Risiko ergibt, lässt sich durch die Umstellung einzelner Faktoren ermitteln, welche von ihnen den stärksten Einfluss auf den Risikoscore haben: Gewaltdelinquenz (mind. zwei Delikte), Alkohol- und Drogenmissbrauch, scherwiegende psychische Störung. Deutlich weniger Einfluss haben etwa Nachbarschaftsdeprivation oder Migrationshintergrund. Die Autoren selbst raten dazu, OxRec bei der Individualprognose nur ergänzend heranzuziehen.39 Dafür spricht auch insbesondere die hohe Anzahl von Falschpositiv-Vorhersagen,40 die sich schon daraus ergibt, dass selbst von den mit hohem Risikoscore bewerteten Individuen nur knapp über 60 % tatsächlich gewaltdelinquent rückfällig werden.41 Andererseits sind die Autoren durchaus zuversichtlich, dass ihr Instrument nach entsprechenden Anpassungen unter Zugrundelegung jeweils der nationalen Besonderheiten und Rückfälligendaten auch international einsetzbar ist.42 Nach den oben genannten Kritikpunkten sind die OxRec-Merkmale in verschiedener Hinsicht betroffen: Weder Geschlecht noch Migrationshintergrund (Merkmale 1 und 3) dürfen Sanktionsentscheidungen zugrunde gelegt werden, auch dann nicht, wenn – wie auf Grundlage der schwedischen Daten berechnet – der Migrationshintergrund das Risiko des Rückfalls eher verringert. Da die Dauer der Inhaftierung auf der jeweiligen Strafrechtsordnung und einer gerichtlichen Entscheidung beruht, erscheint auch das Merkmal 4 problematisch. An der Risikoerhöhung bei kürzerer Inhaftierung zeigt 39
Fazel et al. (Fn. 31), S. 542. Fazel et al. (Fn. 31), S. 540 Tabelle 2. 41 Fazel et al. (Fn. 31), S. 541. 42 Fazel et al. (Fn. 31), S. 541 f.
40
„Moneyball“ in der Strafrechtspraxis?
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sich die bekannte Gefahr der Entsozialisierung durch Kurzzeitinhaftierungen. Allerdings wird diese Gefahr beim Risk Assessment dem Individuum, das davon betroffen war, quasi „vorgeworfen“.43 Die unter 8 bis 11 genannten Risikofaktoren widersprechen dem Schuldprinzip und sind zudem geeignet, die Konzentration der Strafjustiz auf ohnehin sozio-ökonomisch benachteiligte Personengruppen zu verstärken. Problematisch erscheint nach dem oben Gesagten auch die Berücksichtigung von diagnostiziertem Hang zum Alkohol- und Drogenmissbrauch sowie psychischen Störungen bzw. Erkrankungen (Merkmale 12 bis 14). Diese Merkmale widersprechen dem Schuldprinzip, so dass sie zumindest nicht am „front end“ der Strafjustiz eingesetzt werden dürfen. Unter der Annahme, dass dem Delinquenten in der Haft Therapieangebote gemacht werden, die zur Reduzierung des Scores vor einer Entlassungsentscheidung führen können, erscheinen sie am „back end“ jedoch zulässig. Unproblematisch erscheinen demnach nur die Merkmale 5 und 6, die die Delinquenzhistorie des Probanden reflektieren.
V. Fazit/Ausblick Der Film „Moneyball“ und seine positive Sicht auf Entscheidungsfindung durch statistische Datenanalyse haben in den USA dazu beigetragen, statistisches Assessment in vielen Lebensbereichen zu verankern. Dazu gehört auch die Strafjustiz, bei der der Einsatz statistischer Rückfallprognose nicht nur am „back end“ (Strafvollzug und Strafvollstreckung), sondern auch am „front end“ (Ermittlungsverfahren und Strafzumessung) propagiert und in vielen Bundesstaaten bereits praktiziert wird. Die technischen Bedingungen, insbesondere die Ausstattung der Strafverfolgungsbehörden mit EDV und die stetige Verfügbarkeit aktueller Daten, lassen mittlerweile einen flächendeckenden Einsatz zu, ohne dass spezielles Training oder Sachverständigengutachten erforderlich sind. Hintergrund dieser Entwicklung in den USA ist die (grundsätzlich positiv zu beurteilende) Absicht, mittels Risk Assessment unter Berücksichtigung der Sicherheitsbedürfnisse der Bevölkerung die Ära der strikten Vergeltungsorientierung und der daraus resultierenden Masseninhaftierung zu beenden. Ernsthafte Bedenken ergeben sich allerdings bei näherem Hinsehen, ob statistisches Risk Assessment als (primäres) Prognoseinstrument rechtlichen und empirischen Vorgaben genügt. Bei näherer Betrachtung des aktuellen europäischen Online-Tools OxRec zeigen sich deutlich die rechtlichen und kriminologischen Limitierungen der Methode: Weder menschen- bzw. grundrechtliche Fragen noch die strafrechtliche Grundorientierung am Schuldprinzip sind bislang hinreichend diskutiert bzw. beantwortet worden. Auch wird von denjenigen, die Risk Assessment befürworten, eher selten dargestellt, dass eine statistische Individualprognose im kriminologischen Bereich (anders als im Sport), nicht möglich ist und der Score keineswegs ein 43 Siehe oben III.2. zur Problematik einer Individualisierung von gesellschaftlichen Kriminalitätsursachen, wozu auch etwa ein Strafjustizsystem mit vielen Kurzzeitfreiheitsstrafen gehört.
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Individualrisiko darstellt, sondern nur eine Basisrate für den Rückfall innerhalb einer Gruppe anzeigt. Auch kann die primäre oder maßgebliche Berücksichtigung von Risikoscores in der Strafjustiz zu einer Verstärkung von Labeling-Effekten führen. Eine Betonung des Risk Assessments anhand von Merkmalen, die nicht dem Schuldprinzip entsprechen, tendiert schließlich zu einer Individualisierung gesellschaftlicher Kriminalitätsursachen. Da in Europa die Inhaftierungsraten wesentlich geringer sind, trifft auch das in den USA für „Moneyball Sentencing“ sprechende Argument nicht zu, man könne auf diese Weise evidenzbasiert der Masseninhaftierung entgegenwirken. „Moneyball“ hat den Baseballsport verändert und in den USA auch die statistische Rückfallprognose im Strafrecht populär gemacht. Einem flächendeckenden Risk Assessment im Ermittlungs- und Hauptverfahren stehen jedoch durchgreifende rechtliche und kriminologische Bedenken entgegen.
Einige aktuelle Überlegungen zur Sicherheitspolitik und ihrer Relevanz für die Kriminologie Von Fritz Sack Vorbemerkung: Bereits in einigem Abstand vom vollen aktiven Berufsleben, dabei aber immer noch via Internet und rechtlich lediglich „entpflichteten“, nicht gänzlich „entrechteten“ Status mit Bezug auf meine letzte akademische Berufsstation an der Universität Hamburg habe ich mich an diese Zeilen zu Ehren von Ulrich Eisenberg gemacht. Hinter mir liegen rund sechs Jahrzehnte Zugehörigkeit zur soziologischen Universitäts- und Wissenschaftswelt – gerechnet vom Jahr 1958, dem Jahr meines Diploms als Betriebswirt an der Kölner Universität, als die Soziologie mit René König dort nur erst noch im institutionellen Schoß der Wirtschaftswissenschaft zu haben war. Die sich daran anschließende fokussierte Begegnung mit der Soziologie war auch das Einfallstor zu deren außerdeutschen Bastionen. Diese lagen – damals noch – weitgehend in der angelsächsischen Welt und dort in ihrem Kernland den USA, das seiner Zeit – jedenfalls aus Sicht der „Kölner Schule“ – zur zwar informellen, aber mehr oder weniger verbindlichen conditio-sine-qua-non der weiteren wissenschaftlichen Aus- und Aufrüstung gehörte. Mein USA-Aufenthalt 1965/66 brachte mich für einige Monate an die Ohio State University in Columbus, einige Monate später an die University of California in Berkeley, mit der damals noch existenten, 1976 geschlossenen „School of Criminology“ sowie David Matza und Irving Goffman im Sociology Department. In der Begegnung mit Matza und seinen damals allenfalls in der Planung befindlichen Vorarbeiten zu seinem erst 1969 erschienenen „Becoming Deviant“, als ich längst schon wieder deutschen Boden unter den Füßen hatte, findet sich eine Feststellung, die mich bis heute nicht losgelassen hat. Matza hat seine Kritik an der traditionellen Kriminologie in seinem genannten Buch u. a. auf diesen Nenner gebracht: „The great task of disconnection – it was arduous and time-consuming – fell to the positive school of criminology. Among their most notable accomplishments, the positive criminologists succeeded in what would seem the impossible. They separated the study of crime from the workings and theory of the state.“1 1 Matza, Becoming Deviant, 1970, S. 143. Die Relektüre dieser Passage bei Matza ist so wahr, wie sie es vor fünfzig Jahren war; es lohnt, den Anschlusssatz an das obige Zitat noch hinzuzufügen: „That done, (…) the agenda for research and scholarship for the next halfcentury was relatively clear, especially with regard to what would not be studied“.
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Der „Leviathan“ – die metaphorische Bezeichnung des Staates – taucht denn auch als kritisierte Leerstelle gegenüber der herkömmlichen Kriminologie im Kapitel „signification“ seines Buches nachhaltig auf.
I. Einige spontane Anmerkungen vorweg Es bedarf keines wachen Beobachters der diversen direkten Akteure der staatlichen Politik wie ihrer gesellschaftlichen Begleiter, um sich der in den letzten Jahren geradezu ins Kraut geschossenen Bedeutung der Inneren Sicherheit zu vergewissern. Die legislativen Werkstätten arbeiten auf Hochtouren zur Entdeckung und Schließung von sogenannten Sicherheitslücken – eine unendliche Suche nach allem, was man aus den damit befassten Ämtern immer wieder stereotyp hören kann: „eine letzte Sicherheit gibt es nicht“ – und: jede einzelne Kriminalität lässt sich als eine solche begreifen, deren Zustandekommen die Aufforderung mitliefert, nach ihrer Vermeidbarkeit zu fragen und zu suchen. Der Schließung von Sicherheitslücken dient das seit Jahren zu beobachtende politische Ringen und Feilschen um die Einrichtung, Verteidigung, Einengung und „Durchlöcherung“ von „Privatheit“: die zunehmende technologische Vernetzung von staatlicher Beobachtung durch Überwachungskameras sind ebenso Belege wie das staatliche Eindringen in die kommunikativen Aktivitäten der Mitglieder der Gesellschaft. Auch die exekutive Mannschaft des Staates befindet sich auf der Höhe ihrer Aufgabe und Funktion. Dass die personelle und apparative Ausstattung der Front der „sekundären Kriminalisierung“ der „umgesetzten“ Regeln des Strafrechts den erforderlichen und gebotenen Standards nicht entspricht, hat mittlerweile unter allen dazu Berufenen eine unerschütterliche Selbstverständlichkeit erreicht. Der exekutiven Fraktion der staatlichen Sicherheitsgaranten, deren vorderste Gewährsleute bekanntlich die Angehörigen der Polizei sind, dient wohl auch das neueste „gadget“ im Werkzeugkasten zur Gewährung von innerer Sicherheit: das sogenannte „predictive policing“, Polizeiarbeit auf der Basis datengenerierter Prognosen künftiger Kriminalität, wofür es auch bereits eine dazu entwickelte „Software“ gibt, „Precobs“ (Pre Crime Observation System) genannt.2 Unter der legitimatorischen, mehr Finte als Formel der „Prävention“ – dem nur zu suggestiven Gedanken, der Kriminalität zuvorzukommen statt hinterherzulaufen – unterschlägt die Begeisterung für dieses Instrument natürlich beredt, dass es in den Händen der Polizei der viel geschmähten „Vorverlagerung“ der strafrechtlichen Sozialkontrolle eher Vorschub leistet als Wirksamkeit einträgt, zumal die präventive Verhinderung von Straftaten sich wohlfeil behaupten, als ein „Nichtereignis“ kaum „beweisen“ lassen dürfte.
2
Egbert, APuZ 2017, Heft 32 – 33, 17.
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Auf exekutive, sprich vor allem der Erweiterung polizeilicher Möglichkeiten dienende Aktivitäten verweisen weiterhin seit etlichen Jahren zwei sprachliche Neuschöpfungen im Aktionsradius dieser Frontinstitution der Inneren Sicherheit: den „Gefährder“ und die „relevante Person“. Bei beiden Personengruppen handelt es sich nicht um die Suche nach Tätern einer bestimmten erfolgten Straftat – eine solche liegt nicht vor. Es geht um virtuelle, potentielle Täter bzw. um „eine Person, zu der bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie politisch motivierte Straftaten von erheblicher Bedeutung“3 begehen wird (man beachte: nicht als Konjunktiv, sondern als Indikativ formuliert!)4 – „relevante Personen“ sind solche, die im Umfeld der Gefährder leben und handeln. Sie stellen, wie es gelegentlich gesagt wird, einen „Albtraum des Rechtsstaats“ dar. Es handelt sich bei den Definitionen nicht um rechtlich fixierte Begriffe, sondern um „polizeifachlich bundeseinheitlich abgestimmte Definitionen“5. Auf der Suche nach weiteren Akteuren der Sicherheits-Proliferation kommt man natürlich nicht an den Medien vorbei, deren größter und zugänglichster Quoten- und Auflagenlieferant bekanntlich „Neuigkeiten“ aus dem Bereich der „faits divers“ darstellen. Als deren Hauptrenner, auch das nichts Neues, gelten anhaltend solche aus dem Feld der Kriminalität, wenn es denn vor allem solche sind, an denen „Gewalt“ hängt, womöglich nah auch dem Bereich der Sexualität, der weiteren Steigerung noch fähig, wenn es sich denn um „fremde“ Täter auf deutschem Boden und an deutschen Opfern handelt. Bleibt noch einen letzten Blick auf die wissenschaftlichen Vertreter der Kriminologie oder auch der Soziologie zu werfen. Die deutsche akademische Kriminologie der Universitäten ist anhaltend fest institutionell eingebettet in rechtswissenschaftliche Logik und Zusammenhänge. Soziologie ist dort kaum anders als Schmuggelware unterzubringen, wenn überhaupt. Die Ungeschminktheit, mit der Thomas Fischer, der bis April 2017 Vorsitzender Richter eines Strafsenats am Bundesgerichtshof war, in einem Interview schlicht feststellt: „Strafrecht ist aber immer unterschichtenorientiert“6, ist eher die eines sonntäglichen Außenseiters als die des alltäglichen Strafrichters oder gar Staatsanwalts. Für die deutsche Kriminologie endet ihr disziplinäres Interesse – von Ausnahmen abgesehen – vor den Toren und Türen der staatlichen Apparate und Institutionen der Definition, der Identifizierung und Prozessierung der Kriminalität und der Kriminellen, d. h. sowohl bei der „primären“ wie der „sekundären“ Kriminalisierung. Dies ist anders, sobald man außerdeutschen Boden der Kriminologie betritt, insbesondere wenn man seine disziplinäre Aufmerksamkeit der angelsächsischen Kriminologie, und hier mit besonderer Nachhaltigkeit der englischen Ausprägung zuwendet. Wie groß in der Tat der Abstand der deutschen Kriminologie von der angelsächsi3
BT-Drs. 18/7151, S. 2. Eine ausführliche Diskussion findet sich bei Kretschmann, APuZ 2017, Heft 32 – 33, 11. 5 BT-Drs. 18/7151, S. 2. 6 Fischer, Freitag v. 6. Juli 2017, 22.
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schen Kriminologie ist, mag man einem Beitrag keines Geringeren als dem des „schottischen“, an der New York University lehrenden „Kriminologen“ D. Garland entnehmen.7 In einem Vortrag auf dem Weltkongress der „International Society of Criminology“ in Barcelona im Jahre 2008 warnte er die institutionell und akademisch autonome Kriminologie vor ihrer intellektuellen Abkopplung bzw. Abschottung von ihren diversen Basis- und Zuliefererdisziplinen. Die bei dieser Gelegenheit namentlich genannten Wissenschaftler jenseits der Kriminologie – neben den für die Kriminologie zentralen Figuren aus seiner eigenen Herkunftsdisziplin der Soziologie („Marx, Weber, above all, Durkheim“) – finden sich elf weitere Soziologen, Philosophen, Anthropologen sowie Historiker – Rechtswissenschaftler sucht man vergeblich.8
II. Wie alles anfing: Zur philosophischen Geschichte der Sicherheit Nach diesen, freilich nur assoziativ vergegenwärtigten Beispielen und Momenten zur Aktualität und Dringlichkeit des Themas der „Sicherheit“ möchte ich einen vielleicht zu grobkörnigen Blick auf einige Stichworte aus der mehr als dreihundertfünfzigjährigen Geschichte der Diskussion um Sicherheit in Staat und Gesellschaft werfen. Von den philosophischen und theoretischen Architekten der modernen Staatlichkeit, wie wir sie in den meisten westlichen Ländern und ihren kolonialen Ablegern und Imitaten bis auf den heutigen Tag in ihren wesentlichen strukturellen Grundzügen kennen, kommt für die historische Genealogie des topos der Sicherheit wohl unbestritten dem englischen Philosophen Thomas Hobbes (1588 – 1679) die sicherlich bedeutendste Rolle zu. Sein erstmalig 1651 erschienener „Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates“ lässt sich bis auf den heutigen Tag als Blaupause eines nicht nur nachwirkenden, sondern durchaus virulenten Modells von Staatlichkeit und Gesellschaft begreifen. Zwar ist für Hobbes die nach heutigem Verständnis wichtige Unterscheidung von Staat und Gesellschaft fremd, zwar sind ihm spezifische Differenzen zwischen Formen der Staatlichkeit, ob Monarchie, Aristokratie oder Demokratie gleich gültig, ja „(s)ein Eintreten für jede de facto souveräne Regierung“9, aber diese Aspekte des Hobbesschen Staatsverständnisses haben der Erinnerung an und der durchaus kontroversen Diskussion über den Leviathan nichts anhaben können. Die staatliche Souveränität geht Hobbes über alles Weitere und Andere. Sie steht am Anfang und im Zentrum seiner Staatskonstruktion.
7
Garland, Annales internationales de criminology 46 (2008), 19. Garland, Annales internationales de criminology 46 (2008), 33. 9 Fetscher, Erste vollständige Übersetzung des Leviathan, Neuausgabe 1984, S. LXIV. 8
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Hobbes’ Staatsverständnis lässt sich folglich auch nicht als politischer „Gesellschaftsvertrag“ im Sinne von „Partnern“ verstehen, die miteinander einen – wenn auch fiktiven – Vertrag abschließen. Stattdessen gilt die Hobbessche Vorstellung, dass die Gesellschaftsmitglieder untereinander sich zum Zwecke der Friedenssicherung – nach innen wie außen – darauf einigen, eine Institution zu schaffen, die diese Friedenssicherung zu besorgen hat: diese Institution ist der Staat als „Begünstigter“, nicht als „Vertragspartner“. Mit „Sicherheit“ meint Hobbes Gewaltlosigkeit in den Beziehungen der Gesellschaftsmitglieder untereinander. Dieses Fundament von Staatlichkeit ist vor dem Hintergrund dessen zu verstehen, was für alle Staatsphilosophen und -theoretiker, auch für Hobbes Kritiker, den Ausgangspunkt ihrer Konstruktion darstellt: der sogenannte historisch gegebene oder fiktive, vorstaatliche oder vorgesellschaftliche „Naturzustand“ menschlichen Lebens. „Homo homini lupus“ – „der Mensch als des Menschen Wolf“: dieser Satz aus einer altgriechischen Komödie hat sich als allgemeine Kurzformel der von Hobbes vertretenen Auffassung über den menschlichen Naturzustand durchgesetzt. Das damit in heutiger Sprache ausgedrückte „Menschenbild“, wie es nicht nur von Hobbes, sondern auch von seinen späteren Kritikern Locke und Rousseau in freilich weniger pessimistisch und „bösartiger“ Formulierung geteilt wird, sieht in dem Menschen ein auf rücksichtslose (Hobbes) oder zu berechtigter (Locke, Rousseau u. a.) Verfolgung der eigenen Interessen und nach selbstbestimmter „happiness“ strebendes Wesen. Hobbes veranschlagt die Domestizierung bzw. Zähmung dieses aus sich selbst nicht begrenzten Strebens des Menschen als wesentlich aggressiver und gewaltbereiter, als dies in dem durch einvernehmlich geschlossenen Gesellschaftsvertrag bei Locke und Rousseau nur möglich ist. In gesellschafstheoretischer Vorstellung treffen sie sich jedoch in einer unterschiedlichen Ausprägung eines Utilitarismus, wie er in seiner vollen Blüte erst von Jeremy Bentham (1748 – 1832) ausbuchstabiert wurde, den Karl Marx später „ein Genie in der bürgerlichen Dummheit“ nennen sollte, den der Nobelpreisträger der ökonomischen Chicago-Schule, Gary S. Becker, ein Jahrhundert danach zum Kronzeugen seiner vernichtenden Kritik an der damals gängigen Kriminologie zugunsten einer ökonomischen Analyse der Kriminalität ausrief10. Ganz wichtig ist für diese Staats-Konstruktion à la Hobbes, dass die in Pflicht genommene und ins Recht gesetzte Institution in der Wahrnehmung der Friedenssicherung an keine äußeren Vorgaben und Bedingungen gebunden ist. Dafür steht die bereits erwähnte staatsformtheoretische Beliebigkeit seines Entwurfs, dafür steht ebenso Hobbes Argwohn, ja: Ablehnung der Idee der staatlichen Gewaltenteilung sowie der Rechtsstaatlichkeit im heutigen, modernen Staatsverständnis. Dafür steht auch das fehlende Widerstandsrecht gegen den per Begünstigungsvereinbarung unter den Mitgliedern der Gesellschaft geschaffenen Staat. Die Hobbessche Konstruktion des Staates ist mittelneutral und -beliebig, bis hin und vorzugsweise durch Einsatz 10
Becker, Journal of Political Economy 76 (1968), 169.
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von Gewalt. Das alles sind Stichworte und Fragen, die bis heute nicht zur Ruhe gekommen sind.
III. Die empirische (historische) Entwicklung des modernen Staates Bekanntlich ist die philosophisch und theoretisch entworfene Staatengründung in der Nachfolge von Hobbes einen anderen Weg gegangen, eher ist sie den späteren „Blaupausen“ des Engländers John Locke (1632 – 1704) und des Franzosen Jean Jaques Rousseau (1712 – 1778) gefolgt – dennoch ist bemerkenswert, dass die Auseinandersetzung mit dem Staatsverständnis des um ein halbes bzw. mehr als ein Jahrhundert älteren Hobbes bis auf den heutigen Tag wesentlich aktueller und lebhafter geblieben ist. Daran hat auch die von Max Weber auf die berühmte, gleichsam in Stein gemeißelte Formel nichts geändert: „Staat soll ein politischer Anstaltsbetrieb heißen, wenn und insoweit sein Verwaltungsstab erfolgreich das Monopol legitimen physischen Zwangs für die Durchführung der Ordnungen in Anspruch nimmt“11. So steht es in jedem politologischen und staatstheoretischen Lehrbuch, und so gehört es zum Einmaleins politischer und auch öffentlicher Rhetorik. Der tatsächliche, historische Weg dahin ist nur in Jahrhunderten zu messen. In der Soziologie hat diesen Gang u. a. Norbert Elias (1979) im zweiten Band seiner monumentalen Studie „Über den Prozess der Zivilisation“ nachgezeichnet.12 Die Entwicklung führt über das weitgehend agrarisch geprägte Feudalsystem des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts, den Absolutismus des Mittelalters, über endlose Konflikte und Konkurrenzen zwischen den zahlreichen adligen Herrschern und vorstaatlichen territorialen Herrschaftssystemen, die sich in kriegerischen Auseinandersetzungen die jeweilige Vormacht usurpierten und sicherten. Dabei verschafften sie sich nicht nur ein militärisches- und Gewaltmonopol, sondern gewannen auch eine wirtschaftliche Vormachtstellung. Die allmähliche Ablösung bzw. Überführung des naturalwirtschaftlichen in ein geldliches Abgabesystem, das schließlich in das bis heute praktizierte Steuermonopol mündete, war dabei nicht nur eine Begleiterscheinung, sondern eine notwendige Bedingung der Herausbildung des staatlichen Gewaltmonopols. In klärender Kurzfassung lässt sich diese parallele Entwicklung von Gewalt- und Steuermonopol auch als eine ökonomische Austauschbeziehung zwischen Staat und Gesellschaft darstellen und verstehen: ein Austausch von Sicherheit gegen Steuern. Die von der Gesellschaft ausgehende und staatlich angenommene oder auch nur vorausgesetzte Nachfrage von Sicherheit nach innen und außen, findet im Angebot des Staates, diese auch bereitwillig zu liefern, ihr Gegenstück.
11
Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 4. Aufl. 1956, S. 29. Elias, Über den Prozess der Zivilisation, Bd. 2: Wandlungen der Gesellschaft, 6. Aufl. 1979. 12
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Darauf ist gleich noch einmal zurückzukommen. Zuvor verdient indessen eine nur wenige Jahre nach Elias Zivilisationsbuch (1936) erschienene bahnbrechende historische Studie des Österreichers Otto Brunner (1898 – 1982) über die österreichischen Teillande und Teile Bayerns während des Mittelalters Beachtung, die das Bild dieser vorstaatlichen Herrschaftsgebilde entscheidend zurecht gerückt und korrigiert hat. Vor allem hat Brunner die durch die philosophischen Vordenker des Staates skizzierten Annahmen und Projektionen vorstaatlicher Gesellschaften entscheidend desavouiert und zurückgewiesen. Der fantasierte staatsfreie „Naturzustand“ löste sich unter den Befunden Brunners zum mittelalterlichen Fehdewesen in ein komplexes und „geregeltes“ System der „gewaltsamen Selbsthilfe“ von Herrschaftskonflikten zwischen landbesitzenden und -gestützten Herrschaftsgebilden auf – weit entfernt noch vom uns heute als unerlässlich betrachteten staatlichen Gewaltmonopol.
IV. Die implizite latente Dysfunktion des staatlichen Gewaltmonopols Den Gedanken des gleichsam marktförmigen „Austauschs“ zwischen Staat und Gesellschaft, der in der Analyse von Norbert Elias eine eher implizite Folgerung aus der Chronologie und „Logik“ der historischen Ereignisse darstellt, ist in wünschenswerter Deutlichkeit vor mehr als drei Jahrzehnten von dem wohl bedeutendsten amerikanischen Soziologen und Sozialhistoriker des 20. Jahrhunderts, Charles Tilly (1929 – 2008), herausgearbeitet worden. Tilly hat in der deutschen – auch breiteren – Kriminologie kaum einen nennenswerten Niederschlag gefunden.13 Er verdient es jedoch, der aktuellen Diskussion zugeführt zu werden. Es handelt sich um Tillys Aufsatz mit dem provokanten Titel „War Making and State Making as Organized Crime“ in einem Band mit dem ebenfalls bemerkenswerten Titel „Bringing the State Back In“. Auf der Basis des damals verfügbaren Wissens über die Bildung der europäischen Nationalstaaten seit dem Mittelalter, weitgehend von Tilly selbst gewonnen und theoretisch analysiert, formuliert Tilly die empirische Quintessenz dieser historischen Prozesse in Kategorien, die anschlussfähig sind für Einsichten auch der aktuellen Strukturen und Probleme der gesellschaftlichen Sicherheit. Schon die Eingangsfeststellung Tillys in Form der zu erläuternden und vorweggenommenen These weckt Neugier und Abwehr in einem: „If protection rackets represent organized crime at its smoothest, than war making and state making – quintessential protection rackets with the advantage of legitimacy – qualify as our largest examples of organized crime (…) At least for the European experience of the past few centuries, a portrait of war makers and state makers as coercive and self-seeking entrepreneurs bears a far greater resemblance to the facts than do its chief alternatives: the idea of a 13 Ein eiliger Blick in die deutsche Lehrbuchliteratur hat mit dem Lehrbuch des Festschriftempfängers eine Ausnahme entdeckt: Eisenberg, Kriminologie, 6. Aufl. 2005, S. 78, 626.
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social contract, (…) the idea of a society whose shared norms and expectations call forth a certain kind of government.“14
Dass es Tilly nicht um eine bloß historische Information geht, macht er ebenfalls gleich zu Beginn seiner Überlegungen deutlich: „My reflections grow from contemporary concerns: worries about the increasing destructiveness of war, the expanding role of great powers as suppliers of arms and military organization to poor countries, and the growing importance of military rule in those same countries.“15
Diese vor mehr als drei Jahrzehnten getroffene Feststellung Tillys hat nichts an Aktualität eingebüßt. Mehr noch: Tilly verallgemeinert diesen Befund aus nichtwestlichen bzw. Entwicklungsländern theoretisch wie empirisch: „Apologists for particular governments and for government in general commonly argue, precisely, that they offer protection from local and external violence. But consider the definition of a racketeer as someone who creates a threat and then charges for its reduction. Governments’ provision of protection, by this standard, often qualifies as racketeering.“16
Diese nicht mehr nur historisch oder anders eingeschränkte Erläuterung präzisiert Tilly mittels folgender „operativer“ Handlungsweisen: „To the extent that the threats against which a given government protects its citizens are imaginary or are consequences of its own activities, the government has organized a protection racket.“17 „Since governments themselves commonly simulate, stimulate, or even fabricate threats of external war, many governments operate in essentially the same ways as racketeers.“18
Soweit der Text von Tilly. Zwei Folgeüberlegungen für „interne Bedrohungen“ legen sich nahe. Um zunächst das Adjektiv „imaginär“ ein wenig zu umschreiben und zu konkretisieren. Zu denken ist an das „Schüren“, Thematisieren, Dramatisieren etc. der Inneren Sicherheit auf die unterschiedlichste Art und Weise durch staatliche, politische, mediale, zivilgesellschaftliche Akteure – Akteure, die man unter diversen Gesichtspunkten als „Profiteure“ und Nutznießer der Verbreitung von Unsicherheit und Kriminalitätsängsten in der Gesellschaft betrachten kann. „Making Crime Pay“ ist der Titel einer Studie der bekannten US-amerikanischen Soziologin und Kriminologin Katherine Beckett aus dem Jahre 1997, die es verdient hätte, der derzeitigen Sicherheitsdiskussion nachhaltigere Anregungen zu liefern. Sie hat zum einen den Prozess der zunehmenden Politisierung der Sicherheit seit Mitte der sechziger Jahre durch die republikanische Partei und Ihren Präsidentschaftskandidaten Barry Goldwater nachgezeichnet; zum anderen hat Beckett durch ein raffi14
Tilly, in: Evans et al., Bringing the State Back in, 1985, S. 169. Tilly (Fn. 14), S. 169. 16 Tilly (Fn. 14), S. 169 (171). 17 Tilly (Fn. 14), S. 169 (171) [Hervorh. d. Verf.]. 18 Tilly (Fn. 14), S. 169 (171) [Hervorh. d. Verf.].
15
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niertes Forschungsdesign der von ihr so genannten „democracy-at-work-hypothesis“ widersprochen: der „punitive turn“ der amerikanischen Kriminalpolitik mit seiner Vervielfachung der Gefängnispopulation sei nicht die „demokratische“ Antwort auf gestiegene Kriminalität und wachsenden Drogenverbrauch, sondern das Ergebnis der politischen Instrumentalisierung dieser beiden „sozialen Probleme“ durch die – vor allem – republikanische Partei.19 Sodann verdient Tillys zweiter Aspekt der Analogie von Schutzgelderpressung und staatlichem Handeln einige klärende Erläuterungen. Was meint Tilly mit „Bedrohungen“ als „Konsequenzen staatlichen Handelns“ mit Blick auf interne Bedrohungen? Eine unmittelbare Intuition drängt sich mit der aktuellen Migrations- und Flüchtlingspolitik auf – wem würde nicht buchstäblich die Unsicherheits-, ja Kriminalitätserschütterung der Bundesrepublik durch die sogenannte Kölner Silvesternacht 2015/16 als Beispiel für diese These einfallen?20 Dieser „Logik“ staatsinduzierter Bedrohung liegt auch der viel geschmähten, aber auch applaudierten Studie des früheren Top-Staatsdieners Thilo Sarrazin zugrunde; sein – so der Titel seines Buches – „Deutschland schafft sich ab“ hat den Verfasser dieses „kriminologischen“ und politischen Bestsellers zum von der offiziellen Politik geächteten Millionär werden lassen – und war ein frühes Menetekel der heutigen politischen Landschaft in der Bundesrepublik: keine Frage ist es ein einschlägiges Beispiel für die These der staatlichen Schaffung einer Bedrohung der gesellschaftlichen Sicherheitslage, wenn man diese an den Daten der offiziellen Kriminal- und Justizstatistik abliest bzw. misst21 – oder auch an der inzwischen eingetretenen politischen „Unwucht“ in der bundesrepublikanischen Parteienlandschaft. Denkt man weiter, intensiver und „radikaler“ über diese Zusammenhänge nach, hat man den Blick auf das Gesamt der politischen und gesellschaftlichen Einzelbereiche zu richten. Unter den verschiedenen Politikfeldern lassen sich Zusammenhänge vermuten, die als isolierte „kriminogene“ Faktoren durchaus thematisiert werden, deren innere Verbundenheit im Sinne gleichsam „kommunizierender“ Röhren kaum in den Blick von Politik und Gesellschaft geraten. Die konkurrierende Relation zwischen wohlfahrtsstaatlichem Abbau und sicherheitspolitischem Aufbau lässt sich als ein seit zwei oder drei Jahrzehnten in Gang befindlicher Prozess empirisch kaum bestreiten. Anomie- und subkulturtheoretische Traditionen in der Kriminologie werden in der englischen wie auch der französischen Kriminologie im Zusammenhang mit den zyklisch zu beobachtenden Ausbrüchen gewalttätiger „riots“ von Jugendlichen als Folgen wohlfahrtsstaatlichen Abbaus und neoliberaler „Entstaatlichung“ gleichsam „fortgeschrieben“ bzw. identifiziert. Dass Prozesse sozialer, territorialer, städteplanerischer, wohnungspolitischer Segregation keine „naturwüchsigen“ Verläufe 19
15 ff.
Beckett, Making Crime Pay. Law and Order in Contemporary American Politics, S. 4,
20 Inwieweit bei diesen Vorfällen die Imagination eine Rolle spielte, ist im Übrigen angesichts noch weitgehend unabgeschlossener justitieller Verarbeitung noch nicht ausgemacht. 21 Vgl. dazu Sack, in: Heinz/Kluge, Einwanderung – Bedrohung oder Zukunft?, S. 297.
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nehmen, sondern auf Effekte und Konsequenzen politischen Willens und staatlicher Entscheidungen zurückzuführen sind, dürfte kaum zu bestreiten sein. Ebenso weiß man um das Entstehen daraus resultierender „kriminogener“ Risiken und Tendenzen. Handelt es sich bei den dadurch induzierten Fällen diverser Kriminalität nicht um die von Tilly gemeinten Bedrohungen in Analogie zum Mechanismus des „racketeering“ als Folge staatlichen Handelns – selbst wenn man sie als nicht-intendierte Konsequenzen bzw. Kollateralschäden im Sinne der etwas aus der Mode gekommenen struktur-funktionalistischen Theorie betrachtet? „Nicht-intendiert“ angesichts eines massiven Wissens soziologischer und kriminologischer Art über die angedeuteten Zusammenhänge, so ließe sich weiter fragen, was ich indessen dem geneigten Leser überlassen möchte.
V. Die „Präventive Sicherheitsordnung (PSO)“ Trutz von Trothas Man findet in der deutschen Kriminologie beider Lager, bei den Juristen- wie bei den Soziologen-Kriminologen, kaum eine Stimme oder einen Kollegen, die mit einer solchen Beständigkeit, Informiertheit und historischer wie aktueller Detailliertheit das Problem von Hobbes auf seinen heutigen empirischen wie theoretischen Stand gebracht haben, wie dies dem Oeuvre des zu früh verstorbenen Soziologen, Kriminologen und Ethnologen Trutz von Trotha (1946 – 2013) zu entnehmen ist. Wie Hobbes aus seiner historischen Zeugenschaft des englischen Bürgerkriegs (1642 – 1651) sowie seinen theoretischen Überzeugungen zum Naturzustand die Gewalt zum zentralen Fokus seines Gewalt bändigenden Leviathans machte, kreist auch das Werk Trothas um diese Frage: „Wie leicht zu erkennen ist, kehre ich hier zu Thomas Hobbes und damit an den Anfang der neuzeitlichen politischen Philosophie zurück“22. Trothas Forschung stellt mit seinen zahlreichen monographischen und kürzeren Publikationen in Zeitschriften und Sammelbänden die Weiterführung und Präzisierung des Machttopos in den Arbeiten seines akademischen Lehrers Heinrich Popitz dar, bei dem er seine wissenschaftlichen Meriten erwarb. In einem späten Interview bringt Trotha den Kernertrag seiner bis dahin durchgeführten Forschungen auf diesen Titelnenner: „Immer gilt es, der Gewalt eine Form zu geben und vor allem ihrer Herr zu werden“23. Aus der Fülle seines literarischen Werks24 möchte ich zwei weitere Publikationen herausgreifen: seine letzte, fortge22 Trotha, in: Hoch/Zoche, Sicherheiten und Unsicherheiten. Soziologische Beiträge, 2014, S. 331. Schon knapp ein Jahrzehnt zuvor charakterisiert Trotha die von ihm skizzierte und so benannte „Präventive Sicherheitsordnung“ als eine „,neo-hobbessche Perspektive‘ auf die Gewalt“, Trotha, in: Ruf, Politische Ökonomie der Gewalt. Staatszerfall und die Privatisierung von Gewalt und Krieg. Friedens- und Konfliktforschung, Bd. 7, 2003, S. 51 [Hervorh. i.O.]. 23 Trotha, Ästhetik und Kommunikation 2011, Heft 152 – 153, 51. 24 Ein chronologisch detailliertes Schriftenverzeichnis, das auch seine inhaltliche und disziplinäre Entwicklung von der Kriminologie, über die (Rechts)-Soziologie bis hin zur (Rechts)-Ethnologie/Anthropologie abbildet, findet sich in der ihm gewidmeten Festschrift
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schriebene und wohl authentischste, posthum erschienene Version des in Etappen seit Mitte der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts entwickelten Modells staatlicher und gesellschaftlicher Gewaltdomestizierung findet sich als Band 8 einer BMBF-Schriftenreihe „Zivile Sicherheit“ in einem Sammelband mit dem Titel „Sicherheiten und Unsicherheiten“.25 Die detaillierteste Version seines Modells im Kontext alternativer, nicht-westlicher Formen der „Domestizierung“ von gesellschaftlicher Gewalt lässt sich indessen in einer eher ethnologischen Monographie aus dem Jahre 2002 nachlesen.26 Sie verdient deshalb eine besondere Beachtung, weil sie, wie ihr Untertitel verrät, als dritter Teil einer ethnologischen Feldforschung im notorisch beforschten Papua-Neuguinea kontextuiert ist. Der Raum ebenso wie die Komplexität des Gegenstands lassen keine ausführliche Darlegung und Diskussion der Präventiven Sicherheitsordnung (PSO) zu. Es kommt hinzu, dass die Eindringlichkeit, Detailliertheit, Sorgfalt, Literaturkenntnis, auch Dramatik seiner Analyse und Beweisführung auf eine Weise zwingend und überzeugend ausfallen, die den Versuch ihrer textgerechten Wiedergabe zwischen Hilflosigkeit und Verkürzung enden lassen würden. Ich beschränke mich auf einige wenige Stichworte und Anmerkungen. 1. Die PSO steht für das derzeitige westliche bzw. abendländische Konzept der Gewalt eliminierenden und kontrollierenden gesellschaftlichen Ordnung, die Trotha normativ für die angemessenste und phasenweise weitgehend auch realisierteste Form der Beherrschung und Kontrolle der Gewalt betrachtet. 2. Die PSO ist hervorgegangen aus dieser „klassischen“ Form des westlichen Modells, dessen beiden zentralen Prinzipien das staatliche Gewaltmonopol einerseits sowie das Rechtsstaatsprinzip andererseits ausmachen. Beide klassischen Säulen sieht Trotha zunehmend beschädigt, bedroht und teilweise schon abgeschafft. 3. In seiner letzten, erst posthum publizierten Darstellung der PSO identifiziert und erläutert Trotha insgesamt sechs Merkmale dieses staatlichen „Ordnungstyps“, die kurz zu benennen sind:27 - Mit dem Neologismus „Heterarchisierung“ verweist Trotha auf die „Vervielfältigung nichtstaatlicher Herrschaftszentren selbst im Kernbereich des staatlichen Gewaltmonopols“ – mit privaten Akteuren auf dem „Sicherheitsmarkt“, im Bereich von Polizei, Justiz und Strafvollzug, mit „extraterritorialen“ Akteuren im Prozess der Europäisierung der Sicherheitspolitik erfährt die hierarchi-
seiner MitarbeiterInnen: Inhetveen/Klute, Begegnungen und Auseinandersetzungen, Festschrift Trotha, 2009. 25 Trotha (Fn. 22). 26 Hanser/Trotha, Ordnungsformen der Gewalt. Flexionen über die Grenzen von Recht und Gewalt an einem einsamen Ort in Papua-Neuginea, 2002. 27 Trotha (Fn. 22).
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sche Struktur des staatlichen Gewaltmonopols eine entscheidende Qualifikation und Einschränkung.28 - Mit dieser „Heterachisierungstendenz“ „geht gleichzeitig der Aufstieg einer postbürgerlichen Variante des ,harten Staates‘ einher“, eines „überwachenden Präventivstaats“ – in Ablösung sowohl des „liberalen Tatstrafrechts“ wie des „illiberalen, aber wohlfahrtsstaatlich-fürsorglichen Resozialisierungsstrafrechts“, hin zu einem „Risikostrafrecht der Bevölkerungskontrolle, das ein Strafrecht der verdachtsunabhängigen und flächendeckenden Kontrolle ist“.29 - Als ein nächstes Merkmal nennt Trotha ein verändertes Verhältnis der Gesellschaft zum Staat. Der Schutz vor dem Staat, für das die diversen grundgesetzlich garantierten Freiheitsrechte stehen, sei einer Haltung des Schutzes durch den Staat gewichen: „Mit dem Aufstieg der postbürgerlichen Gesellschaft und dem Verschwinden des Bürgers gibt es diesen Vorrang des Schutzes vor dem Staat nicht mehr“.30 Dies ist für Trotha das Differenzierungskriterium zwischen bürgerlicher und postbürgerlicher Gesellschaft. Etwas zynisch heißt es bei Trotha: „Der moderne Mitbürger ist in der Tat ,Staatsbürger‘ – und deshalb regt er sich über Fragen der Rechtsstaatlichkeit und schon gar nicht über den Zugriff des Staates auf seine Privatheit auf“.31 - Ein weiteres zentrales und ausführlich diskutiertes Merkmal der PSO stellt die Opferorientierung des Strafrechts dar: „Zu dieser Dynamik und Expansion von Prävention und Lebensformkontrolle gehört der historisch bemerkenswerte Aufstieg des Opfers“.32 Trotha spricht u. a. von einer „radikalen Verallgemeinerung des Opferstatus“, die er auch etwa in Johan Galtungs Konzept der „strukturellen Gewalt“ manifestiert sieht.33 Ferner spricht er von einer „Sakralisierung des Opfers“, die „Ideen des Monsters und der Rache (…) rehabilitier(e)“ und: „Entsprechend gehört der präventiven Sicherheitsordnung eine politische Kultur des Strafens zu, die David Garland und der Bourdieu-Schüler Loı¯c Wacquant eindrucksvoll für die USA beschrieben haben“.34 Die Kultur des Strafens zeige sich am deutlichsten „an der Welt der Drogensucht und des Drogenhandels, deren Angehörige inzwischen die Gefängnisse füllen“.35 - Die Welt der und der Umgang mit Drogen liefert Anschauung für das fünfte Merkmal der PSO: „Schon seit Jahrzehnten hat sich bei der Bekämpfung des internationalen Drogenhandels die Unterscheidung zwischen polizeilicher 28
Trotha (Fn. 22), S. 340. Trotha (Fn. 22), S. 341. 30 Trotha (Fn. 22), S. 342. 31 Trotha (Fn. 22), S. 343. 32 Trotha (Fn. 22), S. 343. 33 Trotha (Fn. 22), S. 344. 34 Trotha (Fn. 22), S. 344. 35 Trotha (Fn. 22), S. 344.
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und militärischer Aktion verflüchtigt“.36 Analoge Vorgänge zeigten sich auf dem Gebiet der Terrorismusbekämpfung – eine Militarisierung der Polizei wie eine „Verpolizeilichung des Militärs“. Letztere findet sich in der Figur etwa des „Entwicklungsgendarms“ demonstriert, der als Soldat im militärischen „Auslandseinsatz“ Entwicklungshilfe im Ausland leistet, daneben „Schutz vor den Gefährdungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, die klassische Funktionsbestimmung der Polizei“ zu gewährleisten hat – „er ist ein verpolizeilichter Soldat und ein soldatischer Entwicklungshelfer“.37 - „Schließlich das sechste Merkmal, das in der hartnäckigen Gegenwärtigkeit von Unsicherheit und vor allem der Ungleichheit besteht, die der Wohlfahrtsstaat der 1960er und 1970er Jahre einzudämmen versucht hat.“38 Dieser Aspekt der PSO verschränkt in besonders deutlicher Weise Sicherheitspolitik mit anderen Politikfeldern sowie dem Strukturwandel der Gesellschaft insgesamt. Es ist von der „Entgrenzung des Sicherheitsversprechens der präventiven Sicherheitsordnung“ die Rede, das dank u. a. eines „strukturelle(n) Erfüllungsdefizit(s)“ unerfüllt bleibe – „(e)ine erste schmerzhafte Rücknahme dieses Versprechens war in Deutschland die sogenannte „Hartz IV-Gesetzgebung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder“.39 Hier finden sich in dichter Folge und in einer Sprache, deren Nüchternheit die gesellschaftliche und soziale Dramatik der Befunde selbst nur noch unterstreichen, Folgerungen und Zusammenhänge benannt, die man sonst in der Kriminologie oder Rechtssoziologie vergeblich sucht. Da ist von einer Verbindung von sozialer Ungleichheit und Privatisierung von Sicherheit die Rede, d. h. die Übersetzung von „ökonomischer und sozialer Ungleichheit in die Ungleichheit von Sicherheit“ – oder auch: „Gleiche Sicherheit für alle, die sich Sicherheit leisten können“. Und weiter in den sozialen Konsequenzen: „Die präventive Sicherheitsordnung ist eine Ordnung der bewachten Schlagbäume, welche die Grenzen des Wohlstands, der Armut und der Marginalisierung markieren. Sie versucht, den ungehinderten Wechsel zwischen den Räumen der segregierten Ordnungen einzuschränken“.40 Und noch weiter: „In der privaten Sicherheitsordnung wird die Idee von der Einheit der gesellschaftlichen Ordnung aufgekündigt. Es ist eine Ordnung sich vertiefender sozialer Gräben und mit ihnen einer verallgemeinerten Konfliktbereitschaft. Ein Zug von Konflikt- und Gewaltgegenwärtigkeit dringt in das Netz der sozialen Beziehungen ein.“ „Die präventive Sicherheitsordnung lehrt uns, den Menschen wieder für gefährlich zu halten,
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Trotha (Fn. 22), S. 346. Trotha (Fn. 22), S. 346. 38 Trotha (Fn. 22), S. 348. 39 Trotha (Fn. 22), S. 348. 40 Trotha (Fn. 22), S. 349.
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allerdings nachdem wir (…) längst vergessen haben, darauf mit sachtem Umgang zu antworten“.41 Nach einem konzisen Resümee der sechs Merkmale unterstreicht Trotha die Reichweite seines Modells und seiner Analyse über die staatlichen Grenzen und Institutionen hinaus als „Entwicklungen, die (…) darüber hinaus weit in die Vorgänge des gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Wandels ebenso wie in die Veränderungen der internationalen Beziehungen hineinführen.“42 Seine abschließende Bemerkung gleicht einem Aufgabenprofil für die Kriminologie, auch wenn sie sich nach dem Vorstehenden wie ein „understatement“ liest: „Im Unterschied zu dem, was hier nicht einmal den Entwicklungsstand einer Skizze erreicht hat, müsste eine empirische ,Theorie der präventiven Sicherheitsordnung‘ diesem Zusammenspiel der sechs Sachverhalte und ihren Weiterungen in den Prozessen des Wandels im Einzelnen nachgehen.“43 Die detaillierte, wenn auch immer noch unvollständige und lückenhafte Darstellung des Werks von Trutz von Trotha formuliert eine kriminologische Agenda, die in der Tat für deutsche Vertreter des Faches weitgehend eine „terra incognita“ darstellt. Diese Feststellung trifft gleichermaßen auf die Lehrbücher wie auf die Journalliteratur zu, auf die Lehr- wie auf die Forschungsseite der Disziplin, und sie nimmt auch die restlichen Spuren des kritischen Lagers der deutschen Kriminologie nicht ausdrücklich aus. Als besonderes Desiderat der deutschen Kriminologie ist dabei auf die gesellschaftlichen Bezüge zu verweisen, die Trothas Analysen vorund mitführen, der deutschen Diskussion jedoch fremd sind oder nur in spurenhaften Dosen vorkommen. Dass diese disziplinäre Engführung der deutschen Kriminologie nicht disziplintypisch oder wesenhaft ist, lässt sich an analogen, nahezu parallelen Diskussionen – wiederum – an der angelsächsischen Kriminologie ablesen, auf die ich hier nur punktuell verweisen möchte. Sie stehen weitgehend unter dem Stichwort der „securitization“ und entsprechen damit einem Aspekt auch der Trothaschen PSO. Unter dem Generalthema der Relevanz des Staates für den Gegenstand der Kriminologie möchte ich auf einige Arbeiten der englischen Kriminologen Hallsworth und Lea verweisen. Unter dem Titel „Reconstructing Leviathan: Emerging contours of the security state“ diskutieren die Autoren „three key drivers of securitization“: „changes in the nature of the welfare state“, „shifts in criminal law aimed at dealing with new categories of powerful offenders“, „the blurring of the domestic and global territory as sites of control“ – sämtlich „interconnected and mutually reinforcing“.44 In Bezug auf den Charakter des Staates machen die Autoren „three fundamental transformations in the nature of the State“ aus: „crime control becomes the pre-emi41
Trotha (Fn. 22), S. 350. Trotha (Fn. 22), S. 350. 43 Trotha (Fn. 22), S. 350. 44 Hallsworth/Lea, Theoretical Criminology 15 (2011), 141 (143).
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nent paradigm for social control“, „social policy and welfare become progressively criminalized“ und drittens: „the functions of the State are increasingly distributed through an assemblage of state and non-state actors“.45 Diese knappen Informationen aus einem einzelnen Beitrag einer buchstäblichen Fülle weiterer monographischer und anderer Texte einer Reihe anderer englischer Autoren machen die Parallelität der Trothaschen Analysen mit denen in der englischen Kriminologie hinreichend deutlich.46
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Hallsworth/Lea, Theoretical Criminology 15 (2011), 141 (144). Eine zweite Parallele im Zusammenhang dieses Artikels, der ich leider so schnell nicht habe nachgehen können, betrifft den Titel eines weiteren Artikels der beiden zitierten Autoren Lea und Hallsworth: „Bringing the state back in: Understanding neoliberal security“, Hallsworth/Lea, Crime, Media, Culture 8 (2012), 185. 46
Punitivität in Deutschland Strafeinstellungen in der Bevölkerung und Möglichkeiten ihrer Messung Von Tobias Singelnstein und Julia Habermann Das wissenschaftliche Werk von Ulrich Eisenberg ist ebenso umfangreich wie vielfältig. Mit einer kaum noch zu überblickenden Vielzahl von Veröffentlichungen – von Monographien und Lehrbüchern über Kommentare bis hin zu Aufsätzen und Anmerkungen – hat er sich nahezu aller Themenbereiche angenommen, die Kriminologie, Strafverfahrensrecht, Jugendstrafrecht und Vollzugsrecht zu bieten haben. Besonderes Kennzeichen seines überaus produktiven Schaffens war und ist dabei stets, dass er sich auch und vor allem unbequemen Fragestellungen zuwendet, die in der wissenschaftlichen Debatte – zu Unrecht – oft nur ein Schattendasein fristen. In der Kriminologie bedeutet dies unter anderem, nicht nur oder vorrangig die einzelne Tat, den einzelnen Täter und diesbezügliche Entstehungszusammenhänge in den Blick zu nehmen, sondern etwa auch zu fragen, welche Funktion die Stigmatisierung und Ausschließung Einzelner für die Gesellschaft erfüllt. Diese im besten Sinne wissenschaftliche Herangehensweise von Ulrich Eisenberg hat mich, Tobias Singelnstein, schon als Student fasziniert und mich im Hinblick auf meine eigene wissenschaftliche Arbeit geprägt. Vor diesem Hintergrund möchten wir uns im Folgenden mit Strafeinstellungen der deutschen Bevölkerung auseinandersetzen. Grundlage dessen sind Daten aus dem von DFG und ANR geförderten deutsch-französischen Forschungsprojekt „Strafkulturen auf dem Kontinent“, das derzeit von Kirstin Drenkhahn, Fabian Jobard und Tobias Singelnstein durchgeführt wird.1
I. Einführung Das Thema Punitivität ist spätestens mit den Arbeiten von David Garland2 auch in Deutschland Gegenstand der kriminologischen Fachdebatte geworden.3 Die bislang vorliegenden Forschungsergebnisse sind gleichwohl übersichtlich und zeichnen kein einheitliches Bild. Dies beginnt bereits mit dem Begriff der Punitivität, der unter1
Nähere Informationen zu dem Projekt sind zu finden unter https://cpc-strafkulturen.eu. Die Befragung wurde von der „Mission de recherche droit & justice“ gefördert (216.02.02.27). 2 Insbesondere Garland, Culture of control, 2001. 3 s. nur Eisenberg/Kölbel, Kriminologie, 7. Aufl. 2017, § 43 Rn. 2 ff.
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schiedlich verstanden wird.4 Während manche Autoren hierunter Vorstellungen bzw. Einstellungen zur Strafwürdigkeit bestimmter Verhaltensweisen fassen, definieren andere den Begriff als Straflust, also als Neigung, auf abweichendes Verhalten mit übermäßig harten, mehr vergeltenden als versöhnenden Strafen zu reagieren.5 Außerdem kann die Frage der Punitivität auf unterschiedlichen Ebenen verortet und untersucht werden, die wiederum nicht einheitlich gebildet werden. Zusammenfassend betrachtet können dabei Kriminalpolitik und Gesetzgebung, Justiz, Medien und Bevölkerung differenziert werden. Angesichts dessen wird auch die empirische Untersuchung von Punitivität recht unterschiedlich angegangen; insbesondere ist bereits die Operationalisierung des Konstrukts Punitivität wenig geklärt.6 Ausgehend hiervon sollen im Folgenden die punitiven Einstellungen in der deutschen Bevölkerung näher betrachtet werden, deren Relevanz sich auch daraus ergibt, dass sie sich auf der Makroebene im gesamtgesellschaftlichen und spezifisch im politischen Diskurs niederschlagen und so Gesetzgebung, aber auch Justizpraxis beeinflussen können.7 Hierzu wird zunächst der Forschungsstand zusammengetragen und werden die verschiedenen methodischen Möglichkeiten der empirischen Untersuchung dieses Feldes dargestellt. Im Anschluss daran werden Ergebnisse einer Bevölkerungsbefragung im Rahmen des Projekts „Strafkulturen auf dem Kontinent“ vorgestellt.
II. Forschungsstand 1. Methodische Möglichkeiten der Erhebung punitiver Einstellungen Strafeinstellungen in der Bevölkerung werden regelmäßig entweder über allgemeine Einstellungsfragen oder über konkrete Fallbeschreibungen, so genannte Vignetten erhoben.8 Dabei zeigt sich, dass erstere in den Ergebnissen punitivere Einstellungen der Befragten erbringen, als wenn die Befragten nach der Beurteilung konkreter Fälle gefragt werden.9 Allgemeine Einstellungsfragen lassen sich weiter differenzieren: Bei Strafzieleinstellungen wird erhoben, inwiefern Befragte vergeltende und abschreckende 4
Vgl. u. a. Kury, in: Görgen et al., Interdisziplinäre Kriminologie, 2009, S. 459 (464). Kunz/Singelnstein, Kriminologie, 7. Aufl. 2016, S. 357; Heinz, in: Bundesministerium der Justiz, Das Jugendkriminalrecht vor neuen Herausforderungen? Jenaer Symposium 9. – 11. September 2008, 2009, S. 29 (33); Reichert, KrimJ 41 (2009), 100 (101); Lautmann/ Klimke, in: Lautmann/Klimke/Sack, Punitivität, 8. Beiheft zum Kriminologischen Journal, 2004, S. 9. 6 Kury/Brandenstein/Obergfell-Fuchs, Eur J Crim Policy Res 2009, 63 (64); Kury/Obergfell-Fuchs, Soziale Probleme 2006, 119 (119). 7 Eisenberg/Kölbel (Fn. 3), § 24 Rn. 20 f.; Kunz/Singelnstein (Fn. 5), S. 378 ff.; Kury/ Obergfell-Fuchs, Soziale Probleme 2006, 119 (125 f.); Kury (Fn. 4), S. 459 (473 ff.). 8 Suhling/Löbmann/Greve, ZFSP 2005, 203 (205); siehe auch Simonson, ZJJ 2009, 30 (33 ff.). 9 Suhling/Löbmann/Greve, ZFSP 2005, 203 (211). 5
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Strafziele gegenüber wiedergutmachenden und resozialisierenden Strafzielen bevorzugen.10 Strafhärteeinstellungen werden über allgemein formulierte Items erfasst, wie zum Beispiel „Ich finde, StraftäterInnen sollten generell hart bestraft werden“.11 Solche Items weisen den Vorteil auf, dass sie leicht zu konstruieren sind und bereits eine einzige Aussage eine Auswertung ermöglicht. Von Nachteil ist allerdings die Allgemeinheit der Aussage: Der Kontext, den Befragte zur Bewertung der Aussage heranziehen, ist ungewiss; Befragte können etwa mit bestimmten Stichworten aufsehenerregende Kriminalfälle aus der Medienberichterstattung assoziieren, die mit der Mehrheit der Delikte wenig gemein haben.12 Wird das Konstrukt der Strafhärte abweichend hiervon über mehrere Items erfasst und zu einem Index zusammengefasst, so lässt sich in einigen Arbeiten die Vermischung verschiedener Konzepte feststellen, was die Validität der Messung beeinträchtigen kann.13 Die Methode der Vignetten, also konkreter Fallbeschreibungen, zur Erfassung von Strafhärteeinstellungen weist den Vorteil auf, dass die Fallbeschreibungen den Abruf stereotyper Vorstellungen bei den Befragten minimieren. Als mögliche Antwortformate kommen verschiedene Konzepte in Betracht: - offene Benennung der Sanktion, - Auswahl einer Sanktion aus einer vorgegebenen Liste, - Auswahl einer Sanktion und anschließend Festlegung der Sanktionshöhe (Höhe der Geldstrafe, Länge der Freiheitsstrafe etc.), - Bewertung einer Sanktion auf einer Skala, inwiefern Sanktion als angemessen angesehen wird, - Festlegung der Härte der Sanktion auf einer Skala, ohne dabei eine konkrete Sanktion auswählen zu müssen.14 Gefragt ist dabei regelmäßig jeweils danach, was die befragte Person selbst als angemessen empfindet. Wenn konkrete Sanktionen bzw. Formen der Verfahrensbeendigung auszuwählen sind, so wird im Vergleich zu globalen Einstellungsfragen eine Verhaltensintention mit abgedeckt.15 Die Vignetten können in der Auswertung zu einem Punitivitätsindex zusammengefasst werden, bspw. über Mittelwertsberechnungen. Dies ist auch möglich, wenn in einem experimentellen Plan einzelne Fallmerkmale zwischen den Befragten variiert werden.16 Auch diese Form der Befragung bringt in der statistischen Auswertung Probleme mit sich, da Sanktion und Schwere der Sanktion möglichst auf einer eindimensiona10 Suhling/Löbmann/Greve, ZFSP 2005, 203 (204); Verwendung solcher Items bspw. in Bliesener/Fleischer, in: Safferling et al., FS Streng, 2017, S. 201. 11 Suhling/Löbmann/Greve, ZFSP 2005, 203 (204 f.). 12 Suhling/Löbmann/Greve, ZFSP 2005, 203 (205 f.). 13 Suhling/Löbmann/Greve, ZFSP 2005, 203 (206). 14 Zusammenstellung übernommen aus Suhling/Löbmann/Greve, ZFSP 2005, 203 (209). 15 Suhling/Löbmann/Greve, ZFSP 2005, 203 (207). 16 Suhling/Löbmann/Greve, ZFSP 2005, 203 (209).
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len Skala betrachtet werden müssen. Es stellt sich dann die Frage, wie hohe Geldstrafen und kurze Bewährungsstrafen auf einer Sanktionsschwereskala abgebildet werden können.17 Gerade in den Randbereichen der Sanktionen kann es aus empirischer Sicht schwierig werden, die Sanktionen und deren Höhe in eine eindeutige Reihenfolge zu bringen. So ist es fraglich, wie Befragte die Sanktionshärte hoher Geldstrafen im Vergleich zu kurzen Freiheitsstrafen oder Freiheitsstrafen auf Bewährung bewerten.18 Van Kesteren kann etwa empirisch belegen, dass Geldstrafen gerade in sogenannten „Entwicklungsländern“ als härtere Sanktion empfunden werden als kurze Freiheitsstrafen.19 2. Entstehungsbedingungen punitiver Einstellungen Die bislang vorliegende Forschung operationalisiert Punitivität auf recht unterschiedliche Weise und untersucht Zusammenhänge zwischen sehr verschiedenen unabhängigen Variablen und punitiven Einstellungen. Die folgenden Beispiele machen die Diversität der Befunde deutlich. In einer Auswertung des KFN wird Punitivität als die Bevorzugung abschreckender und vergeltender Sanktionen anstelle von wiedergutmachenden und ausgleichenden Maßnahmen definiert und im Hinblick auf Strafzieleinstellungen untersucht.20 Die Befragten konnten unterschiedliche Aussagen, die für die Dimensionen Abschreckung, Strafmilde und Wiedergutmachung stehen, anhand einer sechsstufigen Skala bewerten, die Zustimmung oder Ablehnung in Bezug auf die einzelnen Aussagen ausdrückt. Die Variablen der einzelnen Dimensionen Abschreckung, Strafmilde und Wiedergutmachung wurden über den Mittelwert der zugehörigen Einzelitems zusammengefasst. Die Befragung war als repräsentative Bevölkerungsumfrage über drei Erhebungszeitpunkte angelegt. Die Anzahl an Befragten lag bei 2.017 Personen im Jahr 2004, 3.245 Personen im Jahr 2010 und 3.073 Befragten im Jahr 2014.21 Die Ergebnisse zeigen, dass eine höhere Zustimmung zur Dimension Abschreckung zu allen drei Erhebungszeitpunkten mit höherem Alter einhergeht. Substanzielle Geschlechterunterschiede zeigen sich nicht. Bei den Dimensionen Strafmilde und Wiedergutmachung sind nur schwache und über die drei Erhebungszeiträume inkonsistente Zusammenhänge zum Geschlecht und Alter der Befragten auszumachen.22 Mittels einer Clusteranalyse wurden die Befragten in die beiden Gruppen Befürworter (Anteil der Befragten: 83,6 %) und Gegner harter Strafen (Anteil der Befragten: 16,4 %) eingeteilt. Die Ergebnisse lassen erkennen, dass BefürworterInnen härterer Strafen etwas häufiger weiblich sind, eher niedrigere Bildungsabschlüsse aufweisen, eher aus Ost17
Suhling/Löbmann/Greve, ZFSP 2005, 203 (209). Suhling/Löbmann/Greve, ZFSP 2005, 203 (209); Sebba/Nathan, BJC 1984, 221; Petersilia/Deschenes, TPJ 1994, 306. 19 Van Kesteren, Eur J Crim Policy Res 2009, 25 (31, 33, 44). 20 Bliesener/Fleischer (Fn. 10), S. 201 (204 ff.). 21 Bliesener/Fleischer (Fn. 10), S. 201 (204 ff.). 22 Bliesener/Fleischer (Fn. 10), S. 201 (207). 18
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deutschland stammen, geringfügig häufiger erwerbslos sind, eher die Linkspartei oder die AfD wählen, tendenziell eher christliche Parteien wählen oder NichtwählerInnen sind.23 Eine Opfererfahrung in den Bereichen Diebstahl, Wohnungseinbruch, Körperverletzung, Raub und Betrug weist einen moderaten Zusammenhang mit der Ablehnung härterer Strafen auf. Befürworter harter Strafen gehen deutlich stärker von einem Kriminalitätsanstieg in den letzten zehn Jahren aus.24 In einer weiteren Untersuchung des KFN wurden punitive Einstellungen über vier generelle Items untersucht, nämlich die Aussagen „Bei vielen Tätern hilft gegen erneute Straffälligkeit nur Abschreckung durch harte Strafen“, „Auf viele Straftaten sollte mit härteren Strafen reagiert werden als bisher“, „In den Gefängnissen sollte härter mit den Häftlingen umgegangen werden“ und „Harte Strafen sind notwendig, damit andere davon abgehalten werden, Straftaten zu begehen“.25 Die Items wurden zu einem Score zusammengefasst, welcher den Mittelwert über alle vier Items nutzt. Die Erhebung wurde zu vier Zeitpunkten durchgeführt (2004, 2006, 2010 und 2014). In der Auswertung zeigt sich, dass Alter und Geschlecht ohne Einfluss bleiben. Bildung und Herkunft dagegen nehmen signifikant Einfluss: Mit höherer Bildung sinkt das Ausmaß punitiver Einstellungen und Personen aus den alten Bundesländern weisen seltener punitive Einstellungen auf als Personen aus den neuen Bundesländern. Im Regressionsmodell mit den soziodemografischen Variablen und dem Erhebungsjahr kann 5,2 % der Gesamtvarianz erklärt werden.26 Als kriminalitätsbezogene Variablen wurden zusätzlich Kriminalitätsfurcht, Vermeidungsverhalten und angenommene Entwicklung von Straftaten einbezogen. Der stärkste Einfluss auf punitive Einstellungen geht im multivariaten Modell mit den soziodemografischen Merkmalen von der eingeschätzten Entwicklung der Straftaten aus, der schwächste Einfluss geht von der persönlichen Kriminalitätsfurcht aus. 12,8 % der Varianz in der abhängigen Variable punitive Einstellungen können auf die signifikanten soziodemografischen Variablen des ersten Blocks, das Erhebungsjahr und die kriminalitätsbezogenen Variablen zurückgeführt werden.27 Zuletzt wurden neun weitere diverse Variablen berücksichtigt, von welchen sechs signifikante, wenn auch eher schwache Einflüsse auf punitive Einstellungen aufweisen. Personen, die häufiger die Nachrichtenmagazine privater Sender sehen und die häufiger Boulevardzeitungen lesen, weisen höhere Werte punitiver Einstellungen auf. Hingegen geht das Lesen von deutschlandweiten Tageszeitungen mit niedrigeren punitiven Einstellungswerten einher. Bezüglich der Variable des Konsums von Nachrichtenformaten der öffentlich-rechtlichen Sender lässt sich kein signifikanter Zusammenhang feststellen. Ebenso wenig weisen die Variablen „Opfer eines Diebstahls in den letzten fünf Jahren“ und „Opfer einer Körperverletzung in den letzten 23
Bliesener/Fleischer (Fn. 10), S. 201 (209 f.). Bliesener/Fleischer (Fn. 10), S. 201 (210 f.). 25 Baier/Fleischer/Hanslmaier, MschrKrim 2017, 1 (7). 26 Baier/Fleischer/Hanslmaier, MschrKrim 2017, 1 (8 f.). 27 Baier/Fleischer/Hanslmaier, MschrKrim 2017, 1 (12 f.). 24
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fünf Jahren“ signifikante Einflüsse auf. Personen, die über sich sagen, ein eher starkes politisches Interesse zu haben, weisen geringere Punitivitätswerte auf.28 Für das Modell, welches die eben geschilderten Variablen, das Erhebungsjahr, den Bildungsstatus und die Herkunft aus den alten oder neuen Bundesländern beinhaltet, wird ein erklärter Varianzteil von 7,9 % berichtet.29 Eine repräsentative Studie aus Australien, der Angaben von 5.571 Befragten zu Grunde liegen, hat punitive Einstellungen über sieben Einstellungsfragen, wie z. B. „Personen, die das Gesetz brechen, sollten härter bestraft werden“ (freie Übersetzung), erhoben. Die Zustimmung oder Ablehnung zu den Aussagen erfolgte über eine fünfstufige Antwortskala. Diese Studie ist zum einen von besonderem Interesse, weil die AutorInnen die Antworten zu einem additiven Index zusammenfassen.30 Zum anderen zeigt die Studie einen hohen Erklärungsanteil soziodemografischer Merkmale, insbesondere des Bildungsabschlusses, und hat ein abschließendes Regressionsmodell mit hoher Erklärungskraft. Insgesamt werden als wichtigste Prädiktoren die Annahmen über gestiegenes Kriminalitätsaufkommen, Bildung und das Vertrauen in Boulevard- bzw. kommerzielle Medien für Nachrichten und Informationen identifiziert. Die soziodemographischen Merkmale Geschlecht, Alter, Bildung sowie höheres und niedrigeres Einkommen erklären 13 % der Varianz der abhängigen Variable Punitivität. Das Bildungsniveau allein erklärt bereits 11 % der Varianz. Die Einkommensvariable weißt ebenfalls signifikante Einflüsse auf. Die Items der Mediennutzung klären zusätzlich 6 % der Varianz auf. Von besonderer Erklärungskraft sind zudem die Kriminalitätsfurcht (1,6 %), Annahmen über das Kriminalitätsniveau (7,3 %) und in geringerem Ausmaße persönliche Erfahrungen vor Gericht (weniger als 1 %). Das finale Modell erklärt schließlich 30,4 % der Gesamtvarianz. Acht Variablen üben einen signifikanten Einfluss aus. Frauen und Personen mit höherer Bildung sind weniger punitiv eingestellt. Unkritische Medienrezeption, höhere Stundenzahl des TV-Konsums und die Nutzung von Boulevardmedien als Hauptinformationsquelle stehen in Zusammenhang mit erhöhten Punitivitätsscores. Je höher die Kriminalitätsfurcht und je höher das Kriminalitätsniveau geschätzt wird, desto höher fallen die Punitivitätsscores aus. Wurden Erfahrungen mit dem Justizsystem gemacht, so sind die Punitivitätsscores geringer.31 Kühnrich und Kania untersuchten mit Daten des European Crime Surveys für Deutschland, wer eher punitive Einstellungen vertritt. Punitivität wurde dort über den Fall eines wiederholten Einbruchs erfasst.32 Mittels der CAT-Regression wiesen die Autoren den einzelnen Sanktionsausprägungen (gemeinnützige Arbeit, Geldstrafe, zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe und Freiheitsstrafe ohne Bewährung) nummerische Werte zu. Damit konnten sie die empfundene Sanktionsschwere der Strafop28
Baier/Fleischer/Hanslmaier, MschrKrim 2017, 1 (14 f.). Baier/Fleischer/Hanslmaier, MschrKrim 2017, 1 (16). 30 Spiranovic/Roberts/Indermaur, Psychiatry, Psychology and Law 2012, 249 (252). 31 Spiranovic/Roberts/Indermaur, Psychiatry, Psychology and Law 2012, 249 (254 ff.). 32 Kühnrich/Kania, Attitudes Towards Punishment in the European Union, 2005, S. 10.
29
Punitivität in Deutschland
131
tionen prüfen und die Sanktionen in eine Reihenfolge bringen. Im Anschluss konnten sie in einer kategorialen Regression mit neun Prädiktorvariablen 10,5 % der Varianz in der Sanktionswahl erklären.33 Geschlecht und Alter weisen danach den intensivsten Einfluss auf und werden von Kühnrich und Kania als die „Großen Zwei“ zur Vorhersage punitiver Einstellungen gehandelt. Gerade junge Personen bis 34 Jahre zeigen stärkere punitive Einstellungen, was die Autoren als Gegensatz zu bisherigen Befunden sehen. Moderat punitivere Einstellungen weist die Gruppe der über 50-Jährigen auf.34 Befragte ohne Viktimisierungserfahrung erreichen höhere Punitivitätswerte.35 Die viertstärkste Prädiktorvariable ist der Beschäftigungsstatus. Arbeitslose Personen und Studierende weisen im Vergleich mit allen anderen Gruppen die höchsten Punitivitätswerte auf. Schließlich zeigt sich, dass Personen mit höherer Kriminalitätsfurcht und Personen mit geringerer allgemeiner Lebenszufriedenheit punitiver sind. Die Haushaltsgröße weist ebenfalls einen signifikanten Einfluss auf. Grund dafür kann sein, dass ab drei zusammenlebenden Personen vermutlich Kinder im Haushalt leben. Das Vorhandensein von Kindern, vor allem des ersten, jungen Kindes, könnte punitive Einstellungen fördern. Ein negativer Effekt zeigt sich zum Einkommen: Personen mit höheren Einkommen sind weniger punitiv.36 In einer Untersuchung von Kury, Bergmann und Schill wurden punitive Einstellungen über 26 Fallvignetten unterschiedlicher Delikte und über die Einstellung zur Todesstrafe erhoben. Befragt wurden mittels Random-Walk-Verfahren zufällig ausgewählte Personen aus drei Freiburger Stadtteilen. Die Stadtteile wurden bewusst über die Abbildung unterschiedlicher sozialer Problemlagen ausgewählt.37 Die Fallvignetten decken sehr unterschiedliche Delikte ab. Angefangen bei Schwangerschaftsabbruch, über Drogenkonsum und Schwarzfahren, Diebstähle, Einbrüche und Raub hin zu Körperverletzungs- und Sexualdelikten. Bei Sexualdelikten beschreibt ein Fall den sexuellen Missbrauch von einem Kind. Weitere Delikte entstammen aus dem Bereich der Verkehrsdelikte.38 Als Sanktionen konnten ausgewählt werden: „1 = darauf braucht der Staat nicht zu reagieren, 2 = Verwarnung mit Androhung einer Strafe, 3 = der Täter soll nur den Schaden begleichen, 4 = der Täter soll mit dem Opfer die Tat und ihre Wiedergutmachung besprechen, dann soll kein Gerichtsverfahren stattfinden (Täter-Opfer-Ausgleich), 5 = gemeinnützige soziale Arbeit (z. B. kostenlose Arbeitsleistung zur Sauberhaltung der Stadt), 6 = Hilfe für den Täter (z. B. Beratung/Therapie), 7 = Geldstrafe (wenn ja: wie hoch?), 8 = eine zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe, 9 = Gefängnisstrafe (wenn ja: wie lange?), 10 = Todesstrafe“.39 33
Kühnrich/Kania (Fn. 32), S. 22, 43 f. Kühnrich/Kania (Fn. 32), S. 44. 35 Kühnrich/Kania (Fn. 32), S. 45. 36 Kühnrich/Kania (Fn. 32), S. 47. 37 Kury (Fn. 4), S. 459 (465 ff.). 38 Kury (Fn. 4), S. 459 (470). 39 Kury (Fn. 4), S. 459 (468). 34
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Tobias Singelnstein und Julia Habermann
Die Ergebnisse zeigen, dass die Strafvorstellungen der BürgerInnen erheblich variieren, da das sehr breite Sanktionsspektrum oft ausgenutzt wird.40 Bestimmte Einflussfaktoren auf die Punitivität stechen hervor.41 Keine statistisch bedeutsamen Unterschiede zeigen sich beim Geschlecht, zwischen Befürwortung und Ablehnung der Todesstrafe, bei Opfererfahrung, Lebenszufriedenheit, Familienstand, Einkommen und Religiosität. Beim Alter zeigen sich tendenzielle Unterschiede zwischen den Altersgruppen, insofern dass die Gruppe der 31- bis 40-Jährigen und die der 71- bis 80Jährigen punitivere Einstellungen aufweisen.42 Eine weitere Vignetten-Studie aus der Schweiz arbeitete mit vier fiktiven Fällen. Die Studie realisierte 606 Befragungen mit Personen aus der Deutschschweiz und der Romandie und 68 Interviews mit Richtenden. Die Sanktionierungsvorstellungen wurden über die Länge der Freiheitsstrafe erfasst. Dafür mussten Fälle der mittelschweren Kriminalität ausgewählt werden, bei denen die Verhängung einer Freiheitsstrafe als angemessen angesehen wird.43 Im Ergebnis zeigt sich generell, dass die Bevölkerung härter sanktioniert als die befragte RichterInnenschaft. Eine vertiefende Analyse macht jedoch deutlich, dass dieses Ergebnis durch sehr straffreudige Personen zustande kommt. Werden diese aus den Analysen ausgeschlossen, so zeigt sich, dass die Mehrheit der Bevölkerung milder sanktionieren würde als die RichterInnenschaft. Die straffreudigen Personen leben eher in großen Städten, entstammen eher Haushalten mit geringeren Einkommen, haben keine eindeutige politische Position, können sich nicht dazu positionieren, ob die Justiz zu streng oder zu milde urteilt und weisen ein eher geringeres Bildungsniveau auf.44 3. Schlussfolgerungen Die beschriebenen Befunde einzelner Forschungsarbeiten illustrieren, dass Ergebnisse der Punitivitätsforschung vermutlich stark davon abhängen, wie die abhängige Variable „punitive Einstellungen“ modelliert wird. Zudem wird mit einer Vielzahl an Variablen sehr unterschiedlicher Art versucht, punitive Einstellungen zu erklären. Das Spektrum reicht von kriminalitätsbezogenen Variablen bis hin zur Zugehörigkeit zu bestimmten Religionsgemeinschaften und dem Vorhandensein von Kindern. Dabei zeigt sich, dass bestimmte unabhängige Variablen in einigen Auswertungen von großer Relevanz sind, während sie in anderen Arbeiten als unerheblich eingestuft werden. Ebenso ist die Richtung und Stärke des Zusammenhangs zwischen unabhängiger und abhängiger Variable oft nicht klar.
40
Kury (Fn. 4), S. 459 (469). Die Bildung der Punitivität insgesamt wird nicht weiter berichtet, vermutlich erfolgte diese aber wie auf Variablenebene über die Berechnung von Mittelwerten. 42 Kury (Fn. 4), S. 459 (471). 43 Kuhn, Verlangt die öffentliche Meinung strengere Strafen?, http://www.paulus-akademie. ch/ressourcen/download/20070314120714.pdf. 44 Kuhn (Fn. 43). 41
Punitivität in Deutschland
133
So wird etwa die Rolle des Geschlechts und des Alters sehr unterschiedlich bewertet. Die Bandbreite reicht von keinem über einen schwachen Einfluss bis dahin, die beiden Variablen als „die großen Zwei“ zu bezeichnen. Bezüglich des Geschlechts finden sich Studien, die Zusammenhänge in beide Richtungen zeigen. Einmal weisen Männer, ein anderes Mal Frauen höhere punitive Einstellungen auf. In anderen Studien zeigt sich zwischen Geschlecht und punitiver Einstellung kein signifikanter Zusammenhang. Bezüglich des Alters zeigen die meisten der Forschungsarbeiten, dass jüngere Personen weniger punitive Einstellungen vertreten als ältere. Auch hier gibt es aber Arbeiten, die zu einem gegenteiligen Ergebnis kommen oder keinen Einfluss messen. Der Bildungsstand dagegen weist über die Studien hinweg einen recht konsistenten Einfluss auf, insofern dass Personen mit höheren Bildungsabschlüssen in geringerem Maße punitive Einstellungen vertreten.45 Des Weiteren zeigt sich, dass eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Variablen zur Erklärung punitiver Einstellungen herangezogen werden können. Im Detail müsste sich angeschaut werden, wie punitive Einstellungen und die unabhängigen Variablen, bspw. des Bildungsniveaus, operationalisiert wurden und ob vormals bivariate Zusammenhänge zum Geschlecht durch Drittvariablenkontrolle insignifikant wurden. Ebenfalls inkonsistente Befunde liegen für Viktimisierungserfahrungen und Kriminalitätsfurcht vor. Es existieren sowohl Studien, die keinen Zusammenhang zwischen Viktimisierungserfahrungen und punitiven Einstellungen finden, als auch Forschungsarbeiten, denen zufolge Opfer einer Straftat punitiver sind als Personen, die keine Straftat erfahren haben.46 Die Inkonsistenz der Befunde zeigt sich auch in den bereits vorgestellten Studien.47 Bezüglich Kriminalitätsfurcht und punitiven Einstellungen liegen derart vielfältige und divergierende Forschungsbefunde vor, dass die diesbezüglichen Zusammenhänge kaum zu bewerten sind; der Befund, dass Personen mit hoher Kriminalitätsfurcht auch höhere Werte punitiver Einstellungen aufweisen, scheint das häufigere Forschungsergebnis zu sein.48 Bezüglich Strafzielen weisen mehrere Studien einen Zusammenhang mit punitiven Einstellungen nach, wobei verschiedene Strafziele als bedeutsam in Betracht kommen.49 Namentlich kann dies sowohl im Fall einer starken Orientierung an vergeltenden Strafzielen der Fall sein, als auch bei der Annahme einer generalpräventiven Wirkung harter Strafen. Darüber hinaus können Zusammenhänge zur Zufriedenheit mit und zur Bewertung der Arbeit der Strafverfolgungsbehörden betrachtet werden. Nach der Untersuchung von Van Kesteren weisen Personen mit geringerer Zufriedenheit bzgl. der polizeilichen Arbeit höhere Punitivitätswerte auf.50 Ebenso 45
Adriaenssen/Aertsen, European Journal of Criminology 2015, 92 (101). Adriaenssen/Aertsen, European Journal of Criminology 2015, 92 (103). 47 Vgl. Bliesener/Fleischer (Fn. 10), S. 201 (210 f.); Baier/Fleischer/Hanslmaier, MschrKrim 2017, 1 (14 f.). 48 Adriaenssen/Aertsen, European Journal of Criminology 2015, 92 (102 f.). 49 Oswald et al., Social Justice Research 2002, 85 (85, 95 f.). 50 Van Kesteren, Eur J Crim Policy Res 2009, 25 (38). 46
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können Annahmen und Wissen über Kriminalität und Sanktionen punitive Einstellungen beeinflussen.51 Eine Studie zeigt, dass sich die Strafpräferenzen von Befragten ändern, je mehr Informationen diese über Kriminalität und das Strafrechtssystem erhalten.52
III. Eigene Befunde aus dem Projekt „Strafkulturen auf dem Kontinent“ In unserem deutsch-französischen Forschungsprojekt „Strafkulturen auf dem Kontinent“ haben wir uns für die Untersuchung der Punitivität in der Bevölkerung für ein Vignettendesign entschieden. Hieraus werden im Folgenden erste Ergebnisse vorgestellt, wobei wir uns auf die deutsche Bevölkerung beschränken. 1. Beschreibung der Stichprobe Die Befragung wurde im April 2018 mittels eines Panels von Bilendi realisiert und umfasste etwa 3.000 Befragte. Repräsentativität wurde bei der Quotenstichprobe über die Variablen Geschlecht, Altersgruppe, Einkommensquintile, Haushaltsgröße und Region hergestellt. Die Befragung wurde online durchgeführt, so dass das Problem sozial erwünschten Antwortverhaltens minimiert werden konnte. Der Datensatz beinhaltet 3.011 Befragte aus Deutschland, von denen 51 % weiblich sind. Das Durchschnittsalter liegt bei 49 Jahren mit einer Standardabweichung von 16,6 Jahren. Alle Befragte sind mindestens 18 Jahre alt. Das Höchstalter liegt bei 93 Jahren. Jeweils etwa ein Drittel der Befragten verfügt entweder über einen Realschulabschluss (35,0 %) oder über einen Studienabschluss (32,8 %). Etwa ein Fünftel der Befragten hat Abitur gemacht, ohne anschließend einen Studienabschluss als höheren Bildungsabschluss zu erwerben (19,4 %). 12,8 % der Befragten weisen einen Hauptschulabschluss auf.53 Vier Fünftel aller Befragten leben momentan in den alten Bundesländern (80,8 %). 15,7 % leben in den neuen Bundesländern und 3,5 % wohnen in Berlin. Etwa jeder zehnte der Befragten weist einen Migrationshintergrund auf (11,5 %). Dieser wurde über die Informationen gebildet, ob die befragte Person selbst die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt oder ein Elternteil nicht mit deutscher Staatsbürgerschaft geboren wurde. Die häufigste Form des Zusammenlebens ist die Paarbeziehung ohne Kinder mit etwas über einem Drittel (36,8 %). Etwas unter einem Drittel der Befragten lebt in Einpersonenhaushalten (29,5 %). Mit abnehmender Häufigkeit leben die Befragten in einer Paarbeziehung mit einem Kind (11,6 %), in einer Paarbeziehung mit zwei Kindern oder einer anderen nicht näher abgefragten 51 Adriaenssen/Aertsen, European Journal of Criminology 2015, 92 (103); Roberts/Doob, Osgoode Hall Law Journal 1989, 491 (514). 52 Hough/Roberts, in: Tata/Hutton, Sentencing and Society: International Perspectives, 2002, S. 157 (159, 169 ff.). 53 Die Angaben beziehen sich auf 2.955 Befragte. Die restlichen 56 Befragten haben keinen Abschluss oder weisen einen anderen Abschluss auf.
Punitivität in Deutschland
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Haushaltsform (jeweils 7,7 %), allein mit einem oder mehreren Kindern (4,1 %) oder in einer Paarbeziehung mit drei oder mehr Kindern (2,6 %). 2. Erhebungsinstrument Das Erhebungsinstrument wurde für die vergleichende deutsch-französische Untersuchung extra entwickelt, seine Validität ist noch nicht umfänglich getestet.54 Innerhalb der vielfältigen Möglichkeiten, punitive Einstellungen zu operationalisieren, wurde das Konzept als geeignetes Instrument bewertet, punitive Einstellungen der Bevölkerung wiedergeben zu können. Das Instrument umfasst als Vignetten insgesamt acht Grundfälle, die teilweise im Hinblick auf Tat, Täter und Vorbelastung variiert wurden. Die abgefragten Delikte entstammen aus dem Bereich der leichten und mittleren Kriminalität, um im Gegensatz zu Delikten der schweren Kriminalität bei den Antworten ein breites Sanktionsspektrum zu erhalten. Bei schweren Delikten wäre die Sanktionsauswahl sehr ähnlich. Enthalten sind Diebstahlsdelikte, eine Beleidigung von Polizeibeamten, eine Trunkenheitsfahrt, eine Körperverletzung im öffentlichen Raum, eine Steuerhinterziehung, ein Betäubungsmitteldelikt und ein Raub sowie ein Fall häuslicher Gewalt. Das Erhebungsinstrument beschreibt die Fälle möglichst kontextualisiert unter Verwendung von Zusatzinformationen. Studien zeigen, dass die Verfügbarkeit von Informationen die Sanktionseinstellung zu einem Fall beeinflussen kann.55 Durch die Abfrage verschiedener Delikte wird vermieden, dass die konkrete Art des Delikts die Sanktionsauswahl zu stark bestimmt. So können befragte Personen zu einzelnen Delikten ganz bestimmte und auch punitive Einstellungen vertreten, ohne dass dies ein generelles punitives Bedürfnis ausdrücken muss. Die Befragten bekamen randomisiert unterschiedliche Fallversionen vorgelegt. Die Straftat wurde entweder durch einen Mann mit deutsch klingendem Namen, durch eine Frau mit deutsch klingendem Namen oder durch einen Mann mit ausländisch klingendem Namen begangen. Hypothese dahinter ist, dass diese Merkmale die Sanktionsauswahl beeinflussen. Den Befragten wurde bei jedem Fall neu per Zufall eine dieser Versionen zugeteilt, so dass kein Befragter ausschließlich Fälle einer Kategorie bewertete. Als Sanktion bzw. Form der Verfahrensbeendigung konnte bei jedem Fall zwischen folgenden Möglichkeiten gewählt werden: -
Einstellung ohne Auflagen, Anordnung einer Therapie, Einstellung mit Geldauflage, gemeinnützige Arbeit, 54
Zur Kritik siehe Kury/Obergfell-Fuchs, Soziale Probleme 2006, 119 (128). Roberts/Doob, Law and Human Behavior 1990, 451 (464); Kury/Brandenstein/Obergfell-Fuchs, European Journal on Criminal Policy and Research 2009, 63 (78). 55
136
-
Tobias Singelnstein und Julia Habermann
Geldstrafe: nicht mehr als das Nettoeinkommen für einen Monat, Geldstrafe: mehr als das Nettoeinkommen für einen Monat, Freiheitsstrafe mit Bewährung, Freiheitsstrafe ohne Bewährung von bis zu einem Jahr, Freiheitsstrafe ohne Bewährung von über einem Jahr.
Die Auswahl umfasst – da es sich um ein vergleichendes deutsch-französisches Projekt handelt – auch Sanktionen, die nicht als Regelsanktion im deutschen Sanktionensystem vorgesehen sind. 3. Bildung der abhängigen Variable Punitivität Im Folgenden soll die Gruppe der besonders punitiv eingestellten Befragten näher betrachtet werden, also derjenigen, die sich im Vergleich mit den anderen Befragten besonders häufig für eine harte Sanktionierung ausgesprochen haben. Gemäß dem hier verfolgten Vignetten-Design wird Punitivität in einer spezifischen Weise betrachtet und gemessen, nämlich anhand konkreter Sanktionsvorstellungen der Bevölkerung bei unterschiedlichen Delikten der leichten und mittleren Kriminalität. Leitfrage dieser Auswertung ist, ob sich eine gewisse Strafhärte durchgehend bei den abgefragten Delikten zeigt und wer die Personen sind, die über mehrere Delikte hinweg vergleichsweise schwere Sanktionen auswählen. Eine erste Herausforderung der Datenanalyse besteht darin, dass die zur Auswahl gestellten Sanktionsformen bezüglich ihrer Schwere von Laien unter Umständen unterschiedlich bewertet und in eine entsprechende Reihenfolge gebracht werden. So ist etwa bei Geldstrafe und Freiheitsstrafe mit Bewährung nicht für alle Befragten klar, was nach den Vorstellungen des Gesetzgebers die mildere Sanktionsform darstellt. Von besonderer Problematik ist das Verhältnis zwischen Anordnung einer Therapie, gemeinnütziger Arbeit und Einstellung mit Geldauflage. Eine weitere Herausforderung bei der Datenauswertung ist darin begründet, dass die Delikte auch aus Laiensicht einen divergierenden Unrechtsgehalt aufweisen, so dass kein durchgehend einheitliches Sanktionsniveau besteht. Um diesen Problemen zu begegnen, wurde zunächst festgelegt, dass von einer Reihenfolge der Sanktionen erst ab der Geldstrafe ausgegangen werden kann. Zur Bestimmung der Gruppe der besonders punitiv eingestellten Befragten wurde dann ein Punitivitätsscore gebildet. Hierfür wurde bei jedem einzelnen Fall geschaut, welche Befragten zu den obersten 20 % (Quintil) der Verteilung gehören, die also bei dem jeweiligen Fall für die härteste(n) Sanktionierung(en) votiert hatten. Die Festlegung auf das oberste Quintil der Verteilung wurde getroffen, da dies den besten Kompromiss darstellt zwischen einer ausreichend großen Fallzahl an Befragten in der Gruppe der besonders Punitiven und der Fokussierung auf Strafen, die von der Mehrheit der anderen Befragten als zu harte Sanktionsform erachtet wurden. Durch dieses Vorgehen werden der Unrechtsgehalt und die Besonderheiten der Fälle adäquat berücksichtigt, da die Bestimmung, wer als punitiv gelten soll,
Punitivität in Deutschland
137
immer anhand der vorliegenden Verteilung getroffen wird. Oft entspricht das oberste Quintil dabei der Gruppe derjenigen Befragten, die eine Freiheitsstrafe als angemessene Sanktion ausgewählt haben, aber nicht immer. Bei Delikten der leichten Kriminalität und fehlender Vorbelastung gilt mitunter auch die Auswahl der Geldstrafe als schwere Sanktion im Vergleich zu den Antworten aller anderen Befragten (Tabelle 1). Dies hat zur Folge, dass Punitivität immer nur relational gesehen wird. In wiederholten Befragungen könnten Anstiege der Punitivität dann übersehen werden. Tabelle 1 Fälle und die Einordnung der Sanktionsauswahl als punitiv Fallvignette56
Person gilt als punitiv, wenn folgende Sanktion ausgewählt wurde
Betäubungsmitteldelikt (einschlägige Vorstrafen) Versionen: Mann mit dt. klingendem Namen, Frau mit dt. klingendem Namen, Mann mit ausl. klingendem Namen
• •
Freiheitsstrafe ohne Bewährung bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe ohne Bewährung über einem Jahr
Raub (keine Vorstrafen) Versionen: Mann mit dt. klingendem Namen, Frau mit dt. klingendem Namen, Mann mit ausl. klingendem Namen
• •
Freiheitsstrafe ohne Bewährung bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe ohne Bewährung über einem Jahr
Trunkenheitsfahrt (keine Vorstrafen) Versionen: Mann mit dt. klingendem Namen, Frau mit dt. klingendem Namen, Mann mit ausl. klingendem Namen
• • • •
Geldstrafe von mehr als einem Monatsnettoeinkommen Freiheitsstrafe mit Bewährung Freiheitsstrafe ohne Bewährung bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe ohne Bewährung über einem Jahr
Trunkenheitsfahrt (mit einschlägiger Vorstrafe) Versionen: Mann mit dt. klingendem Namen, Frau mit dt. klingendem Namen, Mann mit ausl. klingendem Namen
• • •
Freiheitsstrafe mit Bewährung Freiheitsstrafe ohne Bewährung bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe ohne Bewährung über einem Jahr
Trunkenheitsfahrt (Vorstrafe wg. Gewaltdelikt) Versionen: Mann mit dt. klingendem Namen, Mann mit ausl. klingendem Namen
•
Freiheitsstrafe ohne Bewährung über einem Jahr
Version: Frau mit dt. klingendem Namen
•
Freiheitsstrafe ohne Bewährung bis zu einem Jahr
56 Sowohl inhaltliche als auch statistische Überlegungen führten zum Ausschluss des Falls, welcher häusliche Gewalt abbildet.
138
Tobias Singelnstein und Julia Habermann Tabelle 1 (Fortsetzung)
Fallvignette
Person gilt als punitiv, wenn folgende Sanktion ausgewählt wurde •
Freiheitsstrafe ohne Bewährung über einem Jahr
•
Geldstrafe von weniger als einem Monatsnettoeinkommen Geldstrafe von mehr als einem Monatsnettoeinkommen Freiheitsstrafe mit Bewährung Freiheitsstrafe ohne Bewährung bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe ohne Bewährung über einem Jahr
Beamtenbeleidigung (keine Vorstrafen) Versionen: Mann mit dt. klingendem Namen, Frau mit dt. klingendem Namen57, Mann mit ausl. klingendem Namen
• • • •
Beamtenbeleidigung (einschlägige und nicht einschlägige Vorstrafen) Versionen: Mann mit dt. klingendem Namen, Frau mit dt. klingendem Namen, Mann mit ausl. klingendem Namen
• • •
Freiheitsstrafe mit Bewährung Freiheitsstrafe ohne Bewährung bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe ohne Bewährung über einem Jahr
Steuerhinterziehung (mit einschlägigen Vorstrafen) Versionen: Mann mit dt. klingendem Namen, Frau mit dt. klingendem Namen, Mann mit ausl. klingendem Namen
• •
Freiheitsstrafe ohne Bewährung bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe ohne Bewährung über einem Jahr
Körperverletzung im öffentlichen Raum (keine Vorstrafen) Neun unterschiedliche Versionen bezüglich Alkoholisierung und -abhängigkeit58
• • •
Freiheitsstrafe mit Bewährung Freiheitsstrafe ohne Bewährung bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe ohne Bewährung über einem Jahr
57 Bei einer rein statistischen Betrachtung müsste bei der Fallversion mit der Frau mit deutsch klingendem Namen auch die gemeinnützige Arbeit als punitive Sanktion gewertet werden. Da bei der gemeinnützigen Arbeit, der Anordnung einer Therapie und der Einstellung mit Geldauflage die Reihenfolge bezüglich der Sanktionshärte fraglich ist, wurde sich zum inhaltlich begründeten Ausschluss dieser Sanktionsform entschlossen. 58 Rein statistisch gesehen hätte bei Fallversion 7 die Freiheitsstrafe mit Bewährung nicht mitgezählt werden dürfen, da ein einziger Prozentpunkt fehlte, um die Grenze herabzusetzen. Aus diesem Grund wurde sich dazu entschieden diese Schwankung als zufälliges Produkt zu werten und auch bei Version 7 die Auswahl der Freiheitsstrafe mit Bewährung als punitiv zu werten.
Punitivität in Deutschland
139
Tabelle 1 (Fortsetzung) Fallvignette
Person gilt als punitiv, wenn folgende Sanktion ausgewählt wurde
Diebstahl eines Pullovers (keine Vorstrafen, ledig, zwei Kinder, Bezug von Arbeitslosengeld II)59 Versionen: Mann mit dt. klingendem Namen, Frau • Geldstrafe von weniger als einem mit dt. klingendem Namen, Mann mit ausl. klinMonatsnettoeinkommen • Geldstrafe von mehr als einem gendem Namen Monatsnettoeinkommen • Freiheitsstrafe mit Bewährung • Freiheitsstrafe ohne Bewährung bis zu einem Jahr • Freiheitsstrafe ohne Bewährung über einem Jahr Diebstahl eines Pullovers (einschlägige Vorstrafen) Versionen: Mann mit dt. klingendem Namen, Frau mit dt. klingendem Namen, Mann mit ausl. klingendem Namen
• • •
Freiheitsstrafe mit Bewährung Freiheitsstrafe ohne Bewährung bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe ohne Bewährung über einem Jahr
Diebstahl eines Pullovers (keine Vorstrafen, kinderlos, monatliches Nettoeinkommen von 1.500 E aus Berufstätigkeit) Versionen: Mann mit dt. klingendem Namen, Frau mit dt. klingendem Namen, Mann mit ausl. klingendem Namen
• • • •
Geldstrafe von mehr als einem Monatsnettoeinkommen Freiheitsstrafe mit Bewährung Freiheitsstrafe ohne Bewährung bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe ohne Bewährung über einem Jahr
Diebstahl Uhr (keine Vorstrafen, ledig, zwei Kinder, Bezug von Arbeitslosengeld II) Versionen: Mann mit dt. klingendem Namen, Frau mit dt. klingendem Namen, Mann mit ausl. klingendem Namen
• • •
Freiheitsstrafe mit Bewährung Freiheitsstrafe ohne Bewährung bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe ohne Bewährung über einem Jahr
Bei jedem der 13 in der Tabelle vorgestellten Fälle bekamen die Befragten einen Punkt zugewiesen, wenn sie zu der Gruppe der Befragten gehörten, die im Vergleich zu den anderen 80 % der Befragten eine schwerere Sanktion ausgewählt hatten. Die Punkte aus den einzelnen Fällen wurden zu einem Punitivitätsscore aufaddiert und 59
Auch hier liegt eine Ausnahmeregelung vor. Die statistische Auswertung würde vorgeben, auch die gemeinnützige Arbeit als punitive Einstellung mitzuzählen. Jedoch haben über die drei unterschiedlichen Fallversionen (Mann, Frau, Mann mit ausl. klingendem Namen) hinweg etwa 50 % der Befragten die gemeinnützige Arbeit als angemessen empfundene Sanktionsform ausgewählt.
140
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somit ein Summenindex gebildet. Eine befragte Person, die den Wert Null aufweist, hat über alle 13 Delikte hinweg nie zu der Gruppe an Befragten gehört, die besonders schwere Sanktionen für das Delikt bevorzugen. Eine Person, die den Wert 13 aufweist, hat über alle Delikte hinweg immer zur Gruppe der Befragten gehört, die im Vergleich zu anderen Befragten besonders schwere Sanktionen bevorzugt. Die Verteilung der Befragten lässt sich untenstehender Grafik entnehmen (Abbildung 1). Diese Variable wurde als metrisch bewertet und in den folgenden OLS-Regressionen als abhängiges Merkmal verwendet. Angaben in Prozent 20.0 18.0 16.0 14.0 12.0 10.0 8.0 6.0 4.0 2.0 0.0
13.2 13.2 9.0
10.8
11.1 11.5
10.0 7.0
5.9 3.00
0
1
2
3
4
5
6
7
8
9
2.1
1.7
10
11
0.8
0.7
12
13
Abbildung 1: Summenindex punitive Einstellung; 0 = keine punitive Einstellung
Im Ergebnis zeigt sich anhand des Punitivitätsscores, dass nur eine relativ kleine Gruppe der Befragten konsequent über alle bzw. eine Vielzahl der Fälle hinweg für die Auswahl besonders schwerer Sanktionen votiert. Damit zeigt sich ein Befund, der auch bereits in anderen Auswertungen des Datensatzes zu finden war, nämlich dass die Befragten die ihnen als konkrete Schilderung vorgelegten Fälle sehr differenziert bewerten und das gesamte Sanktionsspektrum ausnutzen. Für die befragten Bürgerinnen und Bürger stellt dabei offenbar der ganze Sachverhalt mit allen Kontextinformationen zur Person des Täters und dessen sozialer Situation eine einheitliche Gemengelage dar, die sie nach moralischen Gesichtspunkten bewerten. 4. Bi- und multivariate Zusammenhänge Unter den soziodemografischen Variablen zeigen sich überraschend wenige und überraschend schwache Zusammenhänge. Die bivariate Regression von Punitivität auf das Alter weist mit 2,5 % erklärtem R2 unter den betrachteten Variablen die höchste Erklärungskraft auf. Personen zwischen 45 und 74 Jahren weisen signifikant höhere Punitivitätswerte auf als Personen der jüngsten Altersgruppe (18 bis
Punitivität in Deutschland
141
24 Jahre). Der Zusammenhang ist mit Koeffizienten um 0,1 eher als gering zu bewerten. Die Gruppe der Personen ab 75 Jahren unterscheidet sich nicht mehr signifikant von der jüngsten Altersgruppe (Tabelle 2). Mit 1,9 % erklärter Varianz ist auch das Bildungsniveau von Relevanz. Personen mit Hauptschul- und Realschulabschluss weisen eher höhere Punitivitätswerte auf als Personen mit Studienabschluss. Zwischen letztgenannten und Personen mit Abitur, aber ohne Studienabschluss, bestehen keine signifikanten Zusammenhänge (Tabelle 2). Tabelle 2 Bivariate OLS-Regressionen von Punitivitätsscore auf die soziodemografischen Merkmale; Abbildung signifikanter und bedeutender Zusammenhänge Variable
Alter, Referenz: 18 – 24 Jahre
N
Beta-Koeffizienten mit Signifikanzniveau 3.011
2,5 %
25 – 29
0,013
30 – 34
–0,008
35 – 39
0,000
40 – 44
0,026
45 – 49
0,073**
50 – 54
0,084***
55 – 59
0,112***
60 – 64
0,113***
65 – 69
0,127***
70 – 74
0,062**
75 – 93
0,030
Bildung, Referenz: Studium
R2
3.011
1,9 %
Hauptschulabschluss
0,116***
Realschulabschluss
0,121***
Abitur
0,012
Anderer Abschluss/Keine Angabe
0,018
*** Signifikant auf dem 0,1 %-Signifikanzniveau ** Signifikant auf dem 1 %-Signifikanzniveau * Signifikant auf dem 5 %-Signifikanzniveau Ansonsten nicht signifikant
Geschlechterunterschiede lassen sich nicht beobachten. Ebensowenig zeigen sich signifikante und bedeutende Zusammenhänge bei den Haushaltseinkommensquintilen, der subjektiven Einkommenssituation, zwischen Personen aus den neuen oder alten Bundesländern, der Einwohnerzahl der Gemeinde oder Stadt, dem Vorhandensein von Kindern und dem Migrationshintergrund.
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Tobias Singelnstein und Julia Habermann
Im multivariaten Modell mit allen soziodemografischen Variablen bleiben die Einflüsse der Variablen weitestgehend konstant. Einzig bei der Einwohnerzahl zeigt sich nun ein signifikanter Unterschied zwischen der Kategorie mit der geringsten Einwohnerzahl und der Kategorie mit der höchsten Einwohnerzahl. Nichtsdestotrotz ist der Einfluss mit einem Beta-Koeffizienten von -0,048 vernachlässigbar. Das Gesamtmodell mit allen soziodemografischen Variablen erklärt 3,0 % der Varianz (bezogen auf das korrigierte R2). Auch dies fällt erstaunlich gering aus. Wie bereits in den bivariaten Modellen zeigen sich zumindest geringe Zusammenhänge zum Punitivitätsscore beim Alter und bei der Bildung. Bei den kriminalitätsbezogenen, kriminalpolitischen und weiteren Variablen stechen mit einem R2 von (über) 3 % die Variablen Strafzweck, die Einstellung „Härtere Strafen senken Kriminalität“ und die Beurteilung hervor, die Justiz leiste gute Arbeit. Die Beta-Koeffizienten lassen sich als gering bis mittel bewerten. Bei den Strafzwecken zeigt sich, dass Personen, die den Strafzweck der Abschreckung, der Verteidigung der Rechtsordnung und der Sicherung der Allgemeinheit gegenüber dem Strafzweck der Resozialisierung präferieren, höhere Punitivitätswerte aufweisen, wobei besonders der Beta-Koeffizient bei Sicherung der Allgemeinheit hervorsticht (Tabelle 3). Die Unterschiede zwischen den Befragten können nochmals über eine Betrachtung des Mittelwerts des Punitivitätsscores nach befürwortetem Strafzweck verdeutlicht werden. Personen, die die Strafzwecke Wiedergutmachung (3,2), Resozialisierung (3,4) oder einen anderen Strafzweck (3,2) befürworten, weisen die niedrigsten Mittelwerte im Punitivitätsscore auf. Danach folgen Personen, die die Strafzwecke Vergeltung (3,7), Abschreckung (4,3) und Verteidigung der Rechtsordnung (4,4) für am wichtigsten erachten. Den höchsten Mittelwert des Punitivitätsscores weisen Personen auf, die sich für die Sicherung der Allgemeinheit aussprechen (4,7). Je eher der Aussage „Harte Strafen senken das Kriminalitätsaufkommen“ zugestimmt wird, desto höher sind die Punitivitätswerte. Im Gegensatz dazu sinken die Punitivitätswerte je eher der Aussage „Die Justiz leistet gute Arbeit“ zugestimmt wird. Ein Anteil von 2,2 % erklärter Varianz weisen die Variable „Bestrafung besonders schwerer Straftaten mit dem Tod“ und das Sicherheitsempfinden auf. Personen, die sich für die Todesstrafe aussprechen, sind auch eher punitiv eingestellt. Mit steigendem Sicherheitsempfinden sinkt das Bedürfnis vergleichsweise hart zu sanktionieren. Zudem zeigt sich, dass punitive Personen eher der Aussage zustimmen, „Migranten begehen häufiger Straftaten“. Die politische Einstellung zeigt nur sehr geringe Zusammenhänge unter 0,1. Personen, die ihre politische Einstellung in der Mitte oder rechts verorten, weisen signifikant höhere Punitivitätswerte auf als Personen, die sich im politischen Spektrum links verorten. Auch die Erklärungskraft dieser Variable mit 0,6 % erklärtem R2 ist als sehr gering zu bezeichnen (Tabelle 3).
Punitivität in Deutschland
143
Tabelle 3 Bivariate OLS-Regressionen von Punitivitätsscore auf kriminalitätsbezogene, kriminalpolitische und weitere Variablen60 Variable
N
Politische Einordnung, Referenz: Links
3.011
Beta-Koeffizienten
0,6 %
Eher links
0,027
Mitte
0,080**
Eher rechts
0,089***
Rechts
0,049*
Fehlend Strafzwecke, Referenz: Resozialisierung
R2
0,033 3.011
Abschreckung
3,3 % 0,126***
Vergeltung
0,016
Wiedergutmachung
–0,023
Verteidigung Rechtsordnung
0,111***
Sicherung der Allgemeinheit
0,206***
Anderer Strafzweck/Keine Angabe
–0,005
Migranten begehen häufiger Straftaten 0 = stimme gar nicht zu; 10 = stimme voll zu
2.912
0,107***
1,2 %
Bestrafung besonders schwerer Straftaten mit dem Tod 0 = stimme gar nicht zu; 10 = stimme voll zu
2.871
0,147***
2,2 %
Beurteilung Tätigkeit der Strafjustiz 0 = als streng; 10 = als milde
2.927
0,118***
1,4 %
Aufgabe, der sich Regierung am meisten widmen sollte; Referenz: Kriminalität
3.011
1,3 %
Situation auf dem Arbeitsmarkt
–0,079***
Armut
–0,086***
Umwelt
–0,113***
Migration
–0,064**
Terrorismus
–0,030
Einer anderen
–0,057**
Keine Angabe
–0,022
Sicherheitsempfinden 0 = fühle mich gar nicht sicher; 10 = fühle mich sehr sicher
2.975
–0,149***
2,2 %
Härtere Strafen senken Kriminalitätsaufkommen 0 = stimme gar nicht zu; 10 = stimme voll zu
2.965
0,193***
3,7 %
60 Diese Variablen werden in Regressionsmodellen zwar als erklärende Variablen behandelt, es ist jedoch nur die Korrelation nachzuweisen.
144
Tobias Singelnstein und Julia Habermann Tabelle 3 (Fortsetzung)
Variable
N
Beta-Koeffizienten
Beurteilung Justiz leistet gute Arbeit 0 = leistet gar keine gute Arbeit; 10 = leistet sehr gute Arbeit
2.947
–0,172***
R2 3,0 %
*** Signifikant auf dem 0,1 %-Signifikanzniveau ** Signifikant auf dem 1 %-Signifikanzniveau * Signifikant auf dem 5 %-Signifikanzniveau Ansonsten nicht signifikant
Keine signifikanten und bedeutenden Einflüsse bestanden bei den Variablen Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft, Religiosität, Viktimisierungserfahrung, der Beurteilung, ob die Polizei gute Arbeit leistet und der Zustimmung zu der Aussage, ob man im Leben in der Regel bekomme, was man verdient. Da die meisten der kriminalitätsbezogenen, kriminalpolitischen und weiteren Variablen keinen signifikanten Einfluss auf den Punitivitätsscore ausüben, ist auch die Gesamterklärungskraft des Modells mit all diesen Variablen – außer den soziodemografischen – mit 9,4 % erklärter Varianz schwach. Vormals signifikante Unterschiede bei der politischen Einstellung und der Zustimmung, ob Migranten häufiger Straftaten begehen, sind nun verschwunden. Dafür lässt sich ein signifikanter aber in seiner Stärke unbedeutender Zusammenhang zwischen der Aussage „Die Polizei leistet gute Arbeit“ und dem Punitivitätsscore ablesen. Die bedeutenden Zusammenhänge bleiben signifikant. Bedeutsam sind danach die Strafzwecke, die Haltung zur Todesstrafe, die Beurteilung der Sanktionierungspraxis der Justiz, die Frage der relevanten gesellschaftlichen Probleme, das Sicherheitsempfinden, die Vorstellung, dass härtere Sanktionen das Kriminalitätsaufkommen senken könnten sowie die Beurteilung der Arbeit der Justiz. Das abschließende Modell enthält die in den multivariaten Modellen als bedeutend bewerteten Variablen. Tabelle 4 Abschließende OLS-Regression von Punitivität auf die signifikanten und bedeutenden unabhängigen Variablen der bivariaten Regressionen61 Variable
Beta-Koeffizienten mit Signifikanzniveau
Alter, Referenz: 18 – 24 Jahre 25 – 29
–0,006
30 – 34
–0,032
61 Die Normalverteilungsannahme des Modells kann nach den durchgeführten statistischen Tests gestört sein. Die grafische Beurteilung der Verteilungsannahme zeigt aber keine gravierenden Abweichungen.
Punitivität in Deutschland
145
Tabelle 4 (Fortsetzung) Variable
Beta-Koeffizienten mit Signifikanzniveau
35 – 39 40 – 44
–0,027 –0,014
45 – 49
0,021
50 – 54
0,041
55 – 59
0,061*
60 – 64
0,069**
65 – 69
0,078**
70 – 74
0,024
75 – 93
0,018
Bildung, Referenz: Studium Hauptschulabschluss
0,065**
Realschulabschluss
0,054*
Abitur
0,015
Anderer Abschluss/Keine Angabe
0,010
Strafzwecke, Referenz: Resozialisierung Abschreckung
0,055*
Vergeltung
–0,005
Wiedergutmachung
–0,043*
Verteidigung Rechtsordnung Sicherung der Allgemeinheit Anderer Strafzweck/Keine Angabe
0,079*** 0,117*** –0,006
Bestrafung besonders schwerer Straftaten mit dem Tod 0 = stimme gar nicht zu; 10 = stimme voll zu
0,061**
Beurteilung Tätigkeit der Strafjustiz 0 = als streng; 10 = als milde
0,043*
Aufgabe, der sich Regierung am meisten widmen sollte, Referenz: Kriminalität Situation auf dem Arbeitsmarkt
–0,043*
Armut
–0,025
Umwelt
–0,048*
Migration
–0,049*
Terrorismus
–0,002
Einer anderen
–0,024
Keine Angabe Sicherheitsempfinden 0 = fühle mich gar nicht sicher; 10 = fühle mich sehr sicher
0,007 –0,031
146
Tobias Singelnstein und Julia Habermann Tabelle 4 (Fortsetzung)
Variable
Beta-Koeffizienten mit Signifikanzniveau
Härtere Strafen senken Kriminalitätsaufkommen 0 = stimme gar nicht zu; 10 = stimme voll zu Beurteilung Justiz leistet gute Arbeit 0 = leistet gar keine gute Arbeit; 10 = leistet sehr gute Arbeit
0,108*** –0,118***
N = 2.789; Korrigiertes R2 = 10,7 % *** Signifikant auf dem 0,1 %-Signifikanzniveau ** Signifikant auf dem 1 %-Signifikanzniveau * Signifikant auf dem 5 %-Signifikanzniveau Ansonsten nicht signifikant
Insgesamt muss gesagt werden, dass die Erklärungskraft des Modells mit nur 10,7 % erklärter Varianz gering ist. Die wenigsten der Beta-Koeffizienten weisen einen Wert über 0,1 auf und sind damit sehr schwach. Die Beta-Koeffizienten des Alters, die im bivariaten Modell teilweise zumindest geringe Zusammenhangswerte aufweisen, wurden teils insignifikant. Das Alter ab dem sich signifikante Unterschiede zeigen liegt nun bei 55 Jahren. Ebenfalls nun nicht mehr signifikant ist der Einfluss des Sicherheitsempfindens.
IV. Diskussion und Ausblick Das abschließende Regressionsmodell zeigt, dass sich die bedeutendsten – aber immer noch eher geringen – Zusammenhänge erkennen lassen mit der Beurteilung, ob die Justiz gute Arbeit leistet, mit der Einschätzung, dass härtere Strafen Kriminalität senken können und bei der Befürwortung des Strafzwecks Sicherung der Allgemeinheit gegenüber dem der Resozialisierung. Weitere Zusammenhänge zeigen sich bezüglich Alter, Bildung, Befürwortung der Todesstrafe bei besonders schweren Straftaten und der Beurteilung der Sanktionierungspraxis der Strafjustiz. Die dargestellte Auswertung bestätigt bereits vorliegende Ergebnisse anderer Untersuchungen, stellt diese mitunter aber auch in Frage. Erwartungsgemäß und wenig überraschend ist der Einfluss des Bildungsniveaus, der auch in anderen Untersuchungen festgestellt wurde. Bezüglich des Alters liegen bislang divergierende Forschungsergebnisse vor, welche Altersgruppen punitiver sind. Signifikante Unterschiede zur jüngsten Altersgruppe treten in unserem abschließenden multivariaten Modell erst ab 55 Jahren und bis 69 Jahre auf, danach sind keine signifikanten Unterschiede zur jüngsten Altersgruppe mehr feststellbar. Bei älteren Personen könnte somit eine gewisse Strafmilde eintreten, die in Zusammenhang mit anderen unbekannten Variablen stehen könnte. Die Ergebnisse stehen insofern im Kontrast beispielsweise zu den Befunden von Kury, welcher auch bei den 71- bis 80-Jährigen
Punitivität in Deutschland
147
punitivere Einstellungen feststellte.62 Der vorliegende Befund steht auch in gewissem Widerspruch zu der in der Literatur zu findenden These, dass gerade Personen mit dem ersten Kind punitivere Einstellungen vertreten könnten. Wenig überraschend ist der Befund, dass die Punitivitätswerte umso höher sind, je eher die Befragten an eine kriminalitätssenkende Wirkung gerade harter Strafen glauben und damit korrespondierende Strafzwecke präferiert werden. Namentlich ist die Punitivität bei den Befragten ausgeprägter, die statt der Resozialisierung die Abschreckung, die Verteidigung der Rechtsordnung und die Sicherung der Allgemeinheit als Strafzwecke bevorzugen. Personen mit einem stärker ausgeprägten Vertrauen in die Arbeit der Justiz weisen hingegen geringere Punitivitätswerte auf. Teilweise im Widerspruch zu anderen bisherigen Arbeiten stehen die Befunde, dass sich praktisch keine Geschlechterunterschiede zeigen, dass objektive wie subjektiv wahrgenommene Einkommenssituation keine signifikanten und bedeutenden Zusammenhänge erbringen und dass die politische Einstellung nur von schwachem Einfluss ist. Insgesamt zeigt dies, dass die Gruppe der besonders punitiv eingestellten Personen – wenn man sie wie hier als die Personen versteht, die für eine Vielzahl der Vignetten vergleichsweise schwere Sanktionen vorschlagen – nur wenige Besonderheiten aufweist, sondern vielmehr relativ gleichmäßig in der Gesellschaft verteilt ist. Umgekehrt lässt dies – zusammen mit dem Befund, dass die Gruppe der durchgehend punitiv agierenden Befragten recht klein ist – den Schluss zu, dass die Bürgerinnen und Bürger bei der Bewertung von Vignetten sehr genau hinschauen und zu differenzierten Bewertungen der geschilderten Fälle gelangen. Ebenso wie im Regressionsmodell von Kühnrich und Kania63 konnte mit 10,7 % nur ein geringer Teil der Gesamtvarianz erklärt werden, was auf verschiedene Umstände zurückgeführt werden kann. Einerseits ist denkbar, dass einflussreiche Variablen existieren, die bislang in der Forschung nicht oder zu wenig beachtet worden sind. Dies könnten zum Beispiel ein bestimmtes Wissen und Annahmen über das Justizsystem und dessen Praxis sein. So könnte etwa von Interesse sein, was die Befragten über Freiheitsstrafen und Gefängnisse wissen und welche Einstellungen sie dazu haben.64 Wie erste Auswertungen des zugehörigen qualitativen Teils im Projekt „Strafkulturen auf dem Kontinent“ zeigen, ist sich ein erheblicher Teil der Befragten durchaus der problematischen und ambivalenten Wirkung der Freiheitsentziehung im Strafvollzug bewusst und lässt dies auch bei der Sanktionsauswahl einfließen. Andererseits ist zu überlegen, ob wichtige Einflussfaktoren unter Umständen bislang nicht angemessen modelliert sind und daher zu Messproblemen führen, etwa bei der Kriminalitätsfurcht oder bei den Strafzwecken, bei denen Diskrepanzen zwischen dem rechtswissenschaftlichen Konzept und den Vorstellungen der Befragten bestehen dürften. 62
Kury (Fn. 4), S. 459 (471). Kühnrich/Kania (Fn. 32), S. 22, 43 f. 64 Sessar, MSchrKrim 2010, 361 (369 ff.). 63
148
Tobias Singelnstein und Julia Habermann
Zusammenfassend betrachtet zeigen die hiesigen Befunde, dass die Frage der Punitivität in Deutschland weiterer Forschung bedarf, die auch methodisch weiterentwickelt werden muss. Hier stellt sich insbesondere auch die Frage, wie Punitivität am besten abgebildet und messbar gemacht werden kann. So ließe sich Punitivität als abhängige Variable z. B. noch dahingehend verfeinern, dass zwischen Fällen mit und ohne Gewaltaspekten unterschieden wird. Andere Auswertungen mit dem vorliegenden Datensatz zeigen, dass Befragte zu schweren Sanktionen greifen, wenn die Tathandelnden bereits wegen eines Gewaltdelikts in Erscheinung getreten sind. Ebenso sind die subjektiven Sanktionsschwereeinschätzungen der Befragten stärker zu hinterfragen. Es ist also zu prüfen, ob diese überhaupt ein einheitliches Vorstellungsbild bezüglich der Schwere der auszuwählenden Sanktionen haben.
Der Blick zurück als Schritt nach vorn – Anmerkungen zur Geschichte der Aussagepsychologie Von Renate Volbert und Jonas Schemmel Ulrich Eisenberg hat sich in ganz besonderer Weise um die Integration von aussagepsychologischer Forschung in die juristische Literatur verdient gemacht. Die Festschrift zu Ehren des Jubilars soll daher zum Anlass genommen werden, einen Blick in die Geschichte der Aussagepsychologie und ihre Verbindung zu den Rechtswissenschaften zu werfen und zu schauen, welche Lehren sich heute daraus ziehen lassen. Die Entwicklung eines Faches wird retrospektiv gerne als eine Aneinanderreihung von neuen Erkenntnissen und Fortschritten rekonstruiert. Dies hat zumeist durchaus seine Berechtigung; auch in der Aussagepsychologie ist dies der Fall: In den bisherigen rund 120 Jahren ihres Bestehens hat sich die Aussagepsychologie nicht nur wissenschaftlich und methodisch etabliert, sondern auch einen Platz in deutschen Gerichtssälen erobert. Aussagepsychologische Erkenntnisse werden in juristischer Literatur rezipiert; die Arbeiten von Ulrich Eisenberg belegen das besonders ausdrücklich. Der Blick in die Vergangenheit zeigt aber auch, dass es keinen Grund gibt, sich zurückzulehnen. Der vorliegende Beitrag greift exemplarisch zwei Aspekte heraus, die aufzeigen, dass sich aus der Geschichte der Aussagepsychologie unmittelbare Lektionen für die aktuelle und künftige aussagepsychologische Forschung und Praxis ergeben könnten. Eine umfassende Darstellung der Entwicklung der Aussagepsychologie bleibt Wissenschaftshistorikern überlassen; ein Anspruch auf Vollständigkeit besteht explizit nicht.
I. Die frühe Aussagepsychologie als ein Gemeinschaftsprojekt der Rechts- und Psychowissenschaften Alfred Binet (1857 – 1911) und William Stern (1871 – 1938) können als Begründer der Aussagepsychologie betrachtet werden.1 Ersterer hatte sich in seinem im Jahr 1900 erschienenen Werk „La Suggestibilité“ dem verfälschenden Einfluss von Suggestivfragen auf Antworten von Grundschülern gewidmet, diesen experimentell untersucht und in einer Fußnote eine „science pratique du temoignage“2 (dt. etwa „An1 2
Sporer, Current Psychological Reviews 2 (1982), 323. Binet, La Suggestibilité, 1900, S. 285.
150
Renate Volbert und Jonas Schemmel
gewandte Aussagewissenschaft“) ins Auge gefasst. Wenige Jahre später entwarf er sogar die Vision einer psycho-juristischen Wissenschaft („la Science psycho-judiciaire“).3 Während Binet in Frankreich damit – zu seinem großen Bedauern – jedoch auf wenig Interesse stieß, entwickelte sich in Deutschland eine äußerst fruchtbare Kooperation von Psychologie und Rechtswissenschaften, sodass dort die junge Aussagepsychologie im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts Binets Idee der psycho-juristischen Wissenschaft zumindest zeitweise tatsächlich sehr nahekam. Eine Schlüsselrolle spielte dabei der Berliner Professor für Straf- und Völkerrecht Franz von Liszt (1851 – 1919), der gleich in mehrfacher Hinsicht der Aussagepsychologie den Boden bereitete. Angetrieben von dem Ziel, die Rechtswissenschaften in Deutschland stärker interdisziplinär auszurichten und für Erkenntnisse der empirischen Sozialwissenschaften zu öffnen, engagierte er Psychologen wie Sterns Schüler Otto Lipmann (1880 – 1933) als Dozenten, welche im Rahmen des juristischen Curriculums Einführungsvorlesungen zur Psychologie hielten. Besonders zu betonen ist das Engagement von Liszts für die empirische Forschung: Er arrangierte psychologische Experimente in seinen Seminaren, sog. „Wirklichkeitsversuche“4, bei denen die Studierenden als Versuchspersonen über einen Streit in der Vorlesung berichten mussten, der kurz zuvor inszeniert worden war. Solche Experimente dienten nicht nur dem pädagogischen Demonstrationszweck, sondern wurden auch empirisch ausgewertet und von Juristen veröffentlicht (mit dem aus heutiger Sicht wenig überraschenden Ergebnis, dass sich auch Erinnerungen von Jura-Studierenden als äußerst fehleranfällig erwiesen).5 Darüber hinaus ermöglichte von Liszt als Herausgeber der „Zeitschrift für die gesamte Strafwissenschaft“ dem Psychologen William Stern mit seinem Artikel „Zur Psychologie der Aussage: Experimentelle Untersuchungen über Erinnerungstreue“ im Jahr 1902 die deutsche Aussagepsychologie offiziell aus der Taufe zu heben.6 Stern selbst wiederum tat sein Möglichstes, um den interdisziplinären Austausch zwischen Psychologen und Juristen zu fördern: In der eigens gegründeten Zeitschrift „Beiträge zur Aussagepsychologie“7 veröffentlichten Juristen und Psychologen gleichermaßen; das neu gegründete Institut für Angewandte Psychologie in Berlin, das Stern gemeinsam mit Otto Lipmann seit 1907 führte, geriet zum Zentrum interdisziplinären Austauschs und experimental-psychologischer Forschung.8
3
Binet, L’année psychologique 11 (1904), 128 (136). Ähnliche Versuche können bereits bei dem österreichischen Rechtswissenschaftler Hans Gross (1847 – 1915) nachgelesen werden, siehe Gross, Kriminalpsychologie, 1898. 5 Für Details siehe z. B. Jaffa, Beiträge zur Psychologie der Aussage 1 (1903), 79. 6 Stern, Zeitschrift für die gesamte Strafwissenschaft 22 (1902), 315. 7 Stern, Beiträge zur Psychologie der Aussage, 1903 – 1906. 8 Für einen äußerst anschaulichen Überblick zu dieser Kooperation zwischen Juristen und Psychologen siehe Mülberger, History of Psychology 12 (2009), 60. 4
Der Blick zurück als Schritt nach vorn
151
Dass Juristen sich selbst aktiv an empirischer Forschung beteiligten, war allerdings auch die Folge einer Unzufriedenheit mit den experimentellen Untersuchungen der Psychologen. Deren Übertragbarkeit auf den Gerichtskontext wurde vor allem aus zweierlei Gründen hinterfragt: Zum einen wurden insbesondere Bildversuche zu Gedächtnisprozessen als zu weit entfernt von der forensischen Realität angesehen.9 Juristen präferierten daher generell die sog. Wirklichkeitsversuche, bei denen tatsächliche Ereignisse inszeniert wurden (s. o.). Zum anderen wurde kritisiert, dass psychologische Experimente zumeist lediglich Mittelwerte von Personen verschiedener Experimentalgruppen miteinander verglichen und nur Aussagen über generelle Wahrscheinlichkeiten träfen.10 Juristen fokussierten demgegenüber stärker auf den bei Gericht zu beurteilenden Einzelfall und legten besonderen Wert auf Untersuchungen zu individuellen Unterschieden im Hinblick auf die Aussagegüte.11 Es ist zu betonen, dass auch die von Juristen durchgeführten Versuche von bemerkenswertem psychologischem Gehalt waren und bis heute relevante Themen wie den Einfluss von Aufmerksamkeit oder Emotionalität auf Wahrnehmung und Gedächtnis behandelten.12 Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung forderte von Liszt 1908 sogar, dass kein Jurist im Strafrecht tätig sein solle, wenn er keine Grundausbildung in Psychologie genossen habe.13 Auch Stern hatte bereits 1905 formuliert: „Würde jeder zukünftige Richter, ehe er zum ersten Mal Zeugen vernimmt, auch nur ein einziges Mal einen solchen Einblick in das Funktionieren seiner eigenen Erinnerung erlebt haben, es wäre sicher von Einfluss auf die Art, wie er später Zeugenaussagen verlangt, erzielt und bewertet. Ein solcher Versuch müsste daher zum eisernen Bestand jedes kriminalistischen und prozessrechtlichen Seminars gehören.“14
Bald zeigte sich, dass die psychologisch-juristischen Kooperationen tatsächlich auch Auswirkungen auf die Praxis hatten: Bereits 1912, nur zehn Jahre nach Sterns Erstartikel zur Aussagepsychologie, wurde auf dem 31. Deutschen Juristentag in Wien nicht mehr über die Sinnhaftigkeit psychologischen Wissens per se diskutiert, sondern vor allem wie, wann und durch wen es an die Rechtswissenschaft vermittelt werden könnte (wobei zunächst keineswegs klar war, dass dies durch Psychologen geschehen solle).15
9
Sporer, Current Psychological Reviews 2 (1982), 323. Für eine äußerst polemische, aber fundierte Kritik siehe Wigmore, Illinois Law Review 3 (1909), 399. 11 Z. B. Gross, Archiv für Strafrecht und Strafprozess 49 (1903), 184, zitiert bei Sporer (Fn. 9). 12 Hierzu zusammenfassend Sporer (Fn. 9). 13 von Liszt, in: Lipmann, Grundriss der Psychologie für Juristen, 1908. 14 Stern, in: Stern, Beiträge zur Psychologie der Aussage 2 (1905), 121 (123 f.). 15 Hierzu z. B. Stern, Zeitschrift für angewandte Psychologie und Charakterkunde 7 (1912), 70; oder zusammenfassend Mülberger (Fn. 8). 10
152
Renate Volbert und Jonas Schemmel
Es soll allerdings nicht der Eindruck erweckt werden, dass die Aussagepsychologie die juristische Ausbildung und die Gerichtssäle Deutschlands im Sturm eroberte. Den Aussagepsychologen, welche wohl nicht zuletzt auch aus berufspolitischer Motivation16 in die Gerichtssäle drängten und schon früh Reformen der Justiz forderten,17 schlugen teils erhebliche Vorbehalte entgegen. Bis zur Etablierung aussagepsychologischer Sachverständiger in der Praxis sollten noch Jahrzehnte vergehen,18 zum Teil wurden auch durchaus heftige Kontroversen über die Rolle von psychologischen in Abgrenzung zu psychiatrischen Sachverständigen ausgetragen.19 Auch heute wird über die Rolle des aussagepsychologischen Sachverständigen gelegentlich debattiert.20 Dennoch ist insgesamt zu konstatieren, dass die Anfangszeit der Aussagepsychologie in hohem Maße von der Kooperation mit einigen Vertretern der Rechtswissenschaft profitierte. Womöglich wurde die Entstehung der Aussagepsychologie in Deutschland als Zweig der angewandten Psychologie durch die tatkräftige Mitwirkung angesehener Juristen überhaupt erst ermöglicht. Eine Zusammenarbeit zwischen Psychologen und Juristen im Bereich empirischer aussagepsychologischer Forschung ist im weiteren Verlauf aber weder institutionalisiert noch weiter ausgebaut worden. Dies ist mehr als bedauerlich, denn die damalige enge Kooperation brachte sehr schnell wichtige Erkenntnisse, die durch nachfolgende Forschung bestätigt wurden und daher heute noch Gültigkeit haben. Dies gilt für die Identifizierung von Fehlern in Zeugenaussagen, die auf normale gedächtnispsychologische Prozesse zurückgehen, vor allem aber für die Effekte von Befragungseinflüssen auf Aussageinhalte. Wie weiter oben beschrieben wurde, führte die interdisziplinäre Zusammenarbeit auch dazu, dass die Frage der Bedeutung von Forschungsergebnissen für die Einzelfallentscheidung von juristischer Seite sehr stark betont wurde. Diese Auseinandersetzung hat an Aktualität nichts verloren. Zwar ist die Aussagepsychologie heute um viele Erkenntnisse und Fachartikel reicher als vor 120 Jahren: Der inhaltsanalytische Ansatz zur Unterscheidung zwischen wahren und erfundenen Aussagen gilt mittler-
16
Mülberger (Fn. 8). Stern, Beiträge zur Psychologie der Aussage 2 (1905), 73; Lipmann, Archiv für Kriminologie 20 (1905). 18 Vgl. hierzu Undeutsch, in: Undeutsch, Forensische Psychologie. Handbuch der Psychologie, Bd. 11, 1967, S. 26. 19 Zur berufspolitischen Auseinandersetzung zwischen Psychiatern und Psychologen um die legitime Rolle des Sachverständigen in Gerichtsprozessen ist zu empfehlen: Wolffram, History of Psychology 18 (2015), 337. 20 Siehe z. B. Fischer, NStZ 1994, 1 ff.; Fischer, in: Schöch/Satzger/Schäfer/Ignor/Knauer, Festschrift für Gunter Widmaier zum 70. Geburtstag, 2008, S. 191; Barton, in: Barton/Dubelaar/Kölbel/Lindemann, „Vom hochgemuten, voreiligen Griff nach der Wahrheit“: Fehlurteile im Strafprozess, 2018. 17
Der Blick zurück als Schritt nach vorn
153
weile als empirisch belegt,21 zu suggestiven Effekten liegt eine beachtliche empirische Basis vor,22 mögliche Fehler bei Identifizierungen von Tätern sind umfangreich erforscht worden23 etc. Nach wie vor beziehen sich die allermeisten Studien aber ausschließlich auf Unterschiede zwischen experimentellen Bedingungen. Die Versuchsanordnungen haben zudem oft nur wenig Ähnlichkeit mit Bedingungen, mit denen sich Zeugen in Strafverfahren konfrontiert sehen. Dies hat meist gute Gründe: Psychologische Prozesse werden üblicherweise möglichst frei von denkbaren Störeinflüssen im Labor betrachtet sowie in einer Form erhoben, die eine möglichst rasche und objektive Auswertung ermöglicht. Im Ergebnis werden Probanden daher oft recht einfache Erinnerungs- oder auch Täuschungsaufgaben gestellt und Personen, die die Antworten einschätzen sollen, müssen dies nur auf Basis der Aussage selbst tun und erhalten keine Informationen zu den aussagenden Personen, ihren möglichen Motiven oder dem gesamten Aussagekontext.24 Arbeiten, die sich mit individuellen Unterschieden im Hinblick auf Aussageleistungen oder damit beschäftigen, welche Bedeutung die Erkenntnisse aus Gruppenvergleichen für Entscheidungen im Einzelfall haben, sind demgegenüber selten. Auch wenn der Nutzen von Laborforschung, die eine systematische Untersuchung von spezifischen Variablen ermöglicht, auch für eine angewandte Aussagepsychologie keineswegs in Frage gestellt werden soll, darf der Anwendungsbezug nicht aus den Augen verloren werden. Zuweilen werden wohl gerade diejenigen psychologischen Einflussvariablen, die im Feld eine Rolle spielen, durch die beschriebene aktuell vorherrschende Vorgehensweise in der empirischen aussagepsychologischen Forschung vernachlässigt. Feldstudien, welche eine wichtige Ergänzung darstellen würden, sind aktuell sehr selten. Insofern muss festgehalten werden, dass in der Aussagepsychologie zwischen der akademischen Forschung und der forensischen Anwendung eine gewisse Lücke klafft, so dass die Forderungen von Sterns juristischen Zeitgenossen weiterhin aktuell sind. Bei einer eher interdisziplinär ausgerichteten Forschung würde die Beurteilung des Einzelfalls vermutlich stärker Berücksichtigung finden. Auch umgekehrt würde vermutlich deutlicher werden, dass forensischen Praktikern – und das gilt für Juristen wie für aussagepsychologische Sachverständige – eine angemessene Beurteilung von Zeugenaussagen ohne profunde gedächtnispsychologische Kenntnisse kaum angemessen gelingen kann.25 Denn leider wurde auch der damaligen Forderung, für die Beurteilung der Zeugenaussage relevante aussagepsychologische Erkenntnisse zu einem integralen Bestandteil juristischer Ausbildung zu machen, wie sie u. a. schon von Stern (1905) und 21
Oberlader/Naefgen/Koppehele-Gossel/Quinten/Banse/Schmidt, Law and Human Behavior 40 (2016), 440 ff. 22 Andrews/Brewin, Applied Cognitive Psychology 31 (2017), 2; vgl. auch Scoboria/Wade/ Lindsay/Azad/Strange/Ost/Hyman, Memory 25 (2017), 146. 23 Sporer/Malpass/Köhnken, Psychological Issues in Eyewitness Identification, 2014. 24 Vgl. z. B. Levine, Journal of Language and Social Psychology 33 (2014), 378. 25 Vgl. Rohmann, Praxis der Rechtspsychologie 27 (2018).
154
Renate Volbert und Jonas Schemmel
von von Liszt (1908) erhoben wurde, im Grunde nie nachgekommen. Zwar gibt es aussagepsychologische Fortbildungen an der Deutschen Richterakademie und Initiativen wie der interdisziplinäre Arbeitskreis „Psychologie im Strafverfahren“26. Nicht zuletzt hat auch Ulrich Eisenberg auf der Basis seiner umfangreichen Beschäftigung mit jeweils aktueller aussagepsychologischer Forschung in hervorragender Weise dazu beigetragen, dass vorhandene Erkenntnisse Eingang in die juristische Literatur gefunden haben. Das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass aussagepsychologische Inhalte nicht in systematischer Weise in die Ausbildung derjenigen integriert ist, die Aussagen zu bewerten haben. Vielmehr wird diese Forderung seit mehr als 100 Jahren in schöner Regelmäßigkeit erhoben, ohne dass diesbezüglich eine Entwicklung zu erkennen ist. So heißt es beispielsweise mehr als 75 Jahre nach der von Stern geäußerten Forderung im Vorwort zur ersten Auflage bei Bender und Nack im Jahr 1981: „Die Klagen über die Unzuverlässigkeit des Zeugenbeweises wollen kein Ende nehmen […] und doch hat dieser mangelhafte Zeugenbeweis seine überragende Bedeutung für das Gerichtsverfahren nahezu unangefochten behalten […]. Verbessern aber ließe sich die Treffsicherheit der Beurteilung von Zeugenaussagen, wenn die Wissenschaft von der Aussagepsychologie energischer vorangetrieben würde, wenn die Juristen schon auf der Universität mit der Aussageforschung vertraut gemacht und ihr hier gewonnenes Wissen durch wissenschaftliche Ausbildungs- und Fortbildungskurse vertieft würde.“27
In der zweiten Auflage heißt es weitere 14 Jahre später: „Die Glaubwürdigkeit- und Beweislehre ist seit dem Erscheinen der ersten Auflage für die gerichtliche Praxis sehr viel wichtiger geworden, weil die höchstrichterliche Rechtsprechung an die Beweiswürdigung der Instanzgerichte erhöhte Anforderungen stellt […] umso verwunderlicher ist es, dass die Justizministerien der Länder der Ausbildung der angehenden Juristen im Fach ,forensische Aussagepsychologie‘ noch immer kaum Beachtung schenken.“28
Mangelndes Wissen von forensischen Praktikern über gedächtnispsychologische Prozesse kann aber zu falschen Beurteilungen von Aussagen und in der Folge zu Fehlurteilen führen.29 Der regelmäßig geäußerte Hinweis, dass es „ureigenste Aufgabe“ des Tatrichters sei, den Wahrheitsgehalt von Zeugenaussagen zu bewerten, beinhaltet zunächst nur ein formales Argument und beantwortet noch nicht die Frage, welche Sachkunde der Tatrichter dafür inhaltlich besitzen sollte. In den Fällen, in denen außer der belastenden Aussage keine anderen Beweise vorliegen und die Aussage nicht durch den Abgleich mit anderen Erkenntnissen geprüft werden kann und 26 Deckers/Köhnken, Die Erhebung und Bewertung von Zeugenaussagen im Strafprozess, 2. Aufl. 2014. 27 Bender/Nack, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Band 1: Glaubwürdigkeits- und Beweislehre, 1981. 28 Bender/Nack, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Band 1: Glaubwürdigkeits- und Beweislehre, 2. Aufl. 1995. 29 Z. B. Howe/Knott/Conway, Memory and Miscarriages of Justice, 2018.
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daher in sich bewertet werden muss, wird eine angemessene Beurteilung kaum ohne Rückgriff auf psychologische Konstrukte (Erinnerung, Täuschung etc.) geschehen können. Eine Etablierung einer interdisziplinären psychologisch-juristischen Forschung, wie sie sich zu Beginn des letzten Jahrhunderts in Deutschland bereits abgezeichnet hat, könnte nicht nur in der Forschung neue Impulse setzen, sondern möglicherweise auch dazu führen, die nunmehr seit mehr als einem Jahrhundert angemahnte Einbeziehung aussagepsychologischer Erkenntnisse zum Zeugenbeweis in die juristische Ausbildung tatsächlich zu realisieren.
II. Die Aussagepsychologie als Kind ihrer jeweiligen Zeit – Einseitige Beurteilungen, konzeptionelle Unklarheiten und ein großer Durchbruch Die Aussagepsychologie konzentrierte sich in ihrer Anfangszeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts darauf, die unabsichtliche Fehlbarkeit von Erinnerungen empirisch zu untersuchen. Der Hauptgegenstand der frühesten Untersuchungen war somit die Aussagegenauigkeit beim Vorliegen eines tatsächlichen Erlebnishintergrunds. Dabei wurden Versuchspersonen z. B. in den bereits erwähnten Bildversuchen Zeichnungen vorgelegt, deren Details sie im Anschluss abrufen sollten. Dabei stellte sich heraus, dass Kinder, aber auch (geistig gesunde) Erwachsene viele Einzelheiten nicht oder falsch erinnerten, wobei sie sich ihrer Erinnerung dennoch so sicher waren, dass sie wie vor Gericht bereit gewesen wären, darauf zu schwören. Die wesentliche Botschaft dieser ersten Befunde fasste Stern selbst pointiert zusammen: „Die fehlerlose Erinnerung ist nicht die Regel, sondern die Ausnahme.“30 Laut Stern bestand die erste Leistung der Aussagepsychologie in der „Erschütterung der Vertrauensseligkeit, die den Zeugenbeweisen bisher entgegengebracht“ worden sei.31 Diese Erkenntnisse brachten in der Folge aber nicht den gesamten Zeugenbeweis ins Wanken, sondern führten vor allem zu einer äußerst kritischen Betrachtung der Aussagen von Kindern und Jugendlichen. Elisabeth Nau (1900 – 1976) schilderte in einem gemeinsamen Vortrag mit Victor Müller-Heß (1883 – 1960) im Jahr 1930, dass Kinder aufgrund „einseitiger und übertriebener Bewertung psychologischer Experimente und Verallgemeinerungen gewisser Bedenken gegen die Wahrheitstreue der Zeugenaussagen“ prinzipiell als höchst unglaubwürdig angesehen würden und warnte vor Verunsicherung im Gerichtssaal, da laut Nau „nur wenige Richter es noch wagen, lediglich auf Aussagen eines Jugendlichen hin einen Beschuldigten zu bestrafen.“32 In Übereinstimmung damit resümierte der berühmte
30
Stern, Zeitschrift für die gesamte Strafwissenschaft 22 (1902), 315 (327). Stern, Beiträge zur Psychologie der Aussage 1 (1903), 46. 32 Müller-Hess/Nau, Jahreskurse für ärztliche Fortbildung 21 (1930), 1 (37), abgedruckt bei Undeutsch (Fn. 18). 31
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Strafverteidiger Max Alsberg (1877 – 1933) im Jahr 1931 tatsächlich: „Nur ein kleiner Teil von kindlichen Zeugen sagt die Wahrheit.“33 Neben dem Alter wurde als mindestens ebenso wichtige Variable offensichtlich das Geschlecht betrachtet: So machte der österreichische Philosoph Otto Weininger (1880 – 1903) in „Geschlecht und Charakter“, das nach der Erstveröffentlichung im Jahr 1903 innerhalb eines Jahrzehnts immerhin in zehn Auflagen erschien, Ausführungen über die „ontologische Verlogenheit des Weibes“ die „immer und durchaus sexuell“ sei.34 Der Psychiater Paul Julius Möbius (1853 – 1907) sprach in seinem 1900 erstmals erschienenen Werk „Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes“ Frauen schlicht die nötige Verstandeskraft für eine zuverlässige Zeugenaussage ab, insbesondere bei Schwangerschaft oder Menstruation.35 Selbst diejenigen, die die generelle Skepsis gegenüber Aussagen von Kindern in Frage stellten wie der Kriminologe Hans Groß, der 1889 ausführte, dass „Verstellung, berechnende Bosheit, tendenziöser Eigennutz und absichtliche Lüge bei Kindern unvergleichlich viel seltener […] als bei Erwachsenen“ sei und Kinder deswegen gute Zeugen seien, ergänzte, das gelte allerdings nur „mit Ausnahme der eben mannbar werdenden Mädchen.“ An anderer Stelle führte er entsprechend aus: „der der ersten Kindheit entwachsene Knabe, sofern er gut geartet ist, [ist] überhaupt der beste Beobachter und Zeuge, den es gibt, […] während das gleichaltrige Mädchen oft eine unzuverlässige, mitunter gefährliche Zeugin abgibt.“36 Auch bei Stern selbst finden sich Äußerungen in diese Richtung: „Für viele junge Menschen werden sexuelle Vorstellungen und Phantasiebilder zeitweilig geradezu überwertig. […] Die Phantasien werden allzu leicht objektiviert. […] es wird das sehnsüchtige Wunschgebilde eines Tagtraums oder Nachttraums allmählich in die Form einer Erinnerung an ein reales Erlebnis gepresst; bald kann ein hysterisches Sichselbstvormachen oder auch bewusste Lügenhaftigkeit aus Eitelkeit, Sensationslust, Rachsucht, Eifersucht vorliegen. […] Auch bei Knaben können natürlich – obschon in geringerem Umfang – solche und verwandte Motive zur unrichtigen Beschuldigung […] führen.“37 Diese negative Haltung hatte durchaus praktische Auswirkungen: Undeutsch kam nach einer Durchsicht der ersten veröffentlichten Gutachten zu dem Schluss, dass die übergroße Mehrheit der Sachverständigenurteile zuungunsten des Zeugen ausfielen.38 Es stellt sich allerdings die Frage, in welchem Verhältnis die referierten Aussagen eigentlich zu den empirischen Erkenntnissen der ersten Phase der Aussagepsy33
Zitiert bei Undeutsch (Fn. 18). Zitiert bei Undeutsch (Fn. 18), S. 33. 35 Das Werk wird noch heute verlegt: Möbius, Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes, 2000. 36 Zitiert bei Undeutsch (Fn. 18), S. 28. 37 Stern, Jugendliche Zeugen in Sittlichkeitsprozessen, 1926, S. 27 f. 38 Undeutsch (Fn. 18). 34
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chologie standen. Die frühe Aussagepsychologie hatte vorgetragen, dass von Zeugen keine perfekten Erinnerungen zu erwarten sind und auf die Relevanz der Art der Befragung v. a. bei jüngeren Zeugen hingewiesen. In den referierten Zitaten geht es aber nicht um Erinnerungsfehler in prinzipiell erlebnisbasierten Angaben, sondern um die Frage, ob ein behauptetes Ereignis überhaupt geschehen ist, also um die Frage nach der Glaubhaftigkeit einer Aussage. Diese Frage stellt sich – damals wie heute – besonders bei Konstellationen, bei denen keine anderen Beweise außer einer belastenden Aussage vorliegen, was bei Sexualdelikten zum Nachteil von Kindern besonders häufig der Fall ist. Das mag erklären, dass über die Aussagen dieser Zeugengruppe besonders heftig debattiert wurde. Da die frühe aussagepsychologische Forschung sich aber weder damit beschäftigt hatte, welche Bereitschaft Kinder – und insbesondere Mädchen – zu absichtlich falschen Aussagen bei Sexualdelikten aufweisen noch wie sich ggf. wahre und erfundene Angaben voneinander unterscheiden lassen, waren aus den damaligen aussagepsychologischen Studien eigentlich kaum Antworten auf die aufgeworfenen Fragen abzuleiten. In Übereinstimmung mit seinen Forschungsfragestellungen hatte Stern zunächst eigentlich auch ausgeführt, dass die Aufgabe des Psychologen nur darin bestehen könne, die „Möglichkeiten von Aussageirrtümern aufzuzeigen und ihre Wahrscheinlichkeit abzuwägen“39, modifizierte diese Position 1930 aber dahingehend, dass „der Psychologe mit gleicher Genauigkeit auf diejenigen Eigenschaften des Zeugen achten [müsse], die zugunsten seiner Glaubwürdigkeit“ sprächen.40 Lipmann führte 1925 aus: „Die Frage, ob ein Zeuge überhaupt willens ist, seiner Zeugnispflicht „nach bestem Wissen und Gewissen“ zu genügen; die Frage haben wir bei der Erörterung der Zeugnisfähigkeit […] als bejaht vorausgesetzt. Das Urteil über die Glaubwürdigkeit muß dem Richter überlassen bleiben, da dies nicht mehr eine Frage der psychologischen Wissenschaft, sondern der Menschenkenntnis ist.“41 Im Jahr 1933 schrieb er dagegen: „Es handelt sich für den Sachverständigen letzten Endes nur um die Begutachtung der Glaubwürdigkeit einer Aussage, […] die Zeugnisfähigkeit der Person des Zeugen […] ist nur Material – für die Begutachtung einer Aussage; denn kein Mensch irrt sich oder lügt immer, und jeder Mensch irrt sich oder lügt manchmal und es handelt sich ja nur darum, ob er im vorliegenden Falle geirrt oder gelogen hat.“42 Insgesamt wird eine konzeptuelle Unschärfe im Hinblick auf die Begriffe „Zeugnisfähigkeit“, vor allem aber „Glaubwürdigkeit“ deutlich: So wurde Aussagegenauigkeit offenbar teilweise mit Aussagetüchtigkeit gleichgesetzt und übersehen, dass eine fehlerfreie und erschöpfende Aussage nicht zwingend notwendig ist, um einen Sachverhalt prinzipiell angemessen darzustellen. Zudem entsteht der Eindruck, dass die Aussagepsychologie sich angesichts eines Mangels an klaren Kon39
Stern (Fn. 37). Stern, Deutsche Medizinische Wochenschrift 35 (1930), 1467 (1468 f.). 41 Lipmann, Grundriss der Psychologie für Juristen, 1925, S. 115. 42 Zitiert bei Undeutsch (Fn. 18), S. 1041. 40
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zeptionen anfällig für pauschalisierende Glaubwürdigkeitsattributionen bestimmter Zeugengruppen zeigte, welche merklich vom Zeitgeist geprägt waren und vor allem zulasten junger weiblicher Zeuginnen ging. Eine besondere Betonung fanden dabei (sexuelle) Nöte und Probleme im Jugendalter. Nach dem zweiten Weltkrieg etablierte sich die Tätigkeit aussagepsychologischer Sachverständiger in deutschen Gerichtssälen zunehmend. Im Jahr 1954 stellte der Bundesgerichtshof fest, dass einem Sachverständigen aufgrund der Exploration außerhalb des Gerichtssaals „überlegene Erkenntnismittel“ zur Verfügung stünden.43 Im Vorfeld dieser Entscheidung war Udo Undeutsch (1917 – 2013), der die Aussagepsychologie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts maßgeblich prägte, als Sachverständiger angehört worden. Sein Buchkapitel „Zur Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Aussagen“ aus dem Jahr 1967 zählt zu den klassischen Werken der Aussagepsychologie.44 Einhergehend mit der zunehmenden Tätigkeit psychologischer Sachverständiger bei Gericht bildeten nun Fallstudien und persönliche Erfahrungen die wesentliche Grundlage für die aussagepsychologischen Schlussfolgerungen. Die pessimistische Grundausrichtung der frühen Aussagepsychologie wurde dabei überwunden. Dies geschah zugunsten einer neuen Haltung der Aussagepsychologen, welche von einer Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen von Kindern in den allermeisten Fällen ausgingen. So heißt es bei Undeutsch: „Der sehr viel intensivere Kontakt mit der Realität ließ die psychologischen Sachverständigen nach dem 2. Weltkrieg sehr bald erkennen, dass die Aussagen minderjähriger Zeugen über an ihnen verübte Unzuchtshandlungen in der ganz überwiegenden Mehrzahl der Fälle der Wahrheit entsprechen.“45 Er begründete das u. a. damit, dass Kinder sich schon bei tatsächlichen sexuellen Missbrauchserlebnissen sträubten, diese offenzulegen, weswegen sie erst recht keine Veranlassung sehen dürften, lediglich phantasierte Vorstellungen zu berichten. Es müssten sehr extreme Normabweichungen in der Persönlichkeit oder ganz besondere Motivlagen vorliegen, damit es zu einer unwahren Aussage auf diesem Gebiet komme. Wie kam es zu dieser Wende? Undeutsch und seine aussagepsychologischen Zeitgenossen machten deutlich, dass jugendliche und kindliche Zeugen nicht qua Entwicklungsstand aussageuntüchtig sind (wofür es auch zuvor eigentlich keine Befunde gegeben hatte). Außerdem standen nicht mehr Aussageirrtümer im Vordergrund, sondern die Unterscheidung zwischen wahren und nicht erlebnisbasierten Aussagen, welche mit Hilfe einer inhaltlichen Analyse derselben vorgenommen wurde. Diese aussagepsychologische Phase stand im Zeichen der Entwicklung systematischer inhaltlicher Glaubhaftigkeitskriterien; das inhaltsanalytische Vorgehen wurde allerdings noch nicht empirisch überprüft. Für das postulierte überwiegende Zutreffen von Angaben über sexuelle Übergriffe wurden teilweise – ohne Bezug auf empirische Befunde – allgemeine Überlegungen herangezogen, wie das zuletzt referierte Zitat 43
BGHSt 7, 82. Undeutsch (Fn. 18). 45 Undeutsch (Fn. 18), S. 45. 44
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von Undeutsch verdeutlicht. Undeutsch argumentierte ferner, dass der Großteil der Begutachtungen zu einem positiven Ergebnis gekommen sei, was angesichts eines fehlenden unabhängigen Außenkriteriums aber noch nicht als Beleg für die Behauptung gelten kann, dass der Großteil der Aussagen erlebnisbasiert war. Die Möglichkeit einer suggestiven Aussageentwicklung wurde ebenfalls relativ pauschal zurückgewiesen. Undeutsch führte aus, dass jüngere Kinder zwar besonders suggestibel seien, dass dies aber gerade für sexuelle Vorkommnisse nicht gelte, da „einerseits ihre eigenen Neigungen noch nicht in diese Richtung gehen und andererseits in den Augen des Kindes der Bereich des Sexuellen mit drastischen Verboten umgeben ist.“46 Insgesamt entsteht somit der Eindruck, dass die Nachfolger von Stern und Kollegen die grundsätzlich negative Haltung ihrer Vorgänger zu Recht korrigierten, dabei aber zu weit in die andere Richtung tendierten: Der unkritischen Generalisierung von Laborstudien zum Nachteil von Zeugenaussagen folgte eine unkritische Generalisierung subjektiver Erfahrungen im Gerichtssaal. Vor allem ist aber festzuhalten, dass sich ein gewisses Paradox zeigt, wenn man das Verhältnis zwischen Forschung und forensischer Praxis betrachtet: Während in der ersten aussagepsychologischen Phase generelle Skepsis bestand, ob Aussagen minderjähriger Zeugen überhaupt auf tatsächlichem Erleben basierte, konzentrierte sich die Forschung auf die Identifizierung von Aussageirrtümern in prinzipiell erlebnisbasierten Darstellungen; eine Beauftragung von aussagepsychologischen Sachverständigen geschah selten. In einer Phase, in der davon ausgegangen wurde, dass die Aussagen minderjähriger Zeugen – von wenigen Ausnahmen abgesehen – ohnehin wahr seien, beschäftigte sich die Aussagepsychologie mit der Entwicklung von Kriterien zur Unterscheidung zwischen wahren und erfundenen Aussagen und es kam zu einer raschen Zunahme der Beauftragung aussagepsychologischer Sachverständiger. In den letzten 30 Jahren hat sich die Aussagepsychologie empirisch und konzeptuell erheblich weiterentwickelt und stärkeren Anschluss an internationale Forschung gefunden. Nicht zuletzt hatte das mit neuen Herausforderungen zu tun. Das Problem der Suggestion hatte sich in den 1990er Jahren u. a. in Gestalt des Montessori- und der Wormser Prozesse47 in den deutschen Gerichtssälen gezeigt. Vor dem Hintergrund einer veränderten gesellschaftlichen Diskussion über sexuellen Missbrauch wurden verstärkt Bemühungen unternommen, sexuellen Missbrauch „aufzudecken“, wobei sich viele dieser „Aufdeckungsstrategien“ als suggestiv erwiesen und bei wiederholten Befragungen zuweilen auch zu Überzeugungen und Aussagen über Erlebnisse führten, die objektiv nicht stattgefunden haben konnten. Vergleichbare Aktivitäten hatte es bis dahin nicht gegeben. Es ist wohl nicht zuletzt der langen aussagepsychologischen Tradition in Deutschland geschuldet, dass vergleichsweise 46 47
Undeutsch (Fn. 18), S. 70. Steller, Recht & Psychiatrie 16 (1998), 11.
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schnell auf diese neue Problematik reagiert werden48 und mit dem grundlegenden und bahnbrechenden BGH-Urteil von 199949 sogar eine erhebliche Professionalisierung der Glaubhaftigkeitsbegutachtung erfolgen konnte. Dort wurde ein einheitliches methodisches Vorgehen vorgeschrieben, das auf dem wissenschaftlichen Prinzip des Hypothesentestens basiert. Dabei wurde sowohl Sterns als auch Undeutschs wesentliche Leistungen berücksichtigt und sowohl die Suggestion als auch die Falschbezichtigung als hauptsächliche Gegenannahmen zur Wahrannahme aufgenommen: Die mittlerweile als Undeutsch-Hypothese50 bekannte Annahme eines qualitativen Unterschieds zwischen wahren und erfundenen Aussagen wurde zudem ab den 1990er Jahren breit empirisch überprüft und bestätigt.51 Die merkmalsorientierte Inhaltsanalyse, von Undeutsch und anderen verdienstvollen Aussagepsychologen (Trankell, Szewczyk, Arntzen, Steller, Köhnken) wesentlich vorangetrieben, gilt folglich als Mittel der Wahl für die Prüfung der Lügenhypothese, während in der Tradition Sterns erkannt und berücksichtigt wurde, dass suggestive Prozesse zu Eindrücken führen können, die Erinnerungen sehr ähnlich sind, sodass die Inhaltsanalyse bei Vorliegen von gravierenden suggestiven Bedingungen nicht zu einer Falsifikation der Gegenannahme führen kann. Merkmale, mit denen sich wahre Aussagen von solchen Aussagen unterscheiden lassen, die auf der Basis einer suggestiv erzeugten Scheinerinnerung entstanden sind, existieren nicht. Durch die Rekonstruktion der Aussagegeschichte und -entwicklung kann aber geprüft werden, ob die Aussage potenziell durch suggestive Bedingungen entstanden sein kann.52 Dennoch besteht auch aktuell keine vollständige Kongruenz zwischen aussagepsychologischer Forschung und forensischer Praxis. Wie sich aus dem bisher Referierten ergibt, ist die aussagepsychologische Methodik vor allem darauf ausgerichtet, suggestive Einflüsse zu identifizieren und zu prüfen, ob es sich um eine erfundene Aussage handeln könnte. Eine Betrachtung der Fälle, in denen die Rechtsprechung eine Begutachtung fordert, ergibt neben Besonderheiten in dem zur Aburteilung stehenden Sachverhalt (z. B. Aussage im Rahmen eines Sorgerechtsstreits) jedoch vor allem eine Häufung von psychopathologischen Besonderheiten des Zeugen, z. B. Persönlichkeitsstörungen, Drogenabhängigkeit, Psychose, intellektuelle Behinderungen, gravierende Entwicklungsverzögerungen, Verhaltensauffälligkeiten.53 Dieser Eindruck wird unterstrichen, wenn man Ausführungen des BGH zur Wahl des 48
Steller/Volbert, Praxis der Rechtspsychologie 9 (1999), 46. BGHSt 45, 164. 50 Steller, in: Yuille, Credibility Assessment, 1989, S. 135. 51 Amado/Arce/Fariña, The European Journal of Psychology Applied to Legal Context 7 (2015), 3; Amado/Arce/Fariña/Vilariño, International Journal of Clinical and Health Psychology 16 (2016), 201; Oberlader/Naefgen/Koppehele-Gossel/Quinten/Banse/Schmidt, Law and Human Behavior 40 (2016), 440. 52 Volbert, Praxis der Rechtspsychologie 2018. 53 Pfister, in: Deckers/Köhnken, Die Erhebung und Bewertung von Zeugenaussagen im Strafprozess, 2. Aufl. 2014, S. 99. 49
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Gutachters mitberücksichtigt.54 Demnach ist die Beauftragung eines Psychologen geboten, wenn normalpsychologische Wahrnehmungs-, Gedächtnis- und Denkprozesse in Rede stehen, wobei der Fall einer intellektuellen Minderbegabung mit eingeschlossen sei. Der besonderen Sachkunde des Psychiaters bedürfe es dann, wenn die Zeugentüchtigkeit dadurch psychopathologische Ursachen beeinträchtigt sein könne. D. h. es geht bei diesen Fragestellungen wiederum primär um Wahrnehmungs- und Erinnerungsfehler. Mit ein wenig gutem Willen lässt sich darunter vielleicht auch die Ausbildung von Scheinerinnerungen fassen. Eine Differenzierung zwischen wahren und erfundenen Aussagen mittels psychologischer Kriterien, die auch nach der Entscheidung des 1. Strafsenats vom 30. Juli 1999 eine zentrale Fragestellung in der Glaubhaftigkeitsbegutachtung darstellt,55 ist dagegen gar nicht adressiert. Die Argumentation hebt somit stärker auf eine klinische als auf eine aussagepsychologische Kompetenz ab. Aus einer klinischen Beurteilung lässt sich aber in aller Regel sehr wenig darüber ableiten, ob eine spezifische Aussage auf tatsächlichem Erleben basiert oder nicht, denn nur bei einer sehr kleinen Anzahl von Zeugen sind die Fähigkeiten, angemessen Ereignisse wahrzunehmen, zu speichern oder zu reproduzieren, generell beeinträchtigt. Das Vorhandensein von Aussagetüchtigkeit sagt umgekehrt aber nichts über den Erlebnisbezug einer Aussage aus. Personen mit psychopathologischen Auffälligkeiten können zwar prinzipiell aussagetüchtig, aber beispielsweise in Abhängigkeit vom Störungsbild besonders vulnerabel für suggestive Einflüsse sein oder bestimmte Situationen in spezifischer Weise wahrnehmen oder interpretieren. Die neuerliche Diskrepanz zwischen forensischen Fragestellungen, die sich vor allem auf klinisch-pathologische Konstellationen beziehen, und der akademischen Forschung sollte allerdings auch als Aufforderung an die Aussagepsychologie verstanden werden, den Einfluss von psychopathologischen Besonderheiten auf die Produktion von erlebnisbasierten und erfundenen Aussagen sowie auf die Entwicklung von Scheinerinnerungen stärker zu beachten.
III. Der Blick zurück als Schritt nach vorn – Fazit und Ausblick Im Vergleich zur zwischenzeitlich ausgesprochen optimistischen Phase ist die Aussagepsychologie durch die Berücksichtigung suggestiver Prozesse wieder kritischer in Bezug auf die Einschätzung der Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen geworden. Ob der methodische Ansatz, verschiedene Gegenhypothesen systematisch zu prüfen, die in der Vergangenheit beobachtete Einseitigkeit dauerhaft verhindern kann, muss von nachfolgenden Generationen beurteilt werden. Aus der Geschichte der Aussagepsychologie lassen sich aber heute bereits Lehren ziehen: 54 55
BGHSt, NStZ 2002, 490. BGHSt 45, 164.
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So verdeutlicht der Blick in die Geschichte, dass zu wechselnden gesellschaftlichen Trends und Meinungen, es werde zu viel bzw. zu wenig verurteilt, eine kritische Distanz zu wahren ist. Dennoch darf auch der soziale Kontext nicht aus dem Auge verloren werden. Gesellschaftliche Trends und der Umgang mit Sexualdelikten können nicht nur die Beurteilung einer Aussage beeinflussen, sondern vermutlich ebenso auch das Berichten bzw. Verschweigen von tatsächlichen sexuellen Übergriffen und das Auftreten von falschen Aussagen und Scheinerinnerungen. Die nachgezeichnete Neigung zur Pauschalisierung in die eine oder andere Richtung resultierte vermutlich auch aus einer bis an die letzte Jahrhundertwende heranreichenden unausgewogenen empirischen Basis: Während zunächst vor allem Laborexperimente die Grundlage bildeten, welche nicht ohne weiteres auf die forensische Praxis übertragen werden können, wurden später vor allem Kasuistiken und Praxiserfahrungen zurate gezogen, was die Gefahr begünstigte, das eigene Vorgehen zirkelschlüssig zu bestätigen. Die Aussagepsychologie sollte sich der Erkenntnisse beider Herangehensweisen in Ergänzung bedienen und sich deren unterschiedlicher Grenzen und Nutzen bewusst sein. Diese Forderung ist nicht neu, hat aber bis heute nichts an Aktualität verloren.56 Ergebnisse experimenteller Studien sind mit großer Sorgfalt auf einzelne Begutachtungsfälle anzuwenden: Jede Begutachtung ist strikt als Einzelfall zu betrachten! Konstrukte müssen stets klar definiert sein: Manche Missverständnisse in der Vergangenheit resultierten offenbar teilweise aus diesbezüglichen Unschärfen. Dieses Problem ist bis heute nicht vollständig überwunden, wie die vor allem klinisch und auf Aussagetüchtigkeit orientierten Anlässe demonstrieren, die regelmäßig von rechtlicher Seite für die Beauftragung von Glaubhaftigkeitsgutachten genannt werden. Gleichzeitig sollte die Aussagepsychologie auf solche Bedürfnisse der Praxis reagieren und Forschungsbemühungen in diese Richtung intensivieren. Bei der Lösung der genannten Probleme kann eine intensivere juristisch-psychologische Kooperation im Bereich aussagepsychologischer Forschung nur hilfreich sein, für die vor mehr als 100 Jahren bereits der Grundstein gelegt wurde.
56
Vgl. Steller, Forensia 9 (1988), 23.
Blutrache – ein interdisziplinärer Forschungsgegenstand Von Klaus Wasserburg Ulrich Eisenbergs umfangreiches Schriftenverzeichnis lässt seine große Nähe zu den Forschungsgebieten von Karl Peters erkennen. Beide herausragenden Strafrechtslehrer haben sich mit dem Jugendstrafrecht, der Kriminologie, dem Beweisrecht und mit dem Strafvollzug befasst. Zu diesen Gebieten haben sie grundlegende kritische Forschungsergebnisse veröffentlicht, die den Kern des Strafrechts betreffen und in der Strafrechtswissenschaft immer modern bleiben, denn sie verteidigen das Rechtsstaatsprinzip. Hervorzuheben sind auch die vielen Ausbildungsbeiträge Eisenbergs, die den Studierenden essentielle Kenntnisse zum Strafrecht vermitteln und zu einer hoffentlich kritischen Grundeinstellung gegenüber der Strafrechtspraxis beitragen. In diesem Beitrag wird ein exotisches Thema behandelt, die Blutrache. Sie umfasst ein weites Forschungsfeld, das zum Thema verschiedener Wissenschaften gehört (bzw. gehören müsste), z. B. Strafrechtsgeschichte, Anthropologie, Soziologie, Psychiatrie, Ethnologie, Archäologie, Evolutions- und Aggressionsforschung. Hier können nur wenige Aspekte erwähnt werden.
I. Bei der Annäherung an die Blutrache sollte man sich von Vorurteilen, die hauptsächlich Romanschriftsteller seit dem 19. Jahrhundert aufgebracht haben, frei machen. Zu erwähnen ist aber ein spannender Roman von Ismail Kadare, der kritisch gelesen werden sollte.1 Auf ein Vorurteil muss besonders hingewiesen werden: Häufig wird angenommen, dass Bluträcher bewusst unter Umgehung des staatlichen Strafjustizsystems das, was sie für Recht halten, rücksichtslos durchsetzen, indem sie andere töten. Man hält sie für eine Art von Mafia-Killern. Dem Bluträcher geht es jedoch nicht um eine Umgehung staatlichen Rechts, er hat ein Denksystem, das dem der Staatsbürger entgegengesetzt ist, obwohl sich das Strafrecht weltweit aus der Blutrache entwickelt hat. Bluträcher sind ihrer festen Überzeugung nach zur Durchführung der Blutrache „verpflichtet“ und dieser „Pflicht“ können sie sich nicht entziehen. Der Bluträcher lehnt sich keineswegs gegen den Staat auf. Dafür fehlt ihm jedes Motiv. Er ist – nach unseren Maßstäben – „ungebildet“ und Schriftlosigkeit kennzeichnet ihn und seine Sippe. Er kennt keine Kalender und 1
Kadare, Der zerrissene April, 2. Aufl. 2003.
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hat keine zeitlichen Vorstellungen außer solchen über die Jahreszeiten. Deshalb verjährt die Blutrachepflicht nicht. Der Bluträcher ist geprägt von uralten Überzeugungen seiner Sippe und hat vor diesem Hintergrund keinen Anlass sich gegen staatliche Justiz aufzulehnen. Er weiß nichts von ihr bzw. nur wenig, sie ist ihm gleichgültig. Er will durch seine Tat nur seine „Pflicht“ gegenüber seiner Sippe und seinen Vorfahren erfüllen. Dem durch diese Pflicht erzeugten Druck kann sich ein Bluträcher kaum entziehen. Das ist für modern denkende Menschen nicht nachvollziehbar. Bluträcher verstehen rechtsstaatliche Prinzipien nicht, sie kennen sie nicht. Damit liegt eine Situation des gegenseitigen Nichtverstehenkönnens vor. Das Thema „Blutrache“ wird im Rahmen der Hetze gegen Ausländer und Flüchtlinge schwer missbraucht. Dabei wird ausgeblendet, dass Blutrachetötungen selten geworden sind, die Blutrache ist an ihr Ende gekommen, weil es staatsfreie Räume kaum noch gibt. Aber viele Tötungsdelikte, die mit Blutrache nichts zu tun haben, werden schlagwortartig mit dem falschen Etikett der Blutrache versehen. Vor allem wird Blutrache mit dem sog. „Ehrenmord“, der einen völlig anderen Hintergrund hat, verwechselt und das verfälscht sogar Statistiken, weil viele Taten als Blutrache bezeichnet werden, ohne es zu sein. Werner Baumeister schreibt unter dem Buchtitel „Ehrenmorde“ über die Blutrache und ähnliche Delinquenz.2 Das sind zwei völlig verschiedene Begriffe, selbst wenn neben einer Tötung auch eine Ehrverletzung zur Auslösung der Blutrache führen kann. Für solche Falschetikettierungen reicht es aus, dass ein „Ausländer“ einen anderen getötet hat. Um aber feststellen zu können, ob Blutrache tatsächlich vorliegt, bedarf es natürlich mehr als nur dieser beiden Kriterien.
II. Weder in den Kommentaren noch in der Rspr. findet sich eine Definition von Blutrache. Es ist fast unbekannt, dass Bluträcher Angehörige eher kleiner, schriftloser Sippen sind, die staatsfern in abgelegenen Gebieten leben, in denen sie von politischen Fluchtgründen kaum erreicht werden. Es kommt vor, dass sie durch bedrohliche klimatische Veränderungen zur Abwanderung in andere Länder gezwungen werden, freiwillig verlassen sie ihre Heimat nicht. Baumeister stellt zu Recht fest, dass in Entscheidungen der Obergerichte der Begriff „Blutrache“ gemieden werde.3 Es würden umschreibende Begriffe verwendet. Die Bezeichnung „Blutrache“ sei erst in der Neuzeit gebräuchlich geworden und werde „in jüngster Zeit mehr und mehr von dem Begriff ,Ehrenmord‘ abgelöst“.4 Diese Ablösung, in der eine Gleichsetzung beider Begriffe liegt, ist falsch und vielleicht durch die Unklarheit des Begriffs „Blutrache“ zu erklären. Nachdem nämlich die ersten Städte gegründet waren, wurde den Sippen, besonders den Sippenpatriarchen ein Teil ihrer Befugnisse und Pflichten nicht weg2 Baumeister, Ehrenmorde. Blutrache und ähnliche Delinquenz in der Praxis bundesdeutscher Strafjustiz. Kriminologie und Kriminalsoziologie, Band 2, 2007. 3 Baumeister (Fn. 2), S. 17. 4 Baumeister (Fn. 2), S. 17 und dort Fn. 15.
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genommen, vor allem nicht die Sippenpflicht zum Schutz der Sippenehre, die erst nach Gründung der Städte entstanden oder verstärkt worden war, als die Menschen sich auch wegen der neuen (zu großen) Nähe attackierten (was schon Platon beklagt). Ein Patriarch hätte seine Sippe nicht schützen können, wenn er sich, ohne sich zu wehren, von Außenstehenden hätte beleidigen lassen. Man hätte ihn verächtlich als schwachen Menschen bezeichnet, der sich nicht wehren und daher seine Sippe nicht verteidigen könne. Ohne Ansehen des Patriarchen, des Anführers der Sippe, konnte sie damals außerhalb und innerhalb einer Stadt kaum überleben. In Sippenangelegenheiten hatte sich keiner einzumischen, andernfalls endete das mit seiner Tötung wegen Verletzung der Sippenehre. Dieser Vorgang wird heute (vorverurteilend) als „Ehrenmord“ bezeichnet. Die Blutrache hat zwar den Ehrbegriff auch in ihren „Katalog“ der zur Blutrache verpflichtenden „Rechtsgüter“ aufgenommen, das ändert aber nichts daran, dass die Sachverhalte, die mit Ehrenmord und Blutrache bezeichnet werden, grundsätzlich zu trennen sind. Motive und Art der Tatausführung unterscheiden sich. Singer, auf den sich Baumeister beruft5, beschränkt Blutrache „nur auf Tötungsdelikte“ als tatauslösende Handlungen.6 Die alttestamentlichen Texte würden sich nur auf real vergossenes Blut beschränken, also Eigentum und Ehre nicht einmal erwähnen.7 Die Nichterwähnung der Ehre könnte am Alter dieser alttestamentlichen Texte liegen. Texte des Alten Testaments sind wahrscheinlich vor der Zeit entstanden, in der sich der Ehrbegriff entwickelte, so dass sie den Begriff nicht berücksichtigen konnten. Es ist aber nicht auszuschließen, dass Blutrache auch ein Ehrenschutzmittel sein kann. Der Begriff soll in Anlehnung an Peinsipp dargestellt werden: Die Rechtsordnung der Shkypetaren sei jene ihrer illyrischen Vorfahren und der mit ihnen verwandten indo-europäischen Völker, daher auch die unserer eigenen Vorfahren. Es sei die Rechtsordnung der geregelten Selbsthilfe. In diesem Rechtssystem spreche kein unabhängiger Richter das Recht und kein Staat sorge für die Einhaltung des Richterspruchs. Nur allein der vom Rechtsbruch oder der Ehrverletzung Betroffene (Gemeinwesen oder Einzelner) dürfe Sühne nehmen und die Maßnahmen treffen, die ihm wieder zu seinem Recht verhelfen8. Diese Selbsthilfe sei insofern geregelt, „als der vom Rechtsbruch oder der Ehrverletzung Betroffene sich bei der Sühnenahme striktestens an die Normen des Kanun sowie die Postulate des Ehrenkodex zu halten hat“.9 Eine Übermaßblutrache, besonders eine Kettenblutrache, wäre ein schwerer Verstoß gegen deren Regeln. Wenn der Bluträcher seine Tat vollbracht habe, dürfe ihm nichts von der Sippe des von ihm Getöteten angetan werden. Werde der Bluträcher getötet, so entstehe eine neue Blutrache, d. h., es liege eine Reihe von Tötungen 5
Baumeister (Fn. 2), S. 17 f. Singer, Alttestamentliche Blutrachepraxis im Vergleich mit der Ausübung der Blutrache in der Türkei, 1994, S. 15. 7 Singer (Fn. 6), S. 15. 8 Peinsipp, Das Volk der Shkypetaren. Geschichte, Gesellschafts- und Verhaltensordnung, 1985, S. 149. 9 Peinsipp (Fn. 8), S. 149. 6
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mit jeweils darauf folgender neuer Blutrache vor, aber keine Kettenblutrache. Blutrache sei eine berechtigte sühne- und bußfreie Tötung einer Person, die unberechtigterweise fremdes Leben ausgelöscht habe, durch die agnatische Hausgemeinschaft des Opfers.10 Es gibt Ausnahmen von der Blutrachepflicht, z. B. darf niemals eine Frau getötet werden (und eine Frau kann keine Bluträcherin sein). Von der Regel: „Die Sühne gehört der in ihrer Ehre verletzten Hausgemeinschaft“ und „Der Mord innerhalb einer Hausgemeinschaft begangen, geht die Außenwelt nichts an“, werde nur der agnatische Teil der Hausgemeinschaft angesprochen, d. h., dem Hausältesten obliege allein die Sühneentscheidung. Ansonsten werde die Tat eines Verwandtenmörders wie ein Suizid beurteilt: „Mit der Tat tötete er sich selber“11, d. h., es gibt keine Blutrache.
III. Um die Bedeutung von Blutrache verstehen zu können, soll auf die Frage, ob Blutrache ein Weltrechtsprinzip ist, ob sie aus lokalen Gebräuchen abgeleitet werden muss oder ob beides nebeneinander in Betracht kommen könnte, eingegangen werden. Blutrache ist in ihren verschiedenen Ausprägungen ein weltweites Phänomen, sie ist bei allen oder wenigstens den meisten Ethnien originär und nur auf Grund der menschlichen Natur zu verschiedenen Zeiten entstanden und zwar in vorstaatlicher Zeit. Dieser Ansicht ist auch Kohler: „Dass das Institut eines der großartigsten und fruchtbarsten, und zugleich eines der universellsten Institute ist, welche überhaupt die Rechtsgeschichte aufweist, dass es die historische Quelle des ganzen Strafrechtes bildet, wird heutzutage Niemand mehr bestreiten.“12 Blutrache ist kein konkurrierendes Rechtssystem, ihre Entstehungsgründe und -ziele sind andere.13 Klocker untersucht die Blutrachepraxis bei den Beduinen in Nordarabien (Syrien, Irak, Libanon, Jordanien, Israel) und beschreibt vereinzelte Blutrachefälle in Italien, Frankreich, Türkei, Montenegro, Albanien und Griechenland (Mani/Peloponnes).14 Bezüglich Griechenlands ist ergänzend auf Thukydides zu verweisen. Er erwähnt im ersten Buch über den peloponnesischen Krieg ein Verbrechen gegen Poseidon am Cap Tainaron, früher Cap Matapan, das in der Nähe von Vathia und des Eingangs zum Hades liegt: „Ihrerseits befahlen nun auch die Athener, die Lakedaimonier sollten den Frevel vom Tainaron tilgen. Die Lakedaimonier hatten nämlich einmal schutzflehende Heloten aus dem Tempel des Poseidon vom Tainaron vertrieben, sie abgeführt und 10
Peinsipp (Fn. 8), S. 7. Peinsipp (Fn. 8), S. 189 f. 12 Kohler, Zur Lehre von der Blutrache, 1885, S. 5. 13 A.A. Schmidt-Neke, in: Basha/Elsie/Ismajli (Hrsg.), Der Kanun, 2003, S. 14. 14 Klocker, There should be one grave opposite the other, 1995, S. 5; vgl. dagegen zum Ehrenmord: Pohlreich, „Ehrenmord“ im Wandel des Strafrechts. Eine vergleichende Untersuchung unter Berücksichtigung des römischen, französischen, türkischen und deutschen Rechts, 2008. 11
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getötet, ein Verbrechen, dem sie selbst das starke Erdbeben in Sparta zuschrieben.“15 Die Blutrache muss auch im Hinblick auf die Evolution gewertet werden. Es geht um den Schutz der Sippe vor Aggressoren, um ihr Überleben, denn die Sippe darf keine Schwächung durch die Tötung eines Sippenangehörigen ohne Reaktion hinnehmen. Andernfalls könnte sie untergehen, weil der Wegfall eines einzigen für das Leben der Sippe bedeutenden Sippenangehörigen sie vernichtend schwächen könnte. Der Annahme, dass Blutrache ein Weltrechtsprinzip ist, steht nicht entgegen, dass sie in Einzelfällen in bestimmte Gegenden „importiert“ worden sein kann. In der Geschichte fallen viele Wanderbewegungen großer Menschengruppen auf, ausgelöst vor allem durch klimatische Bedingungen und Kriege. Folge dieser Wanderungen war auch ein Import von Sitten und Gebräuchen dieser wandernden Menschen in fremde Länder. Neben der originären weltweiten Entstehung von Blutrache kann sie importiertes Recht sein. Mit der Grundfrage nach weltweit gleichen oder verschiedenen Verhaltensweisen hat sich Andree als erster oder als einer der ersten Autoren befasst, wenngleich er die Blutrache in seinen Untersuchungen nicht thematisiert.16 Er verglich im Anschluss an seine zehn Jahre zuvor herausgegebene Sammlung zu diesem Aspekt: Animismus, Aberglauben, Sitten, Gebräuche, Fertigkeiten und sonstige Fragen aus der Anthropologie.17 Ein Fall importierten Rechts hängt mit Alexander dem Großen zusammen: Es gibt deutliche Indizien dafür, dass er bei seinem Indienfeldzug illyrische Soldaten vom Balkan mitgenommen und sie am Khyberpass im heutigen Pakistan zurückgelassen hat, wo sie sich ansiedelten und ihre Sitten und Gebräuche unter Einschluss der Blutrache mitbrachten. Die Skhypetaren in Albanien sind die Nachfolger des illyrischen Volkes. Es geht also um die Frage, ob die pathanischen „Gesetze der Berge“ mit ihren Blutracheregeln und die Pathanen selbst von den balkanischen Illyrern abstammen. Eine Zusammenstellung von Aufsätzen zu illyrisch-albanischen Fragen hat von Thallóczy herausgegeben.18 Frommer untersucht die Illyrer von ihrer Frühzeit in den Jahren 2500 bis 450 v. Chr. bis zum Beginn der Neuzeit.19 Die Gründe für die Annahme, dass das pathanische Recht durch die Illyrer importiert worden sein könnte, sind folgende: Die Gesellschafts- und Verhaltensordnung der Shkypetaren gleicht auffallend den Sitten und Gebräuchen der an der Nordwestgrenze Pakistans lebenden
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Thukydides, Der Peloponnesische Krieg I, 128, 1, S. 95. Andree, Ethnographische Parallelen und Vergleiche, 1889. 17 Andree (Fn. 16), Vorwort, verweist auf den Erfolg seines Vorgängerwerks, das „freilich öfter ohne Quellenangabe“ benutzt werde – das ist auch ein aktuelles Problem. 18 Thallóczy (Hrsg.), Illyrisch-albanische Forschung, Band I, 1916. 19 Frommer, Die Illyrer. 4000 Jahre europäischer Geschichte. Vom dritten Jahrtausend bis zum Beginn der Neuzeit, 1988; ergänzend ist noch auf ein Werk zu den Stammesgesellschaften Nord-Albaniens hinzuweisen: Baxhaku/Kaser, Die Stammesgesellschaften NordAlbaniens. Berichte und Forschungen Österreichischer Konsulen und Gelehrter (1861 bis 1917), 1996. 16
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Pathanenstämme.20 Der Vergleich zwischen den pathanischen und den illyrisch/ shkypetarischen Blutracheregeln könnte also mit dem Recht der Shkypetaren beginnen, weil dort noch Quellen (Kanune) vorhanden sind, auf die kurz eingegangen werden muss.21 Am bekanntesten ist der Kanun des Lekë Dukagjini (KLD), der zuerst ins Deutsche von Marie Amelie Freiin von Godin übersetzt wurde.22 Diese Übersetzung beruht auf den zuvor von dem Franziskaner Gjeçov gesammelten Rechtssatzungen, die er 1913 veröffentlichte (in: Hylli i Dritës = Stern des Lichts). Nach seiner Ermordung 1929 gaben andere Franziskaner sein hinterlassenes Material 1933 unter dem Titel „Kanuni i Lekë Dukagjinit“ in Shkodra heraus.23 Martucci hält es für erwiesen, dass der Begriff „Kanun“ aus dem Griechischen stamme, wo es als Lehnwort aus dem Semitischen aufgenommen worden sein soll.24 Wörtlich ist damit „Schilfrohr“ gemeint und im metaphorischen Sinn bezeichne es die gerechte und achtbare Anwendung der von Generation zu Generation nur mündlich und nicht schriftlich überlieferten Gesetze.25 „Kanun“ ist also mündlich überliefertes Gewohnheitsrecht, von dem die Blutrache ein Aspekt ist.26 Der KLD gilt als „Regionalvariante neben anderen“, er soll am besten dokumentiert und systematisch erforscht sein.27 Schmidt-Neke hält es für eine Legende, dass Lekë Dukagjini, der ein Kampfgefährte Kastriotas, genannt Skanderbeg, des „Türkenkriegers“, war, das damalige Volksrecht gesammelt und reformiert hätte, denn in einer völlig analphabetischen Gesellschaft wäre das kaum möglich und sinnvoll gewesen.28 Das shkypetarische Volksrecht könnte von Alexander dem Großen in Teile von Pakistan importiert worden sein, wo es sich bis heute erhalten hat. Das wäre ein Fall importierten Rechts, der als Alternative neben der These vom Weltrechtssystem steht. Die Ähnlichkeiten zwischen beiden Rechten sind erstaunlich. Churchill beschreibt in einem Werk aus dem Jahre 1897 Verhaltensweisen dieser pathanischen Stämme: „Except at the times of sowing and of harvest, a continual state of feud and strife prevails throughout the land. Tribe wars with tribe. The people of one valley fight with those of the next. To the quarrels of communities are added the combats of
20 Dazu Churchill, The story of the Malakand Field and Force. An Episode of Frontier War, 2008, bes. S. 14 ff. 21 Vgl. z. B. Schmidt-Neke (Fn. 13), S. 12 f.; Martucci, Die Gewohnheitsrechte der Albanischen Berge. Die Kanune, 2013, S. 9 ff. 22 von Godin, ZVglRWiss 56 (1953), S. 1 ff.; 57 (1954), S. 5 ff.; 58 (1956), S. 121 ff. 23 Schmidt-Neke (Fn. 13), S. 16 f. 24 Martucci (Fn. 21), S. 9 m.w.N. 25 So Martucci (Fn. 21), S. 9; vgl. dazu auch Schmidt-Neke (Fn. 13), S. 11 m.w.N. 26 Weiterhin Hasluck, in: Hutton (Hrsg.), The unwritten law in Albania, 1954, bes. S. 9 ff., S. 210 ff. 27 Schmidt-Neke (Fn. 13), S. 13. 28 Schmidt-Neke (Fn. 13), S. 13; vgl. zum Hintergrund und besonders zu Skanderbeg eine sehr lesenswerte Biographie: Schmitt, Skanderbeg. Der neue Alexander auf dem Balkan, 2009. Martucci befasst sich ausführlich mit dieser Frage: Martucci (Fn. 21), S. 17 ff. m.w.N.
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individuals. Khan assails khan, each supported by his retainers.“29 Zur Komplexität und den Strukturen der pakistanischen Gesellschaft hat Ahmed eine Studie vorgelegt, „covering the prominence of the Mullahs in the North-West Frontier Province, Sufis in Sind, Sardars in Baluchistan to peasant-farmers in Punjab“.30 Peinsipp berichtet in Anlehnung an Churchill, dass sich die Pathanen (Pashtunen), die am Khyberpass und im Kabultal mit ungefähr 50 Stämmen lebten, bei Hautfarbe, Körperwuchs und Gesichtszügen völlig von der sonstigen pakistanischen Bevölkerung unterschieden und sie würden sich selbst auf die Abkunft durch Alexander den Großen berufen. Durch ihn könne illyrisches Recht in diesen Teil des Hindukush verpflanzt worden sein, denn Alexander habe am Khyberpass und im Kabultal drei Städte gegründet, im Kampf gegen die Bergstämme (Riaz) einen Teil seiner illyrischen Hilfstruppen eingesetzt und diese Illyrer mit einheimischen Frauen verheiratet, nachdem er sie zu Witwen gemacht habe (Truppenverheiratung). Normen des pathanischen Volksrechts seien oftmals im Wortlaut mit Normen des shkypetarischen Volksrechts (Kanun) identisch, das gelte auch für das Brauchtum, besonders für Musik und Tanz, die Musikinstrumente seien identisch. Ebenso wie die Shkypetaren hätten die Pathanen einen Kanun, ein „Gesetz der Berge“ (Punktunwali),das zum Teil im Wortlaut mit den Kanunen der Shkypetaren identisch sei.31 Falls diese m. E. plausible Annahme, die noch weiter abgesichert werden sollte, richtig wäre, hätte sich das pathanische Volksrecht seit Alexander dem Großen (356 bis 323 v. Chr.) bis heute fast zweieinhalb Jahrtausende nahezu unverändert erhalten. Dazu kommt noch der unbekannte und sicher äußerst lange Zeitraum, in dem sich dieses Recht während der Jahrtausende davor bei den Illyrern originär entwickelt hatte. Allein hieraus lässt sich erkennen, dass das Recht der Blutrache viele tausend Jahre alt ist.32 Das pathanische Punktunwali ist das bekannteste Gesetz dieses Volkes und ein „Fremdkörper“ im Recht des Kodex Menue der Hindus.33 Dieser Kodex, der aus dem Sanskrit von Michaels und Mishra übersetzt und herausgegeben wurde (Manusmrti), also Manus Lehrbuch von Recht und Sitte, auch bekannt unter dem Titel: „Mánavadharmas´ástra“, was Dharma-Lehrbuch des Manu bedeutet, habe sich spätestens seit dem 6. Jahrhundert nach Chr. ausgebildet. Michaels und Mishra betonen, dass der Text kein Gesetzbuch im klassischen Sinne sei, es ist kein Text für ein Gericht, sondern kodifiziertes brahmanisches Wissen.34 Die gegenseitige Beziehungslosigkeit und Selbständigkeit zweier so alter Rechte bedeutet, dass das Punktunwali von „außen“ gekommen ist, sich also nicht im Gebiet des Khyberpasses originär entwickelt haben kann, denn es gibt keinen Hinweis für die Annahme, dass sich zwei völlig verschiedene Rechtssysteme in der gleichen Region fast gleichzeitig entwi29
Churchill (Fn. 20), S. 14 f. Ahmed, Pakistan Society. Islam, Ethnicity and Leadership in South-Asia, 4. Aufl. 1989, dort bes. S. 133 ff. zu den PukhtunTribes. 31 Peinsipp (Fn. 8), S. 10, 293 f. (Fn. 3). 32 Ippen sowie Mjedia, in: Thallóczy (Fn. 18), S. 389 ff. 33 Peinsipp (Fn. 8), S. 293. 34 Michaels/Mishra (Hrsg.), Manusmrti. Manus Gesetzbuch, 2010, S. 279 ff. 30
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ckeln, ohne gegenseitige Berührungspunkte aufzuweisen. In diesem Fall ist Blutrache importiertes Recht.
IV. Verfolgt man die Blutrache noch weiter zurück, so gelangt man zu der Frage, ob Blutrache aus der menschlichen Natur abgeleitet werden muss – was m. E. zu bejahen ist. Das spricht auch für das Weltrechtsprinzip. Der Mensch ist Teil der Natur. Er unterscheidet sich von den übrigen Lebewesen vornehmlich durch seine Intelligenz und seine maßlose Aggression, die sich gegen alles richtet, gegen alles Leben auf der Erde, ungehemmt vernichtet er massenhaft andere Menschen, seine eigenen Lebensgrundlagen und er wird schließlich die Erde und sich selbst zerstören. Aggression ist stärker als Vernunft. Macht- und Geltungsinteressen, außerdem der Sexualtrieb, beherrschen den Menschen. Zuerst hat man verstanden, dass kein Mensch allein leben kann, er braucht den Schutz einer Gruppe bzw. Sippe. Die Sippen verhalten sich untereinander kriegerisch, sie rauben, entführen und töten. Bei jeder dieser Sippen im Umfang von zwanzig bis dreißig Angehörigen war der Verlust eines Mitglieds eine existenzbedrohende Schwächung, aus der sich die Gefahr neuer Übergriffe durch den Konkurrenten ergab. Diese Situation macht den Gegenschlag unerlässlich, um das frühere Gleichgewicht wieder herzustellen. Darin liegt eine Ursache für die Entstehung der Blutrache (weitere kommen dazu). Aggression führt zur Gegenaggression mit der Folge, dass Blutrache ein universales Phänomen geworden ist, deren Form sich nach den Bedingungen der Umwelt unterschiedlich herausgebildet hat. In diesem Zusammenhang sollte man beachten, dass Blutrache nur der erste und später zunehmend systematisierte Schritt in der weiteren Entwicklung des Tötens ist: Am Anfang der Geschichte des Menschen steht die erste Tötung. Viel später folgte auf eine Tötung ein einfacher Racheakt. Noch später hat sich die geregelte Selbsthilfe (Blutrache) entwickelt: Die Zahl der Menschen wuchs, d. h. es gab zahlenmäßig größere Sippen und danach Stämme. Der Stammeskrieg ist die nächste Stufe des Tötens und es werden immer bessere Waffen eingesetzt. Nach der Entstehung der Staaten ist die Stufe des Krieges erreicht und die staatliche Todesstrafe entsteht daneben als Ersatz für die Blutrache. Ob das alles durch Evolution erklärbar ist, muss hier offen bleiben, möglicherweise wird sich der Mensch vor allem durch den biologisch/medizinischen Fortschritt in eine Situation bringen, in der ihn die Evolution nicht mehr erreicht, indem er sie überwindet.
V. Wer die Blutrache erforschen will, betritt Neuland, jedoch gibt es Untersuchungen zu Fragen, die sich häufig auf den Balkan beziehen, also auf die Shkypetaren, außerdem auf Nordafrika und die Türkei. Hier soll zunächst angemerkt werden, dass Blut-
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rache nichts mit dem Koran, der die Blutrache einzugrenzen versucht, und dem Islam zu tun hat. Die Wurzeln der Blutrache liegen in den Anfangszeiten der Menschheitsgeschichte, in Zeiten, in denen es keine Religionen und Weltanschauungen gab. Bei Untersuchungen zur Blutrache kommt es besonders auf die Existenzbedingungen der Blutrachesippen an. Um dazu Feststellungen treffen zu können, soll als Beispiel auf das Werk Peinsipps verwiesen werden.35 Er hat während des Zweiten Weltkriegs jahrelang bei den Shkypetaren gelebt, er konnte sich bei ihnen weitgehend integrieren und an ihrem Leben teilnehmen. Ein weiteres Beispiel ist die schon erwähnte Mani (Peloponnes/Griechenland): Fremden gegenüber bestreiten die Manioten im Allgemeinen die Existenz von Blutrache in der Gegenwart, aber sie kommt noch vor, wie mir Manioten, deren Vertrauen ich gewinnen konnte, detailliert bestätigten. Neben teilnehmender Beobachtung des Alltagslebens von Blutrachesippen können Mythen und Sagen bedeutende Informationen zur Blutrache liefern. Das sind die ältesten Quellen und zu noch früheren Zeiten muss man sich mit Rückschlüssen behelfen. Hier ist die umfangreiche Thule-Sammlung zu erwähnen.36 In der „Hamâsa“, einer berühmten Anthologie arabischer Dichtkunst finden sich eindrucksvolle Beispiele zur Blutrache, zu Stammeskriegen und zu Stadien zwischen beiden. Die Hamâsa wurde im 9. Jahrhundert von Taabbata Sharran Tabit ben Gabir al-Fahmi zusammengestellt. Den Titel Hamâsa, also Tapferkeit oder Begeisterung, erhielt das erste und größte Buch der Sammlung.37 Eines der „allerberühmtesten und meist übersetzten arabischen Gedichte“ (28 Strophen) ist das Vergeltungslied des heldischen Dichters Taabbata Sharran. Sharran trete hier als Rächer seines Oheims auf, des Bruders seiner Mutter Amina. Er sei in blutigen Fehden mit seinen Stammesgenossen von Hudheil erschlagen worden.38 1. Unter dem Felsen am Wege Erschlagen liegt er, In dessen Blut Kein Tau herabträuft.
2. Große Last legt’ er mir auf Und schied; Fürwahr, diese Last Will ich tragen.
3. „Erbe meiner Rache Ist der Schwestersohn, Der Streitbare, Der Unversöhnliche.
4. Stumm schwitzt er Gift aus, Wie die Otter schweigt, Wie die Schlange Gift haucht, Gegen die kein Zauber gilt.
35
Peinsipp (Fn. 8). Stellvertretend für viele andere Quellen soll verwiesen werden auf: Thule, Altnordische Dichtung und Prosa, in: Niedner (Hrsg.), Band 8: „Fünf Geschichten von Ächtern und Blutrache“, 1922; Neckel, in: Niedner (Hrsg.), „Die Geschichte von dem starken Grettir, dem Geächteten“, Band 5, 1963; Niedner (Hrsg.), Grönländer und Färinger Geschichten, 1965; Niedner (Hrsg.), Fünf Geschichten von Ächtern und Blutrache, 1922. 37 So Mommsen, in: Einheit in der Vielfalt, 1988, S. 343; das zitierte Gedicht ist bei Mommsen abgedruckt, S. 347 ff. 38 So ausführlich Mommsen (Fn. 37), S. 344; Kreutner/Wollschläger (Hrsg.), Hamâsa oder die ältesten arabischen Volkslieder, gesammelt von Abu Temmâm, übersetzt und erläutert von Friedrich Rückert, 1846. 36
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Vor den Staatsgründungen lebten die Menschen in kleinen Sippen und sie schlossen sich nach Besserung der klimatischen Bedingungen in größeren Sippen und Gruppen sowie in Stämmen zusammen. Das erleichterte die Überlieferungsmöglichkeiten auch von Regeln der Blutrache und von Heldentaten der als Vorbild dargestellten Bluträcher. Mythen und Sagen bekamen eine größere Bedeutung, die mündliche Überlieferung erfolgte durch sie gleichsam wie in Form eines Gesetzblattes, das auch Blutrache umfasste. Zwar lebten die Blutrachesippen weiterhin außerhalb der Städte. Aber der Kontakt einiger Sippen zu den Städtern bewirkte, dass auch Blutrachesippen an der neuen Form der Mythentradition teilnehmen konnten, wenn auch ohne weitere Integration. Trotz der Kontakte in die Städte behielten Blutrachesippen ihre urtümliche Lebensweise bei, vor allem haben Blutrachesippen die Schriftlosigkeit nicht aufgegeben, weil sie bei ihrer Lebensweise keine Schrift brauchen.39 Schriftlosigkeit kennzeichnet das Leben der Sippen bis heute.40
VI. Bereits vor Gründung der Städte entstand allmählich die Schrift – hierin liegt eine wesentliche Zäsur für die Blutrache: Haarmann erläutert, dass die Anfänge der Schriftverwendung in Alteuropa auf das Ende des 6. Jahrtausends v. Chr. zurückzuführen seien.41 Er beruft sich auf M. Gimbutas, nach der unter Alteuropa (Old Europe) eine Zivilisation im eigentlichen Sinne zu verstehen sei.42 Die alteuropäische Zivilisation liege im Neolithikum, in der jüngeren Steinzeit.43 Nach Haarmann ist die älteste Regionalkultur des Altertums, die Schrift nachweislich verwendet hat, nicht der Kulturkreis der Sumerer in Mesopotamien, vielmehr würden ihre Anfänge bis in das 7. Jahrtausend v. Chr. zurückreichen und das Kerngebiet läge in Südosteuropa. Um die Wende vom 7. zum 6. vorchristlichen Jahrtausend hätten sich mehrere Regionalkulturen herausgebildet (Agäis, mittlerer Balkan, südliche Adria, mittlere Donau, Ostbalkan, Moldau bis zur westlichen Ukraine). In den Vordergrund gerate nach Haarmann das zentrale Balkangebiet zu Beginn des Chalkolithikums (Steinkupferzeit um die Mitte des 6. Jahrtausends v. Chr.). Hier sei die Vincˇ a-Kultur, nach einem Fundort bei Belgrad benannt, am bekanntesten.44 In den alteuropäischen Siedlungen des 6. Jahrtausends zeige sich eine stärkere Entwicklungsdynamik als in 39
In Albanien gab es bis in die jüngste Vergangenheit keine Schrift. Hasluck (Fn. 26). 41 Haarmann, Universalgeschichte der Schrift, 1990, S. 73. 42 Gimbutas, Old Europe c. 7000 – 3500 BC: The Earliest European Civilization Before the Infiltration of the Indo-European Peoples. Journal of Indo-European Studies 1 (1973), S. 1 ff.; Haarmann (Fn. 41), S. 70. 43 Haarmann (Fn. 41), S. 70; vgl. ausführlich Hassett, Warum wir sesshaft wurden und uns seither bekriegen, wenn wir nicht gerade an tödlichen Krankheiten sterben. Aus dem Englischen von Schmidt-Wussow, 2018. 44 Haarmann (Fn. 41), S. 70 f. 40
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Anatolien.45 Es ist davon auszugehen, dass in dieser kulturellen Entwicklung der Anfang vom Ende der Blutrache liegt, nämlich in Alteuropa im Neolithikum. Hier müssten sich die Anfänge eines Denkens zur Reduzierung der Blutrache finden lassen, wie es später z. B. im Alten Testament und im Koran zum Ausdruck kommt. Auf zwei Punkte im Zusammenhang mit den Städtegründungen soll hingewiesen werden, nämlich auf die Motive der Menschen einerseits in Städten wohnen zu wollen und andererseits wie bisher außerhalb der Städte. Die Motivation der Menschen zur Städtegründung liegt besonders im Sicherheitsbedürfnis. Ständig wachsende Übergriffe und jegliche Kriminalität waren wegen der stark gewachsenen Zahl der Menschen unerträglich geworden und führten zu Angst und Zusammenschlüssen zum gegenseitigen organisierten Schutz (das Leben in den Städten war aber auch kein Paradies). In den Städten entwickelten sich Systeme, um die verschiedenen Bereiche zu verwalten (Handel, erste Strukturen von Polizei und Militär, Justiz usw.). Die jeweiligen Herrscher entschieden über die Verhängung der Todesstrafe vor allem zur Demonstration ihrer Macht, aber auch, weil es noch keine Gefängnisse gab. Die Patriarchen, die die Blutrachesippen anführten, von denen einige mit ihren Sippen nunmehr in die Städte gingen, durften dort die Blutrache nicht mehr ausüben, in den Städten wurde die Todesstrafe Nachfolgerin der Blutrache. Die Patriarchen gaben ihre Blutrachebefugnis an den jeweiligen Herrscher ab. Die bisher frei unter der Leitung ihres Patriarchen lebenden Blutrachesippen, die zu Stadtbewohnern wurden, bezahlten die erlangte Sicherheit mit dem Verlust wesentlicher Teile ihrer Freiheit. Diese Entwicklung kennzeichnet zum ersten Mal in der Geschichte die Alternativen: Freiheit oder Sicherheit. Die heutige Entwicklung stellt eine zweite grundlegende Zäsur von eben solcher historischer Bedeutung dar, denn die Menschen müssen sich jetzt entscheiden, ob sie sich aus Sicherheitsgründen vollständig überwachen lassen wollen oder nicht. Eigentlich wurden sie aber gar nicht gefragt. Sie haben sich für eine lückenlose Kontrolle entschieden, indem sie sich nicht dagegen wehrten, und damit entschieden sie aus Angst gegen die noch vorhandene Freiheit. Die Schrift war im alteuropäischen Zivilisationskreis „ein Mittel der Kommunikation zwischen Menschen und Gottheiten“. „Heilige Bücher“ beginnen oft mit einem Dialog eines Gottes mit Menschen, d. h. Schrift hat in den Anfängen sakrale Bedeutung, sie war zunächst nicht für die Verwaltung des Staates gedacht, sondern diente hauptsächlich dem Kontakt mit den Göttern. Dadurch befestigten auch die Priester ihre Macht, weil sie monopolartig diesen Kontakt zu den Göttern verwalteten und dafür entsprechende Gegenleistungen der Menschen erhielten, von denen sie leben konnten. Haarmann sieht den sakralen Charakter der Schrift als „Privileg einer priesterlichen Oberschicht“46. Religionen sind für Blutrachesippen, die keine religiösen Riten haben und auch keine Tier- und Menschenopfer, bedeutungslos. Andernfalls läge hierin der Beginn ihrer Integration in ein anderes System. 45 46
Haarmann (Fn. 41), S. 71 f. Haarmann (Fn. 41), S. 77.
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VII. Es geht auch um die Frage, ob Blutrache Recht ist, ob es Recht ohne Staat geben kann.47 Das umfangreich zu diskutierende Problem kann hier nur erwähnt, aber nicht vertieft werden. Blutrache ist im Ergebnis Recht, wenn auch eine spezielle Art von Vorrecht. Die Existenz von Recht ist nicht abhängig von einer Staatsexistenz und von der Einhaltung von Formalien (Gesetzgebungsverfahren). Ergänzend sei darauf verwiesen, dass die Distanz der Blutrache nicht nur zum Staat, sondern auch zu Religionen sich daraus erklärt, dass beide Institutionen verbindliche Normen vorgeben. Bluträcher lehnen fremde Normen ab, sie akzeptieren nur ihre eigene Lebensweise. Blutrachesippen sind monolithisch abgegrenzt von fremden Systemen. Soweit die Kanune der Shkypetaren Bezüge zur Kirche aufweisen48, ist das auf den beharrlichen Einfluss christlicher Missionare zurückzuführen, die sich selbst umfassend durch den Kanun schützen wollten und mussten, z. B.: „Es ist möglich, dass der Pfarrer mit jemandem kämpft und jemanden anfällt, daraus dennoch aber weder ihm selbst noch dem Geschlagenen Unehre erwächst; dann fällt er nicht in Schuld vor dem Kanun.“49
VIII. Ein strafrechtliches Problem bei der Blutrache liegt in der vorausgesetzten Tötung aus dem Hinterhalt. Baumeister legt hier zu Recht in einem Hinweis Wert darauf, dass im Strafrecht das Merkmal der niedrigen Beweggründe von großer Bedeutung sein könne.50 Im KLD wird der Hinterhalt ausführlich behandelt: „Mit Hinterhalt (prita) bezeichnet das Hochland jenes Vorgehen, bei dem sich ein Bluträcher (oder andere Menschen mit Tötungsabsicht) auf die Lauer legt […]. Der Böse wird sich vor jenem verantworten, der ihn im Hinterhalt erwartet. […] Wird jemandem außerhalb des Stammes ein Hinterhalt gelegt, jemand aus fremdem Stamm wird erschlagen, fällt nur der Anführer ins Blut und nicht seine Helfer. Wer führt, nimmt das Blut auf sich! Wer die Patrone gibt, macht sich das Blut zu eigen.“51 Der Sinn des Hinterhalts liegt darin, dass sich der Bluträcher, der seinen Auftrag zwingend erledigen muss, nicht selbst gefährden darf. Blutrache ist kein ritterliches Ehrenduell, 47 Grundlegend, jedoch ohne Bezug zur Blutrache: Kadelbach/Günther (Hrsg.), Recht ohne Staat? Zur Normativität nichtstaatlicher Rechtsetzung, 2011; Fischer-Lescano/Teubner, Regime-Kollisionen. Zur Fragmentierung des globalen Rechts, 2006, untersuchen die Regime-Kollisionen ausschließlich nach modernen Entwicklungen. Hier könnte auch die Blutrache als eine Art von Kollisionsrecht zum Strafrecht mit einbezogen werden; Peinsipp (Fn. 8), S. 147 ff. 48 Deren Angehörige werden von der Blutrache ausgenommen – vgl. Elsie et al. (Fn. 13), S. 37 ff. 49 Elsie et al. (Fn. 13), S. 43. 50 Baumeister (Fn. 2), S. 175. 51 Elsie et al. (Fn. 13), S. 198.
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sondern eine Form des Kampfes ums reine Überleben. Ehrlos handelt, wer dieser existentiellen Pflicht nicht nachkommt (es gibt aber Tabus, wie zum Beispiel das Folgende: „Unter dem Kanun i Papazhulit: „Muss ein Mann durch ein Dorf gehen, wo er einen Blutfeind vermutet, und er nimmt eine kleine Beeinträchtigung seiner Manneswürde auf sich; begegnet er einer Frau aus diesem Dorf, so sagt er ihr: ,Schwester, führe mich durch Dein Dorf‘, so muss die Frau ihn führen, geht ihm mit einem Zeichen (z. B. einem grünen Zweig) voraus und er ist in Sicherheit, auch wenn er am Hause des Blutfeindes vorübergeht; in Begleitung einer Frau darf auch der Vogelfreie nie getötet werden.“52
IX. Abschließend muss noch einmal auf Baumeisters „Ehrenmord“ zurückgekommen werden: Er hält zu Recht im Prozess in den meisten Fällen die Hinzuziehung eines ethnologischen Sachverständigen für unverzichtbar, er betont die Kompetenz eines anthropologisch-ethnologischen Sachverständigen und verweist auch auf wesentliche psychische Faktoren.53 Tatsächlich wird noch ein psychiatrischer Sachverständiger erforderlich sein. Dabei müssen die Verfahrensbeteiligten auf eine gefährliche Fehlerquelle achten, die wenig bekannt zu sein scheint: Ethnologisch nicht versierte Sachverständige (z. B. Psychiater) neigen regelmäßig dazu, ihnen unverständliche und für sie fremdartige Verhaltensweisen und Argumentationen des Beschuldigten oder Angeklagten als „offensichtlich“ pathologisch anzusehen, obwohl es um einen Brauch, eine Sitte usw. geht, die ihnen, den Psychiatern, aus ihrer eurozentrischen Sicht als „verrückt“ erscheint. Die notwendige Hinzuziehung eines psychiatrischen Sachverständigen ohne ausreichende Kenntnisse über die Blutrache kann falsche Feststellungen schon im Ermittlungsverfahren zementieren. Deshalb ist die Prüfung und Feststellung der Kompetenz des Sachverständigen vor seiner Beauftragung unerlässlich. Diese Überprüfung verlangt eigene Kompetenz, die auf diesem Gebiet meist fehlt. Zuzustimmen ist Baumeister darin, Sachverständige schon im Ermittlungsverfahren zu beauftragen. Dann muss die Verteidigung sich früh mit deren vorläufiger Begutachtung auseinandersetzen, meistens kann sie es wegen fehlender Kenntnisse nicht. Für den Angeklagten geht es um alles, denn, jedenfalls wenn er Shkypetare ist, muss er die Tat aus dem Hinterhalt ausführen. Die Verfahrensbeteiligten müssen darauf achten, dass (mindestens) zwei Sachverständige beauftragt werden. Aber weitere Sachverständige aus anderen Gebieten sind meist unerlässlich. Auf keinen Fall dürfen Gutachten durch Angehörige der Polizei erstattet werden, denn das wären Scheingutachten wegen offenkundig fehlender Kompetenz. Erst wenn Bluträcher schreiben und lesen können, sind sie in der Lage, staatliche Normen zu verstehen. Sie kommen dann ihrer Blutrache-„Pflicht“ nicht mehr nach. 52 53
Elsie et al. (Fn. 13), S. 198 und dort Fn. 5. Baumeister (Fn. 2), S. 175.
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Im Strafverfahren wegen Blutrache ist besonders zu überprüfen, ob der Angeklagte zur Tatzeit in der Lage war, die Rechtswidrigkeit seines Handelns einsehen zu können. Die Ausführungen in diesem Beitrag sind nur Stichworte aus einem unübersehbar weiten Bereich. Ich würde mich freuen, wenn sie das Interesse des verehrten Jubilars finden.
Jugenddelinquenz und Desistance Junge mehrfachauffällige Straftäter zwischen Jugendhilfe und Justiz Von Diana Willems und Jana Meier
I. Zusammenfassung Dieser Beitrag betrachtet die Ergebnisse eines empirischen Projektes der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendkriminalitätsprävention am Deutschen Jugendinstitut1 zu den Karrieren junger mehrfachauffälliger Straftäter zwischen Jugendhilfe und Justiz unter besonderer Berücksichtigung des Themas Abbrüche. Nach einer einleitenden Darstellung des Forschungsdesigns sowie der qualitativen Interviews konzentriert sich der Beitrag auf die Multiproblemlagen der Jugendlichen sowie auf deren Wahrnehmung und Beschreibung von Möglichkeiten des Abbruchs entsprechender Verläufe. In die Analyse wird sowohl die Sicht der befragten jungen männlichen Straftäter einbezogen als auch Interviews mit Fachkräften aus Jugendhilfe und Justiz sowie Justiz- und Jugendamtsakten.
II. Zielsetzung des Forschungsprojektes, theoretische Überlegungen und methodisches Design Das Forschungsprojekt, auf das sich diese Analyse bezieht, nimmt männliche Jugendliche mit (wiederholten) Gewaltdelikten in zumeist problematischen (sozialen) Lebenslagen und Kontakten zur Kinder- und Jugendhilfe in den Blick.2 Grundlegend 1
Das Projekt „Jugendliche Gewalttäter zwischen Jugendhilfe- und krimineller Karriere“ wurde von Jana Meier und Anke Petrat zwischen 2011 und 2015 durchgeführt und vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) finanziert. Angedockt war das Projekt an die Arbeitsstelle Kinder- und Jugendkriminalitätsprävention am Deutschen Jugendinstitut e.V. (DJI). Eine englischsprachige Fassung des Textes wurde unter dem Titel „Closed Windows for Desistance: Young Multiple Offenders between Youth Services and the Justice System“ in: Albrecht/Walsh/Wienhausen-Knezevic (Hrsg.), Desistance Processes among Young Offenders, Following Judicial Interventions, S. 51 – 58 (im Erscheinen), veröffentlicht. 2 Vgl. im Folgenden Meier, Jugendliche Gewalttäter zwischen Jugendhilfe- und krimineller Karriere, 2015.
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ist eine institutionenfokussierte Forschungsperspektive mit der Frage, welche Rolle Justiz sowie Kinder- und Jugendhilfe in den biografischen Verläufen mit besonders schwierigen Konstellationen des Aufwachsens und Erwachsenwerdens spielen. Im Fokus steht der Einfluss von Institutionen auf kognitive Veränderungen der Jugendlichen oder Entscheidungen zu Veränderungen in ihrem Verhalten als Reaktion auf Aktion oder Nicht-Handeln der beteiligten Institutionen, die in ihrer Komplexität analysiert werden. Ziel des Projektes war es, die Dynamik dieser Lebensverläufe entlang verschiedener Perspektiven zu beleuchten: die Perspektive der angesprochenen Jugendlichen und ihrer Eltern sowie der beteiligten Institutionen, um Anhaltspunkte für Eskalationen sowie für Abbrüche delinquenter Karrieren zu identifizieren. Dieser Blick auf mehrfachauffällige Jugendliche unter Berücksichtigung sowohl justizieller als auch jugendhilfespezifischer Fragestellungen integriert zwei unterschiedliche Forschungstraditionen: die Kriminologie und die Jugendhilfeforschung. Dabei wird den jeweiligen Forschungsperspektiven entsprechend einerseits nach dem Entstehen und den Abbrüchen delinquenter Karrieren, möglicher Risiko- und Schutzfaktoren sowie andererseits nach den schwierigen, nicht gelingenden Verläufen unter Einfluss der Kinder- und Jugendhilfe gefragt, also nach Fällen, bei denen die institutionellen Hilfen die jungen Menschen nicht erreichen. Wichtig ist beiden Forschungsrichtungen, biografische Entwicklungen und Verläufe vor allem aus der Adressatenperspektive zu erfassen. Die Rolle von Institutionen wird insgesamt seltener berücksichtigt. Diese Rolle wurde im vorliegenden Projekt jedoch explizit einbezogen, um den Blick auf Risikokarrieren zu erweitern. Die Studie verfolgte einen multiperspektivischen Ansatz. Ausgangspunkt waren 30 qualitative biografisch orientierte Interviews mit Jugendlichen zwischen 15 und 18 Jahren, die sich zum Zeitpunkt des Interviews im Jugendarrest oder Jugendstrafvollzug befanden. Ein Schwerpunkt der Interviews war die (rückblickende) Bewertung der Kontakte mit dem Hilfesystem durch die Jugendlichen selbst. Basierend auf einer qualitativen Auswertung dieser Interviews konnten sich wiederholende Muster (re)konstruiert und gegenübergestellt werden. Zehn Fälle waren Bestandteil einer tiefgehenden Analyse. Dafür wurden nicht nur die Interviews mit den Jugendlichen herangezogen, sondern es wurden zusätzlich Interviews mit in die Fälle involvierten Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe sowie aus anderen beteiligten Institutionen durchgeführt und ausgewertet. Des Weiteren gehörten entsprechende Jugendhilfeund Justizakten zur Analyse. Im Analyseprozess wurden zusätzlich Fokusgruppen mit Expertinnen und Experten aus der Fachpraxis der Kinder- und Jugendhilfe genutzt, um eigene Interpretationen und Zwischenergebnisse zu diskutieren und den analytischen Blick auf die Rolle der Fachpraxis und deren Perspektiven zu schärfen.
III. Zur Situation: Junge Menschen in besonderen Risikolagen Die Auswertung über alle erfassten Interviews und Akten hinweg zeigt, dass das Sample tatsächlich besonders schwierige Biografien und Risikokarrieren umfasst.
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Alle befragten jungen Menschen sind mit vielfachen Problemkonstellationen und Risiken sowohl auf individueller als auch auf institutioneller Ebene belastet.3 Kennzeichnend sind familieninterne Konflikte und Überforderung, einschließlich des Verlustes zentraler Bezugspersonen. Verschiedentlich weisen Familienmitglieder bereits Hafterfahrungen auf. Es wird von Konflikten und Misserfolgen in der Schule, Schulabstinenz und häufigen Schulwechseln berichtet. Fehlende Schulabschlüsse wirken sich wiederum auf die Berufsperspektiven aus. Insgesamt zeigt ein großer Anteil der Jugendlichen zudem einen riskanten Konsum von Drogen und Alkohol und auch der Freundeskreis wird von Jugendlichen in ähnlich problematischen Lebenslagen und ebenfalls delinquenten Verhaltensweisen dominiert. Sie wachsen überwiegend in sozial benachteiligten Wohnvierteln auf und sind von Armut betroffen. Hinzu kommt bei einer Teilgruppe der befragten Jugendlichen mit Migrationshintergrund ein prekärer Aufenthaltsstatus mit fehlenden oder nur kurzen Aufenthaltsgenehmigungen und (institutionellen) Diskriminierungserfahrungen. Die meisten Jugendlichen hatten bereits sehr früh in ihrer Biografie Kontakt zu Institutionen der Jugendhilfe und der Justiz. In den Akten und Interviews mit den Fachkräften, aber auch in den Beschreibungen der Jugendlichen selbst, zeigt sich sehr deutlich, dass insbesondere die Kontakte zur Jugendhilfe in diesen schwierigen Fällen von zahlreichen Brüchen und Wechseln geprägt sind. Es können oftmals unterschiedliche Definitionen von Bedarfen und Zielsetzungen von Hilfen rekonstruiert werden, welche die beteiligten Institutionen verfolgen bzw. verfolgt haben – Differenzen, die in einigen Fällen mit zum Abbruch bzw. Nichtgelingen von Hilfen geführt haben. Ständige Verschiebungen zwischen den Institutionen – Jugendhilfe, Schule, Polizei, Justiz und Kinder- und Jugendpsychiatrie – sind zu beobachten. Grundlegend für die Fallauswahl war neben der Erfahrung mit der Kinder- und Jugendhilfe die Begehung eines Gewaltdeliktes. Die Auswertung zeigt hierzu klassisch für diese Gruppe der besonders problembelasteten Mehrfachtäter ein breites Deliktspektrum von Eigentumsdelikten über Schwarzfahren sowie BtM-Delikten bis hin zu schweren Körperverletzungen und versuchtem Mord. Vielfach ist mit zunehmendem Alter eine Steigerung in der Schwere und Anzahl der verübten Delikte zu beobachten und damit auch vielfältige justizielle Sanktionen – von ambulanten Maßnahmen bis hin zu mehrjährigen Haftstrafen. Da die Institutionen jeweils über unterschiedliche Ressourcen verfügen, gibt es Einschränkungen und vielfältige Formen der interinstitutionellen Zusammenarbeit. Aber auch innerhalb der Institutionen zeigen sich – darauf weisen die Aktenanalysen insbesondere bei den langjährigen Fallbegleitungen hin – immer wieder Schwierigkeiten im Speziellen bei Übergaben zwischen den Fachkräften. Auch nach Abschluss oder Abbruch von Maßnahmen, Entlassungen aus der Jugendstrafanstalt bzw. der Jugendarrestanstalt u. ä. fehlen immer wieder Unterstützungen bei der Reintegration in den Alltag oder die Jugendlichen können z. B. aufgrund akuter zusätzlicher Belastun3
Vgl. Meier (Fn. 2), S. 19 ff.
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gen wie dem Verlust wichtiger Bezugspersonen vorhandene Angebote nicht annehmen. Retroperspektivisch erscheint es als eine besondere Problematik, dass die vielen Stationen, die die Jugendlichen durchlaufen haben, dazu führen, dass die Rollen der verschiedenen Fachkräfte zu verschwimmen scheinen: Einige Jugendliche können die jeweiligen Zuständigkeiten nicht mehr richtig zuordnen und haben auch die zeitliche Passung der Angebote abweichend von den Akten bzw. den Berichten seitens der Fachpraxis in Erinnerung, was darauf hinweist, dass die Jugendlichen möglicherweise nicht nachhaltig erreicht wurden bzw. geeignete Hilfen nicht zum geeigneten Zeitpunkt angeboten wurden.
IV. Verlaufsmuster zwischen Jugendhilfe und Justiz Die Kriminologie unterscheidet mit Blick auf Karrieren und Abbrüche unterschiedliche Typen. Die verwendeten Kategorien sind jedoch durchaus heterogen in den jeweiligen Definitionen. Es werden z. B. „adolescence-limited“ und „lifecourse-persistent“ Verhalten4 oder Frühstarter und Spätstarter unterschieden und auch ein Abbruch des delinquenten Verhaltens ist nie ausgeschlossen5. In der vorliegenden Studie wurden für die Erstellung von Verlaufsmustern auf der Basis der vorhandenen Datenquellen Biografien der Jugendlichen erstellt. Ein Fallbeispiel soll einen der im Sample vorhandenen schwierigen Verläufe im Folgenden näher illustrieren6: Die Risikokarriere innerhalb des Systems der Jugendhilfe beginnt für einen der befragten Jugendlichen, im Folgenden „Sven“ genannt, im frühen Alter. Nachdem er bereits mit drei Jahren im Kindergarten gegenüber einer Erzieherin mit Aggressionen aufgefallen ist, wird bei ihm ADHS diagnostiziert und er wird häufig im Krankenhaus stationär behandelt. Zur gleichen Zeit lassen sich seine Eltern scheiden und er zeigt autoaggressives Verhalten. Die erste institutionelle Betreuung durch die Jugendhilfe beginnt mit etwa sieben Jahren. Auf der Förderschule zeigt er wiederholt problematisches Sozialverhalten, fällt mit Gewalt auf und erhält mehrere Disziplinarmaßnahmen. Mit etwa neun Jahren erfolgt die Trennung seiner Mutter von seinem ersten Stiefvater. Mit 12 Jahren kommt er in die zweite institutionelle Betreuung und erhält zusätzliche Unterstützung von der Jugendhilfe. Während dieser Zeit verstärken sich die Verhaltensauffälligkeiten und die Gewaltvorfälle in der Schule, die er in diesem Zusammenhang wechselt. Er ist in einen gewaltsamen Zwischenfall, bei dem ein Polizist verletzt wird, involviert und konsumiert in regelmäßigen Abständen Al4
Moffitt, Adolescence-limited and life-course-persistent antisocial behavior: A developmental taxonomy, 1993, S. 676. 5 Vgl. Boers, in: Bundesministerium für Justiz, Das Jugendkriminalrecht vor neuen Herausforderungen, 2009. 6 Meier (Fn. 2), S. 33 ff.
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kohol und Drogen. Er verübt – immer noch unter 14 Jahre alt und demnach nicht strafmündig – Diebstähle, Gewaltdelikte sowie Sachbeschädigungen. Während dieser Zeit reißt der Kontakt zu seinem Vater ab und seine Großmutter, eine sehr wichtige Bezugsperson, stirbt. Mit 14 Jahren wird er bereits das dritte Mal in einer Institution der Jugendhilfe stationär untergebracht und läuft aus der Einrichtung mehrfach weg. Er wird durch das Jugendamt sowie die Jugendhilfe im Strafverfahren unterstützt. Im selben Alter wird er von der Schule ausgeschlossen und es gibt weitere Konflikte mit der Justiz. Nach einem erneuten Schulwechsel fehlt er auch dort häufig und konsumiert weiterhin Drogen und Alkohol. In der Zwischenzeit kommt es zu Problemen mit seinem zweiten Stiefvater. Mit 16 Jahren wird er von der institutionellen Betreuung ausgeschlossen und verlässt die Schule ohne Abschluss. Er wird nach einer Gerichtsverhandlung zu Antiaggressionstraining und Sozialstunden verurteilt. Weitere Straftaten folgen und er fällt aus dem System der Jugendhilfe heraus, wird obdachlos und endet im Jugendstrafvollzug (Zeitpunkt des Interviews). So individuell und eindrücklich diese Biografie von „Sven“ ist, es lassen sich dennoch Gemeinsamkeiten mit anderen Risikokarrieren herausarbeiten. Ein wichtiger methodischer Schritt war es deshalb nach der Erstellung individueller biografischer Verläufe, die im Sample vorhandenen verschiedenen Verläufe bzw. Risikokarrieren zu identifizieren. Insgesamt wurden fünf Muster von Karrieren zwischen Justiz und Jugendhilfe – in einer Retroperspektive – mittels einer qualitativen Typenbildung rekonstruiert. Mit ihnen werden Problemstellen, Hilfebedarfe, Belastungen und Verläufe ausdifferenziert, wodurch insbesondere auch spezifische Herausforderungen für eine gelingende und passgenaue Fallbearbeitung der Kinder- und Jugendhilfe, aber auch für das Handeln anderer institutioneller Akteure, besser sichtbar werden.7 Diese Verlaufsmuster werden im Folgenden kurz dargestellt. Das erste Muster umfasst delinquente Jugendliche mit einer Karriere im System der Kinder- und Jugendhilfe, also die „klassische Heimkarriere“ (Zitat eines Jugendlichen) bzw. die Unterbringung bei Pflegefamilien und in stationären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe. Das zweite Muster bilden Jugendliche, die bereits vom Hilfesystem unterstützt wurden – hauptsächlich wegen familiärer Probleme –, bevor die delinquente Karriere begann. Delinquenz ist – so das dritte Muster – für einige der einzige Grund für den Jugendhilfekontakt. Für eine vierte Gruppe hat das Suchtverhalten den Haupteinfluss auf die „Hilfe-Karriere“.8 Als fünftes Muster hat eine kleine Gruppe ihren ersten Kontakt zur Jugendhilfe erst sehr spät, und zwar im Rahmen von Jugendstrafverfahren zur Jugendgerichtshilfe. 7
Meier (Fn. 2), S. 31 ff. Anm.: Hier konnte eine Angebotslücke im System identifiziert werden: So erfordern Angebote der Jugendhilfe vielfach Suchtfreiheit in ihren Angeboten (wie beispielsweise in Anti-Gewalt-Trainings) und senden die Jugendlichen zunächst zu Angeboten der Suchthilfe. Diese Angebote wiederum nehmen die Gruppe der sucht- und gewaltbelasteten Jugendlichen nicht auf, da sie gewalttätigen Jugendlichen nicht helfen können und zuerst ein Anti-GewaltTraining als erforderlich sehen – eine Lücke, die von der Fachpraxis erst allmählich mit spezialisierten Angeboten in den Blick genommen wird. 8
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V. Zeitfenster für Desistance Im Folgenden werden schließlich Konstellationen, die aus Sicht der Jugendlichen bzw. der fallführenden Fachkräfte Zeitfenster für Desistance eröffnen bzw. schließen, analysiert. In der Desistanceforschung stehen Prozesse oder Zeitpunkte des Abbruchs krimineller Karrieren im Mittelpunkt. Es werden unter anderem stabile Paarbeziehungen und Berufsperspektiven als wichtige Turning Points beschrieben9 – eine Stabilität, die bei den vorliegenden schwierigen Verläufen oftmals (noch) nicht gegeben ist. Die Interviews verweisen dagegen auf eine Vielzahl von Brüchen in den Lebensverläufen der jungen Menschen. Einige dieser Brüche waren nicht vermeidbar (Tod, Trennungen), bei anderen Brüchen sehen die Jugendlichen diejenigen Institutionen in der Verantwortung, die sie eigentlich schützen sollen: Aus Adressatensicht – sowie vereinzelt aus Sicht der Fachkräfte – wären (in der Rückschau) Brüche durch Schulwechsel, Betreuungswechsel, unpassende Hilfen oder wenig abgestimmte Sanktionen vermeidbar oder zumindest besser begleitbar gewesen. Auch wird das Jugendamt in einigen Fällen als strafende Kontrollinstanz beschrieben, welches das Kind/den Jugendlichen aus der Familie nehmen will und dem deshalb nicht vertraut werden könne.10 Den beteiligten Fachkräften ist in diesem Beispiel die ablehnende Haltung der Familie insgesamt gegenüber allen Behörden bewusst, so dass „eine konstruktive Zusammenarbeit kaum möglich“ erscheint.11 Aus elterlicher Sicht wird die eigene ablehnende Haltung mit Stigmatisierungs- und Diskriminierungserfahrungen durch Behörden begründet. Den Wechsel – die vielen „Jugendamtstanten“, die nicht wirklich mit dem Jugendlichen zurechtkamen12 – beschreibt auch ein weiterer Adressat. Dieser wurde bereits früh wegen Kindeswohlgefährdung in der eigenen Familie in einem Heim untergebracht und wechselte dann zwischen unterschiedlichen stationären Eichrichtungen – und auch Kinder- und Jugendpsychiatrien.13 Der Jugendliche fühlt sich von den Ämtern bevormundet, die sich selbst wiederum angesichts der schwierigen familiären Situation und des schweren Zugangs zu ihm überfordert fühlen und „nicht so recht wussten, was sie mit ihm machen sollten“ – so eine mit dem Fall betraute Fachkraft der Jugendhilfe.14 Bereits in der Schule werden die Multiproblemlagen eines großen Teils der befragten Jugendlichen sichtbar und vor allem der Übergang von der je nach Bundesland bis zur sechsten Jahrgangsstufe dauernden Grundschule in weiterführende Schulen zeigt sich als sehr schwierig.15 Ein großer Teil der befragten jungen Männer hat keinen Schulabschluss und musste mehrfach die Schule wechseln. Als Gründe für die häufigen Schulwechsel werden Probleme 9 Sampson/Laub, Crime in the Making. Pathways and Turning Points Through Life, 1993; Stelly/Thomas, in: Boeger, Jugendliche Intensivtäter. Interdisziplinäre Perspektiven, 2011. 10 Meier (Fn. 2), S. 47. 11 Meier (Fn. 2), S. 47. 12 Meier (Fn. 2), S. 56. 13 Meier (Fn. 2), S. 56. 14 Meier (Fn. 2), S. 60. 15 Meier (Fn. 2), S. 67.
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in der Schule, Schulversäumnisse und Delinquenz in der Schule aufgeführt. Neben Anerkennung durch Peers werden von den Adressaten selbst persönliche (materielle) Probleme und individuelle Sorgen (z. B. bei Krankheiten in der Familie) als Gründe für Straftaten und damit das Verbleiben in der delinquenten Karriere angeführt. Auf die Frage, was sie in ihrer kriminellen Karriere hätte stoppen können, wird von den Adressaten immer wieder das Gefängnis genannt. Dabei ist diese Nennung bei der genaueren Analyse nicht so eindeutig. Es werden zwar von einigen Jugendlichen Ängste und ein gewisser Abschreckungseffekt im Vorfeld eines Strafvollzugs beschrieben, diese lösen sich jedoch im Vollzug oftmals auf – so dass allein aufgrund dieser Sanktion kein positiver Einfluss auf die Legalbewährung zu erwarten ist.16 Retroperspektivisch erscheinen den Jugendlichen selbst für eine erfolgreiche Desistance – einheitlich mit den Ergebnissen von Stelly & Thomas17 – die individuelle altersbedingte Entwicklung, eine feste Partnerschaft oder berufliche Stabilität als zentrale Erklärungsfaktoren für den Abbruch delinquenten Verhaltens. Die vielfältigen Hilfen, Angebote und Projekte der Jugendhilfe, die diese schwierige Gruppe der besonders belasteten Jugendlichen durchlaufen haben, konnten zumindest die delinquente Karriere bei den in der Studie befragten Jugendlichen nicht verhindern bzw. beenden.18 Zeitfenster für Desistance, die durch Angebote der Kinder- und Jugendhilfe geöffnet werden könnten, werden auch seitens der Adressaten geschlossen. So schreiben sich einige Jugendliche das Scheitern von Projekten und Hilfen der Jugendhilfe selbst zu.19 Diese einseitige Zuschreibung erfolgt teilweise auch in den Fachkräfteinterviews, die in einigen Fällen die Verantwortung am Scheitern von Maßnahmen ausschließlich den Adressaten selbst geben.20 In ihrer Untersuchung zentraler Wirkfaktoren erzieherischer Hilfen stellen Macsenaere & Knab21 fest, dass die Ausgangslage der jungen Menschen ein wesentlicher Faktor hinsichtlich der Hilfeverläufe sowie der Wirksamkeit von Hilfen ist und es gerade mit Blick auf straffällige junge Menschen einen sehr hohen Anteil an vorzeitig oder unplanmäßig beendeten Hilfemaßnahmen und damit eine hohe Misserfolgswahrscheinlichkeit von Hilfen gibt. Wichtige Faktoren sind des Weiteren die Passung der Hilfen, eine Partizipation der Jugendlichen (und ihrer Eltern) und die Beziehungsqualität zwischen den Adressaten und den Fachkräften.22 Die Interviews zeigen deutlich, dass der Zugang zu der Gruppe der besonders schwer belastenden Jugendlichen (und 16
Meier (Fn. 2), S. 49 f. Stelly/Thomas (Fn. 9). 18 Meier (Fn. 2), S. 77. 19 Meier (Fn. 2), S. 52. 20 Meier (Fn. 2), S. 52. 21 Macsenaere/Knab, Evaluationsstudie erzieherischer Hilfen (EVAS). Eine Einführung, 2004. 22 Wolf, in: Institut für Soziale Arbeit e.V., Wirkungsorientierte Jugendhilfe, Band 4, 2007 (www.wirkungsorientierte-jugendhilfe.de/seiten/download.html, Aufruf 21. 03. 2018); RätzHeinisch, Gelingende Jugendhilfe bei „aussichtslosen Fällen“! Biographische Rekonstruktion von Lebensgeschichten junger Menschen, 2005. 17
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deren Familien) durch die Jugendhilfe mangelhaft verlaufen ist. Es gelingt hier meist nicht, ein belastbares Arbeitsbündnis herzustellen. Weit häufiger ist der Kontakt von Instabilität, Misstrauen und dysfunktionalen Arbeitsbeziehungen geprägt. Das Scheitern, eine Beziehung herzustellen und Vertrauen aufzubauen, hat unterschiedliche Gründe: Diese können individuell bei den Adressaten gefunden werden, aber auch in den Institutionen und in der Zusammenarbeit zwischen den Institutionen. Für eine gelingende Arbeitsbeziehung ist es wichtig, Stabilität mit Kontinuität anzubieten; dies kann aber durch wechselnde Fachkräfte und wechselnde Zuständigkeiten nicht immer gewährleistet werden. Die Aktenanalysen, aber auch die Erzählungen der Jugendlichen legen immer wieder offen, dass ihre eigene Beteiligung an der weiteren Bearbeitung ihrer Problemstellen und ihres weiteren Lebensweges – also ihre „Partizipation“, ein zentraler Parameter in der deutschen Kinder- und Jugendhilfe – nicht aktiviert wurde. Die Auswertung der Interviews zeigt darüber hinaus, dass eine Bearbeitung des Hauptproblems des Jugendlichen teilweise nicht erfolgte, insbesondere wenn dieses zuvor nicht sorgfältig identifiziert wurde. Um Problemeskalationen frühzeitig zu erkennen, ist eine frühe Zusammenarbeit mit der Schule wichtig, die bei den befragten Jugendlichen jedoch häufig ausblieb. Nur wenn Angebote und Hilfen passend zu den Bedarfen sind, kann verhindert werden, dass Jugendliche Maßnahmen der Jugendhilfe abbrechen. Insgesamt wird deutlich, dass die Übergänge besonders vulnerable Momente der Verläufe darstellen, d. h. insbesondere die Nachsorge nach dem Jugendstrafvollzug oder dem Jugendarrest sowie nach Maßnahmen der Jugendhilfe gelingen in diesen schwierigen Fällen oftmals nicht.
VI. Fazit Die biografischen Wendepunkte und individuellen Zuschreibungen von Zeitpunkten und Möglichkeiten von Abbrüchen delinquenter Karrieren in einer Retroperspektive aus Adressatensicht herauszuarbeiten trägt zur Erweiterung des Wissens über Desistanceprozesse bei. Auch wenn klassische Erklärungen hier zu überwiegen scheinen (stabile Partnerschaft, Berufsperspektive etc.), gibt es weit mehr Gegebenheiten, die Zeitfenster für Abbrüche krimineller Karrieren öffnen – oder eben auch sehr schnell wieder schließen. So lassen persönliche Schicksalsschläge auch eine gute Vorbereitung von Übergängen plötzlich einbrechen, weil dadurch die grundlegende Basis, der grundlegende Halt an vielen Stellen fehlt. Es können sich dafür aber auch an anderer Stelle Möglichkeiten für Turning Points eröffnen. Für die pädagogische Arbeit mit dieser besonders belasteten Gruppe von jungen Menschen bedeutet dies – trotz vieler Brüche, Verschiebungen und Lücken zwischen Jugendhilfe und Justiz – den Jugendlichen immer wieder neue Beziehungsangebote zu machen und auf eine Kontinuität und Stabilisierung des alltäglichen Lebens dieser Jugendlichen hinzuarbeiten.
II. Jugendstrafrecht
Verurteilte ohne Rechtsschutz? – Neue Ausjustierung des § 55 Abs. 2 S. 1 JGG Von Werner Beulke
I. Wer anlässlich des 80. Geburtstags von Ulrich Eisenberg einen Beitrag verfassen möchte, der zum Interessenspektrum des Jubilars passt, hat angesichts seines unglaublich breiten Schaffens die Qual der Wahl. Grundsätzliche Fragestellungen liebt er gleichermaßen wie akribische Detailarbeit. Deshalb erscheint es mir zulässig, auch hier ein ganz spezielles Problem aus dem von Ulrich Eisenberg in seinem JGGKommentar so glänzend aufgearbeiteten Jugendstrafrecht aufzugreifen, bei dem mich der Jubilar von der Notwendigkeit eines eigenen Meinungswandels überzeugt hat. Es geht um die Rechtsmittelbeschränkung gemäß § 55 Abs. 2 JGG, also um das Wahlrechtsmittel, das jedem nach materiellem Jugendstrafrecht Verurteilten die Entscheidung abverlangt, ob er entweder Berufung oder Revision einlegen will. In der rechtspolitischen Debatte hat diese Begrenzung der Anfechtbarkeit jugendstrafrechtlicher Urteile inzwischen einen schweren Stand – nicht zuletzt unter dem von Eisenberg entwickelten Verbot der Benachteiligung Jugendlicher (und Heranwachsender) gegenüber Erwachsenen in vergleichbarer Verfahrenslage1. Trotz der starken Anerkennung, die unser Jubilar diesbezüglich gefunden hat, möchte ich meine schon lange währende Skepsis diesem Rechtsinstitut gegenüber nicht vorschnell preisgeben, denn viele materiell- und verfahrensrechtliche Besonderheiten des Jugendstrafverfahrens erscheinen mir bis heute sinnvoll und auch de lege ferenda erhaltenswert, da hier bei Beachtung des Schuldprinzips als Obergrenze der jugendstrafrechtlichen Sanktionierung nicht verbotenerweise Gleiches ungleich, sondern zulässigerweise Ungleiches verschieden behandelt wird2. Gleichwohl ist nicht zu leugnen, dass ein zeitgemäßes Jugendstrafrecht u. U. auch vertraute Pfade verlassen und gefundene 1 Eisenberg, JGG, 20. Aufl. 2018, § 2 Rn. 11 ff., § 18 Rn. 4, 23, 30; zust. u. a. Dünkel, RdJB 2014, 294; vgl. auch Altenhain, NStZ 2011, 272. 2 Beulke, GA 1999, 143 (145); Beulke/Dittrich/Mann, DVJJ-Journal 2002, 122 (123 f.); Schaffstein/Beulke/Swoboda, Jugendstrafrecht, 15. Aufl. 2014, Rn. 30, 570, 806; Brunner/ Dölling, JGG, 13. Aufl. 2018, Einf. Rn. 111; HK/Schatz, JGG, 7. Aufl. 2015, § 55 Rn. 6; Streng, Jugendstrafrecht, 4. Aufl. 2016, Rn. 13, 19; Fahl, in: Amelung, FS Schreiber, 2003, S. 63; Meier/Rössner/Trüg/Wolf, JGG, 2011, § 2 Rn. 30.
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Lösungen stets aufs Neue danach hinterfragen muss, ob geortete Nachteile bei der Behandlung junger Straftäter wirklich durch weit größere erzieherische Vorteile aufgewogen werden. Auch als leidenschaftlicher Befürworter des zeitlosen Erziehungsgedankens, dem ich als bewährtes und sinnvolles Leitmotiv des Jugendstrafrechts nach wie vor die Treue halte3, scheue ich den Vergleich zwischen Jugend- und Erwachsenenstrafrecht nicht und befürworte z. B. die – gerade von Eisenberg mitgestaltete – lebhafte Debatte über die Beibehaltung oder Abkehr von einem eigenständigen jugendstrafrechtlichen Schuldbegriff – allerdings mit offenem Ergebnis in der Sache4. Aus meiner Sicht ist der Gesetzgeber inzwischen (nach der erfreulichen Verankerung des Erziehungsgedankens in § 2 Abs. 1 S. 2 JGG) bei der Angleichung an das Erwachsenenstrafrecht bedauerlicherweise sowohl im materiellen Recht (eines von vielen Stichworten: heranwachsende Mörder5) als auch im Verfahrensrecht (beispielhaft: Nebenklage bei Jugendlichen6) eher zu forsch vorangeschritten7. Das Gebot der Stunde ist keine Rückbesinnung auf ein Tatstrafrecht und auf ein schneidiges Strafverfahrensrecht für junge Beschuldigte8, vielmehr geht es um Randkorrekturen bei Einzelfragen, wenn eine nähere Prüfung offenbart, dass der Erziehungsgedanke als vorgeschobenes Vehikel, also als brüchiges Alibi dient, jungen Beschuldigten sinnvolle rechtsstaatliche Garantien vorzuenthalten, die im Erwachsenenstrafrecht zum Standardprogramm zählen. Es gehört zu den großen Verdiensten des Jubilars, derartige „Schwachstellen“ aufzudecken und dringend gebotene Korrekturen einzufordern und es ist deshalb kein Zufall, dass gerade seine Kommentierung zu der hier aufgeworfenen Problematik des § 55 Abs. 2 JGG bei mir einschlägiges Problembewusstsein verstärkt hat. Es geht mir also nicht um eine pauschale Ablehnung der von manchen Autoren als verfassungswidrig verfemten generellen jugendstrafrechtlichen Beschränkung der Rechtsmittel auf eine Instanz9. Das Wahlrechtsmittel basiert auf der mir immer noch einleuchtenden Erwägung, dass gerade bei jungen Menschen die Reaktion auf eine Regelwidrigkeit je größere erzieherische Wirkung entfaltet, desto zeitnaher sie erfolgt. Trotz der im Jugendstrafverfahren nur höchst mangelhaften Umsetzbar3
So u. a. auch Brunner/Dölling, JGG (Fn. 2), Einf. Rn. 86; HK/Schatz, JGG (Fn. 2), § 55 Rn. 6; Ostendorf/Drenkhahn, Jugendstrafrecht, 9. Aufl. 2017, Rn. 160; Zweifel hingegen bei Eisenberg, JGG (Fn. 1), § 2 Rn. 7 ff., § 55 Rn. 35; Bottke, ZStW 95 (1983), 69 (102); MeyerGoßner, in: Müller/Sander/Válková, FS für Ulrich Eisenberg zum 70. Geburtstag, 2009, S. 399 (409); Dünkel, ZJJ 2015, 19; Ostendorf/Schady, JGG, 10. Aufl. 2016, grdl. zu §§ 55 und 56 Rn. 6; siehe auch Laubenthal/Baier/Nestler, Jugendstrafrecht, 3. Aufl. 2015, Rn. 3. 4 Dazu statt aller Eisenberg, JGG (Fn. 1), § 18 Rn. 35 ff.; Streng, GA 2017, 80. 5 Dazu Eisenberg, NK 2016, 389. 6 Dazu Eisenberg, ZJJ 2016, 33 (35); ders., StraFo 2017, 283. 7 Siehe dazu auch Swoboda, in: Fahl et al., FS Beulke, 2015, S. 1229; dies., ZStW 125 (2013), 86. 8 Beulke, in: Rotsch/Brüning/Schady, FS Ostendorf, 2015, S. 57; ders., in: Safferling et al., FS Streng, 2017, S. 403. 9 Albrecht, Jugendstrafrecht, 3. Aufl. 2000, § 48 A II 3 c, S. 386; dazu ausführlich Schaffstein/Beulke/Swoboda (Fn. 2), Rn. 806.
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keit dieses „Beschleunigungsgebots“ erscheint die Kappung extremer Rechtsmittelmöglichkeiten erzieherisch sinnvoll und auch im Lichte eines Gleichheits- und Rechtsstaatsgebots akzeptabel. Indes sollten diese aus der speziellen Erziehungssituation junger Beschuldigter abgeleiteten Erwägungen nicht als Fetisch gehandhabt werden. Vielmehr bedarf deren Umsetzung in den jeweils speziellen Konstellationen kritischer Hinterfragung – und zwar insbesondere, wenn es nicht um Jugendliche, sondern um Heranwachsende geht, weil hier besonders häufig im Zeitpunkt der Verurteilung bereits das Erwachsenenalter (ab dem 21. Geburtstag) erreicht ist. Gerade bei der Auslegung des § 55 Abs. 2 StGB scheint insofern bei den Jugendgerichten und Jugendstrafrechtlern Nachholbedarf zu bestehen – unter Einbeziehung der eigenen Person! Konkret geht es um folgende Rechtsmittel-Konstellation eines inzwischen erwachsenen Angeklagten, der die Straftat als Heranwachsender begangen hat: Dem inzwischen 25-jährigen Beschuldigten B wird zur Last gelegt, als Heranwachsender im Alter von 20 Jahren wiederholt Wohnungseinbruchsdiebstähle in dauerhaft genutzte Privatwohnungen begangen zu haben (§ 244 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 4 StGB). Die Anklage in erster Instanz erfolgt zum Jugendschöffengericht. Das Jugendschöffengericht verneint eine Anwendung des Jugendstrafrechts sowohl hinsichtlich der Nr. 1 als auch der Nr. 2 des § 105 Abs. 1 JGG und verurteilt B in Übereinstimmung mit dem Antrag der Staatsanwaltschaft nach Erwachsenenstrafrecht zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren. Auf die Berufung des Angeklagten entscheidet beim LG die große Jugendkammer (§ 41 Abs. 2 S. 1 i.V.m. § 33b Abs. 1 Halbs. 1 JGG) und wendet Jugendstrafrecht an, weil die Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des B bei Berücksichtigung auch der Umweltbedingungen ergebe, dass B zur Tatzeit nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand (§ 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG). Wegen Schwere der Schuld wird B zu einer Jugendstrafe verurteilt (§§ 17 Abs. 2, 105 Abs. 1 JGG), deren Dauer auf drei Jahre bemessen wird (§§ 18, 105 Abs. 1 JGG). In den Urteilsgründen heißt es: Da B inzwischen über 25 Jahre alt sei, sei die „erforderliche erzieherische Einwirkung“ kein geeignetes Bemessungskriterium, vielmehr müsse sich die Dauer der Jugendstrafe ausschließlich am Maßstab des Erwachsenenstrafrechts orientieren. Nach Ansicht der Kammer sei – in Übereinstimmung mit dem Antrag der Staatsanwaltschaft und dem erstinstanzlichen Urteil – eine dreijährige Jugendstrafe angemessen und erforderlich.
II. Es handelt sich um einen fiktiven Fall ohne Verbindung zu eigenen forensischen Erfahrungen, den ich nur deshalb relativ extrem gebildet habe, um die Problematik stärker herauszuarbeiten. Es wäre kaum vorstellbar, dass er sich so in der Praxis ereignete, gleichwohl weist er Grundstrukturen auf, die auch immer wieder die Gerichte beschäftigen.
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Zunächst folgen einige nur kurze Ausführungen zur materiellen Rechtslage, die hier nicht weiter vertieft werden soll, weil das Thema von mir bereits anderweitig behandelt wurde10. Es geht um die Bestrafung von erwachsenen Angeklagten, die als Heranwachsende Straftaten begangen haben, die erst in späteren Jahren, in denen der Angeklagte bereits erwachsen ist, zur Aburteilung gelangen. Wenn das Tatgericht Jugendstrafrecht anwendet, was im Einzelfall zwingend erscheinen kann, weil § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG nicht auf den Reifestand im Zeitpunkt der Verurteilung, sondern den der Tat abstellt, so ergibt sich bei Verhängung einer Jugendstrafe das kaum sachgerecht auflösbare Dilemma, dass nach dem Wortlaut des § 18 Abs. 2 JGG die Jugendstrafe ausschließlich so zu bemessen ist, „dass die erforderliche erzieherische Einwirkung möglich ist“. Bekanntlich war dies sowohl im sog. Ersten Auschwitz-Prozess vor dem LG Frankfurt in den 60er Jahren als auch in den Mauerschützenprozessen nach der „Wende“ angesichts der Jahrzehnte zurückliegenden Tatzeiten ein lebhaft diskutiertes Thema. Aber auch jenseits dieser spektakulären Fälle müssen sich Jugendgerichte nicht selten mit der Frage der Bemessung der Jugendstrafe bei Erwachsenen beschäftigen. Unser Jubilar ist auch bei dieser Problematik wie so oft Vorreiter einer neuen Sichtweise. In einer von ihm initiierten Dissertation vertritt Budelmann11 den Standpunkt, bei Angeklagten, die älter als 21 Jahre sind, sei die Verhängung von Jugendstrafe „wegen schädlicher Neigungen“ verfassungswidrig und für die Jugendstrafe „wegen Schwere der Schuld“ dürften bei diesem Personenkreis erzieherisch bedingte Erwägungen generell keine Rolle spielen. Dem hat sich unser Jubilar zwar in dieser Radikalität nicht angeschlossen, auch er hält jedoch eine Orientierung am Erziehungsgedanken jedenfalls ab dem 24. Lebensjahr des Angeklagten für problematisch12. In einer Entscheidung aus dem Jahre 2015 hat der BGH zu erkennen gegeben, dass er mit dieser Sichtweise von Eisenberg sympathisiert13. Andererseits gibt es – soweit ersichtlich – bisher kein höchstrichterliches Urteil, das bei 25-jährigen Verurteilten bei der Bemessung der Jugendstrafe Erwachsenenmaßstäbe ohne jede Abstriche uneingeschränkt umsetzt. Nach derzeitigem Stand der Rechtsprechung kommt der Vollendung des 21. oder des 24. Lebensjahres für die Bemessung der Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld keine strikte Zäsurwirkung zu, vielmehr wirkt das Erziehungsprinzip auch in das Erwachsenenalter hinein, wenn auch bei steigendem Alter des Angeklagten mit jeweils sinkender Intensität14. Das erscheint innerhalb der neueren Rechtsprechung des BGH durchaus systemgerecht. Der BGH verlangt zwar auch bei der Verhängung der Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld, dass sie aus erzieherischen Gründen zum Wohle des Ju10
Beulke, FS Streng (Fn. 8), S. 403 (410). Budelmann, Jugendstrafrecht für Erwachsene?, 2005, S. 105 ff. 12 Eisenberg, JGG (Fn. 1), § 1 Rn. 18a, § 17 Rn. 34a f., § 18 Rn. 32; ders., NStZ 2000, 483; siehe auch BGH, NStZ 2013, 658 m. krit. Bespr. Eisenberg, NStZ 2013, 636 (637). 13 BGH, NStZ 2016, 101 m. krit. Anm. Sonnen, ZJJ 2016, 76; zust. LG Ravensburg, NStZ RR-2016, 227; krit. dazu Beulke, FS Streng (Fn. 8), S. 403; Eisenberg, JGG (Fn. 1), § 1 Rn. 18a; Höynck, ZJJ 2016, 305. 14 Einzelheiten bei Beulke, FS Streng (Fn. 8), S. 403 (413). 11
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gendlichen erforderlich ist15, und bei der Bemessung dieser wegen Schwere der Schuld verhängten Jugendstrafe, dass sie auf erzieherische Gesichtspunkte ausgerichtet ist – aber letztlich doch nur „vorrangig“16. So sei bei Gewaltdelikten mit erheblichen Folgen für das Opfer auch das Erfordernis gerechten Schuldausgleichs relevant. Erziehungsgedanke und Schuldausgleich sollen dabei „regelmäßig nicht in Widerspruch stehen“17. Ob diese Rechtsprechung mit § 18 Abs. 2 JGG vereinbar ist, insbesondere sofern sie eine Strafhöhe legitimiert, die nach erzieherischen Grundsätzen als ungeeignet zu beurteilen ist, mag man mit Fug und Recht bezweifeln18. Die Rechtsprechung bleibt aber jedenfalls insoweit in sich stimmig, als sie hervorhebt, bei älteren Angeklagten komme dem Erziehungsgedanken „allenfalls ein geringes Gewicht“ zu19. Die erzieherische Notwendigkeit einer angemessenen Reaktion auf die Straftat verliert in der neueren Rechtsprechung bei der Bewältigung schwerster Kriminalität Schritt für Schritt an Bedeutung, für den „Durchschnittsfall“ bleibt sie aber Leitmotiv der Strafzumessung – in abgeschwächter Form eben auch bei inzwischen erwachsenen Angeklagten20. Die in unserem Beispielsfall von der Jugendkammer verhängte dreijährige Jugendstrafe, bei der aus grundsätzlichen Erwägungen ausdrücklich von der Prüfung erzieherischer Gesichtspunkte gänzlich Abstand genommen und bei der die vom erstinstanzlichen Gericht unter der Ägide des Erwachsenenstrafrechts ausgesprochene dreijährige Freiheitsstrafe der Dauer nach eins zu eins beibehalten und ihr nur das neue Etikett der Jugendstrafe angeheftet wird, steht in dieser Radikalität nicht in Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung. Das Gericht hätte die erzieherischen Gesichtspunkte abwägen und letztlich in eine schlüssige Gesamtwertung im Lichte des § 18 Abs. 2 JGG einbringen müssen21. Auch Eisenberg stellt ausdrücklich klar, dass das erreichte Erwachsenenstadium die dogmatische Einordung der Sanktion als Jugendstrafe nicht aufzuheben vermag22. Zwar „verbiete sich dann der Erziehungsgedanke von selbst“23, gleichwohl verbleibe es bei der besonderen Orientierung an den zukunftsorientierten Inhalten der §§ 2 Abs. 1, 18 Abs. 2 JGG sowie an dem Wohl des Verurteilten24. Nach heutiger gerichtlicher Praxis und auch nach Ansicht der Skeptiker hinsichtlich einer „erzie15
BGH, StV 1994, 598; dazu Eisenberg, JGG (Fn. 1), § 17 Rn. 34. BGH, StV 2011, 588. 17 BGH, StV 2017, 710. 18 Ausf. Eisenberg, JGG (Fn. 1), § 18 Rn. 35, § 17 Rn. 33 ff.; Zieger/Nöding, Verteidigung in Jugendstrafsachen, 7. Aufl. 2018, Rn. 68, 70. 19 BGH, NStZ 2016, 101. 20 Statistisch betrachtet werden allerdings nach Jugendstrafrecht verurteilte junge Volljährige im Vergleich zu Erwachsenen durchaus nicht immer milder bestraft, siehe Heinz, ZJJ 2017, 115. 21 Siehe BGH, StV 2017, 715; OLG Hamm, StV 2017, 719; Brunner/Dölling, JGG (Fn. 2), § 18 Rn. 13 ff.; HK/Diemer, JGG (Fn. 2), § 17 Rn. 21. 22 Eisenberg, JA 2016, 623 (627) bei einem inzwischen 29-jährigen Angeklagten; siehe auch Eisenberg, ZJJ 2016, 300. 23 Ebenso Laubenthal/Baier/Nestler (Fn. 3), Rn. 758. 24 Eisenberg, JGG (Fn. 1), § 18 Rn. 32; Eisenberg, JA 2016, 623 (627). 16
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hungsorientierten“ Strafbemessung bei den über 24-Jährigen, die zu einer Jugendstrafe verurteilt worden sind, würde also das Urteil, das sich allein am Erwachsenenrecht orientiert, einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht standhalten25.
III. Damit nähern wir uns dem prozessualen Hauptproblem des oben skizzierten Beispielsfalles: Steht dem B noch die Möglichkeit offen, das inhaltlich falsche Urteil einer revisionsrechtlichen Kontrolle zu unterziehen? Auf die Staatsanwaltschaft, der unstreitig ein Rechtsmittel zur Verfügung steht, weil sie keine Berufung eingelegt hat, sodass sie nunmehr im Wege der Revision eine Urteilsüberprüfung erzwingen könnte (§§ 55 Abs. 2 S. 1; 109 Abs. 1 S. 1; 2 Abs. 2 JGG; § 333 StPO), kann B nicht bauen, da das Berufungsgericht ihrem Vorschlag hinsichtlich der Höhe der zu verhängenden Jugendstrafe gefolgt ist. Es wäre zwar nicht unzulässig, in der Praxis aber doch höchst unwahrscheinlich, dass innerhalb der Staatsanwaltschaft ein Sinneswandel stattfindet und ihrerseits nach Urteilsfällung das eigene Wunschergebnis wegen ein verfehlten Begründung bekämpft wird. Bei realistischer Betrachtungsweise kommt also nur eine von B selbst betriebene Revision in Betracht, die daran scheitern könnte, dass er bereits das Rechtsmittel der Berufung ausgeschöpft hat und § 55 Abs. 2 JGG im Prinzip eben nur ein (Wahl-)Rechtsmittel zur Verfügung stellt. Wer die Chance der Berufung genutzt hat, dem soll eine nochmalige Überprüfung durch das Revisionsgericht vorenthalten bleiben26. Gleichwohl ist damit aber nur die halbe Wahrheit ausgesprochen. Zwar soll nach dem Wortlaut des § 55 Abs. 2 S. 1 JGG derjenige nicht mehr Revision einlegen können, der „eine zulässige Berufung eingelegt hat“, andererseits hat hier das Berufungsgericht erstmals Jugendstrafrecht angewandt, sodass es unter dem Blickwinkel des Jugendstrafrechts gerade nicht zu einer von § 55 Abs. 2 JGG offensichtlich nicht gewollten „doppelten Überprüfung“ jugendrechtlicher Sanktionen kommt. Das wäre eigentlich eine Konstellation, die in § 109 JGG einer gesonderten Regelung bedurft hätte. Leider schweigt diese Norm jedoch insoweit und begnügt sich über den Pauschalverweis mit einer generellen Anerkennung des § 55 JGG (und somit auch seines zweiten Absatzes) für Heranwachsende. Es springt ins Auge, welch eigentlich überraschende Konsequenz eine solch schrankenlose Anwendung des § 55 JGG zeitigt: Dem Verurteilten wird das Recht vorenthalten, die erstmalige Anwendung des Jugendstrafrechts durch ein höheres Gericht überprüfen zu lassen. Entspricht das wirklich dem, was dem Gesetz vorschwebt, wenn es die mit dem Wahlrechtsmittel verbundenen Einschränkungen auch für Heranwachsende entsprechend anwendbar erklärt?
25 26
Vgl. BGH, NStZ 2016, 683; Eisenberg, JGG (Fn. 1), § 18 Rn. 42. Meier/Rössner/Schöch, Jugendstrafrecht, 2. Aufl. 2007, § 13 Rn. 43.
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IV. Schon ein Blick in die erste Kommentargeneration nach Einbeziehung der Heranwachsenden in das JGG im Jahre 1953 ergibt ein differenziertes Bild. Unter Federführung von Dallinger-Lackner27 versagt die herrschende Lehre in Einklang mit der Rechtsprechung28 dem Angeklagten, der bereits Berufung eingelegt hat, auch dann das Rechtsmittel der Revision, wenn das erstinstanzliche Jugendgericht auf den bei Tatbegehung Heranwachsenden und im Zeitpunkt der Verurteilung Erwachsenen Erwachsenenstrafrecht angewandt hat und erst das Berufungsgericht zur Ansicht gelangt, der Angeklagte sei bezogen auf den Tatzeitpunkt einem Jugendlichen gleichzustellen und müsse deshalb nach Jugendstrafrecht abgeurteilt werden. Entgegengesetzt entscheidet Grethlein29 und gewährt dem Angeklagten das (zusätzliche) Rechtsmittel der Revision. Auch die spätere Rechtsprechung30 sowie die herrschende Ansicht im aktuellen Schrifttum31 meinen, dass die Beschränkung in § 55 Abs. 2 JGG auch dann gilt, wenn das erstinstanzliche Gericht allgemeines Strafrecht, das Berufungsgericht aber materielles Jugendstrafrecht anwendet. Ich selbst habe mich ebenfalls zu dieser Lösung bekannt32. Aber es gibt auch kritische Gegenstimmen. Allen voran hat unser verehrter Jubilar diese Rechtsprechung schon immer für „zweifelhaft“ gehalten33 und seine Zweifel in der 20. Auflage seines Kommentars zum Jugendgerichtsgesetz aus dem Jahr 2018 zudem mit gewichtigen Argumenten untermauert34. Ein weiteres Plädoyer der Gegenansicht stammt von Kutschera in Auseinandersetzung mit einer dem Mainstream folgenden Entscheidung des OLG Karlsruhe aus dem Jahre 2001.35 Von Anfang hat es also Befürworter wie Gegner der Kappung des zweiten Rechtsmittels für Heranwachsende gegeben, sofern diese erst in der Berufungsinstanz dem Recht der jugendlichen Straftäter zugeordnet werden. Wenn der angesehene Staatsanwalt Grethlein von Anfang an wider den Strom schwimmt und auch heute unser Jubilar, der profilierteste und für die jugendgerichtliche Praxis wirkungsmächtigste 27 Dallinger/Lackner, JGG, 2. Aufl. 1965, § 109 Rn. 3; ebenso Potrykus, Kommentar zum JGG, 3. Aufl. 1954, § 55 Rn. 10. 28 OLG Celle, NJW 1956, 521; OLG Oldenburg, NdsRpfl. 1961, 137; BayObLG, ZblJugR 1961, 336. 29 Grethlein, JGG, 2. Aufl. 1954, § 55 Anm. 3c Fn. 25. 30 BGHSt 30, 98 (100); OLG Schleswig, SchlHA 1980, 74; OLG Düsseldorf, MDR 1986, 257; OLG Zweibrücken bei Böhm, NStZ 1991, 523; OLG Karlsruhe, StV 2001, 173; OLG Bamberg, NStZ 2012, 166. 31 Ostendorf/Schady, JGG (Fn. 3), § 55 Rn. 32; NK-GS/Halbritter, 4. Aufl. 2017, § 332 StPO/§ 55 JGG Rn. 18; Meier/Rössner/Trüg/Wolf/Laue, JGG (Fn. 2), § 55 Rn. 36; HK/ Schatz, JGG (Fn. 2), § 55 Rn. 85. 32 Schaffstein/Beulke/Swoboda (Fn. 2), Rn. 810. 33 So z. B. Eisenberg, JGG, 19. Aufl. 2017, § 109 Rn. 35. 34 Eisenberg, JGG (Fn. 1), § 109 Rn. 41. 35 OLG Karlsruhe, StV 2001, 173 m. Anm. Kutschera.
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Kommentator und Rechtswissenschaftler, die herrschende Ansicht ablehnt, so sind wir von einer „ausdiskutierten“ Streitfrage trotz langer Debatte mit eigener eindeutiger Stellungnahme zugunsten der Mehrheitsmeinung noch weit entfernt. Wer hat nun Recht?
V. Die Befürworter der herrschenden Ansicht stützen sich vorrangig auf folgende Hauptargumente: - § 109 Abs. 2 S. 1 JGG verweise ohne jede Einschränkung auf § 55 Abs. 2 JGG. Nach dem Wortlaut des § 109 Abs. 2 S. 1 JGG i. V. m. § 55 Abs. 2 JGG komme es immer auf das Urteil an, gegen das sich die Revision richte, also auf das Berufungsurteil36. - Auch die Gesetzessystematik spreche für die herrschende Ansicht. Für andere Verweise in § 109 Abs. 2 JGG fände die Regelung zweifelsfrei Anwendung, wenn erstmals das Berufungsgericht nach Jugendstrafrecht erkenne37. Das Problem, dass das Berufungsgericht seine Entscheidung selbst „unanfechtbar“ machen kann, wird – soweit ersichtlich – nicht besonders thematisiert. Wenn der Gesetzgeber dem hätte ein Riegel vorschieben wollen, hätte er eben eine Ausnahmeregelung schaffen müssen. - Ferner wird der Erziehungsgedanke bemüht. Er lasse das Eintreten möglichst baldiger Rechtskraft als sinnvoll erscheinen38. - Schließlich wird hervorgehoben, dass das Bundesverfassungsgericht die Regelung des § 55 Abs. 2 JGG unter Hinweis auf das Erziehungsprinzip, das auch für Heranwachsende gelte, für verfassungskonform erklärt habe39. Wenden wir uns nun der auch vom Jubilar vertretenen Gegenansicht zu. Sie hat ebenfalls gewichtige Argumente in die Waagschale zu werfen, die im Folgenden einer besonders intensiven Überprüfung ihrer Stichhaltigkeit unterzogen werden sollen, angereichert um weitere denkbare Einwände, um letztlich entscheiden zu können, ob zu ihren Gunsten die eigene Position aufgegeben werden muss: - Schon die bereits erwähnte Stellungnahme von Grethlein offenbart umfassendes Problembewusstsein, wenn er zutreffend auf den Ausnahmecharakter des § 55 Abs. 2 JGG verweist und hervorhebt, dass § 55 JGG dem zu Jugendstrafrecht Verurteilten jedenfalls ein Rechtsmittel gewähre. Deshalb müsse dem Verurteilten
36
BayObLG, ZblJugR 1961, 336. Dallinger/Lackner, JGG (Fn. 27), § 109 Rn. 13. 38 Schaffstein/Beulke/Swoboda (Fn. 2), Rn. 805 ff. 39 OLG Karlsruhe, StV 2001, 173. 37
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noch ein Rechtsmittel zur Verfügung stehen, wenn das Berufungsgericht zum ersten Mal Jugendstrafrecht anwende: „Eine Ausnahmevorschrift wie § 55 II sollte nicht zu Lasten des Angeklagten einschränkend ausgelegt werden.“40
- Eisenberg stellt vorrangig darauf ab, dass es nicht in der Hand des Gerichts liegen dürfe, sich selbst für „unanfechtbar“ zu erklären41. In der Tat eröffnet sich dem Berufungsgericht in meinem einführend skizzierten Beispielsfall durch einen Übergang vom Erwachsenen- auf das Jugendstrafrecht die Möglichkeit, das eigene Urteil jeglicher Überprüfung zu entziehen. Das mag man auf den ersten Blick für wenig dramatisch halten. Bedenkt man jedoch, dass es vielleicht doch Richter geben könnte, die bei der Entscheidung zumindest unbewusst von der ausbleibenden Kontrolle durch ein Rechtsmittelgericht mit motiviert werden, so verstärken sich doch die Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit (Art. 20 Abs. 3 GG) der hier gewählten Vorgehensweise. Natürlich ist der Beispielsfall krass gewählt, er verdeutlicht aber recht plastisch, welche Gefahren in einer Unanfechtbarkeit schlummern, die die herrschende Ansicht achselzuckend in Kauf zu nehmen scheint. Auch Gerichte sind nicht unfehlbar. Ein Rechtsstaat sollte, wenn möglich bereits im Ansatz, jede Manipulationsmöglichkeit seitens des Gerichts hinsichtlich der Überprüfbarkeit der eigenen Entscheidung ausschließen. - Kutschera42 verweist zu Recht darauf, dass sowohl im Zivilprozessrecht als auch im Verwaltungsprozessrecht lückenlos darauf geachtet wird, dass aus rechtsstaatlichen Gründen nur das Rechtsmittelgericht und nicht das Gericht, dessen Urteil angefochten wird, über die Zulässigkeit des Rechtsmittels entscheiden kann. Es sei kein Grund erkennbar, warum gerade in dem Bereich, in welchem für staatliche Organe die größten Eingriffe in die persönliche Freiheit des Einzelnen möglich sind, die Anfechtbarkeit des Urteils in das Belieben des Instanzgerichts gestellt werden soll (gegen eine solche Lösung spräche auch die Regelung in § 319 Abs. 2 StPO zur Berufung und in § 346 Abs. 2 StPO zur Revision). Auch dieses Argument weist eine starke Plausibilität auf. Die von Kutschera vorgeschlagene Lösung, die Rechtsmittelbeschränkung des § 55 Abs. 2 JGG nur eingreifen zu lassen, wenn Jugendstrafrecht „rechtsfehlerfrei“ angewendet wird, erscheint mir allerdings nicht sinnvoll, denn darüber, ob ein Rechtsfehler begangen wurde, herrscht doch gerade Streit, den das angerufene Gericht entscheiden muss, und zwar nicht in der Zulässigkeitsebene, sondern im Wege der Sachentscheidung. - Es ist völlig unstreitig, dass sich der Grundsatz, im Jugendstrafverfahren stehe jedem Anfechtungsberechtigten stets nur ein Rechtsmittel zur Verfügung „nicht ohne jede Ausnahme streng und konsequent durchführen“ lässt43. Ausnah40
Grethlein, JGG (Fn. 29), § 55 Anm. 3c Fn. 25. Eisenberg, JGG (Fn. 1), § 109 Rn. 41. 42 Kutschera, StV 2001, 174. 43 OLG Celle, NdsRechtspfl. 1962, 88; Dallinger/Lackner, JGG (Fn. 27), § 55 Rn. 32. 41
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men bestätigen die Regel. Diese Ausnahmen sind aber gerade nicht vom Gesetzgeber ausdrücklich entschieden worden, sondern Produkt einer teleologischen Auslegung. So besteht Einigkeit, dass der Heranwachsende sozusagen im umgekehrten Fall zu unserem Ausgangsbeispiel die Möglichkeit hat, gegen ein das allgemeine Recht anwendende Berufungsurteil Revision einzulegen, wenn in erster Instanz Jugendstrafrecht angewandt wurde und er selbst Berufung eingelegt hat44. Ferner hindert § 55 Abs. 2 JGG den Angeklagten nicht an einer weiteren Anfechtung des Urteils mit der Revision, wenn das Berufungsgericht im Berufungsurteil den Schuldspruch erstmalig zulasten des Angeklagten ausweitet, denn sonst bliebe dem Angeklagten jede Möglichkeit einer Anfechtung der zusätzlichen Schuldvorwürfe verwehrt45. Ganz im Sinne einer restriktiven Interpretation des § 55 Abs. 2 JGG wird auch folgende Konstellation entschieden: Wenn in erster Instanz in zwei verschiedenen Verfahren abgeurteilt wird, und der Verurteilte nur gegen eines der beiden Urteile Berufung einlegt, die Staatsanwaltschaft hingegen gegen das andere und dann die Berufungsinstanz diese Verfahren zur gemeinschaftlichen Verhandlung verbindet und nunmehr gem. § 31 JGG eine einheitliche Ahndung ausspricht, so muss dem Angeklagten gegen dieses Urteil umfassend das Rechtsmittel der Revision zustehen, obwohl er bereits Berufung eingelegt hat46. Ausdrücklich wird hervorgehoben, dass sich der in § 55 Abs. 2 JGG normierte Grundsatz, im Jugendstrafverfahren stehe jedem Rechtsmittelführer nur ein Rechtsmittel zu, ersichtlich nicht immer streng und konsequent durchführen lässt. Auch Potrykus47 meint in seiner zustimmenden Anmerkung zu diesem Urteil, dass das Schweigen des Gesetzgebers vielleicht nur besage, dass er die Problematik des § 31 JGG nicht erkannt habe. Deshalb könne man auch nicht einfach auf den bloßen Wortlaut von § 55 Abs. 2 S. 1 JGG abstellen. Ähnlich argumentiert Dallinger-Lackner: „Da hier jedem Beschwerdeführer in einer Sache das Rechtsmittel der Revision offen gestanden hatte, wäre es unbefriedigend und nicht richtig, ihnen dieses Rechtsmittel nur mit Rücksicht auf die nachträgliche Verbindung der beiden Sachen und wegen des Grundsatzes der einheitlichen Ahndung mehrerer Verfehlungen zu versagen. Allerdings erreicht der Rev. Führer damit zugleich auch eine Überprüfung der Straffrage in der anderen Sache, wegen der er für sich allein Revision nicht mehr hätte einlegen können, er erhält also mehr, als ihm § 55 II S. 1 zubilligen will.“48
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OLG Neustadt, MDR 1956, 504; Brunner/Dölling, JGG (Fn. 2), § 55 Rn. 18; Eisenberg, JGG (Fn. 1), § 109 Rn. 40; Schäfer, NStZ 1998, 331; Schaffstein/Beulke/Swoboda (Fn. 2), Rn. 810 Fn. 1116. 45 KG, StV 2007, 5; Schaffstein/Beulke/Swoboda (Fn. 2), Rn. 811. 46 OLG Hamm, ZBlJugR 1964, 306. 47 Potrykus, ZblJugR 1964, 306; ders., Recht der Jugend 1964, 293. 48 Dallinger/Lackner, JGG (Fn. 27), § 55 Rn. 48.
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Es überrascht, mit welchem Begründungsaufwand dieses sicherlich überzeugende und im Schrifttum49 natürlich zustimmend aufgenommene Ergebnis abgesichert ist, während in unserer Grundkonstellation auf eine Begründung des gegenteiligen Ergebnisses weitgehend verzichtet wird. Die anerkannten Beispiele restriktiver Interpretation des § 55 Abs. 2 JGG zeigen: Man kann also, wenn man will – man muss nur wollen! - Auch die Regelung des § 55 Abs. 1 JGG, die eine Entscheidung, in der lediglich Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmittel angeordnet oder die Auswahl und Anordnung von Erziehungsmaßregeln dem Familiengericht überlassen werden, weitgehend der Anfechtbarkeit entzieht, ist wegen ihrer nicht zweifelsfreien Begründung restriktiv auszulegen50. Dies gilt auch und gerade im Bereich des Rechts der Heranwachsenden. Wenn im Urteil auf den Heranwachsenden materielles Jugendstrafrecht angewandt worden ist, und eine oder mehrere der in § 55 Abs. 1 JGG aufgeführten Rechtsfolgen ausgesprochen werden, steht nach Ansicht von Rechtsprechung und herrschender Lehre § 55 Abs. 1 JGG einer Anfechtung mit dem Ziel, dass allgemeines Strafrecht angewendet werden soll, nicht entgegen51. Wenn die Revision zum Ziel hat, statt Jugendstrafrecht allgemeines Strafrecht anzuwenden, klebt man also nicht am Gesetzeswortlaut. Angesichts dieser Großzügigkeit bei der Handhabung des § 55 Abs. 1 JGG spricht alles dafür, auch § 55 Abs. 2 JGG restriktiv auszulegen und bei der erstmaligen Anwendung von Jugendstrafrecht eine Überprüfungsmöglichkeit zuzulassen. - Das Bundesverfassungsgericht52 hat zwar die Regelung des § 55 Abs. 2 JGG verfassungsrechtlich abgesegnet, und zu Recht auch das Erziehungsprinzip als tragfähige Säule dieser Einschränkung bemüht, das betrifft aber nur die grundsätzliche Zulässigkeit der Kappung der Rechtsmittelmöglichkeiten im Jugendstrafrecht. Hingegen wurde von unseren Verfassungshütern nicht etwa zugleich auch eine enge Auslegung des § 55 Abs. 2 JGG festgezurrt. Einerseits wird ausdrücklich hervorgehoben, dass die Verkürzung des Instanzenzuges nicht gegen den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) verstößt, da die Einschränkung der Anfechtbarkeit jugendstrafrechtlicher Urteile auf sachlich einleuchtenden Gründen beruhe, weil es im Jugendstrafverfahren um der erzieherischen Wirkung willen in besonderem Maße auf eine möglichst baldige rechtskräftige Entscheidung ankomme. Andererseits wird aber ausdrücklich auch die Rechtsprechung der ordentlichen Gerichte unter verfassungsrechtlichen Aspekten akzeptiert, die von dem Gebot der Herbeiführung alsbaldiger Rechtskraft wiederum sachlich gebotene Ausnahmen zulässt, die dann eben doch den Weg zu einem dreigliedrigen Instan49
Brunner/Dölling, JGG (Fn. 2), § 55 Rn. 31; HK/Schatz, JGG (Fn. 2), § 55 Rn. 78; Streng (Fn. 2), Rn. 576. 50 Schaffstein/Beulke/Swoboda (Fn. 2), Rn. 817; Ostendorf, ZJJ 2016, 120 hält sie sogar für verfassungswidrig. 51 Eisenberg, JGG (Fn. 1), § 109 Rn. 38; Dallinger/Lackner, JGG (Fn. 27), § 109 Rn. 13. 52 BVerfG, NStZ 1988, 34.
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zenzug ebnen. Die verfassungsgerichtliche Karte sticht also nicht. In weiser Zurückhaltung lässt das Verfassungsgericht – wie üblich – den ordentlichen Gerichten den Vorrang bei der Interpretation des Gesetzes. Ein verfassungsrechtliches Gebot, im Sinne der herrschenden Ansicht zu entscheiden, besteht nicht. - Der Wortlaut der Norm ergibt kein zwingendes Plädoyer zugunsten der herrschenden Ansicht. In § 109 Abs. 2 JGG wird im Wege der Pauschalverweisung die „entsprechende“ Anwendung des § 55 Abs. 2 JGG angeordnet. Die Crux liegt darin, dass bei Hereinnahme der Heranwachsenden in das JGG eine jeweils der unterschiedlichen Anwendung von Jugendstrafrecht in den einzelnen Instanzen Rechnung tragende Spezialregelung unterlassen wurde. Das eröffnet Freiräume, im Rahmen der „entsprechenden“ Anwendung den § 55 Abs. 2 JGG – gemäß dem Sinn und Zweck der Norm – dahingehend zu handhaben, dass zwar eine doppelte Überprüfung des richtigen Gebrauchs des Jugendstrafrechts auch bei Heranwachsenden ausgeschlossen sein soll, dass hingegen für den Fall der Erstanwendung von materiellem Jugendstrafrecht in der Berufungsinstanz dem Angeklagten doch noch eine Berufungsmöglichkeit eröffnet wird, damit die korrekte Handhabung des JGG zumindest einmaliger Kontrolle unterzogen werden kann. In unserem Beispielsfall mag das Gericht sogar u. U. guten Gewissens die Jugendstrafe rein nach Erwachsenenmaßstäben bemessen haben, sozusagen ganz i. S. des Hinweises des BGH53 in seiner oben bereits angesprochenen Entscheidung aus dem Jahre 2015. Eine derart revolutionäre Kehrtwendung der Rechtsprechung hätte man jedoch gerne durch ein nächst höheres Gericht überprüft! Der Gesetzeswortlaut steht jedenfalls einer Zulässigkeit der Revision in unserem Beispielsfall nicht entgegen. - Auf die Gefahr, dass das Berufungsgericht mitunter die Rechtsmitteleinlegung verdeckt sanktionieren könnte, weist Eisenberg54 hin. Gerade ein in der Hauptverhandlung „störrischer“ Angeklagter könne solche Reaktionen hervorrufen. Als Beispiel nennt er eine dem Angeklagten dann vielleicht vorenthaltene Strafaussetzung zur Bewährung, die trotz günstiger Prognose zwar mit § 56 Abs. 3 StGB, nicht jedoch mit § 21 Abs. 2 JGG in Einklang steht. Auch dieses Argument erscheint mir sehr bedeutsam, wobei derartige Motive seitens des Gerichts zumeist nur unbewusst mitschwingen dürften. - Schließlich ist auf die vielen Facetten des von mir befürworteten Erziehungsgedankens einzugehen, der nach dem gesetzlichen Gebot des § 2 Abs. 1 S. 2 JGG auch das Jugendstrafverfahren prägen soll. Ein Erwachsener (im Beispielsfall 25-Jähriger) dürfte kaum verstehen, warum er trotz der erstmaligen Gewährung von Jugendstrafrecht einen gleich langen Freiheitsentzug wie im erstinstanzlichen Urteil hinnehmen muss, ohne sich gegen dieses, jedem Rechtsgefühl widersprechende Urteil wehren zu können. Eine offensichtliche Ungerechtigkeit kann gerade von jungen Beschuldigten als Kränkung empfunden werden, was die erzie53 54
BGH, NStZ 2016, 101. Eisenberg, JGG (Fn. 1), § 109 Rn. 41.
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herische Wirkung, die von dem gesamten Strafprozess ausgehen soll, in unschöner Weise konterkariert. Dem können wir am besten entgegenwirken, wenn wir im Zweifel auf „Benachteiligungen“ junger Straftäter im Vergleich zu Erwachsenen in entsprechender Lage verzichten, sofern wir von ihrer erzieherischen Wirkung nicht uneingeschränkt überzeugt sind. Es stimmt zwar, dass § 55 Abs. 2 JGG der Verfahrensbeschleunigung dient, um die erzieherische Wirkung der jugendstrafrechtlichen Sanktion zu gewährleisten55, und dass zu diesem Zweck ein erhöhtes Risiko von fehlerhaften Verurteilungen in Kauf genommen wird56. Andererseits erscheint es sinnvoll, den Erziehungsgedanken nicht als Totschlagargument zu missbrauchen. Auch der Gesetzgeber sollte den ihm bei Handhabung der Erziehungskonzeption eingeräumten Beurteilungsspielraum nicht willkürlich ausfüllen57. Das ist die im Kern richtige und mit dieser Stoßrichtung dann auch von mir befürwortete Botschaft des Verbots der Benachteiligung Jugendlicher und Heranwachsender im Vergleich zu Erwachsenen in entsprechender Lage. Auf die Norm des § 55 Abs. 2 JGG umgemünzt bedeutet das, dass ein möglichst enger Anwendungsbereich der Ausnahmevorschrift auch unter erzieherischen Gesichtspunkten geboten erscheint. So halte ich z. B. eine Revisionsmöglichkeit trotz vorheriger Berufung seitens des Angeklagten für unverzichtbar, wenn das Berufungsgericht den Grundsatz des Verschlechterungsverbots (§§ 331 Abs. 1, 358 Abs. 1 StPO) missachtet58 – gerade angesichts der Unwägbarkeiten der Justiz und der Jugendstrafrechtler im Umgang mit dem Verbot der reformatio in peius beim Vergleich jugendstrafrechtlicher und erwachsenenstrafrechtlicher Sanktionen59. Auch für die Lösung unseres Beispielfalles hat das Konsequenzen. Die Strahlkraft des im Sinne einer effektiven Erziehung postulierten Gebots, das Verfahren möglichst zu beschleunigen60 und die Rechtskraft möglichst zügig herbeizuführen, verblasst mit zunehmendem Alter des Verurteilten. Diese abnehmende Kurve dürfte spätestens mit Erreichen des Heranwachsendenalters einsetzen. Das ist im materiellen Jugendstrafrecht das kleine Einmaleins vor allem bei der Behandlung erwachsener Angeklagter, die nach Jugendstrafrecht abgeurteilt werden (s. oben II.) und kann auch im strafprozessualen Bereich für die Gesamtgruppe der Heranwachsenden 55
Brunner/Dölling, JGG (Fn. 2), Einf. Rn. 109; Laubenthal/Baier/Nestler (Fn. 3), Rn. 396. BGH, JR 2006, 523 (525); dagegen z. B. Streng (Fn. 2), Rn. 579. 57 Zutreffend Meier/Rössner/Trüg/Wolf/Laue, JGG (Fn. 2), § 55 Rn. 5. 58 Siehe Eisenberg, JGG (Fn. 1), § 55 Rn. 48, 56; Schaffstein/Beulke/Swoboda (Fn. 2), Rn. 811; Laubenthal/Baier/Nestler (Fn. 3), Rn. 408; Brunner/Dölling, JGG (Fn. 2); § 55 Rn. 21; HK/Schatz, JGG (Fn. 2), § 55 Rn. 83; ähnl. Kudlich, JuS 1999, 877 (881); a.A. aber BayObLG, NStZ 1989, 193; OLG Oldenburg, ZJJ 2009, 157; Nothacker, GA 1982, 451; siehe dazu auch Meyer-Goßner (Fn. 3), S. 399. 59 Siehe nur Schaffstein/Beulke/Swoboda (Fn. 2), Rn. 166, 820 ff.; HK/Schatz, JGG (Fn. 2), § 55 Rn. 27. 60 Siehe dazu statt aller OLG Koblenz, StV 2017, 711; Dünkel, ZJJ 2015, 19; Goeckenjan, ZJJ 2015, 26; Ostendorf, ZJJ 2017, 332 (340). 56
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nicht völlig ignoriert werden. Nach der inneren Logik der von mir verworfenen Entscheidung des BGH61 müsste sogar erwogen werden, ab dem 24. Lebensjahr die Einschränkung des § 55 Abs. 2 JGG gänzlich entfallen zu lassen. Das wäre natürlich nicht sachgerecht, denn im Prozessrecht fehlt die Flexibilität des Strafzumessungsrechts. Vielmehr benötigen wir hier für die Befugnis zur Wahrnehmung von Rechtsmitteln klare Regeln, die für alle gleichermaßen gelten (obwohl eine 24-Jahre-Grenze so unbestimmt nun auch nicht wäre!). Der nicht ganz ernst gemeinte Vergleich zum materiellen Recht zeigt aber eben doch, dass wir den Erziehungsgedanken auch bei der Auslegung des § 55 Abs. 2 JGG nicht überstrapazieren sollten. Unser vom Angeklagten zumeist geteiltes Unbehagen an der Versagung des Rechtsmittels, wenn erstmals das Berufungsgericht nach materiellem Jugendstrafrecht erkennt, ist Anlass genug, hier dem Erziehungsargument zu misstrauen62.
VI. Ich komme zum Fazit der hiesigen Erwägungen. Bei Abwägung von Pro und Contra überwiegen m. E. die Argumente für die Mindermeinung, die dem Heranwachsenden trotz einer früher eingelegten Berufung das Rechtsmittel der Revision gewährt, wenn er in der zweiten Instanz materiell-rechtlich erstmalig nach Jugendstrafrecht verurteilt wird. Einem Rechtsstaat steht es gut an, den Gerichten keine Möglichkeit einzuräumen, die Erstanwendung von Jugendstrafrecht für unanfechtbar zu erklären. Eine zulässige „zurückhaltende“ Interpretation des in § 109 Abs. 2 S. 1 JGG ausgesprochenen Gebots, den § 55 Abs. 2 JGG „entsprechend“ anzuwenden, ermöglicht dieses Ergebnis. Die herrschende Gegenansicht überspannt den Bogen der erzieherischen Ausgestaltung des Jugendstrafverfahrens. Entgegen eigener früherer Stellungnahmen schließe ich mich somit der Meinung des Jubilars an. Wie so oft hat mich mein Freund Ulrich Eisenberg, der mir auch in vielen privaten Treffen sehr ans Herz gewachsen ist, von der Überlegenheit seines Standpunktes überzeugt. Für die Zukunft wünsche ich ihm ein glückliches Leben in ungebrochener Schaffenskraft und Lebensfreude – nicht nur in der Jurisprudenz, sondern auch beim Musizieren sowie in seinem geliebten Garten in Berlin-Köpenick.
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BGH, NStZ 2016, 101. Siehe auch Eisenberg, JGG (Fn. 1), § 55 Rn. 37.
Sind Diversionsentscheidungen nach §§ 45, 47 JGG ohne Beschwer? Eine Kritik der herrschenden Rechtsprechung aus verfassungsrechtlicher Sicht Von Margarete Gräfin von Galen und Raoul Beth
I. Einleitung Vor dem Hintergrund der mangelhaften Ausstattung und Überlastung der Justiz geschieht es nicht selten, dass die Strafverfolgungsbehörden im Bereich der Bagatellkriminalität auf eine Verfahrenserledigung ohne Hauptverhandlung hinwirken, allein um so das anfallende Arbeitspensum überhaupt noch bewältigen zu können. Grundsätzlich sind solche Verfahrenserledigungen ohne Hauptverhandlung respektive Urteil im Jugendstrafrecht zwar unter dem Begriff der Diversion erwünscht und unter erzieherischen Gesichtspunkten auch regelmäßig ausreichend, jedoch kommt es aus den genannten Gründen immer wieder dazu, dass auch bei unzureichend ausermittelten Sachverhalten eine Einstellung nach §§ 45, 47 JGG erfolgt, obwohl die vorhandenen Beweismittel die Tatbegehung durch den Beschuldigten nicht zweifelsfrei belegen und somit entweder weitere Ermittlungen erforderlich gewesen wären oder alternativ eine Verfahrenseinstellung nach § 170 Abs. 2 StPO i.V.m. § 2 Abs. 2 JGG oder ein Freispruch hätte erfolgen müssen. Dies mag zwar einem „schuldigen“ Beschuldigten unter Umständen entgegenkommen, für den „unschuldigen“ Beschuldigten bedeutet dies aber, dass der „Makel“ des Verdachts weiterhin besteht, ohne dass er für seine Unschuld kämpfen kann, weil die Einstellung nach §§ 45, 47 JGG gerade nicht seiner Zustimmung bedarf. Während man erwachsenen Betroffenen das identische Problem bei Einstellungen nach § 153 StPO vernünftig erklären können mag, sendet diese staatliche Gleichgültigkeit gegenüber dem tatsächlichen Geschehen für Jugendliche ein falsches Signal aus: Aus Sicht des Betroffenen ist das tatsächliche Geschehen für die staatlichen Autoritäten irrelevant und er muss damit leben, dass er mit seinen Einwänden nicht gehört wird und auf das Ergebnis des Verfahrens keinerlei Einfluss nehmen kann. Mit anderen Worten, er ist dem Verfahren hilflos ausgeliefert. Neben der erzieherisch äußerst fragwürdigen Wirkung eines solchen Vorgehens entstehen dem Betroffenen darüber hinaus aber auch ganz konkrete Nachteile. Die Verfahrenseinstellungen nach §§ 45, 47 JGG werden in das Erziehungsregister ein-
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getragen (vgl. § 60 Abs. 1 Nr. 7 BZRG) und können damit beispielsweise im Falle eines erneuten Strafverfahrens, bei einem Tätigwerden des Jugendamts oder in einem familiengerichtlichen Verfahren unvorhersehbare Auswirkungen für den Betroffenen haben.1 Zu dem fehlenden Zustimmungserfordernis des Betroffenen kommt hinzu, dass die Rechtsprechung hier überwiegend nahezu jeglichen Rechtsschutz gegen die Einstellung nach §§ 45, 47 JGG mit dem pauschalen Verweis auf die angeblich fehlende Beschwer versagt. Der Jubilar Ulrich Eisenberg äußert sich in seinem Standardwerk zum Jugendgerichtsgesetz sowohl zu dem fehlenden Zustimmungserfordernis als auch zu den fehlenden Rechtsschutzmöglichkeiten durchaus kritisch,2 weshalb sich der folgende Beitrag zu Ehren seines 80. Geburtstags mit dieser Problematik einmal näher befasst. Einleitend werden kurz die Voraussetzungen für eine Verfahrenseinstellung nach den §§ 45, 47 JGG und die Funktionsweise der Eintragung in das Erziehungsregister dargestellt (dazu II.). Anschließend erörtert der Beitrag die möglichen einfachgesetzlichen Rechtsbehelfe gegen die verschiedenen Varianten der Einstellung (dazu III.), mündet in einer kritischen Überprüfung der einschlägigen verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zu dieser Problematik (dazu IV.) und unterbreitet abschließend einen rechtspolitischen Lösungsvorschlag (dazu V.).
II. Die Diversionsentscheidungen nach den §§ 45, 47 JGG und die Eintragung ins Erziehungsregister 1. § 45 JGG Die unterschiedlichen Möglichkeiten, das Ermittlungsverfahren nach § 45 JGG einzustellen, setzen zunächst voraus, dass gegen den Beschuldigten ein hinreichender Tatverdacht bezüglich einer Straftat besteht und er strafrechtlich verantwortlich im Sinne des § 3 JGG ist.3 Soweit es an einem hinreichenden Tatverdacht oder der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Beschuldigten fehlt, muss die Verfahrenseinstellung nach § 170 Abs. 2 StPO i.V.m. § 2 Abs. 2 JGG erfolgen. Demnach kommt eine Einstellung nach § 45 JGG grundsätzlich erst nach dem Abschluss der Ermittlungen in Betracht, wobei die Staatsanwaltschaften in der Praxis aus prozessökonomischen Erwägungen (gesetzeswidrig) häufig bereits in früheren Verfahrensstadien auf § 45 JGG zurückgreifen.4 1
Vgl. § 61 BZRG zu den aus dem Erziehungsregister auskunftsberechtigen Stellen. Vgl. Eisenberg, JGG, 20. Auflage 2017, § 45 Rn. 46 f., 20, 7. 3 BeckOK-JGG/Schneider, 9. Edition Stand 01. 05. 2018, § 45 Rn. 11; Eisenberg, JGG (Fn. 2), § 45 Rn. 8; Ostendorf/Sommerfeld, JGG, 10. Auflage 2016, § 45 Rn. 4; jeweils m.w.N. 4 So auch BeckOK-JGG/Schneider (Fn. 3), § 45 Rn. 11 m.w.N. 2
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Die Einstellung nach § 45 Abs. 1 JGG knüpft an die materiellen Voraussetzungen des § 153 StPO an, sodass gegen den Beschuldigten ein hinreichender Tatverdacht wegen eines Vergehens bestehen muss, seine Schuld als gering anzusehen wäre und kein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung bestehen darf.5 Bezüglich der formellen Voraussetzungen erfordert die Einstellung nach § 45 Abs. 1 JGG aber weder die Zustimmung des Gerichts noch die Zustimmung des Beschuldigten oder seiner Erziehungsberechtigen und setzt daneben auch kein Geständnis voraus.6 Von Gesetzes wegen ist es nicht einmal zwingend geboten, dass der Beschuldigte über das eingeleitete Ermittlungsverfahren und die Einstellung nach § 45 Abs. 1 JGG in Kenntnis gesetzt wird, weshalb allein der Staatsanwaltschaft die Entscheidung obliegt, ob sie den Beschuldigten überhaupt über das Verfahren informiert.7 Bei der Einstellung nach § 45 Abs. 2 und 3 JGG ist im Detail umstritten, ob neben einem hinreichenden Tatverdacht auch eine formelle Zustimmung des Beschuldigten erforderlich ist.8 Jedoch erfordert eine solche Einstellung entweder ein Geständnis oder regelmäßig ein Mitwirken des Beschuldigten an den erzieherischen Maßnahmen, sodass eine Verfahrenseinstellung nach § 45 Abs. 2 und 3 JGG faktisch nicht gegen den Willen des Beschuldigten möglich ist. Jedoch begegnet einem seitens der Gerichte immer wieder ein sehr weites Verständnis des Begriffs des Geständnisses: So wurde beispielsweise in der Praxis der Autoren dieses Beitrags bereits das Einräumen der Beteiligung an einer körperlichen Auseinandersetzung als ausreichendes „Geständnis“ der Begehung einer Körperverletzung im Sinne der §§ 45, 47 JGG gewertet, obwohl sich der Beschuldigte gleichzeitig auf eine Notwehrlage zu seinen Gunsten berufen hatte. 2. § 47 JGG § 47 JGG regelt die Verfahrenseinstellung durch das Gericht und ist ab der Anklageerhebung im gesamten Zwischen- und Hauptverfahren bis hin zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens anwendbar.9 Auch die Einstellung nach § 47 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 JGG setzt voraus, dass gegen den Betroffenen ein hinreichender Tatverdacht bezüglich einer Straftat besteht und er strafrechtlich verantwortlich im Sinne des § 3 JGG ist. Soweit es an dem hinreichenden Tatverdacht fehlt, hat das Gericht entweder das Verfahren gegen den Angeschuldigten gar nicht erst zu eröffnen (§ 204 StPO i.V.m. § 2 Abs. 2 JGG) oder es muss den Angeklagten nach der durchgeführten 5 BeckOK-JGG/Schneider (Fn. 3), § 45 Rn. 38 ff.; Ostendorf/Sommerfeld, JGG (Fn. 3), § 45 Rn. 10; jeweils m.w.N. 6 BeckOK-JGG/Schneider, (Fn. 3), § 45 Rn. 42 f.; Ostendorf/Sommerfeld, JGG (Fn. 3), § 45 Rn. 10; jeweils m.w.N. 7 BeckOK-JGG/Schneider (Fn. 3), § 45 Rn. 44. 8 Ablehnend BeckOK-JGG/Schneider (Fn. 3), § 45 Rn. 68, 81; dafür Eisenberg, JGG (Fn. 2), § 45 Rn. 20, 25. 9 Ostendorf/Schady, JGG (Fn. 3), § 47 Rn. 3 m.w.N.
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Hauptverhandlung freisprechen.10 Bezüglich der strafrechtlichen Verantwortlichkeit ist zu unterscheiden: Im Zwischenverfahren ist das Verfahren ebenfalls nach § 204 StPO i.V.m. § 2 Abs. 2 JGG einzustellen (Umkehrschluss aus „Angeklagter“ in § 47 Abs. 1 Nr. 4 JGG).11 Soweit sich erst nach der Eröffnung des Hauptverfahrens zeigt, dass der Angeklagte zwar hinreichend tatverdächtig, nicht aber strafrechtlich verantwortlich ist, ist das Verfahren nach § 47 Abs. 1 Nr. 4 JGG einzustellen.12 So soll verhindert werden, dass trotz bestehenden hinreichenden Tatverdachts durch den Freispruch in der Hauptverhandlung ein erzieherisch fragwürdiges Signal gegenüber dem Jugendlichen ausgesandt wird. Die materiellen Voraussetzungen für die Verfahrenseinstellung durch das Gericht nach § 47 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 JGG entsprechen denen des § 45 Abs. 1 bis 3 JGG, in formeller Hinsicht ist darüber hinaus bei Einstellungen nach § 47 Abs. 1 Nr. 2, 3 JGG die Zustimmung der Staatsanwaltschaft erforderlich (vgl. § 47 Abs. 1 S. 2, Abs. 3 S. 1 JGG).
3. Die Eintragung der Diversionsentscheidung in das Erziehungsregister Allen Varianten der Verfahrenseinstellungen nach §§ 45, 47 JGG ist gemein, dass sie nach § 60 Abs. 1 Nr. 7 JGG in das Erziehungsregister eingetragen werden müssen.13 Neben dem Tatvorwurf müssen nach § 60 Abs. 2 BZRG bei Einstellungen nach § 45 Abs. 3 JGG oder § 47 Abs. 1 Nr. 3 JGG auch die getroffenen Maßnahmen in das Erziehungsregister eingetragen werden.14 Zu den aus dem Erziehungsregister auskunftsberechtigten Behörden gehören nach § 61 BZRG unter anderem Strafgerichte, Staatsanwaltschaften, Justizvollzugsbehörden, Familiengerichte bei Verfahren, welche die Sorge für die eingetragene Person betreffen, Jugendämter sowie die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder. Somit können aus einer Verfahrenseinstellung nach den §§ 45, 47 JGG in anderen Verfahren unvorhergesehene Konsequenzen folgen, weil beispielsweise das Jugendamt oder das Familiengericht aufgrund von strafrechtlichen „Auffälligkeiten“ negative Rückschlüsse auf das familiäre Umfeld des Betroffenen ziehen können. Insoweit sind Jugendliche und Heranwachsende im Vergleich zu Erwachsenen auch schlechter gestellt, weil Verfahrenseinstellungen nach den §§ 153 ff. StPO gerade nicht im Bundeszentralregister eingetragen werden (vgl. §§ 3 ff. BZRG). Diese Ungleichbehandlung folgt aus der Funktion des Erziehungsregisters:15 Zum einen soll die Wie10
Vgl. Eisenberg, JGG (Fn. 2), § 47 Rn. 5 m.w.N. Eisenberg, JGG (Fn. 2), § 47 Rn. 5, 12 m.w.N. 12 Kritisch hierzu Eisenberg, JGG (Fn. 2), § 47 Rn. 12 m.w.N. 13 BeckOK-JGG/Schneider (Fn. 3), § 45 Rn. 114, § 47 Rn. 44. 14 Hierzu auch Götz/Tolzmann, BZRG, 5. Auflage 2015, § 60 Rn. 15 m.w.N. 15 BT-Drucks. 6/477, S. 25 f.; vgl. auch BT-Drucks. 18/11933, S. 31; Götz/Tolzmann, BZRG (Fn. 14), § 59 Rn. 4; BeckOK-StPO/Bücherl, 29. Edition Stand 01. 01. 2018, § 59 BZRG Rn. 1. 11
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dereingliederung der Jugendlichen und Heranwachsenden nicht dadurch erschwert werden, dass sie durch die Eintragung geringfügiger Verfehlungen („Jugendsünden“) im Bundeszentralregister über Gebühr stigmatisiert werden. Zum anderen benötigen die zuständigen Behörden aber zum Zweck der zielgerichteten Einwirkung auf die Jugendlichen und Heranwachsenden eine möglichst detailreiche Übersicht über die bereits erfolgten Maßnahmen. Um diesem Gedanken Rechnung zu tragen, hat der Gesetzgeber das Erziehungsregister geschaffen, in welchem wesentlich detailliertere Informationen aufgezeichnet werden als im Bundeszentralregister, der Kreis der einsichtsberechtigten Personen im Vergleich zu dem Bundeszentralregister gleichzeitig aber enger gezogen ist und Eintragungen nach § 63 BZRG grundsätzlich mit Vollendung des 24. Lebensjahrs entfernt werden.16 Grundsätzlich gewährt § 63 Abs. 3 BZRG dem Betroffenen die Möglichkeit, einen Antrag auf Löschung des Eintrags im Erziehungsregister zu stellen, wenn die Vollstreckung erledigt ist und das öffentliche Interesse der Löschung nicht entgegensteht. Jedoch darf nach ganz allgemeiner Auffassung die Registerbehörde hierbei grundsätzlich nicht die materiellrechtliche Richtigkeit der vorausgegangenen Einstellungsentscheidung überprüfen.17 Ausnahmen sollen nur dann in Betracht kommen, wenn die Entscheidung offensichtlich fehlerhaft ist, also solche Fehler aufweist, die ohne jede weitere Nachprüfung eindeutig ersichtlich sind.18 Eine solch offensichtliche Unvertretbarkeit der Einstellungsentscheidung dürfte in der Praxis allerdings nur höchst selten vorkommen, sodass ein Vorgehen über § 63 Abs. 3 BZRG nur im absoluten Ausnahmefall zielführend sein wird und zudem nicht weiterhilft, wenn der Betroffene gerade einen Freispruch erkämpfen wollte. 4. Zusammenfassung Als Zwischenergebnis lässt sich daher festhalten, dass die Problematik der Verfahrenseinstellung ohne Mitwirkung des Jugendlichen oder Heranwachsenden vorwiegend im Bereich der Bagatellkriminalität auftritt, nämlich dann, wenn in materieller Hinsicht die Voraussetzungen des § 153 StPO vorliegen. Die Einstellungen nach § 45 Abs. 2, 3 JGG und § 47 Abs. 1 Nr. 2 bis 3 JGG erfordern zwar keine formelle Zustimmung des Betroffenen, jedoch bestehen hier aufgrund des erforderlichen Geständnisses und der erforderlichen Mitwirkung bei den erzieherischen Maßnahmen zumindest faktische Einflussmöglichkeiten auf den Verfahrensausgang. Neben der eingangs geschilderten fragwürdigen erzieherischen Signalwirkung gegenüber unschuldigen Jugendlichen und Heranwachsenden werden die Betroffe16 Beachte aber die Ausnahme in § 63 Abs. 2 BZRG; vgl. ferner auch BGH, Beschluss vom 29. 05. 1991 – 3 StR 164/91 –, juris. 17 Götz/Tolzmann, BZRG (Fn. 14), § 63 Rn. 13; vgl. zu § 49 BZRG KG, Beschluss vom 16. 06. 2009 – 1 VAs 32/09, BeckRS 2009, 25377; KG, Beschluss vom 06. 03. 2006 – 4 VAs 58/ 05 -, juris; jeweils m.w.N. 18 Vgl. zu § 49 BZRG KG, Beschluss vom 06. 03. 2006 – 4 VAs 58/05 -, juris Rn. 7 m.w.N.
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nen aber auch im Vergleich zu Erwachsenen benachteiligt, weil die Verfahrenseinstellung nach §§ 45, 47 JGG – anders als Einstellungen nach §§ 153 ff. StPO in das Bundeszentralregister – in das Erziehungsregister eingetragen wird und diese Eintragung in anderen Verfahren unvorhersehbare Auswirkungen haben kann. Damit stellt sich die Frage, ob und wenn ja wie sich der (unschuldig) Betroffene gegen eine Verfahrenseinstellung nach §§ 45, 47 JGG wehren kann.
III. Einfachgesetzlicher Rechtsschutz gegen Diversionsentscheidungen ohne Mitwirkung des Betroffenen 1. Gegen die Einstellung nach § 45 JGG durch die Staatsanwaltschaft Gegen die Einstellung nach § 45 JGG durch die Staatsanwaltschaft steht dem Beschuldigten nach der gegenwärtigen Rechtslage kein förmlicher Rechtsbehelf zu.19 Soweit keine hinreichenden Beweismittel vorliegen und der Beschuldigte die Tat bestreitet, verbleibt dem Beschuldigten nur die Möglichkeit einer formlosen Dienstaufsichtsbeschwerde gegen die Entscheidung der Staatsanwaltschaft mit dem Ziel, eine Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO i.V.m. § 2 Abs. 2 JGG zu erreichen. 2. Gegen die Einstellung nach § 47 JGG durch das Gericht Zwar ist nach dem Wortlaut des § 47 Abs. 2 S. 4 JGG der Einstellungsbeschluss nicht anfechtbar, nach ganz allgemeiner Ansicht betrifft dies aber nur die Ermessensentscheidung über die Einstellung, sodass beim Fehlen der prozessualen Voraussetzungen für eine Verfahrenseinstellung die Beschwerde als zulässig erachtet wird.20 Daher kann die Staatsanwaltschaft beispielsweise Beschwerde einlegen, wenn die Einstellung ohne ihre Zustimmung erfolgt ist, mangels Zustimmungserfordernis steht diese Möglichkeit dem Betroffenen bei einer Einstellung nach § 47 JGG aber gerade nicht zu.21 Im Lichte dieser Rechtsprechung ließe sich mit guten Gründen argumentieren, dass der hinreichende Tatverdacht ebenfalls prozessuale Voraussetzung für die Eröffnung der Ermessensentscheidung nach § 47 JGG ist und somit bei dessen Fehlen eine 19
Diemer/Schatz/Sonnen, JGG, 7. Auflage 2015, § 45 Rn. 30; BeckOK-JGG/Schneider (Fn. 3), § 45 Rn. 107 ff.; Meier/Rössner/Trüg/Wulf/Blessing/Weik, JGG, 2. Auflage 2014, § 45 Rn. 47; Ostendorf/Sommerfeld, JGG (Fn. 3), § 45 Rn. 23; Nachweise zur rechtspolitischen Diskussion bei Eisenberg, JGG (Fn. 2), § 45 Rn. 46 f. 20 Verfassungsgerichtshof Berlin, Beschluss vom 23. 01. 2013 – VerfGH 116/10, BeckRS 2013, 48388; LG Krefeld, NJW 1976, 815; AG Eggenfeld, NStZ-RR 2011, 357; Eisenberg, JGG (Fn. 2), § 47 Rn. 26 f.; vgl. zu § 153 StPO LR/Beulke, StPO, 26. Auflage 2008, § 153 Rn. 82; alle m.w.N. 21 Vgl. zum Streitstand über die Beschwerdebefugnis bei fehlender Zustimmung des Betroffenen bei § 153 StPO LR/Beulke, StPO (Fn. 20), § 153 Rn. 82 m.w.N.
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Beschwerde zulässig ist.22 Dem steht in der Praxis aber entgegen, dass nach der herrschenden Ansicht die Beschwerde gegen die Verfahrenseinstellung nach §§ 45, 47 JGG ohnehin unzulässig ist, weil die Einstellung keine Rechte oder schutzwürdige Interessen des Betroffenen beeinträchtige und es daher an einer Beschwer fehle (hierzu unter IV. ausführlich).23 In der Literatur und älteren Entscheidungen wurde früher darüber hinaus vertreten, dass im Falle groben prozessualen Unrechts die Möglichkeit einer außerordentlichen Beschwerde bestehe.24 Der Übertragung dieses aus dem Zivilrecht stammenden Instituts auf das Strafrecht hat der Bundesgerichtshof aber durch Beschluss vom 19. März 1999 eine eindeutige Absage erteilt.25 Der Gesetzgeber habe in der Strafprozessordnung abschließende Behelfsmöglichkeiten geschaffen (§§ 33a, 311a, 359 ff. StPO), um den Konflikt zwischen der Einzelfallgerechtigkeit und der Rechtssicherheit durch formelle Rechtskraft im Einzelfall zu entschärfen. Zudem würde die Anerkennung einer außerordentlichen Beschwerde auch einen neuen Instanzenzug eröffnen und somit im Konflikt mit dem gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) stehen. Eine Mindermeinung hält allerdings die Wiederaufnahme gegen Einstellungen nach §§ 359 ff. StPO für zulässig.26 Unbesehen der umstrittenen Vorfrage, ob die Wiederaufnahme nach den §§ 359 ff. StPO überhaupt auf Beschlüsse anwendbar ist,27 erachtet die herrschende Meinung die Wiederaufnahme gegen Beschlüsse nach § 47 JGG aber mangels Beschwer für unzulässig.28 Die Eintragung in das Erziehungsregister stelle keine derartige Besonderheit dar, die eine andere Behandlung als bei Einstellungen nach § 153 StPO erfordere, und zudem stehe dem Betroffenen der Rechtsbehelf des § 63 Abs. 3 BZRG zur Verfügung.29
22 Vgl. zu § 153 StPO, wenn es sich um ein Verbrechen statt um ein Vergehen handelt, LR/ Beulke, StPO (Fn. 20), § 153 Rn. 82 m.w.N. 23 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 06. 09. 2004 – 2 BvR 1280/04, BeckRS 2004, 30344324; Beschluss vom 27. 01. 1983 – 2 BvR 92/83 –, juris; vgl. ferner auch Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 61. Aufl. 2018, Vor § 296 Rn. 8 ff. m.w.N. 24 Umfangreiche Nachweise hierzu bei BVerfG, NJW 1997, 46 (47). 25 BGHSt 45, 37 = NStZ 1999, 414. 26 Vgl. die unveröffentlichten Entscheidungen AG Freiburg, Beschluss vom 21. 01. 2003 – 18 Ds 24 284/95; AG Schwäbisch Hall, Beschluss vom 24. 07. 2000 – 4 AR 8/00 S; zitiert nach LG Baden-Baden, NStZ 2004, 513. 27 Nachweise zum Streitstand bei KK-StPO/Schmidt, 7. Auflage 2013, Vor § 359 Rn. 14. 28 LG Baden-Baden, NStZ 2004, 513; BeckOK-JGG/Schneider (Fn. 3), § 47 Rn. 51; kritisch Eisenberg, JGG (Fn. 2), § 45 Rn. 47 m.w.N. 29 Über § 63 Abs. 3 BZRG kann aber gerade nicht die materielle Richtigkeit der Entscheidung überprüft werden, vgl. hierzu oben II. 3.
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3. Zusammenfassung Damit steht dem Betroffenen, der seine Unschuld beweisen möchte, nach der vorherrschenden Rechtsprechung gegen eine Einstellung nach den §§ 45, 47 JGG kein einfachgesetzlicher Rechtsbehelf zu. Sowohl die Beschwerde als auch die Wiederaufnahme scheitern nach der herrschenden Meinung an der fehlenden Beschwer des Betroffenen, wobei sich die herrschende Meinung diesbezüglich auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beruft. Daher ist der Standpunkt, der Betroffene sei durch eine Einstellung nach §§ 45, 47 JGG grundsätzlich nicht beschwert, kritisch zu überprüfen.
IV. Verfassungsbeschwerde Man könnte annehmen, dem Betroffenen verbliebe damit noch die Verfassungsbeschwerde als Rechtsbehelf gegen die Verfahrenseinstellung nach den §§ 45, 47 JGG, aber auch diese ist ihm nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verwehrt. Das Bundesverfassungsgericht hat sich mehrfach mit Einstellungen nach §§ 45, 47 JGG befasst.30 Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts lässt eine Verfahrenseinstellung nach §§ 45, 47 JGG die Unschuldsvermutung des Betroffenen grundsätzlich unberührt, sodass eine Verfassungsbeschwerde regelmäßig mangels Beschwer unzulässig sei. Darüber hinaus seien die Unanfechtbarkeit des Einstellungsbeschlusses und das fehlende Zustimmungserfordernis des Betroffenen von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden.31 Eine Verletzung von Grundrechten komme aber dann in Betracht, wenn in dem Einstellungsbeschluss gegen die Unschuldsvermutung verstoßen werde, also strafrechtliche Schuld zugeschrieben wird, ohne dass diese prozessordnungsgemäß festgestellt wurde.32 Eine Beschwer unabhängig von der Frage der Verletzung der Unschuldsvermutung wird also grundsätzlich verneint. Diese Rechtsprechung ist zu kritisieren, weil die Annahme, der Jugendliche habe keine Beschwer, schlicht unzutreffend ist, die verfassungsrechtliche Würdigung damit auf einer unzutreffenden Sachverhaltserfassung beruht und der zutreffende verfassungsrechtliche Maßstab verfehlt wird. Das Bundesverfassungsgericht hat sich bis heute – soweit ersichtlich – nicht näher damit auseinandergesetzt, was die Folgen einer Eintragung im Erziehungsregister sein können und weshalb die Eintragung im Erziehungsregister trotz der hier aufgezeigten Verwendungsmöglichkeiten 30 BVerfG, Beschluss vom 08. 03. 2017 – 2 BvR 2282/16, unvollständig abgedruckt in NJW 2017, 1539; BVerfG, Beschluss vom 06. 09. 2004 – 2 BvR 1280/04, BeckRS 2004, 30344324; Beschluss vom 27. 01. 1983 – 2 BvR 92/83 –, juris. 31 BVerfG, Beschluss vom 06. 09. 2004 – 2 BvR 1280/04, BeckRS 2004, 30344324; Beschluss vom 27. 01. 1983 – 2 BvR 92/83 –, juris. 32 „Ihr Mandant hat sich durch sein Verhalten einer Straftat schuldig gemacht“, BVerfG, Beschluss vom 08. 03. 2017 – 2 BvR 2282/16, Rn. 11 ff., 16.
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der Daten keine Beschwer darstellen soll. Das mag daran liegen, dass dies in den konkreten Fällen nicht erforderlich war oder weil dazu vom Beschwerdeführer nicht ausreichend vorgetragen wurde.33 Jedenfalls scheint die Annahme, eine Eintragung im Erziehungsregister beinhalte keine Beschwer, angesichts der konkret möglichen Nachteile faktisch und rechtlich unhaltbar. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist eine Beschwer gegeben, wenn ein Akt der öffentlichen Gewalt den Beschwerdeführer selbst in seinen Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten gegenwärtig und unmittelbar verletzt.34 Insbesondere mit der Rechtsprechung zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG35 scheint die Haltung des Bundesverfassungsgerichts zur fehlenden Beschwer unvereinbar. Demnach obliegt es dem einzelnen Bürger grundsätzlich selbst, über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu entscheiden.36 Dieses Recht besteht zwar nicht schrankenlos, jedoch bedarf jeder Eingriff einer verfassungsgemäßen gesetzlichen Grundlage, die dem Gebot der Verhältnismäßigkeit und der Normenklarheit entspricht.37 Veranlassung für die grundlegende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur informationellen Selbstbestimmung im Zusammenhang mit einer Volkszählung war zwar die von den Bürgern verlangte „Preisgabe“ von Daten; bei der Eintragung in das Erziehungsregister verlangt niemand die „Preisgabe“ zusätzlicher Daten. Wesentlicher Gesichtspunkt für die Beurteilung der im Volkszählungsfall verlangten „Preisgabe“ war aber die Frage – und hier besteht die Überschneidung zur Eintragung im Erziehungsregister –, was mit den Daten im Anschluss an die „Preisgabe“ geschieht: „Entscheidend sind ihre Nutzbarkeit und Verwendungsmöglichkeit“.38 Das Bundesverfassungsgericht hat in dieser Entscheidung keinen Zweifel gelassen, dass die Frage der Nutzbarkeit und Verwendungsmöglichkeit der Daten an Art. 2 Abs. 1 GG zu messen ist. Vor diesem Hintergrund muss es geradezu befremdlich wirken, wenn die Einstellung mit der zwingenden Folge der (dauerhaften) Eintragung im Erziehungsregister
33 In der letzten Entscheidung wurde aufgrund des Eintrags in das Erziehungsregister ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG gerügt, jedoch hat das Bundesverfassungsgericht von einer Entscheidung diesbezüglich abgesehen, weil der Einstellungsbeschluss wegen des eklatanten Verstoßes gegen die Unschuldsvermutung ohnehin aufzuheben war, BVerfG, Beschluss vom 08. 03. 2017 – 2 BvR 2282/16 Rn. 7, 18. 34 BVerfG, Beschluss vom 15. 07. 2015 – 2 BvR 2292/13, BeckRS 2015, 51305, Rn. 47 ff. = BVerfGE 140, 42; BeckOK-BVerfGG/Grünewald, 4. Edition Stand 01. 12. 2017, § 90 Rn. 81 ff.; jeweils m.w.N. 35 Grundlegend das Volkszählungsurteil BVerfG, Urteil vom 15. 12. 1983 – 1 BvR 209/83 u. a. –, juris = BVerfGE 65, 1; weitere Nachweise hierzu bei BVerfGE 120, 378 und Maunz/ Dürig/Di Fabio, GG, 81. EL September 2017, Art. 2 Rn. 173 ff. 36 BVerfG, Urteil vom 15. 12. 1983 – 1 BvR 209/83 u. a. –, juris Rn. 146 ff., 149. 37 BVerfG, Urteil vom 15. 12. 1983 – 1 BvR 209/83 u. a. –, juris Rn. 150 f. 38 BVerfG, Urteil vom 15. 12. 1983 – 1 BvR 209/83 u. a. –, juris Rn. 152.
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vom Bundesverfassungsgericht bislang offenbar als einwirkungsfrei angesehen wurde. Dieses Grundproblem hat der Gesetzgeber sogar an anderer Stelle des Bundeszentralregistergesetzes erkannt. Zur Neuregelung in § 11 Abs. 1 BZRG weist er daraufhin, dass „die Eintragungen nach § 11 BZRG in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung eingreifen und mit erheblichen Nachteilen in Verwaltungsverfahren verbunden sein können“. Daher sollen „die Betroffenen […] nur unter deutlich engeren Voraussetzungen dem Makel der Eintragung im Zentralregister unterworfen werden, da ihnen mangels Beschwer Rechtsschutzmöglichkeiten weder gegen die Einstellung wegen Schuldunfähigkeit nach § 170 Absatz 2 StPO oder die Verfahrenseinstellung wegen Verhandlungsunfähigkeit noch gegen einen auf Schuldunfähigkeit beruhenden Freispruch zustehen“.39 Dementsprechend sind die Eintragungsvoraussetzungen bei § 11 BZRG auch deutlich enger als bei der Eintragung nach § 60 Abs. 1 Nr. 7 BZRG in das Erziehungsregister. So darf eine Verfügung der Staatsanwaltschaft beispielsweise nach § 11 Abs. 1 S. 2 BZRG nur dann eingetragen werden, „wenn auf Grund bestimmter Tatsachen davon auszugehen ist, dass weitere Ermittlungen zur Erhebung der öffentlichen Klage führen“ würden und ein Sachverständigengutachten zur Frage der Schuldunfähigkeit vorliegt. Es kann hier offenbleiben, ob die Regelungen des BZRG den Anforderungen an eine rechtfertigende Eingriffsgrundlage vollumfänglich genügen,40 weil zumindest der Eingriff in den grundrechtsgeschützten Bereich offensichtlich ist. Sensible Daten des Betroffenen werden ohne dessen Zustimmung – teils auch ohne dessen Kenntnis41 – in dem Erziehungsregister verarbeitet und durch die auskunftsberechtigten Stellen weiterverarbeitet und verwendet. Damit wird in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Betroffenen eingegriffen. Es besteht somit eine Beschwer durch die mit der Einstellungsentscheidung unmittelbar und zwingend verknüpfte Eintragung im Erziehungsregister, und Verfassungsbeschwerden gegen die fraglichen Einstellungsentscheidungen dürften im Hinblick auf Art. 2 Abs. 1 GG nicht von vornherein mangels Beschwer als unzulässig behandelt werden. Hinzu kommt, dass der fehlende einfachgesetzliche Rechtsschutz gegen eine Verfahrenseinstellung nach §§ 45, 47 JGG mit Blick auf die Garantie effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG verfassungsrechtlichen Bedenken begegnen muss. Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet, dass Akte der öffentlichen Gewalt, die in ein bestehendes Recht des Betroffenen (hier die informationelle Selbstbestimmung) eingreifen, grundsätzlich vor Gericht überprüfbar sein müssen, damit einer eventuellen Rechtsverletzung abgeholfen werden kann.42 Das Fehlen jeglichen Rechtsschutzes 39
BT-Drucks. 18/11933, S. 23. Stillschweigend vorausgesetzt in BVerfG, Beschluss vom 17. 07. 1991 – 2 BvR 1570/89 –, juris. 41 Vgl. BeckOK-JGG/Schneider (Fn. 3), § 45 Rn. 44. 42 BVerfG, NJW 2005, 2289 (2294 f.) = BVerfGE 113, 273; BeckOK-GG/Enders, 36. Edition Stand 15. 02. 2018, Art. 19 Rn. 51 ff.; jeweils m.w.N. 40
Sind Diversionsentscheidungen nach §§ 45, 47 JGG ohne Beschwer?
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im Hinblick auf die materiellrechtlichen Grundlagen der Einstellungsentscheidungen scheint mit dieser wichtigen rechtsstaatlichen Errungenschaft wenig vereinbar. Gerade bei Jugendlichen, die mit Respekt und Anerkennung gegenüber dem Rechtsstaat in unsere Gesellschaft hineinwachsen sollen, sollte bei Rechtsmitteln nicht gespart werden.
V. Zusammenfassung und Ausblick Es lässt sich daher zusammenfassen, dass die gegenwärtige durch Gesetz und Rechtsprechung geprägte Rechtslage bezüglich eines Rechtsbehelfs gegen Verfahrenseinstellungen nach §§ 45, 47 JGG höchst unbefriedigend ist.43 Ausgangspunkt für die kritikwürdige Rechtsprechung ist die – nach hier vertretener Ansicht unzutreffende – Annahme, dass der Betroffene bei einer Verfahrenseinstellung nicht beschwert sei und ihm demnach keine Rechtsbehelfe zustehen können. Geht man mit den hiesigen Erwägungen davon aus, dass der Eintrag in das Erziehungsregister in den Schutzbereich der informationellen Selbstbestimmung eingreift, liegt eine Beschwer vor, was zumindest grundsätzlich die Möglichkeit einer Beschwerde44, Wiederaufnahme oder Verfassungsbeschwerde eröffnen müsste. Diesen Lösungsversuchen ist aber gemein, dass im Beschwerdeverfahren möglicherweise eine umfangreiche Beweisaufnahme notwendig würde, weil sich das zuständige Gericht ein umfassendes Bild über den bestehenden oder eben nicht bestehenden hinreichenden Tatverdacht machen müsste. Das wiederum könnte mit der Zielsetzung der Diversion im Sinne einer informellen Verfahrenserledigung in Konflikt geraten.45 Daher dürfte die den Zwecken des Jugendstrafrechts am ehesten entsprechende Lösung darin liegen, das in der jugendstrafrechtlichen Literatur seit langem geforderte Zustimmungserfordernis bei Einstellungen nach §§ 45, 47 JGG endlich in das Gesetz aufzunehmen.46 Damit würde der Betroffene in die Entscheidung über die Verfahrenseinstellung einbezogen werden und bei einem Fehlen der Zustimmung wäre für den Betroffenen – genau wie jetzt bereits für die Staatsanwaltschaft – die Beschwerde möglich. Damit könnte sich allerdings das Problem ergeben, dass sich der unverteidigte Betroffene in einer Hauptverhandlung dem Druck ausgesetzt sieht, seine Zustimmung zu einer Einstellung zu erteilen, und die Entscheidung nicht frei treffen kann. Dem ließe sich jedoch dadurch begegnen, dass die Zustim43 Vgl. bereits die Vorschläge der DVJJ-Kommission zur Reform des Jugendkriminalrechts, DVJJ-Journal 1992, 1 (24). 44 Soweit man den hinreichenden Tatverdacht wie oben angedacht als prozessuale Voraussetzung für die Ermessensentscheidung nach §§ 45, 47 JGG ansieht. 45 Hierzu Ostendorf/Sommerfeld/Schady, JGG (Fn. 3), grdl. z. §§ 45 und 47 Rn. 8 m.w.N. 46 Nachweise bei Eisenberg, JGG (Fn. 2), § 45 Rn. 7; ferner hierzu auch Ostendorf/Sommerfeld/Schady, JGG (Fn. 3), grdl. z. §§ 45 und 47 Rn. 8.
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mung zur Einstellung als Fall der notwendigen Verteidigung vorgesehen würde.47 Trotz dieser Bedenken wäre die Schaffung eines Zustimmungserfordernisses für den Betroffenen bei Einstellungen nach §§ 45, 47 JGG im Vergleich zum Status quo eine deutliche Verbesserung und würde den Jugendlichen und Heranwachsenden eine fairere Teilnahme an dem Verfahren ermöglichen.
47 Vgl. hierzu auch Art. 6 Abs. 3 a), d) der Richtlinie (EU) 2016/800 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. 05. 2016 über Verfahrensgarantien in Strafverfahren für Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind, ABl. L 132/1 vom 21. 05. 2016. Die Richtlinie ist durch die Mitgliedsstaaten bis zum 11. 06. 2019 umzusetzen.
Das polizeiliche Legalitätsprinzip im Jugendstrafverfahren Von Werner Gloss Das Legalitätsprinzip der Polizei ist immer dann ein Thema, wenn es um Kooperation der Polizei mit Schule oder Jugendhilfe geht.1 Vor allem in kriminalpräventiven Räten, Häusern des Jugendrechts oder bei Fallkonferenzen wird regelmäßig – neben dem Datenschutz – auch über das Legalitätsprinzip diskutiert. Weiterhin wird der Anzeigepflicht der Polizei eine gewisse Bedeutung in der verhaltensorientierten Prävention zugesprochen, nachdem es mitunter kritisch gesehen wird, wenn Polizeibeamte mit Jugendlichen über strafrechtlich relevantes Verhalten sprechen. Man befürchtet, dass die unerfahrenen jungen Leute sich selbst (oder auch andere) durch unbedachte Äußerungen belasten könnten. Der polizeiliche Präventionsbeamte wäre in der Folge verpflichtet, strafrechtliche Ermittlungen einzuleiten. Schließlich kennt das Legalitätsprinzip weder Ausnahmen noch lässt es Ermessenspielräume zu.2 In Hamburg sollen deswegen die in der Präventionsarbeit eingesetzten Polizeibeamten für den Unterricht an Schulen dienstrechtlich freigestellt worden sein. Anschließend seien sie im Rahmen einer bezahlten und genehmigten Nebentätigkeit freiberuflich an der Schule tätig geworden, weil das Legalitätsprinzip des Polizeibeamten in der (vollzugs-)dienstfreien Zeit erheblich eingeschränkt ist.3 Unabhängig davon, ob dieses Modell tatsächlich so praktiziert wurde und welche Vorteile man sich von einer solchen Vorgehensweise versprochen hat, verdeutlicht schon alleine die ungewöhnliche Idee, wie viel Verunsicherung selbst innerhalb der Polizei vorhanden ist, wenn es darum geht, die Auswirkungen des Legalitätsprinzips auf die polizeiliche Jugendarbeit zu beurteilen. Entsprechend groß sind die Vorbehalte bei den Kooperationspartnern der Polizei, zumal diese den polizeilichen Handlungsrahmen erst recht schlecht einordnen können. Das Legalitätsprinzip wird so zur Quelle des Misstrauens und verwässert die Handlungssicherheit bei allen Beteiligten.
1 Schramm, Das Legalitätsprinzip – Bedeutung für die Jugendhilfe, Infoblatt 47, Clearingstelle Jugendhilfe/Polizei, 2009, S. 19 ff. 2 Feuerhelm, Geschichte, Probleme und Chancen der Kooperation zwischen Jugendhilfe, Polizei und Justiz im Umgang mit Jugendkriminalität, in: Berliner Forum Gewaltprävention Nr. 4, 2001, S. 20. 3 Matzke, Das Legalitätsprinzip – Betrachtungen aus juristischer Sicht, Infoblatt 47, Clearingstelle Jugendhilfe/Polizei, 2009, S. 11.
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I. Rechtliche Grundlagen Betrachtet man zunächst die Gesetzeslage, so ist das Legalitätsprinzip für die Polizei an zwei Stellen in der Strafprozessordnung verankert.4 Indirekt wird es aus § 152 Abs. 2 StPO abgeleitet, während ansonsten in Bezug auf die Polizei regelmäßig § 163 StPO angeführt wird, der genau genommen eine Ermittlungs- und Vorlagepflicht polizeilicher Vorgänge beinhaltet. Das eigentliche Wesen des Legalitätsprinzips erschließt sich allerdings aus der Bestimmung des § 152 StPO. In dieser Vorschrift wird das Anklagemonopol der Staatsanwaltschaft festgeschrieben, sodass nur über diese Behörde Strafverfahren der gerichtlichen Entscheidung zugeführt werden können. Abgesehen von den Fällen der Privatklage wird damit alleine dem Staat (vertreten durch seine Anwaltschaft) die Ahndung von Unrecht übertragen. Im Gegenzug muss der Staat jegliches Unrecht verfolgen, damit einer wie immer gearteten Selbstjustiz kein Raum überlassen wird. Das Legalitätsprinzip verpflichtet also zunächst die Staatsanwaltschaft zum Einschreiten bei allen verfolgbaren Straftaten, doch strahlt diese Pflicht selbstverständlich auch auf die Tätigkeit der Polizei aus. Dem polizeilichen Ermittler können alleine aus systematischen Gründen keine weitergehenden Kompetenzen zustehen als der für das Ermittlungsverfahren verantwortlichen Staatsanwaltschaft. Wenn diese an das Legalitätsprinzip gebunden ist, müssen folgerichtig auch Beamte und Beamtinnen der Polizei dem Strafverfolgungszwang unterliegen. Diese Tatsache wird schon alleine aus der mittlerweile antiquierten Begrifflichkeit „Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft“ deutlich. Ganz allgemein kann man festhalten, dass die Spielregeln oder Grenzen der Staatsanwaltschaft im Strafverfahren ohne Einschränkung auch für die polizeiliche Ermittlungsperson5 gelten müssen. Nun handelt es sich bei dem Legalitätsprinzip um einen elementaren Grundsatz des Strafprozessrechtes, der weit über das hinausgeht, was man vielleicht etwas abschätzig als „Spielregel“ oder eben eine bloße Verfahrensvorschrift bezeichnen könnte.6 Das Legalitätsprinzip berührt das berufliche Selbstverständnis von Staatsanwälten und Staatsanwältinnen ebenso wie das von Polizeibeamten und Beamtinnen. In ihm drücken sich Ethos, Haltung und Verantwortung aus.7 Gleichzeitig handelt es sich bei diesem Prinzip um einen Eckpfeiler des Rechtsstaates, der wesentlich für die innere Stabilität und Verfasstheit dieses Landes steht. Das Vertrauen in Polizei und Justiz ist in einem hohen Maß davon abhängig, wie das Legalitätsprinzip umge-
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Denninger, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 4. Aufl. 2007, S. 373. Im Sinne von § 152 GVG. 6 Deiters, Legalitätsprinzip und Normgeltung, 2006, S. 139. 7 Bei der Vorbereitung zu diesem Artikel wurden viele Gespräche mit Praktikern aus dem Bereich der Justiz und vor allem bei der Polizei geführt. Hierbei kam es regelmäßig zu sehr emotional geführten Diskussionen über die Auswirkung des Legalitätsprinzips auf die berufliche Tätigkeit. 5
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setzt wird.8 Die Unabhängigkeit und Objektivität der Strafverfolgungsorgane wird ohne Zweifel als ein hohes Gut angesehen und muss aus diesem Grund frei von jeglicher Form der Einflussnahme sein. An dieser grundlegenden Funktion des Legalitätsprinzips für den Rechtsstaat ändern auch die verschiedenen Einstellungsmöglichkeiten der Strafprozessordnung nichts,9 die wenigstens für die Staatsanwaltschaft eine faktische Implementierung des Opportunitätsprinzips nahelegen könnten.10 Bei der Frage Einstellung oder Anklage handelt es sich dem Grunde nach um eine rechtliche Würdigung und Einordnung – nicht aber um eine Ermessensentscheidung der Staatsanwaltschaft.11 Im Unterschied zum Ordnungswidrigkeitenverfahren, in dem Zweckmäßigkeitsüberlegungen oder der Verfolgungsaufwand Entscheidungsgrundlagen dafür sein können, ob es opportun erscheint, einen Vorgang aufzugreifen,12 muss das Strafverfahren von solch praktischen Belangen losgelöst betrachtet werden. Das Recht, strafend auf das Fehlverhalten eines Individuums zu reagieren, können weder einzelne Institutionen (wie Polizei oder Justiz) und erst recht nicht der jeweilige Rechtsanwender für sich in Anspruch nehmen. Strafen muss immer ein Handeln der Gesellschaft sein,13 die hierfür allgemeine Kriterien festlegt und Aufträge sowie Verantwortlichkeiten verteilt. Ermittler, Ankläger und Richter stützen die Legitimität für den dem Strafen innewohnenden Rechtseingriff auf diese Vorgaben des (demokratisch gewählten) Gesetzgebers. Sie handeln für und im Auftrag der Allgemeinheit – aber nicht aus eigener Machtvollkommenheit. Aus diesem Grund ergehen Urteile im Namen des Volkes und selbst der Einzelrichter spricht bei der Urteilsverkündung von sich in der dritten Person.14 Damit kommt klar zum Ausdruck, dass es sich bei dem Strafurteil um keine Ermessensentscheidung des Rechtsanwenders handelt, sondern um eine ideale, verbindliche und schließlich vollziehbare Wahrheit, die in einem formellen Prozess gesucht, gefunden und verkündet wurde. Die hierbei angelegte Objektivität beschränkt sich nicht nur auf die Hauptverhandlung. Das gesamte Strafverfahren – und damit auch schon das Ermittlungsverfahren bei der Polizei – verlangt diese Unvoreingenommenheit von allen am Verfahren beteiligten Entscheidungsträgern. 8 Im Vergleich zu anderen Staaten scheint es hier kaum Vollzugsdefizite zu geben. Exemplarisch sei diesbezüglich der Fall Margot Käßmann angeführt. So sind wohl nur wenige staatliche Ordnungen vorstellbar, in denen die Repräsentantin einer großen Religionsgemeinschaft nach einer Verkehrsstraftat das Amt aufgeben muss, weil sie von zwei Streifenbeamten zur Anzeige gebracht wurde. 9 Z. B. in §§ 153 ff. StPO. 10 Hassemer, in: Ostendorf, Strafverfolgung und Strafverzicht, 1992, S. 532. 11 Erb, Legalität und Opportunität, Gegensätzliche Prinzipien der Anwendung von Strafrechtsnormen im Spiegel rechtstheoretischer, rechtsstaatlicher und rechtspolitischer Überlegungen, 1999, S. 41 ff. 12 Nach § 47 Abs. 1 OWiG entscheidet die Verfolgungsbehörde nach pflichtgemäßen Ermessen, ob eine Ordnungswidrigkeit verfolgt wird. 13 Schmidhäuser, Vom Sinn der Strafe, 2004, S. 50. 14 Z. B. „Das Gericht ist zu der Überzeugung gekommen, dass […]“.
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II. Verhältnis von Polizei und Staatsanwaltschaft15 Während nun die Staatsanwaltschaft neben der Feststellung des Sachverhalts (§ 160 StPO) vor allem für die Verfolgung der Taten zuständig ist, stellt die aus dem Legalitätsprinzip abgeleitete Strafverfolgungspflicht der Polizei die bereits angeführte Ermittlungs- und Vorlagepflicht dar. Die zentrale Vorschrift für die Polizei ist der § 163 StPO, in dem kurz und knapp festgehalten wird, dass die Behörden und Beamten des Polizeidienstes Straftaten zu erforschen und eine Verdunkelung der Sache zu verhüten haben. Alsdann übersendet die Polizei ihre Verhandlungen an die Staatsanwaltschaft,16 wobei es für die Polizei, im Gegensatz zur Staatsanwaltschaft, keine Möglichkeit zur eigenständigen Verfahrenserledigung gibt. Bestrebungen, das Legalitätsprinzip der Polizei aus praktischen Erwägungen heraus aufzuweichen und wenigstens im Bereich der Bagatelldelikte einzuschränken, waren schon in der Vergangenheit nicht erfolgreich und müssen aus den eben ausgeführten rechtsstaatlichen Überlegungen auch zukünftig abgelehnt werden.17 Weiterhin ist in der Jugendkriminalrechtspflege der Polizeidiversion eine klare Absage zu erteilen,18 wenn diese mit einer Entscheidungskompetenz und Präjudizierung durch die Polizei verbunden ist. Stattdessen erscheint es in diesem Zusammenhang sinnvoll, wenn in einer Art Vier-Augen-Prinzip zwischen der Ermittlungs- und der Verfolgungsbehörde unterschieden wird. Diese mehr praktische als rechtlich verbindliche Rollenverteilung19 ist der Eingriffsintensität des Strafverfahrens geschuldet und sollte aus grundsätzlichen Erwägungen ebenfalls nicht zur Disposition stehen. In der Auseinandersetzung zwischen dem polizeilichen Ermittler und dem Straftäter gewinnt oft nur die stärkere Gewalt und die größere Raffinesse die Oberhand,20 sodass es den neutralen Blick einer von der Polizei unabhängigen Institution bedarf, wie ein Sachverhalt strafrechtlich zu bewerten ist. Jeder Tatverdacht ist aus heuristischer Sicht eine Hypothese,21 die durch Beweisfragen zu verifizieren ist. Dabei liegt es in der Natur des Menschen, sich selbst und die eigenen Überlegungen durch eine (unbewusst) subjektive Bewertung der Fakten zu bestätigen.22 Es ist deshalb äußerst kritisch zu sehen, wenn die institutionelle Trennung von Polizei und Staatsanwaltschaft aufgeweicht wird, 15
Dölling, Polizeiliche Ermittlungstätigkeit und Legalitätsprinzip, 1987, S. 298 ff. Verkürzt und zusammengefasst. 17 Gangbar wäre es dagegen, infrage kommende Bagatelldelikte zu Ordnungswidrigkeiten abzustufen. 18 Ostendorf, JGG, 9. Aufl. 2013, § 45 Rn. 16 f.; Eisenberg, JGG, 20. Aufl. 2017, § 45 Rn. 20 g. 19 Denninger (Fn. 4), S. 371 ff. – In der Literatur wird immer wieder auf die bewährte Praxis verwiesen, wonach die Staatsanwaltschaft als „Kopf ohne Arme“ von der polizeilichen Ermittlungstätigkeit abhängig ist, während die Polizei über keinerlei Verfolgungskompetenzen verfügt, sodass sich beide Institutionen ergänzen müssen. 20 Schmidhäuser (Fn. 13), S. 111. 21 Walder/Hansjakob, Kriminalistisches Denken, 10. Aufl. 2016, S. 169 ff. 22 Bottke, in: Geppert/Dehnicke, Gedächtnisschrift für Karlheinz Meyer, 1990, S. 57. 16
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indem zum Beispiel durch ein gesetzlich ausformuliertes Weisungsrecht über eine Ausdehnung der bestehenden Sachleitungsbefugnis der Staatsanwaltschaft nachgedacht wird23 oder wenn Staatsanwaltschaft und Polizei durch eine zu enge Zusammenarbeit die nötige Distanz verlieren24. Diesem Aspekt wird m. E. insbesondere bei der Diskussion um Häuser des Jugendstrafrechts zu wenig Beachtung geschenkt, nachdem sich die fachliche Diskussion fast gänzlich mit der Abgrenzung von Jugendhilfe und Polizei beschäftigt. Tatsächlich kommen der Staatsanwaltschaft im Rahmen eines Wächteramtes durchaus gewisse Kontrollfunktionen im Ermittlungsverfahren zu, welche sie allerdings nur dann sachgerecht ausüben kann, wenn die Entscheiderinnen und Entscheider bei der Staatsanwaltschaft nicht zu tief in Verdachtschöpfung und Beweisführung eingebunden sind.
III. Die Gleichheit vor dem Gesetz und die Grenzen der Rechtsstaatlichkeit Allgemein besteht Einigkeit darin, dass sich das Legalitätsprinzip aus dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Gleichbehandlung ableitet.25 Demnach ist wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches seiner Eigenart entsprechend ungleich zu behandeln.26 Auch das Willkürverbot wird durch das Legalitätsprinzip konkretisiert.27 Durch die ermessensfreie Strafverfolgungspflicht wird in erster Linie die Gleichheit vor dem (Straf-)Gesetz28 festgeschrieben. Straftaten von prominenten oder mächtigen Persönlichkeiten müssen demnach – ohne Ansehen der Person – mit der gleichen Intensität (von der Polizei) aufgeklärt und (von der Staatsanwaltschaft) verfolgt werden, wie das vergleichbare Fehlverhalten gewöhnlicher oder gar unterprivilegierter Menschen. Weder Rasse und Religion noch Geschlecht oder sexuelle Orientierung dürfen Grundlage für eine wie immer geartete Ungleichbehandlung sein,29 womit die Polizei zu einer objektiven und vorurteilsfreien Ermittlungsarbeit verpflichtet wird, die unabhängig von persönlichen Einstellungen oder privaten Interessen zur erfolgen hat. Nicht mehr – aber auch nicht weniger – soll das Legalitätsprinzip sicherstellen. Wie bereits erwähnt, ist das Legalitätsprinzip 23 BMJV, Bericht der Expertenkommission zur effektiveren und praxistauglichen Ausgestaltung des allgemeinen Strafverfahrens und des jugendgerichtlichen Verfahrens, 2015, S. 54 ff. 24 Bedenklich – wenn auch zwischenmenschlich nachvollziehbar – sind zum Beispiel gemeinsame Betriebsausflüge von Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft, die häufig dann zustande kommen, wenn die Mitarbeiter der beiden Behörden in aufwendigen Verfahren eng zusammengearbeitet haben. 25 Hassemer (Fn. 10), S. 530; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 57. Aufl. 2014, § 152 Rn. 2; Gercke, in: Gercke/Julius/Temming/Zöller, StPO, 4. Aufl. 2009, § 152 Rn. 3. 26 Vgl. BVerfGE 50, 72 ff. 27 BVerfG, NStZ 1982, S. 430. 28 s.a. Heger, ZIS 2011, S. 402 ff. zum Legalitätsprinzip im materiellen Strafrecht. 29 Art. 14 MRK.
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damit, neben anderen strafrechtlichen Verfahrensgrundsätzen, wie z. B. „keine Strafe ohne Gesetz“, „im Zweifel für den Angeklagten“ oder den Regeln für einen fairen Strafprozess, von grundlegender Bedeutung für das Rechtsstaatsprinzip. Auf der anderen Seite gefährdet eine zu enge Auslegung des Legalitätsprinzips genau diesen Rechtsstaat. In Anbetracht der ausdifferenzierten Straftatbestände in der Bundesrepublik kann mit einer relativ großen Straffälligkeit der Gesamtbevölkerung gerechnet werden. Verstöße gegen das Urheberrecht, Unehrlichkeiten bei Versicherungsfällen oder bei der Steuererklärung, Schwarzfahren oder Ladendiebstahl sind so weit verbreitet, dass sich eine große Zahl der Bewohner der Bundesrepublik strafbar gemacht haben dürfte und wegen dieser Taten auch noch verfolgt werden könnte.30 Würde die Polizei nun versuchen, all diese Tatbestände restlos aufzuklären, wären die Freiheitsrechte der Bevölkerung und damit die verfassungsrechtliche Grundordnung der Bundesrepublik einer ernsthaften Gefährdung ausgesetzt.31 Nahezu jeder strafmündige Bürger müsste immerfort mit der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens rechnen, womit sich erhebliche Einschränkungen in der Lebensführung ergeben würden.32 Es ist das Kennzeichen eines Polizeistaates, jegliches Verhalten der Bevölkerung zu durchdringen, um bei festgestellten Fehlverhalten mit strafenden Sanktionen zu reagieren. Denunziation und Bespitzelung wären an der Tagesordnung, wenn Polizeibeamte ohne Maß und Ziel selbst den kleinsten Verdacht aufgreifen würden. Außerdem müsste eine Polizei, die jeden verdächtigt, sich schließlich auch selbst überwachen. Typisch für Unrechtsstaaten sind (geheime) Kontrollinstanzen zur Überwachung der Kontrolleure,33 womit dann schließlich niemand mehr vor polizeilicher Verfolgung sicher sein kann. Tatsächlich dient das Legalitätsprinzip weder der kompletten Aufhellung der Dunkelfelder noch soll ein solches Ziel auch nur ansatzweise angestrebt werden. Die Polizei darf durch das Legalitätsprinzip nicht in eine gesellschaftliche Außenseiterrolle gedrängt werden,34 indem jeglicher Kontakt mit dieser Institution potentiell Strafe und Übelzufügung nach sich ziehen kann. Zur Wahrung demokratischer und rechtsstaatlicher Belange muss die Polizei vielmehr gesellschaftlich integriert und im öffentlichen Leben eingebunden sein35. Eine zu enge Auslegung des Legalitätsprinzips darf nicht zur Isolation der Polizei führen. Die tragende Idee hinter dem Prinzip ist die Gleichheit vor dem Gesetz. Es geht um Gerechtigkeit, Neutralität und nicht 30 Münster, in: Göppinger, Kriminologie, 6. Aufl. 2008, S. 347: Kriminalität als sozial konstruiertes Massenphänomen. 31 Dölling (Fn. 15), S. 268, 273. 32 Strafverfahren sind für den Betroffenen mit Stress und Ärger verbunden. Unabhängig von der Unschuldsvermutung und der Beweislast der Strafverfolgungsbehörden bedeutet ein laufendes Verfahren immer eine gewisse psychische Belastung, die sich aus dem sog. Prozessrisiko ergibt. 33 Gieseke, Die Stasi: 1945 – 1990, 2011, S. 134 ff. 34 Fritsch, ZJJ 2011, S. 393: „Das Legalitätsprinzip macht einsam.“ 35 Schmidhäuser (Fn. 13), S. 109 ff.
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zuletzt auch um die Kontrolle der Polizei, deren Rechte – aber auch deren Pflichten – nicht unbegrenzt sind36.
IV. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Ganz allgemein ist bei allen Ermittlungsverfahren ein nachvollziehbarer (allerdings weder ein dringlicher noch auch nur ein hinreichender) Anfangsverdacht vorauszusetzen. Dieser Anfangsverdacht ist bei Jugendlichen und Heranwachsenden im Übrigen nicht nur einer besonderen strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung zu unterziehen, sondern auch am Erziehungsgedanken des Jugendgerichtsgesetzes auszurichten.37 Ferner muss der Anfangsverdacht auf zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkten beruhen, die es wenigstens möglich erscheinen lassen, dass eine verfolgbare Straftat begangen wurde.38 Der Tatnachweis kann, insbesondere bei komplexen Straftaten, durchaus noch in der Ferne liegen, während umgekehrt nicht verifizierbare Verdächtigungen oder der Übereifer einer Ermittlungsperson nicht genügen, um einen solchen ausreichenden Verdacht zu begründen.39 Die Bandbreite des strafrechtlichen Anwendungsbereiches, der von einer Beförderungserschleichung bis hin zu Menschenhandel oder einem Tötungsdelikt geht, macht es notwendig, die allgemeinen Kriterien für den ausreichenden Anfangsverdacht offen zu gestalten und mit einem unbestimmten Rechtsbegriff zu arbeiten, der auslegungsbedürftig ist und Beurteilungsspielräume40 zulässt. Fakten und Tatsachen müssen dabei ermittelt, interpretiert und in einen Lebenszusammenhang gestellt werden, der einen Straftatbestand erfüllt. Das Vorliegen von tatsächlichen Anhaltspunkten ist diesbezüglich sowohl eine Eingriffsvoraussetzung, die mitunter zur Einleitung eines Strafverfahrens berechtigt, als auch eine Rechtstatsache, die zur Strafverfolgung verpflichtet. Beide Aspekte unterliegen allerdings dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.41 Dieser genießt Verfassungsrang und schränkt sowohl die Rechte als auch die Pflichten der Polizei im Ermittlungsverfahren ein. Genauso wie die Polizei nicht jeden noch so vagen Tatverdacht aufgreifen und exzessiv durchermitteln muss, darf sie das Prinzip der Legalität nicht über die tatsächlichen Verhältnisse stellen und Bürger mit mehr oder weniger eingriffsintensiven Ermittlungen überziehen, die in keinem Verhältnis zu der Ausgangsstraftat stehen42. Es ist deswegen vollkommen rechtskonform, wenn die Polizei 36
Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 9. Aufl. 2015, S. 121. s. u. 38 Deiters (Fn. 6), S. 139 ff. 39 Meyer-Goßner/Schmitt, StPO (Fn. 25), § 152 Rn. 4. 40 Nicht zu verwechseln mit Ermessenspielräumen. Bei dem sog. unechten Beurteilungsermessen handelt es sich um kein Ermessen im rechtstatsächlichen Sinn. – BVerfG, NJW 1984, 1451. 41 Lorenzen, in: Ostendorf, Strafverfolgung und Strafverzicht, 1992, S. 542. 42 Lemke, in: Gercke/Julius/Temming/Zöller (Fn. 25), Einl. Rn. 35. 37
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in einem Mordfall jedem noch so kleinen Indiz nachgeht, während der Diebstahl eines Fahrrades mit einem deutlich geringeren Ermittlungsaufwand bearbeitet wird43,44. Gleiches gilt für die Verdachtschöpfung,45 die z B. bei einem schweren Sexualdelikt sensiblere Indikatoren voraussetzt als bei dem Diebstahl einer geringwertigen Sache. Unbeschadet der Tatsache, dass die Polizei zur Protokollierung von Strafanzeigen46 verpflichtet ist (§ 158 StPO), müssen die Trigger, welche polizeiliche Ermittlungen auslösen, in Abhängigkeit von der Deliktsschwere gesehen werden, wenn der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt bleiben soll. Eine derartige Verhältnismäßigkeitsprüfung ist für das außerdienstliche Wissen von Polizeibeamten über strafbare Sachverhalte mehrfach höchstrichterlich bestätigt worden und mit diversen Abstrichen auch im regulären Dienst anwendbar.47 Voraussetzung ist jedoch, dass bei Verdachtschöpfung und Ermittlungstiefe die vorliegenden Tatsachen objektiv und neutral erhoben sowie ebenso unvoreingenommen bewertet werden. Es darf also keinen Unterschied machen, ob das Fahrrad dem Bürgermeister oder einem Hausmeister gestohlen wurde.
V. Verdachtschöpfung und Ermittlungstiefe im Jugendstrafrecht Während die bisherigen Ausführungen sowohl für Erwachsene wie auch für minderjährige Personen gelten, soll abschließend auf das polizeiliche Ermittlungsverfahren bei Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden eingegangen werden. Natürlich unterliegt das polizeiliche Legalitätsprinzip der Systematik des Jugendstrafrechts. Es gelten die allgemeinen Bestimmungen der Strafprozessordnung, die durch spezialgesetzliche Vorschriften und die Grundprinzipien des Jugendgerichtsgesetzes ergänzt werden. Rechtsdogmatisch kann es hieran keinen Zweifel geben, wenngleich diese Überlegung weder in der Fachdiskussion noch in der polizeilichen Praxis eine Rolle zu spielen scheint. Sowohl in der Literatur als auch in der sonst sehr überschaubaren Rechtsprechung findet das Legalitätsprinzip in Jugendsachen so gut wie nicht statt. Lediglich bei den Ausführungen zu § 45 JGG wird über Legalität und Opportunität diskutiert.48 So entsteht der Eindruck, als würde das Strafverfahren 43
Dölling (Fn. 15), S. 290 ff. Hassemer (Fn. 10), S. 534. 45 Walder/Hansjakob (Fn. 21), S. 97 ff. 46 Eine Strafanzeige ist eine wissentliche und formlose Mitteilung an ein Strafverfolgungsorgan, mit dem Ziel ein Strafverfahren anzuregen. Spontanäußerungen, Notrufe oder Unterrichtsbeiträge von Schülern fallen nicht darunter. Hier fehlt es zum einen an den notwendigen Belehrungen und Formvorschriften (Elternbeteiligung), zum anderen an der Intention des Mitteilers. 47 Artkämper, Kriminalistik 2011, S. 430 ff. zur Verdachtsschöpfung außerhalb des Dienstes. – Zuletzt BGH NStZ 2000, 147. 48 Ostendorf, JGG (Fn. 18), grdl. zu §§ 45 u. 47 Rn. 4. 44
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gegen Jugendliche und Heranwachsende erst mit der Abgabe der polizeilichen Ermittlungsakte an die Staatsanwaltschaft beginnen. Tatsächlich starten die meisten Strafverfahren mit einer Anzeige bei der Polizei oder mit der Feststellung eines Anfangsverdachts durch die polizeiliche Ermittlungsperson. Bis zur Übersendung der Akten an die Staatsanwaltschaft passiert viel. Der betroffene Jugendliche, das Elternhaus und unter Umständen auch das soziale Umfeld werden von der Polizei kontaktiert bzw. befragt. Hierbei ist zu bedenken, dass kommunikationstechnisch in jeder Frage auch eine Aussage und psychologisch eine Zuweisung steckt. Das polizeiliche Ermittlungsverfahren kann stigmatisieren und Gefühle verletzen. Deswegen verlangt der Gesetzgeber in § 2 Abs. 1 Satz 2 JGG ausdrücklich, dass auch das polizeiliche Ermittlungsverfahren erzieherisch wirksam zu sein hat, wobei solche negativen Auswirkungen des Verfahrens zu vermeiden sind.49 Unter diesen Gesichtspunkten ist es nicht nachvollziehbar, wenn in Bezug auf die Verdachtschöpfung oder die Ermittlungstiefe keine Unterschiede zwischen Minderjährigen und Erwachsenen gemacht werden. Dabei werden gerade in der polizeilichen Praxis viele Verfahren schematisch gleich abgearbeitet und zwar unabhängig davon, ob sich die Ermittlungen gegen ein Kind, einen Jugendlichen oder einen Erwachsenen richten. Diese unreflektierte Vorgehensweise ist heftig zu kritisieren. Die Tatsache, dass dahinter oft kein böser Wille steht, sondern es sich in der Regel um Automatismen handelt, denen insbesondere durch das unkritische Ausfüllen von EDV-Erfassungsmasken Vorschub geleistet wird, macht die Angelegenheit nicht besser50. Unabhängig davon werden polizeiliche Ermittlungen gegen Kinder mitunter durch eine nicht zulässige Auslegung des Legalitätsprinzips gerechtfertigt. Angeblich müsse bei allen (straf-)tatbestandsmäßigen Handlungen eine Anzeige vorgelegt werden, weil nur die Staatsanwaltschaft befugt sei, Strafverfahren wegen mangelnder Schuldfähigkeit einzustellen.51 Eine rechtliche Grundlage für diese in der polizeilichen Praxis weit verbreitete Annahme ist freilich nicht ersichtlich. Im Gegenteil: Kinder sind nach § 19 StGB schuldunfähig und damit strafunmündig, weshalb sich die Aufnahme strafrechtlicher Ermittlungen verbietet.52 Es handelt sich um einen absoluten Strafausschließungsgrund, dessen Vorliegen keiner rechtlichen Würdigung unterliegt, sondern alleine auf dem tatsächlichen Alter beruht.53 Ermittlungen „gegen“ Kinder sind allenfalls dann denkbar, wenn das Verfahren zunächst gegen Unbekannt geführt wurde und sich während der Sachbehandlung herausgestellt hat, dass die Tat einem Kind zuzurechnen ist. Im Rahmen der Vorlagepflicht aus 49
Eisenberg, JGG (Fn. 18), § 2 Rn. 28 ff. In Thüringen führte die polizeiliche Registrierung eines zwei Monate alten Flüchtlingskindes dazu, dass bei der Staatsanwaltschaft ein Vorgang wegen illegaler Einreise vorgelegt wurde, in dem der Säugling als schuldunfähiger Tatverdächtiger präsentiert wurde. 51 So auch Maschke, in: Göppinger, Kriminologie, 6. Aufl. 2008, S. 375. 52 Polizeidienstvorschrift 382 – Bearbeitung von Jugendsachen – Nr. 3.1.1. 53 Wäre dies anders, müsste auch der trotzige Wutanfall eines dreijährigen Kindes, welches nach seinen Eltern schlägt, der Staatsanwaltschaft als versuchte Körperverletzung vorgelegt werden. 50
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§ 163 StPO sind die in diesem Zusammenhang angefallenen Ermittlungsunterlagen (Verhandlungen) an die Staatsanwaltschaft abzugeben. Freilich unterliegen Kinder diversen Aufsichtspflichten, die mitunter die Strafbarkeit eines Erwachsenen begründen, weshalb unter Umständen auch sonst bei Tathandlungen von Kindern ermittelt werden muss. In wenigen und sehr extremen Fällen könnte bei Kinderdelinquenz ein Tatbestand nach § 171 StGB (Verletzung der Aufsichtspflicht) vorliegen und ansonsten sind strafrechtliche Beteiligungsformen wie Anstiftung und Beihilfe oder diverse Formen der Mittäterschaft denkbar. In bestimmten Konstellationen haben Eltern, Lehrer und Erzieher eine Garantenstellung und es kommt außerdem vor, dass sich Erwachsene aus den Taten von Kindern bereichern. Insoweit sind Ermittlungen durchaus notwendig und berechtigt. Die polizeilichen Aktivitäten müssen sich jedoch auf Personen beziehen, die das 14. Lebensjahr vollendet haben. Zur Steigerung von Aufklärungsquoten oder Fallbelastungen bzw. zur Manipulation des Pensenschlüssels sind Ermittlungsverfahren gegen Kinder selbstverständlich nicht zulässig. Unabhängig von strafrechtlichen Ermittlungen sind Maßnahmen der Gefahrenabwehr, namentlich die polizeirechtliche Gefahrenermittlung54 und das präventive normverdeutlichende Gespräch zu sehen. Die allgemeinen Grundsätze für das polizeiliche Handeln, insbesondere der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, sind hierbei strikt zu beachten. Regelmäßig können Eltern, Lehrkräfte oder Sozialarbeiter in ausreichender und geeigneter Form intervenieren, womit ein polizeiliches Tätigwerden überflüssig wird. Dazu steht bei Polizeikontakten immer die Gefahr einer Stigmatisierung im Raum, sodass bei dem kindlichen Fehlverhalten eine erhebliche Relevanz vorliegen muss, wenn eine polizeiliche Belehrung für notwendig erachtet wird55. Zwingend notwendig ist eine restriktive Einschränkung der polizeilichen Ermittlungstätigkeit darüber hinaus bei jugendtypischen Bagatelldelikten, die im Rahmen der Diversion erledigt werden können. Jugendliche begehen Straftaten häufig gemeinsam und wenig konspirativ. Deutet z. B. eine jugendliche Ladendiebin an, dass auch andere Schüler aus ihrer Klasse Alkoholika gestohlen haben, die bei der letzten Klassenfeier gemeinsam konsumiert wurden, so kann diese Einlassung nicht dazu führen, dass gegen die gesamte Klasse wegen des Verdachts des Diebstahls oder der Hehlerei ermittelt wird. Natürlich ist es aus polizeilicher Sicht grund54
Beispiel 1: Spielende Kinder hatten auf mannshohen Kabeltrommeln balanciert und eine davon in Bewegung gesetzt, die dann auf abschüssigem Gelände außer Kontrolle geriet, sodass ein geparktes Auto erheblich demoliert wurde. Als der Fahrer dazukam, liefen die Kinder davon. Der Mann konnte gerade noch einen Jungen an der Jacke festhalten, der nun aber wieselflink aus seiner Jacke schlüpfte und ebenfalls wie vom Erdboden verschluckt war. Die Ermittlung des Grundschülers über die am „Tatort“ verbliebende Jacke erfolgte nach dem Polizeirecht zum Schutz privater Rechte (Art. 2 Abs. 2 Bayer. Polizeiaufgabengesetz). 55 Beispiel 2: Ein 13-jähriger Junge hatte im Klassenchat ein Video mit ekelhaften Sexualpraktiken (Sodomie) eingestellt, das er von einer ausländischen Web-Seite heruntergeladen hatte. Die Schulleitung und der Schulsozialarbeiter sahen hierin einen Fall für die Polizei, der im Rahmen eines normverdeutlichenden Gespräches aufgearbeitet wurde.
Das polizeiliche Legalitätsprinzip im Jugendstrafverfahren
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sätzlich ein Qualitätsmerkmal guter Ermittlungsarbeit, wenn Vorgänge komplett durchermittelt an die Staatsanwaltschaft abgegeben werden. Hierzu gehört auch, dass alle in Frage kommenden Tatbestände und Folgedelikte aufgegriffen und abgeklärt werden. In Jugendsachen ist dies jedoch häufig kontraindiziert.56 So macht es wenig Sinn, wenn Ermittlungsverfahren zuerst durch ein besonderes polizeiliches Engagement eingeleitet werden, um anschließend von der Staatsanwaltschaft wegen des Bagatellcharakters sofort wieder eingestellt zu werden. Die Polizei muss hier lernen, aus erzieherischen Gründen mit offenen Fragen zu leben, soweit eine hohe Belastung oder andere arbeitsökonomische Gründe nicht ohnehin zu einer Ausblendung solcher Ermittlungen führen. Es muss demnach nicht jedes Mobiltelefon ausgelesen werden, wenn Jugendliche per WhatsApp von ihren Konsumerfahrungen mit illegalen Drogen berichten oder in einer Klasse wegen Cybermobbing ermittelt wird. Die Kommunikation über soziale Netzwerke und MessengerDienste liefert massenhaft Daten, die nicht nur als Tatnachweis im laufenden Verfahren genützt werden können. Häufig ergeben sich auch Anhaltspunkte für weitere Straftaten, die neben der bereits allgemein beschriebenen Abwägung nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Jugendstrafverfahren nochmal extra gewichtet werden müssen. Als Entscheidungshilfe bieten sich hier die Diversionsrichtlinien der einzelnen Bundesländer an,57 die in der Regel Definitionen von besonders einfach gelagerten Sachverhalten aufweisen und mitunter auch mit diesbezüglichen Tatbestandskatalogen versehen sind. Hierbei kann es sich freilich nur um einen Anhalt handeln. Die polizeiliche Jugendsachbearbeitung muss in einer Einzelfallentscheidung die pädagogische Wirkung des konkreten Ermittlungsverfahrens abschätzen und prüfen, wie tief in die Ermittlungen einzusteigen ist.58 Im Vordergrund steht die pädagogische Ausgestaltung des Ermittlungsverfahrens im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 2 JGG, die einer überbordenden Strafverfolgung minderjähriger Personen unbedingt vorgeht.
VI. Schlussbetrachtung Das Legalitätsprinzip wird also nicht nur durch den allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eingeschränkt. Auch der Erziehungsgedanke des Jugendgerichtsgesetzes verpflichtet die Polizei zu moderaten und der Sache angemessenen Er56
Die in der Praxis häufig angewandte Vorgehensweise, die Verdachtslage kurz zu fixieren und der Staatsanwaltschaft vorzulegen, ist selbstverständlich nicht zu beanstanden und dient in jedem Fall der Rechtssicherheit. Häufig werden dann jedoch weitere Ermittlungen durchgeführt, um die vage Verdachtslage zu konkretisieren oder aufgetretene Widersprüche abzuklären oder die Einstellung „dicht“ zu machen (s.a. Lorenzen [Fn. 45], S. 555). 57 www.dvjj.de/themenschwerpunkte/diversionsrichtlinien. 58 Allerdings steht hier den angesprochenen Stigmatisierungseffekten oft das bei Jugendlichen in der Regel sehr ausgeprägte Gerechtigkeitsempfinden gegenüber, weshalb es umgekehrt unter Umständen notwendig sein kann, das Fehlverhalten der gesamten Clique aufzuarbeiten.
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mittlungen.59 Hier stehen sich die großen Grundsätze des Strafverfahrensrechts in einem Spannungsverhältnis gegenüber. Auf der einen Seite verlangt das Strafmonopol des Staates, ergänzt durch den Gleichbehandlungssatz, dass bei allen verfolgbaren Straftaten eingeschritten wird. Umgekehrt setzen das Übermaßverbot und der im Jugendstrafrecht stark eingeschränkte Strafgedanke60 der polizeilichen Ermittlungstätigkeit Grenzen. Dabei steht es außer Frage, dass die Polizei Strafanzeigen entgegennehmen muss und bei strafbaren Handlungen nicht untätig zusehen darf. Mit diesen Tatsachen können aber sowohl Erwachsene wie auch Jugendliche gut umgehen. Für das Verhältnis von Polizei und Sozialarbeit ist es ebenfalls unproblematisch, wenn Anzeigen bearbeitet und Straftaten unter den Augen der Polizei aufgriffen werden. Dies entspricht der Rollenkonformität und den Erwartungshaltungen der Beteiligten. Die Unsicherheiten bestehen in den noch nicht verifizierten Verdachtslagen, die sich häufig genug auf Bagatelldelikte und jugendspezifisches Fehlverhalten beziehen. Das Spannungsverhältnis der oben angeführten Grundsätze verlangt hier nach Einzelfallentscheidungen, die auf einer sachgerechten Wahrnehmung der Beurteilungsspielräume beruhen. Stigmatisierungsverbote und Schutzgarantien begrenzen nicht nur die Befugnisse der Polizei im Ermittlungsverfahren. Sie wirken sich auch auf die Verdachtschöpfung, ggf. notwendige Vorermittlungen und die eigenständige Einleitung von Ermittlungsverfahren durch die Polizei aus. Der Vorrang des Erziehungsgedankens schränkt das Legalitätsprinzip ein61. Das muss zwangsläufig zu divergierenden Handlungsmustern bei der Polizei führen, die in Jugendsachen eine höhere Schwelle bei der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens einhalten muss, als dies bei Erwachsenen der Fall ist. Nur durch diese Ungleichbehandlung von unterschiedlichen Sachverhalten wird dem Gleichheitsgrundsatz – und damit dem Legalitätsprinzip – vollumfänglich Rechnung getragen. Die Polizei ist dabei nicht frei, sondern an Recht und Gesetz sowie an die Grundsätze für ein faires Strafverfahren gebunden. Gleichzeitig verfügt sie mittlerweile über die Kompetenz, um derartige Entscheidungen selbständig zu treffen. Insbesondere dann, wenn qualifizierte Jugendsachbearbeiter (die über kriminalistisches und pädagogisches Hintergrundwissen verfügen) diese Einordnung vornehmen.
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Diemer, in: Diemer/Schatz/Sonnen, JGG, 7. Aufl. 2015, § 2 Rn. 15. Eisenberg, in: Geppert/Dehnicke, Gedächtnisschrift für Karlheinz Meyer, 1990, S. 709. 61 Schaffstein/Beulke, Jugendstrafrecht, 13. Aufl. 1998, S. 221. 60
Jugendliche im Maßregelvollzug: zwischen Entwicklung und Krankheit, zwischen Pädagogik und Medizin Von Katrin Höffler*
I. Jugendliche und die Zukunft „Jugendkriminalität ist normal, ubiquitär und episodenhaft“, so lautet ein breit durch Daten verifizierter Befund.1 Meist ist diese auch noch bagatellhaft,2 so dass oft keine oder nur eine geringfügige Reaktion der Strafverfolgungsbehörden erforderlich ist. Manchmal, sehr selten sogar, mit Blick auf die vielen jugendtypischen Taten, die von selbst wieder aufhören, ist es jedoch anders gelagert. Es kommt zu schwerer Kriminalität und das Gesetz sieht hierfür auch schwere jugendstrafrechtliche Reaktionen vor: Jugendstrafe oder unter bestimmten Voraussetzungen auch Maßregeln der Besserung und Sicherung. Eine strafrechtliche Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus, der Entziehungsanstalt oder der Sicherungsverwahrung ist für einen erwachsenen Menschen einer der schwersten Eingriffe in seinen freien Entfaltungsraum, insbesondere in die Freiheit, die mit nicht klar absehbarem Ende genommen wird. Doch für einen jungen Menschen ist eine solche Unterbringung nochmals um ein Vielfaches schwerwiegender. Körper und Psyche werden, wie auch damit eng verwoben die Persönlichkeit, gerade in den Jahren zwischen zwölf und 25 in ganz besonderer Weise entfaltet.3 Diesen Prozess teilweise intra mures zu verbringen, ist wegen der (trotz Angleichungsgrundsatz bestehenden) völligen Andersartigkeit der Lebensumgebung der Jugendstrafhaft bereits problematisch,4 doch im Maßregelvollzug ist diese Situation noch um ein Vielfaches zugespitzt gegenüber dem „normalen“ Jugendstrafvollzug. * Dank gebührt meinem Lehrstuhlteam, insbesondere Herrn stud. iur. Tim Festerling, der hier stellvertretend für die Unterstützung bei der Durchführung der Abfrage bei den Ministerien sowie Recherche- und Korrekturarbeiten genannt sei. 1 Siehe nur bei Eisenberg/Kölbel, Kriminologie, 7. Aufl. 2017, § 48 Rn. 15 sowie Meier/ Rössner/Schöch, Jugendstrafrecht, 3. Aufl. 2013, § 3 Rn. 3 ff. 2 Meier/Rössner/Schöch (Fn. 1), § 3 Rn. 24; Ostendorf/Drenkhahn, Jugendstrafrecht, 9. Aufl. 2017, Rn. 10. 3 Zur Reifung der Strukturen des Frontalhirns bis ins Erwachsenenalter bspw. Burchard, ZJJ 2015, 164 (164). 4 Burchard, ZJJ 2015, 164 (164) spricht von „Besserung und Sicherung, Schutz der Allgemeinheit vor gefährlichen Jugendlichen im Rahmen eines Zwangskontextes“.
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Wir finden die jungen, untergebrachten Menschen also bereits von der Ausgangslage her in einer zweifach verschärften Lage vor. Den Jubilar Ulrich Eisenberg haben junge Menschen und deren Schicksal, sowohl als Täter wie auch als Opfer, immer in besonderem Maße beschäftigt. Stets legte er ein besonderes Augenmerk darauf, für einen fairen Umgang der Justiz mit den jungen Beschuldigten zu sorgen; so konstatierte er prägnant: „Solches Vorgehen [gemeint ist die rechtspolitische Nivellierung von Unterschieden zwischen Jugendlichen, Heranwachsenden und Erwachsenen], das die über Jahrzehnte hinweg gewachsene Rechtskultur zersetzt, ist der gesellschaftlichen Majorität unwürdig und schadet Jugendlichen wie auch Heranwachsenden als – neben Kindern – dem höchsten Gut, das eine vitale Gesellschaft hat.“5 Deutlich wird hier wie an vielen anderen Stellen ein ganz positives Menschenbild bzgl. der Jugendlichen. Aus diesem Grund ist der vorliegende Beitrag neben dem Jubilar thematisch zugleich denjenigen Tätern gewidmet, die unter (auch institutionell) schwierigsten Bedingungen nach einer Legalbewährung in der Zukunft suchen müssen. Nachdem wegen der in den vergangenen Jahren mehrfach erfolgten Änderungen knapp die rechtlichen Grundlagen der Unterbringung von Jugendlichen und Heranwachsenden beschrieben werden, folgt die Darstellung einiger jüngerer empirischer Erkenntnisse insbesondere aus der Psychiatrie. Im Mittelpunkt steht dann die Präsentation der (heterogenen) Ergebnisse einer kleinen schriftlichen Abfrage von Daten bei den Justiz-/Sozial- und Gesundheitsministerien der Länder, die für diesen Beitrag durchgeführt wurde. Daran anschließend werden diese Ergebnisse mit den Anstrengungen in der Psychiatrie, Behandlungsstandards zu etablieren, kontrastiert.
II. Rechtliche und tatsächliche Rahmenbedingungen 1. Gesetzliche Regelungen Derzeit sind im Jugendstrafrecht folgende Unterbringungsmöglichkeiten vorgesehen: Gem. § 7 Abs. 1 JGG i.V.m. §§ 63, 64 StGB können die Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus und in der Entziehungsanstalt bei Jugendlichen (i.V.m. § 105 Abs. 1 JGG ebenso bei Heranwachsenden) angeordnet werden. Die Sicherungsverwahrung ist, nach einer Vielzahl von gesetzlichen Änderungen in den vergangenen Jahren, derzeit in den § 7 Abs. 2 bis 4 JGG normiert. a) Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus Die Unterbringung Jugendlicher und Heranwachsender in einem psychiatrischen Krankenhaus bestimmt sich gem. § 7 Abs. 1 JGG nach den §§ 61 Nr. 1, 63 StGB.6 5 6
Eisenberg, NJW 2010, 1507 (1509). Eisenberg, JGG, 20. Aufl. 2018, § 7 Rn. 6.
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Erforderlich ist die positive Feststellung einer zumindest erheblichen Einschränkung der Schuldfähigkeit des Betroffenen gem. § 21 StGB sowie die Prognose (Wahrscheinlichkeit höheren Grades7), infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu begehen. Aufgrund des „Gesetzes zur Novellierung des Rechts der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus“8 sind einige Neuerungen zu beachten: So ist erforderlich, dass die Opfer durch die zu erwartenden Taten seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird. Dadurch ist eine stärkere Fokussierung auf gravierende Fälle beabsichtigt.9 Der im Jugendstrafrecht verankerte Erziehungsgedanke erfordert ohnehin (und schon vor der Änderung) über die gesetzlichen Bestimmungen des allgemeinen Strafrechts hinaus eine besonders eingehende und sorgfältige Überprüfung der Voraussetzungen,10 die nur in Ausnahmefällen zu einer Rechtfertigung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus führen kann und weniger einschneidenden Maßnahmen Vorrang einräumt.11 Hinsichtlich der Dauer der Unterbringung gilt seit der Neufassung des § 67d Abs. 2 S.1 StGB12, dass die weitere Vollstreckung der Unterbringung nur bei der Prognose erheblicher Taten möglich ist. Ebenso ist seit dieser Novellierung nach § 67d Abs. 6 S. 2 StGB eine Fortdauer der Unterbringung über sechs Jahre hinaus nur bei Gefahr einer erheblichen rechtswidrigen Tat, durch die das Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt wird oder in die Gefahr einer solchen Schädigung gebracht wird, verhältnismäßig. Entsprechendes gilt gem. § 67d Abs. 6 S. 3 StGB bei einer Unterbringungsdauer von über zehn Jahren.13 b) Unterbringung in einer Entziehungsanstalt Die Schuldunfähigkeit oder verminderte Schuldfähigkeit nach §§ 20, 21 StGB ist auch für die Unterbringung nach § 64 StGB erforderlich;14 wichtig ist, dass „jugendliches Ausprobieren“ nicht genügt, um bei der betroffenen Person einen Hang zu Rauschmitteln festzustellen.15 § 64 Abs. 2 JGG setzt weiter voraus, dass bereits bei Anordnung der Maßregel16 eine hinreichend konkrete Aussicht auf den erfolgreichen Verlauf der Behandlung bestehen muss, wobei wiederum § 93a JGG verlangt, dass der Vollzug in einer Einrichtung mit den erforderlichen therapeutischen Mitteln zur Behandlung suchtkranker Jugendlicher stattfindet. Dabei sieht § 93a Abs. 2 JGG 7
Eisenberg, JGG (Fn. 6), § 7 Rn. 8a. BGBl. 2016 I, S. 1610. 9 BT-Drs. 18/7244. 10 BGHSt 37, 373 (374). 11 Schaffstein/Beulke/Swoboda, Jugendstrafrecht, 15. Aufl. 2014, Rn. 246. 12 BGBl. 2016 I, S. 1610. 13 Eisenberg, JGG (Fn. 6), § 7 Rn. 11a. 14 Meier/Rössner/Schöch (Fn. 1), § 6 Rn. 22. 15 Ostendorf, JGG, 10. Aufl. 2016, § 7 Rn. 11. 16 BVerfGE 91, 1. 8
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die Möglichkeit vor, den Vollzug aufzulockern, wenn dies dem angestrebten Behandlungszweck dient.17 c) Sicherungsverwahrung Die nachträgliche Sicherungsverwahrung wurde erstmals 2008 in § 7 Abs. 2, 3 JGG a. F.18 für Jugendliche und Heranwachsende, auf die das Jugendstrafrecht Anwendung fand, geregelt und ermöglichte eben die nachträgliche Anordnung dieser Maßregel.19 Nach der Grundsatzentscheidung des BVerfG zur Sicherungsverwahrung vom 04. 05. 201120 erfolgte jedoch eine grundsätzliche Neugestaltung auch des § 7 JGG. Im Zuge dieser Reform wurde die nachträgliche Sicherungsverwahrung in § 7 Abs. 2, 3 JGG durch die vorbehaltene Sicherungsverwahrung ersetzt.21 So ist es seit dem 01. 06. 2013 gem. § 7 Abs. 2 bis 4 JGG unter bestimmten Voraussetzungen möglich, die Anordnung der Sicherungsverwahrung im Urteil vorzubehalten: Erforderlich ist, dass eine Jugendstrafe von mindestens sieben Jahren vorliegt und das zugrunde liegende Urteil aufgrund eines Verbrechens gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit oder die sexuelle Selbstbestimmung oder aufgrund von § 251 StGB (sog. Anlasstat) ergeht. Es handelt sich damit um einen engeren Deliktskatalog als im allgemeinen Strafrecht.22 Zudem muss das Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt worden sein oder der Gefahr einer solchen Schädigung ausgesetzt gewesen sein. Gem. § 7 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 JGG ist im Wege der Gesamtwürdigung des Jugendlichen und seiner Tat(en) eine hohe Wahrscheinlichkeit der Begehung eines schweren Verbrechens (Straftaten der in Absatz 1 bezeichneten Art) zu prognostizieren. Bei Jugendlichen wird im Gegensatz zur Anordnung gem. § 66a StGB oder § 106 Abs. 3, 4 JGG auf die Feststellung eines Hanges zu schweren Straftaten verzichtet.23 Die Anordnung der Sicherungsverwahrung erfordert nach der Vollstreckung der Jugendstrafe eine erneute Gesamtwürdigung, die die Entwicklung des Täters seit der Verurteilung einbezieht, § 7 Abs. 2 S. 2 JGG. Eine nachträgliche Sicherungsverwahrung ist unter den sehr restriktiven Voraussetzungen des § 7 Abs. 4 JGG denkbar: Nach Erledigterklärung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und Vorhandensein der in § 7 Abs. 4 JGG geforderten hohen Kriminalitätsbelastung sowie einer Gesamtwürdigung i. S. v. § 7 Abs. 2.
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Schaffstein/Beulke/Swoboda (Fn. 11), § 10 Rn. 248. BGBl 2008 I, S. 1212. 19 Bartsch, ZJJ 2013, 182 (183). 20 BVerfG, NJW 2011, 1931. 21 Streng, Jugendstrafrecht, 4. Aufl. 2016, Rn. 555. 22 Eisenberg, JGG (Fn. 6), § 7 Rn. 45. 23 Schaffstein/Beulke/Swoboda (Fn. 11), Rn. 253. 18
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§ 7 Abs. 5 JGG bestimmt für Betroffene unter 24 Jahren für die Überprüfung der Unterbringungsvoraussetzungen in den Fällen des Absatzes 2 und 4 eine Frist von sechs Monaten. Bei nach allgemeinem Strafrecht verurteilten Heranwachsenden bestimmt sich die vorbehaltene Sicherungsverwahrung nach § 106 Abs. 3, 4 JGG. 2. (Rechts-)Tatsächliche Rahmenbedingungen Der Maßregelvollzug bei Jugendlichen in Deutschland ist, wie auch der Strafvollzug, durch die heterogene Struktur der einzelnen Bundesländer gekennzeichnet.24 Zuständig sind in den einzelnen Ländern teils die Gesundheitsministerien, teils die Sozialministerien, je nach ministerialer Struktur in den Ländern.25 Da insgesamt keine hohen Fallzahlen vorliegen,26 ist die Lobby für die Patienten im Jugendmaßregelvollzug noch schwächer als die für erwachsene Maßregelvollzugspatienten: Wenige Patienten bedeuten wenig verfügbare Geldmasse. Schlechte Finanzen wiederum ziehen eng begrenzte Spielräume bei der Organisation und dem Ausbau einer solchen Maßnahme nach sich. Die Aufteilung auf die Länder und die damit einhergehende Diversität verschärft die Situation. Umso erfreulicher ist, dass sich ein im Jahr 2003 gegründeter „Arbeitskreis Jugendmaßregelvollzug/Jugendforensik“ zum Ziel gesetzt hat, einheitliche Behandlungsstandards zu implementieren.27 Die Ausgangssituation für psychisch erkrankte Menschen oder Menschen mit einer psychischen Auffälligkeit (oder auch „psychischen Störung“28) ist per se als kritisch einzustufen. Stigmatisierende Terminologie steht nicht nur symbolisch für stigmatisierendes Denken, sondern befördert dieses gerade.29 Wenn also früher von der „Irrenanstalt“ und den „Verrückten“ gesprochen wurde, so geschieht dies zwar heute nicht mehr in dieser Offenheit, dennoch stecken viele Vorbehalte in der Sprache und im Denken.30 Nun kumuliert bei der Klientel der Maßregelpatienten 24
Dazu Eisenberg/Kölbel (Fn. 1), § 38 Rn. 29. Dazu genauer unter Ziff. IV. 26 Zu niedrigen Fallzahlen auch als Problem für die Repräsentativität von Auswertungen Stöver/Hupp/Wendt, FPPK 2013, 183 (184). 27 Der Arbeitskreis arbeitet überregional und ist von den kinder- und jugendpsychiatrischen Fachgesellschaften (Deutsche Gesellschaft fu¨ r Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP), Bundesarbeitsgemeinschaft der leitenden Klinika¨ rzte fu¨ r Kin¨ rzte fu¨ r der- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (BAG) sowie Berufsverband der A Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in Deutschland (BKJPP)) anerkannt; s. hierzu Stöver/Hupp/Wendt, FPPK 2013, 183 (183). In genanntem Artikel wird er als Arbeitskreis Jugendmaßregelvollzug betitelt, auf einer existierenden Internetpräsenz allerdings als „Arbeitskreis Jugendforensik“. 28 Zu den unterschiedlichen Begriffsgrundlagen diesbzgl. in der Medizin und im Recht Höffler/Stadtland, StV 2012, 239. 29 Aus Worten werden Gedanken, aus Gedanken werden Gefühle, und umgekehrt. 30 Zur historischen Perspektive auch Weissbeck/Günther, RuP 2010, 10 (10 f.). 25
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die psychische Auffälligkeit mit delinquentem Verhalten, also einem weiteren Merkmal, das die Personen vom „angestrebten Idealbürger“ abhebt. Leicht drohen hier scheinbare Gesetzmäßigkeiten angenommen zu werden, wie bspw. dass psychisch kranke junge Patienten automatisch eine langandauernde kriminelle Karriere an den Tag legen werden.31 Gerade vor dem Hintergrund, dass einerseits die Behandlungsumgebung, auch in personeller (oder besser: persönlicher) Sicht, ganz entscheidend für den Behandlungserfolg ist32, andererseits aus der Resozialisierungsforschung inzwischen bekannt ist, dass Anerkennung und Selbstwert der Probanden von großer Bedeutung für deren Legalbewährung sind33, ist ein (stattfindendes) negatives Labeling sehr problematisch. Zudem kumulieren auch in tatsächlicher Hinsicht schwierigste Fragen: Die zu beurteilende Wahrscheinlichkeit der Gefährlichkeit mit der zugrundeliegenden Anlasskrankheit ist abzugrenzen von einer Entwicklungsverzögerung; hier sind jedoch psychische Zustände sehr eng verwoben und realistischerweise kaum bis ins Letzte durch die Fachgutachter abschichtbar, obgleich hieran eben weitreichende Konsequenzen anknüpfen.34
III. Empirische Erkenntnisse 1. Personen- und einrichtungsbezogene Erkenntnisse Die Datenlage ist unübersichtlich und eher schwach.35 Der „Arbeitskreis Jugendmaßregelvollzug“ trägt dankenswerterweise seit 2004 Daten zu den untergebrachten Patienten zusammen; in den Jahren 2008 bis 2011 wurden zudem genauere Erhebungen zu Patienten, die in den entsprechenden Kliniken in Rostock und Berlin befindlich waren, durchgeführt. Grundlage waren zum einen die Daten der Basisdokumen31 Sicher nicht so absolut gemeint, aber sehr stark formuliert und daher hier ein gutes Beispiel, die Äußerung von Stöver/Hupp/Wendt, FPPK 2013, 183 (184): „Davon abzugrenzen sind junge Menschen, bei denen eine psychische Sto¨ rung mit delinquentem Verhalten vergesellschaftet ist und deren Delinquenzrisiko nicht passager ist“, dann kommt auch sogleich der relativierende Zusatz: „insbesondere wenn die zugrunde liegende psychische Erkrankung unbehandelt bleibt“. 32 Ähnlich Stöver/Hupp/Wendt, FPPK 2013, 183 (190), unter Betonung der institutionellen, besonderen Ausrichtung: „Sie benötigen ein eigenständiges und auf ihre Bedürfnisse und Ressourcen spezialisiertes Behandlungsangebot. Die Jugendmaßregel sollte deshalb darauf abzielen, die Entwicklungsdefizite auszugleichen, die junge psychisch kranke Straftäter regelhaft aufweisen und die dysfunktionalen Überlebensstrategien korrigieren, die sie aus ihrer Marginalisierung heraus entwickelten.“ 33 Dazu Hosser bei einem Vortrag am 24. 04. 2014 an der Universität Göttingen und in einem weiteren Vortrag am 16. 10. 2017 an der Universität Göttingen im Rahmen der Tagung „Opferorientierung im Justizvollzug“. 34 Siehe nur aus psychiatrischer Perspektive Lammel, FPPK 2010, 248 (250, 254). 35 Vgl. dazu auch Lammel, FPPK 2010, 248 (249 f.).
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tation (BADO)36, zum anderen die genannten Daten aus einer Längsschnittbetrachtung von 50 Probanden aus dem Maßregelvollzug in Berlin und Rostock37. a) Struktureller Befund So wird im Jahr 2013 angegeben, dass einzig das Land Berlin von 2009 bis 2012 eine eigene Klinik für den Jugendmaßregelvollzug hatte, danach gab es nirgends mehr eine solche Einrichtung. Zumeist sind es Abteilungen, die entweder in den Maßregelvollzug von Erwachsenen oder in die Allgemeine Kinder- und Jugendpsychiatrie eingegliedert sind; teils finden sich auch nicht einmal solche Abteilungen.38 Über die Hälfte der Patienten wurde beschult,39 ein gutes Drittel war in Arbeit oder Ausbildung. Bei den therapeutischen Maßnahmen wurden Einzel- und Gruppentherapie sowie Medikation angewandt; Gruppentherapie war dabei nicht so beliebt.40 Knapp die Hälfte wurde in Lockerungen erprobt.41 Die Behandlungsdauer betrug im Schnitt 38 Monate.42 b) Personenbezogene Erkenntnisse Stöver et al.43 ermittelten, dass durchweg biographische Auffälligkeiten und eine schwierige soziale Umgebung vorzufinden waren, insbesondere im Vergleich zu Altersgenossen. Die psychischen Erkrankungen kumulierten mit Traumatisierungen, Gewalterlebnissen, fehlender Förderung, schulischen Problemen, teils Heimunterbringung44 und Suchtmittelkonsum.45 Verzeichnet wurde zudem nicht nur die bagatellhafte Jugendkriminalität, sondern gravierende Delinquenz (was aber freilich auf die Selektion durch die hohen Anordnungsvoraussetzungen der Unterbringung im
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BADO = Basisdokumentation des Jugendmaßregelvollzugs. Zum Zeitpunkt der letzten Stichtagerhebung am 01. 02. 2012 wurden Daten von insgesamt 165 jugendforensischen Patienten berücksichtigt, und zwar solche, die gem. §§ 63, 64 StGB in Verbindung mit § 7 JGG oder § 105 JGG oder die gem. § 126a StPO untergebracht waren. 37 Stöver/Hupp/Wendt, FPPK 2013, 183: Berlin: n=39; Rostock: n=11. Gesamt: n=50. 38 Vgl. die Übersichtstabelle bei Stöver/Hupp/Wendt, FPPK 2013, 183 (184) und auch Weissbeck/Günther, RuP 2010, 10 (13 f.) mit Erläuterung der strukturellen Besonderheiten. 39 BADO-Daten 2012: 55 %; 46 % erreichten einen Schulabschluss, Stöver/Hupp/Wendt, FPPK 2013, 183 (188). 40 Stöver/Hupp/Wendt, FPPK 2013, 183 (188). 41 Stöver/Hupp/Wendt, FPPK 2013, 183 (189). 42 38 Monate: Stöver/Hupp/Wendt, FPPK 2013, 183 (189). 43 Stöver/Hupp/Wendt, FPPK 2013, 183 (185 f.). 44 Und zwar nicht in der frühen Kindheit, sondern jenseits des 5. Lebensjahrs. 45 Zur Bedeutung von Letzterem auch Hinrichs, in: Häßler/Kinze/Nedopil, Praxishandbuch Forensische Psychiatrie, 2. Aufl. 2016, S. 417 (423).
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Maßregelvollzug zurückzuführen ist)46, insbesondere im Gewaltbereich. Viele hatten eine Vorstrafenbelastung (fast die Hälfte der Patienten (48 %) hatten mehr als zehn Vorstrafen), wobei gem. § 64 StGB Untergebrachte mehr Vorstrafen hatten als Patienten nach § 63 StGB. Über drei Viertel der Probanden waren vor der Unterbringung bereits in kinder- und jugendpsychiatrischer Behandlung und beinahe ein Viertel sogar wiederholt in stationärem Setting.47 Bei den Diagnosen klinisch-psychiatrischer Syndrome waren deutlich überwiegend Mehrfachdiagnosen vorzufinden,48 die Mehrzahl wies einen unterdurchschnittlichen Intelligenzquotienten auf und ein geringes Bildungsniveau.49 Störungen aus dem schizophrenen Formenkreis und Persönlichkeitsstörungen waren relativ häufig, ebenso eine Suchtproblematik als weitere Diagnose bei nach § 63 StGB untergebrachten Patienten.50 In einer früheren Studie51 verzeichneten Stöver et al., dass Verhaltens- und emotionale Störungen, Persönlichkeitsstörungen und Entwicklungsstörungen sehr häufig waren.52 2. Anordnungsbezogene Erkenntnisse Bekanntermaßen sind Prognosen zur Legalbewährung – und darum geht es bei Gefährlichkeitsprognosen in letzter Konsequenz, wenn das Gesetz fordert, dass „die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, daß (…) erhebliche rechtswidrige Taten, (…) zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist“ (§ 63 StGB) bzw. „wenn die Gefahr besteht, dass (…) erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird“ (§ 64 StGB) – zu schwerwiegenden Taten sehr schwierig.53 Bereits aufgrund niedriger Basisraten insbesondere bei schwerer Delinquenz ergeben sich aus mathematisch-statistischen Gründen hohe Fehlerquoten (false positives), was auch für Deutschland jedenfalls im Bereich der Sicherungsverwahrung bei Erwachsenen inzwischen recht gut untersucht ist.54 46 Freilich wäre eine Vergleichsgruppe in Freiheit befindlicher Jugendlicher und Heranwachsender spannend, die in der Anlasskrankheit identisch belastet sind. 47 76 % und 23 %. 48 Mehrfachdiagnosen: 2 Diagnosen: 79,3 %; 3 Diagnosen: 15 %. 49 Stöver/Hupp/Wendt, FPPK 2013, 183 (187). 50 Stöver/Hupp/Wendt, FPPK 2013, 183 (187): Bei der Untersuchungsgruppe der in Berlin und Rostock Untergebrachten nach § 63 StGB: 30,3 % schizophrener Formenkreis, 26 % Persönlichkeits- und Verhaltensauffälligkeiten, 40 % Nebendiagnose Suchtprobleme. Zahlen für die Störungsbilder für den Jugendstrafvollzug: Ko¨ hler/Mu¨ ller/Hinrichs, ZJJ 2007, 253; für den Jugendstrafvollzug in Österreich: Plattner et al., Z Kinder-Jugendpsychiatr Psychother 2011, 231. 51 n=100 (§ 63 n =64; § 64 n=15; § 126a n=20; § 80 n=1). 52 Kategorien F9, F6, F8, Mehrfachnennungen waren möglich; Stöver/Weissbeck/Wendt, FPPK 2008, 255 (258). 53 Eisenberg, DRiZ 2009, 219 (219); Eisenberg/Kölbel (Fn. 1), § 21 Rn. 6 ff. 54 Alex, Nachträgliche Sicherungsverwahrung – ein rechtsstaatliches und kriminalpolitisches Debakel, 2. Aufl. 2013. Folgeuntersuchungen: ders., NK 2013, 350; ders., NK 2015, 48; Kinzig, Die Legalbewährung gefährlicher Rückfalltäter – Zugleich ein Beitrag zur Entwick-
Jugendliche im Maßregelvollzug
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Bei Jugendlichen ist eine Legalbewährungsprognose sehr viel schwieriger als bei Erwachsenen, da die Entwicklungsmechanismen von viel stärkerer Ausprägung und höherer Frequenz sind als bei Erwachsenen.55 Prognosen bei Jugendlichen drohen daher noch stärker mit einer Fehlerquote belastet zu sein, weil die mathematisch-statistischen Probleme bei schwerwiegenden Taten, die aus der niedrigen Basisrate solcher Taten resultieren, mit den Entwicklungspotentialen der Jugendlichen kumulieren. Nun tritt noch ein dritter erschwerender Umstand hinzu: Die Belastung mit einer Anlasskrankheit. Bei psychischen Krankheiten bzw. Störungsbildern ist die Legalbewährungsprognose teilweise stark an die Behandelbarkeit selbiger geknüpft;56 so ist ein schizophrenes Störungsbild medikamentös gut behandelbar, was wiederum mit einer dann stark geminderten Rückfallwahrscheinlichkeit einhergeht.57 Bei anderen Störungsbildern, die therapeutisch nicht ohne Weiteres erreicht werden können und häufig auch eine längere Dauer aufweisen, ist das Zusammenspiel schon viel schwieriger und komplexer; zudem resultiert aus den Mehrfachdiagnosen, die eben sehr häufig sind58, eine zusätzliche Mehrdimensionalität in den prognoserelevanten Anknüpfungspunkten. 2011 hat der Arbeitskreis Jugendmaßregelvollzug für eine standardisierte Anwendung von Prognoseinstrumenten plädiert, die jdfs. in den Einrichtungen zum Einsatz kommen sollen (wohl im Rahmen der Behandlungsplanung, der Entscheidung über Lockerungen etc.); die statistisch-dynamischen Manuale sollen die klinische Prognose in diesem Bereich ergänzen.59 Diese können zu einem Behandlungsmanagement beitragen und sollen helfen, „frühzeitig die Weichen“ zu stellen.60
lung des Rechts der Sicherungsverwahrung, 2008; Müller et al., MschrKrim 94 (2011), 253. Kritisch auf die Problematik der „false positives“ im Kontext der Sicherungsverwahrung hinweisend Höffler/Kaspar, ZStW 124 (2012), 87 (110, 131); zu „false positives“ im Bereich der Psychiatrie Walter, ZRP 2014, 103 (103, Fn. 1) m.w.N.; zu den offenen Fragen im Umgang mit „false positives“ Nedopil/Stadtland, in: Lösel/Bender/Jehle, Kriminologie und wissensbasierte Kriminalpolitik, 2007, S. 541 (548 f.). 55 Wendt, in: Häßler/Kinze/Nedopil, Praxishandbuch Forensische Psychiatrie, 2. Aufl. 2016, S. 503 (503 f.). Allein aus dem allgemeinen Befund zur Jugendkriminalität, dass diese normal, ubiquitär und episodenhaft ist (dazu vgl. nur Eisenberg/Kölbel (Fn. 1), § 48 Rn. 15; Meier/Rössner/Schöch (Fn. 1), § 3 Rn. 3 ff.), ist ersichtlich, dass die „Abbrüche“ der kriminellen Aktivitäten an der Tagesordnung sind. 56 Zu dieser Problematik auch Eisenberg, ZStW 86 (1974), 1042 (1049). 57 Vgl. nur Nedopil/Müller, Forensische Psychiatrie. Klinik, Begutachtung und Behandlung zwischen Psychiatrie und Recht, 4. Aufl. 2012, S. 180. 58 s. Fn. 48. 59 Stöver/Hupp/Wendt, FPPK 2013, 183 (189) unter Verweis auf Dahle, Psychologische Kriminalprognose: Wege zu einer integrativen Methodik für die Beurteilung der Rückfallwahrscheinlichkeit bei Strafgefangenen, 2015. 60 Stöver/Hupp/Wendt, FPPK 2013, 183 (191).
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Zentral muss aber festgehalten werden, dass eine Anordnungsvoraussetzung für die Unterbringung im Jugendmaßregelvollzug eben auf einer in höchstem Maße fehleranfälligen Wahrscheinlichkeitsaussage fußt.
IV. Eigene Abfrage Der Umstand, dass es sich um eine der vulnerabelsten Klientel in einer der schwerwiegendsten Formen der Freiheitsentziehung im Strafrechtssystem handelt, die einerseits in einigen wenigen Fällen auch ein besonderes Gefahrenpotential, aber andererseits wegen ihres jungen Alters ein hohes Entwicklungspotential zum Guten hin mitbringt, offenbart: sie ist besonders schutzbedürftig und auch besonders beschützenswert. Gerade deshalb sollte eine kleine aktuelle Bestandsaufnahme durchgeführt werden. Angeschrieben wurden die in den 16 Bundesländern jeweils für den Maßregelvollzug zuständigen Ministerien (Justiz und Gesundheit/Soziales) mit einem Kurzfragebogen. Geantwortet haben Ministerien aus dreizehn Bundesländern, wobei die Ausführlichkeit der Antworten sehr heterogen war.61 Tabelle 1 Antwortverhalten Zuständig für
§ 63, 64
Sicherungsverwahrung (Justiz)
Baden-Württemberg
+
+
Bayern
+
+
Berlin
(+)62
Brandenburg
(+)63
Bremen
+
Hamburg
+
Hessen
+
(+)64
Mecklenburg-Vorpommern
+
+
+
+
Niedersachsen NRW Rheinland-Pfalz
+
Saarland Sachsen
+
+
61 Zudem war durch uns leider eine kurze Antwortfrist erforderlich, ohne Zeit, noch einmal nachzufassen, so dass die ausstehenden Antworten eher zu Lasten der Forschenden gehen. 62 Weiterleitungsschreiben ohne weitere Angaben. 63 Keine weiteren Angaben. 64 Weiterleitungsschreiben ohne weitere Angaben.
Jugendliche im Maßregelvollzug
235
Tabelle 1 (Fortsetzung) Zuständig für
§ 63, 64
Sicherungsverwahrung (Justiz)
Sachsen-Anhalt Schleswig-Holstein
+ +
+
Thüringen
Ergänzend wurde eine Internet-Recherche durchgeführt.65 1. Unterbringungszahlen a) Psychiatrisches Krankenhaus und Entziehungsanstalt In Baden-Württemberg waren zum 31. 12. 2016 13 Heranwachsende und keine Jugendlichen im psychiatrischen Krankenhaus bzw. der Entziehungsanstalt untergebracht. Baden-Württemberg hat zudem Zahlen zu den davorliegenden fünf Jahren geliefert. Danach ergibt sich folgendes Bild: Tabelle 2 BW, jeweils zum 31.12. untergebrachte jugendliche und heranwachsende Personen 2012
2013
2014
2015
2016
Jugendliche
4
0
2
4
0
Heranwachsende
22
17
20
14
13
Bezogen auf die Gesamtzahl der in Baden-Württemberg zum Stichtag insgesamt im Maßregelvollzug nach §§ 63, 64 StGB Untergebrachten betrugen die Jugendlichen 2012 und 2015 maximal 0,4 %, bei den Heranwachsenden 2,1 % (2012) und 1,3 % (2016). In Bayern befanden sich am 31. 12. 2016 nur ein Jugendlicher, aber 80 Heranwachsende im Maßregelvollzug. Im psychiatrischen Krankenhaus waren 23 Personen und in der Entziehungsanstalt 48 befindlich; vorläufig untergebracht waren weitere zehn Personen. In Hamburg waren am 1. 1. 2017 ein Jugendlicher und drei Heranwachsende im Vollzug des § 63 StGB. In der Entziehungsanstalt war niemand untergebracht. In Hessen waren am 1. 1. 2017 zehn Jugendliche in der jugendforensischen Klinik untergebracht. Zu Heranwachsenden wurden keine Zahlen übermittelt. Drei Unterbringungen auf der Jugendstation waren am 1. 1. 2017 in MecklenburgVorpommern zu verzeichnen, davon zwei nach § 63 StGB, eine nach § 64 StGB. 65 Freilich ohne dass hier ein Anspruch auf vollständiges Auffinden erhoben werden soll, da die Darstellungsart und der -ort gleichfalls sehr divers waren (z. T. auf Klinik-Internetseiten, zum Teil auf behördlichen Seiten etc.). Ebenso waren Daten teilweise leider nur zu unterschiedlichsten Stichtagen auffindbar.
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Zwei weitere Untergebrachte, bei denen die Unterbringung nach Jugendstrafrecht angeordnet war, die aber inzwischen erwachsen waren, waren im Maßregelvollzug für Erwachsene. In Niedersachsen betrug die Anzahl der Patienten bis 25 Jahre im Maßregelvollzug nach § 64 StGB knapp über 12 % von 2131 Personen insgesamt.66 In Nordrhein-Westfalen waren nach den §§ 63, 64 StGB bzw. 126a StPO zum 31. 12. 2016 zehn Jugendliche und 43 Heranwachsende untergebracht. Tabelle 3 NRW, zum 31. 12. 2016 untergebrachte jugendliche und heranwachsende Personen Psychiatrie
Entziehungsanstalt
§ 126a
Jugendliche
4
1
5
Heranwachsende
21
8
13
Junge Erwachsene67
73
54
18
In Sachsen waren in der Jugendmaßregelvollzugseinrichtung Arnsberg zum 31. 12. 2017 vier Patienten im Vollzug des § 63 und drei im Vollzug des § 64 StGB befindlich. Ob das zu diesem Zeitpunkt alle untergebrachten Jugendlichen und Heranwachsenden Sachsens waren, ist nicht bekannt. Sechs Heranwachsende waren in Sachsen-Anhalt am 31. 12. 2016 im psychiatrischen Krankenhaus bzw. der Entziehungsanstalt untergebracht, kein Jugendlicher. Die Gruppe der jungen Erwachsenen war hingegen deutlich größer.68 b) Sicherungsverwahrung Im Vollzug der Sicherungsverwahrung selbst war kein Jugendlicher oder Heranwachsender untergebracht; dies ist auch kaum denkbar. In Bayern waren zum abgefragten Stichtag 1. 1. 2017 zwei Personen im Vollzug der Sicherungsverwahrung, bei denen selbige nach Jugendstrafrecht angeordnet worden war, die zwischenzeitlich aber erwachsen waren. Bremische Jugendliche und Heranwachsende waren nicht von Sicherungsverwahrung betroffen. Auch in Mecklenburg-Vorpommern befanden sich keine Jugendlichen oder Heranwachsenden in Sicherungsverwahrung, ebenso keine mit vorbehaltener Sicherungsverwahrung.
66
https://www.mrvzn-badrehburg.niedersachsen.de/…/Bericht_2010-2016_BRD.pdf.pdf. 21 bis unter 25 Jahre alt; hier mit dargestellt, da in den entsprechenden Kliniken für Jugendliche und Heranwachsende in NRW teilweise eine Behandlung bis 23 Jahre stattfindet (s. dazu unter IV. 2.). 68 LKH Bernburg: 22 Patienten unter 25 Jahren; LKH Uchtspringe: 23 Patienten unter 26 Jahren. 67
Jugendliche im Maßregelvollzug
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In Nordrhein-Westfalen waren zum 1. 1. 2017 keine Jugendlichen oder Heranwachsenden im Vollzug, bei denen Sicherungsverwahrung vorbehalten oder angeordnet war. Gleiches gilt für Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt. In Sachsen waren zwischen 2014 und 2016 fünf Jugendliche mit vorbehaltener Sicherungsverwahrung (§ 7 Abs. 2 JGG) inhaftiert, zum 1. 1. 2017 war jedoch keiner von diesen mehr in Haft. Zu einer Anordnung der Sicherungsverwahrung kam es bei keinem dieser Probanden. Gemäß dem Thüringer Landesamt für Statistik befanden sich zum Stichtag 31. 03. 2017 keine Jugendlichen oder Heranwachsenden in Sicherungsverwahrung.69 2. Informationen zur Unterbringung a) Psychiatrisches Krankenhaus und Entziehungsanstalt Eine der zentralen Fragen war die Art der Unterbringung, also insbesondere, ob eigene Anstalten oder Abteilungen für die jugendlichen und heranwachsenden Untergebrachten vorgehalten werden. In Baden-Württemberg existieren keine eigenen Einrichtungen für Jugendliche und Heranwachsende, allerdings gibt es derzeit Überlegungen, spezifische jugendforensische Kapazitäten zu schaffen. Die Unterbringung in der Entziehungsanstalt erfolgt in Bayern in einer für die Suchtbehandlung junger Menschen spezialisierten Klinik70. In Bayern gab es bis 2016 keine spezialisierte Einrichtung für Jugendliche und Heranwachsende, im Dezember 2017 wurde eine Jugendforensik in Regensburg eröffnet. Berichtet wurde, dass seitdem vermehrt Einweisungen Jugendlicher gem. § 126a StPO i.V.m. § 63 StGB erfolgen. In Hamburg werden keine speziellen Einrichtungen vorgehalten.71 Das Angebot an die jungen Untergebrachten ist relativ breit; so kann eine Beschulung durch mehrere Pädagogen erfolgen, ebenso werden vier Ausbildungsberufe angeboten. In Hessen existiert eine eigene jugendforensische Klinik in Marburg, die folgende Jugendliche behandelt: Einweisung gem. §§ 126a, 81 StPO, §§ 63, 64 StGB, jeweils i.V.m. den Vorschriften des JGG sowie § 24 Abs. 4 S. 2 Hessisches Jugendstrafvollzugsgesetz. Mit dem Erreichen der Volljährigkeit erfolgt grundsätzlich eine Verle69 https://statistik.thueringen.de/datenbank/TabAnzeige.asp?tabelle=LD002402%7C% 7CStrafgefangene+nach+Strafarten%2C+Hauptdeliktgruppen+und+voraussichtlicher+Voll zugsdauer&startpage=1&csv=&richtung=&sortiere=&vorspalte=0&tit2=&TIS=&SZDT= &anzahlH=-2&fontgr=12&mkro=&AnzeigeAuswahl=&XLS=&auswahlNr=&felder= 0&felder=1&felder=2&felder=3&felder=4&felder=5&felder=6&felder=7&felder=8&fel der=9&zeit=2017%7C%7Cs6. 70 Klinik für junge Drogenabhängige am Bezirkskrankenhaus Parsberg. 71 Als Grund wurden hier ausdrücklich die geringen Fallzahlen angegeben; so war bereits im Februar 2018 keine einzige jugendliche oder heranwachsende Person mehr untergebracht.
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gung in den Maßregelvollzug für Erwachsene. Anders kann dies in Ausnahmefällen sein, wenn z. B. ein Schulbesuch ansonsten unterbrochen würde. In Mecklenburg-Vorpommern gibt es in der Klinik für forensische Psychiatrie an der Universitätsmedizin Rostock eine Jugendstation für den Maßregelvollzug. In Niedersachsen werden in der Klinik für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie der Karl-Jaspers-Klinik auf zwei geschlossenen Stationen mit insgesamt 24 Betten überwiegend Jugendliche ab einem Alter von 14 Jahren sowie Heranwachsende und junge Erwachsene bis zum 24. Lebensjahr behandelt.72 Nordrhein-Westfalen hat spezialisierte Häuser; so werden in Westfalen die jugendlichen und heranwachsenden Patienten in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in der LWL Klinik Marsberg behandelt, im Rheinland in der LVR Klinik Viersen. In Marsberg sind 18 Plätze vorhanden, in Viersen derzeit zwölf, wobei eine Erweiterung auf 24 Plätze vorgesehen ist. Die Aufnahme erfolgt in der Altersspanne 14 – 18 Jahre, wobei in Marsberg ein Aufenthalt bis zum 23. Lebensjahr möglich ist, in Viersen in Ausnahmefällen bis 21. Gem. dem Vollstreckungsplan für das Saarland73 werden männliche und weibliche Jugendliche und Heranwachsende in der Saarländischen Klinik für Forensische Psychiatrie in Merzig untergebracht. In Sachsen waren zunächst zwei eigene Jugendmaßregelvollzugseinrichtungen vorhanden, und zwar getrennt vom Erwachsenenmaßregelvollzug. Beide Kliniken verfügten über je zwölf Plätze. Die Einrichtung in Rodewisch wurde ab dem 01. 01. 2015 geschlossen, seitdem gibt es nur noch die Einrichtung in Arnsdorf mit zwölf Plätzen. In Sachsen-Anhalt sind gem. § 64 StGB in Unterbringung befindliche Patienten teils im LKH Bernburg untergebracht,74 auch diejenigen, bei denen die Maßregel nach JGG angeordnet ist. Patienten unter 18 Jahren sind wohl selten, Patienten unter 16 Jahren kamen noch nicht vor. Dort gibt es „ein Gesamtkonzept der Therapie, in das auch die Bedürfnisse der Jugendlichen und jungen Erwachsenen integriert sind“. Es gibt Angebote für Schule, Deutschunterricht, „Alphabetisierung“, zahlreiche Sportmöglichkeiten sowie die Möglichkeit, die Therapie individuell anzupassen.75
72 https://www.karl-jaspers-klinik.de/Behandlung/Kliniken/Klinik_fuer_forensische_Psych iatrie_und_Psychotherapie_Jugendforensik/; s.a. den dortigen „Infoflyer Jugendforensik“. Vgl. a. den Vollstreckungsplan Abschnitt II Nr. 1.1.1 und Nr. 2.2.1.1, nach 1.1.2 und 2.2.1.2. Bei Überbelegung erfolgt wohl ein Ausweichen auf das Krankenhaus Moringen. 73 Vom 18. 08. 2016, Nr. 2.5 C. 74 Bis 2016 wohl alle nach § 64 StGB Untergebrachten. 75 So die Antwort vom 15. 3. 2018 unter Bezugnahme auf ein Schreiben des LKH vom 11. 4. 2013.
Jugendliche im Maßregelvollzug
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Zudem sind im LKH Uchtspringe Patienten nach § 63 und § 64 StGB (Letzteres seit 2016) untergebracht, wobei auch hier wohl unter 18-Jährige eine Ausnahme bilden. In Schleswig-Holstein existiert keine spezialisierte jugendforensische Klinik oder Abteilung, in den vergangenen zwölf Jahren wurden die Unterbringungsfälle in Einrichtungen anderer Länder untergebracht.76 In Thüringen ist eine Station im Ökumenischen Hainich Klinikum Pfafferode (§ 63 StGB) explizit für die Aufnahme und Behandlung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen vorgesehen;77 auch in Hildburghausen (§ 64 StGB) werden Jugendliche aufgenommen.78 b) Sicherungsverwahrung Angaben zur Sicherungsverwahrung waren selten, was aber in der Natur der Sache begründet ist, da diese im Jugendstrafrecht kaum eine Rolle spielt. So werden keine eigenen Abteilungen oder gar Häuser für diese vorgehalten. In Bayern sind zwei Personen mit Sicherungsverwahrung nach Jugendstrafrecht in Straubing untergebracht. Bei Bremen besteht eine Verwaltungsvereinbarung zum Vollzug der Sicherungsverwahrung in Niedersachsen, allerdings sind in Bremen derzeit keine Jugendlichen oder Heranwachsenden von Sicherungsverwahrung betroffen. Eine weitere Konstellation, der mehr praktische Bedeutung zukommt, ist diejenige der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung. Von Interesse ist hier nämlich, in welcher Art von Anstalt/Abteilung die Jugendstrafe vollzogen wird, ist doch der Vollzug und die darin angebotene Behandlung (jdfs. postuliert) von großer Bedeutung dafür, ob die Sicherungsverwahrung dann noch endgültig angeordnet und ggf. vollzogen wird. In Baden-Württemberg war ein Heranwachsender, bei dem die Sicherungsverwahrung vorbehalten war, als Jugendlicher in der sozialtherapeutischen Abteilung der Jugendstrafanstalt Adelsheim untergebracht. In Sachsen waren zwischen 2014 76 Man gehe sogar davon aus, dass „zumindest für einen Teil dieser Klientel der Wechsel in eine andere Region mit einem positiven therapeutischen Effekt verbunden“ ist; vgl. das Antwortschreiben vom 21. 2. 2018. 77 https://www.oehk.de/unser-leistungsspektrum/voll-und-teilstationaere-kliniken/forensik klinik0.html. 78 http://www.dhs.de/nc/einrichtungssuche/online-suche/ergebnis-einzel.html?tx_einrich tung[art][0]=0&tx_einrichtung[comb1]=0&tx_einrichtung[zielgruppe][0]=2&tx_einrich tung[comb2]=0&tx_einrichtung[arbeit][0]=0&tx_einrichtung[comb3]=0&tx_einrich tung[spez_d2][0]=0&tx_einrichtung[comb4]=0&tx_einrichtung[spez_d3][0]=0&tx_einrich tung[comb5]=0&tx_einrichtung[hatspez][0]=0&tx_einrichtung[comb6]=0&tx_einrich t u n g [ bu n d e s l a n d ] = 0 & t x _ e i n r i c h t u n g [ e n t r y ] = 4 2 7 & c H a s h = 6 a c 2 c 3 9 0 6 c 8 1 e 2 b6a6d543df26d82200.
240
Katrin Höffler
und 2016 einige Jugendliche mit vorbehaltener Sicherungsverwahrung in der JVA Waldheim inhaftiert; hier erfolgte keine gesonderte Unterbringung. 3. Würdigung Die kleine Abfrage, ergänzt durch eine Recherche, hat ein sehr diverses Bild ergeben. Es zeigen sich deutliche Lücken in der Versorgungslandschaft. Kernproblem dürften die relativ niedrigen Fallzahlen sein, die eigene Kliniken meist nicht „rentabel“ erscheinen lassen für die Länderhaushalte, so zu vermuten. Allerdings ist dies eben bei einerseits derart einschneidenden Eingriffen, andererseits mit Blick auf die besonders vulnerable Klientel, die zugleich auch ein Entwicklungspotential aufgrund des jungen Alters mitbringt, keine Rechtfertigung. Finanzielle Erwägungen dürfen nicht ausschlaggebend sein, institutionell geeignete Einrichtungen zu schaffen. Nachgedacht werden sollte insbesondere auch über eine geeignete Entwicklungsumgebung, in der Lockerungen gut eingebettet werden können; relevant sind also auch regionale und strukturelle Gesichtspunkte.79 Wünschenswert wäre natürlich daneben auch, die Behandlungskonzepte zu erfassen und selbige idealerweise auch zu evaluieren, um sicherzustellen, dass die Therapieangebote zweckgerichtet erfolgen können. Nötig wäre es, hierfür auch Forschungsgelder bereitzustellen. Zu begrüßen ist, dass sich ein Arbeitskreis zum Jugendmaßregelvollzug gebildet hat.
V. Behandlungsstandards Die unterschiedlichen berichteten Befunde zeigen, dass die Behandlungsumstände sehr heterogen und zum Teil nicht in eigenständigen Einrichtungen organisiert sind. Von großer Bedeutung ist zudem, wie die eigentliche Behandlung innerhalb der Einrichtungen dann tatsächlich umgesetzt wird. Die Behandlung und Betreuung Jugendlicher und Heranwachsender im Maßregelvollzug ist – so wird es konkret über die bereits erwähnte LWL-Klinik Marsberg berichtet – eine Herausforderung für alle Beteiligten, „da in diesem Zusammenhang neben dem medizinisch-therapeutischen und gerichtlichen Aspekt auch die altersgemäße Förderung, schulisch-berufliche Eingliederung und der erzieherische Gedanke beachtet werden müssen“80. Um diesen besonderen Erfordernissen Rechnung zu tra79
Vielleicht könnten Modellanstalten aus dem Jugendstrafvollzug (Projekt Chance Creglingen und Seehaus) Vorbild für derartige Einrichtungen sein, jedenfalls für solche Patienten, die Lockerungen erhalten. 80 Vgl. Burchard/Hohmann, FPP 19 (2012), 18 (57).
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gen, entwickelt der oben genannte Arbeitskreis Jugendforensik seit 2003 Behandlungsstandards für jugendliche und heranwachsende MRV-Patienten.81 Ausgangspunkt hierfür sind die spezifischen Problemlagen der zu behandelnden Patienten: Die durchweg belasteten Lebenswege drücken sich in einer gegenüber Gleichaltrigen schlechteren sozialen Ausgangslage aus. Psychiatrische Erkrankungen und frühe Traumatisierungserfahrungen, fehlende Förderung, gescheiterte Bildungswege sowie oftmals bereits länger anhaltender Suchtmittelkonsum sind für die meisten der Patienten durchlaufene Lebensstationen bzw. anhaltende Lebenssituationen.82 Aufgrund solcher vielschichtiger Problemlagen ist ein maßgeschneidertes Behandlungsangebot nötig. Dieses muss eben auch stark den Ausgleich von Entwicklungsdefiziten fokussieren.83 Hier tritt das Spannungsfeld „Entwicklungsdefizit – Krankheit; Medizin – Pädagogik bzw. soziale Arbeit“ besonders deutlich und quasi anwendungsbezogen hervor. Vor allem die Korrektur dissozialer Verhaltensweisen – etwa durch klare Interventionen während des Behandlungsverlaufs – und die Behandlung der Suchtprobleme sollten dabei Priorität haben.84 Dies ist nicht nur mit Blick auf die Legalbewährung nach Entlassung geboten, sondern auch auf den intramuralen Behandlungsverlauf85, schon aus Gründen der Verhältnismäßigkeit. Schließlich sind standardisierte kriminalprognostische Beurteilungen wünschenswert, um durch die Einschätzung des individuellen Risikopotentials bereits von Behandlungsbeginn an therapeutisch richtig vorzugehen.86 Darüber hinaus hat auch die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V. (DGPPN) Standards für junge Patienten im MRVempfohlen. Ergänzend sei hier insbesondere auf die Einbeziehung jugendpsychiatrischer Kompetenz in forensischen Kliniken, Trennung von Einrichtungen für Erwachsenen, entsprechende jugendspezifische Gestaltung der Einrichtung sowie das Erfordernis der Beschulung und Ausbildung der Patienten verwiesen. Der DGPPN zufolge finden die speziellen Behandlungserfordernisse erfreulicherweise zunehmend Eingang in die Maßregelvollzugsgesetze der Länder.87 Auch sollten geschlechterspezifische Erfordernisse, die sich aus der Patientenstruktur ergeben, hinreichend Eingang in die Behandlungspläne und Lockerungserprobungen finden.88 Stöver et al. halten fest, dass insbesondere die Behandlung der dissozialen Persönlichkeitsstörungen und des Suchtmittelmissbrauchs zu einer Ver81
Stöver/Hupp/Wendt, FPPK 2013, 183. Stöver/Hupp/Wendt, FPPK 2013, 183 (187 f., 190). 83 Häßler/Keiper/Schläfke, ZJJ 2004, 24 (29). 84 Stöver/Hupp/Wendt, FPPK 2013, 183 (190 f.). 85 Stöver/Hupp/Wendt, FPPK 2013, 183 (191). 86 Stöver/Hupp/Wendt, FPPK 2013, 183 (191). 87 Müller et al., FPPK 2018, 93 (120). 88 Zu den Besonderheiten anhand einer gematchten Vergleichs-Stichprobe von jugendlichen Begutachteten Miller/Günther, RuP 2009, 34 (40 ff.). Zu Frauen im Maßregelvollzug (Erfahrungen einer speziell eingerichteten Abteilung) Selders/Wenzel, RuP 2013, 23. Vgl. zudem Nowara, in: Leygraf et al., FS Rasch, 1993, S. 266. 82
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besserung der Legalbewährungsprognose beitragen,89 wobei ersteres ja bereits aus den Kennzeichen der Dissozialität quasi folgt. Bereits exemplarisch zeigt sich, dass die Passgenauigkeit der Behandlungsansätze also von höchster Relevanz gerade bei dieser jungen Patientenstruktur ist. Ergänzend ist zu berücksichtigen, dass bereits im Vorfeld, so bei drohender (weil vorbehaltener) Sicherungsverwahrung, der konkrete Vollzug der Jugendstrafe auf den besonderen Förderbedarf (insbesondere Persönlichkeitsentwicklung90) abzustimmen ist. Der Vollzug der Sicherungsverwahrung bringt einen noch schwerwiegenderen Eingriff mit sich als bei Erwachsenen,91 daher sind bzgl. dessen Vermeidung größte Anstrengungen zu unternehmen.
VI. Ergebnis Die Lage im Jugendmaßregelvollzug ist mehr als problematisch. Es ist so, dass kaum spezifische Einrichtungen existieren. Gleichzeitig erscheint es auch schwierig, die einerseits belastete, andererseits aber auch vulnerable Klientel gerade innerhalb einer gemeinsamen Unterbringung, dann eben mit anderen, ebenso belasteten Patienten, sinnvoll zu behandeln. Wünschenswert wären doch an sich (und idealerweise) stabilisierend wirkende Zusammentreffen mit Jugendlichen, die nicht unter Störungsbildern leiden und nicht durch erhebliche Kriminalität aufgefallen sind. Dennoch sind spezifische Abteilungen bzw. Einrichtungen deutlich vorzugswürdig gegenüber der Unterbringung mit erwachsenen Patienten im Maßregelvollzug.92 Deutlich wird, dass die Maßregelvollzugspatienten, bei denen die Unterbringung nach Jugendstrafrecht angeordnet wurde, keine Lobby haben.93 Unbedingt sind hier Anstrengungen zu unternehmen, die strukturelle Lage zu verbessern. Dies auch vor dem Hintergrund, dass an die fehleranfällige Wahrscheinlichkeitsaussage zugleich bei Anordnung der Unterbringung extensive Eingriffe in die Freiheit des Einzelnen geknüpft werden.94 Die Unterbringung in einer geschlossenen Einrichtung des Maßregelvollzugs geht mit vielerlei Behandlungsmaßnahmen einher, es geht also über den Freiheitsentzug im Strafvollzug in gewissem Sinne hinaus. Bei jungen Menschen ist die Persönlichkeit noch stärker in Entwicklung; diese ist innerhalb der Einrichtung des Maßregelvollzugs deren Wirken gerade wegen der Prozesshaftigkeit besonders ausgesetzt. 89
Stöver/Hupp/Wendt, FPPK 2013, 183 (190). Unter Bezugnahme auf das BVerfG (116, 69) weist darauf auch Brettel, ZJJ 2015, 159 (164) hin. 91 So ausdrücklich auch die Gesetzesmaterialien BT-Drs. 17/9874, S. 24. 92 Implizit auch Stöver/Hupp/Wendt, FPPK 2013, 183 (190). 93 Weissbeck/Günther, RuP 2010, 10 (18) weisen darauf hin, dass mit Erreichen des 18. Lebensjahrs das „Zuständigfühlen“ der Kinder- und Jugendpsychiatrie auch endet. 94 Eisenberg/Kölbel (Fn. 1), § 25 Rn. 25. 90
Jugendliche im Maßregelvollzug
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Aufgrund dieser verschärften Bedingungen ist mit Blick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (§ 62 StGB) alles daran zu setzen, den Behandlungsvollzug in der Maßregel so kurz wie möglich, so eingriffsarm wie möglich, so wenig stigmatisierend wie möglich95 und so begrenzt wie möglich und deshalb auch spezifisch, konzeptuell und institutionell96 auszugestalten. Dabei sollte stets im Blick behalten werden, dass diese jungen Patienten zugleich ein sehr großes Entwicklungspotential mit sich bringen, so dass die Behandlungsarbeit dabei unterstützen kann, ein Desisting einzuleiten.
95
Eisenberg, NStZ 2004, 240 (241). Eisenberg/Kölbel (Fn. 1), § 25 Rn. 25. Aus psychiatrischer Sicht bspw. Weissbeck/Günther, RuP 2010, 10 (ausdrücklich insbesondere 10, 17). 96
Die Neuregelung der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung – ein weiterer Schritt der „feindlichen Übernahme“ des Jugendstrafrechts? Von Theresia Höynck
I. Einleitung Ulrich Eisenberg gehört zu den beständigsten Mahnern, den jugendstrafrechtlichen Erziehungsgedanken konsequent zu erhalten und anzuwenden, das Jugendstrafrecht als Spezialmaterie zu verstehen und auszugestalten und es vor einer „feindlichen Übernahme“1 durch das allgemeine Strafrecht zu schützen.2 Diese Grundidee ist seit geraumer Zeit aus verschiedenen Anlässen und in unterschiedlicher Weise in Frage gestellt worden: durch den Gesetzgeber einerseits durch explizite Angleichungen des Jugendstrafrechts (z. B. Höchstdauer der Jugendstrafe, Sicherungsverwahrung) an das allgemeine Strafrecht, andererseits durch Änderungen des Strafverfahrensrechts (insbesondere im Kontext opferbezogener Regelungen), die ganz oder weitgehend im Jugendstrafrecht für anwendbar befunden wurden. Auch in der Rechtsprechung wird die Eigenständigkeit des Jugendstrafrechts immer wieder in Abrede gestellt, besonders prominent zeigt sich dies in der Diskussion um den eigenständigen Schuldbegriff.3 Ein jüngeres Beispiel der gesetzgeberischen Nicht-Beachtung jugendstrafrechtlicher Besonderheiten liefert die Neuregelung der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung,4 die allerdings in der jugendstrafrechtlichen Literatur bisher wenig Beachtung gefunden hat.5 Weder der Referentenentwurf6 noch der Regierungsentwurf7 1
Eisenberg, ZJJ 2016, 33 (34). Exemplarisch Eisenberg, NStZ 2013, 636 ff.; Eisenberg, NK 2016, 389 ff.; Eisenberg, ZJJ 2018, 33 ff. 3 Eisenberg, JGG, 20. Aufl. 2018, § 17 Rn. 34 – 34b m.w.N. 4 Gesetz zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung vom 13. April 2017, BGBl. 2017 I, 872. 5 Eine Ausnahme bildet Reitemeier, ZJJ 2017, 354 ff., die allerdings die Potenziale jugendstrafrechtlicher Besonderheiten der Anwendung zu eng einschätzt. 6 BMJV, Referentenentwurf, Entwurf eines Gesetzes zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung, 8. März 2016. 2
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ver(sch)wenden einen inhaltlich begründenden Satz auf die ganz offenbar nicht wirklich reflektierte Anwendbarkeit im Jugendstrafrecht, obwohl die Neuregelung auch dort zu weitreichenden Änderungen führt, deren Vereinbarkeit mit Prinzipien des Jugendstrafrechts mitnichten auf der Hand liegt. Im Folgenden soll die Neuregelung der Vermögensabschöpfung zunächst in den kriminalpolitischen Kontext eingeordnet und vorgestellt werden, um aufbauend auf allgemeinen Kritikpunkten speziell ausgewählte jugendstrafrechtliche Probleme zu diskutieren.
II. Kriminalpolitischer Kontext Die Neuregelung der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung steht im Kontext zahlreicher Änderungen der letzten Jahre, die insgesamt vor allem zu Verschärfungen des Jugendstrafrechts geführt haben. Die Chronologie der Ereignisse ist vielfach berichtet worden,8 gleichwohl lohnt es, sich einige Aspekte kurz vor Augen zu führen, um Linien zu erkennen. Während nach den starken Anstiegen der registrierten Jugendkriminalität der 1990er Jahre explizite Änderungen des JGG im Vordergrund standen (z. B. die Anhebung der Höchststrafe für nach Jugendstrafrecht verurteilte Heranwachsende oder die Einführung des Arrests nach § 16a JGG), war die 18. Legislaturperiode von Reformen gekennzeichnet, die Anliegen vorwiegend des allgemeinen Strafrechts (Terrorismus, Wirtschaftsstrafsachen, Sexualdelikte) zum Anlass hatten. Bezeichnend ist, dass bei den nicht ausdrücklich das JGG betreffenden Änderungen die Wirkungen auf das Jugendstrafrecht (über § 2 JGG) in aller Regel nicht thematisiert wurden bzw. Versuche der Thematisierung ohne Resonanz blieben.9 Bei der vom BMJV in der 18. Legislaturperiode einberufenen „Expertenkommission zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des allgemeinen Strafverfahrens und des jugendgerichtlichen Verfahrens“ lag entgegen dem allgemeiner klingenden Titel der Fokus letztlich ganz eindeutig auf Effektivierung im Kontext aufwändiger, großer Strafverfahren wie bspw. Wirtschaftsstrafsachen. Zum Jugendstrafrecht wurde einstimmig festgestellt: „Die Empfehlungen zum allgemeinen Strafverfahrensrecht betreffen nach § 2 Abs. 2 JGG generell auch das Jugendstrafverfahren. Hier sollte für jede einzelne Empfehlung geprüft werden, ob ihre Anwendung im JGG zu beschränken oder zu modifizieren ist.“10 Im Detail wurde hierzu wegen 7
Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung, BT-Drs. 18/9525 vom 5. September 2016. 8 s. z. B. Höynck/Ernst, KJ 2014, 249 ff.; Höynck, StraFo 2017, 267 ff. jeweils m.w.N. 9 Kritisch hierzu auch Kölbel, in: BMJV, Berliner Symposium zum Jugendkriminalrecht und seiner Praxis, 12. und 13. April 2016, 2017, S. 9 (10). 10 BMJV, Bericht der Expertenkommission zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des allgemeinen Strafverfahrens und des jugendgerichtlichen Verfahrens, 2015, S. 33; https://www.bmjv.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF/Abschlussbericht_Reform_StPO _Kommission.pdf?__blob=publicationFile&v=2, zuletzt abgerufen am 18. Juni 2018.
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der anderen Schwerpunktsetzung in der Kommission nichts diskutiert, auch in den Materialien zur Umsetzung finden sich hierzu nur sehr wenige Überlegungen11. Forderungen nach konsequenter jugendstrafrechtlicher Täterorientierung haben freilich einen schweren Stand im aktuellen „viktimären Umfeld“12. Für den hiesigen Kontext ist die sukzessive Erweiterung opferbezogener Rechte im JGG13 in Erinnerung zu rufen. Zunächst wurden im allgemeinen Strafrecht mit dem Opferschutzgesetz (1986)14, dem Zeugenschutzgesetz (1998)15 und dem Opferrechtsreformgesetz (2004)16 zahlreiche, zu weiten Teilen auch über § 2 JGG im Jugendstrafrecht geltende Gesetzesänderungen vollzogen. Änderungen der wenigen ausdrücklichen Regelungen des JGG zur Rolle der Opfer erfolgten mit dem am 31. Dezember 2006 in Kraft getretenen Zweiten Gesetz zur Modernisierung der Justiz: die Einführung der Nebenklage im Jugendstrafverfahren (§ 80 Abs. 3 JGG) und die Ausweitung der Anwendbarkeit des Adhäsionsverfahrens bei Heranwachsenden (§ 109 Abs. 2 JGG). Dabei war durchaus im Blick17, dass die kontradiktorische Ausrichtung des Zivilverfahrens im Konflikt mit einer jugendgemäßen Verfahrensgestaltung stehen kann und dass das breite Instrumentarium des JGG im Bereich Wiedergutmachung und TOA in aller Regel besser geeignet ist, den Fall für alle Beteiligten sinnvoll zu regeln. Im Dezember 2015 wurde schließlich das 3. Opferrechtsreformgesetz mit dem Gesetz zur Psychosozialen Prozessbegleitung verabschiedet, erneut ohne Thematisierung der Bedeutung für das Jugendstrafrecht18. Obwohl die praktische Bedeutung dieser Neuregelung bisher überschaubar erscheint, sind die Gefahren einer Ver-
11 s. etwa BT-Drs. 18/11277, S. 47 mit einem knappen Verweis auf ggf. notwendige Anpassungen im Rahmen der Umsetzung der EU-Richtlinie 2016/88 sowie BT-Drs. 18/12785, S. 45. Im Übrigen wurde mit der Einfügung des zum 1. Januar 2020 in Kraft tretenden § 136 Abs. 4 StPO eine jugendspezifische Verfahrensregelung in die StPO aufgenommen – ein sachwidriges und verwirrendes Konstrukt, das im Kontext der Richtlinienumsetzung korrigiert werden sollte. 12 Kölbel (Fn. 9), S. 9 (13), Überblick über opferbezogene Regelungen und deren Anwendbarkeit im JGG ebd. S. 9 (30 f.). 13 Hierzu Höynck, in: DVJJ, Fördern Fordern Fallenlassen – Aktuelle Entwicklungen im Umgang mit Jugenddelinquenz, 2008, S. 426 ff. sowie Kölbel (Fn. 9), S. 9 ff. auch mit einem Überblick über die einschlägigen Regelungsbereiche. 14 Erstes Gesetz zur Verbesserung der Stellung des Verletzten im Strafverfahren (Opferschutzgesetz) vom 18. Dezember 1986, BGBl. 1986 I, 2496. 15 Gesetz zur Änderung der Strafprozeßordnung und der Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte (Gesetz zum Schutz von Zeugen bei Vernehmungen im Strafverfahren und zur Verbesserung des Opferschutzes; Zeugenschutzgesetz – ZSchG) vom 30. April 1998, BGBl. 1998 I, 820. 16 Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Verletzten im Strafverfahren (Opferrechtsreformgesetz – Opfer RRG) vom 24. Juni 2004, BGBl. 2004 I, 1354. 17 Vgl. die Begründung zum Entwurf des 2. JuMoG, BT-Drs. 16/3038 vom 19. Oktober 2006, S. 67. 18 Gesetz zur Stärkung der Opferrechte im Strafverfahren (3. Opferrechtsreformgesetz) vom 21. Dezember 2015, BGBl. 2015 I, 2525. Kritisch hierzu Eisenberg, ZJJ 2016, 33 ff.
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änderung der Prozessdynamik in Fällen mit einem zusätzlichen Vertreter des (bis zur Rechtskraft mutmaßlichen) Opfers nicht von der Hand zu weisen. Vergessen scheint das Zweite Gesetz zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes und anderer Gesetze (2. JGGÄndG) vom 1. Januar 2008, mit dem eine ausdrückliche Verankerung der allgemeinen Zielbestimmung – des Erziehungsgedankens – für die Anwendung des Jugendstrafrechts in § 2 Abs. 1 JGG aufgenommen wurde. Erwähnt sei hier die paradoxe Situation, dass zeitlich parallel zu den gesetzgeberischen Aktivitäten der 18. Legislaturperiode, aber ohne jede inhaltliche Verbindung, die durchaus kontroversen Verhandlungen über die EU-Richtlinie 2016/800 über Verfahrensgarantien in Strafverfahren für verdächtige oder beschuldigte Kinder liefen. Diese Richtlinie, die in der laufenden 19. Legislaturperiode angesichts der Umsetzungspflicht zu Juni 2019 zu Änderungen führen wird, trifft zwar nur verfahrensbezogene Regelungen, ist aber sehr dezidiert darin, Jugendstrafverfahren als durchgehend eigenständig zu begreifen und entsprechend ein konsequent jugendgemäßes Verfahren einzufordern.19 Das jüngste gesetzgeberische Produkt der eigentlich gar nicht auf das JGG abzielenden, auch opferbezogenen Änderungen ist das Gesetz zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung20, in Kraft getreten zum 1. Juli 2017, mit dem der bisherige Verfall durch ein neues Instrumentarium ersetzt und umgestaltet wird. Bisher war der Verfall im Jugendbereich von geringer quantitativer Bedeutung, genaue Daten hierzu liegen allerdings nicht vor. Angesichts jetzt zahlreicher zwingender Regelungen dürfte sich dies ändern, selbst wenn von – im Folgenden näher zu diskutierender – Flexibilität im Jugendbereich Gebrauch gemacht würde.
III. Zentrale Elemente der Neuregelungen Das Gesetz fasst den gesamten Bereich der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung neu, auch die Begrifflichkeiten wurden verändert: Die bisherige Unterscheidung von Verfall (§ 73 ff. StGB a.F.) und Einziehung (§§ 74 ff. StGB a.F.) wird aufgegeben, es wird nun einheitlich von der „Einziehung“ gesprochen; umfasst sind Tatmittel, -produkte und -objekte sowie Taterträge und Wertersatz von Taterträgen. Die Neuregelungen betreffen das materielle Recht (§§ 73 ff. StGB für die Voraussetzungen der Einziehung), das Verfahrensrecht (§§ 111b ff. StPO für die Beschlagnahme zur Sicherung der Einziehung, §§ 421 ff. StPO für das Verfahren bei Einziehung) und das Vollstreckungsrecht (§§ 459 g ff. StPO). Neu ist auch die enge Verknüpfung des Strafverfahrens mit dem Insolvenzrecht. Insbesondere ist die Staatsanwaltschaft ge19 Einführend z. B. Sommerfeld, ZJJ 2017, 165 ff. Obwohl Vorarbeiten zur Umsetzung im Bundesministerium der Justiz mit Verabschiedung der Richtlinie begannen, lag bis Juni 2018 kein Referentenentwurf vor. 20 Gesetz zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung vom 13. April 2017, BGBl. 2017 I, 872.
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halten, in Fällen, bei denen die eingezogenen Werte nicht ausreichen, um geltend gemachte Ersatzansprüche zu befriedigen, einen Insolvenzantrag zu stellen (§ 111i Abs. 2 StPO). Sonderregelungen für das JGG existieren in keinem der Regelungsbereiche. Eine wesentliche Weichenstellung der Neuregelung ist die Opferentschädigung: bisher bezog sich der Verfall (§ 73 StGB a.F.) auf aus der Tat Erlangtes, an dem keine anderweitigen Ansprüche (des Geschädigten) bestanden. Praktisch relevant konnte er damit also im Wesentlichen bei Delikten gegen Kollektivrechtsgüter werden. Nach dem neuen Regelungskonzept ist der Zugriff des Staates nicht mehr nachrangig, sondern der Normalfall und mit umfassenden Rechten der vorläufigen Sicherung unterlegt. Auf diese Weise werden auch Ansprüche der Geschädigten systematisch und von Amts wegen im Strafverfahren zum Gegenstand gemacht, allerdings in der Regel erst im Vollstreckungsverfahren befriedigt (§ 459 h StPO). Neue Aufgaben stellen sich damit sowohl für Staatsanwälte/innen und Richter/innen im Erkenntnisverfahren als auch für Richter/innen und Rechtspfleger/innen im Vollstreckungsverfahren.
IV. Kritik an den Neuregelungen Die Rhetorik der Entwurfsbegründungen ist mächtig, sie suggeriert Dringlichkeit und Alternativlosigkeit: Abschöpfungslücken schließen21, die Rechtsanwendung vereinfachen und Opferentschädigung verbessern, dabei eine EU-Richtlinie umsetzen – wer hier Kritik äußert, hat eine schwierige Position, denn die Ziele immunisieren gegen Einwände. „Straftaten dürfen sich nicht lohnen!“, dieser mit Ausrufezeichen versehene Slogan wird in Teilen der affirmativen Literatur Mantra-artig wiederholt.22 Er suggeriert einen Vorrang dieses berechtigten Ziels gegenüber möglichen anderen Gesichtspunkten, die relevant sind: Verweise etwa auf die Unschuldsvermutung und Verhältnismäßigkeit erscheinen so wie kleinliche Einwände. Schon im Gesetzgebungsverfahren23 wurde allerdings erhebliche Kritik von Wissenschaft und Verbänden geäußert, bezogen auf Nachteile für Geschädigte, Beschul21 BMJV (Fn. 6), S. 5; BT-Drs. 18/2529 vom 12. September 2014, S. 3; Der Sprachgebrauch der „Lücken“ erinnert an die Debatte um die Reform des Sexualstrafrechts, die wesentlich von der Rhetorik des Schließens von „Schutzlücken“ bestimmt war. S. Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines […] Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches – Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung, BT-Drs. 18/8210 vom 25. April 2016. 22 Die Entwicklung dieser Literatur wäre eine eigene Untersuchung wert – kurz vor bzw. nach Inkrafttreten der Neureglung der Vermögensabschöpfung gab es einen enormen Informationsbedarf der Praxis, Expertise aber zunächst nur bei an der Gesetzgebung Beteiligten und Praktikern, die in ihren Bereichen die entsprechenden Fortbildungen verantworteten (Köhler/Burkhard, Reitemeier). Daher verwundert letztlich nicht, dass hier eine kritische Auseinandersetzung weitgehend ausblieb. 23 BMJV (Fn. 6); Gesetzentwurf der Bundesregierung (Fn. 7).
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digte und die Praxis.24 Grundsätzliche Bedenken beziehen sich u. a. auf „Destabilisierung der Verletztenstellung“, die „Position und Rechte des Beschuldigten“25 sowie auf Mehrbelastungen für die Praxis. 1. Geschädigte Auf den ersten Blick leuchtet die von der Neuregelung versprochene Verbesserung der Situation der Geschädigten ein – sie werden, soweit die Einziehung reicht, von der Notwendigkeit der Geltendmachung ihrer Ansprüche durch die staatliche Einziehung befreit, die frühe Sicherung kann Vermögensverschiebungen verhindern. Gleichzeitig wird damit aber, wie Köllner/Mück zu Recht betonen, „jede in der Herrschaft des Beschuldigten befindliche Haftungsmasse genommen“26, so dass die Geschädigten selbst an dieser Stelle handlungsunfähig werden. Zu bedenken ist auch, dass neben Ersatzansprüchen, die sich auf etwas „Erlangtes“ beziehen – denn nur dies kann ggf. eingezogen und zurückgegeben werden – auch andere Ansprüche bestehen können, z. B. Schmerzensgeldansprüche oder Schadensersatz wegen Sachbeschädigung. Diese müssen dann gesondert verfolgt werden, so dass das Ziel des/der Geschädigten, seine/ihre Ansprüche effektiv und in einem einzigen Verfahren durchzusetzen, jedenfalls in diesen durchaus nicht seltenen Fällen von vornherein nicht erreichbar ist27. Entschädigungsfragen werden außerdem weitgehend auf das zeitlich zwangsläufig recht spät stattfindende Strafvollstreckungsverfahren verlagert28. Ein weiteres Problem aus Sicht des/der Geschädigten kann darin bestehen, dass grundsätzlich alles eingezogen wird, was auch aus anderen Delikten als das den/die Geschädigte/n betreffende vorhanden ist. Bei einem/r bspw. mit Gewalt- und Drogendelikten Beschuldigten hat der/die Geschädigte des Gewaltdelikts u. U. eine schwächere Position beim Versuch, freiwillige Zahlungen zu erlangen oder Ansprüche durchzusetzen, weil der Staat erst einmal auf alles vorhandene Vermögen zugegriffen hat.29 Zwar kann der/die Geschädigte dann einen Insolvenzantrag stellen (§ 111i 24
Nachweise bei Köllner/Mück, NZI 2017, 593 Fn. 34 f.; bezogen auf die nun geltende Fassung Trüg, NJW 2017, 1913 (1915). 25 Köllner/Mück, NZI 2017, 593 (596). 26 Köllner/Mück, NZI 2017, 593 (597). 27 Ebd., 593 (597). 28 Kritisch dazu Heim, NJW-Spezial 2017, 248 mit Verweis auf die Stellungnahme 39/2016 der Bundesrechtsanwaltskammer. Nicht nachvollziehbar ist, warum Köhler/Burkhard dies als Erfolg feiern: „entlastet das Strafverfahren, weil die Opferentschädigung vollständig aus dem Strafverfahren in das Strafvollstreckungsverfahren und das Insolvenzverfahren verlagert worden ist“ [Köhler/Burkhard, NStZ 2017, S. 665 (679)]. Dass dies angesichts des späten Zeitpunktes der Klärung ein Fortschritt sein soll, leuchtet nicht ein, insbesondere, weil die Neuregelung der Vermögensabschöpfung doch die Frage erst in großem Umfang ins Strafverfahren hineingeholt hat. 29 Insofern ist die Ansicht, dass die Insolvenzfestigkeit vollzogener Beschlagnahmen „dem Opferschutzgedanken“ [Köhler/Burkhard, NStZ 2017, S. 665 (678)] folgen, durchaus nicht in allen Konstellationen anzunehmen.
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StPO), die Möglichkeit freiwilliger Wiedergutmachung im Strafverfahren ist aber konterkariert. 2. Beschuldigte Bezogen auf die Rechte des/der Beschuldigten wird neben der Kritik an der Einbeziehung „verfahrensfremder Erwägungen der Abschöpfung und Verteilung“30 vor allem die Beeinträchtigung der Unschuldsvermutung durch Eingriffe in das Vermögen des/der Beschuldigten auch ohne nachgewiesene Tat problematisiert31. Es genügt die Annahme, dass Gründe für eine Einziehung vorliegen, damit eine Beschlagnahme oder ein Vermögensarrest erfolgen kann, bei dringenden Gründen sollen die Sicherungsmaßnahmen erfolgen (§§ 111b, 111e StPO). Besondere Regelungen zur Verhältnismäßigkeit fehlen. Dieser frühe Zeitpunkt der vorläufigen Sicherungsmaßnahmen schafft eine Art Beweislastumkehr, in der der/die Beschuldigte die legale Herkunft des Eingezogenen beweisen muss. Dies gilt insbesondere bei der nicht mehr auf Katalogtaten erweiterten Einziehung (§§ 73a und 76a Abs. 4 StGB) für nicht Anlasstaten – hier reicht die Überzeugung des Gerichts, dass Gegenstände oder Vermögen aus irgendeiner rechtswidrigen Tat erlangt wurden. Nachteilig für Beschuldigte ist auch die Streichung des § 75 StGB a.F., wonach keine Anordnung des Verfalls erfolgen sollte, wenn er für den/die Betroffene/n eine unbillige Härte darstellen würde. Die Berücksichtigung besonderer Härten erfolgt nunmehr nur noch im Rahmen der Vollstreckung durch (vorläufiges) Absehen von der Vollstreckung bei fehlender Aussicht auf Erfolg oder wenn der Wert des Erlangten nicht mehr im Vermögen des/der Betroffenen vorhanden ist oder die Vollstreckung sonst unverhältnismäßig wäre (§ 459 g Abs. 2 i.V.m. § 459c Abs. 2; § 459c Abs. 5 StPO). Zumindest bei Fällen ohne individuell Geschädigte stellt sich die Frage der Legitimität und Nützlichkeit von Einziehungen, die am Ende dazu führen, dass etwa Betriebe oder Ausbildungen gefährdet werden, wenn die Einziehung dem Staat zu Gute kommt, der in der Folge dann u. U. im Wege von Sozialleistungen die Folgen zu tragen hat. 3. Praxis Die Begründung zum Entwurf des Gesetzes zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung konstatiert an zahlreichen Stellen Probleme der Praxis bei der Anwendung des bis dahin geltenden Rechts und verspricht Klarheit und Erleichterung.32 Reformbedürfnisse der Praxis sind ein beliebtes Instrument der Begründung 30
Köllner/Mück, NZI 2017, 593 (593). Heim, NJW-Spezial 2017, 248 (248); Meißner, KriPoZ 2017, 237 (240). 32 Gesetzentwurf der Bundesregierung (Fn. 7), z. B. S. 49, 56; BMJV (Fn.6), S. 3: „das neue Regelungsmodell ist einfach und unbürokratisch“. 31
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von Neuregelungen33 – sie lassen sich nahezu nach Belieben einsetzen und immunisieren gegen Kritik aus der Wissenschaft, die dann als weltfremd diffamiert werden kann. Empirisch belegt ist das praktische Bedürfnis nach der umfassenden Neuregelung allerdings nicht,34 im Gegenteil, von vielen Seiten wurden erhebliche Mehrbelastungen der Praxis befürchtet.35 Außerdem wurde die Frage aufgeworfen, wie die Folgen von Entscheidungen über die Abschöpfung in Zukunft die strafrechtliche Verfahrensführung bei Justiz und Geschädigtenvertretern/innen beeinflussen werden.36 Woher die Hoffnung kommt, dass sachlich schwierige Fragen der Abschöpfung und Entschädigung durch die Neuregelung einfacher werden, verschließt sich. Völlig unscharf wird aber, welche Fragen der Folgen einer Straftat an welchem Ort bearbeitet werden und dies ist im Jugendbereich angesichts der gebotenen besonderen Täterorientierung besonders virulent. Die Neuregelung zieht durch die frühe Befassung mit Abschöpfungs- und Entschädigungsfragen strafrechtsfremde Aspekte sehr früh in das Verfahren hinein, um sie dann zu weiten Teilen in das Vollstreckungsverfahren zu verschieben.37 Ob hiermit der Praxis gedient ist, darf bezweifelt werden.
V. Grundsätzliche Überlegungen zur Anwendbarkeit im Jugendstrafrecht 1. Volle Übertragbarkeit über § 2 JGG Die weitreichendste Überlegung bezogen auf das Jugendstrafrecht betrifft die Frage, ob § 2 Abs. 2 JGG dazu führt, dass – wie vielfach angenommen – die Neuregelungen vorbehaltlos im Jugendstrafrecht anzuwenden sind. Dies hängt ganz grundsätzlich davon ab, wie man die Formulierung „soweit in diesem Gesetz nichts anderes bestimmt ist“ in Bereichen versteht, in denen das JGG weder die Anwendung allgemeiner Normen ausdrücklich ausschließt noch eindeutig abweichend regelt. Die Meinungen zu Reichweite und Grenzen einer gebotenen „jugendadäquate[n] Gesetzesanwendung und Gesetzesauslegung“38 gehen auseinander39. Exemplarisch sind 33
Bezogen auf § 16a JGG s. BT-Drs. 17/9389 vom 24. April 2012, S. 7. Meißner, KriPoZ 2017, 237 (241) bezweifelt ein echtes praktisches Bedürfnis. 35 s. z.B. Heim, NJW-Spezial 2017, 248 (248); Stellungnahme des Deutschen Richterbundes Nr. 9/16, Juni 2016, S. 1. 36 Köllner/Mück, NZI 2017, 593 (598). 37 Vor diesem Hintergrund bleibt völlig unklar, warum Köhler/Burkhardt begrüßen, dass „die Hauptverhandlung […] von möglichen umfangreichen Beweiserhebungen entlastet wird“ [Köhler/Burkhard, NStZ 2017, S. 665 (674)] – wo, wenn nicht in einer Hauptverhandlung ist der richtige Ort für Beweiserhebungen, wenn solche denn für die Entscheidungsfindung von Bedeutung sind? 38 Ostendorf, JGG, 10. Aufl. 2016, § 2 Rn. 12. 39 Besonders akzentuiert Kölbel (Fn. 9), S. 9 (29): § 2 Abs. 2 JGG „im Funktionszusammenhang“ mit § 2 Abs. 1 S. 2 JGG lasse sich nur als „strenger Übertragbarkeitstest interpretieren: Allgemeine strafprozessuale Regelungen erstrecken sich hiernach nur dann auf das 34
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die unterschiedlichen Folgen für die Vermögensabschöpfung in zwei jüngeren Entscheidungen zu sehen: Das Amtsgericht Rudolstadt40 lehnte in einem Fall betrügerischen Verkaufs von nicht existierenden Gegenständen über das Internet den Antrag der Staatsanwaltschaft auf Einziehung des Wertes der Taterträge (ca. 1600 E) ab. Das Gericht ging davon aus, dass die Regelungen zur Einziehung grundsätzlich anwendbar seien (§ 2 Abs. 2 JGG, auch wegen der ausdrücklichen Erwähnung in § 76 JGG), hält aber nach § 8 Abs. 3 JGG anwendbare Nebenfolgen und Nebenstrafen nicht für zulässig, soweit sie im Einzelfall den Grundsätzen des JGG, insbesondere dem Erziehungsgedanken, widersprechen. Diese Voraussetzung hat das Gericht im entschiedenen Fall angenommen, weil der Verurteilte die Taterträge für seinen Lebensunterhalt verbraucht hatte und die Einziehung damit de facto die Wirkung einer nicht zulässigen Geldstrafe habe. Entgegengesetzt argumentiert das Landgericht Trier41 unter Berufung auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu § 73 ff. StGB a.F.42 : die „gesetzgeberische Entscheidung kann nicht unter Berufung auf erzieherische Interessen unterlaufen werden wie etwa die Freistellung von wirtschaftlichen Belastungen“. Diese Ansicht verkennt allerdings, dass die Annahme der Unzulässigkeit der Einziehung nicht die Annahme impliziert, es bestehe keine zivilrechtliche Verpflichtung zum Ersatz entstandener Schäden. Weder steht diese Verpflichtung in Frage, noch sind prinzipiell wirtschaftliche Belastungen zu vermeiden – die schematische staatliche Einziehung völlig unabhängig von Schäden und Wünschen der Geschädigten konterkariert indes die spezialpräventive Auswahl von Reaktionen auf die Straftat und widerspricht der Wertung des § 81 JGG, der das Adhäsionsverfahren für Verfahren gegen Jugendliche ausschließt. Einen wichtigen Aspekt in dieser Debatte deutet Reh an: Die vom Bundesgerichtshof angenommene Anwendbarkeit beruhe auch auf der unterstellten kondiktionsartigen Natur des Verfalls bzw. der Einziehung. Anders als die bisherige Regelung bestünden aber bei der Neuregelung berechtigte Zweifel an dieser Rechtsnatur, auch wenn sie vom Gesetzgeber behauptet werde.43
Jugendstrafverfahren, wenn ihre Verträglichkeit mit der ,im Gesetz‘ (nämlich in § 2 Abs. 1 S. 2 JGG) ,bestimmten‘ erzieherischen Grundausrichtung positiv festgestellt worden ist. […] Schreibt der Gesetzgeber eine opferbegünstigende Norm nicht direkt in das JGG, sondern nur in die StPO, gilt sie im Jugendstrafverfahren danach also nur, wenn ihre dortige Erforderlichkeit und ihre spezialpräventive Unbedenklichkeit empirisch plausibilisiert worden ist. Solange es daran fehlt, ist die fragliche (opferdienliche) StPO-Norm für das Jugendstrafverfahren gesperrt.“ Speziell zu § 73c Eisenberg, JGG, 20. Aufl. 2018, § 6 Rn. 7 m.w.N auch zur Gegenposition. 40 AG Rudolstadt, ZJJ 2018, 63 (65). 41 LG Trier Urt. vom 27. September 2017 – 8031 Js 20631/16, BeckRS 2017, 129590. 42 BGH Urt. vom 17. Juni 2010 – 4 StR 126/10, BeckRS 2010, 17882. 43 Reh, NZWiSt 2018, 20 (23 f.).
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2. Rechtsnatur der Einziehung und Erziehungsgedanke Die Frage, ob der Verfall nach bisher geltendem Recht strafähnlicher oder quasikondiktioneller Natur war, war umstritten, vor allem von der Rechtsprechung wurde der Strafcharakter überwiegend verneint.44 Die Begründung der Neuregelung betont den quasi-kondiktionellen45 Charakter, in der Literatur werden hingegen zu Recht deutliche Zweifel an dieser Einschätzung formuliert, insbesondere mit Verweis auf das gesetzlich verankerte Bruttoprinzip46. Die höchstrichterliche Rechtsprechung scheint allerdings an der bisherigen Einschätzung des mangelnden Strafcharakters festhalten zu wollen. So wurde eine Entscheidung des Landgerichts Kaiserslautern aufgehoben, in der argumentiert wurde, „bei der Einziehung im aktuellen Gewand dürfte es sich um eine Strafe im Sinne des Art. 7 Abs. 1 Satz 2 EMRK handeln. Der Begriff der Strafe im Sinne des Art. 7 EMRK ist nach der Rechtsprechung des EGMR autonom auszulegen und kann selbst bei präventiv wirkenden Maßnahmen angenommen werden […]. Auf die Bezeichnung einer Maßnahme durch den nationalen Gesetzgeber kommt es nicht entscheidend an“47. Der 3. Strafsenat hingegen „vermag […] kein Strafübel zu erkennen“48 und beruft sich dabei vor allem auf den Wiedergutmachungszweck und ohnehin bestehende zivilrechtliche Verpflichtungen. Es bleibt abzuwarten, ob andere Fallgestaltungen, die den Bundesgerichtshof sicher beschäftigen werden, zu anderen Ergebnissen führen. Für die Diskussion um die Folgen des § 2 Abs. 2 JGG kommt es letztlich weniger auf die formelle Rechtsnatur als die tatsächliche Wirkung an, gleichwohl dürfte die Akzeptanz von Anwendbarkeitsschranken im JGG mit der Anerkennung des strafähnlichen Charakters zunehmen. 3. Opferorientierung und Erziehungsgedanke Die Neuregelung der Vermögensabschöpfung als opferbezogen zu diskutieren, steht in der Gefahr, sich leichtfertig der gesetzgeberischen Rhetorik anzuschließen und damit zu dem Missverständnis beizutragen, es handele sich hier primär und vor44 Zum Streitstand m.w.N.: NK-StGB/Saliger, 5. Aufl. 2017, Vorbemerkungen zu §§ 73 ff. Rn. 5. 45 Gesetzentwurf der Bundesregierung (Fn. 7), z. B. S. 48. 46 Gebauer, ZRP 2016, 101 (102); Meißner, KriPoZ 2017, 237 (243); NK-StGB/Saliger (Fn. 43), Vorbemerkungen zu §§ 73 ff. Rn. 5. 47 LG Kaiserslautern, wistra 2018, 94 (94 f.). 48 BGH Beschl. vom 22. März 2018 – 3 StR 42/18, BeckRS 2018, 7860; implizit auch BGH Beschl. vom 6. Februar 2018 @ 5 StR 600/17, BeckRS 2018, 2974 – keine strafmildernde Wirkung der Einziehung wegen des fehlenden Strafcharakters. Dies erscheint keineswegs zwingend, nachdem nach § 421 Abs. 1 Nr. 2 StPO ein Absehen möglich ist, wenn die Einziehung neben der zu erwartenden Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung nicht ins Gewicht fällt – dies zeigt immerhin Ansatzpunkte, dass auch der Gesetzgeber davon ausgeht, dass die im Strafverfahren angeordneten Rechtsfolgen nicht völlig isoliert voneinander betrachtet werden können.
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behaltlos um ein Instrument der Besserstellung von Opfern. Die neu konzipierte Vermögensabschöpfung wird immer wieder und prominent als opferbezogenes Projekt markiert: „Kernstück des Reformvorhabens ist die grundlegende Neuregelung der Opferentschädigung.“49 Dabei wird unterschlagen, dass es sich bei dem neuen Instrument um eines handelt, das alle Strafverfahren betrifft und nicht nur solche mit Opfern, dass die Entschädigung der Opfer keineswegs vollständig erfolgt und ohnehin nur insoweit Gegenstand werden kann, als beim Verurteilten abschöpfbare Gegenstände oder Werte vorhanden sind. Diese Aspekte und die Frage der mächtigen Opferrhetorik können hier nicht weiter verfolgt werden. Zu fragen ist gleichwohl, wenn und soweit man die Neuregelungen für opferbezogen hält, welche Folgen dies für den Erziehungsgedanken hat.50 Zweckerweiterungen des Strafrechts stehen immer in einem Spannungsverhältnis zum Erziehungsgedanken, der zugleich eine Verbreiterung des Blicks (in Richtung Persönlichkeit) und dessen Verengung (auf Spezialprävention) einfordert. Sie tragen daher die Vermutung in sich, im Sinne des § 2 Abs. 2 JGG i.V.m. § 1 JGG mit den Grundsätzen des JGG nicht vereinbar zu sein.
VI. Spielräume Die neuen Regelungen zur Vermögensabschöpfung sind zu weiten Teilen zwingende Vorschriften. Selbst wenn man ihre Anwendbarkeit für das Jugendstrafrecht annimmt und eine Einzelfallprüfung der Konformität jeder zu treffenden Entscheidung mit dem Erziehungsgedanken ablehnen sollte, sind aber zumindest dort, wo das Gesetz ausdrücklich Ermessensspielräume gewährt, jugendspezifische Belange zu berücksichtigen. § 421 StPO erlaubt das Absehen von der Einziehung in jeder Lage des Verfahrens wegen des geringen Wertes (§ 421 Abs. 1 Nr. 1 StPO)51, wenn die Einziehung neben der zu erwartenden Strafe oder Maßregel nicht ins Gewicht fällt (§ 421 Abs. 1 Nr. 2 StPO) oder bei unangemessenem Aufwand (§ 421 Abs. 1 Nr. 3 StPO). Für Jugendsachen ist hier der Erziehungsgedanke im Rahmen vorzunehmender Abwägungen immer zu berücksichtigen, und zwar nach hier vertretener Ansicht sowohl bei der Auslegung der Voraussetzungen als auch in jedem Einzelfall mit Blick auf die konkreten Folgen für den/die Betroffene/n52. Dass eine Einschätzung der Folgen, wie 49 Gesetzentwurf der Bundesregierung (Fn. 7), S. 2;in der Entwurfsbegründung ist ansonsten wie auch im Gesetz vom „Verletzten“ die Rede, S. 52: „Verletzter im Sinne des neugefassten Rechts der Vermögensabschöpfung ist derjenige, dem ein Anspruch (auf Rückgewähr des Erlangten oder auf Ersatz des Wertes des Erlangten) aus der Tat erwachsen ist (vgl. § 73d StGB-E, § 111i und § 459 g Absatz 3 StPO-E)“. 50 s. hierzu auch Kölbel (Fn. 9), S. 9 ff. 51 Reitemeier, ZJJ, 354 (369): 125 – 150 E; LG Trier Urt. vom 27. September 2017 – 8031 Js 20631/16, BeckRS 2017, 129590: 400 E. 52 Weitergehend offenbar BeckOK StPO/Coen, 2018, § 459 g Rn. 27 – 30, der trotz des in § 459 g StPO gestrichenen Verweises auf § 459d Abs. 1 StPO generell ein Unterbleiben der
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Reitemeier53 anführt, oft bei Anklageerhebung nicht möglich sein soll, überzeugt angesichts der im Jugendverfahren anzustellenden Ermittlungen (§ 43 JGG) nicht. Auch der Aspekt der ersichtlichen Vermögenslosigkeit des/der Tatverdächtigen kann hier in besonderer Weise eine Rolle spielen und gebieten, schon auf der Ebene der Staatsanwaltschaft von der Einziehung abzusehen54. Die Devise, dass Straftaten sich nicht lohnen dürfen, meint Fälle, in denen die Tatverdächtigen, Beschuldigten bzw. Verurteilten über erhebliche Vermögenswerte aus Straftaten verfügen, die dort zu belassen unangemessen erscheint. Sind hingegen, wie in aller Regel in Jugendsachen, die Vorteile verlebt, stellt sich die Situation anders dar – der Anschein des „Sich-Lohnens“ existiert nicht in dieser Weise der nachhaltigen Bereicherung, so dass das Bedürfnis, einen als ungerecht empfundenen Zustand zu beenden, nicht mehr besteht. Einen möglicherweise ausschweifenden Lebenswandel in der Vergangenheit auf diese Weise auszugleichen, ist von dem Zweck der Vermögensabschöpfung nicht mehr gedeckt. Spielräume, die eine Berücksichtigung erzieherischer Belange erfordern, bestehen über § 421 StPO hinaus weiterhin in einem sehr frühen Stadium des Verfahrens im Zusammenhang mit der möglichen Sicherstellung (§§ 111b, 111e StPO), bei der Frage nach Diversionsmöglichkeiten (§§ 45, 47 JGG) und in einem sehr späten Stadium im Rahmen der Vollstreckung (§ 459 g StPO). Von besonderer praktischer Relevanz ist angesichts der in Jugendsachen sehr hohen Diversionsraten im Ermittlungs- (§ 45 JGG), aber auch im Hauptverfahren (§ 47 JGG) § 76a Abs. 3 StPO, der die selbständige Einziehung ermöglicht u. a. wenn das Verfahren eingestellt wird.55 Antragsbefugt sind nach § 435 Abs. 1 StPO die Staatsanwaltschaft und der/die Privatkläger/in. Die Staatsanwaltschaft kann insbesondere von dem Antrag absehen, wenn das Erlangte nur einen geringen Wert hat oder das Verfahren einen unangemessenen Aufwand erfordern würde. Hier gelten die oben angestellten Überlegungen: Der Erziehungsgedanke kann und wird oft gebieten, dass die Staatsanwaltschaften von der Antragsbefugnis keinen Gebrauch machen, um das Ziel der Diversion nicht zu gefährden. Wenn und soweit es sich um Fälle handelt, die sich für eine Wiedergutmachung eignen, ist insbesondere die „vergleichsfreundliche“56 Regelung des § 73e Abs. 1 StGB im Blick zu behalten. Reitemeier betont zu Recht die Möglichkeiten der Jugendgerichtshilfe, auf Schadenswiedergutmachung hinzuwirken, damit diese dazu führt, dass die Einziehung von vornherein ausgeschlossen ist, im Rahmen einer AufVollstreckung aus Gründen der Resozialisierung als Ausprägung des allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes für möglich hält. 53 Reitemeier, ZJJ, 354 (361). 54 Köhler/Burkhard, NStZ 2017, S. 665 (676); a.A. Reitemeier, die die Berücksichtigung von Vermögenslosigkeit ausschließlich auf der Ebene der Vollstreckung für zulässig hält. 55 Reh, NZWiSt 2018, S. 20 (26), lenkt den Blick auf die möglichen Folgen auf Opportunitätsentscheidungen, deren Attraktivität insbesondere bei Vermögensdelikten sinken könnte, wenn sie nicht zu einer Vermeidung der oft aufwändigen Einziehung führen. 56 Köllner/Mück, NZI 2017, 593 (597).
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lagenerteilung berücksichtigt wird oder zumindest ein Vollstreckungshindernis darstellt57.
VII. Fazit Die Neuregelung der Vermögensabschöpfung ist ein weiterer Schritt der von Ulrich Eisenberg beständig kritisierten feindlichen Übernahme des Jugendstrafrechts durch das allgemeine Strafrecht. Sie steht im Kontext verschiedener problematischer Erweiterungen der Funktion des Strafverfahrens weg von Wahrheitsfindung und an Strafzwecken orientierter Sanktionierung hin zur vermeintlichen Lösung aller mit der Straftat verbundenen Probleme. Es sind allgemein gravierende Nachteile für Geschädigte, Beschuldigte und die Praxis zu besorgen. Die darüber hinausgehenden besonderen Folgen für das Jugendstrafrecht sind (auch von Wissenschaft und Verbänden) nicht früh und deutlich genug gesehen und eingebracht worden, auch wenn vor dem Hintergrund der Gesetzgebung der letzten Jahre Zweifel angebracht sind, ob sie gehört worden wären. Die vorbehaltlose Übernahme der neuen Regelungen im Jugendstrafrecht widerspricht dem Erziehungsgedanken. De lege lata ist daher in jedem Einzelfall zu prüfen, ob ihre Anwendung im Einklang mit dem Erziehungsgedanken steht. Insbesondere an den Stellen, an denen ausdrückliche gesetzliche Spielräume bestehen, sind diese konsequent im Sinne jugendstrafrechtlicher Grundsätze zu nutzen. Es sind alle Verfahrensbeteiligten gefordert, jeden Einzelfall entsprechend zu prüfen und gegen schematische Lösungen zu verteidigen. De lege ferenda bedarf es zumindest gesetzgeberischer Korrekturen bzw. Klarstellungen, die jugendadäquate Ermessensspielräume für den gesamten Bereich der Vermögensabschöpfung ausdrücklich eröffnen. Die Neuregelung bedarf dringend der sorgfältigen Evaluation auch und gerade im Jugendbereich, bei dem die Befürchtung von Kollateralschäden besonders nahe liegt. Die Entwurfsbegründung vermerkt trocken, dass eine Evaluierung nicht vorgesehen ist58 – das ist angesichts der Heilsversprechen des Regelwerkes im Sinne evidenzbasierter Kriminalpolitik59 geradezu grotesk.
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Reitemeier, ZJJ 2017, 354 (362). Fn. 7, S. 60. 59 Deutscher Bundestag, Ein neuer Aufbruch für Europa, Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land, Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 19. Legislaturperiode, 12. März 2018, S. 133. 58
Jugendstrafrecht und Terrorismus Zur Anwendung des Jugendstrafrechts auf terroristische Straftaten von Heranwachsenden gem. § 105 Abs. 1 JGG Von Florian Knauer
I. Einführung Das Thema „Jugendstrafrecht und Terrorismus“ zum Gegenstand eines Beitrages zu der Festschrift für Ulrich Eisenberg zu machen, lag aus mehreren Gründen nahe. Erstens war der Jubilar selbst bereits mit einem Teilaspekt des Themas befasst, so dass ich auf sein grundsätzliches Interesse an der Fragestellung hoffen darf.1 Zweitens geben mehrere jüngere Strafverfahren wegen islamistisch motivierter Straftaten einen aktuellen Anlass für Überlegungen zum Verhältnis von Jugendstrafrecht und Terrorismus. Zu nennen ist zum einen das Verfahren vor dem OLG Celle gegen die zur Tatzeit 15 Jahre alte Safia S. wegen eines Messerangriffs auf einen Bundespolizisten auf dem Hauptbahnhof von Hannover.2 Zum anderen ist an die in den letzten Jahren vor mehreren Oberlandesgerichten geführten Strafverfahren gegen Mitglieder und Unterstützer des sog. Islamischen Staats (IS) im Heranwachsendenalter zu denken.3 Drittens hat gerade die Anwendung des Jugendstrafrechts auf Heranwachsende wegen terroristischer Straftaten bislang noch nicht die gebotene Aufmerksamkeit ge-
1 Vgl. Eisenberg, NStZ 1996, 263, zur Zuständigkeit der Staatsschutzsenate bei den Oberlandesgerichten auch für Straftäter im Jugendlichen- und Heranwachsendenalter gem. §§ 102, 112 JGG, 120 GVG; dazu ferner Schoreit, NStZ 1997, 69; Lederer, StV 2016, 745. 2 Zu dem Strafverfahren gegen Safia S. OLG Celle, Urteil vom 26. Januar 2017 – 4 StE 1/ 16; BGH, Urteil vom 19. April 2018 – 3 StR 286/17; zum Verfahren gegen den zur Zeit der Begehung seiner Tat ebenfalls noch nicht volljährigen Bruder von Safia S., Saleh S., wegen versuchten Mordes durch das Werfen von Molotowcocktails vom Dach einer Einkaufspassage LG Hannover, Urteil vom 8. Juni 2017 – 31 KLs 41 Js 4/17 (5/17); zu einem Verfahren gegen einen Jugendlichen, der aus Deutschland nach Syrien ausgereist war und sich dort dem Islamischen Staat angeschlossen hat, vgl. OLG Düsseldorf, Urteil vom 29. März 2017 – III-6 StS 6/16. 3 OLG Frankfurt, Urteil vom 5. Dezember 2014 – 5-2 StE 5/14-3-1/14; OLG Düsseldorf, Urteil vom 6. Oktober 2016 – III-5 StS 2/15; OLG Düsseldorf, Urteil vom 19. Mai 2017 – III – 6 StS 7/16; KG, Urteil vom 19. Mai 2017 – (1) 2 StE 17/16 – 1 (5/16).
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funden.4 Dieser Befund überrascht deswegen, weil die Anwendung von § 105 Abs. 1 JGG auf Angehörige terroristischer Vereinigungen die Gerichte nicht erst neuerdings im Zusammenhang mit Anhängern des IS beschäftigt. Vielmehr hatten deutsche Strafgerichte bereits seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in Strafverfahren gegen Mitglieder verschiedener terroristischer Gruppen über diese Rechtsfragen zu entscheiden. Zu diesen Vereinigungen zählen die Rote Armee Fraktion (RAF), die Bewegung 2. Juni und die Hisbollah. Angesichts dieser sich insgesamt über mittlerweile fast 50 Jahre erstreckenden Rechtsprechung erscheint eine wissenschaftliche Behandlung des Themas überfällig. Die nachfolgenden Überlegungen möchten zur Schließung dieser Forschungslücke beitragen.
II. Bisherige Rechtsprechung 1. Allgemeine Vorbemerkungen Bevor die zugängliche Rechtsprechung zur Anwendung von § 105 Abs. 1 JGG auf terroristische Straftaten dargestellt wird, ist kurz auf die Kriterien einzugehen, die für die Einbeziehung der Gerichtsentscheidungen in die Untersuchung maßgeblich waren. Im Hinblick auf die in der Untersuchung einbezogenen Gruppen wurde nicht von einer bestimmten Definition des Begriffs „Terrorismus“ ausgegangen.5 Vielmehr wurden zunächst Entscheidungen gegen Angehörige solcher Vereinigungen berücksichtigt, die in der kriminologischen Literatur ausdrücklich als Beispiele für terroristische Gruppen genannt werden und deren Zuordnung zum Themenfeld „Terrorismus“ dementsprechend weitgehend anerkannt sein dürfte. Zu ihnen zählen die Rote Armee Fraktion6, die Bewegung 2. Juni7 und der Islamische Staat8. Darüber hinaus wurde auch noch ein Urteil des LG Frankfurt gegen einen der Hisbollah angehörenden Flugzeugentführer in die Betrachtung einbezogen. Dies erschien deswegen gerechtfertigt, weil im Schrifttum vergleichbare Organisationen ebenfalls als Beispiele für terroristische Gruppen genannt werden9, Flugzeugentführungen als für solche Vereinigungen typische Straftaten angesehen werden10 und das Gericht
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Vgl. immerhin Lederer, StV 2017, 748. Zu den heute verbreiteten Begriffsbestimmungen Eisenberg/Kölbel, Kriminologie, 7. Aufl. 2017, § 46 Rn. 38 ff.; Innes/Levi, in: Liebling/Maruna/McAra, The Oxford Handbook of Criminology, 6. Aufl. 2017, S. 455 (457 ff.); Newburn, Criminology, 3. Aufl. 2017, S. 968; jeweils m.w.N. 6 Eisenberg/Kölbel (Fn. 5), § 46 Rn. 40, § 58 Rn. 42; Neubacher, Kriminologie, 3. Aufl. 2017, 22. Kap. Rn. 3. 7 Eisenberg/Kölbel (Fn. 5), § 58 Rn. 42. 8 Neubacher (Fn. 6), 22. Kap. Rn. 4. 9 Newburn (Fn. 5), S. 968. 10 Innes/Levi (Fn. 5), S. 455 (463). 5
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selbst in seiner Entscheidung von den „terroristischen Zielsetzungen“ der Hisbollah spricht11. Vorzunehmen war ferner die Abgrenzung von terroristischen Straftaten und sonstiger politischer Kriminalität.12 Der vorliegende Beitrag geht mit dem Problem in folgender Weise um. In den Mittelpunkt der Untersuchung werden zunächst solche Straftaten gestellt, die aufgrund ihrer Schwere, ihres Bekanntheitsgrades oder ihrer sonstigen Bedeutung geradezu als klassische Beispiele für terroristische Delikte gelten können. Zu denken ist beispielsweise an die Befreiung von Andreas Baader, die als Geburtsstunde der RAF gilt, oder die Entführung des CDU-Politikers Lorenz durch Angehörige der Bewegung 2. Juni. Ergänzend wurden daneben aber auch Urteile zu solchen Straftaten berücksichtigt, welche von (teils späteren) Mitgliedern dieser Gruppen im Rahmen ihres Radikalisierungsprozesses begangen wurden, auch wenn die Taten teilweise einen geringeren Schweregrad aufwiesen. Dazu zählen Verurteilungen wegen Sprengstoffanschlägen und Brandstiftungen gegen Sachen13 oder wegen weniger gravierender Straftaten gegen Personen14. In den bisherigen Verfahren gegen Angehörige des IS standen wegen der fehlenden Nachweisbarkeit schwerer Einzeltaten von vornherein Straftaten gem. §§ 129a und b StGB im Mittelpunkt.15 Schließlich ist der nachfolgenden Rechtsprechungsübersicht vorauszuschicken, dass im Hinblick auf die analysierten Gerichtsentscheidungen kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden kann. Soweit ersichtlich, ist bislang lediglich
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LG Frankfurt am Main, Urteil vom 17. Mai 1989 – 5/3 Kls-51 Js 17099/87, S. 272. Vgl. Eisenberg/Kölbel (Fn. 5), § 46 Rn. 39, die vorschlagen, die Unterscheidung anhand des Ausmaßes etwa von Tatorganisation, Gewalteinsatz und Tatfolgen vorzunehmen. 13 Vgl. LG Berlin, Urteil vom 7. Juli 1971 – (510) 1 P Kls 3/71 (12/71), in dem der Angeklagte wegen einer gegen eine Sparkassenfiliale gerichteten versuchten menschengefährdenden Brandstiftung zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt wurde; LG Berlin, Urteil vom 12. November 1973 – (509) 1 PKls 7/73, mit einer Verurteilung einer Angeklagten wegen dreifacher gemeinschaftlicher versuchter menschengefährdender Brandstiftung zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren zur Bewährung; AG Tiergarten, Urteil vom 3. Juni 1974 – 2 P Ls 3/74, das in einem Verfahren wegen versuchter menschengefährdender Brandstiftung ebenfalls zur Anwendung von Jugendstrafrecht kam. 14 AG Tiergarten, Urteil vom 19. Februar 1973 – 2 P Ls 44/72 (228/72), in dem auf die Angeklagte in einem Verfahren wegen versuchten Raubes in Tateinheit mit Freiheitsberaubung Erwachsenenstrafrecht angewendet wurde. 15 Soweit Eisenberg/Kölbel (Fn. 5), § 46 Rn. 39, als Beispiel für die problematische Abgrenzung von terroristischen Straftaten und sonstiger politischer Kriminalität auch noch auf die besonderen Schwierigkeiten bei der Einordnung rechtsextremistischer Tätergruppen hinweisen, gilt für diesen Beitrag Folgendes. Zwar findet sich mit einer Entscheidung des OLG Dresden gegen die sog. Gruppe Freital (Urteil vom 7. März 2018 – 4 St 1/16) auch aus dem rechten politischen Spektrum ein Beispiel für Straftaten terroristischer Vereinigungen mit Angehörigen im Heranwachsendenalter. Jedoch lagen die Entscheidungsgründe zum Zeitpunkt des Abschlusses des Manuskripts noch nicht vor und konnten aus diesem Grund keine Berücksichtigung finden. 12
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eines der Urteile veröffentlicht worden.16 Die Materialrecherche war daher in hohem Maße von der Unterstützung verschiedener Behörden, Archive und Einzelpersonen abhängig.17 Vor diesem Hintergrund ist anzunehmen, dass sich mit fortgesetzten Bemühungen voraussichtlich noch weitere Urteile gegen Mitglieder der genannten Gruppen oder anderer vergleichbarer Vereinigungen auffinden lassen würden. Die Aussagekraft der Untersuchung ist dementsprechend auf die nachfolgend näher beschriebene Materialbasis begrenzt. 2. Einzelne Entscheidungen Hinsichtlich der Rote Armee Fraktion wurde bereits das Urteil des LG Berlin von 1971 angesprochen, durch das eine wegen der Befreiung von Andreas Baader unter anderem des gemeinschaftlichen versuchten Mordes angeklagte junge Frau im Heranwachsendenalter zu einer Jugendstrafe von vier Jahren verurteilt wurde.18 Gegen eine Angeklagte, die sich im Alter von 20 Jahren der RAF angeschlossen und kurz nach ihrem 21. Geburtstag zwei Mordversuche an Polizisten begangen hatte, verhängte das OLG Hamburg 1979 nach Erwachsenenstrafrecht eine lebenslange Freiheitsstrafe.19 Das OLG Koblenz verurteilte 1991 einen Angeklagten im Heranwachsendenalter unter anderem wegen Sprengstoffanschlägen auf den damaligen Oberbefehlshaber der NATO, auf den Flughafen Ramstein und auf den Oberkommandierenden der US-Streitkräfte in Europa wegen versuchten Mordes und weiterer Straftaten unter Anwendung der Kronzeugenregelung zu einer Jugendstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten.20 Mit Blick auf die Bewegung 2. Juni verurteilte das LG Berlin 1973 einen Heranwachsenden unter anderem wegen eines Sprengstoffanschlags auf den britischen Yachtclub in Berlin zu einer Jugendstrafe von vier Jahren und neun Monaten.21 Im Jahr 1974 verhängte das LG Berlin gegen eine weitere Beteiligte an dem Anschlag auf den Yachtclub wegen dieser und weiterer Straftaten eine Jugendstrafe von sechs Jahren.22 Das KG verurteilte 1980 in einem Verfahren gegen mehrere Mitglieder der Bewegung 2. Juni unter anderem wegen der Entführung des CDU-Politikers Lorenz einen der Angeklagten zu einer Jugendstrafe von zehn Jahren.23 Einen der Hisbollah angehörenden libanesischen Flugzeugentführer bestrafte das LG Frankfurt am Main 1989 unter anderem wegen Mordes an einem an Bord der ent16
OLG Hamburg, MDR 1980, 338. Ihnen allen sei an dieser Stelle für ihre Hilfestellungen herzlich gedankt. 18 LG Berlin, Urteil vom 21. Mai 1971 – (500) 2 P Ks 1/71 (50/70). 19 OLG Hamburg, MDR 1980, 338. 20 OLG Koblenz, Urteil vom 3. Juli 1991 – 2 StE 2/91; dazu BGH, Urteil vom 15. Mai 1992 – 3 StR 535/91. 21 LG Berlin, Urteil vom 25. Mai 1973 – (502a/502) 2 PKLs 3/73 (3/73). 22 LG Berlin, Urteil vom 12. Dezember 1974 – (500) 2 P Ks 1/74 (41/74). 23 KG, Urteil vom 13. Oktober 1980 – (1) 1 StE 2/77 (130/77). 17
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führten Maschine der Fluggesellschaft TWA befindlichen amerikanischen Staatsbürger nach allgemeinem Strafrecht mit lebenslanger Freiheitsstrafe.24 Schließlich werden, wie eingangs erwähnt, vor deutschen Gerichten seit einigen Jahren nunmehr auch Strafverfahren gegen Angehörige des IS im Heranwachsendenalter durchgeführt. Die Mehrzahl der bisherigen Entscheidungen gelangte zur Anwendung des Jugendstrafrechts. Das OLG Frankfurt beispielsweise verurteilte 2014 einen aus Deutschland nach Syrien ausgereisten deutschen Staatsangehörigen, der sich dort dem IS angeschlossen und ihn durch die Beteiligung an Kampfhandlungen und Wachdiensten unterstützt hatte, zu einer Jugendstrafe von drei Jahren und neun Monaten.25 Das OLG Düsseldorf bestrafte 2017 einen weiteren deutschen Staatsangehörigen, der dem IS von Deutschland aus durch das Übersetzen und Überprüfen propagandistischer Texte zugearbeitet hatte, mit einer Jugendstrafe von drei Jahren.26 Ebenfalls 2017 verurteilte das KG einen jungen Syrer, der zunächst in Syrien an militärischen Einsätzen des IS teilgenommen und später von Deutschland aus Informationen über mögliche Anschlagsziele übermittelt hatte, zu einer Jugendstrafe von fünf Jahren.27 Demgegenüber bestrafte das OLG Düsseldorf 2016 einen Angeklagten wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung nach Erwachsenenstrafrecht mit einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und neun Monaten.28 Dieser Verurteilung lag zugrunde, dass sich der Beschuldigte während zweier mehrmonatiger Aufenthalte in Syrien in eine Einheit des IS eingegliedert, Wachdienste verrichtet und an Kampfhandlungen und sonstigen Einsätzen teilgenommen hatte.29
III. Kritische Würdigung 1. Allgemeine Beobachtungen Bei einer kritischen Würdigung der Rechtsprechung fällt zunächst auf, dass die Gerichte in den Strafverfahren gegen Angehörige der RAF, der Bewegung 2. Juni und des IS häufiger Jugendstrafrecht als Erwachsenenstrafrecht befürwortet haben. Das ist deswegen der Rede wert, weil insbesondere in Strafverfahren gegen Angehörige der RAF im Hinblick auf andere Rechtsfragen eine extensive Ge-
24 LG Frankfurt am Main, Urteil vom 17. Mai 1989 – 5/3 Kls-51 Js 17099/87; dazu BGH, Beschluss vom 17. Mai 1991 – 2 StR 183/90; für die Übersendung der Entscheidungen danke ich dem an dem Verfahren beteiligten Vorsitzenden Richter am Landgericht Dr. Mückenberger sehr; zum anschließenden Strafvollzug gegen den Angeklagten in diesem Verfahren siehe Mückenberger, MSchrKrim 2014, 232. 25 OLG Frankfurt, Urteil vom 5. Dezember 2014 – 5-2 StE 5/14 – 3 – 1/14. 26 OLG Düsseldorf, Urteil vom 19. Mai 2017 – III – 6 StS 7/16. 27 KG, Urteil vom 19. Mai 2017 – (1) 2 StE 17/16-1 (5/16). 28 OLG Düsseldorf, Urteil vom 6. Oktober 2016 – III-5 StS 2/15. 29 OLG Düsseldorf, Urteil vom 6. Oktober 2016 – III-5 StS 2/15, S. 49.
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setzesauslegung zum Nachteil der Angeklagten beobachtet wurde.30 Bezüglich § 105 Abs. 1 JGG ist für die drei genannten Gruppen demgegenüber festzuhalten, dass die Gerichte die Vorschrift bei der Verfolgung terroristischer Straftaten nicht durchweg einseitig in einer für die Angeklagten ungünstigen Weise angewendet haben.31 Mit Blick auf die beiden Varianten des § 105 Abs. 1 JGG zeigt die nähere Betrachtung der Rechtsprechung, dass die Gerichte sich zumeist nur mit der Frage auseinandergesetzt haben, ob die Angeklagten im Sinne der Nr. 1 der Vorschrift in ihrem Entwicklungsstand noch einem Jugendlichen gleichstanden. Demgegenüber wurde eine Jugendverfehlung nach der Nr. 2 in den meisten Urteilen entweder gar nicht angesprochen oder in nur einem Satz abgelehnt. Etwas anderes gilt lediglich für eine Entscheidung des OLG Düsseldorf gegen einen IS-Heimkehrer aus Syrien, in der sich wenigstens einige kurze Ausführungen zu § 105 Abs. 1 Nr. 2 JGG finden.32 2. Entwicklungsstand eines Jugendlichen Eine nähere Betrachtung der jeweiligen Ausführungen zur Anwendung von § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG zeigt, dass die Gerichte bei der Begehung terroristischer Straftaten durch Angehörige der RAF und der Bewegung 2. Juni über weite Strecken die auch bei allgemeiner Jugenddelinquenz üblichen Gesichtspunkte einbezogen haben.33 Dabei kommen die Gerichte zu durchaus unterschiedlichen Ergebnissen. Auf der einen Seite lehnte beispielsweise das OLG Hamburg bei einer RAF-Angehörigen den Entwicklungsstand einer Jugendlichen ab. Die Angeklagte habe sich selbstbewusst, aber ohne Bruch vom Elternhaus lösen und eine innere Selbständigkeit entwickeln können. Erfolgreich und strebsam in ihrem Beruf habe sie eigene Lebensvorstellungen gehabt und sei auch nicht aus Trotz gegenüber ihren Eltern Mitglied der RAF geworden.34 Insgesamt sei die Angeklagte intelligent, wissbegierig, eifrig beim Lernen und bei der Suche nach einer Arbeitsstelle, von nettem Umgang, stets höflich und sehr selbstsicher gewesen.35
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Eisenberg/Kölbel (Fn. 5), § 58 Rn. 40 m.N. Zur Ansicht der h.M., dass bei der Anwendung des Zweifelsgrundsatzes das Jugendstrafrecht im Vergleich zum Erwachsenenstrafrecht als milder anzusehen ist, siehe Eisenberg, JGG, 19. Aufl. 2017, § 105 Rn. 36 m.N. Anzuerkennen ist freilich, dass die Analyse hier noch weiter in die Tiefe gehen und insbesondere die Art und die Höhe der verhängten jugendstrafrechtlichen Sanktionen in die Betrachtung einbeziehen müsste; vgl. die Nachweise bei Eisenberg/Kölbel (Fn. 5), § 58 Rn. 40. 32 OLG Düsseldorf, Urteil vom 6. Oktober 2016 – III-5 StS 2/15, S. 56 f.; näher dazu unten 3. 33 Zur allgemeinen Diskussion über die Anwendung von § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG vgl. Ostendorf/Drenkhahn, Jugendstrafrecht, 9. Aufl. 2017, Rn. 303 f. m.w.N. 34 OLG Hamburg, MDR 1980, 338. 35 OLG Hamburg, MDR 1980, 338. 31
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Auf der anderen Seite bejahte das KG bei einem Mitglied der Bewegung 2. Juni aufgrund des Zweifelsgrundsatzes den Entwicklungsstand eines Jugendlichen.36 Für eine Reifeverzögerung des Angeklagten spreche, dass er aus gestörten Familienverhältnissen stamme und wegen erheblicher Verhaltensauffälligkeiten einen großen Teil seiner Jugend in verschiedenen Heimen verbracht habe. Zeitweise sei er sogar stationär in einer psychiatrischen Kinderklinik behandelt worden.37 Ausführungen wie diese stellen ersichtlich keine Besonderheit von Strafverfahren wegen terroristischer Straftaten dar, sondern finden sich in ähnlicher Weise auch in anderen Entscheidungen zu § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG. Von besonderem Interesse ist daher die Frage, in welcher Weise die Gerichte in ihren Ausführungen zu § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG gerade die politischen Anschauungen der Angeklagten berücksichtigt haben. Auch insoweit finden sich in den verschiedenen Entscheidungen differenzierende, auf den jeweiligen Einzelfall abstellende Betrachtungen. Für die Anwendung von Erwachsenenstrafrecht hat das OLG Hamburg in der vorstehend genannten Entscheidung insoweit ergänzend wie folgt argumentiert. Der Entschluss der Angeklagten, sich der RAF anzuschließen, sei nicht die Folge jugendtümlicher Wesenszüge gewesen, sondern habe am Abschluss ihrer Entwicklung zu einem erwachsenen Menschen gestanden. Sie sei zur Tatzeit und noch während der Hauptverhandlung davon überzeugt gewesen, dass sie gerade und nur in der von ihr als politisch angesehenen Tätigkeit für die RAF ihre Lebensaufgabe gefunden habe. Auf deren Erfüllung habe sie sich mit allen ihr zur Verfügung stehenden Fähigkeiten konzentriert.38 Das bei der Angeklagten zu beobachtende Handeln unter dem Einfluss einer Gruppe Gleichgesinnter, ihr sektiererisches, radikales und intolerantes Sendungsbewusstsein und das dadurch bedingte klischeehafte Denken seien nicht nur auf Jugendliche und Heranwachsende beschränkt, sondern auch bei Erwachsenen zu beobachten.39 Demgegenüber begründete das KG in dem angesprochenen Verfahren gegen einen Angehörigen der Bewegung 2. Juni die Anwendung von Jugendstrafrecht mit folgenden weiteren Erwägungen. Zwar habe bei dem Angeklagte die politische Überzeugungsbildung schon im Jugendalter begonnen und schnell zu einer gewissen Selbständigkeit geführt. Auch habe der Angeklagte in einem Kreis anarchistisch gesonnener Jugendlicher eine führende Position eingenommen.40 Im Ergebnis sei aber nicht sicher, ob diese Umstände tatsächlich als Anzeichen eines altersgemäßen Reifungsprozesses gewertet werden könnten. Der Lebensweg des Angeklagten von Kontakten zu anarchistischen Kreisen über den Anschluss an die Bewegung 2. Juni in den
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KG, Urteil vom 13. Oktober 1980 – (1) 1 StE 2/77 (130/77), S. 311. KG, Urteil vom 13. Oktober 1980 – (1) 1 StE 2/77 (130/77), S. 312. 38 OLG Hamburg, MDR 1980, 338. 39 OLG Hamburg, MDR 1980, 338 (339). 40 KG, Urteil vom 13. Oktober 1980 – (1) 1 StE 2/77 (130/77), S. 312. 37
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politischen Fanatismus sei „eher Ausdruck einer jugendtümlich trotzigen und erstarrten Geisteshaltung als das Produkt einer freien politischen Überzeugung“ gewesen.41 Das LG Frankfurt am Main widmete sich in seinem Urteil gegen einen der Hisbollah angehörenden Flugzeugentführer besonders ausführlich einer möglichen Anwendung des Jugendstrafrechts gem. § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG und verneinte diese im Ergebnis. Die religiöse Radikalisierung des Angeklagten wird dabei nicht als eigenständiger Gesichtspunkt gesondert vertieft. Für die Annahme des Entwicklungsstandes eines Erwachsenen führte das Gericht unter anderem an, dass der Angeklagte seelisch-geistig gesund gewesen sei, keine intellektuellen oder sprachlichen Auffassungsschwierigkeiten gezeigt und sich auch in der Hauptverhandlung situationsangepasst verhalten habe. Er sei in einem geordneten Familienverband aufgewachsen und habe über weite Strecken eine geregelte Schulausbildung genossen.42 Dem erzieherischen Einfluss der Eltern sei der Angeklagte – auch unter dem Einfluss der zunehmenden Kriegswirren im Libanon – frühzeitig entwachsen.43 Früh sei im Wesen des Angeklagten der Zug erkennbar gewesen, Geltung und Erfolg in kriegerisch-militärischer Betätigung zu suchen.44 Nach seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland habe der Angeklagte auf eigenen Füßen gestanden, Anschluss an eine deutsche Familie und deutsche Freunde herstellen können und schnell die hiesige Sprache erlernt.45 Schließlich entspreche das Bild von der Persönlichkeit des Angeklagten auch zum Zeitpunkt der Tatbegehung dem eines Erwachsenen. Nach Zeugenaussagen habe er während der mehrtägigen Entführung kontrollierter gehandelt als sein Mittäter im Erwachsenenalter.46 Insgesamt sei der Angeklagte daher während der Flugzeugentführung und in der Hauptverhandlung erschienen als „eine heftige, explosive und geltungsstrebige Persönlichkeit, zäh und zielstrebig in der Erkämpfung dessen, wa[s] er vorhat, aber zugleich mit der Fähigkeit zu starker Selbstkontrolle und zu durchaus einfühlsamen äußeren Umgangsformen“.47 Freilich hätten sich auf der Grundlage der Feststellungen des Gerichts auch einige gewichtige Argumente dafür entwickeln lassen, dass der Angeklagte möglicherweise 41 KG, Urteil vom 13. Oktober 1980 – (1) 1 StE 2/77 (130/77), S. 312 f.; in ähnlicher Weise hat das LG Berlin, Urteil vom 25. Mai 1973 – (502a/502) 2 PKLs 3/73 (3/73), S. 23, in einer Entscheidung gegen einen der Beteiligten an dem Anschlag auf den britischen Yachtclub für die Bejahung von § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG angeführt, dass es kennzeichnend für eine puberale Entwicklungsphase sei, „für persönliche Schwierigkeiten und eigenes Versagen ausschließlich ,die Gesellschaft‘ verantwortlich zu machen“; siehe ferner LG Berlin, Urteil vom 12. November 1973 – (509) 1 PKls 7/73, S. 7 („typische pubertäre Protesthaltung“); OLG Koblenz, Urteil vom 3. Juli 1991 – 2 StE 2/91, S. 240, wonach der Beitritt des Angeklagten zur RAF auf „Abenteuerlust“ und „falsch verstandene Kameradschaft und Ritterlichkeit“ zurückzuführen gewesen sei. 42 LG Frankfurt am Main, Urteil vom 17. Mai 1989 – 5/3 Kls-51 Js 17099/87, S. 258. 43 LG Frankfurt am Main, Urteil vom 17. Mai 1989 – 5/3 Kls-51 Js 17099/87, S. 259. 44 LG Frankfurt am Main, Urteil vom 17. Mai 1989 – 5/3 Kls-51 Js 17099/87, S. 259 f. 45 LG Frankfurt am Main, Urteil vom 17. Mai 1989 – 5/3 Kls-51 Js 17099/87, S. 261 f. 46 LG Frankfurt am Main, Urteil vom 17. Mai 1989 – 5/3 Kls-51 Js 17099/87, S. 264 ff. 47 LG Frankfurt am Main, Urteil vom 17. Mai 1989 – 5/3 Kls-51 Js 17099/87, S. 266.
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doch noch einem Jugendlichen gleichstand. Dies gilt zunächst für seine anhaltende Ablehnung bürgerlicher Arbeit. Diese zog sich von seiner Jugendzeit, in der er bei Arbeiten in der Schreinerei seines Bruders „oft müde gewesen“ war, bis in die Phase vor der Tatbegehung, in der er eine Tätigkeit für die Hisbollah normaler Arbeit vorzog.48 Ferner geht das Gericht, wie gezeigt, von einer Förderung der Entwicklung des Angeklagten hin zu mehr Selbständigkeit durch seinen Aufenthalt in Deutschland aus, während im heutigen jugendstrafrechtlichen Schrifttum der Standpunkt vertreten wird, dass Migrationserfahrungen zu Entwicklungsverzögerungen führen können49. Des Weiteren konnte der Angeklagte während seines Aufenthalts in Deutschland die Mutter des von ihm gezeugten Kindes deswegen nicht heiraten, weil deren Mutter dagegen war.50 Schließlich hätten die mehrjährigen Mitgliedschaften des Angeklagten in verschiedenen Organisationen und die Rolle seines älteren Bruders, an dem der Angeklagte sich orientiert hatte,51 stärker Berücksichtigung finden können. Ähnlich wie in den Urteilen gegen Mitglieder der RAF und der Bewegung 2. Juni finden sich auch in den Entscheidungen gegen Angehörige des IS neben allgemeinen Ausführungen zu ihrer Persönlichkeitsentwicklung unterschiedliche Tendenzen hinsichtlich der Frage, wie die – diesmal religiösen – Überzeugungen der Angeklagten zu bewerten sind. Auf der einen Seite begründete das OLG Düsseldorf in einem Verfahren die Anwendung von Erwachsenenstrafrecht damit, dass der Angeklagte seinen streng religiösen Lebensstil selbst gewählt habe und den daraus folgenden Regeln weitgehend nachgekommen sei. Zudem habe sich der Angeklagte von verschiedenen islamischen Gruppen wieder eigenständig getrennt, wenn er deren Vorstellungen nicht mehr geteilt habe.52 Auf der anderen Seite wendete das OLG Frankfurt auf einen Angeklagten Jugendstrafrecht an, weil dieser „[e]rst mit seinem Entschluss, nach Syrien zu reisen (…) eine seinen Lebensweg betreffende bewusste Entscheidung getroffen [hat]“. Aber auch dies habe er „nicht autonom [getan], sondern als Mitglied einer Gruppe von (…) gleichgesinnten jungen Männern“. Darin liege ein für Jugendliche typisches Verhalten.53 Das OLG Düsseldorf befürwortete die Anwendung von Jugendstrafrecht in einem weiteren Verfahren unter anderem damit, „dass der Angeklagte nicht durch einen eigenständigen, kritisch reflektierten Prozess zur Anerkennung des Wertesystems des ,IS‘ gelangte, sondern unter dem bestimmenden Einfluss“ einer älteren Be48
LG Frankfurt am Main, Urteil vom 17. Mai 1989 – 5/3 Kls-51 Js 17099/87, S. 259. Laubenthal/Baier/Nestler, Jugendstrafrecht, 3. Aufl. 2015, Rn. 96 m.N. 50 LG Frankfurt am Main, Urteil vom 17. Mai 1989 – 5/3 Kls-51 Js 17099/87, S. 19 f. 51 LG Frankfurt am Main, Urteil vom 17. Mai 1989 – 5/3 Kls-51 Js 17099/87, S. 260, 263 f. 52 OLG Düsseldorf, Urteil vom 6. Oktober 2016 – III-5 StS 2/15, S. 54 f.; in der Tendenz kritisch zur Anwendung von Erwachsenenstrafrecht in Verfahren wie diesem Lederer, StV 2017, 748, mit beachtenswerten allgemeinen Überlegungen zur Reifebeurteilung bei jungen Jihadisten einschließlich der Auswahl geeigneter Sachverständiger. 53 OLG Frankfurt, Urteil vom 5. Dezember 2014 – 5-2 StE 5/14-3-1/14, S. 26. 49
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zugsperson aus dem entsprechenden Milieu.54 Das KG stellte bei der Bejahung von § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG unter anderem darauf ab, dass der Angeklagte in Syrien „bereits seit seinem 16. Lebensjahr der Indoktrination durch den IS ausgesetzt war“.55 Als Zwischenergebnis lässt sich daher festhalten, dass die Gerichte insbesondere in den Verfahren gegen Mitglieder der RAF, der Bewegung 2. Juni und des IS bei der Anwendung von § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG neben allgemeinen Betrachtungen zur Persönlichkeitsentwicklung der Angeklagten56 auch speziell die politischen bzw. religiösen Überzeugungen der Beschuldigten in durchaus unterschiedlicher Weise heranziehen. 3. Jugendverfehlung Das Vorliegen einer Jugendverfehlung gem. § 105 Abs. 1 Nr. 2 JGG erörtern die Gerichte, wie gezeigt, nur selten. Ein Urteil des OLG Düsseldorf gegen einen ISHeimkehrer geht auf die Vorschrift wenigstens mit einigen kurzen Erwägungen ein. Im Ergebnis lehnt das OLG diese Variante aber ebenfalls ab. Nach Ansicht des Gerichts trugen die Tatmotivation des Angeklagten und deren Umsetzung keine Züge jugendlicher Unreife. Vielmehr habe der Angeklagte den Entschluss zur Tat aufgrund einer längerfristigen Planung gefasst, die Ausdruck einer seit Jahren bestehenden religiösen Überzeugung gewesen sei. Zwar habe der Angeklagte ausgesagt, dass er aus „Abenteuerlust“ nach Syrien gegangen sei. Jedoch sei er nach der Vollendung seines 21. Lebensjahres ein weiteres Mal dorthin ausgereist, so dass seine religiösen Einstellungen augenscheinlich die Phase des Heranwachsendenalters überdauert hätten und der wichtigste Beweggrund für die Tatbegehung gewesen seien.57 Freilich hat das OLG Düsseldorf in seiner Entscheidung nicht alle im Urteil angesprochenen Aspekte in die Prüfung des Vorliegens einer Jugendverfehlung einbezogen. Beispielsweise hatte der Angeklagte vor der Ausreise „über Syrien nichts gewusst“ und daher erst einmal auf Google Maps nach Grenzstädten suchen müssen.58 Wegen eines fehlenden Eides auf den IS fühlte er sich von anderen Gruppenmitgliedern „nicht ernst genommen und unter Druck gesetzt“.59 Während seiner Tätigkeit für den IS blieb er mit seiner Mutter in Kontakt und antwortete ihr in einem Chat 54
OLG Düsseldorf, Urteil vom 19. Mai 2017 – III – 6 StS 7/16, S. 23. KG, Urteil vom 19. Mai 2017 – (1) 2 StE 17/16-1 (5/16), S. 81. 56 Dabei stellen die Gerichte wie in vielen anderen Verfahren auch nicht zuletzt auf das Alter der Angeklagten ab und unterscheiden etwa danach, ob die Heranwachsenden die Taten kurz nach Vollendung des 18. Lebensjahres begangen haben (z. B. KG, Urteil vom 19. Mai 2017 – (1) 2 StE 17/16-1 (5/16), S. 81) oder knapp vor ihrem 21. Geburtstag (so LG Frankfurt am Main, Urteil vom 17. Mai 1989 – 5/3 Kls-51 Js 17099/87, S. 257 f.). 57 OLG Düsseldorf, Urteil vom 6. Oktober 2016 – III-5 StS 2/15, S. 57 f. 58 OLG Düsseldorf, Urteil vom 6. Oktober 2016 – III-5 StS 2/15, S. 23. 59 OLG Düsseldorf, Urteil vom 6. Oktober 2016 – III-5 StS 2/15, S. 28. 55
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auf die Frage, wie es ihm gehe, er stehe „gerade Wache“.60 Alle diese Aspekte ließen sich durchaus für das Vorliegen einer Jugendverfehlung anführen. Die noch weitergehende Zurückhaltung der übrigen Gerichte gegenüber § 105 Abs. 1 Nr. 2 JGG ist deswegen bemerkenswert, weil auch deren Urteile verschiedentlich Anlass für entsprechende Überlegungen gegeben hätten. Namentlich spielten für die Durchführung mehrerer Taten gruppendynamische Prozesse eine wichtige Rolle. In einer Entscheidung des LG Berlin beispielsweise wollte die Angeklagte durch die Begehung der angeklagten Straftaten ihre Zugehörigkeit zur Gruppe beweisen.61 Das OLG Koblenz beschreibt im Rahmen seiner Ausführungen zu § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG, dass der Angeklagte sich nur unter der Bedingung zur Mitwirkung an einem Banküberfall bereit erklärt hatte, dass ein bestimmter anderer Tatbeteiligter dabei stets in seiner Nähe bleiben würde.62 Dass der Angeklagte sich in dieser Weise zur Mitwirkung an der Tat hat überreden lassen, wäre richtigerweise aber auch im Rahmen von § 105 Abs. 1 Nr. 2 JGG zu vertiefen gewesen. In dem Urteil des OLG Frankfurt gegen ein IS-Mitglied ging das Gericht auf § 105 Abs. 1 Nr. 2 JGG nicht näher ein, obwohl der Angeklagte mit einem Jugendfreund und fünf weiteren jungen Männern gemeinsam mit dem Bus nach Istanbul gereist war63, was ebenfalls auf eine entsprechende Gruppendynamik hindeutet. Auf den ersten Blick mag die von den Gerichten gezeigte Zurückhaltung im Hinblick auf die Anwendung von § 105 Abs. 1 Nr. 2 JGG ein Stück weit nachvollziehbar erscheinen. Immerhin unterscheiden sich die abgeurteilten terroristischen Straftaten bei unbefangener Betrachtungsweise in Ausführung und Gewicht doch nicht unerheblich von üblicherweise als Beispiele für Jugendverfehlungen genannten Straftaten wie Spritztouren mit einem entwendeten Auto64 oder Ladendiebstählen als Mutprobe65. Bei einer näheren Betrachtung wird jedoch rasch erkennbar, dass terroristische Straftaten im Einzelfall durchaus Jugendverfehlungen gem. § 105 Abs. 1 Nr. 2 JGG sein können. Zunächst ist anerkannt, dass auch schwere Straftaten bis hin zum Mord Jugendverfehlungen darstellen können.66 Zudem kann nach Ansicht des BGH nicht ohne Würdigung des tatsächlichen sozialen Rahmens beurteilt werden, ob eine Tat Ausdruck sozialer Unreife ist, wobei namentlich das Verhalten Drit-
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OLG Düsseldorf, Urteil vom 6. Oktober 2016 – III-5 StS 2/15, S. 36. LG Berlin, Urteil vom 12. November 1973 – (509) 1 PKls 7/73, S. 8 f. Zwar finden sich die entsprechenden Ausführungen im Rahmen der Entscheidung über die Aussetzung der Jugendstrafe zur Bewährung. Jedoch erkennt das Gericht selbst, dass diese besondere Motivation „auch das Gesicht der Tat wesentlich mitgeprägt“ hat (a.a.O. S. 9). 62 OLG Koblenz, Urteil vom 3. Juli 1991 – 2 StE 2/91, S. 241 f. 63 OLG Frankfurt, Urteil vom 5. Dezember 2014 – 5-2 StE 5/14-3-1/145, S. 5. 64 Meier/Rössner/Schöch, Jugendstrafrecht, 3. Aufl. 2013, § 5 Rn. 27. 65 Streng, Jugendstrafrecht, 3. Aufl. 2012, Rn. 83. 66 Eisenberg, JGG (Fn. 31), § 105 Rn. 35 m.N. 61
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ter und die daraus entstehende Gruppendynamik einzubeziehen sei.67 Zwar hatte die Entscheidung des BGH eine Massenschlägerei bei einer Zeltdisco zum Gegenstand, bei der sich die Gruppendynamik erst am Tattag vor bzw. in der spezifischen Tatsituation entwickelt hatte. Jedoch ist der dauerhaft ausgeübte Gruppendruck auf die einzelnen Mitglieder bei Straftaten aus terroristischen Vereinigungen heraus ebenfalls sehr groß. In einigen Verfahren kam noch hinzu, dass die Täterinnen aus Liebe zu anderen Gruppenmitgliedern gehandelt hatten.68 Vor diesem Hintergrund ist zu fordern, dass die Gerichte auch in Strafverfahren wegen terroristischer Straftaten der Variante der Jugendverfehlung gem. § 105 Abs. 1 Nr. 2 JGG künftig größere Aufmerksamkeit widmen als bislang.
IV. Zusammenfassung Im Ergebnis ist damit erstens festzuhalten, dass die bisherige Rechtsprechung zu § 105 Abs. 1 JGG bei von Heranwachsenden begangenen terroristischen Straftaten im Hinblick auf Angehörige der RAF, der Bewegung 2. Juni und des IS in der Mehrzahl der Fälle zur Anwendung von Jugendstrafrecht gelangt. Zweitens wurde gezeigt, dass die Gerichte zwar regelmäßig relativ ausführlich auf den Entwicklungsstand eines Jugendlichen gem. § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG eingehen, jedoch nur selten auf die Jugendverfehlung gem. § 105 Abs. 1 Nr. 2 JGG. Drittens differenzieren die Gerichte im Rahmen der Prüfung von § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG im Hinblick auf die politischen bzw. religiösen Überzeugungen der Angeklagten jeweils danach, welche Bedeutung diese Anschauungen in der Persönlichkeitsentwicklung der jeweiligen Angeklagten hatten. Viertens bedarf die Prüfung der Jugendverfehlung gem. § 105 Abs. 1 Nr. 2 JGG bei terroristischen Straftaten in Zukunft größerer Aufmerksamkeit als in der Vergangenheit.
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BGH, NStZ 2001, 102; dazu Hoffmann, StV 2001, 196. LG Berlin, Urteil vom 12. November 1973 – (509) 1 PKls 7/73, S. 8; AG Tiergarten, Urteil vom 3. Juni 1974 – 2 P Ls 3/74, S. 6. 68
Das kann doch nicht das letzte Wort sein!? Zur Reihenfolge der Worterteilung an jugendliche Angeklagte und ihre gesetzlichen Vertreter bzw. Erziehungsberechtigten Von Reinhold Schlothauer
I. Vorbemerkung Der Jubilar behandelt viele strafprozessuale Grundsatzfragen anhand prägnanter Fallbeispiele aus der Justizpraxis.1 Indem er so vom Konkreten zum Allgemeinen kommt, macht er deutlich, dass die von ihm angesprochenen Probleme keine Kopfgeburten aus dem universitären Elfenbeinturm sind. Obwohl seine Überlegungen zu vertieften wissenschaftlichen Einsichten führen, finden sie sich in Zeitschriftenveröffentlichungen häufig in der Rubrik „Praxis“ wieder2, was nur insofern berechtigt ist, als ihre Ergebnisse an ihre praktischen Auswirkungen rückgekoppelt werden. Vor diesem Hintergrund mag der Jubilar es mir nachsehen, dass der folgende Beitrag ein Verfahren zum Gegenstand hat, das ich in der Revisionsinstanz für den verurteilten Angeklagten begleitet habe. Auch wenn die angestrebte Aufhebung des angefochtenen Urteils nicht erreicht wurde, liegt es nicht in meiner Absicht, aus Enttäuschung „nachzukarten“. Vielmehr stehen zunächst die prozessualen Konsequenzen der von dem 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs in der rezensierten Entscheidung3 vertretenen Auffassung im Vordergrund, die dort nicht thematisiert und möglicherweise nicht bedacht wurden. Erst nachdem diese durchdekliniert worden sind, stellt sich die Frage, ob daraus Rückschlüsse auf die Schlüssigkeit der vom BGH vertretenen Auffassung zu ziehen sind.
II. Sachverhalt und Problemaufriss In der am 03. 08. 2016 begonnenen Hauptverhandlung gegen den jugendlichen Angeklagten wurde am 3. Hauptverhandlungstag die Beweisaufnahme geschlossen und sodann der Staatsanwaltschaft, der Nebenklage und der Verteidigung das Wort 1 Vgl. nur Eisenberg, Kriminalistik 2014, 737; StV 2015, 92; StV 2015, 180; NStZ 2015, 433; NStZ 2016, 11; StV 2016, 709. 2 Eisenberg, GA 2014, 107; GA 2014, 404; NStZ 2014, 410. 3 BGH, NStZ-RR 2017, 349 = StraFo 2017, 456.
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zum Zwecke der Schlussvorträge gewährt. Im Anschluss daran hatte der Angeklagte das Letzte Wort. Zu diesem Zeitpunkt waren seine Eltern als seine gesetzlichen Vertreter in der Hauptverhandlung nicht anwesend. Diese hatten allerdings an den vorangegangenen Hauptverhandlungstagen teilgenommen, die Mutter des Angeklagten auch noch an der Hauptverhandlung vom 10. 08. 2016 bis kurz vor Schluss der Beweisaufnahme. Am folgenden Verhandlungstag, dem 11. 08. 2016, waren die Eltern des Angeklagten wieder erschienen. Ihnen wurde als gesetzlichen Vertretern das Letzte Wort erteilt. Hiervon machte der Vater des Angeklagten Gebrauch. Nach kurzer Beratung des Gerichts wurde im unmittelbaren Anschluss daran das Urteil verkündet, ohne dass dem Angeklagten noch einmal erneut das Letzte Wort erteilt wurde oder er Gelegenheit hatte, weitere Erklärungen abzugeben. Ob einem jugendlichen Angeklagten in der Hauptverhandlung im Verhältnis zu seinen gesetzlichen Vertretern bzw. Erziehungsberechtigten das „allerletzte Wort“ gebührt, diesen also nur das „vorletzte Wort“ zusteht, ist umstritten. In der Literatur spricht sich die herrschende Meinung für das „allerletzte Wort“ des jugendlichen Angeklagten aus. Neben dem Jubilar4 wird diese insbesondere von Meyer-Goßner, Ott, Stuckenberg, Velten, Schatz, Trüg und Grommes5 sowie in der Vergangenheit schon von Schoreit und Gollwitzer6 vertreten. Allerdings wird für dieses Ergebnis keine vertiefte Begründung gegeben. Dies gilt allerdings auch für die Vertreter der Mindermeinung.7
III. Entscheidungsanalyse Die im vorliegenden Fall erhobene Rüge der Verletzung des § 258 Abs. 2 und Abs. 3 StPO, dem Angeklagten hätte erneut das Letzte Wort gewährt werden müssen, blieb erfolglos. Der BGH kommt zu dem Ergebnis, dass dem jugendlichen Angeklagten nicht das Letzte Wort verwehrt worden sei, da ihm dieses am vorletzten Verhandlungstag nach Schluss der Beweisaufnahme und nach den Schlussvorträgen der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung gewährt wurde. Daran ändere sich auch nichts dadurch, dass am folgenden Verhandlungstag auch seinen Eltern als gesetzlichen Vertretern das Letzte Wort erteilt worden sei. Da gesetzlichen Vertretern und Erziehungsberechtigten von jugendlichen Angeklagten wie diesen das Letzte Wort zustehe (§ 67 Abs. 1 JGG, § 258 Abs. 3 StPO), führe die nach Ermessen des Vorsit4
Eisenberg, JGG, 19. Aufl. 2017, § 67 Rn. 9a. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 60. Aufl. 2017, § 258 Rn. 23; KK-StPO/Ott, 7. Aufl. 2013, § 258 Rn. 20; LR-StPO/Stuckenberg, 26. Aufl. 2013, § 258 Rn. 39; SK-StPO/Velten, 5. Aufl. 2016, § 258 Rn. 37; Diemer/Schatz/Sonnen, JGG, 7. Aufl. 2015, § 67 Rn. 21; NKJGG/Trüg, 2. Aufl. 2014, § 67 Rn. 10; BeckOK-JGG/Grommes, § 67 Rn. 16. 6 KK-StPO/Schoreit, 6. Aufl. 2008, § 258 Rn. 20; Diemer/Schoreit/Sonnen, JGG, 5. Aufl. 2008, § 67 Rn. 10; LR-StPO/Gollwitzer, 25. Aufl. 2001, § 258 Rn. 29. 7 Radtke/Hohmann/Forkert-Hosser, StPO, 2011, § 258 Rn. 30; Graf/Eschelbach, StPO, 2. Aufl. 2012, § 258 Rn. 19; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 61. Aufl. 2018, § 258 Rn. 23. 5
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zenden zu bestimmende Reihenfolge der Worterteilung nicht zu einer Rechtsbeschränkung desjenigen, dem nicht das „allerletzte Wort“ gewährt wurde. Die Rechtslage sei mit derjenigen bei mehreren Mitangeklagten vergleichbar, denen auch nur nacheinander das Letzte Wort gewährt werden könne.8 Diese Lösung wirft für die Zukunft eine Reihe von Fragen auf, zu denen sich in der Entscheidung allerdings keine Antworten finden. 1. Der BGH ließ den Erfolg der Rüge der Verletzung des Letzten Wortes nicht daran scheitern, dass der Angeklagte nicht schon in der Hauptverhandlung die Art und Weise der Worterteilung durch den Vorsitzenden und die Nichtgewährung eines „allerletzten Wortes“ beanstandet und keine Entscheidung des Gerichts über die Unzulässigkeit seiner Verhandlungsführung herbeigeführt hatte (§ 238 Abs. 2 StPO). Die Zulässigkeit der Rüge der Verletzung des § 258 Abs. 2 und 3 StPO durch Nichterteilung des Letzten Wortes setzt nämlich nicht voraus, dass gegen die (unterlassene) Anordnung des Vorsitzenden von dem Zwischenrechtsbehelf des § 238 Abs. 2 StPO Gebrauch gemacht wurde.9 Dies folgt daraus, dass es sich bei § 258 Abs. 2 und 3 StPO um zwingendes Recht handelt10, das keinen Ermessensspielraum des Vorsitzenden eröffnet. Deshalb kann aus der Nichtanrufung des Gerichts nicht geschlossen werden, der Betroffene habe zu erkennen geben wollen, er nehme die subjektiven Wertungen des Vorsitzenden hin.11 2. Nach Auffassung des BGH kommt vorliegend nur ein Ermessensfehlgebrauch im Zusammenhang mit der Reihenfolge der Worterteilung in Betracht, den die Revision allerdings nicht geltend gemacht habe und der mit Blick auf das konkrete Verfahrensgeschehen auch nicht ersichtlich sei. Da es nach Auffassung des BGH um die Reihenfolge der Worterteilung an Verfahrensbeteiligte ging, deren Position in Bezug auf das Recht auf das Letzte Wort „gleichrangig“ sei, stellt sich in dem entschiedenen Sachverhalt die Frage, wie es insoweit überhaupt zu einem Ermessensfehlgebrauch hätte kommen können. Denn zum Zeitpunkt der Worterteilung an den Angeklagten waren seine gesetzlichen Vertreter nicht anwesend. Die zuletzt während der Beweisaufnahme noch im Gerichtssaal verbliebene Mutter verließ diesen kurz vor Schluss der Beweisaufnahme. Ob sie und/oder der Vater zwischen dem Letzten Wort des Angeklagten und der Urteilsverkündung wieder an der Hauptverhandlung teilnehmen werden würden, war weder für den Vorsitzenden noch für den Angeklagten absehbar. Als die Eltern dann am nächsten Verhandlungstag vor der Urteilsverkündung wieder erschienen waren, musste 8 Mit dieser Argumentation auch schon BGH, Urt. v. 10. 12. 1965 – 4 StR 561/65 (uv) unter Verweis auf den Vorrang des letzten Wortes nur gegenüber den Ausführungen des Staatsanwalts und des Verteidigers, sowie BGHSt 48, 181 (182) ohne nähere Begründung. 9 BGHSt 3, 368 (370); BGH JR 1965, 348 (st. Rspr.); LR-StPO/J.-P. Becker, 26. Aufl. 2010, § 238 Rn. 47; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO (Fn. 7), § 258 Rn. 33; SSW-StPO/Franke, 2. Aufl. 2016, § 258 Rn. 22 (h.M.). 10 SSW-StPO/Franke (Fn. 9), § 258 Rn. 22. 11 LR-StPO/J.-P. Becker (Fn. 9), § 238 Rn. 47.
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ihnen das Letzte Wort von Amts wegen erteilt werden.12 Damit war für eine die Reihenfolge der Worterteilung betreffende Ermessensentscheidung weder am vorletzten noch am letzten Verhandlungstag Raum. Zu einem Ermessensfehlgebrauch konnte es demnach überhaupt nicht kommen, noch konnte ein solcher mit der Revision geltend gemacht werden. 3. Ausgehend vom Standpunkt des BGH, es gehe nur um die im Ermessen des Vorsitzenden stehende Entscheidung über die Reihenfolge der Worterteilung, stellt sich im Zusammenhang mit der Beanstandung eines Ermessensfehlgebrauchs das weitere Problem, dass die Zulässigkeit der Rüge anderweitiger Beschränkungen des Letzten Wortes durch darauf bezogene Anordnungen des Vorsitzenden die Herbeiführung einer (anderen) Entscheidung des Gerichts nach § 238 Abs. 2 StPO voraussetzt.13 Das Erfordernis eines Gerichtsbeschlusses als Zulässigkeitsvoraussetzung wird ohnehin ganz generell immer dann bejaht, wenn Gegenstand der Verfahrensrüge die Verhandlungsführung des Vorsitzenden in solchen Fällen ist, in denen ihm ein Entscheidungsspielraum zusteht.14 Einen solchen Entscheidungsspielraum räumt der BGH dem Vorsitzenden bei der Frage ein, in welcher Reihenfolge er das Letzte Wort dem jugendlichen Angeklagten bzw. den anwesenden gesetzlichen Vertretern oder Erziehungsberechtigten erteilt. Dieses Verhalten ist als eine konkludente und damit beanstandungsfähige Anordnung zu qualifizieren, weil „aussagekräftige prozessuale Umstände vorliegen, die das Agieren des Vorsitzenden bei kontextgebundener Betrachtung als stillschweigende Anordnung ausweisen“15. In der Praxis stellt sich dann aber die Frage, wie und wann die geforderte Beanstandung zwecks Herbeiführung eines Gerichtsbeschlusses anzubringen gewesen wäre. Muss die Beanstandung schon bei der Erteilung des Letzten Wortes an den jugendlichen Angeklagten erfolgen, wenn zu diesem Zeitpunkt die noch nicht nach § 67 Abs. 1 JGG, § 258 Abs. 3 StPO befragten gesetzlichen Vertreter bzw. Erziehungsberechtigten anwesend sind? Oder ist der Antrag auf gerichtliche Entscheidung erst bei Erteilung des Letzten Wortes an diese im Anschluss an die Worterteilung an den jugendlichen Angeklagten zu stellen? Es spräche einiges dafür, eine Beanstandung durch den jugendlichen Angeklagten schon bei Erteilung des Letzten Wortes an diesen zu fordern. Da bei Beachtung des Gesetzes den anwesenden gesetzlichen Vertretern bzw. Erziehungsberechtigten ebenfalls das Letzte Wort erteilt wer12 RGSt 42, 51 (52); BGHSt 17, 28 (33); BGHSt 21, 289; OLG Zweibrücken StV 2003, 455; Eisenberg, JGG (Fn. 4), § 67 Rn. 9a; NK-JGG/Trüg (Fn. 5), § 67 Rn. 10 m.w.N. auf die Rspr. dort in Fn 23. 13 BGHSt 3, 268 (269 f.); BGH NStZ 1993, 94 (95); KK-StPO/Ott (Fn. 5), § 258 Rn. 33; Graf/Eschelbach, StPO (Fn. 7), § 258 Rn. 28; MüKo-StPO/Cierniak/Niehaus, 2016, § 258 Rn. 27; a.A. SK-StPO/Velten (Fn. 5), § 258 Rn. 55; LR-StPO/Stuckenberg (Fn. 5), § 258 Rn. 65. 14 LR-StPO/J.-P. Becker (Fn. 9), § 238 Rn. 46. 15 KK-StPO/Schneider (Fn. 5), § 238 Rn. 12; diff. LR-StPO/J.-P. Becker (Fn. 9), § 238 Rn. 18; Radtke/Hohmann/Britz (Fn. 7), § 238 Rn. 16.
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den muss, hätte die zunächst erfolgte Erteilung des Letzten Wortes an den jugendlichen Angeklagten zwingend zur Folge, dass seinen gesetzlichen Vertretern bzw. den Erziehungsberechtigten erst im Anschluss an seine Ausführungen das Letzte Wort erteilt würde. Die sich daraus ergebende Reihenfolge der Worterteilung könnte von dem jugendlichen Angeklagten allerdings nur dann beanstandet werden, wenn ihm bekannt und bewusst war, dass seinen gesetzlichen Vertretern bzw. Erziehungsberechtigten ein eigenes Recht auf das Letzte Wort zusteht und ihnen dies im Anschluss an sein letztes Wort noch erteilt wird. Noch problematischer stellt sich die Sachlage dar, wenn – wie im vorliegenden Fall – die Erteilung des Letzten Wortes an den jugendlichen Angeklagten in Abwesenheit der gesetzlichen Vertreter bzw. Erziehungsberechtigten erfolgt und diese erst vor Verkündung des Urteils (wieder) an der Verhandlung teilnehmen. Denn auch in dieser Fallkonstellation ist ihnen noch Gelegenheit zum Letzten Wort zu gewähren.16 Da der Angeklagte zum Zeitpunkt der Erteilung des Letzten Wortes an ihn aber nicht davon ausgehen musste, dass seine gesetzlichen Vertreter bzw. Erziehungsberechtigten im Anschluss an sein Letztes Wort in der Hauptverhandlung (wieder) anwesend sein würden, wäre eine prophylaktische Anrufung des Gerichts nicht nur sinnlos, sondern auch unzulässig. 4. Fraglich ist weiterhin, welche Konsequenzen es gehabt hätte, wenn es dem jugendlichen Angeklagten von dem Vorsitzenden verwehrt worden wäre, im Anschluss an das Letzte Wort seiner gesetzlichen Vertreter bzw. Erziehungsberechtigten noch einmal das (Letzte) Wort zu ergreifen. Weder das entsprechende Begehren des Angeklagten noch die abschlägige Verfügung des Vorsitzenden stellen einen Wiedereintritt in die Beweisaufnahme dar mit der Folge, dass der Vorsitzende aus diesem Grund dem Angeklagten erneut das Letzte Wort zu erteilen hätte.17 Da der gesetzliche Vertreter bzw. Erziehungsberechtigte nach § 67 Abs. 1 JGG ein eigenes Recht auf das Letzte Wort und nicht nur ein Recht auf einen Schlussvortrag hat, steht er nicht einem Vertreter der Staatsanwaltschaft, einem Nebenkläger oder einem Verteidiger gleich, deren Ausführungen zur Neuerteilung des Letzten Wortes verpflichten.18 Auch hat der gesetzliche Vertreter bzw. Erziehungsberechtigte eines jugendlichen Angeklagten eine stärkere prozessuale Stellung als ein sonstiger Beistand i.S.d. § 149 Abs. 1 StPO und auch eines gesetzlichen Vertreters eines Angeklagten (§ 149 Abs. 2 StPO), der nicht Jugendlicher ist.19 Soweit § 258 Abs. 2 und 3 StPO 16 So BGH StV 1986, 285 = NStZ 1986, 372 zur Pflicht zur Worterteilung an den unmittelbar vor Urteilsverkündung nach eigenmächtiger Abwesenheit in die Hauptverhandlung zurückgekehrten Angeklagten. 17 SSW-StPO/Franke (Fn. 9), § 258 Rn. 15; allg. LR-StPO/Stuckenberg (Fn. 5), § 258 Rn. 10. 18 BGHSt 48, 181 (182) für den Verteidiger eines Mitangeklagten; ferner Bock, ZStW 129 (2017), 745 (760). 19 § 67 JGG ist in Verfahren gegen Heranwachsende auch nicht entsprechend anwendbar: § 109 Abs. 1 JGG; zur gesetzlichen Vertretung eines Volljährigen s. SK-StPO/Wohlers, 5. Aufl. 2016, § 149 Rn. 3.
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ganz generell für Beistände i.S.d. § 149 StPO gelten soll20, ist dies schon deshalb fragwürdig, weil der Beistand nur „auf Verlangen“ (§ 149 Abs. 1 StPO) zu hören ist, während das Letzte Wort von Amts wegen erteilt werden muss, selbst wenn dies nicht ausdrücklich begehrt wird.21 Geht man mit dem BGH von der Gleichrangigkeit der Rechtsposition eines jugendlichen Angeklagten und seiner gesetzlichen Vertreter bzw. Erziehungsberechtigten aus, käme die – insoweit zutreffende – Auslegung des § 258 Abs. 2 und 3 StPO zu der im Ermessen des Vorsitzenden stehenden Bestimmung der Reihenfolge der Erteilung des Letzten Wortes an mehrere Mitangeklagte22 zum Tragen.23 Dann wäre auch die Forderung konsequent, dass sich der Angeklagte mit dem Verlangen melden muss, ihn ergänzend oder erstmalig im Anschluss an deren Letztes Wort noch einmal zu Wort kommen zu lassen.24 Sollte durch Zurückweisung seines Begehrens seine „Verteidigung in einem für die Entscheidung wesentlichen Punkte durch einen Beschluss des Gerichts unzulässig beschränkt“ werden (§ 338 Nr. 8 StPO)25, wäre dies eine Verletzung einer zugunsten des Angeklagten gegebenen Rechtsnorm: Denn § 258 Abs. 3 StPO will ausdrücklich dem Angeklagten die Möglichkeit geben, „noch etwas zu seiner Verteidigung anzuführen“. 5. Damit ist noch nicht die Frage beantwortet, ob in dem vom BGH entschiedenen Sachverhalt dem jugendlichen Angeklagten auch ohne entsprechendes Verlangen von Amts wegen erneut das (Letzte) Wort hätte erteilt oder er zumindest in vergleichbarer Weise auf diese Möglichkeit hätte hingewiesen werden müssen, nachdem der Vater von dem ihm nach § 67 Abs. 1 JGG, § 258 Abs. 3 StPO zustehenden Recht auf das Letzte Wort Gebrauch gemacht hatte. Die sich aus § 258 Abs. 3 StPO ergebende Pflicht, den Angeklagten zu befragen, ob er selbst noch etwas zu seiner Verteidigung 20
LR-StPO/Lüderssen/Jahn, 26. Aufl. 2007, § 149 Rn. 6; MüKo-StPO/Thomas/Kämpfer, 2014, § 149 Rn. 6; HK-StPO/Julius, 5. Aufl. 2012, § 149 Rn. 5. Soweit in der Entscheidung RGSt 57, 265 vom 16. 02. 1923 einem Beistand gem. § 149 Abs. 2 StPO dieselbe Rechtsstellung wie einem Angeklagten eingeräumt wurde, fehlte zum Zeitpunkt dieser Entscheidung dafür jedwede gesetzliche Grundlage, zumal der dem § 67 Abs. 1 JGG seinerzeit entsprechende § 30 Abs. 1 JGG erst am 01. 07. 1923 in Kraft trat (vgl. § 43 des Jugendgerichtsgesetzes vom 16. 02. 1923 – RGBl. I 1923 vom 27. 02. 1923). Dies verkennt auch BGHSt 48, 181 (182) bei der Bezugnahme auf diese Entscheidung. Das RG stützte seine Begründung deshalb auch maßgeblich darauf, dass dem Angeklagten nur im Verhältnis zur Staatsanwaltschaft das Letzte Wort gebühre. 21 KK-StPO/Ott (Fn. 5), § 258 Rn. 15. 22 BGHSt 48, 181 (182). Siehe schon Löwe, Strafprozessordnung, 1879, § 257 Anm. 5 d und RGSt 57, 265 (266). 23 BGHSt 48, 181 (182) bezieht sich im Übrigen nur auf die Gleichrangigkeit der Rechte eines jugendlichen Mitangeklagten und seiner Erziehungsberechtigten und gesetzlichen Vertreter im Verhältnis zu einem Angeklagten, dessen Recht auf das Letzte Wort nicht dadurch verletzt sei, dass nach ihm statt des jugendlichen Mitangeklagten dessen Erziehungsberechtigter bzw. gesetzlicher Vertreter das Letzte Wort erhielt. 24 RGSt 57, 265 (266). 25 Zur nach § 238 Abs. 2 StPO gebotenen Pflicht, das Gericht anzurufen SK-StPO/Velten (Fn. 5), § 258 Rn. 35.
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anzuführen habe, bezieht sich auf den Verfahrensabschnitt nach Schluss der Beweisaufnahme (§ 258 Abs. 1 StPO).26 Hier ist ein Angeklagter nicht nur im Anschluss an den Schlussvortrag der Staatsanwaltschaft (§ 258 Abs. 2 StPO) und nach den Ausführungen seines Verteidigers (§ 258 Abs. 3 StPO), sondern jedes Mal erneut zu befragen, wenn nach dem ihm gewährten Letzten Wort der Staatsanwalt oder der Verteidiger noch einmal das Wort ergreifen.27 In Bezug auf die Ausführungen von Mitangeklagten im Rahmen ihres Letzten Wortes gilt dies aber nicht.28 Geht man – mit dem BGH – von der Gleichrangigkeit der Rechtsstellung gesetzlicher Vertreter bzw. Erziehungsberechtigter und Angeklagter aus, bedarf es nicht seiner erneuten Befragung, wenn im Anschluss an die Worterteilung an ihn seine gesetzlichen Vertreter oder Erziehungsberechtigten die Gelegenheit zum Letzten Wort wahrgenommen haben. Der von Amts wegen gebotenen Gewährung eines (aller-)letzten Wortes wird auch nicht bei Annahme einer prozessualen Pflicht des Gerichts zur Wiedereröffnung der Beweisaufnahme in Fällen entsprochen, in denen dem Angeklagten auf diese Weise Gehör zu bedeutsamen Ausführungen im Rahmen des Letzten Wortes eines Mitangeklagten zu verschaffen ist,29 was mutatis mutandis auch für entsprechende Ausführungen seiner gesetzlichen Vertreter oder Erziehungsberechtigten im Rahmen ihres Letzten Wortes gelten müsste. Denn welche Ausführungen für die Verteidigung des Angeklagten bedeutsam sind, kann nur dieser selbst, das Gericht allenfalls bedingt beurteilen. Eine sonstige Rechtsgrundlage, die den Vorsitzenden verpflichten würde, einem Angeklagten im Anschluss an das Letzte Wort seiner gesetzlichen Vertreter oder Erziehungsberechtigten von Amts wegen das „allerletzte“ Wort zu erteilen, ist nicht ersichtlich. 6. Ausgehend von der Rechtsauffassung des BGH kommt man danach zu einem für das Recht eines jugendlichen Angeklagten, im Rahmen des Letzten Wortes noch etwas zu seiner Verteidigung ausführen zu dürfen, unbefriedigenden Ergebnis, wenn seinem gesetzlichen Vertreter oder Erziehungsberechtigten erst nach ihm das Letzte Wort erteilt wird. Die Reihenfolge der Worterteilung stünde schon dann nicht im überprüfbaren Ermessen des Vorsitzenden, wenn nach Schluss der Beweisaufnahme und den Schlussvorträgen von Staatsanwaltschaft und Verteidigung nur der jugendliche Angeklagte in der Hauptverhandlung anwesend wäre und erst nach seinem Letzten Wort seine gesetzlichen Vertreter bzw. Erziehungsberechtigten an der Hauptverhandlung teilnehmen und ihnen erst jetzt das Letzte Wort erteilt werden könnte und müsste. Würde bei gleichzeitiger Anwesenheit des jugendlichen Angeklagten und seiner gesetzlichen Vertreter bzw. Erziehungsberechtigten Letzteren erst im Anschluss an jenen das Letzte Wort gewährt, könnte die dieser Reihenfolge zu Grunde 26 Nach einem Wiedereintritt in die Beweisaufnahme lebt nach deren erneutem Schluss § 258 StPO wieder vollständig auf. 27 Meyer-Goßner/Schmitt, StPO (Fn. 7), § 258 Rn. 18; SK-StPO/Velten (Fn. 5), § 258 Rn. 35; MüKo-StPO/Cierniak/Niehaus (Fn. 13), § 258 Rn. 14; BGH NJW 1976, 1951; OLG Oldenburg NJW 1957, 839. 28 BGHSt 48, 181 (182); SK-StPO/Velten (Fn. 5), § 258 Rn. 37. 29 BGHSt 48, 181 (182); SK-StPO/Velten (Fn. 5), § 258 Rn. 37.
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liegende Anordnung nur dann auf Ermessensfehler überprüft werden, wenn ein rechtskundiger Angeklagter deren Zulässigkeit gemäß § 238 Abs. 2 StPO beanstandet hätte, wobei offen bleibt, welche Anordnung als Bezugspunkt einer Beanstandung maßgeblich ist. Nur wenn dem Angeklagten trotz seines ausdrücklichen Verlangens nicht noch einmal Gelegenheit gegeben würde, sich im Anschluss an das Letzte Wort seiner gesetzlichen Vertreter bzw. Erziehungsberechtigten hierzu äußern zu können, könnte die Zulässigkeit dieser Entscheidung nach deren Beanstandung im weiteren Verfahren überprüft werden. Eine Pflicht des Vorsitzenden, dem Angeklagten von Amts wegen das „allerletzte“ Wort zu gewähren, soll demgegenüber nicht bestehen. Dies alles gilt aber nur unter der Prämisse der Gleichrangigkeit des Rechts auf das Letzte Wort eines jugendlichen Angeklagten und seiner gesetzlichen Vertreter bzw. Erziehungsberechtigten und des daraus gezogenen Schlusses, dass die Entscheidung über die Reihenfolge der Worterteilung im Ermessen des Vorsitzenden stehe. Dies gilt es, noch einmal zu hinterfragen.
IV. Bewertung § 258 Abs. 2 und 3 StPO ist vom Wortlaut her auf Hauptverhandlungen zugeschnitten, die nur gegen einen einzelnen Angeklagten stattfinden. In Hauptverhandlungen gegen mehrere Mitangeklagte stehen jedem einzelnen Angeklagten gleichermaßen die Rechte aus § 258 Abs. 2 und Abs. 3 StPO zu, insbesondere hat jeder Angeklagter das Recht auf das Letzte Wort. Da das Gesetz für diese Konstellation keine Regelung vorsieht, muss es der Entscheidung des Vorsitzenden als Teil seiner Verhandlungsleitung überlassen bleiben, in welcher Reihenfolge den Angeklagten ihr Recht auf das Letzte Wort eingeräumt wird.30 Soweit § 67 Abs. 1 JGG den gesetzlichen Vertretern bzw. Erziehungsberechtigten jugendlicher Angeklagter in der Hauptverhandlung wie diesen das Recht einräumt, gehört zu werden – damit auch in Form eines Letzten Wortes –, handelt es sich nicht um die einzige Fallkonstellation, in der sich in vergleichbarer Weise die Frage nach der Reihenfolge der Worterteilung stellt. Seit der Beteiligung von Personen am subjektiven Strafverfahren, die keine Beschuldigten sind, in deren materiellen Rechte aber durch eine Entscheidung über die Einziehung oder gleichstehende Maßnahmen eingegriffen werden kann, stellt sich bei gleichzeitiger Anwesenheit des Angeklagten und eines Einziehungsbeteiligten in der Hauptverhandlung das gleiche Problem. Nach § 427 Abs. 1 StPO i. d. F. des am 01. 07. 2017 in Kraft getretenen Gesetzes zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung31 (= § 433 Abs. 1 StPO a.F.) hat der Einziehungsbeteiligte ab Eröffnung des Hauptverfahrens „die Befugnisse, die einem Angeklagten zustehen“. Zu diesen gehört in der Hauptverhandlung auch 30 31
BGHSt 48, 181 (182). BGBl. I 2017, 872.
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das Recht auf das Letzte Wort.32 Nach dem vom Bundesgerichtshof herangezogenen Argument der Gleichrangigkeit beider Rechte müsste es deshalb auch hier im Ermessen des Vorsitzenden stehen, die Reihenfolge der Erteilung des Letzten Wortes so zu bestimmen, dass dem Einziehungsbeteiligten das Letzte Wort nach demjenigen des Angeklagten gewährt werden kann. Die allein die Rechtsposition der Erziehungsberechtigten und gesetzlichen Vertreter und deren Gleichrangigkeit mit dem Recht des jugendlichen Angeklagten in den Blick nehmende Argumentation des BGH greift deshalb zu kurz. Die vergleichbaren Regelungen in § 67 Abs. 1 JGG und § 427 Abs. 1 StPO lassen zunächst erkennen, dass gesetzliche Vertreter bzw. Erziehungsberechtigte eines jugendlichen Angeklagten und Einziehungsbeteiligte gleichermaßen nur aus von den Rechten des Angeklagten abgeleitetem Recht handeln dürfen. Dies legt bereits eine unterschiedliche Behandlung der Rechte von Angeklagten einerseits und von sonstigen Verfahrensbeteiligten andererseits nahe, selbst wenn diesen Rechte eingeräumt werden, die auch dem Angeklagten zustehen.33 Eine sachliche Rechtfertigung hierfür folgt aus der Rechtsstruktur, die diesen Varianten der Verfahrensbeteiligung zu Grunde liegt. Die Rechte dieser Verfahrensbeteiligten stehen nämlich zu der Rechtsposition des Angeklagten in einem akzessorischen Verhältnis: Für den Einziehungsbeteiligten folgt dies aus der Abhängigkeit der Einziehungsentscheidung von dem den Angeklagten treffenden Schuldspruch (vgl. § 431 StPO). Da die Einziehung nach den §§ 73 ff. StGB eine rechtswidrige Tat voraussetzt34, geht deren Klärung der Prüfung der weiteren Voraussetzungen für eine Einziehung voraus. Die Beteiligungsmöglichkeit von gesetzlichen Vertretern bzw. Erziehungsberechtigten im jugendgerichtlichen Verfahren rechtfertigt sich im Hinblick auf den den jugendlichen Angeklagten treffenden Rechtsfolgenausspruch, durch den in das grundgesetzlich geschützte Erziehungsrecht der Eltern (Art. 6 Abs. 2 GG) eingegriffen werden kann.35 Bei dem jugendlichen Angeklagten geht es aber nicht nur um das „Wie“ einer Sanktionierung, sondern auch und zwar rechtlich vorgreiflich um das „Ob“ einer Verurteilung. 32 BGHSt 17, 28 (32 ff.) zu dem insoweit inhaltsgleichen § 431 Abs. 3 StPO i. d. F. vom 22. 03. 1924 – RGBl. I 1924, S. 15; SK-StPO/Weßlau, 4. Aufl. 2013, § 433 Rn. 2. 33 So für den Einziehungsbeteiligten ausdrücklich Meyer-Goßner/Schmitt/Köhler, StPO (Fn. 7), § 427 Rn. 1. 34 BGHSt 17, 28 (33) verweist auf einen weiteren Umstand, der die Relativität der Rechtsstellung des Einziehungsbeteiligten belegt, was auch für gesetzliche Vertreter eines jugendlichen Angeklagten bzw. Erziehungsberechtigte gilt: Ihre Mitwirkung in der Hauptverhandlung ist nicht zwingend vorgeschrieben und sie können sich von einem Verteidiger unterstützen und vertreten lassen (§ 428 Abs. 1 StPO; § 67 JGG) (str.). 35 Vgl. nur Diemer/Schatz/Sonnen, JGG (Fn. 5), § 67 Rn. 5; Eisenberg, JGG (Fn. 4), § 50 Rn. 20 u. § 67 Rn. 4; Streng, Jugendstrafrecht, 3. Aufl. 2012, Rn. 126. Die praktische Erfahrung zeigt allerdings, dass bei den Ausführungen der gesetzlichen Vertreter bzw. Erziehungsberechtigten in der Hauptverhandlung vielfach weniger ihr Erziehungsrecht als ihr Bemühen im Mittelpunkt steht, eigene Verantwortung für angebliches Fehlverhalten ihrer Kinder von sich zu weisen, was deren Interessen diametral entgegenstehen kann.
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Der von § 258 Abs. 2 und Abs. 3 StPO verfolgte Zweck, es dem Angeklagten zu ermöglichen, als Letzter noch etwas zu seiner Verteidigung anzuführen und zwar in der Weise, „seine Auffassung noch unmittelbar vor der Beratung und Verkündung des Urteils darlegen zu können“36, würde konterkariert, wenn Verfahrensbeteiligte, die im Verhältnis zu dem Angeklagten nur teilbetroffen sind, diese Möglichkeit der Einflussnahme relativieren könnten. Wegen des umfassenderen Eingriffs des Urteils in die Rechtssphäre des Angeklagten ist sein Recht auf das Letzte Wort dem der anderen Verfahrensbeteiligten übergeordnet, auch wenn diesen ansonsten die gleichen Rechte wie dem Angeklagten zustehen. Dies hat zur Folge, dass ihm von Amts wegen das „allerletzte Wort“ einzuräumen ist. Damit entfallen auch diejenigen Probleme, die sich ansonsten bei Annahme einer gleichrangigen Rechtsposition und der daraus abgeleiteten Ermessenskompetenz des Vorsitzenden bei der Worterteilung stellen. Deshalb sollte – so auch die Auffassung des Jubilars37 – der Beschluss des 3. Strafsenats des BGH vom 11. 07. 2017 zu dieser Frage nicht das letzte Wort sein.
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BGH StraFo 2009, 109 – Hervorhebung im Original; BGH NStZ 1993, 551; ebenso SSW-StPO/Franke (Fn. 9), § 258 Rn. 7; MüKo-StPO/Cierniak/Niehaus (Fn. 13), § 258 Rn. 14; Bock, ZStW 129 (2017), 745 (755). 37 Die Besprechung dieser Entscheidung durch den Jubilar (ZJJ 2017, 386) erschien erst nach Fertigstellung des vorliegenden Manuskripts. Erfreulicherweise scheint nicht nur mein Thema das Interesse des Jubilars, sondern auch mein Ergebnis seine Zustimmung zu finden.
Fluchtgefährdete Jugendliche? Zum Verhältnis zwischen § 72 Abs. 2 JGG und § 112 Abs. 3 StPO Von Lea Voigt Anlass zu diesem Beitrag gibt mir der Fall eines 15-jährigen Mandanten, der wegen des Vorwurfs eines vollendeten Mordes monatelang auf der Grundlage des § 112 Abs. 3 StPO in Untersuchungshaft gehalten wurde, da der Vorwurf schwerwiegend sei und die Gefahr einer Flucht nicht ausgeschlossen werden könne. Bei meinen diversen Rechtsmitteln gegen den Haftbefehl stand mir Ulrich Eisenberg dankenswerter Weise mit nützlichen Hinweisen zur Seite.1 Es könnte daher keinen besseren Rahmen als diese Festschrift geben, sich mit dem Verhältnis von § 112 Abs. 3 StPO zu § 72 Abs. 2 JGG noch einmal eingehender zu befassen.
I. Fluchtgefahr als „Super-Haftgrund“ Die allermeisten Untersuchungsgefangenen sind in Haft, weil bei ihnen die Gefahr einer Flucht bejaht wurde.2 Die Grundlage der richterlichen Prognose, ein Beschuldigter werde sich dem Verfahren entziehen, wenn man ihn nicht einsperrt, ist allerdings in vielen Fällen fraglich. Dies hat Lara Wolf in ihrer kürzlich vorgelegten und von Ulrich Eisenberg zweitbetreuten Dissertation beeindruckend herausgearbeitet.3 Sie kommt bei ihrer Untersuchung u. a. zu dem Ergebnis, dass von 100 Beschuldigten, deren Haftbefehle aus rein formellen Gründen (insb. Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot) bei fortbestehender Annahme von Fluchtgefahr aufgehoben
1
Leider konnte sich das Bundesverfassungsgericht letztlich nicht durchringen, in der Sache zu entscheiden (2 BvR 1973/17). 2 Für das Jahr 2016 weist das Statistische Bundesamt (Fachserie 10, Reihe 3, S. 374, abrufbar unter https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/Rechtspflege/Strafverfol gungVollzug/Strafverfolgung2100300167004.pdf?__blob=publicationFile) aus, dass insgesamt bei 30.027 Personen Untersuchungshaft vollstreckt wurde. Bei 28.314 dieser Personen stützte sich der Haftbefehl auf Fluchtgefahr oder Flucht, wobei der Haftgrund der Flucht hier quantitativ kaum ins Gewicht fallen dürfte. 3 Wolf, Die Fluchtprognose im Untersuchungshaftrecht. Eine empirische Untersuchung der Fluchtgefahr nach § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO, 2017.
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werden mussten, nur acht flohen.4 Ihnen gegenüber stehen 92 Personen, die als sog. Falsch-Positive objektiv grundlos in Haft waren.
II. Fluchtgefahr bei Jugendlichen unter 16 Jahren Während zwar zum Teil angenommen wird, ein jugendliches Alter könne – wegen des pubertätstypischen Ablösungsprozesses vom Elternhaus – die Gefahr einer Flucht eher erhöhen,5 hat der Gesetzgeber zumindest für Jugendliche unter 16 Jahren hier strenge Grenzen gezogen. § 72 Abs. 2 JGG ordnet an, dass Untersuchungshaft wegen Fluchtgefahr bei 14- und 15-jährigen Jugendlichen nur in Betracht kommt, wenn sich der Jugendliche dem Verfahren bereits entzogen hatte oder Anstalten zur Flucht getroffen hat oder im Inland über keinen festen Wohnsitz verfügt. Das Vorliegen „normaler“ Fluchtgefahr gem. § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO rechtfertigt bei 14- und 15-Jährigen keine Untersuchungshaft. Begründet wurde diese 1989 im JGG verankerte Einschränkung damit, dass obwohl die meisten Haftbefehle gegen Jugendliche (wie auch gegen Erwachsene) mit Fluchtgefahr begründet würden, deren Voraussetzungen jedenfalls bei 14- und 15-Jährigen wegen deren „entwicklungsbedingten körperlichen und geistigen, aber auch der bescheidenen finanziellen Möglichkeiten“ in Wirklichkeit aber nur selten erfüllt sein dürften.6 Aufgrund ihrer „geringen Handlungskompetenz“ könnten sie sogar dann, wenn sie tatsächlich flöhen, regelmäßig und rasch wieder ergriffen werden. Es sei daher zu bezweifeln, ob die Fluchtgefahr in allen Fällen der wirkliche Grund für die Verhaftung ist.7 Diese Überlegungen hat der Gesetzgeber nicht auf Verfahren wegen leichter Tatvorwürfe beschränkt.8 Egal welcher Tat sie dringend verdächtig sind: Jugendliche unter 16 Jahren sollen nicht wegen einfacher Fluchtgefahr inhaftiert werden können.
III. § 112 Abs. 3 StPO Nach § 112 Abs. 3 StPO darf Untersuchungshaft bei Verdacht bestimmter schwerer Straftaten auch dann angeordnet werden, wenn ein Haftgrund nicht vorliegt. Die verfassungskonforme Auslegung des § 112 Abs. 3 StPO verlangt allerdings, dass auch hier die Untersuchungshaft allein der Verfahrenssicherung dienen darf. Die Haftgründe des § 112 Abs. 2 StPO wirken daher mittelbar auch im Anwendungsbereich des § 112 Abs. 3 StPO. Dies ist der Tatsache geschuldet, dass bei der Untersu4
Wolf (Fn. 3), S. 320. Vgl. Wolf (Fn. 3), S. 68 mit Verweis auf LG Berlin, Beschl. v. 11. 5. 2009 – 507 Qs 16/ 09 –, juris. 6 BT.-Drs. 11/5829, S. 31. 7 BT.-Drs. 11/5829, S. 31. 8 An anderer Stelle tat er dies, vgl. § 113 Abs. 2 StPO; ebenso Diemer/Schatz/Sonnen, JGG, 6. Aufl. 2011, § 72 Rn. 10. 5
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chungshaft die Schuld des Betroffenen noch nicht erwiesen ist. Wegen der aus dem Rechtsstaatsprinzip und aus Art. 6 Abs. 2 EMRK folgenden Unschuldsvermutung ist eine Freiheitsentziehung in solchen Fällen nur ausnahmsweise zulässig9. Den Bedürfnissen der wirksamen Strafverfolgung ist ständig der Freiheitsanspruch des noch nicht verurteilten Beschuldigten als Korrektiv entgegenzuhalten. Untersuchungshaft kann – auch bei Erwachsenen – nur gerechtfertigt werden, wenn anders der staatliche Anspruch auf vollständige Aufklärung der Tat und rasche Bestrafung des Täters nicht gesichert werden kann.10 Die Anordnung von Untersuchungshaft zu anderen Zwecken als der Verfahrenssicherung ist unzulässig.11 Da der Haftgrund der Schwere der Schuld gem. § 112 Abs. 3 StPO nicht der Verfahrenssicherung dient und insoweit systemwidrig ist, verlangt der 1. Senat des BVerfG eine einschränkende Anwendung (Hervorhebung nur hier): „Der neu eingeführte § 112 Abs. 4 StPO [entspricht dem heutigen Abs. 3, Anm. d. Verf.] müßte dagegen rechtsstaatliche Bedenken erwecken, wenn er dahin auszulegen wäre, daß bei dringendem Verdacht eines der hier bezeichneten Verbrechen gegen das Leben die Untersuchungshaft ohne weiteres, d. h. ohne Prüfung weiterer Voraussetzungen, verhängt werden dürfte. Eine solche Auslegung wäre mit dem GG nicht vereinbar […] Weder die Schwere der Verbrechen wider das Leben noch die Schwere der (noch nicht festgestellten) Schuld rechtfertigen für sich allein die Verhaftung des Beschuldigten; noch weniger ist die Rücksicht auf eine mehr oder minder deutlich feststellbare ,Erregung der Bevölkerung‘ ausreichend, die es unerträglich finde, wenn ein ,Mörder‘ frei umhergehe. Es müssen vielmehr auch hier stets Umstände vorliegen, die die Gefahr begründen, daß ohne Festnahme des Beschuldigten die alsbaldige Aufklärung und Ahndung der Tat gefährdet sein könnte. Der zwar nicht mit ,bestimmten Tatsachen‘ belegbare, aber nach den Umständen des Falles doch nicht auszuschließende Flucht- oder Verdunkelungsverdacht kann u. U. bereits ausreichen.“12
Auch das Vorliegen eines Haftgrundes gem. § 112 Abs. 3 StPO setzt demnach voraus, dass ohne eine Inhaftierung das Verfahren gefährdet wäre. Es werden lediglich an das Vorliegen eines der verfahrenssichernden Haftgründe aus § 112 Abs. 2 StPO geringere Anforderungen gestellt. Es handelt sich um eine Art Beweiserleichterung für die Strafverfolgungsbehörden.
IV. Zum Verhältnis von § 112 Abs. 3 StPO und § 72 Abs. 2 JGG Diese verfassungsrechtlich gebotene Einbeziehung der Haftgründe des § 112 Abs. 2 StPO bei der Prüfung des § 112 Abs. 3 StPO erstreckt sich bei Jugendlichen 9
BVerfG, BeckRS 2014, 54605. BVerfG, NJW 1966, 243 (244). 11 BVerfG, NJW 1966, 243 (244). 12 BVerfGE 19, 342. 10
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auch auf die altersspezifischen Modifikationen dieser Haftgründe durch das JGG. Diese Modifikationen genießen gegenüber den allgemeinen Regeln der StPO Vorrang, § 2 Abs. 2 JGG. Es kann daher im Rahmen des § 112 Abs. 3 StPO im Zusammenhang mit Fluchtgefahr bei 14- und 15-Jährigen nur darauf ankommen, ob einer der qualifizierten Fälle der Fluchtgefahr aus § 72 Abs. 2 JGG nicht ausgeschlossen werden kann. Andernfalls würde die Regelung des § 72 Abs. 2 JGG, die gerade nicht auf bestimmte Delikte begrenzt ist, unterlaufen. Der „Umweg“ über § 112 Abs. 3 StPO würde dazu führen, dass auch bei 14- und 15-Jährigen der Verdacht bestimmter schwerer Straftaten nahezu automatisch Untersuchungshaft auslösen würde. Es würde schon eine nicht ausschließbare „einfache“ Fluchtgefahr genügen, obwohl § 72 Abs. 2 JGG ausdrücklich regelt, dass Fluchtgefahr bei Jugendlichen unter 16 Jahren nur in abschließend aufgezählten Sonderfällen angenommen werden kann.
1. Gesetzgeberischer Wille Zu diesem Ergebnis führt auch der Blick in die Gesetzesmaterialien. Aus ihnen ergibt sich, dass der Gesetzgeber die Einschränkung des Haftgrunds der Fluchtgefahr bei 14- und 15-Jährigen auch auf Verfahren wegen schwerwiegender Vorwürfe beziehen wollte. So heißt es in der Gesetzesbegründung (Hervorhebung nur hier): „Untersuchungshaft erscheint grundsätzlich auch bei den 14- und 15-ja¨ hrigen Jugendlichen nicht geboten, die sich eines Tötungsdelikts schuldig gemacht haben und in der Öffentlichkeit als besonders gefährlich angesehen werden. Aus den Untersuchungen von Pfeiffer ergibt sich, daß in den Jahren 1985 und 1986 insgesamt sieben 14- und 15-ja¨ hrige Jugendliche wegen des Verdachts des Mordes oder Totschlags in Untersuchungshaft gebracht wurden. Nach einer Untersuchung und einer Analyse der Taten von 80 Jugendlichen und Heranwachsenden, die wegen versuchter oder vollendeter Tötungsdelikte angeklagt oder verurteilt wurden, hat Lempp (Jugendliche Mörder, Bern 1977, S. 210, 211) festgestellt, daß sich der jugendliche Mörder nicht grundsätzlich vom allgemein sozial labilen Jugendlichen unterscheidet, wie er im Bereich der leichten Jugendkriminalität regelmäßig zu finden ist. Die Tötungshandlungen (es seien meist zwischenmenschliche Unfälle) erfolgten in einer regelmäßig einmaligen, kaum reproduzierbaren, vielfach zufälligen Konstellation von Faktoren, die zum Teil in, zum Teil außerhalb der Täterpersönlichkeit lagen. Rund zwei Drittel der Taten seien in schwerem, unmittelbar zwingendem Affekt verübt worden. Diese Darstellung macht deutlich, daß in solchen Fällen pädagogische, therapeutische und fachärztliche Hilfen nötig sind, um gegebenenfalls einen Heilungsprozeß einzuleiten und eine Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu ermöglichen. Derartige Maßnahmen sind in Untersuchungshaft nicht durchführbar.“13
Auch aus den an die zitierte Passage anschließenden Ausführungen in der Gesetzesbegründung ergibt sich, dass der Gesetzgeber Untersuchungshaft bei 14- und 15Jährigen überhaupt nur unter zwei Bedingungen für denkbar hält: Es handelt sich um einen Vorwurf aus dem Bereich der schwersten Kriminalität und „besonders starke 13
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Indizien“ (nämlich die in § 72 Abs. 2 JGG abschließend genannten) weisen darauf hin, dass der Jugendliche sich dem Verfahren entziehen wird. 2. Systematische Auslegung Auch aus systematischer Sicht ist eine Anwendung des § 72 Abs. 2 JGG in Fällen des § 112 Abs. 3 StPO geboten. Seinem eigenen Wortlaut nach normiert § 112 Abs. 3 StPO keinen eigenen Haftgrund, sondern reduziert, verfassungskonform ausgelegt, lediglich die Anforderungen an die Annahme eines Haftgrundes. Letztere hat der Gesetzgeber in den §§ 112 Abs. 2, 112a StPO abschließend geregelt. Die Inbezugnahme eines Regelhaftgrundes im Rahmen des § 112 Abs. 3 StPO setzt deshalb voraus, dass die Tatbestandsmerkmale des Regelhaftgrundes jedenfalls im Ansatz auch erfüllbar sind. Würde man dies nicht verlangen, könnten vom Anwender des § 112 Abs. 3 StPO neue, vom Gesetzgeber nicht vorgesehene Haftgründe geschaffen werden. Das OLG Karlsruhe14 hat in diesem Sinne für den Haftgrund der Wiederholungsgefahr (§ 112a StPO) festgestellt, auch in Fällen des § 112 Abs. 3 StPO sei die Anordnung von Untersuchungshaft „… nur zulässig, wenn im Übrigen die Voraussetzungen für die Annahme des Haftgrundes erfüllt sind. Lediglich an den Grad der Sicherheit der insoweit anzustellenden Prognose werden geringere Anforderungen gestellt.“
Bei einem 14- oder 15-jährigen Jugendlichen könnte die Untersuchungshaft indes nur in den Grenzen des § 72 Abs. 2 JGG direkt auf § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO gestützt werden. Ist dieser eingeschränkte Anwendungsbereich nicht eröffnet, weil der Jugendliche keine Fluchtanstalten macht und über einen festen Wohnsitz verfügt, kann bei ihm keine (rechtlich erhebliche) Fluchtgefahr vorliegen. Ein Regelhaftgrund, dessen Voraussetzungen nicht im Ansatz erfüllt sind, kann aber auch eine Inhaftierung via § 112 Abs. 3 StPO nicht rechtfertigen.
V. Fazit Der Gesetzgeber hat in § 72 Abs. 2 JGG mit Bedacht und – wie leider viel zu selten – unter Heranziehung kriminologischer Forschungen festgelegt, dass Fluchtgefahr bei Jugendlichen unter 16 Jahren nur in engen Ausnahmefällen vorliegen kann. Dies hat er bewusst und ausdrücklich nicht davon abhängig gemacht, um welchen Tatvorwurf es geht. Auf die Idee, dass man unter Heranziehung des § 112 Abs. 3 StPO in Verbindung mit einer nicht (letztlich niemals) ausschließbaren Fluchtgefahr gegen einen 15-jährigen Jungen aus einer Kleinstadt, der jenseits von Klassenfahrten noch nie allein sein Zuhause verlassen hat und in geordneten Verhältnissen lebt, Un14
BeckRS 2010, 00262.
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tersuchungshaft verhängen könnte, ist der Verfasser der Gesetzesgründe vermutlich nicht gekommen – Ulrich Eisenberg ging es, als ich ihm erstmals den Sachverhalt schilderte, ebenso.15 Die Praxis belehrt uns leider eines Besseren.
15 In der 20. Auflage (2018) seines JGG-Kommentars (§ 72 Rn. 9b) heißt es zu § 112 Abs. 3 StPO nun: „Die Vorschrift ist Ausdruck von Tatstraf(verfahrens)recht, nicht also von Täterstraf(verfahrens)recht. Nur dieses aber entspricht dem Wesen des von Gesetzes wegen zukunftsorientierten, am Erziehungsgedanken ausgerichteten Jugendstrafrechts (§ 2 Abs. 1 JGG). Zudem ist die Vorschrift, eklatanter noch als § 112a StPO …, systemwidrig. Aus beiden Gründen ist § 112 Abs. 3 StPO nach § 2 Abs. 2, entgegen Teilen der Rspr, nach hier vertretener Auffassung im JStR nicht anwendbar. Da verfassungsrechtlich zur Anwendung der Vorschrift (auch im allg StR) zusätzlich Flucht oder Fluchtgefahr oder Verdunkelungsgefahr vorausgesetzt ist (vgl BVerfGE 19, 342 [350]: wenngleich in nur geringerer Intensität als ansonsten), scheidet die Anordnung für Beschuldigte im Alter von 14 oder 15 Jahren insoweit nach Abs. 2 ohnehin aus (a.A., ohne JGG-bezogene Begr, MRTW-Weik/Blessing [§ 72 JGG] Rn. 17).“
III. Vollzug
Das Geheimnis des Gefängnisses Von Jochen Bung Als Geheimnis oder Rätsel des Gefängnisses bezeichne ich den Umstand, dass sich die landläufig mit diesem Namen bezeichnete Institution hartnäckig am Leben erhält, obwohl ihre schädlichen Auswirkungen, ihre Dysfunktionalität, ihre desozialisierenden statt resozialisierenden Wirkungen, kein Geheimnis sind.1 Wie kann es sein, dass eine im Großen und Ganzen erfolglose Institution2 so erfolgreich ist? Oder ist vielleicht die Klage über das Gefängnis verfehlt und die Kritik dieser Institution muss ihre Kriterien umstellen? In dem vermutlich bekanntesten Buch über das Gefängnis ist, vor etwas mehr als vierzig Jahren, darauf hingewiesen worden, dass „wir uns die Frage stellen [sollten], wie es möglich ist, dass seit 150 Jahren die Erfolglosigkeit des Gefängnisses proklamiert wird und an diesem Gefängnis durchaus festgehalten wird.“3 Es wird die Vermutung geäußert, dass „der angebliche Misserfolg des Gefängnisses in seinen Funktionszusammenhang hinein[gehört].“4 Wenn das stimmt, könnte es sich lohnen, die Betrachtung umzustellen und im Problem des Gefängnisses selbst seine Lösung zu sehen. Man müsste den tiefer liegenden Sinn einer im Hinblick auf ihren Nutzen fragwürdigen Praxis herausarbeiten, man müsste herausfinden, „wozu der Misserfolg des Gefängnisses gut ist“5. Es könnte nämlich sein, dass es, ungeachtet der offiziellen Bekundungen, in Wahrheit gar kein Interesse gibt, dass der Vollzug sein Versprechen einlöst, die Menschen zu bessern. Vielmehr könnte seine Aufgabe gerade darin bestehen, die Hoffnung auf einen Erfolg von Resozialisierungsbemühungen zu desillusionieren. Es könnte sein, dass 1
Zur destruktiven Wirkung des Gefängnisses immer noch eindrucksvoll BVerfGE 45, 187. Dass Nothing works (grundlegend Martinson, Public Interest 1974, S. 22 – 54) relativiert werden muss und es durchaus Möglichkeiten eines sinnvollen Umgangs mit der Lebenszeit der Gefangenen gibt, ändert nichts an diesem generellen Befund, der „Paradoxie […], dass eine Resozialisierung innerhalb einer Strafanstalt wegen ihrer unvermeidlich entsozialisierenden Folgen nicht gelingen kann“, Günther, KritV 2000, S. 305. Auch wenn der Einschnitt, der durch den Freiheitsentzug im Leben eines Menschen bewirkt wird, im Einzelfall Perspektiven einer Verbesserung seiner Lebenssituation freisetzen kann, bleibt es doch so, dass „[w]eitaus größer als die mit der Desintegration verbundenen Chancen […] die aus ihr folgenden Risiken für den spezialpräventiven Erfolg der Strafe [sind]“, Meier, Strafrechtliche Sanktionen, 4. Aufl. 2015, S. 87 f. 3 Foucault, Überwachen und Strafen [1975], 1994, S. 350. 4 Foucault (Fn. 3), S. 349 5 Foucault (Fn. 3), S. 350. 2
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es, außerhalb des Kreises engagierter Vollzugsfachleute, gar kein Interesse an einer vernünftigen Praxis des Gefängnisses gibt. Zu beobachten ist nämlich, dass es, jenseits der Sensationen und des Voyeurismus, bereits schon kein allgemein wahrnehmbares Interesse an dieser Praxis gibt. Liegt vielleicht in diesem Desinteresse am Strafvollzug der Schlüssel zum Geheimnis des Gefängnisses?
I. Das Desinteresse am Strafvollzug Gemessen an seiner Bedeutung für das gesamte Sanktionensystem findet der Strafvollzug nicht das Interesse, das er eigentlich verdient.6 Das gilt sowohl für die allgemeine Öffentlichkeit als auch für die Strafrechtswissenschaft selbst. Von Ausnahmen abgesehen, wird der Strafvollzug in den allgemeinen Medien in der Regel nur dann zum Gegenstand gemacht, wenn ein Gewaltstraftäter ausgebrochen oder ein Prominenter eingerückt ist. Das muss man wohl hinnehmen, denn es folgt einer auch in anderen Zusammenhängen zu beobachtenden Aufmerksamkeitsökonomie. Nicht so leicht verständlich ist das verbreitete Desinteresse am Strafvollzug bei denen, die professionell mit dem Strafrecht zu tun haben.7 Für die anwaltliche Praxis wird etwa bemerkt, dass „[v]iele Verteidiger meinen, ihre Tätigkeit zugunsten des Mandanten ende mit der Rechtskraft des Urteils.“8 Der Grundstein für diese Einstellung wird vermutlich bereits im juristischen Studium gelegt. Nach der Rechtskraft des Urteils schließen sich Regelungszusammenhänge und Fragestellungen an, die „in der juristischen Ausbildung notorisch ausgeblendet werden.“9 Was das Strafvollstreckungsrecht anbelangt, könnte man dies wegen der hohen Technizität und Voraussetzungshaftigkeit der Materie noch verstehen. An den Universitäten ist aber auch zu beobachten, dass das Strafvollzugsrecht zunehmend aus dem Pflichtprogramm des strafrechtlichen Schwerpunktstudiums herausgenommen wird, so dass selbst im Schwerpunktstudium eine Berührung mit dieser Materie nur noch fakultativ stattfindet. Das wird zum Teil damit begründet, dass diese Materie nach ihrer Föderalisierung zu unübersichtlich geworden sei, was aber angesichts der Unangefochtenheit des Polizeirechts im rechtswissenschaftlichen Curriculum nicht überzeugt. Die Gründe liegen tiefer, das Strafvollzugsrecht hat schon immer ein Reputationsproblem. Es ist angesehener, zum materiellen Strafrecht oder zum Strafprozessrecht zu arbeiten. Wer in der Zunft anerkannt werden möchte, legt ein sauber gearbeitetes Stück zu strafrechtlichen Zurechnungsfragen, 6 Die Bedeutung der Freiheitsstrafe ist nicht aus ihrem prozentualen Anteil am Gesamtsanktionsaufkommen zu erschließen, s. dazu Meier (Fn. 2), S. 52 f., sondern aus dem systembildenden Charakter der Ultima-ratio-Sanktion. 7 Ausgenommen selbstverständlich diejenigen, die sich, häufig sogar mit besonderer Emphase, dieses Gebiets annehmen sowie die ganze Reformdiskussion zum Strafvollzug in der Bundesrepublik der sechziger und siebziger Jahre. 8 Pollähne/Woynar, Verteidigung in Vollstreckung und Vollzug, 5. Aufl. 2014, S. V. 9 Pollähne/Woynar (Fn. 8), S. VII.
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zum Vermögensstrafrecht oder zu prozessualen Problemen, aber nichts zum Strafvollzug vor. Auch in der kriminalwissenschaftlichen Spezialisierung wird die Materie gemieden.10 Reputierlicher ist es allemal, zur Avantgarde des internationalen Strafrechts zu gehören oder sich in den klimatisierten Räumen des Wirtschaftsstrafrechts aufzuhalten, Medizinstrafrecht vielleicht noch, aber Strafvollzugsrecht? Was bedeutet dieses Desinteresse am Strafvollzug? Gehört er nicht elementar zum Verständnis des Wesens der Strafe? Klaus Lüderssen hat einmal in einem Gespräch gesagt, über Strafrecht könne nur sprechen, wer weiß, was eine Verschubung ist. Ich habe es nicht empirisch überprüft, aber ich vermute, dass sehr viele über Strafrecht sprechen, ohne dies zu wissen. Auch Ulrich Eisenberg hat darauf hingewiesen, dass der Strafvollzug in der juristischen Ausbildung als nachrangiger Gegenstand rangiert: „Das Gebiet Strafvollzug nimmt in der juristischen Ausbildung nur eine untergeordnete Position ein. Schon die Behandlung des strafrechtlichen Rechtsfolgensystems geschieht in der Strafrechtslehre meist knapp, das Gebiet Strafvollzug selbst erscheint allenfalls als Teil innerhalb des einschlägigen Schwerpunktbereiches (oft zusammen mit Kriminologie und Jugendstrafrecht). Demgegenüber ist auch ein umfassendes Verständnis des Strafrechts nur möglich, wenn sich die Studierenden auch Kenntnisse von dem weiteren staatlichen Verhalten gegenüber einem strafrechtlich verfolgten und verurteilten Menschen und dabei insbesondere von Normen und Realität der (Jugend- und) Freiheitsstrafe als der am stärksten eingreifenden Rechtsfolge verschaffen. Dies gilt umso mehr, als regelmäßig Zusammenhänge unter anderem zwischen der jeweiligen gesamtgesellschaftlichen Wirtschafts- und Sozialstruktur und der Vollzugspraxis bestehen.“11
Eisenberg hat Recht, wenn er sagt, dass ein umfassendes Verständnis des Strafrechts nur unter Einschluss strafvollzugsrechtlicher Kenntnisse möglich ist. Man kann noch weiter gehen. Es ist nicht einzusehen, wieso die Fähigkeit zur Abgrenzung von Ablations- und Illationstheorie bei der Frage der Wegnahmevollendung (§ 242 StGB) wesentlicher für das Verständnis des Strafrechts sein soll, als die Fähigkeit zu begründen, warum ein Gefangener in seinem Haftraum mehr als nur einen Bleistift haben soll. Zu denken geben sollte vor allem Eisenbergs Begründung, Strafvollzug sei gerade deswegen ein unerlässliches Thema des Strafrechts, weil „regelmäßig Zusammenhänge […] zwischen der jeweiligen gesamtgesellschaftlichen Wirtschaftsund Sozialstruktur und der Vollzugspraxis bestehen.“ Strafvollzug sagt, mehr als viele andere soziale Praktiken, etwas über die gesamte Gesellschaft aus.12 Schon der Umstand, dass die Gesellschaft jenseits der Sensationen und des Voyeurismus der Praxis des Gefängnisses kein besonderes Interesse entgegenbringt, dass selbst 10 Allerdings nicht bei den Studierenden, bei denen die Nachfrage nach dem klassischen kriminologischen Schwerpunkt nach wie vor überdurchschnittlich ist. Das wird von denen, die auf den Schwerpunkt herabsehen, regelmäßig damit heruntergespielt, die Studierenden wüssten eben, wo sie leicht gute Noten bekommen. 11 Eisenberg, Fälle zum Schwerpunkt Strafrecht, 8. Aufl. 2007, S. 204 f. 12 Allgemein über den Wandel der gesellschaftlichen Bedingungen der Sozialkontrolle Singelnstein/Stolle, Die Sicherheitsgesellschaft, 3. Aufl. 2012, S. 25 ff.
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der akademisch organisierte Strafrechtsdiskurs den Vollzug häufig aus seinem Interessenhorizont ausblendet, sagt etwas über die Gesellschaft aus. Man könnte vermuten, dass der Zusammenhang darin liegt, dass eine Gesellschaft, die ihren Akteuren fortwährend abverlangt, zur Gewinnerseite zu gehören, keinen ausgeprägten Sinn entwickeln kann für die Beschäftigung mit einer Institution, in denen die Verlierer der Gesellschaft anzutreffen sind. Selbstverständlich kann man ein besonderes Interesse damit begründen, dass es darum geht, die Insassen wieder kompatibel mit der Sozialstruktur zu machen („Resozialisierung“), aber jeder weiß, dass diese Struktur eine Struktur der Ungleichheit ist und notwendigerweise Verlierer produziert, also ist es gewissermaßen systemrational, die Augen zu verschließen und nicht zu viel Aufmerksamkeit zu investieren, denn an den Verhältnissen ändert es nichts. So kommt es, dass sich das Gefängniswesen weitgehend unbefragt, aber irgendwie auch freud- und ideenlos weiter perpetuiert, zur Verzweiflung jener, die sich wirklich mit der Materie befassen und den tiefen Widerspruch erfassen zwischen dem, was die Institution vorgibt und dem, was sie anrichtet. Dass eine Gesellschaft vor dem Elend in den Gefängnissen die Augen verschließt, dass es keine nennenswerte Opposition gibt, keine politische Partei, die es sich angelegen sein lässt, etwas dafür zu tun, dass die Gefängnisse zurückgebaut werden, dass selbst die Rechtsexpertinnen der Gesellschaft nur in Ausnahmefällen Interesse daran finden, sich mit Fragen des Strafvollzugs zu beschäftigen, kann nicht einfach mit einem kollektiven Irrtum erklärt werden, es muss auf eine tiefere Weise mit der Gesellschaft selbst zusammenhängen. Dies lässt die Annahme plausibel erscheinen, dass man sich dem Gefängnis auf einem Umweg nähern muss, indem man es als Wesenszug einer bestimmten Form der Gesellschaft begreift, der gar nicht isoliert verstanden oder verändert werden kann. Man muss, um es in den einfachen Worten Foucaults zu sagen, herausfinden, wozu der Misserfolg des Gefängnisses gut ist, was, mit anderen Worten, sein Erfolgsgeheimnis ist.
II. Das Geheimnis des Gefängnisses Der russische Rechtstheoretiker Jewgeni Paschukanis hat in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts vorgeschlagen, die grundlegenden Fragen des Rechts so zu überarbeiten, dass es gelingt, „in die Geheimnisse der gesellschaftlichen Formen einzudringen“13. Der hier verwendete Begriff vom Geheimnis des Gefängnisses verdankt sich dieser Idee.14 13 Paschukanis, Allgemeine Rechtslehre und Marxismus. Versuch einer Kritik der juristischen Grundbegriffe, 2. Aufl. des Nachdrucks der deutschen Erstausgabe von 1929, 1969, S. 59. 14 Diese Idee verdankt sich ihrerseits Marx’ Theorie vom Fetischcharakter der Ware, die den Begriff des Geheimnisses einführt, um den elementaren Verfremdungsvorgang zu kennzeichnen, der stattfindet, wenn die Produkte menschlicher Arbeit den Produzenten in Form von Waren gegenübertreten und „das […] gesellschaftliche Verhältnis der Menschen […] für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt“, Marx, Das Ka-
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Für sein Eindringen in das Geheimnis gesellschaftlicher Formen stützt sich Paschukanis im Wesentlichen auf Marx’ Analyse einer grundlegenden zwischenmenschlichen Interaktionsform, nämlich der des Tausches. Die Verhältnisse zwischen den Menschen werden durch Austauschbeziehungen bestimmt und in Marktgesellschaften generalisiert. Die Genese des universellen Marktes hängt mit der Entwicklung des Systems der Bedürfnisse zusammen (Hegel15), in dem immer mehr Menschen immer weniger selbst zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse tun können, so dass durch zunehmende Diversifizierung der Produktion und Arbeitsteilung die Notwendigkeit einer allgemeinen Konvertierbarkeit der Güter und Leistungen entsteht. Dabei dient die Vorstellung von Äquivalenz als Maß, das von den besonderen Bedürfnissen abstrahiert und es im Prinzip ermöglicht davon auszugehen, dass alles einen Preis hat, der in einer allgemein gültigen Währung ausgedrückt werden kann. Diese Währung bestimmt nicht nur das zivilrechtliche, sondern auch das strafrechtliche Rechtsverhältnis, das Paschukanis in Anlehnung an Aristoteles als unfreiwilligen Vertrag deutet.16 Jemand hat sich etwas herausgenommen und muss nun dafür bezahlen. Die genuin strafrechtliche Währung, in der die Abrechnung erfolgt, ist die Zeit, im entwickelten Kapitalismus auch nur eine Form von Geld. Die Entziehung eines bestimmten Quantums Zeit in einer dafür eingerichteten Institution folgt nach dieser Analyse bedingungslos dem grundlegenden Formprinzip warentauschender Gesellschaften und ist, ungeachtet ihrer materiellen Absurdität, nicht weiter begründbar. Das ist eine sehr unvollständige und skizzenhafte Rekonstruktion der Theorie von Paschukanis, aber wenn die Analyse zutrifft, könnte man erklären, warum der Vergeltungsgedanke sich gerade in modernen Gesellschaften so hartnäckig am Leben hält und mit ihm die Institution des Gefängnisses als eines speziellen Ortes zur Entziehung von Zeit. Das Geheimnis des Gefängnisses wäre, dass es ein Monument, eine säkulare Kathedrale des Äquivalenzgedankens darstellt, indem sie weithin sichtbar symbolisiert, dass alle, die hier eingeschlossen sind, dafür bezahlen, was sie getan haben. Hinter diese Botschaft tritt alles andere zurück. Ein Programm der sozialen Reintegration ist in ihr nicht leicht unterzubringen, allenfalls der Gedanke, dass den schädlichen Folgen des Freiheitsentzugs entgegenzuwirken ist (§ 3 Abs. 2 StVollzG). Daher hat man wohl auch gewisse Schwierigkeiten zu vermitteln, dass das Recht des Strafvollzugs sich nur dadurch bestimmen lässt, dass alle Strafzwecke zurücktreten und sämtliche Vorkehrungen und Maßnahmen an dem Kriterium gemessen werden müssen, ob sie der sozialen Reintegration der Gefangenen dienen.17 pital. Erster Band [1867], 1984, S. 86. Die Metapher der Phantasmagorie oder des Geheimnisses greift die Hegelsche Dialektik von Wesen und Erscheinung auf, das Verhältnis von Verdinglichung und Auflösung des Dings, vgl. Hegel, Wissenschaft der Logik [1812 – 1816], Werkausgabe Bd. 6, hrsg. v. E. Moldenhauer und K. M. Michel, S. 124 ff. 15 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts [1820], Werkausgabe Bd. 7, hrsg. v. E. Moldenhauer und K. M. Michel, 1986, S. 346 ff. (§§ 189 ff.). 16 Paschukanis (Fn. 13), S. 152. 17 Grundlegend Schüler-Springorum, Strafvollzug im Übergang, 1969, S. 136, für den sich die Verdrängung des Vergeltungsgedankens als „Vorbedingung für eine sachangemessene
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Die Kritik am Vergeltungsgedanken, derselbe sei archaisch, wäre also nur teilweise richtig. Gerade die moderne bürgerliche Gesellschaft ist von Grund auf eine Gesellschaft der Vergeltung und daher ist natürlich gerade auch das Strafrecht dieser Gesellschaft ein Strafrecht der Vergeltung. Dazu passt es, dass in dieser Gesellschaft, in der alle über Strafe reden, kaum jemand darüber redet, wie ein sinnvoller Strafvollzug organisiert werden kann. Das Problem des sinnvollen Strafvollzugs stört das Bewusstsein der Notwendigkeit einer Abrechnung mit dem Täter. Das Desinteresse am Strafvollzug wäre aus dem grundlegenden Formprinzip der bürgerlichen Gesellschaft, dem Äquivalententausch, zu erklären, der den Vollzug der Strafe schlicht über den Gedanken der Vergütung eines Übels durch Entrichtung eines Zeitquantums versteht. Der Äquivalenzgedanke ist, vermittelt über die Gesellschaftsstruktur, so mächtig, dass die Kritik an der Irrationalität des Vergeltungsgedankens wirkungslos ist. Das Desinteresse am Strafvollzug wäre auch aus dem bürgerlichen Selbstverständnis der Rechtsexpertinnen zu erklären, die den Strafvollzug gar nicht mehr als relevantes Feld rechtlicher Intervention wahrnehmen. Es war übrigens Paschukanis selbst, der das Desinteresse an Fragen des Strafvollzugs zum Gegenstand einer eigenen Betrachtung gemacht hat, um zu verdeutlichen, wie sehr die Rechtsform vom Vergeltungsgedanken durchdrungen ist. Er schreibt: „Tritt die Strafe als Abrechnung auf, ist die Idee der Verantwortung nicht zu entbehren. Der Verbrecher haftet mit seiner Freiheit für sein Verbrechen, und zwar mit einem Stück seiner Freiheit, das der Schwere der Tat angemessen ist. Diese Vorstellung der Haftung ist ganz überflüssig dort, wo die Strafe ihren Äquivalenzgedanken verloren hat. Ist aber vom Äquivalenzprinzip tatsächlich keine Spur mehr übrig, so hört die Strafe überhaupt auf, Strafe im juristischen Sinne des Wortes zu sein.“18
Nicht zufällig verwirklicht nach Paschukanis die bürgerliche Gesellschaft ihre Vergeltung durch Zeitentzug, weil die Zeit auch das abstrakte Maß der Arbeit ist und das bürgerliche Selbstverständnis sich über die Arbeit und die Verwertung von Arbeit bestimmt und verwirklicht.19 Gleichwohl erfährt der Vergeltungsgedanke durch die Temporalisierung der Abgeltung eine gewisse Absurdität. Wer sich mit dem Pseudo-System der Strafzumessung befasst hat, weiß, dass nicht nur das Geld, sondern auch die Zeit ein schwieriges Medium für nachvollziehbar zu begründende Operationen ist. Daher überrascht es auch nicht, dass sich mit der Etablierung der Gefängnisstrafe als paradigmatischer Sanktionsform in modernen Gesellschaften auch die Kritik an dieser Form der Vergeltung artikuliert, die Kritik an einer Strafpraxis, die die Delinquenten zum Absitzen von Lebenszeit verurteilt. Paschukanis teilt diese Kritik und die Anliegen derer, die sich für die Reform oder gar die AbschafTheorie des Vollzuges“ darstellt. s. auch Pollähne/Woynar (Fn. 8), S. 144: „Die Eigenschaft der Strafe, vergeltendes Übel zu sein, ist in keiner Weise geeignet, den Vollzug der Freiheitsstrafe zu definieren; sie ist vielmehr schon mit jedem ,Nullwert‘ gesetzmäßigen Freiheitsentzugs in einer Strafanstalt gewahrt.“ 18 Paschukanis (Fn. 13), S. 163 f. 19 Paschukanis (Fn. 13), S. 165.
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fung der Gefängnisse einsetzen und warnt gleichwohl vor zu viel abstraktem Idealismus. Er schreibt: „Der Irrtum dieser fortschrittlichen Strafrechtler liegt darin, dass sie, wenn sie die sogenannten absoluten Straftheorien kritisieren, nur falsche Ansichten, Verirrungen des Denkens vor sich zu haben meinen, die durch die theoretische Kritik allein wiederlegt werden könnten. In Wirklichkeit ist diese absurde Äquivalentform aber nicht eine Folge der Verirrungen einzelner Kriminalisten, sondern der materiellen Verhältnisse der warenproduzierenden Gesellschaft, von denen sie sich nährt.“20
Als offenkundigen Ausdruck dieser Verhältnisse macht Paschukanis interessanterweise das wahrnehmbare Desinteresse an Fragen des Strafvollzugs und der Gefängnisreform aus. Er argumentiert gegen übereilte Hoffnungen des strafrechtlichen Modernismus und Reformismus: „Wenn im gesellschaftlichen Leben die Strafe tatsächlich nur vom Standpunkt des Zwecks betrachtet würde, so müsste der Strafvollzug und ganz besonders dessen Resultat das stärkste Interesse erregen. Indessen wird wohl niemand bestreiten wollen, dass der Schwerpunkt eines Strafprozesses in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle im Gerichtssaal und im Augenblick des Urteilsspruchs liegt. Das Interesse, das man den langwierigen Methoden der Einwirkung auf den Verbrecher entgegenbringt, ist verschwindend klein im Vergleich zum Interesse, das der wirkungsvolle Augenblick des Urteilsspruchs und der Bestimmung des ,Strafmaßes‘ erregt. Die Fragen der Gefängnisreform bewegen nur einen kleinen Kreis von Fachleuten; für das Publikum steht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit die Frage, ob das Urteil der Schwere des Delikts entspricht. Wenn nach der allgemeinen Meinung das Gericht das Aequivalent richtig bestimmt hat, so ist damit sozusagen alles erledigt und das weitere Schicksal des Verbrechers interessiert kaum irgend jemanden noch.“21
Diese Beschreibung, fast hundert Jahre alt, beschreibt nach wie vor die Verhältnisse, wie sie im Wesentlichen sind. Die Gesellschaft interessiert es letztlich überhaupt nicht, was mit den Gefangenen passiert, wie es ihnen geht, sie interessiert sich noch nicht einmal dafür, ob sie sich „bessern“. Die Öffentlichkeit betritt das Gefängnis, wenn überhaupt, wie seinerzeit der berüchtigte Arzt Lombroso, wie ein Exotarium, als Besichtigung.22 Die Innenwelt der Justizvollzugsanstalten stellt sich als hermetisch abgeschlossenes Handlungsfeld dar, in dem andere Arten von Normen als Rechtsnormen die Interaktionen und Abläufe bestimmen23 : technische, organisatorische, psychologische, medizinische und hygienische Normen. Die Vermittlung dieser Normen mit dem Recht können nur noch wenige Rechtsexperten leisten, es stellt eine enorme und komplexe, aber wichtige Herausforderung dar, weil die Logik der technischen Normen die Tendenz hat, die Rechtsnormen zu unterwandern, durch ihren reinen Zweckmäßigkeitsbezug ihrer immanenten Garantiefunktion zu 20
Paschukanis (Fn. 13), S. 166. Paschukanis (Fn. 13), S. 166 f. 22 Gerechterweise muss man freilich Lombroso gegen sein wirkungsgeschichtliches Stereotyp in Schutz nehmen und darauf hinweisen, dass sich in seinen Schriften auch zahlreiche gefängniskritische Ausführungen finden. 23 Vgl. Foucault (Fn. 3), S. 28 ff., S. 322 ff. 21
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berauben. Die Gefahr droht immer, dass durch das juristische Desinteresse am Strafvollzug das Gefängnis jener rechtsfreie Raum wird, der einmal treffend mit dem Begriff der totalen Institution belegt wurde.24 Als totale Institution aber, als von der politischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Intervention abgeschottete Sphäre, zieht sich das Gefängnis immer mehr in sich zurück, dichtet sich nach außen hin ab, behält sein Geheimnis für sich.
III. Zusammenfassung und Ausblick Der Beitrag geht von der Beobachtung des Erfolgs einer erfolglosen Institution aus und fragt nach dem Geheimnis dieses Erfolgs. These ist, dass das weithin wahrnehmbare Desinteresse an Fragen des Strafvollzugs, vor allem das vollständige Fehlen einer politischen Auseinandersetzung über den Rückbau der Gefängnisse oder der Auseinandersetzung mit der Frage, wie ein sinnvoller Strafvollzug jenseits des Absitzens von Zeit organisiert werden könnte, Ausdruck der „grundlegenden Wirtschafts- und Sozialstruktur dieser Gesellschaft“ (Eisenberg) ist, deren ubiquitäre Aufrechnungspraxis sich auch auf den Eintausch von Lebenszeit als Ableistung einer Schuld erstreckt, so dass aus dieser Perspektive die Schaffung einer besonderen Institution des Zeitentzugs ganz natürlich erscheint und das Bewusstsein anderer möglicher Funktionen dieser Institution überlagert. Dem Desinteresse am Strafvollzug liegt also eine implizite Vergeltungstheorie zugrunde, die keineswegs „archaisch“ im herkömmlichen Sinne ist, sondern notwendiger Ausdruck einer Gesellschaft, die, in der Sprache des Marxismus, über Wertund Warenform integriert ist. Das Gefängnis hält sich daher so hartnäckig, wie das Bewusstsein des gerechten Schuldausgleichs, wiewohl der Sinn der Idee einer Bezahlung der Schuld mit abstrakter Lebenszeit, überhaupt die Idee einer „Wertgleichheit von Tat und Strafe“25, rational nicht einleuchtet. Mit dem Gefängnis schafft die bürgerliche Gesellschaft sich ihr unbefragtes Mysterium. Wenn sie darüber nachdenkt, gerät sie selbst in Zweifel über den Sinn des Mysteriums. Wenn sie nicht nachdenkt, leuchtet es ihr mit jener Selbstverständlichkeit ein, mit der ihr auch das Axiom ihrer eigenen Organisationsform zur zweiten Natur geworden ist, dass alles seinen Preis hat. Diese irreflexive Tiefenschicht bedingt, dass auch in modernen Gesellschaften kein nennenswerter Diskurs über die Zukunft des Gefängnisses stattfindet, womit ein Ende oder auch nur ein nennenswerter Rückbau dieser Institution absehbar nicht zu erwarten ist.26
24
Goffman, Asylums, 1961. Meier (Fn. 2), S. 51. 26 Garland, The Culture of Control, 2001, S. 14, diagnostiziert sogar eine reinvention of the prison. 25
Die kostenrechtliche Ungleichbehandlung von Sicherungsverwahrung und Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus Von Boris Burghardt
I. Widmung und Einleitung Ein Kennzeichen des beeindruckenden wissenschaftlichen Werks des Jubilars ist, dass er seine Aufmerksamkeit Rechtsmaterien zugewandt hat, die von der universitären Strafrechtswissenschaft zumeist vernachlässigt werden, obgleich sie für die strafrechtliche Praxis von großer Relevanz sind. Ein solches Rechtsgebiet, das in Lehre und Forschung nur eine marginale Rolle spielt, Ulrich Eisenberg aber seit seiner Dissertation immer wieder beschäftigt hat, ist das Recht der Maßregeln der Besserung und Sicherung.1 Ihm wendet sich auch der vorliegende Beitrag zu. Er hat seinen Ursprung in der Ausarbeitung einer Verfassungsbeschwerde, an der ich als Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Freiheitsrechte e.V. (GFF) beteiligt war.2 Diese Arbeit war für mich lehrreich, weil sie mir verdeutlichte, dass auch eine prima facie spröde Materie wie das Kostenrecht interessante strafrechtstheoretische und verfassungsrechtliche Fragen bereithält. Der Jubilar weiß das offenbar schon lange: Die – soweit erkennbar – einzigen Beiträge, in denen die kostenrechtliche Ausgestaltung des Maßregelvollzugsrechts mit übergreifenden Fragen der Legitimation verknüpft werden, stammen – man ahnt es – von ihm!3
1 Vgl. Eisenberg, Strafe und freiheitsentziehende Maßnahme, 1967, wo sich der Jubilar für ein offen präventionsorientiertes und daher rational überprüfbares, einspuriges Sanktionssystem stark macht. 2 Die Verfassungsbeschwerde wurde von der GFF federführend durch Dr. Bijan Moini und Dr. Ulf Buermeyer ausgearbeitet und beim BVerfG durch Prof. Michael Lindemann, Universität Bielefeld, und Rechtsanwalt Dr. Jan Oelbermann, Berlin, eingereicht. Sie ist abrufbar unter: https://freiheitsrechte.org/home/wp-content/uploads/2018/05/GFF_Verfassungsbeschwer de_Unterbringungskosten_anonym.pdf. 3 Eisenberg, JR 2006, 57; ders., JR 2006, 482.
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II. Die Sicherungsverwahrung in Zeiten des „Abstandsgebots“ Das Recht der Sicherungsverwahrung hat nach den Grundsatzurteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) von 20094 und des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) von 20115 eine tiefgreifende rechtliche Neugestaltung erfahren. Der Leitbegriff, den das BVerfG dem Gesetzgeber für die Neuregelung an die Hand gegeben hat, lautet bekanntlich „Abstandsgebot“. Den mit diesem Begriff zum Ausdruck gebrachten Grundgedanken hat das BVerfG selbst wie folgt zusammengefasst: „Die Sicherungsverwahrung ist nur zu rechtfertigen, wenn der Gesetzgeber bei ihrer Konzeption dem besonderen Charakter des in ihr liegenden Eingriffs hinreichend Rechnung und dafür Sorge trägt, dass über den unabdingbaren Entzug der ,äußeren‘ Freiheit hinaus weitere Belastungen vermieden werden. Dem muss durch einen freiheitsorientierten und therapiegerichteten Vollzug Rechnung getragen werden, der den allein präventiven Charakter der Maßregel sowohl gegenüber dem Untergebrachten als auch gegenüber der Allgemeinheit deutlich macht. Die Freiheitsentziehung ist – in deutlichem Abstand zum Strafvollzug (Abstandsgebot) – so auszugestalten, dass die Perspektive der Wiedererlangung der Freiheit sichtbar die Praxis der Unterbringung bestimmt.“6
Aus dem Abstandsgebot hat das BVerfG zahlreiche Vorgaben zur Ausgestaltung der Sicherungsverwahrung abgeleitet, die hier nicht noch einmal wiederholt werden brauchen.7 Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang aber ein zweiter Begriff, der seither Konjunktur hat, wenn es darum geht, den Charakter der Sicherungsverwahrung zu beschreiben: der Begriff des „Sonderopfers“. In der Literatur, nicht zuletzt in Publikationen des Jubilars,8 ist er bereits seit geraumer Zeit ein gängiger Topos zur Kennzeichnung der Sicherungsverwahrung.9 Auch in das Grundsatzurteil des BVerfG von 2011 hat der Begriff Eingang gefunden. Es ist den Urteilsausführungen insoweit aber ein Zögern des Senats anzumerken: Während sich der vom Gericht selbst geprägte Begriff „Abstandsgebot“ immerhin 24 Mal findet, ist von „Sonderopfer“ nur an einer Stelle die Rede, und auch hier nur unter Begleitung des einschränkenden Adverbs „gleichsam“. Wörtlich heißt es dort:
4
EGMR, NJW 2010, 2495. BVerfGE 128, 326. 6 BVerfGE 128, 326 (327), unter Auslassung des Verweises auf BVerfGE 109, 133 (166). 7 Vgl. BVerfGE 128, 326 (378 ff.). 8 Eisenberg, NStZ 2004, 240 (241); ders., JR 2006, 57 (59). 9 Vgl. z. B. Calliess/Müller-Dietz, StVollzG, 11. Aufl. 2008, § 131 Rn. 1; Kinzig, Die Sicherungsverwahrung auf dem Prüfstand, 1996, S. 37; Laubenthal, ZStW 116 (2004), 703 (709); Mushoff, Strafe – Maßregel – Sicherungsverwahrung, 2008, S. 252 ff. Vgl. auch die Nachweise in Fn. 34, die sich allgemein auf die Maßregeln der Besserung und Sicherung beziehen. 5
Die kostenrechtliche Ungleichbehandlung von Sicherungsverwahrung
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„Der in der Sicherungsverwahrung liegende Eingriff in das Freiheitsgrundrecht ist daher auch deshalb äußerst schwerwiegend, weil er ausschließlich präventiven Zwecken dient und dem Betroffenen – da der Freiheitsentzug stets nur auf einer Gefährlichkeitsprognose, nicht aber auf dem Beweis begangener Straftaten beruht – im Interesse der Allgemeinheit gleichsam ein Sonderopfer auferlegt.“10
Wie im Weiteren näher darzulegen ist, hat diese Zurückhaltung gute Gründe. Festzuhalten bleibt aber: Mit den Urteilen des EGMR von 2009 und des BVerfG von 2011 hat sich ein konzeptionelles Verständnis der Sicherungsverwahrung durchgesetzt, das die kategoriale Unterscheidung von Maßregel und Strafe (endlich) ernst nimmt. Weil die Strafe primär am Gedanken des Schuldausgleichs orientiert ist und daraus ihre Legitimation schöpft, Grund und Grenze der Sicherungsverwahrung dagegen ausschließlich von dem Gedanken einer präventiven Sicherung der Allgemeinheit bestimmt werden, bedarf es unterschiedlicher Regelungsregime, die diesen Unterschied auch in der Praxis des Vollzugs von Strafe und Sicherungsverwahrung erkennbar werden lassen.
III. Sicherungsverwahrung und Kostenbeteiligung Ein wenig beachteter Bereich, in dem die durch EGMR und BVerfG veranlasste Neugestaltung des Rechts der Sicherungsverwahrung sich ausgewirkt hat, ist das Kostenrecht. Nach alter Rechtslage war die untergebrachte Person an den Kosten für den Vollzug der Sicherungsverwahrung zu beteiligen. Das ergab sich dem Grunde nach bereits aus den allgemeinen Grundsätzen des Kostenrechts der StPO: Gem. § 465 Abs. 1 S. 1 StPO erstreckt sich die Kostentragungslast auch auf denjenigen, der zu einer Maßregel verurteilt wird.11 Aus § 414 Abs. 1 StPO lässt sich schließen, dass dies auch gilt, wenn die Maßregel im Sicherungsverfahren gem. §§ 413 ff. StPO oder neben einem Freispruch angeordnet wird.12 § 464a Abs. 1 S. 2 StPO stellt klar, dass zu den Kosten des Verfahrens auch die Vollstreckungskosten gehören. Die strafvollzugsrechtlichen Regelungen konkretisieren dies in beschränkender Weise: Das bundesrechtliche Strafvollzugsgesetz (StVollzG) ordnet in § 130 für den Vollzug der Sicherungsverwahrung die entsprechende Geltung der Vorschriften über den Vollzug der Freiheitsstrafe an. Anwendung findet damit auch § 50 StVollzG, der als Spezialvorschrift für die Kosten des Vollzugs einer Freiheitsstrafe in Abs. 1 S. 1 vorsieht, dass statt einer vollständigen Erstattung der Unterbringungskosten grundsätzlich (lediglich) ein Haftkostenbeitrag von dem Strafgefangenen zu leisten
10
BVerfGE 128, 326 (374). So bereits Art. 2 Nr. 42 AusführungsG zu dem Gesetz über gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Besserung und Sicherung v. 24. 11. 1933, RGBl. I, 1000 (1004). 12 Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 61. Aufl. 2018, § 465 Rn. 2. 11
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ist.13 Solange sich die Vollstreckung der Maßregel nach dem StVollzG des Bundes richtete, war daher auch von Personen, die in der Sicherungsverwahrung untergebracht waren, ein solcher Beitrag zu erheben. Auch nach Übergang der Gesetzgebungskompetenz für den Strafvollzug auf die Länder blieb dies zunächst so: Die Landesstrafvollzugsgesetze behielten sowohl die Regelung zur Kostenbeteiligung des Verurteilten für den Vollzug der Freiheitsstrafe als auch den pauschalen Verweis auf die Vorschriften über den Vollzug der Freiheitsstrafe für den Vollzug der Sicherungsverwahrung bei.14 Dies änderte sich aber, als die Bundesländer in Umsetzung der Vorgaben des BVerfG den rechtlichen Rahmen des Vollzugs der Sicherungsverwahrung neu gestalteten. In sämtlichen Bundesländern sind zu diesem Zweck inzwischen Gesetze über den Vollzug der Sicherungsverwahrung (SVVollzG) ergangen. Mit Ausnahme Sachsen-Anhalts15 haben die Landesgesetzgeber jeweils eine Regelung eingeführt, die klarstellt, dass von Personen in der Sicherungsverwahrung kein Beitrag zu den Unterbringungs- und Verpflegungskosten zu erheben ist.16 Die Gesetzesentwürfe begründen dies mit bis zu drei Erwägungen, die sich inhaltlich überschneiden. In praktisch allen Gesetzesbegründungen findet sich die Überlegung, die Freistellung von der Kostenbeteiligung trage dem Umstand Rechnung, dass der Vollzug der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung eine Freiheitsentziehung zum Schutz der Allgemeinheit sei und nicht mehr dem Schuldausgleich diene.17 Vielfach wird betont, die Kostenbeitragsfreistellung folge aus der Umsetzung des verfassungsgerichtlich angemahnten Abstandsgebots.18 Schließlich wird vorgebracht, ein Unterbringungskostenbeitrag werde nicht erhoben, weil dem in der Sicherungsverwahrung Untergebrachten aus präventiven Gründen im Interesse 13 Näher dazu z. B. Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal, StVollzG, 6. Aufl. 2013, § 50 Rn. 3 ff. 14 Vgl. z. B. §§ 51, 98 BW JVollzGB III v. 10. November 2009 (BWGBl. S. 545); Art. 49, 160 BayStVollzG v. 10. Dezember 2007 (BayGVBl. S. 866); §§ 49, 94 HmbStVollzG v. 14. Juli 2009 (HmbGVBl. S. 257); §§ 43, 68 Abs. 1 HessStVollzG v. 28. Juni 2010 (HessGVBl. S. 185); §§ 52, 112 NJVollzG v. 14. Dezember 2007 (NdsGVBl. S. 720). 15 Vgl. § 44 Abs. 1 SVVollzG LSA. 16 Vgl. § 52 Abs. 1 BW JVollzGB V; § 46 Abs. 1 BaySVVollzG; § 66 SVVollzG Bln, § 66 BbgSVVollzG; § 67 BremSVVollzG; § 45 Abs. 1 HmbSVVollzG; § 43 Abs. 1 HessSVVollzG; § 66 SVVollzG M-V; § 54 Abs. 1 NdsSVVollzG; § 40 Abs. 1 SVVollzG NRW; § 66 SVVollzG RP; § 1 SLSVVollzG i.V.m. § 66 SVVollzG RP; § 66 Abs. 1 SächsSVVollzG; § 70 Abs. 1 SVVollzG SH; § 43 ThürSVVollzG. 17 Vgl. BW LT-Drs. 15/2450, 17; BayLT-Drs. 16/13834, 8, 124; AbgH Bln-Drs. 17/089, 93; BbgLT-Drs. 5/6599, 49; BremBürgerschafts-Drs. 18/749, 142; Bürgerschaft Hmb-Drs. 20/ 6795, S. 66; Hess. LT-Drs. 18/6068, 87; M-V LT-Drs. 6/1476, 63, 110; NdsLT-Drs. 16/4873, 82; NRW LT-Drs. 16/1435, 40; RP LT-Drs. 16/1910, 175; SächsLT-Drs. 5/10937, S. 98; SH LT-Drs. 18/448, 176; ThürLT-Drs. 5/5483, 89 f. 18 Vgl. AbgH Bln-Drs. 17/089, 4 f.; BbgLT-Drs. 5/6599, 4 f.; M-V LT-Drs. 6/1476, 5, 66; NdsLT-Drs. 16/4873, 52; RP LT-Drs. 16/1910, 111 f.; SL LT-Drs. 15/387, 18 f.; SächsLTDrs. 5/10937, 56 f.; SH LT-Drs. 18/448, 6 f., 106 f.
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der Allgemeinheit ein Sonderopfer auferlegt werde.19 Dabei sind die Formulierungen regelmäßig wortgleich, was nicht verwundert, weil zumindest die SVVollzGe der Länder Berlin, Brandenburg, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, RheinlandPfalz, Saarland, Sachsen, Schleswig-Holstein und Thüringen sich an einem gemeinsam erarbeiteten Musterentwurf orientieren.20 Wie sich die abweichende Regelung in Sachsen-Anhalt erklärt, ist dagegen aus der Gesetzesbegründung nicht ersichtlich. Die Ausführungen zu der einschlägigen Regelung in § 44 SVVollzG LSA sind nichtssagend und erwähnen nicht einmal, dass sich die landesrechtliche Regelung in diesem Punkt von der in allen anderen Bundesländern gewählten Lösung unterscheidet.21 Ob sich der Landesgesetzgeber überhaupt im Klaren darüber war, dass er hier, indem er dem bisherigen Regelungsmodell folgte, nunmehr einen Sonderweg beschritt, ist unklar.
IV. Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und Kostenbeteiligung Für die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gem. § 63 StGB konkretisierte die allgemeine Kostentragungspflicht zunächst § 10 JVKostO,22 ab dem 15. 12. 2001 dann § 138 Abs. 2 StVollzG i.V.m. § 50 StVollzG.23 Danach sind die Untergebrachten grundsätzlich zur Beteiligung an den Kosten der Unterbringung heranzuziehen. Der Erlass landesrechtlicher Strafvollzugsgesetze nach 2006 änderte an diesem Modell im Ergebnis zunächst nichts. Zumeist haben die seither erlassenen Landesstrafvollzugsgesetze die §§ 136 – 138 StVollzG nicht ersetzt24 bzw. explizit deren Fortgeltung vorgesehen25. In wieder anderen Landesgesetzen findet sich überhaupt 19
Vgl. AbgH Bln-Drs. 17/089, 5; BbgLT-Drs. 5/6599, 5; RP LT-Drs. 16/1910, 112; SL LTDrs. 15/387, 19; SächsLT-Drs. 5/10937, 57; SH LT-Drs. 18/448, 7, 107. 20 Vgl. AbgH Bln-Drs. 17/089, 8, 120; Bürgerschaft Hbg-Drs. 20/6795, 4, 50; M-V LTDrs. 6/1476, 2; SH LT-Drs. 18/448, 105. Siehe auch AK-StVollzG/Feest/Grüter, 7. Aufl. 2017, Teil VI Rn. 23. 21 LSA LT-Drs. 6/1673, 52. Unergiebig auch BeckOKStrafvollzug (Sachsen-Anhalt)/ Goers, Stand: 01. 05. 2018, § 44 Rn. 1 ff. SVVollzG LSA. 22 Zu der daraus resultierenden Verfassungswidrigkeit landesgesetzlicher Regelungen aus kompetenzrechtlichen Gründen vgl. BVerfGE 85, 134. 23 Sehr kritisch hinsichtlich des gesetzgeberischen Vorgehens bei der Ergänzung des StVollzG um § 138 Abs. 2 StVollzG Baur, in: Kammeier, Maßregelvollzugsrecht, 3. Aufl. 2010, Rn. C 101 („arkano-sekretisch“). 24 So Art. 208 BayStVollZG; § 119 Nr. 5 BlnStVollzG; § 130 Nr. 3 HmbStVollzG; § 83 Nr. 4 HStVollzG; § 121 Nr. 7 StVollzG NRW; Art. 4 Gesetz zur Weiterentwicklung von Justizvollzug, Sicherungsverwahrung und Datenschutz (RP); § 166 Nr. 4 JVollzGB LSA. 25 § 128 S. 2 Nr. 3 BremStVollzG; § 118 S. 2 Nr. 3 SLStVollzG; § 120 S. 2 Nr. 3 SächsStVollzG; § 142 S. 2 Nr. 4 ThürJVollzG.
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keine Regelung,26 so dass mangels Derogation wohl von einer stillschweigenden Fortgeltung der §§ 136 – 138 StVollzG auszugehen war.27 Schließlich hat BadenWürttemberg in § 106 Abs. 2 JVollzGB III eine eigene Regelung erlassen, die § 138 Abs. 2 StVollzG ersetzt, aber inhaltlich der bundesrechtlichen Regelung insoweit entspricht, als sie im Grundsatz an der Erhebung eines Kostenbeitrags wie bei Strafgefangenen festhält.28 Zu erheblichen Divergenzen hat inzwischen allerdings der Erlass neuer landesrechtlicher Maßregelvollzugs- oder Unterbringungsgesetze geführt. Die Mehrzahl der Bundesländer hält weiterhin an dem alten Modell der Kostenbeteiligung fest.29 Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen haben nunmehr für den Maßregelvollzug eigene Kostenbeteiligungsregelungen geschaffen, die deutlich von § 138 Abs. 2 StVollzG abweichen.30 In Rheinland-Pfalz und Berlin ist § 138 Abs. 2 StVollzG ausdrücklich,31 in Schleswig-Holstein und wohl auch in Bayern32 konkludent ersetzt worden, ohne dass diese Bundesländer zugleich eine eigene Vorschrift geschaffen hätten, welche die Erhebung eines Kostenbeitrags zur Unterbringung weiterhin zuließe. M.a.W.: Während die durch das BVerfG veranlasste Neugestaltung des Rechts der Sicherungsverwahrung letztlich dazu geführt hat, dass hier die Kostenbeitragspflicht in allen Bundesländern mit Ausnahme von Sachsen-Anhalt entfallen ist, präsentiert sich die Rechtslage für die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus im Zuge der landesrechtlichen Neuregelung zunehmend uneinheitlich. Mit Ausnahme von Berlin, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein und wohl auch Bayern gilt aber im Grundsatz weiterhin, dass von Personen, die nach § 63 StGB untergebracht sind, ein Beitrag zu den Kosten ihrer Unterbringung und Verpflegung zu verlangen ist.
26
SH. 27
So das BbgJVollzG (Brandenburg), das StVollzG M-V, das NJVollzG und das LStVollzG
Ebenso AK-StVollzG/Pollähne (Fn. 20), Teil IV § 138 Rn. 5. Vgl. BW LT-Drs. 14/5012, S. 240; vgl. dazu z. B. Laubenthal/Nestler/Neubacher/Verrel, Strafvollzugsgesetze, 12. Aufl. 2015, Q Rn. 11; Volckart/Grünebaum, Maßregelvollzug, 8. Aufl. 2015, Rn. 613 f. 29 So ausdrücklich z. B. § 48 PsychKHG BW; § 51 BbgPsychKG. Ebenso wohl § 51 BremPsychKG; § 38 HmbMVollzG; § 25 NdsMVollzG; § 30 Abs. 1 MRVG NRW; § 29 Abs. 1 SLMRVG; § 39 Abs. 1 MVollzG LSA, die als konkludenter Verweis auf § 138 Abs. 2 i.V.m. § 50 StVollzG zu lesen sein dürften. Weder das HessMRVG noch das SächsPsychKG regeln die Ersetzung von § 138 Abs. 2 StVollzG, so dass insofern weiterhin die in § 83 Nr. 4 HStVollzG bzw. § 120 S. 2 Nr. 3 SächsStVollzG ausdrücklich angeordnete Fortgeltung Bestand haben dürfte. 30 § 45 Abs. 1, Abs. 2 PsychKG M-V; § 32 Abs. 1 ThürMRVG. 31 § 45 MVollzugsG RP und § 104 BlnPsychKG. 32 Vgl. einerseits Art. 208 BayStVollzG, andererseits BayLT-Drs. 17/4944, 1. Im BayMRVG findet sich indes keine ausdrücklich ersetzende Regelung. 28
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Überraschend ist dieses Zwischenergebnis, weil die Erwägungen, die von den Landesgesetzgebern angeführt werden, um den Verzicht auf einen Kostenbeitrag der in der Sicherungsverwahrung untergebrachten Personen zu begründen, sich auf die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB übertragen lassen: Auch Anordnung und Vollzug der Maßregel nach § 63 StGB dienen nicht dem Schuldausgleich, sondern dem Schutz der Allgemeinheit.33 Das ist bei der Maßregel nach § 63 StGB sogar noch offensichtlicher, weil sie – anders als die Sicherungsverwahrung – überhaupt nur in Betracht kommt, wenn es um eine nach § 20 StGB schuldunfähige oder zumindest nach § 21 StGB vermindert schuldfähige Personen geht. Ein Abstandsgebot im Verhältnis zu dem Vollzug der Freiheitsstrafe besteht daher nicht nur für die Ausgestaltung des Vollzugs der Sicherungsverwahrung, sondern auch und erst recht für die Ausgestaltung des Vollzugs der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB. Soweit die Auffassung geteilt wird, die Sicherungsverwahrung lasse sich als „Sonderopfer“ des Verwahrten qualifizieren, gilt für Personen, die in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht werden, ebenfalls nichts anderes.34 Das zeigt sich auch in der Rechtsprechung: War das BVerfG 2011 mit der Verwendung dieses Begriffs hinsichtlich der Sicherungsverwahrung noch zurückhaltend, so hat es sich diese Qualifikation für die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB in einer späteren Entscheidung ohne Vorbehalte zu eigen gemacht.35 Auch die Instanzgerichte sprechen ausdrücklich von einem „Sonderopfer“ der nach § 63 StGB Untergebrachten.36
V. Verfassungsrechtliche Bewertung Derzeit ergibt sich also in der Mehrzahl der Bundesländer eine kostenrechtliche Ungleichbehandlung von Sicherungsverwahrung einerseits und Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus andererseits, obwohl die Vergleichbarkeit dieser beiden Maßregeln auf der Hand liegt: Es handelt sich jeweils um freiheitsentziehende Maßnahmen, die ihre Legitimation nicht aus dem Schuldausgleich, sondern aus dem Prinzip des überwiegenden Interesses an einem präventiven Schutz der Allgemeinheit schöpfen.
33
Vgl. prononciert BGH, NStZ 2002, 533 (534 f.). Vgl. z. B. Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, S. 805; Müller-Dietz, NStZ 1983, 145 (148); Pollähne (Fn. 23), Rn. B 37 ff.; LK-StGB/ Schöch, 12. Aufl. 2008, § 63 Rn. 84; Volckart/Grünebaum, Maßregelvollzug (Fn. 28), Rn. 2, 385. 35 BVerfGE 130, 372 (390, 392, 401). 36 Vgl. z. B. OLG Frankfurt a.M., Beschl. v. 7. April 2009 – 3 Ws 841+847/08; KG, NStZRR 2015, 325 (326); OLG Hamm, NStZ-RR 2016, 96; OLG Karlsruhe, StV 2016, 309; OLG Braunschweig, Beschl. v. 11. Februar 2016 – 1 Ws 21+22/16, Rn. 19. 34
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Dieser Befund provoziert zwei verfassungsrechtliche Fragen: 1. Gebietet es das Verfassungsrecht bereits grundsätzlich, bei der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung auf die Erhebung eines allgemeinen Kostenbeitrags zu verzichten? 2. Selbst wenn dies nicht der Fall ist und es dem Gesetzgeber grundsätzlich frei stünde, einen Beitrag zu den Kosten der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung von den betroffenen Personen zu erheben: Verletzt die Erhebung des Kostenbeitrags von nach § 63 StGB untergebrachten Personen ihr Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG, wenn die Erhebung eines solchen Kostenbeitrags von Personen, die in der Sicherungsverwahrung untergebracht sind, gesetzlich ausgeschlossen ist? 1. Freistellung von einem Kostenbeitrag als verfassungsrechtlich gebotene Lösung? Denkbar ist zunächst, dass die Erhebung eines Kostenbeitrags für die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung im Grundsatz verfassungswidrig ist. Die in den SVVollzGen vorgenommene Freistellung der in der Sicherungsverwahrung untergebrachten Personen hätte dann lediglich das verfassungsrechtlich Gebotene umgesetzt. Die Beibehaltung der Pflicht, einen Kostenbeitrag zur Unterbringung in der Sicherungsverwahrung zu leisten, die sich derzeit nur noch in § 44 Abs. 1 SVVollzG (Sachsen-Anhalt) findet, wäre verfassungswidrig. Sofern sich nicht Gründe für eine kostenrechtliche Ungleichbehandlung von Sicherungsverwahrung und Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus finden ließen, gälte dies auch für die in allen Bundesländern gesetzlich vorgesehene Erhebung eines Kostenbeitrags für die Unterbringung gem. § 63 StGB. Nahe liegt dieses Ergebnis insbesondere dann, wenn man sich eng an den Ausführungen des BVerfG zur Sicherungsverwahrung im Grundsatzurteil von 2011 orientiert. Das BVerfG folgert aus den ausschließlich präventiven Zwecken der Freiheitsentziehung und dem Beruhen auf einer bloßen Gefährlichkeitsprognose, dass „[d]ie Sicherungsverwahrung … überhaupt nur dann zu rechtfertigen [ist], wenn der Gesetzgeber bei ihrer Ausgestaltung dem besonderen Charakter des in ihr liegenden Eingriffs hinreichend Rechnung und dafür Sorge trägt, dass über den unabdingbaren Entzug der ,äußeren‘ Freiheit hinaus weitere Belastungen vermieden werden.“37
Und es fährt an anderer Stelle fort: „Die Vollzugsmodalitäten sind … an der Leitlinie zu orientieren, dass das Leben im Vollzug allein solchen Beschränkungen unterworfen werden darf, die zur Reduzierung der Gefährlichkeit erforderlich sind.“
Welche Schlussfolgerung dann für die Erhebung eines Beitrags zu den Unterbringungskosten zu ziehen ist, hat das OLG Celle in einem bemerkenswerten Beschluss ausgeführt. Dort heißt es: 37
BVerfGE 128, 326 (374).
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„Dass die Erhebung eines Haftkostenbeitrags ein notwendiger Bestandteil im Vollzug der Sicherungsverwahrung ist, der zur Reduzierung der Gefährlichkeit des Sicherungsverwahrten erforderlich ist, ist nicht erkennbar.“38
Das OLG Celle hat daher bereits vor Inkrafttreten des § 54 Abs. 1 SVVollzG-Niedersachsen n.F. und trotz ausdrücklich abweichender Regelung die Erhebung eines Kostenbeitrags für die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung als rechtswidrig bewertet und einen entsprechenden Kostenbescheid aufgehoben.39 Diese Auffassung ist bei einer gerechtigkeitstheoretischen Betrachtung durchaus einleuchtend: Mit der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung oder einem psychiatrischen Krankenhaus entschließt sich eine Rechtsgemeinschaft dazu, einzelnen Mitgliedern der Rechtsgemeinschaft auf der Grundlage einer Gefährlichkeitsprognose ihre Freiheit zumeist auf Jahre zugunsten der Sicherung der Allgemeinheit zu nehmen, ohne dass sich dies gegenüber den Betroffenen zugleich auch als angemessene Reaktion auf die persönliche Verantwortlichkeit für ein eigenes Verhalten rechtfertigen lässt. Wenn sich eine Rechtsgemeinschaft aber das Risiko nicht leisten will, als gefährlich erkannte Personen in ihrer Mitte zu belassen, sollte sie wenigstens die Kosten dafür tragen, dass sie die Ungewissheit über zukünftiges Verhalten zu Lasten des Einzelnen auflöst. Überdies erscheint die Erhebung von Kostenbeiträgen unangenehm kleinlich. Denn die Kostenbeiträge machen im Hinblick auf den Ausgleich der eigentlichen Kosten der freiheitsentziehenden Maßregeln ohnehin nur einen geringen Anteil aus und werden, weil die meisten Untergebrachten arbeitstherapeutischer Beschäftigung nachgehen, nur in wenigen Fällen tatsächlich erhoben;40 für die Vermögensverhältnisse der untergebrachten Personen, von denen die Erstattung eines Kostenbeitrags im Einzelfall verlangt wird, kann dies aber eine erhebliche Belastung bedeuten.41 Dennoch bestehen Zweifel, ob sich dem Grundgesetz tatsächlich ein grundsätzliches Verbot der Kostenbeteiligung entnehmen lässt. Die grundsätzliche Kostentragungspflicht des § 465 Abs. 1 S. 1 StPO beruht nicht auf dem Schuld-, sondern auf dem Veranlassungsprinzip.42 Unabhängig davon, ob dem zu einer Strafe oder einer 38
377). 39
OLG Celle, NStZ 2013, 172 unter Auslassung der Verweise auf BVerfGE 128, 326 (374,
OLG Celle, NStZ 2013, 172 (173). Vgl. z. B. Arloth/Krä, StVollzG, 4. Aufl. 2017, § 138 Rn. 4; Baur (Fn. 23), Rn. C 121. In diese Richtung deuten auch die diesbezüglichen Einschätzungen zu den Vollzugskosten der SVVollzGe, vgl. z. B. BayLT-Drs. 16/13834, 8; M-V LT-Drs. 6/1476, 5; NdsLT-Drs. 16/4873, 52. 41 In dem Fall, der den Ausgangspunkt für die Befassung mit der hier behandelten Rechtfrage bildete, betrug der von dem Untergebrachten verlangte Betrag jährlich immerhin knapp 4.000 Euro. 42 Vgl. z. B. KK-StPO/Gieg, 7. Aufl. 2013, § 465 Rn. 1; BGH, NStZ-RR 2016, 32; OLG Nürnberg, Beschl. v. 23. 3. 2009 – 1 Ws 94/09; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 1. 2. 2011 – 3 BRs 3/08. 40
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Maßregel Verurteilten das verfahrensgegenständliche Verhalten als Schuld persönlich vorwerfbar ist, kann es ihm doch jedenfalls als eigenes Verhalten zugerechnet werden. Die Einschätzung, der Verurteilte werde in der Zukunft mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit solche Taten begehen, die den Eingriffstatbestand der Maßregel bilden, knüpft an konkreten Vortaten an. Es ist deshalb wohl auch nicht zutreffend, Maßregeln als „Sonderopfer“ zu bezeichnen. Der schwerwiegende Rechtseingriff, den die Sicherungsverwahrung oder die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus bedeutet, lässt sich zwar nicht als Maßnahme des Schuldausgleichs rechtfertigen. Die Maßregel trifft den Untergebrachten aber auch nicht zufällig oder willkürlich. Sie ist durch das rechtswidrige Verhalten des Verurteilten veranlasst und daher – sofern sie ihrer Eingriffsintensität nach für verhältnismäßig erachtet wird – auch nicht per se ausgleichspflichtig. Dass die StPO die Pflicht zur Kostentragung auf die Verurteilung und Vollstreckung von Maßregeln erstreckt, lässt sich daher mit dem Veranlassungsprinzip vereinbaren. Das Veranlassungsprinzip hat das BVerfG aber wiederholt als mit der Verfassung vereinbaren Grundsatz zur Gestaltung des Kostenrechts der StPO gebilligt.43 Nach alledem erscheint die Freistellung von Kostenbeiträgen für Personen, die in der Sicherungsverwahrung oder in einem psychiatrischen Krankenhaus gem. § 63 StGB untergebracht werden, zwar durchaus als vernünftiges, ja vorzugswürdiges Regelungsmodell. Sie ist aber nicht die einzige verfassungsrechtlich akzeptable Lösung.44 2. Verletzung des Gleichheitssatzes durch kostenrechtliche Ungleichbehandlung? Indes könnte die kostenrechtliche Ungleichbehandlung von Sicherungsverwahrung und Unterbringung gem. § 63 StGB als Verstoß gegen den Gleichheitssatz gem. Art. 3 Abs. 1 GG verfassungswidrig sein. Die gesetzlich vorgesehene Erhebung eines Kostenbeitrags von Personen, die in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht werden, bedingte dann in jenen Bundesländern eine subjektive Grundrechtsverletzung des Untergebrachten, in denen die Erhebung eines solchen Kostenbeitrags für die Sicherungsverwahrung ausgeschlossen ist. Dies betrifft nach geltender Rechtslage Baden-Württemberg, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, das Saarland und Sachsen. Dabei ist kurz zu betonen, dass die Ungleichbehandlung in diesen Bundesländern auch dann durch ein- und denselben Hoheitsträger erfolgt, wenn sich die Erhebung eines Kostenbeitrags für die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus 43
BVerfGE 18, 302 (304); 31, 137 (139); BVerfG, JR 2006, 480; BVerfG, Beschl. v. 28. 6. 2006 – 2 BvR 1596/01, Rn. 31 ff. Zu den Einwänden vgl. zusammenfassend SK-StPO/Degener, 4. Aufl. 2013, Vor § 464 Rn. 29 ff. 44 Vgl. zu dem begrenzten verfassungsrechtlichen Kontrollmaßstab die ständige Rechtsprechung des BVerfG, zuletzt z. B. in BVerfG, Beschl. v. 24. 4. 2018 – 2 BvL 10/16, Rn. 46, sowie BVerfGE 19, 354 (367); 38, 134 (166); 68, 237 (250).
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noch aus § 138 Abs. 2 i.V.m. § 50 StVollzG und damit aus bundesrechtlichen Regelungen ergibt. Denn wenn das jeweilige Bundesland dieses Regelungskonzept nach Übertragung der ausschließlichen Gesetzeskompetenz für diesen Bereich ausdrücklich oder stillschweigend in Kraft belässt, ist dies als gesetzgeberisches Handeln eines Hoheitsträgers an Art. 3 Abs. 1 GG zu messen. Lässt sich die kostenrechtliche Ungleichbehandlung der Unterbringung gem. § 66 StGB und der Unterbringung gem. § 63 StGB aber nicht durch einen sachlichen Grund rechtfertigen? a) Heilungszweck als Rechtfertigung der Ungleichbehandlung? Als Grund für die Ungleichbehandlung ließe sich erwägen, dass die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, anders als die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung, auch der Heilung der untergebrachten Person dient. Freilich steht das Ziel der Heilung bei der Unterbringung gem. § 63 StGB nicht gleichberechtigt neben dem Zweck der Abwehr von Gefahren für die Allgemeinheit, sondern ist nur Mittel zur Erreichung des primären Sicherungszwecks. Das zeigt sich insbesondere dann, wenn sich im Rahmen des Vollzugs der Maßregel gem. § 63 StGB herausstellt, dass eine Heilung nicht möglich ist. Die Rechtsprechung hat in diesem Fall keinen Zweifel daran gehegt, dass die Unterbringung fortzudauern hat, solange von der untergebrachten Person die in § 63 StGB genannte Gefahr ausgeht.45 Überdies hat das BVerfG auch zur Sicherungsverwahrung angemahnt, dass diese „therapiegerichtet“ zu vollziehen sei,46 so dass der untergeordnete Heilungszweck auch insofern nicht als Grund für die Ungleichbehandlung überzeugt. Aber selbst wenn in den Heilungsmaßnahmen eine Leistung des Staates an den Untergebrachten gesehen würde, die über das im Rahmen der Sicherungsverwahrung Gewährte hinausgeht, so stünde diese Leistung doch jedenfalls in keinem Sachzusammenhang zu der Kostenbeteiligung nach §§ 138 Abs. 2, 50 StVollzG bzw. § 106 Abs. 2 i.V.m. § 51 JVollzGB III (Baden-Württemberg), weil hiernach lediglich ein Beitrag zu den Kosten der Freiheitsentziehung (Unterkunft, Verpflegung), nicht aber zu den Kosten der Heilungsversuche zu erbringen ist.47 b) Anrechnung der Freiheitsstrafe gem. § 67 Abs. 4 StGB als Rechtfertigung der Ungleichbehandlung? Ein zweiter Unterschied zwischen Sicherungsverwahrung und Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus besteht darin, dass im Falle des § 63 StGB die (grundsätzlich) vorweg zu vollziehende Unterbringung nach § 67 Abs. 4 StGB auf 45
Vgl. BGH, NStZ 2002, 533 (534). BVerfGE 128, 326 (374 f.). 47 Vgl. OLG Hamm, NStZ 2009, 218; OLG Jena, NStZ 2006, 697 (698); Arloth/Krä, StVollzG (Fn. 40), § 50 Rn. 2. 46
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die Freiheitsstrafe angerechnet wird, bis zwei Drittel der Strafe erledigt sind. Auch diese Anrechnung rechtfertigt aber jedenfalls nicht die kostenrechtliche Ungleichbehandlung von Sicherungsverwahrung und Unterbringung gem. § 63 StGB in der gegenwärtigen Form. Nach den derzeit einschlägigen Regelungen ist die Kostenbeteiligung im Grundsatz nämlich stets, für die gesamte Dauer der Unterbringung und unabhängig davon zu erheben, ob der Vollzug der Maßregel vor dem Vollzug einer Freiheitsstrafe erfolgt. Mit Blick auf § 67 Abs. 4 StGB ließe sich allenfalls eine Ungleichbehandlung rechtfertigen, die auf die Fälle und den Zeitraum beschränkt ist, in dem die Anrechnung greift. c) Fazit Ein Grund, der die derzeitige kostenrechtliche Ungleichbehandlung von Sicherungsverwahrten einerseits und nach § 63 StGB Untergebrachten andererseits rechtfertigen könnte, ist nicht erkennbar. Wenn überhaupt hinsichtlich der Kostentragungspflicht zwischen diesen beiden freiheitsentziehenden Maßregeln unterschieden wird, so lässt sich nur eine kostenrechtliche Privilegierung der Personen rechtfertigen, die in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht sind. Im Vergleich zu den in der Sicherungsverwahrung untergebrachten Personen kann ihnen nämlich hinsichtlich der Anlasstat, wenn überhaupt, lediglich ein geringerer Schuldvorwurf gemacht werden. Zugleich kann die Anlasstat für die Verhängung der freiheitsentziehenden Maßregel im Falle des § 63 StGB von deutlich geringerem Gewicht sein als im Falle der Sicherungsverwahrung.48 Der Kostenzuordnung des § 465 StPO liegt zwar auf primärer Ebene das Veranlassungsprinzip zugrunde. Anerkannt ist aber, dass Verschuldensgesichtspunkte auch für die Kostenerhebung grundsätzlich eine stärkere Legitimations- und Begründungskraft besitzen.49 Dementsprechend kommt eine kostenrechtliche Differenzierung zwischen der Sicherungsverwahrung und der Unterbringung gem. § 63 StGB allenfalls in der Form in Betracht, dass die in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebrachten Personen privilegiert werden.50
VI. Zusammenfassung Mit der Grundsatzentscheidung des BVerfG von 2011 hat sich (endlich) ein Verständnis von der Sicherungsverwahrung durchgesetzt, dass den exzeptionellen und in legitimatorischer Hinsicht prekären Status des Rechtsinstituts betont und für die Ausgestaltung des Vollzugs der Maßregel berücksichtigt. Die verfassungsrechtlich gebotene Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung hat auch im Bereich des 48
Vgl. § 63 StGB („rechtswidrige Tat“) im Vergleich zu § 66 Abs. 1 bis Abs. 3 StGB. So ausdrücklich BVerfG, Beschl. v. 28. 6. 2006 – 2 BvR 1596/01, Rn. 33. 50 Vgl. in diesem Sinne auch OLG Hamm, NStZ-RR 2016, 96.
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Kostenrechts Folgen gehabt. Mit Ausnahme von Sachsen-Anhalt haben alle Bundesländer in den neu geschaffenen SVVollzGen klargestellt, dass ein Kostenbeitrag von den in der Sicherungsverwahrung untergebrachten Personen zu ihrer Unterbringung und Verpflegung nicht zu erheben ist. Dies ist angesichts der rein präventiven Rechtfertigung und der Intensität des Freiheitseingriffs, der dem Sicherungsverwahrten auf der Grundlage einer Prognoseentscheidung zugemutet wird, zu begrüßen. Übersehen wird bislang jedoch, dass die Gründe für den Verzicht einer Kostenbeteiligung zur Unterbringung in der Sicherungsverwahrung auf die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gem. § 63 StGB übertragbar sind. Hier haben landesrechtliche Neuregelungen inzwischen zu erheblichen Divergenzen in der kostenrechtlichen Ausgestaltung geführt. In der großen Mehrzahl der Bundesländer wird weiterhin grundsätzlich ein Kostenbeitrag zur Unterbringung und Verpflegung erhoben. Die dadurch bedingte kostenrechtliche Ungleichbehandlung von Personen in der Sicherungsverwahrung und gem. § 63 StGB untergebrachten Personen lässt sich verfassungsrechtlich nicht rechtfertigen. Die Erhebung von Kostenbeiträgen in diesen Bundesländern ist daher verfassungswidrig. De lege ferenda sollten die Landesgesetzgeber dem derzeit bereits in Berlin, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein und Bayern gewählten Modell folgen und auch bei der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gem. § 63 StGB auf die Erhebung eines Kostenbeitrags zur Unterbringung und Verpflegung verzichten. Damit würde auch im Kostenrecht in angemessener Weise zum Ausdruck gebracht werden, dass diesen Personen durch die Rechtsgemeinschaft ihre persönliche Freiheit genommen wird, ohne dass dieser Eingriff verstanden werden kann als angemessene Reaktion auf ein Verhalten, für das sie in einem tieferen, schuldstrafrechtlichen Sinne verantwortlich gemacht werden können. Sofern solche rein präventiven Gesichtspunkten gehorchenden Freiheitseingriffe aus überwiegenden Allgemeinwohlinteressen überhaupt für rechtmäßig erachtet werden, sollte die Kosten dafür die Rechtsgemeinschaft tragen, die sie für unverzichtbar hält.
Die Gefährder des Rechtsstaats und die Europäische Menschenrechtskonvention Von Sicherungsverwahrung und „unsound mind“ zum Pre-Crime-Gewahrsam? Von Christine M. Graebsch Der Beitrag knüpft an den Festschriftbeitrag der Verfasserin vor zehn Jahren an.1 Er setzt sich mit den Entwicklungen auseinander, die im Recht der Sicherungsverwahrung und im Aufenthaltsrecht seither eingetreten sind, besonders mit Blick auf präventive Freiheitsentziehung. Bei Sicherungsverwahrung und Ausweisung handelt es sich um Rechtsinstitute mit gewissermaßen präventivem Überhang gegenüber der als schuldangemessen gedachten Strafe, die zu dieser hinzutreten können. Strafrechtliche Begrenzungen und Verfahrensgarantien sollen für sie jedoch nicht gelten, weil es sich um als grundlegend von der Strafe verschiedene Rechtsinstitute handle. Dies wirkt sich auf die Eingriffsschwelle für Freiheitsentziehungen aus.
I. Sicherungsverwahrung und „psychische Störung“: Schleichender Verzicht auf die Anlasstat? Vor zehn Jahren war diese Frage mit Blick auf das Rückwirkungsverbot im Recht der Sicherungsverwahrung virulent, das beginnend Mitte der 1990er-Jahre in einem rasanten Prozess aufeinander folgender Gesetze schrittweise verschärft worden war. Dies gipfelte 2008 in der Einführung nachträglicher Sicherungsverwahrung im Jugendstrafrecht. Dabei wurden die Anordnungsvoraussetzungen auf eine schwere Anlasstat und eine Gefährlichkeitsprognose reduziert. Hingegen wurde auf die Voraussetzung eines Hangs nunmehr ebenso verzichtet wie auf das Erfordernis während des Strafvollzugs erst neu aufgetretener Tatsachen. Dies veranlasste Kinzig in der Anhörung vor dem Rechtsausschuss des Bundestags zu der Nachfrage, ob der darauffolgende Schritt Sicherungsverwahrung ohne vorherige Straftaten allein auf Grundlage einer Gefährlichkeitsprognose sein werde, da hierfür nur noch eine einzige weitere Anordnungsvoraussetzung, nämlich die Anlasstat, gestrichen werden müsse.2 Er wies damit auf die nur noch singuläre Trennlinie hin, die zu einer präventiven Ein1 Graebsch, in: Müller/Sander/Válková, FS für Ulrich Eisenberg zum 70. Geburtstag, 2009, S. 725. 2 Kinzig, BT-Rechtsausschuss, Protokoll 16/103, S. 3 (5).
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sperrung auf prognostischer Grundlage bestehe, die auch Personen betreffen könnte, die noch nie zuvor strafrechtlich in Erscheinung getreten sind. Selbstverständlich geschah dies in kritischer Absicht mit dem Ziel, die sukzessive minimierte Eingriffsschwelle für die schwerste strafrechtliche Sanktion wieder zu erhöhen. Denn diese bedeutet ein Sonderopfer nach bereits verbüßter Strafe, das auch von der ganz überwiegenden Mehrheit der Untergebrachten zu tragen verlangt wird, die sich im Falle einer Entlassung tatsächlich gar nicht als im prognostizierten Sinne gefährlich erweisen würden.3 Der Appell an die Abgeordneten unter Hinweis auf die Trennlinie (nur) einer Anlasstat war lediglich deshalb sinnvoll, weil er an einen menschenrechtlichen Grundkonsens anknüpfen wollte, wonach strafrechtliche Sanktionen nicht ohne Straftat verhängt werden. Zwar erscheint die vorherige Feststellung von (erheblichen) Straftaten insofern als eine nicht unproblematische Trennlinie als sie, etwa über das Maßregelrecht, faktisch in eine Beweislastumkehr mündet. Die allgemein geltende Ungefährlichkeitsvermutung wird nämlich zum Beispiel in Verbindung mit der Anordnung von Maßregeln nach § 63 oder § 66 StGB tatsächlich in eine Gefährlichkeitsvermutung verkehrt, die erst über Sachverständigengutachten widerlegt werden kann.4 Gleichzeitig erfüllt diese Grenzziehung jedoch immerhin die Funktion eines Schutzes vor reiner Pre-Crime-Einsperrung, also einer Inhaftierung auf prognostischer Grundlage zur Verhinderung einer (angeblich) bevorstehenden Straftat, wie sie aus Philip Dicks „Minority Report“ bekannt ist.5 Von der Fragilität gerade der Anlasstat(en) als Trennlinie soll jedoch im Folgenden die Rede sein, und zwar in Auseinandersetzung mit Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die in den letzten zehn Jahren gegen Deutschland ergangen ist. Gegen den Widerstand sämtlicher wissenschaftlich fundierter Stellungnahmen von Sachverständigen6 wurde die nachträgliche Sicherungsverwahrung im Jugendstrafrecht dennoch eingeführt7, nachdem der damalige Leiter der JVA Straubing anhand eines einzigen Falls deren Dringlichkeit behauptet hatte.8 Eben dieser eine Fall liegt gegenwärtig der Großen Kammer des EGMR zur Entscheidung vor. Während Eisenberg die zugrundeliegende Kammer-Entscheidung, Ilnseher gegen Deutschland9, mit der eine Verurteilung der Bundesrepublik abgelehnt wurde, mit Recht und Nachdruck kritisierte10, verbreitete sich zugleich die Wahrnehmung, es sei 3 Zsf. zu Prognosefehlern Alex, in: Höffler, Brauchen wir Eine Reform der freiheitsentziehenden Sanktionen?, 2015, S. 21. 4 Dazu Graebsch, Kritische Justiz 50 (2017), 166; zu einer entgegenstehenden Ungefährlichkeitsvermutung Pollähne, in: Barton et al., FS Schlothauer, 2018, S. 53. 5 Dick, in: Minority Report. The Collected Short Stories of Philip K. Dick, 1987, S. 71. 6 Dazu Graebsch (Fn. 1). 7 BR-Drs. 440/08. 8 Konopka, Stellungnahme für den BT-Rechtsausschuss, http://webarchiv.bundestag.de/ar chive/2010/0304/bundestag/ausschuesse/a06/anhoerungen/Archiv/37_Jugendstrafrecht-Sich verw/04_Stellungnahmen/Stellungnahme_Konopka.pdf. 9 EGMR, Urteil vom 02. 02. 2017 – 10211/12 und 27505/14. 10 Eisenberg, Recht & Psychiatrie 2017, 86.
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nun aus Sicht des EGMR „alles klar“11 mit der deutschen Sicherungsverwahrung – die zuerst in der in der Rechtssache M. gegen Deutschland12 hervorgehobenen Probleme beseitigt. Ein erfolgreicher „Dialog“ zwischen EGMR und Bundesverfassungsgericht habe zur Umsetzung der Vorgaben des EGMR geführt.13 In M. hatte der EGMR die Sicherungsverwahrung als eine Strafe im Sinne der Menschenrechtskonvention angesehen, weshalb das in dieser ebenfalls verankerte Rückwirkungsverbot gelte. Bezogen auf den abgeschlossenen Katalog an Gründen, aus denen vor der Konvention eine Freiheitsentziehung überhaupt nur gerechtfertigt werden kann, hielt der Gerichtshof Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK für auf die Sicherungsverwahrung anwendbar, wonach eine Freiheitsentziehung nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht erlaubt ist. Dem Versuch der Bundesregierung, auch die rückwirkende Verlängerung über die ursprünglich bestehende Zehnjahresfrist hinaus darauf zu stützen, erteilte der EGMR allerdings eine Absage.14 Die Bundesregierung selbst ging ausdrücklich – und selbstverständlich – von einer bestehenden Verbindung zwischen Sicherungsverwahrung und Verurteilung wegen der Anlasstat aus. Sie berief sich für den späteren Wegfall der zeitlichen Eingrenzung auf § 2 Abs. 6 StGB. Der EGMR nahm eine Kausalverbindung der Sicherungsverwahrung mit der Verurteilung bis zur Zehnjahresgrenze an, nur eben nicht für deren rückwirkende Aufhebung. Diese sei nicht an die vorherige Sicherungsverwahrung gebunden, sondern an die spätere Einführung eines geänderten Gesetzes.15 Lediglich ergänzend prüfte der EGMR, ob die rückwirkend verlängerte Sicherungsverwahrung unter Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK subsumiert werden könne, wonach Personen die Freiheit entzogen werden kann, die „of unsound mind“ sind. Der Gerichtshof lehnte dies im Ergebnis ab, weil der Antragsteller nicht mehr an einer psychischen Störung leide und die nationalen Gerichte seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung auch nicht darauf gestützt hätten.16 Dies wurde in Deutschland als Hinweis auf die Möglichkeit gelesen, rückwirkende Sicherungsverwahrung durch „Therapieunterbringung“ zu ersetzen. Obwohl der EGMR in M. die bloße Umetikettierung einer Unterbringung als Maßregel, die der Sache nach Strafe ist, gerade für inakzeptabel erklärt hatte, wurde mit dem ThUG vom 22. 12. 2010 die Rechtsprechung des EGMR in unverhohlener Deutlichkeit mittels neuerlicher Umbenennung umgangen, was sogar im Wortlaut deutlich wird, wonach es sich an Personen richtet, die „deshalb nicht länger in der Sicherungsverwahrung untergebracht werden [können], weil ein Verbot rückwirkender Verschärfungen 11
So z. B. Drenkhahn, ZJJ 2017, 176. EGMR, Urteil vom 17. 12. 2009 – 19359/04. 13 Giegerich, in: Seibert-Fohr/Villiger, Judgments of the European Court of Human Rights – Effects and Implementation, 2014, S. 207; Nußberger, in: Seibert-Fohr/Villiger, Judgments of the European Court of Human Rights – Effects and Implementation, 2014, S. 165. 14 EGMR, Urteil vom 17. 12. 2009 – 19359/04, Rn. 96 ff. 15 EGMR, Urteil vom 17. 12. 2009 – 19359/04, Rn. 100. 16 EGMR, Urteil vom 17. 12. 2009 – 19359/04, Rn. 103. 12
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im Recht der Sicherungsverwahrung zu berücksichtigen ist“ (§ 1 ThuG). In einem nächsten Schritt sorgte das Bundesverfassungsgericht dann dafür, dass die Therapieunterbringung in der Praxis überhaupt nicht benötigt wurde, weil der fragliche Personenkreis aufgrund der Übergangsregelung des Bundesverfassungsgerichts17 schlicht in Sicherungsverwahrung bleiben konnte und nach Art. 316 f EGStGB die nachträgliche Sicherungsverwahrung ausdrücklich trotz ihrer weitgehenden Abschaffung durch die Hintertür in die Zukunft perpetuiert wird, was nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers dem Zweck dient, den Zeitraum zu „überbrücken“ bis die Regelungen über die vorbehaltene Sicherungsverwahrung greifen.18 All dies soll nun legitimiert sein, weil man nach M. entdeckte, dass die bereits zuvor angenommene Gefährlichkeit dieser Personen nunmehr auf einer „psychischen Störung“ beruhe. Dabei definiert das Bundesverfassungsgericht diesen Begriff kurzerhand, und angesichts seines legitimatorischen Zwecks konsequent, als juristischen, der an den psychiatrischen nur anknüpfe, nachdem etwa die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde dessen Instrumentalisierung kritisiert hatte.19 Bezogen auf den EGMR scheint das Ziel der Bundesrepublik erreicht, diesen davon überzeugt zu haben, dass Sicherungsverwahrung – bei denjenigen, die sie rückwirkend erhalten – nunmehr eine der therapeutischem Behandlung dienende Veranstaltung sei. In Bergmann gegen Deutschland etwa macht der EGMR dies an der Behandlung fest, die ihm in der Rosdorfer Sicherungsverwahrung angeboten werde. Zudem sei sich der Gerichtshof zwar darüber bewusst, dass Sicherungsverwahrung nur in Verbindung mit schweren Anlasstaten angeordnet werden könne, der Fall unterscheide sich jedoch von Fällen der (nicht rückwirkenden) Sicherungsverwahrung und Strafe durch ihren Fokus auf die intensive medizinische Behandlung der Gefährlichkeit.20 Das Bundesverfassungsgericht versuchte anlässlich der EGMR-Rechtsprechung mittels Abstandsgebot, Therapieorientierung etc.21, die Sicherungsverwahrung vom Strafvollzug unterscheidbar zu machen, was schon deswegen fragwürdig erscheint, weil die aufgeführten Unterscheidungsmerkmale durchwegs solche sind, die den strafvollzugsrechtlichen Anforderungen sehr ähneln, so dass die Herstellung eines Abstandes eigentlich nur durch Hinnahme einer rechtwidrigen Strafvollzugspraxis erfolgen kann.22 Der EGMR allerdings befasst sich in keiner Weise mit der Frage, inwieweit die Umwandlung nun erfolgreich war, sondern kommt in mehrfacher Hinsicht auf Grundlage eines bloßen Überzeugtseins („the Court is satified“)23 zu dem Ergebnis, die rückwirkende Sicherungsverwahrung sei eigentlich gar keine solche und erst recht keine Strafe mehr, sondern 17
BVerfG, NJW 2011, 1931. BT-Drs. 17/9874, S. 12. 19 BVerfG, NJW 2013, 3151 (3160). 20 EGMR, Urteil vom 07. 01. 2016 – 23279/14. 21 BVerfG, NJW 2011, 1931. 22 Zum Ganzen Dax, Die Neuregelung des Vollzugs der Sicherungsverwahrung, 2017; Höffler/Kaspar, ZStW 2012, 87. 23 Zur Kritik Eisenberg, Recht & Psychiatrie 2017, 86. 18
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nunmehr medizinisch begründete Unterbringung. Die Verbindung zur Verurteilung wegen der Anlasstat sei dadurch verdrängt worden („eclipsed“).24 Die ursprüngliche Einstufung der Sicherungsverwahrung als Strafe beruhte auf der Tatsache, dass der EGMR unter Strafe im Sinne des Art. 7 EMRK einen eigenständigen Begriff versteht und dabei nicht an die Bezeichnungen und Systematiken der nationalen Rechtssysteme gebunden sein kann, da dies die Effektivität des konventionsrechtlichen Schutzes in Frage stellen würde.25 Mehr als fragwürdig ist jedoch, ob dies auch umgekehrt und auf Grundlage bloßen Überzeugtseins anhand von Angaben der Bundesregierung gelten kann und ohne dabei auf die Widersprüchlichkeiten des zur Rede stehenden Falls26 einschließlich der dortigen Verschränkung von Diagnose und Gefährlichkeitsprognose sowie auf die Tatsache einzugehen, dass Sicherungsverwahrung doch kurz zuvor noch einer Strafe glich, was bezogen auf den Fall Ilnseher sogar für einen anfänglichen Zeitraum von der Bundesregierung eingestanden wurde. Es fehlt jede Auseinandersetzung mit der Rechtswirklichkeit der Sicherungsverwahrung, obwohl noch kurz zuvor etwa empirisch gezeigt wurde, dass ein typischer Umgang mit therapeutischen Angeboten der ist, den Untergebrachten einen Vorwurf daraus zu machen, dass sie diese nicht annehmen27, dass ein Zusammenhang zwischen psychiatrischen Diagnosen und Gefährlichkeit nicht gezeigt werden konnte28 und gerade bei jungen Menschen Prognosen höchst zweifelhaft sind und durchaus eher aus der Vollzugssituation resultieren können29. Dennoch meint jedenfalls die Fünfte Kammer des EGMR, Sicherungsverwahrung als therapeutisch motivierte und von der Anlasstat abgekoppelte Unterbringung konzipieren zu können.
II. Sicherungsverwahrung und „unsound mind“ im Kontext des deutschen Systems Insbesondere aber befasst sich der EGMR in keiner Weise mit der Systematik des deutschen Systems strafrechtlicher Sanktionen und freiheitsentziehender Maßnahmen. Wenn der EGMR ein eigenes Verständnis von der Rechtsqualität einer Maßnahme im Rahmen des Art. 5 EMRK entwickelt, so setzt auch dieses voraus, eine Maßnahme im Kontext des gesamten Systems zu betrachten. Nur so lässt sich auch feststellen, ob sich Maßnahmen durch anderes als nur die Bezeichnung voneinander unterscheiden. Daher hatte der EGMR in M. auch eine solche intensive Befassung im Vergleich mit der Freiheitsstrafe vorgenommen. Die Große Kammer wird dies nunmehr in Bezug auf die veränderte Form der rückwirkenden Sicherungsverwahrung 24
EGMR, Urteil vom 02. 02. 2017 – 10211/12 und 27505/14, Rn. 80. EGMR, Urteil vom 17. 12. 2009 – 19359/04, Rn. 120. 26 Dazu Eisenberg, Recht & Psychatrie 2017, 86; ders., JR 2010, 306. 27 Elz, Rückwirkungsverbot und Sicherungsverwahrung, 2014. 28 Müller et al., Nervenarzt 2013, 340. 29 Dazu schon Graebsch (Fn. 1). 25
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nachholen müssen, will sie sich nicht ebenfalls von einem kontextfreien Überzeugtsein leiten lassen. Es wäre zunächst zu fragen gewesen, in welchem Verhältnis eine Maßregel therapeutischer Sicherungsverwahrung zu anderen, im deutschen System schließlich durchaus vorhandenen, psychiatrischen Zwangsunterbringungen und ihren Voraussetzungen steht, um zu erkennen, ob überhaupt ein systematisch sinnvoller Anwendungsbereich verbleibt. Dabei ist zu Beginn einmal festzustellen, dass eine straftatunabhängige psychiatrische Unterbringung wegen prognostizierter „Gefährlichkeit“ nach den PsychKGs der Länder möglich ist. Weiterhin ist es mit Blick auf die Maßregeln mehr als überraschend, dass nun ausgerechnet die Sicherungsverwahrung, bzw. diese auch noch nur bezogen auf einen Teil der in der jeweiligen Anstalt untergebrachten Personen, eine therapeutische Maßnahme sein soll. Zwar ist das System von Strafen und Maßregeln keineswegs frei von Friktionen. Bereits deren Nebeneinander als Ergebnis politischer Kompromisse führte zu der widersprüchlichen Situation, in der das Strafrecht zugleich einer Philosophie der Willensfreiheit und einer des Determinismus folgt, wie von Eisenberg bereits 1967 beschrieben.30 Obwohl es sich um grundlegend unterschiedliche und in allgemeiner Hinsicht konkurrierende Denkansätze handelt, wird die Geltung der jeweiligen Konzeption über § 20 StGB vom Einzelfall abhängig gemacht. Besonders problematisch ist unter den Maßregeln von jeher die Sicherungsverwahrung, bei der es sich auch trotz ihrer Erwähnung in vorherigen Gesetzesentwürfen durchaus um ein nationalsozialistisches Projekt handelt.31 Während schon früh betont wurde, dass auch bei ihr der Besserungszweck im Vordergrund zu stehen habe32, richtete sie sich gleichwohl ursprünglich gerade an die als „unverbesserlich“ deklarierten „Gewohnheitsverbrecher“.33 Eine stark vereinfachende Zuspitzung lautet, dass sich in der forensischen Psychiatrie nach § 63 StGB „the mad“ befinden sollen und in der Sicherungsverwahrung „the bad“, wobei letztere tendenziell als voll verantwortlich wiederholt ihre (bösen) Taten begehend konzeptualisiert werden. Dieses klare Bild wird zwar in der Rechtswirklichkeit getrübt und verkompliziert, indem etwa gegen Personen mit eingeschränkter Schuldfähigkeit die eine oder die andere Maßregel angeordnet werden kann, sie liegt dem System strafrechtlicher Sanktionen aber dennoch zugrunde. Hingegen existiert für in Anknüpfung an die Begehung einer Straftat angenommene Gefährlichkeit aufgrund einer psychischen Erkrankung, auch einer psychischen Störung, die Maßregel des § 63 StGB. Dass im deutschen System keine trennscharfe, doch aber eine grundsätzliche Unterscheidung von § 63 als Unterbringung psychisch kranker Personen, die Straftaten begangen haben („mad“), und § 66 als Unterbringung voll Verantwortlicher, von denen weitere schwere Taten erwartet werden („bad“), existiert, liegt vor allem an 30
Eisenberg, Strafe und freiheitsentziehende Maßnahme, 1967. Wagner-Kern, Präventive Sicherheitsordnung, 2016. 32 Eisenberg (Fn. 30), S. 31. 33 Kaspar, in: Koch/Löhnig, Die Schule Franz von Liszts, 2016, S. 124.
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der Konstruktion verminderter Schuldfähigkeit. § 21 StGB führt dazu, dass die Grenzen verwischen, weil seine Voraussetzungen zu bejahen, zur Unterbringung im forensischen Maßregelvollzug, aber auch im Strafvollzug oder der Sicherungsverwahrung und sogar einer Kombination führen kann. Dennoch darf davon ausgegangen werden, dass im Falle der Verhängung einer Freiheitsstrafe die abgeurteilte Straftat nicht hauptsächlich kausal auf eine psychische Beeinträchtigung zurückgeführt wurde. Die weitergehende Unterbringung in der (rückwirkend verhängten) Sicherungsverwahrung setzt jedoch nach dem ThUG, der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und nach Art. 316f EGStGB nicht lediglich eine psychische Störung voraus, sondern weiterhin, dass von der Person kausal auf dieser beruhend die Gefahr schwerer Straftaten ausgeht. Wäre jedoch bereits in Bezug auf die früher abgeurteilte Tat davon ausgegangen worden, diese sei aufgrund einer psychischen Störung begangen worden, so wäre die Annahme von Schuldunfähigkeit oder erheblich verminderter Schuldfähigkeit mit einhergehender Strafmilderung naheliegend gewesen und die Unterbringung in der forensischen Psychiatrie in Betracht gekommen. Von dem fraglichen Personenkreis wird regelmäßig eine der Anlasstat oder den Anlasstaten vergleichbare Tat erwartet. Dies mündet in der abwegigen Konstruktion, dass die Wiederholungstat aufgrund einer psychischen Störung erwartet wird, obwohl doch zuvor (mindestens) eine ganz ähnliche Tat begangen wurde, die ihre Ursache nicht in einer psychischen Störung hatte(n). Diese grundlegende Problematik wurde seitens des EGMR ersichtlich nicht einmal erahnt. Wenn nunmehr der Personenkreis mit rückwirkender Sicherungsverwahrung therapieuntergebracht wird, damit die Unterbringung seitens des EGMR nicht mehr als Strafe betrachtet werden kann, für die unter anderem das Rückwirkungsverbot gelten würde, widerspricht dies zutiefst der ursprünglichen Bedeutung von Sicherungsverwahrung im System strafrechtlicher Sanktionen. Dass Sicherungsverwahrung auch bis heute auf diejenigen zielt, bei denen es nicht um die medizinische Behandlung psychischer Erkrankungen geht, zeigt etwa die Regelung des § 67d Abs. 6 StGB, wonach die Maßregel nach § 63 StGB für erledigt erklärt wird, wenn ihre Voraussetzungen nicht (mehr) vorliegen, also beispielsweise eine Schuldunfähigkeit oder verminderte Schuldfähigkeit begründende Erkrankung. Dann kann jedoch nachträgliche Sicherungsverwahrung angeordnet werden (§ 66b StGB), wobei ein solcher Wechsel keinen ersichtlichen Sinn ergäbe, wenn es sich auch bei der Sicherungsverwahrung um eine medizinische Behandlungseinrichtung handelte. Zudem ist die psychische Störung weiterhin keine allgemeine Anordnungsvoraussetzung für Sicherungsverwahrung, so dass sich in der entsprechenden Einrichtung Personen befinden, die einer therapeutischen Behandlung bedürfen, zusammen mit Personen, bei denen dies nicht der Fall ist: dieselbe Einrichtung wäre demnach für die einen Psychiatrie, für die anderen nicht. Dies weist in beide Richtungen Probleme auf, besonders aber kann es keine Grundlage dafür geben, die „regulär“ Sicherungsverwahrten ihr Sonderopfer nun auch noch in einer psychiatrischen Einrichtung erbringen zu lassen, auch wenn sie nicht krank und auch nicht psychisch gestört sind.
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Der EGMR trug zudem auch nicht ausreichend Sorge für die Verwerfungen, die seine Rechtsprechung bei der weiteren Entwicklung von Freiheitsentziehungen auf Grundlage einer Gefährlichkeitsannahme in der Bundesrepublik nach sich ziehen könnte. Darauf wird zurückzukommen sein, nachdem von einer anderen Art der Freiheitsentziehung ohne vorangegangene Straftat, nämlich polizeirechtlichem Unterbindungsgewahrsam, die Rede war.
III. Polizeirechtlicher Präventivgewahrsam und Europäische Menschenrechtskonvention Auch in Bezug auf den polizeirechtlichen Unterbindungsgewahrsam hat der EGMR Deutschland bereits wegen Nichtbeachtung des abschließenden Katalogs für Freiheitsentziehungen in Art. 5 Abs. 1 EMRK verurteilt. In Schwabe gegen Deutschland34 ging es um Festnahmen in Zusammenhang mit Teilnehmern an Demonstrationen gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm. Im Wesentlichen da die Antragsteller vor der JVA Waldeck mit Transparenten angetroffen worden waren, auf denen die Befreiung von Gefangenen gefordert wurde, hielten die nationalen Gerichte den Unterbindungsgewahrsam auf polizeirechtlicher Grundlage für erlaubt um eine bevorstehende Straftat zu verhindern.35 Dies scheint man auf Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK stützen zu können, wonach eine Freiheitsentziehung erlaubt ist, wenn begründeter Anlass zu der Annahme besteht, dass es notwendig ist, die entsprechende Person an der Begehung einer Straftat oder an der Flucht nach Begehung einer solchen zu hindern. Das setzt allerdings nach der ständigen Rechtsprechung des EGMR einen Zusammenhang mit einem Strafverfahren voraus und erlaubt keinen Gewahrsam auf präventiv-polizeilicher Grundlage. Das liegt an der auf Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK Bezug nehmenden Regelung des Art. 5 Abs. 3 EMRK, wonach unter anderem das Recht besteht, in diesen Fällen in angemessener Zeit vor Gericht gestellt oder bis zu diesem Zeitpunkt entlassen zu werden („entitled to trial within a reasonable time or to release pending trial“). Dabei geht es im (englischen) Wortlaut der Konvention klar um ein Strafverfahren.36 Auch Art. 5 Abs. 1 lit. b EMRK kommt in solchen Fällen nicht in Betracht, da es bei der Durchsetzung einer gesetzlichen Verpflichtung um eine bereits zuvor auf anderer Grundlage bestehende geht und nicht, wie die Bundesregierung zu konstruieren versuchte, um so allgemeine gesetzliche Verpflichtungen, wie die, sich an Gesetze zu halten oder keine Straftaten zu be-
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EGMR, Urteil vom 01. 12. 2011 – 8080/08 und 8577/08. Dass das Transparent durchaus auch andere Interpretationen zuließ als die, es solle eine gewaltsame Gefangenenbefreiung erfolgen, die sogar näherlagen, da in Zusammenhang mit den Demonstrationen bereits eine Vielzahl Gefangener genommen worden waren, war vor dem EGMR ebenfalls Thema. Letztlich lässt sich das Transparent sogar als Forderung verstehen, die der zitierten Rechtsprechung des EGMR im Ergebnis entspricht. 36 EGMR, Urteil vom 01. 12. 2011 – 8080/08 und 8577/08, Rn. 71 f. 35
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gehen.37 Auch der Versuch der Bundesregierung, den Gewahrsam unter Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK zu subsumieren, wurde zurückgewiesen, da es sich bei der als Grundlage notwendigen Verurteilung durch ein Gericht („conviction“ bzw. „condamnation“) keineswegs um die Entscheidung eines anderen als einem Strafgericht handeln könne. Im Fall Ostendorf gegen Deutschland38 entschied der EGMR hingegen, dass das Nichteinhalten einer Verpflichtung, sich nicht an einer Hooliganschlägerei zu beteiligen mit dem Versuch sich der polizeilichen Überwachung zu entziehen, ausreichend sei. Es wurde allerdings auch hier noch einmal hervorgehoben, dass ein rein präventives Vorgehen gegen Einzelpersonen oder Gruppen, die zu Recht oder Unrecht als gefährlich angesehen würden, keine Grundlage in der Konvention habe. Allerdings wird aus diesen Entscheidungen sehr deutlich, dass die Bundesregierung stetig versucht, den EGMR davon zu überzeugen, seine diesbezügliche Rechtsprechung zu ändern39 – statt dafür Sorge zu tragen, dass die gesetzlichen Grundlagen in Deutschland an die Rechtsprechung des EGMR angepasst werden. Auch hier zeigt sich ein Beharrungswille mit dem Ziel auf Pre-Crime-Gewahrsam nicht verzichten zu müssen.
IV. Abschiebung und Inhaftierung von Aufenthaltsberechtigten ohne Anlasstat Eine andere als präventiv konzipierte Maßnahme mit tendenziellem Überhang zur als schuldangemessen gedachten Strafe ist die Ausweisung nach §§ 53 ff. AufenthG.40 Sie knüpft als titelvernichtender Verwaltungsakt fast immer an die Begehung von Straftaten an. Über den Umweg des Aufenthaltsrechts gehen eine Vielzahl strafprozessualer Garantien verloren, auch wenn diese nach Strafprozessrecht zunächst für Ausländer gleichermaßen gelten. Erfolgt, meist nach einer Ausweisung, eine Abschiebung aus der Haft (§ 456a StPO), so kann diese durchaus mit einem Vorteil gegenüber Deutschen verbunden sein, wenn es der betreffenden Person lieber ist, frei im Herkunftsland als eingesperrt in Deutschland zu sein, was allerdings keineswegs in allen Fällen so ist. Nach der Rechtsprechung des EGMR ist eine Diskriminierung im Vollzug aufgrund des aufenthaltsrechtlichen Status verboten und muss dann zumindest ausgeglichen werden, indem von § 456a StPO Gebrauch gemacht wird.41 Bis heute weithin unbeachtet geblieben ist jedoch die Tatsache, dass die Anwendung des aufenthaltsrechtlichen Regelwerks dazu führt, dass strafprozessuale Garantien über den Umweg des Aufenthaltsrechts systematisch ausgehebelt wer37
EGMR, Urteil vom 01. 12. 2011 – 8080/08 und 8577/08, Rn. 73, 82. EGMR, Urteil vom 07. 03. 2013 – 15598/08. 39 Dies beschreibt auch Giegerich (Fn. 13). 40 Dazu auch schon Graebsch (Fn. 1). 41 Rangelov gegen Deutschland: EGMR, Urteil vom 22. 03. 2012 – 5123/07. 38
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den.42 Auch in Bezug auf die Ausweisung sowie andere aufenthaltsrechtliche Maßnahmen sind in den letzten zehn Jahren erhebliche Verschärfungen erfolgt. So wird nunmehr verstärkt auch an zur Bewährung ausgesetzte Strafen angeknüpft. Eine Ausweisung war schon zuvor in bestimmten Fällen, zumindest theoretisch, auch ohne eine strafgerichtliche Verurteilung möglich, auf Grundlage eines bloßen Straftatverdachts. Seit 2005 existierte bereits die Regelung des § 58a AufenthG, führte aber bisher gewissermaßen ein Schläferdasein, wofür ein wichtiger Grund gewesen sein dürfte, dass sie weithin für rechtsstaatlich problematisch und verfassungswidrig gehalten wurde.43 Die nach dem Anschlag auf den Berliner Breitscheidplatz im Dezember 2016 aktivierte Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG ermöglicht die Abschiebung von Personen, die über einen Aufenthaltstitel verfügen, mithin von einem gesicherten Aufenthalt ausgehen können, ohne vorherige Ausweisung. Grundlage für diese Präventivmaßnahme, die keine vorangegangene strafrechtliche Verurteilung voraussetzt, ist lediglich eine auf Tatsachen gestützte Prognose einer besonderen Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder eine terroristische Gefahr. Rechtsschutz besteht erst- und letztinstanzlich nur bei dem Bundesverwaltungsgericht, das über Gründe, die ansonsten noch in einem Asylverfahren geltend gemacht werden könnten, auch gleich mitentscheidet und für den vorläufigen Rechtsschutz innerhalb einer Frist von nur sieben Tagen angerufen werden muss. Dies muss zudem aus der Abschiebungshaft heraus erfolgen, die als direkte Folge einer noch nicht vollziehbaren Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG vorgesehen ist (§ 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 1a AufenthG). Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts darf auf eine vorherige Anhörung verzichtet werden44, so dass die Inhaftierung und Abschiebung als Überraschungsentscheidung aus einem (vermeintlich) gesicherten Aufenthalt heraus möglich ist. Für die „besondere Gefahr“ begnügt sich das Bundesverwaltungsgericht nicht nur mit einer ausgesprochen vagen Vorstellung davon, worin diese genau bestehen soll, sondern es soll auch genügen, wenn deren Eintritt nicht wahrscheinlicher ist als ihr Nichteintreten, wenn der Eintritt nicht konkret, sondern irgendwann in der „überschaubaren Zukunft“ bevorsteht und weil terroristische Anschläge heute auch mit einfachen Mitteln zu begehen seien, bedürfe es keinerlei Nachweis von Vorbereitungshandlungen oder auf sie bezogener Kenntnisse.45 Weil das Bundesverwaltungsgericht für sich eigene Sachkunde zu haben in Anspruch nimmt, braucht es keine Sachverständigengutachten einzuholen und sich mit „den dem Senat im Einzelnen nicht bekannten Prognosemanualen“ und deren Anwendbarkeit auch dann nicht auseinandersetzen, wenn sie Grundlage eines von ihm für die Entscheidung herangezogenen früheren Gutachtens waren46, sich zudem auch dann nicht näher mit dem durch das BKA als Verschluss42 Dazu, trotz einiger Rechtsänderungen grundsätzlich noch aktuell, Graebsch, in: Pilgram et al., Einheitliches Recht für die Vielfalt der Kulturen?, 2011, S. 315. 43 Zsf. dazu Schlichte/Austermann, ZAR 2018, 62. 44 BVerwG, Urteil vom 27. 03. 2018 – 1 A 4.17, Rn. 20 ff. 45 BVerwG, Urteil vom 27. 03. 2018 – 1 A 4.17, Rn. 33 f. 46 BVerwG, Urteil vom 27. 03. 2018 – 1 A 4.17, Rn. 61.
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sache eingestuften Instrument RADAR-iTE (Regelbasierte Analyse potentiell destruktiver Täter zur Einschätzung des akuten Risikos – islamistischer Terrorismus)47 befassen, wenn sich aus ihr im Einzelfall lediglich ein „moderates Risiko“ von fünf Punkten auf einer Skala mit nicht öffentlich bekannt gegebener Gesamtzahl ergibt.48 In Parallelität zum Thema der Sicherungsverwahrung werden ebenfalls Schlussfolgerungen aus vagen und mit der angenommenen Gefährlichkeit verknüpften psychischen Zuständen gefolgert. In dem vorliegend herangezogenen Fall soll das „moderate Risiko“ durch zwei „rote Flaggen“ zu einem „auffälligen Risiko“, d. h. der erhöhten Wahrscheinlichkeit für die Begehung einer schweren Gewalttat in Deutschland, gesteigert worden sein, und zwar durch die „behördliche oder gerichtliche Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung“ sowie Suizidalität bzw. „psychiatrische Erkrankungsvermutung“. Dass diese Vermutung in der psychiatrischen Einrichtung als widerlegt angesehen wurde und die dortige Unterbringung bereits aufgrund angenommener Gefährlichkeit erfolgte, also alles andere als eine vom Ergebnis unabhängige Variable ist, stört das Bild nicht. Allerdings könnte eine psychische Beeinträchtigung aufenthaltsrechtlich womöglich ein Abschiebungshindernis darstellen, wofür dann jedoch die Erkrankungsvermutung am Ende des Urteils nicht mehr gilt, wo es heißt: „mangels relevanter psychiatrischer Störungen oder Beeinträchtigungen des Klägers [besteht] kein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis“.49 Die Abschiebungsanordnung war diesem, der noch nie strafrechtlich in Erscheinung getreten war, im Übrigen an seinem 18. Geburtstag überreicht worden und ist mit einer unbefristeten Einreisesperre verbunden. Hier ist also Haft, die bis zu 18 Monaten dauern kann, ohne Anlasstat möglich und für manch einen womöglich noch das geringere Übel gegenüber der ebenfalls ohne vorherige Straftat angeordneten Abschiebung mit potentiell lebenslanger Dauer. Mit dem „Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht“50 wurde § 62 Abs. 3 AufenthG dahingehend geändert, dass er nun Sicherungshaft bei einem Ausländer, von dem eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter oder bedeutende Rechtsgüter der inneren Sicherheit ausgeht, auch dann für zulässig erklärt, wenn die Abschiebung nicht innerhalb der nächsten drei Monate durchgeführt werden kann. Zudem soll nach der Neufassung des § 62a Abs. 1 S. 2 AufenthG die Abschiebungshaft von „Gefährdern“ auch in „sonstigen Haftanstalten“ vollzogen werden dürfen, wobei insbesondere an Justizvollzugsanstalten gedacht ist. Diese europarechtswidrige Regelung51 ist ein Rückschritt hinter die gerade erst durchgesetzte Erkenntnis,
47 Vgl. dazu die Pressemitteilung des Bundeskriminalamts vom 02. 02. 2017, https://www. bka.de/DE/Presse/Listenseite_Pressemitteilungen/2017/Presse2017/170202_Radar.html. 48 BVerwG, Urteil vom 27. 03. 2018 – 1 A 4.17, Rn. 77. 49 BVerwG, Urteil vom 27. 03. 2018 – 1 A 4.17, Rn. 141. 50 BR-Drs. 390/17. 51 Schulenberg, ZAR 2017, 401.
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dass Abschiebungshaft außerhalb des Justizvollzugs durchzuführen ist.52 Insgesamt zeigen die Neuregelungen den Versuch, Abschiebungshaft über ihren einzigen Zweck hinausgehend anzuwenden und auszugestalten, wonach diese lediglich der Sicherung der Abschiebung dienen darf.
V. „Unsound mind“ und Präventivgewahrsam als nächster Schritt? Zeitlich unbegrenzter Präventiv-Gewahrsam findet sich in der Regelung des bayerischen Polizeiaufgabengesetzes, mit der Polizeigewahrsam in Einheiten von jeweils drei Monaten im Ergebnis immer wieder richterlich angeordnet werden kann, solange der Grund der Maßnahme als fortbestehend angesehen wird (Art. 20 PAG). Im Übrigen existiert schon deutlich länger im Bremischen Polizeigesetz eine jedenfalls dem Wortlaut nach zeitlich unbegrenzte Möglichkeit polizeilichen Präventivgewahrsams (§ 18 BremPolG). Mit Blick auf die Rechtsprechung des EGMR ist bemerkenswert, dass diese einerseits vollständig ignoriert oder gar als negative Blaupause genommen zu werden scheint, wenn es etwa in Art. 17 Abs. 1 Nr. 2 lit. a PAG in direkter Umkehrung von Schwabe heißt, eine den Unterbindungsgewahrsam rechtfertigende bevorstehende Straftat sei etwa dann anzunehmen, wenn jemand „dazu aufgefordert hat oder Transparente oder sonstige Gegenstände mit einer solchen Aufforderung mit sich führt“. Gleichzeitig wird in der Begründung zur soeben beschlossenen Neufassung des bayerischen Polizeiaufgabengesetzes der EGMR sogar erwähnt, wobei diese Kenntnisnahme insbesondere dazu geführt haben wird, eine Mehrzahl von Verpflichtungen in das PAG aufzunehmen, wie etwa die sich elektronischer Aufenthaltsüberwachung zu unterwerfen53, gegen die zu verstoßen dann einen Gewahrsam unter Anwendung von Art. 5 Abs. 1 lit. b EMRK zu rechtfertigen vermögen soll. Der Schlüsselbegriff der „drohenden Gefahr“, der sich keineswegs nur auf in Zusammenhang mit Terrorismus gesehene „Gefährder“ beziehen soll, ist dem der „besonderen Gefahr“ in § 58a AufenthG nahe, zumal diese durch das Bundesverwaltungsgericht in schon sprachlich nicht mehr nachvollziehbarer Bedeutungsdiffusion als „beachtliches Risiko“ interpretiert wird, dass sich die Gefahr konkretisiere.54 In die durch die Kammer-Entscheidung Ilnseher jedenfalls noch offene Flanke einer Freiheitsentziehung wegen psychischer Störung ohne Anlasstat und ohne sonstige aus Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK direkt ablesbare Einschränkungen fügte sich der bayerische Versuch ein, das PsychKG in einer Weise zu ändern, die Anklänge an eine
52 Graebsch, in: Feest/Lesting/Lindemann, Strafvollzugsgesetze, 7. Aufl. 2017, Ausländische Gefangene Rn. 70. 53 BYLT-Drs. 17/20425. 54 BVerwG, InfAuslR 2018, 11 (Rn. 27).
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Pre-Crime-Forensik hatte.55 Auch wenn dieser wieder zurückgezogen wurde, zeigt er, welche dem Zeitgeist entsprechende Entwicklungen durch eine kontextfreie Betrachtung der Sicherungsverwahrung als psychiatrischer Unterbringung ohne Anlasstat befördert werden können.
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BYLT-Dr. 17/21573.
Die Mitwirkung des Rechtsanwalts in Verfahren nach den Strafvollzugsgesetzen Von Klaus Laubenthal
I. Einleitung In seinem umfangreichen wissenschaftlichen Werk hat sich Ulrich Eisenberg auch mit der Mitwirkung von Verteidigern bzw. Rechtsbeiständen in solchen Verfahren beschäftigt, die ihre Grundlage in den Strafvollzugsgesetzen finden. Dabei befasst er sich zwar in erster Linie mit dem Jugendstrafvollzug.1 Dennoch mögen gleichwohl die folgenden Überlegungen zur fachkundigen Unterstützung in erster Linie solcher Gefangener, die im Erwachsenenvollzug untergebracht sind, auf Interesse stoßen – zumal nach § 92 Abs. 1 S. 2 JGG für das gerichtliche Verfahren bei der Überprüfung jugendstrafvollzuglicher Maßnahmen die entsprechenden Vorschriften von §§ 109, 111 bis 120 Abs. 1 StVollzG entsprechende Anwendung finden. In dem Beitrag werden folgende Aspekte näher betrachtet: Mitwirkung der Verteidiger in Disziplinarverfahren, im gerichtlichen Rechtsschutzverfahren nach §§ 109 ff. StVollzG sowohl in erster als auch in der Rechtsbeschwerdeinstanz sowie in Verfahren der strafvollzugsbegleitenden gerichtlichen Kontrolle bei angeordneter oder vorbehaltener Sicherungsverwahrung gemäß § 119a StVollzG.
II. Mitwirkung im Disziplinarverfahren Die Strafvollzugsgesetze enthalten ganz überwiegend keine Regelungen über die Beiziehung eines Verteidigers im Disziplinarverfahren. 1. Konsultation eines Verteidigers Angesichts des mit Disziplinarmaßnahmen verbundenen nicht unerheblichen Eingriffs in die Freiheitsrechte des Betroffenen und der Verwandtschaft des Disziplinarverfahrens mit dem Strafverfahren kann dem Rechtsstaatsprinzip nur Rechnung getragen werden, wenn der Gefangene sich eines anwaltlichen Beistands zu bedienen
1
Eisenberg, JGG, 20. Aufl. 2018, § 92 Rn. 142a, 174, 180.
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vermag,2 worauf er aber – außer in Schleswig-Holstein gem. § 120 Abs. 1 S. 4 LStVollzG SH – nicht ausdrücklich hinzuweisen ist.3 Im vollzuglichen Disziplinarverfahren besteht jedoch ein besonderes Interesse an einer raschen Durchführung, damit sich – im Hinblick auf eine verhaltensbeeinflussende Wirkung der Sanktion im Erleben des Betroffenen – nicht der Zusammenhang von Pflichtenverstoß und Reaktion verliert. Angesichts dieses Bedürfnisses nach einem zügigen Verfahrensablauf reicht es regelmäßig aus, wenn der Inhaftierte auf sein Verlangen hin den Verteidiger vor der gem. § 106 Abs. 1 S. 2 StVollzG, § 85 Abs. 1 S. 2 JVollzGB III BW, Art. 113 Abs. 1 S. 2 BayStVollzG, § 97 Abs. 1 S. 2 StVollzG Bln, § 103 Abs. 1 S. 3 BbgJVollzG, § 90 Abs. 1 S. 3 BremStVollzG, § 89 Abs. 1 S. 2 HmbStVollzG, § 56 Abs. 2 S. 2 HStVollzG, § 89 Abs. 1 S. 3 StVollzG M-V, § 98 Abs. 1 S. 2 NJVollzG, § 81 Abs. 1 S. 3 StVollzG NRW, § 100 Abs. 1 S. 3 LJVollzG RLP, § 89 Abs. 1 S. 3 SLStVollzG, § 93 Abs. 1 S. 3 SächsStVollzG, § 101 Abs. 1 S. 3 JVollzGB LSA, § 120 Abs. 1 S. 4, S. 6 2. Halbs., Abs. 5 S. 1 LStVollzG SH, § 101 Abs. 1 S. 3 ThürJVollzGB durchzuführenden Anhörung im Rahmen eines kurzfristig anzuberaumenden Besuchs oder jedenfalls telefonisch konsultieren kann.4 2. Kein Anwesenheitsrecht bei Disziplinaranhörung Lediglich in Sachsen wird in § 93 Abs. 4 S. 2 SächsStVollzG bei schweren Verfehlungen betreffenden Disziplinarverfahren vorgegeben, dass auf Antrag des Gefangenen sein Verteidiger von dem Disziplinarverfahren in Kenntnis zu setzen ist. Bei der Anhörung vor einer möglichen Disziplinaranordnung steht dem Betroffenen jedoch kein Anspruch auf Teilnahme seines anwaltlichen Vertreters zu.5 Keines der Gesetze selbst sieht ein solches Anwesenheitsrecht vor. Die disziplinarrechtlichen Vorschriften, die dem Beamten gestatten, sich im Verfahren jederzeit eines Bevollmächtigten oder Beistands zu bedienen (etwa § 20 Abs. 1 S. 3 BDG), sind einerseits der Tatsache geschuldet, dass hier schriftliche Einlassungen in Betracht kommen, andererseits der besonderen Fürsorgepflicht des Dienstherren. Eine analoge Anwendung in vollzuglichen Disziplinarangelegenheiten kommt deshalb ebenso wenig in Betracht wie diejenige des § 137 Abs. 1 S. 1 StPO, wonach in jeder Lage des Verfahrens ein Verteidiger hinzugezogen werden kann. Diese Bestimmung garantiert auch für mündliche Anhörungen des Verurteilten in Verfahren der Reststrafenaussetzung 2 Arloth/Krä, StVollzG, 4. Aufl. 2017, § 106 StVollzG Rn. 2; Böhm, in: Ebert/Rieß/Roxin/ Wahle, Festschrift für Harnack, 1999, S. 457 (467); Heghmanns, ZfStrVo 1998, 232 (233 f.); Laubenthal/Nestler/Neubacher/Verrel, StVollzGe, 12. Aufl. 2015, M Rn. 238; Schwind/ Böhm/Jehle/Laubenthal, StVollzG, 6. Aufl. 2013, § 106 Rn. 4; s. auch Eisenberg (Fn. 1), § 92 Rn. 142a. 3 A.A. AK/Walter, StVollzG, 7. Aufl. 2017, Teil II § 89 LandesR Rn. 4. 4 OLG Karlsruhe, NStZ-RR 2002, 29; OLG Bamberg, StV 2010, 647; OLG Nürnberg, StV 2012, 169; dazu Krä, FS 2011, 384 (384 f.). 5 OLG Bamberg, FS 2015, 126 ff.; Krä, FS 2015, 131; a. A. OLG Nürnberg, FS 2011, 281; Eisenberg (Fn. 1), § 92 Rn. 142a (für den Jugendstrafvollzug).
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und damit in Vollstreckungssachen (§ 454 Abs. 1 S. 3 StPO) die gewünschte Mitwirkung eines Verteidigers. Sie entfaltet damit gerade Wirkung für ein gerichtliches und nicht für ein bloßes Verwaltungsverfahren.6 Eine andere Beurteilung ist nach wie vor nicht angebracht, obwohl die Mitwirkungsrechte des Verteidigers im Strafverfahren seit 2017 erweitert sind, wenn er nunmehr auch bei der polizeilichen Beschuldigtenvernehmung ein Anwesenheitsrecht genießt (§§ 163a Abs. 4 S. 3, 168c Abs. 1 S. 1 StPO). Angesichts der unterschiedlichen Bedeutung von Straf- und Disziplinarverfahren, die sich bereits in den in ihrer Gewichtung gänzlich divergierenden Rechtsfolgen zeigt, sowie der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit trifft es nicht auf Bedenken, wenn dem Verteidiger im Hinblick auf die Disziplinaranhörung kein Teilnahmerecht eröffnet ist. Auch ein Verstoß gegen europäisches Recht in Form des Grundsatzes eines fairen Verfahrens gem. Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK liegt darin nicht. Nimmt man an, dass die Norm im Rahmen von Disziplinarverfahren Anwendung findet,7 so ist ihr Genüge getan, wenn dem Betroffenen die Kontaktaufnahme mit einem Verteidiger vor der Disziplinarvernehmung gestattet wird.8 Unter dieser Prämisse hat der EGMR die Anwesenheit eines Verteidigers nicht einmal für eine polizeiliche Beschuldigtenvernehmung ausdrücklich gefordert.9
III. Mitwirkung im erstinstanzlichen Verfahren nach §§ 109 ff. StVollzG Anders verhält es sich in Verfahren über Anträge auf gerichtliche Entscheidung nach §§ 109 ff. StVollzG. Hier ist eine anwaltliche Vertretung des Strafgefangenen oder sonstigen Antragstellers unproblematisch möglich. Das lässt sich bereits daraus schließen, dass in der Rechtsmittelinstanz – dem Verfahren der Rechtsbeschwerde – der Antragsteller die erforderlichen Erklärungen nicht privatschriftlich abgeben, sondern dies rechtswirksam nur entweder zu Protokoll der Geschäftsstelle oder in einer von einem Rechtsanwalt unterzeichneten Schrift erfolgen kann (§ 118 Abs. 3 StVollzG). 1. Anwendbarkeit der Vorschriften über Prozesskostenhilfe Im Übrigen folgt die anwaltliche Vertretungsmöglichkeit sowohl aus § 120 Abs. 1 S. 2 StVollzG, demzufolge grundsätzlich die Vorschriften der StPO entsprechend anzuwenden sind und damit auch die Normen über die Verteidigung nach §§ 137 ff. 6
Zum Ganzen OLG Bamberg, FS 2015, 126 (129 f.). Dazu etwa LR/Esser, 26. Aufl. 2012, Band 11, Art. 6 EMRK/Art. 14 IPBR Rn. 81; SKStPO/Paeffgen, 4. Aufl. 2012, Band X, Art. 6 EMRK Rn. 23 mit Nachweisen der uneinheitlichen Judikatur. 8 OLG Bamberg, FS 2015, 126 (130). 9 Vgl. EGMR, EuGRZ 1986, 587 (592); NJW 2009, 3707 (3708); NJW 2012, 3709 (3711); ebenso BVerfG, NJW 2007, 204 (205 f.). 7
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StPO,10 als auch aus § 120 Abs. 2 StVollzG mit § 121 Abs. 2 ZPO. Danach wird dem Antragsteller ein Rechtsanwalt seiner Wahl beigeordnet, wenn die Vertretung durch einen Anwalt erforderlich erscheint oder der Gegner durch einen Rechtsanwalt vertreten ist. Weil die Vorschriften der ZPO nur entsprechend anzuwenden sind und die Vollzugsbehörde regelmäßig zwar nicht durch einen Rechtsanwalt, aber durch einen bei ihr tätigen Volljuristen vertreten wird, findet sich im Schrifttum der Vorschlag, beide Konstellationen gleich zu behandeln, also dem Antragsteller bei Vorliegen der Voraussetzungen im Übrigen nicht nur Prozesskostenhilfe zu gewähren, sondern ihm regelmäßig auch einen Anwalt beizuordnen.11 Für Rechtsbehelfe im Jugendstrafvollzug gelten übrigens die Vorschriften über die Prozesskostenhilfe nicht, weil in § 92 Abs. 1 S. 2 1. Halbs. JGG nicht auf § 120 Abs. 2 StVollzG verwiesen wird. 2. Keine Pflichtverteidigerbestellung Der Beistand im Vollzugssachen betreffenden gerichtlichen Verfahren gehört zum Tätigkeitsbereich des Rechtsanwalts.12 Ein Anwalt wird dann zum Verfahrensbevollmächtigten in einer Strafvollzugssache, wenn er einen Auftrag in einer solchen oder in mehreren ganz bestimmten Rechtssachen nachweist.13 Die Beiordnung eines Pflichtverteidigers sieht das StVollzG nicht vor. Sie ist auch über § 120 Abs. 1 S. 2 StVollzG i.V.m. § 140 StPO nicht möglich, denn § 140 Abs. 2 StPO findet – außer im Verfahren nach § 92 JGG14 – in Strafvollzugssachen keine Anwendung.15 Wie bereits dargelegt sieht das gerichtliche Verfahren nach §§ 109 ff. StVollzG die Möglichkeit der Beiordnung eines vom Antragsteller ausgewählten und zur Vertretung bereiten Rechtsanwalts im Wege der Prozesskostenhilfe vor (vgl. § 120 Abs. 2 StVollzG i.V.m. § 121 Abs. 2 ZPO). Die Antragstellung durch einen Bevollmächtigten ist gestattet.16 Findet der Antragsteller keinen zur Vertretung bereiten Anwalt – was angesichts des oft niedrigen und kaum kostendeckenden Streitwerts nicht ausgeschlossen bleibt –, ordnet ihm bei Vorliegen der Voraussetzungen für die Gewährung von Prozesskostenhilfe der Vorsitzende auf Antrag einen solchen bei (§ 120 10 Siehe Arloth/Krä (Fn. 2), § 120 StVollzG Rn. 3; Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal (Fn. 2), § 120 Rn. 3; ferner AK/Spaniol (Fn. 3), Teil IV § 120 StVollzG Rn. 3; LNNV/Bachmann (Fn. 2), P Rn. 133 (für § 138 StPO). 11 In diesem Sinne AK/Spaniol (Fn. 3), Teil IV § 120 StVollzG Rn. 17. 12 OLG München, ZfStrVo SH 1978, 24; OLG Hamm, ZfStrVo 1980, 57. 13 LG Wuppertal, NStZ 1992, 152; Arloth/Krä (Fn. 2), § 26 StVollzG Rn. 1; a. A. AK/ Spaniol (Fn. 3), Teil IV vor § 109 StVollzG Rn. 11. 14 Siehe Arloth/Krä (Fn. 2), § 109 StVollzG Rn. 1a; Eisenberg (Fn. 1), § 92 Rn. 174a; Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal (Fn. 2), § 109 Rn. 3. 15 OLG Nürnberg, NStZ 1981, 250; OLG Bremen, NStZ 1984, 91; KG, FS 2016, 222; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 60. Aufl. 2017, § 140 Rn. 33b; Pollähne/Woynar, Verteidigung in Vollstreckung und Vollzug, 5. Aufl. 2014, S. 211. 16 Laubenthal, Strafvollzug, 7. Aufl. 2015, Rn. 762; s. auch OLG Zweibrücken, FS SH 2016, 110.
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Abs. 2 StVollzG i.V.m. § 121 Abs. 5 ZPO). In diesem Fall ist der Anwalt grundsätzlich verpflichtet, das „Mandat“ zu übernehmen, denn es handelt sich um einen Fall von Abschlusszwang nach § 48 Abs. 1 Nr. 1 BRAO.17 Lediglich bei Vorliegen wichtiger Gründe kann er die Aufhebung der Beiordnung begehren (§ 48 Abs. 2 BRAO).
IV. Beiordnung von Amts wegen nach § 109 Abs. 3 StVollzG § 109 Abs. 3 StVollzG schreibt die Beiordnung eines Rechtsanwalts in gerichtlichen Verfahren im Vollzug der Sicherungsverwahrung oder der ihr vorausgehenden Freiheitsstrafe wie auch – über § 92 Abs. 1 S. 2 JGG – einer vorgeschalteten Jugendstrafe18 vor. Das Beiordnungserfordernis gilt allerdings nur dann, wenn die vom Antragsteller begehrte oder angefochtene Maßnahme der Umsetzung von § 66c Abs. 1 StGB dient. Das vom BVerfG entwickelte Gesamtkonzept, um die Sicherungsverwahrung zu vermeiden oder so kurz wie möglich zu vollziehen,19 begnügt sich nicht damit, Vorgaben für die Ausgestaltung des Vollzugs aufzustellen. Steht den Betroffenen danach ein Anspruch u. a. auf gefährlichkeitsminimierende Maßnahmen zu, bedarf es zu dessen effektiver Durchsetzung anwaltlicher Unterstützung.20 Dem hat der Gesetzgeber mit § 109 Abs. 3 StVollzG Rechnung getragen. Er erhofft sich zugleich eine Entlastung der Strafvollstreckungskammern, indem die beigeordneten Anwälte ersichtlich unzulässige oder unbegründete Anträge zurücknehmen.21 Dagegen spricht allerdings, dass bei derartigen Begehren die Voraussetzungen der Beiordnung regelmäßig fehlen dürften. Im Übrigen spielen die Erfolgsaussichten keine Rolle.22 Selbst wenn die Voraussetzungen der Beiordnung nach § 109 Abs. 3 StVollzG nicht vorliegen, bleibt die Beiordnung eines Anwalts über § 120 Abs. 2 StVollzG nach Gewährung von Prozesskostenhilfe möglich.23 1. Stellung des Rechtsanwalts Der Gesetzgeber bezeichnet den beigeordneten Anwalt als Vertreter des Gefangenen, dem nicht lediglich die Stellung eines Beistands zukommt.24 Daraus darf man aber nicht herleiten, dass dem Gefangenen – namentlich im Zusammenhang mit Fristversäumnis und Wiedereinsetzung – ein Verschulden des Anwalts zuzurech17 Vgl. BGHZ 30, 226 (230); BGHZ 60, 255 (258 f.); Musielak/Voit/Fischer, ZPO, 15. Aufl. 2018, § 121 Rn. 34; Thomas/Putzo/Seiler, ZPO, 39. Aufl. 2018, § 121 Rn. 10. 18 Näher Eisenberg (Fn. 1), § 92 Rn. 180. 19 BVerfGE 128, 326 ff. 20 BVerfGE 128, 326 (382). 21 BT-Drucks. 18/9874, 27. 22 KG, StV 2015, 577 (578). 23 KG, NStZ 2017, 115 (116); OLG Hamm, BeckRS 2014, 19799 Rn. 25. 24 BT-Drucks. 17/8974, 27.
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nen wäre.25 Eine solche Sichtweise stünde weder im Einklang mit der Behandlung des Pflichtverteidigers im Erkenntnisverfahren noch mit dem zugrunde gelegten Regelungskonzept. Soll der Gefangene bei der Rechtswahrnehmung intensiv unterstützt werden, wäre es unstimmig, wenn fremdes Fehlverhalten ihm zum Nachteil gereichen dürfte. 2. Gegenstand des Verfahrens Anders als in Vollstreckungsangelegenheiten, in denen nach § 463 Abs. 8 StPO für die gesamte Dauer der Unterbringung ein Verteidiger zu bestellen ist,26 gilt § 109 Abs. 3 StVollzG nur punktuell für das jeweilige, bereits anhängige Verfahren. Die Beiordnung endet deshalb mit rechtskräftiger Entscheidung oder Rücknahme des Antrags.27 Anwaltliche Unterstützung kann der Verurteilte beanspruchen, wenn die Ausgestaltung der Unterbringung gemäß § 66c Abs. 1 StGB im Streit steht. Das betrifft zum einen die Frage der individuellen, therapieorientierten und gefährlichkeitsminimierenden Betreuung i.S.v. § 66c Abs. 1 Nr. 1 StGB, zum anderen die Gewährung von vollzugsöffnenden Maßnahmen bzw. das Treffen sonstiger der Entlassungsvorbereitung dienender Maßnahmen unter den Voraussetzungen des § 66c Abs. 1 Nr. 3 StGB.28 Streitigkeiten über eine dem Abstandsgebot genügende, vom Strafvollzug getrennte Unterbringung (§ 66c Abs. 1 Nr. 2 StGB) können ebenfalls zur Beiordnung führen; das berührt aber nur diejenigen Inhaftierten, die sich bereits im Vollzug der Sicherungsverwahrung und nicht mehr im vorangehenden Strafvollzug befinden. Der nötige Bezug zu § 66c StGB fehlt regelmäßig, wenn die Möglichkeit der Selbstverpflegung bzw. die Höhe des Verpflegungsgeldes,29 das vollzugliche Arbeitsentgelt30 oder Disziplinarmaßnahmen31 den Streitgegenstand bilden. 3. Einschränkender objektiv-subjektiver Maßstab Keine Beiordnung erfolgt, sofern wegen der Einfachheit der Sach- und Rechtslage die Mitwirkung eines Rechtsanwaltes nicht geboten erscheint oder der Antragsteller ersichtlich seine Rechte selbst ausreichend wahrnehmen kann.
25 Wie hier AK/Spaniol (Fn. 3), Teil IV § 109 StVollzG Rn. 38; offen gelassen von OLG Celle, StraFo 2015, 347. 26 Dazu OLG Dresden, NStZ-RR 2014, 357; OLG Nürnberg, NStZ 2017, 118. 27 BT-Drucks. 17/9874, 27. 28 KG, StV 2015, 577 (578). 29 OLG Hamm, BeckRS 2014, 19799 Rn. 23. 30 OLG Hamm, BeckRS 2014, 13402. 31 KG, NStZ 2017, 115; Arloth/Krä (Fn. 2), § 109 StVollzG Rn. 14.
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a) Einfachheit der Sach- und Rechtslage Mit dem Merkmal der Einfachheit der Sach- und Rechtslage orientiert sich der Gesetzgeber an § 140 Abs. 2 S. 1 StPO, wo reziprok die Schwierigkeit der Sachoder Rechtslage die Bestellung eines Verteidigers bedingt.32 Sowohl die tatsächliche als auch die rechtliche Situation muss als einfach zu beurteilen sein, um auf die Beiordnung eines Anwalts zu verzichten; eines alleine genügt dafür nicht. Von einer einfachen Sachlage lässt sich sprechen, sofern das Verfahren nicht umfangreich ist und ihm kein unübersichtlicher bzw. verworrener Lebenssachverhalt zugrunde liegt; auch eine zu erwartende höchstens durchschnittliche Dauer des Verfahrens spricht für die Einfachheit.33 Namentlich bleibt an Streitigkeiten zu denken, denen bei der Verwirklichung der grundrechtlichen Vorgaben für den Maßregelvollzug nur geringere Bedeutung zukommt, etwa einzelne Fragen der Gestaltung des Unterbringungsraumes oder der Freizeit.34 Geht es um das „Ob“ gefährlichkeitsminimierender Behandlungsmaßnahmen, wird regelmäßig keine einfache Sachlage anzunehmen sein, zumal beim Erfordernis der Einholung eines Sachverständigengutachtens.35 Anders kann es sich beim „Wie“ der Maßnahmen verhalten.36 Die Rechtslage erscheint einfach, sofern weder in formell- oder in materiell-rechtlicher Hinsicht strittige oder neue Rechtsfragen beantwortet werden müssen noch sich die Subsumtion als problematisch erweisen wird.37 Schwierig kann die Rechtslage insbesondere dann sein, wenn es um die Verfassungskonformität von Bestimmungen geht oder Analogieschlüsse zu erwägen sind. Die Einfachheit der Sachlage sollte nicht dazu verführen, vorschnell auf eine Einfachheit der Rechtslage zu schließen. Deshalb konnte sich beispielsweise im Jahr 2014 die Rechtslage hinsichtlich der Genehmigungsfähigkeit individueller Waschmaschinen und Wäschetrockner durchaus als schwierig darstellen.38 b) Fähigkeit des Antragstellers, die Rechte selbst wahrzunehmen Hinreichend selbst wahrnehmen kann der Antragsteller seine Rechte, wenn er über diejenigen geistigen Fähigkeiten und Kenntnisse verfügt, deren es zur sachgerechten Verfolgung der eigenen Interessen bedarf. Das ist bei juristisch Vorgebildeten und denjenigen der Fall, die sich während des Vollzugs die benötigten Rechtskenntnisse angeeignet haben.39 Erscheint Aktenkenntnis unabdingbar, bleibt zu berück32
BT-Drucks. 17/9874, 27. Vgl. auch LNNV/Bachmann (Fn. 2), P Rn. 38. 34 BT-Drucks. 17/9874, 27; OLG Celle, BeckRS 2016, 03454: Erwerb von Backpulver. 35 Arloth/Krä (Fn. 2), § 109 StVollzG Rn. 14; LNNV/Bachmann (Fn. 2), P Rn. 38. 36 KG, BeckRS 2014, 22079: ein oder zwei Begleitbeamte bei Ausführungen. 37 Vgl. Meyer-Goßner/Schmitt (Fn. 15), § 140 Rn. 27a. 38 OLG Hamm, BeckRS 2014, 12510; Arloth/Krä (Fn. 2), § 109 StVollzG Rn. 14; a.A. LNNV/Bachmann (Fn. 2), P Rn. 38. 39 Vgl. KG, StV 2015, 577 (578). 33
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sichtigen, inwieweit das anwendbare Vollzugsgesetz Akteneinsicht ermöglicht. Nicht wahrnehmen können ihre Rechte Analphabeten und solche Personen, die sich in der Gerichtssprache (deutsch) nicht (hinlänglich) auszudrücken vermögen oder deren psychische Prädisposition sinnvollen Vortrag und sonstige Mitwirkung im Verfahren verhindert. 4. Gerichtliches Verfahren Zur Entscheidung über Bestellung und Widerruf eines Rechtsanwalts berufen ist gemäß § 109 Abs. 3 S. 2 StVollzG der Vorsitzende des nach § 110 StVollzG örtlich zuständigen Gerichts, also der Richter der kleinen Strafvollstreckungskammer (§§ 78a Abs. 1 S. 2 Nr. 2, 78b Abs. 1 Nr. 2 GVG). Im Jugendvollzug tritt an seine Stelle der Vorsitzende der Jugendkammer (§ 92 Abs. 2 S. 1, Abs. 4 S. 1 JGG).40 Die Bestellung erfolgt bei Vorliegen der Voraussetzungen auch ohne Antrag von Amts wegen, unabhängig von der Bedürftigkeit des Betroffenen.41 § 142 StPO gilt entsprechend, so dass dem Inhaftierten Gelegenheit zu geben ist, einen Anwalt seines Vertrauens vorzuschlagen.42 Bestellt werden kann nach dem eindeutigen Wortlaut trotz der Anlehnung an die Pflichtverteidigung aber nur ein Rechtsanwalt, nicht ein nach § 138 Abs. 1 StPO als Verteidiger wählbarer Hochschullehrer.43 Ein Widerruf mit nachfolgender Bestellung eines anderen Anwalts kann bei Zerrüttung des Vertrauensverhältnisses in Betracht kommen.44 Die Ablehnung der Bestellung oder ihr Widerruf sind mit einfacher Beschwerde anfechtbar, § 120 Abs. 1 S. 2 StVollzG i.V.m. § 304 StPO.45 Das OLG spricht im ersten Fall ggf. die Beiordnung nach § 309 Abs. 2 StPO aus. Unterblieb eine gebotene Beiordnung, kann alternativ auch die Entscheidung in der Sache mit der Rechtsbeschwerde unter Erhebung einer Verfahrensrüge angegriffen werden.46 Der Vorsitzende des Strafsenats darf in diesem Fall nicht die Beiordnung nach § 109 Abs. 3 S. 2 StVollzG nachholen; denn das Rechtsbeschwerdegericht ist nicht das nach § 110 StVollzG zuständige Gericht.47
40 Arloth/Krä (Fn. 2), § 109 StVollzG Rn. 14; BeckOK Strafvollzug Bund/Euler, 13. Ed. Stand: 1. 2. 2018, § 109 StVollzG Rn. 15; a. A. Eisenberg (Fn. 1), § 92 Rn. 180. 41 OLG Hamm, NStZ-RR 2014, 294. 42 AK/Spaniol (Fn. 3), Teil IV § 109 StVollzG Rn. 40. 43 Vgl. Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal (Fn. 2), § 118 Rn. 8; BeckOK/Euler (Fn. 40), § 118 StVollzG Rn. 2; a.A. Arloth/Krä (Fn. 2), § 118 StVollzG Rn. 5; AK/Spaniol (Fn. 3), Teil IV § 118 StVollzG Rn. 4. 44 AK/Spaniol (Fn. 3), Teil IV § 109 StVollzG Rn. 40. 45 KG, StV 2015, 577. 46 Vgl. OLG Celle, BeckRS 2016, 03454. 47 LNNV/Bachmann (Fn. 2), P Rn. 38; a.A. OLG Hamm, NStZ-RR 2014, 294; Arloth/Krä (Fn. 2), § 109 StVollzG Rn. 14.
Mitwirkung des Rechtsanwalts in Verfahren nach den Strafvollzugsgesetzen
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V. Mitwirkung im Rechtsbeschwerdeverfahren Gegen eine erstinstanzliche Entscheidung der Strafvollstreckungskammer gem. § 115 StVollzG besteht nach § 116 StVollzG das Rechtsmittel der Rechtsbeschwerde. Diese kann gem. § 118 Abs. 3 StVollzG von dem Antragsteller (§ 111 Abs. 1 Nr. 1 StVollzG) nur in einer von einem Rechtsanwalt unterzeichneten Schrift oder zu Protokoll der Geschäftsstelle des Gerichts eingelegt und begründet werden. Sinn dieser Vorschrift ist es, sicherzustellen, dass das Vorbringen des Antragstellers in sachlich und rechtlich geordneter Weise in das Verfahren eingeführt wird und die Gerichte von unsachgemäßen und sinnlosen Anträgen entlastet bleiben.48 Das Formerfordernis dient zugleich den Interessen der in der Regel juristisch unerfahrenen Beschwerdeführer, damit deren Rechtsmittel nicht von vornherein an rechtlichen (Form-)Mängeln scheitern.49 Eine wirksame Vollmacht muss vorliegen.50 Eine Rechtsbeschwerdeschrift genügt dann nicht der Form von § 118 Abs. 3 StVollzG, wenn sie zwar die anwaltliche Unterschrift trägt, dieser jedoch nicht die volle Verantwortung für den Inhalt übernimmt und die Begründung unter Bezugnahme auf privatschriftliche Äußerungen des Betroffenen verfertigt wurde.51 Der Rechtsanwalt muss eigenverantwortlich gestaltend an der Abfassung der Rechtsbeschwerdeschrift mitwirken.52 Hochschullehrer sind nicht nach § 120 Abs. 1 S. 2 StVollzG i.V.m. §§ 138 Abs. 1, 345 Abs. 2 StPO zur Vertretung im vollzuglichen Rechtsbeschwerdeverfahren zugelassen.53 Anders als bei der Revisionseinlegung nach § 345 Abs. 2 StPO differenziert das StVollzG nicht zwischen Verteidiger und Rechtsanwalt. Gemäß § 118 Abs. 3 StVollzG bleiben alle anderen Personen, die nicht Rechtsanwalt sind, von der Einlegung und Begründung der Rechtsbeschwerde ausgeschlossen, soweit dies nicht zu Protokoll der Geschäftsstelle erfolgt. Das Formerfordernis von § 118 Abs. 3 StVollzG gilt auch, wenn eine Behörde, die nicht Aufsichtsbehörde i.S.v. § 111 Abs. 2 StVollzG ist, in vollzuglichen Gerichtsverfahren als Antragstellerin auftritt (z. B. eine sonstige Verwaltungsbehörde) und Rechtsbeschwerde einlegt. Ein Verwaltungsmitarbeiter erfüllt die Voraussetzung der von einem Rechtsanwalt unterzeichneten Schrift selbst dann nicht, wenn er Volljurist ist.54 48 OLG Celle, ZfStrVo SH 1978, 53; OLG Karlsruhe, ZfStrVo SH 1978, 54; OLG Stuttgart, ZfStrVo SH 1978, 55; OLG Hamm, ZfStrVo SH 1979, 110. 49 BVerfG, NJW 2013, 446 (447); LNNV/Bachmann (Fn. 2), P Rn. 105; zum Nachweis der Urheberschaft eines Rechtsanwalts einer Begründungsschrift s. BGH, NJW 1986, 1760. 50 OLG Jena, ZfStrVo 2004, 183. 51 BGH, NStZ 1984, 563; BVerwG, NJW 1997, 1865; OLG Hamm, NStZ 1992, 208; OLG Celle, NStZ 1998, 400. 52 OLG Stuttgart, Justiz 2002, 233; LNNV/Bachmann (Fn. 2), P Rdn. 105. 53 OLG Bremen, ZfStrVo 1987, 382; OLG Nürnberg, ZfStrVo 1990, 121; s. ferner die Nachweise in Fn. 43. 54 OLG Celle, NStZ 2007, 226.
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§ 118 Abs. 3 StVollzG gibt nicht nur Formbedürftigkeit der Einlegung vor, sondern auch der Erklärung, inwieweit die Entscheidung angefochten und ihre Aufhebung beantragt wird, ferner der Begründung der Rechtsbeschwerde.55 Eine Einlegung der Rechtsbeschwerde durch Telefax oder Fernschreiben ist zulässig.56 Den Formerfordernissen genügt jedoch nicht eine fernmündliche Erklärung.57 Bei Fristversäumung kommt Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in Betracht (§ 120 Abs. 1 S. 2 StVollzG i.V.m. § 44 StPO). Dabei muss sich der Strafgefangene unbeschadet der strukturellen Verwandtschaft des Verfahrens mit dem Verwaltungsprozess das Verschulden seines Verteidigers nicht zurechnen lassen, weil einer in Unfreiheit befindlichen Person die Überwachung des Anwalts nicht hinlänglich möglich bleibt.58 Die Rücknahme der Rechtsbeschwerde ist an die gleiche Form wie die Einlegung gebunden. Sie kann nur schriftlich durch einen Rechtsanwalt oder zu Protokoll der Geschäftsstelle erfolgen. Dementsprechend ist ein telefonisch erklärter Rechtsmittelverzicht unwirksam.59 Das gilt auch für die fernmündliche Erklärung durch einen Rechtsanwalt. Ebenso genügt eine von dem Strafgefangenen selbst verfasste Schrift nicht.60 Allerdings kann die Rücknahme von einem anderen Anwalt erklärt werden als von demjenigen, der die Rechtsbeschwerde eingelegt hat. Das folgt aus § 120 Abs. 1 S. 2 StVollzG i.V.m. dem Rechtsgedanken des § 227 StPO, wonach sich mehrere Verteidiger, bei Wahlverteidigern maximal drei (§ 120 Abs. 1 S. 2 StVollzG, § 137 Abs. 1 S. 2 StPO), die Verrichtungen untereinander teilen können. Die Rücknahme ist wirksam, wenn der die Rücknahme vornehmende Verteidiger hierzu ausdrücklich ermächtigt war (§ 120 Abs. 1 S. 2 StVollzG i.V.m. § 302 Abs. 2 StPO). Der Schriftform bedarf die Ermächtigung allerdings nicht.61 Hinsichtlich Prozesskostenhilfe ist zu beachten, dass deren erstinstanzliche Gewährung nicht für die Rechtsbeschwerdeinstanz fortwirkt. Gem. § 120 Abs. 1 S. 2 StVollzG i.V.m. § 119 Abs. 1 S. 1 ZPO erfolgt die Bewilligung der Prozesskostenhilfe für jeden Rechtszug besonders, so dass der Gefangene in der Rechtsbeschwerdeinstanz ggf. einen neuen Antrag zu stellen hat.
55
OLG Hamm, ZfStrVo SH 1978, 52. BVerfG, NJW 1987, 2067; LNNV/Bachmann (Fn. 2), P Rn. 105. 57 BGH, NJW 1981, 1627. 58 Laubenthal (Fn. 16), Rn. 795; Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal (Fn. 2), § 112 Rn. 8, § 118 Rn. 10; AK/Spaniol (Fn. 3), Teil IV § 112 StVollzG Rn. 12; a.A. BVerfG, BeckRS 2009, 38651; OLG Celle, NStZ 2016, 244 (245); OLG Hamm, NStZ 2008, 684; Arloth/Krä (Fn. 2), § 112 Rn. 5, § 118 Rn. 3; BeckOK/Euler (Fn. 40), § 118 StVollzG Rn. 9; differenzierend LNNV/Bachmann (Fn. 2), P Rn. 50. 59 OLG Hamm, ZfStrVo 1986, 189. 60 OLG Koblenz NStZ 2000, 468. 61 BGHSt 10, 245 (246); Meyer-Goßner/Schmitt (Fn. 15), § 302 Rn. 32. 56
Mitwirkung des Rechtsanwalts in Verfahren nach den Strafvollzugsgesetzen
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VI. Mitwirkung im gerichtlichen Kontrollverfahren bei angeordneter oder vorbehaltener Sicherungsverwahrung Ein weiterer Tätigkeitsbereich wurde für die Anwaltschaft mit der Schaffung von § 119a StVollzG eröffnet. 1. Anwendungsbereich und Zweck Die Bestimmung bildet den bundesstrafvollzugsrechtlichen Kern der umfangreichen Regelungen, die das BVerfG in seinem Urteil zur Sicherungsverwahrung62 zwecks Schaffung verfassungskonformer Zustände gefordert hat.63 Die Vorgaben wirken sich auf den Vollzug der Freiheitsstrafe aus, indem bereits in diesem Stadium alles unternommen werden muss, um die Gefährlichkeit der Betroffenen so zu minimieren, dass sich der Vollzug der Unterbringung nach Möglichkeit vermeiden lässt (§§ 66a Abs. 3 S. 2, 66c Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe b, 67c Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StGB).64 Die materiellen Anforderungen an den Strafvollzug vor potentieller Sicherungsverwahrung ergeben sich aus § 66c Abs. 2 StGB sowie den einschlägigen landesrechtlichen Bestimmungen.65 Insofern statuieren die Landesgesetze ein weiteres Vollzugsziel.66 Abgesichert wird die Einhaltung der Anforderungen an die Gestaltung der Strafhaft durch das in § 119a StVollzG niedergelegte zeitnahe und periodische gerichtliche Kontrollverfahren. Zudem soll dieses der Vollzugsbehörde Rechtssicherheit verschaffen, weil es dem Verurteilten die Möglichkeit nimmt, sich erst nach Ende der Strafhaft auf mangelnde Betreuung und daraus resultierende Unverhältnismäßigkeit der Unterbringung (§ 67c Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB) zu berufen.67 Damit handelt es sich bei der strafvollzugsbegleitenden gerichtlichen Kontrolle um ein Verfahren eigener Art, nicht um einen Unterfall des Antrags auf gerichtliche Entscheidung gem. § 109 StVollzG. Es bestehen nicht nur wegen § 119a Abs. 7 StVollzG Verflechtungen und Wechselwirkungen mit dem Vollstreckungsrecht. § 119a StVollzG findet auch bei der Anordnung von Sicherungsverwahrung neben lebenslanger Freiheitsstrafe Anwendung, obwohl der Vollzug der Maßregel hier unwahrscheinlich bleibt.68 Ebenso erlangt die Norm Bedeutung bei der Anordnung vorbehaltener Sicherungsverwahrung nach §§ 7 Abs. 2 S. 1, 106 Abs. 3 S. 2, Abs. 4 JGG, wie sich zumindest aus § 92 Abs. 2 S. 2 JGG ergibt.69 Keine Rolle spielt es,
62
BVerfGE 128, 326 ff. Dazu LNNV/Bachmann (Fn. 2), P Rn. 116; Laubenthal (Fn. 16), Rn. 918 ff. m.w.Nachw. 64 Vgl. BVerfGE 128, 326 (379). 65 Näher Laubenthal (Fn. 16) Rn. 962, 965. 66 Laubenthal (Fn. 16), Rn. 962; Schäfersküpper/Grote, NStZ 2013, 447 (452). 67 BT-Drucks. 17/9874, 28; Lesting/Feest, StV 2013, 278 (279). 68 OLG Celle, FS 2016, 75; OLG Frankfurt, FS 2016, 221. 69 Dazu Eisenberg (Fn. 1), § 92 Rn. 176 ff.
63
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ob gerade der Vollzug der Freiheits- oder ggf. Jugendstrafe aus demjenigen Urteil stattfindet, in dem das Gericht auf Sicherungsverwahrung erkannt hat.70 Die gerichtliche Kontrolle gemäß § 119a StVollzG wird von Amts wegen seitens der Strafvollstreckungskammer bzw. nach § 92 Abs. 2 S. 2 JGG von der Jugendkammer ausgeübt. Das Gericht muss grundsätzlich nach jeweils zwei Jahren Strafvollzug (§ 119a Abs. 3 StVollzG) überprüfen, ob die Vollzugsbehörde dem Verurteilten ein den gesetzlichen Vorschriften entsprechendes Betreuungsangebot unterbreitet hat (§ 119a Abs. 1 Nr. 1 StVollzG). Ist dies nicht der Fall, stellt die Kammer fest, welche konkreten Maßnahmen die Vollzugsbehörde dem Gefangenen künftig anbieten muss (§ 119a Abs. 1 Nr. 2 StVollzG). Unabhängig von den im Gesetz festgesetzten Fristen kann die Vollzugsbehörde jederzeit bei Vorliegen eines berechtigten Interesses eine entsprechende Entscheidung beantragen (§ 119a Abs. 2 S. 1 StVollzG). Ein solcher Fall liegt insbesondere dann vor, wenn ein Vollzugsplan erstmalig aufgestellt oder später wesentlich geändert wurde. Dann darf die Vollzugsbehörde eine gerichtliche Entscheidung darüber herbeiführen, ob die vorgesehenen Maßnahmen eine hinreichende Betreuung darstellen (§ 119a Abs. 2 S. 2 StVollzG). An rechtskräftige Feststellungen der Strafvollstreckungskammer nach § 119a Abs. 1 und Abs. 2 S. 2 StVollzG sind alle Gerichte bei späteren Entscheidungen gebunden, soweit sich die Sachlage nicht wesentlich geändert hat.
2. Anwaltliche Beiordnung und Verfahren Dem Gefangenen ist von Amts wegen ein Rechtsanwalt für das gerichtliche Verfahren beizuordnen (§ 119a Abs. 6 S. 1 StVollzG). Die Zuständigkeit hierfür liegt beim Vorsitzenden der Strafvollstreckungskammer, § 119a Abs. 6 S. 3 i.V.m. § 109 Abs. 3 S. 2 StVollzG, bzw. der Jugendkammer. Anders als bei Beiordnungen auf der Basis von § 109 Abs. 3 S. 1 StVollzG existieren keine Ausnahmen von der Beiordnungspflicht. Der Gefangene selbst besitzt jedoch im Verfahren nach § 119a StVollzG kein eigenes Antragsrecht. Vielmehr bleibt er darauf beschränkt, einzelne Behandlungsoder Betreuungsmaßnahmen mit einem Antrag auf gerichtliche Entscheidung gem. §§ 109 ff. StVollzG anzufechten oder einzufordern.71 In diesem Fall ist ihm ebenfalls prinzipiell ein Rechtsanwalt beizuordnen (§ 109 Abs. 3 StVollzG).72 Durch substantiiertes Bestreiten der Rechtmäßigkeit des behördlichen Verhaltens mag zumal der anwaltlich unterstützte Inhaftierte zudem erreichen, dass die Vollzugsbehörde einen Antrag nach § 119a Abs. 2 S. 1 StVollzG stellt.73 70
Vgl. BT-Drucks. 17/9874, 18; OLG Frankfurt, FS 2016, 221; OLG Karlsruhe, NStZ-RR 2016, 261. 71 So BT-Drs. 17/9874, 28 f.; Lesting/Feest (Fn. 67), 279; Schäfersküpper/Grote (Fn. 66), 453; krit. Eisenberg (Fn. 1), § 92 Rdn. 176. 72 Dazu schon IV.; ferner Lesting/Feest (Fn. 67), 280; Pollähne, StV 2013, 249 (256). 73 Siehe BT-Drs. 17/9874, 28.
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Findet im Verfahren nach § 119a StVollzG eine mündliche Anhörung des Inhaftierten statt, hat der beigeordnete Anwalt das Recht auf Anwesenheit. Eine solche ist zwar nicht vorgeschrieben (§ 119a Abs. 6 S. 2 StVollzG). Sie darf allerdings nach Ermessen der Kammer nicht nur gemäß § 92 Abs. 3 S. 2 JGG, sondern auch im Erwachsenenvollzug durchgeführt werden.74 Gegen die gerichtliche Entscheidung i.S.d. § 119a StVollzG kann Beschwerde sui generis – nicht Rechtsbeschwerde nach § 116 StVollzG – eingelegt werden, § 119a Abs. 5 StVollzG. Beschwerdeberechtigt ist als Beteiligter unbeschadet seines fehlenden Initiativrechts auch der Gefangene.75 Er ist sowohl beschwert, sofern das Betreuungsangebot der Anstalt als unzulänglich bewertet wird, als auch dann, wenn die Angebote als genügend eingestuft sind.76 Keine Zulässigkeitsvoraussetzung bildet das Erfordernis der Nachprüfung zur Fortbildung des Rechts oder der Sicherung einheitlicher Rechtsprechung; § 116 StVollzG gilt nicht entsprechend.77 Einzulegen ist die Beschwerde binnen eines Monats nach Zustellung des erstinstanzlichen Beschlusses beim iudex a quo, also der Strafvollstreckungs- bzw. Jugendkammer, die entschieden hat (§ 119a Abs. 6 S. 3 i.V.m. § 118 Abs. 1 S. 1 StVollzG). Trotz der Beiordnung eines Rechtsanwalts verlangt das Gesetz die Einlegung durch diesen nicht. Der Gefangene kann die Beschwerde somit privatschriftlich oder zu Protokoll der Geschäftsstelle formwirksam anbringen (§ 120 Abs. 1 S. 2 StVollzG, § 306 Abs. 1 StPO). Auch die übrigen Formalien des § 118 StVollzG gelten mangels einer Begründungspflicht nicht.78
74
BT-Drucks. 17/9874, 29; AK/Spaniol (Fn. 3), Teil IV § 119a StVollzG Rn. 10. BT-Drucks. 17/9874, 29. 76 AK/Spaniol (Fn. 3), Teil IV § 119a StVollzG Rn. 15; Baier, StraFo 2014, 397 (404); Peglau, JR 2016, 45 (51). 77 KG, StraFo 2015, 435; LNNV/Bachmann (Fn. 2), P Rn. 125. 78 OLG Koblenz, BeckRS 2016, 13532 Rn. 14. 75
Bleibende Eindrücke – Ein persönlicher Rückblick auf sieben Jahre Gewaltforschung im Jugendstrafvollzug Von Frank Neubacher
I. Warum persönliche Erfahrungen? Es ist nicht üblich, in wissenschaftlichen Veröffentlichungen von persönlichen Erfahrungen oder Eindrücken aus der Forschungstätigkeit zu berichten. Dabei können sie ebenso bemerkenswert sein wie die Datenkolonnen, die die veröffentlichten Forschungsergebnisse begleiten. Vielleicht hinterlassen sie manchmal sogar einen besonders nachhaltigen Eindruck. Deshalb nutze ich die Gelegenheit, um mich hier – entlastet vom wissenschaftlichen Apparat und entsprechenden Konventionen – ungezwungen zu äußern.1 Ich mache das in der Hoffnung, dass es Ulrich Eisenberg, der so viele Fachgebiete (Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug, Straf- und Sanktionenrecht, Strafprozess-, insbesondere Beweisrecht) ertragreich beackert hat, interessieren wird. Ich habe jedoch den Eindruck, dass seine wissenschaftlichen Arbeiten zum Jugendkriminalrecht und zum Jugendstrafvollzug2 zu dieser Hoffnung berechtigen. Gegenstand meiner Betrachtungen ist ein Kölner Forschungsprojekt, das in insgesamt drei Projektabschnitten von Mai 2010 bis Januar 2018 am Institut für Kriminologie durchgeführt wurde: • 2010 – 2013: „Gewalt und Suizid im Jugendstrafvollzug – Phänomen, Ursachen, Prävention“, • 2013 – 2015: „Gewalt und Suizid unter weiblichen und männlichen Jugendstrafgefangenen – Entstehungsbedingungen und Entwicklungsverläufe im Geschlechtervergleich“, • 2015 – 2017 Verlängerung der Förderung (kostenneutral verlängert bis Januar 2018).
1
Meinen wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen Dr. Verena Boxberg und Sarah E. Fehrmann danke ich für eine kritische Durchsicht des Textes und ihre Verbesserungsvorschläge. 2 Vgl. nur Eisenberg, Jugendgerichtsgesetz, 19. Aufl. 2017; Eisenberg, NStZ 2008, S. 250 – 262.
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Dabei stehen die in den ersten Jahren gemachten Erfahrungen mit den inhaftierten jungen Männern im Vordergrund, weil in dieser Zeit die entscheidenden methodischen Weichenstellungen vorgenommen wurden, die das Projekt geprägt haben. Die Ergebnisse zu den inhaftierten Frauen, auf die ich nachfolgend etwas knapper eingehe, sind selbstverständlich nicht weniger wichtig, beruhen im Kern aber auf der gleichen Vorgehensweise, die sich im ersten Projektabschnitt bewährt hatte.
II. Besorgnisse und Bedenken 1. Unsicherheiten Am Anfang war die Besorgnis – könnte man sagen. Es gab sie auf allen Seiten. Die Vollzugsverantwortlichen in Nordrhein-Westfalen und Thüringen werden sich gefragt haben, ob man nach dem Siegburger Häftlingsmord im November 2006, dem im Oktober 2001 in Ichtershausen ein ähnlicher Fall vorangegangen war, und den durch das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 31. Mai 20063 formulierten Anforderungen an die Beobachtung der tatsächlichen Entwicklungen im Jugendstrafvollzug überhaupt die Unterstützung für ein solches Forschungsvorhaben würde verwehren können. Das galt umso mehr, als die Thematik der Gewalt unter Gefangenen – jedenfalls in Deutschland – praktisch unerforscht war. Es existierte lediglich eine Aktenanalyse des Kriminologischen Dienstes NRW zu bekannt gewordenen Gewaltfällen des Jahres 2005, also eine Hellfeld-Studie.4 Ich hatte nie einen Zweifel daran, dass ein echtes Interesse an der Erforschung dieses in Vollzugskreisen bekannten Phänomens bestand. Gleichzeitig war aber auch die Unsicherheit groß, welche Ergebnisse zutage treten würden, welche kriminalpolitischen Schlussfolgerungen ggf. zu ziehen seien und mit welchem praktischen Organisationsaufwand die Studie für den Vollzug verbunden sein würde. Unter den wissenschaftlichen Peers bestanden, wie das Verfahren bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) zur Prüfung des Drittmittelantrags gezeigt hat, Bedenken in methodischer Hinsicht. Sie bezogen sich vor allem auf die Gefahr der „Panelmortalität“. Niemand konnte natürlich wissen, in welchem Maße sich Jugendstrafgefangene würden mobilisieren lassen, freiwillig und wiederholt an einer Längsschnittstudie zu den Themen „Gewalt“ und „Suizid“ teilzunehmen, die darauf angelegt war, die Gefangenen innerhalb von 12 Monaten viermal, im Abstand von jeweils drei Monaten, zu befragen. Wir konnten selbst nicht sicher sein, ob das gelingen würde. Um überhaupt ein Anfangsinteresse der Gefangenen zu erregen, hatten wir als Anreiz eingeplant, den Gefangenen für jede Teilnahme an der Befragung nach ihrer Wahl Kaffee, Tabak (nur für Volljährige) oder Schokolade im Wert von 5 Euro 3
BVerfG 116, 69. Wirth, Gewalt unter Gefangenen, Kernbefunde einer empirischen Studie im Strafvollzug des Landes Nordrhein-Westfalen, 2006. 4
Rückblick auf sieben Jahre Gewaltforschung im Jugendstrafvollzug
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zu übergeben, und zwar unmittelbar nach der Befragung – als direkte Belohnung.5 In den Informationsgesprächen, die allen Befragungen etwa eine Woche vorher vorangingen, vermieden wir aber sorgfältig den Eindruck, die Gefangenen damit bezahlen zu wollen. Vielmehr sprachen wir von einer Geste des Dankes für die aufgewendete Zeit. Ziel der Informationsgespräche war es in erster Linie, uns, und das hieß das gesamte Forschungsteam, persönlich bei den Gefangenen vorzustellen und die zu erwartenden Fragen nach dem Datenschutz, der Vertraulichkeit der Angaben und dem Sinn der Studie zu beantworten. 2. Informationsgespräche Die Informationsgespräche bedeuteten für alle Beteiligten einen großen Aufwand. Da in vier Anstalten geforscht werden sollte (Herford und Heinsberg in NRW, Ichtershausen mitsamt der Zweiganstalt Weimar in Thüringen) wären insgesamt 16 Gespräche notwendig geworden. Tatsächlich wurden es zwei weniger, weil die Zweigstelle Weimar im Laufe der Zeit nur noch Untersuchungshaftgefangene beherbergte, die wir als zu Befragende ausgeschlossen hatten. Innerhalb von drei Monaten besuchten wir die vier Anstalten also wenigstens jeweils zweimal – einmal für das Informationsgespräch, das andere Mal im Zuge der eigentlichen Befragung. Teilweise konnten die Informationsgespräche nicht mit allen interessierten Gefangenen gleichzeitig durchgeführt werden. Aus Sicherheitsgründen wurden uns in einigen Anstalten die Gefangenen in Gruppen zu ca. je 70 – 80 Gefangenen zugeführt. Teilweise fanden die Informationsgespräche abends statt, nach der Arbeit in der Freizeit der Gefangenen. Im Gegensatz zu der eigentlichen Befragung, die in geeigneten Räumen mit jeweils 12 – 15 Personen – in Abwesenheit von Bediensteten – durchgeführt wurde, waren bei den Informationsgesprächen auch Bedienstete anwesend. Sie dürften die Gefangenen aus einer ungewohnten Perspektive erlebt haben, denn diese suchten teilweise interessiert das Gespräch mit uns und fragten sehr kritisch nach, z. B. wofür eine solche Studie gut sei, was sie an Verbesserungen für die Gefangenen bringe, ob sie zur Installation von Videokameras führen werde und was uns zur Durchführung der Studie qualifiziere? In einer Anstalt wurde so lebhaft nachgefragt, dass die eingeplante Zeit weit überschritten wurde und einige Bedienstete deswegen ihre Schicht erst später als geplant beenden konnten. Die Fragen der Gefangenen wurden offen und ehrlich beantwortet. Nach dem zu erwartenden Nutzen für die Gefangenen befragt, wurden keine falschen Versprechungen gemacht. Wir machten deutlich, dass wir Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler seien, ohne Macht, die Gesetze oder die Situation in den Anstalten unmittelbar zu verändern, dass wir aber entschlossen seien, unsere Daten nicht nur in der wissenschaftlichen Community zu diskutieren, sondern auch – z. B. über Vorträge – die Öffentlichkeit und die Justizpolitik auf etwaige Probleme aufmerksam zu ma5 Für die themenzentrierten Interviews, die zum Teil mehrere Stunden dauerten, erhielten die Gefangenen 10 Euro.
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chen. Außerdem versprachen wir, die wichtigsten Ergebnisse den betreffenden Anstalten zukommen zu lassen. Damit waren nicht Sonderdrucke oder Fotokopien unserer Publikationen gemeint; es wurden separate Informationsbroschüren für die einzelnen Anstalten erstellt. Mit diesen Informationsbroschüren konnten wir die Gefangenen am Forschungserlebnis teilhaben lassen und signalisieren, dass wir ihnen etwas zurückgeben wollten. Aus methodischen Gründen betrafen diese Rückmeldungen unverfängliche Daten, zum Beispiel zur Zufriedenheit mit der Unterbringungsituation, keinesfalls aber Angaben zum Gewaltgeschehen oder zur Suizidalität, weil das die längsschnittlichen Daten verfälscht hätte. Im Rückblick erscheinen mir die von beiden Seiten mit großem Ernst geführten Informationsgespräche als Schlüssel für das erfolgreich durchgeführte Projekt. Ohne den betriebenen Aufwand hätten sich vermutlich deutlich weniger Gefangene beteiligt. Ich glaube auch, dass die freundlich-sachliche und unverkrampfte Art meines Forschungsteams den jungen Gefangenen Sicherheit gegeben hat. 3. Vertraulichkeit, Datenschutz, Forschungsethik Der wichtigste Punkt in den Informationsgesprächen betraf natürlich die Zusicherung von Vertraulichkeit und Datenschutz. Die Notwendigkeit, verschiedene, zu unterschiedlichen Zeitpunkten ausgefüllte Fragebögen denselben Gefangenen zuordnen zu können, machte die Vergabe von Pseudonymen erforderlich. Die Fragebögen wurden noch vor Ort mit den entsprechenden Etiketten versehen, so dass selbst für den Fall, dass ein Fragebogen versehentlich in der Anstalt verblieben wäre, niemand (außer dem Forschungsteam) den Aussteller hätte identifizieren können. Umso wichtiger war es zu betonen, dass wir garantierten, dass keine Information aus den einzelnen Fragebögen oder Interviews an die Justiz, Anstaltsbedienstete oder Gefangene gelangen würden. Hierzu erklärten wir, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler insofern frei sind und keine Vorgesetzten bzw. Anweisungen zu fürchten haben. Datenschutz und Datensicherheit hatten hohe Priorität: Die Daten wurden verschlüsselt abgespeichert und weitergeleitet. Die zentralen Rechner, auf dem Daten eingegeben und bereinigt wurden, waren aus Sicherheitsgründen nicht mit dem Internet verbunden. Das Forschungsprojekt warf forschungsethische Fragen auf, die ebenfalls während der Informationsgespräche zu thematisieren waren. Von besonderer ethischer Relevanz war, inwiefern Gefangenen Vertraulichkeit zugesichert werden konnte, wenn bei akuter Selbstgefährdung andere davon in Kenntnis zu setzen waren. Bei deutlichen Hinweisen auf eine akute Selbstgefährdung (durch konkrete Aussagen im Interview bzw. während der Fragebogenerhebung, durch Ankreuzverhalten im Fragebogen) wurde der Anstaltspsychologe bzw. die Anstaltspsychologin unterrichtet. Die insoweit relevanten Kriterien waren zuvor mit den Anstaltspsychologen aller beteiligten Strafanstalten und der Ethikkommission abgesprochen worden. Gegebenenfalls wurden die zuständigen Psychologinnen bzw. Psychologen, die den Gefangenen bekannt waren, gebeten, sich in einem Gespräch um einen Gefangenen zu
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kümmern, der uns suizidal erschien. Niemals wurden indes Informationen aus dem Fragebogen oder Interview weitergegeben. Bei jeder Erhebung war eine solche Nachbetreuung sichergestellt. Aus diesem Grund fanden die Befragungen und Interviews niemals an einem Freitag statt, da Personalschlüssel und die Möglichkeiten zur Versorgung der Gefangenen am und vor dem Wochenende verringert waren.
III. Misstrauen und Zutrauen Die Reaktion der Gefangenen auf die Fragen zum Suizid deutete auf eine Problematik innerhalb der Anstalten im Umgang mit Suizidalität hin. Wenn mit einzelnen Gefangenen aufgrund einer vermuteten Suizidalität die vereinbarten Gespräche geführt wurden, waren sie den Anstalten ausnahmslos bekannt und wurden überwiegend bereits psychologisch betreut. Viele Gefangene äußerten offen, aber auch unter vier Augen die Sorge, im Falle von suizidalen Gedanken im besonders gesicherten Haftraum untergebracht zu werden. Mein Team und mich hat es sehr erschreckt, dass der Vollzug zumindest in manchen Fällen auf die Verzweiflung und Hilfsbedürftigkeit von Gefangenen in dieser Weise reagiert, die das Streben des Vollzugs nach „Sicherheit“ erkennen lässt, aber die Probleme des Gefangenen eher verschärft anstatt zu lindern. Ein ähnliches „Aha“-Erlebnis hatten wir mit Vollzugsverantwortlichen, mit denen vorab unsere methodische Vorgehensweise erörtert wurde. Viele äußerten sich extrem skeptisch über die Leistungsfähigkeit der Gefangenen. Als wir auf die Frage, wie lang der Fragebogen sei und wie viel Zeit wir für seine Beantwortung einrechneten, antworteten, er umfasse 42 Seiten und die Beantwortung würde voraussichtlich ca. 90 Minuten in Anspruch nehmen, war ungläubiges Staunen die Folge – und die Aussage, dass sich „seine Gefangenen“ maximal 15 – 20 Minuten konzentrieren könnten. Alles, was darüber hinausginge, sei sehr unrealistisch. Wir nahmen diese und ähnliche Meinungsäußerungen zum Anlass, die Bediensteten aller Hierarchiestufen zu informieren und zu motivieren. Mit geeigneten Schreiben, die unter den Bediensteten der Anstalt verteilt bzw. weitergeleitet wurden, wandte ich mich direkt an sie und warb um ihre Unterstützung für die Studie. Psychische, verbale oder körperliche Gewalt unter Bediensteten blieb in unserer Studie thematisch ebenso ausgeklammert wie Gewalt von Gefangenen gegen Bedienstete oder – umgekehrt – von Bediensteten gegen Gefangene. Im Gegensatz zu den USA ist dieses Thema hierzulande immer noch ein Tabu und ein Forschungsdesiderat. Wir hatten aber – sicher nicht zu Unrecht – von Anfang an den Eindruck, dass wir unser Forschungsprojekt nicht überladen und gewiss nicht mit diesem heiklen Punkt belasten sollten. Wahrscheinlich wäre es dadurch auch noch schwieriger geworden, die Bediensteten für unser Projekt zu gewinnen. Gleichwohl kam es zu einer schwierigen Situation, aber aus ganz anderen Gründen. Christian Pfeiffer, der zeitgleich zur gleichen Thematik forschte, war im August 2012 überra-
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schend mit einigen Daten aus einer Befragung des KFN6 an die Öffentlichkeit gegangen.7 Das Echo war gewaltig – und das Klima für unsere Forschung nachhaltig beeinträchtigt. Vom Justizministerium des Landes NRW wurden wir umgehend „eingeladen“, in wenigen Tagen während der jährlichen Tagung der Anstaltsleiterinnen und Anstaltsleiter in der Justizakademie des Landes NRW in Recklinghausen von unserer Forschung zu berichten. Die Gesprächsatmosphäre lag nach meinem Empfinden zwischen „eisig“ und „feindselig“. Als dann von Seiten des Justizvollzugs pauschal die Existenz eines Dunkelfeldes der Gewalt unter Gefangenen bestritten wurde, war die Grundlage für einen weiteren Meinungsaustausch über das Problem weggefallen. Ein Ministerialbeamter wahrte die Form, indem er zu Recht darauf verwies, dass unsere Forschungen noch in vollem Gange seien und dass man zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal zusammenkommen sollte. Dieses zweite Treffen fand dann auch statt – ohne Mediendruck unter völlig anderen Vorzeichen. Zufall oder nicht: Das KFN war mit seiner Öffentlichkeitsarbeit einem Vortrag von uns zuvorgekommen, in dem wir am 27. 09. 2012 bei der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden erste Zwischenergebnisse des Kölner Projekts vorstellten. Zu was Gefangene fähig sein können, erlebte ich im Juli 2013, als das Deutschland-Radio 90 Minuten live zum Thema „Gewalt im Jugendknast – Warum gehören Misshandlungen zum Alltag im Strafvollzug?“ aus der Jugendstrafanstalt Ichtershausen berichtete. Anwesend waren ein Vertreter des thüringischen Justizministeriums, die Anstaltsleiterin, der Leiter des Kriminologischen Dienstes, drei Jugendstrafgefangene, der Moderator und ich selbst. Die Angst bzw. Unsicherheit der anwesenden Vollzugsverantwortlichen über das, was denn nun folgen würde, war mit Händen zu greifen. Und dann schilderten die Gefangenen ernst und sachlich das Problem aus ihrer Sicht – nachvollziehbar, eindrücklich und ohne jede Übertreibung. Das war ein großartiger Einstieg, den der Moderator ebenso gut aufnahm, so dass sich eine engagierte, aber ganz sachliche Diskussion entspann.
IV. Zwischen Erleichterung und Euphorie Lange bevor überhaupt die ersten Daten ausgewertet waren, machte sich große Erleichterung breit, und zwar aus zwei Gründen. Erstens herrschte Freude über die hohe Mitwirkung der Gefangenen, die von 62 % beim ersten Messzeitpunkt (Mai 2011) im Laufe der 12 Monate auf 75 % beim vierten und letzten Messzeitpunkt (Februar 2012) anstieg. Die Mitwirkung war also im Laufe der Zeit angestiegen. Wir konnten damit sicher sein, das Geld der Deutschen Forschungsgemeinschaft – unabhängig von den Ergebnissen – sinnvoll genutzt zu haben. Insgesamt nahmen 6 Bieneck/Pfeiffer, Viktimisierungserfahrungen im Justizvollzug. KFN-Forschungsbericht Nr. 119, 2012. 7 http://www.zeit.de/news/2012 - 08/16/strafvollzug-jeder-vierte-haeftling-wird-opfer-vongewalt-16182403 „Strafvollzug: Jeder vierte Häftling wird Opfer von Gewalt“ (Abruf: 20. 11. 2017).
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882 männliche Jugendstrafgefangene an unserer Befragung teil, die meisten von ihnen mehrfach. 91 % wären damit einverstanden gewesen, dass wir ihre Gefangenenpersonalakte hinzugezogen hätten. 62 % wollten interviewt werden. Bei den 269 jungen Frauen war die Mitwirkung später mit durchschnittlich 75 % sogar noch höher. Was aber noch wichtiger war. Im Untersuchungszeitraum hatte es keinen Suizid gegeben. Dies und auch die etwas reduzierte Gewalttätigkeit, die in der zweiten Befragungswelle zutage trat, gibt Anlass zu der Vermutung, dass schon die – durch das Forschungsprojekt angestoßene – Thematisierung dieser Probleme in der Gefangenengemeinschaft ein kleiner Baustein in der Suizid- und Gewaltprävention sein könnte. Auf unerwartet großes Verständnis stießen meine Mitarbeiterinnen bzw. Mitarbeiter und ich, als wir am 1. April 2014 in Straßburg auf Einladung des Council on Penological Cooperation (PCTB) des Europarates über unser Projekt referierten. Die Damen und Herren des Ausschusses hatten bereits seit dem Morgen getagt, als wir am frühen Nachmittag vortrugen. Trotzdem nahm man sich viel mehr Zeit als geplant, um mit uns die Ergebnisse zu diskutieren. Viele Ausschussmitglieder bewiesen große Sachkenntnis – auch der Vorsitzende, ein Italiener, der sogar über die Einstellung des Modellprojekts zum „Jugendstrafvollzug in offenen Formen“ in Nordrhein-Westfalen im Bilde war.
V. Wesentliche Ergebnisse 1. Gewalt ist vielfältig und alltäglich Formen psychischer Gewalt (z. B. Ignorieren, Hetzen, Lästern) sind unter Gefangenen weit verbreitet. 80 bis 90 % der Gefangenen räumten ein, in den drei Monaten vor der Befragung ein entsprechendes Verhalten wenigstens einmal an den Tag gelegt zu haben. Auf Formen physischer Gewalt (einschl. Androhen von körperlicher Gewalt) hatten zwischen 62 % und 69 % der Befragten, also rund zwei Drittel, zurückgegriffen. Fast jeder zweite Gefangene (zwischen 43 % und 47 %) gab an, einen anderen Gefangenen „absichtlich verletzt“ bzw. „getreten oder geschlagen“ zu haben – was den Tatbestand einer Körperverletzung erfüllt. Auch der Anteil von 38 % bis 41 % der Gefangenen, die „Zwang“ oder „Erpressung“ einräumten, ist beträchtlich. Immerhin wurden unter dieser Kategorie Verhaltensweisen gefasst, die für eine funktionierende Gefangenensubkultur typisch sind (z. B. „Abziehen“; einen anderen Gefangenen zur Abgabe seines Einkaufs veranlassen; einen Mitgefangenen Arbeiten verrichten lassen; einen Gefangenen zwingen, für jemanden zu lügen). Sexuelle Gewalt (einschl. sexueller Belästigung) tritt offenbar vergleichsweise selten auf. Hier lagen die Täterangaben zwischen 1 % und 4 %. Die Inzidenz (Häufigkeit) einschlägiger Vorfälle wurde durch die Antwortkategorien „nie“, „selten“, „manchmal“ und „oft“ erfasst. Obwohl viele Gefangene eigene
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Gewaltausübung einräumten, geschah das im jeweiligen Zeitraum nicht oft. Die Gefangenen wählten zum ganz überwiegenden Teil die Kategorie „selten“. Wenn man also zu Recht von der Alltäglichkeit der Gewalt im Jugendstrafvollzug spricht, muss man sie dahingehend präzisieren, dass sie zwar täglich um einen Gefangenen herum geschieht und insoweit auch nicht ohne Eindruck auf ihn bleiben wird, dass er sie aber nicht selbst in eigener Person täglich erleidet. Eine weitere Relativierung ergibt sich daraus, dass die Kontrollgruppe der Bewährungsprobanden, selbst bei Parallelisierung der Vergleichsgruppen (im Wege des propensity score matching) durchgehend stärker mit Gewalt belastet war als die Gefangenengruppe. Zu erklären ist das mit dem ungleich höheren Maß an Aufsicht und Kontrolle im Vollzug, welches Tatgelegenheiten reduziert. Offenbar gelingt es den Vollzugsbediensteten teilweise, die Situation zu kontrollieren. Davon kann bei jungen Männern mit vergleichbaren Problemen, die aber auf freiem Fuß sind, nicht die Rede sein. Der Umstand, dass sich die Möglichkeit von Gewalt im Jugendgefängnis jederzeit realisieren kann, führt bei einem großen Teil der jungen Inhaftierten nachvollziehbar zu Verunsicherung. Die Aussage „Ich fühle mich vor Übergriffen sicher“ bejahten zum ersten Messzeitpunkt nur 47 % aller Befragten. Auf die offene Frage nach den Orten der erlebten Gewalt benannten die Gefangenen mit Abstand am häufigsten die Freistunde und den Haftraum. Die Antworten machten allerdings deutlich, dass sich Gewalt letztlich überall ereignen kann. Das Dunkelfeld ist erheblich, wie ein Abgleich mit den Gefangenenpersonalakten der befragten Gefangenen ergab; auf einen bekannt gewordenen körperlichen Angriff kommen sechs unbekannt gebliebene. 2. Überschneidung von Tätern und Opfern Eine strikte Unterscheidung von „Tätern“ und „Opfern“ ist irreführend. Je nach eigener Gewaltausübung bzw. Viktimisierungserfahrung wurden die Gefangenen in der wissenschaftlichen Auswertung in vier Gruppen eingeteilt: jene, die „eher Täter“ sind, jene, die „eher Opfer sind“, jene, die „sowohl Täter als auch Opfer“ sind (das war die größte Gruppe) und schließlich jene, die sich weitgehend heraushalten können (das war die kleinste Gruppe). Letztere Gruppe gibt es zwar, doch die Mehrheit der Gefangenen erfährt Gewalt und wendet sie auch selbst an. Offenbar muss jeder ständig darauf vorbereitet sein, sich selbst zu behaupten. Eine Redeweise, die ich von Gefangenen besonders häufig zu hören bekam, war, dass man eigentlich nur „in Ruhe“ seine Zeit absitzen wolle, dass aber die Mitgefangenen keine „Ruhe“ ließen. Typisch ist der folgende Auszug aus einem Interview, das ein Projektmitarbeiter mit einem Gefangenen führte: „Wenn man einmal, wenn man nicht antwortet, dann denken die so, man kann das mit dem machen. Wenn einer sieht o.k, mit dem kann man so machen, dann machen das alle, dann hacken alle auf einen rum. Man muss sich dann schon ein zwei Mal beweisen, dass man seine Ruhe hat, und (äh) die hab ich mittlerweile auch.“ Das kann so weit gehen, dass man sich, wie es ein Gefangener in den drastischen Worten eines Kampfes ums Überleben schilderte, auch auf einen aus-
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sichtslosen Kampf gegen einen stärkeren Gegner einlässt – nur damit man nicht als „leichtes Opfer“ erscheint. 3. Subkultur, Kausalbeziehung und Verfahrensgerechtigkeit Erwartungsgemäß zeigte sich, dass mit der Gewaltausübung bestimmte Einstellungen einhergehen, die Gewalt begünstigen, nämlich Akzeptanz von Gewalt, Männlichkeitsvorstellungen sowie eine positive Einstellung zu subkulturellen Werten und Verhaltensweisen. Subkulturelle Einstellungen (die keineswegs von allen Gefangenen geteilt werden) und Gewalt hängen also eng zusammen. Mit unserer Längsschnittstudie konnten wir darüber hinaus kausale Zusammenhänge prüfen, und erwartungsgemäß zeigte sich, dass eine vorangegangene Viktimisierung eigenes gewalttätiges Verhalten nach sich zieht. Die Gewalt muss in diesen Fällen aber nicht in der Anwendung körperlicher Gewalt bestehen; in vielen Fällen genügt schon die Einschüchterung oder Androhung von Gewalt, das heißt das Zur-Schau-Stellen von Wehrhaftigkeit und Selbstbehauptungswillen. Unsere Analysen ergaben einen direkten Effekt von Autonomieverlust auf Gewalt. Bei Einbeziehung der wahrgenommenen bzw. erlebten Verfahrensgerechtigkeit stellte sich zwischen den dreien ein signifikanter negativer indirekter Effekt ein. Das heißt dort, wo Gefangene sich von den Bediensteten respektvoll und fair behandelt sehen, nimmt die Gewalt – vermittelt über eine Reduktion des erlebten Autonomieverlustes – ab. Daraus ergibt sich, dass der Vollzug selbst über die Reduktion von Autonomieverlust zur Prävention von Gewalt beitragen kann. 4. Unterschiede zwischen Männern und Frauen Die Durchführung einer gleichgearteten Studie, für die nur geringfügige methodische Anpassungen vorgenommen wurden, erlaubt einen Vergleich von männlichen und weiblichen Jugendstrafgefangenen. Letztere wurden zunächst an den Standorten Aichach, Chemnitz, Köln und Schwäbisch Gmünd befragt bzw. interviewt. Diese wiederholten Befragungen wurden um eine einmalige querschnittliche Befragung im gesamten Bundesgebiet ergänzt. Insgesamt nahmen 269 junge Frauen an der Befragung teil, 38 von ihnen stammten aus den fünf zusätzlichen Anstalten der bundesweiten Befragung (Vechta, Frankfurt a.M., Berlin, Zweibrücken, Luckau-Duben). Bei der Anwendung psychischer bzw. verbaler Gewalt stehen die jungen Frauen den männlichen Altersgenossen in Nichts nach. Deutlich erkennbar sind allerdings Unterschiede bei der Anwendung manifester körperlicher Gewalt, die unter den weiblichen Gefangenen nur etwa halb so oft vorkommt wie bei den männlichen Gefangenen. Bei sehr geringen Fallzahlen ist unter den weiblichen Inhaftierten ein geringfügig höheres Aufkommen an sexuellen Übergriffen berichtet worden, was vermutlich mit den unter inhaftierten Frauen häufiger anzutreffenden partnerschaftlichen Beziehungen zusammenhängt, in denen auch sexuelle Handlungen ihren
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Platz haben – unter Umständen selbst dann, wenn sie nicht konsentiert sind. Das insgesamt betrachtet geringere Maß an Gewalt unter jungen inhaftierten Frauen geht einher mit weniger Orientierung an der Subkultur und mehr Erleben von Verfahrensgerechtigkeit (im Vergleich zu den jungen inhaftierten Männern). Das wiederum ist weniger auf eine Andersartigkeit von Frauen zurückzuführen als vielmehr auf die unterschiedliche Unterbringungssituation. Die weiblichen Jugendstrafgefangenen sind durchweg in kleineren Vollzugseinheiten untergebracht, die ein positiveres persönliches Verhältnis zu den Bediensteten sowie die Kontrolle subkultureller Erscheinungen begünstigen. Trotz dieser positiven Umstände ist die Suizidalität unter den inhaftierten Frauen deutlich größer als unter den inhaftierten Männern.
VI. Lessons learnt Weil uns von den weiblichen Gefangenen sowohl Ergebnisse aus der längsschnittlichen Wiederholungsbefragung sowie der einmaligen querschnittlichen Befragung vorliegen, lässt sich methodisch der Einfluss der oben beschriebenen, forschungsethisch bedingten Vorgehensweise zur Frage nach der Suizidalität abschätzen. Tatsächlich ließen die weiblichen Gefangenen aus dem anonymen Querschnitt mehr Suizidgedanken erkennen als die Teilnehmerinnen aus dem pseudonymisierten Längsschnitt, deren Angaben immer noch über denen der männlichen Befragten lagen. Daraus kann man schließen, dass unter den Bedingungen der Pseudonymisierung die Hemmschwelle größer war, suizidale Gedanken zu berichten. Während der Zugang zu den Inhaftierten erst nach zum Teil aufwändigen Genehmigungs- und Sondierungsverfahren hergestellt werden konnte, zeigten sich die Bewährungshilfestellen sehr offen für unsere Anliegen. Den Schätzungen der Bewährungshilfe über die potenziell erreichbaren Probanden entsprechend verteilten wir 2.000 Fragebögen an die Bewährungshilfe zur Weiterleitung an die Probanden. Hiervon gelangte allerdings nur etwas mehr als ein Zehntel der Fragebögen an uns zurück. Anscheinend war es der Bewährungshilfe nicht in dem von ihr selbst erwarteten Umfang gelungen, ihre Probanden zum Ausfüllen des Fragebogens zu motivieren. Überdies war es bei den unter Bewährung stehenden jungen Männern ungleich schwieriger als bei den Gefangenen, Fragebögen zu den nachfolgenden Messzeitpunkten zu überreichen bzw. postalisch zuzustellen. Der Strafvollzug schaut nicht weg, wenn es um Gewalt geht. Uns scheint aber, dass er noch kein probates erzieherisches Konzept gefunden hat, soziales Lernen der Gefangenen beim Thema „Gewalt“ zu fördern. Unsere Versuche, Vollzugsverantwortliche dafür zu sensibilisieren, dass es im Sinne einer umfassenden Präventionsstrategie unter Umständen sinnvoll sein wird, den Einsatz von Bestrafung (Disziplinarmaßnahmen, Strafanzeigen) ggf. zugunsten von Anreizen zum sozialen Lernen zurückzudrängen8, stießen auf wenig Verständnis. Auch die in Thüringen und Nord8 Neubacher/Boxberg, Gewalt und Subkultur, in: Maelicke/Suhling, Das Gefängnis auf dem Prüfstand – Zustand und Zukunft des Strafvollzugs, 2018, S. 195 ff.
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rhein-Westfalen zwischenzeitlich errichteten Neubauten (Rudisleben-Arnstadt, Wuppertal-Ronsdorf, Erweiterung der Anstalt in Heinsberg), allesamt moderne, aber überdimensionierte Anstalten mit großen Haftplatzkapazitäten, zeigen, dass die Strafvollzugspolitik die Bedeutung „weicher“ Faktoren weiterhin unterschätzt. Statt einer Zusammenfassung beschließe ich den Beitrag mit einigen „Lektionen“, die ich persönlich im Laufe des Projekts gelernt habe: 1. Gefangene werden unterschätzt, auch und besonders durch den Vollzug. 2. Wenn es gelingt, Gefangene und Bedienstete zu motivieren, ist sehr viel möglich. Und das ist für den Erfolg eines Projekts mindestens ebenso wichtig wie eine sorgfältige Methodik. 3. Es gibt die Subkultur, auch und immer noch im deutschen Jugendstrafvollzug des 21. Jahrhunderts. Sie ist keine Schimäre der nordamerikanischen Vollzugsforschung. 4. Es gibt Anstaltsunterschiede und es ist geboten, den Unterschieden zwischen inhaftierten Männern und Frauen weiter nachzugehen. 5. Der Umgang des Vollzugs mit dem Gewaltproblem ist fantasielos und nicht an innovativen pädagogischen Konzepten orientiert.
VII. Bisherige Projektveröffentlichungen 2018 Boxberg, V./Neubacher, F. (2018): Gewalt und Suizid unter jungen Frauen im Jugendstrafvollzug, in: Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen (DVJJ) (Hrsg.): Herein-, Heraus-, Heran- – Junge Menschen wachsen lassen, 30. Deutscher Jugendgerichtstag in Berlin, 14. – 17. 09. 2017 (in Vorbereitung) Neubacher, F./Boxberg, V. (2018): Gewalt und Subkultur, in: B. Maelicke/S. Suhling (Hrsg.): Das Gefängnis auf dem Prüfstand – Zustand und Zukunft des Strafvollzugs. Berlin: Springer VS, S. 195 – 216 2017 Baumeister, B. (2017): Gewalt im Jugendstrafvollzug, Kölner Schriften zur Kriminologie und Kriminalpolitik, Band 20. Baden-Baden: Nomos Fehrmann, S. E./Bulla, S. S. (2016): Suizidprävention im Jugendstrafvollzug – Eine Systematisierung von Präventionsansätzen in Deutschland. Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe, 28 (2), S. 151 – 158 Neubacher, F./Schmidt, H. (2017): Sexuelle und sexualisierte Gewalt im Jugendstrafvollzug, in: A. Retkowski/E. Tuider/A. Treibel (Hrsg.): Handbuch sexualisierte Gewalt und pädagogische Kontexte. Theorie, Forschung, Praxis. Weinheim: Juventa, S. 497 – 505 – (2017): Von punitiven Tendenzen, knappen Behandlungsressourcen und der Schwierigkeit, dem Einzelnen gerecht zu werden – Neuere Forschungsbefunde zum Jugendstrafvollzug, in:
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B. Dollinger/H. Schmidt-Semisch (Hrsg.): Handbuch Jugendkriminalität, Interdisziplinäre Perspektiven, 3. Auflage. Wiesbaden: Springer, S. 767 – 786 2016 Bachmann, M./Ernst, A. (2016): Das schärfste Schwert des Jugendstrafvollzuges: verfassungswidrig?, in: F. Neubacher/N. Bögelein (Hrsg.): Krise – Kriminalität – Kriminologie. Mönchengladbach: Forum Verlag Godesberg, S. 551 – 559 Boxberg, V. (2016): Deviantes Verhalten in krisenhaften Lebenskonstellationen – Eine längsschnittliche Untersuchung männlicher Bewährungsprobanden. Soziale Passagen, Journal für Empirie und Theorie Sozialer Arbeit, 8 (1), S. 137 – 156 Boxberg, V./Fehrmann, S. E./Häufle, J./Neubacher, F./Schmidt, H. (2016): Gewalt als Anpassungsstrategie? Zum Umgang mit Belastungen im Jugendstrafvollzug. Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, 99 (6), S. 428 – 449 Schmidt, H. (2016): (In)justice in Prison – A biographical Perspective, in: C. Reeves (Hrsg.): Experiencing Imprisonment: research on the experience of living and working in carceral institutions. London: Routledge, S. 63 – 80 Wolter, D./Boxberg, V. (2016). The Perception of Imprisonment and its Effect on Inmate Violence, in: C. Reeves (Hrsg.): Experiencing Imprisonment: research on the experience of living and working in carceral institutions. London: Routledge, S. 156 – 175 2015 Boxberg, V./Bögelein, N. (2015): Junge Inhaftierte als Täter und Opfer von Gewalt – Subkulturelle Bedingungsfaktoren. Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe, 26 (3), S. 241 – 247 Ernst, A. (2015): Gewalt im Jugendvollzug, in: M. Schweder (Hrsg.): Handbuch Jugendstrafvollzug. Weinheim und Basel: Beltz Juventa, S. 437 – 451 Ernst, A./Bachmann, M. (2015): Disziplinarmaßnahmen im Jugendstrafvollzug – Ergebnisse einer Länderbefragung sowie eines längsschnittlichen Projektes zum Jugendstrafvollzug in Nordrhein-Westfalen und Thüringen. Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, 98 (1), S. 1 – 15 Fehrmann, S. E. (2015): Gewalt im Jugendstrafvollzug – Befunde der Kölner Studie, in: DVJJ (Hrsg.): Aktuelle Fragen der Jugendstrafrechtspflege: Häuser des Jugendrechts und Gewalt im Jugendstrafvollzug. INFO 2015. Heidelberg, S. 35 – 43 Görgen, T./Neubacher, F./Hunold, D. (2015): Viktimisierung in Einrichtungen, in: N. Guzy/ C. Birkel/R. Mischkowitz (Hrsg.): Viktimisierungsbefragungen in Deutschland, Band 1. Wiesbaden: BKA, S. 421 – 456 Häufle, J./Wolter, D. (2015): The interrelation between victimization and bullying inside young offender institutions. Aggressive Behavior, 41 (4), S. 335 – 345 Neubacher, F. (2015): Jugendvollzug als Gewaltkulisse, in: R. Ritze (Hrsg.): Schwer gezeichnet, Jugend hinter Gittern. Texte aus der Schreibwerkstatt der Jugendstrafanstalt Arnstadt. Jena: Garamond, S. 58 – 66 – (2015): Gewalt unter jungen Gefangenen – Ergebnisse einer Längsschnittstudie, in: DVJJ (Hrsg.): Jugend ohne Rettungsschirm – Herausforderungen annehmen!, Dokumentation
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des 29. Deutschen Jugendgerichtstages vom 14. – 17. September 2013 in Nürnberg. Mönchengladbach: Forum Verlag Godesberg, S. 77 – 89 Schmidt, H. (2015): „Das war auch immer Abhärtung“ – (gewaltförmige) Erziehungspraktiken aus der Sicht männlicher Jugendstrafgefangener. Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation, 35 (3), S. 285 – 301 2014 Ernst, A./Neubacher, F. (2014): Kontinuität oder Diskontinuität? – Was erklärt Gewaltverhalten im Jugendstrafvollzug?, in: M. A. Niggli/L. Marty (Hrsg.): Risiken der Sicherheitsgesellschaft – Sicherheit, Risiko und Kriminalpolitik, Schriftenreihe der Kriminologischen Gesellschaft, Band 115. Mönchengladbach: Forum Verlag Godesberg, S. 170 – 182 Neubacher, F. (2014): Gewalt im Jugendstrafvollzug – Ein Überblick über Ergebnisse des Kölner Forschungsprojekts. Forum Strafvollzug, 63 (5), S. 320 – 326 – (2014): Aktuelle empirische Befunde der deutschen Kriminologie zur Gewalt unter Gefangenen, in: D. Baier/T. Mößle (Hrsg.): Kriminologie ist Gesellschaftswissenschaft, Festschrift für Christian Pfeiffer. Baden-Baden: Nomos, S. 485 – 501 Schmidt, H. (2014): (Un-)Gerechtigkeit im Jugendstrafvollzug – biographische Erkundungen einer sozialmoralischen Gefühlsregung. Soziale Passagen, Journal für Empirie und Theorie Sozialer Arbeit, 6 (2), S. 351 – 356 Wolter, D./Häufle, J. (2014): Wie aussagekräftig sind Gefangenenpersonalakten als Entscheidungshilfe im Strafvollzug? Ergebnisse eines Hell-Dunkelfeld-Vergleichs am Beispiel von Gewalt unter Inhaftierten im Jugendstrafvollzug. Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, 97 (4), S. 280 – 293 2013 Boxberg, V./Wolter, D./Neubacher, F. (2013): Gewalt und Suizid im Jugendstrafvollzug – Erste Ergebnisse einer Längsschnittstudie, in: A. Dessecker/R. Egg (Hrsg.): Justizvollzug in Bewegung. Wiesbaden: Kriminologische Zentralstelle, S. 87 – 125 Häufle, J./Schmidt, H./Neubacher, F. (2013): Gewaltopfer im Jugendstrafvollzug – Zu Viktimisierungs- und Tätererfahrungen junger Strafgefangener. Bewährungshilfe, 60 (1), S. 20 – 38 Neubacher, F./Oelsner, J./Schmidt, H. (2013): Gewalt und Suizid im Jugendstrafvollzug – Ein Zwischenbericht, in: D. Dölling/J.-M. Jehle (Hrsg.): Täter – Taten – Opfer. Grundlagenfragen und aktuelle Probleme der Kriminalität und ihrer Kontrolle. Schriftenreihe der Kriminologischen Gesellschaft, Band 114. Mönchengladbach: Forum Verlag Godesberg, S. 672 – 690 Schmidt, H. (2013): „Er war halt der Meinung, er kann mich vollquatschen“ – Gewaltkarrieren junger Strafgefangener vor und während des Freiheitsentzuges. Soziale Probleme, 24 (2), S. 175 – 212 2012 Neubacher, F./Oelsner, J./Boxberg, V./Schmidt, H. (2012): Kriminalpolitik unter Ideologieverdacht – Wunsch und Wirklichkeit jugendstrafrechtlicher Sanktionierung, in: R. Rengier/E. Hilgendorf (Hrsg.): Festschrift für Wolfgang Heinz. Baden-Baden: Nomos, S. 452 – 464
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2011 Neubacher, F./Oelsner, J./Boxberg, V./Schmidt, H. (2011): Gewalt und Suizid im Strafvollzug – Ein längsschnittliches DFG-Projekt im thüringischen und nordrhein-westfälischen Jugendstrafvollzug. Bewährungshilfe, 58 (2), S. 133 – 146 2008 Neubacher, F. (2008): Gewalt unter Gefangenen, Neue Zeitschrift für Strafrecht, 28 (7), S. 361 – 366 – (2008): Gewalt hinter Gittern. Möglichkeiten und Grenzen der Kriminalprävention im Strafvollzug, Jenaer Schriften zum Recht, Band 37. Stuttgart u. a.: Boorberg
IV. Strafverfahren
Anwaltsvertraulich Von Stephan Beukelmann Das „Beweisrecht der StPO“ des Jubilars zählt zu den Standardwerken. 1993 erschien die Erstauflage und zuletzt 2017 die inzwischen 10. Auflage. Der Spezialkommentar bietet einen hervorragenden Einblick in alle strafprozessualen Beweislagen. So geht es im Dritten Teil um den Zeugen, genauer gesagt um die Voraussetzungen und Gestaltung der Zeugenvernehmung und sodann die Aussagewürdigung. Ein Unterpunkt ist dabei die Aussagefähigkeit. Unter ihr wird das Vermögen einer zu vernehmenden Person verstanden, einen (konkreten) Sachverhalt zutreffend wiederzugeben.1 Das Gedächtnis ist dabei von zentralem Interesse für die Aussagefähigkeit.2 Es wird allerdings vielfach beeinträchtigt, u. a. durch anwaltliche Tätigkeiten im Vorfeld.
I. Einleitung „… übersende ich anwaltsvertraulich …“ Mit dieser Phrase werden beispielsweise Schriftsatzentwürfe an Mitverteidiger, aber auch Anklageschriften oder Protokolle von Beschuldigten- oder Zeugenvernehmungen an Zeugenbeistände übersandt. Gewollt ist eine kritische Durchsicht oder die Versorgung des Empfängers mit (Hintergrund-)Informationen, um ein besseres Verständnis für den Sachverhalt entwickeln zu können. Anwaltsvertraulich? Was bedeutet das? Bereits darüber gehen die Meinungen auseinander. Die einen sehen darin eine andere, nämlich berufsspezifische Formulierung für „Persönlich! Vertraulich!“, also die bloße Kennzeichnung als dem Schutz der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant unterfallend. Dem Rechtsanwalt steht es in dieser Variante selbstverständlich frei, den Mandanten hierüber zu informieren (1. Alternative). Die anderen verstehen darunter, dass die übermittelten Informationen nur für die Augen des Rechtsanwalts gedacht sind, also sein Mandant hierüber gerade nicht informiert werden soll (2. Alternative). In Literatur und Rechtsprechung ist dieses Wort praktisch nicht zu finden.
1 2
Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 10. Aufl. 2017, Rn. 1362. Eisenberg (Fn. 1), Rn. 1364a.
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II. Zulässigkeit Dass der Absender der Information nicht gegen den Willen des eigenen Mandanten handeln darf, dürfte klar sein, weil er einer anwaltlichen Verschwiegenheitspflicht unterliegt. Er sollte sich deshalb der guten Ordnung halber eine ausdrückliche Freigabe erteilen lassen, auch wenn u. U. ein konkludentes oder gar mutmaßliches Einverständnis ausreichen kann. Es geht mir hier um die 2. Alternative auf Seiten des Informationsempfängers, denn sie ist auf den ersten Blick bedenklich. Immerhin entsteht ein Informationsungleichgewicht innerhalb des Mandatsverhältnisses. Betroffen ist damit das Rollenverständnis zwischen Mandant und Rechtsanwalt. 1. Der Rechtsanwalt als unabhängiges Organ der Rechtspflege Der Verteidiger ist bekanntlich ein selbständiges Organ der Rechtspflege, § 1 BRAO.3 Er ist unabhängig von seinem Mandanten und handelt (auch) aus eigenem Recht. Er ist „Teilhaber, nicht Gegner einer funktionsfähigen Strafrechtspflege“4. Da seine Befugnisse (teilweise) nicht aus denen des Beschuldigten abgeleitet werden, dürfte er im Interesse einer sachgerechten Verteidigung auch gegen dessen Willen tätig werden. Demnach kann es also durchaus erlaubt sein, dass der Rechtsanwalt Informationen für sich behält, ja mitunter muss er das in dieser Rolle – zumindest aus Sicht der Rechtsprechung – sogar. In diese Kategorie gehören nämlich auch die Fälle, in denen diskutiert wird, ob der Rechtsanwalt seinen Mandanten überhaupt über Aktenfundstellen „mit Überraschungseffekt (Durchsuchung, Haftbefehl, etc.)“5 informieren darf, nicht aber, ob er muss. Die Frage betrifft die Grenze zwischen erlaubtem Verteidigungshandeln und strafbarer Strafvereitelung. Nach einer Meinung ist die schlichte Information über den Akteninhalt zulässig, wohl aber nicht verpflichtend. Der BGH sieht das anders:6 Nach ihm setzt eine sachgerechte Strafverteidigung voraus, dass der Beschuldigte weiß, worauf sich der gegen ihn erhobene Vorwurf stützt, und dass er den Verteidiger informieren kann, wie er sich dazu einlassen wird. Der Verteidiger ist deshalb in der Regel berechtigt und unter Umständen sogar verpflichtet, dem Beschuldigten zu Verteidigungszwecken mitzuteilen, was er aus den Akten erfahren hat. Der BGH sieht aber Ausnahmen, wenn die Aushändigung den Untersuchungszweck gefährden würde oder zu befürchten ist, dass die Auszüge oder Abschriften zu verfahrensfremden Zwecken missbraucht werden. Auf den ersten Blick betrifft die Über3
Siehe dazu Eisenberg, NJW 1991, 1257; BVerfG, NJW 2004, 1305 (1307); ausführlich Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 61. Aufl. 2018, vor § 137 Rn. 1. 4 Meyer-Goßner/Schmitt, StPO (Fn. 3), vor § 137 Rn. 1. 5 Volk/Engländer, Grundkurs StPO, 9. Aufl. 2018, § 11 Rn. 6. Siehe auch Beulke, StV 1994, 575. 6 BGHSt 29, 99 (102 f.).
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sendung als „anwaltsvertraulich“ nicht dieses Problem der Strafvereitelung oder der Gefährdung des Untersuchungszwecks. Es können aber durchaus Informationen übersandt werden, die das Potential haben, die Wahrheitsfindung zu beeinflussen, wenn der Mandant hiervon en détail wüsste. Das ist vor allem eine Frage des Umgangs des Empfängers mit den übersandten Informationen (dazu unten III.2.). So oder so: Der Rechtsanwalt hat als unabhängiges Organ der Rechtspflege eine eigene Entscheidungskompetenz und muss seinen Mandanten nicht bedingungslos über alles informieren. 2. Das Vertragsprinzip Selbst wenn man dem Vertragsprinzip folgen möchte,7 käme man letztendlich zum gleichen Ergebnis. Der Rechtsanwalt ist dem Auftraggeber grundsätzlich zur Auskunft verpflichtet und hätte kein Recht, seinem Mandanten etwas zu verschweigen. Auf den Anwaltsdienstvertrag finden nach § 675 BGB auch die §§ 666, 667 BGB Anwendung. Gem. § 666 BGB ist der Rechtsanwalt im Zuge der Auskunfts- und Rechenschaftspflicht verpflichtet, dem Auftraggeber die erforderlichen Nachrichten zu geben, auf Verlangen über den Stand des Geschäfts Auskunft zu erteilen und nach der Ausführung des Auftrags Rechenschaft abzulegen. Außerdem ist er gem. § 667 BGB verpflichtet, dem Auftraggeber alles, was er zur Ausführung des Auftrags erhält und was er aus der Geschäftsbesorgung erlangt, herauszugeben. In die gleiche Kerbe schlägt § 11 Abs. 1 BORA, der die Mandatsbearbeitung und Unterrichtung des Mandanten regelt und die zivilrechtlichen Pflichten des Rechtsanwalts aus dem Geschäftsbesorgungsvertrag in das sanktionsbewehrte Berufsrecht transformiert.8 § 11 BORA ist eine Mandantenschutzklausel.9 Demnach ist der Rechtsanwalt verpflichtet, das Mandat in angemessener Zeit zu bearbeiten und den Mandanten über alle für den Fortgang der Sache wesentlichen Vorgänge und Maßnahmen unverzüglich zu unterrichten. Dem Mandanten ist insbesondere von allen wesentlichen erhaltenen oder versandten Schriftstücken Kenntnis zu geben. Was der Rechtsanwalt für wesentlich hält, hat er nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden. § 666 BGB kann aber einerseits vertraglich abbedungen werden. Das kann höchst vorsorglich im Mandatsvertrag vereinbart werden, wobei darauf geachtet werden muss, dass – bei einer Anwendbarkeit der §§ 305 ff. BGB – keine überraschende Klausel vorliegt. Andererseits billigt der BGH dem Rechtsanwalt von vornherein eine Ausnahme zu: „Darüber hinaus wird dem Rechtsanwalt bei der Ausführung des Mandats ein gewisser Freiraum zuzuerkennen sein, vertrauliche ,Hintergrundinformationen‘ zu sammeln, die er auch und gerade im wohlverstandenen Interesse seines Mandanten sowie im Interesse der Rechtspflege diesem gegenüber verschweigen darf. Aufzeichnungen über derartige Vorgänge unterliegen 7
Dazu LR/Lüderssen/Jahn, StPO, Band IV, 26. Aufl. 2007, vor § 137 Rn. 33 ff. Feuerich/Weyland/Schwärzer, BRAO, 9. Aufl. 2016, § 11 BORA Rn. 5. 9 Gaier/Wolf/Göcken/Zuck, Anwaltliches Berufsrecht, 2. Aufl. 2014, § 11 BORA Rn. 3.
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gleichfalls nicht der Herausgabepflicht.“10 Der BGH stützt dies dabei auf ein unmittelbar in den Schutzbereich des Art. 12 GG fallendes Geheimhaltungsinteresse des Anwalts gegenüber seinem Auftraggeber, das bei solchen Unterlagen bestehen kann, die höchstpersönliche Wahrnehmungen des Anwalts oder eben vertrauliche „Hintergrundinformationen“ betreffen.11 Demnach gibt es eine eigene Gewahrsamsenklave des Anwalts. 3. Beispiele für Anwaltsvertraulichkeit Überraschend wenige Belege existieren dafür, dass in der Praxis offen mit diesem Begriff bzw. der Konstellation umgegangen wird. Nr. 5.3. der Berufsregeln der Rechtsanwälte der Europäischen Union (CCBE-Berufsregeln)12 betrifft die Korrespondenz unter Rechtsanwälten. Der Rechtsanwalt, der an einen Kollegen aus einem anderen Mitgliedstaat Mitteilungen senden möchte, die nach dem Willen des Absenders vertraulich oder „ohne Präjudiz“ sein sollen, muss diesen seinen Willen vor Absendung der ersten dieser Mitteilungen klar zum Ausdruck bringen. Ist der zukünftige Empfänger der Mitteilungen nicht in der Lage, diese als vertraulich oder „ohne Präjudiz“ im vorstehenden Sinne zu behandeln, so hat er den Absender unverzüglich entsprechend zu unterrichten. In anderen Staaten kann die zwischenanwaltliche Korrespondenz unter den Anwälten also auch gegenüber dem Mandanten vertraulich bleiben.13 Damit ist gemeint, dass der Rechtsanwalt selbst seinem eigenen Mandanten gegenüber zur Verschwiegenheit verpflichtet ist, also insoweit der Auskunftsanspruch nach § 666 BGB ausgeschlossen ist. Letzteres ist wiederum grundsätzlich nur möglich, wenn der Mandant auf sein Recht aus § 666 BGB unwiderruflich verzichtet. Diese Verzichtserklärung muss der Rechtsanwalt einholen, anderenfalls droht die persönliche Haftung.14 Entsprechend regelt § 29a BORA die zwischenanwaltliche Korrespondenz im grenzüberschreitenden Rechtsverkehr: Der Rechtsanwalt ist verpflichtet, nach Rücksprache mit seinem Mandanten die Anfrage eines ausländischen Rechtsanwalts zu beantworten, ob er „vertraulich“ gegenüber seinem Mandanten oder „ohne Präjudiz“ (d. h. ohne spätere Verwendung gegen den ausländischen Rechtsanwalt oder dessen Mandanten) Informationen austauschen oder Gespräche führen kann. Jedenfalls bei grenzüberschreitender15 Tätigkeit des Rechtsanwaltes kann also die Auskunftspflicht des Rechtsanwalts beschränkt sein bzw. werden.16 10 BGHZ 109, 260 = NJW 1990, 510 (511); Feuerich/Weyland/Schwärzer, BRAO (Fn. 8), § 44 Rn. 24. 11 BGHZ 109, 260 = NJW 1990, 510 (512). 12 Abrufbar unter https://www.brak.de/fuer-anwaelte/berufsrecht/. 13 Vgl. Henssler/Prütting/Offermann-Burckart, BRAO, 4. Aufl. 2014, 5.3 CCBE Rn. 2; Hellwig, BRAK-Mitt. 2009, 50 (53). 14 BeckOKBORA/Römermann/Praß, 19. Ed. 1. 3. 2018, § 29a Rn. 25. 15 Nr. 1.5. CCBE.
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Aber auch in der innerdeutschen Praxis kommt es beispielsweise im Rahmen von Due Diligence-Prüfungen vor, dass kartellrechtlich oder aus sonstigen Gründen regulatorisch, aber auch geschäftlich sensible Informationen nur anwaltsvertraulich mit der Maßgabe zugänglich gemacht werden, dass der Rechtsanwalt des Käufers die Einzelinformationen nicht an seinen Mandanten weitergeben darf.17 4. Schlussfolgerung Auch die Zulässigkeit der anwaltsvertraulichen Entgegennahme von Hintergrundinformationen ist damit grundsätzlich zu bejahen. Es gilt aber die Regel, dass das nicht gegen den ausdrücklichen Willen des Mandanten erfolgen darf. Wenn der Mandant seinen Rechtsanwalt instruiert, bedingungslos alle solche Informationen mit ihm zu teilen, muss der Rechtsanwalt die Annahme anwaltsvertraulich übersandter Informationen verweigern.
III. Inhalt Damit stellt sich die Frage, wie der Empfänger mit den übersandten Informationen umgeht. 1. Anwaltsvertraulichkeit im Sockel Unproblematisch ist die anwaltsvertrauliche Übersendung eines Schriftsatzentwurfes zur kritischen Durchsicht. Denn eine Sockelverteidigung, also der Zusammenschluss und die Absprache mehrerer Verteidiger unterschiedlicher Beschuldigter über Strategie und Taktik im Verfahren, sei es für das gesamte Verfahren oder auch nur punktuell, ist grundsätzlich zulässig.18 Das Interesse liegt hier auf beiden Seiten, also Absender wie Empfänger, darin, einen in sich schlüssigen, überzeugenden Schriftsatz einzureichen. Dabei sind sinnvollerweise Zwischenstände nur einem begrenzten, vor allem fachkundigen Empfängerkreis zugänglich zu machen, um Irritationen oder Fehlvorstellungen beim Mandanten von vornherein zu vermeiden.
16 Vgl. dazu Wild, Die anwaltliche Verschwiegenheitspflicht in Deutschland und Frankreich, 2008, S. 207 ff. 17 Meyer-Sparenberg/Jäckle/Meurer, Beck’sches M&A-Handbuch, 2017, § 6 Rn. 27 ff.: ggf. kommt die Offenlegung gegenüber einem sog. Clean Team in Betracht, nachdem eine besondere Vereinbarung (Clean Team Agreement) geschlossen wurde. 18 BeckOKStPO/Wessing, 29. Edition 2018, § 137 Rn. 20 mit Verweis u. a. auf MAH Strafverteidigung/Pfordte/Tsambikakis, 2. Aufl. 2014, § 17; OLG Düsseldorf, NJW 2002, 3267.
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2. Anwaltsvertraulichkeit und Zeugenbeistände Weitaus kritischer ist es, Zeugenbeiständen anwaltsvertraulich Hintergrundinformationen zur Verfügung zu stellen. a) Risiko der Beeinträchtigung der Aussagefähigkeit Wenn es um die Vorbereitung eines Zeugen19 geht, besteht nach Hoffmann und Maurer die „wesentliche anwaltliche Aufgabe im Vorgespräch […] deshalb darin, einem unsicheren Zeugen ohne Manipulation des Aussageinhalts richterliche Denkweisen nahezubringen und emotionale Zeugen auf die überragende Bedeutung der Sachebene in der gerichtlichen Vernehmungssituation hinzuweisen. Demjenigen Zeugen wird erfahrungsgemäß am ehesten geglaubt, der eine gute, ,eindeutige‘ und gleichmäßige Erinnerung ohne ins Persönliche gehende Angriffe gegen eine Partei, den Angeklagten bzw. den Nebenkläger präsentiert, hierbei eine gleichbleibende Struktur in der Erzählung des Ablaufs ohne erkennbare Belastungstendenzen einhält und dabei die Sachebene in den Vordergrund stellt. Unsicherheiten beim gerichtsunerfahrenen Zeugen lassen sich schon allein dadurch verringern, dass der Rechtsanwalt den Zeugen bittet, ihm den Sachverhalt im Zusammenhang zu schildern und ihm anschließend erklärt, dass das Gericht ihn in ähnlicher Weise befragen werde. Für den Zeugen wird sich in der gerichtlichen Vernehmung die Situation sodann als nicht mehr so neu und ungewohnt darstellen wie vor dem Gespräch mit dem Anwalt. Der Rechtsanwalt wird in diesem Zusammenhang auch eigene Fragen oder Fragen des Gerichts oder ,Anwaltsgegners‘ antizipieren und kommunizieren können und den Zeugen bitten, sich hierauf einzustellen und vorzubereiten. Der Rechtsanwalt darf auf Lücken in der Schilderung des Zeugen hinweisen und darum bitten, die ausgelassenen oder zu oberflächlich dargestellten Einzelpunkte nach erneutem Nachdenken zu ergänzen, verbunden mit dem Hinweis auf eine voraussichtliche entsprechende gerichtliche Aufforderung. Dadurch wird vermieden, dass der Zeuge in der Vernehmungssituation damit überrascht wird und folglich einen unsicheren Eindruck vermittelt.“20
Durch eine solche Vorbereitung des Zeugen droht die Verfälschung von Gedächtnisinhalten, die die Aussagefähigkeit beeinträchtigen. Eisenberg hat das in seinem eingangs zitierten Standardwerk detailliert ausgeführt:21 So kann die Einwirkung durch höchst unterschiedliche Formen verbaler und non-verbaler Informationen bzw. Einflüsse geschehen. Hierzu gehören natürlich die Art und Weise der Formulierung der Fragen (etwa Suggestivfragen), aber selbst das häufige Wiederholen von potentiellen Fragen und Antworten bei der Vorbereitung des Zeugen auf den Inhalt der Aussage. 19 Zur Vorbereitung des Zeugen auf seine Vernehmung in der Hauptverhandlung vgl. Schlothauer, in: Widmaier et al., FS Dahs, 2005, S. 457 ff. 20 Hoffmann/Maurer, NJW 2018, 257 (260 f). 21 Eisenberg (Fn. 1), Rn. 1375 ff. Kritisch auch MAH Strafverteidigung/Köhnken (Fn. 18), § 61 Rn. 139, zur aussagepsychologische Exploration mit dem Ziel, realkennzeichenrelevante Äußerungen zu produzieren („coaching“).
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b) Risiko der Strafbarkeit Dahs sieht die Weitergabe von Informationen an den Zeugenbeistand zur informationellen Vorbereitung von Zeugenaussagen sehr kritisch, wenngleich er durchaus auch redliche Motive des Zeugen sieht, z. B. möchte der selbstkritische Zeuge allgemein seine Erinnerung auffrischen, Erinnerungslücken schließen oder die Richtigkeit seiner Erinnerung prüfen, bevor er vor Gericht aussagt.22 Er diskutiert das unter dem Stichwort, dass der Informationsgeber Aktenbestandteile oder mündliche Informationen über den Inhalt der Akten weitergibt, die unter der Sanktionsdrohung der Verletzung der beruflichen Schweigepflicht bzw. der Verletzung von Privatgeheimnissen gem. § 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB stehen, der Verteidiger und andere anwaltliche Rechtsbeistände unterliegen.23 Der Informationsempfänger könne dann Teilnehmer der Tat sein, beispielsweise weil er durch den nachdrücklichen Appell an die „Kollegialität“ der Verteidiger oder die Beschwörung „gemeinsamer Verfahrensziele“ den Informationsgeber dazu angestiftet hat.24 Dem Zeugenbeistand drohe dann die Ausschließung gem. § 68b Abs. 1 S. 4 Nr. 2, 3 StPO. Die klandestine Übersendung der Informationen als anwaltsvertraulich belege geradezu, dass hier Unrecht geschieht. Das erscheint mir indes zu einseitig gesehen.25 Denn schon eine Verletzung der Verschwiegenheitspflicht durch den Absender der Information ist nicht der Regelfall, im Gegenteil, und die oben skizzierten Befunde für die potentielle Beeinflussung von Zeugen zeigen gerade das Bedürfnis nach anwaltsvertraulichen Informationen. c) Praxis der anwaltlichen Zeugenvorbereitung Die anwaltliche Zeugenvorbereitung auf eine anstehende Vernehmung26 ist in ihren Ausmaßen nach wie vor umstritten,27 in den USA ist sie beispielsweise in Form des „witness coaching“ gang und gäbe.28 Klar ist, dass Zeugen vor Gericht zu wahrheitsgemäßen Angaben verpflichtet sind. Vor der Vernehmung werden sie gem. § 57 Abs. 1 StPO entsprechend belehrt. Bei Verstoß gegen diese Pflicht droht dem Zeugen eine Strafbarkeit wegen Falschaussage oder Strafvereitelung; dem Rechtsanwalt eine Strafbarkeit wegen Teilnahme hieran. Auch ein Blick ins Gesetz hilft nicht recht weiter: Im Zivilprozess trifft den Zeugen gem. § 378 ZPO zwar eine Vorbereitungspflicht: Soweit es die Aussage über seine Wahrnehmungen erleichtert, hat der Zeuge Aufzeichnungen und andere Unter22
Dahs, NStZ 2011, 200. Dahs, NStZ 2011, 200 (202) (VI.); vgl. auch Hoffmann/Maurer, NJW 2018, 257 (260). 24 Vgl. Dahs, NStZ 2011, 200 (202) (VI.). 25 So auch Wessing/Ahlbrecht, Der Zeugenbeistand, 2013, Kap. 4 Rn. 68. 26 Nicht gemeint ist also die eigene Befragung eines Zeugen durch den Anwalt. 27 Vgl. beispielsweise Ullrich, NJW 2014, 1341; Bertke/Schroeder, SchiedsVZ 2014, 80. 28 Vgl. Timmerbeil, Witness Coaching und Adversary System, 2004. 23
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lagen einzusehen und zu dem Termin mitzubringen, wenn ihm dies gestattet und zumutbar ist. Damit ist aber nicht gemeint, dass der Zeuge sich erst Unterlagen beschaffen muss.29 Für den Strafprozess ist eine solche Zeugenpflicht zur Vorbereitung vor der Vernehmung nicht gesetzlich geregelt.30 Lediglich in der Ladung soll der Zeuge gem. Nr. 64 Abs. 2 RiStBV ggf. aufgefordert werden, Schriftstücke oder andere Beweismittel, die er besitzt und die für die Untersuchung von Bedeutung sein können, bei der Vernehmung vorzulegen. Er hat also keine Pflicht zur Beschaffung von Unterlagen bei Dritten, aber aus dieser Vorschrift resultiert durchaus das Grundverständnis, dass eine inhaltliche Vorbereitung vor der eigentlichen Aussage stattfindet. Diejenigen Zeugen, die berufsmäßig immer wieder als Zeuge Angaben machen müssen, also beispielsweise Polizeibeamte, trifft nach h.M. vor ihrer Vernehmung ohnehin eine Vorbereitungspflicht. Sie müssen vorab Vernehmungsniederschriften einsehen, um sich erforderlichenfalls die Einzelheiten ins Gedächtnis zurückzurufen.31 Für alle anderen Zeugen wird teils zumindest eine Obliegenheit diskutiert, sich vorzubereiten.32 Das kann und darf im Zusammenspiel mit einem Zeugenbeistand erfolgen, der in einem Mandantengespräch neben der Erforschung des eigentlichen Sachverhalts die Pflichten, aber auch Rechte des Zeugen, wie etwa ein Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO, diskutieren wird. Für die anwaltliche Einschätzung sind da vertrauliche „Hintergrundinformationen“33 unentbehrlich. Um die Zeugen aber nicht in ihrer Aussage unlauter zu beeinflussen, ist es geradezu geboten, ihnen die Unterlagen nicht auszuhändigen. Sie müssen anwaltsvertraulich bleiben und in den Händen des Rechtsanwalts verbleiben.
IV. Fazit Die anwaltsvertrauliche Weitergabe von vertraulichen „Hintergrundinformationen“ ist zulässig, wenn der Mandant des Gebers damit einverstanden ist. Dann droht keine Strafbarkeit wegen der Verletzung von Privatgeheimnissen. Die Entgegennahme ist zulässig, außer wenn der Mandant des Informationsempfängers ausdrücklich widerspricht. Der Empfänger muss seinem Mandanten über die vertraulichen Hintergrundinformationen nicht berichten oder gar die Unterlagen an ihn herausgeben. Inhaltlich ist der Empfänger in der Pflicht, durch die Verwendung der Informationen seinen eigenen Mandanten nicht unlauter zu beeinflussen.
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Hoffmann/Maurer, NJW 2018, 257 (259). Vgl. Wessing/Ahlbrecht (Fn. 25), Kap. 4 Rn. 65; Krehl, NStZ 1991, 416. 31 MüKoStPO/Meier/Percic, Band I, 2014, vor § 48 Rn. 40. Kritisch zu Polizeizeugen angesichts deren Vorverständnis und Berufserfahrung als Zeugen Hof, HRRS 2015, 277. 32 Vgl. MüKoStPO/Kölbel, Band II, 2016, § 161a Rn. 4. 33 So die Formulierung des BGH in BGHZ 109, 260 = NJW 1990, 510 (511). 30
Einige europarechtlich inspirierte Überlegungen zur psychosozialen Prozessbegleitung Von Stefanie Bock Kaum ein anderes Thema hat den Gesetzgeber in den letzten Jahrzehnten so sehr beschäftigt und inspiriert wie das Kriminalitätsopfer.1 Lag in der Nachkriegszeit der Fokus auf dem (mutmaßlichen) Täter, der Absicherung seiner prozessualen Rechte und der Entwicklung eines resozialisierungszentrierten Reaktionssystems, rückte ab den 80er Jahren der Verletzte immer mehr in den Mittelpunkt des Interesses. Ziel der sich entwickelnden Opferrechtsbewegung war es, die mit der Täterorientierung des Straf(verfahrens)rechts einhergehende Entmachtung2 des Verbrechensopfers zu überwinden. Der Verletzte sollte nicht mehr auf die passive Rolle des Zeugen, der im Dienst des Staates zur Wahrheitsfindung beiträgt, beschränkt sein, sondern sich als eigenständiges Prozesssubjekt aktiv in den Prozess der Straftatahndung einbringen und seine Interessen selbstbestimmt geltend machen können.3 Der deutsche Gesetzgeber hat diesen Ansatz bereitwillig aufgegriffen und zahlreiche4 Gesetze zur Stärkung der Rechtsstellung des Verletzten erlassen. Wichtige Eckpunkte sind die Reform der Nebenklage durch das Opferschutzgesetz (1986),5 die Stärkung des Adhäsionsverfahrens und der Ausbau der Informationsrechte des Verletzten durch das Opferrechtsreformgesetz (2004)6, die Neuregelung des Rechts auf einen Zeugen- und Opferbeistand durch das 2. Opferrechtsreformgesetz (2009)7 1 Vgl. auch Barton, in: Strafverteidigervereinigungen, Alternativen zur Freiheitsstrafe – Texte und Ergebnisse des 36. Strafverteidigertages Hannover, 16. – 18. 3. 2012, 2013, S. 49 (50) sowie Jung, ZStW 93 (1981), 1147; Pollähne, StV 2016, 671. 2 Jung, ZStW 93 (1981), 1147 (1152). 3 Siehe zu dieser Entwicklung Jung, ZStW 93 (1981), 1147; Schädler, in: Barton/Kölbel, Ambivalenzen der Opferzuwendung des Strafrechts – Zwischenbilanz nach einem Vierteljahrhundert opferorientierter Strafrechtspolitik in Deutschland, 2012, S. 51 ff.; Bock, Das Opfer vor dem Internationalen Strafgerichtshof, 2010, S. 48 mwN. 4 Kritisch Kett-Straub, ZIS 2017, 341 (344) („[…] aus dem Stiefkind Opferzeuge ist nun ein Hätschelkind geworden und es [ist] schwierig, über die einzelnen Gesetzesinitiativen überhaupt noch den Überblick zu behalten“); Barton (Fn. 1), S. 49 (50) spricht von einer „Kaskade opferorientierter Reformen“. 5 Gesetz zur Verbesserung der Stellung des Verletzten im Strafverfahren v. 18. 12. 1986, BGBl. I, 2496. 6 Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Verletzten im Strafverfahren (Opferrechtsreformgesetz) v. 24. 6. 2004, BGBl. I, 1354. 7 Gesetz zur Stärkung der Rechte von Verletzten und Zeugen im Strafverfahren (2. Opferrechtsreformgesetz) v. 29. 7. 2009, BGBl. I, 2280.
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sowie die Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (2013)8. Jüngster „Meilenstein für den Opferschutz im Strafverfahren“9 ist die gesetzliche Verankerung der psychosozialen Prozessbegleitung in § 406g StPO,10 mit dem sich auch der Jubilar schon kritisch aus jugendstrafrechtlicher Perspektive befasst hat.11 Ich hoffe, dass es ihm gefällt, dass ich dieses Thema für seine Festschrift aufgreife und meine europarechtlich inspirierten Überlegungen sein Interesse finden.
I. Begriff, Funktion und Genese der psychosozialen Prozessbegleitung § 2 PsychPbG definiert die psychosoziale Prozessbegleitung als besondere Form der nicht rechtlichen Begleitung im Strafverfahren für besonders schutzbedürftige Verletzte, die vor, während und nach der Hauptverhandlung stattfindet. Ziel ist es, durch Informationsvermittlung sowie die qualifizierte Betreuung und Unterstützung die individuelle Belastung des Verletzten zu reduzieren und eine Sekundärviktimisierung zu vermeiden. Der Gesetzgeber geht dabei offenkundig davon aus, dass das Strafverfahren für das Opfer die „Gefahr einer emotionalen oder psychologischen Schädigung“ mit sich bringt12 und dass psychische Straftatfolgen durch (Fehl-)Reaktionen der Strafverfolgungsbehörden verstärkt werden können.13 Kritische Stimmen aus der Literatur weisen darauf hin, dass es an gesicherten empirischen Erkenntnissen zum Ausmaß und den Entstehungsbedingungen einer sekundären Viktimisierung fehle.14 Zudem könne das Strafverfahren vom Verletzten auch positiv wahrgenommen werden. Die gerichtliche Aufarbeitung des Sachverhalts und die sich ggf. anschließende Verurteilung des Täters könnten helfen, die 8 Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG) v. 26. 6. 2013, BGBl. I, 1805; hierzu Eisenberg, HRRS 2011, 64. 9 Vgl. Pressemitteilung des BMJV v. 11. 2. 2015, https://www.bmjv.de/SharedDocs/Presse mitteilungen/DE/2015/02112015_ORRG.html (zuletzt abgerufen am 1. 7. 2018). 10 Eingeführt durch das Gesetz zur Stärkung der Opferrechte im Strafverfahren (3. Opferrechtsreformgesetz) v. 21. 12. 2015, BGBl. I, 2525, in Kraft getreten am 1. 1. 2017. § 406g StPO wird näher ausgestaltet durch das Gesetz über die psychosoziale Prozessbegleitung im Strafverfahren (PsychPbG), das ebenfalls durch das 3. Opferrechtsreformgesetz eingeführt wurde. 11 Eisenberg, ZJJ 2016, 33. 12 So ausdrücklich Art. 18 der Richtlinie 2012/29/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25. 10. 2012 über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI, ABl. EU 2012 L 315/57 (Opferrechtsrichtlinie). 13 Zum Begriff der sekundären Viktimisierung siehe nur Eisenberg/Kölbel, Kriminologie, 7. Aufl. 2017, § 60 Rn. 1. 14 Kett-Straub, ZIS 2017, 341; Neuhaus, StV 2017, 55 (56); grundlegend Kölbel/Bork, Sekundäre Viktimisierung als Legitimationsformel, 2012, S. 38 ff.; auch Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 10. Aufl. 2017, Rn. 1326.
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durch die Tat ausgelösten Ohnmachtsgefühle zu überwinden und das Geschehen zu verarbeiten.15 Dies ist richtig, ändert aber nichts an der grundsätzlichen Legitimität des gesetzgeberischen Regelungsanliegens. Gemäß § 48 Abs. 1 StPO ist jeder Zeuge verpflichtet, vor Gericht zu erscheinen und – vorbehaltlich etwaiger Aussageverweigerungsrechte – auszusagen. Hierbei handelt es sich um eine allgemeine staatsbürgerliche Pflicht,16 die den Bürgern im Interesse der Strafrechtspflege und zur Gewährleistung einer effektiven Sachverhaltsaufklärung auferlegt wird.17 Mit dieser (grundrechtsrelevanten)18 Inpflichtnahme korrespondiert allerdings eine Fürsorgepflicht,19 die es den staatlichen Stellen u. a. gebietet, die mit der Aussage verbundenen Belastungen möglichst gering zu halten.20 Es ist daher – ungeachtet des noch bestehenden Forschungsbedarfs – sinnvoll und angezeigt, dass sich der Staat bemüht, eventuell bestehende Belastungsfaktoren abzubauen bzw. ihnen entgegenzuwirken. Bedenken ergeben sich erst dann, wenn die Risiken einer Sekundärviktimisierung trotz der noch unsicheren Erkenntnislage genutzt werden, um die Beschränkung von Rechten Dritter, insbesondere von Rechten des Beschuldigten, zu legitimieren. Insoweit kommt es aber entscheidend auf die konkrete Ausgestaltung der Regelungen und ihre Eingriffsintensität an. Darüber hinaus ist zu bedenken, dass die psychosoziale Prozessbegleitung bereits vor der Neufassung des § 406g StPO und der Einführung des PsychPbG in einigen Gerichtsbezirken praktiziert wurde.21 Sie findet ihren Ursprung in den Frankfurter Auschwitzprozessen der 60er Jahren, bei denen eine private Initiative um Ursula Wirth und Emmi Bonhoeffer sich der z. T. hoch traumatisierten Opferzeugen angenommen und diese während des Verfahrens unterstützt hat.22 2009 erfuhr sie mittelbar gesetzliche Anerkennung durch das 2. Opferrechtsreformgesetz. § 406h Abs. 1 Nr. 5 StPO a.F. bestimmte, dass Verletzte möglichst frühzeitig darauf hinzuweisen sind, dass sie „Unterstützung und Hilfe durch Opferhilfeeinrichtungen erhalten können, etwa in Form einer Beratung oder einer psychosozialen Prozessbegleitung“. Die beispielhaft genannten Hilfsangebote wurden allerdings nicht weiter konkretisiert. Dass der Gesetzgeber dies nun durch das 3. Opferrechtsreformgesetz geändert hat, 15
Neuhaus, StV 2017, 55 (56). Siehe auch Bock (Fn. 3), S. 171 ff. mwN. BVerfG, NJW 1979, 32; BVerfG, NJW 2002, 955. 17 BR-Drs. 178/09, A. 18 BR-Drs. 178/09, S. 16. 19 Siehe BR-Drs. 178/09, A; Wenske, JR 2017, 457 (458); zur Fürsorgepflicht der Gerichte BGH, NStZ 1984, 31 (32); zum Zusammenhang zwischen psychosozialer Prozessbegleitung und Fürsorgepflicht auch Lyndian, StraFo 2018, 6 (8). 20 Hierzu Bock (Fn. 3), S. 403 ff.; Wenske, JR 2017, 457 (458). 21 BT-Drs. 18/4621, S. 29; speziell zu Schleswig-Holstein Stahlmann-Liebelt/Gropp, SchlHA 2016, 439; zu Baden-Württemberg Stickelberger, DRiZ 2015, 298. 22 Hierzu ausführlich Funkenberg, Zeugenbetreuung von Holocaust-Überlebenden und Widerstandskämpfern bei NS-Prozessen, 2016. 16
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ist jedenfalls wegen der damit verbundenen Erhöhung der Rechtsklarheit und -sicherheit uneingeschränkt zu begrüßen.
II. Der europarechtliche Hintergrund des 3. Opferrechtsreformgesetzes Anlass für das 3. Opferrechtsreformgesetz war die Umsetzung der EU-Opferrechtsrichtlinie23 aus dem Jahr 2012. Dabei galt es vor allem, die Informationsrechte des Verletzten zu ergänzen24 sowie die für besonders schutzbedürftige Opfer vorgesehenen Schutzmechanismen ins deutsche Recht zu übertragen25. Aber auch die Regelungen zur psychosozialen Prozessbegleitung müssen vor diesem europäischen Hintergrund gesehen werden, denn sie dienen ausweislich der Gesetzesbegründung „der Bereitstellung eines Opferunterstützungsdienstes im Sinne des Art. 8 Abs. 1 der Opferschutzrichtlinie“.26 Dieser gewährt Opfern einen Anspruch auf kostenlosen Zugang zu Opferunterstützungsdiensten, die folgende Mindestdienste zur Verfügung stellen müssen:27 • Information, Beratung und Unterstützung hinsichtlich der Opferrechte, inklusive des Rechts auf staatliche Entschädigung, • Information über spezialisierte Unterstützungsdienste, • emotionale Unterstützung, • Beratung zu finanziellen und praktischen Fragen im Zusammenhang mit einer Straftat, • Beratung zum Risiko und zur Verhütung von sekundärer und wiederholter Viktimisierung, von Einschüchterung und von Vergeltung. Bei der Umsetzung dieser Vorgaben belässt die Richtlinie den Mitgliedstaaten erhebliche Gestaltungsspielräume. Insbesondere können sie frei entscheiden, ob die Opferunterstützungsdienste „als öffentliche oder nichtstaatliche Organisationen auf haupt- oder ehrenamtlicher Grundlage eingerichtet werden“ (Art. 8 Abs. 4 Opferrechtsrichtlinie). Man wird die Gesetzesbegründung allerdings dahingehend verstehen müssen, dass der Gesetzgeber die Opferunterstützung primär als staatliche Aufgabe ansieht und sich nicht darauf verlassen will, dass sie von privaten oder eh23
Hierzu ausführlich Bock, ZIS 2013, 201. Siehe Art. 4 – 6 Opferrechtsrichtline, umgesetzt in §§ 406 d, 406i-k StPO. 25 Siehe Art. 22, 23 Opferrechtsrichtlinie, umgesetzt in § 48 Abs. 3 StPO. 26 Vgl. BT-Drs. 56/15, S. 16; BT-Drs. 18/4621, S. 19; i.E. ebenso Hetger, DRiZ 2016, 260 (262); Riekenbrauk, ZJJ 2016, 25 (26); a.A. offenbar Haverkamp, ZRP 2015, 53 (54); Lyndian, StraFo 2018, 6, die ohne nähere Begründung davon ausgehen, dass die Regelungen zur psychosozialen Prozessbegleitung über die europarechtlichen Vorgaben hinausgehen. 27 Siehe Art. 9 Abs. 1 Opferrechtsrichtlinie. 24
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renamtlichen Initiativen wie dem Weißen Ring wahrgenommen wird. § 406g StPO und das PsychPbG sind daher auch daran zu messen, ob sie den verbindlichen EUStandards genügen.
III. Überblick über die gesetzliche Regelung § 406g Abs. 1 S. 1 StPO gewährt jedem Verletzten28 das Recht, sich des Beistands eines psychosozialen Prozessbegleiters zu bedienen. Besonders schutzbedürftigen Opfern (§ 406g Abs. 3 i.V.m. § 397a Abs. 1 StPO) wird auf Antrag ein Prozessbegleiter auf Staatskosten beigeordnet; alle anderen Verletzten müssen die mit dieser Zusatzbetreuung verbundenen Mehrkosten selbst tragen.29 Die psychosoziale Prozessbegleitung ist – wie bereits gesehen – als nicht rechtliche Form der Opferunterstützung konzipiert. Zu den Aufgaben des Prozessbegleiters30 gehört daher weder die rechtliche Beratung des Verletzten (Grundsatz der Trennung von Beratung und Begleitung – § 2 Abs. 2 S. 1 PsychPbG) noch die Aufklärung des Sachverhalts. Sie darf nicht zu einer Beeinflussung des Zeugen oder einer Beeinträchtigung der Zeugenaussage führen (Grundsatz der Neutralität – § 2 Abs. 2 PsychPbG). Der Prozessbegleiter darf daher nicht mit dem Verletzten über den Sachverhalt oder prozesstaktische Fragen sprechen. Kommt es doch zu solchen Gesprächen, muss dies dokumentiert werden, damit im Verfahren überprüft werden kann, ob es zu einer Beeinflussung des Opferzeugen gekommen ist.31 Der Schwerpunkt der Tätigkeit32 des Prozessbegleiters liegt damit – ganz im Sinne von Art. 9 Opferrechtsrichtlinie – auf der Informationsvermittlung und der emotionalen Unterstützung des Verletzten. Zu diesem Zwecke gewährt § 406g Abs. 1 S. 2 StPO dem Prozessbegleiter das Recht, bei den Vernehmungen des Verletzten sowie während der Hauptverhandlung anwesend zu sein,33 wobei dem nicht nach § 406 Abs. 3 StPO beigeordneten Prozessbegleiter die Anwesenheit un-
28 Der Begriff des Verletzten ist nicht legaldefiniert, sondern wird nach dem Sinn und Zweck der jeweiligen Vorschriften bestimmt. Verlangt wird regelmäßig eine unmittelbare Rechtsgutsverletzung durch die Straftat, siehe nur Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 60. Aufl. 2017, Vor § 406d Rn. 2. Dies entspricht im Wesentlichen der Opferdefinition in Art. 2 Abs. 1 lit. a) Opferrechtsrichtlinie. 29 Zu dieser Differenzierung und ihren Implikationen siehe unten IV. 1. 30 Zu den notwendigen Qualifikationen siehe § 3 PsychPbG sowie unten IV. 1. d). 31 BT-Drs. 18/4621, S. 30. 32 Siehe aber auch zu ganz praktischen, „handfesten“ Formen der Unterstützung wie Beschreibung des Weges zum Gericht oder der Organisation von Kinderbetreuung Lyndian, StraFo 2018, 6 (8). 33 Überblick über die mit dem Anwesenheitsrecht möglicherweise verknüpften weiteren Befugnisse bei Riekenbrauk, ZJJ 2016, 25 (28).
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tersagt werden kann, wenn sie den Untersuchungszweck gefährden könnte (§ 406g Abs. 4 StPO).34
IV. Ausgewählte Problempunkte Die Regelungen zur psychosozialen Prozessbegleitung sind z. T. auf sehr grundlegende Kritik gestoßen. Im Folgenden möchte ich auf drei Aspekte näher eingehen, die mir auch aus europarechtlicher Perspektive besonders wichtig erscheinen: die in der Beiordnungsregelung angelegte Ungleichbehandlung von Opfern (1.), das auch bei der psychosozialen Prozessbegleitung sichtbar werdende Spannungsverhältnis zwischen Opferanerkennung und Unschuldsvermutung (2.) sowie das fehlende Aussageverweigerungsrecht für Prozessbegleiter (3.). 1. Beiordnung und Opferungleichbehandlung a) Das gesetzliche Klassifizierungsmodell § 406g StPO unterscheidet zwischen drei Kategorien von Opfern:35 • Opfer von schweren Sexual- und Gewaltstraftaten, die zum Zeitpunkt der Tat minderjährig waren oder ihre Interessen selbst nicht ausreichend wahrnehmen können (§ 397a Abs. 1 Nr. 4 und 5 StPO), haben einen Anspruch auf Beiordnung eines psychosozialen Prozessbegleiters (§ 406g Abs. 3 S. 1 StPO – „Ist-Beiordnung“). • Opfern von schweren Sexual-, Freiheits- und versuchten Tötungsdelikten (§ 397a Abs. 1 Nr. 1 – 3 StPO) kann ein psychosozialer Prozessbegleiter beigeordnet werden, wenn dies aufgrund ihrer besonderen Schutzbedürftigkeit erforderlich ist (§ 406g Abs. 3 S. 2 StPO). Gleiches gilt für die Hinterbliebenen von Tötungsdelikten (§ 397a Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 395 Abs. 2 Nr. 1 StPO). In diesen Fällen steht die Beiordnung im Ermessen des Gerichts („Kann-Beiordnung“).36 • Alle sonstigen Opfer können sich eines psychosozialen Prozessbeistandes bedienen. Es erfolgt jedoch keine Beiordnung. Diese Differenzierung beruht auf finanziellen Erwägungen.37 Die Beiordnung ist für den Verletzten kostenfrei (§ 406g Abs. 3 S. 3 StPO); der Prozessbegleiter erhält grundsätzlich einen Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse (§ 6 PsychPbG). Der 34 Kritisch, da sich hieraus im Umkehrschluss ergibt, dass der beigeordnete Prozessbegleiter auch dann ein Anwesenheitsrecht hat, wenn dies den Untersuchungszweck gefährden könnte, Pollähne, StV 2016, 671 (677). 35 Vgl. auch Eisenberg (Fn. 14), Rn. 1327a. 36 BT-Drs. 56/15, S. 31; Riekenbrauk, ZJJ 2016, 25 (27); BeckOK-StPO/Weiner, 29. Aufl., Stand 1. 1. 2018, § 406g Rn. 11. 37 Hetger, DRiZ 2016, 260 (261).
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hiermit verbundene finanzielle Mehraufwand, der mit 1,4 Mio. E pro Jahr veranschlagt wird,38 wird zumindest teilweise auf den Beschuldigten abgewälzt.39 Mit der Beiordnung erhöhen sich grundsätzlich40 auch die Verfahrenskosten. Im Vorverfahren fallen Zusatzkosten in Höhe von 520,00 E an; im erstinstanzlichen Verfahren sind es 370,00 E,41 die vom Verurteilten ggf. neben den „normalen“ Kosten des Verfahrens getragen werden müssen.42 Inhaltlich soll sich das Differenzierungsmodell des § 406g StPO an der Schutzbedürftigkeit der Opfer orientieren.43 Der Gesetzgeber wollte sicherstellen, dass Opfer, die – wie Kinder und Jugendliche – das Strafverfahren typischerweise als besondere Belastung empfinden, auf Wunsch kostenfrei durch die psychosoziale Prozessbegleitung unterstützt werden.44 Durch die Verweisung auf die Regelungen zur Bestellung eines Rechtsbeistands wird eine innere Kohärenz des Opferschutzrechts hergestellt: Unter den gleichen Voraussetzungen, unter denen dem Verletzten ein Opferanwalt auf Staatskosten beigeordnet wird, hat er auch einen Anspruch auf kostenlose psychosoziale Prozessbegleitung. Dem Gesetz liegt damit eine einheitliche, in sich stimmige Vorstellung davon zugrunde, welche Opfer besonders schutzbedürftig sind und daher besonders unterstützt werden sollen.45 b) Kritik I: Fehlende Berücksichtigung individueller Belastungsfaktoren Die gesetzliche Fokussierung auf eine bestimmte Gruppe von Opfern führt allerdings dazu, dass diesen ein breitgefächertes Hilfsangebot, namentlich Prozessbegleitung und rechtliche Betreuung, zur Verfügung steht, während andere in der Wahrnehmung ihrer Rechte – und zwar auch in finanzieller Hinsicht – auf sich gestellt sind.46 38 39
(58). 40
BT-Drs. 56/15, S. 3: 90.000 E pro Jahr und Bundesland. BT-Drs. 56/15, S. 16; siehe auch Lyndian, StraFo 2018, 6 (9); Neuhaus, StV 2017, 55
Gem. § 465 Abs. 2 S. 4 StPO kann das Gericht anordnen, dass die Erhöhung der Gerichtsgebühren im Falle der Beiordnung eines psychosozialen Prozessbegleiters ganz oder teilweise unterbleibt, wenn es unbillig wäre, den Angeklagten damit zu belasten. 41 Anlage 1 Teil 3.1.5 Gerichtskostengesetz, Nr. 3150 und 3151. Die Erhöhungen für das Vorverfahren und erstinstanzliche Verfahren können nebeneinander eintreten. 42 Zur allgemeinen Kostentragungspflicht des Verurteilten siehe § 465 StPO. 43 Siehe BT-Drs. 56/15, S. 31. 44 Siehe BT-Drs. 56/15, S. 31; zustimmend Lyndian, StraFo 2018, 6 (9). 45 Vgl. auch Wenske, JR 2017, 457 (463). 46 Ähnlich Deutscher Juristinnenbund, Stellungnahme zu dem Entwurf eines Niedersächsischen Gesetzes zur Ausführung des Gesetzes über die psychosoziale Prozessbegleitung im Strafverfahren, 1. 12. 2016, S. 1. Kritisch zur Verknüpfung zwischen Prozessbegleitung und Nebenklagevertretung auch Deutscher Anwaltverein, Stellungnahme durch die Task Force „Anwalt für Opferrechte“ unter Beteiligung des DAV-Ausschusses Strafrecht zum Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz – Entwurf eines
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Dies ist insoweit misslich, als die Art und Schwere der Straftat47 bzw. das Alter des Verletzten48 zwar wichtige, aber nicht die einzigen Faktoren sind, die für die Intensität der psychischen Tatfolgen und die hiermit typischerweise verbundene49 erhöhte Sensibilität gegenüber prozessimmanenten Belastungssituationen relevant sind. Ob und wie der Betroffene auf die Opferwerdung und das sich ggf. anschließende Strafverfahren reagiert, hängt von zahlreichen Umständen ab. Neben der allgemeinen Persönlichkeit des Betroffenen sind u. a. seine Fähigkeit zur Konfliktbewältigung und seine soziale Einbindung, aber auch das Vorliegen traumatischer Vorerfahrungen oder psychischer Vorerkrankungen von Bedeutung.50 Im Einzelfall können auch reine Vermögensdelikte erhebliche psychische Folgen haben.51 Das gesetzliche Regelungsmodell der §§ 406g, 397a StPO ist zu starr, um diesen individuellen Belastungsfaktoren Rechnung zu tragen. Im Fall der „Kann-Beiordnung“ kommt hinzu, dass die besondere Schutzbedürftigkeit des Antragstellers einzelfallbezogen überprüft wird. Dabei wird die Verteidigung schon wegen der ggf. vom Beschuldigten zu tragenden erhöhten Gerichtskosten die Beiordnungsanträge kritisch hinterfragen52 und ggf. mit Rechtsmitteln53 angreifen. Für die Opfer kann die Entscheidung über die Beiordnung daher zum Kampf um Anerkennung werden. Wird der Antrag abgelehnt, könnte dies als Negierung des erlittenen Unrechts bzw. Bagatellisierung der Tatfolgen missverstanden werden.54 c) Kritik II: Keine vollständige Umsetzung der europäischen Vorgaben Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob die deutsche Regelung unionsrechtskonform ist. Gemäß Art. 8 Opferrechtsrichtlinie müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass die Opfer kostenlos Zugang zu Opferunterstützungsdiensten erhalten; eine Differenzierung nach der Schutzbedürftigkeit der Betroffenen ist insoweit nicht vorgesehen. Der Gesetzgeber ist wohl davon ausgegangen, dass die Richtlinie nur verGesetzes zur Stärkung der Opferrechte im Strafverfahren (3. Opferrechtsreformgesetz), Dezember 2017, S. 22. 47 Hierauf stellen § 397a Abs. 1 Nr. 1 – 3 StPO maßgeblich ab. 48 Hierauf stellen § 397a Abs. 1 Nr. 4 und 5 StPO maßgeblich ab. 49 Hierzu Bock (Fn. 3), S. 71 f. mwN. 50 Vertiefend und mwN. Bock (Fn. 3), S. 67 ff. 51 Bock (Fn. 3), S. 54 mwN. 52 Siehe Lyndian, StraFo 2018, 6 (9); Neuhaus, StV 2017, 55 (58). 53 Hierzu Eisenberg (Fn. 14), Rn. 1327a. BeckOK-StPO/Weiner (Fn. 36), § 406g Rn. 25 geht hingegen davon aus, dass die Beiordnungsentscheidung mangels Beschwer nicht vom Beschuldigten angefochten werden kann. 54 Siehe auch Bundesverband Psychosoziale Prozessbegleitung, Stellungnahme zu dem Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz – Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Opferrechte im Strafverfahren (3. Opferrechtsreformgesetz), Dezember 2014, S. 7.
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langt, dass die Geschädigten kostenlosen Zugang zu den Opferunterstützungsdiensten haben, nicht aber, dass die von diesen erbrachten Leistungen kostenfrei sind.55 Diese Interpretation erscheint wenig überzeugend. Der europäische Gesetzgeber wird kaum daran gedacht haben, dass die Mitgliedstaaten bereits den Zugang zu einer Opferunterstützungsstelle kostenpflichtig ausgestalten, also z. B. ein Entgelt für die bloße erste Kontaktaufnahme und die Vereinbarung eines Beratungstermins verlangen.56 Hinzu kommt, dass die Union Unterstützungsdienste für „unbedingt notwendig“ erachtet, um eine angemessene Begleitung und Betreuung der Opfer im Strafverfahren sicherzustellen.57 Dies spricht dafür, dass deren Leistungen allen Geschädigten unabhängig von ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit zur Verfügung stehen sollen.58 d) Alternativvorschlag: Bedarfsorientierte Unterstützung aller Verletzten Allen Opfern eine kostenfreie professionelle Prozessbegleitung i.S.d. PsychPbG anzubieten, wäre allerdings mit erheblichen Kosten verbunden. Dies gilt insbesondere deswegen, da das Gesetz hohe Anforderungen an die fachliche und persönliche Qualifikation der Prozessbegleiter stellt. Insbesondere müssen sie über einen Hochschulabschluss im Bereich Sozialpädagogik, Soziale Arbeit, Pädagogik, Psychologie oder eine abgeschlossene Berufsausbildung in einem dieser Bereiche verfügen sowie eine von einem Bundesland anerkannte Aus- oder Weiterbildung zum psychosozialen Prozessbegleiter absolviert haben (§ 3 Abs. 2 PsychPbG). Hieran zeigt sich, dass die Prozessbegleitung momentan auf psychisch stark belastete Opfer zugeschnitten ist, die eine intensive Unterstützung benötigen. In vielen Fällen wird man die Bedürfnisse der Betroffenen aber auch durch niedrigschwelligere Hilfsangebote befriedigen können: Häufig wird es genügen, dass der Verletzte bei Gericht einen festen Ansprechpartner hat, an den er sich bei Fragen wenden kann, dass ihm der Ablauf des Verfahrens erklärt und der Gerichtssaal gezeigt wird und er bei Bedarf organisatorische Unterstützung erhält – z. B. bei der Planung der Fahrt zum Gericht, der Kinderbetreuung oder der Kommunikation mit dem Arbeitgeber. Solche Formen der emotionalen und praktischen Hilfeleistung müssen nicht zwingend von Sozialpädagogen etc. geleistet werden.
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Vgl. Hetger, DRiZ 2016, 260 (262). Hetger, DRiZ 2016, 260 (262). 57 Erwägungsgrund 63 der Opferrechtsrichtlinie. 58 Tendenziell ebenso Deutscher Juristinnenbund (Fn. 46), S. 1. 56
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Auch im Lichte der Opferrechtsrichtlinie wäre es sinnvoll und ausreichend, wenn an den Gerichten flächendeckend Opfer- und Zeugeneinheiten installiert werden, die – ggf. mit Unterstützung von Ehrenamtlichen oder Praktikanten59 – kostenfrei die soeben skizzierte „Grundversorgung“ aller Opfer sicherstellen. Bei Geschädigten mit besonderen Bedürfnissen würde die Betreuung hingegen von Personen mit einer Qualifikation i.S.d. § 3 Abs. 2 PsychPbG wahrgenommen werden. Bei bestimmten Straftaten – insoweit könnte in der Tat an den Katalog des § 397a Abs. 1 StPO angeknüpft werden – sollte die Hinzuziehung eines entsprechend geschulten Opferbetreuers obligatorisch sein; im Übrigen sollte sie dann erfolgen, wenn sie aufgrund der Schutzbedürftigkeit des Verletzten und seinen individuellen Bedürfnissen angezeigt ist. Personelle Engpässe könnten insoweit ggf. durch Kooperationen mit ehrenamtlichen Opferhilfeeinrichtungen wie dem Weißen Ring60 oder dem Trauma- und Opferzentrum Frankfurt61 geschlossen werden. Über die Ausgestaltung der Betreuung und die Zuweisung geeigneter Prozessbegleiter würde die Opfer- und Zeugeneinheit im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben selbst entscheiden; eine förmliche Beiordnung durch das Gericht wäre entbehrlich. Die eben beschriebenen Probleme, die mit der in § 406g StPO angelegten formellen Klassifizierung und Ungleichbehandlung von Opfern verbunden sein können, würden hierdurch vermieden. 2. Zwischen Opferanerkennung und Unschuldsvermutung Wie nahezu alle Verletztenrechte steht auch der Anspruch auf psychosoziale Prozessbegleitung in einem gewissen Spannungsverhältnis zur Unschuldsvermutung. Im Falle der Beiordnung im Hauptverhandlungsstadium muss der Vorsitzende Richter (§ 406g Abs. 3 S. 4, 142 Abs. 1 StPO) prüfen, ob der Antragsteller durch eine der in § 397a Abs. 1 Nr. 1 – 5 StPO genannten Taten verletzt wurde. Die positive Bescheidung des Antrags impliziert damit, dass das Gericht nach seinem derzeitigen Kenntnisstand davon ausgeht, dass eine näher benannte Straftat begangen wurde und dass sich diese gegen den Antragsteller gerichtet hat. Es erfolgt also – und zwar ggf. noch vor dem Einstieg in die Beweisaufnahme – die Zuschreibung einer Opferrolle durch das Gericht.62 Gerade bei den von § 397a Abs. 1 Nr. 1 StPO erfassten Sexualdelikten, bei denen es entscheidend darauf ankommen kann, ob die fraglichen Handlungen im Einvernehmen mit dem Antragsteller oder gegen seinen Willen vorgenommen wer-
59 Siehe den Ansatz der Hamburger Zeugenbetreuung, bei der die hauptamtlichen DiplomSozialpädagoginnen durch Studierende der Hamburger Hochschulen unterstützt werden, http://justiz.hamburg.de/zeugen/ (zuletzt abgerufen am 1. 7. 2018). 60 https://weisser-ring.de/ (zuletzt abgerufen am 1. 7. 2018). 61 Siehe http://www.trauma-undopferzentrum.de/zeugenbetreuung/opfer-als-zeugen.html (zuletzt abgerufen am 1. 7. 2018). 62 Siehe Eisenberg, ZJJ 2016, 33 (34); Neuhaus, StV 2017, 55 (57); grundsätzlich kritisch auch Haverkamp, ZRP 2015, 53 (55); Kett-Straub, ZIS 2017, 341 (343 f.).
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den, besteht hierbei die Gefahr der Vorfestlegung auf einen bestimmten Geschehensablauf. Um eventuellen Selbstbindungseffekten sowie dem ggf. entstehenden Eindruck der Befangenheit vorzubeugen, wird vermehrt gefordert, den Begriff des Opfers bzw. Verletzten gesetzlich zu definieren und dabei die Vorläufigkeit des Opferstatus herauszustellen.63 Ein entsprechendes Vorbild findet sich in der österreichischen Strafprozessordnung. Gemäß § 65 Nr. 1 lit. c) öStPO ist „Opfer“ „jede […] Person, […] die durch eine Straftat einen Schaden erlitten haben oder sonst in ihren strafrechtlich geschützten Rechtsgütern beeinträchtigt worden sein könnte.“ Die Verwendung des Konjunktives signalisiert, dass erst im (rechtskräftigen) Urteil abschließend und verbindlich über den Opferstatus bestimmter Personen entschieden wird. Die Effekte, die man sich von einer solchen gesetzgeberischen Klarstellung erhoffen darf, sollten allerdings nicht überschätzt werden. Bei den juristischen Laien erscheint fraglich, inwieweit sie überhaupt durch Legaldefinitionen erreichbar sind bzw. inwieweit eine gesetzliche Regelung dem persönlich in der Verhandlung gewonnenen Eindruck wirksam entgegentreten kann. Die Berufsjuristen wissen hingegen um die Vorläufigkeit der Sachverhaltsbeurteilung und dass der Antragsteller bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens lediglich ein mutmaßliches Opfer ist. Es geht insoweit nicht um Wissensdefizite, die durch eine gesetzliche Klarstellung geschlossen werden könnten, sondern um die Gefahr, dass sich das Gericht bereits eine bestimmte Vorstellung vom Geschehensablauf gebildet hat und sich nicht oder nur schwerlich von seiner ersten Sachverhaltseinschätzung lösen kann.64 Im Fall der Beiordnungsentscheidung nach § 406g StPO werden diese Selbstbindungseffekte möglicherweise dadurch verstärkt, dass das Gericht mit der (vorläufigen) Anerkennung des Opferstatus beim Antragsteller eine gewisse Erwartungshaltung hinsichtlich des Ausgangs des Verfahrens weckt, die es mit einem Freispruch enttäuschen müsste.65 Diese Einwände sind gewichtig, dürfen aber nicht den Blick dafür verstellen, dass die tatsächliche Opfererfahrung unabhängig von dem justizförmigen Nachweis individueller Verantwortlichkeit ist. Es wäre mit der staatlichen Fürsorgepflicht gegenüber Straftatopfern nicht vereinbar, wenn diese bis zur Identifizierung und Verurteilung des Täters als Nicht-Opfer behandelt würden.66 In diesem Sinne bestimmt auch die europäische Opferrechtsrichtlinie, dass jede Person, die durch eine Straftat geschädigt wurde, als Opfer betrachtet werden soll – und zwar „unabhängig davon, ob der Täter ermittelt, gefasst, verfolgt oder verurteilt wurde“.67 Angebote zur emotionalen Unterstützung der Betroffenen inklusive Maßnahmen, die – wie die psycho63 In diesem Sinne Haverkamp, ZRP 2015, 53 (55); Neuhaus, StV 2017, 55 (57); allgemein kritisch zum Verzicht auf eine Legaldefinition auch Kett-Straub, ZIS 2017, 341. 64 Vgl. Neuhaus, StV 2017, 55 (57). 65 Eisenberg, ZJJ 2016, 33 (34); Eisenberg (Fn. 14), Rn. 1327a. 66 Siehe auch Kett-Straub, ZIS 2017, 341 (344). 67 Art. 2 Abs. 1 lit. a) i.V.m. Erwägungsgrund 19 der Opferrechtsrichtlinie.
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soziale Prozessbegleitung – der Reduzierung der mit einem Strafprozess verbundenen Belastungen dienen, müssen daher zwangsläufig auf Basis eines vorläufigen, mutmaßlichen Opferstatus erfolgen. Zudem sollte nicht vergessen werden, dass das deutsche Strafverfahrensrecht von den Richtern generell – und nicht nur auf dem Gebiet der Opferrechte – erwartet, sich von Vorfestlegungen frei zu machen.68 Immerhin entscheidet im Zwischenverfahren das spätere Tatgericht, ob ein hinreichender Tatverdacht gegen den Beschuldigten besteht (§§ 199, 203 StPO), womit ebenfalls eine – mittlerweile aber überwiegend akzeptierte – Gefahr der Voreingenommenheit einhergeht.69 Auch nach Ansicht des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte stellt eine Vorbefassung des Tatgerichts mit dem entscheidungserheblichen Sachverhalt, beispielsweise im Rahmen einer Haftprüfung, nicht per se dessen Unparteilichkeit (Art. 6 Abs. 1 EMRK) in Frage.70 Dass es durch die Einführung der psychosozialen Prozessbetreuung zu einer bedenklichen Kumulierung von Selbstbindungseffekten kommt, wird im oben vorgeschlagenen Modell71 im Übrigen dadurch verhindert, dass auf die richterliche Beiordnungsentscheidung verzichtet wird.72 Wenn eine neutrale, vom Gericht unabhängige Opfer- und Zeugeneinheit von sich aus jedem Verletzten Unterstützung anbietet und – ggf. gebunden an gesetzliche Vorgaben und Opferkategorisierungen – selbst über die konkrete Ausgestaltung und Intensität der Prozessbegleitung entscheidet, führt dies nicht nur zu einer prozessökonomisch sinnvollen Entlastung des Gerichts. Vielmehr wird zugleich das Spannungsverhältnis zwischen einem opferorientierten
68 In diesem Sinne zählt BGH, NStZ 2015, 46 verschiedene Formen der richterlichen Vorbefassung mit entscheidungsrelevanten Fragen auf, die alle für sich genommen nicht die Besorgnis der Befangenheit begründen sollen. 69 Überblick über die h.M. bei MüKo-StPO/Wenske, 2016, Band 2, § 199 Rn. 36; zur Kritik siehe z. B. Stuckenberg, Untersuchungen zur Unschuldsvermutung, 1998, S. 142 ff.; LR/Stuckenberg, StPO, 27. Aufl. 2018, Band 5/2, Vor § 198 Rn. 16 jeweils m.w.N. 70 EGMR, Urteil v. 24. 5. 1989, App. No. 10486/83, Rn. 49 – Hauschildt v. Denmark; kritischer hingegen Deutscher Anwaltverein (Fn. 46), S. 3 ff. 71 Siehe oben IV. 1. d). 72 Ähnlich auch Kett-Straub, ZIS 2017, 341 (346), die vorschlägt, die Beiordnung eines psychosozialen Prozessbegleiters vom eigentlichen Strafverfahren zu lösen und nicht das Tatgericht hiermit zu betrauen. Einen vergleichbaren Ansatz verfolgt der Internationale Strafgerichtshof (IStGH). Dort wird das sog. witness familiarisation – ein mit der psychosozialen Prozessbegleitung vergleichbares Institut, im Rahmen dessen die (Opfer-)Zeugen u. a. mit dem Gerichtsraum, dem Verfahren und den Aufgaben der verschiedenen Verfahrensbeteiligten vertraut gemacht werden – von der Victims and Witnesses Unit durchgeführt. Diese gehört zur Kanzlei, ein von den Kammern und den Prozessparteien getrenntes, eigenständiges Organ, das für die nicht-rechtlichen Aspekte der Verwaltung und Betreuung des Gerichtshofs zuständig ist (Art. 34, 43 Abs. 1 IStGH-Statut); siehe IStGH, Prosecutor v. Lubanga, Decision on the Practices of Witness Familiarisation and Witness Proofing, 8. 11. 2006, ICC-01/04-01/ 06-679, Rn. 14, 26 f.
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Strafverfahren einerseits und der Unschuldsvermutung bzw. dem Recht des Beschuldigten auf ein unparteiisches Gericht andererseits deutlich entschärft.73 3. Kein Zeugnisverweigerungsrecht Wegen der Trennung von Begleitung und rechtlicher Beratung hat der deutsche Gesetzgeber – im Grundsatz durchaus konsequent74 – davon abgesehen, dem Prozessbegleiter ein Zeugnisverweigerungsrecht einzuräumen. Da es nicht zu Gesprächen über den Sachverhalt kommen soll, scheint es für eine sachgerechte Betreuung des Verletzten auch nicht notwendig, dass sich dieser rückhaltlos offenbaren kann.75 Der Prozessbegleiter muss also unter Umständen als Zeuge vor Gericht aussagen und dabei ggf. über die Inhalte der mit dem Verletzten geführten Gespräche Auskunft geben. Aus Sicht der Verteidigung bietet dies die Möglichkeit, das Verhalten des Begleiters zu überprüfen und ggf. eine Verletzung des Neutralitätsgebotes bspw. durch ein unzulässiges Zeugencoaching76 aufzudecken.77 Die Interessen des Verletzten werden dadurch gewahrt, dass er zu Beginn der Begleitung über die Trennung von Beratung und Betreuung sowie über das fehlende Zeugnisverweigerungsrecht des Prozessbegleiters informiert werden muss (§ 2 Abs. 2 PsychPbG). Er weiß also, dass er sich nicht in einem geschützten Raum befindet und kann sein Verhalten darauf einstellen. Dies ändert faktisch allerdings nichts daran, dass das Opfer gleich zu Beginn der Begleitung, die seiner Unterstützung dienen soll, damit konfrontiert wird, dass es seinem Gegenüber nicht uneingeschränkt vertrauen kann und mit der Weitergabe sensibler Informationen rechnen muss. Dies kann den Effekt der Maßnahme, die ja maßgeblich darauf ausgerichtet ist, das Opfer emotional zu stabilisieren, nachhaltig beeinträchtigen. Dem lässt sich mit einer gewissen Berechtigung entgegenhalten, dass sich das Opfer, dem es 73 Eine gewisse Gefahr der unterschwelligen Beeinflussung des Gerichts ergibt sich allerdings weiterhin daraus, dass Maßnahmen zur Unterstützung des Verletzten ggf. kombiniert werden und dieser im Prozess dann u. U. von einem anwaltlichen Vertreter, einer Vertrauensperson und einem psychosozialen Prozessbegleiter unterstützt wird. Es wird befürchtet, dass allein die große Zahl an Personen, die – symbolisch – auf Seiten des Opfers auftreten, die Überzeugungskraft seiner Aussage verstärken und so die Wahrscheinlichkeit eines Freispruchs minimieren, siehe Neuhaus, StV 2017, 55 (60); auch Pollähne, StV 2016, 671 (677); Eisenberg, ZJJ 2016, 33 (35) spricht insoweit von einem „Verlust an gruppendynamischer Symmetrie“. 74 Hetger, DRiZ 2016, 260 (261). 75 Siehe auch Deutscher Juristinnenbund (Fn. 46), S. 3. Vgl. zur Ratio von Zeugnisverweigerungsrechten aus beruflichen Gründen nur MüKo-StPO/Percic, 2014, Band 1, § 53 Rn. 1. 76 Eisenberg, ZJJ 2016, 33 (34); Eisenberg (Fn. 14), Rn. 1327b; allgemein zur Gefahr, dass die psychosoziale Prozessbegleitung durch bewusste oder unbewusste Beeinflussung der Aussage die Wahrheitsermittlung gefährdet, Haverkamp, ZRP 2015, 53 (55); Kett-Straub, ZIS 2017, 341 (344). 77 Lyndian, StraFo 2018, 6 (11).
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(auch) wichtig ist, über die Tat und ihre Auswirkungen zu sprechen, sich an einen Rechtsanwalt oder Psychotherapeuten wenden und insoweit rechtlich garantiertes Vertrauen (siehe § 53 StPO) in Anspruch nehmen kann. Eine andere Frage ist allerdings, ob die deutsche Regelung europarechtskonform ist. Art. 8 Abs. 1 der Opferrechtsrichtlinie verpflichtet die Opferunterstützungsdienste auf den Grundsatz der Vertraulichkeit. Dies wird sich nur dann vollumfänglich verwirklichen lassen, wenn den Mitarbeitern der Unterstützungsdienste ein Zeugnisverweigerungsrecht eingeräumt wird, sie also auch dann nicht vor Gericht aussagen müssen, wenn das Opfer ihnen – ggf. ungefragt – vom Tathergang oder seiner Beziehung zum Täter berichtet. Die europäischen Vorgaben dürften daher eine Ergänzung des § 53 StPO (Zeugnisverweigerungsrecht für Berufsgeheimnisträger) gebieten.78
V. Fazit Von einem modernen Strafprozessrecht wird viel verlangt: Es soll eine schnelle und zügige Sachverhaltsaufklärung ermöglichen, das Recht des Beschuldigten auf ein faires Verfahren achten und den Interessen der Opfer gerecht werden. Dabei wird der vom Gesetzgeber abgeforderte Spagat ggf. weiter dadurch erschwert, dass er europäischen Vorgaben gerecht werden und diese mit gewachsenen nationalen Rechtsstrukturen vereinbaren muss. Die psychosoziale Prozessbegleitung weist dabei im Grundsatz ein vergleichsweise geringes Konfliktpotenzial auf: Sie zielt auf eine außerrechtliche, prozessbegleitende Unterstützung des Opfers, die die Rechtsstellung des Beschuldigten und das prozessuale Kräftegleichgewicht zunächst einmal unberührt lässt.79 Dass die gesetzliche Neuregelung dennoch von vielen Seiten kritisch bewertet wird, liegt auch an einer gewissen Überformalisierung. Anstatt allen Opfern ein bedarfsorientiertes Unterstützungsangebot zu machen, beinhaltet das mehrstufige Beiordnungsmodell des § 406g StPO eine – auch europarechtlich – bedenkliche Differenzierung zwischen verschiedenen Klassen von Opfern und führt zu Spannungen mit der Unschuldsvermutung. Diese negativen Nebeneffekte eines an sich grundsätzlich sinnvollen Instituts wären vermeidbar gewesen – und dies vermutlich ohne gravierende Mehrkosten.
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Tendenziell ähnlich Bundesweiter Koordinierungskreis gegen Menschenhandel e.V., Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Opferrechte im Strafverfahren (3. Opferrechtsreformgesetz), S. 21 f. 79 Siehe auch Kett-Straub, ZIS 2017, 341 (346).
Verlesungen nach § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO Von der fortschreitenden Abschottung des Ermittlungsverfahrens gegen seine effektive Überprüfung in der Hauptverhandlung Von Stefan Conen Der Jubilar hat es nicht nur in seinem Kommentar zum Beweisrecht verstanden, rechtsdogmatische Thesen und normative Vorgaben nicht lediglich an innerer Kohärenz, sondern auch an ihrer empirischen Berechtigung zu messen. Sein Werk ist vom Lehrbuch der Kriminologie über den Standardkommentar zum JGG bis hin zum Spezialkommentar zum Beweisrecht von dem Willen durchdrungen, Juristen daran zu erinnern, dass es zu zutreffender Rechtsanwendung nicht allein hinreicht, dogmatisch noch vertretbar zu subsumieren. Es bedarf des Problembewusstseins für Fragen der empirischen Absicherung der Qualität der erhobenen Beweise sowie ihrer Würdigung ebenso wie dies im prognostischen Bereich der verhängten Rechtsfolgen, speziell auch im Jugendstrafrecht, gilt. Justizielle Selbstgerechtigkeit ist dem Jubilar ebenso ein Gräuel wie ihm Naivität gegenüber staatlicher Machtausübung fremd ist. Davon zeugen nicht nur seine Standardwerke, sondern auch seine stete und ungebrochene Schaffenskraft wie sie sich in zahlreichen Anmerkungen gerade auch zu Einzelfällen niederschlägt. Gesetzesnovellen der jüngeren Zeit und ihre Rezeption in der Praxis sind von einem anderen Geist durchdrungen. Benannt werden Effektivität und Praxistauglichkeit.1 Nicht selten scheint es in den Reformdiskussionen Vertretern der Justiz zuvörderst darum zu gehen, Kontrollmöglichkeiten des eigenen Agierens abzubauen und die Entscheidungsfindung sowohl im Verfahren selbst (gegen die Verteidigung) als auch in der Rechtsmittelinstanz gegen Einflüsse und Eingriffe zu feien.2 Ein in seinen Auswirkungen als Fehlerquelle unterschätztes, aber symptomatisches Phänomen potentieller Ergebnisabschottung für bereits im Ermittlungsverfahrens gewonnene Annahmen bietet § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO, von dessen Konzeption sowie Rezeption in der Praxis hier im Folgenden die Rede sein soll.
1 So auch im Titel der jüngsten Reform: Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens v. 24. 7. 2018 2 Siehe etwa Vorschläge des sog. 2. Strafkammertages, Abschaffung der Sprungrevision, Urteilsaufhebungen bei sachlich-rechtlichen Fehlern nur noch soweit die Revision diese explizit rügt, erweiterte Zurückweisungsmöglichkeiten von Beweisanträgen usw.
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I. Einführung von § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO wurde durch das sog. Justizmodernisierungsgesetz v. 24. 8. 2004 in der StPO verankert. Im gleichen Gesetzespaket wurde die Regelvereidigung von Zeugen abgeschafft und es der Verteidigung aus der Hand genommen, diese autonom herbeizuführen. Dies sei erwähnt, weil die Eliminierung der Regelvereidigung mit der erweiterten Verlesung nach § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO ein Element gemein hat: Zeugen werden mit Vertrauensvorschüssen versehen, indem prozessuale Mittel zu ihrer kritischen Hinterfragung der Disposition nichtrichterlicher Prozessbeteiligter entzogen wurden. § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO regelt hiernach bekanntlich, dass „Protokolle sowie in einer Urkunde enthaltene Erklärungen der Strafverfolgungsbehörden“ über Ermittlungshandlungen, soweit diese nicht eine Vernehmung zum Gegenstand haben, im Wege des Urkundenbeweises verlesen werden können. In der Gesetzesbegründung hieß es, dass Polizeibeamte in Routinevermerken und -protokollen zu Hausdurchsuchungen, Beschlagnahmen, Feststellungen und Sicherstellungen regelmäßig Indiztatsachen schriftlich niederlegen, zu denen sie in einer späteren Hauptverhandlung ohnehin nicht mehr bekunden können als das, was bereits protokolliert wurde. Insoweit erscheine bei derartigen (Routine-)Protokollen auch die Objektivität des schriftlich Fixierten hinreichend gewährleistet.3 Unbeschadet der Frage der Reichweite der Norm muss zunächst frappieren, in welchen Normkontext die Gesetzesnovelle die von Strafverfolgungsbehörden stammenden Vermerke in § 256 Abs. 1 StPO eingruppiert. Sie werden in ihrer vernehmungsersetzenden Verlesbarkeit fortan den Gutachten allgemein vereidigter Sachverständiger (Nr. 1b), den Zeugnissen oder Gutachten öffentlicher Behörden (Nr. 1a) ebenso gleichgestellt wie ärztlichen Attesten (Nr. 2) oder technischen Aufzeichnungen (Nr. 3). Das noch 2001 vom Bundesverfassungsgericht geäußerte Postulat, dass Polizei und Staatsanwaltschaft keine Unabhängigkeit genössen und von ihnen im Hinblick auf ihre Aufgabe, den strafrechtlichen Sachverhalt zu erforschen, auch keine Neutralität wie etwa bei einem Richter erwartet werden könne,4 findet hier beim Gesetzgeber ebenso wenig erkennbare Berücksichtigung wie die seit der RStPO tradierten prozessualen Vorbehalte, polizeiliche Arbeit als neutral angelegt zu bewerten. 1. Es kann nach alledem nicht verwundern, dass Verteidiger frühzeitig monierten, die Regelung werde eine „massive Verschiebung der Gewichte im Strafprozess“ mit sich bringen5 bzw. zu einer tiefgreifenden Veränderung der bis dato bekannten Verfahrenslandschaft führen.6 Schon früh wurde u. a. befürchtet, dass das Dokumentationsinteresse von Polizeibeamten nicht selten vom Erkenntnisinteresse der Verfahrensbeteiligten (gemeint wohl unbewusst) abweichen werde und es zu 3
BT-Drs. 15/1508, S. 26. BVerfG, NStZ 2001, 382; siehe auch Neuhaus, StV 2005, 47. 5 Sommer, StraFo 2004, 295. 6 Neuhaus, StV 2005, 47. 4
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einer Verschüttung von Tatsachen kommen könne, deren Aufdeckung mangels Befragungen in der Hauptverhandlung zukünftig auszubleiben drohe.7 Die sich anschließende Mahnung, die Norm sei nur äußerst zurückhaltend anzuwenden, fand teilweise in der Kommentarliteratur Anklang8 und wurde nicht zuletzt auch vom Jubilar geteilt.9 2. Die Praxis und mit ihr weite Teile der Kommentarliteratur ließen sich von den vorstehenden Bedenken jedoch nicht beeindrucken. Zwar hat das OLG Düsseldorf noch Bestrebungen Einhalt geboten, nach § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO sogar die gerichtliche Inaugenscheinnahme eines Tatortvideos in der Hauptverhandlung durch die Verlesung eines polizeilichen Inhaltsvermerks über selbiges ersetzen zu wollen.10 Diese in jeder Kommentierung zitierte Entscheidung erwies sich in der Folge allerdings nicht als geeignet, dem extensiven tatrichterlichen Griff nach erleichtertem und unkritischem Beweistransfer polizeilicher Erkenntnisinterpretationen in die Hauptverhandlung effektive Grenzen zu ziehen.
II. Zur Anwendung des § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO in der Praxis Die fortschreitende Entgrenzung des Anwendungsbereichs des § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO lässt sich gut an jüngeren forensisch geführten Auseinandersetzungen um die Verlesbarkeit von Observationsprotokollen darstellen. Zunächst hatte das OLG Celle unter dem 15. 7. 2013 judiziert, dass, anders als die Gesetzesbegründung es nahezulegen schien, die Zulässigkeit der Verlesung polizeilicher Protokolle keineswegs auf Routinevorgänge beschränkt sei, sondern allein durch die Aufklärungspflicht nach § 244 Abs. 2 StPO begrenzt werde.11 Es führte dabei aus, dass die in der Gesetzesbegründung verwandte Formulierung, es handele sich lediglich zumeist um routinemäßig erstellte Protokolle, den Schluss zulasse, dass der Frage einer routinemäßigen Erstellung keine begrenzende Bedeutung zukomme. Hierauf rekurrierte dann das LG Berlin in seinem 2015 im Strafverteidiger veröffentlichten Beschluss, mit dem es die Verlesung von Observationsberichten für zulässig erklärte.12 Eine Auffassung, welche der BGH später in einem anderen Fall teilte13 sowie weitergehend judizierte, dass sich die Verlesbarkeit nicht nur auf polizeilich geschaffene Vermerke und Berichte
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Sommer, StraFo 2004, 295. LR/Stuckenberg, StPO, Band 6/2, 26. Aufl. 2013, § 256 Rn. 56; HK-StPO/Julius, 5. Aufl. 2012, § 256 Rn. 9; SK-StPO/Velten, Band V, 5. Aufl. 2016, § 256 Rn. 33. 9 Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 10. Aufl. 2017, Rn. 2199. 10 OLG Düsseldorf, StV 2007, 518. 11 OLG Celle, NStZ 2014, 175. 12 LG Berlin, StV 2015, 544 m. Anm. Krüger. 13 BGH, NJW 2016, 1601. 8
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im anhängigen Verfahren beschränke, sondern derartige Urkunden auch aus anderen Verfahren zulässig nach § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO verlesen werden könnten.14 1. Der Bundesgerichtshof15 und das Landgericht Berlin16 führen dem OLG Celle folgend hierzu zunächst aus, Verlesungen nach § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO seien entgegen Stimmen in der Literatur nicht ausschließlich auf Dokumentationen polizeilicher Routinevorgänge beschränkt. Dies zumal es ohnehin Kommentarstimmen gäbe, die auch Observationsfeststellungen zu den Routinevorgängen zählten.17 Auch systematische Gründe sprächen nicht für eine Einschränkung, da § 256 Abs. 1 Nr. 1 und 2 StPO auch die Verlesung von Behörden- und Ärzteerklärungen zulasse, die ersichtlich keine Routineerklärungen beträfen. Das LG Berlin nahm zudem an, ein Zweck der Gesetzesnovelle, nämlich die Verfahrensbeschleunigung, lasse restriktive Zurückhaltung bei der Normanwendung ohnehin nicht geboten erscheinen.18 Etwaigen Besorgnissen, Sachaufklärung und Wahrheitsermittlung könnten durch extensivere Interpretationen des Anwendungsbereichs verkürzt werden, tritt der BGH19 mit der Erwägung entgegen, dass es der Verteidigung freistehe, sofern sie die vernehmungsersetzende Verlesung für unzureichend halte, Beweisanträge auf die Vernehmung von Observationsbeamten zu stellen bzw. deren unterlassene Einvernahme in der Hauptverhandlung durch eine Aufklärungsrüge mit der Revision zu beanstanden.20 2. Mit den vorstehenden Erwägungen hat die jüngere Judikatur behände den Weg eingeschlagen, vor dem kritische Stimmen mehr als zehn Jahre zuvor bereits gewarnt hatten.21 Die polizeiliche Ermittlungsarbeit wird potentiell nicht nur gegen Hinterfragung durch die Verfahrensbeteiligten immunisiert,22 sondern dem polizeilichen Zeugen wird außerdem verfahrenspsychologisch eine ihm nicht gebührende, vermeintlich gar neutrale und der üblichen Zeugeneigenschaft gleichsam entwachsene Rolle zugeschrieben. Dies droht nicht nur die Gewichte im Strafprozess (weiter) zu Lasten des Beschuldigten zu verschieben, sondern eröffnet Fehlerquellen auch jenseits rein fahrlässiger Natur. Rechtsmissbräuchlichen Manipulationsmöglichkeiten werden Türen geöffnet, zu deren Schließung oder Neutralisierung es an tauglichen prozessualen Gegenmitteln derzeit fehlt.
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BGH, NStZ 2015, 539 m. zust. Anm. Braun, JR 2016, 261. BGH, NJW 2016, 1601. 16 LG Berlin, StV 2015, 544 m. Anm. Krüger. 17 Beck-OK/Ganter, StPO, 29. Edition 01. 01. 2018, § 256 Rn. 21. 18 LG Berlin, StV 2015, 544 m. Anm. Krüger; siehe auch KG, Beschl. v. 18. 12. 2017 – (2) 161 Ss 104/17 (6/17). 19 BGH, NJW 2016, 1601. 20 BGH, NJW 2016, 1601, der sich in seinem Beschluss den vorzitierten Ausführungen des GBA vollumfänglich anschließt. 21 Sommer, StraFo 2004, 295; Neuhaus, StV 2005, 47. 22 So zutreffend SK-StPO/Velten (Fn. 8), § 256 Rn. 16. 15
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a) Fehl im Rollenverständnis gehen bereits systematische Bezugnahmen auf gutachterliche Stellungnahmen bzw. Äußerungen sachverständiger Zeugen innerhalb der Auslegung des § 256 StPO. Anders als den sonstig in § 256 StPO aufgeführten Institutionen und Personen kann bei den polizeilichen Erstellern der in § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO genannten Vermerke und Protokolle eine Neutralität fordernde und implizierende Rolle weder von Rechts wegen noch faktisch Anerkennung finden. Ersteres ergibt sich bereits aus den gesetzlichen Regelungen der §§ 74 Abs. 1 i.V.m. 22 Nr. 4 StPO, nach denen die Tätigkeit eines Sachverständigen als Strafverfolger in der zu beurteilenden Sache einen zwingenden Grund für die Annahme der Befangenheit darstellt23 und er stets, ohne dass es näherer Begründung bedürfte, erfolgreich abgelehnt werden kann, wenn er in einer Amtsstellung tätig war, die der Strafverfolgung des Beschuldigten diente.24 Insofern nimmt § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO sowohl was die Art der Urkunden als auch was die Rolle ihrer Aussteller betrifft, eine Sonderstellung innerhalb des Normkontexts ein.25 Geht es ansonsten zuvörderst um sachverständig gefertigte Dokumente oder behördliche Attestierungen, gestattet § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO die vernehmungsersetzende Verlesung von Dokumenten der Strafverfolger, deren konkrete Prozessrolle anderenfalls allein die von Zeugen wäre.26 Eine Norm, die entsprechende vernehmungsersetzende Verlesungen auch von Dokumenten gestatten würde, die durch nichtpolizeiliche Zeugen erstellt wären, existiert nicht. Verfahrenspsychologisch kann dies für die Wahrheitsfindung von nachteiligem Belang sein. Zum einen droht dem wie ausgeführt unzutreffenden Eindruck Vorschub geleistet zu werden, dass Polizisten gegenüber anderen Zeugen ein Vertrauensvorsprung einzuräumen wäre und zum anderen – darüber hinaus –, dass polizeilichen Vermerken eine sachverständigenähnliche Autorität und Neutralität zu unterstellen sein könnte. Für beide Annahmen besteht weder normativ noch empirisch Anlass. b) Zu besorgen ist jedoch, dass der angesprochene verfahrenspsychologische Vertrauensvorschuss bei den Gerichten bereits dazu geführt hat, den gebotenen Ansatz kritischer Subsumtion etwa bei den in Rede stehenden Observationsberichten außer Acht zu lassen. Hierzu gilt Folgendes: Polizeiliche Observationsberichte, über deren Verlesbarkeit nach § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO die Gerichte bislang zu befinden hatten, sind – soweit ersichtlich – lediglich abstrakt in den Blick genommen und beurteilt worden. Übersehen wird hierbei, dass diese Berichte regelmäßig eine schriftliche Zusammenfassung der Beobachtun23 H.M., siehe BGHSt 18, 214; LR/Krause, StPO, Band 2, 26. Aufl. 2008, § 74 Rn. 4, 6 m.w.N. 24 LR/Krause, StPO (Fn. 23), § 74 Rn. 6; MüKo-StPO/Trück, Band 1, 2014, § 74 Rn. 9 m.N.; vgl. a. Wiegmann, StV 1996, 572; siehe auch bereits oben unter I. 25 Krit. a. LR/Stuckenberg, StPO (Fn. 8), § 256 Rn. 8; vgl. a. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 61. Aufl. 2018, § 256 Rn. 1. 26 SK-StPO/Velten (Fn. 8), § 256 Rn. 16; vgl. a. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO (Fn. 25), § 256 Rn. 1.
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gen diverser zur Observation eingesetzter Polizeibeamter beinhalten, wobei nicht selten offen bleibt, ob der Berichtsverfasser überhaupt eigene Wahrnehmungen getätigt hat. In der Praxis wird derartigen Berichten häufig ein Passus vorangestellt, der in etwa wie folgt lautet: „Die nachstehend dokumentierte Observation wurde durch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des LKA X, Dezernat Y, durchgeführt. Sie beinhaltet in der Regel Wahrnehmungen verschiedener Personen. Sollte die Benennung einer Person als unmittelbarer Zeuge erforderlich werden, wird um die Bezeichnung des genauen Beweisthemas gebeten.“
Mit diesem Textbaustein wird zweierlei für die Frage der Verlesbarkeit nach § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO Bedeutsames deutlich. Zum einen bleibt bei Observationsberichten regelmäßig offen, ob und inwieweit gegebenenfalls der Verfasser eines derartigen Berichts selbst die dort niedergelegten Wahrnehmungen getätigt hat. Damit stellt sich aber die bislang unbeantwortete Frage, ob § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO die Verlesung von Urkunden gestattet, deren Aussteller die in ihr niedergelegten Wahrnehmungen nicht getätigt hat und für den Inhalt daher keine unmittelbare Verantwortung übernehmen kann. Dies ist aus mehreren Gründen zu verneinen: Für Verlesungen ärztlicher Atteste nach § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO ist entschieden, dass jedwede attestierte Schlussfolgerung einer Verletzung auf eigener Wahrnehmung des ausstellenden Arztes beruhen muss.27 Als unmittelbares Argument für hiesige Frage taugt dies zwar nur bedingt, da es zuvörderst um die ärztliche Sachkunde des Ausstellers geht, die gesichert werden soll. Jedoch greift eine Kontrollüberlegung auch hier Platz: Ebenso wenig wie bei einer persönlichen Vernehmung vor Gericht unter dem Regime der Aufklärungspflicht ein die Verletzung behandelnder Arzt etwa durch seinen protokollierenden approbierten Kollegen ersetzt werden könnte, wäre die Vernehmung der Observationsbeamten unter Beachtung des Verfassungsgebots der bestmöglichen Sachaufklärung28 durch deren Verschriftungsgehilfen substituierbar. So wenig die Vernehmung des Zeugen vom Hörensagen unter Verzicht auf den unmittelbaren Zeugen der Aufklärungspflicht Genüge tut, sind im Rahmen von § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO Urkunden, die nicht vom wahrnehmenden Zeugen selbst stammen geeignet, dessen Vernehmung zu ersetzen. Damit ist die wohl zunehmende forensische Praxis der Verlesung polizeilicher Vermerke über Wahrnehmungen, die dem Urkundenverfasser lediglich von anderen Polizeibeamten übermittelt wurden, schon an dieser Stelle unzulässig. Es kommt aber ein weiterer, von der die Verlesung befürwortenden Judikatur unerörterter Umstand hinzu. Die zusammenfassende Niederschrift der Observationsbeobachtungen einzelner eingesetzter Beamten beruht regelmäßig auf deren mündlichen Berichten, die sie teils während ihrer Beobachtungen, insbesondere aber in den der Observation folgenden Nachbesprechungen, mitteilen. Damit beruht die zusammenfassende Darstellung eines Observationsberichtes technisch gesehen aber 27 28
BGH, NStZ 2012, 226. BVerfGE 133, 168 (199); Radtke, GA 2012, 187; zutr. krit. Jahn, GA 2014, 588 (593).
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auf Vernehmungen der eingesetzten Observationsbeamten durch ihren Observationsführer bzw. -protokollanten. Anerkanntermaßen ist der Vernehmungsbegriff des § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO sehr weit auszulegen und umfasst jede Form einer gegebenenfalls auch informatorischen Befragung.29 Durch die systematische Einbettung der Norm droht aus dem Blick zu geraten, dass es sich bei den Observationsbeamten strafprozessual um Zeugen handelt, deren Vernehmung in foro nach dem Wortlaut der Norm allenfalls dann ersetzt werden kann, wenn diese eigenverantwortlich ihre jeweiligen Wahrnehmungen in einem von ihnen selbst stammenden und zu verantwortenden Vermerk niederlegen. Dies ist aber bei den hier in Rede stehenden Observationsberichten (wie bereits der eingangs unter b) zitierte typische Textbaustein zeigt) regelmäßig nicht der Fall. Letztlich perpetuiert die in § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO enthaltene Beschränkung der Nichtverlesbarkeit von Vernehmungsinhalten in polizeilichen Vermerken damit die bereits angesprochenen Bedenken, nach denen ebenso wenig wie die Vernehmung eines unmittelbaren durch einen mittelbaren Zeugen zu ersetzen ist, Berichte über die (vermeintlichen) Wahrnehmungen Dritter, deren eigene (ggf. schriftliche) Bekundung zu substituieren vermögen.
III. Problemstellungen Mit dem normimmanenten Vertrauensvorschuss, den § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO polizeilichen Protokollen und Vermerken gewährt, drohen indes auch weitere Gefahren für die Wahrheitsfindung aus dem Blick zu geraten. Dies mag folgendes Beispiel illuminieren:30 Bei einer Observation zur Aufklärung von Betäubungsmittelhandelsaktivitäten werden diverse Beamte zur Beobachtung von Tatverdächtigen eingesetzt. Die Ergebnisse der Observation werden vorläufig stichpunktartig festgehalten und sollen sodann in einer Besprechung der eingesetzten Beamten mit dem Observationseinsatzleiter zwei Tage später zu einem Bericht verschriftet werden, welcher die Wahrnehmungen der eingesetzten Beamten zusammenführen und -fassen soll. Bevor es hierzu kommt, erkundigt sich der sachleitende Ermittlungsführer bei dem Einsatzleiter der Observation, ob in deren Rahmen eine Übergabe des Verdächtigen X an Y beobachtet werden konnte. Eine solche müsse es nämlich eigentlich gegeben haben wie sich aus der mittlerweile erfolgten Auswertung der Telefonüberwachungserkenntnisse im Observationszeitraum ergebe. Zudem sei X kurze Zeit später abgesetzt kontrolliert worden und man habe bei ihm eine größere Menge Bargeld gefunden. Der mutmaßliche Käufer Y habe vor Ort nicht mehr kontrolliert werden können, wie ja die Observanten selbst wüssten. Der Einsatzleiter der Observation kann in den ihm übermittel29 LR/Stuckenberg, StPO (Fn. 8), § 256 Rn. 58; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO (Fn. 25), § 256 Rn. 27; Knauer/Wolf, NJW 2004, 2932; ausführlich hierzu MüKo-StPO/Krüger, Band 2, 2016, § 256 Rn. 47 „weiter Vernehmungsbegriff“; siehe auch HK-StPO/Julius (Fn. 8), § 256 Rn. 10: Verlesungsverbot auch für Vermerke, die sich auf die Auslegung einer Zeugenaussage stützen. 30 Bei diesem handelt es sich i.Ü. nicht um einen rein fiktiven Vorgang, sondern um ein aus der forensischen Praxis des Verfassers entlehnten, verfremdeten Prozessgeschehens.
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ten Stichpunkten der Observationsbeamten hierzu nichts Eindeutiges finden, was eine Übergabe nahelegen würde. Als er dies dem Ermittlungsführer am Telefon mitteilt, macht dieser seinem Ärger hierüber mit dem Bemerken Luft, dass ohne eine solche Beobachtung die ganze Observation nicht nur sinnlos gewesen sei, sondern später von den Beschuldigten gar zur Entlastung herangezogen werden könne mit der Behauptung, es habe keine Übergabe gegeben, anderenfalls hätte diese ja im Rahmen der Observation beobachtet worden sein müssen. In der folgenden Besprechung zur Abfassung des Observationsberichts offenbart der Einsatzleiter das an ihn von der Sachbearbeitung herangetragene Dilemma. Schließlich äußert sich ein Observationsbeamter in der Überzeugung, dass, wenn es nach der Telefonüberwachung eine Übergabe gegeben habe, er wohl derjenige gewesen wäre, der diese hätte sehen müssen und sie wohl nur unglücklicherweise verpasst habe. Er teilt der Runde mit, dass er nunmehr der Meinung sei, ein übergabeähnliches Geschehen beobachtet zu haben. Ja, er habe einen Austausch beobachten können, auch wenn er die Gegenstände nicht erkannt habe. Der Beamte behauptet dies in der Überzeugung, dass ein solches Geschehen, obschon von ihm in Wahrheit nicht beobachtet, wohl stattgefunden habe und er durch seine vermeintliche Unaufmerksamkeit den berechtigten Ermittlungsaufwand und Einsatz seiner Kollegen zur Überführung eines wohl Schuldigen nicht gefährden dürfe.31 Obschon aus dem Verlauf der Besprechung und der Art und Weise wie sich der Beamte äußert allen an der Observation beteiligten Personen in der Runde sofort klar ist, dass ihr Kollege die nunmehr bekundete Beobachtung einer vermeintlichen Übergabe in Wahrheit nicht getätigt hat, hinterfragt dies keiner der Observationsbeamten, die ihrerseits der Meinung sind, dass der Kollege bei seinen Beobachtungen schlicht unaufmerksam war und nunmehr lediglich seinen (vermeintlichen) Fehler korrigiere. Die tatsächlich nicht stattgefundene Beobachtung einer vermeintlichen Übergabe findet sodann Eingang in das zusammenfassende Observationsprotokoll in der sicheren Erwartung der Beteiligten, dies werde – wie sonst auch üblich – vernehmungsersetzend in der Hauptverhandlung verlesen. So geschieht es denn auch, ohne dass an der Observation beteiligte Beamte als Zeugen in der Hauptverhandlung gehört werden. Zu deren persönlicher Vernehmung sah das Gericht sich auch unter Aufklärungsgesichtspunkten nach § 244 Abs. 2 StPO nicht gedrängt, da auch die Ergebnisse der Telefonüberwachung eine Übergabe mindestens indizierten und der X mit entsprechendem Bargeld angetroffen worden sei. Auch aufgrund des verlesenen Observationsberichts und der darin enthaltenen, tatsächlich aber nie getätigten, Beobachtung werden X und Y in der Folge zu Freiheitsstrafen verurteilt.
1. Es mag auf den ersten Blick erstaunen, aber auch das bewusste polizeiliche Schaffen einer wahrheitswidrigen, den Beschuldigten belastenden Aktenlage ist für die hieran Beteiligten grundsätzlich nicht strafbar. Urkundsdelikte scheiden schon deshalb aus, weil es sich um sog. schriftliche Lügen handelt, welche die Echtheit der Dokumente nicht tangieren. §§ 164 oder 344 StGB greifen ebenfalls nicht, da der Beschuldigte ja unbeschadet und unabhängig von der manipulierten Aktenlage bereits verdächtig ist. Für die falsche Verdächtigung gemäß § 164 StGB gilt nach h.M. bekanntermaßen, dass sich die Unwahrheit allein auf die rechtswidrige Tat be31 Zum Einfluss der Sicherung der Effektivität behördlichen Handelns und der Absicherung desselben siehe Eisenberg, Kriminologie, 6. Aufl. 2000, § 40 Rn. 3 ff.; sowie nunmehr Eisenberg/Kölbel, Kriminologie, 7. Aufl. 2017, § 32 Rn. 3 ff.
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ziehen muss, sodass bereits der objektive Tatbestand lediglich dann erfüllt ist, wenn der Verdächtigte der bezichtigten Tat unschuldig ist. Ist dies nicht nachweislich der Fall, greift die Vorschrift selbst dann nicht, wenn die Verdächtigung durch den Vortrag (bewusst) falscher Tatsachen herbeigeführt wird.32 Nicht anders verhält es sich im Ergebnis unter dem Blickwinkel des § 344 StGB bei der Frage strafrechtlicher Relevanz wegen Verfolgung Unschuldiger. Auch hier entfällt eine Strafbarkeit, denn eine Verfolgung Unschuldiger scheidet nach h.M. aus, wenn zwar die Verfolgung auf nicht vorliegende Tatsachen gestützt wird, derjenige Tatbestand, wegen dessen der Beschuldigte verfolgt werden soll, aber prozessual zulässig verfolgbar ist. Es komme nicht darauf an, ob gerade die Tatsachen vorliegen, die zur Subsumtion unter die Rechtsnorm unzutreffend behauptet werden, solange gegebenenfalls andere Tatsachen an ihre Stelle treten und die Norm ausfüllen können.33 2. Die vielversprechendste Verteidigungschance eines Beschuldigten, der sich nach Aktenlage mit solcherart unzutreffenden polizeilichen Zeugenbehauptungen belastet sah, war es daher stets, diese in der Hauptverhandlung zu konfrontieren. Dies barg einerseits die – gelegentlich naiv anmutende – Hoffnung, der polizeiliche Zeuge werde sich in der Hauptverhandlung unter strafbewehrter Wahrheitspflicht stehend, eines Besseren besinnen als in den Akten notierte unzutreffende Behauptungen zu wiederholen. Zum anderen bestand immerhin für die Verteidigung die Möglichkeit, polizeiliche Unwahrheiten durch geschicktes Befragen in der Hauptverhandlung bestenfalls zu decouvrieren, mindestens aber die unzutreffend bekundeten Tatsachen in Zweifel zu ziehen. Mag dies auch stets eine ambitionierte und in foro nicht einfach zu erreichende Zielsetzung sein, war sie vielfach die einzige Möglichkeit des Betroffenen, sich insoweit überhaupt zu verteidigen.34 Diese Handhabe ist der Verteidigung durch § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO, zumal in seiner, der hiesigen Auffassung bislang entgegenstehenden Interpretation durch die Judikatur, nicht mehr gegeben. Die in Rechtsprechung und Literatur erwogenen und hierzu vorgeschlagenen Kompensationen erweisen sich bei näherer Betrachtung als untauglich.
IV. Verkürzte Verteidigungsrechte In der Kommentarliteratur heißt es zum Problem der verkürzten Verteidigungsrechte u. a. auch, es könne dahinstehen, ob § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO die Verteidi32
BGHSt 35, 50; OLG Koblenz, NZV 2011, 93; Schilling, GA 1984, 345. Etwa BGH, MDR bei Dallinger 1971, 895 34 Mit der strafprozessualen Novelle, die 2004 § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO Gesetz werden ließ wurde wie bereits oben ausgeführt gleichzeitig die Regelvereidigung abgeschafft, die es dem Angeklagten ermöglichte unabhängig vom Willen des Gerichts Zeugen auf ihre Aussagen beeidigen zu lassen; ein gelegentlich taugliches Mittel zur Disziplinierung von Zeugen, dessen Streichung gerade auch im Zusammenspiel mit § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO als für die Angeklagtenstellung nachteilig imponiert. 33
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gungsrechte und das Gebot der Sachaufklärung massiv einschränke, im Einzelfall habe der Tatrichter dann eben dem Vorrang der Amtsaufklärungspflicht im Zusammenspiel mit § 250 StPO besondere Beachtung zu schenken.35 Derartige Versuche, die entgrenzten Verlesemöglichkeiten wieder einzuhegen, finden sich in unterschiedlichen Varianten. Sie beschreiben das Problem indes mehr als taugliche Lösungen zu offerieren. Franke etwa meint, dass die Verlesung einer Urkunde statt einer persönlichen Vernehmung im Einzelfall eine Verletzung der Aufklärungspflicht begründen könne.36 Bei Diemer37 heißt es ebenfalls, dass die Verlesbarkeit polizeilicher Protokolle ihre Grenzen in der Aufklärungspflicht finde und Stuckenberg38 benennt die Vorschrift des § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO als problematisch und eng auszulegen und meint ebenso wie der BGH39, nötigenfalls müsse mit Beweisanträgen der durch Verlesung drohenden Verkürzung der Sachaufklärung entgegengewirkt werden. Wie bereits erwähnt und worauf im Folgenden einzugehen ist, erweisen sich weder das Beweisantragsrecht noch die Amtsaufklärungspflicht als taugliche Korrektive zur Gewährleistung des Rechts, polizeiliche Ermittlungen auch bei Anwendung des § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO effektiv hinterfragen zu können. 1. Das Beweisantragsrecht, auf das auch der BGH als vermeintlich geeignetes Gegenmittel gegen exzessive Verlesungen verweist,40 erweist sich gerade in seiner gegenwärtigen höchstrichterlichen Auslegung als unzureichendes Placebo für den Angeklagten. Entscheidend ist dabei gar nicht, dass nach hM bislang ohnehin galt, dass § 256 StPO die Ablehnungsgründe des § 244 Abs. 3 bis 5 StPO gleichsam suspendiere und die Bescheidung entsprechender Anträge allein an § 244 Abs. 2 StPO zu messen sei.41 Derartige Erörterungen erfolgten zwar zuvörderst anhand von Fragen zum Sachverständigenbeweis, der die Verlesungen nach § 256 Abs. 1 StPO a.F. bislang dominierte. Indes ist für die Behandlung von Anträgen auf die nichtsachverständigen polizeilichen Zeugen, deren Vernehmungen nach § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO durch Protokollverlesungen ersetzt werden sollen, seitens der Rechtsprechung keine andere Betrachtung zu erwarten. Die Begründung zu hier drohenden Restriktionen entspringt der Rechtsprechung zum vermeintlichen Erfordernis der Konnexität eines Beweisantrags. Diese besagt bekanntlich, dass der Antragssteller in einem Beweisantrag neben dem Beweismittel (betrifft regelmäßig den Zeugenbeweis) und der Beweisbehauptung darzulegen habe, weshalb der Zeuge etwas zum behaupteten Be35
So Satzger/Schlucke/Widmaier/Franke, StPO, 3. Aufl. 2018, § 256 Rn. 11. Satzger/Schlucke/Widmaier/Franke, StPO (Fn. 35), § 256 Rn. 13. 37 KK-StPO/Diemer, 7. Aufl. 2013, § 256 Rn. 9a. 38 LR/Stuckenberg, StPO (Fn. 8), § 256 Rn. 57. 39 BGH, NJW 2016, 601. 40 Vgl. BGH, NJW 2016, 601: „Hält die Verteidigung die Verlesung eines Observationsberichts für unzureichend, steht es ihr in der Hauptverhandlung frei, einen Beweisantrag auf Vernehmung der Observationsbeamten bzw. des Observationsführers zu stellen und im Falle der Antragsablehnung dies in der Revision zu rügen oder im Falle einer unterbliebenen Beweisantragstellung insoweit zumindest die Aufklärungsrüge zu erheben.“ 41 SK-StPO/Velten (Fn. 8), § 256 Rn. 17. 36
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weisthema bekunden könne, wenn sich dies nicht von selbst verstehe, wobei bei fortgeschrittener Beweisaufnahme die Darlegungsanforderungen in Ansehung der Beweisaufnahme strenger sein sollen und zudem die Forderung erhoben wird, die entsprechenden Umstände bestimmt zu behaupten.42 Trotz aller Kritik hat sich das von der Rechtsprechung entwickelte Konnexitätserfordernis nicht nur etabliert, sondern ist höchstrichterlich zunehmend ausgebaut worden.43 Widmaier, der den Begriff im Anschluss an die Flamingo-Entscheidung des 5. Senats44 prägte und zunächst als neues Kriterium begrüßte,45 beklagte in der Folge schließlich, dass die Konnexität in der Rechtsprechung ein Eigenleben entwickelt und sich zum Instrument fortschreitender Einschränkungen des Beweisantragsrechts entfaltet habe.46 Ohne hier auf die Begrifflichkeiten im Einzelnen vertieft einzugehen, firmieren mittlerweile unterschiedliche Anforderungen einer Konnexität im sog. „engeren“ und einer im „weiteren“ Sinne.47 In den hier in Rede stehenden Konstellationen interessieren jedenfalls letztere insoweit, als dass Beweisanträgen hiernach schwerlich nachgegangen werden wird, welche darauf abzielen, Zeugen zum urkundlich verschrifteten und nach § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO verlesenem Inhalt ihrer vermeintlichen oder tatsächlichen Wahrnehmungen in der Hauptverhandlung zusätzlich persönlich zu vernehmen. Im oben unter III. genannten Observationsbeispiel könnte ein Beweisantrag nach der vernehmungsersetzenden Verlesung des eine Übergabe behauptenden Observationsberichts in etwa lauten, den Observationsbeamten Z48 zu laden, der bekunden werde, dass er entgegen dem verlesenen Observationsbericht eine wie auch immer geartete Übergabe zwischen X und Y anlässlich seines Observationseinsatzes nicht wahrgenommen habe. Dieser Antrag wäre mindestens im Rahmen des gegen42
Siehe zusammenfassend etwa auch KK-StPO/Krehl, 7. Aufl. 2013, § 244 Rn. 82; krit. Eisenberg (Fn. 9), Rn. 146: Gefahr der Entkernung des Beweisantragsrechts bei Überspannung der Anforderungen. 43 Zur sog. erweiterten Konnexität BGHSt 52, 284 (287) mit abl. Anm. Fezer, HRRS 2008, 457; siehe auch Schneider, in: Müller/Sander/Válková, FS für Ulrich Eisenberg zum 70. Geburtstag, 2009, S. 609 (610, 626 ff.); Jahn, StV 2009, 655; Ventzke, StV 2009, 663; Habetha/ Trüg, GA 2008, 405; Eidam, JR 2008, 520. 44 BGHSt 39, 251. 45 Widmaier, NStZ 1993, 602, freilich in dem Glauben, hiermit ein begrenztes, voraussehbarer zu handhabendes Kriterium zu entwickeln, dass die unbestimmteren Begriffe „ins Blaue hinein“ oder „aufs Geratewohl gestellt“ zur Abwehr und Herabstufung von Beweisanträgen ersetzen werde. 46 Widmaier, StraFo 2011, 310 mit Nachweisen zur Entwicklung in Fn. 37 konstatiert schließlich: „Ich kam mir vor wie ein Zauberlehrling, der die Geister, die er rief nicht mehr loswurde“. 47 Zu den Begrifflichkeiten siehe auch Habetha, StV 2011, 239 sowie Schneider (Fn. 43), S. 609. 48 Eventuelle Schwierigkeiten des Antragstellers den „entscheidenden“ Observationsbeamten überhaupt namhaft zu machen, sollen hier nicht vertieft werden. Diese ließen sich ggf. über Ladung des Observationsleiters unter Umformulierung des Antrags noch lösen.
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wärtigen Verständnisses der Konnexität im sog. weiteren Sinne dem Einwand ausgesetzt, der Antragsteller verfehle dieses zur Qualifikation als Beweisantrag notwendige Erfordernis. Er muss damit rechnen, dass ihm attestiert wird, ihm fehlten taugliche Anhaltspunkte für die Annahme, die Beweiserhebung werde die Beweisbehauptung bestätigen, weshalb es sich in Wahrheit um einen Scheinbeweisantrag handele, der „ins Blaue“ bzw. „aufs Geratewohl“ gestellt wurde und daher als Beweisanregung allein anhand der Aufklärungspflicht gemäß § 244 Abs. 2 StPO zu beurteilen sei.49 Tatsächlich hat der Antragsteller naturgemäß kaum eine Möglichkeit plausibel darzutun, weshalb er die Hoffnung hegt, die von ihm benannte Beweisbehauptung werde durch den Zeugen Z bestätigt werden. Von der jüngeren Rechtsprechung wird jedoch die entsprechende Darlegung vom Antragenden verlangt, weshalb eine zu ladende Beweisperson sich als Zeuge in der Hauptverhandlung anders äußern werde als dies in schriftlicher Form in den Akten geschehen sei.50 Die denkbare Erwägung, es stehe ja dem Angeklagten frei, den entsprechenden Anhaltspunkt durch konkrete Erklärungen zur vermeintlichen Übergabesituation bzw. der „Nichtübergabe“ zu schaffen und somit die geforderte Konnexität herzustellen, ist schon angesichts des verfassungsrechtlich geschützten nemo-tenetur-Grundsatzes untauglich. Eine Forderung, die Preisgabe des Schweigerechts sei Voraussetzung, um ein Beweiserhebungsverlangen als Beweisantrag zu qualifizieren, wäre unhaltbar und ungeeignet das vorliegende Dilemma zu lösen. 2. Auch der Verweis auf Hilfe durch das Revisionsgericht mittels einer kunstgerecht formulierten Aufklärungsrüge51 führt nicht weiter. Denn das Prüfungsprogramm der Aufklärungsrüge verlangt vom Revidenten darzulegen, weshalb sich dem Tatgericht die mit der Rüge vermisste Aufklärung aufdrängen musste. Dagegen steht dann vorliegend nicht nur der verlesene Observationsbericht selbst, sondern auch das Zusammenspiel mit den diesen stützenden Telefonüberwachungsergebnissen sowie der Bargeldfund bei X. Eine dennoch erhobene Aufklärungsrüge wäre in 49 Zur Frage inwieweit neben den Konnexitätserfordernissen auch angesichts des gesetzlich normierten Ablehnungsgrundes der Verschleppungsabsicht überhaupt noch Raum für die Kategorisierung von Anträgen als „ins Blaue hinein“ bzw. „aufs Geratewohl“ gestellt verbleibt, siehe etwa Habetha, StV 2011, 239, zugleich Anm. zu BGH, NStZ 2011, 169; vgl. a. Fn. 46. 50 So etwa jüngst BGH, wistra 2017, 73, wo ein Beweisantrag, mit dem die Einvernahme einer Dolmetscherin zum Beweis der Tatsache begehrt wurde, dass ein von ihr mit einem Zeugen geführtes Telefonat (wohl zur Frage seiner Teilnahmebereitschaft an einer Videovernehmung im Ausland) einen anderen Inhalt als von ihr verschriftet gehabt habe, als Beweisermittlungsantrag behandelt wurde. Der BGH führte u. a. aus, für einen Beweisantrag fehle es an der Darlegung, welche tatsächlichen Umstände das Gericht zur Prüfung hätten drängen müssen, dass das Telefonat einen anderen Inhalt gehabt hätte als schriftlich bereits niedergelegt. Auf gleicher Linie auch BGH, NStZ 2011, 169 m. krit. Anm. Schneider, NStZ 2012, 169 sowie ebenfalls krit. Anm. Ventzke, NStZ 2011, 301. 51 Auf eben diese verweisen BGH, NJW 2016, 601, sowie etwa Satzger/Schlucke/Widmaier/Franke, StPO (Fn. 35), § 256 Rn. 13; HK-StPO/Julius (Fn. 8), § 256 Rn. 22.
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ähnlichen Konstellationen nicht nur hier, sondern regelmäßig zum Scheitern verurteilt. Denn so wenig wie der Revident im Rahmen der Konnexitätserfordernisse im weiteren Sinne in einer dem Tatgericht sich als plausibel aufdrängenden Weise darlegen kann, warum er die Erwartung hegt, ein polizeilicher Zeuge werde anderes, gar Gegenteiliges bekunden als in seinem Vermerk niedergelegt, so wenig wird es ihm möglich sein, dies im Rahmen der Aufklärungsrüge dem Revisionsgericht schlüssig zu unterbreiten. 3. Damit erweisen sich die Mittel, auf die der Angeklagte seitens der Rechtsprechung und von Teilen der Kommentarliteratur für die hier besorgte Rechtsverkürzung verwiesen wird, in Ansehung der gegenwärtigen höchstrichterlichen Kriterien beim Umgang mit Beweisanträgen als potentiell untauglich.
V. Lösungsansatz Aus einem anderen Licht betrachtet handelt es sich indes bei den vermeintlich inkonnexen bzw. „ins Blaue hinein“ gestellten Beweisanträgen auf persönliche Vernehmung der Aussteller von nach § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO verlesenen Urkunden um das in Beweisanträge gekleidete, mit Blick auf die Vermerke hilflos und dadurch potentiell obstruktiv anmutende Beharren der Verteidigung auf Einlösung des Versprechens des Art. 6 Abs. 3d EMRK, dem Konfrontationsrecht, welches ihr normativ durch § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO abgeschnitten zu werden droht.52 Unter diesem Blickwinkel könnte jedoch auch die Lösung des beschriebenen Dilemmas aufscheinen. 1. Art. 6 Abs. 3d EMRK gibt dem Angeklagten bekanntlich das Recht, Belastungszeugen zu befragen. Dieses Recht ist disponibel und von daher mag § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO insoweit mit Art. 6 Abs. 3d EMRK unproblematisch zu vereinbaren sein, als der Angeklagte gegen die vernehmungsersetzende Verlesung potentiell belastender polizeilicher Erklärungen nicht prozessual remonstriert. Dies muss indes seine Grenze dort finden, wo der Angeklagte die Befragung der polizeilichen Zeugen begehrt, deren Wahrnehmungen über die Verlesung ihrer verschrifteten Protokolle zum Gegenstand der Hauptverhandlung wurde. Dann kann das Recht des Angeklagten diese konfrontativ zu befragen bzw. befragen zu lassen weder mit dem Wortlaut des § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO konterkariert noch mit den oben unter IV. behandelten Erwägungen aus der Konnexitätsrechtsprechung zum Beweisantragsrecht beschnitten werden. Diese sind vielmehr ihrerseits im Lichte des Art. 6 Abs. 3d EMRK einzuschränken. Insoweit gilt auch national und im Wege der einfachgesetzlichen Konkordanz – durch das Bundesverfassungsgericht abgesichert – der Grundsatz der konventions-
52 So auch SK-StPO/Velten (Fn. 8), § 256 Rn. 16, die in der pauschalen Befugnis der Ersetzung persönlicher Vernehmungen durch Protokollverlesungen weiterhin einen Verstoß gegen das rechtliche Gehör sowie gegen den Grundsatz des Fair Trial erblickt.
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freundlichen Auslegung der StPO.53 Daher lässt das Konfrontationsrecht für die Ablehnung von Beweisanträgen auf polizeiliche Belastungszeugen, deren Wahrnehmungen durch Verschriftungen eingeführt wurden, keinen Raum. Dies zumal dann nicht, wenn diese Ablehnung auf einer – ohnehin auch national umstrittenen – extensiven Interpretation des ungeschriebenen Konnexitätserfordernisses beruht. Für dessen Einschränkung streitet weiterhin auch folgende Überlegung: Galt das Konnexitätserfordernis ursprünglich auch der Eindämmung (vermeintlich) potentiell uferloser Beweisanträge gerade auch auf Zeugen, bei denen sich nach den vorliegenden Ermittlungsergebnissen und dem Stand der Beweisaufnahme nicht erschloss, warum diese überhaupt Erhebliches zum Sachverhalt bekunden könnten, passen diese Erwägungen auf die hier in Rede stehenden polizeilichen Zeugen in keiner Weise. Denn dass diese Erhebliches zur Beweisaufnahme beizutragen haben, belegt bereits der Umstand der Verlesung ihrer verschrifteten Wahrnehmungen nach § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO. Lediglich der umstrittene erweiterte Konnexitätsbegriff, der eine Ablehnung bei vermeintlich bereits die Beweisbehauptung kontraindizierenden Umständen gestatten soll, kann es ermöglichen, den Beweisantrag auf persönliche Vernehmung eines Vermerkverfassers zu einem Beweisermittlungsantrag herabzuqualifizieren. Dies würde es jedoch – auch unabhängig vom Art. 6 Abs. 3d EMRK – gerade im Rahmen von heimlichen Ermittlungen wie Observationen gestatten, die ohnehin nicht offenen (und damit für den Beschuldigten auch im Ermittlungsverfahren nicht mit effektivem Rechtsschutz zu kontrollierende) Ermittlungshandlungen auch ihrer nachträglichen Kontrolle durch den Angeklagten in der Hauptverhandlung und damit selbiger vollends zu entziehen. Mit der ursprünglichen ratio der Konnexitätserwägungen hat dies nichts mehr zu tun. Dass das Konnexitätserfordernis in seiner Auswirkung auch als Schutzwall gegen Angriffe auf eine ungeschriebene Richtigkeitsvermutung für den Inhalt polizeilicher Vermerke zu begreifen sei, wird man auch kaum ernsthaft vertreten wollen. 2. Allein mit der hier befürworteten Möglichkeit, dem Angeklagten die Möglichkeit zu sichern, die Vermerksverfasser wenigstens auf entsprechenden Antrag hin in der Hauptverhandlung zu hören, ist dem eingangs beschriebenen Problem möglicher Qualitätsverluste bei der Beschränkung der Beweisaufnahme auf Verlesungen nach § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO ohne Einvernahme der Urkundenersteller bei gleichzeitig extensiver Interpretation des Anwendungsbereichs dieser Norm schwerlich beizukommen. Tatsächlich wäre de lege ferenda zu erwägen, die Verlesbarkeit solcher polizeilichen Protokolle von der Qualität her dem anzugleichen, was von einer Aussage in der Hauptverhandlung zu erwarten wäre. Zu erörtern wäre die Forderung nach einer eidesstattlichen Versicherung des Ausstellers, dass die Niederschrift die getätigten Wahrnehmungen vollständig enthält und ihre Abfassung wahrheitsgemäß ist. 53
Vgl. BVerfGE 111, 307, wonach Konventionstext und die Rechtsprechung des EGMR auf der Ebene des Verfassungsrechts als Auslegungshilfen für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes dienen, sofern dies nicht zu einer Einschränkung oder Minderung des nationalen Grundrechtsschutzes führt; siehe auch BVerfGE 126, 326.
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Die damit verbundene Strafbewehrung für den Fall falscher Angaben in derartigen Protokollen scheint auch deshalb nicht zu viel verlangt, weil auch sonst von den Prozessbeteiligten entsprechende strafbewehrte Glaubhaftmachungen abgefordert werden, sofern sie etwa prozessuale Gesuche stellen (vgl. z. B. bei Wiedereinsetzungen – § 45 Abs. 2 StPO – oder bei der Stellung von Ablehnungsgesuchen – 26 Abs. 2 StPO). Warum die Anforderungen an Dokumente, auf die nicht nur Verfahrensfragen, sondern ggfls. sogar ein Schuldspruch (mit-)gestützt wird, geringer sein sollten, leuchtet nicht ein. Der Versuch einer Erhöhung der Qualitätsanforderungen an zu verlesende Protokolle sollte zudem ebenfalls de lege ferenda in § 359 Nr. 2 StPO als zusätzlicher Wiederaufnahmegrund für den Fall eingearbeitet werden, dass sich die abgegebene Versicherung betreffend der Vollständigkeit und Wahrhaftigkeit des verlesenen Protokolls nach Rechtskraft als unzutreffend herausstellt und sich das Urteil auch auf sie stützte. Eine Einschränkung des hier unter V.1. befürworteten Antragsrechts auf persönliche Vernehmung wäre hiermit im Übrigen nicht verbunden, weil die hier vorgeschlagenen Zusatzanforderungen für die Verlesbarkeit polizeilicher Vermerke zum einen eher einen Mindeststandard zu deren Qualitätssicherung formuliert, zum anderen aber ein solcher dogmatisch nicht geeignet ist, das Konfrontationsrecht der EMRK zu begrenzen.
VI. Fazit Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die gegenwärtige im Vordringen befindliche Praxis, polizeiliche Vermerke extensiv auch im Sinne der gängigen Formen von Observationsberichten zu verlesen schon de lege lata unvertretbar ist. Dies zum einen, weil der Urkundenaussteller regelmäßig mangels eigener Wahrnehmung gar nicht die inhaltliche Verantwortung für die Niederschrift persönlich übernehmen kann (und will). Zum anderen weil derartige Berichte unter Einvernahme der tatsächlich die Wahrnehmungen tätigenden Beamten zustande kommen und damit unter dem herrschenden weiten Vernehmungsbegriff der Norm in die Anwendungseinschränkung fallen, nach der Vernehmungsteile nicht verlesen werden dürfen. Des Weiteren wäre eine einschränkende Auslegung des Beweisantragsrechts auf persönliche Vernehmung der Urkundenverfasser oder seiner Quellen untunlich und mit Art 6 Abs. 3d EMRK unvereinbar. Die gegenwärtig sich etablierende tatrichterliche Praxis, § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO extensiv mit dem Ziel größtmöglicher Prozessökonomie fruchtbar zu machen, nimmt nicht nur dem Angeklagten die Möglichkeit der wenigstens nachträglichen Kontrolle der sich stetig ausweitenden heimlichen Ermittlungsmaßnahmen in foro. Auch die Gerichte begeben sich der ihnen obliegenden Überprüfung. Sie drohen den Vertrauensvorschuss des Gesetzgebers zu verlängern, der der Polizei zunehmend weitreichendere heimliche Ermittlungsbefugnisse an die Hand gibt. Dabei speist sich die Legitimation dieser Weiterungen letztlich zumindest teilweise auch aus dem Glauben an eine wenigstens nachträgliche effektive Kontrolle in foro für den Fall, dass diese zu Schuldsprüchen führen. § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO in
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seiner gegenwärtigen Auslegung droht hingegen diese Kontrollfunktion nicht nur zu vernachlässigen, sondern sie dem Angeklagten zu verweigern. Diesem letztlich eine gleichsam zu begründende Einrede gegen eine implizit angenommene und aus prozessökonomischen Gründen gegebenenfalls angestrebte Richtigkeitsvermutung für polizeiliche Vermerke aufzugeben, vertrüge sich aber weder mit der Unschuldsvermutung noch mit der Aufgabe des Strafprozesses, die Ermittlungsergebnisse gerichtlich eigenständig zu prüfen und nicht vorauszusetzen.
Quo vadis, deutsches Strafprozessrecht? Von Gunnar Duttge und Simone Klaffus
I. Nach der Reform ist vor der Reform … Der Koalitionsvertrag der neuen Regierungsparteien vom 14. März 2018 kündigt vollmundig einen „Pakt für den Rechtsstaat“1 an: Soweit es das Strafverfahren betrifft, ließe das im Sinne Eberhard Schmidts Reformimpulse erwarten, die eingedenk der nicht erst in der jüngeren Geschichte „erschütternden Erfahrungen“ staatlichen Machtmissbrauchs Verfahrensstrukturen stärkt und damit eine „auf Wahrheit und Gerechtigkeit intendierende Rechtsspruchtätigkeit“ verlässlich fördert.2 Studiert man im verfahrensrechtlichen Abschnitt des Koalitionsvertrages jedoch die dort aufgezählten Einzelvorhaben, so drängt sich der Eindruck auf, dass die für die (Straf-) Rechtspolitik Verantwortlichen unter Rechtsstaatssicherung offenbar mitnichten eine Mäßigung der Strafgewalt durch Bindung an „wohltätige Formen und Regeln“3, sondern ganz im Gegenteil (aufs Neue) die Beschleunigung der Verfahren durch Rückbau „störender“ Verfahrensrechte und Ausweitung hoheitlicher Befugnisse verstehen, gerne versehen mit dem verschleiernden Etikett der „Modernisierung“, als ob Veränderung allein schon der Veränderung wegen richtig sein müsse:4 Erweiterung des Selbstleseverfahrens, „Bündelung“ der Interessenvertretung von Nebenklägern, „vereinfachte“ Ablehnung von „missbräuchlichen“ Befangenheits- und Beweisanträgen, Ausweitung der DNA-Analyse und Legalisierung der Tatprovokation5 unberührt davon, dass diese nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte unabhängig vom Vorliegen einer gesetzlichen Grundlage
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Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD für die 19. Legislaturperiode: Ein neuer Aufbruch für Europa – Eine neue Dynamik für Deutschland – Ein neuer Zusammenhalt für unser Land, abrufbar unter: https://www.bundesregierung.de/Content/DE/_Anlagen/2018/03/ 2018-03-14-koalitionsvertrag.pdf; jsessionid=BF430FC8EA88CC3DC894710077933D6C.s3 t1?__blob=publicationFile&v=5, S. 121 ff. 2 Eberhard Schmidt, Lehrkommentar zur Strafprozessordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz, Teil I, 1952, Rn. 19 f., 373. 3 Eberhard Schmidt (Fn. 2), Rn 20. 4 Zu dieser Fortschrittsmetaphorik bereits krit. Duttge, in: Schweighofer/Liebwald/Augeneder/Menzel (Hrsg.), Effizienz von e-Lösungen in Staat und Gesellschaft. Aktuelle Fragen der Rechtsinformatik, 2005, S. 546 ff. 5 Koalitionsvertrag (Fn. 1), S. 121.
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das Recht des Beschuldigten auf ein faires Verfahren verletzt.6 Während die deutsche Rechtspolitik längst „Entschlackung“7, „Effizienz“ und „Praxistauglichkeit“ zu Leitidealen der unentwegten StPO-„Reform“ stilisiert,8 bemisst der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte das rechtsstaatliche Niveau des Strafverfahrens danach, ob ungeachtet einer veränderten Verbrechenswirklichkeit „das Recht auf eine geordnete Rechtspflege eine so herausragende Stellung ein[nimmt], dass es nicht der Nützlichkeit geopfert“ wird.9 Nicht minder irritiert an der Auflistung des Koalitionsvertrages die thematische Zusammenhangslosigkeit der Einzelvorschläge, ohne – abgesehen von der ebenfalls angekündigten „Kodifizierung der Zulässigkeit von Beweiserhebung und -verwertung“10 – eine gemeinsame sachbezogene Reformidee jenseits des Willens zur Reaktion auf aktuelle Einzelanlässe (wie etwa das NSU-Verfahren) erkennen zu lassen. Dabei hatte der vormalige Bundesjustizminister noch anlässlich der Einsetzung der „Expertenkommission“ zur Reform des Strafprozessrechts im Juli 2014 nachdrücklich betont, dass es angesichts der nicht mehr zu übersehenden Krisenerscheinungen11 einer überlasteten Strafjustiz – man denke nur an die steigende Quote an staatsanwaltschaftlichen Verfahrenseinstellungen gegen (sanktionierende)12 Auflagen (§ 153a Abs. 1 StPO) – nicht (mehr) um eine „kurzfristige Reparaturgesetzgebung mit kleinteiligen Änderungsvorschlägen“ gehen könne, sondern „strukturelle Verbesserungen des Systems“ nötig seien.13 Davon ist aber schon kurz darauf ausweislich des „im Schnellschussverfahren“14 verabschiedeten Gesetzes vom 17. August 2017 mit der bezeichnenden Betitelung eines Regelwerkes „zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens“15 nichts mehr zu sehen gewesen: Wiederum begegnet ein Sammelsurium von Einzelregelungen, die vorwiegend von
6 Zuletzt EGMR, NJW 2015, 3631 (3632 f.): „Grund für das Verbot der Anstiftung durch die Polizei ist, dass sie die Aufgabe hat, Straftaten zu verhüten und aufzuklären, aber nicht, zu ihrer Begehung anzustiften“. 7 Bausback anlässlich des Kongresses der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zur Innen- und Rechtspolitik, abrufbar unter: https://www.cducsu.de/veranstaltungen/pakt-fuer-den-rechts staat-zur-staerkung-von-justiz-und-polizei. 8 Bezeichnend zuletzt das Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens vom 17. August 2017 (BGBl. I, 3202); s.a. Krings, Die politische Meinung, Ausgabe Mai/Juni 2018, 14 (18): „praxisgerechte Überarbeitung der Strafprozessordnung“. 9 EGMR, NStZ 1999, 47 (48). 10 Koalitionsvertrag (Fn. 1), S. 121. 11 Z. B. LR/Kühne, Die StPO und das GVG. Großkommentar, Bd. 1, 27. Aufl. 2017, Einl. F Rn. 214. 12 Dazu u. a. Duttge, in: FS Beulke, 2015, S. 689 ff. (m.w.N.). 13 Maas, Rede vom 7. Juli 2014, abrufbar unter: http://www.bmjv.de/SharedDocs/Reden/ DE/2014/07072014_Expertenkommission_Reform_StPO.html?nn=6704226. 14 Niedernhuber, JA 2018, 169. 15 Oben Fn. 8.
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Seiten der Justiz angeregt16 und teils sogar ohne öffentliche Transparenz erst spät im Gesetzgebungsverfahren (wie bei der Online-Durchsuchung)17 implementiert worden sind. Deshalb ist mit Blick auf den generellen Reformbedarf allenthalben von bloßem „Stückwerk“18 die Rede, das im Kern nur mehr Verfahrensrechte weiter beschneidet und Ermittlungsbefugnisse ausweitet, und es wird durchweg eine „bittere und enttäuschende“ Bilanz gezogen.19 Dabei wird nicht erst seit gestern eine an den Strukturen ansetzende Gesamtreform des Strafverfahrens angemahnt. Gössel sprach schon vor beinahe 20 Jahren davon, dass die rasanten gesellschaftlichen, wissenschaftlichen und globalen Veränderungen unsere heutige Strafprozessordnung wie ein „durchlöchertes, sich auflösendes Gewand“ erscheinen lassen, „welches von den unterschiedlichsten Flicken nicht etwa bloß ausgebessert, vielmehr gerade noch mühsam zusammengehalten wird“20. Sowohl der 60. als auch der 68. Deutscher Juristentag (1994/2010) haben sich eingehend mit der Frage befasst, ob es nicht längst einer grundlegenden Umgestaltung der strafverfahrensrechtlichen Strukturen bedarf – freilich möglichst „ohne Preisgabe rechtsstaatlicher Grundsätze“21. Der „Alternativ-Kreis“ präsentierte Reformentwürfe zur „nicht-öffentlichen Hauptverhandlung“ (1980)22, zur Hauptverhandlung (1985)23, zum Ermittlungsverfahren (2001)24 und zuletzt zur Beweisaufnahme (2014)25. Spätestens unter dem Eindruck des Absprachen-Gesetzes26 und seiner idealistischen bundesverfassungsgerichtlichen Bewertung27 hat sich jenseits der Rechtspolitik der Eindruck verfestigt, dass „der Zustand des Strafverfahrens [noch
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Singelnstein/Derin, NJW 2017, 2646 (2652). Dazu mit Recht deutliche Kritik von Schiemann, KriPoZ 2017, 338 (339) unter Verweis auf § 82 GO-BT. 18 Schiemann, KriPoZ 2017, 338 (351). 19 Singelnstein/Derin, NJW 2017, 2646 (2652); s.a. Basar, KriPoZ 2017, 95 (103); Gräfin von Galen, ZRP 2016, 42: „für große Schritte fehlen Bereitschaft oder Mut“; Knierim, in: ders./Oehmichen/Beck/Geisler (Hrsg.), Gesamtes Strafrecht aktuell, 2018, Kap. 18 Rn. 3; Schlothauer, StV 2016, 607; scharfe Kritik von Beukelmann, NJW-Spezial 2017, 440, der dem Gesetzgeber ein „Regelwerk für gute Gesetzgebung“ anempfiehlt. 20 LR/Gössel, Die StPO und das GVG. Großkommentar, Bd. 6, 25. Aufl. 2001, Vor § 407 Rn. 60. 21 Gössel, Gutachten C zum 60. DJT 1994; dazu eingehend Schlüchter, GA 1994, 397 ff. 22 Dazu Hilger, NStZ 1982, 311 ff.; Mehle, NStZ 1982, 309 ff.; Schüler-Springorum, NStZ 1982, 305 ff. 23 Näher Rieß, in: FS Lackner, 1987, S. 965 ff. 24 Eingehend Meier, GA 2004, 441 ff.; Schöch, in: GS Schlüchter, 2002, S. 29 ff. 25 GA 2014, 1 ff.; dazu auch Kröpil, JR 2015, 611 ff.; Jahn, StV 2015, 778 ff. 26 Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren vom 29. Juli 2009 (BGBl I, 2353). 27 BVerfGE 133, 168 ff. 17
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viel, G.D.] schlimmer ist als befürchtet“28; Schünemann sieht deshalb schon seit längerem „Wetterzeichen vom Untergang der deutschen Rechtskultur“29. Vor diesem Hintergrund war der Bericht jener schon erwähnten „Expertenkommission“30 mit einiger Spannung erwartet worden. Denn er bot – wenngleich unter sachwidrigen Rahmenbedingungen (der inhaltlichen Vorwegimprägnierung und zeitlichen Vorablimitierung)31 – eine seltene Gelegenheit, den – bestenfalls – über Geschichte und Fundamente eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens nur unzulänglich informierten32 Verantwortlichen der Rechtspolitik den seit langem im Diskurs der Strafprozessrechtswissenschaft zusammengetragenen grundlegenden Reformbedarf näherzubringen und durchdachte, wohlerwogene Strukturveränderungen ohne „rechtsstaatliche Verluste“ vorzuschlagen. Denn nur die sachgedankliche Einbeziehung der Gesamtarchitektur kann verhindern, dass sich die „italienische Methode“ des eklektischen „Zickzackkurses“ auch im deutschen Strafprozessrecht weiter manifestiert – mit der absehbaren Folge eines endgültigen „Identitätsverlustes“, wie er für das italienische Recht schon seit längerem beklagt wird.33 Dabei liegt die Quadratur des Kreises ersichtlich darin, den gestiegenen Ressourcenbedarf infolge der gewachsenen Sensibilität für Verfahrensfairness und grundrechtliche Relevanz (zum Teil mit Nachhilfe des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte) und eines exorbitant ausgeweiteten Raumes materieller Strafbarkeit (auf Betreiben der Kriminalpolitik ohne Rücksicht auf systemische Folgewirkungen) vorrangig durch sinn- und systemerhaltende Maßnahmen der generellen Rationalisierung und nicht durch zweckwidrige Rationierung mit der Folge eines „Zwei-Klassen-Strafrechts“ zu decken. Während letztere ab einem gewissen – notwendig willkürbehafteten – Schwellenwert (bei expliziter Rationierung) oder aber zur Gänze intransparent-beliebig (bei impliziter Rationierung) die Verfolgung des zentralen Zwecks (hier: sachadäquate Rekonstruktion des Sachverhalts und Verhängung einer angemessenen Sanktion) nur noch für einen Teil der Fälle vorrätig hält, sucht erstere nach systemimmanenten Stellschrauben, die sich als ressourcenverschwendend erweisen und entweder ersatzlos gestrichen oder aber durch weniger
28 Bock/Eschelbach/Geipel/Hettinger/Röschke/Wille, GA 2013, 328; zutreffend Rabe, Das Verständigungsurteil des Bundesverfassungsgerichts und die Notwendigkeit von Reformen im Strafprozess, 2017, S. 503: „Illusionen sind fehl am Platz“. 29 So die gleichnamige Schrift aus dem Jahr 2005 mit dem Untertitel: „Die Urteilsabsprachen im Strafprozess als Abgesang auf die Gesetzesbindung der Justiz und den Beruf unserer Zeit zur Gesetzgebung“. 30 Veröffentlicht im Oktober 2015, abrufbar unter: https://www.bmjv.de/SharedDocs/Down loads/DE/PDF/Abschlussbericht_Reform_StPO_Kommission.pdf?__blob=publicationFi le&v=2. 31 Vgl. Maas (Fn. 13): „[…] Ziel, möglichst schon bis zur Mitte der Legislaturperiode erste Vorschläge zur Effektivierung unseres Strafverfahrens vorzulegen […]“. 32 Treffend wie richtig Schünemann, StraFo 2016, 45 (47). 33 Z. B. Parlato, ZIS 2013, 511 ff.
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Aufwendiges kompensiert werden könnten.34 Dieser fundamentalen Frage soll im Folgenden – im hiesigen Rahmen notwendig facettenartig – nachgespürt und auf diese Weise zugleich dem „idealistischen Kämpfer für eine der Liberalität und Objektivität verpflichtete Wissenschaft“35 Ulrich Eisenberg die gebührende Reverenz erwiesen werden.
II. Reformziele und -wege: Zum Bericht der „Expertenkommission“ Im Ausgangspunkt sieht sich die Expertenkommission unter „Wahrung der Rechte aller Verfahrensbeteiligten“ dem Fundamentalziel einer „bestmöglichen Wahrheitsfindung“ verpflichtet,36 was angesichts der bundesverfassungsgerichtlichen Vorgaben zur verfahrensrechtlichen Vorausbedingung einer „Verwirklichung des materiellen Schuldprinzips“37 kaum verwundern kann. Ein zentrales Moment der Kommissionsempfehlungen innerhalb dieses Rahmens ist der Gedanke einer „Optimierung der Wahrheitsfindung“ mittels verstärkten Einsatzes von moderner Technik: „Beschuldigten- und Zeugenvernehmungen sollten jedenfalls bei schweren Tatvorwürfen oder bei einer schwierigen Sach- oder Rechtslage im Regelfall audiovisuell aufgezeichnet werden“ (Empfehlung 4)38. Zu einer wesentlichen Ressourcenersparnis könnte dies aber nur beitragen, wenn den audiovisuellen „Dokumentationen“ – keineswegs nur auf einen engeren (und unklar begrenzten) Kreis von Verfahren reduziert – eine tragende Beweisfunktion in der Hauptverhandlung zukäme und die dortige Beweisaufnahme infolgedessen entlastet würde. In der Tat spricht die Kommission von einem „erleichterten Transfer der Beweisergebnisse aus dem Ermittlungsverfahren in die spätere Hauptverhandlung“39, bleibt jedoch bei näherer Betrachtung dann doch dem tradierten System verhaftet, indem diese Möglichkeit nur für die in praxi weit selteneren richterlichen Vernehmungen (von Zeugen: Empfehlung 14.2.; von Beschuldigten mit dem Inhalt eines Geständnisses: Empfehlung 14.3.) gelten soll.40 Diese Zurückhaltung lässt sich gut verstehen, weil ansonsten die Sinnhaftigkeit einer öffentlichen Hauptverhandlung als – durch Unmittelbarkeits34 Zu dieser Aufgabenstellung im Kontext der Verteilungsgerechtigkeit bei knappen Gesundheitsleistungen z. B. Duttge, in: ders./Dochow/Waschkewitz/Weber (Hrsg.), Recht am Krankenbett. Zur Kommerzialisierung des Gesundheitssystems, 2009, S. 139 ff. und die Beiträge in: Duttge/Zimmermann-Acklin (Hrsg.), Gerecht sorgen – Verständigungsprozesse über den Einsatz knapper Ressourcen bei Patienten am Lebensende, 2013. 35 Müller/Sander/Válková, Vorwort zur Festschrift für Ulrich Eisenberg zum 70. Geburtstag, 2009, S. XVIII. 36 Expertenkommission (Fn. 30), S. 2. 37 Z. B. BVerfGE 57, 250 (275); 118, 212 (231); 122, 248 (270); 130, 1 (26); 133, 168 (199). 38 Expertenkommission (Fn. 30), S. 17 f. 39 Expertenkommission (Fn. 30), S. 31 f. 40 Expertenkommission (Fn. 30), S. 22.
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und Mündlichkeitsprinzip abgesichert – vermeintlicher Kern des Strafprozesses rundweg in Frage gestellt würde und die weitere Verstärkung der ohnehin schon weichenstellenden Funktion des Ermittlungsverfahrens41 grundlegende Strukturveränderungen zugunsten eines „partizipatorischen Ermittlungsverfahrens“ bedingen würde.42 Aber selbst dann wird man eine Präklusion von Anträgen in der Hauptverhandlung im Lichte der gerichtlichen Kognitionspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) und Partizipationsrechte der Prozessbeteiligten (insbesondere des Konfrontationsrechts des Beschuldigten, Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK) allenfalls in sehr engen Grenzen akzeptieren können,43 sodass auf diesem Wege wohl keine wesentlichen Rationalisierungseffekte zu erwarten sind.44 Weitere verfahrensbeschleunigende Effekte in Bezug auf das Ermittlungsverfahren sieht die Kommission in der Einführung einer Erscheinens- und Aussagepflicht von Zeugen (soweit kein Zeugnis- oder Auskunftsverweigerungsrecht besteht)45 auch bei der Polizei (Empfehlung 3.2) und im Wegfall des Richtervorbehalts bei Blutentnahmen im Bereich der Straßenverkehrsdelikte (Empfehlung 3.3), während der Richtervorbehalt für sonstige Zwangsmaßnahmen beibehalten werden soll.46 Beides ist bereits durch das Gesetz vom 17. August 201747 umgesetzt (vgl. §§ 81a Abs. 2 S. 2, 163 III S. 1 StPO), im intendierten Beschleunigungseffekt aber von sehr überschaubarer Relevanz, zumal die zeugenschaftliche Erscheinens- und Aussagepflicht eines vorherigen (in seinen näheren Anforderungen unklaren) „Auftrags“48 der Staatsanwaltschaft bedarf.49 Die des Weiteren vorgeschlagene Erweiterung der Privatklagedelikte um den Tatbestand der Nötigung (Empfehlung 10)50 hat bestenfalls eine punktuelle Wirkung, die noch dazu dadurch limitiert ist, dass beson41
Lagodny, Der Strafprozess vor neuen Herausforderungen?, 2000, S. 173 („die Würfel fallen im EV“); Wolter, Aspekte einer Strafprozessreform bis 2007, 1991, S. 35. 42 Siehe dazu näher z. B. Satzger, Gutachten C zum 65. Deutschen Juristentag, 2004, S. 38 ff. (m.w.N.); Schünemann, in: GS Vogler, 2004, S. 81 (84 ff.); ausf. Dedy, Ansätze einer Reform des Ermittlungsverfahrens, 2002. 43 Dazu eingehend Großkopf, Beweissurrogate und Unmittelbarkeit der Hauptverhandlung, 2007; deutlich Satzger (Fn. 42), S. 50, wonach „die Präklusion […] keine mögliche Folge des partizipatorischen EV“ ist. 44 Wenn die Expertenkommission (Fn. 30, S. 69) in diesem Zusammenhang gleichwohl von einer „effektiveren Ausgestaltung des Strafverfahrens“ spricht, dann können damit allenfalls mittelbare Effekte infolge einer „Verbesserung der Wahrheitsfindung“ (gegenüber der herkömmlichen Protokollverlesung oder Vernehmung der Verhörsperson) gemeint sein. 45 Krit. zur insofern „unglücklichen“ Formulierung des § 163 Abs. 3 S. 1 StPO: Schiemann, KriPoZ 2017, 338 (345). 46 Expertenkommission (Fn. 30), S. 5, 57 ff. 47 Oben Fn. 8. 48 Berechtigte Kritik zur Unklarheit des Begriffes „Auftrags“ bei Gräfin von Galen, ZRP 2016, 42 (43); Niedernhuber, JA 2018, 169 (173). 49 So auch schon die Empfehlung der Kommission (Fn. 30), S. 5, 17, 57: „einzelfallbezogener Auftrag“. 50 Expertenkommission (Fn. 30), S. 19.
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ders schwere Fälle (§ 240 Abs. 4 StGB) davon ausgespart bleiben sollen (und damit vor Verweisung auf den Privatklageweg stets von Amts wegen die Grenzlinie zwischen einfacher und erschwerter Nötigung geprüft werden müsste). Zudem bedarf es stets der vorherigen Feststellung der Staatsanwaltschaft, dass im jeweils konkreten Fall kein öffentliches Verfolgungsinteresse besteht (§ 376 StPO): Gerade für die praktisch bedeutsame Fallgruppe der Nötigungen im Straßenverkehr geht die Kommission jedoch von der regelmäßigen Notwendigkeit einer Strafverfolgung von Amts wegen aus.51 Die inzwischen ebenfalls bereits umgesetzte Empfehlung (Ziff. 5.1)52 einer klarstellenden gesetzlichen Eingriffsbefugnis für die Infiltration eines „informationstechnischen Systems“ mittels Späh-Software zwecks heimlichen „Abgreifens“ nicht leitungsgebundener Echtzeit-Telekommunikation via Internettelefonie oder Instant Messengers („Quellen-TKÜ“, vgl. jetzt § 100a Abs. 1 S. 2, 3; Abs. 5, 6 StPO) beseitigt zwar eine rechtliche Unsicherheit, erweitert jedoch den Raum befugter Strafverfolgungstätigkeit und wirkt sich daher förderlich allenfalls für die Beweisermittlung und damit das allgemeine Strafverfolgungsinteresse, nicht aber für den Ressourceneinsatz aus.53 Für die außerdem vorgeschlagene Erweiterung des § 154d StPO auf Tatsachenfragen mit vorgreiflicher zivil- oder verwaltungsrechtlicher Konnotation54 lässt sich die Wirkung nicht generalisierend abschätzen, weil dies entscheidend von der konkreten Handhabung der limitierenden Bedingungen (Möglichkeit und Zumutbarkeit der vorherigen Rechtsverfolgung im Zivil- oder Verwaltungsrechtsweg; Zustimmung des Eröffnungsgerichts) abhängig ist. Der einleuchtende Grundgedanke einer Konzentration der Verfahren beim sachnächsten Gericht und Abwehr „missbräuchlicher“ Inanspruchnahme der Ressourcen für strafrechtsfremde Zwecke käme jedoch einerseits nur im Vergehensbereich zum Zuge und hätte andererseits womöglich erhebliches Potential, von den Strafverfolgungsbehörden selbst zum Zwecke der Ressourcenersparnis „missbraucht“ zu werden.55 Das Zwischenverfahren sieht die Expertenkommission als einen Verfahrensabschnitt, „dessen Stärkung zu einer Verfahrensbeschleunigung beitragen kann“; die konkreten Empfehlungen erschöpfen sich jedoch in der allgemeinen Forderung nach verstärkter „kommunikativer Verfahrensführung“ sowie nach vermehrter Nutzung „der Filterfunktion des Zwischenverfahrens“ in Verfahren vor den Land- und Oberlandesgerichten (Empfehlungen 8.1 und 8.2)56. In der Tat könnte hier der Verfahrensstoff zum Wohle der strafjustiziellen Ressourcen konzentriert werden, abge51
Expertenkommission (Fn. 30), S. 108. Expertenkommission (Fn. 30), S. 18, 73 ff. 53 Noch dazu bei Einbeziehung der zusätzlichen Protokollierungspflichten nach § 100a Abs. 6 StPO. 54 Expertenkommission (Fn. 30), S. 18 f., 88 ff. 55 Was die Kommission recht apodiktisch in Abrede stellt: „Ein Missbrauch der Einstellungsmöglichkeit bei einer Erweiterung des § 154d StPO ist nicht zu befürchten, zumal das Legalitätsprinzip in diesen Fällen nicht beseitigt, sondern lediglich für die Dauer des Verfahrens vor den Fachgerichten suspendiert wird“ (Fn. 30, S. 92). 56 Expertenkommission (Fn. 30), S. 5, 19, 93 ff. 52
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sehen von dem gebotenen Schutz des Beschuldigten vor einer evtl. verzichtbaren öffentlichen Hauptverhandlung. Nur besteht diese Möglichkeit auch schon de lege lata (vgl. §§ 154 Abs. 2, 154a Abs. 2, 155a, 202, 202a StPO), ohne dass die Strafjustiz davon in nennenswertem Ausmaß Gebrauch machte: So betrug die Quote der Nichteröffnungsbeschlüsse (§ 203 StPO) im Verhältnis zur Gesamtzahl an gerichtlichen Erledigungen 2016 in Verfahren vor den Amtsgerichten lediglich 0,33 %, vor den Landgerichten 1,92 %.57 Diese Signifikanz erklärt sich – wie der verehrte Jubilar eindrucksvoll erläutert hat – erst bei Einbeziehung außerrechtlicher, insbesondere organisationssoziologischer und rollenpsychologischer Faktoren, die als „institutionalisierte justizielle Binnennormen“ wirkmächtig sind.58 Dass gerichtliche Eröffnungsentscheidungen „nicht selten weitgehend routinemäßig und formulargestützt“ erfolgen, sieht die Kommission selbst; der bloße Appell, die bestehenden Möglichkeiten nicht länger zu unterschätzen,59 wird aber an den bisherigen Routinen sicherlich nichts ändern. Die offenbar intensiv diskutierte Implementierung einer dem Beschuldigten auferlegten „Einwendungsobliegenheit“ (in Bezug auf bestimmte Verfahrensfehler oder das Bestehen eines Prozesshindernisses) hätte spürbare entlastende Effekte allenfalls dann, wenn solches mit einer Präklusionswirkung versehen würde (sofern nicht zu befürchten wäre, dass Verteidiger auf dieser Basis eine Vielzahl von Einwendungen gleichsam ins Blaue hinein erheben); davon hat die Kommission jedoch im Lichte des bisherigen Grundverständnisses zum Rechtsstatus des Beschuldigten, seinem Recht auf eine effektive Verteidigung (Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK) und der gerichtlichen Amtsaufklärungspflicht mit Recht abgesehen.60 Gänzlich offen bleibt bei alledem, welcher – auch ressourcenorientiert notwendige – Sinn dem Zwischenverfahren dann aber überhaupt noch zukommen sollte, wenn es de facto nur mehr eine vorweggezogene verdoppelte gerichtliche Prüfung auf weit schlechterer (strafverfolgungslastiger) Beurteilungsbasis (Ermittlungsakte) mit dem Effekt der psychologischen Vorwegprägung,61 d. h. im Lichte von Wahrheitsermittlung und Verfahrensfairness mit dysfunktionalen Risiken, bewirkt.62 Der Blick in das benachbarte Österreich zeigt, dass die Ausprägung eines eigenständigen Verfahrensabschnitts zwischen Anklageerhebung und Vorbereitung der Hauptverhandlung keineswegs rechtsstaatlich zwingend geboten ist.63 57
Statistisches Bundesamt, Rechtspflege, Strafgerichte 2016 (Fachserie 10, Reihe 2.3), 2017, Tab. 2.2 (S. 28) und Tab. 4.2 (S. 66). 58 Näher Eisenberg, JZ 2011, 672 (677 ff.). 59 Expertenkommission (Fn. 30), S. 94 f. 60 Expertenkommission (Fn. 30), S. 95 ff., 99 f. 61 Dazu aus sozialpsychologischer Sicht z. B. Blum, in: Abschied von der Wahrheitssuche? Texte und Ergebnisse des 35. Strafverteidigertages, 2012, S. 237 ff.; siehe im hiesigen Kontext zuletzt auch Gerson, Das Recht auf Beschuldigung, 2016, S. 150 ff.; Sickor, Das Geständnis, 2014, S. 299 ff. 62 Hieran zweifelnd bereits Duttge, ZStW 115 (2003), 539 (567); hingegen mit konkreten Vorschlägen im Sinne eines Ausbaus Gössel, in: FS Streng, 2017, S. 703 (709 ff.). 63 Dazu auch Momsen/Washington (in diesem Band).
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Der „nichtöffentliche Erörterungstermin zur Vorbereitung der Hauptverhandlung“ in (noch zu konkretisierenden) Umfangssachen (vor dem Land- und Oberlandesgericht, vgl. Empfehlung 12.1)64 soll durch abgestimmte Planung des äußeren Verlaufs eine von vornherein „konfliktbeladene Atmosphäre“ vermeiden helfen; eine Garantie dafür, dass dieser terminsbedingte Zusatzaufwand hernach zeitaufwendige „Rechtsgefechte“65 vermeiden hilft, gibt es jedoch nicht, zumal in diesem Stadium über die Sachfragen selbst noch nicht gesprochen werden soll.66 Die im Bericht gerne und oft beschworene Kommunikationsaufgabe bewirkt nicht per se einen harmoniegetränkten „Schnelldurchlauf“ und darf nicht dazu führen, dass rechtlich strukturierte Prozessrollen und Zuständigkeiten verschwimmen. Diese Problematik lässt sich gut anhand der (mittlerweile ebenfalls schon kodifizierten, vgl. § 243 Abs. 5 S. 3 StPO) „Eröffnungserklärung“ verdeutlichen: Diese soll allgemein eine „transparente Prozesskultur“ und im Besonderen ein „gezieltes Verhandeln der Streitpunkte“67 ermöglichen; das Gericht bleibt aber zur eigenverantwortlichen Aufklärung und Bewertung verpflichtet, und für alle Prozessbeteiligten gilt es, sich ohne Vorauspositionierung (was wiederum unerwünschte Perpetuierungen mit sich brächte) auf den Verlauf der Beweisaufnahme einzulassen. Ob effizienzbezogen die faktisch durchaus bestehende Gefahr einer Vorwegnahme des Schlussvortrages, eine ggf. streitige Auseinandersetzung über die dazu notwendige Grenzziehung und die – wie von der Kommission ebenfalls vorgesehen – im Zweifel zu erwartende (anklagewiederholende) Replik der Staatsanwaltschaft die erhofften Rationalisierungseffekte im weiteren Verfahrensgang zu rechtfertigen vermögen, können erst die künftigen forensischen Erfahrungen zeigen. Soweit die Kommission zwecks Beschleunigung der Verfahren eine gerichtliche Befugnis empfiehlt, nach Abschluss der von Amts wegen geforderten Beweisaufnahme „eine angemessene Frist zur Stellung von Beweisanträgen“ zu setzen (und „verspätet“ gestellte Beweisanträge erst mit Urteilsverkündung verbescheiden zu müssen, Empfehlung 1568, inzwischen § 244 Abs. 6 S. 2 – 4 StPO n.F.)69, entspricht dies bereits der – wenn auch im Lichte der Pflicht zur Ermittlung der materiellen Wahrheit fragwürdigen70 – jüngeren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs71.
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Expertenkommission (Fn. 30), S. 20, 113 f. Expertenkommission (Fn. 30), S. 114. 66 Kritisch zu dieser Limitierung Schünemann, StraFo 2016, 45 (52). 67 Expertenkommission (Fn. 30), S. 116. 68 Expertenkommission (Fn. 30), S. 23, 143 ff., mit der wiederum interpretationsbedürftigen Rückausnahme, soweit die verspätete Beweisantragstellung „genügend entschuldigt“ ist. 69 Eisenberg sieht hierin einen erheblichen Eingriff in die Grundsätze des Beweisantragsrechts, siehe in: Beweisrecht der StPO, 10. Aufl. 2017, Rn. 179; für eine restriktive Auslegung Schiemann, KriPoZ 2017, 338 (346). 70 Ablehnend z. B. Beulke/Ruhmannseder, NStZ 2008, 300 ff.; Duttge/Neumann, HRRS 2010, 34 ff. (m.w.N.). 71 BGH NJW 2006, 2466 ff.; BGHSt 51, 333 (344 f.); 52, 355 (361 ff.). 65
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Ungeachtet der weiteren hier nicht vollständig benannten Einzelvorschläge lässt der Bericht der Expertenkommission somit im Ganzen keine übergreifende Strategie zur Bewältigung der Ressourcenproblematik erkennen. Mehr noch erschöpft er sich ohne Blick auf die Gesamtarchitektur des Strafverfahrens auf eine beliebig anmutende Vielzahl von ad hoc ins Blickfeld gerückten Einzelaspekten, die – mögen sie bei isolierter Betrachtung auch (teilweise) überzeugend erscheinen – in toto unverbunden nebeneinanderstehen und in der Gesamtschau als „Sammelsurium“72 wirken. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass die Kommission augenscheinlich keineswegs bestrebt war, in sklavischer Befolgung einer kurzsichtigen Kriminalpolitik ausschließlich Effizienz und Beschleunigung zur Maxime ihres Nachdenkens zu machen, sondern zugleich – strafrechtswissenschaftlich aufgeklärt – gegenläufige Leitgedanken wie insbesondere die Stärkung der Beschuldigtenrechte und der Rechtssicherheit (etwa zugunsten einer Vergesetzlichung der Beweisverbotslehre73 oder des Einsatzes von V-Personen: Empfehlung 5.3)74 wesentlich mit einzubeziehen. Dann aber hätte es auf rechtsprinzipieller Ebene eines gesamtkonzeptionellen Ansatzes bedurft, wie diese heterogenen Prinzipien und die aus ihnen jeweils resultierenden Folgerungen so miteinander ins Verhältnis gesetzt werden können, dass mit Implementierung der Einzelvorschläge das zentrale Ziel einer ressourcenschonenden Ausgestaltung der Verfahrensstrukturen ohne „Rechtsstaatsverlust“ nicht aus dem Blick gerät. Der Verzicht auf eine ganzheitliche Analyse gibt sich der Illusion hin, dass schon das Drehen an singulären Stellschrauben ein Wert an sich sei (wie z. B. die vorgeschlagene „Bündelung der Nebenklagevertretung“ zugunsten eines „Gruppenbeistands“: Empfehlung 16)75, ohne sich zu vergewissern, wie sich diese punktuelle Veränderung eines einzelnen Bausteins in der Gesamtstatik des Gebäudes darstellt, am Beispiel der Nebenklage: ob diese Maßnahme gemessen an anderen Optionen der Verfahrensbeschleunigung wirklich notwendig und im Lichte des gebotenen prozessualen Opferschutzes angemessen ist. Vor allem aber bleiben ohne Blick auf das Gesamte die wesentlichen und zum Teil bekanntermaßen fragwürdigen Stellschrauben, namentlich der §§ 153a, 257c StPO, mit Blick auf evtl. bessere Alternativen gänzlich im toten Winkel der Betrachtung.
III. Grundfragen einer „echten“ StPO-Reform Damit wäre auch schon eine erste Orientierung gewonnen, anhand welcher Methodik Reformvorschläge zu entwickeln wären, die diesen Namen verdienten, um auf 72
Schünemann, StraFo 2016, 45 (48); ähnlich Schiemann, KriPoZ, 2017, 338 (351). Expertenkommission (Fn. 30), S. 7; berechtigte Kritik von Gössel (in: FS Streng, 2017, S. 703 [704 ff.]) daran, dass sich die Kommission im Wesentlichen auf einen „Prüfauftrag“ beschränkt hat. 74 Expertenkommission (Fn. 30), S. 18, 80 ff.; in diesem Sinne bereits Duttge, JZ 1996, 556 ff. 75 Expertenkommission (Fn. 30), S. 23, 146 f. 73
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die aktuellen Herausforderungen eine überzeugende Antwort zu finden. Dabei sollte vorab nochmals in Erinnerung gerufen werden, dass die Regelsetzung eine Optimierung des Verfahrens im Sinne der zentralen Zielsetzungen des Strafprozesses nicht im Modus des Entweder-Oder, sondern nach Maßgabe eines Mehr oder Weniger steuert: So können Beschuldigtenrechte beispielsweise stark oder schwach ausgebaut sein (relevante Einzelaspekte sind u. a. Belehrungspflichten, Zeitpunkt der notwendigen Verteidigung, Akteneinsicht),76 ebenso die Verfahrensrechte der Verletzten (z. B. im Rahmen einer „Verständigung“ nach § 257c StPO?), der Grundrechtsschutz gegenüber Zwangsmaßnahmen, die Gewähr „bestmöglicher“ (!) Wahrheitsermittlung (z. B. bei Verfahrenseinstellung nach § 153a StPO allein durch Akzeptanz des Beschuldigten?) oder Vorkehrungen zur Korrektur fehlerhafter Einschätzungen (Rechtsmittel/-behelfe)77. Vom Idealbild einer fern jeder Ressourcenproblematik in jeder Hinsicht „größtmöglich“ (aber auch nicht übermäßig, vgl. Art. 6 Abs. 1 EMRK: „innerhalb angemessener Frist“) ausgebauten Verfahrensstruktur sollte generell nur so viel preisgegeben werden, wie zur gleichmäßigen Erledigung der Gesamtaufgabe notwendig ist, sofern das bloße Einsparen dysfunktionaler oder wenig nutzbringender Förmlichkeiten allein nicht zum Ziel führt. Dies impliziert – parallel zu der hier vergleichsweise zu Rate gezogenen Verteilungsproblematik bei Gesundheitsleistungen78 – auch die Möglichkeit einer „Priorisierung“79 je nach „Dringlichkeit“ des Sachaufgabe, sodass relational zum Gewicht des Strafverfolgungsinteresses durchaus Abstufungen legitimierbar sind, solange die Verfahrenszwecke auch bei den minder gewichtigen Fallgruppen wenigstens noch ein hinreichendes (Mindest-) Gewicht behalten. Vor diesem Hintergrund lautet unter Ressourcenaspekten die Schlüsselfrage, ob sich für eine Sanktionierung der massenhaften Kleinkriminalität nicht sachgerechtere Alternativen gegenüber dem „Notbehelf“ des § 153a StPO finden ließen, solange sich der Gesetzgeber einer (an sich vorrangigen) materiell-rechtlichen Lösung verweigert.80 Denn die zuletzt wieder kritischer hinterfragte Regelung leidet doch unheilbar an dem Selbstwiderspruch, dass sie dem Beschuldigten eine Leistung abver76
Zum Beschuldigtenrechtestärkungsgesetz vom 2. Juli 2013 (BGBl. I, 1938) eingehend Eisenberg, JR 2013, 442 ff. 77 Erstaunlicherweise hat sich die Expertenkommission von den Reformvorschlägen zum Rechtsmittelrecht (etwa anlässlich des 63. Deutschen Juristentages 2000 mit Gutachten von Lilie; dazu auch lehrreich Rieß, JZ 2000, 813 ff.; Schröer, Das Einheitsrechtsmittel der reformierten Revision, 2001) nicht inspirieren lassen, siehe Expertenkommission (Fn. 30), S. 23 f. – bemerkenswerte Ausnahme: Anwendbarkeit des § 153a StPO auch im Revisionsverfahren! 78 Oben Fn. 34. 79 Zum Kontext der medizinethischen Debatte siehe die grundlegende Klärung durch die Stellungnahme der Zentralen Ethikkommission der Bundesärztekammer 2007, abrufbar unter: http://www.zentrale-ethikkommission.de/page.asp?his=0.1.53. 80 Instruktiv zu den materiell-rechtlichen Grenzen des Strafrechts bei geringfügiger Delinquenz die Göttinger Habilitationsschrift von Harrendorf, Absolute und relative Bagatellen (noch unveröffentlicht).
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langt, die einerseits das (durch bloßen Tatverdacht begründete) „öffentliche Interesse an der Strafverfolgung […] beseitigen“ soll (Abs. 1 S. 1), andererseits jedoch zwecks Bestreitens eines Verstoßes gegen das Schuldprinzip nicht als „Strafe“ bezeichnet werden darf81 und infolgedessen am formalen Status der Unschuld (der Wahrnehmung des gemeinen Verstandes zuwider)82 nichts ändere. Dass wiederum eine „freiwillige Unterwerfung“ unter die (auf einseitig-polizeilicher Ermittlungsgrundlage gebildete) Vorgabe der Staatsanwaltschaft das Allgemeininteresse an einer missbilligenden Ahndung nicht kompensieren kann, solange die Unrechtstat nicht als solche in Erscheinung tritt (und durch Eintrag ins BZRG soziale Relevanz gewinnt), sollte sich eigentlich von selbst verstehen. Gewiss kann man § 153a StPO gleichsam als „Notfall-Management“ betrachten und in diesem Sinne übergangsweise akzeptieren, so wie eben jeder, dem „das Wasser bis zum Halse steht, […] jede Leiter [besteigen wird], auch wenn sie nicht den Unfallverhütungsvorschriften entspricht“83. Aber kein „Notfall“ dauert bis in alle Ewigkeit und erspart das Nachdenken über einen besser begründeten „Standard“! Das Strafbefehlsverfahren dürfte sein legitimes Anwendungsspektrum längst ausgereizt haben, wenn bedacht wird, dass auch hier das Prozedere – mit dem Vorbehalt eines ins Belieben des Angeklagten gestellten Einspruchs – weit vom Idealfall einer transparenten, interaktiv und ggf. konfrontativ errungenen Wahrheitsermittlung entfernt ist. Die Expertenkommission hat insoweit mit Recht von der Idee Abstand genommen, diese Verfahrensart unter der bisherigen oder einer anderen Bezeichnung (z. B. als „Strafbescheidsverfahren“)84 weiter auszubauen (Empfehlung 9)85. Nimmt man ihre Grundhaltung ein, dass „die Durchführung einer öffentlichen Hauptverhandlung ein zentrales Element der Strafrechtspflege“ (in Deutschland) darstelle,86 hätte freilich dringend darüber nachgedacht werden müssen, wie sich das bislang nur zurückhaltend genutzte beschleunigte Verfahren (§§ 417 ff. StPO)87 für die Rechtspraxis attraktiver ausgestalten ließe. Hier dürfte zudem noch erhebliches Potential an behördeninterner organisatorischer Optimierung brachliegen. Selbst bei Stärkung dieses Sonderverfahrens wird man aber nicht umhinkommen, über rechtsstaatlich bessere Lösungen nachzudenken, die den – für die Kommission offenbar sakrosankten – § 153a StPO ohne „Effizienzverluste“ ersetzen können. Gössel hat hierzu eine 81
Zur Unplausibilität dieser Annahme z. B. Duttge, in: FS Beulke, 2015, S. 689 ff. Zutreffend betont von Brüning, ZIS 2015, 586 (589). 83 Dahs, NJW 1996, 1192 (1193); ausdrücklich zustimmend Beulke, in: Murmann (Hrsg.), Recht ohne Regeln? Die Entformalisierung des Strafrechts, 2011, S. 45 (58). 84 Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Strafverfahrensreform“, Diskussionsentwurf für ein Gesetz über die Rechtsmittel in Strafsachen, 1975; s.a. Schünemann, Gutachten B zum 58. DJT 1990, S. 162 ff. 85 Expertenkommission (Fn. 30), S. 19, 102 ff. 86 Expertenkommission (Fn. 30), S. 106. 87 Anträge nach § 417 StPO nehmen im Gesamt der amtsgerichtlichen Erledigungen lediglich einen Anteil von 2,45 % ein, im Zeitpunkt der Erledigung als beschleunigte Verfahren anhängig: 2,06 %, vgl. Statistisches Bundesamt (Fn. 57), Tab. 2.1 (S. 24). 82
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richterliche „Strafverfügung“ mit einer Rechtsfolgenerwartung vorgeschlagen, die auf eine Verhängung von Geldstrafen begrenzt ist.88 Damit sich die Entscheidungsgrundlage hierfür nicht auf die Ermittlungsakte beschränkt, sollte dem Betroffenen jedoch zuvor – abweichend daher von dem in Österreich zum 1. Januar 2015 wiedereingeführten „Mandatsverfahren“ (vgl. § 491 öStPO)89 – Gelegenheit gegeben werden, zu der angekündigten richterlichen Verfügung Stellung zu nehmen. Wenn dies schon im OWiG-Verfahren vor Verhängung einer Geldbuße grundsätzlich geboten erscheint (vgl. § 55 Abs. 1 OWiG), kann hierauf erst recht nicht vor einer kriminalrechtlichen Sanktionierung verzichtet werden. Zudem bedarf es einer sorgfältigen Prüfung, wie sich ein neues beschleunigtes Erledigungsverfahren in die Systematik der bestehenden prozessualen Optionen (insbesondere im Verhältnis zu den §§ 417 ff. StPO gleichsam „zwischen“ dem allein für Bagatellfälle reservierten § 153 StPO und dem Strafbefehlsverfahren) eingefügt. Ein weiterer wesentlicher Reformimpuls ist ebenfalls schon von Gössel benannt worden: Bislang erschöpft sich das Beweisrecht der StPO zum Nachweis der Schuldund Straffrage auf jene vier Beweismittel, die bereits den Schöpfern der RStPO 1877 bekannt waren: Zeuge und Sachverständiger, Urkunden und Augenschein.90 Angesichts einer weitreichenden und stetig fortschreitenden Technologisierung der modernen Ermittlungsmethoden unter Einbeziehung naturwissenschaftlicher Erkenntnismöglichkeiten ist es mehr als verwunderlich, dass sich die Debatten um den genetischen Fingerabdruck, eine IT- oder IKT-basierte Überwachung91 oder künftig vielleicht einen Neuro-Polygraphen92 bislang auf die Frage des legalen Einsatzes dieser Methoden im Recht der Zwangsmaßnahmen beschränken und deren weitere Nutzung in der Hauptverhandlung dem althergebrachten Beweismittelkanon zu unterwerfen suchen. Dabei wäre hier angesichts der größeren Objektivität solcherart „unbestechlicher“ Beweismethoden, weit mehr als beim tradierten Zeugenbeweis mit Blick auf die audiovisuelle Aufnahme, an einen Beweismitteltransfer zu denken, was zudem den Vorteil hätte, dass die objektiven Grundlagen der sich darauf stützenden Deutung mehr als bisher für alle Prozessbeteiligten offengelegt wäre. Gewiss dürften sich diese in aller Regel nur mit Hilfe spezifischen Sachverstandes beurteilen lassen; aber die Notwendigkeit zur vermehrten Erlangung kriminalistischer Exper-
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Gössel, in: FS Streng, 2017, S. 703 (712). Dazu näher Krückl, AnwBl. 2014, 157 ff.; Tipold, in: BMJ (Hrsg.), 43. Ottensteiner Fortbildungsseminar aus Strafrecht und Kriminologie 2015, 2016, S. 5 ff. 90 Über die Einzelheiten gibt der „Klassiker“ des Jubilars (Fn. 69) in jeder Hinsicht profunde Auskunft. 91 Zu „Big Data im Strafprozess“ siehe den gleichnamigen Text von Eschelbach, abrufbar unter: https://vdw-ev.de/wp-content/uploads/2016/11/2016.10_bigdata_vortrag_eschelbach.pdf. 92 Dazu näher Schneider, Der Einsatz bildgebender Verfahren im Strafprozess, 2010; siehe auch Stübinger, ZIS 2008, 538 ff.: „Lügendetektor ante portas“; Spranger, Nervenheilkunde 2009, 150 ff.: „Neurowissenschaftliche Tests im indischen Strafprozess“. 89
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Gunnar Duttge und Simone Klaffus
tise besteht auch schon heute für Richter, Staatsanwaltschaft und Verteidiger:93 Wenn Straftaten mit Hilfe moderner Ermittlungsmethoden zuverlässiger aufgeklärt werden können, gibt es für die Prozessbeteiligten kein Recht auf Ignoranz! Dennoch wird der Sachverständigenbeweis absehbar eine weiter zunehmende Bedeutung erlangen. Vor diesem Hintergrund ist es höchste Zeit, die längst bekannten Schwächen in seinem derzeitigen Erscheinungsbild94 zu beseitigen und dabei insbesondere mit dem „frommen Selbstbetrug“95 des bloß unterstützenden Gehilfen bei einer ungeschmälert der Autorität des Gerichts überantworteten Sachverhaltserforschung96 zu brechen. Wenn angesichts der meist verbleibenden reduzierten Sachkunde und bei dem generell wachsenden Expertenwissen eine „Arbeitsteilung“ zwischen Gericht und Sachverständigen unvermeidbar ist, so sollte die rechtliche Erfassung dieser in der „Natur der Sache“ liegenden Gegebenheit nicht länger ein Trugbild zeichnen. Die Expertenkommission hat den Sachverständigenbeweis jedoch als solchen gänzlich aus ihrer Befassung ausgenommen, soweit nicht unmittelbar Beschuldigtenrechte berührt sind (wie insbesondere bei der Auswahl des Sachverständigen: Empfehlung 1.4 mit dem Vorschlag einer vorherigen Anhörung)97. Unter dem Gesichtspunkt einer „Effektivierung des Strafverfahrens“ ist es aber überfällig, die Dysfunktionalitäten98 im effektiven Zusammenwirken mit Sachverständigen nach sorgfältiger Evaluierung der Probleme weit grundsätzlicher in den Blick zu nehmen. Für den anderen tradierten Personalbeweis, die Einvernahme von Zeugen, wäre es schließlich vonnöten, das familienbezogene Zeugnisverweigerungsrecht aus § 52 Abs. 1 StPO jenseits der punktuell vorgenommenen Erweiterung auf eingetragene Lebenspartnerschaften auch im Hinblick auf mögliche Begrenzungen vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Moderne zu überprüfen, die weit weniger als früher von Bindungen innerhalb einer „Großfamilie“99 (vgl. aber § 52 Abs. 1 Nr. 3 StPO) und zwischen rechtskräftig geschiedenen Eheleuten (vgl. aber § 52 Abs. 1 Nr. 2 StPO) geprägt sein dürften. Erheblich gewandelt haben dürfte sich überdies das mo93
Für die DNA-Analyse zur besseren Erkenntnis von Fehlerquellen Neuhaus, in: GS Schlüchter, 2002, S. 535 ff. 94 Zu diesen Schwächen u. a. bereits E. Müller, in: FS Lüke, 1997, S. 493 ff.; Schreiber, in: Jescheck/Kaiser (Hrsg.), Erstes deutsch-sowjetisches Kolloquium über Strafrecht und Kriminologie, 1980, S. 153 ff. 95 Weigend, in: Waltos (Hrsg.), Problemy Kodyfikacji Prawa Karnego, 1993, S. 415 (420 f.). 96 Dazu näher Toepel, Grundstrukturen des Sachverständigenbeweises im Strafprozessrecht, 2002, S. 48 ff. 97 Expertenkommission (Fn. 30), S. 16, 36 ff. 98 Eisenberg, HRRS 2012, 466 ff., spezifiziert für den Bereich der Jugendstrafjustiz. 99 Etwas zurückhaltender BVerfG NJW 2014, 2853 (2854): „regelmäßig weniger ausgeprägt“; deutlicher LG Kiel, NStZ 2004, 157 (159): „[…] sind seither an die Stelle des klassischen Familienverbandes andere mittlerweile auch rechtlich zunehmend anerkannte Formen des Zusammenlebens getreten, die die Grenzziehung mit Hilfe der früher gebräuchlichen Kriterien [gemeint: des Verwandtschaftsgrades und der Unterscheidung in gerader sowie Seitenlinie, G.D.] immer mehr erschweren“.
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derne Verständnis von einem „Verlöbnis“, dessen überraschende Geltendmachung – mit regelmäßigem Beweismittelverlust (§§ 52 Abs. 1 Nr. 1, 252 StPO) – in der Praxis kein bloß seltenes Phänomen sein dürfte. Anlässlich eines auf ersatzlose Streichung gerichteten Gesetzentwurfs des Bundesrates100 hatte die Bundesregierung bereits im Jahr 2005 eine „sachgerechte Neugestaltung im Kontext der Zeugnisverweigerungsrechte aus persönlichen Gründen“ ins Auge gefasst;101 dies scheint mittlerweile jedoch allseits in Vergessenheit geraten zu sein.
IV. Perspektiven Damit ist das weite Spektrum möglicher Anknüpfungspunkte und Themen einer grundlegenden Reform des Strafverfahrens selbstredend bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Es bedürfte insbesondere vor Inangriffnahme konkreter Gesetzesinitiativen zunächst einer differenzierten rechtstatsächlichen Analyse der Reibungs- und Ressourcenverluste „an der Front“, die durch organisatorische Maßnahmen weit effektiver ohne jedweden „Rechtsstaatsverlust“ zu beheben wären. Es ist daher schon im Ansatz verfehlt, ohne ebenso breite wie vertiefte Faktengrundlage eine Kommission mit der Unterbreitung von ad-hoc-Gesetzesvorschlägen zu beauftragen. Dass dies zudem nicht mit einer derart unrealistischen Zeitvorgabe zu bewältigen ist, liegt um so mehr auf der Hand, als auch ausländische Lösungsmodelle und -ideen schlechterdings nicht unberücksichtigt bleiben dürften. Innerhalb von zwei Jahren eine „Komplettliste“ von konkret ausgearbeiteten Reformvorschlägen zu erwarten, die auch die Gesamtarchitektur im Blick behält, lässt entweder auf erhebliche Ahnungslosigkeit oder aber auf ein schlechterdings inakzeptables instrumentelles Verständnis der (Kriminal-)Politik gegenüber Sinn und Wesen (strafrechts-)wissenschaftlicher Expertise schließen.102 Der verehrte Jubilar hält in seinem großen – inzwischen gemeinsam mit Kölbel herausgegebenen – Handbuch der „Kriminologie“ fest, dass die Strafrechtspolitik zunehmend „unkoordiniert und weniger konzeptionsgetragen als spontan und anlassbezogen“ agiert;103 so dürfte es heute mehr denn je zu den neuen Aufgaben einer „gesamten Strafrechtswissenschaft“ zählen, die Kriminalpolitik über gewisse Grunderfordernisse einer zielführenden Nutzung wissenschaftlicher Erkenntnisse zum Wohle der Gesellschaft aufzuklären.
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Vgl. BR-Drucks. 203/05. Stellungnahme zum Gesetzentwurf des Bundesrates, BT-Drucks. 16/516, S. 8. 102 Schünemann spricht von „einer gehörigen Portion Dilettantismus“ oder dem Streben nach Verschaffung eines „Alibiinstruments“ (StraFo 2016, 45 [48]). 103 Eisenberg/Kölbel, Kriminologie, 7. Aufl. 2017, § 23 Rn. 37. 101
Beweiserhebung des Tatgerichts über das polizeiliche Ermittlungsergebnis? Von Ralf Eschelbach Der Jubilar zeichnet sich dadurch aus, dass er die Probleme der Praxis nicht lediglich aus zusammenfassenden Sachberichten revisionsgerichtlicher Entscheidungen entnimmt, sondern nach Möglichkeit auch Akteninhalte sichtet oder jedenfalls tatrichterliche Urteile zur Kenntnis nimmt, um den rechtstatsächlichen Befund zu erfassen, den er seinen profunden Erläuterungen des Beweisrechts der Strafprozessordnung zugrunde legt. Seine diesbezügliche Gesamtdarstellung1 ist auch deshalb einzigartig, weil er nicht lediglich die Strafprozesslehre, sondern zudem Erkenntnisse aus komplementären Wissenschaften, wie Forensischer Psychologie, Psychiatrie und Kriminologie, berücksichtigt. Die Bedeutung seiner wertvollen beweisrechtlichen Ausführungen soll anhand eines Phänomens, das sich der sonstigen wissenschaftlichen Untersuchung bisher weitgehend entzogen hat, betont werden.
I. Problemkern Die beklagenswerte2 Prozesspraxis von Urteilsabsprachen, die jahrzehntelang unbeanstandet geblieben war, ist kein isolierter Befund, sondern ein Symptom des Fortschreitens einer degenerativen Entwicklung des „reformierten Strafprozesses“.3 In der Praxis besteht latent die Neigung zur Rekapitulation des Akteninhalts in der Hauptverhandlung, um die Verurteilungsprognose des Eröffnungsbeschlusses in eine sich selbst erfüllende Prophezeiung zu verwandeln. Ein weiteres Symptom dieser Entwicklung besteht darin, dass von manchen Tatgerichten zu Beginn4 der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung der polizeiliche Ermittlungsführer als Zeuge über die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens einschließlich der Schlussfolgerungen der Polizei vernommen wird.5 Der Sache nach gibt dieser Zeuge dabei wie1
Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 10. Aufl. 2017. Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 29. Aufl. 2017, § 17 Rn. 19 ff.; Schünemann, GA 2018, 181 ff. 3 Greco, GA 2016, 1 (6 ff.). 4 Zur Bedeutung der Positionierung an den Beginn der Beweisaufnahme Schmidt, NZWiSt 2014, 121 (125). 5 Schmidt, NZWiSt 2014, 121 ff.; Sommer, Effektive Strafverteidigung, 3. Aufl. 2016, 3. Kap. Rn. 1657. 2
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der, was der Schlussvermerk6 besagt. Da Polizeibeamte als Zeugen nach der Vorstellung der Praxis zu einer „Auffrischung des Gedächtnisses“ berechtigt und verpflichtet sind,7 sie sich in einer Prüfungssituation fühlen8 und als Gegner der Verteidigung empfinden,9 bereiten sie sich auf ihre Vernehmung vor, indem sie die Akten oder zumindest Exzerpte daraus, vor allem ihren Schlussbericht nochmals studieren. Der Inhalt des Schlussvermerks fließt so in die Beweisaufnahme des Gerichts ein. Es ist bemerkenswert, dass diese Praxis einerseits verbreitet vorkommt, andererseits bisher kaum Eingang in Kommentare zur Strafprozessordnung gefunden hat. Der Jubilar hat auf sie aufmerksam gemacht und Bedenken angemeldet. Die Praxis der Zeugenvernehmung des Ermittlungsführers über den Schlussbericht könne, so merkt er an, mit der gesetzlichen Aufgabenverteilung zwischen der Staatsanwaltschaft und ihren Ermittlungspersonen ebenso wie mit der Funktion des § 243 Abs. 3 S. 1 StPO in Konflikt geraten. Wegen Unkontrollierbarkeit einer Beeinflussung der Beweisaufnahme und -würdigung könne auch ein Verstoß gegen den Mündlichkeitsgrundsatz und das Recht des Angeklagten auf ein faires Verfahren „nicht auszuschließen“ sein.10 Dem ist zuzustimmen.
II. Verstoß gegen Grundgedanken des reformierten Strafprozesses Ein zentraler Gedanke des „reformierten Strafprozesses“, der den gemeinrechtlichen Inquisitionsprozess abgelöst hat, war die Trennung der Rollen von Ankläger und Strafrichter. Der Richter soll ohne Bindung an die Hypothesen des Anklägers urteilen.11 Auch zur Gewährleistung seiner Neutralität und Unabhängigkeit gegenüber den Ermittlungsbeamten soll der Richter die für das Urteil maßgeblichen Beweise selbst erheben und auf diese Weise unmittelbar in der Hauptverhandlung wahrnehmen, um sie danach autonom zu würdigen. Fremde Wertungen sollen nicht Gegenstand der Beweisaufnahme sein. Die Selbständigkeit der gerichtlichen Hauptverhandlung gegenüber dem behördlichen Ermittlungsverfahren wird in der Straf6 LR/Erb, StPO, 26. Aufl. 2007, § 163 Rn. 83; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 61. Aufl. 2018, § 163 Rn. 65. 7 RGSt 36, 53; Artkämper/Jakobs, Polizeibeamte vor Gericht, 2017, S. 80 ff.; MüKo-StGB/ Müller, 3. Aufl. 2017, § 161 Rn. 14; Sch/Sch/Lenckner/Bosch, StGB, 29. Aufl. 2014, § 161 Rn. 3; abl. LR/Bertheau/Ignor, StPO, 27. Aufl. 2017, § 69 Rn. 9; Hof, HRRS 2015, 277 (283 ff.); Krause, Die Polizei 1981, 119 ff.; NK/Vormbaum, StGB, 5. Aufl. 2017, § 161 Rn. 28; Krehl, NStZ 1991, 416 ff.; Nöldeke, NJW 1979, 1644 ff.; differenzierend AG Frankfurt, StV 2014, 728 (729), das einen Vermerk fordert, der Zeugenwissen über eigene Wahrnehmungen von Aktenwissen separiert. 8 Mai, Kriminalistik 1995, 263 (264). 9 Harbort, Kriminalistik 1996, 805 (806). 10 Eisenberg (Fn. 1), Rn. 829a. 11 Roxin/Schünemann (Fn. 2), § 17 Rn. 5.
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prozessordnung besonders durch den Unmittelbarkeitsgrundsatz zum Ausdruck gebracht. Danach sollen nicht Polizei und Staatsanwaltschaft, deren Parteilichkeit latent befürchtet wird, die für das Urteil maßgebenden Tatsachen feststellen, sondern ausschließlich das Gericht.12 Das dient der bestmöglichen Annäherung an die Wahrheit. Eine unbesehene Übernahme der Ergebnisse des Vorverfahrens als Urteilsgrundlage ist deshalb unzulässig.13 Staatsrechtlich gesehen handelt es sich bei der Separierung der Beweiserhebung und Beweiswürdigung der Staatsanwaltschaft mit ihren polizeilichen Ermittlungspersonen im Vorverfahren einerseits und des Strafgerichts andererseits um eine prozessuale Variante des Gewaltenteilungsprinzips.14 Die Anklageposition gehört zur zweiten, das Strafgericht zur dritten Gewalt im Staat. Das Gewaltenteilungsprinzip soll durch wechselseitige Kontrolle verschiedener Gewalten die Rechtsstaatlichkeit des staatlichen Handelns garantieren. Werden die Rollen so miteinander verschliffen, dass eine autonome Aufgabenwahrnehmung einer der beiden nicht mehr erfolgt, entfällt die Gewaltentrennung als Mittel der Kontrolle. Macht sich der Strafrichter derart mit dem Ankläger gemein, dass er dessen Beweiswürdigung zum Gegenstand der eigenen Beweiserhebung macht, nachdem er sie im Eröffnungsbeschluss bereits gebilligt hatte, ist er nicht mehr neutral, was aber nach dem materiellen Gewährleistungsgehalt des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG garantiert sein soll15 und von Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK gefordert wird. Übertragen auf das Beweisrecht ist anzunehmen, dass die vom Gesetz konzipierte Hauptverhandlung nicht mehr richtig funktioniert, wenn nicht jeder Rollenträger die Handlungen des anderen kritisch überprüft und gegebenenfalls korrigiert.16 Eine gerichtliche Beweiserhebung in der Hauptverhandlung über die polizeiliche Beweiswürdigung der Erkenntnisse des Vorverfahrens zerstört die Verfahrensbalance und hebt die Neutralität der richterlichen Urteilsfindung auf. Entsprechendes hat schon das Reichsgericht für den Fall angenommen, dass der Vorsitzende einen Bericht aus den Akten über die Ergebnisse des Vorverfahrens erstattet. Dies sei mit der gesetzlich geregelten Struktur des Strafverfahrens unvereinbar, verstoße gegen die Grundsätze der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme und erschwere eine unparteiliche Würdigung der in der Hauptverhandlung erhobenen Beweise.17 Im Kern aus denselben Gründen wurde in anderen Entscheidungen die Mitteilung des wesentlichen Ergebnisses der Ermittlungen in der Anklageschrift (§ 200 Abs. 2 S. 1 StPO) durch Verlesung dieses Anklageteils in der Hauptverhandlung, durch deren mündliche Mitteilung oder durch Überlassung 12
Weigend, FS Eisenberg, 2009, S. 657 (660 f.). Weigend (Fn. 12), S. 657 (663). 14 Roxin/Schünemann (Fn. 2), § 9 Rn. 1. 15 Krit. Kierzkowski, Die Unparteilichkeit des Richters im Strafverfahren unter Berücksichtigung von Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK, 2016, S. 52 ff. m.w.N. 16 Schünemann, StV 1993, 607 (609). 17 RGSt 32, 318 (319); 53, 176 (178). 13
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der Anklageschrift an die Schöffen als unzulässig angesehen.18 Dem ist die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zunächst gefolgt,19 später allerdings schwankend geworden.20 Jedoch kommt es hier auf ein Recht von Schöffen auf Aktenkenntnis21 nicht an. Die Vernehmung des polizeilichen Ermittlungsführers geht schließlich darüber hinaus, weil sie als Teil der Beweisaufnahme im Strengbeweisverfahren daherkommt und den unzutreffenden Anschein einer Tatsachenerforschung des Gerichts erweckt. Gedächtnispsychologisch gesehen kann der Richter, der in der Hauptverhandlung Informationen über die polizeiliche Beweiswürdigung als Gegenstand der Beweisaufnahme wahrgenommen hat, bei der Urteilsberatung nicht mehr zuverlässig zwischen der Wahrnehmung von Einzelinformationen über Sachverhalts- oder Indiztatsachen einerseits und fremden Wertungen andererseits unterscheiden. Der Sache nach handelt es sich bei der Äußerung des polizeilichen Ermittlungsführers außerdem um einen vorweggenommenen Schlussvortrag bezogen auf die Ergebnisse des Vorverfahrens aus der Beurteilungsperspektive der Polizei, die der Ermittlungsführer bei der Vorbereitung seiner Zeugenaussage nochmals aus den Akten rekapituliert hat. Zur Vorbereitung der Zeugenaussage durch Aktenlektüre als Mittel der „Gedächtnisauffrischung“ sollen Polizeibeamte als Zeugen angeblich verpflichtet sein. Tatsächlich hat der Bundesgerichtshof22 eine solche Pflicht entgegen einem „Mythos“23 nicht in einer tragenden Entscheidungsbegründung gefordert. Gegen eine Forderung nach der Aussagevorbereitung von Polizeizeugen hat der Jubilar zutreffend eingewendet: „Hiergegen bestehen Bedenken, und zwar auch deshalb, weil in der Folge dessen eine unmittelbare Mitteilung von – in der Erinnerung noch vorhanden gewesenen – Wahrnehmungen gar verhindert werden könnte“.24 Tatsächlich führt die Lektüre des Akteninhalts bestenfalls zu einer Erinnerungsverfälschung25 dahin, dass Aktenwissen als eigene Wahrnehmung fehlinterpretiert wird.26
III. Bedeutung der Vernehmung des polizeilichen Ermittlungsführers Bemerkenswert ist, dass in der Praxis kein Problembewusstsein existiert,27 welches die gravierenden Bedenken gegen die Zeugenvernehmung des Ermittlungsfüh18
RGSt 69, 120 (122). BGHSt 5, 261 (262); 13, 73 (74). 20 BGHSt 43, 36 (38 ff.); 43, 360 (363 ff.). 21 Lilie-Hutz, Akteneinsichtsrecht für Schöffen, insbesondere bei Verständigungen in Umfangsverfahren, 2017, S. 130 ff. 22 BGHSt 1, 4 (8). 23 Sommer (Fn. 5), 3. Kap. Rn. 1671. 24 Eisenberg, JR 2016, 390 (392). 25 Allgemein dazu Eschelbach, ZAP 2014, 971 (976 ff.) = Fach 22 S. 781 (786 ff.). 26 Sommer (Fn. 5), 3. Kap. Rn. 1670. 27 Schmidt, NZWiSt 2014, 121 (126). 19
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rers auch in Fällen aufkommen lassen müsste, in denen dieser Beamte selbst keine oder allenfalls einzelne Ermittlungshandlungen im Vorverfahren durchgeführt hatte, sodass sein Zeugenbericht ausschließlich oder überwiegend etwas anderes als eigene Tatsachenwahrnehmungen enthält. Schon die Frage nach seiner Prozessrolle im Strengbeweisverfahren, erst recht aber die Frage nach der Beweisbedeutung der Äußerungen der Ermittlungsführer gegenüber dem Gericht müsste geklärt werden, bevor eine solche Beweiserhebung durchgeführt wird. Daran fehlt es bisher. 1. Bedürfnisse der Praxis Ökonomisierte Richter, die wegen anhaltenden Pensendrucks überlastet und wegen der Komplexität des Prozessstoffs angesichts unzureichender Ausbildung überfordert sind,28 trachten zunehmend danach, das von ihnen schon mit dem Eröffnungsbeschluss gebilligte vorläufige Verfahrensergebnis im Sinne der Ermittlungsbehörden, mit denen sich die Richter solidarisch fühlen, aus den Akten in die Hauptverhandlung einzuführen. Die Orientierung des Strafverfahrens an Ökonomie und Effizienz ist der Hauptfeind des Unmittelbarkeitsgrundsatzes, der heute vielfach als entbehrlicher Luxus betrachtet wird.29 Der Gesetzgeber unterstützt die Abkehr hiervon tendenziell, indem er Maßnahmen zur Erleichterung des Beweistransfers aus dem Vorverfahren in der Hauptverhandlung forciert, wobei er allerdings kein Gesamtkonzept des Strafprozesses vor Augen hat. Mängel der Juristenausbildung tragen zu dem Dilemma bei, weil in der universitären Ausbildung und in der gekürzten Referendarausbildung die später besonders praxisrelevanten Aspekte der Beweiserhebung und Beweiswürdigung allenfalls in groben Zügen vermittelt werden. Danach kommt man „nicht um die Feststellung, dass die Aufgabe des rechtswissenschaftlichen Studiums, einen qualifizierten und zu selbstständigen Entscheidungen fähigen Richter, Staatsanwalt oder Verteidiger auszubilden, zurzeit grob verfehlt wird“.30 Die komplementären Wissensgebiete, wie Wahrnehmungs- und Gedächtnispsychologie, Aussagepsychologie, Forensische Psychiatrie, Angewandte Kriminologie und Beweislehre, finden in der Juristenausbildung kaum statt. Praktiker müssen sich das erforderliche Wissen durch „learning by doing“ und Fortbildungsmaßnahmen aneignen, was mit unterschiedlicher Intensität geschieht. Erst recht werden die verfahrenspsychologischen Zusammenhänge, ihre beweisrechtliche Bedeutung und die verfassungsrechtlichen Auswirkungen der strukturell fehlerhaften Prozesshandlungen von der Rechtspolitik nicht erkannt und von der höchstrichterlichen Rechtsprechung meist übersehen. 28
Eschelbach, in: Paal/Poelzig (Hrsg.), Effizienz durch Verständigung, 2015, S. 37 (41 ff.). Weigend, FS Eisenberg (Fn. 12), 2009, S. 657 (658). 30 Neuhaus, in: Brüssow/Gatzweiler/Krekeler/Mehle (Hrsg.), Strafverteidigung in der Praxis, 4. Aufl. 2007, § 29 Rn. 11. 29
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Aufgrund derselben Ursachen ist die Überraschung von Rechtspolitikern und Verfassungsrichtern durch die Untersuchung der Urteilsabsprachepraxis zu erklären, die im Auftrag des Bundesverfassungsgerichts stattgefunden hat.31 Die anschließende verfassungsgerichtliche Forderung32 einer strikten Beachtung der inzwischen im Gesetz geregelten Voraussetzungen für eine „Verständigung“ hat das Problem nur scheinbar bereinigt, aber nicht dessen Ursachen bei Überlastung und Überforderung. Daher sucht sich die notleidende Praxis neue Ventile zum Ablassen des Überdrucks. Justizjuristen trachten weiter danach, in möglichst prozessökonomischer Weise in der Hauptverhandlung umzusetzen, was die von der Polizei gewonnenen Ergebnisse des Vorverfahrens andeuten. Beruhen diese Ermittlungsergebnisse auf einer zutreffenden Verdachtshypothese, verfehlt das Endprodukt des Strafprozesses das Ziel der Wahrheitserforschung kaum; werden aber Alternativhypothesen zu Unrecht eliminiert, kann das Prozessergebnis dieses Ziel weit verfehlen. Die Aufgabe des Gerichts, hier autonom die Spreu vom Weizen zu trennen, bleibt unerfüllt, wenn Richter die polizeiliche Bewertung sogar zum Gegenstand ihrer eigenen Beweisaufnahme machen. Diese Praxis der weitreichenden Übernahme von polizeilichen Ermittlungsergebnissen in das gerichtliche Verfahren beruht unterschwellig auf dem Vertrauen darauf, dass die Ermittlungsbehörden zuverlässig und objektiv arbeiten. Polizeibeamte genießen das Vertrauen der Staatsanwälte und Staatsanwälte sind für Richter als Kollegen33 besonders vertrauenswürdig. Werden Polizeibeamte als Zeugen vernommen, gelten sie als sehr glaubwürdig. Ermittlungsbeamte und Richter stehen aus ihrer Sicht auf der „richtigen“ Seite, nämlich derjenigen des Staates, dessen „Strafanspruch“ sie wie einen eigenen Anspruch verfolgen.34 Sie fühlen sich solidarisch und trachten nach Entscheidungseinklang. Die Gewaltenteilung wird dadurch faktisch aufgehoben.
31
Altenhain/Dietmeier/May, Die Praxis der Absprachen in Strafverfahren, 2013. BVerfGE 133, 168 (197 ff.). 33 Zur Kollegialität Kühne, Strafprozessrecht, 9. Aufl. 2015, Rn. 746. 34 Sickor, StV 2015, 516 (521). 32
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2. Verfahrenspsychologische Bedeutung Die menschliche Wahrnehmung und Erinnerung ist ein komplexer und dynamischer Vorgang,35 was auch im Strafprozess und zwar für alle beteiligten Personen gilt, sowohl für Auskunftspersonen als auch für Verfahrensbeteiligte und Richter. Die gedankliche Verschmelzung der zunächst von der Polizei generierten Verdachtshypothese mit der Arbeitshypothese der Anklage der Staatsanwaltschaft und den damit konformen Überlegungen der Richter im Eröffnungsbeschluss führt dazu, dass alle Strafverfolgungsorgane an einem Strang ziehen.36 Die Entscheidung für die Verdachtshypothese im Eröffnungsbeschluss, mag sie auch rechtlich als vorläufig gelten, entfaltet durch Wahrnehmungslenkung,37 nach den Lehren von der kognitiven Dissonanz, erhebliche Wirkung:38 Damit übereinstimmende, konsonante Informationen werden gezielt gesucht, verstärkt wahrgenommen und übermächtig bewertet. Dissonante Informationen werden nicht gezielt gesucht, tendenziell ignoriert, wenn sie doch auftreten, oder unterbewertet. Das Phänomen des konfirmatorischen Hypothesentestens39 bei Vernehmungen unter Vorhalt von Akteninhalten anstelle eines falsifikatorischen Hypothesentestens mit „langsamem Denken“ ist in allen Strafverfahren wahrzunehmen, verfehlt aber strukturell die Aufgabe der bestmöglichen Annäherung an die Wahrheit.40 Die Voreinstellung von Richtern, die beim Eröffnungsbeschluss entstanden ist,41 wird, um ein weiteres Beispiel zu nennen, auch erkennbar, wenn Beweisanträge der Verteidigung wegen tatsächlicher Bedeutungslosigkeit abgelehnt werden. Nach der Rechtsprechung und Teilen der Literatur42 sind Indiztatsachen bedeutungslos, wenn zwischen ihnen und dem Gegenstand der Urteilsfindung kein Sachzusammenhang besteht oder wenn sie trotz eines solchen Zusammenhangs selbst im Fall ihres Erwiesenseins die Entscheidung nicht beeinflussen könnten, weil sie nur mögliche, aber nicht zwingende Schlüsse zulassen und das Gericht einen möglichen Schluss nicht ziehen will. Damit wird jedoch durch einen ergebnisorientierten Willensakt aufgrund von kognitiver Dissonanz schon vor Ende der Beweisaufnahme eine Gegenhypothe35 Kühnel/Markowitsch, Falsche Erinnerungen. Die Sünden des Gedächtnisses, 2009, S. 35 ff. 36 Roxin/Schünemann (Fn. 2), § 69 Rn. 2. 37 Kierzkowski (Fn. 12), S. 133 ff. 38 Bandilla/Hassemer, StV 1989, 551 (552 f.); Eschelbach, in: Fischer/Hoven (Hrsg.), Verdacht, 2016, S. 29 (31 ff.); Schünemann, StV 2000, 159, 160 (162 ff.); Singelnstein, StV 2016, 830 (831). 39 Zum konfirmatorischen Hypothesentesten schon im Vorverfahren Sickor, StV 2015, 516 (519 ff.). 40 Velten, GA 2015, 387 (398). 41 Eisenberg (Fn. 1), Rn. 750; Vormbaum, ZIS 2015, 328 (330). 42 BGH, NStZ-RR 2016, 117 f.; BGH, NStZ 2016, 365 f.; BGH, NStZ 2018, 111 (112); LR/Becker, StPO, 26. Aufl. 2009, § 244 Rn. 220; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO (Fn. 6), § 244 Rn. 56; SSW-StPO/Sättele, 3. Aufl. 2018, § 244 Rn. 178; zu Recht einschränkend Eisenberg (Fn. 1), Rn. 212.
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se gegen den Tatverdacht eliminiert, obwohl deren Berechtigung erst nach Abschluss der Beweisaufnahme aufgrund einer Gesamtwürdigung aller Umstände neutral geprüft werden könnte. Das geht mit einer erheblichen Gefahr für die Wahrheitserforschung einher.43 Durch eine Verhandlungsführung unter konfirmatorischem Hypothesentesten findet eine systematische Wahrnehmungsverzerrung statt, die sich von den Richtern auf Auskunftspersonen überträgt und im Rückfluss erneut in die Wahrnehmung der erkennenden Richter gespiegelt wird. Eine Wiedergabe des Ermittlungsergebnisses durch den polizeilichen Ermittlungsführer in der Zeugenrolle wird durch die Formulierung der Mitteilungen als Tatsachenbehauptungen mit einem Anschein von präsentem Tatsachenwissen versehen, während es sich tatsächlich nur um wertende Aussagen aufgrund des repetierten Akteninhalts handelt. Auch die Darstellungsform führt zu einer Wahrnehmungsverzerrung bei den Empfängern auf der Richterbank. Mit der Idee einer bestmöglichen Sachaufklärung und einer neutralen Gesamtwürdigung aller Umstände durch das Gericht ist dies unvereinbar. 3. Beweisrechtliche Bedeutung der Vernehmung des Ermittlungsführers über den Schlussbericht Die Rollen von Verfahrensbeteiligten und personalen Beweismitteln sind grundsätzlich zu unterscheiden. Zwar können Ermittlungsbeamte im Einzelfall als Zeugen vernommen werden, jedoch betrifft dies nur Wahrnehmungen, die unabhängig von der ursprünglichen Prozessrolle als Ermittler wiedergegeben werden können. Das geschieht bei der Vernehmung des Ermittlungsführers über die Ermittlungsergebnisse insgesamt oder zumindest im Kern der Aussage gerade nicht. Der Ermittlungsführer ist zudem parteilich.44 Durch seine Vernehmung als Zeuge über die Ergebnisse des Vorverfahrens wird ein anderes Prozessmodell entwickelt, als es der Strafprozessordnung vorschwebt. a) Unvereinbarkeit mit dem Zeugenbeweis Die Problematik der Vernehmung des Ermittlungsführers zu Beginn der Beweisaufnahme wird schon bei der Prüfung der Beweismittelart deutlich. Das Strengbeweisverfahren ist dadurch geprägt, dass nur bestimmte Beweismittelarten zugelassen sind, nämlich Zeugen, Sachverständige, Urkunden und Augenscheinobjekte. Die Vernehmung des Ermittlungsführers ist dem Personalbeweis zuzurechnen. Es kann sich bei ihm um einen Zeugen oder Sachverständigen handeln. Die Abgrenzung dieser Rollen ist unter anderem deshalb wichtig, weil ein Zeuge nicht wegen Besorg43
SK-StPO/Frister, 5. Aufl. 2015, § 244 Rn. 138; Kühne (Fn. 33), Rn. 781; krit., aber aus Praktikabilitätsgründen der h.M. nachgebend Alsberg/Güntge, Der Beweisantrag im Strafprozess, 6. Aufl. 2013, Rn. 1159. 44 Sommer (Fn. 5), 3. Kap. Rn. 1665.
Beweiserhebung des Tatgerichts über das polizeiliche Ermittlungsergebnis?
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nis der Befangenheit abgelehnt werden kann, ein Sachverständiger dagegen schon.45 Wäre der Ermittlungsführer ein Sachverständiger, der zu den Ermittlungsergebnissen befragt wird, würde er von der Verteidigung wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Auch dies wird von der gerichtlichen Praxis umgangen, indem er als Zeuge vernommen wird. Was zum Gegenstand des Zeugenbeweises gehört,46 ergibt sich nicht aus einer Legaldefinition, sondern nur aus dem Regelungszusammenhang der gesetzlichen Vorschriften.47 § 58 Abs. 1 StPO bestimmt, dass Zeugen einzeln und in Abwesenheit der später zu Hörenden zu vernehmen sind. „Der Zeuge soll, ohne zu wissen, was der Angeklagte angegeben hat und was andere Zeugen vor ihm bekundet haben, unbefangen aussagen. Die darin liegende höhere Gewähr für die Ermittlung der Wahrheit war dem Gesetz also wichtiger als die uneingeschränkte Durchführung des Grundsatzes der Öffentlichkeit.“48 Nach § 69 Abs. 1 StPO ist der Zeuge bei seiner Vernehmung zu veranlassen, das, was ihm von dem Gegenstand seiner Vernehmung bekannt ist, im Zusammenhang anzugeben; ihm sind der Gegenstand der Untersuchung und die Person des Beschuldigten erst vor seiner Vernehmung zu bezeichnen. Diese Norm geht davon aus, dass der Zeuge aus seiner Erinnerung an frühere Wahrnehmungen zur Sache seine Angaben machen soll. Er soll deshalb auch vor seiner Vernehmung grundsätzlich nichts darüber wissen, was andere Zeugen ausgesagt oder sonstige Ermittlungen ergeben haben. Die Vernehmung des polizeilichen Ermittlungsführers darüber, welche Maßnahmen im Vorverfahren ergriffen wurden und was sie aus der Perspektive der Polizeibehörde ergeben haben, ist eher das Gegenteil dessen, was ein Zeuge im Sinne der §§ 48 ff. StPO an Informationen in die Hauptverhandlung einbringen soll. Der Zeuge ist ein persönliches Beweismittel, das – ohne durch eine andere Verfahrensrolle von dieser Position ausgeschlossen zu sein – seine Wahrnehmungen über einen in der Vergangenheit liegenden Vorgang bekunden soll,49 also über Sachverhalts- oder Indiztatsachen zu dem von der Ermittlungsbehörde erhobenen Tatvorwurf. Meinungen, Schlussfolgerungen, Werturteile50 und Rechtsansichten scheiden prinzipiell als Gegenstand des Zeugenbeweises aus.51 Diese sind dem Gericht zu überlassen.52 Ein Ermittlungsführer, der als Führungsperson nicht einmal selbst Beweiserhebungen im Vorverfahren durchgeführt hat, sondern vor Gericht über die Er45
Eisenberg (Fn. 1), Rn. 1549 ff. Eisenberg (Fn. 1), Rn. 1003. 47 Hof, HRRS 2015, 277 (278 ff.). 48 BGHSt 3, 386 (388). 49 MüKo-StPO/Maier/Percic, 2014, Band I, Vor § 48 Rn. 1; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO (Fn. 6), Vor § 48 Rn. 1; Roxin/Schünemann (Fn. 2), § 26 Rn. 1. 50 RGSt 57, 412, 413. 51 LR/Bertheau/Ignor, StPO, 27. Aufl. 2017, Vor §§ 48 ff. Rn. 9; MüKo-StPO/Maier/Percic (Fn. 49), Vor § 48 Rn. 7; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO (Fn. 6), Vor § 48 Rn. 2. 52 AK-StPO/Kühne, 1988, Vor § 48 Rn. 2. 46
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gebnisse der von anderen Beamten gesammelten Informationen sowie deren behördliche Bewertung berichtet, ist weder Tatzeuge53 noch kann er unmittelbar über Indiztatsachen berichten, wie etwa die Beschaffenheit eines Tatorts oder die Wahrnehmungen bei einer Observation. Ein Zeugnis vom Hörensagen über solche Indiztatsachen ist im Gesetz aber nicht vorgesehen. Im Kern referiert der Ermittlungsführer als Zeuge die behördliche Beweiswürdigung. Diese Resultate der polizeilichen Tätigkeit sind zumindest in Umfangsverfahren im Rahmen von Besprechungen der Ermittlungsbeamten, die in jenem Fall eingesetzt waren, als Konsens in einer Gruppe entstanden, wobei in der hierarchischen Struktur der Polizei regelmäßig die Meinung des Vorgesetzten entscheidet.54 Die Gruppenaussage ist etwas anderes als der normale Zeugenbeweis; denn hierbei handelt es sich nicht um die Wiedergabe singulärer Tatsachenwahrnehmungen, die zum üblichen Wissen eines Zeugen gehören könnten. Der Ermittlungsführer ist bei einer Aussage über die Ergebnisse des Vorverfahrens kein Zeuge im Sinne der Strafprozessordnung. b) Nichtvorliegen einer Sachverständigenaufgabe Der Ermittlungsführer wird in der Praxis nicht als Sachverständiger vernommen. Maßgeblich für die Rolleneinordnung ist aber nicht die formale Rollenzuweisung, sondern die Äußerungsleistung.55 Jedoch liegt bei der Vernehmung des Ermittlungsführers auch insoweit keine Sachverständigenvernehmung vor. Sachverständige sind Auskunftspersonen, die Wahrnehmungen über Befundtatsachen wiedergeben, die sie im Auftrag der Ermittlungsbehörde oder des Gerichts erhoben haben. Ferner bewerten sie Anknüpfungs- und Befundtatsachen aufgrund einer besonderen Sachkunde.56 Eigene Ermittlungen zur Tat sind einem Sachverständigen nicht gestattet,57 weil andernfalls die Rollen von Ermittlungsbeamten und Sachverständigen unzulässig vermischt würden. Der Sachverständige hat nur fachspezifische Tatsachenerforschungen und Wertungen vorzunehmen.58 Die besondere Sachkunde folgt regelmäßig aus einem Wissensgebiet, das den Strafrichtern nicht schon aufgrund ihrer beruflichen Aufgaben zur Verfügung steht. Ein polizeilicher Ermittlungsführer besitzt im Normalfall aber keine besondere Sachkunde im Sinne einer Natur- oder Erfahrungswissenschaft. Er verfügt nur über Aktenwissen und kriminalistische Erfahrung, die jedoch nicht als Gegenstand des Sachverständigenbeweises anerkannt ist. Die Sachverständigenrolle passt daher ebenfalls nicht.
53
Sommer (Fn. 5), 3. Kap. Rn. 1659. Hof, HRRS 2015, 277 (282). 55 Eisenberg (Fn. 1), Rn. 1513. 56 Kühne (Fn. 33), Rn. 856; Roxin/Schünemann (Fn. 2), § 27 Rn. 1. 57 Dippel, FS Egon Müller, 2008, S. 124 (140). 58 AK-StPO/Kühne (Fn. 52), Vor § 48 Rn. 5 f. 54
Beweiserhebung des Tatgerichts über das polizeiliche Ermittlungsergebnis?
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c) Paradoxe Beweiserhebung über eine Beweiswürdigung Abgesehen davon, dass keine der Beweismittelarten des Strengbeweisverfahrens auf den Ermittlungsführer als Zeugen in der Hauptverhandlung zutrifft, fehlt es auch an einem passenden Beweisthema. Das Gericht soll nach der Grundidee des reformierten Strafprozesses über von ihm unmittelbar selbst erhobenen Sachverhalts- und Indiztatsachen urteilen, die sich mit Hilfe der typisierten Beweismittelarten in die mündliche Hauptverhandlung einführen lassen. Beweisgegenstand sind, abgesehen von Wertungen durch Sachverständige aufgrund einer Wissenschaft, grundsätzlich nicht fremde Meinungen. Wird der Ermittlungsführer über den Inhalt seines Schlussvermerks vernommen, so wird vom Gericht auch Beweis darüber erhoben, wie die Ermittlungsbehörde am Ende des Vorverfahrens die Ergebnisse der dortigen Stoffsammlung gewürdigt hat. Das ist ein Widerspruch zur Aufgabe der autonomen Beweiswürdigung des Gerichts im rollengeteilten Verfahren. Das Produkt dieser rechtsfehlerhaften Beweiserhebung infiltriert die autonome gerichtliche Würdigung der in der Hauptverhandlung erhobenen Beweise. Welcher Beweiswert der Zeugenaussage über die polizeilichen Wertungen zukommen soll, lässt sich dagegen nicht einmal formulieren. Durch Beweiserhebung des Gerichts über die Beweiswürdigung der Polizei findet eine Verfälschung des richterlichen Beweisbildes statt. Die Veränderungstendenz lässt sich auch daraus entnehmen, dass die Polizei, anders als Staatsanwaltschaft und Strafgericht, eine Doppelrolle besitzt, weil sie sowohl die Strafverfolgung als auch die Gefahrenabwehr zu berücksichtigen hat. Alle Umstände des Einzelfalls werden unter diesem von der strafgerichtlichen Perspektive partiell abweichenden Blickwinkel wahrgenommen und bewertet.59 Das ist ein Unterschied zur gerichtlichen Perspektive, die hier sachwidrig beeinflusst wird. Außerdem ist das Meinungsbild der Polizei, wie es im Schlussbericht festgehalten ist, dadurch geprägt, dass die Informationen durch mehrere Beamte gemeinsam bewertet werden. Die Vernehmung des Ermittlungsführers reproduziert eine Gruppenaussage.60 Das Ergebnis kollegialer Zusammenarbeit kann Wahrnehmungsfehler perpetuieren,61 die bei der Zeugenvernehmung des Ermittlungsführers über das Resultat in die Hauptverhandlung einfließen,62 wobei zugleich ein fehlerhafter Anschein besonderer Glaubhaftigkeit erweckt wird. Tatsächlich steht die Gruppenaussage im Gegensatz zur Tatsachenwahrnehmung und Erinnerung eines klassischen Zeugen, der seine Informationen außerhalb des Verfahrens gewonnen hatte und vor Gericht als eigenes Tatsachenwissen wiedergibt. 59
Hof, HRRS 2015, 277 (279). Hof, HRRS 2015, 277 (280 f.); zur „Gruppenerinnerung“ Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, 4. Aufl. 2014, Rn. 1430 ff. 61 Eisenberg (Fn. 1), Rn. 1456b. 62 Sommer (Fn. 5), 3. Kap. Rn. 1668 f. 60
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d) Ergebnis der Unvereinbarkeit mit dem Beweisrecht und der gerichtlichen Aufgabenstellung Die Vernehmung des Ermittlungsführers in der Hauptverhandlung über die Ergebnisse des Vorverfahrens ist nach allem weder mit einer anerkannten Beweismittelart des Strengbeweisverfahren vereinbar, noch kann ihr Produkt in der üblichen Weise in die Beweiswürdigung des Tatgerichts einbezogen werden. Es handelt sich um eine Verfälschung der tatrichterlichen Überzeugungsbildung. Die Vernehmung des Ermittlungsführers über das Resultat des Vorverfahrens ist vor allem mit der Neutralitätsgarantie aus Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG und Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK unvereinbar. Sie birgt schließlich die Gefahr einer Sachverhaltsverfälschung.
IV. Rechtsbehelfe Die strukturelle Fehlerhaftigkeit der Vernehmung des Ermittlungsführers der Polizei als Zeuge über das Ermittlungsergebnis erlaubt und gebietet die Geltendmachung von Rechtsbehelfen durch die Verteidigung. Schon im innerprozessualen Rechtsweg der Tatsacheninstanz ist der Verfahrensfehler, soweit möglich, zu heilen und der fehlerhafte Kurs zu korrigieren. 1. Widerspruch gegen die Beweiserhebung und -verwertung Wegen Unvereinbarkeit der Zeugenvernehmung des Ermittlungsführers über den Schlussbericht mit Prozessrechtsgrundsätzen besteht ein Beweiserhebungsverbot für die Hauptverhandlung. Gegen die Anordnung des Vorsitzenden, diesen als Zeuge zu vernehmen, die eine prozessleitende Verfügung im Sinne von § 238 Abs. 1 StPO darstellt, ist deshalb zunächst eine Anrufung des Gerichts gemäß § 238 Abs. 2 StPO angezeigt.63 Das Kollegialgericht hat die Gesamtverantwortung für die Ordnungsmäßigkeit des Verfahrensablaufs in der Hauptverhandlung. Weist es aber den Antrag zurück und bestätigt es die Anordnung der Zeugenvernehmung, die sodann durchgeführt wird, bleiben der Verteidigung weitere Beanstandungsmöglichkeiten mit Hilfe der Beweisverbotslehren. Nach der Kasuistik zur Widerspruchslösung der Rechtsprechung64 scheint auf erste Sicht die Forderung nach einem bis zum Zeitpunkt der Äußerungen nach § 257 Abs. 1 und 2 StPO befristeten Widerspruch des verteidigten Angeklagten gegen die Beweisverwertung der Angaben des Ermittlungsführers konsequent.65 Ab-
63
Sommer (Fn. 5), 3. Kap. Rn. 1662. BGHSt 38, 214 (225 ff.); BGHSt 39, 349 (352); BGHSt 42, 15 (22 f.); BGHSt 50, 272 (274); BGHSt 52, 38 (41). 65 Schmidt, NZWiSt 2014, 121 (124). 64
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gesehen von generellen Bedenken gegen die Widerspruchslösung66 ist deren Anwendung auf die Konstellation der prozessordnungswidrigen Vernehmung des polizeilichen Ermittlungsführers über seinen Schlussbericht aber inhaltlich unpassend. Schließlich geht es nicht um einen Beweisinhalt, welcher der Disposition der Verteidigung unterläge. Die Begründung der Widerspruchslösung baut auf eine Dispositionsmöglichkeit der Verteidigung67 als Ausgangspunkt für die Annahme einer Rügeobliegenheit auf. Jedoch fehlt hier eine Dispositionsbefugnis, sodass auch die Grundlage für ein Widerspruchspostulat entfällt. Die Verteidigung kann, aber sie muss nicht der Beweisverwertung widersprechen, um eine gerichtliche Prüfung herbeizuführen und eine Revisionsrüge vor informeller Präklusion zu sichern. Unabhängig von der Art der Geltendmachung ist vom Bestehen eines Beweisverwertungsverbots wegen unzulässigen Vorgehens68 auszugehen. Es besteht ein Beweisthemenverbot, weil die Akten und die polizeiliche Beweiswürdigung kein zulässiger Gegenstand der Urteilsfindung sind und deshalb nicht zum Thema einer Beweiserhebung gemacht werden dürfen. Die den Grundsätzen des Strengbeweisverfahrens widersprechende Vernehmung des Ermittlungsführers über die polizeilichen Schlussfolgerungen muss auch wegen des Gewichts dieses Verfahrensfehlers ein Beweisverwertungsverbot zur Folge haben. Allerdings können selbst durch ein Beweisverwertungsverbot nicht alle Folgen dieses Verfahrensfehlers beseitigt werden. Die Infiltration der richterlichen Wahrnehmungen in der Hauptverhandlung durch die Äußerungen des Ermittlungsführers über die behördliche Bewertung der Beweisergebnisse des Vorverfahrens ist praktisch irreversibel.69 Ein endgültiges Verfahrenshindernis liegt andererseits nicht vor, weil nicht das Verfahren im Ganzen,70 sondern „nur“ die infiltrierte Hauptverhandlung mit den daran beteiligten Richtern fehlerhaft ist. 2. Richterablehnung Deshalb ist die Möglichkeit einer Richterablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit als innerprozessualer Rechtsbehelf zur effektiven Fehlerkorrektur in Betracht zu ziehen. Der Richter ist nach einer Zeugenvernehmung des Ermittlungsführers über die Ergebnisse des Vorverfahrens aus polizeilicher Sicht in besonderer Weise ein „manipulierter Dritter“.71
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SSW-StPO/Eschelbach, 3. Aufl. 2018, § 136 Rn. 112 ff. m.w.N. BGHSt 61, 266 (271). 68 Allgemein zu diesem Grund für Verwertungsverbote Eisenberg (Fn. 1), Rn. 332. 69 Zur psychologischen Unheilbarkeit schon falscher Vorhalte Schünemann, StV 1993, 607 (609). 70 Zu diesem Kriterium bei der staatlichen Tatprovokation BGHSt 60, 276 (296). 71 Begriff von Schünemann, StV 2000, 159 ff. 67
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Die Ablehnung richtet sich zunächst gegen den Vorsitzenden, der die Vernehmung des Ermittlungsführers als Zeuge verfügt und dadurch eine fehlerhafte Solidarisierung mit der Beweiswürdigung der Ermittlungsbehörden erkennen lässt.72 Er ist danach auch nicht mehr unparteilich im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK. Der Vorsitzende ist schon aufgrund seiner Mitwirkung am Eröffnungsbeschluss strukturell voreingenommen,73 was für sich genommen allerdings nach der herrschenden Fiktion74 der Unvoreingenommenheit wegen Fehlens eines Ausschlusstatbestands für sich genommen noch keine Ablehnung rechtfertigt. Der Vorsitzende kennt den Akteninhalt und leitet die Hauptverhandlung dementsprechend, was zu Wahrnehmungsverzerrungen führen kann.75 Aber nicht nur dies, sondern auch ein konfirmatorisches Hypothesentesten ist nach der Rechtsprechung immer noch kein Ablehnungsgrund. Jedoch überschreitet der Versuch, den Akteninhalt mitsamt den behördlichen Wertungen durch Zeugenbeweis in die Hauptverhandlung einzuführen, obwohl dieser nach der Grundidee der Strafprozessordnung nicht Gegenstand der Urteilsfindung,76 sondern nach dem Gewaltenteilungsprinzip vielmehr Gegenstand einer Kontrolle sein soll, die Grenze des Hinnehmbaren. Das rechtfertigt die Richterablehnung.77 Schließen sich nach einer Beanstandung gemäß § 238 Abs. 2 StPO die weiteren Mitglieder des Kollegialgerichts zumindest nicht ausschließbar der strukturell fehlerhaften Anordnung des Vorsitzenden an, erwecken auch sie die Besorgnis der Befangenheit. Für die nicht aktenkundigen Schöffen ergibt sich die Besorgnis der Befangenheit nach der Durchführung der Zeugenvernehmung des Ermittlungsführers über den Schlussbericht ohne Rücksicht darauf, dass sie die rechtliche Bedeutung dieses Vorgangs ohne Belehrung durch die Berufsrichter nicht erfassen. Sie haben die Aufgabe, mit gleichem Stimmrecht wie die Berufsrichter an den Vorgängen in der Hauptverhandlung mitzuwirken (§ 30 Abs. 1 GVG). Die Bedeutung und Tragweite der Prozesshandlungen ist ihnen deshalb von den Berufsrichtern zu erläutern, soweit sie sich nicht aus anderen Umständen ergibt, wie etwa aus der Begründung einer Beanstandung gemäß § 238 Abs. 2 StPO. Die Schöffen, deren Meinungsbildung durch die Zeugenvernehmung des Ermittlungsführers über die polizeiliche Beweiswürdigung sachwidrig infiltriert wird, sind im Ergebnis bei der Richterablehnung nicht anders zu behandeln als die Berufsrichter.
72
Zum Missbrauch der Sachleitungsbefugnis Schmidt, NZWiSt 2014, 121 (125). Eschelbach, FS Richter II, 2006, S. 113 ff.; Kühne (Fn. 33), Rn. 622.1; Schünemann, StV 2000, 159 ff. 74 Paeffgen, GS Weßlau, 2016, S. 217 (221 ff.); Tsambikakis, FS Schlothauer, 2018, S. 171 (172 ff.). 75 Bandilla/Hassemer, StV 1989, 551 (553). 76 Eindrucksvoll RGSt 32, 318 (319 f.); zustimmend RGSt 53, 176 (178); RGSt 69, 120 (122). 77 Schmidt, NZWiSt 2014, 121 (126). 73
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3. Rüge des unfair trial Abgesehen von der Richterablehnung als innerprozessualer Rechtsbehelf in der Tatsacheninstanz und einer entsprechenden Rüge gemäß § 338 Nr. 3 StPO in der Revisionsinstanz kommt auch eine Verfahrensrüge des Verstoßes gegen den Fairnessgrundsatz mit der Revision in Betracht. Die Zerstörung der Verfahrensbalance durch diese Maßnahme ist schließlich ein Verstoß gegen den Fairnessgrundsatz.78 Diese Rüge kann neben der Ablehnungsrüge geltend gemacht werden. Allerdings setzt die Rechtsprechung für eine spätere Rügemöglichkeit im Revisionsrechtszug eine vorgreifliche Geltendmachung durch den Zwischenrechtsbehelf nach § 238 Abs. 2 StPO voraus.79 Die Zurückweisung einer Beanstandung durch Gerichtsbeschluss gemäß § 238 Abs. 2 StPO kann danach als Fall einer unzulässigen Beschränkung der Verteidigung im Sinne von § 338 Nr. 8 StPO gelten. Dabei handelt es sich um einen Revisionsgrund, der auch jenseits des durchnormierten Bereichs eingreifen kann.80 Die Vernehmung des polizeilichen Ermittlungsführers über die Ergebnisse des Vorverfahrens ist eine unzulässige Beschränkung der Verteidigung. Der Sache nach enthält der Vortrag des Schlussberichts zu Beginn der Hauptverhandlung einen vorgezogenen Schlussvortrag, der die Wahrnehmung sämtlicher nachfolgenden Beweiserhebungen beeinflusst.81 Schon die Reihenfolge82 der Maßnahmen in der Beweisaufnahme beruht insoweit auf einem Ermessensmissbrauch. Die prozessordnungswidrige Verstärkung der Wirkung der Verlesung des Anklagesatzes vermindert die Chancen jeder Verteidigung. Der Ermittlungsführer der Polizei kommt im Gewand der Objektivität daher,83 ihm wird die unpassende Rolle eines Zeugen zugewiesen und seine Behauptungen täuschen eine Bedeutung als Beweismittel im Sinne der Strafprozessordnung vor, die bei wertenden Mitteilungen nicht besteht. Dies muss bei entsprechender Revisionsrüge (§ 338 Nr. 8 StPO) nach erfolgloser Beanstandung in der Tatsacheninstanz (§ 238 Abs. 2 StPO) zur Urteilsaufhebung führen.
V. Fazit Der „endliche Rechtstag“ scheint zurückgekehrt zu sein, wenn die Prozessführung nach Aktenlage derart präsentiert wird, wie es sich nach der aktuellen Prozesspraxis der Zeugenvernehmung des polizeilichen Ermittlungsführers über den 78
Vgl. Roxin/Schünemann (Fn. 2), § 11 Rn. 4. SK-StPO/Frister (Fn. 43), § 238 Rn. 40; krit. Roxin/Schünemann (Fn. 2), § 44 Rn. 18. 80 SK-StPO/Frisch, 5. Aufl. 2015, § 338 Rn. 156. 81 Schmidt, NZWiSt 2014, 121 (123). 82 Zur Beweisbedeutung der Reihenfolge allgemein Bandilla/Hassemer, StV 1989, 551 ff.; MüKo-StPO/Trüg/Habetha, 2016, Band II, § 244 Rn. 28. 83 Zur Vermutung der Zuverlässigkeit Schwenkendiek, in: Strafverteidigervereinigungen (Hrsg.), Bild und Selbstbild der Strafverteidigung, 40. Strafverteidigertag, 2016, S. 203 (209). 79
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Schlussbericht darstellt. Das erinnert an die doppelte Mittelbarkeit der Beweisführung im Inquisitionsprozess, bei dem aufgrund der Akten in der Form eines zusammenfassenden Berichts (Relation) geurteilt wurde.84 Die Richter versuchen bei solcher Verfahrensweise nicht mehr, den Akteninhalt auszublenden und durch autonome Beweiserhebung eine Gegenkontrolle der Verdachtshypothese und der strukturell einseitigen Stoffsammlung des Vorverfahrens85 durchzuführen. Vielmehr solidarisieren sie sich in einer Weise mit den Ermittlern, dass die Rollentrennung zwischen Ankläger und Richter faktisch aufgehoben wird. In letzter Konsequenz wird das Gewaltenteilungsprinzip verletzt, mithin ein Rechtssatz von elementarer Bedeutung (Art. 20 Abs. 3, 79 Abs. 3 GG). Das Verfahren in der Hauptverhandlung wird auch unfair gestaltet, wenn schon zu Beginn der Beweisaufnahme in fehlerhafter Prozessrolle eine gerichtliche Beweiserhebung über die polizeiliche Beweiswürdigung inszeniert wird, die sich auf sämtliche nachfolgenden Beweiserhebungen und deren Wahrnehmung durch die Mitglieder des Gerichts auswirkt. Der Fehler ist innerhalb derselben Hauptverhandlung nicht zu heilen. Die mitwirkenden Richter und Schöffen sind durch Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit abzulösen. Die auszusetzende Hauptverhandlung muss danach in anderer Gerichtsbesetzung neu begonnen werden. Diese notwendige Konsequenz verdeutlicht das Gewicht des prozessualen Fehlgriffs. Wenn die Praxis demgegenüber bisher offenbar kein Problembewusstsein zeigt, ist dies ein vergleichbar gravierendes Symptom der degenerativen Entwicklung des reformierten Strafprozesses wie die fehlerhafte Praxis informeller Urteilsabsprachen. Die Beiträge des Jubilars, die auf das Phänomen und dessen prozessrechtliche Bewertung aufmerksam machen, sind wertvoller denn je.
84 Kuckuck, Zur Zulässigkeit von Vorhalten aus Schriftstücken in der Hauptverhandlung des Strafverfahrens, 1977, S. 23. 85 Zur verfahrenspsychologischen Bedeutung Schünemann, StV 2000, 159 ff.
„Die wahren Täter sitzen nicht auf der Anklagebank“ Das Interesse des Nebenklägers an anklageübergreifender Sachaufklärung Von Thomas Feltes und Andreas Ruch
I. Einleitung Bis in die 1980er Jahre war der durch eine Straftat verletzten Person1 vor allem die Rolle des Zeugen im Strafprozess zugewiesen. Die Nebenklage fristete ein Schattendasein und war nahezu ausnahmslos für Delikte der Privatklage vorgesehen. Verschiedene Entwicklungen waren dafür verantwortlich, der durch eine Straftat verletzten Person eine stärkere Rechtsposition zuzubilligen. Viktimologische Arbeiten führten zunächst dazu, dass die Kriminologie die bis in die 1960er Jahre hinein vorrangig auf den (mutmaßlichen) Täter gerichtete Perspektive auch auf die Bedürfnisse und Belastungen des (mutmaßlichen) Opfers einer Straftat richtete. Der Gesetzgeber griff diese Entwicklung auf und ordnete mit dem Opferschutzgesetz aus dem Jahr 1986 die Nebenklage neu. Der durch eine schwerwiegende Straftat verletzten Person wurde eine mit eigenen prozessualen Befugnissen ausgestattete Rechtsposition zugewiesen. Namentlich das Anwesenheitsrecht des Nebenklägers (§ 397 Abs. 1 S. 1 StPO) und sein eigenes, von der Staatsanwaltschaft unabhängiges Recht, Beweisanträge zu stellen (§ 397 Abs. 1 S. 3 StPO), holten den Verletzten aus der passiven Rolle heraus und versetzen ihn in eine prozessgestaltende Position. Teils bestärkt durch die Lobbyarbeit von Opferschutzverbänden, teils durch Angleichung an EU-Recht, ist dem (mutmaßlich) Verletzten in den nachfolgenden Jahren eine immer stärkere Rechtsposition gegenüber dem (mutmaßlichen) Täter eingeräumt worden.2 Maßgeblichen Einfluss hatte das zweite Opferrechtsreformgesetz aus dem Jahr 2009. Die Nebenklage wurde dahingehend erweitert, dass eine Anschlussberechtigung nunmehr bei sämtlichen Straftaten mit individuellen Verletzungsfolgen besteht, wenn dies aus „besonderen Gründen“ geboten erscheint (§ 397 Abs. 2 StPO).
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Die Begriffe „Verletzter“ und „Opfer“ werden in diesem Beitrag synonym verwendet. Dabei gilt, dass es bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens stets um ein mutmaßliches Opfer und einen mutmaßlich Verletzten geht. Präziser insofern Eisenberg, HRRS 2011, 64, der von Personen spricht, „die als Opfer von Straftaten sich bezeichnen oder bezeichnet werden“. 2 Vgl. Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 2017, Vor § 63 Rn. 2.
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Thomas Feltes und Andreas Ruch
Dieser Beitrag zeigt am Beispiel des Loveparade-Strafverfahrens3, dass insbesondere bei komplexen Anklagevorwürfen Konstellationen denkbar sind, in denen es dem Opfer nicht vorrangig darum geht, Genugtuung gegenüber den Angeklagten zu erzielen. An die Stelle dieser nicht unumstrittenen4, in Rechtsprechung und Literatur der Nebenklage gleichwohl zugeschriebenen Funktion tritt in vielen Fällen das Interesse des Opfers, zu erfahren, was „wirklich“ geschehen ist und welche über den Anklagevorwurf hinausgehenden Ursachen der Tat zugrunde liegen. Die Verfasser diskutieren, wie sich diese atypische Funktion in die strafrechtliche Systematik der Nebenklage einordnen lässt.
II. Prozessuale Rechte des Nebenklägers 1. Überblick über die gesetzliche Entwicklung Bis zum Inkrafttreten des 1. Opferschutzgesetzes im Jahr 1987 war die Nebenklage gesetzessystematisch an die Privatklage und die Rechtsmittelbefugnis der Staatsanwaltschaft gekoppelt. Der Verletzte konnte sich nur bei Privatklagedelikten und nur im Falle einer Anklageerhebung durch die Staatsanwaltschaft dem Verfahren anschließen. Aus heutiger Sicht, bei der die Nebenklage als Rechtsinstitut zum Umgang mit schwerwiegenden Straftaten wahrgenommen wird, erscheint die historische Konzeption der Strafprozessordnung als geradezu widersprüchlich, da sie die Beteiligung des Opfers als Nebenkläger nur für die der Privatklage zugewiesenen Bagatellstraftaten vorsah. Dieser Zustand wurde auch durch die Gerichte als lückenhaft angesehen, die über den Gesetzeswortlaut hinaus die Nebenklage auch bei Straftaten zuließen, die selbst zwar nicht zum Anschluss berechtigten (z. B. Sexualdelikte), die aber in Gesetzeskonkurrenz zu Anschlusstaten standen.5 Bestärkt durch die Lobbyarbeit von Opferschutzverbänden gelangte der Gesetzgeber zu der Erkenntnis, dass die Bedürfnisse der Opfer schwerer Straftaten im Strafprozess nur unzureichend berücksichtigt seien. Das 1. Opferschutzgesetz weitete 1987 daher die Regelungen zum Zeugenschutz aus und stärkte die Verfahrensrechte des Verletzten durch eine umfassende Neuregelung der Nebenklage. Der Nebenkläger ist damit zu einem „Zusatzbeteiligten neben der Anklagebehörde“ geworden, der die Stellung „eines mit selbstständigen Rechten ausgestatteten Prozessbeteiligten“ hat.6 In der Folgezeit ist die stärkere Sensibilität im Umgang mit Opfern in weiteren Änderungsgesetzen zum Ausdruck gekommen. 1994 wurde mit dem Verbrechensbe3 Die Verfasser sind Nebenklagevertreter im Loveparade-Strafverfahren, welches seit Dezember 2017 vor dem Landgericht Duisburg, Außenstelle Düsseldorf, verhandelt wird. 4 Für einen Überblick über die kritischen Stimmen vgl. Weigend, RW 2010, 39 und Barton, in: Strafverteidigervereinigungen, Tagungsband zum 36. Strafverteidigertag, 2013, S. 49 (54 ff.), jeweils mit zahlreichen Nachweisen in den Fußnoten. 5 Barton (Fn. 4), S. 49 (50). 6 BT-Drs. 10/5305, S. 13 f.
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kämpfungsgesetz der Täter-Opfer-Ausgleich als Strafzumessungsvorschrift (§ 46a StGB) geschaffen, um den Belangen der Opfer von Straftaten stärkeres Gewicht zu verleihen.7 Mit dem 1. Opferrechtsreformgesetz sind 2004 die Befugnisse im Adhäsionsverfahren erweitert und die Informationsrechte des Verletzten gestärkt worden.8 Das 2. Opferrechtsreformgesetz erweiterte 2009 erneut den Anwendungsbereich der Nebenklage.9 § 395 Abs. 3 StPO erhielt die auch heute gültige Fassung, wonach prinzipiell jede erlittene Rechtsgutsverletzung zum Anschluss als Nebenkläger berechtigt, solange der Verletzte geltend macht, dass dies „aus besonderen Gründen, insbesondere wegen der schweren Folgen der Tat, zur Wahrnehmung seiner Interessen geboten erscheint“. Die jüngeren gesetzgeberischen Entwicklungen und kriminalpolitischen Diskussionen sind durch eine weitere Stärkung der Rechte des Verletzten gekennzeichnet. Das 3. Opferrechtsreformgesetz hat 2017 einheitliche Regelungen zur psychosozialen Prozessbegleitung geschaffen. Nunmehr haben besonders schutzbedürftige Verletzte einen Anspruch auf Beiordnung eines Prozessbegleiters (§ 406 g Abs. 3 StPO), der eine nicht-juristische Begleitung im Strafverfahren wahrnimmt und hierdurch Belastungen des Opfers vermeiden soll (§ 2 Abs. 1 S. 2 PsychPbG). Die über das Strafverfahren hinausgehenden Interessen und Bedürfnisse des Opfers, zum Beispiel im Bereich der sozialrechtlichen Entschädigung, sind auch Anlass für die in der Anwaltschaft immer wieder diskutierte, jüngst jedoch erneut abgelehnte, Einführung eines Fachanwalts für Opferrechte.10 2. Die wesentlichen Verfahrensrechte des Nebenklägers Der Nebenkläger ist zur Anwesenheit in der Hauptverhandlung berechtigt (§ 397 Abs. 1 StPO). Dies gilt auch, wenn er zu einem späteren Zeitpunkt als Zeuge vernommen werden soll. Als Ergebnis der gestärkten Informationsrechte hat er darüber hinaus ein eigenes Akteneinsichtsrecht (§ 406e StPO). Ein von Opfern einer Straftat als bedeutsam wahrgenommenes Recht ist die Befugnis, sich durch einen Rechtsanwalt vertreten zu lassen (§ 397 Abs. 2 StPO). Opfern schwerer Straftaten ist auf ihren Antrag ein Rechtsanwalt als Beistand zu bestellen (§ 397a StPO). Die Kosten werden von der Landeskasse getragen und im Falle einer Verurteilung dem Täter auferlegt.11 Wenn der Verletzte seine Interessen selbst nicht ausreichend wahrnehmen kann oder ihm dies nicht zuzumuten ist, kann ihm Prozesskostenhilfe für die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts bewilligt werden (§ 397a Abs. 2 StPO). 7
BT-Drs. 12/6853, S. 1 f. BT-Drs. 15/2536. 9 BT-Drs. 16/12098 10 Vgl. Greve/Otto, BRAK 2018, 58 und Bundesrechtsanwaltskammer, Presseerklärung Nr. 8 v. 16. 04. 2018. 11 Die Kostentragungspflicht ist im Hinblick auf die Resozialisierung des Verurteilten nicht unproblematisch. 8
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Der Nebenkläger kann sich umfassender Verfahrensrechte bedienen, die an die Rechte der übrigen Verfahrensbeteiligten angeglichen sind. Er kann Fragen an den Angeklagten, die Zeugen und Sachverständigen stellen, Prozesshandlungen beanstanden, eigene Beweisanträge stellen und nach jeder einzelnen Beweiserhebung Erklärungen abgeben (§ 397 Abs. 1 StPO). Unabhängig von der Staatsanwaltschaft kann der Nebenkläger Rechtsmittel einlegen (§ 400 StPO). Diese können jedoch nicht auf das Ziel gerichtet sein, dass eine andere Rechtsfolge der Tat verhängt wird oder dass der Angeklagte wegen einer Gesetzesverletzung verurteilt wird, die nicht zum Anschluss des Nebenklägers berechtigt (§ 400 Abs. 1 StPO). 3. Kritik an den Verfahrensrechten des Nebenklägers Mit den umfassenden Befugnissen der Nebenklage ist der Verletzte heute „zu einer dem Beschuldigten nahezu gleichrangigen Zentralfigur des deutschen Strafprozesses geworden“.12 Während die darin zum Ausdruck kommende gesteigerte Sensibilität mit Opfern im Strafverfahren begrüßt und in der Stärkung der Opferposition eine Chance für eine erleichterte Wiederherstellung des Rechtsfriedens gesehen wird,13 werden die prozessualen Begleiterscheinungen der Stärkung der Verletztenposition überwiegend kritisch bewertet. Beklagt wird, dass die Ausweitung der Verfahrensrechte des Verletzten allein dessen Vergeltungsbedürfnis diene und sich daher nicht in das auf Resozialisierung ausgerichtete strafrechtliche Sanktionensystem integrieren ließe.14 Kritisiert wird ferner, dass die Ausstattung des Nebenklägers mit umfangreichen Beteiligungs- und Anwesenheitsrechten diesen zur Partei im öffentlichen Strafprozess werden lasse. Problematisiert wird in diesem Zusammenhang das Recht des Nebenklägers auf Anwesenheit in der Hauptverhandlung und dessen Akteneinsichtsrecht (§ 406e StPO), auch wenn dieser zu einem späteren Zeitpunkt noch als Zeuge vernommen werden soll. Die Zeugenaussage drohe damit „von einer Wissensbekundung zu einer Parteierklärung zu degenerieren“.15 Die damit einhergehende Verschmelzung von Partei- und Zeugenrolle kollidiere mit der prozessualen Pflicht zur Erforschung der materiellen Wahrheit und wirke sich zu Lasten der für den Angeklagten geltenden Unschuldsvermutung aus.16 Schließlich wird angeführt, dass sich durch die Neuordnung der Nebenklage und der damit einhergehenden stärkeren Rechtsposition des mutmaßlichen Opfers das Gleichgewicht im Strafverfahren immer mehr zu Lasten des Beschuldigten verschiebt. Da auf Seiten der Staatsanwaltschaft das Opfer als weiterer Ankläger hinzutritt, welches jedoch nicht wie die
12
Wenske, NStZ 2008, 434 (437). Zum ersten Gedanken Haverkamp, ZRP 2015, 53 (56), zum zweiten Gedanken Eser, in: Dornseifer et al., GS für Armin Kaufmann, 1989, S. 723 (747). 14 Schünemann, NStZ 1986, 193 (196). 15 Roxin/Schünemann (Fn. 2), § 64 Rn. 2. 16 Vgl. Roxin/Schünemann (Fn. 2), Vor § 63 Rn. 3. 13
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Staatsanwaltschaft zur Objektivität verpflichtet ist,17 werde das Machtgefälle zwischen dem Beschuldigten und den Vertretern der Strafverfolgungsbehörden weiter verschärft.18
III. Funktionsbestimmung der Nebenklage 1. Verantwortungszuweisung vorbeugen und Beteiligungsrechte schaffen Die Entkopplung der Nebenklage von der vor allem für Bagatelldelikte vorgesehenen Privatklage war 1986 von dem Ziel getragen, den „auf Schutz vor Verantwortungszuweisungen durch den Beschuldigten gerichteten Bedürfnissen des Verletzten“ durch Schaffung einer gesicherten Rechtsposition gerecht zu werden.19 Die Nebenklage dient dem Zweck, den aus der Verletzteneigenschaft resultierenden besonderen Belastungen des Strafverfahrens zu begegnen. Ein besonderes Bedürfnis hierfür sah der Gesetzgeber insbesondere in Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen, namentlich im Bereich der Sexualstraftaten. Denn hier stehen außer der Zeugenaussage des Verletzten oftmals keine weiteren Beweismittel zur Verfügung. Die auf Verteidigung gegen den Anklagevorwurf ausgerichtete Position des Angeklagten bringt es in diesen Situationen mit sich, dass die Wahrnehmungen des (Opfer-)Zeugen mit dem Ziel in Frage gestellt werden, den Beweiswert der Aussage zunichte zu machen. Der Verletzte soll daher mittels der Nebenklage in die Lage versetzt werden, die Beweiserhebung zu beeinflussen, um sich gegen – in der Regel prozessual zulässige – Verantwortungszuweisungen des Angeklagten zur Wehr setzen zu können.20 Gleichzeitig bietet das Recht, Beweisanträge zu stellen, Fragen an Zeugen und Sachverständige zu richten und Erklärungen zur Beweiserhebung abzugeben, dem Verletzten die Möglichkeit, sich Gehör zu verschaffen und seine Sicht auf die Dinge zu schildern. Hierdurch soll sichergestellt werden, dass der Verletze „sich aktiv am Verfahren beteiligen und durch Erklärungen, Fragen, Anträge und gegebenenfalls Rechtsmittel auf das Verfahrensergebnis ein[zu]wirken“ kann.21 Tatsächlich geht es Opfern von Straftaten in der Regel weniger um Rache und Genugtuung, sondern sie haben vielmehr ein Interesse daran, dass „ihr“ Fall öffentlich verhandelt wird, sie über den Verfahrensgang informiert werden und sie Gelegenheit erhalten, sich aktiv in das Strafverfahren einzubringen.22 Indem die Nebenklage diese 17 Der Umstand, dass die Staatsanwaltschaft der ihr obliegenden Pflicht zur Ermittlung entlastender Tatsachen in der Praxis nur selten gerecht wird, kann an dieser Stelle unberücksichtigt bleiben. 18 Bung, StV 2009, 430 (431). 19 BT-Drs. 10/5305, S. 9. 20 Weigend, RW 2010, 39 (55). 21 BT-Drs. 10/5305, S. 11. 22 Vgl. Kanz, MschrKrim 2017, 227 (239 ff.).
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Interessen kanalisiert und zu den Beteiligungsrechten des § 397 StPO formuliert, kommt ihr zudem eine positive psychologische Funktion zu. Sie kann dazu beitragen, dass das Opfer aus der mit einer Rechtsgutsverletzung verbundenen Passivität und Hilflosigkeit herausgeholt und in eine aktive und gestaltende Position versetzt wird.23 2. Genugtuungsfunktion der Nebenklage Anders als bei der Privatklage, bei der der Verletzte die Rechte der Staatsanwaltschaft an ihrer Stelle ausübt und die Tat selbst als Ankläger verfolgt, nimmt der Nebenkläger seine Verfahrensrechte in Ergänzung zur Staatsanwaltschaft wahr. Er ist jedoch weder „Gehilfe“ der Staatsanwaltschaft, noch ist er wie diese zur Objektivität verpflichtet oder vertritt wie diese das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung.24 Der Nebenkläger ist ein mit selbstständigen Rechten ausgestatteter Prozessbeteiligter und verfolgt als solcher allein private Interessen.25 Die Rechtsprechung formuliert, dass der Nebenkläger „wie der Privatkläger […] sein persönliches Interesse auf Genugtuung“ wahrnimmt.26 Die Literatur steht dem Genugtuungsinteresse des Verletzten tendenziell kritisch gegenüber. Argumentiert wird, dass die Genugtuung des Opfers angesichts ihrer semantischen und funktionalen Nähe zu sinnloser und zerstörerischer Rache keinen anzuerkennenden Strafzweck darstellen könne.27 In einem rationalen, an Rechtsgüterschutz orientierten Strafrecht könne daher der individuelle Wunsch des Opfers nach Bestrafung nicht zulässig sein.28 Demgegenüber wird vorgetragen, dass der Wunsch des Opfers, die in seiner Person erlittene Rechtsgutsverletzung solle eine staatliche Reaktion gegenüber dem Täter hervorrufen, durchaus verständlich sei.29 Es sind daher verschiedene theoretische Bemühungen unternommen worden, um das Genugtuungsinteresse des Opfers in die anerkannten Strafzwecktheorien einzuordnen.30 Vertreten wird hierbei insbesondere ein differenzierterer Blick auf die repressive Straftheorie, die in ihrer klassischen Rezeption auf die Missbilligung des Täterverhaltens abzielt. Angeführt wird, dass mit einer Missbilligung der Tat zugleich auch das Leid und die Verletzung des Opfers anerkannt werde.31 Ordnet man Genugtuung in diesem Sinne als Teil der staatlichen Missbilligung des Täterhandelns ein, lassen sich mit dieser Interpretation auch die bereits erwähnten Erkenntnisse aus der empi23
Bock, HRRS 2011, 119. KK-StPO/Senge, 7. Aufl. 2013, Vor § 395 Rn. 1. 25 BT-Drs. 10/5305, S. 14. 26 BGH, NJW 1979, 1310. 27 Schünemann, NStZ 1986, 193 (197). 28 Barton (Fn. 4), S. 49 (57 mit Fn. 39). 29 Weigend, RW 2010, 39 (39, 43). 30 Ausführlich und mit zahlreichen Nachweisen Weigend, RW 2010, 39 (42 ff.). 31 Hörnle, in: Schünemann/Dubber, Die Stellung des Opfers im Strafrechtssystem, 2000, S. 175 (181). 24
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rischen viktimologischen Forschung abbilden: Das Opfer wird mit seiner Geschichte gehört und erhält in einem öffentlichen Verfahren die Bestätigung, dass ihm Unrecht widerfahren ist und es keine Vorwürfe gegen sich selbst richten muss.32 3. Atypische Funktionen der Nebenklage Der Schutz vor Verantwortungszuweisungen und das Genugtuungsinteresse lassen sich als klassische Funktionen der Nebenklage begreifen. Darüber hinaus werden in der Literatur weitere mit der Nebenklage verbundene Ziele beschrieben. Darauf hingewiesen wird, dass durch die Nebenklage auch Schadenswiedergutmachung betrieben und die Staatsanwaltschaft kontrolliert werden könne.33 Ferner wird der Nebenklage eine sozialpsychologische Komponente zugeschrieben, die es dem Verletzten ermögliche, sich durch „Begreifen und Verarbeiten des Erlebten“ wieder in die Gesellschaft einzugliedern.34 Schließlich wird die Nebenklage auch in Verbindung zur Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche gebracht, da der Nebenkläger die Aufklärung des Sachverhalts in seinem Sinne beeinflussen und damit die Verwirklichung finanzieller Interessen im Zivilverfahren vorbereiten könne.35 Gemeinsam ist den vorgenannten Fällen, dass die beschriebenen Ziele neben die klassischen Funktionen der Nebenklage, die Genugtuung und der Schutz vor Verantwortungszuweisung, treten und diese ergänzen. Eine Sonderrolle nehmen diejenigen Fälle ein, in denen die Genugtuungs- und Schutzfunktion durch atypische Ziele des Nebenklägers verdrängt wird und in den Hintergrund tritt. a) Der sich selbst verteidigende Nebenkläger Zu nennen ist in diesem Zusammenhang zunächst der ebenfalls als Täter in Betracht kommende, aber nicht angeklagte Nebenkläger, der sich mit seinem Anschluss an die öffentlich erhobene Klage selbst verteidigen will.36 Übereinstimmend als unzulässig angesehen wird die Anschlusserklärung eines Mitangeklagten, solange das gegen ihn gerichtete Verfahren noch nicht rechtskräftig abgeschlossen ist.37 Einzelne Stimmen in der Literatur erachten die auf Verteidigung der eigenen Person gerichtete Nebenklage in jedem Fall als unzulässig, da dem auf seine eigene Entlastung abzielenden Nebenkläger ein legitimes Nebenklageziel fehle und die Beteiligung am Strafverfahren daher zweckwidrig sei.38 Aus rechtssystematischer Sicht wird dieser Ansicht entgegen gehalten, dass ein Anschluss als Nebenkläger immer dann zulässig 32
Hassemer/Reemtsma, Verbrechensopfer, 2002, S. 130, 133 f. Barton (Fn. 4), S. 49 (57). 34 Kleinert, Persönliche Betroffenheit und Mitwirkung, 2008, S. 326. 35 Hermann, ZIS 2010, 236 (241). 36 Altenhain, JZ 2001, 791, der exemplarisch auf den Fall Monika Böttcher verweist. 37 BGH, NJW 1978, 330; KK-StPO/Senge (Fn. 24), Vor § 395 Rn. 5. 38 Maeffert, StV 1998, 461 (462). 33
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sein muss, wenn gegen die den Anschluss begehrende Person kein hinreichender Tatverdacht bejaht worden ist. Denn in diesem Fall ist die Person als mutmaßlich verletzt anzusehen, womit die Berechtigung zur Nebenklage zu bejahen ist.39 b) Die auf Freispruch des Angeklagten zielende Nebenklage Ganz überwiegend als unzulässig wird die auf Freispruch des Angeklagten und Verurteilung des „wahren“ Täters gerichtete Nebenklage bewertet.40 Denn die Nebenklage habe nicht lediglich eine abstrakte Rechtsgutverletzung zum Gegenstand, sondern sie richte sich gegen eine Verletzung gerade durch den Angeklagten.41 Argumentiert wird, dass der Gesetzgeber bei der Zulassung der Nebenklage von einem Verurteilungsinteresse des Verletzten ausgegangen sei.42 Gesetzessystematisch werde diese Erwägung dadurch gestützt, dass es dem Nebenkläger an einer Rechtsmittelbefugnis zu Gunsten des Angeklagten fehle und dass die ihm entstandenen notwendigen Auslagen nur im Falle einer Verurteilung dem Angeklagten auferlegt werden (§ 472 Abs. 1 StPO). In der Literatur wird das Phänomen der „verteidigenden“ Nebenklage teilweise für zulässig gehalten.43 Begründet wird dies mit der Erwägung, dass sich aus Wortlaut und Systematik keine Unzulässigkeit einer auf Freispruch gerichteten Nebenklage ableiten ließen. Auch teleologische Erwägungen stünden dem nicht entgegen, denn die Nebenklage solle es dem Verletzten erlauben, die gegen ihn gerichtete Tat öffentlich zur Sprache zu bringen. Damit sei aber auch einer Nebenklage der Raum eröffnet, die mittels eines Freispruchs verhindern will, dass durch die Verurteilung eines Unschuldigen die Tat eine ganz andere Bedeutung bekommt, als die, die sie aus Sicht des Verletzten tatsächlich hat.44
IV. Die auf anklageübergreifende Aufklärung gerichtete Nebenklage Anhand des derzeit vor dem Landgericht Duisburg verhandelten LoveparadeStrafverfahrens, in dem die Verfasser die Interessen eines Hinterbliebenen vertreten, soll eine weitere Funktion der Nebenklage dargestellt und diskutiert werden. Im Loveparade-Strafverfahren steht bei vielen Nebenklägern nicht die Verurteilung der Angeklagten im Vordergrund. Ihr Anschluss als Nebenkläger ist von dem Wunsch nach umfassender Aufklärung und nach Ermittlungen hinsichtlich Verfeh39
Altenhain, JZ 2001, 791 (794). OLG Schleswig, NStZ-RR 2000, 270; OLG Rostock, Beschl. v. 26. 03. 2012 – 1 Ws 77/12. 41 Vgl. OLG Rostock, Beschl. v. 26. 03. 2012 – 1 Ws 77/12. 42 OLG Schleswig, NStZ-RR 2000, 270 (271 f.); hieraus auch zum folgenden Satz. 43 Altenhain, JZ 2001, 791 (800). 44 Altenhain, JZ 2001, 791 (800). 40
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lungen nicht angeklagter Personen geprägt. Argumentiert wird, dass auch der Wunsch nach anklageübergreifender Sachaufklärung eine zulässige Funktion der Nebenklage darstellt. 1. Die Katastrophe auf der „Loveparade 2010“ Nachdem das Musikfestival „Loveparade“ von 1989 bis 2003 und 2006 in Berlin stattfand, wurde die Veranstaltung 2007 in das Ruhrgebiet verlegt. Sie fand zunächst 2007 in Essen und 2009 in Dortmund statt45 und wurde im Jahr 2010 auf dem Gelände des ehemaligen Güterbahnhofs in Duisburg veranstaltet. Am Veranstaltungstag wurden die an- und abreisenden Besucher über eine einzige Rampe auf das beziehungsweise weg vom Veranstaltungsgelände geführt. Laut Planungsunterlagen sollte die Rampe an der schmalsten Stelle eine Breite von 18,28 Meter aufweisen. Tatsächlich war die Rampe am Veranstaltungstag durch Zäune verengt worden und wies daher an der schmalsten Stelle eine Breite von lediglich 10,59 Metern auf. In Folge eines unkontrollierten Zustroms auf das Veranstaltungsgelänge und sich begegnender an- und abreisender Besucher hielten sich im Rampenbereich mehrere zehntausend Personen gleichzeitig auf, was zu einer „Personendichte“ von mindestens sieben Personen pro Quadratmeter führte. In der Personenmenge kam es zu „unkontrollierten, wellenartigen Bewegungen und starken Kompressionen […], bei denen zahlreiche Personen angehoben wurden, stürzten und anschließend bewegungsunfähig übereinander lagen“.46 Aufgrund des innerhalb dieser Menschenmenge entstandenen Drucks erlitten 21 Personen tödlich verlaufende Verletzungen und mindestens 652 weitere Personen erlitten zum Teil erhebliche physische Verletzungen beziehungsweise psychische Traumatisierungen. 2. Anklage gegen Mitarbeiter der Stadt Duisburg und der Veranstalterfirma Lopavent Am 12. 02. 2014 erhob die Staatsanwaltschaft Duisburg Anklage gegen zehn Mitarbeiter der Stadt Duisburg und der Firma Lopavent wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung. Den Angeklagten der Stadt Duisburg wird neben weiteren Pflichtverletzungen vorgeworfen, eine den Vorschriften der BauO NRW und der SBauVO NRW nicht genügende und damit formell und materiell pflichtwidrige Veranstaltungsgenehmigung erteilt zu haben.47 Der Vorwurf gegen die Angeklagten 45 Die Stadt Bochum sagte die für 2009 geplante Loveparade angesichts von Sicherheitsbedenken ab. 46 LG Duisburg, Presseinformation zum Anklagesatz, S. 32 f. (URL: http://www.lg-duis burg.nrw.de/behoerde/loveparade/zt_behinderte/so_hintergrundinfos/20171212-PI-Anklage satz-anonymisiert.pdf). 47 Die Anklage differenziert zwischen mit dem konkreten Genehmigungsverfahren befassten Mitarbeitern und den leitenden Mitarbeitern. Ersteren wird die pflichtwidrige Genehmigung, letzteren die pflichtwidrige Verletzung der Überwachungspflicht vorgeworfen.
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der Veranstalterfirma Lopavent geht unter anderem dahin, den Zu- und Abgang zum Veranstaltungsgelände pflichtwidrig so geplant und gestaltet zu haben, dass es angesichts der erwarteten Besucherzahlen dort zwangsläufig zu lebensgefährlichen Menschenverdichtungen kommen musste. 3. „Auf der Anklagebank sitzen die falschen Personen“ Im Nachgang der Katastrophe ist seitens zahlreicher Nebenkläger der Vorwurf erhoben worden, die Polizei habe durch eigenes Fehlverhalten zur Katastrophe beigetragen und einzelne Beamte hätten Rettungsmöglichkeiten unterlassen. Der Polizei ist eine unzureichende Kommunikation untereinander sowie mit den privaten Ordnerdiensten angelastet worden, was mit dazu beigetragen habe, dass Besucherströme unkontrolliert in den zur Zu- und Abgangsrampe führenden Tunnelzugang und in den Rampenbereich gelassen wurden. Dies sei, so eine in der Öffentlichkeit und unter den Nebenklägern verbreitete Auffassung, mitursächlich für die „Menschenverdichtung“ und den tödlichen Ausgang der Katastrophe gewesen. Der bisherige Verlauf der Beweisaufnahme hat das Unverständnis gegenüber der Polizei verstärkt. So ist auf Videomaterial zu sehen, wie die Polizei zu einem Zeitpunkt mit einem Mannschaftswagen durch den Tunnel- und Rampenbereich fuhr, als dort bereits ein „Personenstau von vielen zehntausend Besuchern“ mit einer „Personendichte von mindestens sieben Personen pro Quadratmetern“ herrschte.48 Einzelne Zeugen haben übereinstimmend berichtet, dass einzelne Beamte die Lage offenbar vollkommen falsch eingeschätzt hat. Statt den sich angesichts des Personendrucks wellenartigen und unkontrolliert hin und her bewegenden Personen zu helfen, nahmen einzelne Beamte die Hilferufe der Besucher nicht ernst und unterließen Rettungsversuche. Zahlreiche Verletzte sehen die „wahren“ Täter nicht nur in den Reihen der Polizei, sondern in den Personen des seinerzeit amtierenden Oberbürgermeisters und des geschäftsführenden Gesellschafters des Veranstalters. Für die Opfer sind gerade diese Personen die Repräsentanten der „Loveparade 2010“, die die Veranstaltung gewollt und beworben haben und die im Falle eines glimpflichen Ausgangs den „Erfolg“49 für sich reklamiert hätten. Nach Auffassung der Staatsanwaltschaft war die Frage nach einer strafrechtlichen Verantwortung der vorgenannten Personen und Beamten der Polizei frühzeitig folgendermaßen zu beantworten: Der seinerzeit amtierende Oberbürgermeister sei weder mit dem konkreten Genehmigungsverfahren befasst gewesen, noch sei eine pflichtwidrige Verletzung einer etwaigen Überwachungspflicht festzustellen. Der geschäftsführende Gesellschafter der Veranstalterfirma Lopavent habe weder bei der Planung, Genehmigung und Durchführung der Veranstaltung in strafrechtlich vorwerfbarer Weise mitgewirkt, noch habe er etwaige Überwachungspflichten ver48
LG Duisburg (Fn. 46), S. 31 f. Legt man den Anklagevorwurf zu Grunde, hätte es sich tatsächlich nur um ein Ausbleiben der Katastrophe gehandelt, da die Veranstaltung bereits fehlerhaft geplant worden war. 49
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letzt. Das Verhalten der Polizei wurde als nicht ursächlich für den Tod von 21 Besuchern und die Verletzungen von mindestens 652 Besuchern eingeordnet, da im Zeitpunkt des oben beschriebenen polizeilichen Handelns und Unterlassens keine Möglichkeit mehr bestand, „die Zuspitzung der Situation zu verhindern“ und den „letztlich tödliche[n] Verlauf der Menschenverdichtung auf der Rampe“ abzuwenden.50 4. Aufklärungsinteresse jenseits der Anklageschrift Zu beobachten ist im Loveparade-Strafverfahren eine inhaltliche Diskrepanz zwischen den individualisierten Tatfolgen – Tod naher Angehöriger und selbst erlittene Verletzungen – und der für die Erhebung der öffentlichen Klage relevanten strafrechtlichen Fragen. Körperverletzungs- und Tötungsdelikte sind klassische Kontaktdelikte, bei denen aus Sicht der Geschädigten Täter und Opfer „auf der Hand“ liegen. Gerade im Bereich der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit sind Verantwortungsbereiche in der Regel jedoch nicht so klar voneinander abzugrenzen, dass strafrechtlich getroffene Zurechnungen mit den Alltagsvorstellungen übereinstimmen. Im LoveparadeStrafverfahren sind verwaltungsrechtliche Vorfragen und Fragen der strafrechtlichen Kausalitäts- und Zurechnungslehre entscheidungserheblich. Diese abstrakten Themen lassen sich aber nur schwer auf die konkret erlebten Verletzungen der Nebenkläger übertragen, was erklärt, warum sich deren Aufklärungsinteresse weniger auf die Personen richtet, die laut Anklagevorwurf die Veranstaltung im Hintergrund geplant, genehmigt, durchgeführt und überwacht haben sollen. Stattdessen wird die Schuld bei greifbaren Personen und Institutionen gesucht, denen in der allgemeinen Wahrnehmung eine Beschützer- und Verantwortungsfunktion zukommt. Konkret werden sowohl dem Oberbürgermeister als auch dem geschäftsführenden Gesellschafter des Veranstalters eine Letztverantwortung und eine hieraus abzuleitende Schutzpflicht zugeschrieben, deren Verletzung nach alltagstheoretischer Vorstellung strafrechtlich relevant sein müsse. Ähnliche Mechanismen spielen bei der Verantwortungszuweisung in den polizeilichen Bereich eine Rolle. Denn die Polizei wird von den Bürgern weniger als ein begrenzt zuständiger Akteur im Bereich der Gefahrenabwehr, sondern als Universaldienstleister für die öffentliche Ordnung wahrgenommen.51 Im Falle der „Loveparade 2010“ hat die Polizei das an sie herangetragene Bedürfnis nach umfassender Hilfeleistung aus Sicht der Verletzten nicht erfüllt, wodurch ihr eine strafrechtliche Verantwortung für die Katastrophe zugeschrieben wird.
50
LG Duisburg (Fn. 46), S. 31. Vgl. zur faktischen Wahrnehmung und Rolle der Polizei Feltes, in: Kaiser/Kury/Albrecht, Kriminologische Forschung in den 80er Jahren, 1988, S. 125 (153) und Ruch, MschrKrim 2017, 328 (329). 51
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V. Strafprozessuale Einordnung der sachaufklärenden Nebenklage Von ihren Verfahrensrechten machen die Nebenkläger jedenfalls auch mit dem Ziel Gebrauch, Rolle und Handeln der Polizei und der nicht angeklagten, aus ihrer Sicht aber verantwortlichen Personen aufzuklären. Namentlich das Fragerecht gegenüber dem ehemalige Oberbürgermeister und dem geschäftsführenden Gesellschafter der Veranstalterfirma wurde dazu genutzt, das Unverständnis darüber zum Ausdruck zu bringen, dass beide nicht nur unmittelbar nach der Veranstaltung jede Verantwortung für das Unglück von sich wiesen, sondern sich auch vor Gericht trotz Verjährung etwaiger selbst begangener Taten in Erinnerungslücken flüchten und keinen substantiellen Beitrag zur Klärung der Frage leisten, wie es zur tödlichen Katastrophe bei der „Loveparade 2010“ kommen konnte. Geht man von der Überprüfung des Anklagevorwurfs als zentralen Gegenstand eines Strafprozesses aus,52 hat das Interesse der Nebenkläger an einer erweiterten Sachaufklärung nur insoweit eine Rolle zu spielen, als es für die Beurteilung der Schuld der Angeklagten relevant ist. Insoweit können Übereinstimmungen mit Zielen der Verteidigung bestehen, die ebenfalls ein Interesse daran hat, die Verantwortungsbereiche soweit zu verschieben, dass der tatbestandliche Erfolg nicht mehr den Angeklagten, sondern anderen Personen oder Institutionen zuzurechnen ist. Soweit es der Nebenklage aber darum geht, solches Fehlverhalten von Zeugen zu thematisieren, welches keinen Beweiswert für den Anklagevorwurf hat, steht der Vorwurf im Raum, sie nutze den Prozess als Bühne zur Durchsetzung verfahrensfremder Zwecke. Dieser Einwand wäre jedoch zu kurz gegriffen, da auch die auf umfassende Sachaufklärung gerichtete Nebenklage mit den Zielen der Nebenklage in Einklang zu bringen ist. Die Nebenklage soll nach dem Willen des Gesetzgebers vor allem denjenigen Personen zukommen, „die nach kriminologischen und viktimologischen Erkenntnissen besonders schutzbedürftig erscheinen“.53 Ihnen soll die Möglichkeit gegeben werden, ihr Recht auf Gehör durch Einflussnahme auf das Verfahren auszuüben.54 Dies kann klassisch dadurch geschehen, dass der Nebenkläger seine Verfahrensrechte dahingehend ausübt, die aus seiner Sicht bestehende Verantwortung des Angeklagten zur Sprache zu bringen. Zulässig ist es aber auch, die Beteiligungsrechte mit dem Ziel auszuüben, die eigene Rechtsgutsverletzung in den Vordergrund zu stellen und die Rolle und Verantwortung von Zeugen thematisieren. Denn erst auf diese Weise kann es Verletzten in komplexen Strafverfahren gelingen, ihr Erleben und ihre Deutung der Tat vollumfassend zur Sprache bringen.
52
Zur Bindungswirkung der Anklage vgl. MüKo-StPO/Teßmer, Band II, 2016, § 155 Rn. 4. BT-Drs. 10/5305, S. 11. 54 BT-Drs. 10/5305, S. 11, 14.
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VI. Zusammenfassung Die auf umfassende Sachaufklärung gerichtete Nebenklage lässt sich auch deshalb mit der Gesetzeslage in Einklang bringen, da der Gesetzgeber bislang auf eine klare Funktionsbestimmung und verbindliche Eingrenzung der Nebenklage verzichtet hat.55 Dies ist nicht unproblematisch, da atypische Fälle der Nebenklage den Fokus des Prozesses von entscheidungserheblichen Fragen hin zu anklagefremden Interessen des Nebenklägers verschieben können. Die Folgen haben die übrigen Verfahrensbeteiligten zu tragen, von denen die größte Last den Angeklagten trifft. Denn dieser ist anders als der Nebenkläger zur Anwesenheit verpflichtet und daher besonders von einer auf Grund des atypischen Gebrauchs der Nebenklagebefugnisse möglichen Verfahrensverzögerung betroffen.56
55
Barton (Fn. 4), S. 49 (57). Konkret dürfte eine mögliche Verzögerung den Angeklagten im Loveparade-Verfahren nicht in jedem Falle ungelegen kommen, da am 27. Juli 2020 die absolute Verjährung eintritt. 56
Die Entbindung des Sachverständigen von der Gutachtenpflicht gem. § 76 Abs. 1 S. 2 StPO und der hierauf zielende Antrag der Verteidigung Von Tobias Lubitz
I. Bedeutung des Sachverständigenbeweises Die enorme und in einer komplexen, internationalisierten Welt weiter wachsende Bedeutung von Sachverständigen im Strafprozess ist allgemein anerkannt. Kaum ein umfangreiches Strafverfahren kommt ohne den Sachverständigenbeweis aus und häufig kommt dem Ergebnis eines Sachverständigengutachtens prozessentscheidende Bedeutung zu.1 Zugleich ist seit langem erforscht – und wird im deutschen wie ausländischen Rechtsraum immer wieder spektakulär bestätigt2 – wie fehleranfällig Sachverständigengutachten sind und welch gravierende Mängel an Sachkunde zu Fehlurteilen führen.3 Die für die Praxis des Strafverfahrens und gerade für die Verteidigung unermesslich wertvolle Arbeit des Jubilars4 hat in der Vergangenheit dazu beigetragen und wird in Zukunft dazu beitragen, dass sich die Zahl derartiger Fehlurteile reduziert. Ein bedeutender Teil der Arbeit des Jubilars widmet sich Beweisund dadurch auch Sachverständigenfragen. Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich insoweit mit der Frage, in welchen Situationen ein die Wahrheitsermittlung beschädigender Sachverständiger vom Gericht gem. § 76 Abs. 1 S. 2 StPO entbunden werden kann und wann ein entsprechender Antrag der Verteidigung zielführend ist.
1
Vgl. Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 10. Aufl. 2017, Rn. 1507 f. Zur Bedeutung des kriminaltechnischen Sachverständigen AK-StPO/Krekeler/Werner, 2. Aufl. 2010, Vor § 72 Rn. 8; LR/Krause, StPO, 27. Aufl. 2018, Band 2, Vor § 72 Rn. 4; Detter, NStZ 1998, 57; Fischer, NStZ 1994, 1 (2); dies gelte insbesondere vor den Landgerichten, Dölp, ZRP 2004, 235. 2 Siehe etwa ein aktuelles Urteil betr. der zivilrechtlichen Haftung für ein mangelhaftes, zu Strafhaft führendes aussagepsychologisches Gutachten, OLG Saarbrücken, Urt. v. 23. 11. 2017 – 4 U 26/15, BeckRS 2017, 133752. 3 Bis hin zu langjährigen Freiheitsstrafen, die auf gutachterlichen Ausführungen von „Pseudowissenschaftlern“ beruhen, siehe Neuhaus, in: Brüssow et al., Strafverteidigung in der Praxis, 4. Aufl. 2007, § 29 Rn. 20. Siehe umfassend: Eisenberg (Fn. 1), Rn. 1613 ff., 1811 ff.; Peters, Fehlerquellen im Strafprozess, Band II, 1972, S. 166 f. m.w.N. 4 Siehe nur die Rezension der 10. Aufl. von Beweisrecht der StPO durch Strate, NJW 2018, 1933.
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Zu Sachverständigen und zum Umgang der Verteidigung mit diesem Beweismittel findet sich viel Literatur.5 Die hier untersuchte Antragsmöglichkeit wird indes selbst in einschlägigen Handbüchern für das strafrechtliche Hauptverfahren und für Strafverteidiger nicht oder nur ganz am Rande erwähnt.6 Dies interessiert insofern, als Strafrechtspraktikern bekannt ist, dass Staatsanwaltschaft oder Gericht, welche Sachverständige erst einmal ausgewählt haben, gerne an diesen festhalten und jedenfalls nicht eigeninitiativ eine Entpflichtung vornehmen – selbst wenn die Gutachtenerstattung durch Sachverständige mitunter in erschreckend ungenügender Weise erfolgt.7 Der Druck, die Verfahrenszahl bei zu geringem Personal zu bewältigen8 und das Beschleunigungsgebot mögen dies in Teilen erklären. Sachverständige selbst werden aus nachvollziehbaren psychologischen Gründen kaum jemals auf ihren Mangel an Sachkunde oder unzulässige Interessenverfolgung hinweisen. Zudem fühlen sich Sachverständige häufig ihrem Auftraggeber verpflichtet, gerade wenn sie regelmäßig bestellt oder wenn sie schon zu frühem Verfahrenszeitpunkt als Helfer der Polizei tätig werden, wodurch ihnen eine unvoreingenommene Einstellung auch bei gutem Willen schwer fällt.9 5 Siehe etwa Detter, in: Bockemühl, Handbuch des Fachanwalts Strafrecht, 7. Aufl. 2018, 9. Teil m.w.N. 6 Nur kurz gestreift bei Detter (Fn. 5), Kapitel 34 Rn. 55. Auch bei Dahs wird nur auf die Ablehnung des Sachverständigen eingegangen, Dahs, Handbuch des Strafverteidigers, 8. Aufl. 2015, Rn. 227 ff. Nicht genannt auch bei Heghmanns/Scheffler, Handbuch zum Strafverfahren, 2008, VII. Kapitel, Rn. 656 ff. Übergangen etwa bei Kühne, Strafprozessrecht, 9. Aufl. 2015, Rn. 863. Indes wie hier Tsambikakis, in: Münchner Anwaltshandbuch Strafverteidigung, 2. Aufl. 2014, § 82 Rn. 42: „Die Vorschrift fristet zu Unrecht ein Schattendasein.“ Kurz findet sich eine Erörterung bei Burhoff, Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 8. Aufl. 2016, Rn. 35. 7 Bspw. Erscheinen des Sachverständigen ohne Vorbereitung und ohne schriftliches Gutachten, „Feststellungen“ ins Blaue hinein, Verwendung singulärer, nicht anerkannter Methodik, Unterbeauftragung nicht qualifizierter Hilfskräfte, die Sachverständiger aus Fußballverein kennt, lediglich scheinbare Erstellung des schriftlichen Gutachtens durch den Sachverständigen, der tatsächlich bereits den Beruf gewechselt hatte, Nennung der anerkannten Methodik im schriftlichen Gutachten, jedoch Einräumen der Nichtanwendung ebendieser in der mündlichen Gutachtenerstattung etc. Sämtliche aufgezählten Beispiele fanden im Rahmen einer einzigen strafrechtlichen Hauptverhandlung zu komplexen umweltstrafrechtlichen Fragestellungen statt. Freilich handelt es sich nicht um Einzelfälle. Sachverständige entstammen den unterschiedlichsten Berufen oder wissenschaftlichen Fachrichtungen und wie in jeder Profession oder Wissenschaft gibt es qualifiziertere und weniger qualifizierte Persönlichkeiten. Auch als besonders sachkundig bekannte Sachverständige können den Anschluss an Wissenschaftsstandards verlieren, vgl. LG Augsburg, StV 2014, 131 f. 8 Siehe nur Wohlers, NJW 2010, 2470. 9 Dahs (Fn. 6), Rn. 229; Eisenbergs Forderung nach der Verlässlichkeit des Sachverständigen ist zu unterstreichen: „Der Sachverständige hat ebenso wie die Staatsanwaltschaft bzw. die Polizei oder das Strafgericht ohne Bevorzugung irgendeiner Verfahrensseite und insbesondere ohne inhaltliche Bindung an etwaige Ergebniserwartungen seines Auftraggebers nach Wahrheit zu streben“, Eisenberg, NStZ 2006, 368 (369). Ein häufig anzunehmender „Schulterschluss“ zwischen Strafverfolgungsbehörden und deren üblicherweise herangezogenen Sachverständigen sei empirisch jedoch nicht erforscht, MüKo-StPO/Trück, 2014, Band 1, § 72 Rn. 2.
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In Bezug auf ungeeignete oder parteiische Sachverständige stehen dem Gericht verschiedene Handlungsoptionen und der Verteidigung verschiedene Anträge zur Verfügung. Hinsichtlich der Entbindung von der Pflicht zur Gutachtenerstattung gem. § 76 Abs. 1 S. 2 StPO bestehen ungeklärte Fragen (s. II. bis V.). Im Anschluss (s. VI.) ist zu beantworten, inwieweit der auf Entbindung zielende Antrag der Verteidigung ggf. als frühe Alternative zum Beweisantrag auf einen weiteren Sachverständigen oder Ablehnungsantrag, ggf. aber auch als einzig in Betracht kommende Möglichkeit besteht, ein fehlerhaftes Gutachten im Strafverfahren zu verhindern.
II. Entbindungsmöglichkeit und Antragsrecht Nach § 76 Abs. 1 S. 2 StPO kann ein Sachverständiger auch aus anderen Gründen als denen, die einen Zeugen berechtigen, das Zeugnis zu verweigern, von der Verpflichtung zur Erstattung des Gutachtens entbunden werden. Die Entbindung erfolgt auf Antrag eines Prozessbeteiligten, des Sachverständigen selbst oder von Amts wegen durch Beschluss.10
III. Zur Entbindung des Sachverständigen berechtigende Gründe Die Norm des seit Bestehen der StPO unveränderten11 § 76 Abs. 1 S. 2 StPO ist denkbar weit gefasst. Aus „anderen Gründen“ kann ein Sachverständiger entbunden werden. Anders als der Zeuge kann der Sachverständige grundsätzlich ohne Verlust für das Wahrheitsermittlungsziel ausgetauscht werden. Aus der Entstehungsgeschichte der Norm ergibt sich, dass es sich bei § 76 StPO insgesamt nicht lediglich um eine Schutzvorschrift zugunsten des Sachverständigen handelt.12 Der mehrfach neu gefasste § 76 Abs. 2 StPO bezieht etwa Behördeninteressen mit ein. Zwar sind die in § 76 Abs. 1 S. 1 StPO genannten Gründe der Gutachtenverweigerung typischerweise solche, die den Sachverständigen vor Gewissenskonflikten bzw. vor Bruch beruflicher Vertrauensverhältnisse13 schützen. Absatz 1 Satz 2 erlaubt nun aber gerade eine Entpflichtung aus „anderen Gründen“. Dies ist auch sinnvoll: Dienen Sachverständige dem Gericht, bei der Wahrheitsfindung mangelnde Sachkunde 10
Eisenberg (Fn. 1), Rn. 1586; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 61. Aufl. 2018, § 76 Rn. 3; KK-StPO/Senge, 7. Aufl. 2013, § 76 Rn. 4; SK-StPO/Rogall, 5. Aufl. 2018, Band I, § 76 Rn. 14 f. 11 Siehe dazu die Fassung der StPO, Deutsches Reichsgesetzblatt Band 1877, Nr. 8, S. 266; vgl. SK-StPO/Rogall (Fn.10), § 76 Rn. 4 f. 12 Vgl. Hahn, Die gesamten Materialien zur Strafprozeßordnung und dem Einführungsgesetz zu derselben vom 1. Februar 1877, 2. Aufl. 1885, I S. 122; § 76 Abs. 2 StPO wurde neu gestaltet durch Art. 3 Nr. 31 des „Rechtsvereinheitlichungsgesetzes v. 12. 09. 1950, BGBl. I S. 455 (481); SK-StPO/Rogall (Fn. 10), § 76 Rn. 4 f. 13 Siehe aber Meyer-Goßner/Schmitt, StPO (Fn. 10), § 76 Rn. 2 einschränkend betreffend die Befundtatsachen des ärztlichen Sachverständigen.
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auszugleichen,14 muss das Gericht die Möglichkeit haben, Sachverständige wieder zu entbinden, die diesem Ziel nicht hilfreich sind. Mithin wird § 76 Abs. 1 S. 2 StPO weit, ja, als Generalklausel,15 verstanden. Die zahlreichen Gründe, die das Gericht berechtigen, einen Sachverständigen von der Gutachtenpflicht zu entbinden, lassen sich entsprechend der beiden wesentlichen Normzwecke unter zwei Hauptkategorien fassen. 1. Im Interesse des Sachverständigen liegende Gründe16 § 76 Abs. 1 S. 2 StPO dient auch dem Schutz des Sachverständigen, der keiner übermäßigen oder unverhältnismäßigen Inanspruchnahme ausgesetzt sein soll,17 bei Unzumutbarkeit ist eine Entbindung möglich.18 Beispiele hierfür sind berufliche Überlastung,19 Notwendigkeit eines Erholungsurlaubs,20 Krankheit,21 hohes Alter,22 Wohnsitz oder Arbeitsort in großer Entfernung zu Begutachtungsort oder Gericht.23 Kein Entbindungsgrund wird angenommen, falls die Sachverständigenvergütung als zu gering empfunden wird.24
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Vgl. Eisenberg (Fn. 1), Rn. 1500. BGH, StraFo 2003, 198 (199); Schmidt, Lehrkommentar zur Strafprozeßordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz, Teil II: Erläuterungen zur Strafprozeßordnung und zum Einführungsgesetz zur Strafprozeßordnung, 1957, § 76 Rn. 3; SK-StPO/Rogall (Fn. 10), § 76 Rn. 12. 16 Vgl. Schmidt, Lehrkommentar (Fn. 15), § 76 Rn. 3: „Befreiungsinteresse des Sachverständigen“; SK-StPO/Rogall (Fn. 10), § 76 Rn. 17: „in der Person des Sachverständigen ihren Ursprung haben“; „Wenn die Gutachterpflicht für den Sachverständigen eine Härte bedeuten würde“: KK-StPO/Senge (Fn. 10), § 76 Rn. 4. 17 Ulrich, Der gerichtliche Sachverständige, 12. Aufl. 2007, Rn. 176; SK-StPO/Rogall (Fn. 10), § 76 Rn. 13. 18 Eisenberg (Fn. 1), Rn. 1586; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO (Fn. 10), § 76 Rn. 3. 19 Bleutge, DRiZ 1977, 172; Schwung, ZSW 1982, 147; LR/Krause, StPO (Fn. 1), § 76 Rn. 4; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO (Fn. 10), § 76 Rn. 3; AK-StPO/Krekeler/Werner (Fn. 1), § 76 Rn. 4; SK-StPO/Rogall (Fn. 10), § 76 Rn. 17; Eisenberg (Fn. 1), Rn. 1586; KK-StPO/ Senge (Fn. 10), § 76 Rn. 4. 20 Eisenberg (Fn. 1), Rn. 1586. 21 SK-StPO/Rogall (Fn. 10), § 76 Rn. 17. 22 Eisenberg (Fn. 1), Rn. 1586; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO (Fn. 10), § 76 Rn. 3; LR/ Krause, StPO (Fn. 1), § 76 Rn. 4; SK-StPO/Rogall (Fn. 10), § 76 Rn. 17; KK-StPO/Senge (Fn. 10), § 76 Rn. 4. 23 SK-StPO/Rogall (Fn. 10), § 76 Rn. 17. 24 Eisenberg (Fn. 1), Rn. 1586: „nach allgemeiner Auffassung staatsbürgerliche Pflicht“. 15
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2. Im Rechtspflegeinteresse liegende Gründe25 Für die Verteidigung von größerer Bedeutung sind jene Gründe, die im Rechtspflegeinteresse liegen. Die Generalklausel ermöglicht eine Entbindung des austauschbaren Sachverständigen im Interesse der Wahrheitsfindung, der Rechtsstaatlichkeit oder des Beschleunigungsgrundsatzes. So kann das Gericht Sachverständige von der Gutachtenpflicht entbinden, wenn Bedenken gegen die Unbefangenheit des Sachverständigen bestehen, aber kein Ablehnungsantrag gestellt wurde,26 allgemein bei mangelnder Eignung,27 bei mangelnder Sachkunde28 sowie bereits bei Zweifeln hieran,29 des Weiteren wenn sich herausstellt, dass das vom Sachverständigen vertretene Fachgebiet für die Beantwortung der Beweisfrage nicht einschlägig ist,30 oder das Gericht einen noch sachkundigeren Sachverständigen ausfindig gemacht hat,31 bzw. die Heranziehung eines geeigneteren Sachverständigen möglich erscheint,32 sodann im Falle der Unmöglichkeit, das Gutachten in angemessener Zeit zu erstatten,33 schließlich, wenn das Gericht das 25
Kategorie aus Schmidt, Lehrkommentar (Fn. 15), § 76 Rn. 3 sowie SK-StPO/Rogall (Fn. 10), § 76 Rn. 17; LR/Krause, StPO (Fn. 1), § 76 Rn. 4: „Entbindung kann auch im Interesse der Sache geboten sein“. 26 SK-StPO/Rogall (Fn. 10), § 76 Rn. 17; Eisenberg (Fn. 1), Rn. 1586; LR/Krause, StPO (Fn. 1), § 76 Rn. 4; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO (Fn. 10), § 76 Rn. 3; AK-StPO/Krekeler/ Werner (Fn. 1), § 76 Rn. 4; SSW-StPO/Bosch, 3. Aufl. 2018, § 76 Rn. 3. 27 SSW-StPO/Bosch (Fn. 26), § 76 Rn. 3; Eisenberg (Fn. 1), Rn. 1586 sowie grds. zur Ungeeignetheit Rn. 1537; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO (Fn. 10), § 76 Rn. 3; HK-StPO/ Brauer, 5. Aufl. 2012, § 76 Rn. 3. Als Extremfall beispielhaft u. a. für das Merkmal der Ungeeignetheit ist eine Entbindungsentscheidung des LG Augsburg (StV 2014, 131 f.): „In der hiesigen Hauptverhandlung hat sich der Sachverständige A. allerdings als ungeeignet zur Erstattung des Prognosegutachtens erwiesen. Er zeigte sich den Anforderungen nicht gewachsen und blieb wiederholt Antworten schuldig. Der Sachverständige A. äußerte sich in der Hauptverhandlung hinsichtlich seines Auftrages, dass er nicht gewusst habe, wo ihm der Kopf stehe und er den Auftrag nicht angenommen hätte, wenn er vorher gewusst hätte, was auf ihn zukomme. Eine derart laxe Einstellung ist, insbesondere im Hinblick auf die Bedeutung und Tragweite eines derartigen Verfahrens, nicht tragbar. Der Sachverständige A. hat auch Prognoseinstrumente angewendet, hinsichtlich deren Durchführung ihm nach eigenem Bekunden die Sachkunde fehlt.“ 28 BGH, StraFo 2003, 198 (199); LG Augsburg, StV 2014, 131 (132); SK-StPO/Rogall (Fn. 10), § 76 Rn. 17; vgl. auch KK-StPO/Senge (Fn. 10), § 76 Rn. 4. 29 So betr. die Eignung Eisenberg (Fn. 1), Rn. 1586. Die Generalklausel ist bewusst weit ausgestaltet, es wäre eine Überspannung der Voraussetzungen und praxisfremd, wenn das Gericht zur Entpflichtung dem Sachverständigen vollkommene Ungeeignetheit oder Sachunkunde attestieren müsste. Auch im Übrigen versteht die StPO die Frage so, dass bereits Zweifel genügen, siehe § 244 Abs. 4 S. 2 Hs. 2 StPO sowie die herrschende Ansicht zu § 83 Abs. 1 StPO, siehe Meyer-Goßner/Schmitt, StPO (Fn. 10), § 83 Rn. 2. 30 SK-StPO/Rogall (Fn. 10), § 76 Rn. 17. 31 LR/Krause, StPO (Fn. 1), § 76 Rn. 4. 32 SSW-StPO/Bosch (Fn. 26), § 76 Rn. 3. 33 Eisenberg (Fn. 1), Rn. 1586; LR/Krause, StPO (Fn. 1), § 76 Rn. 4; Meyer-Goßner/ Schmitt, StPO (Fn. 10), § 76 Rn. 3.
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Gutachten nicht mehr für erforderlich hält,34 sowie ggf. auch im Falle eines Pflichtenkonflikts des Sachverständigen.35 Bezüglich der besonders relevanten Merkmale der zweifelhaften Sachkunde bzw. Eignung des Sachverständigen, welche die Wahrheitsermittlung wesentlich torpedieren können, ist es möglich, auf die bestehenden Erkenntnisse zu § 244 Abs. 4 S. 2 Hs. 2 StPO zurückzugreifen. Die Gründe, die zur Anhörung eines weiteren Sachverständigen zwingen, sind insoweit regelmäßig deckungsgleich mit den Gründen der Entbindung des (ersten) Sachverständigen. Derartige Gründe gem. § 244 Abs. 4 S. 2 Hs. 2 StPO sind anzunehmen, wenn die Methodik nicht offengelegt werden kann, eine Meinung ohne nachvollziehbare Begründung geändert wird und ohne Begründung von anerkannten wissenschaftlichen Erkenntnissen abgewichen wird,36 ein Ergebnis als „sicher“ dargestellt wird, obwohl tatsächlich unzulängliche Quellen bestehen,37 das sachverständige Gutachten nicht den wissenschaftlichen Erkenntnissen entspricht,38 oder ein anderer Sachverständiger über überlegene Forschungsmittel verfügt.39 Zweifel an der Sachkunde des ersten Sachverständigen bestehen jedoch nicht, wenn das mündliche Gutachten vom schriftlichen Gutachten abweicht,40 bestimmte Untersuchungsmethoden nicht genutzt wurden41 oder der Sachverständige Gerichtsentscheidungen nur unter Schwierigkeiten auslegt.42
IV. Zeitpunkt der Entbindung Neben den Entbindungsgründen, die stets nach den Umständen des Einzelfalls zu prüfen sind, ist die Frage problematisch, ob die Entbindungsmöglichkeit vom Verfahrensstadium abhängig ist. 34
LR/Krause, StPO (Fn. 1), § 76 Rn. 4. Eisenberg (Fn. 1), Rn. 1586: Sachverständiger ist etwa zu einer dem tatgerichtlichen Urteil nachfolgenden Beweisfrage wie der nachträglichen Sicherungsverwahrung beauftragt, hat aber Zweifel an der Täterschaft. 36 BGH, NStZ 1999, 630 (631). 37 Eisenberg (Fn. 1), Rn. 258. 38 BGH, StV 1989, 335 (336). 39 Meyer-Goßner/Schmitt, StPO (Fn. 10), § 244 Rn. 76. Hinsichtlich der einem anderen Sachverständigen zur Verfügung stehenden Forschungsmittel ist zu bemerken, dass dies sich nur auf die zur Verfügung stehenden Hilfsmittel und nicht die persönliche Sachkunde des weiteren Sachverständigen bezieht, siehe Meyer-Goßner/Schmitt, StPO (Fn. 10), § 244 Rn. 76; BGHSt 23, 176 (186). 40 BGHSt 8, 113 (115 f.). Die Widersprüche müssen jedoch weiter aufgeklärt werden, wenn in den entscheidenden Punkten Widersprüche bestehen oder der Sachverständige die Sache gänzlich anders bewertet, BGH, NStZ 1990, 244 und BGH, NStZ 1991, 448 (449). Auch nach der Rechtsprechung des EGMR gebietet es das Gebot des fairen Verfahrens, dass ein weiterer Sachverständiger gehört wird, wenn das mündliche Gutachten im Vergleich zum schriftlichen Gutachten eine „Kehrtwende“ darstellt, EGMR, StraFo 2002, 81. 41 BGH, GA 1961, 241 (242). 42 BGHSt 23, 176 (185). 35
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1. Zeitlicher Rahmen der Entbindungsmöglichkeit gem. § 76 Abs. 1 S. 2 StPO Der Wortlaut sieht keinerlei zeitlichen Rahmen vor und scheint eine Entpflichtung „aus anderen Gründen“ nicht nur vor, während, sondern auch noch nach der Gutachtenerstattung zu ermöglichen. a) Systematisch könnte man aus der Nähe zu § 76 Abs. 1 S. 1 StPO folgern, dass eine Entbindung lediglich vor Beginn der Gutachtenerstattung erfolgen kann. So könnte man in der Formulierung „aus anderen Gründen“ in § 76 Abs. 1 S. 2 StPO eine Bezugnahme auf die Verweigerungsmöglichkeit für Sachverständige in § 76 Abs. 1 S. 1 StPO sehen und schlussfolgern, dass eine Entpflichtung nur vor der Gutachtenerstattung möglich sein soll.43 Immerhin gibt § 76 Abs. 1 S. 1 StPO Sachverständigen das Recht, die Gutachtenerstattung aus (weitgehend) denselben Gründen zu verweigern, aus denen Angehörige und Berufsgeheimnisträger das Zeugnis verweigern dürfen (§§ 52, 53, 53a StPO). Diese Rechte werden typischerweise vor der Zeugenvernehmung geltend gemacht. Indes ist dies nicht zwingend. Einerseits wird Zeugen zuerkannt, sowohl die Erklärung eines Zeugnisverweigerungsrechts wie auch den Verzicht auf ein Zeugnisverweigerungsrecht später zu widerrufen, auch während der Vernehmung.44 Mitunter wird auch erst während der Vernehmung klar, ob ein Zeugnisverweigerungsrecht überhaupt besteht bzw. wie weit es reicht. Ausdrücklich geregelt ist der Fall einer zulässigen späteren Verweigerung bei einer neuen Vernehmung in § 252 StPO. Im Umkehrschluss ist eine zeitliche Flexibilität bei der Ausübung von Zeugnisverweigerungsrechten gesetzlich ermöglicht. Aus den gesetzlichen Regelungen zum Zeugnisverweigerungsrecht lässt sich damit kein zwingender Zeitpunkt für die Stellung des Antrags ableiten. Auch teleologisch ist kein Argument ersichtlich, warum die Möglichkeit einer Entbindung lediglich vor der Gutachtenerstattung bestehen sollte. Im Gegenteil: Der Zweck des § 76 StPO besteht darin, verschiedenste übergeordnete Interessen zu bezeichnen, hinter denen die Sachverständigenpflicht zurücktritt,45 die Norm wurde historisch gerade nicht nur im Interesse der Sachverständigen ausgestaltet.46 Ohnehin ist die Rolle der Sachverständigen im Strafverfahren flexibilisiert. Anders als Zeugen sind Sachverständige austauschbar. Es kommt nicht auf deren situative Wahrnehmungen an, sondern auf die konstante Sachkunde. Bezieht man den 43
BGH, StraFo 2003, 198 f. erwähnt dieses Argument, trifft aber eine klare Aussage nur insofern, als § 76 Abs. 1 S. 2 StPO nach erstattetem Gutachten nicht mehr anwendbar sein soll. MüKo-StPO/Trück (Fn. 9), § 76 Rn. 3, hält eine Entbindung nur „vor Erstattung des Gutachtens“ für möglich. 44 Siehe nur Meyer-Goßner/Schmitt, StPO (Fn. 10), § 52 Rn. 22 m.w.N.; BGH, NJW 1961, 1484; BGH, NStZ 1985, 13. Siehe zu § 53 StPO Meyer-Goßner/Schmitt, StPO (Fn. 10), § 53 Rn. 42. 45 SK-StPO/Rogall (Fn. 10), § 76 Rn. 2. 46 Insbesondere der Schutz dienstlicher Interessen ist in § 76 Abs. 2 StPO (weiter)entwickelt worden, siehe Art. 3 Nr. 31 des „Rechtsvereinheitlichungsgesetzes“ v. 12. 09. 1950, BGBl. I S. 455 (481); SK-StPO/Rogall (Fn. 10), § 76 Rn. 4 ff.
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Zweck des Sachverständigengutachtens insgesamt mit ein, nämlich im Interesse der Wahrheitsermittlung die fehlende Sachkunde beim Gericht auszugleichen,47 so muss ein Gericht zeitlich ungebunden sein, sich sachunkundiger Sachverständiger wieder zu entledigen. Ein sonstiges Interesse an einer weiteren Gutachtenerstattung, welches höher eingeordnet werden könnte als das Interesse an der Wahrheitsermittlung, ist nicht ersichtlich.48 Auch in Anbetracht der sonstigen Zwecke und Maximen des Strafverfahrens (etwa des Beschleunigungsgebotes, des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und des fairen, rechtsstaatlichen Verfahrens) kann ein Gericht nicht gezwungen sein, einen ungeeigneten Sachverständigen, ggf. über viele Hauptverhandlungstage hinweg, weiter ein Gutachten erstatten zu lassen, obwohl hierdurch keine Sachkunde übermittelt werden kann. Man denke nur an komplexe Wirtschaftsstrafverfahren oder Umweltstrafprozesse, in welchen die Gutachtenerstattung dutzende Hauptverhandlungstage in Anspruch nehmen kann. Dies ist auch eine Konsequenz des Mündlichkeitsprinzips. Denn wenn das Gutachten grundsätzlich mündlich zu erstatten ist, so muss auch die Sachkunde sich grundsätzlich an der mündlichen Erörterung des Sachverständigen bemessen lassen. Damit steht fest, dass § 76 Abs. 1 S. 2 StPO jedenfalls nicht nur vor Beginn der Gutachtenerstattung anwendbar ist. Die zeitliche Flexibilität der Entbindung entspricht der flexibilisierten Rolle der Sachverständigen im Strafverfahren.49 b) Eine zeitliche Grenze ist jedoch nach Erstattung des Gutachtens gegeben. Die Entbindung nach § 76 Abs. 1 S. 2 StPO ist nicht mehr möglich, wenn das Gutachten abschließend erstattet wurde (und derselbe Sachverständige nicht für weitere/ergänzende Gutachten bereits beauftragt ist). In dieser Situation geht § 83 Abs. 1 StPO (und ein entsprechender Antrag der Verteidigung) systematisch vor, welcher die Anordnung eines neuen Gutachtens ermöglicht, wenn der Richter das Gutachten für ungenügend erachtet.50 Wird allerdings die neue Begutachtung durch denselben Sachverständigen angeordnet, ist wieder Raum für § 76 Abs. 1 S. 2 StPO. c) Dazwischen steht die zeitliche Frage, wie mit einem bereits geladenen und erschienenen Sachverständigen umzugehen ist. Selbstverständlich ist hiermit nicht der 47
Vgl. Eisenberg (Fn. 1), Rn. 1500. Dies wird jedenfalls dann gelten, wenn der Sachverständige wegen Zweifeln an seiner Sachkunde entbunden werden soll. Müsste hingegen ein umfangreiches Gutachten neu erstellt werden, da ein Sachverständiger Gründe wie Alter, entfernter Wohnort usw. benennt, käme zumindest eine intensivere Abwägung mit den Kosteninteressen und dem Beschleunigungsgrundsatz in Betracht. Genauso könnte in solchen Fällen eine Rolle spielen, dass der Sachverständige ggf. eine besonders selten anzutreffende Sachkunde vermitteln kann. 49 So wohl auch die ganz h.M. In den Kommentierungen zu § 76 StPO findet sich nahezu durchgängig lediglich die Position, dass eine Entbindungsmöglichkeit nach Erstattung des Gutachtens ausgeschlossen ist, vgl. Eisenberg (Fn. 1), Rn. 1586; LR/Krause, StPO (Fn. 1), § 76 Rn. 6; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO (Fn. 10), § 76 Rn. 3; KK-StPO/Senge (Fn. 10), § 76 Rn. 4. Zeitlich ebenfalls weit: LG Augsburg, StV 2014, 131 f. A.A. MüKo-StPO/Trück (Fn. 9), § 76 Rn. 3: Nur vor Erstattung möglich. 50 Wohl unstreitig: BGH, StraFo 2003, 198 f.; LR/Krause, StPO (Fn. 1), § 76 Rn. 6; MeyerGoßner/Schmitt, StPO (Fn. 10), § 76 Rn. 3; KK-StPO/Senge (Fn. 10), § 76 Rn. 4. 48
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Fall gemeint, dass ein Sachverständiger über mehrere Hauptverhandlungstermine hinweg das Gutachten erstattet und noch zu weiteren Terminen geladen ist und nun in einem „Zwischentermin“ oder außerhalb der Hauptverhandlung entbunden werden soll. Dem steht nichts entgegen. Bei dem zu einem bestimmten Hauptverhandlungstermin geladenen Sachverständigen, der auch tatsächlich zu diesem Termin erschienen ist, geht jedoch § 245 StPO dem Anwendungsbereich des § 76 Abs. 1 S. 2 StPO vor.51 Dies ergibt sich aus einem Vergleich des Wortlauts von § 76 Abs. 1 S. 2 StPO („kann entbunden werden“ und dem Wortlaut des § 245 Abs. 1 StPO, wonach die Beweisaufnahme auf den geladenen und präsenten Sachverständigen „zu erstrecken ist.“). Auch der Zweck des § 245 Abs. 1 StPO, zu verhindern, dass die Prozessbeteiligten in Anbetracht der gerichtlichen Ladung eine eigene Ladung oder einen eigenen Beweisantrag unterlassen, spricht dafür, § 245 StPO den Vorrang einzuräumen,52 so dass in dieser Verfahrenssituation für eine Entbindung gem. § 76 Abs. 1 S. 2 StPO das Einverständnis aller Prozessbeteiligten erforderlich ist. 2. Entbindung nach unmittelbarer Ladung durch Prozessbeteiligten Fraglich ist, inwieweit eine Entbindungsmöglichkeit gem. § 76 Abs. 1 S. 2 StPO besteht, wenn der Sachverständige durch einen Prozessbeteiligten unmittelbar geladen (§ 214 Abs. 3, § 220 Abs. 1 StPO) ist. Die Gründe für eine Entbindung53 können in dieser prozessualen Situation in gleicher Form vorliegen, so dass man von einer identischen Entbindungsmöglichkeit auch hier ausgehen könnte.54 Indes würde im Falle einer unbeschränkten Anwendungsmöglichkeit des äußerst weit gefassten § 76 Abs. 1 S. 2 StPO („aus anderen Gründen“) eine missbräuchliche Anwendung drohen, um den Prozessbeteiligten die Möglichkeit der Selbstladung zu vereiteln.55 Darum ist in Fällen der unmittelbaren Ladung eines Prozessbeteiligten ein Antrag dieses Prozessbeteiligten selbst oder des Sachverständigen auf Entbindung nötig, damit das Gericht gem. § 76 Abs. 1 S. 2 StPO verfahren kann.56 51 Offengelassen in BGH, StraFo 2003, 198 f. – siehe die entscheidende Stelle im Ganzen zitiert bei „Beck online“ – BGH, Beschl. v. 16. 01. 2003 – 1 StR 512/02, BeckRS 2003, 02850. Für Vorrang des § 245 StPO: Eisenberg (Fn. 1), Rn. 1586; LR/Krause, StPO (Fn. 1), § 76 Rn. 6; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO (Fn. 10), § 76 Rn. 3; SK-StPO/Rogall (Fn. 10), § 76 Rn. 15; AK-StPO/Krekeler/Werner (Fn. 1), § 76 Rn. 4; a.A. für Vorrang des § 76 Abs. 1 S. 2 StPO: KK-StPO/Senge (Fn. 10), § 76 Rn. 4. 52 MüKo-StPO/Trück (Fn. 9), § 76 Rn. 5. 53 Siehe oben unter III. 54 Hierfür Müller, Der Sachverständige im gerichtlichen Verfahren – Handbuch des Sachverständigenbeweises, 3. Aufl. 1988, Rn. 466; KK-StPO/Senge (Fn. 10), § 76 Rn. 4. 55 Vgl. LR/Krause, StPO (Fn. 1), § 76 Rn. 5; SK-StPO/Rogall (Fn. 10), § 76 Rn. 15. 56 Ganz h.M.: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO (Fn. 10), § 76 Rn. 3; Eisenberg (Fn. 1), Rn. 1586; LR/Krause, StPO (Fn. 1), § 76 Rn. 5; SK-StPO/Rogall (Fn. 10), § 76 Rn. 15; HK-
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V. § 76 Abs. 1 S. 2 StPO in Beschwerde und Revision Der Beschluss, der den Sachverständigen von der Gutachtenerstattung nach § 76 Abs. 1 S. 2 StPO entbindet, kann außerhalb der Hauptverhandlung von den Verfahrensbeteiligten mit der Beschwerde gem. § 304 Abs. 1 StPO angefochten worden.57 Anfechtungsberechtigt bezüglich des Entbindungsbeschlusses ist jedoch nicht der Sachverständige selbst, da er durch die Entbindung nicht beschwert ist.58 In der Hauptverhandlung gilt § 305 S. 1 StPO, so dass die Beschwerde der Verfahrensbeteiligten hier ausgeschlossen ist.59 Der Sachverständige selbst kann nur hinsichtlich eines von ihm gestellten und abgelehnten Entbindungsantrags Beschwerde nach § 304 Abs. 2 StPO einlegen, dies nach § 305 S. 2 StPO auch in der Hauptverhandlung.60 Diesbezügliche Beschlüsse des OLG sind nach § 304 Abs. 4 S. 2 StPO der Beschwerde jedoch gänzlich entzogen.61 Eine weitere Beschwerde ist ausgeschlossen, § 310 StPO.62 Vom Beschwerdegericht wird die angefochtene Entscheidung in vollem Umfang, d. h. auch bezüglich der Ermessensausübung, überprüft.63 In der Revision kann durch die Aufklärungsrüge (Verstoß gegen § 244 Abs. 2 StPO) gerügt werden, dass der Sachverständige nach § 76 Abs. 1 S. 2 StPO rechtsfehlerhaft von der Gutachtenerstattung entbunden oder nicht entbunden wurde.64 Zur Begründung muss ausgeführt werden, dass das Gericht bei der Entbindung oder Nichtentbindung sein Ermessen fehlerhaft ausgeübt hat und das Urteil auf diesem Fehler beruht.65 Bei Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht ist regelmäßig das Beruhen des Urteils auf dem Fehler anzunehmen, falls nicht ein anderer Sachverständiger mit dem gleichen Gutachtenauftrag herangezogen wurde.66
StPO/Brauer (Fn. 27), § 76 Rn. 3; restriktiver hingegen MüKo-StPO/Trück (Fn. 9), § 76 Rn. 4: § 76 Abs. 1 S. 2 StPO nicht anwendbar. 57 Meyer-Goßner/Schmitt, StPO (Fn. 10), § 76 Rn. 6; MüKo-StPO/Trück (Fn. 9), § 76 Rn. 11. 58 KK-StPO/Senge (Fn. 10), § 76 Rn. 5; MüKo-StPO/Trück (Fn. 9), § 76 Rn. 11. 59 BeckOK-StPO/Monka, 29. Edition 01. 01. 2018, § 76 Rn. 4. 60 Meyer-Goßner/Schmitt, StPO (Fn. 10), § 76 Rn. 6; KK-StPO/Senge (Fn. 10), § 76 Rn. 5. 61 KK-StPO/Senge (Fn. 10), § 76 Rn. 5. 62 Meyer-Goßner/Schmitt, StPO (Fn. 10), § 76 Rn. 6. 63 BeckOK-StPO/Monka (Fn. 59), § 76 Rn. 4; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO (Fn. 10), § 76 Rn. 6. 64 Meyer-Goßner/Schmitt, StPO (Fn. 10), § 76 Rn. 7; BeckOK-StPO/Monka (Fn. 59), § 76 Rn. 5. 65 KK-StPO/Senge (Fn. 10), § 76 Rn. 6; MüKo-StPO/Trück (Fn. 9), § 76 Rn. 12. 66 KK-StPO/Senge (Fn. 10), § 76 Rn. 6.
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VI. Der Antrag der Verteidigung 1. Frühe Antragstellung Aufgrund der Streitfragen und noch keiner gefestigten Rechtsprechung bzgl. des zeitlichen Rahmens erscheint es für den Antrag der Verteidigung auf Entbindung gem. § 76 Abs. 1 S. 2 StPO zielführend (um zumindest eine inhaltliche Ermessensentscheidung des Gerichts zu erreichen), diesen Antrag so früh wie möglich zu stellen, dies nicht in dem Termin zu tun, in dem der Sachverständige präsent ist (wegen § 245 Abs. 1 StPO) und nicht erst, wenn das Gutachten bereits erstattet ist (wegen § 83 Abs. 1 StPO). Letzteres bedeutet, dass der Antrag spätestens vor dem Moment der Entlassung des Sachverständigen zu stellen ist.67 Wird der Antrag bereits im Vorverfahren gestellt und war Auftraggeber des Sachverständigen im Vorverfahren die Staatsanwaltschaft, so entscheidet diese.68 2. Antrag im Verhältnis zu anderen Antragsmöglichkeiten und taktische Gesichtspunkte Die Antragsmöglichkeit gem. § 76 Abs. 1 S. 2 StPO besteht im Vorfeld, als Alternative oder als alleinige Möglichkeit im Verhältnis zu dem Ablehnungsantrag gem. § 74 StPO, dem Antrag gem. § 83 StPO und dem Beweisantrag auf einen weiteren Sachverständigen gem. § 244 Abs. 4 S. 2 Hs. 2 StPO. a) Allein der Entbindungsantrag gem. § 76 Abs. 1 S. 2 StPO kommt in Betracht, wenn im Interesse des Sachverständigen liegende Gründe (Krankheit, Überlastung, Alter) vorliegen.69 Ebenso ausschließlich passend ist ein Antrag auf Entbindung gem. § 76 Abs. 1 S. 2 StPO bei den im Rechtspflegeinteresse liegenden Gründen, welche nicht zugleich für andere Anträge anerkannt sind (Fachgebiet für Beweisfrage nicht einschlägig, Gutachten kann nicht in angemessener Zeit erstattet werden, Gutachten erscheint nicht mehr erforderlich, Pflichtenkonflikt des Sachverständigen sowie wohl auch, wenn das Gericht einen noch sachkundigeren Sachverständigen ausfindig gemacht hat oder die Heranziehung eines geeigneteren Sachverständigen möglich erscheint).70 b) Im Verhältnis zu einem Ablehnungsantrag wegen der Besorgnis der Befangenheit (§ 74 StPO) ist allein § 76 Abs. 1 S. 2 StPO einschlägig, wenn es um mangelhafte Sachkunde geht. Denn der Mangel an Sachkunde ist nicht als „Befangenheitsgrund“ anerkannt, sondern soll (außerhalb der Frage des § 76 Abs. 1 S. 2 StPO)
67
Vgl. Ahmed, Anm. zu LG Augsburg, Beschl. v 16. 07. 2012, StV 2014, 132 (133). SK-StPO/Rogall (Fn. 10), § 76 Rn. 14; Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 7. Aufl. 2015, Rn. 1897. 69 Siehe im Einzelnen mit Nachweisen oben unter III. 70 Siehe im Einzelnen mit Nachweisen oben unter III. 68
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nur zur Anhörung eines weiteren Sachverständigen führen.71 Daher ist der Antrag gem. § 76 Abs. 1 S. 2 StPO zu stellen, falls frühzeitig darauf abgezielt wird, einen bestimmten Sachverständigen entbinden zu lassen.72 Überschneidungen zum Ablehnungsantrag bestehen insofern, als anerkannte Gründe für eine Entbindung nach § 76 Abs. 1 S. 2 StPO auch nicht geltend gemachte Ablehnungsgründe73 i.S.d. § 74 StPO sind. Hier wird aus taktischen Gründen zu dem Entbindungsantrag nach § 76 Abs. 1 S. 2 StPO geraten, wenn der Sachverständige befangen erscheint, der Sachverständige aber nicht mit einem (häufig erfolglosen und in der Formulierung scharfen) Ablehnungsantrag verärgert werden soll.74 Freilich bedarf dies wegen der revisionsrechtlich anderen Folgen sehr genauer Überlegung. Steht bereits im Ermittlungsverfahren ein Ablehnungsgrund gem. § 74 StPO fest und soll nicht weiter zugewartet werden, kann in diesem Verfahrensstadium ausschließlich mit dem Antrag gem. § 76 Abs. 1 S. 2 StPO an die Staatsanwaltschaft vorgegangen werden,75 da nach der noch überwiegenden Ansicht und Rechtsprechung ein Ablehnungsantrag erst gestellt werden kann, wenn die Sache gerichtlich anhängig ist.76 Nach der Gutachtenerstattung kann der Entbindungsantrag nicht mehr gestellt werden, wohl aber der Ablehnungsantrag.77 c) Trotz inhaltlich starker Überschneidungen mit der 2. Gruppe der Entbindungsgründe des § 76 Abs. 1 S. 2 StPO (Ungeeignetheit/mangelnde Sachkunde) schließen sich der Antrag gem. § 76 Abs 1 S. 2 StPO und der Antrag auf neue Begutachtung gem. § 83 Abs. 1 StPO wegen ungenügenden Gutachtens zeitlich gegenseitig
71
BGH, NStZ-RR 2009, 3; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO (Fn. 10), § 74 Rn. 1. Ahmed, Anm. zu LG Augsburg Beschl. v 16. 07. 2012, StV 2014, 132 (133). 73 Umfassend hierzu Eisenberg, NStZ 2006, 368 (371 ff.). Nach Eisenberg können diesbezügliche Ablehnungsgründe insbesondere aus einem dem Gutachtenauftrag vorausgegangenen Verhalten (v. a. Handlungen, die ein persönliches Strafverfolgungsinteresse des Sachverständigen nahelegen), aus spezifischen Fehlern beim sachverständigen Vorgehen (z. B. unberechtigte Eingriffe oder Drohungen), aus dominanten Eigenbelangen (etwa wenn das Ergebnis des Gutachtens an eigene wirtschaftliche Ziele angepasst wird) und wegen Kompetenzüberschreitungen (z. B. eigene rechtliche Würdigungen, Verkennung grundlegender Prinzipien des Strafverfahrensrechts) abzuleiten sein. 74 Burhoff (Fn. 6), Rn. 35. 75 Ausführlich hierzu Burhoff (Fn. 68), Rn. 1895 ff. mit Antragsmuster für diese Verfahrenssituation (Rn. 1898). 76 BGH, VRS 29, 26; vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO (Fn. 10), § 74 Rn. 12; a.A. mit umfassender Begründung und weiteren Nw. Eisenberg, NStZ 2006, 373 f. 77 Meyer-Goßner/Schmitt, StPO (Fn. 10), § 74 Rn. 12. Letztmöglicher Zeitpunkt für die Stellung ist der Schluss der Beweisaufnahme, siehe MüKo-StPO/Trück (Fn. 9), § 74 Rn. 16 m.w.N. 72
Die Entbindung des Sachverständigen von der Gutachtenpflicht
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aus.78 Nach der Entlassung des Sachverständigen ist letzterer zu stellen. Der Vorteil der frühen Antragsstellung gem. § 76 Abs. 1 S. 2 StPO ist hierbei, dass das Gericht – anders als bei § 83 Abs. 1 StPO – nicht mehr denselben Sachverständigen erneut beauftragen kann.79 d) Als frühe Alternative besteht die Antragsmöglichkeit zu einem Beweisantrag auf einen weiteren Sachverständigen (gem. § 244 Abs. 4 S. 2 Hs. 2 StPO) aufgrund der mangelnden Sachkunde und der Ungeeignetheit des Sachverständigen. Hier ist die Entbindungsmöglichkeit nach § 76 Abs. 1 S. 2 StPO in all jenen Fällen vorzuziehen, in denen Gutachten- oder Eignungsmängel frühzeitig bekannt werden und die Verteidigung verhindern möchte, dass es überhaupt zu einer mündlichen Gutachtenerstattung mit etwaiger negativer psychologischer Wirkung auf die Prozessbeteiligten durch das belastende Gutachten kommt. Selbst im häufig zu erwartenden Falle der Ablehnung des Antrags durch das Gericht sind erste Zweifel gesät und wird sich der Sachverständige ggf. schwerer tun, die aufgrund des ersten negativen Eindrucks skeptischer gestimmten Prozessbeteiligten zu überzeugen. e) Insgesamt ist stets abzuwägen, ob einem unerwünschten Ergebnis im Rahmen des Sachverständigenbeweises ggf. besser mithilfe des Fragerechts beizukommen ist.80 Die schriftliche Antragsstellung hilft für die mögliche spätere Revision. Der Antrag gem. § 76 Abs. 2 S. 1 StPO kann hierbei gute Dienste leisten.
78
Vgl. LR/Krause, StPO (Fn. 1), § 83 Rn. 3: Ungenügend i.S.d. § 83 StPO ist ein Gutachten u. a. wenn die Sachkunde des Gutachters oder seine persönliche Eignung zweifelhaft sind. 79 Ahmed, Anm. zu LG Augsburg, Beschl. v. 16. 07. 2012, StV 2014, 132 (133). 80 Zur Technik der Befragung siehe etwa Tsambikakis (Fn. 6), § 82.
Wahrnehmungsverzerrungen im Strafprozess – die Beweisprüfung im Zwischenverfahren der StPO und US-amerikanische Alternativen Von Carsten Momsen und Sarah Lisa Washington*
I. Status quo des deutschen Zwischenverfahrens Die Effektivität des in den §§ 199 bis 211 StPO abschließend geregelten Zwischenverfahrens wird mit guten Gründen in Zweifel gezogen.1 Derartige Zweifel können allerdings nur entstehen und bewertet werden, wenn man sich zuvor darüber im Klaren ist, was überhaupt der Sinn bzw. die Funktion eines Zwischenverfahrens sein kann – so wie es geregelt ist – oder sein sollte – so wie es geregelt werden könnte. Das Gesetz sagt nicht sehr viel zur Funktion dieses Verfahrensabschnitts.2 In § 202 StPO wird angedeutet, dass es zumindest auch darum geht, zu prüfen, ob die Staatsanwaltschaft qualitativ und quantitativ ausreichende bzw. überzeugende Beweise erhoben hat und anbietet, um das Gericht davon zu überzeugen, dass die Anklage mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zur Verurteilung des Angeklagten führen wird. Wann und unter welchen Voraussetzungen Beweise in der Hauptver* Prof. Dr. Carsten Momsen ist Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafverfahrensrecht, Wirtschafts- und Umweltstrafrecht an der Freien Universität Berlin und nebenberuflich als Strafverteidiger tätig. Sarah Lisa Washington, LL.M. (Columbia), Attorney at Law (N.Y.), ist an der Freien Universität Berlin beurlaubt und arbeitet als Public Defender bei „The Bronx Defenders“ in New York. 1 Schünemann, Der Richter im Strafverfahren als manipulierter Dritter? Zur empirischen Bestätigung von Perseveranz- und Schulterschlusseffekt, StV 2000, 159; ders., Perseverance in Courtroom Decisions, in: Wegner/Lösel/Haisch, Criminal Behavior and the Justice System. Psychological Perspectives, 1989, S. 181 ff.; Gössel, in: Gössel/Kaufmann, Strafverfahren im Rechtsstaat, FS Kleinknecht, 1985, S. 131 ff.; LR-StPO/Stuckenberg, 26. Aufl. 2008, Vor § 198 Rn. 15 ff.; mit Blick auf die Ressourcen alternativlos Meyer-Goßner/Schmitt, 60. Aufl. 2017, Vor § 198 Rn. 1; relativ unkritisch SSW-StPO/Rosenau, 3. Aufl. 2018, § 198 Rn. 3; umfassend u. a. die Arbeiten von Ernst, Das gerichtliche Zwischenverfahren nach Anklageerhebung, 1986; Heghmanns, Das Zwischenverfahren im Strafprozeß, 1991; Hofer, Zur Zukunft des strafprozessualen Zwischenverfahrens unter Berücksichtigung der englischen sowie internationalen Entwicklungen, 2005; jüngst Bockemühl, in: Organisationsbüro der Strafverteidigervereinigungen, Der Schrei nach Strafe. 41. Strafverteidigertag in Bremen, 2017, S. 97 (105 ff.). 2 Vgl. zu historischer Perspektive, Kritik und bisherigen Reformvorschlägen LR-StPO/ Stuckenberg (Fn. 1), Vor § 198 Rn. 15 ff.
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handlung vom Gericht als überzeugend bewertet werden können und dürfen, ist Gegenstand eines Standardwerks von Ulrich Eisenberg.3 Hier allerdings geht es um eine vorgelagerte Prüfung, die gleichwohl einen ähnlichen Gegenstand hat. Etwas offener würde es ein amerikanischer Kollege wohl formulieren und sagen, es gehe darum, das Gericht davon zu überzeugen, dass die Anklage das Potenzial hat, ein erfolgreiches Unternehmen zu werden.4 Mögliche Defizite benennt Eisenberg gleich zu Beginn seines Standardwerks: „Allerdings ist unstreitig, dass in der Praxis zu einem zumindest nicht vernachlässigungsfähigen Anteil der Verfahren auf Grund (partiell oder gänzlich) falscher Tatsachenfeststellungen beschuldigt bzw. angeklagt und auch verurteilt wird. Hierzu trägt mitunter auch die mediale Begleitung der Strafverfahren bei, ggfs. gar unter Verletzung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung. Hierfür mögen entgegen § 160 Abs. 2 u. a. verfrühte Festlegungen im Ermittlungsverfahren und eine (ggfs. u. a. von der Sorge um Reputationsverlust veranlasste) institutionelle Tendenz relevant sein, auf dem Bestehen des jeweils von Gesetzes wegen erforderlichen Verdachts zu beharren. Das Bekanntwerden des Ausmaßes solcher Versäumnisse hängt nicht selten davon ab, ob es der Verteidigung möglich ist, im Rahmen eigener Ermittlungen ihrerseits Aufklärung zu betreiben und Beweise herbeizuschaffen.“5
Daher sei, so Eisenberg, „bei sämtlichen hier erwähnten Vorbereitungen, insbesondere bei dem Durcharbeiten der Ermittlungsakten, […] Voreingenommenheit wie Vorurteilsbildung zu wehren, da sie zu Wahrnehmungsverzerrungen bis hin zu Fehlern in den Vernehmungsprotokollen führen können […]. Ein methodischer Grundfehler wäre es daher, die Vernehmungsführung (einschließlich der eingesetzten Verfahrens- und Interpretationsweisen) auf die Erhärtung dieses Verdachts auszurichten.“6
Dass gerade aus dem Ermittlungsverfahren schon Vorfestlegungen resultieren, die über das Zwischenverfahren kaum gefiltert in die Hauptverhandlung transferiert werden können, mahnt Eisenberg ebenfalls an: „Im Einzelnen hat die StA u. a. auf Anzeichen verfrühter Prägnanz in den Ermittlungen zu achten. Von Amts wegen muss sie prüfen, ob die Möglichkeit alternativer Geschehensabläufe hinreichend berücksichtigt wurde und ob ggf. entlastende Umstände ignoriert oder ihnen nicht hinreichend nachgegangen wurde.“7 In allen Verfahrensstadien sei daher der Gefahr zu begegnen, dass aus einem Verdacht eine „sich selbst erfüllende“ Prognose wird.8
3
Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 10. Aufl. 2017. Vgl. bspw. Allen/Stuntz/Hoffmann/Livingston/Leipold/Meares, Criminal Procedure: Investigation and Right to Counsel, 3. Aufl. 2016, S. 1049. 5 Eisenberg (Fn. 3), Rn. 2. 6 Eisenberg (Fn. 3), Rn. 537. 7 Eisenberg (Fn. 3), Rn. 741a. 8 Schmitz, Tatgeschehen, Zeugen und Polizei, 1978, S. 208 ff; dazu Eisenberg (Fn. 3), Rn. 537 f. 4
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II. Anklageerhebung und Zwischenverfahren – Vertrieb und Verkauf eines Produkts? Der Blick auf die funktional vergleichbaren Verfahrensstrukturen und Institutionen im amerikanischen Verfahren (Vergleich unter III., VI. 2.) kann in vielerlei Hinsicht weiterhelfen.9 Doch sucht man zunächst weiter im deutschen Recht nach Sinn und Funktion, so sieht man, das Zwischenverfahren ist wie ein Spiegel, in dem sich das Gericht am Morgen des Hauptverfahrens zu allererst einmal selbst sieht. Denn es ist ja das Gericht der Hauptsache, das hier geradezu wie ein potentieller Kunde schaut, ob es von dem mit der Anklage angebotenen Produkt der Staatsanwaltschaft überzeugt ist. Dieses Produkt hat einen genau definierten Zweck: Es muss eine Verurteilung und Bestrafung eines bis dato dem Gericht unbekannten Menschen versprechen. Das Produkt ist überzeugend, wenn die Gegenleistung des Gerichts – die Arbeit einer Hauptverhandlung zu verrichten – den versprochenen Lohn – die Verurteilung – mit hoher Sicherheit erwarten lässt. Wie jeder potentielle Kunde darf auch das Gericht das Produkt im Regal lassen, wenn es minderwertig erscheint. Das Gericht darf aber auch sein grundsätzliches Interesse formulieren für den Fall, dass die Staatsanwaltschaft ihr Angebot nachbessert (§ 202 StPO). Die dem Strafrecht traditionell eher fremde Perspektive eines Kaufvertrags ist zugegebenermaßen mit einigen Unschärfen belastet, aber sie kann verschiedene Dinge dennoch deutlicher hervortreten lassen: Zum einen zeigt sich, wer eigentlich am Zwischenverfahren gleichsam als Vertragspartei beteiligt ist, das Gericht und die Staatsanwaltschaft, sowie dass hier ausschließlich die Interessen dieser beiden „Vertragsparteien“ eine Rolle spielen. Wechseln wir kurz zurück in die strafprozessuale Perspektive, so ist diese dafür geschärft, dass die Beteiligten mit einer klaren Zielvorstellung in das Zwischenverfahren gehen. Wird dem Gericht, gleichsam ein Stammkunde der Staatsanwaltschaft, eine Anklage angeboten, so ist damit die Annahme verbunden, dass es eben etwas anzuklagen gibt. Das ist, vorsichtig gesprochen, banal. Aber nur rechtlich, nicht psychologisch. Denn es entsteht natürlich durch die Anklageerhebung eine Erwartungshaltung. Diese Erwartungshaltung prägt die Prüfung des Angebots. Ein erster, ganz wesentlicher Schritt für die Entstehung von kognitiven Dissonanzen10 – und um genau deren Vermeidung wird es nachfolgend gehen. Zum anderen kann auch die Staatsanwaltschaft gar nicht anders, als in die Rolle eines Verkäufers zu schlüpfen. Damit – und darum geht es – hat die Staatsanwaltschaft zum Zeitpunkt der Anklageerhebung bereits ihre Neutralität aufgegeben. An dieser Stelle, spätestens, erfolgt eine psychologische Festlegung darauf, dass der Erfolg nur eine Verurteilung sein kann. In der Regel wird diese Festlegung aller9
Grundlegend Weigend, ZStW 113 (2001), 271 (285); vgl. auch LR-StPO/Stuckenberg (Fn. 1), Vor § 198 Rn. 20. 10 BeckOK-StPO/Eschelbach, 29. Aufl. 2018, § 261, Rn. 3.1 ff.; Bockemühl (Fn. 1), S. 97 (105) diagnostiziert „Voreingenommenheit im System“.
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dings deutlich früher erfolgen, wenn nämlich die Konstruktion tragfähig erscheint, also die zentralen Beweise gesammelt sind.11 Festzuhalten ist, dass das Gericht es im Zwischenverfahren nicht mehr mit einer neutralen Staatsanwaltschaft zu tun hat, sondern strukturell mit einer verurteilungsorientierten interessegeleiteten Partei. Das Gericht seinerseits befindet sich in einer eigentümlichen Lage. Zwar soll es eine Qualitätskontrolle durchführen, müsste also objektiv Bedarf für und Qualität der Anklage prüfen. Doch ihm selbst ist schon der unmittelbare Blick auf den Angeschuldigten und die vorgeworfene Tat verwehrt, so dass es sich damit begnügen muss, durch die eben nicht objektive Verkäuferbrille der Staatsanwaltschaft zu schauen und den Bedarf abzuschätzen. Zwar ist aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör abzuleiten, dass der Angeschuldigte ein nicht formalisiertes Recht auf eine gelegentlich sog. „Schutzschrift“, also eine Stellungnahme hat, diese muss jedoch nicht beschieden oder nach formalisierten Standards überprüft werden. Damit gerät auch das Gericht unweigerlich in eine Erwartungshaltung, die hier die Gefahr von späteren Wahrnehmungsverzerrungen schafft.12 Denn das Gericht hat erst einmal einen Bedarf formuliert. An dieser Stelle offenbart sich sodann die zentrale Problematik, wie sie gleich im ersten Satz des § 199 StPO erscheint: „Das für die Hauptverhandlung zuständige Gericht entscheidet […]“. Es findet keine unabhängige Prüfung des Produkts vor seiner Verwendung statt.
III. Kognitive Dissonanzen als systemimmanentes Phänomen Kehren wir nun endgültig in die strafprozessuale Perspektive zurück. Wie ist der Umstand zu bewerten, dass es das Gericht der Hauptsache ist, welches zugleich über die Schlüssigkeit der Anklage im Zwischenverfahren befindet? Die Problematik der personalen Identität ist bekannt.13 Primär wird sie allerdings unter dem Gesichtspunkt der Zuständigkeit des Gerichts der Hauptsache diskutiert, häufig unter der Fragestellung der sog. „kognitiven Dissonanz“14 und der damit zusammenhängenden „Perseveranz-“15 und „Inertia“-Effekte16, die den Kern des Pro-
11
Vgl. auch Schünemann StV 2000, 159 ff. LR-StPO/Stuckenberg (Fn. 1), Vor § 198 Rn. 20. 13 BeckOK-StPO/Eschelbach (Fn. 10), Vor § 261. 14 „Kognitive Dissonanz“ ist ein Begriff der psychologischen Theorie über die Verarbeitung relevanter Informationen nach einer Entscheidung, http://www.medpsych.uni-freiburg.de/ OL/glossar/body_kognitive_ dissonanz.html, zuletzt abgerufen am 10. 12. 2017. 15 Der Perseveranz-Effekt beschreibt die Erkenntnis, dass ursprüngliche Eindrücke über ein Ereignis oder eine Person den Beobachter für die Zukunft und bei späteren Beobachtungen und Wertungen so nachhaltig prägen bzw. beeinflussen, dass später hinzukommende Informationen nur mit Mühe die entwickelte Meinung verändern. 12
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blems ausmachen.17 Daneben ist jedoch auch die Funktion des Zwischenverfahrens im Blick zu behalten, welche nicht nur aufgrund der fehlenden Unabhängigkeit des Gerichts der Hauptsache von dem Gericht des Zwischenverfahrens weitgehend verfehlt wird. Als besonderes funktionales Defizit erweist sich drittens die fehlende Unabhängigkeit des Gerichts des Zwischenverfahrens von der Staatsanwaltschaft, soweit es die Grundlage der Prüfung betrifft. Während in Richtung Hauptverfahren die persönliche Unabhängigkeit fehlt, fehlt aus Richtung des Zwischenverfahrens die sachliche Objektivität. Dazu gehört, dass das Gericht im Zwischenverfahren keinen unmittelbaren Eindruck von der Beweisgrundlage, noch nicht einmal vom Beschuldigten, vor Augen hat. Überprüft wird also lediglich die Schlüssigkeit der Einschätzung der Staatsanwaltschaft allein auf der Grundlage des staatsanwaltschaftlichen Narrativs von der Überzeugungskraft ihrer eigenen Beweiserhebung und -würdigung. Viertens ist der oben skizzierte Verlust der Neutralität der Prüfungsperspektive der Staatsanwaltschaft in einem nur individuell zu bestimmenden Zeitpunkt vor Anklageerhebung zu berücksichtigen. Diesen vier Fragestellungen werden wir im Folgenden (VI. 1. bis 3. und VII.) nachgehen, in der Reihenfolge, in der sie einerseits im Verfahren auftreten und sich andererseits gegenseitig verstärken. Dabei werden auch die strukturellen Verschiebungen, welche das deutsche Verfahrensrecht in den letzten Jahren prägen – Bedeutungsgewinn des Ermittlungsverfahrens und Bedeutungsverlust der Hauptverhandlung sowie sich erweiternde Optionen für informell-konsensuale Erledigungen im Ermittlungsverfahren – einzubeziehen sein.18 Denn diese Entwicklung führt zu einer stärkeren Position der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren im Verhältnis zur Stellung des Gerichts im Hauptverfahren. Man findet hier unverkennbar Elemente, die sich häufig in adversatorischen Verfahren finden. Als mögliche Alternative wird daher der vergleichbare Verfahrensabschnitt im amerikanischen Strafverfahren, die „klassische“ Grand Jury und deren funktionale Äquivalente – in New York wäre dies beispielsweise die sogenannte Conversion – untersucht.19
16 Inertia-Effekt = Trägheitseffekt: Einmal getroffene Entscheidungen bleiben gegen widersprechende Informationen immun (Einstellung). Der Wert von Informationen, die der präferierten Alternative oder Hypothese entsprechen, wird überschätzt, der Wert entgegen gerichteter Informationen unterschätzt, http://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/inertia-ef fekt/7116, zuletzt abgerufen am 10. 12. 2017. 17 BeckOK-StPO/Eschelbach (Fn. 10), § 261. 18 Der Umstand, dass nach § 202a StPO auch eine „Erörterung des Verfahrensstands“ im Zwischenverfahren selbst möglich ist, hat relativ geringe Auswirkungen im Hinblick auf Absprachen, vgl. MüKo-StPO/Wenske, 1. Aufl. 2016, § 199 Rn. 4. 19 Jeder US-Bundesstaat hat eine eigene Strafprozessordnung. Wenn hier vom US-Recht die Rede ist, ist damit – sofern nicht anders erwähnt – grundsätzlich das Recht des Bundes (Federal Law) gemeint.
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IV. Beweisprognosen nach Aktenlage Nach § 203 StPO hat das Eröffnungsgericht zu überprüfen, ob „nach den Ergebnissen des vorbereitenden Verfahrens der Angeschuldigte einer Straftat hinreichend verdächtig erscheint“. Es geht also um die „Prognose, ob ein hinreichender Tatverdacht nach Aktenlage besteht“20. Ein solcher „hinreichender Tatverdacht“ verlangt eine überwiegende Verurteilungswahrscheinlichkeit (§ 170 Abs. 1 StPO). Diese ergibt sich aus rechtlichen, vor allem aber aus tatsächlichen Erwägungen auf Basis der von der Staatsanwaltschaft zusammengetragenen – belastenden – Beweise. Diese allerdings lernt das Gericht nur mittelbar aus der von der Staatsanwaltschaft gefertigten Anklageschrift und den mitübersandten Akten kennen. Damit, so ist zu lesen, diene das Zwischenverfahren gleichsam als „Filter dafür, dass nicht über jede angeklagte Tat zwingend nach Durchführung einer Hauptverhandlung entschieden wird. Diese Kontrolle schützt in erster Linie den Angeschuldigten vor überschießenden oder ungerechtfertigten Anklagen“21. Es sei „anhand der mit Anklageerhebung vorgelegten Verfahrensakten eigenständig [Hervorh. d. Verf.] zu prüfen, ob die als solche bezeichneten Angeschuldigten der angeklagten Taten hinreichend verdächtig sind“22. Es finde, so ist gar zu lesen, „einmal mehr das die Strafprozessordnung durchziehende rechtsstaatstypische Prinzip von ,checks and balances‘ an einer wichtigen Nahtstelle des Strafverfahrens Bestätigung“23. Nur angedeutet wird in den meisten Ausführungen zum Zwischenverfahren, auf welche Weise bzw. anhand welcher Kriterien die Überprüfung der staatsanwaltschaftlichen Arbeit zu erfolgen hat. Der „hinreichende Tatverdacht“ stellt insoweit lediglich die Messlatte dar. Natürlich geht es auch um die rechtliche Würdigung der rechtlichen Ausführungen der Staatsanwaltschaft. An diesem Punkt kann die Verteidigung mit ihren Argumenten theoretisch im Rahmen einer nicht formalisierten sog. „Schutzschrift“ durchdringen. Diese ist zwar Ausdruck rechtlichen Gehörs, verlangt jedoch keine Reaktion seitens des Eröffnungsgerichts. Damit wird die Beweisprognose zum eigentlich interessanten Teil des Zwischenverfahrens. Tatsächlich kann es nur darum gehen, ob in ausreichendem Umfang belastende Beweise erhoben wurden, ob mögliche entlastende Beweise mit der erforderlichen Gründlichkeit über die gesamte Dauer des Ermittlungsverfahrens gesucht und überprüft wurden, ob ggf. eine Abwägung unvereinbarer Beweisergebnisse stattgefunden hat, ob die belastenden Beweise nach aktuellem Kenntnisstand verwertbar 20
Bockemühl (Fn. 1), S. 97 (105). MüKo-StPO/Wenske (Fn. 18), § 199 Rn. 4; so auch LR-StPO/Stuckenberg (Fn. 1), Vor § 198 Rn. 12. 22 So etwa BeckOK-StPO/Ritscher (Fn. 10), § 199, Rn. 4; OLG Nürnberg NStZ-RR 2011, 251 f. 23 KK-StPO/Schneider, 7. Aufl. 2013, § 199 Rn. 1; kritischer SSW-StPO/Rosenau (Fn. 1), § 199 Rn. 1 ff. 21
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sind und schließlich, ob die Würdigung der belastenden Beweise eine Verurteilung hinreichend wahrscheinlich erscheinen lässt.
V. Empirische Daten Statistisch24 ergibt sich ein relativ stabiler Wert von ungefähr 90 bis 95 % nicht freigesprochener Beschuldigter. Ein vergleichbares Bild ergibt sich für die zugelassenen Anklagen, hier mit etwas geringeren Werten von ca. 88 % positiver Prognose durch das Eröffnungsgericht.25 Die auf den ersten Blick unstimmige höhere Verurteilungsquote dürfte sich u. a. damit erklären lassen, dass Anklagen mit mehreren Beschuldigten noch häufiger zugelassen werden als solche mit einem bzw. nur wenigen Beschuldigten. Die von Bockemühl und Schünemann ermittelten Zahlen zeigen eindeutig, dass vom Zwischenverfahren statistisch kaum Filterwirkung ausgeht. Die Zahl der Fälle, in denen sich das Eröffnungsgericht im Zwischenverfahren nicht der Auffassung der Staatsanwaltschaft anschließt, bleibt unter 10 %. Blickt man auf das Verhältnis von angeklagten und verurteilten Beschuldigten, so erweist sich dasselbe: Die Hauptverhandlungsgerichte weichen nur in Ausnahmefällen von der Eröffnungsprognose ab, welche wie gezeigt im Wesentlichen der staatsanwaltschaftlichen Einschätzung im Ermittlungsverfahren entspricht.26 Die aktuellsten Werte finden sich in der Rechtspflegestatistik. Hier ergeben sich inklusive der Strafbefehle, deren Werte infolge des Einspruchsverfahrens einen gewissen Verzerrungseffekt herbeiführen, immer noch über 80 % Verurteilte von allen Abgeurteilten.27 Das bedeutet, dass sich der durch die Anklage vorgegebene Entscheidungstrend in der Hauptverhandlung fortsetzt. Allerdings geht vom Hauptverfahren eine etwas stärkere Fiterwirkung aus als vom Zwischenverfahren. Diese lässt sich damit erklären, dass das Gericht anders als im Zwischenverfahren hier eigene Beweiserhebungen vornimmt. Objektiv gehen dementsprechend weder vom Zwischenverfahren noch von der Hauptverhandlung entscheidende Wertungsimpulse aus. Ob dieser Befund einerseits die oben dargestellten Hypothesen stützt und ob dies zugleich auf einen Bedeutungsverlust der Hauptverhandlung hindeutet, wird nachfolgend aus verschiedenen Perspektiven untersucht.
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Bockemühl (Fn. 1), S. 97 (107). Vgl. auch Schünemann, StV 2000, 159 ff., SSW-StPO/Rosenau (Fn. 1), § 199 Rn. 3. 26 BeckOK-StPO/Eschelbach (Fn. 10), § 261 Rn. 3.1 ff.; Eschelbach, in: Fischer/Hoven, Verdacht, 2016, S. 29 (34); Isfen, ZStW 125 (2013), 325 f. 27 Für 2016 ergeben sich bspw. von 900 615 Abgeurteilten 737 873 Verurteilte; https:// www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Rechtspflege/Tabellen/AbgeurteilteVerur teilte.html, zuletzt abgerufen am 30. 5. 2018. 25
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VI. Strukturelle Analyse Erledigen die Staatsanwaltschaften ihre Arbeit zu nahezu 100 % fehlerfrei und sind sie bei der Anklageerhebung von sich aus bereits so zurückhaltend, dass fast nur „sichere Fälle“ zur Anklage gelangen und gibt es daher aus richterlicher Sicht nur in seltenen Ausnahmefällen Anlass zu Korrekturen? Oder werden alle zweifelhaften Fälle von vornherein der gerichtlichen Prüfung entzogen und einer einverständlichen Lösung bereits im Ermittlungsverfahren zugeführt, bei der keine oder keine substantielle Prüfung durch ein Gericht erforderlich ist? Die beiden vorgenannten Thesen formulieren alternative, ebenfalls naheliegende Deutungsmuster zur Interpretation der Zahlen. Sie werden im Weiteren gewissermaßen als Antithesen dienen. Zu berücksichtigen ist der in beiden Varianten sehr unterschiedliche Ansatz. Antithese 1 spricht für die Funktionsfähigkeit und Effizienz des derzeitigen Systems. Antithese 2 indiziert dagegen ein massives Systemversagen, da sich die Strafverfolgungspraxis offensichtlich von den gesetzlichen Vorgaben entfernt und nach Umgehungsstrategien sucht. Antithese 2 stellt zudem keine echte Antithese dar, sie wäre mit den nachfolgenden Hypothesen zumindest teilweise vereinbar. 1. Mangelnde Unabhängigkeit des Gerichts von der Staatsanwaltschaft Oben wurde die These aufgestellt, dass die fehlende Unabhängigkeit des Gerichts des Zwischenverfahrens von der Staatsanwaltschaft ein funktionales Defizit darstellt, soweit es die Grundlage der Prüfung betrifft. Während in Richtung Hauptverfahren die persönliche Unabhängigkeit fehlt, fehlt aus Richtung des Zwischenverfahrens die sachliche Objektivität. Dazu gehört, dass das Gericht im Zwischenverfahren keinen unmittelbaren Eindruck von der Beweisgrundlage, noch nicht einmal vom Beschuldigten, hat. Überprüft wird also lediglich die Schlüssigkeit der Einschätzung der Staatsanwaltschaft allein auf der Grundlage des staatsanwaltschaftlichen Narrativs von der Überzeugungskraft ihrer eigenen Beweiserhebung und -würdigung. Schon Max Alsberg sprach davon, dass der Richter im Zwischenverfahren von der Staatsanwaltschaft „präpariert“ sei, durch „die Akten, welche den Firmenstempel der Staatsanwaltschaft tragen“28: „Man hat den Richter, in dessen Hände man die unvoreingenommene, lediglich aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung zu schöpfende Entscheidung legen wollte, zugleich zu dem machtvollsten Organ der Überführung des Angeklagten gemacht. Und zwar dadurch, dass man ihm die Leitung der Hauptverhandlung übertragen hat. Präpariert durch die Akten, die von der Staatsanwaltschaft geschaffen sind und ihren Firmenstempel tragen, tritt er dem Angeklagten gegenüber, um […] den Angeklagten einzukreisen.“29 28 Alsberg, Das Weltbild des Strafrichters, 1930, in: Taschke, Max Alsberg, 2. Aufl. 2013, S. 565 (575); vgl. Bockemühl (Fn. 1), S. 91 (106). 29 Bockemühl (Fn. 1), S. 91 (106).
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Nun wäre es wohlfeil, die Realität der Weimarer Strafverfolgung und Rechtsprechung unkritisch auf die Gegenwart zu übertragen. Gleichwohl trifft Alsbergs Diagnose im Prinzip weiterhin zu. Aber spricht nicht auch etwas dafür, das Hauptverhandlungsgericht selbst über die Eröffnung entscheiden zu lassen? So könnte man davon ausgehen, dass ein Gericht im Hinblick auf die Güte der Anklage besonders kritisch wäre, wenn es diese als Grundlage der eigenen späteren Arbeit betrifft. Würde das Eröffnungsgericht die Folgen der eigenen Entscheidung nicht erfahren, so könnte es die Anklage ggf. oberflächlicher beurteilen. Diese These ist jedoch wenig überzeugend. Denn der Konnex zur eigenen Befassung in der Hauptverhandlung führt nicht zu einer per se gründlicheren Prüfung im Zwischenverfahren. Die Güte dieser Bewertung des hinreichenden Verdachts wird vielmehr durch die schmale Untersuchungsbasis beschränkt. Das Eröffnungsgericht hat eben nichts anderes als die Anklage nebst Anlagen. Selbst wenn die Verteidigung in der Lage sein sollte, eine substantiierte Stellungnahme im Zwischenverfahren abzugeben, bleibt das Prüfungsprogramm durch die Anklage bestimmt. Im Hinblick auf die Tatsachengrundlage und damit die Beweisgrundlage der Anklage verfügt das Eröffnungsgericht nur über aus der Anklage selbst abgeleitete Kontrollmöglichkeiten. Zwar kann eine Prüfung an dieser Stelle Inkohärenzen oder Widersprüche der Anklage selbst aufdecken, aber kaum einmal Widersprüche der Anklage zu der durch die Beweise gespiegelten Realität. Eschelbach, einer der entschiedensten Kritiker der Verfahrenskonstruktion, die bis in die freie richterliche Beweiswürdigung nach § 261 StPO hineinwirkt, beschreibt die Situation wie folgt: „Stattdessen sind bei allen der Verdachtsannahme widerstreitenden Aspekten erhebliche Dissonanzreduktionen festzustellen. Weil die schon in der Anklageschrift und im Eröffnungsbeschluss, ggf. aber auch bei weiteren Zwischenentscheidungen favorisierte Verdachtshypothese als vorzugswürdig empfunden wird, werden die Informationen, die mit der Verdachtshypothese unvereinbar sind, tendenziell unterbewertet, ignoriert oder umgangen. Wo dies nicht gelingt, werden Informationen, die den Verdacht bestätigen, überbewertet und überbetont. Je mehr dem Angeklagten nachteilige Zwischenentscheidungen aufgrund der Verdachtshypothese ergangen sind und je schwerer die hierdurch entstehenden Belastungen werden, etwa bei lange andauernder Untersuchungshaft oder Vermögensbeschlagnahme, desto mehr wirkt ein Rechtfertigungsdruck auf die Entscheidungsträger ein. Eingriffsakte und beschwerende Entscheidungen werden tendenziell iSd. Lehre von der kognitiven Dissonanz im Übermaß als richtig angesehen, schon weil die Annahme einer zu Unrecht erfolgten Beschränkung von Grundrechten für den verantwortlichen Entscheidungsträger unangenehm und unattraktiv wirkt. Dissonanzreduktionen werden mit steigendem Belastungsgewicht der hoheitlichen Eingriffe in Freiheit, Eigentum oder Persönlichkeitsrechte von Beschuldigten im Lauf des Verfahrens nur umso attraktiver und deshalb intensiver praktiziert.“30 30 BeckOK-StPO/Eschelbach (Fn. 10), § 261, Rn. 3.2.; mit Verweis auf: Eschelbach (Fn. 26), S. 29 (32); Raske, Wie bei polizeilichen Ermittlungen ein falscher Tatverdacht entsteht, 2012, S. 25 ff.
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Welche anderen Modelle sind vorstellbar? Das Eröffnungsgericht könnte die in der Anklage in Bezug genommenen Beweise selbst evaluieren. Der Vorteil läge in einer wesentlich nachhaltigeren Prüfung der Anklage. Der Nachteil bestünde ganz offensichtlich darin, dass ein solches Zwischenverfahren eine weitgehende Vorwegnahme der Hauptverhandlung wäre und diese weitgehend obsolet werden ließe. Das Problem der kognitiven Dissonanz würde in Bezug auf eine spätere Hauptverhandlung allerdings nicht entscheidend beeinflusst. Alternativ könnte die Identität zwischen Eröffnungs- und Hauptverhandlungsgericht aufgebrochen werden. Damit allein verbreitert sich zwar nicht die Basis der Bewertung des von der Anklage angenommenen hinreichenden Tatverdachts im Zwischenverfahren, aber die Erwägungen des Zwischenverfahrens würden nicht unmittelbar in das Hauptverfahren importiert werden. Denkbar wäre auch, ein lediglich über die Eröffnung entscheidendes Gericht mit erweiterten Prüfungskompetenzen auszustatten, jedenfalls aber die Beteiligungsmöglichkeit der Verteidigung auszubauen. Damit würde sich die Funktion des Zwischenverfahrens eventuell verändern (s. u. 4.). 2. Die Grand Jury – Trennung von Eröffnungsund Hauptverhandlungsgericht Ein der zweiten Option (Aufbrechen der Identität zwischen Eröffnungs- und Hauptverhandlungsgericht) entsprechendes Modell kennt das amerikanische Zwischenverfahren in Form der Grand Jury. Das Recht auf Screening31 durch die Grand Jury ist in den USA verfassungsrechtlich durch den Fünften Zusatzartikel geschützt. Die Grand Jury besteht aus 16 bis 23 Laienrichtern. Es ist Aufgabe der Grand Jury, die von der Staatsanwaltschaft präsentierten Beweise zu bewerten und im Ergebnis die von der Staatsanwaltschaft behaupteten Vorwürfe zu bestätigen oder alternativ die Anklage zu vereiteln. Insofern ist die Grand Jury – zumindest in der Theorie – zugleich Schutzschild gegen staatlichen Machtmissbrauch und Schwert in den Händen der Staatsanwaltschaft. Der Beweisstandard, auf dem die Entscheidung der Grand Jury beruht, ist Probable Cause. Anders als in der Hauptverhandlung muss die Jury also nicht von der Schuld des Angeklagten „über vernünftige Zweifel hinaus“ (Reasonable Doubt) überzeugt sein. Es genügt, dass die Jury die Begehung der Tat für wahrscheinlich hält. Bejaht die Grand Jury den Probable Cause, so kann die Staatsanwaltschaft die Anklage formell vor Gericht einleiten. Lehnt die Grand Jury die Vorwürfe ab, so ist der Staatsanwaltschaft die Einleitung der Anklage verwehrt. Es liegt eine sog. No-True-Bill-Situation vor. Der Supreme Court befasste sich 1920 mit der Frage, ob die Staatsanwaltschaft den selben Fall einer neuen Grand Jury präsentieren kann, wenn die erste Grand Jury die Anklage verwehrte – also eine NoTrue-Bill-Situation vorlag. Der Supreme Court kam hier zu dem Schluss, dass eine erneute Überprüfung verfassungsrechtlich zulässig sei.32 Dies ist ein entscheidender 31 Der englische Begriff „Screening“ beschreibt in diesem Kontext die Untersuchung und Bewertung der staatsanwaltschaftlichen Anklageentscheidung durch die Grand Jury. 32 United States v. Thompson, 251 U.S. 407 (1920).
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Vorteil für die Staatsanwaltschaft und schwächt die Schutzfunktion der Grand Jury für den Angeklagten erheblich. Die Schutzfunktion der Grand Jury – als Schild gegen staatlichen Machtmissbrauch – ist jedoch aus Verteidigerperspektive auch aus anderen Gründen unbefriedigend. Erstens: Das verfassungsrechtlich geschützte Recht auf eine Untersuchung durch die Grand Jury vor Anklageerhebung gilt nur für die Bundesebene. Der Fünfte Zusatzartikel findet – anders als der Großteil der Bill of Rights – auf die einzelnen Staaten weder direkte noch indirekte Anwendung durch den Vierzehnten Zusatzartikel zur Verfassung.33 Zahlreiche Bundesstaaten haben die Grand Jury jedoch – auch wenn dies verfassungsrechtlich nicht geboten ist – zumindest zum Teil in ihre Prozessordnung integriert.34 Weiterhin beschränkend wirkt die Begrenzung des Fünften Zusatzartikels auf schwere Delikte. Das Recht auf eine Grand-Jury-Untersuchung findet nur auf sogenannte Felony Charges Anwendung, also auf Strafanklagen, die sich auf Delikte beziehen, die mit einer Mindeststrafe von einem Jahr Freiheitsstrafe bestraft werden. Verbrechen sind die deutsche Entsprechung zu Felonies. Für alle anderen Fälle – Misdemeanors (Vergehen) – finden sich zum Teil besondere Regelungen in den Rechtsordnungen der einzelnen Bundesstaaten. Verpflichtend sind solche Regelungen jedoch nicht. Als Beispiele für Grand-Jury-Äquivalente sollen hier die Bundesstaaten New York und Florida dienen, die sehr unterschiedliche, aber verfassungsrechtlich zulässige Regelungen haben. In New York müssen Misdemeanor Complaints – Anklagen der Staatsanwaltschaft hinsichtlich Vergehen – mittels Conversion in eine Information (Anklageinstrument) umgewandelt werden.35 Complaints stellen kein gültiges Anklageinstrument dar. Beschuldigte haben das Recht, auf Grundlage einer Information strafrechtlich verfolgt zu werden. Auf dieses Recht kann gem. CPL 170.65 (3) verzichtet werden (Waiver). Eine Verurteilung ohne Information ist rechtswidrig, sofern kein Verzicht vorliegt. Eine ordnungsgemäße Conversion erfordert beispielsweise, dass eine Person, die direktes Wissen (first-hand knowledge) von der Tat hat, die Fakten, auf denen die Anklage beruht, unter Eid bestätigt. Zur Verdeutlichung: Wirft die Staatsanwaltschaft A vor, er habe B geschlagen, so muss die Staatsanwaltschaft – sofern sie sich auf B als Zeugen stützen möchte – die Aussage von B unter Eid dokumentieren. Dies soll die Staatsanwaltschaft bereits zu einem frühen Zeitpunkt dazu bringen, ihre Anklagen auf fundierte Beweise zu stützen. Bundesstaaten wie Florida haben keine Conversion Vorschriften. Die Verteidigung kann lediglich eine Anhörung vor Gericht beantragen (Preliminary Hearing), um die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft in Zweifel zu ziehen. Ist die Anhörung erst einmal gerichtlich zugelassen, kann die Verteidigung Zeugen mittels Kreuzverhör 33
Viele Rechte der Bill of Rights finden über den 14. Zusatzartikel Anwendung auf die Bundesstaaten. Es handelt sich um die sog. Incorporation Clause. 34 Beispielsweise Kalifornien, New York, New Jersey, Florida, Massachusetts, Illinois, North Carolina und South Carolina. 35 Vgl. New York CPL 170.65(1).
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vernehmen. Dies gilt zumindest für Adversary Preliminary Hearings (hierzu sogleich). Sinn und Zweck eines Preliminary Hearings ist es zu bestimmen, ob Probable Cause für das Vorliegen einer Straftat vorliegt. Die Anhörung wird häufig vor demjenigen Richter verhandelt, der auch die Hauptverhandlung leitet – sofern es zu einer solchen Hauptverhandlung kommt.36 Auch wenn in einem solchen Fall Identität zwischen Richter in der Phase vor der Hauptverhandlung (Pre-Trial) und dem Richter in der Hauptverhandlung besteht, gibt es immer noch einen entscheidenden Unterschied zum deutschen Strafprozess. Sofern es sich bei der Hauptverhandlung um einen Jury-Verhandlung handelt – gemeint ist hier dann nicht die Grand Jury, sondern die Petit Jury innerhalb der Hauptverhandlung – entscheidet nicht der Berufsrichter, sondern die Jury, die vor der Hauptverhandlung am Prozess vollständig unbeteiligt war. Insofern besteht selbst in diesem Fall eine entscheidende Aufspaltung der Entscheidungsträger, die kognitive Dissonanzen verringern kann. Besonders problematisch ist die fehlende Existenz von Verteidigungsrechten in der Grand Jury. Verteidiger haben schon gar kein Anwesenheitsrecht. Das Verfahren findet allein unter Anwesenheit der Laienrichter, der Staatsanwaltschaft, der geladenen Zeugen und des gerichtlichen Berichterstatters statt. Es gibt kein Anwesenheitsrecht der Öffentlichkeit. Insofern wird das Verfahren vor der Grand Jury auch als geheimes Verfahren bezeichnet. Die Verteidigung kann keine Beweise präsentieren und der Beschuldigte hat kein Anwesenheitsrecht.37 Die sonst recht strengen Beweisrechte sind zu Gunsten der Staatsanwaltschaft entschärft. So gilt beispielsweise das Verbot von Zeugenaussagen, die auf Hörensagen beruhen, nicht.38 Auch verfassungswidrig erlangte Beweise, die in einer späteren Hauptverhandlung nicht verwendet werden dürfen (Exclusionary Rule), können der Grand Jury präsentiert werden.39 Insgesamt ist das Verfahren dementsprechend einseitig zu Gunsten der Staatsanwaltschaft gewichtet. Daher auch der Spruch: „The Grand Jury will indict a ham sandwich“.40 Soll heißen, die Grand Jury befürwortet ohnehin jede Anklage – selbst wenn ein Schinkensandwich auf der Anklagebank säße. Tatsächlich entscheidet 36 Nur etwa 3 % aller Strafverfahren erreichen in den USA das Stadium der Hauptverhandlung. Für die US District Courts 2010 ergibt sich sogar ein Wert von nur gut 2,5 % – 87.418 pleas of guilty or nolo contendere gegenüber 257 convictions by court und 2.066 convictions by jury, vgl: https://www.albany.edu/sourcebook/pdf/t5222010.pdf, zuletzt abgerufen am 30. 5. 2018. 37 Einige Bundesstaaten erkennen ein solches Aussagerecht jedoch an. In New York steht es Beschuldigten beispielsweise frei, ob sie in der Grand Jury aussagen möchten. 38 So der Supreme Court in Costello v. United States, 350 U.S. 359 (1956). 39 Vgl. United States v. Calandra, 414 U.S. 338 (1974). 40 Dieser Ausspruch stammt von Sol Wachtler, Chief Judge of New York State, https:// www.newyorker.com/news/news-desk/use-grand-jury, zuletzt abgerufen am 30. 5. 2018, und wurde von Tom Wolfe in „The Bonfire of the Vanities“ paraphrasiert zu „a grand jury would ,indict a ham sandwich‘ if that’s what you wanted.“, vgl. Reynolds, „Ham Sandwich Nation: Due Process When Everything is a Crime“, Columbia Law Review Sidebar, 2013; https://pa pers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=2203713, dazu https://www.nytimes.com/1985/02/ 18/opinion/do-we-need-grand-juries.html, beide zuletzt abgerufen am 30. 5. 2018.
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sich die Grand Jury auf Bundesebene in über 95 % der Fälle für eine Anklage.41 Aktuelle Prominenz und Erweiterung erlangte diese Aussage in den letzten Jahren im Zusammenhang mit tödlichen Schüssen weißer Polizisten auf schwarze Bürger in den Vereinigten Staaten.42 Hier lehnte die Grand Jury regelmäßig eine Anklage ab. Dies prägte die Aussage: „The Grand Jury will indict a ham sandwich, but apparently not a white police officer.“43 Die Basis der Eröffnungsentscheidung durch die Grand Jury lässt erhebliche Bedenken aufkommen. Auch wenn der Grand Jury zumindest in der Theorie eine gewisse Kontrollfunktion zugesprochen werden kann, wiegen die Nachteile aus Verteidigerperspektive schwer. Das Verfahren vor der Grand Jury erlaubt es der Staatsanwaltschaft in gewisser Hinsicht einen Testlauf der Argumente zu präsentieren, die dann für die Hauptverhandlung optimiert werden können. Effektiver erscheinen Preliminary Hearings, die der Verteidigung Beweisrechte gewähren. Zumindest dann, wenn keine Identität zwischen Entscheidungsträger in der Hauptverhandlung und des Hearings besteht. Bleibt man bei dem Beispiel Florida, muss zwischen zwei verschiedenen Formen des Preliminary Hearings unterschieden werden – Nonadversary Preliminary Hearing und Adversary Preliminary Hearing. Ein Nonadversary Preliminary Hearing muss durchgeführt werden. Es werden hier vor allem zwei Dinge entschieden: Besteht Probable Cause für die strafrechtlichen Vorwürfe und wird eine Kaution festgesetzt? Diese Anhörung muss innerhalb von 48 Stunden nach Verhaftung des Beschuldigten stattfinden.44 In diesem Verfahren hat die Verteidigung regelmäßig nicht die Möglichkeit, Zeugen zu benennen und zu befragen. Auch andere möglicherweise entlastende Beweise spielen keine Rolle. Ziel der Verteidigung ist es hier vor allem, Untersuchungshaft zu umgehen. Adversary Preliminary Hearings müssen von der Verteidigung beantragt werden.45 Hier können beispielsweise Zeugen geladen und mittels Kreuzverhör befragt werden. Anders als im Grand-Jury-Verfahren werden dem Gericht nicht nur einseitige Beweise der Staatsanwaltschaft präsentiert. Wie
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Washington Post mit Auszügen aus Bureau of Justice Statistics vom 14. 11. 2014, https:// www.washingtonpost.com/news/wonk/wp/2014/11/24/the-single-chart-that-shows-that-grandjuries-indict-99-99-percent-of-the-time/?utm_term=.f63adc8e288e, zuletzt abgerufen am 5. 3. 2018. 42 Vgl. u. a. den Report der Civil Rights Divison des Department of Justice „Investigation of the Ferguson Police Department“ vom 4. März 2015; https://www.justice.gov/sites/default/ files/opa/press-releases/attachments/2015/03/04/ferguson_police_department_report.pdf; „Investigation of the Baltimore City Police Department“ vom 16. August 2016; „Investigation of the Chicago Police Department“ vom 13. 1. 2017, https://www.justice.gov/opa/file/925846/ download, alle zuletzt abgerufen am 11. 3. 2018. 43 Independent, vom 25. 11. 2014, http://www.independent.co.uk/news/world/americas/agrand-jury-could-indict-a-ham-sandwich-but-apparently-not-a-white-police-officer-9882529. html, zuletzt abgerufen am 5. 3. 2018. 44 Florida Criminal Procedure 3.133(a)(1). 45 Florida Criminal Procedure 3.133(b).
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viel an dieser Stelle präsentiert wird, ist natürlich eine strategische Entscheidung der Verteidigung im Hinblick auf eine spätere Hauptverhandlung. Kehrt man gedanklich zurück zur Grand Jury, erkennt man, der zentrale Unterschied im amerikanischen Strafprozess liegt darin, dass die beiden Gerichte vollständig isoliert voneinander bewerten und entscheiden. Die personelle Zusammensetzung ist so unterschiedlich, dass eine auch nur funktionale Bindung an die Eröffnungsentscheidung sehr weit minimiert wird. Dies gilt nicht nur für Grand-Jury-Verfahren, sondern – wie exemplarisch dargestellt – auch in modifizierter Form für andere Pre-Trial-Verfahren. Die Schwächen des Grand-Jury-Verfahrens zeigen sich jedoch an anderer Stelle. Angesprochen ist hier insbesondere der Mangel an Verteidigungsrechten. Ausgeglichener – im Sinne von Waffengleichheit zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigung – sind Adversary Preliminary Hearings. Diese existieren jedoch nicht in allen Bundesstaaten. 3. Personale Identität und kognitive Dissonanz Die für das deutsche Zwischenverfahren spezifischere Problematik der personalen Identität ist bekannt.46 Primär wird sie allerdings unter dem Gesichtspunkt der Zuständigkeit des Gerichts der Hauptsache diskutiert, häufig unter der Fragestellung der sog. „kognitiven Dissonanz“47 und der damit zusammenhängenden Perseveranzund Inertia-Effekte, die den Kern des Problems ausmachen. Die „kognitive Dissonanz“ ist ein Begriff der psychologischen Theorie über die Verarbeitung relevanter Informationen nach einer Entscheidung. So werden situativ Informationen ausgewählt, die eine zuvor getroffene Entscheidung (weiterhin) als richtig erscheinen lassen, während durchaus verfügbare gegenteilige Informationen abgewehrt oder nicht beachtet werden. Dissonanz bedeutet in diesem Kontext einerseits die Nichtübereinstimmung bzw. Unvereinbarkeit zwischen verschiedenen Wahrnehmungen, Meinungen oder Verhaltensweisen. Der Begriff beschreibt aber auch die daraus entstehende Spannung, wie Unbehagen oder Unlustgefühl, welche das Individuum grundsätzlich aufzuheben trachtet. Gemäß der Theorie der kognitiven Dissonanz besteht im Individuum eine starke Tendenz (eine Motivation), nicht miteinander übereinstimmende kognitive Elemente zu vermeiden und die erlebte kognitive Dissonanz zu reduzieren. Das heißt, nicht mit der ursprünglichen Entscheidung kompatible Informationen werden, soweit vorhanden, tendenziell ausgeblendet. Zugleich wird aber auch die Wahrnehmung dahingehend beeinflusst, dass
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Vgl. dazu bereits Momsen/Washington, FS Rogall, 2018. http://www.medpsych.uni-freiburg.de/OL/glossar/body_kognitive_dissonanz.html, zuletzt abgerufen am 10. 2. 2018. 47
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eine Selektion oder gesteigerte Sensitivität zugunsten in das Erwartungsbild passender Informationen stattfindet.48 Das Problem stellt sich im Übergang vom Zwischenverfahren so dar, dass das Eröffnungsgericht eine Erwartung im Hinblick auf die (wahrscheinliche) spätere Verurteilung geäußert und bekanntgegeben hat. Empfänger dieser Erwartung ist nicht nur das Hauptverhandlungsgericht (gewissermaßen als zweites Ich des Eröffnungsgerichts), sondern sind auch die übrigen Verfahrensbeteiligten. Dadurch entsteht strukturell eine innere und äußere Bindung, welche zur Grundlage der beschriebenen kognitiven Dissonanz werden kann. Dass dieser Effekt erwartungsdeterminierter Wahrnehmung auch im Strafverfahren einen entscheidenden Verzerrungsfaktor darstellen kann, wurde schon verschiedentlich dargelegt.49 Explizit formulierten Bandilla und Hassemer: „Auch Strafrichter unterliegen in ihren Entscheidungsprozessen den durch die Sozialpsychologie aufgehellten Gesetzmäßigkeiten menschlicher Information-Apperzeption und Verarbeitung.“50 Diese Problematik wird auch vereinzelt zu Revisionsentscheidungen, i. d. R. anlässlich einer Rüge der Verletzung des § 261 StPO.51 Zu den in Bezug genommenen Gesetzmäßigkeiten zählen namentlich der bereits angesprochene Inertia-Effekt sowie der Perseveranz-Effekt. Ersterer beschreibt, dass einmal getroffene Entscheidungen immunisiert bleiben gegen widersprechende Informationen und sich damit eine gegebenenfalls unbewusste innere Einstellung eines Gerichts entwickelt. Sie wird zudem mit jeder weiteren Entscheidungssituation tendenziell verstärkt, sofern nicht eine Information so stark abweicht, dass sie nicht in das gebildete Paradigma integriert werden kann und dieses aufbricht. Mit diesem sich tendenziell verstärkenden Effekt wird der Wert von Informationen, die der Einstellung entsprechenden Alternative oder Hypothese folgen, überschätzt, der Wert entgegen gerichteter Informationen unterschätzt.52 Der Perseveranz-Effekt bezeichnet im Prinzip dasselbe Wahrnehmungsdefizit: Ursprünglich wahrgenommene Eindrücke von einem Ereignis oder einer Person prägen bzw. beeinflussen Beobachter nachhaltig. Demgegenüber gelingt es nur noch mit Mühe, später hinzukommende Informationen aufzunehmen und ggf. zuzulassen, dass sie die bereits entwickelte Meinung verändern“.
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Ausführlich dazu BeckOK-StPO/Eschelbach (Fn. 10), § 261 Rn. 3.1 – 3.8. Richardson/Goff, Self-Defense and the Suspicion Heuristic, Iowa Law Review 98 (2012), 293 ff.; Kahneman, Thinking, Fast and Slow, 2012 (für ökonomische und juristische Entscheidungssituationen). 50 Bandilla/Hassemer, StV 1989, 551 (554); vgl. dazu Bockemühl (Fn. 1), S. 91 (105). 51 BeckOK-StPO/Eschelbach (Fn. 10), § 261 Rn. 3.1: „Zunehmend sind bei der richterlichen Beweiswürdigung die Erkenntnisse aus erfahrungs- oder naturwissenschaftlichen Gebieten zu berücksichtigen“, mit Hinweis auf BGHSt 6, 70 (72 f.); BGH, NJW 1982, 2882 f. 52 Der Inertia-Effekt wird auch als eine Art Trägheitseffekt charakterisiert, vgl. http://www. spektrum.de/lexikon/psychologie/inertia-effekt/7116, zuletzt abgerufen am 10. 12. 2017. 49
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Grundsätzlich wird man davon ausgehen können, dass sich die meisten Richterinnen und Richter dieser Fehlerquellen durchaus bewusst sind. Allerdings spielen sich die beschriebenen Effekte weitgehend gerade im Bereich des Unbewussten ab, dringen also gar nicht auf die Ebene vor, auf der sie durch bewusste Entscheidungen korrigiert werden könnten. Gerade die spezifische Struktur des Übergangs vom Ermittlungs- ins Hauptverfahren begünstigt durch zwei Faktoren die beschriebenen Verzerrungseffekte: Zum einen besteht die angesprochene personale Identität, welche die Perseveranz- und Inertia-Effekte dadurch extrem begünstigt, dass eine eigene Entscheidung, welche einen Verfahrensabschnitt mit rechtlicher Außenwirkung abschließt53, zum Gegenstand der eigenen Prüfung im nächsten Abschnitt wird. Das Gericht überprüft also im Hauptverfahren (auch) die Qualität seiner eigenen Vorentscheidung, d. h. seiner bisherigen Arbeit – und dies vor den Augen der Öffentlichkeit. Zum anderen erfolgt die initiale Prüfung auf einer relativ geringeren Erkenntnisbasis als die spätere Überprüfung. Das ist zwar auf den ersten Blick eine schlüssige Konstruktion, soweit für das Überprüfungsprogramm der Hauptverhandlung mit der eigenen Beweisaufnahme gewissermaßen zusätzliche „Validierungstools“ zur Verfügung stehen. Die Verzerrungseffekte betreffen jedoch gerade die Anwendung dieser Tools und die Gestaltung des Prüfungsparadigmas. Sie führen daher, sofern und soweit sie auftreten, zu einer Entwertung der Beweisaufnahme und -bewertung in der Hauptverhandlung. Die Hauptverhandlung kann eines nicht garantieren: eine unabhängige und neutrale Prüfung der Stichhaltigkeit der Anklage, da keine neutrale Instanz für die Durchführung zur Verfügung steht. Weiter erschwert wird die Überprüfung bereits in diesem Verfahrensabschnitt durch unzureichende Dokumentationen der Entscheidungsfindungsprozesse.54 Dieses zentrale Problem wird mit einem Grand-Jury-Modell zumindest wesentlich entschärft. Die Verzerrungseffekte beziehen sich nicht auf eine eigene Vorentscheidung, es geht nicht um die öffentliche Bewertung der eigenen Arbeit. Ein Problem bleibt aber die grundsätzliche Ausgestaltung des Grand-Jury-Verfahrens, insbesondere die schwache Position der Verteidigung. Die Grand-Jury-Modelle brechen die personale Identität von Entscheidung und Überprüfung der Entscheidung auf, stellen sich damit als personelles Interlokut der Verhandlung dar. Die positiven Effekte, welche man sich Ende der 1970er Jahre von der Einführung eines Schuld- oder Tatinterlokuts in der deutschen Hauptverhandlung versprach, lassen sich weitgehend übertragen. Vorbilder für eine solche bindende Zwischenentscheidung über die Schuldfrage vor der Entscheidung über die Rechtsfolgen fand man insbesondere im angelsächsi53
Streng genommen werden durch die Eröffnungsentscheidung sogar zwei Verfahrensabschnitte rechtsverbindlich abgeschlossen, das Ermittlungsverfahren und das Zwischenverfahren selbst. 54 BeckOK-StPO/Eschelbach (Fn. 10), § 261 Rn. 7; vgl. auch Schünemann, StV 2000, 159 ff.; Bandilla/Hassemer, StV 1989, 551 f.; Geipel, AnwBl 2006, 784 f.; Kühne, GA 2008, 361 (369 ff.).
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schen Recht. Es führt zu einer Zweiteilung der strafrechtlichen Hauptverhandlung in einen Abschnitt mit Erhebungen zur Schuld- und einen getrennten Abschnitt mit tatsächlichen Erhebungen und rechtlichen Würdigungen zur Straffrage.55 Betrachtet man die mittlerweile in verschiedenen Phasen des Strafverfahrens vorgesehenen rechtlichen Erörterungen56 aus dieser Perspektive, so stellen sie sich als eine Vorform eines Interlokuts dar.57 Das amerikanische Bundesrecht kennt mit dem Jury Verdict bzw. Court’s Findings im Gegensatz zu Sentencing und Judgment eine vergleichbare Struktur.58 Während die Jury über die Schuld des Angeklagten befindet, entscheidet der Richter über die Strafe auf Grundlage des Jury Verdicts. 4. Neutralitätsverlust und Beharrungseffekt Weiterhin ist der oben skizzierte Verlust der Neutralität der Prüfungsperspektive der Staatsanwaltschaft in einem nur individuell zu bestimmenden Zeitpunkt vor Anklageerhebung zu berücksichtigen. „Die Wahrheitssuche erfährt in der Hauptverhandlung von Rechts wegen ihren Höhepunkt“59, sie hat dort aber weder ihren Anfang noch ein Ende.60 Geht man in der Entstehungsgeschichte möglicher Wahrnehmungsfehler noch einen weiteren Schritt zurück, so gelangt man zu der Entstehung der Anklage, welche den Gegenstand der Prüfung des Eröffnungsgerichts bildet, ohne dass von dieser unabhängige „Validierungstools“ zur Verfügung stehen. Die Anklage bildet das Ergebnis der eigenen Ermittlungen aus der Sicht und nach der Bewertung der Staatsanwaltschaft ab. Trotz dieser Verpflichtung zur Neutralität, die nichts anderes als eine Konkretisierung der Unschuldsvermutung ist, ist es wichtig zu erkennen, dass die staatsanwaltschaftliche Abschlussentscheidung über den hinreichenden Tatverdacht nach § 170 StPO anders als die nachfolgenden gerichtlichen Entscheidungen keine Entscheidung mit Überprüfungscharakter ist. Sie bildet lediglich Schlussstein und Zusammenfassung eines Entwicklungsprozesses. Da sie von der – jedenfalls in Teilen – für die Ermittlung selbst zuständigen Stelle getroffen wird, können die oben be55 Umfassend Dölling, Die Zweiteilung der Hauptverhandlung – Eine Erprobung vor Einzelrichtern und Scho¨ ffengerichten. Kriminologische Studien, Band 28, 1978; ders., Die Zweiteilung der Hauptverhandlung im Lichte praktischer Erfahrungen mit einem Reformmodell, in: Moos/Steininger, Probleme der Strafprozeßreform. Rechtsvergleichendes Seminar u¨ ber das Vorverfahren und die Hauptverhandlung, 1982, S. 116 ff. 56 §§ 160b, 202a, 212, 257b, 257c StPO. 57 Zu Vorläufern bzw. Erscheinungsformen informeller Interlokute Kleinknecht, in: Lüttger/Blei/Hanau, FS Heinitz, 1972, S. 651 ff. 58 Rule 32(k) der Federal Rules of Criminal Procedure, fakultativ möglich auch nach § 256 Abs. 2 der ÖStPO und Art. 342 der SchwStPO. Rechtsvergleichend Herrmann, Die Reform der deutschen Hauptverhandlung nach dem Vorbild des Anglo-Amerikanischen Strafprozesses, 1971, S. 103 f. 59 So BVerfGE 86, 288 (318); BGHSt 46, 349 (352 f.). 60 So BeckOK-StPO/Eschelbach (Fn. 10), § 261, Rn. 5.
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schriebenen Verzerrungseffekte selbstverständlich bereits ein erstes Mal auf dieser Ebene auftreten und dann in das Zwischenverfahren transportiert und dort durch weitere Verzerrungen überlagert oder verstärkt werden. Im Rahmen des Ermittlungsverfahrens tritt ein weiterer Faktor stärker in den Vordergrund, da das Ermittlungsverfahren stärker als Kausal- bzw. Erkenntniskette aufgebaut ist als Zwischen- und Hauptverfahren. Gemeint ist der ebenfalls aus der angelsächsischen Sozialpsychologie bekannte sog. „Slippery-Slope“-Effekt.61 Er wird beschrieben als „a course of action that seems to lead inevitably from one action or result to another with unintended consequences“62. In strafrechtlichem Kontext berief sich prominent Bernie Madoff auf eine geradezu unausweichliche Verknüpfung von Ereignissen: „,Well, you know, what happens is, it starts out with you taking a little bit, maybe a few hundred, a few thousand‘ notorious fraudster Bernie Madoff told Vanity Fair after stealing $ 18 billion from investors. ,You get comfortable with that, and before you know it, it snowballs into something big.‘“ Das zugrundeliegende Prinzip wird in einer neueren Untersuchung beschrieben: „Getting away with minor infractions ends up making it easier for people to justify bigger, more serious ethical violations. Over time, small ethical transgressions – like stealing pens from work – can put employees on the ,slippery slope‘ of increasingly bad behavior“63, bzw. „the slippery slope argument views decisions not on their own, but as the potential beginning of a trend. In general form, this argument says that if we allow something relatively harmless today, we may start a trend that results in something currently unthinkable becoming accepted“.64 Es geht also verkürzt gesagt in der Perspektive des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens darum, dass bspw. eine ungenau übersetzte Zeugenaussage65, ein nicht vollständig ausgewertetes Datenpaket eines VOIP-Telefonats66 oder eine fehlerhaft zugeordnete DNA-Spur67 dazu führen können, dass ein Ermittlungsverfahren eine völlig falsche Richtung einschlägt, die u. U. später nicht mehr korrigiert werden kann. Korrekturen sind auch deshalb schwierig, weil die weiteren Ermittlungen sich ggf. organisch an die vorherigen anschließen und die Überzeugungskraft des 61 https://www.psychologicalscience.org/news/minds-business/the-slippery-slope-effectminor-misdeeds-lead-to-major-ones.html, zuletzt abgerufen am 17. 12. 2017. 62 https://www.merriam-webster.com/dictionary/slippery%20slope, zuletzt abgerufen am 17. 12. 2017. 63 https://www.merriam-webster.com/dictionary/slippery%20slope, zuletzt abgerufen am 17. 12. 2017. 64 http://www.bbc.co.uk/ethics/introduction/slipperyslope.shtml, zuletzt abgerufen am 17. 12. 2017. 65 Vgl. dazu ausführlich Momsen/Rackow/Schwarze, NStZ 2018, Heft 6 (im Erscheinen). 66 Näher Momsen, in: Beck/Meier/Momsen, Cybercrime und Cyberinvestigations. Neue Herausforderungen der Digitalisierung für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie, 2015, S. 67, 73 ff. 67 Dazu Lipphardt, Freispruch 11 (2017), 8 ff.; Bliewier, Freispruch 11 (2017), 4 ff.; Momsen, Freispruch 11 (2017), 20 ff.; A. Lipphardt/V. Lipphardt, BioSkop 2017, 3 ff.
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sich ergebenden Bildes immer größer wird, je länger die Ermittlung dauert. Idealtypisch zeigte sich dieser Vorgang im Kontext der NSU-Ermittlungen, in Bezug auf die zunächst erstellten, erwartungs- und vorurteilsbasierten völlig unzutreffenden Täterprofile.68 Die Entwicklung kulminierte dann in der Verdachtszuordnung des sog. „Phantoms von Heilbronn“69 an eine „osteuropäische nicht sesshafte weibliche Person“. Zwar konnte dieses Profil im Ergebnis widerlegt werden, jedoch ist davon auszugehen, dass wegen der langfristigen Fehlsteuerung der Ermittlung erhebliche Beweisverluste eingetreten sind. Bemerkenswert ist i.Ü., dass hier der Slippery-SlopeEffekt auf (im Ergebnis auch rassistisch basierten) kognitiven Fehlschlüssen aufsattelte, was zu erheblichen Verstärkungseffekten führte.70 Allerdings zeigt das Slippery-Slope-Argument lediglich eine mögliche Entwicklung auf. Es hat keinerlei Aussagekraft im Hinblick auf eine notwendige oder auch nur empirisch generell wahrscheinliche Abfolge von Ursachen. Würde man einen entsprechenden kausalen Zusammenhang konstruieren wollen, indem mögliche Folgen zu wahrscheinlichen oder sogar vorherbestimmten Folgen gemacht werden, wird das Slippery-Slope-Argument zu einem Fehlschluss, weil es uns suggeriert, dass A notwendig zu B führen muss und B wiederum notwendig zu C, bis man zwangsläufig am unerwünschten Endpunkt Z angekommen ist. Dabei ist überhaupt nicht sicher, ob Awirklich zu B führt – und selbst wenn, müsste für jeden einzelnen weiteren Schritt – C, D, E, F usw. – nachgewiesen werden, dass sein Eintreten kausal oder logisch aus den vorangegangenen Schritten folgt.71 Das Argument hat also methodisch keine prädiktive Aussage dahin, dass der mögliche Effekt auch tatsächlich auftreten muss. Allerdings geht es vorliegend auch nicht um die Bildung von Kausalketten, sondern um das Aufzeigen von Risiken – und deren Bewertung. In diesem Sinne ist es zielführend, mit Dürrenmatt davon auszugehen, dass eine Geschichte erst dann zu Ende gedacht ist, wenn sie die schlimmstmögliche Wendung genommen hat.72 Diese läge vor, wenn zunächst die Ermittlung einem auch nur moderaten Slippery-Slope-Effekt unterliegen würde und dieser dann im weiteren Verfahren nicht aufgedeckt würde, weil Perseveranz-Effekte dazu führen, dass die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung nicht in ausreichender Weise kritisch durchgeführt wird. Zu berücksichtigen ist daneben auch, dass die kritische Überprüfungsfunktion der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung kumulativ durch weitere Faktoren beeinträchtigt werden kann – etwa dann, wenn es zu einem frühen Zeitpunkt zu einer Ver68 Washington, Die Ermittlungsarbeit im Rahmen der NSU-Morde als Form des Racial Profiling, 2015, online verfügbar unter: https://nsuprozessentgrenzen.wordpress.com/2015/03/ 20/die-ermittlungsarbeit-im-rahmen-der-nsu-morde-als-form-des-racial-profiling/#more-226, zuletzt abgerufen am 6. 3. 2018. 69 Lipphardt, Freispruch 11 (2017), 8 ff. 70 Lipphardt, Freispruch 11 (2017), 8 ff.; Bliewier, Freispruch 11 (2017), 4 ff. 71 http://www.hoheluft-magazin.de/2015/11/na-logisch-das-slippery-slope-argument/, zuletzt abgerufen am 17. 12. 2017. 72 Dürrenmatt, Die Physiker, 1962, S. 70.
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fahrensabsprache nach § 257c StPO kommt, in deren Folge weitere Beweiserhebungen zumindest teilweise unterlassen werden.73 Auch hier ist ein Blick auf das US-Verfahren aufschlussreich. Absprachen oder Plea Agreements werden als einer der Hauptgründe für Fehlverurteilungen gesehen.74 Die Ursache hierfür ist aber möglicherweise – anders als in Deutschland – nicht auf kognitive Dissonanzen des Gerichts zurückzuführen. Eine gescheiterte Absprache, an der das Gericht mitgewirkt hat, gibt es in den USA in der Form nicht.75 Plea Bargaining findet regelmäßig zwischen Staatsanwaltschaft und Beschuldigtem statt. Das Gericht ist erst wieder in der Sentencing-Phase – nach der Entscheidung über die Schuld des Angeklagten – Hauptakteur. Hier unterscheidet sich der adversatorische entschieden von dem inquisitorischen Strafprozess. Gründe für das Versagen des amerikanischen Plea-Bargaining-Systems hängen wohl eher mit dessen Zwangswirkung zusammen. Abschließend könnte man auch hier frühe Verteidigung als ein Korrektiv anmahnen. Je stärker das Verfahren eine adversatorische und konsensuale Struktur annimmt, umso mehr müssen sich die Gestaltungsmöglichkeiten in allen Stadien des Verfahrens angleichen. Zudem ist die immer stärkere Tendenz zum Transfer von Beweismitteln aus dem Ermittlungsverfahren in das Hauptverfahren zu berücksichtigen. Gerade letzteres kann die vorhandenen Perseveranz-Effekte noch verstärken, da der Verteidigung die Einflussnahme auf die Auswahl, Überprüfung und Würdigung von Beweisen weiter erschwert wird. Daher wäre neben der Gewährleistung einer frühen Verteidigung vor allem auch die Einräumung von Mitwirkungsrechten, insbesondere einem Beweisantrags- oder Überprüfungsrecht im Ermittlungsverfahren, geboten.76
VII. Fazit und mögliche Alternativen Die Struktur des Zwischenverfahrens im deutschen Strafprozess zeigt eine hohe Anfälligkeit für Wahrnehmungs- und daraus folgende Bewertungsfehler. Diese werden begünstigt durch die personelle Identität von Eröffnungs- und Hauptverhand73 Gleiches gilt für die beschriebenen Effekte innerhalb des Ermittlungsverfahrens, wenn dieses vor Anklageerhebung nach § 153 ff. StPO (also faktisch ebenfalls durch eine Verständigung) beendet wird. 74 Roach, North Carolina Journal of International Law and Commercial Regulation 2010, 387 (396). 75 Vgl. zu den dadurch i.R. § 257c StPO entstehenden Verzerrungseffekten Momsen/ Washington, in: FS Rogall, 2018. 76 Entsprechende Reformen sind gem. der „Richtlinie 2016/800 v. 11. 5. 2016 über Verfahrensgarantien fu¨ r Kinder als Verda¨ chtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren“ sowie der „Richtlinie 2016/1919 über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls“ v. 26. 10. 2016 ohnehin durchzuführen.
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lungsgericht. Da zudem keine sachlich und methodisch unabhängige Prüfung der Anklage durch das Eröffnungsgericht erfolgen kann, bleibt das Versprechen einer unabhängigen gerichtlichen Prüfung der Anklage uneingelöst. Die gleichwohl (scheinbar) moderate Quote von Fehlurteilen77 lässt sich letztlich nur auf die persönliche Integrität der agierenden Personen zurückführen und auf die derzeit relativ geringen Störfaktoren (wie politische oder sonst begründete Voreingenommenheit). Trotz der günstigeren Struktur ist auch das amerikanische Verfahren erheblichen Verzerrungsfaktoren ausgesetzt, die vielfältigen Innocence-Projects, die insbesondere noch nicht vollstreckte Verurteilungen zur Todesstrafe mit Blick auf unzutreffend oder nicht ausgewertete Beweise untersuchen78, und ihre Erfolge sind ein beredtes Beispiel für teilweise haarsträubende Verzerrungen in der Wahrnehmung der Strafverfolgungsorgane. Die Kontrollfunktion des amerikanischen Äquivalents zum Zwischenverfahren ist zwar weniger von kognitiven Dissonanzen geplagt, aber zumindest aus Sicht der Verteidigung ein zahnloser Tiger. Sinnvoller scheinen hier Adversary Preliminary Hearings – wie man sie in der Strafprozessordnung von Florida auffindet. Ein solches Verfahren gibt der Verteidigung die Möglichkeit, entlastende Beweise noch vor einer Hauptverhandlung zu präsentieren und so Zweifel an der Anklage zu einem Zeitpunkt zu säen, in dem sich das Gericht noch keine abschließende Meinung über das Geschehen bilden konnte. Um die zu Beginn eingeführte Analogie zu einer Verkaufssituation aufzugreifen, schaut das Gericht auch im Falle eines Preliminary Hearings zwar zum Teil weiterhin durch die Brille der Staatsanwaltschaft. Der Verteidigung wird es aber erlaubt, korrigierend tätig zu werden und den Blick des Gerichts ggf. zu schärfen oder auf völlig neue Perspektiven zu verweisen. Es findet eine Korrektur des staatsanwaltschaftlichen Narrativs statt. Strukturelle Schwächen des deutschen Strafprozesses können natürlich zuvorderst durch eine personelle Trennung von Eröffnungs- und Hauptverhandlungsgericht verringert werden. Grundsätzlich bietet sich eine institutionelle Trennung im Sinne exklusiver Spruchkörper für das Zwischenverfahren an. Als weniger ressourcenintensive Maßnahme erscheint es sinnvoll, dass eine schriftliche Prognose im Hinblick auf die Verwertbarkeit der von der Anklage in Bezug genommenen Beweise im Eröffnungsbeschluss erfolgen muss. Auf diese Weise wird das Eröffnungsgericht
77 Solange man nicht die Zahlen von Eschelbach, in: BeckOK-StPO (Fn. 10), § 261 Rn. 69 ff. zugrunde legt. Diese sind zwar argumentativ überzeugend, jedoch nur unzureichend empirisch nachprüfbar. Methodische Kritik kann natürlich auch an den Untersuchungen von Peters, Fehlerquellen im Strafprozess. Eine Untersuchung der Wiederaufnahmeverfahren in der Bundesrepublik Deutschland, 3 Ba¨ nde, 1970 – 1974 und Hirschberg, Das Fehlurteil im Strafprozess, 1960, S. 88 f. (dazu König, StV 1998, 113; vgl. auch Alsberg, Justizirrtum und Wiederaufnahme, 1913, S. 39) geübt werden, die zu den erwähnten relativ moderaten Zahlen kommen; Pieplow, Freispruch 10 (2017), 20 f. 78 Vgl. Medwed (Hrsg.), Wrongful Convictions and the DNA-Revolution – Twenty-Five Years of Freeing the Innocent, Cambridge 2017.
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regelmäßig dazu veranlasst, auch die Entstehungsgeschichte der in Bezug genommenen Beweise zu hinterfragen. Der Anklage sollte auch eine Aufstellung der nicht verwerteten Beweismittel beigegeben werden, um dem Eröffnungsgericht nicht nur eine Prüfung der Qualität der präsentierten Beweise zu ermöglichen, sondern auch eine Überprüfung der Auswahl der Beweise. Hingegen erscheint der Schluss, dass gerade wegen der Verzerrungsgefahren durch Inertia-, Perseveranz- und Slippery-Slope-Effekte der Grundsatz der Wahrheitsermittlung im Prinzip jedweder Verfahrensabsprache entgegenstehe79, weder in dieser Schärfe zuzutreffen noch im Ergebnis wünschenswert. Vielmehr kann gerade die Absprache dazu führen, dass auch die Perspektive der Verteidigung eine größere Bedeutung gewinnt und Möglichkeiten entstehen, aufgrund eigener Initiative auf die Beurteilung der Beweisgrundlage Einfluss zu nehmen. Der pragmatische Zwang, die Beweiswürdigung im Verfahren zu diskutieren, kann im Gegenteil einen positiven Effekt auf die Öffnung der Beweiswürdigung gegenüber alternativen Deutungsmöglichkeiten erlangen und insoweit – günstigstenfalls – Verzerrungseffekte reduzieren. Dass hieraus eine funktionale Relativierung des Ziels der Wahrheitsermittlung folgt, ist letztlich eine Anerkennung der gegenwärtigen Verfahrensrealität, die im Blick zu behalten ist. Aufgrund der eigenständigen Verzerrungseffekte im Ermittlungsverfahren wäre eine generelle Begründung von Einstellungsentscheidungen nach §§ 153 ff. StPO wünschenswert, um die bis dato weitgehend informelle Beweiswürdigung überprüfen zu können. Um diese Verpflichtung effektiv zu gestalten, spricht einiges dafür, über eine grundsätzliche richterliche Überprüfungsmöglichkeit entsprechender Beschlüsse auf die Einhaltung bestimmter Rahmenbedingungen nachzudenken.80 Schließlich zeigt auch der rechtsvergleichende Blick, dass ein Ermittlungsverfahren in kaum zu behebender Weise anfällig für Verzerrungseffekte ist. Für den deutschen Strafprozess sollte daher das Narrativ von der Neutralität von Ermittlungsmaßnahmen und Ermittlungspersonen formell aufgegeben werden. Unabhängig von der keineswegs überflüssigen Regelung des § 160 StPO sollte aber eine unabhängige Überprüfung der Ermittlungen durch die Verteidigung ermöglicht werden. Zu fordern sind dementsprechend eine Gewährleistung früher Verteidigung mit u. a. Beweisantrags- und Überprüfungsrechten sowie ein eigenes Antragsrecht der Verteidigung im Zwischenverfahren.
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So aber BeckOK-StPO/Eschelbach (Fn. 10), § 261 Rn. 6 f. Dann allerdings benötigt man eine zumindest bereichsspezifische Form von „Sentencing Guidelines“ – dazu Momsen/Grützner, CCZ 2017, 242 ff.; Momsen, Pragmatische Reform oder Verflüssigung von Verfahrensstandards, in: Organisationsbüro der Strafverteidigervereinigungen, Bild und Selbstbild der Strafverteidigung. 40. Strafverteidigertag in Frankfurt a. M., 2016, S. 83 ff.; Frase/Momsen/O’Malley/Washington, Proportionality in Sentencing, Cambridge 2018 (im Erscheinen). 80
Verteidigung bei Untersuchungshaft Von Christine Morgenstern
I. Überblick Tatverdächtige, denen Untersuchungshaft droht, sehen sich zwei Schwierigkeiten ausgesetzt: Sie müssen auf ihre drohende Inhaftierung reagieren und sich auf das anstehende Strafverfahren vorbereiten. Die Wahrnehmung ihrer Beschuldigten- und Verteidigungsrechte ist daher nicht nur doppelt wichtig, sie ist eine komplexe Aufgabe. Auch der Jubilar hat sich mit der Verhängung von Untersuchungshaft mit Blick auf junge Beschuldigte, aber auch mit Blick auf die notwendige Verteidigung beschäftigt.1 Sein kritischer Blick auf die oftmals mängelbehaftete haftrichterliche Entscheidungsfindung soll hier für das allgemeine Strafrecht aufgegriffen und die Notwendigkeit angemessenen Beistands in der Entscheidungssituation und während der Haft diskutiert werden. Dazu werden empirische und kriminologisch-vergleichende Erkenntnisse herangezogen, insbesondere aus einer qualitativen Studie zur Untersuchungshaftpraxis in Europa. Am Ende stehen Vorschläge zur Verbesserung der gegenwärtigen Situation in Deutschland.
II. Verteidigung bei Untersuchungshaft 1. Bedeutung und Aufgaben der Verteidigung Beschuldigte müssen zur „Wahrung ihrer Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Strafverfahrens Einfluss nehmen“ können,2 das Recht auf umfassende Verteidigung gehört „zu den fundamentalen Attributen menschlicher Würde und zu den grundlegenden Prinzipien des Rechtsstaats“.3 Die prozessuale Garantie einer wirksamen Verteidigung durch professionelle Unterstützung ist damit ein Menschenrecht und lässt sich zum einen aus Art. 6 Abs. 3 EMRK, zum anderen verfassungsrechtlich aus dem Rechtsstaatsprinzip i.V.m. Art. 2 Abs. 1 und mit Art. 1 GG ableiten. Einfachgesetzlich findet sich die Garantie in § 137 Abs. 1 S. 1 StPO, wonach der Be1 Z. B. Eisenberg/Tóth, GA 1993, 293 ff.; Eisenberg, StV 2015, 180 ff.; Eisenberg/Wolf, ZJJ 2016, 412 (415 ff.). 2 BVerfG, NJW 1984, 113 (114); BVerfGE 46, 202 (210). 3 Z. B. BGH, NJW 2010, 3010.
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schuldigte das Recht hat, sich in jeder Lage des Verfahrens des Beistandes eines Verteidigers zu bedienen. Sie wird ergänzt durch das Institut des notwendigen Verteidigers (§ 140 StPO). Es wird zum Teil individuell-beschuldigtenschützend (d. h. aus dem Rechtsstaatsprinzip i.V.m. Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG und dem Sozialstaatsprinzip),4 zum Teil überindividuell-rechtsstaatlich begründet. Nach Auffassung des BVerfG sichere der Gesetzgeber so „das Interesse, das der Rechtsstaat an einem prozeßordnungsgemäßen Strafverfahren und zu diesem Zweck nicht zuletzt an einer wirksamen Verteidigung des Beschuldigten hat“.5 Hier wird deutlich, dass die Rechtsprechung den Verteidiger als Organ der Rechtspflege versteht, braucht und ggf. auch instrumentalisiert.6 Dabei wird auch in der strafprozessualen Diskussion in Deutschland zunehmend mit der Vokabel der „Waffengleichheit“ operiert, wenn es um das Recht auf einen Beistand geht.7 So mehrten sich um die Jahrtausendwende die Stimmen, die die schwache Position des Beschuldigten und seine schlechten Aussichten, bereits im Stadium des Vorverfahrens einen Verteidiger bestellt zu bekommen, kritisierten.8 Aus Sicht der Gewährleistung eines fairen Verfahrens im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK ist es geboten, den Verlust von Verteidigungsmöglichkeiten, die sich aus dem Haftvollzug ergeben, stets und zwingend – d. h. ggf. durch eine Verteidigerbeiordnung – auszugleichen.9 Vier spezifische Aufgaben des Verteidigers in Untersuchungshaftsachen sind herauszuheben: Zu überprüfen ist die Dringlichkeit des Tatverdachts, die nach § 112 Abs. 1 S. 1 StPO Voraussetzung eines Haftbefehls ist. Zweitens erfordert die Komplexität der gesetzlichen Voraussetzungen der Haftgründe nach §§ 112, 112a StPO und ihre oft problematische Handhabung durch die Staatsanwaltschaften und Gerichte eine energische und gut vorbereitete Verteidigung.10 Verteidiger sind aber drittens häufig auch genötigt, selbst zu ermitteln bzw. Informationen zu beschaffen: Oftmals hat der Haftrichter, wenn er Betroffene nach ihrer Festnahme vorgeführt bekommt, kaum Informationen, die über das polizeiliche Ermittlungsergebnis, den Bundeszen4 Vgl. im Zusammenhang mit dem Fürsorgeprinzip Morgenstern, Die Untersuchungshaft, 2018, S. 369 f. 5 BVerfG, NJW 1984, 113. 6 Zum Meinungsstand Kühne, Strafprozessrecht, 8. Aufl. 2016, S. 124 ff.; SK-StPO/Wohlers, 5. Aufl. 2016, Band III, Vor § 137 Rn. 4 ff., für ihn ist die Verteidigung „konstitutives Element des fairen Verfahrens“ (Rn. 31). 7 Z. B. BVerfG, StV 2002, 579; kritisch zum Begriff als „Worthülse“ Safferling, NStZ 2004, 181 (188); auch Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 28. Aufl. 2014, S. 69, die „Verfahrensbalance“ für angemessener halten. 8 Vgl. z. B. Sowada, NStZ 2005, 1 ff. zu einer „grundsätzlichen Pflicht zur frühzeitigen Verteidigerbestellung“. 9 In diesem Sinne z. B. Gaede, Fairness als Teilhabe, 2007, S. 571 ff.; Weiß, Haft ohne Urteil. Strafprozessuale Freiheitsentziehungen im deutsch-französischen Vergleich, 2015, S. 788 ff. 10 Ausführlich Morgenstern (Fn. 4), S. 440 ff.; zur Fluchtgefahr Wolf, Die Fluchtprognose im Untersuchungshaftrecht, 2017.
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tralregisterauszug und das Festnahmeprotokoll hinausgehen. Hier ist de jure zwar die Justiz aufgerufen, alle für das Verfahren – und eben auch den Haftgrund – relevanten Umstände zu Gunsten und zu Lasten des Beschuldigten aufzuklären. De facto ist aber oft die Verteidigung gefragt, möglichst schnell weitere Informationen zu den Lebensumständen herbeizuschaffen, um ggf. Untersuchungshaft dadurch abzuwenden, dass Haftgründe entkräftet werden können (insbesondere zu einem festen Wohnsitz, familiären Bindungen oder einer Arbeitsstelle). Da anders als durch die Mitwirkung der Jugendgerichtshilfe, die gem. §§ 72, 72a, 109 JGG11 haftvermeidend tätig werden muss, bei Erwachsenen haftvermeidende Initiativen durch die Gerichtshilfe oder die Straffälligenhilfe weitgehend fehlen, fällt diese Aufgabe in der Regel der Verteidigung zu. Konkret können sich Aktivitäten in diesem Stadium darauf erstrecken, schnell nach einer festen Wohnadresse (Wohnheimplatz o. ä.) oder einer geeigneten Therapieeinrichtung zu suchen. In der Regel wird aber die Zeit bis zur Vorführung zu knapp sein, hier viel zu erreichen. Es ist daher viertens Aufgabe des Verteidigers, zur Klärung offener Fragen mit dem Ziel der Haftvermeidung möglichst umgehend auf eine Haftprüfung gem. § 117 StPO hinzuwirken, soweit diese nicht von vornherein aussichtslos erscheint. Für eine wirksame Verteidigung gerade in Haftsachen ist außerdem Akteneinsicht unerlässlich; es muss deshalb regelmäßig sofort ein entsprechender Antrag gestellt werden. 2. Notwendige Verteidigung Bereits 1906 war u. a. von Franz von Liszt daher die Beiordnung eines Verteidigers bereits dann gefordert worden, „wenn der Antrag auf Verhängung der Untersuchungshaft gestellt ist“, dies sei „ein unabweisbares Gebot der Gerechtigkeit“.12 Nachdem diese Forderung nie ganz verstummt war,13 wurde sie mehr als einhundert Jahre später wenigstens mit Beginn der Untersuchungshaft ins Gesetz aufgenommen. Im Gesetzgebungsverfahren war lange davon nicht die Rede, primär war es um das Akteneinsichtsrecht gegangen. Erst spät sprach sich der Rechtsausschuss einmütig für eine notwendige Verteidigung in Untersuchungshaftfällen „von Anfang an“ aus, unter anderem mit dem Argument der Benachteiligung armer, sprachunkundiger oder sonst benachteiligter Beschuldigter, die regelmäßig die ersten drei Monate in UHaft unverteidigt verbrächten.14 Der Meinungsumschwung war wohl dem beständigen Werben der Strafverteidigervereinigungen und dem Umstand geschuldet, dass die damals wortführenden Parlamentarier sämtlich Strafverteidiger waren.15 11 Vgl. zur problematischen Praxis z. B. KG, StraFo 15, 108 = ZJJ 15, 204 m. Anm. Eisenberg. 12 von Liszt, Die Reform des Strafverfahrens, 1906, S. 46. 13 Vgl. nur Satzger in seinem Gutachten zum 65. DJT (2004, C 88) und die entsprechenden Beschlüsse (DJT 2004, S. 13 f.). 14 Plenarprotokoll 16/224 v. 28. 5. 2009, S. 24547 ff. 15 Vgl. Morgenstern, in: Egg/Dessecker, Justizvollzug und Strafrechtsreform im Bundesstaat, 2011, S. 60 (78 f.).
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Mit dem Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts vom 29. 7. 2009, das am 1. 1. 2010 in Kraft trat,16 ist jedenfalls nun nach § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO eine Verteidigerbeiordnung notwendig, wenn gegen einen Beschuldigten Untersuchungshaft oder eine einstweilige Unterbringung vollstreckt wird – mithin ab dem Tag, an dem er in der Haftanstalt ankommt.17 Hingegen löst nach gegenwärtiger Rechtslage derzeit die Festnahme oder das bloße Bestehen eines Haft- oder Unterbringungsbefehls trotz seit v. Liszt vielfach geäußerter anderslautender Forderungen18 die Beiordnungspflicht noch nicht aus. Das gilt auch für Fälle, in denen der Haftbefehl aufrechterhalten wird, aber zugleich mit seiner Verkündung außer Vollzug gesetzt wird.19 Für viele kommt jedoch auch nach der Neuregelung die Einschaltung der Verteidiger für die Frage, ob Untersuchungshaft vermieden werden kann, zu spät. Kritik wird daher vor allem von Strafverteidigern geäußert, wenngleich offenbar diesbezüglich keine Einigkeit herrscht.20 In einem jüngst erschienen Policy Paper des Organisationsbüros der Strafverteidigervereinigungen wird aber wiederum ausdrücklich eine entsprechende Erweiterung des § 140 StPO gefordert.21 Die vom Bundesjustizministerium eingesetzte Expertenkommission zu einer Strafprozessreform lehnte hingegen in ihrem Bericht von 2015 – entgegen der Empfehlung des beauftragten Gutachters22 – einen „Pflichtverteidiger der ersten Stunde“ mehrheitlich ab und führte vor allem organisatorische Schwierigkeiten und den Zeitdruck bis zur ersten Vorführung ins Feld: Eine sachgerechte Auswahl eines Verteidigers und dessen Vorbereitung sei in so kurzer Zeit nicht möglich und würde Verteidigerwechsel mit den bekannten Problemen nach sich ziehen.23 In den im August 2017 in Kraft getretenen „Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens“ wurde zwar eine Erweiterung der Beiordnungsvorschriften mit Blick auf bestimmte Fälle richterlicher Vernehmungen in das Gesetz aufgenommen (§ 141 Abs. 3 S. 4 16
BGBl. I 2009 S. 2274. Zur Frage, wann bei Festnahme nach sog. Dezernatshaftbefehlen Untersuchungshaft „vollzogen“ wird, Morgenstern (Fn. 4), S. 522 f. und mit Kritik an der gegenwärtigen Rechtsprechung Eisenberg, StV 2015, 180. 18 Z. B. Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, 5. Aufl. 2016, S. 121 f.; Wohlers, StV 2010, 151 (153); Esser, in: Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, Bericht der Expertenkommission zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des allgemeinen Strafverfahrens und des jugendgerichtlichen Verfahrens. Anlagenband 1, 2015, S. 6 (16); SSW-StPO/Herrmann, 2. Aufl. 2016, Vor §§ 112 ff. Rn. 51. 19 Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 60. Aufl. 2016, § 140 Rn. 14; Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drs. 16/13097, S. 19; bestätigt durch BGH, NStZ 2014, 722 (immerhin bei einem Mordverdacht). 20 Vgl. Jahn, Zur Rechtswirklichkeit der Pflichtverteidigerbestellung, 2014, S. 38. 21 Bahns/Burkert/Guthke/Kitlikoglu/Scherzberg, Neuordnung der Pflichtverteidigerbestellung, 2018, S. 20 ff. 22 Esser (Fn. 18), S. 16. 23 Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, Bericht der Expertenkommission zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des allgemeinen Strafverfahrens und des jugendgerichtlichen Verfahrens, 2015, S. 39 ff. 17
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StPO); jedoch gerade nicht eine notwendige Verteidigung bei drohender Inhaftierung.24 3. Das Akteneinsichtsrecht der Verteidigung Auf die Notwendigkeit, so bald als möglich Informationen über den Sachstand und damit Einsicht in die Verfahrensakte zu erhalten, wurde bereits hingewiesen. Das Akteneinsichtsrecht gehört zu den Bereichen, in denen die Annahme, dass deutsches Recht den menschenrechtlichen Anforderungen der EMRK stets genüge, „leicht erschüttert“ wurde.25 Dies liegt daran, dass § 147 Abs. 2 StPO aF in seiner bis 2010 geltenden Fassung Akteneinsicht versagte, „wenn sie den Untersuchungszweck gefährden kann“ und Auskünfte außerdem ggf. auf Aktenteile und mündliche Informationen beschränkte. Dies war mit dem potenziellen Risiko für die Ermittlungen begründet.26 Immerhin war es aber schon vor Änderung der Gesetzeslage anerkannt, dass es gegen das faire Verfahren und gegen Art. 103 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 2 und Art. 19 Abs. 4 GG verstoßen konnte, wenn die mündlich mitgeteilten Akteninhalte nicht ausreichten, sich effektiv gegen den Haftbefehl zur Wehr zu setzen, ggf. musste ein solcher Haftbefehl dann aufgehoben werden.27 In den Verurteilungen Deutschlands stützte sich der EGMR auf Art. 5 Abs. 4 EMRK, der eine richterliche Haftkontrolle vorsieht und in der Zusammenschau mit Art. 5 Abs. 3 und Art. 6 EMRK zu einem umfassenden Rechtsschutz führt. Um ihm gerecht zu werden, muss das Gebot der Waffengleichheit geachtet werden, was nicht nur einen Anspruch auf rechtlichen Beistand einschließt, sondern auch voraussetzt, dass zur Verteidigung ausreichende Informationsmöglichkeiten gegeben sind. Die erwähnte und vom Bundesverfassungsgericht akzeptierte Beschränkung der Akteneinsicht hielt der Überprüfung durch den EGMR nicht stand.28 Zur Begründung wurde u. a. angeführt, dass die Verweigerung des Zugangs zu Dokumenten, die zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Inhaftierung „essentiell“ sind, gegen das Gebot der Waffengleichheit verstoße. Ungeachtet dessen gab es weiter obergerichtliche deutsche Entscheidungen, die das Akteneinsichtsrecht inhaftierter Beschuldigter bzw. ihrer Verteidiger erheblich 24
Gesetz vom 17. 8. 2017, BGBl. 2017 I S. 3202. Weigend/Salditt, in: Cape/Hodgson/Prakken, Suspects in Europe, 2007, S. 78 (81); ähnlich Scheffler, in: Joerden/Szwarc, Europäisierung des Strafrechts in Polen und Deutschland – rechtsstaatliche Grundlagen, 2007, S. 97 (98). 26 Das ist auch vom EGMR akzeptiert, ständige Rspr., z. B. Urt. v. 13. 2. 2001 (Lietzow ./. Deutschland), para. 47. 27 BVerfG, NStZ 1994, S. 551. 28 EGMR, Urt. v. 13. 2. 2001 – 24479/94 (Lietzow ./. Deutschland); EGMR, Urt. v. 13. 2. 2001 – 23541/94 (Garcia Alva ./. Deutschland); EGMR, Urt. v. 5. 7. 2001 – 38321/97 (Erdem ./. Deutschland); ähnliche Entscheidungen ergingen gegen anderen Staaten, z. B. EGMR, Urt. v. 15. 1. 2008 – 28482/03 (Łaszkiewicz ./. Polen), paras. 77 ff. 25
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beschränkten.29 Die EGMR-Rechtsprechung zwang die Bundesregierung daher letztlich zur Überarbeitung von § 147 Abs. 2 StPO: Seit 2010 ist nun bei angeordneter oder drohender Untersuchungshaft „in der Regel“ Akteneinsicht zu gewähren. Dass die beschriebene Ausweitung der notwendigen Verteidigung und die Neuregelung des Akteneinsichtsrechts in der Reform verknüpft wurden, ist dabei kein Zufall: Der EGMR fordert Waffengleichheit für den Beschuldigten – Akteneinsicht kann aber nach herrschendem deutschen Verständnis nur sein Verteidiger haben.30 Dem Beschuldigten, der keinen Verteidiger hat, sind gem. § 147 Abs. 7 StPO lediglich Auskünfte und Abschriften aus den Akten zu erteilen. Versteht man also die Entscheidungen des EGMR in der oben dargestellten Weise, dass nämlich vernünftige Verteidigungsaussichten gegen die Haft in der Regel nur nach Kenntnis der vollständigen Akten möglich sind, ergibt sich die frühe notwendige Verteidigung auch hieraus. Die wiederholten Verurteilungen Deutschlands durch den EGMR haben daher mittelbar auch der Forderung nach notwendiger Verteidigung bei vollzogener UHaft Schützenhilfe gegeben. Nunmehr wird auch von den Kritikern der bisherigen Regelungen zugestanden, dass die Gesetzesfassung zumindest für inhaftierte Beschuldigte eine Verbesserung der Situation gebracht habe, Kritik bleibt allerdings für noch nicht verhaftete Beschuldigte bestehen.31 Inwieweit sich praktisch Verbesserungen dadurch ergeben werden, dass mit § 32 f StPO seit dem 1. 1. 2018 eine Regelung existiert, nach der Einsicht in die elektronische Akte genommen und sie in digitalisierter Form angefordert werden kann, ist noch nicht zu sagen – die praktische Umsetzung wird sich noch bis 2026 hinziehen.32
III. Verteidigung bei Untersuchungshaft im Spiegel der Forschung 1. Verkürzung der Untersuchungshaft durch frühe Strafverteidigung Ein ganzer Verbund von Studien, die in den 1990er und 2000er Jahren durchgeführt wurden, beschäftigte sich mit der Verkürzung von Untersuchungshaft durch den Einfluss früher Strafverteidigung.33 Der Ausgangspunkt war die Tatsache, dass die 29 Nachweise bei Tsambikakis, ZIS 2009, 504. Vgl. zur noch immer nicht einheitlichen Rechtsprechung zur Notwendigkeit, den Haftbefehl aufzuheben, wenn zur Vorbereitung der Haftprüfung keine Akteneinsicht gewährt wurde, AG Magdeburg, StV 2016, 448 (dafür) und AG Frankfurt/Oder, Beschl. v. 24. 3. 2014 – 45 Gs 48/14 (dagegen). 30 Roxin/Schünemann (Fn. 7), S. 133. 31 Näher Morgenstern (Fn. 4), S. 531 f. 32 Gesetz zur Einführung der elektronischen Akte in der Justiz und zur weiteren Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs (v. 5. 7. 2018, BGBl. 2017 I S. 2208); zum Zeitplan zur Umsetzung Kesper/Ory, NJW 2017, 2709 (2712). 33 Zusammenfassend Busse, Frühe Strafverteidigung und Untersuchungshaft, 2008, S. 61 ff.; zuvor Schöch, in: Jehle/Hoch, Oberlandesgerichtliche Kontrolle langer Untersu-
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Chancen des Untersuchungsgefangenen auf frühe Verteidigung durch Beiordnung eines Verteidigers lange Zeit gering waren, eine Verteidigerbestellung erfolgte im Einklang mit dem damaligen Recht regelmäßig erst nach drei Monaten. Ältere Forschungsergebnisse hatten gezeigt, dass bis zu einem Drittel der Untersuchungsgefangenen ganz unverteidigt blieben, bei vielen andere erfolgte die Verteidigung erst zu einem relativ späten Zeitpunkt.34 Alle Untersuchungen ergaben konkrete Haftzeitverkürzungen bei früherer Beiordnung, wegen eines Kontrollgruppendesigns sind dabei am aussagekräftigsten die Ergebnisse der 2008 von Busse vorgelegten Studie. Danach ergaben sich bei Verteidigung ab Beginn der Untersuchungshaft bzw. nach einem Monat Haftdauer gegenüber denjenigen, die erst nach drei Monaten einen Verteidiger beigeordnet bekamen, bereinigte Verkürzungseffekte von zwei bis drei Wochen (bei einer durchschnittlichen Haftdauer der Kontrollgruppen von 80 bis 90 Tagen). Allerdings wurde auch festgestellt, dass die frühe Verteidigung nicht zu einer Verbesserung des in der Regel dürftigen Kenntnisstandes des Haftrichters hinsichtlich des Falles bzw. eine Verbreiterung der Informationsbasis zum Entscheidungszeitpunkt beitrug.35 Zusätzlich wurde ein Praxisprojekt ausgewertet, das Verteidigung schon vor der Vorführung organisierte. Neben gezielter Betreuung anstehender Haftfälle und Einrichtung eines Verteidigernotdienstes wurden die Polizeidienststellen mit Informationen versorgt. Das Angebot wurde als „aufwändig“ betrachtet, aber von Beschuldigten und Justiz gut angenommen und führte teilweise zur Beschleunigung der Verfahren (z. B. durch Anwendung der §§ 417 ff. StPO, die Beschuldigten blieben dann ohne Untersuchungshaft). Erhebliche haftvermeidende Effekte waren allerdings nicht festzustellen.36 2. Erkenntnisse zur Reform 2010 Erkenntnisse zur Implementation bzw. den Auswirkungen der Reform von 2009/ 2010 liegen bislang nur wenige vor,37 eine Evaluierung der Gesetzgebung war nicht vorgesehen. Ein Blick auf die Statistik trägt zur Erhellung nicht bei, weil er im Gefolge der Reform stabile Verhältnisse zeigt: Sowohl die Zahlen der Personen mit Untersuchungshaft und die Haftdauern als auch die Zahlen der Untersuchungsgefangenen blieben bis 2013 nahezu gleich. Seitdem findet sich ein Anstieg, der möglicherweise auf mehr inhaftierte Zuwanderer zurückgeht und sich bislang nicht bei den chungshaft, 1998, S. 27 ff. und Jehle, in: Schöch/Jehle, Angewandte Kriminologie zwischen Freiheit und Sicherheit, 2004, S. 39 ff. 34 Vor allem Gebauer, Die Rechtswirklichkeit der Untersuchungshaft in der Bundesrepublik Deutschland, 1987, S. 313 ff.; zusammenfassend Busse (Fn. 33), S. 61 ff. 35 Busse (Fn. 33), S. 85 ff., 205. 36 Busse (Fn. 33), S. 100 f., 257 ff. 37 Thielmann, HRRS 2013, 283 ff. zu Belehrungspflichten zur Verteidigerbeiordnung; die Untersuchung von Jahn (Fn. 20) befasste sich den mit Implikationen der neugestalteten Pflichtverteidigerbestellung für die Praktiker.
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Strafgefangenen wiederfindet. Die Untersuchungshaftquote (Anteil aller Abgeurteilter mit Untersuchungshaft) hat sich zwischen 2010 (2,4 %) und 2016 (2,8 %) kaum verändert.38 Diese Längsschnitt-Daten wären aber ohnehin nur bei markanten Änderungen ein Anhaltspunkt für rechtstatsächliche Auswirkungen gesetzgeberischer Reformen. Einschätzungen des Erfolgs der Untersuchungshaftreform von 2010 sind daher eher qualitativ zu ermitteln. In der Literatur finden sich Hinweise, dass die Reform durchaus als Fortschritt gesehen wird, denn, so ist auch im „Handbuch für den Staatsanwalt“ zu lesen, „[e]ine frühzeitige Bestellung eines Pflichtverteidigers fördert i. d. R. das Verfahren“.39 Doch wird auch Skepsis in Bezug auf die Praxis laut: Zum einen ergab ein fachlicher Austausch, dass nach Vollzugsbeginn der Untersuchungshaft bei bislang unverteidigten Beschuldigten zwischen drei Tagen und drei Wochen vergehen, bis tatsächlich ein Anwalt beauftragt ist.40 Außerdem wird auf die bereits erwähnten Probleme eines Verteidigerwechsels hingewiesen, selbst wenn sich ein Vertrauensverhältnis nicht einstellen will.41 Vielen Beschuldigten sei, insbesondere in der Stresssituation der Anhörung, nicht klar, dass sie einen Verteidiger zwar zwingend benötigten, aber selbst bestimmen könnten, wen sie beauftragen wollten und dass ihnen hierfür auch Überlegungszeit einzuräumen sei (§ 142 StPO). Ebenso wenig wüssten sie, dass auch ein selbst gewählter Verteidiger später beigeordnet und damit zum „Pflichtverteidiger“ werden könnte und dies keine Auswirkungen auf die Kostentragungspflichten habe.42 Obwohl die Belehrungspflichten 2013 nochmals gestärkt und zeitlich vorverlegt wurden, wird kritisiert, dass die geschilderten Informationsbedürfnisse jedenfalls bei der formularmäßigen Belehrung nicht zufriedenstellend berücksichtigt würden. Angenommen wird, dass Haftrichter anstelle der mitunter langwierigen Suche des Beschuldigten, der oft auch nicht in der Lage ist, einen Verteidiger zu benennen, gerne „genehme“ eigene Kandidaten vorschlagen.43 Die Rechtsprechung hat mit diesen Fragen seit der Reform häufig zu tun, wie sich aus dem Anteil der Entscheidungen bei Rechtsprechungsübersichten ergibt.44 Hier wird aber auch deutlich, dass die Gerichte in Bezug auf den Verteidigerwechsel mit Blick auf gestörte oder nicht entste-
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Ausführlich zur statistischen Entwicklung Morgenstern (Fn. 4), S. 395 ff. Meindl/Andrä, in: Vordermayer/v. Heintschel-Heinegg, Handbuch für den Staatsanwalt, 5. Aufl. 2016, S. 127 (131); grds. auch Schlothauer/Weider/Nobis (Fn. 18), S. 122. 40 Diese Zeitangaben wurden auf dem 39. Strafverteidigertag vom 6.–8. 3. 2015 in Lübeck (AG Untersuchungshaft) genannt und durch eigene Forschung später bestätigt (vgl. unten III.3). 41 Wohlers, StV 2010, 151 (157); Thielmann, HRRS 2013, 283 (288 f.). 42 Aus Praktikersicht: Lam/Meyer-Mews, NJW 2012, 177 ff.; Schmidt, NJ 2012, 285. 43 Thielmann, HRRS 2013, 281 (283 ff.) mit Beispielen aus fünf Amtsgerichten, die er in unterschiedlichem Maße für mängelbehaftet hält. 44 Vgl. Thielmann, HRRS 2013, 281 (284) und die Übersichten von Schultheis, NStZ 2015, 149 ff. und NStZ 2016, 329 ff. 39
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hende Vertrauensverhältnisse flexibler reagieren, als dies offenbar früher der Fall war.45 Gerade die geschilderten Forderungen nach ausreichend Zeit für die Verteidigerwahl – möglicherweise auch durchaus eigennützig von etablierten Verteidigern formuliert –46 lassen die Frage aufkommen, ob denn eine noch frühere Beiordnung, nämlich immer dann, wenn Haftbefehl in Rede steht, überhaupt organisiert werden kann. Festgemacht wird die Kritik dabei auch am allgemein herrschenden Zeitdruck und Effizienzdenken. Allgemeinen Klagen über die „Eilkrankheit“47 muss allerdings entgegengehalten werden, dass es hier nicht einfach darum geht, das Verfahren schneller und günstiger zu gestalten, sondern darum, Untersuchungshaftzeiten konkret zu vermeiden. Dass dies mitunter in Konflikt mit Verteidigungsstrategien oder schlicht der Arbeitsorganisation der beteiligten Berufsgruppen gerät, ist nicht zu leugnen. Über die trotz dieser Bedenken erhobene Forderung seitens der Strafverteidigerverbände und anderer Befürworter, die notwendige Beiordnung entsprechend zeitlich auszuweiten, wurde bereits berichtet – in einer 2014 vorgelegten Studie zur Pflichtverteidigerbestellung sprach sich jedenfalls lediglich eine Minderheit von 20 % der befragten Strafverteidiger gegen die Vorverlagerung des Beiordnungszeitpunkts auf den Zeitpunkt der Vorführung aus.48 3. Erkenntnisse aus der DETOUR-Studie zur Vermeidung von Untersuchungshaft in Europa Die Studie „Detour – Towards Pre-trial Detention as Ultima Ratio“ hatte die Haftund Haftvermeidungspraxis in sieben europäischen Staaten (neben Deutschland auch Belgien, Irland, Litauen, die Niederlande, Österreich und Rumänien) zum Gegenstand, der Abschlussbericht wurde 2018 vorgelegt.49 Neben einer gründlichen 45 Vgl. z. B. AG Bitterfeld-Wolfen, StV 2014, 281, bei Beiordnung durch den Ermittlungsrichter im Zuge der Haftbefehlsverkündung dürften später die Anforderungen an die Darlegung eines gestörten Vertrauensverhältnisses als Voraussetzung für eine spätere Entpflichtung aufgrund der eingeschränkten Überlegungszeit für den Beschuldigten zur Auswahl des Verteidigers nicht überspannt werden. Ähnlich LG Landau, NStZ-RR 2015, 117; OLG Dresden, NStZ-RR 2012, 213; OLG Koblenz, StV 2011, 349; OLG Düsseldorf, NJW 2011, 1618. Zu den entsprechenden Ergebnissen der DETOUR-Studie Morgenstern, 2nd National Report on Germany – Expert Interviews, 2017, S. 78 (www.irks.at/detour/publications.html). 46 Hierfür bietet z. B. die Diskussion der Expertenkommission zur Reform des Strafverfahrens von 2014 Anhalt – es wurden die Schwierigkeiten eines späteren Verteidigerwechsels erörtert, vor allem aber auch die Probleme der Verteidiger, einen solchen eher unattraktiven und schlecht vergüteten Einsatz zu leisten, ins Feld geführt, vgl. Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (Fn. 23), S. 32 ff. 47 Wohlers, NJW 2010, 2470. 48 Oben II. 2.; vgl. Jahn (Fn. 20), S. 38; bei den befragten Ermittlungsrichtern waren es 69 %; hierzu auch Knauer, NStZ 2014, 724. 49 Geleitet wurde das Projekt von Dr. Walter Hammerschick, Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie, Wien und der Verfasserin, finanziert wurde es von der Europäischen Kommission. Alle Ergebnisse sind abrufbar unter www.irks.at/detour/.
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Analyse der rechtlichen Rahmenbedingungen, der Rechtsprechung und dem Forschungsstand in den sieben Teilnehmerstaaten, die in entsprechenden Länderberichten zusammengefasst wurden, wurden im empirischen Teil der Studie zunächst explorativ Haftverhandlungen beobachtet und einige Akten ausgewertet. Pro Partnerland wurden dann etwa 30 Staatsanwälte, Haftrichter, Verteidiger und weitere Praktiker zu ihren Erfahrungen und Werthaltungen in ausführlichen Interviews befragt, diese Erkenntnisse länderspezifisch analysiert und schließlich einer vergleichenden Betrachtung unterzogen. Die deutschen Interviews fanden überwiegend in Berlin, einige in Mecklenburg-Vorpommern, Hamburg und Nordrhein-Westfahlen statt. Herausgegriffen werden hier Erkenntnisse zu Rolle und Aufgaben der Verteidigung, zu den Fragen der Pflichtverteidigung und zur Akteneinsicht.50 In den Fällen vorläufiger Festnahme war zum Zeitpunkt der Entscheidungsfindung über die Untersuchungshaft durchaus recht häufig ein Verteidiger anwesend, oft von den Betroffenen selbst verständigt. Die befragten Verteidiger gaben an, in der Kürze der Zeit zu versuchen, Informationen zunächst von der Polizei zu erlangen (die überwiegend als kooperativ geschildert wurde), ggf. auch von der Staatsanwaltschaft. Weitere Informationen steuert danach vor allem der Festgenommene bei, mitunter telefonisch die Familie oder andere nahestehende Personen. In dieser Phase stünden allenfalls wenige Stunden, häufig aber auch deutlich weniger Zeit zur Verfügung. Einigkeit herrschte darüber, dass die Möglichkeiten, zu diesem Zeitpunkt eine Entscheidung tatsächlich zu beeinflussen, begrenzt sind: „Wir haben da wenig Möglichkeiten, zu definieren, wir können eher intervenieren.“ (Interview 20, Verteidiger; ähnlich 9, Verteidiger; bestätigt durch Interviews 10, 15, 16, jeweils Richter). Zur Frage nach Qualitätsunterschieden zwischen Wahl- und Pflichtverteidigern wurde ganz überwiegend entgegnet, dass Unterschiede mit Blick auf Vorbereitung und Engagement existierten, sie hätten jedoch nichts mit dem Status oder der Bezahlung zu tun. Insbesondere Richter, die eine Vielzahl verschiedener Verteidiger sehen, äußerten sich entsprechend – grundsätzliche Klagen zur Verteidigungspraxis oder dem Verteidigerethos waren kaum zu hören, sehr wohl aber Berichte von einzelnen unengagierten und für ihre Mandanten schädlich agierenden Verteidigern (Interviews 4, 7, 13, Richter; Interview 21, Staatsanwalt). Zum Gelingen der Reform von 2010 mit Blick auf die frühere Beiordnung waren die Einschätzungen gemischt: Einige hielten sie für erfolgreich oder jedenfalls einen Schritt in die richtige Richtung (Interviews 9, 12, 20, 32, Verteidiger; Interview 10, Richter; Interview 25, Sozialarbeiter JVA). Andere empfanden sie als „enttäuschend“ (Interview 13, Richter) oder gaben an, dass sie keine Unterschiede zur vorherigen Situation verspürten (Interviews 7, 15, 16, Richter). Auf Nachfragen, inwiefern schnell ein geeigneter Verteidiger verfügbar war und inwiefern hier Anwaltsnotdienste hilfreich sind, ergab sich ebenfalls ein uneinheitliches Bild, das auch innerhalb der Professionen und der erfassten Regionen gemischt war. In Bezug auf die 50
Ausführlicher Morgenstern (Fn. 45), S. 77 f.; zur Methodik S. 7 ff.
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schon oben angesprochene Zeit, in der Inhaftierte tatsächlich einen Verteidiger zu sehen bekommen, fanden sich ebenfalls recht unterschiedliche Angaben, die allerdings besser nach Regionen zu ordnen waren: Das Gesetz fordert in § 141 Abs. 3 S. 5 StPO jedenfalls eine „unverzügliche“ Beiordnung; dies scheint in Berlin gut zu funktionieren, in anderen Regionen wurden Verzögerungen von bis zu vier Wochen berichtet. Aus einer Akte war ersichtlich, dass bei einem ausländischen, sprachunkundigen Inhaftierten aus dem Trinkermilieu ermittelnde Polizeibeamte nach einem Monat feststellten, dass er noch immer unverteidigt war. Dies mag ein Einzelfall sein, wird aber durch das derzeitige System begünstigt – offenbar war auch in der JVA niemandem aufgefallen, dass sich kein Verteidiger gezeigt hatte. Wenig überraschend waren auch die Auffassungen, ob schon bei der Vorführung ein Verteidiger notwendig beizuordnen sein soll, unterschiedlich. Praktiker aus der Justiz gingen teilweise davon aus, dass dies nicht notwendig sei, da sie selbst die Betroffenen auch ohne Beistand fair behandeln, belehren und ausreichend Gelegenheit zur Darstellung der persönlichen Verhältnisse geben würden (Interviews 4, 22, Richter; Interview 21, Staatsanwalt). Andere führten wieder organisatorische Probleme an. Ein drittes Argument der Gegner einer solchen Reform war die Befürchtung, dass so früh beigeordnete Verteidiger, die selbst noch keine ausreichende Kenntnis von dem Fall hätten, ihren Mandanten dann nur raten könnten, zu schweigen, so dass die Ermittlungen erschwert und verzögert würden – zumal mitunter die Anweisung „Wir sagen gar nichts!“ auch für die Ermittlung der persönlichen Umstände gegeben würde und sich sogar kontraproduktiv auf die Entscheidung über eine Haftvermeidung auswirken könnten (Interviews 4, 13, Richter; mit der Zuschreibung dieser Auffassung als typisch für die ganze Justiz auch Interview 23, Verteidiger). Diese Auffassung ist insofern bedenklich, als dass die Möglichkeit, Verteidiger sofort zu konsultieren, ja immer besteht, die Justiz also mit dem Schweigen der Beschuldigten ohnehin umgehen muss; dass es ausgerechnet den nicht verteidigten Inhaftierungsgefährdeten nicht zugestanden werden soll, ist bedenklich. Fast alle der befragten Verteidiger sprachen sich für eine frühere notwendige Verteidigung aus und erklärten, die Reform von 2010 sei auf halbem Wege stehen geblieben – die Beiordnung als Ergebnis einer Vorführung käme zu spät (Interview 12: „absurder Zeitpunkt“; ähnlich Interviews 30, 32). Auch in Bezug auf die Möglichkeiten der Organisation geeigneter Kollegen innerhalb des engen Zeitrahmens der Vorführung gem. § 115 StPO waren die meisten Verteidiger optimistisch; hier war allerdings auch die bereits erwähnte Skepsis zu finden und die Forderung nach einer temporären Beiordnung, die später einen Verteidigerwechsel ermögliche, zu hören (Interviews 20, 26). Erwähnenswert ist, dass das Bild in der Justiz keineswegs einheitlich ablehnend war: Es gab Befürworter, die im Einklang mit der oben zitierten Bemerkung zur Förderung des Verfahrens durch frühzeitige Einschaltung eines (Pflicht-)Verteidigers betonten, eine solche würde das Verfahren für die Beschuldigten erträglicher und „fair“ machen, das Verfahren professionalisieren und beschleunigen – kurz: „Das erleichtert mir das Leben!“ (Interview 10; ähnlich Interviews 31, 33, Richter).
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Dieser Aspekt gehört zu den wichtigen Erkenntnissen des deutschen Studienteils und greift die zu Beginn gemachte Bemerkung zur potenziellen Instrumentalisierung der Verteidiger auf: Die Betrachtung der Verteidigung als Zulieferer von Informationen für das Verfahren klang an vielen Stellen an. Obwohl es die Justizbehörden sind, die ermittlungspflichtig sind,51 werden wichtige Informationen vor allem zu den sozialen Umständen eines Beschuldigten von den Verteidigern erwartet: „Es gibt auch eine […] Rechtsprechung, dass die Ermittlung des sozialen Umfelds nicht auf Vortrag des Verteidigers erfolgen muss, sondern von Amts wegen. Im Grunde müsste ich danach die Staatsanwälte losschicken, ,besorg mir mal die polizeiliche Ausermittlung des Umfelds‘. Das ist aber schon so, dass das von den Verteidigern vorgetragen wird.“ (Interview 7, Richter; ähnlich Interviews 9, 10, Verteidiger; Interview 25, Sozialarbeiter JVA; Interviews 13, 29, Richter). Das gilt für die anfängliche Entscheidung bei der Vorführung und zieht sich durch das Verfahren: Wenn es den Verteidigern später gelingt, relevante Informationen zum Arbeitsplatz oder zur familiären Anbindung zu ermitteln und zu belegen – in der Regel zum Haftprüfungstermin –, wird oftmals ein Haftbefehl außer Vollzug gesetzt, der von Anfang an so nicht hätte erlassen werden müssen, weil die Umstände auch schon zum Vorführzeitpunkt vorlagen. Kennzeichnend ist insofern auch folgende Bemerkung, in der es um die Frage der Sinnhaftigkeit von Haftprüfungen ging: „[…] dass die frühzeitig tätig werdenden Verteidiger letztlich nur ihre abweichende Bewertung desselben Sachverhalts darbringen und nicht[s Neues] – ist auch nicht wirklich ihre Aufgabe muss man sagen, aber es wäre ‘ne Möglichkeit, dass sie es täten. Zum Beispiel positive Entwicklungen, Wohnsituation, Berufsperspektiven […]“ Im Verlauf des Interviews wurde dann eingeräumt: „[…] weil das Aufgabe des Gerichts und der Staatsanwalt ist, den Sachverhalt zu ermitteln. Die haben von Amts wegen die Pflicht auch positive Gesichtspunkte zu ermitteln. […] wahrscheinlich [habe ich] gerade ein bisschen zu doll auf den Verteidigern rumgeprügelt, denn ich will das hervorheben, das ist nicht ihre Aufgabe, es ist im forensischen Alltag allerdings der Standard, dass, wenn etwas zum persönlichen Umfeld vorgetragen wird, das kommt dann von der Verteidigung.“ (Interview 13, Richter). In Bezug auf die Akteneinsicht wurden in den erfassten Regionen kaum Zugangsprobleme berichtet. Es bestätigte sich die Annahme, dass die Verteidiger erst dann aktiv werden, wenn sie Gelegenheit zum Aktenstudium hatten. Je schneller und unkomplizierter der Zugang ist, desto schneller können Verteidiger auch etwas unternehmen, wenn für sie die Möglichkeit einer Außervollzugsetzung greifbar erscheint. Es ist bemerkenswert, dass die Befragten die Antragspflicht kaum als Problem thematisierten, obwohl sie Zeit kostet – in der vergleichenden Betrachtung ergibt sich hier aber Beschleunigungspotenzial, denn z. B. in den Niederlanden und Belgien52 51
Vgl. hierzu Morgenstern (Fn. 4), S. 480 ff. Hier gibt es allerdings enge zeitliche Vorgaben, vgl. Maes/Deblock, 2nd Belgian National Report on Expert Interviews, Part I (Flanders), S. 11 (www.irks.at/detour/publications. html). 52
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muss Akteneinsicht nicht beantragt werden, sie wird von Amts wegen gewährt und die Akten sofort zur Verfügung gestellt.53 Abschließend soll noch auf zwei Dilemmata hingewiesen werden, die verschiedentlich in Bezug auf die Verteidigertätigkeit in Haftsachen anklangen: Haftprüfungen und Haftbeschwerden können das Verfahren in zweierlei Hinsicht präjudizieren: Wird z. B. der Haftgrund der Fluchtgefahr angegangen, der darauf beruht, dass die drohende empfindliche Strafe eine Fluchtgefahr indiziere, kann das Ergebnis eine Festschreibung dieser Umstände sein („[…] und dann schreibt mir das Gericht so eine eklige Straferwartung in den Beschluss…“; Interview 5, Verteidiger). Wird hingegen eine Außervollzugsetzung erreicht, kann dies ein Schritt hin zu einer späteren Aussetzung der Freiheitsstrafe sein. In jedem Fall können Verteidigungsstrategien durch die Haftkontrollverfahren erheblich beeinflusst sein. Ein zweites Dilemma ist eher praktischer Natur: Solange Verteidiger noch nicht beigeordnet sind, haben sie bei mittellosen Mandanten oft wenig Chancen, bezahlt zu werden. Argumentieren sie im Vorführtermin erfolgreich gegen eine Inhaftierung, werden sie nicht beigeordnet und verlieren jedenfalls die sichere Aussicht auf Bezahlung. Dass sich das Engagement eines Verteidigers hiervon leiten lässt, wird als große Ausnahme bezeichnet, immerhin aber doch mehrfach angesprochen (Interviews 9, 30, Verteidiger; Interview 10, Richter).
IV. Fazit Die Überlegungen haben gezeigt, dass in Untersuchungshaftsachen besondere Verantwortung bei der Verteidigung liegt, die seit der Reform 2010 noch gewachsen ist: Zur Interessenvertretung im laufenden Strafverfahren kommen oft auch Ermittlungs- und Haftvermeidungsaufgaben, zu denen an sich die Justiz verpflichtet wäre. Akzeptiert man diese Rollenverteilung, muss die Verteidigung in Deutschland nochmals gestärkt werden: Akteneinsicht ist sofort und ohne Antrag zu gewähren und eine Beiordnung muss immer dann erfolgen, wenn Untersuchungshaft beantragt wird bzw. es zu einer Vorführung kommt. Dem ist auch aus rechtsvergleichender Sicht beizupflichten: In vielen europäischen Staaten ist es Praxis, dass bei der Entscheidung über die Untersuchungshaft ein Verteidiger anwesend ist, der ggf. auch beigeordnet bzw. staatlich bezahlt wird.54 Hier wird in der Regel mit der Waffengleichheit 53 Vgl. Hammerschick u. a., DETOUR Comparative Report, 2017, S. 55 ff. (www.irsk.at/de tour/publications.html). 54 In den Projektländern war dies jedenfalls in Belgien, Irland, den Niederlanden und Litauen immer der Fall. Ebenso verhält es sich in Frankreich, vgl. Weiß (Fn. 9), S. 725 ff. und 788 ff.: Eine Beiordnung von Amts wegen (auf Antrag des Betroffenen) ist immer dann möglich, wenn auch der Zugang zu einem selbst gewählten Verteidiger besteht. In Finnland ist ein Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn der Beschuldigte festgenommen oder in Haft ist; vgl. Kapitel 2, § 1 Abs. 2 S. 2 finnStPO. In den Rechtsordnungen des common law ist ein Verteidiger in der Regel bei allen relevanten Verfahrensschritten anwesend: In England/Wales müssen die Beschuldigten selbst einen Antrag auf Verteidigerbeistand stellen. Ein Recht auf
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argumentiert. Die geltend gemachten organisatorischen Schwierigkeiten müssten sich durch entsprechende Vorkehrungen bewältigen lassen – schließlich muss ja auch in anderen Fällen, in denen die Staatsanwaltschaft eine Beiordnung für notwendig hält, schnell ein Verteidiger zur Hand sein.
einen ggf. kostenlosen Beistand haben sie praktisch immer, wenn sie als Beschuldigte festgehalten werden bzw. wenn eine Freiheitsentziehung zur Debatte steht (wie in bail hearings). Auch bei Fehlen eigener finanzieller Mittel muss ein Verteidiger zur Seite stehen, dafür gibt es auf der Basis des Access to Justice Act (AJA 1999) den Criminal Defense Service mit einem Anwaltsnotdienst.
Der Ausschluss des nicht beschuldigten Elternteils von dem Einverständnis zur Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts für den aussagewilligen, aber verstandesunreifen Zeugen Von Ines Müller
I. Minderjährige Zeugen stellen ein Strafgericht vor besondere praktische Herausforderungen: Nicht nur bedarf es eines besonderen Umgangs mit ihnen, um die ungewohnte und einschüchternde Atmosphäre durch den Gerichtssaal als solchen, die Fragen des Gerichts und von unterschiedlichsten Interessen geleiteter weiterer Verfahrensbeteiligter sowie die Sekundärviktimisierung des minderjährigen Zeugen durch das erneute Wachrufen der Erinnerung an ein Geschehen abzumildern und dennoch wahrheitsgemäße Angaben zu erhalten, die der Aufklärung des Sachverhaltes dienen.1 Auch bei der Bewertung der Zeugenaussage eines Minderjährigen ergeben sich besondere Anforderungen: So kann die Einholung eines Gutachtens zur Glaubwürdigkeit einer Aussage geboten sein, weil in Rechnung zu stellen ist, dass Minderjährige noch in größerem Umfang als Erwachsene unwillig sein können, zu Übertreibungen oder Pauschalisierungen neigen oder aber auch von Dritten manipuliert sein können. In rechtlicher Hinsicht gilt jedoch auch für minderjährige Zeugen, dass sie zur Aussage verpflichtet sind, soweit ihnen kein Zeugnisverweigerungsrecht zusteht, wobei sich dieses bei ihnen wohl allein aus § 52 Abs. 1 Nr. 3 StPO ergeben kann. Demnach besteht ein solches Recht bei einem Verwandtschaftsverhältnis in gerader Linie zum Beschuldigten, also insbesondere bei einem Tatverdacht gegen einen El1
Aus diesem Grund kann der Zeuge beispielsweise in Begleitung der Zeugenbetreuung auch bereits in einem inoffiziellen Termin vor der Verhandlung den Saal anschauen und es kann ihm die Platzverteilung erklärt werden. In der Verhandlung soll sich der Minderjährige nur einem Gesprächspartner – dem (Vorsitzenden) Richter – gegenübersehen: Fragen anderer Verfahrensbeteiligter sollten über ihn gestellt werden, § 241a StPO. Seine Fragen sollten zudem dem Sprachgebrauch und Entwicklungsstand des Minderjährigen angepasst sein. Zum Schutze des Minderjährigen können/sollen auch die Öffentlichkeit bzw. einzelne Verfahrensbeteiligte von der Hauptverhandlung ausgeschlossen werden, vgl. z. B. §§ 171b Abs. 1 S. 3, Abs. 2, 172 Nr. 4 GVG bzw. § 247 StPO oder die Vernehmung in der Hauptverhandlung durch die Vorführung einer aufgezeichneten Zeugenvernehmung ersetzt werden, § 255a StPO.
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tern- oder Großelternteil, § 1589 S. 1 BGB, sowie bei einer Verschwägerung in gerader Linie, wie sie nach § 1590 BGB unter anderem zu einem Stiefelternteil besteht. Daneben gewährt auch ein Verwandtschaftsverhältnis in der Seitenlinie zum Beschuldigten ein Zeugnisverweigerungsrecht, also insbesondere bei beschuldigten (Halb-)Geschwistern oder den Geschwistern des Elternteils, § 1589 S. 2 BGB. Der Gesetzgeber hat in § 52 Abs. 2 StPO die Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts durch einen minderjährigen Zeugen im Zusammenspiel mit seinem gesetzlichen Vertreter geregelt und dabei grundsätzlich wahrgenommen, dass in diesem Zusammenspiel verschiedene Interessenkonflikte aufeinandertreffen können. Der grundlegende Interessenkonflikt ist jener des minderjährigen Zeugen, der in einem Verwandtschaftsverhältnis zum Beschuldigten steht. Der Zeuge muss sein Interesse an der strafrechtlichen Aufklärung und Sanktionierung mit seinem Interesse, die familiären Beziehungen nicht zu belasten, abwägen. Hält das Gericht ihn hierzu in der Lage, ist er also verstandesreif im Sinne des § 52 Abs. 2 StPO, trifft der Minderjährige die Entscheidung über die Ausübung seines Zeugnisverweigerungsrechts selbst. Verneint das Gericht die nötige Verstandesreife, geht diese Entscheidung grundsätzlich auf die gesetzlichen Vertreter über. Diese können dann die Aussage des Minderjährigen endgültig verweigern oder eine solche genehmigen, woraufhin der Minderjährige noch selbst entscheidet, ob er tatsächlich aussagt. Der Übergang der Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts kann weitere eigenständige Interessenkonflikte hervorbringen. § 52 Abs. 2 S. 2, 1. Hs. StPO erkennt insoweit den Fall, dass ein gesetzlicher Vertreter selbst Beschuldigter ist und so neben den Interessen des Minderjährigen auch das eigene Interesse an einer Verhinderung der Strafverfolgung durchsetzen wollen wird.2 Ein weiterer Interessenkonflikt ist im anschließenden Halbsatz geregelt: Auch der nicht beschuldigte Elternteil soll bei einer gemeinsamen gesetzlichen Vertretung des Minderjährigen mit dem beschuldigten Elternteil von der stellvertretenden Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts ausgeschlossen sein. Grundlage dieser Regelung kann nicht der Interessenkonflikt des Minderjährigen zum beschuldigten Elternteil sein, da zu diesem Zweck bereits das Zeugnisverweigerungsrecht des § 52 Abs. 1 Nr. 3 StPO besteht. Stattdessen berücksichtigt diese Regelung den eigenen Konflikt des anderen Elternteils bei der Ausübung dieses Rechts für das Kind.3 Das Gesetz bezweifelt damit, dass der nicht beschuldigte Elternteil tatsächlich in der Lage ist, die Entscheidung über die Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts neutral abgewogen zu treffen, mithin unter Berücksichtigung allein der Interessen des Kindes und nicht eigener Interessen hinsichtlich des beschuldigten Elternteils.4
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Schweckendieck, NStZ 2008, 537 (538). So auch die Begründung des Regierungsentwurfs zum heutigen § 52 Abs. 2 StPO, BTDrucksache 7/551, 60; Schweckendieck, NStZ 2008, 537 (538). 4 Vgl. BT-Drucksache 7/551, 60; Schweckendieck, NStZ 2008, 537 (538). 3
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Zweck der Regelung des § 52 Abs. 2 S. 2 StPO ist daher der Schutz des Minderjährigen, indem sichergestellt wird, dass die Entscheidung über die Ausübung seines Zeugnisverweigerungsrechts stets auf der Grundlage einer neutralen Abwägung allein seiner Interessen erfolgt. Tatsächlich regelt § 52 Abs. 2 S. 2 StPO allerdings nur die beiden genannten Einzelfälle konfligierender Interessen der gesetzlichen Vertreter. Weitere Fälle, in denen eine Interessenkollision naheliegt, werden jedenfalls vom Wortlaut nicht erfasst. Hierzu gehören jene des beschuldigten Stiefvaters, Großvaters, Onkels oder Bruders bei alleiniger gesetzlicher Vertretung durch die Mutter.5 Wie oben dargelegt, hat der Minderjährige auch in diesen Fällen ein Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 Abs. 1 Nr. 3 StPO. Bei fehlender Verstandesreife würde über dessen Ausübung durch die allein vertretungsberechtigte Mutter entschieden werden, obwohl diese zum Stiefvater in einem Eheverhältnis, bzw. zum Großvater, Onkel und Bruder des Minderjährigen in einem eigenen engen Verwandtschaftsverhältnis steht. Auch in diesen Konstellationen sind daher wesentliche eigene Interessen des gesetzlichen Vertreters zu befürchten, die an einer neutralen Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts für den Minderjährigen unter alleiniger Berücksichtigung dessen eigener Interessen zweifeln lässt. Diese Diskrepanz zwischen dem ersichtlichen Regelungszweck des § 52 Abs. 2 S. 2 StPO und der tatsächlich darin erreichten Regelungsbreite ließ schon kurz nach Erlass der Norm die Idee einer analogen Anwendung auf Fälle alleinvertretungsberechtigter Elternteile aufkommen, zumindest für die Konstellation des beschuldigten Stiefvaters.6 Dies hat sich zu einer bedeutenden, zum Teil auch oberlandesgerichtlich vertretenen Ansicht entwickelt.7 Dem in diesem Sinne ergangenen Beschluss des OLG Düsseldorf lag die Konstellation zugrunde, dass eine Rechtsanwältin im Namen der minderjährigen Geschädigten eines Sexualdelikts, das ihrem Bruder zur Last gelegt wurde, Beschwerde gegen eine Entscheidung des erkennenden Gerichts einlegte. Ihre Vollmacht war aber nicht von dem für die Frage der Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechtes gemäß § 52 Abs. 2 StPO bestellten Ergänzungspfleger, sondern von den Eltern der Geschädigten erteilt worden. Das OLG verwarf die Beschwerde als unzulässig wegen fehlender Rechtsmittelberechtigung. Zur Begründung führte das OLG an, dass allein entscheidend sei, ob die Rechte und Interessen des Kindes zu wahren sind und diese Wahrnehmung dem gesetzlichen Vertreter im Sinne einer uneingeschränkt und auch tat5 Zur Wahrung der Verständlichkeit sowie unter Berücksichtigung tatsächlicher Fallzahlen werden hier nur diese Konstellationen ausdrücklich genannt. Die Argumentation gilt hingegen uneingeschränkt auch für Fälle der alleinigen gesetzlichen Vertretung durch den Vater oder der Beschuldigung weiblicher Familienmitglieder. 6 Rieß, NJW 1975, 81 (83), dort Fn. 42. 7 OLG Düsseldorf, NStZ-RR 2001, 303 f.; KK-StPO/Senge, 7. Aufl. 2013, § 52 Rn. 29; SK-StPO/Rogall, 5. Aufl. 2015, § 52 Rn. 83; Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 10. Aufl. 2017, Rn. 1225a; im Ergebnis für eine breitere Anwendung auch Schimansky, FS Pfeiffer 2008, S. 297 (300).
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sächlich gewährleisteten Beachtung des allein entscheidenden Kindeswohls überlassen werden kann. Dies gelte nicht nur für die Frage der Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts, sondern sogar darüber hinaus für die Vollmachterteilung zur Einlegung eines Rechtsmittels; diese hätte daher durch den Ergänzungspfleger erfolgen müssen. Während aufgrund der beschriebenen Interessenkollisionen wohl von einer vergleichbaren Lage als erste Voraussetzung für die Analogie ausgegangen werden kann, lehnt die gegenteilige, ebenfalls oberlandesgerichtlich vertretene Ansicht, eine solche Analogie jedoch ab, da es an der zweiten Voraussetzung für die Analogie fehle: Es bestehe keine planwidrige Regelungslücke bzw. sei mit deren Ausfüllung eine so weitgehende Gesetzeskorrektur verbunden, dass sie dem Gesetzgeber überlassen bleiben müsse.8 In einem solchen Fall, der dem Beschluss des OLG Nürnberg zugrunde lag, hatte das Familiengericht auf Antrag der Staatsanwaltschaft eine Ergänzungspflegschaft für das mutmaßlich durch seinen nicht sorgeberechtigten Stiefvater missbrauchte Kind unter anderem für die Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechtes nach § 52 Abs. 2 StPO angeordnet. Das Rechtsmittel der Mutter hiergegen hatte Erfolg. Eine rechtliche Verhinderung des berechtigten Elternteils gemäß § 1909 Abs. 1 BGB in Verbindung mit § 52 Abs. 2 S. 2 StPO liege nicht vor, da die gesetzliche Regelung eindeutig sei und eine Analogie zu einer derart weitgehenden Gesetzeskorrektur führen würde, die nur durch den Gesetzgeber vorgenommen werden könne. Der Senat erwägt anschließend, dass im Falle des Missbrauchs des Sorgerechts durch den alleinvertretungsberechtigten Elternteil durch eine dem Kindeswohl widersprechende Entscheidung diesem das Sorgerecht teilweise gem. § 1666 Abs. 3 Nr. 6 BGB entzogen und dann insoweit Ergänzungspflegschaft angeordnet werden könne, notfalls per einstweiliger Anordnung durch das Familiengericht nach § 49 FamFG.
8 OLG Nürnberg, NJW 2010, 3041 f.; ebenso unter Berufung hierauf OLG Brandenburg, Beschluss vom 16. September 2011 – 13 UF 167/11; LR/Ignor/Bertheau, StPO, 27. Aufl. 2017, § 52 Rn. 32; OLG Karlsruhe, NJW-RR 2012, 839 (840); AnwK-StPO/v. Schlieffen, 2. Aufl. 2010, § 52 Rn. 14; Meyer-Goßner/Schmitt, 60. Aufl. 2017, § 52 Rn. 20; MüKo-StPO/ Percic, 1. Aufl. 2014, § 52 Rn. 34; KMR/Neubeck, StPO, 59. EL 2010, § 52 Rn. 26; Schweckendieck, NStZ 2008, 537 (538); Schimansky (Fn. 7), S. 297 f. zweifelt generell an der Möglichkeit einer Analogie zur Erweiterung des Anwendungsbereichs des § 52 Abs. 2 S. 2 StPO, da auch eine analoge Anwendung dieser Norm eine Mehrzahl Vertretungsberechtigter voraussetze. Stattdessen plädiert er mit ähnlichen Argumenten für eine teleologische Reduktion dieser Norm. Dadurch soll der Ausnahmecharakter des Ausschlusses des anderen Elternteils in § 52 Abs. 2 S. 2, 2. Hs. StPO wegfallen. Wie die oft vertretene Analogie ermöglicht aber auch diese teleologische Reduktion keine Aussage darüber, in welchen Konstellationen die nun erweiterte Möglichkeit des Ausschlusses Anwendung finden sollte. Schimansky plädiert jedoch dafür, bezüglich weiterer Verwandtschaftskonstellationen keinen automatischen Ausschluss anzunehmen, sondern dem Richter insoweit wieder einen Freiraum zu belassen (S. 302 f.).
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Der BGH ließ die Frage bisher ausdrücklich offen9 : Im ersten Fall hob der 5. Senat das Urteil mangels Belehrung der zum Zeitpunkt der Tat sechsjährigen Geschädigten durch das Gericht hinsichtlich ihres Zeugnisverweigerungsrechts gegenüber ihrem Stiefvater auf. Für die erneute Hauptverhandlung wies der 5. Senat ausweichend darauf hin, dass infolge des eingetretenen Zeitablaufs die Verstandesreife des Kindes nunmehr gegebenenfalls vorliege, wodurch sich das Problem des Ausschlusses gar nicht erst stelle. In dem zweiten Fall, den der 3. Senat zu entscheiden hatte, wurde das Urteil aus denselben Gründen aufgehoben; hier handelte es sich um den Missbrauch einer Zweieinhalbjährigen durch ihren leiblichen Vater. Die Mutter des Kindes hatte ihre Zustimmung zur Exploration durch die Sachverständige erteilt, das Kind selbst war aber nicht belehrt worden.10 Ob die Mutter die Zustimmung zur Aussage und zur Begutachtung überhaupt rechtswirksam erteilen konnte, musste der Senat daher nicht entscheiden.
II. In der Tat lässt der Gesetzeswortlaut des § 52 Abs. 2 S. 2, 2. Hs. StPO, der den Ausschluss des nicht beschuldigten Elternteils bei gemeinsamer gesetzlicher Vertretung als Ausnahme formuliert – also andere Konstellationen kennt und als Regelfall voraussetzt – die Annahme einer planwidrigen Regelungslücke wohl nicht zu. Doch selbst wenn man eine planwidrige Regelungslücke annähme, bliebe offen, wie weit die analoge Anwendung des damit verfolgten Ausschlusses des gesetzlichen Vertreters von der Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts für den minderjährigen Zeugen reichen soll. Zwar haben die Vertreter einer analogen Anwendung stets den Fall des beschuldigten Stiefvaters vor Augen. Die Interessenlage, das heißt die Interessenkollision in der Person des alleinigen gesetzlichen Vertreters des Minderjährigen, ist aber, wie oben dargestellt, in weiteren Konstellationen vergleichbar. Die allein vertretungsberechtigte Mutter befindet sich nicht nur dann in einem inneren Konflikt, wenn sie über die Aussage ihres Kindes gegen ihren beschuldigten Ehemann entscheiden soll, sondern auch, wenn sich diese Aussage gegen ihren eigenen Vater, ihren Bruder oder ein weiteres eigenes Kind richtet. Denkbar erscheint ein Ausschluss daher immer dann, wenn dem alleinigen gesetzlichen Vertreter selbst ein Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 Abs. 1 StPO gegenüber dem Beschuldigten zusteht.11 Denn einem solchen Zeugnisverweigerungsrecht liegt – wie vom Gesetzgeber vermutet – stets ein eigener Interessenkonflikt zugrunde, der dann mit jenem des Minderjährigen in Kollision geraten kann. Praktisch läge dann wohl in den meisten Fällen ein Ausschluss vor, da die Verwandtschaftsbeziehung zum Beschuldigten, die dem Minderjährigen das Zeugnisverweigerungsrecht gewährt, gleichermaßen auch bei der Mutter besteht. Das mag eine solche Position unausgewogen erscheinen 9
BGH, NStZ 1991, 398; BGH, NJW 1996, 206 f. Vgl. hierzu auch Eisenberg, NStZ 2016, 11. 11 So auch Schweckendieck, NStZ 2008, 537 (542). 10
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lassen.12 Wie die in den meisten Kommentierungen insofern kritiklos aufgenommene Entscheidung des OLG Düsseldorf (siehe oben Fn. 7) zeigt, wären die Vertretungsberechtigten aufgrund eines solchen Interessenkonflikts – wenn auch in dieser Entscheidung für den Sonderfall, dass der gesetzliche Vertreter nicht nur Vertreter der minderjährigen Zeugin, sondern auch des beschuldigten Bruders war – jedoch auch schon bei einer konsequenten Einschaltung des Familiengerichts nach §§ 1629 Abs. 2, 1795 Abs. 1, 1796, 1909 Abs. 1 BGB von ihrer Entscheidung über das Zeugnisverweigerungsrecht des Kindes ausgeschlossen.13 Eine solche Wertung scheint also weder dem Gesetz noch den Gerichten und der Literatur fremd zu sein. Eine ganz ähnliche Wertung nimmt die Rechtsprechung schon jetzt für den Fall vor, dass das Kind zwar verstandesreif und aussagebereit ist, die Mutter aber dessen Vernehmung verhindert, indem sie von ihrem Aufenthaltsbestimmungsrecht in Bezug auf das Kind Gebrauch macht und trotz Ladung zur Vernehmung die Zuführung hierzu verweigert. Hier kommt unter anderem das OLG Bremen14 zu dem Schluss, dass der Mutter das Aufenthaltsbestimmungsrecht im Hinblick auf die Zuführung zu der Vernehmung entzogen und dieses einem Ergänzungspfleger übertragen werden kann. Ergeben sich also Hinweise auf einen Missbrauch des Sorge- bzw. des Aufenthaltsbestimmungsrechts durch die Mutter, kann diesem entgegengewirkt werden, indem das Familiengericht eingeschaltet wird. An die Möglichkeit einer erweiternden Auslegung des § 52 Abs. 2 S. 2, 2. Hs. StPO schließt sich in praktischer Hinsicht die Frage an, wer die Entscheidung über diesen Ausschluss fällen sollte. Der Gesetzgeber hat dies durch die begrenzte Regelung des § 52 Abs. 2 S. 2 StPO faktisch nicht getan. So kommen die Gerichte nicht umhin, im Einzelfall dem engen Wortlaut der Norm zu folgen und einen Ausschluss trotz des sich aufdrängenden Interessenkonflikts15 abzulehnen oder rechtsfortbildend den Anwendungsbereich der Norm auszudehnen. Dabei sei allerdings daran erinnert, dass bereits die Begründung des Gesetzesentwurfs zu § 52 Abs. 2 S. 2 StPO erklärte, es sei für den Vernehmenden eine „kaum zu entscheidende Frage […], ob eine Interessenkollision zwischen dem nicht beschuldigten Eltern-
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Eisenberg (Fn. 7), Rn. 1225a (dort Fn. 357). So auch KMR/Neubeck, StPO (Fn. 8), § 52 Rn. 26; AnwK-StPO/v. Schlieffen (Fn. 8), § 52 Rn. 15; LR/Ignor/Bertheau, StPO (Fn. 8), § 52 Rn. 32; SK-StPO/Rogall (Fn. 7), § 52 Rn. 83; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO (Fn. 8), § 52 Rn. 20; Schweckendieck, NStZ 2008, 537 (541); MüKo-StPO/Percic (Fn. 8), § 52 Rn. 34 verneint aus eben diesem Grund das Bedürfnis nach einer Analogie. 14 Vgl. OLG Bremen, Beschluss vom 28. Dezember 2016 – 4 UF 100/16; im Ergebnis auch OLG Koblenz, Beschluss vom 22. April 2014 – 13 WF 293/14. 15 Diesen Interessenkonflikt hat der BGH – wie auch Schweckendieck, NStZ 2008, 537 (539) herausstellt – zumindest bereits anerkannt: BGH, NJW 1996, 206. 13
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teil und dem Kind die Einschaltung des Vormundschaftsgerichts erforderlich mach[e]“.16
III. Die erhebliche Belastung der Gerichte ist hinlänglich bekannt.17 Trotz dieser Lage werden die Verfahren unter Beteiligung Minderjähriger mit großer Rücksicht auf deren besondere Belange geführt. Damit haben nicht nur die Beteiligten, sondern auch die Richter ein nachvollziehbares Interesse daran, dass jedenfalls der rechtliche Rahmen solcher Verfahren von Klarheit und Sicherheit geprägt ist. Insoweit wäre es wünschenswert, wenn sich der BGH in Anbetracht unterschiedlicher OLG-Rechtsprechung dieser Frage annehmen würde. Ist bewusst oder unbewusst eine Regelungslücke mit Grundrechtsrelevanz im Bereich der elterlichen Sorge verblieben, ist es aber vor allem die Aufgabe des Gesetzgebers, diese zu schließen.
16 BT-Drucksache 7/551, 60; heute übernimmt diese Funktion des Vormundschaftsgerichts das Familiengericht nach § 1909 BGB. 17 Siehe für die Berliner Strafgerichte nur https://www.tagesspiegel.de/berlin/brandbriefaus-dem-berliner-landgericht-wir-sind-am-ende-wir-koennen-nicht-mehr/20482300.html; siehe dazu auch Reben, DRiZ 2018, 229.
Die strafgerichtliche Schätzung – und anderes Von Günther M. Sander
I. Einleitung Wissenschaftliche Veröffentlichungen sollten sich stets durch Exaktheit auszeichnen. Wie kaum einem anderen straf- und strafprozessrechtlichen, zudem kriminologischen Autor ist gerade Prof. Dr. Ulrich Eisenberg an einer größtmöglichen Präzision seiner Publikationen gelegen. Sein qualitativ und quantitativ zutiefst beeindruckendes Werk legt hierfür beredtes Zeugnis ab. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl des Jubilars an der Freien Universität Berlin hatte ich von 1985 bis 1988 intensive Gelegenheit, sein dahingehendes Streben zu bewundern. Bei der Analyse statistischer Daten lernte ich beispielsweise alsbald, dass die Bezeichnung „nichtdeutsch“ nicht etwa mit „ausländisch“ gleichzusetzen ist, sondern auch staatenlose Menschen umfasst.1 Angesichts seiner hier nur kurz skizzierten genauen Arbeits- und Denkweise ist zu vermuten, dass Ulrich Eisenberg dem Umstand, dass Strafgerichte mitunter auf das Mittel der Schätzung zurückgreifen (dürfen), eher reserviert oder skeptisch gegenübersteht. Denn unter Schätzung wird eine (nur) genäherte Ermittlung (Approximation) von Zahlenwerten, Parametern oder Resultaten aufgrund gegebener Daten verstanden. Es ist daher zu erwarten, wenn auch nicht sicher, dass das gefundene Ergebnis vom wahren Wert abweicht. Dennoch wird in vielen Lebensbereichen, etwa im Bauwesen, üblicherweise geschätzt, wenn der Aufwand für eine genaue Bestimmung zu groß oder ein möglicher Schätzfehler als praktisch bedeutungslos anzusehen wäre.2 Im Alltag wird beispielsweise ein Jogger „Pi mal Daumen“ mitteilen, er sei zehn Kilometer gelaufen, oder ein entspannt mit der Deutschen Bahn AG von Berlin nach Leipzig Gereister wird ebenso überrascht wie begeistert erzählen, die Verspätung habe nur ca. zwei Stunden betragen. Auch für das Strafverfahren hat der Gesetzgeber – auf den ersten Blick überraschend – Schätzungen ausdrücklich gebilligt. Denn er hat vor allem mit den §§ 40 Abs. 3, 73d Abs. 2 StGB den Tatgerichten gestattet, die Grundlagen für die Bemes1 Zur (begrenzten) Aussagekraft kriminalstatistischer Daten ausführlich Eisenberg/Kölbel, Kriminologie, 7. Aufl. 2017, § 15; zur genannten Begrifflichkeit siehe die vom Bundeskriminalamt herausgegebene Polizeiliche Kriminalstatistik 2016, S. 194 (jährlich neu veröffentlicht unter www.bka.de). 2 Hierzu https://de.wikipedia.org/wiki/Schätzung (abgerufen am 28. 5. 2018).
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sung der Tagessatzhöhe bzw. Umfang und Wert von Taterträgen zu schätzen.3 Diese Schätzklauseln genannten Regelungen beziehen sich freilich allein auf das Ausmaß festzusetzender Rechtsfolgen (siehe II. 1.). Nach ständiger Rechtsprechung ist es den Tatgerichten bei bestimmten Fallgestaltungen aber auch erlaubt, für den Unrechtsund Schuldgehalt maßgebliche Umstände zu schätzen (hierzu II. 2.). In der Folge sollen die in der forensischen Praxis relevantesten Konstellationen knapp dargestellt werden.
II. Hauptteil 1. Rechtsfolgen betreffende Schätzungen a) Schätzung der Tagessatzhöhe In der forensischen Schätzungspraxis dürfte § 40 Abs. 3 StGB am häufigsten angewandt werden.4 Er sieht für die Bestimmung der Höhe des Tagessatzes einer verhängten Geldstrafe vor, dass „die Einkünfte des Täters, sein Vermögen und andere Grundlagen … geschätzt werden“ können. Nicht geschätzt werden darf hingegen nach ständiger Rechtsprechung die Tagessatzhöhe selbst.5 Der Vorschrift wird primär verfahrensrechtliche Bedeutung beigemessen. Denn sie hat vor allem die Aufgabe, ein sofortiges Urteil auch in Fällen zu ermöglichen, in denen dessen Erlass allein der Umstand entgegensteht, dass es noch weiterer Feststellungen i. S. d. § 40 Abs. 2 StGB bedürfte. Sie begrenzt mithin die gerichtliche Pflicht, die entscheidungserheblichen Umstände an sich bestmöglich aufzuklären (§ 244 Abs. 2 StPO),6 auf einen dem jeweiligen Fall angemessenen Umfang,7 hebt sie also nicht vollends auf.8 Der Gesetzgeber hatte dabei namentlich die sog. Mas3 Darüber hinaus sieht § 8 Abs. 3 S. 1 WiStG die Schätzung der Höhe des sog. Mehrerlöses vor; hierzu Hellmann, GA 1997, 503 (521 ff.). 4 Siehe auch LK/Häger, 12. Aufl. 2006, § 40 Rn. 69 („außerordentlich große Rolle“). 5 Siehe nur OLG Celle, Urt. v. 24. 5. 1982 – 1 Ss 106/82, JR 1983, 203 m. Anm. Stree m.N.; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 6. Aufl. 2017, Rn. 141. 6 Zur Aufklärung der wirtschaftlichen Verhältnisse schon im Ermittlungsverfahren enthält die Nr. 14 der Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren (RiStBV) detaillierte Vorgaben. 7 So ausdrücklich BVerfG – 2. Kammer des 2. Senats –, Beschl. v. 1. 6. 2015 – 2 BvR 67/ 15, NStZ-RR 2015, 335; OLG Celle, Urt. v. 24. 5. 1982 – 1 Ss 106/82, JR 1983, 203 m. Anm. Stree m.N.; Alsberg/Tsambikakis, Der Beweisantrag im Strafprozess, 6. Aufl. 2013, Rn. 1586; MüKo-StPO/Trüg/Habetha, 2016, Band II, § 244 Rn. 32; SSW-StGB/Mosbacher/Claus, 3. Aufl. 2016, § 40 Rn. 16; Schäfer/Sander/van Gemmeren (Fn. 5), Rn. 142 und 1308; die gegenteilige Auffassung des Sonderausschusses (BT-Drs. V/4095, S. 21) hat sich nicht durchgesetzt. 8 Alsberg/Tsambikakis (Fn. 7), Rn. 1588; Vogel, in: Krekeler/Tiedemann/Ulsenheimer/ Weinmann, Handwörterbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, 1985, Stichwort: Schätzung, S. 3 und 5.
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senkriminalität (etwa leichte Straßenverkehrsdelikte oder kleine Ladendiebstähle) im Auge.9 Dabei wird mit Blick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine Schätzung umso eher in Betracht gezogen werden können, je geringer die konkrete Tagessatzhöhe festzusetzen sein wird.10 Das Tatgericht sollte bei der Entscheidung, ob es von der ihm durch § 40 Abs. 3 StGB eingeräumten Schätzungsbefugnis Gebrauch macht, den hinter dem Tagessatzsystem stehenden Gedanken der Opfergleichheit11 nicht aus den Augen verlieren. Aus dem Dargelegten folgt zugleich, dass für eine Schätzung kein Raum ist, wenn die Einkommensverhältnisse ohne Verfahrensverzögerung feststellbar sind. Dies wird namentlich zu bejahen sein, wenn der – hierzu nicht verpflichtete (§ 136 Abs. 1 S. 2 StPO) – Angeklagte glaubhafte Angaben zu seinen Nettoeinkünften gemacht hat.12 Dasselbe gilt, wenn sonstige Beweismittel zur Verfügung stehen, die präsent sind oder unkompliziert und ohne erheblichen Zeitaufwand eine weitere Aufklärung ermöglichen,13 etwa indem vorliegende Lohnzettel verlesen werden. Umgekehrt wird die Anwendung des § 40 Abs. 3 StGB häufig naheliegen, wenn der Angeklagte sich zu seinen wirtschaftlichen Verhältnissen gar nicht, unzureichend oder unglaubhaft geäußert hat.14 Dies gilt nicht nur im eher hypothetischen Fall, dass keine weiteren Beweismittel mehr ersichtlich sind, sondern bereits dann, wenn die insofern an sich mögliche Beweiserhebung einen übermäßigen Aufwand darstellen oder unverhältnismäßig große Schwierigkeiten bereiten würde.15 Ebenso kann es sich verhalten, wenn die Aufklärung für den Angeklagten zu belastend wäre,16 weil beispielsweise Angestellte zur Höhe des Umsatzes oder Gewinns eines Freiberuflers vernommen oder gar eingriffsintensive Ermittlungen wie Durchsuchungen erfolgen müssten.17 Das Bundesverfassungsgericht hat es aus verfassungsrechtlicher Sicht für unbedenklich erachtet, die Einkommensverhältnisse gemäß § 40 Abs. 3 StGB zu schätzen. Es hat allerdings zu Recht gefordert, dass die Umstände, auf welche sich die Schätzung stützt, im Strengbeweis festgestellt werden müssen; bloße Mutmaßungen 9 Siehe LK/Häger (Fn. 4), § 40 Rn. 68; MüKo-StGB/Radtke, 3. Aufl. 2016, Band II, § 40 Rn. 118. 10 Vgl. Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 10. Aufl. 2017, Rn. 33a; Alsberg/Tsambikakis (Fn. 7), Rn. 1588; Grebing, ZStW 88 (1976), 1049 (1098); siehe auch Schäfer/Sander/van Gemmeren (Fn. 5), Rn. 1308; Vogel (Fn. 8), S. 3. 11 Hierzu zutreffend LK/Häger (Fn. 4), § 40 Rn. 68; siehe auch Grebing, ZStW 88 (1976), 1049 (1099 und 1102). 12 Siehe Alsberg/Tsambikakis (Fn. 7), Rn. 1587. 13 LK/Häger (Fn. 4), § 40 Rn. 70 m.w.N.; MüKo-StPO/Trüg/Habetha (Fn. 7), § 244 Rn. 33; Alsberg/Tsambikakis (Fn. 7), Rn. 1588. 14 LK/Häger (Fn. 4), § 40 Rn. 70 m.w.N. 15 Schäfer/Sander/van Gemmeren (Fn. 5), Rn. 141. 16 SK-StGB/Wolters, 9. Aufl. 2016, § 40 Rn. 17; Schäfer/Sander/van Gemmeren (Fn. 5), Rn. 142. 17 Vgl. LK/Häger (Fn. 4), § 40 Rn. 75; MüKo-StGB/Radtke (Fn. 9), § 40 Rn. 117.
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oder eine Schätzung „ins Blaue hinein“ hat es als unzulässig angesehen.18 Dies ist auch deswegen überzeugend, weil die in Rede stehende Vorschrift die erkennenden Tatrichterinnen und -richter nicht davon entbindet, sich von den der Schätzung zugrundeliegenden (indiziellen) Tatsachen eine Überzeugung zu bilden (§ 261 StPO).19 Neben dem Gebot fairen Prozessierens schließt bereits dieser Umstand es aus, die Schätzungsbefugnis als Druckmittel zu missbrauchen, um den Angeklagten doch noch zu Angaben zu bewegen, indem überhöhte, also vom Tatgericht selbst nicht als realistisch angesehene tatsächliche Grundlagen angenommen und mitgeteilt werden.20 In diesem Zusammenhang wird – soweit ersichtlich – einhellig eine Verpflichtung des Tatgerichts verneint, den Verfahrensbeteiligten schon während der Hauptverhandlung das Schätzungsergebnis mitzuteilen,21 zumal dieses ohnehin zumeist erst in der abschließenden Urteilsberatung gefunden wird.22 Hingegen sollen die tatsächlichen Grundlagen in der Hauptverhandlung erörtert werden müssen, damit der Angeklagte weiß, worauf das Tatgericht seine Schätzung zu stützen beabsichtigt.23 Diese Forderung vermag jedoch deswegen nicht zu überzeugen, weil die maßgeblichen Tatsachen strengbeweislich festzustellen sind, dem (anwesenden) Angeklagten also schon auf diese Weise bekannt geworden sein müssen. Um ihm hinreichend rechtliches Gehör zu gewähren, sollte deshalb die schlichte Mitteilung genügen, dass eine Schätzung gemäß § 40 Abs. 3 StGB beabsichtigt ist.24 Noch nicht abschließend beantwortet ist die Frage, welche Relevanz § 40 Abs. 3 StGB für die Behandlung von Beweisanträgen zukommt, die sich auf Schätzungsgrundlagen beziehen. Sie kann einerseits nicht darin bestehen, dem Angeklagten (oder auch anderen Verfahrensbeteiligten) das entsprechende Antragsrecht generell abzusprechen. Andererseits würde die der Verfahrensökonomie dienende Regelung häufig ins Leere laufen, würde man die in § 244 Abs. 3 bis 5 StPO vorgesehenen Be-
18 Siehe nur BVerfG – 2. Kammer des 2. Senats –, Beschl. v. 1. 6. 2015 – 2 BvR 67/15, NStZ-RR 2015, 335; auch SSW-StGB/Mosbacher/Claus (Fn. 7), § 40 Rn. 16 („nicht im luftleeren Raum“); Schäfer/Sander/van Gemmeren (Fn. 5), Rn. 1308. 19 Instruktiv Vogel (Fn. 8), S. 3 f. 20 OLG Celle, Urt. v. 24. 5. 1982 – 1 Ss 106/82, JR 1983, 203 m. Anm. Stree m.N.; SKStGB/Wolters (Fn. 16), § 40 Rn. 17; Schäfer/Sander/van Gemmeren (Fn. 5), Rn. 144; Vogel (Fn. 8), S. 3; im Ergebnis ebenso LK/Häger (Fn. 4), § 40 Rn. 72; MüKo-StGB/Radtke (Fn. 9), § 40 Rn. 121 („rechtsfehlerhaft“). 21 MüKo-StGB/Radtke (Fn. 9), § 40 Rn. 121; Sch/Sch/Stree/Kinzig, StGB, 29. Aufl. 2014, § 40 Rn. 21; SK-StGB/Wolters (Fn. 16), § 40 Rn. 17. 22 Zutreffend LK/Häger (Fn. 4), § 40 Rn. 73 unter Hinweis auf die entsprechend geltenden Grundsätze von BGH, Beschl. v. 3. 9. 1997 – 5 StR 237/97, BGHSt 43, 212 (215). 23 LK/Häger (Fn. 4), § 40 Rn. 73; MüKo-StGB/Radtke (Fn. 9), § 40 Rn. 121; MüKo-StPO/ Trüg/Habetha (Fn. 7), § 244 Rn. 33; Sch/Sch/Stree/Kinzig, StGB (Fn. 21), § 40 Rn. 21; Vogel (Fn. 8), S. 5; Hellmann, GA 1997, 503 (511). 24 Vgl. Schäfer/Sander/van Gemmeren (Fn. 5), Rn. 143.
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stimmungen für uneingeschränkt anwendbar halten.25 Es erscheint daher als ein gangbarer Mittelweg, das Beweisantragsrecht allein auf präsente Beweismittel anzuwenden.26 Ein Antrag, ein sonstiges Beweismittel heranzuziehen, kann hingegen ohne Weiteres und ohne Bindung an die in § 244 StPO aufgeführten Gründe abgelehnt werden, wenn andernfalls eine Verfahrensverzögerung eintreten würde, insbesondere die Hauptverhandlung vertagt werden müsste.27 Sofern sich der Angeklagte die im Beweisantrag enthaltene Behauptung als Einlassung zu eigen macht, muss das Tatgericht sie bei der Schätzung berücksichtigen, wenn es sie für glaubhaft hält. Bei der Schätzung selbst hat das Tatgericht ebenso vorzugehen wie bei seiner sonstigen Beweiswürdigung. Es darf sich mithin auf Indizien stützen, die nach der Lebenserfahrung, namentlich unter Heranziehung von für den Einzelfall „passenden“ Erfahrungssätzen, eine hinreichend sichere Schätzgrundlage bilden.28 In Betracht kommen etwa den Lebenszuschnitt des Angeklagten skizzierende Umstände, beispielsweise die Höhe der von ihm zu zahlenden Wohnungsmiete, die Automarke und Urlaubsreisen.29 Bei einem angeklagten Studenten darf der Regelbedarfssatz (§ 13 BAföG),30 bei einem Sozialhilfeempfänger der bestehende Durchschnittssatz in den Blick genommen werden.31 In Bezug auf Freiberufler wird vorgeschlagen, Durchschnittsverdiensttabellen von statistischen Ämtern beizuziehen.32 Stets ist der Grundsatz in dubio pro reo zu beachten, freilich nur insoweit, als es um die Tatsachenbasis geht.33 Der Zweifelssatz verlangt vom Tatgericht dagegen nicht, seinem Urteil den für den Angeklagten günstigsten Schätzwert zugrundezulegen.34 Für die Darstellung der vorgenommenen Schätzung in den schriftlichen Urteilsgründen bestehen keine Besonderheiten. Wie auch bei der sonstigen Beweiswürdigung35 gilt, dass die für die getroffenen Feststellungen maßgeblichen tatsächlichen Umstände so ausführlich geschildert werden müssen, dass die Schätzung für die Ver25 So aber SSW-StGB/Mosbacher/Claus (Fn. 7), § 40 Rn. 16; Hellmann, GA 1997, 503 (520); D. Krause, StraFo 2002, 249 (254). 26 LK-Häger (Fn. 4), § 40 Rn. 71 („verfahrensrechtliche Nagelprobe“); differenzierend MüKo-StGB/Radtke (Fn. 9), § 40 Rn. 120 und 122; MüKo-StPO/Trüg/Habetha (Fn. 7), § 244 Rn. 33; Alsberg/Tsambikakis (Fn. 7), Rn. 1589; Hofmann, StraFo 2003, 70 (76). 27 Schäfer/Sander/van Gemmeren (Fn. 5), Rn. 143. 28 Alsberg/Tsambikakis (Fn. 7), Rn. 1588. 29 Grebing, ZStW 88 (1976), 1049 (1100). 30 LG Offenburg, Beschl. v. 25. 8. 2005 – 3 Qs 79/05, NStZ 2006, 40 (41); SK-StGB/ Wolters (Fn. 16), § 40 Rn. 17. 31 KG, Beschl. v. 31. 3. 2004 – (5) 1 Ss 268/03, StV 2005, 89; SK-StGB/Wolters (Fn. 16), § 40 Rn. 17. 32 Grebing, ZStW 88 (1976), 1049 (1103). 33 BVerfG – 2. Kammer des 2. Senats –, Beschl. v. 1. 6. 2015 – 2 BvR 67/15, NStZ-RR 2015, 335 m. Anm. Metz, NStZ-RR 2016, 46; MüKo-StGB/Radtke (Fn. 9), § 40 Rn. 121; Schäfer/Sander/van Gemmeren (Fn. 5), Rn. 141 und 1308. 34 LK/Häger (Fn. 4), § 40 Rn. 72. 35 Hierzu LR/Sander, 26. Aufl. 2013, § 261 Rn. 182 m.w.N.
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fahrensbeteiligten nachvollziehbar ist und vom Rechtsmittelgericht überprüft werden kann.36 Kommt das Tatgericht diesen Darlegungspflichten nach, so hat das Revisionsgericht das gefundene Ergebnis stets „bis zur Grenze des Vertretbaren“ hinzunehmen,37 also auch dann, wenn es im Wege der Schätzung erzielt worden ist. Dies gilt umso mehr, als sich nach zutreffender Auffassung des Bundesgerichtshofs für die Bestimmung der Tagessatzhöhe ohnehin keine starren Regeln aufstellen lassen38 und er insofern von den Tatgerichten „keine reine Rechenarbeit“ verlangt.39 Soweit in der Literatur gefordert wird, im Urteil seien auch die Gründe darzutun, weswegen von der Schätzungsbefugnis des § 40 Abs. 3 StGB Gebrauch gemacht worden ist,40 verdient dies keine Zustimmung. Denn es würde sich dabei um die regelmäßig gerade nicht gebotene Mitteilung einer prozessualen Situation handeln, deren Fehlen nur mit einer entsprechenden Verfahrensrüge geltend gemacht werden kann.41 Es verhält sich insofern nicht anders, als wenn es beispielsweise um die beweiswürdigende Verwertung einer vom noch unbelehrten Angeklagten unmittelbar nach seiner Festnahme getätigten Spontanäußerung oder von Beweismaterial ginge, das bei einer wegen Gefahr im Verzug ohne richterliche Gestattung erfolgten Durchsuchung aufgefunden wurde. Erweist sich die Schätzung ungeachtet ihrer nur eingeschränkten Überprüfbarkeit als rechtsfehlerhaft, so kann das Revisionsgericht in analoger Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO selbst schätzen, wenn im angefochtenen Urteil alle maßgeblichen Anknüpfungstatsachen mitgeteilt sind. Im Gegensatz dazu wird eine Entscheidung nach § 354 Abs. 1a StPO kaum einmal in Betracht kommen, da diese einen zutreffend ermittelten, vollständigen und aktuellen Strafzumessungssachverhalt voraussetzt.42 Hieran wird es im Falle einer tatgerichtlichen Schätzung regelmäßig fehlen.
36 BGH, Beschl. v. 10. 12. 1975 – 2 StR 463/75, NJW 1976, 634 (635); BGH, Urt. v. 13. 12. 1977 – 1 StR 626/77; BGH, Beschl. v. 15. 9. 1987 – 1 StR 442/87; BGH, Urt. v. 8. 9. 1992 – 1 StR 118/92, NJW 1993, 408 (409); OLG Celle, Urt. v. 24. 5. 1982 – 1 Ss 106/82, JR 1983, 203 m. Anm. Stree m.N.; siehe auch BVerfG – 2. Kammer des 2. Senats –, Beschl. v. 1. 6. 2015 – 2 BvR 67/15, NStZ-RR 2015, 335 m. Anm. Metz, NStZ-RR 2016, 46; König, JA 2009, 809 (813); MüKo-StGB/Radtke (Fn. 9), § 40 Rn. 123; Schäfer/Sander/van Gemmeren (Fn. 5), Rn. 1308; Vogel (Fn. 8), S. 5. 37 Siehe nur BGH, Beschl. v. 28. 6. 1977 – 5 StR 30/77, BGHSt 27, 212 (215); BGH, Beschl. v. 19. 7. 1977 – 1 StR 29/77, BGHSt 27, 228 (230); LK/Häger (Fn. 4), § 40 Rn. 81. 38 BGH, Beschl. v. 28. 6. 1977 – 5 StR 30/77, BGHSt 27, 212 (215); BGH, Beschl. v. 19. 7. 1977 – 1 StR 29/77, BGHSt 27, 228 (231); BGH, Beschl. v. 26. 8. 1977 – 3 StR 97/77; BGH, Urt. v. 10. 3. 1993 – 3 StR 461/92, BGHR StGB § 40 Abs. 2 S. 1 Einkommen 5. 39 BGH, Urt. v. 10. 1. 1989 – 1 StR 682/88, BGHR StGB § 40 Abs. 2 S. 1 Einkommen 1. 40 MüKo-StGB/Radtke (Fn. 9), § 40 Rn. 123; Sch/Sch/Stree/Kinzig, StGB (Fn. 21), § 40 Rn. 21a; Vogel (Fn. 8), S. 5. 41 LK/Häger (Fn. 4), § 40 Rn. 74. 42 Siehe nur BGH, Beschl. v. 11. 8. 2009 – 3 StR 175/09, BGHR StPO § 354 Abs. 1a Verfahren 4.
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b) Schätzung des Erlangten Kommt eine Einziehungsentscheidung in Betracht, können gemäß dem am 1. Juli 2017 in Kraft getretenen § 73d Abs. 2 StGB43 auch Umfang und Wert des Erlangten einschließlich der abzuziehenden Aufwendungen geschätzt werden.44 Diesbezüglich gelten die soeben zum § 40 Abs. 3 StGB skizzierten Grundsätze weitgehend entsprechend. Das Tatgericht darf daher wie dort aus prozessökonomischen Gründen,45 aber nicht willkürlich und ohne ein Mindestmaß an zureichenden Anhaltspunkten schätzen. Vielmehr muss eine mit den Strengbeweismitteln46 hinreichend sichere Tatsachengrundlage festgestellt47 und im Urteil mitgeteilt werden.48 Auch § 73d Abs. 2 StGB beseitigt die gerichtliche Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) nicht, sondern schränkt sie lediglich ein.49 Für die Beantwortung der Frage, wieweit sie im konkreten Fall reicht und in welchem Umfang Beweisanträgen, welche die Feststellung von tatsächlichen Schätzgrundlagen zum Gegenstand haben, nachgegangen werden muss, ist insbesondere die Höhe der Werte maßgeblich, um deren Einziehung es geht.50 Eine Vertagung der Hauptverhandlung zur besseren Aufklärung wird nur ganz selten und bei sehr hohen Werten erforderlich sein.51 Ohne unverhältnismäßig großen Zeit- oder Kostenaufwand zur Verfügung stehende Beweismittel sind hingegen grundsätzlich zu erheben.52 Der Zweifelsgrundsatz bezieht sich
43 Aufgrund des Gesetzes zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung v. 13. 4. 2017 (BGBl. I S. 872 ff.). 44 Hierzu BGH, Urt. v. 8. 2. 2018 – 3 StR 560/17; es handelt sich um die Nachfolgenorm des bis 30. 6. 2017 geltenden § 73b StGB. Im Ordnungswidrigkeitenrecht hat § 29a Abs. 4 S. 1 OWiG den bis zum selben Zeitpunkt in Kraft befindlichen § 29a Abs. 3 S. 1 OWiG abgelöst. 45 Alsberg/Tsambikakis (Fn. 7), Rn. 1590; Graf/Jäger/Wittig/Wiedner, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Aufl. 2017, § 73b StGB Rn. 1. 46 Alsberg/Tsambikakis (Fn. 7), Rn. 1590; zumindest missverständlich insofern Graf/Jäger/ Wittig/Wiedner (Fn. 45), § 73b StGB Rn. 1; LK/Schmidt, § 73b Rn. 3; SK-StGB/Wolters (Fn. 16), § 73b Rn. 3; SSW-StGB/Burghart, 3. Aufl. 2016, § 73b Rn. 3. 47 BGH, Urt. v. 20. 4. 1989 – 4 StR 73/89, NStZ 1989, 361; BGH, Beschl. v. 27. 6. 2001 – 5 StR 181/01, NStZ-RR 2001, 327 (328); BGH, Beschl. v. 27. 5. 2008 – 3 StR 50/08, NStZ 2008, 623; BGH, Beschl. v. 5. 6. 2012 – 4 StR 58/12; BGH, Beschl. v. 18. 2. 2016 – 2 StR 251/14; siehe auch BGH, Urt. v. 30. 5. 2008 – 1 StR 166/07, BGHSt 52, 227 (243, 246, 255); Schäfer/ Sander/van Gemmeren (Fn. 5), Rn. 346. 48 BGH, Beschl. v. 21. 2. 2007 – 2 StR 586/06; BGH, Beschl. v. 15. 10. 2013 – 3 StR 224/ 13; BGH, Urt. v. 3. 9. 2015 – 3 StR 236/15; Graf/Jäger/Wittig/Wiedner (Fn. 45), § 73b StGB Rn. 10; Schäfer/Sander/van Gemmeren (Fn. 5), Rn. 346. 49 Alsberg/Tsambikakis (Fn. 7), Rn. 1590. 50 Alsberg/Tsambikakis (Fn. 7), Rn. 1590; Graf/Jäger/Wittig/Wiedner (Fn. 45), § 73b StGB Rn. 7; MüKo-StGB/Joecks, StGB, 3. Auflage 2016, Band II, § 73b Rn. 8; Schäfer/Sander/van Gemmeren (Fn. 5), Rn. 346. 51 Schäfer/Sander/van Gemmeren (Fn. 5), Rn. 346. 52 Graf/Jäger/Wittig/Wiedner (Fn. 45), § 73b StGB Rn. 7; MüKo-StGB/Joecks (Fn. 50), § 73b Rn. 2.
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nicht auf die Schätzung selbst, sondern wiederum nur auf die zugrundeliegenden Tatsachen.53 Für die Schätzung, was beispielsweise ein an Betäubungsmittelgeschäften Beteiligter durch den Handel erlangt hat (§ 73 Abs. 1 StGB), kann es bedeutsam sein, dass er im angeklagten Zeitraum der Hauptverkäufer einer Bande54 oder lediglich als Zwischenhändler tätig war.55 Auch Quantität sowie Qualität des jeweiligen Rauschgifts56 und die hierfür „marktüblichen“57 oder die in anderen festgestellten Fällen erzielten Preise58 dürfen bei der Bestimmung eines Mindestverkaufserlöses berücksichtigt werden,59 wobei der Verkaufs- üblicherweise nicht unter dem Einkaufspreis liegt.60 Wie bei der Tagessatzhöhe überprüft das Revisionsgericht das Ergebnis der Schätzung nur auf Vertretbarkeit, insbesondere dahin, ob sie auf einer hinreichenden Tatsachengrundlage beruht.61 Eine eigene revisionsgerichtliche Sachentscheidung kommt in Betracht,62 wenn sich dem angefochtenen Urteil hinreichende Anknüpfungstatsachen entnehmen lassen und es ergänzender Feststellungen nicht bedarf.63 c) Schätzung im Adhäsionsverfahren Auch im Adhäsionsverfahren (§§ 403 ff. StPO) gilt grundsätzlich die tatgerichtliche Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO).64 Dennoch darf das Tatgericht nach allgemeiner Ansicht auch hier Schätzungen vornehmen, soweit es sich um die haftungsausfüllende Kausalität und vor allem die Schadenshöhe handelt, und zwar in analoger Anwendung von § 287 ZPO.65 Dieses Vorgehen ist jedoch auch im An53 BGH, Urt. v. 20. 4. 1989 – 4 StR 73/89, NStZ 1989, 361; MüKo-StGB/Joecks (Fn. 50), § 73b Rn. 9. 54 BGH, Urt. v. 26. 11. 2008 – 5 StR 425/08, NStZ-RR 2009, 94; siehe auch BGH, Beschl. v. 24. 6. 2014 – 1 StR 162/14. 55 BGH, Beschl. v. 18. 2. 2016 – 2 StR 251/14. 56 Siehe etwa BGH, Urt. v. 19. 1. 2005 – 2 StR 402/04, NStZ 2005, 455; auch BGH, Beschl. v. 5. 6. 2012 – 4 StR 58/12. 57 Hierzu BGH, Urt. v. 20. 4. 1989 – 4 StR 73/89, NStZ 1989, 361 (zu diesbezüglichen Erkenntnissen u. a. des Bundeskriminalamtes). 58 BGH, Urt. v. 10. 9. 2003 – 1 StR 147/03. 59 Schäfer/Sander/van Gemmeren (Fn. 5), Rn. 346. 60 Vgl. BGH, Urt. v. 10. 6. 1999 – 4 StR 135/99, NStZ-RR 2000, 57 (58); MüKo-StGB/ Joecks (Fn. 50), § 73b Rn. 8. 61 Graf/Jäger/Wittig/Wiedner (Fn. 45), § 73b StGB Rn. 11. 62 BGH, Urt. v. 10. 6. 1999 – 4 StR 135/99, NStZ-RR 2000, 57 (58). 63 BGH, Urt. v. 26. 11. 2008 – 5 StR 425/08, NStZ-RR 2009, 94; Graf/Jäger/Wittig/Wiedner (Fn. 45), § 73b StGB Rn. 11. 64 Alsberg/Tsambikakis (Fn. 7), Rn. 1591. 65 Ebenso Alsberg/Tsambikakis (Fn. 7), Rn. 1591; Eisenberg (Fn. 10), Rn. 33 Fn. 65; LR/ Becker, 26. Aufl. 2009, § 244 Rn. 12; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 60. Auflage 2017, § 244 Rn. 16; MüKo-StPO/Trüg/Habetha (Fn. 7), § 244 Rn. 33 m.w.N.; siehe auch BGH, Urt. v.
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hangsverfahren unzulässig, wenn das gefundene Ergebnis mangels konkreter Anhaltspunkte gewissermaßen in der Luft hinge und mithin willkürlich wäre. 2. Unrechts- und Schuldgehalt betreffende Schätzungen Über den Anwendungsbereich der erörterten, jeweils auf bestimmte Rechtsfolgen beschränkten Vorschriften hinaus dürfen die Tatgerichte bei bestimmten Konstellationen sogar für den Unrechts- und Schuldgehalt maßgebliche Umstände schätzen. Die Rechtsprechung gestattet dies auch ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung. Eine entsprechende Befugnis wird daher allgemein im Rahmen der freien Beweiswürdigung anzusiedeln sein; § 261 StPO berechtigt und verpflichtet die Tatgerichte dazu, die erhobenen Beweise umfassend zu würdigen.66 Eine Schätzung als übliches Mittel logischen Denkens verstößt demnach für sich genommen nicht gegen die genannte Bestimmung. Vielmehr kann die stets gebotene Gesamtschau es im Einzelfall erfordern, bestimmte Umstände zu schätzen. Eine Schätzung setzt voraus, dass Beweismittel fehlen, die eine annähernd genaue Berechnung ermöglichen würden, also solche, die anderenfalls gemäß § 244 Abs. 2 StPO ausgeschöpft werden müssten. Darüber hinaus wird sie – entsprechend dem eingangs dargelegten allgemeinen Verständnis vom Begriff der Schätzung – als zulässig erachtet, wenn eine weitere Aufklärung zwar möglich wäre, aber einen völlig unangemessenen, mithin unverhältnismäßigen Aufwand nach sich ziehen und eine vom exakten Berechnungsergebnis nur zu vernachlässigende Abweichung erwarten lassen würde. In jedem Fall müssen die als Schätzgrundlage herangezogenen Parameter tragfähig sein und alle relevanten Tatsachen in den Urteilsgründen im Rahmen der den Grundsatz in dubio pro reo beachtenden Beweiswürdigung dargelegt werden. a) Anzahl und Unrechtsgehalt von Taten aa) Nach den geltenden Maßstäben kann eine Einschätzung der Tatfolgen, namentlich des Ausmaßes des Schadens, als bloße Wahrscheinlichkeitsaussage das Erfordernis des zur Überzeugung des Gerichts feststehenden Mindestumfangs jeder einzelnen Tat nicht ersetzen, auch nicht bei Vermögensdelikten. Gleiches gilt für den Tatumfang, etwa bei Betäubungsmittelstraftaten.67 Hier kann die Wirkstoffkonzentration des Rauschgiftes aber – zur Vermeidung eines unverhältnismäßigen (nicht zuletzt Kosten für den Verurteilten verursachenden; § 465 Abs. 1 S. 1 StPO) Unter-
24. 6. 1986 – VI ZR 21/85, NJW 1987, 705, und allgemein https://de.wikipedia.org/wiki/Schät zung (abgerufen am 28. 5. 2018). 66 Siehe etwa LR/Sander (Fn. 35), § 261 Rn. 56. 67 Vgl. Bohnert, NStZ 1995, 460; Geppert, NStZ 1996, 118; LR/Sander (Fn. 35), § 261 Rn. 113; siehe auch Hellmann, GA 1997, 503.
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suchungsaufwandes – insbesondere anhand repräsentativer68 Stichproben geschätzt werden.69 In Betracht kommt zudem, Analysen vergleichbaren sichergestellten Rauschgiftes durch die Kriminalämter heranzuziehen.70 Die dargestellten Grundsätze gelten selbstverständlich in gleicher Weise im Steuerstrafrecht.71 Deshalb darf das Tatgericht nicht von den mittels Schätzung nach § 162 AO festgesetzten Steuern ausgehen, sondern nur von den nach seiner Überzeugung als verkürzt nachgewiesenen Beträgen.72 Denn im steuerrechtlichen Festsetzungsverfahren können sich Zweifel an der Richtig- und Vollständigkeit des Sachverhalts zuungunsten des Steuerpflichtigen auswirken.73 Ein Strafgericht darf deshalb Schätzungen des Finanzamts oder von der Zollverwaltung angegebene Werte nicht ungeprüft übernehmen.74 Eine eigene Schätzung der Besteuerungsgrundlagen – nicht aber der Steuer selbst 75 – wird dagegen in der Rechtsprechung für zulässig gehalten, wenn hinreichend verlässliche Anknüpfungstatsachen für deren nähere Bestimmung fehlen. Bei dieser Konstellation darf eine durchschnittliche, an Wahrscheinlichkeitskriterien ausgerichtete Schätzung erfolgen,76 sofern sie in sich schlüssig ist 77 und das Gericht die ihr zugrundeliegenden Tatsachen selbst feststellt sowie in den Urteilsgründen nachvollziehbar darlegt.78 Dieser Darstellungspflicht braucht ausnahmsweise nicht entsprochen zu werden, wenn ein sachkundiger Angeklagter ein die Berechnung der hinterzogenen Steuern bestätigendes Geständnis abgelegt hat.79 68 An dieser Voraussetzung kann es fehlen, wenn ausschließlich mehrere Monate nach der angeklagten Tat sichergestelltes Rauschgift untersucht werden könnte; vgl. BGH, Beschl. v. 7. 2. 2018 – 1 StR 582/17. 69 BGH, Beschl. v. 19. 9. 2007 – 3 StR 354/07, BGHR BtMG § 29a Abs. 1 Nr. 2 Menge 17; BGH, Beschl. v. 10. 11. 2009 – 1 StR 283/09, NStZ 2010, 635 (636). 70 Hierzu Hofmann, StraFo 2003, 70 (71). 71 LR/Sander (Fn. 35), § 261 Rn. 113b. 72 Vgl. BGH, Beschl. v. 2. 5. 1984 – 3 StR 159/84, wistra 1984, 182; BGH, Beschl. v. 4. 2. 1992 – 5 StR 655/91, BGHR AO § 370 Abs. 1 Nr. 2 Steuerschätzung 5; Klein/M. Jäger, AO, 14. Aufl. 2018, § 370 Rn. 96a. 73 Griesel, PStR 2007, 101; zur Bezugnahme auf einen Erlass des Bundesfinanzministeriums siehe zudem BGH, Beschl. v. 27. 11. 2002 – 5 StR 527/02, NStZ 2003, 550 (551). 74 BGH, Beschl. v. 19. 8. 2009 – 1 StR 314/09, NStZ 2010, 338; BGH, Beschl. v. 10. 11. 2009 – 1 StR 283/09, NStZ 2010, 635 (636); siehe schon RG, Urt. v. 6. 2. 1934 – 1 D 396/32, RGSt 68, 46 (57 f.). 75 M. Jäger, StraFo 2006, 477 (480). 76 BGH, Beschl. v. 4. 2. 1992 – 5 StR 655/91, BGHR AO § 370 Abs. 1 Nr. 2 Steuerschätzung 5. 77 BGH, Beschl. v. 10. 11. 2009 – 1 StR 283/09, NStZ 2010, 635 (636: zur branchenüblichen Nettolohnquote bei illegalen Beschäftigungsverhältnissen). 78 BGH, Urt. v. 26. 10. 1998 – 5 StR 746/97, BGHR AO § 370 Abs. 1 Steuerschätzung 1 und 2; D. Krause, StraFo 2002, 249 (253); Mitsch/Stumm, INF 2005, 539 (543) befürworten, einen Abschlag von der Schätzung der Finanzverwaltung vorzunehmen. 79 Hofmann, StraFo 2003, 70 (72) m.w.N. aus der Rechtsprechung des BGH.
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Dabei wird sich das Tatgericht regelmäßig (zumindest) einer der bewährten Schätzungsmethoden (etwa Heranziehung der Richtsatzsammlung des Bundesministeriums der Finanzen oder der Ergebnisse vergleichbarer Betriebe)80 bedienen oder diese ggf. kombinieren,81 um das Ziel, der Wirklichkeit durch Wahrscheinlichkeitsüberlegungen möglichst nahezukommen, zu erreichen. Bei der Auswahl kommt ihm ein revisionsgerichtlich nur eingeschränkt überprüfbarer Beurteilungsspielraum zu.82 Das Tatgericht muss jedoch nachvollziehbar darlegen, warum es sich der gewählten Schätzungsmethode bedient hat und weshalb diese im konkreten Fall geeignet ist.83 Die Schätzung muss zudem nach steuerrechtlichen Grundsätzen in sich schlüssig sein. Das ist namentlich dann zu bejahen, wenn ihre Ergebnisse hinsichtlich aller Bemessungsgrundlagen wirtschaftlich vernünftig und möglich sind.84 Bei unversteuert in das Zollgebiet der Europäischen Union eingeführten Zigaretten kann die Schätzung der verkürzten Einfuhrabgaben am üblichen Importpreis für Markenzigaretten des unteren Preissegments ansetzen oder die vom Bundesministerium der Finanzen festgesetzten „Anhaltswerte“ heranziehen.85 Ist die Buchhaltung eines Arbeitgebers unvollständig, kann die Höhe der Löhne und Gehälter geschätzt und daraus der Umfang der vorenthaltenen Sozialversicherungsbeiträge berechnet werden.86 Als Schwarzlohnsumme dürfen grundsätzlich zwei Drittel der Nettoumsätze eines Unternehmens zugrundegelegt werden.87 Sämtliche soeben genannten Fallgestaltungen zeichnen sich dadurch aus, dass Anknüpfungstatsachen nur außerhalb des konkreten Falls bestehen (z. B. der übliche Zigaretten-Importpreis oder die genannte Richtsatzsammlung) oder aber weitergehende Feststellungen zwar möglich, aber unverhältnismäßig wären (etwa Analyse
80 BGH, Urt. v. 12. 8. 1999 – 5 StR 269/99, NStZ 1999, 581; BGH, Urt. v. 6. 9. 2011 – 1 StR 633/10; BGH, Beschl. v. 29. 1. 2014 – 1 StR 561/13, NStZ 2014, 337 (338); BGH, Beschl. v. 6. 10. 2014 – 1 StR 214/14, NStZ 2015, 281; BGH, Beschl. v. 6. 4. 2016 – 1 StR 523/15, NStZ 2016, 728 (730); Klein/M. Jäger, AO (Fn. 72), § 370 Rn. 96a. 81 Einen Überblick geben Wessing/Katzung, SAM 2008, 21 (23 ff.); siehe auch M. Jäger, StraFo 2006, 477 (481); Mitsch/Stumm, INF 2005, 539 und allgemein D. Krause, StraFo 2002, 249 (252). 82 BGH, Beschl. v. 4. 2. 1992 – 5 StR 655/91, BGHR AO § 370 Abs. 1 Nr. 2 Steuerschätzung 5; BGH, Beschl. v. 10. 11. 2009, 1 StR 283/09, NStZ 2010, 635 (636); BGH, Beschl. v. 14. 6. 2011 – 1 StR 90/11, NStZ 2011, 645 (646); Klein/M. Jäger, AO (Fn. 72), § 370 Rn. 96. 83 Vgl. Schäfer/Sander/van Gemmeren (Fn. 5), Rn. 1307. 84 BGH, Urt. v. 12. 8. 1999 – 5 StR 269/99, NStZ 1999, 581. 85 BGH, Beschl. v. 19. 8. 2009 – 1 StR 314/09, NStZ 2010, 338. 86 BGH, Beschl. v. 10. 11. 2009 – 1 StR 283/09, NStZ 2010, 635 (636); BGH, Urt. v. 11. 8. 2010 – 1 StR 199/10, NStZ-RR 2010, 376; BGH, Beschl. v. 14. 6. 2011 – 1 StR 90/11, NStZ 2011, 645; BGH, Beschl. v. 25. 10. 2017 – 2 StR 50/17. 87 BGH, Beschl. v. 10. 11. 2009 – 1 StR 283/09, NStZ 2010, 635 (636); BGH, Beschl. v. 14. 6. 2011 – 1 StR 90/11, NStZ 2011, 645; Schäfer/Sander/van Gemmeren (Fn. 5), Rn. 1307; im Wesentlichen zustimmend Klemme/Schubert, NStZ 2010, 606 (609); siehe auch BGH, Urt. v. 13. 6. 2001 – 3 StR 126/01, NStZ 2001, 599.
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des gesamten sichergestellten Betäubungsmittels). Sie entsprechen somit dem landläufigen Verständnis des Begriffs der Schätzung. bb) Darüber hinaus werden in Rechtsprechung und Literatur aber weitere Konstellationen als Schätzung bezeichnet. Dazu zählen insbesondere diese: Steht kein Betäubungsmittel als Untersuchungsmaterial zur Verfügung, sind sonstige Kriterien heranzuziehen. In Betracht kommen insofern etwa die festgestellten Einkaufs- und Verkaufspreise, die Herkunft sowie die Bewertung der Qualität durch (erfahrene) Konsumenten,88 auch Aussehen und Verpackung.89 Eine „exakte“ Bestimmung des Wirkstoffgehalts ist in derartigen Fällen freilich nicht geboten, sogar untunlich, weil sie nur zu einer Scheingenauigkeit führt.90 Maßgeblich ist letztlich der vom Tatgericht als erwiesen angesehene Mindestumfang.91 Zu den anerkannten Schätzungsmethoden im Steuerstrafrecht zählen etwa der Betriebsvermögensvergleich sowie die Einnahme-Überschuss-Rechnung.92 Daher wird es bei einem Gaststättenbetrieb oder Imbiss beispielsweise naheliegen, den Umsatz auf der Basis in einem bestimmten Zeitraum eingekaufter Getränke und sonstiger Lebensmittel, aber auch der Lage und der Preisgestaltung zu kalkulieren.93 Bei einem Bordell werden zudem die von den Prostituierten erzielten Einnahmen und deren Abgaben (z. B. Anteil am Erlös, Zimmermiete) an den Betreiber zu berücksichtigen sein.94 Hat ein Taxiunternehmen mehrere Fahrzeuge im Einsatz und liegen teilweise Unterlagen über die tatsächliche Jahreskilometerleistung vor, so sind diese in die Schätzung einzubeziehen.95 Betrachtet man sich die in den berichteten Fällen jeweils erfolgende Beweisführung näher, so stellt man Zweierlei fest: Bei den verwerteten Umständen handelt es sich durchweg um in dem entsprechenden Verfahren selbst festgestellte Beweismittel. Diese wiederum werden vollständig verwertet, d. h. Anhaltspunkte für eine durch § 244 Abs. 2 StPO gebotene weitere Aufklärung sind nicht erkennbar. Der Sache nach sind mithin jeweils sämtliche zur Verfügung stehenden Indizien heran- und aus ihnen in üblicher Weise Schlüsse auf den Unrechtsgehalt bzw. das Ausmaß 88
BGH, Beschl. v. 1. 10. 2008 – 2 StR 360/08. Hierzu Hofmann, StraFo 2003, 70 (71). 90 BGH, Beschl. v. 12. 7. 2011 – 1 StR 147/11. 91 Siehe LR/Sander (Fn. 35), § 261 Rn. 113 m.w.N. 92 BGH, Urt. v. 12. 8. 1999 – 5 StR 269/99, NStZ 1999, 581; BGH, Urt. v. 6. 9. 2011 – 1 StR 633/10; BGH, Beschl. v. 29. 1. 2014 – 1 StR 561/13, NStZ 2014, 337 (338); BGH, Beschl. v. 6. 10. 2014 – 1 StR 214/14, NStZ 2015, 281; BGH, Beschl. v. 6. 4. 2016 – 1 StR 523/15, NStZ 2016, 728 (730); Klein/M. Jäger, AO (Fn. 72), § 370 Rn. 96a; siehe auch D. Krause, StraFo 2002, 249 (252). 93 BGH, Beschl. v. 18. 5. 2011 – 1 StR 209/11 (Menge verbrauchten Fladenbrotes bekannt); BGH, Beschl. v. 29. 1. 2014 – 1 StR 561/13, NStZ 2014, 337 (338); BGH, Beschl. v. 6. 10. 2014 – 1 StR 214/14, NStZ 2015, 281. 94 Vertiefend zur Besteuerung im sog. Rotlichtmilieu Mößmer/Moosburger, wistra 2008, 457. 95 BGH, Beschl. v. 6. 4. 2016 – 1 StR 523/15, NStZ 2016, 728 (730). 89
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der Tat gezogen worden. Es erscheint deshalb nicht angezeigt, von einer Schätzung zu sprechen. Denn nicht anders als sonst handelt es sich um einen geradezu typischen Indizienbeweis, bei dessen Führen nicht zuletzt der Zweifelsgrundsatz zu beachten ist. Es ist kein auch nur gradueller Unterschied erkennbar zu einem Fall, in dem beispielsweise ein als Sachverständiger gehörter Rechtsmediziner aufgrund der Obduktion des Erstochenen zu dem Ergebnis gelangt, er habe mindestens fünf Stichkanäle dokumentiert, und das Tatgericht ihm folgend in dubio pro reo feststellt, der Angeklagte habe eben fünfmal auf sein Opfer eingestochen. Letztlich leistet das Tatgericht die im Strengbeweisverfahren bestmögliche und damit die Aufklärungspflicht erfüllende Feststellung der Tatumstände. cc) Vergleichbar ist die Beweissituation regelmäßig, wenn es um die Anzahl der verübten Taten geht. Diese kommt vor allem bei sog. Serientätern in Betracht, etwa im Bereich der Sexual- und Vermögensdelikte. Auch hier können nach den höchstrichterlichen Vorgaben bloße Wahrscheinlichkeitsaussagen oder gar Hochrechnungen für sich allein ein Urteil nicht tragen.96 Das Tatgericht darf vielmehr unter Anwendung des Zweifelssatzes nur von der Mindestzahl derjenigen noch genügend individualisierten Taten ausgehen, welche es für erwiesen hält.97 Hierzu bedarf es – wie stets – einer auf konkreten Anhaltspunkten basierenden,98 umfassenden und nachvollziehbaren Beweiswürdigung. Diese wird typischerweise auf einem Indizienbeweis beruhen. So darf beispielsweise geschätzt werden, bei wievielen mit einer Schadsoftware infizierten Computern zuvor eine installierte „Firewall“ aktiviert und demzufolge zu überwinden war (vgl. § 202a StGB).99 In den Indizienbeweis dürfen wiederum Schätzungen einfließen; die Beweiswürdigung selbst stellt allein deshalb aber keine Schätzung dar.100 Diskutiert wird ferner, ob es bei Serientaten genügt, wenn nur der sicher als erwiesen erachtete Gesamtschaden festgestellt wird, oder ob auch dann der Schaden auf die einzelnen Taten aufgeteilt werden muss. Geht man davon aus, dass nach Wegfall der fortgesetzten Handlung101 jede einzelne Straftat selbständig ist und deshalb auch prozessual ein eigenständiges Schicksal (Rechtsmittelbeschränkung, Wieder96 BGH, Beschl. v. 25. 9. 1997 – 4 StR 437/97, StV 1998, 63; zur Problematik derartiger Schätzungen im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität Körner, StV 1998, 627; zur Beweiskraft statistischer Wahrscheinlichkeiten Allgaier, MDR 1986, 626. 97 Siehe nur BGH, Beschl. v. 27. 3. 1996 – 3 StR 518/95, BGHSt 42, 107; BGH, Urt. v. 8. 11. 2006 – 2 StR 384/06, NStZ-RR 2007, 343 (344); BGH, Beschl. v. 9. 6. 2008 – 5 StR 169/ 08, NStZ-RR 2008, 338; siehe auch BGH, Beschl. v. 5. 10. 1994 – 2 StR 411/94, NStZ 1995, 204; BGH, Beschl. v. 12.111997 – 3 StR 559/97, NStZ 1998, 208; BGH, Urt. v. 12. 8. 1999 – 5 StR 269/99, NStZ 1999, 581. 98 BGH, Beschl. v. 19. 8. 2008 – 5 StR 259/08, NStZ-RR 2008, 349; BGH, Beschl. v. 11. 12. 2008 – 3 StR 21/08, NStZ 2009, 467 (468). 99 BGH, Beschl. v. 27. 7. 2017 – 1 StR 412/16 (Sicherheitsabschlag von sachverständig ermittelten Daten). 100 Ebenso D. Krause, StraFo 2002, 249 (250: „Individualisierung von Serienstraftaten“). 101 BGH, Beschl. v. 3. 5. 1994 – GSSt 2/93 und 3/93, BGHSt 40, 138.
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aufnahme, Strafklageverbrauch usw.) haben kann, dann zeigt sich, dass die getrennte Feststellung des Schadens für jede Tat ebenso unerlässlich ist wie die Festsetzung der daran anknüpfenden Einzelstrafe. Dies gilt ungeachtet dessen selbst dann, wenn wegen tatsächlicher Schwierigkeiten einer genauen Zuordnung bei Beachtung des Zweifelssatzes der den Einzeltaten mit Sicherheit zuzuordnende Mindestschaden in der Summe hinter dem als erwiesen erachteten Gesamtschaden zurückbleibt.102 Insofern wird es allerdings für zulässig gehalten, die Aufteilung des festgestellten Gesamtschadens im Wege der Schätzung vorzunehmen, weil sich der wesentliche Unrechtsgehalt der Serientaten nicht so sehr in ihrer Zahl als in ihrem Ausmaß offenbart.103 Diese Überlegungen können aber unter dem Blickwinkel des Zweifelssatzes nicht rechtfertigen, bei der Festsetzung der Einzelstrafen über den bei der jeweiligen Tat zur Überzeugung des Gerichts erwiesenen Mindestumfang der verursachten Folgen hinauszugehen.104 Weder erlauben sie, die Zahl der mindestens festgestellten Taten zu überschreiten, noch führen sie dazu, den Umfang des Schadens bei der Bildung der Gesamtstrafe höher festzustellen, als er sich aus der Summe der bei den Einzeltaten festgestellten Mindesthöhe des Schadens ergibt.105 Eine Hochrechnung ist daher nur dann mit dem Zweifelssatz vereinbar, wenn sie sich nicht allein in der Wiedergabe der auf der Hochrechnung beruhenden (meist hohen) Wahrscheinlichkeit erschöpft, sondern wenn ihr Ergebnis in eine alle Indizien umfassende, nachvollziehbare Beweiswürdigung eingeht, auf die sich die Überzeugung des Gerichts von dem für erwiesen erachteten Mindesttatumfang gründet. Angesichts dessen ist es etwa unzulässig, bei Massen-Betrügereien die Anzahl der auf die Täuschung hereingefallenen Opfer („Irrtumsquote“) zu schätzen.106 Müssen danach zugunsten des Täters einzelne Verhaltensweisen zu einer Tat zusammengefasst werden, so ist etwa bei Betäubungsmitteltaten zu prüfen, ob nicht auf diese Weise die Grenze zur nicht geringen Menge überschritten und der Täter hierdurch belastet wird.107 Allerdings sollte anhand der konkreten Umstände des jeweiligen Einzelfalls geprüft werden, ob sich dies im Ergebnis tatsächlich zuungunsten des Täters auswirkt; denn die beispielsweise aus mehreren Strafen wegen Handeltrei102
cken).
Vgl. Bohnert, NStZ 1995, 461 (Verzicht auf fortgesetzte Tat eröffnet Strafbarkeitslü-
103 BGH, Urt. v. 6. 12. 1994 – 5 StR 305/94, BGHSt 40, 374; BGH, Beschl. v. 20. 5. 1994 – 2 StR 202/94, NStZ 1994, 586; BGH, Urt. v. 16. 10. 1996, NStZ 1997, 280; BGH, Beschl. v. 12. 11. 1997 – 3 StR 559/97, NStZ 1998, 208; BGH, Beschl. v. 9. 12. 1998 – 2 StR 471/98, wistra 1999, 99. 104 Siehe BGH, Urt. v. 6. 12. 1994 – 5 StR 305/94, BGHSt 40, 374 (377); BGH, Beschl. v. 5. 3. 2002 – 3 StR 491/01, NStZ 2002, 438 (439); BGH, Urt. v. 5. 5. 2004 – 5 StR 139/03, NStZ-RR 2004, 242 (243); siehe ferner BGH, Beschl. v. 13. 9. 2017 – 4 StR 88/17. 105 In diesem Sinne BGH, Urt. v. 6. 12. 1994 – 5 StR 305/94, BGHSt 40, 374 (377); BGH, Urt. v. 21. 4. 2004 – 5 StR 540/03; BGH, Urt. v. 8. 11. 2006 – 2 StR 384/06, NStZ-RR 2007, 343 (344). 106 Siehe Schäfer/Sander/van Gemmeren (Fn. 5), Rn. 1305. 107 BGH, Beschl. v. 5. 3. 2002 – 3 StR 491/01, NStZ 2002, 438 (439); Hofmann, StraFo 2003, 70 (72 f.).
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bens mit Betäubungsmitteln gemäß § 54 StGB zu bildende Gesamtstrafe könnte mitunter empfindlicher ausfallen als eine wegen eines Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu verhängende. b) Schuld eines Tatbeteiligten Auch in Bezug auf den persönlichen Schuldumfang kommt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs eine Schätzung in Betracht. Dies ist etwa für die Prüfung anerkannt, ob der Täter bei der Begehung der Tat alkoholbedingt erheblich vermindert steuerungsfähig (§ 21 StGB) gewesen ist.108 Fehlen zuverlässige Berechnungsgrundlagen für die Bestimmung der Blutalkoholkonzentration zur Tatzeit, ist das Tatgericht zwar gehalten, sich wiederum unter Beachtung des Zweifelssatzes eine Überzeugung davon zu verschaffen, welche Höchstmenge aufgenommenen Alkohols nach der Sachlage in Betracht kommt.109 Liegen hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte hierfür vor, ist eine Schätzung zulässig und geboten.110 Nach dem bereits Ausgeführten handelt es sich hierbei aber in Wahrheit um keine Schätzung, sondern um eine indiziengestützte Beweisführung, indem das Tatgericht – wie auch sonst im Rahmen des § 261 StPO üblich und geboten – Schlüsse zieht. Dabei ist das Tatgericht nicht verpflichtet, Sachverhalte zugunsten des Angeklagten zu unterstellen, für die es keinen begründeten Anhalt gibt.111 Lassen sich nach Erschöpfung aller Beweismöglichkeiten keine Erkenntnisse darüber gewinnen, dass der Täter erheblich alkoholisiert war, ist daher volle Schuldfähigkeit anzunehmen.112 Denn wenn es an konkreten – wenigstens ungefähr bestimmten zeitlichen und quantitativen – Feststellungen zum einer Schätzung zugrundezulegenden Trinkverhalten des Täters mangelt, so fehlt es für diese an der erforderlichen Basis;113 es würde sich daher um eine unzulässige Mutmaßung handeln.
III. Fazit Die für Schätzungen geltenden Grundsätze sind in weiten Teilen geklärt. Danach bedarf es insbesondere hinreichender Anknüpfungstatsachen, von denen sich das Tatgericht im Strengbeweis überzeugen und die es – in für die Verfahrensbeteiligten und speziell das Revisionsgericht nachprüfbarer Weise – in den schriftlichen Urteils108
Siehe Hofmann, StraFo 2003, 70 (72). BGH, Beschl. v. 18. 8. 1992 – 4 StR 332/92, StV 1993, 466; BGH, Beschl. v. 28. 4. 2010 – 5 StR 135/10, NStZ-RR 2010, 257 (258). 110 BGH, Beschl. v. 18. 8. 1992 – 4 StR 332/92, StV 1993, 466; BGH, Beschl. v. 28. 4. 2010 – 5 StR 135/10, NStZ-RR 2010, 257 (258). 111 BGH, Urt. v. 6. 3. 1986 – 4 StR 48/86, BGHSt 34, 29 (34); BGH, Beschl. v. 7. 10. 2014 – 4 StR 397/14; LR/Sander (Fn. 35), § 261 Rn. 112. 112 BGH, Urt. v. 15. 9. 1987 – 5 StR 260/87, BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 9. 113 BGH, Urt. v. 25. 10. 2017 – 2 StR 118/16. 109
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gründen darstellen muss. In der Hauptverhandlung sollte zumindest erörtert werden, dass das Tatgericht eine Schätzung vorzunehmen beabsichtigt. Jedoch hat die vorstehende knappe Analyse ergeben, dass es sich bei etlichen der üblicherweise erfassten Konstellationen in Wahrheit nicht um eine Schätzung im strafrechtlichen oder auch nur landläufigen Sinne handelt. Vielmehr werden unter diesen Begriff etliche Fallgestaltungen subsumiert, bei denen es sich bei näherer Betrachtung um eine „schlichte“ Beweiswürdigung handelt, bei der das jeweilige Ergebnis zumeist im Wege des Indizienbeweises sowie unter Beachtung des Grundsatzes in dubio pro reo erzielt wird. Sachliche Folgerungen hat diese Differenzierung wohl nicht. Sie sollte aber zu größerer gedanklicher Klarheit beitragen können. Dies wiederum dürfte ganz im zu Beginn des Beitrages beschriebenen Sinne des Jubilars sein – ad multos annos!
Erweiterte Erreichbarkeit von Zeugen bei möglicher kommissarischer oder audiovisueller Vernehmung Von Hartmut Schneider
I. Ausgangslage Das Recht des Angeklagten und seines Verteidigers, in der Hauptverhandlung Beweisanträge stellen zu können, ist ihr wichtigstes Mittel zur aktiven Einwirkung auf den Gang der Wahrheitsfindung. Allerdings trifft es zuweilen auf nicht oder zumindest nur schwer überwindbare Hindernisse. Eines kann darin bestehen, dass das Tatgericht den in einem Beweisantrag benannten Zeugen in der Hauptverhandlung vornehmen möchte, ihn aber nach intensiven Nachforschungsbemühungen nicht ausfindig machen kann und deshalb nicht zu laden vermag. In solchen Fällen wird es das im Raume stehende Beweisersuchen nach § 244 Abs. 3 S. 2 Var. 5 StPO wegen Unerreichbarkeit des Beweismittels zurückweisen. Anders gestaltet sich die Rechtslage hingegen dann, wenn das Tatgericht zwar eine ladungsfähige Anschrift des im Beweisantrag bezeichneten Zeugen in Erfahrung gebracht hat, dieser jedoch entweder mit rechtlich tragfähigen Gründen nicht willens oder aber auf unabsehbare Zeit faktisch nicht in der Lage ist, in der Hauptverhandlung persönlich zu erscheinen und dort zur Sache auszusagen. Auf den ersten Blick scheint es so, als ob auch in solchen Konstellationen der Ablehnungsgrund des § 244 Abs. 3 S. 2 Var. 5 StPO ohne Weiteres zur Anwendung gelangen muss; denn aus ihm wird deutlich, dass gedanklicher Bezugspunkt der Zeugenvernehmung an sich die im Gerichtssaal anwesende Auskunftsperson ist. Freilich wäre es vorschnell, derart zu verfahren. Vielmehr muss das Tatgericht nach einschlägiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs vor Ablehnung des Beweisantrags klären, ob die für die Sachaufklärung bedeutsame Aussage des in der Hauptverhandlung ausbleibenden Zeugen auf anderem Wege für die Wahrheitsfindung fruchtbar gemacht werden kann. In Betracht zu ziehen ist dabei sowohl die in den §§ 223 und 224 StPO näher geregelte kommissarische Vernehmung des Zeugen als auch dessen audiovisuelle Anhörung nach § 247a Abs. 1 S. 1 HS. 2 StPO. Der Bundesgerichtshof ist der Ansicht, dass ein auf die Vernehmung eines Zeugen gerichteter Beweisantrag gemeinhin nicht allein auf dessen Befragung im Sitzungssaal abzielt, sondern für den Fall des Nichterscheinens der Auskunftsperson – gleichsam konkludent – auch das hilfsweise geltend gemachte Ersuchen auf Durchführung der beiden vorgenannten
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Formen alternativer Beweisgewinnung mitumfasst.1 Aufbauend hierauf darf das Tatgericht den Beweisantrag erst dann ablehnen, wenn selbst deren Durchführung die Wahrheitsfindung nicht befördern würde, weil sie nach Lage des Falles zur Sachaufklärung nichts Weiterführendes beitragen kann.2 In seinem Beweisbeschluss nach § 244 Abs. 6 S. 1 StPO muss das Tatgericht sowohl auf die originäre Unerreichbarkeit der Auskunftsperson als auch auf die prognostizierte Unergiebigkeit der nachrangigen Möglichkeiten zur Erlangung von Angaben des Zeugen eingehen. Im strafprozessualen Schrifttum hat sich zur Verdeutlichung der vorstehend skizzierten Handhabung des Ablehnungsgrundes aus § 244 Abs. 3 S. 2 Var. 5 StPO die Redeweise von einem „erweiterten“ Erreichbarkeitsbegriff etabliert. Dahingehende Fragen stellen sich vor allem bei Auslandszeugen, sofern diese sich weigern, vor dem Tatgericht zu erscheinen und auszusagen, aber immerhin bereit sind, an einer kommissarischen oder audiovisuellen Vernehmung teilzunehmen.3 Darüber hinaus kann die erweiterte Erreichbarkeit bei Inlandszeugen eine Rolle spielen, wenn diese krankheitsbedingt auf unabsehbare Zeit in der Hauptverhandlung nicht erscheinen, jedoch in ihrer Wohnung oder aber in einem Krankenzimmer vernommen werden können.4 In allen diesen Fällen gilt es zu erörtern, unter welchen Voraussetzungen die Tatgerichte rechtlich gehalten sind, den in der Hauptverhandlung nicht auftretenden Zeugen zu vernehmen und die solchermaßen erlangten Erkenntnisse in die Hauptverhandlung einzuführen, bevor der dem Ganzen zugrunde liegende Beweisantrag wegen Unerreichbarkeit zurückgewiesen werden darf. Einerseits kann der bloße Umstand, dass der Beweiswert einer audiovisuellen Vernehmung hinter dem einer hauptverhandlungsinternen Anhörung der Auskunftsperson naturgemäß zurückbleibt, die Ablehnung des Beweisersuchens selbstverständlich nicht rechtfertigen.5 Anderer1 Siehe dazu BGHSt 22, 118 (122); BGHSt 45, 188 (190); BGH, NStZ 2000, 385. Tendenziell ablehnend hingegen BGH, NStZ 2008, 232. 2 BGHSt 45, 188 (190); BGH, NJW 1983, 527; BGH, NJW 2000, 443 (447); BGH, StV 1992, 548; BGH, StV 2004, 465 (466); BGH, JR 1984, 129; BGH, GA 1971, 85 (86); OLG Hamm, NJW 1964, 2073; OLG Köln, StV 1995, 574 (575); KK/Krehl, StPO, 7. Aufl. 2013, § 244 Rn. 170; LR/Becker, StPO, 26. Aufl. 2010, Band 6, § 244 Rn. 260 f.; MüKo/Trüg/Habetha, StPO, 1. Aufl. 2016, Band 2, § 244 Rn. 311; Alsberg/Güntge, Der Beweisantrag im Strafprozess, 6. Aufl. 2013, Rn. 1221; Deckers, Der strafprozessuale Beweisantrag, 3. Aufl. 2013, Rn. 180, 187; Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 10. Aufl. 2017, Rn. 229c,e. 3 BGHSt 45, 188 (190 f.); BGH, GA 1954, 222; BGH, StV 1992, 548; BGH, NStZ 2014, 531 (532); BGH, NStZ-RR 2015, 278 (279); LR-Becker, StPO (Fn. 1), § 244 Rn. 260; SK/ Frister, StPO, 5. Aufl. 2015, Band 4, § 244 Rn. 156; Alsberg/Nüse/Meyer, Der Beweisantrag im Strafprozess, 5. Aufl. 1983, S. 632; Alsberg/Güntge, Beweisantrag (Fn. 2), Rn. 1220; Deckers, Beweisantrag (Fn. 2), Rn. 180; Hamm/Hassemer/Pauly, Beweisantragsrecht, 2. Aufl. 2007, Rn. 299 f. Rose, Der Auslandszeuge im Beweisrecht des deutschen Strafprozesses, 1999, S. 470. 4 Siehe dazu BGH, NStZ 2015, 102 f. 5 LR-Becker, StPO (Fn. 2), § 244 Rn. 260; MüKo/Trüg/Habetha, StPO (Fn. 2), § 244 Rn. 313; Alsberg/Nüse/Meyer, Beweisantrag (Fn. 3), S. 632; Alsberg/Güntge, Beweisantrag
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seits ist die schlichte Möglichkeit anderer Beweiserhebungen nach gefestigter höchstrichterlicher Rechtsprechung kein zwingender Grund dafür, tatsächlich dergestalt vorzugehen und vom Rückgriff auf § 244 Abs. 3 S. 2 Var. 5 StPO abzusehen. Vielmehr steuert der Bundesgerichtshof einen mittleren Kurs. Danach obliegt es der einzelfallspezifischen Beurteilung des Tatgerichts, ob eine kommissarische beziehungsweise audiovisuelle Zeugenvernehmung die Wahrheitsfindung voranbringen kann oder aber ob diese Formen der Beweisgewinnung nach Maßgabe der Umstände des Einzelfalles derart defizitär bleiben, dass darauf verzichtet werden darf, zumal da die Auskunftsperson in der Hauptverhandlung ohnehin nicht zur Verfügung steht. Im Folgenden geht es zunächst darum, die einzelnen Kriterien, die der Bundesgerichtshof zur Beantwortung dieser Fragen entwickelt hat, anhand eines Beispielsfalles vorzustellen und kritisch zu würdigen. Im Anschluss daran soll untersucht werden, ob überhaupt und inwieweit sich diese in die herkömmliche Dogmatik des Beweisantragsrechts einfügen lassen.
II. Gründe für die Ablehnung einer kommissarischen oder audiovisuellen Vernehmung Allein die freibeweislich abgeklärte Möglichkeit zur Durchführung einer kommissarischen oder audiovisuellen Vernehmung des im Beweisantrag bezeichneten Zeugen besagt anerkanntermaßen noch nicht, dass das Tatgericht hiervon in jedem Falle Gebrauch machen muss. Der Bundesgerichtshof stellt es in das Ermessen des Tatgerichts zu entscheiden, ob die im Kontext der Unerreichbarkeit von Auslandszeugen in Rede stehenden alternativen Formen der Beweisgewinnung für die Sachaufklärung völlig wertlos sind oder aber ob sie hierfür zumindest ansatzweise weiterführende Beiträge liefern können.6 Ausschlaggebend sind die Besonderheiten kommissarischer und audiovisueller Vernehmungen.7 Ausgehend hiervon gestattet der Bundesgerichtshof dem Tatgericht, den aus seiner Sicht zu erwartenden Ertrag der Beweiserhebung im Wege einer Beweisantizipation gedanklich vorwegzunehmen, um im Abgleich mit der bislang erzielten Beweislage bewerten zu können,
(Fn. 2), Rn. 1221; Eisenberg, Beweisrecht (Fn. 2), Rn. 229c; Hamm/Hassemer/Pauly, Beweisantragsrecht (Fn. 3), Rn. 299. 6 BGHSt 13, 300 (302); BGHSt 55 11 (22); BGH, NJW 1983, 527; BGH, NJW 2000, 443 (447); BGH, StV 2004, 456 (466); BGH, JR 1984, 129; BGH, GA 1971, 85 (86); KK/Krehl, StPO (Fn. 2), § 244 Rn. 169; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 60. Aufl. 2017, § 244 Rn. 65; Alsberg/Nüse/Meyer, Beweisantrag (Fn. 3), S. 633; Eisenberg, Beweisrecht (Fn. 2), Rn. 229d. 7 BGHSt 45, 188 (196); Alsberg/Nüse/Meyer, Beweisantrag (Fn. 3), S. 632; Hamm/Hassemer/Pauly, Beweisantragsrecht (Fn. 3), Rn. 302; Rose, Auslandszeuge (Fn. 3), S. 471 mit Fn. 878.
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ob dieser auf die Entscheidungsfindung Auswirkungen haben könnte.8 Dabei ist zu prüfen, ob die nach der bisherigen Beweisaufnahme gewonnene vorläufige Überzeugung vom Tathergang durch die Verlesung einer Vernehmungsniederschrift oder durch eine (transnationale) Videoübertragung der Zeugenvernehmung erschüttert werden kann.9 Gelangt das Tatgericht zu der im Beweisbeschluss näher begründeten Einschätzung,10 dass sowohl der Vernehmungsniederschrift als auch der Videovernehmung diese Eignung abgeht, darf es nach § 244 Abs. 3 S. 2 Var. 5 StPO verfahren. Zur Verdeutlichung der berücksichtigungsfähigen gängigen Beurteilungskriterien mag der folgende Beispielsfall beitragen: Der Angeklagte steht wegen Anstiftung zum schweren Raub vor Gericht. In der Hauptverhandlung benennt er seinen in Ansehung eines Fingerabdrucks auf der Tatwaffe ebenfalls der Tatbeteiligung verdächtigen Bruder C. als Zeugen dafür, dass dieser mit ihm am Vorabend der Tat zwischen 20 und 22 Uhr Karten gespielt habe und deshalb bekunden könne, dass er während dieser Zeit – entgegen der Annahme der Staatsanwaltschaft in der Anklageschrift – den Haupttäter nicht zur Begehung des Raubs telefonisch überredet habe. Das Landgericht lädt den in Algerien aufhältlichen C. unter Zusicherung sicheren Geleits nach § 295 StPO zur Hauptverhandlung. Am Sitzungstag erscheint C. im Gerichtsgebäude und erkundigt sich dort beim Staatsanwalt nach der Verfolgbarkeit einer möglichen Falschaussage im anhängigen Verfahren. Nachdem der Staatsanwalt ihm die hierauf nicht bezogene Wirkung des § 295 StPO erläutert hat, beruft sich C. in der Hauptverhandlung nach Belehrung auf sein umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht aus § 55 StPO und begibt sich wieder nach Algerien.
An einem der nächsten Sitzungstage stellt der Angeklagte den Beweisantrag, den hiermit einverstandenen C. in Algerien entweder kommissarisch oder audiovisuell zu vernehmen. Unter Beweis gestellt werden ergänzend zum ursprünglichen Antragsvorbringen komplexe Vorgänge, aus denen sich ergeben kann, dass C. mit der Tat seines angeklagten Bruders ungeachtet des Fingerabdrucks auf der Tatwaffe nichts zu schaffen hat. Damit zielt der Angeklagte darauf ab, die Glaubwürdigkeit seines Bruders zu stärken und somit den Stellenwerts dessen entlastender Aussage zu steigern. Das Landgericht weist den Beweisantrag nach § 244 Abs. 3 S. 2 Var. 5 StPO zurück. Es führt aus, dass es sich wegen des familiären Näheverhältnisses zwischen C. und dem Angeklagten sowie der möglichen Verstrickung des Zeugen in die Raubtat einen persönlichen Eindruck vom Zeugen verschaffen müsse, um dessen Glaubwürdigkeit und die Glaubhaftigkeit seiner Angaben bewerten zu können. Darüber hinaus sei dessen Vernehmung in der Atmosphäre des Gerichtssaales unverzichtbar, zumal 8 BGHSt 55, 11 (22); BGH, NJW 2000, 443 (447); BGH, StV 2004, 456 (466); BGH, GA 1971, 85 (86); KK/Krehl, StPO (Fn. 2), § 244 Rn. 170; Alsberg/Nüse/Meyer, Beweisantrag (Fn. 3), S. 634. Kritisch hierzu SK/Frister, StPO (Fn. 3), § 244 Rn. 157; Hamm/Hassemer/ Pauly, Beweisantragsrecht (Fn. 3), Rn. 304. 9 KK/Krehl, StPO (Fn. 2), § 244 Rn. 170; Meyer, JR 1984, 129. 10 Zur Begründungstiefe siehe BGH, JR 1984, 129; BGH, GA 1971, 85 (86); KK/Krehl, StPO (Fn. 2), § 244 Rn. 170; LR-Becker, StPO (Fn. 2), § 244 Rn. 264; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO (Fn. 6), § 244 Rn. 65.
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da sich abzeichne, dass die Verfahrensbeteiligten zahlreiche Nachfragen an die Auskunftsperson stellen werden. Mit Blick auf das auffällige Verhalten des C. im Vorfeld seiner Vernehmung in Deutschland sei schließlich in Rechnung zu stellen, dass dieser in Ansehung einer möglichen Falschaussage in Algerien kein wirkliches Risiko eingehe, deswegen sanktioniert zu werden. Das Landgericht verurteilt den Angeklagten wegen schweren Raubes. Mit seiner Revision rügt er die Zurückweisung des Beweisantrags. Er trägt unter anderem vor, dass zumindest eine Videovernehmung dem Tatrichter Eindrücke von der Person des Zeugen hätte vermitteln können, die hinter denen einer unmittelbaren Befragung der Auskunftsperson im Gerichtssaal nicht nennenswert zurückstünden.11 Im Folgenden sollen die Umstände, die im Rahmen der Prüfung der erweiterten Erreichbarkeit von Zeugen zum Verzicht auf die Nutzung von Vernehmungssurrogaten führen können, nach den jeweils in Betracht kommenden Formen der Beweiserhebung getrennt betrachtet werden. Dabei spielt es grundsätzlich keine Rolle, ob die Vernehmung eines Inlandszeugen oder einer Beweisperson, deren Ladung im Ausland zu bewirken wäre, in Rede steht. 1. Kommissarische Vernehmung a) Rahmenbedingungen einer kommissarischen Vernehmung Die kommissarische Vernehmung eines Inlandszeugen erfolgt in aller Regel durch einen beauftragten oder einen ersuchten Richter. Ihre Durchführung richtet sich nach §§ 223 und 224 StPO. Der Zweck der Maßnahme liegt in der Erstellung einer Niederschrift über die Zeugenvernehmung, die in der Hauptverhandlung zu Beweiszwecken Verwertung finden kann.12 Gleiches gilt für die Vernehmung von Auslandszeugen. Sie werden gemeinhin entweder im Wege der Rechtshilfe durch einen ausländischen Richter – gegebenenfalls unter Mitwirkung eines Mitglieds des erkennenden Gerichts – oder im Wege der Amtshilfe nach § 15 Konsulargesetz durch einen deutschen Beamten vernommen.13 Die kommissarische Vernehmung von Zeugen stellt einen vorweggenommenen Teil der Hauptverhandlung dar.14 Gleichwohl können die hauptverhandlungsfern gewonnenen Erkenntnisse der Urteilsfindung nur dann zugrunde gelegt werden, wenn sie ordnungsgemäß in diese eingeführt worden sind. Der Wortlaut der Aussage des Zeugen avanciert in erster Linie durch Verlesung der Vernehmungsniederschrift nach 11
Fall nach BGH, StV 2004, 465 f. Statt aller Meyer-Goßner/Schmitt, StPO (Fn. 6), § 223 Rn. 1. 13 In beiden Fällen empfiehlt es sich, die Vernehmung audiovisuell aufzuzeichnen. Die Bild-Ton-Konserve kann nach §§ 255a Abs. 1, 251 Abs. 1 Nr. 2, 251 Abs. 2 Nr. 1 StPO abgespielt werden, um den Verfahrensbeteiligten einen plakativen Eindruck vom Gang und Inhalt der kommissarischen Zeugenvernehmung zu verschaffen. 14 BGHSt 9, 24 (27); Meyer-Goßner/Schmitt, StPO (Fn. 6), § 223 Rn. 1. 12
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§ 251 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 1 StPO zum Inbegriff der Hauptverhandlung. Erkenntnisse über nonverbales Verhalten der Beweisperson, die für die Beurteilung ihrer Glaubwürdigkeit relevant sein können, sind verwertbar, sofern sie auf Veranlassung des Vernehmenden Eingang in das Protokoll gefunden haben und als dessen Bestandteil in der Hauptverhandlung zu Beweiszwecken förmlich verlesen worden sind. Auf diesem Wege können im Übrigen auch persönliche Eindrücke des beauftragten oder ersuchten Richters unter der Voraussetzung zum Gegenstand der Beweisaufnahme gemacht werden, dass die dafür maßgeblichen Anknüpfungstatsachen in die verlesene Vernehmungsniederschrift aufgenommen worden sind.15 Fehlen derartige Protokollvermerke, können Beobachtungen zum nonverbalen Verhalten des Auslandszeugen allenfalls durch Befragung des nach § 223 StPO seinerzeit eingesetzten Vernehmenden zum Inbegriff der Hauptverhandlung gemacht werden.16 Ein solches Vorgehen bietet sich für einen ersuchten ausländischen Richter allein schon aus Gründen der Verfahrensbeschleunigung nicht an; für den beauftragten Richter dürfte diese Variante mit Blick auf die Vorschrift des § 22 Nr. 5 StPO in aller Regel ausscheiden.17 Die vorstehenden Ausführungen machen deutlich, dass eine kommissarische Zeugenvernehmung nicht dazu führt, dass die Bekundungen der Auskunftsperson unmittelbar in die Hauptverhandlung Eingang finden. Vielmehr zielt sie ihrer Struktur nach darauf ab, in Gestalt des verlesbaren Vernehmungsprotokolls erst das Beweismittel zu schaffen, mit Hilfe dessen die als solche nicht zur Verfügung stehenden originären Angaben der Auskunftsperson in die Hauptverhandlung eingespeist werden können. Es liegt auf der Hand, dass diese Form mittelbarer Beweisgewinnung im Einzelfall Schwachpunkte und Unzulänglichkeiten aufweisen kann. An diesen vorstellbaren Defiziten knüpft die höchstrichterliche Rechtsprechung zum Verzicht hierauf an. b) Gründe für den Verzicht auf eine kommissarische Vernehmung Bereits eingangs wurde erwähnt, dass das Tatgericht im Zuge der Beurteilung der Unerreichbarkeit eines (Auslands-)Zeugen von der Durchführung einer kommissarischen Vernehmung absehen darf, wenn es aufgrund fallspezifischer Umstände beweisantizipierend zu der Überzeugung gelangt, dass diese Form der Beweiserhebung untauglich ist, die Sachaufklärung zu befördern. Folgende Gesichtspunkte können entscheidungsrelevant sein: aa) Überblick Die Untauglichkeit einer kommissarischen Vernehmung des (Auslands-)Zeugen kann zunächst aus dem tatrichterlichen Bedürfnis nach Gewinnung eines persönli15 Siehe dazu BGHSt 45, 354 (360); Meyer-Goßner/Schmitt, StPO (Fn. 6), § 223 Rn. 24, § 251 Rn. 31. 16 Hamm/Hassemer/Pauly, Beweisantragsrecht (Fn. 3), Rn. 302. 17 Hamm/Hassemer/Pauly, Beweisantragsrecht (Fn. 3), Rn. 302.
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chen Eindrucks von der Auskunftsperson resultieren.18 Weiterhin kann sie sich aus dem im Rechtshilfeweg nicht hinreichend zu befriedigenden Erfordernis ergeben, dem Zeugen in Ansehung seiner Angaben weitergehende Fragen zu stellen und Vorhalte zu machen.19 Ein dritter Grund für den Verzicht auf die kommissarische Vernehmung kann darin liegen, dass eine Gegenüberstellung des Auslandszeugen mit anderen Auskunftspersonen für die Wahrheitsfindung unverzichtbar erscheint.20 Und schließlich ist es im Falle der Vernehmung von Auslandszeugen möglich, den Verzicht auf mittelbare Beweisführungsformen darauf zu stützen, dass dessen kommissarisch erwirkten Angaben mangels realistischer Gefahr der effektiven Sanktionierung einer Falschaussage kein ins Gewicht fallender Beweiswert zugemessen werden kann.21 bb) Kritische Würdigung der einzelnen Restriktionskriterien (1) Seit jeher ist anerkannt, dass die kommissarische Vernehmung eines Zeugen als für die Wahrheitsfindung untauglich eingestuft werden darf, sofern der Tatrichter die Gewinnung eines persönlichen Eindrucks von der Auskunftsperson in Ansehung ihres nonverbalen Aussageverhaltens für die Beurteilung des Wahrheitsgehalts der Aussage als unverzichtbar erachtet.22 So kann es liegen, wenn der Zeuge seinerseits in das Tatgeschehen verstrickt ist oder zumindest Tatnähe aufweist sowie wenn er mit dem Angeklagten familiär oder beruflich eng verbunden ist.23 Weiterhin soll auch ein auffälliges Verhalten des Zeugen gegenüber dem Angeklagten oder dem Gericht im Vorfeld der Vernehmung das Absehen hiervon rechtfertigen können.24 Angesichts 18
BGHSt 55, 11 (24); BGH, NJW 1983, 527; BGH, StV 1981, 601; BGH, GA 1971, 85 (86); OLG Hamburg, JR 1980, 32 (33); KK/Krehl, StPO (Fn. 2), § 244 Rn. 170; LR-Becker, StPO (Fn. 2), § 244 Rn. 260; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO (Fn. 6), § 244 Rn. 65; Alsberg/ Nüse/Meyer, Beweisantrag (Fn. 3), S. 633; Alsberg/Güntge, Beweisantrag (Fn. 2), Rn. 1221; Herdegen NStZ 1984, 97 (101); Rose, Auslandszeuge (Fn. 3), S. 470 f. 19 BGHSt 55, 11 (24); BGH, JR 1984, 129; KK/Krehl, StPO (Fn. 2), § 244 Rn. 170; Alsberg/Nüse/Meyer, Beweisantrag (Fn. 3), S. 633. Zurückhaltender LR-Becker, StPO (Fn. 2), § 244 Rn. 260 sowie Alsberg/Güntge, Beweisantrag (Fn. 2), Rn. 1221. 20 BGH, StV 1981, 601; BGH, GA 1955, 123 (125); BGH, GA 1971, 85 (86); BGH, GA 1975, 237; OLG Hamm, NJW 1964, 2073; OLG Schleswig, SchlHA 1979, 144 (145); MeyerGoßner/Schmitt, StPO (Fn. 6), § 244 Rn. 65; Alsberg/Nüse/Meyer, Beweisantrag (Fn. 3), S. 633; Alsberg/Güntge, Beweisantrag (Fn. 2), Rn. 1221; Herdegen, NStZ 1984, 97 (101); Rose, Auslandszeuge (Fn. 3), S. 471. 21 BGHSt 45, 188 (196 f.); BGH, StV 2004, 465 (466); MüKo/Trüg/Habetha, StPO (Fn. 2), § 244 Rn. 213; Julius, StV 2004, 466 (467). 22 BGHSt 13, 300 (302); BGH, NJW 1983, 527; BGH, JR 1984, 129; BGH, GA 1971, 85 (86); LR-Becker, StPO (Fn. 2), § 244 Rn. 260; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO (Fn. 6), § 244 Rn. 65; Alsberg/Nüse/Meyer, Beweisantrag (Fn. 3), S. 633; Alsberg/Güntge, Beweisantrag (Fn. 2), Rn. 1221. Eingehend Norouzi, Die audiovisuelle Vernehmung von Auslandszeugen, 2010, S. 250 – 252 (speziell zur audiovisuellen Vernehmung). 23 BGH, NJW 1983, 527; BGH, StV 2004, 465 (466). 24 BGHSt 13, 300 (302); BGH, StV 2004, 465 (466).
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derartiger Anhaltspunkte für eine Gefälligkeitsaussage mag die Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Bekundungen eines Zeugen zuweilen tatsächlich in starkem Maße davon abhängen, dass das Gericht nicht nur den Inhalt seiner Angaben auf Detailreichtum, Stimmigkeit und Konstanz untersucht, sondern zusätzlich auch dessen nonverbales Aussageverhalten in Form von Mimik, Gestik und Körpersprache in den Blick nehmen möchte, um sich so ein abschließendes Bild vom Wahrheitsgehalt der Aussage zu verschaffen. Freilich wäre es verfehlt, in solchen Konstellationen nachvollziehbar gesteigerter Anfälligkeit für Falschaussagen die Erlangung eines persönlichen Eindrucks vom Zeugen gleichsam reflexartig zur conditio sine qua non für die Beurteilung der erwarteten Bekundungen zu erheben. Einerseits ist in der modernen Aussagepsychologie der gegenüber der Inhaltsanalyse inferiore Rang des nonverbalen Aussageverhaltens für die Bewertung des Wahrheitsgehalts von Angaben anerkannt;25 andererseits muss die zumeist nur abstrakt behauptete Gefahr der naiven Fällung eines Fehlurteils infolge einer in nonverbaler Hinsicht unüberprüften Aussage des kommissarisch vernommenen Auslandszeugen mit dem Stellenwert seiner Angaben für die Wahrheitsfindung und ihrer Überprüfbarkeit durch andere Beweismittel einzelfallorientiert abgeglichen werden.26 Vor diesem Hintergrund zeichnet sich ab, dass allein das unbefriedigte Bedürfnis des Tatrichters nach Wahrnehmung des nonverbalen Aussageverhaltens die kommissarische Vernehmung von Zeugen wohl kaum als völlig unzulänglich im Sinne des Ablehnungsgrundes der Unerreichbarkeit des Beweismittels auszuweisen vermag.27 Pointiert: Wie häufig kommt es vor, dass Gerichte ihre Einschätzung vom Wahrheitsgehalt der Angaben eines Zeugen im Urteil auf Phänomene wie „Schweiß auf der Stirn“, „Lidschlagfrequenz“, „nervöses Trommeln mit den Fingern auf dem Tisch“, „Scharren mit den Füßen“ oder ähnliche Erscheinungsformen zurückführen? Es fällt auf, dass derartige Petitessen überproportional häufig in Beweisbeschlüssen nach § 244 Abs. 3 S. 2 Var. 5 StPO auftauchen, während sie im Strafverfahren ansonsten völlig zu Recht keine erwähnenswerte Rolle spielen. Dies deutet auf einen tendenziellen Fehlgebrauch nonverbaler Aussagemomente im Beweisantragsrecht hin.28 (2) Die für unerlässlich befundene Wahrnehmung des Aussageverhaltens kann allerdings dann mit guten Gründen gegen die kommissarische Zeugenvernehmung eines Auslandszeugen ins Feld geführt werden, wenn der Tatrichter dabei in erster Linie nicht auf nonverbale Reaktionen der Auskunftsperson, sondern auf verbale Momente abzielt. Dabei können Sprachtempo, Wortwahl und Reaktionsschnelligkeit für die Beurteilung des Wahrheitsgehalts der Bekundungen von wesentlicher Bedeutung sein. Zeichnet sich wegen der Komplexität der zu erwartenden Zeugenaussage oder angesichts der bisherigen Beweislage von vornherein ab, dass dem (Auslands-) Zeugen mit gesteigerter Wahrscheinlichkeit aus gegenläufigen Aussagen anderer 25
Siehe dazu Norouzi, Audiovisuelle Vernehmung (Fn. 22), S. 251 f. Siehe dazu BGH, JR 1984, 129. 27 Weiterführend Norouzi, Audiovisuelle Vernehmung (Fn. 22), S. 251 f. (zur audiovisuellen Vernehmung) sowie Julius, StV 2004, 466 (467). 28 Ähnlich skeptisch Eisenberg, Beweisrecht (Fn. 2), Rn. 229d. 26
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Auskunftspersonen Vorhalte gemacht oder dass ihm eingedenk eigener früherer Angaben zum Beweisthema weitergehende Fragen gestellt werden müssen, darf der Tatrichter mit Blick hierauf die beantragte kommissarische Vernehmung unter Umständen ablehnen, zumal wenn die in das Wissen des Zeugen gestellten Bekundungen für den Ausgang des Verfahrens wichtig sind und im Widerspruch zu einem zwischenzeitlich gefestigten vorläufigen Beweisergebnis stehen.29 In derartigen Fällen ist für die Behandlung des Beweisantrags in erster Linie die vom Gericht antizipierte Notwendigkeit einer auf Vorhalte und Fragen ausgerichteten Interaktion maßgeblich. Ihr totaler Ausfall kann die Vernehmung derart stark entwerten, dass ihr für die Wahrheitsfindung vor dem Hintergrund der sonstigen Beweislage letztendlich keine Bedeutung mehr zukommt. Gewiss lassen sich Fragen und Vorhalte bis zu einem gewissen Grade antizipieren, so dass sie dem Vernehmenden vorweg in einem Katalog mit der Bitte übermittelt werden können, diese in die Anhörung des Auslandszeugen einfließen zu lassen.30 Vielfach wird ein solches Prozedere indessen nicht ausreichen, um das Beweismittel vollumfänglich so auszuschöpfen, dass der Tatrichter hierdurch eine verlässliche Einschätzung des Wahrheitsgehalts der protokollierten Aussage zu treffen vermag. Entscheidend ist insoweit die Einmaligkeit und Unwiederbringlichkeit der unmittelbaren Interaktion der Verfahrensbeteiligten in der Hauptverhandlung.31 Sie zeigt sich eben nicht nur im Fehlen der Möglichkeit des Tatgerichts zu spontan-situativer Intervention, sondern auch darin, dass der Tatrichter die Art und Weise der Reaktion des Zeugen auf Vorhalte und Nachfragen nicht beobachten kann. Nachgerade deswegen wird er bei anspruchsvollen Beweislagen von der kommissarischen Vernehmung nach § 244 Abs. 3 S. 2 Var. 5 StPO absehen dürfen. (3) In Anlehnung an die vorgenannten Erwägungen steht die Rechtsprechung weitergehend auf dem Standpunkt, dass die bloße Möglichkeit zur kommissarischen Vernehmung eines Zeugen dann nicht dessen Erreichbarkeit begründet, wenn der Tatrichter zu der Ansicht gelangt, die Beurteilung des Wahrheitsgehalts der Aussage mache eine Gegenüberstellung mit einem anderen Zeugen erforderlich.32 Ein derartiges Vorgehen kann erwogen werden, wenn die unter Beweis gestellten Bekundungen mit den Angaben anderer Auskunftspersonen nicht vereinbar sind. Verhält es sich so, mag manchmal die konfrontative Vernehmungsgegenüberstellung durch Rede und Gegenrede der Beweispersonen in der Hauptverhandlung zu weiterführenden Erkenntnissen führen.33 Dass die Notwendigkeit einer solchen Gegenüberstel29 BGH, JR 1984, 129; KK/Krehl, StPO (Fn. 2), § 244 Rn. 170; Alsberg/Nüse/Meyer, Beweisantrag (Fn. 3), S. 633. 30 LR-Becker, StPO (Fn. 2), § 244 Rn. 260, MüKo/Trüg/Habetha, StPO (Fn. 2), § 244 Rn. 313; Alsberg/Güntge, Beweisantrag (Fn. 2), Rn. 1221. 31 Siehe dazu BGHSt 45, 188 (196). 32 BGH, GA 1971, 85 (86); Meyer-Goßner/Schmitt, StPO (Fn. 6), § 244 Rn. 65; Alsberg/ Nüse/Meyer, Beweisantrag (Fn. 3), S. 633. 33 Siehe dazu statt aller Meyer-Goßner/Schmitt, StPO (Fn. 6), § 58 Rn. 10.
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lung, gegebenenfalls gepaart mit Nachfragen und Vorhalten,34 die hierfür ungeeignete kommissarische Zeugenvernehmung als insgesamt untauglich erscheinen lassen kann, mag zuweilen vorkommen. Allerdings ist die Durchführung dieser Maßnahme bestenfalls bei markanten Aussagedivergenzen in zentralen Beweisfeldern des Falles angezeigt. Es sollte stutzig machen, dass sie im Gerichtsalltag – wohl wegen ihrer Unzuverlässigkeit und Unergiebigkeit – fast gar nicht praktiziert wird. Daher ist davor zu warnen, die Vernehmungsgegenüberstellung vollmundig als Mittel der Wahl zur Annahme der Unerreichbarkeit des für eine kommissarische Vernehmung zur Verfügung stehenden (Auslands-)Zeugen zu begreifen. Vielmehr wird sie für sich betrachtet die Annahme der Untauglichkeit einer kommissarischen Zeugenvernehmung nicht stützen können, zumal wenn man – was rechtlich geboten ist – verlangt, dass der Tatrichter seine Sicht der Dinge im Beweisbeschluss argumentativ rechtfertigen muss.35 Freilich ist es vorstellbar, dass die Vernehmungsgegenüberstellung im Zusammenwirken mit den Aspekten der vorstehend erörterten Fallgruppe (Vorhalte, Fragen) einen zusätzlichen Grund für die dem Ermessen des Tatrichters überantwortete Annahme der Untauglichkeit der kommissarischen Vernehmung eines Auslandszeugen im Sinne des § 244 Abs. 3 S. 2 Var. 5 StPO liefern kann. (4) Der letzte gängige Grund für das Absehen von der Durchführung einer kommissarischen Vernehmung ist allein für Auslandszeugen bedeutsam. Er ist darin zu erblicken, dass die Falschaussage einer Auskunftsperson im Ausland vielfach nicht effektiv sanktionierbar ist. Hiermit hat es folgende Bewandtnis: Der im Ausland kommissarisch vernommene Zeuge kann sich durch eine Falschaussage nach §§ 153 f. StGB strafbar machen; das deutsche Strafrecht ist auf derartige Sachverhalte gemäß § 5 Nr. 10 StGB anwendbar. Allerdings ist die deutsche Strafberechtigung im Regelfall nur dann realisierbar, wenn der Zeuge zum Zwecke der Strafverfolgung an Deutschland ausgeliefert wird. Da der Ausgang des Auslieferungsverfahrens von Fall zu Fall ungewiss sein kann und zudem zeitaufwendig ist,36 erscheint das Risiko des Zeugen, in Deutschland wegen einer Falschaussage im Zuge seiner kommissarischen Vernehmung zur Verantwortung gezogen zu werden, eher gering. In den Fällen der kommissarischen Vernehmung von Auslandszeugen ist das deutsche Strafrecht faktisch häufig nicht durchsetzbar. Dieser Befund erweist sich als misslich, weil die Falschaussage des Zeugen in seinem Aufenthaltsstaat gemeinhin nicht strafbewehrt ist. Da Staaten den Strafrechtsschutz der Aussagedelikte allein auf ihre nationalen Gerichtsverfahren erstrecken, läuft eine im Ausland kommissarisch vernommene Auskunftsperson im Ergebnis kaum Gefahr, wegen einer Falschaussage strafrechtlich zur Verantwortung gezogen zu werden. Den Umstand mangelnder effektiver Sanktionierung von Falschaussagen hat der Bundesgerichtshof im Kontext der erweiterten Erreichbarkeit von Auslandszeugen 34
Siehe hierzu Meyer-Goßner/Schmitt, StPO (Fn. 6), § 58 Rn. 10. Siehe dazu BGH, JR 1984, 129; BGH, GA 1971, 85 (86); KK/Krehl, StPO (Fn. 2), § 244 Rn. 170; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO (Fn. 6), § 244 Rn. 65. 36 Eingehend hierzu Norouzi, Audiovisuelle Vernehmung (Fn. 22), S. 224 f. 35
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im Sinne des § 244 Abs. 3 S. 2 Var. 5 StPO aufgegriffen, indem er dem Tatrichter gestattet, bei Beurteilung der Tauglichkeit einer kommissarischen Vernehmung zur Sachaufklärung die unzulängliche Verantwortlichkeit der Auskunftsperson für eine Falschaussage im zwischenstaatlichen Verhältnis in Bedacht zu nehmen.37 Gegen die Heranziehung dieses Gesichtspunktes ist sachlich nichts einzuwenden, weil die normative Garantie der Aussagedelikte ein wichtiger Faktor für die Gewährleistung wahrheitsgemäßer Zeugenaussagen ist.38 Entfällt sie, kann es angebracht sein, eine Aussage von vornherein als wertlos einzustufen; dies gilt umso mehr, sofern Anhaltspunkte für eine Motivation des Zeugen zur Lüge bestehen.39 Beurteilt man vor diesem Hintergrund den eingangs präsentierten Beispielsfall, ist gegen die Annahme des Tatgerichts, eine kommissarische Zeugenvernehmung sei für die Sachverhaltsaufklärung ungeeignet, rechtlich nichts zu erinnern: Das Landgericht musste nicht nur in Ansehung des persönlichen Näheverhältnisses des Zeugen zum Angeklagten und seiner möglichen Verstrickung in das Tatgeschehen, sondern auch aufgrund des auffälligen Verhaltens im Vorfeld der Hauptverhandlung in verstärktem Maße mit einer Falschaussage rechnen. Dieser Aspekt ist derart signifikant durch Tatsachen belegt, dass er bereits für sich betrachtet den Verzicht auf eine im Rechtshilfeweg zu bewerkstelligende Zeugenvernehmung zu rechtfertigen vermag.40 Hinzu kommt, dass in Ansehung der Komplexität der unter Beweis gestellten Tatsachen mit zahlreichen Nachfragen der Verfahrensbeteiligten zu rechnen war. Auch dieser Umstand, gepaart mit dem aussagepsychologisch nachvollziehbaren Bestreben des Gerichts, die Reaktionen des Zeugen beobachten zu können, rechtfertigt den Verzicht auf dessen kommissarische Vernehmung. Stellt man schlussendlich die völlig ungewisse Sanktionierung der sich abzeichnenden Falschaussage des im Beweisantrag benannten Zeugen in Rechnung, kann gegen das Absehen von seiner kommissarischen Vernehmung und die darauf fußende Annahme seiner Unerreichbarkeit im Sinne des § 244 Abs. 3 S. 2 Var. 5 StPO rechtlich nichts erinnert werden.
37
BGHSt 45, 188 (196 f.); BGH, StV 2004, 465 (466). Zustimmend MüKo/Trüg/Habetha, StPO (Fn. 2), § 244 Rn. 313; Julius, StV 2004, 466 (467). 38 Siehe dazu Norouzi, Audiovisuelle Vernehmung (Fn. 22), S. 255. 39 Differenzierend indessen Norouzi, Audiovisuelle Vernehmung (Fn. 22), S. 255 f. Ungeachtet seiner dogmatischen Stimmigkeit bleibt anzumerken, dass das Kriterium unzulänglicher Strafbewehrung im europäischen Raum zukünftig an Bedeutung verlieren dürfte. Zahlreiche europäische Staaten haben sich nach Art. 10 Abs. 8 EU-RhÜbk dazu verpflichtet, die Strafbarkeit kommissarisch erstatteter Falschaussagen mit den Mitteln ihres nationalen Rechts zu gewährleisten, sofern der Zeuge danach zur Teilnahme an der kommissarischen Vernehmung verpflichtet war. 40 Ebenso BGH, StV 2004, 465 (466).
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2. Videovernehmungen a) Rahmenbedingungen einer audiovisuellen Zeugenvernehmung Die nach § 247a Abs. 1 S. 1 HS. 2 StPO durchgeführte audiovisuelle Zeugenvernehmung ist ein räumlich ausgelagerter Teil der Hauptverhandlung; sie ersetzt die Anhörung der Auskunftsperson in der Hauptversammlung und wird vom Gerichtsvorsitzenden geleitet41. Aufbauend hierauf darf das Tatgericht die im Zuge einer solchen Zeugenbefragung gewonnenen Eindrücke über Mimik, Gestik und Sprachduktus der Auskunftsperson als Inbegriff der Hauptverhandlung seiner Entscheidungsfindung ohne Weiteres zugrunde legen. Darin liegt ein wesentlicher Unterschied gegenüber einem Vorgehen nach §§ 223, 224 StPO.42 Insgesamt verbürgen audiovisuelle Zeugenvernehmungen einen signifikant gesteigerten Grad an Authentizität, zumal da sie die Interaktion zwischen Gericht und Auskunftsperson anschaulich erfahrbar machen. Dadurch rücken sie in die Nähe einer Zeugenvernehmung in foro.43 b) Gründe für den Verzicht auf eine audiovisuelle Zeugenvernehmung Die Beantwortung der Frage, unter welchen Voraussetzungen auf eine audiovisuelle Zeugenvernehmung unter Zugrundelegung des erweiterten Erreichbarkeitsbegriffs nach § 244 Abs. 3 S. 2 Var. 5 StPO verzichtet werden darf, richtet sich nach den Grundsätzen, die bereits für die ähnlich gelagerte Problematik bei kommissarischen Zeugenvernehmungen herausgearbeitet wurden. Freilich kommt den einzelnen Abwägungsfaktoren ein anderes Gewicht zu. Es gilt Folgendes: Hat das Tatgericht die rechtlichen und technischen Möglichkeiten zur Durchführung einer Videovernehmung des (Auslands-)Zeugen geklärt, muss es in antizipierender Würdigung der Vernehmungsbedingungen und unter Berücksichtigung des bisherigen Beweisergebnisses prüfen, ob diese Form der Beweiserhebung die Sachverhaltsaufklärung fördern kann.44 Hierbei wird es die technischen Besonderheiten des Mediums und die allein schon von der Kameraeinstellung ausgehenden Erkenntnisdefizite der Distanzbefragung der Auskunftsperson bedenken.45 Freilich sind diese gemeinhin nicht von zentraler Bedeutung. Andererseits muss das Tatgericht in Rechnung stellen, dass die audiovisuelle Vernehmung der unmittelbaren Befragung des Zeugen in der Hauptverhandlung recht nahekommt. Insbesondere bietet 41
Siehe dazu BGH, NStZ 2014, 531 (532); BGH, NStZ-RR 2015, 278 (279). Hamm/Hassemer/Pauly, Beweisantragsrecht (Fn. 3), Rn. 302. 43 Ähnlich LR-Becker, StPO (Fn. 2), § 244 Rn. 261; MüKo/Trüg/Habetha, StPO (Fn. 2), § 244 Rn. 313. 44 BGHSt 45, 188 (190); LR-Becker, StPO (Fn. 2), § 244 Rn. 261; Hamm/Hassemer/Pauly, Beweisantragsrecht (Fn. 3), Rn. 308. 45 Siehe dazu BGHSt 45, 188 (196 f.); Eisenberg, Beweisrecht (Fn. 2), Rn. 1309; Hamm/ Hassemer/Pauly, Beweisantragsrecht (Fn. 3), Rn. 308. Eingehend Norouzi, Audiovisuelle Vernehmung (Fn. 22), S. 20 f. mit Fn. 31, 256 – 258. 42
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sie weitgehende Möglichkeiten zur Beobachtung des Aussageverhaltens sowie zu Vorhalten und Nachfragen.46 Es ist unbestreitbar, dass die im Rahmen des § 244 Abs. 3 S. 2 Var. 5 StPO abzugebende Einschätzung, eine Videovernehmung sei für die Wahrheitsfindung untauglich, eher selten gerechtfertigt werden kann.47 Daher hat der Bundesgerichtshof in seiner einschlägigen Grundsatzentscheidung als Gründe für das Absehen von Vernehmungsmaßnahmen nach § 247a Abs. 1 S. 1 HS. 2 StPO vor allem die fehlende effektive Sanktionierbarkeit der Falschaussage eines Auslandszeugen sowie den Umstand hervorgehoben, dass sich die auf Distanz vernommene Auskunftsperson dem durch Frage und Antwort entstehenden Spannungsverhältnis eher entziehen könne als der direkt im Sitzungssaal Befragte.48 Diese Aspekte sind zweifelsohne belangvoll. Sie können jedenfalls in ihrem Zusammenwirken bei nach Sachlage „problematischen“ Zeugen geeignet sein, von ihrer audiovisuellen Vernehmung nach § 244 Abs. 3 S. 2 Var. 5 StPO abzusehen. Würdigt man vor diesem Hintergrund die Entscheidung des Landgerichts im Beispielsfall, ist gegen die Ablehnung des Beweisantrags nach § 244 Abs. 3 S. 2 Var. 5 StPO auch unter Zugrundelegung des erweiterten Erreichbarkeitsbegriffs rechtlich nichts zu erinnern. Das Landgericht hat die audiovisuelle Vernehmung des vom Angeklagten benannten Entlastungszeugen erwogen und mit der tatsachenfundierten Begründung der fehlenden effektiven Sanktionierbarkeit einer ernsthaft in Betracht zu ziehenden Falschaussage verworfen. Darüber hinaus ist die weitere Erwägung des Landgerichts, der Zeuge müsse in Ansehung seiner familiären Beziehungen zum Angeklagten sowie seiner Verstrickung in das Tatgeschehen unmittelbar im Gerichtssaal befragt werden, rechtlich tragfähig. Diese Wendung soll die Notwendigkeit einer besonders sorgfältigen Überprüfung sowohl des verbalen als auch des nonverbalen Aussageverhaltens des Zeugen verdeutlichen. Damit rekurriert das Landgericht auf das wahrheitsfördernde Spannungsverhältnis einer konfrontativen Zeugenbefragung in foro. Da eine vergleichbar intensive Vernehmung des Auslandszeugen auf dem Weg über eine Videovernehmung nicht durchführbar war, konnte sie rechtsfehlerfrei als für die Sachverhaltsaufklärung ungeeignet eingestuft werden.
III. Bewertung des erweiterten Erreichbarkeitsbegriffs 1. Kritik der Rechtsprechung Der vom Bundesgerichtshof maßgeblich beförderte Begriff der erweiterten Erreichbarkeit bewirkt, dass die in einem Beweisantrag bezeichnete Auskunftsperson im Sinne des § 244 Abs. 3 S. 2 Var. 5 StPO erst dann als unerreichbar angesehen 46
Siehe dazu LR-Becker, StPO (Fn. 2), § 244 Rn. 261; Hamm/Hassemer/Pauly, Beweisantragsrecht (Fn. 3), Rn. 308 sowie Norouzi, Audiovisuelle Vernehmung (Fn. 22), S. 20 f., 28 f. 47 LR-Becker, StPO (Fn. 2), § 244 Rn. 261; Alsberg/Güntge, Beweisantrag (Fn. 2), Rn. 1223. 48 BGHSt 45, 188 (196 f.).
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wird, wenn sie weder im Sitzungssaal noch kommissarisch oder audiovisuell vernommen werden kann. Dieser Ansatz erscheint auf den ersten Blick sinnvoll; denn es ist grundsätzlich nicht einsehbar, das auf diesem Wege zu erlangende Wissen eines Zeugen nur deshalb zu ignorieren, weil dieser seine Aussage nicht unmittelbar gegenüber dem Tatgericht macht.49 Allerdings offenbart das Rechtsinstitut der erweiterten Erreichbarkeit Schwächen. Sie treten bei Sichtung der Kriterien zu Tage, die im konkreten Einzelfall zum Verzicht auf alternative Beweiserhebungen Anlass geben können. Hierzu im Einzelnen: Bei unbefangenem Begriffsverständnis liegt es an sich nahe, die Erreichbarkeit eines Zeugen zu bejahen, sofern er zumindest kommissarisch oder audiovisuell vernommen werden kann; denn unter diesen Voraussetzungen kann er zur Sache aussagen. Bekanntlich will der Bundesgerichtshof den Begriff der erweiterten Erreichbarkeit nicht derart weit verstehen. Vielmehr räumt er den Tatgerichten die Möglichkeit ein, auch in solchen Fällen von der Zeugenvernehmung abzusehen, soweit bestimmte Vernehmungsbedingungen die Annahme rechtfertigen, dass die unter Beweis gestellten Angaben des Zeugen für die Wahrheitsfindung wertlos sind. Es fällt auf, dass keines der insoweit angeführten Bewertungskriterien inhaltliche Berührungspunkte zum Problem der Erreichbarkeit der Auskunftsperson, verstanden als Möglichkeit zur Teilnahme an der kommissarischen oder audiovisuellen Vernehmung, aufweist.50 Gedanklich basieren sie eher auf der Einschätzung, dass die zur Vernehmung des Zeugen im Sitzungssaal alternativ erwogenen Beweiserhebungen in Ansehung ihres abgesenkten Beweiswertes und der Unzuverlässigkeit des Beweismittels in Relation zur bislang erzielten Beweislage ungeeignet sind, die Entscheidung des Tatgerichts im Sinne des Antragstellers zu beeinflussen. So gesehen scheint die höchstrichterlich favorisierte Ausdeutung des § 244 Abs. 3 S. 2 Var. 5 StPO auf eine freischöpfende Kombination des Ablehnungsgrundes der Unerreichbarkeit mit dem der völligen Ungeeignetheit des Beweismittels hinauszulaufen.51 Dabei wird das im Beweisantragsrecht geltende Verbot der Beweisantizipation erheblich weiter außer Kraft gesetzt, als es sonst im Rahmen des Ablehnungsgrundes der Unerreichbarkeit üblich und verantwortbar ist.52 Dieses eigenwillige Vorgehen vermag dogmatisch nicht zu überzeugen. Es scheitert daran, dass die von der Rechtsprechung herausgearbeiteten Restriktionskriterien zum Ablehnungsgrund der völligen Ungeeignetheit eines Beweismittels im Sinne des § 244 Abs. 3 S. 2 Var. 4 StPO schlichtweg nicht passen: Während dort die Un49
Ebenso MüKo/Trüg/Habetha, StPO (Fn. 2), § 244 Rn. 311. Ebenso MüKo/Trüg/Habetha, StPO (Fn. 2), § 244 Rn. 312; Alsberg/Güntge, Beweisantrag (Fn. 2), Rn. 1222. Zu Beweisantizipationen im Rahmen des § 244 Abs. 3 S. 2 Var. 5 StPO siehe BGHSt 22, 118 (120); BGHSt 32, 68 (73); BGH, NStZ 1982, 78; BGH, NStZ 1983, 180 (181); BGH, NStZ 1985, 375; BGH, NStZ 1993, 50; BGH, NJW 2000, 443 (447). 51 Ähnlich MüKo/Trüg/Habetha, StPO (Fn. 2), § 244 Rn. 312. 52 Siehe dazu BGHSt 55, 11 (22); KK/Krehl, StPO (Fn. 2), § 244 Rn. 170; MüKo/Trüg/ Habetha, StPO (Fn. 2), § 244 Rn. 312; Alsberg/Güntge, Beweisantrag (Fn. 2), Rn. 1222; Hamm/Hassemer/Pauly, Beweisantragsrecht (Fn. 3), Rn. 304. 50
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geeignetheit des Beweismittels zur Beeinflussung der Wahrheitsfindung stets aus sich heraus hergeleitet werden und zudem darin bestehen muss, dass das Beweismittel für die Entscheidungsfindung des Gerichts aus objektiven Umständen überhaupt keinen Beweiswert hat, soll es für die Ablehnung eines Beweisantrags wegen Unerreichbarkeit von kommissarisch oder audiovisuell vernehmbaren Zeugen grundsätzlich ausreichen, wenn das Tatgericht dem Beweismittel in Abhängigkeit von den bereits erhobenen Beweisen einen erheblich geminderten oder zumindest zweifelhaften Beweiswert zubilligt und deshalb verlautbart, dass seine Entscheidungsfindung hierdurch nicht beeinflusst werden könnte.53 Auf diese Weise kann die Zurückweisung des Beweisantrags nach § 244 Abs. 3 S. 2 Var. 5 StPO bereits dann erfolgen, wenn das erreichbare Beweismittel für die Wahrheitsfindung nicht „völlig“, sondern lediglich „ziemlich“ ungeeignet ist.54 Diese lockere Art der Ablehnungsbegründung läuft darauf hinaus, Fragen der Beweiswürdigung in den Problembereich der Beweiserhebung vorzuverlagern.55 Das führt zu Systembrüchen und ist in dieser Form inakzeptabel.56 2. Beweisantragsrechtlich stimmiger Lösungsvorschlag Das von der Rechtsprechung mit dem Begriff der erweiterten Erreichbarkeit eines im Sitzungssaal nicht präsenten Zeugen verfolgte Anliegen ist kriminalpolitisch verständlich. Ihm kann auf andere Weise besser Rechnung getragen werden. Hierzu in aller Kürze immerhin so viel: Ein Zeuge, der für eine unmittelbare persönliche Vernehmung im Sitzungssaal des Tatgerichts nicht zur Verfügung steht, ist unerreichbar. Das Tatgericht darf einen Beweisantrag, der auf die Vernehmung eines solchen Zeugen abzielt, wegen Unerreichbarkeit des Beweismittels nach § 244 Abs. 3 S. 2 Var. 5 StPO ablehnen. In seinem Beweisbeschluss muss es allein auf die damit verknüpften Aspekte eingehen. Die sich daran anschließende Frage, ob es möglich und sachgerecht ist, das Wissen des unerreichbaren Zeugen über das aliud einer kommissarischen oder audiovisuellen Vernehmung in die Hauptverhandlung einzuführen und für die Wahrheitsfindung zu nutzen, ist beweisantragsrechtlich unerheblich. Sie thematisiert lediglich die Auf53 Zu Recht kritisch MüKo/Trüg/Habetha, StPO (Fn. 2), § 244 Rn. 312; SK/Frister, StPO (Fn. 3), § 244 Rn. 157; Alsberg/Güntge, Beweisantrag (Fn. 2), Rn. 1222. 54 Anschaulich dazu mit geradezu entlarvender Gegenüberstellung der beiden Grundmodelle BGHSt 55, 11 (23 f.). Siehe dazu auch MüKo/Trüg/Habetha, StPO (Fn. 2), § 244 Rn. 312. 55 Julius, StV 2004, 466 (467); Norouzi, Audiovisuelle Vernehmung (Fn. 22), S. 106; SK/ Frister, StPO (Fn. 3), § 244 Rn. 157. Danach lassen sich die erörterten Restriktionskriterien unschwer in die an § 244 Abs. 2 StPO ausgerichteten Erwägungen der Tatgerichte zum Verzicht auf die begehrten Beweiserhebungen integrieren. 56 Allerdings bleibt bei Auslandszeugen der Regelungsgedanke aus § 244 Abs. 5 S. 2 StPO zu beachten. Siehe dazu BGHSt 55, 11 (22); MüKo/Trüg/Habetha, StPO (Fn. 2), § 244 Rn. 312.
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klärungspflicht des Tatgerichts, das sich ihr nach § 244 Abs. 2 StPO von Amts wegen zuwenden muss. Bei ihrer Beantwortung ist es vom beweisantragsrechtlichen Antizipationsverbot befreit. Im Einzelnen wird es zahlreiche Aspekte, unter anderem auch die vorstehend erörterten Kriterien zum Verzicht auf eine kommissarische oder audiovisuelle Zeugenvernehmung, in den Blick nehmen, um sodann auf der Grundlage einer wertenden Gesamtbetrachtung seine Entschließung über die im Raume stehenden alternativen Beweiserhebungen zu treffen.57 Zu einer Darlegung seiner Erwägungen in Form einer auf § 238 Abs. 1 StPO gestützten Verfügung des Vorsitzenden besteht nur dann Anlass, wenn der Antragsteller in seinem Beweisbegehren auf die Möglichkeit einer kommissarischen oder audiovisuellen Zeugenvernehmung eingegangen ist. Diese thesenartig zugespitzte Rechtsauffassung wirkt schlicht. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass das Beweisantragsrecht von weitreichenden Beweisantizipationen freigehalten wird. Das ist ein Wert an sich. Insgesamt ist dieser schnörkellose Ansatz geeignet, die unter dem Begriff der „erweiterten“ Erreichbarkeit von Zeugen abgehandelten Probleme einer sachgerechten, in sich stimmigen Lösung zuzuführen.58 Damit ist er der einschlägigen höchstrichterlichen Rechtsprechung überlegen; denn diese führt zu unschwer vermeidbaren Systembrüchen.
57 Eingehend zum Ganzen Alsberg/Güntge, Beweisantrag (Fn. 2), Rn. 1220. Siehe dazu auch LR-Becker, StPO (Fn. 2), § 244 Rn. 259. 58 Siehe dazu Alsberg/Güntge, Beweisantrag (Fn. 2), Rn. 1220.
Das falsche Geständnis – zum Fall Holger Gensmer Von Gerhard Strate* Am 3. April 1970, gegen 8:45 Uhr, verlässt Birgit König, damals sechs Jahre alt, die Wohnung ihrer in Hamburg-Rahlstedt wohnhaften Eltern. Ihr Vater ist Polizeibeamter. Birgit kauft bei dem nahe gelegenen Edeka-Laden Brötchen, kehrt nach Hause zurück. Gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrer kleineren Schwester frühstückt sie. Kurz vor 10:00 Uhr geht sie nach draußen. Sie spielt auf der Rasenfläche zwischen den Wohnblocks. Eine Nachbarin beobachtet das Kind, als sie damit beschäftigt ist, die Stiefmütterchen auf ihrer Terrasse von dem gerade gefallenen Schnee zu säubern. Kurze Zeit später klingelt Birgit an der Wohnungstür einer anderen Nachbarin, um nach Martina – einer Spielgefährtin – zu fragen. Eine weitere Nachbarin sieht Birgit bei einem Blick aus dem Küchenfenster, als sie mit deren Sohn – Robert – und ihrer Schwester auf das Haus zuläuft. Birgit König wird erneut erblickt von der Nachbarin, die sie zuvor auf der Terrasse gesehen hatte. Sie trudelt auf der Rasenfläche – ein übergrünte Tiefgarage – Schneebälle. Auf der Tiefgarage spielt sie noch, als eine ältere Nachbarin das Haus verlässt, um die nächstgelegene Bushaltestelle zu erreichen. Um 10:40 Uhr/10:45 Uhr wird Birgit König zuletzt lebend gesehen. Etwa eine Stunde später – 11:45 Uhr – treffen sich der damals zehn Jahre alte Michael Kröger und der ein Jahr jüngere Ralf Ostermann in der Weißenseestraße. Sie haben den Schulbesuch hinter sich und wollen zum sognannten „Berg“ – einem Schuttberg in der Nähe eines Vogelschutzgehölzes, auf dem viel gespielt, im Winter vor allem gerodelt wird. Michael hat schon eine Armbanduhr. Sie zeigt zehn vor zwölf, als Ralf ihn nach der Uhrzeit fragt. Sie überqueren eine kleine Brücke, laufen * Dem falschen Geständnis widmet sich unser Jubilar in seinem „Beweisrecht der StPO“ auf fünf Druckseiten (10. Aufl. 2017, S. 310 – 314); als Beispielsfälle standen ihm allerdings bislang nur die Ergebnisse der Untersuchung von Karl Peters (vgl. Fn. 482) zur Verfügung. Karl Peters hatte mir am 12. Februar 1988 nach dem Freispruch Gensmers geschrieben: „Das Verfahren (Holger Gensmer) trägt viel zu dem Problem des falschen Geständnisses bei“. Leider ist darüber nie in der Fachöffentlichkeit geschrieben worden. Ich selbst hatte mich stets zurückgehalten, um nicht den Verdacht zu provozieren, hier eigene Verdienste belobigen zu wollen. Jetzt aber, dreißig Jahre nach der im März 1988 eingetretenen Rechtskraft des Freispruchs, dürfte der Verdacht nicht mehr aufkommen. Ich schreibe hier als trockener Chronist einer spannenden Geschichte. Sie ist es wert, sich ihrer zu erinnern. Eine systematische Befassung mit dem Phänomen des falschen Geständnisses gibt es im deutschsprachigen Raum nicht. Eine großartige Analyse von 125 US-amerikanischen Wiederaufnahmeverfahren, in denen das falsche Geständnis eine maßgebliche Rolle spielte, findet sich in der – auch im Internet barrierefrei zugänglichen – Studie von Steven A. Drizen & Richard A. Leo, The Problem of False Confessions in the Post-DNA World, in: North Carolina Law Review 2004, S. 891 – 1004.
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den Feldweg, in den die Grunewaldstraße ausmündet, und nähern sich einem Wäldchen. Dort angelangt – es sind inzwischen seit dem gemeinsamen Aufbruch ca. 20 Minuten vergangen – fällt Michaels Blick in den Wassergraben, der die westliche Seite des Wäldchens säumt. Er macht Ralf auf eine Entdeckung aufmerksam. Es liegt da „etwas“ im Graben. Sie denken, es sei eine Schaufensterpuppe. Sie bekommen Angst. Es wird ihnen unheimlich. Sie benachrichtigen einen im Block wohnhaften Polizeibeamten. Der sieht nach. Die Schaufensterpuppe ist die Leiche Birgit Königs. Ein Kind war ermordet worden. Das ist keine Nachricht, mit der man fertig werden kann. Sie sticht ins Herz und raubt den Verstand. An dem Aufwachsen eines Kindes teilzuhaben, ist das größte Glück. Seine Seele ist ein Kraftfeld. Ein Kraftfeld, von dem Offenheit, Vertrauen und Zuversicht ausstrahlen. Doch seine Offenheit ist seine Arglosigkeit und sein Vertrauen ist seine Schutzlosigkeit. Ein Kind zu morden ist ein ruchloses Verbrechen. Vier Monate später: Am 5. August 1970 führen Beamte des (damals sogenannten) Sittendezernats der Hamburger Polizei, unterstützt von ihren Ehefrauen, die als „Lockvögel“ präsentiert werden, in den Waldgebieten von Rahlstedt eine Großfahndung durch. Innerhalb eines halben Jahres waren in diesem Areal Mädchen und junge Frauen überfallen und an ihnen Notzuchtsverbrechen (so der damalige Ausdruck für Vergewaltigungen) verübt oder versucht worden. Keines war bislang aufgeklärt. Auch der Mord an Birgit König hatte bis dahin noch keine sichere Aufklärung gefunden. Zwar befindet sich im August 1970 bereits jemand in Haft, der die Tat gestanden und anschließend sein Geständnis widerrufen hat. Es ist das Geständnis eines Jugendlichen, der als schwachsinnig eingestuft wird. Die Beamten fahnden nach einer Person, die ca. 30 – 35 Jahre alt, 175 cm groß ist, schlank und kräftig gebaut sein soll, dunkelblonde, leicht gewellte Haare (gescheitelt) tragen soll. Als besonders markante Merkmale der Täterbeschreibung werden eine pickelige Gesichtshaut sowie eine ca. 3 cm lange Narbe an der Wange hervorgehoben. Der Täter soll häufig ein blaues Herrenfahrrad bei sich führen. Um 18:10 Uhr wird der zu der Zeit 28-jährige Ziegeleiarbeiter Holger Gensmer in der Nähe von Stellau in der Feldmark festgenommen. Er hat eine Nacht- und eine Tagschicht in dem Hartsandsteinwerk in Barsbüttel hinter sich. Er trägt noch seine Arbeitskleidung. Er führt ein Herrenfahrrad mit blauem Rahmen bei sich. Er ist von schlankem und kräftigem Wuchs, trägt dunkelblonde, leicht gewellte Haare, gescheitelt. Keine Pickel, keine Narbe. Er wird zur Wache gebracht. Auf der Fahrt zur Wache wird er zum ersten Mal mit dem Vorwurf konfrontiert, in den Wochen und Monaten zuvor minderjährige Mädchen überfallen zu haben. Er zeigt sich wegen dieser Überfälle gut orientiert; weist darauf hin, keine Pickel und keine Narbe zu haben. In der Zelle auf der Polizeirevierwache Rahlstedt schläft er zunächst vor Übermüdung ein. Im Laufe des Abends versuchen zwei Beamte des Sittendezernats wiederholt, ihn zu befragen. Ohne Erfolg. Während des Aufenthalts auf der Polizeiwache in Rahlstedt wird zwei Tatopfern Ge-
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legenheit gegeben, Gensmer zu sehen. Sie meinen, ihn wiederzuerkennen. Inzwischen herbeigeeilten Pressefotographen wird zugestanden, noch in den Fluren der Polizeirevierwache Gensmer zu fotographieren. Gensmer wird schließlich gegen 23:00 Uhr ins Präsidium gebracht. Bei einer dort durchgeführten Gegenüberstellung mit einem 13-jährigen Mädchen wird Gensmer nicht wiedererkannt. Es kommt noch zur Aufnahme des Personalbogens. Gegen 2:30 Uhr wird Gensmer ins Untersuchungsgefängnis gebracht. Gegen 9:00 Uhr des nächsten Morgens befindet sich Gensmer wieder im Polizeipräsidium. Um 9:25 Uhr beginnt die Vernehmung. Um 12:20 Uhr wird die Vernehmung unterbrochen, um Gensmer dem Haftrichter vorzuführen. Bis zu diesem Zeitpunkt, innerhalb eines Zeitraumes von zwei Stunden und 55 Minuten, ist ein Protokoll erstellt, welches der Kriminalbeamte K. diktiert und sein Kollege J. getippt hat. Es handelt sich um ein Protokoll von sechseinhalb Seiten. Die Seiten sind im anderthalbzeiligen Abstand schmalrandig beschrieben. Darin heißt es einleitend: „An die mir vorgelesenen Straftaten kann ich mich erinnern.“
Das Protokoll enthält das Geständnis der Begehung von sechs Notzuchtsdelikten. Das Protokoll trägt auf jeder Seite die Unterschrift Holger Gensmers. Gegen Gensmer wird am frühen Nachmittag des 6. August 1970 Haftbefehl erlassen. Bei der Anhörung durch den Haftrichter ist ein Anwalt nicht zugegen, wohl aber sind die beiden Kriminalbeamten, die das Protokoll aufgenommen hatten, präsent. Der Kriminalbeamte K. wird 17 Jahre später – bei einer Anhörung durch die mit einem Wiederaufnahmeantrag befasste Schwurgerichtskammer des Landgerichts Hamburg – dieses Vorgehen wie folgt erklären: „Wenn es in dem Vermerk vom 10. 8. 1970 heißt, dass wir auf Bitten des Richters dabeigeblieben sind, weil der Beschuldigte nur in unserem Beisein antwortete, so kann ich dazu konkret auch nichts mehr sagen. Aus meiner allgemeinen Erfahrung kann ich aber berichten, dass zwischen dem Beschuldigten und dem Erstvernehmenden immer wieder eine Art Vertrauensverhältnis besteht, auf das bei der weiteren Vernehmung des Beschuldigten nicht ohne weiteres verzichtet werden kann, wenn er aussagen soll.“
Am Abend des 6. August 1970 machen sich die Kriminalbeamten K. und J. mit der Akte der Mordkommission eingehend vertraut. Am nächsten Morgen wird Gensmer um 10:30 Uhr im UG erneut von den Kriminalbeamten K. und J. aufgesucht. Sie konfrontieren ihn mit ihrem Verdacht, der Mörder Birgit Königs zu sein. Eine Stunde lang bestreitet Gensmer, schweigt, bestreitet, brütet vor sich hin. Gensmer sieht Bilder vom Tatort. Für Gensmer ist diese Stunde sehr lang, für die Kriminalbeamten sehr kurz. 17 Jahre später – am 24. November 1987 – wird der Kriminalbeamte K. diese Stunde aus schwacher Erinnerung wie folgt schildern: „Man gibt sich ja nicht damit zufrieden, wenn einer sagt, dass er es nicht gewesen sei; man stellt Fragen. Da vergeht eine Stunde wie im Fluge.“
Nach dieser einen Stunde – es wird ca. 11:20 Uhr/11:30 Uhr gewesen sein – beginnen die Kriminalbeamten mit der Niederschrift eines weiteren Geständnisses. Der
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Kriminalbeamte K. diktiert, sein Kollege J. tippt. Nach knapp zwei Stunden, um 13:20 Uhr, ist die Niederschrift fertig. Auf viereinhalb Seiten, anderthalbzeilig und schmalrandig, ist ein Geständnis Holger Gensmers zu lesen. Zu Beginn des Protokolls heißt es: „Ich habe mir die ganze Sache eine Nacht lang überlegt und ich bin zu dem Entschluss gekommen, dass ich mit meinem jetzigen Leben endgültig Schluss machen will. Ich möchte, dass ich von meinem Trieb befreit werde und bitte um ärztliche Behandlung. Besonders möchte ich hervorheben, dass ich die folgenden Angaben aus freien Stücken heraus mache.“
Das Geständnis enthält Details: Vom Tatort: der alte Autositz. Von der Kleidung: die Hosenträger, die Strumpfhose, der Schlüpfer. Vom Ablauf der Tat: die Nonnen, die im Garten des Krankenhauses spazieren gehen. Vom Verhalten nach der Tat: seine weggeschmissene Unterhose. Um 15:30 Uhr gibt die Kriminalpolizei eine Pressekonferenz. Der Leiter der Mordkommission teilt Gensmers Geständnis, Birgit König ermordet zu haben, der Öffentlichkeit mit. Eine knappe Woche später, am 12. August 1970, wird Gensmer erneut zum Mordfall König vernommen. Diesmal ist es der Kriminalbeamte R., ein Mitglied der Mordkommission, der ihn gemeinsam mit dem Kriminalbeamten J. um 10:15 Uhr im Untersuchungsgefängnis aufsucht. Um 11:40 Uhr wird eine weitere Niederschrift aufgenommen. Die Vernehmung ist 16:15 Uhr beendet. Das Protokoll wird wiederum von Gensmer abgezeichnet. Es wiederholt das Geständnis und enthält ergänzende Details. Zur Kleidung: der Reißverschluss des Anoraks, die Klips, mit denen die Hosenträger befestigt waren, der seitliche Knopf und ein Reißverschluss an der Hosennaht. Ergänzende Details zum Tatort: die Außenseite der Jacke, die dem Erdboden zugewandt liegt; das Kopfteil der Jacke, das zum Autositz zeigt, so dass – wie es in dem Protokoll wörtlich heißt – „… die Jacke zu mir hin breiter verlief.“
Ein Detail, das nur der Täter wissen konnte, wenn Täter – Kindesmörder zumal – stets während der Tatausführung so genau beobachten würden. Am nächsten Tag, am 13. August 1970, findet eine Ausführung zum Tatort statt. Gensmer findet in dem Wäldchen eine Stelle, von der aus das im Nordosten gelegene Hochhaus zu erblicken ist. Die Stelle ist nicht der Tatort. Er beschreibt hier erneut die Tatausführung. Die auf Tonband festgehaltenen Fragen des Kriminalbeamten R. werden offen gestellt. Gensmer antwortet und gibt Antworten, die Einzelheiten zur Tatausführung und zur Kleidung des Kindes enthalten. Schließlich geht er mit den Kriminalbeamten noch weiter durch das Wäldchen, um dann zu einer anderen Stelle zu gelangen, von der er nunmehr meint, hier sei die Tat geschehen. Nach der Ortsbesichtigung wird von den Kriminalbeamten noch am gleichen Tage ein Protokoll aufge-
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nommen, in dem es heißt, der zuletzt erreichte Standort sei der Tatort gewesen. Die Verwechselung wird auf die inzwischen eingetretene Belaubung des Wäldchens zurückgeführt. Das Protokoll enthält in wörtlicher Rede eine Beschreibung des von Gensmer mit Birgit König gegangenen Weges. Es endet mit den Sätzen: „So wie ich es heute Morgen gezeigt und geschildert habe, hat sich das ganze Geschehen abgespielt. Gelesen, für richtig befunden und unterschrieben: Holger Gensmer.“
Der Mörder schien gefunden. Das war vor 38 Jahren. Die Anklage wird nach dem Geständnis schnell erhoben. Unter dem 30. November 1970 wird Holger Gensmer der Mord an Birgit König zum Vorwurf gemacht. Weiterhin werden ihm mehrere vollendete oder versuchte Notzuchtshandlungen in Rahlstedt und dessen Umland zur Last gelegt. Vier Monate später schon, am 31. März 1971, wird er in einer zweitägigen Hauptverhandlung wegen Mordes sowie der Unzucht mit einem Kinde in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung für schuldig befunden und zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Zu Beginn des Prozesses bestreitet Gensmer zunächst seine Täterschaft. Während der Ortsbegehung am Fundort des Leichnams tritt der Kriminalbeamte R., der das zweite Geständnis bei der Polizei protokolliert hatte, an Gensmer heran, bietet ihm eine Zigarette an und spricht zu ihm wörtlich: „Holger, willst Du mit dem Herrn Vorsitzenden nicht einmal ein offenes Wort reden? Ich glaube, hier ist der richtige Ort.“ Daraufhin Gensmer: „Ja, es war so, wie ich vor der Polizei zuerst ausgesagt habe.“1 Anschließend antwortet er noch wortkarg auf einige wenige Fragen, ohne das erneuerte Geständnis noch mit wesentlichen Details anzufüllen. Am Tag nach der Urteilsverkündung regt sich bei Gensmer, wie schon bei Prozessbeginn, erneut verhaltener Widerstand. Er legt von sich aus, ohne Konsultation seines Pflichtverteidigers, im Untersuchungsgefängnis bei dem herangerufenen Urkundsbeamten der Geschäftsstelle gegen das Urteil Revision ein. Am 9. September 1971 jedoch wird seine Revision als unbegründet verworfen. In den folgenden zehn Jahren lebt Holger Gensmer innerlich zurückgezogen in der Justizvollzugsanstalt Fuhlsbüttel. Niemand besucht ihn, Kontakte zu Mitgefangenen beschränkt er auf das Unvermeidbare. Diese Situation verändert sich erst, als 1981 der Anstaltspsychologe Peter Brandewiede sich mit ihm zu beschäftigen beginnt und über den rechtskräftig festgeschriebenen Tatvorwurf sprechen will. Gensmer blockt jedoch regelmäßig ab. Die Gesprächspartner sitzen einander oft schweigend gegenüber. Die Situation bessert sich, als Melanie Bienlein, die Ehefrau eines beim „Desy“ beschäftigten Physikers, mit freundlicher Zugewandtheit sein Vertrauen gewinnt. Im Sommer 1985 erklärt er erstmals, dass er zu Unrecht einsitze und keine der ihm vorgeworfenen Taten begangen habe. In einer am 13. März 1987 verfassten Stellungnahme beschreibt Peter Brandewiede dieses Bekenntnis wie folgt:
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Der Dialog ist dem Prozessbericht der WELT vom 31. März 1991 entnommen.
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„Das Gespräch, in dem er mir gegenüber seine Unschuld beteuerte, war das einzige, zu dem er seine Betreuerin, Frau Bienlein, mit hinzugebeten hatte, die bereits vorher davon wusste. Er war innerlich sehr erregt und brauchte offenbar eine äußere Stütze. Dieses ,Geständnis‘ fiel ihm offensichtlich schwer und es ging ihm eine lange quälende innere Auseinandersetzung voraus. Auf meine Frage, warum er mir dies erst jetzt mitteilte, machte er mir seinen inneren Zwiespalt deutlich. Er habe nie wirklich ein Geständnis abgelegt, sondern er habe sich gegen die immer wieder vorgebrachten Unterstellungen in seiner unbeholfenen Art nicht ausreichend wehren können. Bei der Polizei habe er sich beispielsweise stundenlang die Bilder der Kinderleiche ansehen müssen und pausenlos habe man auf ihn eingeredet. Das habe er schließlich nicht mehr ausgehalten und dann habe er alles unterschrieben, was man ihm vorgelegt habe. Er sei sich im Übrigen sicher gewesen, dass sich seine Unschuld vor Gericht herausstellt. Denn er sei ja nach dem Mord überprüft worden und es sei festgestellt worden, dass er ein eindeutiges Alibi habe. Weshalb das vor Gericht nicht zur Sprache kam, habe er nicht begreifen können. Einer der Beisitzer habe auf seinen Einwand hin in den Akten geblättert und nichts gefunden.“
Ende 1985 beginnen die Vorbereitungen für ein Wiederaufnahmegesuch. Die Akteneinsicht fördert zutage, dass ein Vermerk über die Überprüfung des Alibis darin nicht abgelegt ist. Gensmers Alibi muss aber überprüft worden sein. Er war „vorbelastet“: Im Alter von 16 Jahren hatte er in Gegenwart eines minderjährigen Mädchens onaniert und war dafür 1958 in einer „Heil- und Pflegeanstalt“ untergebracht worden. Dort verbrachte er fast elf Jahre. Kurz nach seiner Entlassung hatte er Anfang Januar 1969 gegenüber einem 15-jährigen Mädchen einen Vergewaltigungsversuch unternommen und war deshalb durch Urteil des Landgerichts Lübeck im Oktober 1969 wegen versuchter Notzucht sowie wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt worden. Die Polizei muss ihn deshalb nach der Ermordung der Birgit König mit Sicherheit zum Kreis der Verdächtigen gerechnet und überprüft haben, zumal er in Rahlstedt bei seiner Mutter wohnhaft war. Die Durchsicht der Akte gibt immerhin Hinweise auf die Überprüfung von Gensmers Alibi. So findet sich in der Akte eine Landvermessungskarte. Darin ist die Grünfläche zwischen den Wohnblocks, auf der Birgit König zuletzt gesehen worden war, eingezeichnet; außerdem auch der Fundort ihres Leichnams. Am Rand der Karte finden sich auch zwei Namen: der eines Zahnarztes Dr. Schütte in der Tonndorfer Hauptstraße 83 und der eines Friseurs Krischke in der Loherstraße 15c. Diese Personen mussten im Rahmen der Alibiüberprüfung befragt worden sein. In einem Sonderband findet sich außerdem ein Vermerk der Kriminalbeamten K. und J. über ihre Vorbereitung auf die für den Morgen des 7. August 1970 geplante Vernehmung des inzwischen inhaftierten Gensmers: „Noch am Abend wurde die Handakte der Mordsache KÖNIG beigezogen. Wir machten uns ausführlich mit dem Sachverhalt vertraut. Seine damalige Alibiüberprüfung wurde ebenfalls herangezogen. Es wurde festgestellt, dass lediglich die Alibizeit vom Besuch des Zahnarz-
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tes, Friseurs und des Eintreffens im Hause feststand. Ob er vorher bereits im Raume Rahlstedt war, ist nicht überprüft worden.“
Der Vermerk über die Überprüfung des Alibis existierte. Er wird den Personen, die über Gensmers Schicksal 1971 zu entscheiden haben, jedoch nicht zugänglich gemacht. In den schriftlichen Gründen des Gensmer 1987 freisprechenden Urteils wird trocken konstatiert: „Der Vermerk gelangte jedoch aus ungeklärten Gründen nicht in die den Angeklagten betreffenden Ermittlungsakte, sondern verblieb in den Unterlagen der Polizei.“2
Nachdem am 13. März 1986 bei der Staatsanwaltschaft beantragt worden war, diesen Aktenvermerk beizuziehen, erreicht den Verteidiger schließlich am 26. April 1986 eine Ablichtung dieses Vermerks. Dieses schicksalsträchtige Papier wird von dem (damaligen) Leiter der Hamburger Mordkommission, dem Ersten Kriminalhauptkommissar Untermann, lediglich mit einem Beglaubigungsvermerk versehen, dann zweimal gefaltet und in einem kleinen grünen Briefumschlag per Post an den Verteidiger übersandt. Irgendein erklärendes Anschreiben ist nicht beigefügt. Das Auftauchen dieses Vermerks geschieht wie aus heiterem Himmel. Dennoch bleiben die Umstände seines langjährigen Verschwindens in einem trüben Dunkel. Dem Vermerk zufolge wurde Holger Gensmer bereits am Tag nach der Ermordung Birgit Königs, am 4. April 1970, durch drei Mitarbeiter der Mordkommission aufgesucht und zu seinem Tagesablauf am 3. April 1970 befragt. Gensmer berichtet, er sei in den Vormittagsstunden zunächst bei seinem Zahnarzt gewesen. Bei diesem seien ihm zwei Zähne gezogen worden. Anschließend sei er zu Fuß nach Hause gegangen. Auf dem Nachhauseweg habe er noch einen Friseur in der Jenfelder Straße aufgesucht, um sich dort die Haare schneiden zu lassen. Gegen 13:00 Uhr sei er wieder im Hause gewesen. Die Kriminalbeamten – so der Vermerk – haben im Anschluss hieran mit dem Zahnarzt Dr. Schütte Kontakt aufgenommen. Er bestätigt, dass Gensmer ein neues Gebiss hätte haben wollen; deshalb seien ihm zwei Backenzähne im Unterkiefer gezogen worden. Hieran anschließend halten die Kriminalbeamten mit der Sprechstundenhilfe Lydia Meyer Rücksprache. Nach eingehender Überlegung erklärt sie, Gensmer sei am 3. April 1970 von 11:00 bis etwa gegen 11:45 Uhr in der Praxis des Dr. Schüttte gewesen. Danach suchen die Kriminalbeamten noch den Friseurmeister Rudolf Krischke auf. Krischke weiß sich zu erinnern, dass Gensmer am 3. April 1970 etwa in der Zeit von 12:00 Uhr bis 12:30 Uhr sich die Haare bei ihm hat schneiden lassen.
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LG Hamburg, Urteil vom 15. Dezember 1987 – (83) 74/86 Ks – UA, S. 5.
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Die Kriminalbeamten Papist, Papier und Niendorf fassen die Ergebnisse ihrer Überprüfung in dem Vermerk mit folgendem Resümee zusammen: „Nach diesem Überprüfungsergebnis steht fest, dass Gensmer für die Zeit von 11:00 bis 13:00 Uhr, am 3. April 1970, ein einwandfreies Alibi hat, so dass ein Tatverdacht in der Mordsache Birgit König nicht zu rechtfertigen ist.“
Und der damalige Leiter der Mordkommission, der Erste Kriminalhauptkommissar Handke, ergänzt diesen Vermerk noch mit folgender Feststellung: „Die Ermittlungen haben keine Anhaltspunkte ergeben, die einen Tatverdacht gegen Gensmer rechtfertigen.“
Birgit König war noch am Morgen des 3. April 1970 durch zwei Nachbarinnen, unabhängig voneinander, gesehen worden, und zwar um 10:40 Uhr und um 10:45 Uhr auf der Grünfläche zwischen den Wohnblöcken, wo sie ihr Zuhause hatte. Beide Zeuginnen konnten ihre relativ genauen Zeitangaben einbetten in ein Handlungsgeschehen, das diese Genauigkeit plausibel machte. Auch sie waren von den Kriminalbeamten Papist und Papier vernommen worden, Papist und Papier machten ihre Befragung und deren Niederschrift jeweils zu zweit, so dass ein Hörfehler ausschied. Der Vermerk über die Alibiüberprüfung Gensmers wird schließlich zum zentralen Beweisstück des am 18. November 1986 eingereichten Wiederaufnahmeantrags. In ihm wurden auch die von den Kriminalbeamten K. und J. als „Vorstufe“ des späteren Mordgeständnisses am 6. August schriftlich niedergelegten angeblichen Geständnisse Gensmers hinsichtlich verschiedener in Rahlstedt verübter Notzuchtsverbrechen in Zweifel gezogen. So waren bei einem der Opfer unmittelbar nach der Tat an der Kleidung Spermaspuren gesichert worden. Deren Untersuchung ergab, dass der Spurenverursacher Ausscheider der Blutgruppe 0 (Null) war. Gensmer hatte jedoch die Blutgruppe A-1, schied deshalb sicher als Täter aus. Dennoch existierte ein von ihm unterschriebenes, detailgetreu mit den von dem Opfer beschriebenen Handlungsabläufen übereinstimmendes Geständnis. Dieses eindeutige Falschgeständnis kontaminierte natürlich auch die Authentizität der übrigen von Gensmer abgezeichneten Geständnisse über von ihm verübte oder versuchte Vergewaltigungen. Schon die Strafkammer, die Gensmer 1971 verurteilt hatte, wollte sich mit diesen Vorwürfen nicht befassen und hatte sie sämtlich gemäß § 154 StPO abgetrennt und eingestellt. Im Wiederaufnahmeverfahren wegen der Ermordung Birgit Königs war es zumindest atmosphärisch wichtig, auch diese eingestellten Vorwürfe, soweit noch möglich, Gensmer entlastend zum Thema zu machen. Am 15. Dezember 1987 wird Holger Gensmer unter Aufhebung des Urteils vom 31. März 1971 von dem Vorwurf des Mordes freigesprochen. Die Strafkammer stützt sich im Wesentlichen auf die Ergebnisse der Alibiüberprüfung, die von den überwiegend noch lebenden Zeugen bestätigt wird. Hinsichtlich der Entstehungsbedingungen des falschen Mordgeständnisses führt die Schwurgerichtskammer in den schriftlichen Urteilsgründen aus:
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„Als der Angeklagte am 7. August 1970 erstmalig zur Mordsache König vernommen wurde, war er kurz zuvor wegen des Verdachts, ein lange gesuchter Sittlichkeitsverbrecher zu sein, festgenommen worden und hatte am 6. August 1970 ein Geständnis über 6 Taten unterschrieben, nachdem ihm gesagt worden war, daß er von Geschädigten erkannt worden sei. Gegen ihn war Haftbefehl erlassen worden, und er war überdies schon zur Verbüßung der restlichen Strafe aus dem Lübecker Urteil geladen worden. Seine Zukunftsperspektive war daher trostlos, seine Arbeitsstelle praktisch verloren und seine Beziehung zu der Zeugin Heimann durch die drohende längere Inhaftierung extrem gefährdet. Vor diesem Hintergrund hält es die Kammer für möglich und nicht nur für eine rein theoretische Annahme, dass sich der Angeklagte am 7. August 1970 nach dem einstündigen Vorgespräch mit den von den Kriminalbeamten bekundeten Worten ,Ja, ich habe es getan‘ nicht von einem Gewissensdruck, sondern von einem durch die Vernehmungsbedingungen gesetzten Druck, entlasten wollte, den er als unerträglich empfand und dem er nur so ausweichen zu können glaubte. Eine solche Überlegung ist nicht, wie die Staatsanwaltschaft meint, schon deshalb unplausibel, weil mit dem Geständnis die Sache für den Angeklagten nicht erledigt gewesen sei, er also nicht seine Ruhe gewonnen habe, sondern er sich auf seine Verurteilung und die anschließende Strafvollstreckung habe einstellen müssen. Diese Betrachtungsweise unterstellt, dass der Angeklagte von seiner Konstitution her überhaupt in der Lage war, in der ihm aufgezwungenen Vernehmungssituation dem Leistungsdruck standzuhalten, dem er sich durch die insistierenden Fragen der aus seiner Sicht in jeder Beziehung überlegenen Vernehmungsbeamten ausgesetzt sah. Seine für die damalige Zeit festgestellte substanzarme Persönlichkeit spricht eher für die gegenteilige Annahme. Die normalerweise zum Widerstand motivierende Aussicht, mit einer solchen Erklärung sich für unabsehbare Zeit dem Strafvollzug auszuliefern, hat für den Angeklagten möglicherweise auch deshalb ein geringes Gewicht gehabt, weil er ein autonom gestaltetes, von festen Einrichtungen unabhängiges Leben bis dahin kaum kennengelernt hatte. Auch die an diesem Tag protokollierten Details lassen keinen hinreichend sicheren Schluss auf die Täterschaft des Angeklagten zu. Das Geständnis ist zwar in sich stimmig, Einzelheiten werden auch bei späteren Vernehmungen weitgehend konstant wiedergegeben, und viele Details stimmen mit denen durch die Polizei am Tatort getroffenen Feststellungen überein. Andererseits gibt das Vernehmungsprotokoll, welches durch seine Geschlossenheit den Eindruck einer eigenständigen, zusammenhängenden Schilderung durch den Angeklagten vermittelt, mit Sicherheit weder das Formulierungsniveau noch die Struktur der Aussage des Angeklagten richtig wieder. Von Bedeutung ist, dass die Beamten sich ausführlich mit den Einzelheiten in der Mordsache König vertraut gemacht hatten. Diese Vorkenntnisse wurden dem Angeklagten möglicherweise teilweise vorgehalten oder flossen in die Fragen der Vernehmungsbeamten mit ein. Auch das Protokoll vom Vortag weist darauf hin, dass die Beamten dem Angeklagten die zur Last gelegten Straftaten zunächst zum Zwecke des Vorhalts vorgelesen hatten.“3
Um Holger Gensmer freizusprechen, mussten die drei Berufsrichter der Großen Strafkammer 13 des Landgerichts Hamburg – in der damaligen Besetzung mit Erich Petersen als Vorsitzendem Richter, Dr. Jürgen Plate und Wolfgang Backen als bei3 LG Hamburg, Urteil vom 15. Dezember 1987 – (83) 74/86 Ks – UA, S. 51 – 53; diese Urteilspassage bestätigt in eindringlicher Weise die Ausführungen des Jubilars in Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 10. Aufl. 2017, Rn. 733.
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sitzenden Richtern – nicht die Unschuldsvermutung bemühen. In lakonischer Klarheit heißt es in dem Urteil: „Die Kammer hat den Angeklagten von dem Vorwurf des Mordes an Birgit König freigesprochen, weil nach ihrer Überzeugung seine Unschuld erwiesen ist.“4
Fiat Justitia! Und Dank an Peter Brandewiede! Für Gerhard Mauz „ein stiller, starker Mensch“5. Eine richtige Charakterisierung. Peter Brandewiede hat sich trotz der Einbindung in eine hierarchische Behörde die Fähigkeit erhalten, zuzuhören, sowie den Mut, sich des eigenen Verstandes zu bedienen. Sein aufklärerischer Impetus hat Holger Gensmer gerettet.
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LG Hamburg, Urteil vom 15. Dezember 1987 – (83) 74/86 Ks – UA, S. 47/48. DER SPIEGEL 53/1987, S. 63.
Das Konfrontationsrecht des Angeklagten nach Maßgabe der Rechtsprechung des EGMR in Al-Khawaja und Tahery v. Vereinigtes Königreich1 und Schatschaschwili v. Deutschland2 Von Sabine Swoboda
I. Einführung – das Recht auf Teilhabe am eigenen Verfahren Für den Jubilar war die Möglichkeit, sich effektiv gegen einen Strafvorwurf verteidigen zu können, also als Beschuldigter am eigenen Strafverfahren teilzuhaben, immer eine zentrale Voraussetzung eines fairen, rechtsstaatlichen Strafverfahrens. Er hat diese Teilhabe, das Sich-Einbringen-Können in das Verfahren und in die Ermittlungsvorgänge bzw. die Möglichkeit, die Ergebnisse der Beweisermittlungen effektiv in Frage stellen zu können, auch immer strikt von der daneben bestehenden Pflicht des Gerichts zur Amtsaufklärung bzw. dem Gebot der Wahrheitsermittlung unterschieden.3 Es genügte dem Jubilar also nicht, dass ein Gericht am Ende zu einem sachlich richtigen Tatsachenergebnis gelangt, dass es sein Urteil auf Tatsachenfeststellungen stützt, die im materiellen Sinne „wahr“ sind. Ganz im Gegenteil war es mindestens ebenso wichtig, dass der Beschuldigte im Laufe des Verfahrens die Möglichkeit hat, die Beweisgrundlage des Urteils (egal, ob glaubhaft oder nicht) effektiv anzufechten, den Sachverhalt in Frage stellen zu dürfen, selbst wenn am Ende das Gericht auch ohne diese Mitwirkung das in der Sache richtige Ergebnis erreicht. Der Beschuldigte sollte insbesondere immer im Sinne des Art. 6 Abs. 3 lit. d) EMRK die Möglichkeit haben, die Belastungszeugen bei der Aussage zu „konfrontieren“.4 Und wie selbstverständlich ergibt sich für den Jubilar aus einer von den Strafverfolgungsbehörden zu verschuldenden Verletzung des Konfrontationsrechts ein Beweisverwertungsverbot.5 Selbst wenn ein sachlicher Grund vorlag, warum eine Konfron1 EGMR (Al-Khawaja und Tahery v. Vereinigtes Königreich), Beschwerden Nr. 26766/05 und 22228/06 (Große Kammer) – Urteil v. 15. 12. 2011, HRRS 2012 Nr. 1. 2 EGMR (Schatschaschwili v. Deutschland), Beschwerde Nr. 9154/10 (Große Kammer) – Urteil v. 15. 12. 2015, HRRS 2016 Nr. 1 = NJOZ 2017, 544 (dort nicht vollständig abgedruckt) = StV 2017, 213; dazu krit. Thörnich, ZIS 2017, 39; anders noch die Vorentscheidung EGMR, 5. Sektion, JR 2015, 95 m. zust. Anm. Lohse, JR 2015, 60. 3 Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 10. Auflage 2017, Rn. 386. 4 Eisenberg (Fn. 3), Rn. 386. 5 Eisenberg (Fn. 3), Rn. 386.
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tation mit dem Belastungszeugen (in der Hauptverhandlung) nicht stattfinden konnte, hält er an dem Votum für ein Beweisverwertungsverbot fest, es sei denn, es hat für diese Rechtsverletzung in der Hauptverhandlung einen Ausgleich gegeben. Als Ausgleich erkennt der Jubilar an, dass der Beschuldigte zu einem früheren Zeitpunkt bei einer Zeugenvernehmung im Vorverfahren entweder selbst oder durch seinen Verteidiger effektiv Gelegenheit erhalten hat, den Belastungszeugen zu befragen;6 weniger aber nicht. Deswegen dürften ihn die folgend besprochenen Entscheidungen des BGH aus dem Jahr 2017 betrüben, die quasi eine Rückkehr zum inquisitorischen Modell des Strafverfahrens bedeuten, unter Aushöhlung all der Rechte, die in den letzten Jahrzehnten infolge der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 EMRK als Teilhaberechte des Beschuldigten den Weg in die StPO gefunden hatten.7 Mir geht es in dieser Darstellung gar nicht so sehr darum zu sagen, die Entscheidungen seien inhaltlich falsch oder die Bedürfnisse der Praxis nach Handlungsfähigkeit, die darin erkennbar werden, nicht nachvollziehbar. Was aber auffällt, ist Folgendes: In Deutschland hat im Strafverfahren nur die Wahrheit unumstrittene Daseinsberechtigung. Das Element der Teilhabe des Angeklagten, das auf seine Art auch zur rechtsfriedenstiftenden Wirkung eines Strafverfahrens beiträgt, hat demgegenüber keine Daseinsberechtigung, die nicht auch unter Berufung auf die „Wahrheit“ wegargumentiert werden könnte, oder unter Berufung auf das, was die zuständige Instanz aus eigener Überzeugung für die materielle Wahrheit hält. Das hat natürlich etwas mit der deutschen Fixierung auf die „richtige“ (und in der deutschen Lesart dann eigentlich auch immer „gerechte“) Entscheidung zu tun und mit der damit einhergehenden Fixierung auf die „Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege“, da nur diese offenbar als Garant dafür akzeptiert wird, dass man den richtigen Sachverhalt und so das richtige und gerechte Urteil erhält.8 Anders als im angloamerikanischen Strafverfahren, das im Ausgangspunkt auf der Idee eines fairen Wettbewerbs der Parteien um die Darstellung der Wahrheit basiert, spürt man insoweit in Deutschland weiterhin die Nachwirkungen der historischen Ausrichtung am Inquisitionsprozess.9 Die Idee der effektiven Untersuchung durch eine staatliche Instanz erscheint wichtiger als die Belange der weiteren Beteiligten. Schon lange wird deswegen geklagt, dass das rechtspolitische Klima das Austarieren der widerstreitenden Belange der Verfahrensakteure gar nicht mehr wirklich zulässt. Praxis und Politik sind auf die Leistungsfähigkeit der Strafrechtspflege fo-
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Eisenberg (Fn. 3), Rn. 386, unter Verweis auf EGMR (Hümmer v. Deutschland), Urteil v. 19. 07. 2012 – 26171/07, NJW 2013, 3225; EGMR (Schatschaschwili v. Deutschland) (Fn. 2). 7 BGH, Beschluss v. 26. 04. 2017 – 1 StR 32/17, und Urteil v. 04. 05. 2017 – 3 StR 2017 – 3 StR 323/16, JR 2018, 205; dazu Lohse, JR 2018, 183; Esser, NStZ 2017, 604; A. Schumann, HRRS 2017, 354; Arnoldi, NStZ 2018, 55. 8 Zur Verknüpfung dieser Prinzipien, siehe Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, 14. Aufl. 2018, Rn. 3; Volk/Engländer, Grundkurs StPO, 9. Aufl. 2018, § 3 Rn. 1; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 29. Aufl. 2017, § 1 Rn. 3. 9 Zu den historischen Grundlagen Roxin/Schünemann (Fn. 8), § 17 Rn. 3 ff.
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kussiert.10 Angesichts steigender Belastung der Justiz, überkomplizierter Normen und eines Aufblähens von Teilhaberechten nicht verfahrenszentraler Personen wie Nebenkläger, Opfer oder Zeugen, ist das nachvollziehbar. Aber das Ergebnis ist eine zunehmende „Ausgrenzung der Verteidigung zugunsten einer loyalen Kooperation von Staatsanwaltschaft und Gericht“.11 Die Verteidigung selbst braucht man eigentlich nur, damit man die Beschuldigtenseite wirksam über das Verfahrensrecht des Beschuldigten disponieren lassen kann – oder ganz konkret bezogen auf die nachfolgenden Fälle dazu, dass jemand formal Widerspruch erhebt und dafür sorgt, dass ein Beweiserhebungsfehler in Form der Verletzung des Konfrontationsrechts überhaupt zum Anlass genommen wird, über ein Beweisverwertungsverbot zu diskutieren.12 Gemeinerweise setzt das natürlich implizit voraus, dass die Verteidigung so gut mit den Entwicklungen in der Rechtsprechung von EGMR und EuGH vertraut ist, dass sie die Rechtsverletzung auch ohne Weiteres erkennt und mit der richtigen „Widerspruchsstoßrichtung“ geltend macht.13 Man könnte es zynisch auch so formulieren: Zuerst werden die Verteidigungsrechte (sehenden Auges) beschnitten, dann verlangt, dass die Verteidigung dies mit korrekter Rügestoßrichtung durch Widerspruch zur Geltung bringt und sich so als Garant für die Verfahrensfairness betätigt, und wenn ihr das aufgrund fehlender Tatsachen- oder Rechtsprechungskenntnis oder einfach, weil die Rechtslage unklar ist, nicht gelingt, dann lässt sich auf die Fiktion ausweichen, die Beschuldigtenseite habe nach freiem Willen über ihre Verteidigungsrechte „disponiert“.14 Die nachfolgend erörterten Fälle stehen beispielhaft für diese Entwicklung.
II. Die Ausgrenzung des Beschuldigten aus dem Beweisverfahren – die Fälle 1. BGH, Beschluss vom 26. 04. 2017 – 1 StR/17 – „Brasilianischer Zeuge“ S wurde wegen schweren Raubes verurteilt. Er hatte sich nach Überzeugung des Gerichts als einer von mehreren Mittätern an einem Überfall auf die Filiale einer Supermarktkette beteiligt. Das Landgericht hatte seine Überzeugung neben anderen 10 LR/Kühne, StPO, Einl. F, 27. Aufl. 2016, Rn. 219 m. w. N.; Roxin/Schünemann (Fn. 8), § 2 Rn. 9. 11 LR/Kühne, StPO (Fn. 10), Rn. 219. 12 Die Überlegung des BGH, die Verletzung des Konfrontationsrechts müsse nach der Widerspruchslösung geltend gemacht werden, bezieht sich gerade auf diesen Dispositionsgedanken, BGH JR 2018, 205 (206); zust. Lohse, JR 2018, 183 (186); Arnoldi, NStZ 2018, 55 (56); krit. Esser, NStZ 2017, 604 (607). 13 Esser, NStZ 2017, 604 (607). 14 Esser, NStZ 2017, 604 (607); generell krit. Eisenberg (Fn. 3), Rn. 439; MüKo/Kudlich, StPO, 1. Aufl. 2014, Einl. Rn. 479 f.; SSW-StPO/Beulke, 3. Aufl. 2018, Einl. Rn. 277; zuvor Bernsmann, StraFo 1998, 73 (76); Fezer, StV 1997, 57 (58).
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Umständen auch auf eine in der Hauptverhandlung mittelbar verwertete Aussage des Zeugen E gestützt. Nach Angaben des E hatte S seine Beteiligung am Überfall gegenüber E zugegeben. S hatte dabei auch Tatdetails offenbart, wie das Tragen von Strumpfmasken und die Ausrüstung mit (echten oder unechten) Waffen und dass S beim Überfall zur Täuschung mit russischem Akzent gesprochen hatte. Der Zeuge E konnte in der Hauptverhandlung nicht in Person gehört werden. Er war zwischenzeitlich aus der Strafhaft entlassen worden und hielt sich an unbekanntem Ort, vermutlich in Brasilien auf. Die ihn vernehmenden Polizeibeamten hatten sich von E zwar Kontaktdaten für die Zeit nach der Haftentlassung geben lassen, aber diese waren falsch. Er war im Ermittlungsverfahren durch den in der Hauptverhandlung als Zeugen vernommenen PHM K vernommen worden, allerdings ohne Beteiligung des Angeklagten. Auch ein Verteidiger war dem Angeklagten zu diesem Zeitpunkt noch nicht bestellt worden. Der Zeuge PHM K hatte über den Inhalt der Angaben des E in seiner eigenen Vernehmung in der Hauptverhandlung berichtet. Der Einwand des Angeklagten S, dass diese Angaben wegen des Verstoßes gegen das Konfrontationsrecht gemäß Art. 6 Abs. 1, Abs. 3 lit. d) EMRK nicht verwertet werden dürften, blieb ungehört. Der BGH bestätigte die Ordnungsgemäßheit dieses Vorgehens und damit die Gültigkeit der Verurteilung unter Verweis auf die Drei-Stufen-Prüfung des EGMR aus dem Urteil Schatschaschwili v. Deutschland15. Es hätte (i) ein triftiger Grund vorgelegen, den unerreichbar nach Brasilien verzogenen E nicht unmittelbar persönlich in der Hauptverhandlung anzuhören, sondern diese Aussage durch ein Aussagesurrogat in Gestalt des Zeugenbeweises vom Hörensagen des PHM K zu ersetzen.16 Dann hätte sich das Gericht auch (ii) nicht einzig oder entscheidend auf diese Aussage vom Hörensagen gestützt, sondern auf eine Gesamtschau unterschiedlicher Beweismittel, darunter eine weitere Bemerkung des nicht gehörten unmittelbaren Zeugen E gegenüber einem anderen Polizisten und auf DNA-Spuren an Klebeband, das am Tatort gefunden wurde. Der Zeuge E sei für das Urteil also offenbar nicht in dem Sinne „entscheidend“ gewesen, dass seine nicht konfrontierte Aussage „nach Bedeutung und Gewicht für die Entscheidung ausschlaggebend gewesen wäre.“17 Deswegen hätte (iii) die vorsichtige Beweiswürdigung des Gerichts, auch in Verbindung mit weiteren Beweisanzeichen (insbes. die DNA-Spuren und glaubhafte weitere Angaben des Zeugen E vor einem anderen Polizeibeamten), auf Stufe 3 der Prüfung ausgereicht, um im Sinne der EGMR-Rechtsprechung einen hinreichenden Ausgleich für die Verletzung des Konfrontationsrechts des Angeklagten zu bewirken.18 Weiter
15 EGMR (Schatschaschwili v. Deutschland) (Fn. 2), para. 107; zuvor bereits EGMR (AlKhawaja und Tahery v. Vereinigtes Königreich) (Fn. 1), para. 152. 16 BGH JR 2018, 205 (206). 17 BGH JR 2018, 205 (206 f.), mit Verweis auf EGMR (Schatschaschwili v. Deutschland) (Fn. 2), para. 123. 18 Der BGH sichert sich insoweit auch noch dadurch ab, dass er auf die Gehörsrechte nach § 257 StPO verweist und darauf, dass die Zeugen vom Hörensagen, die über die eigentlich
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wies der BGH darauf hin, dass, wenn eine Unverwertbarkeit des unter Verstoß gegen das Konfrontationsrecht gewonnenen Beweises im Raum steht, viel für eine Ausweitung der Widerspruchslösung auf diese Fälle spricht.19 2. BGH, Urteil vom 04. 05. 2017 – 3 StR 323/16 – „Zwei litauische Zeugen“ Den Angeklagten A. M. und V. M. wurde die mittäterschaftliche Beteiligung an drei Raubüberfällen auf Supermärkte im März/April 2004 vorgeworfen. Sie sollten die Taten gemeinsam mit den weiteren Verfolgten Mi. und D. begangen haben, die später zu den zentralen „litauischen Zeugen“ für die Mittäterschaft von A. M. und V. M. an den Taten wurden. Die Überzeugung von der Tatbeteiligung der Angeklagten basierte auf mehreren Vernehmungen der gesondert Verfolgten D und Mi. Zunächst hatte sich D schon 2004 gegenüber litauischen Strafverfolgungsbehörden geständig eingelassen und da bereits A. M. und Mi. als Tatbeteiligte benannt. Am 31. Juli 2007 wurde er in Litauen erneut vernommen, nun im Beisein eines deutschen Ermittlungsbeamten. Da sich zufällig herausstellte, dass auch Mi. in Litauen in Haft war, wurde dieser am Folgetag, am 01. August 2007, im Beisein eines deutschen Ermittlungsbeamten befragt. Mi. benannte damals die Angeklagten A. M. und V. M. als Mittäter. D. wurde in der Folge in Litauen aus der Haft entlassen und im März 2011 in Düsseldorf aufgegriffen und festgenommen. Er gestand in einer ermittlungsrichterlichen Vernehmung im Juni 2011 die Taten und belastete A. M. und V. M. Später wurde gegen D. und Mi. in der Sache eine Strafhauptverhandlung geführt. Dort gaben sie in der Verteidigererklärung an, dass A. M. und V. M. an den Taten beteiligt gewesen wären. Mi. und D. wurden im Januar 2012 verurteilt und Mi. im Juni 2014 aus der Strafhaft heraus nach Litauen abgeschoben, D. im August 2014 aus der Strafhaft entlassen. Den nunmehr Angeklagten A. M. und V. M. wurde bereits im Sommer 2013 ein Pflichtverteidiger beigeordnet, die Anklage aber erst im Juni 2014 erhoben. Am selben Tag wurde Mi. nach Litauen abgeschoben. Einen Monat später verschwand D. nach seiner Entlassung unauffindbar nach Litauen. Obwohl die Termine der Haftentlassung von D. und Mi. im Vorfeld lange bekannt waren und A. M. und V. M. wegen der Vorwürfe auch schon über ein Jahr lang im Rahmen einer Pflichtverteidigung verteidigt wurden, hatten sich die Strafverfolgungsbehörden zu keinem Zeitpunkt darum bemüht, A. M. und V. M. oder wenigstens deren Verteidigern die Gelegenheit zur konfrontativen Befragung der Belastungszeugen zu ermöglichen. Die Staatsanwaltschaft hatte nur bei Einreichen der Anklage gegen A. M. und V. M. um eine schnelle Terminierung wegen der baldigen Haftentlassung der litauischen Belastungszeugen gebeten. Unbestritten hätte sie aber spätestens seit Januar 2012, der entscheidende Aussage berichteten, bei ihren Aussagen befragt werden konnten; BGH JR 2018, 205 (207). 19 BGH, JR 2018, 205 (206).
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Zeitpunkt, in dem die Verurteilung der Belastungszeugen D. und Mi. in Deutschland rechtskräftig wurde, eine richterliche Vernehmung der Zeugen beantragen und gemäß § 168c Abs. 2 StPO die Teilnahme von Beschuldigten und Verteidigern ermöglichen, jedenfalls aber die Teilnahmeberechtigten von der Vernehmung nach § 168c Abs. 5 StPO rechtzeitig benachrichtigen müssen. Stattdessen nahm die Staatsanwaltschaft sehenden Auges in Kauf, dass die Belastungszeugen in der Hauptverhandlung unerreichbar sein könnten.20 Das Landgericht, das trotz aller Bemühungen den Aufenthalt der litauischen Belastungszeugen nicht mehr ermitteln konnte, sah sich aus diesem Grund daran gehindert, die belastenden Zeugenaussagen von Mi. und D. zur Grundlage einer Verurteilung der Angeklagten A. M. und V. M. zu machen. Obwohl das Gericht die früheren Zeugenaussagen, auf deren Protokolle es zurückgreifen konnte, für glaubhaft erachtete, sah es sich mit Blick auf die bisherige Rechtsprechung des BGH21 daran gehindert, die Angeklagten nur auf dieser Beweisbasis zu verurteilen. Andere Beweisergebnisse oder gewichtige Gesichtspunkte außerhalb der Aussagen, die diese bestätigt hätten, gab es nicht. Dass sich die Aussagen, die unabhängig voneinander gemacht worden waren, gegenseitig bestätigten, hielt das Landgericht mit Blick auf die bisherige BGH-Rechtsprechung für nicht ausreichend. Es stellte das Verfahren in der Folge wegen eines Verfahrenshindernisses nach § 260 Abs. 3 StPO durch Urteil endgültig ein. Dagegen wandten sich die Angeklagten mit der Revision, die mit dem Ziel eines Freispruchs betrieben wurde. Das Besondere an diesem zweiten Verfahren ist, dass der BGH in der Revision seine Rechtsprechung zur Verwertbarkeit nicht konfrontativ gewonnener Beweise verändern und zulasten der Angeklagten eine Verwertbarkeit der Zeugenaussagen verfügen konnte, allein weil sich diese glaubhaft gegenseitig bestätigten, ohne den Angeklagten dabei in der Sache zu schaden. Da die Staatsanwaltschaft keine Revision zulasten der Angeklagten eingelegt hatte, verblieb es auch nach Ablehnung der Revision der Angeklagten bei der rechtskräftigen Verfahrenseinstellung.22 Nur wenn einer der Zeugen später wieder auffindbar sein sollte, sich also die Umstände, die zur 20
BGH, JR 2018, 207 (208, 210). BGHSt 51, 150 (155); unter Verweis auf die damals noch vom EGMR vertretene DreiStufen-Prüfung aus EGMR (Artner/Österreich), EuGRZ 1992, 476; EGMR (Monika Haas/ Deutschland), JR 2006, 289 (291), m. Anm. Gaede, und EGMR (P.S./Deutschland), NJW 2003, 2893 (2894), wonach dann, wenn die unterbliebene konfrontative Befragung eines Zeugen der Justiz zuzurechnen ist, es grundsätzlich nicht möglich ist, eine Verurteilung auf die Angaben des Zeugen zu stützen, sofern es sich um den einzigen oder entscheidenden Belastungsbeweis handelte bzw. wenn sich die Verurteilung nach Verfahrensfehlern in einem entscheidenden Ausmaß („to a decisive extent“) auf die Angaben dieses Zeugen stützte. Demgegenüber konnte die Justiz dann, wenn sie ausreichende, im Ergebnis aber erfolglose Bemühungen zur Ermöglichung der Konfrontation unternommen hatte, die Angaben eines nicht kontradiktorisch vernommenen Zeugen – bei äußerst sorgfältiger („extreme care“) Würdigung – zulasten des Angeklagten verwerten, solange die Verurteilung nicht einzig und allein („solely“) auf diesen Angaben beruhte; siehe auch EGMR (A.M./Italien), StraFo 2000, 374 (375); EGMR (P.S./Deutschland) NJW 2003, 2893 (2894). 22 BGH, JR 2018, 207 (208 f.). 21
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Einstellung geführt haben, ändern, könnte das Verfahren auf der Basis einer neuen (konfrontativen) Zeugenvernehmung fortgesetzt werden.23 Zum Umgang mit den Zeugenaussagen verwies der BGH wieder im Wesentlichen auf die Rechtsprechung des EGMR in Schatschaschwili v. Deutschland, wonach die Frage, ob das Verfahren bei Verstößen der Strafverfolgungsbehörden gegen das Konfrontationsrecht des Angeklagten nicht doch in seiner Gesamtheit, einschließlich der Art und Weise der Beweiserhebung und Beweiswürdigung fair gewesen sein kann, mit einer Drei-Stufen-Prüfung beantwortet wird.24 Zu fragen ist: (1) ob ein triftiger Grund für das Nichterscheinen des Zeugen (in der Hauptverhandlung) vorlag, der die Einführung der Aussage über ein Beweismittelsurrogat rechtfertigte; (2) ob die Aussage die einzige oder entscheidende Grundlage für die Beweisführung (mit Blick auf eine Verurteilung) darstellte; und (3) ob es ausgleichende Faktoren für den Konfrontationsverstoß gab, ob z. B. strenge Verfahrensgarantien die Erschwernis für die Verteidigung ausgeglichen haben. Dabei verweist der BGH auch zutreffend darauf, dass diese Stufen nicht nur aufeinander aufbauen, sondern sich auch gegenseitig beeinflussen. Anders als früher würde der EGMR einen Fairnessverstoß nicht mehr z. B. allein deswegen bejahen, weil kein triftiger Grund für das Nichterscheinen des Zeugen in der Hauptverhandlung vorlag. Ferner dürften mittlerweile selbst die konfrontationslos gewonnenen Beweise, die einzig oder maßgebliche Basis der Verurteilung waren, verwertet werden, wenn es hinreichende andere Ausgleichsfaktoren für die Einschränkung der Verteidigungsrechte gab.25 Die weiteren Ausführungen aber entfernen sich nun doch weit von den Vorgaben des EGMR in Schatschaschwili v. Deutschland. Der EGMR bringt in Schatschaschwili als Beispiele dafür, wie man die verletzten Konfrontationsrechte ausgleicht, ins Spiel, dass man auf Videoaufzeichnungen der nun verwerteten Vernehmung zurückgreifen könnte oder darauf, dass die Aussage inhaltlich durch weitere, davon unabhängige Beweise bestätigt wird oder dass es andere gewichtige Aspekte gibt, die die Glaubhaftigkeit der Aussage oder die Glaubwürdigkeit des Zeugen untermauern, z. B. dass die Zeugenaussage damals im Rahmen eines anderen Strafverfahrens im Rahmen einer konfrontativen Aussage gewonnen wurde.26 Eine vorsichtige, ausführlich begründete Beweiswürdigung, in deren Rahmen das Gericht zeigt, dass es sich der Schwierigkeiten der Verteidigung, den Beweis zu prüfen, bewusst ist, in der 23
Arnoldi, NStZ 2018, 55 (56). BGH, JR 2018, 207 (209). 25 BGH, JR 2018, 207 (209), mit zutreffendem Verweis auf EGMR (Schatschaschwili v. Deutschland) (Fn. 2), paras. 117 ff.; krit. zur Aufweichung der Drei-Stufen-Prüfung durch den EGMR Thörnich, ZIS 2017, 39 (43 ff.). 26 EGMR (Schatschaschwili v. Deutschland) (Fn. 2), paras. 127 ff.; dies betont auch Esser, NStZ 2017, 604 (606). 24
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es deswegen besondere Sorgfalt bei der Analyse des Beweises mit Blick auf dessen Verlässlichkeit, auf inhaltliche Kohärenz und andere Indizien für Glaubhaftigkeit walten lässt, würde dem EGMR zwar auch genügen,27 aber es ist angesichts der vielen (auch technischen) Möglichkeiten, wie man im Fall eines Beweistransfers aus dem Vorverfahren in die Hauptverhandlung die Verletzung der Konfrontationsrechte der Verteidigung mildern könnte, nicht das Optimum der zur Verfügung stehenden „counterbalancing factors“. Auch ist der EGMR in der Entscheidung Al-Khawaja und Taheri v. Vereinigtes Königreich trotz der massiven Kritik der Staaten am Drei-Stufen-Test unerschütterlich dabei geblieben, dass ein nicht konfrontativ überprüfter Beweis grundsätzlich nicht als alleinige oder entscheidende Verurteilungsgrundlage genügt, denn dieser Beweis kann auch dann, wenn er in der Inhaltsanalyse verlässlich erscheint, verleumderisch oder falsch sein.28 Der 3. Senat des BGH teilt diese Sorge jedenfalls in dieser Intensität nicht. Er hält es für zulässig, sich allein auf die Beweiswürdigung als Ausgleichsfaktor für den Fairnessverstoß zu stützen und im konkreten Fall dann darauf, dass hier zwei Zeugenaussagen vorlagen, die unabhängig voneinander gewonnen worden waren und bei denen die inhaltliche Glaubhaftigkeit vor allem dadurch garantiert schien, dass sie sich gegenseitig nahezu vollständig bestätigen. Zwar sei der Beweiswert jeder einzelnen Aussage mangels konfrontativer Befragung gemindert, aber eben auch nicht vollständig aufgehoben. Gemeinsam konnten die Aussagen dann doch trotz Fehlens weiterer Beweisanzeichen die urteilsentscheidende Beweisgrundlage bilden.29 Bereits bei dieser Aussage mag man Zweifel haben, ob der EGMR die Würdigung zweier bemakelter Beweise hätte genügen lassen. Eindeutig sagen lässt sich das nicht, denn immerhin gab es zwei unabhängige Beweise, gewonnen in z. T. wiederholten Aussagen der einzelnen Zeugen. Aber Kritik wird man an den weiteren Ausführungen des BGH obiter dictum üben müssen, in denen der 3. Senat – nicht immer ganz widerspruchsfrei – zu erklären versucht, warum eine vorsichtige Beweiswürdigung generell als Ausgleichsfaktor für Konfrontationsverstöße in Betracht kommt, selbst wenn der bemakelte Beweis der entscheidende ist und keine gewichtigen Gesichtspunkte außerhalb der Aussage diese Angaben bestätigen.30 In den Erläuterungen mäandert der 3. Senat dann im Zickzackkurs von der Aussage, dass „die Einbettung der Angaben des Zeugen in einen bestimmten Lebenssachverhalt und der Detailreichtum seiner Aussage“ für
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EGMR (Schatschaschwili v. Deutschland) (Fn. 2), para. 126. EGMR (Al-Khawaja und Tahery v. Vereinigtes Königreich) (Fn. 1), para. 142. 29 BGH, JR 2018, 207 (209 f.); krit. A. Schumann, HRRS 2017, 354 f.: „Befragen einer Person und die Aussage einer Person bedeuten stets Reduktion komplexer Wirklichkeit. Schon deshalb kann die Bedeutung der in Art. 6 Abs. 3 lit. d) EMRK aufgestellten Regel für die Wahrheitsfindung im Strafverfahren nicht hoch genug eingeschätzt werden.“ 30 BGH, JR 2018, 207 (210 f.). 28
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sich von beschränktem Wert sind, wenn die Konfrontation fehlt31 und keine bestätigenden Beweisanzeichen vorliegen, mühelos zur Gegenposition, auch nicht konfrontierte Zeugenaussagen könnten glaubhaft sein. „Detailreiche und widerspruchsfreie Bekundungen können grundsätzlich für die Glaubhaftigkeit der Aussage sprechen“, auch wenn die mangelnde Konfrontation dann den Beweiswert doch wieder relativiert. Insgesamt sei daher zu erwägen, von dem „starre[n] Postulat, wonach die Angabe durch andere gewichtige Gesichtspunkte außerhalb der Aussage bestätigt werden müssen“, abzugehen. Die Aussage sei aus sich heraus zu würdigen, während man natürlich die „mit der unterbliebenen Konfrontationsmöglichkeit einhergehenden (abstrakten) Auswirkungen auf die Glaubhaftigkeitskriterien in den Blick“ nimmt.32 Mit diesem Verweis der Bedeutung von Konfrontation im Abstrakten wird die Drei-Stufen-Lösung des EGMR endgültig „zerstampft“ und die Idee von Teilhabe durch Konfrontation dahin verwiesen, wo sie die Zielrichtung des deutschen Strafverfahrens hin zur materiellen Wahrheit nicht mehr groß „beeinträchtigen“ kann – in den Bereich der Bedeutungslosigkeit. Symptomatisch ist dafür auch die Aussage des 3. Senats: „Verfahrensfairness und Beweiswert eines Beweismittels sind nicht identisch, auch wenn sie im Einzelfall von denselben tatsächlichen Umständen beeinflusst sein können.“33 Entscheidend ist, dass wertige Beweismittel verwertet werden, nicht unbedingt, dass ihre Gewinnung alle Fairnessvorgaben berücksichtigte. Dabei ist Fairness für den 3. Senat nicht irrelevant, aber sie befindet sich in einer „dienenden Position“ hinsichtlich des Ziels der Wahrheitsfindung. Wenn man Wahrheit auch ohne diese Fairnessrechte erringen kann, dann „rettet“ die „Wahrheit“ das Verfahren, das nicht optimal verlief. Hier schwingt eine Absage an den Eigenwert der Teilhaberechte im Strafverfahren mit, jedenfalls solange die Teilhabe an der Beweisgewinnung aus der Sicht des Gerichts für die Feststellung der „Wahrheit“ nicht essentiell war, weil das Gericht sich in der Lage sah, alles korrekt allein zu „untersuchen“.
III. Kritik mit Blick auf die Vorgaben aus EGMR, Schatschaschwili v. Deutschland Die Reaktionen in der Literatur auf die Urteile des BGH waren gemischt.34 Es gibt auch keinen klaren Maßstab dafür, woran man das Vorgehen des BGH eigentlich messen könnte, zumal noch nicht klar erkennbar ist, wohin der BGH tendiert. Wird er wirklich die detaillierten Sicherungsvorgaben der StPO zur Teilhabe der Verteidigung an der Beweiserhebung (§§ 168c ff. StPO) durch eine großzügige Handhabung der Beweiszulässigkeitsregeln bei Benachrichtigungsverstößen innerlich aus31
BGH, JR 2018, 207 (209); in Anlehnung an BGHSt 51, 150 (157). BGH, JR 2018, 207 (211). 33 BGH, JR 2018, 207 (211). 34 Vgl. Esser, NStZ 2016, 603; A. Schumann, HRRS 2017, 354; Arnoldi, NStZ 2018, 54; Lohse, JR 2018, 205. 32
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höhlen und die bisherige Rechtsprechung nach BGHSt 51, 150 (156 ff.) ganz durch den vagen Fairnesstest des EGMR aus Al-Khawaja und Tahery v. Vereinigtes Königreich bzw. Schatschaschwili v. Deutschland und damit durch eine diffuse Gesamtbetrachtung ersetzen?35 Oder handelte es sich bei den zwei Entscheidungen um Einzelfallrechtsprechung, ohne dass man befürchten muss, dass der BGH generell Zeugenaussagen, die ohne Möglichkeit der Konfrontation, vielleicht sogar unter bewusstem Verstoß gegen diese Teilhaberechte, gewonnen wurden, zur Verurteilungsgrundlage werden lässt, obwohl die Aussagen nicht auf Video aufgezeichnet wurden und obwohl sie nicht durch andere Beweise oder gewichtige andere Glaubhaftigkeitsindizien bestätigt sind? Sollen solche Beweise tatsächlich allein deswegen verwertbar sein, weil das Tatgericht überzeugt ist, aus dem Inhalt der Aussage bzw. aus dem, was über die Person des Zeugen bekannt ist, oder aus den Umständen der Aussagegewinnung darauf schließen zu können, dass die Aussage hinreichende Anzeichen für Verlässlichkeit bzw. Glaubhaftigkeit aufweist? Der 3. Senat hat diese Möglichkeit im obiter dictum angedacht, aber in den Entscheidungen sind weder der 1. noch der 3. Senat so weit gegangen. Ich habe auch Zweifel, ob der EGMR diese Auslegung seiner Drei-Stufen-Prüfung aus Schatschaschwili v. Deutschland mittragen würde. Ganz abgesehen davon, dass gar kein Anlass besteht, die einfachgesetzlichen Vorgaben zur Teilhabe der Verteidigungsseite an der Beweiserhebung in der Hauptverhandlung und im Vorverfahren (§§ 168c ff. StPO) in ihrer Bedeutung herabzusetzen, nur weil Fairness und Beweiswert unterschiedliche Aspekte sind und das deutsche Strafverfahren von beiden seit je her die Orientierung an der Wahrheit als Verfahrensziel bevorzugt, würde es sich ganz im Gegenteil vielmehr anbieten, die Ausgleichsfaktoren, die der EGMR bei Verletzungen von Konfrontationsrechten in der Hauptverhandlung akzeptiert, in der Reihenfolge anzuwenden, in der der EGMR selbst die Bedeutung dieser Ausgleichsfaktoren gewichtet (dazu unten). 1. Die Drei-Stufen-Prüfung des EGMR, vor und nach EGMR, Schatschaschwili v. Deutschland Die heutige Form der Drei-Stufen-Prüfung, auf die der BGH in den geschilderten Fällen zurückgriff, entstammt den Urteilen des EGMR in Al-Khawaja und Tahery v. Vereinigtes Königreich36 und Schatschaschwili v. Deutschland,37 wo diese Prüfung erheblich flexibilisiert und damit für die Praxis handhabbarer gestaltet wurde. Vor Al Khawaja und Tahery v. Vereinigtes Königreich bestand die Prüfung aus den folgenden drei, relativ starren Prüfungsstufen:
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So jedenfalls die Lesart, die in Deutschland zu EGMR (Schatschaschwili v. Deutschland) vertreten wird; siehe Lohse, JR 2015, 60; zu den alten Anforderungen ausführlich Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 60. Aufl. 2017, Anh 4 EMRK, Art. 6 Rn. 22e ff. 36 EGMR (Al-Khawaja und Tahery v. Vereinigtes Königreich) (Fn. 1). 37 EGMR (Schatschaschwili v. Deutschland) (Fn. 2).
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a) Altes Prüfungsschema des EGMR vor Al Khwaja und Tahery v. Vereinigtes Königreich 1. Zunächst verlangte der EGMR einen anerkannten sachlichen Grund für die Beschränkung des Frage- und Konfrontationsrechts des Angeklagten in der Hauptverhandlung. Der sachliche Grund musste hinreichend plausibel und nachvollziehbar in der Entscheidung dargelegt werden. 2. Das in der Hauptverhandlung verletzte Konfrontationsrecht des Betroffenen musste weiterhin bestmöglich ausgeglichen werden. Trotz der Einschränkung der Verteidigung durch fehlende Konfrontation mit dem Zeugen in der Hauptverhandlung musste eine effektive Verteidigung ermöglicht werden, z. B. durch besondere Verfahrensgestaltungen oder andere Sicherungen, vor allem durch die Ermöglichung einer konfrontativen Befragung in anderen Verfahrensstadien. Ob die sog. „counterbalancing factors“ die Hindernisse für die Verteidigung hinreichend ausglichen, wurde also bereits auf der zweiten Prüfungsstufe kontrolliert, völlig unabhängig davon, welche Bedeutung der betroffene Beweis für den Ausgang des Verfahrens besaß; und 3. erst auf der dritten Stufe vergewisserte sich der EGMR, ob – vorausgesetzt, es hatte hinreichende Bemühungen der Behörden zur Sicherung der Verteidigungsrechte gegeben – die betroffene Zeugenaussage besonders sorgfältig und vorsichtig gewürdigt worden war und ob sie durch andere Beweise erhärtet wurde. Zentrale Aussage der Urteile des EGMR war insoweit, dass ein solcher Beweis nie ausschließliche oder maßgebliche Verurteilungsgrundlage sein durfte („sole or decisive rule“).38 Nach diesem Maßstab hätte in beiden Fällen die Gesamtfairness verneint werden müssen: In Fall 1 lässt sich schon anzweifeln, dass die Behörden wirklich ihr Bestes gegeben haben, den verschwundenen Zeugen in Brasilien ausfindig zu machen. Esser verweist zwar zu Recht darauf, dass nicht klar ist, wo die Anforderungsgrenzen für die vom EGMR geforderte Nachforschung verlaufen, aber bei einem so zentralen Beweismittel hätten die Behörden mehr tun müssen, als sich auf das Suchen in lokalen Quellen und Datenbanken zu beschränken. Sie hätten vielmehr alle relevanten polizeilichen Datenbanken und Melderegister bemühen und Auskunftsersuchen im Wege der Rechtshilfe stellen müssen, wenn auch letzteres möglicherweise bei längerer Dauer und Umständlichkeit nicht mehr zu dem zählt, was der EGMR als vernünftiges oder vernünftigerweise zu erwartendes Bemühen („all reasonable efforts“) zum Ausfindigmachen und Herbeibringen des Zeugen verlangt.39 38
EGMR (van Mechelen u. a. v. Niederlande), Urteil v. 23. 04. 1997, Beschwerden Nr. 21363/93, 21364/93, 21427/93 et 22056/93, paras. 55, 63, StV 1997, 617; EGMR (Doorson v. Niederlande), Urteil v. 26. 03. 1996, Beschwerde Nr. 20524/92, para. 76; F. Meyer, HRRS 2012, 117 (118); Esser, Internationales Strafrecht, 2. Aufl. 2018, § 9 Rn. 265 – 267. 39 Esser, NStZ 2017, 604 (605) m.w.N.; A. Schumann, HRRS 2017, 354 (356 f.); zum Umfang der Nachforschungspflicht Thörnich, ZIS 2017, 39 (51).
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In Fall 2 hatte sich das Gericht hinreichend um ein Auffinden der beiden Zeugen bemüht, aber die Teilhabe- und Konfrontationsrechte der Beschuldigten waren hier im Vorverfahren so eklatant und vor allem sehenden Auges missachtet worden, dass der EGMR bereits auf der zweiten Prüfungsstufe das Vorliegen hinreichender Ausgleichsfaktoren für die Verletzung des Konfrontationsrechts in der Hauptverhandlung verneint hätte. Da darüber hinaus die beiden Beweise die einzigen Belastungsbeweise waren, hätte das Verfahren den Fairnesstest insgesamt nicht bestanden. b) Die Prüfung seit Al-Khawaja und Tahery v. Vereinigtes Königreich und Schatschaschwili v. Deutschland In Al-Khawaja und Tahery und Schatschaschwili hat der EGMR die bis dahin voneinander klar getrennten Prüfungsstufen neu miteinander verknüpft und dadurch die Prüfung erheblich flexibilisiert, gleichzeitig aber auch die Fairnessanforderungen insgesamt gelockert.40 Die Rückbesinnung auf eine Abwägung unter dem Blickwinkel der „Gesamtfairness“ in Abkehr von rigiden Prüfungsregeln kam der Praxis zwar entgegen, bewirkte aber Unsicherheit hinsichtlich der Konturenlosigkeit des neuen Prüfungsvorgehens41 und der daraus folgenden Frage, wie die neuen, weicheren Prüfungskriterien auf die Verfahrenssachverhalte zu übertragen waren.42 Nach dem neuen Prüfungsschema wird die Gesamtfairness des Verfahrens, in dem die Aussage eines in der Hauptverhandlung nicht erschienenen Zeugen als Beweis verwendet wurde, wie folgt geprüft: (1) Weiterhin ist zunächst zu fragen, ob ein triftiger Grund vorlag, der das Nichterscheinen des Zeugen und folglich die Zulassung seiner Aussage als Beweis rechtfertigte; (2) auf der zweiten Stufe des Prüfungsschemas wird nun aber gefragt, ob die Aussage des abwesenden Zeugen die einzige oder entscheidende Grundlage für die Verurteilung war, und erst (3) auf der dritten Prüfungsstufe wird geklärt, ob es im Verfahren andere ausgleichende Faktoren gab, insbesondere strenge Verfahrensgarantien, die ausreichten, um die Schwierigkeiten auszugleichen, die der Verteidigung durch die Zulassung eines solchen Beweises verursacht wurden, und um die Fairness des Verfahrens insgesamt sicherzustellen.43 Diese Flexibilisierung bewirkt zunächst, dass die Gesamtfairness nicht automatisch negiert wird, wenn es für das Nichterscheinen des Zeugen in der Hauptverhand-
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Ausführlich Thörnich, ZIS 2017, 39 (43 ff.). Lohse, JR 2018, 183 (184). 42 Esser, NStZ 2017, 604; Arnoldi, NStZ 2018, 55. 43 EGMR (Schatschaschwili v. Deutschland) (Fn. 2), para. 107. 41
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lung keinen triftigen Grund gab.44 Vielmehr hängen die Prüfungsstufen voneinander ab und bedingen und beeinflussen sich gegenseitig.45 Deswegen müssen die Ausgleichsfaktoren für Konfrontationsrechtsverletzungen in jedem Fall geprüft werden, selbst dann, wenn ein triftiger Grund fehlt. Auch muss – bevor die Ausgleichsfaktoren mit Blick auf die Gesamtfairness abgewogen werden – geklärt werden, welche Bedeutung die Zeugenaussage für das Verfahren hatte, ob sie nur ein Beweis von mehreren Beweisen war oder ob sie die alleinige oder entscheidende Verurteilungsbasis darstellen würde. Je gewichtiger dann die Zeugenaussage für das Urteil erschien, desto wichtiger wird, ob die Verletzung des Konfrontationsrechts des Angeklagten (bezogen auf die streitige Hauptverhandlung) im Verlauf des Verfahrens insgesamt ausgeglichen werden konnte, etwa durch eine besondere Verfahrensgestaltung. Wenn es sich zum Beispiel um einen nicht besonders verurteilungsrelevanten Beweis handelt, kann das Verfahren, das zur Verurteilung führt, auch dann noch insgesamt als fair gelten, wenn sich die Strafverfolgungsbehörde darin nicht hinreichend um einen Ausgleich für die Verletzung der Verteidigungsrechte bemüht hat, wenn sie also keine „sufficient counterbalancing factors“ geschaffen hat, um die Verletzung der Verteidigungsrechte durch das Nichterscheinen des Zeugen in der Hauptverhandlung auszugleichen.46 Umgekehrt kann ein Urteil als fair zustande gekommen gelten, für das ein bemakelter Beweis die ausschließliche oder maßgebliche Verurteilungsgrundlage war, wenn sich die Strafverfolgungsbehörde hinreichend um Kompensation der Verletzung der Verteidigungsrechte bemüht hat, insbesondere durch frühere Konfrontationen bei der Vernehmung oder durch eine ausführliche Dokumentation des Beweises bei seiner Gewinnung (durch Aufzeichnung der Vernehmung in einer Bild-Ton-Dokumentation, was in Deutschland nach den §§ 168e, 58a StPO möglich ist)47 und – als unabdingbare Standardanforderung – durch eine besonders sorgfältige und vorsichtige Beweiswürdigung, gerade auch mit Blick auf die Zuverlässigkeit des nicht konfrontierten Beweises.48 Die neue Drei-Stufen-Prüfung verlagert die Entscheidung grundsätzlich auf die dritte Stufe einer Gesamtbetrachtung, 44 EGMR (Schatschaschwili v. Deutschland) (Fn. 2), para. 113; Thörnich, ZIS 2017, 39 (44 f.); krit. insoweit die Richter Spielmann, Karakas¸, Sajó und Keller in EGMR (Schatschaschwili v. Deutschland) (Fn. 2), Joint Concurring Opinion of Judges Spielmann, Karakas¸, Sajó and Keller, para. 6: „We would have preferred the Court to state that the unjustified absence of a witness amounts to a violation of Article 6 §§ 1 and 3 (d) of the Convention even if his or her statement was not the sole or decisive basis for the accused’s conviction, if it was of some importance to the trial.“ 45 EGMR (Schatschaschwili v. Deutschland) (Fn. 2), para. 110. 46 Esser (Fn. 38), § 9 Rn. 268. 47 EGMR (Schatschaschwili v. Deutschland) (Fn. 2), paras. 127, 129 f., 155 – 160, 162; Überblick über die Kompensationsmöglichkeiten durch Verfahrensgestaltung bei SSW-StPO/ Satzger, 3. Aufl. 2018, Art. 6 EMRK Rn. 65. 48 Zum Ganzen EGMR (Al-Khawaja und Tahery v. Vereinigtes Königreich) (Fn. 1), paras. 119, 147; EGMR (Schatschaschwili v. Deutschland) (Fn. 2), para. 145; SSW-StPO/ Satzger (Fn. 47), Art. 6 EMRK Rn. 67; Thörnich, ZIS 2017, 39 (43 ff.); Esser, NStZ 2018, 604 (605).
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wodurch die Prüfung leider auch unvorhersehbar und das Konstrukt von Fairness dehnbar wird.49 Gleichzeitig zeigt die Wortwahl des EGMR im Urteil Schatschaschwili v. Deutschland, dass die Große Kammer die Ausgleichsfaktoren, die sie zu akzeptieren gewillt ist, nicht beliebig nebeneinander stellt, sondern gewichtet. Manche Ausgleichsfaktoren sind unabdingbar, andere helfen, würden aber allein zur Wiederherstellung der Gesamtfairness nicht genügen und je nach Gewicht des Belastungsbeweises für die Verurteilung werden gegebenenfalls mehrere Faktoren notwendig sein, um die Gesamtfairness des Verfahrens wiederherzustellen. So gilt nach Schatschaschwili v. Deutschland: (1) Ein „wichtiger“ Ausgleichsfaktor („important safeguard“) ist, dass die Möglichkeit zur Befragung des Zeugen im Ermittlungsverfahren gegeben wird.50 (2) Ein „bedeutsamer“ Ausgleichsfaktor („significant safeguard“) ist, dass der Verteidigungsseite ermöglicht wird, dem nicht für die Hauptverhandlung verfügbaren Zeugen in anderer Form, insbesondere schriftlich, Fragen zu stellen.51 (3) Ein „weiterer beachtenswerter“ Ausgleichsfaktor („further considerable safeguard“) ist, ob weitere, die Aussage des Zeugen bestätigende Beweise verfügbar sind oder ob es von der Aussage unabhängige Indizien für die Richtigkeit der Aussage gibt.52 (4) Ein vierter, „zusätzlicher“ Ausgleichsfaktor („additional safeguard“) wäre, in der Hauptverhandlung eine Videoaufzeichnung der im Ermittlungsverfahren getätigten Zeugenaussage vorzuführen, damit die Verfahrensbeteiligten, darunter insbesondere auch das Gericht, die Gelegenheit erhalten, das Verhalten des Zeugen während der Befragung zu beobachten und sich so einen eigenen Eindruck vom Zeugen und der Glaubhaftigkeit der Aussage zu verschaffen.53 (5) Die vorsichtige Beweiswürdigung bzw. der vom Gericht verlangte Nachweis, dass es sich bei der Würdigung der Beweise bewusst war, dass dem Beweis ohne die Möglichkeit der Konfrontation weniger Gewicht zukommt, ist wiederum ein wichtiger Ausgleichsfaktor („important safeguard“),54 und für sich genommen unabdingbar. Aber ob er allein als Ausgleich genügt, um eine Verletzung des Konfrontationsrechts auszugleichen, insbesondere wenn die Verletzung auf Verschulden der Behörden zurückgeht, ist fraglich. In Schatschaschwili v. Deutschland genügte es der Großen Kammer des EGMR zum Beispiel gerade nicht, dass das Landgericht diese Aussagen der beiden Augenzeuginnen für die Tat vorsichtig gewürdigt hatte. Angesichts der Bedeutung ihres Beweises für die 49
Thörnich, ZIS 2017, 39 (44). EGMR (Schatschaschwili v. Deutschland) (Fn. 2), para. 130. 51 EGMR (Schatschaschwili v. Deutschland) (Fn. 2), para. 129. 52 EGMR (Schatschaschwili v. Deutschland) (Fn. 2), para. 128. 53 EGMR (Schatschaschwili v. Deutschland) (Fn. 2), para. 127. 54 EGMR (Schatschaschwili v. Deutschland) (Fn. 2), para. 126.
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Verurteilung hätte das Gericht damals weitere Maßnahmen ergreifen müssen, um ein faires Verfahren, vor allem aber eine Überprüfung der Verlässlichkeit dieser einzigen Zeugenaussage zu ermöglichen.55 Das heißt, es hätten andere gewichtige Beweise vorliegen müssen (gewichtiger als die, die in Schatschaschwili neben den Zeugenaussagen vorlagen)56 und eine Videoaufnahme der Aussagen der Zeuginnen im Ermittlungsverfahren hätte sich angeboten.57 Insgesamt ist daher auch nach der neuen, flexibilisierten (Kritiker sagen: „verwässerten“)58 Drei-Stufen-Prüfung fragwürdig, ob das Vorgehen des BGH den Fairnesserfordernissen, die das Urteil Schatschaschwili v. Deutschland aufstellt, nachkommt. Vor allem ist fraglich, ob der EGMR in Schatschaschwili v. Deutschland seine eigene Drei-Stufen-Prüfung wirklich so weit in Richtung einer diffusen Gesamtbetrachtung von Fairness „auflösen“ wollte, wie es die Entscheidungen des BGH suggerieren.59 In einer der abweichenden Sondermeinungen zu Schatschachwili v. Deutschland wird auch angedeutet, dass die Mehrheit der Richter der Großen Kammer des EGMR vor allem deswegen zu dem Ergebnis kam, dass in Schatschaschwili eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1, 3 lit. d) EMRK vorlag, weil die Strafverfolgungsbehörden es sehenden Auges versäumt hatten, dem Beschuldigten rechtzeitig im Vorverfahren einen Verteidiger zu bestellen, damit dieser die Chance erhält, an der Vernehmung der zentralen Belastungszeuginnen, die zugleich die einzigen Augenzeuginnen und vermeint55 EGMR (Schatschaschwili v. Deutschland) (Fn. 2), para. 163; bei den Zeugen in Schatschaschwili handelte es sich um zwei lettische Prostituierte, die (glaubhaft) bezeugt hatten, Opfer eines Raubüberfalls des A geworden zu sein. Die Zeuginnen waren zur Zeit der Hauptverhandlung gegen A bereits aus Deutschland ausgereist und wollten nicht für die Hauptverhandlung zurückkehren. Ihre Ausreise hatten sie schon in ihrer ersten polizeilichen Vernehmung angekündigt. Dennoch hatte man sie im Vorverfahren nicht konfrontativ befragt, weil die Behörden es versäumt hatten, dem (zunächst nicht inhaftierten) A rechtzeitig einen Verteidiger zu bestellen, der bei einer Vernehmung nach § 168c StPO hätte anwesend sein können. Für den Ausschluss des A selbst bestand nach § 168c Abs. 3 StPO ein guter Grund. Die Zeuginnen hatten angekündigt, aus Angst vor Repressalien in seiner Gegenwart nicht aussagen zu wollen. Nach einer längeren Ermittlungsphase stellte sich dann heraus, dass die Zeuginnen tatsächlich nach Lettland zurückgekehrt waren und aufgrund ihrer Traumatisierung eine Rückkehr und auch eine erneute Aussage per Video-Vernehmung mit Hilfe eines litauischen Gerichts verweigerten. Das Landgericht hatte sich dann mit mehreren Schreiben bemüht, die Zeuginnen dennoch zur Vernehmung zu laden, scheiterte letztlich aber; Id., paras. 19 ff. 56 Vgl. insoweit aber auch die abweichenden Sondervoten in EGMR (Schatschaschwili v. Deutschland) (Fn. 2), Joint Dissenting Opinion of Judges Hirvelä, Popovicˇ , Pardalos, Nussberger, Mahoney and Ku¯ris, para. 12. 57 A. Schumann, HRRS 2017, 354 (358 f.): Die Videoaufnahme „kompensiert zwar keine unmittelbare Befragung als Rede und Gegenrede, aber [sie] erlaubt zumindest einen Einblick in die Vielschichtigkeit und Komplexität der Interaktion zwischen vernehmender und vernommener Person. Für Aussagepsycholog(inn)en, …, wäre das die Mindestvoraussetzung, um auch nur im Ansatz die Glaubhaftigkeit der Aussage einer abwesenden Person beurteilen zu können.“ 58 Thörnich, ZIS 2017, 39 (44). 59 Ebenso A. Schumann, HRRS 2017, 354 (357).
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lichen Tatopfer waren, teilzunehmen.60 Der EGMR reagiert also „allergisch“ auf vorsätzliche massive Verstöße gegen die Rechte der Beschuldigten. Daher steht die Vermutung im Raum, dass so schwere Versäumnisse der Behörden, wie sie im 2. Fall geschildert wurden, vor dem EGMR nicht das Prädikat des „fairen Verfahrens“ erzielen würden. Vor allem würde allein die vorsichtige Beweiswürdigung als „counterbalancing factor“ die derart zerstörte Fairnessbalance des Verfahrens nicht wiederherstellen. 2. Die Stimmen aus der Literatur Die Befürworter und Kritiker der BGH-Entscheidungen unterteilen sich ihrerseits in diejenigen, die den Teilhaberechten des Beschuldigten am Strafverfahren eine von der Wahrheitsfindung abtrennbare, eigenständige Bedeutung einräumen, d. h. die Teilhabe der Verteidigung im Prozess der Beweiserhebung auch dann für unabdingbar halten, wenn der Gewinn für die Wahrheitsfindung nicht klar nachweisbar ist, und in diejenigen, die Teilhabe ausschließlich in den Dienst der behördlichen Untersuchung stellen und dann „rückblickend“ (d. h. hier droht noch die Gefahr eines Rückschaufehlers) nach Effektivitätsgesichtspunkten zu bewerten versuchen, ob die Teilhabe für die Wahrheitsfindung unabdingbar gewesen wäre. Aus der Gruppe derjenigen, die Teilhabe für unabdingbar hält, wird vor allem auf die Fehleranfälligkeit von Zeugenaussagen und Protokollierungsvorgängen, so wie dies in aussagepsychologischen und anderen wissenschaftlichen Studien wiederholt nachgewiesen wurde, hingewiesen.61 Antje Schumann zum Beispiel betont, dass Zeugenaussagen seit jeher als hoch fehleranfällig gelten und deswegen auch im vor-reformierten Inquisitionsprozess ein Institut der Konfrontation von Zeugen wenigstens in Form der Konfrontation durch den Richter in der Hauptverhandlung existierte.62 Nicht nur das (fehleranfällige) Gedächtnis und die vor Suggestion nicht gefeiten Vorgänge beim Sich-Erinnern sind konstitutiv für eine Zeugenaussage, sondern auch die Sprache, also wie sich die Person bei der Vernehmung ausdrückt, ferner welche Motive sie verfolgte, welche Perspektive sie zum Geschehen einnimmt und welche Fragen der Vernehmungsperson die Aussage anleiten.63 Die Aussage ist so, wie sie nach einem Beweistransfer in die Hauptverhandlung später dem Gericht vorliegt, so, wie sie im Protokoll in der durch das Vorverständnis und den Konzentrationsfokus des protokollierenden Vernehmungsbeamten gefiltert inhaltlich festgehalten ist, ein hoch konstruiertes, ein von mehreren Menschen „konzipiertes“ Wahrheitsprodukt. Selbst wenn man annimmt, dass keine Verleumdungsabsicht im 60
EGMR (Schatschaschwili v. Deutschland) (Fn. 2), Dissenting Opinion of Judge Kjølbro, para. 24. 61 Vom Schwemm/Köhnken, in: Volbert u. a. (Hrsg.), Handbuch der Rechtspsychologie, 2008, S. 322 ff. 62 A. Schumann, HRRS 2017, 354. 63 A. Schumann, HRRS 2017, 354.
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Spiel ist und der Vernehmungsbeamte geschult und kompetent vernommen und protokolliert hat, selbst dann leitet die Aussage vielleicht in die Irre. Es könnten bestimmte Perspektiven und Punkte fehlen, die man ohne Weiteres mit einer Frage aus einer anderen Perspektive heraus ausgearbeitet hätte. Vielleicht fehlt zum Beispiel eine bis zum Schluss nicht gesehene Alternative für die Lesart des Sachverhalts. Und gerade weil Aussagen durch die Vernehmung „geformt“ werden, verlangt Art. 6 Abs. 3 lit. d) EMRK eine konfrontative Vernehmung, eine von allen Seiten beeinflusste Gewinnung des Beweises.64 Eine spätere vorsichtige Beweiswürdigung kann das nicht ersetzen, was in einer Vernehmung als weitere Perspektive unbeleuchtet bleibt. Schumann resümiert, dass „[d]ie Nichtgewährung oder Einschränkung dieses „Recht auf Antithese“ (…) sowohl den empirischen Beweiswert als auch die normative Beweiskraft einer Aussage“ berührt.65 Hinsichtlich des hier besprochenen Falles 1 merkt Schumann zudem an, dass alle Zeugenaussagen, sowohl die von E als auch die der an seiner Stelle in der Hauptverhandlung gehörten Polizeibeamten, nur mittelbar vom Hörensagen wiedergeben, was passiert sein könnte. Nicht einmal E war Tatzeuge, sondern nach eigenen Angaben nur Zeuge der Erzählung des Angeklagten von der Tat. Das Geschehen wurde durch mehrere Erzählvorgänge hindurch reproduziert und dabei mutmaßlich gefiltert und verfremdet. Wie also soll sich in dieser Kette von Fremdrekonstruktionen einer Tat allein durch Beweiswürdigung die Wahrheit verifizieren lassen?66 Und wieso spielte es in der „vorsichtigen“ Beweiswürdigung keine Rolle, dass E mit einer falschen Adressangabe dafür sorgte, dass er, anders als zugesagt, nicht mehr erreichbar war?67 Auf die Überlegungen des 3. Senats im obiter dictum zu Fall 2, man könne doch überlegen, die bisherigen Anforderungen in der Beweiswürdigungslösung abzusenken,68 entgegnet Schumann unter Verweis auf die aussagepsychologische Forschung, dass eine Bewertung der Glaubhaftigkeit einer Aussage mindestens voraussetzt, dass man die Entstehung der Aussage im Prozess von Rede und Gegenrede, also die Interaktion zwischen vernehmender und vernommener Person einigermaßen nachvollziehen kann.69 Mit Blick auf die wissenschaftliche Forschung sei nicht nachvollziehbar, wie man überhaupt behaupten kann, man hätte die Beweise „vorsichtig“ gewürdigt, wenn man nicht mehr hat als ein komprimiertes Schriftprotokoll, und gerade deswegen hat der EGMR in Schatschaschwili auch deutlich die Videodokumentation der Vernehmung als Ausgleich für eine fehlende Konfrontation in Stellung ge64
A. Schumann, HRRS 2017, 354 (355). A. Schumann, HRRS 2017, 354 (355). 66 A. Schumann, HRRS 2017, 354 (356). 67 A. Schumann, HRRS 2017, 354 (357 f.). 68 Eben, weil es dem 3. Senat nicht wirklich notwendig erscheint, dass ein per se glaubhaft wirkender, nicht konfrontierter Zeugenbeweis durch andere gewichtige Beweisindizien bestätigt werden muss. 69 A. Schumann, HRRS 2017, 354 (359). 65
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bracht.70 Der BGH hätte dieses Instrument stärken müssen und nicht die fragwürdige Beweiswürdigungslösung. Die Befürworter der Beweiswürdigungsvorgaben des BGH kommen allesamt aus der Praxis und halten unerschütterlich an der Überzeugung fest, dass ein Richter die Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen richtig bewerten kann, vor allem, wenn es Anzeichen für eine Glaubhaftigkeit dieser Aussage gibt, zum Beispiel zwei sich ergänzende Zeugenaussagen.71 Sie halten daran fest, dass Ziel des Verfahrens ein gerechtes Urteil auf der Basis der sachlich richtigen Tatsachen ist. Eine Teilhabe der Verteidigung, die dafür nicht unabdingbar ist, sollte aus ökonomischen Gründen dann auch nicht mit einer Bedeutung aufgeladen werden, die ihr für das richtige Ergebnis nicht zukommt.72 Immerhin seien Staatsanwaltschaft und Gericht der Idee nach als nichtparteiische Akteure zur Wahrheitsermittlung verpflichtet, auch mit Blick auf entlastende Umstände;73 und vor allem sei es für das richtige Ergebnis belanglos, ob die Justiz die Verletzung des Konfrontationsrechts zu vertreten habe oder nicht;74 sprich: die Justiz muss für ihre Fehler nicht zulasten der „Wahrheit“ gemaßregelt werden. Diese zweite Gruppe von Kommentatoren liest das Urteil des EGMR in Schatschaschwili v. Deutschland etwas anders als die erste Gruppe (zu welcher sich die Autorin selbst zählen würde). Sie fokussiert sich in der neuen flexibilisierten Drei-Stufen-Prüfung aus Schatschaschwili allein auf die Folge, dass es für das Ergebnis nun einzig und allein auf die „Gesamtfairness-Abwägung“ bzw. „Gesamtbewertung“ des Verfahrens auf der dritten Prüfungsstufe ankommt.75 Dafür hätte der EGMR einfach nur einzelne abwägungsrelevante Umstände „aufgezählt“, aber diese Vorgaben seien letztlich „inhaltsarm“, sodass sich auch die Beweiswürdigungslösung des BGH, einschließlich der Beweiswürdigungsminimallösung des 3. Senats, mit der Prüfung nach Schatschaschwili im Einklang befinde.76 Das heißt, diese zweite Gruppe nimmt die Gewichtung der Abwägungskriterien, die man aus Schatschaschwili v. Deutschland deutlich herauslesen kann, gar nicht wahr.
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A. Schumann, HRRS 2017, 354 (359). Arnoldi, NStZ 2018, 55 (56); Lohse, JR 2018, 183 (186): „Die Entscheidung verbessert die Möglichkeiten einer präzisen Beweiswürdigung, …, ohne Beschuldigtenrechte ungerechtfertigt und unverhältnismäßig einzuschränken.“ 72 Arnoldi, NStZ 2018, 55; Lohse, JR 2018, 183 (185 f.): „Für den methodischen Vorstoß des Bundesgerichtshofs kann im Übrigen konventionsrechtlich in die Waagschale geworfen werden, dass es sich bei dem deutschen Strafprozess strukturell nicht um ein Parteiverfahren, sondern um ein Verfahren handelt, welches Staatsanwaltschaften und Gerichte auch zur Ermittlung entlastender Umstände verpflichtet“. An anderer Stelle heißt es, die Auslegung des BGH sei verfassungsrechtlich fundiert im „immer wieder betonten Postulat der Ermittlung der materiellen Wahrheit als zentrales Ziel des Strafverfahrens.“ 73 Lohse, JR 2018, 183 (186). 74 Arnoldi, NStZ 2018, 55 (56). 75 Lohse, JR 2018, 183 (185). 76 Arnoldi, NStZ 2018, 55 (56). 71
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IV. Fazit Das letzte Wort ist in der Sache noch lange nicht gesprochen, aber der Weg, den die Rechtsprechung hier beschreitet mit der Behauptung, man könnte aus einer (begründeten) Wahrheitsvermutung bezogen auf zentrale Belastungsbeweise, die aber nicht in konfrontativem Verfahren gewonnen wurden, de facto zugleich auch die Fairness des Verfahrens ableiten, blendet aus, dass Fairness und Teilhabe im Strafverfahren nicht ausschließlich in einer dienenden Position zur Wahrheit stehen. Allein die Reichweite der Verteidigungsrechte in Art. 6 Abs. 3 lit. d) EMRK belegt das Gegenteil. Besonders betroffen macht, wie der BGH hier quasi unter dem Deckmantel, sich auf europäische Mindestfairnessstandards einzulassen, tatsächlich nichts anderes tut, als die Justizgrundrechte des Angeklagten, so wie es sie bisher gab, abzubauen, auf ein Niveau weit unter dem einfachgesetzlichen Teilhabeniveau, das der Gesetzgeber (auf Druck des EGMR und mit Rücksicht auf Art. 6 Abs. 3 EMRK) in § 168c Abs. 2 – 5 StPO vorgesehen hatte.77 Das Vorgehen des BGH wirkt in seiner Berufung auf die Rechtsprechung des EGMR auch deswegen in sich widersprüchlich, weil der BGH gerade über die Berufung auf den Gesamtbetrachtungsansatz des EGMR zur Sicherung von Verfahrensfairness dazu ansetzt, die in den letzten Jahrzehnten mühsam in der StPO verankerten Fairnessrechte zurückzubauen. Gleichzeitig tut er dabei so, als wäre dieser Rückbau nur notwendige Anpassung an das Fairnessniveau der EMRK, als könnte eine massive und grundlose Teilhabebeschränkung im Verfahren immer noch fair sein, nur weil man methodisch jetzt mit einer Gesamtbetrachtung arbeitet. Gleichzeitig wird nicht berücksichtigt, dass die Gesamtbetrachtung des EGMR andere weitere Faktoren in Stellung bringt als nur eine Beweiswürdigungslösung. Da geht es insbesondere um andere Formen der Konfrontation, um Zusatzbeweise, um authentisch dokumentierte Vernehmungen. Gesamtbetrachtung bedeutet für den EGMR gerade nicht, dass fair ist, was am Ende wohl zur richtigen Sachverhaltsfeststellung führt. Wahrheit reicht nicht aus für Fairness. Beides muss vorliegen und es gilt weiterhin, dass, je größer das Verschulden der Strafverfolgungsbehörden bei der Verletzung des Konfrontationsrechts ist, desto mehr Bemühungen erwartet der EGMR von den Behörden, diese Verletzung durch andere Konfrontationsmöglichkeiten, durch ergänzende Beweise (bei deren Erhebung eine Konfrontationsmöglichkeit bestand) oder in anderer Form, aber eben nicht nur durch Beweiswürdigung, auszugleichen.78 Deswegen ist es befremdlich, mit welcher Sicherheit in der Literatur nun gesagt wird, man könne in der Gesamtabwägung Beweiswert und Behördenverschulden eindeutig voneinander trennen.79 Das wird der EGMR so nicht tun, denn der Beweiswert ersetzt die Teilhabe nicht.
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A. Schumann, HRRS 2017, 354 (355). Lohse, JR 2018, 183 (158); siehe auch die Vermutung bei EGMR (Schatschaschwili v. Deutschland) (Fn. 2), Dissenting Opinion of Judge Kjølbro, para. 24. 79 Arnoldi, NStZ 2018, 55 (56). 78
Die Übertragung bereits anhängiger Verfahren auf eine Hilfsstrafkammer – ein Verstoß gegen das Prinzip des gesetzlichen Richters aus Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG Von Hans Theile
I. Einleitung In den letzten Jahren hatten sich sowohl das Bundesverfassungsgericht als auch der Bundesgerichtshof immer wieder zu dem in Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG und § 16 S. 2 GVG normierten Prinzip des gesetzlichen Richters zu äußern. Es dürfte sich kaum um eine zufällige Anhäufung von Judikaten handeln, sondern einiges spricht dafür, dass sich die Rechtswirklichkeit von dem in diesem Prinzip zum Ausdruck kommenden und einfachgesetzlich in GVG und StPO konkretisierten Leitbild entfernt hat. Im Gegensatz zum historischen Ursprung des Prinzips sind es heutzutage weniger exekutivische Eingriffe in die strafjustizielle Fallzuordnung als vielmehr ein unter den Bedingungen begrenzter sachlicher und personeller Kapazitäten entstehender Druck zur Optimierung von Rechtsprechungsressourcen, die das Prinzip des gesetzlichen Richters herausfordern.1 Dieser verstärkt sich noch dadurch, dass das Strafverfahren normativ durch das gerade in Haftsachen geltende verfassungsund konventionsrechtliche Gebot zügiger Verfahrensgestaltung bestimmt wird (Art. 5 Abs. 3 S. 1 Hs. 2, Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK). Dementsprechend darf mit Blick auf § 121 Abs. 1 StPO und die oberlandesgerichtliche Haftprüfung der Zeitraum zwischen Eröffnungsbeschluss und Hauptverhandlung nicht überdehnt werden, wobei die zeitlichen Maßstäbe von Oberlandesgericht zu Oberlandesgericht variieren.2
1 Zur geschichtlichen Entwicklung Bohn, Der gesetzliche Richter als rechtsstaatstragendes Prinzip in europäischen Staaten, 2011, S. 24 ff.; Müßig, Gesetzlicher Richter ohne Rechtsstaat?, 2011, S. 27 ff.; Remus, Präsidialverfassung und gesetzlicher Richter, 2008, S. 44 ff.; Seif, Recht und Justizhoheit, 2003, S. 214 ff.; Sowada, Der gesetzliche Richter im Strafverfahren, 2002, S. 27 ff. 2 Sowada, HRRS 2015, 16 (21). Siehe auch BeckOK StPO/Krauß, § 112 Rn. 3; SK-StPO/ Paeffgen, 5. Aufl. 2016, Band II, § 121 Rn. 17d; Radtke/Hohmann/Tsambikakis, StPO, 2011, § 121 Rn. 15.
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Ein Instrument kybernetischer Entlastung besteht für das Strafjustizsystem in der Einrichtung von Hilfsspruchkörpern, die vor allem an Landgerichten verbreitet sind.3 Bei ihnen werden nach der Funktionsweise eines Überdruckventils Verfahren loziert, die nach der Geschäftsverteilung an sich ordentlichen Kammern am Landgericht (vgl. § 60 GVG) zugewiesen sind.4 Gegenständlich geht es um Rechtsprechungsbereiche, bei denen unvorhersehbar besonders umfangreiche oder komplexe Angelegenheiten auftreten, so dass ein Bedürfnis nach unterjährigen Änderungen der Geschäftsverteilung entsteht.5 Ein akuter Änderungsbedarf zeichnet sich nämlich keineswegs stets längerfristig ab,6 da schon ein einzelnes Verfahren die Überlastung herbeiführen kann. Den Hilfsstrafkammern werden regelmäßig nicht nur künftig eingehende, sondern bereits bei der ordentlichen Kammer anhängige Verfahren zugewiesen, was mit Blick auf Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG, § 16 S. 2 GVG alles andere als unproblematisch erscheint. Insoweit ist nicht allein nach der grundsätzlichen Zulässigkeit der Einrichtung eines solchen außerordentlichen Spruchkörpers, sondern auch nach der Vereinbarkeit einer solchen Praxis mit dem Prinzip des gesetzlichen Richters zu fragen, das nach einhelliger Ansicht keinesfalls die Zuweisung eines einzelnen Strafverfahrens zu einer bestimmten Kammer gestattet.7
II. Rechtsgrundlage und grundsätzliche Einwände Die h.M. sieht die Rechtsgrundlage für die Einrichtung einer Hilfsstrafkammer in § 21e Abs. 3 S. 1 GVG, nach dem die den Grundsätzen der Abstraktion, Stetigkeit, Jährlichkeit und Vorauswirkung folgenden Anordnungen über die Geschäftsverteilung nach § 21e Abs. 1 GVG im Laufe des Geschäftsjahres (nur) geändert werden dürfen, wenn dies wegen Überlastung oder ungenügender Auslastung eines Richters oder Spruchkörpers oder infolge eines Wechsels oder dauernder Verhinderung einzelner Richter nötig wird.8 Anlass für die Einrichtung einer Hilfsstrafkammer ist im Regelfall eine Überlastung, die vorliegt, wenn über einen längeren Zeitraum ein erheblicher Überhang der Eingänge über die Erledigungen eines Spruchkörpers besteht, so dass mit einer Bearbeitung der Sachen innerhalb eines angemessenen Zeitraumes nicht zu rechnen ist; die Überlastung muss so erheblich sein, dass der Aus3 Zur älteren Rechtsprechung siehe bereits RGSt 19, 230 (231 f.); RGSt 55, 201 (203 f.); RGSt 62, 309 (310); BGH, NJW 1953, 1034. 4 Vgl. BGHSt 31, 389 (391); BGHSt 33, 303 (303 f.); BGHSt 53, 269 (271 f.). 5 Siehe hierzu aus rechtstatsächlicher Perspektive für Wirtschaftsstrafverfahren Voß, Flexibilisierungsbestrebungen der wirtschaftsstrafrechtlichen Praxis und das Recht auf den gesetzlichen Richter (im Erscheinen). 6 Vgl. aber Gubitz/Bock, NStZ 2010, 190 (192). 7 BGH, StV 2016, 623 (624); BVerfG, NJW 1997, 1497 (1498); BGH, NJW 2015, 2597 (2598 f.); BeckOK StPO/Gerhold, GVG, § 16 Rn. 19; Radtke/Hohmann/Rappert, GVG, 2011, § 16e Rn. 6. 8 KK-StPO/Diemer, GVG, 7. Aufl. 2013, § 21e Rn. 7, 14; BeckOK StPO/Feldmann, GVG, § 60 Rn. 16; Radtke/Hohmann/Rappert, GVG (Fn. 7), § 21e Rn. 32.
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gleich nicht bis zum Ende des Geschäftsjahres zurückgestellt werden kann.9 Indes darf die Einrichtung der Hilfsstrafkammer nicht zu einer „ständigen Einrichtung“ werden und an die Stelle der ordentlichen Strafkammer treten.10 Die Einrichtung einer Hilfsstrafkammer wird als Sonderfall einer „(Gruppen-) Vertretung“ interpretiert,11 indem sie die ordentliche Kammer in solchen Geschäften vertritt, die sie infolge anderweitiger Inanspruchnahme nicht selbst erledigen kann.12 Das in § 21 f Abs. 1 GVG normierte Vorsitzenden-Prinzip stehe der Einrichtung einer Hilfsstrafkammer nicht entgegen, da es nur für ständig, nicht aber vorübergehend eingerichtete Spruchkörper gelte, womit § 21 f Abs. 2 GVG Anwendung finde.13 Hiergegen wird eingewandt, mit der die Hilfsstrafkammern kennzeichnenden Abkehr vom Vorsitzenden-Prinzip des § 21 f Abs. 1 GVG gehe nicht nur eine Minderung der formalisierten Qualität der Rechtsprechung einher.14 Vielmehr verkenne die Konstruktion der „(Gruppen-)Vertretung“, dass § 21 f Abs. 2 GVG ausschließlich die spruchkörperinterne Vertretung und nicht etwa die Vertretung eines Spruchkörpers durch einen anderen betreffe.15 Obwohl Erfahrung und spezifische Sachkunde eines Vorsitzenden wichtige Voraussetzungen für die Qualität der Rechtsprechung sind, wird man angesichts der aufs Ganze besehen hohen Fachkompetenz der Richterschaft freilich kaum davon ausgehen können, dass bei punktueller Abwendung vom Vorsitzenden-Prinzip jedenfalls die (materielle) Qualität gerichtlicher Entscheidungen ins Bodenlose sinkt. Da die Hilfsstrafkammern nicht explizit in § 21e Abs. 3 S. 1 GVG benannt sind, lässt sich aus § 21 f GVG für die Frage nach der Zulässigkeit von Hilfsstrafkammern wenig herleiten, denn es ergibt wenig Sinn, einen praeter legem geschaffenen Spruchkörper an den formalen Vorgaben des § 21 f Abs. 1 und Abs. 2 GVG zu messen, da das Messergebnis anderenfalls vorgezeichnet ist.16 Allerdings steht die Gerichtsorganisation unter dem Vorbehalt des Gesetzes.17 Die These, für die Einrichtung von Hilfsstrafkammern fehle es an einer hinreichenden 9
BGHSt 53, 268 (269 f.); BGH, NStZ 2014, 287 (288) m. Anm. Grube, StraFo 2014, 123 und Sowada, HRRS 2015, 16. Vgl. auch Gubitz/Bock, NStZ 2010, 190 (191); Meyer-Goßner/ Schmitt, GVG, 61. Aufl. 2018, § 21e Rn. 14. 10 BGHSt 33, 303 (304). Vgl. noch BGHSt 31, 389 (391 f.). Kritisch Frisch, NStZ 1984, 86 (86 f.). Siehe zum Ganzen auch Sowada (Fn. 1), S. 344 ff. 11 BGHSt 31, 389 (394); BGHSt 41, 175 (178). Ferner Sowada (Fn. 1), S. 343. 12 BGHSt 31, 389 (391) = BGH, NStZ 1984, 84 (85); BGHSt 33, 303 (303 f.); BGHSt 53, 269 (271 f.). 13 BGHSt 31, 389 (391 ff.) unter Hinweis auf justizorganisatorische und -fiskalische Gründe. Siehe hierzu Sowada (Fn. 1), S. 355. Ferner Frisch, NStZ 1987, 265 (266 f.). 14 Frisch, NStZ 1984, 86 (88); ders., NStZ 1987, 265 (265 f.) in Abgrenzung zu BGH, NStZ 1984, 84 (87), wo auf die institutionelle Sicherung des richtungsweisenden Einflusses des Vorsitzenden auf die Rechtsprechung des Spruchkörpers abgestellt wird. 15 Siehe SK-StPO/Degener, 5. Aufl. 2016, Band I, § 60 Rn. 10 f.; SK-StPO/Velten, 5. Aufl. 2016, Band IX, GVG, § 21e Rn. 57 ff. Siehe hierzu auch Sowada (Fn. 1), S. 351 ff. 16 Vgl. auch Sowada (Fn.1), S. 353. 17 Vgl. auch Sowada (Fn. 1), S. 357. Zum Ganzen siehe auch Remus (Fn. 1), S. 226 ff.
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Stütze im Gesetz,18 erscheint dennoch zweifelhaft. Denn das Gesetz verhält sich gar nicht zu der Frage, ob neben den ordentlichen Spruchkörpern unter den besonderen Voraussetzungen des § 21e Abs. 3 S. 1 GVG ausnahmsweise andere Spruchkörper eingerichtet werden dürfen, zumal § 60 GVG nicht im Sinne eines numerus clausus zu interpretieren ist. Gerade weil die Festlegung der funktionellen Zuständigkeit weitgehend ein Akt justizieller Selbstverwaltung ist, kann es nicht von vornherein unzulässig sein, in einer akuten Überlastungssituation außerordentliche Spruchkörper zu bilden. Ist damit eine Regelungslücke gegeben, liegt eine analoge Anwendung des § 21e Abs. 3 S. 1 GVG nahe,19 solange sich eine solche Rechtsprechungseinheit in das bestehende und am Prinzip des gesetzlichen Richters ausgerichtete Gerichtsverfassungsmodell einfügt.20
III. Dokumentationspflichten und rechtsmittelgerichtliche Kontrolle Indes ist mit der grundsätzlichen Akzeptabilität der Einrichtung von Hilfsstrafkammern noch nichts darüber gesagt, welche Verfahren ihnen zugewiesen werden können. Insoweit hat die höchstrichterliche Rechtsprechung in den letzten Jahren Vorkehrungen für die Sicherung des Prinzips des gesetzlichen Richters etabliert, die der Gefahr unzulässiger Einzelweisungen entgegenwirken sollen. Unabhängig davon, ob die umzuverteilenden Verfahren bereits bei einem Spruchkörper anhängig waren oder nicht, sind die Gründe für die Einrichtung von Hilfsstrafkammern zu dokumentieren:21 Mit der Abkehr von der stabilisierenden Wirkung des in § 21e Abs. 1 S. 2 GVG statuierten Jährlichkeitsprinzips geht stets eine Unterschreitung des normalen Schutzniveaus einher, die einen ausreichenden Anlass für die Auferlegung einer Dokumentationspflicht bietet.22 Eine solche Dokumentation vermag prinzipiell dem Anschein einer willkürlichen Fallzuweisung entgegenzuwirken und vermittelt dem Präsidium die für die Beschlussfassung über die Einrichtung einer Hilfsstrafkammer erforderlichen Informationen.23 Darüber hinaus dient sie dazu, den zur Erhebung einer Besetzungsrüge Berechtigten die erforderlichen Informationen zu verschaffen, da diese anderenfalls nicht in der Lage wären, den Rechts18 Siehe SK-StPO/Degener (Fn. 15), § 60 Rn. 10 f.; Frisch, NStZ 1984, 86 (86 f.); Gubitz/ Bock, NStZ 2010, 190 (192); SK-StPO/Velten (Fn. 15), GVG, § 21e Rn. 57 ff. Siehe auch die grundsätzlichen Bedenken bei Schorn-Stanicki, Die Präsidialverfassung der Gerichte, 2. Aufl. 1975, S. 142. 19 Ebenso Sowada (Fn. 1), S. 362; ders., HRRS 2015, 16 (25). 20 Sowada (Fn. 1), S. 357. 21 Einer selbstständigen Begründung bedarf es nicht, sofern die Überlastungsanzeige Grundlage des Präsidiumsbeschlusses ist, vgl. BGH, NStZ 2015, 658 (659). 22 Sowada, HRRS 2015, 16 (19). Siehe auch BGHSt 53, 268 (272 f.); BGH, NStZ 2014, 287 (288); BGH, NStZ 2015, 658 (659). Zu den Inhalten der Dokumentation siehe Grube, StraFo 2014, 123 (124 f.). 23 BGHSt 53, 268 (276 ff.).
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behelf in der vom Gesetz geforderten Weise zu begründen (vgl. insbesondere § 222b Abs. 1 S. 2, S. 3 StPO).24 Maßgeblicher Zeitpunkt für die Dokumentation ist der Zeitpunkt der Präsidiumsentscheidung über die Einrichtung der Hilfsstrafkammer und die Heilung eines unzureichend begründeten Präsidiumsbeschlusses ist lediglich bis zur Entscheidung über einen zulässig erhobenen Besetzungseinwand möglich.25 Obwohl die Einrichtung einer Hilfsstrafkammer ein Akt gerichtlicher Selbstverwaltung ist,26 wurde in den letzten Jahren die rechtsmittelgerichtliche Kontrolle im Anschluss an eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 2005 gestärkt.27 Ohne Anmaßung ihm nicht zustehender fachgerichtlicher Kompetenzen im Stile einer „Superrevisionsinstanz“ behält sich das Bundesverfassungsgericht seither eine vergleichsweise engmaschige Kontrolle vor: Die Auslegung und Anwendung von Zuständigkeitsregeln erfolgt lediglich am Maßstab der Kriterien von Verständlichkeit und offensichtlicher Unhaltbarkeit, jedoch wird die Verfassungsmäßigkeit der abstrakt-generellen Regeln als solcher am Maßstab der Rechtswidrigkeit und nicht (nur) der Willkür überprüft.28 Dementsprechend unterliegen im Anschluss an eine geänderte BGH-Rechtsprechung die in § 21e Abs. 3 S. 1 GVG normierten Voraussetzungen in vollem Umfang der revisionsgerichtlichen Kontrolle, die anders als früher nicht mehr auf eine objektive Willkürprüfung beschränkt ist.29 Diese erfolgt lediglich im Hinblick auf die konkrete Auslegung und Anwendung der unterjährig beschlossenen und zur Einrichtung der Hilfsstrafkammer führenden abstrakt-generellen Zuständigkeitsregel.30 Die intensivierte rechtsmittelgerichtliche Kontrolle hat zur Folge, dass Gerichtspräsidien die Möglichkeit verwehrt ist, gleichsam unterhalb der Schwelle objektiver Willkür Rechtsverstöße bei der auf der Ebene der abstrakt-generellen Geschäftserteilung erfolgenden Fallzuweisung einzukalkulieren.31 Ebenso wie im Zusammenhang mit den Dokumentationspflichten gilt die Stärkung der rechtsmittelgerichtlichen Kontrolle sowohl für die Übertragung bereits anhängiger als auch künftiger Strafverfahren.32 Zweifelhaft erscheint demgegenüber, an diesem Punkt im Hinblick auf die Intensität der rechtsmittelgerichtlichen Kontrolle zwi24 BGHSt 53, 268 (276 ff.). Zur Dokumentation von Vertretungsregelungen in Bezug auf Hilfsstrafkammern siehe BGH, NStZ 2016, 562 (562 f.). 25 BGHSt 53, 268 (277 ff.); BGH, NStZ 2016, 562 (562 f.). Ferner Sowada, HRRS 2015, 16 (19). 26 So noch die Argumentation in BGH, NJW 2000, 1580 (1581) m. Anm. Katholnigg, NStZ 2000, 443 (443 f.). Aus der älteren Rechtsprechung siehe RGSt 62, 309 (310). 27 BVerfG, NJW 2005, 2689 (2690 f.). 28 BVerfG, NJW 2005, 2689 (2690); BVerfG, wistra 2017, 187 (188 f.); BVerfG, NJW 2017, 1233 (1234 ff.). Zum Willkürmaßstab siehe Roth, Das Grundrecht auf den gesetzlichen Richter, 2000, S. 206 ff. 29 BGHSt 53, 268 (273 ff.); BGH, NStZ 2014, 226 (227); BGH, NJW 2015, 2597 (2599). 30 Insoweit eine rechtsmittelgerichtliche Vollkontrolle fordernd Sowada, HRRS 2015, 16 (18). 31 Siehe auch Sowada, HRRS 2015, 16 (18). 32 Sowada, HRRS 2015, 16 (18).
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schen Änderungsanlass, Überlastung und Änderungsumfang sowie Notwendigkeit der jeweiligen Änderungsmaßnahme zu differenzieren.33 Denn die Notwendigkeit der jeweiligen Maßnahme ist nach dem normativen Programm auf die Überlastung zu beziehen, weshalb beide Merkmale von vornherein in einem Zusammenhang stehen.
IV. Die Übertragung bereits anhängiger Verfahren Allerdings liegt auf der Hand, dass Dokumentationspflichten und eine gestärkte rechtsmittelgerichtliche Kontrolle allein keine Gewähr bieten, dass die konkrete Fallzuweisung dem Prinzip des gesetzlichen Richters entspricht. Denn eine rechtsmittelgerichtliche Kontrolle bewirkt zunächst einmal lediglich nachgängigen Schutz, während eine Dokumentationspflicht apokryphe Begründungsmuster keineswegs ausschließt.34 Die zentrale Frage besteht demnach darin, ob die Übertragung bereits anhängiger Verfahren auf eine Hilfsstrafkammer überhaupt mit Blick auf Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG, § 16 S. 2 GVG gerechtfertigt werden kann. 1. Das Prinzip des gesetzlichen Richters Das Prinzip des gesetzlichen Richters soll verhindern, dass die Strafjustiz durch eine auf konkrete Rechtsfälle bezogene Auswahl der zur Entscheidung befugten Richter sachfremden Einflüssen ausgesetzt ist, wodurch das Ergebnis des Verfahrens willkürlich beeinflusst wird oder auch nur beeinflusst werden kann.35 Das hieraus abzuleitende Postulat einer „blindlings“ erfolgenden Zuweisung der zu bearbeitenden Strafverfahren zu dem jeweiligen Spruchkörper36 dient der Sicherung der Unabhängigkeit der Rechtspflege und des Vertrauens der Rechtsuchenden in die Unparteilichkeit und Sachlichkeit der Gerichte.37 Anderenfalls wäre eine wesentliche Legitimationsvoraussetzung des Strafverfahrens in Frage gestellt, da die gezielte Zuweisung eines Falles an einen dann zur Entscheidung berufenen Spruchkörper Zweifel an der Unparteilichkeit und Sachlichkeit der abschließenden Verfahrensentscheidung begründen würde. Dementsprechend besteht Konsens darüber, dass auch die Ausnahmemaßnahmen nach § 21e Abs. 3 S. 1 GVG dem Gebot einer abstrakt-generellen Fallzuweisung unterliegen.38 33
In diesem Sinne Sowada, HRRS 2015, 16 (20). Theile, FS Heinz, 2012, S. 892 (900 f.). Siehe hierzu auch Sowada, HRRS 2015, 16 (23). 35 BVerfGE 95, 322 (327); Eser, FS Salger, 1995, S. 247 (248 f.); Pechstein, Jura 1998, 197 (198); weitere Nachweise siehe Fn. 7. 36 Vgl. BVerfGE 17, 295 (298 f.); BVerfGE 21, 139 (145). Vgl. Sowada (Fn. 1), S. 198 ff. 37 BVerfGE 95, 322 (327). 38 Kissel/Mayer, GVG, 9. Aufl. 2018, § 21e Rn. 94; Radtke/Hohmann/Rappert (Fn. 7), GVG, § 21e Rn. 32; Schmitz, StraFo 2016, 397 (399). 34
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Die Übertragung bereits anhängiger Verfahren auf eine Hilfsstrafkammer muss jedoch schon deswegen Bedenken aufwerfen, weil eine anderweitige Zuständigkeit konkretisiert und begründet war, womit der bisherige (gesetzliche) Richter entzogen wird.39 Dies erscheint mit Blick auf das Gebot der „Blindlingszuweisung“ problematisch, weil der Gegenstand der Zuweisung – das bzw. die Verfahren – in der Vergangenheit und nicht in der Zukunft liegt und damit die Zuweisung eines bereits anhängigen Verfahrens gerade nicht „abstrakt-generell“ erfolgt.40 Mit Blick auf Hilfsstrafkammern kommt hinzu, dass die Zuweisung bereits anhängiger Strafverfahren mit der Zusammenstellung eines solchen außerordentlichen Spruchkörpers in personeller Hinsicht zusammenfällt und somit in Bezug auf ein konkretes Verfahren nicht nur eine bestimmte Kammer, sondern sogar die konkrete Entscheidungsperson ausgesucht wird.41 Gleichwohl lässt die Rechtsprechung eine solche Praxis zu: Zwar fordert sie, dass die Übertragung von Verfahren nach allgemeinen sachlich-objektiven Merkmalen zu erfolgen habe, was namentlich eine spezielle Zuweisung bestimmter einzelner Verfahren ausschließen soll.42 Ansonsten vermittelt sie an diesem Punkt ein uneinheitliches Bild, indem Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG Genüge getan werde, sofern eine Neuregelung generell gelte, indem neben mehreren anhängigen auch eine unbestimmte Vielzahl künftiger Fälle erfasst werde.43 Voraussetzung sei, dass die Zuweisung nicht aus sachwidrigen Gründen erfolge und geeignet sei, die Effizienz des Geschäftsablaufs zu erhalten oder wiederherzustellen.44 Teilweise wird sogar explizit die Zuweisung ausschließlich bereits anhängiger Verfahren gebilligt.45 2. Die Gefahr verkappter Einzelzuweisungen Indes besteht gerade bei Übertragung bereits anhängiger Verfahren auf eine Hilfsstrafkammer die Gefahr, dass es sich um verkappte Einzelzuweisungen handelt, was anhand dreier höchstrichterlicher Entscheidungen aus den letzten Jahren deutlich wird. Ungeachtet abstrakt-genereller Formulierungen im jeweiligen Änderungsbe39
BGHSt 53, 268 (273). Vgl. auch BGH, NStZ 2014, 287 (288); BGH, NStZ 2015, 658 (659). Zu einem ausschließlich auf künftige Strafverfahren bezogenen Fall siehe BGH, NStZ 2015, 658 (659). 41 Sowada, HRRS 2015, 16 (25); ders. (Fn. 1), S. 361. 42 BGHSt 53, 268 (272). Vgl. bereits BGHSt 44, 161 (165 f.). Zuletzt BVerwG, BeckRS 2018, 7942. 43 BVerfG, NJW 2003, 345 (345); BVerfG, NJW 2005, 2689 (2690) m.w.N.; BVerfG, NJW 2017, 1233 (1234). 44 Siehe hierzu BGHSt 7, 23 (24 f.); BGHSt 44, 161 (166). Ferner Grube, StraFo 2014, 123 (124). 45 BGH, NJW 2000, 1580 (1582); BVerfG, NJW 2009, 1734 (1735). Für eine reine Umverteilung auf eine andere Strafkammer BGHSt 44, 161 (165 ff.); BGH, NJW 2015, 2597 (2598); BGH, BeckRS 2016, 03747 Rn. 17. Offen gelassen in BVerfG, NJW 2005, 2689 (2690). 40
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schluss wurde stets ein einzelnes bestimmtes Verfahren bei der neu eingerichteten Hilfsstrafkammer platziert. a) BGH, NStZ 2014, 287 BGH, NStZ 2014, 287 betraf den Sachverhalt, dass das Präsidium des Landgerichts am 13. 12. 2012 die mit Schwurgerichtssachen befasste 8. Große Strafkammer um die Zuständigkeit für Jugendschutzsachen entlastet hatte. Nachdem der Vorsitzende dieser Kammer am 28. 12. 2012 eine Überlastungsanzeige getätigt hatte, wurde auf Beschluss des Präsidiums vom 22. 1. 2013 die 33. Große Hilfsstrafkammer gebildet, der sämtliche im Januar 2013 bei der 8. Großen Strafkammer eingegangenen oder noch eingehenden erstinstanzlichen Schwurgerichtssachen zugewiesen wurden. Die Entlastungsmaßnahme betraf am Ende lediglich ein am 2. 1. 2013 anhängig gewordenes Strafverfahren, mit dessen zehntägiger Hauptverhandlung am 25. 4. 2013 begonnen wurde. Der Bundesgerichtshof stellte fest: Ausnahmsweise sei eine Übertragung bereits anhängiger Strafverfahren zulässig, sofern nur so dem verfassungs- und konventionsrechtlichen Zügigkeitsgebot in Haftsachen Rechnung getragen werden könne.46 Er forderte aber zugleich mit Blick auf das in § 21e Abs. 3 S. 1 GVG enthaltene Merkmal „nötig“, dass die Umverteilung bereits anhängiger Verfahren geeignet sein müsse, die Effizienz des Geschäftsablaufs zu erhalten oder wiederherzustellen.47 Im konkreten Fall verneinte der Bundesgerichtshof sowohl das Vorliegen einer Überlastung als auch die Notwendigkeit der Einrichtung einer Hilfsstrafkammer, da es mit Blick auf das Gebot zügiger Verfahrensgestaltung grundsätzlich nicht zu beanstanden sei, wenn mit einer Verhandlung nicht vor Ablauf von vier Monaten nach ihrem Eingang bei einer großen Strafkammer begonnen werde.48 Die Bedenken des Bundesgerichtshofs stützen sich unter Zitation des in § 21e Abs. 1 S. 2 GVG verankerten Stetigkeitsprinzips insbesondere darauf, dass die Einrichtung der Hilfsstrafkammer bereits gut drei Wochen nach Inkrafttreten des neuen Geschäftsverteilungsplanes beschlossen und nicht ausreichend dokumentiert worden sei, welche das Revirement tragenden Umstände sich seit der Beschlussfassung über die Geschäftsverteilung geändert hatten.49 Dies habe umso mehr gegolten, als angesichts des lediglich acht Tage in die Zukunft reichenden Entlastungszeitraumes hochwahrscheinlich war, dass die Übertragung lediglich eine einzelne bereits anhängige Sache betreffen würde.50 Obwohl die Betonung des Prinzips des gesetzlichen Richters zu begrüßen ist, stellt der Bundesgerichtshof die Praxis vor die Wahl zwischen Skylla und Charybdis, 46
BGH, NStZ 2014, 287 (288). Ferner BGHSt 44, 161 (165 ff.). BGH, NStZ 2014, 287 (288). Ferner BGHSt 53, 268 (271 f.). 48 BGH, NStZ 2014, 287 (289). Vgl. ferner BGH, NStZ 2014, 226 (227); BGH, NStZ 2015, 658 (660). Kritisch hierzu Grube, StraFo 2014, 123 (124). 49 BGH, NStZ 2014, 287 (289). 50 BGH, NStZ 2014, 287 (289). 47
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indem sie Gefahr läuft, entweder gegen das Zügigkeitsgebot oder gegen das Prinzip des gesetzlichen Richters zu verstoßen.51 Die Entscheidung macht jedoch zugleich deutlich, dass ein enger Entlastungszeitraum von vornherein mit einer Gefahr verkappter Einzelzuweisungen einhergeht, da das Gebot abstrakt-genereller Fallzuweisung in einem solchen Fall bereits unter zeitlichen Gesichtspunkten kaum umsetzbar ist. Anhaltspunkte dafür, ab welcher zeitlichen Grenze die Enge des Entlastungszeitraumes sub specie Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG, § 16 S. 2 GVG nicht hinnehmbar ist, bleibt der Bundesgerichtshof freilich schuldig. Indes argumentiert der Bundesgerichtshof ohnehin auf der Ebene einer unzureichenden Dokumentation der das Vorliegen der Voraussetzungen des § 21e Abs. 3 S. 1 GVG tragenden Gründe, die schon bald nach Inkrafttreten des Jahresgeschäftsverteilungsplanes – hier wäre eher auf den Zeitpunkt dessen Beschlussfassung abzustellen –52 zur unterjährig beschlossenen Einrichtung der Hilfsstrafkammer führten. Die Kürze des Intervalls zwischen dem Beschluss über die Jahresgeschäftsverteilung und dem über die Änderung wird vom Bundesgerichtshof dabei offensichtlich als Indiz für mangelnde Überlastung bzw. fehlende Notwendigkeit der ergriffenen Maßnahme interpretiert.53 Die Ausführungen lassen sich in der Weise interpretieren, dass der Bundesgerichtshof den Gerichtspräsidien mit Blick auf die Geschäftsverteilung ein nachhaltiges Konzept abverlangt, indem nicht leichtfertig Beschlüsse über die Jahresgeschäftsverteilung abgeändert werden dürfen. Auch insoweit lässt sich ein Bezug zum Gebot der abstraktgenerellen Fallzuweisung herstellen, da Ad-hoc-Maßnahmen von vornherein in die Nähe einer unzulässigen Einzelzuweisung geraten. Obwohl sich eine solche IndizHypothese hören lässt, bleiben Fragen offen, indem der Bundesgerichtshof auch an diesem Punkt keine zeitliche Grenze fixiert. b) BGH, wistra 2016, 499 Zuständig für die am 9. 7. 2013 beim Landgericht eingegangene Anklage war nach dem Geschäftsverteilungsplan die 14. Große Strafkammer, deren Vorsitzender am 10. 7. 2013 die Überlastung anzeigte. Daraufhin beschloss das Präsidium am 31. 7. 2013 die Einrichtung der 14. Großen Hilfsstrafkammer und wies dieser die in der Zeit vom 9.7. bis 26. 7. 2013 eingegangenen und noch nicht terminierten Haftsachen zu, wobei sich das gegenständliche Verfahren – wie dem Präsidium bewusst war – als das einzige bei der 14. Großen Strafkammer anhängigen Verfahren darstellte, auf das diese Kriterien zutrafen. Der Bundesgerichtshof hatte keine Bedenken im Hinblick darauf, dass lediglich ein einziges Verfahren auf die Hilfsstrafkammer übertragen wurde, monierte jedoch, dass das Präsidium keine weiteren Entlastungsmaßnahmen ergriffen habe, obwohl
51
Grube, StraFo 2014, 123 (124). Siehe ferner Sowada, HRRS 2015, 16 (20). In diesem Sinne Grube, StraFo 2014, 123 (124). Anders BGH, NStZ 2014, 287 (289). 53 Sowada, HRRS 2015, 16 (20). Siehe ferner BGH, NStZ 2015, 658 (660). 52
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die angezeigte Überlastung bereits Mitte des Geschäftsjahres entstanden sei.54 Daher sei nicht ersichtlich, wie dieser durch die Übertragung allein des gegenständlichen Verfahrens wirksam und effektiv habe entgegengewirkt werden können.55 Insbesondere hätte auch nur ein weiteres eingegangenes Verfahren die erneute Gefahr einer Überlastung der 14. Großen Strafkammer begründen und damit eine weitere Einzelweisung nach sich ziehen können; eine solche Aneinanderreihung einzelner Zuweisungen bereits anhängiger Verfahren sei mit den Anforderungen an die Bestimmung des gesetzlichen Richters nicht in Einklang zu bringen.56 Erneut verlangt der Bundesgerichtshof ein nachhaltiges Konzept der Fallzuweisung, wobei sich der Mangel an Nachhaltigkeit weniger auf den ursprünglichen Jahresgeschäftsverteilungsplan als vielmehr auf das durch die Einrichtung der Hilfsstrafkammer begründete Konzept der Fallzuweisung bezieht. Denn dieses war offenkundig derart knapp kalkuliert, dass bereits die Übertragung des avisierten Verfahrens zur Beendigung der Überlastung führen sollte. Da Überlastung und Notwendigkeit der Einrichtung einer Hilfsstrafkammer in einem Zusammenhang stehen, dürfte freilich schon das Vorliegen einer Überlastung zweifelhaft gewesen sein. Bezogen auf die Zukunft hätte nur ein weiteres mehr als drei Tage in Anspruch nehmendes Verfahren zu einer erneuten Überlastung geführt, womit der Beschluss über die unterjährige Veränderung der Geschäftsverteilung einer schiefen Ebene glich, die eine Aneinanderreihung von Einzelzuweisungen zur Folge gehabt hätte und kaum mit dem Leitbild abstrakt-genereller Fallzuweisung in Einklang zu bringen gewesen wäre. Indes muss auch hier der vergleichsweise kurz bemessene Entlastungszeitraum – konkret ging es um drei Wochen – Zweifel wecken, ob sich die Maßnahme nicht als Einzelzuweisung darstellte. Diese war im Grunde nicht einmal verkappt, weil das Präsidium nach den Sachverhaltsfeststellungen bewusst ein einziges in die Zuständigkeit der 14. Großen Strafkammer fallendes Verfahren auf die 14a. Große Strafkammer übertragen hatte. Aufhorchen lässt die Wendung, dass die zur Auswahl gerade des gegenständlichen (Umfangs-)Verfahrens führenden Erwägungen „für sich betrachtet keinen rechtlichen Bedenken“ unterlägen.57 Dies steht – soll das Verdikt der unzulässigen Einzelzuweisung entfallen – selbst mit der sonstigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nur in Einklang, wenn die Übertragung des bereits anhängigen Verfahrens in ein nachhaltiges auch künftige Verfahrenseingänge einschließendes Gesamtkonzept eingefügt gewesen wäre, woran es gerade fehlte.
54
BGH, wistra 2016, 499 (500). BGH, wistra 2016, 499 (500). 56 BGH, wistra 2016, 499 (500). Vgl. bereits BGH, NJW 2015, 2597 (2599); BGH, BeckRS 2016, 03747 Rn. 19. 57 BGH, wistra 2016, 499 (500). 55
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c) BVerfG, 23. 12. 2016, BeckRS 2016, 111809 Für eine am 5. 8. 2014 beim Landgericht eingegangene Anklage war nach dem Geschäftsverteilungsplan die Kammer 18 (8. Große Strafkammer) zuständig, deren Vorsitzender am 12. 11. 2014 nicht nur die den Angeklagten gesetzte Frist zur Stellungnahme bis 1. 12. 2014 verlängerte, sondern am selben Tag die Überlastung anzeigte. Hierauf richtete das Präsidium mit Beschluss vom 19. 11. 2014 und mit Wirkung zum 25. 11. 2014 eine Hilfsstrafkammer ein, die laut Ziffer 2 S. 2 unter anderem für alle erstinstanzlichen Strafverfahren gem. § 74c GVG (Wirtschaftsstrafsachen) zuständig war, die seit dem 1. 8. 2014 bei der 8. Großen Strafkammer eingegangen waren und bei denen das Hauptverfahren nicht bis zum 24. 11. 2014 eröffnet würde. Das Bundesverfassungsgericht sah in dieser Regelung einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG, da die Neuverteilung der bereits anhängigen Verfahren eben nicht durch den Geschäftsverteilungsplan im Voraus abstrakt-generell geregelt sei und das aus § 21e Abs. 1 GVG abzuleitende Bestimmtheitsgebot verletze. Die Stichtagslösung mache die Zuständigkeit des jeweiligen Spruchkörpers von einem später eintretenden Umstand – der Eröffnung des Hauptverfahrens oder deren Unterlassen – abhängig.58 Hierin sei eine unzulässige Delegation der Entscheidung über die Geschäftsverteilung an die Spruchkörper zu sehen, die gerade Adressaten des Prinzips seien.59 Dass das Präsidium bei Einrichtung der Hilfsstrafkammer davon ausgegangen sei, in den beiden seit dem 1. 8. 2014 eingegangenen Wirtschaftsstrafsachen würde bis zum 24. 11. 2014 keine Eröffnungsentscheidung getroffen werden, sei unerheblich: Denn für die Wahrung des gesetzlichen Richters gem. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG komme es nicht darauf an, welche Erwartungen das Präsidium im Hinblick auf das Gebrauchmachen von einer Zuständigkeitsverantwortung hege.60 Der der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zugrunde liegende Beschluss über die unterjährige Veränderung der Geschäftsverteilung stellt sich als besonders krasses Beispiel einer verkappten Einzelzuweisung dar, da die Idee einer abstrakt-generellen Fallzuweisung und das Bestimmtheitsgebot in engem Zusammenhang stehen. Die Entscheidung verdeutlicht, dass die Gerichte selbst im Bereich der funktionellen Zuständigkeit keineswegs von den Bindungen des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG, § 16 S. 2 GVG dispensiert, sondern dem Prinzip des gesetzlichen Richters unterworfen und damit Adressaten dieser Garantie sind. Darüber hinaus wird man die Hinweise auf die Irrelevanz der Vorstellungen der Präsidiumsmitglieder in der Weise deuten dürfen, dass es für das Prinzip des gesetzlichen Richters auf die Perspektive der Rechtsunterworfenen ankommt, die den Eindruck einer unabhängigen Rechts-
58
BVerfG, BeckRS 2016, 111809 Rn. 31 m. Anm. Muckel, JA 2017, 717 (717 ff.). BVerfG, BeckRS 2016, 111809 Rn. 31. 60 BVerfG, BeckRS 2016, 111809 Rn. 32. 59
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pflege und nach den Geboten Unparteilichkeit und Sachlichkeit orientierten Gerichten haben müssen.61 3. Das Blindlingsgebot Obwohl Bundesgerichtshof und Bundesverfassungsgericht jeweils von einem Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG, § 16 S. 2 GVG ausgingen, dürften die Entscheidungen kaum als Beleg für ein im Hinblick auf das Prinzip des gesetzlichen Richters „funktionierendes Strafjustizsystem“ zu deuten sein. Vielmehr legen sie den Blick auf eine Praxis frei, die sich doch sehr weitgehend von dem eben auch für § 21e Abs. 3 S. 1 GVG geltenden Gebot abstrakt-genereller Fallzuweisung entfernt hat. Problematisch ist – wenn man die grundsätzlich gegen eine solche Rechtsprechungseinheit vorgebrachten Einwände für überwindbar hält – weniger die Einrichtung von Hilfsstrafkammern als solcher als vielmehr die Übertragung bereits anhängiger Verfahren auf sie. Der namentlich vom Bundesgerichtshof verfolgte Ansatz, die Einhaltung des Prinzips des gesetzlichen Richters über die seitens der Gerichtspräsidien zu dokumentierenden Merkmale der Überlastung und Notwendigkeit zu erzwingen, verschleiert nur, dass die Übertragung bereits anhängiger Verfahren schlechterdings nicht mit dem Gebot der Blindlingszuweisung in Einklang zu bringen ist. Die Übertragung bereits anhängiger Verfahren auf eine andere ordentliche oder im Falle der Hilfsstrafkammer außerordentliche Kammer kann schlechterdings keine abstrakt-generelle Fallzuweisung sein, sondern stellt sich als gegen Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG, § 16 S. 2 GVG verstoßende unzulässige Einzelzuweisung dar.62 Denn in Bezug auf die in der Vergangenheit eingegangenen Verfahren ist die Strafjustiz niemals blind, so dass entsprechende Legitimationsversuche auf eine Aporie hinauslaufen. Abstrakt ist immer nur die Zukunft und nicht die Vergangenheit. Dies gilt im Übrigen auch, wenn neben dem anhängigen gleichermaßen künftig eingehende Verfahren übertragen werden, da diese möglicherweise nur den „Beifang“ der eigentlich angestrebten und eben nicht nach abstrakt-generellen Kriterien erfolgenden Fallsteuerung bilden.63 Dass die Rechtsprechung selbst klarstellt, die Ausdehnung einer Entlastungsmaßnahme auf künftige Fälle sei entbehrlich, sofern dies allein dazu diene, die Abstraktheit der neuen Geschäftsverteilung zu dokumentieren, ist ein Beleg dafür, wie das Gebot der Blindlingszuweisung notwendig missachtet wird.64 Die Übertragung bereits anhängiger Verfahren ist daher stets mit dem 61
BVerfGE 95, 322 (327). Siehe auch SK-StPO/Velten (Fn. 15), GVG, § 21e Rn. 40, 57 f. Vgl. aber Kissel/Mayer, GVG (Fn. 38), § 21e Rn. 99. 63 Treffend Sowada, HRRS 2015, 16 (23). Ferner bereits Frisch, NStZ 1987, 265 (267) (Fn. 27). 64 Vgl. BVerfG, NJW 2009, 1734 (1735). Hierzu auch Sowada, HRRS 2015, 16 (23). Siehe ferner BGHSt 44, 161 (167 f.); BGH, NJW 2015, 2597 (2598); BGH, BeckRS 2016, 03747 Rn. 15. 62
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Odium einer Einzelzuweisung behaftet und begründet eine Beeinträchtigung des Vertrauens in die Unparteilichkeit und Sachlichkeit der Hilfsstrafkammer.65 Soweit die entgegenstehende Rechtsprechung auf einen gegenüber der gerichtlichen Selbstverwaltung bestehenden Vertrauensvorschuss zurückgeführt wird,66 ist dieser in dem Maße in Frage zu stellen, wie unterjährige Änderungen der Geschäftsverteilung immer stärker die Rechtswirklichkeit prägen und sich damit eine neuartige Gefährdungslage herausbildet. Dass es entgegen den historischen Ursprüngen weniger um politisch motivierte Einwirkungen der Exekutive, sondern vielmehr um Effektivierungsmaßnahmen der mit der Knappheit personeller und sachlicher Ressourcen kämpfenden Judikative handelt, ändert nichts an der Notwendigkeit, an dem in Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG, § 16 S. 2 GVG niedergelegten Prinzip auch unter gewandelten Rahmenbedingungen festzuhalten. Einer solchen Argumentation könnte die Vorschrift des § 21e Abs. 4 GVG entgegengehalten werden, nach der das Präsidium anordnen kann, dass ein Richter oder Spruchkörper, der in einer Sache tätig geworden ist, für diese nach einer Änderung der Geschäftsverteilung weiter zuständig bleibt.67 Aus dieser in das Ermessen des Präsidiums gestellten Möglichkeit und ihrer Bindung an die bereits entfaltete Tätigkeit in der Sache wird abgeleitet, dass das Gesetz einen Zuständigkeitswechsel grundsätzlich für zulässig hält, indem eine anderweitige – eben neue – Zuweisung vorgenommen werden könne.68 Mit Blick auf Hilfsstrafkammern will Sowada als Urheber dieses Einwandes den Gegenausschluss aus § 21e Abs. 4 GVG freilich nicht ziehen, da die gegen ein allgemeines Umverteilungsverbot sprechenden Gründe hier nicht in gleicher Weise zu Buche schlagen und diese außerordentlichen Spruchkörper ohnehin nur in einer Analogie zu § 21e Abs. 3 GVG gebildet werden können.69 Weil sich die mit jeder Übertragung bereits anhängiger Verfahren einhergehende Abkehr von der Blindlingszuweisung unabhängig von der Art des Spruchkörpers, bei dem die anhängigen Verfahren schließlich loziert werden, als Problem stellt, dürfte eine solche argumentative Differenzierung letztlich nicht tragen. Allerdings trifft Sowada einen empfindlichen Punkt, indem die Ablehnung der unterjährigen Übertragung bereits anhängiger Verfahren zu pauschal auf eine „verfassungsrechtliche Reduktion“ der Vorschrift gestützt wird.70 An diesem Punkt ist sicher zuzugestehen, dass nicht jedwede im Hinblick auf Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG vorzugswürdigere Regelung bereits das Verdikt der Verfassungswidrigkeit einer gesetzlichen Regelung rechtfertigt.71 Obwohl § 21e Abs. 4 GVG nach seinem Wortlaut nicht auf die Situa65
Vgl. BVerfGE 95, 322 (327). Siehe hierzu auch Theile, FS Heinz (Fn. 34), S. 892 (894). Vgl. insoweit BGH, NJW 2000, 1580 (1581). Ferner Sowada, HRRS 2015, 16 (22). 67 Sowada (Fn. 1), S. 259; ders., HRRS 2015, 16 (23). Siehe auch Gercke/Julius/Temming/ Zöller/Lückmann, GVG, 5. Aufl. 2012, § 21e Rn. 44. 68 Sowada, HRRS 2015, 16 (23). 69 Sowada, HRRS 2015, 16 (29). 70 Gubitz/Bock, NStZ 2010, 190 (192); SK-StPO/Velten, GVG (Fn. 15), § 21e Rn. 40. 71 Zutreffend Sowada, HRRS 2015, 16 (24). 66
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tion der jährlichen Geschäftsverteilung beschränkt ist,72 erscheint es entgegen der h.M. sinnvoll, die Vorschrift nicht auf die unterjährige Veränderung der Geschäftsverteilung, sondern nur auf die jährliche Geschäftsverteilung anzuwenden und sie auf diese Weise verfassungsrechtlich zu reduzieren, womit der Gegenschluss hier nicht gezogen werden kann. Denn abgesehen von der unter Ressourcenaspekten dysfunktionalen Vermeidung der Doppelbearbeitung von Fällen dürfte sie letztlich darauf zielen, eine Angelegenheit bei der ursprünglichen Entscheidungsperson als gesetzlichem Richter zu belassen. Daher kann die Regelung des § 21e Abs. 4 GVG nicht in Anspruch genommen werden, um unterjährig eine generelle Abkehr vom Prinzip der Blindlingszuweisung zu legitimieren. Ferner könnte eingewandt werden, dass im Zuge der Jahresgeschäftsverteilung nach allgemeiner Auffassung eine Neuverteilung auch bereits anhängiger Verfahren erfolgen kann, obwohl hier eine vergleichbare Gefährdungslage bestehe.73 Zwar ist kaum zu bestreiten, dass die Aufstellung des Jahresgeschäftsverteilungsplanes Manipulationsgefahren mit sich bringt, die im Vergleich zur unterjährigen Änderung der Fallzuweisung jedoch von vornherein sehr viel weniger mit dem Makel einer Einzelzuweisung belastet sind, da eben über die Gesamtheit der bei einem Gericht eingehenden bzw. eingegangenen Fälle entschieden wird. Insoweit wird man in sehr viel geringerem Maße annehmen können, dass sich die aufgrund des Jahresgeschäftsverteilungsplanes vollzogene Zuordnung von Fällen als „Beifang“ eigentlich intendierter Steuerungsversuche darstellt.74 Hinzu kommt, dass das Gesetz selbst in § 21e Abs. 1 S. 2 GVG eine Grenze festlegt, die einen „Bestandsschutz“ der Fallzuweisung nur in diesem zeitlichen Rahmen entfaltet und das Präsidium lediglich insoweit bindet.75 Das Prinzip des gesetzlichen Richters bedeutet deshalb keinesfalls eine Perpetuierung von Fallzuweisungen ins Unendliche, sondern grundsätzlich nur im Jahrestakt. Es bleibt die Frage, wie sich die aus Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG, § 16 S. 2 GVG ergebende Unzulässigkeit der Übertragung bereits anhängiger Verfahren zu dem insbesondere in Haftsachen bedeutsamen Zügigkeitsgebot verhält. Seitdem die höchstrichterliche Rechtsprechung in den letzten Jahren das Prinzip des gesetzlichen Richters stärker betont und es unter dem Blickwinkel des Zügigkeitsgebots grundsätzlich nicht für beanstandungswürdig hält, wenn mit einer Verhandlung nicht vor Ablauf von vier Monaten nach ihrem Eingang bei einer großen Strafkammer begonnen werde,76 erscheinen Kollisionen beider Prinzipien gerade dann möglich, wenn wegen der Unzulässigkeit der Übertragung bereits anhängiger Verfahren auf eine 72
KK-StPO/Diemer, GVG (Fn. 8), § 21e Rn. 16; Radtke/Hohmann/Rappert (Fn. 7), GVG, § 21e Rn. 38; Meyer-Goßner/Schmitt, GVG (Fn. 9), § 21e Rn. 17. 73 Sowada, HRRS 2015, 16 (24), der insoweit aber erneut die Übertragung auf Hilfsstrafkammern ausnimmt. Vgl. auch die Erwägungen in BGHSt 44, 161 (168). 74 Vgl. Sowada, HRRS 2015, 16 (23). 75 Sowada, HRRS 2015, 16 (24). 76 BGH, NStZ 2014, 287 (289). Vgl. ferner BGH, NStZ 2014, 226 (227).
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zu gründende Hilfsstrafkammer der Rückgriff auf ein wichtiges Überdruckventil verwehrt ist. Die Kollision löst sich auch nicht durch den Hinweis auf, beide Prinzipien dürften nicht gegeneinander ausgespielt werden, da das Gebot zügiger Verfahrensgestaltung das Recht auf den gesetzlichen Richter keineswegs vollständig zurücktreten lasse, sondern vielmehr ein Anspruch auf eine zügige Entscheidung gerade durch den gesetzlichen Richter bestehe.77 Daher ist die Praxis vor die schwierige Aufgabe gestellt, beide Prinzipien im Sinne praktischer Konkordanz zu größtmöglicher Entfaltung zu bringen. Ist die Praxis unterjährig eingerichteter außerordentlicher Spruchkörper ubiquitär, wäre insoweit denkbar, bereits mit der Beschlussfassung über die Jahresgeschäftsverteilung eine Hilfsstrafkammer unter der Bedingung einzurichten, dass es im Laufe des Jahres zu einer Überlastungssituation kommt, und ihr für diesen Fall die die Überlastungen bedingenden Verfahren zuzuweisen. Indes wäre hierdurch kein Gewinn mit Blick auf Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG, § 16 S. 2 GVG gegeben, da der Eintritt der Bedingung von einer Handlung des abgebenden Spruchkörpers abhängig und auf ihn delegiert wäre, was kaum mit dem Bestimmtheitsprinzip in Einklang zu bringen ist. Darüber hinaus würde damit von vornherein zu Jahresbeginn ein Nebeneinander ordentlicher und außerordentlicher Spruchkörper installiert, das mit der gesetzlichen Konzeption und § 21e Abs. 3 S. 1 GVG unvereinbar ist.78 Vor diesem Hintergrund bleibt wenig anderes, als in einer akuten Überlastungssituation auf eine neu zu gründende Hilfsstrafkammer allein künftig eingehende Verfahren zu übertragen, sofern die Zuweisung hierbei abstrakt-generellen Kriterien folgt. Mit Blick auf die bereits existierende Strafkammer hat diese die im Bestand vorhandenen und in besonderem Maße dem Zügigkeitsgebot unterliegenden Haftsachen zu priorisieren und kann – als Maßnahme des Präsidiums – von weiteren Verfahrenseingängen freigestellt bzw. kann ein Ausgleich für die Überlastung im darauffolgenden Jahr angestrebt werden.79 Im Extremfall mag es dann zur Aufhebung von Inhaftierungen kommen, was immerhin kriminalpolitisch den Druck erhöhen würde, die Justiz ressourcenmäßig in einer Weise auszustatten, die die einzelnen Spruchkörper erst gar nicht in derartige Dilemmasituationen führt.
V. Fazit und Ausblick Insgesamt zeigt sich, dass das Prinzip des gesetzlichen Richters unter den Bedingungen knapper Ressourcen an seine Grenzen stößt. Dies mag die Frage aufwerfen, ob ein derart starres und unter dem Blickwinkel der Optimierung von Rechtsprechungsressourcen hinderliches Prinzip überhaupt noch zeitgemäß ist. Andere 77
BGHSt 53, 269 (270 f.); BGH, NStZ 2014, 287 (288). Vgl. auch Kissel/Mayer, GVG (Fn. 38), § 21e Rn. 106 f. 79 Siehe hierzu auch Gubitz/Bock, NStZ 2010, 190 (191); SK-StPO/Velten (Fn. 15), GVG, § 21e Rn. 27. 78
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Rechtsordnungen gestehen ihrer Strafjustiz deutlich größere Freiheitsgrade für die Gestaltung des gerichtsinternen Fallmanagements zu und selbst in Deutschland hat immerhin die Staatsanwaltschaft etwa bei konkurrierenden Gerichtsständen ein erhebliches Auswahlermessen. Insofern ist keineswegs zu verkennen, dass das Konzept des gesetzlichen Richters die Strafjustiz vor erhebliche organisatorische Probleme stellt, mit denen andere staatliche oder gar private Institutionen nicht konfrontiert sind. Allerdings liegt ein wesentlicher Unterschied darin, dass es für die Strafjustiz am Ende immer um die Legitimation von Strafe geht, die auch an die Formenstrenge bei der Zuweisung eines Falles zum entscheidenden Gericht gebunden ist, das nur auf diese Weise als unabhängig und sachlich urteilend wahrgenommen wird. Vor diesem Hintergrund handelt es sich um alles andere als ein aus der Zeit gefallenes Prinzip.
Strafprozessuale Folgen außerstrafprozessualen Auskunftszwangs am Beispiel von § 97 Abs. 1 S. 3 InsO und § 393 Abs. 2 AO Trendwende bei der Fernwirkung von nemo-tenetur-Verstößen? Von Andreas Werkmeister
I. Einleitung Wenn ein Insolvenzschuldner dazu gezwungen wird, seiner insolvenzrechtlichen Auskunftspflicht Folge zu leisten und infolgedessen eine Straftat gesteht, greift in dem daran anknüpfenden Strafprozess nach § 97 Abs. 1 S. 3 InsO ein sog. Verwendungsverbot, das nach mittlerweile etablierter obergerichtlicher Rechtsprechung Fernwirkung entfaltet, sodass die Verurteilung nicht auf Beweise gestützt werden kann, die aufgrund des erzwungenen außerstrafprozessualen Geständnisses erlangt wurden.1 Auch für den Steuerschuldner, der anlässlich seiner Steuererklärung nicht steuerliche Straftaten offenbart, wird zwischenzeitlich dem insolvenzrechtlichen „Leitmodell“2 folgend von einer im Vordringen befindlichen Auffassung eine Fernwirkung des in § 393 Abs. 2 AO geregelten Verwendungsverbots bejaht.3 Im Kontrast hierzu steht die zu einem Dogma verfestigte Ablehnung jeder Fernwirkung in „normalen“ rein strafprozessualen nemo-tenetur-Konstellationen,4 an deren
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Vgl. die Ausführungen in BGH, wistra 2018, 49; zuvor bereits LG Stuttgart, NStZ-RR 2001, 282 (283); LG Potsdam, StV 2014, 407 (410) z. T. noch weitergehend; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 01. 06. 2016 – III-2 Ws 299/16, BeckRS 2016, 127246. 2 So bereits Dencker, in: Eser et. al., Festschrift Meyer-Goßner, 2001, S. 237 (253); Rogall, in: Fahl et. al., Festschrift Beulke, 2015, S. 973 (976, 978 f., 980 f.) spricht in Bezug auf §§ 630c Abs. 2 S. 2, 3 BGB, 802c ZPO, 81a GWB jeweils vom „Gemeinschuldner-Test“; vgl. auch Schumacher, Nemo tenetur im Spannungsfeld zu außerstrafrechtlichen Offenbarungspflichten, 2017, S. 125, 224 (letztere besonders zu § 630c Abs. 2 S. 2 BGB, vgl. zu ihr die Besprechung in Eisenberg, GA 2018, 231). 3 In diese Richtung schon BGH NJW 2005, 763 (765); deutlicher Rogall, in: Hirsch/ Wolter/Brauns, Festschrift Kohlmann, 2001, S. 465 (485 f.); Graf/Jäger/Wittig/Bülte, 2. Aufl. 2017, § 393 AO Rn. 80 ff. 4 Vgl. die BGH-Rechtsprechung seit BGHSt 27, 355 (358) mit Ausnahme von BGHSt 29, 244 (247).
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Spitze die Rechtsprechung zu § 136a StPO steht,5 nach der sogar eine Folter(-androhung) grundsätzlich keine Fernwirkung zur Folge hat.6 Diese Diskrepanz in den Rechtsfolgen überrascht, da hinter den dargestellten Fallgruppen letzten Endes dasselbe Rechtsprinzip steht, nämlich der Grundsatz nemo tenetur se ipsum accusare.7 Der Beitrag will daran anknüpfend der Frage nachgehen, ob die neuere Rechtsentwicklung im Bereich der Verwendungsverbote nicht Anlass dazu geben sollte, einige überkommene Leitlinien zur Fernwirkung zu hinterfragen, was aber voraussetzt, dass die Fernwirkung im Bereich der §§ 97 InsO, 393 AO in der Tat auf fundierter Grundlage besteht. Die Untersuchung leitet dabei eine dreifache These, die auch der verehrte Jubilar Ulrich Eisenberg zu großen Teilen vertritt, nämlich, dass eine Fernwirkung jedenfalls bei Verletzungen der Menschenwürde und dem nemo-teneturGrundsatz zu bejahen ist,8 es in diesem Feld – ggf. entgegen § 393 Abs. 2 S. 2 AO – nicht auf eine Abwägung ankommt und auch ein Rückgriff auf die Figur des hypothetischen Ersatzeingriffs problematisch ist. Bevor diese These anhand der §§ 97 Abs. 1 S. 3 InsO, 393 Abs. 2 AO genauer analysiert wird (IV.), muss die Problemstellung zunächst genauer abgegrenzt werden (II.) und die Frage der Fernwirkung von Verwendungsverboten ins Verhältnis zu den allgemeinen Grundsätzen zur Fernwirkungs- und Verwendungsverbotslehre sowie zum nemo-tenetur-Prinzip gesetzt werden (III.).
II. Konkretisierung des Problems Man kann im Spannungsfeld zwischen außerstrafprozessualer Auskunftspflicht und strafprozessualem nemo-tenetur-Grundsatz prinzipiell zwei Regelungsmodelle unterscheiden,9 wobei zugleich klar ist, dass zahlreiche Fälle gerade dazwischen liegen.10 Betrachtet man aber die Reinformen, so gibt es ein Modell, in dem die Auskunftspflicht (vgl. § 55 StPO) bzw. zumindest deren Erzwingbarkeit bei einer Selbst-
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Das Leiturteil zu § 136a StPO bildet insoweit BGHSt 34, 362. Zum Fall Gäfgen LG Frankfurt a.M., StV 2003, 325 (327), welches auf eine kurze Abwägung zwischen Schwere des Eingriffs durch Folterandrohung und Schwere der Tat (vorsätzliche Tötung) abstellt. Vgl. dazu aber auch EGMR, NJW 2010, 3145 (3148 ff.). 7 Für § 136a StPO etwa SSW/Eschelbach, 3. Aufl. 2018, § 136a Rn. 4; MüKo-StPO/ Schuhr, 1. Aufl. 2014, § 136a Rn. 1; für §§ 97 InsO, 393 AO etwa Hefendehl, wistra 2003, 1 (6); Rogall (Fn. 3), 465 (477). 8 Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 10. Aufl. 2017, Rn. 408. 9 Ausführlich Kölbel, Selbstbelastungsfreiheiten, 2006, S. 69 ff.; vgl. auch BVerfGE 56, 37 (42 ff.) – Gemeinschuldner. 10 Natürlich gibt es zahlreiche Fälle „zwischen“ den Modellen, z. B. bei internal investigations oder verpflichtenden Angaben bei der Asylantragsstellung, in welchen die Lösung besonders umstritten ist. Zu internal investigations vgl. etwa Greco/Caracas, NStZ 2015, 7; Jahn, StV 2009, 41; Momsen, ZIS 2011, 508; zur Asylantragsstellung etwa Kölbel (Fn. 9), S. 72 ff.; BGHSt 36, 328. 6
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belastungsgefahr suspendiert wird (Suspendierungsmodell).11 Zum anderen gibt es ein Modell, in dem die Auskunftspflicht trotz möglicher Selbstbelastung bestehen und erzwingbar bleibt, aber als „Kompensation“ ein strafprozessuales Verwendungsverbot (mit umstrittener Reichweite) gewährt bzw. hergeleitet wird (Kompensationsoder Verwendungsmodell).12 Die §§ 97 Abs. 1 InsO und 393 Abs. 2 AO, die Gegenstand der vorliegenden Untersuchung sind, folgen, wenn auch in verschiedener Ausprägung, diesem Verwendungsmodell. So kann die Pflicht des Insolvenzschuldners bestimmten Adressaten (u. a. dem Insolvenzverwalter) „über alle das Verfahren betreffenden Verhältnisse“ inklusive solcher, die „geeignet sind, eine Verfolgung wegen einer Straftat […] herbeizuführen“, Auskunft zu geben, mit speziell normierten Zwangsmitteln bis hin zur Haft (vgl. § 98 InsO) durchgesetzt werden. § 97 Abs. 1 S. 3 InsO stellt im Gegenzug sicher, dass eine solche Auskunft „in einem Strafverfahren […] gegen den Schuldner […] nur mit [dessen] Zustimmung […] verwendet werden“ darf. Im Steuerrecht verhält es sich so, dass der Steuerschuldner, der bekanntermaßen umfassende (und gem. § 370 AO strafbewährte) Mitwirkungspflichten zur Aufklärung des Steuersachverhalts (vgl. § 90 AO i.V.m. §§ 149 f. AO) hat, zur Offenlegung nicht steuerlicher Straftaten13 mit den Mitteln der §§ 328 ff. AO (Ersatzzwangshaft in § 334 AO) gezwungen werden kann. § 393 Abs. 2 S. 1 AO ordnet nun, da den Steuerschuldner auch das Steuergeheimnis (§ 30 AO) nicht vor einem Informationstransfer schützt, unter bestimmten, hier nicht näher diskutierten, Voraussetzungen ein Verwendungsverbot an, welches aber nach S. 2 „nicht für Straftaten [gilt], an deren Verfolgung ein zwingendes öffentliches Interesse (§ 30 Abs. 4 Nr. 5) besteht“, d. h. unter anderem bei Verbrechen, vorsätzlichen schweren Vergehen gegen bestimmte Rechtsgüter wie etwa das Leben (Lehrbuchbeispiel: der Auftragsmörder, der sein Gehalt versteuern muss) sowie bei besonders gemeinschädlichen Wirtschaftsstraftaten, was etwa bei Korruptionsstraftaten durchaus Praxisrelevanz hat.14 Diese Einschränkung des Verwendungsverbots wird noch dadurch überlagert, dass § 31a Abs. 2 S. 1 AO zur Bekämpfung von Schwarzarbeit eine Übermittlungspflicht an die Strafverfolgungsbehörden vorsieht.15 Der Beitrag will nun Grund und Grenzen (Abwägbarkeit, hypothetischer Ersatzeingriff) der Fernwirkung 11 Vgl. etwa Stam, StV 2015, 130; zur Zeugenpflicht BVerfGE 56, 37 (42 ff.) – Gemeinschuldner. 12 Prägnanter Überblick Eisenberg (Fn. 8), Rn. 360. Zur neueren Entwicklung etwa Rogall (Fn. 2), S. 973 unter Einbeziehung von § 630c Abs. 2 S. 2, 3 BGB (Auskunftspflicht des Arztes bei einem Kunstfehler), § 802c ZPO (Vermögensauskunft), § 81a GWB (Kartellrecht); Stam, StV 2015, 130 (132) insbesondere zu § 802c ZPO und auch zu Produktpirateriegesetzgebung. 13 Anders ist dies bzgl. Steuerstraftaten (§ 393 Abs. 1 S. 2 – 4 AO); insoweit liegt ein „verkümmertes“ Suspendierungsmodell vor, vgl. dazu einleitend Graf/Jäger/Wittig/Bülte (Fn. 3), § 393 AO Rn. 2. Vgl. dazu insbesondere auch EGMR, NJW 2002, 499. 14 Vgl. auch Erbs/Kohlhaas/Hadamitzky/Senge, 217. EL 2017, § 393 AO Rn. 8. 15 Zum Vorrang des Verwendungsverbots etwa Graf/Jäger/Wittig/Bülte (Fn. 3), § 393 AO Rn. 106; auch zu § 4 Abs. 5 S. 1 Nr. 10 EStG MüKo-StPO/Schuhr (Fn. 7), § 136a Rn. 1; vgl. zum Ganzen auch BVerfG, wistra 2010, 341 (343).
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dieser – dem Wortlaut nach z. T. absoluten und z. T. relativen – Verwendungsverbote aus §§ 97 InsO, 393 AO klären, allerdings beschränkt auf die Auskunft selbst und die darauf beruhenden Beweismittel; nicht Gegenstand der Untersuchung sind Fälle, in denen es um pflichtgemäße Auskünfte oder sonstige übergebene Beweismittel16 geht, die nicht mit Zwangsmitteln durchgesetzt werden können. So wird z. T. entgegen der h.M.17 auch bei steuerrechtlichen Selbstanzeigen18 oder bei insolvenzrechtlichen Selbstbelastungen nach der allgemeinen Mitwirkungspflicht gem. § 97 Abs. 2 InsO19 ein Verwendungsverbot mit Fernwirkung als Gegenleistung für die Information – quasi nach der Struktur eines Deals20 – bejaht. Um die an Art. 1 Abs. 1 GG ausgerichtete und hier leitend zugrundegelegte These nicht zu verlassen, bleiben die Ausführungen hier auf den Bereich beschränkt, der durch den (noch näher zu erörternden, s. u. IV.2.a) Begriff des Zwangs markiert ist.
III. Allgemeine Grundsätze 1. Einbindung in drei allgemeine Problemkomplexe Die Frage nach der Fernwirkung bei den Verwendungsverboten der §§ 97 InsO, 393 AO ist deshalb schwierig zu beantworten, weil sie in drei allgemeinere und umstrittene Problemkomplexe verwoben ist. Zunächst hängt sie mit dem umstrittensten Teil der allgemeinen Verwertungsverbotslehre, der sog. Fernwirkung (fruit of the poisonous tree doctrine), zusammen, des Weiteren besteht ein Bezug zu der noch nicht so weit entwickelten Lehre von den Verwendungsverboten und schließlich muss man das Ganze vor dem Hintergrund des nemo-tenetur-Grundsatzes sehen. Bevor man sich also der konkreteren Problemlösung zuwendet, muss man den Kontext zu diesen drei Themenbereichen herstellen. 2. Allgemeine Verwertungsverbotslehre Eine Fernwirkung eines Beweisverwertungsverbots wird in der Rechtsprechung bekanntlich weitgehend abgelehnt, insbesondere auf Grund des anhand von unselbstständigen Verwertungsverboten entwickelten kriminalpolitischen Gedankens, dass 16
Konkret Hefendehl, wistra 2003, 1 (8); zur möglichen Differenzierung zwischen verbaler und nonverbaler Selbstbelastung ausführlich Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, 2001, S. 173 ff., S. 198 ff. 17 Für § 393 AO etwa BGH NJW 2005, 2720 (2723); Graf/Jäger/Wittig/Bülte (Fn. 3), § 393 AO Rn. 67; für § 97 InsO etwa OLG Jena, NJW 2010, 3673; OLG Celle, StV 2013, 555; MüKo-InsO/Stephan, 3. Aufl. 2013, Band 2, § 97 Rn. 17. Differenzierend MüKo-StPO/ Schuhr (Fn. 7), § 136a Rn. 108 ff. 18 Etwa Reichling, HRRS 2014, 473 (476). 19 So z. B. Uhlenbruck/Zipperer, Insolvenzordnung, 14. Aufl. 2015, § 97 Rn. 13 f. 20 Zu diesem Gedanken i.R.v. § 97 InsO bereits Hefendehl, wistra 2003, 1 (8).
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diese dazu führen könnte, das gesamte Strafverfahren wegen eines einzigen Fehlers lahmzulegen.21 Hinzu kommt das prozesstaktische Praktikabilitätsargument, dass das Beruhen eines weiteren Beweismittels auf einem fehlerhaften Beweismittel sich kaum jemals feststellen lasse.22 Die eigentlich naheliegende Forderung, eine Fernwirkung im Grundsatz, ggf. nach Abwägung, anzuerkennen, diese aber durch die Grundsätze des hypothetischen Ersatzeingriffs einzuschränken,23 hat sich nicht durchgesetzt. Von ihrer restriktiven Haltung will die Rechtsprechung zulasten der Wahrheitsfindung – bis auf den Einzelfall zum G10-Gesetz24 – nur abweichen, wenn sie gesetzlich oder vom Bundesverfassungsgericht, so wie z. B. in den Fällen der Verletzung des Kernbereichs der privaten Lebensgestaltung (Art. 1 Abs. 1 GG), ausdrücklich gezwungen wird.25 Bei Menschenwürdeverletzungen jenseits eines Eingriffs in den Kernbereich privater Lebensgestaltung, wie in dem genannten Fall einer Folterandrohung i.R.v. § 136a StPO, soll es bei dem Grundsatz bleiben, dass die Fernwirkung ein Ausnahmefall ist.26 Dies ist – wie noch deutlich werden wird – dann besonders problematisch, wenn die Menschenwürdeverletzung nicht nur durch den Eingriffsakt im Ermittlungsverfahren, sondern gerade erst durch die Verwertung der mittelbaren Beweismittel gegen den Betroffenen „vollendet“ wird.27 Insgesamt wird durch die ablehnende Position der Rechtsprechung – wie zuletzt häufiger betont wurde – den Verwertungsverboten weitgehend der Biss und die praktische Bedeutung genommen,28 denn diese werden, so etwa Eisenberg, gerade dann zugunsten der Wahrheitsfindung „neutralisiert“, „wenn dadurch ein entscheidendes Beweismittel betroffen ist“, was gerade den Sinn der Beweisverbote, dass es die Wahrheit nicht um jeden Preis geben kann, konterkariert.29 3. Verwendungsverbote Unter Druck gerät die Ablehnung einer Fernwirkung mittlerweile zusätzlich durch den vermehrten Einzug von sog. Verwendungsverboten in die StPO bzw. straf21
Diese Argumentation findet sich bereits in BGHSt 27, 355 (358). Hierzu etwa BGHSt 34, 362 (365). 23 Im Rahmen der Fehlerfolgenlehre ausführlich SK-StPO/Rogall, Band II, 5. Aufl. 2016, § 136a, Rn. 112 ff.; 116 ff.; instruktiv Eisenberg (Fn. 8), Rn. 408 ff. 24 BGHSt 29, 244. 25 Vgl. nur BVerfGE 109, 279 (312 ff.) – Akustische Wohnraumüberwachung; BVerfGE 120, 274 (335 ff.) – Online-Durchsuchung; BVerfGE 130, 1 (22 ff.) – Verwertungsverbot Wohnraumüberwachung. 26 Hierzu nochmals LG Frankfurt a.M., StV 2003, 325 (327). 27 Diese treffende Formulierung findet sich etwa bei LG Göttingen, wistra 2008, 231 (235); zur These einer Fernwirkung bei Menschenwürdeverletzung allgemein: Eisenberg (Fn. 8) Rn. 408 sowie SK-StPO/Wolter/Greco (Fn. 23), § 100a Rn. 63. 28 Ausführlich Greco, in: U. Stein et al., Festschrift Rogall, 2018, 485 ff.; Wohlers, in: F. Herzog et al., Gedächtnisschrift Weßlau, 2016, 427 (439 f.). 29 Eisenberg (Fn. 8) Rn. 406. 22
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prozessuale Nebengesetze. Auch wenn der Terminus des Verwendungsverbots freilich noch nicht vollständig geklärt ist,30 wird damit vielfach eine größere Reichweite als Unterscheidungskriterium zum Verwertungsverbot ausgemacht.31 Über ein Verwertungsverbot hinaus enthalten Verwendungsverbote nach z. T. vertretener Auffassung eine Frühwirkung, so dass etwa noch nicht einmal ein Anfangsverdacht32 bzw. jedenfalls keine eingreifenden Maßnahmen (wie z. B. ein Durchsuchungsbeschluss)33 auf die davon umfassten Beweismittel gestützt werden darf. Z. T. wird auch gerade die Fernwirkung als entscheidendes Unterscheidungskriterium ausgemacht.34 Dennoch ist aber zu betonen, dass die Reichweite, wie bei den Verwertungsverboten, auch bei den Verwendungsverboten keine rein begriffliche, sondern eine normative Frage ist, so dass man eine solche Reichweite gesondert durch normative Argumente begründen muss und nicht nur durch den Verweis auf einen Begriff lösen kann.35 Normativer Ausgangspunkt für den Begriff „Verwendung“ ist ein spezifisches, doppeltes datenschutz-strafprozessuales Eingriffsproblem. Es gibt hier zusätzlich zum primären Eingriff durch die Beweiserhebung (hier zwangsweise außerstrafprozessuale Selbstbelastung z. B. zum Zwecke der Gläubigerbefriedigung, Steuererhebung) einen Sekundäreingriff durch Zweckentfremdung dieser Informationserhebung (hier zum Zwecke der Strafverfolgung). Für dieses Problem eines Sekundäreingriffs durch Zweckentfremdung, das im Datenschutzrecht bereits seit längerem bekannt ist, wird der sog. Zweckbindungsgrundsatz herangezogen, wonach ein Datum, das für einen ganz bestimmten Zweck erhoben wurde, nicht bzw. jedenfalls nicht ohne zusätzliche Rechtfertigung für einen anderen Zweck genutzt werden darf.36 Verfassungsrechtlich abgesichert ist dies subsidiär durch das (abwägbare) Recht 30
Wichtige Grundlinien wurden nicht zuletzt dank der Beiträge des Jubilars in seinem Beweisrecht (Fn. 8), Rn. 358 ff. und seiner Schüler, vgl. etwa Singelnstein, ZStW 120 (2008), 880 ausgearbeitet. Monographisch etwa Schinkel, Strafprozessuale Verwendungsverbote, 2017. 31 Vgl. z. B. Hefendehl, wistra 2003, 1 (6 f.); Schumacher (Fn. 2), S. 223 ff.; kritisch daher zur Verwendung als Spurenansatz Eisenberg (Fn. 8), Rn. 359. 32 In diese Richtung Meyer-Goßner/Schmitt/Meyer-Goßner, 61. Aufl. 2018, Einl. Rn. 57d; die Verwendungsverbote ebenso dem Themenkreis der Frühwirkung zuordnend Jahn, Gutachten zum 67. DJT, 2008, S. 95 ff.; dazu eingehend vgl. hierzu Schinkel (Fn. 30), S. 217 ff.; einen instruktiven Hinweis auf Ermittlungen vor der förmlichen Einleitung eines Ermittlungsverfahrens formuliert in diesem Zusammenhang Eisenberg, GA 2018, 231 (232). 33 So z. B. LG Münster, Beschluss vom 31. 08. 2017 – 12 Qs-45 Js 916/16 – 25/17, BeckRS 2017, 135700; vgl. dazu allgemein: Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 28. Aufl. 2014, § 24 Rn. 21. 34 Dazu etwa Hefendehl, wistra 2003, 1 (6); eingehend Schinkel (Fn. 30), S. 205 ff. 35 Zutreffend SK-StPO/Rogall (Fn. 23), § 136a Rn. 109; ebenso Reinbacher/Werkmeister, ZStW 130 (2018) [im Erscheinen]. 36 Zu diesem normativen Ausgangspunkt Eisenberg (Fn. 8), Rn. 335; instruktiv Singelnstein, ZStW 120 (2008), 854, 855 ff.; vgl. auch Reinbacher/Werkmeister, ZStW 130 (2018) [im Erscheinen].
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auf informationelle Selbstbestimmung, Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG.37 Ist nun eine Zweckentfremdung für strafverfahrensrechtliche Belange beabsichtigt, wird dieser doppelte Eingriff zum beweisrechtlichen Problem. M.a.W. wird das aus dem Datenschutz bekannte Konstrukt durch strafprozessuale Grundsätze und Rechtspositionen überlagert und konkretisiert (aber ggf. auch umgekehrt). 4. Nemo-tenetur-Grundsatz Entscheidend für die hiesige Untersuchung ist insoweit die Rechtsposition, die sich aus dem nemo-tenetur-Grundsatz ergibt, welcher auch international durch Art. 14 Abs. 3 lit. g) IPBPR und Art. 6 Abs. 1 EMRK (fair-trial) geschützt ist.38 Man kann hier nicht schlicht von den allgemeinen Grundsätzen der Zweckentfremdung aus argumentieren, sondern muss die spezifischen Ausprägungen des nemo-tenetur-Grundsatzes beachten, um die Frage der Fernwirkung eines hierauf beruhenden Verwendungsverbots zu klären. Zwar wird auch der nemo-tenetur-Grundsatz verfassungsrechtlich bisweilen als Ausprägung der informationellen Selbstbestimmung verstanden,39 was insoweit zutrifft, als gegen den Willen des Beschuldigten persönliche Informationen verwendet werden. Doch geht es beim strafprozessualen nemo-tenetur-Grundsatz um mehr.40 Der Betroffene wird in einer Situation, in der er einer gegenwärtigen Strafverfolgungsgefahr, d. h. einer Gefahr für seine Fortbewegungsfreiheit (Freiheitsstrafe oder Ersatzfreiheitsstrafe bei der Geldstrafe!) ausgesetzt ist, dazu gebracht, dass er durch die Bekanntgabe der Informationen aktiv an der Realisierung dieser Gefahr mitwirkt, mithin ein Opfer erbringt, das der Staat, wie § 35 StGB deutlich macht, dem Einzelnen nicht abverlangen darf.41 Geschieht dies durch Zwang, ist nicht nur das allgemeine Persönlichkeitsrecht, sondern die unabwägbare Menschenwürde die zutreffende Kategorie; dieser Kern ist auch bei schwersten Straftaten absolut geschützt.42
37
Vgl. nochmals Singelnstein, ZStW 120 (2008), 854, 855 ff. Hierzu etwa SK-StPO/Rogall (Fn. 23), Vor § 133 Rn. 131; MüKo-StPO/Schuhr (Fn. 7), Vor § 133 Rn. 75. 39 In diese Richtung wohl auch Maunz/Dürig/Di Fabio, 82. EL 2018, Art. 2 GG, Rn. 187, der aber auch von einer speziellen Ausprägung der informationellen Selbstbestimmung spricht. 40 Zutreffend Böse, GA 2002, 98 (101 f.), der mit Recht hervorhebt (99 f.), dass es auch mehr als um eine Beeinträchtigung des Rechts auf Selbstdarstellung durch Bekanntmachen von Informationen, die den Betroffenen in der öffentlichen Meinung herabwürdigen könnten. Vgl. auch SK-StPO/Rogall (Fn. 23), Vor § 133 Rn. 138. 41 Dieser Gedanke findet sich bei Böse, GA 2002, 98 (103 f.), der jedoch m. E. zu Unrecht die Möglichkeit der Ersatzfreiheitsstrafe übergeht. 42 Zur Instrumentalisierung etwa SK-StPO/Rogall (Fn. 23), Vor § 133 Rn. 132. 38
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IV. Lösungsansätze 1. Verfassungsrechtliches Fundament? Es drängt sich nach dem eben Gesagten die Frage auf, ob die Fernwirkung der hier diskutierten Verwendungsverbote, die gerade durch die Erzwingbarkeit der außerstrafprozessualen Auskunftspflicht gekennzeichnet sind, nicht gerade auch ein Folge des Menschenwürdegehalts des nemo-tenetur-Grundsatzes sind. Das BVerfG, dessen einschlägige Entscheidungen den Ankerpunkt der Diskussion bilden, hat diese Frage bisher nicht eindeutig geklärt. In seinem Gemeinschuldnerbeschluss, der erst zur Einführung von § 97 Abs. 1 S. 3 InsO führte, leitete das Gericht für selbstbelastende Auskünfte, die insolvenzrechtlich – konkret mit Beugehaft – erzwungen wurden, zwar ein verfassungsrechtlich zwingendes Verwertungsverbot ab.43 Es wird dogmatisch aber nicht ganz deutlich, ob das BVerfG in der Zweckentfremdung, wie es der neueren Rechtsprechung des Gerichts entspricht,44 einen eigenständigen, vertiefenden sekundären Eingriff sah, der ggf. den Menschenwürdegehalt des nemo-tenetur-Grundsatzes berührt, oder ob das Verwertungsverbot eine Art Kompensation für den nur unter dieser Bedingung gerechtfertigten45 Primäreingriff in das abwägbare allgemeine Persönlichkeitsrecht darstellt, wofür in der Tat die Formulierung, dass für die Zweckentfremdung und strafprozessuale Verwertung die „sachliche Rechtfertigung“ fehle,46 zu sprechen scheint. Denn das macht nur aus dem Blickwinkel Sinn, dass die strafprozessuale Verwendung nicht zur Gläubigerbefriedigung dient, was eine Selbstverständlichkeit ist. Die eigentliche Frage, ob und ggf. warum ein (gravierendes) Strafverfolgungsinteresse als sachlicher Rechtfertigungsgrund ausscheidet, ist damit nicht beantwortet. Im Rahmen von § 393 Abs. 2 S. 2 AO hat das BVerfG47 dann auch in der Tat offengelassen, ob eine Relativierung des im Gemeinschuldnerbeschluss noch als unabwägbar angesehenen Verwertungsverbots bei einem zwingenden öffentlichen Interesse an der Strafverfolgung die Verfassung verletzt.48 Das BVerfG behandelt die Fernwirkung anknüpfend an dieses unklare dogmatische Fundament wenig überraschend überwiegend als verfassungsrechtlich offene Frage; im Mehrheitsvotum des Gemeinschuldnerbeschlusses sah es die Anerkennung einer Fernwirkung implizit als gesetzgeberische Aufgabe
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BVerfGE 56, 37 (50 f.) – Gemeinschuldner. BVerfGE 100, 313 (360) – Telekommunikationsüberwachung I; BVerfGE 109, 279 (375) – Großer Lauschangriff; BVerfGE 141, 220 (327) – BKA-Gesetz. 45 Vgl. zur Rechtfertigung des Primäreingriffs in Bezug auf die steuerrechtliche Auskunftspflicht an sich auch BVerfG [Vorprüfungsausschuss], wistra 1988, 302. 46 BVerfGE 56, 37 (50) – Gemeinschuldner. 47 Vgl. zur Verfassungsmäßigkeit der Rechtsprechung, dass das Verwendungsverbot nicht eingreift (sondern das Suspendierungsmodell des Abs. 1), wenn eine allgemeine Straftat mit einer Steuerstraftat zusammenfällt schon BVerfG NJW 2005, 352. 48 BVerfG, wistra 2010, 341 (342 ff.); offen gelassen auch bei BVerfG, wistra 1988, 302 (303). 44
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an.49 Das Minderheitsvotum, das aus Verhältnismäßigkeitserwägungen ein sog. Offenbarungsverbot für verfassungsrechtlich geboten erachtete, wonach schon die Weitergabe der unverwertbaren Aussage an die Strafverfolgungsbehörden untersagt ist, was einer Frühwirkung ähnlich ist (welche aber nicht erst bei der Informationsverarbeitung durch die Strafverfolgungsbehörden ansetzt) und auch eine Fernwirkung bei dennoch erfolgter Weitergabe nahelegt,50 hatte sich nämlich gerade nicht durchgesetzt. In der neueren Entscheidung zu § 393 AO findet sich nur der Hinweis, dass eine Fernwirkung von Verfassungs wegen zu bejahen sein könnte, wenn die Intensität der Zwangswirkung erhöht ist und die Aussage nicht nur erzwingbar war, sondern diese tatsächlich (unter Androhung oder Anwendung von Zwangsmitteln) erzwungen wurde.51 Nach alldem scheint auch bei den Verwendungsverboten alles beim Alten zu bleiben. Die Rechtsprechung des BVerfG läuft nämlich gerade auf die gängige Position hinaus, welche die Fernwirkung – selbst wenn möglicherweise die Menschenwürde betroffen ist – auf Ausnahmen im Einzelfall beschränkt. 2. Fernwirkung nach einfach-rechtlichen Maßstäben a) Begründung einer Fernwirkung aa) Fernwirkung bei § 97 Abs. 1 S. 3 InsO? Eine Entscheidung, die einen ganz anderen Weg weist, hat der Gesetzgeber – freilich ohne genauere Begründung, aber, wie sich zeigen wird, im Ergebnis zu Recht – i.R.v. § 97 Abs. 1 S. 3 InsO getroffen. Im Gesetzesentwurf zu dieser Norm (damals als § 109 InsO), der noch das Wort „verwerten“ enthielt, hieß es bereits, dass „nach dem Sinn dieses Verbots […] auch solche Tatsachen nicht verwertet werden [dürfen], zu denen die Auskunft den Weg gewiesen hat“.52 Später wurde das Wort „verwerten“ auf Anregung des Datenschutzbeauftragten (!) durch „verwenden“ ersetzt, um unmissverständlich zum Ausdruck zu bringen, dass die „Auskunft […] nicht als Ansatz für weitere Ermittlungen“ dienen darf.53 Verwertbar sollen nur Beweismittel sein, die eigenständig – unabhängig von der Auskunft – ermittelt wurden.54 Damit hat der Gesetzgeber gleichsam klargestellt, dass die Justiz prüfen muss, ob das jeweilige Beweismittel wirklich auf der erzwungenen Auskunft beruht. Das allgemein gegen die Fernwirkung vorgebrachte Praktikabilitätsargument wird also ausdrücklich zurückgewiesen,55 und die Praxis zu § 97 Abs. 1 S. 3 InsO, die im Anschluss an den Willen des Gesetzgebers von einer Fernwirkung ausgeht, zeigt, dass das Praktikabi49
BVerfGE 56, 37 (51) – Gemeinschuldner. Sondervotum des Richters Heußner BVerfGE 56, 37 (53 ff.) – Gemeinschuldner. 51 BVerfG, wistra 2010, 341 (344). 52 BT-Drs. 12/2443, 142. 53 BT-Drs. 12/7302, 166. 54 So auch 12/2443, 142. 55 Dies hat Hefendehl, wistra 2003, 1 (7) bereits zutreffend hervorgehoben.
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litätsargument schwach bzw. nur vorgeschoben ist und die Kausalitätsfragen in Wahrheit handhabbar sind. Auch eine Lahmlegung der Strafverfahren, die von § 97 Abs. 1 S. 3 InsO betroffen sind, ist bisher offensichtlich nicht eingetreten. bb) Fernwirkung bei § 393 Abs. 2 AO? Bei § 393 Abs. 2 S. 1 AO, der die gleiche Wortwahl („verwenden“) wie § 97 Abs. 1 S. 3 InsO trifft, spricht wegen dieses Wortlauts und des systematischen Zusammenhangs zu § 97 Abs. 1 S. 3 InsO alles dafür, wie im Insolvenzrecht von einer Fernwirkung auszugehen.56 Da sich ein so eindeutiger gesetzgeberischer Wille wie dort aber im Steuerrecht nicht ausmachen lässt, ist diese Ansicht nicht unumstritten. Z. T. werden die Worte „verwenden“ und „verwerten“ als Synonyme gedeutet57 oder die Fernwirkung mit einer Art Erst-recht-Schluss zu § 136a StPO abgelehnt:58 Wenn schon bei § 136a StPO keine Fernwirkung anerkannt sei, dann erst recht nicht bei § 393 Abs. 2 S. 1 AO. Legt man freilich die gesetzgeberische Richtungsentscheidung zu § 97 Abs. 1 S. 3 InsO zu Grunde, so drängt sich eigentlich ein umgekehrter Erst-recht-Schluss auf: wenn schon bei rechtmäßiger außerstrafprozessualer Auskunftserzwingung eine Fernwirkung geboten ist, so muss dies erst recht gelten, wenn der Primäreingriff, wie besonders deutlich bei der Folter, rechtswidrig war.59 Will man den Gleichklang von § 97 Abs. 1 S. 3 InsO und § 393 Abs. 2 AO also auf ein festes Fundament stellen, kommt man m. E. nicht umhin, die vom BVerfG offen gelassenen Fragen zum nemo-tenetur-Grundsatz zu klären, denn wenn Art. 1 Abs. 1 GG eine solche Fernwirkung gebietet, ist derjenigen Auslegung der Vorzug zu geben, die eben dies gewährleistet. b) Begrenzung der Fernwirkung aa) Hypothetischer Ersatzeingriff? Dieses Bedürfnis nach dogmatischer Fundierung zeigt sich auch bei den jetzt zu erörternden Fragen um die Begrenzung der Fernwirkung. Umstritten geblieben ist zum einen die Frage, ob man das Verwendungsverbot durch Überlegungen anhand der Figur des hypothetischen Ersatzeingriffs begrenzen, also m.a.W. beim Verwendungsverbot der aus dem anglo-amerikanischen Strafprozess bekannten Meinung folgen kann, die die fruit-of-the-poisonous tree-doctrine durch die hypothetical-
56 So auch Rogall (Fn. 3), 465 (485 f.); Graf/Jäger/Wittig/Bülte (Fn. 3), Rn. 80 ff.; in der Tendenz ebenso BGH NJW 2005, 763 (765). 57 Löwe/Rosenberg/Gössel, 26. Aufl. 2006 ff., Einl. L Rn. 8. 58 Ablehnend etwa Erbs/Kohlhaas/Hadamitzky/Senge (Fn. 14), § 393 AO Rn. 9. 59 In dieselbe Richtung aber ohne diese weitergehende Konsequenz zu ziehen Graf/Jäger/ Wittig/Bülte (Fn. 3), § 393 AO Rn. 83; vgl. zu dem umgekehrten Erst-Recht-Schluss im Zusammenhang mit internal investigations Greco/Caracas, NStZ 2015, 7 (15 mit Fn. 107).
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clean-path-doctrine begrenzt.60 Dagegen spricht eigentlich schon, dass hier ein selbstständiges Verwendungsverbot in Rede steht, kein unselbstständiges: eine hypothetisch rechtmäßige Beweisgewinnung gibt es hier nicht, denn die außerstrafprozessuale Auskunftserzwingung war ja bereits rechtmäßig.61 Würde man den hypothetischen Ersatzeingriff, wie in anderen Zweckänderungsfällen, so verstehen, dass das Beweismittel rechtmäßig auch zum geänderten Zweck, d. h. hier der Strafverfolgung, hätte gewonnen werden können,62 so wäre dies nur ein weiteres Argument für ein Verwendungsverbot mit Fernwirkung, denn eine erzwingbare Auskunftspflicht des Beschuldigten darf es im Strafprozess eindeutig nicht geben; es liegt daher nahe ihn strafprozessual so zu stellen, als hätte es die Auskunft nie gegeben.63 Man könnte allenfalls deutlich modifiziert fragen, ob das jeweilige Beweismittel auch ohne Nutzung der erzwungenen Auskunft (und mithin ohne Verstoß gegen das Verwendungsverbot selbst) hätte erlangt werden können.64 Die Frage, ob diese Modifikation zulässig ist, hängt aber wiederum entscheidend davon ab, ob mit ihr ein Eingriff in den Kernbereich des nemo-tenetur-Grundsatzes verbunden wäre. Denn an dem realen Zusammenhang zwischen erzwungener Selbstbelastung und Verurteilung vermag diese Figur nämlich nichts zu ändern.65 Sie betrifft nur einen hypothetischen Kausalverlauf. Überlegungen auf dieser Ebene setzen erst bei der Rechtfertigung eines Eingriffs an, können aber anders als die Bestimmung des realen Kausalzusammenhangs den Eingriff an sich nicht ausschließen.66 Da es aber eine Rechtfertigung eines Menschenwürdeeingriffs gerade nicht gibt, könnte m. E. auch der hypothetische Ersatzeingriff hier dann nicht zum Zug kommen. bb) Abwägbarkeit? Besonders problematisch ist schließlich die Frage, inwieweit die Fernwirkung und ggf. das Verwendungsverbot insgesamt auf einer Abwägung beruht und beruhen darf. § 393 Abs. 2 S. 2 AO geht in der Tat von einer solchen Abwägbarkeit aus und zwar für das Verwendungsverbot insgesamt, wenn ein zwingendes öffentliches Interesse nach § 30 Abs. 4 Nr. 5 AO (verstärkt durch § 31a Abs. 2 S. 1 AO) vorliegt. Dieser Norm liegt also eine Art Abwägungstheorie der Verwendungsverbote zu Grunde. 60 Aus der Rechtsprechung bejahend zu hypothetischen Kausalitätsüberlegungen LG Stuttgart, NStZ-RR 2001, 282 (283). Zur Übertragungsmöglichkeit der amerikanischen Doktrin allgemein etwa SK-StPO/Rogall (Fn. 23), § 136a Rn. 116 ff. 61 Überzeugend Hefendehl, wistra 2003, 1 (7 f.). 62 Hierzu etwa im Zusammenhang mit Katalogtatmaßnahmen BVerfGE 141, 220 (327 f.) – BKA-Gesetz. 63 Zu dieser Argumentation instruktiv auch MüKo-StPO/Schuhr (Fn. 7), Vor § 133 Rn. 98 ff. 64 Ebenso Hefendehl, wistra 2003, 1 (7 f.). 65 A.A. insoweit Beulke, ZStW 103 (1991), 657 (670). 66 Zur Prüfung des hypothetischen Ersatzeingriffs auf Ebene der Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs BVerfGE 130, 1 (33 ff.) – Verwertungsverbot Wohnraumüberwachung sowie zuletzt etwa BVerfGE 141, 220 (327 ff.) – BKA-Gesetz.
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Auch der neueren BGH-Rechtsprechung scheint eine Übertragung der Abwägungslehre von den Verwertungs- auf die Verwendungsverbote vorzuschweben;67 allerdings ist dies bisher begrenzt auf unselbstständige, nicht ausdrücklich geregelte Verwendungsverbote. Eine umfassende Erstreckung der Abwägungslehre auf die Verwendungsverbote erschiene dann problematisch, wenn dadurch eine ausdrücklich gesetzlich angeordnete, zwingende Rechtsfolge nachträglich „aufgeweicht“ werden würde, wie wenn man das Verwendungsverbot des § 97 Abs. 1 S. 3 InsO oder dessen Fernwirkung von einer Abwägung abhängig machen würde.68 Unabhängig davon sieht nun § 393 Abs. 2 AO aber ausdrücklich eine Abwägbarkeit vor, weil hier nach Ansicht des Gesetzgebers ausnahmsweise das Strafverfolgungsinteresse das Steuergeheimnis überwiege;69 die Tatsache, dass neben dem Steuergeheimnis der nemo-tenetur-Grundsatz tangiert ist, wird an dieser Stelle indes nicht erwähnt. Man muss sich aber fragen, ob dieser nicht bei außerstrafprozessualem Selbstbelastungszwang in seinem unabwägbaren Kern betroffen ist und damit einer solchen Relativierung entgegensteht, mit der Folge einer möglichen Verfassungswidrigkeit des § 393 Abs. 2 S. 2 AO.70 Der BGH versucht dieses Problem zu vermeiden, indem er den Umfang der Offenbarungspflicht begrenzt bzw. deren Strafbewährung suspendiert;71 diese Notlösung überzeugt aber prima facie nicht vollständig, da die Modifikationen auf Offenbarungsseite wohl nur einen unvollkommenen Schutz gegen die Selbstbelastung bieten können und § 393 Abs. 2 AO in nicht unproblematischer Weise von einem Verwendungsmodell zu einem partiellen Suspendierungsmodell gemacht wird.72 3. Menschenwürde und absolutes Verwendungsverbot Man kommt also m. E. nicht umhin, die dogmatischen Grundfragen zu beantworten. Entscheidend ist, ob durch eine strafprozessuale Verwendung von außerstrafprozessual durch Zwang erlangten selbstbelastenden Auskünften die Menschenwürde verletzt wird, und ob dies ein absolutes Verwendungsverbot mit absoluter Fernwirkung zur Folge hat. a) Zwangselement Zunächst ist aber eine Konkretisierung dahingehend erforderlich, wann überhaupt Zwang vorliegt, was dem Grundsatz nach als Mindestvoraussetzung für ein Eingrei67
Vgl. hierzu BGHSt 54, 69 (87 ff.). Zu dieser Argumentation Wohlers (Fn. 28), 427 (438 f.). 69 BT-Drs. V/1812, S. 32. 70 So z. B. LG Göttingen, wistra 2008, 231 (234 ff.); Graf/Jäger/Wittig/Bülte (Fn. 3), § 393 AO Rn. 103. 71 Etwa BGH, NStZ 2006, 210 (214). 72 Kritisch auch Graf/Jäger/Wittig/Bülte (Fn. 3), § 393 AO Rn. 102 m.w.N. 68
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fen von Art. 1 Abs. 1 GG im Bereich des nemo-tenetur-Grundsatzes gilt.73 Das BVerfG deutet für die außerstrafprozessualen Auskunftspflichten an, dass zwischen ihrer bloßen Erzwingbarkeit und ihrer tatsächlichen Erzwingung in Gestalt der Androhung oder Anwendung von Zwangsmitteln zu differenzieren sein könnte.74 Doch diese Differenzierung, die darauf hinausläuft, zwischen dem psychologischen Zwang der ausdrücklichen und der gesetzlichen Androhung zu unterscheiden, überzeugt m. E. so pauschal nicht. Man würde dadurch nämlich denjenigen bevorzugen, der seine wohl begründete und erzwingbare Auskunftspflicht beharrlich nicht erfüllt und einen Zwangsmitteleinsatz provoziert, um somit in den „Genuss“ eines ggf. weiterreichenden Verwendungsverbots zu kommen. Schon der psychologische Zwang der gesetzlichen Zwangsmittelandrohung muss daher genügen.75 Ist der Zwangsmitteleinsatz nicht unmittelbar gesetzlich vorgesehen, sondern wird dieser z. B. vom Gericht im Einzelfall angedroht (oder zugefügt), so muss natürlich ein entsprechender Festsetzungsakt hinzukommen, um von psychologischem Zwang sprechen zu können, wie z. B. in Bezug auf die nur bei gerichtlicher Anordnung erzwingbaren Auskunftspflichten gegenüber dem Gutachter im Insolvenzverfahren.76 Das Besondere in den hier diskutierten Fällen ist aber nicht die Art des Zwangs, sondern dessen intrinsische Verknüpfung77 mit der Auskunftserlangung; die gesetzlich vorgesehenen (oder ggf. angewandten) Zwangsmittel dienen gerade – anders als etwa der psychologische Zwang durch eine allgemeine Strafbewehrung bei Unterlassung einer Auskunft, vgl. § 370 AO (Rechtsgüterschutz!) – speziell dazu, den Betroffenen auch in Bezug auf mögliche vergangene Straftaten zum Sprechen zu bringen. Das verkörpert einen Freiheitseingriff von anderer Qualität. Die Möglichkeit, von seiner Autonomie (in Bezug auf die Offenbarung vergangener Straftaten) Gebrauch zu machen, ist auf ein Minimum reduziert, wenn man in letzter Konsequenz mit einer Haft (vgl. § 98 Abs. 2 InsO bzw. § 334 AO) zur Preisgabe der Information gebracht werden kann. b) Instrumentalisierender Zwang aa) Zwang allein, auch speziell zu einem aktiven Tätigwerden in Gestalt einer Auskunft, reicht aber immer noch nicht für eine Würdeverletzung. Erforderlich ist im Bereich des nemo-tenetur-Grundsatzes, wie u. III.4. beschrieben, dass der Zwang zur aktiven Mitwirkung gerade dazu dient, einen weiteren Entzug der Fortbewegungsfreiheit des Betroffenen in Gestalt der Strafe zu begründen. Dies ist hier auf den ersten Blick problematisch, denn der Zwang wird gerade nicht direkt zum 73 Vgl. dazu allgemein etwa BVerfGE 56, 37 (42); SK-StPO/Rogall (Fn. 23), Vor § 133 Rn. 139; zum Verbot von Zwang auch EGMR, NJW 2010, 213 (215). 74 s. dazu bereits oben IV.1. 75 Weitergehend auf einfach-rechtlicher Ebene Uhlenbruck/Zipperer (Fn. 19), § 97 Rn. 13. 76 LG Münster, Beschluss vom 31. 08. 2017 – 12 Qs-45 Js 916/16 – 25/17, BeckRS 2017, 135700; in Abgrenzung zu OLG Jena, NJW 2010, 3673. 77 Zur Bedeutung einer Finalität des Zwangs etwa SSW-StPO/Eschelbach (Fn. 7), § 136a Rn. 46 f.
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Zwecke einer strafprozessualen Beweismittelerlangung eingesetzt, noch steht bei der Fernwirkungsfrage die Verwertung der erzwungenen Aussage selbst in Rede. Gezwungen wird der Einzelne nur außerstrafprozessual, wo aber bei § 97 Abs. 1 S. 3 InsO durch den Willen des Betroffenen selbst (und d. h. autonom) begründete Sonderpflichten bzw. bei § 393 AO allgemeine staatsbürgerliche (letztlich: gesellschaftsvertraglich begründete) Pflichten (wie die Steuererklärungspflicht) vorliegen; die strafrechtliche Verwertung und Verwendung (auf sekundärer bzw. tertiärer Eingriffsebene) erfolgt dann ohne seine Beteiligung, ohne dass ihm nochmal eine aktive Willensbetätigung abgenötigt wird; er muss „nur“ eine Zweckänderung und die weitere Nutzung seiner Auskunft als Spurenansatz dulden. So gesehen läge keine menschenwürdewidrige Instrumentalisierung vor, sondern eine Ausnutzung der Inanspruchnahme des Betroffenen in vorab begründeten (Sonder-)Pflichten. bb) Doch dies greift m. E. zu kurz, denn sobald das Gesetz die Finanz- bzw. Insolvenzbehörden zur Weitergabe der Informationen an die Strafverfolgungsbehörden und diese sodann zur Verwendung und Verwertung ermächtigt bzw. sogar verpflichtet, dient der primär zu anderen Zwecken ausgeübte Zwang auch dazu, den „eigenen Mund […] gegen [sich] sprechen zu lassen“78 und damit aktiv durch eigene Aussage zu den Voraussetzungen einer Verurteilung zu Kriminalstrafe79 beizutragen. Die Erzwingungs- und Verwendungsakte, die jeweils staatlich vermittelt sind, hängen also so eng zusammen, dass sich eine strikte Abschichtung verbietet. Der Betroffene, dem Beugehaft droht, wenn er schweigt, sieht sich schon zu diesem Zeitpunkt einer gegenwärtigen Strafverfolgungsgefahr ausgesetzt und befindet sich in einer dem § 35 StGB vergleichbaren Lage. Relativ eindeutig ist daher zur Vermeidung einer Menschenwürdeverletzung erforderlich, dass man dem Betroffenen garantiert, dass die mittels Zwang erlangten Auskünfte nicht zur Begründung einer freiheitsentziehenden Sanktion genutzt werden.80 Anders gewendet muss man jedenfalls retrospektiv sicherstellen, dass der selbstbelastenden Auskunft die Kausalität für die durch das Urteil begründete Strafsanktion genommen wird.81 cc) Zu klären bleibt nur, ob auch die Verwertung von den weiteren Beweismitteln absolut verboten sein muss, die mittels der erzwungenen Auskunft ermittelt wurden; m.a.W. also nicht nur eine Würdeverletzung auf sekundärer, sondern auch auf tertiärer Verwertungsebene vorliegt. Dies liegt aber nach dem Sinn des eben Dargelegten nahe, solange sich die erzwungene Selbstbelastung noch – und sei es vermittelt über daran anknüpfende Akte – in der Verurteilung, d. h. in der Freiheitsentziehung, aus-
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SK-StPO/Rogall (Fn. 23), Vor § 133 Rn. 132. Vgl. die Formulierung in BVerfG NJW 2005, 352. 80 So z. B. MüKo-StGB/Schmitz/Wulf, 2. Aufl. 2015, § 370 AO Rn. 340; Reichling, HRRS 2014, 473 (478 ff.); Graf/Jäger/Wittig/Bülte (Fn. 3), § 393 AO Rn. 103. Interessant ist, dass MüKo-StPO/Schuhr (Fn. 7), Vor § 133 Rn. 105 meint, dass bei einer entsprechenden Sicherheit kein Selbstbelastungszwang im rechtlichen Sinn vorliegt. 81 Prägnant SK-StPO/Rogall (Fn. 23), Vor § 133 Rn. 132. 79
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wirkt.82 Denn es ist gerade die zwangsweise Mitwirkung des Betroffenen an der Begründung des Entzugs der eigenen Freiheit entscheidend dafür, dass man von einer Menschenwürdeverletzung ausgeht. Voraussetzung ist nur, dass die Ermittlungen, die an die erzwungene Auskunft anknüpfen, den Zusammenhang zwischen der erzwungenen Auskunft und der Freiheitsentziehung nicht „unterbrechen“.83 M. E. geht es hier – wie neuere Stimmen in der Literatur hervorheben, aber nicht im Detail dargelegt werden kann – nicht nur um eine Frage der Kausalität (i.S.e. conditio sine qua non), sondern auch um einen normativ zu bestimmenden Zurechnungszusammenhang (i.S.d. strafrechtlichen Lehre von der objektiven Zurechnung).84 Die bloße Mitursächlichkeit der Auskunft genügt danach nicht, wenn nicht ihr, sondern den Ermittlungen auf unabhängiger Beweisgrundlage die maßgebliche Rolle zur Ermittlung des weiteren Beweismittels zukam.85 War es jedoch so, dass die erzwungene Auskunft der einzige beweisrechtliche Anknüpfungspunkt war, so muss es bei der Unverwertbarkeit aller darauf beruhenden Beweismittel verbleiben.86 Demgegenüber muss m. E. eine Anwendung des hypothetischen Ersatzeingriffs bei einer menschenwürdefundierten Fernwirkung, wie gesagt, ausscheiden, da diese Figur nur zur Rechtfertigung eines Eingriffs in Betracht kommt, welche es bei der Menschenwürde nicht gibt, nicht aber den Eingriff an sich beseitigen kann. c) Schlussfolgerung Danach steht also fest, dass im Anwendungsbereich von Art. 1 Abs. 1 GG bei den §§ 97 Abs. 1 S. 3 InsO, 393 Abs. 2 S. 1 AO ein absolutes Verwendungsverbot mit Fernwirkung für die Auskunft und alle auf ihr beruhenden Beweismittel unter Ausschluss des hypothetischen Ersatzeingriffs gilt. Dem widerspricht die Relativierung des § 393 Abs. 2 S. 2 AO (ebenso wie diejenige durch § 31a Abs. 2 S. 1 AO). Einen sinnvollen Anwendungsbereich behielte diese Vorschrift nur, wenn die Verbote einfachrechtlich, wie oben unter II. angedeutet, weiter verstanden würden, als es Art. 1 Abs. 1 GG gebietet und in diesem Fall das abwägbare Persönlichkeitsrecht, Art. 2 Abs. 1 GG, die dogmatische Grundlage wäre. Innerhalb des Anwendungsbereichs von Art. 1 Abs. 1 GG kann § 393 Abs. 2 S. 2 AO aber m. E. nicht ohne Verfassungsverstoß angewandt werden. Folgt man all diesen – zugegebenermaßen weitreichenden, aber eben erforderlichen – Korrekturen, widersprechen die §§ 97 InsO, 393 AO (in verfassungskonfor82 Siehe Beulke, ZStW 103 (1991), 657 (669) von der Schutzzwecklehre ausgehend i.R.v. § 136a StPO; ähnlich auch EGMR, NJW 2010, 3145 (3149). 83 Die Frage, ob der Kausalzusammenhang zwischen verbotener Vernehmungsmethode und Bestrafung unterbrochen worden ist, wirft auch EGMR, NJW 2010, 3145 (3149) auf. 84 Vgl. hierzu zusammenfassend SK-StPO/Rogall (Fn. 23), § 136a Rn. 115. 85 Darauf laufen die Erwägungen in EGMR, NJW 2010, 3145 (3149) hinaus, wonach der Kausalzusammenhang unterbrochen sei. 86 Dies nahm etwa das LG Potsdam, StV 2014, 407 (411) in dem von ihm zu entscheidenden Fall an.
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mer Fassung) der aus der allgemeinen Verwertungsverbotslehre bekannten These, dass die Fernwirkung auch im Bereich der Menschenwürde als Ausnahmefall oder als Abwägungsfrage zu behandeln ist. Sie deuten vielmehr auf die von Eisenberg vertretene Maxime hin, dass eine Fernwirkung bei Menschenwürdeverletzungen und nemo-tenetur-Verstößen zu bejahen ist, mit der Präzisierung, dass der nemo-tenetur-Verstoß hier zugleich die Menschenwürde verletzt und daher auch ein „Ausschluss rechtmäßig-hypothetischer Erkenntnisse“ besteht.87 Da die §§ 97 InsO, 393 AO, wie gezeigt, kein mehr oder weniger zufälliges gesetzgeberisches Sonderregime darstellen, sondern auf allgemeinen strafprozessual-verfassungsrechtlichen Grundlagen beruhen, konkret dem Menschenwürdegehalt des nemo-teneturGrundsatzes, dürfte diese hier zum Ausdruck kommende Gegenthese nicht ohne Folgen für die allgemeine Verwertungsverbotslehre bleiben. So bietet sich eben für den Bereich, in dem § 136a StPO den von der Menschenwürde geschützten Kerngehalt des nemo-tenetur-Grundsatzes absichert, der oben angedeutete und jetzt zu konkretisierende Erst-Recht-Schluss an: wenn nämlich schon bei grundrechtskonformer (außerstrafprozessualer) Auskunftserzwingung eine Fernwirkung durch die Menschenwürde geboten ist, so müsste dies erst recht gelten, wenn die Auskunft rechtswidrig, unter Verstoß gegen die Menschenwürde (etwa durch Folter oder sonst rechtswidrigen Zwang i.S.v. § 136a Abs. 2 StPO) erzwungen wurde.88 Einzelheiten dieses Rückschlusses von einem selbstständigen Verwendungsverbot auf ein unselbstständiges Verwertungsverbot bedürften freilich der gesonderten Ausarbeitung, aber prima facie ist kein Grund erkennbar, warum eine zusätzliche Rechtsverletzung zu einer geringeren Reichweite des Beweisverbots führen sollte. Statt also diesen Widerspruch bestehen zu lassen und begrifflich zu kaschieren, bietet es sich an, die allgemeine Position zur Fernwirkung einer vorsichtigen Revision zu unterziehen. Dies würde den Weg dahin ebnen, die Lehren von den Verwertungs- und den Verwendungsverboten besser aufeinander abzustimmen.
V. Fazit Die weitestgehend umfassende Ablehnung der Fernwirkung seitens der Rechtsprechung wird durch die neuere Rechtsentwicklung zunehmend überholt, und dies nicht nur weil die Eingriffsdichte im Ermittlungsverfahren so stark zugenommen hat, dass die Möglichkeiten, auf legalem Weg an Beweismittel zu kommen, ausreichen müssen.89 Die vorliegende Untersuchung hat gezeigt, dass die Position der Rechtsprechung auch durch die Verwendungsverbote der §§ 97 InsO, 393 AO konkret in Frage gestellt wird; hier ist die Fernwirkung weitgehend anerkannt und die sich herausbildende Praxis legt nahe, dass die damit einhergehenden Kausalitätspro87
So auch SK-StPO/Wolter/Greco (Fn. 23), § 100a Rn. 63. So Erst-Recht-Schluss im Zusammenhang mit internal investigations Greco/Caracas, NStZ 2015, 7 (15 mit Fn. 107). 89 So z. B. Volk/Engländer, Grundkurs StPO, 9. Aufl. 2018, § 28 Rn. 43. 88
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bleme lösbar sind und eine Lahmlegung des Verfahrens nicht eintritt. Die vorliegende Analyse hat gezeigt, dass die Fernwirkung hier nicht nur eine einfach-rechtliche Besonderheit des Nebenstrafrechts, sondern eine zwingende Folge des Menschenwürdeschutzes im Bereich des nemo-tenetur-Grundsatzes ist. Sieht man es so, so zeigt sich sogleich, dass die menschenwürdefundierte Fernwirkung von Verwendungsverboten zugleich auf den menschenwürdefundierten Teil der allgemeinen Verwertungsverbotslehre zum nemo-tenetur-Grundsatz (namentlich bei § 136a StPO) zurückwirken muss.
Die schützende Förmlichkeit des Strafprozessrechts Zur aktuellen Bedeutung(slosigkeit) eines „alteuropäischen“ Konzepts Von Wolfgang Wohlers
I. Von der schützenden Form zur hinderlichen Förmlichkeit – die Bedeutung der prozessualen Form im Wandel der Zeit Das Strafprozessrecht gilt als ein hochformalisierter Teil der Rechtsordnung. Die Bedeutung, die der Form im Strafverfahren beigemessen wird, unterliegt allerdings im historischen Längsschnitt betrachtet einem bemerkenswerten Wandel. Die besondere Bedeutung, die die Einhaltung der vorgesehenen Förmlichkeiten im altgermanischen Rechtsgang hatte, zeigt sich schon daran, dass ein Prozess allein schon deshalb verloren gehen konnte, weil beim Vortrag einer Eidesformel Fehler gemacht wurden. Die aus heutiger Sicht übertrieben anmutende Bedeutung der strikten Einhaltung der Form ist darauf zurückzuführen, dass die heute als selbstverständlich erscheinenden Möglichkeiten der Beweisführung faktisch nicht zur Verfügung standen und gleichzeitig das Vertrauen dafür vorhanden war, dass überirdische Mächte dafür sorgen würden, dass die richtige Entscheidung getroffen wurde – wenn eben nur die für das Verfahren vorgesehenen Formen eingehalten wurden.1 Die Situation änderte sich grundlegend mit der Einführung des Inquisitionsprozesses. Jetzt ging es nicht mehr darum, soziale Konflikte im Rahmen eines ritualisierten Verfahrens durch überirdische Mächte schlichten zu lassen und/oder den Mitgliedern einer Gesellschaft die Widerherstellung der zwischen ihnen gestörten Friedensordnung zu ermöglichen. Es ging nun vielmehr darum, die Geltung der von der erstarkten Obrigkeit gesetzten sozialen Normen durchzusetzen, indem auf abweichendes Verhalten mit strafenden Sanktionen reagiert wurde. Die damit in den Vordergrund rückende Suche nach der materiellen Wahrheit wurde zwar immer noch mit aus heutiger Sicht betrachtet eindeutig unzureichenden Mitteln betrieben. Dies ändert aber nichts daran, dass es im Inquisitionsprozess darum ging, den Nachweis zu führen, dass der Inquisit die ihm vorgeworfene Tat tatsächlich begangen hatte.2 1 Zum altgermanischen Rechtsgang vgl. Eb. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Aufl. 1983, S. 76 ff. 2 Eb. Schmidt (Fn. 1), S. 195 ff.; Vormbaum, Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte, 2. Aufl. 2011, S. 90 f.; Wohlers, Entstehung und Funktion der Staatsanwaltschaft, 1994, S. 50 ff.
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Die Fixierung auf die Ermittlung der materiellen Wahrheit hat dann dazu geführt, dass vor dem Hintergrund immer noch sehr weitgehend eingeschränkter Möglichkeiten der Beweisführung zu Instrumenten gegriffen wurde, die, wie die Folter, aus heutiger Sicht betrachtet höchst fragwürdig erscheinen.3 Für unseren Zusammenhang ist von besonderer Bedeutung, dass die Fixierung auf die Suche nach der materiellen Wahrheit als höchstes Ziel des Strafverfahrens dazu geführt hat, dass nach und nach alle dieser Wahrheitssuche irgendwie hinderlich im Weg stehenden prozessualen Formen ihre Bedeutung verloren haben.4 Dass in der Rückschau betrachtet das zentrale „Gebrechen“ des gemeinrechtlichen Inquisitionsprozesses in der Vereinigung der Funktionen des Anklägers, des Verteidigers und des Richters in der Person des Inquisitors gesehen wird,5 lässt außer Betracht, dass diese strukturelle (Fehl-)Entwicklung nur den Boden dafür bereitet hat, dass auf dem Altar der materiellen Wahrheitsfindung jegliche schützende Förmlichkeit geopfert wurde. Dass hierin das eigentliche „Gebrechen“ des gemeinrechtlichen Inquisitionsprozesses liegt,6 zeigt sich auch daran, dass der im 19. Jahrhundert als Reaktion auf diese Gebrechen geschaffene reformierte Strafprozess strukturell gesehen kein Anklageprozess im eigentlichen Sinne ist, in dem zwei Parteien – Anklage und Verteidigung – vor einem Gericht um das Recht streiten, sondern es sich um ein Anklageformverfahren handelt, bei dem zwei in sich inquisitorisch ausgestaltete Verfahrensabschnitte – das Vor- und das Hauptverfahren – durch den formalen Akt der Anklageerhebung verbunden werden.7 Die entscheidende Differenz des heutigen Strafverfahrens zum gemeinrechtlichen Inquisitionsprozess liegt nicht in der Struktur des jeweiligen Verfahrens, die sich tatsächlich weniger grundlegend unterscheiden, als gemeinhin angenommen wird, sondern vielmehr darin, dass zum einen der Beschuldigte als ein mit eigenen prozessualen Rechten ausgestattetes und am Prozess der Wahrheitsfindung teilnehmendes Rechtssubjekt anerkannt ist8 und zum anderen die mit der Führung des Verfahrens befassten Strafverfolgungsbehörden bzw. Gerichte daran gebun-
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Sellert/Rüping, Studien- und Quellenbuch zur Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, Band 1, 1989, S. 111 ff., 208 ff.; zum Beweisrecht vgl. Ignor, Geschichte des Strafprozesses in Deutschland 1532 – 1846, 2002, S. 62 ff., 99 ff.; Schumann, Verhör, Vernehmung, Befragung, 2016, S. 68 ff. 4 Eb. Schmidt (Fn. 1), S. 203 ff.; Sellert/Rüping (Fn. 3), S. 273, 377; Wohlers (Fn. 2), S. 54; SK-StPO/Wohlers, 5. Aufl. 2018, Band I, Einl. Rn. 118. 5 Vgl. nur Mittermaier, Die Gesetzgebung und Rechtsübung über Strafverfahren nach ihrer neuesten Fortbildung, 1856, S. 272 ff.; Zachariae, Die Gebrechen und die Reform des deutschen Strafverfahrens, dargestellt auf der Basis einer konsequenten Entwicklung des inquisitorischen und accusatorischen Prinzips, 1846, S. 91 ff.; w.N.b. Wohlers (Fn. 2), S. 56 ff. 6 Vgl. Wohlers (Fn. 2), S. 54 ff. 7 SK-StPO/Wohlers (Fn. 4), Einl. Rn. 122; SK-StPO/Weßlau/Deiters, 5. Aufl. 2016, Band III, Vor §§ 151 ff. Rn. 2; vgl. auch Vormbaum (Fn. 2), S. 91, 93. 8 Zum Status des Beschuldigten als Rechtssubjekt vgl. SK-StPO/Rogall, 5. Aufl. 2016, Band II, Vor § 133 Rn. 59 ff.; zur Funktion der Verteidigung als „Rechtssubjektsgehilfe“ des Beschuldigten vgl. SK-StPO/Wohlers, 5. Aufl. 2016, Band III, Vor § 137 Rn. 28 ff.
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den sind, das Verfahren in bestimmten, gesetzlich vorgesehenen Formen durchzuführen.9 Die Formel von der schützenden Förmlichkeit des Strafprozessrechts findet sich bereits im 19. Jahrhundert bei Zachariae.10 Zu Anfang der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat dann vor allem Eberhard Schmidt die zentrale Bedeutung betont, die der Förmlichkeit des Verfahrens zukommt. Er führt diesbezüglich aus: „Das Mittel der Justizförmigkeit ist seit jeher die prozessuale Form. Wenn das Prozessrecht für die Entfaltung der Rechtspflegetätigkeit Formen vorschreibt und die Wahrung dieser Formen unbedingt verlangt, so findet dies seinen tiefen Sinn und seine Berechtigung in den Erfahrungen, die Jahrhunderte mit behördlicher (auch richterlicher) Willkür und den Gefahren eines ungebundenen richterlichen Ermessens gemacht haben. Die Rezeptionszeit und (vorbereitet durch Montesquieu) das 19. Jahrhundert haben den Wert ,schützender Formen‘ erkannt; der ,reformierte Strafprozess‘ ersetzt die polizeistaatliche Formlosigkeit des Verfahrens durch ein Verfahren, in dem die Notwendigkeit der Formgebundenheit einem rücksichtslos-polizeilichen Zweckdenken Paroli bieten soll. Auf der durch den reformierten Strafprozess des 19. Jahrhunderts geschaffenen Basis beruht unser heutiges Verfahrensrecht. Nachdem auch seine Formenwelt in der machtstaatlichen Zeit des Nationalsozialismus einer ständigen ,Auflockerungs‘-Bewegung ausgesetzt gewesen ist, haben wir heute den Wert der prozessualen Formen und damit Sinn und Bedeutung der Justizförmigkeit erneut schätzen gelernt.“11 Und weiter: „Nichts wäre unrichtiger, als um dieser Förmlichkeit willen im Prozess nur eine ,Technik‘ zu sehen … Vielmehr sind diese Formen das Ergebnis grundlegender rechtspolitischer Erwägungen. Sie stehen aber auch mit den rechtstheoretischen Grundlagen des Prozessrechts in Zusammenhang. So haben sie gleichermaßen politische, ethische und juristische Bedeutung, sind daher ein würdiger Gegenstand rechtstheoretischer Besinnung.“12 Ein derart empathisches Plädoyer für den Wert der Förmlichkeit des Verfahrens findet sich heute weder in den Standardwerken zum Strafprozessrecht noch in der aktuellen höchstrichterlichen Rechtsprechung, wo die Akzente deutlich anders gesetzt werden. Die Aufgabe des Strafprozesses wird nun vor allem (wieder) darin gesehen, den staatlichen Strafanspruch durchzusetzen und Straftäter einer gerechten
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Vgl. hierzu die ausdrückliche Regelung in Art. 2 Abs. 2 StPO/CH: „Strafverfahren können nur in den vom Gesetz vorgesehenen Formen durchgeführt und abgeschlossen werden.“; und hierzu sowie zum Grundsatz nullum iudicium sine lege: Wohlers, in: Donatsch/Hansjakob/Lieber, Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, Art. 2 Rn. 8. 10 Zachariae, Handbuch des Deutschen Strafprozesses, Erster Band, 1861, S. 146. 11 Eb. Schmidt, Lehrkommentar zur Strafprozessordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz, Teil I, 2. Aufl. 1964, Rn. 22. 12 Eb. Schmidt (Fn. 11), Rn. 23.
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Strafe zuzuführen.13 Die Ermittlung der Wahrheit ist das „oberste Ziel“14 bzw. ein „zentrales Anliegen des Strafprozesses“15. Für das BVerfG ist das Erfordernis einer „zuverlässigen Wahrheitserforschung“ und die hiermit korrespondierende Pflicht zur „bestmöglichen Klärung des Sachverhalts“ ein „wesentlicher Bestandteil des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit (…) an der sich jedwede Rechtspflege messen lassen muss“.16 Aus dem ebenfalls im Rechtsstaatsprinzip angelegten Ziel der Durchsetzung des materiellen Rechts ergibt sich das Erfordernis einer wirksamen Strafverfolgung und hieraus dann der Auftrag zur Gewährleistung der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege.17 Die schützende Förmlichkeit hat nur noch insoweit Bedeutung, als „sich einerseits im Laufe des Verfahrens die Unschuld des Beschuldigten herausstellen kann und andererseits stets die Gefahr besteht, dass die Exekutive die ihr in Form des Straf- und Strafverfahrensrechts an die Hand gegebenen Machtmittel missbraucht. Das prozessordnungsmäßige Zustandekommen der Entscheidung ist deshalb eine weitere Aufgabe des Strafverfahrensrechts, die gleichberechtigt neben dem Erfordernis einer effektiven Strafverfolgung steht. Dass beide Aufgaben häufig nur schwer miteinander vereinbar sind, ist offensichtlich.“18 Die Aufgabe des Strafprozessrechts wird darin gesehen, „[die] geschilderten Kriterien gegeneinander abzuwägen und rechtliche Maßstäbe dafür aufzurichten, welchem von ihnen im Einzelfall der Vorrang gebührt.“19 In den Eingangskapiteln der Lehrbücher zum Strafprozessrecht wird dann zwar immer wieder betont, dass „die Wahrung der Justizförmigkeit nicht weniger wichtig [ist] als die Verurteilung Schuldiger“.20 Der Bedeutungsverlust, den die Förmlichkeit des Verfahrens durch die Re13 Beulke, Strafprozessrecht, 13. Aufl. 2016, Rn. 3; Kühne, Strafprozessrecht, 9. Aufl. 2015, Rn. 1; zum Strafverfahren als Instrument zur Durchsetzung des materiellen Rechts vgl. SK-StPO/Wohlers (Fn. 4), Einl. Rn. 17 ff. 14 BGHSt 9, 280 (281). 15 BVerfGE 57, 250 (275) und ständige Rechtsprechung, vgl. BVerfGE 77, 65 (77); BVerfGE 122, 248 (270); BVerfGE 133, 168 (199). 16 BVerfGE 70, 297 (308); vgl. auch die Analyse der Rechtsprechung bei Stuckenberg, GA 2016, 689 (690 ff.). 17 BVerfGE 33, 367 (383); BVerfGE 34, 238 (241 und 248 f.); BVerfGE 38, 105 (118); BVerfGE 38, 312 (321); BVerfGE 41, 246 (250); BVerfGE 44, 353 (374 und 378); BVerfGE 46, 214 (222); BVerfGE 51, 324 (345); BVerfGE 74, 257 (262); BVerfGE 77, 65 (76); BVerfGE 80, 367 (375); BVerfGE 100, 313 (389); BVerfGE 107, 299 (316); BVerfGE 122, 248 (272 f.); BVerfGE 130, 1 (26); Landau, NStZ 2007, 121 (123 ff.); ders., NStZ 2011, 537 (544 f.); LR/Kühne, 27. Aufl. 2016, Band 1, Einl. H Rn. 13; MüKo-StPO/Kudlich, 1. Aufl. 2014, Band 1, Einl. Rn. 87; Landau, NStZ 2007, 121 ff.; ders., NStZ 2011, 537 (540); ders., NStZ 2013, 194 (198); Niemöller/Schuppert, AöR 107 (1982), 387 (394 ff.); Rieß, StraFo 1995, 94 (97); ders., StraFo 2000, 364 ff.; ders., JR 2006, 269 (272); kritisch Dallmeyer, HRRS 2009, 429 ff.; Hassemer, StV 1982, 275 ff.; Imme Roxin, FS Schünemann, S. 943 ff.; Sommer, StraFo 2014, 441 ff. 18 Beulke (Fn. 13), Rn. 5; vgl. auch Kühne (Fn. 13), Rn. 2. 19 Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 29. Aufl. 2017, § 1 Rn. 3; SK-StPO/Wohlers (Fn. 4), Einl. Rn. 20. 20 Roxin/Schünemann (Fn. 19), § 1 Rn. 2.
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duzierung auf einen Abwägungsfaktor unter mehreren erfahren hat, wird aber spätestens dann deutlich, wenn es um konkrete Einzelfragen geht, wie z. B. die Frage, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen bestimmte Erkenntnisse verwertet werden dürfen/sollen, die zwar als solche faktisch vorhanden, aber mit dem Makel behaftet sind, dass die Gewinnung und/oder Erhebung der Beweise prozessordnungswidrig erfolgt ist. Dem gern und viel zitierten Diktum, dass die Ermittlung der materiellen Wahrheit nicht „um jeden Preis“ zu erfolgen habe,21 steht das nahezu allgemein geteilte und nicht weniger häufig zitierte Diktum gegenüber, dass ein Fehler bei der Beweisgewinnung und/oder -erhebung nicht zwingend die Unverwertbarkeit der so gewonnenen Erkenntnisse nach sich ziehen muss,22 wobei zur Begründung dann überwiegend auf den Grundsatz der Wahrheitsfindung23 und den Gesichtspunkt der Effektivität der Strafverfolgung24 verwiesen und postuliert wird, dass die Annahme eines Verwertungsverbots gerade im Hinblick auf das Ziel der Wahrheitsfindung die begründungsbedürftige Ausnahme darstellen muss.25. Die der Annahme von Verwertungsverboten skeptisch gegenüberstehende Haltung wird dann über das Instrument der Abwägungslösung26 so umgesetzt, dass sichergestellt bleibt, dass die Annahme eines Beweisverwertungsverbots die Ausnahme bleibt, „die nur bei ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung oder aus übergeordneten wichtigen Gründen im Einzelfall anzuerkennen ist“.27 Der aktuelle Stand der Diskussion erweckt den Eindruck, dass das Pendel zurückgeschlagen ist: Im Vordergrund steht wieder einmal ganz eindeutig das Interesse daran, die für die Durchsetzung des materiellen Strafrechts notwendige Ermittlung der materiellen Wahrheit gewährleisten zu können. Zweifel daran, dass dies möglicherweise auch dann nicht gelingen könnte, wenn man den Strafverfolgungsorganen 21
BGHSt 14, 358 (365); BGHSt 31, 304 (308). BVerfGE 33, 367 (383); BVerfGE 46, 214 (222); BVerfGE 122, 248 (272); BVerfGE 130, 1 (28); BVerfG, NJW 2011, 2417 (2418 f.) mit Anm. Wohlers, JZ 2011, 252; BVerfG, NStZ 2000, 489 (490) mit insoweit zust. Anm. Rogall; BGHSt 19, 325 (331); BGHSt 27, 355 (357); BGHSt 37, 30 (32); BGHSt 38, 214 (220); BGHSt 38, 372 (373); BGHSt 42, 15 (21); BGHSt 44, 243 (248 f.); BGHSt 51, 285 (289 f.); BGH, NStZ 2004, 449 (450); BGH, NStZ 2007, 601 (602 f.). 23 Vgl. BVerfG, NJW 2011, 2417 (2419) mit Anm. Wohlers, JZ 2011, 252; Radtke, Liber Amicorum Landau, 2016, S. 416, 421; Rogall, in: Höpfel/Huber (Hrsg.), Beweisverbote in Ländern der EU und vergleichbaren Rechtsordnungen, 1999, S. 128. 24 Beulke, ZStW 103 (1991), 657 (663); Kudlich, FS Wolter, 2013, S. 997. 25 BVerfGE 130, 1 (28); BVerfG, NJW 2011, 2783 (2784); BGHSt 37, 30 (32); BGHSt 40, 211 (217); BGHSt 42, 372 (377); BGHSt 44, 243 (249 f.); BGHSt 51, 285 (289 f.); OLG Hamburg, StV 2007, 628 (629); zustimmend Weigend, ZStW 113 (2001), 271 (289); Wolter, FG BGH Band IV, 2000, S. 985; kritisch dagegen Fezer, JZ 1999, 526 (527 f.); ders., Grundfragen der Beweisverwertungsverbote, 1995, S. 29 f. 26 Vgl. die Darstellung und Würdigung der Abwägungslösung des BGH bei SK-StPO/ Wohlers (Fn. 4), Einl. Rn. 280 ff., 286 ff. m.w.N. 27 BGHSt 54, 69 (87) m.w.N. aus der Rechtsprechung des BGH; zur Dominanz der Strafverfolgungsbelange als Basis der Abwägungsrechtsprechung des BGH vgl. auch Trüg/Habetha, NStZ 2008, 481 (486). 22
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möglichst große Freiräume belässt, lassen sich ebenso wenig feststellen wie Bedenken daran, dass die Nichteinhaltung der gesetzlich vorgesehenen Formen den Prozess der Wahrheitsfindung beeinträchtigen könnten. Die schützenden Formen des Verfahrens degenerieren zu hinderlichen Förmlichkeiten auf dem Weg zur Findung der Wahrheit.
II. Die Förmlichkeit des Verfahrens als (auch) wahrheitsverbürgende Form In der aktuellen Diskussion wird auch von denjenigen Autoren, die in der Förmlichkeit des Verfahrens einen positiven Wert sehen, nicht bestritten, dass die Förmlichkeit, weil sie dem Prozess Grenzen setzt, die Wahrheitsfindung beeinträchtigt. Die Förmlichkeit des Verfahrens könne nicht durch das Ziel der Wahrheitsfindung legitimiert werden, sie diene „dem Schutz außerprozessualer Interessen und Rechte des Beschuldigten“ und müsse deshalb auch dann gewährleistet werden, „wenn feststeht, dass sie unter dem Aspekt der Wahrheitsfindung dysfunktional“ ist.28 Auch wenn man nicht ernsthaft in Abrede stellen kann, dass die schützenden Förmlichkeiten des Verfahrens tatsächlich (auch) dazu dienen, Interessen und Rechte des Beschuldigten zu schützen, die über das Interesse an der materiellen Wahrheitsfindung hinausweisen, greift es doch zu kurz, die schützenden Förmlichkeiten des Verfahrens vollkommen losgelöst vom Ziel der Wahrheitsfindung betrachen zu wollen. Ein deutlicher Beleg für den Konnex zwischen der Förmlichkeit des Verfahrens und dem Ziel der Wahrheitsfindung bietet die Fehlurteilsforschung29, die in aller wünschenswerten Deutlichkeit gezeigt hat, dass die Gründe dafür, dass die materielle Wahrheit im Strafprozess verfehlt wird, nicht selten darauf beruhen, dass die Förmlichkeiten des Strafprozesses nicht beachtet oder gar im Bemühen, die Wahrheit eben doch um jeden Preis zu ermitteln, bewusst missachtet worden sind. Dies alles zeigt, dass sich die Funktion der Gesetzesförmigkeit des Verfahrens nicht darin erschöpft, dem Verfahren (irgend-)eine Form zu geben, um so den Fortgang des Verfahrens zu strukturieren, sondern sie über die Ordnungsfunktion30 hinausgehend einen Beitrag zum Prozess der Wahrheitsfindung leistet, der darin besteht, dass durch die Beachtung „wahrheitsverbürgender Förmlichkeiten“ eine höhere Gewähr dafür vorliegt, dass ein vor dem Ziel der Wahrheitsfindung vertretbares Ergebnis erzielt wird.31 Gerade die Erkenntnis, dass für den Strafprozess am Ziel der ma28
Neumann, ZStW 101 (1989), 52 (61 und 69). Immer noch grundlegend: Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß, 3 Bände (1970, 1972, 1974). 30 SK-StPO/Wohlers (Fn. 4), Einl. Rn. 42 ff. 31 Börner, Legitimation durch Strafverfahren, 2014, S. 114 ff., 154; Hassemer, FS Volk, 2009, S. 215 ff.; Popp, Verfahrenstheoretische Grundlagen der Fehlerkorrektur im Strafverfahren, 2005, S. 186 ff.; Schumann (Fn. 3), S. 183 f.; Wohlers, FS Neumann, 2017, S. 1386 f.; SK-StPO/Wohlers (Fn. 4), Einl. Rn. 29, 40, 43. 29
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teriellen Wahrheitsfindung festzuhalten ist,32 dass aber die Wahrheitsfindung unter den Bedingungen des Strafverfahrens bestenfalls annäherungsweise gelingen kann, legt es nahe, alle zur Verfügung stehenden Techniken der Fehlervermeidung zu nutzen.33 Und an dieser Stelle wird dann die aus dem Zusammenhang der Diskussion um die Wahrheitstheorien bekannte Erkenntnis relevant, dass Kommunikation und Teilhabe nicht nur die Fairness eines Verfahrens, sondern – als eine formgebundene Qualitätssicherung gegen Fehlurteilsrisiken34 – auch die Wahrheitsfindung zu fördern vermag.35 Führt man sich diesen Befund vor Augen, erhält die Diskussion um einzelne, derzeit unter dem Verdacht bloßer Förmlichkeiten stehender Verfahrensvorschriften ein ganz anderes Gesicht. Ein erstes Beispiel betrifft die Frage, ob die Nichtgewährung des Frage- oder Erklärungsrechts nach § 257 StPO die Revision begründen kann, was von der h.M. generell oder jedenfalls für den Regelfall verneint wird. Nimmt man aber zur Kenntnis, dass diese Rechte ein wesentliches Element eines dialogisch strukturierten Prozesses der Wahrheitsfindung sind, wird man an diesem Standpunkt nicht festhalten können, der ja letztlich darauf hinausläuft, die Ausübung des Frageund Erklärungsrechts für irrelevant zu erklären. Ein weiteres Beispiel bilden die Fälle, in denen im Zusammenhang mit einer Entfernung des Angeklagten während einer Vernehmung den Anforderungen des § 247 S. 4 StPO nicht Rechnung getragen worden ist. Dass der Beschuldigte in die Lage versetzt wird, „den weiteren Gang der Verhandlung sofort beeinflussen zu können“36, hat nicht nur für die Gewährleistung der Rechtsstellung des Beschuldigten als Subjekt des Verfahrens Bedeutung, sondern soll (auch) den dialogischen Prozess der Wahrheitsfindung fördern.
III. Die Förmlichkeit des Verfahrens als freiheitsverbürgende Form Dass die Förmlichkeit des Verfahrens als wahrheitsverbürgende Förmlichkeit dazu dient, einen Beitrag dazu zu leisten, dass der Prozess der Wahrheitsfindung mit größerer Aussicht auf Erfolg gelingen kann, bedeutet nicht, dass sich die Funktion der Förmlichkeit darin erschöpft, eben diesen Beitrag zu leisten – und man deswegen die Missachtung von Förmlichkeiten als irrelevant einstufen kann, wenn man meint, (mit hinreichender Sicherheit) davon ausgehen zu können, dass eine Gefährdung der Wahrheitsfindung ausgeschlossen ist. Die Förmlichkeit des Verfahrens ist daneben auch deshalb wichtig, weil nur durch sie ein verbindlicher rechtlicher Rah32
Vgl. Wohlers (Fn. 31), S. 1375 ff.; SK-StPO/Wohlers (Fn. 4), Einl. Rn. 24 ff. So LR/Kühne (Fn. 17), Einl. B Rn. 32. 34 Vgl. Börner (Fn. 31), S. 114 ff., 154. 35 Volk, Wahrheit und materielles Recht im Strafprozess, 1980, S. 15 f.; Wohlers (Fn. 31), S. 1386 f.; vgl. auch Schumann (Fn. 3), S. 183 f. 36 SK-StPO/Frister, 5. Aufl. 2016, Band V, § 247 Rn. 65. 33
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men für das Interagieren der verschiedenen Verfahrensbeteiligten geschaffen wird.37 Ein weiterer – selbständiger und höchst bedeutsamer – Beitrag liegt schließlich auch noch darin, dass die Förmlichkeit des Verfahrens verstanden als gesetzesgebundene Förmlichkeit gewährleistet, dass das Verfahren in einer Art und Weise abläuft, die von der Gesellschaft und von den unmittelbar von der Tat betroffenen Personen (Beschuldigte und Geschädigte) als justizförmig wahrgenommen werden kann.38 Die Justizförmigkeit des Verfahrens tritt als ein zweites (prozedurales) Standbein der Legitimation der Entscheidung neben die angezielte Wahrheitsfindung;39 erst sie macht das Verfahren und sein Ergebnis akzeptabel, obwohl das Ergebnis materiell gesehen trotz aller Bemühungen nicht immer zwingend richtig sein kann.40 An die Stelle der in diesem Zusammenhang insbesondere im älteren Schrifttum betonten Justizförmigkeit des Verfahrens tritt heute der Begriff der Fairness:41 Das Ziel des Strafprozesses ist die verbindliche Klärung eines Straftatverdachts in einem rechtlich geordneten fairen Verfahren.42 In diesem Zusammenhang geht es zunächst einmal darum, Machtmissbräuche auf Seiten der Strafverfolgungsorgane dadurch möglichst zu verhindern, dass deren Agieren in bestimmten, als akzeptabel eingestuften Bahnen gehalten wird.43 Dies geschieht zum einen dadurch, dass die Machtbefugnisse auf verschiedene Organe verteilt und gegenseitiger Kontrolle unterstellt werden (strafprozessuale Gewaltenteilung).44 Zum anderen werden die Handlungsoptionen der am Verfahren Beteiligten auf bestimmte, vom Gesetz vorgegebene Optionen beschränkt und so über die schützende Förmlichkeit dem Verfahren eine verbindliche Grenze gesetzt,45 wobei in Kauf genommen wird, dass hierdurch die Wahrheitsfindung und damit im Ergebnis auch die (materielle) Gerechtigkeit 37
SK-StPO/Wohlers (Fn. 4), Einl. Rn. 40, 42 m.w.N. Vgl. Hörnle, Rechtstheorie 35 (2004), 175 (185 f.); vgl. auch Börner (Fn. 31), S. 36 ff.; Salas, Kritik des strafprozessualen Denkens, 2005, S. 155; Schumann (Fn. 3), S. 188 ff.; Stock, FS Mezger, 1954, S. 435 f., 440 ff. 39 Paeffgen, Vorüberlegungen zu einer Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts, 1986, S. 33; Peters, FS Maurach, 1972, S. 453; Rieß, JR 2006, 269 (272 f.); SK-StPO/Wohlers (Fn. 4), Einl. Rn. 20. 40 Vgl. LR/Kühne (Fn. 17), Einl. B Rn. 22 f., 48; SK-StPO/Wohlers (Fn. 4), Einl. Rn. 29. 41 Schumann (Fn. 3), S. 185 f. 42 BVerfGE 57, 250 (275); BVerfGE 106, 28 (48); BVerfGE 115, 166 (192); SK-StPO/ Wohlers (Fn. 4), Einl. Rn. 32; Krack, Die Rehabilitierung des Beschuldigten im Strafverfahren, 2002, S. 46; Paeffgen (Fn. 39), S. 16 ff.; Paulus, GS Meyer, 1990, S. 315, 322; Prittwitz, GS Weßlau, 2016, S. 262; Radtke, FS Schreiber, 2003, S. 375; Rieß, FS Schäfer, 1980, S. 170; Schmidhäuser, FS Eb. Schmidt, 1961, S. 512 f.; Sternberg-Lieben, ZStW 108 (1996), 721 (727 f.); Weigend, Deliktsopfer und Strafverfahren, 1989, S. 184 ff.; kritisch zur Verdachtsklärung als Zweck des Strafverfahrens: Murmann, GA 2004, 65 (76 f.); vgl. auch Neumann, ZStW 101 (1989), 52 (52 und 64 f.). 43 SK-StPO/Wohlers (Fn. 4), Einl. Rn. 5. 44 Peters, Strafprozeß, 4. Aufl. 1985, S. 80 f. 45 Eb. Schmidt (Fn. 11), Rn. 22 f.; ders., ZStW 65 (1953), 161 (174); vgl. auch Kudlich, Strafprozeß und allgemeines Mißbrauchsverbot, 1998, S. 195 f.; Paulus (Fn. 42), S. 322 f.; SK-StPO/Wohlers (Fn. 4), Einl. Rn. 40, 44. 38
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in gewissem Umfang leiden kann.46 Das Mittel zu alledem ist die strenge Gesetzesbindung.47 In einem Strafverfahren, dass nicht (mehr) obrigkeitsstaatlich strukturiert ist, sondern den Bürger durch die Unschuldsvermutung in seinem rechtlichen Status als ein selbständiges Rechtssubjekt anerkennt und ernst nimmt, kann der Prozess der Wahrheitsfindung nicht über den Kopf des Beschuldigten hinweg ablaufen.48 Aus der Warte des Beschuldigten betrachtet bedeutet Fairness des Verfahrens zu einem ganz wesentlichen Anteil: Gewährleistung von Verfahrensteilhabe.49 Der Beschuldigte ist zwar nicht verpflichtet, am Verfahren mitzuwirken; er muss aber die Möglichkeit haben, dies zu tun und so seine Interessen zu wahren. Beispiele für Fallgestaltungen, bei denen es der Sache nach letztlich um Grundrechtsschutz durch Verfahren geht,50 sind zum einen die bereits oben im Zusammenhang mit der wahrheitsverbürgenden Funktion der Form erwähnten Beispiele der Missachtung der die Verfahrensteilhabe verbürgenden §§ 247, 257 StPO.51 In diesen Zusammenhang gehören darüber hinaus aber auch die Fälle, bei denen zwar keine Gefährdung der Wahrheitsfindung, wohl aber eine Beeinträchtigung des prozessualen Status des Beschuldigten gegeben ist, wie z. B. bei Geständnissen nach fehlerhaften oder gänzlich unterlassenen Belehrungen.52 Und schließlich ist auch noch an Fälle zu denken, in denen, wie z. B. in den Fällen der Umgehung/Missachtung des Richtervorbehalts, Normen verletzt werden, die letztlich einen präventiven Rechtsschutz gewährleisten sollen.53
IV. Der Wert der prozessualen Form als Indikator für den Charakter des Strafverfahrens Die vorstehenden Ausführungen haben gezeigt, dass sich der Wert der Förmlichkeit des Verfahrens nicht darin erschöpft, einen verbindlichen Handlungsrahmen für das Agieren der Verfahrensbeteiligten zur Verfügung zu stellen, sondern die Förmlichkeit – als schützende Förmlichkeit – sowohl eine wahrheitsverbürgende als auch 46
So auch Paulus (Fn. 42), S. 323 f.; eher kritisch insoweit Peters (Fn. 44), S. 83 f. LR/Kühne (Fn. 17), Einl. H Rn. 19 f.; SK-StPO/Wohlers (Fn. 4), Einl. Rn. 41; vgl. auch bereits Eb. Schmidt (Fn. 11), Rn. 22 f. 48 Popp (Fn. 31), S. 190 ff.; vgl. auch Maiwald, FS Lange, 1976, S. 750 f.; Salas (Fn. 38), S. 206 ff.; SK-StPO/Wohlers (Fn. 4), Einl. Rn. 40. 49 SK-StPO/Wohlers (Fn. 4), Einl. Rn. 5. 50 Dallmeyer, Beweisführung im Strengbeweisverfahren, 2. Aufl. 2008, S. 61, 66 ff.; SKStPO/Wohlers (Fn. 4), Einl. Rn. 5, 43; Wohlers, FS Trechsel, 2002, S. 824 f. 51 Vgl. oben Abschnitt II. 52 SK-StPO/Rogall (Fn. 8), § 136 Rn. 77 ff.; SK-StPO/Wohlers/Albrecht, 5. Aufl. 2016, Band III, § 163a Rn. 61 ff. 53 SK-StPO/Wohlers/Greco, 5. Aufl. 2016, Band II, § 98 Rn. 63; SK-StPO/Wohlers/Jäger, 5. Aufl. 2016, Band II, § 105 Rn. 75 ff. 47
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eine freiheitsverbürgende Funktion hat. Diese beiden Funktionen haben einen je eigenständigen Anwendungsbereich, sie stehen aber insoweit nicht vollkommen unverbunden nebeneinander, als sich die Gewährleistung der prozeduralen Gerechtigkeit sehr häufig nicht darin erschöpft, den Status des Beschuldigten als Rechtssubjekt zu schützen, sondern darüber hinaus auch die Chancen erhöhen soll, dass das Ziel der Wahrheitsfindung als Voraussetzung für eine materiell gerechte Entscheidung erreicht wird. Dieser Befund wird ignoriert, wenn die Frage nach den Konsequenzen der Missachtung von Teilhaberechten des Beschuldigten und/oder der Verteidigung darauf reduziert wird, dass es hier angeblich nur darum gehen soll, ob die unter Verstoß gegen die Mitwirkungsrechte gewonnenen Erkenntnisse dennoch (im Interesse der Wahrheitsfindung) verwertet werden sollen oder aber dem Interesse des Beschuldigten an der Wahrung seiner prozessualen Rechte der Vorrang einzuräumen ist. Tatsächlich tangiert die Nichtgewährleistung der Teilhaberechte nicht nur die prozessualen Rechte des Beschuldigten als Rechtssubjekt, sondern führt dazu, dass das Verfahren nicht eingehalten wird, von dem sich der Gesetzgeber eine möglichst hohe Gewähr dafür verspricht, dass das Ziel der Wahrheitsfindung erreicht wird.54 Abschließend soll nun noch der Frage nachgegangen werden, was die Ignorierung der wahrheitsverbürgenden Funktion und die damit einhergehende Geringschätzung der Bedeutung der freiheitsverbürgenden Funktion der Förmlichkeit des Verfahrens über den Zustand der aktuellen Strafrechtspflege aussagt. Als Referenzrahmen bietet sich in diesem Zusammenhang die von Herbert L. Packer entwickelte Konzeption einer Gegenüberstellung zweier normativer Prozesstypen an: des Due Process Model einerseits und des Crime Control Model andererseits.55 Diese beiden Prozesstypen sind weder das Abbild real existierender Strafrechtssysteme noch sollen sie eine Zielvorstellung für ein zu schaffendes Strafprozesssystem darstellen.56 Es handelt sich vielmehr um Idealtypen, an denen real existierende Strafprozesssysteme gemessen werden können, um so zu ermitteln, welchen Wertvorstellungen diese verpflichtet sind.57 Die von Packer entwickelte Konzeption wird von einzelnen Autoren als verfehlt bzw. überholt kritisiert,58 das Modell wird aber ganz überwiegend als immer noch relevant wahrgenommen und dies nicht nur in den dem angloamerikanischen Adversarial-Trial verpflichteten Diskussionszusammenhängen, sondern
54
Wohlers, FS Neumann (Fn. 32), S. 1387. Packer hat den Aufsatz ursprünglich unter dem Titel „Two Models of the Criminal Process“ in der University of Pennsylvania Law Review 113 (1964), 1 ff. publiziert. Eine überarbeitete Fassung ist dann 1968 unter dem gleichen Titel als Kapitel 8 in dem Werk „The Limits of the Criminal Sanction“ (Stanford University Press), S. 149 ff. erneut veröffentlicht worden. Die nachfolgenden Zitate beziehen sich auf die Fassung von 1968. 56 Packer (Fn. 55), S. 153; vgl. auch Hörnle, ZStW 117 (2005), 801 (803). 57 Packer (Fn. 55), S. 153. 58 Vgl. Aviram, Law & Social Inquiry 36 (2011), 237 ff.; Griffiths, Yale Law Journal 79 (1970), 359 ff.; Roach, Journal of Criminal Law and Criminology 89 (1999), 671 ff., jeweils m.w.N. 55
Die schützende Förmlichkeit des Strafprozessrechts
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auch im kontinentaleuropäischen Raum.59 In unserem Zusammenhang ist der Ansatz Packers deshalb von besonderer Bedeutung, weil es bei der Gegenüberstellung der beiden von ihm entwickelten Modelle letztlich vor allem darum geht, welcher Wert dem Status des Beschuldigten als Rechtssubjekt zuerkannt werden soll,60 und es sich hierbei um genau die Frage handelt, die im deutschsprachigen Diskurs unter dem Etikett der „schützenden Formen“ des Prozessrechts verhandelt wird.61 Der als Crime Control Model62 bezeichnete Prozesstypus wird dadurch geprägt, dass es vor allem darum geht, abweichendes Verhalten möglichst effizient unter Kontrolle zu bringen. Zu diesem Zweck wird Wert auf drei Umstände gelegt: „speed“, „finality“ und „uniformity“. Und um dies zu gewährleisten, muss das Verfahren „an administrative, almost a managerial, model“ sein. Und weiter heißt es dann: „The image that comes to mind is an assembly-line conveyor belt down which moves an endless stream of cases, never stopping, carrying the cases to workers who stand at fixed stations and who perform on each case as it comes by the same small but essential operation that brings it one step closer to being a finished product, or, to exchange the metaphor for the reality, a closed file.“63 Es ist essentiell „[to throw] off at an early stage those cases in which it appears unlikely that the person apprehended is an offender and then secures, as expeditiously as possible, the conviction of the rest with a minimum of occasions for challenge, let alone post-audit“.64 Während das Crime Control Model also mit dem Bild einer „assembly line“ verbunden wird, erinnert das Due Process Model nach Packer eher an einen „obstacle course“.65 Das Due Process Model stellt die Möglichkeit des Irrtums ins Zentrum,66 was dann „rejection of informal fact-finding processes as definitive of factual guilt and to an insistence on formal, adjudicative, adversary fact-finding processes“ zur Folge hat.67 Die entscheidende Differenz zwischen den beiden Modellen betrifft letztlich die Frage: „How much reliability is compatible with efficiency?“68 Während das Crime Control Modell davon ausgeht, dass auch bei effizienter Verfahrensführung die Rate von Fehlurteilen gering bzw. in einem tolerablen Rahmen bleiben wird, besteht das Due Process Model darauf, mögliche Fehler zu vermeiden „to the extent possible“,
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Vgl. Hörnle, ZStW 117 (2005), 801 (803); Jung, ZStrR 130 (2011), 39 (42 f.). Packer (Fn. 55), S. 157. 61 Vgl. Jung, ZStrR 130 (2011), 39 (42, Fn. 17) unter Verweis auf Zachariae und Eb. Schmidt. 62 Packer (Fn. 55), S. 158 ff. 63 Packer (Fn. 55), S. 159 64 Packer (Fn. 55), S. 160. 65 Packer (Fn. 55), S. 163. 66 Packer (Fn. 55), S. 163. 67 Packer (Fn. 55), S. 163 f. 68 Packer (Fn. 55), S. 164. 60
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wobei dann etwaige Verluste an Effizienz hinzunehmen sind.69 Eine Verurteilung darf im Due Process Model nur dann erfolgen, wenn die Schuld in einem prozessordnungsgemäß abgelaufenen Verfahren nachgewiesen worden ist.70 Lässt man die eingangs dieses Beitrags geschilderte Entwicklung des Strafprozessrechts noch einmal Revue passieren, dann bleibt festzuhalten, dass der gemeinrechtliche Inquisitionsprozess jedenfalls in seiner weitgehend formlosen Spätphase vielleicht noch keine reinrassige Realisierung des Crime Control Model darstellt, dass er diesem aber wohl so nahe gekommen ist, wie es ein realer Strafprozess überhaupt nur kann. Der im 19. Jahrhundert entstandene reformierte Strafprozess ist demgegenüber weitgehend dem Due Process Model verpflichtet. Diese Einschätzung dürfte jedenfalls für das kodifizierte Recht gelten. Die vorrangig auf die effiziente Abwicklung des Strafverfahrens abzielende und die Konsequenzen von Verfahrensfehlern weitestmöglich minimierende Praxis zeigt allerdings deutliche Tendenzen hin zu einem Verfahrensverständnis, das eher dem Crime Control Model zu entsprechen scheint. Dieses Auseinanderklaffen des Law on the books einerseits und des Law in action andererseits ist sicherlich kein zwingendes Argument dafür, dass hier etwas falsch läuft. Wenn und soweit die Strafrechtspraxis gesetzliche Vorgaben durch eine restriktive Interpretation kleinredet oder sogar gänzlich negiert, weil sie dies im Hinblick auf eine effektive Verbrechensbekämpfung für geboten erachtet, ist dies aber doch zumindest einer näheren Begründung bedürftig.71 Angesichts dessen, dass die materielle Wahrheit nur eine Zielvorstellung darstellt, die realistisch betrachtet allenfalls annäherungsweise erreicht werden kann, wird die schützende Förmlichkeit des Verfahrens deutlich unter ihrem Wert gehandelt und es bleibt zu hoffen, dass das Pendel den Scheitelpunkt erreicht hat und nun wieder in die andere Richtung schwingen wird.
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Packer (Fn. 55), S. 164 f. Packer (Fn. 55), S. 166 ff. 71 Vgl. auch bereits Hassemer, FS Lange, 1976, S. 518 f.
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V. Strafrecht, Strafrechtswissenschaft und Strafgesetzgebung
„Erst geköpft, dann gehangen“ Sicherungsverwahrung neben lebenslanger Freiheitsstrafe Von Clemens Basdorf
I. Einleitung Ein Angeklagter wird zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Das heißt Freiheitsentzug auf unbegrenzte Dauer. Wird zusätzlich Sicherungsverwahrung angeordnet, heißt dies nochmals Freiheitsentzug auf unbegrenzte Dauer nach Verbüßung der – indes ihrerseits unbegrenzten – lebenslangen Freiheitsstrafe. Da jeder Mensch nur ein Leben hat, gemahnt die auf den ersten Blick offensichtliche Sinnlosigkeit dieser Kombination einen Opernfan an den humorig-sarkastischen Schluss der Arie des Haremswächters Osmin aus Mozarts Singspiel „Die Entführung aus dem Serail“: „Erst geköpft, dann gehangen, dann gespießt auf heiße Stangen; dann verbrannt, dann gebunden, und getaucht; zuletzt geschunden.“1
Diese Arie ist dem Jubilar, bekanntermaßen ein großer Musikfreund und -kenner, natürlich wohlbekannt. Und jegliche Verbreitung von Skepsis im Zusammenhang mit dem Institut der Sicherungsverwahrung, das krakenartig auch vor einem seiner zentralen Spezialgebiete, dem Jugendstrafrecht, nicht Halt gemacht hat, dürfte ihm sympathisch sein,2 so dass es nicht unangemessen erscheinen muss, ihm zum gewählten Thema einen Festschriftaufsatz zu widmen, selbst wenn dieses nicht unmittelbar im Zentrum seiner strafrechtlichen Interessen und Schwerpunkte steht.
1 Mozart, Die Entführung aus dem Serail, 1782, 1. Aufzug, Arie Nr. 3, wiederholt im 3. Aufzug, Finale. 2 Vgl. seine kritischen Ausführungen: Eisenberg, JGG, 19. Aufl. 2017, § 7 Rn. 30 ff. und § 106 Rn. 10 ff.; Eisenberg/Schlüter, NJW 2001, 188; Eisenberg, StV 2011, 480; Eisenberg, NStZ 2013, 227.
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II. Hauptteil 1. Ausgangslage Natürlich stellt sich die Lage nicht ganz so platt dar, wie eingangs beschrieben. Denn dem zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten – nicht anders als dem Sicherungsverwahrten – muss im Blick auf seine Menschenwürde und das Freiheitsgrundrecht eine Hoffnung auf Wiedererlangung der Freiheit in gesetzlich geregelten Bahnen eröffnet werden.3 So ist dem zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten die Aussetzung der Vollstreckung des „Restes“ der lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bewährung, will heißen die vorzeitige Entlassung, nach mindestens fünfzehn Jahren Verbüßungsdauer (§ 57a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StGB) unter der Voraussetzung zu gewähren, dass dies unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann (§ 57a Abs. 1 S. 1 Nr. 3, § 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB). Und die Vollstreckung der dem Schutz der Allgemeinheit vor gefährlichen Tätern im Bereich der schweren Kriminalität dienenden Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (§ 66 StGB), die erst nach Vollzug der Freiheitsstrafe zu vollziehen ist, wird zur Bewährung ausgesetzt, wenn die vor dem Ende des Vollzugs der Strafe erforderliche Prüfung ergibt, dass der Zweck der Maßregel die Unterbringung nicht mehr erfordert (§ 67c Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StGB). Der Maßstab ist nicht unterschiedlich; es sind praktisch keine Fälle denkbar, in denen die Aussetzung der Freiheitsstrafe nicht mit der Aussetzung der Maßregel einhergeht. Auch bezogen auf einen etwaigen Widerruf ist ein unterschiedliches Schicksal der Bewährungen kaum denkbar, mit der Folge, dass dann wieder die – unbegrenzte – Freiheitsstrafe vollzogen wird. Für eine freiheitsentziehende Sicherung durch die Maßregel der Sicherungsverwahrung neben lebenslanger Freiheitsstrafe besteht mithin kein Bedarf. 2. Entwicklung von Rechtsprechung und Gesetzgebung Aus dieser Sinnhaftigkeit leitete ein Berliner Schwurgericht unter Vorsitz des besonders angesehenen Praktikers Friedrich-Karl Föhrig4 im Jahre 1999, als das Gesetz in den verschiedenen Absätzen des § 66 StGB für die Verhängung von Sicherungsverwahrung noch „zeitige“ Freiheitsstrafe als Verurteilungsgegenstand verlangte, einen Ausschluss der Sicherungsverwahrung neben einer lebenslangen Gesamtfreiheitsstrafe her, in welche auch die Verurteilung wegen einer Tat zu zeitiger Freiheitsstrafe einbezogen war. Dies widersprach freilich verbindlicher Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, der die Maßregel der Sicherungsverwahrung mit Rücksicht auf 3
BVerfGE 45, 187 (223, 239, 245). Beim Landgericht Berlin zwischen 1984 und 2003 tätiger Strafkammervorsitzender, bei dem vier spätere Bundesrichter Beisitzer waren, zunächst Dr. Ingeborg Tepperwien, sodann, teils gleichzeitig, der Verfasser, später nacheinander Prof. Dr. Günther M. Sander, der zuvor Assistent und Doktorand des Jubilars gewesen war, sowie Prof. Dr. Andreas Mosbacher. Der Jubilar hat Föhrig vielleicht sogar schon zuvor als ebenfalls herausragenden Jugendrichter beim Amtsgericht Tiergarten kennengelernt. 4
„Erst geköpft, dann gehangen“
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eine zeitige Freiheitsstrafe für eine weitere neben der mit lebenslang geahndeten Tat für zulässig befunden hatte.5 Der Bundesgerichtshof hatte die Beschränkung der Sicherungsverwahrung auf zeitige Freiheitsstrafe zudem wiederholt als bedenklich bezeichnet.6 So wurde denn das – dem unbefangenen Leser nicht anders als vernünftig und weise imponierende – Urteil des Landgerichts Berlin auf Revision der Staatsanwaltschaft aufgehoben, soweit die Anordnung der Sicherungsverwahrung unterblieben war.7 Vielleicht war ja auch der „horror pleni“ ein wesentliches Motiv für das Urteil des Senats, der vor einer gegenteiligen Entscheidung nach § 132 GVG die Kraft eines Anhörungs-, im Misserfolgsfall anschließend eines Vorlageverfahrens an den Großen Senat hätte auf sich nehmen müssen.8 Kurze Zeit später hat der Gesetzgeber den vom Bundesgerichtshof angeführten Bedenken Rechnung getragen und im Jahre 2002 bei Einführung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung die Einschränkung der Anordnung der Sicherungsverwahrung neben „zeitiger“ Freiheitsstrafe entfallen lassen, um die Maßregel auch neben – zumal mehrfach verhängter – lebenslanger Freiheitsstrafe zu ermöglichen.9 Seitdem haben sich aus der Rechtsprechung auch nicht etwa gegenläufig durchgreifende Zweifel an der Zulässigkeit, im Fall des § 66 Abs. 1 StGB gar Gebotenheit der Anordnung von Sicherungsverwahrung neben lebenslanger Freiheitsstrafe erkennen lassen. In der Öffentlichkeit – namentlich in der „Regenbogenpresse“ – besteht ohnehin Skepsis an einer hinreichend wirksamen Sicherung der Allgemeinheit durch lebenslange Freiheitsstrafe infolge der gesetzlich vorgesehenen Aussetzungsmöglichkeit. So wird, gerade in besonders schrecklichen Mord-, namentlich Kindesmordfällen, neben dem Hinausschieben des frühestmöglichen Entlassungszeitpunkts durch Annahme besonderer Schuldschwere (§ 57a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB) die Anordnung von Sicherungsverwahrung dringlich erwartet.10
5
BGH, Urt. v. 23. April 1985 – 1 StR 126/85, NJW 1985, 2839; Urt. v. 23. Juli 1986 – 3 StR 164/86, BGHSt 34, 138. 6 BGH, Beschl. v. 17. Dezember 1985 – 1 StR 564/85, BGHSt 33, 398; Urt. v. 23. August 1990 – 4 StR 306/90, BGHSt 37, 160; entsprechend dann auch der 5. Strafsenat (Fn. 7) und BGH, Beschl. v. 12. Juli 2002 – 2 StR 62/02, NJW 2002, 3559; zu den Gründen unten 3. b). 7 BGH, Urt. v. 21. März 2000 – 5 StR 41/00, NStZ 2000, 417. Den Vorsitz führte Monika Harms; der Senat entschied so dem geflügelten Wort zuwider „Föhrig wird nicht aufgehoben!“; dazu Harms auf S. VI ihres Vorworts zu Föhrig, Kleines Strafrichter-Brevier, 2. Aufl. 2013. 8 Der Verfasser hat an dem genannten Urteil (Fn. 7) nicht mitgewirkt. Berichterstatter war Joachim Häger, der viel zu früh verstorbene gute Freund des Jubilars; vgl. zur hier abgehandelten Problematik auch seine Kommentierung: LK/Häger, 11. Aufl. 2003, § 38 Rn. 11. 9 Gesetz v. 21. August 2002, BGBl. I 3344; vgl. zu den Materialien BT-Drucks. 14/8586 S. 5 f.; 14/9041 S. 1; 14/9456 S. 8. 10 Vgl. dazu Kett-Straub, GA 2009, 586 (600); Boetticher, FS Widmaier 2008, S. 871 (883 f.).
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Von der Rechtsprechung wird die Nutzlosigkeit der Maßregel in ihrem Kern als freiheitsentziehende Sicherung letztlich durchaus anerkannt.11 Für den Bereich der Maßregelanordnung nach Ermessen (§ 66 Abs. 2 und Abs. 3 StGB) ist teilweise – namentlich im Nachgang zu den wechselvoll unruhigen Zeiten um die Sicherungsverwahrung mit Beanstandungen und erzwungenen Änderungen durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und das Bundesverfassungsgericht12 – eine Neigung zu Ablehnung des Nebeneinander von Lebenslang und Sicherungsverwahrung deutlich geworden.13 In der Literatur wird die Kombination vielfältig kritisiert, als nutzlos und unverhältnismäßig bewertet.14 3. Gründe für das Nebeneinander a) Dem Brandmarken des Verurteilten durch Anordnung von Sicherungsverwahrung neben lebenslanger Freiheitsstrafe kann als bloßer plakativer Wertäußerung kein anerkennenswerter Sinn zuerkannt werden. Soweit die Öffentlichkeit hierauf Wert legt, ist solches Anliegen im Wege intensiver Aufklärung über die Rechtsund Sicherheitslage als hohle Scheinargumentation zu enttarnen. Soweit vom Bundesrat in dem im Jahre 2002 durchgeführten Gesetzgebungsverfahren die Auffassung angedeutet wurde, die Verhängung von Sicherungsverwahrung neben lebenslanger Freiheitsstrafe garantiere eine weniger risikofreudige Prüfung vorzeitiger Entlassung,15 ist dem entgegenzuhalten, dass die Prüfung nach § 57a StGB, die ebenfalls unter sachverständiger Begleitung erfolgt (§ 454 Abs. 2 StPO), selbstverständlich eine ebenso sicherheitskritische Beurteilung unter sorgfältigster Berücksichtigung des Vorlebens des wegen eines Kapitalverbrechens Verurteilten erfordert wie eine – zusätzlich – auf § 67c StGB gestützte Prüfung. Für die Intensität der Prüfung kann es keinen Unterschied machen, dass nicht bereits formelle Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung nach § 66 StGB im tatgerichtlichen Urteil im Einzelnen festgestellt sind und dort auch nicht mit sachverständiger Hilfe ein Hang zu erheblichen Straftaten im Sinne von § 66 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 StGB angenommen wurde. Dass die zusätzliche Anordnung von Sicherungsverwahrung eine von vornherein noch zurückhaltendere, mit besonders großen Vorbehalten verknüpfte Einstellung zur Haftentlassung eines zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten befördern 11 BGH, Urt. v. 25. Juli 2012 – 2 StR 111/12; v. 10. Januar 2013 – 3 StR 330/12; Beschl. v. 12. Dezember 2012 – 2 StR 325/12, StV 2013, 630; v. 17. April 2014 – 3 StR 355/13, NStZRR 2014, 207; v. 24. Januar 2017 – 2 StR 459/16. 12 Vgl. nur Fischer, StGB, 65. Aufl. 2017, § 66 Rn. 4 ff.; MüKo-StGB/Ullenbruch/Drenkhahn/Morgenstern, 3. Aufl. 2016, § 66 Rn. 20 ff. 13 Vgl. BGH, Urt. v. 12. Juni 2013 – 5 StR 129/13, NStZ 2013, 524; Beschl. v. 17. April 2014 – 3 StR 355/13, NStZ-RR 2014, 207; jeweils m.w. Rspr.-Nachw. 14 Vgl. MüKo-StGB/van Gemmeren, 3. Aufl. 2016, § 62 Rn. 6; Matt/Renzikowski/ Eschelbach, StGB, 2013, § 66 Rn. 12, 63; Kett-Straub, GA 2009, 586 (600); Kemme, HRRS 2014, 174 m.w.N. 15 BT-Drucks. 14/9456, S. 8.
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und bereits entsprechende Vorbehalte gegen die Gewährung von Lockerungen im Vollzug der lebenslangen Freiheitsstrafe erwecken mag, liegt sicherlich nahe. Bloßer Leitfaden für Vollstreckungsentscheidungen und Vollzugspläne zu sein, ist aber nicht die Funktion einer Maßregel, die ihrerseits zu keiner eigenständigen Vollstreckung taugt. Hätten die für den Strafvollzug Verantwortlichen und die zu Vollstreckungsentscheidungen Berufenen davon auszugehen, dass neben lebenslanger Freiheitsstrafe die Maßregel der Sicherungsverwahrung ausscheidet, müssten sie sich bei ihren Entscheidungen die wesentlichen Erkenntnisse zu Vorbelastungen des Verurteilten und die auch daraus abzuleitende Beurteilung seiner Gefährlichkeit von vornherein pflichtgemäß selbst erarbeiten, ebenfalls maßgeblich aufgrund der Feststellungen im rechtskräftigen Urteil, ohne dass dem freilich zusätzliche spezifische Negativwertungen zu entnehmen wären. Auf ein solches Präjudiz sind die entscheidenden Strafvollstreckungsrichter wie die maßgeblichen Vollzugsbediensteten nicht angewiesen; sie müssen sich ihrer eigenen sicherheitskritischen hohen Verantwortung bewusst sein. b) Es bleiben freilich zwei bereits in den erwähnten frühen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs mit unterschiedlicher Intensität herausgearbeitete Begleitumstände der Anordnung der Sicherungsverwahrung, die zwar nicht den primären Sicherungszweck ausmachen, aber doch einigermaßen markante Folgewirkungen der Maßregel sind, an denen es bei bloßer Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe fehlen würde: Zum einen zieht die Aussetzung der Vollstreckung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung gemäß § 67c Abs. 1 S. 1 Hs. 2 StGB die zusätzliche Sicherungsmaßnahme der Führungsaufsicht nach sich,16 die mit der Aussetzung des „Strafrestes“ bei lebenslanger Freiheitsstrafe nach § 57a StGB nicht eintritt.17 Ferner hindert eine Aufhebung der gegen einen gefährlichen Hangtäter verhängten lebenslangen Freiheitsstrafe im Wege der Revision oder Wiederaufnahme und ihre anschließende Ersetzung durch eine zeitige Freiheitsstrafe – beispielsweise wegen eines rechtsfehlerhaft beurteilten oder übersehenen psychischen Defekts, der zur Annahme verminderter Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) führt und eine darauf gestützte Strafrahmenverschiebung veranlasst – wegen des Verschlechterungsverbots (§ 358 Abs. 2, § 373 Abs. 2 StPO) daran, nunmehr neben der zeitigen Freiheitsstrafe Sicherungsverwahrung anzuordnen, wenn sie nicht zuvor schon angeordnet war.18 Da der Bundesgerichtshof einen Ausschluss der Sicherungsverwahrung auch bei Verhängung lebenslanger Gesamtfreiheitsstrafe, in die eine Verurteilung zu zeitiger Einzelfreiheitsstrafe einbezogen war (§ 54 Abs. 1 S. 1 StGB), unter Berufung auf § 53 Abs. 4, § 52 Abs. 4 S. 2 StGB abgelehnt hatte,19 ergab sich neben dem dargelegten Sicherheitsmanko tatsächlich ein schwer verständlicher Wertungswider16
Zusätzlich zur Bewährungsaufsicht tretende sichernde Vorschriften: §§ 68a, 68b, 145a StGB. 17 Vgl. nur BGH, Urt. v. 23. Juli 1986 – 3 StR 164/86, BGHSt 34, 138 (144 f.). 18 Vgl. nur BGH, Urt. v. 23. April 1985 – 1 StR 126/85, NJW 1985, 2839. 19 BGH, Urt. v. 23. Juli 1986 – 3 StR 164/86, BGHSt 34, 138 (142 ff.); Urt. v. 21. März 2000 – 5 StR 41/00, NStZ 2000, 417.
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spruch daraus, dass die weitergehende Absicherung einer vorzeitigen Entlassung durch Führungsaufsicht und die Möglichkeit nachträglicher effektiv notwendiger Anordnung der Sicherungsverwahrung für den Fall des Wegfalls der lebenslangen Freiheitsstrafe nur bei der Verurteilung wegen mehrerer schwerer Straftaten teils zu lebenslanger, teils zu zeitiger Freiheitsstrafe durch begleitende Maßregelanordnung hatte ermöglicht werden können, bei Verurteilung nur zu lebenslanger Freiheitsstrafe, insbesondere selbst bei deren mehrfacher Verhängung rechtlich hingegen unmöglich war („zeitig“). c) Besonders nachhaltig beeinträchtigt war das Rechtsleben durch diesen Mangel und Wertungswiderspruch freilich nicht: Eine ganz wesentliche Zusatzsicherung wird dem Eintritt von Führungsaufsicht angesichts fünfjähriger Bewährungszeit (§ 57a Abs. 3 S. 1 StGB) und regelmäßig anzuordnender Bewährungsaufsicht (§ 57a Abs. 3 S. 2, § 57 Abs. 3 S. 2 StGB) im Fall der Aussetzung lebenslanger Freiheitsstrafe kaum entnommen werden können.20 Und die Verhängung einer unmittelbar nutzlosen Maßregel nur zur Absicherung gegen eine unerwünschte prozessuale Folgewirkung für den Fall, dass die materiellrechtliche Beurteilung sich entgegen eigener Beurteilung als nicht tragfähig erweisen sollte, widerspricht gradliniger tatgerichtlicher Denkweise.21 Der Bundesgerichtshof hat dem Gesetzgeber, als er ihn auf den Wertungswiderspruch hinwies, bedauerlicherweise nicht aufgezeigt, dass der angenommene Mangel auf andere, bei besonnener Betrachtung sehr viel näher liegende Art und Weise zu beseitigen gewesen wäre, indem im Falle der Strafrestaussetzung bei lebenslanger Freiheitsstrafe Führungsaufsicht kraft Gesetzes hätte angeordnet werden können und korrespondierend mit der Regelung für die Maßregeln der Unterbringung nach § 63 und § 64 StGB eine weitere Ausnahme vom Verschlechterungsverbot für die Unterbringung nach § 66 StGB im Falle des Fortfalls lebenslanger Freiheitsstrafe zu normieren gewesen wäre.22 Stattdessen hat der Gesetzgeber, dem Wunsch des Bundesgerichtshofs ohne Alternativüberlegungen folgend, den Wertungswiderspruch gleichsam en passant im Jahre 2002 kurzerhand durch Streichung des Begriffs „zeitig“ in allen Absätzen des § 66 StGB gelöst und damit die uneingeschränkte Möglichkeit der Anordnung von Sicherungsverwahrung neben lebenslanger Freiheitsstrafe ersichtlich eröffnen wollen.23
20
Vgl. Kett-Straub, GA 2009, 586 (593). Aus persönlichen Gesprächen über den 2000 entschiedenen Fall (Fn. 7) erinnert sich der Verfasser, dass Friedrich-Karl Föhrig die auf eine mögliche Urteilsaufhebung gestützte Argumentation auch besonders befremdet hat. 22 Vgl. zur Führungsaufsicht: Peglau, NJW 2000, 2980 (2981); zu gesetzgeberischen Überlegungen zur gänzlichen Ausnahme auch der Sicherungsverwahrung vom Verschlechterungsverbot, freilich in dieser unbegrenzten Form zutreffend ablehnend: U. Schneider, NStZ 2008, 68 (73). 23 Vgl. oben Fn. 9. 21
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4. Jüngste Entwicklung Nachdem die Diskussion um die Sicherungsverwahrung mit wechselnden Neuregelungen und teils überaus komplizierten Entscheidungen24 einigermaßen zur Ruhe gekommen war, erklärte der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs schon im Jahre 2013 Sicherungsverwahrung neben lebenslanger Freiheitsstrafe in Fällen zwingender Anordnung nach § 66 Abs. 1 StGB ausdrücklich für zulässig.25 Mitte des Jahres 2017 war dann mit einiger Spannung zu erwarten, wie zwei Strafsenate des Bundesgerichtshofs in Fällen fakultativer Anordnung (§ 66 Abs. 2 und Abs. 3 StGB) über das Nebeneinander von lebenslanger Freiheitsstrafe und Sicherungsverwahrung entscheiden würden. Eine Überraschung ist weiterhin ausgeblieben: Mit Grundsatzurteilen vom 28. Juni 2017 haben sowohl der 2. als auch der 5. Strafsenat entschieden, dass neben lebenslanger Freiheitsstrafe auch in diesen Fällen, und zwar auch bei Feststellung besonderer Schuldschwere, die Anordnung von Sicherungsverwahrung zulässig sei.26 Ungeachtet der Skepsis vieler Autoren27 wäre die radikale Überlegung, das Nebeneinander schlicht aus Gründen der Verhältnismäßigkeit (§ 62 StGB i.V.m. dem Rechtsstaatsgebot und dem Freiheitsgrundrecht) zu verbieten, wohl zu weitgehend. Eine Entscheidung, die unter Berufung auf die unmittelbare Wirkungslosigkeit der Sicherungsverwahrung neben lebenslanger Freiheitsstrafe die in § 66 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 StGB verlangte Gefährlichkeit in Abkehr von ständiger Rechtsprechung28 im Blick auf die durch die lebenslange Freiheitsstrafe garantierte vollständige Sicherung verneint hätte oder zu einer teleologischen und aus Gründen der Verhältnismäßigkeit vorgenommenen Reduktion des Anwendungsbereichs des § 66 StGB (vielleicht auch nur der Absätze 2 und 3) auf Fälle der Verhängung zeitiger Freiheits- wie Gesamtfreiheitsstrafe gelangt wäre, hätte, wenn nicht gar dem Wortlaut, so doch klar dem Willen des Gesetzgebers von 2002 widersprochen. Sich hierüber etwa doch hinwegzusetzen – natürlich auch nur denkbar über den Großen Senat –, haben auch die beiden jüngsten Grundsatzurteile angesichts der dargelegten verbleibenden sinnvollen Auswirkungen des Nebeneinander von Lebenslang und Sicherungsverwahrung, Führungsaufsicht und Verschlechterungsverbot betreffend, letztlich wohl zu Recht verworfen; sie hätten sich anders doch überhoben. Das muss nach sorgfältiger Überlegung auch der Verfasser bei aller Skepsis gegen das unselige Nebeneinander einräumen. Ein weiterer Aspekt des Nebeneinander, der primär fast skurril erscheint, ergibt sich nun aber auch aus Folgendem: Der 2. und der 5. Strafsenat haben in den jüngsten 24
Vgl. oben Fn. 12. BGH, Urt. v. 24. Oktober 2013 – 4 StR 124/13, BGHSt 59, 56. 26 BGH, Urt. v. 28. Juni 2017 – 2 StR 178/16, NStZ 2018, 32, sowie Urt. v. 28. Juni 2017 – 5 StR 8/17, NStZ 2017, 524, jeweils für BGHSt bestimmt; den Vorsitz beim 5. Strafsenat führte beim letztgenannten Urteil Prof. Dr. Günther M. Sander als stellvertretender Senatsvorsitzender, Prof. Dr. Andreas Mosbacher war Beisitzer (vgl. zu beiden oben Fn. 4). 27 Vgl. Fn. 14. 28 Nachweise bei Fischer, StGB (Fn. 12), § 66 Rn. 66. 25
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Entscheidungen auf die Möglichkeit der Überweisung in den Vollzug der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt zur besseren Resozialisierungsförderung gemäß § 67a Abs. 2 StGB verwiesen. Wenn dies wirklich schon während der Dauer des Vollzugs der lebenslangen Freiheitsstrafe nach § 67a Abs. 2 S. 2 StGB – trotz rechtlich ausgeschlossenen späteren Vollzugs der Sicherungsverwahrung – zulässig sein sollte, ergäbe sich daraus eine erhebliche Besserstellung des zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten, gegen den zugleich Sicherungsverwahrung angeordnet ist, im Vergleich zu dem entsprechend Verurteilten, gegen den keine solche Maßregel angeordnet ist. Insbesondere ergibt sich eine erhebliche Besserstellung infolge Anordnung der Sicherungsverwahrung durch die dem so Verurteilten schon im Strafvollzug zu gewährende Betreuung und Behandlung nach § 66c Abs. 2, Abs. 1 Nr. 1 StGB – Maßnahmen, die im Rahmen der Neuregelungen zur Verwirklichung der verfassungs- und menschenrechtlich gebotenen Einschränkungen der Sicherungsverwahrung eingeführt wurden. Darin mag man einerseits besonders effektive Resozialisierungsförderung für herausragend gefährliche Verurteilte als weiteren tragfähigen Grund für das hier kritisch hinterfragte Nebeneinander von Lebenslang und Sicherungsverwahrung hineinlesen. Andererseits träten aber insoweit sofort problematische Gleichheitsüberlegungen auf den Plan: Müsste nicht der als harmloser bewertete, „lediglich“ zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilte für sich in Anspruch nehmen können, entsprechende Resozialisierungserleichterungen zu erlangen? Bestünde doch sonst gar die Gefahr, dass – abgesehen von unterschiedlicher Vollzugsgestaltung – der effektiv Unterstützte schneller als der nicht so Geförderte wieder in Freiheit gelangen könnte, obgleich ihm doch bei seiner Verurteilung wegen seiner Gemeingefährlichkeit allerintensivste Freiheitsbeschränkung zuteil werden sollte. Ein Königsweg, der solche Ungerechtigkeit ausschlösse, wäre die entsprechende Anwendung der genannten für die Sicherungsverwahrung geschaffenen Maßnahmen auf zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilte.29 Ob eine daraus abzuleitende gewisse Umwertung der lebenslangen Freiheitsstrafe gewollt würde, muss man wohl aber bezweifeln.
III. Schluss So gelangt der Verfasser zwar zu dem leicht resignierenden Schluss, dass auch er Osmins „Erst geköpft, dann gehangen“30 nicht anders als sein alter Senat wohl gebilligt hätte, obgleich er spontan – nicht anders als vermutlich auch der verehrte Jubilar – zum Gegenteil geneigt hätte. Zu einem euphorischen Gutheißen dieses Ergebnisses im Blick auf die zuletzt dargelegten weitgehenden Resozialisierungschancen vermag sich der Verfasser aber nicht zu entschließen. Vielmehr läge es bei Anerken29 Vgl. zu derartigen Überlegungen Streng, JZ 2017, 507; Kett-Straub, JZ 2018, 101 (104); vgl. auch bereits Kreuzer, StV 2011, 122 (123). 30 Oben I.
„Erst geköpft, dann gehangen“
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nung der Berechtigung und Notwendigkeit lebenslanger Freiheitsstrafe für Fälle schwersten Unrechts31 im Interesse der begrenzten allgemeinen Justizressourcen, speziell auch der Vollzugsressourcen, die Maßregel der Sicherungsverwahrung keinesfalls neben lebenslanger Freiheitsstrafe anzuordnen.32 Es bedürfte dafür einer intensiven Aufklärung der von medial verbreiteten Schreckensvisionen beeinflussten Öffentlichkeit, dass durch eine solche Regelung keine berechtigten Sicherheitsinteressen gefährdet wären. Und es bedürfte folgender Neuregelungen: In § 66 StGB wäre klarzustellen, dass die Anordnung von Sicherungsverwahrung nur neben der Verhängung zeitiger Freiheits- inklusive Gesamtfreiheitsstrafe zulässig ist. In § 68 f Abs. 1 S. 1 StGB sollte der Fall der Aussetzung des Strafrestes bei lebenslanger Freiheitsstrafe (§ 57a StGB) für Führungsaufsicht kraft Gesetzes (§ 68 Abs. 2 StGB) aufgenommen werden. Schließlich sollten § 358 Abs. 2 S. 3 und § 373 Abs. 2 S. 2 StPO dahin ergänzt werden, dass das Verschlechterungsverbot ferner „im Falle der Aufhebung einer Verurteilung zu lebenslanger Freiheitsstrafe der Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung“ nicht entgegensteht.33 Die Hoffnung, dass ein solcher Vorschlag, der bereits 2002 anstelle der damaligen Novelle hätte umgesetzt werden sollen, tatsächlich eine – gar ähnlich rasche – Verwirklichung erfahren könnte, ist indes wahrscheinlich illusorisch. Man muss somit weiter das Nebeneinander von Lebenslang und Sicherungsverwahrung ertragen, eine weitgehend widersinnige Anwendung der Bauernregel „Doppelt hält besser“.34 Sinnvoll bleibt diese Regel hingegen für einen ganz anderen Casus: für die zweite Festschrift für den so unglaublich produktiven, vielseitigen, kritischen und nachdenklichen Jubilar Prof. Dr. Ulrich Eisenberg.
31 Eine Neuordnung der Strafvorschriften für Kapitaldelikte könnte hier, beispielsweise durch Reduktion der Mordmerkmale oder Rückführung der absoluten Androhung lebenslanger Freiheitsstrafe, einige bislang erfasste weniger extreme Fälle ausnehmen; vgl. hierzu nur MüKo-StGB/H. Schneider, 3. Aufl. 2017, Vor § 211 Rn. 199 ff. 32 Vgl. dazu schon Kinzig, NJW 2002, 3204. 33 Konsequent sollte man freilich dann in der Rechtsprechung die vom 5. Strafsenat (Fn. 26), Rz. 19 angesprochene – ohnehin in einem Spannungsverhältnis zum Prinzip der Gefährlichkeitsbeurteilung nach dem Stand des tatgerichtlichen Urteils stehende – Auffassung in Frage stellen, dass abzusehende Strafvollzugswirkungen die Anordnung der Sicherungsverwahrung u. U. verhindern können; sonst müsste man erwägen, die Ausnahme vom Verschlechterungsverbot auch auf die Aufhebung einer längeren zeitigen Freiheitsstrafe zu erstrecken. 34 So der Titel des Beitrags von Kemme, HRRS 2014, 174.
Untauglicher Versuch oder Wahndelikt? Überlegungen zu einem dogmatischen Problem aus der Perspektive der Normen- und der Straftheorie Von Wolfgang Frisch Mit Fragen der Legitimation staatlichen Strafens hat Ulrich Eisenberg sich in seinem reichen wissenschaftlichen Werk immer wieder beschäftigt.* Der folgende Beitrag versucht zu zeigen, dass die Legitimation der Strafe nicht nur in grundsätzlicher Hinsicht bedeutsam ist, sondern bis in die Lösung scheinbar rein dogmatischer Einzelfragen hineinwirkt. Das gilt sogar für Themen, die man lange Zeit mit einfachen Formeln und Umkehr- oder Symmetrieprinzipien glaubte angehen zu können – wie die im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen stehende Frage nach der richtigen Behandlung des sogenannten umgekehrten Irrtums. Die Frage bereitet nicht nur vielen Studierenden, sondern auch erfahrenen Praktikern und Wissenschaftlern immer wieder Schwierigkeiten – und zwar auch dann, wenn man sich auf die Irrtümer im Bereich des Tatbestands und der Verbotsnorm beschränkt und die irrige Annahme des Gegebenseins von Rechtfertigungssachverhalten beiseitelässt. Zwar sind die Grundsätze klar: Wer irrtümlich vom tatsächlichen Gegebensein eines Sachverhalts ausgeht, der tatbestandlich erfasst ist (wie z. B. der Schuss auf einen lebenden Menschen), handelt in der Vorstellung, einen Tatbestand zu verwirklichen, und begeht damit, wenn die Verwirklichung objektiv nicht möglich ist (das angezielte Objekt ist bereits verstorben), einen untauglichen Versuch, der – bei Strafbedrohung des Versuchs – prinzipiell strafbar ist. Straflos bleibt dagegen, wer glaubt, sein Verhalten (das er in tatsächlicher Hinsicht zutreffend erfasst hat) unterfalle einem strafrechtlichen Tatbestand oder Verbot, wenn das objektiv nicht der Fall ist; sein Glaube, deliktisch zu handeln, bildet ein sogenanntes Wahndelikt – wie im Falle des „Täters“, der den unbefugten Gebrauch wertvoller Maschinen für strafbar hält. Freilich liegen die zu beurteilenden Fälle nicht immer so einfach.
* Schon in der Dissertation über „Strafe und freiheitsentziehende Maßnahmen“, 1967; danach vor allem in seiner „Einführung in die Kriminologie“, 1972 und der bis in 6. Aufl. 2005 erschienenen „Kriminologie“ sowie in den Kommentierungen zum „Jugendgerichtsgesetz“, die mittlerweile in 20. Aufl. 2018 vorliegen.
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Wolfgang Frisch
I. Problematische Fallkonstellationen – Partielle Klärung durch neuere Entwicklungen Schwierigkeiten bereitet die Behandlung sogenannter umgekehrter Irrtümer vor allem im Bereich der sogenannten normativen Tatbestandsmerkmale sowie gewisser Merkmale, die häufig als Blankettmerkmale bezeichnet werden. Wie ist z. B. eine Person zu behandeln, die ein Schriftstück mit einer vorgedruckten Erklärung, aber ohne erkennbare Ausstellerangabe in der Annahme verändert, damit eine Urkunde zu verfälschen: Untauglicher Versuch einer Urkundenfälschung (§ 267 StGB), weil die Person trotz Fehlens einer Urkunde ja doch vom Gegebensein einer Urkunde und damit einem Tatbestandsmerkmal (sowie der Tatbestandsverwirklichung) ausgegangen ist? Oder Wahndelikt, weil in Bezug auf das Schriftstück mangels objektiver Urkundsqualität gar kein Verbot der Urkundenfälschung bestand? Und der Amtsträger, der ein ihm angezeigtes Geschehen, das lediglich eine Ordnungswidrigkeit darstellt, für eine Straftat hält und die Verfolgung unterlässt: Begeht er einen untauglichen Versuch der Strafvereitelung, weil er irrig das Gegebensein eines Tatbestandsmerkmals („rechtswidrige Tat“ i.S. des § 258 StGB) annimmt und damit den (objektiv nicht verwirklichten) Tatbestand der Strafvereitelung zu verwirklichen glaubt? Oder handelt es sich um ein Wahndelikt, weil in Bezug auf das angezeigte Geschehen ein Verbot der Strafvereitelung gar nicht bestand? Wie ist schließlich der Fall zu beurteilen, in dem eine Person, die irrtümlich annimmt, ein bestimmter Vorgang löse einen staatlichen Steueranspruch aus, diesen Vorgang, um Steuern zu sparen, nicht anzeigt: Untauglicher Versuch einer Steuerhinterziehung (§ 370 Abgabenordnung), weil die Person nach ihrer Vorstellung „Steuern verkürzt“, also den Tatbestand des § 370 AO verwirklicht? Oder Wahndelikt, weil mit Bezug auf den irrtümlich als steuerauslösend eingeschätzten Vorgang (wegen der steuerlichen Unerheblichkeit) eine Anzeigepflicht nicht besteht? Die Rechtsprechung hat die drei beispielhaft genannten Fälle sowie eine Reihe ähnlicher Konstellationen uneinheitlich entschieden;1 und auch in der Literatur wurden diese Fälle kontrovers behandelt (und werden es z. T. noch immer).2 Im Urkundsfall neigte der BGH zunächst einem untauglichen Versuch der Urkundenfälschung zu;3 später entschied er sich für ein Wahndelikt.4 Im Strafvereitelungsfall sah der 1 Überblicke bei Roxin, Strafrecht AT II, 2003, § 29 Rn. 416 ff.; Schönke-Schröder/Eser/ Bosch, StGB, 29. Aufl. 2014, § 22 Rn. 90; eingeh. Darstellung bei Heidingsfelder, Der umgekehrte Subsumtionsirrtum, 1991, S. 48 ff. 2 Siehe etwa die Darstellungen von Burkhardt, JZ 1981, 681 ff.; Heidingsfelder (Fn. 1), S. 92 ff., 146 ff.; Herzberg, JuS 1980, 469 ff.; Kindhäuser, GA 1990, 407 ff.; Kuhlen, Die Unterscheidung zwischen vorsatzausschließendem und nichtvorsatzausschließendem Irrtum, 1987, S. 73 ff., 558 ff.; Puppe, GA 1990, 145 ff.; Roxin (Fn. 1), § 29 Rn. 388 ff.; Schlüchter, Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale im Strafrecht, 1983, S. 145 ff.; Schuster, Das Verhältnis von Strafnormen und Bezugsnormen aus anderen Rechtsgebieten, 2012, S. 95 ff.; Streng, GA 2009, 529 ff.; Walter, Der Kern des Strafrechts, 2006, S. 379 ff. 3 BGHSt 7, 53 (58). 4 BGHSt 13, 235 (241).
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BGH die Lösung in der Annahme eines untauglichen Versuchs;5 andere Gerichte sprachen sich bei vergleichbarer Sachlage für ein Wahndelikt aus.6 Den Fall der vom Täter irrig angenommenen Steuerpflicht hat schon das RG kontrovers entschieden;7 ähnliche Unterschiede in der Beurteilung finden sich auch noch danach in Rechtsprechung und Literatur.8 Vergleichbares gilt auch für die Behandlung von umgekehrten Irrtümern im Bereich anderer normativer Merkmale sowie von Blankettmerkmalen.9 So nimmt es nicht wunder, dass die damit angesprochene Materie noch bis vor etwa anderthalb Jahrzehnten als „im Grenzbereich sehr schwierig und nicht abschließend geklärt“ bezeichnet worden ist.10 Diese Einschätzung ist im Kern auch heute noch richtig. Freilich ist nicht zu übersehen, dass der Grenzbereich mittlerweile deutlich kleiner geworden ist. Zu einer partiellen Klärung haben mehrere Erkenntnisse und Entwicklungen beigetragen, die hier zunächst dargestellt und weitergeführt werden sollen, bevor etwas näher auf die wenigen verbleibenden, nach wie vor wirklich kontroversen Fallkonstellationen eingegangen werden soll.
II. Terrainverluste des untauglichen Versuchs bei in Wahrheit vorliegender Überdehnung von Tatbestandsmerkmalen Eine erste wichtige Erkenntnis entstammt der differenzierteren Beschäftigung mit dem Wahndelikt. Ein solches liegt ja nicht nur in jenen einfachen Lehrbuchbeispielen vor, in denen der Handelnde an Verbots- oder Strafnormen glaubt, die es überhaupt nicht gibt. In praktischer Hinsicht weit bedeutsamer ist eine Fallkonstellation, die sich erst im Laufe der Zeit immer deutlicher herausgeschält hat. Es sind die Fälle, in denen der Handelnde den Anwendungsbereich einer Norm überdehnt – vor allem, indem er Begriffe einer Norm (eines Tatbestands) auf Sachverhalte erstreckt, die mit dem Begriff (dem Merkmal) gar nicht gemeint sind.11
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BGHSt 15, 210 (212 f.); ebenso Herzberg, JuS 1980, 469 (473, 476 f.). So das BayObLG NJW 1981, 772; zust. Burkhardt, JZ 1981, 681 ff. 7 Für einen untauglichen Versuch RGSt 68, 44 (53 f.); für ein Wahndelikt RGSt 64, 229 (238); 65, 165 (172). 8 Vgl. etwa BGHSt 5, 90 (92); 16, 282; KG NStZ 1982, 73 f. einerseits: untauglicher Versuch; andererseits OLG Düsseldorf NStZ 1989, 370 (372): Wahndelikt; letzterem zust. Burkhardt, wistra 1982, 178 (180); Roxin (Fn. 1), § 29 Rn. 410, 416 m.w.N. 9 Als Beispiel etwa der Irrtum über die „Fremdheit“ der Sache (dazu zuletzt Burkhardt, GA 2013, 346 ff.), über die „Rechtswidrigkeit des (angestrebten) Vermögensvorteils“ (dazu Kudlich, NStZ 1997, 432 ff.). Siehe auch unten V. und VI. 10 Roxin (Fn. 1), § 29 Rn. 379. 11 Zu diesem Falltypus eingeh. Roxin (Fn. 1), § 29 Rn. 383 ff.; Schönke-Schröder/Eser/ Bosch, StGB (Fn. 1), § 22 Rn. 82 ff.; en passant auch schon RGSt 42, 92 (94): „… irrtümliche Erweiterung des Geltungsbereichs“ (der Norm). 6
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Ein Paradebeispiel dafür ist der schon erwähnte, vom BGH zunächst falsch beurteilte und später richtig entschiedene Urkundsfall: Hier hat der Täter mit seiner Annahme, der von ihm veränderte (oder hergestellte) Gegenstand (eine Erklärung ohne erkennbare Ausstellerangabe) sei eine Urkunde, durch Verkennung des Begriffs der Urkunde den Tatbestand überdehnt, ihn nämlich auf Sachverhalte erstreckt, die vom Gesetz gar nicht erfasst werden sollen. Er hat damit den Anwendungsbereich des § 267 StGB auf Sachverhalte ausgedehnt, die mit dem Begriff nicht gemeint sind. Seine Annahme, eine Urkunde vor sich und eine Urkundenfälschung begangen zu haben, die zunächst an einen umgekehrten Tatbestandsirrtum denken lässt, stellt sich damit in Wahrheit als (umgekehrter) Subsumtionsirrtum dar, sein Glaube, sich strafbar gemacht zu haben, als Wahndelikt.12 Von einem untauglichen Versuch könnte nur dann die Rede sein, wenn der Handelnde sich irrtümlich einen Sachverhalt als tatsächlich gegeben vorgestellt hatte, der vom Begriff der Urkunde erfasst wird – also eine menschliche Gedankenerklärung, die zum Beweis geeignet und bestimmt ist und einen Aussteller erkennen lässt. Dass das nicht sofort erkannt worden war und manche an dieser Stelle noch heute irren, liegt daran, dass man mit unpräzisen Fragestellungen gearbeitet hat (und z. T. noch gedankenlos arbeitet). Man fragt(e) danach, ob der Handelnde Tatbestandsvorsatz hat(te), und insoweit weiter, ob er die Vorstellung vom Gegebensein des Tatbestandsmerkmals „Urkunde“ hat(te). Lässt man dafür dann auch noch genügen, dass der Handelnde selbst ja vom Gegebensein einer Urkunde ausging, so ist damit ein Beurteilungsfehler geradezu programmiert. Denn eine Urkunde vor sich zu haben, stellt sich der Täter nicht nur vor, wenn er vom richtigen Begriffsverständnis, also den oben genannten Merkmalen der Urkunde, ausgeht und annimmt, diese seien in seinem Fall gegeben (z. B. weil er irrig eine Beweisbedeutung [der einen Aussteller aufweisenden Erklärung] angenommen hatte), sondern auch dann, wenn er von einem falschen Begriffsverständnis ausgeht und auf der Basis dieses falschen, den Begriff überdehnenden Verständnisses das Gegebensein des Tatbestandsmerkmals bejaht. Für die praktische Rechtsanwendung bedeutet dies zugleich, dass zur Vermeidung solcher Fehler stets danach zu fragen ist, ob der Handelnde, der glaubt, ein bestimmtes Tatbestandsmerkmal sei verwirklicht, hierbei vom richtigen Begriffsverständnis ausgegangen ist und (auf dieser Basis) irrtümlich angenommen hat, der danach maßgebliche Sachverhalt liege tatsächlich vor (dann untauglicher Versuch). Oder: ob er zur irrtümlichen Annahme des Gegebenseins des (in Wahrheit nicht gegebenen) Tatbestandsmerkmals allein auf Grund eines fehlerhaften (den Begriff überdehnenden) Begriffsverständnisses gelangt ist (dann Wahndelikt).
12 Zutr. (unter Aufgabe von BGHSt 7, 53, [58]) BGHSt 13, 235 (241) unter Zustimmung der heute h.M. (vgl. statt vieler Roxin [Fn. 1], § 29 Rn. 393); gegen den BGH aber noch Foth, JR 1965, 366 ff. und Traub, JuS 1967, 113 (116 f.).
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III. Erschütterung des Glaubens an ein Umkehrprinzip und Rekurs auf materiale Kriterien zur Begründung und Eingrenzung des untauglichen Versuchs Mehr Klarheit in die Diskussion um die Abgrenzung von untauglichem Versuch und Wahndelikt hat aber nicht nur die dezidierte Orientierung an der Norm gebracht – indem sie aufgedeckt hat, dass hinter einer Reihe von umgekehrten Irrtümern über Tatbestandsmerkmale bzw. deren Gegebensein in Wahrheit schon Fehlverständnisse, nämlich Überdehnungen des Norminhalts, stehen und es insoweit richtigerweise um Wahndelikte geht. Der Diskussion hat auch gutgetan, dass in den letzten Jahren ein Prinzip erheblich an Prestige verloren hat, mit dessen Hilfe man lange Zeit die Lösung der hier interessierenden Abgrenzungsfälle zu erreichen versuchte: das so genannte Umkehrprinzip13. Dieses schon vom RG bemühte Prinzip14 geht davon aus, dass für den Vorsatz des Täters im Falle objektiver Tatbestandsverwirklichung die Kenntnis der tatbestandsverwirklichenden Tatsachen erforderlich ist, bei so genannten normativen Merkmalen muss er auch die diesen Tatsachen zukommende tatbestandsrelevante Bedeutung erfasst haben. Fehlte es hieran, so sah man den Vorsatz als ausgeschlossen an. Daraus wurde für den umgekehrten Fall fehlender objektiver Tatbestandsverwirklichung gefolgert, dass der Täter mit dem für die Annahme eines untauglichen Versuchs erforderlichen Vorsatz gehandelt habe, wenn er bei seinem Handeln die irrige Vorstellung des Vorliegens tatbestandsverwirklichender Tatsachen und bei normativen Begriffen von Tatsachen in ihrer tatbestandsrelevanten Bedeutung hatte.15 Auf dieser Basis lag es durchaus nahe, einen untauglichen Versuch zu bejahen, wenn der Täter einem von ihm veränderten Schriftstück ohne erkennbaren Aussteller die Bedeutung einer Urkunde oder wenn der Amtsträger einem vom Gesetz nur als Ordnungswidrigkeit eingestuften Geschehen die Bedeutung einer Straftat zuschrieb (und in dieser Einstellung die Verfolgung unterließ).16
13 Zu dessen Einsatz im hier interessierenden Kontext vgl. die umfassenden Nachw. der Rspr. und Lit. bei NK-StGB/Paeffgen/Zabel, 5. Aufl. 2017, Vor §§ 32 ff. Rn. 257 f. (insbes. Fn. 1376); zum Einsatz speziell in den vorausgehenden Beisp. Foth, JR 1965, 366 ff.; Traub, JuS 1967, 113 (116 f.); eingeh. und differenzierend Puppe, FS Lackner, 1987, S. 199 (202 ff.); dies., ZStW 126 (2016), 301 ff. 14 Grundlegend insoweit RGSt 42, 92 (94); 66, 124 (126); 72, 109 (112); aus der Rspr. des BGH BGHSt 13, 235 (239 f.); 15, 210 (212 f.); 42, 268 (272 f.). 15 Vgl. dazu etwa BGHSt 3, 248 (255 f.); 7, 53 (57); 15, 210 (213); 42, 268 (272 f.); OLG Stuttgart NJW 1962, 65 (66); Foth, JR 1966, 366 (370); Traub, JuS 1967, 113 (116 f.); zur Problematik dieser Sicht Burkhardt, JZ 1981, 681 (683, 684 f.); NK-StGB/Paeffgen/Zabel (Fn. 13), Vor §§ 32 ff. Rn. 259 f. m.w.N. 16 Vgl. etwa BGHSt 15, 210 (213): „umgekehrter Irrtum“ über „ein Tatbestandsmerkmal der … Begünstigungsvorschrift“, das einen untauglichen Versuch begründet.
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Dass dieses noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit Engagement verfochtene Prinzip in den letzten Jahrzehnten zunehmend in Frage gestellt worden ist,17 verdient nicht nur deshalb Beifall, weil das Prinzip in ähnlicher Weise fehlerträchtig ist, wie die Bejahung des Vorsatzes und eines untauglichen Versuchs bei der irrigen Annahme des Täters, ein Tatbestandsmerkmal zu verwirklichen (dazu oben II.) – denn auch das Umkehrprinzip bietet keinen Schutz gegen die Zuschreibung des Vorsatzes z. B. eine Urkunde zu verfälschen, wenn die entsprechende Vorstellung des Täters auf einer Überdehnung des Begriffs der Urkunde beruht.18 Die eigentlichen Bedenken dagegen, die hier interessierende Frage mit Hilfe dieses Prinzips zu beantworten, sind fundamentaler. Auch der Hinweis auf den bloß formalen Charakter des Prinzips19 trifft das Entscheidende noch nicht – so richtig er an sich ist. Der grundsätzliche Mangel jener Versuche, die glauben, die hier interessierende Problematik mit Hilfe eines Umkehrprinzips gewissermaßen mit den Mitteln der Logik lösen zu können, liegt in der Nichterfassung (und systematischen Ausblendung) der an dieser Stelle begegnenden Legitimationsprobleme staatlichen Strafens.20 Bei der Frage, ob der Täter sich eines untauglichen Versuchs schuldig gemacht oder ein Wahndelikt begangen hat, geht es ja nicht nur um eine Denksportaufgabe oder eine Frage der Logik. Da die Annahme eines untauglichen Versuchs, anders als die eines Wahndelikts, zu einer Bestrafung des Täters, d. h. zum Einsatz staatlicher Zwangsgewalt verbunden mit einer Missbilligung seines Handelns führt, ist eine ganz entscheidende, wenn nicht sogar die entscheidende Frage überhaupt, ob und wann sich in den hier interessierenden Fallkonstellationen der Einsatz staatlicher Strafe legitimieren lässt.21 Dafür reicht es nicht, dass es gelingt, mit den Methoden der Logik den Vorsatz zu konstruieren. Zu belegen ist auch, dass und warum das Handeln in der hier interessierenden Vorstellung Unrecht ist.22 Man muss also belegen (können), dass Handeln in der Vorstellung, die der Täter hatte, gegen eine begründbare staatliche Verhaltensnorm verstößt. Und man muss überdies dartun können, dass 17 Gute Zusammenfassung der Kritik bei Roxin (Fn. 1), § 29 Rn. 404 ff. und NK-StGB/ Paeffgen/Zabel (Fn. 13), Vor §§ 32 ff. Rn. 257 ff.; eingeh. Darstellung bei Heidingsfelder (Fn. 1), S. 92 ff., 108 ff. 18 Zusätzlich begünstigt wird dies alles, wenn man es als unerheblich ansieht, ob die fehlerhafte Einordnung oder Zuschreibung auf „unzutreffenden tatsächlichen oder falschen rechtlichen Erwägungen beruht“ (so BGHSt 15, 210 [213]) – denn das schließt (mit der Folge eines umgekehrten Irrtums über ein Tatbestandsmerkmal und damit die Annahme eines untauglichen Versuchs) ja rechtliche Irrtümer über das Verständnis eines Tatbestandsmerkmals geradezu ein, wenn man diese nicht mit klaren Kriterien ausgrenzt (was über die Unterscheidung zwischen strafrechtlichen und nicht strafrechtlichen Irrtümern [vgl. etwa BGHSt 15, 210 (213) in Fortführung der alten reichsgerichtlichen Judikatur] nicht geschieht). 19 Vgl. etwa NK-StGB/Paeffgen/Zabel (Fn. 13), StGB, Vor §§ 32 ff. Rn. 259 f.; NK-StGB/ Zaczyk (Fn. 13), § 22 Rn. 35; Roxin (Fn. 1), § 29 Rn. 405 f.; auch Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, 25/52 Fn. 78, je m.w.N.; dazu wiederum Puppe, ZStW 126 (2016), 301 ff. 20 In diese Richtung insbes. auch NK-StGB/Zaczyk (Fn. 13), § 22 Rn. 35, 47 ff.; ähnlich NK-StGB/Paeffgen/Zabel (Fn. 13), Vor §§ 32 ff. Rn. 259 f., 271 f. 21 So mit Recht auch NK-StGB/Zaczyk (Fn. 13), § 22 Rn. 47 – 49. 22 Übereinstimmend NK-StGB/Zaczyk (Fn. 13), § 22 Rn. 48.
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es bei solchem Verhalten des Einsatzes der Strafe zur Gewährleistung einer vom Staat zu garantierenden Verhaltensordnung bedarf.23 Eine solche Legitimation ist zwar in den Grundfällen des untauglichen Versuchs möglich – also dann, wenn Personen sich vorstellen, dass das von ihnen verabreichte Mittel tödlich wirke oder dass das Objekt, auf das sie schießen wollen, ein lebender Mensch sei, usw. Denn natürlich ist es legitimierbar und im Interesse des Rechtsgüterschutzes sogar geboten, Personen, die bei solcher Vorstellung zu handeln gedenken, solches Handeln zu verbieten.24 Dass solche Vorstellungen auch irrig sein können, steht einem solchen allgemeinen Verbot des Handelns bei derartiger Vorstellung nicht entgegen; Ausnahmen von dem Verbot für den Fall eines Irrtums lassen sich vorab und für Normadressaten umsetzbar nicht formulieren, da der irrende Normadressat seinen Irrtum ja regelmäßig nicht kennt. Auch die Bestrafung ist in solchen Fällen trotz des Irrtums des Täters und der fehlenden objektiven Gefährdung eines Rechtsguts(-objekts) in der Regel legitimierbar. Denn dass entgegen der Vorstellung des Normadressaten nichts passiert ist, erscheint in solchen Fällen aus der Perspektive des Normadressaten mehr oder weniger zufällig; und die Bestrafung der Normverletzung soll ja (durch Normstabilisierung) gerade auch erreichen, dass solche Verhaltensweisen, die nur durch das Hinzukommen von für den Normadressaten nicht kalkulierbaren Umständen nicht zur Tatbestandsverwirklichung führen, möglichst unterbleiben.25 In den hier interessierenden Fällen, in denen der Handelnde von ihm richtig erfassten Tatsachen irrtümlich eine normrelevante Bedeutung zuschreibt (nämlich z. B. eine Urkunde i.S. des § 267 StGB zu sein), ist die Situation ganz anders. Die Gefahr, dass es zu einer Rechtsgutsbeeinträchtigung kommt oder kommen kann, wenn der Normadressat das ihm vorschwebende Verhalten vornimmt, besteht hier auch bei Zugrundelegung der Tatsachenvorstellung des Täters von vornherein gerade nicht. Die Veränderung einer Erklärung, die mangels erkennbaren Ausstellers weder objektiv noch auf der Basis der Tatsachenvorstellung des Täters eine Urkunde darstellt, ist weder objektiv noch auf der Basis der Tätervorstellung geeignet, das geschützte Rechtsgut zu beeinträchtigen, nämlich das Vertrauen in die Authentizität von Erklärungen zu gefährden, die per definitionem einen erkennbaren Aussteller voraussetzen. Sie ist für einen thematisch so begrenzten Rechtsgüterschutz völlig irrelevant. Dementsprechend lässt sich hier auch nicht zum Schutz des Vertrauens in die Authentizität solcher Erklärungen ein Handlungsverbot legitimieren, und erst recht nicht – gestützt auf solchen notwendigen Schutz – eine Pönalisierung. Ein solcher Schutz und eine solche Pönalisierung wären vielmehr nur begründbar, wenn es darum ginge, in gewissen Grenzen auch das Vertrauen in Nichturkunden zu schützen
23 Zutr. Burkhardt, JZ 1981, 681 (685); ders., GA 2013, 346 (358 f.); auch Roxin (Fn. 1), § 29 Rn. 396 m.w.N. 24 Zutr. Hoyer, FS Frisch, 2013, S. 223 (233 f.). 25 Übereinstimmend Hoyer, FS Frisch, S. 223 (234 f.).
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– was freilich nicht mehr dem gesetzlichen Programm des Schutzes vor Urkundenfälschung entspräche.26 Wollte man hier gleichwohl bestrafen, so wäre das – jenseits der gerade erwähnten Auswechselung des Schutzgegenstands – nur damit begründbar, dass eine Person, die einem Gegenstand eine bestimmte Qualität (nämlich eine Urkunde zu sein) zuschreibt, diesen dann auch nach den Regeln zu behandeln habe, die für so qualifizierte Gegenstände (also für Urkunden) gelten, und dass sie bestraft werden könne, wenn sie sich daran nicht halte. Das ist indessen indiskutabel. Der Staat ist bei dem Einsatz seiner Zwangsgewalt darauf beschränkt, die von ihm selbst für richtig gehaltene Ordnung durchzusetzen. Von dieser fällt der Täter in den hier interessierenden Fällen weder objektiv noch auf der Basis seiner Tatsachenvorstellungen ab. Das, wovon er abfällt, ist in Wahrheit eine eingebildete Ordnung oder vermeintliche gesetzliche Schablone27 – nämlich (in dem hier interessierenden Beispiel) eine solche, die den Schutz von Urkunden auch auf Gegenstände erstreckt, die weder objektiv noch nach der Tatsachenvorstellung des Täters Urkunden sind. Zum Schutz solcher eingebildeter Ordnungen staatliche Zwangsgewalt einzusetzen, besteht indessen nicht nur kein Grund.28 Es wäre geradezu gefährlich, weil es den Staat zur Stabilisierung von Ordnungen zwänge, die er selbst gar nicht für richtig hält – was auch für die mit der Strafe bezweckte positive Generalprävention in hohem Maße kontraproduktiv wäre.
IV. Normentheoretische Einsichten: In außerstrafrechtlichen Normen definierte Sachverhalte als Komplettierung strafrechtlicher Tatbestände Zu mehr Klarheit im Grenzbereich zwischen untauglichem Versuch und Wahndelikt haben aber nicht nur die Festigung von Einsichten zur richtigen Qualifikation von irrtümlichen Normüberdehnungen bei normativen Begriffen und zur Notwendigkeit der Ersetzung des formalen Umkehrprinzips durch materiale, insbesondere die Strafbarkeit des untauglichen Versuchs material tragende Ansätze geführt. Von großer Bedeutung waren und sind auch Einsichten auf normentheoretischem Gebiet, die vor allem in der richtigen Behandlung umgekehrter Irrtümer im Bereich von Blankettmerkmalen konsensfähige Lösungen ermöglichten – also bei der irrtümlichen Annahme, dass die befragende Stelle eine „zur Eidesabnahme zuständige Stelle“ sei (§ 153 ff. StGB), dass die angezeigte Tat eine „rechtswidrige Tat“ i.S. des § 258 26 Zutr. NK-StGB/Paeffgen/Zabel (Fn. 13), Vor §§ 32 ff. Rn. 271: das Vorgestellte „passt hier nicht in die gesetzliche Schablone“ (und ist deshalb kein untauglicher Versuch, sondern ein Wahndelikt). 27 Übereinstimmend Jakobs (Fn. 19), 25/40, 42 und NK-StGB/Paeffgen/Zabel (Fn. 13), Vor §§ 32 ff. Rn. 271. 28 Ebenso NK-StGB/Zaczyk (Fn. 13), § 22 Rn. 48, der hier von einer (allenfalls gegebenen) „jedenfalls zwangsrechtlich nicht mehr fassbaren moralischen Verfehlung des zu seinen Ungunsten Irrenden“ spricht.
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StGB darstelle (während sie in Wahrheit nur eine Ordnungswidrigkeit ist), dass das erlegte Tier „dem Jagdrecht unterliegendes Wild“ sei, dass ein bestimmter Vorgang (wie nicht) einen staatlichen Steueranspruch auslöse, usw. 1. Das normentheoretische Konzept und seine Bedeutung für die Klassifikation von umgekehrten Irrtümern Irrtümer der eben genannten Art mag man als irrtümliche Annahmen von im Tatbestand geforderten Tatumständen (nämlich der Zuständigkeit der Stelle, des Vorliegens einer rechtswidrigen Tat, des Gegebenseins eines Steueranspruchs) ansehen – mit der Folge, dass sich der Täter hier wegen eines untauglichen Versuchs (z. B. nach §§ 154, 258 StGB, § 370 AO) strafbar gemacht hat. Man kann aber auch an ein Wahndelikt denken. Eine solche Qualifikation liegt besonders nahe, wenn man den Begriff des strafrechtlichen Tatbestands und die außerstrafrechtlichen Normen zusammen liest und das in den außerstrafrechtlichen Normen Gesagte als eine den Tatbestand komplettierende Konkretisierung begreift. In den §§ 153, 154 StGB wären dann für die „zuständige Stelle zur Eidesabnahme“ all die Stellen zu setzen, die nach bestimmten Verfahrensvorschriften zuständig sind (in bestimmten Verfahren) Eide abzunehmen; für die „rechtswidrige Tat“ i.S. des § 258 StGB wäre (in Anlehnung an § 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB) die Liste der vom Gesetz mit Strafe bedrohten Verhaltensweisen zu setzen, usw.29 Es ist leicht ersichtlich, dass ein solches Verständnis der Tatbestände Konsequenzen für die hier zu beurteilenden Irrtumskonstellationen hat. Bei einer solchen Sicht wäre die irrtümliche Annahme, die befragende Stelle sei eine zuständige Stelle, eine Überdehnung der Tatbestands und damit ein Wahndelikt; denn in der Liste der im Tatbestand aufgezählten zuständigen Stellen wäre die befragende Stelle bei fehlender Zuständigkeit (und nur irrtümlicher Annahme des Täters) eben nicht genannt.30 Gleiches gälte bei irriger Qualifikation des angezeigten Geschehens, das objektiv nur eine Ordnungswidrigkeit darstellt, als „rechtswidrige Tat“ i.S. einer Tat, die den Tatbestand eines „Strafgesetzes“ erfüllt (§ 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB), denn in der Liste dieser Taten, die man sich als gemeinte Sachverhalte in den § 258 StGB hineinzudenken hat, wäre dieser Fall nicht enthalten.31 Und ebenso liefe es z. B. auf eine Überdehnung des § 292 StGB hinaus, wenn man ein Tier, das in § 2 Abs. 1 Bundesjagdgesetz nicht aufgezählt ist, für „dem Jagdrecht unterliegendes Wild“ hielte; denn auch dieses Tier wäre in einem entsprechend angereicherten Tatbestand des § 292 StGB nicht aufgeführt.32 29 Für das „dem Jagdrecht unterliegende Wild“ wäre an die Liste des § 2 BJagdG zu denken, für die „steuererheblichen Tatsachen“ an die Vorgänge, die staatliche Steueransprüche auslösen usw. 30 Vgl. nur Roxin (Fn. 1), § 29 Rn. 397, 409 f.; Burkhardt, JZ 1981, 681 (687); (jetzt auch) Herzberg, GS Schlüchter, 2002, S. 189 (206). 31 Roxin (Fn. 1), § 29 Rn. 397, 409 f.; Burkhardt, JZ 1981, 681 (687). 32 Übereinstimmend Kindhäuser, GA 1990, 407 (422).
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2. Gründe für die Richtigkeit des Konzepts Die zweite Auffassung, die die richtige Lösung dieser Fälle nicht in der Annahme eines untauglichen Versuchs, sondern eines Wahndelikts sieht, hat in den letzten dreieinhalb Jahrzehnten im Anschluss an die grundlegenden Arbeiten Burkhardts33 zunehmend an Anhängern gewonnen. Dies gilt vor allem für Tatbestandsbegriffe, die sich als Sammelbegriffe oder Kürzel für eine Reihe von Sachverhalten verstehen lassen, welche in außerstrafrechtlichen Normen konkretisierend beschrieben werden.34 Diese Sammelbegriffe und ihre Konkretisierungen bilden nicht nur funktional eine Einheit. Allein eine solche Sicht verhindert auch, dass die Entscheidung für eine Gesetzgebungstechnik (Kürzel im Tatbestand und Ausführung in anderen Normen oder umfangreiche, unübersichtliche Auflistung der in Betracht kommenden Sachverhalte bereits in den Tatbeständen des StGB) zu unterschiedlichen Ergebnissen (untauglicher Versuch oder Wahndelikt) führt.35 Vor allem aber weisen auch verfassungsrechtliche Erwägungen nachdrücklich in diese Richtung. Die genannten strafrechtlichen Sammelbegriffe wären, wenn man sie sich ohne die Konkretisierung durch außerstrafrechtliche Normen denkt, viel zu vage, um den sich aus dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot ergebenden Anforderungen an die Umschreibung strafrechtlicher Tatbestände gerecht zu werden. Die insoweit erforderliche Bestimmtheit erhalten sie überhaupt erst, wenn man sich die in den konkretisierenden Normen genannten Sachverhalte als (abschließende36) Konkretisierungen der genannten Kürzel denkt. Sind sie damit aber Teil des objektiven Tatbestands, so hat das nicht nur Bedeutung für den objektiven Tatbestand, sondern auch für die subjektive Tatseite. Es bedeutet damit z. B., dass der Täter, der vor einer in den Konkretisierungen nicht aufgeführten Stelle falsch aussagt oder der Amtsträger, der im Falle einer bloßen Ordnungswidrigkeit nicht einschreitet, nicht nur objektiv den Tatbestand nicht erfüllt, sondern dass er den Tatbestand subjektiv überdehnt und damit ein Wahndelikt (und keinen untauglichen Versuch) begeht, wenn er annimmt, die befragende Stelle sei eine zuständige Stelle oder das nicht verfolgte Geschehen eine Straftat.37
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Burkhardt, JZ 1981, 681 ff.; ders., wistra 1982, 178 ff.; ders., GA 2013, 346 ff. I.S. einer Übernahme des „Komplettierungskonzepts“ z. B. Heidingsfelder (Fn. 1), S. 155 ff.; (unter teilweiser Aufgabe von Thesen in JuS 1980, 469 ff.) Herzberg, GS Schlüchter, S. 189 (203 ff.); Roxin (Fn. 1), § 29 Rn. 409 ff. 35 Zutr. Roxin (Fn. 1), § 29 Rn. 397. 36 Ohne die Annahme einer solchen abschließenden definitorischen Funktion bliebe die Unbestimmtheit bestehen. 37 Ebenso – im Anschluss an Burkhardt, JZ 1981, 681 ff. – Roxin (Fn. 1), § 29 Rn. 397, 409 f.; Heidingsfelder (Fn. 1), S. 157; Herzberg, GS Schlüchter, S. 186 (204 ff.). 34
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3. Zwischenergebnis: Reduzierungen der Extension untauglicher Versuche zugunsten von Wahndelikten – Offene Fragen Die unter II. dargestellte Figur des Wahndelikts durch Überdehnung von Tatbestandsmerkmalen, das Abrücken von zu groben formellen Abgrenzungsprinzipien verbunden mit dem Übergang zu materialen Kriterien, die eine legitimierbare Bestrafung wegen untauglichen Versuchs erfüllen muss (III.), sowie die zunehmende Anerkennung des Gedankens, dass bestimmte Tatbestandsmerkmale als Sammelbegriffe bestimmte außerstrafrechtlich umschriebene Sachverhalte durch Inbezugnahme in den Tatbestand integrieren (vorstehend), haben aus mehreren Richtungen und über unterschiedliche Begründungsstränge zu deutlichen Einschränkungen des legitimierbaren Anwendungsbereichs des untauglichen Versuchs bei sogenannten umgekehrten Irrtümern geführt. Da die so zustande gekommenen Einschränkungen des untauglichen Versuchs durchweg gut fundiert sind und sich ihnen im Laufe der Zeit sogar frühere Anhänger der „Versuchslösung“ angeschlossen haben,38 ist davon auszugehen, dass sich die Diskussion um die zutreffende Behandlung der hier interessierenden Fallkonstellationen weiter in der genannten Richtung konsolidieren wird. Völlig erledigt hat sich der Streit um die Fallkonstellationen im Grenzbereich freilich auch durch die skizzierten neuen Entwicklungen nicht. Noch immer heftig gestritten wird über die richtige Behandlung von Irrtümern im Bereich von Tatbestandsmerkmalen, die zwar ebenfalls auf außerstrafrechtliche Normen verweisen, bei denen es aber auch den Anhängern der Figur der kürzelartigen Sammelbegriffe schwerfällt, die in Bezug genommenen außerstrafrechtlichen Normen und deren Aussagen als Komplettierung des Straftatbestands zu begreifen. Die Hauptbeispiele bilden der Irrtum über die „Fremdheit“ der Sache bei den §§ 242, 246, 303 StGB und über die „Rechtswidrigkeit des (angestrebten) Vermögensvorteils“ bei den §§ 253, 263 StGB.
V. Der Irrtum über die „Fremdheit“ der Sache Zwar ist klar, dass zur Feststellung der Fremdheit einer Sache (die der Täter zerstört oder für sich verbraucht hat) auf die Normen des Zivilrechts zugegriffen werden muss, die nach den Umständen des konkreten Falles (z. B. einem Erbfall, nach dessen Eintritt der Erbe das einem Dritten vermachte Bild zerstört,39 einer Sicherungsübereignung ohne Vereinbarung eines Besitzkonstituts40) hierauf Antwort geben. Aber bedeutet das nun zugleich, dass die Normen des Zivilrechts, die für die Frage der „Fremdheit“ bedeutsam sind, damit zu einem komplettierenden Teil der auf die 38
Wie etwa Herzberg, GS Schlüchter, S. 189 (203 ff.). Beispiel nach Burkhardt, GA 2013, 346 (347); siehe auch das Beispiel bei NK-StGB/ Paeffgen/Zabel (Fn. 13), Vor §§ 32 ff. Rn. 260. 40 Vgl. den Fall OLG Stuttgart NJW 1962, 65. 39
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Fremdheit der Sache abstellenden strafrechtlichen Tatbestände (der Verbots- oder der Sanktionsnormen) werden – so wie sich das für die unter IV. dargestellten Sammelbegriffe annehmen lässt? 1. Überblick über den kontroversen Meinungsstand Eine Mindermeinung geht von einer solchen komplettierenden Funktion der zivilrechtlichen Normen aus. Der Begriff „fremd“ meint damit alle Sachverhalte, die bei richtiger Anwendung der einschlägigen zivilrechtlichen Vorschriften (insbes. über Begründung, Übertragung und Untergang des Eigentums) im Eigentum eines anderen als des Täters stehen.41 Sie zieht daraus Folgerungen für den Fall, dass der Täter eine Sache, die nach diesen Regeln im Eigentum des Täters steht, aufgrund einer rechtlichen Fehlbeurteilung als „fremd“ ansieht. Ein solcher Täter dehne aufgrund seiner Fehlbeurteilung das Verbot der §§ 242, 246 und 303 StGB auf einen Fall aus, der bei einem solchen (also dem nach dieser Meinung richtigen) Normverständnis vom Verbot gar nicht erfasst ist. Der Fall liegt danach also nicht anders als bei der oben schon erwähnten Überdehnung eines Sammelbegriffs. Der Irrtum des Täters sei ein umgekehrter Subsumtionsirrtum, der keinen untauglichen Versuch begründe, sondern zu einem Wahndelikt führe.42 Die wohl h.M., insbesondere die Rechtsprechung, kommt insoweit zu einem anderen Ergebnis. Sie hält bei derartigen rechtlichen Fehlbeurteilungen des Täters in Bezug auf die Fremdheit der weggenommenen Sache die Annahme eines untauglichen Versuchs des Eigentumsdelikts für sachgerecht.43 Dieser Auffassung sind nicht nur diejenigen, die es für die Annahme eines untauglichen Versuchs ausreichen lassen, dass der (umgekehrte) Irrtum des Täters sich auf das Gegebensein eines Tatbestandsmerkmals bezieht, oder die dieses Ergebnis als eine Konsequenz der Anwendung des Umkehr- oder eines Symmetrieprinzips ausgeben. Auch Autoren, die diesen Begründungen kritisch gegenüberstehen und auf der Basis einer differenzierenden Sicht den Topos des Sammelbegriffs grundsätzlich selbst verwenden und bei dessen Überdehnung nicht zu einem untauglichen Versuch, sondern zu einem Wahndelikt kommen, plädieren hier für die Annahme eines untauglichen Versuchs.44 Denn 41 Meinungsführer ist insoweit Burkhardt, JZ 1981, 681 ff.; ders., GA 2013, 346 ff.; dort auch Nachw. zu älteren Stimmen. 42 So insbes. Burkhardt, JZ 1981, 681 (685, 687); ders., GA 2013, 346 ff.; Jakobs (Fn. 19), 25/41 f.; LK-StGB/Hillenkamp, 12. Aufl. 2006, § 22 Rn. 210 ff.; NK-StGB/Paeffgen/Zabel (Fn. 13), vor §§ 32 ff. Rn. 256 ff., insbes. 271 f.; Schroth, Vorsatz und Irrtum, 1998, S. 77 ff.; Streng, GA 2009, 529 (537 f.); NK-StGB/Zaczyk (Fn. 1), § 22 Rn. 40 ff., 49. 43 Vgl. dafür aus der Rspr. z. B. OLG Stuttgart NJW 1962, 65 f. (zu § 246 StGB); aus der Lit. z. B. MüKo-StGB/Hoffmann-Holland, 3. Aufl. 2017, § 22 Rn. 68 ff., 74; Kindhäuser, Strafrecht AT, 7. Aufl. 2015, § 30 Rn. 29; Neumann, FS Puppe, S. 172 (182 ff.); Puppe, FS Herzberg, S. 275 (281 f., 288); Rengier, Strafrecht AT, 8. Aufl. 2016, § 35 Rn. 24; Schmitz, Jura 2003, 593 (596 f.); Schuster (Fn. 2), S. 115 ff. 44 Vgl. etwa Roxin, (Fn. 1), § 29 Rn. 411 ff.; Heidingsfelder (Fn. 1), S. 162.
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anders als bei den schon erwähnten Sammelbegriffen, durch deren Verwendung die in außerstrafrechtlichen Normen beschriebenen Sachverhalte in den Tatbestand inkorporiert würden, handele es sich bei den zivilrechtlichen Normen zum Eigentum (also zu dessen Begründung und Übergang usw.) nicht um Normen, die überhaupt erst die Tatbestände der Eigentumsdelikte komplettierten und die Weite dieser Tatbestände bestimmten. Die Weite der entsprechenden Tatbestände (und Verbote) wird nach dieser Auffassung nicht unmittelbar durch die Normen des Zivilrechts, sondern durch einen eigenen Sachverhalt bestimmt, nämlich durch den Sachverhalt, dass die Sache im Eigentum eines anderen steht.45 Der Umstand, dass das Gegebensein dieses Sachverhalts im Einzelfall nach den Normen des Zivilrechts zu beurteilen ist, mache diese noch nicht zu Teilen der strafrechtlichen Tatbestände. Dementsprechend dehne der, der die Normen des Zivilrechts in seinem Fall fehlerhaft anwendet, auch nicht das strafrechtliche Verbot auf einen nicht erfassten Sachverhalt aus (und begehe nur ein strafloses Wahndelikt). Es handele sich vielmehr um einen Fall, bei dem der Täter den normrelevanten Sachverhalt irrigerweise für gegeben erachtet, was angesichts des damit bestehenden Tatbestandsvorsatzes zum untauglichen Versuch führe. Beide Auffassungen sehen (unterschiedliche) Teile der Problematik richtig. Voll zu überzeugen vermag jedoch keine von ihnen. 2. Der richtige Ausgangspunkt der h.M.: Strukturell ein untauglicher Versuch Im normentheoretischen Ausgangspunkt verdient die h.M. den Vorzug. Sie weigert sich mit Recht, die zivilrechtlichen Vorschriften über die Begründung, den Übergang und den Verlust des Eigentums als komplettierende Teile der strafrechtlichen Verbotsnormen (bzw. Tatbestände) anzuerkennen. Zwischen den als Kürzel für bestimmte Sachverhalte fungierenden Sammelbegriffen (wie z. B. der „Zuständigkeit für die Abnahme von Eiden“, der „rechtswidrigen Tat“ i.S. des § 258 StGB, den „steuerlich erheblichen Tatsachen“) und der „Fremdheit der Sache“, die einen Rückgriff auf zivilrechtliche Regeln zur Bestimmung des Eigentums fordert, bestehen doch erhebliche Unterschiede. Die anzuerkennenden Sammelbegriffe sind zusammenfassende Begriffe für eine Liste von Sachverhalten, die in anderen (vor allem außerstrafrechtlichen) Normen beschrieben sind und unverändert in die tatbestandliche Norm inkorporiert und als solche aufgelistet übernommen werden können. Welche Geschehen z. B. Straftaten i.S. des § 258 StGB sind oder in welchen Verfahren von welchen Stellen Eide abgenommen werden dürfen, ergibt sich im Grunde erst aus bestimmten anderen Normen; deren Inhalt wird zur Verdeutlichung der Extension der Tatbestände in diese aufgenommen. Ohne eine Inkorporation wären die meisten Sammelbegriffe viel zu vage und für den Normadressaten zu wenig aussagekräftig. 45 I.d.S. ausdrücklich Puppe, GA 1990, 142 (155 ff.); dies., FS Herzberg, S. 275 (277); Herzberg, JuS 1980, 469 (472 f.); Roxin (Fn. 1), § 29 Rn. 411 f., 419 m.w.N.; Heidingsfelder (Fn. 1), S. 162.
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Schon verfassungsrechtliche Gründe zwingen hier also zu einer Inkorporation, die überhaupt erst zu Klarheit über die in dem Tatbestand gemeinten Sachverhalte führt. Anders ist dies bei dem Begriff der Fremdheit der Sache. Hier fehlt es zunächst schon an jener Unbestimmtheit, die für Sammelbegriffe charakteristisch ist: dass nämlich ohne die Inkorporation gewisser außerstrafrechtlicher Norminhalte und deren Verständnis als Teil des Tatbestands unklar wäre, welche Sachverhalte der Tatbestand überhaupt näherhin voraussetzt. Der Sachverhalt: „Die Sache steht nach den zivilrechtlichen Eigentumsvorschriften im Eigentum eines anderen“, ist ein durchaus klarer und hinreichend bestimmter Sachverhalt, der auch dem durchschnittlichen Normadressaten (auf der Basis eines lebensweltlichen Grundverständnisses dieser Regeln) etwas sagt.46 Der Begriff mit seiner Definition hat diese Klarheit dabei auch, wenn man sich die zivilrechtlichen Regeln über das Eigentum nicht als Teil des Tatbestands, sondern nur als Regeln denkt, mit deren Hilfe man das Gegebensein des Sachverhalts im Einzelfall feststellt. Anders als bei den Sammelbegriffen ist die Inkorporation der zivilrechtlichen Regeln zur Umschreibung der Extension des Tatbestandsmerkmals der „Fremdheit“ aber nicht nur nicht nötig, um zu substantiellen und hinreichend bestimmten Tatbestandsumschreibungen der Eigentumsdelikte zu kommen. Die tatbestandlich erfassten Sachverhalte mit Hilfe der zivilrechtlichen Regeln über das Eigentum abstrakt umschreiben zu wollen, dürfte auch kaum leistbar sein47 und wäre für den Normadressaten überdies kein Gewinn. Das wird sofort klar, wenn man sich überlegt, wie die Festlegung des Eigentums von Personen durch zivilrechtliche Regeln zustande kommt. Sie geschieht nämlich ganz anders als die Festlegung der tatbestandsrelevanten Sachverhalte über Sammelbegriffe und die sie ausfüllenden vorstrafrechtlichen Normen. Letztere ist leicht darstellbar, indem man sich die in den ausfüllenden Normen jeweils umschriebene Klasse von Sachverhalten (z. B. die dem Jagdrecht unterliegenden Arten von Wild oder Sachen; die in bestimmten Verfahren zuständigen Stellen) als Liste von Sachverhaltsklassen in den Tatbestand des jeweiligen Strafgesetzes aufgenommen vorstellt.48 Weit schwieriger wäre es, mit Hilfe der zivilrechtlichen Regeln über das Eigentum alle die Sachverhalte abzubilden, die (im Verhältnis zum Täter) Sachverhalte fremden Eigentums sind. Eigentum kann nach den zivilrechtlichen Regeln auf ganz unterschiedliche Weise erlangt werden; man kann es nach anderen Regeln auf durchaus verschiedene Weise wieder verlieren. Wollte man mit Hilfe der zivilrechtlichen Regeln die denkbaren und von den Eigentumsdelikten als „fremd“ erfassten Sachverhalte umschreiben, so müsste man die einzelnen Regeln über die denkbaren Gründe der Eigentumserlangung mit denen über den Ei46 Zutr. Puppe, GA 1990, 145 (155, 157); Streng, GA 2009, 529 (537); auch Herzberg, GS Schlüchter, S. 189 (198). 47 Herzberg, GS Schlüchter, S. 189 (198): „… nicht durchführbar“; siehe auch Heidingsfelder (Fn. 1), S. 162: „… kein numerus clausus der Zuordnungsobjeke“; Puppe, GA 1990, 145 (155). 48 So auch Roxin (Fn. 1), § 29 Rn. 397, 410; mit Einschränkungen auch Herzberg, GS Schlüchter, S. 189 (203, 206).
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gentumsverlust so verknüpfen, dass man am Ende alle Fälle fremden Eigentums im Tatbestand der strafrechtlichen Norm abgebildet hat. Es ist leicht ersichtlich, dass das angesichts der Vielzahl der insoweit denkbaren unterschiedlichen Kombinationen ein kaum zu leistendes (und auch bislang nirgendwo geleistetes) Unternehmen ist. Doch nicht nur das. Es ist auch zu bezweifeln, dass eine solche Information, bei der die zivilrechtlichen Vorschriften (wie die außerstrafrechtlichen Normen bei den Sammelbegriffen) eine definitorische Funktion hätten, für den Normadressaten oder den Normanwender hilfreich wäre. Für sie ist nicht von Interesse zu erfahren, auf welch unterschiedliche Weise Eigentum konstituiert sein kann.49 Den Rechtsanwender interessiert allein, ob der für die „Fremdheit“ definitorisch maßgebende Sachverhalt, nämlich dass es sich um eine Sache handelt, „die im Eigentum eines anderen als des Täters“ steht, im konkreten Fall in tatsächlicher Hinsicht zutrifft. Und für den Normadressaten ist maßgebend, dass er den Zugriff auf die Sache zu unterlassen hat, wenn die Sache „im Eigentum eines anderen steht“ (bzw. er davon ausgehen muss). Natürlich bedarf es auch zur Beantwortung dessen der zivilrechtlichen Regeln. Aber diese kommen hier nicht in definitorischer Funktion, also zur abstrakten Umschreibung der Extension des strafrechtlichen Tatbestands zum Einsatz, sondern dienen allein der Feststellung des in der Norm umschriebenen Sachverhalts („Sache steht im Eigentum eines anderen als des Täters“) als tatsächlich gegeben im Einzelfall.50 Wer aufgrund fehlerhafter Vorstellungen über die zivilrechtlichen Regeln zur Begründung, zum Übergang oder Verlust von Eigentum annimmt, er nehme die Sache eines anderen weg (er zerstöre eine solche Sache), überdehnt daher nicht den Inhalt der strafrechtlichen Verbotsnorm. Er verstößt vielmehr gegen die den Eigentumsdelikten zugrundeliegende (subjektiv formulierte) Verhaltensnorm, Handlungen zu unterlassen, die nach seiner Vorstellung zur Zerstörung fremden Eigentums oder zur (faktischen) Entziehung des Eigentums führen (und von der Absicht der Selbstoder Drittzueignung getragen sind). An diesem Verstoß gegen die (an die Vorstellung des Täters anknüpfende) Verhaltensnorm ändert sich auch nichts dadurch, dass die Vorstellung eine Fehlvorstellung ist. Dies hat vielmehr nur zur Folge, dass der Täter den objektiven Tatbestand des jeweiligen Eigentumsdelikts nicht verwirklicht (und nicht verwirklichen kann) und sein Verstoß gegen die Verhaltensnorm nur nach den Sanktionsnormen des (hier untauglichen) Versuchs geahndet werden kann, die es prinzipiell genügen lassen. dass der Täter nach seiner Vorstellung zur Verwirklichung des Tatbestands ansetzt.
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So der Sache nach auch Puppe, FS Herzberg, S. 275 (277, 278); Schuster (Fn. 2), S. 126 (170). 50 Das macht auch deshalb einen gewaltigen Unterschied gegenüber der definitorischen Verwendung der zivilrechtlichen Regelungen aus, weil im Rahmen der Feststellung der Eigentumsverhältnisse im konkreten Fall ein großer Teil der – nämlich die nicht einschlägigen – zivilrechtlichen Regelungen zum Eigentum von vorherein nicht interessiert.
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Freilich ist das entgegen einer verbreiteten Meinung nur ein Zwischenergebnis. Die Einsicht, dass der Täter hier strukturell einen untauglichen Versuch begeht, beinhaltet keineswegs auch schon, dass der sein eigenes Eigentum verkennende Täter damit auch strafbares Unrecht verwirklicht. 3. Die übersehene Bedeutung des Eigentums auf der Rechtfertigungsebene als Hintergrund eines Wahndelikts Im vorliegenden Fall des (trotz richtiger Kenntnis der Tatsachen) irrig von fremdem Eigentum ausgehenden Täters ist nämlich zu bezweifeln, dass das Verhalten des Täters, das sich strukturell als untauglicher Versuch präsentiert, wirklich Unrecht darstellt.51 Ist der, der hier aufgrund seiner fehlerhaften rechtlichen Beurteilung ein Eigentumsdelikt zu begehen glaubt, objektiv selbst der Eigentümer, so ist er als solcher ja objektiv zu der hier interessierenden Handlung (der Beschädigung der Sache, ihrem Verbrauch, der Ansichnahme zu eigenen Zwecken usw.) prinzipiell befugt. Die Handlung, die der an das Subjektive anknüpfenden tatbestandlichen Verhaltensnorm zuwiderläuft und strukturell einen untauglichen Versuch darstellt, ist also objektiv an sich rechtens. Die Frage ist allein noch, wie sich das Fehlen des Wissens um dieses Recht auswirkt. Der vielleicht naheliegende Gedanke, dass dem Täter damit das subjektive Rechtfertigungselement fehle und die Tat damit insgesamt eben doch nicht gerechtfertigt sei (es sich also auch um einen rechtswidrigen untauglichen Versuch handele), erweist sich in der genaueren Analyse als Fehlintuition. Am so genannten subjektiven Rechtfertigungselement fehlt es, wenn der Täter das Gegebensein der rechtfertigenden Umstände (der Sachlage) nicht kennt, wie z. B. dann, wenn ihm das Vorliegen eines rechtswidrigen Angriffs oder einer Einwilligung verborgen geblieben ist.52 Davon kann hier keine Rede sein. Der Täter kennt in den hier interessierenden Fällen alle Umstände, die ihn eigentlich zum Eigentümer machen und sein Eigentumsrecht begründen; er kennt wegen der rechtlichen Fehlbeurteilung der zutreffend (und vollständig) erfassten Sachlage nur sein Recht als solches nicht. Der Fall liegt damit auf derselben Ebene wie die Fälle, in denen eine (den Tatbestand erfüllende oder seine Verwirklichung versuchende) Person irrig annimmt, dass ihr in der von ihr zutreffend erfassten Situation (z. B. Angriff einer halbwüchsigen Person) ein Notwehrrecht nicht zustehe oder dass sie sich bei rechtlich zulässiger Trutzwehr so nicht wehren dürfe. Ein solcher Irrtum über das Gegebensein bestimmter Rechte oder über deren Reichweite bei zutreffend erfasster Sachlage ist anerkanntermaßen nicht dazu geeignet, das Handeln zum unrechten oder gar strafbaren Han51 Dass die Bejahung des untauglichen Versuchs „sich nicht einfach in der Feststellung des Vorsatzes erschöpft, sondern der Feststellung von Unrecht bedarf“, betont zutr. NK-StGB/ Zaczyk (Fn. 3), § 22 Rn. 48. 52 Vgl. dazu statt vieler Roxin, AT I, 4. Aufl. 2006, § 14 Rn. 94, 97 ff.; MüKo-StGB/Erb (Fn. 43), § 32 Rn. 241 f.
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deln zu machen.53 Der Täter, der dies annimmt, begeht vielmehr ein Wahndelikt.54 Das gilt anerkanntermaßen selbst dann, wenn als Basis eines deliktischen Geschehens ein voll tatbestandserfüllendes Tun vorliegt. Wenn dies nicht der Fall ist, als Ausgangspunkt der Strafbarkeit vielmehr nur ein untauglicher Versuch in Betracht kommt, kann nichts anderes gelten. Auch hier liegt vielmehr, wie die Mindermeinung im Ergebnis zutreffend erkennt, nur ein Wahndelikt vor. Der Fehler der Gegenmeinung, die hier wegen eines untauglichen Versuchs offenbar auch strafen will, liegt darin, dass sie mit der strukturellen Einordnung des Geschehens als untauglicher Versuch auch schon das Unrecht und die Strafbarkeit für besiegelt hält. Sie versäumt damit hier im Bereich des untauglichen Versuchs das, was bei Annahme eines tatbestandsverwirklichenden Verhaltens als Ausgangspunkt selbstverständlich wäre. Verkannt ist freilich möglicherweise auch, dass sich aus dem Eigentum als Recht selbstverständlich auch Gründe der Rechtfertigung bestimmten Verhaltens ergeben können. 4. Übergang zu Fällen des strafbaren untauglichen Versuchs Die eben skizzierte Rechtfertigung ist auf bestimmte Sachverhalte begrenzt. Sie setzt nicht nur voraus, dass der, der fremdes Eigentum vor sich zu haben glaubt, selbst Eigentümer ist. Der in diesem Glauben Handelnde muss auch die Fakten kennen, aus denen sich sein Eigentum ergibt und für sich von deren Gegebensein ausgehen. Fehlt es ihm an dieser Kenntnis, nimmt er einfach auf diffuser, intransparenter oder ihn nicht interessierender Tatsachengrundlage an, der andere sei Eigentümer, und nimmt er in dieser Vorstellung weg oder beschädigt er die als fremd angesehene Sache, so scheidet eine Rechtfertigung aus, mag er als Eigentümer eigentlich auch das Recht zur Vornahme der verwirklichten Handlung objektiv haben. Hier fehlt ihm die für eine Rechtfertigung seiner Abweichung von der an ihn gerichteten Verhaltensnorm das subjektive Rechtfertigungselement in Gestalt der Kenntnis des Gegebenseins einer rechtfertigenden Sachlage.55 Hier gibt es zudem sanktionstheoretische Gründe, bei dieser Sachlage durch den Einsatz der Strafe die verletzte (an subjektive Vorstellungen anknüpfende) Verhaltensordnung durchzusetzen. Bei der unvollständigen Kenntnis der tatsächlichen Sachlage, auf deren Grundlage der Täter gehandelt hat, wäre es ohne weiteres möglich gewesen, dass sein Verhalten auch objektiv fremdes Eigentum und die strafrechtlich gedeckte Eigentumsordnung verletzt, weshalb es durchaus sinnvoll erscheint, durch den Einsatz der angedrohten Strafe zu 53 Vgl. statt vieler Kühl, Strafrecht AT, 8. Aufl. 2017, § 17 Rn. 101; MüKo-StGB/Erb (Fn. 43), § 32 Rn. 243; Roxin (Fn. 1), § 29 Rn. 382, je m.w.N. 54 Kühl (Fn. 53), § 15 Rn. 101; MüKo-StGB/Erb (Fn. 43), § 32 Rn. 243; Roxin (Fn. 1), § 29 Rn. 382. 55 Zur Notwendigkeit, der tieferen Begründung und dem Inhalt des subjektiven Rechtfertigungselements eingeh. Frisch, FS Lackner, 1987, S. 113 ff.; LK-StGB/Rönnau (Fn. 42), Vor § 32 Rn. 82 ff.; Roxin (Fn. 52), § 14 Rn. 94 ff.; Schönke-Schröder/Lenckner/Sternberg-Lieben (Fn. 1), Vor § 32 Rn. 13 ff.
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verdeutlichen, dass bei der dem Täterhandeln zugrundeliegenden Vorstellung das verwirklichte Handeln zu unterbleiben hat.56 Gleiches gilt, wenn der Täter zwar gewisse Tatsachenkenntnisse hat, diese aber, wie er annimmt, unvollständig sind und er deshalb eine Sachlage ernsthaft für möglich hält, bei deren Gegebensein die Sache, wie er (objektiv letztlich irrig) annimmt, wirklich in fremdem Eigentum stünde. Auch bei dieser Vorstellung, bei der der Täter das Nichtgegebensein einer rechtfertigenden Sachlage (Eigentumsrecht) ernsthaft für möglich hält und handelt, fehlt ihm das subjektive Rechtfertigungselement.57 Auch bei dieser Sachlage erscheint es sanktionstheoretisch sinnvoll, dem Täter wie der Allgemeinheit durch den Einsatz der Strafe zu bedeuten, dass bei dieser Sachlage ein möglicherweise fremdes Eigentum beeinträchtigendes Handeln zu unterbleiben hat.
VI. Irrtümliche Annahme der Rechtswidrigkeit des angestrebten Vermögensvorteils Was soeben für die – bei zutreffend erfasster Tatsachenbasis – irrtümliche Annahme des Eigentums eines anderen (an der Sache) entwickelt wurde, gilt im Ausgangspunkt auch für jene Fälle, in denen ein Täter sich durch Drohung oder Täuschung auf Kosten eines anderen einen Vermögensvorteil zu verschaffen versucht und dabei irrig annimmt, auf diesen Vorteil keinen Anspruch zu haben – also (in der Sprache der §§ 253, 263 StGB) von einem „rechtswidrigen Vorteil“ ausgeht oder eine Rechtswidrigkeit des Vorteils für möglich hält (während er in Wahrheit einen solchen Anspruch hat und damit ein „rechtswidriger Vorteil“ zu verneinen ist).58 1. Ausgangspunkt: Verstoß gegen eine an die Vorstellung anknüpfende Verhaltensnorm Auch hier ist davon auszugehen, dass die den Tatbeständen zugrunde liegenden Verhaltensnormen die Motivation zu normkonformem Verhalten über eine Anknüpfung an die Tätervorstellung zu erreichen versuchen. 59 Es kommt dementsprechend 56
Zu diesen hinter der Strafbarkeit des untauglichen Versuchs allgemein stehenden Erwägungen siehe schon oben III. 57 Siehe dazu z. B. Frisch, Vorsatz und Risiko, 1983, S. 455 ff., 461; LK-StGB/Rönnau (Fn. 42), Vor § 32 Rn. 84 m.w.N., der sogar sicheres Wissen in Bezug auf das Gegebensein einer Rechtfertigungslage fordert; Schönke-Schröder/Lenckner/Sternberg-Lieben (Fn. 1), Vor § 32 Rn. 14. 58 Vgl. dazu etwa BGHSt 42, 268 (272) m. Anm. Kudlich, NStZ 1997, 432 (434); siehe auch BGH, NStZ 2008, 214. 59 Zur Anknüpfung von auf Motivation bedachten Verhaltensnormen an die Tätervorstellung siehe schon oben III. sowie Frisch, FS Kindhäuser, 2019, VI. 2.; Hoyer, FS Frisch, S. 223 (233 ff.).
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darauf an, woran die den §§ 253, 263 StGB zugrunde liegenden Verbote nötigenden oder täuschenden Verhaltens zur Erlangung eines rechtswidrigen (d. h. nicht durch einen Anspruch unterlegten) Vermögensvorteil genau anknüpfen: an die Vorstellung des Täters, einen Anspruch zu haben oder nicht zu haben, oder an die Kenntnis der Tatsachen, aus denen sich nach den Regeln des Zivilrechts der Anspruch ergibt oder nicht ergibt. Würden die Verhaltensnormen an das Ergebnis der rechtlichen Eigenbeurteilung des Täters anknüpfen, so würde dieser auch dann von der Verhaltensnorm abweichen, wenn er aufgrund einer rechtlichen Fehlbeurteilung der von ihm zutreffend erfassten Fakten davon ausgeht oder es für möglich hält, auf den Vorteil keinen Anspruch zu haben. Das ist der Standpunkt der herrschenden Meinung, insbesondere der Rechtsprechung.60 Anders wäre es dagegen, wenn die auf die richtige Motivation gerichteten Verhaltensnormen mit ihrem Verbot nicht an die Vorstellung des Normadressaten, keinen Anspruch zu haben, also dieses Beurteilungsergebnis anknüpften, sondern jene Tatsachenlagen umschrieben, bei denen es nach den Regeln des Zivilrechts an einem Anspruch auf den angestrebten Vorteil fehlt. Hier verstieße der Täter, der von Tatsachen ausgeht, bei denen er nach den Regeln des Zivilrechts einen Anspruch auf den Vorteil hat, nicht gegen die Verhaltensnorm; denn sein Fall wäre unter jenen Sachverhalten, bei denen nach den Regeln des Zivilrechts kein Anspruch besteht, nicht aufgeführt. Das entspräche dem Standpunkt jener Auffassung, die in den Fällen des Rechtsirrtums über die „Fremdheit“ der Sache ein Wahndelikt annimmt.61 Die mit der letzteren Sicht erreichbare Nichtbestrafung des nur bei der rechtlichen Wertung Irrenden mag als Vorteil der letztgenannten Auffassung für diese werben. Auch hier bleiben jedoch die schon gegen eine Auffächerung des Begriffs „fremd“ sprechenden Bedenken. Eine Aufschlüsselung der „rechtswidrigen Vorteile“ in jene tatsächlichen Sachverhalte, die nach den Regeln des Zivilrechts unter diesen Begriff fallen, dürfte angesichts der Vielfalt denkbarer Kombinationen von anspruchsbegründenden und anspruchshindernden Tatsachen in den unterschiedlichen Lebenskontexten schon die Grenzen des Vorstellbaren, jedenfalls aber die des Formulierbaren sprengen. Auch für den Normadressaten und den Rechtsanwender brächte ein solches Konzept keinen Gewinn. Diesen – und ebenso einem effektiven Rechtsgüterschutz – ist weit mehr gedient, wenn die Verhaltensnormen sich bei der Formulierung ihres Inhalts auf das (normativ) grundsätzlich Entscheidende beschränken und die Antwort auf die Frage nach dem Gegebensein eines solchen Sachverhalts dem Normadressaten überlassen, der diese Frage in der Regel kontextspe-
60 BGHSt 42, 268 (272 f.) m. zust. Anm. Kudlich, NStZ 1997, 432 (433) für § 263 StGB; für § 253 StGB BGH, NStZ 2008, 214; Schönke-Schröder/Perron (Fn. 1), § 263 Rn. 175; abl. Streng, GA 2009, 529 (536) m.w.N.; Kühl (Fn. 52), § 15 Rn. 99. 61 Wie insbes. Burkhardt, JZ 1981, 681 (686 f.); ders., GA 2013, 346 ff.; Jakobs (Fn. 19), 25/42; i.S. einer solchen Querverbindung auch Kudlich, NStZ 1997, 432 (433 f.), der diese Auffassung aber ablehnt; explizit für ein Wahndelikt im obigen Fall Kühl (Fn. 52), § 15 Rn. 99 und Streng, GA 2009, 529 (536) m.w.N.
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zifisch für den Einzelfall beantworten kann.62 Dem wird im vorliegenden Zusammenhang allein jener Typus von Verhaltensnormen gerecht, der dem Normadressaten verbietet, sich durch Täuschung oder Nötigung Vermögensvorteile zu verschaffen, wenn er selbst davon ausgeht (oder es für möglich hält), dass es sich um einen rechtswidrigen Vermögensvorteil handelt, d. h. um einen solchen, auf den er kein Recht hat. Dabei bleibt allerdings schon hier als Merkposten zu berücksichtigen, dass dem Einzelnen damit das Risiko einer Verhaltensnormverletzung durch eine Fehlbewertung zu seinen Ungunsten überbürdet wird, von dem er verschont bliebe, wenn die Rechtsordnung in der Lage wäre, dem Normadressaten das von ihm Geforderte bezogen auf seinen Fall ohne Irrtumsrisiko zu sagen. Darauf wird zurückzukommen sein. 2. Gründe für eine etwaige Verneinung der Strafbarkeit Mit der Einsicht, dass der Täter in einem solchen Fall mit seinem täuschenden oder nötigenden Verhalten der dem Tatbestand zugrunde liegenden Verhaltensnorm zuwiderhandelt, ist auch hier die Strafbarkeit noch nicht besiegelt. Freilich liegen die Dinge hier etwas anders als im Fall des über sein Eigentum Irrenden (dazu oben V. 3.). Denn anders als in diesem Fall steht hier nicht schon die Möglichkeit einer Rechtfertigung des täuschenden oder nötigenden Verhaltens der Bestrafung entgegen. Der bloße Umstand, dass der Täter auf jenen Vorteil, den er zu erlangen versucht, einen rechtlichen Anspruch hat, rechtfertigt es anerkanntermaßen nicht, diesen Anspruch durch Täuschung oder Nötigung zu realisieren. Der Täter ist hier vielmehr auf den Rechtsweg verwiesen; insoweit liegt es grundsätzlich anders als bei der Vornahme von Handlungen, die zum Inhalt des Eigentumsrechts gehören, in den früher behandelten Beispielen (oben V. 3.). Dass der Täter auf das Erstrebte (und Erlangte) einen Anspruch hat, bedeutet zunächst nur, dass es nicht möglich ist, den Vorgang auch objektiv als Erlangung eines rechtswidrigen Vermögensvorteils zu qualifizieren, womit es richtigerweise auch nicht möglich ist, das Verhalten als vollendeten Betrug oder vollendete Erpressung zu bestrafen; in Betracht kommt vielmehr nur eine Bestrafung wegen Versuchs.63 Indessen ist die gesetzliche Beschränkung der Strafbarkeit auf Sachverhalte, in denen die Täuschung oder Nötigung der Erlangung eines Vermögensvorteils dient, auf den der Täuschende oder Nötigende keinen Anspruch hat, nicht nur unter dem Aspekt des Ausschlusses einer Vollendungsstrafbarkeit in jenen Fällen bedeutsam, in denen ein solcher Anspruch besteht. Die gesetzliche Beschränkung strahlt auch auf die Möglichkeit einer Bestrafung wegen eines versuchten Betrugs oder einer versuchten Erpressung in jenen Fällen aus, in denen der Täter aufgrund 62
Es gilt insoweit nichts anderes als für die Eigentumsfrage; siehe dazu z. B. Puppe, GA 1990, 145, (155, 157); auch Herzberg, GS Schlüchter, S. 189 (198). 63 Dazu, dass in den Fällen, in denen der Täter objektiv einen Anspruch auf den erlangten Vorteil hat und dieser damit nicht rechtswidrig ist, eine Bestrafung wegen vollendeten Betrugs oder vollendeter Erpressung ausscheidet, vgl. BGHSt. 42, 268 (273) m. Anm. Arzt, JR 1997, 469; BGH, NStZ 2003, 663 (664); Kudlich, NStZ 1997, 432 (433 ff.).
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irriger rechtlicher Beurteilung der richtig erfassten Tatsachenlage verkennt, dass er einen Anspruch auf den erstrebten Vorteil hat. In der gesetzlichen Bindung der Strafbarkeit an das Erfordernis eines Vorteils, auf den nach materiellem Recht kein Anspruch besteht, liegt eine bewusste Begrenzung der Strafbarkeit. Als Betrug hinreichend strafwürdig und strafbedürftig erscheinen dem Gesetzgeber nur solche zur Erlangung von Vermögensvorteilen unternommenen Täuschungen oder Nötigungen, die der Herbeiführung rechtswidriger Vermögensverschiebungen dienen, also solcher, auf die der Täter keinen Anspruch hat. Wo ein solcher Anspruch besteht, mag das täuschende Verhalten rechtswidrig sein, aber die Schwelle der Strafwürdigkeit oder Strafbedürftigkeit des Betrugs erreicht es nicht; nötigendes Verhalten mag unter dieser Voraussetzung als Nötigung strafbar sein, nicht aber als Erpressung. Diese Einschätzung zur gegebenen oder fehlenden Strafbedürftigkeit kann auch bei der Beurteilung der Strafbedürftigkeit einer Verhaltensnormwidrigkeit nicht unberücksichtigt bleiben, die sich strafrechtsdogmatisch nur als (untauglicher) Versuch fassen lässt. Dies jedenfalls dann, wenn die Abweichung von der Verhaltensordnung allein eine Konsequenz der – freilich begründbaren (s. oben 1.) – Anknüpfung der Verhaltensnorm an eine fehlerhafte subjektive Rechtseinschätzung des Normadressaten ist und der „Täter“ weder bei objektiver Beurteilung der Rechtslage noch bei Zugrundelegung seiner zutreffenden Tatsachenkenntnis auf eine rechtswidrige Vermögensverschiebung zielt. Denn bei dieser Sachlage besteht kein überzeugender sanktionstheoretischer Grund dafür, das Verhalten mit Strafe zu belegen. Gründe des (auf die Verhinderung rechtswidriger Vermögensverschiebungen begrenzten) Rechtsgüterschutzes machen eine solche Pönalisierung nicht notwendig. Denn an der Notwendigkeit, zur Verhinderung solcher Vermögensverschiebungen zu strafen, fehlt es, wenn es weder bei objektiv zutreffender Beurteilung noch bei zutreffender Beurteilung auf der Basis der tatsächlichen Vorstellung des Handelnden durch dessen Handeln zu jener rechtswidrigen Vermögensverschiebung kommen kann, die das Gesetz durch Strafe verhindern will.64 Die rechtlich fehlerhafte Beurteilung allein ist ungeeignet, dem Verhalten bei solcher Sachlage rechtsgutsgefährdenden Charakter zu verleihen. Aber auch Gründe der Stabilisierung jener rechtlichen Ordnung, die durch Sanktionierung mit Strafe stabilisiert werden soll, tragen eine Pönalisierung des Verhaltens des rechtlich zu seinen Ungunsten Irrenden hier nicht. Denn bei zutreffender rechtlicher Beurteilung hat der Handelnde den strafrechtlich garantierten Teil der Rechtsordnung hier weder objektiv noch auf der Basis seiner Tatsachenvorstellung verletzt, wenn er nach der – von ihm erfassten – Tatsachenlage einen Anspruch auf den angestrebten Vorteil hatte. Zur Entstehung einer Verhaltensnormverletzung, die möglicherweise zu pönalisieren sein könnte, kommt es hier überhaupt nur deshalb, 64 Zutr. Burkhardt, GA 2013, 346 (359): von dem Verhalten geht keine Bedrohung aus (allerdings im Kontext des rechtlichen Irrtums über die „Fremdheit“ der Sache); in der Sache auch Streng, GA 2009, 529 (536): kein „Versuchstatentschluss“, da das Verhalten nach der Vorstellung des Täters nicht zur Vollendung führen kann.
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weil das Recht aus Gründen einfacher Normierung bei der Formulierung seiner an das Subjektive anknüpfenden Verhaltensnormen nicht die normrelevanten Tatsachenkombinationen und die darauf bezogenen Vorstellungen aufführen kann, sondern an zusammenfassende Beurteilungsergebnisse des Handelnden anknüpfen muss (s. oben 1.). Erst dadurch wird es überhaupt möglich, dass der die Rechtslage zu seinen Ungunsten falsch beurteilende Täter subjektiv ein Datum („ich habe keinen Anspruch“) erfüllt, bei dem die Rechtsordnung ihm täuschendes oder nötigendes Verhalten zur Erlangung des angestrebten Vorteils verbietet – und er durch sein gegenteiliges Verhalten von der rechtlichen Verhaltensordnung abweicht. Hat man sich dies vergegenwärtigt, so wird auch das eigentliche, an dieser Stelle begegnende Problem klar. Es besteht in der Frage, ob es wirklich sinnvoll ist, auf eine so zustande gekommene Verhaltensnormverletzung mit Strafe zu reagieren. Das wird man verneinen müssen. Gründe des Rechtsgüterschutzes fordern eine solche Sanktionierung sicherlich nicht – denn aus der ganzen Klasse der so zustande gekommenen Verhaltensnormverletzungen kann niemals eine durch das Strafrecht zu verhindernde Rechtsgutsbeeinträchtigung entstehen. Insoweit handelt es sich in Wahrheit um „Überhänge“ der Verhaltensordnung, die daraus resultieren, dass die Verhaltensrechtsordnung im vorliegenden Kontext mangels verfügbarer einfacherer und „punktgenauer“ Anknüpfungssachverhalte auf das Ergebnis subjektiver Gesamtbeurteilungen zurückgreifen muss, die partiell (nämlich im Falle rechtlich fehlerhafter Tatsachenbeurteilung) zu weit greifen. Eine Sanktionierung der Normverletzungen, die sich aus diesen Überhängen der Verhaltensrechtsordnung ergeben, ist aber auch zur Aufrechterhaltung der Geltung der Verhaltensrechtsordnung in dem Umfang, in dem diese garantiert sein muss, nicht erforderlich.65 Dafür genügt es vielmehr, auf jene Verhaltensnormverletzungen zu reagieren, bei denen die Person nicht nur in der Annahme eines fehlenden Anspruchs gehandelt hat, sondern es sich auf der Basis der Tatsachenvorstellungen des Handelnden auch um einen Fall eines fehlenden Anspruchs handelte oder hätte handeln können (s. dazu auch noch unten 3.). Eine Beschränkung hierauf liegt umso näher, als auch nur schwer zu beantworten ist, welche umsetzbare Botschaft die Allgemeinheit und der Täter eigentlich aus der Bestrafung von Handlungen entnehmen sollen, die allein wegen der fehlerhaften rechtlichen Einschätzung des Täters in den Bereich des Problematischen gelangen konnten und bei richtiger rechtlicher Einschätzung schon den (subjektiven) Tatbestand nicht erfüllt hätten.66
65 Zu Einschränkungen der Strafbarkeit, die sich aus der fehlenden Erforderlichkeit der Sanktionierung zur Aufrechterhaltung der Normgeltung ergeben, näher Frisch, GA 2015, 65 (84 f.); ders., FS Beulke 2015, S. 103 (113 f.). 66 Berechtigte Fragen in diese Richtung bei Burkhardt, JZ 1981, 681 (685); ders., GA 2013, 346 (358 f.).
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3. Grenzen: Sachverhalte der Sanktionsbedürftigkeit Auch hier ändert sich die Beurteilung freilich, wenn der rechtlichen Fehlbeurteilung eine andere Vorstellung in tatsächlicher Hinsicht zugrunde liegt – sei es, dass der Täter irrtümlich (auch) von einer Tatsachengrundlage ausgeht, bei deren Vorliegen er wirklich keinen Anspruch auf den erstrebten Vorteil hätte, sei es, dass er nur lückenhafte oder unklare Tatsachenvorstellungen hat und es daher (auch ihm) möglich erscheint, dass er auf den erstrebten Vorteil keinen Anspruch hat. Da es hier, relativ auf die Tatsachenvorstellung des Täters, infolge der Täuschung oder Nötigung durchaus zu einer rechtswidrigen Vermögensverschiebung kommen kann, besteht hier nicht nur im Interesse des Rechtsgüterschutzes Grund, die Täuschung oder Nötigung zur Erlangung des Vorteils zu verbieten. Hier besteht auch guter Grund, der Verletzung dieses Verbots Strafe folgen zu lassen. Denn hier kann es auf der Basis der Tätervorstellung durchaus zu eben dem kommen, dem das Gesetz mit Strafe entgegentreten will: rechtswidrigen Vermögensverschiebungen. Dass in einer Reihe dieser Fälle der erstrebte (und ggf. eingetretene) Vorteil dann doch aufgrund von dem Täter unbekannten Umständen nicht rechtswidrig ist (oder das zugunsten des Täters angenommen werden muss67), steht zwar einer Bestrafung wegen vollendeter Tat entgegen. Es ändert aber nichts daran, dass es sich hier um Sachverhalte handelt, denen ein um die Verhinderung rechtswidriger Vermögensverschiebungen bemühtes Strafrecht angesichts deren Möglichkeit auf der Basis der Tatsachenvorstellungen des Täters durch eine Bestrafung wegen (untauglichen) Versuchs begegnen muss. Dass die Rechtsprechung in solchen Fällen wegen versuchten Betrugs oder versuchter Erpressung bestraft, 68 ist daher auch aus grundlagenorientierter Sicht durchaus fundiert. Mit diesen skizzenhaften und doch – zugegebenermaßen – schon wieder etwas zu lang geratenen Darlegungen muss es hier sein Bewenden haben. Ich widme den Beitrag Ulrich Eisenberg, der auf dem Gebiet des Strafrechts und der Kriminologie Wichtiges geleistet hat, mit den besten Wünschen zum 80. Geburtstag und in der Hoffnung, dass der Jubilar die strafrechtliche Diskussion noch viele Jahre bereichern wird.
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Vgl. aus der Rspr. z. B. BGHSt 42, 268 (270 f.); BGH, NStZ 2008, 214. So BGHSt 42, 268 (272 f.); BGH, NStZ 2008, 214.
Plattformen zur Ermöglichung krimineller Handlungen im Internet Überlegungen zur strafrechtlichen Erfassung de lege lata und de lege ferenda Von Helmut Fünfsinn und Benjamin Krause Seit dem Erscheinen der Festschrift für Ulrich Eisenberg zum 70. Geburtstag im Jahr 2009 ist eine strafrechtliche Disziplin stark in den Fokus der Strafrechtspraxis, der Wissenschaft und der Rechtspolitik gerückt: das Internetstrafrecht.1 Diese Disziplin ist eng verknüpft mit der Dynamik der allgemeinen technischen Entwicklung und gekennzeichnet durch immer neue Kriminalitätsphänomene im Zusammenhang mit dem Entstehen einer „digitalen Schattenwirtschaft“ im Internet und dem Geschäftsmodell „Cybercrime-as-a-Service“.2 Ein besonders eindrückliches Beispiel dafür ist die Entwicklung von Plattformen, über die alle Arten von verbotenen bzw. vertriebsbeschränkten Waren, ausgespähte Daten und kriminelle Dienstleistungen öffentlich gehandelt und Straftaten wie Waffen- oder Drogenhandel, Betrug und Erpressung oder die Verbreitung von Kinderpornografie als „Massenkriminalität“ ermöglicht werden (im Folgenden als „kriminelle“ Plattformen bezeichnet).3 Gegenstand dieses Beitrages ist zunächst eine rechtstatsächliche Darstellung der entsprechenden Plattformen als Ausprägung der „digitalen Schattenwirtschaft“ im Internet (I.). Danach folgen Überlegungen, ob diese „kriminellen“ Plattformen mit den Kategorien von Täterschaft und Teilnahme de lege lata strafrechtlich erfasst werden können (II.) und ob diesbezüglich de lege ferenda ein Reformbedarf besteht (III.).
1 Gesamtüberblick etwa bei Eisele, Computer- und Medienstrafrecht, 2013; Gercke/ Brunst, Praxishandbuch Internetstrafrecht, 2010; Hilgendorf/Valerius, Computer- und Internetstrafrecht, 2. Aufl. 2012; Kochheim, Cybercrime und Strafrecht in der Informations- und Kommunikationstechnik, 2015; Malek/Popp, Strafsachen im Internet, 2. Aufl. 2015; Marberth-Kubicki, Computer- und Internetstrafrecht, 2. Aufl. 2010. 2 Vgl. dazu etwa die seit dem Jahr 2010 jährlich veröffentlichten „Bundeslagebilder Cybercrime“ des Bundeskriminalamtes, abrufbar unter http://www.bka.de/. 3 Zu „kriminellen“ Marktplätzen im Internet eingehend Bundeskriminalamt, Bundeslagebild Cybercrime 2016, S. 16 ff., abrufbar unter http://www.bka.de/.
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I. Die „digitale Schattenwirtschaft“ im Internet Während seit vielen Jahren die statistisch erfasste Kriminalität in Deutschland insgesamt zurückgeht,4 ist trotz großem Dunkelfeld5 eine kontinuierlich steigende Entwicklung der Kriminalität mit dem Internet als Mittel zur Tatbegehung festzustellen.6 Dieser gegenläufige Trend mag aus kriminologischen Gesichtspunkten7 zunächst nicht überraschen – ist doch die Nutzung des Internets in den vergangenen Jahren für beinahe 90 Prozent der Deutschen im privaten und beruflichen Alltag nahezu unverzichtbar geworden, wodurch grundsätzlich auch die Manipulations- und Angriffsmöglichkeiten steigen.8 Die Bandbreite von Tatgelegenheiten, die das Internet bietet, ist jedoch längst nicht mehr nur auf internet-spezifische Taten wie das Eindringen in fremde Netzwerke, die Verbreitung von Schadsoftware oder das Ausspähen persönlicher Zugangsdaten beschränkt. Vielmehr werden über das Tatmittel Internet vorrangig klassische Straftaten wie Betrug und Erpressung,9 Betäubungsmittelhandel,10 Waffenhandel11 oder die Verbreitung von Falschgeld12 und Kinderpornografie13 begangen. Obwohl für die Begehung dieser klassischen Taten ebenfalls hochtechnische Werkzeuge („Tools“) zur Tatbegehung oder jedenfalls zur Verschleierung der genutzten Internetverbindung erforderlich sind, werden diese Taten nicht ausschließlich von spezialisierten Tätern mit umfassenden IT-Kenntnissen, sondern zunehmend auch von Kriminellen ohne jegliche Fachkenntnisse begangen.14 Ein möglicher Erklärungsansatz für dieses „Massenphänomen“ Cybercrime kann darin gesehen werden, dass sich im Internet eine illegale Schattenwirtschaft („Under4
Vgl. sowohl die jährliche Polizeiliche Kriminalstatistik, abrufbar unter http://www.bka. de, als auch die jährliche Strafverfolgungsstatistik, abrufbar unter https://www.destatis.de/. 5 Dunkelfelduntersuchungen der Kriminologischen Forschungsstelle des Landeskriminalamtes Niedersachsen aus dem Jahr 2017 kommen zu dem Ergebnis, dass lediglich 14,6 % aller Delikte im Bereich Cybercrime angezeigt werden; Landeskriminalamt Niedersachsen, Befragung zu Sicherheit und Kriminalität in Niedersachsen 2017, S. 53, abrufbar unter https:// www.lka.niedersachsen.de/. 6 In den Jahren 2009 bis 2017 sind die Straftaten mit Tatmittel Internet von 206.909 auf 251.617 Fälle gestiegen; vgl. die jährliche Polizeiliche Kriminalstatistik des Bundeskriminalamts, Grundtabelle Straftaten mit Tatmittel Internet, abrufbar unter http://www.bka.de/. 7 Vgl. dazu nur Eisenberg/Kölbel, Kriminologie, 7. Aufl. 2017. 8 Vgl. die jährliche ARD-ZDF-Onlinestudie, abrufbar unter http://www.ard-zdf-onlinestu die.de/. 9 Bundeskriminalamt (Fn. 3), S. 6. 10 Bundeskriminalamt, Bundeslagebild Rauschgiftkriminalität 2017, S. 15 f., abrufbar unter http://www.bka.de/. 11 Bundeskriminalamt, Bundeslagebild Waffenkriminalität 2016, S. 9 f., 14, abrufbar unter http://www.bka.de/. 12 Bundeskriminalamt, Bundeslagebild Falschgeldkriminalität 2016, S. 5 f., abrufbar unter http://www.bka.de/. 13 Bundeskriminalamt (Fn. 6), Summenschlüssel 143200. 14 Bundeskriminalamt (Fn. 3), S. 16 ff.
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ground Economy“) entwickelt hat. Über Handelsplattformen und Kommunikationsforen werden alle Arten von illegalen Waren wie Drogen, Waffen, Falschgeld, gefälschte Ausweise oder ausgespähte Kreditkartendaten und Passwörter sowie Kinderpornografie und eine große Bandbreite an Dienstleistungen zur Verfügung gestellt, wie etwa die Entwicklung und Verbreitung von Schadsoftware, die Vermietung von infizierten Rechnern zur anonymen Tatbegehung oder verschiedene Geldwäsche-Dienstleistungen („Cybercrime-as-a-Service“15). Diese Plattformen stehen jedem Internetnutzer offen, da sie ohne besondere Computerkenntnisse erreichbar sind. Zur Bezahlung der gehandelten Waren und Dienstleitungen werden ausschließlich digitale Kryptowährungen wie etwa Bitcoins16 akzeptiert. Die Versendung körperlicher Gegenstände erfolgt als Brief, Päckchen oder Paket an Empfänger, deren Identität und Adressen gefälscht sind. Dies alles dient dem Zweck, größtmögliche Anonymität für die Beteiligten zu erreichen.17 Während bei den oftmals ausschließlich kriminellen Zwecken dienenden Handelsplattformen die angebotenen Waren und Dienstleistungen in den „digitalen Warenkorb“ gelegt werden können, dienen Kommunikationsforen – neben dem Austausch über strafrechtlich irrelevante Themen – vornehmlich zur Schaltung von Werbeanzeigen und als Verabredungsorte für konkrete kriminelle Geschäfte. Durch dieses öffentliche Anbieten von Wissen und Waren wird die Durchführung jeder Art von Internetkriminalität auch für technische Laien ermöglicht bzw. erleichtert. Personen, die nur einzelne spezifische Fachkenntnisse besitzen, können ihre individuellen Fähigkeiten für die Begehung der Straftaten in heterogene Gruppen einbringen und in diesen Gruppen arbeitsteilig zusammenwirken.18 Diese Entwicklung wurde durch das Aufkommen des sog. Darknet19 noch verstärkt. Bekanntestes Darknet ist das TOR-Netzwerk20, bei dem die bestehende Internetverbindung der Anwender zum Zwecke der Anonymisierung mehrfach verschlüsselt und zur Verschleierung durch drei variable Knoten des Netzwerks hindurch geleitet wird, bevor die Verbindung zum Ziel aufgebaut wird.21 Auch für die Nutzung 15
Vgl. zu dem Phänomen „Crime-as-a-Service“ auch Meywirth, Kriminalistik 2016, 355 ff.; Vogt, Die Kriminalpolizei 2/2017, 5 ff. 16 Vgl. zu Bitcoin Goger, MMR 2016, 431; Heine, NStZ 2016, 441; Schrey/Thalhofer, NJW 2017, 1431. 17 Bundeskriminalamt (Fn. 3), S. 17. 18 Vgl. für den europäischen Kontext Europol, Internet Organised Crime Threat Assessment (lOCTA) 2017, abrufbar unter http://www.europol.de/. 19 Mit Darknet werden abgeschottete Bereiche des Internets bezeichnet, die nur mit spezieller Software zugänglich sind; vgl. zu dem Handel im Darknet Fünfsinn/Ungefuk/Krause, Kriminalistik 2017, 440 ff. sowie zu den Ermittlungsmöglichkeiten im Darknet Krause, NJW 2018, 678 ff. 20 https://torproject.org. Weitere Möglichkeiten sind etwa das „Invisible Internet Project (I2P)“ oder „Freenet“. 21 Vgl. Vogt, Die Kriminalpolizei 2/2017, 5; vgl. zur Historie etwa Dreimann, Die Polizei 2017, 135 ff.
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dieser hochtechnisierten Verschlüsselung ist kein Spezialwissen, sondern nur die Installation eines kostenlosen Browsers notwendig. Auch wenn die Nutzung des TORNetzwerks an sich nur eine mögliche Form der anonymen Internetkommunikation darstellt und gerade für Oppositionelle in totalitären Regimen eine wichtige Möglichkeit darstellt, staatlicher Überwachung und Verfolgung zu entgehen,22 dient jedenfalls mehr als die Hälfte der Darknet-Angebote illegalen Zwecken.23 Das Darknet bietet damit sowohl für den Verkäufer als auch für den Käufer eine im Vergleich zur herkömmlichen Beschaffung einfache Möglichkeit, verbotene bzw. vertriebsbeschränkte Waren zu verkaufen bzw. zu erwerben. Um ein Geschäft erfolgreich durchzuführen, ist es nicht erforderlich, dass sich Verkäufer und Käufer persönlich kennen bzw. treffen müssen. Ein durch die Anonymität möglicher Betrug zwischen Verkäufer und Käufer wird dadurch ausgeschlossen, dass die Kaufsumme bis zum vollständigen Erhalt der Ware durch den Käufer zunächst bei einem anonymen Treuhänder hinterlegt und erst nach Freigabe des Käufers durch den Treuhänder an den Verkäufer ausgezahlt wird („Escrow“). Durch dieses vermeintlich hohe Maß an Anonymität strahlt das Darknet eine große Anziehungskraft für Tatgeneigte aus. Nach den Erkenntnissen des Bundeskriminalamtes existierten bereits im Jahre 2016 etwa 50 entsprechende Plattformen der Underground Economy mit Deutschlandbezug und ausdrücklicher krimineller Ausrichtung.24 Diese haben nicht selten über 100.000 Mitglieder und über 10.000 Verkäufer, die auf den Plattformen jedoch jeweils nur unter Pseudonymen („Nicknames“) registriert sind.25 Betrieben werden diese Plattformen in aller Regel arbeitsteilig von wenigen Personen als hierarchisch gegliederte Gruppierung von Betreibern, Administratoren und Moderatoren. Während Administratoren üblicherweise für Betrieb, inhaltliche Weiterentwicklung und Technik zuständig sind, haben Moderatoren die Funktion, die jeweiligen Regeln der Marktplätze und Foren durchzusetzen.26 Der Verdienst der Betreiber entsteht dabei durch die Erhebung von Gebühren für die Nutzerregistrierung, das Verkaufen von Werbeflächen oder die Durchführung der beschriebenen Treuhand-Dienste für die Abwicklung der einzelnen Transaktionen.27 Gerade bei Kommunikationsforen ist jedoch in Einzelfällen auch festzustellen, dass die Betreiber keine eigenen finanziellen, sondern eher ideelle oder fremdnützige Interessen verfolgen. 22
Das „gute Darknet“ beschreibt etwa Moosbrucker, APuZ 46 – 47/2017, 16 ff. Moore/Rid, Cryptopolitik and the Darknet, Survival 2 – 3/2016, 7 ff.; Owen/Savage, The Tor Darknet, abrufbar unter https://www.cigionline.org/sites/default/files/no20_0.pdf. 24 Vogt, Die Kriminalpolizei 2/2017, 5; vgl. auch BT-Drucks. 18/9487, S. 2. 25 Vgl. Europol, Pressemitteilung zu dem „Takedown“ der Plattformen „Alphabay“ (ca. 200.000 User, darunter 40.000 Verka¨ ufer mit rund 350.000 „illegalen“ Angeboten) und „Hansa Market“ (ca. 20.000 User, darunter 1.600 Verka¨ ufer mit ca. 25.000 „illegalen“ Angeboten) vom 20. 7. 2017, abrufbar unter https://www.europol.europa.eu/. 26 Vgl. zu typischen Forenstrukturen etwa BGH, StV 2012, 539; BGH, Urt. v. 28. 3. 2012 – 2 StR 398/11. 27 Näher zum illegalen Handel im Darknet Fünfsinn/Ungefuk/Krause, Kriminalistik 2017, 440 ff.; Krause, NJW 2018, 678 ff.; Rath, DRiZ 2016, 292 f. 23
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Insgesamt ist diese „digitale Schattenwirtschaft“ im Internet ständigen Veränderungen und vor allem ständigen Innovationen unterworfen.
II. Überlegungen zur Strafbarkeit de lege lata Als Ausgangspunkt der Überlegungen zur Strafbarkeit der Betreiber entsprechender Plattformen de lege lata bleibt festzuhalten, dass über die genannten Plattformen Straftaten durch Dritte wie unerlaubtes Handeltreiben mit Drogen, Waffen, Kinderpornografie und ausgespähten Daten angebahnt bzw. abgewickelt werden können. Je nach Ausgestaltung der Plattform als Handelsplattform oder Kommunikationsforum und je nach konkreter Durchführung des Handels im Einzelfall kommen für eine strafrechtliche Erfassung der Betreiber entsprechender Plattformen in Abhängigkeit von den jeweiligen Haupttaten allgemein die Rechtsinstitute der Mittäterschaft bei Erfolgsdelikten in Abgrenzung zur Teilnahme in der Form der Beihilfe sowie der Täterschaft abstrakter Gefährdungsdelikte in Betracht. Dabei spielen die nach h.M.28 vor oder auf der Tatbestandsebene zu berücksichtigenden Haftungsbeschränkungen für Telemedien-Dienstanbieter der §§ 7 ff. TMG in der strafrechtlichen Praxis keine entscheidende Rolle, da die Betreiber entsprechender Plattformen und Foren entweder eigene Angebote zur Nutzung bereithalten oder sich durch eine aktive Rolle bei der Freigabe, Bewertung, Kontrolle und Bewerbung die Angebote anderer Nutzer zu eigen machen und damit bereits telemedienrechtlich keine Haftungsbeschränkung vorliegt.29 1. Mittäterschaft bei Erfolgsdelikten Ob die Beteiligung an Straftaten anderer als Mittäterschaft oder Beihilfe zu werten ist, beurteilt sich nach ständiger Rechtsprechung des BGH30 nach den allgemeinen Grundsätzen über die Abgrenzung zwischen diesen Beteiligungsformen: „Mittäter ist danach, wer nicht nur fremdes Tun fördert, sondern einen eigenen Tatbeitrag derart in eine gemeinschaftliche Tat einfügt, dass sein Beitrag als Teil der Tätigkeit des anderen und umgekehrt dessen Tun als Ergänzung seines eigenen Tatanteils erscheint. Ob ein Beteiligter ein so enges Verhältnis zur Tat hat, ist nach den gesamten Umständen, die von seiner Vorstellung umfasst sind, in wertender Betrachtung zu beurteilen. Wesentliche An-
28 Sch/Sch/Eisele, StGB, 29. Aufl. 2014, § 184 Rn. 72; Fischer, StGB, 65. Aufl. 2018, § 184 Rn. 27; Gercke/Bruns (Fn. 1), Rn. 380 f.; Hilgendorf/Valerius (Fn. 1), Rn. 192; Spindler, TMG, 2. Aufl. 2018, Vor §§ 7 – 10 Rn. 37; Malek/Popp (Fn. 1), Rn. 74; Marberth-Kubicki (Fn. 1), Rn. 363. 29 Vgl. Sch/Sch/Eisele, StGB (Fn. 28), § 184 Rn. 80; Hilgendorf/Valerius (Fn. 1), Rn. 199 ff.; jeweils unter Hinweis auf BGH, NJW-RR 2010, 1276 ff. 30 Vgl. BGH, NStZ 2007, 230 (232); BGH, NStZ-RR 2011, 57; BGH, NStZ-RR 2013, 46; BGH, NStZ-RR 2014, 375.
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haltspunkte können der Grad des eigenen Interesses am Taterfolg, der Umfang der Tatbeteiligung und die Tatherrschaft oder wenigstens der Wille zur Tatherrschaft sein. Als Hilfeleistung ist dagegen grundsätzlich jede Handlung anzusehen, die die Herbeiführung des Taterfolges durch den Haupttäter objektiv fördert oder erleichtert; dass sie für den Eintritt dieses Erfolges in seinem konkreten Gepräge in irgendeiner Weise kausal wird, ist nicht erforderlich. Der Gehilfe braucht zwar die Einzelheiten der Tat nicht zu kennen, er muss aber wissen, dass er eine bestimmte fremde Tat unterstützt. Dabei kann Beihilfe auch in der Vorbereitungsphase der Haupttat geleistet werden. Hinsichtlich der Bestimmtheit der Haupttat ist ausreichend, dass der Gehilfe den wesentlichen Unrechtsgehalt der Haupttat jedenfalls in ihren Grundzügen erfasst.“
Nach diesen Maßstäben ist für Betreiber von kriminellen Handelsplattformen im Internet objektiv (und in aller Regel auch subjektiv) grundsätzlich eher von einer Ermöglichung, Vermittlung bzw. Begleitung eines fremden Umsatzgeschäfts und damit einer fremden Tat als von einer eigenen Tat auszugehen. Dies gilt insbesondere für technische Administratoren, die sich anders als Moderatoren nicht konkret mit den einzelnen Verkaufsangeboten und der Geschäftsabwicklung befassen (müssen). Anders kann dies jedoch dann einzuordnen sein, wenn Betreiber durch die verpflichtende Vorgabe und Durchführung von Treuhandgeschäften für die Kaufgelder derart in die Abwicklung der Geschäfte eingebunden sind, dass sie einen eigenen Einfluss auf das Verkaufsgeschäft, den ausgehandelten Preis etc. und damit letztlich Tatherrschaft haben. Letztlich wird dies immer eine Frage des Einzelfalls im Hinblick auf die jeweils gehandelte Ware oder Dienstleistung und die Art und Weise der Verkaufsabwicklung bleiben, zumal gerade bei den auf den Plattformen am häufigsten anzutreffenden „Vermittlungsgeschäften“ zu dem Handeltreiben des § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG eine nahezu unüberschaubare Einzelfallrechtsprechung existiert.31 Gleiches gilt im Waffenrecht für das Handeltreiben gemäß § 52 Abs. 1 Nr. 2c) WaffG in der Form des gewerbsmäßigen oder selbstständigen „Vermittelns“ des Erwerbs, Vertriebs oder Überlassens von Schusswaffen oder Munition bzw. das Vermitteln eines Vertrages im Sinne von § 22a Abs. 1 Nr. 7 KrWaffG.32 Auch die Verbindung zu einer Bande33 hat nicht zur Folge, dass jedes von einem der Bandenmitglieder aufgrund der Bandenabrede begangene Delikt den anderen Bandenmitgliedern ohne weiteres als gemeinschaftlich begangene Straftat im Sinne des § 25 Abs. 2 StGB zugerechnet werden kann. Denn nach der Rechtsprechung des BGH34 ist vielmehr für jede einzelne Tat nach den allgemeinen Kriterien festzustellen, ob sich die anderen Bandenmitglieder hieran als Mittäter, Anstifter 31 Weber, BtMG, 5. Aufl. 2017, § 29 Rn. 674; vgl. auch Körner/Patzak/Volkmer, BtMG, 8. Aufl. 2016, § 29 Teil 4 Rn. 97. 32 Vgl. Erbs/Kohlhaas/Pauckstadt-Maihold, 218. EL Januar 2018, WaffG § 52 Rn. 18; Erbs/Kohlhaas/Lampe, 218. EL Januar 2018, KrWaffG § 22a Rn. 4, 11. 33 Vgl. zum Begriff und zu den Voraussetzungen einer Bande BGH, NJW 2001, 2266 m.w.N. 34 Vgl. BGH, Beschl. v. 14. 11. 2012 – 3 StR 403/12; BGH, NStZ-RR 2013, 77; BGH, Urt. v. 11. 5. 2016 – 5 StR 583/15.
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oder Gehilfen beteiligt oder ob sie ggf. überhaupt keinen strafbaren Tatbeitrag geleistet haben. Mitglied einer Bande kann danach auch derjenige sein, dessen Tatbeiträge sich nach der Bandenabrede auf Beihilfehandlungen beschränken. Die bereits zuvor geschilderten Abgrenzungsprobleme in der Praxis ändern sich damit auch nicht, wenn strafrechtlich von einer Bande ausgegangen werden kann. In den Fällen, in denen ein Täter an einzelnen Taten anderer Täter nicht mitwirkt, sondern sich seine Tatbeiträge hierzu im Aufbau und in der Aufrechterhaltung eines auf Straftaten ausgerichteten Geschäftsbetriebs erschöpfen, können diese Tathandlungen nach der Rechtsprechung des BGH35 zum bandenmäßigen Betrug jedoch auch als uneigentliches Organisationsdelikt zu einer einheitlichen Tat im Sinne des § 52 Abs. 1 StGB zusammengefasst werden, ohne dass die Annahme bandenund gewerbsmäßiger Begehung dadurch berührt würde. Diese Rechtsprechung hat der BGH36 jedenfalls auf den Bereich des Betreibens von Internet-Plattformen zum Zwecke der bandenmäßigen Verbreitung von Kinderpornografie ausgedehnt und anerkannt, dass in dem Betreiben einer Internet-Plattform, die einzig und allein einem eindeutig strafbaren Zweck wie dem Einstellen von kinderpornografischen Dateien im Internet dient, bereits ein öffentliches Zugänglichmachen im Sinne von § 184b Abs. 1 Nr. 1 StGB liegen kann. Während Kinderpornografie-Foren regelmäßig von bis zu 10 Personen geführt werden und über eine klare Bandenabrede verfügen,37 ist es in der Underground Economy allerdings nicht unüblich, dass auch große kriminelle Foren und Verkaufsplattformen von weniger als drei Personen und damit schon quantitativ nicht als Bande geführt werden. Zudem sind die Plattformen der Underground Economy nicht immer eindeutig und ausschließlich kriminell ausgerichtet. Gerade das Forum „Deutschland im Deepweb“, über das der Verkauf der Waffe und der Munition des sog. „Münchener Amoklaufs“38 im Juli 2016 angebahnt worden ist, verfügte überwiegend über strafrechtlich nicht relevante Kommunikationsinhalte.39 Letztlich ist bei Plattformen der Underground Economy auch zu berücksichtigen, dass die Betreiber jeweils ihre eigenen (finanziellen) Interessen auch gegen die Interessen der anderen Betreiber verfolgen können. Die Voraussetzungen zur Annahme eines uneigentlichen Organisationsdelikts bei bandenmäßiger Begehungsweise sind daher bei den Plattformen und Foren der Underground Economy regelmäßig nicht erfüllt.
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BGH, wistra 2008, 181 (182); BGH, StV 2013, 386; vgl. dazu etwa Sch/Sch/SternbergLieben/Bosch, StGB (Fn. 28), Vor §§ 52 ff. Rn. 17a. 36 BGH, StV 2012, 539; BGH, Urt. v. 28. 3. 2012 – 2 StR 398/11. 37 Vgl. die Sachverhalte in BGH, StV 2012, 539; BGH, Urt. v. 28. 3. 2012 – 2 StR 398/11. 38 Vgl. die polizeiliche Aufarbeitung durch das Landeskriminalamt Bayern, abrufbar unter http://www.polizei.bayern.de/lka/news/presse/aktuell/index.html/257942. 39 Vgl. dazu Fünfsinn/Ungefuk/Krause, Kriminalistik 2017, 440.
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2. Beihilfe bei Erfolgsdelikten Auch wenn damit grundsätzlich eine Strafbarkeit der Betreiber von kriminellen Infrastrukturen wegen Beihilfe zu den über die Plattform begangenen Haupttaten in Betracht kommt, so besteht in der Praxis das Hauptproblem, die geförderten Haupttaten ohne die ermittlungstechnisch hochkomplexe Sicherung des kompletten Datenbestands einer Internet-Plattform („Dump“) konkret festzustellen. Während in Foren zwar die Angebote für den Verkauf von Waren und Dienstleistungen – vergleichbar einem „schwarzen Brett“ – offen einsehbar sind, werden die Verkaufsverhandlungen und damit die Haupttaten bilateral zwischen den Beteiligten über eigene, in der Regel verschlüsselte Kommunikationskanäle abgewickelt. Diese sind damit weder offen im Forum noch in der entsprechenden Datenbank dokumentiert. Lediglich wenn die Betreiber der Plattform etwa bei der Durchführung von Treuhanddiensten ein eigenes finanzielles Interesse an dem einzelnen Verkaufsgeschäft haben, sind die entsprechenden Transaktionen bei den Betreibern auf Datenträgern dokumentiert – aber in aller Regel verschlüsselt und ohne Mitwirkung des Beschuldigten nicht zu öffnen. Daneben besteht in der Praxis auch die Schwierigkeit, den „doppelten Gehilfenvorsatz“ der Betreiber zu einzelnen, konkreten Verkaufsgeschäften nachzuweisen. Dies gilt insbesondere für Foren, bei denen die Arten von Straftaten, die über sie abgewickelt werden sollen, zu Beginn nicht klar definiert sind und sich erst im Laufe der Zeit in Unterforen entwickeln. Auch wenn Foren über vollautomatisierte Verkaufssysteme etwa für ausgespähte Kreditkartendaten verfügen, dürfte ein Beihilfevorsatz zu konkreten Taten in der Praxis nicht nachzuweisen sein, da die Betreiber nur eine technische Infrastruktur zur Verfügung stellen und ihren Verdienst allein durch Werbeflächen generieren. 3. Täterschaft bei Gefährdungsdelikten Die Anforderungen an den Nachweis konkreter Einzeltaten sind zwar bei abstrakten Gefährdungsdelikten wie der Bildung einer kriminellen Vereinigung in § 129 StGB grundsätzlich erleichtert. Jedoch wird die „Festigkeit“ der Struktur, über die eine kriminelle Vereinigung verfügen muss, bei Täterstrukturen der Underground Economy im Internet nicht erreicht oder ist jedenfalls nicht nachweisbar. Dieses Problem der „Festigkeit“ der Vereinigung wurde zwar entschärft durch die mit Wirkung zum 22. 7. 2017 geänderte Legaldefinition40 der Vereinigung in § 129 Abs. 2 StGB. Damit soll nach der Begründung des Gesetzgebers41 bewusst auf die 40 Eine Vereinigung ist ein auf längere Dauer angelegter, von einer Festlegung von Rollen der Mitglieder, der Kontinuität der Mitgliedschaft und der Ausprägung der Struktur unabhängiger organisierter Zusammenschluss von mehr als zwei Personen zur Verfolgung eines übergeordneten gemeinsamen Interesses. 41 BT-Drs. 18/11275, S. 7, 11.
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restriktive Rechtsprechung des BGH reagiert werden, in der hierarchisch organisierte Gruppierungen mit bloßer Durchsetzung eines autoritären Anführerwillens mangels „Gruppenidentität“ aus dem Tatbestand des § 129 StGB ausgeschlossen wurden42. Plattformen, die nicht mindestens von drei Personen geführt werden, werden jedoch bereits von dieser Definition nicht erfasst. Auch hat der Gesetzgeber mit der Änderung ausdrücklich eine Erweiterung des Anwendungsbereichs des § 129 StGB beabsichtigt. Dennoch wird nach der Gesetzesänderung für die Annahme einer Vereinigung im Sinne des § 129 Abs. 2 StGB mehr verlangt als die bloß lose Übereinkunft von mindestens drei Personen, miteinander bestimmte Straftaten begehen zu wollen. Für die Vereinigung ist weiterhin ein „organisierter Zusammenschluss“ erforderlich, was zumindest eine gewisse Organisationsstruktur sowie in gewissem Umfang instrumentelle Vorausplanung und Koordinierung erfordert. Zusammenschlüsse, die sich zufällig zur unmittelbaren Begehung einer Straftat bilden, sind keine Vereinigung im Sinne des § 129 Abs. 2 StGB.43 In diesem Zusammenhang ist problematisch, dass die Zusammenschlüsse zwischen den Betreibern krimineller Plattformen im Internet „flüchtig“ sind und häufig wechseln. Letztlich ist auch der Nachweis des Tätigwerdens in einem „übergeordneten gemeinsamen Interesse“ oftmals nicht möglich. Auch wenn ein solches nach der Begründung des Gesetzgebers44 etwa im Bereich der Organisierten Wirtschaftskriminalität in dem von den Mitgliedern der Vereinigung über den Willen zur gemeinsamen Begehung von Straftaten geteilten gemeinsamen Gewinnstreben und der Verwendung gewerblicher oder geschäftsähnlicher Strukturen liegen kann, besteht auch hier das Problem, dass die Zusammenschlüsse zwischen den Agierenden in der Underground Economy „flüchtig“ sind und Personen, die ohne eigene finanzielle Interessen etwa für die Aufrechterhaltung und Wartung der technischen Infrastruktur oder die Pflege der Foren verantwortlich sind, nicht erfasst werden. Auch eine täterschaftliche Datenhehlerei45 gemäß § 202d Abs. 1 StGB wird für Betreiber von Plattformen, auf denen ausgespähte Daten wie etwa Kreditkartendatensätze oder Zugangsdaten und Passwörter zum Online-Banking verkauft werden, regelmäßig nicht in Betracht kommen. Anders als bei der Sachhehlerei des § 259 Abs. 1 StGB ist bei der Datenhehlerei das „Absetzen“ bzw. die „Absatzhilfe“ nicht als Tathandlung aufgenommen worden.46 Unabhängig von der bei der „Absatzhehlerei“ lange umstrittenen Frage, ob die Tatvollendung einen Absatzerfolg erfordert oder bereits eine darauf gerichtete Tätigkeit ausreicht,47 wird die Tätigkeit des 42
Vgl. BGH, NStZ 2008, 146. Vgl. Fischer, StGB (Fn. 28), § 129 Rn. 10, 19; BeckOK StGB/von Heintschel-Heinegg, 35. Ed. 1. 8. 2017, § 129 Rn. 4. 44 BT-Drs. 18/11275, S. 11. 45 Kritisch dazu Singelnstein, ZIS 2016, 432 ff.; Stuckenberg, ZIS 2016, 526 ff. 46 Anders noch die ursprüngliche Arbeitsversion eines Gesetzesantrags des Landes Hessen; vgl. dazu Stuckenberg, ZIS 2016, 526 (528). 47 Vgl. Fischer, StGB (Fn. 28), § 259 Rn. 18; Sch/Sch/Stree/Hecker, StGB (Fn. 28), § 259 Rn. 29. 43
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Betreibens einer entsprechenden Internet-Plattform jedenfalls nicht unter dem Aspekt der Absatzhilfe als Datenhehlerei erfasst werden können. Eine täterschaftliche Strafbarkeit gänzlich ohne Nachweis konkreter Verkaufsgeschäfte kommt für Betreiber entsprechender Internet-Plattformen lediglich im Bereich des Betäubungsmittelrechts für das öffentliche Mitteilen einer Gelegenheit zum unbefugten Erwerb von Betäubungsmitteln nach § 29 Abs. 1 Nr. 10 Var. 3 BtMG in Betracht.48 Auch dabei stellt sich jedoch die Frage, ob und ggf. welchen Betreibern, Administratoren und Moderatoren der Plattform ein entsprechender subjektiver Vorwurf zu machen ist. 4. Zwischenfazit Auch das neue Kriminalitätsphänomen des Betreibens „krimineller“ Plattformen im Internet kann grundsätzlich mit den traditionellen Kategorien von Täterschaft und Teilnahme erfasst werden. Dafür ist – mit Ausnahme des Betäubungsmittelstrafrechts – in der Praxis jedoch Voraussetzung, dass konkrete Verkaufsgeschäfte als Haupttaten und die relevante Tatkommunikation der Beteiligten für die Einordnung der subjektiven Tatseite festgestellt werden können. Ansatzpunkt für eine mögliche strafrechtliche Reaktion bleibt damit de lege lata im Wesentlichen das konkrete Verkaufsgeschäft zwischen Dritten und nicht etwa das abstrakte Betreiben einer Plattform im Internet. Aufgrund der Anonymität und des konspirativen Vorgehens des Handels in der digitalen Schattenwirtschaft des Internets sowie der Nutzung von verschlüsselten Datenträgern können konkrete Verkaufsgeschäfte in der Praxis der Strafverfolgungsbehörden jedoch nur selten festgestellt werden. Rein faktisch besteht de lege lata damit für die als strafwürdig zu erachtenden Fälle des bewussten Betreibens „krimineller“ Plattformen vielleicht ein Vollzugsdefizit, aber auch ein Normdefizit, obwohl das BVerfG49 bereits im Jahr 2010 geurteilt hat: „In einem Rechtsstaat darf auch das Internet keinen rechtsfreien Raum bilden.“
III. Überlegungen zur Strafbarkeit de lege ferenda Dieses Zwischenfazit aus Sicht der Strafrechtspraxis ist von der Rechtspolitik bereits aufgegriffen worden. So hatte etwa die Herbstkonferenz der Justizministerinnen und Justizminister in Berlin vom 17. 11. 2016 unter TOP II. 8 folgenden Beschluss gefasst:
48 Vgl. Körner/Patzak/Volkmer, BtMG (Fn. 31), § 29 Teil 20 Rn. 21 ff.; Weber, BtMG (Fn. 31), § 29 Rn. 1763 ff. 49 BVerfG, NJW 2010, 833 (Rn. 260).
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„… 2. Die Justizministerinnen und Justizminister halten es für erforderlich, das öffentliche Feilbieten von Gegenständen und Dienstleistungen zur Vorbereitung von Straftaten im Internet zu unterbinden. Sie bitten die Bundesregierung zu prüfen, inwieweit dies durch Anpassungen des materiellen Strafrechts, namentlich des Waffengesetzes, besser als bisher erreicht werden kann. …“.
Während bei den Beratungen zu Änderungen des Waffenrechts im Jahr 2017 noch ein generelles Verbot des „öffentlichen Feilbietens von Schusswaffen zum illegalen Erwerb“ verworfen wurde,50 hat die Bundesregierung in dem Koalitionsvertrag 2018 angekündigt, eine eigenständige Strafbarkeit für das „Betreiben krimineller Infrastrukturen“ zu prüfen, um speziell im Internet eine Ahndung von Delikten wie z. B. das Betreiben eines Darknet-Handelsplatzes für kriminelle Waren und Dienstleistungen einzuführen.51 Diese Ankündigung entspricht dem bisherigen Verständnis der Rechtspolitik, entweder als Reaktion auf neue Phänomene der Internetkriminalität neue Straftatbestände wie die Datenhehlerei in § 202d StGB52 oder den „digitalen Hausfriedensbruch“53 zur Schließung von Strafbarkeitslücken einzuführen oder im Hinblick auf verfassungsgerichtliche Judikatur strafprozessuale Ermittlungsmaßnahmen wie etwa die Abfrage von Bestandsdaten in § 100j StPO54, die Vorratsdatenspeicherung in § 100 g StPO55, die Quellen-TKÜ oder die Online-Durchsuchung in §§ 100a, 100b StPO56 klarstellend zu regeln. Diese gesetzgeberischen Initiativen sind zwar von dem nachvollziehbaren Bestreben geprägt, die für körperliche Gegenstände entwickelten Rechtsvorschriften an die digitale Gesellschaft57 anzupassen und damit persönliche Daten strafrechtlich genauso umfassend zu schützen wie körperliche Gegenstände. Dieses „Ergänzen bestehender Rechtsvorschriften“ wird jedoch weder dem in der Praxis bestehenden Reformbedarf des Strafrechts im Hinblick auf die vielfältigen Herausforderungen der digitalen Gesellschaft noch den dogmatischen Anforderungen an die 50 Vgl. die Stellungnahme des Bundesrates und die Gegenäußerung der Bundesregierung ¨ nderung des Waffengesetzes und weiterer zu dem Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur A Vorschriften, BT-Drs. 18/11938. 51 Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 19. Legislaturperiode, Zeilen 5921 ff., abrufbar unter https://www.bundesregierung.de/. 52 Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, BT-Drs. 18/5088. 53 Gesetzentwurf des Bundesrates, BR-Drs. 338/16 und BT-Drs. 19/1716. 54 Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 17/12034. 55 Vgl. Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, BT-Drs. 18/5088. 56 Beschlussempfehlung des Bundestags-Rechtsausschusses, BT-Drs. 18/12785. 57 Von „Informationsgesellschaft“ spricht Sieber, Straftaten und Strafverfolgung im Internet, Gutachten C zum 69. Deutschen Juristentag, 2012, C 9 ff.
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Bestimmung eigener Rechtsgüter bzw. Schutzgüter für das materielle Internetstrafrecht58 oder der Eingriffstiefe strafprozessualer Maßnahmen bei Internetermittlungen gerecht.59 Vor diesem Hintergrund hatte bereits der 69. Deutsche Juristentag 2012 mit eindeutiger Mehrheit die Erforderlichkeit eines umfassenden Reformansatzes beschlossen:60 „I.3. Im Hinblick auf die zahlreichen erforderlichen Reformen im Bereich des Internetstrafrechts sollte wegen der Komplexität der Materie, der schnellen technischen Entwicklungen, der vielfältigen internationalen Verflechtungen sowie des unerlässlichen kriminologischen Forschungsbedarfs eine interdisziplinär besetzte Sachverständigenkommission eingesetzt werden, die dem Gesetzgeber beratend zur Seite steht.“
Die Einsetzung einer solchen Sachverständigenkommission zur Reform des Internetstrafrechts – wie etwa zuletzt die Expertenkommission zur Reform der StPO61 oder die Reformkommission Sexualstrafrecht62 – erscheint angesichts der seit dem Jahr 2012 festzustellenden Entwicklung der Internetkriminalität zur Massenkriminalität dringender denn je. Diese Entwicklung ist an den beschriebenen „kriminellen“ Plattformen im Internet besonders gut sichtbar.
IV. Fazit Die schnelle technische Entwicklung der Internetkriminalität zur Massenkriminalität und das Entstehen immer neuer Kriminalitätsphänomene in der „digitalen Schattenwirtschaft“ des Internets stellen sowohl Strafrechtspraxis als auch Rechtspolitik und Wissenschaft vor große Herausforderungen. Die Praxis hat auf diese Herausforderungen – wie bereits von Sieber angemahnt63 – reagiert und in vielen Bundesländern spezialisierte Staatsanwaltschaften für die Verfolgung von Internetkriminalität geschaffen. Angesichts der Allgegenwärtigkeit und der Bedeutung für den privaten und beruflichen Alltag, aber auch der Verletzlichkeit der digitalen Gesellschaft sollten diese Herausforderungen nunmehr dringend auch von der Rechtspolitik und der Strafrechtswissenschaft im Rahmen einer umfassenden Reform des Internetstraf58 Vgl. dazu Schmölzer, ZStW 123 (2011), 709 ff.; eindrücklich zur Datenhehlerei Stuckenberg, ZIS 2016, 526 ff. 59 Vgl. dazu Klesczewski, ZStW 123 (2011), 737 ff.; Kudlich, GA 2011, 193 ff. 60 69. Deutscher Juristentag München 2012, Abteilung Strafrecht, Beschlüsse I.1. (angenommen 70:4:1) und I.3. (angenommen 70:4:1), abrufbar unter http://www.djt.de/; grundlegend dafür Sieber (Fn. 57); zuvor bereits Kudlich, GA 2011, 193 ff. 61 Vgl. den Bericht der Expertenkommission zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des allgemeinen Strafverfahrens und des jugendgerichtlichen Verfahrens, Oktober 2015, abrufbar unter https://www.bmjv.de/. 62 Vgl. den Abschlussbericht der Reformkommission zum Sexualstrafrecht, Juli 2017, abrufbar unter https://www.bmjv.de/. 63 Sieber (Fn. 57), C 127 f.
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rechts angegangen werden. Dieser Vorschlag ist nicht neu64 – er ist aber aus Sicht der Strafrechtspraxis dringender denn je.
64
Sieber (Fn. 59), C 151 ff.
Der Einzelfall als Strafgesetzgebungsmotiv Von Thomas Hillenkamp
I. Dass Entwicklungen von Kriminalität nicht nur Polizei, Strafgerichte und den Strafvollzug beschäftigen, sondern auch die Politik, ist eine Binsenwahrheit. Beruhigung über Beunruhigendes wird von ihr dadurch zu schaffen versucht, dass Ordnungswidrigkeiten zu Straftaten, Vergehen zu Verbrechen hochqualifiziert, neue Straftatbestände implementiert oder Strafmaße angehoben werden. So sind z. B. seit dem 13. 10. 2017 „Verbotene Kraftfahrzeugrennen“, zuvor in § 29 Abs. 1 StVO als Ordnungswidrigkeit (§ 49 Abs. 2 Nr. 5 StVO) untersagt, in § 315d StGB unter Strafe gestellt.1 Als Legitimation kann das Anwachsen der Fallzahlen, des Gefahrenpotenzials und der Schäden gelten,2 auch das Schließen einer Straflücke.3 Ob man aus der Sicht des kriminologisch bewanderten Jubilars für die erhoffte Präventivkraft der Aufwertung einer Norm als jüngeres Beispiel anführen kann, dass nach den Hochstufungen des Wohnungseinbruchsdiebstahls vom Regelbeispiel zur Qualifikation und partiell zum Verbrechen4 in den Jahren 2016 und 2017 die Zahl der Fälle zurückgegangen ist, kann man bezweifeln,5 Fundamentalkritik gegenüber 1 Durch das 56. StrÄndG v. 30. 09. 2017, BGBl. I S. 3532; siehe dazu Mitsch, DAR 2017, 70 ff. 2 Nur andeutungsweise so BT-Drs. 18/10145, S. 7; BT-Drs. 18/12936, S. 1. Ohne Belege hält Heiko Maas „die Raserevents für ein Hobby von Verrückten“, Mitsch, DAR 2017, 70 (71) diese für „Exzesse, für die die testosterongesteuerten Wettraser tagtäglich – vor allem nachts – in deutschen Großstädten“ sorgten und für die der Kudamm-Fall „nur die Spitze des (nicht belegten) Eisbergs“ sei. 3 Zumal der BGH am Tötungsvorsatz trotz höchst lebensgefährdenden Verhaltens jüngst auch im „Ku’damm“-Fall LG Berlin, NStZ 2017, 471 zweifelt, siehe BGH, BeckRS 2018, 2754. 4 Siehe § 244 StGB und die Nachw. in Wessels/Hillenkamp, Strafrecht BT 2, Straftaten gegen Vermögenswerte, 40. Aufl. 2017, Rn. 262. 5 Dem 2015 mit 167.136 bekannt gewordenen Fällen erreichten Kulminationspunkt (2010: 121.347 Fälle) ist mit 151.265 Fällen in 2016 und 116.540 Fällen in 2017 ein Abwärtstrend gefolgt, ob infolge oder nur im Gefolge der gesetzgeberischen Aufwertungen, ist nicht geklärt. Zur Messung generalpräventiver Effizienz gesetzlicher Verschärfungen siehe Eisenberg/Kölbel, Kriminologie, 7. Aufl. 2017, § 20 Rn. 1 ff., 12 ff.; § 41 Rn. 20 ff., 32 ff.; zur Bedeutung post-legislativer Wirkungs- und Wirksamkeitsforschung § 23 Rn. 35 f. Sie wird dem Gesetzgeber vom BVerfG mit der Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht auferlegt, siehe dazu
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der Politik an solcher Reaktion auf anwachsenden Feldern der Kriminalität und der Furcht vor ihr aber kaum überzeugend begründen.6 Reaktionen können durch Kriminalitäts- oder mit ihr zusammenhängende Entwicklungen auch in entgegengesetzter Richtung angestoßen werden. So mehren sich in jüngerer Zeit (wieder) Stimmen, die eine Überlastung von Justiz und Strafvollzug durch die justizielle Bewältigung des Schwarzfahrens beklagen und zu einer Abschaffung jeden sanktionsbewehrten Verbots oder doch zu einer Herabstufung dieses Bereichs des § 265a StGB zur Ordnungswidrigkeit raten.7 Ob die Politik es für opportun halten wird, dem zu folgen, ist noch nicht ausgemacht, ein Nachdenken darüber aber gewiss legitim.8 Die Berechtigung gesetzgeberischer Reflektionen speist sich in diesen Beispielen aus Entwicklungen, die sich, empirisch fassbar, über einen längeren Zeitraum erstrecken und dadurch für den Gesetzgeber die „Sachnotwendigkeit“ ergeben, sich mit der Frage einer gesetzlichen Reaktion zu befassen. Auf den ersten Blick weniger legitim erscheint dagegen eine „ad-hoc-Reaktion“, in der der Gesetzgeber prompt auf „schnelllebige Medialisierungen von relevanten Ereignissen“ wie „Skandale, Anschläge, Kapitaldelikte“, in der Folge mit unseren Beispielen vergleichbar, mit einer neuen Strafvorschrift oder der Abschaffung einer alten antwortet. Während die durch längere Entwicklungen angestoßenen Gesetzesänderungen als Paradigma kriminologischer Begleitforschung gelten können, gehören Spontanreaktionen auf dem Gebiet der „politisch-legislatorischen Prozesse, in denen die Festlegung des gesellschaftlich jeweils kriminalisierten Verhaltensbereichs erfolgt“, zu den weniger bedachten Seiten dieses fraglos „wichtigen kriminologischen“ Forschungsfelds.9 Hillenkamp, in: FS Eisenberg, 2009, S. 301 ff.; Tekin, Die Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht des Gesetzgebers im Strafrecht, 2013. 6 Natürlich bleibt gegenüber dem „Wie“ der Reaktion Kritik nie aus. Zu § 315d z. B. zust. Jansen, NZV 2017, 214 (219); Hoven/Kubiciel, NStZ 2017, 439 (445); krit. zu § 244 z. B. Dreißigacker u. a., NK 2017, 321 ff.; Kreuzer, NK 2017, 123 ff.; Mitsch, KriPoZ 2017, 21; Singelnstein/Puschke, NJW 2011, 3473 (3475). Eisenberg/Kölbel (Fn. 5), § 23 Rn. 32 sehen in der Verschärfung eine (positive) „Kriminologie-Verwertung“. 7 Wofür auch die betrugsferne Auslegung des BGH (zusf. BGHSt 53, 122; dazu krit. Wessels/Hillenkamp [Fn. 4], Rn. 676 m.w.N.) spricht, die strafwürdiges Unrecht nicht garantiert. Eine Reaktion des Gesetzgebers wäre ein Beispiel dafür, dass „eingeforderte oder politisch erkannte Interessen (hier: der Justiz) … auch dafür bedeutsam sein (können), dass potenzielle Regelungsgegenstände fallengelassen oder schwächer kriminalisiert werden“, siehe Eisenberg/Kölbel (Fn. 5), § 24 Rn. 2. 8 Nachw. dazu, in welche Richtungen das Nachdenken führen könnte, bei Hoven, ZStW 129 (2017), 334 (346 f.); der Vorschlag von Meier, ZStW 129 (2017), 432 (435 ff.), in Bagatellfällen (auch der Beförderungserschleichung) Freiheitsstrafe auszuschließen, entlastet Justiz und angesichts der zu § 265a StGB nicht seltenen Ersatzfreiheitsstrafe auch den Fiskus nicht maßgeblich; siehe dazu Meier selbst ZStW 129 (2017), 432 (447). In BT-Drs. 19/1115 findet sich ein Gesetzesentwurf der Fraktion „Die Linke“ (Abschaffung der Beförderungserschleichung als Straftat ohne Ersatz durch eine Ordnungswidrigkeit). 9 Zitate aus Eisenberg/Kölbel (Fn. 5), § 23 Rn. 13; das dort hervorgehobene „erhebliche Untersuchungsinteresse“ am „Gemacht-Werden“ von Strafgesetzen verdient allerdings auch
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Auf diesen Ausschnitt wieder einmal10 den Blick zu lenken und genauere Forschung anzuempfehlen, nimmt sich, angeregt auch durch neuere Fälle, diese kleine, Ulrich Eisenberg mit herzlichen Glückwünschen zum 80. Geburtstag gewidmete, „Fallstudie“ vor.
II. Wenden wir uns zunächst Reaktionen zu, die im Gefolge aufsehenerregender Einzelfälle einen Aufwuchs an Strafbarkeit hervorgebracht haben. Als erstes sei der sog. „Duchesne-Paragraph“ (§ 49a RStGB) genannt.11 Er ist nicht nur das durch seinen aufsehenerregenden Anlass wohl bekannteste Anfangsglied12 der Kette der „Gelegenheits-“ oder „ad-hoc-Gesetze“.13 Vielmehr ist diese Vorschrift auch der einzige Repräsentant für einen Eingriff in den Allgemeinen Teil des StGB.14 Ihre Entstehung verdankt sie dem Belgier Duchesne-Poncelet, einem „exaltierten Kesselschmied von Seraing“. Er hatte sich, angestachelt durch die „Erregung der kirchlichen Kreise Belgiens“ über die den Kulturkampf prägenden Maßnahmen Bismarcks gegen die katholische Kirche, 1873 in drei Briefen dem „Erzbischof von Paris, Monseigneur d’Affre“ erboten,15 die „fluchwürdige Laufbahn“ dieses „Elenden in Preußen“16 durch ein Attentat „noch vor Ablauf des Jahres 1873“ zu beschließen.17 Als dieses Angebot nach dem auf Bismarck verübten „Kullmann’schen Attentate (13. Juli 1874) … zu öffentlicher Kenntnis gebracht“ wurde, erließ Belgien schon 1875 auf im Ganzen noch mehr Beachtung. Aufgeworfen wird die Problematik „reflexhaften Strafrechts“ in Heft 4 vorgänge (2015), siehe dort Schlepper, 9 ff. und Frommel, 107 ff. 10 Thematisiert ist er bei Meurer-Meichsner, Untersuchungen zum Gelegenheitsgesetz im Strafrecht, 1974. Alle Beispiele dort betreffen die Schaffung neuer Tatbestände, nicht auch die Abschaffung bestehender. 11 Eingeführt durch Gesetz vom 16. 02. 1876, RGBl. S. 25, mit Bekanntmachung abgedruckt in Vormbaum/Welp (Hrsg.), Sammlung der Änderungsgesetze und Neubekanntmachungen, Bd. 1: 1870 – 1953, 1999, S. 92 ff., 108 ff. 12 Durch dasselbe Gesetz (Fn. 11) trat auch der sog. „Arnim-Paragraph“ in Kraft, siehe dazu weiter u. im Text. 13 Zum synonymen Gebrauch dieser beiden eingeführten Begriffe für das hier gemeinte Phänomen siehe Meurer-Meichsner (Fn. 10), S. 14 f. 14 Die heute in § 30 StGB zu findende Vorschrift ist als „Versuch der Beteiligung“ gekennzeichnet. Zu den Änderungen seit 1876 siehe LK/Schünemann, 12. Aufl. 2006, Entstehungsgeschichte § 30. 15 Zitate aus v. Martitz, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Zweite Abtheilung, 1897, S. 669 mit Fn. 25. 16 Damit war Bismarck, und nicht, wie bei Andreas Roth, in: Vormbaum/Welp (Hrsg.), Das Strafgesetzbuch, Supplementband 1, 2004, S. 5, 9 zu lesen, der „Deutsche Kaiser“ gemeint. 17 Siehe zur Entstehungsgeschichte Busch, Die Strafbarkeit der erfolglosen Teilnahme und die Geschichte des § 49a StGB, 1964, S. 47 ff.; dort S. 48 Fn. 2 Nachweis des Zitats aus einem der Briefe. Das Angebot galt nach Busch, S. 48 Fn. 1 nicht (auch) – wie von Dreher, GA 1954, 11 und Meurer-Meichsner (Fn. 10), S. 16 behauptet – dem belgischen Jesuitenprinzipal.
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Drängen der deutschen Reichsregierung eine Strafvorschrift, die, auch wenn man sich gegen ein „Gelegenheitsgesetz“ verwahrte und die Strafbarkeit auf die Aufforderung zu einem Verbrechen ausdehnte, ein „Erbieten“ wie das von Duchesne-Poncelet erfasste. 18 Der Gesetzgeber des Deutschen Reichs zog mit § 49a StGB ein Jahr später mit einer korrespondierenden Strafvorschrift nach, deren Absatz 2 (wie heute noch § 30 Abs. 2 StGB) eine Tat wie die Duchesne-Poncelets unter Strafe stellte.19 Zwar stimmte in Belgien selbst die „liberale Opposition“ zu, „ein so frevelhaftes und gefährliches Beginnen wie die Handlung Duchesne’s“ unter Strafe zu stellen. Auch versprach sich „die Regierung des (deutschen) Kaisers von der gleichzeitigen legislatorischen Erörterung desselben Gegenstandes in Deutschland und in Belgien eine wohltätige Wirkung auf das öffentliche Bewusstsein.“20 Mit der Strafvorschrift ging man aber auch in Deutschland über das anlassgebende „Erbieten“ 21 zu einem Mord – nicht untypisch für ein, wie es vielleicht besser hieße, „Anlass-“ oder „Reflexgesetz“22 – deutlich hinaus. Zum einen stellte man ihm in Absatz 1 die Aufforderung zu einem Verbrechen oder zur Teilnahme daran gleich. Zum anderen zog man die Vorschrift im Allgemeinen Teil „vor die Klammer“, weil sich die Strafbarkeit auf den Versuch der Beteiligung an jedwedem Verbrechen erstrecken, sich also nicht auf die an einem (politisch motivierten) Mord beschränken sollte. Das geschah, „ohne daß der Gesetzgeber zuvor geprüft hätte, ob ein kriminalpolitisches Bedürfnis für diese Erweiterung“ bestand.23 Busch hat gezeigt, dass diese Erstreckung der Strafbarkeit auf das Vorfeld der Beteiligung zu ihrer Zeit „rückfällig und anachronistisch anmuten“ musste. Denn mit ihr hatte sich der Trend zur Bestrafung nur versuchter Beteiligung und damit der „Vorverlegung der kriminellen Verteidigungslinie“24 wiederbelebt, der in den Partikulargesetzen des 19. Jahrhunderts noch verbreitet, im Preußischen StGB aber abgelegt und für das RStGB mit der h.M. in der Literatur verworfen worden war.25 Politische Absicht korrigierte fachkundige Einsicht, das
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Siehe dazu v. Martitz (Fn. 15), S. 669 f. Anders als in Fällen des Dritten Reichs wurde der Vorschrift keine rückwirkende Kraft beigegeben. Dokumentation des Ablaufs bei Busch (Fn. 17), S. 47 ff.; v. Martitz (Fn. 15), S. 668 ff. und Witte, Erörterungen über den § 49a des Strafgesetzbuches für das Deutsche Reich, 1886, S. 9 ff. (mit Wiedergabe des belgischen Originaltextes S. 11). 20 v. Martitz (Fn. 15), S. 670 mit Fn. 28. 21 Zu seiner Illustration nach geltendem Recht benutzt Letzgus, Vorstufen der Beteiligung, 1972, S. 87 f. den Duchesne-Fall. 22 Die Begriffe „Anlass-“ bzw. „Reflexgesetz“, die hier eingeführt werden, treffen die Verknüpfung zum motivierenden Ereignis besser als „Gelegenheitsgesetz“. Mit „Ad-hoc-Gesetz“ wird ein im Fall Duchesne gegebener, in anderen Beispielen aber fehlender enger zeitlicher Zusammenhang zwischen Anlassereignis und gesetzgeberischer Reaktion nahegelegt. 23 v. Weber, JZ 1955, 588. 24 So bezeichnet Dreher, GA 1954, 11 (12) die mit § 49a RStGB betriebene „Verbrechensprophylaxe“. 25 Busch (Fn. 17), S. 47 ff., 54 ff. (Zitat S. 54). 19
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„Gelegenheitsgesetz“ brach politisch gewollter Symbolik Bahn.26 Dass dieses „polizeilich gefärbte“ ad-hoc-Gesetz „nur ein kurzes Leben“ haben würde,27 hat sich nicht bewahrheitet. Es lebt bis heute als einer der „neuralgischen Punkte“ unseres StGB28 fort. Als zeitgenössisches Beispiel eines Eingriffs in den Besonderen Teil durch ein Reflexgesetz ist mit § 353a der gleichfalls 1876 in das RStGB eingefügte29 sog. „Arnim-Paragraph“ zu nennen. Auch er hat bis heute überlebt. Nicht anders als der Duchesne-Paragraph sollte auch er eine von Bismarck beanstandete Strafbarkeitslücke schließen. Sie hatte sich in einem im Oktober 1874 gegen den Grafen v. Arnim-Suckow eingeleiteten Strafverfahren gezeigt. Von Arnim hatte in den Augen Bismarcks als erster Botschafter des Deutschen Reichs in Paris weisungswidrig eine eigene Politik betrieben, war im März 1874 deshalb abberufen worden und hatte anschließend eine publizistische Fehde gegen Bismarcks Politik eröffnet, in der er aus der Geheimhaltung unterliegenden Akten zitierte.30 Im 1874 eröffneten (ersten) Verfahren wurde v. Arnim zwar wegen Beiseiteschaffens amtlicher Urkunden, zum Verdruss Bismarcks aber nicht wegen der vorgeworfenen „Unbotmäßigkeiten und Indiskretionen“ verurteilt.31 Die Möglichkeit, sie disziplinarisch zu ahnden,32 reichte der Reichsregierung nicht aus. Vielmehr setzte sie durch, dass die Disziplinarvergehen des Bruchs der Amtsverschwiegenheit und des Zuwiderhandelns gegen erteilte Anweisungen für „Beamte im Dienste des Auswärtigen Amtes“ künftig durch § 353a RStGB, wiederum für ein Anlassgesetz nicht untypisch, zur Straftat aufgewertet wurden.33 Für v. Liszt handelt es sich bei dem schon in der Zeit seiner Entstehung umstrittenen34 Arnim-Paragraphen um ein „lehrreiches Beispiel für die schlimmen Folgen einer Gelegenheitsgesetzgebung. Auf einen Einzelfall zugeschnitten, muß er versagen, wenn es um anders geartete Fälle sich handelt. Er paßt nicht in ein StGB, das allgemeine Normen aufzustellen berufen ist,“ so sein Urteil. Auch sei die Vorschrift „völlig überflüssig“, weil „die Disziplinargewalt des Reichskanzlers völlig ausreicht, 26 Busch (Fn. 17), S. 54 f. apostrophiert § 49a RStGB als „Gelegenheitsgesetz“; krit. zu ihm auch Meurer-Meichsner (Fn. 10), S. 127 ff. Zur auch für § 49a RStGB passenden symbolischen Bedeutung einer Neuinkriminierung siehe Eisenberg/Kölbel (Fn. 5), § 23 Rn. 12. 27 Dreher, GA 1954, 11 (12), von dem die Kennzeichnung als „polizeilich“ und zugleich „kriminalethisch“ stammt, schreibt ad-hoc-Gesetzen generell eine kurze Lebensdauer zu, ohne diese (unzutreffende) Aussage zu belegen. 28 So v. Weber, JZ 1955, 588 im Anschluss an Dreher. 29 Siehe Fn. 11, 12. 30 Genauer zur Anlassgeschichte und zum teilweisen Leugnen der Urheberschaft durch v. Arnim Heinrich, ZStW 110 (1998), 327 – 337; knapper Meurer-Meichsner (Fn. 10), S. 16. 31 Heinrich, ZStW 110 (1998), 327 (331). 32 Heinrich, ZStW 110 (1998), 327 (333). 33 Die 1856 – 1946 geltende Fassung des § 353a RStGB ist auch bei Heinrich, ZStW 110 (1998), 327 (328) Fn. 5 zu finden; krit. zur Aufwertung dort S. 346 f. 34 Nachw. bei Heinrich, ZStW 110 (1998), 327 (334 f.).
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um den Ungehorsam seiner Beamten oder die Verletzung der Verschwiegenheitspflicht zu verhindern oder zu strafen.“35 Diese auf das Subsidiaritätsprinzip abstellende Kritik wird heute von Bernd Heinrich geteilt, der die vermeintliche Unverzichtbarkeit der ein „Unikum“ bildenden „Sonderbehandlung“ der Beamten des Auswärtigen Dienstes in § 353a StGB aus demselben Grund bestreitet und strafwürdiges Unrecht in nur internen Disziplinarverstößen nicht sieht.36 Seine Forderung, § 353a StGB zu streichen, könnte die Vorschrift aus ihrem „Schattendasein“ erlösen.37 Brauchen tut man sie offenbar nicht. Der Gesetzgeber hat sich dieser Einsicht bisher aber verschlossen. Auch Vorschlägen zur Streichung eines weiteren Anlasstatbestandes aus der Frühzeit des RStGB, „§ 181a Zuhälterei“, ist er bis heute nicht nachgekommen.38 Die Vorschrift wurde am 25. 06. 1900 durch die sog. „lex Heinze“ in das RStGB eingefügt.39 Anlass war der 1891 vor dem Berliner Schwurgericht verhandelte Mord an einem Nachtwächter. Angeklagt war ein Ehepaar Heinze. Der 23 Jahre alte Ehemann war Zuhälter seiner 11 Jahre älteren Frau im Scheunenviertel Berlins. Der Mord warf ein die Öffentlichkeit beunruhigendes Licht auf das Ganoven- und Zuhältermilieu in diesem Viertel. Die „bestialische“ Ausführung des Verbrechens steigerte das durch die Tat erregte Aufsehen.40 Es rief sogar eine kaiserliche Reaktion hervor. Am 22. 10. 1891 erging ein Erlass, in dem Wilhelm II. behauptete, der „Heinzesche Prozeß“ habe „in erschreckender Weise dargelegt, daß das Zuhältertum … sich zu einer Gefahr für Staat und Gesellschaft entwickelt“ habe. Sie gebe Anlass, „der Polizei ein kräftiges und unter Umständen rücksichtsloses Vorgehen gegen die Ausschreitungen jener verworfenen Menschenklasse zur Pflicht zu machen“ und den Gerichten bei der Anwendung der bestehenden Strafgesetze „von einer falschen Humanität“ abzuraten. „Im Anschluß“ an den Prozess werde „zu erörtern sein, ob und in welcher Weise es etwa einer Änderung oder Ergänzung des bestehenden Strafrechts“ bedürfe. Hiermit wurde die Ausarbeitung des § 181a RStGB angestoßen. Dass bis zu 35 v. Liszt, JW 1918, 540 (542) unter Bezug auf Kahl/v. Lilienthal/v. Liszt/Goldschmidt, Gegenentwurf zu einem Vorentwurf eines deutschen Strafgesetzbuchs, 1911, S. 189. 36 Heinrich, ZStW 110 (1998), 327 (333 ff., 336, 346). Zur vermeintlichen Unverzichtbarkeit, „obwohl keine Verurteilungen nach § 353a StGB nachgewiesen sind“, siehe dort S. 336 Fn. 52 die Zitate aus der Begründung des E 1962 zu § 475. 37 Zitat Heinrich, ZStW 110 (1998), 327 (336); zur Forderung siehe S. 346 ff. und Heinrich, ZStW 129 (2017), 425 (430 ff.) mit Hinweis auf die gegenteilige Position von Ringwald, Der „Arnim-Paragraf“ (§ 353a StGB) und der Schutz auswärtiger Interessen der Bundesrepublik Deutschland, 2010. 38 Siehe die Nachw. dazu bei LK/Laufhütte/Roggenbuck, 12. Aufl. 2009, Entstehungsgeschichte § 181a. In BT-Drs. 14/4456 heißt es: „§ 181a steht dem Wunsch der Frauen nach gesicherten Arbeitsplätzen entgegen“; ähnliche Bedenken wurden schon in den Beratungen zu § 181a StGB erhoben, siehe dazu Kaiser, Das Wesen der Zuhälterei und ihre kriminalpolitische Beurteilung, 1937, S. 54 ff. 39 RGBl. S. 301. 40 Siehe mit Nachw. zu älteren Darstellungen Androulakis, ZStW 78 (1966), 432 (433 f. mit Fn. 3); Kaiser (Fn. 38), S. 51 ff.; Meurer-Meichsner (Fn. 10), S. 17 mit Würdigung S. 123 ff.
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seiner Verabschiedung fast ein Jahrzehnt verging, lag an weltanschaulich und kriminalpolitisch gegensätzlichen Positionen und dem Ringen um eine mehrheitsfähige Fassung.41 Darüber, ob § 181a StGB eine Daseinsberechtigung hat, kann man streiten.42 Dass jedenfalls die Ausbeutungsalternative strafwürdiges Unrecht aufweist, wird man allerdings kaum leugnen können.43 Unter dem Blickwinkel des Anlassgesetzes von größerer Bedeutung ist aber die Frage, ob es mit kriminalpolitischer Rationalität begründet wurde. Das wird man verneinen müssen. In den Verhandlungen des Reichstags wurde zwar „von der Regierungsseite“ erklärt, „der Gesetzesentwurf sei aus Erwägungen und Erfahrungen (hervorgegangen), die die preußische Regierung … aus Anlaß eines schweren Mordprozesses“ gesammelt habe. Das klingt nach empirisch gestützter Begründung. Die krass verallgemeinernden Schlussfolgerungen belegen eine Beschränkung hierauf dann aber nicht. Es seien „tiefe und erschreckende Einblicke in die Verwilderung eröffnet, die durch das sogenannte Zuhältertum in weiten Kreisen Platz gegriffen“ habe. Die „Gemeingefährlichkeit des Zuhältertums“ sei darin zu sehen, „daß es den Nährboden nicht nur des Lasters, sondern in erschreckender Weise auch des Verbrechens“ bilde, heißt es in der Reichstagskommission und im Reichstag und weiter, dass sich „aus den Reihen der Zuhälter … zu einem erheblichen Teil das Verbrechertum rekrutiere“, dass Zuhälter „vor nichts zurückschreckten“ und „eine der gefährlichsten und verderblichsten Klassen der Menschheit“ seien, die ein Abgeordneter, das kaiserliche Unwort von der „verworfenen Menschenklasse“ noch einmal steigernd, als „vertiertes Gesindel“ bezeichnete.44 In solcher, den „Zuhälter“ dann in der Ausgangsfassung des § 181a RStGB in einem Klammerzusatz gewissermaßen als „Verbrechertyp“ und Quelle gemeingefährlicher Gewalttätigkeit kennzeichnenden Beschreibung fand man den Strafgrund. Es verwundert nicht, dass das nationalsozialistische „Recht“ ihm folgte, den Zuhälter als „Volksschädling“ und „Schandfleck der Gesellschaft“ bekämpfte und die „Nährbodenlehre“ aufnahm.45 Dass solche im „Volk“ verhaftete, kriminologisch aber nicht 41 Dokumentation bei Kaiser (Fn. 38), S. 51 ff. Der Fall führte zu einer ausgreifenden Debatte über die Freiheit von Wort, Schrift und Kunst im Lichte der Sittlichkeit, siehe dazu Androulakis, ZStW 78 (1966), 432 (433) mit Hinweis auf Falckenberg (Hrsg.), Das Buch von der Lex Heinze. Ein Kulturdokument aus dem Anfange des 20. Jahrhunderts, 1900. 42 In einer unter Strafrechtslehrern/-lehrerinnen abgehaltenen Umfrage zu einer von Hoven und Weigend 2016 veranstalteten Tagung über „Entbehrliche Tatbestände“ hat niemand § 181a StGB genannt, siehe Hoven, ZStW 129 (2017), 334 (338 f.). Eisenberg/Kölbel (Fn. 5), § 45 Rn. 72 führen die gesellschaftliche Ablehnung der Zuhälterei auf ihre Nähe zur „organisierten Kriminalität“ und die Ausnutzung schwieriger Lebensumstände der ausgenutzten Personen zurück. 43 Krit. H. Jäger, Strafgesetzgebung und Rechtsgüterschutz bei Sittlichkeitsdelikten, 1957, S. 92 ff. 44 Zitiert aus der Zitatensammlung bei Kaiser (Fn. 38), S. 52 ff. 45 Kaiser (Fn. 38) erweist sich im Schlusskapitel S. 166 ff. als von der NS-Ideologie indoktriniert. RGSt 73, 183 f. verweist 1939 auf die auch vom E 1919 und E 1927 aufgegriffenen Begründungen unkritisch zurück, benutzt die Kennzeichnung Zuhälter als „Verbrechertyp“ für den dort Angeklagten allerdings als Entlastung.
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valide belegte Vorstellungen, sprachlich „entschlackt“, bis heute in die Rechtsgutsbestimmung hineinwirken, wird wohl nicht zu Unrecht behauptet.46 Was die Reflexgesetze im Kaiserreich, anders als von ihren Initiatoren vielleicht gewünscht, nicht bewirkten, unterscheidet sie von zwei ad-hoc-Gesetzen des Dritten Reichs, die in die Reihe unserer Beispiele gehören. Die in ihnen angeordnete rückwirkende Anwendbarkeit auf die Anlasstaten47 zeigt die im Anlassgesetz liegende Gefahr, die „Beunruhigung“ in der Bevölkerung politisch zu instrumentalisieren und in die Pervertierung des nullum crimen, nulla poena sine lege in das rechtsstaatswidrige nullum crimen sine poena umzumünzen.48 Das erste Beispiel betrifft den „erpresserischen Kindesraub“. Er wurde 1936 durch § 239a RStGB erstmalig selbstständig unter Strafe gestellt.49 Anlass war die durch List bewirkte Entführung eines 12-jährigen Kindes am 16. 06. 1936 in Bonn, ein „in Deutschland wohl erstmalig“ vorgekommener „Kidnapping“-Fall,50 der Aufsehen und Empörung erregte. Der Vater sollte zur Abwendung der Tötung des Kindes 1800 Reichsmark zahlen. Der Gesetzgeber sah „Anlaß, mit energischen gesetzgeberischen Maßnahmen vorzugehen“ und „das Übel an der Wurzel auszurotten.“ Die in „Erpressungsabsicht“ vorgenommene Entführung eines „fremden Kindes“ wurde mit der Todesstrafe bedroht, das Gesetz rückwirkend „zum 1. Juni 1936 in Kraft“ gesetzt und der Täter bereits am 30. 06. 1936 durch das Bonner Schwurgericht zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde alsbald vollstreckt.51 Freisler hat die kantige, klare und kompromisslose Fassung der neuen Strafvorschrift und den in ihr zu Tage tretenden „Abwehrwillen des Staates“ gelobt,52 Maurach sie als „Terrorbestimmung“ abqualifiziert, „die so ziemlich in allen Hinsichten den primitivsten rechtsstaatlichen Vorstellungen ins Gesicht schlug und die … dem deutschen Strafrecht ein Kainsmal aufdrückte“.53 Meurer-
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Siehe Meurer-Meichsner (Fn. 10), S. 125 mit Nachw. Siehe dazu schon das die Todesstrafe rückwirkend zulassende Gesetz über die Verhängung und den Vollzug der Todesstrafe v. 29. 03. 1933 (RGBl. I S. 136), zeitgenössisch „lex van der Lubbe“ genannt, auch ein „Anlassgesetz“, freilich ohne neuen Straftatbestand; dazu Werle, Justiz-Strafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich, 1989, S. 73 ff. 48 Werle (Fn. 47), S. 73 f., 195; siehe auch LK/Dannecker, 12. Aufl. 2007, § 1 Entstehungsgeschichte S. 72 ff. 49 Gesetz gegen erpresserischen Kindesraub v. 22. 06. 1936, RGBl. I S. 493. Zur Strafbarkeit zuvor siehe Werle (Fn. 47), S. 195. Zu den teils gleichfalls durch spektakuläre Einzelfälle mitbeeinflussten Änderungen der Vorschrift 1953, 1971 und 1989 siehe LK/Schluckebier, 12. Aufl. 2015, § 239a Entstehungsgeschichte; zu 1953/1971 auch Meurer-Meichsner (Fn. 10), S. 17 f., 131 ff. 50 Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafecht BT 1, 10. Aufl. 2009, § 15 Rn. 2; die Fallschilderung lehnt sich an Werle (Fn. 47), S. 195 an; dort auch zur amtl. Begründung. 51 Maurach, JZ 1962, 559 Fn. 3; Werle (Fn. 47), S. 194. 52 Freisler, JDR 1937, 277. 53 Maurach, JZ 1962, 559. 47
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Meichsner sieht in ihr zahlreiche Schwächen, die Gelegenheitsgesetzen gemeinsam sind.54 Das zweite Beispiel wurde – als Vorläufer des heutigen § 316a StGB – am 28. 06. 1938 durch das Gesetz gegen Straßenraub mittels Autofallen geschaffen.55 Es lautete: „Wer in räuberischer Absicht eine Autofalle stellt, wird mit dem Tode bestraft. Dieses Gesetz tritt mit Wirkung vom 1. Januar 1936 (!) in Kraft.“ Man könnte es analog den geschilderten ad-hoc-Gesetzen des Kaiserreichs die „lex-Götze“ nennen. Ihr Anlass waren räuberische Überfälle, die die Gebrüder Max und Walter Götze in den Jahren 1934 bis 1938 im Umfeld Berlins56 auf Kraftfahrer begingen. Überfällen auf Insassen parkender Autos folgten solche auf Fahrer, die durch quer gelegte Baumstämme oder gespannte Drahtseile zum Halten gezwungen wurden. Die Dreistigkeit des Vorgehens und die andauernde Erfolglosigkeit der Polizeibehörden führten zu großer Verunsicherung auf den Straßen, die der „Schöpfer“ der Reichsautobahnen und des Volkswagenwerks nicht hinnehmen konnte. Das folglich „im Zorn geschaffene“57 und in Eile von Hitler in seiner Sommerresidenz ausgefertigte Gesetz wurde nur zwei Tage nach seiner Verkündung in dem nach der Ergreifung der Brüder vor dem Berliner Sondergericht begonnenen Prozess zur Grundlage ihrer Verurteilung zum Tode gemacht.58 Wiederum nicht untypisch für ein Anlassgesetz dehnt der Tatbestand die Strafbarkeit weit in das Vorfeld der „eigentlichen“ Tat (des Raubes) aus,59 sucht „Beruhigung“ durch ein drakonisches Strafmaß zu schaffen und eröffnet zudem durch den neu erfundenen Begriff der „Autofalle“ einen „weiten richterlichen Ermessensspielraum“,60 der zu extensiver Auslegung einlädt. Mit einem Sprung in die Gegenwart soll ein aktuelles Beispiel die Illustrierung des Reigens zum Aufwuchs von Strafbarkeit führender Reflexgesetze beschließen.61 Es geht dabei um den am 10. 12. 2015 in Kraft getretenen § 217 StGB, der die „Ge-
54 Meurer-Meichsner (Fn. 10), S. 131, 140. Werle (Fn. 47), S. 195 widerspricht mit Hinweis auf § 193 E 1936 der Aussage, die „lapidare Tatbestandsfassung (sei) … der Übereile eines Gelegenheitsgesetzes zuzuschreiben.“ 55 RGBl. I S. 651; sog. Autofallengesetz. § 250 Abs. 1 Nr. 3 RStGB, der den Raub auf öffentlichen Wegen und Straßen mit Zuchthausstrafe bedrohte, blieb daneben bestehen. 56 Die kurze Schilderung stützt sich auf Meurer-Meichsner (Fn. 10), S. 21 – 23, die dazu die Vorbemerkungen der Schriftleitung in DStR 1939, 1 ff., den dort S. 6 ff. zu findenden Aufsatz v. Gemmingens und den Aufsatz von Freisler, DJ 1939, 34 ff. ausgewertet hat. 57 v. Gemmingen, DStR 1939, 6 (7). 58 Siehe dazu Werle (Fn. 47), S. 200. 59 Für Werle (Fn. 47), S. 201 (auch) ein Zeugnis des nationalsozialistischen Willensstrafrechts. 60 Werle (Fn. 47), S. 201; ausführliche Würdigung als Gelegenheitsgesetz bei MeurerMeichsner (Fn. 10), S. 21 ff., 30 ff. 61 Zu zwei weiteren davor liegenden Beispielen (§§ 239b, 316c StGB), die allerdings auf mehrere Fälle zurückgehen und damit (wie die eingangs erwähnte Autorennen-Norm) in die Übergangszone zu Reaktionen auf Entwicklungen fallen, siehe Meurer-Meichsner (Fn. 10), S. 134 ff.
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schäftsmäßige Förderung der Selbsttötung“ unter Strafe stellt.62 Vergegenwärtigt man sich, dass die Entstehungsgeschichte dieses Tatbestands bis auf einen Gesetzesantrag vom 27. 03. 2006 zurückreicht63 und sich über zwei Legislaturperioden mit großen Debatten und vielen Entwürfen erstreckt, fehlt die für ein ad-hoc-Gesetz typische zeitlich prompte und eher knapp und zügig beratene Reaktion.64 Die Besinnung auf ihren Ursprung rechtfertigt es aber gleichwohl, von einem Anlass- oder Reflexgesetz zu sprechen. Dafür spricht auch, dass es im in § 217 Abs. 1 StGB enthaltenen Kern fast vollständig bei der 2006 ad hoc vorgeschlagenen Fassung geblieben ist.65 Sie geht auf die Eröffnung einer Dependance der Schweizer Sterbehilfeorganisation „Dignitate“ im September 2005 in Hannover zurück, auf die die Politik mit der Forderung nach einem strafbewehrten Verbot „reflexartig“ reagierte.66 Sie sah postwendend „enormen Handlungsdruck“, dieses Verbot aus den Überlegungen zu einer Regelung der Sterbehilfe „herauszulösen und einer raschen Lösung zuzuführen“, um „neue Realitäten … zu verhindern.“67 Den Anstoß hierzu hatte die niedersächsische Justizministerin Heister-Neumann gegeben. Da die von ihr gewollte Bundesratsinitiative durch die FDP ausgebremst wurde, brachten die Länder Saarland, Thüringen und Hessen 2006 den Entwurf eines Gesetzes zum Verbot der geschäftsmäßigen Vermittlung zur Selbsttötung in den Bundesrat ein.68 Heister-Neumann wollte der „als offene Provokation empfundenen“69 Aktion der Dignitas mit dieser „lex Dignitate“ begegnen, die den Anfängen wehren und ein klares „Nein“ entgegensetzen sollte. Sie sah mit der Dependance die Gefahr einer „inneren Verpflichtung zum sozialverträglichen Frühversterben“ und ein „immer mehr“ an Handreichungen zu leichter und schmerzloser Selbsttötung auch an „jüngere Menschen oder psychisch Kranke“ ohne letales Leiden kommen, mit dem die „Grenzen“ zur „verbotenen aktiven Sterbehilfe“ verschwömmen. Ein „professionelles Angebot des Todes“ werde den „Tod auf einer Einbahnstraße binnen 24 Stunden … zur Regel“ und die „Kommerzialisierung des Todes“ die hinreichende Überprüfung der „Ernsthaftigkeit des Todeswunsches“ illusorisch machen. Es bestehe folglich „dringender Reformbedarf.“70 Diese „Gründe“ sind Motiv und Motor bis zur endgültigen Umsetzung geblieben, für die 62
BGBl. I S. 2177; siehe zur Endphase der Entstehung Hillenkamp, KriPoZ 2016, 3 ff. Gesetzesantrag der Länder Saarland, Thüringen, Hessen, BR-Drs. 230/06. 64 Bis auf § 181a RStGB (zu den Gründen siehe bei Fn. 41) stehen dafür die bisher aufgeführten Beispiele. 65 Lediglich die Tathandlung „gewährt“ ist hinzugefügt und das Strafmaß um zwei Jahre gesenkt worden. 66 Siehe hierzu Gavela, Ärztlich assistierter Suizid und organisierte Sterbehilfe, 2013, S. 220 ff.; ferner Feldmann, Die Strafbarkeit der Mitwirkungshandlungen am Suizid, 2009, S. 602 f.; Saliger, Selbstbestimmung bis zuletzt, 2015, S. 11, 156 ff. Die Kennzeichnung „reflexartig“ findet sich bei Birkner, ZRP 2006, 52; Hillenkamp, KriPoZ 2016, 4 („reflexhaftes Bedienen aufkommender Ängste“). 67 So der Justizminister Thüringens Schliemann, ZRP 2006, 193. 68 BR-Drs. 230/06 v. 27. 03. 2006. 69 Sowada, ZfL 2015, 34 (43). 70 Heister-Neumann, RuP 2006, 41 ff. 63
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sich die Abgeordneten Brand u. a. auf die Fortschreibung der „Anlassgeschichte“ durch Kusch und den Berliner Arzt Arnold berufen und damit den Reflexcharakter der gesetzgeberischen Reaktion bis zu ihrem Ende dokumentiert haben.71
III. Empirisch gestützte Ratgebung in einer kriminologisch gegründeten Gesetzgebungslehre, die man sich für eine rationale Kriminalpolitik wünscht,72 lässt sich aus den wenigen Beispielen zur Reflexgesetzgebung für diesen Gesetzestypus gewiss nicht gewinnen. Auch eine verallgemeinernde Bewertung geben die angedeuteten Eigenheiten der Beispielsfälle nicht her.73 Es bleibt als Desiderat, in einer kriminologisch angelegten Studie die Entstehungsbedingungen von Reflexgesetzen zu untersuchen, die mit ihnen verbundenen Erwartungen und erhofften Wirkungen zu analysieren, sie den tatsächlichen Auswirkungen gegenüberzustellen, denkbare „Kollateralschäden“ aufzuzeigen und daraus Empfehlungen an die Politik zu entwickeln, wie sie in vergleichbaren, sich in unterschiedlichen Staatsverfassungen wiederholenden Anlasssituationen legislativ verfahren soll. Normativ ist dazu im Strafrecht die unverzichtbare Leitlinie, dass nur unter Strafe gestellt werden darf, was über den Einzelfall hinaus generell strafwürdig und strafbedürftig erscheint. Hierzu hat die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers wie die Abfassung der Norm verfassungsrechtlich gesetzte Grenzen.74 Dass Reflexgesetze in besonderer Gefahr stehen, diesen Vorgaben nicht zu entsprechen, ist eine aus den aufgeführten Beispielen gewinnbare Hypothese, deren hier nur flüchtige Skizzierung valider Überprüfung bedarf. Weniges kann gesagt werden. Dass es an der Strafwürdigkeit mangelt, legen Tatbestände nahe, die die strafrechtliche „Verteidigungslinie“ weit ins Vorfeld verschieben. Was heute als Trend zu einem die „Vorverlagerung der Strafbarkeit“ betreibenden „Präventions- und Gefährdungsstrafrecht“ als Mittel gegen Bedrohungs- und Verunsicherungsgefühle in der Kritik steht,75 weil in ihm die Konturen der Rechtsgüter verschwimmen und ihre Bestandsbedrohung nur als hoch abstrakt erscheint, hat sich in den beiden zeitlichen Eckprotago-
71 BT-Drs. 18/5373 v. 01. 07. 2015, S. 9; auch der Arzt und Psychiater Spittler ist in diesem Zusammenhang zu nennen. Zu dessen Rolle im Hamburger Verfahren siehe Hillenkamp, MedR 2018, 379 ff. 72 Das Werk von Noll, Gesetzgebungslehre, 1973 verdiente Nachfolge. 73 Mit recht zurückhaltend auch Meurer-Meichsner (Fn. 10), S. 118 ff., 123 ff., 138 ff. 74 Zur „Auslesefunktion“ der Straftatbestände unter dem Blickwinkel von Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit siehe Hillenkamp, FS Kirchhof, Bd. II, 2013, S. 1349, 1156 ff.; zu den verfassungsrechtlichen Grenzen siehe zuletzt den Inzest-Beschluss BVerfGE 120, 224 mit abw. Meinung Hassemer, jeweils m.w.N.; ob sie § 217 StGB verletzt, steht noch zur Entscheidung aus. 75 Siehe Puschke, vorgänge 212 (2015), 36 ff. m.w.N.
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nisten unserer Beispiele, in § 49a RStGB und in § 217 StGB, deutlich gezeigt.76 In ihnen tritt zur mangelnden Rechtsgutsnähe und -klarheit die Unrechtsverwässerung hinzu, die bei § 49a RStGB im Hinausgreifen über das Bereiterklären zum Mord auf die versuchte Beteiligung an jedem beliebigen Verbrechen und in § 217 StGB im Umschwenken von der Gewerbs- auf die bloße Geschäftsmäßigkeit und dem Verzicht auf einen Suizidversuch als Indiz der „Gefährlichkeit“ der Förderung liegt. Auch zur Strafbedürftigkeit wecken Reflexgesetze wiederkehrende Zweifel. Das sie maßgeblich bestimmende Subsidiaritätsprinzip77 stützte schon im Entstehungsprozess den durchschlagenden Vorbehalt gegen § 353a RStGB, die Disziplinargewalt der Reichsregierung reiche für Prävention und Repression aus. Da die Taten der Heinzes, der Götzes und des Bonner Kidnappers schon mit Strafe bedroht waren, als sie geschahen, bestehen auch an der Notwendigkeit neuer Straftatbestände für diese Taten Zweifel.78 Zuhälterei und Suizidförderung sind zudem Problemlagen, zu denen strafrechtliche „Lösungen“ zur Abhilfe von Missständen und Gefahren nur wenig beitragen. Hier sollte man eher auf soziale Institutionen, auf Polizei und Verwaltung setzen. Die „Legalisierung“ der Prostitution zeigt wie der verfassungsgerichtlich gebilligte Rückzug des Strafrechts in § 218a Abs. 1 StGB, dass es gegen Ausbeutung von Menschen wie gegen die Bedrohung des Lebens dem Strafrecht überlegene subsidiäre Wege gibt, deren Erprobung erst einmal ansteht, bevor der Strafgesetzgeber reflexhaft reagiert. Eignung und Verhältnismäßigkeit sind verfassungsrechtlich bremsendes Postulat. Kriminologische Rückversicherung ist – Drogenkriminalität und Schwangerschaftsabbruch als Beispiel – dem Gesetzgeber aufgegeben.79 Rückwirkung ist vor und nach dem Dritten Reich Tabu. All das ist in Reflexgesetzen nicht oder zu wenig bedacht. § 181a RStGB und das AutofallenG waren zudem bewusst unbestimmt. Es spricht vieles dafür, dass genauere Untersuchung in die Empfehlung an die Politik mündet, ihrer „Schwäche, … mit dem Strafgesetz schnell, einfach und preisgünstig politisches Handeln nachzuweisen und auf öffentliche Empörung zu reagieren“,80 nicht mit ad-hoc-Gesetzen nachzugeben. Strafgesetzgebung braucht keine hektisch gesetzten symbolischen Zeichen,81 sie braucht Überlegung und Zeit, Reflexion statt Reflex.
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Dass sich auch in §§ 281a, 239a und 316a RStGB Vorverlagerungstendenzen mit der Folge diffuser Rechtsgutsbestimmungen nachweisen lassen, hat Meurer-Meichsner (Fn. 10), S. 25 f., 72 ff., 123 ff. gezeigt. 77 Siehe dazu Hillenkamp (Fn. 74), S. 1357 m.w.N. 78 Für Abschaffung des § 316a StGB – ein für Fischer, StGB, 65. Aufl. 2018, § 316a Rn. 2 „in jeder Hinsicht entbehrlicher Tatbestand“ – auch aus diesen (Subsidiaritäts)Gründen Kaspar, ZStW 129 (2017), 401, 405 ff. 79 Hillenkamp (Fn. 5), S. 301 ff. 80 So der vormalige Bundesminister der Justiz Maas, NStZ 2015, 305 (309). 81 So auch Frommel, vorgänge 212 (2015), 107 (108 f.); die statistische Marginalität aller aufgeführten Beispiele unterstreicht den (nur) symbolischen Gehalt.
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IV. Es gibt gute Gründe, das Strafrecht gelegentlich zu entrümpeln.82 Anschauungswandlungen, aber auch das Erkennen mangelnder Strafwürdigkeit, mangelnder Strafbedürftigkeit oder entgegenstehender verfassungsrechtlicher Gründe können die Beseitigung bestehender Strafvorschriften u. U. zwingend machen. Ein Einzelfall kann Anlass und Anstoß sein,83 die Notwendigkeit dieser Konsequenz zu prüfen. Auch dazu liegt es aber nahe, dass gründliche Musterung auf Einzelfälle folgender ad-hoc-Reaktionen nicht anders als zum Aufwuchs auch zum Abbau von Strafrecht die Empfehlung ergibt, Reflektion statt eilfertigen Reflex zur Maxime zu machen. So wenig es klug ist, eine Strafbarkeitslücke um ihrer selbst willen zu schließen, so wenig ist es richtig, mit Henry Buckle „die wertvollsten Gesetze“ pauschal in der „Abschaffung früherer Gesetze“ zu sehen. Das sei abschließend an zwei aktuellen Beispielen gezeigt. Mit Wirkung zum 1. Januar 2018 ist § 103 StGB aufgehoben worden. Das sich hierauf beschränkende „Reformgesetz“84 kann man als „lex Böhmermann“ bezeichnen.85 Es ist die eilfertige Reaktion auf ein niveauloses Gedicht, die die vermeintlich „aus der Zeit gefallene Majestätsbeleidigung“86 mit einem Federstrich beseitigte. Der Expressreflex ist samt seinem Anlass hinreichend dokumentiert.87 Er zeigt die Schwächen dieses Gesetzgebungstyps. Bereits zeitgleich mit der Ermächtigung zur Strafverfolgung nach § 104a StGB erklärte die Kanzlerin, die Bundesregierung halte, wie zuvor schon die SPD, die Vorschrift für „entbehrlich“. Die Absicht, sie aufzuheben, war damit ohne nähere Prüfung ihrer Berechtigung manifestiert. Die Bereitschaft, sich mit Gründen ihrer Beibehaltung auseinanderzusetzen, die im Gesetzgebungsverfahren namentlich mit Hinweis auf den über die §§ 185 ff. StGB hinausgehenden Rechtsgüterschutz geltend gemacht wurden,88 ist in Äußerungen der Bun82
Hoven, ZStW 129 (2017), 334 mit Verweis auf Weigend. Wie für die Inzestvorschrift der Dresdener Fall; die Antworten differieren in BVerfGE 120, 224 mit Sondervotum Hassemer. 84 Gesetz zur Reform der Straftaten gegen ausländische Staaten v. 17. 07. 2017, BGBl. I S.2439. 85 Auf den Fall Böhmermann/Erdogan berufen sich als Anlassgeschehen die Entwürfe in BT-Drs. 18/8123, S. 4 und BT-Drs. 18/8272, S. 7. 86 Von ihr sprach Maas; die für 1871 noch passende Bezeichnung – siehe Olshausen, StGB, 1880, § 103 Bem. 2 – ist seit der 1953 erfolgten Neufassung nicht mehr „zeitgemäß“ und deshalb auch nicht der „Entwurf eines Gesetzes zur … Streichung des Majestätsbeleidigungsparagrafen“ von Bündnis 90/Die Grünen, BT-Drs. 18/8123. 87 Siehe dazu nur Fahl, NStZ 2016, 313; Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, § 185 Rn. 31a; Kühne, GA 2016, 437; LG Hamburg, GRUR-Prax 2017, 216. 88 So von den Sachverständigen Heinze (siehe GA 2016, 767 ff.) und Mitsch (siehe KriPoZ 2016, 101 ff.); siehe auch Schelzke, HRRS 2016, 248 ff. Gleichwohl für Entbehrlichkeit Heinrich, ZStW 129 (2017) 425 ff.; Kaspar, ZStW 129 (2017), 401 (410 ff.); in der von Hoven/ Weigend abgehaltenen Umfrage (siehe Fn. 42) hat niemand § 103 StGB als entbehrliche Vorschrift genannt. 83
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desregierung nicht dokumentiert.89 Diese Gründe streiten auch gegen die Annahme der „Linken“, in der „Hierarchisierung“ geschützter Personen liege ein Verstoß gegen Art. 3 GG.90 Gleichgültig wie man zur Aufhebung des § 103 StGB steht, verdient das reflexhafte, politisch dominierte ad-hoc-Gesetzgebungsverfahren Kritik. Das gilt auch deshalb, weil ihm das Odium politischer Beeinflussung eines schwebenden Strafverfahrens durch die Drohung mit „Rückwirkung“ (§ 2 Abs. 3 StGB) anhängt, im Rechtsstaat ein Menetekel.91 Das letzte Beispiel betrifft § 219a StGB. Es bleibt auch dann ein Negativbeispiel für reflexhafte Einzelfallreaktion, wenn das Werbeverbot für den Schwangerschaftsabbruch, was im Moment92 nicht sicher absehbar ist, letztlich nicht fällt und eine „lex Hänel“ ausbleibt.93 Geht es nach der Fraktion „Die Linke“ oder nach einem Gesetzesantrag im Bundesrat, soll § 219a StGB fallen.94 Auch die Abgeordneten Künast und Högl möchten die Vorschrift streichen. Anlass der gesetzgeberischen Hektik ist ein Urteil des AG Gießen, mit dem eine hessische Allgemeinmedizinerin namens Hänel nach § 219a StGB zu einer Geldstrafe verurteilt worden ist. Sie hatte auf ihrer Website darauf hingewiesen, dass und unter welchen Bedingungen sie Schwangerschaftsabbrüche vornimmt.95 Um die „Rückwirkung“ des § 2 Abs. 3 StGB auszulösen, sollte die Aufhebung möglichst noch vor Rechtskraft des Urteils geschehen. Vorschrift und Urteil behielten unzeitgemäß und verfassungswidrig abbruchswilligen Frauen Informationen vor, ist die politisch durchsichtige Begründung.96 Dass mittlerweile Zeit bleibt, über den Sinn eines das fragile Lebensschutzkonzept der §§ 218 ff. StGB mittragenden Verbots nachzudenken,97 ist nicht eingetretener Besinnung, sondern allein politischer Strategie zu verdanken98 und macht die unsägliche 89 Das in BT-Drs. 18/11243 genannte „Interesse der Bundesrepublik Deutschland an guten und ungestörten Beziehungen zum Ausland“ (siehe hierzu v. Liszt, v. Martitz-FS, 1911, S. 437 ff.; Simson, Heinitz-FS, 1972, S. 737 ff.) wird zur Notwendigkeit „erhöhter Strafandrohung“ unter den Tisch gekehrt; auch in BR-Drs. 214/16 fehlt eine genauere Auseinandersetzung. 90 So der Entwurf der Linken, BT-Drs. 18/8272, S. 1, 6, der sich deshalb für eine Abschaffung auch der §§ 90, 188 StGB ausspricht. Auch Maas beruft sich in seiner Erklärung v. 28. 04. 2017 auf den Gleichheitsgrundsatz (kein Sonderrecht für die Mächtigen). 91 Die StA Mainz hat das Verfahren eingestellt; umgangen werden sollte die Beendigung des Verfahrens nach § 2 Abs. 3 StGB durch das späte Inkrafttreten der Aufhebung. 92 Stand Juli 2018. 93 Sie könnte moderater auch in einer Neufassung des § 219a StGB bestehen. 94 BT-Drs. 19/93; BR-Drs. 761/17. 95 AG Gießen, ZfL 2018, 38. 96 Siehe gegen diesen und drei weitere eher populistisch vorgetragene Gründe Hillenkamp, HessÄBl. 2018, 92 ff. 97 Zur bisherigen Debatte siehe die Beiträge von Frommel, Gärditz, Satzger, Sowada, T. Walter und Hoven (Stellungnahme des Kriminalpolitischen Kreises) im Heft 1 2018 der ZfL sowie Duttge, medstra 2018, 129 f.; Kubiciel, ZRP 2018, 13 ff. 98 Die SPD, die von Kauder das Zugeständnis einer vom Koalitionszwang freien Abstimmung ertrotzt hatte, zog ihre auf Abschaffung zielende Initiative zum Erhalt des fragilen Koalitionsfriedens zurück. Z. Zt. arbeitet das BMJV an einem Reformvorschlag.
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Reflexgenese eines vermeintlich dringenden Reformprozesses ganz unabhängig von seinem Ausgang nicht wett. Der hier aufgezeigte Typus des Reflexgesetzes ermöglicht dem Gesetzgeber, dass er „gerade im strafrechtlichen Bereich … unkoordiniert und weniger konzeptionsgetragen als spontan und anlassbezogen“ agiert, keinem „Masterplan“, sondern „singulären Anstößen“ folgt. Damit das nicht als „ad-hoc-Gesetzgebung … die dominierende legislatorische Methode“ wird,99 ist zu reflektiertem, von Sachverstand geleiteten, statt zu reflexhaftem Handeln und also zum Verzicht auf eilfertige Reflexgesetze zu raten. Es wäre gut, wenn eine kriminologisch fundierte Arbeit zu unserem Thema diesen vorläufigen Rat in eine gediegen begründete Empfehlung der Gesetzgebungslehre umsetzte.
99 So von Rieß 2009 für die vergangenen Jahre bezeichnet, siehe dazu und zu den Zitaten Eisenberg/Kölbel (Fn. 5), § 23 Rn. 37.
Der ambivalente Umgang der ostdeutschen Rechtswissenschaft mit den Strafrechtsgrundsätzen P. J. A. Feuerbachs zwischen 1950 und 1990 Von Günther Kräupl Ein Beitrag aus Jena zu P. J. A. Feuerbach ließe sich schon hinlänglich damit begründen, dass hier während dessen zehnjährigen Wirkens die oft angerufenen Grundsätze des Strafrechts geboren wurden. Es soll aber weniger um Feuerbach in dieser, seiner Zeit gehen, vielmehr um das Schicksal dieser Grundsätze in der Denk- und Diskussionswelt der Rechtsphilosophen und Strafrechtler der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Das notwendig Kritische in diesem Blick könnte helfen bewusst zu halten, dass selbst ein Strafrecht, das im Feuerbachschen Sinn Rechtsstaatlichkeit beansprucht, stets erneut zu prüfen und zu justieren ist. Denn die Feuerbachschen Prinzipien sind an ihren Grenzen nicht so eindeutig definierbar. Und sie befinden sich historisch im Fluss. Rechtsstaatliches Strafrecht bleibt ein fragiles Gut. Dem Thema nachzugehen wird nicht leichter dadurch, dass der Verfasser selbst eingebunden war in diese geistesgeschichtlichen Vorgänge. Die Mühen solcher Erörterung in eigener Sache zu einem Jubiläumsgeburtstag vorzusetzen verlangt Zutrauen, ist in gewisser Weise aber auch Zumutung. Das Zutrauen überwiegt jedoch im Wissen um die stete Offenheit des Jubilars für solches Geschehen und dessen Akteure im Osten.
I. Die Wiederaufnahme des klassischen Feuerbachbildes nach 1945 Bereits 1948 erschien eine vom Autor selbst als „Büchlein“ bezeichnete Schrift über Feuerbach in einer Taschenbuchreihe von „Kurzbiographien“ erinnernswürdiger Größen des ausländischen und deutschen Geisteslebens, um dem „tiefe(n) Rechtsverfall“, in den Gerechtigkeit, Sittlichkeit und Wahrheit „gestürzt“ worden waren,1 etwas in Genius und Vorbild Kraftvolles entgegenzusetzen. Das gelingt dem Autor, der damit offenkundig auch seine Hoffnungen als noch junger Jurist verband. Es war für ihn kein Problem, dass ein ostdeutscher Verlag sein „Büchlein“ herausgab. Das ganze Land hatte die „Pflege eines wahrhaft demokratischen fortschritt1
Blau, Paul Johann Anselm Feuerbach, 1948, S. 3.
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lichen Geistes“ (so etwa im Aufruf der Kommunistischen Partei Deutschlands vom 11. Juni 1945) nötig. Immerhin war es die erste Publikation zu Feuerbach nach dem Krieg, und die staatliche Trennung in Ost und West hatte noch nicht stattgefunden. Honorige Verehrer Feuerbachs sahen ihre Wirkungsheimat weiterhin oder erstmals im Osten. So die Dichterin und Historikerin Ricarda Huch, die in die Reihe tatkräftiger Männer der Vorgeschichte der Revolution 1848/49 auch Ludwig Feuerbach gestellt hatte, einleitend mit einem poetischen Bild des leidenschaftlichen „alten Feuerbach“2, bevor sie 1933 aus Protest gegen die nationalsozialistische Einvernahme aus der preußischen Akademie der Künste austrat. 1947 musste sie ihr geliebtes Jena allein aus familiären Gründen verlassen. Bis dahin war sie jedoch noch hochgeachtete Alterspräsidentin des Vorparlaments des Landes Thüringen.3 – Solche Erinnerung verdient auch Arthur Baumgarten, der Rechtsphilosoph und Strafrechtler, der 1933 noch an der Universität in Frankfurt/M. Feuerbach zu dessen 100. Todestag gewürdigt hatte, bevor er sein Ordinariat als eine Tat gegen den Nazismus niederlegte und in die Schweiz emigrierte. Er lehrte ab Ende der 1940er Jahre seine Fächer an der Berliner Universität unter den Linden. Von hier aus hat er die Rechtsphilosophie im Osten bis zu seinem Tod 1966 maßgeblich geprägt. Dies anzuerkennen diente 1968 ein Nachdruck seines Feuerbach-Vortrages von 1933.4
II. Die Inanspruchnahme der Feuerbachschen Ideen für die Kritik spätbürgerlichen Strafrechts und das Markieren ihrer Grenzen für ein künftiges sozialistisches Strafrecht Zur sozialistisch orientierten Umwälzung ab Anfang der 1950er Jahre gehörte auch das als notwendig erscheinende Vorhaben, die tradierte bürgerliche Rechtsanschauung zu überwinden und ihr eine sozialistische Staats- und Rechtstheorie entgegenzusetzen. Anfangs blieb es noch bei der herkömmlichen Würdigung des Erbes, so im ersten Heft der 1952 in Ostberlin begonnenen Zeitschrift „Staat und Recht“ im Beitrag von Hans Gerats über Globig und Huster, die er in eine Reihe mit Beccaria, Marat und auch Feuerbach stellte,5 und Richard Hartmann gedachte 1953 des 120. Todestages von Feuerbach.6 1957 erschien dann ein Lehrbuch des Strafrechts, das als „systematische Darstellung der allgemeinen Lehren des ersten sozialistischen 2
Huch, 1848. Die Revolution des 19. Jahrhunderts in Deutschland, 1948 (Ersterscheinung 1930), S. 174 f. 3 Vgl. im Einzelnen Wahl, Ricarda Huch. Jahre in Thüringen, Schriftenreihe des Stadtmuseums Jena Nr. 31, 1982, S. 43 ff. 4 Baumgarten, Paul Johann Anselm Feuerbach, in: Marxistische Beiträge zur Rechtsgeschichte, Wissenschaftliche Schriftenreihe der Humboldt-Universität zu Berlin, 1968 (Nachdruck der Ersterscheinung in der Schweizerischen Zeitschrift für Strafrecht 3/1933, S. 293 ff.), S. 12 ff. 5 Gerats, Staat und Recht, 1952, 126 ff. 6 Hartmann, Staat und Recht, 1953, 368 ff.
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Strafrechts Deutschlands“ verstanden wurde.7 Noch (bis 1968) galt das um nationalsozialistische Normen bereinigte StGB von 1871, das in seinen Abstraktionen und Formalitäten geeignet erschien, mit den zuwachsenden Inhalten eines sozialistischen Strafrechts aufgefüllt und schließlich aufgehoben werden zu können. Das etwa 700seitige Lehrbuch enthielt einen recht umfangreichen Teil zur Geschichte des Strafrechts sowie der strafrechtlichen Anschauungen (über etwa 100 Seiten, bemerkenswert angesichts des zugenommenen Verzichts heutiger Lehrbücher auf rechtsgeschichtliche Teile), insbesondere auch zur frühbürgerlichen Zeit (Feuerbach eingeschlossen) und zu den spätbürgerlichen Entwicklungen. Der Aussage, dass diese Geschichte der weiteren Bearbeitung bedürfe,8 wurde mit zwei zu dieser Zeit laufenden Dissertationen entsprochen, und zwar zu Feuerbach und zu Franz von Liszt. Richard Hartmann würdigte in seiner 1957 abgeschlossenen Arbeit9 die Anschauungen Feuerbachs als dem bürgerlichen Fortschritt seiner Zeit dienende Leistung, sah jedoch die wesentliche Erkenntnisschranke in einer idealistischen Herangehensweise, so dass eine materialistische Erklärung aus der ökonomisch begründeten Klassenlage des jungen deutschen Bürgertums nötig sei.10 Feuerbach abstrahiere „von jeder sozialen Bezugnahme“, wenn er seine Idee eines „allgemeinen Rechtsgesetzes“ in entsprechend abstrakte Prinzipien und juristische Formen umsetze11 und deren Geltung für alle Menschen, unabhängig von ihrer sozialökonomischen Stellung, erwarte.12 Hartmann betonte, das Erbe Feuerbachs sei zu bewahren und gegen die späteren gesinnungsstrafrechtlichen Entwicklungen zu verteidigen. Zum Letzteren veröffentlichte Joachim Renneberg 1956 seine Arbeit.13 Das in Anspruch genommene „Bewahren“ der Feuerbachschen Ideen wurde als ein Verwahren gegen die spätbürgerlichen Strafrechtsentwicklungen verstanden. Die Frage nach den Konsequenzen für das in Aussicht genommene neue Strafrecht blieb offen: Inwieweit bergen Feuerbachs Ideen neben den als klassengebunden bezeichneten frühbürgerlichen auch allgemeinmenschliche Interessen bzw. zu allgemeinen Werten Aufgestiegenes? Zur Mitte der 1950er Jahre hin richtete sich der Blick ganz auf die Kreation eines originär vorgestellten sozialistischen Strafrechts. Aus dem der Klassenkampftheorie verpflichteten Verständnis des Rechts als Instrument der Macht, also der herrschenden Arbeiterpartei und ihrem Staat dienend, schienen historische Anknüpfungen nicht geeignet. Es verstärkte sich die parteioffizielle Kritik an Rechtswissenschaftlern und -praktikern, denen bürgerliche Vorstellungen von Gewaltenteilung und 7
Gerats/Lekschas/Renneberg (Red. im Autorenkollektiv), Lehrbuch des Strafrechts der Deutschen Demokratischen Republik. Allgemeiner Teil, 1957, S. 18. 8 Gerats/Lekschas/Renneberg (Fn. 7), S. 17. 9 Hartmann, P. J. A. Feuerbachs politische und strafrechtliche Grundanschauungen, 1961. 10 Hartmann (Fn. 9), S. VIII und 216. 11 Hartmann (Fn. 9), S. 219 f. 12 Hartmann (Fn. 9), S. 230. 13 Renneberg, Die kriminalsoziologischen und kriminalbiologischen Lehren und Strafrechtsreformvorschläge Liszts und die Zerstörung der Gesetzlichkeit im bürgerlichen Strafrecht, 1956.
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Rechtsstaatlichkeit vorgeworfen wurden.14 Die Strafrechtler an den Universitäten waren in der Deutung dieses generellen Vorwurfs verunsichert, was nicht zuletzt an der hohen Allgemeinheit der für ihren Gegenstand in Frage kommenden Bezüge dieser Kritik lag. So versuchte Joachim Renneberg15 ein Jahr später eine Umsetzung für das Strafrecht. Das Resultat verblieb in dieser Allgemeinheit: die „Abstraktion von der gesellschaftlichen Praxis“ sei zu überwinden,16 der „bürgerliche Rechtshorizont“ sei noch nicht durchbrochen,17 das betreffe insbesondere „Überreste der bürgerlichen Gewaltenteilungsideologie“ und „formalistische Auffassungen über das Legalitätsprinzip“18, vielmehr sei die „Einheit von Gesetzlichkeit und Parteilichkeit“ als „Instrument staatlicher Führungstätigkeit“ zu begreifen.19 „Es kommt also darauf an, theoretische Wege zu weisen, damit jedes Strafgesetz, jedes Strafverfahren, jedes Urteil, jede Strafe zu einem Akt der Politik unseres Arbeiter- und Bauernstaates wird […].“20 So dürfte sich erklären, dass die erst 1961 publizierte Arbeit von Richard Hartmann zu Feuerbach aus dem Jahre 1957 in den beiden Fachzeitschriften des Landes keine Rezension erfuhr. Die Auseinandersetzung flammte lediglich 1962 noch einmal allgemeiner auf, als zehn namhafte Rechtstheoretiker, Rechtshistoriker und Fachwissenschaftler (darunter auch Richard Hartmann) „Thesen über das deutsche staats- und rechtswissenschaftliche Erbe“ veröffentlichten,21 worin gemahnt wurde, auch die kontinuierlichen Momente im Rechtsdenken zu beachten, da zwar die klassenmäßig bedingten Erkenntnisgrenzen zu negieren wären, jedoch der positive Gehalt zu bewahren und auf einer höheren Erkenntnisstufe fruchtbar zu machen sei; bei solcher Aneignung läge die Rechtswissenschaft im Verhältnis zu anderen Gesellschaftswissenschaften „erheblich“ zurück.22 Die nachfolgenden Diskussionsbeiträge waren ausgesprochen kritisch, eindeutig zurückweisend von Karl Polak: „Die „große juristische Tradition“ der klassischen Jurisprudenz ist nichts als der Ausdruck der Negation des gesellschaftlichen Fortschritts […]. Hier ist keine Tradition zu übernehmen, sondern nur eine Tradition zu vernichten“.23 Diese gleichsam parteioffizielle Aussage ließ die Debatte vorerst verstummen.
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So auf der sogenannten Babelsberger Konferenz von 1958 – vgl. Klenner, UTOPIA kreativ, 2005, H. 174, 291 ff. 15 Führender Strafrechtler der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft Potsdam-Babelsberg, die sich gleichsam als rechtswissenschaftliche Leiteinrichtung und besonders verantwortlich für Forschung und Lehre zur sozialistischen Staatsführung verstand. 16 Renneberg, Staat und Recht 1959, 830. 17 Renneberg (Fn. 16), 832. 18 Renneberg (Fn. 16), 833. 19 Renneberg (Fn. 16), 839 f. 20 Renneberg (Fn. 16), 842. 21 Nathan u. a., Staat und Recht 1962, 830 ff. 22 Nathan u. a. (Fn. 21), 832 f., 836. 23 Polak, Zur Dialektik in der Staatslehre, 1963, S. 196.
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III. Der „verdrängte“ Feuerbach auf dem Wege zum „sozialistischen“ StGB von 1968 und seine Widerständigkeit in der Folge von Verletzungen klassischer Prinzipien Zu dieser Zeit waren die Strafrechtswissenschaftler eingebunden in die Ausarbeitung eines neuen, als „sozialistisch“ zu qualifizierenden Strafgesetzbuchs. Das barg auch kreative Hoffnungen. Jedoch verblasste der Blick auf klassische Prinzipien. Feuerbachs Ideen galten als historisch gewürdigt, ohne dass sie angesichts ihrer Erkenntnisgrenzen für das künftige Strafrecht anzurufen gewesen wären. Vielmehr berief man sich auf die neue Qualität der inzwischen gewachsenen gesellschaftlichen Verhältnisse, die erstmals jedem die „Möglichkeiten zu gesellschaftsgemäßem Verhalten“ böten (wovon die Schulddefinition ausging – § 5 Abs. 1 StGB von 1968) und aus denen ein originär neues Strafrecht herzuleiten sei. Damit schienen sich selbst täterstrafrechtliche Konstruktionen (wie die Kriminalisierung „asozialen Verhaltens“ – § 249 StGB) und relativ unbestimmter Freiheitsentzug (wie „Arbeitserziehung“ – § 43 StGB und „Einweisung in ein Jugendhaus“ – § 75 StGB) begründen zu lassen. In der Grundstruktur, der Konstruktion von Tatbeständen und in den Sanktionsformen blieb dieses StGB von 1968 weit mehr traditionellen Prinzipien verhaftet als erwartet. Und das Gesetz beginnt mit „Grundsätzen des sozialistischen Strafrechts“, worunter entsprechend Art. 99 der Verfassung aus dem gleichen Jahr auch das Gesetzlichkeitsprinzip formuliert ist (Art. 4), im offiziellen Kommentar ausdrücklich unter Berufung auf die klassische Formel.24 In der parlamentarischen Begründung zum StGB wurde auch die Übereinstimmung mit der Menschenrechtskonvention der Vereinten Nationen und insofern der allgemeinmenschliche Wert des Prinzips betont, jedoch schließlich erklärt, ein Vergleich mit altem Strafrecht verbiete sich, weil ein Strafgesetz „neuer Qualität“ vorliege.25 Dass sich solches Allgemeingut gewordenes Erbe nicht so einfach ausschlagen lässt, wurde in den 1970er Jahren deutlich. In dieser Zeit einer internationalen Öffnung im Rahmen der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa schienen die Folgen für die innere Sicherheit der bis dahin relativ geschlossenen Gesellschaft der DDR nicht genügend absehbar. Dem glaubte man durch eine verschärfte Kontrolle nichtstaatlich politischer oder als politisch bewerteter Aktionen sowie bestimmter Tätergruppen der allgemeinen Kriminalität begegnen zu müssen. Außerdem zeigte die Kriminalstatistik entgegen der Erwartung einer Präventivwirkung des neuen Strafrechts einen Anstieg erfasster Taten und des Rückfalls. Diese sicherheitspolitisch scheinbar zugespitzte Situation
24
Ministerium der Justiz/Deutsche Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft (Hrsg.), Strafrecht der Deutschen Demokratischen Republik. Lehrkommentar zum Strafgesetzbuch, Band I, 1969, S. 51. 25 Benjamin, Strafgesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik – Beitrag zum einheitlichen Rechtssystem, in: Ministerium der Justiz/Deutsche Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft (Fn. 24), S. 9 (19).
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wurde durch drei Strafrechtsänderungsgesetze26 zu beherrschen versucht, von der politischen Administration kurzschlüssig und weitgehend ohne Einbeziehung von Strafrechtswissenschaftlern verfasst. Einerseits wurden das politische Strafrecht sowie das administrative und strafrechtliche Vorgehen gegen Rückfalltäter und „Asoziale“ verschärft, andererseits die beiden Formen unbestimmten Freiheitsentzugs wieder abgeschafft. Die letzteren Korrekturen erwuchsen aus Einsichten in die offensichtlichen Wirkungsgrenzen dieser Sanktionen. Der europäische Strafrechtsdiskurs dürfte ebenfalls beigetragen haben. Es zeigte sich schließlich, dass die pragmatische Formulierung von Strafgesetzen durch den Apparat der politischen Macht die Gefahr vorschneller Kriminalisierung, unbestimmter Tatbestandsfassungen sowie überschärfter Strafandrohungen und -verfolgung birgt. Sinnfällig für diesen Zustand wurde mit dem StÄG von 1977 die Präambel des StGB neu gefasst und dabei auf den Begriff des Rechtsstaates verzichtet. – Doch an Feuerbach wurde vorerst noch nicht erinnert. Sein 200. Geburtstag 1975 verging ohne angemessene rechtswissenschaftliche Würdigung.27 Nichtjuristen wahrten jedoch die Erinnerung. 1974 war das Buch „Paul Anselm Feuerbach. Merkwürdige Verbrechen“ erschienen, beigefügt auch Feuerbachs Versuch einer Selbstbeschreibung.28 In „Vorbemerkungen“ von Herausgeber und Verlag wird festgehalten, dass eine „umfassende marxistische rechtsgeschichtliche und rechtsphilosophische Würdigung“ Feuerbachs noch ausstehe.29 1976 gab der Philosoph Werner Schuffenhauer im Rahmen der Gesammelten Werke von Ludwig Feuerbach die von diesem ursprünglich schon edierten nachgelassenen Schriften des Vaters P. J. A. Feuerbach heraus.30 Im Strafrechtslehrbuch von 197631 konzentrierte sich der (nur noch 34 Seiten ausmachende) historische Teil auf die Herausbildung und Entwicklung des Strafrechts der DDR seit den Nachkriegsjahren. Nur auf drei Seiten wurde noch auf die Vorgeschichte im 19. Jahrhundert eingegangen, dabei wurden auch Feuerbachs Gesetzlichkeitsprinzipien genannt, um dann auf die „Aushöhlung“ dieser Prinzipien durch aufkommende „imperialistische Strafrechtslehren“ zu kommen.32 Zu diesem 26 Zu den Inhalten dieser Änderungen von 1974, 1977 und 1979 Buchholz, in: Heuer (Hrsg.), Die Rechtsordnung der DDR: Anspruch und Wirklichkeit, 1995, S. 273 (323 ff.). 27 Auf die vorherige Anfrage eines Kollegen aus den USA, wie angesichts des in der Nähe liegenden Geburtsortes dort und in Jena eine Ehrung beabsichtigt sei, konnte nachträglich nur mitgeteilt werden, das Jubiläum sei in einer Sitzung des Rates der Sektion Staats- und Rechtswissenschaft der Universität Jena gewürdigt worden. 28 Brockdorff (Hrsg.), Paul Johann Anselm Feuerbach, Merkwürdige Verbrechen, 1974, mit Vor- und Nachwort sowie Kommentierung des Herausgebers. Das Buch erlebte bis in die 1980er Jahre noch mehrere Auflagen. 29 Brockdorff (Fn. 28), S. 10. 30 Schuffenhauer (Hrsg.), Paul Johann Anselm Ritter von Feuerbachs Leben und Wirken veröffentlicht von seinem Sohne Ludwig Feuerbach, in: Ludwig Feuerbach Gesammelte Werke, Band 12, 1976. 31 Lekschas/Renneberg (Red. im Autorenkollektiv), Strafrecht. Allgemeiner Teil. Lehrbuch, 1976. 32 Lekschas/Renneberg (Fn. 31), S. 86 f.
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Lehrbuch fand ein von Gerhard Haney angeregtes und von ihm mit Thesen vorbereitetes Kolloquium der Jenaer Kollegenschaft statt.33 Darin hieß es (zu S. 20 des Lehrbuchs): „Entsprechend der vorherrschenden Tendenz wird auch das Strafrecht nur als Leitungsmittel gesehen. […] Diese lediglich instrumentale Auffassung […] erschwert […] den Zutritt zu Recht und Rechtswissenschaft. […] Der Bürger […] ist nur Geleiteter“. Der Einzelne werde „nur als gesellschaftliches Wesen behandelt, ohne dabei zugleich seine Individualität zu sehen“. Haney widersprach, dass es „keinerlei Kontinuität und Gemeinsamkeiten“ (hervorgehoben im Lehrbuch S. 30) mit dem vorsozialistischen Strafrecht gebe. Diese Position verkenne die Dialektik von Allgemeinmenschlichem und Klassenmäßigem in der Rechtsgeschichte. Er vermerkte auch kritisch zur ganz dominierenden Betonung des Gedankens der Differenzierung von Taten und Tätern (so im Kap. 4 des Lehrbuchs): „Nichts wird über das notwendige allgemeine und gleiche Maß gesagt, das mit dem Strafrecht gesetzt wird“, was doch für eine Strafverfolgung ohne Ansehen der Person notwendig sei. – Erst Ende der 1970er Jahre kam angesichts der empirischen Wirkungen des neuen und dann bald mehrmals mit repressiver Tendenz geänderten Strafrechts ein Nachdenken im Sinne der Feuerbachschen Prinzipien wieder auf.
IV. Die Wiederbesinnung auf Feuerbach seit Ende der 1970er Jahre Ein allgemeines Bedenken des Wertes von Recht und Gesetzlichkeit, von juristischer Normierung und Garantie individueller Rechte im Verhältnis zur politischen Macht kam in Gang hin zur Einsicht, „dass Recht zwar Klassenwille, aber nicht Klassenwillkür, dass Recht zwar Ausdruck, aber auch Maß der Macht […] ist“34. Und zum Verhältnis von philosophischem und historischem Denken vermerkte Hermann Klenner bündig: „Geschichtsverlust und Weltanschauungsverlust gehen Hand in Hand“35. Aus der Geschichte der Universität Jena lag nahe, im Rahmen einer Hinwendung zur klassischen deutschen Philosophie auch P. J. A. Feuerbach wieder aufzunehmen. Hier war es der Rechtsphilosoph Gerhard Haney, der ihn 1978 in Erinnerung brachte.36 Zwar betonte er, dass sein Thema „der Sicht auf das zugleich aktuelle Problem des Verhältnisses von Theorie und Praxis“ dienen sollte37, jedoch blieb eine Konkre33 Haney, Thesenhafte Bemerkungen zum Strafrechtslehrbuch „Allgemeiner Teil“, Berlin 1976, vom 5. 6. 1978 (neun Seiten maschinenschriftlich, unveröffentlicht). 34 Klenner, Vom Recht der Natur zur Natur des Rechts, 1984, S. 214. 35 Klenner, Philosophisches und historisches Denken in der Rechtswissenschaft als Alternative, in: Lange (Hrsg.), Philosophie und Geschichte, Beiträge zur Geschichtsphilosophie der deutschen Klassik, Collegium Philosophicum Jenense, H. 4, 1983, S. 206 (211). 36 Haney, Theorie und Praxis bei P. J. A. Feuerbach, in: Lange (Hrsg.), Philosophie und Humanismus, Collegium Philosophicum Jenense, H. 2, 1978, S. 187 ff. 37 Haney (Fn. 36), S. 187.
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tisierung aus. Gegenwartskritische Absichten blieben historisch verkleidet. Trotzdem dürfte ein Zusammenhang mit einer durch offiziöse Intervention verhinderten Tagung, die Haney für 1979 zum Verhältnis von Politik und Rechtsprechung geplant hatte, nahe liegen. Zu dieser Zeit konzipierten die Jenaer Rechtswissenschaftler eine Konferenz zum 150. Todestag Feuerbachs, einschließlich des Vorschlags an die Universitätsleitung, eine Büste Feuerbachs gestalten zu lassen.38 Der Schwerpunkt der Konferenz 1983 in Jena lag nahe liegend auf dem Strafrecht.39 Abgesehen von den rückblickend würdigenden Vorträgen wäre für die hiesigen Juristen Gelegenheit gewesen, auch das herrschende Strafrecht mit aktuell gebliebenen Feuerbachschen Prinzipien abzugleichen. Zwar wurde dieses Anliegen angesprochen40, aber das blieb auf der Höhe einer wenig bewegenden Allgemeinheit. Ein kritischer Abgleich mit geltendem Recht wurde lediglich von den polnischen Kollegen vorgeführt.41 Immerhin blieb als dominierendes Ergebnis eine nicht nur für die Vergangenheit gemeinte Wiederbesinnung.42 In den 1980er Jahren setzte eine häufigere publikative Zuwendung ein. Das betraf Feuerbach ausdrücklich oder seine Ideen, eingebettet in allgemeine rechtsgeschichtliche Erörterungen.43 Erst unter der „Macht“ der als unbefriedigend bewerteten Entwicklung bestimmter Phänomene der Kriminalität, insbesondere der Rückfälligkeit, des „asozialen Verhaltens“, aber auch der Jugendkriminalität, öffnete sich die politische Macht für kriminologisch-strafrechtliche Analysen. Intern gebliebene Ergebnisse enthielten ungewohnt deutliche Zweifel an der Wirksamkeit bisheriger straf38 Die vom Verfasser erarbeitete Begründung führte zu einem Auftrag an den Bildhauer Karl-Heinz Appelt, der eine Büste schuf, in der sich die hohe Spannung zwischen außerordentlichem Geist und überwältigenden Leidenschaften ausdrückt und die schließlich einen angemessenen Platz in der Reihe der Denkmale universitärer Größen am „Fürstengraben“ fand. 39 Vgl. Gedenkkonferenz für den Juristen P. J. A. Feuerbach, Wissenschaftliche Zeitschrift der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Gesellschaftswissenschaftliche Reihe 4/1984. 40 So auch vom Verfasser in der Begründung für eine Büste sowie in seinen Ansprachen zur Konferenzeröffnung und zur Denkmalseinweihung, diese Prinzipien „für eine Vervollkommnung des sozialistischen Rechts zu nutzen“. 41 Buchala/Zoll, in: Gedenkkonferenz für den Juristen P. J. A. Feuerbach (Fn. 39), S. 509 ff. 42 Des Bemerkens wert scheint auch die Einladung des Bürgermeisters von Feuerbachs nahe gelegenem Geburtsort Hainichen an die Konferenzteilnehmer. Dort wurde ein Gedenkstein enthüllt, auf dem vom Verfasser empfohlen in gebotener Kürze zum Namen hinzugefügt steht „Humanistischer Rechtsgelehrter, Gesetzesverfasser, Richter“. Die Einwohner des kleinen Dorfes über Dornburg sorgten sich bereits vorher um den großen Namen: Ab 1958 trug ihn eine „Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft“, und seit 1997 trägt ihn der Dorfverein, dem auch eine kleine Feuerbach-Ausstellung in der Kirche zu verdanken ist. 43 Vgl. die Feuerbach-Bibliographie von Haney, in: Gröschner/Haney (Hrsg.), Die Bedeutung P. J. A. Feuerbachs (1775 – 1833) für die Gegenwart, 2003, S. 209 – 239. Die vorherigen Arbeiten von Haney hatten ihn empfohlen, im Rahmen der Gustav Radbruch-Gesamtausgabe, hrsg. von Arthur Kaufmann, den Band 6 „Feuerbach“ zu bearbeiten, der 1997 erschien.
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rechtlicher Reaktionen, eingeschlossen auch Einsichten auf genereller Ebene, wie die Betonung des Tatprinzips entgegen bis dahin erstarkten täterstrafrechtlichen Positionen, abgesehen von der damit verbundenen unangemessen scharfen Sanktionierung.44 Doch diese Entwicklungen wurden im 1988 erschienen Lehrbuch „Strafrecht der DDR“45 kaum reflektiert. Zwar betonten die Autoren im „Vorwort“, auch „Kontinuität und Diskontinuität in der Entwicklung des Strafrechts“ aufzeigen zu wollen46, um dann aber herkömmlich jede Kontinuität selbst zu frühbürgerlichen Theorien auszuschließen,47 jedoch anschließend auch wieder zu versichern, deren Verdienste um den Fortschritt zu bewahren.48 Immerhin bot das Lehrbuch noch einen bemerkenswerten Teil zur Rechtsgeschichte,49 allerdings gemäß dem soeben beschriebenen Konstrukt unter der Überschrift „Wesen und Funktion des Strafrechts in der Ausbeutergesellschaft“. Dabei wurde Feuerbach gesehen als „symbolhafter Repräsentant“ eines liberalen Strafrechts, in das sich die strafrechtliche Aufklärung „verlief“.50 Dann aber ist wiederum zu lesen: „Das sozialistische Strafrecht mit seinen grundlegenden historisch gewordenen Kategorien (oder Instituten) […] birgt als „Strafrecht“ notwendig Elemente der Kontinuität in sich und schleppt in gewisser Weise auch ideologisch die ganze Geschichte des Strafrechts mit sich. Zugleich aber […] besteht Diskontinuität zu Zielen, Zwecken und Funktionen des Strafrechts vorangegangener Gesellschaftsordnungen“51, die schließlich das „Strafrecht eines neuen historischen Typs“ habe herausbilden lassen.52 Jedoch sei die „Aufarbeitung des fortschrittlichen Erbes […] für die weitere Fundierung der sozialistischen Strafrechtslehre […] nur zögernd in Angriff genommen und steht eigentlich noch bevor“.53 Auf diese widersprüchliche Position ging eine bereits formulierte, dann aber wegen der umwälzenden politischen Vorgänge 1989 nicht mehr veröffentlichte Rezension (von Wolfgang Müller und dem Verfasser) ein, worin vermerkt war, dass diese Aufarbeitung bereits weiter gediehen sei, als die Literaturauswahl vermuten lasse, dass die „Grundsätze des sozialistischen Strafrechts“54, darunter die der Gesetzlichkeit, Gerechtigkeit und Verhältnismäßigkeit, geschichtslos und als erfüllt dargestellt seien, was zu Verlusten im Verständnis ihrer zu pflegenden juristisch-ethischen Bindungskraft für jeden Einzelfall führe. – Die Darstellung von „Werden und 44
Vgl. fokussiert auf Jugendliche bei Kräupl, ZJJ 2017, 220 (227). Lekschas/Buchholz (Red. im Autorenkollektiv), Strafrecht der DDR. Lehrbuch, 1988. 46 Lekschas/Buchholz (Fn. 45), S. 12. 47 Lekschas/Buchholz (Fn. 45), S. 19. 48 Lekschas/Buchholz (Fn. 45), S. 20. 49 Lekschas/Buchholz (Fn. 45), S. 24 ff. 50 Lekschas/Buchholz (Fn. 45), S. 52. 51 Lekschas/Buchholz (Fn. 45), S. 80. 52 Lekschas/Buchholz (Fn. 45), S. 86. 53 Lekschas/Buchholz (Fn. 45), S. 86. 54 Lekschas/Buchholz (Fn. 45), S. 116 ff.
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Entwicklung des sozialistischen Strafrechts der DDR“55 blieb in der politisch herrschenden Diktion, alle Probleme im Vorwärtsschreiten überwunden, ohne sie erörtert zu haben (wie Hermann Klenner es lakonisch beschrieb56). Das betraf selbst die der allgemeinen Kriminalität zuzurechnenden Straftaten. So hätte sich etwa angeboten, die gravierende Strafüberschärfung im Volkseigentumsschutzgesetz von 1952 nicht nur als Tatsache, die alsbald korrigiert wurde, zu beschreiben, sondern zu erörtern, welche strafrechtlichen Maßstäbe zu dieser Fehlkonstruktion führten und an eine Korrektur anzulegen waren. Ein Mitverfasser des Lehrbuchs sprach 1995 dann deutlich von einem „jegliche strafrechtliche[n] Maßstäbe negierenden […] unerträglichen gesetzgeberische[n] Fehlgriff“57. Zur Zeit der Ausarbeitung des Lehrbuchs waren auch bereits Formen des relativ unbestimmten Freiheitsentzugs („Arbeitserziehung“ und „Jugendhaus“) zurückgenommen worden. Das wäre prinzipiell ebenso zu erklären gewesen wie die drei Strafrechtsänderungen der 1970er Jahre, die hauptsächlich „durch einen beständigen Ausbau der administrativen Elemente, der Repression, gekennzeichnet [waren], und zwar nicht nur im Bereich des politischen Strafrechts, sondern auch gegenüber der Rückfallkriminalität und der Asozialität“58. Die Frage nach Sinn und Wirkung(sversagen) der Kriminalisierung „asozialen Verhaltens“ war damals ebenfalls bereits aufgeworfen.59 Ähnlich blieb das Lehrbuch zum Begriff des Tatbestandes60 frei von Beispielen einer ungenügenden Bestimmtheit, und bei der „Rolle des Strafzwangs“61 wurden zwar ausdrücklich Tatbezug und Angemessenheit betont, ohne auf die vorherige Anwendungspraxis einzugehen, deren Widersprüchlichkeit sich allein schon aus den zwölf Amnestien seit 1949 ergab, also aus der administrativen Korrektur von strafjustiziellen Verurteilungen bezüglich der Häufigkeit, Verhältnismäßigkeit und Gestaltung von Strafe. In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre wurde die Notwendigkeit klarer und durchsetzbarer Rechtspositionen der Bürger drängender. Dem versuchte die politische Führung zu entsprechen, indem sie den Anspruch eines „sozialistischen Rechtsstaates“ formulierte. Dieser Begriff wurde von den Rechtswissenschaftlern ohne Zweifel für angebracht gehalten, war aber noch erheblich auszuarbeiten, wie etwa die Thematisierung bei Heuer 1988 als „Überlegungen“ und bei Mollnau 1989 als „Versuch einer Charakterisierung“ erkennen lässt. Es kam noch zu bemerkenswerten Bemühungen des Gesetzgebers um Entschärfung und schließlich Liberalisierung des Strafrechts (mit einem 5. und vor allem dem 6. Strafrechtsänderungsgesetz). Erich Buchholz erlebte das 5. StÄG von 1988 so, „daß man fast von einer kleinen Reform des 55
Lekschas/Buchholz (Fn. 45), S. 80 – 101. Klenner (Fn. 14), S. 293. 57 Buchholz (Fn. 26), S. 288. 58 Buchholz (Fn. 26), S. 327. 59 Vgl. die ausführliche Darstellung bei Hirsch, Der Typus des „sozial desintegrierten“ Straftäters in Kriminologie und Strafrecht der DDR. Ein Beitrag zur Geschichte täterstrafrechtlicher Begründungen, 2008, S. 206 ff. 60 Lekschas/Buchholz (Fn. 45), S. 136 f. 61 Lekschas/Buchholz (Fn. 45), S. 318 f. 56
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DDR-Strafrechts sprechen könnte und es nicht zufällig war, daß […] der Gedanke an eine grundsätzliche Reform des […] Strafgesetzbuches nicht abwegig erschien“62. Nach dem 6. StÄG noch vom 29. Juni 1990 (mit der Zurücknahme politischen Strafrechts, von repressiver Kontrolle und Strafüberschärfungen sowie generell der Präambel und der acht Grundsatzartikel des StGB63) meinte er gar, dass mit dieser Novellierung des DDR-Strafrechts kurzfristig das „liberalste Strafrecht, das es je in Deutschland gab“64 vorgelegen habe.
62
Buchholz (Fn. 26), S. 333. Vgl. zu Details Teichler, NJ 1990, 291 ff. 64 Buchholz (Fn. 26), S. 338. 63
Der Fluch der guten Tat? – Zur strafrechtlichen Verantwortung von Ehrenamtlichen Von Hans Kudlich
I. Hinführung Der Jubilar ist in seinen Arbeiten immer in hohem Maße am „richtigen Leben“ interessiert. Dies ist selbstverständlich, soweit er als Kriminologe gearbeitet und hierbei die Kriminalität als empirisches Phänomen der Lebenswelt betrachtet hat. Wie ich aus meiner Erfahrung als Herausgeber der Juristischen Arbeitsblätter weiß, an den sich Ulrich Eisenberg – zu unserer großen Freude – immer wieder mit Veröffentlichungsideen wandte, waren aber auch für seine dogmatischen (insbesondere strafprozessrechtlichen) Abhandlungen sehr häufig gerade ganz konkrete Fälle der Ausgangspunkt.1 Vor diesem Hintergrund hoffe ich, auch auf das Interesse des Jubilars zu treffen, wenn ich in einem Beitrag zu der zu seinen Ehren erscheinenden Festschrift als Ausgangspunkt ein sehr konkretes Problem aus dem realen Leben wähle und dieses an zwei ebenso realen Fällen verdeutliche. Es handelt sich um die Frage der (ggf. zu beschränkenden) strafrechtlichen Verantwortung von Ehrenamtlichen für Schadensfälle,2 welche sich während ihrer Tätigkeit ereignen.
1 Vgl. etwa aus seinen Beiträgen für eben diese Juristischen Arbeitsblätter (JA) allein aus den letzten Jahren die Beiträge in JA 2017, 462; JA 2016, 623; JA 2014, 928; JA 2013, 34; JA 2013, 860; JA 2012, 542 (teilweise schon im Titel mit dem bezeichnenden Zusatz „dargestellt anhand eines Einzelfalles“). 2 Der Begriff ist hier bewusst gewählt und soll möglichst neutral verstanden werden. Der Terminus „Unglücksfälle“ schiene demgegenüber bereits eine das Ergebnis in Teilen vorwegnehmende Bewertung zu enthalten (indem man den Unglücksfall als Gegenbegriff zu einem Unrecht versteht).
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II. Das Problem – abstrakt und konkret 1. Allgemeine Beschreibung der Problemlage In abstrakter Form sind das zu Grunde liegende Problem und die daraus abzuleitenden Fragen rasch skizziert: Ein Ehrenamtlicher ist mit den von ihm zu betreuenden Personen – nicht selten Kinder oder Jugendliche, unter Umständen aber auch alte, kranke oder behinderte Menschen3 – unterwegs. Bei der gemeinsamen Aktivität – sei es beim Sport, beim Herumklettern auf einem Spielplatz, beim Schwimmen oder auch nur bei einem Waldspaziergang – kommt es zu einem Schadensfall. Dabei liegt eine Situation vor, in der - weder auf den ersten Blick und leicht ersichtlich festgestellt werden kann, dass eine Verantwortung kraft Aufsichtspflichtverletzung auf jeden Fall ausgeschlossen ist (weil etwa die Schädigung durch das in keiner Weise vorhersehbare Handeln eines Dritten erfolgt4) - noch eine Haftung ganz unstreitig angemessen ist (weil eine schwerwiegende Pflichtverletzung vorliegt5). Vielmehr soll es sich um eine leichte Unaufmerksamkeit handeln, die jedermann und jederzeit vorkommen kann, bei perfekter Gewissenhaftigkeit aber vermeidbar gewesen wäre. Hier stellt sich angesichts der im Gesetz grundsätzlich nicht begrenzten Strafbarkeit auch bei nur leicht fahrlässigem Handeln6 die Frage, ob der Ehrenamtliche mit voller Schärfe (auch strafrechtlich) haftet oder aber ob es zum einen rechtspolitische Bedenken gegen eine so weitgehende Haftung und zum anderen ggf. dogmatische Mittel zu ihrer Begrenzung gibt. Genau in diesem Feld dürften auch zwei von der Rechtsprechung entschiedene Fälle gelegen haben, die im Folgenden kurz dargestellt werden. 3
Natürlich gibt es ehrenamtliche Tätigkeiten auch in Verbindung mit Personen, die in keiner Weise eine erhöhte Schutzbedürftigkeit aufweisen, so wenn etwa ein Ehrenamtlicher am Wochenende die Eintrittskontrolle in einem kleinen Heimatmuseum wahrnimmt oder wenn ein Richter sich in seiner Freizeit bereit erklärt, den örtlichen Justizchor zu leiten. Strukturell werden ehrenamtliche Helfer aber naturgemäß sehr häufig auch (wenn nicht sogar vorrangig) dort benötigt, wo es um die Betreuung von Menschen geht, die nicht vollständig eigenverantwortlich für sich selbst sorgen können. 4 Drastisches Beispiel: Der Ehrenamtliche ist mit jüngeren Kindern auf einem Spielplatz und achtet tunlichst darauf, dass die Kinder tatsächlich nur im Sandkasten spielen oder schaukeln, aber auf keine Klettergerüste steigen. Völlig unvorhersehbar und auf dem Spielplatz einer kleinen ländlichen Gemeinde auch von niemandem vorher zu erahnen, kommt ein Amokläufer auf den Spielplatz und erschießt drei Kinder. 5 Drastisches Beispiel: Der Ehrenamtliche animiert die kleinen Kinder, auf ein sehr hohes und nicht gesichertes Klettergerüst zu steigen, das eigentlich erst für größere Kinder vorgesehen ist. Als zwei Vierjährige in mehreren Metern Höhe auf dem Gerüst sitzen, begibt er sich erst einmal zu einem fünf Gehminuten entfernten Kiosk, um Bier und Zigaretten zu kaufen; beim verzweifelten Versuch des Abstiegs stürzt eines der kleinen Kinder drei Meter in die Tiefe. 6 Allgemein kritisch dazu Schlüchter, Grenzen strafbarer Fahrlässigkeit, 1996.
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2. AG Detmold: Ein kippendes Tor In einer Entscheidung aus dem Jahr 2015 hatte das AG Detmold über folgenden Sachverhalt zu entscheiden:7 Der Angeklagte (A) war Jugendvorstand eines Sportvereins und außerdem Trainer einer Fußball-D-Jugendmannschaft. Diese Tätigkeiten übte A ehrenamtlich aus. Der Verein richtete jährlich ein Hallenfußballturnier für Mannschaften der D-Jugend aus, das von A maßgeblich mitorganisiert wurde. In der Halle, in der das Turnier stattfand, gab es neben einer großen Halle (auf der gespielt wurde) auch eine durch Plexiglasscheiben getrennte kleine Halle, in der zwei Handballtore aufgestellt, aber nicht fest im Boden verankert waren. Während die von A trainierte Mannschaft spielte, wärmte sich ein auswärtiges Team in der kleinen Halle auf. Der 11-jährige Geschädigte war dabei Torwart. Bei einem Lattentreffer an dem vom Geschädigten gehüteten Tor geriet dieses ins Wackeln, kippte nach vorne um und traf den Geschädigten auf den Kopf. Das AG Detmold verurteilte A und sprach eine Verwarnung mit Strafvorbehalt aus. A sei bekannt gewesen, dass die kleine Halle von den Kindern zum Aufwärmen bzw. Spielen zwischen den Begegnungen des Turniers genutzt wurde und kannte die Gegebenheit. Deshalb – so das AG – hätte A bei „Anwendung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt erkennen können und müssen, dass es bei Verwendung dieser nicht standfesten Tore im Spielbetrieb durch einen Lattentreffer dazu kommen kann, dass das Tor umkippt und auf einen sich im Umkreis des Tores befindlichen Spieler – wie hier auf den Geschädigten – fällt und dass dieser dadurch verletzt werden kann.“ Die Entscheidung hatte zumindest in den regionalen Medien große Aufmerksamkeit erregt. Dass sie einen irgendwie besonders gelagerten Fall betreffen muss, wird schon daraus deutlich, dass es in erster Instanz zu einer Verwarnung mit Strafvorbehalt (also trotz einer strafrechtlichen Verurteilung nicht einmal zu einer vollstreckbaren Geldstrafe) gekommen ist, auf welche die Rechtspraxis sonst nur selten zurückgreift. Sie sind typischerweise dadurch geprägt, dass dem Gericht ein Strafausspruch aus irgendeinem Grund wichtig zu sein scheint, die Berechtigung einer auch nur geringen Sanktion für den Angeklagten aber zweifelhaft ist8 – vielleicht auch eine Folge des Umstandes, dass die moderne Gesellschaft offenbar verlernt hat, mit Unglücksfällen umzugehen und daher in jedem Fall eine (vielfach auch straf-) 7
Vgl. AG Detmold, SpuRt 2015, 177. Ohne die Fälle in ihrer grundsätzlichen Bedeutung oder ihrer Struktur vergleichen zu wollen: Eine Entscheidung mit einer Verwarnung mit Strafvorbehalt, die aufgrund des behandelten Falles für besonderes Aufsehen gesorgt hat, war auch die Verurteilung des Frankfurter Polizeivizepräsidenten Daschner in der Sache Gäfgen/Jakob von Metzler, vgl. LG Frankfurt, NJW 2005, 692. Die parallele Struktur „Statement – Unwohlsein“ ist deutlich. Auch dort wollte das Gericht augenscheinlich eine strafrechtliche Verurteilung als „Statement“ gegen die Idee einer „Rettungsfolter“ abgeben, es bestand aber gleichwohl ein Unwohlsein, denjenigen mit einer Kriminalstrafe zu überziehen, der in einer Situation der allgemeinen Aporie und Agonie die Zügel in die Hand genommen hat, um ein Kinderleben zu retten; eingehend hierzu aus der kaum übersehbaren Literatur etwa Wagenländer, Zur strafrechtlichen Beurteilung der Rettungsfolter, 2006. 8
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rechtliche Verantwortung fordert.9 Menschlich ist dies ohne weiteres nachvollziehbar – nicht nur nachvollziehbar, sondern auch juristisch korrekt ist eine strafrechtliche Verurteilung allerdings nur, wenn im konkreten Fall tatsächlich auch die Voraussetzungen einer Strafbarkeit bejaht werden können. Dies ist durchaus zweifelhaft (und wird unter IV. noch näher erörtert). 3. AG Kulmbach: Ein ertrunkenes Mädchen Auffällig viele Ähnlichkeiten wies ein vor dem AG Kulmbach verhandelter Fall auf. In diesem ging es nach Medienberichten10 um die Betreuerin einer Kinder-Turngruppe, die mit ihren Kindern das Freibad in Himmelkron besucht hat. Offenbar haben die Eltern der betreuten Kinder auf Nachfrage angegeben, dass ihre Kinder schwimmen können. Ein acht Jahre altes Mädchen ging dann so unglücklich im toten Winkel am Beckenrand unter, dass weder der Bademeister noch die Betreuerin es rechtzeitig bemerkt hatten. Das Mädchen verstarb kurze Zeit später. Auch hier verhängte das AG Kulmbach (unter gleichzeitigem Freispruch für den Bademeister) eine Verwarnung mit Strafvorbehalt gegen die Ehrenamtliche. Vorgeworfen wurde dabei weniger die kurze Unaufmerksamkeit im Moment des Unglücks als vielmehr offenbar – gleichsam in einer Art Übernahmeverschulden – die unzureichende Vorbereitung des Badeausflugs. Die Betreuerin hätte sich nämlich – so die Richterin in der in den Medien mitgeteilten mündlichen Urteilsbegründung – nicht auf die Aussage der Kinder verlassen dürfen, sie könnten schwimmen, sondern sich davon selbst vergewissern müssen. Über Rechtsmittel gegen das Urteil bzw. deren Ausgang ist noch nichts bekannt.
III. Das Dilemma: Rechtsgüterschutz bei hilfsbedürftigen Opfern versus unzumutbare Haftungsrisiken der Ehrenamtlichen Die beiden skizzierten Beispielsfälle aus der „echten Welt“ haben nicht nur gemeinsam, dass sie in besonderer Weise tragisch sind, weil Kinder zu schweren Schäden gekommen sind. Beide machen vielmehr zugleich auch die höchst problematische und unbefriedigende Situation für ehrenamtlich Tätige deutlich: Ungeachtet der unzweifelhaften und auch durch das Recht zu gewährleistenden Schutzbedürftigkeit von fürsorgebedürftigen Personen (Kinder, Kranke, Alte etc.) wäre eine Konstellation einer uneingeschränkten strengen Haftung auch für leichte Fahrlässigkeit für die Ehrenamtlichen fast untragbar und auch in den gesellschaftlichen Folgen letztlich fatal. 9
Lesenswert dazu Fahl, JA 2012, 808 ff. Vgl. etwa http://www.sueddeutsche.de/bayern/gericht-nach-tod-von-maedchen-im-frei bad-urteil-unter-besonderen-umstaenden-1.3932289. 10
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Es ist – dies lässt sich nicht leugnen – letztlich nur menschlich, dass Fälle leichtester und auch leichter Fahrlässigkeit gerade auch im Umgang mit schutzbedürftigen Personen immer wieder auftreten. Es gibt wohl nur wenige Eltern,11 die bei der Überwachung ihrer Kinder so lückenlos sorgfältig und in den Maßstäben so vorsichtig sind, dass Unfälle praktisch ausgeschlossen sind. Da sich glücklicherweise jedoch leichte Fahrlässigkeit nur selten in Schäden für die Kinder niederschlägt und man oft schlicht und ergreifend auch „Glück hat“, dass nichts passiert, führt dieser Umstand nur in der überschaubaren Zahl von Fällen zu strafrechtlichen Folgen für die Eltern. Dies gilt umso mehr, als zumindest bei überschaubaren Schadensfolgen das Interesse der Gesellschaft, die Eltern haftungs- oder strafrechtlich zu belangen, auch gering sein dürfte.12 Und selbst bei schwerwiegenderen Folgen wird unausgesprochen oft der (im Strafrecht in die Gestalt von § 60 StGB und damit korrespondierend dann ggf. auch von § 153b StPO gegossene) Gedanke eine Rolle spielen, dass Eltern, die durch eigenes Verschulden ihr Kind nachhaltig geschädigt haben, allein durch diesen Umstand schon selbst „am härtesten bestraft“ sind. Jedenfalls aber ist die Wahrscheinlichkeit gering,13 dass Personen aus dem engeren Umfeld des Kindes auf eine entsprechende Strafverfolgung hin drängen, als Nebenkläger aktiv werden oder gar – wie die Mutter im Kulmbacher Fall – ein Klageerzwingungsverfahren anstrengen. Dabei ist dies zwar bei allen Taten, für die das strenge Legalitätsprinzip gilt, keine formale Voraussetzung einer Verfolgung und Verurteilung. Man benötigt aber nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass die Einleitung von Verfahren mit unterschiedlich viel Nachdruck erfolgt, je nachdem, ob das Umfeld des Opfers eher beschwichtigend wirkt oder auf eine Verfolgung drängt. Ganz anders nun die Situation bei Ehrenamtlichen: Sie haben es – um beim anschaulichen Beispiel der Betreuung von Kindern oder Jugendlichen zu bleiben – nicht nur mit einem (oder vielleicht zwei oder drei) Kindern zu tun, sondern oft mit deutlich größeren Gruppen. Schon das vervielfältigt – rein statistisch gesehen – die Wahrscheinlichkeit, dass aus einer kleinen Unaufmerksamkeit ein großer Schaden erwächst. Diese Tendenz wird noch dadurch befördert, dass die ehrenamtlichen Betreuer bei fremden Kindern vielleicht nicht jedes „Warnzeichen“ so schnell erfassen können wie die Eltern und dass im Zusammenwirken mehrerer Kinder auch eine Gruppendynamik entstehen kann, welche die Gefährdung vergrößert: Während ein Kind, das mit seinem Vater allein im Freibad ist, dessen Mahnung vielleicht Folge leistet, während einer halben Minute, in welcher der Vater etwas holt, den Nichtschwimmerbereich nicht zu verlassen, kann das gleiche Kind in einer Gruppe Gleich11 Man könnte darüber streiten, ob es für die Entwicklung der Kinder insgesamt gesehen denn gut wäre, wenn es viele solcher Eltern geben würde. 12 Was das Haftungsrecht angeht, ist im Übrigen auch noch das Privileg des § 1664 BGB zu berücksichtigen, wonach Eltern insoweit nur für die eigenübliche Sorgfalt haften, so dass regelmäßig eine Haftung nur bei Vorsatz und grober Fahrlässigkeit in Betracht kommt. 13 Ausgeschlossen ist natürlich auch dies nicht, sei es durch selbsternannte Hüter der Kinder aus dem Umfeld, sei es etwa im Fall einer gescheiterten Beziehung durch das andere Elternteil.
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altriger, die bereits schwimmen können, leichter verleitet sein, einen unbeobachteten Moment zu nutzen, um „ins Tiefe“ zu entwischen. Wenn es dann zu einem Unfall kommt, sind die Eltern des Kindes nicht mehr diejenigen, die selbst „augenblicksversagt“ haben und dies herunterspielen, sondern zumindest potenziell (verständlicherweise!) durch die tragischen Folgen erschüttert und suchen in der Verfolgung der Aufsichtsperson ein Ventil. Für den ehrenamtlich Tätigen stellt sich die Situation wie folgt dar: Er hat gegebenenfalls über Jahre hinweg ohne irgendeine (oder zumindest ohne nennenswerte) Vergütung seine Freizeit investiert und hat dabei in einer Gesellschaft eine wichtige Aufgabe erfüllt, welche vielfach durch zwei arbeitende Elternteile und durch die Klagen geprägt ist, die Kinder würden zu wenig unternehmen und nur vor irgendwelchen Bildschirmen sitzen. Dass dies nicht motivierend wirkt, liegt auf der Hand. Wenn als Konsequenz daraus die Bereitschaft, ehrenamtlich zu arbeiten, in der Breite noch weiter nachlässt, hat es für die Gesellschaft gerade die hier skizzierten Folgen, ohne dass dies auf Betreuungsangebote für Kinder beschränkt wäre, sondern mutatis mutandis etwa für den Bereich der ehrenamtlichen Betreuung von Behinderten oder Alten in gleicher Weise gilt.
IV. Mechanismen zur Haftungsbegrenzung Aus diesem Grund erscheint schon rechtspolitisch angezeigt, darüber nachzudenken, welche Mechanismen zu einer Begrenzung der Haftung von Ehrenamtlichen die Dogmatik hergibt (ohne natürlich umgekehrt den Schutz der Schutzbedürftigen unangemessen auszuhöhlen). Solche Grenzen können sich zum einen aus bekannten Strukturen der allgemeinen Strafrechtsdogmatik ergeben. Außerdem ist zu überlegen, ob nicht aus dem Gesichtspunkt der Ehrenamtlichkeit (und damit de facto Unentgeltlichkeit und Uneigennützigkeit) des Handelns Konsequenzen abgeleitet werden müssen. 1. Haftungsgrenzen aus allgemeinen dogmatischen Grundsätzen Sowohl der vor dem AG Detmold verhandelte als auch der vom AG Kulmbach entschiedene Fall weisen Bezugspunkte zu verschiedenen Figuren aus der allgemeinen Strafrechtsdogmatik auf, welche durchaus zur Haftungsbegründung anerkannt sind.14 a) So nahm das AG Detmold eine Fahrlässigkeit des A an, zitierte aber an keiner Stelle in der Entscheidung § 13 StGB und schien daher von einer fahrlässigen Körperverletzung durch aktives Tun auszugehen. Dies überrascht zumindest, formuliert 14 Teile der nachfolgenden Ausführungen beruhen auf Überlegungen, die ich zusammen mit meinem Kollegen Klaus Vieweg zu dieser Entscheidung in SpuRt 2015, 138 ff. angestellt habe.
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das Gericht doch praktisch nur Unterlassungen, nämlich das Dulden eines gefährlichen Zustandes, das Nicht-Hinwirken auf geeignete Maßnahmen und das Nicht-Beseitigen offensichtlicher Gefahren (etwa in Gestalt der Absicherung der Tore oder der Gewährleistung einer zuverlässigen Beaufsichtigung). Explizit erwähnt das Gericht nur Dinge, die „unterblieben“ sind und damit „zu dem unglücklichen Unfall (führten)“. Spezifisch gefahrschaffende aktive Verhaltensweisen des A, die nicht entweder sozialadäquat oder letztlich viel zu allgemein und damit viel zu „weit entfernt“ von der Rechtsgutsverletzung sind, um als aktives Verhalten in Betracht zu kommen, sind nicht erkennbar. Der „Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit“ liegt damit gewiss auf dem Unterlassen.15 Das ist ein Umstand, der sogar eher typisch als untypisch für Unfälle sein dürfte, die während der Tätigkeit von Ehrenamtlichen mit z. B. Kindern passieren. Und er ist deshalb von Belang, weil Garantenpflichten bekanntlich in ihrer Reichweite beschränkt sein können, so dass dies ein Anknüpfungspunkt für konkludent vorausgesetzte Haftungsbeschränkungen sein könnte. b) Was darüber hinaus die Begründung von Fahrlässigkeit angeht, ist – soweit keine Sondernormen vorliegen, deren Verletzung eine Sorgfaltspflichtverletzung zumindest indizieren kann16 – allgemein danach zu fragen, wie sich ein durchschnittlicher (d. h. besonnener und sorgfältiger, aber auch nicht unnatürlich penibler) Dritter in der Situation und in der Rolle des Angeklagten verhalten hätte. Letztlich kann dies in der konkreten Situation nur durch eine Abwägung bestimmt werden, in welche auf der einen Seite der Grad der drohenden Gefahr und die Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts, auf der anderen Seite aber auch die Beeinträchtigung der allgemeinen Handlungsfreiheit einzustellen ist.17 Zu beachten sind mithin - die Gefahrwahrscheinlichkeit (der das allgemeine Lebensrisiko gegenüberzustellen ist), - die zumutbaren und möglichen Einwirkungshandlungen auf diese Gefahrwahrscheinlichkeit, - der Vertrauensgrundsatz als allgemeine Regel zur Konturierung der Sorgfaltspflichten bei arbeitsteiligem Verhalten sowie gerade
15 Zu diesem – in der Literatur nicht unumstrittenen – Kriterium vgl. aus der Rechtsprechung BGHSt 6, 46 (59); BGH, NStZ 1999, 607 f.; BGH, NStZ 2005, 446 (447); aus der Literatur SSW-StGB/Kudlich, 3. Aufl. 2016, § 13 Rn. 4 f.; Sch/Sch/Stree/Bosch, StGB, 29. Aufl. 2014, Vor § 13 ff. Rn. 158; kritisch MüKo-StGB/Freund, 3. Aufl. 2017, Band I, § 13 Rn. 5 f. 16 Vgl. hierzu (bzw. zum wohl sogar weiter anzunehmenden tatsächlichen Vorliegen eines Sorgfaltspflichtverstoßes durch die Verletzung einer Sondernorm) Sch/Sch/Sternberg-Lieben/ Schuster, StGB (Fn. 15), § 15 Rn. 135; MüKo-StGB/Duttge (Fn. 15), § 15 Rn. 114; Kudlich, in: Dannecker/Langer/Ranft/Schmitz/Brammsen (Hrsg.), FS Otto, 2007, S. 373 ff. 17 Vgl. BeckOK-StGB/Kudlich, 37. Ed. 2018, § 15 Rn. 43, aufbauend auf Schünemann, JA 1975, 149.
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- in der Rechtsprechung letztlich zumeist entscheidend die maßgebliche Situation im Moment der potenziellen Verletzungshandlung, bei der ungeachtet aller rechtlichen Regelungen gewissermaßen „laienkognitionspsychologisch“ geprüft wird, ob der Angeklagte sich zu einem besonderen, sorgfältigen Verhalten herausgefordert fühlen musste oder einen „Anlass zum Misstrauen“ haben musste.18 So kann etwa der Vertrauensgrundsatz dadurch eine Rolle spielen, dass die Ehrenamtlichen oft nicht allein „im luftleeren Raum“ agieren, sondern etwa bei der Betreuung im sportlichen Sektor Personen wie Bademeister oder Hallenwarte ebenfalls ins Geschehen eingebunden sind. Hinzu kommen bei der Betreuung von Kindern und Jugendlichen deren Eltern, die zwar im Zweifel nicht vor Ort dabei sind, auf deren Aussagen z. B. über die Erfahrung mit bestimmten Situationen, über körperliche Fertigkeiten etc. der Ehrenamtler vertrauen können muss. Im Detmolder Fall kamen neben A somit auch der Sportstätteneigentümer (samt seinem Personal), andere Verantwortliche des veranstaltenden Vereins (die nicht zugleich auch als Trainer beschäftigt sind), die Trainer der Gastmannschaft etc. als Überwachungs- oder Aufsichtspflichtige in Betracht. Im Kulmbacher Fall ist hinsichtlich der Aufsichtspflicht vor Ort noch an den Bademeister, hinsichtlich des (vom Gericht offenbar für ausschlaggebend erachteten) Übernahmeverschuldens an die Rolle der Eltern zu denken. Für die Vorhersehbarkeit des Unfallgeschehens ist im Detmolder Fall entscheidend, ob A damit rechnen musste, dass sich eine Jugendmannschaft ohne einen verantwortlichen Betreuer in der Halle durch Einspielen auf nicht ordnungsgemäß befestigte Tore aufwärmen würde. Konkrete Anhaltspunkte für eine entsprechende Kenntnis oder einen dahingehenden „konkreten Anlass zum Misstrauen“ sind in dem vom Gericht festgestellten und mitgeteilten Sachverhalt nicht dargetan. Eines vorsorglichen Hinweises an die Betreuer des verunfallten Jugendlichen auf deren selbstverständliche Aufsichtspflicht bedurfte es jedenfalls nicht. c) Auch das OLG Hamm, das als Revisionsgericht die (von der kleinen Strafkammer noch bestätigte) Verurteilung aufhob und die Sache zurückverwies, konzentriert sich im Detmolder Fall – nach einem einleitenden Satz zur Konturierung der Sorgfaltsmaßstab im Ehrenamt19 – auf solche Aussagen der allgemeinen Strafrechtsdogmatik. Angeführt werden dabei folgende Aspekte: - Mögliches Vertrauen des A in die Gefahreneinsicht der Kinder – und das trotz des Alters von erst 10 – 12 Jahren (dass gerade das Mitwirken in Sportvereinen bei 18 Zu dieser überragenden Bedeutung der konkreten Sachverhaltsgestaltungen gegenüber allgemeinen Sorgfaltsnormen in der Rechtspraxis vgl. auch Duttge, Zur Bestimmtheit des Handlungsunwerts von Fahrlässigkeitsdelikten, 2001, zusammenfassend S. 353, 356. 19 So ist die Rede davon, dass es bei der „Bestimmung der Sorgfaltspflichtwidrigkeit“ für „sozial anerkannte Tätigkeiten, wie etwa im Sport, (…) dabei zusätzlich zu keiner so weitgehenden Einschränkung kommen (darf), dass sie ihres eigentlichen Wesens entkleidet werden“, dass also etwa aus ehrenamtlichen Jugendtrainern hochspezialisierte Sicherheitsbeauftragte werden, vgl. OLG Hamm, SpuRt 2016, 214 (216).
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Kindern und Jugendlichen u. a. dem Erlernen von Selbstständigkeit und Verantwortungsübernahme diene). - Nicht ohne weiteres vorhersehbare Missachtung eines Schildes durch den Geschädigten, dass der Aufenthalt in der kleinen Halle ohne Betreuer untersagt war. - Unterstellung des Geschädigten und seiner Mannschaft unter eine Betreuungsperson und Vertrauen des A auf die sorgfältige Aufsicht durch diesen Betreuer. - Keine Weisungsrechte des A gegenüber den Betreuern anderer Mannschaften. - Fragliche Vorhersehbarkeit des Kippens eines Tores durch den Schuss eines D-Jugendlichen. Zum Abschluss betont dann aber auch das OLG Hamm noch einmal, dass bei den aus all diesen Parametern abzuleitenden Sorgfaltspflicht der Status als Ehrenamtlicher nicht gänzlich unberücksichtigt bleiben dürfe. Denn die Sorgfaltspflichtbestimmung orientiere sich auch an den Anforderungen an den jeweiligen Verkehrskreis und frage entsprechend danach, welche Handlungen jeweils zu erwarten sind. Diese Erwartungen aber seien bei der ehrenamtlichen Übernahme einer Verpflichtung grundsätzlich herabgesetzt. 2. Ehrenamtlichkeit als eigenständiger Grund für eine Haftungsprivilegierung? a) Trotz dieser einleitenden und abschließenden Bezugnahme auf das Ehrenamt durch das OLG Hamm ist seine Argumentation (zwar möglicherweise innerlich auch durch Sympathie für das Ehrenamt geprägt, aber) formal-äußerlich stark auf allgemeine Aspekte gestützt, die ähnlich auch in einem Umfeld gut bezahlter Trainer anwendbar erscheinen würden. Das ist aus Sicht des Gerichts im konkreten Fall sinnvoll, denn es setzt sich nicht dem Vorwurf aus, allgemein anerkannte dogmatische Zurechnungsregeln durch eine Sonderbehandlung für Ehrenamtliche ersetzt zu haben. Für die hier interessierende Frage, ob Ehrenamtliche nicht gerade in den Genuss solcher Sonderregelungen kommen sollten, führt dieses Vorgehen dagegen weniger weiter, obgleich die Aussage, dass die Erwartungen an den Ehrenamtlichen generell nicht überspannt werden dürfen, an verschiedenen Stellen der allgemeinen Strafrechtsdogmatik ein Topos in der Diskussion sein könnten. b) Man kann diesen Gedanken aber noch fortführen: Für ehrenamtliches Handeln ist typisch, dass dafür allenfalls eine Aufwandsentschädigung, jedenfalls aber keine marktübliche Bezahlung geleistet wird. Umgekehrt sind für die Nutznießer ehrenamtlicher Tätigkeit damit regelmäßig keine (oder jedenfalls keine marktüblichen) Kosten verbunden. Dies führt zu der Frage, ob nicht das de facto „kostenlose“ Handeln per se schon Grund für eine Haftungsprivilegierung ist. Hierfür finden sich zwar keine expliziten Anknüpfungspunkte im StGB, da dieses seine Regeln nicht in den Kategorien von Austauschverhältnissen aufstellt. Im Zivilrecht ist aber etwa gesetzlich angeordnet, dass diejenigen, welche unentgeltlich eine Leistung erbringen
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(Schenker, Verleiher) hierbei nur für Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit haften. Ob dies allein auch für eine Haftungsbeschränkung auch im Strafrecht geltend gemacht werden könnte, mag zwar fraglich sein, denn immerhin hat der BGH eine Übertragung etwa des Haftungsprivilegs des § 599 BGB (Beschränkung der Haftung des Verleihers auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit) auf das Deliktsrecht explizit abgelehnt.20 c) Noch deutlicher wird dann aber die im Jahr 2013 durch das Gesetz zur Stärkung des Ehrenamtes21 neu in das Bürgerliche Gesetzbuch eingefügte Regelung des § 31b BGB. Nach dessen Absatz 1 haftet ein ehrenamtlich Tätiger seinem Verein gegenüber nur für Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit; im Verhältnis zu außenstehenden Dritten hat er unter den gleichen Voraussetzungen einen Freistellungsanspruch gegenüber seinem Verein, wenn er nur leicht oder normal fahrlässig eine Schadensersatzpflicht gegenüber dem Dritten begründet. Diese explizite Regelung für Schadensersatzansprüche (die dem Ehrenamtlichen nebenbei erwähnt freilich nur dann hilft, wenn der Freistellungsanspruch gegen den Verein auch zu realisieren ist, wofür zumindest bei kleineren Vereinen und größeren Schäden regelmäßig wohl eine Versicherung erforderlich sein dürfte) enthält zunächst einmal zwar keine explizite Aussage für den Bereich des Strafrechts. Freilich wird man auch bei der Bestimmung des strafrechtlichen Fahrlässigkeitsmaßstabes diese gesetzgeberische Wertung nicht völlig vernachlässigen dürfen, schon weil aufgrund des Prinzips des Strafrechts als ultima ratio des Rechtsgüterschutzes eine weitergehende strafrechtliche Verantwortung zumindest ungewöhnlich wäre. Betrachtet man den Mechanismus und die Auswirkungen des § 31b BGB, so führt er zu einem Haftungsprivileg des Ehrenamtlichen, ohne die Haftungsinteressen des Opfers zu vernachlässigen. Man möchte also den Ehrenamtlichen entlasten, zugleich aber das Opfer nicht auf seinem Schaden „sitzen lassen“, weshalb das Liquiditätsrisiko des Vereins insoweit auf den Ehrenamtlichen abgewälzt wird (bzw. genauer: bei diesem verbleibt, weil er möglicherweise im Innenverhältnis keinen Rückgriff nehmen kann). Überträgt man diesen Gedanken auf das Strafrecht, so würde die Idee einer Privilegierung des Ehrenamtlers dazu führen, dass man auch ihn nur für Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit haften lässt. Freilich sind damit zwei Rechtsfolgen aus dem Zivilrecht nicht eins zu eins abgebildet: - Zum einen gibt es keine (im Innenverhältnis bestehende und damit idealiter letztlich zum Ausdruck kommende) Haftung des Vereins, zu dem der Ehrenamtliche gehört; das erscheint aber jedenfalls isoliert betrachtet auch kein zwingendes Erfordernis zu sein, denn auch zivilrechtlich haftet der Verein, der durch einen Ehrenamtlichen handelt, ja nicht, weil er etwa durch seine Organe etwas „falsch gemacht“ hätte, sondern die bei ihm verbleibende Haftung ist nur das Pendant zum Anspruch des Opfers, welcher zivilrechtlich trotz einer Freistellung des Ehrenamtlichen erhalten bleiben soll. 20 21
Vgl. BGH, NJW 1992, 2474 (2475). Vgl. BGBl. 2013 I S. 556.
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- Zum anderen würde eine strafrechtliche Haftungsprivilegierung dazu führen, dass der Fall strafrechtlich vollständig „erledigt“ wird und das Opfer nicht durch die Bestrafung eines Dritten eine stellvertretende „Genugtuung“ erhält; das scheint aber in Fällen einer leichten Fahrlässigkeit hinnehmbar, da hier der – entweder gegen den Ehrenamtlichen oder gegen den Verein – fortbestehende zivilrechtliche Anspruch ausreichend ist und kein darüber hinausgehendes subjektives Recht des Opfers „auf Bestrafung“ anzuerkennen ist. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass diejenige Gruppe, zu welcher das Opfer gehört, grundsätzlich gerade die Nutznießer ehrenamtlichen Engagements stellt, so dass es bei einem etwas weiter gestellten Fokus für das Opfer (jedenfalls in seiner Rolle als Gruppenmitglied gedacht) sogar von Vorteil ist, wenn ein Haftungsregime entsteht, innerhalb dessen ehrenamtliches Arbeiten auch weiterhin ermöglicht wird.
V. Fazit 1. Ehrenamtliche Tätigkeiten bergen typischerweise Haftungsrisiken. Das ist als solches für das menschliche Leben nichts Ungewöhnliches, da man solchen Risiken stets ausgesetzt ist. Die Vervielfältigung der Risiken, ohne einen eigenen Nutzen davon zu haben, erscheint aber nicht nur unbefriedigend, sondern könnte auch die allgemeine Motivation, ehrenamtlich tätig zu sein, noch weiter dämpfen. Problematisch erscheint hier insbesondere die – im Grundsatz ja sowohl im Zivilrecht als auch im Strafrecht vorgesehene – Haftung auch für leichte Fahrlässigkeit. 2. Haftungsrechtlich ist die Situation durch die Schaffung von § 31b BGB für den Ehrenamtlichen entschärft. Zwar haftet er nach wie vor für Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit, allerdings erscheint dies auch durchaus angemessen; auch in Fällen leichter Fahrlässigkeit trägt er das Liquiditätsrisiko des Vereins, von dem er ggf. Haftungsfreistellung von Ansprüchen Dritter verlangen kann. Hier dürfte empfehlenswert sein, den Verein auf das Erfordernis des Abschlusses entsprechender Versicherungen hinzuweisen. 3. Für das Strafrecht gibt es keine spezialgesetzlichen Regelungen. Allerdings existieren verschiedene Anknüpfungspunkte, die eine restriktive Auslegung (und im Ergebnis auch eine Begrenzung auf Fälle der groben Fahrlässigkeit oder des Vorsatzes) durchaus rechtfertigen könnten. Inwieweit man diese Auslegungsargumente dann gegenüber dem keine Restriktionen vorsehenden Wortlaut und dem teleologischen Argument des Opferschutzes tatsächlich „stark macht“, ist letztlich auch eine rechtspolitische Frage und eine Entscheidung, wie die Gesellschaft mit ihren Ehrenämtlern umgeht. Gerade in Fällen leichter oder bestenfalls unterer mittlerer Fahrlässigkeit droht freilich die Gefahr von „Rückschaufehlern“, wenn nach dem Eintritt eines Schadens durch eine bestimmte Ursache festgestellt wird, dass gerade diese
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Ursache ja auch mit vertretbarem Aufwand hätte beseitigt werden können.22 Auch dieses Phänomen ist nicht auf die Haftung von Ehrenamtlichen begrenzt, sondern verursacht etwa auch bei der nachträglichen Bewertung von wirtschaftlichen Verhaltensweisen Schwierigkeiten.23 Allerdings gibt es hier zumindest teilweise erhebliche monetäre Anreize, diese Risiken einzugehen. Für das Ehrenamt fehlen solche naturgemäß. 4. Wie man Menschen zu überobligationsmäßigem Engagement – und letztlich ist das Ehrenamt ja auch nichts Anderes – motivieren kann, ist eine schwierige und in verschiedenen Disziplinen untersuchte Frage. Möglicherweise ist es so, dass die einen es einfach haben (so wie der Jubilar, der auch weit im achten Lebensjahrzehnt noch auf hohem Niveau forscht und publiziert), die anderen nicht. Feststehen dürfte aber, dass man jedenfalls keine prohibitiven Haftungssignale aussenden sollte.
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Ein gutes Beispiel ist hier die Entscheidung des AG Detmold. Selbstverständlich wäre der Aufwand, gerade das später umfallende Tor zu sichern, im Vergleich zu dem dadurch letztlich abgewendeten Schaden extrem gering gewesen. Allerdings bietet ein größeres Hallenzentrum neben einem bestimmten Tor in der Nachbarhalle noch diverse andere Gefahrenquellen, und selbstverständlich ist es hinterher immer einfacher zu sagen, welche dieser Gefahrenquellen offenbar besonders groß gewesen sind, da sie sich augenscheinlich im Erfolg realisiert haben. 23 Vgl. zu den hier drohenden Rückschaufehlern eingehend Kudlich, in: Safferling/Jäger/ Kett-Straub/Kudlich (Hrsg.), FS Streng, 2017, S. 63 ff.
Sicherheitsgesetzgebung ohne Zweck Die Vorratsdatenspeicherung von Verkehrsdaten der Telekommunikation als Prototyp einer verfehlten neuartigen Sicherheitsarchitektur Von Jens Puschke
I. Einleitung Eine wissenschaftlich fundierte und übergreifende Beschäftigung mit dem Strafverfahren, wie sie Ulrich Eisenberg seit Jahrzehnten betreibt, geht weit über die Würdigung von Urteilen und Prozesshandlungen im Hauptverfahren und die dort gewonnenen und präsentierten Erkenntnisse hinaus. Dies folgt der Einsicht, dass die Hauptverhandlung „durch das im Vorverfahren gewonnene Ergebnis der Ermittlungen“ geprägt ist.1 Der Wandel der einem strafrechtlichen Hauptverfahren vorausgehenden Ermittlungen sowie diesbezüglicher Befugnisse sind daher aus rechtlicher und kriminologischer Perspektive stets kritisch zu begleiten. Der Schwerpunkt einer solchen umfassenden Betrachtung konnte sich lange Zeit auf Ermittlungen und Entscheidungen der Strafverfolgungsbehörden konzentrieren, deren Aufgabe die Sachaufklärung zwecks Entscheidung über die Anklageerhebung ist (§ 160 Abs. 1 StPO). Ein in dieser Weise abgrenzbarer Forschungsgegenstand verliert jedoch an Konturen. Die Beweiserhebungsfunktion des Vorverfahrens wird zum einen zunehmend von einer allgemeinen kriminalpolizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Ermittlungszuständigkeit für eine Vielzahl unbestimmter Bedrohungslagen abgelöst. Zum anderen spielen Erkenntnisse und Bewertungen aus den Bereichen des Gefahrabwehrrechts und des Rechts der Nachrichtendienste eine gesteigerte Rolle bei der Strafverfolgung. In den vergangenen Jahrzehnten haben die Überschneidungen strafprozessualer Ermittlungen mit polizeilicher Gefahrenabwehr, nachrichtendienstlicher Tätigkeit sowie nicht-staatlicher Informationserlangung und -speicherung in einem Maß zugenommen, dass sie einen Blick auf die gesamte Sicherheitsarchitektur notwendig machen. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Etablierung rechtlicher und rechtstatsächlicher Konzepte (z. B. Vorbereitungsstraftatbestände, Maßnahmen gegen „Gefährder“, Vorratsdatenspeicherung von Verkehrsdaten der Telekommunikation), die eine Verschmelzung verschiedener Sicherheitsbelange zur Folge hat und am Hori1
Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 10. Aufl. 2017, Rn. 502a.
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zont die Wunschvorstellung eines Gesamtsicherheitskonzeptes für Strafverfolgung, Gefahrenabwehr und nachrichtendienstliche Tätigkeit erscheinen lassen – eine Entwicklung, die Besorgnis hervorruft. Dieser Beitrag will vor rechtsstaatlichen Verwerfungen einer so verstandenen neuartigen Sicherheitsarchitektur warnen,2 indem aktuelle Tendenzen und Bewertungen im Sicherheitsrecht aufgegriffen werden und die rechtliche Diskussion zur Vorratsdatenspeicherung von Verkehrsdaten der Telekommunikation (TK-Vorratsdatenspeicherung) im Zusammenhang mit repressiver und präventiver Ermittlungstätigkeit beleuchtet wird. Die Vorratsdatenspeicherung ist dabei Teil und Prototyp einer sich wandelnden Sicherheitsgesetzgebung, deren Charakteristika im Folgenden zunächst skizziert werden.
II. Die Sicherheitsarchitektur im Wandel Seit einigen Jahrzehnten befindet sich die deutsche ebenso wie die internationale Sicherheitsarchitektur im Wandel. In der öffentlichen Diskussion werden neue Bedrohungslagen ins Feld geführt, die Veränderungen und Erweiterungen bestehender Eingriffsbefugnisse ebenso wie eine engere Zusammenarbeit von Sicherheitsbehörden nötig machen sollen. Waren die Diskussionen in den 1990er Jahren noch von der Bedrohung durch die sog. Organisierte Kriminalität geprägt, steht spätestens seit dem Anschlag auf das World Trade Center im Jahr 2001 der (islamistische) Terrorismus im Zentrum öffentlicher Wahrnehmung und fungiert als Motor neuer Sicherheitsgesetze.3 Zudem werden in öffentlichkeitswirksamen Diskussionen zum Behördenversagen auch hinsichtlich des Informationsaustausches, etwa in den Fällen „Anis Amri“ und „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU), Erweiterungen der Eingriffsbefugnisse und engere Behördenkooperationen gefordert.4 Technische Entwicklungen, insbesondere zur Digitalisierung und Auswertung von Informationen, sowie die Internationalisierung aller Sicherheitsbereiche tragen ebenfalls zu maßgeblichen Veränderungen bei.5 Hintergrund dieser Entwicklungen ist der Aufstieg von Sicherheit zu einem hegemonialen Konzept, der durch vielzählige Arbeiten zur Risiko- und Sicherheitsgesell-
2 Diese baut vornehmlich auf dem Konzept der Gefährdung und des „Gefährders“ auf, daher wird treffend auch von einem neuartige Gefährderrecht gesprochen, siehe Brodowski/ Jahn/Schmitt-Leonardy, GZS 2017, 7 ff.; dies., GZS 2018, 7 ff. 3 Vgl. Sieber, in: Tiedemann/Sieber/Satzger/Burchard/Brodowski (Hrsg.), Die Verfassung moderner Strafrechtspflege, 2016, S. 351 (353 ff.); siehe zur Verschmelzung der Bedrohungsszenarien Burgartz/Saberschinsky/Sauer, Bedrohung der Sicherheit in Deutschland durch Terrorismus und Organisierte Kriminalität, 2015; vgl. auch den gewählten Anknüpfungspunkt für ein Gefährderrecht bei Brodowski/Jahn/Schmitt-Leonardy, GZS 2017, 7 ff. 4 Siehe hierzu Gusy, ZRP 2012, 230 ff. 5 Sieber (Fn. 3), S. 351 (364 f.); Gärditz, GSZ 2017, 1 ff.
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schaft dokumentiert ist.6 Als Folge überspannt der Sicherheitsdiskurs die gesellschaftliche Problemwahrnehmung und die Diskussion um die Problembearbeitung. Dies gilt in besonderem Maße für das Strafrecht und die straftatbezogene Gefahrenabwehr. Das Strafrecht und die Strafverfolgung fügen sich in die leitende Maxime der Prävention ein und werden als ein Mittel im gesamten Sicherheitsapparat begriffen, das zur „Bekämpfung“ ausgemachter Bedrohungen dienen soll.7 Die Konzepte von Risiko und Vorbeugung ersetzen zunehmend jene von Tatverdacht und konkreter Gefahr. So verwundert es nicht, dass die rechtliche und rechtstatsächliche Entwicklung in Richtung eines Sicherheitsrechts zuzusteuern scheint, in dem repressive und präventive Ermittlungstätigkeiten verschmelzen. 1. Die traditionelle Sicherheitsarchitektur Die traditionelle deutsche Sicherheitsarchitektur ist geprägt von drei nebeneinander bestehenden Säulen: der Strafverfolgung, der polizeilichen Gefahrenabwehr und der nachrichtendienstlichen Tätigkeit.8 Dabei werden Strafrecht und Strafverfolgung trotz präventiver Zielsetzung als reaktives Mittel verstanden, das sich auf Taten in der Vergangenheit bezieht. Das polizeiliche Gefahrenabwehrrecht dient vornehmlich der Eindämmung konkreter Gefahren9 und die nachrichtendienstliche Tätigkeit betrifft die Sammlung und Auswertung von Informationen mit dem Ziel strategischer Erkenntnisgewinnung zum Schutz der Sicherheit des Bundes und der Länder.10 Wenngleich ein verfassungsrechtliches Trennungsgebot dieser Bereiche umstritten ist,11 geben das Bestimmtheitsgebot und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz eine differenzierte Betrachtung der jeweils bestehenden Eingriffsbefugnisse vor.12 Nur aufeinander abgestimmte Ermittlungszwecke, Eingriffsschwellen und -voraussetzungen, die sich normenklar in den jeweiligen Regelungen wiederfinden, können verfassungsrechtlichen Grundsätzen genügen. Nicht zuletzt lehrt die Geschichte, weshalb jeden6
Siehe nur Beck, Risikogesellschaft, 1986; P.-A. Albrecht, Der Weg in die Sicherheitsgesellschaft, 2010; Herzog, Gesellschaftliche Unsicherheit und strafrechtliche Daseinsvorsorge, 1991; Prittwitz, Strafrecht und Risiko, 1993; Puschke/Singelnstein (Hrsg.), Der Staat und die Sicherheitsgesellschaft, 2018; Singelnstein/Stolle, Die Sicherheitsgesellschaft, 3. Aufl. 2012. 7 Vgl. Puschke, KrimJ 2018, 197 (198 f.); siehe zu einem solchen Sicherheitsverständnis auch Gärditz, GSZ 2017, 1 f.; übergreifend Kunz/Singelnstein, Kriminologie, 7. Aufl. 2016, § 22 Rn. 1 ff.; vgl. auch die Beiträge in Brunhöber (Hrsg.), Strafrecht im Präventionsstaat, 2014. 8 Löffelmann, GSZ 2018, 85 (86). 9 BVerfGE 133, 277 (327). 10 BVerfGE 133, 277 (325 f.); Hefendehl, GA 2011, 209 (212 f.); Roggan, GA 2016, 393 (403 f.); zu einer weitergehenden Interpretation der Nachrichtendienste als Informationsdienstleister zur Gefahrenabwehr Unterreitmeier, GSZ 2018, 1 (3 f.). 11 Siehe Hefendehl, GA 2011, 209 (211) m.w.N.; vgl. zum einfachgesetzlichen Trennungsgebot von Polizei- und Nachrichtendienstrecht etwa § 8 Abs. 3 BVerfSchG; vgl. zum informationellen Trennungsgebot BVerfG, NJW 2013, 1499. 12 Vgl. BVerfGE 133, 277 (322 ff.); BVerfG, NJW 2016, 1781 (1784 ff.).
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falls polizeiliche und nachrichtendienstliche Befugnisse nicht vermengt werden dürfen. 2. Auflösungserscheinungen der traditionellen Sicherheitsarchitektur Das System im Grundsatz getrennt zu betrachtender Ermittlungs- und Eingriffsregime gerät jedoch unter den beschriebenen Voraussetzungen der Sicherheitsgesellschaft zunehmend unter Druck. Die Ermittlungszwecke verschwimmen ebenso wie die Arten der Ermittlungsmaßnahmen und deren Eingriffsschwellen. Außerdem wird die Durchlässigkeit der Regime durch einen institutionalisierten Datenaustausch erhöht. Die Eingriffsbefugnisse entfernen sich zunehmend von einem konkretisierten Zweck. Als Beleg können zunächst vor allem vier parallellaufende und aufeinander bezogene Entwicklungen angeführt werden: Erstens verändert sich der Gegenstand des materiellen Strafrechts. Er entfernt sich von einer in der Vergangenheit liegenden Rechtsgutsverletzung als Anknüpfungspunkt für die Sanktionsfolge. Neuere Straftatbestände pönalisieren vermehrt Handlungen, die abstrakt gefährlich und im Vorfeld einer Schädigung angesiedelt sind.13 Für den Bereich des Terrorismusstrafrechts ist auf die Neuregelungen in §§ 89a, b, c und 91 StGB zu verweisen,14 die Vorbereitungshandlungen von schweren staatsgefährdenden Gewalttaten unter Strafe stellen. Als Beispiel kann auch die Einführung des § 315d StGB zur Pönalisierung von verbotenen Kraftfahrzeugrennen dienen.15 In gleicher Weise ist die strafrechtliche Absicherung von Verstößen gegen polizeirechtliche Vorgaben, wie Aufenthaltsbestimmungen und elektronische Aufenthaltsüberwachungen (§ 87 BKAG), zu nennen.16 Die sich hieraus ergebenden Überschneidungen mit polizeilicher und nachrichtendienstlicher Tätigkeit sind beträchtlich. Ist die Gefahr oder lediglich die abstrakte Bedrohungslage Anknüpfungspunkt für strafrechtliche Sanktionen, so kann derselbe Sachverhalt Ermittlungsfolgen aller Regelungsregime des Sicherheitsrechts auslösen.17 Ein Tatverdacht bzgl. einer terroristischen Vorbereitungstat kann in eine polizeiliche Gefahr für die Sicherheit und Ordnung genauso übersetzt werden wie in ein allgemeines nachrichtendienstliches Aufklärungsinteresse zum Schutz der Sicherheit des Staates. Dies ist freilich kein Zufall, sondern gewollte Folge der Vorverlagerung des Strafrechts. Ein früher eingreifendes Strafrecht ermöglicht frühere Interventionsoptionen in allen Ermittlungsregimen. Die Veränderung des strafrechtlichen Gegenstandes geht somit Hand in Hand mit 13 Siehe hierzu Puschke, Legitimation, Grenzen und Dogmatik von Vorbereitungstatbeständen, 2017, S. 10 ff.; Eisenberg/Kölbel, Kriminologie, 7. Aufl. 2017, § 29 Rn. 41 f. 14 BGBl. I 2009, S. 2437 und BGBl. I 2015, S. 926; siehe hierzu Puschke/Rienhoff, in: Puschke/Singelnstein (Fn. 6), S. 243 ff. 15 BGBl. I 2017, S. 3532; zu weiteren strafgesetzlichen Veränderungen allein in der vergangenen Legislaturperiode siehe Bachmann, Recht und Politik, 2017, 416 ff. 16 Siehe hierzu Brodowski/Jahn/Schmitt-Leonardy, GZS 2017, 7 (11). 17 Siehe auch Brodowski/Jahn/Schmitt-Leonardy, GZS 2018, 7; Roggan, GSZ 2018, 52 (53).
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der Veränderung des Zwecks des Strafrechts, das zunehmend der Beförderung von Ermittlungsmöglichkeiten18 und der Intervention in Geschehensabläufe dient.19 Zweitens nähern sich die gesetzlichen Ermittlungsbefugnisse und Aufgaben der Sicherheitsbehörden stetig an. Dies wird mit Blick auf die Strafverfolgung unter den Schlagworten Verpolizeilichung und Vergeheimdienstlichung bzw. Vernachrichtendienstlichung des Strafverfahrens diskutiert20 und zeigt sich auch in dem Bestreben, gemeinsame Datenbestände, wie bei der TK-Vorratsdatenspeicherung, aufzubauen. Vagere Gegenstände und Anknüpfungspunkte des materiellen Strafrechts durch die Erfassung abstrakter Bedrohungslagen ziehen Veränderungen bei den Ermittlungsinstrumenten nach sich.21 So werden zur Feststellung einer Bedrohungslage, wie bzgl. der Frage, ob derjenige, der es unternimmt, aus der Bundesrepublik Deutschland auszureisen, eine schwere staatsgefährdende Gewalttat gem. § 89a Abs. 2a StGB vorbereitet, verdeckte Maßnahmen zur Aufhellung komplexer Netzwerke und Persönlichkeitsstrukturen als erforderlich erachtet. Das Erkenntnisinteresse und das Vorgehen sind dabei originär nachrichtendienstlicher oder gefahrenabwehrrechtlicher Art. Als jüngstes Beispiel für die Ausweitung entsprechender strafprozessualer Ermittlungsmethoden ist die Einführung der Quellen-Telekommunikationsüberwachung und der Online-Durchsuchung in § 100a und § 100b StPO zu nennen.22 Entsprechende Befugnisse bestanden zuvor bereits im BKAG zur Abwehr von Gefahren des Internationalen Terrorismus. In gleicher Weise wird der Transfer von Ermittlungsbefugnissen auch in die andere Richtung von der StPO in die Polizeigesetze vorgenommen. Zudem werden polizeirechtliche Befugnisse und Aufgaben denjenigen der Nachrichtendienste angeglichen, wenn etwa statt auf eine konkrete Gefahr als Eingriffsschwelle auf eine drohende Gefahr zurückgegriffen wird (Art. 11 Abs. 3 BayPAG).
18 Vgl. Jakobs, ZStW 97 (1985), 751 (752); Sinn, in: Sinn/Gropp/Nagy (Hrsg.), Grenzen der Vorverlagerung in einem Tatstrafrecht, 2011, S. 13 (21); NK/Paeffgen, StGB, 5. Aufl. 2017, § 89a Rn. 1, 3; Weißer, ZStW 121 (2009), 131 (153). 19 Hierzu eingehend Puschke, in: Lange/Wendekamm (Hrsg.), Die Verwaltung der Sicherheit. Theorie und Praxis der öffentlichen Sicherheitsverwaltung, 2018, S. 215 ff.; siehe auch Rackow, in: FS Maiwald, 2010, S. 615 (618 f.); Brunhöber, in: Puschke/Singelnstein (Fn. 6), S. 193 ff. 20 Vgl. zur Verpolizeilichung etwa P.-A. Albrecht, StV 2001, 416 (417 ff.); Schoreit, StV 1989, 449 ff.; zur Vergeheimdienstlichung etwa Heghmanns, in: Müller, H.E./Sander/Válková (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Eisenberg zum 70. Geburtstag, 2009, S. 512; Schünemann, GA 2008, 314 (316 ff.); zur Vernachrichtendienstlichung Paeffgen, StV 2002, 366 ff.; Hefendehl, GA 2011, 209 (218). 21 Eingehend Hefendehl, GA 2011, 209 (214 ff.); vgl. auch Sieber (Fn. 3), S. 351 (354 ff.); zur Expansion der Eingriffsvarianten eingehend Brodowski, Verdeckte technische Überwachungsmaßnahmen im Polizei- und Strafverfahrensrecht, 2016, S. 34 ff., 157 ff. 22 BGBl. I 2017, S. 3202; siehe hierzu Eisenberg (Fn. 1), Rn. 2503 ff., 2540; Singelnstein/ Derin, NJW 2017, 2646 ff.; eigengehend zur Online-Durchsuchung auch bereits Heghmanns, in: FS Eisenberg (Fn. 20), S. 511 (523 ff.); zur Loslösung von der Suche nach bestimmten Beweismitteln bei der Online-Durchsuchung Mansdörfer, GSZ 2018, 45 (47).
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Drittens werden nunmehr auch Bestrebungen umgesetzt, polizeirechtliche Rechtsfolgen denjenigen des Strafrechts anzunähern. War bisher die länger andauernde Freiheitsentziehung vor allem dem Strafrecht vorbehalten,23 wurden kürzlich in Art. 17 ff. BayPAG Regelungen aufgenommen, die durch entsprechende gerichtliche Verlängerungsanordnungen eine grundsätzlich unbefristete Ingewahrsamnahme ermöglichen. Der strafrechtlichen Intervention durch die Freiheitsstrafe und der zum Teil aus apokryphen Gründen verhängten Untersuchungshaft24 wird somit ein Interventionsinstrument mit gleicher Zielrichtung25 auf umso vagerer Tatsachenbasis hinzugefügt. Schließlich soll viertens auf die Institutionalisierung des Datenaustauschs zwischen den Behörden hingewiesen werden. Haben Strafverfolgungs-, Polizei- und Nachrichtendienstbehörden jedenfalls in bestimmten Teilbereichen, wie etwa hinsichtlich des Umgangs mit Terrorismus, ähnliche Aufgaben und stehen ihnen vergleichbare Ermittlungsinstrumente zur Verfügung, bleiben Bestrebungen nach Verknüpfung der gewonnenen Erkenntnisse nicht aus. Entsprechend wurde, neben den bereits länger bestehenden Datenpools wie INPOL,26 die sog. Antiterrordatei eingerichtet,27 in der die beteiligten Behörden28 Daten hinsichtlich des internationalen Terrorismus mit Bezug zur Bundesrepublik Deutschland einspeisen und im automatisierten Verfahren auf sie zugreifen können. Die TK-Vorratsdatenspeicherung kann darüber hinaus als ein Extremfall des behördenübergreifenden Datenzugriffs angesehen werden, die einen diesbezüglichen Austausch der Daten obsolet macht, indem jeweils eigenständige Zugriffsrechte auf einen vollständigen Datenpool vorgesehen sind. 3. Rechtsstaatliche Defizite und Unstimmigkeiten Der beschriebene Wandel der deutschen Sicherheitsarchitektur mit der Schleifung des Trennungsprinzips führt zu rechtsstaatlichen Defiziten und Unstimmigkeiten. So erfolgt die Annährung der Ermittlungsregime unter Reduktion der jeweiligen Zweck-Mittel-Beziehung (zweckentfernte Eingriffe) i.S.d. Verhältnismäßigkeits23 Ausnahmen bestehen hinsichtlich psychisch Erkrankter im Bereich des Schutzes vor gegenwärtigen und erheblichen Gefahr für Leben oder Gesundheit (etwa § 15 Abs. 2 BerPsychKG) und bzgl. der nur anlassbezogen dem Strafrecht zurechenbaren freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung gem. §§ 63 ff. StGB. 24 Siehe hierzu Eisenberg/Kölbel (Fn. 13), § 29 Rn. 27. 25 Vgl. zur Freiheitsstrafe als polizeiliche Langzeitinterventionsmaßnahme Bäcker/Giesler/Harms/Hirsch/Kaller/Wolff, Bericht der Regierungskommission zur Überprüfung der Sicherheitsgesetzgebung in Deutschland, 2013, S. 47; Puschke (Fn. 13), S. 63. 26 Hierzu und zu weiteren Datenbanken Eisenberg/Kölbel (Fn. 13), § 29 Rn. 57 ff. 27 BGBl. I 2006, S. 3409. 28 Das Bundeskriminalamt, die Bundespolizeibehörde, die Landeskriminalämter, die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder, der Militärische Abschirmdienst, der Bundesnachrichtendienst und das Zollkriminalamt, vgl. § 1 Abs. 1 ATDG.
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grundsatzes. Auch handelt es sich nicht um eine Reform aus einem Guss mit aufeinander abgestimmten Zielvorgaben, Befugnisvoraussetzungen und Rechtsfolgen, was nur zum Teil den unterschiedlichen Gesetzgebungskompetenzen geschuldet ist. Die gesetzlichen Veränderungen führen vielmehr zu sich überschneidenden Flickenteppichen mit dem Potenzial der Intensivierung von Grundrechtseingriffen und der Relativierung von Schutzstandards. a) Reduktion rechtsstaatlicher Garantien Die zunehmende Verschmelzung repressiver, gefahrenabwehrrechtlicher und nachrichtendienstlicher Eingriffsregime hat zur Folge, dass verfassungsrechtliche Schutz- und Überprüfungsmechanismen ebenso wie strafrechtliche Garantien an Wirkkraft verlieren. Das gilt für die freiheitssichernde Funktion des Bestimmtheitsgebots hinsichtlich vager werdender und auf Bedrohungen ausgelegter Eingriffsvoraussetzungen im Straf- und Polizeirecht. Des Weiteren nimmt die Wahrscheinlichkeit der Beeinträchtigung des Kernbereichs privater Lebensgestaltung zu, wenn sog. Gefährder und deren vermutete Persönlichkeitsstrukturen auch für die Strafverfolgung vermehrt Bedeutung erlangen. Auch Schuldgrundsatz, Unschuldsvermutung und Selbstbelastungsfreiheit verlieren an Geltungskraft, wenn Erkenntnisse aus polizeilichen und nachrichtendienstlichen Ermittlungen, die ohne entsprechende Beschränkungen erlangt werden können, in Ermittlungen der Strafverfolgung einfließen. b) Verschiebung und Aushebelung der Prüfmaßstäbe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes Zudem werden die Prüfmaßstäbe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes verschoben29 und seine begrenzende Wirkung zum Teil ausgehebelt. Die Legitimität von Ermittlungsbefugnissen hängt im Ergebnis stets davon ab, ob der mit ihnen verbundene Eingriff zum Zweck der Ermittlung in einem angemessenen Verhältnis steht. Jedoch lassen sich hinsichtlich einer breit angelegten verdeckten Ermittlungsmaßnahme zur Aufhellung von Netzwerken und Persönlichkeitsstrukturen weder deren Eingriffstiefe hinreichend zuverlässig bewerten noch der mögliche Nutzen für die Durchführung eines Strafverfahrens. Angesichts der besonderen Belastungen, die ein Strafverfahren für einen Beschuldigten mit sich bringt, ergeben sich hieraus Rechtsstaatlichkeitsdefizite.30 Entsprechend ist es auch die fehlende hinreichende Zweckbindung, an der die Zulässigkeit der Vorratsdatenspeicherung scheitert.31
29 Kritisch zu verhältnismäßigkeitsbezogenen Detailvorgaben an den Gesetzgeber Gärditz, GSZ 2017, 1 (3). 30 Hefendehl, GA 2011, 209 (219). 31 Siehe hierzu unten III.2.
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c) Verwerfungen auf der Anwendungsebene Die Veränderungen und Annäherung der Ermittlungsregime sind nicht nur auf einer übergeordneten Ebene rechtsstaatlich bedenklich. Sie haben auch Verwerfungen auf der Anwendungsebene zur Folge. So können Eingriffsvoraussetzungen und -standards, auch bei ähnlichen Befugnissen, für die strafverfolgungsbehördliche und präventive Tätigkeit voneinander abweichen. Dies betrifft etwa die Dauer einer längerfristigen Observation oder die gerichtliche Anordnungszuständigkeit für Eingriffe in das Computergrundrecht in der StPO und in Polizeigesetzen ebenso wie die Möglichkeit der Umgehung der Sachleitungsbefugnis der Staatsanwaltschaft durch Befugnis-Shopping.32 Trotz der Forderungen seitens der Exekutivbehörden, die Ermittlungsbefugnisse stetig zu erweitern, werden auch sie durch die Folgen dieser Entwicklungen vor erhebliche Schwierigkeiten gestellt. Die mit der Expansion des Sicherheitsrechts einhergehenden Aufgabenerweiterungen und -verschmelzungen führen zu Zuständigkeitsüberschneidungen und der Zuschreibung neuartiger Verantwortungen. So ist die Ermittlungstätigkeit der Strafverfolgungsbehörden ebenso wie ihre personelle und strukturelle Organisation grundsätzlich auf Langfristigkeit und nicht auf schnelle Intervention angelegt.33 Der Umgang mit Erkenntnissen aus dem Vorfeld eine Straftatbegehung kann hinsichtlich notwendig werdender gefahrenabwehrrechtlicher Maßnahmen zu Überforderungen führen. d) Der Ruf nach einem Sicherheitsrecht aus einem Guss Rechtsstaatliche Defizite sowie dogmatische und verfassungsrechtliche Verwerfungen der bestehenden Regelungen, aber auch Effizienzerwägungen und Internationalisierungsbestrebungen lassen den Ruf nach einem Sicherheitsrecht aus einem Guss lauter werden.34 Hinsichtlich der Bewertung von Bestrebungen hin zu einem monistischen Sicherheitsrechts,35 das inhaltlich und kompetenziell die Tätigkeit der Strafverfolgungs-, Gefahrenabwehr- und Nachrichtendienstbehörden vereinigen soll, erscheinen Erkenntnisse zur rechtlichen Diskussion zur TK-Vorratsdatenspeicherung hilfreich. Sie können zudem Bewertungsmaßstäbe dafür liefern, wo die Grenzen einer Verschmelzung der unterschiedlichen Sicherheitsregime zu ziehen sind.
32 Siehe mit weiteren Beispielen und zu Folgendem Brodowski/Jahn/Schmitt-Leonardy, GZS 2018, 7 (8); zur Sachleitungsbefugnis der Staatsanwaltschaft bzgl. der strafprozessualen, nicht aber polizeirechtlichen Online-Durchsuchung durch das BKA Roggan, GSZ 2018, 52 (54 f.). 33 Siehe auch Löffelmann, GSZ 2018, 85 (90). 34 Vgl. Gärditz, GSZ 2017, 1; siehe zu einem konkreten Neuordnungsvorschlag Brodowski (Fn. 21), S. 556 ff. 35 Hierzu etwa Löffelmann, GSZ 2018, 85 (89 f.).
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III. Die Vorratsdatenspeicherung als Prototyp für eine neuartige Sicherheitsarchitektur? Die TK-Vorratsdatenspeicherung kann als eine Vorstufe eines solchen Sicherheitsrechtes betrachtet werden, das zur Einebnung der Unterschiede zwischen Strafverfolgung und Gefahrenabwehr ansetzt. Sie geht über die beschriebenen Verschmelzungstendenzen hinaus, die zwar materiell und rechtstatsächlich zu einer weitgehenden Schleifung des Trennungsprinzips führen, formal aber an den unterschiedlichen Eingriffsregimen festhalten. In der TK-Vorratsdatenspeicherung manifestiert sich demgegenüber die Auflösung der Unterscheidung zwischen repressivem und präventivem Vorgehen. Es wurde ein Instrumentarium geschaffen, das einen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung bzw. spezieller in das Fernmeldegeheimnis36 sowie in den Privatheits- und Datenschutz rechtfertigen soll, aber weder hinsichtlich der Eingriffsschwelle noch hinsichtlich der Eingriffsvoraussetzungen zwischen repressiven und präventiven Zwecken unterscheidet, also anlasslos erfolgt. Sie ist zugleich Maßnahme zur Strafverfolgungsvorsorge und Straftatenverhütung, ohne den Bindungen der StPO oder des Gefahrenabwehrrechts zu unterliegen.37 Die TK-Vorratsdatenspeicherung kann daher als „Sündenfall“ einer zweckentfernten Sicherheitsgesetzgebung und Vorbote einer neuartigen Sicherheitsarchitektur angesehen werden.38 Sie ist dementsprechend als Rechtsinstitut eines anlasslosen Eingriffs nicht alleine geblieben und wurde im Sinne eines slippery slope39 durch das FlugDaG40 ergänzt und wesentlich erweitert. Dass ein solches Vorhaben nicht unwidersprochen bleibt, zeigen die komplizierte Gesetzeshistorie41 und die Vielzahl europäischer und nationaler Gerichtsentscheidungen zur Unzulässigkeit einer solchen Regelung.42 Im Ergebnis hat diese rechtliche Odyssee dazu geführt, dass die Vorratsdatenspeicherung europaweit als grundrechtswidrig gilt und die bestehenden gesetzlichen Regelungen in Deutschland durch 36 BVerfGE 125, 260 (309 f.), wobei sich die Maßgaben des Bundesverfassungsgerichts zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung weitgehend auf Art. 10 GG übertragen lassen (siehe auch BVerfGE 100, 313 [359]). 37 Vgl. Puschke/Singelnstein, NJW 2008, 113 (118). 38 Puschke/Singelnstein, NJW 2008, 113 (118); Rusteberg, VBlBW 2007, 171 (175), „Prototyp einer nicht anonymisierten Speicherung von Daten Unbeteiligter“; vgl. auch Hefendehl, GA 2011, 209 (218). 39 Hierzu eingehend Hefendehl, JZ 2009, 165 (172 ff.). 40 BGBl. I 2017, S. 1484; siehe zur überzeugenden Kritik Arzt, Die Öffentliche Verwaltung 2017, 1023 ff. 41 Siehe etwa Oehmichen/Mickler, NZWiSt 2017, 298 f.; Sandhu, EuR 2017, 453 (454 f.); zur Entstehungsgeschichte der europäische Richtlinie Rusteberg, VBlBW 2007, 171 (173 f.); zu ersten Bestrebung im Deutschen Bundestag vgl. BT-Drs. 13/4438. 42 Für Europa EuGH, NJW 2014, 2169; NVwZ 2017, 1025; hierzu Roßnagel, NJW 2017, 696 ff.; für Deutschland BVerfGE 125, 260, aufgrund einer von über 34.000 Personen unterstützten Klage; siehe zu Folgeentscheidungen nach EuGH, NVwZ 2017, 1025 auch OVG Münster, NVwZ-RR 2018, 43; VG Köln, Urteil vom 20. 4. 2018 – 9 K 7417/17; siehe zu weiteren nationalen Entscheidung Bäcker, JA 2014, 1263 (1265).
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die Bundesnetzagentur am 28. Juni 2017 ausgesetzt wurden43. Auf nationaler und europäischer Ebene gibt es jedoch Bestrebungen, die Vorratsdatenspeicherung in veränderter Form erneut zu etablieren44 und so Vorgaben der Judikatur gerecht zu werden. Eine Beschäftigung mit ihren grundlegenden Prämissen und rechtlichen Einwänden lohnt daher weiterhin und lässt zudem Schlussfolgerungen für die Sicherheitsarchitektur als Ganzes zu. 1. Anlasslose Speicherungspflicht für sensible personenbezogene Daten Die TK-Vorratsdatenspeicherung verpflichtet die Telekommunikationsdienstleister Verkehrsdaten der Telekommunikation (keine Inhaltsdaten, § 113b Abs. 5 TKG) zu speichern, um den Zugriff hierauf bei einem späteren Anlass, vor allem zur Aufklärung einer besonders schweren Straftat oder zur Abwehr einer konkreten Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person oder für den Bestand des Bundes oder eines Landes, zu ermöglichen. Weitgehend unbestritten sind überaus sensible Daten betroffen, weshalb ihre Speicherung einen besonders tiefgreifenden Grundrechtseingriff darstellt.45 „Markenkern“ der Vorratsdatenspeicherung, der sie zum Muster für ein monistisch konstruiertes Sicherheitsrecht macht, ist, dass sie anlasslos, „auf Vorrat“ und hinsichtlich der Verkehrsdaten der Telekommunikation und der sie betreffenden Personen umfassend zu erfolgen hat. Die Speicherungspflicht soll unabhängig von einer bestimmten Gefährdungslage oder begangenen Straftaten gelten und nahezu alle Personen betreffen, die sich öffentlicher Telekommunikation bedienen.46 Erst auf einer nachgelagerten, zweiten Ebene bestehen gesetzliche Regelungen zum Zugriff auf die gespeicherten Daten, die anlassbezogen sind. So regelt § 100g Abs. 2 und 3 StPO, dass bei einem Tatverdacht hinsichtlich einer besonders schweren Straftat die gem. § 113b TKG gespeicherten Daten erhoben werden dürfen, wenn dies für die Strafverfolgung erforderlich ist. § 100j Abs. 2 StPO sieht zudem einen Rückgriff auf die Verkehrsdaten zur Bestandsdatenauskunft vor. Grundsätzlich können weitere Zugriffsregelungen in Gesetzen zur Gefahrenabwehr geschaffen werden. Entsprechend sieht nunmehr Art. 43 Abs. 2 S. 2 BayPAG eine explizite Abfragemöglichkeit von Vorratsdaten durch die Landespolizei vor, wenn dringende Gefahren für den Be43 Vgl. Bundesnetzagentur, Verkehrsdatenspeicherung, Mitteilung zur Speicherverpflichtung nach § 113b TKG; siehe auch BeckOK-StPO/Graf, Stand 1. 1. 2018, § 100a Rn. 220. 44 Vgl. BT-Drs. 19/2079; BT-Drs. 19/2325; Working Paper des Europäischen Rates vom 12. April 2018 – WK 3974/2018 INIT. 45 BVerfGE 125, 260 (318); Puschke, DANA 2006, 65 (66 f.); einschränkend demgegenüber die abweichenden Meinungen der Richter Schluckebier, BVerfGE 125, 260 (365 ff.) und Eichberger, BVerfGE 125, 260 (380). 46 Unabhängig von der Bevorratungsverpflichtung dürfen Telekommunikationsunternehmen Verkehrsdaten für bestimmte Zwecke speichern. Dies ergibt sich aus §§ 96 ff. TKG. Ansonsten sind sie unverzüglich zu löschen (§ 96 Abs. 1 S. 3 TKG).
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stand des Bundes oder eines Landes oder für Leib, Leben oder Freiheit einer Person in Rede stehen. Art. 15 Abs. 3 BayVSG ermöglicht zudem den Zugriff des bayerischen Verfassungsschutzes auf Vorratsdaten.47 2. Rechtliche Bewertung der Vorratsdatenspeicherung Die besondere Problematik einer Speicherung von personenbezogenen Daten auf Vorrat, sowohl für prospektive Zwecke der Gefahrenabwehr als auch der Strafverfolgung, findet Widerhall im rechtlichen Diskurs über die Vorratsdatenspeicherung. Dies zeigen die gesellschaftliche Debatte, eine Vielzahl an zumeist kritischen Beiträgen aus der Wissenschaft und die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und des Gerichtshofs der Europäischen Union, die den jeweiligen Regelungen Verfassungs- und Europarechtswidrigkeit attestierten. Die grundlegende rechtliche Frage ist, ob ein Grundrechtseingriff durch die Speicherung von sensiblen personenbezogenen Daten gerechtfertigt sein kann, wenn zum Zeitpunkt der Speicherung weder das Ob noch der Zweck noch die Art und Weise der späteren Nutzung abschließend feststehen. Schon der Begriff der „Vorratsdatenspeicherung“ ruft Assoziationen zum wegweisenden Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts hervor, in dem mit Blick auf das entwickelte Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung statuiert wurde: „Ein Zwang zur Angabe personenbezogener Daten setzt voraus, daß der Gesetzgeber den Verwendungszweck bereichsspezifisch und präzise bestimmt und daß die Angaben für diesen Zweck geeignet und erforderlich sind. Damit wäre die Sammlung nicht anonymisierter Daten auf Vorrat zu unbestimmten oder noch nicht bestimmbaren Zwecken nicht zu vereinbaren. Auch werden sich alle Stellen, die zur Erfüllung ihrer Aufgaben personenbezogene Daten sammeln, auf das zum Erreichen des angegebenen Zieles erforderliche Minimum beschränken müssen.“48 Die auf den ersten Blick naheliegende Schlussfolgerung, dass die umfassende Speicherung von Verkehrsdaten, um sie für eine spätere Verwendung zur Strafverfolgung oder Gefahrenabwehr zu sichern, diesen Anforderungen nicht gerecht wird, zog das Bundesverfassungsgericht bei der Überprüfung der damaligen deutschen Regelung zur TK-Vorratsdatenspeicherung aus dem Jahr 2007 49 allerdings nicht. Strikt verboten sei lediglich die Speicherung von personenbezogenen Daten auf Vorrat zu unbestimmten und noch nicht bestimmbaren Zwecken,50 wozu die allgemeine Zwecksetzung der Gefahrenabwehr und Strafverfolgung nicht gehören sol-
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Siehe hierzu Dieterle, ZD 2016, 517 (518 f.). BVerfGE 65, 1 (46). 49 BGBl. I 2007, 3198. 50 BVerfGE 125, 260 (317).
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len.51 Allerdings geht auch das Bundesverfassungsgericht von der Notwendigkeit einer strikten Beschränkung der Vorratsdatenspeicherungspflichten aus, da bereits die Speicherung und nicht erst der Abruf der Daten einen schwerwiegenden Eingriff in das Fernmeldegeheimnis des Art. 10 GG darstelle.52 Die damalige deutsche Regelung könne einen derart tiefgehenden Eingriff nicht rechtfertigen, da – neben weiteren Defiziten – weder die Datensicherheit hinreichend sichergestellt53 noch der Abruf der Daten auf die Bekämpfung schwerer Straftaten beschränkt sei.54 Auf der Grundlage vergleichbarer Erwägungen55 geht der EuGH jedoch einen Schritt weiter. Im Ergebnis wird angenommen, dass die Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung, konkret diejenigen von Schweden und Großbritannien, nicht verhältnismäßig und damit unionsrechtswidrig seien. Anders als das BVerfG betont der EuGH, neben der Notwendigkeit strikter Beschränkungen der Abfragemöglichkeiten, dass die Pflicht zur Speicherung als solche auf das absolut notwendige Maß zu beschränken sei. Während das BVerfG die eigenständige, besonders hohe Eingriffsqualität der Speicherung zwar anerkennt, sie aber vornehmlich durch strikte Vorgaben für den Abruf der Daten als hinreichend beschränkbar ansieht, genügt dies dem EuGH somit nicht. Er führt in seinem Urteil aus dem Jahr 2016 aus: „Eine solche Regelung [Vorgaben zur Vorratsdatenspeicherung in Schweden und Großbritannien] verlangt keinen Zusammenhang zwischen den Daten, deren Vorratsspeicherung vorgesehen ist, und einer Bedrohung der öffentlichen Sicherheit. […] Eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende überschreitet somit die Grenzen des absolut Notwendigen und kann nicht als in einer demokratischen Gesellschaft gerechtfertigt angesehen werden.“56 Diese Vorgaben erfüllt auch die deutsche Regelung aus dem Jahr 2015 nicht,57 die weiterhin die Bevorratung von Verkehrsdaten ohne Bezug zu einer aktuellen Sicherheitslage verlangt, weshalb die Regelung ausgesetzt wurde. Der EuGH zieht die Grenze für die TK-Vorratsdatenspeicherung dort, wo die späteren Zweckbestimmungen keine Beschränkungen des aktuellen Eingriffs vorsehen,58 die Maßnahme also zwecklos i.S.e. konkretisierten Zweckbestimmung erfolgt. 51
Siehe auch Papier, RLR 2012, 51 (53 f.). BVerfGE 125, 260 (318 ff.). 53 BVerfGE 125, 260 (325 ff.). 54 BVerfGE 125, 260 (328 f.). 55 Siehe zum schwerwiegenden Eingriff durch die Speicherungspflicht EuGH, NJW 2014, 2169 (2170); NVwZ 2017, 1025 (1029); zum „chilling effect“ EuGH, NJW 2014, 2169 (2170); NVwZ 2017, 1025 (1029); zur Datensicherheit vgl. EuGH, NJW 2014, 2169 (2170); NVwZ 2017, 1025 (1029). 56 NVwZ 2017, 1025 (1030). 57 Roßnagel, NJW 2017, 696 (698); offener Derksen, NVwZ 2017, 1005 (1009); Sandhu, EuR 2017, 453 (468 f.). 58 Siehe hinsichtlich der bundesverfassungsgerichtlichen Anforderungen für die Nähe der betroffenen Personen zur fraglichen Rechtsgutsbedrohung BVerfGE 100, 313 (395); 107, 299 52
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Dennoch erteilt auch der EuGH der Speicherung auf Vorrat keine allumfassende Absage. Vielmehr lässt er in den Urteilsgründen erkennen, dass eine Vorratsdatenspeicherung „light“ zulässig sein kann. Dazu müsse sich allerdings bereits die Verpflichtung zur Speicherung der Verkehrsdaten auf objektive Anknüpfungspunkte stützen, die zu einer Beschränkung der Speicherung solcher Daten im Stande sind und daher einen zumindest mittelbaren Zusammenhang mit schweren Straftaten oder eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit aufweisen. Als mögliche Begrenzungskriterien wird die Beschränkung der Datensammlung auf einen Zeitraum, ein geografisches Gebiet oder einen Personenkreis angeführt, der in irgendeiner Weise in eine schwere Straftat verwickelt sein könnte bzw. dessen Daten aus anderen Gründen zur Bekämpfung von Straftaten beitragen könnten.59 Die spätere Zweckbestimmung für den Abruf der Daten wäre so bereits für die Speicherung verdichtet. 3. Keine befriedigenden Maßstäbe für zweckentfernte Eingriffe Angesichts der Bemühungen, die Vorratsdatenspeicherung in veränderter Form wiedereinzuführen, und ihrer Vorreiterrolle für eine neuartige Sicherheitsarchitektur stellt sich die Frage, ob die vom EuGH aufgestellten Maßstäbe überzeugen und als Grundlage für die Beurteilung eines veränderten Sicherheitsrechts mit zweckentfernten Eingriffsbefugnissen herangezogen werden können. Anders gewendet: Reicht es aus, dass Eingriffsumfang und -tiefe nur aufgrund allgemein prognostischer Erwägungen zur späteren Verwendungswahrscheinlichkeit hinsichtlich zeitlicher, geografischer oder personeller Kriterien beschränkt werden? a) Rückkopplung an den Zweck der Maßnahme Begrüßenswert ist der vom EuGH unternommene Versuch der Rückkopplung der Speicherungspflicht an den Zweck der Maßnahme. Eine Gewichtung und Beschränkung der Eingriffstiefe der Speicherungspflicht kann nur in Bezug auf den erstrebten Zweck erfolgen. Zwar spielt für die Abwägung der Eingriffstiefe der Speicherung selbst mit bestehenden Sicherheitsinteressen auch eine entscheidende Rolle, unter welchen Voraussetzungen die gespeicherten Daten abgerufen werden können, worauf BVerfG und EuGH einen Schwerpunkt ihrer Argumentation legen. Eine hohe Zugriffsschwelle rechtfertigt die Speicherung aller verfügbaren Daten allerdings nicht. Der Zweck der Speicherung kann nur dann eine hinreichend beschränkende Wirkung entfalten, wenn er auch hinsichtlich Umfang und Tiefe der Verpflichtung zur Datenerfassung als Abwägungskriterium einfließt und so den Zusammenhang zwischen der Datenspeicherung und einer Bedrohung der öffentlichen Sicherheit herstellt.60 (322 f., 329); 110, 33 (60 f.); 113, 348 (385 ff.); 115, 320 (368 ff.); siehe bzgl. der Vorratsdatenspeicherung auch bereits Puschke/Singelnstein, NJW 2008, 113 (118). 59 EuGH, NVwZ 2017, 1025 (1030). 60 EuGH, NVwZ 2017, 1025 (1030).
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Dem Eingriffszeitpunkt nachfolgende und damit erst später konkretisierbare Verwendungen bieten nicht genügend Anhaltspunkte dafür, ob die Maßnahme auf das erforderliche Maß beschränkt sind. Differenzierungen, Einschränkungen und Ausnahmen lassen sich nur anhand konkreter Zielvorgaben bestimmen. Auch das zur Bestimmung der Eingriffstiefe sowohl vom BVerfG als auch vom EuGH herangezogene Argumentationsmuster des sog. „chilling effect“, wonach ein „Gefühl ständigen Überwachtwerdens“ dazu führen kann, dass die Bürgerinnen und Bürger auf die Wahrnehmung und Ausübung ihrer Grundrechte verzichten,61 streitet für die Beschränkung der Speicherungspflicht. Ein solcher Effekt kann zwar durch restriktive Abfragevorschriften eingedämmt werden. Insbesondere wird aber das (fremd)staatliche und private Missbrauchs- und Fehlerrisiko allein durch die Speicherung aktuell und kann auch nur auf dieser Ebene eingehegt werden.62 b) Reduktion objektiver Verhältnismäßigkeitskriterien und Diskriminierungsrisiken bei zweckentfernten Eingriffen Die aufgeführten Maßstäbe des EuGH zur Begrenzung der Speicherung erscheinen problematisch. Insbesondere die Bezugnahme auf ein geografisches Gebiet oder auf einen bestimmten Personenkreis bergen das Risiko der unverhältnismäßigen Einbeziehung Unbeteiligter sowie prognostischer Fehler und Diskriminierungen. Dies betrifft vorrangig die Streubreite der Speicherung, sofern sie im Vorfeld einer konkreten Gefahr oder eines Tatverdachtes angesiedelt ist. Der Eingriff in Grundrechte einer Vielzahl von Personen, eines Landes, eines Landstriches oder einer Stadt kann nicht mit der Annahme einer erhöhten Gefährdungslage für dieses geografische Gebiet begründet werden. Dies gilt hinsichtlich Telekommunikationsdaten aufgrund ihrer geringen Ortsbezogenheit in besonderem Maße.63 Die diskriminierende Komponente einer ortsbezogenen Speicherungspflicht wird deutlicher, je kleiner das geografische Gebiet wird. Die Anordnung einer Speicherung von Verkehrsdaten etwa bzgl. eines Straßenzuges in Berlin-Kreuzberg mag dies veranschaulichen. Gravierender sind die Bedenken jedoch gegen die Speicherung von Verkehrsdaten bestimmter Personengruppen.64 Werden konkrete Gefährdung und Tatverdacht, anders 61 BVerfGE 125, 260 (335), EuGH, NJW 2014, 2169 (2170); NVwZ 2017, 1025 (1029); siehe auch bereits BVerfGE 65, 1 (43); siehe zur Kritik an der Begründung dieser überindividuellen Grundrechtsdimension allerdings Schluckebier, BVerfGE 125, 260 (365 ff.) und Eichberger, BVerfGE 125, 260 (380 f); vgl. auch Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 3. Aufl. 2013, Art. 2 I Rn. 87; auf Plausibilitätserwägungen demgegenüber abstellend Marsch, in: Hascher/Jung/Paris/Schulze (Hrsg.), Sicherheit und Freiheit, 2018, S. 77 (82); zu sozialwissenschaftlichen Bestätigungstendenzen Penney, Berkeley Technology Law Journal 31 (2016), 117 ff. 62 Siehe zudem zur Bedeutung für die Gesamtrechnungsrechtsprechung des BVerfG (BVerfGE 125, 260 [324]) Sandhu, EuR 2017, 453 (469); mit Bezug auf die Fluggastdatenspeicherung Arzt, Die Öffentliche Verwaltung 2017, 1023 (1027). 63 In diese Richtung argumentierend auch Sandhu, EuR 2017, 453 (463). 64 So auch Sandhu, EuR 2017, 453 (463).
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als bei einem Quick-Freeze-Verfahren65, nicht als Anknüpfungspunkte für den Eingriff vorausgesetzt, stehen lediglich abstrakte Gefährlichkeitsprognosen als Beurteilungsgrundlage zur Verfügung. Während sich diese bei polizeilichen Individualmaßnahmen gegenüber sog. Gefährdern immerhin auf Verhaltensweisen einzelner Personen stützen könnten, geht der individuelle Verantwortungsbezug hinsichtlich der großflächig angelegten Vorratsdatenspeicherung vollends verloren, was diskriminierenden Auswahlmechanismen mit Bezug auf zugeschriebene Persönlichkeitsmerkmale Tür und Tor öffnet.66 Ein grundlegendes Problem betrifft auch die vom EuGH eingeforderten objektiven Anknüpfungspunkte für den Gefährdungszusammenhang. Wird hierbei auf polizeiliche und nachrichtendienstliche Erkenntnisse zurückgegriffen, so stellt sich die Frage, inwieweit diese einer objektiven Bewertung und ggf. gerichtlichen Überprüfung zugänglich sind. Zukunftsbezogenheit und Prognoseabhängigkeit bedingen den Rückgriff auf vagere Entscheidungsgrundlagen und auf subjektive Entscheidungskriterien. Subjektiv einerseits, weil hinsichtlich personenbezogener Prognosen Motive und Persönlichkeitsmerkmale von als gefährlich beurteilten Personen als relevante Maßstäbe für Eingriffsentscheidungen herangezogen werden.67 Subjektiv andererseits, weil die Beurteilung dieser nur schwer zu ermittelnden inneren Seite vornehmlich auf polizeilichem und nachrichtendienstlichem Erfahrungswissen basiert und so einem Objektivitätsmangel unterliegt. Angesichts des subjektiven und für Interpretationen offenen Entscheidungsgegenstandes vermögen auch Richtervorbehalte kaum Objektivierung zu erzielen. Die gerichtliche Entscheidung erfolgt weitgehend auf Grundlage der von den Exekutivorganen vorgelegten und vorinterpretierten Ermittlungsergebnisse. Entsprechend sind abweichende Beurteilungen überaus selten.68 Eine aus rechtsstaatlicher Sicht erforderliche inhaltliche Überprüfung findet nur bedingt statt. Der Rückgriff auf technikbasierte Ermittlungs- und Auswertungsmechanismen vermag diese Defizite ebenfalls nicht zu reduzieren. So kann etwa der algorithmenbasierte Ansatz des Predictive Policing69 nur auf statistische Wahrscheinlichkeiten zurückgreifen, verhaltensbezogene Individualprognosen70 dagegen 65 Siehe hierzu BMJ, Diskussionsentwurf für ein Gesetz zur Sicherung vorhandener Verkehrsdaten und Gewährleistung von Bestandsdatenauskünften im Internet, 2011. 66 Siehe etwa den Verweis auf die Überwachung für „Araber bzw. Nordafrikaner“ bei Frenz, DVBl. 2017, 183 (185); von einer nichtdiskriminierenden Ausgestaltungsmöglichkeit ausgehend Ziebarth, ZUM 2017, 398 (403); skeptisch demgegenüber Priebe, EuZW 2017, 136 (139). 67 Skeptisch bzgl. solcher Kriterien auch Brodowski/Jahn/Schmitt-Leonardy, GZS 2018, 7 (10); siehe hierzu auch Puschke (Fn. 13), S. 24. 68 Siehe für die Telekommunikationsüberwachung H.-J. Albrecht/Dorsch/Krüpe, Rechtswirklichkeit und Effizienz der Überwachung der Telekommunikation nach den §§ 100a, 100b StPO und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen, S. 231 f.; Backes/Gusy, Wer kontrolliert die Telefonüberwachung, 2003, S. 47. 69 Siehe hierzu eingehend und zu Folgendem Singelnstein, NStZ 2018, 1 ff. 70 Siehe zu grundlegenden Bedenken hinsichtlich statistischer Prognoseverfahren Eisenberg/Kölbel (Fn. 13), § 21 Rn. 21 ff.
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nicht ersetzen.71 Zudem folgen die Algorithmen den ihrer Programmierung zugrunde gelegten Annahmen, die sich wiederum vornehmlich aus Erfahrungswissen der Exekutivbehörden speisen. c) Unzulässigkeit der Vorratsdatenspeicherung Dies zeigt, dass die Speicherung sensibler Daten ausschließlich für zukünftige, noch nicht konkretisierte Zwecke unzulässig ist. Der Versuch des EuGH, den breitgestreuten und tiefgreifenden Grundrechtseingriff durch den Rückgriff auf allgemeine Gefährdungszusammenhänge und Wahrscheinlichkeitsprognosen zu begrenzen, muss angesichts des Diskriminierungsrisikos eines solchen Vorgehens und der weiter bestehenden großflächigen Einbeziehung Unbeteiligter als ungeeignet angesehen werden. Der Eingriff bleibt in einer Weise zweckentfernt, die Beschränkungen von Eingriffstiefe und -umfang auf rechtsstaatlicher Grundlage verunmöglicht.
IV. Stärkung einer zweckbezogenen Sicherheitsarchitektur der harmonisierten Unterschiede Eine anlasslose Speicherung von sensiblen Daten für prospektive Zwecke der Strafverfolgung und Gefahrenabwehr ist daher mit rechtsstaatlichen Standards nicht vereinbar. Abschließend soll die Frage aufgeworfen werden, was dies für die Beurteilung einer Sicherheitsarchitektur zur Folge hat. 1. Der Zweck der Maßnahmen als Leitkriterium der Abgrenzung der Eingriffsregime Die begrenzende Wirkung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes steht in engem Zusammenhang mit der Konkretisierung des Ziels der Maßnahmen und des hinter ihnen stehenden Regelungszusammenhangs. Eine zwecklose Maßnahme darf es ebenso wenig geben wie eine tief eingreifende Maßnahme, deren Zweck und Tauglichkeit erst im Nachhinein bestimmbar sind. Der Zweck der Maßnahmen stellt daher das übergreifende Leitkriterium dar, an dem die Zulässigkeit von Eingriffen und die Eingriffsanforderungen zu messen sind. Eine vollständige Verschmelzung repressiver und präventiver Eingriffsregime in einer übergreifenden Sicherheitsarchitektur mit der Verantwortlichkeit einer Behörde ist daher ausgeschlossen.72 Damit ergibt sich auch aus der Zweckbindung Unverrückbares,73 das nicht umgangen werden darf. 71
Zur empirischen Untersuchung des Einsatzes von Prognosetechniken Ostermeier, in: Puschke/Singelnstein (Fn. 6), S. 101 ff. 72 Offener Löffelmann, GSZ 2018, 85 (89). 73 Darüber hinaus ist insbesondere der Kernbereich privater Lebensgestaltung für alle Eingriffsregime zu beachten, wenngleich sich in seiner konkreten Ausgestaltung bereichs-
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Unterschiedliche Eingriffsschwellen für die Strafverfolgung, die polizeirechtliche Gefahrenabwehr und den Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel markieren die Grenzen der Vereinheitlichung der Eingriffsregime. Werden sie in einer generalisierten Weise aufgehoben, würden die austarierten Verhältnismäßigkeitsbeziehungen von Ziel und Eingriffsintensität der Maßnahmen sowie Schutzmechanismen unterlaufen.74 Das strafverfolgungsrechtliche Arsenal darf somit nicht zu Vorfeldermittlungen eingesetzt werden, die zunächst nur die Frage klären sollen, ob ein Tatverdacht besteht.75 Das Ziel der Strafverfolgung, die Aufklärung von Straftaten, erfährt erst mit dem Tatverdacht das nötige Gewicht und den nötigen Konkretisierungsgrad, um eingriffsintensive Ermittlungsmaßnahmen zu rechtfertigen. Hiermit geht einher, dass das Strafrecht und Maßnahmen zur Strafverfolgung nicht an reinen Gefährdungsprognosen ausgerichtet sein dürfen, sondern auf konkrete (vorwerfbare) Verhaltensweisen zu beziehen sind. Grundsätzlich in gleicher Weise ist das Polizeirecht an den Topos der konkreten Gefahr gebunden. Umfassende Eingriffsbefugnisse im Vorfeld einer solchen Gefahr lassen die Grenzen zur nachrichtendienstlichen Tätigkeit verschwimmen und würden das Verbot eines Zusammenfallens von polizeilichen Befugnissen und nachrichtendienstlicher Tätigkeit (§ 8 Abs. 3 BVerfSchG) umgehen. Werden darüber hinaus auch vorgelagerte Eingriffsschwellen für polizeiliche Tätigkeit anerkannt,76 so sind diese nur im Ausnahmefall bei Gefährdung besonders bedeutsamer Rechtsgüter legitimierbar.77 Außerdem erfordern die Ausnahmen von der konkreten Gefahr als Eingriffsschwelle stets eine Rückkopplung an bestimmte Verhaltensweisen78 und nicht lediglich an (subjektive) Gefährdungs- und Gefährdereinschätzungen.79 Ermittlungen „ins Blaue hinein“ darf es nicht geben.80 Zudem müssen die Überwachungsmaßnahmen auf identifizierbare Personen beschränkt werden können, um die Einbeziehung Unbeteiligter weitestgehend zu vermeiden.81 Nur so können die für die Vorratsdatenspeicherung aufgezeigten legitimatorischen Defizite der Zweckentfernung reduziert werden. Demgegenüber ermöglicht § 58a Abs. 1 AufenthG, auch in seiner spezifische Unterschiede ergeben können, siehe Puschke/Singelnstein, NJW 2005, 3534 (3537); Puschke (Fn. 13), S. 281 ff.; siehe bzgl. abwägungsfester Grundrechtsgarantien auch Brodowski/Jahn/Schmitt-Leonardy, GZS 2018, 7 (11). 74 Siehe auch Löffelmann, GSZ 2018, 85 (90); zum Tatverdacht als unverzichtbares Element des Rechtsstaatsprinzips Mansdörfer, GSZ 2018, 45 (50). 75 Vgl. nur Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 60. Aufl. 2017, § 152 Rn. 4b. 76 Vgl. BVerfG, NJW 2016, 1781 (1785). 77 Zur Notwendigkeit der Kompensation für abgesenkte Eingriffsschwellen Schoch, Der Staat 2004, 347 (367). 78 Vgl. BVerfG, NJW 2016, 1781 (1785, 1791); fragwürdig für das Rechtsinstitut der „drohenden Gefahr“ etwa gem. § 49 Abs. 1 S. 2 BKAG. 79 Über die unzulässige TK-Vorratsdatenspeicherung demgegenüber noch hinausgehend die Befugnisse nach dem FlugDaG vgl. Arzt, Die Öffentliche Verwaltung 2017, 1023 (1025, 1028). 80 BVerfGE 112, 284 (297); 115, 320 (361). 81 BVerfG, NJW 2016, 1781 (1785).
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Ausgestaltung durch die Judikatur,82 eine nicht ausreichende individualisierend-psychologisierende Beurteilung.83 Entsprechendes gilt für Art. 11 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 BayPAG, wenn der Begriff der Vorbereitungshandlung, anders als regelmäßig in entsprechenden Straftatbeständen, nicht näher konkretisiert wird.84 Für polizeiliche Maßnahmen im Vorfeld einer konkreten Gefahr sind zudem die einsetzbaren Mittel auf solche zu begrenzen, die darauf ausgelegt sind, informatorische Grundlagen für die Feststellung einer konkreten Gefahr zu schaffen. Dem Strafrecht zuzuordnende Maßnahmen,85 die ihre Legitimation aus vorwerfbarem Unrecht beziehen, wie die langandauernde Freiheitsentziehung, sind als polizeirechtliche Maßnahme gegenüber freiverantwortlich handelnden Personen hingegen unabhängig vom Gefahrengrad nicht legitimierbar.86 Die strafrechtliche Legitimation der Freiheitsentziehung ergibt sich aus der Verantwortlichkeit für begangenes Unrecht. Nur hierauf und auf die in diesem Zusammenhang stehende präventive Ausrichtung der Strafe kann Freiheitsentziehung gegründet werden.87 Gefährdungen auf der Grundlage prognostizierter Unrechtsbegehung können nur mittels Kurzzeitinterventionen i.S.e. unmittelbaren Gefahrenabwehr angegangen werden. Aus dem gleichen Grund stellt sich die antizipierte Repression88 durch die Ausgestaltung bestimmter Vorbereitungstatbestände89 als Missbrauch des Strafrechts und insbesondere der Freiheitsstrafe dar. Die Auslagerung strafrechtsfremder Elemente in ein allgemeines Sicherheits-
82 Die Bedrohungssituation muss „unmittelbar vom Ausländer ausgehen“, „Eine Abschiebungsanordnung ist daher schon dann möglich, wenn (…) sich eine terroristische Gefahr (…) in der Person des Ausländers jederzeit aktualisieren kann“, „Dieses beachtliche Eintrittsrisiko kann sich auch aus Umständen ergeben, denen (noch) keine strafrechtliche Relevanz zukommt, etwa wenn ein Ausländer fest entschlossen ist, in Deutschland einen mit niedrigem Vorbereitungsaufwand möglichen schweren Anschlag zu verüben, auch wenn er noch nicht mit konkreten Vorbereitungs- oder Ausführungshandlungen begonnen hat (…)“ BVerwG, NVwZ 2017, 1057 (1060); Überzeugung als „Baustein eines besonderen Gefährdungspotenzials“, BVerfG, NVwZ 2017, 1526 (1529). 83 Brodowski/Jahn/Schmitt-Leonardy, GZS 2017, 7 (9). 84 Siehe auch Löffelmann, GSZ 2018, 85 (87). 85 Kompetenzrechtlich für die Strafverfolgungsvorsorge durch Maßnahmen der Telekommunikationsüberwachung BVerfGE 113, 348. 86 Siehe aber Art. 17 ff. BayPAG. Dies gilt nach hier vertretener Auffassung auch, wenn strafrechtliche Schutzmechanismen, wie die Pflichtverteidigung bei Untersuchungshaft (§ 140 StPO), als funktionales Äquivalent ins Polizeirecht eingeführt würden; anders Brodowski/ Jahn/Schmitt-Leonardy, GZS 2018, 7 (8). 87 Insofern ergeben sich bereits Legitimationsprobleme hinsichtlich der Untersuchungshaft und der Sicherungsverwahrung (siehe für die Sicherungsverwahrung Sch/Sch/Stree/Kinzig, 29. Aufl. 2014, § 66 Rn. 2 ff.; für die Untersuchungshaft insbesondere mit Blick auf die Notwendigkeit der Haftgründe BVerfG, NJW 1966, 243 ff.), die allerdings mittelbar mit einer strafrechtlich relevanten Anlasstat verknüpft sind. 88 Hierzu Brodowski/Jahn/Schmitt-Leonardy, GZS 2018, 7 (11). 89 Siehe bzgl. § 89a Abs. 2 StGB Puschke, KriPoZ 2018, 101.
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recht bzw. ins Polizeirecht90 führt daher nicht nur zu rechtsstaatlichen Defiziten außerhalb des Strafrechts, sondern hat auch die verfehlten Entwicklungen im Strafrecht keinesfalls gebremst. Das BayPAG, als neuestes Polzeigesetz mit weitreichenden Eingriffsbefugnissen, wird diesen Voraussetzungen bzgl. vieler Regelungen nicht gerecht.91 Die ihm zugeschriebene Vorreiterrolle für Polizeigesetze anderer Bundesländer und letztlich auch für eine neuartige Sicherheitsarchitektur92 scheitert wie bei der Vorratsdatenspeicherung an der Grundrechtswidrigkeit der Regelungen. 2. Angleichung der Eingriffsstandards anhand materieller Kriterien Auch unter Beachtung des Zweckbindungsgrundsatzes ergeben sich Überschneidungen der sicherheitsbezogenen Eingriffsregime. Das Anliegen einer Harmonisierung auch mit Blick auf eine Effektivierung sicherheitsbehördlichen Vorgehens kann in diesem Bereich nicht von vornherein zurückgewiesen werden.93 Allerdings sind für eine Angleichung der Eingriffsvoraussetzungen materielle und hieraus folgende formelle Kriterien für den jeweiligen Regelungszusammenhang und die notwendigen Schutzstandards zu beachten. Dabei sind die Kriterien i.S.d. Bestimmtheitsgebotes normenklar und handlungsbegrenzend zu formulieren, um durch Vorhersehbarkeit und Kontrollierbarkeit Fehlprognosen auf ein verfassungsrechtlich vertretbares Maß zu reduzieren.94 Die Anforderungen an das Gesetz sind nach einer proportionalen Gleichung auszurichten: Je weiter im Vorfeld die Maßnahmen ansetzen, desto konkreter müssen die gesetzlichen Vorgaben sein, da die begrenzende Wirkung durch konkrete Anhaltspunkte für eine Straftatbegehung fehlt.95 Die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit einer Rechtsgutsgefährdung bzw. einer Erlangung von Erkenntnissen zur Strafverfolgung, an die Bedeutung des Rechtsgutes, an die Stärke seiner Beeinträchtigung, an die Begrenzung betroffener unbeteiligter Personen und an die Fundierung der einer Prognose bzw. eines Tatverdachtes zugrunde gelegten Tatsachen sowie an die gesetzlich festgelegten Schutzmechanismen, insbesondere mit Bezug zur Privatheit, steigen mit der Eingriffsintensität der Maßnahmen.96
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Siehe zu dieser Forderung etwa aus der „Frankfurter Schule“ Hassemer, Produktverantwortung im modernen Strafrecht, 1994, S. 22 ff.; ders., StV 1995, 483 (490); kritisch hierzu Hefendehl, ZStW 119 (2007), 816 (833 ff.). 91 Vgl. eingehend Löffelmann, GSZ 2018, 85 (86 ff.). 92 Löffelmann, GSZ 2018, 85 (86). 93 Löffelmann, GSZ 2018, 85 (90). 94 BVerfGE 110, 33 (56). 95 Rückgriffe auf Konstruktionen wie Organisierte Kriminalität, Terrorismus oder Gefährder reichen nicht aus, vgl. Puschke/Singelnstein, NJW 2005, 3534 (3535); siehe auch Arzt, Die Öffentliche Verwaltung 2017, 1023 (1024). 96 BVerfGE 110, 33 (52 ff.); BVerfG, NJW 2016, 1781 (1784); Puschke/Singelnstein, NJW 2005, 3534 (3537).
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Für die Eingriffsvoraussetzungen der Maßnahmen innerhalb der einzelnen Regelungsregime bedeutet dies, dass sie an den materiellen Vorgaben auszurichten und insoweit zu harmonisieren sind. So muss beispielsweise einer strafprozessualen Wohnraumüberwachung gem. § 100c StPO oder nunmehr auch einer Online-Durchsuchung gem. § 100b StPO ein Tatverdacht hinsichtlich einer besonders schweren Straftat zugrunde liegen.97 Inwieweit hiermit der Straftatenkatalog in § 100b Abs. 2 StPO vollständig vereinbar ist, bleibt zweifelhaft.98 Für eine polizeirechtliche Wohnraumüberwachung ergeben sich entsprechende Beschränkungen mit Blick auf Gefahren für besonders gewichtige Rechtsgüter.99 Dass dringende Gefahren für „Sachen, deren Erhalt im besonderen öffentlichen Interesse liegt“ (Art. 11 Abs. 3 S. 2 Nr. 5, 41 Abs. 1 S. 1 BayPAG) den Anforderungen, die sich aus der Rechtsprechung des BVerfG ergeben,100 insbesondere mit Blick auf die hinreichende Bestimmtheit, genügen, darf bezweifelt werden. Entsprechende Harmonisierungsnotwendigkeiten betreffen auch die Richtervorbehalte, die schon zur Vermeidung eines Forum-Shopping institutionell, aber auch hinsichtlich der Anordnungsdauer vergleichbarer Maßnahmen zu vereinheitlichen sind.101 Mit Blick auf die Nutzung verdeckt erlangter Daten im Gefahrenabwehrrecht, das den Betroffenen regelmäßig kein institutionalisiertes Forum zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Maßnahme zur Verfügung stellt,102 kommen Richtervorbehalten und Benachrichtigungspflichten noch einmal gesteigerte Bedeutung zu. Transparenzvorgaben über die Benachrichtigungspflichten hinaus sind auch für polizeirechtliche und nachrichtendienstliche Tätigkeit unverzichtbar. Die zweckübergreifende Datenübermittlung ist ebenfalls an den materiellen Kriterien, vor allem des Gewichts des beeinträchtigten Rechtsgutes, zu messen und nur ausnahmsweise zulässig103. Die Beschränkungsversuche mit Blick auf den hypothetischen Ersatzeingriff (§§ 161 Abs. 2 S. 1, 477 Abs. 2 S. 2 StPO) bzw. der hypothetischen Datenneuerhebung104 erscheinen allenfalls dann tauglich, wenn sie auch das Verbot der Nutzung als Spurenansatz beinhalten. Zudem muss die Sensibilität der Daten als Maßstab für den Datenaustausch herangezogen und gesetzlich fixiert werden.105 Die Nichteinhaltung der Voraussetzungen der einschlägigen Befugnis ebenso 97
BVerfGE 109, 279 (343 ff.). Singelnstein/Derin, NJW 2017, 2646 (2647). 99 BVerfG, NJW 2016, 1781 (1784). 100 BVerfGE 109, 279 (379). 101 So auch Roggan, GSZ 2018, 52 (55). 102 Zu beachten ist jedoch, dass auch die Hauptverhandlung im Strafverfahren als Forum zur Kenntniserlangung und Überprüfung eher die Ausnahme darstellt und zudem die Erkenntnisse aus verdeckten Ermittlungsmaßnahmen hierin nicht zwingend Eingang finden. 103 BVerfG, NJW 2013, 1499 (1505). 104 BVerfG, NJW 2013, 1499 (1503); NJW 2016, 1781. 105 Siehe eingehend hierzu auch Hefendehl, GA 2011, 209 (218 f., 227 ff.); vgl. auch Singelnstein, ZStW 120 (2008), 854 (862). 98
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wie ihre missbräuchliche Heranziehung i.S.e. Befugnis-Shopping müssen Verwendungsverbote nach sich ziehen.106 3. Wissenschaftliche Überprüfung der Maßstäbe Die Beurteilung von Grundrechtseingriffen im Allgemeinen und verknüpften Maßnahmen eines Sicherheitsrechts im Besonderen erfordert den Rückgriff auf wissenschaftliche Erkenntnisse, die über rechtliche Fragestellungen hinausgehen.107 Die Bewertung der Eingriffstiefe und Erfolgsgeeignetheit der Maßnahmen kann nicht ohne technisches, sozialwissenschaftliches und kriminologisches Erfahrungswissen auskommen. Dabei zeigen bereits die anwendungsorientierten Erkenntnisse zu einzelnen Ermittlungsmaßnahmen und Kontrollmechanismen die Grenzen des Erreichbaren im Verhältnis zu Grundrechtsbelastungen auf. Vorratsdatenspeicherung, Wohnraum- und Telekommunikationsüberwachung weisen entgegen den Bekundungen der Ermittlungsbehörden108 nur begrenzte Aufklärungspotenziale auf.109 Jedoch darf eine wissenschaftliche Fundierung des Sicherheitsrechts nicht bei Erkenntnissen zu Effektivität und Effizienz von Maßnahmen110 stehen bleiben. Vielmehr sind sozialwissenschaftliche und kriminologische Zusammenhänge von Herrschaftsstrukturen, Diskriminierung und Labeling einzubeziehen. Dadurch wird erkennbar, dass der Rückgriff auf Konstrukte wie Gefährdung und „Gefährder“ auch von Belangen, die außerhalb der Aufgabe eines Sicherheitsrechts liegen, geprägt ist111 und zudem ein kaum vertretbares Fehler- und Missbrauchspotenzial auf-
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I. E. anders BGH, NStZ 2017, 651 (655); siehe hierzu eingehend Roggan, GSZ 2018, 52; zu Disziplinierung der Strafverfolgunsorgane durch Beweisverwertungsverbote Conen, in: FS Eisenberg (Fn. 20), S. 459 ff. 107 In der Sache so auch Gärditz, GSZ 2017, 1 (2 f.); Löffelmann, GSZ 2018, 85 (90); Schoch, Der Staat, 2004, 347 (365, 368); Sieber (Fn. 3), S. 351 (370 f.). 108 Siehe zuletzt den Versuch des BKA, die Bedeutung der Vorratsdatenspeicherung durch pauschale Behauptungen zu belegen, deren Zahlengrundlage zudem erst bei einer Klarstellung näher erläutert wurde, Pressemitteilung BKA vom 7. 7. 2018, Zahlen und Fakten zur Bekämpfung der Kinderpornografie – Klarstellung durch das Bundeskriminalamt. Hierin zeigt sich erneut das Risiko zweckentfernter Eingriffsmaßnahmen, in die jedes Ermittlungspotenzial hineininterpretiert werden kann. Siehe demgegenüber die Zahlen des MPI, Schutzlücken durch Wegfall der Vorratsdatenspeicherung?, 2011. 109 Vgl. etwa Backes/Gusy (Fn. 68), S. 63 ff.; Meyer-Wiek, Rechtswirklichkeit und Effizienz der akustischen Wohnraumüberwachung („großer Lauschangriff“) nach § 100c I Nr. 3 StPO, 2004, S. 301; vgl. auch Löffelmann, GSZ 2018, 85 (89) zur Seltenheit der Wohnraumüberwachung durch die bayerischen Polizei; MPI (Fn. 108); zusammenfassend Eisenberg/ Kölbel (Fn. 13), § 29 Rn. 43 ff. 110 Allerdings bleiben bereits diese von Seiten der Sicherheitspolitik weitgehend unberücksichtigt. 111 Vgl. etwa Cremer-Schäfer, KrimJ 2015, 22 ff.; dies., KrimJ 2018, 8 (14); Legnaro, KrimJ 2018, 123 ff.; Peters, KrimJ 2015, 192 (197, 199).
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weist112. Sie zur Grundlage für ein eingriffsintensives Sicherheitsrecht zu machen, ist daher verfehlt.
V. Schluss Ulrich Eisenberg versteht es wie kein anderer, das große Ganze in den Blick zu nehmen und rechtliche und kriminologische Fragestellungen miteinander zu verbinden. Dieser Beitrag soll in diesem Sinne als ein kritischer Aufschlag zu virulenter werdenden Problemen der Sicherheitsgesetzgebung verstanden werden. Dabei wurde vor allem dargestellt, welche Folgen eine Entfernung sicherheitsrechtlicher Eingriffsbefugnisse von einem konkretisierten Zweck haben und wie sich diese Folgen abmildern lassen. Dass dies keinesfalls eine abschließende Betrachtung ist, versteht sich von selbst. Auch in der Zukunft werden wir mit gesetzgeberischen Ärgernissen und gerichtlichen Fehlentscheidungen leben müssen. Deren kritische Aufbereitung muss für die Sache jedoch stets weitergehen.
112 Zum Racial Profiling Belina/Keitzel, KrimJ 2018, 18 ff.; zum Predictive Policing Legnaro/Kretschmann, KrimJ 2015, 94 ff.; Singelnstein, NStZ 2018, 1 ff.; zu gefährlichen Orten Stolle/Hefendehl, KrimJ 2002, 257 ff.
Pflichten und Freiheiten des Gesetzgebers Von Klaus Rolinski Der Jubilar wird mir meine Penetranz nicht übel nehmen, wieder einen Beitrag aus dem Bereich der professionellen Gesetzgebung zu schreiben. Er soll Ausdruck meiner Verbundenheit mit ihm sein und ein Zeichen der Anerkennung seines unglaublich großen Werkes, das er auch nach seiner Emeritierung kraftvoll weitergeführt hat. Und schließlich: Unsere offenen und komplexen Gesellschaften wie die der Bundesrepublik Deutschland, zumal global vernetzt, bedürfen zukunftsorientierter und die Sozialstruktur optimal gestaltender Gesetzgebung. Mein Interesse heute gilt dem Gesetzgeber eines demokratischen Staates, genauer, dem der Bundesrepublik. Und die Frage, die ich stelle, lautet: Gibt es Bereiche, in denen er „zeitnah“ oder sogar „sofort“ vorausschauend Regelungen treffen muss oder ist er völlig frei? Gesetzgeber ist nach der Verfassung der Bundestag. Ich richte also Fragen an einen Gesetzgeber, den es de facto gar nicht mehr gibt. Denn der Bundestag besteht nicht mehr aus Frauen und Männern, die sich als „Vertreter des ganzen Volkes“ fühlen (Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG), sondern aus Funktionären einer konkreten Partei, ganz gleich welcher. Durch die über den Fraktionszwang erreichte Gleichschaltung haben sie ihre „Ungebundenheit an Aufträge und Weisungen“ und damit ihre Entscheidungsfreiheit aufgegeben. Die Fragen aber bleiben dennoch zu beantworten, obwohl die regierenden Parteien die Verfassung ausgehebelt und sich zum Gesetzgeber gemacht haben. Die Bundeskanzlerin Angela Merkel hat im Koalitionsvertrag eindeutig festschreiben lassen: „Im Bundestag und in allen von ihm beschickten Gremien stimmen die Koalitionsfraktionen einheitlich ab. Das gilt auch für Fragen, die nicht Gegenstand der vereinbarten Politik sind. Wechselnde Mehrheiten sind ausgeschlossen.“1 Nur im Ausnahmefall, wenn die Bundeskanzlerin die Abstimmung zur Gewissensfrage erklärt, wie bei der Abstimmung über die Ehe für alle, dürfen sich die Abgeordneten verfassungsgemäß verhalten. Die Frage ist facettenreich und komplex; sie erfordert eigentlich eine Bearbeitung in Buchform. Ich möchte daher nur zwei Aspekte hervorheben, an diesen aber hoffentlich zeigen, wie wichtig professionelle Gesetzgebung ist, um von tagespoliti1 Ergebnisse der Sondierungsgespräche von CDU, CSU und SPD, Finale Fassung vom 12. Januar 2018, S. 28, https://www.cdu.de/system/tdf/media/dokumente/ergebnis_sondierung_ cdu_csu_spd_120118_2.pdf?file=1&type=field_collection_item&id=12434, zuletzt abgerufen am 21. Juni 2018.
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schen und Partei geleiteten Entscheidungen zu gemeinschafts- und zukunftsorientierter Gesetzgebung zu kommen. Der erste Aspekt betrifft den Schutz konkreter Rechtsgüter und der zweite die Gestaltung der gegenwärtigen Sozialstruktur, also die Lebensbedingungen einer Gesellschaft. Drängendere Probleme, wie der Ersatz des auslaufenden (neo-)liberal-kapitalistischen Wirtschaftssystems – die Ressourcen für das notwendige Wachstum sind erschöpft – und die Erhaltung unserer partiell schon zerstörten Lebensgrundlage „blauer Planet“ (Art. 20a GG) können in diesem Rahmen nicht angesprochen werden. Die Pflichten und Freiheiten des Gesetzgebers lassen sich durch die vorgegebenen rechtlichen Rahmen hinreichend konkretisieren. Zum einen bestehen ganz allgemeine Pflichten, die Regeln des Völkerrechts einzuhalten und die vertraglichen Vorgaben der Europäischen Union zu erfüllen. Zum anderen ergeben sich die weiteren Freiheiten und Pflichten des nationalen Gesetzgebers, des Bundestages, aus der Verfassung: Art. 1 Abs. 2 GG fordert die Beachtung der Menschenrechte; Art. 1 Abs. 3 und Art. 20 Abs. 3 GG binden den Gesetzgeber an die „Grundrechte […] als unmittelbar geltendes Recht“ und an die „verfassungsmäßige Ordnung“; darüber hinaus schwören der Bundeskanzler und die Minister bei Amtsantritt den Eid des Bundespräsidenten – ihre „Kraft zum Wohle des deutschen Volkes [zu] widmen, seinen Nutzen [zu] mehren, Schaden von ihm [zu] wenden […]“ (Art. 56 S. 1 GG) – eine freiwillig übernommene Pflicht zugunsten der Gemeinschaft. Konkreter kann eine Verfassung die Fälle, in denen der Gesetzgeber zur zeitnahen oder sofortigen Regelung verpflichtet ist, nicht festlegen. Die rechtlichen Rahmen reichen aber aus, um diese Frage im Einzelfall entscheiden zu können. Gesetzgebung unterliegt nicht dem parteipolitischen Kalkül.
I. Der Schutz konkreter Rechtsgüter Nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG „hat jeder das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“. Diese Rechtsgüter werden durch zahlreiche Gesetze und Paragraphen geschützt. So hat der Gesetzgeber auch den Verkehr und die Verwendung von Arzneimitteln, einschließlich Antibiotika, zur Behandlung von Krankheiten bei Menschen und insbesondere bei solchen Tieren, „die der Gewinnung von Lebensmitteln dienen“, detailliert geregelt.2 2 Arzneimittelgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 12. Dezember 2005 (BGBl. I S. 3394), das zuletzt durch Art. 1 des Gesetzes vom 18. Juli 2017 (BGBl. I S. 2757) geändert worden ist. Verordnung über tierärztliche Hausapotheken (TÄHAV) in der Fassung vom 10. August 2001 (BGBl. I Nr. 42, S. 2132); Bekanntmachung der Neufassung am 8. Juli 2009 (BGBl. I Nr. 39, S. 1760), geändert am 21. Februar 2018 (BGBl. I Nr. 7, S. 213).
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Eine Trennung zwischen Arzneimitteln für Menschen und solchen für Tiere ist gesetzlich vorgesehen. Es werden aber die gleichen Wirkstoffe sowohl bei Menschen wie bei Tieren eingesetzt.3 Diese Regelung erlaubt den Einsatz von Antibiotika auch bei Tieren. Der Gesetzgeber hat im Fall des Einsatzes von Antibiotika zur Bekämpfung von bakteriellen Infektionen zwei Schritte professioneller Gesetzgebung beachtet: Faktenanalyse und Ziel der Regelung. Er hat 2008 die europäischen Vorgaben zur Bekämpfung der Antibiotika-Resistenzen in nationales Recht umgesetzt, ein umfangreiches Maßnahmenpaket in der „Deutschen Antibiotika-Resistenzstrategie (DART)“ geschaffen und die Auswertung aller verfügbaren Daten dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) übertragen. Dadurch werden praktisch alle erreichbaren wissenschaftlichen Daten, also die des Paul-Ehrlich-Instituts, des Robert-Koch-Instituts, der nationalen Surveillance-Systeme der EU-Mitgliedstaaten u. a. berücksichtigt. Zutreffend geht der Gesetzgeber daher von einer stetigen Zunahme von multiresistenten Keimen aus. Sie entstehen in der Behandlung mit Antibiotika von Infektionskrankheiten bei Menschen und bei Tieren, insbesondere in der Tierzucht. Zwar ist die in der Tierzucht eingesetzte Menge an Antibiotika in Deutschland in den letzten Jahren zurückgegangen, nämlich von 2011 bis 2016 um 964 t auf 742 t, d. h. um 56,5 %.4 „Allerdings wurden von den von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der Weltorganisation der Tiergesundheit (OIE) als Wirkstoffe mit besonderer Bedeutung für die Therapie beim Menschen eingestuften Antibiotikaklassen […] im Vergleich zum Jahr 2013 weiterhin gleichbleibende Mengen abgegeben: ca. 12 t Fluorchinolone und ca. 4 t Cephalosporine der dritten und vierten Generation. Die Abgabe von Fluorchinolonen hat sogar weiter zugenommen und zeigt gegenüber dem ersten Erfassungsjahr eine Steigerung von ca. 50 %“.5 Darüber hinaus werden von Bauern und Agrarfabrikanten sechsmal so viel Antibiotika eingesetzt wie von Humanmedizinern.6 Dieser Einsatz ist deshalb so bedeutsam, weil die Antibiotikaresistenzen durch die häufige und oft unsachgemäße An3
Arzneimittelgesetz (Fn. 2), § 56a, Verschreibung, Abgabe und Anwendung von Arzneimittel durch Tierärzte. 4 Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit, Tabelle zum Vergleich der Abgabemengen der Wirkstoffklassen 2011 – 2016 vom 13. September 2017, https://www.bvl. bund.de/SharedDocs/Bilder/09_Presse/Download_Bilddateien_Presse_Hintergrundinformatio nen/20170911_Tabelle_Antibiotika_Abgabemenge2016_Print.pdf?__blob=publicationFi le&v=6, zuletzt abgerufen am 21. Juni 2018. 5 Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte/Paul-Ehrlich-Institut, Bulletin zur Arzneimittelsicherheit, September 2015, S. 16, https://www.bfarm.de/SharedDocs/Downloads/ DE/Arzneimittel/Pharmakovigilanz/Bulletin/2015/3-2015.pdf?__blob=publicationFile&v=6, zuletzt abgerufen am 21. Juni 2018. 6 Fuchs, Antibiotika in der Landwirtschaft: Vollgepumpte Schweine sollen die Wahl nicht beeinflussen, https://www.zeit.de/2017/35/antibiotika-landwirtschaft-tierzucht-bundestagswahl -amt-verbraucherschutz, zuletzt abgerufen am 21. Juni 2018.
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wendung von Antibiotika zunehmen. Je mehr Antibiotika zum Einsatz kommen, desto zahlreicher werden die Antibiotikaresistenzen. Sie sind die Ursache für den Tod von jährlich bis zu 30.000 (2017) Patienten, weil die bei ihrer Behandlung eingesetzten Antibiotika nicht mehr wirken. Im Klartext heißt das, dass die bei der Behandlung von Tieren mit Antibiotika entstehenden multiresistenten Keime auch Menschen töten. Die Zielsetzung hat der Gesetzgeber sogar durch seinen Gesundheitsminister Hermann Gröhe auf dem G7-Gipfel am 7. und 8. Juni 2015 auf Schloss Elmau verkünden lassen, allerdings in sehr allgemeiner Form: Er betonte „die Bedeutung der Bekämpfung von Antibiotikaresistenzen und kündigte entsprechende Maßnahmen an“.7 Beim dritten Schritt professioneller Gesetzgebung, der Auswahl der Mittel, wie das Ziel der Reduzierung von Antibiotikaresistenzen und der Rettung von bedrohten Menschenleben erreicht werden kann, rekurriert der Gesetzgeber überwiegend auf Absichtserklärungen und Anstößen für Forschungen, z. B. in seinem Programm „One Health“ vom 29. Januar 2016.8 Die Ausweitung und Vernetzung der Forschung ist sicher notwendig und richtig. Die Gleichsetzung der Rechtsgüter Gesundheit/Leben von Tieren und Gesundheit/ Leben von Menschen entspricht aber nicht dem Wertesystem unseres Grundgesetzes. Der Vergleich zwischen Gesundheit und Leben von „Sachen“ und wirtschaftlichem Gewinn auf der einen Seite und der Gesundheit und dem Leben von Menschen auf der anderen zeigt den höheren Rang der letzteren. Die Konsequenz kommt einer Zerreißprobe gleich, die der Gesetzgeber gar nicht erst anspricht: Der Einsatz von Antibiotika, die auch in der Humanmedizin verwendet werden, muss in der Tierzucht verboten werden. Schon gar nicht darf es erlaubt sein, Reserve-Antibiotika weiterhin in der Tierzucht einzusetzen und den Tod von Menschen in Kauf zu nehmen. Die Nicht-Entscheidung des Gesetzgebers zeigt, wie dominant und „normal“ Entscheidungen und Unterlassungen nach Opportunität geworden sind. Unter dem Aspekt größerer Zusammenhänge ist diese Nicht-Entscheidung des faktischen Gesetzgebers darüber hinaus gemeinschafts- und zukunftsfeindlich. Der tonnenweise Einsatz von Antibiotika in der Tierzucht erlaubt es insbesondere den Agrarfabrikanten, Massentierhaltung zu betreiben. 1.000 oder 5.000 Schweine auf engem Raum werden aber nicht nur für den heimischen Markt produziert, sondern auch für den Export. Es kommt dadurch zu jenen irrationalen Situationen, dass deutsche Entwicklungshelfer, die in einem Entwicklungsland eine Viehzucht mit einheimischen Bauern aufgebaut haben, zusehen müssen, wie subventioniertes und aus der Massentierhaltung stammendes EU-Fleisch billig auf den Markt der Entwicklungsländer geworfen wird und die neu aufgebauten, einheimischen Existenzen
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Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte/Paul-Ehrlich-Institut (Fn. 5), S. 13. One Health Forschungsvereinbarung, https://www.bmbf.de/files/Forschungsvereinbarung _Zoonosen.pdf, zuletzt abgerufen am 21. Juni 2018. 8
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vernichtet. Wer aber in seinem Land keine Zukunftsaussichten hat, versucht in einem anderen Land eine Existenz aufzubauen, z. B. in Deutschland. Aus alledem dürfte für den Gesetzgeber die Pflicht bestehen, sofort zu handeln.
II. Die Gestaltung der Sozialstruktur durch den Gesetzgeber – Migration und Integration Der Gesetzgeber hat sicher das Recht im Rahmen des von unserer Verfassung vorgegebenen Wertesystems, homogene und zukunftsorientierte Sozialstrukturen zu gestalten, also z. B. die Arbeits- und Lebensbedingungen so zu regeln, dass die Chancengleichheit möglichst optimal verwirklicht wird. Die Frage, ob er zeitnah oder sofort dazu auch verpflichtet ist, wird man verneinen müssen. Historisch gesehen entwickeln sich Zivilgesellschaften autonom, wenn auch der jeweilige Gesetzgeber, ob Kaiser, König oder Parlament und die ihn tragenden gesellschaftlichen Kräfte entscheidende Vorgaben liefern. In Einzelfällen trifft den Gesetzgeber aber eine Schutzpflicht, die zum sofortigen Handeln zwingt. Solche Schutzpflichten folgen aus den Grundrechten, die nicht nur als Abwehrrechte, sondern auch als Prinzipien zu verstehen sind.9 Immer dann, wenn BürgerInnen oder Gruppen in ihren Grundrechten angegriffen oder verletzt werden, hat der Staat deren grundrechtliche Position zu schützen10 und den oder die Angreifer abzuwehren.11 Zu fragen ist, ob bei der – bisher relativ konzeptlosen – Bewältigung der großen Anzahl von Flüchtlingen Grundrechtsverletzungen stattfinden. Aussagen, wie „die Bundesrepublik ist ein Einwanderungsland/sie ist kein Einwanderungsland“, sind politisch motiviert, aber nicht problemlösend. Dass es in Europa Völkerwanderungen und Vermischungen von Kulturen gegeben hat, ist geschichtliche Tatsache.12 Auch nach der Etablierung von sesshaften Völkern hat es Einwanderungen gegeben, auch nach Deutschland: Hugenotten aus Frankreich, Protestanten aus Salzburg, Industriearbeiter aus Polen und die heutige italienische Küche in Deutschland ist eine Bereicherung, die von den italienischen Einwanderern stammt. Die Bundesrepublik ist dennoch kein Einwanderungsland im klassischen Sinn, weil wir die Integration der Migranten in unsere Kultur und in unser soziales Leben erwarten. Die Kultur der Einwanderer geht dabei in die Kultur des Aufnahme9
Michael/Morlok, Grundrechte, 6. Aufl. 2017, Rn. 26. Michael/Morlok, Grundrechte (Fn. 9), Rn. 723. 11 Michael/Morlok, Grundrechte (Fn. 9), Rn. 747. Siehe im Einzelnen Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 2. Aufl. 2005, S. 28 ff., 145 ff. 12 Vgl. z. B. Schmoeckel, Die Indoeuropäer: Aufbruch aus der Vorgeschichte, 1999. 10
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landes partiell ein und bereichert sie. Der größere Teil der deutschen Bevölkerung dürfte die Bildung von dauerhaften Parallelgesellschaften mit fremden Kulturen ablehnen, eine Einstellung, die auch von den großen Parteien geteilt wird. Der neue Politslogan lautet: „Fördern und Fordern“, womit eine Sozialstruktur, wie sie in den USA herrschend ist, abgelehnt wird. Dieser Verschmelzungsprozess mehrerer Kulturen ist von Spannungen, Aggressionen, Enttäuschungen und gegenseitigen Schuldzuweisungen für ein partielles Misslingen begleitet. Vereinfacht wirft man sich Rassismus und Fremdenhass oder Überfremdung, insbesondere Islamisierung vor. 1. Würde der bundesrepublikanische Gesetzgeber die Schritte professioneller Gesetzgebung beachten, würde er vor jeder Regelung die vorliegende tatsächliche Situation feststellen und analysieren. Unter dem Vorbehalt empirischer Sicherung kann von folgenden Sachverhalten ausgegangen werden. a) Alle Einwanderer/Migranten werden von der einheimischen Bevölkerung zunächst abgelehnt. Das hat nichts mit Fremdenhass oder Rassismus13 zu tun, sondern ist Folge eines während der Evolution entstandenen Gruppengefühls, genauer Folge des Grundbedürfnisses nach Rang, Einfluss und Kontrolle. Dessen Funktionen sind unter zwei Aspekten zu sehen: dem individualpsychologischen und dem soziologischen. „Soziologisch bedeutet die Bildung von Rangordnungen die Zusammenfassung von unverbundenen, allenfalls kommunizierenden Einzelpersonen zu einer neuen Einheit, der Familie, der Sippe, dem Stamm oder später der Nation. Durch die Strukturierung von Einzelpersonen zu einer neuen Einheit gewinnt diese Einheit – und damit letztlich die Summe der Einzelpersonen – zunächst Handlungsfähigkeit, und zwar Handlungsfähigkeit nach außen. Damit ist zugleich auch eine Abgrenzung der Gruppe gegenüber anderen, selbst verwandten Gruppen, gegeben. Der Außenstehende wird als Fremder oder als Feind empfunden.“14 Was vor 40.000 Jahren von Vorteil war, ist heute ein – sozusagen natürliches – Hindernis für jede Integration. Sie kann nur gelingen, wenn insbesondere die Bürger und Bürgerinnen der aufnehmenden Kultur – am besten durch Aufklärung15 – eine Bereitschaft zur Aufnahme entwickeln und wenn die Migrantinnen und Migranten sehen, dass unauflösbare Widersprüche zwischen den Kulturen von ihnen – im Regelfall durch Verzicht – zu lösen sind. Wo die Grenzen der Aufnahmefähigkeit liegen hat der Gesetzgeber klarzustellen, und zwar für beide Seiten. b) Zur Faktenanalyse gehört auch die Feststellung der verschiedenen Konfliktpotentiale, die dadurch entstehen, dass mehrere Einwanderungskulturen nach Deutschland gekommen sind. Deren Gegensätze, die in den Heimatländern geopolitisch ge-
13 So aber Kaddor, Die Zerreißprobe, 2016, S. 120. Dagegen mit Recht Janisch, Recht vor Religion, SZ Nr. 53, 5. März 2018, S. 6. 14 Rolinski, Über die Notwendigkeit einer Zweiten Aufklärung, 2017, S. 101. 15 Rolinski (Fn. 14), S. 155 ff.
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trennt sind, werden auf deutschem Boden ausgetragen. In Berlin treffen Kurden auf Türken und Palästinenser auf Israelis. Für die Trennung der Konfliktparteien dürften die bestehenden Gesetze ausreichen. Bei dem islamischen Antisemitismus handelt es sich aber um die unbewusste kulturelle Haltung einer Gruppe von Migranten, die man nicht einfach verbieten kann [vgl. Punkt d)].16 c) Die Faktenanalyse umfasst auch die Feststellung der unterschiedlichen Intentionen der Migranten. Die „echten“ Asylbewerber sind von den Einwanderern zu trennen, die in ihrem Heimatland keine Zukunftsaussichten haben und die sich in Deutschland ansiedeln wollen. Für die letzteren muss der Gesetzgeber davon ausgehen, dass dieser Zustrom nicht vorübergehender Natur ist, sondern konstant bleiben und noch zunehmen wird. Eine wesentliche Ursache für diese Migration liegt im Versagen des (neo-)liberal-kapitalistischen Wirtschaftssystems. Es hat die Entwicklungsländer grundsätzlich nicht als Handelspartner betrachtet, sondern als Rohstofflieferanten. Der Aufbau einer funktionierenden Infrastruktur interessierte nicht. Die Kooperation auch mit korrupten Landespolitikern hat ausgereicht und reicht immer noch aus, um Gewinne zu machen. Die negativen Folgen müssen insbesondere die europäischen Industriestaaten tragen, wobei die Notwendigkeit der Beseitigung der Fluchtursachen von der Politik bereits seit den 1990er Jahren gefordert wird, allerdings nur als Absichtserklärung. d) Schließlich gehört zur Faktenanalyse die Klärung der wohl wichtigsten Frage, nämlich die Übereinstimmungen und Widersprüche zwischen der christlich-abendländischen und der islamischen Kultur festzustellen. Zwar leben in Deutschland nur etwa 5 Millionen Muslime. Ihre Kultur wird aber dominant von einer Religion, dem Islam, geprägt, die dem abendländisch-christlichen Europa bisher weitgehend fremd war. Und gerade in diesem Bereich fehlen uns empirische Daten. Wir wissen nicht, wie hoch der Bevölkerungsanteil ist, der einer Integration von Muslimen aufgeschlossen gegenübersteht und wir wissen nicht, wie viele Musliminnen und Muslime sich in die europäische Kultur integrieren, also ihre religiös-kulturelle Herkunft liberalisieren wollen. Medienwirksame Ereignisse, wie der Freital-Prozess17, der Prozess gegen die „Scharia-Polizisten“18 oder die Terroristenschule der Salafisten weisen lediglich auf, dass der Integrationsprozess von orthodoxen Muslimen und von neo-nationalistischen Deutschen belastet ist. Vielschichtig ist die Frage, welche Bedeutung der Koran für die Integration gläubiger Muslime hat. 16
Vgl. Abdel-Samad, Der islamische Faschismus, 2015, S. 81 ff. Nimz, Verstörende Solidarisierungswelle, SZ Nr. 57, 9. März 2018, S. 6; Rietzschel, Nicht mehr meine Stadt, SZ Nr. 53, 5. März 2018, S. 5. 18 Janisch, Neuer Prozess gegen „Scharia-Polizisten“, SZ Nr. 9, 12. Januar 2018, S. 6. 17
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Vorherrschend wird im Islam angenommen, dass der Koran Gottes Wort und deshalb von Menschen nicht abänderbar ist (Sure 16: 89).19 Mohamed ist nur der Vermittler einer Offenbarung. Gläubige Muslime und insbesondere Imame und Ayatollahs stehen daher den Anforderungen der heutigen demokratischen Gesellschaften kompromissunfähig gegenüber. Darüber hinaus widerspricht eine Reihe von Suren dem Grundgesetz. Insbesondere wird der Frau eine Rolle zugeschrieben, wie sie in einem Patriachat üblich war. „Die Männer sind den Weibern überlegen“ (Sure 4: 34). Sie wird als dienendes Sexualobjekt beschrieben (Sure 2: 223). Und gleiche Rechte werden ihr versagt. Sie erbt nur die Hälfte im Verhältnis zu einem Mann (Sure 4: 11) und ein männlicher Zeuge kann nur durch zwei Frauen ersetzt werden. Dadurch werden die Artikel 1, 3 und 2 Abs. 1 GG verletzt. Die Genuss- und die Zeitehe (Sure 4: 24), das Recht auf Polygamie (Sure 4: 3) und die Verheiratung von minderjährigen Mädchen stehen dem deutschen Familienrecht diametral gegenüber. Ferner verletzt der Anspruch, die einzig wahre Religion zu sein – außer Allah gibt es keinen Gott – das Toleranzgebot der Glaubens- und Gewissensfreiheit des Art. 4 Abs. 1 GG. Wenn Ungläubige – alle Nicht-Muslime, einschließlich Juden und Christen – unrein sind (Sure 9: 28) und Muslime keine Juden und Christen zu Freunden haben sollen (Sure 5: 51), fördern solche Grundsätze die Integration in eine säkulare abendländische Gesellschaft sicher nicht. Der Koran verlangt sogar, die „Götzendiener“ – Nicht-Muslime – zu bekämpfen und zu erschlagen (Sure 9: 15,5). Nun stehen auch in der Bibel patriarchalisch-aggressive Anordnungen, die von Christen nicht mehr ernst genommen werden, eine Haltung, die auch gläubige Muslime und Muslimas einnehmen dürften. Wie viele den Koran ganz unbewusst ihrem Leben in unserer Gesellschaft angepasst haben und die Werte des Grundgesetzes praktizieren, wissen wir nicht. Im Koran stehen aber auch Suren, die Toleranz und das glaubensunabhängige Miteinander aller Menschen fordern, das Töten eines Menschen verbieten und Juden und Christen als Vorläufer sehen, weil sie „Leute des Buches“ sind. Der Unterschied besteht einmal darin, dass die versöhnlichen Suren während der frühen Zeit in Mekka formuliert wurden, die Mohamed später in Medina durch immer aggressivere Suren aushebelte.20 Zum anderen ist der Koran – wie oben erwähnt – unveränderliches Gotteswort und nicht wie die Bibel von Menschen geschrieben und daher zeitgerecht interpretierbar.
19 20
Abdel-Samad, Der Koran. Botschaft der Liebe. Botschaft des Hasses, 2016, S. 23. Vgl. Abdel-Samad (Fn. 19), S. 21 ff.
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Den Weg zu einem interpretierbaren Koran ist eine Gruppe von liberalen Muslimas und Muslimen gegangen. Sie stufen den Koran als das ein, was er ist, nämlich die Aussagen und Regelsetzungen des Menschen Mohamed, der sich selbst zum Propheten erhoben hatte. Insbesondere Hamed Abdel-Samad hat die Entwicklung des Korans vom toleranten Monotheismus während der Mekka-Zeit zu den aggressiven, politischen und frauenfeindlichen Aussagen der Medina-Zeit dargelegt.21 Abdel-Hakim Ourghi spricht von einem „modernen und humanistischen Islam“, der den „orthodoxen und archaischen Islam“ abzulösen habe.22 Viele Muslimas setzen sich für den liberalen, unpolitischen und humanen Islam ein, wie Necla Kelek23 oder Zana Ramadani24. Dieser Islam hat die Werte der Aufklärung und die Rolle des Staates in der Form einer säkularen Demokratie aufgenommen. Zur europäischen Reformbewegung dürfte auch der Liberal-Islamische Bund gehören, der ein „pluralistisches Gesellschaftsbild“ vertritt und sich zur „freiheitlichdemokratischen Grundordnung“ bekennt. Auch der Koran soll „unvoreingenommen“ ausgelegt werden.25 Kritisch, aber nicht konsequent argumentiert Lamya Kaddor.26 e) Festzustellen ist ferner, dass sich in einigen Großstädten in einzelnen Stadtvierteln Parallelgesellschaften gebildet haben, in denen sich die islamische Kultur erhalten hat, gepflegt und gelebt wird, und zwar der orthodoxe, politische Islam.27 Er wird organisiert von den Imamen der örtlichen Moscheevereine28 und getragen von Familien, die „ihren“ Islam in Deutschland leben wollen und ihre islamische Tradition pflegen.29 Sicher ist keine „Islamisierung“ zu befürchten. Aber die streng gläubigen Familien behindern oder verhindern (Ehrenmord), dass junge Frauen ein selbstbestimmtes und europäisch-westlich orientiertes Leben führen können. Kinder werden 21
Abdel-Samad (Fn. 19), S. 99 ff., 168 ff. Ourghi, Reform des Islam. 40 Thesen, 2017; ders., Unbequeme Wahrheiten, SZ Nr. 284, 11. Dezember 2017, S. 2. 23 Kelek, Die fremde Braut, 2005. 24 Ramadani, Die verschleierte Gefahr, 2017. 25 Wir über uns – Der Liberal-Islamische Bund e.V. stellt sich vor, https://lib-ev.jimdo.com/ wir-%C3 %BCber-uns, zuletzt abgerufen am 21. Juni 2018. 26 Kaddor, Zum Töten bereit, 2015, S. 32 f., 53 f., 66 f. 27 Ramadani (Fn. 24), Abdel-Samad, Integration, 2018, S. 41, 49 f. 28 Ich habe an zwölf Islamverbände und Moscheevereine geschrieben und angefragt, ob für sie der Koran das unveränderliche Wort Gottes sei oder ob er, dem Neuen Testament vergleichbar, menschliche Wahrnehmungen über Göttliches enthalte. Zwei haben geantwortet und die orthodoxe Auffassung vom Koran als unveränderliches Wort Gottes bestätigt. Zehn hüllten sich in Schweigen. 29 Wagner, Richter ohne Gesetz: Islamische Paralleljustiz gefährdet unseren Rechtsstaat, 5. Aufl. 2015, S. 275. 22
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in Koranschulen unterrichtet und auf ihre islamisch geprägte Rolle als gehorsame Frau und herrschender Mann vorbereitet.30 Selbst Kinderehen und Zwangsverheiratungen werden organisiert.31 Darüber hinaus haben Moscheevereine und deren Imame eine Paralleljustiz in den Parallelgesellschaften etabliert.32 So kann sich z. B. das Opfer einer Schlägerei, das in der unmittelbar danach erfolgten polizeilichen Vernehmung den Täter eindeutig beschrieben und sogar dessen Namen genannt hat, nach einigen Wochen nicht mehr erinnern oder es macht von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch.33 In der Zwischenzeit haben die beteiligten Familien einen islamischen „Friedensrichter“ oder Imam eingeschaltet und im Regelfall eine Geldbuße ausgehandelt. Das deutsche Strafrecht kommt selbst bei einem Offizialdelikt (schwere Körperverletzung) nicht mehr zur Anwendung, weil der Tatbestand prozessual nicht mehr aufklärbar ist. Solche islamischen „Streitschlichtungen“ kommen auch dann zur Anwendung, wenn Frauen von ihren Ehemännern geschlagen werden. Die Ehre der beteiligten Familien verlangt dann, dass sich die Frau fügt. Der von ihr aufgesuchte Scheidungsanwalt wird wieder abbestellt.34 Ist die Ehe nur nach islamischem Recht durch einen Imam geschlossen, hat es der Mann noch leichter. Er kann dann zwei oder drei Frauen heiraten – eine standesamtliche Ehe besteht ja nicht – und die, die er nicht mehr mag, davonschicken. Für die mittellosen allein stehenden Frauen muss dann die Sozialhilfe aufkommen.35 Solche Sachverhalte liegen in Form von Einzelrecherchen vor. Dringend notwendig sind daher methodisch zuverlässige empirische Erhebungen, um problemlösende Gesetze formulieren zu können. 2. Den zweiten Schritt professioneller Gesetzgebung ist der Gesetzgeber gegangen: Ziel ist Parallelgesellschaften zu verhindern, bestehende aufzulösen oder wenigstens deren Einfluss zu reduzieren und Bedingungen zu schaffen, die eine gelungene Integration ermöglichen. Denn es sind insbesondere die Frauen, die sich nicht frei entfalten dürfen (Art. 2 Abs. 1 GG), weil der Ehrenkodex der beteiligten Familien sie in ein Korsett der Unterordnung schnürt. Es sind die jungen Mädchen, deren freie Entscheidung durch eine Zwangsehe torpediert wird und es sind die Kinder, die in der Schule sich wie alle Kinder verhalten wollen und die durch islamische Forderungen, wie Kopftuch, Burkini und Speiseregeln, zu „anderen“ oder sogar zu Außenseitern gemacht werden. Im Regelfall fangen Klassen solche Besonderheiten auf. Das Abgleiten einzel30 Ramadani (Fn. 24), S. 49 ff., 58 ff. Beispielhaft die Diskussion um ein Kopftuchverbot für Kinder unter 14 Jahren in Schulen. 31 Ramadani (Fn. 24), S. 54 ff. 32 Wagner (Fn. 29), S. 76 f. 33 Wagner (Fn. 29), S. 184 f. 34 Wagner (Fn. 29), S. 249 ff. 35 Wagner (Fn. 29), S. 261.
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ner in die Position des oder der Diskriminierten und Ausgegrenzten wird aber gefördert. Diese Menschen haben in Deutschland Anspruch auf den Schutz des Staates, auch durch ein Verbot der „Angreifer“, die die Verwirklichung ihrer Grundrechte verhindern. Sicher kann man gegen ein solches Verbot die „Rassismus-Keule“ schwingen. Aber es geht gerade nicht um die Ablehnung von Fremden, sondern um den Schutz von Fremden gegen eine intolerante und die Freiheiten einschränkende Religion. 3. Beim dritten Schritt, der Auswahl der Mittel zur Erreichung der Ziele, ist zwischen den einzelnen Migrantengruppen zu trennen. Für die Gruppe der kriegsbedingten Asylbewerber und für die der rechtswidrig Verfolgten gilt das klassische Asylrecht (Art. 16a GG). Wenn dessen Voraussetzungen vorliegen, ist ihnen der Aufenthalt in Deutschland zu gewähren. Für die Gruppe der Migranten, die aus wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland kommen, ist das Zuwanderungsgesetz von 2005 deutlich als Einwanderungsgesetz zu formulieren. Deren Aufnahme darf nicht über das Asylrecht abgewickelt werden. a) Ein geeignetes Mittel zur Erreichung der Ziele dürfte ein Verbot des orthodoxen, politischen Islams sein. Bedenken ergeben sich aus einem faktischen und einem rechtlichen Aspekt. Einmal hat der Gesetzgeber die Bildung von Parallelgesellschaften auf der Grundlage des orthodoxen, politischen Islams zugelassen und finanziell auch noch unterstützt. Wer hinnimmt, dass das türkische Religionsministerium hunderte von Imame ohne Deutschkenntnisse zur „Betreuung“ der türkischen Muslime, organisiert im Moscheeverein DITIB, nach Deutschland schickt und hunderte von Moscheen in Deutschland bauen lässt und beides überwiegend finanziert, huldigt dem, was Zana Ramadani den „Toleranzwahn der Deutschen“ nennt.36 Darüber hinaus ließ er die Frage der Integration ein halbes Jahrhundert lang unentschieden. Das erste Abkommen über die Anwerbung von „Gastarbeitern“ wurde 1955 mit Italien geschlossen. Aber erst das Zuwanderungsgesetz von 2005 regelt auch die „Förderung der Integration“37. Die Faktizität dürfte daher die Durchsetzung eines Verbots nicht zulassen, zumal zwischen dem liberalen und dem orthodox-politischen Islam fließende Übergänge bestehen. Zum zweiten könnte Art. 4 Abs. 1 GG einem Verbot entgegenstehen. Das Bundesverfassungsgericht hat über diese Frage nicht entscheiden können, weil die mit dem Grundgesetz kollidierenden Suren des Korans erst durch die Formulierung des liberalen Islams deutlich geworden sind. 36 37
Ramadani (Fn. 24), Untertitel. Zur Geschichte der Gesetzgebung Renner, Ausländerrecht in Deutschland 1998, S. 25 ff.
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Aber man muss nicht gleich an Biedermann und die Brandstifter denken, um die Position zu vertreten, dass ein Glaube, dessen Inhalte partiell gegen die Verfassung verstoßen, von dieser Verfassung nicht geschützt werden kann. b) Geht man davon aus, dass ein Verbot des orthodoxen, politischen Islam nicht durchsetzbar ist, ist zu fragen, welche gesetzgeberischen Möglichkeiten zur Zielerreichung noch zur Verfügung stehen. Konkret geht es darum, den Einfluss der Parallelgesellschaften zu reduzieren und Bedingungen zu schaffen, die es erlauben, dass muslimische Frauen und Kinder ihre Grundrechte auf freie Entfaltung der Persönlichkeit wahrnehmen können. Der Gesetzgeber hat daher zunächst öffentlich klarzustellen, dass die Grundlage des orthodoxen, politischen Islams, der Koran, partiell Grundrechten entgegensteht. Er kann in Deutschland nicht geduldet werden. In diesem Punkt muss er Kante zeigen. Er kann sich nicht aus wahltaktischen Gründen mehrdeutig ausdrücken. Beide Seiten, die aufnehmende Gesellschaft wie die Migranten müssen wissen, was geduldet und was erwartet wird. Behauptungen von rechten Populisten müssen als offensichtlich falsch klar erkennbar sein. Ferner hat er Sekundärprobleme gesetzlich zu regeln. Dazu gehört ein Verbot, die Symbole des orthodoxen, politischen Islams in der Öffentlichkeit zu tragen, also ein Verbot von Burka, Niqab und Tschador.38 Das Kopftuch (Hidschab) wird zwar grundsätzlich auch als ein islamisch-religiöses Symbol empfunden, obwohl viele Muslimas behaupten, es sei nur ein Kleidungsstück. Zu trennen sind dessen Symbolkraft nach außen und dessen Bedeutung für die Trägerin. Da das Tragen eines Kopftuchs im Regelfall Ausdruck einer streng islamisch geprägten Erziehung ist, kann es auch als Ausgleich einer Art von persönlichem Kompromiss der aufwachsenden jungen Frau zwischen den religiösen Anforderungen ihrer Familie und denen unserer säkularen Gesellschaft sein. Integration ist keine Entscheidung von heute auf morgen. Sie ist ein Prozess, der auch noch die zweite oder sogar die dritte Generation betrifft. „Übergangsregelungen“ fördern die Integration. Die Kollision mit staatlichem Handeln muss von den Musliminnen ertragen werden. Wer für den Staat eine (Amts-)Handlung vornimmt, darf wegen dessen Neutralitätspflicht weder ein Kopftuch noch ein Kreuz tragen, außer der Religionslehrerin. Ein Kopftuch auf oder ein Kreuz über der Richterbank verletzen die Neutralitätspflicht des Staates.
38 Der französische Staat hat Burka und Niqab in der Öffentlichkeit verboten und strafbewehrt. Der EGMR hat das Verbot gehalten. Er wird dafür von Heike Jung heftig kritisiert. Seine Kritik lässt sich aus zwei Gründen nicht auf Deutschland übertragen. Einmal leben wir zwar in einer pluralistischen, nicht aber in einer multikulturellen Gesellschaft. Und zum zweiten ist zu berücksichtigen, dass der orthodoxe, politische Islam partiell gegen unsere Verfassung verstößt. Jung, GA 162 (2015), S. 35 ff.
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Der entgegenstehende Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Januar 201539 überzeugt nicht. Der erste Senat billigt der muslimischen Lehrerin zu, dass sie das Kopftuch trägt, „um ein imperatives religiöses Bedeckungsgebot in der Öffentlichkeit“40 zu erfüllen. Ein Kopftuchverbot wäre daher eine tiefgreifende Verletzung ihres Grundrechts auf Glaubensfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 GG. Für die Abwägung zwischen ihrem Grundrechtsanspruch und den gegenüber stehenden verfassungsimmanenten Schranken – dem Elternrecht, der negativen Religionsfreiheit der Schülerinnen und Schüler im Sonderstatus und der Neutralitätspflicht des Staates – stellt das Gericht auf die vom Tragen des islamischen Symbols ausgehende Gefahr ab. Nur eine konkrete Gefahr könne ein Kopftuchverbot rechtfertigen. Eine abstrakte Gefahr ausreichen zu lassen, sei unverhältnismäßig. Ein solches Ergebnis mag für den einen plausibel (oder richtig) sein, für den anderen, wie das abweichende Votum von Schluckebier und Hermanns41 zeigt, nicht. Unabhängig von dieser methodischen Unsicherheit einer jeden Wertungswissenschaft hat das Gericht zwei Aspekte nicht berücksichtigt. Wenn es den muslimischen Lehrerinnen den Grundrechtsschutz zubilligt, weil sie das Kopftuch aus Gründen eines strikten religiösen Gebots tragen, unterstützt es nicht den liberalen, sondern den orthodoxen, politischen Islam und damit die Geltung des Korans, der partiell gegen die Verfassung verstößt. Es hilft dem Islam, der das angestrebte Ziel der Integration be- oder verhindert. Es stützt – plakativ ausgedrückt – den Verfassungsfeind.42 Zum zweiten hat das Bundesverfassungsgericht nicht berücksichtigt, dass die Schule nach der Familie die wichtigste Institution für die Sozialisation von Kindern und Jugendlichen ist. Für alle die Schülerinnen, die sich gegen die islamische Erziehung zur gehorsamen Ehefrau wehren und die freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) anstreben, ist eine Kopftuch tragende Lehrerin ein Symbol dafür, dass der freiheitseinschränkende Druck der Familie und der Imame auch vom deutschen Staat für richtig gehalten und unterstützt wird. M. E. ist deshalb die Grenze von der abstrakten zur konkreten Gefahr überschritten und ein Kopftuchverbot verhältnismäßig.
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BVerfGE 138, 296 ff. BVerfGE 138, 296 (332). 41 BVerfGE 138, 296 (359 ff.). 42 Darüber hinaus sind die Suren über die Verhüllung der Frau nicht aus religiösen Gründen in den Koran aufgenommen worden, sondern weil Mohamed als fast 60-jähriger Mann seine neun jungen Frauen von anderen Männern nicht anders hat fernhalten können (Sure 33: 59). Die letzte Notmaßnahme Mohameds war das Verbot, das Haus zu verlassen (Sure 33: 33). Historisch gesehen bleibt die Verhüllung eine Unterdrückungsmaßnahme der Frau durch den Mann. Abdel-Samad (Fn. 19), S. 186 f., 189. 40
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Über die klare Grenzziehung hinaus hat der Gesetzgeber jede Unterstützung der Vertreter des orthodoxen, politischen Islams zu unterlassen. Insbesondere darf er die islamischen Verbände und Moscheevereine nicht finanziell unterstützen. Andererseits hat er Integrationshilfen zu gewähren. Eine volle Integration kann nur gelingen, wenn die BürgerInnen der Aufnahmegesellschaft ihre Ablehnung hinterfragen und ihre Vorurteile den „Fremden“ gegenüber abbauen und wenn die „Fremden“ die Aufnahme in die Gastlandkultur anstreben und sie nicht als feindlich ablehnen. Im Ergebnis ist festzustellen, dass der Gesetzgeber zum Schutz der integrationswilligen Muslimas und Muslime sofort auch in die Sozialstruktur eingreifen muss.
Probleme der Pönalisierung im Strafrecht Russlands Von Fjodor Romanowitsch Sundurow Im folgenden Artikel wird das Problem der Regelung zur Strafdauer im russischen Strafrecht betrachtet, das bisher nicht ausreichend untersucht wurde. Grundsätzlich gilt, dass bei der Regelung der alternativen Sanktionen das Strafpotenzial der in ihnen vorgesehenen Strafarten mittels der Differenzierung ihrer Strafdauer nach dem Prinzip „Je strenger eine Strafart ist, desto kürzer soll ihre Dauer sein“ ins Gleichgewicht zu bringen ist. Jedoch zeigt sich in dieser Regelung eine recht widersprüchliche Herangehensweise seitens des Gesetzgebers zur Fassung der Sanktionsnormen des besonderen Teils des StGB RF (^V_Rf_UY]_ d[QXQcm SbV „Slf_U^lV UQ^^lV“: UQcQ `aY^pcYp …). Daru¨ber hinaus wurde die gesetzliche Verla¨ngerung der Dauer der Freiheitsstrafe von 30 auf 35 Jahre bislang unzureichend u¨berpru¨ft. Zudem werden Vorschla¨ge zur Optimierung der Strafdauer bei Freiheitsentzug dargestellt und erla¨utert.
I. Sinn und Zweck der Strafe Die Bestrafung als Verkörperung der strafrichterlichen Gewalt des Staates und der dadurch materialisierte Ausdruck des strafrechtlichen Verbots stehen im Mittelpunkt des Ausführungsmechanismus von generalpräventiven und schützenden Rechtsverhältnissen. Die staatlich begründete Strafe ist ein einzigartiges Phänomen hinsichtlich ihrer Herkunft, ihrer Natur und ihrem sozialen Bestimmungszweck. Sie ist Quelle der Leiden des Sträflings. Sie hat Bildungspotenzial, da sie die Voraussetzungen für die Korrektur diesbezüglicher Defizite schafft. Sie dient gleichzeitig als Mittel zur Wiederherstellung der sozialen Gerechtigkeit, zur Verhaltenskorrektur des Verurteilten und zur Verhinderung der Begehung neuer Straftaten und wirkt sich dabei nicht nur auf den Täter, sondern auch auf die Gesellschaft als Ganze aus. Sie ist dabei auf die Zukunft gerichtet. Die Quelle der Bestrafung wiederum stellt die Straftat dar.
II. Strafdauer und Pönalisierungsgrad Die staatlich begründete Strafe ist ein vielschichtiges Problem. Einer ihrer Aspekte ist die optimale Bestimmung der Strafdauer im allgemeinen Teil sowie der Grad der Pönalisierung von Straftaten im besonderen Teil des Strafgesetzbuches. Wie
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S. I. Dementiew bemerkt, ist das Hauptelement der Strafwirkung der Inhaftierung (wie auch anderer termingebundener Strafarten) ihre Dauer, die den Grad des moralischen und körperlichen Leidens bestimmt, das dem Verurteilten verursacht wird.1 Die Strafdauer bestimmt maßgeblich das Strafpotenzial mit den entsprechenden gesetzlichen Einschränkungen. So ist es denkbar, dass bei der Festsetzung der Freiheitsstrafe von einem Jahr im ersten Fall und zwei Jahren im zweiten Fall die Strafeinwirkung entsprechend verdoppelt wird. Bei der Festsetzung der Freiheitsstrafe zum Beispiel auf 30 Jahre erhöht sich aus abstrakter Sicht das Strafpotenzial jedoch nicht um das Dreißigfache (bbl\[Q ^Q Ybc_h^Y[), sondern tatsa¨chlich in einem viel gro¨ßeren Ausmaß, da die Strafdauer selbst eine deprimierende Wirkung auf das Bewusstsein, den Willen und das Sinnen und Trachten des Verurteilten hat und somit zum negativen psychischen Zustand der Hoffnungslosigkeit, Aggression, Apathie, Gleichgu¨ltigkeit, Willenspassivita¨t usw. fu¨hrt.2 Die Grenzen der Schuldhaftigkeit oder der Grad der Pönalisierung sind entweder in Bezug auf bestimmte Tathandlungen zu betrachten oder in Bezug auf die Bestimmung ihrer allgemeinen Konturen, das heißt Regelung der Strafarten, deren Dauer, Ausmaß und Anwendungsbedingungen in Betracht. Je mehr Strafarten vorliegen, die sich nach Charaktereigenschaften, Inhalt und Strafzeit unterscheiden, desto optimaler kann eine gerichtliche Bestrafung sein. „Richtige Pönalisierung von Verbrechen“, betonte N.F. Kuznezowa, „wird in erster Linie durch die gewichteten Größenverhältnisse von Art und Größe der Bestrafung mit der Art und dem Grad der öffentlichen Gefahr des Verbrechens bestimmt.“ Die Gewichtung einer Straftat und der Rückfallgefahr einer Person muss daher die Art und das Ausmaß der Bestrafung bestimmen. Sie müssen immer den Anforderungen der Gerechtigkeit, dem Humanismus sowie der persönlichen Verantwortung und Schuldhaftigkeit entsprechen.3
III. Historie der Entwicklung der Strafdauer Der Grad der Pönalisierung in der Strafgesetzgebung ist vor allem durch die Strafdauer in Form von Freiheitsentzug gekennzeichnet. Gleichzeitig zeigt eine retrospektive Betrachtung der landeseigenen Kriminalgesetzgebung, dass darin die Dauer der gegebenen Strafart allmählich zunahm. So wurde im Strafgesetzbuch Russlands von 1845 eine befristete Haft in der Festung bis zu sechs Jahren, die befristete Haft in einem Zuchthaus bis zu drei Jahren sowie Gefängnishaft bis zu zwei 1 Dementjew, Freiheitsentzug. Aspekte des Kriminalrechts und der Arbeitsbesserung, 1981, S. 73 (in russischer Sprache). 2 Siehe dazu Sundurow, Sozialpsychologische und rechtliche Aspekte der Korrektur und Umerziehung von Straftätern, 1976, S. 67 (in russischer Sprache). 3 Siehe Kusnezowa/Tjashkowa, Lehrgang der Strafrechtswissenschaft. Allgemeiner Teil. Band 1: Lehre über das Verbrechen. Lehrbuch für die Hochschulen, 2002, S. 12 (in russischer Sprache).
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Jahren vorgesehen. Es ist zugleich anzumerken, dass die Dauer der Zuchthausarbeit in diesem Strafgesetzbuch auf bis zu 20 Jahre festgelegt wurde. Vom Dekret des Rates der Volkskommissare der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) vom 21. März 1921 „Über den Freiheitsentzug und über das Verfahren der bedingten vorzeitigen Aussetzung der Reststrafe der Häftlinge“ wurde die obere Grenze des Freiheitsentzuges auf 5 Jahre festgelegt. Genau ein Jahr später im StGB RSFSR vom 1922 wurde diese Dauer auf bis zu 10 Jahre erhöht. Bis 1937 betrug die Haftstrafe im sowjetischen Strafrecht allerdings nicht mehr als 10 Jahre. Was die Mindestgrenze dieser Strafdauer betrifft, so schwankte sie von einem Tag bis zu einem Jahr. 1937 wurde für besonders gefährliche Staatsverbrechen die Dauer der Freiheitsstrafe auf bis zu 25 Jahre verlängert. Die gleiche Strafdauer konnte in Fällen von Spionage, Sabotagetätigkeit und Diversionsanschlägen gemäß Art. 581a, 586, 587, 588 des Strafgesetzbuches der RSFSR im Jahr 1926 verhängt werden. Später nahm die Verhängung von langen Haftstrafen zu. Gründe dafür sind die in den Jahren 1947 bis 1949 erfolgte Abschaffung der Todesstrafe und deren Umwandlung in Haft sowie die Intensivierung der Bestrafung von Straftaten gegen das staatliche, gesellschaftliche und persönliche Eigentum sowie für Vergewaltigung. Im 2. Teil Abs. 2 der Verordnung des Obersten Sowjets der UdSSR vom 4. Juni 1947 wurde für die wiederholte bandenmäßige Entwendung von Staatseigentum oder die Entwendung im großen Ausmaß eine Freiheitsstrafe von 10 bis 25 Jahren mit Vermögenseinziehung vorgesehen. Damit fand in den dreißiger bis vierziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts hinsichtlich der strafrechtlichen Politik des sowjetischen Staates im Bereich der Pönalisierung wieder eine Konzentration auf die Verstärkung der strafrechtlichen Verantwortung, einschließlich die Erhöhung der Dauer der Freiheitsstrafe, statt. Im Gültigkeitszeitraum des Strafgesetzbuchs der RSFSR von 1926 wurden, wie es in der Literatur anerkannt ist, eine ganze Reihe von menschenfeindlichen Gesetzen verabschiedet, die wesentlich dazu beitrugen, dass der Grad der Pönalisierung von vielen Tathandlungen maßgeblich erhöht wurden.4 Zur Unterstützung der Besserungs- und Präventivwirkung in Bezug auf die Verurteilten zur langen Haftdauer wurde in den 1950er Jahren die Anrechnung von Arbeitstagen eingeführt. Das System dieser Anrechnungen ließ es zu, die Dauer des Freiheitsentzuges um zwei Drittel (in der Berechnung: ein Tag des musterhaften Benehmens und die ordentliche Arbeitseinstellung für drei Tage der Strafvollstreckung) zu verringern. Mit der Verabschiedung der grundrechtlichen Bestimmungen der Strafgesetzgebung der UdSSR und der Unionsrepubliken im Jahr 1958 und des Strafgesetzbuches der RSFSR im Jahr 1960 schlug das Pendel bei der Bestimmung der Strafzeit in Richtung der Verringerung ihrer Dauer zurück. Die Strafdauer dieser Strafart wurde auf 4 Sundurow/Tarchanov, Strafrecht Russlands. Allgemeiner Teil, 2. Auflage 2016, S. 93 (in russischer Sprache).
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drei Monate bis zu zehn Jahre und für die Fälle schwerster Kriminalität, für die Verbrechen mit besonders schwerwiegenden Folgen und für die besonders gefährlichen Rückfalltäter auf nicht mehr als 15 Jahre festgesetzt. Ausnahmsweise konnte die Todesstrafe durch Gnadenakt in eine Freiheitsstrafe bis zu 20 Jahre umgewandelt werden (1. Teil Art. 24 StGB RSFSR). Jedoch wurde im Zusammenhang mit der Verabschiedung des StGB RF von 1996 und mit den nachfolgenden Rechtsvorschriften der Grad der Pönalisierung erneut deutlich erhöht, was in der Ausweitung der Haftdauer und einigen anderen Strafen (Besserungsarbeit, Verlust der Amtsfähigkeit oder Verbot einer bestimmten Tätigkeit) zum Ausdruck kam.
IV. Festsetzung der Dauer des Freiheitsentzugs und anderer Strafformen Äußere Umrisse der Pönalisierung werden durch die im allgemeinen Teil des Strafgesetzbuchs vorgesehenen Mindest- und Höchstgrenzen der Strafarten bestimmt. Dabei hat der Gesetzgeber die Dauer der verschiedenen Strafarten optimal in Relation zueinander zu setzen. Es sind die verschiedenen Sanktionszeiträume in der Art auszugestalten, dass sie die Erfüllung der gesetzten Strafzwecke bestmöglich fördern. Die längste Dauer weisen dabei die Strafen in Form des Verlustes einer bestimmten Amtsfähigkeit oder des Verbots einer bestimmten Tätigkeit (20 Jahre) und des Freiheitsentzuges (35 Jahre) auf. Die Höchstdauer dieser Strafarten ist dabei nur ausnahmsweise vorgesehen, nämlich für Straftaten gegen die sexuelle Integrität von Minderjährigen sowie bei der Verbindung mehrerer Strafen. In allen übrigen Fällen betragen maximale Haftstrafen und der Verlust bestimmter Amtsfähigkeit oder das Verbot, eine bestimmte Tätigkeit auszuüben, jeweils 20 und 5 Jahre. Die längste Strafdauer beziffern die strengsten Strafarten, namentlich der Freiheitsentzug und die Zwangsarbeit. Dabei übertritt der längsmögliche Freiheitsentzug die maximale Dauer der Zwangsarbeit um das Siebenfache. 1. Diskrepanzen und Wertungswidersprüche im Hinblick auf alternative Strafformen Bemerkenswert ist, dass die moderne Deutung der Strafe in Form der Freiheitsbeschränkung in der Fassung des Föderalgesetzes vom 7. Dezember 2011 Nr. 420FZ eine längstmögliche Strafdauer von vier Jahren (2. Teil Art. 53 StGB RF) vorsieht. Logisch wäre es allerdings, da sie als eine Hauptstrafe für Verbrechen nicht nur leichter, sondern auch mittlerer Kriminalität in Frage kommt (für welche Freiheitsentzug bis zu fünf Jahre angeordnet werden kann), eine maximal fünfjährige Strafzeit verhängen zu können. Aus diesem Grund sollte die Regelung einer fünfjährigen Strafzeit in Form der Zwangsarbeit unterstützt werden, die ins Strafgesetzbuch
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Russlands von demselben Föderalgesetz (Art. 531) eingeführt wurde. Durch dieses Gesetz wurde auch die maximale Strafdauer der Pflichtarbeit von 240 auf 480 Stunden erhöht. Diese Neuerungen wurden offensichtlich getragen vom Beweggrund des Strebens des Gesetzgebers danach, die realen Alternativen zur Strafe in Form des Freiheitsentzugs zu stärken. Belief sich die bis Dezember 2011 verhängte Pflichtarbeit auf 240 Stunden, so war die gesamte Strafe (bei einer täglichen Arbeitszeit von vier Stunden) in zwei Monaten verbüßt. Seit der Gesetzesänderung beträgt die maximale effektive Strafdauer jedoch vier Monate. Anzumerken ist weiterhin, dass Zwangsarbeit im Gegensatz zu Freiheitsbeschränkungen nur dann verhängt werden kann, wenn dies vom Gesetzgeber für die jeweiligen Straftatbestände vorgesehen ist. Daraus lässt sich schließen, dass die Pflichtarbeit formell für die Begehung des schweren Verbrechens nach den Vorgaben des Art. 64 StGB RF vorgesehen ist. Gleichzeitig darf für diese Fälle keine Freiheitsbeschränkung festgesetzt werden, da im Gesetz bestimmt ist, dass sie als Hauptstrafe nur für die Fälle leichter und mittlerer Kriminalität verhängt werden kann, obwohl bekannt ist, dass die Pflichtarbeit eine weniger eingriffsintensive Strafart im Vergleich zur Freiheitsbeschränkung darstellt. Es ist daher von großer Bedeutung, die Bestimmungen zur maximalen Dauer und zum Umfang der Strafformen der alternativen Sanktionen durch gesetzliche Regelungen innerhalb des besonderen Teils des StGB RF sicherzustellen. Beispielsweise ist für die Nichteinhaltung der Anforderungen von Arbeitsschutz und Sicherheitstechnik im 1. Teil Art. 143 StGB RF vorgesehen: (1) eine Geldstrafe von 400.000 Rubel oder der Entzug des Arbeitslohnes bzw. eines anderen Einkommens des Verurteilten für die Dauer von 18 Monaten; (2) 240 Stunden Pflichtarbeit; (3) zwei Jahre Besserungsarbeit; (4) ein Jahr Zwangsarbeit und (5) ein Jahr Freiheitsentzug mit dem Verlust der Amtsfähigkeit oder Verbot einer bestimmten Tätigkeit befristet auf bis zu ein Jahr oder entsprechend ohne diesen Zusatz. Es wird ersichtlich, dass der Gesetzgeber eine Differenzierung des Strafpotenzials der einzelnen vorgesehenen Strafarten über ihre Strafdauer (Strafgröße) nach dem Prinzip „Je strenger eine Strafart ist, desto kürzer soll ihre Dauer sein“ anstrebt: ein Jahr Freiheitsentzug, ein Jahr Zwangsarbeit, zwei Jahre Besserungsarbeit, 240 Stunden Pflichtarbeit, 400.000 Rubel. Insgesamt ist eine solche Herangehensweise zu begrüßen. Jedoch sollte die Aufmerksamkeit auf einige Nuancen gelenkt werden. Wenn die Dauer der Besserungsarbeiten (zwei Jahre) in dieser Sanktion in den höchstzulässigen Grenzen (2. Teil Art. 50 StGB RF) bleibt, so ist in Bezug auf die Pflichtarbeiten nicht die höchstzulässige Dauer (im Vergleich nur 240 Stunden) vorgesehen. Wenn aus dem gesetzlich verankerten Verhältnis des Strafpotenzials der Bestrafung in Form von Zwangsarbeit und Freiheitsentzug einerseits und der Besserungsarbeit andererseits auszugehen ist (ein Tag Freiheitsentzug entspricht drei Tagen der Besserungsarbeit), so ist es nötig anzuerkennen, dass (wenn die geregelte, in der Norm angegebene Dauer dieser Strafarten zugrunde gelegt wird) die Besserungsarbeit befristet auf zwei Jahre in Verbindung mit Zwangsarbeit vergleichbar ist mit einem Jahr Freiheitsentzug. Gleichzeitig ist die mangelnde Vergleichbarkeit einer Geldstrafe in Höhe von 400.000 Rubel ei-
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nerseits und der Pflicht- und Besserungsarbeit andererseits zu betonen. Es kann postuliert werden, dass die Geldstrafe in Höhe von 400.000 Rubel eine strengere Strafe als die Pflichtarbeit von 240 Stunden und sogar als die Besserungsarbeit für die Dauer von 2 Jahren darstellen kann. Wenn man von einem Einkommen des Verurteilten von 30.000 Rubel pro Monat ausgeht, so werden vom Verurteilten zur Besserungsarbeit auf zwei Jahre mit dem Abzug von 20 % des Arbeitslohnes zugunsten der Staatskasse im Vergleich lediglich 144.000 Rubel erhoben. Es ist bekannt, dass die Art der konkreten staatlich zu bestimmenden Besserungsarbeiten zur Zeit mit keinen anderen wesentlichen gesetzlichen Einschränkungen verbunden ist. Die durchgeführte Analyse der Strafarten, die im 1. Teil Art. 143 StGB RF vorgesehen sind, zeigt, dass für die Sanktionierung, insbesondere durch alternative Strafformen, eine sehr kritische Sicht erforderlich ist. 2. Konkretisierung am Beispiel der Höhe der Geldstrafe Betreffend die maximal mögliche Höhe der Strafe nach dem StGB RF von 500 Mio. Rubel oder in Höhe des Arbeitslohns oder anderer Einkommen des Verurteilten für die Dauer von zwei Wochen bis zu fünf Jahren hat der russische Gesetzgeber für die Mehrheit der Verurteilten eine nicht nachvollziehbare Höchstsumme für die Geldstrafe vorgesehen. Dutzende oder sogar Hunderte Millionen Rubel Geldstrafe können womöglich wohlhabendste und finanzkräftigste Geschäftsleute, „abgebrühte“ korrupte Beamte und professionelle Gauner, aber wohl kaum gewöhnliche Straffällige oder die einfachen Bürger bezahlen. Bei der Festsetzung des Umfangs der Geldstrafe im StGB RF wäre daher vielmehr das niedrige Niveau der Gehälter und die verhältnismäßig schwache Ertragslage des kleinen und mittleren Unternehmertums in Russland zu berücksichtigen. 3. Zwischenfazit Die Vergleichsanalyse der Sanktionen von Normen des besonderen Teils des StGB RF zeigt, dass sich der Gesetzgeber bei ihrer Gestaltung mitunter nur nach ihm bekannten Kriterien richtet. So ergeben sich im Unterschied zu obengenannten Sanktionen des 1. Teils Art. 143 für die Sanktionen des 1. Teils Art. 158 StGB RF folgende Veränderungen: Vorschriften, die eine strafrechtliche Verantwortung für den Diebstahl regeln, sehen eine Strafe von bis zu 80.000 Rubel (und nicht bis zu 400.000 Rubel) oder in Höhe des Arbeitslohns oder anderer Einkommen des Verurteilten gemessen auf die Dauer von bis zu sechs Monaten (und nicht bis zu 18 Monaten), Pflichtarbeit bis zu 360 Stunden (statt bisher bis zu 240 Stunden), Besserungsarbeit bis zu einem Jahr (statt bisher bis zu zwei Jahren) vor. Zur gleichen Zeit werden im 2. Teil Art. 158 StGB RF für die Dauer der Freiheitsbeschränkung bis zu zwei Jahre, für die der Zwangsarbeit bis zu zwei Jahre (und nicht bis zu einem Jahr), der Verhaftung bis zu 4 Monate und des Freiheitsentzuges bis zu zwei Jahre (und nicht bis zu einem Jahr) vorgesehen. Erkennbar wird, dass
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einige Strafen im 2. Teil Art. 158 StGB RF hinsichtlich ihrer Dauer und ihres Umfangs milder gefasst sind (im Vergleich zum 1. Teil Art. 143 StGB RF), wohingegen andere eine längere Dauer vorsehen. Es ist kaum möglich, eine solch widersprüchliche Herangehensweise des Gesetzgebers nur anhand der Besonderheit der vorgesehenen, in den Rechtsnormen angegebenen Verbrechen zu erklären.
V. Besonderheiten bei der Festsetzung einer Zusatzstrafe Wie bereits oben angemerkt, ist es möglich, für die Nichteinhaltung der Anforderungen von Arbeitsschutz und Sicherheitstechnik (1. Teil Art. 143 StGB RF) eine Zusatzstrafe (einzig zum Freiheitsentzug) in Form des Verlusts der Amtsfähigkeit oder des Verbots einer bestimmten Tätigkeit, befristet auf bis zu ein Jahr, zu verhängen. Bezüglich der sozialen Produktivität des so kurzfristigen Entzugs dieses Rechts kommen jedoch erhebliche Zweifel auf. Unter Berücksichtigung der schweren Folgen, die diese Norm birgt, muss man gestehen, dass die mehrjährige Dauer der gegebenen Strafe der Tathandlung aus spezialpräventiven Gesichtspunkten als nicht ausreichend und unergiebig anzuerkennen ist. Obwohl an und für sich die Differenzierung zwischen der strafrechtlichen Haftung und der Strafe als solche wünschenswert erscheint, liegt eine notwendige Bedingung der Sicherstellung ihrer Zuordenbarkeit und der sozialen Gerechtigkeit in der Sphäre der Rechtspflege. Jedoch kann die Differenzierung des Gesetzgebers hinsichtlich der Dauer des Verlustes der Amtsfähigkeit oder des Verbotes einer bestimmten Tätigkeit in Abhängigkeit davon, ob diese als Hauptstrafe oder Zusatzstrafe festgesetzt wird, vom Gesichtspunkt seiner funktionalen Zielsetzung nicht als berechtigt anerkannt werden. Diese können nicht als „Strafzugabe“ zur Hauptstrafe betrachtet werden, sondern müssen unter dem Blickwinkel der Interessen der Prävention neuer Straftatbegehungen unter Verwendung der entsprechenden Amtsstellungen und der Berufsbeschäftigungen bewertet werden. Deshalb kann die Festsetzung des Entzugs dieses Rechtes auf ein Jahr oder sogar in einer Reihe von Fällen auf drei Jahre die erhofften Präventionsmaßnahmen der gegebenen Strafart nicht gewährleisten. Außerdem sollten diese als Zusatzstrafe nicht für die Dauer von drei, sondern von fünf Jahren festgesetzt werden. Eine vergleichbare Herangehensweise an die Regelungen der Dauer der gegebenen Strafart findet sich ebenso in Art. 51 des Strafgesetzbuches der Republik Weißrussland5 und im Strafgesetzbuch Polens. Der Entzug der öffentlichen Rechte in den Grenzen von einem Jahr bis zu 10 Jahren (§ 1 Art. 43) kann festgesetzt werden, wenn etwas anderes in den Bestimmungen des besonderen Teils des Strafgesetzbuches nicht vorgesehen ist.6 Dabei ist es als zweckmäßig zu erachten, unter Berücksichtigung des Interesses an einer effektiveren Bekämp5
Strafgesetzbuch der Republik Weißrussland vom 9. Juli 1999 Nr. 275-3, abrufbar unter: http://www.newsby.org/by/2009/11/17/text11492.htm (Stand: 5. November 2017). 6 Strafgesetzbuch der Republik Polen 1997, abrufbar unter: http://www.law.edu.ru/norm/ norm.asp?normID=1246817 (Stand: 5. November 2017).
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fung von Korruptionsverbrechen, Verbrechen der terroristischen Zielsetzung und einiger anderer verbrecherischer Taten die Dauer der gegebenen Strafart auf bis zu 20 Jahren auszuweiten.
VI. Besonderheiten bei der Festsetzung der Mindeststrafdauer Nicht weniger problematisch scheint auch die Festsetzung der Mindeststrafdauer im StGB zu sein. Bei vier Strafarten beträgt die Mindeststrafdauer zwei Monate (Besserungsarbeit, Freiheitsbeschränkung, Zwangsarbeit und Freiheitsentzug), bei zwei Strafarten, sozusagen den militärischen Strafen, beträgt sie drei Monate, wobei die minimale Dauer des Verlustes der Amtsfähigkeit oder des Verbotes einer bestimmten Tätigkeit auf sechs Monate und die der Verhaftung auf einen Monat beziffert wird. Die Mindesthöhe der Geldstrafe beträgt 5.000 Rubel oder die Höhe des Arbeitslohnes oder eines anderen Einkommens gemessen auf die Dauer von zwei Wochen. Es wird die Diskrepanz zwischen den minimalen und maximalen Umfängen der Strafe deutlich: Der maximale Umfang übertritt den minimalen um das Hunderttausendfache. Eine solche Diskrepanz in den Umfängen der Strafe darf jedoch nicht vorkommen. Die maximalen und minimalen Umfänge der Strafe wie auch die Strafdauer sollten zumindest in einem bestimmten Maß vergleichbar sein. Ebenfalls zu beachten ist der Unterschied der Mindeststrafdauer zwischen im Grunde genommenen ähnlichen Strafen: Besserungsarbeit (zwei Monate) und Beschränkung nach dem Militärdienst (drei Monate). Die dreimonatige Dauer ist auch in Bezug auf die Haft in einer Disziplinarmilitäreinheit festgesetzt. Ein solcher Unterschied der Mindestdauer zwischen der Besserungsarbeit und der Beschränkung nach dem Militärdienst, der Haft in einer Disziplinarmilitäreinheit und des Freiheitsentzuges wird von beachtenswerten Umständen kaum flankiert. Umso mehr gilt es zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber bei den genannten Paaren von Strafarten nach ihrer Strenge die Parität festgestellt hat (Art. 71 StGB RF). Daneben gibt es keine erkennbare Übereinstimmung zwischen der Haftdauer und dem Freiheitsentzug. In der ursprünglichen Fassung des 1. Teils Art. 54 und des 2. Teils Art. 56 StGB RF ist das optimale Verhältnis sowohl der maximalen als auch der minimalen Dauer dieser Strafarten vorgesehen: Wurde die Haftdauer von einem bis zu sechs Monaten festgesetzt, so waren für die Mindestdauer des Freiheitsentzuges sechs Monate bestimmt. Somit wurden diese zwei Unterarten der Isolierung von der Gesellschaft ihrer Nische zugeordnet: Die Verhaftung wurde somit als kurzfristige Isolierung (bis zu sechs Monate) und der Freiheitsentzug als längere Isolierung betrachtet. Dabei war die Regelung der Verhaftung als eine Art der staatlich bestimmten Strafe sowohl vom Streben des Gesetzgebers zur Absage an den nicht effektiven kurzfristigen Freiheitsentzug als auch vom Gesichtspunkt der Zielerreichung der Strafe bedingt, dessen bedeutender Teil sich auf den Aufenthalt der Person im Untersu-
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chungsisolator, Etappengefängnis, Wagen für die Beförderung der Inhaftierten usw. konzentrierte. Sechs Jahre nach Inkrafttreten des StGB RF wurde durch das Föderalgesetz vom 8. Dezember 2003 Nr. 162-FS jedoch die Mindestdauer des Freiheitsentzuges von sechs auf zwei Monaten verringert, wodurch der Gesetzgeber eine bestehende Nische für die Anwendung der Verhaftung aufgelöst hat. Natürlich erfordert das Inkrafttreten der Normen des StGB RF über die Verhaftung eine bedeutende Summe an Kosten. Gleichzeitig darf man die Situation der Verhaftung als Strafart im Laufe der Jahrzehnte nicht unbeachtet lassen. Hier sind zwei Varianten möglich: Entweder kann die Verhaftung aus dem Verzeichnis der Strafarten ausgeschlossen werden oder es erfolgt eine Rückkehr zur Stammfassung des 1. Teils Art. 54 StGB RF.
VII. Sonderfall: Problem des optimalen Verhältnisses zwischen befristetem und lebenslänglichem Freiheitsentzug Das Problem des optimalen Verhältnisses zwischen der Dauer des Freiheitsentzuges auf eine bestimmte Zeit (also der zeitlichen oder befristeten Freiheitsstrafe) und des lebenslänglichen oder fristlosen Freiheitsentzuges ist von praktischem Interesse. Dieses wurde in Zusammenhang mit der Erhöhung der maximalen Strafdauer bei befristetem Freiheitsentzug auf bis zu 30 und 35 Jahren bei der Gesamtheit entsprechend der Verbrechen und der Urteile weiter verschärft. Die Festsetzung einer solchen übermäßig langen Dauer verwischt in der Tat eine Grenze zwischen dem befristeten und lebenslänglichen Freiheitsentzug. Diese Schlussfolgerung scheint noch deutlicher zu werden, wenn man die mittlere Lebensdauer in Russland berücksichtigt, die bei 71 Jahren für Frauen und für Männer bei 67 Jahren liegt. Für Personen, die im Alter zwischen 35 und 40 Jahren zu 35 Jahren Freiheitsentzug verurteilt werden, verwandelt sich die befristete Strafe tatsächlich in den lebenslänglichen Freiheitsentzug. Darüber hinaus wäre in einem derart gelagerten Fall die Verhängung eines lebenslänglichen Freiheitsentzuges für den Verurteilten von Vorteil, da hierbei die Möglichkeit der bedingten vorzeitigen Aussetzung der Reststrafe nach der Teilabbüßung der Strafe in Höhe von 25 Jahren (5. Teil Art. 79 StGB RF) gegeben ist. Bei einer Verurteilung zum befristeten Freiheitsentzug von 35 Jahren besteht eine solche Möglichkeit hingegen frühestens nach der Abbüßung der Strafe von 26 bis 28 Jahren (siehe entsprechend Punkte „h“ und „d“ des 3. Teils Art. 79 StGB RF).
VIII. Vergleich: Festsetzung der Höchstdauer des Freiheitsentzugs in anderen modernen Strafgesetzbüchern Es können zahlreiche unterschiedliche Ansätze an die Bestimmung der Grenzen des Freiheitsentzuges in Strafgesetzbüchern der modernen Staaten beobachtet werden. So sieht Art. 50 des Strafgesetzbuches der Republik Usbekistan für die Strafe in
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Form von Freiheitsentzug eine Dauer von sechs Monaten bis zu 20 Jahren vor. Auf bis zu 25 Jahre kann diese Bestrafung bei der Gesamtstrafenbildung ausgeweitet werden, die bei dem Zusammentreffen mehrerer Straftaten angesetzt ist (Art. 60). Von diesem Strafgesetzbuch ist der lebenslängliche Freiheitsentzug hingegen nicht vorgesehen.7 Als Generalnorm im Strafgesetzbuch der Volksrepublik China ist der Freiheitsentzug von einer Dauer von sechs Monaten bis zu 15 Jahren (Art. 45), bei der Umwandlung der Todesstrafe befristet auf 15 bis 20 Jahre (Art. 50) und nach dem Zusammentreffen mehrerer Straftaten für eine Dauer von nicht mehr als 20 Jahren (Art. 69) vorgesehen. Hier wird auch der unbefristete Freiheitsentzug (Art. 45, 46) vorgesehen.8 Nach dem Strafgesetzbuch der Republik Moldau kann die Dauer des Freiheitsentzugs auf sechs Monate bis zu 25 Jahre befristet werden und bei Personen, die die Verbrechen im Alter unter 18 Jahren begingen, darf die Strafdauer 15 Jahre nicht übersteigen.9 Bereits in der Stammfassung dieses Gesetzbuches war es vorgesehen, dass bei der Festsetzung der endgültigen Strafe nach dem Zusammentreffen mehrerer Straftaten der Freiheitsentzug 30 Jahre und nach der Zusammenziehung des Strafmaßes 35 Jahre (Art. 70) nicht überschreiten darf. Auf etwas andere Weise wird die Strafdauer des Freiheitsentzugs im Strafgesetzbuch der Republik Tadschikistan angesetzt. Nach allgemeinen Grundsätzen ist sie befristet auf sechs Monate bis zu 20 Jahre (2. Teil Art. 58).10 Bei der Festsetzung einer Strafe nach dem Zusammentreffen mehrerer Straftaten und nach der Verbindung des Strafmaßes soll ihre maximale Dauer 25 Jahre nicht übertreten.11 Wie ersichtlich, erfolgt in diesem Strafgesetzbuch keine Unterscheidung bei der Bemessung der Dauer der gegebenen Strafe beim Zusammentreffen mehrerer Straftaten oder der Verbindung des Strafmaßes. Im Strafgesetzbuch der Republik Moldau wird der lebenslängliche Freiheitsentzug als Freiheitsentziehung der verurteilten Person für den Rest des Lebens definiert und es kann nur für sehr schwere Straftaten (1. und 2. Teil Art. 71) verhängt werden. Entsprechend dem 5. Teil Art. 91 kann die zum lebenslänglichen Freiheitsentzug verurteilte Person durch eine bedingte vorzeitige Aussetzung der Reststrafe in Freihiet gelangen, falls vom Gericht festgestellt wird, dass die Notwendigkeit weiterer 7
Strafgesetzbuch Republik Usbekistan vom 22. September 1994, abrufbar unter: http:// fmc.uz/legisl.php?id=k_ug (Stand: 5. November 2017). 8 Strafgesetzbuch der Volksrepublik China 1979 vom 14. März 1997, abrufbar unter: http:// law.edu.ru/norm/norm.asp?normID=1247252 (Stand: 5. November 2017). 9 Strafgesetzbuch der Republik Moldau, abrufbar unter: http://law.edu.ru/norm/norm.as p?normID=1241144 (Stand: 5. November 2017). 10 Strafgesetzbuch der Republik Tadschikistans, abrufbar unter: http://law.edu.ru/norm/ norm.asp?normID=1242456 (Stand: 5. November 2017). 11 Strafgesetzbuch der Republik Litauen, abrufbar unter: http://law.edu.ru/norm/norm.as p?normID=1243877 (Stand: 5. November 2017).
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Strafverbüßung entfällt, wenn sie nicht weniger als 35 Jahre des Freiheitsentzuges tatsächlich verbüßt hat. Der Verurteilte soll somit die maximale Dauer des Freiheitsentzuges auf eine angesetzte Dauer von 35 Jahren verbüßen, die bei der Festsetzung der Strafe nach der Verbindung des Strafmaßes angesetzt war. Eine solche Gerichtsentscheidung des moldauischen Gesetzgebers scheint vollkommen logisch zu sein. Hinreichend charakteristische rechtliche Bestimmungen bezüglich des lebenslänglichen Freiheitsentzuges sind auch im Strafgesetzbuch der Litauischen Republik enthalten: Im 3. Teil Art. 77 ist vorgesehen, dass in Bezug auf die Verurteilten „zum lebenslänglichen Freiheitsentzug“ die bedingte vorzeitige Aussetzung der Reststrafe nicht verwendet wird. Gleichzeitig wird im 2. Teil Art. 51 ihre Mäßigung zugelassen; dabei darf die Dauer der gemilderten Strafe in Form des befristeten Freiheitsentzugs 25 Jahre nicht unterschreiten. Ausgehend von der gegebenen Bestimmung kann das Gericht die Dauer der gemilderten Strafe auch auf mehr als 25 Jahre ansetzen. Die Differenzierung der Grenzen des Freiheitsentzuges wurde im Strafgesetzbuch der Republik Weißrussland am konsequentesten durchgeführt. Dessen Dauer ist auf sechs Monate bis zu 10 Jahren befristet und für besonders schwere Verbrechen auf die Dauer von mehr als 10 Jahre, höchstens aber 15 Jahre festgesetzt. Für die besonders schweren Verbrechen, die mit einem absichtlichen Angriff auf das Leben eines Menschen verbunden sind, ist der Freiheitsentzug für die Dauer nicht über 25 Jahre (1. Teil Art. 57) vorgesehen. Gemäß dem 2. Teil dieses Artikels darf die Dauer des Freiheitsentzuges für ein fahrlässig begangenes Verbrechen sieben Jahre nicht überschreiten. Dieses Strafgesetzbuch sieht auch einen lebenslänglichen Freiheitsentzug (Art. 58) vor. Bei der Festsetzung der endgültigen Strafe nach dem Zusammentreffen mehrerer Straftaten ist der Freiheitsentzug für die Dauer von über 15 Jahren vorgesehen und die endgültige Strafe kann in den Grenzen bis zu 30 Jahren (3. Teil Art. 72) und bei der Verbindung des Strafmaßes auf bis zu 35 Jahre (3. Teil Art. 73) festgesetzt werden. Der weißrussische Gesetzgeber hat bereits in der Stammfassung der angegebenen gesetzlichen Regelsätze für das Zusammentreffen mehrerer Straftaten und die Verbindung des Strafmaßes eine längere Dauer des Freiheitsentzuges vorgesehen. Im StGB RF war eine solche Dauer der gegebenen Strafart nur zu seiner Modifikation in 2014 angesetzt. Von Vorteil scheint die maximale Dauer des Freiheitsentzuges zu sein, die in der ursprünglichen Fassung der Teile 2 und 4 Art. 56 StGB RF angesetzt worden war. Die Ausweitung ihrer Dauer im Jahre 2014 (für das Zusammentreffen mehrerer Straftaten und die Verbindung des Strafmaßes) hat die Grenze zwischen dem lebenslänglichen Freiheitsentzug und dem befristeten Freiheitsentzug tatsächlich nivelliert. Gleichzeitig soll nicht einerseits die Dauer des Freiheitsentzuges bis zu 15 Jahre und andererseits der lebenslängliche Freiheitsentzug (wie es im deutschen Strafgesetzbuch in § 38 Abs. 1 erfolgt) vorgesehen werden, da die 15-jährige Dauer nicht als reale Alternative zum lebenslänglichen Freiheitsentzug betrachtet werden kann. Wenn darüber hinaus beachtet wird, dass die Verurteilten zum lebenslänglichen Frei-
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heitsentzug von der Strafe nicht selten vorzeitig entlassen werden, so wird die Diskrepanz zwischen diesen beiden Arten des Freiheitsentzuges mehr als offensichtlich. Um eine übermäßig große Disproportion zwischen diesen Strafen auszuschließen und gleichzeitig ihr Nivellieren hinsichtlich ihrer Dauer nicht zuzulassen, sollte die maximale Dauer des Freiheitsentzuges auf 25 Jahren angesetzt werden. Wenn die 15-jährige Dauer des Freiheitsentzugs mangelhaft in dieser Hinsicht zu sein scheint, so ist jedoch eine 30- bis 35-jährige Haftdauer unverhältnismäßig: Denn in der Tat verwandelt sie sich in eine Analogie des lebenslänglichen Freiheitsentzuges für jene Personen, die im Alter zwischen 35 und 40 Jahren und älter hierzu verurteilt werden.
Opfer von Straftaten und ihre Stellung in der Tschechischen Republik Von Helena Válková*
I. Einleitung Das erste Gesetz, mit dem die Fürsorge für Opfer von Straftaten in der Tschechischen Republik geregelt wurde, war das „Gesetz über die Gewährung einer finanziellen Hilfe an Opfer von Straftaten“ aus dem Jahre 1997, dessen Hauptzweck es war, dem Opfer einer Gewaltstraftat finanzielle Hilfe als Kompensation des erlittenen Schadens zu gewähren. Das Problem dieser Regelung lag in den zu strengen Bedingungen für die Gewährung der finanziellen Hilfe, die de facto eine Diskriminierung von wohlhabenderen Verletzten bedeuteten. Diese Mängel des genannten Gesetzes, ebenso wie die unzureichende psychologische und soziale Betreuung des Opfers, waren der Grund für die Vorbereitung eines neuen Gesetzes, das nach einem langen Verfahren im Parlament schließlich beschlossen und am 25. Februar 2013 unter Nr. 45/2013 in der Gesetzessammlung als „Gesetz über Opfer von Straftaten und über die Änderung von einigen Gesetzen (Gesetz über Opfer von Straftaten)“ veröffentlicht wurde. Es ist am 1. August 2013 als Gesamtregelung in Kraft getreten. Zweifellos stellt das Gesetz über Opfer von Straftaten eine positiv zu bewertende Änderung zugunsten der Hilfe für Opfer von Straftaten in der Tschechischen Republik dar. Einer der Gründe für das neue Gesetz ist auch die Umsetzung von Verpflichtungen des Rechts der Europäischen Union, wie etwa aus dem Rahmenbeschluss des Rates 2001/220/JI vom 15. März 2001 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren und der neuen Richtlinie 2012/29/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2012 über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie zur Ersetzung des genannten Rahmenbeschlusses.1 Das Gesetz erfüllt zugleich die Anforderung der Empfehlung * Prof. JUDr. Helena Válková, CSc. ist Rektorin der Hochschule für Unternehmung und Recht AG in Prag und ist am Lehrstuhl für Sozialarbeit der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität in Prag tätig. Von 1997 bis 2011 war sie an der Juristischen Fakultät der Westböhmischen Universität in Pilsen als Inhaberin eines Lehrstuhls für Strafrecht tätig. 1 Podle cˇ l. 27 Smeˇ rnice uvedou cˇ lenské státy v úcˇ innost právní a správní prˇedpisy nezbytné pro dosazˇ ení souladu s touto smeˇ rnicí do 16. listopadu 2015. Gem. Art. 27 setzen die Mitgliedsstaaten die Rechts- und Verwaltungsvorschriften in Kraft, die erforderlich sind, um dieser Richtlinie bis zum 16. November 2015 nachzukommen.
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des Europarats Rec(2006)8 über die Verantwortung des Staates, systematische Hilfe und entsprechende Leistungen für Opfer von Straftaten im erforderlichen Maße sicherzustellen. Opfer eines Verbrechens zu werden ist in der Tschechischen Republik nicht außergewöhnlich. Im Gegenteil, es betrifft die gesamte Bevölkerung, wie u. a. die Untersuchung des Kriminologischen Instituts zeigte, die sich mit den Auswirkungen der Kriminalität auf die Lebensqualität in bestimmten Regionen befasste. Neben einer Reihe von weiteren interessanten Feststellungen ist für uns das Ergebnis besonders wichtig, dass fast ein Viertel der Befragten (24 %) angab, dass sie oder ein Mitglied ihres Haushaltes innerhalb der letzten fünf Jahre in Tschechien, ggf. auch im Ausland, Opfer einer versuchten oder vollendeten Straftat wurden. Unter den untersuchten Gebieten haben dies am häufigsten Bürger aus Prag 3 (34 %), aus Chomutov (27 %) und aus Prag 6 (27 %) angegeben, wobei die Viktimisierungserfahrung in der unmittelbaren Umgebung des Wohnsitzes im Durchschnitt 16 % betrug.2 Auch die Daten über registrierte Opfer von Straftaten aus den Polizeistatistiken geben keinen Anlass zu Optimismus.3 2011 wurden auf dem Territorium der Tschechischen Republik 46.777 Opfer statistisch erfasst. Davon sind 310 Personen, das entspricht einem Anteil von 0,7 %, an den Folgen einer Straftat gestorben. Verletzt wurden in jenem Jahr 16,7 %, andere Folgen (in der Regel Vermögensschäden) wurden bei 64,4 % der Opfer festgestellt. Hinsichtlich der Altersstruktur wurden im Jahr 2011 zu 8,6 % Kinder (bis 18 Jahre) und zu 13,1 % Senioren (60+ Jahre) Opfer. Am häufigsten, ca. zu 30 %, wurden junge Menschen zwischen 18 und 30 Jahren Opfer von Straftaten. Diese statistischen Daten haben sich seit 2011 nicht wesentlich geändert, weshalb es keine Überraschung ist, dass die Aufmerksamkeit, die den Opfern zuteilwird, aus der Sicht der angewandten Strafpolitik weiterhin begründet bleibt.
II. Der Inhalt und die Begriffsbestimmungen des neuen Gesetzes Das neue Gesetz über die Opfer von Straftaten besteht aus zwei Hauptteilen. Im ersten werden die Rechte der Opfer als Subjekt der besonderen Betreuung durch den Staat geregelt, im zweiten Teil wird der rechtliche Rahmen für die Zusammenarbeit des Staates mit den NGOs festgelegt, die den Opfern Hilfe gewähren.4 Wenn man von Änderungen in zusammenhängenden Vorschriften wie der Strafprozessordnung, dem Bürgerlichen Gesetzbuch, der Zivilprozessordnung u. a. absieht, besteht das neue Gesetz aus lediglich 50 Paragraphen. 2 Vgl. näher Holas/Krulichová/Háková/Scheinost, Regionální kriminalita a její odraz v kvaliteˇ zˇ ivota obyvatel (Regionale Kriminalität und ihr Niederschlag in der Lebensqualität der Bevölkerung), 2016, S. 62 ff., 108. 3 Alle hier angeführten Daten stammen aus der Analyse der Polizeistatistiken, präsentiert in der Studie Martínková, in: Maresˇová et al., Analy´za trendu˚ kriminality v roce 2011 (Analyse der Trends der Kriminalität in 2011), 2012, S. 66. 4 Vgl. Grˇivna, Právní rozhledy 2012, Nr. 5, S. II.
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Besonders wichtig sind die wesentlichen Begriffsbestimmungen (§ 2) und die Formulierung der grundlegenden Prinzipien (§ 3), die für die richtige Auslegung und Anwendung des Gesetzes von Bedeutung sind, und deren gemeinsames Ziel es ist, die Stellung des Opfers zu verbessern, und zwar in Bezug sowohl auf die Achtung seiner Persönlichkeit und Würde, als auch auf sein Recht auf Fürsorge und angemessene Behandlung durch staatliche sowie nichtstaatliche Institutionen und Subjekte. Die Regelung strebt also an, eine Vertiefung des bereits durch die Straftat zugefügten Schadens zu verhindern und sekundärer Viktimisierung vorzubeugen (§ 2 Abs. 5). Zu den Grundbegriffen des Gesetzes gehört vor allem „das Opfer“, unter dem im Unterschied zum „Verletzten“ im Sinne der StPO nur eine natürliche Person zu verstehen ist, die durch eine Straftat einen Gesundheits-, Vermögens- oder immateriellen Schaden erlitten hat oder hat erleiden sollen. Das wird damit begründet, dass nur bei einer solchen Person eine, durch fachliche Hilfe und Fürsorge zu lindernde, subjektive Empfindung des zugefügten Schadens anzunehmen ist. Als Opfer sieht das Gesetz des Weiteren auch die Hinterbliebenen von getöteten Opfern an, also solche, die den Verlust ihres Verwandten, Ehepartners, eingetragenen Partners oder Lebensgefährten als persönlichen Schaden empfinden, wobei jeder von ihnen, sofern vorhanden, als einzelnes Opfer angesehen wird. Im Vergleich zum Verletzten ist die Bestimmung einerseits enger, denn juristische Personen sind nicht inbegriffen, andererseits breiter, denn als Opfer werden auch bestimmte Hinterbliebene angesehen, obwohl sie nicht die Stellung eines Verletzten im Sinne der StPO hätten5. Eine weitere Kategorie stellt das „besonders schutzbedürftige Opfer“ dar (§ 2 Abs. 4); darunter sind die folgenden taxativ genannten Personen zu verstehen: Kinder bis 18 Jahre, Personen hohen Alters, Personen mit physischer oder psychischer Behinderung oder mit sensorischen Störungen, Opfer der Straftaten Menschenhandel oder Terroristischer Angriff, Opfer einer Straftat gegen die Menschenwürde im sexuellen Bereich oder einer Straftat, die Nötigung, Gewalt oder Gewaltandrohung beinhaltete, Opfer einer wegen Zugehörigkeit zu einem Volk, einer Rasse oder einer ethnischen Gruppe begangenen Straftat oder Opfer einer zugunsten einer kriminellen Organisation begangenen Straftat. Bereits aus dem Begriff „besonders schutzbedürftiges Opfer“ ergibt sich der Bedarf, diesen Opfern ein höheres Maß an Hilfe und Unterstützung (spezielle Fürsorge) als sonstigen Opfern zu gewähren, weil sich sonst das Risiko einer sekundären Viktimisierung erhöhen würde. Sie haben deshalb Anspruch auf unverzügliche, kostenlose und fachliche Fürsorge, sofern sie diese bei Einrichtungen beantragen, die im Register der Anbieter der Fürsorge für Straftatopfer eingetragen sind, sowie auf die Vertretung durch einen Rechtsanwalt, deren Kosten vom Staat erstattet wird.
5 Vgl. Grˇivna, in: Jelínek/Grˇivna/Koll, Posˇkozeny´ a obeˇ ˇt trestného cˇ inu (Der Verletzte und das Straftatopfer), 2012, S. 25.
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Der wesentliche Inhalt des Gesetzes besteht in der Definition des Opferbegriffs und im Inhalt der ihnen zuerkannten und vom Staat garantierten Rechte. Dazu gehört das „Recht auf fachliche Hilfe“, das Rechtshilfe, Gewährung von rechtlichen Informationen, psychologische Beratung, soziale Beratung sowie Restorativprogramme umfasst. Diese Rechte können nicht nur vor Einleitung und während des Strafverfahrens, sondern auch nach dessen Beendigung in Anspruch genommen werden. Als ein weiteres wichtiges Recht des Opfers gilt die Einführung des neuen Instituts „Erklärung des Opfers über die Auswirkung der Straftat auf sein Leben“, das aus dem angelsächsischen Rechtssystem (victim impact statement) übernommen wurde und es dem Opfer ermöglicht, sich zu den Auswirkungen der begangenen Straftat auf sein Leben zu äußern und sich dadurch auch mit der an ihm verübten Straftat psychisch auseinanderzusetzen. Diese Erklärung kann vom Opfer in jedem Stadium des Strafverfahrens mündlich oder schriftlich abgegeben werden und kann dem Gericht bei der Entscheidung einerseits über die konkrete Art und Höhe der aufzuerlegenden Strafe und andererseits bei der Zuerkennung des geltend gemachten Anspruchs des Opfers auf finanzielle Kompensation des immateriellen Schadens helfen. Einen weiteren Komplex von Einzelrechten verbindet ihr gemeinsamer Zweck, nämlich „den Schutz vor sekundärem Schaden (sekundäre Viktimisierung)“ für das Opfer sicherzustellen, den das Gesetz allgemein als „Schutz vor einem Schaden“ definiert, „der nicht durch die Straftat selbst, sondern als Folge einer ungeeigneten Herangehensweise der Organe der öffentlichen Gewalt, insbesondere der Polizei und der Strafverfolgungsorgane, medizinischer Einrichtungen sowie weiterer Einrichtungen einschließlich der Medien, zugefügt wird“. In den einzelnen Bestimmungen werden konkrete Maßnahmen und Vorgehensweisen spezifiziert, die das Entstehen solcher Schäden eliminieren sollen. Gemeint sind das Recht des Opfers, Kontakt zum (mutmaßlichen) Täter abzulehnen, das Recht darauf, dass intime Fragen beschränkt und ggf. schonend gestellt werden, sowie das Recht, gegen solche Fragen protokollierten Einwand einzulegen, das Recht, im Vorbereitungsverfahren durch Person gleichen Geschlechts oder anderen Geschlechts befragt zu werden; bei einem besonders schutzbedürftigem Opfer gilt dies auch für Dolmetscher. Ein weiteres Recht besteht in der Möglichkeit, sich in den Stadien des Strafverfahrens von einer Vertrauensperson begleiten zu lassen, d. h. von einer vom Opfer ausgewählten handlungsfähigen natürlichen Person, die psychische Hilfe gewährt und zugleich auch eine strafprozessrechtliche Stellung als Bevollmächtigter haben kann. Das grundlegende Recht für die Mehrheit der Opfer, die eine Gesundheitsschädigung erlitten haben, sowie für Hinterbliebene ist das „Recht auf finanzielle Hilfe“, welche in einer einmaligen Geldleistung besteht, die der Überbrückung der infolge der begangenen Tat verschlechterten sozialen Lage dienen soll. Wenn infolge der Straftat immaterielle Schäden zugefügt wurden und es sich um Misshandlung von Schutzbefohlenen oder Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung handelt, werden dem Opfer auch Kosten von Psychotherapie oder anderen erforderlichen
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Leistungen erstattet (in solchem Fall allerdings nur bis zu einem Gesamtbetrag von 50.000 CZK/ca. 2.000 Euro). Die Höhe der finanziellen Hilfe ist abhängig vom konkreten Opfer bzw. vom Grad der Verwandtschaft und dem Verwendungszweck des Geldbetrags. Das Gesetz konkretisiert auch die Gründe für eine Reduzierung oder Nichtzuerkennung der finanziellen Hilfe. Sie wird in erster Linie Opfern gewährt, die durch die Tat Gesundheitsschädigungen erlitten haben. Das Opfer hat dann die Wahl, einen pauschalen Ersatz zu beantragen oder einen höheren, aber beweisbedürftigen Anspruch geltend zu machen. Die jeweilige Höhe der Pauschalbeträge unterscheidet sich nach Art und Umfang des zugefügten Schadens. Handelt es sich um „einfache“ Schädigungen der Gesundheit, beträgt die Pauschale 10.000,– CZK/ca. 400 Euro. Bei schwerer Schädigung der Gesundheit beträgt die Pauschale 50.000 CZK/ca. 2.000 Euro, allerdings können höchstens 200.000 CZK/ca. 8.000 Euro geltend gemacht werden. Ein Sonderfall ist die Geldhilfe an Hinterbliebene eines infolge der Straftat verstorbenen Opfers, bei dem der Pauschalbetrag 200.000 CZK/ca. 8.000 Euro beträgt. Beim Geschwister des verstorbenen Opfers liegt er bei 175.000 CZK/ca. 7.700 Euro. Der Anspruch des Opfers gegen den Täter auf Ersatz des zugefügten materiellen und immateriellen Schadens geht insoweit an den Staat über, wie der Staat dem Opfer Hilfe gewährt hat. Die finanzielle Hilfe wird nicht nur an Opfer geleistet, die Staatsbürger der Tschechischen Republik (Cˇ R) sind, sondern auch an Ausländer, sofern diese dort ständigen Aufenthalt haben bzw. sich auf dem Territorium eines anderen Staates der Europäischen Union berechtigt aufhalten und die Straftat auf dem Territorium der Cˇ R begangen wurde. Das gilt auch für sonstige Ausländer, die sich auf dem Territorium der Cˇ R berechtigt länger als 90 Tage aufhalten und hier Asyl erhalten oder einen Asylantrag gestellt haben und auf dem Territorium der Cˇ R Opfer einer Straftat wurden. Daraus ist ersichtlich, dass der Opferschutz und die finanzielle Hilfe für sie großzügig ausgeprägt ist und unter bestimmten Bedingungen auch Ausländern offensteht. Das Gesetz legt auch den institutionellen Rahmen für die Zusammenarbeit zwischen dem Staat und den Nichtregierungsorganisationen fest, die Opfern von Straftaten beistehen. Der Staat unterstützt ihre Tätigkeit mittels des Justizministeriums durch Zuschüsse aus dem Staatshaushalt. Gemäß dem Gesetz werden nur Einrichtungen akkreditiert, die rechtliche Informationen und Restorativprogramme anbieten. Die Zulassung für Anbieter von psychologischen und sozialen Beratungen erfolgt gemäß dem Gesetz über Sozialdienste. Zur Gewährung der bezahlten Rechtshilfe sind nur Rechtsanwälte berechtigt, die diese Hilfe an minderjährige und besonders schutzbedürftige Opfer kostenlos leisten (solche Kosten werden vom Staat übernommen). Im Gesetz wird der Akkreditierungsprozess ausführlich geregelt. Akkreditierte Einrichtungen sind im Register der Anbieter der Hilfe an Opfer von Straftaten eingetragen. Kraft Gesetzes sind im Register auch Zentren für Bewährungs- und Mediationsdienst eingetragen, die zur Gewährung von Rechtsinformationen berechtigt
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sind. Das Register ist ein im Internet frei zugängliches Verzeichnis und hilft mittels einer Suchmaschine bei dem Auffinden des gewünschten Dienstes.
III. Gesetzlich privilegierte Straftatopfer Im tschechischen Recht sind jene Opfer gesetzlich privilegiert, die als „besonders schutzwürdiges Opfer“ eingeordnet werden. Sie genießen gegenüber anderen Opfern Vorteile, insbesondere hinsichtlich Art und Umfang der kostenlos angebotenen Dienste, einschließlich der bereits genannten kostenlosen Rechtshilfe. Der Kreis der besonders schutzbedürftigen Opfer wurde zum 1. April 2017 erweitert, weswegen man sich die Frage stellen muss, wieso der Gesetzgeber bestimmte Opfer begünstigt. Die ziemlich inhomogene Gruppe von besonders schutzbedürftigen Opfern kann man nach unterschiedlichen Kriterien sortieren. Für unsere Zwecke scheint eine Unterscheidung nach Alter, nach dem Charakter der Behinderung und nach der Art der zugrunde liegenden Straftat ausreichend zu sein. Hinsichtlich des Alters gehören in die Kategorie der besonders Schutzbedürftigen die jüngsten und die ältesten Opfer. Was die altersmäßig jüngsten Opfer anbelangt, d. h. Kinder unter 18 Jahren, hat die gesetzliche Regelung seit 2013 keine Änderungen erfahren, unter anderem auch deshalb, weil in der Praxis keine Probleme auftraten. Man sollte auch die Tatsache nicht übersehen, dass es sich um eine Altersgruppe handelt, die laut den viktimologischen Untersuchungen sehr oft Opfer einer Straftat wird, obwohl es sich am häufigsten „nur“ um weniger schwerwiegende Vermögensdelikte wie Raub oder Diebstahl handelt. Es ist bedauerlich, dass sich der Großteil kriminologischer Forschungen nicht auf die jüngste Altersgruppe konzentriert und uns deshalb fundierte Kenntnisse über deren Besonderheiten fehlen. Eine Reihe von Theorien, wie die Theorie des Lebensstils und der Routineaktivitäten, geht davon aus, dass die jüngsten Opfer weder ausreichende finanzielle Mittel noch soziale Erfahrungen und Kontakte haben, um sich vor Kriminalität effektiv schützen zu können und deshalb infolge ihrer sozialen Unreife und Lebensart für Täter leichte Opfer sind. Auch aus diesem Grunde ist es wichtig, dass diese Altersgruppe nicht nur im Strafrecht geschützt wird, sondern auch im Bereich der staatlich gewährten bzw. bezuschussten fachlichen Fürsorge bei der Kompensation der durch das Verbrechen verursachten Folgen begünstigt wird. Ab dem 1. April 2017 werden auch Personen hohen Alters als besonders schutzbedürftige Personen eingestuft. Senioren werden zwar im Vergleich zu anderen Altersgruppen am seltensten Opfer einer Straftat, doch erleiden sie am häufigsten Traumata infolge der Straftat.6 Deshalb verdienen zweifelsohne auch sie eine größere Aufmerksamkeit und Begünstigung, insbesondere was den Umfang der kostenlosen Hilfeleistungen zur Minimierung der zugefügten Schäden anbelangt. Das Gesetz legt 6
Bows, in: Corteen et al., A Companion to Crime, Harm & Victimisation, 2016, S. 1.
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zwar kein Mindestalter für eine Person hohen Alters fest, doch werden in der Praxis Rentner und Personen, die älter als 60 sind, als solche behandelt. Das hohe Alter allein erfüllt die Bedingungen für die Einstufung des Opfers in die Kategorie der privilegierten, besonders schutzbedürftigen Opfer jedoch nicht. Es muss zudem nachgewiesen werden, dass das hohe Alter angesichts der konkreten Umstände des Falles und der persönlichen Umstände das Opfer in Folge des begangenen Verbrechens in seiner vollen und sinnvollen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben hindert, und zwar im Vergleich zu anderen (vom Verbrechen nicht betroffenen) Personen hohen Alters. Es wird die Aufgabe der Rechtsprechung sein zu präzisieren, bei welchen Kriterien eine solche Hinderung vorliegt, was also unter normalen Bedingungen die gesellschaftliche Integration von Personen hohen Alters im Einzelfall beeinflusst, ob es psychische, somatische oder soziale Faktoren sind. Dies wird für die Gerichte nicht immer leicht sein und für eine fachgerechte Beurteilung wird man wahrscheinlich oft Sachverständigengutachten einholen müssen. Hinsichtlich der Behinderung gehören zu besonders schutzbedürftigen Opfern Personen mit physischen oder psychischen Behinderungen oder mit sensorischen Störungen. Auch für diese Kategorie gilt, ähnlich wie bei Personen hohen Alters, dass die Einstufung als besonders schutzbedürftiges Opfer davon abhängt, ob im konkreten Fall das durch das Verbrechen verursachte Trauma in Verbindung mit der Behinderung das Opfer an seiner vollen und sinnvollen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben hindert, und dies wiederum im Vergleich zu anderen behinderten Personen ohne viktimisierende Erfahrungen. Auch hier wird deshalb in vielen Fällen ein Sachverständigengutachten erforderlich sein. Im Hinblick auf die Art des Delikts sind als besonders schutzbedürftig ohne jede weitere Bedingungen Opfer von Menschenhandel und ab dem 1. April 2017 auch Opfer eines terroristischen Angriffs eingestuft. Dagegen werden Opfer einer Straftat gegen die Menschenwürde im sexuellen Bereich, die Nötigung, Gewaltanwendung oder -androhung beinhaltete, einer Straftat wegen der Zugehörigkeit zu einem Volk, einer Rasse, ethnischer Gruppe, Religion, Klasse oder einer anderer Personengruppe oder einer Straftat, die zugunsten einer kriminellen Gruppe begangen wurde, nur dann als besonders schutzbedürftig eingestuft, wenn eine erhöhte Gefahr eines sekundären Schadens für das Opfer vorliegt, und zwar unter Berücksichtigung sämtlicher Merkmale des Opfers, seiner Lebenslage und seines Verhältnisses zum (möglichen) Täter. Diese zweite, sehr inhomogene Opfergruppe kann nicht in einer Weise abgegrenzt werden, die aus der Sicht der Einstufung in die Kategorie der besonders schutzbedürftigen Opfer sinnvoll wäre. In einigen Fällen handelt es sich um die Umsetzung der Verpflichtung aus der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates 2012/29/EU vom 25. Oktober 2012, mit der die Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten eingeführt wurden (im Weiteren: die Richtlinie), wie es zum Beispiel beim terroristischen Angriff der Fall ist. In anderen Fällen stützt man sich auf Erfahrungen aus der einheimischen
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Anwendungspraxis. Der Gesetzgeber wollte hier verschiedene Gruppen von Opfern berücksichtigen, die er für besonders schutzwürdig hielt, was er etwas schief mit dem erhöhten Risiko der sekundären Viktimisierung umgesetzt hat. Ob es ihm restlos gelungen ist, wird erst die Anwendungspraxis zeigen, der in der Regel nichts anderes übrig bleibt, als zu versuchen, die Mängel der Legislative durch ihre Entscheidungstätigkeit wiedergutzumachen oder zumindest zu mildern. Eine weitere Opfergruppe, die in die Kategorie der besonders schutzbedürftigen Opfer fällt, sind Opfer von aus Hass begangenen Straftaten (hate crimes), die sich gegen Personen wegen ihrer Zugehörigkeit zu einem Volk, einer Rasse, ethnischer Gruppe, Religion, Klasse oder einer anderen Personengruppe richten, wie zum Bespiel das Delikt Verunglimpfung eines Volkes, einer Rasse, einer ethnischen oder anderen Personengruppe oder das Delikt Aufstachelung zum Hass gegenüber einer Personengruppe oder zur Beschränkung ihrer Rechte und Freiheiten (§ 355 und § 356 StGB). Hierzu werden aber auch weitere, auf solche Beweggründe zurückzuführende Straftaten gehören, ungeachtet ob ein derartiger Beweggrund Tatbestandsmerkmal oder qualifizierender Umstand ist.7 Erwähnenswert ist auch die ab dem 1. April 2017 geltende Einstufung der Opfer von einer zugunsten einer organisierten kriminellen Gruppe begangenen Straftat als besonders schutzbedürftig, bei denen sowohl ein hohes Risiko von Einschüchterung und Rache, als auch die Gefahr der wiederholten Viktimisierung begründet anzunehmen ist. Außerdem handelt es sich hier um die Umsetzung einer sich aus der Richtlinie ergebenden Verpflichtung. Anhand dieser Aufzählung der sowohl durch das Gesetz eindeutig definierten Kategorien von besonders schutzbedürftigen Opfern (Kinder, Opfer der Straftaten Menschenhandel oder terroristischer Angriff) als auch der bedingt geregelten Gruppen von besonders schutzbedürftigen Opfern (die als solche erst bei dem Vorliegen weiterer Voraussetzungen gelten), wird die relativ große Breite, Heterogenität und Unbestimmtheit dieser Opferkategorie deutlich. Betont werden soll in diesem Zusammenhang deshalb die Bedeutung des (mit Wirksamkeit zum 1. April 2017) neu verankerten Grundsatzes der Präsumtion der besonderen Schutzbedürftigkeit des Opfers – aus der die Pflicht resultiert, das Opfer im Zweifelsfall als besonders schutzbedürftig anzusehen. Auf diese Weise soll das Risiko einer sekundären Viktimisierung des Opfers verhindert werden. Wenn dem Opfer, aus seiner Sicht zu Unrecht, der Status als besonders schutzbedürftiges Opfer verweigert wird, kann es im Vorbereitungsverfahren die Überprüfung des Vorgehens des Polizeiorgans, ggf. auch des Staatsanwaltes, beantragen; vor Gericht kann das Opfer dann gegen solche Entscheidungen Rechtsmittel einlegen. Besonders schutzbedürftigen Opfern stehen eine Reihe von Rechten und sonstigen Privilegierungen zu. Es handelt sich vor allem um kostenlose Rechtshilfe, die ex 7
Vgl. näher Grˇivna/Válková, Trestneˇ právní revue 2017, Nr. 9, S. 198.
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lege zur Verfügung gestellt wird, also ohne dass in dieser Sache eine gerichtliche Entscheidung ergehen müsste. Dieses neue Recht ist für besonders schutzbedürftige Opfer auch deshalb von Bedeutung, weil es sich oft um Opfer von Gewaltkriminalität handelt, bei denen viktimologische Untersuchungen einen relativ niedrigeren sozioökonomischen Status und ein negatives Verhältnis zwischen ihrem Einkommen und der Viktimisierung aufweisen.8 Gerade in diesen Fällen konnte in der Vergangenheit der Mangel an finanziellen Mitteln die Opfer hindern, den Ersatz des durch die Straftat verursachten Schadens qualifiziert geltend zu machen.
IV. Novellierung der zusammenhängenden Gesetze Gleichzeitig mit dem neuen Gesetz über Opfer von Straftaten wurden auch weitere damit zusammenhängende Gesetze novelliert, insbesondere die Strafprozessordnung, in der die Stellung des Verletzten im Strafverfahren geregelt wird. Ergänzt wurden die Verfahrensgrundsätze zum Beispiel um die Pflicht der Strafverfolgungsorgane, das Strafverfahren so zu führen, dass die Rechte des Verletzten immer in vollem Umfang geltend gemacht und berücksichtigt werden. Als Voraussetzung hierfür gilt die ausreichende Information des Verletzten, die von den Strafverfolgungsorganen in geeigneter Weise und verständlicher Form sicherzustellen ist. Erweitert wird auch das Recht des Verletzten auf kostenlose Vertretung durch Bevollmächtigte, und zwar nicht nur, wenn es sich um einen Minderjährigen handelt, sondern neuerdings auch bei besonders schutzbedürftigen Opfern. Nicht zu vergessen ist auch das neu geregelte, ausnahmslose Verbot der Konfrontation des Verletzten unter 18 Jahren mit dem Beschuldigten, sofern es sich um ein Sexualdelikt handelt. Eine bedeutende Änderung stellt auch die Einführung von einstweiligen Verfügungen (§ 88b bis § 88o StPO) dar, mit denen das Gericht, ggf. im Vorbereitungsverfahren auch die Staatsanwaltschaft, sowohl das Risiko einer weiteren Viktimisierung des Opfers und seiner Angehörigen, als auch das Rückfallrisiko des Beschuldigten reduzieren kann. Die abschließende Liste der einstweiligen Verfügungen im Gesetz beinhaltet das Verbot des Kontakts mit dem Verletzen, seinen nahestehenden Personen oder anderen Personen, insbesondere mit den Zeugen (Kontaktverbot mit bestimmten Personen), das Verbot des Zugangs in den Wohnraum, das auch das Aufhalten im gemeinsamen Wohnraum und seiner unmittelbaren Umgebung enthält (Verbot des Zugangs zum Wohnraum), das Verbot des Verkehrens in einem ungünstigen Umfeld, des Besuchs von sportlichen, kulturellen und anderen gesellschaftlichen Veranstaltungen und des Umgangs mit bestimmten Personen, das Verbot, sich an einem konkret bestimmten Ort aufzuhalten, das Verbot, ins Ausland zu reisen, das Verbot, Sachen zu halten oder zu besitzen, die für Straftaten verwendet werden können, das Verbot, alkoholische Getränke oder andere Suchtmittel zu genießen, zu halten oder zu besitzen, das Verbot des Glückspiels, des Wettens und des Spielens an 8
Vgl. näher Holas/Krulichová/Háková/Scheinost (Fn. 2), 2016, S. 65, 71.
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Spielautomaten, das Verbot einer konkret bestimmten Tätigkeit, die die Wiederholung oder Fortsetzung der Straftätigkeit ermöglicht. Einstweilige Verfügungen sollen so lange dauern, wie es ihr Zweck erfordert, doch nicht länger als das Strafverfahren andauert, d. h. bis zur Rechtskraft des Urteils oder einer anderen verfahrensbeendenden Maßnahme, oder bis zu einer anderen einstweiligen Verfügung, im äußersten Falle auch bis zur Verhängung der Haft (§ 88b bis § 88o StPO). Positiv zu werten ist auch die Verbesserung der Einbringlichkeit des Schadensersatzes für die Verletzten, die in der Vergangenheit am Rande der Aufmerksamkeit von Strafpolitik und Gesetzgebung blieb. Es ist häufig passiert, dass der Verletzte, selbst im Falle eines gerichtlich festgestellten Schadensersatzanspruchs und einer Sicherung des Tätervermögens durch die Polizei, diesen Anspruch nicht befriedigen konnte. Diese unbefriedigende Situation konnte durch die Novellierung von anknüpfenden zivilrechtlichen Vorschriften, nämlich der ZPO, der Vollstreckungsordnung, des Gerichtsgebührengesetzes und der Insolvenzordnung geändert werden. Zur Erhöhung der Wahrscheinlichkeit, dass die Ansprüche der Verletzten/Opfer auf Schadensersatz befriedigt werden, trägt auch die neue Gesetzgebung zu Geldstrafen bei. Das 2017 verabschiedete neue Gesetz Nr. 59/2017 Slg. über die Verwendung von Geldmitteln aus im Strafverfahren verhängten Vermögensstrafen ermöglicht es seit dem 1. Januar 2018, den Ertrag aus der verhängten Geldstrafe zur Befriedigung der Vermögensansprüche des Opfers der dem Verfahren zugrunde liegenden Straftat zu verwenden.
V. Zum Schluss Alle oben genannten, in den letzten Jahren verabschiedeten legislativen Änderungen, mit denen unmittelbar oder mittelbar der Status, die Rechte und Möglichkeiten der Opfer von Straftaten in der Rechtsordnung der Tschechischen Republik geregelt werden, haben zu einer beträchtlichen Verbesserung ihrer Stellung beigetragen. Um das neue Gesetz über Opfer von Straftaten konsequent und vollumfänglich anwenden zu können, gilt es nun, die fachliche Spezialisierung und personelle Stabilisierung der in diesem Bereich tätigen Mitarbeiter sicherzustellen, d. h. in der Polizei, in sozialen und medizinischen Diensten sowie in der Strafjustiz im weiteren Sinne (Richter, Staatsanwälte, Bewährungshelfer, Strafvollzugsangestellte). Es gilt auch kriminologische Forschungen, zum Beispiel auf dem Gebiet der Ermittlung von spezifischen Bedürfnissen von Kinderopfern und Opfern hohen Alters, durchzuführen, um die bisherigen Lücken in unseren viktimologischen Kenntnissen zu füllen.9
9 Vgl. näher Válková/Kuchta, Základy kriminologie a trestní politiky (Grundlagen der Kriminologie und der Strafpolitik), 2012; Holas/Krulichová/Háková/Scheinost (Fn. 2), S. 108.
Schriftenverzeichnis I. Einzelveröffentlichungen 1. Strafe und freiheitsentziehende Maßnahme; Kriminologische Schriftenreihe Bd. 30; Hamburg 1967 2. Communauté Pénitentiaire; in: Conseil de l’Europe, Comité pour les Problèmes Criminels (Hrsg.): DPC/BCC/COOR (70); Strasbourg 1972 (zusammen mit M. Colin, R. Taylor) 3. Einführung in Probleme der Kriminologie; München 1972 4. Kriminologie; Köln u. a. 1979, XIX, 692 S. 5. Minderjährige in der Gesellschaft. Über Zusammenhänge zwischen institutionalisierten Beeinträchtigungen und Delinquenz; Köln u. a. 1980 6. Jugendgerichtsgesetz mit Erläuterungen; München 1982, XLI, 800 S. 7. Bestrebungen zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes. Vortrag, gehalten vor der Juristischen Gesellschaft zu Berlin; Berlin/New York 1984 8. Kriminologie; 2. vollständig überarbeitete und erheblich erweiterte Auflage; Köln u. a. 1985, XXV, 1022 S. 9. Jugendgerichtsgesetz; 2. neu bearbeitete Auflage; München 1985, XLIII, 907 S. 10. Vorzeitige Entlassung gemäß § 57 StGB. Eine empirische Untersuchung der Praxis am Beispiel von Berlin (West); Berlin/New York 1987 (zusammen mit C. Ohder) 11. Jugendgerichtsgesetz mit Erläuterungen; 3. neu bearbeitete Auflage; München 1988, XXXII, 1061 S. 12. Verkehrsunfallflucht. Eine empirische Untersuchung zu Reformmöglichkeiten; Berlin, New York 1989, 236 S. (zusammen mit C. Ohder und K. Bruckmeier) 13. Kriminologie; 3. vollständig überarbeitete Auflage; Köln u. a. 1990, XXIII, 1232 S. 14. Jugendgerichtsgesetz mit Erläuterungen; 4. Auflage; München 1991, XXXII, 1120 S. 15. Persönliche Beweismittel in der StPO. Eine kommentierende Erläuterung der Vorschriften zum Beschuldigten, Zeugen und Sachverständigen; München 1993, XXV, 662 S. 16. Jugendgerichtsgesetz mit Erläuterungen; 5. Auflage; München 1993, XXXVI, 1165 S.
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17. Kriminologie; 4. vollständig neu gestaltete und erweiterte Auflage; Köln u. a. 1995, XVII, 1519 S. 18. Beck’sche Kurzkommentare, Jugendgerichtsgesetz; 6. vollständig neu bearbeitete Auflage; München 1995, XXXVI, 1191 S. 19. Beweisrecht der StPO. Spezialkommentar; 2. Auflage; München 1996, XL, 920 S. 20. Beck’sche Kurzkommentare, Jugendgerichtsgesetz; 7. vollständig neu bearbeitete Auflage; München 1997, XXXVIII, 1262 S. 21. Beweisrecht der StPO. Spezialkommentar; 3. Auflage; München 1999, XLIV, 1018 S. 22. Beck’sche Kurzkommentare, Jugendgerichtsgesetz; 8. vollständig neu bearbeitete Auflage; München 2000, XXXVIII, 1315 S. 23. Kriminologie; 5. vollständig neu bearbeitete Auflage; München 2000, XXIV, 1160 S. 24. Beck’sche Kurzkommentare, Jugendgerichtsgesetz; 9. vollständig neu bearbeitete Auflage; München 2002, XXXIX, 1335 S. 25. Beweisrecht der StPO. Spezialkommentar; 4. Auflage; München 2002, XLVI, 1170 S. 26. Beck’sche Kurzkommentare, Jugendgerichtsgesetz; 10. vollständig neu bearbeitete Auflage; München 2004, XL, 1349 S. 27. Kriminologie; 6. neu bearbeitete Auflage; München 2005, S. XXVIII, 1186 S. 28. Beck’sche Kurzkommentare, Jugendgerichtsgesetz, 11. vollständig neu bearbeitete Auflage; München 2006, XXXIX, 1204 S. 29. Beweisrecht der StPO. Spezialkommentar; 5. Auflage; München 2006, XLVIII, 913 S. 30. Beck’sche Kurzkommentare, Jugendgerichtsgesetz; 12. vollständig neu bearbeitete Auflage; München 2007, XLI, 1197 S. 31. Beweisrecht der StPO. Spezialkommentar, 6. Auflage; München 2008, XLVII. 973 S. 32. Beck’sche Kurzkommentare, Jugendgerichtsgesetz; 13. vollständig neu bearbeitete Auflage; München 2008, XLII, 1231 S. 33. Beck’sche Kurzkommentare, Jugendgerichtsgesetz; 14. vollständig neu bearbeitete Auflage; München 2010, XLII, 1296 S. 34. Beweisrecht der StPO. Spezialkommentar; 7. Auflage; München 2011, XLIV, 1033 S. 35. Beck’sche Kurzkommentare, Jugendgerichtsgesetz; 15. vollständig neu bearbeitete Auflage; München 2012, XLIV, 1333 S. 36. Beck’sche Kurzkommentare, Jugendgerichtsgesetz; 16. vollständig neu bearbeitete Auflage; München 2013, XLIV, 1403 S.
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37. Beweisrecht der StPO. Spezialkommentar; 8. Auflage; München 2013, XLVIII, 1088 S. 38. Beck’sche Kurzkommentare, Jugendgerichtsgesetz; 17. vollständig neu bearbeitete Auflage; München 2014, XLII, 1485 S. 39. Beweisrecht der StPO. Spezialkommentar; 9. Auflage; München 2015, L, 1136 S. 40. Beck’sche Kurzkommentare, Jugendgerichtsgesetz; 18. vollständig neu bearbeitete Auflage; München 2016, XLIV, 1521 S. 41. Beck’sche Kurzkommentare, Jugendgerichtsgesetz; 19. vollständig neu bearbeitete Auflage; München 2017, XLVII, 1564 S. 42. Beweisrecht der StPO. Spezialkommentar; 10. Auflage; München 2017, L, 1269 S. 43. Beck’sche Kurzkommentare, Jugendgerichtsgesetz; 20. neu bearbeitete Auflage; München 2018, XLVIII, 1613 S.
II. Aufsätze 1. Zum Behandlungskonzept der Sozialtherapeutischen Anstalten; in: NJW 1969, S. 1553 – 1558 2. Die sozialtherapeutische Anstalt im zukünftigen deutschen Strafrecht. Ein Beitrag zur Problematik stationärer Kriminaltherapie; in: Kriminolog. Gegenwartsfragen 9 (1970), S. 92 – 107, 117 f. 3. Zur Prognoseforschung in der Kriminologie; in: Der Medizinische Sachverständige 1971, S. 10 – 19 4. Zum Opferbereich in der Kriminologie; in: GA 1971, S. 168 – 179 5. Research Priorities in Criminology; in: Kaiser, G./Würtenberger, T. (Hrsg.): Criminological Research Trends in Western Germany; Berlin u. a. 1972, S. 90 – 100 6. Bemerkungen zu Möglichkeiten und Grenzen der Kriminologie; in: MschrKrim 55 (1972), S. 97 – 1066 7. Über sozialtherapeutische Behandlung von Gefangenen; in: ZStW 86 (1974), S. 1042 – 1066 8. Kriminologisch bedeutsames Verhalten von Staatsführungen und ihren Organen; in: MschrKrim 63 (1980), S. 217 – 231 9. Strafen und Maßregeln; in: Handwörterbuch der Kriminologie, Bd. 5; 1983, S. 15 – 40 10. Vernehmung und Aussage (insbesondere) im Strafverfahren aus empirischer Sicht; in: JZ 1984, S. 912 – 918 sowie S. 961 – 966 11. Der Verteidiger im Jugendstrafverfahren; in: NJW 1984, S. 2913 – 2920
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12. Aufgaben (ergänzender) gesetzlicher Regelung des Jugendstrafvollzuges; in: ZRP 1985, S. 41 – 50 13. Aufsätze jugendstrafrechtlich verfolgter Personen; in: Geilen, G. u. a. (Hrsg.): Festschrift für Günter Blau; Berlin/New York 1985, S. 207 – 226 14. Probleme der Normsetzung und Normdurchsetzung im Bereich Internationaler Organisationen bezüglich kriminologisch bedeutsamen Verhaltens von Staatsführungen und ihren Organen; in: Hirsch, H.-J. u. a. (Hrsg.): Gedächtnisschrift für Hilde Kaufmann; Berlin/ New York 1986, S. 21 – 50 15. Beschlagnahme von Akten der Jugendgerichtshilfe durch das Jugendgericht; in: NStZ 1986, S. 308 – 310 16. Zur Frage der sachlichen Zuständigkeit des Jugendschöffengerichts bei Anordnung der Unterbringung; in: NJW 1986, S. 2409 – 2411 17. „Politische Delikte“ in Wandelbarkeit und Wandel; in: JZ 1986, S. 111 – 118 (zusammen mit G. M. Sander) 18. Einzelne Bemerkungen zu den Bestrebungen zur Schaffung eines Untersuchungshaftvollzugsgesetzes; in: ZRP 1987, S. 238 – 241 19. Auslegungsprobleme des § 57 Abs. 2 Nr. 1 StGB n.F.; in: NStZ 1987, S. 167 – 170 20. Möglichkeiten und Grenzen der Unterbringung gemäß §§ 71 Abs. 2, 72 Abs. 3 JGG; in: ZblJR 1987, S. 325 – 330 21. Zur Verantwortung vor dem Erziehungsgedanken im Jugendstrafrecht; in: JR 1987, S. 485 – 490 22. Kriminologische Fragestellungen zum Allgemeinen Teil des Strafrechts; in: MschrKrim 70 (1987), S. 367 – 374 23. Principi fondamentali del diretto penale minorile tedesco; in: Rivista italiana di diritto e procedura penale 1987, S. 982 – 991 24. Rechte und Befugnisse von Verletzten im Strafverfahren gegen Jugendliche; in: NStZ 1988, S. 49 – 53 (zusammen mit RiKG H.-J. Schaal) 25. Zum Referentenentwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes (1. JGGÄndG), Stand Juli 1987; in: MschrKrim 71 (1988), S. 129 – 137 26. Zum Schutzbedürfnis jugendlicher Beschuldigter im Ermittlungsverfahren; in: NJW 1988, S. 1250 f. 27. Die Praxis der Aussetzung des Restes der Freiheitsstrafe zur Bewährung am Beispiel von Berlin (West); in: Kaiser, G. u. a. (Hrsg.): Kriminologische Forschung im deutschsprachigen Raum; Freiburg 1988, S. 495 – 509 (zusammen mit C. Ohder) 28. Zur „besonderen Qualität“ richterlicher Vernehmung im Ermittlungsverfahren; in: NStZ 1988, S. 488 f.
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29. Osnovnopolagajuscie principy nemeckovo zakona o sude po delam nesoversennoletnich; Vortrags-Manuskript; Leningrad, UdSSR 1988 30. Jugendarrest wegen schuldhafter Nichtbefolgung von Weisungen und Auflagen; in: ZblJR 1989, S. 16 – 21 31. Jugendstrafrecht und Jugendstrafrechtspflege im internationalen Vergleich; in: BJM (Hrsg.): Jugendstrafrechtsreform; Bonn 1989, S. 45 – 73 32. Informationsrechte Dritter im (Jugend-)Strafverfahren; in: NStZ 1989, S. 505 – 508 (zusammen mit Jens v. Wedel) 33. Bemerkungen zu einzelnen „ungewöhnlichen“ Gefangenenkleingruppen; in: ZfStrVo 1989, S. 334 – 342 34. Bemerkungen zu einem Forschungsprojekt mit dem Ziel einer Prognose (bzw. Abschätzung) der Wirkung von Maßnahmen zur Senkung der Fluchtrate nach Sachschadensunfall im Straßenverkehr; in: Festschrift für Hans Göppinger; Heidelberg 1990, S. 549 – 560 35. Beeinträchtigung der notwendigen Verteidigung. Dargestellt anhand der Judikatur zu § 99 BRAGO; in: NJW 1990, S. 1021 – 1025 (zusammen mit M. Classen) 36. Zur Rechtsstellung von Kindern im polizeilichen Ermittlungsverfahren; in: StV 1990, S. 554 – 556 37. Zum Verhältnis zwischen „Kriminalpädagogik“ und Strafjustiz; in: Gedächtnisschrift für Karlheinz Meyer; Berlin/New York 1990, S. 699 – 714 38. Über Organisiertes Verbrechen; in: JZ 1990, S. 574 – 579 (zusammen mit C. Ohder) 39. Colpa stradale e fuga dal luogo dell’ incidente; in: Mazza, L. (Hrsg.): Studi sulla colpevolezza; Turin 1990, S. 85 – 103 40. Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung; in: BewHi 1990, S. 131 – 146 41. Zu Fragen vorzeitiger Aufhebung der Sperre für die Erteilung einer Fahrerlaubnis im Jugendstrafverfahren; in: NZV 1990, S. 455 f. (zusammen mit D. Dickhaus) 42. Über Zusammenhänge zwischen elterlicher Erziehung und (zukünftiger) Kindes- und Jugenddelinquenz; in: FamRZ 1991, S. 147 – 155 43. Aspekte der Rechtsstellung des Strafverteidigers; in: NJW 1991, S. 1257 – 1263 44. Probleme in Familienrechtsfragen aus der Sicht des Jugendrichters; in: Zentralblatt für Jugendrecht 1991, S. 250 – 256 45. Zur Frage der örtlichen Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft im Falle des Wechsels des Vollstreckungsleiters; in: DVJJ-Journal 1991, Heft 2, S. 151 f. 46. Empirische Untersuchungen zur Verkehrsunfallflucht (§ 142 StGB); in: Eser, A. u. a. (Hrsg.): Viertes deutsch-polnisches Kolloquium über Strafrecht und Kriminologie; Freiburg 1991, S. 389 – 404
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47. Kriminalpädagogik; in: Möller, B. (Hrsg.): Logik der Pädagogik. Pädagogik als interdisziplinäres Aufgabengebiet, Bd. 1; Oldenburg 1992, S. 71 – 85 48. Scientology; in: Zentralblatt für Jugendrecht 1992, S. 298 – 305 49. Über Verhängung und Vollzug von Untersuchungshaft gegenüber Jugendlichen und Heranwachsenden; in: GA 1993, S. 293 – 317 (zusammen mit F. Toth) 50. Videopiraterie; in: Schriftenreihe des Instituts für Rundfunkrecht der Universität zu Köln; München 1993, S. 13 – 28 51. Strafrechtliche Maßnahmen gegenüber „Organisiertem Verbrechen“; in: NJW 1993, S. 1033 – 1039 52. Zum Zerbrechen an Unrecht; in: Festschrift für Wilfried Rasch; Frankfurt a.M. 1993, S. 22 – 26 53. Zu einem Konflikt der Staatsanwaltschaft mit dem Gesetz; in: NStZ 1994, S. 67 – 69 54. Wahrheitspflicht und Prozeßbetrug (§ 263 StGB) im Zivilrechtsstreit; in: Festschrift für Hannskarl Salger; Köln u. a. 1994, S. 15 – 29 55. Provvedimenti penali nei confronti del „crimine organizzato“ in Germania; in: Università degli studi di Messina. Instituto di diritto processuale (Hrsg.): Criminalità organizzata fra repressione e prevenzione; Messina 1994, S. 87 – 98 56. Erweiterte Selbsttötung – Dominanzanspruch bis zum Tod; in: Festschrift für Friedrich Geerds; Lübeck 1995, S. 217 – 238 57. Visuelle und auditive Gegenüberstellung im Strafverfahren; in: Kriminalistik 49 (1995), S. 458 – 465 58. Grundsätzliche erstinstanzliche Nichtzuständigkeit von Bundesanwaltschaft und Oberlandesgericht in Jugendstrafverfahren; in: NStZ 1996, S. 263 – 267 59. Strafprozessualer Zugriff auf digitale multimediale Videodienste; in: JZ 1997, S. 74 – 83 (zusammen mit A. Nischan) 60. Über Grenzen der Bindung gemäß § 358 Abs. 1 StPO; in: StraFo 1997, S. 129 – 132 61. Horror-Video-Konsum und Voraussetzungen von § 3 JGG bzw. §§ 20, 21 StGB?; in: NJW 1997, S. 1136 – 1138 62. Serientötungen alter Patienten auf der Intensiv- oder Pflegestation durch Krankenschwestern bzw. -pflegerinnen; in: MschrKrim 80 (1997), S. 239 – 254 63. Personifizierter Haß bei interpersonaler Fremdheit im Täter-Opfer-Verhältnis; in: Festschrift für Eugen Weschke; Berlin 1997, S. 1 – 9 64. Kriminologie zwischen Rechtswissenschaft und Rechtsmedizin; in: Kriminalistik 52 (1998), S. 162 – 169
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65. § 152 II StPO: Legalitätsprinzip im gerichtsfreien Raum; in: NJW 1998, S. 2241 – 2249 (zusammen mit St. Conen) 66. Unzulässigkeit der Nebenklage Minderjähriger ohne ihre Zustimmung; in: GA 1998, S. 32 – 39 67. Unzulässigkeit der Sitzungsvertretung durch Referendare in Jugendsachen; in: DRiZ 1998, S. 161 – 164 68. Zur verfahrensrechtlichen Stellung der Jugendgerichtshilfe; in: StV 1998, S. 304 – 313 69. „Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten“ vom 26. 1. 1998; in: ZfStrVo 47 (1998), S. 196 – 202 (zusammen mit A. Hackethal) 70. Anwendungsmodifizierung bzw. Sperrung von Normen der StPO durch Grundsätze des JGG; in: NStZ 1999, S. 281 – 286 71. Über Vollzugsbedingungen im sowjetischen Internierungslager Sachsenhausen; in: Festschrift für Alexander Böhm; Berlin u. a. 1999, S. 819 – 833 72. Über Gefangenenarbeit für Bedienstete zu Vorzugspreisen; in: MschrKrim 82 (1999), S. 256 – 267 73. Extensive Gesetzesauslegung bei Anordnung der Sicherungsverwahrung; in: NJW 2001, S. 188 – 190 (zusammen mit S. Schlüter) 74. Schutzbelange des als „Beteiligter“ beurteilten Kindes im Strafverfahren gegen den volljährigen Beschuldigten; in: GA 2001, S. 153 – 157 75. Das betroffene Kind im Verfahren nach dem Gewaltschutzgesetz-Entwurf; in: Zentralblatt für Jugendrecht 2001, S. 176 – 178 76. Zur staatlichen Verfolgung politisch Andersdenkender in den USA zur Zeit des McCarthyismus; in: Festschrift für Heinz Müller-Dietz; München 2001, S. 187 – 200 77. Informationelles Selbstbestimmungsrecht und gesetzliche Unbestimmtheiten in § 81g StPO; in: Festschrift für Lutz Meyer-Goßner; München 2001, S. 293 – 305 78. Nachträgliche Sicherungsverwahrung?; in: ZfStrVo 2001, S. 131 – 133 79. Doppelverwertungsverbot (auch) im Jugendstrafrecht; in: Festschrift für Peter Rieß; Berlin u. a. 2002, S. 829 – 844 80. Zum Verhältnis der Durchsuchung (§§ 102 ff. StPO) zu ethologischen Grundbedürfnissen; in: Festschrift für Klaus Rolinski; Baden-Baden 2002, S. 165 – 177 81. Geschäftsverteilungen im Jugendstrafverfahren; in: GA 2002, S. 579 – 585 82. Zur Unzulässigkeit optischer Ermittlungsmaßnahmen (Observation) betreffend eine Wohnung; in: NStZ 2002, S. 638 – 640
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83. Streitfragen in der Judikatur zum Jugendstrafrecht (1998 – 2002); in: NStZ 2003, S. 124 – 133 84. Sachäußerungen des schweigenden Angeklagten in der Hauptverhandlung; in: JZ 2003, S. 397 – 403 (zusammen mit H. Pincus) 85. Elternverantwortung für jugendliche Angeklagte – zugleich eine Besprechung von BVerfG, Urteil vom 16. 1. 2003; in: GA 2003, S. 226 – 231 (zusammen mit B. Zötsch) 86. Freie Arbeit (Art. 293 EGStGB) während Freiheitsentzuges (§ 43 StGB)?; in: ZfStrVo 2003, S. 223 f. 87. Neuere höchstrichterliche Rechtsprechung zum Zeugen im Strafverfahren; in: NJW 2003, S. 3676 – 3678 (zusammen mit B. Zötsch) 88. Verzehrdiebstahl einer Milchschnitte (26 cents): 1 Monat Freiheitsstrafe; in: MschrKrim 86 (2003), S. 443 – 445 89. Zur jugendstrafgerichtlichen Rezeption von Stellungnahmen der Jugendgerichtshilfe; in: ZJJ 2003, S. 354 – 360 (zusammen mit T. Singelnstein) 90. Zur Frage der Vereinbarkeit eines Teils der hessischen AVen zum StVollzG; in: ZfStrVo 53 (2004), S. 94 f. 91. Die Maßregel der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB und so genannte „Nicht-Therapiegeeignetheit“; in: NStZ 2004, S. 240 – 248 92. Entschädigung für zu Unrecht erlittene Strafverfolgungsmaßnahmen im Jugendstrafrecht; in: GA 2004, S. 385 – 389 93. Sachlich-rechtliche Beweisprobleme der Aussagewürdigung beim Vorwurf des Inzests; in: JR 2004, S. 358 – 367 94. Zum RefE eines JStVollzG des BMJ vom 28. 4. 2004; in: MSchrKrim 87 (2004), S. 353 – 360 95. Zum institutionellen Umgang mit Probanden des Maßregelvollzuges gemäß § 63 StGB anläßlich neuerlicher schwerer (Straf-)Taten; in: WZFP Lippstadt (Hrsg.): 19. Eickelborner Fachtagung; Lippstadt 2005, S. 8 – 19 96. Zur Unzulässigkeit der heimlichen Ortung per „stiller SMS“; in: NStZ 2005, S. 62 – 67 (zusammen mit T. Singelnstein) 97. Überwachung mittels RFID-Technologie; in: ZRP 2005, S. 9 – 12 (zusammen mit J. Puschke und T. Singelnstein) 98. Sankzionnaja sistema w germanskom ugolownom prawe. Vortrags-Manuskript; Kazan, Tatarstan 2005, S. 15 99. Samoje aktualbnoje raswitie ugolownaprozessualnowo prawa w germanskom i w ewropeiskom cojuse, Vortrags-Manuskript; Kazan, Tatarstan 2005, S. 14
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100. Ubiquitäres Computing – ubiquitäre Kontrolle?; in: KrimJ 2005, S. 93 – 108 (zusammen mit J. Puschke und T. Singelnstein) 101. Zum begrenzten Anwendungsbereich des § 354 Abs. 1a und Abs. 1b StPO; in: StraFo 2005, S. 221 – 225 (zusammen mit C. Haeseler) 102. Arbeitslosigkeit und Delinquenz; in: Baßeler, U. u. a. (Hrsg): Arbeitslosigkeit. Ringvorlesung 2004; Berlin 2005, S. 67 – 86 103. Anmerkungen zu dem Beitrag „Mindestanforderungen für Schuldfähigkeitsgutachten“; in: NStZ 2005, S. 304 – 307 104. Politische Bestrebungen zu Lasten des Jugendstrafrechts; in: ZRP 2005, S. 188 – 192 (zusammen mit R. Sieveking und U. Heid) 105. Entwicklungen im Jugend(straf)verfahrensrecht in den Jahren 2003 – 2005; in: Zentralblatt für Jugendrecht 2005, S. 425 – 432 106. Zur strafjustitiellen Vorgeschichte gemeinsamen elterlichen Suicids; in: Festschrift für Helmut Schirmer; Karlsruhe 2005, S. 87 – 102 107. Gutachterkosten in Verfahren zur Prüfung der Voraussetzungen der (vorzeitigen) Entlassung aus dem Vollzug freiheitsentziehender Rechtsfolgen; in: JR 2006, S. 57 – 60 108. Speicherung von DNA-Identifizierungsmustern als erkennungsdienstliche Maßnahme zur „Strafverfolgungsvorsorge“ trotz Nichtverurteilung; in: GA 2006, S. 168 – 182 (zusammen mit T. Singelnstein) 109. Tatort Schulhof – Wie Jugendgerichte den Tatvorwurf „Abziehen von Sachen“ behandeln; in: DRiZ 2006, S. 120 – 124 110. Zur Befangenheit des Sachverständigen im Strafverfahren; in: NStZ 2006, S. 368 – 374 111. Einzelne Aspekte der Heranziehung psychologischer bzw. psychiatrischer Sachverständiger im Jugendstrafverfahren; in: ZJJ 2006, S. 124 – 133 112. Über kriminologische Erkenntnisse in Erläuterungen zu §§ 13 bis 27 StGB; in: Festschrift für Hans-Dieter Schwind; Heidelberg 2006, S. 253 – 268 113. Zur Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen gegenüber Jugendlichen und Heranwachsenden; in: ZKJ 2006, S. 490 – 493 (zusammen mit Ch. Reuther) 114. Aspekte bei der Prognose strafgerichtlicher Entscheidung aufgrund von Persönlichkeitsund Verhaltensmerkmalen Amtierender; in: Festschrift für Heike Jung; Baden-Baden 2007, S. 127 – 134 115. Referentenentwurf eines Jugendstrafvollzugsgesetzes; in: ZKJ 2007, S. 184 – 188 (zusammen mit T. Singelnstein) 116. Vorläufige Anhaltspunkte über (mutmaßliche) Entführungen und Verhörlager innerhalb Europas namens der US-amerikanischen Regierung; in: Festschrift für Andrzeja Gaberle; Warschau/Krakau 2007, S. 163 – 171
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117. Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Rechts der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und in einer Entziehungsanstalt (BT-Drs 16/1344 vom 26. 4. 2006); in: GA 2007, S. 348 – 360 118. Neue Gesetze – Kontinuitäten und Diskontinuitäten; in: ZJJ 2007, S. 152 – 158 119. Aspekte des Verhältnisses von materieller Wahrheit und Wiederaufnahme des Verfahrens gemäß §§ 359 ff. StPO; in: JR 2007, S. 360 – 368 120. Nachträgliche Sicherungsverwahrung betreffend zur Tatzeit Jugendliche bzw. Heranwachsende?; in: JZ 2007, S. 1143 f. 121. Zeugenschutzprogramme und Wahrheitsermittlung im Strafprozess; in: Festschrift für Gerhard Fezer; Berlin 2008, S. 193 – 210 122. Jugendstrafvollzugsgesetze der Bundesländer – eine Übersicht; in: NStZ 2008, S. 250 – 262 123. Austausch „neuer Tatsachen“ gemäß § 66 b StGB durch das Revisionsgericht?; in: JR 2008, S. 146 – 148 124. Tötung in staatlich organisierter Unentrinnbarkeit; in: ZJJ 2008, S. 381 – 385 125. Histrionische Zeugen und Wiederaufnahme des Verfahrens gemäß § 359 Nr. 5 StPO; in: Festschrift für Knut Amelung; Berlin 2009, S. 585 – 602 126. Zur (Nicht-)Geeignetheit psychiatrischer Gutachten vor Anordnung nachträglicher Sicherungsverwahrung; in: DRiZ 2009, S. 219 – 222 127. Aktuelle Streitstände im deutschen Jugendstrafrecht; in: Nationaluniversität Lviv (Hrsg): Aktuelle Probleme der Rechtsentwicklung in Zentralosteuropa; Lviv, Ukraine 2009, S. 70 – 74 128. Rekrutenbefragung und beweisrechtlicher Erfahrungssatz; in: NStZ 2010, S. 125 – 127 129. „Feindliche Übernahme“ im Jugendstrafrecht?; in: NJW 2010, S. 1507 – 1510 130. „Molotow-Cocktails“ und Ermittlungspflicht (§ 160 Abs. 2 StPO); in: Kriminalistik 2010, S. 444 – 448 131. Gegenständliche Voraussetzungen der Identifizierung von Personen aufgrund von Schrift- und Sprechmaterial; in: NStZ 2010, S. 680 – 684 132. Zur Unterrichtungspflicht der Finanzbehörden gegenüber der Staatsanwaltschaft zwecks Ausübung des Evokationsrechts; in: Festschrift für Klaus Geppert; Berlin u. a. 2011, S. 81 – 96 133. Kriterien der Eröffnung des strafprozessualen Hauptverfahrens; in: JZ 2011, S. 672 – 681 134. Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG); in: HRRS 2011, S. 64 – 72 135. Begleitwort; in: Puschke, J. (Hrsg.): Strafvollzug in Deutschland; Berlin 2011, S. 7 – 12
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136. „Wiedererkennungssicherheit 100 %“ trotz ungünstiger Wahrnehmungsbedingungen anlässlich des 5 Monate zurückliegenden Tatgeschehens?; in: Kriminalistik 2011, S. 557 – 561 137. IQ 37 – Verwertungsverbot polizeilicher Vernehmung ohne Verteidiger betreffend Tatvorwurf des Mordes (§ 211 StGB)?; in: DRiZ 2011, S. 365 – 369 138. Sich-Entfernen bzw. Fernbleiben während der Hauptverhandlung (§ 231 Abs. 2 StPO); in: NStZ 2012, S. 63 – 70 139. Zum Unvermögen mordmerkmalsspezifischer Motivationsbeherrschung bei (normalpsychologisch) nicht erklärbarem exzeptionellen Anerkennungsbedürfnis. Zugleich Besprechung des Urteils BGH v. 19. 10. 2011 (1 StR 273/11); in: HRRS 2012, S. 23 – 27 140. Zur jugendgerichtlichen (Nicht-)Berücksichtigung empirischer Erkenntnisse im Sinne von § 37 JGG nebst Richtlinie Nr. 3, erörtert anhand einer Verurteilung u. a. wegen Mordes; in: ZKJ 2012, S. 54 – 59 141. Dysfunktionales Verhältnis zwischen Sachverständigem und (Jugend-)Strafjustiz; in: HRRS 2012, S. 466 – 476 142. Revisionsverwerfung durch Beschluss als „offensichtlich unbegründet“ auch im Jugendstraf(verfahrens)recht (§ 2 Abs. 2 JGG, § 349 Abs. 2 StPO)?; in NK 2013, S. 229 – 246 143. „Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte Beschuldigter im Strafverfahren“ – Bedeutung und Unzuträglichkeiten; in: JR 2013, S. 442 – 451 144. „Stalking“ in der Praxis der Strafjustiz; in: DRiZ 2013, S. 364 – 367 (zusammen mit I. Müller) 145. Erziehungsbedürftigkeit und -fähigkeit als Voraussetzung der Verhängung von Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld (§ 17 Abs. 2 Alt. 2 i.V.m. § 2 Abs. 1 S. 2 JGG); in: NStZ 2013, S. 636 – 639 146. Urteilsaufhebung wegen Nichtrespektierung des Wunsches nach Verteidigerkonsultation; in: StV 2013, S. 779 – 785 147. Zur Rolle der Sachverständigen im Verfahren gemäß §§ 7 Abs. 2, 81 a JGG, erörtert an Hand eines Einzelfalls; in: Festschrift für Hans-Jürgen Kerner; Tübingen 2013, S. 577 – 590 148. Zu den Voraussetzungen strafrechtlicher Verantwortlichkeit Jugendlicher; in: ZKJ 2013, S. 347 – 349 149. Zur Situation und zu den Rechtsfolgen der Tötung unter Einfluss von Horror-Videos – Anmerkungen zu einem Einzelfall; in: Gedächtnisschrift für Michael Walter; Berlin 2014, S. 55 – 67 150. Verfassungswidrige Untersuchungshaftdauer und (Nicht-)Entschädigung (§ 6 Abs. 2 StrEG); in: GA 2014, S. 107 – 115
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151. Tätigkeitsbericht des Justizvollzugsbeauftragten des Landes NRW 2012; in: NK 2014, S. 6 – 14 152. Heimliche versus dokumentierte Kommunikation zwischen Auftraggeber und kriminologischem, psychologischem, psychiatrischem und psychologisch-therapeutischem Sachverständigen; in: R&P 2014, S. 80 – 85 153. Übertölpelung durch VP und VE ohne Anfangsverdacht; in: GA 2014, S. 404 – 421 154. Befangenheit des Sachverständigen (§ 74 StPO) und Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus im Sicherungsverfahren (§ 63 StGB, §§ 413 ff StPO); in: JR 2014, S. 441 – 447 155. „Briefkasten-Bomber“ und forensisch-psychiatrische Gutachten; in: Kriminalistik 2014, S. 737 – 743 156. Vorenthaltung notwendiger Verteidigung nach Ergreifung aufgrund Haftbefehls und als Geständnis interpretierte Teilaussagen; in: StV 2015, S. 180 – 184 157. Zuwiderhandlung gemäß § 4 Gewaltschutzgesetz bzw. Nachstellen gemäß § 238 StGB und Voraussetzungen der Unterbringung gemäß § 63 StGB; in: Festschrift für Werner Beulke; Heidelberg 2015, S. 1119 – 1129 158. Zum Verfahren der Unterbringung zur Beobachtung (§ 81 StPO) betreffend die Frage der Verhandlungsfähigkeit im Stadium der Hauptverhandlung; in: NStZ 2015, S. 433 – 437 159. Verhandlungs(un)fähigkeit und Ablehnung vorläufiger Verfahrenseinstellung (§ 205 S. 1 StPO), erörtert anhand eines Verfahrens wegen „Polizistenmordes“; in: Festschrift für Heribert Ostendorf; Baden-Baden 2015, S. 287 – 302 160. Absehen zeugnisverweigerungsberechtigter, als nicht verstandesreif beurteilter Minderjähriger von der Mitwirkung an einer aussagepsychologischen Begutachtung; in: NStZ 2016, S. 11 – 16 161. Jugendstrafrechtliche Verteidigung und etwaige familiär veranlasste, dem Angeklagten nachteilige Vorgaben; in: StV 2016, S. 709 – 712 162. Verurteilung zu Freiheitsstrafe und Vorbehalt der Anordnung von Sicherungsverwahrung bei während der Hauptverhandlung „ausgebrochener“ Schizophrenie; in: R&P 2016, S. 116 – 121 163. Noch mehr im Jugendstrafverfahren (nicht auf Seiten des Beschuldigten) anwesende Erwachsene? Zur Frage jugendstrafverfahrensrechtlicher Vereinbarkeit Psychosozialer Prozessbetreuung (§ 406g StPO) mit der Unschuldsvermutung (§ 2 Abs. 2 JGG, Art. 6 Abs. 2 EMRK) und der Wahrheitsermittlungspflicht (§ 2 Abs. 2 JGG, § 244 Abs. 2 StPO) sowie der Verpflichtung gemäß § 2 Abs. 1 JGG; in: ZJJ 2016, S. 33 – 36 164. Tod eines sechs Monate alten Kindes – Schütteltrauma oder Sturz?; in: medstra 2016, S. 203 – 210 165. Verurteilung wegen Mordes trotz Aufklärungsstau; in: Gedächtnisschrift für Edda Weßlau; Berlin 2016, S. 67 – 96
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166. Auf der Suche nach der Identität oder: Abschied vom Täterstrafrecht des JGG; in: NK 2016, S. 390 – 407 167. Letaler Ausgang zwischenmenschlicher Dependenz – zum Martyrium von Robert Schumann; in: JR 2017, S. 43 – 49 168. Punitivität versus aussagepsychologische Sachkunde bei Tatvorwurf sexuellen Missbrauchs. Zugleich Besprechung des Beschlusses BGH vom 29. 09. 2016 – 2 StR 63/16 – und des (aufgehobenen) Urteils LG Marburg vom 31. 8. 2015 – 3 KLs 1 Js 576/13 –; in: NZFam 2017, S. 1 – 7 169. Anklageerhebung ohne genügenden Anlass; in: StraFo 2017, S. 89 – 91 170. Nachträgliche Sicherungsverwahrung nach Vollstreckung einer Jugendstrafe; in: R&P 2017, S. 86 – 89 171. Sind die Neuregelungen zu Widerstand gegen bzw. tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte im materiellen Jugendstrafrecht anwendbar?; in: ZJJ 2018, S. 24 – 27 172. Schutzpflichten bei Untersuchungshaft statt Einstweiliger Unterbringung; in: Festschrift für Reinhold Schlothauer; München 2018, S. 213 – 224 173. „Positive Generalprävention“ als zulässiges Begründungselement für die Rechtsfolgenentscheidung im Jugendstrafrecht?; in: ZJJ 2018, S. 144 – 146 174. Zur Funktion des § 70 Abs. 1 S. 1 GO-BT; in: Festschrift für Klaus Rogall; Berlin 2018, S. 44 – 59 175. Aussagepsychologische Untersuchung bei außergewöhnlichen Geständnissen? – erörtert anhand von zwei (auszugsweise skizzierten) erstinstanzlichen Verfahren vor Oberlandesgerichten, in: R&P 2019
III. Ausbildungsbeiträge 1. Strafzumessungsrechtliche Klausur: „Anwendungsprobleme des § 48 StGB (Rückfall)“; in: JURA 1981, S. 437 – 446 (zusammen mit G. Nothacker) 2. Strafrechtliche Übungsklausur: „Die gefälschten Dollar-Noten“; in: JURA 1983, S. 267 – 272 3. Einführung in Grundprobleme des Jugendstrafrechts; in: JuS 1983, S. 569 – 581 4. Examensklausur Kriminologie. Erläuternde Anmerkungen; in: JURA 1984, S. 104 ff. (108 f.) 5. Einführung in das Wahlfach Kriminologie; in: JURA 1984, S. 561 – 568 (zusammen mit U. Bödecker) 6. Einführung in das Wahlfach Strafvollzug; in: JuS 1985, S. 586 – 593 (zusammen mit R. Fischer)
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7. Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug – Fälle und Lösungen zu Grundproblemen; Köln 1986, XII, 239 S. 8. Strafrechtliche Übungsklausur: „Kurzurlaub“; in: JuS 1986, S. 795 – 801 9. Strafrechtliche Übungsklausur: „Einkäufe“; in: JURA 1987, S. 265 – 271 10. Strafrechtliche Übungsklausur: „Ableben von Neffen und Onkel“; in: JURA 1989, S. 41 – 49 11. Strafvollzugsrechtliche Klausur: „Aufrechnung im Strafvollzug“; in: JuS 1989, S. 392 – 395 (zusammen mit RiLG P. Marhofer und H. E. Müller) 12. Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug – Fälle und Lösungen zu Grundproblemen; 2. überarbeitete und erweiterte Auflage; Köln u. a. 1989, XII, 247 S. 13. Strafrechtliche Examensklausur: „Scheck-Schwindel“; in: JA 1989, S. 160 – 165 (zusammen mit H. E. Müller) 14. Strafrechtliche Examensklausur: „Geldübergabe auf Video“; in: JuS 1990, S. 120 – 125 (zusammen mit H. E. Müller) 15. Kriminologisch-jugendstrafrechtliche Klausur: „Der Obermedizinalrat und die Zwillinge“; in: JURA 1990, S. 368 – 370 16. Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug – Fälle und Lösungen zu Grundproblemen; 3. überarbeitete und teilweise neu gestaltete Auflage; Köln u. a. 1991, XII, 251 S. 17. Strafvollzugsrechtliche Klausur: Aids im Strafvollzug; in: JuS 1991, S. 754 – 758 (zusammen mit E. Fischer) 18. Zur strafrechtlichen Beurteilung der Totalverweigerung; in: JuS 1993, S. 285 – 288 (zusammen mit C. Wolke) 19. Ableben am See. Klausur auf den Gebieten des Jugendstrafrechts und der Kriminologie; in: JuS 1994, S. 46 – 50 (zusammen mit C. Blau) 20. Der Großindustrielle im Strafvollzug. Klausuranalyse; in: JuS 1994, S. 218 – 221 21. Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug – Fälle und Lösungen zu Grundproblemen; 4. überarbeitete und erweiterte Auflage; Köln u. a. 1994, XIII, 280 S. 22. Wirtschaftswissenschaften gefragt. Examensklausur auf dem Gebiet des Strafvollzugsrechts; in: JURA 1994, S. 428 – 433 (zusammen mit G. Hain) 23. Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug – Fälle und Lösungen zu Grundproblemen; 5. neu gestaltete und erweiterte Auflage; Köln u. a. 1996, XIII, 307 S. 24. Zur Wahlfachgruppe Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug in der rechtswissenschaftlichen Ausbildung an der Freien Universität Berlin; in: DVJJ-J 1997, S. 36 – 39
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25. Strafrechtliche Rechtsfolgen. Jugendstrafrechtliche Einzelprobleme und kriminologische Grundprobleme, Klausuranalyse; in: JuS 1997, S. 529 – 531 26. Klausur auf dem Gebiet der Kriminologie des Sanktionenrechts; in: JURA 1999, S. 369 – 373 27. Der praktische Fall – Kriminologie: „Rechtsfolgensystem im Wandel?“; in: JuS 2000, S. 368 – 372 28. Examensklausur Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug, Klausuranalyse; in: JURA 2000, S. 646 – 650 (zusammen mit I. Goeckenjan) 29. Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug; 6. vollständig überarbeitete und teilweise neu gestaltete Auflage; München 2000, XIV, 288 S. 30. „Bonnie und Clyde“ – Fortsetzung im Allgäu; in: JA 2001, S. 153 – 163 31. Sicherungsverwahrung auf Umwegen. Klausuranalyse; in: JURA 2001, S. 787 – 791 32. Jugendstrafrechtliche Klausur. Fruchtloser Streit zwischen Jugendgericht und Jugendamt; in: JuS 2002, S. 258 – 262 33. Klausur Kriminologie: Entscheidungstransparenz, Geldwäsche; in: JuS 2003, S. 365 – 370 34. Klausur Kriminologie; in: JURA 2003, S. 350 – 356 35. Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug; 7. vollständig überarbeitete Auflage; München 2004, XIV, 304 S. 36. Kriminologie im Schwerpunktbereich; in: JuS 2004, S. 28 f. (zusammen mit J. Puschke) 37. Schwerpunktbereichsklausur – Strafrechtspflege und Kriminologie; in: JuS 2005, S. 146 – 152 (zusammen mit C. Reuther) 38. Die besondere Entscheidung; in: JURA 2006, S. 54 – 58 (zusammen mit I. Müller) 39. Zur Tragweite psychiatrischer Gutachten – erörtert an Hand von zwei Originalfällen; in: JA 2006, S. 140 – 144 40. Fälle zum Schwerpunkt Strafrecht. Strafprozess, Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug; 8., erweiterte, neu gestaltete und vollständig überarbeitete Auflage; München 2007, XVI, 278 S. 41. IQ 37 – Verwertungsverbot polizeilicher Vernehmung ohne Verteidiger?, dargestellt anhand eines Einzelfalls; in: JA 2012, S. 452 – 458 42. Voraussetzungen (jugend-)strafrechtlicher Verurteilung wegen Mordes – erörtert anhand des Urteils des BGH vom 19. 10. 2011 (1 StR 273/11); in: JA 2013, S. 34 – 38 43. Unfreiwillig falsches Geständnis und Widerruf aus empirisch-beweisrechtlicher Sicht; in: JA 2013, S. 775 – 779
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44. Geständnis und Widerruf, dargestellt anhand eines Einzelfalls; in: JA 2013, S. 860 – 865 45. Mutmaßlich gecoacht-falsche Aussagen zweier Polizeizeugen; in: JA 2014, S. 928 – 932 46. Verurteilung eines 29-Jährigen nach Jugendstrafrecht; in: JA 2016, S. 623 – 628 47. Ermittlungsmaßnahmen gemäß § 100a StPO und § 163 f StPO wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung (§ 129 StGB) ohne Anfangsverdacht; in: JA 2017, S. 462 – 467
IV. Entscheidungsanmerkungen 1. AG Berlin-Tiergarten v. 25. 06. 1982; in: NStZ 1983, S. 27 – 29 2. Hans. OLG v. 31. 12. 1982; in: JR 1983, S. 172 f. 3. BGH v. 22. 12. 1982; in: JZ 1983, S. 509 – 511 4. LG Mainz v. 15. 08. 1983 (OLG Koblenz v. 14. 09. 1983); in: NStZ 1984, S. 122 f. 5. LG Frankfurt v. 15. 05. 1984; in: NStZ 1985, S. 42 f. 6. BGH v. 18. 04. 1984; in: NStZ 1985, S. 84 – 87 7. OLG Düsseldorf v. 23. 01. 1985; in: NStZ 1985, S. 522 f. (zusammen mit J. von Wedel) 8. OLG Stuttgart v. 15. 10. 1985; in: NStZ 1986, S. 220 – 222 (zusammen mit S. Wolski) 9. LG Augsburg v. 22. 01. 1986; in: NStZ 1987, S. 177 f. (zusammen mit RiAG W. Herrlinger) 10. AG Dillenburg v. 17. 04. 1986; in: NStZ 1987, S. 409 – 413 11. LG Berlin v. 15. 05. 1987; in: NStZ 1987, S. 560 – 562 12. OLG Stuttgart v. 30. 07. 1987 und v. 24. 08. 1987; in: JZ 1987, S. 1085 f. 13. LG Freiburg v. 11. 07. 1986; in: JR 1988, S. 524 f. 14. OLG Frankfurt v. 10. 10. 1988; in: NStZ 1989, S. 199 f. (zusammen mit S. Krauth) 15. OLG Hamm v. 07. 07. 1988; in: NStZ 1989, S. 366 f. 16. BGH v. 15. 11. 1988; in: JR 1990, S. 41 f. 17. OLG Düsseldorf v. 05. 03. 1990; in: NStZ 1990, S. 551 18. BGH v. 02. 05. 1990; in: JR 1990, S. 483 19. KG Berlin v. 26. 03. 1990; in: JZ 1991, S. 47 – 49
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20. BGH v. 25. 01. 1991; in: JR 1991, S. 347 f. 21. LG Aachen v. 20. 07. 1990; in: NStZ 1991, S. 450 f. 22. BGH v. 03. 05. 1991; in: NStZ 1992, S. 295 – 297 (zusammen mit R. Sieveking) 23. BVerfG v. 03. 06. 1992; in: JZ 1992, S. 1188 – 1191 24. KG Berlin v. 20. 11. 1990; in: NStZ 1993, S. 55 f. 25. BGH v. 09. 12. 1992; in: JZ 1993, S. 530 – 532 (zusammen mit R. Sieveking) 26. BGH v. 09. 02. 1993; in: StV 1993, S. 624 – 627 27. OLG Köln v. 18. 02. 1994 und OLG Düsseldorf v. 22. 02. 1994; in: NStZ 1994, S. 299 f. 28. BGH v. 24. 02. 1994 und v. 12. 04. 1994; in: NStZ 1994, S. 598 f. 29. OLG Hamm v. 12. 10. 1993; in: JR 1995, S. 39 – 41 30. KG Berlin v. 15. 11. 1994; in: JR 1995, S. 391 f. (zusammen mit G. Schönberger) 31. BGH v. 15. 11. 1994; in: StV 1995, S. 625 – 628 32. LG Hamburg v. 04. 01. 1995; in: NStZ 1996, S. 250 (zusammen mit R. Sieveking) 33. KG Berlin v. 22. 02. 1995; in: JR 1996, S. 216 – 219 (zusammen mit D. Schimmel) 34. BGH v. 20. 06. 1996; in: JR 1997, S.80 – 83 (zusammen mit T. Düffer) 35. BGH v. 20. 07. 1995; in: NStZ 1997, S. 297 – 299 (zusammen mit A. Kopatsch) 36. KG Berlin v. 20. 05. 1996; in: StV 1997, S. 456 – 459 (zusammen mit C. Düring) 37. BGH v. 06. 11. 1996; in: NStZ 1998, S. 53 – 55 38. OLG Karlsruhe v. 25. 06. 1997; in: NStZ 1998, S. 104 39. OLG Zweibrücken v. 19. 12. 1997; in: JR 1999, S. 174 f. (zusammen mit H. Forstreuter) 40. KG Berlin v. 18. 12. 1998; in: NStZ 1999, S. 536 (zusammen mit I. Goeckenjan) 41. LG Trier v. 19. 01. 2000; in: ZfJ 2000, S. 399 f. 42. BGH v. 14. 12. 1999; in: NStZ 2000, S. 484 43. BGH v. 09. 12. 1999; in: JR 2001, S. 123 – 125 (zusammen mit I. Goeckenjan) 44. BayObLG v. 28. 06. 2000; in: JR 2001, S. 258 – 260 45. BGH v. 07. 06. 2000; in: NStZ 2001, S. 334 f.
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46. BGH v. 15. 03. 2001; in: NStZ 2001, S. 556 f. 47. BGH v. 21. 09. 2000; in: JR 2001, S. 341 f. (zusammen mit S. Schlüter) 48. BGH v. 15. 11. 2001; in: NStZ 2002, S. 331 f. 49. BGH v. 07. 03. 2002; in: NStZ 2002, S. 556 f. 50. BVerfG v. 16. 01. 2003; in: DVJJ-J 2003, S. 77 51. BGH v. 04. 09. 2002; in: JR 2003, S. 216 f. 52. OLG Stuttgart v. 10. 01. 2003; in: JR 2003, S. 435 (zusammen mit J. Puschke) 53. BGH v. 03. 03. 2004; in: JZ 2004, S. 687 f. 54. BGH v. 01. 09. 2004; in: JR 2005, S. 82 f. 55. OLG Frankfurt v. 04. 01. 2005; in: StV 2005, S. 345 – 347 56. KG Berlin v. 27. 09. 2005; in: JR 2006, S. 303 – 306 (zusammen mit C. Haeseler) 57. BGH v. 15. 12. 2005; in: JR 2006, S.346 – 349 (zusammen mit C. Reuther) 58. KG Berlin v. 06. 01. 2006; in: NStZ 2006, S. 522 – 524 59. BVerwG v. 23. 11. 2005; in: JZ 2006, S. 729 – 732 (zusammen mit J. Puschke) 60. BVerfG v. 27. 06. 2006; in: JR 2006, S. 482 f. 61. LG Arnsberg v. 02. 02. 2006; in: NZV 2007, S. 102 – 104 62. BGH v. 16. 04. 2007; in: NStZ 2008, S. 91 – 93 (zusammen mit L. Schmitz) 63. BGH v. 10. 03. 2009; in: StV 2009, S. 344 – 346 64. LG Duisburg v. 13. 03. 2009; in: JR 2009, S. 343 – 346 65. BGH v. 30. 04. 2009; in: wistra 2009, S. 477 – 480 66. LG Duisburg v. 13. 03. 2009; in: JR 2009, S. 343 – 346 67. BGH v. 30. 04. 2009; in: wistra 2009, S. 477 – 480 68. KG v. 15. 09. 2009; in: ZJJ 2010, S. 75 – 78 (zusammen mit L. Huck) 69. BGH v. 21. 07. 2009; in: JR 2010, S. 314 – 319 70. BGH v. 27. 01. 2010; in: JZ 2010, S. 474 – 476 71. LG Berlin v. 28. 01. 2010; in: StraFo 2010, S. 420
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72. BGH v. 19. 05. 2010; in: ZJJ 2010, S. 330 f. 73. BGH v. 15. 09. 2010; in: StV 2011, S. 9 – 11 74. BGH v. 09. 03. 2010; in: JR 2011, S. 121 – 124 75. BGH v. 15. 03. 2011; in: ZJJ 2011, S. 202 – 204 76. OLG Köln v. 13. 10. 2010; in: ZJJ 2011, S. 205 – 208 77. BVerfG v. 04. 05. 2011; in: StV 2011, S. 480 – 482 78. OLG München v. 23. 12. 2010; in: StV 2011, S. 599 – 603 79. BGH v. 31. 03. 2011; in: JR 2011, S. 409 – 411 80. BGH v. 26. 08. 2011; in: StraFo 2011, S. 397 – 399 81. BGH v. 30. 08. 2011; in: ZJJ 2011, S. 449 – 453 82. BGH v. 28. 09. 2011; in: StV 2012, S. 65 – 67 83. LG Berlin v. 12. 12. 2011; in: ZJJ 2012, S. 204 – 208 84. OLG München v. 09. 01. 2012; in: StV 2012, S. 235 – 238 85. BGH v. 19. 11. 2011; in: JR 2012, S. 168 – 171 86. BGH v. 17. 04. 2012; in: NStZ 2012, S. 578 – 581 87. BGH v. 25. 09. 2011; in: NStZ 2013, S. 227 – 229 88. BGH v. 20. 12. 2012; in: JR 2013, S. 232 – 236 89. LG Zweibrücken v. 04. 07. 2011; in: ZJJ 2013, S. 75 f. 90. BGH v. 19. 12. 2012; in: StraFo 2013, S. 167 – 169 91. OLG Karlsruhe v. 20. 11. 2012; in: ZJJ 2013, S. 320 – 322 (zusammen mit Th. Höynck) 92. LG Münster v. 23.04. 2013, AG Nürnberg v. 10. 04. 2013, AG Plön v. 22. 03. 2013, AG Döbeln v. 28. 05. 2013; in: ZJJ 2013, S. 528 – 532 93. BGH v. 10. 07. 2013; in: StraFo 2013, S. 430 – 433 94. BGH v. 07. 08. 2013; in: StV 2014, S. 69 – 73 95. LG Augsburg v. 20. 11. 2013; in: R&P 2014, S. 47 – 49 96. OLG Hamm v. 02. 07. 2013; in: NStZ 2014, S. 410 – 412 97. AG Bielefeld v. 13. 12. 2013; in: StraFo 2014, S. 208 – 211
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98. AG Reutlingen v. 05. 12. 2013; in: ZJJ 2014, S. 177 f. 99. OLG Hamm v. 02. 07. 2013; in: ZJJ 2014, S. 289 f. 100. BVerfG v. 27. 02. 2014; in: StraFo 2014, S. 424 f. 101. LG Cottbus v. 15. 07. 2013; in: StV 2014, S. 724 – 728 102. BGH v. 20. 05. 2014; in: ZJJ 2014, S. 388 – 390 103. OLG Hamm v. 19. 08. 2014; in: ZJJ 2014, S. 393 – 393 104. AG Cloppenburg v. 23. 07. 2014; in: ZJJ 2014, S. 396 f. 105. AG Memmingen v. 18. 06. 2014, AG München v. 20. 08. 2014, LG München I v. 08. 09. 2014; in: ZJJ 2014, S. 399 – 403 106. LG Cottbus v. 15. 07. 2013; in: StV 2014, S. 724 – 728 107. BVerfG v. 27. 02. 2014; in: medstra 2015, S. 37 – 40 108. BGH v. 17. 07. 2014; in: StV 2015, S. 92 109. BVerfG v. 18. 12. 2014; in: StraFo 2015, S. 102 110. LG Kleve v. 13. 11. 2014; in: ZJJ 2015, S. 78 f. 111. KG Berlin v. 22. 05. 2014; in ZJJ 2015, S. 207 – 210 112. OLG Rostock v. 06. 01. 2015; in: ZJJ 2015, S. 324 – 327 113. BGH v. 22. 04. 2015; in: JR 2015, S. 484 – 489 114. OLG München v. 17. 06. 2015; in: R&P 2015, S. 230 – 234 115. KG Berlin v. 15. 06. 2015; in: ZJJ 2015, S. 421 – 423 116. BGH v. 10. 06. 2015; in: NJW 2016, S. 98 117. AG Bonn v. 24. 06. 2015; in: ZJJ 2016, S. 80 – 82 118. BGH v. 15. 03. 2015 und v. 05. 04. 2016; in: JR 2016, S. 390 – 393 119. KG Berlin v. 18. 12. 2015; in: ZJJ 2016, S. 178 f. 120. BGH v. 24. 03. 2016; in: NStZ 2016, S. 494 – 496 (zusammen mit H. E. Müller) 121. BGH v. 16. 06. 2015; in: StV 2016, S. 709 – 712 122. BGH v. 20. 04. 2016; in: ZJJ 2016, S. 300 f. 123. BGH v. 22. 09. 2016; in: ZJJ 2016, S. 412 – 414 (zusammen mit L. Wolf)
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124. BGH v. 15. 09. 2016; in: NStZ 2017, S. 105 f. 125. EGMR (Kammer) v. 02. 02. 2017; in: R&P 2017, S. 86 – 89 126. BGH v. 09. 02. 2017; in: ZJJ 2017, S. 186 – 189 127. BGH v. 20. 02. 2017; in: NStZ 2017, S. 489 f. 128. BGH v. 26. 04. 2017; in: NStZ 2017, S. 489 f. 129. BGH v. 09. 05. 2017; in: ZKJ 2017, S. 419 f. 130. OLG Celle v. 14. 12. 2016; in: StraFo 2017, S. 283 – 285 131. BGH v. 22. 02. 1978; in: NJW 2017, S. 3097 132. BGH v. 11. 07. 2017; in: ZJJ 2017, S. 386 f. 133. BGH v. 14. 09. 2017; in: StV 2018, S. 199 – 202 134. BGH v. 28. 09. 2017; in: JR 2018, S. 297 – 300 135. BGH vom 17. 05. 2018; in: JR 2018, S. 581 – 584 136. BGH vom 28. 06. 2018; in: NStZ 2018 H 11 137. BGH vom 18. 07. 2018; in: NStZ 2018/2019 138. BGH vom 06. 03. 2018; in: StV 2018/2019 139. BGH vom 28. 08. 2018; in: JR 2019 (zusammen mit H. E. Müller)
V. Rezensionen 1. Schaffstein, F., Jugendstrafrecht; 8. Auflage; Stuttgart u. a. 1983; in: GA 1984, S. 569 – 571 2. Calliess, R.-P./Müller-Dietz, H., Strafvollzugsgesetz; 3. Auflage; München 1983; Schwind, H.-D./Böhm, A. (Hrsg.), Strafvollzugsgesetz (Großkommentar); Berlin u. a. 1983; in: GA 1984, S. 238 – 243 3. Kaiser, G., Strafvollzug im europäischen Vergleich; Darmstadt 1983; in: GA 1984, S. 243 f. 4. Festschrift für Heinz Leferenz; Karlsruhe 1983; in: NJW 1984, S. 652 f. 5. Lekschas, J. u. a., Kriminologie; Berlin (Ost) 1983; in: GA 1984, S. 527 – 529 6. Hellmer, J., Das ethische Problem in der Kriminologie, dargestellt am Beispiel einer empirischen Untersuchung über regional erhöhte Kriminalität; Berlin 1984; in: JZ 1984, S. 566 f.
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7. Deutsche Forschungen zur Kriminalitätsentstehung und -kontrolle, Beiträge zum Internationalen Kongreß für Kriminologie in Wien 1983; Köln u. a. 1983, Bde. 1 – 3; in: GA 1985, S. 35 – 39 8. Walter, M./Koop, G. (Hrsg.), Die Einstellung des Strafverfahrens im Jugendrecht; Vechta 1984; in: JZ 1985, S. 81 9. Böhm, A., Einführung in das Jugendstrafrecht; 2. Auflage; München 1985; in: NJW 1986, S. 1531 10. Lord Windlesham, Responses to Crime; Oxford, UK 1987; in: Rechtstheorie 18 (1987), S. 399 f. 11. Luthe, R., Die strukturale Psychopathologie in der Praxis der Gerichtspsychiatrie; Heidelberg u. a. 1985; in: GA 1988, S. 144 f. 12. Home Office, The ethnic origin of prisoners; Oxford, UK 1987; in: MschrKrim 71 (1988), S. 276 f. 13. Prüfer, H., Aussagebewertung in Strafsachen. Abgrenzungsmerkmale und Beurteilungskriterien; Köln u. a. 1986; in: JZ 1989, S. 290 14. Biemann, G./Krischka, J. (Hrsg.), Nazis, Skins und alte Kameraden; Dortmund 1986; in: MschrKrim 72 (1989), S. 63 f. (zusammen mit C. Hueck) 15. US-Außenministerium (Hrsg.), Country Reports on Human Rights Practices for 1989; Washington DC; in: KrimJ 1990, S. 64 – 67 (zusammen mit C. Ohder) 16. Dünkel, F., Freiheitsentzug für junge Rechtsbrecher; Bonn – Bad Godesberg 1990; in: JZ 1991, S. 35 17. Weber, M., Die Anwendung der Jugendstrafe. Rechtliche Grundlagen und gerichtliche Praxis; Frankfurt a.M. 1990; in: JZ 1991, S. 303 18. Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen (Hrsg.), Mehrfach Auffällige – Mehrfach Betroffene; Bonn 1990; in: ZRP 1991, S. 437 f. 19. Rolinski, K./Eibl-Eibesfeldt, I. (Hrsg.), Gewalt in unserer Gesellschaft; Berlin 1990; in: MschrKrim 74 (1991), S. 383 – 386 20. Schüler-Springorum, H., Kriminalpolitik für Menschen; Frankfurt a.M. 1991; in: NJW 1992, S. 1690 f. 21. Feest, J./Lesting, W. (Hrsg.), Kommentar zum StVollzG (Reihe Alternativ-Kommentare); 3. Auflage; Neuwied u. a. 1990; Calliess, R.-P./Müller-Dietz, H., Strafvollzugsgesetz, 5. Auflage; München 1991; Schwind/H.-D., Böhm, A. (Hrsg.), Strafvollzugsgesetz; 2. Auflage; Berlin 1991; in: JZ 1992, S. 246 f. (zusammen mit A. Kaiser) 22. Baurmann, M./Schädler, W., Das Opfer nach der Straftat; Wiesbaden 1991; in: MschrKrim 76 (1993), S. 129 23. Brusten, M. (Hrsg.), Polizei-Politik; München 1992; in: MschrKrim 76 (1993), S.197 – 199
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24. Schaffstein, F./Beulke, W., Jugendstrafrecht; 11. Auflage; Frankfurt a.M. 2003; in: FamRZ 1993, S. 748 f. 25. van den Woldenberg, A., Diversion im Spannungsfeld zwischen „Betreuungsjustiz“ und Rechtsstaatlichkeit; Bern u. a. 1993; in: GA 1994, S. 588 f. 26. Bull, R./Carson, D., Handbook of Psychology in Legal Contexts; Chichester, UK u. a. 1995; in: European Journal of Criminology 1996, S. 85 – 87 27. ter Veen, H., Beweisumfang und Verfahrensökonomie im Strafprozeß; Heidelberg 1995; in: GA 1996, S. 495 f. 28. Perron, W., Das Beweisantragsrecht des Beschuldigten im deutschen Strafprozeß; Berlin 1995; in: GA 1997, S. 37 – 39 29. Nedopil, N., Forensische Psychiatrie; München 1996; in: GA 1997, S. 391 f. 30. Rode, C., Kriminologie in der ehemaligen DDR; Freiburg 1996; in: GA 1997, S. 140 f. 31. Arbeitskreis deutscher, schweizerischer und österreichischer Strafrechtslehrer, AlternativEntwurf Zeugnisverweigerungsrechte und Beschlagnahmefreiheit; München 1996; in: StV 1997, S. 331 – 335 32. Kinzig, J., Die Sicherungsverwahrung auf dem Prüfstand; Freiburg 1996; in: GA 1998, S. 248 – 251 (zusammen mit G. Schönberger) 33. Maisch, H., Patiententötungen. Dem Sterben nachgeholfen; München 1997; in: MschrKrim 81 (1998), S. 295 f. 34. Granzow, B. M., Todesfälle im Hamburger öffentlichen Gewahrsam 1962 – 1995; Hamburg 1996; in: MschrKrim 81 (1998), S. 149 – 151 35. Zacharias, K., Der gefährdete Zeuge im Strafverfahren; Berlin 1997; in: JR 1998, S. 261 36. Calliess, R.-P./Müller-Dietz, H., Strafvollzugsgesetz; 7. Auflage; München 1998; in: GA 1999, S. 235 – 237 37. Schünemann, B. u. a. (Hrsg.), Positive Generalprävention. Kritische Analysen im deutschenglischen Dialog; Heidelberg 1998; in: GA 2000, S. 242 f. 38. Schwind, H.-D./Böhm, A. (Hrsg.), Strafvollzugsgesetz; 3. Auflage; Berlin u. a. 1999; in: GA 2000, S. 335 – 337 39. Burscheidt, U., Das Verbot der Schlechterstellung Jugendlicher und Heranwachsender in vergleichbarer Verfahrenslage; Baden-Baden 2000; in: NJW 2000, S. 2726 40. Schatz, H., Das Beweisantragsrecht in der Hauptverhandlung; Berlin 1999; in: GA 2000, S. 595 41. Zwiehoff, G., Das Recht auf den Sachverständigen; Baden-Baden 2000; in: GA 2001, S. 86 – 88
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42. Feest, J./Lesting, W. (Hrsg.), Kommentar zum StVollzG (Reihe Alternativ-Kommentare); 4. Auflage; Neuwied u. a. 2000; in: GA 2001, S. 334 – 336 43. Bußmann, K.-D., Verbot familialer Gewalt gegen Kinder; Köln u. a. 2000; in: GA 2001, S. 181 f. 44. Baumann, U., Das Verbrechensopfer in Kriminalitätsdarstellungen in der Presse; Freiburg 2000; in: GA 2001, S. 606 f. 45. Nedopil, N., Forensische Psychiatrie; 2. Auflage; Stuttgart u. a. 2000; in: GA 2002, S. 623 f. 46. Spiekermann, M., Der Missbrauch des Beweisantragsrechts; Berlin 2001; in: GA 2002, S. 620 47. Adler, L., Amok; München 2000; in: MschrKrim 85 (2002), S. 391 48. Karmen, A., Crime Victims: An Introduction to Victimology; Boston, USA 2006; 4. Auflage; in: GA 2003, S. 789 f. 49. Swoboda, S., Videotechnik im Strafverfahren; Berlin 2002; in: GA 2004, S. 307 f. 50. Dittmann, V./Jehle, J.-M. (Hrsg.): Kriminologie zwischen Grundlagenwissenschaften und Praxis; Mönchengladbach 2003; in: GA 2004, S. 556 – 558 51. Kinzig, J., Die rechtliche Bewältigung von Erscheinungsformen organisierter Kriminalität; Berlin 2004; in: MschrKrim 88 (2005), S. 88 – 90 52. Müller, C., Verbrechensbekämpfung im Anstaltsstaat; Göttingen 2004; in: GA 2005, S. 348 – 350 53. Gudjonsson, G. L., The psychology of Interrogations and Confessions; Chichester, UK u. a. 1993; in: MschrKrim 88 (2005), S. 212 – 214 54. Richter, B., Kindesmisshandlung; Bern 2003; in: ZfJ 2005, S. 263 55. von Danwitz, K-St., Staatliche Straftatbeteiligung; Hamburg 2005; in: GA 2005, S. 717 f. 56. Galassi, S., Kriminologie im deutschen Kaiserreich; Stuttgart 2004; in: MschrKrim 88 (2005), S. 395 f. 57. Calliess, R.-P./Müller-Dietz, H., Strafvollzugsgesetz; 10. Auflage; München 2005; Schwind, H.-D./Böhm, A. (Hrsg.), Strafvollzugsgesetz (Großkommentar); 4. Auflage; Berlin u. a. 2005; in: MschrKrim 88 (2005), S. 473 – 476 58. Grammer, C., Der Tatbestand des Verschwindenlassens von Personen; Berlin 2005; in: ZIS 2006, S. 228 f. 59. Herz, J., Menschenhandel. Eine empirische Untersuchung zur Strafverfolgungspraxis; Freiburg, Berlin 2005; in: GA 2006, S. 752 – 754
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60. Rudolph, B., Antizipierte Strafverfolgung: zum Regelungsstandort der Strafverfolgungsvorsorge unter Beachtung strafverfahrensrechtlich-funktionaler Aspekte; Köln u. a. 2005; in: MschrKrim 89 (2006), S. 263 f. 61. Feest, J./Lesting, W. (Hrsg.), Kommentar zum StVollzG (Reihe Alternativ-Kommentare); 5. Auflage; Neuwied u. a. 2006; in: MschrKrim 89 (2006), S. 412 – 415 62. Wössner, G., Typisierung von Sexualstraftätern. Ein empirisches Modell zur Generierung typenspezifischer Behandlungsansätze; Berlin 2006; in: MschrKrim 90 (2007), S. 347 – 350 63. Kempf, E./Jansen, G./Müller, E. (Hrsg.), Festschrift für Christian Richter II; Baden-Baden 2006; in: GA 2007, S. 667 – 670 64. Lammel, L. u. a. (Hrsg.), Forensische Begutachtung bei Persönlichkeitsstörungen; Berlin 2007; in: GA 2008, S. 744 – 746 65. Nedopil, N., Forensische Psychiatrie; 3. Auflage; Lengerich u. a. 2006; in: MschrKrim 92 (2008) S. 402 f. 66. Laubenthal, K., Strafvollzug; 5. Auflage; Berlin u. a. 2008; in: GA 2009, S. 248 f. 67. Wippler, A., Die Operative Fallanalyse als Beweismittel im Strafprozess; Münster 2008; in: HRRS 2009, S. 301 – 304 68. Huck, L., Intensivtäter/innen, Kriminelle Karrieren und Präventionsmöglichkeiten aus Sicht der betroffenen Subjekte; Hamburg 2009; in: ZJJ 2009, S. 270 f. 69. Sebald, A. E., Der Kriminalbiologe Franz Exner; Frankfurt a.M. 2008; Fuchs, W., Franz Exner (1881 – 1947) und das Gemeinschaftsfremdengesetz; Berlin 2009; Kruwinnus, T., Das enge und das weite Verständnis der Kriminalsoziologie bei Franz Exner; Berlin 2009; in: KrimJ 2009, S. 305 – 311 70. Bennefeld-Kersten, K., Ausgeschieden durch Suizid; Lengerich 2009; in: StV 2010, S. 221 71. Heidelberger Kommentar zur StPO; Heidelberg 2001; in: GA 2010, S. 186 – 188 72. Dollinger, B., Jugendkriminalität als Kulturkonflikt; Wiesbaden 2010; in: ZJJ 2010, S. 213 f. 73. Müller, J. (Hrsg.): Neurobiologie forensisch-relevanter Störungen; Stuttgart 2010; in MschrKrim 93 (2010), S. 336 – 338 74. Messerschmidt, M., Die Wehrmachtsjustiz 1933 – 1945; 2. Auflage; Paderborn 2008; in: JoJZG 2010, S. 79 f. 75. Pollich, D., Problembelastung und Gewalt. Eine soziologische Analyse des Handelns jugendlicher Intensivtäter; Münster 2010; in: MschrKrim 94 (2010), S. 503 f. 76. Systematischer Kommentar zur Strafprozessordnung (SK-StPO), Bd. II; 4. Auflage; Köln 2010; in: JR 2011, S. 135 f.
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77. Mill, T., Zur Erziehung verurteilt. Die Entwicklung des Jugendstrafrechts im zaristischen Russland 1864 – 1917; Frankfurt a.M. 2010; in: JoJZG 2011, S. 34 – 36 78. Ernst, C., Die Rechtswirklichkeit der einstweiligen Unterbringung nach § 126 a StPO; Münster 2011; in: ZIS 2011, S. 769 79. Beulke, W./Ruhmannseder, F., Strafbarkeit des Verteidigers; 2. Auflage; Heidelberg 2010; in: StV 2012, S. 189 f. 80. Feest, J./Lesting, W. (Hrsg.), Kommentar zum StVollzG; 6. Auflage; Neuwied u. a. 2011; in: GA 2012, S. 115 – 118 81. Engelhardt, L., Verwendung präventivpolizeilich erhobener Daten im Strafprozess; Berlin 2011; in: GA 2012, S. 471 f. 82. Weschke, E., Die Tote vom Hochmoor; Frankfurt a.M. 2012; in: Kriminalistik 2012, S. 682 83. Hilgendorf, E./Rengier, R. (Hrsg.), Festschrift für Wolfgang Heinz; Baden-Baden 2012; in: GA 2012, S. 707 f. 84. Barnikol, K., Unterstellt statt überprüft? Das richterliche Vorgehen bei der Verantwortlichkeitsbeurteilung nach § 3 JGG; Hamburg 2012; in: ZJJ 2013, S. 88 f. 85. Barton, S./Kölbel, R. (Hrsg.), Ambivalenzen der Opferzuwendung des Strafrechts; BadenBaden 2012; in: GA 2013, S. 597 – 599 86. Engberg-Petersen, A. u. a. (Hrsg.), Das Geständnis und seine Instanzen; Wien 2011; in: JoJZG 2013, S. 125 f. 87. Eckstein, K., Ermittlungen zu Lasten Dritter; Tübingen 2013; in: ZStW 125 (2013), S. 352 – 367 88. Klocke, G., Entschuldigung und Entschuldigungsannahme im Täter-Opfer-Ausgleich. Eine soziolinguistische Untersuchung zu Gesprächsstrukturen und Spracheinstellungen; Frankfurt a.M. 2013; in: ZJJ 2013, S. 427 f. 89. Systematischer Kommentar zur Strafprozessordnung (SK-StPO); 4. Auflage, Bd. I; Köln 2014; in: NJW 2014, S. 1162 90. Systematischer Kommentar zur Strafprozessordnung (SK-StPO); 4. Auflage, Bd. VII; Köln 2014; in: JR 2014, S. 449 – 452 91. Broichmann, C., Der außerordentliche Einspruch im Dritten Reich; Berlin 2014; in: MschrKrim 97 (2014), S. 176 f. 92. Tyszkiewicz, G., Tatprovokation als Ermittlungsmaßnahme. Rechtliche Grenzen der Beweiserhebung und Beweissicherung bei Einsatz polizeilicher Lockspitzel im Strafverfahren; Berlin 2014; in: GA 2015, S. 172 – 174 93. Bartel, L., Das Verbot der Rekonstruktion der Hauptverhandlung; Tübingen 2014; in GA 2015, S. 585 – 587
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94. Schöttle, A., Die Schuldfähigkeitsbegutachtung in Jugendstrafverfahren – Eine Bestandsund Qualitätsanalyse; Münster 2013; in: ZJJ 2015, S. 78 f. 95. Bockemühl, J. u. a. (Hrsg.), Festschrift für Bernd von Heintschel-Heinegg; München 2015; in: StV 2016, S. 330 f. 96. Gundelach, L., Die Führungsaufsicht nach der Vollverbüßung einer Jugendstrafe; BadenBaden 2015; in: ZJJ 2016, S. 187 f. 97. Stolp, I., Geschichte des deutschen Jugendstrafrechts; Baden-Baden 2015; in: ZJJ 2016, S. 180 98. Satzger, L. u. a. (Hrsg.), Strafprozessordnung mit GVG und EGMR; 2. Auflage; Köln u. a. 2016; in: GA 2016, S. 544 – 548 99. Bliesener, T. u. a. (Hrsg.), Lehrbuch der Rechtspsychologie; Bern 2015; in: GA 2016, S. 784 – 786 100. Trenczek, T. u. a., Inobhutnahme, Krisenintervention und Schutzgewährung durch die Jugendhilfe, § 8a, §§ 42, 42a ff. SGB VIII; 3. Auflage; Stuttgart u. a. 2017; in: ZJJ 2017, S. 391 f. 101. Wagner-Kern, M., Präventive Sicherheitsordnung. Zur Historisierung der Sicherungsverwahrung; Berlin 2016; in: JoJZG 2017, S. 128 f. 102. Nüchterlein, J., Volksschädlinge vor Gericht. Die Volksschädlingsverordnung vor den Sondergerichten Berlins; Marburg 2015; in: JoJZG 2017, S. 127 f. 103. Fischer, T./Hoven, E., Verdacht; Baden-Baden 2016; in: GA 2017/2018, S. 627 – 629 104. Kucharski, F., Der unverteidigte Beschuldigte im Strafverfahren: Göttingen 2017; in: JR 2018, S. 69 f. 105. Schumacher, L., Nemo tenetur im Spannungsfeld zu außerstrafrechtlichen Offenbarungspflichten. Eine Untersuchung der ärztlichen Fehleroffenbarungspflicht gem. § 630c Abs. 2 S. 2 BGB; Berlin 2017; in: GA 2018, S. 231 f. 106. Pohlreich, E., Das rechtliche Gehör im Strafverfahren; Tübingen 2016; in: StV 2018, S. 170 f. 107. Dax, A., Die Neuregelung des Vollzugs der Sicherungsverwahrung; Berlin 2017; in: GA 2018, S. 459–461
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Barton, Stephan, Prof. Dr., Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht, Universität Bielefeld Basdorf, Clemens, Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof i.R., Berlin Beth, Raoul, Rechtsanwalt, Berlin Beukelmann, Stephan, Dr., Rechtsanwalt, Fachanwalt für Strafrecht, München Beulke, Werner, Prof. em. Dr., Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie, Universität Passau, Rechtsanwalt in Passau Bock, Stefanie, Prof. Dr., Professur für Strafrecht, Strafprozessrecht, Internationales Strafrecht und Rechtsvergleichung, Philipps-Universität Marburg Bung, Jochen, Prof. Dr., M.A., Lehrstuhl für Strafrecht und Rechtsphilosophie, Universität Hamburg Burghardt, Boris, PD Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für deutsches und internationales Strafrecht, Strafprozessrecht und Juristische Zeitgeschichte (Prof. Dr. Gerhard Werle), Humboldt-Universität zu Berlin Conen, Stefan, Rechtsanwalt, Lehrbeauftragter der Freien Universität Berlin Duttge, Gunnar, Prof. Dr., Direktor der Abteilung für strafrechtliches Medizin- und Biorecht, Georg-August-Universität Göttingen Eschelbach, Ralf, Dr., Richter am Bundesgerichtshof Karlsruhe, Lehrbeauftragter der Eberhard-Karls-Universität Tübingen Feltes, Thomas, Prof. Dr., M.A., Lehrstuhl für Kriminologie, Kriminalpolitik und Polizeiwissenschaft, Ruhr-Universität Bochum Frisch, Prof. em. Dr. Dres. h.c., Professur für Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtstheorie, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Fünfsinn, Helmut, Prof. Dr., Generalstaatsanwalt, Frankfurt a.M., Honorarprofessur für Strafrecht, Strafverfahrensrecht, Kriminologie und Rechtsphilosophie, Johann Wolfgang GoetheUniversität Frankfurt a.M. Galen, Margarete Gräfin von, Dr., Rechtsanwältin, Fachanwältin für Strafrecht, Berlin Gloss, Werner, Polizeihauptkommissar, Polizeipräsidium Mittelfranken, Sachbereich Prävention Goeckenjan, Ingke, Prof. Dr., Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht, Ruhr-Universität Bochum Graebsch, Christine M., Prof. Dr., Dipl.-Krim., Professorin für Recht der Sozialen Arbeit, Fachhochschule Dortmund
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Habermann, Julia, M.A., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Kriminologie (Prof. Dr. Tobias Singelnstein), Ruhr-Universität Bochum Hillenkamp, Thomas, Prof. em. Dr. Dr. h.c., Professur für Strafrecht und Strafprozessrecht, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, stellv. Geschäftsführender Direktor des Instituts für Deutsches, Europäisches und Internationales Medizinrecht, Gesundheitsrecht und Bioethik (IMGB) der Universitäten Heidelberg und Mannheim Höffler, Katrin, Prof. Dr., Lehrstuhl für Strafrecht und Kriminologie, Georg-August-Universität Göttingen Höynck, Theresia, Prof. Dr., Institut für Sozialwesen, Fachgebiet Recht der Kindheit und der Jugend, Universität Kassel Klaffus, Simone, Rechtsanwältin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Abteilung für strafrechtliches Medizin- und Biorecht, Georg-August-Universität Göttingen Knauer, Florian, Prof. Dr., Lehrstuhl für Strafrecht, Kriminologie, Strafvollzugsrecht und Jugendstrafrecht, Friedrich-Schiller-Universität Jena Köhnken, Günter, Prof. em. Dr., Institut für Psychologie, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Kölbel, Ralf, Prof. Dr., Lehrstuhl für Strafrecht und Kriminologie, Ludwig-Maximilians-Universität München Kräupl, Günther, Prof. (i.R.) Dr., Professur für Kriminologie, Jugendstrafrecht und Strafvollzug, Friedrich-Schiller-Universität Jena Krause, Benjamin, Dr., Staatsanwalt, Frankfurt a.M., Lehrbeauftragter der Philipps-Universität Marburg Kudlich, Hans, Prof. Dr., Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtsphilosophie, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Laubenthal, Klaus, Prof. Dr., Lehrstuhl für Kriminologie und Strafrecht, Julius-MaximiliansUniversität Würzburg, Richter am Oberlandesgericht Bamberg Lindemann, Michael, Prof. Dr., Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie, Universität Bielefeld Lubitz, Tobias, Dr., Rechtsanwalt, Fachanwalt für Strafrecht, Lehrbeauftragter der Freien Universität Berlin und der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin Meier, Jana, Dipl.-Soz., M.A. Kriminologie, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kriminologie, Universität zu Köln Momsen, Carsten, Prof. Dr., Lehrstuhl für Strafrecht, Strafverfahrensrecht, Wirtschafts- und Umweltstrafrecht, Freie Universität Berlin Morgenstern, Christine, PD Dr. habil., Universität Greifswald, Research Fellow, Trinity College Dublin Müller, Henning Ernst, Prof. Dr., Lehrstuhl für Strafrecht, Kriminologie, Jugendstrafrecht und Strafvollzug, Universität Regensburg Müller, Ines, Dr., Richterin am Landgericht Berlin Neubacher, Frank, Prof. Dr., M.A., Direktor des Instituts für Kriminologie, Universität zu Köln
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
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Puschke, Jens, Prof. Dr., LL.M. (King’s College), Professur für Strafrecht, Strafprozessrecht, Kriminologie und Medizinstrafrecht, Philipps-Universität Marburg Rolinski, Klaus, Prof. em. Dr., Dipl.-Psych., Professur für Kriminologie, Strafrecht, Strafvollzug und Jugendstrafrecht, Universität Regensburg Ruch, Andreas, Dr., Rechtsanwalt, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kriminologie, Kriminalpolitik und Polizeiwissenschaft (Prof. Dr. Thomas Feltes), Ruhr-Universität Bochum Sack, Fritz, Prof. em. Dr. Dr. h.c., Professur für Soziologie und Kriminologie, Universität Hamburg, Berlin Sander, Günther M., Prof. Dr., Richter am Bundesgerichtshof, Honorarprofessor für Straf- und Strafprozessrecht, Humboldt-Universität zu Berlin Schemmel, Jonas, Dipl.-Psych., M.Sc. Rechtspsychologie, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Psychologische Hochschule Berlin (Bereich Rechtspsychologie) Schlothauer, Reinhold, Prof. Dr., Rechtsanwalt, Fachanwalt für Strafrecht, Honorarprofessor, Universität Bremen Schneider, Hartmut, Prof. Dr., Bundesanwalt beim Bundesgerichtshof, Honorarprofessor, Freie Universität Berlin Singelnstein, Tobias, Prof. Dr., Lehrstuhl für Kriminologie, Ruhr-Universität Bochum Strate, Gerhard, Dr. h.c., Rechtsanwalt, Hamburg Sundurow, Fjodor Romanowitsch, Prof. Dr., Department of Criminal Law, Kazan State University, Republik Tartastan, Russland Swoboda, Sabine, Prof. Dr., Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Internationales Strafrecht, Ruhr-Universität Bochum Theile, Hans, Prof. Dr., LL.M. (University of Cape Town/RSA), Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Wirtschaftsstrafrecht und Kriminologie, Universität Konstanz Válková, Helena, Prof. Dr., CSc., Karlsuniversität in Prag, Hochschule für Unternehmen und Recht in Prag Voigt, Lea, Rechtsanwältin, Fachanwältin für Strafrecht, Bremen Volbert, Renate, Prof. Dr., Professur für Rechtspsychologie, Psychologische Hochschule Berlin Washington, Sarah Lisa, LL.M. (Columbia), Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafverfahrensrecht, Wirtschafts- und Umweltstrafrecht (Prof. Dr. Carsten Momsen), Freie Universität Berlin Wasserburg, Klaus, Dr., Rechtsanwalt, Fachanwalt für Strafrecht, Mainz Werkmeister, Andreas, Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, ausländisches Strafrecht und Strafrechtstheorie (Prof. Dr. Luís Greco, LL.M.), Humboldt-Universität zu Berlin Willems, Diana, Dr., Dipl. Soz., M.A., Wissenschaftliche Referentin in der Arbeitsstelle Kinderund Jugendkriminalitätsprävention, Deutsches Jugendinstitut e.V. Wohlers, Wolfgang, Prof. Dr., Professur für Strafrecht, Universität Basel