Politik ist Dienst: Festschrift für Bernhard Vogel zum 80. Geburtstag 9783412215804, 9783412210878


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Politik ist Dienst: Festschrift für Bernhard Vogel zum 80. Geburtstag
 9783412215804, 9783412210878

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Bernhard Vogel

POLITIK IST DIENST Festschrift für Bernhard Vogel zum 80. Geburtstag Herausgegeben von Hans-Gert Pöttering zusammengestellt und bearbeitet von Michael Borchard und Hanns Jürgen Küsters

2012 BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. Herausgegeben von Hans-Gert Pöttering zusammengestellt und bearbeitet von Michael Borchard und Hanns Jürgen Küsters Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. Wissenschaftliche Dienste / Archiv für Christlich-Demokratische Politik Rathausallee 12 53757 Sankt Augustin bei Bonn Tel 02241 / 246 2240 Fax 02241 / 246 2669 e-mail: [email protected] Internet: www.kas.de

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. | Medienarchiv Fotograf: Marco Urban © 2012 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Wien Köln Weimar Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Satz: synpannier. Gestaltung & Wissenschaftskommunikation, Bielefeld Druck und Bindung: freiburger graphische betriebe GmbH & Co. KG, Freiburg Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-21087-8

Inhalt

VORWORT Hans-Gert Pöttering Zum Geleit .............................................................................................

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BERNHARD VOGEL – GEDANKEN ZUM 80. GEBURTSTAG Angela Merkel Bernhard Vogel – Eine Stiftung. Zwei Länder. Und fünf Kopiermaschinen

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Norbert Lammert „Demokratie heißt, sich in die eigenen Angelegenheiten einzumischen.“ (Max Frisch) ..........................................................................................

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WORTE VON DICHTERN Wulf Kirsten landstieg .................................................................................................

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Arnold Stadler Was ist der Mensch, dass Du an ihn gedacht hast Für Bernhard Vogel zum Geburtstag – Ad multos Annos feliciter

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Uwe Tellkamp Der archimedische Punkt

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Inhalt

DIE IDEE DER CHRISTLICHEN DEMOKRATIE Alois Glück „Wer das christliche Verständnis vom Menschen als ein Geschöpf Gottes für konservativ hält, der nennt uns zu Recht konservativ.“ (Bernhard Vogel) ...................................................................................

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Hermann Gröhe „Das ‚C‘ wurde als Verpflichtung und nicht als Anspruch verstanden.“ (Bernhard Vogel) ...................................................................................

53

Wilfried Härle „State in fide – Steht fest im Glauben“ (1. Brief an die Korinther) ......................................................................

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Volker Kauder „Die christlich demokratische Idee ist von Menschen in den Luftschutzkellern, in den Schützengräben, in den Konzentrationslagern entwickelt worden.“ (Bernhard Vogel) ...................................................................................

63

Friedrich Kronenberg „Kirche muss Flagge zeigen.“ (Reinhard Marx)

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Hans Maier Antinomien der Freiheit „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Ding und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Ding und jedermann untertan.“ (Martin Luther) ......................................................................................

71

Erwin Teufel „Ein Christ ist ein Mensch, dem die Wahrheit so schmeckt, wie sie tatsächlich ist.“ (Papst Johannes XXIII.) ....................................

75

Inhalt

9

MENSCHENWÜRDE Michael Albus Pragmatismus ist keine Alternative „Wir müssen die Menschen so nehmen wie sie sind: Wir kriegen keine anderen.“ (Konrad Adenauer) ...................................

81

Karl Lehmann Über die menschenfreundlichen Grenzen der Selbstbestimmung „Der Mensch entscheidet nicht, ob er geboren wird. Er sollte auch nicht über das Ende seines Lebens entscheiden. Das Sterben ist wie die Geburt Teil der menschlichen Existenz, zu einem Leben in Würde gehört auch ein Tod, der seiner Würde entspricht.“ (Bernhard Vogel) ......................

85

Klaus Naumann „Das Gewissen ist nicht beliebig und nicht jede Frage ist eine Gewissensfrage.“ (Bernhard Vogel)

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91

Hans Zehetmair „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie auch im Sterben zu achten und zu schützen, ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ (Verfassung des Freistaates Thüringen, 1993) .......................................

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DEMOKRATIE, STAAT UND VERFASSUNG Kurt Beck „Erfolgreiche Landespolitik braucht die Kenntnis der Landesgeschichte.“ (Bernhard Vogel)

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Wolfgang Bergsdorf Über politische Führung in der freiheitlichen Demokratie „Gefolgschaft beruht auf Vertrauen.“ (Bernhard Vogel) ........................ 107 Roman Herzog „Ein Jurist muss sein.“ (Bernhard Vogel)

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113

Horst Möller „Gegen erklärte Feinde muss die Verfassung verteidigt werden, das ist patriotische Pflicht.“ (Dolf Sternberger) ...................................... 115

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Inhalt

Gerd Schuchardt „Eine Koalition ist dann erfolgreich, wenn beiden das Land wichtiger ist als die eigene Partei.“ (Bernhard Vogel) ............................ 121 Dieter Stolte „Große Selbständigkeit, große Selbstverantwortung, ein hohes Berufsethos sind notwendig, um den Beruf des Journalisten als Berufung erfüllen zu können. Nur sein Gewissen und allenfalls die Leserschaft kontrollieren ihn.“ (Bernhard Vogel) ............................. 125 Peter Struck „Demokratie braucht Demokraten!“ (Friedrich Ebert)

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DIE BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND UND DER FÖDERALISMUS Dieter Althaus „Bundesländer gibt es nicht, denn die Länder sind keine Ländereien des Bundes.“ (Bernhard Vogel) ........................................... 137 Andreas Rödder „Wer die Vergangenheit nicht kennt, wird die Zukunft nicht in den Griff bekommen.“ (Golo Mann) ......................................... 143 Hans-Peter Schwarz „Die letzten sechzig Jahre haben uns mehr Frieden, Freiheit, Wohlstand, Sicherheit und Stabilität beschert als je zuvor in unserer Geschichte.“ (Bernhard Vogel) .................................................. 149 DDR, DEUTSCHE EINHEIT UND EUROPÄISCHE EINIGUNG Mike Mohring Die Begriffe und das Begreifen „Es war eine Revolution, keine Wende, wie die letzten Machthaber der DDR verharmlosend formulierten.“ (Bernhard Vogel) ..................... 155

Inhalt

Beate Neuss „Deutsche Einheit und europäische Einigung sind zwei Seiten derselben Medaille.“ (Helmut Kohl)

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159

Günter Rinsche „Es gibt keinen anderen Weg zur Wiedervereinigung als diesen durch die europäische Integration, es sei denn, man wäre bereit, auf die Freiheit zu verzichten.“ (Konrad Adenauer) ............................... 165 Richard Schröder „Wir hatten alles geplant, wir waren auf alles vorbereitet, nur nicht auf Kerzen und Gebete.“ (Erich Loest) ................................... 169 Arnold Vaatz „Die DDR war ein Unrechtsstaat, daran besteht kein Zweifel.“ (Bernhard Vogel) ................................................................................... 173 Dorothee Wilms „Es gab ein Ministerium für gesamtdeutsche Fragen, ein Ministerium für gesamtdeutsche Antworten hat es nicht gegeben.“ (Bernhard Vogel) ................................................ 179 GLOBALISIERUNG UND ENTWICKLUNG Horst Köhler Bernhard Vogel und die christliche Tiefenschärfe seines Engagements für Afrika „Entwicklung, der neue Name für Frieden.“ (Papst Paul VI.)

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Peter Molt Bernhard Vogels Engagement für die Armen in Afrika „Seht, ich habe es Euch gesagt, wir müssen den Armen Freude bereiten.“ (Elisabeth von Thüringen) ...................................................................... 189 Gerhard Wahlers „Kein Land der Welt wird in der Lage sein, die Grundlagen einer globalen Ordnungspolitik zur verantwortlichen Gestaltung des laufenden Globalisierungsprozesses alleine durchzusetzen.“ (Bernhard Vogel) ................................................................................... 195

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Inhalt

SOZIALE MARKTWIRTSCHAFT Wolfgang Gerhardt Wettbewerb, Marktwirtschaft und Verantwortung „Wir wollen die solidarische und soziale Kraft des Wettbewerbsgedankens, die sich in der Sozialen Marktwirtschaft mit der Verantwortung für den Menschen verbindet, ins Bewusstsein rufen.“ (Bernhard Vogel) ................................................................................... 203 Klaus-Peter Müller Wirtschaft und Verantwortung „Das Maß der Wirtschaft ist der Mensch; das Maß des Menschen ist sein Verhältnis zu Gott.“ (Wilhelm Röpke) Ingrid Sehrbrock „Sozial ist, was Arbeit schafft.“ (Bernhard Vogel)

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GESELLSCHAFTLICHE ENTWICKLUNG: GENERATIONEN, FAMILIE, KINDER, ALTER Kurt Biedenkopf Zur Unfähigkeit unserer Demokratie, Gerechtigkeit zwischen den Generationen zu üben „Wir bekennen uns zur wechselseitigen Verantwortlichkeit der Generationen. Die Alten wollen nicht auf Kosten ihrer Kinder und Enkel leben.“ (Bernhard Vogel) ............................................................. 219 Rita Süssmuth „Kinderhaben ist in wachsendem Maße nichts Selbstverständliches mehr, sondern etwas, wozu sich Eltern bewusst entschließen.“ (Bernhard Vogel) ................................................................................... 223

Inhalt

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KULTUR, BILDUNG, UNIVERSITÄT, UNTERRICHT Wolfgang Jäger Humboldt Plus „Mit Humboldt alleine war keine neue Universität zu machen.“ (Bernhard Vogel) ................................................................................... 231 Birgit Lermen „Den Dialog zwischen Literatur und Politik zu fördern: das ist das Ziel der Kulturarbeit der Konrad-Adenauer-Stiftung.“ (Bernhard Vogel) ................................................................................... 237 Annette Schavan „Keine Wohltat ist größer als die des Unterrichtes und der Bildung.“ (Adolph Freiherr von Knigge) ................................................................ 243 ZUR PERSON BERNHARD VOGEL Franz Peter Basten „Die alten Unterscheidungen – ‚Wohlgeborene‘ und ‚Missgeborene‘, Eigene und Fremde, Kulturmenschen und ‚Barbaren‘ fallen mit der Zeit dahin.“ (Hans Maier) ...................................................................... 249 Georg Gölter „Suchet der Stadt Bestes und betet für sie zum Herrn, denn wenn’s ihr gut geht, so geht’s euch auch wohl.“ (Jeremia 29,7) Julia Klöckner „Gott schütze Rheinland-Pfalz!“ (Bernhard Vogel)

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Christine Lieberknecht Vom Münchner Wirtshaus zur Hommage auf Thüringen „Hoaßt hia oana Vogl?“ (Ausruf einer Kellnerin in München)

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Heinrich Oberreuter „Quidquid agis prudenter agas et respice finem.“ (Äsop, Fabel 78)

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Inhalt

Hanns-Eberhard Schleyer Eine Würdigung „Was Du ererbt von Deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen.“ (Johann Wolfgang von Goethe) ............................................................. 281 Michael Thielen „Mein Vogel heißt Bernhard“ (Wahlkampfmotto Landtagswahl Rheinland-Pfalz 1979) Hans-Joachim Veen „Nie geraten die Deutschen so außer sich, wie wenn sie zu sich kommen wollen.“ (Kurt Tucholsky)

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Hans-Jochen Vogel „Erst das Land, dann die Partei, dann die Person.“ (Erwin Teufel)

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LEBENSLAUF PUBLIKATIONEN Lebenslauf ............................................................................................. 305 Publikationen 2007 – 2011 ..................................................................... 309 Autoren und Herausgeber ...................................................................... 317

VORWORT

Zum Geleit Hans-Gert Pöttering „Eigentlich habe ich gar nichts anderes getan, als zu versuchen, meine Pflicht zu tun.“ Mit diesen Worten hat der Jubilar, dem diese Festschrift zur Vollendung seines 80. Lebensjahres gewidmet ist, bereits vor zehn Jahren seinen Lebensweg beschrieben. Immer wieder hat Bernhard Vogel sich in die Pflicht nehmen lassen. Jeden Dienst, zu dem er sich verpflichten ließ, hat er in außerordentlichem Maß erfüllt. „Politik ist Dienst“ gilt für Bernhard Vogel in besonders treffender Weise. Politik ist für ihn Dienst – Dienst für die Menschen, Dienst für das Gemeinwohl, Dienst aus Überzeugung für das Wohl der Menschen. Bernhard Vogel verbindet auf unnachahmliche Weise Politik mit Menschlichkeit. Er führt Menschen zusammen, bringt sie einander näher, erklärt und erläutert ihnen Politik, nimmt sie auf dem Weg der Politik mit, bietet ihnen Orientierung und Richtung. Das christliche Menschenbild und die Unantastbarkeit der Menschenwürde, die Katholische Soziallehre sowie die Grundwerte unserer Verfassung sind Fundament seiner Überzeugungen und Entscheidungen. Daran orientiert sich sein Denken und Handeln, darauf gründen seine Pflichterfüllung und Leidenschaft, seine Weitsicht verbunden mit Zuversicht, sein Optimismus verbunden mit Realismus, seine Grundsatz- und Prinzipientreue. Sie haben Bernhard Vogel zu einem außergewöhnlichen Politiker werden lassen. Dabei hat der Politische Wissenschaftler Bernhard Vogel nie beschlossen, Politiker zu werden. Er hat seinen Weg in die praktische Politik nie geplant. 1965 kandidierte er erfolgreich für den Deutschen Bundestag. Er war der Auffassung: Vier Jahre Praxis in der Politik könnten nicht schaden. Bekanntlich kam es anders: Nach nicht einmal zwei Jahren wurde er Kultusminister von Rheinland-Pfalz. Spätestens jetzt war die Politik zu seinem Dienst geworden. Zahlreiche politische und gesellschaftliche Ämter und Funktionen folgten, manche davon mehr als einmal. Zweimal war er CDU-Landesvorsitzender – in Rheinland-Pfalz und Thüringen; zweimal Landtagsabgeordneter – in Mainz und Erfurt. Vor allem aber war er: Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz und Ministerpräsident des Freistaates Thüringen. Der Regierungschef mit der längsten Amtszeit in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland; der erfahrenste, der populärste und der einzige, der in zwei Ländern – einem west- und einem ostdeutschen Land – die Regierungsverantwortung inne hatte. Augenzwinkernd sage ich gerne zu Bernhard Vogel – auch öffentlich: Ministerpräsident in zwei Ländern gewesen zu sein – dazu im Westen wie im Osten unseres Landes – sei „mehr als Bundeskanzler“.

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Hans-Gert Pöttering

Die Landespolitik ist das Betätigungs- und Wirkungsfeld Bernhard Vogels. Ob als engagierter Kultusminister von Rheinland-Pfalz oder zweimaliger Ministerpräsident, zweimaliger Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz oder zweimaliger Präsident des Bundesrates: Die deutschen Länder, ihre historischen und kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Besonderheiten, ihre landsmannschaftlichen und landschaftlichen Eigenheiten sind dem vehementen Streiter für den Föderalismus seit jeher ein Herzensanliegen. Auch persönlich ist er mit vielen Ländern eng verbunden. Von Göttingen in Niedersachsen, seinem Geburtsort, über Gießen in Hessen, wo er aufwuchs, München in Bayern, wo er sein Abitur ablegte, und Heidelberg in Baden-Württemberg, wo er studierte und promovierte, bis nach Speyer, wo er seit bald 50 Jahren lebt: Lang ist die Liste der Orte, an denen er sich zu Hause fühlt. Und wo er sich zu Hause fühlt, so sagt er, dort ist für ihn Heimat. Deutschland – sein Vaterland – ist seine Heimat. Er weiß um die Bedeutung des Begriffes Heimat – auch für Europa. Europa werde nur gelingen, wenn die Bürgerinnen und Bürger ein europäisches Bewusstsein erlangen – und dabei zugleich ihre heimatliche Verbundenheit bewahren, wenn die kulturelle Vielfalt in Europa gewahrt bleibe. Dafür engagierte er sich unter anderem auch als Bevollmächtigter der Bundesrepublik Deutschland für kulturelle Angelegenheiten im Rahmen des Vertrags über die deutsch-französische Zusammenarbeit sowie als Vizepräsident der Europäischen Demokratischen Union. Er verkörpert in besonderer Weise den so wichtigen Dreiklang „Heimat – Vaterland – Europa“. Als Niedersachse, als Deutscher und als Europäer schließe ich mich diesem Denken Bernhard Vogels vorbehaltlos an. Schon als junger Politiker hat mich das Wirken Bernhards Vogel sehr beeindruckt. Mit großem Interesse habe ich seinen Weg aufmerksam verfolgt. Beim Ring Christlich Demokratischer Studenten an der Universität Bonn sind wir uns während meiner Studienzeit zum ersten Mal begegnet. Damals habe ich mir nicht vorstellen können, dass sich unsere Wege eines Tages überschneiden würden, dass ich einmal sein Nachfolger in einem seiner unzähligen Ämter werden würde. Vor allem hätte ich nie zu hoffen gewagt, dass es das Amt des Vorsitzenden der Konrad-Adenauer-Stiftung werden könnte. Bernhard Vogel hat mir den Weg in die Stiftung geebnet, die den Namen des ersten deutschen Bundeskanzlers trägt. Es ist mir eine Ehre, sein Nachfolger als Vorsitzender dieser außergewöhnlichen Institution, einer an Werten und Überzeugungen orientierten Gemeinschaft von Persönlichkeiten sein zu dürfen. Das gilt auch für unsere Zusammenarbeit. Ich kann sagen: Seit dem ersten Tag arbeiten wir gut und erfolgreich, ja freundschaftlich, zum Wohl der KonradAdenauer-Stiftung zusammen. Dabei wird mir immer wieder bewusst, wie sehr Bernhard Vogel die Stiftung und wie sehr ihm vor allem die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich tagtäglich in ihr und für sie engagieren, am Herzen liegen. Ohne ihn, ohne

Zum Geleit

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seine unermüdliche Arbeit und sein Pflichtbewusstsein würde die Stiftung heute anders aussehen, hätte sie nicht das Gesicht, welches sie in Deutschland, Europa und der Welt unverwechselbar macht. Wir sind mit unserer Arbeit und unserem Engagement heute an vielen Orten in der Welt willkommen. Daran trägt Bernhard Vogel maßgeblichen Anteil. Sein Name wird auch in Zukunft mit der Konrad-Adenauer-Stiftung verbunden bleiben. Die Stiftung kann sich glücklich schätzen, dass er als ihr Vorsitzender viele Jahre Verantwortung für sie getragen hat. Wir sind dankbar, dass er als Ehrenvorsitzender mit Rat und Tat, mit seinem Wissen und seiner Erfahrung unverändert an unserer Seite steht. Wir, die Konrad-Adenauer-Stiftung, und die über 50 Autoren – Freunde, Kollegen, Wegbegleiter – sagen mit dieser Festschrift für alles, was er für die Stiftung, für unser Land und für Europa, geleistet hat, herzlichst „Danke, Bernhard Vogel!“ Ungezählt sind die Reden, die er in den vergangenen Jahren gehalten hat, ebenso ungezählt die Zitate anderer, die er darin verwendet hat – viele einmal, manche mehrmals. Einige der Zitate, die er gerne und häufig wiedergibt, sind Ausgangspunkt der Beiträge dieser Festschrift. Jeder Beitragende hat zu einem ausgesuchten Zitat seine Gedanken zu Papier gebracht. Die Festschrift weist damit den im Vorhinein gewünschten hohen persönlichen Bezug zum Jubilar auf. Sie spiegelt die Vielfalt und die Reichhaltigkeit seines politischen und gesellschaftlichen Engagements, seines Denkens und Handelns auf besondere Weise wider. Als Herausgeber gilt mein herzlicher Dank allen Autorinnen und Autoren, die mit ihren lesenswerten Beiträgen zum Gelingen dieses Bands beigetragen haben und auf diesem Weg ihre Wertschätzung gegenüber Bernhard Vogel zum Ausdruck bringen. Verständlicher- und gleichwohl bedauerlicherweise bedurfte es der zahlenmäßigen Begrenzung des Autorenkreises. Es war nicht möglich, jeden, der eng mit Bernhard Vogel über die Zeit verbunden ist, aufzunehmen. Eine mehrbändige Festschrift wäre andernfalls erschienen. Für das Erscheinen dieses Bandes danke ich herzlich dem Böhlau-Verlag. In der Konrad-Adenauer-Stiftung sind Professor Dr. Hanns Jürgen Küsters und Dr. Michael Borchard maßgeblich verantwortlich für das Entstehen der Festschrift. Für Idee, Konzeption und Umsetzung gilt ihnen und ihren Hauptabteilungen – Wissenschaftliche Dienste/Archiv für Christlich-Demokratische Politik sowie Politik und Beratung – mein ganz besonders herzlicher Dank! Ebenso herzlich danke ich unserem Generalsekretär, Michael Thielen, der diese Festschrift mit Rat und Tat begleitet hat. Für die redaktionelle Bearbeitung sei Dr. Wolfgang Tischner, Dr. Kordula Kühlem, Denise Lindsay M.A. und Jenny Kahlert vielmals gedankt. Bernhard Vogel vollendet sein achtes Lebensjahrzehnt: Es steht nicht zu befürchten, dass er sich weniger zu Wort meldet, weniger einbringt, weniger

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Hans-Gert Pöttering

engagiert, dass er sich zurücknimmt und in den Ruhestand verabschiedet. Er wäre hochverdient. Doch das Gegenteil dürfte der Fall sein: Er wird an dem Tag nach seinem 80. Geburtstag mit Sicherheit nicht weniger aktiv sein, als an dem Tag davor. Wir haben die berechtigte Hoffnung, dass dies für sein gesamtes neuntes Lebensjahrzehnt gelten wird. Körperliche und geistige Gesundheit sind ein Geschenk für jeden Menschen. Ein wertvolles Geschenk, welches mit jedem weiteren Lebensjahr und erst recht mit jedem weiteren Lebensjahrzehnt an zusätzlichem Wert gewinnt. Bernhard Vogel wird seine körperliche und geistige Gesundheit als ein besonderes Geschenk annehmen. Für die Konrad-Adenauer-Stiftung ist es ein Geschenk, dass er sich für uns engagiert. Herzlichen Glückwunsch, Bernhard Vogel!

Bernhard Vogel – Eine Stiftung. Zwei Länder. Und fünf Kopiermaschinen Angela Merkel In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland hat Bernhard Vogel ein Alleinstellungsmerkmal: Außer ihm hat es noch niemand vollbracht, in zwei Bundesländern zum Ministerpräsidenten gewählt zu werden. Ihm ist das in Rheinland-Pfalz und in Thüringen gelungen. Beide Bundesländer hat er politisch, wirtschaftlich und kulturell geprägt, in beiden Bundesländern wurde er von den Bürgern wiedergewählt, im Amt bestätigt und ist bis heute den Menschen als geschätzter und verehrter Landesvater in Erinnerung. Auch hat es in der Konrad-Adenauer-Stiftung noch niemanden gegeben, der – nachdem er den Vorsitz der Stiftung einmal niedergelegt hatte – erneut zum Vorsitzenden berufen wurde. Auch diese Auszeichnung ist Bernhard Vogel vorbehalten. Ministerpräsident in zwei verschiedenen Bundesländern, zweimal Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung – allein dies zeigt, dass Bernhard Vogel eine außerordentlich hohe Wertschätzung über die Parteigrenzen hinweg genießt. Man kann zu Recht behaupten: Bernhard Vogel hat in seiner Partei, der Christlich Demokratischen Union Deutschlands, große Spuren hinterlassen. Als er vor über 50 Jahren in die CDU eintrat, konnte niemand wissen, wie sehr er diese Partei in ganz verschiedenen Ämtern und Funktionen mit gestalten würde. Es waren die prägende Kraft des christlichen Menschenbildes und die katholische Soziallehre, die Bernhard Vogel 1960 in die Christlich Demokratische Union geführt haben. Vertrauen schaffen, Vertrauen entgegen bringen – das zeichnet die Arbeit Bernhard Vogels aus. Bei ihm steht der Mensch im Mittelpunkt. Der Mensch, dem die Freiheit gegeben ist und die er in Verantwortung nutzen soll. Der Mensch, der nach diesem Verständnis nicht das Maß aller Dinge ist, sondern der um seine Fehlbarkeit und um seine Verantwortung vor Gott weiß. Im Wissen um diese Verantwortung hat Bernhard Vogel unserem Land und der CDU in zahlreichen Funktionen gedient. Sein erstes Mandat für die CDU übernahm er 1963, als er in den Heidelberger Stadtrat einzog. Er war Kultusminister in Rheinland-Pfalz und insgesamt 23 Jahre Ministerpräsident. Über 30 Jahre war er Mitglied des Vorstands der CDU Deutschlands. Meine ersten Begegnungen mit Bernhard Vogel hatte ich nach dem Fall der Mauer, kurz nachdem Bernhard Vogel die Stiftungsleitung übernommen hatte. Damals, als das Brandenburger Tor in Berlin wieder offen war, entschied Bernhard Vogel, dass sich in einem ersten Schritt fünf Mitarbeiter der KonradAdenauer-Stiftung in der damaligen DDR engagieren sollten. Sie sollten helfen, die entstehenden demokratischen Strukturen aufzubauen.

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Angela Merkel

Diese Vertreter der Stiftung führten viele Gespräche mit den örtlichen Organisationen des „Neuen Forums“, des „Demokratischen Aufbruchs“, der „Deutschen Sozialen Union“ oder mit Kreisverbänden der CDU. Die Hilfe war oft ganz praktischer Natur: Es ging um Papier, um Kopiermaschinen, also um Infrastruktur, die benötigt wurde, um als Organisation in einer Demokratie wirken zu können. Es wurden engagierten Bürgern Grundausstattungen für die politische Arbeit – beispielsweise in Form einer kleinen Bibliothek – zur Verfügung gestellt. Danach kamen Lehrgänge, Seminare, Diskussionsveranstaltungen und vieles mehr. Heute ist die Konrad-Adenauer-Stiftung nicht nur in Berlin, sondern in allen neuen Bundesländern mit ihren politischen Bildungswerken vertreten. Es war Bernhard Vogel, der schnell und beherzt entschied, mit der Konrad-AdenauerStiftung beim demokratischen Neuanfang in den neuen Bundesländern mitzuwirken. Ihm und den vielen Mitarbeitern der Stiftung gebührt Dank für ihren großen Einsatz. Sie haben in mittlerweile mehr als zwei Jahrzehnten Großes beim Aufbau der demokratischen Strukturen in den neuen Bundesländern geleistet. Ebenso entschlossen wie Bernhard Vogel die nationale Arbeit der Stiftung auf die veränderten politischen Rahmenbedingungen ausgerichtet hat, hat er auch die Neuausrichtung der internationalen Zusammenarbeit der KonradAdenauer-Stiftung vorangetrieben. Die Stiftung nahm daher nach dem Ende des Kalten Krieges ihre Arbeit in Polen sowie in Ungarn, in Tschechien und danach in vielen weiteren Ländern Mittel- und Osteuropas auf. Überall wurden mit unzähligen Veranstaltungen, Workshops und Diskussionsrunden Beiträge zur Entwicklung der parlamentarischen Demokratie und zur Integration in die europäischen und transatlantischen Strukturen geleistet. Auch in Russland und in der Ukraine arbeitet die Stiftung weiterhin an dem Ziel, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und die Zivilgesellschaft zu stärken. Im Februar 1992 wurde Bernhard Vogel Ministerpräsident in Thüringen, wo er ein Jahr später auch zum Vorsitzenden der CDU gewählt wurde. Deshalb musste die Konrad-Adenauer-Stiftung einige Jahre ohne sein Engagement an der Spitze auskommen. Gründe dafür, dass Thüringer Abgeordnete mit Bernhard Vogel einen Speyerer Bürger zum Ministerpräsidenten wählten, waren seine langjährige Erfahrung als Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz und nicht zuletzt sein unermüdliches Engagement als Vorsitzender der KonradAdenauer-Stiftung in den neuen Bundesländern. Die Thüringer kannten ihn und hatten Vertrauen zu ihm. Diese Akzeptanz bei den Menschen in zwei doch ganz unterschiedlich geprägten Bundesländern lässt sich nur mit der Persönlichkeit Bernhard Vogels erklären. Er versuchte nicht, sich über Nacht vom Pfälzer zum Thüringer zu wandeln. Vielmehr stürzte er sich 1992 zwar mit großer Hingabe auf seine neue Aufgabe und ließ sich auf Thüringen und die Thüringer ein, aber er ist dabei immer er selbst geblieben.

Eine Stiftung. Zwei Länder. Und fünf Kopiermaschinen

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Die Bürger im Westen wie im Osten unseres Landes haben gespürt: Hier ist ein Mann mit Überzeugungen, der auf einem festen Wertefundament steht. Mit anderen Worten: Eine echte Persönlichkeit. Ein Politiker, der offen auf die Menschen zugeht, ihnen zuhört und mit ihnen spricht, aber ihnen nicht nach dem Munde redet. Jemand, dem man vertrauen kann und der selbst Vertrauen in die Menschen hat. Diese Haltung ist Bernhard Vogels Erfolgsgeheimnis, als Politiker, als Stiftungsvorsitzender, als Mensch. Im Frühjahr 2001 übernahm Bernhard Vogel erneut den Vorsitz der KonradAdenauer-Stiftung. Unter seiner Leitung wurde die Begabtenförderung deutlich ausgeweitet. Dabei hat die Stiftung an ihren strengen Auswahlkriterien festgehalten und damit das hohe Niveau der Förderung und der Geförderten gehalten. Die Stiftung leistet einen wesentlichen Beitrag zur Gestaltung der Bildungsrepublik Deutschland. Das Archiv für Christlich-Demokratische Politik, gleichsam das Gedächtnis der CDU, wächst stetig. Dort werden heute so viele Nachlässe aufbereitet und verwahrt wie nie zuvor. Nicht zuletzt wurde der Bereich Politik und Beratung zu einem „Think Tank“ ausgestaltet, der die politischen Debatten in Deutschland immer wieder maßgeblich mit beeinflusst. Ich habe Bernhard Vogel gerade in seiner zweiten Amtszeit als Stiftungsvorsitzender noch intensiver kennen und schätzen gelernt als zuvor schon. Besonders in Erinnerung ist mir sein entscheidender Beitrag zum aktuellen Grundsatzprogramm der CDU „Freiheit und Sicherheit. Grundsätze für Deutschland“, das 2007 in Hannover verabschiedet wurde. Damit hat er an allen drei Grundsatzprogrammen der CDU mitgearbeitet, ein Wirken, das für sich spricht. Bei der Erarbeitung unseres aktuellen Grundsatzprogramms trug er die Verantwortung für die ersten Kapitel zur Identität der Christdemokraten und zu den Grundwerten Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit. Er erinnerte in den programmatischen Diskussionen immer wieder an die Vorstellungen der Sozialethiker insbesondere aus dem Bereich der katholischen Kirche. Mit großer Umsicht hat Bernhard Vogel auch bei der Arbeit an diesem Text gezeigt, was uns als CDU stets auszeichnen sollte: Dass wir immer das rechte Maß finden müssen zwischen Bewahren und Verändern. Offen sein für Neues und Bewährtes bewahren – auch dafür steht Bernhard Vogel. 2009 gab Bernhard Vogel zum zweiten Mal den Vorsitz der Konrad-AdenauerStiftung ab. Es freut mich deshalb umso mehr, dass er sich nach insgesamt 14 Jahren an der Spitze der Stiftung bereit erklärte, den Ehrenvorsitz der Stiftung zu übernehmen. Er bleibt so mit seinem unschätzbar wertvollen Erfahrungsschatz, seinem Wissen und mit all seinen menschlichen Gaben, die ihn immer besonders ausgezeichnet haben, Teil der Stiftung und damit auch der christdemokratischen Familie. Bei allen großen Aufgaben, denen sich Bernhard Vogel im Laufe seines Lebens gestellt hat, waren und sind es einerseits das Vertrauen in Gott, das ihm Kraft gibt, andererseits sein Frohsinn und sein Optimismus, die ihn auch durch schwierige Phasen tragen.

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Angela Merkel

Bernhard Vogel war und ist ein großer Brückenbauer. Wie kaum ein anderer versteht er es zuzuhören, durch argumentative Stärke zu überzeugen und Gräben zu überwinden. Das waren gute Voraussetzungen, um als Ministerpräsident in zwei unterschiedlich geprägten Bundesländern zu wirken, und das sind gute Voraussetzungen, um eine Stiftung zu führen, die weltweit im Einsatz für Demokratie, Menschenrechte und die Soziale Marktwirtschaft ist. Eine Stiftung, die sich für das Gemeinwohl in der globalisierten Welt einsetzt. Eine Stiftung, die geistige Brücken baut. Ich kann aus eigener Erfahrung sagen: Bernhard Vogel ist ein ansteckend fröhlicher Mensch. Sein christlicher Glaube gibt ihm Halt und Gelassenheit. Wir können froh sein, ihn in unserer Mitte zu haben und viel von ihm zu lernen.

„Demokratie heißt, sich in die eigenen Angelegenheiten einzumischen.“ (Max Frisch) Norbert Lammert

I. Als mich die Anfrage erreichte, ob ich einen Beitrag für die Festschrift zum 80. Geburtstag von Bernhard Vogel beisteuern könnte – was ich gerne mit mindestens so viel Freude wie Respekt vor einer der großen politischen Persönlichkeiten unseres Landes tue – war das mit der Bitte der Redaktion verbunden, in diesen Beitrag zwei ausgewählte Zitate aufzunehmen. Beiden mir vorgegebenen Sätzen ist gemeinsam, dass sie mühelos zu mancherlei Gedanken inspirieren: zu Demokratie und demokratischer Beteiligung, zu Politik und Politikern, vor allem aber: zu Bernhard Vogel und seinen herausragenden Verdiensten um unseren Staat und unsere Demokratie. II .

„Demokratie heißt, sich in seine eigenen Angelegenheiten einzumischen.“ Dies ist ein Zitat von Max Frisch, es könnte allerdings genauso gut von Bernhard Vogel stammen, der diesen Gedanken in dieser oder leicht variierter Formulierung immer wieder vorgetragen hat. Zu Recht, denn das Sich-Einmischen, das Sich-Einbringen ist nun mal die unverzichtbare Voraussetzung einer funktionierenden Demokratie. Selbstverständlich ist es deshalb noch lange nicht, im Gegenteil: Bernhard Vogel hat immer wieder auf die Gefahr einer wachsenden politischen Enthaltsamkeit der Bürger hingewiesen, auf eine Haltung, das politische Geschehen gewissermaßen nur noch von den Zuschauerrängen aus zu betrachten, ohne sich selbst als Akteur zu beteiligen. Diese Distanz beobachten wir schon auf der kommunalen Ebene, wo es auch immer schwieriger wird, Menschen für die politische Mitgestaltung zu gewinnen und zu motivieren – vor allem zu einem auch auf Dauer angelegten „Mitmachen“. Zu dem bewussten „Raushalten“ auf der einen Seite gesellt sich komplementär die Neigung, sich als Leidtragender einer politischen Entscheidung zu begreifen, was den Verdruss über „die Politik“ und „die Politiker“ befeuert. Auch wenn es paradox klingt: Einer insgesamt eher geringer werdenden Bereitschaft, sich politisch zu engagieren, steht auf der anderen Seite ein wachsendes

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Norbert Lammert

Bedürfnis nach mehr Beteiligung gegenüber. Laut einer Allensbach-Umfrage sind viele Bürger überzeugt, sie verstünden mehr von der Politik als Politiker. Der Aussage: „Ich denke mir oft, die Politiker haben keine Ahnung, das könnte ich besser“, stimmen laut dieser Umfrage 48 Prozent der Befragten zu. Unter den Anhängern der Piratenpartei sind es sogar 61 Prozent. Konkreter Ausdruck einer solchen „Ich-weiß-es-besser-Haltung“ waren u. a. die Proteste um Stuttgart 21. Nicht nur dieses besonders populäre, ebenso irritierende wie ermutigende Exempel um den Stuttgarter Bahnhof hat uns zwei Einsichten gebracht. Erstens, was die Planungsprozesse angeht, brauchen wir offenkundig Korrekturen, mindestens aber Ergänzungen in unserem Planungs- und Baurecht. Der Deutsche Bundestag berät zurzeit einen Gesetzentwurf der Bundesregierung, der für öffentliche Planungen eine frühere und bessere Beteiligung vorsieht, um Konflikte schon im Vorfeld zu vermeiden. Zweitens, wir müssen über die Möglichkeiten wie die Grenzen von direkten Bürgerentscheidungen neu nachdenken. Nicht im Sinne einer Ablösung repräsentativer Demokratie durch eine plebiszitäre Demokratie, sondern vielmehr im Sinne einer neuen Balance zwischen der repräsentativen Demokratie als „Normalzustand“ politischer Willensbildung und den vermeintlichen oder tatsächlichen Sondersituationen, für die man vielleicht solche besondere Verfahren braucht. Dass repräsentative Verfahren unersetzlich sind, wurde übrigens auch bei Stuttgart 21 schon daran deutlich, dass die große Zahl von Tausenden Protestierenden zunächst ihrerseits Repräsentanten bestimmen mussten, um den geforderten Dialogprozess überhaupt möglich zu machen. Und man tritt niemandem zu nahe, wenn man darauf hinweist, dass die Auswahl und die Bestellung dieser Repräsentanten mit Blick auf ihre demokratische Legitimation den Repräsentanten auf der anderen Seite – freundlich gesagt – nicht überlegen war. Die überschwängliche Begeisterung derer, die plebiszitäre Verfahren gegenüber parlamentarischen Entscheidungen bevorzugen, teile ich nicht: Erstens glaube ich, dass wir für politische Entscheidungen das gleiche Mindestmaß an Professionalität sicherstellen müssen, wie man es für jeden anderen Lebensbereich, von der Autowerkstatt bis zum Zahnarzt, für unverzichtbar hält. Es ist schon erstaunlich, dass der moderne Bürger sich zunehmend in allem und jedem vertreten lässt, nur wenn es um den Bau von Bahnhöfen, Flughäfen oder Kraftwerken geht, meint er, es selbst besser zu können. Zweitens muss es klare Verantwortungen für getroffene Entscheidungen geben. Für Volksentscheide ist aber niemand verantwortlich zu machen. Dagegen kann man Regierungen und Abgeordnete für Entscheidungen, mit denen man nicht einverstanden ist, bei der nächsten Wahl durch die Verweigerung der Stimme sanktionieren. Drittens muss man fragen, welche der großen Richtungsentscheidungen dieser Republik wohl ein Plebiszit überstanden hätte – vom Beitritt der Bundesrepublik zur NATO über die Einführung der Wehrpflicht, den NATO-Doppelbeschluss

Demokratie als Einmischung in die eigenen Angelegenheiten

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bis zur Einführung des EURO. Von der Serie der Reformverträge der EU und den Rettungsmaßnahmen für den EURO gar nicht zu reden. Diese Republik sähe jedenfalls anders und vermutlich nicht unbedingt besser aus, wenn sie plebiszitär organisiert wäre. Das Grundgesetz kennt deshalb aus gutem Grund – mit ganz engen Ausnahmen – keine plebiszitären Elemente. Auf Landes- und Kommunalebene gibt es diese Formen direkter Beteiligung sehr wohl, und dass diese Möglichkeiten vielfach genutzt wurden und werden, zeigt eine veränderte Bedarfslage. Schon deshalb plädiere ich dafür, dass man beide Formen nicht als konkurrierende und sich ausschließende Alternativen ansieht, sondern als sich wechselseitig ergänzende Varianten. Eine direkte Entscheidung durch Bürger erscheint mir jedenfalls in solchen Fällen sinnvoll, wenn es sich um lokal oder regional begrenzte Themen handelt, die noch dazu mit einem klaren Ja oder Nein zu beantworten sind. Von dieser Möglichkeit wird in Deutschland auch seit langem und in zunehmendem Ausmaß Gebrauch gemacht: Auf kommunaler Ebene gab es bislang (Stand: Anfang 2012) rund 6.000 Bürgerbegehren, von denen rund 40 Prozent erfolgreich waren. III .

„Wer die eigene Überzeugung für das Maß aller Dinge hält, taugt zum Fanatiker und Fundamentalisten, aber gehört nicht in ein Parlament.“ Das zweite mir vorgegebene Zitat stammt von Bernhard Vogel selbst. In diesem Satz kommt sein persönliches Verständnis von Politikgestaltung zum Ausdruck: Für die persönlichen Überzeugungen eintreten und streiten, natürlich ja, wenn nötig leidenschaftlich, aber sie für die absolute Wahrheit halten – nein. Die Haltung eines aufgeklärten Demokraten. Bernhard Vogel hat über viele Jahre Politik mitgedacht und mitgestaltet, in Legislative wie Exekutive. Er war Abgeordneter im Deutschen Bundestag wie im Landtag von Rheinland-Pfalz, er war Kultusminister und – bislang beispiellos und wohl nicht wiederholbar – Ministerpräsident in einem alten und in einem neuen Land. Er kennt das politische System also wie kaum ein anderer von innen. Deshalb kann er auch gut beurteilen, wie Politik sich im Laufe der Zeit verändert hat. Politik heute sei – so hat er es Anfang 2011 gesagt – „nicht unbedingt schwieriger, aber anders“. In diesem Zusammenhang wies er darauf hin, dass wir viele Probleme nicht mehr vor uns haben, die „wir vor 50 Jahren noch für unlösbar hielten: Die Teilung Deutschlands, der drohende Atomkrieg, der sowjetische Machtblock“. An deren Stelle sind allerdings neue, andere Probleme getreten – vom Klimawandel über die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus bis zur demographischen Herausforderung. Abgesehen von unterschiedlichen Themen gibt es aber durchaus einen sehr gravierenden Unterschied zwischen dem früheren und dem heutigen Politikbetrieb:

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Norbert Lammert

Politik hat es heute mit einem massiven Vertrauensverlust zu tun. 1972 – damals war Bernhard Vogel gerade in den Landtag von Rheinland-Pfalz gewählt worden – genossen Abgeordnete noch eine bemerkenswerte Wertschätzung. 1972 äußerten 63 Prozent der Befragten, man brauche „große Fähigkeiten, um Bundestagsabgeordneter zu werden.“ Heute sind nur noch 25 Prozent dieser Meinung. Auch bei der zugeschriebenen Fachkompetenz schneiden Politiker im Jahre 2012 schlecht ab. 51 Prozent der Befragten schreiben zwar Regierungsberatern eine hohe Kompetenz zu, 47 Prozent den Richtern und 35 Prozent den Vertretern von Nichtregierungsorganisationen wie Amnesty International. Von solch einem Ansehen können Parlamentarier nur träumen: Gerade einmal 21 Prozent der Befragten gehen davon aus, dass Bundestagsabgeordnete eine hohe Fachkompetenz haben. Und die können sich nicht wirklich damit trösten, dass noch weniger, nämlich nur 8 Prozent der Bürger, Fachkompetenz bei Parteivorständen vermuten. Auch wenn diese Zahlen neu sind, sind sie nicht wirklich überraschend. Sie bestätigen lediglich andere, ähnliche Umfragen, die das Bild von einem massiven Vertrauensverlust illustrieren, der Parteien, Parlamente, Regierung und Opposition ergriffen hat. Und tatsächlich reicht er noch viel weiter – das Misstrauen umfasst längst auch andere gesellschaftliche Bereiche – Kirchen, Gewerkschaften, Medien und Wirtschaft. Ja, man möchte fast sagen, dass das durchgängige Kennzeichen im Selbstverständnis dieser Gesellschaft ein massiver wechselseitiger Vertrauensverlust ist. Sicherlich ist ein Teil der Politik- und Parteienkritik, die sich in schlechten Ansehenswerten manifestiert, nicht von der Hand zu weisen. Allerdings gibt es auch viel überzogene und unzutreffende Kritik, die zum einen mit einem höchst widersprüchlichen Bild von der Politik und von Politikern zu tun hat und zum anderen mit unrealistischen Erwartungen an die Demokratie. Vermutlich drückt sich im Vertrauensentzug auch die Enttäuschung darüber aus, dass eine immer komplizierter werdende Welt keine einfachen Lösungen bereithält. Aber – und hier zitiere ich nochmals Bernhard Vogel – „Probleme sind lösbar, und da empfehle ich der jungen Generation ein wenig mehr Selbstbewusstsein“. Ich ergänze: Und Zutrauen in die Lösungskompetenz unserer Demokratie, die in den vergangenen gut 60 Jahren immer wieder bewiesen hat, dass sie sehr wohl in der Lage ist, die anstehenden Aufgaben zu lösen, auch wenn sie nicht die tiefe Sehnsucht nach einer schnellen „Hauruck“-Lösung befriedigt. Demokratie ist eben ein zäher und mühsamer Prozess. Max Weber und seine dicken Politikbretter sind in diesem Zusammenhang schon so oft zitiert worden, dass ich mir hier nur den Hinweis erlaube, dass Politik aus viel Handwerk und wenig Glamour besteht. Auch wenn sich im Politikbetrieb manches verändert hat, eines scheint über die Jahre konstant zu sein: Die Menschen erwarten von Politikern Zuverlässigkeit. Die Aussage: „Die Bürger wollen nicht jemand, der ihnen nach dem Mund redet, sondern jemand, der ihnen Orientierung gibt“ wird von 87 Prozent der

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befragten Bürger bestätigt, außerdem wünschen sich die Bürger von Politikern Verlässlichkeit (87 Prozent) und Aufrichtigkeit (83 Prozent). Zuverlässigkeit, Aufrichtigkeit, Verlässlichkeit: Das ist genau der Dreiklang von Attributen, der mir zu Bernhard Vogel einfällt, und der das hohe Ansehen begründet, das er heute genießt – bei Bürgern genauso wie bei politischen Weggefährten, und zwar nicht nur bei denen aus den eigenen Reihen.

landstieg Wulf Kirsten Verehrter, lieber Bernhard Vogel, auch wenn für unsere Jahrgänge die Zeit der großen Fußwanderungen zu Ende geht oder schon zu Ende gegangen ist (von wegen Rudolstadt – Weimar in zehn Stunden mit nur zwei kurzen Pausen), grüße ich Sie aus gegebenem Anlass mit einer Einladung nach Thüringen. Dorthin, wo es für mich am schönsten ist, ins Vorland des Thüringer Waldes, zwischen Ilm und Saale zu ergründen. Inmitten der toskanisch anmutende Reinstädter Grund bei Kahla. Angesichts schroffer Felswände bis hinauf zu dem Weiler Beckers Kirchhof (nach dem Dreißigjährigen Krieg blieb da nur das eine Gehöft) und imposanter Bergzacken „abendlich wohlgeschmiedet“ (Hölderlin). Herzlich Ihr Wulf Kirsten

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Wulf Kirsten

landstieg auf baumpfaden im nirgendwohin, graslilien flächendeckend hangunter in voller blüte, wie zart, wie filigran dieser grundton der erde und woher nur genommen? grasspringer inmitten, augenscheinlich nachgerade, was weiß ich, unterwegs auf ausgedientem landstieg, der sich verirrt hat und nicht mehr weiß, wohin sich winden und wenden, weithin beiläufig tagesglanz uns freimütig überlassen, allgegenwärtig ausgewitterte felsbrocken, ausgewürfelt von abschüssigem felsengurtband, augenfällig laubflecken im schattenwurf, und du fragst mich entgeistert, efeugewandet, in welcher welt leben wir hier unter soviel ungebändigter krächzender einsamkeit? was da so flimmrig schwirrt, sei das licht der natur, nicht zu ergründen, nimm diesen landstieg an, so wie er uns trägt, als sei er schlichtweg das mundum seiner selbst.

Was ist der Mensch, dass Du an ihn gedacht hast Für Bernhard Vogel zum Geburtstag Ad multos Annos feliciter Arnold Stadler

Ich schaue hinauf zu den Bergen: Aus welcher Richtung wird die Hilfe kommen? Meine Hilfe kommt von Ihm her, der Himmel und Erde gemacht hat. Er wird dich nicht stolpern lassen. Jener, der über dir wacht, schläft nicht. Der Wächter Israels schläft und schlummert nicht. Auch dein Wächter ist er. Er gibt dir Schatten. Er ist dein Geleitschutz. Am Tag wird dir die Sonne nichts antun und nicht der Mond in der Nacht. Vor dem Bösen schützt er dich. Er hüte dein Leben. Er behüte dich beim Kommen und Gehen, heute und immer. (Psalm 121) 1. Beten ist Danken für das Gewährte und Bitten um das Zukünftige. So hörte ich einst einen Großvater sagen, seine Enkelin wollte wissen, was Beten sei. Wahrscheinlich hat der Großvater das auch schon so gesagt und erklärt bekommen, im alten Katechismus. Und ich fand diesen Erklärungsversuch einer Zehnjährigen gegenüber durchaus geglückt und empfand, dass auch mir damit weitergeholfen war und ist. Gedichte sind gelagert an der Nahtstelle von Himmel und Erde. Die Psalmen sind ganz besonders solche Gedichte, die es mit Gott und Mensch zu tun haben. Nach wie vor sind die Psalmen, ein Buch der Heiligen Schrift des Ersten, des Alten Testaments, des meistübersetzten, meistverbreiteten und wohl auch meistgelesenen Gedichtbuchs der Weltliteratur, von einem unvergleichlichen Einfluss auf die Poesie der orientalischen und christlichen Völker, auf das Morgen- wie

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auf das Abendland, wie man noch vor nicht allzu langer Zeit sagte. Und mehr als dies: Die Psalmen sind das wohl auch schönste Gebet- und Gesangbuch der Welt. Auch in der Welt von heute, nach wie vor. Sie bringen die Conditio Humana zum Vorschein, die Freude und den Schmerz des Menschen als lebendige Gegenwart aus Vergangenheit und Zukunft, unsere Verbindung als ein Weg unserer Vergänglichkeit im Licht der Unvergänglichkeit des Ewigen. Sie sind auch Dank für ein Leben, das als Geschenk Gottes erfahren wird. Gedichte sind Nahtstellen von Himmel und Erde. Besonders die Psalmen sind solche Gedichte und Brücken von Zeit und Ewigkeit. Sie währen und haben sich immer wieder bewährt, seit David, der etwa 1000 vor unserer Zeitrechnung, die ja von Bethlehem an gerechnet wird, lebte, dichtete und sang. David wird seit biblischen Zeiten mit den Psalmen so sehr in Verbindung gebracht, dass manche auch einfach vom Psalter Davids sprechen. Dieser Name taucht ja in so vielen der 150 einzelnen Lieder im Buch der Psalmen auf: „L’David“ – das „l“ kann aber: „von“, „für“ und „zu“ David heißen. Bethlehem ist die Stadt Davids und seines Nachfahren Jesu. So steht es auch im Evangelium. Und das Buch der Psalmen, der Psalter Davids, war das Gebetund Liederbuch Jesu, der ein gleiches Buch der Psalmen vor sich hatte wie wir. Es gab die Psalmen zu Jesu Zeiten ja alle schon so wie heute, auf Hebräisch, 150 Psalmen sind es an der Zahl. Dieselben Verse wie wir konnte schon Jesus lesen, beten und singen. Daher sind die Psalmen gerade auch für Christen die ehrwürdigsten Gedichte und Lieder überhaupt. Den berühmten Psalm 22 „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“ vergegenwärtigt der Sterbende ja noch am Kreuz, wenigstens den ersten Vers. Man muss aber wissen, dass dieser Psalm in einer jubelnden Gottgewissheit gipfelt, in den das ganze Universum einbegriffen ist: Aufleben soll euer Herz, für immer! Von Ihm werden sie der Welt erzählen, die Menschen, den Menschen das, was er getan hat, dieses Heil verkünden. Er hat es vollbracht. Es ist also keine Aufgabe des Glaubens Jesu, sondern – ganz im Gegenteil – eine Treue zum Wort Gottes bis zuletzt. Das Sterbegebet Jesu, der 22. Psalm, zeigt uns auf beispielhafte Weise, was ein Psalm ist: Er verbindet den Menschen de Profundis mit Gott, dessen schönster Name vielleicht: der Ewige, der Allerbarmende ist.

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2. Der Psalm ist ein Schmerz, der gesungen werden kann. Und eine sangbare Freude. Und die sogenannten Weisheitspsalmen, die dritte Gruppe neben den Klageliedern und den Hymnen des Psalters, sind ein Nachdenken über Gott und seine Welt, der am schönsten auf die Weise des Gesangs vernehmlich wird, ein Dank, der im Rühmen gipfelt. Es ist ein Reichtum der Töne und der Stimmen, die wir im Buch der Psalmen finden. Es ist der ganze Mensch, der hier zum Vorschein kommt. Vom De Profundis bis zum Hallelujah: Alles, was Odem hat, lobe den Herrn, Hallelujah. Die Vielschichtigkeit der Stimmungslagen in den Psalmen und ihre zu Zeiten auch extremen Erfahrungen sind aber immer ein Ausdruck des einen Menschen. Besonders dann auch, wenn die Wörter versagen, im Jubel und im Schmerz, hilft vielleicht der Gesang weiter. Zum Beispiel: das Klagelied: Das Klagelied ist ein Schmerz, der gesungen werden kann: Da beginnt einer erst einmal mit einer menschlichen Erfahrung: Mir verschlug es die Sprache, als ich erfahren musste: Die Menschen lügen. Alle. Ach hilf doch Es gibt bald keine Menschen mehr. Bald gibt es nur noch Unmenschen Einer lügt dem anderen ins Gesicht So werden die Schwachen klein gehalten Die Armen lässt man vor die Hunde gehen Reiß mich heraus! Du kannst es doch! Ich werde immer weniger. Du kannst mich retten. Rette mich! Besonders dann auch, wenn die Wörter versagen, hilft oftmals noch der Gesang weiter. Ein Verfolgter singt: Ich lebe von Tränen Tag und Nacht Die anderen fragen mich ständig: wo ist er denn nun, dein Gott? Wann endlich darf ich dein Gesicht sehen? Es zerreißt mich vor Schmerz.

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Oder: Als ich am Ersticken war, warst du mein Atem Warum toben die Heiden? Warum sagen sie: „wir sind frei! Wir brauchen diese Verbindung nicht!“? Da kann der Ewige doch nur lachen! Und auch: Ja, jeder Tag war ein Grauen, jeder Morgen eine Strafe. Und dann der Schmerz, die Nieren. Mir tat alles weh. Ich war am Ende. Ich verstand die Welt nicht mehr. Es war eine Qual. Mein Schmerz war alles. Und dann die Erkenntnis, Frucht von Erfahrung und Nachdenken über sie: Unsere Hilfe und unser Heil kommt von ihm, der Himmel und Erde gemacht hat. Er hörte mich, genau an dem Tag, an dem ich zu ihm schrie. Ich war vom Tod umschlungen. Die Todesangst beherrschte mich. Ich saß im Dreck. Da schrie ich zu Gott: Rette mich! schrie ich. Er hat Mitleid mit uns. Er rettet uns. Gerade die einfachen Herzen, zum Beispiel mich: ich war ganz hilflos, da hat er mir geholfen. Ja, mein Leben dem Tod entrissen hast du. Ich muss nicht mehr weinen. Der Mensch vermag singend zu beten, so dass, wenn schon vorerst an der konkreten Lage eines Menschen in Not nichts zu ändern ist, es doch einen rettenden Trost bedeutet, wenn der Mensch von seiner Lage zu Einem beten kann, von dem es heißt:

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Nah ist er den zerbrochenen Herzen, er wird sie umarmen in ihrer Angst. Er will, dass der Mensch ein Mensch ist. In seinem Licht sehen wir das Licht. Denn er weiß ja, was wir sind. Eine Andeutung nur, ein gewisses Nichts ist der Mensch. Ein Schatten an der Wand entlang, der Mensch, der geht. Und dann zerstörst du seinen Glanz wie Motten, die sich in das schöne Kleid hineinfressen. Unsere Zeit hauchen wir aus wie ein aufstöhnen. Das ist alles. Wir blühen ja nur, sind einmal nur da, wie auf der Wiese. Und dann weiß der Psalmist vor allem auch noch, und darum singt er es: Ich werde nicht sterben, sondern leben. 3. Das kann also alles nicht nur gelesen und gebetet werden, sondern auch gesungen. Freilich immer vor Gott. Sängerinnen und Sänger, Beterinnen und Beter sollten schon „religiös musikalisch“ sein. Etwas glauben. Ja sagen wollen. Und glauben, dass der Glaube schöner ist als der Unglaube. In dieses alte Lied einstimmen und es zu einer Gegenwart machen, die eine lebendige Verbindung immer wieder neu herstellt. Es wird zu allen Zeiten Menschen gegeben haben, die nicht glaubten, beteten und sangen, die nicht glauben beten und singen konnten. So auch heute. Trotz allem – der Psalmist kannte die Welt ja auch, und wir kennen die Welt auch – am Ende erscheint ein großes Ja. Das sind die Psalmen: eine Summa: Ein Ja-Sagen. Unser Dank für das schöne Leben. Ein Hallelujah. Deutsch: Ja, hebräisch Ja – wie in: Hallelu-Ja. Welch schöner Gleichklang! Ja – ist der nur im Kompositum „hallelujah“ auszusprechende Name Gottes. Lob und Preis sind das große Einmaleins des Singens und Betens. Das Rühmen steht am Ende jedes Klagelieds, zumindest wird da ein großes TE DEUM in Aussicht gestellt, jeder Psalm mündet im Hallelujah des letzten Psalmverses: Alles, was Odem hat, lobe den Herrn! Hallelujah

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Und jetzt noch den 8. Psalm, den ich in Form einer Glocke als Geburtstagsgruß sende, der das Ad Multos Annos feliciter! zum Klingen bringen möge, einem „vir politicus doctus vere nobilis“, wie eine Inschrift oder Glockenzier, gegossen aus Psalmversen: Herr, unser Herr, wie wunderbar ist Dein Name auf der ganzen Welt! Auch oben, im Himmel, bist Du mit Deiner Hoheit. Selbst das Geschrei von Säuglingen ist noch Lob, ein Ja zu Deiner Schöpfung. Den Atheisten verschlägt es die Sprache. Wenn ich zu Deinem Himmel aufschaue, zum Mond und zu den Sternen, die Du da festgemacht hast: Was ist der Mensch, dass Du an ihn gedacht hast? Dieses Menschenkind, dass Du es machen lässt? Du hast den Menschen fast gottgleich gestaltet, mit Glanz und Herrlichkeit hast Du ihn gekrönt, ihn eingesetzt, über Deine Schöpfung zu walten. Alles, was ich sehe, alles was lebt: auf dem Land, in der Luft und was seinen Weg im Meer sucht. Du hast ihm alles zu Füßen gelegt. Herr, unser Herr, wie wunderbar ist Dein Name auf der ganzen Welt. Alles was atmet lobe den Herrn Hallelujah

Der archimedische Punkt Uwe Tellkamp Der Charakter eines Menschen zeigt sich in Extremsituationen. Im gemeinsam mit seinem Bruder Hans-Jochen Vogel verfassten Buch „Deutschland aus der Vogelperspektive. Eine kleine Geschichte der Bundesrepublik“ beschreibt Bernhard Vogel, wie er am 5. September 1977 gegen 17 Uhr in der Mainzer Staatskanzlei mit Hanns Martin Schleyer telefoniert, der ihn für eine Tagung gewinnen möchte. Kurz nach 18 Uhr erfährt Vogel von der Entführung Hanns Martin Schleyers, der Ermordung seines Fahrers und dreier Beamter seines Begleitschutzes durch ein Kommando der RAF. In Bonn werden Krisenstäbe gebildet. Der Entführung Hanns Martin Schleyers vorausgegangen waren die Ermordung von Generalbundesanwalt Siegfried Buback und seinem Fahrer Wolfgang Göbel am Gründonnerstag 1977 in Karlsruhe und der Mord an Jürgen Ponto, Vorstandssprecher der Dresdner Bank, im Juli 1977. An den Sitzungen des Krisenstabs in Bonn ist Bernhard Vogel nicht beteiligt. Doch auch ihn betrifft das Ereignis unmittelbar – er ist mit Hanns Martin Schleyer und seiner Familie befreundet. Die Freunde des Entführten treffen sich in der Wohnung eines Stuttgarter Unternehmers, um sich auszutauschen und zu beraten, sechs schreckliche Wochen lang. Die RAF fordert die Freilassung von elf verurteilten Terroristen, darunter Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe. Der Konflikt, den Bernhard Vogel beschreibt, muss unerträglich gewesen sein. Einerseits teilt er die Auffassung der Krisenstäbe, dass die Bundesrepublik nicht erpressbar sein darf und die Rechtssicherheit der Bürger gewährleistet werden muss. Andererseits weiß er, dass das Leben des Freundes gefährdet ist. Ich lese die dramatischen Szenen und frage mich: Was hättest du getan? An seiner Stelle und an Stelle eines Mitglieds des Krisenstabs? Und was, wenn es ein Mitglied deiner eigenen Familie gewesen wäre? Ich muss antworten: Bei Gott, ich weiß es nicht. Es gibt keine einfache Antwort. Ein Menschenleben ist unersetzlich, und die rechtsstaatlichen Prinzipien sind Papier, abstrakt im Vergleich zum konkreten Fall. Kann man nicht eine Ausnahme machen, wenn es gilt, ein Menschenleben zu retten? Lassen wir doch diese Terroristen frei, die kriegen wir schon wieder, die werden uns nicht entkommen. Sagen innere und gewiss auch äußere Stimmen. Am 13. Oktober 1977 wird gemeldet, dass nahöstliche Terroristen die Passagiermaschine „Landshut“ entführt haben und mit den deutschen Terroristen paktieren. Der Sohn Hanns Martin Schleyers erhebt im Namen seines Vaters am 15. Oktober Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht mit dem Antrag,

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es möge die Bundesregierung mittels einstweiliger Anordnung verpflichten, den Forderungen der Entführer stattzugeben. Grundlage der Beschwerde ist der Artikel 2 Absatz 2 Grundgesetz, der das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit benennt: „Die Freiheit der Person ist unverletzlich.“ Der Antrag wird abgelehnt, das Urteil bejaht die Verpflichtung der staatlichen Organe zum effektiven Lebensschutz, lässt ihnen aber Entscheidungsspielraum, wie sie im konkreten Fall diese Verpflichtung ausfüllen. Am 18. Oktober wird durch ein Kommando der GSG 9 die entführte „Landshut“ in Mogadischu erfolgreich gestürmt. Hans-Jürgen Wischnewski meldet Helmut Schmidt: „The work is done.“ Aber am gleichen 18. Oktober wird Hanns Martin Schleyers Tod zur traurigen Gewissheit. Und nun stelle ich mir die schwarzen Fragen, die aufkommen, wenn ich mich nicht in die Situation der Vermittler, sondern in die Situation der Familienangehörigen versetze: Was nützen mir Paragraphen und hehre Worte, wenn der liebste Mensch entführt wird und ermordet zu werden droht? Der Staat darf nicht erpressbar sein – aber ist er nicht für den Menschen da? Was geht mich der Staat an, wenn ein Mensch stirbt? Ein Mensch meiner Familie, ein Freund? Und was gehen mich die in den Rechts-, Gesetz- und Prinzipformulierungen berücksichtigten anderen Menschen an, deren Leben gefährdet sein soll, wenn der Staat in einem Fall, in diesem, in meinem Fall, nachgibt? Würden die Anderen an meiner Stelle auch so handeln, wie es von mir gefordert wird? Diese Fragen wird sich auch Bernhard Vogel gestellt haben. Und nicht nur damals. Politik ist oft die Konfrontation mit dem Unlösbaren, dem Ambivalenten, der Wahl zwischen Scylla und Charybdis. Ich weiß nicht, ob es mir gelänge, in rechtsstaatlichen Bahnen zu bleiben, wenn jemandem aus meiner Familie so etwas zustieße wie der Familie Schleyer. Hanns-Eberhard Schleyer, der älteste Sohn Hanns Martin Schleyers, gab seine Arbeit in einer Stuttgarter Anwaltskanzlei auf und engagierte sich für den Staat, der das Leben seines Vaters nicht retten konnte. Wäre ich zu dieser Haltung fähig? Ich weiß es nicht. Vielleicht würde ich mir Waffen besorgen und nach alten biblischen Prinzipien reagieren. Ich weiß nicht, ob ich die Größe aufbrächte, auf Rache und Vergeltung zu verzichten. Damit nicht aus der Saat von Gewalt und Gegengewalt wieder nur Gewalt und neues Leid erwächst. Ich frage mich, was Hanns-Eberhard Schleyer und Bernhard Vogel zu diesen Entscheidungen der gütigen Vernunft befähigt hat, einer Vernunft, die keine Herzenskälte ist, sondern das genaue Gegenteil, weil das Leben „der Anderen“ ihnen eben keine rhetorische Figur, sondern ebenfalls Gewicht auf der Waage ist, die alle unsere Handlungen gegen die unterlassenen und gegen andere Handlungen wiegt. Über zehn Jahre nach Hanns Martin Schleyers Tod spricht Bernhard Vogel die erste Begnadigung eines zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilten RAF-Terroristen aus. Begnadigung. Dieses Wort ist es, das mich umtreibt, und das mir, soweit ich das beurteilen kann, das Wesen des Menschen

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und des Politikers Bernhard Vogel auszudrücken scheint wie kein zweites. Für mich besagt dieser Begriff, dass der, der ihn gebraucht, indem er ihn anwendet, sich nicht als selbstsicherer Machtmensch, sondern in der Verantwortung vor Gott und den Menschen sieht. Er bezieht sich auf einen Punkt außerhalb seiner selbst, er ist in der Lage, von sich abzusehen und das Ich, diesen dunkelsten aller Despoten, in die Reihe der anderen Ichs und so in den Dienst des Gemeinwesens zu stellen – die wohl entscheidende Voraussetzung von Zivilisation überhaupt. Zum einen kennzeichnet diese Haltung den im christlichen Sinn Handelnden, zum anderen bezeichnet sie einen Idealismus, der ja gerade der auf dem Grundgesetz fußenden demokratischen Verfassung der Bundesrepublik Deutschland gern abgesprochen wird. Aber was ist idealistischer als der Bezug auf diesen unsichtbaren Polarstern und den Wertbegriff von der Einordnung des Persönlichen ins Gemeinwesen, die gleiche und unter Umständen sogar stärkere Gewichtung des Anderen gegenüber dem Eigenen? Von einem, der diese Haltung lebt und somit auszufüllen imstande ist, wird unter Umständen gefordert, dass er seinen eigenen Sohn an den Hindukusch schickt, da er andere Söhne dorthin schickt, um an diesem fernen und uns scheinbar wenig angehenden Ort die zerbrechliche Pflanze Demokratie einpflanzen zu helfen. Und wenn der eigene Sohn stirbt? So wie Hanns Martin Schleyer starb, weil Terroristen ihn töteten und der Staat sich nicht erpressen lassen darf? Am zehnten Todestag von Hanns Martin Schleyer, am 18. Oktober 1987, bespricht sich Bernhard Vogel mit dem Chef seiner Staatskanzlei, HannsEberhard Schleyer. Es geht um die Begnadigung von Klaus Jünschke, der zum harten Kern der RAF gehörte; er überfiel eine Bank in Kaiserslautern und tötete einen Polizisten. Das Gnadenrecht lag, da ein Landes- und nicht ein Bundesgericht die Strafe verhängt hatte, nicht beim Bundespräsidenten, sondern in diesem Fall bei Bernhard Vogel, dem Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz. Beide Persönlichkeiten, Bernhard Vogel und Hanns-Eberhard Schleyer, sprechen sich für einen Dialog mit ehemaligen Terroristen aus und wenden sich gegen jede Art von staatlicher Rache. Klaus Jünschke wird begnadigt. Diese Begnadigung wird kontrovers diskutiert, stößt aber ein Tor auf. Vermutlich ist er hinter einem solchen Tor, der archimedische Punkt, der uns frei machen kann von unseren ganz im eigenen Ich und seinen Schmerzen verharrenden Grenzen. So zu handeln wie Bernhard Vogel und Hanns-Eberhard Schleyer damals, verrät eine Größe, die man nicht genug bewundern kann. Denn die hier niedergeschriebenen Worte bleiben Worte, mögen mir und uns allen die Taten dazu erspart bleiben.

„Wer das christliche Verständnis vom Menschen als ein Geschöpf Gottes für konservativ hält, der nennt uns zu Recht konservativ.“ (Bernhard Vogel) Alois Glück „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Der erste Satz unseres Grundgesetzes beschreibt den innersten Kern unserer Werteordnung, ist der Dreh- und Angelpunkt unseres Rechtswesens. Diese Festlegung im Grundgesetz ist unumstößlich, sie ist durch keine Mehrheit veränderbar. Warum steht dieser Satz am Anfang der Werte- und Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland? Das jeweilige Menschenbild ist das Fundament und die Kursbestimmung für die Werteordnung einer Gesellschaft und eines Staates. Den Vätern und Müttern unseres Grundgesetzes war wohl bewusst, dass die Quelle für den menschenverachtenden Nationalsozialismus, den Rassenwahn, die Euthanasie mit der Tötung von Menschen mit Behinderung, den Terror gegen Andersdenkende, das Menschenbild der Nationalsozialisten war. Die Bedeutung des Menschenbildes für die innere Entwicklung von Gesellschaft und Staat ist unverändert wichtig. Bevor wir uns aber dieser Frage zuwenden, ist danach zu fragen, was die Quelle dieser Position ist. Ohne einen „Alleinvertretungsanspruch“ der Christen zu reklamieren, ist doch eindeutig, dass die jüdisch-christliche Tradition die starke Quelle und für Christen zeitlos gültige Orientierung für das Bild vom Menschen ist. Im „Kompendium der Soziallehre der Kirche“ 1 ist die christliche Position unter Bezugnahme auf weitere Quellen so beschrieben: „Die grundlegende Botschaft der Heiligen Schrift besagt, dass die menschliche Person ein Geschöpf Gottes ist (vgl. Psalm 139,14 – 18), und macht das für sie charakteristische und unterscheidende Merkmal daran fest, dass sie nach dem Bild Gottes geschaffen ist: ‚Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie‘ (Genesis 1, 27). Gott stellt das menschliche Geschöpf in die Mitte und auf den Gipfel alles Geschaffenen…“. „Weil er nach dem Bilde Gottes geschaffen ist, hat der Mensch die Würde, Person zu sein: er ist nicht bloß etwas, sondern jemand. Er ist imstande sich zu erkennen, über sich Herr zu sein, sich in Freiheit hinzugeben und in Gemeinschaft mit anderen Personen zu treten, und er ist aus der Gnade zu einem Bund mit seinem Schöpfer berufen, um dies und eine Antwort des Glaubens und der Liebe zu geben, die niemand anderer an seiner Stelle geben kann.“ 2 Unabhängig davon, ob dies „konservativ“ ist – das ist die zeitlos gültige Botschaft in ihrem christlichen Selbstverständnis: Die Würde des Menschen

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begründet sich für den Menschen darin, dass Gott ihn als sein Ebenbild geschaffen hat. Das ist die Kernaussage der christlichen Anthropologie. „Jede Person ist von Gott geschaffen, geliebt und in Jesus Christus erlöst, und sie verwirklicht sich, in dem sie vielfältige Beziehungen der Liebe, der Gerechtigkeit und der Solidarität mit anderen Personen knüpft, während sie ihre mannigfachen Aktivitäten in der Welt entfaltet. Wenn das menschliche Handeln danach strebt, die Würde und die umfassende Berufung der Person, die Qualität ihrer Lebensbedingungen und die Begegnungen und Solidarität der Völker zu fördern, entspricht es dem Plan Gottes, der es nie versäumt, seinen Kindern seine Liebe und Fürsorge seiner Vorsehung zu erweisen.“ 3 Dieses christliche Verständnis der Würde des Menschen kann nicht für alle verpflichtend sein, sie ist aber der Beitrag zu der Entwicklung, die letztlich zum Satz 1 im Grundgesetz geführt hat. Ein markantes, ja das wohl markanteste Beispiel für die epochale Aussage des früheren Bundesverfassungsrichters Wolfgang Böckenförde, wonach der Staat von Grundlagen lebt, die er selbst nicht schaffen kann. In der aktuellen Debatte, worin der spezifische Beitrag der Christen zu den Themen unserer heutigen Zeit besteht, ist dieses Menschenbild der christlicheuropäischen Wertetradition der Wichtigste. Die Unantastbarkeit der Würde des Menschen ist von zentraler Bedeutung für eine humane Zukunft. Dem christlichen Menschenbild und dem Maßstab des Grundgesetzes zufolge, besitzt jeder Mensch diese unveräußerliche Würde allein deshalb, weil er Mensch ist. Es bedarf keiner weiteren Begründung. Die Würde muss der Mensch sich nicht erwerben wie eine Staatsbürgerschaft, nicht durch Wohlverhalten und Leistung. Darin gründet auch der Anspruch aller Menschen auf die gleichen Freiheiten und Rechte sowie auf Gleichheit vor dem Gesetz, unabhängig von Herkunft, Sprache, Hautfarbe, Geschlecht oder Religion, unabhängig von körperlichen oder geistigen Stärken und Schwächen. Dieser Maßstab gilt für das Zusammenleben im eigenen Lande und weltweit. Er muss gelten gegenüber den Menschen mit anderen kulturellen Prägungen in unserem eigenen Land, den Fremden, den Ausländern. Wer sich auf das christliche Menschenbild beruft, muss sich diesem sehr aktuellen Maßstab stellen. Das Menschenbild des Grundgesetzes und erst recht für Christen der Maßstab nach ihrem eigenen Glaubensverständnis steht somit für den notwendigen Respekt der Menschen voreinander, gegen die Anwendung von Gewalt im Zusammenleben, gegen eine Reduzierung des Menschen auf seine Nützlichkeit, für freie Entfaltung seiner vielfältigen Solidaritätspotentiale. Es steht für den Schutz des Lebens in seinen vielfältigen Erscheinungsformen, für die Bewahrung der Menschenwürde auch in Grenzsituationen des Lebens – gleichgültig, ob es sich um eine Behinderung, schwere Erkrankung, das Leben vor der Geburt oder die Situation des Sterbens handelt. Es steht für Vergebung und Barmherzigkeit, weil nach diesem Maßstab der Mensch auch in seiner Fehlerhaftigkeit akzeptiert ist. An der Wirkkraft dieser Botschaft im privaten,

Das christliche Verständnis vom Menschen

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wirtschaftlichen, rechts- und sozialstaatlichen und gesamtgesellschaftlichen Leben entscheidet sich, ob unsere Zukunft das Attribut „human“ verdient. Die Gefährdungen der Würde des Menschen in der modernen Welt sind vielfältig. Waren es früher primär die materielle Not und die Unterdrückung durch Herrschaftssysteme – beides heute in der Welt weiter Realitäten –, so sind es heute in besonderer Weise die Errungenschaften und die problematischen Nebenwirkungen des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts. Das gilt etwa im gesamten Bereich der Medizin mit den Gratwanderungen zwischen möglicher Hilfe für den Menschen und seiner Manipulation. Für Fortpflanzungsmedizin, Verbrauch in der Embryonenforschung und Genomforschung, für die immer dringlicher werdenden Fragen der Würde des Menschen im Alter und im Sterben. Unverkennbar sind Tendenzen, dass sich der früher auf die Technik fixierte Machbarkeits- und Fortschrittsglaube auf das Feld der Biologie und der Medizin verlagert hat. Zu den Gefährdungen zählen aber auch die Verletzungen der Menschenwürde in der modernen Arbeitswelt, wenn der Mensch nur noch verzweckt wird, wenn in der Wirtschaftsordnung das Kapital und nicht mehr der Mensch im Mittelpunkt steht, wenn Familienpolitik auf die Mobilisierung und Verfügbarkeit der Frauen als Arbeitskraft reduziert wird. In den Medien und insbesondere im Internet wird oft die Menschenwürde brutal missachtet. Das Leitbild von der Würde des Menschen ist das Fundament der christlichen Soziallehre. Christ sein ist nicht reduziert auf individuelle Gottesbeziehung. Gottesliebe und Nächstenliebe sind eine Einheit. Dieser Glaube verlangt in seiner inneren Logik das Engagement für die Gestaltung von Lebensbedingungen, die der Würde des Menschen gerecht werden. Daraus hat sich die christliche Soziallehre mit ihren Prinzipien der Personalität, also der Lehre von der Würde des Menschen, der Solidarität und der Subsidiarität entwickelt. Die Entwicklung der christlichen Soziallehre war die Antwort aus der Botschaft des Glaubens zu den tiefgreifenden Umwälzungen der Industrialisierung und der damit verbundenen Verzweckung des Menschen und der Verelendung großer gesellschaftlicher Gruppen. Diese Prinzipien wurden zur wesentlichen Orientierung für die Entwicklung der Sozialen Marktwirtschaft als einer wertorientierten Ordnung, in der die Stärken des Wettbewerbs für die Entwicklung besserer Lebensbedingungen und die Verpflichtung zum sozialen Ausgleich gleichrangig miteinander verbunden wurden. Die Entwicklung des Sozialstaats in der Bundesrepublik Deutschland, dem wir gegenwärtig nicht zuletzt die innere Stabilität unserer Gesellschaft und unseres Landes in stürmischen Umbruchzeiten verdanken, ist davon wesentlich geprägt. Die drängende Anfrage an die Christen ist in dieser Zeit, welchen Beitrag sie aus diesem Schatz der Erfahrung und mit der Orientierung an diesen Werten für die Aufgabenstellungen im Zeitalter der Globalisierung und immer dichterer Folgen von Krisen und Umbrüchen bringen. Es wäre ein Versagen, wenn wir ausschließlich mit kircheninternen Problemen gebunden wären.

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Das christliche Menschenbild ist auch eine wertvolle Orientierung für die „Unterscheidung der Geister“. Das gilt aktuell für die Zusammenarbeit von konservativen Katholiken und politisch rechts-konservativen Gruppen. Die Kernfrage heißt: „Wie stehen sie zur gleichen Würde aller Menschen?“ Diese Gruppierungen beziehen sich gerne auf „christlich-abendländische Werte“, haben aber die Tendenz der Ausgrenzung von Menschen aus anderen Kulturkreisen, mit anderen kulturellen und religiösen Prägungen. Eine Zusammenarbeit von Katholiken mit Anhängern eines ideologischen Konservativismus und Nationalismus wäre, um mit Andreas Püttmann zu sprechen, eine „politischethische Geisterfahrt“ 4. Diese Beschreibung von Positionen und notwendiger Unterscheidung der Geister gilt auch für die rechtspopulistischen Strömungen, die in ganz Europa mit der Stimmungsmache gegen andere Menschen wieder Stimmen suchen, und es gilt erst recht für die nationalistischen Freundeskreise und nationalkonservativen politischen Gruppierungen in unserem Land, die einen sehr beunruhigenden Zulauf haben. Um der Würde des Menschen willen müssen wir hier als Christen klar Position beziehen und dürfen die geistige und politische Auseinandersetzung nicht scheuen. Die Botschaft vom Menschen als Geschöpf Gottes und von der unverfügbaren Würde des Menschen ist konservativ im Sinne des zeitlos Gültigen, aber nicht konservativ im Sinne politischer Ideologien, deren wesentlichstes Merkmal in der Pflege der eigenen Identität durch Überhöhung des Eigenen und die Ausgrenzung und Abwertung anderer Menschen besteht.

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Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden: Kompendium der Soziallehre der Kirche. Freiburg u. a. 2006, S. 98f. Katechismus der katholischen Kirche. München 1993, S. 122. Kompendium der Soziallehre der katholischen Kirche, S. 49f. Christ und Welt, 16. Februar 2012.

„Das ‚C‘ wurde als Verpflichtung und nicht als Anspruch verstanden.“ (Bernhard Vogel) Hermann Gröhe „Gebt mir zu tun!“ Die Aufgabe ist groß: Sich zu Ehren Bernhard Vogels mit dem „C“ auseinanderzusetzen und was es für die Christlich Demokratische Union bedeutet. Es ist fast anmaßend, einem über Jahrzehnte erfolgreichen Politiker, der bis heute die geistige Auseinandersetzung mit den christlichen Grundlagen seines politischen Handelns und denen der christlich-demokratischen Bewegung wie nur Wenige führt, etwas vom Charakter des „C“ in eine Festschrift zu seinem 80. Geburtstag schreiben zu wollen. Einem Mann, der zweimal, von 1976 bis 1988 in Rheinland-Pfalz und von 1992 bis 2003 in Thüringen, Ministerpräsident war. Einem Mann, der zweimal, von 1989 bis 1995 und von 2001 bis 2009, Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung war. Einem zweifachen Ehrenvorsitzenden – der CDU Thüringens und der Konrad-Adenauer-Stiftung. Einem Mann, der von 1972 bis 1976 Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken war. Wer Bernhard Vogel kennt, weiß, dass er ein großer Anhänger und Kenner Goethes ist. Bei Vorträgen und Reden heißt es oftmals: „Aber die Zeit reicht noch, Goethe zu zitieren. Sie müssen bitte wissen: Wer einmal Ministerpräsident in Thüringen war, darf keine Rede ohne ein Goethe-Zitat halten, zumal er es auch verdient.“ Ich meine, eine Passage aus Goethes Gedicht „Sprichwörtlich“ beschreibt das Wirken Bernhard Vogels trefflich. Dort heißt es: „Gebt mir zu tun! Das sind reiche Gaben, das Herz kann nicht ruhen, will zu schaffen haben.“ Schaffenskraft, Leidenschaft und Ausdauer zeichnen Bernhard Vogel aus. Auf Ausgleich bedacht, auf einem festen Wertefundament und offen für neue Herausforderungen – so hat er Politik gestaltet. Damit ist er Vorbild für viele. Wer zum Beispiel einmal miterlebt hat, wie Bernhard Vogel auf einem Landesparteitag der CDU Thüringen mit stehenden Ovationen begrüßt wird, weiß, wie geschätzt und beliebt er in der CDU ist. Bernhard Vogel zeichnet aus, dass er Tagespolitik und Wissenschaft, Politik-Gestalten und Politik-Denken miteinander verbindet. Das eine bedingt für ihn das andere. Und dafür hat Bernhard Vogel einen klaren Kompass: Das christliche Menschenbild; das „C“.

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„Das ‚C’ wurde als Verpflichtung und nicht als Anspruch verstanden.“ Vor der Theologischen Fakultät der Universität Oppeln hat Bernhard Vogel einmal deutlich gemacht, was das „C“ für die christliche Demokratie bedeutet. Eben kein „geschlossenes ideologisches Modell von Gesellschaft und Politik“ zu haben. Christliche Soziallehre sei ein System offener Sätze, die auf wenigen zentralen Leitideen und Wertvorstellungen beruhe: „Auf der grundsätzlichen Ablehnung totalitärer Ideologien, auf der Abkehr von jeder Form von rigidem Zentralismus und Nationalismus, vor allem aber auf dem christlichen Menschenbild mit seiner Überzeugung von der unantastbaren Würde und den unveräußerlichen Rechten des Menschen als Person.“ Damit sind die Kernbotschaften der christlichen Soziallehre und die christlichen Wertvorstellungen, die mit der Aufnahme des „C“ in unseren Parteinamen zur Verpflichtung wurden, beschrieben: Menschenwürde, Personalität, Subsidiarität, die Grundwerte der Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit. Und damit ist das Spannungsfeld zwischen einem offenen, pragmatischen, eben nicht „geschlossenen ideologischen Modell“ und der Einforderung von Programmtreue angesprochen. Die Gründung der CDU – nach Nazi-Barbarei und Weltkrieg – war eine Abkehr von der konfessionellen Zerrissenheit. Die „Union“ wollte die Christen verschiedener Konfessionen zusammenbringen. Und die Gründer wollten christlich-soziale, konservative und liberale Traditionen zusammenführen. Die CDU wollte nie die protestantische, die katholische oder die konservative Partei sein. Das hätte dem Unionscharakter ebenso widersprochen wie dem Anspruch, Volkspartei zu sein. Eine christlich geprägte Politik ist beides: Sie ist wertegebunden und modern. Sie ist der christlichen Ethik verpflichtet und sie ist nah bei den Menschen. Aus dem christlichen Menschenbild folgt keine Utopie. Das christliche Menschenbild bewahrt vor ideologischen Heilslehren und vor politischen Planungsansprüchen, die vorgaukeln, eine perfekte Welt zu schaffen. Die Selbstverpflichtung auf das „C“ verweist auf die Grundlage unserer Politik. Das christliche Menschenbild und die Grundwerte der Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit nehmen den zentralen Stellenwert ein. So stand in den Programmdebatten unserer Partei nie die Aufgabe an, eine Neuformulierung des Menschenbildes und der Grundwerte vorzunehmen. Es ging immer darum, auf neue Herausforderungen auf Grundlage unserer Werte neue Antworten zu geben. Auch dabei hat Bernhard Vogel, der an allen Grundsatzprogrammen der CDU mitgewirkt hat, eine zentrale Rolle gespielt. So stammt aus dem geltenden CDUGrundsatzprogramm mit dem Titel „Freiheit und Sicherheit“ manche Formulierung vor allem zu den christlichen Grundlagen unserer Politik aus seiner Feder. Es ist Aufgabe und Verpflichtung aller in der CDU Engagierten immer wieder zu prüfen, wie Gegenwart und Zukunft im Sinne des „C“ verantwortlich gestaltet werden können, was bewahrt und erneuert werden muss. Dabei bietet die kirchliche Soziallehre, wie Reinhard Kardinal Marx schreibt, „kein

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Instant-Rezept zum Anrühren, sondern sie sagt, was in eine gescheite Suppe hineingehört, damit sie schmeckt.“ Die CDU stand immer an der Seite der Familien. Wer dies im Jahre 2012 glaubwürdig tun will, muss der veränderten Wirklichkeit heutiger Familien Rechnung tragen. An der Seite der Familien zu stehen, bedeutet heute etwas anderes als 1960 oder 1980. Es heißt heute zum Beispiel auch, durch einen Ausbau der Betreuungsangebote für Kleinkinder und durch mehr Ganztagsschulen veränderten Wünschen junger Familien zu entsprechen. Dabei bleibt klar: Wir vertrauen den Eltern. Deshalb entscheiden sie – und nicht der Staat oder Parteien –, wie ihre Kinder betreut werden. Die CDU stand immer für Generationengerechtigkeit. Wenn Christdemokraten heute die Anhebung des Renteneintrittsalters verteidigen, ist das eine notwendige Antwort auf den tiefgreifenden demografischen Wandel und ein Beitrag, um den Zusammenhalt in der Gesellschaft zu stärken. Denn ein gutes Miteinander der Generationen wird mehr denn je eine zentrale Aufgabe gerade für eine Volkspartei wie die CDU. Die CDU stand immer für Leistungsgerechtigkeit und die Würde von Arbeit. Wenn Christdemokraten heute für eine von den Tarifparteien festzulegende Lohnuntergrenze in nicht tariflich gebundenen Bereichen eintreten, reagieren wir damit auch auf die wachsende Anzahl von Arbeitsverhältnissen, in denen keine Tarifverträge gelten. Das ist eine Frage der Leistungsgerechtigkeit und der Würde der Arbeit. Die CDU stand immer für die Bewahrung der Schöpfung. Deshalb war es nach dem furchtbaren Unglück von Fukushima richtig, die Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke zurückzunehmen und den Ausbau der Erneuerbaren Energien zu beschleunigen. Neue Herausforderungen zu gestalten und zu bewältigen, ist nur auf der Grundlage eines klaren Koordinatensystems möglich. Deshalb bekennen wir uns zur Pflege der geistigen Grundlagen unseres Gemeinwesens. Dazu gehört für uns, dass wir weiter für den konfessionellen Religionsunterricht an unseren Schulen eintreten. Wir lehnen ein Religionsrecht ab, das von Religion nichts wissen und nichts sehen will. Die CDU wird immer für die öffentliche Präsenz christlicher Symbole streiten. Dazu gehören Kreuze in Schulen und Gerichten. Und wir setzen uns weiter für den Schutz der Feiertage ein, denn Besinnung ist wichtiger als Konsum. Für die CDU muss immer gelten: Grundsätze ohne Lebensnähe verkommen zur Ideologie. Es liegt im Wesen der CDU als Volkspartei und im christlichen Realismus begründet, dass sie pragmatisch, an den Bedürfnissen der Menschen orientiert, arbeitet. Deshalb ringen wir darum, wie wir unsere Grundsätze in den aktuellen und kommenden Herausforderungen zur Geltung bringen. Durch dieses Ringen entsteht Profilschärfe. Identität zu schärfen und Integrationskraft zu stärken – diese beiden Aufgaben spielen wir nicht gegeneinander aus. Vor

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diesen Aufgaben stehen auch andere gesellschaftliche Institutionen, wie zum Beispiel die beiden großen Volkskirchen. Das „C“ verpflichtet auf eine großartige Tradition und es verpflichtet darauf, offen zu sein für Neues und Neuaufbrüche. Zugleich gilt, in Anlehnung an die Barmer Theologische Erklärung von 1934, der „Anspruch und Zuspruch“ des Evangeliums. Der Glaube an einen menschenfreundlichen Gott drängt uns nicht nur zur Arbeit für eine menschenfreundlichere Welt, sondern schenkt uns auch eine im Gottvertrauen gründende Gelassenheit, die zur Übernahme von Verantwortung befreit und die uns bei aller Wachsamkeit gegenüber Gefahren vor lähmender Angst bewahrt. Solche Gelassenheit hilft, die Grenzen des politischen Handelns zu akzeptieren, das Mögliche aber beherzt zu tun. Sie schützt uns zudem vor Überheblichkeit gegenüber anderen. Wo das Wissen um die eigene Unzulänglichkeit und die Achtung vor der gleichen Würde aller Menschen unser Denken und Handeln bestimmen, leiden wir nicht an den verschiedenen Überzeugungen und Lebensentwürfen der Menschen, sondern sehen darin auch den Ausdruck des Geschenks, „zur Freiheit berufen“ zu sein. Deshalb können wir – und dafür steht eine Persönlichkeit wie Bernhard Vogel in besonderer Weise – mit einem klaren Kompass nah bei den Menschen, mitten im prallen Leben sein.

„State in fide – Steht fest im Glauben“ (1. Brief an die Korinther) Wilfried Härle Sprachliche Beobachtungen und Vorüberlegungen Nur drei Worte – jedenfalls im Lateinischen, in der sogenannten Vulgata-Übersetzung. Ein denkbar kurzer biblischer Text, der es aber in sich hat. Im Deutschen und im griechischen Urtext enthält er je ein Wort mehr, und auch die sind jeweils von Bedeutung. „Στήκετε έν τή πίστει“ heißt es im Griechischen. Im Vergleich zum Lateinischen taucht hier zusätzlich der bestimmte Artikel vor dem Wort „Glauben“ auf, den die lateinische Sprache gar nicht kennt. Dieser Artikel deutet an, dass es um einen bestimmten Glauben geht, nicht um irgendeinen. Um welchen, wird sich gleich zeigen. „Steht fest im Glauben“ heißt es in der Katholischen deutschen Einheitsübersetzung.1 Hier ist dem Verbum „stehen“ das Adverb „fest“ beigefügt, um dieses Stehen von anderen Bedeutungen des Wortes „Stehen“ und damit auch von anderen Formen des Stehens zu unterscheiden. „Stehen“ bezeichnet eine bestimmte, nämlich eine aufrechte, stabile Körperhaltung und kann nicht nur auf Menschen, sondern auch auf Tiere, Pflanzen oder Gegenstände (im übertragenen Sinne sogar auf Gestirne) angewandt werden. Seine Bedeutung erhält das Wort immer auch von dem her, wovon es sich unterscheidet. • So kann „Stehen“ einen Gegensatz zum „Liegen“, „Knien“ oder “Sitzen“ bezeichnen und signalisiert dann Wachheit, Entschlossenheit, Aktivität, aber unter Umständen auch Respekt oder Aufmerksamkeit, wie sie durch eine aufrechte Körperhaltung zum Ausdruck gebracht werden können. • „Stehen“ kann aber auch einen Gegensatz zum „Gehen“, „Laufen“, „Rennen“, „Rasen“ oder „Fahren“ bilden und verweist dann auf Ruhe, Sammlung oder Konzentration. • „Stehen“ kann schließlich einen Gegensatz zu „Schwanken“, „Torkeln“, „Stürzen“ „Umfallen“ bilden und signalisiert dann Festigkeit, Nüchternheit, Stärke, Geradlinigkeit und Zuverlässigkeit. Die deutsche Übersetzung des griechischen Verbums „στήκειν“ (und des lateinischen Verbums „stare“) mit „fest stehen“ weist in die zuletzt genannte Richtung. Wer fest steht, wankt und schwankt nicht, fällt nicht um, läuft aber auch nicht fort, weicht nicht aus, duckt sich nicht weg, sondern erweist sich als

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widerstandsfähig und -bereit, als beharrlich und zuverlässig – auch und gerade dann, wenn es schwierig wird. Daran können sich dann auch andere ausrichten, ja an jemanden, der fest steht, kann man sich sogar bei Bedarf anlehnen. Was fest steht, kann freilich auch als störend empfunden werden; weil es im Weg steht. Man muss es unter Umständen umgehen oder erst beiseite schaffen und aus dem Weg räumen – selbst wenn es ein Mensch ist. Auch das kann gemeint sein, wenn vom Stehen und vom Fest-Stehen die Rede ist. Um zu verstehen, was die kurze, aber mehrdeutige und darum auslegungsbedürftige Aufforderung „Steht fest im Glauben“ nach der Intention ihres Autors bedeutet, ist es jedoch notwendig, nach dem ursprünglichen Zusammenhang zu fragen, in dem diese Worte vorkommen. Jedenfalls besteht so am ehesten die Chance, den Sinn dieses Textes zu erfassen, der von seinem Verfasser gemeint ist bzw. war. Das Zitat in seinem ursprünglichen Zusammenhang Die Aufforderung „Steht fest im Glauben“ ist Teil eines etwas längeren Satzes: „Seid wachsam, steht fest im Glauben, seid mutig, seid stark!“ Dieser Satz steht im letzten Kapitel eines langen Briefes, den der Heidenapostel Paulus an die noch junge christliche Gemeinde in der griechischen Hafenstadt Korinth geschrieben hat. Dieser Brief behandelt viele für den christlichen Glauben und für das christliche Leben grundlegende Themen und enthält mehrere große Texte, unter denen die drei über das Abendmahl (Kap. 11), über die Liebe (Kap. 13) und über die Auferstehung der Toten (Kap. 15) herausragen. Und gerade die Kapitel über das Abendmahl und über die Auferstehung der Toten zeigen, dass in dieser Gemeinde inzwischen in zentralen Glaubensfragen schwere Differenzen und Auseinandersetzungen aufgebrochen waren, die den Zusammenhalt der Gemeinde massiv in Frage stellten, weil in ihr nicht mehr klar war, worin christlicher Glaube eigentlich besteht. Und darum nimmt Paulus diese Konflikte nicht gelassen hin als Ausdruck eines innerkirchlichen Pluralismus, sondern er kämpft für die Wahrheit, die sich ihm selbst als Fundament seines Lebens erschlossen hat. Und im Schlusskapitel dieses Briefes (Kap. 16) weist er – wie das damals üblich war und auch heute noch oft üblich ist – auf das hin, was ihn mit den Adressaten verbindet, was er ihnen für die Zukunft in Aussicht stellt und was er ihnen besonders ans Herz legen möchte. Und das ist in Form dieses kurzen Schlusswunsches „Steht fest im Glauben“ vor allem Beständigkeit, Unbeirrbarkeit und Verlässlichkeit in dem Glauben, von dem im Brief durchgehend die Rede war.

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Fest stehen im Glauben Der Text aus 1. Korinther 16,13, den Bernhard Vogel oft und gerne zitiert, fordert also nicht zu irgendeiner Standfestigkeit und Beharrlichkeit oder gar Sturheit und Unbelehrbarkeit auf, sondern zum Feststehen im christlichen Glauben, in dem Glauben, der aufgrund der Verkündigung des Apostels (auch) in der Gemeinde von Korinth entstanden ist. Dass Paulus hier vom Glauben spricht, und nicht etwa von der Überlieferung oder Lehre, hat große Bedeutung; denn zu glauben bedeutet: auf etwas zu vertrauen oder sich auf etwas zu verlassen, das einem als vertrauenswürdig begegnet und gewiss geworden ist. Glaube im religiösen Sinn ist kein bloßes, unsicheres Meinen oder Vermuten, wie das in der Alltagssprache oft ausgedrückt wird, Glaube ist auch keine Zustimmung zur Lehre der Kirche gegen die eigene Überzeugung, sondern Glaube ist ein Sich-verlassen, nach Hebräer 11,1 eine „feste Zuversicht auf das, was man hofft“ (so Luther) bzw. ein „Feststehen in dem, was man erhofft“ (so die Einheitsübersetzung). Dadurch bekommt ein Mensch ein tragfähiges Fundament für sein Leben, er bekommt „Grund unter die Füße“. Solcher Glaube richtet sich letztlich immer auf Gott, von dem ein Mensch – trotz aller Zweifel, Anfechtungen, Anfeindungen und Schicksalsschläge – alles Gute erhofft. Paulus selbst ist ein Beispiel dafür, wie solcher christlicher Glaube entsteht: Dadurch dass einem Menschen, gesucht oder ungesucht, die Botschaft des Evangeliums von Jesus Christus so zuteil wird, dass sie in ihm Gewissheit von der Wahrheit und Tragfähigkeit dieser Botschaft weckt. Und damit stellt sie diesen Menschen vor die Frage, ob er dieser Einsicht folgen, ob er sie anerkennen, ob er sich auf sie einlassen, ob er ihr also vertrauen will. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Mitglieder der Gemeinde in Korinth vom Apostel aufgefordert werden, in diesem Glauben fest zu stehen, nicht zu wanken, sich nicht verunsichern zu lassen, ihn nicht wegzuwerfen. Anlässe und Versuchungen für all das gab es sicher auch in Korinth reichlich, aber der Wert dieses Glaubens als Lebensfundament ist so groß, dass es sich allemal lohnt, an ihm festzuhalten und in ihm fest zu stehen. Im öffentlichen Raum im Glauben fest stehen Das Motto „State in fide“/„Steht fest im Glauben“ signalisiert (auch) im öffentlichen Raum zweierlei: Zuversicht und Zuverlässigkeit. Die Zuversicht ergibt sich daraus, dass jeder Mensch eine von Gott gegebene und darum unantastbare Würde hat, die ihm das Anrecht verleiht, als Mensch anerkannt und geachtet zu werden.2 Selbst dadurch, dass dieses Anrecht oft genug ignoriert, missachtet oder mit Füßen getreten wird, verliert es nicht seine Gültigkeit, sondern verlangt gebieterisch seine Respektierung, seinen Schutz und seine Achtung. Letzteres ist nicht nur „Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“

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(GG Art. 1.1), sondern darüber hinaus eine täglich neu in Angriff zu nehmende Aufgabe für alle Menschen guten Willens. Die Zuverlässigkeit resultiert daraus, dass Menschen sich dieser Einsicht und dieser Aufgabe verpflichtet wissen und sich von ihr in die Pflicht nehmen lassen. Das schafft im öffentlichen Raum eine Geradlinigkeit, Aufrichtigkeit und Verlässlichkeit, die nicht selbstverständlich, sondern ein hohes Gut ist. Und gerade das wird in unserer Gesellschaft immer mehr gesucht und geschätzt. Menschen, die fest im Glauben gegründet sind, haben eine große Selbstständigkeit. Von Lech Walesa habe ich in seiner Frühzeit, als er mit Solidarnosc noch ums politische Überleben kämpfen musste, einmal den Satz gehört: „Ich gehe vor keinem politischen Führer in die Knie. Ich knie nur in der Messe vor Gott“. Deutlicher kann man kaum formulieren, welche Freiheit und Unabhängigkeit das Stehen im Glauben und das Knien vor Gott einem Menschen im öffentlichen, politischen Raum verleihen kann. Und man muss kein Reformator sein, es reicht auch schon, wenn man ein aufrechter Christ ist, um (sinngemäß, aber aus Überzeugung) sagen zu können: „Hier stehe ich – ich kann nichts anders“. Ein mögliches Missverständnis Auch das „State in fide“ kann man aber missverstehen und sogar missbrauchen. Das wäre dann der Fall, wenn man diese Formel übersetzte mit den Worten: „Bleibt im Glauben stehen“, und wenn man das verstünde als eine Absage an Entwicklung und Veränderung in Glaubensdingen. Wenn der Glaube sich nicht mit einem Menschen entwickelt, wenn er nicht mit wächst, reift und sich vertieft, sondern auf irgendeiner Stufe stehen bleibt, dann gerät er in eine Art innere Isolation, wird zu einem Fremdkörper und stirbt vermutlich irgendwann ganz ab. In demselben Brief, dem unser Text entstammt, schreibt Paulus hierzu: „Als ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind, dachte wie ein Kind und urteilte wie ein Kind. Als ich ein Mann wurde, legte ich ab, was Kind an mir war“ (1. Korinther 13,11 Einheitsübersetzung). Das gilt auch für den Glauben, sofern mit dem, „was Kind an mir war“ nicht das Kindliche gemeint ist, dem Jesus das Reich Gottes verheißt (Markus 10,13 – 16), sondern das Unreife, das dazu bestimmt ist, im Lauf des Lebens mehr und mehr überwunden zu werden. Es ist in der Regel ein Zeichen von innerer Schwäche und Verunsicherung, wenn ein Mensch sich auf solche Wachstums-, Reifungs- und Veränderungsprozesse nicht einlassen kann. Wer fest steht im Glauben, muss ihn nicht abschirmen gegen neue Einsichten und Denkformen, sondern kann entdecken, dass der fest gegründete Glaube eine Freiheit gibt, die mit Beliebigkeit und Orientierungslosigkeit nichts, aber auch gar nichts, mit Lebendigkeit jedoch sehr viel zu tun hat. Wie schön, wenn solche im Glauben gegründete Freiheit an einem Menschen erlebbar und anschaubar wird!

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So übersetzt auch die Reformierte Zürcher Bibel von 2007. Luther übersetzt hingegen wörtlich: „Steht im Glauben“. Philologisch ist beides möglich. Vgl. dazu Bernhard Vogel (Hg.): Im Zentrum: Menschenwürde. Politisches Handeln aus christlicher Verantwortung. Christliche Ethik als Orientierungshilfe. Berlin 2006, bes. S. 20 – 22.

„Die christlich demokratische Idee ist von Menschen in den Luftschutzkellern, in den Schützengräben, in den Konzentrationslagern entwickelt worden.“ (Bernhard Vogel) Volker Kauder Bernhard Vogel gehört zu den Menschen, die die Grausamkeit des 2. Weltkrieges am eigenen Leib erlebt und überlebt haben. Während der schweren Luftangriffe auf Gießen verbrachte er viele Tage und Nächte in den Luftschutzkellern. Der Feuerschein brennender Städte und die Sorge um den an der Front kämpfenden Bruder haben sich ihm eingeprägt. Im Gegensatz zu seinem Bruder war es ihm als Angehörigem eines sogenannten weißen Jahrgangs erspart geblieben, den vermeintlichen Endkampf in den Schützengräben zu führen. Wie er in dem zusammen mit seinem Bruder herausgegebenen Buch „Deutschland aus der Vogelperspektive“ beschreibt, begann sich ihm – noch zu jung, um wirklich zu begreifen, was vor dem 8. Mai 1945 geschehen war – das ganze Ausmaß der nationalsozialistischen Verbrechen erst nach und nach zu erschließen. Früh durch die katholische Soziallehre geprägt, bestand für Bernhard Vogel keinen Augenblick „auch nur der geringste Zweifel, dass ich der Partei Konrad Adenauers beitreten würde“. Neben der Bewunderung für die Person Konrad Adenauers war es das in der christlich-demokratischen Idee verankerte Welt- und Menschenbild, das ihn – der sich schon in der Universitätszeit der praktischen Politik zuwandte – zu den Christdemokraten führte, die ihm bis heute geistige und politische Heimat sind. Sich immer wieder auf die Grundkoordinaten dieses Welt- und Menschenbildes der Christdemokraten zu besinnen, danach zu handeln und andere daran zu erinnern, zieht sich wie ein roter Faden durch das Leben und Wirken von Bernhard Vogel. In den vergangenen Jahrzehnten hat er die christdemokratische Idee damit nicht nur gelebt, sondern sie maßgeblich mit geprägt und fortentwickelt. Die Rückbesinnung auf die Motivation der Christdemokraten der ersten Stunde und die Lehre aus den Schrecknissen des Nationalsozialismus waren ihm dabei die Richtschnur. In zahlreichen seiner Reden findet sich deshalb das Zitat, das Ausgangspunkt dieses Festschriftbeitrages ist: „Die christlich demokratische Idee ist von Menschen in den Luftschutzkellern, in den Schützengräben, in den Konzentrationslagern entwickelt worden.“ Zu den Männern der ersten Stunde der Christdemokratie gehörte der frühere Reichsminister Andreas Hermes, der am 11. Januar 1945 vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt worden war und den nur die Eroberung Berlins durch sowjetische Truppen vor der Hinrichtung bewahrt hatte. Zu den ersten

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Versammlungen noch in Häftlingskleidung erschienen, war er Mitunterzeichner des Gründungsaufrufes der CDU in Berlin vom 26. Juni 1945 und erster Vorsitzender der CDU in der sowjetisch besetzten Zone. Im Berliner Gründungsaufruf heißt es: „Aus dem Chaos von Schuld und Schande, in das uns die Vergottung eines verbrecherischen Abenteurers gestürzt hat, kann eine Ordnung in demokratischer Freiheit nur erstehen, wenn wir uns auf die kulturgestaltenden sittlichen und geistigen Kräfte des Christentums besinnen und diese Kraftquelle unserem Volke immer mehr erschließen.“ Weit mehr als die Hälfte der Unterzeichner war den Widerstandskreisen gegen Hitler zuzurechnen, einige von ihnen, wie Joseph Ersing, waren zuvor in Konzentrationslagern inhaftiert. Auch die Christlichen Demokraten Kölns sahen, wie sie in den Kölner Leitsätzen vom Juni 1945 festgehalten haben, die einzige Rettung der Deutschen in der „Besinnung auf die christlichen und abendländischen Lebenswerte“. An vielen anderen Orten kam es zu ersten Zusammenschlüssen, aus denen die Union von unten nach oben entstand. Die Männer und Frauen der ersten Gründungen hatten die Idee einer Volkspartei, die soziale und konfessionelle Gräben überwindet. Sie wollten eine Partei, die auf der Basis des christlichen Menschenbildes die konservativen, liberalen und christlich-sozialen Kräfte mit dem Willen vereint, eine Zersplitterung, die für das Scheitern der Weimarer Republik mitverantwortlich gemacht wurde, zu überwinden. Diese Richtschnur gab auch Konrad Adenauer in seiner ersten Regierungserklärung als Bundeskanzler 1949 mit den Worten vor: „Unsere ganze Arbeit wird getragen sein von dem Geist christlich-abendländischer Kultur und von der Achtung vor dem Recht und vor der Würde des Menschen. Wir hoffen – das ist unser Ziel – daß es uns mit Gottes Hilfe gelingen wird, das deutsche Volk aufwärtszuführen und beizutragen zum Frieden in Europa und in der Welt.“ Es ist bis zum heutigen Tage der Kompass der christlich-demokratischen Idee. Das christliche Menschenbild verpflichtet uns bis heute in all unseren Entscheidungen. Maßgeblich geprägt wird dieses Menschenbild von zwei Gedanken: Es leitet die Würde des Menschen aus der Gottesebenbildlichkeit ab. Diese Würde ist unantastbar, sowohl durch andere als auch durch ihren Träger. Zugleich begründet die Gottesebenbildlichkeit eine fundamentale Gleichheit: Allen Menschen kommt die gleiche Würde zu – ungeachtet ihrer Nationalität, ihres Geschlechts oder ihres Alters, ungeachtet auch ihrer Gesundheit oder ihrer Leistungskraft. Ein zweiter Gedanke, der das christliche Menschenbild maßgeblich prägt, ist der Gedanke der Freiheit. Der Mensch ist – so sagt es der Apostel Paulus in seinem Brief an die Galater – „zur Freiheit berufen“. Gott hat dem Menschen die Fähigkeit gegeben, zwischen Gut und Böse zu wählen. Aus dieser Befähigung wächst die Einsicht in die Fehlbarkeit des Menschen und seine Verantwortung. Auch darauf macht der Galaterbrief aufmerksam. Menschenwürde und Freiheit als Gestaltungsmaßstäbe haben für Christdemokraten und für unsere Arbeit in der CDU / CSU-Bundestagsfraktion ganz

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konkrete Konsequenzen. Eine am christlichen Menschenbild orientierte Politik muss zunächst den Rahmen schaffen, der ein würdevolles Leben in Freiheit ermöglicht, ohne diese Freiheit absolut zu setzen. Denn die individuelle Freiheit hat ihre Grenzen in der Freiheit und Würde des anderen. Wegen der Fehlbarkeit des Menschen wäre es naiv anzunehmen, diese Grenzziehung erfolge durch die Selbstbeschränkung des Einzelnen. Das christliche Menschenbild verpflichtet uns auf eine Ordnung der gesicherten Freiheit. Den Prinzipien der katholischen Soziallehre folgend beruht dieser Ordnungsrahmen auf den Prinzipien der Subsidiarität und Solidarität. Sie findet ihren Niederschlag in der Sozialen Marktwirtschaft von Ludwig Erhard. Eine christdemokratische Politik wird deshalb auch nie die Notwendigkeit von Sozialtransfers in Frage stellen. Unser Ziel darf aber auch nicht die dauerhaft erträgliche Ausgestaltung einer sozial schwierigen Lage sein. Vielmehr muss es darum gehen, dem in Not geratenen Menschen eine Rückkehr zu einem Leben in Freiheit und Selbstbestimmung zu ermöglichen. Eine Politik auf der Grundlage des christlichen Menschenbildes setzt sich ferner mit Nachdruck für die Familie ein. Sie ist das Beste, was wir haben, und kann von keiner staatlichen Institution ersetzt werden. „Ohne Familie gibt es keine Gesellschaft, keine Kultur, kein lebensfähiges Gemeinwesen“, so der Münchner Erzbischof Reinhard Kardinal Marx. Allerdings geht es uns Christdemokraten – im Gegensatz etwa zur politischen Linken – dabei nicht um die Festschreibung eines Lebensmodells. Wir wollen Frauen nicht auf ein bestimmtes Verhalten festlegen, sondern wirkliche Wahlfreiheit schaffen. Ein weiteres Feld, auf dem sich aus dem christlichen Menschenbild für uns ganz konkrete Aufträge ergeben, ist das der Außenpolitik. Eine Politik auf der Grundlage des christlichen Menschenbildes wird in diesem Bereich unablässig die Einhaltung der Menschenrechte einfordern. Zu deren Katalog gehört auch die Religionsfreiheit, die als fundamentales Menschenrecht unteilbar ist. Für ihren Schutz treten wir als Christdemokraten ungeachtet der Frage ein, wer dieses Recht missachtet und wer die Betroffenen sind. Besonders gefordert sind Christen in der Politik natürlich dann, wenn es sich bei den Opfern um unsere Brüder und Schwestern im Glauben handelt. Lange Zeit haben wir in Deutschland leider nicht ausreichend wahrgenommen, dass heute in 50 der über 200 Staaten der Welt Menschen bedrängt oder verfolgt werden, weil sie sich zu einer christlichen Konfession bekennen. Wir tragen als Christdemokraten eine besondere Verantwortung, weltweit für Religionsfreiheit einzutreten und auch das Thema Christenverfolgung aktiv anzugehen und ein Bewusstsein für dieses Problem zu schaffen. Eindeutige politische Handlungsgrundsätze resultieren aus dem christlichen Menschenbild auch für den Bereich des Lebensschutzes. Die aus der Gottesebenbildlichkeit hergeleitete Würde des Menschen gestattet es nicht, ihn als bloßes Mittel zu einem Zweck zu nutzen oder ihn gar als Material zu erzeugen oder

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zu gebrauchen. Eine Politik auf der Grundlage des christlichen Menschenbildes schützt deshalb das menschliche Leben von seinem Beginn bis zu seinem Ende. Sie unterstützt Frauen und Männer, sich für das Leben ihres ungeborenen Kindes zu entscheiden, und gibt tödlich erkrankten Menschen Hilfe beim, aber nicht zum Sterben. Politik auf der Grundlage des christlichen Menschenbildes ist mit einer zunehmend säkularisierten Gesellschaft konfrontiert. Es ist nicht Aufgabe von Politikern, Menschen zum Glauben an Gott zu führen – hier sind die Kirchen und der einzelne Christ gefragt. Eine Politik auf der Grundlage des christlichen Menschenbildes ist auch keine Politik für Christen, sondern für alle Menschen in unserem Land. Vor diesem Hintergrund muss es Aufgabe der Christdemokraten sein, auch Menschen anderen Glaubens und Nichtgläubige von der Bedeutung des christlichen Menschenbildes für das Wohl der Gesellschaft zu überzeugen. Christdemokraten müssen auf die Gefahren aufmerksam machen, die unserer Gesellschaft drohen, wenn ihre christliche Grundüberzeugung weiter abnimmt. Eine Gesellschaft ohne Gott würde die Einzigartigkeit und Kostbarkeit menschlichen Lebens weniger schätzen. Eine Gesellschaft ohne Gott würde zunehmend den sozialen Ausgleich in Form der sozialen Hilfeleistung in Frage stellen. Auch bringt die christliche Hoffnung auf göttliche Erlösung eine Grundgelassenheit und Versöhnungsbereitschaft in die politische Auseinandersetzung ein, auf die der demokratische Verfassungsstaat angewiesen ist. Eine Gesellschaft ohne Gott wäre weit weniger widerstandsfähig gegen ideologische Heilsangebote und Extremismus. Der christliche Glaube begründet damit eine Werteordnung, die die solidarische Gesellschaft und den demokratischen Verfassungsstaat stärkt und stützt. Bernhard Vogel hat eindrucksvoll bewiesen, dass die Grundlagen und Werte christdemokratischer Politik auch in einer weitgehend säkularisierten Gesellschaft breite Zustimmung finden können. Obwohl zwei Drittel der Einwohner Thüringens sich zu keiner Religionsgemeinschaft bekennen, hat der engagierte Katholik, der nicht nur durch Worte, sondern durch sein Beispiel überzeugt, die Union als stärkste Partei in Thüringen etabliert und 1999 sogar die absolute Mehrheit erreicht. Nur selten ergibt sich aus dem christlichen Menschenbild eine ganz bestimmte Lösung in einer politischen Sachfrage. Bernhard Vogel hat aber in seinen zahlreichen Aufgaben gezeigt, dass es gut für den Menschen und die politische Kultur in unserem Lande ist, sich immer wieder auf die Koordinaten des christlichen Menschenbildes zu besinnen und den politischen Kompass darauf auszurichten – zum Wohle unserer Gesellschaft und jedes einzelnen Menschen.

„Kirche muss Flagge zeigen.“ (Reinhard Marx) Friedrich Kronenberg „Kirche muss Flagge zeigen“ – diese Forderung von Reinhard Kardinal Marx zitiert Bernhard Vogel in seiner Laudatio bei der Verleihung der Peter-AltmeierMedaille an den damaligen Bischof von Trier, Reinhard Marx. Bernhard Vogel begrüßt diese bischöfliche Forderung und würdigt das Engagement des Bischofs, Kirche in der Welt gegenwärtig zu machen. Auf dem Hintergrund dieser bischöflichen Forderung soll aus Anlass des 80. Geburtstags des Laudators Bernhard Vogel er selbst ins Blickfeld gerückt werden. „Kirche muss Flagge zeigen“ ist eine bischöfliche Forderung, die zu Recht „im Namen der Kirche“ einzulösen ist. Bischöfe müssen in Ausübung ihres bischöflichen Amtes zu grundlegenden Fragen „im Namen der Kirche“ Position beziehen und so Flagge zeigen. Aber eine Beschränkung auf die Bischöfe wäre unkirchlich und unchristlich. Die Kirche zeigt erst dann wirklich Flagge, wenn sie dies als Volk Gottes durch die Laien tut, wenn sie nicht nur „im Namen der Kirche“ sondern „als Kirche“ Flagge zeigt. Der Laie Bernhard Vogel ist diesem Anspruch in überzeugender Weise gerecht geworden: als Mitglied des Bundes Neudeutschland, als Mitarbeiter in der katholisch-sozialen Bildungsarbeit, als Präsident des Essener Katholikentags 1968, als Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, als Mitglied der Würzburger Synode, als Präsident des Maximilian-Kolbe-Werks, als Kultusminister und Ministerpräsident des Landes Rheinland-Pfalz, als Ministerpräsident des Freistaates Thüringen, als Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung, um nur die bekanntesten Aufgabenfelder aufzuzeigen, in denen er dazu beitrug, dass die Kirche „als Kirche“ Flagge zeigt. Mit der Schilderung der vielfältigen Engagements Bernhard Vogels verbindet sich nicht nur eitel Sonnenschein. Als Beispiel sei an die Vorgänge erinnert, die zur Gründung von Donum vitae führten. Die kirchliche Schwangerschaftskonfliktberatung, wie sie vor dem vom Papst durchgesetzten Ausstieg der deutschen Bischöfe praktiziert wurde, war eine Konfliktberatung „im Namen der Kirche“, weil sie nach Richtlinien erfolgte, die von der Deutschen Bischofskonferenz beschlossen worden waren. Es ist nachvollziehbar, dass der Papst die Bischöfe zum Ausstieg drängte, denn eine kirchenamtliche Schwangerschaftskonfliktberatung übersteigt tatsächlich die Rechte und Pflichten des bischöflichen Amtes. Es gibt in der Kirche viele legitime Wege, das Leben ungeborener Kinder zu schützen, die gesetzlich geregelte Schwangerschaftskonfliktberatung ist nur einer dieser Wege, und wenn dieser

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Weg kirchenamtlich praktiziert wird, dann entspricht dies nicht dem Selbstverständnis der Kirche im Sinne der Beschlüsse des II. Vatikanischen Konzils. Von daher war es folgerichtig, nach dem Ausstieg der Bischöfe den Bundesverband Donum vitae zur Förderung des Schutzes des menschlichen Lebens durch Laien zu gründen, damit die kirchliche Schwangerschaftskonfliktberatung weiter erfolgen konnte. Bernhard Vogel gehört zu diesen Laien, er ist Gründungsmitglied von Donum vitae. Er hat maßgeblich dazu beigetragen, dass die Schwangerschaftskonfliktberatung als ein legitimer Weg zum Schutz des menschlichen Lebens in der Kirche möglich blieb, dass zwar nicht „im Namen der Kirche“ aber doch „als Kirche“ den Frauen, die sich in einem Schwangerschaftskonflikt befinden, mit Rat und Tat geholfen wird, dass sie Hilfe erfahren, die sie von anderen kirchlichen Beratungsstellen, wie die Erfahrung zeigt, nicht mehr erhalten. Donum vitae zeigt als Beispiel, wie notwendig das Handeln der Laien „als Kirche“ ist, wenn die Kirche gemäß ihrem Sendungsauftrag als „Salz der Erde“ (Mt 5,13) in unserer Welt präsent sein will. Ohne dieses Handeln der Laien bliebe die Kirche ihr christliches Zeugnis in unserer Gesellschaft und Kultur, in unserem Staat und in der Völkergemeinschaft, in der Welt, in der wir leben, schuldig. Alles Handeln von Bernhard Vogel, sei es in der Politik oder in der Kirche, ist ein Beitrag zu diesem christlichen Zeugnis. Und weil es um dieses christliche Zeugnis geht, zeigt die kirchliche Flagge auch nicht nur das „K“ für katholisch, sondern auch das „C“ für christlich und weist so auf die Kirche als Akteur in der Ökumene hin. Hier ist das parteipolitische Engagement von Bernhard Vogel verortet. Die Christlich Demokratische Union Deutschlands ist ein ökumenisches Projekt, in dem die Kirche Flagge zeigen muss. Es wäre ein Missverständnis kirchlichen Flaggezeigens, wollte man dieses auf das Zeigen einer einzigen Flagge beschränken. Wenn neben den Bischöfen das Volk Gottes Flagge zeigen soll, damit die Kirche Flagge zeigt, dann kann das Flaggezeigen nur aus einer kirchlichen Beflaggung bestehen, die allerdings nur dann eine kirchliche Beflaggung ist, wenn die Vielfalt der Flaggen das Bild der Kirche nicht undeutlich, sondern deutlich macht. Bernhard Vogel hat maßgeblich dazu beigetragen, dass die Kirche trotz bunter Beflaggung Flagge zeigt. Das wird zum Beispiel deutlich in seinem Beitrag zur kirchlichen Ostpolitik. Mit Recht hat er gegen bestimmte Konsequenzen der Vatikanischen Ostpolitik unter Papst Paul VI. das Selbstbestimmungsrecht aller Deutschen und die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands verteidigt. Durch die unterschiedliche Beflaggung in Rom und in Deutschland wurde schließlich erreicht, dass die Kirche nicht nur für Entspannung, sondern auch für Recht und Gerechtigkeit und damit für eine friedliche Zukunft Flagge zeigte. Bernhard Vogel blieb immer er selbst, als Mann der Politik und als Mann der Kirche. Er musste nicht umflaggen, wenn er von einem Bereich in den anderen wechselte. Bernhard Vogel hat die unterschiedlichen Rollen, die er

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zu spielen hatte, in sein Christsein integriert, wie das jeder, der sein Christsein ernst nimmt, tut. Er ist überall unter der christlichen Flagge angetreten. Dass dies nicht immer recht verstanden wurde, ist wohl wahr. Selbst in der Kirche tat man sich gelegentlich schwer. So wurde etwa in jüngster Zeit sein gemeinsam mit einem Kreis politischer Freunde formulierter Appell an die Bischöfe, sie sollten sich neben den zölibatär lebenden Priestern auch für die Priesterweihe bewährter verheirateter Männer einsetzen, von zwei deutschen Kurienkardinälen als innerkirchliche Einmischung mit einer Wortwahl kritisiert, die einen Dialog mit diesen Kardinälen unmöglich machte. Karl Kardinal Lehmann hat diese Kritik zurückgewiesen und so die Ehre des Kardinalskollegiums wiederhergestellt. Selbstverständlich hat Bernhard Vogel sein Wirken als Laienchrist in Kirche und Welt nicht als Gegensatz zum Amt in der Kirche empfunden, vielmehr hat er stets die Zusammenarbeit und die Verbundenheit mit dem Amt gesucht. Das gilt sowohl für die hierfür vorgesehenen formalen Wege, als auch für die persönlichen Beziehungen. Als Präsident des stürmisch verlaufenden Essener Katholikentages hat er noch während der Veranstaltung das Gespräch mit dem gastgebenden Bischof Hengsbach und dem Vorsitzenden der Bischofskonferenz Julius Kardinal Döpfner gesucht, um gemeinsam die Konsequenzen aus diesem Ereignis zu bedenken. Dieses gemeinsame Bedenken wurde nach dem Katholikentag fortgesetzt und führte in kürzester Zeit in der Bischofskonferenz und im Zentralkomitee zu übereinstimmenden Beschlüssen, eine Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland durchzuführen. Der Dialog und das geordnete Gespräch zwischen Bischöfen und Laien ist der Normalfall im kirchlichen Leben; wo das nicht der Fall ist, sollte es der Normalfall sein. Der Bischof ist neben der Ausübung seines bischöflichen Amtes weiterhin Mitglied im Volke Gottes, durch die Weihe verliert er nichts von dem, was den Status des Laienchristen ausmacht. So geht jeder Bischof, bevor er amtlich handelt, mit sich selbst unter Mitwirkung des Heiligen Geistes zu Rate. Es entspricht allerdings unserem konziliaren Kirchenverständnis, dass er nicht nur mit sich selbst, sondern auch mit den Laien unter Mitwirkung des Heiligen Geistes zu Rate geht, um so seinen Dienst an der Einheit der Kirche zu leisten. Die Ordnung der gemeinsamen Beratung von Bischöfen und Laien bedarf der weiteren Entwicklung. Das Konzil und die Würzburger Synode haben zwar grundlegende Anstöße gegeben, aber ein überzeugendes Ordnungsmodell harrt noch der Verwirklichung. Wie der gegenwärtige Dialogprozess in unserer Kirche in Deutschland zeigt, wird es ohne zusätzliche synodale Elemente in der kirchlichen Zusammenarbeit nicht gehen. Bernhard Vogel hat maßgeblich dazu beigetragen, dass die Kirche auf dem richtigen Weg ist. Sie muss sich nicht darauf beschränken, dass die Bischöfe „im Namen der Kirche“ Flagge zeigen, sie kann auch „als Kirche“ Flagge zeigen. Bernhard Vogel hat große Verdienste um die reale Verfassung unserer Kirche. Er hat wichtige Anstöße dazu gegeben, dass die eigene Verantwortung des

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Laienapostolats lebendig bleibt. Er hat gleichzeitig notwendige Impulse zur Entwicklung synodaler Formen der Zusammenarbeit von Bischöfen und Laien gegeben. Beides ist notwendig. Bernhard Vogel war aber immer bewusst, dass dies allein nicht genügt. Ja, die Kirche muss Flagge zeigen, aber das Zeigen der Flagge kann nicht ersetzen, dass die Kirche als Flaggenträger auch selbst überzeugt, dass sie sich nicht an überkommene Formen klammert, sondern sich an Christus orientiert. Mit ihm ist sie pilgernd unterwegs durch unsere Welt und unsere Zeit. An ihm muss sie Maß nehmen. Für Bernhard Vogel ist das selbstverständlich. Er ist zwar „katholisch sozialisiert“, allerdings darauf nicht beschränkt: Er lebt in der Nachfolge Christi gemeinsam mit vielen anderen als christlicher Zeuge. In der Festschrift zum 60. Geburtstag von Bernhard Vogel hat Klaus Hemmerle zum Thema „Politik und Zeugnis“ geschrieben: „Zeugnis geht nicht gut allein. Es braucht Gemeinschaft solcher, die sich demselben verpflichtet fühlen, die sich gegenseitig stützen, befragen, tragen, die selber in Wahrheit, Freiheit und Gemeinschaft einander zugetan sind und so lebendige Zellen dessen bilden, was Sache ihres Zeugnisses und politischen Auftrags ist: Synthese von Wahrheit, Freiheit und Gemeinschaft in gegenseitigem Sich-Schenken.“ Bernhard Vogel lebt mit seinen Freunden, „was Sache ihres Zeugnisses und politischen Auftrags ist“. In „gegenseitigem Sich-Schenken“ ist er auch als Achtzigjähriger denen ein Geschenk, die gemeinsam mit ihm die christliche Botschaft in der Welt bezeugen, in diesem Sinne „als Kirche“ Flagge zeigen.

Antinomien der Freiheit „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Ding und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Ding und jedermann untertan.“ (Martin Luther) Hans Maier „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Ding und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Ding und jedermann untertan.“ Diese beiden Sätze – auf den Ersten Korintherbrief und den Galaterbrief des Paulus zurückgehend – hat Martin Luther in seinem Sendbrief „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ (1520) unverbunden, in bewusstem Kontrast, in einer nachdrücklichen Gegensätzlichkeit hintereinander gestellt. Das lässt aufhorchen und zwingt zum Nachdenken. Man wird als Leser gleich zu Anfang des Sendbriefs mit einem Paradox konfrontiert. Der Gedanke wirkt weiter, er ist, wie mir scheint, in der heutigen Zeit so aktuell wie vor bald 500 Jahren – auch wenn Luther, wie moderne Theologen zu Recht anmerken, mit „Freiheit“ etwas anderes meinte als das neuzeitliche Verständnis von Freiheit als Autonomie und Emanzipation. Wenn wir heute von Freiheit sprechen, so ist in erster Linie politische Freiheit gemeint – jene Freiheit, die ihre Ausprägung in unserer Verfassung, in den Grundrechten, in der allgemeinen Handlungsfreiheit des bürgerlichen Rechts gefunden hat. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben diese Freiheit nach den Erfahrungen der Diktatur mit großer Entschiedenheit wiederhergestellt und mit umfassenden Sicherungen umgeben. Sie knüpften dabei an die naturrechtlichen Anfänge der Menschen- und Bürgerrechte an. Der vorstaatliche Charakter der Menschenrechte wurde mit Deutlichkeit betont – fast wie in den frühen Rechte-Erklärungen des 18. Jahrhunderts. Nach Art. 1 GG ist die Würde des Menschen unantastbar, sie liegt aller staatlichen Rechtsschöpfung voraus. Der Gesetzgeber trug nicht nur Sorge dafür, dass die Grundrechte die Staatsgewalt wirksam begrenzten. Sie sollten das staatliche Handeln positiv lenken und „regieren“. Theorie und Rechtsprechung dehnten die faktische Geltung der Freiheitsrechte, besonders der Persönlichkeitsrechte, in die Breite und Tiefe so weit aus, wie es unter den Bedingungen unserer enger zusammenrückenden Gesellschaft überhaupt denkbar und möglich war. Zumal die Rechtsprechung der obersten Bundesgerichte über die Würde des Menschen, die freie Entfaltung der Persönlichkeit, die Freiheit der Meinungsäußerung und den Schutz

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des Eigentums war bemüht, dem Bürger einen letzten unantastbaren Bereich menschlicher Freiheit zu sichern, welcher der Einwirkung der öffentlichen Gewalt entzogen ist. Freilich ist auch das Grundgesetz den mit den Grundrechten seit jeher verbundenen Antinomien der Freiheit nicht entgangen. Dies gilt vor allem für den Bereich des Sozialen, des Sozialrechts, des Sozialstaats. Auf der einen Seite ist zwar der Katalog klassischer Freiheitsverbürgungen im Grundgesetz restituiert worden – im Hinblick auf die Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus in einer besonders nachdrücklichen, Gesetzgebung und Rechtsprechung verpflichtenden Form. Auf der anderen Seite aber schränkten soziale Notwendigkeiten die grundrechtlich verbürgten Freiheiten de facto an vielen Stellen wieder ein. Wie schon in der Weimarer Reichsverfassung ringen auch im Grundgesetz freiheitentbindende und freiheit-begrenzende Zielsetzungen miteinander. Das wird besonders deutlich beim empfindlichen Punkt der Eigentumsgarantie. Eigentum und Erbrecht werden vom Grundgesetz garantiert, aber zugleich unter soziale Pflichtbindungen gestellt. Enteignung ist zulässig, wo sie „zum Wohle der Allgemeinheit“ dient (Art. 14 GG). Der tiefere Grund für diese Spannung, diesen Zwiespalt liegt freilich nicht in einem äußeren Gegensatz von Rechtsstaat und Sozialstaat, von liberaler Freiheitsverbürgung und sozialer Gewährung von Leistungen. Er liegt vielmehr in einer generellen Unsicherheit darüber, welches Verständnis von Freiheit den neuerrungenen Rechten der Person zugrunde liegt. Unmittelbar nach Krieg und Drittem Reich schien diese Frage überflüssig zu sein – die Grundrechte waren selbstverständlich, einleuchtend – „self-evident“ wie in den Anfängen der Menschenrechtsbewegung. Heute ist das nicht mehr so: Vielfach besteht die Neigung, das von vornherein emanzipativ verstandene Freiheitsrecht (Freiheit als Sich-Befreien) zu einem Absolutum zu steigern – was dann wiederum zu ebenso übersteigerten Forderungen nach generellen Korrekturen im Interesse der Allgemeinheit führt. Das kann einen verhängnisvollen Zirkel auslösen: Wo politische Freiheit zu Beliebigkeit und privater Absonderung verkümmert oder sich gar gegen die staatliche Ordnung wendet, sind die Freiheitsrechte gefährdet. Das Fehlen eines verbindlichen Sozialethos lässt sie in Egoismus oder blinde Ohne-mich-Haltung zurückfallen. Die falsche Praxis der Freiheit wiederum verschafft den Feinden der Freiheit ein Alibi für ihre Aktionen, so dass am Ende mit dem missbrauchten Recht das Recht schlechthin in Gefahr gerät. Kann man in dieser Lage von Luthers paradoxem Diktum lernen? Gewiss nicht, wenn man die beiden Sätze als politisches Lehrstück versteht. Luther spricht als Theologe, nicht als Politiker. Versucht man ihn politisch zu interpretieren, so besteht Gefahr, dass die „Dienstbarkeit“ in den Händen der Mächtigen zu einer die Freiheit aufhebenden Alternative wird. Karl Marx hat das schneidend kritisiert, indem er Luther vorwarf, er habe „die Knechtschaft aus Devotion

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besiegt, weil er die Knechtschaft aus Überzeugung an ihre Stelle gesetzt hat“ (Zur Judenfrage, 1843). Und Thomas Mann hat in seiner Auseinandersetzung mit Luther (Deutschland und die Deutschen, 1945) dem Reformator überhaupt jedes Verständnis für politische Freiheit abgesprochen. Ich verstehe Luther anders. Er will in seinem Sendbrief nicht sagen, wie man mit der Freiheit politisch umgehen, wie man sie praktisch handhaben soll. Er will nur darauf hinweisen, dass sie nicht gedacht werden kann ohne den Blick auf den anderen, den Nächsten. Darauf wird ein Theologe ja hinweisen dürfen, ja hinweisen müssen. Freiheit – so übersetze ich Luthers Sendbrief in die Gegenwart – gründet sowohl in der Personalität wie in der Sozialität des Menschen. Sie ist nicht zu denken ohne den biblischen Kontext der Hilfs- und Ergänzungspflicht des Menschen. Sie ist nicht nur Freiheit von etwas, sondern ebenso Freiheit zu etwas. Damit kommt sie dem modernen Begriff der Sozialpflichtigkeit sehr nahe. Ob es gelingt, Freiheit in dieser Weise neu zu denken, ist freilich eine offene Frage. Doch sie ist wichtig, und ich meine, von ihrer Lösung hänge nicht weniger als unsere Zukunft ab. Darin weiß ich mich mit Bernhard Vogel einig, dem ich zum 80. Geburtstag herzlich gratuliere!

„Ein Christ ist ein Mensch, dem die Wahrheit so schmeckt, wie sie tatsächlich ist.“ (Papst Johannes XXIII.) Erwin Teufel

I. Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit, auch wenn ich diese Wirklichkeit für verbesserungswürdig halte und sie zum Guten verändern möchte. Bernhard Vogel zitiert im gleichen Geist häufig Papst Johannes XXIII. mit dem Satz: „Ein Christ ist ein Mensch, dem die Wirklichkeit so schmeckt, wie sie tatsächlich ist.“ Wirklichkeitsorientierung ist also der erste Schritt. Johannes XXIII . geht noch darüber hinaus, er will, dass uns die Wirklichkeit schmeckt, dass wir uns nicht zu gut vorkommen, in sie einzudringen. Wir dürfen uns nicht abkapseln von der Wirklichkeit und uns in ein enges Gedankengebäude zurückziehen. Wir dürfen sie nicht durch eine ideologische Brille betrachten, auch nicht mit einer rosaroten Brille. Wir müssen sie nehmen, wie sie ist. Wir werden dann viel Positives entdecken in Gesellschaft, Staat und Kirche und nicht nur einen Werteverfall in der Gegenwart gegenüber früher.

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Junge Menschen nehmen heute ihre Bildungschancen besser wahr als vor 40 Jahren. Die Politik hat es geschafft, in Europa eine Friedensgemeinschaft zu schaffen, nachdem früher jede Nachkriegszeit wieder zur Vorkriegszeit wurde. Es wächst die dritte Generation heran, die keinen Krieg kennen gelernt hat. Noch nie hatten Menschen, die auf unserem Boden gelebt haben, solche Zukunftschancen wie heute. Wir haben ein Wirtschaftssystem, das erfolgreich Wettbewerb mit sozialer Gerechtigkeit und Solidarität verbindet. Wir leben in einem Rechtsstaat und in Freiheit und nicht mehr in einer nationalsozialistischen oder kommunistischen Zwangsherrschaft. Wir haben die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit. Frauen haben gleiche Chancen in Bildung und Beruf, und Frauen warten auf gleiche Chancen in der Katholischen Kirche. Noch nie gab es eine Zeit, die sich so umfassend und gut um behinderte Mitmenschen gekümmert hat, wie heute.

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Die Hospizbewegung gibt Sterbenden Betreuung und letztes Geleit. Sie gehört zum Besten, was in freier Initiative in den letzten Jahren geschaffen wurde. Unsere Wirtschaft ist mit ihren Produkten und Dienstleistungen, in Innovation und Qualität wettbewerbsfähig auf den Märkten der Welt.

Es ist also beim Betrachten der Wirklichkeit wahrlich nicht alles schlechter als früher, sondern viel besser. II. Wer mit offenen Augen die Wirklichkeit betrachtet und wer mit einem hörenden Herzen Mitbürgern begegnet. wird aber auf Vieles stoßen, was verbessert werden muss, damit Menschen mehr aus ihrem Leben machen können. Wir dürfen diesen Teil der Wirklichkeit. in der wir leben, nicht übersehen oder verdrängen. Wirklichkeit ist mehrdimensional und vielfältig verbesserungswürdig. • In unserem Land wird fast alles in Geldwert gemessen. Die Erziehung der Kinder in der Familie wird nicht in Geldwert gemessen und sie ist deshalb auch nichts wert. Aber für das Leben der Menschen ereignet sich das Grundlegende und Entscheidende in der Familie: Füreinander einstehen und Teilen, Versöhnung nach Streit. Spielen und Lesen, Vertrauen und Sprache, Lebenserfahrung und Glaubenserfahrung. • Wir sind ein kinderarmes Land und mehrere Kinder sind nicht Kinderreichtum, sondern Armutsrisiko. Kinder heute erarbeiten die Rente von morgen und sorgen für ein menschenwürdiges Alter ihrer Eltern und Großeltern durch Mitmenschlichkeit und Pflege. • In unseren Großstädten sind Kinder und Menschen aus über hundert Nationen. Sie brauchen gleichwertige Bildungschancen und Lebenschancen und werden so auch zu mitverantwortlichen Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes. • „Der Friede ist kein Naturzustand“, sagt Immanuel Kant. Er ist also kein ein für allemal gesicherter Besitz. Es bedarf deshalb in jeder Generation der Friedensstifter. Wir brauchen gute Nachbarschaft und Zusammenarbeit in Europa und das Bündnis mit Nordamerika. • Wenn die Welt immer mehr zu einer Welt wird mit freiem Austausch von Gütern, Dienstleistungen, Kapital, Wissen und organisierter Kriminalität, dann bedarf es fester Regeln durch Verträge und einer gemeinsamen Grundüberzeugung und ethischer Prinzipien, die handlungsleitend sind für alle Menschen. Zum Fachwissen muss Orientierungswissen kommen. • Die Menschenwürde muss allen Menschen zukommen. Die Menschenrechte sind keine westlichen Werte, sondern universelle Werte.

Christ und Wirklichkeit

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„Kein Weltfrieden ohne Religionsfrieden“, sagt und belegt Hans Küng. Die Religionsfreiheit muss deshalb geachtet werden und für alle gelten. Sie muss aber auch zu einem Dialog und zu einer Gemeinsamkeit aller Religionen führen. Wirklichkeitsorientierung muss zu einer Werteorientierung führen. Wenn wir der weltweiten Wirklichkeit ins Auge sehen, erkennen wir auch eine weltweite Verantwortung. Wir sind in Jetztzeit über alle Ereignisse und Fakten in der Welt informiert. Dieses Wissen muss zur Mitverantwortung führen. III.

Alle diese Einsichten hat Bernhard Vogel als langjähriger, hochangesehener Kultusminister in die Bildungs- und Forschungspolitik eingebracht. Er war viele Jahre Ministerpräsident in Rheinland-Pfalz und hat hervorragende Aufbauarbeit als Ministerpräsident von Thüringen geleistet. Er war zweimal Präsident des Deutschen Bundesrates und hat als Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung Führungsverantwortung in Deutschland und international getragen. Er hat sich in seiner Kirche engagiert und war angesehener Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. Ich habe Bernd Vogel als Mann des Gespräches kennen gelernt, dialogbereit und argumentationsstark, mit großem Wissen und Urteilsvermögen. Er kann zuhören, betrachtet die Wirklichkeit, wie sie ist, und hat sich ein Leben lang für ihre Verbesserung zu Gunsten der Menschen eingesetzt. Ich wünsche dem guten Freund Gottes Segen für viele gute und gesunde Jahre.

Pragmatismus ist keine Alternative „Wir müssen die Menschen so nehmen wie sie sind: Wir kriegen keine anderen.“ (Konrad Adenauer) Michael Albus Als ich diesen Satz zum ersten Mal las, habe ich den Kopf geschüttelt und innere Widersprüche formuliert. Sie wollen bis heute nicht verstummen. Ich frage zum Beispiel, ob es Sinn macht zu fordern, nicht alle Menschen „in die Politik gehen“ zu lassen, um Schlimmeres oder das Schlimmste zu verhüten? Der Satz von Konrad Adenauer ist in unzähligen kleinen und großen Varianten im Umlauf. Nicht nur in den Reden und Texten von Bernhard Vogel, auch in denen anderer Politiker. Er scheint eine eigenartige Faszination auszuüben. Eigentlich ist er ein pragmatischer Satz von banaler Nüchternheit. Er hat für mich auch den Geschmack der Kapitulation vor charakterlichen Defiziten an sich: Immer nur hereinspaziert in die Politik! Wir nehmen, was kommt! Jede und jeder sind uns recht! Wir kriegen ja keine anderen! Ich gestehe, dass dieser Satz Adenauers einen eher depressiven Eindruck auf mich macht. Und wenn ich mir das durchschnittliche politische Personal der Gegenwart dabei vorstelle, dann bekommt der Satz noch einmal eine ganz eigene Wendung. Dieser Satz bedeutet letztlich auch einen Verzicht auf Auswahl und fortlaufende politische Pädagogik und Weiterbildung. Hauptsache wir „kriegen“ Menschen? Wenn es nachweisbar ‚schlechte’ Menschen sind, dann nehmen wir sie auch? Nein, sagt da eine Stimme in mir. Ist es das Gewissen? Wen wundert es dann, dass heute immer noch oder schon wieder sinistre Gestalten in die Politik gehen und kommen – nicht nur bundesrepublikanisch oder europäisch, auch weltweit. Ich versage es mir, Namen zu nennen. Das kann jede und jeder für sich tun. Dann stehen nur die eigenen Haare zu Berge, und die Gänsehaut, die einem über den Rücken läuft, bleibt dem Nächsten verborgen. Wen wundert es dann, dass immer mehr Menschen das Interesse für Politik verlieren, weil sie durch die handelnden oder nicht handelnden Politikerinnen und Politiker zu sehen und hören bekommen, was ihnen Sehen und Hören vergehen lässt? Wen wundert es dann noch, dass die Zahl der Erstwählerinnen und Erstwähler bei Bundes- und Landtagswahlen immer weiter zurückgeht, die Wahlbeteiligungen sinken? Der alte, aber wohl an Erfahrungen nicht ganz ungesättigte Satz: „Politik verdirbt den Charakter“ ist landauf und landab wieder häufiger zu hören. Müsste er nicht richtiger und ehrlicher heißen: „Schlechte Charaktere verderben die Politik“?

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Damit sind wir wieder beim Satz Konrad Adenauers angelangt. Und der Widerspruch meldet sich wieder und wieder. Ist es richtig, ganz grundsätzlich, sich mit dem zufrieden zu geben, was man hat und bekommt? Soll man auf Gestaltungswillen – auch beim Menschen – verzichten? Alle fünf gerade sein lassen? Auch und gerade bei denen, die in die Politik gehen wollen oder sollen? Bleibt dann am Ende nicht nur noch die Frage des Willens zur Macht und, hat man sie einmal erreicht, ihrer Erhaltung übrig? Pervertiert dann nicht der Gestaltungswille zum puren Machtwillen? Für viele Menschen sieht Politik heute so aus. Leider! Das muss man zur Kenntnis nehmen. Und indem man es zur Kenntnis nimmt, sogleich darüber nachsinnen, wie man „es“ besser machen könne. Auf der Suche nach einem Bild, wie man die anschwellende Klage über und die wachsende Abständigkeit von der herrschenden Politik sinnfällig beschreiben könne, fiel mir, nicht ohne Hintersinn im Blick auf die Partei Konrad Adenauers und Bernhard Vogels, ein Text aus der Heiligen Schrift des Alten Testaments, näher aus dem Propheten Ezechiel, Kapitel 37, ein. Dort beschreibt er, in den politischen Kontexten der damaligen Zeit, drastisch wie aus dem darniederliegenden Volk Israels wieder etwas Lebendiges werden könne. Das liest sich dann so: Die Hand des Herrn legte sich auf mich, und der Herr brachte mich im Geist hinaus und versetzte mich mitten in die Ebene. Sie war voll von Gebeinen. Er führte mich ringsum an ihnen vorüber, und ich sah sehr viele über die Ebene verstreut liegen; sie waren ganz ausgetrocknet. Er fragte mich: Menschensohn, können diese Gebeine wieder lebendig werden? Ich antwortete: Herr und Gott, das weißt nur du. Da sagte er zu mir: Sprich als Prophet über diese Gebeine, und sag zu ihnen: Ihr ausgetrockneten Gebeine, hört das Wort des Herrn! So spricht Gott, der Herr, zu diesen Gebeinen: Ich selbst bringe Geist in Euch, dann werdet ihr lebendig. Ich spanne Sehnen über euch und umgebe euch mit Fleisch; ich überziehe euch mit Haut und bringe Geist in euch, dann werdet ihr lebendig. Dann werdet ihr erkennen, dass ich der Herr bin. Da sprach ich als Prophet wie mir befohlen war; und noch während ich redete, hörte ich auf einmal ein Geräusch: Die Gebeine rückten zusammen, Bein an Bein. Und als ich hinsah, waren plötzlich Sehnen auf ihnen, und Fleisch umgab sie, und Haut überzog sie. Aber es war noch kein Geist in ihnen. Da sagte er zu mir: Rede als Prophet zum Geist, rede, Menschensohn, sag zum Geist: So spricht Gott, der Herr: Geist komm herbei von den vier Winden! Hauch diese Erschlagenen an, damit sie lebendig werden. Da sprach ich als Prophet, wie er mir befohlen hatte, und es kam Geist in sie. Sie wurden lebendig und standen auf – ein großes, gewaltiges Heer. Den Text kann man in vielfacher Hinsicht lesen und verstehen. Nicht nur mit Blick auf Politikerinnen und Politiker. Sicher auch mit Blick auf Wählerinnen und Wähler. Und damit ist man abermals, jedoch anders konditioniert, beim Satz Konrad Adenauers und bei der sich zuspitzenden Entwicklung der Politik

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„in diesem unserem Lande“. Der Satz fordert mich nun zum entschiedenen Widerspruch auf: Es darf wirklich nicht sein, dass man Jede und Jeden nimmt, weil man keine anderen kriegt! Man könnte, etwa durch intensive politische Bildung, mindestens den Versuch machen, „andere“ zu „kriegen“. Oder, auf einer anderen Ebene, zugespitzter formuliert: Politikerinnen und Politiker müssten zu einer neuen Glaubwürdigkeit finden. Glaubwürdigkeit war, ist und bleibt auch das stärkste politische Argument. Ich höre sie schon, die Bedenkenräte: Das ist utopisch, was du da forderst! In der Politik herrschen andere Gesetze! Da sind keine Propheten gefragt, sondern Pragmatiker! Aber, so frage ich: Ist purer Pragmatismus eine Alternative? Doch ich bleibe bei meiner Utopie. Und nenne sie eine Realutopie, indem ich Adenauers Satz in sein Gegenteil verkehre und sage: Wir dürfen die Menschen nicht so nehmen wie sie sind: Wir können auch andere kriegen. Ein kleiner Gedankengang über Politikerinnen und Politiker als Vorbilder In den sich vermehrenden Skandalen von und mit Politikerinnen und Politikern in den letzten Jahren taucht immer wieder die Frage auf, ob Politiker Vorbilder sein sollten oder nicht. Oft wird diese Frage sehr schnell zurückgewiesen oder gründlich beschwiegen. Manchen erscheint sie geradezu als peinlich. Aber sie ist alles andere als das. Die Zeit der Tugend- und Lasterkataloge ist längst vorbei, Fürstenspiegel gehören der Vergangenheit an. Aber ist es tatsächlich so abwegig, zu wünschen und auch zu fordern, dass diejenigen, die führende Ämter in Staat und Gesellschaft inne haben, nicht doch ein wenig nur und nach der Maßgabe ihrer Kräfte und Möglichkeiten Vor-Bilder sein sollten? Also in der Art und Weise, wie sie persönlich leben und öffentlich gestalten und walten, Menschen sein sollten, nach denen man sich richten kann, die einen durch ihre persönliche und sachliche Glaubwürdigkeit überzeugen, die konsequent handeln, die privat nicht anders reden als öffentlich und den Eindruck erwecken, dass sie ihr „Geschwätz von gestern“ nicht mehr interessiert, die nicht auf alle fahrenden Züge aufspringen. Wohlgemerkt: hinter diesen Sätzen verbirgt sich nicht die lebensferne Vorstellung von unangreifbaren heiligen Menschen, die jedem irdischen Maß enthoben zu sein scheinen und deren Heiligkeit schon wieder erdrückend und erschlagend ist. Es können Menschen sein, die zum Beispiel auch dadurch glaubwürdig erscheinen, dass sie Fehler zugeben, zeigen, dass sie verletzlich und sensibel sind, Herzensbildung haben, alles andere als Bulldozer sind, die durch die gesellschaftliche und politische Landschaft rollen und alles plattwalzen, was sich ihnen in den Weg stellt. Und schließlich gehen meine Vorstellungen von Politikerinnen und Politikern – vor allem der CHRISTLICH Demokratischen Union – in die Richtung,

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die Albert Camus 1948, geprägt von den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges, in einem Dominikanerkloster in Frankreich skizziert hat. Er wurde gefragt, was die Welt von den Christen erwartet. Seine Antwort, in Auszügen, lässt sich auch für Politikerinnen und Politiker anwenden: Die Welt erwartet von den Christen, dass sie den Mund auftun, laut und deutlich, und ihre Verdammung ganz unmissverständlich aussprechen, damit nie auch nur der geringste Zweifel im Herzen des einfachsten Mannes zu keimen vermag; dass sie sich aus der Abstraktion befreien und dem blutüberströmten Gesicht gegenübertreten, das die Geschichte in unseren Tagen angenommen hat … Die Vereinigung, die uns nottut, ist eine Vereinigung von Menschen, die gewillt sind, eine klare Sprache zu sprechen und sich mit ihrer Person einzusetzen … Wir warten, und ich warte darauf, dass sich die Menschen vereinigen, die keine Hunde sein wollen und die entschlossen sind, den Preis zu zahlen, den es kostet, damit der Mensch mehr ist als der Hund. Im Grunde stehen hinter den Erwartungen von Albert Camus die Forderungen der Bergpredigt. Diese Feststellung vermag nun vollends die politischen Pragmatikerinnen und Pragmatiker auf den Plan rufen. Ich höre schon, wie sie rufen, was sie immer schon gerufen haben, wenn jemand diese Meinung äußerte: Mit der Bergpredigt ist kein Staat zu machen! Sehr wohl ist mit den menschlichen Haltungen, wie sie in der Bergpredigt skizziert werden, „Staat“ zu machen. Dazu bedarf es aber Menschen, die bereit sind sich zu ändern, die nicht bleiben wollen, was sie sind oder durch bestimmte Verhältnisse geworden sind. Wie hört sich angesichts der christlichen Haltung des Nichtchristen Albert Camus der Satz Konrad Adenauers an? Noch einmal: Er klingt wie eine Kapitulation. Wie eine Verzichtserklärung auf jede Möglichkeit menschlicher Veränderung. Er erweist sich als ein schwacher Satz, als ein fragwürdiges Argument. Ob Bernhard Vogel, der Freund, an meinem Umkehrversuch des Adenauersatzes uneingeschränkt Gefallen findet, kann bezweifelt werden. Nicht bezweifelt werden kann, dass er im Rahmen seiner menschlichen Möglichkeiten in den letzten 80 Jahren aus Überzeugung sich den Gedanken der Bergpredigt in seinem persönlichen und politischen Leben verpflichtet fühlte. Die Bergpredigt spricht ja nicht zu Heiligen, sondern zu Menschen in ihren Widersprüchen. Man muss Bernd so nehmen wie er ist. Wir kriegen keinen anderen. Gott sei Dank!

Über die menschenfreundlichen Grenzen der Selbstbestimmung „Der Mensch entscheidet nicht, ob er geboren wird. Er sollte auch nicht über das Ende seines Lebens entscheiden. Das Sterben ist wie die Geburt Teil der menschlichen Existenz, zu einem Leben in Würde gehört auch ein Tod, der seiner Würde entspricht.“ (Bernhard Vogel) Karl Lehmann Dieses Zeugnis von Bernhard Vogel ist für die heutige Mentalität eine große Herausforderung. Ein Grundprinzip unseres Lebens und Denkens, das auch viele Einstellungen im Verhalten und Handeln bestimmt, ist mit dem Wort Selbstbestimmung gekennzeichnet. Es ist keine Frage, dass damit ein Grundwort nicht nur des neuzeitlichen Denkens, sondern auch des christlichen Menschenbildes genannt ist. Eng damit verbindet sich der Begriff der Freiheit. Ein entscheidender Zug, der die ganze Neuzeit durchzieht, ist die Befreiung des Menschen von fremden Faktoren, besonders wenn diese mit irgendwelchen wirklichen oder scheinbaren Zwängen verbunden sind. In dieser Selbstbestimmung wurzelt auch die Würde des Menschen. Er darf nicht Mittel zum Zweck werden, sondern ist selbst ein höchster Zweck. Vielfach bedingte Selbstbestimmung Diese grundsätzlich richtige Tendenz zur Herstellung und Gewährleistung der Selbstbestimmung des Menschen hat sich im Lauf der Neuzeit übersteigert. Man hat den Menschen aus vielen Bindungen herausgelöst, um ihm eine totale Freiheit zu versprechen. Zu diesen Bindungen gehören viele Rahmenbedingungen der menschlichen Existenz, die nicht einfach von Hause aus identisch sind mit negativ zu interpretierenden Abhängigkeiten. Es gibt zunächst die Einbettung des Menschen in die Natur. Er ist angewiesen auf manches, worüber er nicht einfach befinden kann. Dies fängt bei seiner Physis an, wodurch z. B. seine Leiblichkeit und sein Gesund- oder Kranksein mitbestimmt wird. Es gibt ein Bestimmtwerden des Menschen durch seine Zugehörigkeit zu einer geschichtlichen Welt. Er kommt nicht einfach aus dem Nichts. Er kann nicht einfach das, was ihm von seiner Nation und Familie zukommt, abstreifen. Er hat eine

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konkrete Herkunft, die zu ihm gehört. Er ist auch nicht einfach der Macher für alles. Er ist in vielem auf andere angewiesen. Jeder Mensch hat eine solche Herkunft und lebt in einem solchen Kontext, selbst wenn er dagegen protestiert. In der Zwischenzeit gibt es freilich auch die Einsicht, dass der Zenit dieser Tendenz zur Selbstbestimmung fast überschritten ist. Durch verschiedene geistige und gesellschaftliche Entwicklungen hat der Mensch wieder seine vielfältige Verwurzelung neu entdeckt. Er ist der Sohn der Erde und darf deswegen seine konkrete Zugehörigkeit zu ihr nicht verleugnen: unser konkreter Leib, unsere Sprache, die Macht der Triebe, die konkreten Zeichen und Gesten, die Stärke der Hormone, die Gewohnheiten unseres Lebens, das Erbe einer Familie. Wir haben entdeckt, dass wir diese Rahmenbedingungen unseres menschlichen Lebens nicht einfach leugnen können. Wenn wir sie nicht sehen und nicht annehmen wollen, verfallen wir erst recht ihren Wirkungen. Es gibt dann oft ein böses Erwachen, wenn wir unsere „Armut“ bekennen müssen, dass wir eben doch nicht in absoluter Selbstbestimmung existieren können, so sehr die Ausübung wahrer Freiheit zu einem menschlichen Leben gehört. Insofern sind manche Träume einer fast uneingeschränkten Autonomie in ihrer Unwirklichkeit durchschaut. Wir wachen sehr ernüchtert von diesen Träumen auf und stellen die vielfache Bedingtheit unsers Lebens fest. Manche verführt dies sogar zu einem plötzlichen Ab- und Umsturz von so etwas wie Selbstbestimmung: Der Mensch sieht sich nur noch in seinen ihm zudiktierten Rollen; er entdeckt überall Abhängigkeiten, sodass er die Freiheit zu leugnen versucht ist; in einer solchen Situation kann man so auf sich zurückfallen, dass man sich von allem isoliert und distanziert: Die Hölle – dies sind dann die Anderen; die Hirnforschung zerstört den Traum der Willensfreiheit; alles ist ökonomisch bedingt. Diese Sicht des Menschen in seiner vielfachen Verwurzelung wirkt außerordentlich ernüchternd. Sie kann auch unmenschlich werden. Man sieht dann nur noch die Bedingtheiten und unterschätzt die Selbstständigkeit und Unabhängigkeit des menschlichen Geistes, aber auch des eigenen Gewissens. Der ganze Anspruch des Unbedingten an den Menschen kann so geradezu untergehen. Es bleiben nur noch die Bedingtheiten des Lebens. Man kann sich in sie verlieren, findet keinen Ausweg mehr aus ihnen, sodass man sich wie ein Gefangener vorkommt. Es bleiben dann oft nur noch Abenteuer, Rausch, Genuss und nicht zuletzt auch Ekel. Im Menschen scheint nichts Unbedingtes mehr zu sein. Nicht selten wirft ein Mensch sein Leben deshalb auch weg. Alternative Kreatürlichkeit Der biblische Glaube hat eine grundlegend andere Sicht. Der Mensch ist und bleibt ein Geschöpf. Er hat sich nicht einfach selbst gemacht. Er verdankt sich einem Anderen und weiß, dass er auf vieles angewiesen ist, was außerhalb seiner selbst liegt. Er ist und bleibt ein Empfangender. Gerade deshalb saugt

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er aber nicht alles, was ist und was ihm begegnet, in sich selbst auf, sondern gibt gerade auch das, was aus ihm selbst kommt, an andere weiter. Er ist kein Robinson als Einsiedler am Rand der Welt. Er ist deswegen freilich nicht einfach durch seine Herkunft und sein Sosein gefangen und geradezu in die Verhältnisse einzementiert. Es bleiben ihm bei aller Zugehörigkeit zur Natur eigene schöpferische Kräfte. Er muss freilich immer einen Ausgleich finden zwischen dem, was ihn von der Schöpfung her „von außen“ bestimmt, und dem, was er durch seine eigene Kraft umwandeln und verändern kann. Dies ist bereits in der zweiten Schöpfungserzählung der Bibel deutlich im Visier, wenn der Mensch bestimmt wird als jemand, der zugleich bebaut, entwirft, verändert und zugleich nur Mensch bleibt, wenn er auch bewahrt, pflegt und schont (vgl. Gen 2,15). Dies gehört ganz fundamental zum Menschen. Er kann aus diesem Spannungsbogen niemals heraustreten, auch wenn es vielleicht manchmal so scheinen mag. Kreatürlichkeit ist das Stichwort für diese grundlegende Situation des Menschen. Anfang und Ende des Lebens Es ist nicht zufällig, dass diese Grundbestimmung des Menschen sich vor allem am Anfang und am Ende des Lebens kundtut. In diesen elementaren Situationen wird es besonders offenkundig, dass wir in unserer Selbstbestimmungsmöglichkeit fundamental begrenzt sind. Wir stehen von Anfang an in einem Zusammenhang, in den wir durch Herkunft und Abstammung gehören. Wir verdanken uns zunächst einmal der Geburt, durch die wir in die Welt treten. Dafür sind wir nicht allmächtig. Eltern zeugen einen Menschen. Es ist auffällig, wie wenig in der heutigen Philosophie, aber auch in den anderen Kulturwissenschaften, ja selbst in der Theologie von dieser Geburt des Menschen die Rede ist. Der Mensch versucht immer mehr, den Anfang unseres Lebens in den Griff zu bekommen, ob durch künstliche Zeugung, Experimente mit Embryonen, Empfängnisregelung, Abtreibung oder auf anderen Wegen. Wenn dies unsere Mentalität beherrscht, dann verlernen wir etwas, was fundamental zum Menschen gehört: das Staunen über das Wunder, dass etwas ist. Das Endliche muss nicht sein. Es ist nicht notwendig aus sich heraus. Wenn es ins Dasein tritt, ist es immer auch ein Geschenk. Dies gibt der Kreatur eine hohe Eigenständigkeit, die stets auch mahnt, uns an ihr nicht zu vergehen. Vielleicht ist die Versuchung, sein Leben völlig in die eigene Hand zu nehmen, am größten im Blick auf das Ende des Lebens. Der Mensch will nicht erkennen, dass die Selbstbestimmung hier eine Grenze und ein Ende hat. Die ganze Diskussion über die Sterbehilfe zeigt, dass wir uns sehr schwer tun, unser ganzes Leben als empfangen, als verdankt und als geschenkt zu verstehen. Nun muss man gewiss auch zugestehen, dass es Verfallserscheinungen des menschlichen Leibes, besonders auch durch schlimme Krankheiten, gibt, die die Tötung einer – wie wir gerne sagen – menschenunwürdigen Existenz geradezu als

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Barmherzigkeit und Erlösung erscheinen lassen. Der Mensch scheint in dieser Lage jede Würde zu verlieren. Dies ist zweifellos angesichts unserer technischen und medizinischen Möglichkeiten eine enorme Versuchung, zumal wenn wir von der Dynamik einer tendenziell totalen Selbstbestimmung verlockt werden. Kreatürliche Freiheit und Fürsorge Auch hier müssen wir auf die früher schon dargelegte Grundspannung im menschlichen Leben zwischen der Aufgabe des Bewahrens und des Schonens und dem Auftrag des Umgestaltens und Veränderns blicken. Wir kommen auch in der Frage nach dem Sterben nicht aus dieser fundamentalen Bestimmung des Menschen heraus. Es gibt kein reines Bewahren, was am Ende nur ein Dahinvegetieren bedeuten würde; es gibt aber auch kein reines Verändern, das alle irdisch-natürlichen Fundamente unseres Lebens neu schaffen könnte. Deswegen verbietet sich auch eine grenzenlose Manipulation, die sich am Ende überhaupt gegen die Sterblichkeit des Menschen aufbäumt. Immer wieder muss man durch den schmalen Weg zwischen diesen beiden Eckpfeilern unserer menschlichen Existenz hindurch. Es ist eine enge Pforte. Deswegen muss man dem kranken Menschen helfen, wo es nur geht, wenn die geringste Aussicht auf eine Rettung seines Lebens gegeben ist. Man muss aber auch bei aller Zuwendung, wenn keine vernünftige Aussicht auf Gesundung besteht, sterben lassen können, besonders wenn die medizinischen Maßnahmen keinen Erfolg versprechen und auch die Würde des Menschen verletzen können. Die Menschen früherer Zeiten wussten, wie wichtig in solchen Situationen die Tugenden der Gelassenheit und auch der Ergebung sind. Es ist verständlich, dass die Selbstbestimmung als eine Grundforderung wirklich menschlicher Existenz ausgedehnt wird bis an das Ende des menschlichen Lebens. Gerade in einer Zeit, wo medizinische Maßnahmen die freie Entscheidung und das Wachsein des Menschen erdrücken können, braucht es, soweit dies nur möglich ist, die Selbstbestimmung. So lange der Mensch wirklich Subjekt ist und sein kann, darf er nicht einfach fremdbestimmt werden. Deswegen sind auch Patiententestamente gut, in denen die Menschen zu ihren Lebzeiten genauere Vorentscheidungen treffen oder wenigstens die Grundlinien einer späteren Behandlung skizzieren. Aber es gibt auch hier manchmal Illusionen über das Ausmaß der Selbstbestimmung. Wir Menschen sind eben nicht so autonom, dass wir gerade auch in den äußersten Situationen am Ende des Lebens alles für uns selbst besorgen können. Hier gibt es heute einen fast unerträglichen Wettstreit zwischen der Forderung nach fast grenzenloser Selbstbestimmung und der notwendigen Fürsorge des Menschen, in der er sich der Begleitung eines anderen versichert, gerade auch dann, wenn ihm die eigene Steuerung seines Lebens verwehrt ist, sei es vorübergehend oder für immer. Vor allem als endliche, kreatürliche Wesen sind wir besonders in einer

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lebensbedrohlichen Situation auf andere angewiesen. Man hat nicht selten den Eindruck, als ob dem Menschen von heute oft diese Grenze der Selbstbestimmung als ein grundlegender Makel des Menschen vorkommt. Im Grunde gibt es aber kaum etwas Menschlicheres als diese Weggenossenschaft, die in ganz verschiedenen Situationen die Menschen miteinander verbindet. Wir sind und bleiben Pilger vom Anfang bis zum Ende. Bernhard Vogel, dessen konzentrierte Aussage Anlass zu dieser Besinnung gab, hat das große Verdienst, aus der verborgenen, aber jedermann zugänglichen Tiefe des christlichen Glaubens überzeugende Brücken zu bauen in den praktischen konkreten Alltag der Politik. Dafür herzlichen Dank und Gottes Segen für Leib und Seele zum 80. Geburtstag!

„Das Gewissen ist nicht beliebig und nicht jede Frage ist eine Gewissensfrage.“ (Bernhard Vogel) Klaus Naumann Dieses mahnende Wort Bernhard Vogels, gerichtet an eine Gesellschaft, die nur zu gerne Zustimmung oder Ablehnung auch in einfachen Fragen des Zusammenlebens der Gemeinschaft zu Gewissensfragen erklärt, ob das nun der Ausbau eines Bahnhofs oder, im Extremfall, die Existenzsicherung des Juchtenkäfers ist, und die dabei ist zu verlernen, dass man in einer Demokratie nach Ausschöpfung aller Möglichkeiten des Widerspruchs zu akzeptieren hat, dass die Meinung einer rechtmäßig erreichten Mehrheit verwirklicht wird. Es ist das Wort eines Mannes, der sein ganzes langes Leben dem Dienst an der Gemeinschaft und für die Gesellschaft, der „res publica“, gewidmet hat. Das kann man nur, wenn man ein eindeutiges Fundament des eigenen Urteils und Handelns hat, gebildet von Normen und Überzeugungen zu denen jeder Mensch als Erwachsener in mehr oder weniger deutlicher Ausprägung finden sollte. Wir nennen diesen individuellen Wertekanon in unserem Kulturkreis Gewissen. Es beruht auf den Werten und Normen, auch den religiösen Überzeugungen, an denen die Menschen unserer Gesellschaft mehrheitlich ihr Handeln ausrichten. Das drückt Bernhard Vogel aus, wenn er sagt, Gewissen ist nicht beliebig und damit eben verneint, dass Gewissen sich an den Irrungen und Wirrungen des Zeitgeistes orientiert. Andererseits ist Gewissen aber auch etwas sehr Persönliches. Es entfaltet sich in dem von den Normen der Gesellschaft vorgegebenen Rahmen, aber es wird geprägt durch Erziehung, durch religiöse Bindungen, durch individuelle Erfahrungen und die sich bei jedem Menschen unterschiedlich entwickelnde Entscheidungsfähigkeit. So entsteht ein sehr persönliches, aber nicht beliebiges, weil moralisch gebundenes Werte- und Bezugssystem. Am Beispiel Bernhard Vogels kann man sehen, wie dieses System ihm geholfen hat, in einem langen Leben im Dienst der Gemeinschaft einen bemerkenswert geradlinigen Kurs zu steuern und zu halten. Ich kann mir gut vorstellen, dass es die Bindung an sein Gewissen und damit an seinen Normenkanon war, die ihm half, im Wesentlichen das Richtige zu tun, als er der erste und bislang einzige deutsche Ministerpräsident wurde, der dieses Amt zuerst fast zwölf Jahre in der freien Gesellschaft der alten Bundesrepublik Deutschland, in Rheinland-Pfalz, und dann fast ebenso lang in der gerade erst frei gewordenen Gesellschaft des neu erstandenen Freistaates Thüringen ausübte. Hier traf er auf Menschen, die ihr Leben lang, teils aus Überzeugung, teils unter Zwang einer Werteordnung anhingen, die mit Vogels Überzeugungen nicht in

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Einklang zu bringen waren, während andere Thüringer davon geträumt hatten, frei Vogels Werten anhängen zu dürfen. Hier durfte sein Handeln nicht von Gewissensrigorismus geprägt sein, denn er musste auch die Menschen mitnehmen für die der Arbeiter- und Bauernstaat das Ideal war, wollte er helfen, das Ziel der deutschen Einheit zu erreichen, ein deutsches Vaterland zu schaffen, in dem die Mehrheit der Bürger die Werteordnung des Grundgesetzes aus Überzeugung bejaht. In dieser Lage konnte nicht jede Frage eine Gewissensfrage sein, und doch durfte es in den grundsätzlichen Fragen des demokratischen Rechtsstaates keine Kompromisse geben, denn sie drücken die Normen aus, an die Gewissen, weil es nicht beliebig ist, in unserer Werteordnung gebunden ist. Andererseits gibt es in solchen Umbruchsituationen so manche periphere Frage, die gerade die Kräfte der Beharrung gerne zur Gewissensfrage aufbauschen, um Wandel zu verhindern. Wohl geleitet von seinem Gewissen hielt Bernhard Vogel bewundernswert geradlinig Kurs. Er wusste Wichtiges, also die echten Gewissensfragen, von Unwichtigem, also den vorgeschobenen Gewissenskonflikten, zu unterscheiden. Seine große Gelassenheit und sein heitere Jovialität haben manchmal verborgen, dass er im Grundsätzlichen hart blieb und seine Werte nie verriet. Gerade dadurch wurde er zu einem über die Parteigrenzen hinaus unumstrittenen und beliebten Landesvater seiner Thüringer. Als Landesvater in Erfurt habe ich Bernhard Vogel so manches Mal als Generalinspekteur der Bundeswehr erlebt und schätzen gelernt. Natürlich ging es in diesen Begegnungen vorrangig um den Aufbau der Bundeswehr im Osten Deutschlands, um den Abbau der Erblasten von Sowjets und DDR und um das Schicksal der ehemaligen Soldaten der Nationalen Volksarmee, aber stets auch um die grundsätzlichen Fragen wie die Idee der wehrhaften, zur Verteidigung fähigen und bereiten Demokratie, um die feste Einbindung Deutschlands in das atlantische Bündnis der NATO und um die auch heute noch unersetzliche Bindung Deutschlands an die USA. Die Festigkeit Bernhard Vogels in diesen Fragen, die im Übrigen von seinem Bruder Hans-Jochen trotz unterschiedlicher parteipolitischer Bindung geteilt wird, hat mich stets beeindruckt, wie ich auch gerne erinnere, dass Bernhard Vogel einer der wenigen, heute ohnehin ausgestorbenen Politiker war, die aufrichtige Dankbarkeit für den Dienst der Soldaten für Deutschland zum Ausdruck brachten. Ich meine gespürt zu haben, dass seine kompromisslose Festigkeit in diesen Fragen, zu denen ich auch das Festhalten an der Allgemeinen Wehrpflicht zähle, Ergebnis von Gewissensentscheidungen war. Wie schon zuvor im Westen zeigte Vogel den Menschen in Thüringen, dass für ihn Werte wie Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie auch nach Ende des Kalten Krieges in unserer unruhigen Welt des Schutzes bedürfen, dass man dazu Streitkräfte braucht und dass der gerade nach Ende des DDRRegimes im Osten Deutschlands viel Zuspruch findende utopische Pazifismus bei allem Streben nach Frieden ein gefährlicher Irrweg war. Die grundsätzlichen Fragen wie die Berechtigung eigener Streitkräfte des vereinten Deutschland und

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dessen Einbindung in das NATO-Bündnis kamen für Bernhard Vogel Gewissensfragen sehr nahe, Fragen dagegen, wie Organisation der Bundeswehr oder was aus der Erbmasse der total militarisierten DDR werden sollte, waren für ihn nachrangig. Obwohl es damals kein Gesprächsthema war, bin ich sicher, dass für ihn auch die Abschaffung oder Beibehaltung der Wehrpflicht keine Gewissensfrage gewesen wäre, wohl aber die Notwendigkeit, alle Deutschen, die dienen oder gedient haben, gerecht zu behandeln. Deshalb hatte auch die Frage, wie man mit den Menschen umgehen sollte, die dem Unrechtsregime der DDR gedient hatten, also auch mit den Soldaten der ehemaligen NVA , für ihn sehr grundsätzliche Bedeutung. Auch diese Menschen sollten erleben, dass sie nun in einem Staat leben, der seinen Bürgern offen und transparent begegnet und in dem ein Rechtsstaat seine Bürger durch die Kraft des Gesetzes vor der Macht des Staates schützt, eine Forderung, die zu erfüllen nicht der Beliebigkeit anheim fallen konnte. In diese Zeit unserer Begegnungen in Thüringen fielen auch die Tragödien der jugoslawischen Sezessionskriege, in denen Europa viel zu lange untätig blieb und Mitschuld auf sich lud, weil es nicht die Kraft hatte, seiner Verantwortung für den Schutz menschlichen Lebens gerecht zu werden. Wir haben über Jugoslawien nie vertieft gesprochen, wohl aber über die Frage, ob das vereinte Deutschland die Pflicht habe, in gleichem Maße wie seine europäischen Nachbarn Lasten zu tragen und Risiken auf sich zu nehmen. Bernhard Vogel vermittelte mir nie den Eindruck zu den Deutschen zu gehören, die aus den Verbrechen der Nazi-Zeit den Schluss gezogen haben, das vereinte Deutschland müsse sich jeglicher militärischer Aktivität enthalten. Fest auf dem Boden unseres Grundgesetzes stehend ist für ihn wie für alle Demokraten in Deutschland jegliche Beteiligung an Angriffskriegen ausgeschlossen, nicht aber die Beteiligung deutscher Soldaten an legaler und legitimierter Gewaltanwendung zur Durchsetzung oder Erhaltung des Friedens. Auch hier blieb er seiner eigenen Vorgabe treu: Gegengewalt ist das äußerste Instrument zur Durchsetzung des Rechts. Über dessen Anwendung zu entscheiden, ist sicherlich eine Gewissensfrage und sollte nicht der Beliebigkeit parteipolitischer Erwägungen zum Opfer fallen. Eher technische Fragen aber wie Mandat, Einsatzregeln oder Einsatzgebiet fallen nicht in die Kategorie Gewissensentscheidung und können daher durchaus parteitaktisch erörtert und entschieden werden. Bernhard Vogel hat in seinem Wirken in der Politik, aber auch als Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung, immer und überwiegend erfolgreich versucht, den Menschen in Zeiten tiefer Umbrüche Halt und Orientierungshilfe zu geben. Er konnte das, weil er sein ganzes Leben lang glaubhaft zeigte, dass sein Handeln aus seiner Bindung an Werte und Überzeugungen entsteht. Eine solche Bindung lässt für Beliebigkeit keinen Raum, gibt aber durchaus Spielräume auf dem Weg zu den Zielen, die im Einklang mit dem eigenen Gewissen

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bejaht und verfolgt werden. Menschen spüren solche Geradlinigkeit, gerade weil sie es in der politischen Wirklichkeit unserer Tage satt haben, mit platten und meist inhaltsarmen Formeln letztlich entmündigt zu werden. Aus solcher Geradlinigkeit entsteht Vertrauen und Gefolgschaft, und das hat Bernhard Vogel auf allen Stationen seines langen und erfolgreichen Lebens erreicht. Deshalb hoffe ich, dass uns Bernhard Vogel noch lange erhalten bleibt und ihm noch viele Jahre des Wirkens in unserer Gesellschaft und für unseren Staat im Sinne der von ihm selbst geprägten Maxime vergönnt sein mögen: Das Gewissen ist nicht beliebig und nicht jede Frage ist eine Gewissensfrage.

„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie auch im Sterben zu achten und zu schützen, ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ (Verfassung des Freistaates Thüringen, 1993) Hans Zehetmair Der erste Satz der Verfassung des Freistaats Thüringen, die mit einem Katalog der Grundrechte beginnt,1 ist wortgleich mit dem ersten Satz des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Diese Aussage entspricht einer in den westlichen Verfassungsstaaten selbstverständlichen Tradition der Menschenrechte. Die Grundlegung erfolgte schon lange vor ihrer ersten Positivierung am 26. August 1789 in der „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ des revolutionären Frankreich durch die geistesgeschichtliche Entwicklung Europas. Man könnte die Idee der Menschenwürde sogar bereits in einer Wendung in Ciceros „De officiis“ angelegt finden, wo sich die Passage findet: „quae sit in natura [sc. hominis] excellentia et dignitas“ 2. Doch der zweite Satz der Verfassung des Freistaats Thüringen, der da lautet: „Sie auch im Sterben zu achten und zu schützen, ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“ 3, findet sich im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland nicht. Auch in den Verfassungen der anderen deutschen Länder kommt ein derartiger Passus nicht vor. Nur die Verfassung des Landes Brandenburg macht hier eine Ausnahme, indem sie eine vergleichbare Formulierung vorsieht. Nachdem dort Art. 7, Abs. 1, S. 1 ebenfalls bestimmt hat: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, legt Art. 8, Abs. 1, S. 1 fest: „Jeder hat das Recht auf Leben, Unversehrtheit und Achtung seiner Würde im Sterben.“ Im Mittelpunkt nachfolgender Überlegungen soll die Frage stehen, wie die zitierte Formulierung der Thüringer Verfassung zu werten ist – und dies nicht nur im rechtlichen, sondern auch im rechtspolitischen sowie letztlich im ethischen Sinne. Die explizite Einforderung der Menschenwürde „auch im Sterben“ erscheint auf den ersten Blick überflüssig. Zwar können allgemeine Begriffe zur Klarstellung vom Gesetzgeber mit einzelnen Beispielen konkretisiert werden. Doch ist das hier wirklich notwendig? Umfasst der Geltungsbereich der Menschenwürde doch selbstverständlich das gesamte menschliche Leben, von seinem Beginn bis zum abgeschlossenen Vorgang des Sterbens.4 Das Bundesverfassungsgericht führt darüber hinaus aus, dass die staatliche Schutzpflicht für die Wahrung der Menschenwürde nicht einmal mit dem Tode endet, konkretisiert sie sich doch anschließend auch noch in den teilweise gesetzlich festgehaltenen Pflichten der Pietät gegenüber dem Verstorbenen. A fortiori gilt also, dass der Vorgang

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des Sterbens selbst von der Garantie der Menschenwürde mit umfasst ist. So wichtig ist dieser Komplex, dass der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin im Fall Erich Honecker weitergehend judiziert hat, die Würde des Sterbenden könne auch dadurch verletzt werden, dass er einem Strafverfahren ausgesetzt werde, dessen Ende er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mehr erleben werde.5 Auch der wohl führende Kommentar zur Verfassung des Freistaats Thüringen befindet zur Menschenwürde im Sterben: „Sie wäre selbstverständlich auch ohne ausdrückliche Erwähnung […] geschützt.“ 6 Das Argument der Redundanz hat auch bei den Beratungen zur gegenwärtig geltenden Verfassung des Freistaats Thüringen eine Rolle gespielt.7 Die schließliche Beibehaltung von „auch im Sterben“ war dabei allerdings eher moralisch-rechtspolitisch motiviert. Sie erfolgte nach dem allgemeinen Gesichtspunkt, dass Verfassungen auch programmatische oder sonstige nicht spezifisch juridische Aussagen ohne unmittelbaren Regelungsgehalt vorsehen dürfen, da daraus Hinweise für die Auslegung gewonnen werden können, die ihrerseits dann wiederum durchaus den hergebrachten Kategorien der Rechtswissenschaft folgt. So kommen hier der historische Wille des Gesetzgebers in Frage, niedergelegt in den Protokollen der angegebenen Beratung,8 sowie die „Teleologie“ des Grundrechtskatalogs: Dem technischen Experimentieren der modernen „Apparate-Medizin“ sollte eine begrenzende Linie gezogen werden. Der zitierte historische Wille des Gesetzgebers wurde durch den Hinweis auf die unwürdigen Zustände in den Krankenhäusern der untergegangenen DDR greifbar – so wie Grundrechtskataloge ja auch anderswo als Distanzierungsmaßnahmen zu vergangenen Unrechts-Regimen verstanden werden können, etwa in der „alten“ Bundesrepublik gegenüber dem NS-Staat. Die in Art. 1, Abs. 1, S. 2 der Verfassung des Freistaats Thüringen ausgesprochene „Verpflichtung aller staatlicher Gewalt“ bedarf jedoch im jeweiligen konkreten Fall noch einer Konkretisierung. Besonders muss uns hier der Komplex der „Sterbehilfe“ beschäftigen und inwieweit ihm die Unantastbarkeit der Menschenwürde entgegen steht. Hier bewegen wir uns zweifelsohne in einem „Grenzgebiet des rechtlich Erfassbaren“ 9, d. h. ethische und religiöse Erwägungen können hier nicht ohne Einfluss auf die Rechtsordnung bleiben. Die Menschenwürde ist nicht nur unantastbar, sie ist auch unverzichtbar. Dies gilt nicht nur aus dem pragmatischen Grund, um das Individuum vor Manipulationen eines womöglich übermächtigen Staatsapparates zu schützen, sondern auch aus grundsätzlichen theologischen Erwägungen: Aus Genesis 1,27 („Gott schuf also den Menschen, als sein Abbild schuf er ihn, als Mann und Frau schuf er sie“) und aus Epheser 4,24 („Zieht den neuen Menschen an, der nach dem Bild Gottes geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit“) folgt, dass der Mensch eine „imago dei“, Gottes Ebenbild ist. Ein solches darf er nicht zerstören, und er kann es auch gar nicht, da er seine einmal erfolgte Geburt, die ihm seine Menschenwürde gewissermaßen vermittelt hat, nicht rückgängig

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machen kann, nicht einmal durch seinen Selbstmord, der an dem historischen Akt seiner Geburt ja nichts ändert. Und auch wenn Selbstmord als eine Sünde vor Gott angesehen wird, da der Selbstmörder das Gottesgeschenk seines Lebens von sich wirft, gilt immer noch, dass auch der Sünder eine „imago dei“ bleibt. Daraus folgt, dass der Mensch seine Würde auch dann behält, wenn er mit jemandem anderen zusammenarbeitet, der ihm „Sterbehilfe“ gewähren soll. Daraus wiederum kann gefolgert werden, dass das Individuum ein Recht auf einen „würdigen“ Tod hat. Dies wäre zusätzlich abgesichert durch das Recht auf die freie Entfaltung der eigenen Persönlichkeit nach Art. 2, Abs. 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland und Art. 3, Abs. 2 der Verfassung des Freistaats Thüringen. „Nach unserer verfassungsmäßigen Ordnung hat der Mensch das Recht, seinen natürlichen, möglichst schmerzfreien Tod zu sterben, und haben wir nicht das Recht, den sterbenden Menschen gegen seinen Willen durch letztlich überflüssige medizinische Maßnahmen hieran zu hindern und ihn immer wieder seinen Qualen zurückzugeben.“ 10 Die Selbstbestimmung des Patienten schließt auch seine Selbstbestimmung zum Tod ein.11 Die Problematik, um die es uns hier geht, liegt demnach in solchen Fällen nicht im Bereich der Menschenwürde, sondern in dem der Beurteilung des zum Sterben „Helfenden“. Dieser ist nach juristischen Maßstäben danach zu beurteilen, ob er ein Tötungsdelikt begangen hat oder nicht. Egal, was er tut, gemäß ihrer Definition kann er die Menschenwürde seines „Opfers“ nicht verletzen. Aber der Staat ist gehalten, deren Schutz wahrzunehmen, um gewissermaßen auch dem untauglichen Versuch ihrer Verletzung sowie der Gefahr, dass der „Helfende“ sich eines Tötungsdelikts schuldig macht, entgegen zu treten. Denn dies verlangt ihre Stellung als fundamentaler Wert in einer freiheitlichen Verfassung. Besonders deutlich wird diese Aufforderung an den Staat in der Fassung des § 216 StGB – Tötung auf Verlangen, die, abweichend vom geltenden § 216 StGB, im „Alternativentwurf eines Gesetzes über Sterbehilfe“ 12 folgenden Abs. 2 vorsieht: „Das Gericht kann unter den Voraussetzungen des Abs. 1 von Strafe absehen, wenn die Tötung der Beendigung eines schwersten, vom Betroffenen nicht mehr zu ertragenden Leidenszustandes dient, der nicht durch andere Maßnahmen behoben oder gelindert werden kann.“ Dieser Alternativentwurf ist nicht geltendes Recht geworden. Abs. 2, wie oben zitiert, ist dem § 216 StGB nicht hinzugefügt worden. Und das, wie ich meine, mit gutem Grund. Denn so würde die Trennmauer zwischen Tod und Leben auf unverantwortliche Weise eingerissen. Es ist oft beklagt worden, dass in den Fällen von passiver Sterbehilfe, wo die Grenzen zu einer Handlungsweise, die schon als aktive Sterbehilfe und damit unter Umständen als Tötungsdelikt zu bezeichnen wäre, die Rechtslage derart unklar sei, dass ein Eingreifen des Gesetzgebers dringend gefordert werden müsse. Doch durch den Alternativentwurf wird die Rechtslage keineswegs klarer: In der Begründung ist nur zu lesen, die Situation setze „den Täter dem Risiko aus, seine Gewissensentscheidung in einem Strafverfahren

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verantworten zu müssen“ 13. Das war auch bisher schon der Fall. Am Ende müssen die Richter entscheiden, ob die im Alternativentwurf skizzierte extreme Notlage medizinisch tatsächlich gegeben war, wobei sie, wie nicht anders möglich, von medizinischen Fachgutachten abhängen – ganz wie bisher. Die Neuheit, die darin liegt, dass die Richter bei entsprechend formulierten Gutachten von Strafe absehen „können“, befriedigt ebenfalls nicht. Denn „unter den Voraussetzungen des Abs. 1“ bedeutet: unter den Voraussetzungen, „dass jemand durch das ausdrückliche und ernstliche Verlangen des Getöteten zur Tötung bestimmt worden“ ist, ein Tötungsdelikt also tatbestandlich vorliegt. Das nach Art. 2, Abs. 2, S. 1 Grundgesetz sowie Art. 3, Abs. 1, S. 1 Verfassung des Freistaats Thüringen verbriefte, in einem freiheitlichen Rechtsstaat selbstverständliche Recht auf Leben kann ja kaum auf seinen Schutz durch Strafbewehrung verzichten. Warum also sollte hier ein Strafausschließungsgrund geschaffen werden? An dieser Stelle wäre auch eine humanitäre Argumentation möglich: Es gehe darum, dem Patienten seine unmenschlichen Schmerzen abzukürzen. So einleuchtend dies zunächst klingt, so wird es in seiner Verallgemeinerung doch nicht alle Fälle von „Sterbehilfe“ umfassen. „Im übrigen ist zu bedenken, dass die Legalisierung der Tötung auf Verlangen zu einem unmenschlichen Druck auf Alte und Kranke führen könnte, ihre Angehörigen von der Last der Pflege durch den Gang in eine ‚Sterbeklinik‘ zu befreien.“ 14 Auch das Gebot der Humanität eröffnet also nicht immer nur einen klaren Weg der Aktion. Aus alledem folgt, dass wir an der Achtung des Lebens, zu der uns unsere besten christlich-abendländischen Traditionen anhalten, gerade angesichts aktueller Entwicklungen zu deren Relativierung mit besonderer Kraft festhalten müssen. Schon die antike Stoa hat gelehrt, dass die Sittlichkeit keine bloße Übereinkunft sei, sondern zur Natur des Menschen gehöre. Und schon Jahrhunderte vor der Stoa hat der Philosoph Heraklit von Ephesos, diese Erkenntnis vorwegnehmend, gemahnt: „Alle menschlichen Gesetze nähren sich von dem einen göttlichen“ 15 – eben von dem Naturrecht, das mit dem christlichen Glauben übereinstimmt, indem es jedem Menschen eine unantastbare Würde zuerkennt. Und das ist gut so.

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Die Landesverfassung von 1921 hatte einen solchen noch nicht. 1,30,106. Art. 1, Abs. 1, S. 2. BV erfGE 30, 194; NJW 1993, 1462. Berliner VerfGH; NJW 1993, 516f. Linck-Jutzi-Hopfe: Die Verfassung des Freistaats Thüringen, Kommentar, 1993, Art. 1, Fn. 18.

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Hierzu zusammenfassend : Thüringer Landtag (Hg.): Die Entstehung der Verfassung des Freistaats Thüringen – Dokumentation. Erfurt 2003. Ebd. Zippelius, JuS 1983, 659 (660f.). Uhlenbruck, ZRP 1986, 209 (214f.). BGH NJW 1984, 2639 (2641f.). Text des AE-Sterbehilfe, in: ZRP 1986, 237f. Ebd., S. 239. Hirsch, ZRP 1986, 239 (242). Wilhelm Capelle (Hg.): Die Fragmente der Vorsokratiker. Stuttgart 1974, S. 136 (Nr. 33).

„Erfolgreiche Landespolitik braucht die Kenntnis der Landesgeschichte.“ (Bernhard Vogel) Kurt Beck Wer sich mit rheinland-pfälzischer Landesgeschichte befasst, sollte zunächst einen Blick auf das Landeswappen werfen. Josef Decku hat es 1948 für Rheinland-Pfalz entworfen. Er griff nicht auf den preußischen Adler, die Löwen von Hessen und Nassau sowie die bayerischen Rauten zurück. Vielmehr wählte er die kurrheinischen Symbole: Trierer Kreuz, Mainzer Rad und Pfälzer Löwe. Auf dem Wappenschild ruht eine goldene „Volkskrone“. Ihre Blätter sind dem Weinlaub nachempfunden. Am 10. Mai 1948 stimmten die Abgeordneten im Landtag von Rheinland-Pfalz diesem Entwurf zu. Sie bestätigten dadurch auch: Das Landeswappen ist zwar eine moderne Schöpfung, aber seine Symbole prägten jahrhundertelang die Geschichte des Gebietes von Rheinland-Pfalz. Das Wappen zeigt: Rheinland-Pfalz hat weit in die Geschichte zurückreichende Wurzeln. So zersplittert das Land auch in der jüngeren Vergangenheit war, so tief geht seine kulturelle Gemeinsamkeit in der deutschen Geschichte. Zum Selbstverständnis und zum Selbstbewusstsein des Landes gehört die historische Rückbindung. Dies haben auch Politiker zu beachten, die für das Land und seine Menschen Verantwortung tragen. Nicht nur das Landeswappen verweist auf die Geschichte unseres Landes, darüber hinaus gibt es viele Beispiele und steinerne Zeugen für das historische Erbe von Rheinland-Pfalz. Einige wenige will ich nennen: Das Gebiet von Rheinland-Pfalz war für ein halbes Jahrtausend Teil des Römischen Reiches. Seine Grenze, der Obergermanisch-Raetische Limes, seit 2005 Welterbe, und besonders die römischen Bauten in der ältesten Stadt Deutschlands, in Trier, bereits seit 1986 Welterbe, zeugen davon. Im Mittelalter spielten Städte wie Speyer und Worms, Mainz und Trier wichtige Rollen. Die großen Kaiserdome, aber auch die Festung Ehrenbreitstein in der Rhein-Mosel-Stadt, die Reichsburg Trifels bei Annweiler, die Burg Eltz bei Münstermaifeld, die Marksburg im Welterbe Oberes Mittelrheintal, die Pfalz Barbarossas in Kaiserlautern, die Kastorkirche in Koblenz – das sind nur einige herausragende steinerne Zeugen für unsere geschichtlichen Wurzeln. Dazu prägten bedeutende Persönlichkeiten unser Land. Die große Kirchenlehrerin Hildegard von Bingen, die uns bis heute Orientierungshilfen geben kann, Johannes Gutenberg und Nikolaus von Kues waren Wegbereiter einer neuen Epoche; die Besiegelung der Reformation durch Martin Luther auf dem Wormser Reichstag von 1521 und die beiden Speyerer Reichstage von 1526 und 1529;

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die Universitätsgründungen im Zeichen des Humanismus in Trier und Mainz, aber auch die rheinische Aufklärung gehören zu unserer Vergangenheit. Zu den Ursprüngen unseres Landes zählt der frühe demokratische Einfluss Frankreichs. Das Hambacher Fest im Jahr 1832 war die erste moderne Massenveranstaltung mit den Forderungen nach Freiheit, Einheit und einem konföderierten Europa. Konservative und fortschrittliche Gestalten der deutschen Geschichte – der Koblenzer Fürst Metternich und Joseph Görres sowie der Reichsfreiherr vom Stein aus Nassau – gehören in den historischen Kontext unseres Landes ebenso wie Karl Marx, wie Bischof Emmanuel von Ketteler oder wie Friedrich Wilhelm Raiffeisen. Und nicht zuletzt weise ich darauf hin: Der Wein und seine Kultur prägen seit rund 2000 Jahren große Teile unseres Landes. Herr Professor Vogel hat zur Eröffnungsfeier des ersten Rheinland-Pfalz-Tages im Jahr 1984 in Koblenz zutreffend festgehalten: „Es besteht kein Zweifel, das heutige RheinlandPfalz ist Erbe einer Kernlandschaft der europäischen Geschichte.“ Herrn Professor Vogel ist nicht nur das historische Erbe unseres Landes bewusst, er hat es nicht nur verwaltet, sondern auf ihm aufgebaut und zum Vorteil von Rheinland-Pfalz eingesetzt. Er hat deutlich gemacht: Die Geschichte enthält Lehren, die in der Gegenwart und Zukunft Früchte tragen müssen. In den 22 Jahren, in denen Herr Professor Vogel politische Verantwortung in Rheinland-Pfalz getragen hat, konnten viele Früchte geerntet werden. Aus Anlass der Feier zum 60. Geburtstag von Rheinland-Pfalz habe ich im Jahr 2007 in der Mainzer Rheingold-Halle festgestellt: „Als Kultusminister hat Herr Professor Vogel Bahnbrechendes auf den Weg gebracht. Das von ihm 1968 eingeführte gegliederte Schulsystem hat in unserem Land bis heute Bestand.“ Auch im Hochschulbereich hat er Herausragendes bewirkt. Als er 1967 Kultusminister wurde, gab es die Landesuniversität Mainz und sechs kleine Pädagogische Hochschulen. Die Universitäten Trier und Kaiserslautern, die Erziehungswissenschaftliche Hochschule, die Fachhochschule sind entstanden. Im Bereich der Kunst setzte er neue Akzente. Der Bahnhof Rolandseck im Norden von Rheinland-Pfalz wurde zu einem Treffpunkt für Künstler und Publikum weit über die Grenzen des Landes hinaus. Ich erinnere auch daran, dass es dem Kultusminister Professor Vogel im Jahr 1971 gelungen ist, 121 Gemälde von Max Slevogt, dem großen Impressionisten, für unser Land Rheinland-Pfalz zu sichern. Vier Jahre später, 1975, kam ein weiterer wichtiger Beitrag für die Kultur unseres Landes hinzu. Es konnte die Villa Ludwigshöhe erworben werden, die ehemalige Sommerresidenz der Wittelsbacher. Sie ist dann Heimstatt der Slevogt Bilder geworden. Nach gründlicher Renovierung – das war 1980, Herr Professor Vogel war schon Ministerpräsident, ich war junger Abgeordneter und durfte mit dabei sein – ist dann die renovierte Villa Ludwigshöhe ihrer neuen Bestimmung übergeben worden. Ich erinnere auch an die Gründung der Stiftung Villa Musica – heute, dank der Renovierung des Engerser Schlosses 1995, eine neue, zusätzliche Heimstatt für die Stiftung und blühende Stätte unseres

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kulturellen Lebens. In seiner Amtszeit als Ministerpräsident konnte Herr Professor Vogel weitere kulturelle Projekte verwirklichen: die Schaffung der beiden Staatsorchester, die Neubauten der Museen in Trier und Speyer sowie die Kernsanierung des Koblenzer Stadttheaters. Einiges wurde außerdem von ihm auf den Weg gebracht. Das Mainzer Städtische Theater wurde Staatstheater, ein so genanntes „Kleines Haus“ wurde angebaut. Und Kaiserslautern erhielt ein neues Theater. Ich bin dankbar, dass ich alle drei Projekte in meiner Amtszeit einweihen konnte. Natürlich ist auch das Hambacher Schloss zu erwähnen, das 1982 nach mehrjähriger Renovierung neu erstanden ist. Ich habe dieses Projekt nicht nur übernommen und verwaltet, sondern weiter vorangetrieben. Das Hambacher Schloss zum Beispiel wurde modernen Erfordernissen angepasst, eine viel besuchte Ausstellung ist entstanden, und eine Tagungsstätte, die neuesten Anforderungen gerecht wird, ist sehr begehrt. Aus vielen Begegnungen weiß ich, wie sehr Herr Professor Vogel der historische Zusammenhang bewusst ist: Die Generationen vor uns, die auf dem Boden von Rheinland-Pfalz lebten, kannten die Schrecken der Kriege. Das gilt besonders für den Grenzraum, das gilt auch für die Landschaften an Rhein und Mosel, die in der Geschichte entsetzlichen Prüfungen unterworfen waren. Er hat die Lehren aus der Geschichte gezogen, Freundschaften gepflegt und Partnerschaften vorangebracht. Ich erwähne besonders Frankreich und Luxemburg. Auch die Freundschaft zu Amerika war ihm ein besonderes Anliegen. Herr Professor Vogel hat nicht nur Verständnis und Versöhnung mit unseren Nachbarn im Westen bewirkt, sondern auch den Kontakt mit den Staaten Osteuropas gesucht. Er war am Brückenschlag nach Polen beteiligt. An der Universität Mainz ist der Schwerpunkt Polonistik entstanden. Herr Professor Vogel hat auch jedes Jahr während seiner Amtszeit als Ministerpräsident die damalige DDR besucht. Städtepartnerschaften, wie die zwischen Trier und Weimar und zwischen Mainz und Erfurt gehen darauf zurück. Zu Israel wurden vielfältige Bande geknüpft. Er hat Bausteine des Friedens zusammengetragen und durch die Gründung der Partnerschaft mit Ruanda deutlich gemacht: Wir alle tragen Verantwortung für die so genannte Eine Welt. 1997 erhielt Herr Professor Vogel den Weinkulturpreis des Deutschen Weininstituts. In meiner Laudatio auf den Preisträger konnte ich aufzeigen: Die Kulturgeschichte des Weins und seine Bedeutung für Rheinland-Pfalz hat Herr Professor Vogel nicht nur verinnerlicht, sondern auch politische Entscheidungen danach ausgerichtet. Er hat vieles auf den Weg gebracht, was mit dem Wein und seiner Kultur in engerem und weiterem Zusammenhang steht. Ich nenne das Deutsche Weinbaumuseum in Oppenheim am Rhein, genauso wie das Weinbaumuseum in Bernkastel-Kues an der Mosel und das Museum für Weinkultur in Deidesheim in der Pfalz. 1977 hat das Land Rheinland-Pfalz unter der Verantwortung von Herrn Professor Vogel die Carl-Zuckmayer-Medaille geschaffen. Die Gattin des 1977 verstorbenen Dichters, Alice Herdan-Zuckmayer, hat damals zugestimmt,

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dass Rheinland-Pfalz jährlich die Auszeichnung für Verdienste um die deutsche Sprache und zum Andenken an den Schriftsteller verleihen darf. Seit 1982 ist die Auszeichnung mit einem Fass Rheinhessen-Wein verbunden – das dürfte einmalig sein. In der Zwischenzeit ist die jährliche festliche Verleihung der Carl-Zuckmayer-Medaille auch ein Symbol für die lange Kulturgeschichte, auf der Rheinland-Pfalz fußt. Von Golo Mann stammt der Satz: „Wer die Vergangenheit nicht kennt, wird die Zukunft nicht in den Griff bekommen.“ Herrn Professor Vogel war dieser Satz in seiner Zeit als Kultusminister und Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz stets bewusst. Ja, ich stimme ihm zu: Kenntnis der Geschichte eines Landes ist eine Voraussetzung für gute Landespolitik. Er hat durch seine Politik für Rheinland-Pfalz und seine Menschen gezeigt: Es ist möglich, aus der Geschichte zu lernen. Vieles, was er mit seinem politischen Willen in unserem Land bewirkt hat, wird in Rheinland-Pfalz mit seinem Namen verbunden bleiben. Vieles hat er auf den Weg gebracht, worauf seine Nachfolger im Amt des Ministerpräsidenten aufbauen können. Schon 1990 wurde ihm der Verdienstorden des Landes verliehen, die höchste Auszeichnung, die Rheinland-Pfalz zu vergeben hat. Herr Professor Vogel hat sich als Kultusminister und Ministerpräsident von RheinlandPfalz hervorragende Verdienste um unser Land erworben. Er hat RheinlandPfalz entscheidend geprägt und unserem Land einen geachteten Platz unter den Ländern der Bundesrepublik Deutschland verschafft. Seine tiefgreifenden und nachhaltigen Leistungen für Rheinland-Pfalz und seine Bürgerinnen und Bürger beruhen auch auf der hervorragenden Kenntnis unserer Landesgeschichte.

Über politische Führung in der freiheitlichen Demokratie „Gefolgschaft beruht auf Vertrauen.“ (Bernhard Vogel) Wolfgang Bergsdorf „Immerzu misstrauen ist ein Irrtum, wie immerzu vertrauen.“ Goethe Es ist erfreulich, zur Beteiligung an einer Festschrift für einen Menschen eingeladen zu werden, den man seit Jahrzehnten kennt und immer mehr schätzen gelernt hat, weil er eine außergewöhnliche Lebensleistung vorzuweisen hat. Im Falle von Bernhard Vogel steht diese außergewöhnliche und wohl auch nicht zu überbietende Leistung darin, dass er es nach neun Jahren als Kultusminister in Rheinland-Pfalz geschafft hat, dort weitere zwölf Jahre als Ministerpräsident zu regieren und anschließend noch einmal für einen ebenso langen Zeitraum in dem dank der Wiedervereinigung neu errichteten Freistaat Thüringen. Dies zeugt von einem außerordentlichen Engagement für freiheitliche Politik, gespeist aus christlicher Verantwortung für die Welt. Bernhard Vogel hat sich nach seinen Regierungsämtern nicht als Privatier in seinen Speyerschen Bungalow zurückgezogen, vielmehr hat er schon während seiner Zeit in der Mainzer und der Erfurter Staatskanzlei und auch danach Ämter wie die des Präsidenten des Zentralkomitees der deutschen Katholiken oder des Vorsitzenden des Verwaltungsrates des Zweiten Deutschen Fernsehens oder des Vorsitzenden der Konrad-Adenauer-Stiftung wahrgenommen und deren Gestaltungsmöglichkeiten voll ausgeschöpft. So hat er sich als homo politicus bewährt, der der „Civitas“ 1 im Nachkriegsdeutschland einen bis heute anhaltenden Dienst leistet. Noch erfreulicher ist es, wenn mit der Einladung zur Beteiligung an der Festschrift auch ein Thema des erbetenen Beitrages genannt wird. So erübrigt sich die Suche nach einem Gegenstand, bei dem ein Interesse des Jubilars zu vermuten wäre; auch wird so die Gefahr thematischer Dopplungen und Überschneidungen eingedämmt. Mir wurde aufgegeben, über ein Zitat von Bernhard Vogel zu reflektieren, das in seinen Reden öfter auftaucht und eine Kernfrage unseres Politikverständnisses berührt: „Gefolgschaft beruht in der freiheitlichen Demokratie auf Vertrauen.“ 2 Dieser Satz ist für Bernhard Vogel charakteristisch, denn weitab von den Üblichkeiten des Politikerjargons ist er hoch verständlich. Er beschreibt eine Kausalrelation mit Worten, die ihre deutsche Etymologie nicht verleugnen können.

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Die freiheitliche Demokratie nimmt die Vorläufigkeit und Unvollkommenheit alles Menschlichen hin und macht sie zum Gestaltungsprinzip des Politischen, denn sie trennt Mehrheit von Wahrheit und muss sich deshalb gegen ihre Ideologisierung stets wehren. Indem der freiheitliche Staat den Bürger immer mehr von Risiken entlastet, reguliert er gleichzeitig immer stärker den Gebrauch der Freiheiten und schränkt so den Entscheidungsspielraum des Einzelnen ein. Diese strukturelle Problematik der freiheitlichen Demokratie korrespondiert mit ihrer geistigen Problematik. Weil sie die Freiheit des Einzelnen als Quelle ihrer Legitimität begreift und so widersprüchliche Interessen gegensätzlicher Weltanschauungen, unterschiedliche Kulturkonzepte prinzipiell als gleichwertig hinnehmen muss, weil sie die Wahrheit für den persönlichen Freiheitsraum reserviert, deshalb stellt sich die Frage nach der Wechselwirkung von Vertrauen und Gefolgschaft mit besonderer Zuspitzung. Auf dem unbegrenzten, durch Wettbewerb charakterisierten Markt der politischen Meinungen kann sich politische Führung nur durch kommunikative Kompetenz, durch Überzeugungsmacht und Darstellungskraft durchsetzen. Auch insofern ist ein Mindestmaß an gemeinsamen Werten und Überzeugungen Voraussetzung für das Funktionieren wie die Überlebensfähigkeit der Demokratie. Umgekehrt gilt: Die Erosion herkömmlicher Werte gefährdet die Zukunft der Demokratie, weil sie nicht nur als formales Regierungssystem missverstanden werden darf. Auch wenn mancher Zeitgenosse dies zu Recht als eine Überforderung demokratischer Politik versteht: Die Bürger in der pluralistischen Gesellschaft erwarten von der Politik jenes Mindestmaß an Orientierung, das sie sonst nicht mehr zu finden verstehen. Das, was Demokratie konstituiert, die Anerkennung der Autonomie des Einzelnen, hat zur Bedingung wie zur Folge, dass der gesellschaftliche Konsens über Werte, Maßstäbe, Orientierungsprinzipien bis zur Nichterkennbarkeit schrumpfen kann. Umso wichtiger werden Vertrauensbeziehungen zwischen Wählern und Gewählten, zwischen Gefolgschaft als Vertrauensgeber und Politikern als Vertrauensnehmer. Vertrauen ist eine reziproke Beziehung, die die Partner in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft miteinander verbindet durch wechselseitige Hypothesen künftigen Verhaltens, wie Georg Simmel schon vor 120 Jahren festgestellt hat.3 Seitdem hat die philosophische, psychologische und soziologische Reflexion über das Vertrauen als unverzichtbare Ressource sozialer Beziehungen eine außerordentliche Intensität erreicht.4 Niklas Luhmann, der sich schon sehr früh in seinem umfangreichen Oeuvre mit der Thematik des Vertrauens auseinandergesetzt hat, sieht als erste Leistung des Vertrauens die Reduktion der Komplexität. Je komplexer die Welt wird durch den technologischen Fortschritt, aber auch durch die gewachsene Zahl der Handlungsoptionen des Einzelnen, umso stärker sind Menschen auf „riskante Vorleistungen“ 5 angewiesen. Dies sind Akte des Vertrauens, derer wir uns oft nicht bewusst sind. Wer seinen Tag mit dem Zähneputzen beginnt, muss darauf

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vertrauen, dass das Leitungswasser nicht gesundheitsschädlich ist. Er benötigt kein Wissen um die Herkunft des Wassers, das hierzulande stärkeren und regelmäßigeren Kontrollen der kommunalen Wasserwerke durch Gesundheitsbehörden ausgesetzt ist als jedes zum Verkauf zugelassene Mineralwasser. Wenn er Arzneimittel einnehmen muss, kann er sicher sein, dass die vom Arzt verschriebenen Medikamente erprobt und zum Verkauf durch die zuständigen Behörden zugelassen und regelmäßig auf unbeabsichtigte Nebenwirkungen überprüft werden. Wenn er sein Frühstück zu sich nimmt, kann er sich darauf verlassen, dass die amtlichen Lebensmittelkontrolleure die gesundheitliche Unbedenklichkeit seines Kaffees, seines Tees, seines Brötchens und seines Aufschnitts regelmäßig geprüft haben. In all diesen Fällen wird das primäre Vertrauen zum Arzt und Apotheker, zum Lebensmittelhändler, Bäcker und Metzger institutionell durch die zuständigen Behörden abgesichert. Wenn er sein Haus verlässt und sich als Fußgänger, Radfahrer, als Autofahrer oder Nutzer des öffentlichen Nahverkehrs in den Straßenverkehr einreiht, kann er auf die Verkehrsregeln vertrauen und auch darauf, dass die anderen Verkehrsteilnehmer dieses Regelwerk ebenso beachten wie er selbst, um nicht zu Schaden zu kommen. Diese um eine Vielzahl von Beispielen zu bereichernde Kette von Vertrauensakten sind zivilisatorische Selbstverständlichkeiten geworden. Sie reduzieren nicht nur die Komplexität der Umwelt, sondern senken auch die Transaktionskosten 6, die dann entstehen würden, wenn sich der Einzelne selbst um die Feststellung gesundheitlicher Unbedenklichkeit seiner Nahrungsmittel usw. zu bemühen hätte. Arznei- und Lebensmittelskandale und auch Verkehrsunfälle lassen das grundsätzliche Vertrauen deshalb nicht in Misstrauen umschlagen, weil die öffentliche Berichterstattung über die Regelverletzung das Außergewöhnliche des Ereignisses unterstreicht und das Interesse der Allgemeinheit an Ahndung und Beseitigung der Fehlentwicklung signalisiert. Die öffentliche Markierung der Regelverletzung wird so zur Bestätigung der Regel, die die Re-Stabilisierung des Vertrauens bewirkt. Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass sich Vertrauen stets auf eine kritische Alternative, nämlich Misstrauen bezieht. Der Schaden eines Vertrauensbruches kann größer sein als der Vorteil, „der aus dem Vertrauenserweis gezogen wird. Der Vertrauende macht sich mithin an der Möglichkeit übergroßen Schadens, die Selektivität des Handelns Anderer bewusst.“ 7 Bisher wurde versucht zu zeigen, wie Vertrauen die Komplexität der Umwelt reduziert, indem rationale Verhaltensweisen präferiert werden können, ohne dass Regelabweichungen ausgeschlossen werden. Bei diesen Standardsituationen wird die Kette der Vertrauenserweise kaum problematisiert, weil sie zu zivilisatorischen Standards geronnen sind. Dass auch hier politische Vertrauensakte eine Rolle spielen, wird selten wahrgenommen; denn auch die Behörden, die die individuellen Vertrauensbeziehungen institutionell absichern, sind politisch legitimiert. In den Umfragen spiegelt sich dies bestenfalls in den regelmäßig hohen Werten für die Polizei bei der Frage nach dem institutionellen Vertrauen wider.

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Trotz aller Anstrengungen um gesteigerte Rationalität gibt es Bereiche wie die Politik, in denen die Standardhandlungen des Vertrauenserweises nicht ausreichen, weil unvorhersehbare Entscheidungen für die Zukunft getroffen werden müssen. Die Unsicherheiten künftiger Entscheidungen mit ihren unübersehbaren Nah- und Fernwirkungen rücken die Rolle des Politikers in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Der Beurteilungsmaßstab, mit dem sich ein Politiker in der Konkurrenz zu seinen Mitbewerbern bei der Wahl zu stellen hat, ist nicht die Standardsituation, sondern der vermutliche Erfolg seiner künftigen Entscheidungen bei Sachfragen wie bei Personalangelegenheiten. Dem Wähler wird die Entscheidung für oder gegen einen Kandidaten normalerweise dadurch erleichtert, dass die Kandidaten in Formationen auftreten, nämlich in Parteien. Das sind Zweckverbände zum Machterwerb und Machterhalt, die sich der Öffentlichkeit durch gemeinsame Programme und gemeinsames Spitzenpersonal empfohlen oder auch diskreditiert haben. Der Wähler, der an den Wahlurnen über den Personalvorschlag einer Partei zu urteilen hat, verfügt dank der öffentlichen Kommunikation über den Wahlkampf der Parteien über eine Rahmenvorstellung, was von den einzelnen Kandidaten im Falle einer Wahl an künftigen Entscheidungen zu erwarten ist oder auch nicht erwartet werden kann. Sein auf einem Akt des Vertrauens basierendes Urteil zugunsten eines Kandidaten und damit zu Lasten eines anderen gewinnt so eine rationale Komponente, die das Risiko einer Fehlentscheidung minimiert. Die Perzeption des tatsächlichen Verhaltens eines Mandatsträgers durch seine Wählerschaft entscheidet dann darüber, ob das in ihn investierte Vertrauen bei der nächsten Wahl erneuert oder entzogen wird. Auch diese Reduktion der Komplexität gründet also auf dem Prinzip der Vorläufigkeit. Das dem Mandatsträger übertragene Vertrauen ist zeitlich begrenzt. Der gewählte Kandidat hat so also tatsächlich die Chance, erfolgreich zu sein, denn die zeitliche Begrenzung des ihm von seiner Gefolgschaft erwiesenen Vertrauensaktes stärkt seine Motivation. Kehren wir zum Auslöser dieser Reflexionen zurück, zu unserem Jubilar Bernhard Vogel, der die Unverzichtbarkeit von Vertrauensbeziehungen zwischen Wählern und Gewählten in der modernen Demokratie nicht nur zur Reduktion ihrer Komplexität, sondern auch als unentbehrlichen Sozialkitt 8 freiheitlicher Gesellschaften früher und besser verstanden hat als viele andere: Dass es ihm gelungen ist, so viele Jahrzehnte von seinen unterschiedlichen Gefolgschaften in Wahlämtern und Regierungsfunktionen immer wieder bestätigt zu werden und auch noch danach seine Präsenz in der Öffentlichkeit aufrechtzuerhalten, verdankt sich dem von Wahl zu Wahl angehäuften Schatz an Vertrauen, das er sich durch seine politische Kommunikation erworben hat. Ihm ist der Nachweis gelungen, dass dauerhafte politische Führung nicht Basta-Entscheidungen oder andere Methoden der Polarisierung verlangen, sondern die mühselige und beharrliche Arbeit an Konsens und Kompromiss, die in der freiheitlichen Demokratie eine eigene Würde beanspruchen können. Daher reicht auch sein Ansehen

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weit über die Grenzen seiner Partei hinaus, ohne dass begründbare Zweifel an seiner Loyalität zu seiner Partei hätten entstehen können. Allerdings kann sein dauerhafter Erfolg so allein nicht erklärt werden. Vielmehr verbindet sich seine Konsens- und Kompromissorientierung mit einer Konfliktbereitschaft und Entscheidungskraft im Grundsätzlichen, das in der christlichen Weltverantwortung verankert ist. Beides zusammen verleiht dem gelernten Politikwissenschaftler und erfahrungsgesättigten Politiker jenes unverwechselbare politische und intellektuelle Profil, mit dem er seit den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts den politischen Diskurs in unserem Lande mitbestimmt. Dass er diesen Dienst an unserer politischen Kultur noch lange erbringen kann, das wünschen sich nicht nur seine Freunde, sondern auch manche seiner Gegner.

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Civitas. Widmungen für Bernhard Vogel zum 60. Geburtstag. Hg. von Peter Haungs, Karl-Martin Grass, Hans Maier und Hans-Joachim Veen (Studien zur Politik 19). Paderborn 1992. Vgl. z. B. Bernhard Vogel: Wieviel Vertrauen braucht das demokratische Gemeinweisen? Festrede anlässlich des 20jährigen Bestehens des Landesverbandes Freier Berufe Thüringen e. V., Weimar 20. Mai 2011, Manuskript. Georg Simmel: Über sociale Differenzierung, Leipzig 1890. Vgl. hierzu z. B. Charles Taylor: Quellen des Selbst – Die Entstehung neuzeitlicher Identität. Frankfurt / Main 1996, und Martin Hartmann: Die Praxis des Vertrauens. Frankfurt / Main 2011. Niklas Luhmann: Vertrauen. 4. Aufl. Stuttgart 2000, S. 27f. Guy Kirsch: Neue politische Ökonomie. 5. Aufl. Stuttgart 2004, S. 125. Luhmann, S. 29. Hermann Lübbe: Erfahrungen von Orientierungskrisen in modernen Gesellschaften, in: Werner Weidenfeld / Dirk Rumberg (Hg.): Orientierungsverlust – Zur Bindungskrise der modernen Gesellschaft. Gütersloh 1994, S. 15.

„Ein Jurist muss sein.“ (Bernhard Vogel) Roman Herzog Woher der Satz stammt, der über meinem Beitrag zur Festschrift für Bernhard Vogel steht, weiß ich nicht, und noch viel weniger weiß ich, was er bedeuten soll. Allerdings ist mir von den Herausgebern mitgeteilt worden, dass ihn der Jubilar, dessen achtzigsten Geburtstag wir feiern, des Öfteren verwendet habe, und da mir die Herausgeber als redliche, der Wahrheit verpflichtete Menschen bekannt sind, zögere ich nicht zu glauben, dass Bernhard Vogel, obwohl selbst nicht Jurist, mehrfach der Überzeugung Ausdruck verliehen hat, ein Jurist müsse (eben?) sein. Kryptisch bleiben nach wie vor Inhalt und Sinn des Satzes. Dafür gibt es allerdings einen gewichtigen Grund. Er macht einen durch und durch amputierten Eindruck, es fehlt ihm mehr an Objektiven und Adverbien als antiken Statuen an Gliedmaßen. Streng sprachlich genommen sagt er nur aus, dass es auf der ganzen Welt (nur) einen einzigen Juristen geben müsse. Alles andere bleibt offen: woher dieser Jurist kommen soll, wofür er zuständig und wozu er gar gut sein soll und nicht zuletzt, was die Folgen wären, wenn er dann doch nicht Realität würde. Man sieht, schon hier gibt es Rätsel über Rätsel. Nun kennen wir Bernhard Vogel aber alle als einen Mann von unbedingtem Wirklichkeitssinn. Wenn er so einen Satz prägt, muss sich in oder wenigstens hinter diesem ein Sinn verbergen, dem nachzuspüren sich lohnt. Aber hier gibt es gewisse Grenzen. So kann man den Satz nicht einfach um ein Wort vermehren, und sei es noch so klein. Freilich, wenn es hieße: „Ein Jurist muss es sein“, könnte man sich Situationen vorstellen, in denen das Sinn hätte – von der Diskussion über die Besetzung einer Beamtenstelle bis zum Rat einer besorgten Mutter über die „Gattenwahl“ ihrer Tochter. Beide Male gäbe unser Satz einen guten, einleuchtenden Sinn, aber beide Deutungen haben eben auch ein durchschlagendes Argument gegen sich: Bernhard Vogel hat nicht gesagt: „Ein Jurist muss es sein“, sondern er hat sich mit einem fast monumentalen „Ein Jurist muss sein“ begnügt. So geht es also nicht. Wenn man aber einmal so weit ist, auf die Präzision Vogelscher Ausdrucksweise zu rekurrieren, liegt es zumindest nicht fern, auch noch andere von seinen Charaktereigenschaften zu bemühen – vielleicht fällt ja von da aus Licht auf unseren Satz. Ich sehe hier vor allem zwei solche Eigenschaften: Erstens: Bernhard Vogel hat Zeit seines Lebens, neben vielem anderem, der hohen Kunst des ironischen Aperçus Tribut gezollt. Das legt den Schluss zumindest nahe, er habe über Juristen (oder die Juristen?) etwas Ironisches sagen wollen.

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Und zweitens: Bernhard Vogel ist Politologe und zwar aus einer Zeit, in der es wirklich noch ausgedehnte Stammesfehden zwischen Juristen und Politologen gab. Vielleicht ist sein Satz also der Nachhall längst verklungener Heldenmythen? So etwa in der Art von Wilhelm Busch: „Mit dem Löffel groß und schwer geht es über Spitzen (= Juristen) her“? Denkbar wäre es, und an der Realität ginge es auch nicht vollständig vorbei. Wer verantwortungsvolle politische Ämter auszufüllen hat und dabei mit Juristen arbeiten muss, der lernt sehr rasch, dass sie sich, was ihre Herangehensweise an praktische Fragen betrifft, in zwei grundverschiedene Rassen einordnen lassen. Entscheidend ist offenbar der Blickwinkel, aus dem sie an ein durchzuführendes Gesetz herangehen. Ich will es etwas überspitzt sagen: Die einen fragen: Was verbietet das Gesetz? Die anderen dagegen: Was lässt das Gesetz zu? Für den Laien mag es schwer vorstellbar sein, dass diese beiden Arten des Herangehens an Gesetze zu unterschiedlichen Ergebnissen führen sollen. Das Gesetz, so wird er sagen, ist bei richtiger Auslegung ein rocher de bronze, dessen Auslegung und Anwendung nicht vom Temperament seines Vollziehers abhängen kann. Aber das ist gerade der große Irrtum, dem nach wie vor viele Juristen anhängen. Kein Gesetz ist ein Bronzeblock von feststehendem Inhalt, jedes verlangt Auslegung und lässt dabei immer mehrere Auslegungen zu; denn keine sprachliche Ausdrucksweise ist je so scharf konturiert, dass sie völlig klar und eindeutig wäre. Das hängt nicht nur mit den Formelkompromissen zusammen, die jeder Gesetzgeber immer wieder eingehen muss. Der Grund liegt viel tiefer. Die Zahl von Gedanken, die sich auch ein moderner Gesetzgeber zu jedem beliebigen Problem machen kann, die Zahl der „Begriffe“ also, ist fast unendlich, die Zahl der Worte, die es in einer Sprache gibt, ist aber begrenzt, und das heißt, dass jedes Wort für mehrere, oft sogar viele „Begriffe“ herhalten muss. Deswegen ist Auslegung nötig und deswegen das Ergebnis der Auslegung auch von Charakter, Temperament und Überzeugung des Auslegers abhängig. Wer etwas anderes behauptet, eröffnet nur den Gesetzesanwendern die Ausrede, sie hafteten nicht auch für das Ergebnis, daran sei einzig und allein der Gesetzgeber schuld. Und solche Juristen verdienen den „Löffel groß und schwer“. Da hat unser Jubilar schon recht. Die Sicht der Dinge, die hier in aller Kürze und Ungenauigkeit vertreten wird, hätte noch viele andere Konsequenzen, für Politiker und Ministerialbeamte, für Richter und Anwälte, für die einzelnen Bürger und ihre Streithanseleien; denn bei Licht betrachtet sind wir Deutschen in vielen Beziehungen ein wenig großzügiges, eher zu Fliegenbeinzählereien neigendes Volk. Aber das sei künftigen Festschriftbeiträgen vorbehalten. Bernhard Vogel hat ja – hoffentlich – noch viele „runde“ Geburtstage vor sich.

„Gegen erklärte Feinde muss die Verfassung verteidigt werden, das ist patriotische Pflicht.“ (Dolf Sternberger) Horst Möller „Die Bundesregierung … ist … unbedingt entschlossen, aus der Vergangenheit die nötigen Lehren gegenüber allen denjenigen zu ziehen, die an der Existenz unseres Staates rütteln, mögen sie nun zum Rechtsradikalismus oder zum Linksradikalismus zu rechnen sein.“ Dieser programmatischen Erklärung Konrad Adenauers in seiner ersten Regierungserklärung als Bundeskanzler am 20. September 1949 applaudierten die Abgeordneten des 1. Deutschen Bundestags mit einer Ausnahme: Als das Wort ‚Linksradikalismus‘ fiel, vermerkte das Protokoll: „Lachen und Zurufe der KPD“. Adenauers Erklärung hat ebenso wie das berühmte Wort Dolf Sternbergers vom ‚Verfassungspatriotismus‘ seinen historischen Ort und zugleich einen dauernden Geltungsanspruch für die Zukunft. Vor 1945 hätte Konrad Adenauer – darin übrigens mit Kurt Schumacher einig, der die Kommunisten als „rotlackierte Faschisten“ bezeichnete – den Antitotalitarismus nicht so formuliert und Dolf Sternberger nicht Patriotismus auf die Verfassung bezogen. Den Schutz der Verfassung als Verfassungsgrundsatz zu verankern, bedurfte der Erfahrung des Scheiterns der Weimarer Republik. Wenngleich ihr Untergang nicht monokausal erklärbar ist, sondern vielfältige Ursachen hatte, zählte doch die Feindschaft der extremen Rechten und der extremen Linken gegen die demokratische Verfassungsordnung dazu. Sie waren nicht politische Gegner der Republik, die um den richtigen politischen Weg rangen, sondern ihre Feinde. In der Freund-Feind-Ideologie Carl Schmitts werden politische Gegner nicht bekämpft, sondern als Feinde vernichtet. Und die Extremisten aller Richtungen waren sich in einem einig: Sie wollten die Demokratie um jeden Preis vernichten, vor gemeinsamen Aktionen gegen sie schreckten sie deshalb nicht zurück, obwohl sie sich selbst untereinander als Todfeinde begriffen. Am Ende der Republik bildeten NSDAP und KPD 1932/33 eine zwar zu konstruktiver Politik unfähige, aber zur Zerstörung ausreichende obstruktive Mehrheit gegen die Demokraten. Wer die grauenhaften Folgen des Scheiterns der Demokratie 1933 vor Augen hatte, musste sich nach 1945 die Frage nach ihren Ursachen stellen, musste eine Verfassungsordnung schaffen, die nicht allein in ihrem Institutionengefüge und Wahlrecht stabiler war als die Weimarer Verfassung, sondern auch die Verteidigung der Verfassungsordnung als essentiell ansehen. Das Konzept der „wehrhaften Demokratie“ bildete das Ergebnis. Die Mitglieder des Verfassungskonvents von Herrenchiemsee 1948 und die Abgeordneten des Parlamentarischen

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Rates 1948/49 haben – wie das nur selten verfassunggebenden Versammlungen gelungen ist – aus der Geschichte gelernt. Die Trias – Scheitern der Weimarer Demokratie, nationalsozialistische Diktatur, Wiederaufbau der Demokratie nach 1945 bzw. 1949, zunächst in Westdeutschland, dann mit der Wiedervereinigung seit 1990 in ganz Deutschland – bildet das bis heute unverzichtbare politische Lehrstück. Die Schlüsselrolle bildete der seit Mitte der 1960er Jahre mit abnehmender historischer Erfahrung fahrlässig bespöttelte anti-totalitäre Grundkonsens aller demokratischen Parteien in einer Generation, die nicht mehr persönlich erfahren und erlitten hatte, was der Verlust der Freiheit in totalitären Regimen bedeutet. Und jenseits aller ideologischen Unterschiede von Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus bleibt die Erfahrung: Sie alle haben Menschenrechte missachtet, ihre jeweiligen Massenverbrechen ideologisch zu legitimieren versucht und den Tätern damit auch noch ein gutes Gewissen verschafft. Wer Menschen- und Bürgerrechte verteidigt, muss sie unter allen Bedingungen als unteilbar ansehen und zwangsläufig anti-totalitär sein. Das Postulat des Grundgesetzes „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ wurzelt deswegen nicht nur in christlicher Ethik, sondern zugleich in politischer Erfahrung des 20. Jahrhunderts, die zur Fortsetzung des Satzes der Präambel führt: „Sie (die Würde des Menschen) zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Die Staatsräson und das notwendige staatliche Gewaltmonopol werden damit ethisch definiert. Dolf Sternbergers „Verfassungspatriotismus“ – die einschlägigen Texte hat sein akademischer Schüler und Mitarbeiter Bernhard Vogel mit anderen 1990 herausgegeben – hat aber einen weiteren historischen Bezugspunkt: Der fatale Irrweg vieler Staaten im 20. Jahrhundert, insbesondere Deutschlands nach 1933, war stets auch ein nationalistischer Irrweg. Auch diese historische Erfahrung bewirkte bei Sternberger die Lösung des Begriffs Patriotismus vom Nationalismus – was zugleich die Wiederherstellung seiner vor-nationalen Dimension bedeutete – und sodann die Verbindung mit der Verfassung, genauer der freiheitlichen Verfassung und rechtsstaatlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland. Die Befreiung von nationaler Verengung verband die Verfassungsordnung mit verwandten westlichen Demokratien, sie öffnete über die zugrunde liegende politische Ethik den Weg nach Europa. Sternberger beurteilte das Nationalbewusstsein in Deutschland nach 1945 als „verwundet“ und deshalb als nunmehr ungeeignet zur politischen Identitätsbildung. In der Bundesrepublik Deutschland, die bis 1990 ein Teilstaat war und schon deshalb kein Nationalstaat sein durfte, fiel die im Grundgesetz (Art. 24) angelegte und von den Regierungen Konrad Adenauers konsequent betriebene Westorientierung naturgemäß leichter als beispielsweise in stabilen Nationalstaaten wie Frankreich, weil die Bundesrepublik in den 1950er Jahren zum Teil auf Souveränitätsrechte verzichtete, die sie noch gar nicht besaß. Doch ändert diese

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spezifische deutsche Situation nichts an der folgenreichen Richtigkeit dieser (während des Kalten Krieges zunächst west)europäischen Integration. Diese Lehre aus der Geschichte gilt es künftig zu bewahren, auch in dieser Beziehung wird es immer schwerer, heutigen Generationen, für die Frieden und Rechtssicherheit – nicht selbst erkämpfte – Selbstverständlichkeiten sind, die weiterhin zwingenden historischen Gründe für eine nachhaltige europäische Integrationspolitik zu vermitteln, will man eine Renationalisierung in Europa verhindern. Wie der Rechtsstaat im Innern, so ist auch die Europäische Union Friedensordnung. Der historische Kontext erklärt die Entstehung von Sternbergers Postulat und Adenauers Ziel, doch gelten heute nicht andere Maßstäbe? In saturierten Gesellschaften besteht die fortwährende Gefahr, verfassungsrechtliche und ökonomische Errungenschaften als naturgegeben anzusehen, und nicht als das, was sie tatsächlich sind: revozierbare Ergebnisse der historischen Entwicklung und historischer Entscheidungen. Die Verfassungsgeschichte kennt neben formalen Anpassungen auch einen stillen Verfassungswandel, kennt das Problem einer scheinbar stabilen Ordnung und den Verlust ihrer gesellschaftlichen Basis. Sollen Verfassungsordnungen dauerhaft sein, so müssen sie sich ständig bewähren, müssen die anstehenden Probleme in ihrem Rahmen lösbar sein und als erfolgreich perzipiert werden, in Demokratien stärker als in allen anderen politischen Herrschaftsformen. Anders gesagt: Eine Demokratie braucht Demokraten. Es reicht deshalb nicht, allein die erklärten Feinde der Demokratie zu bekämpfen, vielmehr müssen die grundlegenden Prinzipien der Verfassungsordnung offensiv verteidigt werden. Was in den beiden ersten Jahrzehnten undenkbar schien, wurde in den 1970er und noch in den 1980er Jahren Realität, der mörderische Terrorismus der RAF bedrohte Repräsentanten von Staat, Justiz, Gesellschaft und Wirtschaft der Bundesrepublik. Er bedrohte sie, nachdem über Jahre hinweg eine ideelle und politische Delegitimierung der Bundesrepublik durch neomarxistische Kritik betrieben worden war. Sie stellte die Demokratie und Rechtsordnung als ‚bloß formal“ hin, die Toleranz paradoxerweise als „repressiv“, propagierte zunächst „Gewalt gegen Sachen“, bevor sie bald zur Gewalt gegen Personen wurde. Jürgen Habermas räsonierte über „Legitimationsprobleme des Spätkapitalismus“ – die nur wenige Jahre später das Ende der kommunistischen Diktaturen einläutenden Legitimationsprobleme des Spätmarxismus aber fanden keine Beachtung. Dolf Sternberger, 1976 bis 1984 Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Instituts für Zeitgeschichte, regte dort schon um 1980 die Erforschung des Terrorismus an. Ich war damals Stellvertretender Direktor und erinnere mich gut, dass wir im Institut die Zeit für eine wissenschaftliche Analyse noch nicht reif fanden. Doch ging es Sternberger weniger um eine geschichtswissenschaftliche Untersuchung, sondern die Erfassung eines die Demokratie bedrohenden Prozesses, um durch Erforschung ihrer Ursachen Prophylaxe betreiben zu können. Mehr als 25 Jahre später habe ich dann als Direktor dieses Instituts ein großes,

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mehrere Demokratien (Bundesrepublik Deutschland, Italien und Frankreich) vergleichendes Forschungsprojekt zum Thema „Staat und terroristische Herausforderung“ durchführen lassen – die Eule der Minerva beginnt eben erst in der Dämmerung ihren Flug, nun aber zu einem Zeitpunkt, in dem der Terrorismus zu einer Form der Kriegführung geworden ist, wie der Terroranschlag vom 11. September 2001 zeigte, der alle bisherigen terroristischen Anschläge in den Schatten stellte. Doch muss eine demokratische Verfassungsordnung nicht allein gegen sichtbare Feinde verteidigt werden. Es ist seit der Weimarer Republik eine unübersehbare Erfahrung, dass dem Untergang die permanente Systemkritik vorausgeht, die eine Krise beschwört. Der Terror der RAF kostete in der Bundesrepublik zahlreiche Opfer, konnte aber die tatsächlich wehrhafte Demokratie nicht wirklich beschädigen, nicht zuletzt deshalb, weil die politisch Verantwortlichen – Regierung und Opposition – die Wertordnung des Grundgesetzes offensiv verteidigten und die überwältigende Mehrheit der Bürger sie anerkannte. Und 1989/90 erwies sich diese Verfassungsordnung wiederum als so stark, dass auf ihrer Grundlage die Wiedervereinigung gemeistert werden konnte – zum Glück gemäß Artikel 23. Neben der entschiedenen, nicht allein juristischen, sondern auch politischen und ideologischen Bekämpfung des Extremismus – derzeit besonders des Neonazismus – geht es heute verstärkt darum, die fundamentalen Prinzipien der Verfassungsordnung nachwachsenden Generationen verständlich zu machen. Die schwindende Wahlbeteiligung, der steigende Anteil an inhaltlich diffusen Protestwählern, die Wahl von Parteien oder Gruppen, die sich selbst als unpolitisch verstehen und als „Anti- Parteien“ wahrgenommen und gerade deshalb gewählt werden, die irrige Annahme, Plebiszite seien zur Lösung komplizierter politischer Probleme besser geeignet als parlamentarische Beratungen – all diese Tendenzen stellen Probleme allerersten Ranges dar. Ähnliche Entwicklungen hat es auch in der Weimarer Republik gegeben. Zu Recht richtete sich die Formulierung des Grundgesetzes gegen die „Parteienprüderie“ (Gustav Radbruch) der Weimarer Republik: „Parteien wirken an der politischen Willensbildung des Volkes mit“, heißt es im Artikel 21 des Grundgesetzes. Es steht dort nicht: Sie laufen den Demoskopen hinterher. Heute geht es nicht mehr allein um „erklärte Feinde der Verfassung“, sondern um das mangelnde Verständnis der Funktionsmechanismen und des Institutionengefüges einer repräsentativen parteienstaatlichen Demokratie. Der erste Bundespräsident Theodor Heuss, ein politischer Gelehrter und gelehrter Politiker, der die Mängel der Weimarer Verfassung erlebt hatte, bemerkte einmal: Demokratie ohne Parteien sei wie ein Rauchklub ohne Zigarren – leicht vorstellbar, welch Horror diese Vorstellung für den passionierten Zigarrenraucher Heuss gewesen sein muss. Recht hatte er jedenfalls, auch wenn der Vergleich heute politisch unkorrekt wirken mag.

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Parteien zu erforschen war nicht nur ein Anliegen des großen Gelehrten und Publizisten Dolf Sternberger, sondern seines Heidelberger Forschungsteams, in dem Bernhard Vogel eine wichtige Rolle spielte: Als junger Wissenschaftler hat er Wahlen und Wahlsysteme, Parteien und Verfassungsfragen analysiert, später in zahlreichen Vorträgen wie auch als langjähriger Kultusminister und als Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung engagierte er sich schließlich mit großer Energie für die politische Bildung und die europäische Verständigung. Vor allem aber hat er – auch als der einzige Ministerpräsident, der in zwei Bundesländern wirkte – die Vita contemplativa mit der Vita activa verbunden: Er fördert seit Jahrzehnten wie nur wenige das Ansehen demokratischer Politik, indem er in sehr hohen politischen Ämtern beispielhaft Verfassungspatriotismus vorlebt.

„Eine Koalition ist dann erfolgreich, wenn beiden das Land wichtiger ist als die eigene Partei.“ (Bernhard Vogel) Gerd Schuchardt Diese Aussage Bernhard Vogels stammt aus seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des Thüringer Verdienstordens im Jahre 2005. Dabei schaute er auf seine eigenen Erfahrungen, u. a. mit zwei Thüringer Koalitionen (eine CDU / FDP- und eine große Koalition) sowie auf eine CDU -Alleinregierung zurück, aber es gab auch einen höchst aktuellen Anlass. Nach der vorgezogenen Bundestagswahl zeichnete sich in Berlin die große Koalition ab, und dabei wurden Erinnerungen wach an die große Koalition in Thüringen 1994 bis 1999. Er fügte hinzu: „Ich habe die Erfahrung gemacht: Koalitionen gelingen dann – und das heißt, sie sind für das Gemeinwesen dann von Nutzen, wenn beide Partner ihren Erfolg wollen, wenn beide Partner sich gegenseitig respektieren, wenn keiner den anderen überfordert, wenn jede Seite ihre Personalentscheidungen selbst trifft …, dass dies zum Respekt voreinander gehört.“ Bernhard Vogel kam 1992 nach Thüringen, um eine unter dem damaligen Ministerpräsidenten Duchač auseinanderfallende Regierung zu übernehmen, zu stabilisieren und Thüringen aus den Negativ-Schlagzeilen zu bringen. Er ging damals seinem 60. Geburtstag entgegen und nahm also in einem Alter, in dem es viele so nach und nach ruhiger angehen lassen, eine große Herausforderung an. Nach seiner Vereidigung sagte er: „Ich weiß, dass mir eine große Verantwortung auferlegt ist … Diese Verantwortung ist kein Anspruch, sondern diese Verantwortung wird ein Dienst sein.“ Und danach handelte er. Es war im wahrsten Sinne des Wortes Knochenarbeit zu leisten. Personelle, rechtliche und strukturelle Voraussetzungen für das Funktionieren der Institutionen des Landes waren zu schaffen und dabei die Thüringer bei der Bewältigung der großen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und sozialen Umbrüche „mitzunehmen“. Zu den Aufgaben der Zeit 1992 bis 1994 gehörte auch die Erarbeitung einer Verfassung für einen Freistaat Thüringen. Hierbei erlebte ich erstmals persönlich, dass es mit Bernhard Vogel sehr gut möglich war, im Interesse eines guten Ergebnisses zu analysieren, abzuwägen und den Kompromiss zu suchen. Wenn in der parlamentarischen Arbeit dabei die Verhandlungen total festgefahren waren, dann haben sich Bernhard Vogel und ich, damals Oppositionsführer im Thüringer Landtag, zusammengesetzt und letztlich immer eine einvernehmliche Lösung gefunden. So konnte die Verfassung im Oktober 1993 mit großer Mehrheit von CDU, SPD und FDP auf der Wartburg feierlich verabschiedet werden. Ich erwähne dies, weil dieses Erlebnis

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und das folgende für die späteren Koalitionsverhandlungen 1994 eine wichtige Vertrauensgrundlage bildeten. Im Juni 1994 war der chinesische Ministerpräsident Li Peng zum Besuch in Weimar, begleitet von Bernhard Vogel. Für viele Menschen hier war Li Peng als Verantwortlicher für das Massaker auf dem Platz des „Himmlischen Friedens“ nicht willkommen, sondern eine Zumutung. Entsprechend heftig und emotional waren unsere Proteste, zumal 1989 die „chinesische Lösung“ wie ein Damoklesschwert über der friedlichen Revolution schwebte. Li Peng drohte mit dem Abbruch seines Staatsbesuches, wenn Bernhard Vogel nicht mit Polizeigewalt den Platz räumen ließe. Die Situation endete mit einem Eklat und der Abreise Li Pengs, denn für Bernhard Vogel hatten die demokratischen Rechte der Demonstranten (dabei war ich selbst) und der Respekt vor den in uns noch sehr lebendigen Erinnerungen an Diktatur und Gewalt absoluten Vorrang vor dem Ansinnen seines Staatsgastes. Es war eine außerordentlich schwierige Situation für Bernhard Vogel, aber er entschied ganz klar als Demokrat und zuverlässiger Repräsentant eines Rechtsstaates. Dieses Verhalten, das daraus erwachsene Vertrauen, erlangte dann im gleichen Jahr nach der Landtagswahl besondere Bedeutung. Vor der Thüringer SPD, die ich zu dieser Zeit als Spitzenkandidat und dann auch als Landesvorsitzender repräsentierte, stand die Frage, wie mit dem Ergebnis dieser Wahl umzugehen sei. Es gab die ganz reale numerische Konstellation, mich mit den Stimmen der PDS für eine Koalition mit dieser zum Ministerpräsidenten wählen zu lassen. Dass eine solche Option durch mich und trotz z. T. erheblicher parteiinterner Auseinandersetzungen in der SPD nicht verfolgt wurde, hatte entscheidend mit der Frage zu tun, was ist angesichts der entstandenen Situation für das Land das Beste, wie lauteten die Aussagen im vorausgegangenen Wahlkampf und natürlich auch mit der Einschätzung des Funktionierens einer großen Koalition und somit mit der Person Bernhard Vogels. In den Sondierungsgesprächen zwischen CDU und SPD verfestigte sich der Eindruck, dass die Koalition zwischen beiden zum Wohle des Landes sein würde und wir in Koalitionsverhandlungen eintreten. Als Verhandlungsführer der SPD-Seite habe ich zu keiner Zeit beim nachfolgenden Ringen in den Verhandlungen die Möglichkeit einer Alternative mit der PDS ins Spiel gebracht, zum einen weil für mich nach noch nicht einmal fünf Jahren seit der friedlichen Revolution ein Pakt mit den SED-Nachfolgern undenkbar war. Aber auch, weil ein solches Drohpotential von vornherein den Vorsatz beider Seiten, das Beste für das Land zu gestalten, belastet und somit auch Vertrauen beschädigt hätte. In den Koalitionsverhandlungen lotete dann Bernhard Vogel mit seiner Erfahrung, mit Geschick und oft auch mit Humor die Grenzen aus, wozu eine kleine Episode als Beispiel dienen möge – nicht ganz ernst zu nehmen, aber doch irgendwie bezeichnend. Da die Verhandlungen im Gästehaus der Landesregierung, also auf Vogel-Terrain stattfanden, verlangte ich als Gegenleistung seitens der SPD (alle drei Verhandlungsführer waren wir Nichtraucher) ein striktes

Eine erfolgreiche Koalition

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Rauchverbot im Verhandlungsraum – was vom passionierten Zigarrenraucher Vogel murrend akzeptiert werden musste. Damals waren wir Nichtraucher im öffentlichen Raum noch nicht so grundsätzlich geschützt, wie dies heute der Fall ist. Jedoch: Am zweiten Verhandlungstag kommt Bernhard Vogel nach einer Pause strahlend mit einer extra langen Zigarre wieder an den Verhandlungstisch und behauptet angesichts sofortiger Proteste, angefangene Zigarren dürften – natürlich – zu Ende geraucht werden. Nun, die Koalitionsverhandlungen scheiterten nicht daran, aber es wurde fortan dabei auch nicht mehr geraucht, auch keine in der Pause angerauchten Zigarren. Anhand des geschlossenen Koalitionsvertrages leisteten wir unsere Arbeit für das Land über die volle Legislaturperiode von fünf Jahren. Ich hatte dabei immer das Gefühl, dass Bernhard Vogel seine Arbeit nicht nur mit großem Engagement und Sachkunde, sondern auch mit Freude bewältigte. Dabei half ihm auch seine beeindruckende Kondition. Oft konnte ich erleben, dass während nächtelanger Koalitionssitzungen so manchem viel jüngeren Teilnehmer die Augenlider schwer wurden und diese sich hin und wieder eine Abschaltpause gönnten. Anders Bernhard Vogel, der von Anfang bis Ende voll konzentriert, bei Finanzdingen bis auf die letzte Mark, beim Ringen um parteipolitisches Terrain um jeden Zentimeter und bei der Auslegung des Koalitionsvertrages um jede Nuance kämpfte. Wenn ich hier den Begriff „parteipolitisches Terrain“ gebrauche, dann ist dies m. E. kein Indiz dafür, dass vom Grundsatz der Priorität des Landesnutzens vom einen oder anderen Partner abgewichen wurde. Es liegt nun einmal in der Natur der Dinge, dass verschiedene Parteien unterschiedliche Sichtweisen darauf haben können, was denn nun das Beste und das Richtige für ein Land oder aber auch für eine Kommune oder den Bund sei. Ich gehe auch soweit zu sagen, dass mir kaum eine demokratische Partei bekannt ist, die nicht ihr Parteiprogramm als die beste Handlungsanleitung für die Gestaltung des Gemeinwesens ansieht. Insoweit relativiert sich die Gegenüberstellung von Nutzen für das Land einerseits und Position einer Partei in Sachfragen andererseits durchaus, je nach Standpunkt des Betrachters. Etwas anders ist es natürlich bei der Frage von Machtverhältnissen. Damals, und das gilt bis heute, haben Bernhard Vogel und ich in der durch das Wahlergebnis entstandenen Situation die große Koalition in Thüringen als die beste Lösung für das Land gesehen. Und wir haben beide danach gehandelt, zum Teil eben auch in Auseinandersetzung mit Kräften der eigenen Partei. So musste Bernhard Vogel wohl manchmal den Heißspornen in Partei und Fraktion klarmachen, dass trotz einer Relation der Landtagsmandate von 42:29 zugunsten der Union ein Miteinander mit der SPD nur auf gleicher Augenhöhe möglich war. Denn ohne den anderen gab es eben keine Mehrheit im Landtag und somit keine Regierungsmöglichkeit. Und das bedeutete eben auch wechselseitig, so manche „Kröte zu schlucken“.

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Diese Situation ist für die Verantwortlichen oft nicht einfach, denn Fraktionen und hinter ihnen die Parteibasis erwarten Eigenständigkeit und „Profil“, letzteres oft auch nachdrücklich von manchen Medien eingefordert. Denn natürlich berichten diese lieber über Spannungen und Auseinandersetzungen in einer Koalition als über gut verhandeltes und abgewogenes Regierungshandeln. In dieser Situation können dann einzelne Akteure der Versuchung nicht widerstehen, ihre eigenen Interessen zu verfolgen und im Hinblick auf erhoffte Resonanz in Medien und in dessen Folge in der eigenen Partei ihre Position zu verbessern und im speziellen Fall auch an die Spitze zu drängeln. Die so erreichten scheinbaren parteipolitischen Gewinne können sich dann sehr schnell in ihr Gegenteil verkehren, wenn spätestens zur nächsten Wahl klar wird, dass die Bürger doch ein gutes Gespür dafür haben, was zum Nutzen des Landes ist und wo sich andererseits vordergründiges Spektakel abgespielt hat. In einem Interview vom 19. Mai 2011 in der „Thüringer Allgemeinen“ sagte Bernhard Vogel dazu: „Ich kann verstehen, wenn Abgeordnete da und dort die eigene Handschrift vermissen, zumal sie oft die Stimme der Basis sind,“ und „Ich habe in den 1990er Jahren meine Erfahrung mit dem Innenminister und späteren SPD-Landeschef Dewes gemacht. Der uns immer wieder durch Eigenmächtigkeiten in neue Krisensituationen führte. Er hat dann am Schluss selbst die Rechnung bezahlt, als die SPD 1999 in die Opposition musste. Die Koalition war trotzdem ein Erfolg, weil die Zusammenarbeit mit dem Sozialdemokratischen Vize-Ministerpräsidenten Schuchardt und mir hervorragend funktionierte.“ Koalitionäre sind also gut beraten, wenn aus ihrem Handeln ganz deutlich wird, dass die Interessen des Landes für sie an erster Stelle stehen, so wie dieses Bernhard Vogel in Thüringen verdienstvoll vorgelebt hat. Dafür gebührt ihm besonderer Dank. Im Wahlkampf 1994 wurde für mich als SPD -Spitzenkandidat plakatiert „Einer von uns“ in Abgrenzung zu Bernhard Vogel, der ja aus Rheinland-Pfalz kam. Heute wiederhole ich gern, was ich in einer Würdigung in der „Thüringischen Landeszeitung“ am 19. Dezember 2002, also zu seinem 70. Geburtstag, gesagt habe: „Herr Vogel, Sie sind heute für mich ein Thüringer.“

„Große Selbständigkeit, große Selbstverantwortung, ein hohes Berufsethos sind notwendig, um den Beruf des Journalisten als Berufung erfüllen zu können. Nur sein Gewissen und allenfalls die Leserschaft kontrollieren ihn.“ (Bernhard Vogel) Dieter Stolte Der im März 2011 erklärte Rücktritt von Karl-Theodor zu Guttenberg vom Amt des Bundesministers der Verteidigung und die im Februar 2012 erfolgte Amtsniederlegung von Christian Wulff als Bundespräsident haben Rolle und Funktion der Medien in unserer Gesellschaft erneut ins Blickfeld gerückt. In beiden Fällen, vor allem im Falle des Bundespräsidenten, war den Medien – nicht zuletzt wegen der sonst auf Abstand voneinander bedachten Presseorgane „Bild“ und „Spiegel“ – ein doloses Zusammenspiel unterstellt worden, das den Sturz von Christian Wulff herbeigeführt, auf jeden Fall beschleunigt habe. Von Kampagnenjournalismus war die Rede, von einer Unverhältnismäßigkeit in der Darstellung von bekannt gewordenen, beziehungsweise vermuteten Verfehlungen. Die Intensität der journalistischen Berichterstattung, in den Talkshows und Abendnachrichten von ARD und ZDF, häufig vom Pathos moralischer Entrüstung begleitet, war so aggressiv, dass der Eindruck entstehen konnte, die Medien wollten sich neben den drei demokratisch legitimierten Gewalten (Legislative, Exekutive und Judikative) nun endgültig als Vierte Gewalt positionieren. Sie nahmen in beiden Fällen den richterlichen Schuldspruch vor Einleitung eines rechtlichen Verfahrens vorweg. Sie setzten sich an die Stelle der Judikative. Anspruch und Vorwurf sind so alt wie die Medien selbst; sie haben das Verhältnis von Medien und Politik seit Bestehen der Bundesrepublik begleitet und die großen Affären, wie „Spiegel“-Durchsuchung, Parteispenden-Affäre, Ehrenworte von Politikern (Uwe Barschel) und Stimmenkauf bei Abstimmungen im Bundestag (Julius Steiner), bestimmt. Die aktuellen Vorgänge sind daher ein berechtigter Anlass, die Thematik erneut aufzugreifen und die Belastbarkeit der jeweils eingenommenen Positionen zu überprüfen. Denn obwohl von der „Legalverfassung“ her gesehen kein Spielraum für die Etablierung einer Vierten Gewalt besteht, hat sich in der „Realverfassung“ – so der österreichische Rechtsphilosoph und Publizist René Marcic – eine entsprechende Verhaltensweise via facti herausgebildet. Marcic hatte seine Position in den 1950er Jahren formuliert. Seitdem hat sich aber sowohl in der höchstrichterlichen Rechtsprechung wie auch im praktischen Leben der Gesellschaft viel verändert, beziehungsweise geklärt.

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Zum Einen wurde durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 25.4.1972 festgestellt, dass „die freie geistige Auseinandersetzung ein Lebenselement der freiheitlich demokratischen Ordnung in der Bundesrepublik und für die Ordnung schlechthin konstituierend (ist). Sie beruht entscheidend auf der Meinungs-, Presse- und Informationsfreiheit, die als gleichwertige Garanten selbstständig nebeneinander stehen“. Zum Anderen haben sich neben den Journalisten, als die ausübenden Akteure der Meinungsfreiheit, weitere Personen und Berufsgruppen herausgebildet, die diesen Anspruch ebenfalls aus höherer Einsicht in die Angelegenheiten der res publica de facto für sich in Anspruch nehmen: • die Meinungsforscher, die mit oder ohne Auftrag Dritter unter den Bürgern Umfragen vornehmen und danach zu wissen glauben, was die Menschen zu bestimmten Sachverhalten denken und fühlen, und diese Ergebnisse durch immer neue Untersuchungen zum Ausdruck bringen. Sie treten häufig an die Stelle journalistischer Eigenrecherche. Sie beeinflussen das Meinungsklima der Gesellschaft häufig mehr, als die Analysen und Kommentare der Journalisten. Und wenn nicht, dann leiten die Journalisten ihre Meinung von ihnen ab; • die Lobbyisten, die auf Vertragsbasis als PR-Leute (Öffentlichkeitsarbeiter) für Unternehmen, Verbände und Organisationen unterwegs sind und auf der Basis von Fakten, Daten und Analysen den Anspruch erheben, ebenfalls über höhere Einsichten in den Ablauf politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Geschehens zu verfügen, beziehungsweise in der Lage zu sein, ihre unterschiedlichen Interdependenzen zu erklären. Ohne ihre Aktivitäten (sprich Einflussmaßnahmen) sind Gesetzgebungen im Deutschen Bundestag heute nicht mehr denkbar. Es ist interessant zu beobachten, dass die Grenzen der Berufsausübung zwischen Journalisten und Lobbyisten, beziehungsweise Journalisten und Meinungsforschern in den letzten Jahrzehnten fließend geworden sind. Journalisten verfügen über berufliche Fähigkeiten, die auch in den beiden anderen Handlungsfeldern nützlich sind. Meinungsforscher und Lobbyisten sind aber im Gegensatz zu Journalisten nicht durch das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich legitimiert, an der öffentlichen und freien Meinungsbildung mitzuwirken, sondern erfahren ihre Legitimation und Dignität allenfalls durch ein nachgewiesenes Berufsethos, wie es auch von Medizinern und Juristen bekannt ist; zu erinnern ist an den Hypokratischen Eid und den Amtseid, den Notare vor dem Präsidenten des jeweils zuständigen Landgerichts ablegen müssen. Bedenklich, wenn nicht sogar gefährlich, wird die Situation dann, wenn die fließend gewordenen Grenzen zwischen Journalisten, Meinungsforschern und Lobbyisten nicht mehr erkennen lassen, von wem man womit und warum „bedient“ wird. In solchen Fällen ist der unkontrollierten Beeinflussung von Politik und Gesellschaft Tür und Tor geöffnet. Dabei ist es nicht mehr entscheidend,

Der Beruf des Journalisten als Berufung

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aus welchen guten oder schlechten Gründen sie erfolgt ist, sondern nur, dass sie erfolgt. Eine klare Trennung zwischen den drei Berufsgruppen, beziehungsweise Mandatsträgern, ist daher unverzichtbar. Wenn sie nicht im Rahmen von Compliance-Regeln der Unternehmen selbst erfolgt, sollten sie durch den Gesetzgeber normativ vorgegeben werden. Die Sorge, dass mit einer solchen Vorgehensweise Berufswahl und Berufsausübung eingeschränkt werden, geht ins Leere, denn Klarheit ist immer auch ein Teil der Wahrheit. Zumal wenn man bedenkt, welche Bedeutung Meinungsbildung und Meinungsklima in einer offenen Gesellschaft für alle Entscheidungsprozesse in der Politik (Regierung wie Parlament) haben. Von ihnen sind sowohl die Bürger bei ihren Wahlentscheidungen an der Wahlurne betroffen als auch die Politiker bei Abstimmungen im Parlament. Zur Kritikfunktion der Journalisten gehört neben Sachverstand auch der Abstand zu den Personen, denen ihre kritische Aufmerksamkeit gilt. Die vor allem in demokratischen Gesellschaften zu beobachtende Kumpanei, die sich nicht nur im vertraulichen Umgangston untereinander, sondern auch in ausgelassener Geselligkeit miteinander ausdrückt, ist hierfür ein Beispiel. In autoritären Gesellschaften verbietet sich das von selbst, weil das Prinzip der Parteilichkeit auch von Journalisten absolute Gefolgschaft verlangt. Wird diese nicht eingehalten, dann stellt er sich außerhalb des Systems und ist schnell berufseinschränkenden Maßnahmen oder gar der Freiheitsberaubung ausgesetzt. Ein besonderer Fall ist es, wenn sich Politiker von Journalisten (und ihren Zeitungen) bis in den Privatbereich hinein durch Bildreportagen und GefälligkeitsInterviews begleiten lassen und die so entstandenen Produkte mit der eigentlichen Aufgabe des Politikers nichts mehr zu tun haben. Sie dienen allein der Imagepflege, nicht der Aufklärung. „Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um“, heißt es schon im Alten Testament. Auf eine ebenso zutreffende wie zynisch anmutende Weise hat der Vorstandsvorsitzende der Axel Springer AG, Mathias Döpfner, das auf den Punkt gebracht: Wer mit der „Bild“-Zeitung im Paternoster nach oben fährt, muss sich gefallen lassen, dass er auch mit ihr wieder nach unten kommt. Diese Beschreibung macht deutlich, wie wichtig, ja lebensnotwendig ein respektvoller – auf Abstand bedachter – Umgang miteinander ist. Respekt lässt vertrauliche Gespräche zu, vermeidet aber die Teilhabe an einem Wissen, das aufgrund persönlicher Nähe nicht mehr oder nur noch verklausuliert genutzt werden kann. Noch gefährlicher als die materielle Korruption (die immer ein bewusstes Handeln zwischen mindestens zwei Personen voraussetzt) ist die geistige, die durch falsch verstandene Nähe entsteht. Sie geschieht meist unbewusst und schleichend und ist auch von den Betroffenen selbst nur noch schwer unter Kontrolle zu halten. So sehr sich Meinungsforscher und Lobbyisten im Einzelfall auch ihrer Macht bewusst sein mögen, wie sehr sie sich im konkreten Fall zu Recht auch über einen Erfolg freuen dürfen, der im Interesse des Gemeinwohls erfolgt ist,

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sie taugen nicht als Träger einer wie auch immer ausgestalteten publizistischen Gewalt. Auch nicht als Fünfter Gewalt! Sie sind Dienstleister, die durch kein demokratisches Mandat legitimiert sind, und sie verfügen auch nicht über die Sonderstellung, die das Grundgesetz allein den Medien und den in ihrem Auftrag tätigen Journalisten einräumt. Der Artikel 5 des Grundgesetzes gewährt nur den Journalisten die Sonderstellung eines Freiheitsspielraums, der immer wieder aufs Neue durch vorbildhaftes Verhalten eingelöst werden muss. Dazu gehört nicht nur der Abstand zu den Gegenständen und Personen, über die sie berichten, sondern auch eine angemessene Abgrenzung gegenüber Meinungsforschern und Lobbyisten. Journalisten sind keine Auftragnehmer, sondern Treuhänder der Gesellschaft, die über alle Vorgänge von öffentlichem Interesse wachen. Journalisten sind kritische Beobachter von Vorgängen, die geeignet sind, das friedliche Zusammenleben in der Gesellschaft zu stören, das Vertrauen in die demokratischen Strukturen zu untergraben und das Streben nach sozialer Gerechtigkeit zu unterminieren. Um solchen Anforderungen entsprechen zu können, bedarf es mehr als Talent und Ausbildung, sondern der inneren Berufung. Bernhard Vogel hat im August 2008 in einer Rede vor Lokaljournalisten darauf aufmerksam gemacht und das Gewissen des Einzelnen als die sein Handeln kontrollierende Instanz benannt. In Krisenzeiten kann sie zu einer existentiellen Herausforderung werden. Sie wird, wie die Befreiungsbewegungen in Nordafrika – und anderswo – zeigen, häufig mit dem eigenen Leben bezahlt. Auch wenn ein solches Ende glücklicherweise die Ausnahme ist, es zeigt, wie groß der Zusammenhang zwischen persönlicher Moral und Gemeinwohl ist. Er verdient zu Recht den Schutz der nationalen Verfassungen und internationaler Institutionen.

„Demokratie braucht Demokraten!“ (Friedrich Ebert) Peter Struck Die Geburtsstunde der politischen Stiftungen Die Geschichte der politischen Stiftungen begann mit einem Staatsbegräbnis. Die bittere Erkenntnis, dass es in der Weimarer Republik nicht gelungen war, die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger von den Werten der Demokratie zu überzeugen, fasste Reichspräsident Friedrich Ebert in die berühmten Worte: „Demokratie braucht Demokraten!“ Dieser Ausspruch gilt gewissermaßen als sein politisches Vermächtnis. Dem trug der Parteivorstand der SPD kurz nach dem Tode Friedrich Eberts am 28. Februar 1925 durch Gründung der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES ) am 2. März 1925 Rechnung und bat im Einverständnis mit der Familie, von Kranzspenden abzusehen und die entsprechenden Beträge der Stiftung zuzuführen.1 Die Stiftung sollte der politischen und gesellschaftlichen Erziehung von Menschen aller Schichten im demokratischen Geist und der internationalen Verständigung dienen. Insbesondere sollte ihre Aufgabe darin liegen, es jungen Menschen aus der Arbeiterschaft zu ermöglichen, sich an Hochschulen zu qualifizieren, um in der jungen Demokratie Verantwortung übernehmen zu können. Das war die Geburtsstunde der politischen Stiftungen. Die FES hat sich dann in den wenigen verbleibenden Jahren der Weimarer Republik mit äußerst bescheidenen Mitteln für ihre Ziele engagiert. Unter dem NS-Regime verboten, nahm sie mit der Wiedergründung nach dem Zweiten Weltkrieg ihre gesellschaftspolitische Arbeit mit gleicher Zielsetzung wieder auf und gründete, im Maße wie die nun bald reichlicher verfügbaren Ressourcen dies ermöglichten, im In- und Ausland zahlreiche Bildungsstätten und Büros. Nach ihrem Vorbild wurden seit den 1950er Jahren nach und nach alle anderen politischen Stiftungen in Deutschland geschaffen. Das politische Vermächtnis Friedrich Eberts – Leitbild für die politische Bildungsarbeit „Demokratie braucht Demokraten“ – mit diesem Ausspruch sollte Friedrich Ebert aber auch das Leitbild für die politische Bildungsarbeit prägen. Bundespräsident Johannes Rau hat ihre Bedeutung wiederholt gewürdigt: „Politische Bildungsarbeit ist für die Demokratie ein Gebot der Selbsterhaltung. Unsere rechtsstaatliche Demokratie ist kein Selbstläufer. Demokratie muss stets aufs

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Neue erklärt und erfahrbar gemacht werden. Nur so kann sich Demokratie entwickeln, lebendig entfalten und unter Belastungen bestehen.“ Diese Überzeugung wird von den demokratischen Parteien unseres Landes geteilt. So heißt es in einem gemeinsamen Antrag der Fraktionen von CDU / CSU und SPD im Deutschen Bundestag vom 25. Juni 2008: „Demokratie ist so stark, wie die Bürgerinnen und Bürger demokratisch sind. Eine Demokratie, die sich nicht um die Förderung der demokratischen Kenntnisse und Fähigkeiten kümmert, wird aufhören, Demokratie zu sein.“ Heute beobachten wir mit Sorge die erneute Zunahme von Politikdistanz, sinkende Wahlbeteiligung und das Anwachsen des Rechtsextremismus in unserem Land. Die Finanz- und Wirtschaftskrise der letzten Jahre verschärft offenbar die Erosion des Vertrauens in die Demokratie und die Handlungsfähigkeit des politischen Systems. Politische Bildung ist in diesen Zeiten krisenhafter Entwicklungen auf besondere Weise herausgefordert. Die FES sieht den Zweck ihrer Bildungsarbeit vor allem darin, gerade auch in problematischen Zeiten Menschen zu aktivem politischen Handeln zu ermutigen und zu befähigen; aber auch, Orientierungswissen zu vermitteln, um eine informierte und selbstbewusste Teilhabe am politischen Diskussionsprozess zu fördern und durch die hiermit verbundene Vermittlung politischer Grundwerte zur Ausbildung einer eigenständigen Urteilsfähigkeit beizutragen. Diesen besonderen demokratischen Auftrag der politischen Stiftungen hat Bundespräsident Johannes Rau wie folgt beschrieben: „Viel stärker als die Parteien selber haben die Stiftungen Zeit und Möglichkeiten, über den Tag hinaus zu denken, neue Politikkonzepte zu entwickeln und die Voraussetzungen und Folgen unterschiedlicher Zukunftsentwürfe zu analysieren. Ich glaube, dass wir gerade heute solche Oasen des Nachdenkens brauchen, solche Tankstellen für intellektuellen Treibstoff.“ 2 Politische Bildung gehört damit zur Grundausstattung unserer politischen Kultur und ist eine kontinuierliche Aufgabe. Bundespräsident Horst Köhler hob einen weiteren wichtigen Aspekt der Arbeit der politischen Stiftungen hervor: „Politische Bildungsarbeit verhilft auch den Profis des politischen Betriebs zu mehr politischer Bildung. […] Die Handreichungen der Friedrich-Ebert-Stiftung zu Theorie und Praxis der Politik sind – zusammen natürlich auch mit der Arbeit anderer politischer Stiftungen – von großem Wert für jeden, der im politischen Bereich tätig ist. Und das ist ein Beitrag zur Politikberatung, um den uns viele andere Länder beneiden.“ 3 Begabtenförderung Die politischen Stiftungen widmen sich über die politische Bildungsarbeit hinaus auch mit großem Erfolg der besonderen Förderung begabter Studentinnen und Studenten. Ihrem Gründungsauftrag gemäß fördert etwa die FES gezielt

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Studierende und Doktoranden aus einkommensschwachen Schichten und solche mit Migrationshintergrund und trägt so zu mehr Bildungsgerechtigkeit in unserem Lande bei. 95 Prozent der FES-Stipendiaten schließen mit guten oder sehr guten Noten ab. Allein die FES blickt insgesamt auf über 18.000 im Verlauf der Jahre von ihr geförderte Stipendiaten und Stipendiatinnen zurück. Diese Förderung beschränkt sich dabei nicht auf die Sicherung der materiellen Voraussetzungen für ein erfolgreiches Studium, sondern schließt den vertieften politischen Dialog mit den Geförderten sowie die politische Bildungsarbeit mit ihnen ein. Internationale Arbeit Die deutschen politischen Stiftungen sind eine weltweit einmalige Institution der internationalen Demokratieförderung. Bundespräsident Roman Herzog hat den politischen Stiftungen bescheinigt, dass sie zu den bewährtesten und wirksamsten Instrumenten deutscher Außenpolitik gehörten. „Sie [die politischen Stiftungen] tragen dazu bei, dass Außenpolitik ihr besonderes Profil nicht aus der Macht im traditionellen Sinn des 19. Jahrhunderts ableitet, sondern aus dem, was man als ‚soft power‘, die Macht der Argumente bezeichnet hat.“ 4 Ähnlich hat es Willy Brandt, bezogen auf die Arbeit der Stiftungen, formuliert: „Außenpolitik ist viel zu wichtig, um sie allein den Regierungen zu überlassen.“ Die internationale Arbeit der FES begann Anfang der 1960er Jahre in Nordafrika und Südamerika. Die Stiftungen gehören damit zur „entwicklungspolitischen Avantgarde“, wie dies Bundespräsident Horst Köhler anlässlich des 50. Jubiläums der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) hervorhob. Zu den Partnern der FES in über 100 Ländern in Afrika, Asien, Amerika und Europa zählen traditionell Parteien, politische Mandatsträger und Gewerkschaften, NGOs, wissenschaftliche und politische Beratungseinrichtungen, aber auch Regierungsinstitutionen. Mit ihrer weitgespannten Auslandsarbeit wirkt die Stiftung aktiv am Aufbau und an der Konsolidierung zivilgesellschaftlicher, parteipolitischer und staatlicher Strukturen zur Förderung von Demokratie und sozialer Gerechtigkeit, starker und freier Gewerkschaften mit und stärkt Menschenrechte und die Gleichberechtigung der Geschlechter. Michael Sommer, der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, zog folgende Bilanz der weltweiten Stiftungsarbeit: „Es sind viele, viele Menschen, die mit der Ebert-Stiftung weltweit in Kontakt gekommen sind – darunter sehr viele Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter. Für sie ist diese Stiftung und die Arbeit der Menschen, die diese Stiftung repräsentieren, ein wichtiger Teil einer Erfahrung mit Demokratie, Freiheit und Solidarität; ja, ich sage das auch bewusst: Ein Stück Erfahrung mit Deutschland, und zwar eine positive.“ 5 In ihrer internationalen Arbeit können die politischen Stiftungen eine Reihe beachtlicher Erfolge vorweisen. So waren sie an der Überwindung der

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diktatorischen Regime in Chile und Südafrika beteiligt. Legendär ist die Unterstützung demokratischer Kräfte in Spanien und Portugal beim Übergang zur Demokratie. Allein die Tatsache, dass die sozialistische Partei des späteren portugiesischen Ministerpräsidenten Mario Soares in der Kurt-SchumacherAkademie der FES in Bad Münstereifel gegründet wurde, spricht Bände. Der Bundesminister des Auswärtigen Frank-Walter Steinmeier würdigte die internationale Arbeit der politischen Stiftungen wie folgt: „Ich kann Ihnen jetzt aus meiner Erfahrung nach vier Jahren Außenminister und vielen Gesprächen über die Arbeit deutscher Stiftungen sagen: Das wird in der Welt schon als einzigartig und von vielen auch als vorbildhaft empfunden.“ 6 Modellcharakter der deutschen politischen Stiftungen Der Sieg der Demokratie in den o. g. Ländern, zu denen maßgeblich die Arbeit der FES wie auch der KAS beitrugen, war letztlich auch der Auslöser für die Gründung des amerikanischen „National Endowment for Democracy“ (NED), die US-Präsident Reagan 1982 anlässlich seiner berühmten „Westminster Speech“ verkündete. Das deutsche Stiftungsmodell war hierfür Vorbild. Besonderheiten der politischen Stiftungen Entscheidendes Merkmal der deutschen politischen Stiftungen ist ihre Unabhängigkeit von Regierung und Parteien bei gleichzeitiger Nähe zu den politischen Grundwerten der jeweils nahestehenden Partei. Diese Unabhängigkeit, jedoch auf klaren politischen Überzeugungen gründende Orientierung ihrer Arbeit, ist Teil der pluralistischen politischen Kultur in Deutschland, die auf den Wettbewerb der Ideen angelegt ist. Die eindeutige Verwurzelung im politischen Raum ermöglicht besondere Verbindungen zum Kern des politischen Systems der Bundesrepublik. Die Nähe zu zentralen Akteuren der deutschen Gesellschaft, wie Parteien, politischen Entscheidungsträgern, Gewerkschaften, Unternehmerverbänden und politiknahen NGO s macht sie zudem als Akteure und Ansprechpartner im Rahmen internationaler Politik, gerade auch in den Augen ausländischer Partner, attraktiv und wirkungsvoll. Die Auslandsbüros der Stiftungen stellen ein dabei einzigartiges und entscheidendes Instrumentarium dar. Da sie Zugang zu politischen Eliten sowohl in den Partnerländern als auch in Deutschland haben, entstehen Dialognetze, die wichtige Impulse zur Interessenabklärung und damit zur Politikvorbereitung und -abstimmung sowie zur Krisenprävention und Konfliktbearbeitung leisten. In Zeiten weltweiter Verflechtungen und globaler Risiken braucht die Demokratie Demokraten, die über Grenzen schauen, zur transnationalen Solidarität bereit sind und vernetzt arbeiten können.

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Politische Umbruchsituationen – besondere Herausforderungen für die politischen Stiftungen Besonders in politischen Umbruchsituationen stellen die politischen Stiftungen immer wieder ihr großes Potential unter Beweis. Das belegen nicht nur die oben erwähnten Erfolge der Stiftungsarbeit auf der iberischen Halbinsel, in Afrika und Südamerika. Dies galt insbesondere nach Ende des „Kalten Krieges“ bei der Realisierung einer neuen Politik der guten Nachbarschaft mit Russland und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion sowie bei der Heranführung der Reformstaaten Mittelund Osteuropas an die europäischen Strukturen und die Festigung der gesellschaftlichen Transformation in den neuen EU-Mitgliedsstaaten. Der polnische Staatspräsident Aleksander Kwasniewski brachte dies aus Anlass des 80-jährigen Gründungsjubiläums der FES wie folgt zum Ausdruck: „Die Mitgliedschaft meines Landes in der EU haben wir auch unseren deutschen Partnern und Freunden zu verdanken, die unsere europäischen Bestrebungen unterstützt haben. Ich kenne den Beitrag der Friedrich-Ebert-Stiftung zur Vorbereitung meines Landes auf die EU-Mitgliedschaft und weiß ihn zu schätzen. Ich bedanke mich bei der Friedrich-Ebert-Stiftung für ihre Hilfe und Unterstützung, die sie Polen in dieser schwierigen historischen Zeit gewährt hat.“ In ganz besonderem Maße galt das aber auch nach der „Friedlichen Revolution“ des Herbstes 1989 und die hierdurch ermöglichte deutsche Einheit, die durch Bundespräsident Roman Herzog ausdrücklich gewürdigt wurde: „Unvergessen ist ihr Beitrag zur politischen Integration der neuen Bundesländer nach der Wiedervereinigung.“ 7 Bereits im Herbst 1989 waren von der Führung der FES Schritte eingeleitet worden, um die „neuen Reformkräfte“ in ihrer beginnenden Arbeit zu unterstützen und vor allen Dingen politisch-fachlich zu qualifizieren. Ab 1990 erfolgte dann die Gründung eigener FES -Landes- und Regionalbüros. Das erste von ihnen wurde auf besonderen Wunsch Willy Brandts in Leipzig, der „Heldenstadt“ des Herbstes 1989, gegründet. Die einzigartige Stellung der politischen Stiftungen als international präsente NGO s und als parteinahe Forschungs-, Beratungs- und Bildungseinrichtungen bilden den Grund dafür, dass sie auch deutschlandpolitisch Leistungen erbringen konnten, zu denen keine andere Institution fähig gewesen wäre.8 Die große Erfahrung, die Flexibilität und das Instrumentarium der Stiftungen, ihre hervorragende Vernetzung in maßgeblichen gesellschaftlichen Gruppen, in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Verwaltung und Medien sind ein in vielen Jahren erworbenes politisches Kapital, das gerade in Zeiten des Umbruchs und der Neuorientierung besonders wertvoll ist. Aktuell kommt der gesellschaftspolitischen Arbeit der deutschen politischen Stiftungen eine Schlüsselrolle in der arabischen Welt zu. Zu diesem Zweck

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werden sie aus dem Bundeshaushalt mit beträchtlichen Mitteln ausgestattet, um die Umbrüche in dieser Region nach dem „Arabischen Frühling“ zu begleiten. Auch im krisengeschüttelten Griechenland setzt die Politik auf die politischen Stiftungen. So hat die FES im Mai 2012 ein Büro in Athen eröffnet. Der Ausspruch Bernhard Vogels trifft zu: Gäbe es die politischen Stiftungen nicht, müsste man sie in der Tat erfinden. Zum Glück gibt es sie in der Bundesrepublik seit über einem halben Jahrhundert – dank eines großen Staatsmannes und Sozialdemokraten, dessen tiefe Sorge um die junge Demokratie im Deutschland der Weimarer Zeit zum Ausgangspunkt für politische Bildungsarbeit und die Arbeit von politischen Stiftungen wurde.

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„Vorwärts“, 2. März 1925. Anlässlich des 70. Gründungsjubiläums der FES in Bonn am 8. März 1995. Anlässlich des 80. Gründungsjubiläums der FES in Berlin am 8. März 2005. Anlässlich des 80. Gründungsjubiläums der FES in Berlin am 8. März 2005. Anlässlich der Eröffnung des Internationalen Hauses der FES in Berlin am 24. Juni 2009. Anlässlich der Eröffnung des Internationalen Hauses der FES in Berlin am 24. Juni 2009. Anlässlich des 70. Gründungsjubiläums der FES in Bonn am 8. März 1995. Swetlana Pogorelskaja: Die parteinahen politischen Stiftungen und die Deutschlandpolitik, in: Deutschland Archiv 35 (2002) 3, S. 401 – 412.

„Bundesländer gibt es nicht, denn die Länder sind keine Ländereien des Bundes.“ (Bernhard Vogel) Dieter Althaus Diesen oder einen ähnlich formulierten Satz habe ich oft als Minister in der Landesregierung von Dr. Bernhard Vogel und darüber hinaus in politischen Gesprächen und Debatten gehört. Dieser Satz ist weder eine Formulierung aus Überheblichkeit der Länder dem Bund gegenüber noch eine schnelle politische Belehrung. Dieser Satz entspricht natürlich zum einen der Rechtswirklichkeit Deutschlands, aber er spiegelt vor allem seine tiefe politische Überzeugung. Zum 80. Geburtstag von Bernhard Vogel dürfen wir dankbar auf diese außergewöhnliche Persönlichkeit deutscher und internationaler Politik schauen. Eine angemessene Würdigung vorzunehmen heißt, sein persönliches und politisches Leben in den Blick zu nehmen, um daraus zu lernen. Ich selbst durfte Bernhard Vogel ab dem 5. Februar 1992 erleben und als Freund gewinnen. Er hat durch seine Arbeit Thüringen einen wesentlichen Stempel aufgedrückt. Bernhard Vogel hat Thüringen gut getan und das Land nachhaltig geprägt. Bernhard Vogel ist zutiefst davon überzeugt, dass es gerade diese politische Konstruktion Deutschlands mit dem Bund und den Ländern ist, die unsere Erfolgswege nach dem Zweiten Weltkrieg bis zur Wiedervereinigung sowie den der Integration Europas geebnet hat. Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland heißt es in der Präambel: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren und als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat das deutsche Volk in den Ländern Baden, Bayern, Bremen, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, SchleswigHolstein, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern, um dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben, kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beschlossen.“ Diese Formulierung macht zum Einen deutlich, dass die Länder das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verabschiedet haben und zum Anderen, dass zum Zeitpunkt der Verabschiedung weder das Saarland noch die heutigen jungen Länder dabei waren. Das Saarland trat 1957 nach einer Volksabstimmung der Bundesrepublik Deutschland bei und mit der Wiedervereinigung unseres Vaterlandes am 3. Oktober 1990 traten Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und das vereinigte Berlin der Bundesrepublik Deutschland bei. Damit wurde auch der letzte Satz

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der Präambel unseres Grundgesetzes Wirklichkeit: „Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.“ Zusammen mit der politischen Konstruktionsentscheidung wurde auch der Zuständigkeitskatalog von Bund und Ländern definiert. Der Art. 30 Grundgesetz lautet: „Die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben ist Sache der Länder, soweit dieses Grundgesetz keine andere Regelung trifft oder zulässt.“ So wird deutlich, dass die Länder ursprünglich, also letztlich die Grundlage des Bundesstaates sind und dass die Länder eben keine abgeleitete, sondern eine eigene Staatsgewalt haben. Mit Art. 31 Grundgesetz, Bundesrecht bricht Landesrecht, wird eine Geschichtslehre dokumentiert. Für den Erfolg der politischen Ordnung in Deutschland hat der Bundesrat eine wesentliche Aufgabe. Bernhard Vogel hat diesem wichtigen Gremium viele Jahre angehört und er war auch Bundesratspräsident. Im Bundesrat geht es um das Ganze für Deutschland, also um die jeweiligen Landes- und Bundesinteressen. Der Bundesrat ist demzufolge kein Länderorgan, er ist ein Bundesorgan. Im Mittelpunkt seiner Arbeit steht die Verantwortung für die gesamte Nation, das wird durch Art. 57 auch symbolisch sehr klar: „Die Befugnisse des Bundespräsidenten werden im Falle seiner Verhinderung oder bei vorzeitiger Erledigung des Amtes durch den Präsidenten des Bundesrates wahrgenommen.“ Auch wenn die staatsrechtlichen Aufgaben bzw. Funktionen zwischen Bund und Ländern klar geregelt sind, gab und gibt es immer wieder Anlässe für Debatten und auch für Reformen. Im Übrigen, Bernhard Vogel wusste bei seinem Bekenntnis und seinem Einsatz für unser Land Thüringen auch die Mehrheit der Thüringerinnen und Thüringer hinter sich. Ein Blick auf die Entscheidungsgeschichte zur Thüringer Verfassung dokumentiert das eindrücklich. Am 25. Oktober 1993 haben wir als Abgeordnete, mit überwältigender Mehrheit gegen die Stimmen der heutigen LINKE auf der besonders geschichtsträchtigen Wartburg in Eisenach die Thüringer Verfassung verabschiedet. Gemäß Art. 106 Abs. 3 dieser Verfassung wurde einige Tage vorher, am 16. Oktober 1993, ein Volksentscheid durchgeführt. Mit 70,1 Prozent aller Abstimmenden gab es durch die Bevölkerung Thüringens eine sehr breite Zustimmung zu dieser Verfassung und damit auch ein klares Votum für Thüringen, für unser Land. Dass die Bundesrepublik föderalistisch organisiert ist, hat tiefe historische Wurzeln. Ein Blick in die Geschichte erinnert uns. Der Deutsche Bund von 1815 war ein Staatenbund, und wesentliche Rechte blieben bei den deutschen Einzelstaaten. Im Deutschen Reich von 1871 gab es zwar eine dominierende Stellung Preußens und trotzdem war durch Vertrag geregelt, dass der größte Teil der Staatsgewalt bei den Ländern also den Landesfürsten verblieb. Erst die Weimarer Verfassung von 1919 stärkte rechtlich die Zentralgewalt sehr deutlich. Die katastrophalen Folgen dieser Zeit schreiben uns für alle Zukunft eine besondere

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politische Verantwortung in das Stammbuch. Das heißt, der Föderalismus in Deutschland folgte nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur einer politischen Zeitnotwendigkeit, sondern er hatte Tradition und er hat vor allem Zukunft. Was bedeutet Föderalismus? Es geht um Dezentralität und damit um eine lebendige Subsidiarität. Die Selbstverwaltung der Länder stärkt die lokalen Einheiten und nimmt sie so in ihrer Freiheit und als Quelle der kulturellen Identität sowie als Motor für einen fördernden Wettbewerb ernst. Die kritischen Stimmen zum Föderalismus verweisen immer wieder auf die Notwendigkeit umfassender zentraler Planungen und Entscheidungen in einer modernen Gesellschaft, erst recht im Zeitalter der Globalisierung. Jetzt wäre mehr Zentralismus zwingend, das gelte sowohl für Deutschland und erst recht für Europa. Wir sind da auch inmitten einer aktuellen Debatte um die konkrete Gestaltung der Zukunft Europas. Mehr Europa lautet die Forderung. Was aber bedeutet das konkret? Was bedeutet zum Beispiel weniger nationale Souveränität in der Fiskalpolitik? Ganz sicher, dass die Länder in Deutschland in ihrer Staatlichkeit vollkommen antiquiert wären. In diesem Beitrag soll es mir nicht um diese aktuelle Debatte gehen, aber so viel trotzdem. Ich glaube nicht an den Erfolg des Weges der stärkeren Zentralisierung. Das wäre dann auch unweigerlich der Weg hin zu einem europäischen Bundesstaat. Ich sehe in einer überschaubaren politischen Zukunft hierin keinen Sinn. Jetzt wäre nach meiner tiefen Überzeugung ein solcher Schritt sogar wettbewerbsschädlich. Und damit meine ich den Wettbewerb in der Wirtschaft, aber vor allem meine ich den der Politik. Dabei geht es mir um den Wettbewerb der Politiken innerhalb einer Nation und zwischen ihnen. Sowohl die repräsentative Demokratie wie die sich immer mehr entwickelnden Elemente der direkten Demokratie würden Schaden nehmen. Letztlich würde die Demokratie als lernende Gesellschaft leiden. In der Freiheit ist für uns der direkte politische Erfahrungsraum der Raum, der demokratisch und subsidiär gestaltet wird. Die Ergebnisse dort und damit auch die unserer persönlichen politischen Entscheidungen müssen wir immer neu bewerten und daraus Schlüsse ziehen. Natürlich brauchen wir als Einzelpersonen und als Gesellschaft existenziell die Solidarität. Das erfahren wir im Moment in Europa. Woher kommt aber die notwendige Kraft zu dieser Solidarität? Sie wurzelt letztlich in der Person, unserer Freiheit und der Kraft der Gesellschaft zum Wettbewerb. Das heißt, die Solidarität wird auf Dauer nur gesichert, wenn sie subsidiär durch die kleine Einheit abgesichert wird. Es gilt also auch für die Zukunft, die kleine Einheit und ihre Verantwortung sind gefordert. Nur wenn hier aus objektiven Gründen die Wahrnehmung der Verantwortung keine positiven Resultate erbringen kann, dann ist die übergeordnete Ebene gefordert. Das gilt im Übrigen generell in einer demokratischen Gesellschaft. Wichtige und prägende Beispiele sind die Familie und der Staat. Erst die ernsthafte Wahrnehmung dieser subsidiären Verantwortlichkeiten und auch der Umgang mit ihren Ergebnissen, den positiven wie den negativen, vermitteln uns demokratische Erfahrungen aus denen wir

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lernen müssen. Nur so funktioniert auf Dauer die Demokratie und nur so lernt ein Volk in und mit der Demokratie. Natürlich braucht es, wenn es z. B. um den Frieden, die Freiheit oder die Sicherheit geht, zentrale Verantwortlichkeiten, das gilt für Deutschland, für Europa und unsere Welt. Aber wir leben in der Freiheit, und diese Ordnung der Freiheit verleiht uns die Kraft zur Verantwortung. Die Dynamik der freiheitlichen Gesellschaft prägt sich im Wettbewerb aus. Bildung, Forschung und Kultur sind für den Erfolg in diesem Wettbewerb sehr wesentlich. Gerade hier sind die Länder in Deutschland mit ihrer Kompetenz herausgefordert. Starke Länder sind also die Grundlage für ein erfolgreiches Deutschland und für ein zukunftsfähiges Europa. Bernhard Vogel hat diese überzeugende Position für Deutschland immer engagiert vertreten. Unter der Überschrift „Der wichtigste Baumeister der Bundesrepublik Deutschland“ zitiert er 2001 in einer Rede den ersten Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland Konrad Adenauer. „Unser Ziel ist die Wiedervereinigung Deutschlands“, erklärte Konrad Adenauer im März 1946 in einer Grundsatzrede zum Programm der CDU. Und er fährt fort: „Aber es soll nicht wieder entstehen das zentralistische, auch nicht das von Preußen als Vormacht geführte frühere Deutschland. Deutschland soll ein demokratischer Bundesstaat mit weitgehender Dezentralisierung werden. Wir glauben, dass eine solche staatliche Gestaltung Deutschlands auch die beste ist für die Nachbarländer. Ich hoffe, dass in nicht zu ferner Zukunft die Vereinigten Staaten von Europa, zu denen Deutschland gehören würde, geschaffen werden und dass dann Europa, dieser so oft von Kriegen durchtobte Erdteil, die Segnungen eines dauernden Friedens genießen wird…“ 1. Dieses Zitat hat Bernhard Vogel selbstverständlich nicht zufällig für diese Rede ausgewählt. Mehrere Dimensionen der weitsichtigen Politik Adenauers werden hier deutlich: 1. Deutschland sollte nicht zentralistisch geführt sein, sondern als demokratischer Bundesstaat sollen die Länder klare Kompetenzen haben und diese auch wahrnehmen. 2. Das klare Bekenntnis Adenauers für Europa wird ergänzt durch seine Feststellung, dass Europa auch föderal und dezentral organisiert sein soll. Das ist im Blick auf die aktuelle Diskussion in Europa ein bemerkenswerter Beitrag. Dr. Andreas Khol, Professor für Verfassungsrecht, von 1994 – 2002 Clubobmann der ÖVP und von 2002 – 2006 Präsident des Österreichischen Nationalrates ist ein guter Freund Bernhard Vogels. Er formulierte anlässlich seines 70. Geburtstages: „Wir Christdemokraten sind Föderalisten, weil wir die katholische Soziallehre und die Sozialethik der Protestanten zum Maßstab unserer Politik machen und uns damit zum Subsidiaritätsprinzip bekennen. Wir haben den Respekt vor den kleinen Einheiten, den Respekt vor der Verwurzelung im

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Lokalen, den Respekt vor gewachsenen Strukturen. Diesen Respekt haben wir in unseren Parteien immer gehabt und hochgehalten. Es ist das Subsidiaritätsprinzip, das uns das ideologische Unterfutter bietet, „Rerum novarum“ und „Quadragesimo anno“, um nur die beiden großen Sozialenzykliken zu nennen, die das Subsidiaritätsprinzip begründet haben.“ 2 Hier wird der Urgrund unseres Bekenntnisses zu Dezentralität und Subsidiarität sehr klar angesprochen. Ich durfte erleben wie Dr. Vogel mit seinem Amtsantritt als Ministerpräsident von Thüringen genau diese Überzeugung mit Leben erfüllt hat. Mit Leidenschaft und Überzeugungskraft hat er so für den Erfolg Thüringens gearbeitet. Für Bernhard Vogel war dabei immer völlig klar, dass die Kultur, die wissenschaftliche Leistung und die geistige Vitalität der Menschen Thüringen Kraft und Farbe geben. Und zweimal, in Rheinland-Pfalz und in Thüringen, konnte Bernhard Vogel einen solchen wesentlichen Beitrag leisten. Sein Einsatz für einen wettbewerblichen Gestaltungsföderalismus hat vor allem den Menschen und ihren Lebensverhältnissen gedient. Das wir heute in Thüringen nach über 20 Jahren der Wiedervereinigung unseres Vaterlandes der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse im Vergleich zum Westen Deutschlands sehr nahe gekommen sind, haben wir im Besonderen der Arbeit Bernhard Vogels zu danken. „Bundesländer gibt es nicht, denn die Länder sind keine Ländereien des Bundes“, das war und ist seine sehr gestaltungsprägende Formulierung. Ich wollte in diesem Beitrag bewusst auf eine ausführliche rechtliche bzw. staatstheoretische Begründung dieser Aussage verzichten. In der einschlägigen wissenschaftlichen Literatur und auch im Buch „Civitas“, das zum 60. Geburtstag von Bernhard Vogel erschienen ist, kann dazu Profundes nachgelesen werden.3 Dr. Bernhard Vogel hat bei der Begründung seiner Überzeugung natürlich auch auf die jüngere historische Wurzel verwiesen. 1947, also deutlich vor der Gründung der Bundesrepublik Deutschland, fand die erste Ministerpräsidentenkonferenz statt. In der Resolution können wir lesen: „Trotz der Aufspaltung Deutschlands in vier Zonen geben wir keinen Teil unseres deutschen Vaterlandes auf. Trotz des Weggangs der Ministerpräsidenten aus der Ost-Zone bleiben wir auch diesem Teil Deutschlands zutiefst verbunden. Den deutschen Osten und Berlin betrachten wir als lebenswichtigen Bestandteil Deutschlands. Vor allen Beratungen und Erwägungen wollen wir gemeinsam das Bekenntnis ablegen, in welchem sich die Herzensüberzeugungen und die blühende Sehnsucht aller Teile Deutschlands zum Wort formt. Alle deutschen Länder sollen untrennbar verbunden sein. Und gemeinsam werden wir den Weg bauen für eine bessere Zukunft des einen deutschen Volkes.“ 4 Ein bestechend klares Bekenntnis zu den Ländern und zur deutschen Einheit. Ich bin dankbar, Dr. Bernhard Vogel gerade mit diesem Beitrag zum 80. Geburtstag gratulieren zu dürfen. Diese inhaltliche Gratulation bietet die Grundlage für meinen tiefen politischen und großen persönlichen Dank. Bernhard

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Vogel hat als exzellenter Wissenschaftler und herausragender Politiker über Jahrzehnte Deutschland mit gestaltet. Er hat damit einen wesentlichen Beitrag zur Überwindung der unnatürlichen Teilung Deutschlands geleistet. Die konkrete Gestaltung der Wiedervereinigung unseres Vaterlandes als Ministerpräsident von Thüringen bleibt unvergessen. Bernhard Vogel hat außerdem durch seinen Einsatz für und in der CDU dafür gesorgt, dass die Werte und Grundlagen christlich-demokratischer Politik lebendig bleiben. So arbeitet Bernhard Vogel nachhaltig dafür, dass das schicksalhafte Erbe Deutschlands und Europas angenommen bleibt. Ich danke Dr. Bernhard Vogel, dass er als Mensch, als Wissenschaftler und als Politiker in seinen politischen Ämtern und in seinem Einsatz für die KonradAdenauer-Stiftung glaubwürdig und überzeugend ist. Ich wünsche ihm Gottes reichen Segen und dass er noch sehr viele Menschen auf dem Weg in unsere Zukunft begleiten kann. Seine Grundüberzeugung: „Bundesländer gibt es nicht, denn die Länder sind keine Ländereien des Bundes“ bleibt gültig. Diese Grundüberzeugung steht für Freiheit und Verantwortung, für Subsidiarität und Solidarität und sie steht damit für die Zukunft – für unsere Zukunft. Herzlichen Glückwunsch und Danke an Dr. Bernhard Vogel.

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Der wichtigste Baumeister der Bundesrepublik Deutschland – Vortrag zur Bedeutung des Erbes Konrad-Adenauers am St. Antony’s College (Oxford, 24. Mai 2001), in: Bernhard Vogel: „Sorge tragen für die Zukunft“. Reden 1998 – 2002. Berlin 2002, S. 134. Andreas Khol: Föderalismus und Regionen im vereinten Europa, in: Vita activa – Vita contemplativa. Politik denken und gestalten. Bernhard Vogel zum 70. Geburtstag. Düsseldorf 2002, S. 34. Civitas. Widmungen für Bernhard Vogel zum 60. Geburtstag. Hg. von Peter Haungs, Karl-Martin Grass, Hans Maier und Hans-Joachim Veen (Studien zur Politik 19). Paderborn 1992. Bernhard Vogel: Zwischen Aussaat und Ernte – Reden im wiedervereinigten Deutschland. Stuttgart 1998, Die Länder standen an der Wiege des Bundes. Zum 50. Jahrestag der Münchner Ministerpräsidentenkonferenz – Resolution der Ministerpräsidentenkonferenz in München vom 6. bis 8. Juni 1947, S. 258

„Wer die Vergangenheit nicht kennt, wird die Zukunft nicht in den Griff bekommen.“ (Golo Mann) Andreas Rödder Spätestens beim zweiten Hinhören stellt sich die Frage, ob es sich bei Golo Manns Diktum nicht um einen ebenso schönen wie realitätsfernen SonntagsTopos handelt. Lässt sich aus der Geschichte lernen? Oder lehrt die historische Erfahrung nicht vielmehr, dass es so ist, wie es im Buch der Prediger steht: „Es gibt nichts Neues unter der Sonne“ – und fünf Verse weiter: „Alles ist Eitelkeit und ein Haschen nach Wind.“ Offenbart der Blick in die Geschichte nicht eine unablässige Folge von Macht und Intrigen, Leid und Neid, von Krieg und Gewalt, die den ewigen Zorn des Historikers auf die Geschichte hervorruft, wie es Wolfgang Reinhard einmal so treffend formuliert hat?1 Nach der Zivilisationskatastrophe des Zweiten Weltkriegs ist weltweit nicht weniger Krieg geführt worden als zuvor, im Gegenteil. Und doch wäre dieser Befund allein zu einfach, wie der Blick auf Europa zeigt. Denn die kriegsverheerten Europäer haben den Krieg durch die europäische Integration in ihren eigenen Reihen so undenkbar gemacht, wie es politisch überhaupt möglich ist. Sie haben – und dies gilt in besonderem Maße für die Generation der Soldaten, der Flakhelfer und der Kriegsjugend – aus den historischen Erfahrungen mit Krieg und Totalitarismus gelernt. *** Die totalitären Erfahrungen beziehen sich dabei nicht allein auf die faschistischen und kommunistischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts und ihre Gewaltgeschichte, sondern sie reichen weiter. Den unduldsamen Anspruch auf die eine und eigene Wahrheit, der totalitäre Systeme kennzeichnet und der zur Unterdrückung, gar Vernichtung von Andersdenkenden führt, kennt die Moderne spätestens seit Maximilian Robespierre. Seine Idee vom volonté générale stand im diametralen Gegensatz zu Thomas Jeffersons Vorstellung des pursuit of happiness, der zufolge jeder Mensch das Recht besitze, nach eigener Façon selig zu werden. Dahinter leuchtet ein allgemeiner Gegensatz von Denkformen auf, der die abendländische Geschichte seit der Antike prägt und der sich vor allem im Universalienstreit des Mittelalters niedergeschlagen hat. Hinter der scheinbar sophistischen Frage, ob das Allgemeine vor dem Besonderen oder nur im Besonderen existiere, steht der Gegensatz zwischen einem theoretisch-deduktiven Denken

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in der Tradition Platons, das von der vorgeordneten Idee ausgeht und mit apriorischen Modellen operiert, und einem aristotelisch-thomistischen Denken, dass sich vor allem auf Erfahrung stützt und auf common sense bzw. praktische Vernunft setzt. Natürlich ist platonisches Denken nicht automatisch totalitär; und doch trägt der Anspruch der apriorischen Idee, wenn sie sich von der Erfahrung löst, die ideologische Versuchung des intoleranten Anspruchs auf die Wahrheit in sich – während ein induktiver Pragmatismus die Gefahr des perspektivlosen muddle through mit sich bringt. Diese Denkformen prägen auch den Umgang mit dem Wandel, den erst die Moderne als bestimmendes historisches Prinzip in die Geschichte gebracht hat, und den, wie schon Bismarck sagte, gestalten muss, wer ihn nicht nur erleiden will. *** Was dies praktisch bedeutet, hat Bernhard Vogel insbesondere als Bildungspolitiker erlebt. Denn in kaum einem anderen Politikfeld ist das Verhältnis zwischen Theorie und Erfahrung so prekär und kontrovers. Am 18. Mai 1967, mitten in den Turbulenzen, die man mit ‚68‘ verbindet, wurde er zum Kultusminister von Rheinland-Pfalz ernannt, und er entwickelte sich bald zu einem der profiliertesten Bildungspolitiker der Union. Unter dem Titel „Neue Bildungspolitik“ plädierte er für „ein realistisches Konzept“, das Modernisierung und Pragmatismus miteinander verband. Die Grundgedanken dieser Politik – talentgerechte Differenzierung, Garantie von Bildungsinhalten und Leistung, Eröffnung von Aufstiegschancen – haben im Übrigen von ihrer Aktualität bis heute nichts verloren. Aber sie waren auch damals nicht unumstritten, standen vielmehr zwischen den Fronten: der Traditionalisten einerseits, die alles bewahren wollten, wie es war, auch wenn es keine Zukunft mehr hatte, und der Radikalreformer auf der anderen Seite, die nichts lassen wollten, wie es war. Die Theoretiker der Hessischen Rahmenrichtlinien schüchterten den Pragmatiker Vogel, wie er später berichtete, mit ihren intellektuell ambitionierten Gedankengebäuden kräftig ein. Doch wie sagte Austen Chamberlain 1925 vor dem britischen Unterhaus: „Gefühl und Erfahrung lehren uns, dass die menschliche Natur nicht logisch ist, und dass durch den weisen Verzicht darauf, Dinge bis an ihr logisches Ende zu treiben, der Weg der friedlichen Entwicklung zu finden ist.“ 2 Und zieht man im Nachhinein Bilanz, um vieles verträglicher und menschenfreundlicher erweisen sich dann die behutsame Modernisierung und der wertorientierte Pragmatismus eines Bernhard Vogel, der jenem Ideal von Persönlichkeits-Bildung folgte, das zu den besten deutschen Traditionen zählt, um es in einer Mischung aus individueller Spezialisierung und verbindlicher Allgemeinbildung neu zu gestalten.

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Aus einem solchen Geist heraus wäre das abermals reform- und modernisierungsbedürftige deutsche Bildungssystem nicht so modellhaft-schematisch umgestaltet worden, wie es unter den Stichworten „Bologna“ oder „Bildungsökonomie“ um die Jahrtausendwende geschehen ist. Über Jahre hin ging die Theorie vor, während die praktische Erfahrung das Nachsehen hatte. In der Konsequenz führte die Überregulierung der Studiengänge und die Quantifizierung von Bildung und Wissenschaft im Zeichen von Absolventenquoten, Zitationsindices und Drittmittelsummen zu einer Sozialtechnokratie, die der Bildung den Geist auszutreiben droht. Unter dem Eindruck eines auf OECD-Zahlen fixierten Krisendiskurses hat sich das Land auch die Stärken des deutschen Bildungssystems abreden lassen. Nach demselben statistisch-theoretischen Muster wurde Deutschland zugleich immer wieder vorgehalten, das Land sei hoffnungslos überindustrialisiert und, im Vergleich etwa zu dynamischen Volkswirtschaften wie Island oder Irland, nicht zukunftsfähig. 2008 freilich stellte sich heraus, dass Deutschland die große Finanzkrise gerade mit seiner industriellen Struktur und den vermeintlich antiquierten Instrumenten des „Modell Deutschland“ wesentlich besser in den Griff zu bekommen vermochte als alle anderen europäischen Länder. Und im selben Moment konnte das Land sich darüber freuen, sich nicht auf das – oftmals radikalreformerisch vorgeschlagene – Modell einer Umstellung der Alterssicherung auf Kapitaldeckung eingelassen zu haben. Um schließlich noch einmal auf Europa zurückzukommen: Das Problem der Integration begann, als die Idee sich von der Erfahrung löste und verselbständigte. Die Konstruktionsprobleme der europäischen Währungsunion waren von Anfang an offen absehbar; Helmut Kohl äußerte François Mitterrand gegenüber zum Beispiel in den entscheidenden Tagen seine „besondere Sorge“, dass „nach wie vor in der Gemeinschaft große Divergenzen in der Stabilitätsentwicklung bestehen, die sich evtl. sogar noch vergrößern können“ 3. Doch bei der Einführung des Euro herrschte letztlich die Maxime, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Dass diese Probleme dann eine Zeit lang nicht akut wurden, hieß nur, dass sie umso unbarmherziger auftraten, als sich die Rahmenbedingungen entsprechend veränderten. *** Die Euro-Schuldenkrise zeigt freilich auch, dass die Kenntnis der Geschichte nicht automatisch heißt, die Zukunft in den Griff zu bekommen. Im Gegenteil: Das Wissen um die Ursachen besagt wenig für die politischen Lösungsmöglichkeiten. Historische Entwicklungen lassen sich nicht einfach rückgängig machen, und wer aus der Kenntnis der Vergangenheit im Maßstab eins zu eins Maßnahmen für die Gegenwart ableitet, wird die Zukunft gerade verfehlen. Schon

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Jacob Burckhardt wusste, dass die Geschichte als Lehrmeisterin des Lebens nicht „klug“ mache „für ein andermal“. Die Kenntnis der Vergangenheit lehrt keine konkrete Handlung, sondern eine grundsätzliche Haltung, die freilich – immerhin – „weise“ machen kann „für immer“ 4. Zu den tragenden Einsichten einer solchen historischen Weisheit zählt das Wissen um die Offenheit der Geschichte, die eben nicht die ewige Wiederkunft des Immergleichen bringt. Ein Zeitgenosse des Jahres 1910 hätte sich das Europa des Zweiten Weltkrieges – nur eine Generation von ihm entfernt – genau so wenig vorstellen können, wie sich im Jahr 1982 die Welt des Jahres 2012 absehen ließ: eine globalisierte und digitalisierte Welt, in der nach dem Ende des Ost-West-Konflikts neue Staaten zu Vormächten heranwachsen und das vereinte Deutschland mit großer Kraftanstrengung die Wende zu erneuerbaren Energien vollzieht. Alles kommt anders als gedacht – und daher ist es klug, sich nicht auf vermeintlich sichere Prognosen oder Zukunftsprojektionen zu verlassen, weil morgen alles schon wieder ganz anders sein kann. Die historische Erfahrung mit radikalen Umgestaltungen des Bestehenden ist durchweg verheerend – bis hin zum Modell der „autogerechten Stadt“, dem die Stadtplanung in den sechziger Jahren allenthalben folgte, um wenige Jahre später den Flächenabriss der Altstädte und die brachialen Verkehrsschneisen unter hohen Kosten wieder rückzubauen. Und wenn heute globale Veränderungen zugunsten neuer Weltmächte und -regionen prognostiziert werden, in denen Europa nur durch entsprechende Größe mithalten könne, dann kann es sein, dass dies zutrifft – oder es ergeht solchen Projektionen ebenso wie den ganz ähnlichen Weltreichslehren des frühen 20. Jahrhunderts, die wir heute belächeln. Wer die Vergangenheit kennt, weiß, dass er die Zukunft nicht kennt. Aus dieser Lehre der Geschichte ergibt sich eine Maxime für die Gegenwart: Im aufgewirbelten Staub fährt man besser auf Sicht und nicht mit Vollgas in eine Richtung, die sich hinterher schnell als die falsche herausstellt – anders gewendet: eine Grundhaltung der Modernisierung mit Augenmaß und erfahrungsgestützter praktischer Vernunft, die Verbesserung und Bewahrung kombiniert und die zugleich die Möglichkeit zur Kurskorrektur lässt, wenn einmal wieder alles anders kommt als gedacht. Es ist diese Kenntnis der Vergangenheit, in der Tradition von Aristoteles bis Bernhard Vogel, die dazu beitragen kann, den unumgänglichen Wandel verträglich und menschenfreundlich zu gestalten und damit ein Stück Zukunft so weit in den Griff zu bekommen, wie das überhaupt möglich ist.

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Wolfgang Reinhard: Geschichte als Delegitimation (Vortrag des Preisträgers zur Verleihung des Historikerpreises 2001), in: Jahrbuch des Historischen Kollegs (2002), S. 27 – 37, hier S. 30. Zitiert nach Harvey Glickman: The Toryness of English Conservatism, in: Journal of British Studies 1 (1961), S. 121. Helmut Kohl an François Mitterrand, 27. November 1989, in: Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90. München 1998, S. 566. Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen. Über geschichtliches Studium. Berlin u. a. 1905, S. 9.

„Die letzten sechzig Jahre haben uns mehr Frieden, Freiheit, Wohlstand, Sicherheit und Stabilität beschert als je zuvor in unserer Geschichte.“ (Bernhard Vogel) Hans-Peter Schwarz Bei den Stichworten „Sicherheit” und „Stabilität“, die den Freunden und Bewunderern Bernhard Vogels vorgegeben sind, fällt mir die unvergessliche Geschichte der 258. Nacht ein, mit der die kluge Scheherazade den mordgierigen und schläfrigen Sultan unterhalten hat. Auf seiner ersten Reise, so erzählte sie, landeten Sindbad und seine Gefährten auf einer paradiesischen Insel. Alle trocknen ihre Kleider, ergehen sich lustwandelnd auf dem Eiland und entfachen ein Feuer, um ein leckeres Essen zu bereiten. Urplötzlich aber ruft der Kapitän: „Schnell an Bord! Rettet Euer Leben! Die Insel ist ein riesiger Walfisch!“ Und schon beginnt sich der Boden zu bewegen, der Riesenfisch taucht ab und reißt alle ins Meer. Ist man zu philosophischem Nachdenken disponiert, so mag man diese Geschichte als Gleichnis für die conditio humana verstehen. Menschen, die unter einigermaßen bekömmlichen Bedingungen in die beste aller Welten eintreten, wachsen mit der Illusion auf, sie seien auf einer stabilen, sicheren Insel angelandet. Doch früher oder später werden sie eines Besseren belehrt: Das Leben eines jeden Menschen ist völlig unsicher, unfriedlich auch, und zu guter Letzt wird jeder in den tiefen Ozean des Vergessens gerissen. Allerdings unterscheiden sich die Gläubigen von den Glaubenslosen darin, dass sie darauf vertrauen, nach dem Untergang von guten Mächten wundersam geborgen irgendwie und irgendwohin auf eine sichere Insel getragen zu werden. Zu diesen Gläubigen, das sei schon hier erwähnt, zählt auch Bernhard Vogel. In diesem Glauben wurzelt jener freundliche Optimismus, der ihn auszeichnet und um den ihn mancher beneidet. Die Stichworte „Frieden“, „Freiheit“, „Wohlstand“ und „Sicherheit“ erlauben aber auch eine zeitgeschichtliche Interpretation. In der Parabel von der stabilen, paradiesischen Insel, die sich urplötzlich in einen ungeheuren Behemoth verwandelt, lassen sich die Erfahrungen jener Deutschen aus der Generation Bernhard Vogels (Jahrgang 1932) verdeutlichen, die heute bereits aufs doppelte Schwabenalter zugehen, zwischen 1939 und 1945 aber in früher Jugend aus den Illusionen von einem Paradiesgärtlein herausgerissen wurden. Bei vielen aus diesen Jahrgängen sind auf der Festplatte des Erinnerungsvermögens schöne, ruhige Bilder aus den frühesten Jugendjahren gespeichert. Doch darauf folgten ganz unvermittelt die tief abgelagerten Schreckbilder aus den Jahren der Angst und des Untergangs im Zweiten Weltkrieg. Ersparen wir es uns, die traumatischen

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Erfahrungen von Bedrohung, Angst, Verzweiflung und Verlusten realistisch zu rekapitulieren, von denen die Kriegskinder jählings überrascht wurden, die einen mehr, die anderen weniger. Diese, damals so an die acht, zehn oder zwölf Jahre alte Generation ist früher als üblich und auch intensiver politisch sensibilisiert worden. Viel von den Gräueln dieser Jahre, in denen der Behemoth Deutschland in die Tiefe riss, sind auch den früh Sensibilisierten erst im Nachhinein voll ins Bewusstsein getreten – für manche war dies der Verlust von Angehörigen oder der Heimat, für alle die Zerstörung des Deutschen Reiches, das verbunden mit dem Verlust des guten deutschen Namens. Wer aus jener Generation dem Strudel entkam, kletterte schließlich erleichtert, vielleicht traumatisiert oder auch nicht, ans feste Land, so wie auch Sindbad der Seefahrer in der Gute-Nacht-Geschichte Nr. 258 der Märchenerzählerin Scheherazade. Genauso prägend wie die Kriegserfahrungen wurde nun die Freude darüber, endlich auf festem Land zu stehen und genau das Gegenteil des Erlebten zu erfahren: statt totalitärer Unfreiheit eine anständige Demokratie, statt des verheerenden Kriegs einen lang andauernden Frieden, statt selbstverschuldeter Isolierung Deutschlands Einbettung in die westlichen Integrationsgemeinschaft, statt Verlust des Geldvermögens durch Inflation oder Währungsreform eine bemerkenswerte Währungsstabilität. So wurde in den späten 1940er und frühen 1950er Jahre aus den Kriegskindern, die davon gekommen waren, die Generation der Bundesrepublik. Manche gingen zur CDU, andere zur SPD (die Gebrüder Vogel sind die Paradebeispiele dafür), die große Mehrheit aber blieb ziemlich apolitisch wie eh und je, leistete jedoch insgeheim den Schwur der Scarlett O’Hara: Nie mehr Krieg, nie mehr Hunger, nie mehr Elend! Je dauerhafter die neue Staats- und Gesellschaftsordnung andauerte, umso größer wurde die Zuversicht. Es gibt kein besseres Argument für die Vortrefflichkeit politischer Systeme, als deren Fähigkeit, über zehn, 20, 30, 40, 50, 60 und mehr Jahre hinweg den Frieden, die innere und äußere Sicherheit bewahrt, den Wohlstand gemehrt und die nationale Würde wiedererlangt zu haben. Die Alpträume an schreckliche Verhängnisse, die urplötzlich eintreten können (Krieg, Unfreiheit, Elend, Unsicherheit und Instabilität), haben aber die Generation der Bernhard Vogel, Helmut Kohl und vieler ihresgleichen nie ganz verlassen. Eine nagende Sorge blieb, das Land, das man fröhlich bewirtschaftet, das man mit autogerechten Straßen oder mit Radwegen, mit Villen im Grünen, mit ordentlichen Sozialwohnungen, Schulen, Hallenschwimmbädern und Sportstadien bebaut hatte, das man auch politisch in Ordnung hielt, es könne sich doch erneut als ein Riesenwalfisch herausstellen, dem es gefällt, urplötzlich in die Tiefe abzutauchen und alles mit sich zu reißen. Schließlich gab die Weltlage nicht zu einem Übermaß an Zuversicht Anlass. Die Bundesrepublik war stabil, aber nicht sicher. 45 lange Jahre nach 1945 lebten die Kriegskinder, die inzwischen erwachsen geworden waren, zusammen

Die letzten 60 Jahre

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mit den vorangehenden oder nachfolgenden Jahrgängen unter der Drohung der Totalvernichtung. Wenn es dumm ging, hätte von einer Stunde auf die andere die Walze eines Atomkrieges alles vernichten können. Ich selbst habe gelegentlich beim Rückblick die Geschichte der Bundesrepublik unter die Überschrift gestellt „Die ausgebliebene Katastrophe“. Das war in den letzten Jahren des Kalten Krieges. Doch auch nachdem dieser glücklich zu Ende gebracht war, (woran, das sei in Klammer gesagt, Bernhard Vogels und Helmut Kohls CDU maßgeblichen Anteil hatten) blieben die Unsicherheiten einer runaway world, die friedlos ist und chronisch instabil. Auch momentan hat Kassandra wieder einmal Hochkonjunktur: Euro-Krise; Krise der einstigen Schutzmacht Amerika, die sich von Europa und Europa von ihr sichtlich entfremdet hat; demographische Zeitbombe mit der Perspektive einer Unfinanzierbarkeit jener Sozialsysteme, auf welche die geretteten deutschen Sindbads so stolz waren; Kernwaffen in den Händen fundamentalistischer, mit Langstreckenraketen ausgestatteter iranischer Überzeugungstäter; Gefahr einer Marginalisierung Europas – die Latte ist lang. Eben deshalb jedoch ist das Motto für die Ehrung Bernhard Vogels zum Achtzigsten ganz gut gewählt. Es erinnert daran, dass sich die noch einmal Davongekommenen ungeachtet aller katastrophenträchtigen Bedingungen in der neuesten deutschen Zeitgeschichte doch ganz gut eingerichtet und über die Runden gebracht haben, zeitweilig besser, zeitweilig schlechter. Sogar die Landsleute in der DDR sind ihrem Käfig entkommen. Das alles könnte zur Zuversicht Anlass geben. Allerdings finden sich in der heutigen politischen Klasse nicht mehr allzu viele Männer und Frauen, die sich in inmitten der heutigen Kakophonie von Informationen und Meinungen mit einer gewissen Autorität Gehör verschaffen und die auch Gehör verdienen. In dieser Lage vernehmen wir besonders gern die freundliche Stimme des so allgemach in der Grauhaarzone angelangten Kriegskinds Bernhard Vogel. Warum wohl? Er hat sich in hohen Ämtern bewährt, ohne dass ihm diese zu Kopf gestiegen sind. Man hört auf ihn, weil er selbst noch zuhören kann. Er weiß, was die Leute denken. Wenige Spitzenpolitiker waren in den letzten Jahrzehnten so unablässig, Abend für Abend, mit Vorträgen und bei Diskussionsveranstaltungen landauf und landab unterwegs, selbst in kleinsten Gemeinden. Man hört ihm auch deshalb nachdenklich zu, weil er selbst sich Sorgen macht und das gelegentlich einräumt. Selbst die hochfahrenden Intellektuellen nehmen ihn ernst, denen ansonsten fast jede geschwollen daher redende Parteigröße verdächtig ist – das nicht ganz zu Unrecht. Sie verspüren, dass dieser zum Weisen mutierte einstmalige Assistent Dolf Sternbergers immer noch nicht die Tugenden des Geisteswissenschaftlers vergessen hat, die da lauten: viel lesen, nie die Neugier auf neue Meinungen und Erkenntnisse einschlafen lassen, systematisch nachdenken, Argumente hin und her wenden und alsdann die eigene Meinung gemessen, würdig, ernst und klar, vor allem aber optimistisch, mit common sense und humorvoll vortragen!

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Hans-Peter Schwarz

Wenn man Bernhard Vogel aufmerksam zuhört, dann gewinnt auch das Argument der 60 Jahre, in denen es mit Ach und Krach gut ging, einige Überzeugungskraft. Er hat den eingangs erwähnten Weltuntergang miterlebt und ihn anscheinend eher untraumatisiert, aber nachdenklich überstanden. Er hat dann das feste Land erreicht und dort klare, aber auch hinlänglich flexible Überzeugungen erworben, wie sie einem Liberalkonservativen mit sichtlich linkskatholischen Neigungen wohl anstehen. Länger als 60 Jahre lang hat er die aufgeregten Medien, die allzeit egoistischen Verbände, aber auch jene zahllosen Politiker-Kollegen und -Kolleginnen erlebt, denen der Sieg bei der nächsten Landtagswahl und Bundestagswahl meist wichtiger ist als ihre zuvor in feierlich verkündeten Wahlaufrufen abgegebenen Versprechungen zur Sozial-, Wirtschafts-, Energie- oder Bildungspolitik. Er kennt aber auch die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit seiner lieben Deutschen und hat bei zahllosen Reisen und Gesprächen kreuz und quer durch die Republik doch festgestellt, dass neben vielen Schönrednern, Faulpelzen, Schnorrern und Schlimmerem doch noch hinlänglich viele ordentliche Landsleute in gut geführten Betrieben, Schulen und Familien an der Arbeit sind. Bei seinen zahlreichen Reisen in allen Kontinenten hat er auch beobachtet, wie vergleichsweise gut Deutschland im globalen Vergleich trotz allem noch dasteht. Wer so gut ausgestattet, an der Schwelle zum Achtzigsten das Argument zu bedenken gibt, 60 Jahre sei es mit der gegenwärtigen Ordnung ganz gut gegangen und das sei ein Grund zu künftiger Zuversicht, dem nimmt man das ab oder prüft zumindest nachdenklich das Argument. Und wenn selbst einem Bernhard Vogel die common sense-Argumente ausgehen (was selten der Fall ist), und wenn auch der Adenauersche Optimismus („et hätt noch immer jut jejange“) etwas frivol klingt, erinnert er fröhlich an das Diktum des schwedischen Staatsmanns Axel Oxenstierna, der in der gleichfalls sehr tumultuösen, von zahllosen Katastrophen und Untergängen zur elenden Vorhölle gemachten Welt des Dreißigjährigen Krieges getrost festgestellt hat: „Es wird regiert durch die Verwirrung der Menschen und durch die Gnade Gottes.“ Bernhard Vogel glaubt das. Möge er uns also mit seinem gläubigen, bürgernahen und humorvollen Optimismus auch im neunten Lebensjahrzehnt weiter ermuntern.

Die Begriffe und das Begreifen „Es war eine Revolution, keine Wende, wie die letzten Machthaber der DDR verharmlosend formulierten.“ (Bernhard Vogel) Mike Mohring Wer Wege in die Zukunft plant, sollte zurückschauen und die Erfahrungen vergangener Jahre und Generationen auswerten. Darin liegt der Wert der Geschichte für die Politik. Dieser Wert sinkt jedoch rapide, wenn sie nicht beschreibt, „wie es eigentlich gewesen“, um einen Sohn Thüringens, Leopold von Ranke (1795 – 1886), zu zitieren. Dies ist umso entscheidender, als Geschichtsbilder auch als politisches Kampfmittel eingesetzt und entsprechend zugerichtet werden. Es gibt leicht durchschaubare Varianten, wie etwa die Umdeutung von Mauer und Stacheldraht in den „antifaschistischen Schutzwall“ der SED-Propaganda, aber auch wesentlich subtilere. Bernhard Vogel wurde und wird nicht müde, sie aufzuspießen. Gerade in den schwierigen Fällen. Ein Beispiel ist die Beharrlichkeit, mit der er gegen die Gedankenlosigkeit vorgegangen ist, die Friedliche Revolution als „Wende“ zu bezeichnen. Das ist wichtig, weil viele Menschen den sprachlich weniger sperrigen Begriff verwenden, ohne weiter darüber nachzudenken. Seine Geschichte ist schnell erzählt: Egon Krenz nutzte ihn erstmals nach dem Sturz Erich Honeckers am 18. Oktober 1989 während der 9. Tagung des ZK der SED. Er räumte ein, die SED habe die gesellschaftliche Entwicklung „nicht real genug eingeschätzt und nicht rechtzeitig die richtigen Schlussfolgerungen gezogen. Mit der heutigen Tagung werden wir eine Wende einleiten, werden wir vor allem die politische und ideologische Offensive wieder erlangen.“ Die „Wende“ war der Versuch der SED, der sich anbahnenden Revolution das Wasser abzugraben und die Entwicklung durch Konzessionen selbst zu steuern, ohne die eigene Machtbasis in Frage stellen zu müssen. Es dauerte von da an noch rund anderthalb Monate, bis die Volkskammer den Führungsanspruch der SED aus der Verfassung der DDR strich, sich die staatlichen Institutionen von der allmächtigen Staatspartei emanzipierten und ihre eigene, demokratisch nie legitimierte Macht mit den Runden Tischen teilen mussten. Ein politischer Zwischen- und Schwebezustand, der bis zu den ersten und letztlich einzigen freien Volkskammerwahlen am 18. März 1990 andauerte. In gewisser Weise erwies sich Krenz’ „Wende“ sogar als Eigentor, denn der Begriff „Wendehals“ folgte auf dem Fuß; für jene Opportunisten, die mit atemberaubender Geschwindigkeit

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Mike Mohring

die Seite wechselten, einzig um ihr persönliches Fortkommen und oft auch politisches Überleben bemüht. Warum ist es dennoch so wichtig, am Revolutionsbegriff festzuhalten, obgleich die „Wende“ der SED gänzlich anders verlief, als das Politbüro und sein Kurzzeitgeneralsekretär Krenz sich das gedacht hatten? Weil einzig und allein der Revolutionsbegriff angemessen erfasst, was sich 1989/90 in der DDR zutrug. An die Stelle der Parteidiktatur der SED mit ihrem Wahrheitsmonopol trat die parlamentarische Demokratie mit ihrem Parteipluralismus. An die Stelle der Gewalteneinheit trat die Gewaltenteilung. Aus Untertanen, die Eingaben schreiben durften, wurden Bürger, die ihre Rechte auch gegen den Staat durchsetzen können. An die Stelle der Zentralverwaltungswirtschaft trat die Marktwirtschaft. An die Stelle einer über Massenorganisationen gesteuerten Gesellschaft trat eine freie, pluralistische Gesellschaft. Aus der gelenkten Presse wurde eine freie. An die Stelle des Zentralstaats die föderale Ordnung. Und endlich, statt Mauer und Stacheldraht, statt Bevormundung und Staatssicherheit bahnte sich die Freiheit ihren Weg. Das war nicht das Werk des Übergangsministerpräsidenten Hans Modrow oder des SED-Reformers Gregor Gysi oder gar Egon Krenz’, die der Entwicklung hinterherliefen. Das war das Werk von Bürgern eines ganzen Landes, die den vollständigen Bruch mit dem SED-Regime wollten. Aber auch das gehört zum Bild der Friedlichen Revolution: Dass die Entwicklung auch viele Menschen und Repräsentanten der Bürgerbewegung, die den revolutionären Prozess erst in Gang gesetzt haben, überrollte jene, die dem SED-Regime unter hohem persönlichen Risiko oft über Jahre die Stirn geboten hatten, aber von dritten Wegen, einem erneuerten Sozialismus in einer erneuerten DDR träumten. Vielleicht auch deshalb, weil gerade in dem politischen Schwebezustand Ende 1989 und Anfang 1990 schier ungreifbar und unfassbar schien, dass sich an die eben noch mit schlichten Kerzen in der Hand niedergerungene Diktatur unmittelbar die Wiedervereinigung anschließen könnte. In der Erklärung „Für unser Land“ vom 26. November 1989 berührten sich die Interessen jener Kräfte und der sich wendenden SED, ohne damit deckungsgleich zu sein. Für eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik Deutschland warben Autorinnen wie Christa Wolf, Stefan Heym oder Konrad Weiss, aber auch Egon Krenz und andere Spitzengenossen der SED unterzeichneten später diesen Aufruf. Hätte sich die Entwicklung in diesen Bahnen weiterbewegt, wäre die Debatte über die Berechtigung des Wende-Begriffs historisch begründeter. Doch die übergroße Mehrheit der Menschen wollten keine weiteren sozialistischen Experimente, sondern schlicht die Wiedervereinigung eines geteilten Landes. Diese Erwartung plakatierten die Bürger auf den Montagsdemonstrationen sehr schnell im ganzen Land mit dem Ruf „Wir sind ein Volk!“ und untermauerten dies mit ihrem scheinbar überraschenden Wahlverhalten zur freien Volkskammerwahl am 18. März 1990.

Es war eine Revolution, keine Wende

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Den revolutionären und vor allem, das ist das Wichtigste, friedlichen Charakter dieser Entwicklung festzuhalten, ist nicht alleine um der historischen Wahrhaftigkeit willen erforderlich: Der von den Bürgern selbst herbeigeführte Umbruch stellte viele von ihnen in den Jahren nach 1990 vor ganz erhebliche biographische Herausforderungen, ja auch Zumutungen. Der Niedergang von unter Marktbedingungen nicht mehr konkurrenzfähigen Betrieben, Entscheidungen der Treuhandanstalt, Arbeitslosigkeit und Vorruhestand, Entwertung von Erfahrungswissen aus dem alten System und anderes mehr bildeten den Boden, in denen die Saat der Ost-Nostalgie aufging. Vermeintliche „Errungenschaften“ wurden aus ihrem politischen Kontext gelöst und als Verlust beklagt. Deshalb war und ist es notwendig, in Erinnerung zu halten, warum und mit welcher revolutionären Radikalität die Menschen das SED-Regime beseitigten und sich damit einer Diktatur entledigten und dies ohne Blutvergießen. Diese Debatten liegen heute, 22 Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands, weitgehend hinter uns. Vier Fünftel der Bürger bekennen sich regelmäßig zur Idee und den Werten der Demokratie und zur Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland. Bernhard Vogel hat dazu beigetragen, dass sich diese Debatten entkrampften. Indem er bestimmt, aber immer freundlich auch unbequeme Diskussionen führte und wohlfeile Argumente eben nicht einfach stehen ließ oder gar verstärkte. Dass politische Repräsentanten einen durchaus beachtlichen Einfluss auf das politische und historische Bewusstsein haben, zeigt der Vergleich mit Brandenburg. Dort wirkten Politiker wie Regine Hildebrandt oder Manfred Stolpe vielfach als Verstärker der Ost-Nostalgie, so dass nicht ganz zu Unrecht von der „kleinen DDR“ die Rede war. Dass Bernhard Vogel diesen populären, vielleicht auch populistischen Brandenburger Weg nicht gegangen und gleichwohl in den zwölf Jahren seines Wirkens für Thüringen zum Landesvater geworden ist, sagt viel über den Menschen und Politiker aus. Warum gelang ihm dieser Spagat? Als Geburtsjahrgang 1932 aus einem politisch hellwachen Elternhaus stammend, war er alt genug, um zu erfassen, welche Verheerungen der Nationalsozialismus über Deutschland und Europa gebracht hat. Am Ringen um eine politische Kultur, die den demokratischen Verfassungsstaat der Bundesrepublik Deutschland zu tragen imstande war, beteiligte er sich selbst. Denn beides gehört zusammen. Das war ein Prozess, der sich über mehr als ein Jahrzehnt erstreckte. Mit dieser Erfahrung im Hintergrund begegnete Bernhard Vogel den Menschen in Thüringen, die gut zwei Generationen in Diktaturen gelebt hatten. Er machte sich vom ersten Arbeitstag als neuer Thüringer Ministerpräsident an auf ins Land. Er hörte zu und unterschied zwischen den Menschen und ihrer Lebensleistung auf der einen und den politischen Umständen auf der anderen Seite. Wer zu seinem Leben stehen will, solle damit nicht das System verteidigen müssen. Etwas, was der Theologe und Philosoph Richard Schröder 2009

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in folgende Worte gekleidet hat: „Ostdeutsche können durchaus stolz darauf sein, was sie persönlich in Familie und Beruf in jenen vierzig Jahren geleistet haben, und zwar unter den erschwerenden Bedingungen von Diktatur und Mangelwirtschaft. Aber bitte doch nicht stolz sein wollen auf die erschwerenden Bedingungen selbst.“ Der Ministerpräsident Vogel schenkte den Erben der SED und anderen Menschen, die die DDR in ein mildes Licht tauchten, in der Sache nichts. Die Auseinandersetzung mit Stasi-belasteten Abgeordneten ist ein Beispiel dafür, die Errichtung der Stiftung Ettersberg zur vergleichenden Erforschung europäischer Diktaturen des 20. Jahrhunderts und ihrer demokratischen Transformation ein anderes. Dort wurde die DDR in einen zeitgeschichtlich weiteren Horizont eingebettet. Ihr Thema sind die nationalsozialistischen, faschistischen und kommunistischen Diktaturen. Der gleichsam topographische Referenzpunkt ist das Konzentrationslager Buchenwald und das Sowjetische Speziallager Nr. 2. Doch auch bei fundamentalen Gegensätzen wahrt Bernhard Vogel die persönliche Integrität seiner Widersacher. Sich von der PDS , den SED -Erben, politisch klar abzugrenzen, ihre Repräsentanten jedoch nicht auszugrenzen, war eine in diesem Sinne oft gehörte Mahnung. Auch mit dem sogenannten Thüringen-Monitor machte der Thüringer Ministerpräsident die politische Kultur des Landes zu seinem Thema. Er nahm das Entsetzen über einen Brandanschlag auf die Erfurter Synagoge 2000 zum Anlass, eine Langzeitstudie zur Stabilität der Demokratie und rechtsextremen Einstellungen in Auftrag zu geben. Sie suchte unter den deutschen Ländern lange ihresgleichen. Ihre Autoren arbeiteten wiederholt heraus, dass Bürger mit rechtsextremen Einstellungen die größte Schnittmenge mit jenen aufweisen, die zurück zum DDR-Sozialismus wollen, und beides in sozialpsychologischen Defiziten wurzelt. Mit Genugtuung wird Bernhard Vogel registriert haben, dass die Demokratie in Thüringen im Verlaufe der Jahre immer festere Wurzeln entwickelt hat und diese Defizite im Schwinden begriffen sind. Friedliche Revolution statt Wende? Es war eine friedliche Revolution, die, in der deutschen Geschichte zumal, vergeblich ihr Vorbild sucht. Der Blick auf das Bemühen des Landesvaters und Demokratielehrers Vogel um die politische Kultur zeigt: Dabei geht es nicht um Begriffsklauberei. Es geht darum, angemessen zu beschreiben, was war und was ist und nicht umgedeutet werden darf, Menschen zum Nachdenken zu bewegen oder in eine Diskussion zu verwickeln, sie die Kunst der Differenzierung und Unterscheidung zu lehren. Dies ist zugleich das wirksamste Mittel gegen den politischen Populismus und dessen Simplifizierungen und mit seinen zu diesem Zweck zurechtgebogenen Geschichtsbildern.

„Deutsche Einheit und europäische Einigung sind zwei Seiten derselben Medaille.“ (Helmut Kohl) Beate Neuss Knappe Sentenzen können manchmal historische Einsichten erfassen – ein Fazit aus Bergen von Büchern. „Es gilt unverändert der politische Leitgedanke Konrad Adenauers, dass deutsche Einheit und europäische Einigung zwei Seiten derselben Medaille sind“, konstatierte Bundeskanzler Helmut Kohl 1994 in einer Rede vor der IHK in Düsseldorf. Immer wieder haben sich Politiker – Bundeskanzlerin Angela Merkel, Oppositionspolitiker und nicht zuletzt Bernhard Vogel – auf diese historische Erkenntnis bezogen. In der Tat: Die „deutsche Frage“ war von Anbeginn eine europäische Frage. Als die „deutsche Frage“ 1871 mit der kleindeutschen Lösung der Reichgründung aus deutscher Sicht als gelöst angesehen werden konnte, entstand sie neu im europäischen Kontext. Benjamin Disraeli erkannte in der deutschen Nationalstaatsgründung sofort eine Störung des europäischen Gleichgewichts. Das gerade besiegte Frankreich verlor mit dem neuen Staat seine ihm als natürlich erscheinende Führungsrolle auf dem europäischen Festland. Eine große Bevölkerung, eine dynamische Wirtschaft und nach dem Abgang Bismarcks ein Kaiserreich, das nach Großmachattributen strebte – Flotte, Kolonien und politische Geltung eines großen europäischen Reiches – lösten tiefe europäische Beunruhigung aus. Nach der ersten Katastrophe des 20. Jahrhunderts, dem Ersten Weltkrieg, versuchte der Versailler Vertrag die europäische „deutsche Frage“ durch Gebietsabtrennungen, Niederhalten und Isolierung der Weimarer Republik zu lösen – vergeblich. Die „deutsche Frage“ stellte sich bald neu und zudem verschärft mit der völligen Verwüstung des europäischen Kontinents durch die nationalsozialistische Eroberungs- und Rassenpolitik. Die „deutsche Frage“: War es für die überfallenen Staaten nicht naheliegend, dem Land, das Angriffskriege, Oradour und Auschwitz zu verantworten hatte, nach Kriegsende 1945 die Staatlichkeit zu verweigern und die „deutsche Frage“ durch Teilung, Besatzung und harte Reparationen endgültig zu lösen? Gewissermaßen durch ein Versailles in Potenz, wie es sich im kurzfristigen Morgenthau-Plan andeutete? Tatsächlich gingen die alliierten Planungen zunächst ja von einer dauerhaften Zerstückelung Deutschlands aus. In Potsdam erhielten Polen und die Sowjetunion 1945 de facto Teile des Landes dauerhaft zugesprochen, wie die dort beschlossene Vertreibung belegt. Die Einteilung des Restgebiets und der Reichshauptstadt in vier Zonen unter alliierter Verwaltung ließ die Deutschen in eine ungewisse Zukunft gehen. Mit der Gründung von

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zwei deutschen Staaten und der fortschreitenden Teilung bedrückte eine ganz andere „deutsche Frage“ für vier Jahrzehnte die Deutschen in West und Ost – die der Wiedervereinigung. Dass nur vier Jahre nach dem Aggressionskrieg die Westzonen einen Staat gründen konnten, lag in drei Faktoren begründet: Maßgebliche amerikanische Politiker – unter anderem der spätere amerikanische Außenminister John Foster Dulles – hatten schon den Versailler Vertrag nicht als dem Frieden förderlich und der Lösung der „deutschen Frage“ dienlich angesehen. So wuchs bei der amerikanischen Besatzungsmacht bald die Erkenntnis, dass der westeuropäische Kontinent nur gesunden könne, wenn Westdeutschland und seine Wirtschaft voll in das europäische Wirtschaftsleben integriert würden. Der 1946/47 beginnende Kalte Krieg beförderte diese Erkenntnis rasch in Washington und in London. Französische Politiker brauchten nach drei deutsch-französischen Kriegen in 70 Jahren etwas länger, um einen grundlegenden Paradigmenwechsel vorzunehmen: Sicherheit durch Dominanz über Deutschland, die Strategie nach 1945, ersetzte Paris durch Sicherheit durch Integration West-Deutschlands. Diesen tiefgreifenden Politikwechsel hatte Stalin verursacht: Sein brutales Vorgehen in Mittelosteuropa und in seiner Besatzungszone, sein Griff nach West-Berlin durch die Blockade und seine Unterstützung des nordkoreanischen Überfalls auf Südkorea 1950 fügte der Angst vor Deutschland die noch größere Angst vor der Sowjetunion hinzu. Zwei Aspekte unterstützten den Coup des Schuman-Plans mit dem Vorschlag einer Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl am 5. Mai 1950: Die 1949 gegründete NATO band die USA dauerhaft an Europa. Die neue Supermacht konnte den ehemaligen Kriegsgegnern Deutschlands Sicherheit bieten – als Garant des Friedens und einer Machtbalance. Dass die Vereinigung der Bundesrepublik mit der DDR unter Stalin und danach nicht wahrscheinlich war, schadete der Integrationsbereitschaft sicher nicht. Neben anderen Gründen, wie z. B. der Funktion der DDR als Klammer des sowjetischen Imperiums westlich des unruhigen Polens, war es nicht wahrscheinlich, dass Moskau seine damals bedeutendste Uranquelle, die Wismut in Sachsen und Thüringen, im nuklearen Wettrüsten aus seinem absoluten Zugriff entlassen würde. Die eine Seite der Medaille – die deutsche Einheit – rückte in immer weitere Ferne. Die andere Seite der Medaille – die europäische Einigung – war einerseits lange gedanklich vorbereitet und konnte sich andererseits des Glücksfalls herausragender Staatsmänner und Vordenker erfreuen. Führende Politiker aller westeuropäischen Staaten, darunter Konrad Adenauer und Robert Schuman hatten auf den großen europäischen Kongressen der Föderalisten die Vereinigung Europas debattiert. Konrad Adenauer hatte bereits in der Weimarer Republik für den deutsch-französischen Ausgleich geworben; nun nach dem Krieg sandte er – mangels eigenständiger Außenpolitik – in Interviews Angebote zur europäischen Vereinigung an seine Nachbarn, in erster Linie an Frankreich – und

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an die USA als Förderer der europäischen Integration. Er kannte die Angst vor den incertitude allemande, er teilte sie in gewisser Weise, da auch er sich einer dauerhaften Friedensneigung seiner Landsleute nicht sicher war. Denn er wollte deutscher Schaukelpolitik vorbeugen und das Land fest im demokratischen Westen verankern – was zugleich die Garantie für äußere Sicherheit und Rückgabe der Souveränität bedeutete. Im Gegensatz zu seinem sozialdemokratischen Widersacher Kurt Schumacher erkannte er, dass die gleichberechtigte Abgabe von Souveränität der Integrationspartner an europäische Institutionen paradoxerweise zum Gewinn staatlicher Souveränität führen würde. Selbstverständlich war die Integration im Kohle- und Stahlbereich Vertrauen bildend. Aber sie war weit mehr: Die Integration der westeuropäischen Kriegsindustrien war ein erster Schritt zur Lösung der „deutschen Frage“ – das hatte Konrad Adenauer bestens verstanden! Er war auch zu Recht überzeugt, dass ein prosperierendes Deutschland in einem prosperierenden Europa ein Magnet für die DDR sein würde und eine ständige Belastung für die Sowjetunion, wollte sie den Satellitenstatus der DDR erhalten. Der „deutschen Frage“ war über all die Jahrzehnte europäischer Integration und deutscher Teilung zwei Seiten eigen. Mit der Souveränität der Bundesrepublik 1955 wuchs das Bedürfnis der Mitglieder der Montanunion erneut, einer künftigen incertitude allemande entgegen zu wirken: Nicht von ungefähr gerät der europäische Zug nach dem krachenden Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft 1954 fast zeitgleich mit dem Inkrafttreten des Deutschlandvertrages wieder in Gang. Paul-Henri Spaak konstatierte nach einem Gespräch mit dem Kanzler: „Die europäische Integration gibt Deutschland einen Rahmen, in dem seine Expansion begrenzt bleibt, und es schafft eine Interessengemeinschaft, die es absichert und die uns gegen gewisse Versuche und gewisse Abenteuer absichert. [...] Ich glaube, die – übrigens recht schwachen – Bindungen des Atlantikpakts allein genügen nicht, um die deutsche Politik in der Zukunft eindeutig festzulegen. Mir scheint es unzweifelhaft, dass wir mehr tun müssen.“ 1 Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft band das Wirtschaftswunderland wieder stärker in Europa ein – aber der innerdeutsche Handel blieb unberührt. Euratom verhinderte, dass die nun wieder mögliche deutsche Atomforschung zu Rüstungszwecken genutzt wurde. Konrad Adenauer, den das Scheitern der Integration 1954 tief deprimiert hatte, hätte Schritte in Richtung einer politischen Union bevorzugt, aber diese erneute sektorale Integration war die einzige Möglichkeit, die europäische Einigung voran zu bringen. Wann immer sich die Außenpolitik der Bundesrepublik aus bekannten Gleisen bewegte, erwachte die europäische „deutsche Frage“ bei den Partnern: Willy Brandts Ostpolitik warf Zweifel an der Westorientierung auf, die mit der Kooperation in der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) zum beiderseitigen Vorteil beantwortet wurden. Die enorme deutsche Wirtschaftskraft gekoppelt mit der starken Deutschen Mark führte mancherorts zur Ansicht, die

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Europäische Gemeinschaft gerate unter die Hegemonie einer économie dominante. Die Folge war der Wunsch, nach dem gescheiterten Werner-Plan von 1970 einen erneuten Anlauf zu einer Währungsunion zu unternehmen, um das Gewicht der deutschen Währung in einem europäischen Verbund zu neutralisieren, den steten Aufwertungsdruck von den Deutschen und den Abwertungsdruck von den Partnern zu nehmen. Im Jahr 1988 – das Binnenmarktkonzept war mit der Einheitlichen Europäischen Akte auf den Weg gebracht und mit ihm das Ziel einer Europäischen Währungsunion – einigten sich Bundeskanzler Kohl und der französische Präsident Mitterrand auf die Entwicklung der Konzeption durch die Chefs der nationalen Notenbanken. Im April 1989 legte der DelorsAusschuss sein Konzept vor, im Juni verabschiedete es der Europäische Rat. Noch schien die DDR bei aller Unzufriedenheit ihrer Bevölkerung unter einer stabilen Diktatur zu stehen – aber nur Wochen später begann mit der Massenflucht und den immer zahlreicher und größer werdenden Demonstrationen der DDR -Bürgerrechtler ihr Zerfall. Die „deutsche Frage“ stellte sich erneut – was das Ausland rascher registrierte als die Westdeutschen, obwohl Bundeskanzler Kohl immer wieder, sei es bei der Tischrede anlässlich des Besuchs von Erich Honecker in Bonn 1987, sei es anlässlich der Fluchtbewegung im August 1989 daran erinnerte, dass die Einheit Ziel der Deutschen bleibe. Bereits am 10. November in seiner Rede vor dem Schöneberger Rathaus prägte der Kanzler die Urform der Metapher der Medaille, als er erst „ein freies deutsches Vaterland“ dann „ein freies, einiges Europa“ hochleben ließ. Im 10-Punkte-Programm, das den Weg zur Einheit beschleunigte, sprach er ebenfalls die „Verknüpfung der deutschen Frage mit der gesamteuropäischen Entwicklung“ an: „Die künftige Architektur Deutschlands muss sich einfügen in die künftige Architektur Gesamteuropas.“ Die bestürzend „eisige Atmosphäre“ (Kohl) auf dem Straßburger Europäischen Rat im Dezember 1989 zeigte, dass auch nach vier Jahrzehnten europäischer Integration und enger Kooperation die europäische „deutsche Frage“ noch äußerst virulent war. Kohl musste eine Koalition gegen die Wiedervereinigung befürchten und künftige anti-deutsche Koalitionen, sollte die Einheit durchzusetzen sein. Nicht nur Margaret Thatcher und ihr Minister Nicholas Ridley brachten ihre Befürchtungen drastisch zur Sprache: Ein von Deutschland dominiertes Europa, ein Deutschland, das die europäischen Strukturen verlässt, nachdem es die Integration für den Wiederaufstieg genutzt hatte. In der Erklärung zum EG-Sondergipfel in Dublin prägte Helmut Kohl die Sentenz – und die EG begrüßte „die Vereinigung Deutschlands wärmstens“. Aus Sicht Frankreichs war der dynamische, auf Einheit ausgerichtete Prozess dramatisch gefährlich; François Mitterrand gemahnte die Lage 1989/1990 an die des Vorkriegsjahres 1913. Aber Kohl und Mitterrand griffen auf die revolutionäre und innovative Erfindung europäischer Politik nach 1945 zurück als Lösung des Problems der „deutschen Frage“: Die Einheit Deutschlands und

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Einigung Europas zur gleichen Zeit voranzutreiben. Mitterrand drängte auf eine terminliche Festlegung der Währungsunion, die ihm der Bundeskanzler zugestand. So sind die Europäische Währungsunion und die deutsche Einheit eng verbunden, aber der Euro ist nicht der Preis für die Einheit. Die Modalitäten der Währungsunion waren bereits Monate vor dem Fall der Berliner Mauer festgelegt worden. Sie war (und ist) notwendig für Deutschland und seine Wirtschaft und für Europa und seine Zukunft. Aber da eine Medaille zwei Seiten hat, wirkte die wieder anstehende „deutsche Frage“ wie ein Katalysator für die Gründung der Europäischen Union und den Euro. Zwei Seiten einer Medaille: Die Vertiefung der Integration und die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion machten das größere Deutschland und sein wirtschaftliches Gewicht für die europäischen Partner verträglich. Sie schufen Vertrauen – selbst in der östlichen Nachbarschaft (auch das erleichterte die Einheit) – und bewiesen deutsche Berechenbarkeit und Verankerung im demokratischen Westen. Am 3. Oktober 1990 harmonierten die Zeichen beider Seiten der Medaille: Nach mehr als einhundert Jahren war die „deutsche Frage“ gelöst, dieses Mal endgültig: Mit der Zustimmung aller Nachbarn konnten sich die Deutschen wiedervereinigen. Im Dezember begannen die Regierungsverhandlungen für eine Europäische Union, deren Kern die Währungsunion wurde. Der Gegensatz zwischen Freiherr vom Stein – „Ich habe nur ein Vaterland, das heißt Deutschland“ – und Metternich – „Mein Vaterland ist Europa“– ist aufgelöst. Die Zahl der Deutschen, die sich als Deutsche und Europäer zugleich fühlen, ist stetig gewachsen. Dennoch: Dass das Motto heute noch von Bernhard Vogel wie von Bundeskanzlerin Angela Merkel benutzt wird, hängt mit der Entwicklung in Europa zusammen. In der Schuldenkrise bedarf es der Erinnerung der Deutschen daran, dass das eine ohne das andere nicht gut für Deutschland und nicht gut für Europa ist. Die Währungsunion war ein großer Schritt zur europäischen Einheit. Sie ist notwendig, wollen Deutschland und Europa im völlig veränderten globalen Machtgefüge des 21. Jahrhunderts eine Chance auf Gestaltung und Einfluss in der Weltwirtschaft und -politik haben. Wie stark die gemeinsame Währung die Staaten im Guten wie im Schlechten zusammenbindet und verflochten hat, zeigt seit 2008 die Staatsschuldenkrise – irrtümlich „Euro-Krise“ genannt. Die Schwäche der Partner lässt die Stärke Deutschlands überproportional erscheinen. Wieder wird das Gewicht Deutschlands bei den Partnern als übermächtig empfunden. Wieder erscheint die Bundesrepublik, wie in den Währungskrisen der 1980er Jahren, in den Karikaturen des Auslands als Domina Europas. Zugleich ist sie der Anker, an dem der Euro, die europäische Wirtschaft und die europäische Einigung hängen. Die Bewältigung der Krise verlangt allen Staaten viel ab. Deutschland mehr als anderen: Nämlich die Kunst der weisen, behutsamen Führung, um die Führungsrolle in Europa auszufüllen, die ihm zugefallen ist. Soll die europäische „deutsche Frage“ tatsächlich ruhen, dann ist verbale Kraftmeierei tabu – und eine Führung mit verdeckter Hand das Gebot.

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In zwanzig Jahren sind die Teile Deutschlands langsam zusammengewachsen, das ist die eine Seite der Medaille. Auch die andere Seite der Medaille braucht Zeit, um Glanz zu entfalten: Eine neue Währung muss vielleicht durch Krisen gehen, um Vertrauen und Stärke zu gewinnen. Mag sich jemand vorstellen, wie Europa aussähe, welche Rolle es zwischen alten und neuen Mächten noch spielen könnte, wenn verantwortungsvolle und begabte Politiker nicht ein europäisches Deutschland geschaffen hätten?

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Paul-Henri Spaak: Memoiren eines Europäers. Hamburg 1969, S. 311ff.

„Es gibt keinen anderen Weg zur Wiedervereinigung als diesen durch die europäische Integration, es sei denn, man wäre bereit, auf die Freiheit zu verzichten.“ (Konrad Adenauer) Günter Rinsche Der 3. Oktober 1990, der Tag, an dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine staatliche Einheit wiedergewann, ist ein herausragendes Datum in der deutschen Geschichte. Diesem Tag kommt aber in einer ganz besonderen Weise auch europäische Bedeutung zu; er bestätigt nämlich eindrucksvoll die Richtigkeit der europäischen Einigungspolitik Christlicher Demokraten wie Robert Schuman, Konrad Adenauer und Alcide de Gasperi seit Anfang der 1950er Jahre. Konrad Adenauer hat wichtige Grundlagen zur Deutschen Einheit geschaffen, indem er die Weichen für die Rückkehr Deutschlands in die Wertegemeinschaft der freien Welt gestellt hat. Am 20. Oktober 1953 erklärte er in seiner Regierungserklärung: „Es gibt auch keinen anderen Weg zur Wiedervereinigung als diesen durch die europäische Integration, es sei denn, man wäre bereit, auf die Freiheit zu verzichten.“ Für Konrad Adenauer enthielt die europäische Integration nicht nur die faszinierende Möglichkeit zur Schaffung von Frieden, Freiheit und Wohlstand in Europa. In seiner Vision und politischen Konzeption war die stufenweise Vereinigung Westeuropas mit der gleichberechtigten Mitgliedschaft der Bundesrepublik Deutschland auch eine dynamische Kraft zur Wiedervereinigung Deutschlands und Europas in Frieden und Freiheit. Für Adenauer waren die deutsche Einheit und die europäische Einigung zwei Seiten einer Medaille, sie stellten keinen Widerspruch dar, sondern bedingten einander. So sagte er 1956 in einem Interview: „Es wäre absolut falsch zu sagen, dass wir die Einigung Europas als einen sogenannten Ersatz für die Wiedervereinigung Deutschlands ansehen. Einmal ist und bleibt die Wiedervereinigung Deutschlands in Frieden und Freiheit oberstes Ziel der deutschen Politik. Dann ist uns die Verwirklichung des Europagedankens auch ein Mittel zur Erreichung dieses Zwecks. Zum dritten stehe ich auch heute noch auf dem Standpunkt, dass die Einigung unseres Kontinents um Europa selbst willen zustande kommen muss, weil es für Europa einfach eine Existenzfrage ist.“ Die westeuropäische Integration, die von Konrad Adenauer als eine langfristige Möglichkeit der Wiedervereinigung Deutschlands und Europas konzipiert wurde, ist eine wesentliche Ursache des revolutionären Umbruchs in Osteuropa. „Haben Sie Geduld! Haben Sie Ausdauer!“ ermahnte er 1961 seine Landsleute: „Unser Ziel ist es, dass Europa einmal ein großes, gemeinsames Haus für alle Europäer wird – ein Haus der Freiheit.“

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Günter Rinsche

Adenauers Ziel war es, das ganze freie Deutschland im Kreis der westlichen Demokratien zu verankern und nicht die Wiedervereinigung um ihrer selbst willen anzustreben. Vorrang vor einer Einheit um jeden Preis hatte für ihn die Wahrung der Freiheit. Freie Selbstbestimmung aller Deutschen in einem friedlichen Europa sollte die Einheit bringen. Adenauer nahm in Kauf, dass es damit lange dauern könne. Für ihn stand jedoch nur die Dauer des Prozesses infrage, nicht das Ziel als solches. Die Wiedervereinigung Deutschlands konnte er sich nur im Zusammenhang mit dem Ende des Antagonismus und einer Wiedervereinigung des Kontinents vorstellen. Die weltpolitische Konstellation erlaubte zu seinen Lebzeiten nicht, die deutsche Frage im europäischen Zusammenhang zu lösen. Adenauer zufolge konnte die Deutsche Einheit nur in Frieden und Freiheit herbeigeführt werden, also nicht von Deutschland selbst, sondern erst nach Bereinigung des ost-westlichen Spannungszustandes, also in unbestimmter Zukunft. Ein freies geeintes Deutschland in einem freien geeinten Europa war stets ein Hauptziel christlich-demokratischer Politik. Die CDU war seit jeher die Partei der Deutschen Einheit und der Europäischen Einigung. Die friedliche Revolution der Menschen in Mittel- und Osteuropa, der Wille zur Freiheit und Selbstbestimmung, haben das Ihre getan, um Mauer und Stacheldraht niederzureißen. Adenauers Konzeption der deutschen und europäischen Wiedervereinigung basierte auf einer „Magnettheorie“, nach der durch die europäische Integration ein eigenständiges Kraftfeld entstehen würde. Die Werte der Freiheit und Demokratie würden sich in Verbindung mit einer großen sozialökonomischen Leistungskraft entwickeln, die schließlich wie ein starker Magnet die Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit bewirken würde. Adenauer behielt Recht. Er war Visionär und Realist. Die Westintegration war für Adenauer weder das politische Endziel noch die Alternative zur Wiedervereinigung. Sie sollte vielmehr die Wiedervereinigung ohne Aufgabe der Freiheit und des Friedens in Europa ermöglichen. Mit der Westbindung, der europäischen Integration und der Einbindung des deutschen Kernstaates in die atlantische Gemeinschaft schuf Adenauer die entscheidenden Grundlagen, auf denen die Außenpolitik der Bundesregierungen bis zu Kohl aufbauen konnte und schließlich die Vereinigung Deutschlands möglich war. Adenauer entzündete einen heftigen Streit über die Vereinbarkeit von Westintegration und Wiedervereinigung. Dabei gab es zu seiner Politik keine andere realistische Alternative, denn im Grunde besaß die Bundesrepublik nicht die Wahl zwischen den beiden Optionen; es ging um die Entscheidung der Westintegration sofort und der europäischen und deutschen Wiedervereinigung zu einem späteren Zeitpunkt. Bis 1989 wurde die Konzeption Konrad Adenauers, die deutsche Einheit über die europäische Integration zu erreichen, von vielen Zeitgenossen als „irreal“ und „utopisch“ abgestempelt und bekämpft. Adenauer blieb jedoch beharrlich, ließ sich nicht beirren und schuf im Rahmen seiner Möglichkeiten die Bedingungen und den Grundstein für eine Wiedervereinigung.

Wiedervereinigung durch die europäische Integration

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Manche seiner Gegner behaupteten, dass er an dieser in Wahrheit nicht interessiert gewesen sei, sprachen dem ersten Bundeskanzler den Wiedervereinigungswillen ab und charakterisierten seine Bemühungen als „Wiedervereinigungsrhetorik“. Im Herbst 1951 kritisierte der SPD-Abgeordnete Gerhart Lütkens im Deutschen Bundestag, die Einheit Deutschlands drohe durch Adenauers Integrationspolitik auf Jahrzehnte hinausgeschoben zu werden. Dabei hatte Adenauer unter den schwierigen Umständen des Kalten Krieges die deutsche Frage stets offen gehalten und die Westmächte auf Mitwirkung an der Wiedervereinigung verpflichtet. Vor allem führende deutsche Sozialdemokraten plädierten dafür, das im Grundgesetz verankerte Ziel der Deutschen Einheit aufzugeben. So behauptete Egon Bahr im November 1988, ein Jahr bevor die Mauer fiel, dass die Realität der westeuropäischen Gemeinschaft die deutsche Wiedervereinigung unmöglich mache. Gerhard Schröder stellte sogar am 12. Juni 1989 fest: „Nach vierzig Jahren sollte man eine neue Generation in Deutschland nicht über die Chancen einer Wiedervereinigung belügen. Es gibt sie nicht.“ Ebenso verfolgten DIE GRÜNEN nicht mehr das Verfassungsziel der Deutschen Einheit. Joschka Fischer sagte am 27. Juli 1989: „Die Forderung nach der Wiedervereinigung halte ich für eine gefährliche Illusion. Wir sollten das Wiedervereinigungsgebot aus der Präambel des Grundgesetzes streichen.“ Unsere faszinierende Gegenwart in Europa beweist die Richtigkeit der Konzeption Konrad Adenauers und seinen Realismus in der Einschätzung politischer Möglichkeilen. Selbst Arnulf Baring, einer der früheren Kritiker, musste 1990 bekennen: „Adenauer war der wichtigste deutsche Wegbereiter der Entwicklung, die uns jetzt die Wiedervereinigung gebracht hat.“ Adenauers Grundentscheidungen haben somit die deutsche Politik bis in die Gegenwart bestimmt und die von ihm definierte Politik hat die deutsche Einheit ermöglicht. Unbestritten ist: Konrad Adenauer hat die Wiedervereinigung konzipiert, Helmut Kohl hat die Wiedervereinigung realisiert. Die deutsche Wiedervereinigung vom 3. Oktober 1990 und die dabei entstandenen und freigesetzten Energien schufen neue Möglichkeiten und Notwendigkeiten der europäischen Integration. Es ging darum, die Fortentwicklung der Europäischen Gemeinschaft bis hin zur Politischen Union konsequent vorwärts zu treiben, denn die Gemeinschaft war und blieb Kernstück und Motor einer Politik des Friedens und der Freiheit, des wirtschaftlichen Wohlergehens und der sozialen Sicherheit für ganz Europa. In dieser Beziehung ergibt sich eine Identität deutscher und europäischer Interessen; Deutschland hat nur Zukunft in Europa, nicht gegen Europa. Im Zentrum der Europäischen Union gelegen und als Staat mit den meisten Nachbarn in Europa zieht es besonderen Nutzen aus friedlicher und guter Nachbarschaft und nimmt eine Schlüsselrolle im wachsenden europäischen Binnenmarkt ein. Die europäische Integration hat Europa und seinen Völkern eine nie da gewesene Zeit des Friedens und des ständig wachsenden Wohlstands gebracht.

„Wir hatten alles geplant, wir waren auf alles vorbereitet, nur nicht auf Kerzen und Gebete.“ (Erich Loest) Richard Schröder Dieser Satz zählt zweifellos bereits zu den geflügelten Worten, und ganz zu Recht. Er bringt die Herbstrevolution auf den Punkt. Zumeist wird er Horst Sindermann zugeschrieben, Mitglied des Politbüros der SED und Volkskammerpräsident von 1976 bis 1989. Es ist aber noch niemandem gelungen, dies auch zu belegen. Dagegen ist unstrittig, dass sich dieser Satz in Erich Loests Roman „Nikolaikirche“ (1995) findet und wohl vor allem durch den Film nach diesem Roman geflügelt wurde. Der Leipziger Stasi-Chef spricht dort diese Worte am Ende des denkwürdigen 9. Oktober 1989, jenem ersten Montag nach den pompösen Feiern zum vierzigsten Jahrestag der DDR, an dem nach dem Willen der Staats- und Parteiführung alle Rücksicht auf den internationalen Ruf fallen und das „konterrevolutionäre“ Treiben der friedlichen Montagsdemonstrationen, die im Anschluss an die Friedensgebete in der Nikolaikirche stattfanden, gewaltsam beendet werden sollte. So war es in einem Artikel der Leipziger Volkszeitung angedroht worden. Auch der Einsatz von Schusswaffen war vorgesehen. Und Egon Krenz hatte ja einige Monate zuvor die blutige Niederschlagung der Studentenproteste auf dem Pekinger Platz des himmlischen Friedens öffentlich gelobt. Aber es kamen mehr Demonstranten als erwartet, nämlich geschätzte 70.000 statt der erwarteten 50.000. Deshalb erging der Befehl: Rückzug mit Eigensicherung. Die Staatsmacht hatte vor den friedlichen Demonstranten kapituliert. Zehn Tage später trat Honecker zurück. Die neue Führung wollte Reformen einleiten, zuerst ein neues Reisegesetz. Aber Transparenz will auch gelernt sein. Am 9. November verhedderte sich Günter Schabowski bei einer Pressekonferenz derart glücklich, dass er unbeabsichtigt die Maueröffnung auslöste. Seitdem fuhr der Zug in Richtung deutsche Einheit und erreichte sein Ziel in knapp einem Jahr am 3. Oktober 1990. Erich Loest selbst hat immer wieder gesagt, jener denkwürdige Satz, den er dem Stasi-Offizier in den Mund gelegt hat, stamme aus einem Interview mit Horst Sindermann.1 Doch da stellt er wohl – irrtümlich? – sein Licht unter den Scheffel. Im „Spiegel“ erschien Sindermanns letztes Interview.2 Dort steht, er habe es am 14. April, sechs Tage vor seinem Tode, autorisiert und dies sei sein einziges autorisiertes Interview nach seinem Rücktritt von allen Ämtern im November 1989. Das vereinfacht die Quellensuche ungemein. In diesem seinem letzten

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Richard Schröder

Interview sagt er: „Der gewaltfreie Aufstand passte nicht in unsere Theorie. Wir haben ihn nicht erwartet, und er hat uns wehrlos gemacht.“ Das ist dem Inhalt nach dasselbe wie jenes geflügelte Wort. Insofern hat Erich Loest recht, wenn er sagt, das stamme von Sindermann. Aber für jene wunderbare Formulierung gebührt allein Erich Loest der Lorbeer. So gut formulieren kann eben nicht jeder. Wie recht Sindermann mit dieser seiner Analyse hatte, belegen Stasi-Berichte, nach denen Arbeiterkampfgruppen, die ja nach dem 17. Juni 1953 zur Niederschlagung der „Konterrevolution“ gegründet worden waren, im Sommer 1989 Übungen durchgeführt haben unter dem Szenario: Kirchliche Kreise haben das Rathaus besetzt. Die Kommunisten konnten sich Revolution oder, nach ihrer Terminologie, Konterrevolution eben nur so vorstellen, wie sie sie gemacht hätten, als bewaffneten, jedenfalls aber gewalttätigen Aufstand. Jenes Interview Horst Sindermanns ist zu Unrecht vergessen, denn es gehört zu den äußerst seltenen Dokumenten der Selbstkritik aus den Reihen des Politbüros. „Was ich mir selbst vorwerfe, ist die strikte Parteidisziplin, an die ich mein ganzes politisches Leben lang, bis zum bitteren Ende, festgehalten habe.“ „In der Disziplin … steckt natürlich ein gehöriges Stück Opportunismus.“ Er meint damit nicht nur das Sich-Verstecken hinter dem Kollektiv, an das die individuelle Verantwortung delegiert und damit zugleich suspendiert wurde. Das gibt es ja leider auch sonst oft, wurde aber in den kommunistischen Parteien prinzipiell gerechtfertigt und ideologisch überhöht: „Die Partei hat immer recht“. Sindermann sieht auch, dass ihnen der Marxismus-Leninismus zur Sichtblende vor der Wirklichkeit geworden war. Er sagt: wir Marxisten müssen überprüfen, „wie viel oder wie wenig unsere Theorie mit der Wirklichkeit zu tun hat.“ Und zu Gorbatschow: „Wir im Politbüro haben damals allesamt seine große Vision nicht verstanden, sondern dogmatisch geprüft, ob das, was er ankündigte, mit dem Marxismus-Leninismus vereinbar sei. Wir hielten uns für klüger und befanden: Die Klassenlage ist anders.“ Neben der verheerenden Wirkung der Parteidisziplin macht er für das Scheitern der SED zweitens verantwortlich: „Wir haben die Erfolge, die es zweifellos gab, übertrieben dargestellt und Probleme fast ganz verschwiegen.“ Und drittens: „Wir haben streng unterschieden zwischen der bürgerlich-parlamentarischen und der sozialistischen Demokratie, statt die erste als Vorstufe für unsere Demokratie anzusehen.“ „Untergegangen sind wir auch deshalb, weil die demokratischen Freiheiten, die wir oft verhöhnt haben, der Bevölkerung weit mehr bedeuteten, als wir gedacht hatten.“ Wenn Sindermann nicht schon am 20. April 1990 verstorben wäre und diese seine Auffassungen auch im Politbüro-Prozess vertreten hätte, hätte die öffentliche Auseinandersetzung um die Irrwege der SED an Tiefgang gewinnen können. Bei so viel Einsicht verwundert es, dass Sindermann noch immer den absurden Ausdruck „antifaschistischer Schutzwall“ für die Mauer rechtfertigt, der auf ihn zurückgeht. In diesen Kontext also gehört jenes Zitat. „Wir würden uns doch lächerlich machen, wenn wir Bärbel Bohley, Pfarrer Eppelmann und andere zu

Wir hatten alles geplant

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‚Konterrevolutionären‘ erklären würden“, sagt Sindermann. Im Herbst 1989 aber war auf Seiten der SED durchaus von Konterrevolution die Rede, so in jenem Artikel der Leipziger Volkszeitung vom 6. Oktober, der die Montagsdemonstranten zu Konterrevolutionären erklärte. Und das hieß immer: liquidieren, unschädlich machen, und da war fast jedes Mittel recht. Hinter diesem Etikett wurde jedes menschliche Antlitz zur Fratze des Klassenfeindes. Mit dieser Kategorie wurden die Einsatzkräfte gegen Demonstranten motiviert und das nicht ohne Erfolg. Wir müssen uns daran erinnern, dass die staatlichen Sicherheitskräfte zunächst auf die Demonstrationen keineswegs friedlich reagiert, sondern brutal zugeschlagen, inhaftiert und drangsaliert haben, in Berlin, in Leipzig und anderswo. Erst mit dem 9. Oktober hörte das auf. Aber noch bis über den Jahreswechsel 1989/90 hinaus standen Einheiten der Volksarmee unter Dauerbereitschaft für die Option einer gewaltsamen Grenzschließung. Die Herbstrevolution war friedlich von Seiten der Demonstranten, aber doch nicht friedlich, weil die SED und die Sicherheitskräfte keine Gewalt anwenden wollten. Es ist eine Geschichtsfälschung, wenn heute Nachfolger der SED den damaligen Sicherheitskräften zum Verdienst anrechnen, dass die Revolution friedlich blieb und gar Dankbarkeit einfordern. Die Demonstranten sollen dankbar sein dafür, dass sie nicht erschossen wurden? Man muss es nur einmal so aussprechen und die Absurdität jener Dankbarkeitsforderung wird manifest. Auf Kerzen und Gebete waren die Sicherheitskräfte nicht vorbereitet. Das hat sie offenbar tatsächlich verwirrt. Als der Zug der Leipziger Demonstranten an der „Runden Ecke“, der Leipziger Bezirksverwaltung der Stasi, vorbeizog, schirmten Demonstranten mit Kerzen in den Händen den Eingang ab, um einen Sturm auf die verhasste Stasizentrale zu verhindern. Roland Jahn, der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, hat in einem Interview 3 vom 21. Januar 2012 ausdrücklich Gegenposition zu jenem geflügelten Wort bezogen und erklärt: „Es ist wichtig, dass man auch die Rolle der Kirchen hinterfragt.“ Und: „Mit Gebeten hätte sich die DDR-Regierung nicht fortjagen lassen.“ Er verweist auf die „Kirche von unten“, „die sich ja bewusst neben der etablierten Kirche gegründet hat.“ Das ist allerdings falsch. Die „Kirche von unten“ war eine Bewegung innerhalb der Evangelischen Kirche, nicht neben ihr. Es ist richtig, dass es auch innerhalb der Kirchengemeinden Spannungen gab zwischen oppositionellen Gruppen und denjenigen, die vermieden sehen wollten, dass derentwegen die Kirchengemeinde ins Visier der Stasi geriet. Diese Interessenkollision musste durchgestanden, sie konnte aber nicht vermieden werden. Kerzen und Gebete hatten doch nie den Zweck, die DDR-Regierung fortzujagen. Die Evangelischen Kirchen in der DDR haben auch nicht die Revolution geplant, sondern auf Reformen gesetzt. Aber sie haben – anders als die Katholische Kirche in der DDR – oppositionellen Gruppen ein institutionelles Dach geboten und sie dadurch etwas schützen können. Das war wiederum nur

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möglich, weil sich die DDR einen großen Konflikt mit der Kirche nicht leisten konnte – wegen ihres internationalen Ansehens, von dem auch ihre Kreditwürdigkeit abhing. Kerzen und Gebete stehen für Besinnung, für Lauterkeit und Durchsichtigkeit der Absichten und für die Gewaltlosigkeit. Die Bedeutung von Kerzen und Gebeten für die friedliche Revolution war vor allem die, dass sie so gar nicht in das vorgefertigte Bild vom Konterrevolutionär passten. Nicht überall, aber auch nicht nur in Leipzig haben die Demonstrationen ihren Ausgang von Friedensgottesdiensten genommen. Der eindringliche Appell: keine Gewalt und praktische Hinweise wie: Provokateure isolieren; wer festgenommen wird, ruft seinen Namen, damit er nicht namenlos verschwindet, haben vielen erst den Mut zum Demonstrieren gegeben und das Gefühl einer solidarischen Gemeinschaft, die nicht ganz hilflos ist. Mit Kerzen und Gebeten ist außerdem die Rolle der Kirchen im Herbst 1989 gar nicht erschöpft. Auf Anregung aus den oppositionellen Gruppen und nach dem polnischen Vorbild hat die Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in der DDR zum Runden Tisch vom 7. Dezember an die Parteien der bisherigen Volkskammer und Vertreter der oppositionellen Gruppen eingeladen und so ein friedliches Ende der SED-Herrschaft eingeleitet. Die Gewaltlosigkeit war eine Voraussetzung für das Gelingen der Herbstrevolution. Gewalt hätte übrigens auch das Eingreifen der sowjetischen Truppen in der DDR provoziert. Die Gewaltfreiheit war aber keine Garantie fürs Gelingen. Manche meinen ja, hier sei das überall wiederholbare Rezept zur Beseitigung von Diktaturen entdeckt worden. Das ist ein Irrtum. Gewaltlosigkeit wirkt nur unter zwei Bedingungen: Sie muss von einer sympathisierenden Öffentlichkeit wahrgenommen und reflektiert werden, und die Machthaber müssen von dieser öffentlichen Meinung abhängig sein. Am 3. Juni 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens war das nicht der Fall. Deshalb war dort gewaltfreier Widerstand wirkungslos, leider. Aber im Herbst 1989 in der DDR war das der Fall, zu unserem Glück.

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Vgl. Erich Loest: Zwiebeln für den Landesvater. Göttingen u. a. 1997, S. 113. Vgl. Der Spiegel, 19 (1990), S. 53ff. Vgl. http://chrismon.evangelisch.de/print/13521.

„Die DDR war ein Unrechtsstaat, daran besteht kein Zweifel.“ (Bernhard Vogel) Arnold Vaatz Dieser Satz von Bernhard Vogel aus dem Jahr 1993 zählt – unabhängig davon, ob man ihn teilt oder nicht – zu den Kernbausteinen der politischen Debatte nach der deutschen Wiedervereinigung. An ihm scheiden sich die Geister. Runde zwanzig Jahre später widersprach Lothar de Maizière: „Die DDR war kein vollkommener Rechtsstaat. Aber sie war auch kein Unrechtsstaat. Der Begriff unterstellt, dass alles, was dort im Namen des Rechts geschehen ist, Unrecht war.“ Er begründet dies auch mit fortgeltendem DDR-Recht im Einigungsvertrag.1 Intensität und Emotionalität der nun anschwellenden Debatte mochten es gewesen sein, die Angela Merkel mit den Worten auf den Plan rief: „Ich sage: es war ein Unrechtsstaat.“ Allerdings: „Die DDR ist der Bundesrepublik am 3. Oktober 1990 als Demokratie und Rechtsstaat und nicht als eine in Auflösung befindliche Diktatur beigetreten.“ 2 Damit unterscheidet sie zwischen zwei politischen Gebilden gleichen Namens: Jener „DDR“, die 1949 gegründet worden war, und der die Bewertung Bernhard Vogels zugedacht ist und jener DDR, die sich seit Oktober 1989 aus eigener Kraft aus dem Diktat der SED befreite und am Ende dieses Prozesses keinen Grund für eine staatliche Fortexistenz mehr sah. Ich will folgenden Fragen nachgehen: 1. Ist Bernhard Vogels These richtig? 2. Woraus speist sich ihr Erregungspotenzial? Zur ersten Frage: Vieles scheint für Lothar de Maizières These zu sprechen. Gewaltverbrechen, Diebstahl, Brandstiftung – all diese Delikte waren in der DDR wie in der Bundesrepublik strafbar. Viele mögen im Rückblick die DDR-Praxis sogar als gerechter empfinden, da die Strafen dafür in der Regel ungleich härter ausfielen als in der Bundesrepublik. Das Zivilrecht war sinnvoll: Das Erbrecht folgte den Prinzipien des Bürgerlichen Gesetzbuches, Scheidungs- und Unterhaltsrecht waren durchaus modern, die Straßenverkehrsordnung war klar und viel weniger kompliziert geregelt als im Westen, wenngleich sie polizeilicher Willkür bedenklich viel Raum ließ. Vor allem: Das gesamte Recht war für den Bürger weit überschaubarer, nicht zu vergleichen mit den jeden Menschen überfordernden Rechtsdifferenzierungen der Bundesrepublik von heute, die den Bürger mehr oder weniger hilflos den Interpretationskünsten der Juristen ausliefert. All dies sind jedoch keine Kriterien dafür, ob ein Staat als Rechtsstaat zu qualifizieren ist oder nicht. Auch in einem Unrechtsstaat kann vieles so vernünftig geregelt sein, dass kein Veränderungsbedarf zu erkennen ist.

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Das Kriterium, an dem sich ein Rechtsstaat messen lassen muss, ist nämlich nicht die Qualität seiner Gesetze, sonders die Legitimität des Gesetzgebers. Die ersten Weichen hierfür stellten in West- wie Ostdeutschland die Besatzungsmächte. Im Gegensatz zu den prinzipiell subsidiären Charakter der Neukonstitution im Westen sorgte die sowjetische Besatzungsmacht im Osten mit ihrem ausführenden Organ, der Kommunistischen Partei Deutschlands, nach und nach unter Vortäuschung demokratischer Prinzipien im Sinne des bereits im Mai 1945 von Ulbricht überlieferten Satzes: „Es muss alles demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben“ 3 für deren vollständige Abschaffung. Es folgte die – von großen Teilen der SPD freiwillig vollzogene – Vereinigung von KPD (Ost) und SPD (Ost) zur SED , in Teilen demokratischen Landtagswahlen 1946 (bei denen allerdings die SED massiv von der sowjetischen Besatzungsmacht unterstützt wurde) die Entmachtung der bürgerlichen Parteien CDU und LDP und schließlich mit deren Gleichschaltung und Integration in von der SED bestimmten Einheitslisten die vollständige Abschaffung unabhängiger Parteien und freier Wahlen bis zum Jahr 1990. Die aus dieser politischen Grundkonstellation hervorgegangenen Volkskammern leiteten ihre Legitimität als Gesetzgeber formal aus ihrer behaupteten Eigenschaft ab, aus freien Wahlen hervorgegangen zu sein – und genau dies war bei keiner von ihnen der Fall. Damit beruhte das gesamte von ihnen gesetzte Recht auf dem Unrecht einer vorgetäuschten Befugnis, die keinerlei demokratische Grundlage hatte. Hinzu kommt, dass mit der Unterwerfung der Rechtssetzung durch die SED auch die Unterwerfung der Rechtsprechung einherging. Man stelle sich vor, wenn in der Bundesrepublik Deutschland von heute folgendes geschähe: Die Abschaffung des Bundesverfassungsgerichtes, die Abschaffung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, die partielle Abschaffung der Rechtswegegarantie und die Eingliederung der Justiz unter die Exekutive. Ohne dass es zu einem einzigen juristischen Streitfall kommen müsste, wäre das Urteil über die Bundesrepublik fertig: Ein Unrechtsstaat – und das mit Recht. Genauso aber lagen die Dinge in der DDR. Allerdings nahm die Öffentlichkeit diesen Zustand offenbar – wenigstens bis zum 17. Juni 1953 – relativ klaglos hin. Hieraus könnte man auf Legitimität des Status quo der frühen DDR durch allgemeine Akzeptanz schließen. Ausgerechnet hier erschließt sich aber der makaberste Abschnitt im Fundament der DDR: Das stets im Hintergrund stehende Potential der Besatzungsmacht. Der von Deutschland vom Zaun gebrochene Zweite Weltkrieg mit den singulären Verbrechen der Nazis verdeckt leider bis heute das Wirken einer ungeheuerlichen Mordmaschine namens Stalin – eben jenes Menschen, von dem die wahre Macht im Osten Deutschlands damals ausging. Die von Stalin systematisch organisierte Hungersnot in der Ukraine hatte bis zum Jahr 1933 der Schätzung sowjetischer Funktionäre zufolge 5,5 Millionen Menschen das Leben gekostet.4 In den Jahren 1937 und 1938 wurden auf Stalins Befehl Mord-Quoten ausgegeben: Zahlen, die besagten, wie viele Menschen in einer bestimmten Region umzubringen waren.

Die DDR war ein Unrechtsstaat

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„Anfang des Jahres 1938 erhielt Stalin Gesuche von Parteisekretären aus allen Regionen des Landes, die um eine Erhöhung der Quoten baten, im Glauben, sich durch solchen Eifer beliebt zu machen.“ 5 Stalin selbst ließ aus Launen heraus in seiner engsten Umgebung willkürlich morden, politische Gegner und solche, die er dafür hielt, Personen, die zu viel wussten, solche, die ihm zu stark oder zu schwach waren – unberechenbar, willkürlich und gnadenlos. All dies war den Menschen in dieser Zeit weit stärker gegenwärtig als es der heutigen Gesellschaft trotz hervorragender historischer Aufbereitung bewusst ist. Hinzu kamen die Massenvergewaltigungen der Roten Armee, der ungeklärte Verbleib von Zehntausenden in der Sowjetunion Verschleppten oder in die ehemaligen Nazi-Konzentrationslager (wie Sachsenhausen oder Buchenwald) verbrachten Personen und nicht zuletzt das ungewisse Schicksal von noch immer in die Hunderttausende gehenden Kriegsgefangenen und Vermissten in der Sowjetunion. Dies alles belastete das Bewusstsein der Ostdeutschen in einem Maße, das heute unvorstellbar ist. Die Unangefochtenheit, mit der die SED Ostdeutschland unterwerfen konnte, beruht auf der von Stalin allgemein bekannten Fähigkeit zu anlasslosem, flächendeckendem Massenmord. Und Stalins Arm war die SED, sein Statthalter in Deutschland war Ulbricht. Die deutsche Linke bis weit ins bürgerliche Lager gefällt sich gern darin, die DDR als kommode Diktatur zu betrachten (Günter Grass „Ein weites Feld“). In Wahrheit war sie der organische Ausläufer eines menschenverachtenden Systems, das sein Zentrum in Russland hatte und ohne Einwirkung äußerer Feinde 10 – 20 Millionen von gemordeten und noch einmal so vielen Vertriebenen, GULAG-Gefangenen und Deportierten auf seinem Konto hat. Die SED dankt das Sich-Abfinden mit dem Unrechtsstaat DDR den Mordtaten Stalins. Wie die Ausläufer des Hitler-Regimes in Frankreich oder Norwegen es nicht verdienen, gnädiger beurteilt zu werden als das Epizentrum der Nazis in Berlin, so verdienen die Ausläufer des Stalin-Regimes in Mitteleuropa keine gnädigere Beurteilung als deren Epizentrum im Moskau. Der Zeitpunkt des Aufstands vom 17. Juni 1953 ist somit kein Wunder: Am 5. März 1953 war Stalin gestorben. Ironischerweise rettete ausgerechnet dieser Aufstand Stalins sächsische Kreatur Walter Ulbricht, dessen innerparteiliche Gegner mit dem Tod des sowjetischen Diktators Morgenluft gewittert hatten. Es kam, was kommen musste. Man stimmte mit den Füßen ab. In zwei mächtigen Wellen verließen die Menschen das Land, weil sie das Unrecht des entzogenen Mitwirkungsrechtes und die Willkür der Diktatur nicht mehr hinnehmen wollten. Gegen die erste Welle baute man eine Mauer, gegen die zweite war man machtlos, weil durch Gorbatschow die sowjetische Bedrohung ihren Schrecken verloren hatte. Zur zweiten Frage: Warum aber treibt der Satz „Die DDR war ein Unrechtsstaat“ die Emotionen derart in die Höhe? Die Antwort hat mehrere Komponenten. Die erste Komponente ist die heikelste. Bernhard Vogel war mehr als elf Jahre lang Ministerpräsident des Landes Thüringen. Er hat damit einen bedeutenden Teil seines Lebens Ostdeutschland gewidmet und unzählige Male zur Kenntnis

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nehmen müssen, welche irreparable Schäden DDR-Unrecht in den Seelen der Menschen hinterlassen hat, welche Gräben zwischen den Menschen und welche Beeinträchtigungen in den Strukturen der Gemeinwesen, der Wirtschaft und des kulturellen Lebens vorhanden waren. Er weiß also genau, wovon er spricht, weshalb ich seine Person bei dem Folgenden ausgeklammert wissen will: An den Nerven der Ostdeutschen zerrt ein Trauma, das erst nach der Wiedervereinigung spürbar wurde. Sie haben den Westdeutschen sonst vielleicht nichts, dieses eine aber mit Sicherheit voraus: Das Leben in der DDR. Wenn also ein Westdeutscher irgendein fertiges Urteil über die DDR flott über die Lippen bringt, dann ist vielen Ostdeutschen zumute, als begännen Gäste in der eigenen Wohnung die Möbel zu verrücken. So erhebt sich gelegentlich Widerspruch von Menschen, die dies eigentlich genauso sehen, aber jede Bewertung dazu verwerfen, wenn diese von Außenstehenden kommt. Die in Westdeutschland verbreitete Neigung, aus nicht selbst gemachten, also fremden Lebenserfahrungen heraus flotte Wertungen abzugeben, erzeugt in Ostdeutschland antiwestliche Allergien. Hier nun hat auch ein unausrottbares Missverständnis seine Wurzel: Mit der Qualifizierung der DDR als Unrechtsstaat sei ein Unwerturteil über die Menschen in der DDR gesprochen. Ihr Leben in der DDR würde kriminalisiert. Es ist eine der größten Leistungen der SED und ihrer Nachfolgeparteien, vielen Menschen mit Erfolg die Fähigkeit ausgetrieben zu haben, zwischen einem Vorwurf, der ihnen als Menschen gilt, und einem Vorwurf, der der DDR als System gilt, zu unterscheiden. Deshalb ist es leider nicht überflüssig, wenn Timothy Garton Ash betont: „Unrechtsregime: ja – Unrechtsstaat: ja! Unrechtsland: nein – Unrechtsvolk: nein!“ 6 Die zweite Komponente ist der wutentbrannte Reflex mit dem gelegentlich Jene auf Bernhard Vogels These reagieren, die das DDR-System in bestimmter Weise getragen haben – die einen notgedrungen, die anderen schon etwas intensiver, die dritten aggressiv und leidenschaftlich. Sie wissen genau und könnten besser bestätigen als mancher andere, dass die DDR ein Unrechtsstaat war. Aber sie waren dabei. Sie haben diesen Staat – der eine gern, der andere ungern – verteidigt. Und sie sind die eigentlichen Gewinner der deutschen Wiedervereinigung, weil sie Fähigkeiten wie Führungserfahrung, Herrschaftswissen, Personenkenntnis und internationale Vernetzung schon zu DDR-Zeiten entwickeln konnten. Sie hatten damit eine Ausstattung, die im neuen, wiedervereinigten Deutschland weit mehr gefragt war, als die Wachsmatrize eines Dissidenten, der damit illegale Denkschriften vervielfältigte. Diese alten DDR-Eliten begnügen sich nun aber nicht mehr mit dem halben Sieg. Sie wollen einen vollen Sieg. Und der besteht in ihrer geschichtlichen Rehabilitierung. Das System, dem sie gedient haben, soll reingewaschen werden von dem Makel des Unrechts, weil dies und nur dies sie völlig exkulpiert. Und sie stellen fest, dass die politische Lage dafür günstig ist. Denn auch die westdeutsche Linke will sich ihrer Sympathien für die DDR, die sie über viele Jahre offen gezeigt hat, nicht länger schämen und bietet sich mit ihrer Medienübermacht als exzellenter Helfer an.

Die DDR war ein Unrechtsstaat

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Spiegel Online, 23. August 2010. Die Welt, 22. September 2010. Wolfgang Leonhard: Die Revolution entläßt ihre Kinder. 2. Bd. Leipzig 1990, S. 406. Timothy Snyder: Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin. München 2011, S. 73. Jörg Baberowski: Verbrannte Erde – Stalins Herrschaft der Gewalt. 2. Aufl. München 2012, S. 331. Timothy Garton Ash, in: Die Zeit online, 16. Juli 2012.

„Es gab ein Ministerium für gesamtdeutsche Fragen, ein Ministerium für gesamtdeutsche Antworten hat es nicht gegeben.“ (Bernhard Vogel) Dorothee Wilms Aufmerksame Beobachter der Reden von Bernhard Vogel haben herausgefunden, dass er sich mehrfach im Zusammenhang mit dem Thema „Wiedervereinigung“ wie oben geäußert hat. Was hat er damit sagen wollen? Wir können es nur vermuten. Vielleicht wollte er auf rhetorisch plakative Art deutlich machen, dass die Vereinigung der beiden Staaten in Deutschland in den Jahren 1989/1990 weder vorhersehbar noch im Voraus planbar war und dass deshalb keine fertigen Rezepte für die Vereinigung in den Schubladen des Ministeriums liegen konnten. Ich jedenfalls fasse seine Worte so auf und will dies kurz begründen. Die Wiedervereinigung Deutschlands war seit dem Kriegsende 1945 und der Teilung des Landes in vier Besatzungszonen und besonders nach Gründung der beiden deutschen Staaten 1949 zwar ein für die meisten Deutschen in West und Ost nie vergessenes, aber über die Jahrzehnte auch nicht erreichbares politisches Ziel. Insbesondere seit dem Mauerbau in Berlin 1961 und der militärisch gesicherten, völligen Abriegelung der innerdeutschen Grenze war nahezu jede Hoffnung auf eine baldige Wiedervereinigung geschwunden. Dazu kam, dass es sich ja nicht nur um die „innerdeutsche“ Grenze handelte, sondern um die Grenze zwischen den demokratischen Staaten des westlichen Bündnisses, der NATO , und den kommunistischen Diktaturen des Warschauer Paktes. Zwei militärische Machtblöcke standen sich feindselig gegenüber, es herrschte der „Kalte Krieg“. Nicht die Deutschen hatten das Sagen über die Vereinigung ihres geteilten Landes, sondern die Politiker in Washington und Moskau. Die deutsche Frage war eine europäische, ja eine weltpolitische Frage geworden. Erst mehr als 40 Jahre nach Kriegsende kam Bewegung in diese starren Fronten, als sich die internationale Lage durch die neue Politik des sowjetischen Staatschefs Michail Gorbatschow (Glasnost, Perestroika) grundlegend änderte. Im Juli 1989 kündigte er mit seinem Begriff des „Gemeinsamen Hauses Europa“ die bis dahin gültige sowjetische Breschnew-Doktrin auf, indem er praktisch alle Staaten Osteuropas, auch die DDR, aus dem Herrschaftssystem der Sowjetunion entließ. Jetzt war erstmals eine Erfolgschance für die Bürger- und Protestbewegung in der DDR gegeben, offener als je zuvor gegen die SED-Regierung und die StasiÜberwachung zu demonstrieren – und es gelang! Die sowjetischen Truppen blieben in ihren Kasernen, die SED-Führung erstarrte in Ratlosigkeit. International

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war jetzt die Lage entstanden, auf die die Parteien und Regierungen der Bundesrepublik Jahrzehnte lang vergeblich gewartet hatten. Jetzt durfte und musste das Anliegen der Deutschen nach staatlicher Wiedervereinigung in „Frieden und Freiheit“ (Konrad Adenauer) auf die Tagesordnung der Weltpolitik kommen. Nunmehr ging alles sehr schnell: Am 28. November 1989 trug Bundeskanzler Helmut Kohl im Deutschen Bundestag sein berühmt gewordenes „10-PunkteProgramm“ zur Annäherung der beiden deutschen Staaten vor, verbunden mit der Forderung nach freien Wahlen in der DDR. Im Winter 1989/1990 begannen erste Verhandlungen mit der SED -Regierung Modrow, vor allem über Wirtschaftsfragen. Am 18. März 1990 fanden die ersten – und letzten – freien demokratischen Volkskammerwahlen in der DDR statt; die Menschen forderten die deutsche Vereinigung so bald als möglich. Danach begannen sofort die Verhandlungen mit der demokratisch gewählten DDR-Regierung unter Ministerpräsident Lothar de Maizière (CDU ) über die Verträge zur Vereinigung. Im Sommer 1990 trat die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion in Kraft. Im September 1990 erhielt die Bundesrepublik Deutschland nach Abschluss der internationalen Verhandlungen innerhalb der KSZE , den „Zwei-plus-VierGesprächen“, ihre volle völkerrechtliche Souveränität zurück, die sie seit 1949 nie besessen hatte. Am 3. Oktober 1990 war die Vereinigung Deutschlands nach Artikel 23 des Grundgesetzes vollendet: Die neu gegründeten Bundesländer auf dem Gebiet der DDR schlossen sich der Bundesrepublik Deutschland an. Die Wiedervereinigung wurde also in Frieden und Freiheit und im Einvernehmen mit unseren europäischen Nachbarn erreicht, so wie es seit Konrad Adenauer viele Deutsche über 40 Jahre lang erhofft hatten Die staatliche Vereinigung ging in einem, für ein parlamentarisches System ungewohnt raschem Tempo voran; es war nicht viel Zeit für ausgedehnte bürokratische Vorbereitungen und Planungen, schnell musste entschieden werden. Dies war aus der historischen Rückschau auch ein Glück für die Deutschen, denn kurze Zeit später wechselte in der Sowjetunion die politische Führung, Gorbatschow musste abtreten; die kommunistische Sowjetunion brach auseinander. Aber kommen wir zurück auf die Worte von Bernhard Vogel: Hätte das Ministerium, das für Deutschlandfragen mit zuständig war, vielleicht nicht doch, unabhängig von historisch-politischen Konstellationen, Vorlagen zur Wiedervereinigung in der Schublade haben sollen? Das „Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen“ wurde 1949 von Jakob Kaiser (CDU) politisch durchgesetzt und lange Jahre geführt. Da in der Bundesrepublik damals noch die Hoffnung auf eine baldige Wiedervereinigung in einem demokratischen Sinne bestand, gründete Kaiser einen „Forschungsbeirat für Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands“ unter Beteiligung vieler Politiker und namhafter Wissenschaftler. Analysen über die wirtschaftliche und soziale Lage in der DDR sollten erstellt, aber auch konkrete Maßnahmen für den Fall einer Vereinigung vorgeschlagen werden. Dabei war es selbstverständlich, dass die Beiratsmitglieder das totalitäre

Ein Ministerium für gesamtdeutsche Fragen

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System in der DDR kritisch sahen und verurteilten; die gemachten Vorschläge zielten auf die Wiederherstellung einer demokratischen Ordnung in ganz Deutschland. Aber schon damals wies man auf die immensen Schwierigkeiten im Falle einer Vereinigung hin, deren Lösung viele Jahre in Anspruch nehmen würde! Doch die Jahre vergingen, die Chancen für eine Vereinigung rückten international in eine vage Zukunft. Der Beirat verlor politisch und sachlich an Bedeutung, vor allem seit der Großen Koalition (CDU / CSU / SPD) in Bonn 1969. Herbert Wehner (SPD) wurde damals gesamtdeutscher Minister und benannte das Ressort um in „Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen“. Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) beschleunigte seine aktive Ostpolitik und schloss unter anderem 1972 mit der DDR-Regierung den „Grundlagenvertrag“ ab, der den Beginn von innerdeutschen Beziehungen auf einigen Gebieten ermöglichte; der Gedanke an eine Wiedervereinigung rückte jedoch politisch in den Hintergrund. Auch international kam es zur Entspannungspolitik zwischen den Machtblöcken angesichts des atomaren Gleichgewichts. Beide Entwicklungen ließen eine kritische Betrachtung der undemokratischen, ja totalitären Verhältnisse in der DDR politisch als unliebsam erscheinen. Der früher so hoch geachtete Forschungsbeirat im Ministerium geriet politisch völlig in den Hintergrund und wurde 1975 von Minister Egon Franke (SPD) aufgelöst. Stattdessen begann mit Hilfe des Ministeriums eine „Forschungsstelle für gesamtdeutsche wirtschaftliche und soziale Fragen“ ihre Arbeit mit dem Ziel, die Situation in der DDR „systemimmanent“ zu analysieren, sich also einer Systemkritik im Sinne einer Totalitarismuskritik zu enthalten. In dieser Forschungsstelle waren vor allem Wissenschaftler aus der „DDR- Forschung“ engagiert, die gleichsam politisch wertneutral die Situationen in der Bundesrepublik und der DDR miteinander verglichen. An die Erarbeitung von Unterlagen für eine gewünschte Wiedervereinigung in einem freiheitlichen System dachte man dabei nur noch wenig. Mit der Regierungsübernahme von Bundeskanzler Helmut Kohl im Jahre 1982 wurde der Wunsch nach einer deutschen Vereinigung in Frieden und Freiheit politisch wieder viel deutlicher als vordem artikuliert: Nur wer über ein politisches Ziel spricht, kann es auch im öffentlichen Bewusstsein halten! Ab Mitte der 1980er Jahre wurden neue Forschungsbeiräte im Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen eingesetzt. Minister Heinrich Windelen (CDU) und ich regten auch systemkritische Untersuchungen über die DDR-Situation an. Es sollten – nach Themenkomplexen gegliedert – kritisch vergleichende Forschungsarbeiten in Form von „Materialien“ über die Verhältnisse in der DDR und der Bundesrepublik erstellt und im Bundestag vorgelegt werden. An „Handlungsanleitungen“ für eine Vereinigung wurde dabei allerdings weniger gedacht, die internationale Lage bot dazu keinen Anlass! Außerdem ahnten Kenner der DDR schon damals, was sich nach vertieften Einblicken in die Verhältnisse der DDR ab 1990 mehr als bestätigte: Die national und international

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Dorothee Wilms

vorgelegten DDR -Statistiken waren geschönt, verschleiert, ja gefälscht. Die finanzielle und wirtschaftliche Lage der DDR war viel schlimmer als es selbst viele Regierende dort wussten. Noch ein anderer Aspekt ist zu bedenken: Eine vorbereitende Vorlage des Ministeriums für eine Wiedervereinigung zu einem unbekannten fernen Zeitpunkt hätte selbstverständlich von bestimmten politischen Eckdaten ausgehen müssen. Wer aber wusste vor 1989/1990, wie die internationale Lage, die innerdeutschen Rahmendaten, die politischen Willensbekundungen einer freien Regierung der DDR – nur mit einer solchen konnten und wollten wir ja verhandeln – im gegebenen Falle sein würden? Es ging ja immer auch um mehr als um rein organisatorische Probleme, wie etwa die Regulierung der Postleitzahlen! Jedes konkrete Nachdenken über eine „politisch angenommene“ Wiedervereinigungskonstellation hätte wohl zu Recht zu einem Sturm der Entrüstung in der öffentlichen und veröffentlichten Meinung bei uns geführt und wäre als Anmaßung abgekanzelt worden! Aber auf einem politischen Feld hat das Ministerium in den 1980er Jahren unter CDU-Ministern eine Menge im Sinne der Wiedervereinigung getan: Durch die finanzielle und organisatorische Förderung vielfältiger deutschlandpolitischer Bildungsmaßnahmen in Bund und Ländern hat man versucht, in der jungen Generation den Gedanken an die Vereinigung Deutschlands wach zu halten und Kenntnisse vom geteilten Land zu vermitteln. Dies war bitter notwendig, denn viele junge Menschen interessierten sich damals mehr für unsere westlichen Nachbarländer als für die Menschen in der DDR; die Entfremdung zwischen West und Ost hatte schon ein beachtliches Ausmaß angenommen, wie uns Berichte von geförderten Schülerreisen zeigten. Dies alles ist heute erfreulicherweise Geschichte. Eine neue Generation ist bereits in das vereinte Deutschland hineingewachsen und kennt die Probleme der Teilung nur noch aus den Geschichtsbüchern – hoffentlich!

Bernhard Vogel und die christliche Tiefenschärfe seines Engagements für Afrika „Entwicklung, der neue Name für Frieden.“ (Papst Paul VI.) Horst Köhler Bernhard Vogel und Afrika, das ist eine lange Geschichte. Ihr Ruanda-Kapitel allein ist schon gute 30 Jahre lang. Aber wie kommt einer aus Rheinland-Pfalz, einem Land ja doch ohne Küste, wie kommt ein Wahlbürger von Thüringen, das auch keinen Seehafen hat, wie kommt ein solcher Mann darauf, sich für die Menschen auf unserem Nachbarkontinent Afrika zu engagieren? Wer danach fragt, der begegnet dem gläubigen Christen Bernhard Vogel, und wer den Quellen seines Engagements für Afrika nachgeht, der findet auch zu „Populorum Progressio“. Populorum Progressio, das ist der Titel einer Enzyklika Papst Pauls VI . aus dem Jahre 1967 über die Entwicklung der Völker. Sie ist die erste Sozialenzyklika, die sich ganz der internationalen Entwicklung zuwendet und die begründet, warum der Friedensauftrag der Kirche auch den Ausgleich zwischen Nord und Süd umfasst – und warum Entwicklung der neue Name für Friede ist. Das Lehrschreiben des Papstes ist von beeindruckender gedanklicher Kraft und von ungebrochener Aktualität. Die Lektüre ist bis heute ein Gewinn für alle, die sich mit Fragen der Entwicklungszusammenarbeit, der internationalen Beziehungen und der Bewahrung der Schöpfung befassen. Populorum Progressio mahnt, das Ziel „Entwicklung“ nicht auf – gewiss wichtige – Einzelaspekte wie etwa wirtschaftliches Wachstum und Industrialisierung zu reduzieren, sondern Entwicklung umfassend zu verstehen und vom Menschen her zu denken: Entwicklung müsse jeden Menschen und den ganzen Menschen im Auge haben, sie müsse sich den sozialen Fortschritt ebenso angelegen sein lassen wie den wirtschaftlichen, sie solle danach streben, eine Welt zu bauen, „wo jeder Mensch, ohne Unterschied der Rasse, der Religion, der Abstammung, ein volles menschliches Leben führen kann, frei von Versklavung seitens der Menschen oder einer noch nicht hinreichend gebändigten Natur“. So verstanden und so beherzigt, sei Entwicklung der neue Name für Friede. Populorum Progressio erwartet eine solche Entwicklung nicht vom freien Spiel der Kräfte. Die Enzyklika fordert von den Staaten konzeptionelles Handeln für einen weltweiten Ordnungsrahmen und eine Zusammenarbeit zwischen

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Horst Köhler

den Starken und den Schwachen, die von Fairness geprägt ist statt von Profitmaximierung unter dem Deckmantel formaler Gleichheit. Die Enzyklika fordert, dem Wettbewerb Zügel anzulegen, sie fordert starke internationale Institutionen und vor allem starke Vereinte Nationen, und sie mahnt, den Weg der Reformen zu gehen und nicht den Weg gewaltsamer Revolution, wobei aber die Reformen im Interesse des Gemeinwohls radikal sein können und manchmal sein müssen – so billigt zum Beispiel Populorum Progressio die Enteignung von schädlichem Großgrundbesitz. So wird praktisch das gesamte Panorama der Ordnungsaufgaben ausgeleuchtet, von den Institutionen und Regeln der „Global Governance“ bis zur Zähmung der Wirtschafts- und Finanzmärkte – es ist ausdrücklich vom „finanzkapitalistischen Internationalismus“ und vom „Imperialismus des internationalen Finanzkapitals“ die Rede – und vom Schutz der globalen Gemeingüter bis hin zu den menschenrechtlichen Fundamenten für das friedliche Zusammenleben der Völker. Das alles wird in einer klaren und eindringlichen Sprache dargelegt: „Der Hunger nach Bildung ist nicht weniger bitter als der Hunger nach Nahrung.“ Es geht um „eine Welt, wo die Freiheit nicht ein leeres Wort ist, wo der arme Lazarus an derselben Tafel mit dem Reichen sitzen kann“. „Wirtschaft und Technik erhalten ihren Sinn erst durch den Menschen, dem sie zu dienen haben.“ Und: „Es eilt. Zu viele Menschen sind in Not, und es wächst der Abstand, der den Fortschritt der einen von der Stagnation, besser gesagt, dem Rückschritt der anderen trennt.“ Aber so klar die Botschaft ist, bei Vielen ist sie bis heute nicht angekommen. Es ist eben immer nur ein Teil der Arbeit, die Pflicht der reichen und der aufsteigenden Nationen zur Solidarität mit ihren weniger glücklichen Vettern zu begründen. Es bleibt immer der andere, ebenso wichtige Teil: den Ruf der Pflicht auch zu beherzigen, der gebotenen Solidarität in fairer Zusammenarbeit auch wirklich Gestalt zu verleihen, Atem und Leben. Das tut Bernhard Vogel seit Jahrzehnten. Er weiß, dass unser Nächster, der Mensch, der unsere Hilfe braucht, auch fern von uns leben kann, fern von Rheinland-Pfalz und Thüringen, selbst tief im Herzen von Äquatorialafrika. Vor 30 Jahren besiegelte Bernhard Vogel die erste Partnerschaft zwischen einem Bundesland und einem afrikanischen Staat, die Partnerschaft zwischen Rheinland-Pfalz und Ruanda. Ihr Grundgedanke: Zusammenarbeit, die dezentral, bürgernah und doch konzentriert und überschaubar sein soll. Das Beispiel dieser Zusammenarbeit hat Schule gemacht und ist bis heute beispielgebend. Fast 1.500 Projekte wurden schon verwirklicht, immer strikt orientiert an den wirklichen Bedürfnissen der Menschen in Ruanda. Da werden Schulen gebaut oder renoviert und Krankenstationen errichtet, da werden Brunnen gebohrt und neue Wege für eine ökologische Landwirtschaft beschritten, da werden Handwerker ausgebildet und Frauen gefördert, damit sie besser für ihre Familien sorgen und zugleich ihre individuellen Rechte besser wahrnehmen können, denn das sind meist zwei Seiten derselben Medaille.

Entwicklung, der neue Name für Frieden

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Dutzende von rheinland-pfälzischen Städten und Gemeinden, hunderte Schulen, vier Hochschulen und immer mehr Vereine, Stiftungen und Kirchengemeinden in Rheinland-Pfalz beteiligen sich an der Zusammenarbeit mit Ruanda. Es gibt einen landesweiten Ruanda-Tag. Und wenn die Pfarrei Erfenbach im Bistum Speyer gemeinsam mit ruandischen Gästen das fünfjährige Bestehen ihrer Partnerschaft mit der Gemeinde Nkanka feiert, dann ist Bernhard Vogel gern als Festredner mit dabei. Auch das Afrika Forum, das ich als Bundespräsident gegründet habe, konnte auf Bernhard Vogel zählen. Als Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung nahm er 2008 an den Beratungen der afrikanischen Staats- und Regierungschefs beim Afrika Forum in Abuja, der Hauptstadt von Nigeria, teil. Unser Thema lautete „Partnerschaft mit Afrika“, und Bernhard Vogel konnte aus seiner reichen persönlichen Erfahrung mit der Partnerschaft zwischen Ruanda und Rheinland-Pfalz ebenso berichten wie aus der vielfältigen Arbeit der KonradAdenauer-Stiftung. Sie und die anderen großen politischen Stiftungen leisten einen wertvollen Beitrag zur Entwicklungszusammenarbeit Deutschlands mit den Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas. Auch da war die Handschrift von Bernhard Vogel unverwechselbar. Im vergangenen Jahr trafen wir beide dann in Kigali mit dem Staatspräsidenten von Ruanda, Paul Kagame, zusammen. Unser Gespräch war Teil eines Dialogprogramms der Konrad-Adenauer-Stiftung und drehte sich um die wirtschaftliche Entwicklung Ruandas, um die regionale Integration in Ostafrika und um die weitere Stärkung rechtsstaatlicher Prinzipien. Gemeinsam berichteten wir über die guten Erfahrungen der Bundesrepublik Deutschland mit unserem Modell der Sozialen Marktwirtschaft. Wir verstehen beide dieses Modell nicht als Patentrezept und Einheitslösung für alle anderen Staaten dieser Erde, aber wir sind übereinstimmend der Überzeugung, dass wir Deutsche die Soziale Marktwirtschaft in aller Welt selbstbewusst vertreten und empfehlen können: als ein Arsenal aufeinander abgestimmter und in der Praxis bewährter ordnungspolitischer Lösungen. Und wir hegen beide die Hoffnung, dass möglichst viele afrikanische Staaten ihre eigene gute Version von Sozialer Marktwirtschaft entwickeln werden. Damit käme die Welt dem Ziel von Entwicklung und Friede ein gutes Stück näher. Denn die Herausforderungen, die schon die Enzyklika Populorum Progressio beschrieben hat, bestehen fort, und die in ihr aufgezeigten Lösungen sind längst noch nicht verwirklicht. Afrika, um bei diesem Kontinent zu bleiben, steht vor einer Verdoppelung seiner Bevölkerungszahl innerhalb der nächsten 40 Jahre, und viele seiner Länder haben es leider noch lange nicht geschafft, belastbare demokratische und rechtsstaatliche Ordnungen und leistungsfähige Volkswirtschaften aufzubauen. Stattdessen ist oft die Versuchung groß, Raubbau an Bodenschätzen und an der Natur zu treiben und in die Taschen korrupter Eliten zu wirtschaften, und leider finden sich in aller Welt Mächte, seien es Regierungen,

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seien es Finanzinstitutionen, die für eine solche Ausbeutung und Selbstausbeutung des afrikanischen Kontinents die Hand reichen. Einmal mehr droht Entwicklung gerade nicht ganzheitlich verstanden zu werden und gerade nicht dem Menschen und allen Menschen zu dienen, sondern droht sie reduziert zu werden auf Profitstreben und auf Machtpolitik. Darum bleibt Populorum Progressio ein wichtiger Appell, darum ist an diese Enzyklika von Papst Johannes Paul II. und Papst Benedikt XVI . angeknüpft worden, und darum gibt der Satz „Entwicklung ist der neue Name für Friede“ dem Engagement von Menschen wie Bernhard Vogel auch künftig eine unverwechselbare, christliche Tiefenschärfe. Zugleich gibt uns dieses Engagement ein Beispiel dafür, mit welcher Haltung wir in der Welt wirken sollten. Wir sollen uns nicht entmutigen, wir sollen uns ermutigen lassen, auch und gerade von Menschen wie Bernhard Vogel. Er ist nicht nur ein unermüdlicher, er ist auch ein fröhlicher Arbeiter im Weinberg des Herrn. Sein christlicher Glaube trägt ihn, sein christliches Menschenbild erfüllt ihn mit einem realistischen Optimismus, und darum weiß er: Entwicklung und Friede lohnen den Einsatz.

Bernhard Vogels Engagement für die Armen in Afrika „Seht, ich habe es Euch gesagt, wir müssen den Armen Freude bereiten.“ (Elisabeth von Thüringen) Peter Molt In diesem Jahr besteht die von Bernhard Vogel initiierte Partnerschaft des Landes Rheinland-Pfalz mit Ruanda 30 Jahre. Wie kam es dazu? Die Bundesländer hatten 1979 beschlossen, die Entwicklungshilfe des Bundes stärker als bisher zu unterstützen. Sie wollten sich dabei auf die Aufgaben konzentrieren, die sich aus ihren Zuständigkeiten ergaben, wie die Verstärkung des Personaleinsatzes in der Entwicklungshilfe und die Förderung der Aus- und Weiterbildung von Fachkräften in und aus den Entwicklungsländern. Vor allem wollten sie sich für die bessere Verankerung der Entwicklungszusammenarbeit in der Bevölkerung durch Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit und für die Begründung kommunaler Partnerschaften mit der Dritten Welt einsetzen. Sie entsprachen damit dem seit den 1970er Jahren verstärkten Engagement örtlicher Gruppen, Vereinigungen und der Kommunen, in unmittelbarem Kontakt mit örtlichen Partnern kleine Hilfsvorhaben zu unterstützen. So hatte die CDU zu Beginn der 1970er Jahre einen eigenständigen Beitrag aller gesellschaftlichen Gruppen zur Beseitigung von Ungerechtigkeit und Elend in der Dritten Welt gefordert und 1981 zu Solidaritätsaktionen für die Dritte Welt aufgerufen. Das Land Rheinland-Pfalz, das sich bis zum Ende der 1970er Jahre entwicklungspolitisch nur an der Ausbildung von Fachkräften beteiligt hatte, fühlte sich von diesen Beschlüssen und Appellen besonders gefordert. Ministerpräsident Vogel wollte die Chance ergreifen, den Gedanken der Partnerschaft, der den Bürgern des Landes durch die 1952 gegründete regionale Partnerschaft mit Burgund vertraut war, mit der Bekämpfung von Armut und Not in einem der ärmsten Länder Afrikas verknüpfen. Als erstes Bundesland vereinbarte Rheinland-Pfalz 1982 mit der zentralafrikanischen Republik Ruanda eine Partnerschaft, deren Ziele Ministerpräsident Vogel aus Anlass der Unterzeichnung des Briefwechsels über die Partnerschaft am 23. Juni 1982 wie folgt umriss 1: „Die Partnerschaft soll die unmittelbare Zusammenarbeit und Begegnung der Bevölkerung von Rheinland-Pfalz und von Ruanda durch Partnerschaften, andere geeignete Vorhaben, getragen von Kommunen, Kirchen, Organisationen, Unternehmen und Bildungseinrichtungen, ermöglichen. Die Landesregierung möchte ihre Aufgabe in erster Linie darin sehen, Impulse zu geben, Projekte zwischen

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einzelnen Partnern zu vermitteln, die gegenseitige Kenntnis durch Information und Öffentlichkeitsarbeit zu fördern und zu vertiefen. Wir werden nur in wenigen konkreten Einzelfällen als Landesregierung in Abstimmung mit der Bundesregierung das eine oder andere Projekt direkt unterstützen. Die Regel soll das Vermitteln von Partnerschaften sein. Damit, meine ich, können wir etwas Wichtiges und Unentbehrliches leisten. Wir können Hilfe vermenschlichen und personalisieren. Wir können über technische und administrative Beziehungen hinaus persönliche Beziehungen schaffen und damit manches leisten, was im großen Rahmen der offiziellen Hilfe nicht möglich ist. Diese Art der Partnerschaft zwischen einem Bundesland und einem Land der Dritten Welt ist eine neue bisher unerprobte Form in der Zusammenarbeit. Wir wissen, dass wir damit einen neuen Weg beschreiten. Das wichtigste dabei ist, dass wir mit gutem Willen und offen an die Aufgabe herangehen.“ Kennzeichen des neuen Wegs der Entwicklungszusammenarbeit war die persönliche Begegnung und die partnerschaftliche Realisierung in vielen kleinen von den Bürgern getragenen Aktionen. Die von Baden-Württemberg, Niedersachsen und Bayern in den folgenden Jahren mit afrikanischen Ländern begründeten Partnerschaften blieben dagegen im Wesentlichen auf die staatliche Ebene und Verwaltung begrenzt und gewannen kaum Rückhalt in der Bevölkerung. So konnte einige Jahre später Gerhard Schröder bald nach seiner Wahl zum niedersächsischen Ministerpräsidenten die von seinem christlich-demokratischen Vorgänger mit dem Sudan eingegangene Partnerschaft beenden, ohne dass dies von den in der Entwicklungspolitik engagierten Organisationen oder in der Presse kritisiert wurde. Die Partnerschaft Rheinland-Pfalz / Ruanda führte dagegen zu einem dichten Netz des Einander-Kennenlernens und Verstehens. Natürlich stand dabei die materielle Hilfeleistung in Form von kleinen örtlichen Projekten im Vordergrund, aber beide Seiten hofften, dass die gemeinsame Realisierung dieser Projekte auch dazu beitragen würde, den Armen in dem übervölkerten Bergland zu vermitteln, dass sie selbst Träger des Entwicklungsprozesses sein können und, wenn dieser von Dauer sein soll, auch sein müssen. Damit ergriff die Landespartnerschaft Partei in einer seit den Anfängen der Entwicklungszusammenarbeit immer wieder geführten Diskussion, wie Entwicklungszusammenarbeit, die auf die elementaren Bedürfnisse der Menschen in den Entwicklungsländern fokussiert ist, wirksam geleistet werden kann. Diese Kontroverse hat sich an den von den Vereinten Nationen beschlossenen Millenniumsentwicklungszielen neu entzündet. Durch Investitionen im Gesundheits- und Bildungswesen, finanziert durch große und koordinierte Mitteltransfers der Geberländer im Rahmen nationaler Armutsbekämpfungsstrategien, soll bis zum Jahr 2015 die Zahl der Armen weltweit halbiert werden. Es bleibt abzuwarten, ob der neuen Zielrichtung der weltweiten Entwicklungszusammenarbeit ein besseres Schicksal beschieden ist, als den Schwerpunkten der vorausgegangenen

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UN -Entwicklungsdekaden.2 Letztlich geht es um die alte Frage, wie und ob wirtschaftliches Wachstum durch einen Einsatz internationaler Mitteltransfers bewirkt werden kann, welcher Umfang und welche Modalitäten zur Wirksamkeit des Transfers erforderlich sind, welche politischen Rahmenbedingungen gegeben sein müssen und wie in diesem Prozess die sozialen Unterschiede in den jeweiligen Gesellschaften gemindert werden können. Es ist strittig, ob der Staat dies leisten kann oder ob nicht dafür in erster Linie die gesellschaftlichen Kräfte und die Armen selbst mobilisiert werden müssen. Zwar wurde von den Geberregierungen das nichtstaatliche Engagement von Nichtregierungsorganisationen, religiösen Gemeinschaften, Partnerschaften usw. ermuntert, steuerlich gefördert oder durch Zuschüsse unterstützt, aber weder in Deutschland noch international erlangten die Erkenntnisse der sozialen und kulturellen Grundlagen von Entwicklung gegenüber den ökonomischen und organisatorischen Theorien und den politischen Interessen das ihnen gebührende Gewicht. Bereits in den 1960er Jahren wurde von Kritikern der Entwicklungszusammenarbeit angemahnt, die soziale Dimension der Entwicklungszusammenarbeit nicht zu vernachlässigen. Der Berliner Soziologe Richard F. Behrendt fand mit seiner „Sozialen Strategie für Entwicklungsländer“ 3 große Beachtung. Die Landespartnerschaft zwischen Ruanda und Rheinland-Pfalz war ein neuer Versuch, dieses Konzept umzusetzen. Gegen die in den 1960er Jahren vorherrschende Modernisierungstheorie vertrat Behrendt, wie auch seine Zeitgenossen Paulo Freire und René Dumont, die Ansicht, dass der materielle Lebensstandard nicht das einzige Kriterium für eine menschenwürdige Lebenssituation ist, sondern dass dazu vor allem die Möglichkeit der Selbstbestimmung und Selbstentfaltung des Einzelnen und der primären sozialen Gruppen, denen er sich solidarisch verbunden fühlt, gehört. Dieses Konzept stellt sich gegen eine von einer Zentralbürokratie gesteuerte Entwicklung, dem so genannten „social engineering“. Die Armen dürften nicht zum Objekt der vom Staat oder internationalen Organisationen bestimmten Entwicklungsprogramme gemacht, sondern müssten als selbst bestimmende und selbstverantwortliche freie Menschen anerkannt werden. Die Dominanz autoritärer zentralstaatlicher Institutionen sei gerade das Kriterium von Unterentwicklung. Das Verantwortungsbewusstsein von Einzelnen gegenüber den Sozialgebilden, denen sie zugehören, werde nur gestärkt, wenn die Leitung oder die Beeinflussung dieser Sozialgebilde nicht das Privileg einiger weniger sei oder nicht von einer fernen Bürokratie und ausländischen Entwicklungsexperten beansprucht werde. Entscheidungen dürfen nicht über den Kopf der Mehrheit der Mitglieder der lokalen Gruppe hinweg gefällt werden, sondern die Armen müssten die Möglichkeit haben, daran teilzunehmen, aber auch ihre Pflicht erkennen, an ihrer Ausführung mitzuwirken. Die Entwicklung müsse von kleinen zu größeren Bereichen, von „unten“ nach „oben“ fortschreiten. Entwicklung könne nicht durch einen Machtspruch, durch Beschlüsse und Aktionen von Regierenden, Funktionären oder Gremien geschaffen werden.

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Diese trenne eine weite soziale und räumliche Distanz von dem Aktionsbereich, in dem Neuerungen erwartet würden. Mit anderen Worten: Zentralstaatliche Instanzen könnten bestenfalls den Esel zum Brunnen führen, aber nicht zum Trinken zwingen. Programme, die von oben verordnet werden, würden allenfalls erduldet oder als eine neue Gegebenheit der herrschaftlichen Überlagerungsstruktur achselzuckend ertragen, aber sie würden nicht aktiv und mitverantwortlich von denen, die „unten“ sind, aufgenommen und für ihre Lebensführung bestimmend. Ähnlich gerichtete Überlegungen lagen, wenn auch selten in der Stringenz der Überlegungen Behrendts, den basisorientierten Projekten vieler Nichtregierungsorganisationen zu Grunde. In der staatlichen und internationalen Entwicklungszusammenarbeit wurden sie jedoch nur am Rande zur Kenntnis genommen und allenfalls in isolierten Vorhaben aufgegriffen. Angesichts der vom Modernisierungs- und Globalisierungsprozess zunehmend ausgegrenzten oder vernachlässigten Massen der Armen hätte eine systematische Weiterverfolgung des Konzepts viele der heutigen Probleme vermeiden helfen. Um die Jahrtausendwende hat die Weltbank in einer, der Vorbereitung der Millenniumsziele dienenden Studie „Voices of the Poor“ 4 den Ansatz der sozialen Strategie von Behrendt, vermutlich ohne diese zu kennen, mit der Forderung nach „Empowerment of the Poor“ wieder aufgenommen. Mit diesem Begriff ist die Übernahme von Verantwortung gemeint. Unterdrückte und marginalisierte Bevölkerungsgruppen sollen selbst die Handlungsstrategien zur Veränderung ihrer Lage entwerfen. Der Ansatz baut auf eigenes Handeln, auf politische Organisierung und auf das Einfordern von Rechten und Bedürfnissen durch die Armen selbst. Selbstbestimmung und die Entwicklung von Selbstbestimmungsfähigkeit sind seine charakteristischen Merkmale. Der Weltbank ist es jedoch nicht gelungen, die Erkenntnisse dieser Studie umzusetzen. In der entwicklungspolitischen Praxis der „Neuen Entwicklungsarchitektur“ bekennen sich die internationalen und bilateralen Entwicklungsorganisationen zwar zu dem Ziel der Armutsbekämpfung, aber sie verfallen dabei erneut dem Irrtum, dieses Ziel durch zentralistisch-bürokratische Programme erreichen zu können. Der Grund dafür ist, dass gerade die Armen, trotz aller proklamierten Armutsstrategien, in den meisten Entwicklungsländern keine Stimme haben und dass die Regierungen und administrativen Eliten eher zentral gesteuerte Programme bevorzugen. Aber auch die Mentalität westlicher Entwicklungshelfer und -berater steht dem Ansatz entgegen. Sein Management ist schwierig. Ein lokaler Ansatz bringt zunächst nur lokale Fortschritte, weshalb die Beeinflussung der nationalen Ebene für die in der Regel zur Kurzfristigkeit tendierende Entwicklungszusammenarbeit zu lange dauert. Dazu kommt noch, dass die staatliche Entwicklungszusammenarbeit zu bürokratischen Verhaltensweisen neigt, in der die verwaltungsmäßige Effizienz gegenüber der Zentrale wichtiger ist, als die oft wenig sichtbaren Änderungen im sozialen Verhalten der Zielgruppe. Das einheimische Personal von Entwicklungsprojekten ist primär

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oft eher an der Sicherung ihrer Jobs interessiert als an einer Mitbestimmung der Armen, denen gegenüber sie sich an Status und Wissen so sehr überlegen fühlen, dass sie kaum bereit sind, auf sie zu hören. Schließlich kommen auch politische Faktoren ins Spiel: Zentralistisch-autoritäre Regierungen und die sie tragenden Zentralbürokratien haben wenig Interesse an einer Stärkung der sozialen oder räumlichen Peripherie. Die Partnerschaft Rheinland-Pfalz / Ruanda fand deshalb so viel Akzeptanz, weil sie auf die Realisierung vor Ort und das persönliche Engagement setzte und die Anonymität staatlicher Programme vermied. Ihre Idee wurde schließlich von allen Fraktionen im Landtag mitgetragen, sie fand in den Kommunen, Schulen, Vereinen, Pfarrgemeinden, beruflichen Vereinigungen usw. eine unerwartet große Bereitschaft zum Mitmachen. Dazu trug Ministerpräsident Vogel wesentlich bei, indem er bei Kreisbereisungen, Veranstaltungen, bei den RheinlandPfalz-Tagen und immer wieder im Landtag für die Partnerschaft warb, sie zu seiner persönlichen Sache machte. Fast jedes Jahr reiste er an der Spitze einer Delegation von in der Partnerschaft Engagierten nach Ruanda und suchte dort, neben den offiziellen Kontakten, sich vor Ort ein Bild von der Partnerschaft zu machen. Mit einem persönlichen Spendenaufruf für ein Heim für Alte und Gebrechliche, die ihre Familie verloren haben, gab er ein Zeichen tätiger Hilfe für die Ärmsten der Armen. Nicht zuletzt durch Vogels unermüdlichen Einsatz in den Anfangsjahren gehört heute, nach 30 Jahren, die Partnerschaft mit Ruanda zum Selbstverständnis des Landes Rheinland-Pfalz. Sie ist in vieler Hinsicht ein Modell bürgernaher Zusammenarbeit zwischen Europa und Afrika. Bundespräsident Köhler sagte dazu am 5. September 2009 auf dem Ruandatag in Neuwied: „Wir brauchen Begegnung und Zusammenarbeit auf allen Ebenen, … wir brauchen das Mitmachen vieler Menschen in Afrika und Europa,…Rheinland-Pfalz und Ruanda machen vor, wie das geht.“ Die Partnerschaft sei für viele Ruander zu einer festen Größe geworden, sicher wegen der vielen kleinen Hilfen vor Ort, aber vor allem wegen der persönlichen Begegnung. „Sie schafft den Raum für etwas, an dem es noch allzu oft fehlt: den Willen und die Möglichkeit zuzuhören und voneinander zu lernen.“ 5 Die von Bernhard Vogel vor 30 Jahren initiierte Partnerschaft hat ohne Zweifel das Eingangsmotto erfüllt und vielen Armen in Ruanda eine Freude gemacht. Aber sie lehrt auch, wie schwer es ist, den Armen dauerhaft zu helfen. Der Bürgerkrieg und der Genozid zu Anfang der 1990er Jahre haben die ruandische Gesellschaft und insbesondere die Integration der Armen durch Partizipation und Mitverantwortung schwer beschädigt. Die Rheinland-Pfälzer und Bernhard Vogel, der – zurückgekehrt nach Speyer – immer noch an der Partnerschaft aktiv Anteil nimmt, lassen sich dadurch nicht entmutigen.

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Ministerium des Innern und für Sport Rheinland Pfalz: 10 Jahre Partnerschaft mit Ruanda. Mainz 1992. Vgl. dazu die Beiträge von Hartmann, Wolff und Andersen, in: Uwe Andersen (Hg.): Entwicklungspolitik. Standortbestimmung, Kritik und Perspektiven. Schwalbach 2012. Richard F. Behrendt: Soziale Strategie für Entwicklungsländer. Frankfurt / Main 1965. Dazu Katja Windisch: Gestalten sozialen Wandels. Die Entwicklungssoziologie Richard F. Behrendts. Bern 2005. The World Bank: Voices of the Poor. 3 vols. Washington 2000. Ministerium des Innern und für Sport Rheinland-Pfalz: Ruanda-Revue 2 (2009) S. 5 – 7.

„Kein Land der Welt wird in der Lage sein, die Grundlagen einer globalen Ordnungspolitik zur verantwortlichen Gestaltung des laufenden Globalisierungsprozesses alleine durchzusetzen.“ (Bernhard Vogel) Gerhard Wahlers Globalisierung ist ein Begriff, der es in den letzten Jahrzehnten zu einer ungeheuren Bedeutung gebracht hat. Globalisierung ist ein „Megatrend“, laut Duden handelt es sich um „eine länderübergreifende Verflechtung in den Bereichen Wirtschaft, Politik, Kultur“. Der Begriff wurde 1982 von dem US-amerikanischen Trendforscher John Naisbitt in seinem Buch „Megatrends“ beschrieben und dadurch weithin bekannt. Inzwischen gibt es Atlanten der Globalisierung (z. B. bei Le Monde diplomatique, Paris 2009), und kaum ein Vortrag, der sich mit wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Fragen befasst, kommt heute noch ohne diesen Begriff aus. Dabei war er noch vor 30 Jahren fast unbekannt. In diesem Begriff drückt sich auch aus, dass wir heute viele Entwicklungen anders interpretieren als noch in der Mitte des letzten Jahrhunderts: Wir sehen zunehmend Prozesse statt Strukturen, wir nehmen Veränderungen in vielfältig verbundenen und weltweiten Zusammenhängen wahr, wir denken „vernetzt“. Dass man diese weltweiten, sich beschleunigenden Prozesse – und Abhängigkeiten – heute anders wahrnimmt und interpretiert als früher, hat unser Leben keinesfalls einfacher gemacht, im Gegenteil. Die „Komplexität“ hat zugenommen – ein weiterer Mega-Begriff, der gerne mit der Globalisierung in einen Zusammenhang gebracht wird. Auch wenn so in den vergangenen Jahren der Blick auf die Globalisierungsprozesse geschärft wurde, war damit nicht zwingend auch mehr „Durchblick“ die Folge. Viel eher ist eine Unübersichtlichkeit entstanden, die vielen Menschen Unbehagen bereitet, ja: Angst machen kann. Die Globalisierung erfordert ständig neue Positionsbestimmungen in einem sich fortlaufend verändernden Koordinatensystem, der eigene Standort muss immer wieder neu bestimmt werden. Das fällt uns naturgemäß nicht unbedingt leicht. Die eigene Position lässt sich immer dann bestimmen, wenn man bestimmte Bezugspunkte hat. Bei den frühen Seefahrern waren das die Gestirne und Leuchttürme, heute haben Schiffe und Autos ein Global Positioning System (GPS) an Bord. Dabei kann man sich auf ein festes Koordinatensystem verlassen: Nord bleibt Nord, und Süd bleibt Süd. Über die einzuschlagende Richtung unterrichtet

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uns die freundliche Stimme unseres Auto-Piloten, der seine Instruktionen von die Erde umkreisenden Satelliten empfängt. Die gesellschaftliche, die wirtschaftliche, die politische Positionierung ist heute dafür ungleich schwieriger. Dafür sorgt auch die Globalisierung. Früher, als die Welt noch nicht ganz so global und so komplex war, haben wir es etwas leichter gehabt. Nehmen wir einmal die Wirtschaft: Sie produzierte in einem Land (daher auch: „Nationalökonomie“), unter einem bestimmten rechtlichen und ordnungspolitischen Rahmen, die Zahlungen erfolgten in der Landeswährung. Die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung konnte die wirtschaftlichen Leistungen leicht berechnen, dafür gab es schließlich wohldefinierte Parameter. Heute gibt es eine „Nationalökonomie“ in diesem Sinne nicht mehr: Wirtschaftliche Grenzen zwischen Ländern sind inzwischen oft nur noch andeutungsweise zu erkennen, und Finanztransaktionen folgen überhaupt keinen nationalstaatlichen Regeln und Ordnungen mehr. Die Regeln, denen sie heute folgen, sind zunehmend jene aus der Welt der Technik und der Mathematik: Wer am schnellsten kaufen und verkaufen kann, hat gewonnen, Geschäftsvorgänge werden in Millisekunden abgewickelt. Auf höchstmögliche Schnelligkeit hin optimierte Algorithmen entscheiden in den Rechenzentren der Börsen so über Gewinn und über Verlust. Sie sind für die Kurse an den Finanzmärkten verantwortlich, und sie führen auch immer stärker zu spürbaren Auswirkungen auf die Realwirtschaft. Wir alle empfinden ein Unbehagen dabei, weil wir erkennen, dass uns die Gestaltungsmacht in diesem Prozess zu entgleiten droht. Dabei haben wir in den vergangenen Jahrzehnten doch eine höchst erfolgreiche Ordnungspolitik entwickelt, die wir als Soziale Marktwirtschaft bezeichnen. Dieses Ordnungsmodell hat Anerkennung weit über die Grenzen Deutschlands hinaus gefunden, es gilt inzwischen bei vielen unseren europäischen Nachbarn als nachahmenswert. Selbst über die aktuellen finanz- und realwirtschaftlichen Turbulenzen sind wir vergleichsweise gut hinweggekommen. Eigentlich ein guter Grund, darauf stolz zu sein. Dieses Ordnungsmodell diente uns lange und sehr erfolgreich bei der Bestimmung unserer Position, es führte innerhalb eines stabilen Koordinatensystems zu Beschäftigung, Wohlstand und zu sozialem Ausgleich. Die entscheidende Frage ist jetzt, ob es auch für eine Positionsbestimmung in einem sich durch die Globalisierung auch weiter ständig verändernden Koordinatensystem taugen kann. Diese Frage bejahen wir im Grundsatz, sehen aber auch, dass wir es heute nicht nur mit anderen Geschwindigkeiten zu tun haben, sondern auch noch mit Herausforderungen von ganz anderer Qualität. Nehmen wir einmal den weltweiten demographischen Wandel: Ein Land wie die Bundesrepublik Deutschland, mit einer Bevölkerung von rund 80 Millionen, spielt in einem weltweiten Zusammenhang zahlenmäßig nur eine verschwindende Rolle: Gerade einmal 1,1 Prozent der Weltbevölkerung sind Deutsche,

Grundlagen einer globalen Ordnungspolitik

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mit abnehmender Tendenz. Auch wenn Deutschland weltweit ein gutes Ansehen genießt, und selbst wenn unsere Argumente auch sehr gut sind: Ein Handicap besteht hier schon rein größenordnungsmäßig. Und es gibt natürlich ein zweites Handicap. Was bei uns funktioniert, muss nicht notwendigerweise auch anderswo genauso funktionieren, dafür sind die Kulturen, die Wirtschaften, die Menschen einfach zu unterschiedlich. Wenn es uns gelänge, eine Anpassung in einer Art und Weise zu lösen, in der ein unabdingbares ordnungspolitisches Grundmuster so formuliert werden kann, dass es auch unter anderen Umständen und in Zeiten der fortschreitenden Globalisierung an anderen Orten anwendbar wäre und in der Summe immer noch unter dem Signum „Soziale Marktwirtschaft“ firmieren könnte, dann wäre der zweite Schritt getan. Diese Aufgabe ist schwierig, aber daran kann man arbeiten. Bleibt immer noch der demographische Faktor. Hier stehen wir als kleines, wenn auch in einigen Bereichen durchaus vorbildhaftes Land alleine auf völlig verlorenem Posten. Auch wenn man uns weltweit schätzt, etwa für unseren umwelt- und energiepolitischen Mut und für unsere Innovationskraft – unsere weltpolitische Bedeutung ist angesichts der sich abspielenden Globalisierungsprozesse und der davon bewirkten Machtverlagerungen inzwischen doch marginal geworden. Zwei Folgen ergeben sich daraus für uns: Zum einen müssen wir weiter durch innovative und einfallsreiche, gleichwohl qualitätsvolle Angebote überzeugen. Das gilt gerade auch für die Weiterentwicklung, die Anpassung und die Vertiefung unserer ordnungspolitischen Vorstellungen wie für die Präsentation derselben. Die andere Folge beruht auch auf der realistischen Wahrnehmung der oben beschriebenen Entwicklungen: Wir benötigen mehr denn je Verbündete, um unsere ordnungspolitischen Vorstellungen auch in Zukunft in unserem Land, dann aber auch in Europa und in den weltweiten Globalisierungsprozess gestaltend einbringen zu können. Realistischerweise können wir die Verbündeten, die wir dafür benötigen, am ehesten in Europa finden. Doch zeigt sich Europa nicht immer stärker auch als ein Raum durchaus heterogener Interessen: Werden unsere ordnungspolitischen Vorstellungen denn wirklich von unseren wichtigsten Verbündeten geteilt? Diese Frage hätte man noch vor wenigen Jahren uneingeschränkt mit einem festen „Ja“ beantworten können, heute kommen Zweifel auf. Angesichts der Auswirkungen der aktuellen Krisen auf den Finanzmärkten nehmen auch hier die Unsicherheiten zu, in einigen Ländern beobachten wir doch recht unterschiedliche Ansichten zur Frage, wie man den Auswirkungen der Krisen am besten begegnen sollte. Nicht immer entsprechen diese Ansichten der „reinen ordnungspolitischen Lehre“. Dennoch ist es wichtig zu betonen, dass uns Europäer viel mehr einigt, als uns trennt. Wir teilen viele ähnliche Werte und Normen, etwa in Bezug auf

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die Rolle des Staates, aber auch in sozialpolitischer Hinsicht, etwa in Bezug auf die Regelung der Arbeitszeiten, den Schutz der Angestellten, die Rolle der Gewerkschaften. Heute geht es auch für uns alle darum, diese Errungenschaften in einer globalisierten Welt zu verteidigen. Aus diesem Grund ist es so wichtig, ordnungspolitisch noch näher zu rücken und zusammen zu halten. Auch wenn wir es momentan vielleicht noch gar nicht richtig wahrnehmen: Wir stehen an einem entscheidenden, einem historischen Wendepunkt. In den nächsten Jahren wird es sich entscheiden, wie es mit Europa weitergeht, wie Politik und (Finanz-)Wirtschaft miteinander auskommen werden, welche Rolle die Umwelt bei alledem spielen wird. Dass diese Fragen jetzt alle fast gleichzeitig und mit so nicht erwarteter Intensität auftreten, ist auch eine Folge der Globalisierung. Dass wir in diesem Prozess der Verdichtung, der Verstärkung und der Vernetzung auch in Zukunft zurechtkommen, ist nicht nur eine Frage des „reinen“ Überlebens, sondern auch eine Frage des „rechten Überlebens“, also auch der richtigen Ordnungspolitik. Hier haben wir, hat unser Land nicht nur viel Erfahrung, sondern auch viel Veränderungsbereitschaft und Gestaltungswillen zu bieten. Nicht zuletzt deshalb blickt auch die Welt mit großem Interesse auf Deutschland. Nehmen wir als Beispiel die Energiewende. Weltweit sehen wir ein großes Interesse daran, freilich auch Skepsis. Einig ist man sich aber, dass – wenn es überhaupt jemand schaffen wird, mit einer derart anspruchsvollen Herausforderung zurechtzukommen – es dann die Deutschen sind. Man traut uns in der Welt einiges zu, aber „alleine durchsetzen“ können wir es nicht: Gut, dass es Europa gibt. Aber wird das Europa von gestern dann auch noch das Europa von morgen sein? Die Zweifel daran nehmen zu. Europa, in einer polyphonen Unübersichtlichkeit, könnte bald, selbst wenn man die Zahl aller Europäer zusammenzählt, kein weltpolitischer Akteur mehr sein. Es sei denn, man fände eine neue, an die Entwicklung angepasste Form, innerhalb derer nicht nur ein ordnungspolitischer Grundkonsens besteht, sondern vor allem: die mit einer Stimme sprechen kann. Dass dies weitreichende Auswirkungen auf die und in den Mitgliedsländern haben wird, ist Vielen bereits klar. Ob es aber der Mehrzahl der Bürger in den Mitgliedsländern auch schon bewusst ist, ist fraglich. Hier ergeben sich weitreichende Aufgaben für die politische Bildung. Sie muss nicht nur Wissen verbreiten, sondern, viel wichtiger, sie muss versuchen, die europäische Solidarität und das Vertrauen in die Problemlösungsfähigkeit wiederherzustellen. Was Europa jetzt benötigt, ist nichts weniger als eine neue Idee, ein neuer Anstoß. Vielleicht ist die Zeit – mit bedingt durch die rasante Globalisierung – jetzt schon gekommen, auch über weitergehende Verantwortungsverlagerungen nachzudenken. Hier haben uns die aktuellen Krisen endgültig unter Zugzwang gesetzt – viel Zeit bleibt uns nicht mehr. Dadurch ist die Aufgabe natürlich nicht leichter geworden,

Grundlagen einer globalen Ordnungspolitik

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ganz im Gegenteil. Eine Alternative dazu gibt es nicht: Der Rückzug in eine neue Nationalökonomie, in eine neue Nationalstaatlichkeit, ist angesichts des bereits Erreichten und angesichts der globalen Herausforderungen praktisch unvorstellbar. Und hier müsste auch der Hebel ansetzen: Europa hat für alle Europäer eine so große Dividende, dass sich ein Rückzug in nationales Denken von selbst verbietet. Europa ist die bei weitem beste aller denkbaren Alternativen. Alleine: Das scheint noch längst nicht europaweit zum Allgemeinwissen zu gehören. Wer könnte hier besser tätig werden als eine politische Stiftung? Die Vorzüge Europas herauszuarbeiten und den Bürgern bewusst zu machen, ist eine lohnenswerte Aufgabe. Die gegenwärtige Debatte um den Euro berührt selbstverständlich einen harten Kern, der Euro ist aber nicht mit Europa gleichzusetzen. Dies kommt in der gegenwärtigen Debatte zu kurz: Europa ist vor allem eine Idee, ein gesellschaftliches und politisches Jahrhundertprojekt. Daraus kann man eine konkrete Aufgabe für eine politische Stiftung ableiten: Foren zu bieten für die Diskussion der europäischen Idee, der europäischen Zukunft. Auf solchen Foren wäre dann auch wieder stärker eine ordnungspolitische Grundsatzdebatte, die in der Wirtschaftspolitik in den letzten Jahren offensichtlich etwas in den Hintergrund getreten ist, zu führen. Hier sind alle europäisch gesinnten Bürger und deren politische Repräsentanten gefordert. Gemeinsam und entschieden müssen wir dem hier und da aufkeimenden europaskeptischen Populismus entgegentreten – dies geht nur, wenn wir Antworten haben, die dann aber auch für jeden verständlich sind. Schließlich: Gerade die europäische Jugend muss in dieser Diskussion noch weitaus stärker berücksichtigt werden, besser noch: sich einmischen. Dies zu fördern, fällt ebenfalls in den Zuständigkeitsbereich einer politischen Stiftung. Die Aus- und Fortbildung, auch die Vernetzung junger Menschen kann dieser Diskussion nur gut tun. Ohne eine stärkere Beteiligung der Jugend wird Europa keine Chance haben: Egal wie es mit dem Euro jetzt weitergeht. Nachbemerkung: Das diesem Essay zugrunde gelegte Zitat von Bernhard Vogel („Kein Land der Welt wird in der Lage sein, die Grundlagen einer globalen Ordnungspolitik zur verantwortlichen Gestaltung des laufenden Globalisierungsprozesses alleine durchzusetzen“) stammt aus einem Vortrag in Neu Delhi, gehalten am 31. Januar 2005, also lange noch bevor die Turbulenzen auf den weltweiten Finanzmärkten sich auszuwirken begannen. Heute, beinahe acht Jahre später, stellt sich die Notwendigkeit, Verbündete zu haben gerade bei der Fortentwicklung ordnungspolitischer Konzeptionen als noch viel wichtiger dar. Diese Notwendigkeit wird nicht mehr nur durch die Globalisierung an sich begründet, sondern durch die oben angesprochenen Turbulenzen noch erheblich verstärkt. Die Beantwortung der Frage, was man in der Vergangenheit alles hätte anders machen können, ist jetzt nicht vorrangig. Viel wichtiger ist es zu erkennen, was jetzt von der Beantwortung abhängt – es ist die Zukunft Europas, unsere Zukunft.

Wettbewerb, Marktwirtschaft und Verantwortung „Wir wollen die solidarische und soziale Kraft des Wettbewerbsgedankens, die sich in der Sozialen Marktwirtschaft mit der Verantwortung für den Menschen verbindet, ins Bewusstsein rufen.“ (Bernhard Vogel) Wolfgang Gerhardt Die geschmäcklerische Ablehnung der Marktwirtschaft bis tief hinein ins bürgerliche Feuilleton ist heutzutage geradezu Pflicht, wenn man als intellektuell anspruchsvoll gelten will. „Talkshow-Antikapitalismus“, wie es Reinhard Mohr in der „Welt“ genannt hat, liegt deutlich in Führung vor der Kenntnis wirtschaftlicher Zusammenhänge. Die Marktwirtschaft hatte den kulturellen Boden in Deutschland schon verloren, bevor sich das ereignete, was wir jetzt als Finanzmarktkrise bezeichnen. Wettbewerb war fast schon zu einem kontaminierten Wort geworden. So konnten sich eher Bequeme und Veränderungsunwillige leicht moralische Deckung suchen. Das alles geschah und geschieht in einem Land, das wie kein anderes sein Selbstvertrauen nach der größten Katastrophe seiner Geschichte doch gerade aus dem ökonomischen und sozialen Erfolg der Marktwirtschaft, aus einer stabilen Währung und verlässlichen Institutionen bezog und das doch im früher geteilten Deutschland, direkt vor der Haustür, erkennen konnte, dass dort, wo die Marktwirtschaft aus politischen Motiven und mit sozialen Gerechtigkeitsbehauptungen ausgeschaltet worden war, sich unkontrollierte wirtschaftliche wie politische Macht entwickelt hatte und Menschen ihrer ganz persönlichen Freiheit beraubt wurden. Gegen diese Ergebnisse einer Kommandowirtschaft ist Marktwirtschaft geradezu ein klares Entmächtigungsprogramm. In einem bekannten Zitat hat der durch diese Festschrift zu ehrende Bernhard Vogel als Ziel seiner Arbeit dargestellt, „die solidarische und soziale Kraft des Wettbewerbsgedankens, die sich aus der Sozialen Marktwirtschaft mit der Verantwortung für den Menschen verbindet, ins Bewusstsein (zu) rufen“. Denn Marktwirtschaft ist kein „cold project“, sie war auch nie nur Ökonomie. Sie ist die Wirtschaftsordnung mit Spielregeln, die auch kulturell einer freiheitlichen Gesellschaft entsprechen. Marktbeziehungen haben viel tiefere Wurzeln. Sie resultieren aus der Überzeugung, dass es eine Anmaßung ist, anderen vorzuschreiben, was ihnen frommt. Wer sich im Wettbewerb um Partner und Kunden bemühen muss, der verhält sich auch freundlicher. Ethische Normen und

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Konventionen, die sich Menschen auferlegen, sind im Übrigen meist spontan entstandene, auf Gegenseitigkeit beruhende Verhaltensregeln für den Alltag. Sie sind ein Produkt des Marktes. Hierzulande wird ein solches Denken aber eher als Neoliberalismus gebrandmarkt und dämonisiert. Man traut dem Markt geradezu alles oder nichts zu, dämonisiert die Neoliberalen, obwohl in Deutschland doch eher das glatte Gegenteil dieses „Dämons“ in vielen Selbstbedienungsläden ohne Preisschilder anzutreffen ist. Hinter der Kritik an Neoliberalen steht weder eine „zivilisatorische Mission, noch eine intellektuelle Qualität. Die Kritiker kalkulieren die Uninformiertheit von Menschen ein und schrecken vor Geschichtsklitterung nicht zurück“, schreibt Wolfgang Kersting. Sie prägen ein „Denunziationsvokabular“ wider besseres Wissen. Sie suchen damit „Konkurrenzvorteile am Meinungsmarkt“ und wollen „uneinholbar moralisch“ sein. Wolfgang Kersting fragt in seinem neuen Buch: „Wie gerecht ist der Markt?“, und er kommt zu dem Ergebnis: sehr gerecht – wenn man ihn nicht völlig entfesselt auf die Menschen loslässt. Es geht nicht um Ellenbogen und um rücksichtsloses Gewinnstreben. Der Markt, das ist keine seelenlose Botschaft. Der Markt der Waren, der Dienstleistung, der Meinungen, das ist die Quelle eines freiheitlichen Staatswesens. Auf ihm wird gestritten, auf ihm wird sich offen auseinandergesetzt. Auf ihm muss Transparenz erscheinen. Bei ihm ist das entscheidende Instrument die Kundennachfrage. Aber der Markt braucht Regeln. Ein freiheitliches Gemeinwesen, das etwas auf seine Freiheit hält, darf sich nicht damit begnügen, dass allein am störungsfreien Wachstum das Empfinden gerechter Verhältnisse hängt. Der freiheitliche Charakter von Gesellschaften besteht darin, die Menschen zur eigenen Verantwortung zu befähigen. Ein freiheitlicher Staat wird Rahmenbedingungen immer so gestalten, dass seine Bürger ihren eigenen Anteil an der Gestaltung ihrer Biografie einbringen können. Er wird die Menschen nicht an der Erledigung ihrer eigenen Angelegenheiten hindern und er wird denen, die Hilfe brauchen, auch helfen. Ralf Dahrendorf hat es treffend formuliert: „Eine freie Gesellschaft ist immer auch eine Gesellschaft, die der Ungleichheit weiten Raum gibt, so lange insoweit diese nicht den unentbehrlichen gemeinsamen Grundstatus aller Bürger verletzt.“ Der genetische Zufall macht uns alle einzigartig, aber auch einzigartig in der Unterschiedlichkeit unserer Fähigkeiten, Stärken und Schwächen. Das politische Regulativ der Gleichheit ist die Gleichheit vor dem Gesetz, die Beseitigung von Vorrechten des Standes, die Beseitigung der Differenzierung der Stimm- und Wahlrechte nach Einkommen, die Beseitigung der Ungleichheit der Geschlechter. Aber die Nutzung von Chancen, die sich aus Gleichheit aller vor dem Gesetz ergeben, ist wiederum von Fähigkeiten abhängig, die ihrerseits ungleich verteilt sind. Es gibt Unterschiede in den menschlichen Fähigkeiten des Wissenserwerbs, der Selbstorganisation und der Teamfähigkeit. Es gibt Menschen, die mit vielen

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angebotenen Chancen absolut nichts anzufangen wissen. Die berechtigten Forderungen nach Gerechtigkeit dürfen nicht mit der mancherorts gehegten Hoffnung auf Ergebnisgleichheit verwechselt werden. Eine freiheitliche Gesellschaft bleibt auf eine Kultur der Anerkennung von Unterschieden und schlechterdings nicht zu beseitigenden Ungleichheiten angewiesen. Es geht darum, Brücken zu bauen, die jedermann eine ihm angemessene Entwicklungsmöglichkeit anbieten. Denn nur derjenige, der das Beste lernt, kann auch sein Bestes geben. Gehen allerdings müssen die Menschen schon selbst. Denn es gibt am Ende keinen Staat, der mehr für die Menschen tun könnte, als sie für sich selbst tun könnten und sollten. Soziale Verantwortung liegt nicht in der Rhetorik der Schwächung der Starken, sondern in der Ermutigung und Stärkung der Schwachen. Der Wettbewerbsgedanke, wie ihn auch Bernhard Vogel im dargestellten Zitat propagiert, hängt eng mit der Möglichkeit zusammen, sich eigene Chancen zu erarbeiten und sie letztendlich auch zu nutzen. Eine eigene Biografie zu schreiben, verlangt ein komplexes Ensemble von Wissen und Können, von Charakter und Haltung, von Allgemeinbildung und Schlüsselqualifikation, schreibt Dietrich Schwanitz in seinem Buch über Bildung. Man braucht Originalität, Risikobereitschaft, Neugier und Fantasie, Konflikt- und Teamfähigkeit. Die Wege der Freiheit bergen immer auch ein Risiko in sich – das Risiko, zu scheitern. Mit diesem Gedanken umzugehen, wie es Ludwig Erhard in dem Zitat weiter oben postuliert hat, ist nicht für alle einfach. Selbstverantwortung und eigene Kraftanstrengung als Ausdruck bewussten Freiheitsgebrauchs fallen nicht allen Menschen leicht; leider gibt es zu viele Bürgerinnen und Bürger, die in der Selbstbestimmung und Selbstverantwortung des Einzelnen zunächst nur die Möglichkeit des Scheiterns und nicht die Möglichkeit des individuellen Erfolgs sehen. Auf der anderen Seite wird eine gewisse „selbstverschuldete Unmündigkeit“ auch gern angenommen. Der erleichterte Zugang zu persönlichen Daten, die Forderungen nach einer ausgedehnten Videoüberwachung, die Regelungen gegen „ungesunde“ Lebensstile, die Erhöhung der Steuern und Abgaben, damit der Staat für die Fürsorge der Bürger zuständig ist, die Gefährdung von Wahlmöglichkeiten in den sozialen Systemen zeigen, wie weit in Deutschland eine Bereitschaft vorhanden ist, die öffentliche Sphäre in die private eindringen zu lassen; wie weit die Bereitschaft vorhanden ist, immer mehr Bereiche der persönlichen Autonomie an die staatlichen Institutionen zu delegieren; wie weit die Bereitschaft vorhanden ist, Freiheit um den Preis der Sicherheit und Gleichheit auszuhöhlen. Eine schleichende Erosion von Freiheitsrechten hat verheerende gesellschaftliche Folgen, die wir im Grunde jetzt schon sehen können. Ein großer Teil der politischen Elite Deutschlands kultiviert die Unmündigkeit des Bürgers als ein vermeintlich gesellschaftliches Faktum, und – und das ist sogar noch besorgniserregender – kommt damit sogar der Erwartungshaltung vieler entgegen. Die persönliche Verantwortung wird oft gutgläubig an die staatlichen Institutionen

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abgegeben, welche dann als fürsorgliche Beschützer soziale Gerechtigkeit und Sicherheit in der Gesellschaft herstellen sollen. Die geäußerten Ansprüche sind an eine naive Zuversicht gekoppelt, dass der Staat am ehesten gesellschaftlichen Wohlstand sichern könne. Ein Volk von Delegationskünstlern. Wieso trauen viele Menschen sich so wenig – und gleichzeitig dem Staat so viel zu? Wieso ist bereits das Hinfallen eine Schande, nicht erst das Liegenbleiben? Nach jahrzehntelanger überbordender Staatsfürsorge wurden die Potentiale der Menschen zurückgedrängt. Der Ausbau der Sozialstaatlichkeit ging mit dem Rückbau der Eigeninitiative und der Eigenverantwortlichkeit einher. Ein Rückgriff auf Erfahrungen, dass es möglich ist, durch Anstrengung und Leistungsbereitschaft sich einen Platz in der Gesellschaft zu erarbeiten, ist heute kaum machbar. Marktwirtschaftliche Wege sind immer auch mit Risiken behaftet. Dennoch gibt es kein anderes Wirtschaftssystem, das auf der Suche nach klugen Lösungen für komplexe Probleme nur annähernd so erfolgreich wäre wie die Marktwirtschaft. Das Zusammenspiel von Freiheit, Verantwortung und Haftung hat trotz aller Krisen zu immer mehr Wohlstand für immer mehr Menschen geführt. Wir lernen beständig aus Problemen, aus Fehlern, und sie sind Anlass, klüger zu handeln und immer klüger zu werden. Die Voraussetzung ist aber, dass man auch lernen will.

Wirtschaft und Verantwortung „Das Maß der Wirtschaft ist der Mensch; das Maß des Menschen ist sein Verhältnis zu Gott.“ (Wilhelm Röpke) Klaus-Peter Müller Wie ein Leitmotiv zieht sich dieser Ausspruch durch viele Reden Bernhard Vogels. Kein anderer Gedanke charakterisiert so prägnant das Wirken und das Denken von Bernhard Vogel, der sich dabei auf Wilhelm Röpke bezieht, einen der Väter der Sozialen Marktwirtschaft im Nachkriegsdeutschland. Das Zitat bringt treffend zum Ausdruck, dass der Mensch im Mittelpunkt der Wirtschaft zu stehen hat. Die Wirtschaft hat dem Menschen zu dienen und nicht umgekehrt. Der Mensch aber hat sich – auch in seinem wirtschaftlichen Handeln – vor einer höheren Instanz zu verantworten. Das ist nach der Überzeugung von Bernhard Vogel ein Grundprinzip der Sozialen Marktwirtschaft. Deshalb weist er in seinen Reden immer wieder darauf hin, dass die christliche Soziallehre für den Neubeginn nach 1945 von entscheidender Bedeutung war. Dem Konzept der Sozialen Marktwirtschaft liegt das christliche Menschenbild von der unveräußerlichen Würde und Freiheit des Einzelnen, aber auch von dessen Verantwortung gegenüber dem Anderen, der Gemeinschaft und letztlich gegenüber Gott zugrunde. Das Streben nach einem Ausgleich zwischen wirtschaftlicher Freiheit und sozialer Verantwortung kennzeichnet das Wesen der Sozialen Marktwirtschaft. Das war auch die Überzeugung Wilhelm Röpkes. Bernhard Vogel hat sein politisches Leben lang für die Soziale Marktwirtschaft gewirkt. Als Ministerpräsident des Freistaates Thüringen hat er von 1992 bis 2003 die historisch einmalige Chance genutzt, in der Nachwendezeit den Übergang von einer sozialistischen Planwirtschaft hin zur Sozialen Marktwirtschaft zu gestalten. Er hat seine persönlichen Erfahrungen in dieser Zeit ebenso treffend wie humorvoll auf den Punkt gebracht: „In den Bibliotheken der deutschen Universitäten stapelten sich zwar Bücher, wie man aus Kapitalismus Sozialismus macht. Das erste Buch, wie man aus Sozialismus Soziale Marktwirtschaft macht, mussten wir damals aber erst zu schreiben beginnen.“ Auch als Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung hat Bernhard Vogel in vielen Reden für die Idee der Sozialen Marktwirtschaft geworben. Es ist Persönlichkeiten wie ihm zu verdanken, dass dieses Wirtschaftsmodell mittlerweile auch über die deutschen Grenzen hinaus in Europa anerkannt ist. Seit dem Lissabon-Vertrag ist die Soziale Marktwirtschaft als ordnungspolitisches

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Ziel einer gemeinsamen europäischen Wirtschaftsordnung in Artikel 3 des Vertrages über die Europäische Union festgeschrieben. Allerdings hat durch die Staatsschulden- und Finanzmarktkrise das Vertrauen sowohl in die europäischen Institutionen als auch in die Funktionsfähigkeit der Marktwirtschaft gelitten. Allenthalben ist ein tiefes Misstrauen nicht nur gegenüber einer immer weiter gehenden europäischen Integration, sondern auch gegenüber den Kräften des Marktes zu verspüren. Spätestens seit der Finanzmarktkrise greift wieder allgemeine Kapitalismuskritik um sich. Sie reicht mittlerweile bis weit in das bürgerliche Lager hinein. Die in mancherlei Hinsicht berechtigte Kritik an Fehlentwicklungen an den Finanzmärkten hat, wie Umfragen belegen, auch das Ansehen der Sozialen Marktwirtschaft in Mitleidenschaft gezogen. Das ist eine beunruhigende Entwicklung. Denn es darf nicht vergessen werden, dass die Soziale Marktwirtschaft im Laufe der vergangenen 60 Jahre in Deutschland zu Wohlstand und innerer Stabilität geführt hat. Um dies nicht zu gefährden, bedarf es einer Rückbesinnung auf die Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft. Freiheit als Grundvoraussetzung der Sozialen Marktwirtschaft Der Entscheidung für ein marktwirtschaftliches System liegt ein ethisches Werturteil zugrunde. Es ist das Bekenntnis zur Freiheit des Menschen. Die Soziale Marktwirtschaft ist auf Freiheit gegründet, auf die Freiheit des Einzelnen zu wirtschaftlicher Betätigung. Darin liegen die Respektierung und Anerkennung des Gewinnstrebens des Menschen, der im fairen Wettbewerb mit anderen sein Leben gestalten will. Das Gewinnstreben ist das Grundmotiv wirtschaftlichen Handelns. Den eigenen Nutzen zu verfolgen und dabei möglichst wenig eingeschränkt zu werden, ist eine der wichtigsten Triebkräfte wirtschaftlicher Dynamik. Das setzt einen funktionierenden Markt voraus, in dem Privateigentum und Vertragsfreiheit ebenso gewährleistet sind wie Berufs- und Gewerbefreiheit. Die Vordenker der Sozialen Marktwirtschaft wie Walter Eucken, Wilhelm Röpke und Alfred Müller-Armack haben diesen Freiheitsaspekt stets hervorgehoben. Eng damit zusammen hängt auch die Geldwertstabilität. Sie ist Voraussetzung dafür, dass dem Einzelnen die Früchte seiner Arbeit und Anstrengungen auch langfristig erhalten bleiben. Zur Freiheit wirtschaftlicher Betätigung gehört auch das bewusste Eingehen von Risiken. Ohne Risiken ist Handeln in der Wirtschaft nicht vorstellbar. Jede Investition eines Unternehmens und jeder Kredit, den eine Bank vergibt, enthalten ein wirtschaftliches Risiko. Die Übernahme von Risiken ist für sich genommen nichts Verwerfliches, sondern gehört zu den legitimen Formen wirtschaftlicher Betätigung. Ein Unternehmen, das jedes Risiko scheut, läuft Gefahr, am Markt nicht bestehen zu können. Deshalb darf auch der Vorstand einer Aktiengesellschaft nach der Business-Judgement-Rule Risiken eingehen, soweit er bei seiner unternehmerischen Entscheidung vernünftigerweise

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annehmen darf, auf der Grundlage angemessener Information zum Wohle der (Aktien)Gesellschaft zu handeln. Soziale Verantwortung als Grenze der Freiheit Schrankenlose wirtschaftliche Freiheit kann es allerdings nicht geben. Freiheit darf die Rechte und legitimen Interessen anderer nicht verletzen, sondern setzt verantwortliches Handeln voraus. Ein ungehemmter Kapitalismus, wie er sich im 19. Jahrhundert als Manchester-Kapitalismus entwickelt hatte, führt zu sozialen Verwerfungen. Aufgrund unterschiedlicher Begabung oder sozialer Herkunft kann sich nicht jeder Mensch in gleichem Maße entfalten. Deshalb tragen der Einzelne und die Gesellschaft insgesamt Verantwortung auch für die Schwächeren in der Gesellschaft. Erst die Balance von individueller Freiheit und gesellschaftlicher Verantwortung schafft die Grundlage für eine leistungsfähige Volkswirtschaft und die innere Stabilität der Gesellschaft. Die Soziale Marktwirtschaft ist deshalb durch das Bestreben gekennzeichnet, das wirtschaftliche Eigeninteresse des Einzelnen und die Interessen der anderen sowie der Gesellschaft insgesamt immer wieder angemessen auszugleichen. Gerechter Interessenausgleich und Fairness im Umgang miteinander, Verantwortung und Solidarität gehören deshalb zu den ethischen Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft ebenso wie das Prinzip der Freiheit. Solidarität darf allerdings nicht verwechselt werden mit Gleichmacherei. Um es in den Worten des Soziologen und Volkswirts Alexander Rüstow auszudrücken: „Gleichheit am Anfang (Startgleichheit) kann man im Namen der Gerechtigkeit fordern, Gleichheit am Ende nur im Namen des Neides. Jedem das seine, fordert die Gerechtigkeit, jedem dasselbe der Neid.“ Gesetzlicher Ordnungsrahmen und Verantwortung des Einzelnen Um das Funktionieren der Marktwirtschaft zu garantieren und die innere Stabilität der Gesellschaft zu sichern, schafft der Staat einen rechtlichen Ordnungsrahmen. Ein durchsetzungsfähiges Rechtssystem ist Voraussetzung und Garant von Freiheit in der Wirtschaft, setzt dieser Freiheit zugleich aber auch Grenzen. So sichert das Wettbewerbs- und Kartellrecht die für die Marktwirtschaft notwendige Freiheit des Wettbewerbs, indem es unlautere Geschäftspraktiken und marktbeherrschende Monopole verbietet. Das Prinzip von Verantwortung und Solidarität, das in der Sozialbindung des Eigentums und in der Sozialpartnerschaft von Arbeit und Kapital zur Geltung kommt, ist in vielfältigen Regelungen etwa zur sozialen Absicherung von Arbeitnehmern konkretisiert worden. Staatliche Gesetze reichen aber nicht aus, um das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Verantwortung im Wirtschaftsleben aufzulösen. Denn auch mit den detailliertesten rechtlichen Regelungen wird man nicht jede Entscheidungssituation befriedigend lösen können. Gesetze können nicht alles regeln. Im

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Wirtschaftsleben tauchen immer wieder neue Fragen, Probleme und Situationen auf, die nicht im Voraus gesetzlich geregelt sind und auch nicht geregelt werden können. Hier ist der Einzelne als Persönlichkeit wie als Entscheidungsträger selbst gefragt. Jeder, der im Wirtschaftsleben Entscheidungen zu treffen hat, steht nicht nur vor der Frage, was wirtschaftlich profitabel und rechtlich zulässig ist, sondern muss sich zugleich fragen, ob dies auch moralisch vertretbar ist. Verantwortlich handeln kann nur, wer über einen inneren Kompass an ethischen Werten und Normen verfügt. Artikel 2 des Grundgesetzes spricht vom Sittengesetz als einer Grenze der allgemeinen Handlungsfreiheit. Jeder hat, wie Bernhard Vogel es einmal ausgedrückt hat, die Pflicht und die Fähigkeit zur sittlichen Entscheidung. Für Wilhelm Röpke stand fest, dass die aus Christentum und Aufklärung überlieferten Werte und Prinzipien des europäischen Erbes die Grundlage dieser sittlichen Entscheidung sind. Auch daran erinnert Bernhard Vogel mit den Worten: „Das Maß der Wirtschaft ist der Mensch; das Maß des Menschen ist sein Verhältnis zu Gott.“

„Sozial ist, was Arbeit schafft.“ (Bernhard Vogel) Ingrid Sehrbrock Über Jahre schien dies vielen plausibel. Die Arbeitslosigkeit war hoch, „jobless growth“ offenbar ein neues, schwer zu beeinflussendes Phänomen. Mehrere Generationen junger Menschen waren mit der Arbeitslosigkeit aufgewachsen. Menschen mussten sich damit arrangieren und dennoch die Nischen finden, die den Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglichten. Auch für Ältere war die Lage schwierig. Wer den Arbeitsplatz verlor, hatte es nicht leicht, wieder einen zu finden: Qualifizierung, Umschulung, Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit hießen die Rezepte. Letztere schob die Verantwortung deutlich den Arbeitslosen selbst zu, auch wenn das Angebot an Arbeitsplätzen weit hinter der Nachfrage auf dem Markt zurückblieb. Wer durch Verkauf oder Konkurs des Unternehmens den Arbeitsplatz verlor, war erstens selbst nicht an seiner Arbeitslosigkeit schuld und zweitens oft gut qualifiziert, ganz zu schweigen von jungen Menschen, die sich an den Anforderungen der Unternehmen orientiert hatten. Sie hatten Fremdsprachen gelernt, im Ausland gearbeitet, sie hatten Erfahrungen aus Praktika in Betrieben gesammelt, sie hatten womöglich promoviert – und dennoch blieb ihnen der Arbeitsmarkt verbaut. Zunächst aus einer gut gemeinten Idee heraus boten Unternehmen Schnupperpraktika an, unbezahlt oder schlecht bezahlt. Junge Menschen ließen sich darauf ein. Die schwierige Arbeitsmarktlage führte dazu, dass der Vorsatz: „Ich mache erst mal ein Praktikum,“ für viele zum Normalfall wurde. Findige Unternehmen sahen hier ihre Chance, schrieben Praktikumsplätze aus, erwarteten (mehrjährige) Berufserfahrung und volle Verantwortung und bezahlten nichts oder schlecht. Insbesondere im Osten Deutschlands waren Menschen bereit, sich auf prekäre Beschäftigung einzulassen. Sie nahmen – unfreiwillig – Teilzeitarbeit an, ließen sich in der Hoffnung auf „normale Arbeit“ mehrmals umschulen und gingen von einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme in die nächste. Selbst gut qualifizierte Frauen akzeptierten Minijobs, um nicht arbeitslos zu sein. Im Osten wurde vieles ausprobiert was im Westen bis dahin nicht die Regel gewesen war. Bei einer Betriebsübernahme mussten die Frauen gehen, denn die hatten Kinder, und die wurden auch krank. Unbezahlte Probezeit vor der eigentlichen Arbeitsaufnahme kam in Mode, geltendes Recht wurde umgangen. Produktionslinien wurden mit zu einem Drittel billigeren Leiharbeitern gefahren, obwohl keine Produktionsspitzen zu erwarten waren. Im Handel breiteten sich Minijobs aus,

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die zwar reguläre Arbeitsplätze waren, aber als Aushilfen ausgeschrieben und schlechter bezahlt wurden. Dass auch für diese die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall gilt, der Anspruch auf Urlaubsgeld und Arbeitszeiten festgelegt werden müssen, wurde oft genug ignoriert. Sozial ist was Erwerbsarbeit schafft? Arbeit ist für Menschen wichtig, nicht nur wegen des Geldverdienens. Wertschätzung und Anerkennung geschieht über Arbeit. Menschen sind gefordert, alle ihre Kräfte zu mobilisieren, kreativ zu sein, ausdauernd, zielorientiert, motiviert. Arbeit gibt den Menschen ein Gerüst für den Alltag. Wer längere Zeit nicht erwerbstätig ist und auch sonst kein sinnstiftendes Engagement findet, wird krank, kriegt seinen Alltag schwer geregelt. Wissenschaftliche Untersuchungen im Auftrag des Deutschen Gewerkschaftsbundes belegen, dass Erwerbslosigkeit die psychische Gesundheit verschlechtert. Depressivität, Ängstlichkeit, Hoffnungslosigkeit und Hilflosigkeit bis hin zur Resignation sind keine Seltenheit. Mangelndes Selbstwertgefühl, geringeres Aktivitätsniveau und Einsamkeit sind die soziale Folge. Mehr als in Westdeutschland ist Erwerbsarbeit für Frauen in den neuen Bundesländern eine Selbstverständlichkeit. Vollzeitarbeit ist für sie eher die Regel als die Ausnahme und wegen der guten Versorgung mit Kinderbetreuung im Prinzip kein Problem. Die Erfahrung zeigt, dass Frauen im Osten es viel stärker als im Westen als Schmach empfinden, ohne Arbeit zu sein. Da liegt es nahe, sich auch auf schlechte Beschäftigungsbedingungen einzulassen. Dazu kommt, dass manches Unternehmen nach der Wende erst „Rheinischen Kapitalismus“ lernen musste. Soziale Marktwirtschaft heißt eben nicht, „the winner takes it all“. Die Verantwortung für Beschäftigte gehört dazu. Wer, wenn nicht die ArbeitnehmerInnen schaffen den Mehrwert? Gleichwohl kommen wir gerade heraus aus Zeiten, in denen man nicht selten den Eindruck vermittelte, dass Unternehmer es schon richtig machen, wenn man sie nur ungestört machen lässt: möglichst ohne Betriebsrat und ohne Mitbestimmung. So hörten wir es über Jahre und vielstimmig. Die Wirtschafts- und Finanzkrise hat uns beigebracht, dass dies ein Fehlschluss war. Alle Welt fragt uns, wie wir in Deutschland so gut durch die Krise kamen. Wer darüber nachdenkt, woran das lag, ist schnell bei der Sozialpartnerschaft im Betrieb und dem Zusammenwirken von Gewerkschaften, Unternehmen und Regierung. Wer, außer den Gewerkschaften, hätte gedacht, dass Mitbestimmung und Sozialpartnerschaft doch Standortvorteile Deutschlands sein könnten? Es war auch das besonnene Miteinander in der Krise, das uns gute Ausgangsbedingungen beschert hat. Staatlich finanziertes Kurzarbeitergeld, Verzicht auf Entlassungen, Einsatz der von Gewerkschaften ausgehandelten Flexibilisierungsinstrumente (Abbau von Arbeitszeitkonten, Abbau von Überstunden bis

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ins Minus, Reduzierung der Leiharbeit, Umbau von Schichtplänen, Nutzung von Urlaubsansprüchen), Verteilung der Risiken auf alle Schultern. Deutsche Unternehmen im Ausland sind mit vergleichbaren Instrumenten ebenso gut durch die Krise gekommen. Sozial ist, was Erwerbsarbeit erhält und schafft? Nicht jede Arbeit erfüllt die Kriterien, die Gewerkschaften für gute Arbeit anlegen. Bei aller Bedeutung von Arbeit für die Menschen ist Arbeit an sich nicht schon sozial. Es sind die Bedingungen, unter denen gearbeitet wird, natürlich die Bezahlung, die Einhaltung von Rechten, das Arbeitsklima, die Wertschätzung, die Kollegialität, die Einflussnahme, Qualifikations- und Aufstiegschancen, die einen guten Arbeitsplatz ausmachen. Sozial ist was gute Arbeit schafft! Minijobs zum Beispiel sind es nicht. Über sieben Millionen sind es inzwischen, davon fast fünf Millionen als ausschließliche Tätigkeit und davon trifft es wieder 66 Prozent Frauen. Dass Minijobs eine Brücke sein könnten in den regulären Arbeitsmarkt, war ein Argument der Befürworter solcher Beschäftigungsverhältnisse gewesen. Nur ein Viertel der Minijobber findet tatsächlich heraus, drei Viertel bleiben drin. Dabei war man bei der letzten Novelle 2006 auch davon ausgegangen, dass Minijobs nicht wirklich attraktiv seien für Arbeitgeber. Arbeitgeber/innen, die 30 Prozent Abgaben zahlen statt 21 Prozent im regulären Beschäftigungsverhältnis müssen andere Vorteile sehen. Der Zuwachs der Minijobs seit 2006 lässt diesen Schluss zu. Nach dem Teilzeit- und Befristungsgesetz darf geringfügige Beschäftigung nicht schlechter gestellt werden als Vollzeitarbeit. In der Wahrnehmung vieler Betroffener ist der Minijob aber eine Beschäftigung minderen Rangs. Oft als Aushilfe deklariert, wird den Beschäftigten nicht nur der Tariflohn verweigert, sondern auch die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, das Urlaubsgeld oder der Kündigungsschutz. Die nicht mehr geltende Stundenobergrenze leistet einer Risikoverlagerung auf die Beschäftigten Vorschub. Die Reinigung von Gebäuden, oder das Auffüllen von Regalen wird vereinbart, in welcher Zeit dies gelingt, ist Sache der Beschäftigten und mindert ihren Stundenlohn. Minijobber arbeiten zwar in aller Regel nicht ihr Leben lang in solchen Beschäftigungsverhältnissen, aber im Durchschnitt sind es sieben Jahre, das Einkommen liegt bei ca. 260 €. Für diese Zeit wird kein Anspruch auf Arbeitslosengeld erworben, wer arbeitslos wird, fällt sofort in den Hartz IV Bezug. Schwierig wird es vor allen Dingen, wenn es um die Alterssicherung geht. Geringfügig beschäftigte ArbeitnehmerInnen (MinijobberInnen) hätten selbst nach 45 Beitragsjahren nur Anspruch auf 139,95 € Rente. Und das soll der Lohn für die Lebensarbeit sein? Oder gar sozial? Die meisten MinijobberInnen arbeiten nur in diesem Job und nutzen den Minijob gerade nicht als steuerfreien

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Hinzuverdienst. Das Bundesarbeitsministerium hat aktuell ausgerechnet, dass ein Minijob für die Dauer eines Jahres eine monatliche Rente von 3,11 € ergibt. Selbst wenn MinijobberInnen den pauschalen Rentenbeitrag, den Arbeitgeber monatlich zahlen, von 15 Prozent auf 19,6 Prozent aufstocken, kommen sie auf unwesentlich mehr Rente, nämlich: 182,70 €. Sozial ist, was Arbeit schafft? Ein großer Teil der MinijobberInnen würde ihre Beschäftigung gerne aufstocken, um in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu kommen. Diese Möglichkeit bleibt den meisten verwehrt. Im Hotel- und Gaststättenbereich etwa werden über weite Bereiche nur noch geringfügige Beschäftigungen angeboten. Dramatisch ist auch die Tatsache, dass etwa jede/r achte Minijobber/in mit staatlicher Grundsicherung das nicht existenzsichernde Einkommen aufstocken muss (Studie der Hans-Böckler-Stiftung). Hier steigt der Staat mehrfach als Unterstützer ein, denn Steuern und Sozialversicherungsbeiträge werden erlassen, Löhne werden aus Steuermitteln aufgestockt und im Alter ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass kleine Renten mit Grundsicherungsmitteln ergänzt werden müssen. Der Staat stabilisiert damit letztlich solche Beschäftigungsverhältnisse mit allen Folgen für die Beschäftigten und die Steuerzahler. Was muss getan werden? Sozial ist, was gut Arbeit schafft! Brauchen wir eine Wiederauflage der Initiativen zur Humanisierung der Arbeitswelt? Ohne Zweifel, ja. Nicht nur wegen des Anwachsens unsicherer Beschäftigung. Auch die sogenannten Normalarbeitsverhältnisse wandeln sich. Normal bedeutet heute für Vollzeitarbeitnehmer über 41 Stunden Arbeitszeit pro Woche, es bedeutet, oft abends oder am Wochenende zu arbeiten. Normal ist offenbar auch der wachsende Zeit- und Arbeitsdruck, normal ist es, vielleicht krank zur Arbeit zu gehen, sagen mehr als 49 Prozent der Befragten einer Studie aus 2012. Nach dem „DGB Index Gute Arbeit 2012“ müssen 52 Prozent der Beschäftigten sehr häufig oder oft gehetzt arbeiten. 63 Prozent müssen seit Jahren immer mehr in der gleichen Zeit arbeiten, 34 Prozent fällt es schwer nach der Arbeit abzuschalten. Der DGB versucht, diese Entwicklungen aufzugreifen und arbeitet an einer „Neuordnung des Normalarbeitsverhältnisses“ – anhand der Erscheinungen und Faktoren, die die Arbeit eines / einer Beschäftigten im Jahr 2012 prägen. Auch unter Berücksichtigung des immer deutlicher werdenden Fachkräftemangels sollten Signale der Beschäftigten gehört werden. Es gibt gute Arbeit, in vielen Branchen, aber in der Minderzahl. Dort, wo sie besteht, gibt es eine

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Unternehmenskultur und ein Betriebsklima, das Menschen in ihren jeweiligen Lebenssituationen ernst nimmt, z. B. durch geregelte und familiensensible Arbeitszeiten, faire Bezahlung, durch betriebliche Gesundheitsförderung, durch einen wertschätzenden Umgang und Möglichkeiten der Weiterbildung, um nur einiges zu nennen. Es ist höchste Zeit, wieder zu einem menschlichen Maß in der Arbeitswelt zurückzufinden.

Zur Unfähigkeit unserer Demokratie, Gerechtigkeit zwischen den Generationen zu üben „Wir bekennen uns zur wechselseitigen Verantwortlichkeit der Generationen. Die Alten wollen nicht auf Kosten ihrer Kinder und Enkel leben.“ (Bernhard Vogel) Kurt Biedenkopf Bernhard Vogels Bekenntnis, die Alten sollten nicht auf Kosten ihrer Kinder und Enkel leben, ist ebenso ernst wie verpflichtend gemeint. Das ehrt ihn. In der politischen Wirklichkeit unseres Landes findet es jedoch schon lange kaum noch Widerhall. Alle reden über Generationengerechtigkeit. Unsere politischen Parteien versprechen sie seit Jahrzehnten in ihren Programmen. Ihre Redner beschwören bei jeder sich bietenden Gelegenheit ihre politische Verantwortung für Kinder und Enkel. Stiftungen, zahlreiche Organisationen, Wissenschaftler und ihre Institute fordern mehr Verteilungsgerechtigkeit zwischen den Alten und den Jungen. Unsere politische Wirklichkeit ist davon unbeeindruckt. Sie straft die politische Rhetorik Lügen. Wenn es um die politisch gestaltete Gerechtigkeit zwischen den Generationen geht, könnte die Kluft zwischen Wollen und Handeln kaum größer sein. Bisher hat keine politische Partei und keine Regierung die Kraft gefunden, Ansprüche ihrer Wähler an den Staat zugunsten der Kinder und Enkel wirksam zu begrenzen. Anzeichen dafür, dass der Widerspruch zwischen Postulat und Wirklichkeit überwunden werden könnte, sind nicht erkennbar. Wahr ist allerdings auch, dass die Politiker, die uns vertreten, bei ihren Begrenzungsversuchen kaum auf die Unterstützung der Mehrheit der Wähler rechnen können. Nehmen wir an, es werde gefordert, den staatlichen Aufwand für Schulen, Ausbildung, Bildung und für Lehre und Forschung an den Hochschulen zu Lasten des staatlichen Sozialaufwandes zu vergrößern. Dass zwischen beiden Bereichen kein vernünftiges Verhältnis mehr besteht, bestätigt uns bereits ein Blick auf die Ausgabenverteilung in den Haushalten von Bund und Ländern. Viele wären deshalb vielleicht bereit, diese Forderung zu unterstützen. Denn es geht nicht nur um die Zukunftschancen der Kinder. Es geht auch um deren spätere Fähigkeit – und Bereitschaft – ihrerseits Verantwortung für die Älteren zu übernehmen; genauer, die sozialpolitischen Versprechen einzulösen, die sich die Älteren während ihrer aktiven Zeit zu Lasten der Kinder und Enkel gaben. Gleichwohl hätte die Forderung nach einem stärkeren finanziellen Engagement des Staates zugunsten der Ausbildung der Kinder und zu Lasten der staatlichen

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Sozialetats kaum eine Chance, verwirklicht zu werden. Soviel lehrt uns jedenfalls die politische Wirklichkeit während der letzten Jahrzehnte. Offensichtlich schätzen die politischen Parteien und die Mehrheit der Abgeordneten die politischen Kosten zu hoch ein, die mit der Verwirklichung dieser oder vergleichbarer Forderungen verbunden wären. Schließlich verdanken sie ihre politischen Mandate nicht den Kindern oder Enkeln, sondern in erster Linie den Wählern über vierzig. Für die hat die Sicherung ihrer gegenwärtigen Besitzstände und „Errungenschaften“ tendenziell einen höheren Stellenwert als eine langfristig angelegte Verteilung der Chancen und Lasten zwischen den Generationen. Unterstützt werden diese Einstellung und ihre scheinbare Rechtfertigung durch die organisierten Interessen. Unter ihnen sind es in erster Linie die machtvollen sozialpolitischen Organisationen, die die politischen Kosten einer gerechteren Verteilung der Lasten und Chancen zwischen den Generationen nachhaltig zugunsten der gegenwärtigen Interessen beeinflussen. Mit ihrer Sozialmacht, ihren Besitzständen und ihrem politischen Einfluss, der sich in der Kopflastigkeit der Sozialausgaben in den staatlichen Haushalten widerspiegelt, leisten sie Widerstand gegen jeden ernsthaften Versuch, die Verteilungsrelationen zwischen den Generationen zu verändern. Ihre primäre Aufgabe sehen sie vielmehr in der Sicherung der sozialpolitischen Interessen ihrer Mitglieder und darüber hinaus der Erwachsenen, die von ihnen auf vielfältige Weise vormundschaftlich betreut werden. Nach dem Motto „mehr soziale Gerechtigkeit“ sollen diese Interessen weiter ausgebaut werden. Dass diese Organisationen jemals ernsthaft eine Begrenzung der von ihnen vertretenen und verteidigten Besitzstände zugunsten der Kinder und Enkel gefordert hätten, ist nicht bekannt. Damit ist angesichts des Selbstverständnisses der sozialen Zwischengewalten auch nicht zu rechnen. Mit der erwachsenen Generation selbst verhält es sich nicht viel anders. Sie leistet wenig für die Zukunft ihrer Kinder. Deren Generation ist um rund ein Drittel kleiner an Zahl als die ihrer Eltern. Die wiederum erhöhen nicht nur ständig den staatlichen Schuldenberg. Die Kindergeneration soll auch die wachsenden Renten und Pensionslasten tragen und für die Gesundheitskosten der Älteren einstehen. Sie soll sich im Wettbewerb mit den Gleichaltrigen aus den wirtschaftlich aufstrebenden Staaten der Erde bewähren. Viele von ihnen werden eine bessere Ausbildung erhalten haben als die deutschen Kinder. Das Mindeste, das die heutigen Erwachsenen für ihre Kinder tun könnten, wäre, ihre Ausbildung zu verbessern und mit mehr Kapital für das eigene Alter vorzusorgen. Die Aussichten, sie könnten auf diese Weise ihrer Verantwortung für die nächste Generation gerecht werden, sind jedoch gering. Bis heute sucht man deshalb einen Ausweg aus diesem „GerechtigkeitsDilemma“. Er wird in der Vergrößerung der Einnahmen des Staates gesehen; sei es durch stärkeres Wachstums des Bruttoinlandproduktes oder durch zusätzliche Staatsverschuldung. Dabei ist der Weg, beides zu kombinieren, also Schulden

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aufzunehmen, um damit zusätzliches Wachstum zu fördern, besonders beliebt. Der Gerechtigkeit zwischen den Generationen ist diese Kombination jedoch besonders abträglich. Denn auch das zusätzliche Wachstum kommt den heute Aktiven zugute. Die Folgen der Staatsverschuldung, mit der es bewirkt werden soll, tragen vor allem die Kinder und Enkel. Darüber hinaus sind beiden Versuchen, das „Gerechtigkeits-Dilemma“ zu überwinden, zusätzliche Grenzen gezogen. Zum einen wollen wir die Stabilität unserer Währung und damit unseres gegenwärtigen Lebensstandards nicht gefährden. Zum anderen kann die Alterung unserer Bevölkerung unsere Leistungsfähigkeit begrenzen, wenn sie die notwendigen strukturellen Reformen durch ihren politischen Widerstand behindern. Schließlich werden uns das schnelle Wachstum der Weltbevölkerung und die Anforderungen Grenzen setzen, die von den neuen und mächtigen Volkswirtschaften zunehmen geltend gemacht werden. Es ist jedoch keineswegs sicher, dass diese Entwicklungen auch die gewünschten politischen Wirkungen entfalten werden. Nicht nur sind die Grenzen einer ständigen finanziellen Expansion seit langem bekannt und werden derzeit von den Finanzmärkten erzwungen. In erster Linie beeinflussen jedoch die zahlreichen machtvollen sozialpolitischen Organisationen die politischen Kosten einer gerechteren Verteilung der Lasten und Chancen zwischen den Generationen. Mit ihrer Sozialmacht, ihren Besitzstände und ihrem politischen Einfluss, der sich auch in der Kopflastigkeit der Sozialausgaben in den staatlichen Haushalten widerspiegelt, leisten sie Widerstand gegen jeden ernsthaften Versuch, die Verteilungsrelationen zwischen den Generationen zu verändern. Dafür gibt es kaum ein eindrucksvolleres Beispiel als die Debatte über die Anhebung des Renteneintrittsalters. Es ist offensichtlich, dass sich aus dem Zusammentreffen einer ständigen Verlängerung der Lebenserwartung und einer stetigen Abnahme der nachwachsenden Arbeitsbevölkerung Konsequenzen für die Lebensarbeitszeit ergeben müssen. Gleichwohl werden alle Überlegungen, sie dauerhaft zu verlängern, von den Sozialbesitzständen bekämpft. Von unseren Abgeordneten können wir kaum verlangen, dass sie sich mit ihnen anlegen und die damit verbundenen politischen Risiken auf sich nehmen. Wir würden ihnen wohl die dafür notwendige Unterstützung verweigern. Denn mehrheitlich treten wir für mehr soziale Gerechtigkeit heute und damit für einen weiteren „Ausbau“ des Sozialstaates ein. Es geht uns primär um unsere Gegenwart und ihre sozialpolitische Ausstattung. Mit der wechselseitigen Verantwortung der Generationen, zu der Bernhard Vogel sich bekennt, also der Generationengerechtigkeit, hat dies kaum etwas zu tun. Die Schwierigkeiten, auf die wir stoßen, wenn es um die gegenseitige Verantwortung zwischen den Generationen geht, haben viele Ursachen. Mit ihnen verbinden sich grundsätzliche Fragen. Zwei erscheinen mir besonders bedeutsam: Erstens, sind die westlichen Demokratien, so wie sie in der Praxis gehandhabt werden, aus strukturellen oder prinzipiellen Gründen unfähig, sich in der Gegenwart zu begrenzen, um wesentlichen zukünftigen Verpflichtungen und

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Bedürfnissen Rechnung zu tragen? Ist ihnen, mit anderen Worten, eine Tendenz zur Begrenzungskrise immanent? Zweitens, auf welcher Ebene eines demokratischen Gemeinwesens besteht am ehesten die Aussicht, dem Postulat der Gerechtigkeit zwischen den Generationen auf angemessene Weise zu entsprechen? Antworten werden sich nur finden lassen, wenn es gelingt, von den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte auszugehen, sie als bestehende politische Wirklichkeiten zu akzeptieren und auf dieser Grundlage nach den Ursachen für die Schwächen unserer praktizierten demokratischen Governance zu fragen. Im Grundsatz geht es darum, unsere politischen Strukturen so zu gestalten, dass der Zusammenhang von Freiheit zum Handeln und der Verantwortung zu handeln für möglichst viele Lebensbereiche erlebbar bleibt. Anders gewendet geht es um das richtige Verhältnis von personaler Verantwortung und staatlicher Verantwortung; das heißt aber auch personaler und kollektiver Solidarität. Personale Solidarität ist erlebte Freiheit für personale Verantwortung. Kollektive Solidarität ist staatlich organisierte und gesetzlich befohlene Solidarität ohne erlebte Freiheit. Eine demokratische Ordnung, die sich der Freiheit verschrieben hat, wird sich deshalb für eine Ordnung entscheiden, die dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist. Die Ordnung der Subsidiarität ist die Verfassung von Freiheit und Verantwortung. Je weiter sich die Freiheit von ihrer Verantwortung löst, umso schwächer wird ihre Kraft, begrenzend zu wirken. Aus der Verantwortung für die Zukunft wird ungebundene Selbstverwirklichung in der Gegenwart. Wo immer es dem Staat gelingt, personale Freiheit gegen kollektive Sicherheit zu tauschen, trennt er zugleich die Freiheit des Bürgers von seiner personalen Verantwortung. Das Verhältnis beider wandelt sich grundsätzlich. Der Staat gewährt Sicherheit. Der Bürger fordert sie von ihm. Seine Forderung nach staatlicher Sicherheit wird nicht länger von seiner personalen Verantwortung begrenzt. Als kollektive Sicherheit ist sie prinzipiell unbegrenzt. Den politischen Akteuren fehlt die Kraft, das Sicherheitsversprechen zu begrenzen. Denn ihr Mandat beruht auf einer expansiven Gewährung von Sicherheit. Die korrigierende Wirkung der personalen Verantwortung kann sich nicht länger zur Geltung bringen. Die Begrenzungskrise ist die Folge und mit ihr der Verlust der Generationengerechtigkeit. Der Ausweg ist bekannt. Er wurde bereits in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts in der Rothenfelser Denkschrift beschrieben. Ihre Empfehlungen beruhen auf dem Subsidiaritätsprinzip. Sie enthalten auch Hinweise auf die Gefahren organisierter und staatlicher Vormundschaften. Sie sind in Vergessenheit geraten – auch in der Christlich-Demokratischen-Union. Aber die Strukturen, in denen sich personale Verantwortung zwischen den Generationen entwickeln und entfalten kann, stehen uns noch immer zur Verfügung. Es sind die Familie, die kleinen Lebenskreise und das Zusammenwirken der Bürgergesellschaft mit der kommunalen staatlichen Ebene. Dort müssen die Anstrengungen ansetzen, die verlorene Kraft zur Begrenzung wieder zu gewinnen.

„Kinderhaben ist in wachsendem Maße nichts Selbstverständliches mehr, sondern etwas, wozu sich Eltern bewusst entschließen.“ (Bernhard Vogel) Rita Süssmuth Den Kindern gehört die Zukunft. Aber wo sind die Kinder, denen wir die Zukunft in die Hände legen wollen? Bernhard Vogel hat richtig erkannt: Es fehlt Kindern in Deutschland an aller erster Stelle an der Chance, überhaupt geboren zu werden. Die Geburtenzahlen sind seit den 1960er Jahren drastisch gesunken. Die jahrelange Zuwanderung nach Deutschland hat die schlimmsten Auswirkungen vorübergehend kaschiert und verdrängt. Ein Ausgleich fand lange Zeit durch die durchschnittlich höhere Geburtenzahl bei Migrantinnen statt. Aber das grundlegende Problem bleibt: Es werden in Deutschland zu wenig Kinder geboren, obwohl der Kinderwunsch nach wie vor groß ist. Das Problem ist deutlich, die Begründung komplex. 80 Jahre alt und jung im Denken. Das zeigen Gedanken und Positionen Bernhard Vogels zum Thema Kindes- und Elternwohl in Deutschland. Die Geburtenrate hat sich seit Mitte der 1960er Jahre mehr als halbiert. Die jüngsten Meldungen des Statistischen Bundesamtes zum Geburtenrückgang 2011 haben erneut alarmiert: 663.000 Kinder wurden geboren, 15.000 weniger als 2010, die niedrigste Geburtenrate seit 1964.1 Und schon heißt es in den ersten Reaktionen: Das Elterngeld hat seinen Zweck nicht erreicht, deshalb sollten wir es überprüfen. Es sei „ein Irrglaube zu denken, die Mehrausgaben für Familienleistungen und der Ausbau der Kinderkrippen führten auch zwangsläufig zu mehr Kindern!“ 2 Bevor allerdings über die Wirksamkeit oder Unwirksamkeit familienpolitischer Leistungen gestritten wird, sollte zunächst der Einwand betrachtet werden, der vom Max-PlanckInstitut in München vorgetragen wird. Die Meldung zum Geburtenrückgang 2011 sagt noch nichts darüber aus, ob auch die Geburtenrate gesunken ist! Selbst wenn die Geburtenrate bei der einzelnen Frau gleich bleibt oder steigt wird die Geburtenzahl zurückgehen, weil die Anzahl der Frauen im gebärfähigen Alter zurückgegangen ist und weiter zurückgehen wird.3 Im Rahmen dieser Debatte wird auch regelmäßig darauf hingewiesen, dass die in empirischen Studien erhobenen Kinderwünsche weitaus höher liegen, aber nicht entsprechend realisiert werden. 53 Prozent der Kinderlosen im gebärfähigen Alter gab an, unbedingt ein Kind haben zu wollen, 28 Prozent möchten vielleicht Kinder. Hinzu kommt die Gruppe der Kinderlosen, die unbedingt Kinder haben möchten, aber keine Kinder bekommen können. Verschoben hat sich

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auch das Alter der Frauen, in dem deren Kinder zur Welt kommen. 60 Prozent aller Kinder werden von Frauen geboren, die 30 Jahre und älter sind.4 Auch für Bernhard Vogel ist der Geburtenrückgang ein alarmierendes Faktum, aber kein Grund für ein Katastrophen- oder gar Untergangsszenario. Er fragt, was für Kinder und Eltern verändert werden muss, um Kinderwünsche zu verwirklichen, um Zusammenleben und Zusammenhalt von Kindern und Eltern zu erleichtern. Er sieht die Einheit und Wechselwirkung von Elternwohl und Kindeswohl. Statt kulturkritischer Empörung und Untergangsstimmung fragt er zunächst einmal nach den positiven Entwicklungstendenzen in unserer Gesellschaft. Die gestiegene Erwerbstätigkeit von Mann und Frau – vor allem in Westdeutschland – ist ein Tatbestand, der nicht durch Rückkehr zu früheren Rollenmodellen überwunden werden kann. Für ihn kommt es entscheidend darauf an, die Veränderungen in den Familien zur Kenntnis zu nehmen, Probleme und Konflikte abzubauen, statt sie unablässig herbeizureden und zu erhöhen. Sein Markenzeichen ist nicht zu resignieren, sondern die Probleme anzugehen und dabei auch das Positive zu sehen. Es geht nicht länger um den ideologisch geführten Kampf zwischen familienergänzenden Krippen oder Familienbetreuung, sondern um neue Formen der Verknüpfung und der Zusammenarbeit zwischen beiden. Für Kinder Chancen zu schaffen, das heißt zugleich für Eltern und ihre Miterzieher Chancen zu schaffen. Bernhard Vogel antwortet auf die Frage, was Kinder heute brauchen: 1. Die Chance, geboren zu werden, 2. Eltern, die ihre Kinder lieben, sich um sie sorgen, 3. Schule und Bildung sowie ein familienfreundliches Lebensumfeld.5 Was stimmt positiv? Bernhard Vogel nennt den Zusammenhalt der Generationen. 84 Prozent empfinden den Zusammenhalt als stark oder sehr stark. Nach wie vor ist der Anteil der Familien hoch, der pflegebedürftige Kranke, Alte und Behinderte in der Familie pflegt und er fügt hinzu: „Enkel führen doch keinen Krieg gegen ihre Großeltern und Großeltern nicht gegen ihre Enkel.“ 6 Seine zentrale These besagt, dass die Familie kein Auslaufmodell ist, im Gegenteil. Aber sie ist und bleibt von den „Veränderungsprozessen unserer Gesellschaft nicht verschont“.7 Die Hürden sind seit Jahrzehnten bekannt, doch der Abbau ist auf der Strecke geblieben, kommt nur zögerlich voran. Das neue Elterngeld von 2006 (Inkrafttreten 1.1.2007) war ein entscheidender Schritt, ließ aber die Eltern, die von Hartz IV leben, außen vor und löste noch nicht die Probleme der Betreuung und Förderung in den Jahren danach. Der für 2013 gesetzlich beschlossene Krippenausbau mit Rechtsanspruch für jedes Kind unter 3 Jahren kommt viel zu spät und seine Realisierung ist noch keineswegs gesichert. Der nicht endende Streit um Krippenplatz und Betreuungsgeld von 150 Euro monatlich bei Nichtinanspruchnahme erzeugt neue Irritationen und Verunsicherungen in der Gesellschaft und bei Teilen der Elternschaft.8

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Zunächst ist festzustellen, dass, besonders in den alten Bundesländern, immer mehr kinderlos leben.9 Die Gründe für diese Entwicklung werden bereits als selbsterklärend gehandelt: der Knackpunkt liegt in der fehlenden Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Immer mehr Frauen verfolgen einen höheren Bildungsabschluss. Die damit verbundene verlängerte Ausbildungszeit ist oft ein Grund, den Kinderwunsch aufzuschieben. Das gilt besonders für die Gruppe mit der geringsten Geburtenrate, die Akademikerinnen. Die Aufhebung dieser Diskrepanzen wird hingegen zu langsam bearbeitet, dabei ist die Antwort eindeutig: Es müssen verstärkt Möglichkeiten geschaffen werden, damit sich Beruf und Kind nicht länger ausschließen. Zunächst, so sagt es wiederholt auch Bernhard Vogel, bedarf es der staatlichen oder kommunalen Unterstützung von Eltern. Mit dem Elterngeld und den Partnermonaten wurden schon wichtige Schritte in die richtige Richtung unternommen. Es bedarf aber auch brauchbarer familienexterner Kinderbetreuung. Diese muss bezahlbar und qualitativ anspruchsvoll sein, denn nur dann stellt sie eine Entlastung dar. Und zwar keine einseitige Entlastung vom Kind zugunsten des Berufs. Im Gegenteil. Eine angemessene Kinderbetreuung kann berufstätigen Eltern die Chance geben, sich liebevoller und weniger gestresst um den Nachwuchs zu kümmern. Fehlt diese Unterstützung, ist zumindest ein Elternteil gezwungen, beruflich kürzer zu treten. Aus traditionellen Rollenmustern heraus wird damit häufig die Mutter vor diese Entscheidung gestellt. Der flächendeckende Kindergartenausbau ist deshalb eine absolute Notwendigkeit, um Kinder für Paare in allen Lebenssituationen wieder zu einer freudigeren Lebensentscheidung zu machen. Den zweiten entscheidenden Akteur stellen die Arbeitgeber dar. Sie haben die Türen für die Familiengründung weiter zu öffnen. Eltern sind besonders in den ersten Jahren nach der Geburt auf die Flexibilität des Arbeitsverhältnisses angewiesen. Unterschwelliger Stress durch Sorge um das berufliche Vorankommen wirkt sich schnell negativ auf Erziehung und Familienzusammenhalt aus. Das Gefühl, sich durch ein Kind den Lebenslauf zu erschweren oder gar zu verbauen, ist weit verbreitet. Der Mikrozensus 2008 hat gezeigt, dass besonders in den alten Bundesländern die volle Erwerbstätigkeit von Frauen mit hoher Kinderlosigkeit korreliert. Gleichzeitig steigt die Wahrscheinlichkeit, dass zumindest ein Kind in der Beziehung geboren wird, wenn klassische Modelle des männlichen Versorgers praktiziert werden.10 Daran lässt sich erkennen, dass noch immer mehrheitlich die Frauen sind, die sich zwischen Beruf und Familie entscheiden müssen. Bernhard Vogel weist zu Recht darauf hin, dass sich grundlegende gesellschaftliche Vorstellungen ändern müssen, um Deutschland zu einem kinderfreundlichen Land zu machen. Allzu oft werden Kinder als störend empfunden. Die Entscheidung für Kinder erfordert den Mut der zukünftigen Eltern, sich trotz allem der Idee der Familiengründung zu öffnen.

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In den neuen Bundesländern ist man im Vergleich zum bundesweiten Durchschnitt schon einen Schritt weiter, wo der Ausbau der familienergänzenden Kinderförderung weitaus höher liegt. In den alten Bundesländern hingegen ist die Geburt eines Kindes noch stärker an die Ehe und häufiger an die Hausrolle der Mutter gebunden. Der gesellschaftliche Druck und die Stigmatisierung als Rabenmutter, die ihr Kind zu früh in Betreuung abgibt, belasten den Entscheidungsprozess. Immer noch fehlt es an guter Förderung und Betreuung, der Personalmangel ist besorgniserregend, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist noch keineswegs gelöst, während die Anforderungen an Erziehungsleistungen und Beruf gestiegen sind.11 Wir haben zu beachten, dass das Kindeswohl zu jedem Zeitpunkt an oberster Stelle steht. Aber Kindeswohl und Elternwohl, so sieht es auch Bernhard Vogel, bilden eine Einheit. Er mahnt zu Recht an, dass das Betreuungs- und Bildungssystem seine verantwortungsvolle Rolle angemessen erfüllen muss. Eine Desintegration des Schulsystems in einen privilegierten privaten Sektor und einen überforderten öffentlichen Sektor ist unbedingt zu vermeiden. Dazu gehört es, dass die Lehrerinnen und Lehrer eine Ausbildung erhalten, mit der sie Kinder und Jugendliche egal mit welchem sozialen Hintergrund in den Unterricht integrieren können. Die PISA-Studien haben gezeigt, dass soziale Herkunft einen wesentlichen Faktor für die Bildungschancen eines Kindes darstellt. Wenn Eltern sich aus Sorge um die Bildung ihrer Kinder dazu gezwungen sehen, in „bessere“ Stadtteile zu ziehen, ist das eine Sorge, der wir schon von vornherein vorbeugen müssen. Jedes Kind in Deutschland sollte den gleichen Zugang zu qualifizierter Bildung haben. Dies gilt für alle in Deutschland lebenden Kinder, auch und gerade jene mit Migrationshintergrund, die 30 bis 50 Prozent des Nachwuchses ausmachen. Die Zwickmühle vieler junger Frauen, sich zwischen Kind und Beruf entscheiden zu müssen, ist also eine Frage von gesamtgesellschaftlicher und gesamtwirtschaftlicher Relevanz, nicht allein von privater Entscheidung. Wir brauchen qualifizierte weibliche Arbeitskräfte, wir brauchen aber auch Kinder, die zu unserem Leben gehören, die Zeit, Zuwendung, Zugehörigkeit und Entwicklungsförderung von früher Kindheit an brauchen.12 Kinder gehören nicht mehr zur gesellschaftlichen Norm. Kinder muss man nicht haben. Aber was ist eine Gesellschaft kulturell, anthropologisch und sozial ohne Kinder? Um uns für Kinder zu entscheiden, brauchen wir das Gefühl, ja die Gewissheit, nicht allein gelassen zu werden mit dieser Aufgabe. Wir Menschen sind angewiesen auf Zusammenhalt und wechselseitige Hilfe. Ich schließe mich deshalb Bernhard Vogel an, wenn er sagt: „Kinderhaben ist in wachsendem Maße nichts Selbstverständliches mehr, sondern etwas, wozu sich Eltern bewusst entschließen.“ Wir alle müssen dafür Sorge tragen, dass der bewusste Entschluss für das Kinderhaben wieder selbstverständlicher wird.

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Statistisches Bundesamt: Pressemitteilung Nr. 225, 2. Juli 2012. Thomas Bareiß, in: Florian Festl: Deutschland rutscht immer tiefer in die Methusalem Falle, in: Focus Online, 3. Juli 2012 (http://www.focus.de/politik/deutschland/familienpolitik-cdu-abgeordneter-bareiss-stellt-das-elterngeld-infrage_aid_776352.html, Abruf: 18. Juli 2012). 3 Florian Festl: Deutschland rutscht immer tiefer in die Methusalem Falle, in: Focus Online, 3. Juli 2012 (http://www.focus.de/politik/deutschland/familienpolitik-cdu-abgeordneterbareiss-stellt-das-elterngeld-infrage_aid_776352.html, Abruf: 18. Juli 2012). 4 Statistisches Bundesamt (Hg.): Geburten in Deutschland 2012. Wiesbaden 2012, S. 9. 5 Vgl. Forum Familie Stark Machen (Hg.): Generationen Barometer 2006. Eine Studie des Instituts für Demoskopie. Allensbach 2007; zitiert nach: Bernhard Vogel: Was Kinder heute brauchen, Vortrag im Rahmen der Reihe „Kindern Chancen schaffen“ des Vereins Königsteiner Salon, Kronberg 23. April 2008 (http://www.kas.de/wf/doc/kas_13548 – 544-1 – 30. pdf?080724141136, Abruf: 12. Juni 2012, S. 3). 6 Bernhard Vogel: Was Kinder heute brauchen, Vortrag im Rahmen der Reihe „Kindern Chancen schaffen“ des Vereins Königsteiner Salon, Kronberg 23. April 2008, S. 2. 7 Ebd., S. 3.; vgl. auch: Angela Merkel: Dialog über Deutschlands Zukunft. Hamburg 2012, S. 26ff. und S. 59ff. 8 Vgl. Deutscher Bundestag, Plenarprotokolle 17. Wahlperiode, 178. Sitzung, 10. Mai 2012 sowie 187. Sitzung, 28. Juni 2012. 9 Statistisches Bundesamt (Hg.): Geburten in Deutschland 2012, S. 12f. und 22f. 10 Vgl. Norbert Schneider / Jürgen Dorbritz: Wo bleiben die Kinder? Der niedrigen Geburtenrate auf der Spur, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 10 – 11 (2011), S. 31f. 11 Vgl. Kathrin Bock-Famulla / Jens Lange: Länderreport frühkindliche Bildungssyteme 2011. Gütersloh 2011; BMFSFJ (Hg.): Dritter Zwischenbericht zur Evaluation des Kinderförderungsgesetzes. Berlin 2012. 12 Vgl. Frühkindliche Bildung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 22 – 24 (2012).

Humboldt Plus „Mit Humboldt alleine war keine neue Universität zu machen.“ (Bernhard Vogel) Wolfgang Jäger Bernhard Vogel ist ein Pragmatiker mit Prinzipien, ein Konservativer, der, auf festem Fundament stehend, zu Neuerungen bereit ist. Als Kultusminister bewies er das bei der Gründung der Universität Trier-Kaiserslautern. Der langjährige Präsident der Universität Trier Arnd Morkel berichtet, dass das Gründungskonzept der neuen Universität sich nicht durch geistigen Höhenflug, sondern durch Pragmatismus ausgezeichnet habe. „Kein Zweifel: Im Vergleich zu Konstanz und Bielefeld trat die Universität Trier-Kaiserslautern unauffällig ins Leben. Ihr Gründungskonzept trug nicht die Handschrift einer prominenten Persönlichkeit. Ihre Intentionen waren bescheiden: Man bemühte sich, auf praktische Fragen eine praktische Antwort zu finden, ging von den dringendsten Bedürfnissen (und nicht von spekulativen Entwürfen) aus – dem Bedürfnis nach mehr Studienplätzen, nach einer Reform der Studiengänge, einer Reorganisation der Hochschulverwaltung und einer Verbesserung der Chancengleichheit – und versprach, dazu einen Beitrag zu leisten. Manchem Kritiker schien das ein allzu dürftiges Konzept. Alles in allem, glaube ich aber, passte es besser in die damalige Hochschullandschaft als die wissenschaftstheoretischen Überlegungen Schelskys und Dahrendorfs.“ 1 Letztere kehrten in der Tat ihren Neugründungen bald enttäuscht den Rücken. Vogel hätte wohl niemals den Satz „Humboldt ist tot“ formuliert, aber eben auch nicht zur Restauration der Humboldt’schen Konzeption aufgefordert. Seinem realistischen Denken dürfte es vielmehr entsprochen haben zu fragen, was Humboldt – entschlackt von den historischen Rahmenbedingungen – uns heute wohl zu sagen hätte. Diese Fragestellung bedarf zunächst der Klärung. Was wollte Humboldt eigentlich – ohne Trübung durch die idealisierende Brille? Als wichtigste Prinzipien des preußischen Gelehrten und Reformers werden aufgezählt 2: „Einsamkeit und Freiheit“ des Wissenschaftlers, die „Lehr- und Lernfreiheit“, die „Einheit von Forschung und Lehre“, die „Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden“ sowie die „Universitas litterarum“.3 Diese Postulate hören sich angesichts des heutigen universitären Massenbetriebs teilweise wie Ideen aus einer anderen Welt an. Sie entstanden in der „Werkstatt“ der preußischen Reformpolitik. Die Reform des Bildungswesens in der napoleonischen

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Zeit lässt sich nur verstehen, wenn man sie als Instrument zur Erneuerung und Stärkung einer von der Französischen Revolution inspirierten Idee des nationalen Staates erkennt. Aufklärung und Idealismus sollten einen Bildungsbegriff inhaltlich füllen, der den im Niedergang befindlichen Staat mit Hilfe der nationalen Idee zu neuem Leben erweckte. Dies war die übereinstimmende Überzeugung von Fichte, Hegel, Schelling, Schleiermacher und Humboldt – der geistigen Väter der preußischen Hochschulreform. Auf diesem Hintergrund ist auch das neue Ideal der Erziehung zu sehen, das Humboldt formulierte: „Nicht darauf ist zu sehen, dass dieses oder jenes gelernt werde, sondern in dem Lernen muss das Gedächtnis geübt, der Verstand geschärft, das Urteil berichtigt, das sittliche Gefühl verfeinert werden. Nur so wird die Geschicklichkeit, die Freiheit, die Kraft erreicht werden, die nötig sind, um jeden Beruf aus freier Neigung und um seiner selbst willen – und nicht um das Leben damit zu fristen – zu ergreifen.“ 4 Die Vereinigung von Lehren und Forschen sollte das Grundprinzip der Universität sein. Da diese Postulate als Humboldts Universitätsidee heute meist in idealisierter Form vorgetragen werden, muss an drei meist unerwähnte Motive der preußischen Reformer erinnert werden. Erstens: Die Universität sollte damals nicht nur eine Forschungsstätte und an der Forschung orientierte Hochschule sein, sondern auch eine BeamtenAusbildungsstätte. Die Einheit von Gelehrten- und Berufsbeamtentum war ein integraler Bestandteil der Humboldt’schen Konzeption. Einer Nationalerziehung zum „ganzen und vollendeten Menschen, zur freien Entfaltung der guten und edlen, in ihm ruhenden Kräfte“ sollte die Qualität der Staatsdiener garantieren. Zweitens: Die preußischen Reformer wollten mit der neuen Hochschule der Entfremdung der Gelehrten vom Leben der Gegenwart entgegenwirken. Dieses Motiv gilt es in das Gedächtnis zurück zu rufen, auch wenn die historische Entwicklung zumeist das Gegenteil des Reformziels förderte. Drittens: Humboldt ging von der enzyklopädischen Einheit der Wissenschaften aus, die nach der Säkularisierung nicht mehr von der Theologie, sondern von der Philosophie zusammengehalten wurden. Auch hier trat das Gegenteil des Beabsichtigten ein. Die Forschungsfreiheit förderte die Spezialisierung der Wissenschaften, die Universitas ging verloren, aus dem Gelehrten wurde der Fachmann, die Philosophie entwickelte sich zu einer Fachdisziplin wie alle anderen Wissenschaften. Von besonderer Bedeutung ist im Humboldt’schen Denken das Verhältnis der Universitäten zum Staat. Da die neue Bildungsidee als Instrument zur Steigerung der Macht des Staates verstanden wurde, war die Verbindung von akademischer Forschungsfreiheit einerseits und einer staatlichen Beamten-Ausbildungsanstalt andererseits kein Widerspruch. Außerdem: Humboldts Universität war nicht – wie es heute oft fälschlich dargestellt wird – eine staatsfreie, autonome Einrichtung. Im Gegenteil, die preußische Staatsreform nahm die Universitäten fest an die Leine – von der Ressourcenzuweisung bis zur Personalhoheit. Das

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Selbstergänzungsrecht der Universitäten wurde abgeschafft. Humboldt berief als „Wissenschaftsminister“ auf die Lehrstühle, wen er selbst für geeignet hielt. Der Philosoph Hegel und der Historiker Ranke wurden gegen den Willen ihrer Fakultäten berufen. Das Gedankengebäude Humboldts ist also mit Blick auf die aktuelle Hochschulpolitik differenziert zu betrachten. Es gilt, die Ziele Humboldts von ihrer teilweise für die heutige Zeit untauglichen, historisch einzuordnenden Praxis und Wirkungsgeschichte zu trennen, um ihren Gehalt angesichts aktueller Aufgabenstellung zu ermessen. Wilhelm von Humboldts Ideen und Konzepte, modern interpretiert und aus ihrem historisch-etatistischen Korsett befreit, vermögen auf dem Weg zur internationalen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Universitäten nach wie vor den Weg zu weisen. Oberster Grundsatz für das Wirken der Universität ist und bleibt die Suche nach der Wahrheit sowie die Tradierung ihrer Inhalte und der Methoden der Wahrheitssuche. Dieser Leitsatz beinhaltet vier Prinzipien. Erstens: Die Suche nach der Wahrheit ist nur möglich, wenn Forschung und Lehre frei sind. Dieses Gebot ist verfassungsrechtlich verankert. Seine Garantie ist zunächst eine übergeordnete politische Aufgabe, die angesichts der finanziellen Grenzen und Prioritätensetzungen sowie normativen Regulierungen (Stichwort: Stammzellenforschung) immer wieder virulent werden kann. Die Freiheit des Wissenschaftlers ist das Lebenselixier der Universität. Dies kann nicht genug betont werden angesichts der zunehmenden Verrechtlichung und Regulierung allen Handelns. Zweitens: Die Universität sollte an der Einheit von Forschung und Lehre festhalten. Die Studierenden begegnen dem forschenden Lehrer und dem lehrenden Forscher und werden dadurch mit Wissenschaft vertraut. Dies gilt für alle Studierenden, nicht nur für jene, die als wissenschaftlicher Nachwuchs in der Universität verbleiben. Problemlösungskompetenz – wie wir heute sagen – ergibt sich nicht aus dem Lernen von Fertigkeiten, sondern aus wissenschaftlichem Geist. Dies meinte der Theologe und Philosoph Friedrich Schleiermacher, Ideengeber Wilhelm von Humboldts, als er 1808 schrieb: „Die Idee der Wissenschaft in den edleren, mit Kenntnissen mancher Art schon ausgerüsteten Jünglingen zu erwecken, ihr zur Herrschaft über sie zu verhelfen auf demjenigen Gebiet der Erkenntnis, dem jeder sich besonders widmen will, sodass es ihnen zur Natur werde, alles aus dem Gesichtspunkt der Wissenschaft zu betrachten, alles Einzelne nicht für sich, sondern in seinen nächsten wissenschaftlichen Verbindungen anzuschauen, in beständiger Beziehung auf die Einheit und Allheit der Erkenntnis, dass sie lernen, in jedem Denken sich der Grundgesetze der Wissenschaft bewusst zu werden, und eben dadurch das Vermögen selbst zu forschen, zu erfinden und darzustellen, allmählich in sich heraus zu arbeiten, das ist das Geschäft der Universität.“ 5

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Drittens: Die Einheit von Forschung und Lehre im Schleiermacher’schen Sinne beinhaltet auch den Blick über die Grenzen hinaus. Fachgrenzen sind immer künstlich, immer zu hinterfragen aus der Gesamtperspektive von Wissenschaft. Auch dies ist Gegenstand der Interaktion von Lernenden und Lehrenden. Gerade heute wird weltweit die Bedeutung von Inter- und Transdisziplinarität für den wissenschaftlichen Fortschritt neu erkannt. Eine Universität muss die Chance der großen Bandbreite sowie der dynamischen Vernetzung ihrer Disziplinen nutzen. Viertens: Die Wissenschaftsorientierung der Lehre und die Lehrorientierung der Wissenschaft liefern zentrale Inhalte des Bildungsauftrags der Universität. Die Suche nach der Wahrheit bedingt Wahrhaftigkeit, einen Katalog von – im altmodischen Wortgebrauch – Tugenden, die leider in jüngster Zeit mit „best practice“-Kodizes aus bedauernswerten Anlässen aufgefrischt werden mussten. Die Studierenden damit im Studium vertraut zu machen, ist ein Stück Charaktererziehung. Dazu gehört weit mehr, als die Übung wissenschaftlicher Wahrhaftigkeit leisten kann. Bildung umfasst alle Bereiche menschlichen Lebens von der Kunst über Sport bis zur Religion, soll aber vor allem zur Urteilskraft befähigen. Eine Universität stellt dafür zahlreiche Angebote bereit, vom Studium Generale über den Allgemeinen Hochschulsport bis hin zu den unzähligen Kunstgruppen, religiösen Gemeinden und studentischen Verbindungen. Besonders wichtig jedoch ist die Prägung der Studierenden durch ihre Hochschullehrer – ein Vorteil, den im Übrigen nur die physische Universität und niemals eine virtuelle E-Learning-Universität bieten kann. Gerade der unverwechselbare Charakter eines Lehrenden hat oft Vorbildfunktion. Urteilskraft kann nicht im Elfenbeinturm gedeihen. Deshalb hat die Universität die Pflicht, den Studierenden auch einen Blick in die Arbeitswelt zu ermöglichen, soweit dieser nicht schon über eine im Studium stattfindende Berufstätigkeit zu Stande kommt. Berufsqualifizierende Kompetenzen, die Lehre von Praktikern an der Universität, vor allem aber Praktika erweitern den Horizont. Dies ist keine Abkehr von Humboldts Universitätsidee, sondern ihre Bereicherung im Sinne seiner Forderung nach „geistiger und sittlicher Bildung“ des Menschen. Ich bin davon überzeugt, dass Bernhard Vogels Absicht, mit der Gründung der Universität Trier-Kaiserslautern „praktische Antworten auf praktische Fragen [zu] geben“, ohne eine „endlose Grundsatzdebatte“ zu führen, sich mit der entstaubten und aktualisierten Interpretation Humboldts weitaus deckte.6 Ohne Humboldt ist nämlich eine moderne Universität auch nicht zu denken. Dies demonstrieren die amerikanischen Elite-Universitäten, die sich zurecht auf Humboldt berufen.

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Arnd Morkel: Erinnerungen an die Universität. Ein Bericht. Vierow bei Greifswald 1995, S. 21. Vgl. zum Folgenden auch Wolfgang Jäger: „Wilhelm von Humboldt – Leitbild für die Universität des 21. Jahrhunderts?“, in: Peter Molt / Helga Dickow (Hg.): Kulturen und Konflikt im Vergleich. Comparing Cultures and Conflicts. Festschrift für Theodor Hanf. Baden-Baden 2007, S. 885 – 893. Morkel, S. 256. Zitiert nach Franz Schnabel: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Erster Band. 3. Aufl. Freiburg 1947, S. 445. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn. Nebst einem Anhang über eine neu zu errichtende. Berlin 1808, S. 177f. Bernhard Vogel: Wie alles begann: Die Gründung der Universität Trier-Kaiserslautern vor 40 Jahren, in: Universität Trier (Hg.): Reden an der Universität. 40 Jahre Universität Trier. Trier 2010, S. 13 (http://www.uni-trier.de/index.php?id=35709, Abruf: 15.05.2012).

„Den Dialog zwischen Literatur und Politik zu fördern: das ist das Ziel der Kulturarbeit der Konrad-Adenauer-Stiftung.“ (Bernhard Vogel) Birgit Lermen Dieser Satz findet sich in Bernhard Vogels Vorwort zur Anthologie Cadenabbia als literarischer Ort. Schriftsteller am Comer See 1. Er formuliert eine vorrangige Aufgabe der Konrad-Adenauer-Stiftung, deren Vorstand bereits 1984 auf Vorschlag von Bernhard Vogel, des damaligen Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz, den Entschluss fasste, die „Förderung von Kunst und Kultur zu einer Kernaufgabe“ 2 zu machen. Seither bemüht sich die Konrad-AdenauerStiftung um den Dialog mit der Literatur, der die Bereitschaft zu wechselseitiger Kritik voraussetzt. Sie tut dies nicht aus parteipolitischem Kalkül, sondern im Bewusstsein, „dass die Demokratie die Intellektuellen nicht nur für die Bewahrung des kollektiven Gedächtnisses, sondern auch für den öffentlichen Diskurs, die Entwicklung eines kritischen Bewusstseins und gegen die vermeintlichen Gewissheiten der Mächtigen braucht“ 3. Dieser Dialog hat jedoch eine nicht unproblematische Geschichte. In seiner Rede vom 9. Januar 2003 über Politik und Kultur als „Zubehör der humanen Aufgabe“ sagte Bernhard Vogel als Vorsitzender der Stiftung: „[…] von langer Tradition ist die Tatsache, daß zwischen Politik und Kultur ein Spannungsverhältnis besteht und daß dieses Verhältnis insbesondere in Deutschland oft belastet war von Animositäten und Rivalitäten, von Verkennungen und Verdächtigungen – und nur selten beflügelt von großen Hoffnungen und Visionen“ 4. Bernhard Vogel hat sich dem Ringen um wechselseitige Anerkennung schon zu Beginn seiner politischen Laufbahn gestellt. Bereits als Kultusminister von Rheinland-Pfalz (1967 – 1976) hat er dem literarischen Leben große Aufmerksamkeit gewidmet. Er war nicht nur ständiger Besucher der Frankfurter Buchmesse und häufiger Teilnehmer bei den Verleihungen des Friedenspreises, sondern er führte auch Gespräche über den Einsatz von Gegenwartsliteratur im Deutschunterricht der Oberstufe (so z. B. mit dem Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld). Zudem versammelte er immer wieder Schriftsteller zu Aussprachen, die nicht ohne Auswirkung blieben. Vor allem als Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz (1976 –1988) hat Bernhard Vogel durch seine Bereitschaft zum offenen Dialog mit Autoren zu einer nachhaltigen Entspannung des schwierigen Verhältnisses von Politik und Literatur beigetragen. Hervorzuheben ist aus dieser Zeit die Stiftung der CarlZuckmayer-Medaille am 18. Januar 1978 „zum Andenken an Carl Zuckmayer

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und als Auszeichnung für Persönlichkeiten, die sich um die deutsche Sprache verdient gemacht haben“ 5. So wurden z. B. die Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt, Hans Sahl, Hilde Domin und Herta Müller mit dieser Medaille ausgezeichnet und – was einmalig ist – beschenkt mit einem Fass Wein vom Weingut Gunderloch in Nackenheim, dem Geburtsort Zuckmayers. Als Ministerpräsident von Thüringen (1992 – 2003) hat Bernhard Vogel im wiedervereinten Deutschland einen großen Beitrag geleistet zur Entwicklung einer demokratischen Gesprächskultur. Er hat sich als stets offener Diskussionspartner der Auseinandersetzung mit Intellektuellen gestellt und war auf vielerlei Weise 6 bemüht, das Misstrauen der Schriftsteller gegenüber der politischen Macht abzubauen, so dass sich mit der Zeit ein besseres Verhältnis entwickelte. Seit Bernhard Vogel am 12. Januar 1989 den Vorsitz der Konrad-AdenauerStiftung 7 übernommen hat, ist der intensive und dauerhafte Dialog zwischen Politik, Kultur und Wissenschaft ein wesentlicher Bestandteil der bildungspolitischen Arbeit der Stiftung. Vor allem im Bereich der Literatur entwickelten sich nach und nach verschiedene Aktivitäten, die unterdessen im literarischen Programm fest etabliert sind: z. B. Dichterlesungen, literarische Kongresse, Symposien und Tagungen, Autoren- und Theaterseminare für Studenten aus Ost- und Westdeutschland, internationale Europa-Konferenzen (in Prag, Danzig, Budapest, Riga, Tallin), Hommagen zur Ehrung namhafter Künstler und Schriftsteller, internationale Kulturabende (in Kooperation mit den jeweiligen Botschaften). Eine herausragende Rolle spielt das Trustee-Programm EHF 2010 als Nachfolger des Else-Heiliger-Fonds zur Unterstützung besonders befähigter und bedürftiger Künstler und Autoren.8 Von den literarischen Veranstaltungen der Stiftung sind zwei besonders hervorzuheben: die Verleihung des Literaturpreises und die Autorenwerkstatt. Der im April 1992 von Bernhard Vogel ins Leben gerufene Literaturpreis genießt in der literarischen und politischen Öffentlichkeit große Resonanz. Mit der ersten Verleihung am 30. April 1993 an Sarah Kirsch zeichnete die Stiftung – im dritten Jahr der deutschen Einigung – eine Dichterin aus, die beide deutsche Staaten erlebte und deren lyrisches und episches Werk Ausdruck des Engagements sowohl für die Freiheit und Würde des Menschen als auch für die Bewahrung der bedrohten Natur ist. Auf Wunsch dieser aus Limlingerode stammenden ersten Preisträgerin fand die Verleihung von Anfang an in Weimar statt.9 Die Stadt Weimar, die vielen bedeutenden Dichtern und Denkern Heimat wurde, ist ein Ort großer kultureller Tradition und nachhaltiger Symbolkraft, aber – da in ihrer Nachbarschaft die Gedenkstätte Buchenwald liegt – auch ein Ort, wo „Humanität und Bestialität deutsche Nachbarn“ waren, wie Wolf Lepenies einmal sagte. Inzwischen ist der Preis, der jährlich verliehen wird und unter der Protektion und Gastgeberschaft des Ministerpräsidenten bzw. der Ministerpräsidentin von Thüringen steht, bereits zwanzig Mal vergeben worden: an Sarah Kirsch, Walter

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Kempowski, Hilde Domin, Günter de Bruyn, Thomas Hürlimann, Hartmut Lange, Burkhard Spinnen, Louis Begley, Norbert Gstrein, Adam Zagajewski, Patrick Roth, Herta Müller, Wulf Kirsten, Daniel Kehlmann, Petra Morsbach, Ralf Rothmann, Uwe Tellkamp, Cees Nooteboom, Arno Geiger, Tuvia Rübner. Wie es in der Präambel der Satzung heißt, dokumentiert die Vergabe „in besonderer Weise das Selbstverständnis und Wirken der Konrad-AdenauerStiftung e. V., die es sich zur Aufgabe macht: ‚politisches Handeln […] an den Grundwerten der Freiheit und des Friedens zu orientieren‘, Politik in Offenheit und Toleranz zu praktizieren und ‚Begabungen nicht nur von wissenschaftlicher, sondern auch von ästhetisch-kulureller Relevanz zu fördern‘ “ 10. Dementsprechend zeichnet der Preis Autoren aus, „die bemüht sind, der Freiheit und Würde des Menschen zu ihrem Recht zu verhelfen“ und anzukämpfen „gegen Intoleranz und ‚Menschenblindheit‘ (Karl Jaspers)“. Ihre Werke zeugen „sowohl von politisch-gesellschaftlicher Bedeutsamkeit als auch von ästhetischliterarischer Qualität“, wie Bernhard Vogel im Vorwort zur Anthologie Der Freiheit das Wort betont.11 Mehrere Autoren – wie Thomas Hürlimann, Louis Begley, Norbert Gstrein, Adam Zagajewski, Daniel Kehlmann, Cees Nooteboom und Tuvia Rübner – unterstreichen das internationale Profil des Preises. Einige personifizieren in ihrer Biographie die europäische Idee und thematisieren in ihren Werken die Tradition und Zukunft einer kulturellen Wertegemeinschaft Europas. Anerkennung erlangte der Preis auch durch die Laudationes von angesehenen Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Kultur, Medien und Politik: Prof. Dr. Wolfgang Frühwald, Prof. Dr. Hans Maier, Prof. Dr. Marcel Reich-Ranicki, Dr. Wolfgang Schäuble, Prof. Dr. August Everding, Prof. Dr. Odo Marquard, Prof. Dr. Annette Schavan, Prof. Dr. Christoph Stölzl, Jorge Semprún, Dr. Martin Meyer, Prof. Dr. Ruprecht Wimmer, Joachim Gauck, Dr. Manfred Osten, Prof. Dr. Roland Bulirsch, Dr. Jiři Gruša, Matthias Hartmann und Dr. Thomas Oberender, Prof. Dr. Richard Schröder, Prof. Dr. Norbert Lammert, Dr. Meike Feßmann, Prof. Dr. Adolf Muschg. Die für die Auswahl der Preisträger verantwortliche Jury, die aus zwei Literaturwissenschaftlern, zwei Literaturkritikern und einem Politiker besteht, akzeptiert keine Selbstbewerbung. Sie ist unabhängig und keinerlei Einflussnahme ausgesetzt. Neben dem Literaturpreis ist die Autorenwerkstatt eine feste Größe im literarischen Programm der Stiftung, aber auch eine von Autorinnen und Autoren sehr geschätzte Möglichkeit des Austauschs mit Kollegen. Sie entsprang 1994 der Idee, Schriftsteller, Literaturwissenschaftler, Literaturkritiker und Politiker in einem wettbewerbsfreien, nichtöffentlichen Tagungsrahmen zusammenzubringen, um einen lebendigen, aber auch kontroversen Gedanken- und Meinungsaustausch über Literatur und Gesellschaftspolitik zu ermöglichen. Entsprechend der Werkstattidee ist sie weder ein Literaturwettbewerb noch ein Literaturseminar,

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Birgit Lermen

weder eine italienische Variante des Klagenfurter Dichterwettstreites noch eine Miniaturausgabe der Gruppe 47, sondern ein literarisches Arbeits- und Gesprächsforum, das unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet. Seit 1995 treffen sich jährlich im Herbst dreizehn bis fünfzehn Schriftsteller in der Villa La Collina in Cadenabbia. Die Werkstatt beginnt mit einem literaturwissenschaftlichen Schwerpunkt, der gestaltet wird von zwei Literaturwissenschaftlern, die in Vorträgen Fragen der Ästhetik, Poetik und Poetologie, Grundpositionen dichterischer Arbeitsweise, Erfahrungen mit Verlegern und Medien und vor allem Fragen der Politik und Gesellschaft zur Diskussion stellen. Im größeren zweiten Teil der Veranstaltung tragen die Autoren unveröffentlichte Texte aus der eigenen Schreibwerkstatt vor, die sie in einem kritischen Rundgespräch mit den Teilnehmern besprechen. Sie stellen sich der Beurteilung durch die Literaturkritiker und Kollegen, setzen sich aber auch mit der Meinung der Literaturwissenschaftler und Politiker auseinander, deren Mitwirkung sich als sehr förderlich erwiesen hat, da sie literarische Werke von einer anderen Warte aus beurteilen. Besonderer Erwähnung bedarf der Dialog zwischen Literaten und Politikern. So hat Bernhard Vogel das zehnjährige Jubiläum nicht nur in einer Rede gewürdigt, sondern durch seine Gespräche mit Autorinnen und Autoren auch an eine alte, von der Stiftung bereits lange in Eichholz, Berlin und Weimar gepflegte Tradition angeknüpft. Vor allem Norbert Lammert, der Präsident des Deutschen Bundestages und Stellvertretende Vorsitzende der Konrad-Adenauer-Stiftung, hat mehrmals sehr engagiert und überzeugend an den Diskussionen teilgenommen und mit seinen Beiträgen bei den Autoren große Resonanz gefunden. Da die Werkstatt nicht unter den Argusaugen der Kameras, sondern in einer kollegialen Atmosphäre der Offenheit und Ehrlichkeit stattfindet, haben nicht selten selbst renommierte Autoren sich nach den Diskussionen entschlossen, ihre Texte zu überarbeiten. Dafür, aber auch für Wanderungen in die Berge, Spaziergänge im Park, eigene Studien, persönliche Gespräche und nicht zuletzt für eine gemeinsame Fahrt über den Comer See ist genügend Zeit eingeplant. Für dieses Sich-Aufeinander-Einlassen gibt es wohl keinen geeigneteren Ort als Cadenabbia, das Feriendomizil von Konrad Adenauer, der stets mit einem Gedichtbändchen in den Urlaub reiste. Adenauer, der zwischen 1957 und 1966 vor der herrlichen Kulisse des Comer Sees seine Ferien verbrachte, hat – jenseits von Zwang und Routine des Regierungsgeschäftes – entscheidende Probleme der Politik durchdacht und in klärenden Gesprächen mit Politikern des In- und Auslandes erörtert. Von hier fuhr er im September 1958 zu seinem ersten Treffen mit Charles de Gaulle. Hier empfing der Neunzigjährige im April 1966 Golo Mann, der die denkwürdige Begegnung als „Besuch des Geistes bei der Politik“ bezeichnete. In diesem Sinne haben in den Jahren 1995 bis 2012 etwa einhundertfünfzig Autorinnen und Autoren verschiedenen Alters an der Werkstatt mitgewirkt: Lyriker, Epiker und Dramatiker, ältere und jüngere, Debütanten, Arrivierte und

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mehrfach Preisgekrönte, aus Deutschland, Frankreich, Österreich, Rumänien, Spanien, Japan, aus der Schweiz und den USA. Nicht selten haben ältere Autoren jüngere beraten und ermutigt. Vor allem Elisabeth Borchers, die grande dame der Autorenwerkstatt, hat jungen Schriftstellern wertvolle Anregungen gegeben und nicht selten Kontakte zu Verlagen vermittelt. Sie forderte die Teilnehmer immer wieder auf, nicht zurückzustehen, sondern sich zu Wort zu melden und teilzunehmen „an dem, was der Welt das Herz bricht“ 12. Aus den bisher achtzehn Werkstätten sind zahlreiche Texte hervorgegangen, die den Genius loci widerspiegeln und den Reiz dokumentieren, den die einzigartige Landschaft auf die Autoren ausübt. Für viele ist La Collina „ein paradiesischer Ort“, der sie beflügelt, inspiriert und zum Schreiben motiviert. Elisabeth Borchers spricht in einem ihrer Cadenabbia-Gedichte von den „Ereignisse[n] eines ereignislosen Tages“ und gesteht: „Ich lebe hier von Himmel, Wolke, Berg und See vom See, der alles spiegelt“ 13. Die zum zehnjährigen Bestehen der Werkstatt in und über Cadenabbia geschriebenen und 2006 herausgegebenen Gedichte, Prosatexte und Essays setzen deutliche Zeichen dafür, dass in Cadenabbia der Dialog zwischen Literatur und Politik gelingt und das Feriendomizil Konrad Adenauers zu einem „literarischen Ort“ mit europäischer Ausstrahlung geworden ist. Der Dialog zwischen Literatur und Politik ist in der Konrad-Adenauer-Stiftung in den letzten Jahren in einem Maße intensiviert worden, dass beide Seiten sich in Offenheit und Wertschätzung begegnen. Mit Thomas Mann, der sich zeitlebens mit dem Verhältnis zwischen Literaten und Politikern auseinandergesetzt hat, ist Bernhard Vogel – und mit ihm die Stiftung – der Meinung, dass Literatur und Politik „Zubehör der humanen Aufgabe“ 14 sind.

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Bernhard Vogel (Hg.): Cadenabbia als literarischer Ort. Schriftsteller am Comer See. Berlin 2006, S. 11. Günther Rüther: Von einem schwierigen zu einem offenen Verhältnis, ebd., S. 21. Ebd., S. 19f. Bernhard Vogel: Redemanuskript, S. 2. 25 Jahre Zuckmayer-Medaille des Landes Rheinland-Pfalz 1979 – 2004. Frankfurt / Main 2004, S. 19 – 21. Z. B. Gespräche mit Autoren aus der ehemaligen DDR (wie Günter de Bruyn); Rede von Reiner Kunze beim Festakt zum 3. Oktober 2004 in Erfurt (Abdruck in: Bulletin der Bundesregierung Nr. 86-3 vom 3. Oktober 2004); Begegnungen mit Hilde Domin, die Bernhard Vogel zum 60. Geburtstag ein Gedicht gewidmet hat.

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Birgit Lermen Von 1989 – 1995 und von 2001 – 2010 Vorsitzender, seit 2011 Ehrenvorsitzender. Der Else-Heiliger-Fonds führt den Namen von Frau Else Heiliger, die am 25. September 1993 in Aachen verstorben ist und ihr Vermögen zur Förderung und Unterstützung deutscher Künstler und Autoren der Konrad-Adenauer-Stiftung vermacht hat. Zunächst im Goethehaus, 1996 und 1997 im Deutschen Nationaltheater und seit 1998 im Musikgymnasium Schloss Belvedere. Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung e. V., Satzung vom 30. April 1992, S. 1f. Bernhard Vogel (Hg.): Der Freiheit das Wort. Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung 1993 – 2002. Sankt Augustin 2002, S. 8. Elisabeth Borchers: Lichtwelten. Abgedunkelte Räume. Frankfurter Poetikvorlesungen. Frankfurt / Main 2003, S. 35. Elisabeth Borchers: „Die Ereignisse eines ereignislosen Tages auf La Collina“ und „Park Melzi“, in: Vogel: Cadenabbia als literarischer Ort, S. 49 – 51. Thomas Mann: Kultur und Politik (1939), in: Gesammelte Werke. Bd. 12. Berlin (Ost) 1955, S. 835.

„Keine Wohltat ist größer als die des Unterrichtes und der Bildung.“ (Adolph Freiherr von Knigge) Annette Schavan Adolph Freiherr von Knigge bringt es in seiner Schrift „Über den Umgang mit Menschen“ auf den Punkt: Unterricht und Bildung sind die größte Wohltat. Wir schreiben das 18. Jahrhundert und Knigge meint den Dorfschulmeister, der sich redlich um das Erziehungsgeschäft bemüht – ein Lob an die Lehrer und ihre tägliche Arbeit. Auch ohne Angabe des Autors hätte wohl keiner das Zitat unserer Zeit zugeordnet. Die gesellschaftliche Wertschätzung gegenüber Lehrerinnen und Lehrern ist in den vergangenen Jahren gesunken. Für lediglich 38 Prozent der Bevölkerung ist der Lehrerberuf der meist geachtete Beruf – laut einer im April dieses Jahres vorgestellten Allensbach-Umfrage, die die Vodafone Stiftung in Auftrag gegeben hat. Der Lehrerberuf gehört zu den ältesten Berufen. Seit Menschen darüber nachdenken, wie sie ihr Wissen, ihre Einsichten und Erfahrungen, ihre Werte, ihre Hoffnungen und ihren Glauben weitergeben können, gibt es den Lehrerberuf. In der Antike sammelten Philosophen Schüler um sich und lehrten, indem sie Fragen stellten und nach Antworten suchten – eine auf den ersten Blick überaus angenehm erscheinende Aufgabe. Doch wie beispielsweise Sokrates mit vielen Athenern in Konflikt geriet – ihm wurde unter anderem vorgeworfen, er verderbe die Jugend – ist die gesamte Geschichte der Pädagogik gekennzeichnet durch das gespannte Verhältnis zwischen den Lehrern und der Gesellschaft. Der Humanist und als „Praeceptor Germaniae“ gepriesene Philipp Melanchthon betonte, dass Lehrerinnen und Lehrer von allen Sterblichen am übelsten dran seien. Auch heute schaut unsere Gesellschaft mit Argusaugen auf die Lehrkräfte. Eltern projizieren ihre Erwartungen hinsichtlich Leistung und Erfolg ihrer Kinder auf die Schule und nicht zuletzt auf die Lehrer selbst. Allzu oft stehen die Lehrkräfte mitten im Kreuzfeuer der Kritik; es mangelt an Respekt vor ihrer pädagogischen Arbeit. Dabei haben sie einen der verantwortungsvollsten und deshalb schwierigsten Berufe. Denn sie erziehen und bilden die künftige Generation, von der wir verantwortungsbewusste und nachhaltige Entscheidungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft erwarten. Wenn wir ein ernsthaftes Interesse an einem leistungsfähigen Bildungssystem haben, dann gehört zu einer neuen Lernkultur auch ein neues Bild des Lehrers. Auf unserem Weg in die Bildungsrepublik Deutschland ist das zentral. Bei einer inhaltlichen Neuausrichtung der Lehrerbildung können folgende drei Fragen, die der Pädagoge Friedrich Schleiermacher im Blick auf Bildung

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und Erziehung gestellt hat, richtungweisend sein: „Wie soll die Einwirkung der älteren Generation auf die jüngere beschaffen sein? Was soll durch die Erziehung bewirkt werden? Was kann durch dieselbige bewirkt werden?“ 1 In den kommenden Jahren werden deshalb vier Themen die bildungspolitische Debatte prägen: Erstens: Die Lernkultur muss der Lebenswirklichkeit von Kindern und Jugendlichen gerecht werden. Bildung im 21. Jahrhundert bedeutet an Wissen zu wachsen und mit Wissen zu wachsen – ein Leben lang. Bildung bezieht sich dabei auf den ganzen Menschen und darf Eigeninitiative verlangen. Es geht darum, dass jeder und jede eine eigene Persönlichkeit entwickelt mit historischem Bewusstsein und mit Wertvorstellungen, mit Urteilsfähigkeit und Verantwortungsbewusstsein für das eigene Leben und das künftiger Generationen. Hierfür brauchen die Kinder Menschen, die Begeisterung und Neugierde wecken, die Halt und Zuverlässigkeit geben, die Vorbilder sind. Bindungsfähigkeit ist wichtig für Bildungsfähigkeit. Vertrauen schafft Mut. In Zeiten großer Mobilität sowie wandelnder Lebens- und Familienformen ist es für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen umso wichtiger, feste Bindungen aufzubauen und eingebunden zu sein – in Vereine genauso wie in Kirchengemeinden oder auch in Ganztagsschulangebote. Ehrenamtliches Engagement von Jung und Alt ist notwendig und von unschätzbarem Wert. Wir müssen Allianzen für Bildung schmieden. Denn Bildung ist Aufgabe der ganzen Gesellschaft. Zweitens: Die Lehrerbildung braucht neue Aufmerksamkeit, sie braucht einen festen Ort in der Hochschullandschaft, sie braucht ein eigenes Profil. Die ersten „Schools of Education“ an den Universitäten in München und Bochum sind solche Orte mit neuer Professionalität. Wir müssen mehr über Bildung wissen. Dafür brauchen wir eine Bildungsforschung, die sich auf Schule als einen Ort mit großer emotionaler Tragweite einlässt, an dem nicht nur Zensuren und Strukturen dominieren, sondern die Persönlichkeitsentwicklung der Schülerinnen und Schüler mit besonderer Aufmerksamkeit begleitet wird. Die täglichen Anforderungen an die Lehrkräfte sind hoch und wachsen weiter. Laut der anfangs erwähnten Allensbach-Umfrage fühlt sich die Hälfte der Lehrerinnen und Lehrer durch ihr Studium nur unzureichend auf die Arbeit in der Schule vorbereitet. Wir müssen die Lehrerbildung deshalb den sich ändernden Herausforderungen in der Schule anpassen. Fachliche, fachdidaktische und pädagogische Inhalte müssen von Anfang an mit schulpraktischen Elementen verbunden werden. Die Qualität der Lehrerausbildung und ihre Stellung an den Hochschulen zu stärken ist entscheidend für den gesamten Bildungsbereich. Deshalb brauchen wir eine Qualitätsoffensive in der Lehrerbildung im Zusammenspiel von Bund und Ländern. Außerdem müssen wir die Mobilität im Schuldienst erhöhen. Ganz gleich wo ein Lehrer studiert oder sein Referendariat absolviert hat, er muss in jedem Land gleichermaßen einsetzbar sein.

Unterricht und Bildung

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Drittens: Schule muss in Zukunft mehr die gesellschaftliche Wirklichkeit widerspiegeln. In der Schule erfahren die jungen Menschen Neues, hier wird Wissen erweitert oder aber auf den Kopf gestellt. Hier formulieren die jungen Menschen Vorstellungen und Wünsche von ihrer Zukunft, hier beziehen sie Position zu den Einstellungen und Erfahrungen Anderer. Sie lernen, Kritik zu üben und Kritik zu ertragen. In der Schule treffen die Generationen aktiv aufeinander, hier spürt man die Verbindungslinien zwischen den Generationen. Bis 2020 wird es eine große Pensionierungswelle geben. Eine neue Lehrergeneration wird an die Schulen kommen, deren Studium andere Merkmale als das der älteren Kollegen hatte – internationaler, anders strukturiert und unter Einbeziehung der digitalen Medien. Auch das wird Auswirkungen auf das Verhältnis von Lehrenden und Lernenden und auf die Vermittlung der Unterrichtsinhalte haben. Lehrerinnen und Lehrer vermitteln Bildung in dem Sinne, dass Kinder und Jugendliche ihre ganz besonderen Talente ausbilden können. Lehrern kommt dabei eine Schlüsselrolle zu. Sie entdecken und fördern Talente, sie wecken Begeisterung. Das ist eine der anspruchsvollsten, aber auch schönsten Aufgaben, die unsere Gesellschaft bereithält. Aus geförderten Schülerinnen und Schülern werden motivierte Auszubildende und begabte Studentinnen und Studenten. Sie sind es, die offen sind für Innovation und fähig und bereit zu Spitzenleistung. Wir brauchen Nachwuchs, der sich seiner Verantwortung bewusst ist, sich auf die Fragen der Zukunft einzulassen und Lösungen für die drängenden Probleme zu finden. In fast jeder dritten Familie in Deutschland hat mindestens ein Elternteil einen Migrationshintergrund. Das zeigt sich auch in den Schulklassen. Deshalb brauchen wir auch verstärkt Lehrerinnen und Lehrer mit Migrationshintergrund, die kulturell bedingte Denkmuster berücksichtigen. Sie sind Mittler und Vorbilder. Sie zeigen mit ihrem Beispiel, dass das Aufwachsen in zwei Kulturen auch als Reichtum zu verstehen ist. Das ist Teil einer gelungenen Integration. Viertens: Wir brauchen insgesamt mehr Wertschätzung für alle, die sich für Bildung und Erziehung in unserer Gesellschaft engagieren. „Schämen sollten sich die Menschen, die den Erzieher ihrer Kinder als eine Art von Dienstboten behandeln! Mögen sie nur bedenken (wenn sie auch nicht fühlen können, wie unedel dies Betragen an sich schon ist), welchen nachteiligen Einfluss dies auf die Bildung der Jugend hat!“ 2, schrieb Freiherr von Knigge. Die Ergebnisse der letzten PISA-Studie zeigen, dass wir auf ein Reformjahrzehnt in der Geschichte der Bildung unseres Landes zurückblicken können. Die besseren Ergebnisse im Vergleich zu der ersten PISA-Studie vor rund zehn Jahren spiegeln auch die Leistung all derer wider, die tagtäglich in unseren Schulen, aber auch in den zahlreichen anderen Bildungseinrichtungen arbeiten. Erziehung, Bildung, Unterricht – diese Begriffe münden alle in den großen Bereich der

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Pädagogik. Pädagogische Arbeit wird in Kindergärten, Schulen, Hochschulen und Unternehmen, im Bereich der allgemeinen und der beruflichen Bildung und Weiterbildung geleistet. Alle, die sich um die Ausbildung des Nachwuchses kümmern, verdienen unsere Wertschätzung. Und wieder lohnt es sich, bei Knigge nachzulesen: „Wer jemals etwas dazu beigetragen hat, uns zu weiseren, besseren und glücklicheren Menschen zu machen, der müsse unseres wärmsten Dankes lebenslang gewiss sein können! […] Überhaupt verdienen ja diejenigen wohl mit vorzüglicher Achtung behandelt zu werden, die sich redlich dem wichtigen Erziehungsgeschäfte widmen.“ 3 Aus Achtung erwächst Begeisterung. Ich wünsche mir, dass die Besten und Engagiertesten eines Jahrgangs Lehrer werden. „Keine Wohltat ist größer als die des Unterrichtes und der Bildung“ – so schrieb einst Adolph Freiherr von Knigge. Bildung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen war und ist nicht immer einfach und doch zugleich faszinierend. Lehrerinnen und Lehrer an allen Schularten setzen sich mit großer Leidenschaft dafür ein, bei den Schülerinnen und Schülern Lern- und Leistungsbereitschaft, Neugierde und Kreativität, Mut und Verantwortungsbewusstsein zu wecken. Viele Menschen in unserer Gesellschaft geben Kindern Halt und Orientierung. Allen gemeinsam ist ein intensives Interesse an den Kindern und Jugendlichen. Sie bilden die nächste Generation und helfen ihr, ins Zentrum ihrer Möglichkeiten zu kommen und aktiv die Zukunft zu gestalten. Das ist die größte Wohltat, die sie den jungen Menschen und unserer Gesellschaft erweisen.

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Friedrich Schleiermacher: Pädagogische Schriften. Erster Band: Die Vorlesungen aus dem Jahre 1826. Hg. von Erich Weniger. Düsseldorf u. a. 1957, S. 13. Adolph Freiherr von Knigge: Über den Umgang mit Menschen. Hannover 1967 (Nachdruck der Ausgabe von 1788), S. 268. Die Zitate sind der aktuellen Rechtschreibung angepasst. Ebd., S. 267.

„Die alten Unterscheidungen – ‚Wohlgeborene‘ und ‚Missgeborene‘, Eigene und Fremde, Kulturmenschen und ‚Barbaren‘ fallen mit der Zeit dahin.“ (Hans Maier) Franz Peter Basten In einer Grundsatzrede an der Evangelischen Akademie Tutzing am 21. November 2007 zum Thema: „Politisch-gesellschaftliche Aspekte: ‚Im Zentrum Menschenwürde‘ “ beruft sich Bernhard Vogel auf die in nahezu biblischem Duktus gewählten Worte von Hans Maier, um seine Argumentation zur Menschenwürde als vorkonstitutionellem Recht und zur unmittelbaren Herleitung der Würde des Menschen aus dem christlichen Menschenbild zu untermauern. Unübersehbar ist Hans Maiers Anlehnung an Galater 3, 26 – 29, wonach wir „Kinder Gottes durch den Glauben in Christus Jesus“ sind. „Da gilt nicht mehr Jude und Hellene, nicht Sklave und Freier, nicht Mann und Frau.“ Bernhard Vogel führt in dem Zusammenhang aus: „Für uns Christen ist der Mensch von Gott nach seinem Ebenbild geschaffen und darum ist die Würde aller Menschen gleich. Völlig unabhängig von ihrem Geschlecht, von ihrer Hautfarbe, ihrer Nationalität und ihrem Alter, von religiösen und politischen Überzeugungen, von Behinderung, Gesundheit und Leistungskraft, von Erfolg und Misserfolg.“ „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, ist Bernhard Vogels kategorischer Imperativ, dem er alle politischen Entscheidungen unterworfen hat. Nachfolgend soll weitgehend an Reden aus seiner Zeit als Kultusminister und Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz exemplarisch gezeigt werden, wie er wesentliche politische Initiativen und Entscheidungen aus dem Begriff der Menschenwürde und dem christlichen Menschenbild ableitet. In einer Rede zum Thema: „Der Mensch, Subjekt oder Objekt der Politik“ (26. Mai 1974) nimmt er Art. I Abs. 1 des Grundgesetzes – „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ – zum Ausgangspunkt, um daraus Programmsätze abzuleiten, aus denen er seine Bildungspolitik des Forderns und Förderns, seine Politik des Ausgleichs von Kapital und Arbeit, seine auf Partnerschaft gegründete Politik der Integration und seine auf Hilfe zur Selbsthilfe ausgerichtete Entwicklungspolitik entwickelt hat. In einem Vortrag zu „Politik aus christlicher Verantwortung“ (12. November 1977) wirft Bernhard Vogel die „Sinnfrage“ auf: „Die Suche nach einer Sinngebung ist das entscheidende Thema in der geistigen Situation der Gegenwart.“ Er

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führt dann weiter aus: „Der Wiederaufbau … förderte nicht die Besinnung; er brachte die Hingabe an eine Wirklichkeit, die man bauen kann. Auf dieses Ziel war der Wille aller gerichtet. Diese Bündelung gab ihm die Kraft, schob aber die Frage nach dem Warum beiseite … Das Ergebnis war eine Gesellschaft, die ebenso erfolgreich wie ratlos war.“ Bernhard Vogel hat frühzeitig erkannt, dass die 68er-Proteste und die aufkommende Ökologiebewegung auch eine Reaktion auf die Sinndefizite in Politik und Gesellschaft der damaligen Zeit waren. Er erteilt vor diesem Hintergrund der Auffassung vom „wertneutralen“ Staat eine klare Absage: „Weltanschaulich neutral muss der Staat um der Freiheit willen sein, aber garantieren kann er sie nur, wenn er zugleich wertorientiert, ja wertbestimmt ist.“ (12. November 1977). In dem Zusammenhang beruft sich Bernhard Vogel auf die zentralen Begriffe von Freiheit und Verantwortung. „Personenwürde, menschliche Freiheit beruhen auf einer Wirklichkeit, die die menschliche Welt überschreitet.“ (12. November 1977) „Verantwortung ist der notwendige komplementäre Begriff zur Freiheit.“ („Politik und christliche Verantwortung“, Rede vom 5. Oktober 1979). „Politisch verantwortlich Handeln heißt, die Folgen des Handelns zu bedenken und darüber Rechenschaft geben zu können.“ (5. Oktober 1979). Seinem Verständnis von politischer Verantwortung liegt das christliche Menschenbild zugrunde. „Der Mensch als ein auf Selbstverwirklichung und auf Überschreitung seiner selbst angelegtes Wesen – dies gehörte zur Botschaft des Christentums und lässt sich zusammenfassen in der Aufforderung, Konflikte und Feindbilder zu relativieren und den Anderen als Gleichen, ja Nächsten zu achten. Denn die volle Wahrheit oder die ganze Gerechtigkeit liegt nie nur auf einer Seite.“ (5. Oktober 1979). Zur weiteren Begründung politisch verantwortlichen Handelns beruft sich Bernhard Vogel auf die Aussage in der pastoralen Konstitution über die Kirche in der Welt von heute des II. Vatikanums „Gaudium et Spes“: „Sittlich integer und klug zugleich soll der Politiker angehen gegen alles Unrecht und jede Unterdrückung, gegen Willkürherrschaft und Intoleranz eines Einzelnen oder einer politischen Partei. Redlich und gerecht, voll Liebe und politischen Muts soll er sich dem Wohl aller widmen.“ Bernhard Vogel hat als Politiker nach diesen Grundsätzen gehandelt. Und er hat damit neue politische Maßstäbe gesetzt. Und er war – dennoch oder gerade deshalb – politisch sehr erfolgreich. In einer Rede zu „Menschenrechte – Leitlinien einer Politik aus christlicher Verantwortung“ (21. August 1980) befasst sich Bernhard Vogel eingehend mit dem Zusammenhang von Menschenrechten, Gerechtigkeit und Frieden. Die Auseinandersetzung mit dieser Thematik verankert er im Begriff der Menschenwürde und dem christlichen Menschenbild. „Aus diesem christlichen Menschenbild erwachsen das Recht auf Leben, die Rolle der Familie und der Schutz vor politischer Verfolgung.“ „Höchstes Ziel des staatlichen Handelns muss es sein, die personale Freiheit des einzelnen Menschen zu sichern, Fortschritt bedeutet also … Verwirklichung des Naturrechts im positiven Recht.“

Die alten Unterscheidungen

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Für Bernhard Vogel sind Menschenrechte ohne Solidarität nicht möglich. Und es gibt keinen Frieden ohne Gerechtigkeit. „Opus iustitiae pax“: Der Friede ist das Werk der Gerechtigkeit. „Gerechtigkeit und Frieden bedingen einander“, sagt er in einer Rede zu „Gerechtigkeit und Terror“ am 11. September 2002. Er zitiert die Inschrift am Friedenspalast in Den Haag: „Si vis pacem, cole iustitiam“ – Wenn Du den Frieden willst, pflege die Gerechtigkeit. Bernhard Vogel macht sich zur weiteren Verdeutlichung seiner Position in der Menschenrechtsfrage eine Passage aus der Rede Johannes Pauls II. zu eigen, die dieser am 2. Oktober 1979 vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen gehalten hat. Nach Johannes Paul II. existieren zwei Arten von Bedrohung für die Menschenrechte: Die erste Art einer systematischen Bedrohung hänge mit der ungerechten Verteilung der materiellen Güter zusammen. Die zweite Art seien die verschiedenen Formen von Ungerechtigkeit im geistigen Bereich. Dazu rechnet der Papst Verletzungen des Menschen in seinem Gewissen, in seinem religiösen Glauben, in seiner Weltanschauung und im Bereich der bürgerlichen Freiheiten. Der Papst wörtlich: „Es ist eine Frage von größter Wichtigkeit, dass … alle Menschen … ihre Rechte … genießen können. Nur wenn jedem Menschen ohne Diskriminierung ein solches volles, effektives Recht garantiert ist, ist auch der Frieden an seinen Wurzeln gesichert.“ In einer Rede „Wähle das Leben“ vom 4. September 1983 kommt Bernhard Vogel auf den Zusammenhang von Menschenrechten und Weltfriedensordnung zurück: „Wir wollen, dass die Menschen in West und Ost, in Nord und Süd unseres Erdballs in einer Ordnung leben, die sie zu ihren Menschenrechten kommen lässt. Der Einsatz für die Menschenrechte ist christliche Pflicht, Menschenrechte und Christen gehören zusammen. Es gibt keine Freiräume für Menschenrechte.“ Bernhard Vogel lässt keinen Zweifel daran: Sein Menschenrechtsbegriff ist umfassend. „Wir sagen Ja zum Leben der Kranken. Wir sagen Ja zum Leben der Behinderten und wir sagen Ja zum Lebensrecht des ungeborenen Lebens“, sagt er weiter in der Rede vom 4. September 1983. Er zitiert Mutter Teresa mit den Worten: „Heute werden Millionen ungeborener Kinder getötet und wir sagen nichts.“ Und fügt dann hinzu: „Für mich steht fest: Auch ungeborenes Leben ist Leben. Es steht unter dem besonderen Schutz und es darf nicht das Recht auf Leben verlieren. Die Qualität unserer Gesellschaft ist daran messbar, inwieweit wir für dieses Leben eintreten.“ Menschenwürde und Lebensrecht sind von der Debatte über Gen- und Biotechnologie nicht zu trennen. Bei Erörterung der Frage, was wir tun können und was wir tun dürfen, kommt Bernhard Vogel zu der grundlegenden Einsicht: „Je bedeutsamer die Naturwissenschaften, umso wichtiger sind Fortschritte der Geisteswissenschaften.“ (Rede vom 5. Mai 2001 zu: „Darf der Mensch alles, was er kann?“) „Aus der Unantastbarkeit und Unveräußerlichkeit der Menschenwürde, aus der christlichen Grundauffassung der Gottesebenbildlichkeit des Menschen ergibt sich: Der Mensch darf nie zum bloßen Objekt von Forschungs- oder Wirtschaftsinteressen werden. er hat

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absoluten Wert, er hat Vorrang. Die Unantastbarkeit der Würde kann deswegen nicht gegen wissenschaftliche, technische oder wirtschaftliche Interessen abgewogen werden.“ Bernhard Vogel betont aber auch, dass wir keine Stimmung schaffen dürfen, die Kreativität und Innovationsfreude, die Forscherdrang und Neugier lähmt. Für Bernhard Vogel gibt es keinen unauflösbaren Widerspruch von Forschungsfreiheit und Menschenwürde. Allerdings gibt es Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen. Bernhard Vogel gehört zu den entschiedenen Europäern der deutschen Politik. Als Bevollmächtigter der Bundesrepublik Deutschland für die deutsch-französischen Kulturbeziehungen hat er herausragende Arbeit geleistet und Maßstäbe gesetzt. Nicht zuletzt unter dem Einfluss des polnischen Papstes Johannes Paul II. hat Bernhard Vogel seinen Sinn für die geistigen Grundlagen und die universelle Verantwortung Europas vertiefend geschärft. In einer Rede vom 3. Mai 1981 zu den europäischen Aspekten im Wirken des Papstes Johannes Paul II. erwähnt er Benedikt von Nursia und die Slavenapostel Kyrill und Method, die der Heilige Vater zu Schutzheiligen Europas proklamiert hatte. Für Bernhard Vogel gehören sie in die Reihe der Baumeister Europas. Seinem Redemanuskript fügte Bernhard Vogel seinerzeit dann handschriftlich die Namen Bonifatius, Bernhard von Clairvaux, Hildegard von Bingen und Katharina von Siena hinzu. Unter Bezugnahme auf Otto B. Roegele nennt er sie europäische „Entwicklungshelfer“, die uns nicht nur „das Alphabet und technische Kunstgriffe beibrachten, sondern auch eine Welterklärung anboten, die das Leben mit Sinn erfüllen konnte.“ Und geradezu prophetisch führt Bernhard Vogel dann weiter aus: „Die europäische Idee, von der die Zeitgenossen Adenauers, Schumanns und de Gasperis annehmen durften, dass ihr eine große Zukunft bevorstehe, droht von nationalen Engstirnigkeiten und Egoismen erstickt zu werden.“ Im Denken der geistigen Baumeister Europas hatte eine europäische „Wagenburgmentalität“ oder die Vorstellung von einer „Festung Europa“ keinen Platz. In diese Tradition stellt sich auch Bernhard Vogel, wenn er die Worte des Papstes aufnimmt: „Der weitere Weg Europas wird wesentlich davon mitbeeinflusst werden, in welchem Maße und in welchem Umfange wir es verstehen, politische, gesellschaftliche, kulturelle und vor allem auch religiöse Anregungen aus der sogenannten Dritten Welt aufzunehmen.“ In diesem Sinne äußert sich Bernhard Vogel auch, wenn er sagt, dass wir unabhängig von der üblichen Diskussion über Entwicklungshilfe uns bewusst sein sollten, dass Europa heute nicht nur ein Kontinent des Gebens, sondern auch des Empfangens ist. Mit Vogels Vorstellungen von Europa fallen die alten Unterscheidungen „Kulturmenschen und ‚Barbaren‘“ in der Tat dahin. Auf diesen Grundüberzeugungen beruht auch die von ihm ins Leben gerufene Partnerschaft mit Ruanda. In seiner Rede anlässlich der Unterzeichnung des Briefwechsels über die Partnerschaft zwischen Rheinland-Pfalz und Ruanda am 23. Juni 1982 verweist Bernhard Vogel auf die vielfältigen Beziehungen zwischen Rheinland-Pfalz und Ruanda. Er sagt dann weiter: „Damit habe ich

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bereits einen seiner Grundgedanken angesprochen, der die Partnerschaft tragen soll. Nach unserem Verständnis ist die partnerschaftliche Zusammenarbeit kein einseitiges Verhältnis, sondern ein gegenseitiges Geben und Nehmen.“ Bernhard Vogel hat mit diesem Projekt, das sein Herzensanliegen war, neue Wege solidarischer, über den postkolonialen Verdacht erhabener Partnerschaft in der Entwicklungspolitik beschritten. Der Genozid hat dann vieles vernichtet, was unter breiter Beteiligung von Menschen aus Rheinland-Pfalz und Ruanda aufgebaut worden war. Aber der Völkermord konnte das Projekt nicht zerstören. Es lebt weiter. Es ist kein Zufall, dass Bernhard Vogel anlässlich der Verleihung der LeoBaeck-Medaille an seinen Bruder Hans-Jochen Vogel am 30. Oktober 2001 die Laudatio gehalten hat. Die Grundsätze „Gegen das Vergessen“ und „Nie wieder“ macht er sich zu seiner persönlichen Maxime. „Und es ist die Entschlossenheit, an den Lehren festzuhalten, die die Väter und Mütter des Grundgesetzes aus dem Nazi-Terror gezogen haben: Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Kaum etwas hat Bernhard Vogel mehr umgetrieben als die Frage, wie mit dem entsetzlichsten Erbe deutscher Geschichte umzugehen und welche Folgerungen für die Zukunft daraus zu ziehen seien. Rund 14 Jahre zuvor, am 8. April 1987, hatte der israelische Staatspräsident Chaim Herzog Worms besucht. Bernhard Vogel verwies zur Begrüßung auf die lange jüdische Tradition in Städten wie Speyer, Worms und Mainz und führte dann unter Hinweis auf das berühmte jüdische Wort, dass das Geheimnis der Versöhnung die Erinnerung sei, aus: „Lernen, Wissen und Erkenntnis, Respekt vor der menschlichen Freiheit und Bindung an unsere Grundwerte, deren Mittelpunkt die Menschenwürde ist, sind die Voraussetzungen für Toleranz.“ „Wir wollen nichts vergessen, aber wir wollen gemeinsam eine bessere Zukunft bauen“ hatte Bernhard Vogel 1978 in das Gästebuch von Yad Vashem geschrieben. *** Ich komme zurück auf Vogels Aufforderung in seiner Rede vom 5. Oktober 1979, Feindbilder zu relativieren und den Anderen als Gleichen, ja Nächsten zu achten und auf seine Feststellung, die volle Wahrheit oder die ganze Gerechtigkeit liege nie nur auf einer Seite. Dieses Bekenntnis macht ihn zu einer außergewöhnlichen Erscheinung der politischen Streitkultur der Bundesrepublik Deutschland. Und es liefert einen wichtigen Zugang zum Verständnis seiner Persönlichkeit und seines Charakters. Seine Art und Weise, sich im politischen Meinungsstreit mit der Sache und dem politischen Kontrahenten auseinanderzusetzen, hat ihm weit über die Parteigrenzen hinaus Respekt und Achtung verschafft. Bernhard Vogel hat den politischen Mitbewerber nie als Feind gesehen, sondern stets als Konkurrenten um die bessere Lösung in der Sache. Seine ausgeprägte Fähigkeit,

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aber auch sein Geschick zum politischen Ausgleich und zum konstruktiven Kompromiss haben ihre tiefen Wurzeln in seinem christlich geprägten Menschenbild. Seine feste Zuversicht – im Übrigen eines seiner Schlüsselworte – im Vertrauen auf Gott und sein trotz widriger Erfahrung unerschütterlicher Glauben an die Menschen prägen ihn. Tiefer Ernst und nahezu jungenhafte Fröhlichkeit, ausgeprägte Toleranz und unbeugsame Festigkeit in den Grundüberzeugungen, umfassende Bildung gepaart mit demütiger Bescheidenheit, Beharrlichkeit in der Verfolgung von Zielen und Bereitschaft zum Ausgleich, analytischer Verstand und umsichtige Genauigkeit bei der Entscheidungsfindung, suaviter in modo, fortiter in re: Das sind Skizzen von Charakterzügen, die ihn sicherlich nur unvollständig beschreiben. Bernhard Vogels Denken und Handeln ist auf beeindruckende Weise von Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Maß geleitet. Er ist klug, weil er die Folgen seines Handelns und das Ende bedenkt, die aktuelle Situation deuten und die Geister unterscheiden kann. Er ist gerecht, weil er den Menschen um ihrer Würde willen das ihnen Zukommende gewährt. Er ist tapfer, weil er zu Überzeugungen steht und auch bereit ist, um seiner Überzeugung willen der Macht des Zeitgeistes zu widerstehen. Er ist maßvoll, weil er mit Besonnenheit die Mitte einhält und auf Ausgleich bedacht ist. Wollte man einen Begriff finden, der Bernhard Vogel umfassend beschreibt, dann ist es sicherlich der Begriff der „Integrität“. Integer im Umgang mit Menschen, integer in der Auswahl und der Durchsetzung politischer Ziele, integer in der Amtsführung. Der Jetset und die Welt der Reichen und Schönen waren ihm nie eine Versuchung. Aus Integrität erwächst Autorität, die Vertrauen schafft. In Rheinland-Pfalz wie in Thüringen hat sich Bernhard Vogels dezidiert auf Menschenwürde und christliches Menschenbild gegründete politische Botschaft unter sehr unterschiedlichen Bedingungen nicht nur als geistig anspruchsvoll, sondern auch als mehrheitsfähig und damit als „praxistauglich“ erwiesen. In einer Rede über Nikolaus Cusanus am 13. Oktober 1982 zitiert Bernhard Vogel Jakob Burckhardt zum Begriff der „historischen Größe“. Burckhardt stellt lapidar fest: „Größe ist, was wir nicht sind.“ Zur näheren Erläuterung unterscheidet Burckhardt fein zwischen „Berühmtheit“ und „Größe“. „Die allgemeine Bildung kennt aus allen Völkern und Zeiten eine Menge von mehr oder weniger Berühmten; allein bei jedem Einzelnen entsteht dann erst die Frage, ob ihm Größe beizulegen sei, und da halten nur wenige die Probe aus.“ Intellektuelle und sittliche Beschaffenheit sieht Burckhardt als Maßstab dieser Probe an. Bernhard Vogel hält diese Probe aus.

„Suchet der Stadt Bestes und betet für sie zum Herrn, denn wenn’s ihr gut geht, so geht’s euch auch wohl.“ (Jeremia 29,7) Georg Gölter Nein, nicht schon wieder – das war mein erster Gedanke, als die KonradAdenauer-Stiftung in Gestalt von Professor Küsters auf mich zukam, um mich um einen Beitrag für eine weitere Festschrift zu Ehren von Bernd Vogels 80. Geburtstag zu bitten. Das sind doch kaum zwei, drei Jahre, dachte ich, dass ich meinen Beitrag zur letzten Festschrift aus Anlass des 75. Geburtstags abgeschlossen habe. Weit gefehlt, sagte schon Sokrates zu seinen Schülern – es sind bald fünf Jahre, dass die Festschrift in Berlin vorgestellt worden ist. Ich hatte mir damals richtig Mühe gegeben, von mehreren Seiten war mein Beitrag als interessant und lesenswert gewürdigt worden, nicht zuletzt vom Jubilar selbst. Also habe ich die „alte“ Festschrift noch einmal zur Hand genommen, meinen Beitrag zweimal gelesen – ich war von mir selbst, ich bitte um Nachsicht, durchaus beeindruckt. Es ist alles gesagt, gültig, was sollte ich jetzt Neues schreiben? Den geneigten Leser mache ich darauf aufmerksam, dass ich damals das ganze Leben, alle Höhepunkte, alle Erfolge, aber auch den bitteren Abgang am 11. November 1988 ausführlich und im Zusammenhang geschildert habe.1 Eine Festschrift ist etwas Seriöses, Hochstehendes, sie muss dem Anlass entsprechen. Ein 80. Geburtstag, zumal in ordentlicher Verfassung, die ich dem Jubilar attestiere, ist erfreulich, aber in jedem Fall etwas Ernstes. Mit der Ernsthaftigkeit habe ich gelegentlich meine Probleme. Aber vielleicht erfreue ich den geneigten Leser. Professor Küsters sagte mir, man wolle diesmal anders als vor fünf Jahren vorgehen. Diesmal wolle man in die Beiträge mit einer Äußerung des zu Ehrenden einsteigen. Küsters hatte mir den Satz zugedacht: „Wenn ich gewusst hätte, was später auf mich zukommt, hätte ich mir in meinem Studium noch mehr Mühe gegeben“. Erstens habe ich in all den Jahren, die ich Bernd Vogel zuhörend verbrachte, diesen Satz nie gehört. Wenn Bernd Vogel diesen Satz dennoch je geäußert hat, gehört er zu den üblichen, nicht ernst zu nehmenden Politikersprüchen. Bernd Vogel hat alles, was er je betrieben hat, mit großem Ernst und intensiver Mühe betrieben. Mehr war gar nicht möglich. Ich habe ihn Anfang der Sechziger in Heidelberg im Seminar für Politische Wissenschaften kennen gelernt, er war damals Assistent des auch von mir hoch verehrten Dolf Sternberger. Bernd Vogel war ruhig, fleißig, aufmerksam, konzentriert, freundlich, bemüht um die, die um ihn herum waren. Zudem: Er war der letzte Privatassistent von Adolf Weber. Zu wenig Mühe – undenkbar.

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Ich habe diesen Ausspruch also der KAS zurückgegeben. Professor Küsters gab mir eine neue Sentenz, die es in sich hat, und die ich von Bernd Vogel selbst des Öfteren gehört habe, das große Jeremia-Wort aus dem 29. Kapitel Vers 7: „Suchet der Stadt Bestes … und betet für sie zum Herrn, denn wenn’s ihr wohl geht, so geht’s euch auch wohl“. So wird das Prophetenwort üblicherweise zitiert – und dann passt es zu Ehrungen für Kommunalpolitiker, durch Ministerpräsidenten, Innenminister, Oberbürgermeister, Landräte, CDU- oder KPV -Vorsitzende, durch wen auch immer. Demnach hat schon Jeremia die kommunalpolitische Arbeit geschätzt – eine schöne Vertiefung der Stimmung, des wohligen Gefühls der Mitgliederehrung, vor allem an Sonntagvormittagen. Ich bin ganz sicher, Bernd Vogel weiß, dass sich hinter dem über 2600 Jahre alten Prophetenwort mehr verbirgt. Es beginnt mit der den Sinn verkürzenden, ja verfälschenden Auslassung der näheren Kennzeichnung der Stadt “… dahin ich euch habe lassen wegführen“. Die Stadt, das ist die verhasste Stadt des erzwungenen Exils. Jerusalem ist zerstört, der Tempel geschleift, das Allerheiligste, die Wohnung des Herrn ist geschändet, alles was Rang und Namen hat, von der Königsfamilie angefangen, ist deportiert, verloren das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit, erschüttert das Vertrauen in den Gott, der alles bestimmt und auf den alles gesetzt wird, Jeremia spricht von dem durch den Herrn geschaffene eiserne Joch – Anlass zu Verzweiflung und Trauer, ja Hass. Und dann dieser Brief aus Jerusalem, von einem, der das Glück hat, in der geliebten Stadt, wenn auch in ihren zerstörten Mauern, leben zu können. Die Dramatik, das Ungeheuerliche dieses Briefes wird erst voll spürbar, wenn die wichtigsten Verse im Zusammenhang zitiert werden (Lutherbibel, Jeremia 29 Verse 4 – 7, 10 – 14). „So spricht der Herr Zebaoth, der Gott Israels zu allen Gefangenen, die ich habe von Jerusalem lassen wegführen gegen Babel: Bauet Häuser, darin ihr wohnen mögt; pflanzet Gärten, daraus ihr die Früchte essen mögt; nehmet Weiber und zeuget Söhne und Töchter; nehmet euren Söhnen Weiber und gebt eure Töchter Männern, dass sie Söhne und Töchter zeugen; mehret euch daselbst, dass Euer nicht wenig sei (gemeint: dass ihr nicht weniger werdet). Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe lassen wegführen; und betet für sie zum Herrn; denn wenn’s ihr wohl geht, so geht’s euch auch wohl … Denn so spricht der Herr: wenn zu Babel siebzig Jahre aus sind, so will ich euch besuchen und will mein gnädiges Wort über euch erwecken, dass ich euch wieder an diesen Ort bringe. Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der Herr; Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe das Ende, des ihr wartet. Und ihr werdet mich anrufen und hingehen und mich bitten, und ich will euch erhören. Ihr werdet mich suchen und finden. Denn so ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen….“ Der kritische Leser wird sich jetzt möglicherweise fragen, ob ich als verhinderter evangelischer Geistlicher ausschließlich über Jeremia schreibe oder

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ob ich auf den Gegenstand der Festschrift „Bernhard Vogel“ überhaupt noch zurückkomme. Gemach, das werde ich tun, aber zunächst muss ich noch eine Zeit lang bei Jeremia bleiben. Jeremia mutet den im Exil Darbenden Ungeheures zu. Sie, die Juden, glauben an den einen Gott, die Babylonier leben in polytheistischen Vorstellungen, sie glauben an ganze Götterfamilien. Und jetzt sollen die Juden für diese Stadt Bestes beten. Was sagt Jeremia den Juden, was sagt er uns: Verantwortung vollzieht sich da, wo man lebt, Verantwortung zielt auf die Gemeinschaft der Lebenden, heute und jetzt, gut geht es uns nur, wenn man für andere da ist, Verantwortung wahr nimmt, für sie arbeitet – und für sie betet, zu dem einen Gott, zu Jahwe, zu „Ich bin der Ich bin“, der das Gebet für die Stadt der Ungläubigen erhören soll, ja erhören wird. Glauben ist zumindest hier, in diesem großartigen Text, nicht Rückzug in die innere Welt des Glaubens, Glaube ist Sich-auf-die-Welt-Einlassen. Die Forderungen Jeremias gehen weiter, überwindet Misstrauen, Abgrenzung, vertreibt den Hass, die Gedanken an Rache, an Vergeltung. Verlasst die Palisaden des Herzens. 2600 Jahre vor uns sagt der Prophet, wir sollen die Schranken überwinden, unsere vermeintlichen Sicherheiten, an die wir uns klammern, in die wir uns einbetonieren, geprägt durch unsere Zugehörigkeiten zur Konfession, zur Volksgruppe, Hautfarbe, früher hieß das zur „Rasse“. Nur dann will uns Gott erhören. Wie er den Juden und uns zusagt, nur dann erlaubt uns Gott Zuversicht und Hoffnung, macht uns aus Schwarzsehern zu Menschen, die an neue Wege glauben können. Der Stadt „Bestes“: Die Stadt Jeremias ist nicht die Ansammlung von Steinen, die urbs. Die Stadt Jeremias ist die civitas, das Zusammenleben von Menschen, die in gegenseitiger Verpflichtung leben. „Das Beste“: Im hebräischen Text steht für das lutherische „Beste“ das Wort „Schalom“ – die Gemeinschaft als Chance nicht nur für den äußeren, sondern auch den inneren Frieden, den Frieden Gottes. Auch an der Stelle des lutherischen „Wohl-Ergehens“ steht in der hebräischen Bibel das Wort „Schalom“. Was hat das alles mit Bernd Vogel zu tun? Ich will ihn nicht zum Heiligen machen, als dezidierter Protestant kann ich ihn schon gar nicht zur Ehre der Altäre erheben. Und ich will auch nicht den Eindruck erheben, dass der Mensch Bernd Vogel keinerlei Schwächen hat. Aber sagen will ich, dass das Jeremia-Wort, vor allem wenn man sich nicht nur auf den meist zitierten Satz beschränkt, in einer bemerkenswerten Form auf Bernd Vogel passt. Glauben ist nicht Rückzug in die innere Welt, glauben heißt, sich auf die Welt einlassen, arbeiten, Verantwortung übernehmen, wo man im Lebensablauf gerade ist. Dies gilt bereits für die frühe Giessener Zeit, erst recht für die anschließenden Münchner Jahre am Humanistischen Gymnasium, die Mitarbeit in der Katholischen Jugend, dann während des Studiums die Mitarbeit in der Katholischen Studentengemeinde und im Bund „Neudeutschland“. Bernd Vogel war

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bundesweit im Hochschulring und in der Bundesführung engagiert. Zusammen mit seinem lebenslangen Freund Peter Molt gab er 1955 einen Studienführer heraus, „Vom Abitur zum Studium. Eine Einführung für Abiturienten und erste Semester“, ein absolutes Novum in einer weitgehend „führerlosen“ Zeit. Das nächste wichtige Stichwort lautet „Heinrich-Pesch-Haus“. 1965 eröffnete die Oberdeutsche Provinz des „Jesuiten-Ordens“ in Mannheim eine Bildungsstätte, benannt nach Heinrich Pesch SJ, einem Nationalökonomen und Sozialphilosophen, dem Vater des Solidaritätsprinzips in der katholischen Soziallehre. Bernd Vogel übernahm die Aufgabe, für junge Arbeitnehmer, Jugendleiter und Betriebsjugendsprecher Seminare mit dem Ziel politischer und sozialer Bildung zu organisieren. Einige Jahre später übernahm er die Schriftleitung der vom Pesch-Haus herausgegebenen Reihe „Civitas“. Für 14 Bände übernahm Bernd Vogel die Verantwortung. Kurz hingewiesen sei auf die Heidelberger Jahre, 1953 bis 1965, das Studium, 1960 Promotion bei Dolf Sternberger und unmittelbar danach wissenschaftlicher Assistent bei seinem Lehrer. Und erst dann der Eintritt in die CDU. Vogel stieß also im Vergleich zu vielen engagierten und erfolgreichen Aktivisten der pfälzischen und der rheinland-pfälzischen CDU erst relativ spät zur Partei. Das zeigt, dass „die Partei“ für Bernd Vogel keineswegs das Ein und Alles ist bzw. gewesen ist. Natürlich war Vogel der „Schwarze“ Vogel, zumal im Gegenüber zu seinem älteren Bruder, dem Münchener „Roten“ Vogel. Ich kann mir Bernd Vogel in keiner anderen Partei als der CDU vorstellen. Aber für ihn war immer klar, dass das Interesse der Partei nicht jede Verhaltensweise rechtfertigt, dass der Staat, das Gemeinwesen zuerst kommt, dass gerade führende Verantwortung in einer Partei zuallererst Korrektheit voraussetzt und ein ordentliches Verhältnis zu anderen demokratischen Parteien erzwingt. Zu Vogels Sturz auf dem Koblenzer Parteitag am 11. November 1988 hat diese Vogelsche Prioritätensetzung zweifellos beigetragen. Vogels Gegner, Hans-Otto Wilhelm, hat vor Koblenz in seinem parteiinternen Wahlkampf wie in Koblenz deutlich gemacht, für ihn sei das Erste und Wichtigste die Partei. Vogel blieb auch in Koblenz, im Angesicht der Niederlage, bei seiner Priorität des Landes und des Staates. Zurück in die 1960er Jahre: Bei der Bundestagswahl 1965 holte Bernd Vogel das Direktmandat im Wahlkreis Neustadt / Speyer, damals keineswegs eine absolut sichere Hochburg für die Union. 1967 folgten zwei wichtige Schritte in der Karriere: Bernd Vogel übernahm in der Nachfolge von Helmut Kohl den Vorsitz der CDU der Pfalz, eine der drei, vier wichtigsten Positionen in der rheinland-pfälzischen CDU. Nach der Landtagswahl im Frühjahr 1967 wurde Bernd Vogel Kultusminister, im letzten Kabinett Altmeier. Zugrunde lag ein ungewöhnlicher und eigentlich unmöglicher Vorgang: Gegen die seriösen und durchaus reputierlichen Vorschläge Altmeiers für das Amt des Kultus- und des Sozialministers nominierte der Vorsitzende der CDU-Landtagsfraktion Helmut Kohl in der entscheidenden Fraktionsabstimmung die Bundestagsabgeordneten

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Vogel und Heiner Geißler; beide setzten sich überzeugend durch, bundesweit beachtet als Signal zum Aufbruch, zu neuen Wegen und Akzenten in der Landespolitik. Kohl übernahm 1969 die Führung der Regierung, nicht in der Konfrontation, sondern alles in allem in Harmonie mit der nach wie vor im Nordteil des Landes zahlreichen Anhängerschaft Altmeiers, eine auch aus der Distanz von mehr als 50 Jahren beachtlicher Beweis für Klugheit und Zurückhaltung. Jedenfalls: Die 1960er Jahre waren die Zeit eines grandiosen Aufbruchs der CDU Rheinland-Pfalz, verbunden mit dem Namen Helmut Kohl, mit vielen Helfern, einer der wichtigsten war Bernhard Vogel. Dass Vogel 1971 den Vorsitz des fusionierten Bezirksverbandes RheinhessenPfalz übernahm, verstand sich von selbst. Nicht selbstverständlich war 1974 die Entscheidung über die Nachfolge Kohls als Landesvorsitzender der CDU Rheinland-Pfalz. Kohl wollte Geißler, den im Vergleich zu Vogel Härteren, Direkteren, und er wollte in seiner Nachfolge im Amt des Ministerpräsidenten den aus der Wirtschaft kommenden, evangelischen, liberal-konservativen Finanzminister Johann-Wilhelm Gaddum. Die parteiinterne Auseinandersetzung zwischen Vogel und Geißler war eine Belastung, vollzog sie sich doch innerhalb der Kohlschen Großfamilie. Das war neu. Der Druck auf Vogel wuchs – ich erinnere mich an einen Abend im Weinkeller der Mainzer Staatskanzlei, Kohl hatte rund ein Dutzend geladen, alles „Kohlianer“. Eine starke Mehrheit plädierte für den Verzicht Vogels. Dass Bernd Vogel diesen Abend durchgestanden hat, hat mich tief beeindruckt. An diesem Abend hat sich gezeigt, dass der Bernd Vogel, der Probleme hatte und heute noch hat, anderen mal so richtig die Meinung zu geigen, dass genau dieser Bernd Vogel eine Härte, besser gesagt, eine Zähigkeit, ein Durchhaltevermögen an den Tag legen kann, das ihm andere oft nicht zutrauen. Die Abstimmung erbrachte 255 für Vogel, 188 für Geißler. Die Debatte war ruhig und höflich geblieben, Kohl hatte nicht das Wort ergriffen. Die souveräne Reaktion Geißlers erleichterte den Schulterschluss. Da die beiden keine Probleme miteinander hatten, ist mit Schulterschluss der Schulterschluss zwischen den Lagern gemeint. Die größeren Probleme brachte das Ergebnis für Helmut Kohl – die Presse konnte sich nicht verkneifen, mehr oder wenig genüsslich darauf hinzuweisen, dass der Kohlsche Favorit unterlegen war. Die weitere Entwicklung ist bekannt. Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Dr. Helmut Kohl erzielte 1976 als Kanzlerkandidat der Union 48,6 Prozent, auch fast 40 Jahre später ein sensationelles Ergebnis. Aber, es gab „nichts zu verteilen“, es gab kaum Reststimmen, und da die FDP Helmut Schmidt die Treue hielt, musste die CDU / CSU weiter mit der Opposition vorlieb nehmen. Helmut Kohl ging nach Bonn, die einzig denkbare Entscheidung. Diese Entscheidung ist ihm nicht leicht gefallen. Und es trifft so nicht zu, wie wir in den Memoiren lesen können 2, dass das ganze und politische Umfeld, die gesamte Landesregierung, sich für In-Mainz-Bleiben ausgesprochen hat. Kohl schreibt,

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wohl zu Recht, dass die ungeklärte Nachfolgefrage dabei eine Rolle spielte. Aber, dass Kohl die Konsequenz aus dem brillanten Ergebnis ziehen musste, stand auch in seiner engsten Umgebung, auch für mich, seit 1969 Bundestagsabgeordneter, für viele außer Frage. Die Entscheidung über den Landesvorsitz 1974 erwies sich 1976 recht bald als Vorentscheidung in der Frage der Nachfolge in der Staatskanzlei. Gaddum, Kohls eigentlicher Wunsch, trat an, der Landesvorstand votierte mit 13:6, die Fraktion mit 34:20 für Vogel. Kohls Unterstützung für Gaddum blieb zurückhaltend. Ob Gaddum ohne die Kohlsche Favorisierung überhaupt angetreten wäre, kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Jedenfalls: diese Entscheidung bewegte die Partei, auch die Öffentlichkeit, weniger als der Kampf 1974. Aber auch diese Entscheidung wurde als Niederlage für Kohl bewertet. Sie spielt in den Memoiren Kohls übrigens keine Rolle, Kohl ist darauf meines Wissens später auch nicht mehr zurückgekommen. Sehr wohl aber auf Koblenz 1974. Ich habe in Thüringen mehrfach erlebt, dass Kohl in Würdigungen des Thüringer Ministerpräsidenten Dr. Bernhard Vogel erklärt hat, die CDU seines Landesverbandes habe sich in Koblenz 1974 „als wesentlich klüger“ erwiesen als ihr langjähriger Vorsitzender.3 Da war aber das einst enge Verhältnis der einstigen Freunde Kohl-Geißler schon lange unrettbar zerstört. Vogel war auf den Tag 12 Jahre Ministerpräsident, vom 2. Dezember 1976 bis zum 2. Dezember 1988. In diesen zwölf Jahren hat Vogel in allen Ämtern in Regierung und Partei bis an die Grenze des Zuträglichen, auch für die Mitarbeiter Zuträglichen, gearbeitet, ohne Rücksicht auf sich selbst, durchaus mit Freude. In einem Kommentar des „Spiegel“ über den jungen Kultusminister hieß es bereits Mitte der 1970er Jahre „immer genussvoll überlastet“. Seine Freude an der Arbeit war so groß, dass er sich immer wieder missbrauchen und ausbeuten ließ. Gelegentlich wäre ein wenig weniger durchaus besser und mehr gewesen. Seine Aufgeschlossenheit, sein Lachen und seine Fröhlichkeit dürfen über den Ernst nicht hinwegtäuschen, mit dem er sich tagtäglich seiner Arbeit gestellt hat. Das Land und die Menschen, Zukunft und Wohlergehen, waren der Maßstab. Der Katholik Bernhard Vogel war immer von einem calvinistischen Arbeitsethos beseelt. Im Maßhalten, auch was den Genuss von Speis und Trank betrifft, hatte er für mich immer etwas „unkatholisches“. Für Calvin zählte langer Schlaf als Sünde, manche Calvinisten sehen das heute noch so. An diese calvinistische Regel hat sich Bernd Vogel bis in die letzten Jahre gehalten. Erst mit der Annäherung an die 80 ist das besser geworden. Vogel fand große Anerkennung in der rheinland-pfälzischen Bevölkerung, unbeschadet der Nähe der Menschen zu verschiedenen Parteien. Sein Ansehen in den anderen Fraktionen des Landtags war hoch, Vogel war nie ein „Zuschläger“; in den Debatten hat er sorgsam Grenzen der Abgrenzung eingehalten. Nicht alle Parteifreunde sind dieserhalb entzückt.

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Helmut Kohl hatte zweimal die absolute Mehrheit der Stimmen geschafft, 1971 mit 50 Prozent, 1975 mit einmaligen 53,9 Prozent (begünstigt durch die sich abzeichnende Kanzlerkandidatur). Vogel schaffte es zweimal, 1979 mit 50,1 Prozent, 1983 mit 51,9 Prozent. Als damals Beteiligter und Mitwirkender sehe ich heute noch schärfer als früher, dass diese lange Zeit absoluter Mehrheit der Stimmen und noch mehr der Mandate von weiten Teilen der CDU gewissermaßen als gottgegeben betrachtet wurde. Teile der CDU, ich sage Teile der CDU, sahen sich zunehmend als Staatspartei. Bernd Vogel hat immer wieder dagegen anargumentiert Als 1987 „nur“ noch 45,1 Prozent zu verzeichnen waren – trotzdem hatte die CDU im Landtag die strategische Mehrheit –, da hielten das viele für eine blanke Katastrophe, beschworen den anstehenden Machtverlust, mit Vogel gehe es so nicht mehr weiter. Um es kurz zu machen: Die Verschlechterung wurde von dem Fraktionsvorsitzenden Hans-Otto Wilhelm und seinen Anhängern als Hintergrund, als Folie gebraucht und missbraucht, um Vogel zu diskreditieren und zunehmend als Auslaufmodell anzugreifen. Wachsende Teile der Fraktion sahen ihre Aufgabe zunehmend in der Auseinandersetzung mit der eigenen Regierung – so beauftragte die Fraktionsgeschäftsführung die Mitarbeiter, Schwachstellen der Regierung zusammenzustellen und diesbezügliche Anträge fürs Plenum vorzubereiten. In der Fraktion war die Unbekümmertheit früherer Jahre verschwunden, die Stimmung war merkwürdig, angespannt, nach außen Freundlichkeit und bemühtes Aufeinanderzugehen, hinter den Kulissen Demontage und Miesmachen. Ein eintägiger Parteitag in Bad Dürkheim am 2. Juli verlief unglücklich, als Bezirksvorsitzender war ich Tagungspräsident. Ich erinnere mich wie an gestern. Die Tagesordnung wurde gegen das Votum Vogels mit großer Mehrheit umgestellt, ein ungutes Zeichen. Am Nachmittag ein langer Auftritt des Bundesvorsitzenden und Bundeskanzlers, für Vogel in nichts ein Hilfe. Ich spürte, das Wasser steigt. Diese Sorgen waren es, die mich dann veranlassten, nach langem Widerstand, dem Drängen Vogels nachzugeben und meine Bereitschaft zu erklären, im Spätjahr aus dem Kabinett auszuscheiden und die undankbare Funktion des Generalsekretär zu übernehmen. In jedem Fall undankbar – und dann auch noch der Generalsekretär eines Freundes, mit zwangsläufigen Auseinandersetzungen. Das große und ordentliche Papier zur Wirtschaftspolitik, das in Bad Dürkheim nicht mehr erörtert wurde, war Anfang Oktober Gegenstand eines eintägigen Parteitags in Simmern, der einen ruhigen Verlauf nahm, die Ankündigung meiner Kandidatur zum Generalsekretär wurde recht freundlich aufgenommen. Es folgte die Herbstferienwoche, am gleichen Abend sind meine Frau und ich für eine Woche nach Rom geflogen. Ich war das erste Mal in dieser einzigartigen Stadt – aber in Gedanken war ich „im Land“. Peggi, meine Frau, hat mir immer wieder gesagt, ich solle nicht ununterbrochen Reden an die rheinlandpfälzische CDU richten.

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Es mag sein, dass die Ankündigung meiner Kandidatur als Generalsekretär für Hans-Otto Wilhelm der letzte Anlass war, beim Parteitag am 11. November 1988 gegen Vogel anzutreten. Er hatte wohl den Eindruck gewonnen, ich wollte mir damit die Anwartschaft für die Vogel-Nachfolge sichern. Das war beileibe nicht so. Ich hatte das gewollt, dieses Ziel aber mittlerweile aufgegeben. Zum Teil aus persönlichen Gründen, die nicht hierher gehören, zum Teil aber auch aus Entsetzen, ja aus Entsetzen über das Maß an Intrigen, Gehässigkeiten, Verleumdungen, das ich in den letzten Jahren in der rheinland-pfälzischen CDU hatte erleben müssen. Ich war zunehmend verwundert über das Maß an Naivität, mit dem ich in die CDU eingetreten und mit dem ich dort groß geworden war, und über die zunehmende Entzauberung handelnder Personen, die ich grundlegend anders gesehen hatte. Ich bin kein Kind von Traurigkeit – ich kann in der Auseinandersetzung zuschlagen, hart Position beziehen, ich habe sicher auch Menschen gekränkt. Aber immer und nur direkt, nicht hinten herum, nicht mies machen über Dritte. Ich hatte mir immer vorgenommen, bei mir müsse jeder wissen, woran er ist. Ich habe gelernt, dass ich dem oft christlich getarnten mangelnden Anstand nicht gewachsen bin. Etwas, was mich mit Bernd Vogel verbindet. Ich habe weiter oben geschrieben, Bernd Vogel habe auch Schwächen. Sein Anstand, seine Unfähigkeit zur Intrige, das sind keine Schwächen, allerdings in der Politik oft Nachteile. Seine mangelnde Fähigkeit zur direkten Auseinandersetzung, hart, offen, auch einmal brutal offen die Meinung sagen, das ist seine einzige nennenswerte Schwäche: seine Unfähigkeit zum Show Down, „der oder ich“, sich direkt gegenüberzustehen, einer ist der Verlierer, muss gehen. Bernd Vogel hat sich auch und gerade während des Jahres 1988 intensiv um die Partei gekümmert, aber dem rechtzeitigen, früheren Show Down ist er aus dem Weg gegangen. Und das hat Wilhelm gespürt und ausgenutzt. Als der 11. November 1988 am Horizont heraufstieg, war die Koblenzer Auseinandersetzung bereits entschieden. Entscheidend war, dass Vogel im Norden, im Bezirksverband Koblenz, in den letzten zwei, drei Wochen in der Zustimmung regelrecht eingebrochen ist. Die in Rheinland-Pfalz grundsätzlich seit Bestehen des Landes bis in unsere Tage vorhandene Nord-Süd-Spannung, ja, der Konflikt, wurde gegen Vogel mit hoher Wirkung instrumentalisiert. Die Achse SpeyerDudenhofen – damit waren ich und mein Wohnort gemeint – müsse gesprengt werden, die Pfalz habe lange genug usw.usf. Meine Sorge trieb mich zu Helmut Kohl ins Kanzleramt. Nach dem Gespräch wusste ich, dass Kohl die ganze Geschichte laufen lassen würde. Dies hat Wilhelm ermuntert; dass Mitglieder der rheinland-pfälzischen Bundestagsgruppe in der Debatte in Koblenz für Wilhelm eine wichtige Rolle spielen sollten, passt zum Bild. In diesem Beitrag, im Gegensatz zu dem in der Festschrift zum 75. Geburtstag, will ich darauf verzichten, den traumatischen 11. November 1988 ausführlich

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zu schildern. Es war der bitterste Tag im politischen Leben von Bernd Vogel, aber auch für mich und andere, die Bernd Vogel die Treue gehalten haben. Die Atmosphäre war in Teilen gespenstisch. Wilhelm und seine Anhänger argumentierten mit der notwendigen Trennung von Staatsamt und Parteiamt. Einige sagten, auch nach einer Niederlage könne Vogel Ministerpräsident bleiben. Wilhelm und seine Anhänger wussten nur zu genau, dass ein als Landesvorsitzender abgemeierter Vogel nicht daran denken würde, sich in der Staatskanzlei zum Gespött seiner Gegner machen zulassen. Die Debatte war verlogen – und das war allen bewusst. Immerhin, einige der Wilhelm-Befürworter, so die Bundestagsabgeordneten Schartz und Rauen, sagten offen, Wilhelm müsse auch das Amt des Ministerpräsidenten übernehmen. Es war eine Erlösung, als die Debatte trotz weiterer 24 Wortmeldungen schließlich geschlossen wurde. Das Ergebnis 258 zu 189 löste ein Geschrei aus, als sei Deutschland zum ersten Mal Fußballweltmeister. Bernd Vogel zog die unvermeidbaren Konsequenzen, er trat zurück, er verabschiedete sich am 2. Dezember, auf den Tag nach zwölf Jahren Ministerpräsidentschaft. Im Landtag unterblieb eine Würdigung auf eigenen Wunsch, zwei Sätze, Vogel sei zurückgetreten und aus dem Landtag ausgeschieden. Unwirkliche Szenen. Als das Kind im Brunnen lag, am Nachmittag des 12. November, hatte sich Kohl eingeschaltet. In stundenlangen „Rundtelefonaten“ mit den wichtigsten Funktionsträgern einigte man sich auf Carl-Ludwig Wagner als Ministerpräsident, den einzigen, auf den in dieser Situation eine Einigung überhaupt möglich war. Wenn in einer Partei fässerweise Gift ausgeschüttet wird, ist es eine Illusion zu glauben, das Gift sei verschwunden, wenn man die Räume ab und zu abspritzt und unter Wasser setzt. Das Gift wirkte nach – der neue Ministerpräsident Carl-Ludwig Wagner, anständig bis zur Selbstverleugnung, und Wilhelm, jetzt Landes- und Fraktionsvorsitzender, kamen nicht zusammen. Wagner bekam keine ehrliche Chance, die „Vogelianer – auch ich – machten nur bedingt gute Miene zum bösen Spiel, jedenfalls war der ganze verquere Laden alles andere als ein Herz und eine Seele. Das alles endete dann im Frühjahr 1991 in einer krachenden Niederlage, die so selbstbewusst auftretende „Rheinland-PfalzPartei CDU“ erhielt 38,7 Prozent, die SPD unter Scharping in guter Verfassung 44,8 Prozent. Hochmut kommt vor dem Fall – wir sind im Jahr 2012 immer noch in der Opposition, es hat 20 Jahre gebraucht, bis die CDU Rheinland-Pfalz unter Julia Klöckner zu einem guten Umgang miteinander gefunden hat. Bernhard Vogel wurde 1989 Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung (bis 1995), 2001 übernahm er erneut den Vorsitz, bis 2009. Diese Aufgabe war ihm wie auf den Leib geschnitten, eine Brücke in die geistige und kulturelle Welt, Bernhard Vogels eigentliche Stärke. Auf dem Bundesparteitag 1989 wurde er gefeiert wie nie zuvor, die Partei machte deutlich, was sie von den Mainzer Querelen hielt.

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Georg Gölter

Das größte Geschenk im Leben von Bernhard Vogel, nach dem Geschenk des Lebens, heißt jedoch Thüringen. Am 27. Januar 1992 einigte sich eine Thüringer Delegation bei und mit Helmut Kohl auf Bernhard Vogel als neuen Thüringer MP. Bernhard Vogel bezeichnete sich danach gelegentlich als den „Konsenskandidaten“; Helmut Kohl hatte noch am Samstag zuvor am Rande eines Landesparteitages der CDU Rheinland-Pfalz in Mülheim-Kärlich in einer improvisierten Pressekonferenz zu erkennen gegeben, Rudi Geil, Bezirksvorsitzender des Koblenzer Verbandes und unser „letzter“ Innenminister bis 1991, werde das Amt in Thüringen übernehmen. Aber Kohl und die Thüringer konnten sich nur auf Vogel einigen. Thüringen ist ein neues Kapitel, für das in dieser Festschrift andere zuständig sind. Das gilt auch für den weiteren Schwerpunkt des späteren Lebens, die „KAS“, die Konrad-Adenauer-Stiftung. Zurück zu Jeremia. Leben ist Verantwortung in der Gemeinschaft der Lebenden. Bernd Vogel hat dieser Maxime während seines ganzen Lebens gedient. Überwindet Misstrauen, Abgrenzung, widersprecht dem Hass, den Gedanken an Rache und Vergeltung. Dass Bernd Vogel die Demütigung von „Koblenz“ tief getroffen hat, dass er Zeit brauchte, sie zu verarbeiten, wer versteht das nicht, wem ginge es anders? Aber mit Blick auf Bernd Vogels Leben ist wichtiger: Bernd Vogel und Misstrauen gehören nicht zueinander. Nichts passt so wenig zu ihm wie Abgrenzung, er geht auf Menschen zu, er ist in gutem Sinn neugierig, er ist offen für Anregungen, für Neues, für Anderes. Er folgt Jeremia. Und er ist hilfsbereit. In den Siebziger Jahren war er rund zehn Jahre Präsident des Maximilian-Kolbe-Werks, gegründet in den Sechzigern, nach einem Auschwitz-Besuch von Pax Christi. Das Maximilian-Kolbe-Werk unterstützt seitdem in Not, Hunger und Krankheit geratene ehemalige polnische KZ-Häftlinge, in Polen seitens der Mächtigen vor der großen demokratischen Wende ungern gesehen. Rund 60 Millionen Euro sind seitdem aufgebracht worden. Vogel war rund 10 Jahre Präsident der deutschen Sektion der Jerusalem-Foundation, 1966 ins Leben gerufen durch den einzigartigen Jerusalemer Bürgermeister Teddy Kollek. Insgesamt sind von der Jerusalem-Foundation mehr als eine Milliarde Dollar aufgebracht worden, für die Entwicklung Jerusalems, die friedliche Zusammenarbeit der Völker und Religionen in dieser einzigartigen Stadt. Das von der Jerusalem-Foundation im arabischen Teil Jerusalems erbaute Krankenhaus lag und liegt Bernd Vogel besonders am Herzen. In diesen Kontext gehört auch die vor 30 Jahren von Vogel ins Leben gerufene Partnerschaft zwischen Rheinland-Pfalz und Ruanda, an deren Entwicklung Bernd Vogel auch heute noch intensiv Anteil nimmt. Die Feier des Jubiläums am rheinland-pfälzischen Verfassungstag 2012 im Mainzer Landtag war ein warmes und herzliches Dankeschön für diese großartige Idee und deren Umsetzung. Bernd Vogel ist überzeugter Katholik – über sein Verhältnis zu seiner Kirche spricht er eher zurückhaltend. 1968 war er Präsident des Katholikentages in Essen, von 1972 bis 1976 Präsident des ZK der deutschen Katholiken. Vogel ist

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auch als Katholik eher ein Konservativer. Wenn alle endlos lange in die Hände klatschen oder farbige Tücher schwenken, das liegt ihm weniger. Konservative plädieren für Veränderungen, als Reaktion auf aus ihrer Sicht Notwendiges, Veränderungen, die aber den radikalen Bruch vermeiden. Vogel ist auch als Katholik kein Radikaler. Aber dass sich, um nur zwei Beispiele zu nennen, in Fragen wie dem Diakonat der Frau oder der Weihe viri probati auch nach Jahrzehnten nichts tut, dass kann auch Bernd Vogel nur schwer ertragen. Vogel gehört zu den Initiatoren von Donum Vitae. Er bekennt sich dazu, dass Laien nach sorgfältiger Gewissensprüfung Aufgaben wahrnehmen, die das kirchliche Amt nicht fortführen will, auch wenn diese Laien damit auf Widerspruch stoßen, selbst wenn er aus Rom kommt. In diesem Sinn sind Alois Glück, Hans Maier, Erwin Teufel, Norbert Lammert, um nur einige zu nennen, Weggefährten im Geiste und persönliche Freunde. Bernd Vogel ist, wenn ich es recht sehe, mit sich im Reinen. Das ist schön, es ist auch gut so, er hat allen Grund dazu. Ich wünsche ihm noch viele Vorträge, viele schriftliche Beiträge, geistige Tätigkeit jeglicher Art, aber ein wenig weniger als früher. Das Ausmaß der Reduktion ist steigerbar. Aber ich denke, die genussvolle Überanstrengung wird ihn auch im 9. Lebensjahrzehnt fit halten. Alles Gute, für Dich, lieber Bernd, ad multos annos!

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Mut – Hoffnung – Zuversicht. Festschrift für Bernhard Vogel zum 75. Geburtstag. Hg von Dieter Althaus, Günter Buchstab, Norbert Lammert und Peter Molt. Paderborn 2007, S. 67 – 85. Helmut Kohl: Erinnerungen 1930 – 1982. München 2004, S. 418. Ebd., S. 348.

„Gott schütze Rheinland-Pfalz!“ (Bernhard Vogel) Julia Klöckner Vor rund 24 Jahren, am 11. November 1988, fiel in Koblenz dieser Satz. Der damalige rheinland-pfälzische Ministerpräsident Bernhard Vogel hatte ihn gesprochen – am Ende eines CDU-Landesparteitages, an dem er im Amt des Vorsitzenden nicht mehr bestätigt worden war. Es gibt wohl kaum jemanden, der sich in Rheinland-Pfalz für Politik interessiert, dem dieser Satz nichts sagt, der mit diesem Satz nichts verbindet. Bernhard Vogel zog aus seiner damaligen Niederlage in der Partei eine beachtliche Konsequenz für sein Amt als Ministerpräsident: „Ich spiele mit offenen Karten. Der Ministerpräsident muss das Land führen, und damit er das kann, braucht er Autorität (…) Es ist klar, dass ich diesen Auftrag nicht weiterführen kann (…) Der 2. Dezember 1988 wird mein letzter Arbeitstag sein.“ Und dann sagte er: „Gott schütze Rheinland-Pfalz!“ Über die Koblenzer Ereignisse wurde viel erzählt und interpretiert. Da ich zu dieser Zeit politisch noch nicht aktiv war und die Ereignisse nicht hautnah erlebt habe, sollte es auch nicht meine Aufgabe sein, über Hintergründe, Umstände, Schuldigkeiten dieser Zeit zu sinnieren. Aber: Der 11. November 1988 und das, was folgte, ist unserer Partei Mahnung! Denn was damals folgte, waren weder Harmonie noch Stärke einer Partei. Während die Landes-CDU bald ihre Rolle auf der Oppositionsbank finden musste, wagte Bernhard Vogel einen neuen Aufbruch. Nicht einmal vier Jahre später ist er wieder Ministerpräsident – von Thüringen. Als bisher einziger deutscher Politiker vollbrachte er das Meisterstück, als Regierungschef in zwei Bundesländern 23 Jahre Verantwortung zu tragen und einer der großen Repräsentanten des wiedervereinigten Deutschlands zu werden! Aus guten Gründen bekam Bernhard Vogel den Preis als Brückenbauer der Stadt Regensburg verliehen, hat er doch in besonderem Maße Grenzen zwischen Ost- und Westdeutschland, Deutschland und Frankreich, Deutschland und Polen durch sein politisches Tun überwunden. Spätestens zum 80. Geburtstag steht fest: Bernhard Vogel ist kein Sprinter. Er ist Langläufer. „Gott schütze Rheinland-Pfalz“ – das ist mehr als eine einprägsame, emotionalisierende Rhetorik. Das Zitat ist ein wertvoller Hinweis auf die Person Bernhard Vogel. Dieser Ausruf in einer schwierigen Situation belegt, was für ein „Zoon Politikon“ Bernhard Vogel Zeit seines Lebens war und bis heute ist. Politik war für ihn – wie auch für seinen Bruder Hans-Jochen Vogel – nie irgendein Beruf oder gar irgendein „Job“, den man so hätte wählen können wie einen anderen, sondern sie war Berufung, Leidenschaft und sicher auch Lust an der Macht. In

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Julia Klöckner

meiner Zeit als Studentin der Politikwissenschaften gehörte die Beschäftigung mit dem griechischen Staatsverständnis zum Pflichtprogramm dieser Fachrichtung. Zwangsläufig lernt man – sei es bei Platon oder Aristoteles – die Bedeutung des „Zoon Politikon“ kennen, nämlich eines auf die Staatsgemeinschaft hin ausgerichteten Bürgers. Damals blieb der Begriff noch abstrakt. Es ging mehr um die Wesensbestimmung des Menschen als eine auf die Gemeinschaft hin orientierte Person, die als Staatsperson für die Polis Verantwortung übernimmt. Angehenden Politikwissenschaftlern, die heute nach einem Beispiel in unserer Zeit suchen, kann man nur empfehlen, sich mit dem Lebensweg unseres Jubilars vertraut zu machen. Und sie werden keine Schwierigkeit haben, das klassische abstrakte Anforderungsprofil eines Staatsmannes von damals mit der konkreten Person Bernhard Vogel zu verbinden. „Gott schütze Rheinland-Pfalz“ – wer den Gottesbezug dieses Aufrufes nur als griffige Floskel begreifen wollte, die der emotionalen Situation geschuldet war, der würde Bernhard Vogel nicht gerecht. Die Rückbindung allen menschlichen Tuns, die Vorläufigkeit allen menschlichen Strebens – dies sind Kategorien, die das Leben und Denken von Bernhard Vogel nachhaltig geprägt haben, nicht nur bei seiner Arbeit als langjähriger Präsident des Zentralkomitee deutscher Katholiken oder im Hinblick auf seine Ehrung als Träger des Gregoriusordens. Bernhard Vogel steht für eine moderne und wertorientierte Christdemokratie im besten Sinne und in wirklicher Verbindung ihrer drei Wurzeln, die diesen Baum nur gemeinsam tragen: der liberalen, der konservativen und der christlich-sozialen. Er selbst als Politiker wird getragen von einem weltoffenen, menschenfreundlichen Katholizismus. Würde man diese geistige Rückbindung, diese „Vogel-Perspektive“ an dieser Stelle unter den Tisch fallen lassen, hätte man den Jubilar bestenfalls nur halb verstanden. „Gott schütze Rheinland-Pfalz“ – das ist natürlich erst einmal ein Ausruf der Niedergeschlagenheit und Enttäuschung, gleichwohl zeigt er, dass es ihm um sein Rheinland-Pfalz, seine Heimat geht. Wer einmal das Vergnügen hatte, dem Wahlpfälzer bei einem Glas Wein in vertrauter Runde zuhören zu dürfen, wenn er eloquent-unterhaltsam und doch dabei tiefgründig und profund die Landesgeschichte von Rheinland-Pfalz ausleuchtet, der wird spüren, wie emotional, wie kulturell verwachsen und persönlich verbunden Bernhard Vogel mit RheinlandPfalz ist. Nicht zufällig ist er einer der großen Unterstützer des renommierten „Historischen Museum der Pfalz“ in Speyer. Bei den Gesprächen mit Bernhard Vogel begreift man nicht nur seine umfassende Bildung und das tiefe Wissen, sondern man erlebt auch seine Freude am intellektuellen Disput. Das ist ein Charakterzug, der ihn wohl auch schon zu Studienzeiten prägte und der sicher auch die Wahl seiner breit angelegten Studienfächer (Geschichte, Volkswirtschaftslehre, Soziologie und vor allem die Politikwissenschaft) erklärt. Aus diesem Wissen heraus betrieb Bernhard Vogel Politik in der Erfahrung aus der Geschichte und mit Verantwortung für die Geschichte für sein Land, für unser Rheinland-Pfalz.

Gott schütze Rheinland-Pfalz

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„Gott schütze Rheinland-Pfalz“ – ich verstehe diesen Ausruf auch als Aufforderung, uns für unser Gemeinwesen, für unser Land und unsere Heimat zu engagieren und Verantwortung zu übernehmen. Aus dieser inneren Haltung heraus ging Bernhard Vogel – Zeit seines Lebens ein Politiker mit Ideen und Tatkraft – auch in Koblenz nicht einfach von Bord im Sinne eines „Nach mir die Sintflut“. Ganz im Gegenteil: Er blieb seiner Lebensaufgabe, seinem Engagement für unser freiheitliches Gemeinwesen mit Energie und Begeisterung treu. Sei es als erfolgreicher Thüringer Ministerpräsident, sei es als engagierter Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung oder – und das freut mich besonders – als gern und häufig gesehener Gast bei der CDU Rheinland-Pfalz. Diese Haltung und innere Überzeugung von Bernhard Vogel ist es, die in mir immer wieder aufs Neue großen Respekt auslöst. Als eine Nachfolgerin im Amt der Landesvorsitzenden fühle ich mich von ihm immer wieder angesprochen und in die Pflicht genommen. Ganz im Sinne Bernhard Vogels lohnt es sich, für unsere gemeinsamen Ziele und Überzeugungen zu arbeiten: Für Europa, für Deutschland, für Rheinland-Pfalz und für die CDU. Bernhard Vogel wird 80. Und doch wirkt er nicht so wie jemand, der ein geübter Rentner ist. Im Gegenteil. Seine Energie reicht noch für vieles, um viele mitzureißen. Uns gegenüber steht heute ein 80-jähriger Gestalter, der wichtigen Reformen nicht aus dem Weg ging. Ein Politiker, der unbestechlich und ohne Skandale politische Glaubwürdigkeit gelebt hat. Ich bin sehr froh, Bernhard Vogel immer wieder zu treffen – er ist mir ein gelassener, humorvoller Ratgeber. Gespräche mit ihm über konkrete Anlässe enden meist in der philosophischen Betrachtung des Ganzen. Er liebt sein Speyer, den wunderschönen romanischen Dom, man kennt ihn, wenn er durch die Straßen der Stadt geht, in der er als Ehrenbürger lebt. Bernhard Vogel ist wieder präsent in der CDU Rheinland-Pfalz – auch auf Parteitagen. Jüngst erstmalig wieder auf dem Landesparteitag am 20. Oktober 2012, als die CDU Rheinland-Pfalz ihren 65. Geburtstag feierte. Er ist ein vielgefragter Referent, Gast, Gesprächspartner. Und immer öfter höre ich unsere Mitglieder wieder sagen „Unser Vogel, der heißt Bernhard.“ Wenn Versöhnung verschiedene Facetten hat, dann ist dies eine davon. Bernhard Vogel ist ein Stück RheinlandPfalz. Gott sei Dank, dass wir ihn haben! Lieber Bernhard Vogel, herzlichen Glückwunsch und ad multos annos!

Vom Münchner Wirtshaus zur Hommage auf Thüringen „Hoaßt hia oana Vogl?“ (Ausruf einer Kellnerin in München) Christine Lieberknecht Am 27. Januar 1992 gegen 13.00 Uhr griff Bundeskanzler Helmut Kohl zum Telefon. Kurz darauf meldete sich am anderen Ende der Leitung eine Frauenstimme. Helmut Kohl verlangte nach Bernhard Vogel, der sich nach seinem Kenntnisstand zu diesem Zeitpunkt in der angerufenen Münchner Wirtschaft zum Mittagessen aufhalten sollte. „Hoaßt hia oana Vogl?“, schallte es wenig später durch den gesamten Raum. Bernhard Vogel, der gerade mit Vertretern der Konrad-Adenauer-Stiftung und der Hanns-Seidel-Stiftung in ein Gespräch vertieft war, staunt nicht schlecht als er plötzlich seinen Namen im tiefsten bayerischen Dialekt und für jedermann unüberhörbar vernahm. Schnell schritt er zum Telefon. „Bernd, es gibt keine andere Wahl. Du musst nach Thüringen. Jetzt. Bitte begib dich umgehend nach Erfurt.“ Kurz und knapp teilte Helmut Kohl einem sichtlich überraschten Bernhard Vogel mit, welche Aufgabe zirka 400 km nördlich von München auf ihn wartete. Bereits gegen 13.15 Uhr saß Bernhard Vogel im Auto nach Erfurt. Schon in wenigen Tagen sollte er neuer Ministerpräsident von Thüringen sein. Ein neues, ein schicksalhaftes Stück Geschichte nahm in diesen Stunden für Bernhard Vogel, vor allem aber für das Land Thüringen seinen Lauf. Die Begrüßung Bernhard Vogels in Thüringen war sehr herzlich. CDU-Fraktionschef Jörg Schwäblein schwärmte gleich zu Beginn von einer „ungeheuren Professionalität, die hier zu wirken beginne.“ Bernhard Vogel selbst bezeichnete rückblickend die Übernahme des Ministerpräsidentenamtes in Thüringen einmal als das „größte Abenteuer seines Lebens“. Wer mag ihm diese persönliche Einschätzung verdenken? Während andere seiner Weggefährten mit Anfang 60 langsam über ein Leben „nach der Politik“ nachdachten, stellte er sich einer der größten Herausforderungen, die die Friedliche Revolution 1989 und die Deutsche Einheit 1990 mit sich brachten. Er selbst fasste diese Herausforderung in seiner ersten Regierungserklärung am 26. Februar 1992 im Thüringer Landtag in einem Satz zusammen: „Unsere Ziele sind klar: Thüringen – das Land der Mitte Deutschlands – muss zum voll entwickelten und gleichwertigen Land im Kreis der deutschen Länder und zum selbständigen Gliedstaat der Bundesrepublik Deutschland werden.“ Bernhard Vogel war in Thüringen „angekommen“. Die Aufgaben, die es zu erfüllen galt, waren riesig und forderten den Ministerpräsidenten im wahrsten

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Sinne des Wortes rund um die Uhr, und zwar voll und ganz. Doch, so sehr man Bernhard Vogel dabei als „Pflichtmenschen“ und im besten Sinne als „Diener des Staates“ beschreiben mag, so wenig stellte die Übernahme des Ministerpräsidentenamtes in Thüringen für ihn eine reine Pflichterfüllung dar. Wer immer Bernhard Vogel in den nächsten elf Jahren in Thüringen begegnen sollte, er würde erfahren, dass dieser Mann mit Leib und Seele „Vater dieses Landes“ war. Von Beginn an vermittelte er den Menschen Hoffnung, Mut, Stärke, Zuversicht und Vertrauen in das eigene Können und die eigene Zukunft. Und wie wichtig war sein Auftreten und waren seine Worte und sein Dasein im Jahr 1992! Zwei Jahre nach den friedlichen Demonstrationen von Leipzig, Dresden, Berlin, Erfurt und so vielen anderen ostdeutschen Städten, nach dem lang ersehnten Fall von Mauer und Stacheldraht, nach dem feierlichen Vollzug der Deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 – nach all diesen historischen und von Freude und Euphorie gekennzeichneten Ereignissen waren nunmehr Wochen und Monate der Ernüchterung, ja in vielen Fällen auch der Enttäuschung, eingezogen. Das über 40 Jahre andauernde und an seinem Ende gescheiterte Experiment des real existierenden Sozialismus brachte nicht nur die Berliner Mauer zu Fall, sondern griff auch tief in die Erwerbsbiografien von Millionen Bürgerinnen und Bürgern der ehemaligen DDR ein. An den Folgen der kommunistischen Diktatur auf deutschem Boden und der vier Jahrzehnte währenden Teilung zerbrachen viele Träume, die sich mit dem Erringen der Freiheit in den Novembernächten von 1989 verbanden. Während sich der Verstand der Tatsache anzunehmen wusste, dass der Aufbau der sozialen Marktwirtschaft im Osten Deutschlands ein auf Jahrzehnte angelegtes Projekt darstellen würde, stand auf der anderen Seite das Gefühl und das zutiefst nachvollziehbare Bedürfnis der Menschen nach gleichwertigen Lebensverhältnissen in Ost und West. Zu Tausenden waren sie auf die Straße gegangen, weil ihre Geduld des Wartens auf Veränderungen innerhalb der DDR am Ende war. Nunmehr wurde ihre Geduld des „Er“wartens besserer Lebensverhältnisse ein weiteres Mal auf eine harte Probe gestellt. Dies führte in nicht wenigen Fällen zu Resignation und Verzweiflung. Und genau an dieser Stelle zeigte sich, dass Bernhard Vogel mit seiner politischen Erfahrung und seiner Sensibilität für schwierige Situationen von Menschen der richtige Mann zum richtigen Zeitpunkt für Thüringen war. „Ich bin mir bewusst, es ist ein großer und schwieriger Auftrag, aber trotz aller Schwierigkeiten werden wir uns nicht von Kleinmut und Pessimismus leiten lassen. Zu Resignation besteht kein Anlass. Vieles ist schon geschehen, und jetzt ist realistischer Optimismus gefragt“, so Vogel in den ersten Tagen seiner Amtszeit. Auch wenn diesen Worten natürlich nicht die Kraft innewohnen konnte, von heute auf morgen die Welt zu verändern, so waren sie doch eine wichtige Ermutigung in den schweren Stunden des Aufbaus und des Neubeginns. Es gehört ohne Zweifel zu den meisterhaften Eigenschaften Vogels,

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das Gefühl der Menschen, den Nerv der Zeit zu kennen, ja, tatsächlich selbst zu spüren und im entscheidenden Augenblick die richtigen Worte für das zu finden, was mit Worten oft nur schwer zu beschreiben ist. Ob diese Gabe allein auf politische Erfahrung zurückzuführen ist, oder, wie ich meine, auf einen persönlichen Charakter, der die Arbeit des Politikers zur Berufung werden lässt, sei am Ende dahingestellt. Bernhard Vogel jedenfalls wusste sehr genau, dass der Wiederaufbau Thüringens nicht nur eine Frage milliardenschwerer Förderprogramme für den Aufbau Ost, sondern des Miteinanders von Politik und Gesellschaft war. „Es kommt auf die Menschen an“, lautet ein viel zitierter Satz Bernhard Vogels. Und so wundert es nicht, dass der neue Landesvater von Beginn an fast täglich in seiner neuen Heimat unterwegs bei den Menschen war. „Unzählige Kreisbereisungen, die ich schon in Rheinland-Pfalz dazu genutzt hatte, den Bürgerinnen und Bürgern vor Ort zu begegnen, mit den örtlichen Verantwortungsträgern zu sprechen und die Probleme der einzelnen Regionen aus eigener Anschauung kennenzulernen, haben mich mit dem Land vertraut gemacht, ließen mich jede Stadt und fast jedes größere Dorf kennenlernen. Fast 600 Kilometer habe ich das Land zu Fuß durchwandert. Vor allem aber habe ich die Menschen und ihre Geschichte kennen- und liebengelernt“, so Bernhard Vogel in seinem „Thüringer Kaleidoskop“. Authentizität, Nahbarkeit, Vertrauen, Verlässlichkeit, das waren und sind bis heute die Pfeiler des Fundaments der Arbeit von Bernhard Vogel. Und so gelang es ihm, in Thüringen ein Gemeinschaftsgefühl wachsen zu lassen, das in den Menschen von Heilbad Heiligenstadt bis Sonneberg und von Eisenach bis Altenburg die Überzeugung wachsen ließ: Wir werden es schaffen! Die Thüringerinnen und Thüringer fassten Vertrauen zu ihrem „präsidialen Staatsoberhaupt“. Sie erkannten schnell, dass Bernhard Vogel nicht nach Thüringen gekommen war, um per „Blaupause“ ein „Modell Rheinland-Pfalz“ dem Freistaat überzustülpen. Bis heute sind die Thüringerinnen und Thüringer ihm für seine Identität stiftende, aber auch Identität wahrende Form des Regierens sehr dankbar. Immer wieder brachte Bernhard Vogel in seinem Wirken seine unmissverständliche Rolle des „Dienens für Thüringen“ zum Ausdruck. „Ich bin kein Landgraf, sondern ein demokratisch gewählter Ministerpräsident. Aber ich will sehr offen sagen, harte Entscheidungen, die werden allerdings notwendig sein. Ich selbst bin gekommen, um diesem Land zu dienen, und ich bin nicht gekommen, weil ich es besser weiß, sondern weil ich mithelfen will“, so Bernhard Vogel am Ende seiner ersten Regierungserklärung als Thüringer Ministerpräsident. Dass Bernhard Vogel mit dieser Einstellung zu seiner Rolle als Landesvater viel mehr bewirkte als „nur“ die Gewinnung des Vertrauens der Thüringerinnen und Thüringer in seine Kompetenz sei an dieser Stelle mit besonderem Nachdruck gesagt. Denn neben dem erfolgreichen Wirken Bernhard Vogels als Thüringer Ministerpräsident und den damit verbundenen wirtschaftlichen,

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kulturellen, sozialen und bildungspolitischen Erfolgen finde ich es nicht weniger bedeutend, auch seine Rolle als durch und durch überzeugter Demokrat im Übergang des Landes von der Diktatur zur Demokratie zu erwähnen. Mit seiner Person verbindet sich auch das Vertrauen der Menschen in die Demokratie. Was viele heute für selbstverständlich halten, war keineswegs einem politischen Automatismus unterworfen. Die Erfahrung zweier aufeinanderfolgender Diktaturen haben auf dem Gebiet der ehemaligen DDR das Vertrauen der Menschen in ihre „politischen Repräsentanten“ über Generationen hinweg tief erschüttert und schwinden lassen. Dass nunmehr die noch junge Demokratie als politische Regierungsform und Verfassungsprinzip auf das Vertrauen der Menschen in Thüringen stieß, liegt auch am Denken und Handeln Bernhard Vogels. Er wurde zum Vorbild für viele Menschen. In den Tagen nach dem verheerenden Brandanschlag auf die Erfurter Synagoge im Jahr 2000 ließ er als Landesvater keinen Zweifel daran, dass Freiheit und Demokratie neu verteidigt werden müssen. „Keine Freiheit, den Feinden der Freiheit“. Dieses Diktum von Theodor Heuss gehörte zu den von ihm oft zitierten Sätzen in jenen Tagen. Zugleich ließ er die Menschen in „seinem“ Land erfahren, dass Demokratie und Rechtsstaat untrennbar miteinander verbunden sind. Gleichzeitig setzte er mit der Einführung des jährlichen „Thüringen Monitors“ ein wichtiges Zeichen für die demokratische Kultur im Land und deren Weiterentwicklung. Als zwei Jahre später die blutige Katastrophe am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt, das wohl schlimmste Ereignis seiner Thüringer Regierungszeit, das gesamte Land erschütterte und von vielen Menschen sehr schnell geltendes Recht und Gesetz in Frage gestellt wurden, war er es, der den Rechtsstaat verteidigte und vor „einfachen Antworten“ warnte. „Das Grundgesetz setzt den Rahmen, den wir erfüllen müssen, und das Grundgesetz ermöglicht Toleranz, weil es der persönlichen Freiheit dort eine Grenze setzt, wo die Freiheit und die Würde des Nächsten beginnt. Es fordert die Verantwortung jedes Einzelnen für den anderen Menschen, für das Gemeinwesen, für die Demokratie, weil Freiheit ohne Verantwortung in die Unfreiheit führt“, so Bernhard Vogel in seiner Rede am 23. Mai 2002 vor dem Thüringer Landtag. Ohne je den Zeigefinger zu erheben oder gar belehrend zu wirken, gab er den Menschen zu verstehen, was Demokratie, was Eigenverantwortung, was Freiheit am Ende bedeuten und welche wichtige persönliche Verantwortung damit einhergeht. In dieser, seiner persönlichen Grundüberzeugung, war Bernhard Vogel immer klar. Und er fand in Thüringen neben all den tagesaktuellen Aufgaben auf Schritt und Tritt die historischen Orte, die für den Aufbruch des Geistes, für Bildung und Kultur – für Freiheit – standen, ebenso wie Orte, die mit deren Gegenteil mit Unterdrückung und Unfreiheit, ja deren schlimmsten Formen der Barbarei des 20. Jahrhunderts verbunden sind. Bernhard Vogels Einsatz für Weimar als Kulturhauptstadt Europas 1999 wie für die Gründung der Stiftung

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Ettersberg gemeinsam mit dem ehemaligen Buchenwaldhäftling und späteren spanischen Kulturminister Jorge Semprún, aber auch sein unermüdlicher Einsatz für eine dauerhafte Perspektive des einstigen „heißesten Punktes“ im Kalten Krieg – Point Alpha – als Ort politischer Bildung seien für diese Seite seines Wirkens nur beispielhaft genannt. Das politische Erbe Bernhard Vogels als Thüringer Ministerpräsident ist überall im Land sichtbar. Seine Handschrift wird Thüringen für immer prägen. „Als ich 2003 nach elf Jahren und vier Monaten mein Amt als Thüringer Ministerpräsident an meinen Nachfolger Dieter Althaus übergab, kannte ich Thüringen besser als Rheinland-Pfalz, wo ich immerhin zehn Jahre Kultusminister und zwölf Jahre Ministerpräsident gewesen bin“, so Bernhard Vogel rückblickend auf seine Amtszeit in Thüringen. Welche größere Hommage kann man einem Land erweisen?

„Quidquid agis prudenter agas et respice finem.“ (Äsop, Fabel 78) Heinrich Oberreuter Dies ist nicht nur Bernhard Vogels Lieblingsmotto.1 Es ist wohl auch seine Lebensmaxime – von einer Ausnahme vielleicht abgesehen. Denn als er sich als junger Mann überreden ließ, ein Mandat anzustreben, dachte er nur an eine kurze Periode praktischer Erfahrung und an die Rückkehr in die Wissenschaft – „blauäugig“ 2, wie er es selbst nennt. Dass dieser Weg am Ende in die Politik als Beruf münden würde, hatte er nicht bedacht. Hat er nicht trotzdem klug gehandelt? Er wird sich, hoffentlich, diese eine Inkonsequenz verzeihen. Denn aus ihr ist ihm die Chance zugewachsen, sein Motto im Dienst am Gemeinwohl zu leben. Schließlich ist es ja kein kategorischer Imperativ Kantscher Dimension, eher eine Maxime der Lebensklugheit. Mit ihr lässt sich durchaus pragmatisch umgehen, jedenfalls ohne dogmatische Festlegungen, aber dennoch keinesfalls beliebig. Allein deswegen mag es immer schwieriger geworden sein, sie in Politik zu übersetzen, weil sie fast allem widerspricht, was diese inzwischen, nicht zuletzt medial induziert, wesentlich ausmacht: Kurzatmigkeit, Oberflächlichkeit, Aktionismus – die schnellen Lösungen, die keine sind. Man soll in Zeiten der Dürre nicht einfach in den nächsten Brunnen springen, wenn man nicht weiß, ob er nicht auch austrocknet und wie man dann wieder herauskommt: „Prudenter agas et respice finem“. Wie viel Raum lässt sich in der Aktualität für Äsops weisen Rat noch gewinnen? Ist es nicht populärer, Probleme mit nahe- und nächstliegenden Alternativlosigkeiten zu überdecken, statt abwägende Lösungen anzustreben, die ihre mittelfristige Wiederkehr vermeiden könnten? Abwägen impliziert die Bereitschaft zu Diskurs und Kompromiss – unabdingbar im Pluralismus. „Respice finem“: Entscheidungen sollten die Chance auf breite Akzeptanz und gesellschaftliche Befriedung nicht aus den Augen verlieren. Demokratische Politik eignet sich nicht für kompromissunfähige Dogmatik, die unweigerlich zu menschlichen und historischen Tragödien führt, wie im 20. Jahrhundert hinlänglich belegt. Bernhard Vogel ist früh genug in die Politikwissenschaft geraten, um die historische Motivation einer „Demokratiewissenschaft“ nicht nur zu verstehen, sondern sie sich auch anzueignen und sich die Erwartung an die sozialtherapeutische Funktion der Disziplin zu bewahren, die heute ganz unberechtigt überwiegend als obsolet gilt. Rechtzeitig genug auch wechselte er in die Politik, um jene Normalisierung mitzugestalten, welche die Lehren und die Befreiung von den Lasten der ersten Tragödie zu sichern suchte (und sogleich auf erbitterte Gegnerschaft fundamentaler Systemtransformation traf).3 Und er blieb lange genug politisch aktiv, um mit hoher Rationalität und

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menschlicher Zuwendung aus den Trümmern der zweiten Tragödie im Osten Zukunftshoffnungen wachsen zu lassen. Der Zusammenklang klugen Denkens mit umfassender Abschätzung der Handlungsfolgen trägt, wie Vogels Beispiel lehrt, offenbar den Wechselfällen des politischen Alltags besser Rechnung als in Erz gegossene Dogmatik, die alles Denken und Handeln von einem vorgegebenen Ziel her bestimmt. Wenn das Ende ohnehin klar ist, schrumpft auch der Raum für kreative Klugheit. Jegliches Handeln zeitigt Folgen. Sie sollten schon deswegen bedacht werden, weil sie zumeist zu Konsequenzen für den Handelnden führen. Wer das übersieht, schadet sich selbst. Dies ist die taktische Variante der Maxime. Die ethische erinnert an die Verantwortung des Handelnden für sein Tun, die im Bedenken des Endes zum Ausdruck kommt: Max Webers Verantwortungsethik. Bernhard Vogel hat sie im Politikartikel des Staatslexikons 4 explizit als erforderliche Befähigung des Politikers benannt und wie ihr Autor über die gesinnungsethische Variante gestellt. Es ist mehr als eine schöne Pointe, dass beide, Max Weber wie Bernhard Vogel, letztlich doch nicht auf Gesinnung als Fundament der Verantwortung verzichten können und wollen: „Gesinnung“ aber allein als normative Orientierung wertorientierten Handelns, wie es der Politik seit je inhärent ist. Denn der Verzicht auf rigide Dogmatik bedingt keineswegs den Verzicht auf Orientierung, wie die auch Bernhard Vogel geläufige Erinnerung an die weltanschauliche Neutralität des Staates, die keine Wertneutralität bedeutet 5, veranschaulicht. Max Weber selbst weicht im Fortgang von „Politik als Beruf“ seine schroffe Entgegensetzung von Gesinnung und Verantwortung in diesem Sinne wieder auf. Wenn Bernhard Vogel vom Politiker zur Verwirklichung des Gemeinwohls Zukunftsgespür, schöpferische Kombinationsgabe, Tatkraft und Mut sowie Fähigkeit zum Ausgleich von Interessen einfordert 6 – zu welchem klug bedachten Ende? Er macht kein Geheimnis daraus, seine Orientierung in der christlichen Ethik zu finden und vermag darüber hinaus wie wenig andere argumentativ zu begründen, was dies jenseits von Lippenbekenntnissen konkret bedeutet. „Für den Christen ist Politik der Versuch, mit den Mitteln des Rechts, aber auch staatlicher Gewalt, die von Gott verliehene Würde des Menschen zu schützen und zu erhalten“.7 Ob der Mensch alles darf, was er angesichts jüngster wissenschaftlicher Entwicklungen kann, ist eine sich daran anschließende Frage, die im Bestreben nach Verteidigung des Humanums inzwischen auch ein Agnostiker wie Jürgen Habermas aufgeworfen hat. Sie erscheint nicht zuletzt auch in den neuerlichen Dissonanzen der staatsrechtlichen Diskussion nicht in jeder Hinsicht zu Ende gedacht. Offensichtlich bedürfen politische Klugheit und Verantwortung aktuell und künftig entsprechender ethischer Inspiration. Das mag einem in Ostdeutschland mit seiner in Europa beispiellosen religiösen und kirchlichen Entkernung besonders bewusst werden, weil dort religiöse Orientierung als potentieller Kitt der Sozialverfassung nur in geringem Umfang zur Verfügung steht.

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Erneuerung hat sich an überlieferten unverzichtbaren Grundsätzen auszuweisen, wenn sie fortschrittlich zu sein beansprucht. Denn Abschied oder Relativierung der Menschenwürde wären kein Fortschritt. Sie im Lande zu bewahren und politisches Handeln darauf auszurichten, ist bei aller Wandlungsoffenheit jene Form des Konservatismus, die Bernhard Vogel für sich selbst verantwortet.8 Mehr noch. Diesen Markenkern seiner Partei sieht er nicht nur herausgefordert. Er versteht ihn auch als eine Herausforderung an die Zeit und wohl zugleich an den eigenen innerparteilichen Pluralismus. Aus dieser Motivation haben er sich und die Konrad-Adenauer-Stiftung am Grundsatzpapier „Politisches Handeln aus christlicher Verantwortung“ 9 engagiert, um in der Erschütterung unserer Gewissheiten – keine bleibt unerwähnt – an über die Zeit Geltung beanspruchende Maßstäbe nachhaltiger – verantwortbarer – Politik zu erinnern. Da keine Partei ein Monopol auf das Christliche besitzt, versteht sich dieses Papier als Angebot an die aktuelle Programmdiskussion allerorten, nicht zuletzt aber als Ermunterung, Rechenschaft abzulegen über das Bild vom Menschen, an dem sich Entscheidungen und Optionen ausrichten. „Et respice finem“ – welche Gesellschaft wollen wir? Und welche Schritte sind im Einzelnen sinnvoll, sich diesem Ziel verantwortlich anzunähern? Äsops Fabel, der die lebenskluge Maxime entstammt, hat das Alltägliche im Visier, nicht die Verantwortung für das Ganze. Wenn ihr aber schon dafür Weisheit innewohnt, gilt das erst recht für die Ordnung der Gesellschaft durch Politik. Auch an deren Personal stellt Bernhard Vogel hohe Anforderungen.10 Der aktuell-kritischen Bewertung ihrer Erfüllung enthält er sich jedoch in politischer Klugheit. Zu gewissen Dimensionen verantwortlichen Handelns kann es in bestimmten Rollen und Positionen auch gehören, nicht alles zu sagen. Aber Wunsch und Auftrag, sich wohlbedacht an Grundsätzen zu orientieren, hat er nicht nur implizit deutlich artikuliert. Nicht nur das. Er hat stets selbst sein politisches Leben nach dieser Maxime ausgerichtet und in Rheinland-Pfalz, in Thüringen wie in der Konrad-AdenauerStiftung und wo immer er zu handeln hatte, die Felder so bestellt, wie es seiner Klugheit und seinem Verantwortungsgefühl entspricht.

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Vgl. Bernhard Vogel: Sorge tragen für die Zukunft. Reden 1998 – 2002. Hg. von Michael Borchard und Uwe Spindeldreier. Berlin 2002, S. 11. Bernhard Vogel: Zu welchem Ende studiert man Politische Wissenschaft?, in: Werner Patzelt / Martin Sebaldt / Uwe Kranenpohl (Hg.): Res publica semper reformanda. Wiesbaden 2007, S. 21. Und er sah mit Verwunderung, welch rückwärtsgewandte Kritik der Parteien- und Parlamentsdemokratie der Revolte Stichworte und Motivation gab. Vgl. Bernhard Vogel: Unbehagen an der Bundesrepublik. Kritische Bemerkungen zu Karl Jaspers, Wohin treibt

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Heinrich Oberreuter

die Bundesrepublik?, in: CIVITAS. Jahrbuch für Christliche Gesellschaftsordnung. 5. Bd. Mannheim 1966, S. 231 – 247. Dieser Beitrag ist nicht nur kritisch gegenüber Jaspers, sondern auch gegenüber dem Zustand des politischen Systems und nicht zuletzt gegenüber der Politikwissenschaft, die Jaspers eine Antwort schuldig blieb. 4 Staatslexikon, Bd. 4, 7. Aufl. Freiburg u. a. 1988, Sp. 435 – 39. 5 Ebd., Sp. 437. 6 Ebd., Sp. 438. 7 Ebd., Sp. 437. 8 Bernhard Vogel: Was ist konservativ?, in: Was ist? Konservativ, links, liberal, grün. Hg. von Ulrich Sarcinelli und Volker Hörner. Mainz 2009, S. 12 – 19. 9 Siehe dazu Bernhard Vogel (Hg.): Im Zentrum: Menschenwürde. Politisches Handeln aus christlicher Verantwortung. Christliche Ethik als Orientierungshilfe. Berlin 2006. 10 Bemerkenswert, wie er an prominenter Stelle des Staatslexikons (Sp. 439) seinen Artikel abschließt: „Im übrigen ist Politik eine zu ernste Sache, als daß sie ohne Humor auskäme, ohne den Humor dessen, der sich selbst nicht so wichtig nimmt.“

Eine Würdigung „Was Du ererbt von Deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen.“ (Johann Wolfgang von Goethe) Hanns-Eberhard Schleyer Mit Bernhard Vogel wird eine prägende Persönlichkeit der (west-)deutschen Nachkriegsgeschichte und des wiedervereinigten Deutschlands 80 Jahre alt. Zugleich feiert ein überzeugter Europäer seinen Geburtstag, der für globale Neuorientierungen gleichermaßen neugierig und sensibel geblieben ist. Einer, der stets der Kurzatmigkeit politischen Handelns die Bereitschaft entgegengesetzt hat, langfristig und grundsätzlich über politische Ziele nachzudenken. Aber auch einer, dem der demokratische Grundkonsens stets wichtig war und der deshalb zuhören und sich mit kontroversen Meinungen intensiv und vorurteilsfrei auseinandersetzen konnte. So habe ich ihn kennen gelernt, und so hat er auch für meine weitere Entwicklung entscheidende Maßstäbe gesetzt. Das geistig politische Rüstzeug hat sich Bernhard Vogel früh erworben. Schon als Klassen- und Schulsprecher, als Student der Politikwissenschaften und als wissenschaftlicher Assistent hat er sich politisch interessiert und engagiert. Die Begeisterung für Konrad Adenauer und die Einbindung in die katholische Jugend haben seinen politischen Standort bestimmt und mit dem Eintritt in die Christlich Demokratische Union eine bemerkenswerte politische Erfolgsgeschichte eingeleitet. Bernhard Vogel verkörpert in seinem politischen Wirken wie kaum ein anderer Verantwortung für die Zukunft des Landes. Die Leitlinien seines Handelns beschreibt er selbst am besten in der Vierteljahresschrift „Civis“ (02/2007) „… so prüfen wir alles, bewahren das Bewährte, lassen Überholtes zurück, sind aufgeschlossen für Neues, verbinden Tradition und Modernität“. Diese Richtschnur findet sich vor allem in der von ihm vertretenen Bildungspolitik wieder. Ich habe Bernhard Vogel nicht mehr als Kultusminister erlebt. Doch viele gemeinsame Kabinettsitzungen in Mainz waren durch leidenschaftliche bildungspolitische Diskussionen bestimmt. Bildung als Schlüssel zum wirtschaftlichen Erfolg, sozialer Teilhabe und persönlicher Unabhängigkeit spielte in seinem Gesellschaftsbild eine entscheidende Rolle. „Es gibt keine Chancengleichheit, aber wir wollen Chancengerechtigkeit verwirklichen“, deshalb waren ihm eine sachgerechte Differenzierung von Fähigkeiten oder Neigungen, die dafür notwendige Ausstattung von Bildungseinrichtungen und die Förderung von Aufstiegschancen so wichtig. Wie oft haben wir uns in den letzten Jahren in vertrauter Runde in

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Berlin mit der demografischen Entwicklung in Deutschland auseinandergesetzt. Immer weniger Menschen sollten immer mehr leisten können. Der wachsende Fachkräftemangel hat uns ebenso beschäftigt wie der drohende Verlust der Innovationsfähigkeit in manchen Bereichen. Diesen gleichermaßen quantitativen wie qualitativen Herausforderungen musste – nach Bernhard Vogels Auffassung – durch verstärkte frühkindliche Förderung, durch die Einführung nationaler Bildungsstandards und durch eine bessere Eingliederung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund gerade auch in den „deutschen Sprachraum“ begegnet werden. Dies setzt ein wesentlich stärkeres öffentliches Bewusstsein für die Bedeutung von Bildung und Integration, aber auch mehr Investitionen in eine „Bildungsrepublik Deutschland“ voraus und – wenn ich ihn richtig verstanden habe – auch den nachhaltigen politischen und gesellschaftlichen Versuch, beste Köpfe aus dem Ausland für Wissenschaft und Wirtschaft zu gewinnen. Da müsse dann auch die notwendige Konsolidierung öffentlicher Haushalte und die Berücksichtigung deutscher Arbeitnehmerinteressen richtig eingeordnet werden. Mehr vielleicht noch als die bildungspolitischen Diskussionen der letzten Jahrzehnte haben Bernhard Vogel die Auseinandersetzungen um Wert und Würde menschlichen Lebens umgetrieben. Vor allem in den 1980er Jahren gab es vielfache Forderungen für eine stärkere Verankerung von Tier- und Umweltschutz als Staatszielbestimmung im Grundgesetz. In vielen Gesprächsrunden hat Bernhard Vogel damals sehr temperamentvoll darüber Klage geführt, dass über diese Kampagnen intensiver diskutiert wird, als über die Wertigkeit menschlichen Lebens. Wie wir in Zukunft leben wollen und wie das Gesicht unserer Gesellschaft aussehen wird, hinge dabei doch viel entscheidender davon ab, wie wir Fortschritts- und Wissenschaftsoptimismus ausleben. Nähern wir uns der naturwissenschaftlich möglichen und einer gesellschaftlich akzeptierten Verfügung über das Unverfügbare? Bernhard Vogel stellte immer wieder diese Frage und versuchte Antworten zu geben, wohl wissend, dass wissenschaftliche Erkenntnisse und Errungenschaften neue Nachdenklichkeiten erzeugen, denen man nicht mit alten Schlagworten begegnen konnte. Wohl wissend aber auch, dass es die umfassende Antwort auf alle Verästelungen der Forschung nicht geben kann. In allen Entscheidungsfindungsprozessen hat ihm vor allem auch sein Glauben und sein davon geprägtes Menschenbild eine ethische Grundlage für sein Handeln gegeben. Und er konnte sich auf eine Verfassung stützen, deren Kernelemente die Menschenwürde und die Schutzpflicht für das menschliche Leben sind. So hat er neben der naturwissenschaftlichen Auseinandersetzung stets auf die moralisch-ethischen Aspekte dieser Diskussion besonders geachtet. Mit diesem Anspruch hat Bernhard Vogel seine bundesweiten Debatten geführt und erfolgreiche politische Initiativen ergriffen. Ob im Entführungsfall meines Vaters dieses Verständnis von der Würde des Einzelnen und der Schutzpflicht des Staates oder eher die persönliche Freundschaft zu ihm für seine Haltung ausschlaggebend war, gehört zu den Fragen, die ich

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mir für künftige Begegnungen aufgehoben habe. In jener Zeit, in der die sogenannte Staatsräson die öffentlichen Stellungnahmen beherrschte, war jedenfalls die immer wieder geäußerte Bereitschaft, den Forderungen der Geiselnehmer nachzugeben, eine für jeden Politiker schwieriges Bekenntnis. Seine Bereitschaft, Überholtes zurückzulassen und Neuem gegenüber aufgeschlossen zu sein, hat Bernhard Vogel auch in der Technologie- und Medienpolitik unter Beweis stellen können. Vielfach vergessen ist die von ihm vorgenommene Einsetzung einer Technologiekommission, die wesentliche Grundlagen für die wirtschaftliche Erneuerung von Rheinland-Pfalz geschaffen hat. Nicht vergessen sind die Verdienste von Bernhard Vogel um die Einführung der so genannten neuen Medien. Gegen alle Widerstände von Sozialdemokraten, aber auch seines Parteifreunds Lothar Späth, der das gemeinsame Kabelpilotprojekt „Mannheim / Ludwigshafen“ schon zu einem frühen Zeitpunkt aufkündigte, erreichte er die Verabschiedung eines neuen Rundfunkstaatsvertrags und schuf die Voraussetzungen für den sogenannten Urknall, mit dem 1984 in Ludwigshafen die Geschichte des privaten Rundfunks begann. Als Vorsitzender der Rundfunkkommission und als Ministerpräsident wollte er für die Bundesrepublik und für sein eigenes Land die Chance zur Einführung privater Programme nutzen, die sich aus zusätzlichen terrestrischen Übertragungsmöglichkeiten und durch den erstmaligen Einsatz von Fernmeldesatelliten ergeben hatte. Im Bereich elektronischer Medien sollte dieselbe Vielfalt selbstverständlich sein wie bei den Printmedien, mit dieser Überzeugung hat Bernhard Vogel die Verleger als Programmveranstalter und die Bundespost für die Verkabelung von Privathaushalten gewonnen. Das, was heute ganz selbstverständlich erscheinen mag und was zu ungleich größerer Vielfalt an Meinungen und Programmfarben geführt hat, war damals eine große politische Leistung. Es bedurfte der ganzen Hartnäckigkeit und Willenskraft von Bernhard Vogel und einer durchaus hilfreichen normativen Kraft des Faktischen, um den politisch-ideologischen Widerstand und den Teufelskreis „fehlende Zuschauer, weil fehlende Programme“ und „fehlende Programme, weil fehlende Zuschauer“ zu durchbrechen und das von ihm als notwendig Erachtete durchzusetzen. Bernhard Vogel hat den wirtschaftlichen Aufschwung der alten Bundesrepublik mit erlebt und mit gestaltet. Als Ministerpräsident eines neuen Bundeslandes hat er an entscheidender Stelle erfolgreich zum Umbau einer sozialistischen Planwirtschaft hin zu einer Sozialen Marktwirtschaft beigetragen. Seine langjährigen engen Beziehungen zu herausragenden polnischen Intellektuellen haben sicherlich geholfen, besser zu verstehen, was auf die Menschen in diesem Transformationsprozess zukommen würde. Mit diesen Erfahrungen konnte er den Bürgern der neuen – oder was er bevorzugte – der jungen Bundesländer mit einer größeren Sensibilität und mehr Behutsamkeit neue wirtschaftliche und soziale Perspektiven eröffnen. Mit dem Wegfall der „allumfassenden Fürsorge“ des Staates taten sich allerdings viele Menschen schwer, die notwendigen Eigeninitiativen zu entwickeln und sich für ihr Schicksal selbst verantwortlich

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zu fühlen. Dies änderte sich in dem Umfang, wie sich die Lebensverhältnisse verbesserten, und es änderte sich auch mit einer nachwachsenden Generation. Dennoch war Bernhard Vogel in seinem politischen Amt immer wieder mit einer schwer nachvollziehbaren Diskrepanz zwischen individueller Zufriedenheit und kollektivem Missvergnügen konfrontiert. Das hat sich als Folge der Wirtschaftsund Finanzkrise in den letzten Jahren verstärkt. Die Zweifel an dem System wachsen, weil aus der Sicht der Menschen wirtschaftlicher Erfolg nicht mehr einhergeht mit sozialer Verantwortung. Die Risse in der Gesellschaft werden stärker, und die Sorge um eine Rückkehr zur Klassengesellschaft wächst. Für Bernhard Vogel, der sich über ein langes politisches Leben stets für den gesellschaftlichen Grundkonsens und eine Politik eingesetzt hat, in deren Mittelpunkt der Mensch steht, ist eine solche Entwicklung besonders verhängnisvoll. Dabei ist er davon überzeugt, dass das System der Sozialen Marktwirtschaft bewahrt werden muss. Er weiß, dass Wohlstand, Friede und Freiheit eng damit verbunden sind. Er weiß aber auch, dass das Regelwerk der Sozialen Marktwirtschaft gelebt werden muss, so wie aus seiner Sicht vor allem auch von den mittelständischen Unternehmern vorgelebt wird. Und Bernhard Vogel, der offen und neugierig die Welt bereist, ist davon überzeugt, dass die ordnungspolitischen Grundsätze von Wettbewerb und sozialem Ausgleich gerade auch in einer zusammenwachsenden Welt stärker Berücksichtigung finden müssen. Bernhard Vogel lebt seine Wertvorstellungen – mit großer Disziplin und Bescheidenheit – aber auch mit wohltuender Herzlichkeit und Offenheit. Eine Begegnung mit Erich Honecker ist mir in diesem Zusammenhang in besonderer Erinnerung. Auf Wunsch des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl hat Bernhard Vogel in den 1980er Jahren eine Reihe von Gesprächen mit dem Staatsratsvorsitzenden der DDR geführt. In dieser Zeit hatte das Land RheinlandPfalz eine große Ausstellung „2000 Jahre Salier in Deutschland“ konzipiert und benötigte dazu auch Exponate aus Museen der DDR . Die zuständigen DDR Behörden hatten aber unter Hinweis auf die Einbindung der „Stiftung Preußischer Kulturbesitz“ in das Ausstellungskonzept jede Zusammenarbeit abgelehnt. Aus Anlass des ersten Besuchs von Erich Honecker in der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1987 hat Bernhard Vogel dieses Problem dann in einem Sechs-Augen-Gespräch im rheinischen Landesmuseum in Trier erwähnt. Es gelang ihm, die Gemeinsamkeiten deutscher Geschichte und deutschen Geisteslebens so eindrucksvoll zu beschreiben und den im unweit entfernten Saarland geborenen SED-Generalsekretär in einer so persönlichen Weise anzusprechen, dass Erich Honecker letztlich dieser politisch besonders heiklen Kooperation zustimmte. Honecker war nicht der Einzige, der sich von dem bildungsbewussten und charismatischen Bernhard Vogel überzeugen lassen musste. Davon haben über Jahrzehnte sein Land und dessen Menschen profitiert, für die er mit seiner Haltung und seinem Engagement politische Glaubwürdigkeit und Verantwortungsgefühl verkörpert und wichtige Weichenstellungen vorgenommen hat.

„Mein Vogel heißt Bernhard“ (Wahlkampfmotto Landtagswahl Rheinland-Pfalz 1979) Michael Thielen Der 13. Februar 1979 war ein chronikpflichtiger Tag in der kleinen Eifelstadt Prüm. Angekündigt war für den frühen Abend der Auftritt des Ministerpräsidenten Dr. Bernhard Vogel in der Stadthalle. Vogel trat 1979 zum ersten Mal als Spitzenkandidat der CDU für eine Landtagswahl in Rheinland-Pfalz an. In sein Amt war er als Nachfolger von Helmut Kohl während der Legislaturperiode vom Landtag gewählt worden. Die Rahmenbedingungen des Wahlkampfes waren für Bernhard Vogel alles andere als eine Steilvorlage. Acht Mal hatten bis dahin die Rheinland-Pfälzer der CDU die Führung der Landesregierung anvertraut. Das war ein Umstand, in dem die SPD , aber auch manch neutraler Beobachter, Zeit für einen Wechsel gekommen sah. Die Sozialdemokraten hatten mit Klaus von Dohnanyi einen zwar „eingeflogenen“, aber doch allseits respektierten Gegenkandidaten aufgeboten. Aus Bonn war für die rheinland-pfälzischen Christdemokraten wenig Rückenwind zu erwarten. CDU und CSU quälten sich dort mit einer Dauerdebatte um ihren Spitzenmann Helmut Kohl. Der wiederum hatte 1975 in der letzten Landtagswahl die Messlatte für seinen Nachfolger hoch gelegt, mit einem Wahlergebnis von 53,9 Prozent. Entsprechend motiviert waren die besonders treuen Unterstützer Bernhard Vogels in den Wahlkampf gezogen. Zu diesen gehörte innerhalb der Unionsfamilie die Junge Union Rheinland-Pfalz. Sie hatte sich in dem Wettbewerb Vogels mit Heiner Geißler um den CDU Landesvorsitz im Jahr 1973 und mit Johann Wilhelm Gaddum um das Amt des Ministerpräsidenten 1976 frühzeitig um den damaligen Kultusminister Vogel geschart. Und jetzt wollten wir ihn siegen sehen und das unsere dafür tun. In diesem Engagement war durchaus viel jugendlicher Ernst spürbar, aber das Ganze war für uns auch eine große Gaudi. Gerade stolze Führerscheinbesitzer geworden, eilten wir mit einem von der Partei gestellten Auto, das als Lautsprecherwagen hergerichtet war, über die Eifel-Dörfer. Mit dem Wagen traktierten wir redliche Bürger mit nicht selten akustisch unverständlichen Veranstaltungsankündigungen und mit selbst gereimten, aber mitunter eher sinnfreien Parolen. Und was natürlich damals nicht fehlen durfte: Der deutlich sichtbare Aufkleber „Mein Vogel heißt Bernhard“ auf der Motorhaube des Volkswagens. Es hat uns viel Spaß gemacht, die Eifelaner um ihre Samstagsruhe zu bringen. Den Spitzenkandidaten hat das möglicherweise eher Stimmen gekostet als gebracht. Das Risiko allerdings, damit „asymmetrische Demobilisierung“ zu Lasten der CDU zu betreiben, war damals überschaubar. Die CDU hatte in der

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Verbandsgemeinde Prüm 1975 bei der Landtagswahl 76,9 Prozent der Stimmen gewonnen, die SPD kam auf gut 18 Prozent. Letzteres scheint auch heute noch möglich, ersteres weniger, auch nicht in der Eifel. Die Menschen dieses Landstrichs hatten in der Weimarer Republik fest zum katholischen Zentrum gestanden, die NSDAP machte noch bei den letzten freien Reichstagswahlen 1933 kaum einen Stich. In der Nachkriegszeit war die Eifel von Beginn an eine Hochburg der CDU. Dafür gab es strukturelle Gründe, die ausgeprägte Kirchenbindung etwa und die wirtschaftliche wie kulturelle Dominanz der Landwirtschaft. Aber es gab auch politische Gründe für die Zufriedenheit mit der CDU. Denn die Landesregierungen der Nachkriegszeit hatten das Gebiet aus seinem jahrhundertelangen Schattendasein als militärische Aufmarschzone herausgeholt, die Infrastruktur modernisiert und erfolgreich Industrie angesiedelt. „Wohlstand für alle“ war persönlich erfahrbar geworden, auch auf dem Land. Just diese Modernisierungsleistung der CDU war eine der Voraussetzungen dafür, dass die Stabilität der eigenen politischen Hochburg schleichend erodierte. Insoweit wurde die CDU im Laufe der Nachkriegsjahrzehnte ein wenig auch Opfer der eigenen Erfolge, die man durchaus im Bewusstsein dieser Nebenwirkungen im Interesse der Menschen durchgesetzt hatte. In dem Slogan „Mein Vogel heißt Bernhard“ schwang insbesondere bei den jungen Menschen in der Eifel mehr mit als Kampagnenstimmung. Das hatte nicht zuletzt zu tun mit einem bildungspolitischen Topos aus jener Zeit, dem „katholischen Mädchen vom Lande“. In dieser Debattenfigur verkörperte sich eine vielfach beklagte Rückständigkeit der deutschen Bildungspolitik einen Mangel an Chancengerechtigkeit, an Durchlässigkeit und an Aufstiegsmöglichkeiten in Bildung und Gesellschaft dieser Jahre. Natürlich war das eine Konstruktion, eine Verdichtung und Zuspitzung von tatsächlichen oder vermeintlichen Unzulänglichkeiten. Der darin angesprochene Sachverhalt betraf nicht nur Mädchen, Katholiken und Dorfbewohner, aber diese in der Tat besonders. In meinem Heimatdorf, 500 Seelen groß, gab es während meiner Schulzeit drei ansässige Akademiker, alle waren sie zugezogen: Der Pfarrer, ein Lehrer und der Tierarzt. Mit mir besuchte noch ein älterer Junge das Gymnasium in Prüm. Der einzige tatsächlich beschrittene Weg zum Studium war immer noch das Priesterseminar. Diesen Weg wählte auch der ein oder andere, nicht in jedem Fall war das gleichermaßen zum eigenen Segen und zu dem der Kirche. Die Generation, zu der ich gehöre, war die erste, für die sich Alternativen erschlossen. Dieser Aufbruch war mit Händen zu greifen und zwar überall in den Dörfern der Hocheifel. Dass er möglich wurde, war vielen zu verdanken. Nicht zuletzt waren die neuen Aufstiegschancen Verdienst der Politik. Sie hatte Wege geebnet mit konkreten Bildungsreformen, aber vielleicht mehr noch mit der Wertschätzung für Bildung und der Aufmerksamkeit für Aufstiegsambitionen, die aus ihr sprach.

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Für beides stand in Rheinland-Pfalz und darüber hinaus in besonderer Weise Bernhard Vogel. Mit ihm hatte Neues begonnen. Als Kultusminister betrieb er seit 1967 gegen erhebliche Widerstände – auch in den eigenen politischen Reihen – die Abschaffung der Konfessionsschule und den Abbau der Zwergschulen. Ich besuchte noch die katholische Volksschule Sankt Hubertus: zwei Lehrer, zwei Unterrichtsräume je einer für die Klassen 1 – 4 und 5 – 8, zusammen etwa 60 Schüler. Die Ausstattung dieser Schule war von dem schon damals als zeitgemäß erkannten Standard weit entfernt. An die pädagogischen Prinzipien, die dort trotz guten Willens regierten, möchte ich mich im Einzelnen nicht erinnern. Solche Schulen verschwanden nach und nach. Das hatte durchaus nicht nur positive Wirkungen. Die Schulwege wurden länger. Die Selbstverständlichkeit der Integration nahezu aller Kinder in die Gemeinschaft solcher Dorfschulen war in größeren Zusammenhängen kaum mehr aufrecht zu erhalten. Dorfschullehrer mussten damals Experten für einen Unterricht sein, der mit einer heterogenen Schülerschaft umging, eine Anforderung, die heute aktueller denn je ist. Sie leisteten im hohen Maße das, was man heute in bestem Sozialingenieur-Deutsch „Inklusion“ nennt. Aber das Verschwinden dieser Dorfschulen war unvermeidlich, wenn den Schülern bessere Möglichkeiten eröffnet werden sollten. Es blieb nicht bei dieser wichtigen Schulreform. Gymnasien wurden ausgebaut, auch die Realschulen als Schulart mit eigenem Profil. Die Lehrer-Ausbildung wurde modernisiert, die Universität Trier-Kaiserslautern gegründet und die Förderung für Studierende ausgebaut. Natürlich lag das alles auch im Zug der Zeit. Aber in Rheinland-Pfalz fand sich ein eigener Weg, der die christlich-demokratische Handschrift von Bernhard Vogel trug. Die Reformen waren maßvoll. Auch an rheinland-pfälzischen Schulen wurde die Oberstufe umstrukturiert, aber eben behutsam und unter Aufrechterhaltung der Qualität. Die Konfessionsschule musste weichen, aber dafür wurde die Perspektive auf eine „christliche Gesamtschule“ eröffnet. Das half, auch die Kirchen für die Reform zu öffnen. Die Zwergschulen gingen, aber mit der Möglichkeit einzügiger Grundschulen blieb für die Jüngsten der Schulweg erträglich und in vielen Fällen „die Schule im Dorf“. Es war ein Markenzeichen dieser Politik, dass entschlossen modernisiert wurde und gleichzeitig, wie es heute heißen würde, alle „mitgenommen“ wurden. Der Zugang zu formal höherer Bildung wurde breit geebnet, aber ohne die Vielfalt von Begabungen zu leugnen und den Bauern oder den Handwerkern zum defizitären Menschen zu erklären. Das gehörte anderswo damals durchaus zum guten Ton einer sich modern gebenden Bildungspolitik. Für einen Kultusminister und Ministerpräsidenten wie Bernhard Vogel war es nicht mit seinem Menschenbild vereinbar. Für beides, für das Maß und für die Entschlossenheit, für das Neue und für den Respekt vor dem Gewachsenen stand Bernhard Vogel. Gemeinsam mit Kollegen wie Wilhelm Hahn, Hans Maier und später Werner Remmers und Hanna-Renate Laurien konzipierte und verkörperte er die Konturen einer

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neuen Bildungspolitik der Union. Für uns Kinder des Bildungsaufbruchs war die Formel „Mein Vogel heißt Bernhard“ weit mehr als Wahlkampfgeklingel. Vom „katholischen Mädchen vom Land“ als Sorgenkind der Bildungspolitik redet heute niemand mehr, weil sich dieses Thema erübrigt hat. Grund zur Sorge dagegen gibt die Vertrauenskrise in der Bildungspolitik. Von dieser Erschütterung ist auch die christlich-demokratische Idee betroffen. Es geht um die Erkennbarkeit und die Gemeinsamkeit einer christlich-demokratischen Bildungspolitik. Das ist nicht in erster Linie eine Frage der Programmatik. Die CDU hat erst im vergangenen Jahr nach intensiver Debatte, ein zeitgemäßes Bildungsprogramm beschlossen. Es ist in erster Linie eine Frage der politischen Praxis und der Überzeugungskraft. Hier ist weder der Anlass noch der Raum, um dies im Einzelnen auszuführen. Aber drei Bemerkungen seien gestattet: Erstens: Bildung in Deutschland braucht einen differenzierten Blick, sie ist besser als ihr Ruf. Natürlich gibt es drängende und sehr reale Probleme. PISA und andere Vergleichsstudien haben das schonungslos aufgedeckt. Eine besonders gravierende Herausforderung ist die Tatsache, dass etwa 15 Prozent, manche sagen 20 Prozent eines Jahrgangs beim Lesen, Schreiben und Rechnen nicht das Mindestniveau erreichen. Aber die Probleme dominieren das Bild in einer Weise, die destruktiv auf das Bildungssystem zurückwirkt. Denn es gehört auch zur Wirklichkeit, dass sich deutsche Abiturienten im internationalen Vergleich hervorragend behaupten, fast jeder international arbeitende deutsche Hochschullehrer wird das bestätigen können. Die duale Berufsausbildung gilt als ein deutsches Erfolgsmodell par excellence, gerade in den ökonomischen Krisen dieser Jahre. Dennoch wird immer wieder die Mär verbreitet, dass weniger duale Berufsausbildung und mehr Hochschulausbildung einen Fortschritt per se bedeuten. Die Deutungshoheit über die Wirklichkeit von Bildung in Deutschland liegt heute in hohem Maße bei der OECD . Die Maßstäbe sind demzufolge einseitig an ökonomischen Quantitäten orientiert. Besonderheiten der deutschen Bildungslandschaft spielen dabei keine Rolle, die Bildungsdimension jenseits des Ökonomischen ebenso wenig. Es ist wenig überraschend, dass in diesem Schlagzeilentremolo der Blick für die differenzierten Realitäten von Bildung in Deutschland verloren gegangen ist. Die offensive Auseinandersetzung mit diesem Deutungsmonopol gehört zu den Voraussetzungen für die Rückgewinnung von Vertrauen in die deutsche Bildungspolitik. Zweitens: Der Bildungsföderalismus in Deutschland braucht eine politische Revitalisierung. Er ist offenkundig in einer Krise. Die Bürger wollen heute den Bund in erster Linie in der Verantwortung für die Bildung sehen. Das ist nicht völlig überraschend. Auch wenn eine Sicherheitskatastrophe oder ein Lebensmittelskandal die Republik erschüttern, ertönt regelmäßig der Ruf nach dem Handeln des Bundes, unabhängig von der Zuständigkeit. Da

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Bildung im Modus der Dauerkrise wahrgenommen wird, hat sich das gerade in diesem Bereich verfestigt. Dabei geht es gar nicht darum, Zuständigkeiten zu ändern. Die Bürger wollen Problemlösungen. Die Delegitimierung des Bildungsföderalismus geht nicht auf das Verfassungsrecht, sondern auf die Verfassungswirklichkeit zurück. Denn für die meisten Lösungen wird der Bund nicht gebraucht. Die Gewährleistung von innerdeutscher Mobilität für Lehrerinnen und Lehrer oder ein Deutschlandabitur mit länderübergreifenden Aufgaben liegen in der Hand der Länder selbst und ihrer gesamtstaatlichen Verantwortung. Die Schwäche in der Wahrnehmung dieser Verantwortung ist es ganz zuvörderst, die den Bildungsföderalismus in den Augen der Menschen als Kirchturmpolitik erscheinen lässt. Die Realität des Bildungsföderalismus sieht in Schlaglichtern heute allzu oft so aus: Die Länder rufen bei nahezu jeder Problemlage – von der frühkindlichen Bildung bis zu Studienplätzen – zuallererst nach Bundesgeld. Kultusminister sagen offen, dass sie sich ohne das Lockmittel ergänzender Bundesgelder meist im eigenen Kabinett nicht durchsetzen können. Umgekehrt verlangt der Bund für die Öffnung des Portemonnaies politische Mitsprache und haushalterische Rechenschaft. Das ist verständlich, führt aber im Ergebnis zu einer Degeneration des Föderalismus. Man mag die Bildungsverfassung des Grundgesetzes an der einen oder anderen Stelle ändern oder nicht. Entscheidender für die Zukunft des Bildungsföderalismus aber ist eine andere politische Praxis. Eine selbstbewusst wahrgenommene gesamtstaatliche Verantwortung der Länder wird auch die Menschen für diese tragende Idee unserer Staatsorganisation zurückgewinnen können. Drittens: Die Bildungsinhalte brauchen einen höheren Stellenwert, sie sind vom Regime der Zahlen und Strukturen verdrängt worden. Im Vordergrund der bildungspolitischen Aufmerksamkeit in Deutschland stehen in der Regel Leistungsvergleiche und Schulstrukturen. Beides hat Berechtigung, aber beides ist nur ein Ausschnitt. Bildung ist mehr als Beschriftung des Türschildes am Schulgebäude oder der Rangplatz in der Nationalwertung. Die Bildung der Persönlichkeit jedes einzelnen verdient wieder mehr Aufmerksamkeit. Sie hat zu tun mit gutem Unterricht und mit den Inhalten. Dazu gehört nicht nur am Rande die politische Bildung. Ohne Wissen um historische Zusammenhänge oder um Institutionen des Zusammenlebens kommt diese Erziehung zur Demokratie nicht aus. Klaus Schroeder hat jüngst in einer großen Studie der politischen Bildung an Deutschlands Schulen ein Zeugnis ausgestellt, das uns nicht weniger aufrütteln muss als die PISA-Ergebnisse.1 Es zeigt, wie drängend ein neues Bewusstsein für die Inhalte von Bildung für Deutschland ist. Übrigens: Bernhard Vogel hat die Landtagswahl 1979 gewonnen, in Prüm höher als anderswo, trotz Lautsprecherwagen. Insgesamt hat es für die absolute Mehrheit gereicht, nicht trotz, sondern auch wegen der Bildungspolitik. Die Welt von 1979 ist vergangen, in der Eifel und in der deutschen Bildungslandschaft.

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Das als eine Verfallsgeschichte zu deuten und die Vergangenheit zu verklären, würde niemandem ferner liegen als Bernhard Vogel. Geblieben aber sind die Maßstäbe und Überzeugungen einer Politik, die der christlich-demokratischen Idee für ihre Zeit Kontur gab. Deshalb fällt es auch heute nicht schwer zu sagen: „Unser Vogel heißt Bernhard!“

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Klaus Schroeder/Monika Deutz-Schroeder/Rita Quasten/Dagmar Schulze Heuling: Später Sieg der Diktaturen? Zeitgeschichtliche Kenntnisse und Urteile von Jugendlichen. Frankfurt/Main u. a. 2012.

„Nie geraten die Deutschen so außer sich, wie wenn sie zu sich kommen wollen.“ (Kurt Tucholsky) Hans-Joachim Veen Politische Romantik und „innere Einheit“ Wann glauben die Deutschen eigentlich „zu sich zu kommen“, so wie Kurt Tucholsky es sich mit bitterböser Ironie ausmalt? Wohl am ehesten, wenn sie sich ganz großen Gefühlen, großen Bewegungen und großen Ideen hingeben und dabei zu einer großen Einheit verschmelzen können, wenn es nur noch Deutsche und keine Parteien im weitesten Sinne mehr gibt. Nichts hat die Deutschen politisch meines Erachtens so geprägt wie Idealismus und Romantik, mehr noch als die Reformation, deren aufklärerischer Impetus vielen in ihrem Innersten doch nicht entsprach. Nein, im gegenaufklärerischen Irrationalismus der deutschen Romantik fühlten sie sich am innigsten aufgehoben und von ihren Weiterungen führte der Weg bis in den Abgrund des nationalsozialistischen Totalitarismus. Rüdiger Safranski hat noch weitere Dimensionen der politisierten Romantik in seinem Buch: „Romantik – Eine deutsche Affäre“ herausgearbeitet, und dabei dezidiert Carl Schmitt widersprochen, der die „politische Romantik“ ja 1919 begrifflich geprägt hatte. Während für Carl Schmitt die politische Romantik keine spezifisch deutsche Eigenschaft, sondern universal wirkungsmächtig war, ist sie für Safranski, wie ich finde, leider zu Recht, eine sehr deutsche Eigenart. Einig sind sich beide aber darin, dass es gefährlich wird, wenn sich Romantik mit Politik paart, weil romantische Gesinnung die denkbar schlechteste Grundlage für Politik, zumal in einem demokratischen Verfassungsstaat ist. Romantiker neigen zu Extremismen und sie neigen zu großen Gefühlsschwankungen zwischen tiefster Innerlichkeit und Größenwahn. Dafür haben sie die „blaue Blume“ erfunden, der all ihr Sehnen gilt und die wie kein anderes Motiv die Suche der Romantiker nach einem Zentrum, nach einer inneren Einheit, nach harmonischer Innerlichkeit und nach Unendlichkeit verkörpert. Die „blaue Blume“ ist ein Sinnbild für etwas, das mit Vernunft nicht zu fassen ist, das am Ende überhaupt nicht erreichbar ist. Die Suche nach der „blauen Blume“, der undefinierbaren, trägt ihren Sinn in sich selbst. In der Welt der Politik ist das höchst problematisch. Denn Romantiker haben eine Vorliebe für große Bewegungen und ein grenzenloses Harmoniebedürfnis, die auch politisch den viel zitierten deutschen Sonderweg mitgeprägt haben. Wer in Deutschland politisch beeindrucken will, gründet keine Partei, sondern eine Bewegung und zwar eine möglichst radikale, das galt von der deutschen

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Einheitsbewegung des 19. Jahrhunderts über die Jugend- und Wandervogelbewegung, die NS-Bewegung, die studentische Protestbewegung, bis zur Friedens- und Grünen-Bewegung des späten 20. Jahrhunderts und gilt neuerdings für die Piratenbewegung, denn auch sie ist mehr diffuse Bewegung als Partei, um nur einige zu nennen. Um der politischen Korrektheit Genüge zu tun, sei an dieser Stelle betont, dass die chronologische Auflistung der verschiedenen Bewegungen selbstverständlich keinerlei Gleichsetzung derselben bedeuten oder auch nur insinuieren soll. In ihren Bewegungen entpuppen sich die Deutschen als ein Volk der tiefen Unruhe, eines tiefen inneren Engagements, ein Volk mit allen Fähigkeiten emotionaler Erregung und Verwirrung. Auch wenn wir im 19. und über weite Strecken des 20. Jahrhunderts ein Volk ohne Revolution geblieben sind, schloss das die sterilen Aufgeregtheiten der politischen Bewegungen und ein Übermaß an bewegter Unruhe sowohl im geistigen wie im politischen Bereich keineswegs aus. Spätestens seit dem Ende des Ersten Weltkrieges ist Deutschland in Europa sicher das Land der größten Aufgeregtheiten und politischen Extreme geblieben, die sich immer wieder in einem hektischen politischen Aktivismus niedergeschlagen und sich bis heute nicht erschöpft haben. Wilhelm Hennis, mein stets anregender akademischer Lehrer, mit dem ich mich bis heute gerne streite, hat vor mehr als 40 Jahren diese spezifisch „deutsche Unruhe“ pointiert thematisiert, verbunden mit kritischen Studien zur Hochschulpolitik Ende der 60er Jahre und dabei vor dem eigentümlichen „furor teutonicus, der deutschen Wildheit und Besessenheit, unserer Radikalität und Unfähigkeit zum Kompromiss“ beredt gewarnt. Er beklagte, dass die seines Erachtens bedeutendsten politischen Prägungen der Deutschen, Romantik und Reformation jene bedächtige Vernünftigkeit, jenes Maß und Mitte vermissen lassen, die in der Tradition des Aristoteles und des Katholizismus Grundbestandteile der abendländischen Philosophie gewesen sind. Der nüchterne Pragmatismus, der nach 1945 die deutsche Politik unter Konrad Adenauer, auch Helmut Schmidt, Helmut Kohl, Gerhard Schröder wie auch Angela Merkel prägte und prägt, ist von weiten Teilen der deutschen Gesellschaft, namentlich des Bildungsbürgertums und der Intellektuellen nie akzeptiert worden, Politik musste immer etwas Großes, Unbedingtes und Bewegendes zum Ziel haben, das sich mit einer guten Institutionenordnung und ihrer Bewahrung mit einer Politik des Maßes und der Mitte nicht begnügte. Aber gilt diese Diagnose wirklich noch heute, nach der Wiedervereinigung, die ja keineswegs mit nationalem Enthusiasmus und dem Wiederaufleben einer romantisierten Großmannssucht einher ging? Sind die wiedervereinigten Deutschen nicht endlich politisch klug und bescheiden geworden, angesichts der Fülle der Probleme und der wachsenden Verantwortung, die ihnen seither in Europa zufällt? Hellhörig, nein, misstrauisch wurde ich, als der Begriff der sogenannten „inneren Einheit“ in den frühen 1990er Jahren zu grassieren begann. Er klang

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tiefgründig, zog vielerlei Erwartungen und Sehnsüchte auf sich und kündigte ein fernes schönes Ziel an. Fast allen ging und geht er leicht über die Lippen. Welche Art politischen Denkens kam hier zum Vorschein? Die nur „äußere Einheit Deutschlands“, immerhin die Wiedervereinigung unter der freiheitlichdemokratischen Verfassungsordnung des Grundgesetzes, war den Deutschen offenbar nicht genug. Die Legalität des Beitritts der neuen Länder musste von der höheren Legitimität eines inneren Zusammenwachsens überboten werden. Aber wenn die deutsche Innerlichkeit ins Spiel kommt, beginnen bei mir die Alarmglocken zu schrillen. Das derart beschworene innere Zusammenwachsen muss man sich offenbar als einen sehr langen Prozess vorstellen, an dessen Ende eines fernen Tages dann die „innere Einheit“ stehen soll. Allerdings ist immer völlig unklar geblieben, auf welchen Zustand sie abzielt, welche Bedingungen alle erfüllt sein müssen, um sie zu erreichen und wann mit der „Vollendung der Einheit“ zu rechnen ist? Mehr als 20 Jahre nach der Wiedervereinigung sind wir demnach noch ziemlich weit entfernt von der „inneren Einheit“. Wir sind zwar vereint, aber noch nicht wirklich eins. In der Zwischenzeit werden in zahllosen empirischen Studien und ökonomischen und mentalen Vergleichen wiederholt die diversen Unterschiedlichkeiten zwischen West- und Ostdeutschen beklagt (und politisch instrumentalisiert), die der „inneren Einheit“ noch entgegenstehen, an deren Abbau also gearbeitet werden muss. Wendet man die vielen Defizite an „innerer Einheit“ einmal ins Positive, dann laufen sie in der Summe, mehr implizit als explizit, in der Tat auf das Ideal der Übereinstimmung aller politischen Werthaltungen, aller Weltanschauungen, aller Mentalitäten und Vorurteile, aller Sympathien und Antipathien, aller Verhaltensweisen und Empfindungen hinaus. Die „innere Einheit“ scheint erst dann wirklich vollendet zu sein, wenn die totale Gleichartigkeit aller in allem, romantisch formuliert, im völligen Gleichklang der Seelen und Herzen, des Denkens, Fühlens und Handelns gegeben ist. Die „innere Einheit“ wird zur „blauen Blume“ der neuen deutschen Einheitsbewegung, voller Sehnsucht gesucht und nie gefunden. Man kann sie auch als eine Wiederkehr des deutschen Sonderwegs bezeichnen, nach innen gerichtet und implizit antieuropäisch. Italiener, Briten, Spanier, sogar Franzosen akzeptieren ihre zum Teil großen regionalen Unterschiede und sind bereit, sie leidvoll zu ertragen, nur die Deutschen wollen eine flächendeckende und umfassende „innere Einheit“, obwohl ihre föderale Tradition eigentlich dagegen steht. Zwar wird das Ideal einer neuen, total homogenen Gesellschaft nirgendwo formuliert, es ist allerdings der logische Umkehrschluss aus der Konstatierung ihrer Defizite. Die Einheit total mag von Niemandem bewusst angestrebt werden. Aber zweifellos müssen wir, von politischer Romantik und Totalitarismus mehrfach geschädigten Deutsche besonders empfindlich reagieren, wenn Tendenzen zu einem neuen deutschen Gemeinschaftsmythos am Horizont auftauchen, die an die Volksgemeinschaft des NS-Staates und das Kollektiv des DDR-Sozialismus

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erinnern. Denn nicht die totale Gleichheit, sondern die Freiheit und Gleichheit der Ungleichen bestimmt das Menschenbild und das Gesellschaftsverständnis des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland. Warum genügt uns die empiriegesättigte Zustimmung der großen Mehrheit der West- und Ostdeutschen zum Grundgesetz, ihren Grundwerten, ihrer Gewaltenteilung, ihrer Institutionenordnung, ihrem Pluralismus und ihren legitimatorischen Spielregeln der westlichen Demokratie eigentlich nicht? Warum insistieren wir so auf den unbestreitbaren Differenzen zwischen Wessis und Ossis, ökonomisch, mental, politisch-kulturell und in ihren Wertorientierungen? Warum überfrachten wir die „innere Einheit“ so heillos, dass sie uns wegführt von den Realitäten einer pluralistischen, hochdifferenzierten, pragmatischen und freiheitlichen Gesellschaft mit Verfassungskonsens und sich zur Gemeinschaft verdichtet? Ständig werden die tiefen Unterschiede in den mentalen Prägungen beschworen, doch ist in der empirischen Sozialforschung bis heute nicht systematisch erforscht, was denn „westliche“ Mentalität und was „östliche“ Mentalität ist. Die wenigen Untersuchungen zur Mentalitätsforschung in ländlichen Gemeinden hüben und drüben (an der Universität Bayreuth) haben vielmehr ein beträchtliches Maß altdeutsch tradierter mentaler Gemeinsamkeiten zu Tage gefördert, die noch aus der Vorkriegszeit stammen. Demnach haben die 40 Jahre der ideologischen Indoktrination in der DDR relativ wenig bewirkt im Sinne der Erziehung zum sozialistischen Menschen. Aber auch der Individualismus und der Pluralismus moderner Gesellschaftsentwicklung sind in den ländlichen Gemeinden des Westens wie des Ostens bis heute nicht voll durchgedrungen. Der Mentalitätsbegriff, soviel scheint klar, ist immer weniger geeignet, die offenen und wandelbaren Strukturen moderner Gesellschaften zu erfassen. Sicher gibt es Residuen unterschiedlichster Art in den verschiedenen Winkeln und Ecken Deutschlands, zählebiger in ländlichen Räumen, oberflächlicher in großstädtischen und zwar in West und Ost und Nord und Süd. Aber sowenig es die ostdeutsche Mentalität gibt, sowenig gibt es die westdeutsche. Und wie nachhaltig sie jeweils noch prägen, ist reine Spekulation. In erster Linie agieren heute Individuen und Gruppen, die sich reflexiv und emotional mit ihrer Umwelt auseinandersetzen und dies in individuelles und gesellschaftliches Handeln umsetzen. Permanente Lern- und Anpassungsprozesse bestimmen das Leben in der offenen Gesellschaft sicher stärker als ältere mentale Prägungen. Aber selbst wenn es sie denn gäbe, wieso stünden sie der ominösen „inneren Einheit“ entgegen? Das können sie meines Erachtens nur dann, wenn es sich um eindeutig antidemokratische, intolerante und antipluralistische Denk- und Verhaltensweisen handelt, weil diese dem Grundgesetz widersprechen. Außerdem müssten diese Verhaltensweisen von beträchtlichen gesellschaftlichen Gruppen geteilt werden. Denn dann würde sich die politische Kultur in Deutschland in antidemokratisch-autoritäre Richtung verändern. Hiervon kann aber gegenwärtig weder im östlichen noch im westlichen Deutschland die Rede sein.

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Wenn wir also heute über „innere Einheit“ nachdenken, dann kann das nur auf der Grundlage einer freiheitlich-pluralistischen Gesellschaftsordnung und des demokratischen Verfassungsstaats geschehen. Wenn sie diese Grenzen nicht akzeptieren, geraten die Deutschen in der Tat „außer sich“, wie Tucholsky in seinen sogenannten „Schnipseln“ in der „Weltbühne“ am 26. Mai 1931 hellsichtig prognostizierte, und zwar in ihrer Eigenschaft als Bürger eines Verfassungsstaats, wie ihn Dolf Sternberger eindringlich beschrieb. Sie geraten außer sich, wenn Ihnen die freiheitlich-demokratischen Institutionen als politische Lebensgrundlage nicht genügen, weil der „Fetzen Papier namens Verfassung“ ihnen zu banal erscheint, weil Sie nach dem Unbedingten und Unendlichen und Absoluten des romantischen Ideals streben und sich einer inneren Bewegung ganz hingeben – um damit den Boden der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Vernunft unter Ihren Füßen zu verlieren. Tatsächlich haben wir die „innere Einheit“ längst, in dem, was sie legitimerweise nur bedeuten kann: den Konsens über die Wertegrundlagen und Grundentscheidungen des Grundgesetzes und den gemeinsamen Willen der Ost- und Westdeutschen in diesem Verfassungsstaat zusammenleben, eine Nation sein zu wollen. Hieran hat Bernhard Vogel als Thüringer Ministerpräsident abseits aller politischen Romantik mit großer Klugheit, Liberalität und Toleranz, ganz ohne missionarischen Eifer in der Diaspora demütig, beharrlich und mit großem Herzen viele Jahre mit allen Kräften erfolgreich mitgewirkt. Die Lehren seines großen Lehrers Dolf Sternberger mögen ihn dabei mit geleitet haben. In jedem Fall gebührt ihm großer Dank für seinen Beitrag zur politischen Integration der Deutschen in den demokratischen Verfassungsstaat! Grundkonsens und Identifikation mit dem vereinten Deutschland, also der nachhaltige Wille zur Einheit als republikanisches „Plébiscite de tous les jours“ scheinen mir am Ende die notwendigen, aber auch hinreichenden Kriterien für „innere Einheit“ zu sein. Jede Ausweitung dieses Minimalkonsenses würde die legitime gesellschaftliche Pluralität und Freiheitlichkeit, die politische, gesellschaftliche und kulturelle Lebensluft der Bundesrepublik unzulässig einschnüren. Mehr Einheit brauchen wir nicht, mehr Einheit ginge zu Lasten der Offenheit des politischen Prozesses und der zunehmenden Pluralisierung einer freiheitlichen Gesellschaft. Die Vereinigung hat uns unübersehbar in eine neue Größenordnung gesellschaftlicher, ökonomischer und politischer Vielfalt katapultiert. Deutschland ist in der Tat östlicher, protestantischer, konfessionsloser, linker, kulturell reicher und vieles mehr geworden, homogener sicher nicht. Vor allem aber hat es sich als westliche Demokratie stabilisiert und strahlt stabilisierend auf die Mitte Europas aus. Dies sollte uns mit Genugtuung, oder nach Joachim Gauck mit Stolz, erfüllen und nicht mit der selbstquälerischen Suche nach der „blauen Blume“ einer ominösen „inneren Einheit“, die nur ein verkappter Rückfall in antipluralistische und illiberale Volkstümelei ist – in aller feuilletonistischer Zurückhaltung formuliert.

„Erst das Land, dann die Partei, dann die Person.“ (Erwin Teufel) Hans-Jochen Vogel Auch die Überschrift dieses Beitrags gibt ein Zitat wieder. Es stammt von Erwin Teufel und ist vom Jubilar in seinen Reden häufig verwandt worden. Sein Wortlaut artikuliert eine Forderung, die sich in besonderer Weise an diejenigen richtet, die politische Verantwortung tragen. Aber sie gilt darüber hinaus ganz allgemein. Damit will ich mich im Folgenden auseinandersetzen. Allerdings möchte ich vorausschicken, dass der Jubilar selbst dieser Forderung ein Leben lang gerecht geworden ist. Als derjenige, der ihn von allen an dieser Festschrift Beteiligten am längsten – natürlich vom Tag seiner Geburt an – kennt, erlaube ich mir dieses Urteil und verbinde es mit den besten Glückwünschen. 1. In dem Zitat steckt eine ganze Reihe von Gedankengängen. Im Kern geht es darum, dass man das Gemeinwohl – und dieser Begriff verallgemeinert den Begriff des „Landes“ – nicht deshalb beeinträchtigen darf, weil man sich davon einen Vorteil für eine – zumeist wohl seine – Partei oder für sich selbst verspricht. Das Gemeinwohl steht hier also als Orientierungsmaßstab für das eigene Handeln an erster Stelle. Ebenso wenig darf man seiner Partei schaden, weil das einem selber nutzt. Anders ausgedrückt: Man muss dem Gemeinwohl im konkreten Fall auch dann dienen, wenn es der Partei oder dem Betreffenden selbst einen Nachteil zufügt. Und das gilt dann grundsätzlich auch im Verhältnis des Einzelnen zu seiner Partei. Unter Gemeinwohl ist in diesem Zusammenhang zunächst einmal das Wohlergehen und die Wohlfahrt des eigenen Gemeinwesens, also der eigenen Stadt, des eigenen Landes und der Bundesrepublik insgesamt – also letztlich der dort jeweils ansässigen Mitmenschen – zu verstehen. Aber Entscheidungen, die für das Wohlergehen dieser Mitmenschen wichtig sind, können in einer zunehmenden Zahl von Fällen gar nicht mehr allein auf der nationalen Ebene getroffen werden. Sie erfordern vielmehr ein Handeln auf der europäischen und mehr und mehr sogar auf der globalen Ebene. Die Eurokrise und die drohende Klimakatastrophe sind dafür die aktuellsten Beispiele. Die Abwägung zwischen den verschiedenen Interessen muss deshalb insoweit auch diese Ebenen mit einbeziehen. Und der aus dem Angelsächsischen überlieferte Grundsatz „right or wrong – my country“ kann – abgesehen davon, dass er dem Völkerrecht widerspricht – hier schon deswegen keine Geltung beanspruchen.

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Noch etwas setzt das Zitat stillschweigend voraus. Nämlich die Einsicht, dass im Grunde Jeder und Jede verpflichtet ist, sich für das Gemeinwesen zu engagieren. Das steht zwar nicht ausdrücklich im Grundgesetz. Aber es ergibt sich aus der Wertordnung, die ihm zugrunde liegt. Und es ergibt sich auch aus unserer jüngeren Geschichte. Denn die Republik von Weimar ist am Ende daran gescheitert, dass sie nur noch von einer Minderheit verteidigt wurde. Das hat dem NS -Gewaltregime zur Macht verholfen und die furchtbaren Verbrechen, die es dann begangen hat, erst möglich gemacht. Nicht umsonst hat übrigens der InterAction Council – das ist eine internationale Vereinigung älterer Staatsmänner, der auch Helmut Schmidt angehört – vor einiger Zeit in einer feierlichen Erklärung dargelegt, dass es nicht nur Menschenrechte, sondern auch allgemein verbindliche Menschenpflichten gibt, und diese in 19 Artikeln näher beschrieben. Gegen die Forderung des Zitats verstößt also schon derjenige, der sich aus Gleichgültigkeit, aus Bequemlichkeit oder aus Egoismus nicht um das Gemeinwohl kümmert und seine Mitmenschen nur aus eigenem Vorteil ausnutzt. Die häufig gebrauchte Ausrede, man könne ja doch nichts tun, die Politik tue ja doch, was sie wolle, greift demgegenüber nicht. Immerhin ist die Energiewende schließlich auch gerade deshalb zustande gekommen, weil sich in einem langen Prozess eine deutliche Mehrheit unseres Volkes nachdrücklich gegen die weitere Nutzung der Atomkraft gewehrt, das heißt aber, sich ganz konkret engagiert hat. Auf der Landesebene und der kommunalen Ebene steht überdies bundesweit das Instrument der Bürgerinitiative und des Bürgerentscheids zur Verfügung, von dem zunehmend Gebrauch gemacht wird. Erfreulicherweise mehren sich in jüngster Zeit die Stimmen, die dafür eintreten, dieses Instrument auch auf der Bundesebene einzuführen. Das heißt nicht, dass sich jeder in einer Partei engagieren muss, obwohl sich der, der die Parteien kritisiert, fragen sollte, warum er nicht selbst bereit ist, an der Verbesserung der von ihm kritisierten Zustände mitzuarbeiten. Aber politische Mindestanforderungen sollte jeder erfüllen. So sollte er zum Wählen gehen, Neo-Naziparolen widersprechen, gleich, wo sie geäußert werden, von Gewalttätern Bedrängten helfen, soweit das in seinen Kräften steht, und sich ehrenamtlich für seine Mitmenschen engagieren. Wie eingangs schon erwähnt, gilt die Forderung des Zitats nicht nur für den politischen Bereich. Sein Wortlaut könnte etwa für die Wirtschaft und für die Medien auch so abgewandelt werden: Erst das Land, dann das Unternehmen, dann die Person. Oder: erst das Land, dann die Auflage, dann die Person.

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2. Welche Spannungsverhältnisse können sich nun aus diesen Grundsätzen ergeben? Das soll an Beispielen erörtert werden. A. Zunächst einmal kann die Wahrung des Gemeinwohls eine Partei dazu zwingen, Entscheidungen herbeizuführen oder mitzutragen, die ihre Umfragewerte sinken lassen oder zu Verlusten bei den nächsten Wahlen führen. Das war für die SPD bei der Agenda 2010 der Fall. Dass ihre Kernelemente fühlbar zu der günstigen Arbeitsmarkt- und Wirtschaftsentwicklung gerade in der Zeit einer europaweiten Krise beigetragen haben, ist heute fast unbestritten. Ebenso unstreitig und von vorneherein nicht auszuschließen war ihr ungünstiger Einfluss auf den Stimmenanteil der SPD bei der Bundestagswahl 2009. Andererseits hat die Union Anfang 2011 für sich innerhalb kürzester Frist den bis dahin abgelehnten Ausstieg aus der Kernenergie vollzogen. Wie sich diese Entscheidung auf die nächsten Wahlen auswirken wird, lässt sich nicht sicher vorhersagen. Auch gehen die Meinungen darüber auseinander, ob dabei mehr an das Gemeinwohl oder mehr an drohende Stimmenverluste im Falle der Beibehaltung des bisherigen energiepolitischen Kurses gedacht wurde. Jedenfalls kam auf diese Weise eine Entscheidung zustande, die dem Gemeinwohl gerecht wurde und dabei auch die Verärgerung eines Teils der Anhängerschaft und die Möglichkeit von Stimmenverlusten in Kauf nahm. Eine Entscheidung, die übrigens auf der Regierungs- und Parlamentsebene gefasst wurde, ohne dass zuvor ein ihr entgegenstehender Parteitagsbeschluss aufgehoben worden wäre. Das sind sozusagen positive Beispiele. Unschwer ließen sich auch negative Beispiele anführen. Genügen möge hier der Hinweis auf die Absenkung der Mehrwertsteuer für Hotelübernachtungen nach dem Koalitionswechsel im Jahr 2009. Sie lagen im besonderen Interesse einer der beiden Regierungsparteien. Dass sie dem Gemeinwohl in einer Zeit widersprach, in der die Höhe der öffentlichen Schulden intensiv diskutiert wurde, war schon damals herrschende Meinung. Bemerkenswerterweise ging die Rechnung der betreffenden Partei nicht auf. Im Gegenteil begann damit ihr Abstieg in den Meinungsumfragen. B. Kompliziert ist das Spannungsverhältnis zwischen dem Einzelnen, seiner Partei und dem Gemeinwohl. Sicher gibt es Situationen, in denen der Einzelne aus egoistischen Gründen zum Nachteil des Gemeinwohls handelt. In der Politik, indem er seine Macht und seinen Einfluss missbraucht, um sich Vorteile zu verschaffen. Oder um seine öffentliche Präsenz zu steigern, weil dies sein

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Selbstwertgefühl verstärkt. Nicht die Macht oder das Streben nach öffentlicher Präsenz ist dabei das Problem. Denn beides braucht ein Politiker, wenn er seine – dem Gemeinwohl nützlichen – Ziele realisieren will. Sondern der Missbrauch und der mangelnde Widerstand gegen die Versuchung der Macht. Es gibt aber auch hier positive Beispiele. Zu denken ist an die Fälle, in denen sich Politiker, die in einem öffentlichen Amt bereits einen maximalen Versorgungsanspruch erworben haben, nicht für den Übergang in eine private Tätigkeit , sondern für ein anderes öffentliches Amt entscheiden, obwohl die Bezüge aus diesem Amt – korrekterweise – auf die Versorgungszahlungen angerechnet werden, die privaten Einkünfte hingegen nicht. Demgegenüber sind Fälle, in denen etwa Manager großer Unternehmen in ein öffentliches Amt wechseln und damit ihre Einkünfte um bis zu 85 Prozent vermindern, in den letzten Jahren und sogar Jahrzehnten kaum bekannt geworden. Bleibt das Verhältnis des Einzelnen zu seiner Partei. Hier kann die für Abgeordnete in Art. 38 Grundgesetz ausdrücklich gewährleistete Gewissens- und damit auch Abstimmungsfreiheit durchaus mit dem Interesse der Partei an geschlossenem Auftreten und deshalb insbesondere mit dem sogenannten Fraktionszwang kollidieren. Ein solcher Zwang findet sich übrigens in keiner Parteisatzung und keiner Fraktionsgeschäftsordnung. er besteht aber in der Realität darin, dass ein „Abweichler“ mit einer Minderung seines Einflusses und unter Umständen damit rechnen muss, für die nächste Wahlperiode nicht wieder aufgestellt zu werden. Notwendig ist daher eine besonders sorgfältige Abwägung, bei der von der Gewissensfreiheit auszugehen ist. Dabei kann aber ins Gewicht fallen, dass die abweichende Stimmabgabe dem Wahlprogramm widersprechen würde, auf Grund dessen der Betreffende selbst gewählt worden ist. Oder dass derartige Stimmabgaben einer entsprechenden Zahl von Abgeordneten einer Regierungsfraktion zu einer Niederlage der Regierung und eventuell sogar zu deren Rücktritt führen könnten. Dann müssen die Betreffenden dartun, dass ihre Gewissensgründe so schwer wiegen, dass sie auch eine solche Folge rechtfertigen. Noch etwas ist zu bedenken, nämlich die Erfahrung, dass Widerspruch gegen die eigene Partei von den Medien in aller Regel sogleich aufgegriffen wird und den öffentlichen Bekanntheitsgrad des Widersprechenden erheblich erhöht. Dieser Versuchung wird gelegentlich durchaus nachgegeben. Ein weit verbreitetes Vorurteil besagt, der sogenannte Fraktionszwang sei eine alltägliche Regel, ein abweichendes Stimmverhalten die absolute Ausnahme. Tatsächlich gibt es aber bei den Abweichungen im Bundestag in den meisten Fraktionen immer wieder Gegenstimmen aus dem eigenen Lager. Und das auch bei substantiellen Entscheidungen. So haben etwa im Zuge des deutschen Einigungsprozesses abweichend von ihren Fraktionen 25 SPD -Abgeordnete gegen die Währungsunion und 13 Unionsabgeordnete sogar gegen den Einigungsvertrag gestimmt. Sieben von ihnen riefen in diesem Zusammenhang

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sogar – erfolglos – das Bundesverfassungsgericht an. Auch bei den Bundestagsbeschlüssen vor Kurzem zur Rettung des Euro gab es nicht nur in den Regierungsfraktionen abweichende Voten. 3. Versucht man eine Bilanz zu ziehen, dann ist den Forderungen des Zitats in der bisherigen Geschichte der Bundesrepublik bei allen bedenklichen Verstößen, an denen es nicht mangelte, insgesamt überwiegend entsprochen worden. Es bedarf großer Anstrengungen, dass es auch in Zukunft so bleibt. Dazu gehört, immer wieder bewusst zu machen, dass unserem Grundgesetz eine Wertordnung zugrunde liegt, an der wir uns alle orientieren sollten.

Lebenslauf

19.12.1932 1953 1953 – 1960

1956 und 1961 – 1967 1960 1961 – 1967 1963 – 1965 1965 – 1967 1967 – 1975 1967 – 1976 1968 – 1977 1970 – 1971 1970 – 1976 1971 – 1988 1972 – 1976 1974 – 1988 1975 – 2006 1976 – 1988 1976 – 1988 1976 – 1977 1979 – 1982 1979 – 1992 1980 – 1984 1980 – 1993 1981 – 1982

geboren in Göttingen Abitur am Maximilian-Gymnasium in München Studium in München und Heidelberg; Promotion zum Dr. phil. bei Dolf Sternberger mit einer Dissertation zum Thema „Die Unabhängigen in den Kommunalwahlen westdeutscher Länder“ Tätigkeit in der Jugend- und Erwachsenenbildung am Heinrich-Pesch-Haus in Mannheim Eintritt in die CDU (Kreisverband Heidelberg) Lehrbeauftragter am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Heidelberg Mitglied des Stadtrats von Heidelberg Mitglied des Deutschen Bundestages für den Wahlkreis Neustadt-Speyer Vorsitzender des Bezirksverbands Pfalz (1967 – 1969) bzw. Rheinhessen-Pfalz (1969 – 1975) der CDU Minister für Unterricht und Kultus des Landes Rheinland-Pfalz Präsident der Deutsch-Französischen Gesellschaft, Mainz Vorsitzender der Kultusministerkonferenz Vorsitzender bzw. stellvertretender Vorsitzender (im jährlichen Wechsel) der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung Mitglied des Landtags von Rheinland-Pfalz Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken Vorsitzender des Landesverbandes Rheinland-Pfalz der CDU Mitglied des Bundesvorstands der CDU Ministerpräsident des Landes Rheinland-Pfalz Vorsitzender der Rundfunkkommission der Ministerpräsidenten Präsident des Bundesrates Bevollmächtigter der Bundesrepublik Deutschland für kulturelle Angelegenheiten im Rahmen des Vertrags über die deutsch-französische Zusammenarbeit Vorsitzender des Verwaltungsrats des Zweiten Deutschen Fernsehens sowie stv. Vorsitzender (1992 – 2007) Präsident der Schutzgemeinschaft Deutscher Wald e. V. Vorsitzender der Jerusalem-Foundation Deutschland e. V. Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz

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1981 – 1992 1987 – 1988 1989 – 1995 1992 – 2003 1993 – 2000 1994 – 2004 1996 – 1997 2001 – 2009 seit 2004 seit 2010 2012

Lebenslauf

Vorsitzender des Ausschusses „Europäische Politik“ der Europäischen Demokratischen Union (EDU) Präsident des Bundesrates Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. Ministerpräsident des Freistaates Thüringen Vorsitzender der CDU Thüringen Mitglied des Landtags von Thüringen Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. Ehrenvorsitzender der CDU Thüringen Ehrenvorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. Ernennung zum Gastprofessor am Institut für Politikwissenschaften der NRW School of Governance an der Universität Duisburg-Essen Ehrungen

1970 1975 1976 1977 1978 1980 1981 1983 1984

1988 1990 1993 1994

Kommandeur des Ordens der Palmes académiques (Frankreich) Großkreuz des Gregorius-Ordens (Vatikan) Großes Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland Großkreuz des Ordens der Eichenkrone (Luxemburg) Großkreuz des Ordens von Saint Michael und Saint George (Großbritannien) Großes Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband der Bundesrepublik Deutschland Großoffizier des nationalen Verdienstordens (Frankreich) Großoffizier des nationalen Ordens der Ehrenlegion (Frankreich) Grand Officier de L’Ordre National des Mille Collines (Ruanda) Großkreuz der Bundesrepublik Deutschland Medien- und Fernsehpreis „Bambi“ Ehrenmedaille der Stadt Speyer Großes Goldenes Ehrenzeichen am Bande für Verdienste um die Republik Österreich Verdienstorden von Rheinland-Pfalz Orden 2. Klasse der Aufgehenden Sonne mit Schulterband (Japan) Europamedaille des Europäischen Parlaments Großkreuz des Königlich Norwegischen Verdienstordens

Lebenslauf

1995 1996 1997 1998 2002 2003 2004 2005

2007 2009 2010 2012

Ehrensenator der Universität Kaiserslautern Ehrenbürger der Universität Trier Großkreuz des Leopold-II-Ordens (Belgien) Großkreuz des Phönix-Ordens (Griechenland) Cavaliere di Gran Croce (Italien) Großkreuz des Ordem do Infante Dom Henrique (Portugal) Ehrenbürgerrecht der Stadt Speyer Ehrendoktor der Catholic University of America, Washington, D. C. Ehrendoktor der Katholischen Universität Lublin Ernennung zum Professor durch den Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg Ehrendoktor der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften, Speyer Thüringer Verdienstorden Peter-Altmeier-Medaille Großer Tiroler Adler-Orden Peter-Wust-Preis Leibniz-Ring Hannover Oswald von Nell-Breuning-Preis der Stadt Trier Brückenpreis der Stadt Regensburg Simon-Snopkowski-Ehrenpreis

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Publikationen 2007 – 2011

1. Einzelveröffentlichungen 2007 At the Centre: Human Dignity. Christian Responsibility as a Basis for the Practice of Politics. Christian Ethics as a Guide. Ed. by Bernhard Vogel. Publ. by the Konrad Adenauer Foundation. Sankt Augustin 2007. (Originaltitel: Im Zentrum: Menschenwürde, 2006) Bernhard Vogels Thüringer Kaleidoskop. Eine bunte Sammlung wichtiger, unterhaltsamer und kurioser Informationen. Hg. und zusammengestellt mit Christine Lieberknecht, Michael Krapp und Otto Preu. Stuttgart 2007. Centre – žmogaus orumas. Krikščioniškąja atsakomybe grindžiama politiné veilka krikščioniškoji etika kaip orientavimosi priemoné. [Konrad-Adenauer Stiftung e. V.] Bernhard Vogel (Ren.). In Zusammenarbeit mit Antanas Gailius und Nerija Putinaité. Vilnius 2007. (Originaltitel: Im Zentrum: Menschenwürde, 2006) Deutschland aus der Vogel-Perspektive. Eine kleine Geschichte der Bundesrepublik. Bernhard Vogel und Hans-Jochen Vogel. 2. Aufl. Freiburg / Breisgau 2007. u. ö. Good Governance. Gute Regierungsführung im 21. Jahrhundert. Hg. von Rudolf Dolzer, Matthias Herdegen, Bernhard Vogel. Freiburg / Breisgau 2007. A középpontban: az emberi méltóság. A keresztény felelősségben gyökerező politikai cselekvés. A keresztény etika mint orientációs segitség. [Konrad-Adenauer Stiftung e. V.]. Bernhard Vogel (szerk). Budapest 2007. (Originaltitel: Im Zentrum: Menschenwürde, 2006) Laudatio. Verleihung des Kaiser-Otto-Preises 2009 an Władysław Bartoszewski. 7. Mai 2009 [Online-Ausgabe: http://www.kas.de/upload/dokumente/2009/05/090507_Magedeburg_Laudatio.pdf]. Parlamentarische Arbeit, politische Kultur und das christliche Verständnis vom Menschen. (Schriftenreihe zu Grundlagen, Zielen und Ergebnissen der parlamentarischen Arbeit der CDU-Fraktion des Sächsischen Landtages 46). Dresden 2007. Polen und Deutsche. Nachbarn, Partner, Freunde. Gemeinsame Werte als Grundlage für die Partnerschaft = Polacy i Niemcy: sąsiedzi, partnerzy, przyjaciele. Wspólne wartości podstawą partnerstwa. Konrad-Adenauer-Stiftung in Polen, Redaktion: Stephan Raabe. Warschau 2007. Politik, Kommunikation, Kultur. Festschrift für Wolfgang Bergsdorf. Hg. von Bernhard Vogel, Dietmar Herz und Marianne Kneuer. Paderborn 2007. Tulipunktis: inimväärikus. Kristlikust vastutusest kantud poliitika. Kristlik eetika kui orientatsioonitugi. [Konrad-Adenauer Stiftung e. V.]. Bernhard Vogel (väljaandja). [Tallinn] 2007. (Originaltitel: Im Zentrum: Menschenwürde, 2006) „Vom Rechte, das mit uns geboren ist“. Aktuelle Probleme des Naturrechts. Hg. von Wilfried Härle und Bernhard Vogel. Freiburg / Breisgau 2007. Werte schaffen. Vom Zweck der Politik in Zeiten der Globalisierung. Hg. von Josip Jelenic und Bernhard Vogel. Freiburg / Breisgau 2007.

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Publikationen

2008 Begründung von Menschenwürde und Menschenrechten. Hg. von Wilfried Härle und Bernhard Vogel. Freiburg / Breisgau 2008. Medizin zwischen Humanität und Wettbewerb. Probleme, Trends und Perspektiven. Beiträge des Symposiums vom 27. bis 30. September 2007 in Cadenabbia. Hg. von Volker Schumpelick und Bernhard Vogel. Freiburg / Breisgau 2008. Politische Kultur in den neuen Ländern. Herausforderungen und Perspektiven. Hg. von Bernhard Vogel. Sankt Augustin 2008. (Im Plenum) [Online-Ausgabe: http://www.kas.de/wf/ doc/kas_14680-544-1-30.pdf]. Preis Soziale Marktwirtschaft 2007. Arend Oetker: Künstler unter Unternehmern! Hg. von Bernhard Vogel. Sankt Augustin 2008. (Im Plenum) [Online-Ausgabe: http://www.kas. de/wf/doc/kas_14455-544-1-30.pdf]. Was eint uns? Verständigung der Gesellschaft über gemeinsame Grundlagen. Hg. von Bernhard Vogel. Freiburg / Breisgau 2008. 40 Jahre 1968. Alte und neue Mythen – Eine Streitschrift. Hg. von Bernhard Vogel und Matthias Kutsch. Freiburg / Breisgau 2008.

2009 Dreißig Thesen zur deutschen Einheit. Hg. von Dagmar Schipanski und Bernhard Vogel. Freiburg / Breisgau 2009. Preis Soziale Marktwirtschaft 2008. Peter Wichtel: Für eine Mitbestimmung mit Augenmass! Hg. von Bernhard Vogel. Sankt Augustin 2009 [Online-Ausgabe: http://www.kas.de/wf/ doc/kas_16989-544-1-30.pdf]. Reden und Texte 2003 bis Juni 2009. 9 Bde. Zusammengestellt von Bernd Löhmann und Florian Weitzker. Berlin 2009. Standort: Neue Länder. Politik – Innovation – Finanzen. Hg. von Bernhard Vogel. (Im Plenum). Sankt Augustin 2009 [Online-Ausgabe: http://www.kas.de/wf/doc/kas_17197544-1-30.pdf]. Volkskrankheiten. Gesundheitliche Herausforderungen in der Wohlstandsgesellschaft. Beiträge des Symposiums vom 4. bis 7. September 2008 in Cadenabbia. Hg. von Volker Schumpelick und Bernhard Vogel. Freiburg / Breisgau 2009. W centrum: godność człowieka. Działalność polityczna na gruncie odpowiedzialności chrześcijańskiej. Etyka chrześcijańska jako drogowskaz. [Konrad-Adenauer Stiftung e. V.] Bernhard Vogel (wyd.). Kielce 2009. (Originaltitel: Im Zentrum: Menschenwürde, 2006)

2010 Bürokratiekostenabbau in Deutschland. Entstehung, Praxis und Perspektiven. Zur Geschichte des Standardkostenmodells in Deutschland und den Möglichkeiten seiner Ausweitung auf die öffentliche Verwaltung am Beispiel der Kommunen. Hg. von Norbert Röttgen und Bernhard Vogel. Baden-Baden 2010. Christliche Demokratie: Grundsätze und Politikgestaltung. Handbuch für die europäische und internationale Zusammenarbeit der Konrad-Adenauer-Stiftung. Red.: Karsten Grabow, Fachberatung: Bernhard Vogel, Hanns Jürgen Küsters u. a. Sankt Augustin 2010. (Engl.

Publikationen

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Version 2011: Christian Democracy: Principles and Policy-Making) [Online-Ausgabe: http://www.kas.de/wf/doc/kas_21408-544-1-30.pdf]. Innovationen in Medizin und Gesundheitswesen. Beiträge des Symposiums vom 24. bis 26. September 2009 in Cadenabbia. Hg. von Volker Schumpelick und Bernhard Vogel. Freiburg / Breisgau 2010. Preis Soziale Marktwirtschaft 2009. Eva Mayr-Stihl und Hans Peter Stihl: Geschwister, Familienunternehmer, Weltmarktführer. Hg. von Bernhard Vogel. Sankt Augustin 2010, S. 13 – 18. [Online-Ausgabe: http://www.kas.de/wf/doc/kas_19848-544-1-30.pdf?100609140610]. 40 Jahre Universität Trier. „Wie alles begann: Die Gründung der Universität Trier-Kaiserslautern vor 40 Jahren“. Festvortrag von Ministerpräsident a. D. Professor Dr. Bernhard Vogel, Ehrenvorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung 18. Mai 2010 (Reden an der Universität). Trier 2010.

2011 Medizin nach Maß. Individualisierte Medizin – Wunsch und Wirklichkeit. Hg. von Volker Schumpelick und Bernhard Vogel. Freiburg / Breisgau 2011.

2. Beiträge in Zeitschriften und Sammelwerken 2007 Dank. Auszug aus seiner Rede anlässlich der Verleihung der Alexander-Rüstow-Plakette am 21. Oktober 2004, in: Soziale Marktwirtschaft – damals und heute. Zitate und Aufsätze. Eine Veröffentlichung der Konrad-Adenauer-Stiftung. Zusammengestellt von Sabine Vogel, Richard Reichel, Andrea Schneider. Berlin u. a. 2007, S. 189f. [Online-Ausgabe: http://www.kas.de/db_files/dokumente/7_dokument_dok_pdf_11287_1.pdf]. Europäische Union und religiöser Pluralismus, in: Politik, Kommunikation, Kultur. Festschrift für Wolfgang Bergsdorf. Hg. von Bernhard Vogel, Dietmar Herz und Marianne Kneuer. Paderborn 2007, S. 171 – 181. Gespräch mit Fundamentalisten, in: Peter Frey (Hg.): 77 Wertsachen. Was gilt heute? Freiburg / Breisgau 2007, S. 76 – 78. Jahresüberblick 2005. Laudatio anlässlich der Verleihung des Wartburg-Preises 2005 am 13. November 2005 an Felipe González, in: Wartburg-Jahrbuch 2005. Hg. von der Wartburg-Stiftung in Zusammenarbeit mit dem Wissenschaftlichen Beirat. Regensburg 2007, S. 151 – 155. Joseph Kardinal Höffner als Erzbischof von Köln aus der Sicht der Laien – Erfahrungen des Präsidenten des Zentralkomitees (1972 – 1976) und Landesvaters von Rheinland-Pfalz (1976 – 1988). Referat, in: 100. Geburtstag von Joseph Kardinal Höffner (1906 – 1987). Eine Dokumentation der Jubiläumsfeierlichkeiten am 20. und 21. Januar 2007. Hg. vom Presseamt des Erzbistums Köln. Köln 2007, S. 66 – 74. Politik als Berufung. Bernhard Vogel im Gespräch mit Günter Müchler, in: Die Politische Meinung 52 (2007) 457, S. 43 – 51 [Online-Ausgabe: http://www.kas.de/wf/doc/kas_12450544-1-30.pdf?080103154126].

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Publikationen

Solide Staatsfinanzen – Grundlage der Sozialen Marktwirtschaft, in: Matthias Schäfer (Hg.): Konsolidieren oder investieren. Strategien für den Schuldenabbau. Sankt Augustin 2007, S. 7 – 13 [Online-Ausgabe: http://www.kas.de//db_files/dokumente/im_plenum/7_dokument_dok_pdf_12490_1.pdf?071128133912]. Vision Europa – eine Erfolgsgeschichte, in: Bernhard Vogel (Hg.): Zukunft gemeinsam gestalten. Christliche Demokraten für Europa. Mit Beiträgen von Bernhard Vogel u. a. Sankt Augustin 2007, S. 7 – 11 [Online-Ausgabe: http://www.kas.de/db_files/dokumente/7_dokument_dok_pdf_11288_1.pdf]. Was uns eint, in: Frau & Politik 53 (2007) 4, S. 5f. Was uns eint – Werte der christlichen Demokraten, in: Civis mit Sonde (2007) 1, S. 4f. Was uns leitet – Zum geistigen Profil christlicher Demokratie, in: Christean Wagner (Hg.): Was uns leitet – Eckpfeiler einer bürgerlichen Kultur. Frankfurt / Main 2007, S. 117 – 145. Zu welchem Ende studiert man Politische Wissenschaft?, in: Werner J. Patzelt / Martin Sebaldt / Uwe Kranenpohl (Hg.): Res publica semper reformanda. Wissenschaft und politische Bildung im Dienste des Gemeinwohls. Festschrift für Heinrich Oberreuter zum 65. Geburtstag. Wiesbaden 2007, S. 19 – 26. Die Zukunft der christlichen Demokratie in Deutschland, in: Die Politische Meinung 52 (2007) 449, S. 5 – 30 [Online-Ausgabe: http://www.kas.de/wf/de/35.231/]. Der Zweck von Politik und Wirtschaft. Neue Herausforderungen für die Sozialwissenschaften im Zeitalter der Globalisierung, in: Werte schaffen. Vom Zweck der Politik in Zeiten der Globalisierung. Hg. von Josip Jelenic und Bernhard Vogel. Freiburg / Breisgau 2007, S. 19 – 29.

2008 Aufbauarbeit – eine Rückschau, in: Wolfgang Bergsdorf u. a. (Hg.): Deutsche Einheit. Ein Projekt. Weimar 2008, S. 209 – 224. Bildung und Religion. Das christlich geprägte Menschenbild in einem säkularisiertem Umfeld, in: Bodo Gemper (Hg.): Verantwortung in Freiheit. Bildung, Recht und Wirtschaft in einer christlich-abendländisch geprägten Kultur. Lohmar 2008, S. 6 – 16. Deutsche Einheit und europäische Integration – Helmut Kohl zum 80. Geburtstag, in: Die Politische Meinung 55 (2010) 485, S. 1 – 58 [Online-Ausgabe: http://www.kas.de/wf/de/35.308/]. Dolf Sternberger und die Politische Wissenschaft, in: Arno Mohr / Dieter Nohlen (Hg.): Politikwissenschaft in Heidelberg. 50 Jahre Institut für Politische Wissenschaft. Heidelberg 2008, S. 240 – 246. Europäische Union und religiöser Pluralismus. Wie christlich ist Europa heute?, in: Die Politische Meinung 53 (2008) 461, S. 5 – 12 [Online-Ausgabe: http://www.kas.de/wf/doc/ kas_13366-544-1-30.pdf?080430104350]. The Formation of Active Civil Societies in Post-Communist States: The Challenges and Opportunities of a Political Foundation, in: European View 7 (2008) 1, S. 129 – 138. Im Mittelpunkt der Medizin steht der Mensch, in: Medizin zwischen Humanität und Wettbewerb. Probleme, Trends und Perspektiven. Beiträge des Symposiums vom 27. bis 30. September 2007 in Cadenabbia. Hg. von Volker Schumpelick und Bernhard Vogel. Freiburg / Breisgau 2008, S. 597 – 602. Macht und Gewissen: Kirchenkritik als Machtkritik, in: Michael Albus / Thomas Herkert (Hg.): Macht und Gewissen. Christentum und Menschenrechte in Europa. Zum 50. Todestag Reinhold Schneiders. Freiburg / Breisgau 2008, S. 31 – 44.

Publikationen

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Politik für die Mitte, in: Philipp Mißfelder (Hg.): Handeln. Vorrang für Chancen. Berlin 2008, S. 38 – 45. Ein Politiker der sachlichen Leidenschaft, in: Ulrich Ott (Hg.): Mut zur Führung. Helmut Schmidt im Gespräch mit Ulrich Wickert. Stuttgart 2008, S. 111 – 122. Rede anlässlich der Festveranstaltung „40 Jahre Hermann Ehlers Stiftung“, in: Otto Bernhardt (Hg.): Festschrift anlässlich der 40-Jahr-Feier der Hermann Ehlers Stiftung. Kiel 2008. Eine Sehnsucht wird geweckt, in: Ulrich Ruh (Hg.): Das Jesusbuch des Papstes – Die Debatte. Freiburg / Breisgau 2008, S. 154 – 157. Vorsichtiger Umgang mit dem Bewährten empfohlen, in: Dokumente (2008) 9, S. 6 – 15. Der Wettbewerbsgedanke der Sozialen Marktwirtschaft – Freiheit und Solidarität, in: Preis Soziale Marktwirtschaft 2007. Arend Oetker: Künstler unter Unternehmern! (Im Plenum). Sankt Augustin 2008, S. 13 – 18 [Online-Ausgabe: http://www.kas.de/wf/doc/kas_14455544-1-30.pdf]. Zum Beispiel Thüringen: Das Verhältnis von Kirchen und Staat nach der Wiedervereinigung, in: Archiv für katholisches Kirchenrecht 177 (2008), S. 447 – 463.

2009 Ein aufrechtes Lebenszeugnis. (Rezension zu Peter Hermes: Meine Zeitgeschichte 1922 – 1987. Paderborn 2007), in: Die Politische Meinung 54 (2009) 472, S. 68f. [Online-Ausgabe: http://www.kas.de/wf/doc / kas_15856 – 544-1 – 30.pdf?090331185113]. [Beitrag], in: „Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?“ Prominente Argumente für die Wahlfreiheit zwischen Ethik und Religion. Eine Veröffentlichung der Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. Sankt Augustin 2009, S. 7f. [Online-Ausgabe: http://www.kas.de/wf/de/33.16177/]. Bevor die Mauer fiel, in: Petra Heß / Christoph Kloft (Hg.): Der Mauerfall. 20 Jahre danach … 09.10.1989 – 09.11.1989 – 03.10.1990. Zell / Mosel 2009, S. 243 – 248. Die Bundesrepublik Deutschland – eine Erfolgsgeschichte: Dank oder trotz des Föderalismus?, in: Matthias Herdegen u. a. (Hg.): Staatsrecht und Politik. Festschrift für Roman Herzog zum 75. Geburtstag. München 2009, S. 525 – 536. Dankesworte von Ministerpräsident a. D. Professor Dr. Bernhard Vogel, in: Neues Trierisches Jahrbuch 49 (2009), S. 277 – 280. Deutschland in guter Verfassung?, in: Philipp Mißfelder (Hg.): Herausforderung politischer Extremismus: Unsere Demokratie festigen, Engagement stärken. Monschau 2009, S. 14 – 18. Economia Social de Mercado e crise dos bancos, in: Peter Fischer-Bollin (Ed.): Sair da crise: Economia Social de Mercado e Justiça Social (Cadernos Adenauer 10,3). Rio de Janeiro 2009, S. 9 – 18. Eröffnung der Podiumsgespräche, in: Michael Borchard (Hg.): Staaten in der Globalisierung. 4. Berliner Rechtspolitische Konferenz. Sankt Augustin u. a. 2009, S. 18 – 22. Der Föderalismus als Grundpfeiler unserer Demokratie, in: Dreißig Thesen zur deutschen Einheit. Hg. von Dagmar Schipanski und Bernhard Vogel. Freiburg / Breisgau 2009, S. 202 – 210. Nicht müde werden, in: Marion Tauschwitz (Hg.): Unerhört nah. Erinnerungen an Hilde Domin. Heidelberg 2009, S. 191 – 195. Peter Molt – seine Heidelberger Jahre, in: Theodor Hanf / Hans N. Weiler / Helga Dickow (Hg.): Entwicklung als Beruf. Festschrift für Peter Molt. Baden-Baden 2009, S. 11 – 17.

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Publikationen

Regieren in Thüringen. Erfahrungen aus der Praxis, in: Antonius Liedhegener / Torsten Oppelland (Hg.): Parteiendemokratie in der Bewährung. Festschrift für Karl Schmitt. Baden-Baden 2009, S. 287 – 295. Das Verhältnis von Kirchen und Staat nach der friedlichen Revolution in Thüringen, in: Theologie der Gegenwart 52 (2009) S. 82 – 93. Wandlungen im deutschen Parteiensystem, in: Fabian Schalt u. a. (Hg.): Neuanfang statt Niedergang – Die Zukunft der Mitgliederparteien. Münster 2009, S. 63 – 72. Der Wettbewerbsgedanke der Sozialen Marktwirtschaft – Freiheit und Solidarität, in: Preis Soziale Marktwirtschaft 2008. Peter Wichtel: Für eine Mitbestimmung mit Augenmass! Sankt Augustin 2009, S. 11 – 14 [Online-Ausgabe: http://www.kas.de/wf/doc/kas_16989544-1-30.pdf]. Wir eilten in Warschau an die Fernsehgeräte, in: Kai Diekmann und Ralf Georg Reuth (Hg.): Die längste Nacht, der größte Tag. Deutschland am 9. November 1989. München 2009, S. 205f.

2010 Demokratie als Erfolgsgeschichte, in: Jahres- und Tagungsbericht der Görres-Gesellschaft 2009 (2010), S. 37 – 46. „Deutschland, einig Vaterland“, in: Rudolf Müller / Thomas Müller (Hg.): Kommunaler Brückenschlag zur Wiedervereinigung. 20 Jahre innerdeutsche Partnerschaft der Landkreise Trier-Saarburg und Saalfeld-Rudolstadt 1990 – 2010. Trier 2010, S. 9 – 16. Das freie Unternehmertum und die Soziale Marktwirtschaft, in: Preis Soziale Marktwirtschaft 2009. Eva Mayr-Stihl und Hans Peter Stihl: Geschwister, Familienunternehmer, Weltmarktführer. Sankt Augustin 2010, S. 13 – 18 [Online-Ausgabe: http://www.kas.de/ wf/de/33.19848/]. Helmut Kohl zum 80. Geburtstag. Kanzler der Deutschen Einheit und Baumeister der Einigung Europas, in: Die Pfalz 61 (2010) 1, S. 4f. Historisches Erbe sichert Identität, in: Jahrbuch der Stiftung Thüringer Schlösser und Gärten 13 (2009). Regensburg 2010, S. 58 – 64. Impulse der katholischen Soziallehre für die Politik, in: Nils Goldschmidt / Ursula NothelleWildfeuer (Hg.): Freiburger Schule und Christliche Gesellschaftslehre. Joseph Kardinal Höffner und die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen 2010, S. 361 – 372. „Inständiges Benennen“. Wulf Kirsten arbeitet als Poet mitten in der Realität, in: Die Politische Meinung 55 (2010) 487, S. 69 – 71 [Online-Ausgabe: http://www.kas.de/wf/doc/ kas_19818-544-1-30.pdf?100608170818]. Johannes Gerster – ein Glücksfall für die deutsch-israelischen Beziehungen, in: DIG-Magazin (2010) 3, S. 6. Der Kampf um die neue Medienordnung. Initiativen und Innovationen, in: Günter Buchstab / Hans-Otto Kleinmann / Hanns Jürgen Küsters (Hg.): Die Ära Kohl im Gespräch. Eine Zwischenbilanz. Köln 2010, S. 55 – 61. Die Konrad-Adenauer-Stiftung im interkulturellen Dialog mit dem Islam, in: Coincidentia. Zeitschrift für europäische Geistesgeschichte 1/1 (2010), S. 201 – 205 [Online-Ausgabe: http:// www.kueser-akademie.de/sides/coincidentia/coin1-2010-1/28_vogel_coin1_2010.pdf]. Mann ohne Schablonen. Zum 100. Geburtstag von Gerhard Schröder, in: Die Politische Meinung 55 (2010) 490, S. 73 – 76 [Online-Ausgabe: http://www.kas.de/wf/doc/kas_20369544-1-30.pdf?100929123429].

Publikationen

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Mauerfall und Wiedervereinigung. Der Sieg der Freiheit, in: Mauerfall und Wiedervereinigung – der Sieg der Freiheit. Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. Sankt Augustin 2010, S. 4 – 6 [Online-Ausgabe: http://www.kas.de/wf/doc/kas_20488-544-1-30.pdf?101102141851]. Orte der Freiheit und der Demokratie in Deutschland, in: Melanie Piepenschneider / Klaus Arnold (Hg.): Orte der Freiheit und der Demokratie in Deutschland. Konrad-AdenauerStiftung. Sankt Augustin 2010, S. 6 – 10 [Online-Ausgabe: http://www.kas.de/upload/ dokumente/2010/01/orte_der_demokratie/Vogel.pdf]. Partnerschaft statt Patenschaft, in: Horst Köhler (Hg.): Schicksal Afrika. Denkanstöße und Erfahrungsberichte. Reinbek 2010, S. 117 – 122. Der Platz in der Geschichte ist ihm sicher, in: Helmut Kohl – Realist und Visionär. Meilensteine eines politischen Lebens. Hg. von der Konrad-Adenauer-Stiftung. Sankt Augustin 2010, S. 5f. [Online-Ausgabe: http://www.kas.de/wf/doc/kas_19542-544-1-30. pdf?100506164852]. Rede des Ministerpräsidenten a. D. Prof. Dr. Bernhard Vogel anlässlich der Verleihung des Brückenpreises der Stadt Regensburg am 23. Oktober 2010, in: Verleihung des Brückenpreises an Prof. Dr. Bernhard Vogel und Dr. Hans-Jochen Vogel am 23. Oktober 2010. Regensburg 2010, S. 35 – 40. Die SPD leidet bis heute, in: Cicero Online (20. Oktober 2010) [Online-Ausgabe: http://www. cicero.de/berliner-republik/bernhard-vogel-die-spd-leidet-bis-heute/41255]. Wandlungen im deutschen Parteiensystem, in: Anton Rauscher (Hg.): Verantwortung in einer komplexen Gesellschaft. Responsibility: Recognition and Limits (Soziale Orientierung 20). Berlin 2010, S. 247 – 254. Wege aus der Krise (Rezension zu Alois Glück: Warum wir uns ändern müssen, München 2010), in: Die Politische Meinung 55 (2010) 491, S. 57f. [Online-Ausgabe: http://www. kas.de/wf/doc/kas_20645-544-1-30.pdf?101102121642]. Die Zukunft des „C“. Eine wichtige Diskussion über das Christliche in der Politik, in: KonradAdenauer-Stiftung (Hg.): Jahresbericht 2009, Einblicke 2010, S. 27 – 29. 20 Jahre Deutsche Einheit, in: Landes- und Kommunalverwaltung. Verwaltungs-Zeitschrift für die Länder Berlin, Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen 20 (2010) 10, S. 433f. [Online-Ausgabe: http://www.lkv.nomos.de/fileadmin/lkv/doc/Aufsatz_ LKV_10_10.pdf].

2011 Als mich Kohl anrief. Wie es Bernhard Vogel von Rheinland-Pfalz nach Thüringen verschlug. Aufgeschrieben von Martin Debes, in: Paul-Josef Raue (Hg.): Meine Wende. Wie Thüringer die friedliche Revolution meisterten. Essen 2011, S. 134 – 137. Deutsche Debattenkultur. Wie werden Auseinandersetzungen parlamentarisch und öffentlich geführt?, in: Thomas Demand / Udo Kittelmann (Hg.): Nationalgalerie „How German is it?“ Berlin 2011, S. 185 – 195. Fünf junge Länder im Bundesrat: Die politische Perspektive, in: Uwe Jun / Sven Leunig (Hg.): 60 Jahre Bundesrat. Tagungsband zum Symposium an der Friedrich-Schiller-Universität Jena vom 12. bis 14. Oktober 2009 (Schriftenreihe des Europäischen Zentrums für Föderalismus-Forschung Tübingen 36). Baden-Baden 2011, S. 37 – 45. Glaubenswerte – Orientierungen für die Politik, in: zur debatte (2011) 1, S. 28. Glaubenswerte – Orientierungen für Politik, in: Glaubenswerte: Orientierungen für Wirtschaft, Politik und Kultur. Referate des Kolloquiums am 19. November 2010 / Valeurs de la foi:

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Publikationen

Quelles influences pour les mondes économique, politique et culturel? Actes du colloque du 19 novembre 2010. Redaktion Mathilde Durand (Deutsch-französischer Dialog 4). Paris 2011, S. 14 – 18. (Französische Fassung: Valeurs de la foi: Quelles influences pour la politique? S. 50 – 54). Die Grundwerte der CDU: Orientierung tut not. Ein Debattenbeitrag von Prof. Dr. Bernhard Vogel, Ministerpräsident a. D., in: Thüringer Union (2011) 1, S. 20f. Gute Jahre. Hans Maier zum 80. Geburtstag, in: Die Politische Meinung 56 (2011) 499, S. 63 – 65 [Online-Ausgabe: http://www.kas.de/wf/doc/kas_22974-544-1-30.pdf?110607131554]. „Im Gegenwind durch den aufgewühlten Ozean der Zeit“. Bemerkungen zu „Jesus von Nazareth“, zweiter Teil, von Joseph Ratzinger / Benedikt XVI., in: Hans-Gert Pöttering (Hg.): Politik und Religion. Der Papst in Deutschland. Sankt Augustin 2011, S. 161 – 165 [Online-Ausgabe: http://www.kas.de/upload/Publikationen/2011/Politik_Religion/Politik_Religion_vogel.pdf]. Junges Land – altes Land. Rheinland-Pfalz und Thüringen – Unterschiede und Gemeinsamkeiten, in: Sachsen-Anhalt. Ein Land findet sich. Festschrift zu Ehren Wolfgang Böhmer. Hg. von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Zusammenarbeit mit Rainer Robra und Monika Zimmermann. Halle / Saale 2011, S. 158 – 170. Oswald von Nell-Breuning – Wegbereiter der Katholischen Soziallehre, in: Eberhard Grein (Hg.): Für die Soziale Marktwirtschaft. Oswald von Nell-Breuning – Reformer und Jesuit. Sankt Ottilien 2011, S. 192 – 195. Polen und Russland, unsere Nachbarn im Osten – heute Partner – Freunde?, in: Ost-West. Europäische Perspektiven 12 (2011) 1, S. 74 – 78. Die zweite Universität für Rheinland-Pfalz, in: Beiträge zur Geschichte der TU Kaiserslautern. Bearb. von Bernd-Friedemann Schultze. Kaiserslautern 2011, S. 43 – 48.

Autoren und Herausgeber Michael Albus, geb. 1942, Dr. theol., Journalist und Honorarprofessor für „Religionsdidaktik der Medien“ an der Universität Freiburg Dieter Althaus, geb. 1958, 2003 – 2009 Ministerpräsident von Thüringen, seit 2010 Vizepräsident der MAGNA International Franz Peter Basten, geb. 1944, 1979 – 1985 und 1991 – 1994 Mitglied des Landtags von Rheinland-Pfalz, 1985 – 1991 Staatssekretär in der rheinland-pfälzischen Landesregierung, 1994 – 1998 Mitglied des Deutschen Bundestags, Honorarkonsul des Großherzogtums Luxemburg Kurt Beck, geb. 1949, seit 1979 Mitglied des Landtags von Rheinland-Pfalz, seit 1993 Landesvorsitzender der SPD Rheinland-Pfalz, seit 1994 Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz Wolfgang Bergsdorf, geb. 1941, Dr. phil., apl. Professor für Politische Wissenschaft an der Universität Bonn, 2000 – 2007 Präsident der Universität Erfurt, seit 2007 Präsident der Görresgesellschaft Kurt Biedenkopf, geb. 1930, Dr. jur., 1964 – 1970 Ordinarius an der Ruhr-Universität Bochum und 1967 – 1969 deren Rektor, 1973 – 1977 Generalsekretär der Christlich Demokratischen Union Deutschlands, 1976 – 1980 und 1987 – 1990 Mitglied des Deutschen Bundestags, 1980 – 1988 Mitglied des Landtags von Nordrhein-Westfalen, 1990 – 2002 Ministerpräsident des Freistaates Sachsen, 1990 – 2004 Mitglied des Landtags von Sachsen Wolfgang Gerhardt, geb. 1943, Dr. phil., seit 1994 Mitglied des Deutschen Bundestags, 1995 – 2001 Bundesvorsitzender der FDP, seit 2006 Vorstandsvorsitzender der FriedrichNaumann-Stiftung für die Freiheit Alois Glück, geb. 1940, 1970 – 2008 Mitglied des Bayerischen Landtags, 1988 – 2003 Vorsitzender der CSU-Landtagsfraktion, 2003 – 2008 Präsident des Bayerischen Landtags, seit 2009 Vorsitzender des Zentralkomitees der deutschen Katholiken Georg Gölter, geb. 1938, Dr. phil., 1969 – 1977 Mitglied des Deutschen Bundestags, 1979 – 2006 Mitglied des Landtags von Rheinland-Pfalz, 1977 – 1979 Minister für Soziales, Gesundheit und Sport, 1979 – 1981 für Soziales, Gesundheit und Umwelt, 1981 – 1991 Kultusminister von Rheinland-Pfalz Hermann Gröhe, geb. 1961, seit 1994 Mitglied des Deutschen Bundestags, seit 2009 Generalsekretär der Christlich Demokratischen Union Deutschlands Wilfried Härle, geb. 1941, Dr. theol., Professor für Systematische Theologie / Ethik an der Universität Heidelberg Roman Herzog, geb. 1934, Dr. jur., 1964 Habilitation, 1987 – 1994 Präsident des Bundesverfassungsgerichts, 1994 – 1999 Bundespräsident Wolfgang Jäger, geb. 1940, Dr. phil., Dr. h. c. mult., Professor em. für Wissenschaftliche Politik an der Universität Freiburg, 1995 – 2008 Rektor der Universität Freiburg Volker Kauder, geb. 1949, seit 1990 Mitglied des Deutschen Bundestags, seit 2005 Vorsitzender der CDU / CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag Wulf Kirsten, geb. 1934, Lyriker, Prosaist und Herausgeber, 2005 Literaturpreisträger der Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. Julia Klöckner, geb. 1972, 2002 – 2011 Mitglied des Deutschen Bundestags, 2009 – 2011 Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, seit 2010 Landesvorsitzende CDU Rheinland-Pfalz, seit 2011 Mitglied des Landtags von Rheinland-Pfalz und Vorsitzende der CDU-Fraktion

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Autoren und Herausgeber

Horst Köhler, geb. 1943, Dr. rer. pol., 1990 – 1993 Staatssekretär im Bundesministerium der Finanzen, 1993 – 1998 Präsident des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes, 2000 – 2004 Geschäftsführender Direktor des Internationalen Währungsfonds, seit 2003 Honorarprofessor an der Universität Tübingen, 2004 – 2010 Bundespräsident Friedrich Kronenberg, geb. 1933, Dr. rer. pol., 1966 – 1999 Generalsekretär des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, 1983 – 1990 Mitglied des Deutschen Bundestags Norbert Lammert, geb. 1948, seit 1980 Mitglied des Deutschen Bundestags, seit 2005 Präsident des Deutschen Bundestags Karl Lehmann, geb. 1936, Dr. theol. und Dr. phil., Honorarprofessor an den Universitäten Freiburg und Mainz, seit 1983 Bischof von Mainz, 1987 – 2008 Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, 2001 Ernennung zum Kardinal Birgit Lermen, geb. 1935, Dr. phil., Professorin em. für Neuere Deutsche Literatur an der Universität zu Köln, Vorsitzende der Jury des Literaturpreises der Konrad-AdenauerStiftung e. V. Christine Lieberknecht, geb. 1958, seit 1992 Mitglied des Landtags von Thüringen, seit 2009 Ministerpräsidentin des Freistaates Thüringen Hans Maier, geb. 1931, Dr. phil., Dr. h. c. mult., 1970 – 1986 bayerischer Staatsminister für Unterricht und Kultus, 1976 – 1988 Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, 1988 – 1999 Professor für Christliche Weltanschauung an der Universität München Angela Merkel, geb. 1954, Dr. rer. nat., seit 2000 Vorsitzende der Christlich Demokratischen Union Deutschlands, seit 2005 Bundeskanzlerin Horst Möller, geb. 1943, Dr. phil., Dr. h. c. mult., Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität München, 1992 – 2011 Direktor des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin Mike Mohring, geb. 1971, seit 1999 Mitglied des Thüringer Landtags, 2004 – 2008 Generalsekretär der CDU Thüringen, seit 2008 Vorsitzender der CDU-Fraktion im Thüringer Landtag Peter Molt, geb. 1929, Dr. phil., 1982 – 1992 Ministerialrat im Innenministerium RheinlandPfalz, Honorarprofessor an der Universität Trier Klaus-Peter Müller, geb. 1944, 1990 – 2008 Mitglied des Vorstands der Commerzbank AG, seit 2001 Sprecher des Vorstands, seit 2008 Mitglied des Aufsichtsrats, Vorsitzender der Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex Klaus Naumann, geb. 1939, Dr. h. c., General der Bundeswehr a. D., 1991 – 1996 Generalinspekteur der Bundeswehr, Vorsitzender des NATO-Militärausschusses 1996 – 1999 Beate Neuss, geb. 1953, Dr. phil., Professorin für Internationale Politik an der TU Chemnitz Heinrich Oberreuter, geb. 1942, Dr. phil., Professor für Politikwissenschaft an der Universität Passau, 1993 – 2011 Direktor der Akademie für Politische Bildung Tutzing Hans-Gert Pöttering, geb. 1945, Dr. phil., Honorarprofessor an der Universität Osnabrück, seit 1979 Mitglied des Europäischen Parlaments und 2007 – 2009 dessen Präsident, seit 2009 Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. Günter Rinsche, geb. 1930, Dr. rer. pol., 1964 – 1979 Oberbürgermeister der Stadt Hamm, 1979 – 1999 Mitglied des Europäischen Parlaments, 1995 – 2001 Vorsitzender der KonradAdenauer-Stiftung e. V. Andreas Rödder, geb. 1967, Dr. phil., Professor für Neueste Geschichte an der Universität Mainz, 2012/13 Gerda Henkel-Gastprofessor an der London School of Economics und am Deutschen Historischen Institut London

Autoren und Herausgeber

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Annette Schavan, geb. 1955, Dr. phil., Honorarprofessorin an der FU Berlin, 1995 – 2005 Ministerin für Kultus, Jugend und Sport in Baden-Württemberg, seit 2005 Bundesministerin für Bildung und Forschung und Mitglied des Deutschen Bundestags Hanns-Eberhard Schleyer, geb. 1944, 1978 – 1981 als Staatssekretär Beauftragter des Landes Rheinland-Pfalz beim Bund, 1981 – 1988 Chef der Staatskanzlei Rheinland-Pfalz, 1989 – 2009 Generalsekretär des Zentralverbands des Deutschen Handwerks Richard Schröder, geb. 1943, Dr. theol., 1993 – 2009 Verfassungsrichter des Landes Brandenburg, seit 2001 Mitglied im Nationalen Ethikrat Gerd Schuchardt, geb. 1942, Dr.-Ing., 1990 – 2004 Mitglied des Thüringer Landtags, 1990 – 1994 Fraktionsvorsitzender der SPD-Landtagsfraktion, 1994 – 1999 Minister für Wissenschaft, Forschung und Kultur sowie stv. Ministerpräsident Hans-Peter Schwarz, Dr. phil., Dr. h. c., Professor für Politische Wissenschaft und Zeitgeschichte Ingrid Sehrbrock, geb. 1948, 1989 – 1997 Bundesgeschäftsführerin der Frauen-Union der CDU, seit 1999 Mitglied des Geschäftsführenden Bundesvorstandes des DGB und seit 2006 stv. Vorsitzende Arnold Stadler, geb. 1954, Dr. phil., Schriftsteller, Essayist und Übersetzer Dieter Stolte, geb. 1934, Professor Dr. h. c., 1982 – 2002 Intendant des ZDF, 1980 – 2002 Professor für Medientheorie und Medienpraxis an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg, 2002 – 2005 Herausgeber „Die Welt“ und „Berliner Morgenpost“ Peter Struck, geb. 1943, Dr. jur., 1980 – 2009 Mitglied des Deutschen Bundestags, seit 2010 Vorsitzender der Friedrich-Ebert-Stiftung Rita Süssmuth, geb. 1937, Dr. phil., 1985 – 1988 Bundesministerin für Jugend, Familie und Gesundheit, 1986 – 2002 Vorsitzende der Frauen-Union, 1987 – 2002 Mitglied des Deutschen Bundestags, 1988 – 1998 Bundestagspräsidentin Uwe Tellkamp, geb. 1968, Arzt und Schriftsteller, 2009 Literaturpreisträger der KonradAdenauer-Stiftung e. V. Erwin Teufel, geb. 1939, 1972 – 2006 Mitglied des Landtags von Baden-Württemberg, 1991 – 2005 Ministerpräsident von Baden-Württemberg und Landesvorsitzender der CDU Michael Thielen, geb. 1959, 1991 – 1995 Referent der CDU / CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag, 1995 – 1998 Leiter des Ministerbüros und des Leitungsstabes im Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie, 1999 – 2005 Bereichsleiter in der CDU-Bundesgeschäftsstelle, 2006 – 2008 Staatssekretär des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, seit 2008 Generalsekretär der KonradAdenauer-Stiftung e. V. Arnold Vaatz, geb. 1955, 1990 – 1998 Mitglied des Landtags von Sachsen, seit 1998 Mitglied des Deutschen Bundestags Hans-Joachim Veen, geb. 1944, Dr. phil., 1983 – 2000 Leiter des Forschungsinstituts der Konrad-Adenauer-Stiftung e. V., Honorarprofessor für Politikwissenschaft an der Universität Trier, seit 2002 Vorstandsvorsitzender der Stiftung Ettersberg Hans-Jochen Vogel, geb. 1926, Dr. jur., 1960 – 1972 Oberbürgermeister von München, 1972 – 1981 und 1983 – 1994 Mitglied des Deutschen Bundestags, 1987 – 1991 Bundesvorsitzender der SPD, 2001 – 2005 Mitglied im Nationalen Ethikrat Gerhard Wahlers, geb. 1959, Dr. phil., seit 1990 Mitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung e. V., seit 2003 Leiter der Hauptabteilung Europäische und Internationale Zusammenarbeit, seit 2007 stv. Generalsekretär der Konrad-Adenauer-Stiftung e. V.

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Autoren und Herausgeber

Dorothee Wilms, geb. 1929, Dr. rer. pol., Diplom-Volkswirt, 1976 – 1994 Mitglied des Deutschen Bundestags, 1982 – 1987 Bundesministerin für Bildung und Wissenschaft, 1987 – 1991 Bundesministerin für innerdeutsche Beziehungen Hans Zehetmair, geb. 1936, 1974 – 1978 und 1990 – 2003 Mitglied des Bayerischen Landtags, 1986 bayerischer Staatsminister für Unterricht und Kultus, 1989 auch Staatsminister für Wissenschaft und Kunst, 1990 – 1998 Staatsminister für Unterricht, Kultus, Wissenschaft und Kunst, 1998 – 2003 Staatsminister für Wissenschaft, Forschung und Kunst, seit 2004 Vorsitzender der Hanns-Seidel-Stiftung