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German Pages 488 [501] Year 2022
Claudia Schroth Formen kollektiver Intentionalität
Kultur und Kollektiv | Band 8
Editorial Die Schriftenreihe Kultur und Kollektiv veröffentlicht qualitativ hochwertige Monographien, welche die Kulturwissenschaft ins kollektivwissenschaftliche Paradigma erweitern. Betreut wird die Reihe von der Forschungsstelle Kulturund Kollektivwissenschaft der Universität Regensburg, die auch die Zeitschrift für Kultur- und Kollektivwissenschaft herausgibt. Die Reihe wird herausgegeben von der Forschungsstelle Kultur- und Kollektivwissenschaft.
Claudia Schroth, geb. 1992, studierte Philosophie und Interkulturelle Wirtschaftskommunikation an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, war dort als Lehrbeauftragte tätig und promovierte zum Thema der kollektiven Intentionalität. Ihre Schwerpunkte liegen in der Phänomenologie, insbesondere der Intersubjektivität, sowie im Fördermittel-Management.
Claudia Schroth
Formen kollektiver Intentionalität Eine interdisziplinäre Typologie
Es handelt sich hierbei um meine Dissertation an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, die im Dezember 2020 eingereicht und im September 2021 verteidigt wurde. Gutachter: Prof. Dr. Lambert Wiesing (Friedrich-Schiller-Universität Jena), PD Dr. Jens Bonnemann (Friedrich-Schiller-Universität Jena) und Prof. Dr. Hans Bernhard Schmid (Universität Wien)
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2022 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5987-0 PDF-ISBN 978-3-8394-5987-4 https://doi.org/10.14361/9783839459874 Buchreihen-ISSN: 2702-993X Buchreihen-eISSN: 2702-9948 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download
Inhalt
Vorwort .................................................................................. 7 Einleitung ................................................................................13 Eine Typologie der Intentionalität ..........................................................13 Die Problemgeschichte und Forschungssituation .......................................... 25 1. 1.1 1.2 1.3 1.4
Intentionalität: Drei Ansätze ....................................................... 37 Der Ansatz der Phänomenologie: Intentionalität als Bewusstsein von etwas ........... 41 Der Ansatz der Sprachanalytik: Intentionalität als Bewusstsein einer Absicht ......... 47 Der Ansatz der evolutionären Verhaltensforschung: Intentionalität als Bewusstsein eines Handlungsvollzugs .............................................. 60 Zwischenfazit zu Kapitel 1........................................................... 63
2. Geteiltheit, Gemeinsamkeit und Kollektivität: Zwei Voraussetzungsebenen ........ 65 2.1 Die kognitiven Fähigkeiten der Beteiligten ........................................... 67 2.2 Der ontologische Status der Beteiligten: Gehirn im Tank und Robinson Crusoe ........ 93 Intentionalitätsformen: Drei Konzepte ............................................. 141 Der Ansatz der Phänomenologie: Die Intentionalitätsformen als ein–, gegen- und wechselseitige Bezugnahmen ................................. 144 3.2 Der Ansatz der Sprachanalytik: Die Intentionalitätsformen als Koordination und Kooperation................................................................... 193 3.3 Der Ansatz der evolutionären Verhaltensforschung: Die Intentionalitätsformen als differentia specifica zwischen Tier und Mensch ....... 296 3.4 Zwischenfazit zu Kapitel 3 ........................................................ 385 3. 3.1
4. Die Intentionalitätsmomente der Geteiltheit, Gemeinsamkeit und Kollektivität.... 397 4.1 Identität des Intentionalitätsobjektes: Carsharing und Wohngemeinschaft........... 402 4.2 Identität des Intentionalitätsobjektes sowie des Intentionalitätsmodus: Gemeinsames Auto und trauernde Eltern ........................................... 406
4.3 Identität des Intentionalitätsobjektes, des Intentionalitätsmodus sowie des Intentionalitätssubjektes: Familienauto und Fußballmannschaft ................ 408 4.4 Zwischenfazit zu Kapitel 4 ......................................................... 417 Gesamtfazit .............................................................................419 Zusammenfassung der Debatte ..........................................................419 Das Erleben des identischen Objektes als Form der kollektiven Intentionalität............. 439 Tabellenverzeichnis .................................................................... 445 Literaturverzeichnis.................................................................... 447 Index ................................................................................... 477
Vorwort
Bei dieser Arbeit handelt es sich um eine leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die an der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena eingereicht und verteidigt wurde. Bei der Themenfindung, Ausarbeitung sowie dem vorliegenden Druck habe ich auf vielerlei Wegen umfangreiche Unterstützung erhalten. Mein besonderer Dank gilt den drei Gutachtern: Prof. Dr. Lambert Wiesing, PD Dr. Jens Bonnemann (beide Universität Jena) und Prof. Dr. Hans Bernhard Schmid (Universität Wien). Prof. Dr. Wiesing und PD Dr. Bonnemann haben mich während meiner gesamten Studienzeit begleitet und standen mir stets mit Rat und Tat zur Seite. Ihre fachliche, überaus loyale sowie empathische Bestärkung in diesem und vielen weiteren Vorhaben sehe ich nicht als Selbstverständlichkeit an. Die Betreuung der Doktorarbeit in ihre Hände zu geben, war von der ersten Sekunde an eine Freude. Die Werke von Prof. Dr. Schmid erleichterten mir zunächst erheblich die Einarbeitung und Vertiefung in das weitverzweigte Gebiet der kollektiven Intentionalität und er übernahm später dankenswerterweise das Drittgutachten. Die ermutigenden, stets konstruktiven Diskussionen, etwa im Forschungskolloquium für Bildtheorie und Phänomenologie, haben meinen Text umfassend kontinuierlich über die Jahre hinweg bereichert und ich möchte mich hierfür nochmals bei allen TeilnehmerInnen bedanken. Eine wesentliche Stütze war zudem die Hansen-Stiftung sowie die Forschungsstelle für Kultur- und Kollektivwissenschaft (Regensburg), welche diese Arbeit mit einem Stipendium förderten und die Teilnahme an interdisziplinären Intensivkonferenzen im wunderschönen Regensburg sowie diese Veröffentlichung in der Schriftenreihe »Kultur und Kollektiv« ermöglichten. Inhaltliche Unterstützung bot auch das Leipziger Forschungszentrum für frühkindliche Entwicklung, bei welchem ich im Wintersemester 2018/2019 einen Zwischenstand präsentieren durfte. Weitere inhaltliche sowie technische Präzision brachte der Gedankenaustausch mit Familienmitgliedern, Freunden und Bekannten, unter anderem Tobias Fiedler, Michael Jenewein, Dominik Koesling, Maike Albertzart, Luise Langlotz sowie
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Kerstin Traufetter. Besonders hervorzuheben sind hierbei Konrad Steinhäuser und Michael Marbach, die beide das gesamte Manuskript detailreich kritisiert haben. Kurzum: Die Beratung, Begleitung und Begutachtung der oben genannten Personen und Institutionen war – wie so vieles in den Geisteswissenschaften – unmessbar. Ohne diese Hilfe wäre diese Dissertation nicht möglich geworden und schon gar nicht das was sie ist: Sie befasst sich mit und sie basiert auf geteilter, gemeinsamer und kollektiver Intentionalität. Jena, Januar 2022 Claudia Schroth
Gewidmet den starken Menschen, die mich mit ihren Geschichten und ihrem mitmenschlichen Umgang beeindruckt und geprägt haben.
»[D]ie Gemeinschaft [ist] nicht eine bloße Kollektion […] nebeneinander seiender Einzelner [...], sondern eine Synthesis der Einzelnen durch interpersonale Intentionalität, eine durch das soziale Füreinander- und Ineinander-Leben und -/Wirken gestiftete Einheit«. Edmund Husserl (um 1924)
Einleitung
Eine Typologie der Intentionalität Jeder, der einmal eine Fußballweltmeisterschaft verfolgte, wird festgestellt haben – selbst wenn man nicht mit den Fußballregeln vertraut ist –, dass bereits nach recht wenigen Spielen nahezu treffsicher feststeht, wer tatsächlicher Weltmeister wird (oder präziser: wenigstens den Titel am meisten verdient hätte). Dabei ist klar: die Einzelspieler aller Mannschaften befinden sich jeweils auf einem immens hohen technischen Niveau, da sie sich ansonsten nicht zur Teilnahme qualifiziert hätten. Doch nicht äußerliche Merkmale, wie eine bestimmte Trikotfarbe oder die technischen Fähigkeiten der Einzelnen, wie die exzellente Ballkontrolle oder Ausdauerfähigkeit, sind entscheidend, sondern wie die Mannschaft als Mannschaft agiert. Maßgeblich hierfür ist etwa, dass die Stärken der Einzelspieler ineinandergreifen, sodass sie intuitiv wissen, wie sich die Mitspieler der eigenen Mannschaft verhalten werden: Die Mannschaft besitzt eine »Prise Esprit«, die man selbst als Beobachter »sehen« kann. Genauer gesagt: viele verschiedene Beteiligte, wie der Torhüter oder Stürmer, die jeweils verschiedene Aufgabenbereiche haben, sind in ein und derselben Weise auf ein und dasselbe gerichtet und bilden damit ein spezifisches »Subjekt«, ein Team. Um Phänomene des gemeinsamen, kooperativen Zusammenhaltes von parallelen Handlungsvollzügen zu differenzieren, sprach John Rogers Searle erstmals 1990 von kollektiver Intentionalität. Searle meinte jedoch, dass man den Zusammenhalt als Beobachter gerade keinesfalls wahrnehmen könne. Mithilfe der soeben angeführten Situation soll hingegen dafür argumentiert werden, dass ein solches »Subjekt« wenigstens in bestimmten Fällen auch aus der Beobachterperspektive heraus festgestellt werden kann. Innerhalb der Philosophie ist es üblich bei einem zusammengesetzten Begriff zunächst dessen Einzelelemente zu klären. Geht man jedoch diesen scheinbar banalen Weg in der Debatte um die kollektive Intentionalität, dann weichen die Hauptpositionen in erheblicher Weise voneinander ab. Zur Strukturierung der Forschungslage wird in dieser Überlegung zum einen der Vorschlag gemacht, dass es in einer ersten Herangehensweise sinnvoll ist, die Verwendungsweisen
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der Begriffe »Kollektiv« und »Intentionalität« darzulegen. Zum anderen wird die Perspektive eröffnet, dass nicht nur die Sprachanalytik ab den 1990 Jahren als Hauptströmung dieses Diskurses gelten kann, denn die Phänomenologie sollte nicht nur als Vorläufer Beachtung in dieser Auseinandersetzung finden. Als dritte Hauptströmung wird, wie ebenfalls bisher kaum in einem solchen Ausmaß verbreitet, die evolutionäre Verhaltensforschung gesetzt, da in ihr die Bezeichnung »kollektive Intentionalität« nochmals eine weitere signifikante Bedeutungswendung erfährt. Wird auf diese Weise vorgegangen, dann zeigt sich, dass hinsichtlich der Verwendung der Bezeichnung »Kollektiv« zwei prinzipielle Hauptwege bestehen: Einerseits wird damit in der Debatte eine bestimmte Qualität der Bezugnahme unter den Beteiligten betitelt: Von einem »kollektiven Sinn von Wir« ist dann die Rede, wenn die Beteiligten gemeinsam denken, handeln und fühlen, wenn also ein Zusammenhalt besteht, welcher sich von einer Zusammenlegung, dem parallelen Nebeneinander, dem »distributiven Sinn von Wir« abgrenzt. Andererseits – und dies mag vielleicht eher der alltäglichen Verwendung des Begriffs »Kollektiv« entsprechen – wird nach der Quantität gefragt: Wann – und nicht wie bei der Qualität für welche Art von spezifischem Phänomen – liegt ein Kollektiv vor? Die Antworten auf diese Frage variieren dabei wie folgt: Zum einen wird davon ausgegangen, dass für ein Kollektiv mindestens zwei Lebewesen bestehen müssen. Mit dieser Ansicht geht einher, dass tierisches Verhalten kollektiv vollzogen wird und daher der Begriff »kollektive Intentionalität« als Sammelbegriff für alle Intentionalitätsformen mit mindestens zwei Beteiligten gelten könne. Demgegenüber wird zum anderen gesagt, dass als Kollektiv ausschließlich die kooperative Handlung mindestens dreier Menschen (oder sogar noch spezifischer mindestens dreier Personen) falle, weshalb der Begriff »Kollektiv« erstens dem Menschen vorbehalten, zweitens quantitativ von einer Mindestanzahl von drei Beteiligten ausgegangen werden müsse und zudem drittens lediglich als Bezeichnung für eine spezifische Intentionalitätsform – nämlich die kooperative Handlung – adäquat sei. Wobei in der letzten Variante betont werden muss, dass sowohl die qualitative als auch quantitative Dimension der Verwendung des Begriffs »Kollektiv« enthalten ist. Doch alle diese Ansichten verlangen eine präzisere Betrachtung: Ist es nicht aufgrund des lateinischen Ursprungs des Begriffs »Kollektiv« – der con-lectio als Zusammenlegung von Individuen – irreführend gerade dessen Gegenteil – den Zusammenhalt – mit kollektiver Intentionalität zu bezeichnen? Wie wird genauer begründet, dass Tiere, man denke etwa an zwei jagende Schimpansen oder einen Bienenstaat, über kollektive Intentionalität verfügen? Warum sollte diese Ansicht gerade als falsch gelten und über welche Intentionalitätsform verfügen Tiere dann? Kann eine Aussage über die Intentionalität von Tieren aus einer menschlichen Perspektive heraus überhaupt adäquat sein?
Einleitung
Irritierenderweise findet sich bei den Autoren dieser beiden Hauptwege zur Anwendung beziehungsweise Definition des Kollektivs häufig die Gleichstellung mit dem Begriff »Wir«. Eine solche bedeutungsgleiche Verwendung ist allerdings aus drei Gründen bemerkenswert: Erstens wird damit – in ganz und gar unmetaphorischer Weise – ermöglicht sagen zu können, dass der Spaziergang von Hund und Herrchen ein kollektiver Spaziergang war, sodass der Hundebesitzer äußern kann »Wir waren spazieren«. Zweitens kann man bereits bei zwei Beteiligten »Wir« sagen, während die Bezeichnung »Kollektiv« – der zweiten Position zufolge – erst bei mindestens drei Beteiligten gerechtfertigt ist. Drittens vermittelt der Begriff »Wir«, wenigstens in seiner üblichen Verwendung, vielmehr als der Ausdruck »Kollektiv« eine Zugehörigkeit des Sprechers: Aussagen der Art »Das Kollektiv der Fußballfans freut sich über das Tor« suggerieren, dass sich der Sprecher hierbei nicht selbst zum Kollektiv der Fußballfans hinzuzählt oder sich zumindest von der privaten Freude über das Tor in seiner Ausdrucksweise distanziert. Die, in der Debatte durchaus gängige, synonyme Verwendung der Begriffe »Wir« und »Kollektiv« ist demnach eigenwillig. Doch nicht nur in Bezug auf die Definition des Kollektivs, sondern auch in puncto Intentionalität herrscht Uneinigkeit bei den hier behandelten Autoren. Die Frage Was ist Intentionalität? wird auf den ersten Blick in allen drei Hauptströmungen der Debatte identisch beantwortet: Intentionalität ist geistige Gerichtetheit beziehungsweise Bewusstsein von etwas. Eine genauere Betrachtung, wie sie im ersten Hauptteil ausgeführt wird, zeigt jedoch: Erstens wird in der Sprachanalytik und der evolutionären Verhaltensforschung vorwiegend ein einziger Phänomenbereich thematisiert: die Handlungen, noch etwas genauer: die Handlungsabsicht und der Handlungsvollzug. Daher wird in diesen beiden Strömungen – im direkten Gegensatz zur Phänomenologie – die Intentionalität eher als Bewusstsein einer Handlungsabsicht beziehungsweise als Bewusstsein eines Handlungsvollzugs anstatt allgemeiner als Bewusstsein von etwas verstanden. Zweitens können mehrere Momente der Intentionalität unterschieden werden, konkret danach wer wie auf was gerichtet ist, sodass als Hauptmomente das Intentionalitätssubjekt, der Intentionalitätsmodus und das Intentionalitätsobjekt differenziert werden können. Dann aber wiederum stellt sich die Frage, in welchem Intentionalitätsmoment konkret die Besonderheit liegt, wenn wir etwas gemeinsam denken, handeln oder fühlen. Zunächst zurück zur Begriffsverwendung: Stellt man nämlich die Intensionen und Extensionen der Begriffe »Kollektiv« und »Intentionalität« auf diese Weise zusammen, so ergeben sich zahlreiche, teils konträre Definitionen der kollektiven Intentionalität. Dies aufzuzeigen ist das Hauptziel der vorliegenden Argumentation. Nimmt man die verschiedenen Auffassungen der weiteren dominant verwendeten Bezeichnungen der Sprachanalytik hinzu, wie »geteilter« und »gemeinsamer Intentionalität« (»shared« und »joint intentionality«), wie sie in jener Strömung ab 1984 verbreitet sind, dann hat man es mit einem beträchtlichen Wirrwarr von Bin-
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nendifferenzierungen, Synonymen und dezidiert sich gegenüberstehenden Positionen zu tun. Doch hier soll es nicht um die Diagnose dieses begrifflichen Durcheinanders gehen – wie es bereits etwa von gegenwärtigen Autoren wie Hans Bernhard Schmid und David P. Schweikard um 2009 beziehungsweise Jens Greve um 2012 dargelegt wurde –, sondern vielmehr um dessen detaillierte Aufschlüsselung. Es wird demnach leitend sein: Worin liegen die jeweiligen Stärken und Schwächen der Konzeptionen und worin weichen sie genau voneinander ab? Dabei werden die Konzeptionen der Hauptströmungen, jene der jeweiligen Einzelautoren, aber auch die einzelnen Phasen der jeweiligen Autoren gesichtet. Denn es ist beispielsweise augenscheinlich, dass die kollektive Intentionalität in der zweifellos überwiegenden Mehrheit der Positionen als »höchst entwickelste«, »tiefgreifendste« Intentionalitätsform betrachtet, aber eben unterschiedlich gedeutet wurde. Unter anderem dient der Begriff »kollektive Intentionalität« bei sprachanalytischen Autoren wie Raimo Heikki Tuomela und Searle als Sammelbegriff für alle Intentionalitätsformen mit mindestens zwei Beteiligten – das heißt sowohl der schwache als auch der starke Zusammenhalt der Beteiligten wurde mit dieser Bezeichnung umfasst. Bei Searle tritt hierbei, über Tuomela hinaus, die Fokussierung auf die Sprache hervor: Der schwache Zusammenhalt der Beteiligten – welcher präziser gesprochen kein Zusammenhalt, sondern eine bloße Zusammensetzung ist – ist durch die »prelinguistic intentionality« und der starke Zusammenhalt hingegen durch die »linguistic intentionality« (siehe Kapitel 3.3) charakterisiert. Der Sache nach liegt hier eine Ähnlichkeit vor mit Edmund Husserls Differenz zwischen den verstehenden Akten einerseits und den kommunikativen Akten andererseits. Unter dem Einfluss Husserls und Max Schelers wiederum heißt es bei Francesca Maria de Vecchi, dass als »collective intentionality« nur die wechselseitige soziale Bezugnahme zwischen mindestens zwei Subjekten bezeichnet werden könne. In der evolutionären Verhaltensforschung Michael Tomasellos wird hingegen vertreten, dass für eine »collective intentionality« der »We-mode«-Bezug, eine »Wir-Gerichtetheit« mindestens dreier Subjekte vorliegen müsse. Um jedoch diese spezifische Gerichtetheit einnehmen zu können, muss man bestimmte kognitive Fähigkeiten besitzen, wie etwa – wenigstens in rudimentärer Weise – moralisch agieren und sich selbst von einem »point of nowhere« beurteilen, welche bei Dreijährigen vorliegen, die mit menschlichen Erwachsenen sozialisiert wurden. Das umfangreiche Ziel ist damit festgesteckt: Es sollen die unterschiedlichen Konzeptionen der Intentionalitätsformen der Debatte ab dem 20. Jahrhundert – inklusive deren Binnendifferenzierungen – dargestellt, entflochten und durchdrungen werden. Dabei soll, um es nochmals zu sagen, die neue Perspektive eröffnet werden, dass innerhalb dieses Zeitfensters drei Hauptströmungen bestehen: die Phänomenologie, die Sprachanalytik und die evolutionäre Verhaltensforschung. Ein derartig umfassender interdisziplinärer Vergleich hinsichtlich der Begriffsverwendungen, welcher auch die Positionen des 21. Jahrhunderts metatheoretisch be-
Einleitung
leuchtet, ist bislang nicht zu finden. Dass Begriffsverwendungen – insbesondere innerhalb der Philosophie – nicht einheitlich sind, ist trivial. Das Ausmaß dieser kategorialen Abweichungen ist allerdings besonders in dieser immens interdisziplinären Debatte auffallend, weshalb – zum dreißigsten Jubiläum des Neologismus »collective intentionality« – erst einmal eine Überblicksarbeit vollzogen wird. Diese wird an den entsprechenden, möglichst in ihrer sprachlichen Fassung der Erstpublizierung wiedergegebenen Textpassagen durch eigene zusammenfassende Tabellen ergänzt. Eine zentrale Überlegung ist dabei herauszuarbeiten, dass ein ambivalentes Verhältnis besteht: In der Sprachanalytik weiß man nicht auf welches Phänomen die Bezeichnungen »shared«, »joint« und »collective intentionality« schlussendlich zutreffen soll, da jeder Autor diese Termini in anderer Weise verwendet. Um es vorwegzunehmen: Der übergeordnete Leitsatz lautet nach Husserls Ansatz wie folgt: Ohne interpersonale Intentionalität keine gemeinsame Welt. Bei Searle hingegen gilt: Ohne kollektive Intentionalität keine institutionellen Tatsachen. Während Tomasello konkret die Moral thematisiert, sodass bei ihm – ebenfalls auf einen konkreten Satz herunter reduziert – zugrunde gelegt wird: Ohne Moral keine kollektive Intentionalität im engen Sinne. Von einer einheitlichen Verwendung kann demnach nicht die Rede sein. In der Phänomenologie hingegen ist meist nur der Begriff des Miteinanders allgegenwärtig. Allerdings ist er dort so weitläufig verbreitet, dass er als Sammelausdruck für jegliches Für- und Gegeneinander dient, das heißt für jegliche Situationen mit dem oder den Anderen. Die zentrale Aufgabe dieser Arbeit ist damit kurz gefasst folgende: Es gilt die Vielzahl der Begriffe rund um das Phänomen der kollektiven Intentionalität zu sichten und in ihrer jeweiligen – teils diametralen und historisch gewachsenen – Verwendung aufzuzeigen, um letztlich für eine konkrete Verwendung der jeweiligen Begriffe zu argumentieren. Um die Positionen der Phänomenologie, Sprachanalytik und evolutionären Verhaltensforschung aufschlüsseln zu können, scheint es allerdings aus systematischen Gründen erforderlich, eine weitere Terminologie einzuführen und die Intentionalitätsformen, die Intentionalitätskonzepte und die Intentionalitätsmomente voneinander zu differenzieren. Bevor en detail in die einzelnen Strömungen und Ansätze eingestiegen werden kann, muss demnach anfangs geklärt werden, was genau unter diesen drei Begrifflichkeiten, wie sie hier vorgeschlagen werden, jeweils verstanden wird.
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Die Intentionalitätsformen, die Intentionalitätskonzepte und die Intentionalitätsmomente Unter der Annahme, dass die Beteiligten auf ein und dasselbe – und nicht nur ein und dasgleiche – Objekt gerichtet sind, können die verschiedenen Erscheinungsweisen der Intentionalität, die Intentionalitätsformen, differenziert werden. Die Besonderheit der Geteiltheit, Gemeinsamkeit oder Kollektivität liegt, so der Konsens der Debatte, in der Intentionalität begründet. Das heißt die Besonderheit liegt darin, dass mehrere Beteiligte in einer bestimmten Art und Weise auf ein und dasselbe Objekt gerichtet sind. Mit Blick auf das einzelne, selbstbewusste Subjekt gilt: Ich weiß, wie es für mich ist, etwas zu erleben. Oder anders gewendet: Weil es meine Wahrnehmung – oder etwas spezifischer: meine Intentionalität – gibt, gibt es mich als Individualsubjekt in der Welt. Aber es gilt eben auch: Wir wissen, wie es für uns ist, etwas zu erleben und weil es unsere Intentionalität gibt, gibt es uns als Pluralsubjekt in der Welt. Zwar mag der Begriff des Pluralsubjektes kritisch sein (siehe Kapitel 4.3), das Phänomen, das damit bezeichnet wird, ist es jedoch keinesfalls. Hierbei lässt sich sagen, dass die meisten Autoren der Debatte in ihrer Darlegung eines Konzeptes der verschiedenen Intentionalitätsformen, das heißt ihrer Intentionalitätskonzepte, von der individuellen Intentionalität ausgehend beginnen und die kollektive Intentionalität als »höchst entwickelste« Form begreifen. Es wird demnach in den Beiträgen, so die vorherrschende Ausgangslage, eine »Stufenleiter« der Intentionalitätsformen vom Individuum zum Kollektiv beziehungsweise vom Ich zum Wir angenommen. Die Frage, ob diese, in der evolutionären Verhaltensforschung bei Tomasello sogar ontogenetisch begründete, Stufenabfolge schlussendlich gerechtfertigt ist oder nicht, sei zurückgestellt. Allerdings kann durch eine solche Abfolge leicht in Vergessenheit geraten, dass sich ein Kollektiv auch wieder auflösen kann, beispielsweise indem sich ein Ehepaar scheiden lässt oder ein Unternehmen insolvent ist und daher seine Mitarbeiter entlassen muss. Wird die Besonderheit der Geteiltheit, Gemeinsamkeit oder Kollektivität der Intentionalität zugesprochen, so ist wegweisend: Legt man ein phänomenologisches Verständnis zugrunde, dann können der Intentionalität drei Momente zugesprochen werden, nämlich danach wer wie auf was gerichtet ist: das Intentionalitätssubjekt, der Intentionalitätsmodus und das Intentionalitätsobjekt. Die Differenzierung der Intentionalitätsformen erfolgte nun meist tatsächlich an der Hervorhebung des Intentionalitätsmodus oder des Intentionalitätssubjektes, wie im dritten Kapitel gezeigt wird. Konkret: Je nach Modus der Beteiligten, das heißt wie sie aufeinander bezogen sind, ergeben sich verschiedene Qualitäten, wie unter anderem Tuomela mit der Unterscheidung der »not full blown« und »full blown collective intentionality« vertritt. Für eine »tiefgreifende« Intentionalitätsform, so die Zusammenführung der verschiedenen Ansätze hinsichtlich des Intentionalitäts-
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modus, müssen die Beteiligten kommunikativ, wechselseitig, sozial, kooperativ, freiwillig, moralisch aufeinander bezogen sein und die Interessen der Gruppe vertreten, sodass sie über ein spezifisches Bewusstsein als Gruppe verfügen, sich zusammengehörig fühlen und gegebenenfalls sogar institutionelle Tatsachen schaffen. In anderen Worten wird mit der Feststellung »Wir wissen, wie es für uns ist, etwas zu erleben« gleich zweierlei ausgedrückt: Zum einen wird deutlich für wen dieses etwas ein etwas ist: für uns. Hier ist vorwiegend die Verbindung zum Intentionalitätssubjekt offenkundig, da wir bezogen sind. Zum anderen wird mit »für uns« noch ein weiterer Akkusativ angedeutet, nämlich auf wen und für wen die Gerichtetheit ausgelegt ist. Die Wir-Intentionalität erhält ihren Namen nicht danach, weil wir gerichtet sind, wie man zuerst annehmen könnte, sondern weil wir auf uns gerichtet sind. Hierbei wird der Intentionalitätsmodus hervorgehoben, das heißt wie wir aufeinander bezogen sind: Ein starker Zusammenhalt der Beteiligten ist, wie gerade angedeutet, durch einen besonderen Intentionalitätsmodus geprägt, da unter anderem die Interessen der Gruppe und nicht die privaten Interessen der einzelnen Beteiligten im Vordergrund stehen. In der Terminologie für die sich im Folgenden eingesetzt wird: Das für-mich-Verhalten einer individuellen oder geteilten Intentionalität steht dem füruns-Verhalten einer gemeinsamen Intentionalität gegenüber. Daher kann genauer gesagt werden: Wir wissen, wie es für uns ist, für uns zu denken, zu handeln und zu fühlen. Etwas ausführlicher: als Bezeichnung für diesen Intentionalitätsmodus hat sich, ab Mitte der 1990 Jahre, Tuomelas Terminus des »We-mode« etabliert und jene Intentionalitätsform wird in den Debattenbeiträgen als kollektive Intentionalität beziehungsweise als entwickelste Variante der kollektiven Intentionalität gefasst. In der vorliegenden Argumentation wird entgegen der Terminologie »kollektive Intentionalität« die qualitative Dimension dieser Bezugsweise hervorgehoben, sodass, unter anderem mit Referenz auf Tuomela und Hans Bernhard Schmid, dafür plädiert wird hierbei vielmehr von gemeinsamer Intentionalität zu sprechen. Abzugrenzen sind Phänomene dieser Art insbesondere von Phänomenen, welche sich durch eine parallel nebeneinander, koordinativ und eigennützig ausgeführte, das heißt »für-mich«-Gerichtetheit auszeichnen, wie sie etwa bei ruhmsüchtigen Fußballspielern besteht. Diese Phänomene sollen, wenn sie mit Anderen, also in der Gruppe geschehen als geteilte Intentionalität betitelt werden. Neben dem Intentionalitätsmodus wurde in der Debatte auch betrachtet wer die Intentionalität hat, wie etwa das Individuum oder das Kollektiv. Dies führte zu der Fragestellung, ob bei der besonders »tiefgreifenden« Intentionalitätsform ein spezifisches Intentionalitätssubjekt vorliegt, wie mit dem Fußballbeispiel anfangs angerissen wurde, dass elf Spieler ein Team bilden. Hierfür werden in den Auseinandersetzungen wiederum, nur um ein Paar Formulierungen anzuführen, beispielsweise folgende Terminologien vertreten: Es besteht eine »Personalität ›höherer Stufe‹«, ein »Pluralsubjekt« oder ein »fused agent«. Man mag darüber streiten, welche Begrifflichkeit am treffendsten ist, ob etwa die elf Fußballspieler, die als
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Team auftreten, ein spezifisches Subjekt oder sogar eine spezifische Person bilden oder, etwas wertneutraler formuliert, als spezifischer Akteur zu betrachten sind. Klar scheint hingegen, dass spezifische Intentionalitätsformen prägnante Folgen haben können. Um überhaupt von einer Geteiltheit, Gemeinsamkeit oder Kollektivität sprechen zu können, ist klar, dass die Beteiligten zumindest im weitesten Sinne auf ein und dasselbe Objekt gerichtet sein müssen, dass also ein identisches Intentionalitätsobjekt vorliegt. Doch nur von einzelnen Autoren, wie Scheler, wurde hierbei beschrieben, was nicht geteilt werden kann (siehe Kapitel 4.1) und damit eben nicht als Ausgangsbasis einer solchen Intentionalitätsform dienen kann. Bei einigen Referenzautoren der drei Hauptströmungen lässt sich feststellen, dass sich die Kriterien zur Klassifizierung der Intentionalitätsformen im Verlauf wandeln. Beispielsweise bezieht sich der Begriff »solitary intentionality« de Vecchis ausschließlich auf das Intentionalitätssubjekt oder auf die Quantität, nämlich die Vereinzelung. Der von ihr verwendete Ausdruck »shared intentionality« verweist hingegen auf eine eigene Qualität, einen spezifischen Intentionalitätsmodus – ohne primär nach dem Intentionalitätssubjekt zu fragen. Das heißt also: zwar bestehen bei jeder Intentionalitätsform alle drei Intentionalitätsmomente gleichzeitig – denn immer ist irgendjemand irgendwie auf irgendwas gerichtet –, doch erhalten die Momente je nach konkreter Intentionalitätsform eine unterschiedliche Gewichtung. Zudem wird beleuchtet, dass die graduelle Differenzierung der verschiedenen Intentionalitätsformen, das ist die Aufstellung einer Konzeption in den Hauptströmungen zu unterschiedlichen Zwecken dient: In der Phänomenologie werden die Bezugnahmen der Beteiligten aufeinander mittels Bezugsrichtung oder dem Bezugsakt differenziert, also konkret danach, ob die Beteiligten einseitig, gegenseitig oder wechselseitig beziehungsweise im verstehenden, kommunikativen oder sozialen Akt aufeinander bezogen sind. In der Sprachanalytik liegt der Schwerpunkt auf den Handlungsphänomenen, das heißt auf den Punkt gebracht, ob der Bezugsmodus eher als Koordination oder Kooperation charakterisiert werden kann. Bei Searle ist die Konstitution spezifischer Fakten, nämlich: der sozialen und institutionellen Fakten, wie Freundschaften oder Ehen, an spezifische Intentionalitätsformen gebunden, was wiederum von der Phänomenologin de Vecchi aufgegriffen und, aufgrund ihrer präziseren Differenzierung der Intentionalitätsformen, detaillierter ausgearbeitet wird. Zwar hat sich die Beschäftigung mit der kollektiven Intentionalität gegen Ende des 20. Jahrhunderts immens interdisziplinär ausgebreitet, doch insbesondere der Ansatz der evolutionären Verhaltensforschung Tomasellos nimmt dabei eine Sonderstellung ein: Tomasello untersucht in einer nicht-philosophischen Disziplin mittels der Intentionalitätsformen eine – wenn nicht die zentrale – philosophische Frage: den Wesensunterschied zwischen dem Tier und dem Menschen. Seine These ist: Tiere zeichnen sich ausschließlich durch individuelle Intentionalität
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aus, während Menschen in ihrer Onto- und Phylogenese kognitive Fähigkeiten zur »joint« und weiterführend zur »collective intentionality« entwickeln. Auffällig ist im Ansatz Tomasellos jedoch nicht nur die philosophische Zielsetzung – die Erfassung der differentia specifica –, sondern auch die dezidiert empirische Erforschung der Frage, wer überhaupt die kognitiven Voraussetzungen der Intentionalitätsformen erfüllt. Die von ihm vertretene Position, dass Tiere diese nicht erfüllen und damit nicht über kollektive Intentionalität verfügen, erscheint zumindest in groben Zügen dem Alltagsverständnis zu entsprechen, wobei er jedoch nicht – wie es konsequenterweise gefordert wäre – zwischen der individuellen und subjektiven Intentionalität unterscheidet. Doch verweist er auch darauf, dass die Ergebnisse zahlreicher empirische Studien immer mehr die Ansicht untermauern, dass Personen mit stark ausgeprägten autistischen Zügen ebenfalls Einschränkungen in jenem kognitiven Bereich aufweisen, der für spezifische Intentionalitätsformen – vereinfacht: dem zwischenmenschlichen Bereich – allerdings unerlässlich ist. Neben den kognitiven Fähigkeiten wird zudem angenommen, dass die Beteiligten real existieren und real aufeinander bezogen sein müssen. Die beiden Hauptannahmen, welche von den Autoren teils explizit und teils eher implizit hierzu vertreten werden, lauten: Zum einen erscheint es völlig plausibel davon auszugehen, dass bestimmte Voraussetzungen, wie das Einfühlungsvermögen und das Vertreten der Gruppeninteressen, bei den Beteiligten bestehen müssen. Zum anderen gilt: Wer diese Voraussetzungen nicht erfüllt, kann nicht als Beteiligter spezifischer Intentionalitätsformen gelten. Nimmt man diese beiden Annahmen sowie die Ergebnisse zahlreicher und fundierter empirischer Studien, wie eben beispielsweise zum Phänomen des Autismus, ernst, dann ergeben sich jedoch auch hoch problematische Konsequenzen, wie im zweiten, radikalen Teil dieser Argumentation beleuchtet wird. Die dortige Leitfrage lautet: Wer kann überhaupt teilen oder etwas gemeinsam erleben? Es geht also hierbei primär nicht um die Folgen der spezifischen Intentionalitätsformen – wie etwa das »Pluralsubjekt« –, sondern in philosophischer Hinsicht um die Bedingungen der Möglichkeit der Intentionalitätsformen oder anders gewendet um die empirische Hinterfragung des Intentionalitätssubjektes. Dabei wird auch auf die Extremfälle des Gehirn im Tank und des einsamen Robinson Crusoe eingegangen. Welche Intentionalitätsform liegt in diesen Ausnahmesituationen vor? Im Anschluss wird in Kapitel drei, wie bereits angerissen, einerseits auf den Intentionalitätsmodus als Bezugsrichtung und Bezugsakt und andererseits auf das Intentionalitätsobjekt eingegangen. Schlussendlich zielen damit alle Beschreibungen auf die Beantwortung folgender Frage: Was wird wie von wem erlebt oder sogar konstituiert? Das breite Panorama der unterschiedlichen Verständnisse und Bedeutungsverschiebungen wird in einen historischen, systematischen und metatheoretischen Vergleich dargestellt. Die Kernaussage ist dabei erstaunlich: Zwar unterscheiden sich ihre Methoden und Terminologien drastisch voneinander, den-
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noch liegen alle drei hier diskutierten Strömungen ihrem Sinn nach in zentralen Thesen hinsichtlich der menschlichen Intentionalitätsformen recht nah beieinander: Die Konstitution einer gemeinsamen Welt ist, wie der Phänomenologe Husserl vertritt, lediglich vernünftigen Menschen möglich, die kommunikativ aufeinander gerichtet sind. Die Konstitution einer Kultur ist, so heißt es beim evolutionären Verhaltensforscher Tomasello, lediglich moralischen »We-mode«-Menschen möglich und die Konstitution einer institutionellen Tatsache ist, dem Sprachanalytiker Searle zufolge, nur sprachbegabten, repräsentationsfähigen Lebewesen mit »we-intentions« – also de facto ebenfalls nur Menschen – möglich. Hierdurch lässt sich sagen: Tomasello zielt direkt auf eine differentia specifica zwischen dem Tier und dem Menschen und verleiht hierdurch der gesamten Debatte eine dezidierte Stoßrichtung, etwa indem in dessen Folge Tuomela in Betracht zieht, wer überhaupt die kognitiven Fähigkeiten erfüllt und Searle seine eigene Hinführung zur differentia specifica spezifiziert. Doch während Tomasello anhand der Onto- und Phylogenese erklärend nachzeichnet wie der Mensch zum Menschen wurde, lassen sich in der Philosophie – wie mit Husserl gezeigt wird auch bereits in frühen Auseinandersetzungen mit den Intentionalitätsformen – vorwiegend beschreibende Charakteristika darüber finden was den Menschen als Menschen auszeichnet. Deutlich ist somit: Bei bekannten Vertretern aller drei Hauptströmungen sind – wenigstens andeutungsweise und mit verschiedenen Ausrichtungen – Überlegungen zur differentia specifica zu finden. Und auch gerade hieran lässt sich das Gesamtbild zu den Positionen der Debatte deutlich markieren: Vergleicht man die Einsichten der verschiedenen Strömungen zu den menschlichen Intentionalitätsformen, dann lässt sich metaphorisch formuliert festhalten: In der Tat besteht ein Grabenkampf zwischen den Strömungen, wie unter anderem in der Methodologie und Terminologie – doch der Graben selbst ist vielleicht gar nicht so tief wie stets dargelegt. Denn: der Begriff »kollektive Intentionalität« ist bei den allermeisten Autoren dieser Debatte, wenigstens in seiner stärksten Ausprägung – explizit oder implizit – für eine spezifische humane Interaktion reserviert, die man im doppelten Sinne als human bezeichnen kann: Erstens ist diese Intentionalitätsform lediglich von und mit Menschen möglich und zweitens verhalten sich diese untereinander entgegenkommend, freundlich und partnerschaftlich, kurz: humanitär. Betrachtet man demgegenüber die Einschätzung der tierischen Intentionalität, dann treten jedoch die unüberwindbaren Unterschiede der Ansätze drastisch hervor, sodass nochmals bildlich gesprochen, der gerade erst eingeebnete Graben zwischen den Positionen wieder deutlich aufreißt. All dies wird in dieser Arbeit im Detail ausgeführt. Um den Überblick zu bewahren, sei nochmals kurz zusammengeführt, was im Folgenden unter Intentionalitätsformen, Intentionalitätsmomenten und Intentionalitätskonzeptionen verstanden wird: Die Intentionalität, welcher konkreten Form auch immer, lässt sich in drei Momenten erfassen: dem Intentionalitätssubjekt, dem Intentionalitätsobjekt und dem Intentionalitätsmodus. Oder in einfachen Wor-
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ten: Wer ist wie auf was gerichtet? Die verschiedenen Intentionalitätsformen, wie exemplarisch die individuelle, intersubjektive und kollektive Intentionalität, werden in den verschiedenen Ansätzen in einem Modell, einem Konzept als Entwicklungsstufen verstanden. Das heißt, dass es einen konkreten, vorgeschriebenen Verlauf der Intentionalitätsformen gibt. Die verschiedenen Vertreter der Debatte gehen dabei überwiegend davon aus, dass die (phylo- und ontogenetische) Entwicklung von der individuellen hin zur kollektiven Intentionalität verläuft. Letztlich wird dabei angenommen, dass es berechtigt ist die Intentionalitätsformen anhand der Intentionalitätsmomente zu schematisieren und damit eine genaue Erfassung und Beschreibung der menschlichen Sozialität, etwa als Trennung von Koordination und Kooperation, zu ermöglichen. In den bisherigen Konzeptionen der Forschungslandschaft wurde allerdings nicht deutlich genug hervorgehoben, dass die Intentionalitätsformen gleichzeitig Formen des Objekterlebens sind, welche sich in der Bezeichnung für dieses Objekt niederschlagen: Weil ich weiß, dass auch Andere auf ein und dasselbe Objekt wie ich gerichtet sind, hat sich das Erleben eben dieses Objektes für mich geändert. Wie ich das Objekt bezeichne, hängt ab von dem Bezug den die Anderen und ich einerseits auf uns und andererseits auf das besagte Objekt haben. Es soll, exemplarisch mithilfe des Autos, für folgende These argumentiert werden: Phänomene, wie das Carsharing, das gemeinsame Auto und das Familienauto unterscheiden sich darin, welche Intentionalitätsmomente dabei identisch ausfallen: Bei einem Carsharing sind die Beteiligten auf ein und dasselbe Auto gerichtet. Das Objekt wird lediglich geteilt, da die Beteiligten in erster Linie von ihrer individuellen Intentionalität geleitet sind. Als gemeinsames Auto kann es wiederum dann bezeichnet werden, wenn die Beteiligten in identischer Weise auf das identische Objekt gerichtet sind, sodass sie – je nach Betrachtungsschwerpunkt der Debattenteilnehmer – etwa kommunikativ, wechselseitig, sozial, kooperativ, freiwillig, im »We-mode«, das heißt »für-uns«, moralisch aufeinander und auf eben jenes Auto bezogen sind. Es liegt eine Identität im Objekt und im Modus vor. Liegt diese Konstellation in einer solchen »Tiefe« vor, dass – wenn vielleicht auch nur im übertragenen Sinne – von einem »Subjekt« gesprochen werden kann, wie es eben beispielsweise in aller Regel bei einer Familie der Fall ist, dann erfährt das Objekt nochmals eine andere Bezeichnung: Es wird zum Familienauto. Die Kategorisierung der Intentionalität zwischen den Beteiligten und hinsichtlich des Objektes wirkt sich auf die Bezeichnung dieses Objektes aus. Die grundsätzliche Schematisierung erfolgt in der vorliegenden Typologie also anhand der Identität der Intentionalitätsmomente (Identität des Intentionalitätsobjektes, des Intentionalitätsmodus und des Intentionalitätssubjektes), der Erfassung der Quantität (zwei oder mindestens drei Beteiligte) sowie der Qualität des Zusammenhaltes (geteilte oder gemeinsame Intentionalität), das heißt eben auch anhand der Abgrenzung der Begriffe »Wir« und »Kollektiv«. Handelt es sich um zahlreiche Beteiligte, zu denen der Sprecher sich in aller Regel nicht selbst zählt,
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die zwar voneinander wissen, aber kaum ein Zusammenhalt besteht, dann liegt eine kollektive Intentionalität vor, etwa wie beim Kollektiv der Fußballfans, oder um bei dem Bespiel des Autos zu bleiben, wie beim Kollektiv der VW-Bus-Fahrer oder beim Kollektiv der Porsche-Fahrer. Besonders anhand der letztgenannten Beispiele mag man erkennen, dass die Intentionalitätsformen nicht nur bestimmte Folgen haben können (wie etwa das »Pluralsubjekt«), für die Intentionalitätsformen nicht nur bestimmte Bedingungen der Möglichkeit gegeben sein müssen (wie etwa Einfühlungsvermögen und die Anerkennung des Anderen), sondern auch, dass die Persönlichkeit des Beteiligten sich in bestimmten Zugehörigkeiten manifestieren kann. Nochmals an einem einfachen Beispiel: ob man eher der abenteuerliche Typ ist, der in seinem Auto Platz für ein Surfbrett braucht und daher eher zum VW-Bus anstatt zum Porsche tendiert. Neben den Ausführungen zur Intentionalitätsrichtung, der Intentionalitätsmodi und den Intentionalitätsakten wurden von den Hauptdebattenteilnehmer auch teils die sich jeweils hieraus resultierenden Folgen näher betrachtet, etwa das »Pluralsubjekt« oder die Konstitution spezifischer Fakten. Zu denken ist hier zum Beispiel an die Konstitution von Wörtern, Sätzen oder Metaphern (»abgeleitete Intentionalität« nach Searle) oder an den Gruppenzwang, dass hinsichtlich eines spezifischen Kollektivs ausschließlich spezifische kollektiven Praktiken gelten (»derived normativity« nach Tomasello). Zudem legen die Autoren in ihren jeweiligen Ausführungen unterschiedliche Fokussierungen, beispielsweise, ob der Intentionalitätsgehalt nur imaginiert ist und nicht den tatsächlichen Fakten entspricht (»geglaubte Intentionalität« nach Searle, Meijers und Schmid), ob der Beteiligte ein Bewusstsein davon hat, zu dieser Gruppe zu gehören (»eingebildete Intentionalität« nach Husserl) oder ob das sogenannte »Pluralsubjekt« lediglich im metaphorischen Sinne Intentionalität hat, da sie unmetaphorisch nur den Einzelbeteiligten als solche zukommt (»abgeleitete Intentionalität« nach Tuomela). Um den Gesamtbogen dieser Arbeit zu schlagen, kann festgehalten werden, dass folgende Fragen, welche in der bisherigen Debatte jedoch meist nur implizit angesprochen werden, leitend sind: • • • • •
Was wird unter Intentionalität verstanden und durch welche Momente zeichnet sich diese aus? Wann kann man adäquat von einem Kollektiv sprechen? Und was ist dann die kollektive Intentionalität? Welche kognitiven und ontologischen Voraussetzungen müssen notwendigerweise für eine solche Intentionalitätsform bestehen und wer erfüllt diese? Welche weiteren Intentionalitätsformen liegen vor und wie sollten sie voneinander abgegrenzt werden?
Einleitung
Bevor die drei abweichenden Definitionen der Intentionalität (Kapitel 1), die zwei Voraussetzungsebenen der Intentionalitätsformen (Kapitel 2), die Intentionalitätsformkonzeptionen (Kapitel 3), das Primat der Intentionalitätsmomente dieser Formen (Kapitel 4) und diese als Formen des Objekterlebens (Gesamtfazit) dargestellt werden, soll zunächst die Grundlage für die folgenden Themenkomplexe geschaffen werden. Als Einstieg wird daher anfangs untermauert, weshalb die Phänomenologie, die Sprachanalytik und die evolutionäre Verhaltensforschung als die Hauptströmungen um das Phänomen der kollektiven Intentionalität im Zeitraum des 20. und bisherigen 21. Jahrhunderts gelten können. Dabei werden ebenfalls die Problemgeschichte und gegenwärtige Forschungssituation der Debatte gesichtet.
Die Problemgeschichte und Forschungssituation Phänomenologie, Sprachanalytik und evolutionäre Verhaltensforschung: Drei Hauptströmungen der Debatte Philosophiegeschichtlich hat man es bei den Auseinandersetzungen rund um die Intentionalitätsformen, wie der geteilten oder gemeinsamen Intentionalität, mit einem recht jungen Forschungsgegenstand zu tun. Ihr Ursprung lässt sich auf Franz Brentanos Werk Psychologie vom empirischen Standpunkt (1874) datieren. Es soll keineswegs gesagt werden, dass Bewusstseinsphänomene nicht bereits vorher betrachtet worden sind – das wurden sie zweifelsohne –, doch erst Brentano subsumierte sie unter den Begriff der Intentionalität. Nimmt man eben diesen Zeitabschnitt vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum heutigen Diskurs in den Blick, dann lassen sich drei Hauptentwicklungsphasen mit jeweils unterschiedlichen Grundmethoden nachweisen: die Phänomenologie, Sprachanalytik und evolutionäre Verhaltensforschung. Während Edmund Husserls Werk Logische Untersuchungen (1900) den generellen Beginn der phänomenologischen Strömung markiert, ist es der Aufsatz »We-Intentions« (1988) von Raimo Heikki Tuomela und Kaarlo Miller, welcher als Initialzündung der sprachanalytischen Auseinandersetzung mit den Intentionalitätsformen gelten kann. Besonders prägend und wegweisend war im Anschluss John Rogers Searles Aufsatz »Collective Intentions and Actions« (1990), in welchem der Begriff »collective intentionality« erstmals auftrat. Zu den einflussreichsten sprachanalytischen Vertretern dieser Debatte zählen neben Tuomela und Searle auch Margaret Gilbert und Michael Bratman.1 Ab Beginn des 21. Jahrhunderts
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Vgl. Sara Rachel Chant, Frank Hindriks u. Gerhard Preyer: »Introduction – Beyond the Big Four and the Big Five«, in: From Individual to Collective Intentionality – New Essays, hg. v. Sara Rachel Chant, Frank Hindriks u. Gerhard Preyer, Oxford University Press, 2014, S. 1–9, hier: S. 6. Im Folgenden als: Chant, Hindriks u. Preyer: »Introduction – Big Four« (2014). Wobei drei dieser
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Bevor die drei abweichenden Definitionen der Intentionalität (Kapitel 1), die zwei Voraussetzungsebenen der Intentionalitätsformen (Kapitel 2), die Intentionalitätsformkonzeptionen (Kapitel 3), das Primat der Intentionalitätsmomente dieser Formen (Kapitel 4) und diese als Formen des Objekterlebens (Gesamtfazit) dargestellt werden, soll zunächst die Grundlage für die folgenden Themenkomplexe geschaffen werden. Als Einstieg wird daher anfangs untermauert, weshalb die Phänomenologie, die Sprachanalytik und die evolutionäre Verhaltensforschung als die Hauptströmungen um das Phänomen der kollektiven Intentionalität im Zeitraum des 20. und bisherigen 21. Jahrhunderts gelten können. Dabei werden ebenfalls die Problemgeschichte und gegenwärtige Forschungssituation der Debatte gesichtet.
Die Problemgeschichte und Forschungssituation Phänomenologie, Sprachanalytik und evolutionäre Verhaltensforschung: Drei Hauptströmungen der Debatte Philosophiegeschichtlich hat man es bei den Auseinandersetzungen rund um die Intentionalitätsformen, wie der geteilten oder gemeinsamen Intentionalität, mit einem recht jungen Forschungsgegenstand zu tun. Ihr Ursprung lässt sich auf Franz Brentanos Werk Psychologie vom empirischen Standpunkt (1874) datieren. Es soll keineswegs gesagt werden, dass Bewusstseinsphänomene nicht bereits vorher betrachtet worden sind – das wurden sie zweifelsohne –, doch erst Brentano subsumierte sie unter den Begriff der Intentionalität. Nimmt man eben diesen Zeitabschnitt vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum heutigen Diskurs in den Blick, dann lassen sich drei Hauptentwicklungsphasen mit jeweils unterschiedlichen Grundmethoden nachweisen: die Phänomenologie, Sprachanalytik und evolutionäre Verhaltensforschung. Während Edmund Husserls Werk Logische Untersuchungen (1900) den generellen Beginn der phänomenologischen Strömung markiert, ist es der Aufsatz »We-Intentions« (1988) von Raimo Heikki Tuomela und Kaarlo Miller, welcher als Initialzündung der sprachanalytischen Auseinandersetzung mit den Intentionalitätsformen gelten kann. Besonders prägend und wegweisend war im Anschluss John Rogers Searles Aufsatz »Collective Intentions and Actions« (1990), in welchem der Begriff »collective intentionality« erstmals auftrat. Zu den einflussreichsten sprachanalytischen Vertretern dieser Debatte zählen neben Tuomela und Searle auch Margaret Gilbert und Michael Bratman.1 Ab Beginn des 21. Jahrhunderts
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Vgl. Sara Rachel Chant, Frank Hindriks u. Gerhard Preyer: »Introduction – Beyond the Big Four and the Big Five«, in: From Individual to Collective Intentionality – New Essays, hg. v. Sara Rachel Chant, Frank Hindriks u. Gerhard Preyer, Oxford University Press, 2014, S. 1–9, hier: S. 6. Im Folgenden als: Chant, Hindriks u. Preyer: »Introduction – Big Four« (2014). Wobei drei dieser
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zeichneten sich bezüglich der Debatte zwei grundlegende Veränderungen ab: Erstens erfuhr zu dieser Zeit die Thematisierung der philosophischen Strömungen mit Hans Bernhard Schmids Werk Wir-Intentionalität (2005) eine neue Stoßrichtung, da die Phänomenologie und Sprachanalytik hinsichtlich der Intentionalitätsformen nun nicht mehr primär als gegenüberstehend dargestellt wurden. Vielmehr wurde betont, dass zum einen die Phänomenologie durchaus eine Vorläuferrolle einnehme und zum anderen beide Ansätze auch zueinander ergänzend verstanden werden könnten. Die zweite Wende ab dem 21. Jahrhundert besteht in der erheblichen interdisziplinären Ausbreitung der Debatte. Bereits im Jahr 2006 wurde treffend diagnostiziert, dass »die aktuelle Literatur zum Thema [...] dabei [ist], [...] unüberschaubar zu werden«2 . Beispielsweise wurde in der Rechtswissenschaft die Frage aufgeworfen, wie mit kollektiven Akteuren umgegangen werden muss: Ist das Kollektiv, die Gruppe als solche schuldfähig oder können nur einzelne Individuen, wie Teamleiter oder Vorgesetzte, zur Verantwortung gezogen werden? Die evolutionäre
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genannten Autoren – Searle, Gilbert und Bratman – dem US-amerikanischen Sprachraum angehören. Besonders markant sind dabei wohl folgende Schriften: Margaret Gilberts On Social Facts (1989), Michael Bratmans Aufsatzsammlung Faces of Intentions – Selected Essays on Intention and Agency (1999) sowie Raimo Tuomelas Social Ontology – Collective Intentionality and Group Agents (2013). Prägnant für diese Entwicklung war die Abwendung von dezidiert sprachanalytischen Themen, wie den Sprechakten, hin zur Beschäftigung mit der Sozialontologie und der Philosophie des Geistes. Andreas Kemmerling bemerkte, dass diese Wende der Thematiken besonders deutlich bei Searle vorzufinden ist, weshalb er Searle als Schlüsselfigur der sprachanalytischen Debatte kennzeichnet (vgl. Andreas Kemmerling: »Von der Sprache zum Bewusstsein – John R. Searle löst sich vom analytischen Mainstream«, in: Merkur – Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Band 48, Heft 5, 1994, S. 432–438, hier: S. 433). Allerdings heißt es beispielsweise bei Searle in Making the Social World (2010): »the great philosophers of the past century had little or nothing to say about social ontology. I [Searle] am thinking of such figures as Frege, Russell, and Wittgenstein, as well as Quine, Carnap, Strawson, and Austin.« John R. Searle: Making the Social World – The Structure of Human Civilization, Oxford University Press, Oxford, 2010, S. 6 (übersetzt v. Joachim Schulte: Wie wir die soziale Welt machen – Die Struktur der menschlichen Zivilisation, Suhrkamp Verlag, Berlin, 1. Auflage, 2017 – dort: S. 15f.). Im Folgenden als: Searle: Making the Social World (2010) (dt.). Zum einen müsste diese Aussage Searles bezüglich der von ihm genannten Autoren überprüft werden, vor allem hinsichtlich der Frage, in welchem Ausmaß sich bei ihnen zumindest der Sache nach die Sozialontologie beziehungsweise konkreter die Intentionalitätsformen finden lassen. Vielleicht ließe sich hierdurch erkennen, dass die sprachanalytische Auseinandersetzung mit den Intentionalitätsformen eben nicht erst ab etwa 1988 einsetzte. Zum anderen zeigt sich in dieser Textpassage Searles, dass er bei namhaften Autoren des 20. Jahrhunderts ausschließlich an sprachanalytische Autoren im weitesten Sinne denkt, während phänomenologische von ihm missachtet werden. Hans Bernhard Schmid: »Miteinander fühlen – Zur Phänomenologie kollektiver affektiver Intentionalität« – Vortrag zum Kongress Philosophie – Grundlagen und Anwendungen (Sept. 2006, Berlin); aufgerufen auf: (zuletzt aufgerufen: 13.04.2017), hier: S. 796. Im Folgenden als: H.B. Schmid: »Miteinander fühlen« (2006).
Einleitung
Verhaltensforschung Michael Tomasellos tritt bei diesem interdisziplinären Boom, ab dem Werk The Cultural Origins of Human Cognition (1999; dt. 2006), besonders hervor, da er umfassende Schriften zu den Intentionalitätsformen veröffentlichte und gerade mittels dieser die genuin philosophische Frage nach der differentia specifica zwischen dem Tier und dem Menschen beantworten möchte. Einer seiner Kernthesen lautet dabei: das Tier ist zwar zweifelsohne wahrnehmungsfähig und tritt in Interaktion mit Anderen, doch ist es hierbei zeitlebens in allen erdenklichen Situationen von Eigeninteressen geleitet, welche Tomasello mit der »individual intentionality« gleichsetzt. Nur der Mensch habe in der Evolution die Fähigkeit entwickelt zur Konstitution einer Kollaboration im engen Sinne und der Konstitution einer Kultur, welche er als »joint« beziehungsweise »collective intentionality« fasst. All diese Richtungsänderungen – die sprachanalytische Auseinandersetzung ab 1988, der außerphilosophische Boom und zugleich das strömungsübergreifende Denken – wurden in der Herausgabe des Bandes Kollektive Intentionalität – Eine Debatte über die Grundlagen des Sozialen (2009) von Hans Bernhard Schmid und David P. Schweikard beachtet. Dabei gelang es ihnen vortrefflich die Meilensteine, zumindest jene ab der sprachanalytischen Auseinandersetzung, zusammenzutragen. Wobei dieser Sammelband zum einen durch die Bündelung der Ansätze sowie zum anderen durch die teilweise recht zeitnahe Übersetzung der englischsprachigen Aufsätze selbst zur Verbreitung der Debatte beitrug. Dabei referieren Schmid und Schweikard zumindest in ihrer Einleitung ebenfalls auf die verschiedenen Vorläufer, wie die Phänomenologie. Demnach soll in dieser Arbeit keineswegs die Position vertreten werden, dass nicht noch weitere Entwicklungsphasen und Vorläufer bestehen3 , doch werden hier als Hauptentwicklungsphasen des Debattenverlaufs 3
Beispielweise kann der Ansatz nach Aristoteles, die praktische Philosophie nach Wilfrid Sellars oder die frühe soziologische Theorie, wie sie unter anderem von Georg Simmel vertreten wird, als Vorläufer dieser Debatte angeführt werden. Vgl. u.a. (i) Hans Bernhard Schmid u. David P. Schweikard: »Kollektive Intentionalität und kollektives Handeln«, in: Handbuch Handlungstheorie – Grundlagen, Kontexte, Perspektiven, hg. v. M. Kühler u. M. Rüther, Springer Verlag, 2016, S. 118–128, hier: S. 118. Im Folgenden als: H.B. Schmid u. Schweikard: Handbuch Handlungstheorie: »Koll. Int. u. koll. Handeln« (2016). (ii) Hans Bernhard Schmid: »Being Well Together – Aristotle on Joint Activity and Common Sense«, in: Analytic and Continental Philosophy: methods and perspectives - proceedings of the 37th International Wittgenstein Symposium, hg. v. S. Rinofner-Kreidl und H. Wiltsche, de Gruyter Verlag, Berlin, 2016, S. 289–308. (iii) Hans Bernhard Schmid u. David P. Schweikard: »Einleitung: Kollektive Intentionalität – Begriff, Geschichte, Probleme«, in: Kollektive Intentionalität – Eine Debatte über die Grundlagen des Sozialen, hg. v. Hans Bernhard Schmid u. David P. Schweikard, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1. Auflage 2009, S. 11–65, hier: S. 21f. Im Folgenden als: H.B. Schmid u. Schweikard: »Einleitung: Koll. Int.« (2009). Der Sammelband wird im Folgenden angeführt als: Sammelband Kollektive Intentionalität, hg. v. Schmid u. Schweikard (2009). Ungeachtet bleiben in dieser Auflistung nach Schmid und Schweikard etwa Sozialpsychologen wie William McDougall in dessen Werk es beispielsweise heißt: »the social aggregate has a collective mental life, which is not
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ab dem 20. Jahrhundert ausschließlich die Phänomenologie, die Sprachanalytik und die evolutionäre Verhaltensforschung behandelt.4 Dass die phänomenologischen Beiträge erst rund 20 Jahre nach den sprachanalytischen Anfängen der Debatte Beachtung fanden – was maßgeblich auch Schmids Werk Wir-Intentionalität (2005) zu verdanken ist –, ist jedoch nicht allein auf die Missachtung von Seiten der Sprachanalytiker zurückzuführen. Dieser Umstand ist auch durch zahlreiche äußere Umstände bedingt: Einerseits handelte es sich dabei teils um phänomenologische Autoren, welche bereits innerhalb des deutschsprachigen Raums, vorwiegend aufgrund der damaligen politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse, in Vergessenheit geraten waren. Andererseits fanden sich zwar bereits um 1940 Kurzdarstellungen der frühen phänomenologischen Ansätze5 , doch eine tatsächliche Übersetzung, etwa ins Englische, fand erst recht spät statt6 . Ebenfalls ist zu bemerken, dass in der Rezeption der Betrachtungs-
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merely the sum of the mental lives of its units, it may be contended that a society not only enjoys a collective mental life but also has a collective mind or, as some prefer to say, a collective soul.« William McDougall: The Group Mind – A sketch of the principles of collective psychology with some attempt to apply them to the interpretation of national life and character [1921], Cambridge University Press, 2. Auflage 1927, hier: S. 7. Im Folgenden als McDougall: Group Mind (1927). Als eine der wenigen sprachanalytischen Debattenbeiträger, die die historische Auseinandersetzung und Vorwegnahme bereits zu Beginn ihrer eigenen Überlegungen thematisieren, kann Margaret Gilbert angeführt werden. Sie selbst betont von Georg Simmel beeinflusst zu sei (vgl. Margaret Gilbert: On Social Facts [1989], Princeton University Press, Princeton/New York, 1992, Kapitel 4, S. 146ff. Im Folgenden als: Gilbert: On Social Facts (1992)). Im Verlauf dieser Arbeit wird lediglich stellenweise, meist in den Fußnoten die Vorläuferschaft von Aristoteles, Émile Durkheim und Georg Herbert Mead angerissen. Bei diesem Vorgehen wird deutlich zwischen verschiedenen Strömungen der Debatte gesprochen, beispielsweise dezidiert in Abgrenzung zu Jan Skudlarek, welcher schreibt: »Wenngleich es einen breiten Fächer philosophischer Forschungsbestrebungen auf dem Gebiet der kollektiven Intentionalität [ab den 1980er Jahren] gibt, kann nicht von verschiedenen Strömungen oder gar Schulen die Rede sein.« Jan Skudlarek: Relationale Intentionalität – Eine sozialontologische Untersuchung gemeinsamer Absichten (Dissertationsschrift, 2014, Westfälische Wilhelms-Universität Münster), S. 28 (Herv. selbst vorgenommen). Im Folgenden als: Skudlarek: Relationale Intentionalität (2014). Wie etwa James Collins: »Edith Stein and the Advance of Phenomenology« (1942). Nur um einige Daten der Übersetzung zu nennen: Als eines der ersten ins Englische übertragenen Werke kann wohl Max Schelers Wesen und Formen der Sympathie [1923] gelten (übersetzt v. P. Heath: The Nature of Sympathy, Routledge Verlag, London, 1954). Edmund Husserls Cartesianischen Meditationen wurden wohl um 1967 erstmals ins Englische übersetzt. (Diese Daten wurden entnommen aus dem Kapitel »Die ›Cartesianischen Meditationen‹/›Méditations Cartésiennes‹« von Dermot Moran, übersetzt v. Patricia Meidl, in: Husserl-Handbuch – Leben-Werk-Wirkung, hg. v. Sebastian Luft u. Maren Wehrle, Metzler Verlag, Stuttgart, 2017, S. 90–96, hier: S. 90). Die Dissertation Edith Steins Zum Problem der Einfühlung (1917) wurde jedoch erst um 1989 übersetzt (wie im Literaturverzeichnis des Aufsatzes Edith Stein’s Account of Communal Mind and its Limits: A Phenomenological Reading von Emanuele Caminada (2015)
Einleitung
schwerpunkt teils zunächst auf eine ganz andere thematische Ausrichtung zielte.7 Zudem waren (oder sind teils noch nicht einmal gegenwärtig) nicht alle diese Werke oder Werksteile zugänglich, da beispielsweise der erste Teil der Dissertation Steins als verschollen gilt8 , allerdings die Publikation ihrer überlieferten Werke wohl just in diesem Moment als abgeschlossen gelten kann9 . Musterhaft für diese Situation ist auch, dass eine vollständige Veröffentlichung der erhaltenen Schriften in Bezug auf den Nachlass Husserls gegenwärtig noch angestrebt wird10 . Dadurch wird erst zukünftig die notwendige Systematisierung und umfangreiche Kommentierung des Gesamtzusammenhanges ihrer jeweiligen Werke möglich sein. Dabei müsste ebenfalls die historische Aufarbeitung tiefergehend verfolgt werden, wann welcher Autor wie von wem beeinflusst wurde, da sich in allen drei hier aufgeführten Hauptströmungen der Debatte – der Phänomenologie, der Sprachanalytik und der evolutionären Verhaltensforschung – vorwiegend innerhalb der jeweiligen Strömung, jedoch auch strömungsübergreifend zahlreiche Einflussnahmen nachzeichnen lassen.11 Um anzureißen, dass die Phänomenologie
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angegeben wird (vgl. Emanuele Caminada: »Edith Stein’s Account of Communal Mind and its Limits: A Phenomenological Reading«, in: Empathy and Collective Intentionality – The Social Philosophy of Edith Stein, Human Studies Band 38, Springer, hg. v. Thomas Szanto u. Dermot Moran, 2015, S. 549–566. Im Folgenden als: Caminada: »Steins’s Account« (2015)). Die Übersetzung von Martin Heideggers Sein und Zeit (1927) erfolgte 1962. (So zumindest lässt sich dies aus der Angabe des Literaturverzeichnisses des Aufsatzes »Phenomenology Sociology« von Søren Overgaard und Dan Zahavi schließen (erschienen in: Encountering the Everyday, Basingstoke, Palgrave Macmillian, 2009, S. 93–115)). Zwar etablierte sich etwa ab den 1960er Jahren in Amerika eine Rezeption der Werke Edith Steins, allerdings nicht hinsichtlich Steins Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Einfühlung, sondern das Augenmerk wurde zunächst primär auf ihre Konzeption einer Geschlechteranthropologie und Religionsphilosophie geworfen (vgl. Edith Stein: Beiträge zur philosophischen Begründung der Psychologie und der Geisteswissenschaft [1922], Edith Stein Gesamtausgabe Band 6, Herder Verlag, Freiburg im Breisgau, hier: 3. Auflage, 2010, hier: Einführung v. Beate Beckmann-Zöller, S. LXIII. Im Folgenden als: Stein: Beiträge philo. Begründung [1922]). Vgl. Edith Stein: Zum Problem der Einfühlung [Dissertationsschrift: 1917], Kaffke Verlag, München, 1980, hier: Hinführung von Johannes Baptist Lotz. Im Folgenden als: Stein: Zum Problem d. Einfühlung [1917]. Die Herausgabe des 28. Bandes der Edith Stein Gesamtausgabe erfolgte 2020: Neu aufgefundene Texte und Übersetzungen VII, hg. v. Beate Beckmann-Zöller, Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz u. Ulrich Dobhan, Herder Verlag, Freiburg, 2020. Unter anderem ist dort erstmals ihr Brief an Papst Pius XI aus dem Jahr 1933 in der Gesamtausgabe abgedruckt. Die Forschung hoffte im Jahr 2017, dass alle in Frakturschrift verfassten Schriftstücke Husserls um 2020 veröffentlicht sein könnten (vgl. Sebastian Luft u. Maren Wehrle: »Überblick über Husserls Nachlass«, in: Husserl-Handbuch – Leben-Werk-Wirkung, hg. v. Sebastian Luft u. Maren Wehrle, Metzler Verlag, Stuttgart, 2017, S. 114–115, hier: S. 115). Zur Untermauerung seien hier nur zwei Beispiele aus dem Bereich der Phänomenologie exemplarisch genannt: Erstens gibt Stein selbst mehrfach an, dass ein immenser Einfluss
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inhaltliche Vorwegnahmen leistete und daher als Vorläufer der Debatte betrachtet werden kann und muss, werden im folgenden Abschnitt exemplarisch die Autoren Max Scheler (*1874 - †1928) und Edmund Husserl (*1859 - †1938) beleuchtet.
Die Phänomenologie als ein dezidierter Vorläufer Sicherlich bestehen hinsichtlich der Beschreibung der Intentionalitätsformen in der frühen Phänomenologie einige Mängel. Man denke beispielsweise an die vollkommen inflationäre Verwendung des Begriffs »Miteinander« für jegliches Fürund Gegeneinander der Beteiligten, wodurch er sich allerdings als unbestimmter, nichtssagender Begriff fassen lässt (siehe unter anderem Kapitel 3.1). Doch darf dabei nicht missachtet werden, dass eben dennoch zahlreiche Aspekte der Debatte bereits in der frühen phänomenologischen Auseinandersetzung vorweggenommen wurden, wie hier mithilfe von Schelers Beschreibung des trauernden Elternpaares und einigen Verweisen auf Husserls Werke verdeutlicht wird. Zwar ist über beide Autoren in der Forschung und in den letzten zwanzig Jahren der Debatte der kollektiven Intentionalität einiges gesagt worden, aber es wurde kaum einmal explizit durchgegangen, an wie vielen Punkten konkret eine solche Vorläuferschaft besteht. Das Beispiel der trauernden Eltern, das in der Philosophie mit Bezug auf Gefühlsphänomene wohl die am häufigsten zitierteste Textpassage ist, tritt bei Scheler erstmals um 1912/1913 auf und findet sich etwas abgewandelt um 1923 in folgendem Wortlaut: »Vater und Mutter stehen an der Leiche eines geliebten Kindes. Sie fühlen miteinander ›dasselbe‹ Leid, ›denselben‹ Schmerz. Das heißt nicht: A fühlt dies Leid und B fühlt es auch, und außerdem wissen sie noch, daß sie es fühlen – nein, es ist ein Mit-einanderfühlen. Das Leid des A wird dem B hier in keiner Weise ›gegenständlich‹, so wie es z.B. dem Freund C wird, der zu den Eltern hinzutritt und Mitleid Husserls und Schelers in ihren Schriften vorliegt – teils ohne dies an den entsprechenden Textstellen mit den konkreten Referenzstellen zu kennzeichnen. Diese rare Zitation mündete sogar seitens Scheler in einer Plagiatsunterstellung. Vgl. (i) Stein: Beiträge philo. Begründung [1922], hier: Vorwort, S. 3f. (ii) Stein: Zum Problem d. Einfühlung [1917], Vorwort, S. VI. (iii) Edith Stein: Selbstbildnis in Briefen – Erster Teil: 1916-1933, Edith Stein Gesamtausgabe Band 2, Herder Verlag, Freiburg im Breisgau, 2000, S. 27. Zweitens führt Marianne Sawicki in Body, Text and Science aus, dass zahlreiche Passagen der Ideen II Husserls, insbesondere jene Passagen zur Thematik der Einfühlung, von Stein und nicht von Husserl verfasst wurden. Vgl. (i) Marianne Sawicki: Body, Text and Science – The Literacy of Investigative Practices and the Phenomenology of Edith Stein, Phenomenologica Band 144, Springer, 1997. (ii) Margaretha Hackermaier: Einfühlung und Leiblichkeit als Voraussetzung für intersubjektive Konstitution – Zum Begriff der Einfühlung bei Edith Stein und seine Rezeption durch Edmund Husserl, Max Scheler, Martin Heidegger, Maurice Merleau-Ponty und Bernhard Waldenfels, Dr. Kovač Verlag, Hamburg, 2008, S. 29 u. 38.
Einleitung
›mit ihnen‹ hat oder ›an ihrem Schmerze‹. Nein, sie fühlen es ›miteinander‹ im Sinne eines Miteinander-fühlens, eines Miteinander-erlebens nicht nur ›desselben‹ Wertverhaltens, sondern auch derselben emotionalen Regsamkeit auf ihn. Das ›Leid‹ als Wertverhalt und Leiden als Funktionsqualität ist hierbei eines und dasselbe. Wir sehen sofort: So kann man nur ein seelisches Leiden fühlen, nicht z.B. einen physischen Schmerz, ein sinnliches Gefühl. Es gibt keinen ›Mitschmerz‹.«12 Diese Stelle ist aus mehreren Gründen bemerkenswert: Erstens bezieht sich Scheler auf ein Gefühlsphänomen, welche im Verlauf der Debatte, insbesondere in der Sprachanalytik und evolutionären Verhaltensforschung, kaum beachtet wurden, da hierbei die Fokussierung vielmehr auf Handlungsabsichten beziehungsweise Handlungsvollzügen lag. Erst in neueren Beiträgen, wie unter anderem in Hans Bernhard Schmids »Mitleid ohne Einfühlung« (2013) oder in dem Werk Zwischen Ich und Du (2015) von Angelika Krebs, wurde ausdrücklich eine Abgrenzung der parallelen und gemeinsamen Gefühle angestrebt.13 Zweitens hebt Scheler jedoch gleichzeitig hervor, dass ein solches Miteinanderfühlen zwar bei psychischen, jedoch nicht bei physischen Gefühlsphänomenen möglich sei.14 Spezifische Phänomene können also nicht im engen Sinne gemeinsam erlebt werden, da beispielsweise meine körperlichen Schmerzen, wie Zahnschmerzen, meinem Gegenüber nicht originär, sondern nur vermittelt durch Einfühlung oder Mitgefühl gegeben sind.
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Max Scheler: Wesen und Formen der Sympathie, hg. v. Manfred S. Frings, Bouvier Verlag, Bonn, 1999, Teil A, Abschnitt II, S. 23f. Im Folgenden als: Scheler: Wesen u. Formen d. Sympathie [1923]. Vgl. Max Scheler: Zur Phänomenologie und Theorie der Sympathiegefühle und von Liebe und Haß, Max Niemeyer Verlag, Halle an der Saale, 1913, S. 9ff. Im Folgenden als: Scheler: Theorie d. Sympathiegefühle [1913]. Sicherlich mag man einerseits sagen, dass das Beispiel der Trauer um das eigene Kind in seiner Dramatik kaum zu überbieten ist und daher ein Extrem darstellt. Andererseits sollte in den Blick genommen werden, dass Scheler diese Überlegungen erstmals 1913, also zurzeit um den ersten Weltkrieg herum, publizierte, in welcher eine solche Situation zwar nicht an Dramatik verliert, aber faktisch zu einem alltäglich zu beobachtenden Phänomen wurde. Vgl. (i) Hans Bernhard Schmid: »Mitleid ohne Einfühlung – Überlegungen zu Achilles’ Gefühlsentwicklung«, in: Die Grenzen der Empathie – Philosophische, psychologische und anthropologische Perspektiven, hg. v. Thiemo Breyer, Wilhelm Fink Verlag, München, 2013, S. 459–474. Im Folgenden als: H.B. Schmid: »Mitleid ohne Einfühlung« (2013). Der Sammelband wird im Folgenden angeführt als: Grenzen der Empathie (2013). (ii) Angelika Krebs: »›Vater und Mutter stehen an der Leiche eines geliebten Kindes‹ Max Scheler über das Miteinanderfühlen«, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, Band 35, Heft 1, 2010, S. 9–43. (iii) Angelika Krebs: Zwischen Ich und Du – Eine dialogische Philosophie der Liebe, Suhrkamp Verlag, Berlin, 1. Auflage, 2015. Im Folgenden als: Krebs: Zwischen Ich u. Du (2015). Vgl. u.a. Scheler: Wesen u. Formen d. Sympathie [1923], Teil A, VI, S. 105ff.
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Drittens wird ausgeführt, dass alle Beteiligten in ein und derselben Weise (nämlich: trauernd) auf ein und dasselbe (nämlich: die tote Person) gerichtet sind. Viertens ist darüber hinaus auf die Formulierungsweise Schelers zu achten: Vergleicht man die beiden Versionen der ersten und zweiten Auflage, so zeigt sich eine deutliche Präzisierung. In der ersten Auflage von 1912 heißt es: »Sie fühlen miteinander dasselbe Leid und denselben Schmerz. [...] [E]s ist ein Mit-einanderfühlen.«15 Später, in der zweiten Auflage von 1923, werden Anführungszeichen gesetzt: »Sie fühlen miteinander ›dasselbe‹ Leid und ›denselben‹ Schmerz. «16 Gerade durch die Kennzeichnung in Anführungszeichen wird offenkundig, dass Scheler keineswegs, wie in der Rezeption meist angenommen, auf einen tatsächlich einheitlichen Bewusstseinsstrom, das heißt kurz gefasst auf ein einzelnes Subjekt im ontologischen Sinn hinaus will. Vielmehr geht er von zwei physikalisch getrennten Subjekten aus, welche in unterschiedlicher Weise ihre Gefühle ausdrücken und das Ausmaß der Gefühle variiert.17 Etwa, weil die Mutter tränenreich vor dem Grab steht, der Vater demgegenüber vor Trauer geradezu erstarrt ist. Aber die Beteiligten können sich eben einsfühlen, sodass zumindest das Gefühl besteht als ob ein einheitlicher Bewusstseinsstrom vorläge. Fünftes differenziert Scheler die Art der Gefühle danach, welche Beteiligten konkret umfasst werden: Die Eltern des Toten empfinden miteinander ein und dasselbe Leid. Das »Miteinander« beinhaltet hier zwei Ebenen: zum einen trauert die Mutter mit-einem-Anderen, nämlich konkret dem Vater, das heißt sie befindet sich in einer kommunikativen Interaktion. Hier wird auf den Aspekt der Gleichzeitigkeit gezielt: Die Mutter fühlt zeitgleich (oder zumindest außerordentlich zeitnah) mit dem Vater ebenfalls Trauer, sodass es ihre Trauer – die Trauer der Mutter, die Trauer einer einzelnen Person – ist. Es ist eher eine individuelle Trauer der Mutter und des Vaters. Zum anderen – und dies ist an jenem Beispiel Schelers immanent – liegt ein »tiefgreifendes« mit-einander vor: Mutter und Vater trauern nicht nur gleichzeitig um ein und dasselbe, sondern sie fühlen ein und dasselbe: Es ist ihre Trauer, das heißt hier die gemeinsame Trauer von Mutter und Vater – wobei eben auch hier, je nach Wortwahl, von einer einzelnen Person, der »Personalität ›höherer Stufe‹« gesprochen werden kann. Sechstens lässt sich dem Zitat Schelers entnehmen, dass es sich hinsichtlich des wechselseitigen Wissens nicht um eine infinite Reziprozität, sondern um ein intuitives Erfassen handelt. Man weiß intuitiv, dass der Andere in eben dieser Weise auf eben dies gerichtet ist. In Schelers eigenen Worten: »Das heißt nicht: A fühlt
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Scheler: Theorie d. Sympathiegefühle [1913], S. 9. Scheler: Wesen u. Formen d. Sympathie [1923], Teil A, Abschnitt II, S. 23. Vgl. Nina Trčka: »Kollektive Stimmungen – Leiblich-intersubjektive und interpersonale Formen emotionalen Teilens«, in: Rostocker Phänomenologische Manuskripte, Band 25, hg. v. Michael Großheim, Rostock, 2016, S. 16.
Einleitung
dies Leid und B fühlt es auch, und außerdem wissen sie noch, daß sie es fühlen – nein, es ist ein Mit-einanderfühlen.«18 . Bereits Scheler vermerkt demnach, dass sich ein gemeinsames Gefühl nicht auf die jeweiligen individuellen Gefühle und das wechselseitige Wissen um die Existenz des Anderen, dessen Intentionalitätsgehalt sowie -modus und um die dementsprechende Deckungsgleichheit mit dem eigenen Gehalt und Modus.19 Trotz all dieser zahlreichen Ausführungen zum Mitgefühl bleibt allerdings auch bei Scheler offen, ob dieses Phänomen letztlich als positiv oder negativ einzuordnen ist: Denn einerseits heißt es im Alltag »geteiltes Leid ist halbes Leid«, wäre also demnach förderlich, da das Leid in seinem Ausmaß vermindert wird. Andererseits ist nicht von der Hand zu weisen, dass bei einem Mitleid, so kann ebenfalls gesagt werden, in gewisser Weise das Leid vergrößert wird, da nun noch eine weitere Person leidet. Dennoch ist mehr als deutlich: In einem einzelnen Werk Schelers – genauer gesagt: in einer einzelnen Textpassage – finden sich zahlreiche Vorwegnahmen der Debatte. Bei Husserl ist es demgegenüber eher eine Vielzahl von einzelnen Aufsätzen, die zusammengenommen – ohne dass dies gegenwärtig viel beachtet wird – das Bild der Debatte umreißen. Erstens befasste sich Husserl – circa 80 Jahre vor Tomasello – mit der Frage, wer als Beteiligter einer gemeinsamen Welt gelten kann: Bestimmte Objekte, Lebewesen oder Subjekte entfallen als Beteiligte, konkret listete Husserl hierunter: Tote, Bewusstlose und »Verrückte«20 (siehe Kapitel 2.1). Desweiteren findet sich bei ihm zweitens bereits die Erläuterung der kognitiven Voraussetzung der Vernunft21 , welche prägnanter als Moralfähigkeit bei Tomasello nachgegangen wird (siehe Kapitel 3.3). Zudem wird bei Husserl drittens angeführt, dass sich die »interpersonale Intentionalität« nicht auf die Intentionalität der Einzelbeteiligten reduzieren lassen, 18 19
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Scheler: Wesen u. Formen d. Sympathie [1923], Teil A, Abschnitt II, S. 23. Vgl. Hans Bernhard Schmid: Wir-Intentionalität – Kritik des ontologischen Individualismus und Rekonstruktion der Gemeinschaft, Karl Alber Verlag, Freiburg im Breisgau, 1. Auflage 2005, hier: 2. Auflage 2012, S. 138. Im Folgenden als: H.B. Schmid: Wir-Intentionalität (2005). Vgl. u.a. Edmund Husserl: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität – Erster Teil: 1905-1920, hg. v. Iso Kern, Martinus Nijhoff Verlag, Den Haag, 1973, (Hua. Bd. XIII), darin: Beilage XLVIII: »Verrücktwerden und Tod als Aufhören der Konstitution einer gemeinsamen Welt« (zwischen 1915 und 1917), S. 398–399. Im Folgenden als: Husserl: Beilage XLVIII: »Verrücktwerden und Tod« (ca. 1915) (Hua. XIII). Dieser Husserliana Band wird im Folgenden angeführt als: Husserl: Intersubjektivität I (Hua. XIII, Texte v. 1905-1920). Vgl. Edmund Husserl: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität, Texte aus dem Nachlass, Dritter Teil: 1929-1935, (Hua. Bd. XV), hg. v. Iso Kern, Martinus Nijhoff Verlag, Den Haag, 1973, hier: Text Nr. 10: »Die Welt der Normalen und das Problem der Beteiligung der Anomalen an der Weltkonstitution« (1931), S. 133–142, hier: S. 140. Im Folgenden als: Husserl: Text Nr. 10: »Die Welt der Normalen« (1931) (Hua. XV). Dieser Husserliana Band wird im Folgenden angeführt als: Husserl: Intersubjektivität III (Hua. XV, Texte v. 1929-1935).
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sondern es vielmehr eine »Synthese« sei22 , die zwischen den Personen besteht, wie – über 70 beziehungsweise über 80 Jahre später – beispielsweise auch Ernst Wolfgang Orth und Hans Bernhard Schmid betonen: Die Beteiligten müssen spezifische kognitive Fähigkeiten und einen spezifischen ontologischen Status besitzen, nämlich Personen sein, und ihre Intentionalität lässt sich »räumlich«, also als zwischen ihnen, erfassen. Darüber hinaus vertritt Husserl in seinen Überlegungen viertens, dass der Intentionalitätsmodus der Beteiligten entscheidend sei. Er tritt für eine Differenzierung des verstehenden und kommunikativen Aktes, in anderen Worten zwischen dem »für-sich« und »für-uns« ein. Dies liegt später bei Tuomela, Searle und Tomasello als Unterscheidung zwischen der »I-« und »We-intentions« beziehungsweise des »I-« und »We-modes« vor (siehe Kapitel 3.2 und 3.3). Husserl vertritt dabei fünftens, dass diese spezifischen Aspekte – die spezifischen kognitiven Gegebenheiten, wie das Einfühlungsvermögen, die »für-uns«Ausrichtung und der kommunikative Akt – für ein »Universum von Realien mit ontischer Struktur«23 notwendig seien. Konkret wird hier genau das angedeutet was – circa 60 Jahre später – gerade den Kern der searleschen Werke ausmacht: Mittels der »We-intentions« und der Sprache ist es möglich von der physikalischen Eigenschaft des Objektes zu abstrahieren (»linguistic intentionality«) und nicht nur soziale Tatsachen (»bloße kollektive Intentionalität«), sondern eben auch institutionelle Tatsachen, wie etwa die Ehe oder Geld, zu schaffen. Doch damit nicht genug, geht sechstens aus Husserls Werken hervor: Mit der »Synthese« der »für-uns«-gerichteten Beteiligten wird »eine Personalität ›höherer Stufe‹ […] mit einem Bewusstsein, das alle die Einzelbewusstseine [...] umgreift«24 ,
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Edmund Husserl: Erste Philosophie (1923/24) – Zweiter Teil: Theorien der phänomenologischen Reduktion, (Hua. Bd. VIII), hg. v. Rudolf Boehm, Martinus Nijhoff Verlag, Haag, 1959, hier: Ergänzende Texte, A. Abhandlungen, »Meditation über die Idee eines individuellen und Gemeinschaftslebens in absoluter Verantwortung« (1924), S. 193–202, hier: S. 197f. Im Folgenden als: Husserl: »Idee eines individuellen u. Gemeinschaftslebens« (1924) (Hua. VIII). Vgl. Husserl: Intersubjektivität III (Hua. XV, Texte v. 1929-1935), hier: Text Nr. 11: »Apodiktische Struktur der transzendentalen Subjektivität. Problem der transzendentalen Konstitution der Welt von der Normalität aus (wohl Ende 1930, oder 1931), S. 148–170, hier: S. 160 – dort Fußnote Nr. 1. Im Folgenden als: Husserl: Text Nr. 11: »Apodiktische Struktur« (1930 oder 1931) (Hua. XV). Edmund Husserl: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität, Texte aus dem Nachlass, Zweiter Teil: 1921-1928, hg. v. Iso Kern, Martinus Nijhoff Verlag, Den Haag, 1973, Hua. Bd. XIV, hier: Text Nr. 10: »Gemeingeist II. Personale Einheiten höherer Ordnung und ihre Wirkungskorrelate« (1918 oder 1921), S. 192–204, hier: § 5, S. 199. Im Folgenden als: Husserl: Text Nr. 10: »Gemeingeist II. Personale Einheiten höherer Ordnung« (1918 oder 1921) (Hua. XIV). Dieser Husserliana Band wird im Folgenden angeführt als: Husserl: Intersubjektivität II (Hua. XIV, Texte v. 1921-1928).
Einleitung
konstituiert. Dieser Gedanke kommt besonders mit Margaret Gilberts Überlegungen zum »plural subject«25 – ungefähr 70 Jahre später – wieder ausgeprägt in der Debatte auf (siehe Kapitel 4.3). Husserl betont dabei einerseits, dass diese »Personalität ›höherer Stufe‹« eine charakteristische, in seinen Worten eine »kollektive Leiblichkeit«26 besitzt und andererseits, dass dieses Gruppenbewusstsein, wie das Phänomen der »Gemeinschaftserinnerung«27 , in jeden Beteiligten hineinströmt und diesen beeinflusst, was er um 1922 als »eingebildete Intentionalität« fasst28 . Um die Ausführungen auf den Punkt zu bringen: Es lassen sich in der Phänomenologie, wie hier anhand von Husserl und Scheler demonstriert, allerhand inhaltliche Vorwegnahmen finden, weshalb man einerseits die Phänomenologie nicht nur als Vorläufer, sondern als eine der Hauptströmungen dieser Debatte anerkennen sollte. Andererseits sollte man auch – zumindest ein wenig – gewillt sein, über die terminologischen sowie methodologischen Unterschiede der Strömungen hinwegzusehen. Doch eine solche historische Darlegung wird hier nur aus systematischen und metatheoretischen Gründen angeführt, denn die Phänomenologie, die Sprachanalytik und die evolutionäre Verhaltensforschung – welche in dieser Argumentation, um es nochmals zu sagen, als die drei Hauptströmungen ab dem 20. Jahrhundert gedeutet werden – zielen der Sache nach auf ein und dasselbe, nämlich eine Konzeption der Intentionalitätsformen. Diese verschiedenen Konzeptionen, die jeweils eine neue thematische Stoßrichtung in die Debatte einbrachten, werden in der vorliegenden Typologie gegenübergestellt. Hierbei zeigt sich unter anderem, dass nicht nur die Position Tomasellos auf eine differentia specifica zwischen dem Tier und dem Menschen hinausläuft. Es lassen sich fraglos kurze und bündige Definitionen der kollektiven Intentionalität in der Debatte finden, wie etwa: »Collective Intentionality is a relatively 25
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Vgl. Margaret Gilbert: »Walking Together – A Paradigmatic Social Phenomenon«, in: Midwest Studies in Philosophy, Band XV, 1990, S. 1–14, hier: S. 7 (übersetzt v. Anita Konzelmann Ziv: »Zusammen spazieren gehen: Ein paradigmatisches soziales Phänomen«, in: Sammelband Kollektive Intentionalität, hg. v. Schmid u. Schweikard (2009), S. 154–175, hier: S. 164). Im Folgenden als: Gilbert: »Walking Together« (1990) (dt.). Edmund Husserl: Die Lebenswelt – Auslegungen der vorgebenen Welt und ihrer Konstitution, Texte aus dem Nachlass (1916-1937), Hua Bd. XXXIX, Springer Verlag, Dordrecht, 2008, hier: Text Nr. 19: »Mein (unser) Welthorizont in seiner Zeiträumlichkeit. Zeiträumliche Orientierung: Zeitmodalitäten und räumliche Modalitäten« [1932], S. 179–184, hier: S. 181. Im Folgenden als: Husserl: Text Nr. 19: »Welthorizont in Zeiträumlichkeit« [1932] (Hua. XXXIX). Dieser Husserliana Band wird im Folgenden angeführt als: Husserl: Lebenswelt (Hua. XXXIX, Texte v. 1916-1937). Husserl: Intersubjektivität II (Hua. XIV, Texte v. 1921-1928), hier: Beilage XXVII: »Die persönliche Lebenszeit und die historische Zeit, die Lebenszeit der Gemeinschaft. Typik der Zeitalter. Historische Tradition« (1922), S. 217–221, hier: S. 221. Im Folgenden als: Husserl: Beilage XXVII: »Die persönliche Lebenszeit« (1922) (Hua. XIV). Vgl. ebd., S. 219f.
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new name for a basic social fact: the sharing of such attitudes as intentions, beliefs and emotions«29 . Zwar handelt es sich dabei um vortreffliche, den Kerngedanken präzise zusammenfassende Definitionen, allerdings lassen sie dabei den großen Dissens der Debattenteilnehmer beiseite. Denn es ist durchaus strittig, was erstens unter Intentionalität, zweitens dem Kollektiv zu verstehen ist und drittens für welches Phänomen etwa der Begriff »sharing« eingesetzt werden könne. Dieses große Ganze soll in diesem Versuch der Typologisierung, wenn auch nicht im Rahmen aller Einzelheiten, sondern nur in dessen groben Zügen nachgezeichnet werden. Eine Klassifizierung der Intentionalitätsformen, so wird das Gesamtfazit lauten, scheint besonders dann eingängig und nachvollziehbar zu sein, wenn man diese anhand der Identität der Intentionalitätsmomente ausrichtet.
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Hans Bernhard Schmid: Plural Action – Essays in Philosophy and Social Science, (Contributions to Phenomenology, Band 58), Springer Verlag, Dordrecht/Heidelberg/London/New York, 2009, hier: Klappentext. Im Folgenden als: H.B. Schmid: Plural Action (2009).
1. Intentionalität: Drei Ansätze
Eine Abgrenzung der Phänomenologie und Sprachanalytik erfolgte in der Geschichte der Philosophie meist dadurch, welcher Primat zugrunde gelegt wird: In der Phänomenologie sei es das Bewusstsein, während in der Sprachanalytik die Sprache als notwendige Bedingung aller anderen Phänomene angenommen wird. Demgegenüber soll nun vielmehr dafür plädiert werden, dass eine solche Klassifizierung zwar eine Tendenz wiedergeben mag, doch allein nicht ausreichend für eine prägnante Grenzziehung zwischen den beiden Strömungen ist. Beispielsweise gilt Searle als Sprachanalytiker, vertritt jedoch gleichzeitig, wie an einschlägigen Textpassagen belegt werden kann, einen Primat des Bewusstseins. Es lässt sich also bereits mit einem der prominentesten Debattenteilnehmer eine Ausnahme dieser üblichen Regel finden. Der Unterschied der beiden philosophischen Strömungen manifestiert sich, so die Überlegung dieser Dissertation, vielmehr darin, mit welchen Phänomenbereichen sich tatsächlich befasst wird und wie eine Definition der Intentionalität daher lauten müsste. Diese Art der Differenzierung fußt nicht, wie betont werden muss, auf einem Selbstverständnis der Referenzautoren. Anhand von Searle: Er zählt nicht aufgrund des Primates der Sprache als ein Vertreter der sprachanalytischen Strömung, sondern weil er mit einem spezifischen Verständnis der Intentionalität bestimmte Phänomene behandelt, nämlich die Sprache. Indem dem Verständnis der Intentionalität – und des Kollektivs – nachgegangen wird, werden die abweichenden Positionen in der Debatte der kollektiven Intentionalität deutlich. Gleichsam wird der Vorschlag gemacht, die Strömungen danach zu differenzieren, welche Bedeutung der Begriff »Intentionalität« hat, also welche Phänomene unter diesem Schlagwort untersucht werden. Erst mit einem solchen Verständnis wird klar, wie es zusammengeht, dass Searle zwar einen Primat des Bewusstseins annimmt, jedoch seinen Fokus auf die Sprache legt. Um anzudeuten wohin die Reise im Verlauf der Arbeit gehen wird: Aus einer spezifischen Intentionalität – nämlich wie in Kapitel 3.3 näher dargelegt: der »tiefgreifenden« kollektiven Intentionalität – entspringt laut Searle ein spezifisches menschliches Phänomen: die Sprache. Und die Sprache wiederum wird, so kann kurz gefasst gesagt werden, insbesondere bei Searle als jenes Phänomen gedeutet, mit welchem der Wesensunterschied zwischen dem Tier und dem Menschen am
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Formen kollektiver Intentionalität
deutlichsten erkenntlich ist, wodurch die thematische Sonderstellung der Sprache gerechtfertigt wird. Was also wird nun unter Intentionalität verstanden? Das Phänomen der Intentionalität steht im Mittelpunkt der Bewusstseinstheorie und bezieht sich auf drei Phänomenbereiche: Gedanken, Gefühle und Handlungen1 – was in der englischsprachigen Literatur mit den Bezeichnungen »cognitive«, »affective« beziehungsweise »practical intentionality« belegt wird.2 Man hat es dabei etwa mit Phänomenen zu tun wie »ich weiß, dass Angela Merkel die Bundeskanzlerin Deutschlands war«, »ich liebe meinen Freund« oder »ich kaufe ein Eis«. Diese thematische Grundausrichtung bezüglich der drei Hauptphänomenbereiche gilt sowohl in der phänomenologischen als auch für die sprachanalytischen Strömung, sodass zunächst der Eindruck erweckt wird, als gelte in beiden die Intentionalität in einem weiten Verständnis als geistige Gerichtetheit beziehungsweise Bewusstsein von etwas. Allerdings besteht bezüglich des Umgangs mit den Phänomenbereichen eine Differenz. Genauer gesagt: zwar verstehen sich beide Strömungen als Methoden, das heißt, dass sie sich nicht per se auf bestimmte Anwendungsbereiche begrenzt, doch liegt der Unterschied darin, welche Phänomenbereiche tatsächlich prägnant thematisiert werden. Denn es lässt sich folgende These begründen: In der phänomenologischen Strömung werden die Beispiele aus den drei Hauptbereichen – Gedanken, Gefühle und Handlungen – mit dem gleichen Gewicht behandelt (siehe Kapitel 1.1). Die geteilte oder gemeinsame Intentionalität ergibt sich daraus, ob es ein geteiltes oder gemeinsames Erleben ist. In der sprachanalytischen Philosophie fällt hingegen auf, dass fast ausschließlich Handlungen, das heißt konkreter: Absichten, im Vordergrund stehen, sodass dort der Begriff der Intentionalität vorherrschend im Sinne des Bewusstseins einer Handlungsabsicht verwendet wird: Ob eine geteilte oder gemeinsame Intentionalität besteht, ergibt sich daraus, ob die Absicht eine geteilte oder gemeinsame ist (Kapitel 1.2). Eben diese Ausrichtung auf den Phänomenbereich der Handlungen findet sich noch ausgeprägter in der evolutionären
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Selbstredend sind mit diesen drei Hauptbereichen nicht alle Phänomene abgedeckt. Beispielsweise würde man sich – völlig zu Recht – damit schwer tun Imaginationen als Denkform zu begreifen. Aber hier soll davon ausgegangen werden, dass das Denken, die Gefühle und die Handlungen die Hauptphänomenbereiche bilden, welche größtenteils mit den drei dominierenden philosophischen Disziplinen – der Erkenntnistheorie, Ästhetik und der praktischen Philosophie – in Einklang stehen. Vgl. Francesca Maria de Vecchi: »Collective intentionality vs. intersubjective and social intentionality – An account of collective intentionality as shared intentionality«, in: Phenomenology and Mind – The online journal of the center of Phenomenology and sciences of the person, Band 1, Schriftenreihe hg. v. Roberta de Monticelli, Band hg. v. Francesca Maria de Vecchi, 2011, S. 72–87, hier: S. 72. Im Folgenden als: de Vecchi: »Coll. vs. intersubjective and social int.« (2011). Das Journal wird im Folgenden angeführt als: Phenomenology and Mind (hg. v. Monticelli).
1. Intentionalität: Drei Ansätze
Verhaltensforschung Tomasellos – wobei dort eher der Handlungsvollzug anstatt der Handlungsabsicht dominant betrachtet wird. In Tomasellos eigener Wortwahl: ob es sich um eine »individual«, »joint« oder »collective intentionality« handelt, hängt davon ab, ob der Handlungsvollzug von den individuellen Absichten, das ist den Eigeninteressen (»für mich«, »I-mode«), oder den Gruppenabsichten (»für uns«, »We-mode«) geprägt ist. Falls Gruppeninteressen leitend sind, so ist dann genauer zu klassifizieren, ob mindestens zwei (»joint intentionality«) oder mindestens drei Subjekte (»collective intentionality«) involviert sind (Kapitel 1.3). Dass »kein Konsens zur Frage absehbar [ist], was es überhaupt bedeutet, Intentionalität zu teilen«3 ist mit diesem Hintergrund also keinesfalls verwunderlich, denn es besteht bereits viel allgemeiner ein Dissens darin, wie welche Phänomenbereiche thematisiert werden. Das heißt, dass in anderen Worten eine Uneinigkeit darin besteht, was erstens überhaupt unter Intentionalität verstanden wird und ob zweitens das Phänomen beschreibend oder erklärend untersucht wird. Viele der hier behandelten Autoren legen in ihrer Konzeption der Intentionalitätsformen – wenigstens implizit – die individuelle Intentionalität als erste Stufe ihrer Konzeption der Intentionalitätsformen zugrunde: Mehrere Beteiligte müssen jeweils über eine individuelle Intentionalität verfügen, damit zumindest potenziell überhaupt etwas geteilt werden kann. Dabei herrscht einerseits die Meinung vor, dass man geteilte oder gemeinsame Intentionalitätsformen nicht auf die individuellen Intentionalitäten der Beteiligten reduzieren könne: Unsere Intentionalität ist mehr als die Summe deiner und meiner individuellen Intentionalität. Oder mit einem anderen Beispiel: Die Fußballmannschaft mag zwar aus elf Spielern bestehen, aber sie können eine Mannschaft bilden. Gleichzeitig nimmt man andererseits an, dass jedoch die Beteiligten jeweils intentionalitätsfähig – genauer: bewusstseins –, absichts- oder handlungsfähig – sein müssen: Unsere Intentionalität ist nur möglich, weil du und ich jeweils auf ein und dasselbe gerichtet sind. Es wäre absurd zu sagen unsere Intentionalität – das ist eine Intentionalität die mich mit einschließt – sei auch dann tatsächlich gegeben, wenn ich gar nicht auf ein und dasselbe gerichtet bin oder nicht einmal gerichtet sein kann. Nochmals plakativ: ein Stürmer einer Fußballmannschaft, der während des Spieles nicht einmal zeitweise auf den Ball gerichtet ist, ist kein Stürmer und nimmt auch sonst keine aktive Rolle in der Mannschaft ein. Intentionalität, die auf ein Individuum beschränkt wird, kann zwar auf den ersten Blick als Tautologie verstanden werden: Wenn jemand Intentionalität hat, dann ja wohl ein Individuum. Doch damit hat man es mit einer flüchtigen Beurteilung zu tun. Selbstredend verfügen Individuen über Bewusstsein von etwas. 3
Hans Bernhard Schmid: »Schwerpunkt: Kollektive Intentionalität und gemeinsames Handeln«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Band 55, Heft 3, Berlin, 2007, S. 404–408, hier: S. 406. Im Folgenden als: Schmid: »Schwerpunkt: Koll. Int. u. gemeinsames Handeln« (2007).
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Formen kollektiver Intentionalität
Unanzweifelbar ist demgegenüber aber auch, dass Intentionalität geteilt oder gemeinsam erlebt werden kann, beispielsweise indem man die Mannschaft als Mannschaft hervorhebt oder beschreibt, dass sich der Jubel über das gefallene Fußballtor über die Fans im gesamten Stadion oder sogar eine ganze Nation erstreckt. Je nach Autor wird dieser Fall als Musterbeispiel einer kollektiven Intentionalität gewertet: Ein Kollektiv, hier das Kollektiv der Spieler oder der Fans dieser spezifischen Mannschaft, »hat« eine Intentionalität. Genauer kann jedoch betrachtet werden, ob die Fans tatsächlich gemeinsam Freude empfinden, das heißt es ist ihre gemeinsame Freude, oder ob ihre Freude eher nebeneinander besteht, sodass Fan A zwar zeitgleich mit Fan B Freude empfindet, es jedoch vielmehr jeweils seine individuelle Freude ist. In den Konzeptionen der drei Hauptströmungen werden die verschiedenen Formen der Intentionalität vorwiegend nach eben diesen quantitativen und qualitativen Unterschieden aufgliedert: wer ist wie gerichtet? Um die gängigsten Terminologien einmal zu nennen: individuelle, geteilte, gemeinsame und kollektive Intentionalität. Erst wenn man also davon ausgeht, dass verschiedene Intentionalitätsformen bestehen und ihre Differenzierung voneinander vorgenommen werden muss, verliert der Begriff »individuelle Intentionalität« seinen tautologischen Charakter und dient zur Kennzeichnung einer spezifischen Form der Intentionalität. Das Phänomen, das die Intentionalität vorwiegend einem Individuum zukommt – das heißt eben nicht mit einem oder mehreren Anderen geteilt oder gemeinsam erlebt wird – wurde im Laufe der Debatte mit einigen Begriffen bezeichnet, wie »selbsterlebte«4 , »Ich-«5 , »solitary«6 oder »singular intentionality«7 . Die begriffliche Varianz zielt in erster Linie darauf, dass es sich bei dem 4 5
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Vgl. Husserl: Text Nr. 10: »Gemeingeist II. Personale Einheiten höherer Ordnung« (1918 oder 1921) (Hua. XIV), hier: § 2, S. 194. Vgl. u.a. (i) Searle: Making the Social World (2010), S. 47 (dt.: S. 83f.). (ii) Husserl: Intersubjektivität II (Hua. XIV, Texte v. 1921-1928), hier: Beilage XLVI: »›Reale‹ Beziehung aller Dinge auf meinen Leib und ›reale‹ Beziehung des Leibes auf sich selbst als Voraussetzung der Umweltintentionalität und als Grundlage der Einfühlung« (1925), S. 374–377, hier: S. 375. Im Folgenden als: Husserl: Beilage XLVI: »Reale Beziehung« (1925) (Hua. XIV). (iii) Oder sogar: »ichliche Intentionalität« (vgl. Husserl: Intersubjektivität III (Hua. XV, Texte v. 1929-1935), hier: Text Nr. 6: »Zur Lehre von der Fremderfahrung. Anschauliche und unanschauliche Erfüllungsinhalte der Fremdwahrnehmung« (1930), S. 81–91, hier: S. 89. Im Folgenden als: Husserl: Text Nr. 6: »Fremderfahrung u. -wahrnehmung« (1930) (Hua. XV)). Vgl. Francesca de Vecchi: »Making the Social World, or on Making our Everyday Life World«, in: Phenomenology and Mind (hg. v. Monticelli), Band 2, 2012, S. 14–21, hier: S. 17. Im Folgenden als: de Vecchi: »Making the Social World or Everyday Life World« (2012). Vgl. John R. Searle: The Construction of Social Reality, Pinguin Press, London, 1995, Kapitel 1, S. 23 (übersetzt v. Martin Suhr: Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit – Zur Ontologie sozialer Tatsachen, Suhrkamp Verlag, (1. Auflage 2011), hier: 3. Auflage 2013, S. 33). Im Folgenden als: Searle: Construction of Social Reality (1995) (dt.).
1. Intentionalität: Drei Ansätze
Erlebenden konkret um ein Ich handelt oder dass der Erlebende diese Situation allein, vereinzelt erlebt. Allerdings verschwimmen bei einer solchen synonymen Verwendung die Klassifizierungen, sodass beispielsweise das erlebende Individuum automatisch als Ich eingestuft wird. Vielmehr sollten diese Bezeichnungen jedoch getrennt werden: Bei einem Individuum, einem Einzelwesen, kann es sich auch um ein Lebewesen im Allgemeinen, wie etwa um ein Individuum der Gattung Meerschweinchen, handeln. Die Kennzeichnung »Ich« kann wiederum spezifischer mit einem Subjekt oder noch prägnanter einer Person, das heißt also mit einem Menschen, assoziiert werden: Ebenso wie zwar jeder Mensch ein Lebewesen ist, aber nicht jedes Lebewesen ein Mensch ist, gilt, dass jedes Subjekt ein Individuum ist, aber nicht jedes Individuum ein Subjekt ist. Daher wird in dieser Überlegung ausdrücklich unterschieden zwischen der individuellen Intentionalität, wie beispielsweise der Wahrnehmung des Meerschweinchens, und der subjektiven/personalen8 Intentionalität, der Wahrnehmung eines Menschen. Zudem sollte, wenn es sich im Speziellen um die Sicht des Sprechers handelt, von »selbsterlebter« oder »Ich-Intentionalität« auf der einen und von »WirIntentionalität«, oder in Anlehnung an Ludwig Binswanger von »Unsrigkeit«9 , auf der anderen Seite gesprochen werden. Demgegenüber werden mit kollektiver Intentionalität jene Bewusstseinsphänomene betitelt, welche die Gruppe dort drüben besitzt. Zunächst sei jedoch etwas detaillierter beleuchtet, was den drei Hauptströmungen zufolge unter Intentionalität zu verstehen ist und welche Problematiken gegebenenfalls jeweils mit einer solchen Auffassung einhergehen.
1.1
Der Ansatz der Phänomenologie: Intentionalität als Bewusstsein von etwas
In der Phänomenologie umfasst der Begriff »Intentionalität«, in Anlehnung an den lateinischen Begriff »intendere« im Sinne eines »sich auf etwas wenden«10 nach Franz Brentano, alle Phänomene der Gerichtetheit, dass heißt alle Phänomene des
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Der Unterschied zwischen dem Subjekt und der Person scheint stark vereinfachend, aber kurz und bündig gesprochen wohl darin zu liegen, dass der Mensch als solcher per se ein Subjekt ist, jedoch erst unter und mit weiteren Menschen als (Rechts-)Person anerkannt werden kann. Dass nicht jedes menschliche Wesen automatisch den Personenstatus erhält, kann man sich etwa mit Sklaven oder menschlichen Embryonen verdeutlichen. Der Ausdruck »Unsrigkeit« wurde von Ludwig Binswanger im Werk Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins (1942) – dezidiert in Abgrenzung zu Heideggers Begriff »Jemeinigkeit« – angeführt. Vgl. Handwörterbuch Philosophie, hg. v. Wulff D. Rehfus, Vandenhoeck and Ruprecht Verlag, Göttingen, 2003, hier: Stichwort »Intentionalität«, S. 410.
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1. Intentionalität: Drei Ansätze
Erlebenden konkret um ein Ich handelt oder dass der Erlebende diese Situation allein, vereinzelt erlebt. Allerdings verschwimmen bei einer solchen synonymen Verwendung die Klassifizierungen, sodass beispielsweise das erlebende Individuum automatisch als Ich eingestuft wird. Vielmehr sollten diese Bezeichnungen jedoch getrennt werden: Bei einem Individuum, einem Einzelwesen, kann es sich auch um ein Lebewesen im Allgemeinen, wie etwa um ein Individuum der Gattung Meerschweinchen, handeln. Die Kennzeichnung »Ich« kann wiederum spezifischer mit einem Subjekt oder noch prägnanter einer Person, das heißt also mit einem Menschen, assoziiert werden: Ebenso wie zwar jeder Mensch ein Lebewesen ist, aber nicht jedes Lebewesen ein Mensch ist, gilt, dass jedes Subjekt ein Individuum ist, aber nicht jedes Individuum ein Subjekt ist. Daher wird in dieser Überlegung ausdrücklich unterschieden zwischen der individuellen Intentionalität, wie beispielsweise der Wahrnehmung des Meerschweinchens, und der subjektiven/personalen8 Intentionalität, der Wahrnehmung eines Menschen. Zudem sollte, wenn es sich im Speziellen um die Sicht des Sprechers handelt, von »selbsterlebter« oder »Ich-Intentionalität« auf der einen und von »WirIntentionalität«, oder in Anlehnung an Ludwig Binswanger von »Unsrigkeit«9 , auf der anderen Seite gesprochen werden. Demgegenüber werden mit kollektiver Intentionalität jene Bewusstseinsphänomene betitelt, welche die Gruppe dort drüben besitzt. Zunächst sei jedoch etwas detaillierter beleuchtet, was den drei Hauptströmungen zufolge unter Intentionalität zu verstehen ist und welche Problematiken gegebenenfalls jeweils mit einer solchen Auffassung einhergehen.
1.1
Der Ansatz der Phänomenologie: Intentionalität als Bewusstsein von etwas
In der Phänomenologie umfasst der Begriff »Intentionalität«, in Anlehnung an den lateinischen Begriff »intendere« im Sinne eines »sich auf etwas wenden«10 nach Franz Brentano, alle Phänomene der Gerichtetheit, dass heißt alle Phänomene des
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Der Unterschied zwischen dem Subjekt und der Person scheint stark vereinfachend, aber kurz und bündig gesprochen wohl darin zu liegen, dass der Mensch als solcher per se ein Subjekt ist, jedoch erst unter und mit weiteren Menschen als (Rechts-)Person anerkannt werden kann. Dass nicht jedes menschliche Wesen automatisch den Personenstatus erhält, kann man sich etwa mit Sklaven oder menschlichen Embryonen verdeutlichen. Der Ausdruck »Unsrigkeit« wurde von Ludwig Binswanger im Werk Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins (1942) – dezidiert in Abgrenzung zu Heideggers Begriff »Jemeinigkeit« – angeführt. Vgl. Handwörterbuch Philosophie, hg. v. Wulff D. Rehfus, Vandenhoeck and Ruprecht Verlag, Göttingen, 2003, hier: Stichwort »Intentionalität«, S. 410.
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Formen kollektiver Intentionalität
Denkens, Handelns und Fühlens. Bei seiner Definition was der Terminus »Intentionalität« in sich birgt, heißt es beispielsweise kurz und knapp bei Husserl: »Bewußtseinserlebnisse nennt man auch intentionale, wobei aber das Wort Intentionalität dann nichts anderes als diese allgemeine Grundeigenschaft des Bewußtseins, Bewußtsein von etwas zu sein, als cogito sein cogitatum in sich zu tragen, bedeutet.«11 Als etwas aufgeschlüsselte Ausführung kann festgehalten werden: Das Bewusstsein von etwas schließt a priori ein, dass dieses »etwas«, das Intentionalitätsobjekt (cogitatum), immer etwas für jemanden (cogito) ist. Neben dem Subjekt und dem Objekt oder Gehalt lässt sich zudem noch ein weiterer Hauptmoment der Intentionalität ausmachen, nämlich die Art und Weise der Bezogenheit, der Intentionalitätsmodus.12 Diese drei Momente – Subjekt, Modus und Gehalt – beleuchten jeweils verschiedene Aspekt der Frage: Wer ist wie auf was gerichtet? Doch anstatt zu fragen: Wie sieht in Einzelfällen der Geteiltheit, Gemeinsamkeit oder Kollektivität der Intentionalitätsobjekt, der Intentionalitätsmodus oder das Intentionalitätssubjekt genau aus? Steht im Vordergrund: Was ist die geteilte, gemeinsame oder kollektive Intentionalität überhaupt? Wie ist die geteilte oder gemeinsame Intentionalität im Allgemeinen, ihrere Grundstruktur nach – der Phänomenologie (Kapitel 1.1), der Sprachanalytik (Kapitel 1.2) und der evolutionären Verhaltensforschung (Kapitel 1.3) zufolge – zu charakterisieren? In allen drei Strömungen der Debatte ist markant, dass meist die individuelle Intentionalität als Beschreibungs- oder Erklärungsbeginn gewählt wird. Das heißt die individuelle Intentionalität wird bei einer überwiegenden Anzahl der Debattenteilnehmer als Bedingung der Möglichkeit für eine Intentionalitätsform der
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Edmund Husserl: Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, hg. v. S. Strasser, Martinus Nijhoff Verlag, Den Haag, 1950, 2. Auflage, (Hua. Band I), hier: II. Meditation, § 14: »Der Strom der cogitationes. Cogito und cogitatum«, S. 70–72, hier: S. 72 (Herv. übernommen). Im Folgenden als: Husserl: Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge. Vgl. ebd., S. 70–72. Hier soll es nur um den generellen Konsens in der phänomenologischen Auffassung der Intentionalität gehen. Ein Überblick der Abweichungen bezüglich des Intentionalitätsverständnisses innerhalb der phänomenologischen Strömung findet sich bei Jitendra N. Mohanty (vgl. Jitendra Nath Mohanty: »Intentionality«, in: A Companion to Phenomenology and Existentialism, hg. v. Hubert L. Dreyfus u. Mark A. Wrathall, wiley-blackwell, 2009, S. 69–77). Autoren wie Tobias Schlicht verweisen darauf, dass nicht jegliche geistige Gerichtetheit ein konkretes Objekt habe, weshalb, so Schlicht, Phänomene wie diffuse Stimmungen – man denke beispielsweise an Langeweile – eher als qualitative statt als intentionale geistige Phänomene gefasst werden sollten (vgl. Tobias Schlicht: »Ein Stufenmodell der Intentionalität«, in: Zur Zukunft der Philosophie des Geistes, hg. v. Patrick Spät, mentis Verlag, Paderborn, 2008, S. 59–91, hier: S. 60. Im Folgenden als: Schlicht: »Stufenmodell d. Intentionalität« (2008)).
1. Intentionalität: Drei Ansätze
Geteiltheit, Gemeinsamkeit oder Kollektivität gesetzt. Den frühen Phänomenologen wurde vorgeworfen zwar die individuelle Intentionalität als Ausgangspunkt der Überlegungen zu setzen, jedoch nicht über diese hinaus gekommen zu sein. Das heißt in drastischen Worten: eine adäquate Beschreibung jenes Phänomens, das heute unter der Bezeichnung »kollektive Intentionalität« behandelt wird, findet sich nicht in der Phänomenologie, insbesondere nicht in ihrer frühen Phase. Schmid und Schweikard formulieren diese Kritik wie folgt: Es finden sich »zur Anschlussfrage, was denn vor sich geht, wenn diese Möglichkeit [zur Geteiltheit, zur Gemeinsamkeit] aktualisiert wird [...] bei Husserl kaum Analysen«13 .14 Und klar ist, wie Schmid und Schweikard insbesondere beim Begründer der Phänomenologie selbst zeigen wollen: Mit dem Hintergrund des heutzutage zugänglichen und umfangreichen Forschungsstandes lassen sich in der Phänomenologie einige Lücken und Ungereimtheiten in der Beschreibung der »aktualisierten Möglichkeiten«, das heißt der tatsächlich vollzogenen Geteiltheit, Gemeinsamkeit oder Kollektivität finden. Doch auch den Phänomenologen selbst ist teils eine solche Tendenz, bei den Bedingungen der Möglichkeit stehen geblieben zu sein, aufgefallen, wie etwa mit Jean-Paul Sartres Überlegungen belegt werden kann: Er habe, so die eigene Einschätzung Sartres, vielmehr »die Bedingungen der gemeinsamen Aktion und nicht die gemeinsame Aktion selbst«15 beschrieben. Allerdings sollte bei einer solchen Kritik wiederum zum einen nicht außen vorgelassen werden, dass die phänomenologische Betrachtung dennoch als Vorläufer der Debatte um die kollektive Intentionalität gelten muss. So wird auch beim frühen Husserl der Weg zu einer »intersubjektiven Intentionalität«16 , vom carte-
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Schmid u. Schweikard: »Einleitung: Koll. Int.« (2009), S. 23. Denn beispielsweise erinnert die von Husserl vielfach verwendete Bezeichnung »Monade« zu sehr an das solipsistische Individuum nach Descartes – auch wenn Husserl dies mit der Rede vom »Fenster« der Monade und der »Vergemeinschaftung der Monaden« zu vermindern versucht. Vgl. (i) Husserl: Intersubjektivität II (Hua. XIV, Texte v. 1921-1928), hier: Text Nr. 13: »Die Transzendenz des alter ego gegenüber der Transzendenz des Dinges. Absolute Monadologie als Erweiterung der transzendentalen Egologie. Absolute Weltinterpretation« (1922), S. 244–272, hier: § 4, S. 260. Im Folgenden als: Husserl: Text Nr. 13: »Transzendenz alter ego« (1922) (Hua. XIV). (ii) Husserl: Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, § 55, S. 149–156. Und es wird sogar die Kritik laut, dass Husserl entweder Phänomenologie betreiben oder an der Monade festhalten könne, beides gleichzeitig jedoch in einen Selbstwiderspruch führe (vgl. Karl Mertens: »Husserls Phänomenologie der Monade – Bemerkungen zu Husserls Auseinandersetzung mit Leibniz«, in: Husserl Studies, Band 17, Springer Verlag, 2000, S. 1–20, hier: S. 2). Jean-Paul Sartre: Kritik der dialektischen Vernunft [Critique de la raison dialectique, 1960], 1 Band: Theorie der gesellschaftlichen Praxis, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, 1967, 2. Buch, Teil A, S. 536. Im Folgenden als: Sartre: Kritik d. dialektischen Vernunft [1960]. Husserl: Intersubjektivität II (Hua. XIV, Texte v. 1921-1928), hier: Text Nr. 22: »Das Problem der Konstitution der Psychophysischen Einheit. Die reduzierte originale Erfahrung enthält
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Formen kollektiver Intentionalität
sianischen ego cogito zum nos cogitamus eingeschlagen17 , wobei zahlreiche Aspekte der Debatte vorweggenommen wurden. Zum anderen kann man die Kritik der Sprachanalytiker etwas abgewandelt auch gegen ihre eigene Position ins Feld führen: Wenn man den phänomenologischen Autoren vorwirft, dass sie zu sehr die Bedingungen der Möglichkeit und nicht genügend die tatsächliche Aktualisierung der Intentionalitätsformen beschreiben, so kann auch hervorgehoben werden, dass die sprachanalytische Forschung ihrerseits nicht präzise auf die Voraussetzungen der Intentionalitätsformen eingeht. Diese Kritik im Sinne eines Versäumnisses von Seiten der Sprachanalytik wird etwa vom Wirtschaftsethiker Georg Trautnitz im Jahr 2016 angebracht.18 Beispielsweise lässt sich bei den Sprachanalytikern Raimo Heikki Tuomela, Kaarlo Miller und John Rogers Searle ein eigenartiges Verhältnis zur Intersubjektivität nachweisen: Tuomela und Miller bezeichnen in ihrem Aufsatz »We-Intentions« eben diese als intersubjektiv19 – ohne allerdings auch nur im Geringsten zu hinterfragen, was Intersubjektivität sei und wie diese zustande komme. Später, im Aufsatz »We-Intentions Revisited« (2005), findet sich bei Tuomela zwar eine nähere Erläuterung der Intersubjektivität, diese ist jedoch so eng gefasst, dass nicht alle Phänomene »zwischen den Subjekten« als intersubjektiv gelten, sondern die Intersubjektivität nun vielmehr als Synonym verstanden
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keine Verknüpfung von Leib und Seele. Die Apperzeption ›Ich-Mensch‹ durch die Einfühlung vermittelt. Zur Lehre der Einfühlung« (1927), S. 410–417, hier: S. 417. Vgl. (i) Edmund Husserl: Erste Philosophie (1923/1924), Zweiter Teil, hg. v. Rudolf Boehm, Martinus Nijhoff Verlag, Den Haag, 1959, Hua. Bd. VIII, hier: Ergänzende Texte, B. Beilagen, Beilage II, S. 316 (als Anmerkung zu: 3. Abschnitt, 3. Kapitel, 46. Vorlesung: Neugestaltung und Vertiefung der phänomenologischen Methode: der cartesianische und der Weg des Psychologen zur transzendentalen Reduktion). (ii) Emanuele Caminada: »Husserls intentionale Soziologie«, in: Die Aktualität Husserls, hg. v. Verena Meyer, Christopher Erhard u. Marisa Scherini, Karl Alber Verlag, Freiburg im Breisgau, 2011, S. 56–85, hier: S. 76. Im Folgenden als: Caminada: »Husserls intentionale Soziologie« (2011). (iii) Emanuele Caminada: »The Phenomenological Background of collective positionality«, in: Phenomenology and Mind (hg. v. Monticelli), Band 2, Band hg. v. Francesca Maria de Vecchi, 2012, S. 130–140, hier: S. 133f. Im Folgenden als: Caminada: »Phenomenological Background of Coll. Positionality« (2012). Vgl. Georg Trautnitz: »Interpersonalität als Paradigma der Sozialwissenschaften? – Versuch einer Überwindung des methodischen Individualismus im Ausgang der Descartes’schen Erkenntniskritik«, in: Zeitschrift für Kultur- und Kollektivwissenschaften, hg. v. Georg Trautnitz, Band 2, Heft 2, transcript Verlag, Bielefeld, 2016, S. 11–41, hier: S. 31. Im Folgenden als: Trautnitz: »Interpersonalität« (2016). Trautnitz bezieht sich in seinem Zusammenhang auf Autoren wie Tuomela, Miller, Bratman, Searle, Gilbert aber auch auf Robert Sudgen. Das heißt also er bezieht sich unter anderem dezidiert auf sprachanalytische Autoren der ersten Generation der Debatte der kollektiven Intentionalität. Vgl. Raimo Heikki Tuomela u. Kaarlo Miller: »We-Intentions«, Philosophical Studies, Band 53, Heft 3, 1988, S. 367–389, hier: S. 380 (übersetzt v. David P. Schweikard: »Wir-Absichten«, in: Sammelband Kollektive Intentionalität, hg. v. Schmid u. Schweikard (2009), S. 72–98, hier: dt. S. 88). Im Folgenden als: Tuomela u. Miller: »We-Intentions« (1988) (dt.).
1. Intentionalität: Drei Ansätze
werden kann zu seinem Verständnis der »collective intentionality in the strong sense«, der »joint intention« (siehe Kapitel 3.3), also lediglich als Bezeichnung für ein spezifisches Phänomen zwischen Subjekten: »if the participants accept a content […] which they purport to be for the group, if they are collectively (and socially) committed to the content, and if there is mutual belief (but perhaps not mutual knowledge about the participants acceptances), then the group intersubjectively intends as a group.«20 Searle seinerseits macht unmissverständlich deutlich: »It is common in social philosophy, and perhaps in the social sciences as well, to use the notion of ›intersubjectivity‹. I [Searle] have never seen a clear explanation of the concept of intersubjectivity, and I will have no use for the notion. But I will use ›collective intentionality‹ to try to describe the intentionalistic component of society.«21 Er lehnt also den Begriff »Intersubjektivität« vollkommen ab, führt jedoch an »the intentionalistic component of society« mit der Bezeichnung »collective intentionality« zu belegen. Es wäre hier gewiss eine gesonderte Untersuchung wert, inwieweit Searle hiermit lediglich eine Umbenennung vornimmt und genau auf jenes Phänomen zielt, dass eben in der Phänomenologie als Intersubjektivität erfasst wird. Auch wenn die Bezeichnung der Intersubjektivität in der Sprachanalytik vage ist, wie bei Tuomela, oder ausdrücklich beiseitegeschoben wird, wie bei Searle, so finden sich dennoch Ausführungen der Bedingungen der Möglichkeit, konkret der »background skills«22 . Es werden die kognitiven Voraussetzungen angeführt, wie der »We-mode« oder der Anerkennung des Anderen als Kooperationspartner, doch werden sie erst in der evolutionären Verhaltensforschung nach Tomasello auf ihre empirischen Konsequenzen hin untersucht – wobei auch in diesem Ansatz eine prägnante Erläuterung der Intersubjektivität ausbleibt. Es scheint daher einen
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Raimo Heikki Tuomela: »We-Intentions Revisited«, in: Philosophical Studies, Band 125, 2005, S. 327–369, hier: S. 339f. (Herv. selbst vorgenommen). Im Folgenden als: Tuomela: »WeIntentions Revisited« (2005). John R. Searle: »Social Ontology – Some basic principles«, in: Anthropological Theory, Band 6, Heft 1, hg. v. Roy D’Andrade, 2006 S. 12–29, hier: S. 16 (übersetzt v. David P. Schweikard: »Einige Grundprinzipien der Sozialontologie«, in: Sammelband Kollektive Intentionalität, hg. v. Schmid u. Schweikard (2009), S. 504–533, hier: S. 511). Im Folgenden als: Searle: »Social Ontology – Some basic principles« (2006) (dt.). Vgl. John R. Searle: »Collective Intentions and Actions«, in: Intentions in Communication, hg. v. P. Cohen, J. Morgan u. M. Pollack, MIT Press, 1990, S. 401–415, hier: S. 413 (übersetzt von David P. Schweikard: »Kollektive Absichten und Handlungen«, in: Sammelband Kollektive Intentionalität, hg. v. Schmid u. Schweikard (2009), S. 99–118, hier: S. 115). Im Folgenden als: Searle: »Coll. Intentions and Actions« (1990) (dt.).
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Formen kollektiver Intentionalität
Blick wert zu sein, zu hinterfragen, ob nicht nur in der Phänomenologie, sondern auch in den anderen Hauptströmungen der Debatte, namentlich der Sprachanalytik und evolutionären Verhaltensforschung, einige Lücken, Missverständnisse oder fatale Priorisierungen bestehen. Und genau dies ist der Fall bei der zugrunde gelegten Definition der Intentionalität: Die drei Hauptphänomenbereiche – Denken, Handeln und Fühlen – werden in der Phänomenologie gleichwertig behandelt, sodass Intentionalität in einem weiten Sinn als Bewusstsein von etwas verstanden und damit als Bewusstseinsfähigkeit allgemeiner Art vorausgesetzt wird. In der Sprachanalytik und evolutionären Verhaltensforschung wird jedoch – wie gleich dargelegt wird – ein viel engeres Verständnis zugrunde gelegt, weshalb dort die Intentionalität spezifischer einer Handlungsabsicht oder einem Handlungsvollzug, das heißt also einer Absichts- und Handlungsfähigkeit, gleichkommt. Die Charakterisierungen, wann eine spezifische Intentionalitätsform vorliegt, wandeln sich mit einem solchen Verständnis der Intentionalität. In der Phänomenologie gilt: liegt ein geteiltes Denken, Handeln oder Fühlen – das heißt allgemein: Erleben – vor, besteht eine geteilte Intentionalität. Ist es ein gemeinsames Erleben, so kann von einer gemeinsamen Intentionalität die Rede sein. Exemplarisch wird in Kapitel 3.1 anhand von Edmund Husserl und der italienischen Phänomenologin Francesca Maria de Vecchi gezeigt, dass sich diese Aufteilung durch den situativ konkret vorliegenden Bezugsakt genauer unter anderem als intersubjektive oder soziale Intentionalität bezeichnen lässt. In der Sprachanalytik gilt: verfolgen mindestens zwei Beteiligte aus egoistischen Gründen heraus eine Absicht, so ist diese geteilt und es ist eine geteilte Intentionalität präsent, welche, so können die Autoren dieser Strömung gedeutet werden, auch als Koordination aufgefasst werden kann. Ist es eine gemeinsame, kooperative »We-mode«-Absicht, dann besteht eine gemeinsame Intentionalität. Hieran macht Tuomela den Unterschied zwischen der schwachen und starken kollektiven Intentionalität fest (Kapitel 3.2). In der evolutionären Verhaltensforschung, hier vorwiegend nach Tomasello, wird terminologisch von den Bezeichnungen der Phänomenologie und Sprachanalytik teils drastisch abgewichen, sodass sich bei ihm vielmehr ergibt: Wird die Handlung parallel nebeneinander mit Eigeninteressen ausgeführt, dann haben die beteiligten Lebewesen – nicht eine geteilte Intentionalität, wie man es in der Sprachanalytik sagen würde oder vielleicht eine intersubjektive Intentionalität nach de Vecchi, sondern Tomasello zufolge – je für sich eine individuelle Intentionalität. Wird die Handlung gemeinsam aufgrund von Gruppeninteressen ausgeführt, dann besteht hingegen – je nach Anzahl der beteiligten Subjekte – eine »joint« oder »collective intentionality« (Kapitel 3.3). Die Abweichungen der drei Hauptströmungen voneinander liegen demnach in der Bewertung der Situation, der Terminologie und der methodischen Herangehensweise, aber ihr Unterschied liegt eben auch – wie mit diesem Kapitell heraus-
1. Intentionalität: Drei Ansätze
gearbeitet werden soll – in der Definition der Intentionalität selbst: jene von den Strömungen angesprochenen Phänomene bilden das Grundgerüst ihres jeweiligen Verständnisses der Intentionalität. In der Phänomenologie, so wurde gerade wenigstens kurz angeführt, werden alle drei Hauptphänomenbereiche gleichbehandelt, sodass die Intentionalität als Bewusstsein von etwas verstanden wird.
1.2
Der Ansatz der Sprachanalytik: Intentionalität als Bewusstsein einer Absicht
Stellt man dem phänomenologischen Verständnis der Intentionalität jenes der Sprachanalytik gegenüber, dann fällt auf: die Sprachanalytikern der ersten Generation der Auseinandersetzung mit den Intentionalitätsformen, John Rogers Searle (*1932), Raimo Heikki Tuomela (*1940 - †2020), Margaret Gilbert (*1942) und Michael Bratman (*1945) – die sogenannten »Big Four«23 – nahmen zur Kenntnis, dass bereits innerhalb der Philosophie der Begriff »Intentionalität« verwendet wurde. Die philosophiegeschichtliche Vergangenheit wird von ihnen jedoch kaum aufgegriffen. Ausgeprägt erkennbar ist eine solche Vorgehensweise besonders zu Beginn der sprachanalytischen Auseinandersetzung, wie mit einer drastischen Formulierung Searles untermauern werden kann. In seinem Werk Intentionality (1983), das erstmals 1987 ins Deutsche übersetzt wurde, geht es eben genau darum: Intentionalität. Dennoch betont Searle bereits in der Einleitung dieses Werkes: »Entire philosophical movements have been built around theories of Intentionality. What is one to do in the face of all this distinguished past? My [Searles] own approach has been simply to ignore it«24 .
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Vgl. Chant, Hindriks u. Preyer: »Introduction – Big Four« (2014). John R. Searle: Intentionality – An essay in the philosophy of mind, Cambridge University Press, 1983, Introduction, S. ix (übersetzt v. Harvey P. Gavagai: Intentionalität – Eine Abhandlung zur Philosophie des Geistes, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1. Auflage, 1987, Einleitung, S. 12). Im Folgenden als: Searle: Intentionality (1983) (dt.). Allein die Bezeichnung »Theorien der Intentionalität« deutet bereits an, dass Searle die phänomenologischen Ansätze nicht adäquat gesichtet hat, da sie sich selbst nicht als Theorie verstehen. Der gegenwärtige Phänomenologe Emanuele Caminada erfasst diese Situation wie folgt: Es gibt »Denkrichtungen, die überzeugt sind, nichts mehr von Husserl selbst lernen zu können. [...] [Darunter auch] die jüngste analytische Debatte [für welche] die ontologische Natur der sozialen Gruppen und ihre spezifische kollektive Intentionalität von primärer Bedeutung [ist]«. Caminada: »Husserls intentionale Soziologie« (2011), S. 57. Caminada geht sogar davon aus, dass spezifische Autoren der sprachanalytischen Debatte um die Intentionalitätsformen in ihrer Beschreibung wieder hinter Husserl zurückfallen, da Caminada dafür argumentiert, dass die Beschreibung Husserls prägnanter sei (vgl. ebd., S. 68).
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1. Intentionalität: Drei Ansätze
gearbeitet werden soll – in der Definition der Intentionalität selbst: jene von den Strömungen angesprochenen Phänomene bilden das Grundgerüst ihres jeweiligen Verständnisses der Intentionalität. In der Phänomenologie, so wurde gerade wenigstens kurz angeführt, werden alle drei Hauptphänomenbereiche gleichbehandelt, sodass die Intentionalität als Bewusstsein von etwas verstanden wird.
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Der Ansatz der Sprachanalytik: Intentionalität als Bewusstsein einer Absicht
Stellt man dem phänomenologischen Verständnis der Intentionalität jenes der Sprachanalytik gegenüber, dann fällt auf: die Sprachanalytikern der ersten Generation der Auseinandersetzung mit den Intentionalitätsformen, John Rogers Searle (*1932), Raimo Heikki Tuomela (*1940 - †2020), Margaret Gilbert (*1942) und Michael Bratman (*1945) – die sogenannten »Big Four«23 – nahmen zur Kenntnis, dass bereits innerhalb der Philosophie der Begriff »Intentionalität« verwendet wurde. Die philosophiegeschichtliche Vergangenheit wird von ihnen jedoch kaum aufgegriffen. Ausgeprägt erkennbar ist eine solche Vorgehensweise besonders zu Beginn der sprachanalytischen Auseinandersetzung, wie mit einer drastischen Formulierung Searles untermauern werden kann. In seinem Werk Intentionality (1983), das erstmals 1987 ins Deutsche übersetzt wurde, geht es eben genau darum: Intentionalität. Dennoch betont Searle bereits in der Einleitung dieses Werkes: »Entire philosophical movements have been built around theories of Intentionality. What is one to do in the face of all this distinguished past? My [Searles] own approach has been simply to ignore it«24 .
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Vgl. Chant, Hindriks u. Preyer: »Introduction – Big Four« (2014). John R. Searle: Intentionality – An essay in the philosophy of mind, Cambridge University Press, 1983, Introduction, S. ix (übersetzt v. Harvey P. Gavagai: Intentionalität – Eine Abhandlung zur Philosophie des Geistes, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1. Auflage, 1987, Einleitung, S. 12). Im Folgenden als: Searle: Intentionality (1983) (dt.). Allein die Bezeichnung »Theorien der Intentionalität« deutet bereits an, dass Searle die phänomenologischen Ansätze nicht adäquat gesichtet hat, da sie sich selbst nicht als Theorie verstehen. Der gegenwärtige Phänomenologe Emanuele Caminada erfasst diese Situation wie folgt: Es gibt »Denkrichtungen, die überzeugt sind, nichts mehr von Husserl selbst lernen zu können. [...] [Darunter auch] die jüngste analytische Debatte [für welche] die ontologische Natur der sozialen Gruppen und ihre spezifische kollektive Intentionalität von primärer Bedeutung [ist]«. Caminada: »Husserls intentionale Soziologie« (2011), S. 57. Caminada geht sogar davon aus, dass spezifische Autoren der sprachanalytischen Debatte um die Intentionalitätsformen in ihrer Beschreibung wieder hinter Husserl zurückfallen, da Caminada dafür argumentiert, dass die Beschreibung Husserls prägnanter sei (vgl. ebd., S. 68).
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Formen kollektiver Intentionalität
Diese Aussage ist bemerkenswert, denn es stellt sich die Frage: wenn die vergangene Auseinandersetzung tatsächlich so herausragend ist, wie von ihm behauptet, weshalb kann er diese dann einfach ignorieren? Und wenn er diese ignoriert hat, wie kann er dann – wenn die Aussage nicht ironisch gemeint sein soll – überhaupt zu einem solchen Urteil über »entire philosophical movements« kommen? Wie dem auch sei, die Definition der Intentionalität, welche in der Sprachanalytik zugrunde gelegt wird, macht zunächst einen weitläufigen Eindruck. Zwar behandelt Searle hauptsächlich das Phänomen der Sprache – da gerade durch die Sprache deklarative und institutionelle Tatsachen geschaffen werden können, welche für Searle die differentia specifica zwischen dem Tier und dem Menschen darstellen (siehe Kapitel 3.3)25 –, doch geht er dabei, wie nur selten in der Debatte hervorgehoben wird26 , gerade nicht vom Primat der Sprache, sondern vom »primacy of consciousness«27 aus. Zudem beginnt er »with intrinsic intentionality in its conscious forms«28 , also – ebenfalls ganz im Sinne der Phänomenologie – mit selbst gegebener, originärer Intentionalität. Im Laufe seiner Schriften betont Searle immer wieder: »›Intentionality‹ [...] is the general term for all the various forms by which the mind can be directed at, or be about, or of objects and states of affairs in the world. Intentionality is an unfortunate word, and like a lot of unfortunate words in philosophy, we owe it to the German-speaking philosophers.«29
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Wobei sich Searles Verständnis der Sprache, wie er selbst feststellt, von zahlreichen anderen Autoren abgrenzt, da für ihn gilt: »language […] [is] a natural biological phenomenon« beziehungsweise »the standard account of language in philosophy of language and linguistics tend to underestimate, and therefore misrepresent, the role of society and of social conventions.« John R. Searle: »What is language – some preliminary remarks«, in: John Searleʼs philosophy of language – force, meaning, and mind, hg. v. Savas L. Tsohatzidis, Cambridge University Press, New York, 2012, S. 15–45, hier: S. 16f. Im Folgenden als: Searle: »What is language« (2012). Als einer der wenigen Autoren, die dies ausdrücklich kennzeichnen, kann Tobias Schlicht angeführt werden (vgl. Schlicht: »Stufenmodell d. Intentionalität« (2008), S. 64f.). John R. Searle: Mind, Language and Society – Philosophy in the Real World, Basic Books, New York, 1998, hier: Kapitel 4, S. 98 (übersetzt v. Harvey P. Gavagai: Geist, Sprache u. Gesellschaft – Philosophie in der wirklichen Welt, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1. Auflage 2001, S. 120). Im Folgenden als: Searle: Mind, Language and Society (1998) (dt.). Ebd., S. 98 (dt. S. 119). »Consciousness has three aspects that make it different from other biological phenomena […] qualitativeness, subjectivity, and unity. [...] Subjective conscious states have a first-person ontology (›ontology‹ here means mode of existence) because they exist only when they are experienced by some human or animal agent. They are experienced by some ›I‹ that has the experience«. John R. Searle: »Consciousness«, in: Annual Review of Neuroscience, Band 23, 2000, S. 557–578, hier: S. 560f. Im Folgenden als Searle: »Consciousness« (2000). Ebd., S. 85 (dt. S. 104).
1. Intentionalität: Drei Ansätze
»Intentional states are always about, or refer to, something. Intending, in ordinary sense in which I intend to go to the movies, is just one type of intentional state among many others such as belief, desire, hope and fear.«30 »Intentionality is a biological phenomenon, and the most fundamental forms of intentionality are the biological phenomena of perceptual experiences, intentional actions, basic desires such as hunger, thirst, and the desire to breathe, as well as raw emotions such as anger, lust and fear.«31 Wenn es stimmt, wie Searle selbst vorgibt, dass er kaum – oder lediglich mittels Sekundärliteratur – Kenntnisse der frühen Phänomenologie hat32 , so treten die partiellen inhaltlichen Übereinstimmungen beider Ansätze wohl noch deutlicher hervor. Um nur einige zu nennen: Intentionalität ist erstens immer auf etwas bezogen, Bewusstsein muss zweitens als Primat angenommen und drittens von einer Selbstgegebenheit ausgegangen werden.33 Schaut man sich dagegen einerseits den methodischen Umgang mit der Intentionalität und andererseits die tatsächlich thematisierten Phänomenbereiche in der sprachanalytischen Debatte genauer an, dann fallen diese Aspekte betreffend drastische Unterschiede dieser beiden Strömungen ins Auge. Obwohl Searle betonte, dass »intentionality [...] an unfortunate word« sei, da dieses von seinem lateinischen Wortstamm eine Gleichsetzung mit der Intention suggeriere, hat man als Leser den Eindruck, dass Searle selbst in die von ihm beschriebene Falle tappt, da in der Sprachanalytik gerade die Absicht hervorgehoben wird.34 Diese stiefmütterliche Behandlung oder sogar Missachtung der Gedanken-
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Searle: Making the Social World (2010), S. 25 (dt.: S. 46f.) (Herv. übernommen). Vgl. auch John R. Searle: »Intentionality«, in: Intentionality – Historical and Systematic Perspectives, hg. v. Alessandro Salice, Philosophia Verlag, München, 2012, S. 9–22, hier: S. 9. Im Folgenden als: Searle: »Intentionality« (2012). Ebd., S. 9. »I [Searle] must say [...] that I have not read enough of the works of Husserl, Heidegger, or phenomenology generally to have an intelligent opinion about what they actually say. When I say ›Heidegger,‹ I mean ›Heidegger-as-described-by-Dreyfus,‹ and ditto for ›Husserl‹ and ›phenomenology‹.« John R. Searle: »The Limits of Phenomenology«, in: Heidegger, coping and cognitive sciences, hg. v. Mark A. Wrathall, MIT Press, Cambridge, 2000, S. 71–92, hier: S. 72. Im Folgenden als: Searle: »Limits of Phenomenology« (2000). Eine genauere Aufschlüsselung dieser Übereinstimmungen findet sich bei Caminada (vgl. Caminada: »Phenomenological Background of Coll. Positionality« (2012), S. 111). Im Jahr 1994 findet sich bei Searle die Unterscheidung zwischen Bewusstsein, Intentionalität und Gedankenprozessen: »By ›consciousness‹ I [Searle] mean those subjective states of sentience and awareness that we have during our walking life (and at a lower level of intensity in our dreams); by ›intentionality‹ I mean that feature of the mind by which it is directed at or about objects and states of affairs in the world; and by ›thought processes‹ I mean those tem-
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Formen kollektiver Intentionalität
und Gefühlsphänomene sei kurz anhand von Searle, Tuomela und Bratman exemplarisch vorgeführt. Nach Searle basieren Gefühle auf anderen Phänomenen, wie Überzeugungen oder Wünschen, weshalb sie, um es mit den Worten Sarah Songhorians zu sagen, bei Searle gewissermaßen als »second level intentional states«35 beschrieben werden. Searle gibt zwar an, dass man Gefühle teilen könne, führt jedoch kein einziges konkretes Beispiel für ein solches Phänomen an.36 Eine dezidierte Fokussierung auf Handlungen findet sich bei ihm noch 2010 in Making the Social World: »we will consider first-person plural forms of intentionality as in sentences of the form ›We are doing such and such‹, ›We intend to do such and such‹, ›We believe such and such.‹ I [Searle] call all of these sorts of cases ›collective intentionality‹, but for the purpose of this book [Making the Social World], the most important form of collective intentionality is collective intentions in planning and acting«37 . Man mag zwar seine These dahingehend folgen können, dass kollektive Intentionalität wohl der Quantität nach am offensichtlichsten bei kollektiven Absichten des Planens und Handelns zutage tritt, doch ist damit noch keineswegs begründet, dass Absichten auch in qualitativer Hinsicht als wichtigste Phänomenart gelten sollten.
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poral sequences of intentional states that are systematically related to each other, where are relationship is constrained by some rational principles. Examples of conscious states are such things as feeling a pain or hearing a sound. Examples of intentional states are such things as wanting to eat food or believing that someone is approaching. Examples of thought processes are such things as figuring how to get a banana that is out of reach or monitoring the behaviour of prey who is on the move and is trying to escape. Though these three phenomena – consciousness, intentionality, and thought processes – overlap, they are not identical. Some conscious states are intentional, some not. […] I have said that many species of animals have consciousness, intentionality, and thought processes. Now why am I so confident about that? Why, for example, am I so confident that my dog, Ludwig Wittgenstein, is conscious? […] I get home from work and Ludwig rushes out to meet me. He jumps up and down and wags this tail. I am certain that (a) he is conscious; (b) he is aware of my presence (intentionality); and (c) that awareness produces in him a state of pleasure (thought process). How could anyone deny either a, b or c?« John R. Searle: »Animal Minds«, in: Midwest Studies in Philosophy, Band 19, Blackwell Publishing, 1994, S. 206–219, hier: S. 206f. (übersetzt v. Gabi Weber: »Der Geist der Tiere«, in: Der Geist der Tiere – Philosophische Texte zu einer aktuellen Diskussion, hg. v. Dominik Perler u. Markus Wild, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1. Auflage, 2005, S. 132–152, hier: S. 132f.). Im Folgenden als: Searle: »Animal Minds« (1994) (dt.). Vgl. Sarah Songhorian: »Is Affective Intentionality necessarily irrelevant in Social Cognition?«, in: Phenomenology and Mind (hg. v. Monticelli), Band 2, Band hg. v. Francesca Maria de Vecchi, 2012, S. 88–96, hier: S. 90. Im Folgenden als: Songhorian: »Affect. Int. in Social Cognition« (2012). Vgl. Searle: Mind, Language and Society (1998), S. 120 (dt.: S. 144). Searle: Making the Social World (2010), S. 43 (dt.: S. 76f.) (Herv. selbst vorgenommen).
1. Intentionalität: Drei Ansätze
In Tuomelas rund 300 seitigen Werk Social Ontology (2013) werden »group emotions« insgesamt lediglich auf drei Seiten erwähnt.38 Besonders bedeutend in Tuomelas Ansatz ist die Differenzierung der »I-« und »We-Intentions«, welche er später allumfassender als »I-« und »We-mode« versteht (siehe Kapitel 3.2).39 Bratman legt ebenfalls den Schwerpunkt, wie die Buchtitel Faces of Intention (1999) und Shared Agency (2014) bereits kennzeichnen, auf Absichten beziehungsweise auf Handlungen. Er schreibt zwar, dass »shared activities« intrinsisch beispielsweise durch Freundschaft, Liebe und Freude an einer Konversation geleitet sind40 , dass es also gefühlsgeleitete Handlungen gibt, doch auch bei diesem Autor mangelt es an einer ausführlichen Auseinandersetzung mit den emotionalen und kognitiven Aspekten. Die Ausnahme unter den Sprachanalytikern der ersten Generation der Debatte bildet hier Margaret Gilbert, welche sich als Einzige bereits vor der Jahrtausendwende umfassender mit gemeinsamen Überzeugungen befasste.41 Demnach kann festgehalten werden: zu Beginn der sprachanalytischen Debatte um die kollektive Intentionalität werden vorwiegend Handlungsphänomene thematisiert, wobei die wenigen dort aufzufindenden Ausführungen lediglich als Ausnahmen diese Regel bestätigen. Oder zugespitzt formuliert: aus sprachanalytischer Sicht ist jede Intention eine Intentionalität und jede Intentionalität eine Intention. Während in der Phänomenologie vertreten wird: jede Intention ist eine Intentionalität, aber nicht jede Intentionalität ist eine Intention. Unter dem Phänomen der Intentionalität wird demnach in den Strömungen unterschiedliches verstanden:
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Vgl. Raimo Heikki Tuomela: Social Ontology – Collective Intentionality and Group Agents, Oxford University Press, 2013, Kapitel 9, S. 260ff. Im Folgenden als: Tuomela: Social Ontology (2013). Vgl. (i) Tuomela u. Miller: »We-Intentions« (1988). (ii) Raimo Heikki Tuomela: »Group Beliefs«, in: Synthese, Band 91, Heft 3, 1992, S. 285–318. Im Folgenden als: Tuomela: »Group Beliefs« (1992). Wobei sich eine begriffliche Gleichsetzung der Intention beziehungsweise des intentionalen Handelns und der Intentionalität wohl am deutlichsten bei Tuomela zeigt: »I [Tuomela] would like to distinguish between two senses of intentional acting. What I will call the core sense […] concerns what I (more or less consciously) aim at by my behaviour is – equivalently – what I intend by it or mean to achieve by it. The second sense of intentionality (which might be called the […] secondary sense) is wider, much vaguer. […] (I will follow some other authors and speak of intentional action here, even if ›intentional‹ here may not in such cases be always the best term.).« Raimo Heikki Tuomela: »Intentional Single and Joint Action«, in: Philosophical Studies, Band 62, Heft 3, 1991, S. 235–262, hier: S. 245 (Herv. selbst vorgenommen). Im Folgenden als: Tuomela: »Intentional Single and Joint Action« (1991). Vgl. Michael Bratman: Shared Agency – A Planning Theory of Acting Together, Oxford University Press, 2014, S. 3. Vgl. u.a. (i) Margaret Gilbert: »Modelling Collective Belief«, in: Synthese, Band 73, Heft 1, D. Reidel Publishing Company, 1987, S. 185–204. (ii) Margaret Gilbert: »Remarks on Collective Belief«, in: Socializing Epistemology – The Social Dimensions of Knowledge, hg. v. Frederick F. Schmitt, Rowman and Littlefield Verlag, Lanham, 1994, S. 231–256.
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Formen kollektiver Intentionalität
Bewusstsein von etwas oder Bewusstsein einer Handlungsabsicht. Zudem kann festgehalten werden, dass Searle aus folgendem Grund aus der Debatte heraussticht: Er vertritt nicht, wie jedoch weit verbreitet angenommen wird, einen Primat der Sprache – die Sprache ist nur das Phänomen, dem am ausdrücklichsten von Searle nachgegangen wird. Searle gilt als Sprachanalytiker, weil er zwar einen Primat des Bewusstseins annimmt, aber sich den Sprechakten widmet, genauer: den Möglichkeiten, die sich aus den Sprechakten heraus ergeben, wie die Deklarationen und die Konstitution institutioneller Tatsachen. Eine Klassifizierung der Strömungen allein anhand des zugrunde gelegten Primates ist daher nicht ausreichend, sondern es muss vielmehr beachtet werden, welche Phänomene in den Fokus gestellt werden: Sprachanalytische Autoren thematisieren primär die Sprache und den Phänomenbereich der Handlungen. Dass sich in beiden philosophischen Strömungen eine unterschiedliche Auswahl an Phänomenen findet und sich damit auch das Verständnis der Intentionalität als solcher wandelt, nämlich vom Bewusstsein von etwas zum Bewusstsein einer Handlungsabsicht, fand allerdings erst ab dem 21. Jahrhundert Beachtung: Hans Bernhard Schmid spricht in Wir-Intentionalität (2005) bezüglich der Sprachanalytik »von einer praktizistischen Verengung der Intentionalitätstheorie«42 und betitelt dies als praktische Intentionalität (practical intentionality)43 . Im Philosophischen Wörterbuch um 2009 heißt es unter dem Stichwort »Intentionalität«: »Das in der zeitgenössischen angelsächsischen Philosophie [gemeint sind vor allem Searle und Sellars] dominierende Verständnis der Intentionalität knüpft meist direkt bei Brentano an und fasst Intentionalität im Sinne von Gerichtetheit [...] als ein Merkmal vieler, wenn nicht aller psychischen bzw. mentalen Zustände. [...] In der angelsächsischen Philosophie ist [...], entsprechend der umgangssprachlichen Bedeutung des engl. Wortes ›intention‹ (im Sinne von ›Absicht‹), von intentionalen, das heißt beabsichtigten Handlungen die Rede und demgemäß von der Intentionalität von Handlungen.«44 Die grundlegende Diagnose, dass die Hauptphänomenbereiche – Denken, Handeln und Fühlen – in der Phänomenologie und Sprachanalytik unterschiedlich gewichtet werden, wird in dem vorliegenden Versuch einer Typologisierung übernommen, jedoch wird davon abgesehen von der Schwerpunktsetzung der Phänomenbereiche auf eine Intentionalitätsbezeichnung zu schlussfolgern, da die Inten-
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H.B. Schmid: Wir-Intentionalität (2005), S. 48. Vgl. auch H.B. Schmid: Plural Action (2009), hier: Teil I, Kapitel 4, § 12, S. 59. Vgl. H.B. Schmid: Wir-Intentionalität (2005), S. 48. Philosophisches Wörterbuch, begründet v. Heinrich Schmidt, hg. v. Martin Gessmann, Alfred Kröner Verlag, Stuttgart, 23. Auflage, 2009, Stichwort »Intentionalität«, S. 356–358, hier: S. 357. Im Folgenden als: Philosophisches Wörterbuch, 23. Aufl., 2009.
1. Intentionalität: Drei Ansätze
tionalität als solche selbst nicht praktisch, kognitiv oder affektiv »anwendbar« ist, was beispielsweise die Bezeichnung »praktische Intentionalität« nach Schmid suggeriert. Viel eher besteht, so soll argumentiert werden, ein Wandel des Intentionalitätsverständnisses und die Intentionalität wird in der Sprachanalytik primär als Intention behandelt.45 Besonders mit Bezug auf Searle kann auch festgestellt werden, dass nicht nur die Fokussierung auf bestimmte Phänomenbereiche – und damit eben die Extension der Intentionalität – markant voneinander abweicht, sondern auch der Umgang mit der Intentionalität: Searles Position ist darin in der Philosophie auffallend, da er die Intentionalität nicht nur beschreibt, sondern auch verortet und kausal erklärt. Er geht nicht nur von einem Primat des Bewusstseins und der Selbstgegebenheit aus – wie es auch in der Phänomenologie zugrunde gelegt wird –, sondern vertritt darüber hinaus, wie er ebenfalls im Laufe seiner Werke immer wieder betont: Intentionalität (beziehungsweise das geistige Gerichtetsein oder Bewusstsein von etwas) liegt erstens im Einzelgehirn – »[a]ll consciousness is in individual minds, in individual brains«46 . Hierbei zeigt sich klar, dass Searle am Paradigma
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Hans Bernhard Schmid spricht jedoch auch im Falle der Phänomenologie von einer Fokussierung auf einen Phänomenbereich: »Zumindest im Umfeld von Edmund Husserl sind kognitive Einstellungen wie Überzeugungen unzweifelhaft das ›Paradigma‹ der Intentionalität. [...] Nicht zufällig ist es etwa bei Gerda Walther [...] nicht das gemeinsame Tun, von dem her sie die Ontologie der Gemeinschaft aufrollt, sondern das gemeinsame Erleben [wie beispielsweise das gemeinsame Genießen des Bergausblickes].« H.B. Schmid: Wir-Intentionalität (2005), S. 48 (Herv. übernommen). Weshalb so Schmid bei dieser Strömung eine »kognitive Intentionalität« (cognitive intentionality) beziehungsweise eine »kognitivistische Verengung« vorliege (vgl. ebd.). Hierbei ist jedoch hinterfragbar, was unter »Erleben« gefasst wird, da in der Phänomenologie ein weitläufiges Verständnis des Erlebens zugrunde gelegt wird, welches sich ja eben gerade auf alle drei Hauptphänomenbereiche bezieht. Daher ist auch Schmids Einteilung der Positionen zur Entstehung der Gemeinschaft fragwürdig: In WirIntentionalität (2005) unternimmt er folgende Dreiteilung: Erstens: die Gemeinschaft entsteht durch gemeinsames Handeln, das heißt durch Zusammenarbeit und Beitragshandlungen: »Handelnsgemeinschaft«. Zweitens: die Gemeinschaft entsteht durch gemeinsame Intentionalität: »Erlebensgemeinschaft«. Schmid nennt hier als Vertreter John R. Searle und Martin Heidegger. Sowie drittens: die Gemeinschaft entsteht durch gemeinsames Fühlen, wie es von Max Scheler und Edith Stein vertreten wird: »Gefühlsgemeinschaft« (vgl. ebd., S. 43ff. u. S. 49). Rekonstruiert wird die Gemeinschaft als entweder durch gemeinsames Handeln, gemeinsame Intentionalität oder gemeinsames Fühlen. Dies scheint jedoch ein arg seltsames Verständnis von Intentionalität zu sein – denn auch Absichten und Gefühle lassen sich erleben. Doch selbst wenn man Schmid bei seiner Einschätzung der Phänomenologie als Konzentrierung auf einen Phänomenbereich, nämlich das Denken, folgt, so schreibt er selbst explizit, dass die dabei vorliegende Verengung durch Heideggers Sein und Zeit, und damit spätestens ab 1927, ihr Ende gefunden habe, während sich in der Sprachanalytik, so Schmid, hingegen noch bis mindestens 2009 eine »praktizistische Verengung« finden lasse. Searle: »Coll. Intentions and Actions« (1990), S. 406 (dt.: S. 107).
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Formen kollektiver Intentionalität
René Descartes’ festhält, dass Intentionalität immer Intentionalität von jemanden Einzelnen sei, wodurch eine Zuschreibung der Intentionalität als unsere erheblich erschwert wird.47 Zweitens wird die Intentionalität bei Searle unmissverstänlich als biologisches Phänomen charakterisiert48 , denn sie sei allen Lebewesen von Natur aus gegeben, diene als biologische Basis aller weiteren Phänomene und könne vollständig als Verarbeitung von elektronischen neuronalen Impulsen im Gehirn kausal erklärt werden49 :
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Der immense Einfluss dieses Paradigmas, wurde von Annette Baier als »cartesian brainwash« bezeichnet (vgl. Annette Claire Baier: »Doing Things with Others: The Mental Commons«, in: Commonality and Particularity in Ethics, hg. v. Lilli Alanen, Sarah Heinamaa u. Thomas Wallgren, Macmillan, Basingstoke, 1997, S. 15–44 (übersetzt v. Anita Konzelmann Ziv: »Dinge mit anderen tun: Die mentale Allmende«, in: Sammelband Kollektive Intentionalität, hg. v. Schmid u. Schweikard (2009), S. 230–265). Im Folgenden als: Baier: »Doing Things« (1997) (dt.)). Bei Descartes selbst findet sich an keiner einzigen Stelle die Erörterung eines »nos cogitamus«, wie zahlreiche Debattenteilnehmer kritisieren (vgl. u.a. Hans Bernhard Schmid: »Rationality-in-Relation«, in: The American Journal of Economics and Sociology, Band 62, Heft 1, 2003, S. 67–101, hier: S. 89f. und die Endnote Nr. 8 auf S. 94. Im Folgenden als: H.B. Schmid: »Rationality-in-Relation« (2003)). Baiers Kritik richtet sich jedoch auch an die Sprachanalytiker der ersten Generation der Auseinandersetzung mit den Intentionalitätsformen: auch die »Big Four« seien noch dem Paradigma Descartes verhaftet (vgl. Hans Bernhard Schmid u. David P. Schweikard: Einführung zu II. Auseinandersetzungen, in: Sammelband Kollektive Intentionalität, hg. v. Schmid u. Schweikard (2009), S. 227–229, hier: S. 227). Denn wenn beispielsweise Searle davon spricht, dass die Intentionalität jeweils im Einzelgehirn liege, dann kann Intentionalität zwar mit Anderen erfolgen – es ist deine und meine Intentionalität – aber wie sollte sie dann tatsächlich miteinander als unsere bestehen? Probleme genau dieser Art thematisiert bereits Aron Gurwitsch in Die mitmenschlichen Begegnungen (1931): »Gleichgültig wie man [...] ›Ichzugehörigkeit‹ interpretiert, sie ist für die traditionelle Position ein wesentliches Charakteristikum der Erlebnisse als solcher. Jedes Erlebnis ist mir als mein Erlebnis gegeben [...]. Damit aber sind die ›Wir-Erlebnisse‹ unverständlich geworden. [...] Ihrem Sinne nach verweisen diese Erlebnisse auf ein ›Wir‹ und bekunden ihre ›Wirzugehörigkeit‹ darin, daß dasselbe Erlebnis vollziehend eine ihrer phänomenologischen Eigenschaften darstellt.« Aron Gurwitsch: Die mitmenschlichen Begegnungen in der Mileuwelt [1931], hg. v. Alexandre Métraux, Walter de Gruyter Verlag, Berlin/New York, 1977, Abschnitt I, § 7, S. 41. Im Folgenden als: Gurwitsch: Die mitmenschlichen Begegnungen (1931). Vgl. Searle: »Intentionality« (2012), S. 9. Vgl. u.a. (i) Searle: Intentionality (1983), S. ix (dt.: S. 11). (ii) Searle: Mind, Language and Society (1998), S. 51 u. 92 (dt.: S. 67 u. S. 112). (iii) John R. Searle: »How to study consciousness scientifically«, in: Philosophical Transactions B, Band 353, The Royal Society, London, 1998, S. 1935–1942. (iv) Searle: »Consciousness« (2000). (v) Searle: Making the Social World (2010), S. 4, S. 25 u. S. 42 (dt.: S. 12f., S. 46 u. S. 75). (vi) John R. Searle: Freiheit und Neurobiologie [Liberté et neurobiologie (2004)], übersetzt von Jürgen Schröder, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 2004, S. 14 u. S. 26. Im Folgenden als: Searle: Freiheit u. Neurobiologie (2004). (vii) Searle: »Intentionality« (2012), S. 22.
1. Intentionalität: Drei Ansätze
»Consciousness and intentionality are caused by brain processes and realized in the brain, and there is no obstacle in principle to understanding biologically how, in fact, it happens.«50 Spätestens hier wird der Unterschied nicht nur zu phänomenologischen Autoren sowie zu den weiteren sprachanalytischen Autoren der Debatte, sondern auch – was besonders bemerkenswert ist – gerade auch zu nicht-philosophischen Disziplinen deutlich. Denn es wird beispielsweise in der evolutionären Verhaltensforschung Tomasellos (siehe Kapitel 3.3) nicht – oder wenigstens nicht ausdrücklich – auf die neuronale Impulsverarbeitung des Einzelgehirns eingegangen. Kurzum: zwar wird in der Sprachanalytik einige Kritik an der phänomenologischen Vorgehensweise laut51 , doch erstens weisen die Strömungen, wie in diesem Einschub der zentralen Merkmale der Intentionalität nach Searle gezeigt werden konnte, auch allerlei Überschneidungen auf. Die sprachanalytische Kritik, welche an die phänomenologischen Autoren herangetragen wird, zielt zweitens primär auf die grundlegende methodologische Ausrichtung, nämlich das beschreibende anstatt erklärende Vorgehen. Dass sich thematische Fragestellungen der beiden Strömungen teils erheblich decken, wird anhand von Raimo Tuomela in Anlehnung an Scheler, Husserl und de Vecchi zu Beginn des Kapitels 3.2 dargelegt. Um den Bogen zum grundlegenden sprachanalytischen Verständnis zurückzuschlagen: welche Konsequenzen ergeben sich aus einer solchen Intentionalitätsauffassung, bei welcher vorwiegend die Handlungsphänomene betrachtet werden? Und ist dieses Verständnis der Intentionalität überhaupt haltbar? Folgt man der sprachanalytischen Auffassung der Intentionalität, so ist die geteilte Intentionalität eine Bezeichnung für das Bewusstsein, das man hat, wenn man eine Absicht teilt. Die gemeinsame Intentionalität ist die Bezeichnung für das Bewusstsein, dass man eine gemeinsame Absicht hat: »[D]er Unterschied zwischen individuellem und gemeinsamen Handeln [ist] in der Struktur der leitenden Absicht der Beteiligten zu verorten«52 .
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Searle: »Intentionality« (2012), S. 11. Vgl. u.a. Searle: »Limits of Phenomenology« (2000), S. 71–92. Wobei sich Searle, wie nochmals hervorgehoben werden muss, nicht primär auf die frühe Phänomenologie bezieht, sondern dies lediglich indirekt mittels Lektüre der späten Phänomenologen, wie Dreyfus, geschieht. Der gegenwärtige Husserlforscher Emanuele Caminada vertritt die Auffassung, dass sich Searles Kritik an der Phänomenologie aus einem Missverständnis heraus begründe: Caminada »claim[s] that this belief is rooted more in the misleading criticism of Searle’s colleague and rival in Berkeley, the Heideggerian philosopher Hubert Dreyfus, than in phenomenology itself«. Caminada: »Phenomenological Background of Coll. Positionality« (2012), S. 135. Schmid u. Schweikard: »Einleitung: Koll. Int.« (2009), S. 13 (Herv. übernommen).
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Formen kollektiver Intentionalität
Geht man von diesem Verständnis aus, so kommen nicht, wie in der Phänomenologie, alle bewusstseins- oder wahrnehmungsfähigen Wesen als potenziell Beteiligte einer Intentionalitätsform in Frage, sondern eingeschränkter die absichts- oder sprachfähigen Wesen. Indem von einer Absichts- anstatt einer Bewusstseinsfähigkeit ausgegangen wird, sind Tiere als Beteiligte eher ausgeschlossen – zumindest einem Alltagsverständnis des Begriffs »Absicht« nach, da hierbei ein freier Wille des Akteurs suggeriert wird, sodass also absichtsfähige Subjekte im Vordergrund stehen. Aus der sprachanalytischen Auffassung der Intentionalität als Bewusstsein einer Absicht ergeben sich aus systematischen Gründen heraus zwei Nachteile, da aufgrund der Fokussierung auf Absichten der Zugang zu bestimmten Phänomenen verwehrt bleibt, denn die Sprachanalytiker der Debatte ab 1988 verfügen schlicht nicht über die Mittel bestimmte Phänomene adäquat untersuchen zu können. Erstens gibt es auch Phänomene, wie gefühlsgeleitete Handlungen, die eine Überschneidung der drei Grundphänomenbereiche darstellen. Beispielsweise habe ich aufgrund meines Durstes – der sich als Gefühl äußert – die Absicht zu trinken, um den Durst zu stillen. Phänomene dieser Art können nicht in eine spezifische Kategorie der Phänomenbereiche eingeordnet werden. Zudem muss man sogar annehmen, dass spezifischen Phänomenen ein »Zwitter-Charakter« immanent ist, das heißt, dass bestimmte Handlungen notwendigerweise mit einer Gefühlskomponente verbunden sind. An einem Beispiel: die Absicht jemanden zu küssen entspringt wohl in aller Regel aus Gefühlen und manifestiert sich bestenfalls – das heißt unter der Voraussetzung, dass beide Beteiligte die freiwillig gefasste Absicht haben einander zu küssen – in einer leidenschaftlichen Ausführung. Eine Untersuchung, ob der Phänomenbereich des Handels oder des Gefühls hier dominiert, würde am Phänomen selbst vorbeigehen. Konkret: es handelt sich nicht um ein Handlungs- oder Gefühlsphänomen, vielmehr ist es sowohl ein Handlungs- als auch ein Gefühlphänomen. Oder um es mit Matthias Jung zu sagen: »Unsere gewöhnliche Erfahrung unterscheidet zwar, wenn nötig, zwischen kognitiven, volitionalen und emotionalen Komponenten des Weltbezugs, trennt aber nicht zwischen ihnen.«53 Bei der Erfahrung selbst lassen sich die kognitiven, affektiven und willentlichen Momente nicht voneinander differenzieren.54 Zweitens lässt sich zum sprachanalytischen Ansatz festhalten: Mit der Fokussierung auf Handlungsabsichten geht eine Fokussierung auf körperliche Aspekte einher – da der Körper als Mittel dient Handlungsabsichten auszuführen –, wodurch allerdings Aspekte der Leiblichkeit und insbesondere der »kollektive Leiblichkeit«, wie Husserl sie nennt55 , verdrängt werden.
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Matthias Jung: Gewöhnliche Erfahrung, Mohr Siebeck Verlag, Tübingen, 2014, Abschnitt 1.3.3, S. 56. Vgl. ebd., Klappentext. Husserl: Text Nr. 19: »Welthorizont in Zeiträumlichkeit« [1932] (Hua. XXXIX), S. 181.
1. Intentionalität: Drei Ansätze
Kurz: im sprachanalytischen Ansatz wird der Phänomenbereich der Handlungen ausgeprägt thematisiert, weshalb sich dort mehrere Nachteile gegenüber dem phänomenologischen Ansatz finden lassen: Der sprachanalytische Ansatz kann einerseits »Zwitter-Phänomene«, wie beispielsweise gefühlsgeleitete Handlungen, und andererseits Aspekte rund um die Leiblichkeit nicht in angemessener Weise beschreiben. Es scheint zahlreiche Phänomene zu geben, welche nicht ausschließlich einem Hauptphänomenbereich zugeordnet werden können: Ein Kuss aus Leidenschaft oder – am einen drastischeren Beispiel – ein Totschlag aus Affekt. Die ausgeführte Körperbewegung und die dazugehörige körperliche Reaktion des Anderen können, beispielsweise bei einem gefühlslosen und einem leidenschaftlichen Kuss oder bei einem Mord und einem Totschlag aus Affekt, für den Beobachter identisch sein. Für die Beteiligten selbst ist es jedoch ein gravierender Unterschied, ob der Kuss aufgesetzt oder leidenschaftlich war oder ob es ein beabsichtigter Mord oder ein unbeabsichtigter Totschlag aus dem Affekt heraus war, was sich in der Schwere der Rechtsprechung wiederfindet. Daher sollte deutlich zwischen der Ausgangslage als Beobachter und Beteiligter unterscheiden werden. Diese Erkenntnis wurde auch in der sprachanalytischen Debatte ausgeführt. Als markantes Beispiel dient unter anderem der Spaziergang mehrerer Personen, wie es von Margaret Gilbert unter anderem in »Walking Together« (1990), und in ihrer Nachfolge noch präziser von David P. Schweikard in »Gemeinsame Absichten – Grundzüge einer nicht-individualistischen Theorie gemeinsamen Handelns« (2010) dargelegt wurde. Hier anhand von Searles Ausführungen um 1990: »Imagine that a group of people are sitting on the grass in various places in the park. Imagine that it suddenly starts to rain and they all get up and run to a common, centrally located shelter. Each person has the intention expressed by the sentence ›I am running to the shelter‹. But for each person, we may suppose that his or her intention is entirely independent of the intentions and behaviour of others. In this case there is no collective behaviour; there is just a sequence of individual acts that happen to converge on a common goal [the arrival of the dry shelter]. Not imagine the case where a group of people in a park converge on a common point as a piece of collective behaviour. Imagine that they are part of an outdoor ballet where the choreography calls for the entire corps de ballet to converge on a common point. We can even imagine that the external bodily movements are indistinguishable in the two cases; the people running for shelter make the same types of bodily movements as the ballet dancers. Externally observed, the two cases are inditinguishable [sic], but they are clearly different internally.«56 Es wird also davon ausgegangen, dass die Körperbewegungen im individuellen wie auch im gemeinsamen Fall identisch ausfallen können, sodass ein Beobachter nicht 56
Searle: »Coll. Intentions and Actions« (1990), S. 402f. (dt.: S. 101).
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Formen kollektiver Intentionalität
wissen könne, ob eine geteilte, gemeinsame oder kollektive Intentionalität vorliegt – ob die Handlung parallel oder gemeinsam vollzogen wird.57 Oder positiv formuliert: eine Einschätzung der Intentionalitätsform ist ausschließlich aus der Teilnehmerperspektive heraus möglich. Direkt zum Aspekt der Teilnehmerperspektive können zwei Bemerkungen angeführt werden: Zum einen steht eine solche Erläuterung, wie unter anderem jene nach Searle, nicht wie es zunächst scheinen mag der Annahme Husserls entgegen, dass ein »uninteressierter Zuschauer«58 die Szene beschreiben müsste. Vielmehr überschneiden sich hier die Ansätze Husserls und Searles: Während für Searle eine adäquate Beschreibung nur als Teilnehmer möglich ist, betont Husserl jedoch auch, dass man sich, um überhaupt eine Beschreibung liefern zu können, gewissermaßen als Teilnehmer zurückziehen muss. Man könnte dies in den paradox erscheinenden Worten zusammenfassen, dass man ein unbeteiligter Beteiligter sein müsse – oder in einer Abwandlung der Worte nach Husserl: ein uninteressierter zuschauender Beteiligter. Zum anderen kann man als Beobachter situationsbedingt durchaus Indizien – wenn eben auch nicht Beweise – für eine Einschätzung finden. Das heißt, dass die vollzogenen Körperbewegungen im Falle des parallelen Neben- und des gemeinsamen Miteinanders für den Beobachter identisch sein können. Doch wird der Beobachter dennoch nicht vor ein Dilemma gestellt, denn er kann durchaus eine persönliche Einschätzung abgeben. Zwar kann er sich in seiner Annahme täuschen, aber er kann einen Glauben angeben, welcher Fall der Tendenz nach vorliegt. Dass beispielsweise sein Hund namens Ludwig Wittgenstein sowohl Bewusstsein als auch Intentionalität als auch Gedankenprozesse hat, steht
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Frühere phänomenologische Autoren wie Stein und Scheler machten hingegen lediglich darauf aufmerksam, dass es in Bezug auf eine Person nicht aufgrund der äußeren Erscheinung, wie einer roten Wange, möglich ist auf das tatsächliche Gefühl dieser Person zu schließen: »dieselbe primäre Erscheinung der Rotqualität [...][kann] ebenso gut ›Erhitzung‹ [z.B. körperliche Anstrengung oder äußere Wärme], ›Zornesröte‹ [...] und den roten Schein einer Laterne anzeigen«. Scheler: Wesen u. Formen d. Sympathie [1923], Teil C, III, S. 257. Vgl. Stein: Zum Problem d. Einfühlung [1917], Teil III, § 4d, S. 59f. In der Kultur- und Kollektivwissenschaft nach Klaus Peter Hansen wird das Kollektiv meist an distributiven Eigenschaften festgemacht. Man denke an das Kollektiv der Brillenträger oder an das Kollektiv der rothaarigen Frauen. Die Beteiligten können sich zueinander zugehörig fühlen, was in diesem Ansatz jedoch keine notwendige Bedingung darstellt. Nach einer solchen Auffassung des Kollektivs ist es wiederum aus einer Beobachterperspektive entscheidbar, wer zum Kollektiv gehört und wer nicht: Die Frau dort auf der Straße, die an meinem Fenster vorbei geht, hat rote Haare – also gehört sie zum Kollektiv der rothaarigen Frauen. Erst wenn ich beispielsweise genauer nur das Kollektiv erfassen möchte, derjenigen Frauen, die mit roten Haaren geboren wurden, wird es bei der rothaarigen Frau auf der Straße schwierig. Denn ich kenne sie nicht und weiß daher nicht, ob ihre Haare gefärbt sind. Vgl. Husserl: Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, § 15, S. 72–76.
1. Intentionalität: Drei Ansätze
für Searle – obwohl er keinesfalls die »what-it-is-like«-Perspektive des Hundes einnehmen kann – völlig außer Frage.59 Anhand der Fußballmannschaft: man kann als Beobachter einer Fußballweltmeisterschaft schon nach wenigen Partien einer Mannschaft abschätzen, inwieweit die Spieler dieser spezifischen Mannschaft ein Team im wirklichen Sinne bilden und allein aus diesem Gefühl heraus lässt sich – immerhin relativ treffsicher – vorhersagen, wie weit es diese Mannschaft innerhalb der Meisterschaft bringen wird. Auch eine Gegenüberstellung zweier Kuss-Szenen kann als Untermauerung herangeführt werden: Wird ein Kuss auf der Straße mit einem Kuss, der auf einer Theaterbühne vollzogen wurde, verglichen, so steht der Beobachter nicht vor einer unentscheidbaren Angabe, sondern kann vielmehr angeben, dass ein Kuss auf der Straße wohl als ein gefühlgeleiteter Kuss aus einem jeweils eigenen Willen heraus betrachtet werden kann. Einen Kuss zwischen zwei Schauspielern auf einer Theaterbühne hingegen würde man vermutlich, gerade weil er auf der Bühne geschah, eher als gefühllos beziehungsweise als aus einem Drehbuch heraus vorgeschrieben charakterisieren. Demnach ist es, wenn zumindest ein gewisser Kontext vorhanden ist, keinesfalls schwierig zu vermuten, ob eine parallele oder gemeinsame Ausführung, ob etwa die Personen dort bloß zufällig nebeneinander her laufen oder gemeinsam spazieren gehen, ob sie alle für sich vor dem Regen flüchten oder eine gemeinsame Choreografie ausführen oder ob die Fußballmannschaft als Mannschaft auftritt und damit Chancen auf den Pokal hat.60 Man kann damit festhalten: ein Beobachter kann nicht entscheiden, aber Indizien sammeln, ob die bestehende Intentionalitätsform genauer als individuelle, geteilte oder gemeinsame Intentionalität gefasst werden kann. Eine Einschätzung der Intentionalitätsformen aus der Beobachterperspektive heraus ist nicht unmöglich, allerdings auch nicht vollumfänglich sicher – denn beispielsweise können die zwei Schauspieler auf der Bühne auch privat ineinander verliebt sein. Um es vorwegzunehmen: entgegen der, in der Debatte üblichen Gleichsetzung der Begriffe »Wir-Intentionalität« und »kollektive Intentionalität«, soll in der vorliegenden Argumentation die Bezeichnung »Wir-Intentionalität« nur dann verwendet werden,
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Searle: »Animal Minds« (1994), S. 207 (dt.: S. 133). Oder anhand von Searles Beispiel: Ich beobachte, wie während eines Regenschauers um 15 Uhr die Menschen im Park einem Unterschlumpf zuströmen. Dabei könnte ich die Überlegung haben, dass zwar die vollzogenen Körperbewegungen bei einem parallelen Nebeneinander und einer Choreografie gleich aussehen könnten, aber in diesem Park selten Choreografien aufgeführt werden und daher eher von einem parallelen Nebeneinander auszugehen ist. Ich könnte mich jedoch auch erinnern, dass ich in einer Vorankündigung gelesen habe, dass für eben jenen Tag um 15 Uhr im Stadtpark eine Choreografie aufgeführt wird. Aufgrund dieser Vorankündigung könnte ich nun in den Körperbewegungen einen gemeinsam inszenierten »Regentanz« ausmachen. Die Einschätzung ist daher immer von gegebenen Hintergrundwissen und der Situation bedingt, weshalb man immer zu einer Tendenz neigen wird.
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Formen kollektiver Intentionalität
wenn der Sprecher selbst ein Teilnehmer dieser Gruppe ist, während die »kollektive Intentionalität« jene Intentionalität bezeichnet, welche aus einer dezidierten Beobachterperspektive zugeschrieben wird. Doch zurück zum Schwerpunkt dieses Kapitels, der Auffassung der Intentionalität in den drei Hauptströmungen. Bisher wurde festgehalten: in der Phänomenologie wird die Intentionalität als Bewusstsein von etwas und in der Sprachanalytik hingegen eher einschränkend als Bewusstsein einer Absicht verstanden.
1.3
Der Ansatz der evolutionären Verhaltensforschung: Intentionalität als Bewusstsein eines Handlungsvollzugs
Während in der Sprachanalytik primär der Phänomenbereich der Handlungen im Sinne der Handlungsabsicht in den Fokus der Betrachtung steht, sind es in der evolutionären Verhaltensforschung Michael Tomasellos (*1950) die Akteure selbst oder die Intentionsbewegungen, wie etwa Gesten. Tomasello geht es nicht um die Handlungsabsicht, die irgendwann einmal zukünftig realisiert wird, sondern um den konkreten gegenwärtigen Handlungsvollzug, genauer gesagt: um das Selbstverständnis als intentionalen Akteur während des eigenen Handlungsvollzugs: Nur dann, wenn man sich selbst als intentionalen Akteur begriffen hat, ist es möglich auch den Anderen als intentionalen Akteur aufzufassen und damit wiederum dessen Intentionalitätsgehalt einzuschätzen. Zwar verstehen sich auch Tiere als intentionale Akteure, doch nur der Mensch, so Tomasello, kann das Gegenüber in tiefgreifender Weise, nämlich als (Kooperations-)Partner anerkennen und Gruppeninteressen vertreten. Aufgrund der Hervorhebung des Handlungsvollzuges ist es nur folgerichtig, dass die Moralität bei ihm, im Gegensatz zu den Intentionalitätskonzepten der Phänomenologie und Sprachanalytik, einen viel höheren Stellenwert einnimmt. Da Tomasello zufolge in den Untersuchungen der Intentionalitätsformen die differentia specifica zwischen dem Tier und dem Menschen zu finden ist, erwartet man wohl zunächst eine Definition was Intentionalität ist, bevor einzelne Formen oder sogar jene ganz spezifische Intentionalitätsform erläutert wird, welche den Wesensunterschied ausmachen soll. Wie dominant in der Debatte vertreten, beginnt auch er seine Stufenfolge der Intentionalitätsformen mit der individuellen Intentionalität. Unter dieser fasst er den »flexible, individual selfregulated, cognitive way of doing things«61 . Unabhängig davon, was hierunter
61
Michael Tomasello: A Natural History of Human Thinking, Harvard University Press, Cambridge/London, 2014, S. 9 (übersetzt v. Jürgen Schröder: Eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1. Auflage 2014, S. 23). Im Folgenden als: Tomasello: Human Thinking (2014) (dt.).
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Formen kollektiver Intentionalität
wenn der Sprecher selbst ein Teilnehmer dieser Gruppe ist, während die »kollektive Intentionalität« jene Intentionalität bezeichnet, welche aus einer dezidierten Beobachterperspektive zugeschrieben wird. Doch zurück zum Schwerpunkt dieses Kapitels, der Auffassung der Intentionalität in den drei Hauptströmungen. Bisher wurde festgehalten: in der Phänomenologie wird die Intentionalität als Bewusstsein von etwas und in der Sprachanalytik hingegen eher einschränkend als Bewusstsein einer Absicht verstanden.
1.3
Der Ansatz der evolutionären Verhaltensforschung: Intentionalität als Bewusstsein eines Handlungsvollzugs
Während in der Sprachanalytik primär der Phänomenbereich der Handlungen im Sinne der Handlungsabsicht in den Fokus der Betrachtung steht, sind es in der evolutionären Verhaltensforschung Michael Tomasellos (*1950) die Akteure selbst oder die Intentionsbewegungen, wie etwa Gesten. Tomasello geht es nicht um die Handlungsabsicht, die irgendwann einmal zukünftig realisiert wird, sondern um den konkreten gegenwärtigen Handlungsvollzug, genauer gesagt: um das Selbstverständnis als intentionalen Akteur während des eigenen Handlungsvollzugs: Nur dann, wenn man sich selbst als intentionalen Akteur begriffen hat, ist es möglich auch den Anderen als intentionalen Akteur aufzufassen und damit wiederum dessen Intentionalitätsgehalt einzuschätzen. Zwar verstehen sich auch Tiere als intentionale Akteure, doch nur der Mensch, so Tomasello, kann das Gegenüber in tiefgreifender Weise, nämlich als (Kooperations-)Partner anerkennen und Gruppeninteressen vertreten. Aufgrund der Hervorhebung des Handlungsvollzuges ist es nur folgerichtig, dass die Moralität bei ihm, im Gegensatz zu den Intentionalitätskonzepten der Phänomenologie und Sprachanalytik, einen viel höheren Stellenwert einnimmt. Da Tomasello zufolge in den Untersuchungen der Intentionalitätsformen die differentia specifica zwischen dem Tier und dem Menschen zu finden ist, erwartet man wohl zunächst eine Definition was Intentionalität ist, bevor einzelne Formen oder sogar jene ganz spezifische Intentionalitätsform erläutert wird, welche den Wesensunterschied ausmachen soll. Wie dominant in der Debatte vertreten, beginnt auch er seine Stufenfolge der Intentionalitätsformen mit der individuellen Intentionalität. Unter dieser fasst er den »flexible, individual selfregulated, cognitive way of doing things«61 . Unabhängig davon, was hierunter
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Michael Tomasello: A Natural History of Human Thinking, Harvard University Press, Cambridge/London, 2014, S. 9 (übersetzt v. Jürgen Schröder: Eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1. Auflage 2014, S. 23). Im Folgenden als: Tomasello: Human Thinking (2014) (dt.).
1. Intentionalität: Drei Ansätze
genauer zu verstehen ist – nämlich etwa, wie er selbst schreibt, keine simple Reiz-Reaktionsverbindung62 –, wird betont, dass es eine spezifische Art des »doing things«, also des Handelns ist. Genau dieser Aspekt tritt jedoch in der deutschen Übersetzung als »flexible, individuell selbst-regulierte, kognitive Art und Weise des Umgangs mit Dingen«63 in den Hintergrund. Dass es ihm allerdings nicht weitläufig um irgendeine Art des Umgangs, sondern präziser um das Handeln geht, wird deutlich, wenn man in die Sachregister seiner Werke blickt: Während das Stichwort »intentionality« in A Natural History of Human Thinking (2014) im »Subject index« nicht einmal mehr einzeln, sondern nur noch als spezifische Form, wie »collective«, »joint« oder »shared intentionality« aufgeführt wird, werden noch in Origins of Human Communication (2008) unter dem Hauptstichwort »intentionality« die verschiedenen Formen der Intentionalität, wie die individuelle und geteilte Intentionalität, die Kommunikation, das Verstehen von Intentionalität, das Handeln und die ontogenetischen Ursprünge der Intentionalität aufgelistet. Allerdings findet sich auch hier kein Hinweis darauf, an welcher Stelle innerhalb des Werkes eine Definition der Intentionalität als solcher – also eine allgemeine Definition ohne auf eine konkrete Intentionalitätsform einzugehen – gegeben wird, wie es in der Philosophie gerade üblich ist. Man denke etwa an Husserls Ausführung »das Wort Intentionalität [ist][…] nichts anderes als die[...] allgemeine Grundeigenschaft des Bewußtseins, Bewußtsein von etwas zu sein«64 oder an Searles »›Intentionality‹ [...] is the general term for all the various forms by which the mind can be directed at, or be about, or of objects and states of affairs in the world«65 . Bei Tomasello hingegen muss man sich schon sehr auf die Suche begeben, um wenigstens ein kurzes Statement zu finden, was Intentionalität als solche überhaupt ist. Dass verschiedene Intentionalitätsformen vorliegen, erläutert Tomasello anhand spezifischer Absichten: Eine Handlung, welche die Aufmerksamkeit des Anderen lenken möchte, wie es bei einer Zeigegeste üblich ist, erfordert, wie er untermauert, allerlei kognitive Fähigkeiten, wie unter anderem das Einschätzen des Anderen als intentionalen Akteur sowie das Hineinversetzen in den räumlichen Standpunkt des Anderen. Deutet beispielsweise ein Affe auf eine Banane, so geht es dem Affen, laut Tomasello, ausschließlich darum, diese Banane selbst zu erlangen (imperative Geste), welche sich aktuell außerhalb seiner eigenen Reichweite befindet. Konkret: der Affe deutet auf die Banane, weil er sich die räumliche Position des Anderen hineinversetzen kann und damit weiß, dass die Banane auch
62 63 64 65
Vgl. ebd., S. 8 (dt.: S. 22). Tomasello: Eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens, übersetzt v. Jürgen Schröder, S. 23 (Herv. selbst vorgenommen). Husserl: Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, S. 72. Searle: Mind, Language and Society (1998), S. 85 (dt. S. 104).
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Formen kollektiver Intentionalität
im Blickfeld des Anderen liegt und für diesen wiederum erreichbar ist.66 Aber es geht dem Tier, so seine Argumentation, lediglich um die individuelle Absicht, die sich im Handlungsvollzug manifestiert: Hat der Affe nämlich die Banane bekommen, so wird er sie aus egoistischen Gründen selbst verspeisen oder ausschließlich aus egoistischen Gründen heraus, wie dem Überleben der eigenen Nachkommen, mit Anderen teilen. Bei einer deklarativen Zeigegeste hingegen, wie sie menschliche Kleinkinder ab circa neun Monaten vollziehen können67 , ist ein spezifischer kognitiver Stand nötig, da er hier nicht um individuelle Absichten geht, sondern, so der Clou den Tomasello herausarbeitet, um eine geteilte Aufmerksamkeit: Das Kleinkind kann zeigen, um auf ein Objekt aufmerksam zu machen, dass für beide Beteiligten relevant ist. Dem Kleinkind, aber nicht dem Menschenaffen, ist ein Vertreten des »We-mode« und damit eine spezifische Intentionalität – nach Tomasello: die »joint« und »collective intentionality« – möglich. Eine weitere Handlung, die einen weiteren zentralen Einschnitt der menschlichen Ontogenese markiert, ist der Vollzug kollektiver Praktiken, wie beispielsweise die Verwendung von Geld, welches, wie angenommen werden kann, ein Verständnis vieler intentionaler Akteure voraussetzt. Hierbei wird ab einem Alter von circa sechs Jahren sowohl die fremde als auch die eigene Handlung einem moralischen Urteil unterzogen. In Kapitel 3.3 wird die Position Tomasellos genauestens ausgeführt, jedoch für den Moment sollte dieser kurze Abriss reichen, um verständlich zu machen, welches grundlegende Bild bei ihm leitend ist: Nimmt man nämlich seine zentralen Aspekte zusammen – sei es das »doing things«, die Zeigegeste oder der Vollzug kollektiver Praktiken –, dann wird deutlich, dass es Tomasello vorrangig um Handlungsphänomene, genauer gesagt: um das Bewusstsein eines Handlungsvollzuges, geht. 66
67
Vgl. u.a. (i) Michael Tomasello: Origins of Human Communication, MIT Press, Cambridge/ London, 2008, Kapitel 4.1.2, S. 122 (übersetzt v. Jürgen Schröder: Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 2009, S. 134f.). Im Folgenden als: Tomasello: Human Communication (2008) (dt.). (ii) Michael Tomasello u. Henrike Moll: »The Gap is Social – Human Shared Intentionality and Culture«, in: Mind the Gap, hg. v. Peter M. Kappeler und Joan B. Silk, Springer Verlag, Berlin/Heidelberg, 2010, S. 331–349, hier: S. 338ff. Im Folgenden als: Tomasello u. Moll: »The Gap is Social« (2010). Vgl. u.a. (i) Tomasello: Human Communication (2008), S. 112 (dt.: S. 124). (ii) Michael Tomasello u. Amrisha Vaish: »Die Entstehung menschlicher Kooperation und Moral«, übersetzt v. Nikil Mukerji, in: Moral, Wissenschaft und Wahrheit, hg. v. Julian Nida-Rümelin u. Jan-Christoph Heilinger, (Humanprojekt Interdisziplinäre Anthropologie, Band 13), de Gruyter Verlag, Berlin/ Boston, 2016, S. 181–221, hier: S. 192 (im Original als: »Origins of Human Cooperation and Morality«, in: Annual Review of Psychology Band 64, 2013, S. 231–255). Im Folgenden in der dt. Version als Tomasello u. Vaish: »Entstehung menschl. Kooperation u. Moral« [2013]. (iii) Eine pointierte Darstellung der Forschungen zu den Zeigegesten bei Menschenaffen findet sich in Michael Tomasellos Aufsatz »Thirty years of great ape gestures« (erschienen in: Animal Cognition, Band 22, 2019, S. 461–469).
1. Intentionalität: Drei Ansätze
1.4
Zwischenfazit zu Kapitel 1
Mit den drei Phänomenbereichen – dem Denken, Handeln und Fühlen – wird in den drei Hauptströmungen der Debatte – der Phänomenologie, Sprachanalytik und evolutionären Verhaltensforschung – unterschiedlich umgegangen, da sie entweder gleichbehandelt werden oder der Fokus auf der Handlungsabsicht oder nochmals eingeschränkter auf dem Handlungsvollzug liegt. Diese Unterscheidungsweise der Strömungen entspricht keinem Selbstverständnis der hier behandelten Autoren oder einem klassischen Differenzierungsmerkmal. Doch lässt sich mit der Thematisierung der Phänomenbereiche, so die hier präsentierte Argumentation, ein – wenigstens als Tendenz gegebener – inhaltlicher Unterschied der Intentionalitätsauffassung festmachen. Zwar wird meist von der individuellen Intentionalität ausgegangen, doch zeigt sich die Differenz der Strömungen besonders deutlich anhand der geteilten, gemeinsamen oder kollektiven Intentionalität, denn hierbei bildet sich die Abweichung zu einem regelrechten Wesensunterschied der Strömungen aus: Die geteilte, gemeinsame oder kollektive Intentionalität basiert auf einem geteilten, gemeinsamen oder kollektiven Bewusstsein von etwas (Phänomenologie), auf einem geteilten, gemeinsamen oder kollektiven Bewusstsein einer Absicht (Sprachanalytik) oder auf einem geteilten, gemeinsamen oder kollektiven Bewusstsein eines Handlungsvollzugs (evolutionäre Verhaltensforschung). Mit diesen Überlegungen des ersten Kapitels lassen sich zwei Hauptergebnisse festhalten, welche auf das Verhältnis der Strömungen zueinander zielt: Zwar mögen die Phänomenologie und die Sprachanalytik der Zuordnung nach beide als philosophische Strömungen gelten, allerdings wird mit der Definition und dem Umgang mit der Intentionalität auch die Strukturaffinität zwischen der Sprachanalytik, insbesondere mit Referenz auf die Position Searles, und der evolutionären Verhaltensforschung deutlich. Denn es werden zum einen sowohl in der evolutionären Verhaltensforschung als auch in der Sprachanalytik die Handlungen betont, nämlich als Handlungsabsicht (wie es etwa Searle vertritt) beziehungsweise als Handlungsvollzug (wie es die Position von Tomasello ist). Zum anderen werden bei beiden genetische Annahmen hinsichtlich der Entstehung der Intentionalität (Searle) beziehungsweise zur Entstehung spezifischer Intentionalitätsformen (Tomasello) zugrunde gelegt, nämlich als kausale Erklärung der Intentionalität durch die neuronale Verarbeitung von elektronischen Impulsen (Searle) beziehungsweise als onto- und phylogenetische Entwicklungsschritte (Tomasello). Die Vorgehensweise ist hierbei primär erklärend anstatt wie in der Phänomenologie beschreibend.
63
2. Geteiltheit, Gemeinsamkeit und Kollektivität: Zwei Voraussetzungsebenen
Die Frage, was Intentionalität ist, wird in der Phänomenologie, Sprachanalytik und evolutionären Verhaltensforschung, so wurde in Kapitel 1 skizziert, unterschiedlich beantwortet. Zudem gehen die allermeisten Autoren der Debatte um die Intentionalitätsformen davon aus, dass eine Erläuterung der Intentionalitätsformen von der Ich- hin zur Wir-Intentionalität, von der individuellen zur kollektiven Intentionalität erfolgen sollte.1 Im Hintergrund dieser beiden Annahmen ergibt sich: Die Beteiligten müssen selbst bewusstseins –, absichts- oder handlungsfähig sein, um ihre Intentionalität zu teilen respektive diese gemeinsam oder kollektiv erleben zu können. Damit soll in dieser Dissertation nicht die Position vertreten werden, dass die Ich-Intentionalität tatsächlich notwendigerweise stets der WirIntentionalität voraus ginge, aber es ist zumindest plausibel anzunehmen, dass die Beteiligten selbst über Intentionalität verfügen müssen – unabhängig davon, in welcher konkreten Form sich diese zeigt, das heißt unabhängig davon, ob sie im konkreten Fall dem Einzelnen, dem Einzelnen als Gruppenmitglied oder – wenn man so weit gehen möchte – der Gruppe als solcher selbst gegeben ist. Bei der Beschreibung der Intentionalität wurde jedoch kaum von den Autoren der unterschiedlichen Strömungen eigenhändig darauf eingegangen, welche eindringlichen Konsequenzen sich aus diesen Intentionalitätsauffassungen aus einer empirischen
1
Als Autoren, welche die Wir-Intentionalität (beziehungsweise das Kollektivbewusstsein) als Bedingung der Möglichkeit der Ich-Intentionalität (beziehungsweise das Individualbewusstsein) sehen – oder zumindest auf eine Gleichursprünglichkeit zielen –, zählen unter anderem: Max Scheler, Wilhelm Schapp und Karen Gloy. Vgl. u.a. (i) Scheler: Wesen u. Formen d. Sympathie [1923]. (ii) Zumindest in der Lesart nach Michael Theunissen wird auch in Wilhelm Schapps Werk Philosophie der Geschichten eine Gleichursprünglichkeit vertreten (vgl. Michael Theunissen: Der Andere – Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, Walter de Gruyter Verlag, Berlin/New York, 1977, hier: V. Kapitel, B, § 80, S. 405. Im Folgenden als: Theunissen: Der Andere [1977]). (iii) Karen Gloy: Kollektives und individuelles Bewußtsein, Wilhelm Fink Verlag, München, 2009, hier: insbesondere das Kapitel VII: Die Geburt des Individualbewußtseins aus dem Kollektivbewußtsein. Im Folgenden als: Gloy: Koll. u. individuelles Bewußtsein (2009).
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Formen kollektiver Intentionalität
Sicht heraus ergeben müssen. Diese Konsequenzen sollen im vorliegenden Kapitel 2 in Bezug auf zwei Voraussetzungsebenen, nämlich konkret die kognitiven und ontologischen Voraussetzungen, geklärt werden. Diese Ausführungen sind eher als längerer Exkurs zu verstehen, ohne den die Darstellung der Intentionalitätsformkonzeptionen der drei Hauptströmungen problemlos möglich ist. Dennoch soll zumindest auf die Problematik der Grenzfälle hingewiesen werden, denn diese Grenzfälle zeigen letztlich, dass einige dieser Intentionalitätsformkonzeptionen auf den ersten Blick theoretisch ohne weiteres akzeptabel sind, allerdings nicht unbedingt praktisch, das heißt als konkrete Handlungsanweisung verstanden werden sollten. Dies kann besonders prägnant an einer der beiden Voraussetzungsebenen festgemacht werden, denn die zugrunde gelegten Annahmen in der Debatte zielen zum einen auf die kognitiven Fähigkeiten, die man, notwendigerweise um als Beteiligter spezifischer Intentionalitätsformen gelten zu können, haben muss und zum anderen auf den ontologischen Status, welcher ebenfalls als Bedingung der Möglichkeit gilt. Es scheint banal auf den ontologischen Status der Beteiligten einzugehen und zu sagen, dass die Beteiligten real existieren und tatsächlich aufeinander bezogen sein müssen. Dieser Aspekt wird im Abschnitt 2.2 im Hintergrund der Gedankenexperimente des Gehirns im Tank und des einsamen Robinson Crusoe erläutert. Schlussendlich wird sich dabei erstens ergeben, dass zwischen einer geglaubten und einer tatsächlichen kollektiven Intentionalität differenziert werden muss – wobei der Begriff der kollektiven Intentionalität bei dieser Binnendifferenzierung nach Anthonie W. M. Meijers und Hans Bernhard Schmid noch ganz im Sinne Searles als Sammelbegriff für alle Intentionalitätsformen mit mindestens zwei Beteiligten verwendet wird. Zweitens zeigt sich jedoch auch: zwar mag gelten, dass für eine tatsächliche Intentionalitätsform die Beteiligten real existieren und real aufeinander bezogen sein müssen, jedoch kann dieser theoretische Konsens praktisch – genauer gesagt: gesetzlich – übergangen werden, wie unter anderem mittels der »Leichentrauung«, das ist die Heirat mit einem Toten, veranschaulicht wird. Zunächst soll jedoch im Kapitel 2.1 behandelt werden, wie sich die Ansätze der Debatte hinsichtlich der notwendigen kognitiven Fähigkeiten der Möglichkeit einer Beteiligung ergänzen. Hierbei werden nicht alle, sondern nur die markantesten Kriterien, wie die Intentionalitätsfähigkeit, das Einfühlungsvermögen und die Anerkennung des anderen als Handlungspartner, ausgeführt. Dabei wird sich zeigen: alle Hauptströmungen vertreten einleuchtende und zutreffende Kriterien. Werden allerdings alle in den verschiedenen Ansätzen vertretenen Kriterien zusammengenommen, wandelt sich die Frage, wer als Beteiligter gelten kann, in: Wer erfüllt alle Kriterien und kann überhaupt noch Beteiligter einer »tiefgreifenden« Intentionalitätsform sein, welche »weit« über die individuelle Intentionalität hinausreicht? Die Vorgehensweise ist damit folgende: aus den notwendigen Voraussetzungen lassen sich Konsequenzen ableiten.
2. Geteiltheit, Gemeinsamkeit und Kollektivität: Zwei Voraussetzungsebenen
Kurzum soll folgende Problematik behandelt werden: während im vorherigen Kapitel 1 erläutert wurde, was unter Intentionalität verstanden wird, verschiebt sich nun die Fokussierung darauf zu bestimmen, welche kognitiven Fähigkeiten gegeben sein müssen und in welchem ontologischen Status sich die Beteiligten für die geteilte, gemeinsame oder kollektive Intentionalität befinden müssen. In diesem hier vorliegenden Kapitel 2 werden diese zahlreichen Faktoren zum einen nachgezeichnet. Zum anderen soll jedoch auch hinterfragt werden, wer diese Kriterien erfüllt. Gerade aus diesem Grund hat man es hierbei mit dem drastischsten Kapitel zu tun. Denn es zeigt sich: nimmt man die zugrunde gelegten Kriterien der Debattenteilnehmer in ihrem Umfang bis zur letzten Konsequenz ernst, dann wird allerdings – in einem viel erheblicheren Ausmaß als bei der Annahme der Intentionalität als Bewusstseins –, Absichts- oder Handlungsfähigkeit – die Quantität der möglichen Beteiligten erheblich eingeschränkt – ganz zu schweigen von den gleichgültigen und grausamen Implikationen, die hiermit verbunden sind.
2.1
Die kognitiven Fähigkeiten der Beteiligten
In der Debatte bestehen unterschiedliche Bezeichnungen auf was eine Intentionalitätsform mit mehreren Beteiligten zielt: die Konstitution einer gemeinsamen Welt (Husserl) (siehe Kapitel 3.1), die Konstitution einer geteilten (»shared«) oder gemeinsamen (»joint«) Welt (Tuomela) (siehe Kapitel 3.2), die Konstitution von sozialen oder institutionellen Tatsachen (Searle) sowie die Konstitution einer Kollaboration oder einer Kultur durch ein Kollektiv (Tomasello) (siehe Kapitel 3.3). Dabei geht jeder der hier genannten Autoren ebenfalls mehr oder weniger explizit darauf ein, dass die Konstitution – wie sie auch im Detail ausgelegt sein mag – spezifische kognitive Fähigkeiten der Beteiligten voraussetzt. Bemerkenswerterweise findet sich die Überlegung, wer diese kognitiven Fähigkeiten in der Praxis tatsächlich aufweist und damit tatsächlich als potenzieller Beteiligter gelten kann, am ausdrücklichsten bei Husserl und Tomasello – das heißt eben bei zwei Autoren, welche, insbesondere in Bezug auf die tierische Intentionalität, kaum unterschiedlichere Annahmen machen könnten. Tomasello vertritt, basierend auf seiner jahrzehntelangen Interpretation des tierischen Verhaltens aus der Beobachterperspektive heraus, dass das Tier dezidiert, aufgrund seines stets egoistischen Verhaltens, als Beteiligter einer »joint« und »collective intentionality« entfällt. Das Tier, so heißt es bei Tomasello, kann – obwohl soziale Intentionalitätsformen möglich sind, wie beispielsweise die Hierarchie in einem Bienenstaat beweist – nicht über die individuelle Intentionalität hinauskommen (siehe Kapitel 3.3). Dass Tiere eine Wahrnehmungsfähigkeit – und damit zumindest individuelle Intentionalität – haben, findet sich auch bei Husserl. Zu dieser Überlegung kommt Husserl jedoch nicht durch langwierige Schlussfol-
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2. Geteiltheit, Gemeinsamkeit und Kollektivität: Zwei Voraussetzungsebenen
Kurzum soll folgende Problematik behandelt werden: während im vorherigen Kapitel 1 erläutert wurde, was unter Intentionalität verstanden wird, verschiebt sich nun die Fokussierung darauf zu bestimmen, welche kognitiven Fähigkeiten gegeben sein müssen und in welchem ontologischen Status sich die Beteiligten für die geteilte, gemeinsame oder kollektive Intentionalität befinden müssen. In diesem hier vorliegenden Kapitel 2 werden diese zahlreichen Faktoren zum einen nachgezeichnet. Zum anderen soll jedoch auch hinterfragt werden, wer diese Kriterien erfüllt. Gerade aus diesem Grund hat man es hierbei mit dem drastischsten Kapitel zu tun. Denn es zeigt sich: nimmt man die zugrunde gelegten Kriterien der Debattenteilnehmer in ihrem Umfang bis zur letzten Konsequenz ernst, dann wird allerdings – in einem viel erheblicheren Ausmaß als bei der Annahme der Intentionalität als Bewusstseins –, Absichts- oder Handlungsfähigkeit – die Quantität der möglichen Beteiligten erheblich eingeschränkt – ganz zu schweigen von den gleichgültigen und grausamen Implikationen, die hiermit verbunden sind.
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Die kognitiven Fähigkeiten der Beteiligten
In der Debatte bestehen unterschiedliche Bezeichnungen auf was eine Intentionalitätsform mit mehreren Beteiligten zielt: die Konstitution einer gemeinsamen Welt (Husserl) (siehe Kapitel 3.1), die Konstitution einer geteilten (»shared«) oder gemeinsamen (»joint«) Welt (Tuomela) (siehe Kapitel 3.2), die Konstitution von sozialen oder institutionellen Tatsachen (Searle) sowie die Konstitution einer Kollaboration oder einer Kultur durch ein Kollektiv (Tomasello) (siehe Kapitel 3.3). Dabei geht jeder der hier genannten Autoren ebenfalls mehr oder weniger explizit darauf ein, dass die Konstitution – wie sie auch im Detail ausgelegt sein mag – spezifische kognitive Fähigkeiten der Beteiligten voraussetzt. Bemerkenswerterweise findet sich die Überlegung, wer diese kognitiven Fähigkeiten in der Praxis tatsächlich aufweist und damit tatsächlich als potenzieller Beteiligter gelten kann, am ausdrücklichsten bei Husserl und Tomasello – das heißt eben bei zwei Autoren, welche, insbesondere in Bezug auf die tierische Intentionalität, kaum unterschiedlichere Annahmen machen könnten. Tomasello vertritt, basierend auf seiner jahrzehntelangen Interpretation des tierischen Verhaltens aus der Beobachterperspektive heraus, dass das Tier dezidiert, aufgrund seines stets egoistischen Verhaltens, als Beteiligter einer »joint« und »collective intentionality« entfällt. Das Tier, so heißt es bei Tomasello, kann – obwohl soziale Intentionalitätsformen möglich sind, wie beispielsweise die Hierarchie in einem Bienenstaat beweist – nicht über die individuelle Intentionalität hinauskommen (siehe Kapitel 3.3). Dass Tiere eine Wahrnehmungsfähigkeit – und damit zumindest individuelle Intentionalität – haben, findet sich auch bei Husserl. Zu dieser Überlegung kommt Husserl jedoch nicht durch langwierige Schlussfol-
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Formen kollektiver Intentionalität
gerungen, sondern schlicht aus einem naiven Alltagsverständnis heraus. Die tierische Intentionalität wird bei ihm, angesichts der für die Phänomenologie prägende Haltung der »what-it-is-like«-Perspektive, nicht weiter beschrieben, während Tomasello ausdrücklich auf Tiere und deren kognitiven Fähigkeiten eingeht, um mittels der Intentionalitätsformen die differentia specifica darzulegen. Wenn auch die Grundthese identisch ist, dass Tiere individuelle Intentionalität haben, so klaffen doch ihre Vorgehensweisen und Detailannahmen hierzu weit auseinander. Allerdings können die beiden Ansätze, so einer der Kernthesen dieser Überlegung, hinsichtlich der spezifischen Annahme der menschlichen Intentionalitätsformen und deren Extension – zumindest in gewissen Grenzen – fruchtbar zusammengeführt werden. Zunächst äußerst banal und daher schlichtweg nicht weiter erwähnenswert erscheint die Feststellung Husserls, dass Tote und Bewusstlose als Beteiligte der Konstitution einer gemeinsamen Welt entfallen. Im Vergleich hierzu nimmt Tomasello in seinen Erläuterungen zur kollektiven Intentionalität zahlreiche notwendige und komplexe Fähigkeiten, wie die Moralfähigkeit, an. Husserl und Tomasello verbindet, dass sie, wenn auch auf völlig unterschiedlichen Wegen, erläutern, wer diese Bedingungen der Möglichkeit erfüllt und damit – zumindest potenziell – ein Beteiligter der Intentionalitätsformen sein könnte: Auf wen treffen die Bedingungen, die gesetzten Kriterien der Intentionalitätsformen tatsächlich in der Praxis zu? Oder anders gefragt: wer erfüllt nicht die Bedingungen der geteilten, gemeinsamen oder kollektiven Intentionalität? Wer verfügt nicht einmal über individuelle Intentionalität? Auf diese Problematik soll im hier vorliegenden Kapitel eingegangen werden. Wobei erstens beachtet werden muss, dass das Augenmerk in diesem Abschnitt auf den kognitiven Einschränkungen liegt, welche in verschiedenen Intensitäten vorliegen können und damit eben graduell eine Einschränkung hinsichtlich der Intentionalitätsformen darstellen. Beispielsweise ist die tatsächliche Breite eines autistischen Spektrums – mit welcher Herangehensweise auch immer – kaum zu bestimmen. Zweitens muss hervorgehoben werden, dass eine präzisere Darstellung jeweils ausführlicher, empirischer Studien bedürfte und diese in der vorliegenden Arbeit lediglich angerissen werden, um auf die Problematik »wer erfüllt überhaupt all diese Bedingungen?« zu verweisen. Obwohl eine dezidierte – und zumindest im Laufe der Zeit wohl humaner werdende – Erforschung von Geisteskrankheiten zunehmend erst in den letzten Jahrzehnten erfolgte, weisen die bisherigen Forschungsergebnisse dennoch fundiert darauf hin, dass ein stringenter Zusammenhang zwischen Geisteskrankheiten einerseits und sozialen Interaktionsschwierigkeiten andererseits vorliegt. Eben dieser Aspekt soll nun in durchaus zugespitzten Thesen mittels der Extremformen vorgeführt werden. Nur anhand einiger solcher Kriterien sollen die Konsequenzen in aller Deutlichkeit dargelegt werden. Husserl und Tomasello beschreiben zwar, wer nicht über die kognitiven Fähigkeiten verfügt für die »Konstitution einer gemeinsamen Welt« (Husserl)
2. Geteiltheit, Gemeinsamkeit und Kollektivität: Zwei Voraussetzungsebenen
beziehungsweise für die Konstitution einer Kollaboration oder sogar Kultur (Tomasello). Allerdings werden dabei zum einen nicht alle empirischen Konsequenzen beleuchtet – was gerade bei Tomasello aufgrund seines empirischen, verhaltenstheoretischen Ansatzes verwundert. Wenn man etwa annimmt, dass erstens der »I-mode«, die Ich-Gerichtetheit – vereinfachend die Fokussierung auf die Eigeninteressen – ausgeprägt bei einem Egozentrismus oder noch deutlicher bei dessen krankhafter Ausprägung, das ist dem Narzissmus, vorliegt – und vertritt man zudem zweitens, dass »I-moder« keine Gemeinschaft im engen Sinne etablieren können, dann muss man auch konsequenterweise der Ansicht sein, dass besonders Narzissten nicht als Beteiligte einer »We-mode«-Gruppe zählen können. Zum anderen gehen sowohl Tomasello als auch Husserl – was nun wiederum gerade mit Bezug auf Husserls philosophischen Ansatz verwundert – nicht auf moralische Handlungsempfehlungen ein, wie letztlich mit jenen partizipationsunfähigen Lebewesen oder Personen umgegangen werden kann oder sogar umgegangen werden muss.
Objekte, Bewusstlose, Tote und Verrückte: Die Anerkennung des Anderen als intentionales Subjekt durch Einfühlung Bei der phänomenologischen Darlegung der Bewusstseins- und Wahrnehmungsfähigkeit als Kriterium wird bei Husserl zunächst keine Einschränkung auf spezifische Wesen vorgenommen, da er vermerkt, dass »Menschen oder Unmenschen, Engel oder Götter urtheilend«2 sind, das ist zunächst allgemein als bewusstseinsfähig verstanden werden. Einerseits ist es für den heutigen Leser befremdlich, dass Engeln und Unmenschen – was auch immer genau unter Letzterem konkret zu verstehen ist – eine Bewusstseinsfähigkeit zugesprochen wird.3 Keinesfalls befremdlich, sondern ganz und gar trivial, ist andererseits die Feststellung, dass leblose Objekte nicht – nicht einmal potenziell – Beteiligte einer Intentionalitätsform gegen-
2
3
Edmund Husserl: Logische Untersuchungen, Erster Teil – Prolegomena zur reinen Logik, hg. v. Elmar Holenstein, Martinus Nijhoff Verlag, Den Haag, 1975, Hua. Bd. XVIII, § 36, S. 124–129, hier: S. 125. Wobei man, zumindest aus heutiger Sicht, ebenso eine Referenz auf Maschinen erwarten würde, welchen man eine künstliche Intelligenz zuspricht, jedoch eine selbständige, freiwillige Gerichtetheit auf etwas abspricht. Es ist wohl absurd zu sagen, dass Subjekt S und Maschine M gemeinsam das Problem P gelöst haben.
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Formen kollektiver Intentionalität
wärtig sind und zukünftig sein können.4 Genauer gesagt: spreche ich einem Objekt eine Intentionalitätsfähigkeit zu, zeige ich beispielsweise meinem Schreibtisch das Feuerwehrauto auf der Straße, so liegt zum einen ein pathologischer Fall vor, da ich meinen Schreibtisch als intentionalen Akteur, das heißt als Intentionalitätssubjekt, anerkannt habe. Zum anderen würde man, wiederum auf Basis des pathologischen Falles, viel eher – und wohl völlig berechtigt – an meiner Geistesverfassung zweifeln. Allerdings treten Objekte häufig als geteilter, gemeinsamer oder kollektiver Intentionalitätsgehalt auf: Etwa wird der Kuchen in verschiedene Kuchenstücke zergliedert und auf die Beteiligten aufgeteilt, so ein Beispiel nach Schmid5 , ein Bergausblick wird von mehreren Wanderern bewundert, wie es Martin Heidegger und Gerda Walther ausführen6 , sie werden von der Heiterkeit der Frühlingslandschaft angesteckt, wie Scheler bei seiner Differenzierung der Gefühlsphänomene darlegt7 , oder ein Monster im Kinofilm kann bei den Zuschauern im Kinosaal kollektiv Furcht verursachen. Daher kann Objekten, obwohl sie leblos, selbst nichtintentional oder sogar fiktiv sind, eine maßgebliche Rolle bei den Intentionalitätsformen mit mehreren physischen Lebewesen zukommen. Neben der Einklammerung von Objekten als Intentionalitätssubjekt fährt Husserl darin fort, dass Tiere über individuelles Bewusstsein verfügen8 , jedoch »keine generative, historische Welt haben, damit aber auch keine reale Welt haben und [...] kein Universum von Realien mit ontischer Struktur«9 , womit er um 1930 – wie bereits im Abschnitt »Die Phänomenologie als Vorläufer« dieser Arbeit angeführt – eine der Kernthesen Searles und Tomasellos vorwegnimmt. Husserl nimmt in seinen eigenen Ausführungen vorwiegend das menschliche Bewusstsein
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9
Ganz im Einklang mit beispielsweise Andrea Lailach-Hennrich wird in dieser Argumentation vertreten, dass man, neben weiteren notwendigen Bedingungen, für Intersubjektivität zur intentionalen Bezugnahme fähig sein mus (vgl. Andrea Lailach-Hennrich: Ich und die anderen – Zu den intersubjektiven Bedingungen von Selbstbewusstsein, de Gruyter, Berlin/Boston, 2011, (Quellen und Studien zur Philosophie, hg. v. Jens Halfwassen, Dominik Perler u. Michael Quante, Band 101), hier: S. 7. Im Folgenden als: Lailach-Hennrich: Ich u. die anderen (2011)). Vgl. H.B. Schmid: Plural Action (2009), Introduction, S. xv. Vgl. (i) Martin Heidegger: Einleitung in die Philosophie [1928-1929], Vittorio Klostermann Verlag, Frankfurt am Main, Heidegger Gesamtausgabe Band 27, 1996, S. 86. Im Folgenden als: Heidegger: Einleitung Philosophie [1928]. (ii) Gerda Walther: Zur Ontologie der sozialen Gemeinschaften, in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, hg. v. Edmund Husserl, Sechster Band, Max Niemeyer Verlag, Halle, 1923, hier: Teil B, Kapitel 4, c), S. 75. Im Folgenden als: Walther: Ontologie d. soz. Gemeinschaften [1923]. Vgl. Scheler: Wesen u. Formen d. Sympathie [1923], Teil A, II, S. 26. Vgl. u.a. Husserl: Intersubjektivität III (Hua. XV, Texte v. 1929-1935), hier: Beilage X: »Welt und Wir. Menschliche und tierische Umwelt« (1934), S. 174–185, hier: S. 177. Im Folgenden als: Husserl: Beilage X: »Welt u. Wir« (1934) (Hua. XV). Vgl. Husserl: Text Nr. 11: »Apodiktische Struktur« (1930 oder 1931) (Hua. XV), S. 160 – dort: Fußnote Nr. 1.
2. Geteiltheit, Gemeinsamkeit und Kollektivität: Zwei Voraussetzungsebenen
von etwas in den Blick, wobei sich eine weitere Einschränkung hinsichtlich der Beteiligten ergibt: Wird die Bewusstseinsfähigkeit des Einzelnen als Bedingung der Möglichkeit einer geteilten oder gemeinsamen Intentionalität angenommen, so folgt daraus im Umkehrschluss, dass bewusstlose Menschen, wie Komapatienten oder Ohnmächtige, als Beteiligte entfallen, da sie eben bewusst-los sind und ihnen damit nicht einmal eine individuelle Intentionalität gegeben ist.10 Dem Bewusstlosen ist zwar prinzipiell die »biologische« Voraussetzung einer Intentionalität und Interaktion mit Anderen gegeben – kausal gesehen, so könnte man mit Searle sagen: ein Gehirn, das Signale verarbeiten kann, ein Mund, um selbst zu kommunizieren – aber es ist ihm aktuell verwehrt diese Möglichkeiten »aktiv« anzuwenden. Zwar gilt gegebenenfalls, dass der Bewusstlose ein Krankenzimmer mit anderen Patienten im räumlichen Sinne teilt, ich auf ihn einreden oder seinen Körper berühren kann, aber er selbst hat kein Bewusstsein davon, dass er das Zimmer mit Anderen teilt oder dass er angesprochen wird. Mit einer bewusstlosen Person kann ich, um es exemplarisch festzuhalten, kein Schach spielen, mag ich mich noch so anstrengen. Und wenn eine bewusstlose Person mit mir absichtsvoll kommuniziert oder Schach spielt, dann ist sie eben nicht mehr bewusstlos. Wird, wie in der Debatte strömungsunabhängig vertreten, demnach einerseits zugrunde gelegt, dass erstens die Beteiligten über Intentionalität verfügen müssen und zweitens für eine geteilte, gemeinsame oder kollektive Intentionalität wenigstens ein gegenseitiger Bezug der Beteiligten aufeinander bestehen muss, dann muss andererseits konsequenterweise der Bewusstlose als Beteiligter entfallen: Der Bewusstlose oder der Komapatient gehört – und das ist unstrittig – aufgrund seiner Teilhabe in der Vergangenheit der gemeinsamen Welt an: Er ist ein Mensch,
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Bestenfalls lässt sich sagen, dass der Komapatient über ein Bewusstsein im rudimentären Sinne verfügt, wie beispielsweise durch messbare Gehirnströme oder geschilderte Erfahrungsberichte von Patienten, dass sie im Koma etwas wahrgenommen hätten, belegt werden kann. Wobei begrifflich, wie Magnus Schlette treffend im Jenaer Forschungskolloquium darlegte, zwischen der Bewusstlosigkeit und Ohnmacht differenziert werden muss: Bei einer Bewusstlosigkeit gilt, dass man sich erst nach diesem Zustand dessen bewusst sein kann. Bei der Ohnmacht liegen hingegen zwei Konnotationen vor: Einerseits in Ohnmacht fallen, wie es beim Koma der Fall ist, das heißt eben eine Bewusstlosigkeit. Andererseits besagt jedoch die zweite Konnotation – ganz nach dessen Wortbestandteilen: Ohn-macht –, dass man in diesem Moment keine Macht mehr über sich selbst besitzt. Man kann sich, im Gegensatz zur Bewusstlosigkeit, dieses Zustandes im Moment des Zustandes bewusst sein, ohne diesen jedoch selbst ändern zu können. Man kann sich etwa seiner Flugangst bewusst sein und dennoch apathisch in einen Schockzustand verfallen. Während ein Zustand des Komas wohl nur auf Einzelpersonen zutrifft, ist eine Ohnmacht – zumindest im zweiten hier genannten Sinne – auch bei einer größeren Personenanzahl möglich. In sozialanthropologischen oder soziologischen Werken wurde dies häufig damit belegt, dass Kriegsgeschehnisse eine apathische Wirkung auf ganze Völker haben.
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er ist mein Großvater, er ist Mitglied im Fußball-Club oder Ähnliches.11 Allerdings ist er im Zustand der Bewusstlosigkeit kein aktives Mitglied im engen Sinne: Er konnte vor oder wird nach seinem Komazustand eine neue gemeinsame Welt mit konstituieren, doch ist ihm dies gegenwärtig, das ist während seines Komazustandes, nicht möglich.12 Neben der Bewusstlosigkeit lassen sich, wie Husserl in zwei früheren Aufsätzen um 1915 festhält, mindestens zwei weitere Gründe für das »Aufhören der Konstitution einer gemeinsamen Welt« nennen: »Verrücktwerden und Tod«13 . Bei ihm selbst werden diese beiden Faktoren im Werk Intersubjektivität I ausgeführt: Der Tote entfällt als Beteiligter, da er zum einen keinen Körper mehr hat, mit welchem er Handlungen – und damit auch Beitragshandlungen zur gemeinsamen Aktivität – vollziehen kann. Zum anderen ist er »kein Subjekt mehr, das für sich selbst und für uns einen Leib hat, das für sich selbst und für uns und mit uns gemeinsam eine erscheinende Welt hat. [...] Tod ist Ausscheiden aus der Welt«14 . Er hat keinen Leib mehr und empfindet nichts mehr, in das ich mich einfühlen könnte. Die »Konstitution einer [neuen] gemeinsamen Welt«15 ist mit ihm also nicht mehr möglich.16 Die gemeinsame Welt, die ich mit dem Toten teilte, liegt – wie bei einem Komapatienten – in der Vergangenheit: Ich erinnere mich beispielsweise an gemeinsame Erlebnisse mit meinen verstorbenen Großvater. Eine gegenoder wechselseitige Bezugnahme, welche konstitutiv für eine gemeinsame Welt ist
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Wird das Kollektiv anhand äußerer Kriterien angesetzt, wie es etwa von Klaus Peter Hansen vertreten wird, so ist selbstredend auch der Komapatient zahlreichen Kollektiven angehörig, wie beispielsweise dem Kollektiv der Fußballfans oder der rothaarigen Personen. In dieser Arbeit ist jedoch nicht die äußerliche Gruppenzugehörigkeit entscheidend, sondern vielmehr die Intentionalität – das Bewusstsein von etwas – des Kollektivs, und ein Bewusstloser oder Komapatient fällt eben genau daher per definitionem heraus. So ist eben durchaus denkbar, ins Koma zu fallen und beispielsweise in einer völlig neuen Regierungsform aufzuwachen. Eine eingängliche Beschreibung hierfür bietet der Film Good Bye, Lenin! aus dem Jahr 2003: Christiane, eine treue Sozialistin, fällt kurz vor dem Mauerfall ins Koma. Als sie 1990 erwacht, inszeniert ihr Sohn für sie den langsamen Zerfall der DDR, damit sie keinen weiteren Zusammenbruch erleidet. Husserl: Beilage XLVIII: »Verrücktwerden und Tod« (ca. 1915) (Hua. XIII), S. 398f. Ebd., S. 399. Ebd. Diese Position Husserls mag vollkommen intuitiv einleuchtend erscheinen und auch andere Autoren wie Margaret Gilbert und Ulrich Baltzer bestehen auf das Kriterium der Lebendigkeit (vgl. Ulrich Baltzer: Gemeinschaftshandeln – Ontologische Grundlagen einer Ethik sozialen Handelns, Karl Alber Verlag, Freiburg/München, 1999, Kapitel 1.2.4., S. 54f. Im Folgenden als: Baltzer: Gemeinschaftshandeln (1999)). Doch lediglich bei Husserl wird eine ausbuchstabierte Begründung geliefert, weshalb Tote als Beteiligte entfallen.
2. Geteiltheit, Gemeinsamkeit und Kollektivität: Zwei Voraussetzungsebenen
(siehe Kapitel 3.1), ist hierbei per definitionem nicht mehr möglich.17 Husserl legt demnach dar, dass die Beteiligten bewusstseinsfähig sein müssen, das heißt ihm zufolge sowohl einen Körper als auch einen Leib besitzen müssen. Dieser Gedanke scheint so trivial, dass er, wie auch Heidegger anmerkt, als nicht erwähnenswert und erläuterungsbedürftig angesehen wird. Denn so heißt es in Heideggers Ausführungen zum »Miteinander« wörtlich: »wenn zwei sich gegenseitig erfassen sollen, dann müssen sie allerdings hierzu jeder wirklich da sein. [...] Diese Voraussetzung, daß faktisch zwei Menschen wirklich sein müssen, um sich gegenseitig wirklich als wirklich zu erfassen, bedarf keiner Erörterung.«18 Personen, die von Husserl als »Verrückte« bezeichnet werden, verfügen zwar – im Gegensatz zum Toten – über einen Körper und einen Leib, sie können jedoch – ebenso wie der Tote –keine »Dingapperzeption« mehr vollziehen und bringen damit wiederum, so stellt Husserl heraus, »keine Welt mehr zustande«19 , welche sie dementsprechend auch nicht teilen oder gemeinsam mit Anderen erleben können. Aus heutiger Sicht kann etwas abgeschwächter vertreten werden: »Verrückte« Personen konstituieren zwar jeweils eine Welt, welche jedoch Anderen nicht – oder nur sehr bedingt – »zugänglich« oder »nachvollziehbar« ist. In seinen beiden Aufsätzen »Die Welt der Normalen und das Problem der Beteiligung der Anomalen an der Weltkonstitution«20 und »Konstitution einer gemeinsamen Welt in einer Gemeinschaft von normalen und anomalen Menschen. Verschiedene Typen der Anomalität«21 wird dies um 1931 von Husserl genauer darlegt. Unter »Typen der Anomalität« nennt Husserl explizit das Fieberdelirium und den Wahnsinn.22 Dem »Verrückten« kann zwar – im Gegensatz zum Bewusstlo17
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Husserl beschreibt in seinem Text »Gemeingeist II« genauer, wie es möglich ist, dass die Erinnerung eine Person »lebendig« hält und diese mein jetziges Leben beeinflussen kann. Husserl zieht hierfür folgendes Beispiel heran: »Fühle ich mich in Aristoteles ein, so ist es der vergangene Aristoteles. Auf ihn kann ich nicht mehr wirken, aber seine früheren Gedanken wirken jetzt in mir« (vgl. Husserl: Text Nr. 10: »Gemeingeist II« (1918 oder 1921) (Hua. XIV), § 5, S. 200). Obwohl das Ich hier auf Aristoteles bezogen ist und Aristoteles seinerseits in das Ich einwirkt, da er sozusagen in mir »nachwirkt«, wäre es wohl verfehlt von einer »echten« Gegenseitigkeit – geschweige denn von Wechselseitigkeit – zu sprechen. Heidegger: Einleitung Philosophie [1928], S. 87 (Herv. selbst vorgenommen). Husserl: Beilage XLVIII: »Verrücktwerden und Tod« (um 1915) (Hua. XIII), S. 399. Vgl. Husserl: Text Nr. 10: »Die Welt der Normalen« (1931) (Hua. XV), S. 133–142. Vgl. Husserl: Lebenswelt (Hua. XXXIX, Texte v. 1916-1937), hier: Text Nr. 58: »Konstitution einer gemeinsamen Welt in einer Gemeinschaft von normalen und anomalen Menschen. Verschiedene Typen der Anomalität« (1930–1931), S. 668–672. Im Folgenden als: Husserl: Text Nr. 58: »Konstitution einer gemeinsamen Welt« (1930–1931) (Hua. XXXIX). Vgl. ebd. S. 670. Gewissermaßen für Husserl untypisch, listet er einerseits lediglich eine Form des Deliriums auf – das Fieberdelirium –, wobei an viele weitere Formen, wie das Delirium
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sen, Ohnmächtigen oder Toten – zweifelsohne ohne Einschränkung eine individuelle Intentionalität zugeschrieben werden, aber dennoch scheint, wie in den erst genannten Fällen, die Teilnahme oder Teilhabe an einer geteilten oder gemeinsamen Intentionalität eines Wir oder Kollektivs mindestens problematisch – wenn nicht sogar unmöglich. Husserls Überlegungen zeichnen sich in markanter Weise unter anderem durch zwei Aspekte aus: Einerseits fragt er überhaupt danach, wer eine gemeinsame Welt nicht konstituieren kann. Andererseits stellt er jedoch ebenso deutlich heraus, dass »verschiedene Formen oder Stufen der Normalität«23 bestehen. Die Zustände der Bewusstlosigkeit oder des Verrücktseins können auch lediglich temporär auftreten und müssen daher, wie Husserl betont, als »anomale Lebensstrecken der normalen Subjekte«24 gefasst werden. Dies wiederum besagt, dass es sich hinsichtlich der kognitiven Fähigkeiten um eine graduelle Differenzierung mit weichen Grenzen handelt. Husserl ist in diesen Überlegungen – wie man es von ihm gewöhnt ist – terminologisch meisterhaft präzise: Den normalen Menschen stellt er, wie bereits an den beiden gerade angeführten Aufsatztiteln kenntlich, die sogenannten »Anomalen« gegenüber. Husserl verwendet das Verb »anomal«, das heißt unregelmäßig, und nicht die Bezeichnungen »anormal« oder »unnormal«, welche viel abwertender die Assoziation als »abnorm« oder »abartig« hervorrufen. An einem kurzen auf den Körper bezogenen Beispiel: Bei circa einem Prozent der heute lebenden menschlichen Bevölkerung weist – meist vollkommen ungefährlich – das Skelett einen weiteren Rippenansatz oder sogar eine bis zwei vollständig ausgebildete Rippen zu viel auf, was als stammesgeschichtliches Relikt auf die Halsrippen der Säugetiere zurückgeht. Habe ich nun ein solches genetisches Relikt, dann weiche ich zweifellos von der heutzutage üblichen Norm ab. Nach Husserl ist dies, ganz zaghaft und beurteilungsfrei, schlicht als Unregelmäßigkeit des Körperbaus zu verbuchen. Nun anhand den, so seine verwendete Terminologie, geistig »Verrückten«: Aufgrund seiner graduellen Differenzierung und der Einstufung als Unregelmäßigkeit können Husserls Ausführungen auch so gelesen werden, dass er nicht primär spezifische Geisteskrankheiten vor Augen hatte, sondern die ihnen zugrunde liegende Gemeinsamkeit: Phänomene, wie von ihm exemplarisch genannt das Fieberdelirium und der Wahnsinn, können durch ein verrückt-Sein charakterisiert werden. Dieses ver-rückt-Sein ist hier buchstäblich in seinem räumlichen Sinne zu deuten, denn befindet man sich in einer solchen geistigen Verfassung, dann läuft diese auf
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aufgrund von Drogen oder Alkohol, gedacht werden kann, andererseits jedoch den Wahnsinn im Allgemeinen auflistet. Allerdings ist anzunehmen, dass sich die jeweiligen Unterformen des Deliriums beziehungsweise des Wahnsinns oder Wahnvorstellung jeweils unterschiedlich auf die Beteiligung an einer gemeinsamen Welt auswirken. Husserl: Text Nr. 58: »Konstitution einer gemeinsamen Welt« (1930–1931) (Hua. XXXIX), S. 668. Husserl: Text Nr. 10: »Die Welt der Normalen« (1931) (Hua. XV), S. 135.
2. Geteiltheit, Gemeinsamkeit und Kollektivität: Zwei Voraussetzungsebenen
ein neben-sich-Stehen oder außer-sich-Sein hinaus. Die Beantwortung der Frage, ob jemand in welchem Umfang an der Konstitution einer gemeinsamen Welt beteiligt ist, ist nur als aktuelle Bestandsaufnahme möglich, weshalb bei Husserl eine Unterscheidung zwischen der gegenwärtig, aktuell vollzogenen und der potenziellen, das ist zukünftigen Intentionalität25 eingeführt wird. Zudem finden sich insbesondere in der Phänomenologie Überlegungen dazu, dass die Beteiligten nicht nur über Intentionalität, sondern auch mittels Einfühlung den Intentionalitätsgehalt des Anderen einschätzen und gegebenenfalls erkennen, dass dieser mit dem eigenen Intentionalitätsgehalt übereinstimmt. Auf rudimentärer Ebene liegt dies in allen erdenklichen Situationen vor, da selbst beim Straßenverkehr gilt, dass die Beteiligten davon ausgehen, dass sie alle die Absicht haben, sich an die Straßenverkehrsordnung zu halten. Einfühlung ist demnach für eine geteilte oder gemeinsame Intentionalität ebenso immanent wie die Bewusstseinsfähigkeit. Während Husserl Letztere genauer beschreibt, widmeten sich vor allem Stein (Zum Problem der Einfühlung um 1916) und Scheler (Wesen und Formen der Sympathie 1912/1923) der Frage: Ab wann liegt eine Einfühlung vor und wo liegen deren Grenzen? Für die vorliegende Typologie seien nur kurz wenige ihrer zentralen Annahmen hierzu wiedergegeben: Scheler betont, dass eine Einfühlung als solche nicht an die Realhaltung des Gegenübers gebunden ist, da man sich auch in eine fiktive Person, wie etwa in eine Romanfigur, hineinversetzen kann in dem Wissen, dass diese fiktiv ist26 . Trete jedoch in solch einem Fall ein »tiefgreifendes« Gefühl, wie das Mitgefühl, auf, so handle es sich um eine pathologische Form.27 Stein legt 25 26 27
Vgl. Husserl: Intersubjektivität III (Hua. XV, Texte v. 1929-1935), hier: Text Nr. 1: »Erste Fassung der fünften Cartesianischen Meditation« (1929), § 3, S. 6. Vgl. Scheler: Wesen u. Formen d. Sympathie [1923], Teil A, VI, S. 107. Hierzu seien zwei Anmerkungen gemacht: Erstens können »tiefgreifende« Gefühle selbst gegenüber einer realen Person situationsbedingt unabgebracht oder sogar hinderlich sein. Man stelle sich beispielsweise vor, dass sich ein Arzt in seinen Patienten nicht nur einfühlt, sondern mit- oder einsfühlt. Zweitens äußert sich Scheler, durch die Erfahrung des Filmes Das Blumenwunder (Februar 1926), welcher mit Zeitraffer die Bewegung einer Kletterpflanze erfasst, sogar zur Pflanzenseele: »Wunderbar war ein Pflanzenfilm, indem je 24 St. auf eine Sekunde zusammengezogen ist [...]; man sieht die Pflanzen atmen, wachsen und – sterben. Der natürliche Eindruck, die Pflanze sei unbeseelt, verschwindet vollständig. Man schaut die ganze Dynamik des Lebens – die unerhörte Anstrengungen. [...] Das stürmische ›Suchen‹ nach Halt [...] die vergeblichen Versuche [...] wenn die Ranke [...] ›verzweifelt‹ ins Leere greift, sucht und sucht [...], bis [...] sie sich nach Misserfolgen umwendet [...], das erschütterte mich [Scheler] so, daß ich mit Mühe die Tränen zurückhielt.« Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos [1928], Felix Meiner Verlag, Hamburg Philosophische Bibliothek Band 672), 2018, hier: Anmerkungen zu Text und Fußnoten: S. 155f. (Brief an seine Frau Märit Furtwängler im März 1926). Im Folgenden als: Scheler: Stellung d. Menschen im Kosmos [1928]. Anhand dieser Beschreibung kann mit Scheler gefragt werden, ob bei Scheler in diesem Fall ein pathologisches Gefühlsphänomen vorliegt, da er – ganz pathetisch – von der Pflanzenseele ergriffen ist. Fraglich ist hierbei auch, inwieweit die Bezeichnung der Pflanzenseele, die auf die griechi-
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ihrerseits dar, dass sich der Mensch nur im gewissen Maße in das Tier einfühlen kann: »[J]e weiter wir uns vom Typos ›Mensch‹ entfernen [das heißt die optische und habituelle Ähnlichkeit zum Menschen abnimmt], desto geringer wird die Zahl der Erfüllungsmöglichkeiten«28 . Beispielsweise sei in die »Pfote eines Hundes [...] noch ein gewisses Hineinversetzen möglich, z.B. das Einempfinden eines Schmerzes [...], aber anderes – gewisse Haltungen und Bewegungen etwa – sind uns nur noch als Leervorstellungen gegeben ohne die Möglichkeit der Erfüllung«29 . Nimmt man demnach an, dass Einfühlung für eine geteilte oder gemeinsame Intentionalität notwendig ist und diese jedoch bei der Tier-Mensch-Interaktion nur im Bereich spezifischer Grenzen möglich ist, so muss geschlussfolgert werden, dass Intentionalitätsformen dieser Art mit tierischen und menschlichen Beteiligten mindestens eingeschränkt sind. Inwieweit sich wer in wen einfühlen kann, das heißt, inwieweit ein Einfühlungsvermögen in ein tierisches Gegenüber tatsächlich möglich ist, inwieweit also der »Typus Mensch« gilt, inwieweit sich vielleicht das Tier in den Menschen hineinversetzen kann, scheint jedoch eine empirische – und nicht nur phänomenologische – Betrachtungsweise zu erfordern. Genau dies wiederum ist das Forschungsgebiet Tomasellos: Tiere können zwar den Intentionalitätsgehalt des Anderen einschätzen, beispielsweise ob ein Rudelmitglied ebenfalls die Beute erfasst hat, allerdings könnte hier gewissermaßen genauer zwischen einer Einfühlung in den räumlichen Standpunkt und einer Einfühlung in die emotionale Gemütslage des Gegenübers unterschieden werden. Zumindest im zweiten Fall scheinen beim Tier erhebliche Schwierigkeiten vorzuliegen, da beispielsweise Schimpansen dem Anderen, der nicht ein eigener Nachkomme ist, nur dann zu Hilfe kommen, wenn dessen Notlage in drastischer Weise zutage tritt.30 Tieren ist daher, so Tomasellos prägnante Schlussfolgerung, nur eine individuelle Intentionalität gegeben: Sie verfolgen während ihrer gesamten Lebenszeit ausschließlich –
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sche Terminologie ames vegetatives zurückgeht, überhaupt unmetaphorisch gebraucht werden sollte und inwieweit dies wiederum mit anderen Ausführungen Schelers vereinbar ist. Beispielsweise wenn es bei ihm heißt, dass man gegen Pflanzen »nicht ›grausam‹ sein kann«, da die Axt dem Baum beim Fällen keinen Schmerz zufügt. Vgl. (i) Scheler: Theorie d. Sympathiegefühle [1913], S. 11. (ii) Scheler: Wesen u. Formen d. Sympathie [1923], S. 25. Stein: Zum Problem d. Einfühlung [1917], Teil III, § 5b, S. 66. Ebd. Auch Husserl ging in späteren Werken auf die Einfühlung des Menschen in Tiere ein (vgl. Husserl: Intersubjektivität II (Hua. XIV, Texte v. 1921-1928), hier: Text Nr. 6: »Unterschiede in der ontologischen Struktur der Umwelten verschiedener Subjekte. Einfühlung in Kinder und Tiere als Interpretation durch Abbau« (1921), S. 112–119. Im Folgenden als: Husserl: Text Nr. 6: »Einfühlung in Kinder u. Tiere« (1921) (Hua. XIV)). Vgl. Stefan Klein: Der Sinn des Gebens – Warum Selbstlosigkeit in der Evolution siegt und wir mit Egoismus nicht weiterkommen, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 2011, S. 103. Im Folgenden als: Klein: Sinn des Gebens (2011).
2. Geteiltheit, Gemeinsamkeit und Kollektivität: Zwei Voraussetzungsebenen
wenn vielleicht auch indirekt – ihre Eigeninteressen und besitzen keine Moralfähigkeit. Doch nicht nur der Tier-Mensch-Interaktion scheint aufgrund der Einfühlung Grenzen gesetzt zu sein, denn es verdichten sich die empirischen Hinweise ebenfalls dahingehend, dass auch in der Einfühlungsrichtung Mensch-Mensch teils erhebliche Einschränkungen bestehen können: Denn es muss betont werden, dass die Einfühlung als solche ihrerseits eine gewisse Transparenz der Gefühle erfordert. Das heißt zunächst ganz banal: die Gefühle des Anderen müssen in der Gestik und Mimik vom Beobachter erfasst werden können. Ethnologische Studien belegen jedoch, dass in bestimmten Kulturen die Ansicht besteht, dass man seine Gefühle gegenüber dem Anderen verschleiern müsse, um, ganz im wörtlichen Sinne, »sein Gesicht zu wahren«31 . Eine Einfühlung, die gerade bei diesem Erkennen und Verstehen der Gefühlslage ansetzt, kann damit sichtlich erschwert sein. Es liegt demzufolge, in Anlehnung an Steins »Typus Mensch«, auch ein »Typus Kultur« vor. Zudem belegen Studien der Medizin und Verhaltensforschung, dass Menschen mit Down-Syndrom über eine reduzierte Fähigkeit zum Affektausdruck verfügen, weshalb ihr Gesicht »versteinert« oder »ausdruckslos« erscheint, wodurch wiederum eine Einfühlung in diese Personen beeinträchtigt sein kann. Für ein Hineinversetzen und Erfassen der Gefühle des Gegenübers müssen bei demjenigen der sich einfühlt, dem Einfühlenden, gewisse kognitive Fähigkeiten gegeben sein, weshalb die Überlegung in wen man sich einfühlen kann an die Frage angrenzt: Wer kann sich einfühlen? In einer neurologischen Terminologie kann gesagt werden, um den Ausdruck des Anderen »verarbeiten« zu können, müssen bestimmte Gehirnregionen existieren, entwickelt sein und angeregt werden.32 Im Umkehrschluss heißt das: Bestimmte Gehirnschädigungen oder geistige Behinderungen können die Einfühlung in eine andere Person beeinträchtigen. Aufgrund solide begründeter Studien der Psychologie gilt die Depression und Schizophrenie darüber hinaus als Beleg dafür, dass man in gewissen Zuständen deutlich weniger empathiefähig gegenüber
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Vgl. (i) Andreas Mayer: »Grenzen der Empathie im Angesicht von Opazität«, in: Grenzen der Empathie (2013), S. 109–134, hier: S. 117ff. (hier insbesondere mit Bezug auf: Jason Throop: »On the problem of empathy – The case of Yap« (2008), welcher die Bewohner der Insel Yap in Mikronesien, einer der tropischen Insel der Atollen, beobachtete). (ii) Überlegungen dieser Art finden sich auch bereits bei Adam Smith (vgl. Adam Smith: The Theory of Moral Sentiments [Ersterscheinung: 1759], hg. v. D. D. Raphael u. A. L. Macfie, Oxford University Press, Oxford, 1976, S. 200ff. (übersetzt v. Walther Eckstein: Theorie der ethischen Gefühle, Felix Meiner Verlag, Hamburg, (Philosophische Bibliothek Band 200 a/b), 1994, hier: Fünfter Teil, 2. Kapitel, S. 350ff.). Im Folgenden als: Smith: Theory of Moral Sentiments [1759] (dt.)). Festzuhalten ist jedoch, dass sich auch unterdrückte Gefühle in einem Ausdruck manifestieren und damit ausgedrückt sind. Vgl. u.a. Marco Iacoboni: »Imitation, empathy, and mirror neurons«, in: Annual Review of Psychology, Band 60, 2009, S. 653–670.
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Anderen sein kann.33 Husserls »Typen der Anomalität« können demnach durchaus in empirischer Weise ergänzt werden: Sie umfassen nicht nur das Fieberdelirium und den Wahnsinn34 , sondern vielmehr sind hierzu alle Betroffenen zu zählen, die, drastisch gesprochen, in ihrer eigenen und eben nicht gemeinsamen Welt leben.35 Ist es der Fall, dass alle Beteiligten fähig sind sich ineinander einzufühlen, so scheint für eine gemeinsame Intentionalität – in Abgrenzung zur geteilten Intentionalität – ebenfalls bedeutend in welcher Weise dieses Wissen um den Intentionalitätsgehalt des Anderen »genutzt« wird (siehe Kapitel 3.2 und 3.3). Um es kurz anzureißen: Tuomela und in modifizierter Weise Tomasello sprechen hierbei von einem »We-mode«: das Wissen um den Intentionalitätsgehalt der Beteiligten dient den Gruppeninteressen. Tuomela sieht hierin den Unterschied zwischen der geteilten Intentionalität (»shared intentionality«), die sich durch eine Fokussierung auf die Eigeninteressen auszeichnet, und der gemeinsamen Intentionalität (»joint intentionality«), welche durch das Vertreten der Gruppeninteressen charakterisiert ist. Insbesondere mit Bezug auf die Kriminalistik lässt sich seinen Überlegungen hinzufügen, dass Personen mit dissozialen Persönlichkeitsstörungen, wie Stalker, Psycho- oder Soziopathen36 , sich zwar in ihre Opfer hineinversetzen können, ihnen aber jegliches Mitgefühl verwehrt bleibt.37 Sie besitzen demnach zwar Einfühlung, jedoch wird gerade erst durch diese die Schwäche des Anderen erkenntlich. Sie dient hier also als fruchtbarer Boden für Feindseligkeit, jedoch nicht für Gemeinsamkeit. Sicherlich mögen antisoziale Störungen graduell ausgeprägt auftreten, doch lässt sich – ganz dem Alltagsverständnis entsprechend – zumindest die Tendenz festhalten, dass bei Personen mit dissozialen Persönlichkeitsstörungen
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Vgl. Thiemo Breyer: »Empathie und ihre Grenzen: Diskursive Vielfalt – phänomenale Einheit?«, in: Grenzen der Empathie (2013), S. 13–42, hier: S. 35. Im Folgenden als: Breyer: »Empathie und ihre Grenzen« (2013). Wobei man selbstredend deutlich sagen muss, dass dies nicht nur auf die »Enddiagnosen«, wie eben etwa Depression, zutrifft, sondern bereits in dessen Frühstadien Verringerungen des Empathievermögens nachweisbar sind – auch hier also von einer Gradualität ausgegangen werden muss. Vgl. Husserl: Text Nr. 58: »Konstitution einer gemeinsamen Welt« (1930–1931) (Hua. XXXIX), S. 670. Es ist durchaus denkbar, dass beispielsweise schwer Traumatisierte ihre Erfahrungen nicht offen äußern. Am wahrscheinlichsten scheint hierbei noch eine Einfühlung in eine Person zu sein, welche ein und dasselbe, oder zumindest ein sehr ähnliches, Trauma durchlebt. Sozio- und Psychopathen unterscheiden sich wohl ihrerseits darin, wann und wie eine dezidierte Abweichung von den sozialen Normen einsetzt: Bei Psychopathen scheint, kurz gesagt, eine Abweichung bereits im frühen Alter erkennbar zu sein, während Soziopathen ein »geregeltes Leben« führen und eher in spontanen Ausbrüchen aus diesen ausweichen. Vgl. Fritz Breithaupt: Die dunklen Seiten der Empathie, Suhrkamp Verlag, Berlin, 2. Auflage, 2017.
2. Geteiltheit, Gemeinsamkeit und Kollektivität: Zwei Voraussetzungsebenen
ein »tiefgreifendes« Teilnehmen am fremden Erleben, welches über die Einfühlung hinaus durch Mitgefühl38 entsteht, ausbleibt.
Kleinkinder, Autisten, Narzissten, Sozio- und Psychopathen: Die Anerkennung des Anderen als gleichberechtigtes Subjekt, als Kooperationspartner Neben der Intentionalität, dem Einfühlungsvermögen und der Art und Weise des Nutzens des Intentionalitätsgehaltes als notwendige Bedingung der Möglichkeit einer »tiefgreifenden« Intentionalität – nämlich der gemeinsamen Intentionalität –, betonen die Debattenteilnehmer aller Hauptströmungen – mehr oder weniger dezidiert –, dass das Gegenüber als gleichwertiges Subjekt anerkannt werden muss39 . Bevor hinterfragt wird wer den Anderen als gleichberechtig anerkennen kann, sollen zunächst in einem ersten Schritt einige Zitate angeführt werden, um kurz zu belegen, dass es sich bei diesem Aspekt um einen Konsens der Debatte handelt. Die Phänomenologin Gerda Walther beleuchtet um 1923, weshalb sich die Beteiligten gegenseitig als reale Subjekte anerkennen müssen.40 Bei Jean-Paul Sartre heißt es: »Das Wir schließt eine Pluralität von Subjektivitäten ein, die einander als Subjektivitäten anerkennen.«41 Und selbst »[d]ie flüchtigste äußere Begegnung zweier Menschen [...] setzt voraus, daß sie einander verstehen und im anderen
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Vgl. Scheler: Wesen u. Formen d. Sympathie [1923], Teil A, II, S. 20. Wobei hier nur auf den allgemeinen Konsens gezielt werden soll, dass das Gegenüber einen gleichwertigen Subjektstatus erhält. Völlig unabhängig von den je individuellen Eigenschaften oder persönlichen Präferenzen verdient das Subjekt eine angemessene, menschliche Behandlung. Nicht eingegangen wird in dieser Stelle auf den Dissens, was unter Anerkennung genauer zu verstehen sei. Ein Vorschlag, der in der gegenwärtigen Forschung etwa von Robin Celikates und David P. Schweikard vertreten wird, findet sich bereits bei Hegel: Die Anerkennung müsse als unabschließbarer Prozess und nicht als Zustand oder Akt verstanden werden (vgl. Robin Celikates u. David P. Schweikard: »Anerkennung oder kollektive Intentionalität? – Zur Debatte über den Status und des Handelns von Gruppen«, in: Differenz und Dialog – Anerkennung als Strategie der Konfliktbewältigung, hg. v. Vera Flocke und Holger Schoneville, Berliner Wissenschaftsverlag, Berlin, 2011, S. 59–73, hier: S. 64). Hierzu ist zweierlei anzumerken: einerseits scheint es zwar plausibel die Anerkennung als etwas zu verstehen, das einer stetigen Erneuerung bedarf. Andererseits ist dabei dennoch unerlässlich die prinzipiellen Merkmale der Anerkennung auszuführen, wie sie von ähnlichen Phänomenen abzugrenzen ist, wann ihre Merkmale erfüllt sind und wann ihre Grenzen überschritten sind. Vgl. Walther: Ontologie d. soz. Gemeinschaften [1923], S. 121. Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts – Versuch einer phänomenologischen Ontologie [L’être et le néant – Essai d’ontologie phénoménologique, 1943], hg. v. Traugott König, übersetzt v. Hans Schöneberg u. Traugott König, Rowohlt Verlag, 19. Auflage, 2016, S. 720. Im Folgenden als Sartre: Das Sein und das Nichts [1943].
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Menschen einen ›ihren gleichen‹ erblicken«42 , wie es der hierzulande unbekannte russische Phänomenologe Simon Frank betont. In der Sprachanalytik wird ein besonderes Augenmerk auf die Handlungsphänomene gelegt. Deshalb wird dort hervorgehoben, dass man den Anderen nicht nur als gleichberechtigtes Subjekt, sondern präziser als gleichberechtigten Handlungspartner, das ist als Kooperationspartner, verstehen und anerkennen müsse. Searle fasst in »Collective Intentions and Actions« (1990) unter dem Sammelbegriff der »background skills«43 beispielsweise »the biological capacity to recognize other people as importantly like us, in a way that waterfalls, trees, and stones are not like us«44 . Kritisch anzumerken ist hierbei, dass erstens nicht deutlich wird, weshalb Searle bereits von einem »Wir« ausgeht, wie aus dem Textausschnitt »as importantly like us« hervorgeht. Müsste er zunächst nicht von einem Ich aus beginnen, da seine Überlegungen von der »individual« zur »collective intentionality« hin vollzogen werden? Unbestreitbar ist, dass ein »Wir« nicht auf die einzelnen Beteiligten reduzierbar ist, dennoch erscheint es zunächst plausibel Schritt für Schritt vorzugehen, das heißt eben den oder die Anderen zunächst »as importantly like oneself « einzustufen – oder aus der Ich-Perspektive heraus: »as importantly like me«. Zweitens bleibt bei Searle offen, was genauer unter »as importantly« zu verstehen ist – in der Übersetzung: es sei notwendig zunächst »andere Menschen [...] auf wichtige Weise ähnlich anzuerkennen«45 . Drittens spricht Searle in seinen Überlegungen von einer »biological capacity«, welche, wie er anhand seiner kausale Erklärungsweise vertritt, schlussendlich auf Gehirnrezeptoren, elektrischen Impulsen und Ähnlichem fußt.46 Viertens kann in Bezug auf Searles Ansatz ein Vergleich mit den Thesen Tomasellos angeführt werden: Tomasello erläutert seinen onto- und phylogenetischen Ansatz zwar nicht primär auf physikalischem Wege wie Searle, dennoch vertreten beide, dass man zunächst in der Lage sein müsse »to understand conspecifics as beings like themselves who have intentional and mental lives like their own«47 , »[to] understand that other persons are beings like herself – in a way that inanimate objects
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Simon Frank: Die geistigen Grundlagen der Gesellschaft – Einführung in die Sozialphilosophie [1930], (Simon L. Frank – Werke in acht Bänden, Band 3), Karl Alber Verlag, Freiburg/München, 2002, Erster Teil, Kapitel 1, Abschnitt 6, S. 146. Vgl. Searle: »Coll. Intentions and Actions« (1990), S. 413 (dt.: S. 115). Ebd. Ebd. Vgl. u.a. Searle: Making the Social World (2010), S. 4 u. S. 25 (dt.: S. 12f. u. S. 46). Michael Tomasello: The Cultural Origins of Human Cognition, Harvard University Press, Cambridge/London, 1999, S. 5 (übersetzt v. Jürgen Schröder: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens – Zur Evolution der Kognition, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2006, hier: 5. Auflage 2015, S. 18). Im Folgenden als: Tomasello: Human Cognition (1999) (dt.).
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are not«48 . Eine Einschätzung des Intentionalitätsgehaltes des Gegenübers liegt, so Searle, ebenso bei Tieren, jedoch nicht bei Pflanzen vor49 : Ein Schimpanse S1 kann beispielsweise bemerken, dass der andere Schimpanse S2 ein Artgenosse ist, das heißt, dass er kein Feind ist vor dem man flüchten müsste. S1 kann sich in räumlicher Hinsicht in den Standpunkt von S2 hineinversetzen und wissen, ob dieser bereits das Futter entdeckt hat oder nicht. S1 erfasst, falls S2 ein Rudelmitglied ist, in welcher sozialen Hierarchie er zu diesem steht und schlussfolgert daraus, ob er sich dem Futter unbestraft nähern kann.50 Die »capacity to recognize others as like us« scheint damit – ganz im Verständnis nach Searle – biologisch, oder in anderen Worten: von Natur aus gegeben zu sein. Eine Erhellung auf was Searle mit der »capacity to recognize other as like us« zielt, ergibt sich jedoch schlicht in der Weiterverfolgung der erwähnten Textpassage bei ihm selbst. Obwohl dies bei Searle eher implizit zutage tritt, liegt in seinem Ansatz letztlich eine differentia specifica vor: Die Anerkennung als solche ist biologisch, doch es sind ausschließlich Menschen – »people« –, die einander als gleichberechtigt im wörtlich gemeinten Sinne, das heißt als Kooperationspartner anerkennen. In einer spezifischen Intentionalitätsform, präziser: in einer spezifischen Anerkennungsform – der Anerkennung als Kooperationspartner –, liegt die wesenhafte und wesentliche Unterscheidung zwischen dem Tier und dem Menschen: 48
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Vgl. ebd., S. 14 (dt.: S. 27). Während bei Searle die Anerkennung des Anderen »als mir ähnlich« mittels Einfühlung unerläutert bleibt, schließt sich Tomasello dezidiert dem Analogieschlussverfahren an (siehe detaillierter Kapitel 3.3). Das Analogieschlussverfahren gilt jedoch – zumindest aus philosophischer Perspektive – spätestens seit der phänomenologischen Kritik zu Beginn des 20. Jahrhunderts hieran als widerlegt. Aufgrund der mangelhaften Erklärungsweise der Einfühlung ist ebenfalls fraglich, ob Tomasello die Einfühlung adäquat von verwandten Phänomenen, wie dem Mitgefühl, der Gefühlsansteckung und der Einsfühlung, abgrenzen kann. Pflanzen eine Intentionalität zuzuschreiben – wie es bei Scheler in der Beschreibung des Filmes Das Blumenwunder (1926) der Fall ist – wie »[t]he plants [...] are hungry for nutrients«, sei lediglich in einer metaphorischen Weise möglich (vgl. Searle: Mind, Language and Society (1998), S. 93 (dt.: S. 112)). Vgl. (i) Tomasello: Human Thinking (2014), S. 20f. (dt.: S. 40). (ii) Michael Tomasello u. Hannes Rakoczy: »What Makes Human Cognition Unique? From Individual to Shared to Collective Intentionality«, in: Mind and Language, Band 18, Nr. 2, 2003, S. 121–147, hier: S. 141 (übersetzt v. Anita Konzelmann Ziv: »Was macht menschliche Erkenntnis einzigartig? – Von individueller über geteilte zu kollektiver Intentionalität«, in: Sammelband Kollektive Intentionalität, hg. v. Schmid u. Schweikard (2009), S. 697–737, hier: S. 728f.). Im Folgenden als: Tomasello u. Rakoczy: »What Makes Human Cognition Unique?« (2003)(dt.). (iii) Michael Tomasello: »Great Apes and Human Development: A Personal History«, in: Child Development Perspectives, Band 12, Nr. 3, 2018, S. 189–193, hier: S. 190. Im Folgenden als: Tomasello: »Great Apes and Human Development: A Personal History« (2018). (iv) Michael Tomasello: Becoming Human – A Theory of Ontogeny, Belknap Press, Cambridge/London, 2019, S. 12 u. S. 48. Im Folgenden als: Tomasello: Becoming Human (2019).
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»the biological capacity to recognize other people as importantly like us, in a way that waterfalls, trees, and stones are not like us, it seems to me that the capacity to engage in collective behaviour requires something like a preintentional sense of ›the other‹ as an actual or potential agent like oneself in cooperative activities. The football team has the sense of ›us against them‹ [...] the orchestra has the sense of ›us playing in front of them‹«51 . Die These der spezifisch menschlichen Intentionalitätsform ist wiederum der Kerngedanke Tomasellos. Bemerkenswert ist allerdings, dass Tomasello in seinem Werken zwar auf Searle referiert, darin jedoch vielmehr die Abgrenzungen anstatt die Gemeinsamkeiten mit Searles Ansatz betont. Dies zeigt sich etwa darin, dass Tomasello die unterschiedlichen Methoden anstatt der (fast) identischen Schlussfolgerung hervorhebt, wie an späterer Stelle in Kapitel 3.3 ausführlicher dargelegt wird. Diese Position Searles und Tomasellos kann, wiederum mit Referenz auf Tuomela und Bratman, wie folgt präzisiert werden: Die Beteiligten müssen nicht nur sich selbst und den Anderen als teilnehmenden, intentionalen Kooperationspartner anerkennen, sondern diesen auch als solchen behandeln52 , das heißt nach Tuomela im »We-mode« agieren, damit, so Bratman, die Handlungspläne und konkret durchgeführten Handlungen adäquat ineinander greifen53 . Das bedeutet, dass sie die Handlungen nicht nur – im räumlichen Sinne – parallel nebeneinander, das heißt ihre Körperbewegungen zueinander koordinieren, sondern – im qualitativen Sinne – miteinander, kooperativ ausführen. Bratman selbst belegt diese Annahme mittels des ex-negativo-Falles (siehe detaillierter Kapitel 3.2): Wird der Andere nicht als gleichwertiges, intentionales, freies, mündiges,
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Searle: »Coll. Intentions and Actions« (1990), S. 413 (dt.: S. 116.). Vgl. (i) Michael Bratman: »Shared Cooperative Activity« [1992], in: Faces of Intention – Selected Essays on Intention and Agency, Cambridge University Press, 1999, S. 93–108, hier: S. 100 (übersetzt v. Juliette Gloor: »Geteiltes kooperatives Handeln«, in: Sammelband Kollektive Intentionalität, hg. v. Schmid u. Schweikard (2009), S. 176–193, hier: S. 183). Im Folgenden als: Bratman: »Shared Cooperative Activity« [1992] (dt.). Die Aufsatzsammlung wird im Folgenden angeführt als: Faces of Intention (1999). (ii) Michael Bratman: »Shared Intentions« [1993], in: Faces of Intention (1999), S. 109–129, hier: S. 118 (übersetzt v. Juliette Gloor: »Geteilte Absichten«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Band 55, Heft 3, Berlin, 2007, S. 409–424, hier: S. 414). Im Folgenden als: Bratman: »Shared Intentions« [1993] (dt.). Ausgeführt lauten die verschiedenen kognitiven Voraussetzungen bei Bratman: »To participate with you in a shared intention [1] I need to be able to recognize you as an intentional agent who has appropriate intentions; [2] I need to be able to include in what I intend the effectiveness of your intentions; and [3] I need to be able to fill in my own plans in ways that are responsive to and mesh with your plans. [4] I need in these ways to take seriously your status as a planning agent.« Michael Bratman: »Responsibility and Planning« [1997], in: Faces of Intention (1999), S. 165–184, S. 180.
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kooperatives Subjekt behandelt, wie beispielsweise in einem Entführungsfall, so liegt lediglich ein »mafia sense of we«54 , aber eben kein »wahrhaftiges Wir« vor: »You and I each intend that we go to New York together, and this is known to both of us. However, I intend that we go together as a result of my kidnapping you and forcing you to join me. The expression of my intention, we might say, is the Mafia sense of ›We’re going to New York together‹. While I intend that we go to New York together, my intentions are clearly not cooperative in spirit. Cooperation, after all, is cooperation between intentional agents each of whom sees and treats the other as such; and in intending to coerce you in the way I intend to bypass your intentional agency.«55 Der Entführer handelt, so würde die Beschreibung nach Tuomela und Tomasello lauten, lediglich im »I-mode«. Doch auch Bratman führt hierbei – wie Searle und Tomasello – gewissermaßen eine differentia specifica ein: Nach Bratman können nur Menschen planende Akteure sein, genauer gesagt treffe dies vor allem auf »normal adult human agents in a modern world«56 zu. Diese Annahme taucht in abgewandelter Form vielfach bei Bratman auf und scheint damit auf etwas Spezifisches hinauszuwollen, dass die Beteiligten nämlich erstens »normal adult human agents« – das heißt, dass es sich nicht um »Verrückte« wie mit Husserl und nicht um Tiere und Kleinkinder wie mit Tomasello gesagt werden kann – handeln dürfe. Zweitens referiert Bratman mit der Beschreibung »in a modern world« womöglich – genau wie Tomasello – auf den modernen Menschen, welcher sich, so Tomasello in seiner Konzeption der Intentionalitätsformen, vor circa 150.000 Jahren etablierte und durch die Konstitution einer ganz spezifischen Intentionalitätsform von seinen Ahnen distanziert (siehe Kapitel 3.3). Bei Bratman selbst bleibt der genaue Inhalt dieses Textauszuges, was unter »normal adult human beings in a modern world« zu verstehen ist, ungeklärt, sodass seine Aussage für sich genommen völlig
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Vgl. (i) Bratman: »Shared Cooperative Activity« [1992], S. 100 (dt.: S. 183). (ii) Bratman: »Shared Intentions« [1993], S. 117 (dt.: S. 415). Bratman: »Shared Cooperative Activity« [1992], S. 100 (dt.: S. 183). Vgl. auch Bratman: »Shared Intentions« [1993], S. 117f. (dt.: S. 415). »Many animals, human and nonhuman, are purposive agents – agents who pursue goals in light of their representations of the world. But we – normal adult human agents in a modern world – are not merely purposive agents in this generic sense. Our agency is typically embedded in planning structures.« Michael Bratman: »Introduction: Planning Agents in the Social World«, in: Faces of Intention (1999), S. 1–12, hier: S. 5. Im Folgenden als: Bratman: »Introduction: Planning Agents in the Social World« (1999). Vgl. auch (i) Michael Bratman: »Planing and Temptation« [1995], in: Faces of Intention (1999), S. 35–57, hier: S. 53f. (ii) Michael Bratman: »Toxin, Temptation, and the Stability of Intention« [1998], in: Faces of Intention (1999), S. 58–90, hier: S. 59. (iii) Michael Bratman: »Reflection, Planning, and Temporally Extended Agency« [2000], in: Structures of Agency, Oxford University Press, 2007, S. 21.
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vage und unbefriedigend im Raum verbleibt. Vielleicht kann sie aber mit Referenz auf andere Autoren der Debatte, wie hier mithilfe von Husserl und Tomasello angedeutet, etwas erhellt werden. Wollte man die These der verschiedenen Autoren – welche an dieser Stelle lediglich angerissen wurden – zusammen nehmen, so würde sich überblicksartig ergeben: Um eine Gemeinschaft im engen Sinne zu erreichen, müssen sich – so die Debattenbeiträger der unterschiedlichen Strömungen – die Beteiligten als gleichberechtigte Subjekte, als Kooperationspartner anerkennen und als solche behandeln, was bestimmte kognitive Fähigkeiten erfordert. Bei Husserl heißt es, dass »Verrückte« keine gemeinsame Welt konstituieren können. Bratman vertritt: nur »normal adult human agents in a modern world« könnten planende Wesen sein, das heißt eben sich auch als intentional planende Wesen anerkennen und, in seiner Terminologie, eine »shared cooperative agency« ausführen. Searle seinerseits legt zugrunde, dass nur der Mensch durch die Anerkennung des Anderen als gleichberechtigt bestimmte Tatsachen, genauer: institutionelle Fakten, schaffen könne. Während es bei Tomasello heißt: nur der Mensch kann in einem langjährigen ontogenetischen Prozess die Fähigkeit entwickeln bestimmte Fakten zu konstituieren, nämlich eine Kultur zu etablieren, was bei ihm vielmehr mit einer Anerkennung des Anderen als gleichberechtigten (Handlungs-)Partner im moralischen Sinne verbunden ist. Ebenso bei diesem Kriterium stellt sich jedoch aus empirischer Sicht die Frage, wer die Kriterien erfüllt und als Beteiligter gelten kann. Gleichsam wie hinsichtlich des Kriteriums der Intentionalität und der Einfühlung ergibt sich, dass strenggenommen einige Subjekte als Beteiligte entfallen. Dies sei im Folgenden vorgeführt: Bei sehr jungen Kleinkindern kann zum einen angezweifelt werden, ob sie über eine Absichtsfähigkeit im engeren Sinne eines eigenen freien Willens verfügen oder ob sie lediglich ihren Instinkten folgen, wenn sie beispielsweise aufgrund von Hunger schreien. Ebenfalls scheint kritisch, ob ihnen im Alter von wenigen Monaten eine dezidierte Trennung von Subjekt und Objekt möglich ist, wie plakativ etwa zwischen der Mutter und der Milchquelle.57 Erst im Verlauf ihrer Ontogenese entwickeln sie, so zumindest die Annahme der Verhaltensforschung, ein Eigen- und Fremdverständnis als lebendiger, intentionaler, geistiger Akteur.58 Doch auch bei
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Vgl. u.a. (i) Schlicht: »Stufenmodell d. Intentionalität« (2008), S. 69ff. (ii) Tomasello: Human Thinking (2014), S. 9 (dt.: S. 23). Von Schlicht und Tomasello wird vertreten, dass man in dieser Altersstufe nicht differenzieren könne, ob der Andere ein Objekt oder ein Subjekt ist und daher als Objekt behandelt wird. Scheler vertritt wiederum, dass man sich in diesem Alter mit dem Gegenüber – als was auch immer anerkannt – einsfühle (vgl. Scheler: Wesen u. Formen d. Sympathie [1923], S. 35). Vgl. Michael Tomasello: A Natural History of Human Morality, Harvard University Press, Harvard, 2016, hier: S. 120ff. (übersetzt v. Jürgen Schröder: Eine Naturgeschichte der menschlichen
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erwachsenen Menschen kann, wie unter anderem psychologische Studien insbesondere an schweren Formen des Autismus belegen, die »Unfähigkeit [vorliegen] unbelebte Objekte angemessen von Menschen zu unterscheiden und auf letztere in angemessener emotionaler Weise zu reagieren«59 . Dies begründet sich, wie empirische Forschungen nahelegen, darin, dass Autisten Schwierigkeiten darin haben können, überhaupt den Intentionalitätsgehalt des Anderen zu bestimmen60 , nämlich beispielsweise den mimischen Ausdruck des Anderen zu erfassen61 oder zu differenzieren, ob die Handlung des Anderen absichtlich oder unabsichtlich geschah.62 Tiefergehend wäre daher zu erforschen, ob Personen mit ausgeprägten
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Moral, Suhrkamp Verlag, Berlin, 1. Auflage, 2016, S. 185ff.). Im Folgenden als: Tomasello: Human Morality (2016) (dt.). Tobias Schlicht: »Mittendrin statt nur dabei – Wie funktioniert soziale Kognition?«, in: Grenzen der Empathie (2013), S. 45–91, hier: S. 81ff. Im Folgenden als: Schlicht: »Mittendrin statt nur dabei« (2013). Vgl. u.a. Wendy Philipps, Juan Carlos Gómez, Simon Baron-Cohen, Vicky Laá und Angel Rivière: »Treating People as Objects, Agents, or ›Subjects‹ – How young children with and without autism make requests«, in: Journal of Child Psychology and Psychiatry, Band 36, Nr. 8, Elsevier Science, 1995, S. 1383–1398. Vgl. u.a. Malinda Carpenter, Bruce F. Pennington u. Sally J. Rogers: »Understanding of other’s intentions in children with autism and children with developmental delays«, in: Journal of Autism and Developmental Disorders 31, 2001, S. 589–599. Vgl. Schlicht: »Mittendrin statt nur dabei« (2013), S. 81ff. Vgl. u.a. Wendy Philipps, Simon Baron-Cohen und Michael Rutter: »Understanding intention in normal development and in autism«, British Journal of Developmental Psychology, Band 16, The British Psychological Society, 1998, S. 337–348. Konkret achten Autisten, so der Stand der gegenwärtigen Forschung, auf die Handlungsresultate anstatt auf die Handlungsmotive. Dies hat jedoch zur Folge, dass von ihnen kaum normative Wertungen oder Einschätzungen über andere Personen abgegeben werden können, ob es sich um gute Absichten – das heißt plakativ: um einen guten Menschen – handelt oder nicht. Doch auch auf kommunikativer Ebene finden sich prägnante Unterschiede zwischen Personen mit und ohne autistische Züge: Autisten neigen dazu, ihrem Gegenüber eher auf den Mund zu sehen, um sich genauer darauf zu konzentrieren was gesagt wird. Blickt man hingegen seinem Gegenüber in die Augen, kann die Mimik und somit auch Nonverbales, wie Sarkasmus oder Ironie, erfasst werden. Hier geht es also nicht nur darum was gesagt wird, sondern wie es gesagt wird. Vgl. (i) Ulla Schmid: »From Sharing a Background to Sharing One’s Presence – Two Conditions of Joint Attention«, in: The Background of Social Reality, hg. v. Michael Schmitz, Beatrice Kobow u. Hans Bernhard Schmid, (Studies in the Philosophy of Sociality, Band 1), Springer Verlag, Dordrecht, 2013, S. 147–162, hier: S. 154. (ii) Robin Dunbar: Grooming, Gossip, and the Evolution of Language, Faber and Faber, London, 1997, S. 88ff. (übersetzt v. Sebastian Vogel: Klatsch und Tratsch – Warum Frauen die Sprache erfanden, Goldmann Verlag, 2000, S. 115ff.). Im Folgenden als: Dunbar: Grooming, Gossip, Evolution of Language (1997) (dt.). (iii) Schlicht: »Mittendrin statt nur dabei« (2013), S. 81ff. Ergreifend vermittelt dies der Dokumentarfilm Life, Animated (2016) von Roger Ross Williams – im deutschen mit dem Untertitel Die fantastische Welt eines Autisten versehen. Die Dokumentation stellt die Entwicklung des Autisten Owen Suskind vor, welcher besonders als Kleinkind nicht mit der wirklichen, veränderbaren Welt zurechtkommt. Die Welt der Walt Disney Comic-Figuren gibt ihm Halt, da die dortigen Filmfrequenzen von ihm entschlüssel-
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autistischen Zügen den Anderen nicht als intentionalen Akteur oder nicht einmal als belebten Akteur, das heißt überhaupt als Akteur, verstehen. Schenkt man diesen empirischen Thesen seinen Glauben und wendet diese auf die hier zugrunde gelegte Annahme an, dass man nur dann überhaupt als potenzieller Teilnehmer spezifischer Intentionalitätsformen in Frage komme, wenn man sich gegen- oder wechselseitig als intentional geistige Akteure anerkennt, so ergibt sich, wie Tomasello und in dessen Folge auch Tuomela vertritt, dass Menschen mit Autismus der Tendenz nach als potenziell Beteiligte insbesondere einer »höher entwickelten« Intentionalitätsform entfallen und bedingt durch ihre kognitiven Einschränkungen etwa auf der Ebene der individuellen oder »verminderten« Intentionalitätsform verweilen. Zudem gilt: die Beteiligten müssen nicht nur selbst im vollumfänglichen Sinne als intentionales Subjekt gelten und den Anderen als intentionalen Akteur anerkennen, sondern den Anderen eben auch als gleichberechtigten intentionalen Akteur behandeln, wie insbesondere Bratman betont, damit eine Kooperation, ein »We-mode« bestehen könne.
Zwischenfazit zu Kapitel 2.1 Der Konstitution einer gemeinsamen Welt, einer spezifischen, »tiefgreifenden« Intentionalitätsform, ist – so der Konsens der Phänomenologie, Sprachanalytik und evolutionären Verhaltensforschung – an zahlreiche kognitive, psychische Voraussetzungen gebunden: Um eine Intentionalitätsform erleben zu können, welche über die individuelle Intentionalität hinausgeht, müssen, hier in der Terminologie nach Searle, einige »background skills«63 bestehen. Während die genannten Autoren einleuchtende – wenn auch teils nicht gerade originelle – Einzelkriterien darlegen, soll hier vielmehr darauf verweisen werden, dass diese Kriterien einander ergänzen und bedingen. Das Verhältnis auf das hierbei abgezielt wird, kann wie folgt dargelegt werden: Einige Autoren der Debatte, wie an Husserl, Stein, Scheler, Tuomela, Bratman, Searle und Tomasello vorgeführt, befassen sich jeweils mit einzelnen elementaren Bedingungen der Möglichkeit der »tiefgreifenden« Intentionalitätsformen. Dabei liegt jedoch jeweils eine einseitige Betrachtung vor, da sie meist lediglich ein Kriterium thematisieren: entweder die Bewusstseinsfähigkeit, das Einfühlungsvermögen, die Anerkennung des Anderen als gleichberechtigt oder den »We-mode«. Zwar bedarf es auch Einzeluntersuchungen der jeweiligen Kriterien – wie bei den bisherigen Autoren der Debatte geschehen –, allerdings
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bar sind. Denn: die Mimik und Gestik der Figuren sind erstens stets übertrieben dargestellt, sodass das damit Gemeinte offensichtlicher zutage tritt. Zweitens verändern sich die Mimiken und Handlungsstränge einer Filmfrequenz nicht – wie oft man den Film auch vor- und zurückspult. Vgl. Searle: »Coll. Intentions and Actions« (1990), S. 413 (dt.: S. 115).
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muss dabei im Hinterkopf bleiben, dass alle Kriterien gleichermaßen gelten und beachtet werden müssen. Es ist eben zu bedenken, dass die Beteiligten alle Kriterien erfüllen müssen. Beispielsweise reicht es nicht aus den Intentionalitätsgehalt des Anderen mittels Einfühlung einzuschätzen, sondern dieses Wissen muss für das Verfolgen der Gruppeninteressen eingesetzt werden. Wagt man bei der Erläuterung dieser Bedingungen der Möglichkeit der »tiefgreifenden« Intentionalitätsformen einen interdisziplinären Blick, etwa mit Einbezug der Neurologie, Psychologie, Verhaltensforschung und Kulturwissenschaft, so ergeben sich Hinweise darauf, wer einzelne Voraussetzungen nicht erfüllt und daher nicht als Beteiligter einer solchen Intentionalitätsform gelten kann. Die Verfolgung der Ansätze bis zur letzten Konsequenz ergibt folgende Ergebnisse: Erstens müssen die Beteiligten jeweils gegenwärtig über Intentionalität verfügen – sei sie nun phänomenologisch ein Bewusstsein von etwas, sprachanalytisch ein Bewusstsein einer Handlungsabsicht oder in der evolutionären Verhaltensforschung ein Bewusstsein eines Handlungsvollzugs. Dieses tertium-non-datur-Kriterium – entweder man hat Bewusstsein oder nicht – hat zur Folge, dass Bewusstlose und Tote als Beteiligte jeglicher Intentionalitätsform entfallen und ihnen gegenwärtig nicht oder nur in einem sehr eingeschränkten Sinne individuelle Intentionalität zugesprochen werden kann. Zweitens müssen die Beteiligten den (oder die jeweils) Anderen als intentionalen Akteur erfassen und dessen (oder deren) Intentionalitätsgehalt mittels Einfühlung kennen. Einerseits gilt es daher einzuschätzen, ob und inwieweit der Intentionalitätsgehalt des Anderen mit dem eigenen übereinstimmt – die Beteiligten sind auf ein und dasselbe gerichtet. Andererseits gilt es einzuschätzen, ob und inwieweit der Andere zur Kooperation bereit ist – die Beteiligten sind in ein und derselben Weise auf ein und dasselbe gerichtet. Dies hat zur Folge, dass es fragwürdig ist, ob sehr junge Kleinkinder sowie Personen mit immens ausgeprägten autistischen Zügen als Beteiligte im engen Sinne gelten können, da sie gegebenenfalls den Anderen nicht einmal als Akteur, sondern (noch) als Objekt verstehen. Bei ihnen kann darüber hinaus die Schwierigkeit vorliegen zwischen einem absichtlichen Vollzug und einem unabsichtlichen Widerfahrnis zu unterscheiden. Drittens müssen die Beteiligten jeweils das Wissen um den Intentionalitätsgehalt nicht nur für sich selbst oder sogar gegen den Anderen, sondern für die Gruppeninteressen verwenden, was in der Terminologie nach Husserl eine »für uns«Ausrichtung und nach Tuomela ein »We-mode« ist. Dies hat zur Folge, dass auf den Eigennutzbedachte (»I-moders«) als Beteiligte einer Gemeinschaft im engen Sinne entfallen. Dies trifft zum einen, zumindest nach Tomasello, auf Tiere zu, zum anderen entfallen – ohne dass Tuomela oder Tomasello dies selbst artikulieren – Personen mit krankhaften Formen des Egozentrismus, wie Narzissten sowie Soziound Psychopathen, als Beteiligte einer »tiefgreifenden« Intentionalitätsform, wel-
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che Tuomela als »joint intentionality« und Tomasello, je nach Entwicklungsstand, als »joint« oder »collective intentionality« betitelt. Viertens müssen die Beteiligten sich jeweils als gleichberechtigte Subjekte anerkennen und als solche behandeln. Dies hat zur Folge, wie im Kapitel 3.2 detaillierter ausgeführt wird, dass bei dezidiert zwanghaften, den eigenen Willen einschränkenden Situationen – oder zumindest Situationen, die vom Beteiligten als ausschließlich zwanghaft empfunden werden –, wie einem Entführungsfall, keine gemeinsame Intentionalität vorliegt. Ebenfalls wird bei diesem Kriterium nochmals deutlich, weshalb Personen mit sozio- oder psychopathischen Zügen keine »tiefgreifende« Intentionalitätsform mit Anderen bilden können. Doch muss insgesamt gesagt werden: der Ausschluss der Beteiligten mittels des Kriteriums der Intentionalitätsfähigkeit erscheint unproblematisch, gerade weil es als tertium-non-datur-Kriterium recht eindeutig ist. Der Ausschluss der Beteiligten mittels der weiteren Kriterien – wie der Einfühlung oder der Anerkennung des Anderen als gleichberechtigt – wird jedoch Unbehagen wecken, gerade weil diese Kriterien graduell sind. Daher lässt sich nur äußerst zugespitzt festhalten: sicherlich mag gelten, dass Autisten, Narzissten, Sozio- und Psychopathen bestimmte kollektive Verhaltensweisen anerkennen: Sie stehen mit Anderen in einem gegenseitigen Bezug, etablieren mit Anderen Regeln an die sie sich halten, wie beispielsweise die Gesetze der allgemeinen Verkehrsordnung. Allerdings können diese Handlungs- und Denkweisen vollkommen parallel voneinander ausgeführt werden. Es muss keinerlei persönlicher Kontakt zwischen den Beteiligten oder ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das heißt eben eine Gruppe im engen Sinne des Miteinanders, bestehen. Zwar mögen diese Regeln das Zusammenleben organisieren und als sozial oder sogar institutionell gelten, aber sie sagen rein gar Nichts über den tatsächlichen Zusammenhalt oder die Interessen der Beteiligten aus. Auch in Situationen, welche mit einem dezidierten Zwang einhergehen, wie ein Entführungsfall, kann sich ein tiefes Gefühl der Sympathie entwickeln, wie wohl am offensichtlichsten und entschiedensten beim sogenannten »StockholmSyndrom« festzumachen ist – welcher dem alltäglichen Sprachgebrauch zufolge als pathologischer Fall gewertet wird. Die Erläuterungen dazu welche kognitiven Fähigkeiten bei den Beteiligten vorliegen müssen, führten zu der Annahme, dass Tote, Bewusstlose, sehr junge Kleinkinder, Personen mit Gehirnschädigungen, Personen mit Belastungsstörungen durch Traumata, Personen mit geistigen Behinderungen und Personen mit dissozialem Verhalten – und diese Liste lässt sich wohl durchaus weiterführen – graduell je nach (bisherigem) kognitivem Entwicklungsgrad beziehungsweise je nach Schwere des kognitiven Ausfalls nicht oder nur bedingt als Beteiligte einer »tiefgreifenden« Intentionalitätsform gelten können. Zwar befassen sich die Autoren der Debatte mit den Kriterien der »tiefgreifenden« – das meint hier: gemeinsamen – Intentionalitätsform, allerdings gehen sie dabei nur geringfügig
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auf die tatsächlichen empirischen Konsequenzen ein: Wer wie Husserl sagt, dass zur Konstitution einer gemeinsamen Welt notwendigerweise Intentionalitätsfähigkeit vorliegen muss, der muss in der Konsequenz ebenfalls sagen – auch wenn dies trivial erscheinen mag –, dass Tote und Bewusstlose hierzu nicht gerechnet werden können. Wer wie Tuomela sagt, dass es zur »joint intention«, das ist zur »full blown collective intentionality« beziehungsweise wer wie Tomasello vertritt, dass es zur »joint-« und »collective intentionality« einen »We-mode« bedarf, der muss in der Konsequenz ebenfalls sagen – auch wenn dies durchaus nur graduell festgelegt werden kann –, dass Personen mit ausgeprägten autistischen Zügen hierzu nicht gerechnet werden können. Tuomela und Tomasello gehen dabei nicht selbst darauf ein, dass unter diesem von ihnen zugrunde gelegten Kriterium wohl auch Narzissten, Stalker, Sozio- und Psychopathen sowie viele weitere Krankheitsbilder fallen. Betrachtet man die Kriterien im Einzelnen und verfolgt man den empirischen Hinweisen, so ergibt sich, dass jeweils ein vernachlässigbarer Prozentsatz der Bevölkerung als Beteiligte entfallen: Der jeweilige prozentuale Ausfall – ohne Einberechnung der Dunkelziffern – liegt jeweils bei einem marginalen Bevölkerungsanteil: Aktuell befinden sich prozentual und absolut betrachtet wohl nur sehr wenige Personen in bewusstlosen oder kognitiv erheblich eingeschränkten Zuständen. Es handelt sich also jeweils um Phänomene, die als Ausnahmen kategorisiert werden können. Nimmt man jedoch alle Kriterien und ihre Umkehrschlüsse ernst, so ergibt sich eine Problematik: Plötzlich hat man es mit einer unignorierbaren Anzahl zu tun, welche strenggenommen nicht als Beteiligte einer gemeinsamen Intentionalität, das heißt eben einer Intentionalität mit engem Zusammenhalt, gelten können. Aufgrund der Vielzahl der möglichen Ausnahmefälle erscheinen sie in diesem Lichte eben doch gewissermaßen als Alltagsphänomene. Man hat es dabei gleich mit mehreren Kippfiguren zu tun: Einerseits wurde zunächst gefragt, wer einzelne dieser Kriterien, wie die Intentionalität oder den »We-mode«, erfüllen kann. Daraus ergab sich im Umkehrschluss, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen diese nicht erfüllen können. Daraus ergab sich wiederum, dass die Einschätzung kippt und nun die Frage gestellt werden muss: Wer kann überhaupt alle Kriterien erfüllen? Andererseits besteht die zweite Kippfigur darin, dass zunächst die harmlose Absicht besteht die Intentionalitätsformen in ihrer sozialen Dimension zu beschreiben, das heißt als Relation zwischen den Beteiligten und deren Bedingungen zu bestimmen. Doch das Resultat sind teils alles andere als harmlose Annahmen. Sie erscheinen vielmehr rücksichtslos und wecken Unbehagen, da kognitiv eingeschränkte Individuen als Beteiligte schlicht entfallen und ausgegrenzt werden. Die in der Theorie leitende Auffassung, dass spezifische Kriterien notwendigerweise bei den Beteiligten bestehen müssen, stimmt – wenigstens heutzutage und aus guten Gründen – nicht mehr mit der Wirklichkeit überein.
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Es lässt sich sagen: Die jeweiligen Besonderheiten der Ansätze nach Husserl und Tomasello präsentieren sich in aller Deutlichkeit vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit den empirischen Konsequenzen der theoretisch zugrunde gelegten Bedingungen der Möglichkeit der Konstitution einer gemeinsamen Welt. Beide Autoren befassen sich dezidiert, in Abgrenzung zu den weiteren Debattenteilnehmern, mit der Frage: Wer kann empirisch betrachtet nicht als Beteiligter gelten? Nimmt man die – berechtigterweise – zugrunde gelegten Kriterien in ihrer Gesamtheit ernst, dann stellt sich jedoch die drastische Konsequenz, dass zahlreiche Personen nicht als Beteiligte im engen Sinne betrachtet werden können. Kurzum: auf einmal hat man es mit einer desaströsen Konsequenz zu tun, die weit ab von unserem gegenwärtigen Alltagsverständnis liegt, denn ein Ausschluss von geistig eingeschränkten Personen aus der Gemeinschaft ist mehr als herzlos und moralisch nicht rechtfertigbar. Geistig eingeschränkte Personen sind Rechtspersonen, die als solche anerkannt werden müssen – auch wenn sie selbst gegenüber Anderen nicht oder nur eingeschränkt moralisch verpflichtet sein können. Eine ähnliche Argumentationsweise scheint auch Tomasello zu vertreten, wenn er davon ausgeht, dass Kleinkinder bis zu einem Lebensalter von circa drei Jahren noch keine Moralität entwickelt haben. Doch bei ihm lautet die harte Schlussfolgerung: liegen die angenommenen kognitiven Fähigkeiten zum Eingehen auf den Anderen noch nicht, wie bei Kleinkindern, oder nur eingeschränkt, wie bei Autisten, vor, dann können diese Betroffenen nicht als Teilnehmer im engen Sinne gelten64 . Zwar kann man hingegen Husserl einerseits vorwerfen, die – heutzutage nicht mehr politisch korrekte – Terminologie »Verrückte« nur vage ausgeführt, jedoch im Leser die Erwartung einer detaillierten Ausführung geweckt zu haben. Andererseits lässt sich jedoch anführen: gerade weil er diese als geistiges-neben-sichStehen, als anomale, unregelmäßige Züge begreift, die auch temporär »normale Menschen« betrifft, legt er eine graduelle Unterscheidung an. Husserl umgeht mittels dieses allgemeinen Begriffes »Verrückte« gewissermaßen den moralischen Vorwurf der Herzlosigkeit, der Absonderung geistig eingeschränkter Personen. In der Phänomenologie wird zudem, ausdrücklicher als in der Sprachanalytik und Verhaltensforschung, das tertium-non-datur-Kriterium der Intentionalität ausgeführt: Entweder man hat Bewusstsein von etwas und kann damit zumindest potenziell als Beteiligter gelten oder nicht. Wobei im Fall des Komapatienten spezifischer gesagt werden kann: er verfügt zwar prinzipiell über Bewusstsein, ist aber im Moment bewusstlos. Er ist gewissermaßen nicht in der Lage seine Intentionalitätsfähigkeit »anzuwenden«, zu vollziehen. Bestimmte Kriterien, wie die Anerkennung des Anderen als intentionalen Akteur oder spezifischer als Kooperationspartner, entwickeln und vertiefen sich hingegen im langjährigen Prozess der
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Vgl. Tomasello u. Moll: »The Gap is Social« (2010), S. 338ff.
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menschlichen Ontogenese. Gegebenenfalls verbleiben jedoch die Beteiligten entweder auf dem kognitiven Stand des Kleinkindes, wie es bei Autisten der Fall sein kann, oder sie verweilen im »I-mode«, wie es im Verhalten von Narzissten, Soziound Psychopathen besonders ausgeprägt auftritt. Diese Umstände können jedoch nicht – nicht einmal mit Medikamenten – überwunden, sondern bestenfalls gelindert werden. In einem Satz kann gesagt werden: als potenzielle Beteiligte einer »tiefgreifenden« Intentionalitätsform können jene nicht gelten, die entweder generell nicht diese Fähigkeiten besitzen (wie Objekte), diese Fähigkeiten noch nicht ausgebildet haben (wie Kleinkinder) oder diese im Verlauf der Genese nicht oder nicht ausreichend ausgebildet haben (wie Narzissten, Sozio- und Psychopathen sowie Autisten). Zudem müssen diejenigen bedacht werden, denen diese Fähigkeiten zwar prinzipiell zugesprochen werden, jedoch im Moment der »Zugriff« auf diese Fähigkeiten verwehrt ist (wie im Falle der Bewusstlosen und Ohnmächtigen). Es dürfen demnach keine drastischen oder pathologischen kognitiven Einschränkungen vorliegen. Um als Beteiligter einer Intentionalitätsform – insbesondere einer »tiefgreifenden« Intentionalitätsform – gelten zu können, müssen die Beteiligten spezifische kognitive Fähigkeiten besitzen und im doppelten Sinne des Wortes bei-einander sein, das heißt einerseits auf geistiger Ebene nicht ver-rückt sein, sodass die Konstitution einer gemeinsamen Welt möglich ist, und andererseits nicht nur nebeneinander, sondern miteinander denken, handeln oder fühlen. Mittels dieser Überlegungen kann die, in der Debatte ab 2016 weitverbreitete, lexikalische Definition der kollektiven Intentionalität nach Hans Bernhard Schmid und David P. Schweikard präzisiert werden. Bei ihnen heißt es: »Kollektive Intentionalität ist das gemeinsame geistige Gerichtetsein mehrerer Individuen auf [ein und] dasselbe Objekt oder Ziel, denselben Sachverhalt oder Wert bzw. dieselbe Tatsache. Kollektive Intentionalität kennt eine Vielzahl von Modi. Die wichtigsten davon sind die gemeinsame Absicht, die geteilte Überzeugung, die kollektive Akzeptanz, die geteilte Aufmerksamkeit und die kollektive Emotion.«65 Es wird – berechtigterweise – zugrunde gelegt, dass mehrere Individuen in einem identischen Modus, das ist hier: gemeinsam, auf ein identisches Objekt gerichtet sein müssen. Dabei wird, wenigstens implizit, jedoch problematischerweise angedeutet, dass bereits zwei Individuen für ein Kollektiv ausreichend seien. Zudem verwenden sie die Bezeichnung »Individuum«, welche sie jedoch im Sammelband Kollektive Intentionalität um 2009 selbst als kritisch betrachten:
65
Schmid u. Schweikard: Handbuch Handlungstheorie: »Koll. Int. u. koll. Handeln« (2016), S. 118 (Herv. selbst vorgenommen).
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»Der Begriff ›Individuum‹ selbst trägt schon eine antisoziale Spitze. Er dient dazu, unabhängig von Stand und sozialem Ort auf die Einzelnen referieren zu können. [...] [N]icht mehr zu sehen ist dann aber, wie sie sich zu den verlässlichen und dauerhaften sozialen Formationen sollen verbinden können, die es faktisch gibt und auf deren Existenz wir uns im Alltag ganz selbstverständlich verlassen.«66 Einerseits suggeriert die wortwörtliche Bedeutung Individuum eine Unteilbarkeit, welche eine Intentionalitätsform mit mehreren Beteiligten negiert, da es jeweils nur die Intentionalität eines Einzelnen wäre, wie es beispielsweise Searle mit der Annahme, dass jede Intentionalität im Einzelgehirn zu verorten ist, zugespitzt vertritt. Andererseits umfasst der Begriff »Individuum«, das Einzelwesen im allgemeinen Sinne demnach alle Lebewesen, wodurch man wiederum unterstellen kann, dass Schmid und Schweikard ebenfalls Tieren eine solche Intentionalität zusprechen – was entweder aus einer phänomenologischen Perspektive, genauer aus der »what-it-is-like«-Betrachtung, heraus unbeschreibbar oder aus der Sicht der evolutionären Verhaltensforschung nach Tomasello schlichtweg falsch ist, da Tiere bestimmte kognitive Voraussetzungen nicht besitzen, wie beispielsweise den »We-mode« nicht einnehmen können. In der vorliegenden Definition der kollektiven Intentionalität nach Schmid und Schweikard, welche in der Debatte durchaus leitend ist, müsste demnach genauer ausgemacht werden, ob sie tatsächlich allumfassend von Individuen ausgehen oder ob spezifischer Subjekte gemeint sind, wie in der vorliegenden Argumentation zugrunde gelegt wird. Darüber hinaus besteht insbesondere in außerphilosophischen Forschungsgebieten, wie den Kognitionsund Verhaltenswissenschaften oder der Kriminologie, zunehmend der Konsens, dass spezifische kognitive Einschränkungen gleichsam als Zugangsbeschränkung zu spezifischen, vor allem höherentwickelten Intentionalitätsformen angesehen werden müssen. Daher sollte wohl vielmehr gelten: Kollektive Intentionalität ist jene Intentionalität, die zum einen der Sprecher selbst nicht notwendigerweise einnimmt und zum anderen zu charakterisieren als geistige Gerichtetheit mehrerer Subjekte die – bestenfalls im doppelten Sinne des Begriffes – bei-einander sind, das heißt: es ist eine Intentionalität mehrerer Subjekte, welche erstens keine drastische, pathologische Bewusstseinseinschränkung vorweisen und im »tiefgreifenden Fall« zweitens in ein und derselben Weise – das heißt gemeinsam – auf ein und dasselbe gerichtet sind. Während die Intentionalitätsfähigkeit als tertium-non-datur-Kriterium wenig Spielraum lässt, ist fraglich, welche Intentionalitätsform ab welcher Entwicklung der anderen graduellen Kriterien vorliegt: Tomasello unterscheidet die »joint« und »collective intentionality« voneinander. Hierbei ist ab dem Werk The Natural History of Human Thinking (2014) zentral, dass nur dem Menschen spezifische kognitive Fähigkeiten möglich sind, wobei er insbesondere die Moralität und, in Anlehnung
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Schmid u. Schweikard: »Einleitung: Koll. Int.« (2009), S. 17.
2. Geteiltheit, Gemeinsamkeit und Kollektivität: Zwei Voraussetzungsebenen
an Tuomela, den »We-mode« im Blick hat. Je weiter die Anerkennung des Anderen als Kooperationspartner voranschreitet, je weiter die Moralität entwickelt ist, desto »tiefgreifender« ist die Intentionalitätsform. Dies bedeutet, dass Kleinkinder je nach Entwicklungsstand und Personen mit geistigen Einschränkungen je nach Einschränkungsgrad, bestimmte Intentionalitätsformen erreichen – oder eben gerade nicht erreichen – können (siehe Kapitel 3.3). Die Phänomenologin Francesca Maria de Vecchi plädiert in Anlehnung an Husserl für eine Differenzierung anhand der Bezugsrichtung der Beteiligten aufeinander, wodurch sie die intersubjektive, soziale und kollektive Intentionalität voneinander abgrenzt (Kapitel 3.1). Die Frage, wie die Beteiligten bei einer »tiefgreifenden« Intentionalitätsform aufeinander bezogen sein müssen, wird daher in unterschiedlicher Weise, jedoch auf ein und dasselbe abzielend, beantwortet: im »We-mode« (Tuomela und Tomasello), wechsel- statt gegenseitig (de Vecchi) und im kommunikativen statt im verstehenden Akt (Husserl). Inwieweit die zugrunde gelegten Kriterien zur Differenzierung der Intentionalitätsformen bei Husserl, de Vecchi, Tuomela sowie Tomasello jedoch tragfähig sind, da sie sich jeweils als graduell herausstellen, wird in Kapitel 3 dargelegt. Bevor jedoch die Konzeptionen der Intentionalitätsformen detaillierter erläutert werden, soll zunächst gezeigt werden, dass auch auf ontologischer Ebene eine zentrale Bedingung gegeben sein muss: Um als Beteiligter einer tatsächlichen Intentionalitätsform gelten zu können, müssen alle Beteiligten real existieren, real aufeinander bezogen sein und – so wurde gerade ausgeführt – spezifische kognitive Fähigkeiten besitzen. Die Überlegungen zum ontologischen Status sind zentral, da sie nahelegen, dass es einer Binnendifferenzierung bedarf: Entweder alle real existierenden Beteiligten sind tatsächlich aufeinander bezogen (tatsächliche kollektive Intentionalität) oder der Bezug der Beteiligten ist nur eine Illusion, ein Wunschdenken oder ähnliches (geglaubte kollektive Intentionalität).
2.2
Der ontologische Status der Beteiligten: Gehirn im Tank und Robinson Crusoe
Im vorherigen Kapitel 2.1 lag der Schwerpunkt auf der Frage, welche kognitiven Fähigkeiten für spezifische Intentionalitätsformen angenommen werden. Dabei wurden vorwiegend die Ansätze Husserls und Tomasellos verglichen, da bei ihnen, im direkten Vergleich zu allen weiteren Autoren der Debatte, markant dargelegt wird, wer aufgrund mangelnder kognitiver Fähigkeiten nicht als Beteiligter gelten kann. In diesem Kapitel 2.2 soll nun vor allem die Position Searles beleuchtet werden: Was versteht der Begründer des Neologismus »collective intentionality« selbst unter diesem Begriff? Dabei wird sich zeigen: die Konsequenzen beziehen sich bei ihm nicht, wie bei Husserl und Tomasello, auf die kognitiven Fähigkeiten, sondern auf den ontologischen Status der Beteiligten.
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2. Geteiltheit, Gemeinsamkeit und Kollektivität: Zwei Voraussetzungsebenen
an Tuomela, den »We-mode« im Blick hat. Je weiter die Anerkennung des Anderen als Kooperationspartner voranschreitet, je weiter die Moralität entwickelt ist, desto »tiefgreifender« ist die Intentionalitätsform. Dies bedeutet, dass Kleinkinder je nach Entwicklungsstand und Personen mit geistigen Einschränkungen je nach Einschränkungsgrad, bestimmte Intentionalitätsformen erreichen – oder eben gerade nicht erreichen – können (siehe Kapitel 3.3). Die Phänomenologin Francesca Maria de Vecchi plädiert in Anlehnung an Husserl für eine Differenzierung anhand der Bezugsrichtung der Beteiligten aufeinander, wodurch sie die intersubjektive, soziale und kollektive Intentionalität voneinander abgrenzt (Kapitel 3.1). Die Frage, wie die Beteiligten bei einer »tiefgreifenden« Intentionalitätsform aufeinander bezogen sein müssen, wird daher in unterschiedlicher Weise, jedoch auf ein und dasselbe abzielend, beantwortet: im »We-mode« (Tuomela und Tomasello), wechsel- statt gegenseitig (de Vecchi) und im kommunikativen statt im verstehenden Akt (Husserl). Inwieweit die zugrunde gelegten Kriterien zur Differenzierung der Intentionalitätsformen bei Husserl, de Vecchi, Tuomela sowie Tomasello jedoch tragfähig sind, da sie sich jeweils als graduell herausstellen, wird in Kapitel 3 dargelegt. Bevor jedoch die Konzeptionen der Intentionalitätsformen detaillierter erläutert werden, soll zunächst gezeigt werden, dass auch auf ontologischer Ebene eine zentrale Bedingung gegeben sein muss: Um als Beteiligter einer tatsächlichen Intentionalitätsform gelten zu können, müssen alle Beteiligten real existieren, real aufeinander bezogen sein und – so wurde gerade ausgeführt – spezifische kognitive Fähigkeiten besitzen. Die Überlegungen zum ontologischen Status sind zentral, da sie nahelegen, dass es einer Binnendifferenzierung bedarf: Entweder alle real existierenden Beteiligten sind tatsächlich aufeinander bezogen (tatsächliche kollektive Intentionalität) oder der Bezug der Beteiligten ist nur eine Illusion, ein Wunschdenken oder ähnliches (geglaubte kollektive Intentionalität).
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Der ontologische Status der Beteiligten: Gehirn im Tank und Robinson Crusoe
Im vorherigen Kapitel 2.1 lag der Schwerpunkt auf der Frage, welche kognitiven Fähigkeiten für spezifische Intentionalitätsformen angenommen werden. Dabei wurden vorwiegend die Ansätze Husserls und Tomasellos verglichen, da bei ihnen, im direkten Vergleich zu allen weiteren Autoren der Debatte, markant dargelegt wird, wer aufgrund mangelnder kognitiver Fähigkeiten nicht als Beteiligter gelten kann. In diesem Kapitel 2.2 soll nun vor allem die Position Searles beleuchtet werden: Was versteht der Begründer des Neologismus »collective intentionality« selbst unter diesem Begriff? Dabei wird sich zeigen: die Konsequenzen beziehen sich bei ihm nicht, wie bei Husserl und Tomasello, auf die kognitiven Fähigkeiten, sondern auf den ontologischen Status der Beteiligten.
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Searle listet unter der kollektiven Intentionalität um 1990 in »Collective Intentions and Actions« Beispiele folgender Art auf: »Consider two birds building a nest together, or puppies playing on a lawn, or groups of primates foraging for food, or even a man going for a walk with his dog«67 . Der Begriff »kollektive Intentionalität« umfasst bei diesen Überlegungen Searles, dass mindestens zwei beteiligte Lebewesen – Tiere oder Menschen – vorhanden sein müssen, die zusammen einer Tätigkeit nachgehen. Jegliche Intentionalität mit einem Beteiligten gilt bei Searle als individuelle Intentionalität, während sämtliche Intentionalitätsformen mit mehr als einem Beteiligten bei ihm mit der Bezeichnung »kollektive Intentionalität« umfasst werden. Schmids Diagnose um 2008 kann damit dezidiert Recht gegeben werden, dass man aus heutiger Sicht feststellen kann, dass bei Searle der Begriff der »[k]ollektive[n] Intentionalität [...][als] Oberbegriff für sämtliche Formen geteilter bzw. gemeinsamer, auf ein Objekt bzw. einen Sachverhalt gerichteter mentaler Zustand (Haltungen, Einstellungen)«68 verwendet wurde. Zusätzlich nimmt Searle an: »I could have all the intentionality I do have even if I am radically mistaken, even if the apparent presence and cooperation of other people is an illusion, even if I am suffering a total hallucination, even if I am a brain in a vat.«69
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Searle: »Coll. Intentions and Actions« (1990), S. 402 (dt.: S. 101). Der gegenwärtige französische Soziologe Bruno Latour nimmt – ohne selbst auf Searle zu verweisen – diese Ansicht Searles ernst, dass auch Tiere ein Kollektiv bilden können. Darüber hinaus vertritt Latour sogar, »daß es immer Kollektive sind, die denken, und diese Kollektive, so Latour, umfassen auch leblose Dinge und Technologie«, da auch diese gewissermaßen agieren und ein Netzwerk bilden. Bruno Latour: Cogitamus, übersetzt v. Bettina Engels u. Nikolaus Gramm, Suhrkamp Verlag, Berlin, edition unseld 38, 2016, hier: Klappentext (Herv. selbst vorgenommen). Im Folgenden als: Latour: Cogitamus (2016). Daher dient das Werk Cogitamus als Zuspitzung seiner vorherigen Thesen: die Dinge bilden nicht nur ein Parlament, sondern ein agierendes, denkendes Kollektiv. Dass Dinge als Kollektion, als Ansammlung von etwas verstanden werden können, ist trivial. Ganz und gar nicht trivial, sondern hoch mysteriös erscheint mir jedoch seine Rede von einem »Parlament der Dinge« oder sogar von Dingen die »gewissermaßen agieren«, da ihnen damit – wenn auch nur in einem gewissen Rahmen – menschliche Eigenschaften zugesprochen werden. Hans Bernhard Schmid: »Intentionalität, kollektive«, in: Handbuch der Politischen Philosophie und Sozialphilosophie, hg. v. Stefan Gosepath, Wilfried Hinsch u. Beate Rössler, Band 1 A-M, de Gruyter Verlag, Berlin, 2008, S. 560–564, hier: S. 560. Im Folgenden als: H.B. Schmid: »Intentionalität, koll.« in: Handbuch Politische Philo. u. Sozialphilo. (2008). Vgl. auch H.B. Schmid: Plural Action (2009), Introduction, S. xiii. Searle: »Coll. Intentions and Actions« (1990), S. 407 (dt.: S. 108).
2. Geteiltheit, Gemeinsamkeit und Kollektivität: Zwei Voraussetzungsebenen
Diese zwei Aussagen – zum einen, zwei Beteiligte haben kollektive Intentionalität und zum anderen, sogar ein einzelnes Gehirn im Tank kann eine kollektive Intentionalität bilden – wurden in ihrer Rezeption in der darauffolgenden Debatte vor allem in vier wesentlichen Annahmen kritisiert, welche sich anhand von vier Fragen klassifizieren lassen: Bei wie vielen Beteiligten liegt eine kollektive Intentionalität vor? Welche Art von Beteiligten müssen dies sein oder können auch Tiere als Beteiligte zählen? Welche Phänomene umfasst der Begriff »kollektive Intentionalität« oder ist er ein Sammelbegriff? Kann sogar ein einzelner Beteiligter kollektive Intentionalität haben? Im Einzelnen wird diesen Fragen nun nachgegangen, wobei ein besonderes Augenmerk auf die letzte Frage gelegt wird. Erstens: wie viele Beteiligte muss es mindestens geben, um von einem Kollektiv sprechen zu können? Searle selbst geht, wie seine Beispiele »two birds building a nest […] or a man going for a walk with his dog« belegen, von einer Mindestanzahl von zwei Beteiligten für eine kollektive Intentionalität aus70 : »[E]ine soziale Tatsache«, so Searle zu Beginn des 21. Jahrhunderts, ist »jede Tatsache, die die kollektive Intentionalität zweier oder mehrerer Akteure beinhaltet, seien es nun Menschen oder Tiere.«71 Eine institutionelle Tatsache hingegen ist, so wird sich später in Kapitel 3.3 zeigen, laut Searle, eine solche Tatsache, die kollektive Intentionalität mindestens zweier Menschen erfordert. Da bei ihm kaum ausgeführt wird, wie weitläufig die Begriffe »sozial« und »institutionell« zu verstehen sind, kann geschlussfolgert werden: Jede Intentionalitätsform mit mindestens zwei beteiligten Lebewesen ist nach Searle wenigstens eine soziale Tatsache, welche als solche an die kollektive Intentionalität gebunden ist. Demgegenüber bedarf es nach Autoren wie Anthonie W. M. Meijers, Michael Tomasello und Klaus Peter Hansen – damit die Rede von einem Kollektiv überhaupt gerechtfertigt ist – mindestens dreier Beteiligter beziehungsweise einer großen kulturellen Gruppe.72 Auf den Punkt gebracht lautet 70
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Aus historischer Sicht lässt sich sagen, dass die Zusammenarbeit von Tieren bereits bei Émile Durkheim – wenn auch nicht mit dem Begriff »kollektive Intentionalität«, aber sehr damit verwandt – als kollektive Tätigkeit beschrieben wurde. Durkheim hebt hervor, dass bestimmte Tierarten notwendigerweise zusammen handeln: »Da die Teile, die eine Tierkolonie zusammensetzen, mechanisch aneinandergebaut sind, können sie nur zusammen handeln, wenigstens so lange, als sie vereint sind. Ihre Tätigkeit ist eine kollektive. In einer Gesellschaft von Polypen kann ein Individuum, da alle Magen untereinander verbunden sind, nicht essen, ohne daß die anderen mitessen. Es handelt sich also [...], um ein Kommunismus im reinsten Sinne des Wortes.« Émile Durkheim: Über soziale Arbeitsteilung – Studien über die Organisation höherer Gesellschaften [De la division du travail social – Étude sur l’organisation des sociétés supérieures, 1893], Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1. Auflage 1992, 1. Buch, 6. Kapitel, III, S. 247. Im Folgenden als: Durkheim: Über soziale Arbeitsteilung [1893]. Searle: Freiheit u. Neurobiologie (2004), S. 70 (Herv. selbst vorgenommen). Vgl. u.a. Anthonie W. M. Meijers: »Can Collective Intentionality Be Individualized?«, in: The American Journal of Economics and Sociology, 2003, Band 62, Heft 1, S. 167–183, hier: S. 174 –
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die Position hierbei: keine Intentionalitätsform mit zwei Beteiligten ist eine kollektive Intentionalität – weil es dafür mindestens drei Beteiligte geben müsse. Zweitens: kann auch Tieren eine kollektive Intentionalität zugesprochen werden? Bei diesem Aspekt vertritt insbesondere Tomasello – entgegen Searle – die Ansicht, dass Tiere nicht einmal über eine schwache kollektive Intentionalität verfügen, weshalb – so muss die Schlussfolgerung dann lauten – auch die Interaktion zwischen dem Tier und dem Menschen, wie der Spaziergang von Hund und Herrchen, nicht als kollektive Intentionalität gelten kann (siehe genauer ebenfalls Kapitel 3.3). Für den evolutionären Verhaltensforscher ist keine Intentionalitätsform mit zwei Menschen eine kollektive Intentionalität – weil es dafür mindestens dreier Menschen bedarf. Er führt dies darauf zurück, dass Tiere die kognitiven Bedingungen der Möglichkeit, wie insbesondere den »We-mode«, nicht erfüllen und daher prinzipiell als Beteiligte einer »tiefgreifenden« Intentionalitätsform entfallen. In anderen Worten: die Untersuchung der kognitiven Bedingungen, das ist der qualitativen Kriterien liefert auch eine Antwort auf die quantitative Frage, wer überhaupt als Beteiligter zählen kann. Drittens: kann der Begriff »kollektive Intentionalität« als Sammelbezeichnung für alle Intentionalitätsformen mit mehreren Beteiligten gelten, wie es eben bei Searle angelegt ist? Richtet man sich gegen die kollektive Intentionalität als genus-proximum-Kategorisierung aller Intentionalitätsformen mit mehreren Beteiligten, wie dies unter anderem von Autoren wie Schmid, de Vecchi und Tomasello73 getan wird, dann ergibt sich zum einen: nicht jede Intentionalitätsform mit mindestens drei Menschen ist eine kollektive Intentionalität – weil es noch weitere Intentionalitätsformen mit drei Menschen gibt. Zum anderen gehen mit der Abwendung
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dort: Fußnote Nr. 6 (übersetzt v. Anita Konzelmann Ziv: »Kann kollektive Intentionalität individualisiert werden?«, in: Sammelband Kollektive Intentionalität, hg. v. Schmid u. Schweikard (2009), S. 414–432, hier: S. 422 – dort: Fußnote Nr. 6). Im Folgenden als: Meijers: »Can Coll. Int. Be Individualized?« (2003) (dt.). Der Schwerpunkt ist hier lediglich auf die definitorische Menge an Mindestbeteiligten ausgerichtet. Fragen beispielsweise nach der Aufrechterhaltung von Kollektiven, ihrer Rolle zur Stabilisierung der Gesellschaft oder der rechtlichen Behandlung von kollektiven Akteuren, wie sie etwa Philip Pettit stellt, werden hinten angestellt (vgl. Philip Pettit: »Groups with Minds of their Own«, in: Socializing Metaphysics – The Nature of Social Reality, hg. v. F. Schmitt, Rowman and Littlefield, New York, 2003, S. 167–193 (übersetzt von David P. Schweikard: »Gruppen mit einem eigenen Geist«, in: Sammelband Kollektive Intentionalität, hg. v. Schmid u. Schweikard (2009), S. 586–625, hier: S. 623). Im Folgenden als: Pettit »Groups with Minds of their Own« (2003) (dt.)). Vgl. u.a. (i) H.B. Schmid: Wir-Intentionalität (2005). (ii) Francesca Maria de Vecchi: »Three Types of Heterotropic Intentionality – A Taxonomy in Social Ontology«, in: Institutions, Emotions, and Group Agents – Contributions to Social Ontology, hg. v. Anita Konzelmann Ziv u. Hans Bernhard Schmid, (Studies in the Philosophy of Sociality, Band 2), Springer Verlag, Heidelberg/Dordrecht/London, 2014, S. 117–137. Im Folgenden als: de Vecchi: »Three Types of Heterotropic Int.« (2014). (iii) Tomasello: Becoming Human (2019).
2. Geteiltheit, Gemeinsamkeit und Kollektivität: Zwei Voraussetzungsebenen
der kollektiven Intentionalität als Sammelbegriff neue Fragestellungen einher: Wie kann begründet werden, dass die kollektive Intentionalität eine spezifische Form unter vielen weiteren Intentionalitätsformen mit mehreren Menschen ist? Welche weiteren Phänomene müssen systematisch voneinander abgegrenzt werden? Und welche Sammelbezeichnung ist stattdessen angemessen? Dass die kollektive Intentionalität eine spezifische Intentionalitätsform und nicht deren Sammelbegriff ist, kann damit begründet werden, dass das Kollektiv beispielsweise vom Wir differenziert werden muss: Es ist zu unterscheiden, ob sich der Sprecher selbst im engen Sinne zu der Gruppe zählt oder ob er sich lediglich als Teil einer eher anonymen Ansammlung fasst oder sich sogar von dieser distanziert. Dass diese Fälle phänomenal voneinander unterschieden und daher zu differenzieren sind, ist wohl ohne weiteres plausibel. Wie sie jedoch terminologisch zu fassen sind, ist hingegen keineswegs eindeutig. Um die Problematik an dieser Stelle nur kurz anzudeuten, sei auf die Argumentation Hans Bernhard Schmids verwiesen, welcher gegenwärtig und nicht nur im deutschsprachigen Raum zu den prominentesten Teilnehmern der Debatte gehört: Einerseits führt Schmid aus, dass bei Fällen des parallelen Nebeneinanders, wie sie bei einer bloßen Ansammlung von Beteiligten bestehen, als distributiver Sinn des Wir-Sagens verstanden werden müssen. Mit Bezug auf das in der Debatte allgegenwärtige Beispiel Searles: »jede und jeder [hat] für sich – individuell – im Unterstand Schutz vor dem Regen gesucht«74 . Liegt demgegenüber ein gemeinsamer Vollzug vor, hat man es mit einem kollektiven Sinn des Wir-Sagens zu tun.75 Andererseits betont Schmid, ebenfalls im Werk Wir-Intentionalität (2005), dass der Begriff »con-lectio« lediglich mit einer Kollektion, also mit einer »›Zusammenlegung‹ […] von Individuen«76 assoziiert werden könne, sodass in der Folge die Bezeichnungen »distributiv« und »kollektiv« vielmehr als Synonyme erscheinen. Um diese Verwirrung um den Begriff »Kollektiv« aufzulösen, wird von Schmid letzten Endes dafür plädiert das parallel ausgeführte Denken, Handeln und Fühlen als distributiv zu charakterisieren und demgegenüber von einer gemeinsamen Intentionalität zu sprechen. In der vorliegenden Arbeit wird sich diesem Vorgehen dahingehend angeschlossen, dass die lateinische Herkunft des Begriffs »Kollektiv« beachtet wird, gleichzeitig soll jedoch auch gesagt werden, dass die Sicht des Sprechers entscheidend ist. An einem simplen Beispiel: ob sich der Sprecher selbst als Fan der Fußballmannschaft bezeichnet, die gerade ein Tor geschossen hat (»Wir freuen uns« und damit als »Wir-Intentionalität« zu kennzeichnen) oder, ob er die Freude den Fußballfans dort drüben zuschreibt (»Das Kollektiv der Fußballfans des 1. FC. Sankt Pauli freut sich«). Unbestreitbar mag es Fälle geben, in denen der Sprecher 74 75 76
H.B. Schmid: Wir-Intentionalität (2005), S. 15. Ebd. Ebd., S. 240f.
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»Wir« sagt, jedoch etwa ausschließlich andere Personen meint oder ausschließlich sich selbst meint, was unter der Bezeichnung plural maiestatis bekannt ist. Es gilt aber: »Wer ›wir‹ sagt, bezieht sich im Normalfall […] sowohl auf andere als auch auf sich selbst.«77 Das heißt also üblicherweise rechnet man sich beim »Wir«-Sagen der entsprechenden Gruppe zu. Darüber hinaus kann man charakteristische Elemente eines Kollektivs – dem schwachen oder engen Bezug der Beteiligten dort drüben – beschreiben, beispielsweise, dass die Engländer gerne Tee trinken, und dies auch selbst vollziehen, wie etwa jeden Nachmittag ein Tässchen Tee trinken, ohne selbst Teil dieses spezifischen Kollektivs, hier: der britischen Teetrinker, zu sein. Daher gilt: die kollektive Intentionalität kann – muss jedoch nicht – mit einer Wir-Intentionalität identisch sein. Die Frage ist demnach nicht so sehr in welchen Situationen der Begriff »Wir« verwendet wird, sondern wie er verwendet wird und ob dabei, tatsächlich ein »Wir« im engen Sinne besteht. In ähnlicher Weise kann mit den Überlegungen des französischen Philosophen Tristan Garcia zwischen einem »heuchlerischen« und einem »echten Wir« unterschieden werden: In seinem vielbeachteten Werk Nous (2016; deutsche Erstpublizierung Wir (2018)) wird unter einem »echten Wir« (im originalen Wortlaut Gracias: das »nous authentique«) verstanden, dass der Sprecher tatsächlich dieser Gruppe angehört. Im Gegensatz hierzu ist das »heuchlerische Wir« (das »nous hyprocrites«) vielmehr eine literarische Verwendung des Wortes »Wir«, hierbei gilt, dass sie »nicht wirklich sind, was sie zu sein vorgeben«78 . Als Beispiel jener Wirform, die er auch als »leeres« Wir bezeichnet, führt Garcia das Lied »We are the world, we are the children« an, das »Michael Jackson, Lionel Richie und die Musiker der Band Toto geschrieben haben, um Geld für unter einer Hungernot leidenden Kinder in Äthiopien zu sammeln«79 . Selbstredend ist nichts Verwerfliches daran, dass Musiker sich sozial engagieren. Nur scheint es eben nicht vollkommen authentisch zu sein, da sie selbst nicht eines dieser hungernden Kinder sind.80 Die Aussage »we are the children« hat fraglos seine metaphorische Richtigkeit und ist als Aufforderung diesen Kindern zu helfen völlig berechtigt. Wenn man jenen Satz jedoch wörtlich nimmt, dann besteht nach Garcia, auch wenn die Terminologie eigenwillig sein mag, ein »heuchlerisches Wir«. Garcia geht es vor allem um die Authentizität der Beteiligten während ihrer Beteiligung. Hier soll hingegen vorwiegend ihr
77 78 79 80
Ebd., S. 11 (Herv. übernommen). Tristan Garcia: Wir [Nous, 2016], übersetzt v. Ulrich Kunzmann, Suhrkamp Verlag, Berlin, 1. Auflage, 2018, Buch I, S. 40 (Herv. übernommen). Im Folgenden als: Garcia: Wir [2016]. Ebd., S. 39. Als Gegenbeispiel – wenn auch lediglich als Beispiel eines »echten, authentischen Ich« – kann Amy Winehouse angeführt werden, welche teils tatsächlich im betrunkenen Zustand um 2008 auf der Bühne das Lied »Rehab« sang, welches durch die Refrainzeile »They tried to make me go to rehab. I said no, no, no.« markant ist.
2. Geteiltheit, Gemeinsamkeit und Kollektivität: Zwei Voraussetzungsebenen
Zusammenhalt als Gruppe im Fokus stehen, wobei sich die Beteiligten eben wirklich als Teil dieser Gruppe verstehen. Dieser Unterschied der Betrachtung sei kurz erläutert: äußert der Sprecher etwa den Satz »Wir freuen uns über das Tor«, so zeigt er damit, für gewöhnlich, dass er sich als Teil dieser Gruppe versteht, partizipiert er gleichzeitig jedoch nicht in authentischer Weise an diesem Wir, dann liegt, folgt man Garcias Terminologie ein »heuchlerisches Wir« vor. In der vorliegenden Argumentation soll der Begriff »geteilte Intentionalität« dann verwendet werden, wenn die Beteiligten – so kann letzten Endes die Zusammenführung der drei Hauptströmungen der Debatte lauten – lediglich gegenseitig, koordinativ aufeinander bezogen sind, wie es etwa bei einem klassischen Carsharing gegeben ist (siehe Kapitel 4.1). Demgegenüber kommt die »gemeinsame Intentionalität« als wechselseitiges, kooperatives, Gruppeninteressen vertretendes Verhalten seinerseits sehr nah an das Garcias Konzept des »echten Wir« heran. Im Laufe des dritten und vierten Kapitels wird zum einen ausführlicher dargelegt, dass für solche Phänomene des schwachen und starken Zusammenhaltes der Beteiligten in der Sprachanalytik die Begriffe »shared« und »joint intentionality« üblich sind. Allerdings ist man sich dort keineswegs darin einig, welches dieser beiden Phänomene nun treffend mit welchem dieser beiden Bezeichnung betitelt werden sollte, ob demnach der schwache Zusammenhalt adäquat als »shared« oder »joint« zu verstehen sei. Mir scheint es dabei recht tragbar, einfach dem alltäglichen Gebrauch dieser Begriffe im englischen Sprachraum zu folgen, wie es Tuomela vorsieht, sodass – beispielsweise in Anlehnung an das Car- oder flat-sharing – der Terminus »shared« für das Nebeneinander gebraucht wird. In Kapitel 3 werden jedoch zum anderen auch die einzelnen Positionen der drei Hauptströmungen intensiv dahingehend erhellt, welche Art von Bezug unter den Beteiligten angenommen wird: Der Bezugsrichtung (ein –, gegen- oder wechselseitig) wird besonders in der Phänomenologie nach Husserl und de Vecchi nachgegangen. De Vecchi differenziert auf diese Weise die intersubjektive, soziale und kollektive Intentionalität (welche in Kapitel 3.1 dargelegt wird). Tomasello hingegen möchte die »joint« und »collective intentionality« voneinander abgegrenzt wissen (Kapitel 3.3), wobei dessen Begriffsverwendung von jener Tuomelas abweicht (Kapitel 3.2). Als Gegenvorschlag für die Sammelbezeichnung nach Searle findet sich beispielsweise der Begriff »heterotropic intentionality« (de Vecchi), »gemeinsame« oder »Inter-Intentionalität« (Schmid). Bei der jeweiligen Begriffsverwendung der Autoren spielen dabei auch die beiden vorherigen Fragestellungen eine Rolle, wie viele Beteiligte es mindestens geben muss und wer als Beteiligter eines Kollektivs gelten kann.
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Die vierte Fragestellung, welche sich im Hintergrund von Searles Annahme – »I could have all the intentionality I do have […] even if I am a brain in a vat«81 – ergibt, lautet: Kann ein einzelnes Lebewesen eine kollektive Intentionalität haben? Zum einen wird hierbei die quantitative Frage nach der Mindestanzahl ins Extrem getrieben: Reicht ein einzelnes Lebewesen für ein Kollektiv aus? Also für die Konstitution eines Kollektivs, das seinerseits die notwendige Bedingung einer kollektiven Intentionalität ist. Zum anderen erfährt die Debatte unter Einbezug des Gehirns im Tank mit Searle eine neue Stoßrichtung. Denn hiermit wird neben den kognitiven und empirischen Voraussetzungen, wie der Intentionalitätsfähigkeit und der Mindestanzahl der Beteiligten, nun auch die ontologische Voraussetzung in den Blick genommen: Zwar kann das Gehirn im Tank, falls es besteht, als existierender Körper beschrieben werden, doch wie steht es mit den anderen Beteiligten? Kann es sich um fiktive Beteiligte handeln oder müssen sie real existieren? Kann ein solipsistisches Individuum eine Intentionalitätsform haben, welche über die individuelle Intentionalität hinausreicht? Zudem kann, besonders mit Bezug auf das Gehirn im Tank, gefragt werden, ob eine adäquate Beschreibung der Intentionalitätsformen mit mehreren Beteiligten aus einer internalistischen Position heraus erfolgen kann. Das heißt letzten Endes: welcher Perspektivansatz – innen, außen oder relational – wird den Intentionalitätsformen überhaupt gerecht? Die Aufschlüsselung der Positionen zum Gehirn im Tank erweist sich für die gesamte Debatte der kollektiven Intentionalität als hilfreich, da dabei die Antworten zu den drei oben genannten anderen Teilfragen bezüglich einer adäquaten Beschreibung und den Bedingungen der Möglichkeit der kollektiven Intentionalität besonders deutlich hervortreten. Daher wird in diesem Abschnitt 2.2 vorwiegend diesem letzten Kritikpunkt an Searles Position zum Gehirn im Tank und den damit verbundenen Konsequenzen für eine Typologie der Intentionalitätsformen nachgegangen. In späteren Kapiteln erfolgt dann teils die Erläuterung zu den vorherigen drei Fragestellungen, wie etwa zur Adäquatheit der kollektiven Intentionalität als Sammelbegriff und der gegenwärtig vorgeschlagenen alternativen Bezeichnungen. Eine Abwandlung, wenn auch letztlich dieselbe Ausgangsfrage, ob ein einzelnes Individuum über kollektive Intentionalität verfügen kann, findet sich im Gedankenexperiment des »child on the desert island« nach Tomasello. Er geht von einem Kind oder sogar Kleinkind auf einer einsamen Insel, das heißt in anderen Worten eben von einem sehr jungen Robinson Crusoe, aus. So unterschiedlich die verwendeten Bezeichnungen und Gedankenexperimente auch sein mögen, man ist sich in der Forschung darin einig, dass einem Gehirn im Tank beziehungsweise einem einsamen, isolierten Subjekt eine individuelle Intentionalität zuschreibbar ist.
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Searle: »Coll. Intentions and Actions« (1990), S. 407 (dt.: S. 108).
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Beispielsweise kann das Gehirn im Tank Angst vor einem Hund empfinden. Robinson kann etwa am Strand einen Spaziergang machen oder singen.82 Es können zwar Täuschungen hinsichtlich des Intentionalitätsobjektes vorliegen, das Erleben und Fühlen wäre jedoch zweifellos gegeben. Die hier zu behandelte Grundfrage ist jedoch: kann ein Gehirn im Tank oder ein einsames, isoliertes Subjekt eine geteilte, gemeinsame oder kollektive Intentionalität haben? Der gravierendste Unterschied beider Gedankenexperimente des Gehirns im Tank und dem einsamen Robinson ist wohl, dass das Gehirn im Tank glaubt zu wissen, dass es Andere gäbe, zu welchen es in Interaktion steht. Es wird in solcher Weise durch neuronale Signale stimuliert, dass es annimmt, es hätte einen Körper, es gäbe eine Außenwelt mit Anderen, mit denen es in geteilter, gemeinsamer oder kollektiver Weise etwas denkt, handelt oder fühlt. Genauer gesagt: das Gehirn im Tank kann verschachtelte, reziproke Annahmen haben, dass es ein Gegenüber gäbe, dass es in einem gegen- oder wechselseitigen Verhältnis zu diesem stehe, dass es eine Geteiltheit, Gemeinsamkeit oder Kollektivität eingegangen sei, kurz, dass es Mitglied einer Gruppe, eines Kollektivs, eines Wir sei, was sich in einem spezifisch kulturellen Denken, Handeln oder Fühlen äußert.83 Robinson hingegen weiß, dass es Andere gibt, mit denen er aktuell jedoch nicht in einem direkten Bezug steht. Er
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»acts which one person can do, and do without any partner acting at that time, but which presuppose a social background that determines what counts as succeeding in the act in question: saluting, crossing oneself« können nach Annette Claire Baier als nicht multipersonal gelten (vgl. Baier: »Doing Things« (1997), S. 20 (dt.: S. 236)). Angelika Krebs spricht bei einem Phänomen dieser Art von einer »individuellen Handlung« oder einem »singulären Akt« (vgl. Krebs: Zwischen Ich u. Du (2015), S. 171). Schweikard betitelt dies ebenfalls als »individuelle Handlung«. Diese dient ihm jedoch als Oberbegriff für zwei Fälle: die individuelle Handlung geschieht ohne Bezug auf einen anderen (»singuläre Handlung« – wie sich selbst am Kopf kratzen) oder wird mit Bezug auf einen anderen vollzogen (»relationale Handlung« (oder in Anlehnung an Max Weber »soziale Handlung«) – beispielsweise einem Freund zu winken). Vgl. (i) David P. Schweikard: »Limiting Reductionism in the Theory of Collective Action«, in: Concepts of Sharedness – Essays on Collective Intentionality, hg. v. Hans Bernhard Schmid, Nikos Psarros u. Katinka Schulte-Ostermann, Ontos Verlag, Frankfurt am Main, 2008, S. 89–117, hier: S. 103. Im Folgenden als: Schweikard: »Limiting Reductionism« (2008). (ii) David P. Schweikard: Der Mythos des Singulären – Eine Untersuchung zur Struktur kollektiven Handelns, (Inaugural-Dissertation, Universität Köln, 2009), mentis Verlag, Paderborn, 2011, S. 106ff. Im Folgenden als: Schweikard: Mythos des Singulären (2009). Wobei eben jene zweite Form der »individuellen Handlung« nach Schweikard, nämlich die »relationale Handlung« in phänomenologischer Terminologie zunächst als einseitiger Bezug verstanden werden muss. Wobei Searle in seine Überlegungen nicht nur die Einzahl »a brain in a vat«, sondern auch den Plural »a set of brains in vats« bedenkt. Das heißt, dass mehrere Gehirne erstens glauben jeweils aufeinander bezogen zu sein und zweitens glauben miteinander eine Gruppe zu bilden (vgl. Searle: »Coll. Intentions and Actions« (1990), S. 407 (dt.: S. 108)).
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kann nur, beispielsweise mittels Rauchzeichen, versuchen mit diesen in Kontakt zu treten.84 Gerade mittels des Gedankenexperimentes des Robinson beziehungsweise des »child on the desert island« wird – prägnanter als bei der Referenz auf das Gehirn im Tank – deutlich, dass spezifischer gefragt werden kann, ob auch bei einer indirekten Bezugnahme auf ein Kollektiv eine kollektive Intentionalität vorliegt. So ist es vorstellbar, dass Robinson an englischen Traditionen festhält, indem er, wie durchaus denkbar ist, anhand des Sonnenstandes ermittelt, zur Nachmittagszeit einen Tee trinkt und dabei an seine Familie, Freunde oder Landsleute denkt. Bevor jedoch dieser spezifischen Frage, welche Intentionalitätsform bei einem indirekten Bezuges möglich ist und deren impliziten Problematiken nachgegangen wird, soll in einem ersten Schritt auf einer grundlegenden Ebene die Position erläutert werden, ob ein einzelnes Individuum mit direktem Bezug auf Andere eine kollektive Intentionalität haben kann. Um es vorwegzunehmen: die Antwort Tomasellos ist klar und deutlich: Zwar findet sich bei ihm eine Binnendifferenzierung der kollektiven Intentionalität anhand der Moralität (siehe Kapitel 3.3), doch nach Tomasello kann ein einzelnes Lebewesen – sei es ein »child on the desert island«, ein erwachsener Robinson oder ein Gehirn im Tank – keine kollektive Intentionalität, nicht einmal eine schwache kollektive Intentionalität haben. Vereinfacht, weil es für ein Kollektiv mindestens dreier realer Beteiligter bedarf, die in einer bestimmten kulturellen Weise aufeinander bezogen sind. Insbesondere bei einem einsamen Kleinkind läge, so seine Annahme, noch keine Moralität sowie kein kulturelles Wissen vor, beispielsweise über den Einsatz von Werkzeugen, da es dafür stets Andere benötigt.85 Bestehen mehrere Beteiligte, so differenziert Tomasello danach, ob man lediglich aus Eigennutz in der Gruppe handelt (»group behaviour in the I-mode«) oder um etwas für die Gruppe zu erreichen (»We-mode«). Weiterfolgend vertritt er, dass zwar Vögel ein und dasselbe Nest bauen oder Primaten ein und dieselbe Beute jagen können. Sie sind dabei jedoch ausschließlich von den Eigeninteressen (»I-mode«),
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Zum Gedankenexperiment des Robinson Crusoe seien hier mehrere Anmerkungen gemacht: Erstens wird in dieser Arbeit aus pragmatischen Gründen der Fall ausgeschlossen, dass Robinson aufgrund von Halluzinationen, einer Fata Morgana oder Ähnlichem den Anderen imaginiert. Zweitens ist zumindest grundsätzlich davon auszugehen, dass dieses Gedankenexperiment weniger einem Experiment entspricht als jenes des Gehirns im Tank, da es gewissermaßen näher an der Realität liegt. Dies belegen zahlreiche empirische Fälle. Beispielsweise wird in dem autobiografischen Roman Allein mit dem Tod die wahre Geschichte eines Segelunglückes aus dem Jahr 1979 wiedergegeben: Während einer Segelregatta zieht ein massiver Sturm auf. Der Segler Nick Ward verliert dabei das Bewusstsein. Seine Mitsegler verlassen die Yacht mit dem Beiboot und lassen dabei Ward, da er für tot gehalten wird, zurück. Als Ward sein Bewusstsein widererlangt, ist er völlig isoliert von den Anderen und kämpft um sein Überleben. Vgl. u.a. Tomasello: Becoming Human (2019), S. 214f.
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dass heißt in seinem Sinne von der individuellen Intentionalität, geleitet und ihnen kann daher keine gemeinsame oder sogar kollektive Intentionalität zugesprochen werden.86 Searle führt zwar seinerseits selbst nicht den einsamen Robinson Crusoe an, doch zumindest im Hintergrund seiner Verwendung der kollektiven Intentionalität als Sammelbegriff ergibt sich: da Robinson mit Tieren interagiert, beispielsweise einem Papagei Wörter beibringt, hat man es nach Searle um 1990 – anders als Tomasello um 2008 behauptet – mit einer kollektiven Intentionalität zu tun, da diese bei Searle schlicht als Zusammenarbeit mehrerer Beteiligter gilt. Der Fall des Robinsons stellt demnach bloß eine Abwandlung des searleschen Beispieles »a man going for a walk with his dog« dar. In etwas späteren Schriften, ab circa 1995, präzisiert Searle diese Ansicht: Bei Tieren könne lediglich eine schwache kollektive Intentionalität vorliegen, da sie zwar gesellschaftliche, das ist soziale Tatsachen in einer größeren Gruppe, einem Kollektiv erschaffen könnten, jedoch keine institutionellen Tatsachen.87 Man denke etwa an die Rollenverteilung bei Bienen: Es gibt eine Königin sowie Arbeiterinnen, die beispielsweise als Futtersammlerinnen oder Brutpflegerinnen dienen. Die Bezeichnung »Bienenstaat« ist, so Searles eigenes Beispiel, dabei jedoch lediglich metaphorisch zu gebrauchen, da man es nicht mit einem Staat im engen Sinne, das heißt mit Institutionen, wie einer Regierung und Verfassung, zu tun hat.88 Es wird deutlich, dass Searle und Tomasello die kollektive Intentionalität jeweils in eine schwache und eine starke Form differenzieren – soziale und institutionelle Tatsachen (Searle) beziehungsweise die Konstitution einer Kollaboration und Kultur (Tomasello) –, auch wenn ihre Anwendungen voneinander abweichen und daher ihre Positionen in der Debatte als ganz und gar diametral dargestellt werden. Alles in allem wird sich im Laufe der Ausführungen dieser Arbeit (konkret in Kapitel 3.3) jedoch zeigen, dass der Unterschied der Ansätze Searles und Tomasellos zumindest was die Frage nach der differentia specifica betrifft, genauer die Einschätzung der typisch menschlichen Intentionalitätsformen, gering – oder zumindest deutlich geringer als in der Debatte stets behauptet wird – ausfällt. Der Unterschied ihrer Positionen, auch zum phänomenologischen Ansatz Husserls, liegt, wie von den Debattenteilnehmern bisher nicht explizit herausgearbeitet, zum einen in der Einschätzung der tierischen Intentionalität und zum anderen in der Einschätzung der Intentionalitätsform eines isolierten Subjektes: Nach
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Vgl. Tomasello: Human Morality (2016), S. 26f. u. S. 50f. (dt.: S. 47f. u. S. 83). Diese Auffassung findet sich ab 1995 in The Construction of the Social Reality und ausgeprägter in »Social Ontology – Some basic principles« von 2006. John R. Searle: The Construction of the Social Reality, Penguin Books, London, 1995, S. 37 (übersetzt v. Martin Suhr: Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit, Suhrkamp, Berlin, 1. Auflage 2011, S. 45f.). Im Folgenden als: Searle: Construction Social Reality (1995) (dt.).
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Husserl müsste man wohl sagen, dass Robinson in seiner gegenwärtigen Isolation wohl bestenfalls in einem verstehenden Akt zu den Engländern steht und nur versuchen kann mit diesen in einem kommunikativen Akt zu treten, beispielsweise indem er Rauchzeichen aussendet und tagelang mit dem Bau eines Bootes beschäftigt ist. Für Tomasello verfügt Robinson, da er nicht mit anderen Subjekten und schon gar nicht dezidiert für andere agiert, ausschließlich über eine individuelle Intentionalität. Aus Searles Sicht ist Robinson aufgrund seiner Interaktion mit Tieren zumindest eine soziale Tatsache (das ist nach Searle eine schwache kollektive Intentionalität) gegeben. Doch erst mit Freitag – das heißt in einem wirklichen inter-subjektiven Kontext –, so der allgemeine Konsens, ist ein kommunikativer Akt (Husserl) (siehe Kapitel 3.1), eine »joint intentionality« (Tomasello) beziehungsweise die Konstitution einer institutionellen Tatsache (nach Searle eine starke kollektive Intentionalität) (siehe Kapitel 3.3) möglich. Hier kann nochmals darauf verwiesen werden, dass in der Debatte durchaus umstritten ist, ab welchen und wie vielen Beteiligten überhaupt ein Kollektiv besteht, welches – rein terminologisch – als Bedingung der Möglichkeit einer kollektiven Intentionalität betrachtet werden kann: Ein Kollektiv liegt vor bei zwei Lebewesen (Searle), wie zwei jagenden Schimpansen; bei zwei Subjekten, wie eben beim Zusammentreffen von Robinson und Freitag (unter anderem de Vecchi, Tuomela89 ); bei mindestens drei Subjekten oder noch spezifischer: bei mindestens drei Personen, das heißt mindestens drei Subjekten, die in spezifischer Weise, nämlich moralisch und im »We-mode« aufeinander bezogen sind (Tomasello). Alle hier aufgeführten Beschreibungsweisen scheinen in der Kernaussage von einem naiven Alltagsverständnis heraus intuitiv plausibel: Es muss zwischen der Intentionalität eines isolierten Individuums und jener von mehreren – in welcher Weise auch immer aufeinander bezogenen – Individuen unterschieden werden. Die Problematik der hier im Vordergrund stehenden Ansätze liegt jedoch jeweils unter anderem in der verwendeten Terminologie. Einerseits soll mit dem kommunikativen Akt nach Husserl, so kann mit de Vecchi gesagt werden, der wechselseitige Bezug mindestens zweier Subjekte gefasst werden. Andererseits hat der Begriff »Kommunikation« – zumindest im heutigen deutschsprachigen Raum – eine sehr weite Extension, beispielsweise können auch der Hund und das Herrchen, Robinson und der Papagei in weitesten Sinne miteinander kommunizieren, weshalb die Gefahr besteht die Bezeichnung »kommunikativer Akt« nach Husserl assoziativ eher mit der schwachen anstatt mit der starken kollektiven Intentionalität nach Searle zu verknüpfen. Und hierbei wird die Abweichung zum einen in der Verwendung des Begriffs »Kommunikation« und zum an89
Dass diese Autoren bei zwei Subjekten die Bezeichnung »Kollektiv« verwenden, lässt sich – ebenso wie bei Searle – aus ihren Beispielen zur kollektiven Intentionalität entnehmen (siehe Kapitel 3.1 und 3.2).
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deren in der Einschätzung der tierischen Intentionalität besonders deutlich: Die heutige übliche Verwendung des Begriffs »Kommunikation« ist nur mit Vorsicht mit jener Verwendung nach Husserl zu vergleichen, da er jegliche Einschätzung über die Interaktion von und mit Tieren einklammert. Searle und Tomasello hingegen äußern sich ausdrücklich zu den tierischen Intentionalitätsformen: Tiere verfügen über soziale Tatsachen (Searle) beziehungsweise über individuelle Intentionalität (Tomasello). Zu kritisieren ist hierbei, dass Searle und Tomasello dies aus einer menschlichen Perspektive heraus begründen wollen, was bestenfalls als Interpretation des tierischen Verhaltens gelten kann. Bei Searle führt dies sogar zu einem immanenten Widerspruch innerhalb seines Ansatzes, da er gleichzeitig postuliert, dass man allein aus der Beobachterperspektive nicht zwischen einem parallelen und gemeinsamen Handlungsvollzug unterscheiden könne90 . Ebenso wird an dem Robinson-Freitag-Beispiel nochmals deutlich, dass Searle bereits bei zwei Beteiligten von einer kollektiven Intentionalität spricht. Wenn jedoch für eine gerechtfertigte Verwendung des Begriffs »Kollektiv« dem üblichen Verständnis nach mindestens drei Beteiligte – oder sogar drei Subjekte oder drei Personen – gefordert sind, dann gilt, dass für eine Situation, wie sie musterhaft bei Robinson und Freitag besteht, eine andere Bezeichnung gefunden werden muss. Folgt man beispielsweise Tomasello, dann hat man es, wie gerade angeführt, bei einer solchen zwischenmenschlichen Interaktion mit zwei beteiligten Subjekten mit einer »joint intentionality« zu tun. An dieser Terminologie ist wiederum problematisch, dass sie in der Debatte vielfach in abgewandelter Bedeutung verwendet wird, wodurch irreführende Assoziationen geweckt werden können. Wie noch ausführlicher dargelegt wird, dient sie etwa Tuomela als Bezeichnung für einen »starken« Bezug der Beteiligten, während für Bratman eine »joint intention« gerade die Bezeichnung eines »schwachen« Bezugs ist (siehe Kapitel 3.2). Welche Bezugstiefe beziehungsweise -qualität mit der Verwendung des Begriffs »joint intentionality« einhergeht, variiert demnach von Autor zu Autor. Demgegenüber erscheint es jedoch auch als vielleicht zu trivial, die Bezugnahme von Freitag und Robinson schlicht als intersubjektiv – als zwischenmenschlich – zu charakterisieren, denn damit allein ist noch Nichts über deren qualitative Bezugnahme zu- und aufeinander gesagt. Neben der Frage nach der adäquaten Benennung der spezifischen Bezugnahmen ist auffallend, dass in den Ausführungen der Gedankenexperimente des Gehirns im Tank und des einsamen Robinson davon ausgegangen wird, dass entweder gar kein tatsächlicher oder ein direkter Kontakt aufeinander besteht. Zwar ist klar, dass gerade im Robinson-Szenario eine vollkommene Isolation vorherrscht, dabei darf jedoch nicht vergessen werden, dass Robinson unermüdlich versucht Kontakt
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Vgl. Searle: »Coll. Intentions and Actions« (1990), S. 402f. (dt. S. 101).
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zu Anderen aufzunehmen und durch das Aufrechterhalten von Traditionen zumindest am, wenn man es so nennen möchte, indirekten Kontakt festhält. Bevor auf die Frage nach der Intentionalitätsform des indirekten Kontaktes eingegangen wird, soll erst ausführlich das Gedankenexperiment des Gehirns im Tank und dessen Folgen für die Konzeptionen der Intentionalitätsformen beleuchtet werden, wie es bei Searle angelegt ist.
Searles »conditions of adequacy« der Untersuchung der kollektiven Intentionalität Searles Aufsatz »Collective Intentions and Actions«, in welchem er das Gehirn im Tank-Experiment bei seinen Überlegungen der kollektiven Intentionalität zugrunde legt, führte zu der Reaktion der Rezipienten, dass eine Binnendifferenzierung der kollektiven Intentionalität nötig sei: Anthonie W. M. Meijers und Hans Bernhard Schmid setzten sich jeweils um 2003 für eine Unterscheidung zwischen der geglaubten und tatsächlichen kollektiven Intentionalität ein. Ihre grundlegende Idee ist dabei: das Gehirn im Tank glaubt nur, dass es in einem Bezug zu Anderen steht. Diese Binnendifferenzierung sei, so Meijers und Schmid, eine dezidierte Abgrenzung zu Searles Darlegungen, da dieser dem einzelnen Individuum verhaftet sei sowie die Relation zwischen den Beteiligten missachte. Diese Fokussierung Searles führe dazu, dass er am Phänomen der Intentionalitätsformen mit mehreren Beteiligten prinzipiell vorbeigehe und ignoriere, dass ein Gehirn im Tank eben nur eine geglaubte kollektive Intentionalität haben könne. Um der Tragfähigkeit dieser Kritik an Searle nachzugehen, ist es allerdings notwendig dessen »Adäquatheitsbedingungen« der kollektiven Intentionalität näher zu betrachten. Bei dieser spezifischen Frage in Bezug auf das Gehirn im Tank muss jedoch nicht auf all jene Bedingungen eingegangen werden, sondern es kann eine engere Auswahl dieser getroffen werden. Dabei wird sich zeigen, dass zwar bestimmte Aspekte der Kritik von Meijers und Schmid an Searle ihre Berechtigung haben, sich jedoch die Binnendifferenzierung in geglaubte und tatsächliche Intentionalitätsformen – wenn auch eher implizit – bereits in Searles ersten und gleichzeitig für die Debatte wegweisenden Aufsatz zur Debatte um 1990 finden lässt. Als »condition of adequacy« der kollektiven Intentionalität setzt Searle erstens die Annahme, dass sich jegliche Form der Intentionalität – und somit auch die kollektive Intentionalität –, im physikalischen Sinne im Einzelgehirn verorten lässt. Hierbei handelt es sich um eine These, von der er auch im Laufe seiner Werke nicht zurückgetreten ist. Daher bezeichnet er seinen eigenen Ansatz selbst als in-
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dividualistisch91 , während Autoren wie Meijers ihn als solipsistisch beschreiben92 . Hinsichtlich dieser ersten These müssen bereits drei Bemerkungen gemacht werden: Führt man diese erste Bedingung, dass jegliche Intentionalität im Einzelgehirn liegt, logisch weiter, so ergibt sich erstens, dass es dann keinen Gruppengeist, kein Gruppenbewusstsein im engen Sinne des Wortes geben könne, da dabei kein einzelnes für sich gesondertes, physikalisch betrachtbares Gehirn besteht.93 Zweitens entspricht die Verortung der Intentionalität im Gehirn Searles physikalisch geprägter Vorgehensweise, dass die Intentionalität schlussendlich auf Elektronensignale zurückführbar sei.94 Indem sich Searle einerseits zur Kausalität hinwendet sowie andererseits Tieren eine Intentionalität beziehungsweise sogar mehrere
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Vgl. Searle: »Coll. Intentions and Actions« (1990), S. 406 (dt.: S. 106f.). Vgl. Meijers: »Can Coll. Int. Be Individualized?« (2003), S. 177 (dt.: S. 426). Falls diese Zuschreibung jedoch in seinem vollen Umfang zutrifft, dann ergibt sich ein besonderer Twist: Denn Searles Kritik an der Phänomenologie, dass sie die Sozialontologie nicht erklären könne, weil sie nicht über den Solipsismus hinauskomme, würde dann auch auf ihn selbst zutreffen. Vgl. (i) Searle: Making the Social World (2010), S. 44 (dt.: S. 78). (ii) Searle: »Coll. Intentions and Actions« (1990), S. 406 (dt.: S. 106f.). Beim Phänomenologen Jean-Paul Sartre heißt es, »daß das Wir weder ein intersubjektives Bewußtsein [conscience intersubjective] noch ein neues Sein ist, das wie ein synthetisches Ganzes seine Teile überschreitet und umfaßt nach Art des kollektiven Bewußtseins [conscience collective] der Soziologen. Das Wir wird durch ein einzelnes Bewußtsein [conscience particuliѐre] erfahren; es ist nicht nötig, daß alle [...][Beteiligten] sich bewußt sind, Wir zu sein, damit ich mich als mit ihnen in ein Wir engagiert erfahre.« Sartre: Das Sein und das Nichts [1943], S. 722 (Herv. teils übernommen und teils selbst vorgenommen). Daher sei, folgt man Schmid, auch bei Sartre ein dezidierter Individualismus zu finden, das heißt konkret Wir-Absichten, Wir-Erlebnisse und Ähnlichem seien von der Existenz anderer unabhängig (vgl. H.B. Schmid: Wir-Intentionalität (2005), S. 190ff.). Allerdings, so könnte man diese Textpassage Sartres lesen, unterscheidet er dort zwischen dem Wir als einzeln erfahrbar und dem kollektiven Bewusstsein als kollektiv erfahrbar, während für Searle wohl beide Arten, in seiner Terminologie, dem individuellen Gehirn zugeschrieben werden. Wie auch immer man zu Searles und Sartres hier zitierten – freilich aus dem Kontext herausgerissenen – Aussagen stehen mag, markant ist, dass Sartre im Gegensatz zu Searle hervorhebt, dass es für die Konstitution des Wir nicht notwendig ist, dass sich alle Beteiligten als Wir bewusst erfahren. Es ist eine tiefergehende Frage, inwieweit Searles Konzeption seiner Annahme standhalten kann, dass jegliche Intentionalität dem Individuum zuzurechnen sei. Erstens bedürfte es einer Erklärung, warum man dann nicht stets strenggenommen von individueller Intentionalität sprechen müsste. Zweitens ist unklar, wie sich in seiner Konzeption die Annahme der individuellen Eignerschaft mit der These der Irreduzibilität – die kollektive Intentionalität kann nicht auf die Intentionalitäten der jeweils Beteiligten reduziert werden –, welche Searle ebenfalls vertritt, vereinbaren lässt. Vgl. (i) Schmid u. Schweikard: Handbuch Handlungstheorie: »Koll. Int. u. koll. Handeln« (2016), S. 120. (ii) Vgl. ebenfalls den Artikel »Collective Intentionality« ebenfalls verfasst von Schmid und Schweikard auf https:// plato.stanford.edu/entries/collective-intentionality/ (zuletzt aufgerufen: 07.06.2017) [dortige Erstpublizierung: 2013]. Vgl. u.a. Searle: Making the Social World (2010), S. 4 u. S. 25 (dt.: S. 12f. u. S. 46).
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Intentionalitätsformen – nämlich die individuelle als auch die kollektive Intentionalität – zuschreibt, ergeben sich klare Abgrenzungen zu einem phänomenologischen Intentionalitätsverständnis, da sich die Verortung der Intentionalität im Gehirn, deren Funktionsweise mittels Elektronensignale wie auch die tierische Intentionalität einer phänomenologischen Erfahrung entziehen. Drittens ist zudem zu bemerken, dass Searle gleichzeitig behauptet: »There isn’t any other place for intentionality to be except in human brains.«95 Fügt man beide Aussagen Searles zusammen – nämlich: zum einen, die Intentionalität liege im Einzelgehirn, das heißt im menschlichen und tierischen Individuum, und zum anderen, die Intentionalität liege ausschließlich im menschlichen Gehirn –, dann zeigt sich ein inhaltlicher Widerspruch: Wenn sich die Intentionalität als solche ausnahmslos im menschlichen Gehirn verorten lässt, warum und wie sollte dann die kollektive Intentionalität im menschlichen Gehirn und im tierischen Gehirn möglich sein? Wohl meint Searle, wie in Kapitel 3.3 gezeigt wird: »There isn’t any other place for collective intentionality in the strong sense to be exept in human brains«. Deutlich wird hierbei, dass die Intentionalitätsformen Searle zufolge im Einzelgehirn beziehungsweise in den Einzelgehirnen der Beteiligten liegt. Der individuelle Ausgangspunkt der Intentionalität mag womöglich richtig sein, da – so die geläufige Ansicht – dem Kollektiv selbst wohl kaum ontologisch Intentionalität zugesprochen werden kann. Doch verfehlt es Searle, so würde etwa die Kritik Bratmans lauten, genauer das Ineinandergreifen der jeweiligen Intentionalitäten zu schildern. Denn es scheint nicht der Fall, dass bei einem engen Zusammenhalt der Beteiligten beispielsweise einerseits die kollektive Intentionalität in Annas Gehirn und andererseits die kollektive Intentionalität in Bertas Gehirn getrennt voneinander bestehen – denn es ist die kollektive Intentionalität von ihnen beiden als »Pluralsubjekt« (siehe Kapitel 4.3). Neben der kausalen Verortung der Intentionalität, welche bereits erste Problematiken beinhaltet und eine klare Abgrenzung zu phänomenologischen und weiteren sprachanalytischen Positionen offenbart, führt Searle als zweite Adäquatheitsbedingung der Untersuchung der kollektiven Intentionalität an: Man hat kein klares Kriterium, um zu entscheiden, ob man ein Gehirn im Tank ist oder nicht96 , das heißt es bleibt Searle zufolge letzten Endes unentscheidbar, ob die erlebte kollektive Intentionalität eine Illusion ist oder nicht, wie mit folgendem Zitat belegt werden kann:
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Ebd., S. 44 (dt.: S. 78) (Herv. selbst vorgenommen). Vgl. Searle: Freiheit u. Neurobiologie (2004), S. 12.
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»I could have all the intentionality I do have even if I am radically mistaken, even if the apparent presence and cooperation of other people is an illusion, even if I am suffering a total hallucination, even if I am a brain in a vat.«97 Die Diagnose, dass man kein Unterscheidungskriterium habe, um eindeutig festzustellen, ob man ein Gehirn im Tank ist oder nicht, wird auch in der Rezeption Searles – berechtigterweise – übernommen. Allerdings muss klar gemacht werden, wie es eben auch bei Searle heißt, dass man als einzelnes Subjekt oder als Gehirn im Tank dennoch in seiner Bezeichnung: Absichten der Form »wir beabsichtigen, dass wir...« haben könne – aber eben nur in einer geglaubten Form. Die Annahme, dass eine einzelne Person eine »Wir-Intention« haben könne, ist ebenfalls in frühen Aufsätzen Tuomelas zu finden: Eine Person könne glauben, dass eine Andere ebenfalls diese eine Absicht teilt, dass sie beide also gemeinsam eine Wir-Absicht haben: »This allows – if the beliefs are false – that a person may be the only one in the group we-intending to do X; indeed, there need not actually be any other existing agents nor need there be a group formed by them.«98 Diese Position wurde in der Forschung vielfach kritisiert99 , doch trifft diese Kritik wohl nur den »frühen« Tuomela, welcher seine Aussage unpräzise stehen ließ und versäumte darauf hinzuweisen, dass hierbei eine geglaubte »Wir-Intention« besteht. Dabei handelt es sich im Laufe der Jahre bei Tuomela nicht um einen Auffassungswandel, sondern viel eher schlicht um eine begriffliche Präzisierung. Drittens heißt es bei Searles Ädaquatheitsbedingungen weiter: »Collective intentionality in my head can make a purported reference to other members of a collective independently of the question whether or not there actually are such members.«100
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Searle: »Coll. Intentions and Actions« (1990), S. 407 (dt.: S. 108). Raimo Heikki Tuomela: »We Will Do It – An Analysis of Group-Intentions«, in: Philosophy and Phenomenological Research, Band 51, Heft 2, 1991, S. 249–277, hier: S. 254 (Herv. selbst vorgenommen). Im Folgenden als: Tuomela: »We Will Do It« (1991). Vgl. u.a. (i) Hans Bernhard Schmid: »Können Gehirne im Tank als Team denken?«, in: Sammelband Kollektive Intentionalität, hg. v. Schmid u. Schweikard (2009), S. 387–432, hier: S. 389. Im Folgenden als: H.B. Schmid: »Können Gehirne im Tank als Team denken?« (2009). (ii) James K. Swindler: »Social Intentions – Aggregate, Collective, and General«, in: Philosophy of the Social Sciences, Band 26, Nr. 1, 1996, S. 61–76, hier: S. 65 – dort: Endnote Nr. 6 (übersetzt v. Andy Weeks: »Soziale Absichten – Aggregiert, kollektiv und im Allgemeinen«, in: Sammelband Kollektive Intentionalität, hg. v. Schmid u. Schweikard (2009), S. 479–497, hier: S. 483f. – dort: Fußnote Nr. 7). 99 Vgl. u.a. ebd. 100 Searle: »Coll. Intentions and Actions« (1990), S. 407 (dt.: S. 108) (Herv. selbst vorgenommen).
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Für Searle ist es daher irrelevant, ob außerhalb des Einzelgehirnes tatsächlich andere Beteiligte existieren oder nicht.101 Aufgrund dieser These kann Searles Position nicht nur, weil es auf einen einzigen Beteiligen bezogen ist, als »individualistisch« und »solipsistisch« gelten, sondern, weil sein Ansatz zudem ausschließlich auf das Innere referierend ausgelegt ist, auch als internalistisch102 betitelt werden. Hierzu lässt sich sagen: zwar ist eine Innenperspektive im Sinne der Perspektive eines unmittelbaren Beteiligten gerechtfertigt, allerdings verfehlt man, wie Meijers prägnant feststellt, durch eine ausschließlich auf sich selbst oder auf einen Beteiligten fokussierte Perspektive eine adäquate Beschreibung der Geteiltheit, Gemeinsamkeit oder Kollektivität, insbesondere deren soziale und normative Dimensionen103 , welche notwendigerweise bei einer Interaktion vorliegen. In der Debatte ist daher folgende Lesart bestimmend: bei Searle sei die Existenz anderer Beteiligter – seien es andere Gruppen104 , Gesellschaften, Gemeinschaften oder Ähnliches – das heißt auf den Punkt gebracht jegliche menschlichen Verbindungen keine notwendige Bedingung einer kollektiven Intentionalität. Searle postuliere, so kann kurz und prägnant mit Schmid gesagt werden, eine »›Kollektive Intentionalität‹ – ohne Kollektiv«105 . Diese Kritik an jenen Annahmen trat wohl erstmals um 1993 bei Bratman in Zitaten folgender Art auf:
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Vgl. (i) H.B. Schmid: Wir-Intentionalität (2005), S. 190. (ii) Schmid u. Schweikard: Handbuch Handlungstheorie: »Koll. Int. u. koll. Handeln« (2016), S. 122. Zwar lässt sich die Annahme, dass ein Einzelner eine Gemeinschaft, eine Gesellschaft, eine Gruppe oder Ähnliches bilden könne, bereits bei Autoren wie Max Weber und Wilfrid Sellars, doch insbesondere Searle wird hierfür durch die Zuspitzung mittels der Hinzunahme des Gedankenexperimentes des Gehirns im Tank kritisiert. Dass Weber und Sellars zu den Vorläufern dieser Position zählen, ist zumindest nach der Lesart von Hans Bernhard Schmid der Fall. Dabei findet auch Beachtung, dass die jeweiligen Autoren zwar von unterschiedlichen Begriffen, wie »sozialem Handeln« und »Gemeinschaftshandeln« ausgehen, dabei jedoch im Kern allgemein darauf abzielen, dass diese von einem einzelnen Individuum vollzogen werden kann beziehungsweise zumindest ausschließlich aus der Perspektive eines Subjektes heraus beschrieben werde (vgl. H.B. Schmid: Wir-Intentionalität (2005), S. 109ff. u. S. 191 – dort: Fußnote Nr. 25). Vgl. (i) Meijers: »Can Coll. Int. Be Individualized?« (2003), S. 181 (dt.: S. 430). (ii) H.B. Schmid: »Rationality-in-Relation« (2003), S. 88. (iii) H.B. Schmid: Wir-Intentionalität (2005), S. 401. Meijers: »Can Coll. Int. Be Individualized?« (2003), S. 168 (dt.: S. 414). H.B. Schmid: Wir-Intentionalität (2005), S. 191. Ebd., S. 186ff. Beispielsweise heißt es nochmals wörtlich bei Schmid: »Searle […][rüstet] das Phänomen der gemeinsamen Intentionalität à tout prix so […], daß es als ganz und gar individuelle Angelegenheit und damit als unabhängig von der Existenz oder Nichtexistenz einer Gruppe erscheint. Searle ist in mancher Hinsicht zwar ein denkbar dezidierter Anti-Cartesianer. Dennoch hält er in bezug auf die kollektive Intentionalität durchweg an einem Cartesianischen Motiv fest: dem subjektiven Individualismus im Sinne der strukturellen Unabhängigkeit unserer Intentionalität von allem, was unser individuelles Bewußtsein transzendiert.« Ebd., S. 228.
2. Geteiltheit, Gemeinsamkeit und Kollektivität: Zwei Voraussetzungsebenen
»[B]oth Tuomela and Searle want to allow that there can be a we-intention [which is the term of Tuomela; concerning the essay »We Will Do it« (1991)]/ collective intention [in the notion of Searle; with reference to »Collective Intentions and Actions« (1990)] even if there is in fact only one individual – one who falsely believes others are involved […]. In contrast, it takes at least two not only to tango but even for there to be a shared intention to tango.«106 »the […] intentions [the »we-intention« from Tuomela and the »collective intention« from Searle] are not shared intentions, but, rather, intentions of the individual concerning a group activity.«107 Als kurzer Exkurs zur Kritik Bratmans sei angemerkt, dass Searle Phänomene, wie etwa dass jemand fälschlicherweise glaubt, dass auch Andere involviert seien – was Bratman in diesen Zitaten als »individual intention concerning a group activity« fasst –, immerhin, wie im Verlauf diese Kapitels 2.2 dargelegt wird, als »purported reference to others«, als »geglaubte (kollektive) Intentionalität« klassifiziert. Auffallend in Tuomelas Aufsatz »We Will Do It – An Analysis of Group-Intentions« (1991), auf welchen sich Bratman in seiner Kritik unter anderem bezieht, ist, dass sich dort einerseits die Aussage findet: »a person may be the only one in the group weintending to do X; indeed, there need not actually by any other existing agents nor need there be a group formed by them«108 . Wodurch zumindest suggeriert wird, dass der Andere nicht real existieren muss, wodurch wiederum die Position vertreten wird, dass ein Gehirn im Tank »we-intentions« haben könne. Andererseits vertritt Tuomela, ebenfalls in diesem Aufsatz, die Auffassung: »at least in an unstructured group, Ai cannot alone or even almost alone (relatively speaking) have a group-intention. Some degree of sharing of the joint aim in question seems to be required in order to preserve the connection to the ›chorus‹ sense of the intention expression ›We will do it‹«109 . Dies widerum besagt: Ein einzelner intentionaler Akteur Ai – wie im Extremfall ein Gehirn im Tank – könne keine »group-intention« haben, denn dafür seien mehrere Akteure von Nöten.
106 Bratman: »Shared Intentions« [1993], S. 116f. – dort: Fußnote Nr. 17 (dt.: S. 423. – dort: Endnote Nr. 17). Dass bereits Bratman ein relationales Verständnis vertritt, wird auch mehrfach von Schmid betont. Vgl. (i) H.B. Schmid: Wir-Intentionalität (2005), S. 226f. (ii) H.B. Schmid: Plural Action (2009), S. 35. 107 Michael Bratman: »I Intend That We J« [1997], in: Faces of Intention (1999), S. 142–161, hier: S. 145 – dort: Fußnote Nr. 6 (Herv. selbst vorgenommen) (übersetzt v. Juliette Gloor: »Ich beabsichtige, dass wir G-en«, in: Sammelband Kollektive Intentionalität, hg. v. Schmid u. Schweikard (2009), S. 333–355, hier: S. 336 – dort ebenfalls: Fußnote Nr. 6. Im Folgenden als: Bratman: »I Intend That We J« [1997] (dt.). 108 Tuomela: »We Will Do It« (1991), S. 254 (Herv. selbst vorgenommen). 109 Ebd., S. 256 (Herv. selbst vorgenommen).
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Formen kollektiver Intentionalität
Es sollte zusammenfassend gezeigt worden sein: Die kollektive Intentionalität ist ein relationales Phänomen – oder kurz nach Bratman: »it takes two to tango and to have a shared intention to tango«. Bratman betont dabei, dass es seine Strategie sei »to see our shared intention to J [to perform a joint-action type J] as consisting primarily of attitudes of each of us and their interrelations«110 . Es muss eine Relation, oder vielleicht genauer: Korrelation, »interrelation« oder Wechselseitigkeit vorliegen.111 Eine solche Fragestellung, ob ein einzelnes Lebewesen nicht im engen Sinne über eine geteilte, gemeinsame oder kollektive Intentionalität verfügen kann, ist immerhin noch 2003, wie deren Aufsatztitel – »Can Collective Intentionality be Individualized?« und »Can Brains in a Vat Think as a Team?« – unmissverständlich vor Augen halten, das zentrale Anliegen Meijers und Schmids.112 Demzufolge müssen für spezifische Intentionalitätsformen mindestens zwei interrelationale Beteiligte bestehen.
Die kollektive Intentionalität als relationales Phänomen Die Existenz des oder der Anderen und der Bezug der Beteiligten aufeinander ist, so wurde Searle stets gelesen, weder eine hinreichende noch eine notwendige Bedingung für eine kollektive Intentionalität. Entgegengesetzt hierzu wird folgende Positionen angenommen: erstens die kollektive Intentionalität ist abhängig von der Existenz des beziehungsweise der Anderen113 und muss daher dezidiert als relatio-
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Bratman: »Shared Intention« [1993], S. 114. Inwieweit bereits der Begriff »Relation« eine wechselseitige Abhängigkeit beinhaltet, wie beispielsweise im Philosophischen Wörterbuch 2009 vertreten wird (vgl. Philosophisches Wörterbuch, 23. Auflage 2009, hier: Eintrag »Relation«, S. 617) oder ob eine Relation als solche auch einseitig vorliegen kann, und daher in Bezug auf die hier gemeinte Intentionalitätsform nicht genauer von Korrelation gesprochen werden müsste, wird hier zurückgestellt. Allerdings wird in Kapitel 3.1 mit de Vecchi detaillierter zwischen einem gegen- und wechselseitigen Bezug unterschieden, wobei nur bei Letzterem eine »Synthese« der Beteiligten entsteht. H.B. Schmid spricht dabei explizit von mehreren, das ist mindestens zwei Gehirnen in Tanks. Zudem thematisiert er hier Teams, was die Frage aufwirft, ob ein Kollektiv, eine Gruppe, ein Wir oder Ähnliches gesondert behandelt werden müsste, oder ob »Team« hier als Sammelbegriff für alle starken sowie schwachen Zusammenhalte unter Beteiligten gilt. Vgl. u.a. (i) »The existence of other agents is [...] a condition for the possibility of collective intentional states.« Meijers: »Can Coll. Int. Be Individualized?« (2003), S. 179 (dt.: S. 427f.). (ii) »It is not enough for one subject to believe that there is another subject who is in a suitable relation; that subject really has to exist.« H.B. Schmid: »Sharing in Truth« (2012), S. 406 (Herv. übernommen). Und auch an dieser Stelle soll nochmals betont werden, dass es Positionsabhängig ist, ob die kollektive Intentionalität gebunden ist an die Existenz des einen Anderen – sodass mindestens zwei Beteiligte angenommen werden – oder der Existenz der (vielen) Anderen – sodass von mindestens drei Beteiligten ausgegangen wird.
2. Geteiltheit, Gemeinsamkeit und Kollektivität: Zwei Voraussetzungsebenen
nales Phänomen verstanden werden114 . Intersubjektive Formen, wie die kollektive Intentionalität, sind im doppelten Sinne relational, da die Beteiligten auf das jeweilige Gegenüber und auf ein direktes oder indirektes Objekt bezogen sind. Zweitens folgt daraus: für eine aktuell geteilte, gemeinsame oder kollektive Intentionalität müssen alle Beteiligten real existieren, während das Intentionalitätsobjekt durchaus fiktiv sein kann.115 Das heißt: es spielt keine Rolle, ob die geteil114
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Vgl. u.a. (i) Meijers: Speech Acts, Communication and Collective Intentionality (1994). (ii) Bratman: Faces of Intention (1999). (iii) Schmid: Plural Action (2009). (iv) de Vecchi: »Coll. vs. intersubjective and social int.« (2011), S. 82 – dort: Fußnote Nr. 23. Dass die kollektive Intentionalität als relationales Phänomen verstanden werden muss, gilt sowohl in dem Fall, in dem der Begriff als Sammelbegriff verwendet wird, als auch für die Hervorhebung, dass die kollektive Intentionalität ein eigenständiges Phänomen ist. Versteht man die gemeinsame Intentionalität als ein relationales Phänomen, dann ergibt sich nach Schmid, dass es nicht primär darum gehe, dass ein Individuum oder ein Kollektiv eine Intentionalität habe, sondern darum, dass die Beteiligten diese teilen. Vgl. H.B. Schmid: Wir-Intentionalität (2005), S. 233. Jens Greve wiederum erörtert, »dass aus der berechtigten Kritik an einem solipsistischen Individualismus, wie es sich in der Debatte beispielsweise bei John R. Searle findet, nicht die stärkere These folgt, dass die Relation selbst als Träger kollektiver Intentionalität zu verstehen ist.« Jens Greve: »Relationaler und reduktiver Individualismus«, in: Berliner Journal für Soziologie, Band 22, 2012, S. 385–405, hier: S. 385. Im Folgenden als: Greve: »Relationaler u. reduktiver Individualismus« (2012). Vielmehr müsse die Intentionalität dennoch den Einzelbeteiligten zugeschrieben werden, da eine Gruppe oder eben die Relation selbst nicht über ein eigenes Bewusstsein verfügt. Auf eine ontologische Ebene, wenn auch ganz anderer Art, geht auch Lailach-Hennrich in Bezug auf die Intersubjektivität ein: Für ihre Definition der Intersubjektivität thematisiert sie nur indirekt die reale Existenz der Beteiligten, sondern betont vielmehr explizit, dass es sich dabei – wie der Begriff »Intersubjektivität« schon sagt – um mindestens zwei Subjekte handeln muss, weshalb im Umkehrschluss Gehirne im Tank, Geister und ähnliche Wesen als Beteiligte einer intersubjektiven Bezugnahme ausgeschlossen werden können (vgl. Lailach-Hennrich: Ich u. die anderen (2011), S. 7). Für Verhaltensweisen, wie etwa die intentionalen Bezugnahmen von Tieren aufeinander, die eben nicht dem Wortsinn nach als intersubjektiv gelten können, wählt sie die allgemeine Bezeichnung »Interaktion«: »Eine Beziehung ist genau dann interaktiv, wenn die Kooperation der Erfüllung unmittelbarer Wünsche oder dem Erreichen gemeinsamer Ziele dient, ohne dass dabei ein wechselseitiges Engagement von Nöten wäre. Beispiele für derartige soziale Verhaltensweisen sind etwa das gemeinsame Jagen oder auch die Fellpflege bei Primaten. [...] Denn eine Beziehung zwischen Subjekten [erste notwendige Bedingung der Intersubjektivität], die sich intentional aufeinander beziehen können [zweite notwendige Bedingung], ist erst dann eine intersubjektive Beziehung, wenn [drittens] die Bezugnahme wechselseitig erfolgt. Das bedeutet, dass das einzelne Subjekt sich sowohl als Adressat einer Bezugnahme verstehen als auch auf diese Bezugnahme reagieren kann«. (Ebd. S. 7 (Herv. übernommen)). Hierbei ist zu bemerken, dass Lailach-Hennrich dabei erstens nicht zwischen der gegen- und wechselseitigen Bezugnahme differenziert – wie es in Kapitel 3.1 in Anlehnung an de Vecchi etabliert werden soll. Dass sich nämlich die einzelnen Subjekte als Adressaten verstehen und aufeinander Bezug nehmen, ist genauer als gegenseitiger Bezug zu erfassen, während sie sich bei einem wechselseitigen
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te, gemeinsame oder kollektive Überzeugung auch tatsächlich wahr ist116 , ob also vereinfacht, das Intentionalitätsobjekt gegenwärtig real existiert oder irgendwann zukünftig existieren wird. An ein paar simplen Beispielen: man kann gemeinsam an die Existenz des Weihnachtsmannes glauben oder kollektiv der optischen Täuschung einer Fata Morgana unterliegen. Wir können uns sogar bewusst sein, dass der Tyrannosaurus-Rex nur im Film auf uns zuläuft und dennoch im Kino kollektiv von der Angst gepackt werden. Formulierungen, die auf die Existenz der Intentionalitätssubjekte hinauslaufen, finden sich, wie in Kapitel 2.1 dargelegt, bereits beispielsweise bei Husserl, bei welchem der »Tod als Aufhören der Konstitution einer gemeinsamen Welt« gilt.117 Plakativ: Ich konnte in der Vergangenheit einem gemeinsamen Spaziergang mit meinem Großvater unternehmen, kann es aufgrund seines Todes jedoch aktuell nicht mehr. Sowie, drittens, die real existierenden Beteiligten stehen in einem tatsächlichen Bezug zu- oder aufeinander, wodurch auch soziale und institutionelle Tatsachen etabliert und aufrechterhalten werden können.118 In de Vecchis Worten: es gibt spezifische »intentional mental states, intentional acts and actions [which] cannot be performed and experienced by a single individual […] [because these] states, acts and actions necessarily refer to and depend on other individuals, i.e. they involve at least two individuals.«119 Anhand des Beispiels der Ehe kann veranschaulicht werden, dass es Intentionalitätsformen gibt bei welchen zudem gilt: es bedarf mehrerer realer Subjekte, welche diese Handlung freiwillig vollziehen. Um eine institutionelle Tatsache zu konstituieren, wie einen Ehebund zu schließen, benötigt man mindestens drei Menschen: Zwei Menschen, die – das Phänomen der Zwangsheirat ausgenommen – freiwillig zeitgleich in Bezug aufeinander mittels eines Standesbeamten eine Ehe eingehen. Obwohl es in spezifischen Situationen, wie einer Heirat, völlig selbstverständlich
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Bezug vielmehr als Partner verstehen und in spezifischer Weise, nämlich sozial aufeinander Bezug nehmen. Zweitens: gerade weil bei Tieren, hier in Lailach-Hennrichs Worten, kein wechselseitiges Engagement besteht – und nach Tomasello auch gar nicht bestehen kann – bezeichnet Tomasello die Jagd bei Tieren eben keinesfalls als gemeinsame, sondern als individuelle Jagd (siehe Kapitel 3.3). Vgl. David P. Schweikard: »Gemeinsame Absichten – Grundzüge einer nicht-individualistischen Theorie gemeinsamen Handelns«, in: Dimensionen und Konzeptionen von Sozialität, hg. v. Gert Albert, Rainer Greshoff u. Rainer Schützeichel, Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, 2010, S. 137–152, hier: S. 146. Im Folgenden als: Schweikard: »Gemeinsame Absichten« (2010). Vgl. Husserl: Beilage XLVIII: »Verrücktwerden und Tod« (um 1915) (Hua. XIII), S. 398f. Vgl. de Vecchi: »Three Types of Heterotropic Int.« (2014), S. 119f. – dort: Fußnote Nr. 3. Ebd., S. 121 (Herv. selbst vorgenommen).
2. Geteiltheit, Gemeinsamkeit und Kollektivität: Zwei Voraussetzungsebenen
erscheint von realen Subjekten auszugehen, die tatsächlich aufeinander bezogen sind, können für eine solche Auffassung zahlreiche Gegenbeispiele angeführt werden, wie hier in einem längeren Exkurs – ebenfalls mit Referenz auf Heiratssituationen – dargelegt wird.
Die Liebe zum Eiffelturm als Beispiel einer rechtlich metaphorischen Intentionalitätsform Ein Grenzfall, in dem eine Ehe im metaphorischen Sinne geschlossen werden kann, ohne dass tatsächlich mehrere reale Subjekte aufeinander bezogen sind, stellt die Liebe zu einem Objekt dar: die Objektophilie. Hierbei ist charakteristisch, dass die Betroffenen wissen, dass es sich um einen Objektbezug handelt, jedoch es so behandeln als ob es ein Subjekt wäre. Husserls – trivial erscheinende – Annahme, dass Objekte keine gemeinsame Welt konstituieren können, kann in der Praxis, insbesondere in jener der Rechtsprechung, alles andere als trivial sein: Erika LaBrie, welche von sich selbst behauptet den Eiffelturm zu lieben, war es beispielsweise 2007 nicht möglich mit diesem eine rechtsgültige Ehe zu schließen. Man könnte auch fragen: welche »ehelichen Pflichten« sollte der Eiffelturm als Turm auch haben? LaBrie wurde von den französischen Behörden aufgrund ihres Vorhabens allerdings keineswegs als verrückt eingestuft, da sie weiß, dass es sich bei dem Eiffelturm um ein Objekt handelt. In ihrem Fall wurde daher beschlossen, dass LaBrie zumindest ihren Nachnamen ändern und damit jenen ihres »Ehemannes« übernehmen dürfe: Erika La Tour Eiffel. Anhand dieses Beispieles kann untermauert werden: sicherlich kann man im metaphorischen Sinne sagen, dass Erika LaBrie den Eiffelturm geheiratet hat und sicherlich kann Erika LaBrie davon überzeugt sein, dass der Eiffelturm sie ebenfalls liebt oder ihr zumindest etwas »zurückgibt«, aber im unmetaphorischen Sinne gilt bei einer Geteiltheit, Gemeinsamkeit oder Kollektivität: es muss mehrere Beteiligte geben und alle Beteiligten müssen als Subjekte real existieren. Mehr noch: für eine solche Intentionalitätsform müssen sich die realen Subjekte erfassen und als Subjekt oder sogar noch etwas spezifischer als (Handlungs- oder Kooperations-)Partner anerkennen. Hierfür wiederum ist notwendig, dass die Subjekte aufeinander reagieren und mindestens zueinander in Kommunikation getreten sind. Das heißt: es reicht eben nicht, wenn ein Beteiligter alle erforderten kognitiven Fähigkeiten besitzt, sondern dies muss auf alle Beteiligten zutreffen (siehe Kapitel 2.1). Die realen Subjekte müssen nicht nur in einer Relation, einem Bezug aufeinander, sondern genauer in einer Korrelation, das ist Gegen- oder Wechselseitigkeit (siehe Kapitel 3.1) zueinanderstehen.
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Die »mariage posthume« als Beispiel einer rechtlich unmetaphorischen Intentionalitätsform Auch Husserls – trivial erscheinende – Annahme, dass man mit Toten keine gemeinsame Welt konstituieren könne, gerade weil mit ihnen keine Korrelation mehr möglich ist, kann in der Praxis, wie nochmals am Beispiel der Ehe erläutert werden kann, alles andere als trivial sein: Eine tatsächlich unmetaphorische, das ist rechtliche gültige Ehe mit einer verstorbenen Person ist – unter spezifischen gesetzlichen Bedingungen – beispielsweise in Frankreich möglich: »mariage posthume«. Historisch ergab sich diese Notwendigkeit aus den finanziellen Folgen des ersten Weltkrieges: Eine Frau konnte, fiel ihr Lebenspartner im Krieg, bereits kaum für sich selbst sorgen und musste sogar gegebenenfalls lebenslang mit dem Stigma des unehelichen Kindes leben. Handelte es sich allerdings um ihren gefallenen Ehepartner, so war sie durch die Witwenrente wenigstens hinreichend abgesichert und das Kind ging damit aus einer Ehe hervor. Um einen solchen Antrag stellen zu können, müssen, so heißt es im heute noch gültigen französischen Gesetzestext, »motifs graves« vorliegen: Vor dem Tod des Lebenspartners wurde bereits ein Hochzeitsdatum festgelegt, die Hochzeitsunterlagen liegen vor und ein Standesbeamter kann den wechselseitigen, freiwilligen Heiratswillen bezeugen. Das Hochzeitsdatum wird dabei auf einen Zeitpunkt vordatiert, an dem noch beide Beteiligten lebten. Durch diese Regelung, wenn auch erst offiziell 1959 im Gesetzbuch Code Civil verankert, wurde es französischen Staatsbürgern faktisch möglich zu heiraten – mit allen behördlichen Folgen wie der steuerlichen Vergünstigung – und quasi sofort wieder verwitwet zu sein.120 Die Einzelfallentscheidung wird dabei, so zumindest die Gesetzgebung ab 1959, vom französischen Staatspräsidenten persönlich gefällt. In Deutschland war ab November 1939 – zunächst ebenfalls eher weniger offiziell – eine sogenannte »Ferntrauung« möglich, sodass für den Soldat, der nicht von den Krieggeschehnissen zurückgezogen werden konnte, dennoch die
120 Vgl. Code Civil – insbesondere Artikel Nr. 146, Nr. 171, Nr. 227 u. Nr. 331. Im konkreten Wortlaut heißt es auszugsweise im Artikel Nr. 171: »Le Président de la Républic peut, pour de motifs graves, autoriser la célébration du mariage si l’un des futurs époux est décédé après l’accomplissement de formalités officielles marquant sans équivoque son consentement. Dans ce cas, les effets du mariage remontent à la date du jour précédant celui du décès de l’époux. Toutefois ce mariage n’entraîne aucun droit de succession ab intestat au profit de l’époux survivant et aucun régime matrimonial n’est répute avoir existé entre les époux.« Da sich sowohl die finanzielle Grundlage als auch das Stigma der unehelichen Kinder gewandelt hat – das heißt eben die Bedingungen unter welchen das Gesetz überhaupt eingeführt wurde – erfolgte eine Gesetzesänderung im Jahr 2001: Bei einer »mariage posthume« gilt seitdem eine veränderte Erbfolge, das heißt konkret, dass der Witwer oder die Witwe nur in eingeschränkter – und nicht mehr in vollumfänglicher – Weise in der Erbfolge des toten Mannes oder der toten Frau bedacht wird.
2. Geteiltheit, Gemeinsamkeit und Kollektivität: Zwei Voraussetzungsebenen
Möglichkeit der Heirat bestand. Cornelia Essner und Edouard Conte, beide dem Fachbereich der Geschichtswissenschaften angehörig, schildern diese Gesetzmäßigkeit in ihrem Aufsatz wie folgt: »Nachdem der abwesende Soldat die entsprechenden Papiere eingereicht hatte, vollzog der Standesbeamte am Wohnort der Verlobten die Eheschließung dadurch, daß er ihre Erklärung, daß sie die Ehe mit dem entsprechenden Mann eingehen wollte, beurkundete. Stellte sich später heraus, daß zu diesem Zeitpunkt der Verlobte bereits gefallen war, galt die Ehe dennoch, allerdings wurde ihr Beginn auf den Tag der schriftlichen Erklärung des Mannes rückdatiert. [...] Rechtshistorisch gesehen handelte es sich bei der Fernehe um ›eine Weiterbildung der Handschuhehe‹, um die Eheschließung durch einen Stellvertreter also, die in vielen Kolonialländern und Seefahrernationen Tradition hatte. Der Bräutigam sandte der Braut einen Handschuh zu, und sie verheirateten sich dann [...] in Anwesenheit eines Stellvertreters. Der Handschuh wurde im Dritten Reich zum Stahlhelm: Auf dem Bürotisch zwischen dem Standesbeamten und der Braut lag als Symbol des abwesenden Mannes ein Stahlhelm. ›Mit einem Stahlhelm verheiratet‹, hieß es im Volksmund über diese Ehen.«121 Ab November 1941 bis circa 1946 war eine solche Art der »Leichentrauung« in Deutschland – nun ebenfalls offiziell – gestattet. Ab März 1943 wurde darüber hinaus die Möglichkeit einer »Totenscheidung« etabliert: Hierbei wurde sich gerade nicht, wie im Falle der »Leichentrauung« auf den lebenden Ehepartner bezogen, sondern vielmehr auf die Rechte des Toten. Konkret: auf das Recht, dass die Ehre eines angesehenen deutschen Kriegsgefallenen nicht durch eine unwürdige Kriegswitwe beschmutzt werden durfte und daher gegebenenfalls eine »Zwangsscheidung« durchgeführt werden konnte.122 In China wiederum ist eine Heirat zwischen einer toten und einer lebendigen Person nur in Ausnahmenfällen, wie einem Tod durch eine Heldentat, gesetzlich anerkannt. Doch ist dort, im Gegensatz zu jeglichen europäischen Ländern, die Heirat zweier toter Personen, die
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Cornelia Essner und Edouard Conte: »›Fernehe‹, ›Leichentrauung‹ und ›Totenscheidung‹ – Metamorphosen des Eherechts im Dritten Reich«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, hg. v. Karl Dietrich Bracher, Hans-Peter Schwarz u. Horst Möller, R. Oldenbourg Verlag, München, 44. Jahrgang, 2. Heft, 1996, S. 201–227, hier: S. 209f. Ebd., S. 202 u. S. 217. In diesem Aufsatz wird ebenfalls erläutert, dass sich diese Gesetzlichkeiten in Deutschland erst im zweiten Weltkrieg unter Rückgriff auf die Rassenpolitik der NS-Zeit etablieren konnte. Beispielsweise wurde eine rechtliche Gleichstellung des unehelichen und ehelichen Kindes eingeführt mit dem Ziel die Geburtenrate des deutschen Volkes – und damit auch die Zahl der zukünftigen Soldaten – voranzutreiben. Das Kind eines verstorbenen Soldaten – das »wertvolles nationales Gut« in sich trägt – sollte unter allen Umständen erhalten und versorgt werden, weshalb eine »Leichentrauung« mehr und mehr Einzug erhielt.
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sogenannte »Höllen-« oder »Geisterhochzeit« legitimiert. Was aus westlicher Sicht bestenfalls mit Erstaunen aufgenommen wird, da bei solch einer »Geisterhochzeit« nicht einmal in entferntester Form eine Heiratswilligkeit vorliegen muss, beruht in China – auch wenn sich das moderne China von dieser Tradition abwenden mag – auf einer langen Historie123 . Die Etablierung einer solchen »Höllenheirat« basiert kulturell auf drei Hauptgründen, welche im Gegensatz zum freien Willen des Verstorbenen als schwerwiegendere Rechtfertigung angeführt werden: Erstens lastet durch eine Heirat im Jenseits nicht das Stigma der Heiratsunfähigkeit – und damit einhergehend das Brandmal der Unfähigkeit zur Familiengründung – auf den Beteiligten. Zweitens könne eine Seele allein im Jenseits einsam und damit unglücklich werden, wodurch es wiederum möglich sei, so der in China verbreitete Glaube, dass sich die Seele im Diesseits an der Familie rächen könne. Drittens ist es bis heute in China der Fall, dass Erstgeborene zuerst heiraten müssen, bevor dies dem zweitgeboren Kind erlaubt wird. Stirbt jedoch der oder die Erstgeborene ohne zu Lebzeiten geheiratet zu haben, so ist eine Heirat dem oder der Zweitgeborenen schlicht untersagt. Um es kurz zu machen: Phänomene, wie die Objektophilie, die »Leichentrauung« und die »Höllenheirat« mögen heutzutage für die Mehrheit der (westlichen) Bevölkerung irritierend erscheinen, da sie der üblichen und trivialen Position entgegenstehen, dass – hier in phänomenologischer Terminologie – Objekte und Tote keinen gegen- oder wechselseitigen Bezug aufstellen und keine gemeinsamen Welt mit Anderen konstituieren können. Dennoch zeigen diese gesetzlichen Verordnungen beispielhaft, dass sich der Bezug zu einem Toten (»Leichentrauung«) oder sogar der Bezug unter Toten (»Höllenheirat«) erstens in vielerlei Hinsicht bis auf die gesetzliche Ebene erstrecken kann. Unter Berücksichtigung der »Höllen-« und »Handschuhheirat« wird zweitens deutlich, dass es sich bei Phänomenen dieser Art keineswegs um neuere Entwicklungen handelt. Drittens lässt sich sogar sagen, dass eine »Fernehe« oder eine »mariage posthume« wenigstens zu Zeiten der beiden Weltkriege selbst in Europa keineswegs eine Seltenheit waren. Obwohl es ein allgemeiner – und sogar banaler, zu belächelnder – Konsens ist, dass Objekte und Tote keine gemeinsame Welt konstituieren können und ein Wissen darüber besteht, dass sie lediglich so behandelt werden als ob sie reale Subjekte wären, können Gesetzmäßigkeiten auf den Weg gebracht werden, welche den Status (oder zumindest die soziale Rolle) der real existierenden Beteiligten ändern: Beispielsweise kann man (zumindest in einigen Ländern wie Frankreich, China und Thailand124 )
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Nach heutigem Forschungsstand wurde die erste Hochzeit zweier Verstorbener wohl 1190 vor Christi bei der Königin Fu Hao in Zeiten der Shang-Dynastie durchgeführt. siehe: www.z eit.de/2013/46/geisterhochzeit-china-totenreich (letzter Aufruf: 14.03.2020) 124 In Thailand wurde ein solcher Fall, so kann angenommen werden, erstmalig 2012 durchgeführt.
2. Geteiltheit, Gemeinsamkeit und Kollektivität: Zwei Voraussetzungsebenen
– in ganz und gar unmetaphorischer Weise – bei der Heirat mit einem Toten zum Ehepartner, genauer gesagt: zum sofortigen Witwer werden. Bleibt man bei der scheinbar trivialen Feststellung, dass mindestens zwei reale Beteiligte über Intentionalitätsfähigkeit verfügen und in Bezug zueinander stehen müssen, damit eine wirkliche geteilte, gemeinsame oder kollektive Intentionalitätsform bestehen kann, so ergibt sich, dass das oben beschriebene Phänomene der Heirat mit einem Toten oder sogar von Toten untereinander ein Oxymoron darstellen: Einerseits handelt es sich um eine unmetaphorische Heirat, da sie mit konkreten rechtlichen Konsequenzen einhergeht. Andererseits ist es eine Scheinehe, da kein tatsächlicher gegen- oder wechselseitiger Bezug der Ehepartner aufeinander besteht – und dennoch kommt es zur Konstitution einer gemeinsamen Welt, zur Konstitution einer Tatsache, welche nicht nur sozial, sondern auch institutionell verankert ist.
Binnendifferenzierung: geglaubte vs. tatsächliche kollektive Intentionalität Neben den Konsequenzen, dass die Beteiligten einer kollektiven Intentionalität erstens real sein müssen und zweitens mindestens in einem gegenseitigen Bezug zueinander stehen müssen, gehen Meijers und Schmid hinsichtlich der Handlungsphänomene auf das (freiwillige) Einverständnis der Beteiligten ein, wie eben beispielsweise bei Phänomenen wie der Hochzeit notwendig – die Betroffenen müssen ihr Einverständnis zur Ehe abgeben. Genau an dieser intuitiv einleuchtenden Einsicht setzen Meijers und Schmid um 2003 an, um die individuelle Intentionalität von einer tatsächlichen Intentionalitätsform mit mehreren real existierenden, in einer Korrelation zueinander stehenden Beteiligten abzugrenzen: »[E]s gibt [...] einen Unterschied zwischen in einem Einverständnis sein auf der einen Seite und glauben, in einem Einverständnis zu sein auf der anderen«125 . Um einige Beispiele zu nennen: Anna träumt Teil einer Tanzgruppe zu sein126 oder glaubt durch ein sprachliches Missverständnis, dass sie mit Berta am Samstag um 20 Uhr verabredet ist. Ein Eremit hält den Roman Krieg der Welten, den er im Jahr 1938 im Radio verfolgt, für eine Tatsachenbeschreibung und rüstet sich nun, wie er glaubt ebenso wie alle anderen US-Amerikaner, für die Verteidigung des Landes.127 Erika La Brie glaubt, dass der Eiffelturm sie ebenfalls heiraten möchte, dass er ihr etwas »zu-
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H.B. Schmid: »Können Gehirne im Tank als Team denken?« (2009), S. 403f. (Herv. übernommen). Wobei Schmid hier auf Meijers Aufsatz »Can Collective Intentionality Be Individualized?« (2003) Bezug nimmt. Vgl. Schmid: »Können Gehirne im Tank als Team denken?« (2009), S. 389f. Vgl. Skudlarek: Relationale Intentionalität (2014), S. 61.
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rückgibt«, auf sie »reagiert«, mit ihr »kommuniziert«128 , beispielsweise indem die Kälte des Baumaterials die auf ihm liegende Hand kühlt.129 Meijers und Schmid differenzieren demnach zwischen einer geglaubten und einer tatsächlichen kollektiven Intentionalität: Real existierende Subjekte müssen in einer realen, das ist tatsächlichen und nicht nur geglaubten Korrelation zueinanderstehen. In Tuomelas Worten: »group agents consist of real, non-fictious members (people) and have other real properties – e.g., the members’ joint and other beliefs are real.«130
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Diese Redeweise ist unter Objektophilen in der Tat üblich. Vgl. http://www.objectum-sexualit y.org/deu/index.html (zuletzt aufgerufen: 30.05.2019). Psychologische Erklärungen, weshalb es zu einer Objektophilie kommen kann, sind aufgrund der Vielzahl der Objekte, vielfältig. So ist beispielsweise die Erklärung, dass das Objekt lediglich für eine Einzelperson »da sei«, schon mit Referenz auf den Eiffelturm fragwürdig, da er jeden einzelnen Tag eine Menge Touristen »anzieht«. Der prinzipielle »Reiz« der Objektophilie liegt womöglich sogar in der ihm immanenten einseitigen Bezugnahme: Bei einem geliebten Objekt kann man, in direkten Vergleich mit einer geliebten Person, deutlich einfacher über dessen negativen »Eigenschaften« hinwegsehen beziehungsweise diese in aller Regel deutlich einfacher beheben. Etwa indem man ihn neu anstreicht oder repariert. Auch ist eine räumliche Distanz strikter möglich, da ich zwar einer realen Person »aus dem Weg gehen kann«, allerdings diese kopräsenter als ein Objekt ist, da ich jeder Zeit den Versuch unternehmen könnte, sie zu kontaktieren, während ich (den Anblick einer Fotografie, eines Videos oder eine Replik als Repräsentation ausgenommen) für den Eiffelturm notwendigerweise nach Paris reisen muss. Zudem wird man durch das Objekt wohl meist weder explizit noch implizit auf die negativen Eigenschaften der eigenen Person aufmerksam gemacht, während dies im intersubjektiven Kontext nur eine Frage der Zeit zu sein scheint. In einfachen Worten anhand des Beispieles: der Eiffelturm wird Erika La Brie nicht für ihr Verhalten tadeln, mit ihr streiten oder sie aus eigenem Willen heraus verlassen. 129 Die Grundarten, weshalb eine geglaubte Intentionalität bestehen kann, lassen sich nach Tuomela wie folgt klassifizieren: Man kann sich darin täuschen, dass die benötige Anzahl Beteiligter gewillt ist die Beitragshandlung auszuführen. Man kann sich darin täuschen, dass das Gruppenziel erreichbar ist. Man kann sich beispielsweise darin täuschen, dass ein wechselseitiger Bezug der Beteiligten vorliegt. Man kann sich darin täuschen, dass der Andere eine »We-intention« hat, obwohl er lediglich seine Eigeninteressen verfolgt. Vgl. (i) Raimo Heikki Tuomela: »Who is afraid of Group Agents and Group Minds?«, in: The Background of Social Reality, hg. v. Michael Schmitz, Beatrice Kobow u. Hans Bernhard Schmid, (Studies in the Philosophy of Sociality, Volume 1), Springer Verlag, Dordrecht, 2013, S. 13–35, hier: S. 24. Im Folgenden als: Tuomela: »Who is afraid?« (2013). (ii) Tuomela: Social Ontology (2013), S. 80. (iii) Raimo Heikki Tuomela: »Collective Intentionality and Group Reasons«, in: Concepts of Sharedness – Essays in Collective Intentionality, hg. v. Hans Bernhard Schmid, Katinka Schulte-Ostermann u. Nikos Psarros, Ontos Verlag, 2008, S. 3–19, hier: S. 10f. Im Folgenden als: Tuomela: »Collective Intentionality and Group Reasons« (2008). (iv) Tuomela: »Joint Intention, We-Mode and I-Mode« (2006), S. 43. 130 Tuomela: Social Ontology (2013), S. 47.
2. Geteiltheit, Gemeinsamkeit und Kollektivität: Zwei Voraussetzungsebenen
Explizit mit Bezug auf das Gehirn im Tank oder das isolierte Subjekt, heißt es bei Meijers und Schmid ab 2003 beziehungsweise bei Tuomela ab 2005: »You cannot cooperate with […][a] brain in a vat, you can merely give the brain the experience of cooperating.«131 »Brains in vats might believe they have we-intentions. They cannot in fact have weintentions. For we-intentionality is not only a matter of what is internal to the individual minds; it is, above all, a matter of the relation between minds. Not isolated minds, but only ›brains-in-relations‹ can have we-intentions. […] [I]t seems that we-desires are neither internal nor external, but as a relation, cross the border between what is internal and what it external.«132 »[A] single agent can in principle have a we-intention, although of course this is an exceptional case. In such a case a we-intention is not a ›slice‹ of a joint intention but at best of a believed joint intention.«133 »In my [Tuomelas] account a we-intention is not merely a subjective state of an individual, not something only in the ›individual’s head‹. Rather it is a relational state, in a sense a token part or »slice« of the participants’ joint intention, as […] joint intention requires the participants’ interrelated conative acceptances of ›We will do X‹ (or its equivalent) and as those acceptances, when spelled out, turn out to yield we-intentions.«134 Bei den Intentionalitätsformen spielt der gegebene ontologische Status des Intentionalitätsgehaltes keine Rolle. Beispielsweise kann im Kinosaal eine kollektive Furcht bestehen, obwohl alle Beteiligten rational wissen, dass sie sich um ein Phantasieprodukt eines Horror-Filmes auf der Leinwand handelt. Auch ist es, wie wohl erstmals Jean-Paul Sartre prägnant beschrieb, möglich, dass man sich seiner durch den Blick eines (fiktiven) Anderen als Wir bewusst wird, dass man als »Objekt-Wir«
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Anthonie W. M. Meijers: »Dialogue, Understanding and Collective Intentionality«, in: Social Facts and Collective Intentionality, hg. v. Georg Meggle, Hänsel-Hohenhausen, Frankfurt am Main/München/London/Miami/New York, (Deutsche Bibliothek der Wissenschaften, Bd. 1), 2002, S. 225–254, hier: S. 233 (Herv. übernommen). Im Folgenden als: Meijers: »Dialogue, Understanding and Coll. Int.« (2002). H.B. Schmid: »Rationality-in-Relation« (2003), S. 90f. (Herv. übernommen). Vgl. (i) H.B. Schmid: Wir-Intentionalität (2005), S. 227. (ii) H.B. Schmid: »Können Gehirne im Tank als Team denken?« (2009), S. 402. Tuomela: »We-Intentions Revisited« (2005), S. 341 (Herv. selbst vorgenommen). Tuomela: Social Ontology (2013), S. 78 (Herv. selbst vorgenommen).
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agiert.135 Kurz: der Intentionalitätsgehalt, welcher Art er auch sein mag – als Inhalt eines Horrorfilmes, als Gefühl des Beobachtetwerdens oder Ähnliches – kann fiktiv, imaginiert, eingebildet sein und dennoch durchaus konstitutiv für das »Wir« wirken oder den Beteiligten bewusst werden lassen, dass sie als »Objekt-Wir« gegeben sind. Der ontologische Status der Intentionalitätssubjekte, das heißt hier der Beteiligten, ist – im Gegensatz zum ontologischen Status des Intentionalitätsgehaltes – hingegen festgelegt: Es bedarf, so der strömungsübergreifende Konsens, notwendigerweise mehrerer realer existierender Beteiligter, welche, so wurde nun mehrfach gesagt, tatsächlich in einem gegen- oder wechselseitigen Bezug aufeinander stehen und sich tatsächlich als Subjekte anerkennen und behandeln. Autoren wie Bratman, Meijers und Schmid stellen dies als dezidierte Gegenposition zu Searles Ansicht dar, da sie ihm die Position zuschreiben, dass ein isoliertes Subjekt oder ein Gehirn im Tank kollektive Intentionalität haben könne. Searle wird, beispielsweise von eben jenen Autoren, vorgeworfen, dem Phänomen der kollektiven Intentionalität nicht gerecht zu werden. Diese Kritik fußt auf vier grundlegenden Aspekten:
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Der »Blick des Dritten«, der mich als Individuum trifft, wodurch ich mich selbst – weil ich mich beobachtet fühle – als »Objekt-Ich« erkenne, wird bei Sartre wie folgt beschrieben: (i) »Nehmen wir an, ich sei aus Eifersucht, aus Neugier, aus Verdorbenheit so weit gekommen, mein Ohr an eine Tür zu legen, durch ein Schlüsselloch zu gucken. [...] Jetzt habe ich Schritt im Flur gehört: man sieht mich. Was soll das heißen? Das heißt, daß ich in meinem Sein getroffen bin und daß wesentliche Modifikationen in meinen Strukturen erscheinen« (Sartre: Das Sein und das Nichts [1943], S. 467ff.). (ii) »Es ist aber möglich, daß ich mich getäuscht habe: vielleicht waren die Objekte der Welt, die ich für Augen hielt, keine Augen, vielleicht bewegte nur der Wind [...][etwas] hinter mir, kurz, vielleicht manifestierten diese konkreten Objekte nicht wirklich einen Blick.« (ebd., S. 495). (iii) In Bezug auf das Erblicktwerden, dass ein »Wir« »aufdeckt« heißt es bei Sartre beispielsweise: »Gewisse Situationen erscheinen geeigneter als andere, die Erfahrung des Wir hervorzurufen. Insbesondere die gemeinsame Arbeit: Wenn mehrere Personen sich als vom Dritten wahrgenommen erfahren, während sie solidarisch denselben Gegenstand bearbeiten. [...] Wir erfahren und also über einen »zu schaffenden« materiellen Gegenstand als Wir wahrgenommen. [...] Wenn so aber manche Situation empirisch als günstiger für das Auftauchen des Wir erscheinen, darf man nicht übersehen, daß jede menschliche Situation, als Engagement mitten unter den anderen als Wir erfahren wird, sobald der Dritte erscheint.« (ebd., S. 730 (Herv. übernommen)). (iv) »Wir sind wir nur in den Augen der anderen, und vom Blick der anderen her übernehmen wir uns als Wir.« (ebd. S. 735). Bei Hans Bernhard Schmid finden sich hierzu weitere Präzisierungen: (i) »The experience of the third’s view cannot create but only help to reveal or discover joint intentionality that was already there. […] What changes with the third’s appearance is that this structure becomes explicit.« (H.B. Schmid: Plural Action (2009), S. 176 (Herv. übernommen)). (ii) Der Blick des Dritten kann konstitutiv für das Hervortreten des Wir sein, muss es aber nicht (vgl. H.B. Schmid: Wir-Intentionalität (2005), S. 68). (iii) Der Blick des Dritten kann gegebenenfalls sogar die Gemeinschaftlichkeit beenden (vgl. ebd., S. 302).
2. Geteiltheit, Gemeinsamkeit und Kollektivität: Zwei Voraussetzungsebenen
Erstens dürfe man für eine gerechtfertigte Verwendung der Bezeichnung »Kollektiv« nicht nur von einer Mindestanzahl von zwei Beteiligten ausgehen. Zweitens dürfe man die kollektive Intentionalität nicht als Sammelbegriff verwenden. Drittens dürfe man Tieren keine kollektive Intentionalität zuschreiben. Viertens könne die kollektive Intentionalität in ihrem vollen Sinne, das heißt hier als tatsächliche Intentionalität, nicht einem einzigen Beteiligten, wie einem Gehirn im Tank, zugeschrieben werden. Doch zumindest in Hinblick auf diesen letzten Kritikpunkt ist die Kritik an Searle, so wurde hier argumentiert, unberechtigt: Auch bei Searle selbst findet sich – bereits in seinem für die Debatte maßgebenden Aufsatz »Collective Intentions and Actions« – der Hinweis, dass ein Gehirn im Tank einer Illusion oder totalen Halluzination unterliegt.136 Es besteht dabei, so vertritt es eben auch Searle, nur eine »purported reference to other members of a collective«137 ein vorgeblicher, angeblicher Bezug auf andere. Das Erlebnis der kollektiven Intentionalität kann man auch dann erfahren, wenn die anderen nicht real existieren beziehungsweise sie zwar existieren, man aber aktuell tatsächlich nicht in einem gegen- oder wechselseitigen Bezug zu diesen steht: »Collective intentionality in my head can make a purported reference to other members of a collective independently of the question whether or not there actually are such members.«138 Diese einzelnen, bei Searle – wie zugegeben werden muss – nicht weiter ausgeführten, Teilaussagen belegen, dass auch er diese spezifische Intentionalität des Gehirn im Tanks bereits um 1990 als eine eingebildete, geglaubte klassifiziert.139 Er vertritt demnach nicht, dass eine »›Kollektive Intentionalität‹ – ohne Kollektiv«140 , sondern dass lediglich eingeschränkt eine geglaubte kollektive Intentionalität ohne Kollektiv möglich sei. So unterschiedlich die Positionen also in der Forschung auch dargestellt werden mögen, selbst bei jenem Autor, von welchem man sich gegenwärtig vorwiegend abgrenzt – namentlich Searle – besteht explizit die Differenzierung zwischen einem tatsächlichen und einem geglaubten (»believed«), angeb136 137 138 139
Vgl. Searle: »Coll. Intentions and Actions« (1990), S. 407. Ebd. (Herv. selbst vorgenommen). Ebd. (Herv. selbst vorgenommen) (dt.: S. 108). Auch die Annahme, dass zumindest bestimmte Aspekte, wie die Menschenrechte, eine Relation zu oder eine Korrelation mit mindestens einem anderen Subjekt erfordern, ist bei Searle zu finden: »it is pointless, perhaps even nonsense, to say of Robinson Crusoe, alone on his island, that he has any human rights. If we say he has human rights (e.g., a right to be searched for by people who know he is lost), we are thinking of him as a member of a human society«. Searle: Making the Social World (2010), S. 176 (dt.: S. 296). 140 H.B. Schmid: Wir-Intentionalität (2005), S. 186ff.
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lichen (»purported«) Bezug auf den Anderen. Demnach gilt: es gibt zweifellos, wie de Vecchi diagnostizierte, »intentional mental states, intentional acts and actions [which] cannot be performed […] by a single individual«141 . Beispielsweise man kann allein kein Duett singen oder einen Tango tanzen, da diese Handlungen notwendigerweise mehrere Beteiligte benötigen. Das Singen selbst kann kontingterweise mit Anderen geschehen, da ich auch allein in einem Solo singen kann, allerdings kann ich eben per definitionem erst dann ein Duett singen, wenn eine zweite Person mit mir singt.142 Zwar kann ich allein tanzen, dies ist aber kein Tango.143 Aber – und dies ist mit Bezug auf das Gehirn im Tank ausschlaggebend – Subjekte können glauben in einem Bezug zu anderen Subjekten zu stehen, ihren Teil zu einem Gruppenziel beizutragen, kurz: dass auch Andere dieses Ziel gemeinsam verfolgen. Das heißt: ein Mensch – sei er isoliert, ein Gehirn im Tank oder unter realen anderen Menschen – kann eine geglaubte kollektive Intentionalität haben. Die intentionale Selbsterfahrung mag ein und dieselbe sein wie in jenem Fall, in dem ein tatsächlicher Bezug auf reale Andere erfolgt oder eine tatsächliche kollektive Intentionalität vorliegt. Hervorzuheben ist jedoch mit aller Deutlichkeit hinsichtlich der geglaubten Intentionalität – sei sie nun eine geteilte oder gemeinsame Intentionalität des Wir oder Kollektivs –, dass sich der Beteiligte erstens innerhalb dieser Situation nicht bewusst ist, dass es sich um eine geglaubte Intentionalität handelt: Erika La Brie will den Eiffelturm heiraten; Anna ist der Meinung, dass Berta zusammen mit ihr ins Kino gehen möchte; das Gehirn im Tank kann nicht aus sich selbst heraus bemerken, dass es in einem Tank steckt und lediglich neuronale Signale empfängt. Zweitens gilt daher, wie es bereits Searle – in einem der allerersten zentralen Aufsätze der sprachanalytischen Auseinandersetzung der Intentionalitätsformen – verdeutlichte: das Erlebnis der geglaubten und der tatsächlichen kollektiven Intentionalität ist ein und dasselbe.144 Kurz gefasst ergibt sich damit folgende Klassifizierung (Tabelle Nr. 1):
141 De Vecchi: »Three Types of Heterotropic Int.« (2014), S. 121 (Herv. selbst vorgenommen). 142 Vgl. u.a. (i) Bratman: »Shared Cooperative Activity« [1992], S. 93 (dt.: S. 176). (ii) Michael Bratman: »Shared Intention and Mutual Obligation« [1997], in: Faces of Intention (1999), S. 130–141, hier: S. 130. Im Folgenden als: Bratman: »Shared Intention and Mutual Obligation« [1997]. 143 Vgl. u.a. Schweikard: »Limiting Reductionism« (2008), S. 102ff. 144 Searle: »Coll. Intentions and Actions« (1990), S. 407 (dt.: S. 108).
2. Geteiltheit, Gemeinsamkeit und Kollektivität: Zwei Voraussetzungsebenen
Tabelle Nr. 1: Geglaubte und tatsächliche Intentionalität Form
Charakteristika
Geglaubte Intentionalität
Die Beteiligten glauben nur, beispielsweise durch eine Illusion oder Halluzination, dass alle Beteiligten existieren und in einem gegen- oder wechselseitigen Bezug aufeinander zu stehen.
Tatsächliche Intentionalität
Die Beteiligten existieren real und stehen in einem tatsächlichen gegen oder wechselseitigen Bezug aufeinander.
Doch wie lässt es sich erklären, dass in der Debatte Searles Formulierung des »purported reference to other members of a collective«145 – welche David P. Schweikard als »vorgeblichen Bezug« übersetzt146 – nahezu immer147 überlesen wurde? Dies könnte zum einen an einem anderen Zitat Searles liegen, welches ebenfalls in der Rezeption stets angeführt wird: »I could have all the intentionality I do have even if I am radically mistaken, […] even if I am a brain in a vat.«148 Diese Aussage kann nämlich wie folgt gelesen werden: nimmt man den Bestandteil »all the intentionality« wörtlich, dass man jegliche Form von Intentionalität – geglaubte oder tatsächliche Intentionalität – als Gehirn im Tank haben kann, so wird verständlich, weshalb Searles eigentliche Position missverstanden werden konnte, da es ihm nicht um jegliche Intentionalitätsform, sondern vielmehr um ein und dasselbe Erlebnis geht: Das Erleben der Intentionalität kann ein und dasselbe sein, obwohl unterschiedliche Bezüge auf den Anderen (tatsächlich oder geglaubt) und damit unterschiedliche Intentionalitätsformen (tatsächlich oder geglaubt) vorliegen können. Die Annahme des »purported reference to other members of a collective« kann jedoch nicht nur überlesen, sondern selbst wenn sie beachtet wird zum anderen missverstanden werden, da die englische Bezeichnung »purported« eine Doppeldeutigkeit enthält: Einerseits als »angeblich«, »vorgeblich«, wie in Schweikards Übersetzung, wodurch Searle zumindest eine geglaubte kollektive Intentionalität andeutet oder andererseits als »besagen«, »bedeuten« oder »zum Inhalt haben«. Searles Aussage – »[c]ollective intentionality in my head can make a purported reference to other members of a collective independently of the question whether
145 Ebd. (Herv. selbst vorgenommen). 146 Vgl. Schweikards Übersetzung des searlschen Aufsatzes »Collective Intentions and Actions« im Sammelband Kollektive Intentionalität (2009), hg. v. Schmid und Schweikard, hier: S. 108. 147 Eine der wenigen Autoren, die dies markieren ist Jan Skudlarek: Er verweist darauf, dass Searle einerseits einen »purported reference« vor Augen hat und die Hervorhebung einer »vermeintlichen Kollektivität« völlig berechtigt sei. Searle verpasse, aufgrund seines individualistischen und solipsistischen Ansatzes, jedoch andererseits eine wirklich kohärente Erläuterung der »Funktionsweise erfolgreicher kollektiver Intentionalität« darzulegen (vgl. Skudlarek: Relationale Intentionalität (2014), S. 42 – dort: Fußnote Nr. 103). 148 Searle: »Coll. Intentions and Actions« (1990), S. 407 (dt.: S. 108) (Herv. selbst vorgenommen).
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or not there actually are such members«149 – kann mit dieser zweiten Übersetzungsvariante eher wie folgt ausgelegt werden: Ich kann einen bedeutenden Bezug zu Anderen herstellen, unabhängig davon, ob diese Anderen aktuell als Beteiligte bestehen. Hierunter könnte beispielsweise verstanden werden, dass man einen – durchaus bedeutenden – Bezug zu bereits Verstorbenen vollziehen kann, wie unter anderem Scheler anhand der Einsfühlung in Ahnen150 oder Husserl mit Bezug auf Aristoteles verdeutlicht: »Fühle ich mich in Aristoteles ein, so ist es der vergangene Aristoteles. Auf ihn kann ich nicht mehr wirken, aber seine früheren Gedanken wirken jetzt in mir«151 . Doch selbst wenn man die hier zuerst vorgestellte Übersetzungsvariante – »purported reference« als »angeblicher Bezug« – verfolgt, dass sich bereits bei Searle um 1990 der Kerngedanke des tatsächlichen Bezugs der Beteiligten finden lässt und die gängige Lesart, wie sie von Meijers und Schmid vertreten wird, hinfällig ist, so muss dennoch Searles Vorgehensweise als unhaltbar gelten. Den Bezug der Beteiligten beschreibt er nämlich mittels einer inadäquaten Methode: dem internalistischen Ansatz, der Innenperspektive eines Beteiligten. Doch »ob eine Intention gemeinsam ist oder nicht, erschließt sich nicht im Blick auf die internalistisch verstandenen mental states der Beteiligten, sondern ist eine Frage der Beziehung«152 , wie Schmid schreibt, da es eben um die Darlegung einer interindividuellen Beziehung153 geht. Im Zentrum der Beschreibung sollte, in einem Satz gefasst, nicht die Innenperspektive eines Beteiligten, sondern aller Beteiligten stehen. Um die Charakteristik der Beziehung hervorzuheben, plädiert Schmid in zahlreichen Werken unter anderem dafür den Sammelbegriff »kollektive Intentionalität« durch jenen der Inter-Intentionalität zu ersetzen: »Gemeinsame Intentionalität ist [...] nicht Intentionalität, die jemand hat. Sie ist Intentionalität, die Individuen teilen: Inter-Intentionalität.«154 Als Fazit der bisherigen Überlegungen dieses Typologie-Versuches kann für die Intentionalitätsformen mit mehreren Beteiligten festgehalten werden: Es müssen mindestens zwei Beteiligte (im Falle der Geteiltheit oder Gemeinsamkeit) oder mindestens drei Beteiligte (im Falle der Kollektivität) real existieren, wobei sie
149 Ebd. 150 Vgl. Scheler: Wesen u. Formen d. Sympathie [1923], Teil A, II, 4, S. 30. 151 Husserl: Text Nr. 10: »Gemeingeist II. Personale Einheiten höherer Ordnung« (1918 oder 1921) (Hua. XIV), § 5, S. 200. 152 H.B. Schmid: Wir-Intentionalität (2005), S. 240f. (Herv. übernommen). 153 Vgl. ebd., S. 197. 154 Hans Bernhard Schmid: »Wir-Identität: reflexiv und vorreflexiv«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Berlin 53 (2005), 3, S. 365–376, hier: S. 373 (Herv. übernommen). Im Folgenden als: H.B. Schmid: »Wir-Identität: reflexiv und vorreflexiv« (2005). Ähnliche Formulierungen finden sich auch in: (i) H.B. Schmid: »Können Gehirne im Tank als Team denken?« (2009), S. 408f. (ii) H.B. Schmid: Plural Action (2009), S. 169.
2. Geteiltheit, Gemeinsamkeit und Kollektivität: Zwei Voraussetzungsebenen
jeweils über bestimmte kognitive Fähigkeiten (wie unter anderem Intentionalität und Einfühlungsvermögen) verfügen müssen. Wenigstens in bestimmten Situationen, wie der Heirat, wird üblicherweise angenommen, dass die Betreffenden diese freiwillig eingehen. Was hierbei schon anklingt ist, dass die Beteiligten in einer spezifischen Weise aufeinander bezogen sein müssen. Zwar bestehen Phänomene, wie die »Heirat« mit einem Objekt oder die »Höllenheirat«, allerdings widersprechen diese Ausnahmen der logischen, konsequenten Weiterführung der kognitiven und ontologischen Annahmen: Nur Individuen, welche diese Bedingungen erfüllen, können als Beteiligte einer geteilten oder gemeinsamen Intentionalität eines Wir oder Kollektivs gelten. Sowie im Umkehrschluss: alle Individuen, welche diese kognitiven und ontologischen Bedingungen nicht (oder nicht mehr oder (noch) nicht in ausreichender Weise) erfüllen, können nicht als Beteiligte einer tatsächlichen Intentionalitätsform gelten. Erstens verdeutlichen die Überlegungen zum ontologischen Status, dass die Beteiligten real existieren müssen, sodass einerseits irreale Personen, wie beispielsweise Romanfiguren, und andererseits nicht mehr lebendige Personen, das heißt Tote, entfallen. Zweitens stützen die kognitiven Bedingungen ihrerseits die Annahme, dass es zum einen unklar bleibt, ob und inwieweit Tiere über Intentionalität verfügen. Daher wurde zumindest in der Philosophie meist eine Beschränkung auf Menschen, das meint hier auf Subjekte, vorgenommen. Zum anderen tritt, vor allem im Hintergrund der Bewusstseinsfähigkeit und dem Einfühlungsvermögen, hervor, dass Menschen per se nicht als aktiv Beteiligte – sondern höchstens als potenziell zukünftige Beteiligte – gelten können, da etwa ein Komapatient aktuell nicht an der Gemeinschaft partizipieren kann, auch wenn er als Familienmitglied oder Firmenchef gelten mag. Bei der genaueren Darlegung der Position Tomasellos wird im Verlauf dieser Argumentation vorgestellt, dass er als weitere Voraussetzung – als weitere Bedingung der Möglichkeit spezifischer Intentionalitätsformen – die Moralfähigkeit annimmt. Hierbei wird ebenfalls dargelegt, welche empirischen Konsequenzen wiederum anhand dieses Kriteriums angenommen werden müssen, wie also demnach die Anzahl der potenziell Beteiligten weiterführend minimiert wird (siehe Kapitel 3.3). Neben dem ontologischen Status, das ist der realen Existenz der Beteiligten und den kognitiven Voraussetzungen, wurde drittens zugrunde gelegt, dass für eine tatsächliche kollektive Intentionalität ein tatsächlicher Bezug der Beteiligten vorliegen muss. Wie beim ontologischen Status und den kognitiven Voraussetzungen kann hier ebenfalls spezifizierend gefragt werden: Ab wann oder wie liegt tatsächlich ein gegen- oder wechselseitiger Bezug der Beteiligten vor? Muss es sich um einen direkten Bezug der Beteiligten handeln? Zwar wird beispielsweise bei Searle deutlich, dass »die jeweiligen Akteure [für eine kollektive Intentionalität] wissen [müssen], daß sie Wünsche, Überzeugungen oder Absichten teilen«155 . Doch von 155
Searle: Freiheit u. Neurobiologie (2004), S. 69f.
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welcher Art muss dieses Wissen sein? Müssen die Beteiligten konkret voneinander wissen oder kann der Bezug auch vollkommen indirekt erfolgen, sodass die Beteiligten nur wissen, dass irgendwelche Anderen existieren, welche irgendwo an dieser Kultur partizipieren? Diese Fragestellungen werden nun, unter der Bezugnahme der Gedankengänge zum Robinson Crusoe beziehungsweise zum »child on the desert island«-Experiment, leitend sein.
Kann Robinson Crusoe kollektive Intentionalität haben? Während bei den sprachanalytischen Autoren der Debatte das Beispiel des Gedankenexperiments des Gehirns im Tank dominiert, befasst sich Tomasello mit dem »child on the desert island«-Szenario. Der Einbezug dieses Bildes erfolgt, ebenso wie bei Searle, zur Darlegung, ob ein einzelnes Subjekt eine geteilte, gemeinsame oder kollektive Intentionalität haben kann. Ihre Analysen weichen dahingehend voneinander ab, dass Searle – wenn auch kaum explizit artikuliert – zwischen der geglaubten und tatsächlichen Intentionalitätsform mit mehreren Beteiligten differenziert. Tomasellos Untersuchung geht jedoch über Searle hinaus, da er mittels der Veranschaulichung des »child on the desert island« auch auf die kognitiv notwendigen Bedingungen der Möglichkeit der Intentionalitätsformen eingeht: Das isolierte Kleinkind verfügt, so heißt es bei Tomasello, lediglich und ausschließlich über eine individuelle Intentionalität, da dessen kognitive Fähigkeiten in und durch die Interaktion mit anderen Subjekten noch ausgebildet werden müssen. Tomasellos Wahl des Beispieles fällt vorwiegend nicht auf die Referenz des erwachsenen Robinson, sondern vielmehr auf das isolierte Kleinkind, um dessen kritische Lage noch deutlicher hervorzuheben: Im Gegensatz zu Robinson, welcher erst als Erwachsener in eine abgeschiedene und abgeschnittene Lage gerät, muss das Kind seine kognitiven Fähigkeiten noch in intersubjektiven Kontexten entwickeln, was ihm aber gerade »on a desert island« verwehrt bleibt. Das Kind könne – da es eben isoliert ist – nicht mittels Einfühlung die Perspektive eines Anderen einnehmen, wodurch es eben nicht sein eigenes Verhalten beurteilen und damit wiederum letztlich keine Moralfähigkeit ausbilden könne. In Tomasellos eigenen Worten: »The child growing up on a desert island would not develop […] [a] sense of obligation or guilt because she would have none of the requisite social interactions to internalize.«156
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Tomasello: Becoming Human (2019), S. 214.
2. Geteiltheit, Gemeinsamkeit und Kollektivität: Zwei Voraussetzungsebenen
»A child who never had the chance to form a ›we‹ with a partner, and never experienced any kind of second-personal protest from a partner, would not all of a sudden normatively self-regulate.«157 Selbst wenn das Kind inmitten von Tieren oder genauer inmitten eines spezifischen Tierrudels aufwachse, sei der ontogenetische Prozess des Kindes – im Vergleich zu einem kognitiven Entwicklungsprozess unter Mitmenschen – beeinträchtigt und sogar als kritisch zu werten.158 Selbst wenn eine von menschlichen Erwachsenen isolierte Gruppe aus Kleinkindern bestehe, sei Tomasello zufolge bestenfalls die Entwicklung einer gemeinsamen, jedoch keiner kollektiven Intentionalität möglich,159 da hierfür »adults and all of their cultural paraphernalia«160 notwendigerweise gegeben sein müssen, das heißt konkret »preexisting conventions, norms, and institutions, including a conventional language«161 . Sodass eine Partizipation an einer bereits bestehenden Kultur möglich sei und diese nicht erst selbst – in einer langwierigen phylogenetischen Entwicklung, welche Tomasello zufolge ab dem Homo heidelbergensis vor ungefähr 400.000 Jahren einsetzte162 , entwickelt werden müsse. Kinder allein sind demnach nicht fähig eine kollektive Intentionalität zu bilden, da es ihnen, so die Diagnose Tomasellos, an spezifischen Fähigkeiten, wie insbesondere der Moralität, mangelt (siehe Kapitel 3.3). Interagieren zwei Beteiligte miteinander, so ist dies mit der Möglichkeit verbunden über die individuelle Intentionalität hinaus eine gemeinsame Intentionalität zu etablieren. Doch für die Konstitution einer Kultur, welche Tomasello als kollektive Intentionalität 157 158
Ebd., S. 215. Vgl. Tomasello u. Moll: »The Gap is Social« (2010), S. 345. Zwar ist zweifellos eine Relation mit Tieren möglich, diese ist jedoch auf spezifische Formen beschränkt. Wie Annette Claire Baier mittels Handlungen erläutert: »Robinson Crusoe [...] might congratulate himself, conform himself [...], but if he were to communicate, confide […], it would have to be with the birds and the beasts. No question of committees or constitutions could arise, except in his memory, contingency planning, or dreams«. Baier: »Doing Things« (1997), S. 32 (dt.: S. 251)). Sodass Baier schlussfolgert, dass Tiere lediglich als »feeble people«, als »schwache Partner« angesehen werden können (vgl. ebd.). Wobei anzumerken ist, dass Baiers Handlungstypologie zum einen Ähnlichkeiten zu jener Schweikards aufweist, welcher zwischen notwendigerweise und kontingenterweise gemeinsamen Handlungen differenziert (vgl. Schweikard: »Limiting Reductionism« (2008), S. 89–117). Zum anderen differenziert Baier auch implizit zwischen sozialen Tatsachen, welche auch Tieren möglich ist, und institutionellen Tatsachen, welche lediglich Menschen möglich ist. Dies wiederum entspricht Searles Versuch der Grundlegung der differentia specifica (siehe Kapitel 3.3). 159 Vgl. Tomasello: Human Thinking (2014), S. 146 (dt.: S. 215). 160 Ebd. S. 147 (dt.: S. 216). 161 »In general, fully fledged skills of collective intentionality and agent-neutral thinking require […] ontogeny in the midst of a preexisting cultural collective with preexisting conventions, norms, and institutions, including a conventional language.« Ebd. S. 146 (dt.: S. 216). 162 Vgl. (i) Ebd., S. 36 (dt.: S. 61). (ii) Tomasello: Becoming Human (2019), S. 15.
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fasst, bedarf es, so die vorherrschende (wenn auch nicht, wie mit Searle gezeigt werden konnte, allumfassende) Auffassung der Debatte, einer Anzahl von mindestens drei Beteiligten163 – eben eines Kollektivs. Zusammengenommen sind für eine kollektive Intentionalität nach Tomasello zunächst bestimmte ontologische und ontogenetische Voraussetzungen notwendig: Es müssen mindestens drei real aufeinander bezogene Subjekte bestehen, welche im Laufe ihrer Ontogenese durch Einfühlungsvermögen in der kognitiven Lage sind, eine Moralfähigkeit zu entwickeln. Kurzum: für eine kollektive Intentionalität muss es sich um mindestens drei interdependente moralische Personen handeln. Dass ein isoliertes Kleinkind nicht im intersubjektiven Kontext seine kognitiven Fähigkeiten entfalten kann beziehungsweise an einer bereits bestehenden Kultur partizipieren kann, mag nach Tomasellos Ausführungen deutlich werden. In Bezug auf den Robinson-Fall mangelt es jedoch sowohl in Searles als auch Tomasellos Darstellung daran in den Blick zu nehmen, inwieweit dieser einen Sondersituation darstellt: Robinson hatte nämlich vor seiner Isolation durchaus Anteil an einer kollektiven Intentionalität. Daher muss folgender Aspekt genauer untersucht werden: bei Robinson – jedoch nicht bei einem isolierten Kleinkind – scheint es unproblematisch zu sagen, dass er früher mit den Engländern eine kollektive Intentionalität eingegangen ist, da er durch Andere die kollektiven Praktiken erlernt und mit Anderen an diesen teilhatte. Doch kann ihm in Bezug auf diese spezifische Kultur zum jetzigen Zeitpunkt der Isolation eine kollektive Intentionalität zugeschrieben werden? Zwar mag Robinson in seiner Isolation nicht aktiv an der kollektiven Praktik des Bezahlens mit dem britischen Pfund und ähnlichen kulturellen, kollektiv identitätsstiftenden Handlungen teilhaben, allerdings kann er dennoch bestimmte kollektive Praktiken wie Andere seiner Kulturgruppe, wie etwa die Tradition des Nachmittagstees, vollziehen. Er kann aktuell nur in einem indirekten Kontakt zu weiteren Personen stehen, beispielsweise indem er mittels Rauchzeichen versucht seine englischen Landsleute auf sich aufmerksam zu machen. Präziser lautet das Szenario: Robinson kann – trotz seiner Isolation – bestimmte Kulturelemente der Engländer, welche er vor seiner Isolation erlernte, weiterführen: Er kann am Trinken des Nachmittagstees festhalten, indem er bestimmte Pflanzen kultiviert, aufgrund des Sonnenstandes die Nachmittagszeit ermittelt und dann seinen
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Ein Gedankengang dieser Art findet sich beispielsweise 1930 in der Metaphysik der Gemeinschaft des Philosophen Dietrich von Hildebrand: »Fingieren wir, daß irgendwo zwei Personen gänzlich losgelöst von allen anderen für sich leben, zwei Menschen, die nichts von der Existenz anderer wüssten, so würde die Voraussetzung für die Konstitution der interpersonalen Öffentlichkeitssphäre wegfallen und damit die Möglichkeit der Konstitution eines Staates.« Dietrich von Hildebrand: Metaphysik der Gemeinschaft – Untersuchungen über Wesen und Wert der Gemeinschaft [1. Auflage 1930], (Gesammelte Werke Band IV), Joseph Haberl Verlag, Regensburg, 1957, S. 171. Im Folgenden als: Hildebrand: Metaphysik d. Gemeinschaft [1930].
2. Geteiltheit, Gemeinsamkeit und Kollektivität: Zwei Voraussetzungsebenen
Tee in Gedenken an die Engländer, seine Familie oder Freunde genießt. Weiterführend ist sogar möglich, dass zur gleichen Zeit seine Familie und Freunde ihren Tee in Gedenken an Robinson trinken.164 Es kann also sein, dass sie wenigstens gegenseitig aufeinander gerichtet sind ohne zu wissen, dass dies der Fall ist. Aufgrund dieser Variation der Robinson-Szene kann demnach gefragt werden: besitzt Robinson eine kollektive Intentionalität, da er durchaus intentionale Verhaltensweisen in Bezug auf ein Kollektiv ausführt? Oder ist dies nicht möglich, weil keiner der rund 56 Millionen Engländer weiß, dass Robinson diese Verhaltensweisen vollzieht, da sie ihn für tot halten? In Anlehnung an Margaret Gilbert kann gesagt werden, dass in diesem Fall zumindest eine Bedingung der Möglichkeit des Teilens gegeben ist, nämlich die Verbindung durch ein »common feature«165 , die Gerichtetheit auf ein und dasselbe, hier konkret: die Tradition des Nachmittagstees, das möglicherweise sogar zeitgleiche gegenseitige Denken an den jeweils Anderen und Ähnliches. Ob allerdings nicht mindestens ein Engländer konkret wissen muss, dass Robinson tatsächlich an der englischen Kultur teilhat, bleibt in der Debatte ungeklärt.
164 In der Geschichte nach Daniel Defoe wird eine Situation dieser Art nicht explizit erwähnt, allerdings hält sich Robinson an zahlreiche Kulturelemente der Engländer seiner Zeit, wie das Lesen in der Bibel, und an die erlernten Praktiken der Brasilianer, wie die Einnahme von Tabak als Arzneimittel. Der erfolgreiche Anbau von Getreide, die Herstellung von Tongefäßen, Käse und Ähnlichem geschieht jedoch eher durch glücklichen Zufall. Es ist schon kennzeichnend: kaum trifft er auf Freitag versucht Robinson ihm die englische Sprache beizubringen und ihn zum christlichen Glauben zu bekehren. Erst später lehrt Robinson Freitag das tatsächliche Überlebenstraining im Sinne eines Umganges mit Waffen oder einem Segelboot. 165 Vgl. Margaret Gilbert: »What Is It for Us to Intend?«, in: Sociality and Responsibility – New Essays in Plural Subject Theory, Rowman and Littlefield Publishers, Lanham/Boulder/New York/ Oxford, 2000, S. 14–36, hier: S. 23. Im Folgenden als: Gilbert: »What Is It for Us to Intend?« (Version: 2000). (Bei diesem Aufsatz handelt es sich um eine überarbeitete Version des gleichnamigen Aufsatzes Gilberts, welcher 1997 im Sammelband Contemporary Action Theory erschien und übersetzt von Anita Konzelmann Ziv im Sammelband Kollektive Intentionalität, hg. v. Schmid u. Schweikard (2009) zu finden ist). Die Aufsatzsammlung wird im Folgenden angeführt als: Sociality and Responsibility (2000). Wobei zu bemerken ist, dass ein »common feature« oder ein »common ground«, so tiefgreifend er auch sein mag, als alleiniges Kriterium zur Aufrechterhaltung einer Intentionalitätsform mit mehreren Beteiligten nicht ausreichend ist: Zum einen, weil allein das Wissen, wie sich der Andere verhalten wird, kein tiefes Zusammengehörigkeitsgefühl – nach Charles Taylors Verständnis kein »entre nous« – begründen muss (vgl. Gilbert: »Walking Together« (1990), S. 5 (dt.: S. 161)). Beispielsweise kann ich sehr genau vorhersagen, wie sich andere Teilnehmer des Straßenverkehrs verhalten werden, ohne zu ihnen in einem persönlichen Kontakt zu stehen. Zum anderen ist aber zu sagen, dass das gemeinsame Hintergrundwissen selbst eine Problematik in sich birgt: So können Beziehungen, mit jahrzehntelangem gemeinsamen Hintergrundwissen, bei welchen nichts mehr über die eigenen oder gemeinsamen Handlung, Gefühle und Denkweisen gesagt werden muss – gerade aufgrund dieses Schweigens – scheitern.
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Allerdings scheinen prinzipiell nur zwei Antwortmöglichkeiten denkbar, wobei jeweils verschiedene Aspekte hervorgehoben werden: Entweder man betont einerseits die völlige Isolation Robinsons, welche ein Wissen voneinander unmöglich macht, oder man stellt andererseits in den Vordergrund, dass Robinson kulturell geprägte Praktiken vollziehen kann ohne dass Andere davon in Kenntnis gesetzt sind. Denn obwohl die Engländer abwesend sind, wirken sie auf sein Erleben der Objekte auf der Insel ein. Seine Erinnerung an seine Landsleute und sein Hang zur menschlichen Interaktion nimmt auch über die Jahre hinweg keineswegs nach, sondern er baut unentwegt Boote, um der Insel zu entkommen. Beide prinzipiellen Argumentationswege seien nun etwas ausführlicher dargelegt. Zur ersten Antwortmöglichkeit: geht man davon aus, dass ein tatsächlicher gegen- oder wechselseitiger Bezug und ein tatsächliches gegen- oder wechselseitiges Wissen bestehen muss, so kann Robinson nicht über eine kollektive Intentionalität verfügen, da er keinen Kontakt zu irgendjemandem aus dem Kulturkreis besitzt und demnach niemand über seine Partizipation (oder zumindest wenigstens seinen Partizipationswillen) in Kenntnis gesetzt ist. Er besitzt, so könnte man also argumentieren, lediglich eine individuelle Intentionalität. Nimmt man diese Antwortmöglichkeit ernst, so würde diese jedoch in letzter Konsequenz dazu führen, dass alle Personen, welche zum jetzigen Zeitpunkt nicht in einem dezidierten kommunikativen Akt mit Anderen stehen – das heißt eben strenggenommen aktuell nicht in offensichtlicher Weise am Kollektiv partizipieren – ausgeschlossen werden müssten. Dies scheint jedoch etwa in Anbetracht von Schlafenden, Komapatienten und Ähnlichem absurd, welche dennoch zur Gemeinschaft, zum Kollektiv gerechnet werden: Der Schlafende ist Deutscher, Mitglied im Fußball-Club, mein Großvater etc., obwohl er augenblicklich beispielsweise nicht – weder aktiv noch passiv – an den dabei zugrundeliegenden Werten und Normen teilnimmt, welche als Merkmale der kollektiven Intentionalität denkbar sind. Als zweite prinzipielle Antwortmöglichkeit auf die Frage, ob Robinson eine kollektive Intentionalität besitzt, kann wiederum gesagt werden: Robinson und die Engländer verfügen über eine tatsächliche kollektive Intentionalität, da alle Beteiligten tatsächlich partizipieren: Sie vollziehen intentional ein und dieselbe Tradition und sind dabei intentional, wie beispielsweise affektiv, auf ein und dasselbe Kollektiv, ein und denselben Personenkreis bezogen.166 Einschränkend müsste wohl 166 Christian von Scheve bringt als Definitionsversuch an, dass man Kollektive als soziale Formen (gegen- oder) wechselseitiger Affizierung verstehen könne, welche ohne körperliche Kopräsenz auskomme (wie im Rahmen der Tagung »Einer für alle, alle für einen?« organisiert v. Danaë Simmermacher u. Jan-Christoph Marschelke am 23.09.2020 dargelegt). Genau ein solches Szenario scheint in Bezug auf den einsamen Robinson und die Engländer möglich: Sie können, ohne faktisch in Verbindung aufeinander zu stehen, (gegen- oder) wechselseitig affiziert sein und daher, so müsste der Vorschlag von Scheves diesen Extremfall deuten, ein Kollektiv bilden. Von hier aus betrachtet – wenn zudem die Intentionalität im Sinne der
2. Geteiltheit, Gemeinsamkeit und Kollektivität: Zwei Voraussetzungsebenen
hier wiederum, unter Einbezug der Unterscheidung von tatsächlicher und bloß geglaubter kollektiver Intentionalität, gesagt werden, dass es sich im Fall des Robinson um eine »schwache« kollektive Intentionalität handelt, da die Engländer nicht wissen, sondern in Bezug auf Robinson bestenfalls glauben und hoffen, dass er lebt und daher auch der englischen Tradition nachkommen kann. Robinson handelt, denkt und fühlt wie andere Personen einer bestimmten Kultur und dennoch handelt, denkt und fühlt er in seiner Isolation ohne Andere. Entscheidet man sich für diese zweite Antwortmöglichkeit, so scheint für ein Phänomen dieser Art, welches als »basale Form kollektiver Intentionalität als [...] anonym fungierende«167 Form beschrieben werden kann, die Bezeichnung »Man-Intentionalität«168 von Rainer Schützeichel treffend: Die Beteiligten agieren, denken und fühlen wie »man« oder »irgendjemand« das eben in diesem Kollektiv macht – völlig unabhängig von der Frage, ob ein direkter persönlicher Kontakt zu anderen Beteiligten besteht oder nicht. Beide Antwortmöglichkeiten zur Intentionalität des Robinson sind jedoch gewissermaßen unbefriedigend: Behauptet man, dass jene Person prinzipiell partizipieren kann und von ihr gewusst werden muss, dass sie augenblicklich partizipiert, so ergibt sich die absurde Schlussfolgerung, dass auch Schlafende oder Komapatienten aufgrund ihrer pausierten Partizipation, gänzlich oder wenigstens temporär auf die Schlaf- oder Komaphase bezogen, als Beteiligte einer kollektiven Intentionalität entfallen. Behauptet man, dass Robinson wenigstens in einer schwachen Weise – beispielsweise in anonymer Weise – teilnimmt, so ergibt sich die Frage, welche prägnante Bezeichnung für diesen Sonderfall gewählt werden sollte. Es lässt sich festhalten: in Beiträgen der Phänomenologie, Sprachanalytik und evolutionären Verhaltensforschung wurde dargelegt, dass verschiedenste kognitive Fähigkeiten bei den Beteiligten vorliegen müssen. Ebenfalls wurde auf das notwendige – wenn auch nicht hinreichende169 – Kriterium des Wissens voneinander und um die kollektiven Praktiken sowie auf dessen Scheinproblematik des infiniten Regresses eingegangen170 , das heißt eben, dass die Beteiligten wissen, dass Phänomenologie als Bewusstsein von etwas ausgelegt wird – scheint es jedoch nur noch ein kleiner Schritt zu sein, Robinson und den Engländern auch kollektive Intentionalität zuzuschreiben. 167 Vgl. Rainer Schützeichel: »Fühlen als ein soziales Phänomen – Über responsive und reflexive, geteilte und kollektive Emotionen«, in: Die Dimension des Sozialen – Neue philosophische Zugänge zu Fühlen, Wollen und Handeln, hg. v. Karl Mertens u. Jörn Müller, de Gruyter, Berlin/Boston, 2014, S. 41–64, hier: S. 60. Im Folgenden als: Schützeichel: »Fühlen als soziales Phänomen« (2014). 168 Vgl. ebd. 169 Vgl. u.a. (i) Searle: »Coll. Intentions and Actions« (1990), S. 403 (dt.: S. 102). (ii) Searle: Making the Social World (2010), S. 49 (dt.: S. 87). 170 Die Darstellung der Positionen zur Reziprozität, des »common knowledge« würde selbst eine eigenständige Arbeit umfassen, daher seien diese hier nur angerissen: Historisch finden
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sie vom Anderen als (Kooperations-)Partner eingestuft werden. Allerdings wurde dabei meist übergangen, ab wann ein tatsächlicher Bezug der Beteiligten aufeinander beziehungsweise ab wann eine tatsächliche Partizipation an kollektiven Praktiken vorliegt, wer folglich als Beteiligter gelten kann. In ihrer Rezeption wurden diese Kriterien als kohärent eingestuft: Wer wollte schon anzweifeln, dass für eine Geteiltheit, Gemeinsamkeit oder Kollektivität notwendigerweise – direkt oder indirekt – aufeinander bezogene Beteiligte bestehen müssen, die sich in bestimmter Weise zueinander verhalten? Betrachtet man diese weithin prägende Grundannahme jedoch in letzter Konsequenz hinsichtlich der in Frage kommenden Beteiligten, dann kommt man zu einer unerfreulichen Schlussfolgerung: Besteht man nämlich
sie sich im 20. Jahrhundert beispielsweise bei Gerda Walthers Zur Ontologie der sozialen Gemeinschaften (1923) und in Dietrich von Hildebrands Metaphysik der Gemeinschaft (1930). Eine Erläuterung auf wen die Problematik des »common knowledge« im sprachanalytischen Bereich zurückgeht, findet sich in Hans Bernhard Schmids Aufsatz »Sharing in Truth« aus dem Jahr 2012. Besonders bekannt wurde das Phänomen der Reziprozität durch das sogenannte Gefangenen-Dilemma, in welchem beide Gefangenen ihre Überlegungen zur eigenen Aussage unter Überlegung der erwarteten möglichen Aussage des jeweils anderen Gefangenen tätigen. Der Regress des wechselseitigen Wissens wird in der Debatte als notwendig – wenn auch allein noch nicht hinreichend betrachtet. Die mittlerweile übliche Position vertritt darüber hinaus, dass ein infiniter Regress in der Theorie möglich sei, in der Praxis jedoch lediglich wenige »kognitive Schleifen« nötig seien, um zur Ausführung (beziehungsweise mindestens zum Vertrauen auf den Vollzug) einer gemeinsamen Handlung zu gelangen. Daher wird die Problematik um die Reziprozität als Scheinproblematik aufgefasst: Ein endlicher Geist kann nicht etwas Unendliches erfassen, wie Searle treffend auf den Punkt bringt: »I don’t think my head is big enough to accommodate so many beliefs«. Searle: Mind, Language and Society (1998), S. 119 (dt.: S. 143). Vgl. auch (i) Searle: Intentionality (1983), S. 148 (dt.: S. 188). (ii) Tuomela u. Miller: »We-Intentions« (1988), S. 371 (dt.: S. 77f.). (iii) Auch Gerda Walther und Edmund Husserl vertreten, dass es nicht zu einem infiniten Regress kommt (vgl. Schmid u. Schweikard: »Einleitung: Koll. Int.« (2009), S. 24 u. S. 26). Empirischen Studien zufolge kann diese Annahme damit belegt werden, dass der Mensch wohl kognitiv auf sechs reziproke Schlussfolgerungen beschränkt ist (vgl. Dunbar: Grooming, Gossip, Evolution of Language (1997), S. 84 (dt.: S. 111)). Wobei Dunbar 1997 von verschiedenen Ordnungen der Intensionalität spricht und erst um 2015 in Thinking Big – How the Evolution of Social Life Shaped the Human Mind den Begriff »Intentionalität« verwendet. Für die Praxis zeigt sich, dass lediglich ein hinreichendes Ausmaß an Wissen genügt, damit die Handlung gemeinsam vollzogen wird – über alle Motive des Anderen muss man nicht detailliert Bescheid wissen. Bei Scheler wird das Wissen um ein und denselben Intentionalitätsgehalt nicht als kognitives, sondern vielmehr als intuitives Erfassen dargelegt (vgl. Scheler: Wesen u. Formen d. Sympathie [1923], Teil A, Abschnitt II, S. 23f.). Als Widerfahrnis lässt sich hingegen bei Searle nicht die Reziprozität, sondern die Einschätzung und Anerkennung des Anderen als Kooperationspartner auffassen: »it seems to me [Searle] that the capacity to engage in collective behaviour requires something like a preintentional sense of ›the other‹ as an actual or potential agent like oneself in cooperative activities«. Searle: »Coll. Intentions and Actions« (1990), S. 413 (dt.: S. 116)(Herv. selbst vorgenommen), wobei in der deutschen Version »sense« mit »Gespür« übersetzt wird.
2. Geteiltheit, Gemeinsamkeit und Kollektivität: Zwei Voraussetzungsebenen
auf das Wissen um die Existenz des Anderen und die Partizipation an den kollektiven Praktiken, dann ergibt sich empirisch betrachtet, dass Personen mit sehr ausgeprägten Zügen einer Alzheimer Erkrankung, welche sich gerade dadurch auszeichnen, dass sie kollektive Praktiken, den Namen ihrer Verwandten und ähnliche elementare Aspekte vergessen, als Beteiligte – zumindest der »tiefgreifenden«, wenn vielleicht auch nicht »oberflächlichen« Intentionalitätsformen – entfallen. Die dahinterstehende Problematik kann an einem kleinen Beispiel illustriert werden: jemand der früher wusste, aber nun vergessen hat, dass der runde Ball in das eckige Tor muss, kann nicht Mitglied einer Fußballmannschaft im engen Sinne des »Team Spirit« sein, da er nicht einmal die simpelsten Fußballregeln kennt, sondern möglicherweise den Ball, wie es im Basketball üblich ist, mit den Händen greift und wirft. Jemanden aus unserer nahen Gemeinschaft auszuschließen, wie beispielsweise der Familie oder dem Freundeskreis, weil er nicht mehr unsere Vornamen und unsere gemeinsame Vergangenheit kennt, sollte uns aber aus menschlicher Warte heraus nicht in den Sinn kommen. Kurzum: der Bezug der Beteiligten aufeinander sowie das Wissen um und die Partizipation an spezifischen Praktiken erscheint als notwendige – jedoch durchaus graduelle – Kriterien für Geteiltheit, Gemeinsamkeit oder Kollektivität plausibel. Doch sollte man Kriterien dieser Art wohl besser nicht aus einem allzu empirischen Blick betrachten, da sich als Resultat rücksichtslose Annahmen ergeben: Aufgrund des kognitiven Entwicklungsgrades beziehungsweise der Schwere des kognitiven Ausfalles können, so der empirische Blickwinkel, Tote, Bewusstlose (laut dem Kriterium der Intentionalität), Autisten (nach dem Kriterium der Einfühlung), Narzissten, Sozio- und Psychopathen (dem Kriterium des Gruppeninteresses zufolge) und nun auch Alzheimer-Patienten (in Anbetracht des Kriteriums des Wissens umeinander und um die kollektiven Praktiken) nicht als Beteilige einer Gemeinsamkeit im engen Sinne sein. Diese Problematik der Extension, dass man letztlich den radikalen Standpunkt einnehmen muss, dass bestimmte geistig eingeschränkte Personen nicht als Beteiligte gelten können, wird zum einen nur von wenigen Debattenteilnehmern angerissen. Zum anderen wird jedoch in keinem Debattenbeitrag selbst hervorgehoben, dass das empirische Vorgehen mit einem moralischen Aspekt verhaftet ist: die Personen, welche selbst keine gemeinsame Welt konstituieren können, dürfen nicht aus der gemeinsamen Welt ausgeschlossen werden. Zwar erläutern insbesondere Husserl und Tomasello, welche kognitiven Fähigkeiten notwendigerweise gegeben sein müssen und wer diese nicht erfüllt, doch finden sich bei ihnen nicht einmal implizit Handlungsempfehlungen wie mit »Verrückten«, so der generell verwendbare Ausdruck Husserls, oder Tieren umgegangen werden kann und sollte. Ebenfalls wird vor allem in der Sprachanalytik und evolutionären Verhaltensforschung nicht beleuchtet, ob der Bezug der Beteiligten aufeinander indirekt erfolgen kann. Zumindest in der Phänomenologie finden sich Situationsbeschreibungen, in welchen die Beteiligten ohne eine »Spur von gegenseitigem Sicherfas-
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sen«171 , jedoch dennoch gewissermaßen gemeinsam – oder wenigstens in geteilter Weise – etwas erleben. Als Beispiele dienen hierfür, dass zwei fremde Wanderer von einem Bergpanorama (Heidegger und Walther172 ) oder dass Theaterbesucher von einem Theaterstück überwältigt sind (Sartre173 ). Zwar wissen die Beteiligten hierbei von der Existenz des Anderen, vom Intentionalitätsgehalt des Anderen und dessen Übereinstimmung mit dem eigenen Intentionalitätsgehalt, allerdings spielt dieses Wissen keine oder nur geringfügige Rolle für die eigene Intentionalität. Wie jedoch diese Intentionalitätsform, welche einen »Zwitter-Charakter« aufweist – einerseits gemeinsam, andererseits voneinander abgegrenzt – beschrieben werden soll, bleibt unklar. Als wohl bisher treffendste Bezeichnung für solche Phänomene kann, in Anlehnung an Schmid um 2013, der Begriff »ungemeinsame Gemeinsamkeit«174 gelten. Die Darstellung des indirekten Wissens, dass nur ein abstrakter Irgendjemand irgendwo diese Kulturelemente vollzieht, ist in der Phänomenologie wohl am ehesten in Heideggers Erläuterung des »Man« zu finden: Man verhält sich wie »man« das in dieser Kultur, in diesem Kollektiv – in anonymer Weise – so macht.175 Die drastischste Darstellung des einsamen Subjektes, wie der Fall des Robinson, wurde jedoch auch hierbei nicht näher beschrieben.
Zwischenfazit zu Kapitel 2.2 Dass ein Subjekt über individuelle Intentionalität verfügen kann, ist trotz unterschiedlicher Intentionalitätsauffassungen unangezweifelt. Inwieweit dies auf ein Tier zutrifft, ist eine andere Frage. Dass ein Subjekt für sich allein genommen ohne den Kontakt zu Anderen nicht über seine individuelle Intentionalität hinaustreten kann, das heißt allein über eine tatsächliche kollektive Intentionalität verfügen kann, wurde bei Searle mit Referenz auf das Gedankenexperiment des Gehirns im Tank und bei Tomasello mittels des »child on the desert island« untermauert. In der Wahl der
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Heidegger: Einleitung Philosophie [1928], S. 86. Vgl. (i) ebd. (ii) Walther: Ontologie d. soz. Gemeinschaften [1923], Teil B, Kapitel 4, c), S. 75. Vgl. Sartre: Das Sein und das Nichts [1943], Dritter Teil, Drittes Kapitel, III, S. 721. Vgl. H.B. Schmid: »Mitleid ohne Einfühlung« (2013). Fälle dieser Art des gemeinsamen Erlebens, obwohl die Beteiligten eher anonymisiert nebeneinander bestehen, können mit jenen Fällen verglichen werden, in welchen eine spezifische Einsamkeit in der Gemeinschaft bestehen kann, beispielsweise durch die Ignoranz oder der Abgrenzung durch Andere. Auch diese Beschreibung findet sich in der Phänomenologie: »Nun kann ich allein sein, auch wenn andere und mehrere mit da sind, ja sogar gerade unter einer Masse von Menschen kann ich allein sein und bin ich allein, wie ich es sonst gar nicht sein kann, wenn keine anderen da sind.« Heidegger: Einleitung Philosophie [1928], S. 117 (Herv. selbst vorgenommen). Vgl.: Martin Heidegger: Sein und Zeit [1927], Max Niemeyer Verlag, Tübingen, 19. Auflage 2006, § 25ff.
2. Geteiltheit, Gemeinsamkeit und Kollektivität: Zwei Voraussetzungsebenen
gedanklichen Veranschaulichung spiegelt sich auch die Schwerpunktsetzung beider Autoren wider: In der evolutionären Verhaltensforschung nach Tomasello wird die Rolle der Sozialität in der menschlichen Ontogenese und damit vereinfacht die Interrelation der Beteiligten für die Konstitution einer kollektiven Intentionalität betont, sodass bei einem isolierten Subjekt keine kollektive Intentionalität vorliegen kann. Searle seinerseits hebt hervor, dass jedoch wenigstens eine geglaubte kollektive Intentionalität bestehen kann. Plakativ: Kann einer allein ein Kollektiv bilden, das über eine bestimmte Intentionalität verfügt? Nein. Kann einer allein glauben, dass er Mitglied eines Kollektivs ist, das über eine bestimmte Intentionalität verfügt? Ja. Hierzu sind detaillierter folgende fünf Aspekte zu nennen: Mit dieser These geht erstens hervor, dass ein Gehirn im Tank nur dann eine tatsächliche kollektive Intentionalität haben kann, wenn es eben kein Gehirn im Tank mehr ist – ebenso wie der Bewusstlose für die Konstitution einer (neuen) gemeinsamen Welt nicht mehr bewusstlos sein darf; ebenso wie das einsame Subjekt, das solus ipse, wie Robinson, hierzu seine Isolation überwunden haben muss. Der Konsens der Debatte liegt zweitens darin, dass ein einzelnes Subjekt nicht fähig ist eine kollektive Intentionalität im engen Sinne, das heißt einen direkten gegen- oder wechselseitigen Bezug, zu erreichen. Der Dissens besteht hingegen darin, wie hoch die Mindestanzahl der Beteiligten ausfallen muss, damit die Bezeichnung »Kollektiv« adäquat ist: Sind es mindestens zwei Lebewesen? Oder ist es eine dezidiert menschliche Kategorisierung, sodass von mindestens zwei beziehungsweise mindestens drei Subjekten, die in spezifischer Weise aufeinander gerichtet sind, ausgegangen werden muss? Als dritter Aspekt kann angeführt werden, dass der Glaube allein – der Glaube über das Bestehen eines Bezuges aufeinander und auf ein und denselben Intentionalitätsgehalt – nicht hinreichend für eine kollektive Intentionalität im engen Sinne ist, sondern lediglich einer individuellen Intentionalität entspricht, welche sich spezifischer als geglaubte kollektive Intentionalität beschreiben lässt. Ohne ein Kriterium zur Differenzierung, ob man ein Gehirn im Tank ist oder nicht, scheint jedoch eine berechtigte Unterscheidung zwischen einer geglaubten oder tatsächlichen kollektiven Intentionalität unmöglich. Viertens findet sich die These, dass bei einem Gehirn im Tank lediglich ein »purported reference to other members of a collective«176 , entgegen der Auslegung der Rezipienten bereits in Searles Aufsatz »Collective Intentions and Actions« (1990). Allerdings wird diese Position bei Searle ausschließlich in dem einzelnen Wörtchen »purported« ausgeführt und mündet nicht in einer dezidierten begrifflichen Differenzierung von geglaubter und tatsächlicher kollektiver Intentionalität, wie dies in aller Deutlichkeit bei Meijers und Schmid um 2003 geschieht. Zudem bleibt, trotz Hervorhebung der Notwendigkeit der realen Bezugnahme der Beteiligten, Searles 176
Searle: »Coll. Intentions and Actions« (1990), S. 407 (Herv. selbst vorgenommen).
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Ansatz letzten Endes vollumfänglich unbefriedigend, da er es versäumt diese Relation relationsgerecht, das heißt eben gerade nicht individualistisch177 , solipsistisch178 oder internalistisch179 zu beschreiben. Statt wie Searle zu sagen, dass »the collective intentionality in my head […] [and] what is in your head will also be of the form ›we intend‹«180 , sollte man vielleicht eher – wenn auch die Metapher selbst stark überladen ist – davon sprechen, dass die Intentionalität zwischen unseren Köpfen, als Inter-Intentionalität oder sich in unserem Gruppengeist befindet. Fünftens besagt diese These der tatsächlichen Relation zwischen den Beteiligten im Umkehrschluss auch etwas über den notwendigen ontologischen Status der Beteiligten aus: Dritte, also Nicht-Beteiligte dürfen für eine kollektive Intentionalität – sei sie geglaubt oder tatsächlich – fiktiv sein. Man denke an etwa an das simple Beispiel des Weihnachtsmannes oder eine Figur aus einem Roman. Beteiligte hingegen dürfen für eine tatsächliche kollektive Intentionalität nicht fiktiv sein, da man es sonst mit einer geglaubten kollektiven Intentionalität zu tun hat. Nicht nur als Bedingung der Möglichkeit der Konstitution einer gemeinsamen Welt, wie es bei Husserl heißt181 , sondern zunächst überhaupt für eine tatsächliche Relation zwischen den Beteiligten, also für die Konstitution einer Intersubjektivität aus welcher irgendetwas hervorgehen kann, müssen diese Beteiligten real existieren. Es müssen demnach mehrere real existierende Personen real aufeinander bezogen sein. Zwar mag es in Anbetracht des Gehirn-im-Tank-Gedankenexperimentes auf der Hand liegen zwischen tatsächlichen und geglaubten Intentionalitätsformen zu differenzieren – und nicht nur zwischen tatsächlichen und geglaubten Intentionalitätsgehalten. Doch kann, besonders unter Bezugnahme des einsamen Robinson, gefragt werden, ab wann genau – empirisch betrachtet – nicht mehr eine »purported reference to other members of a collective«182 , sondern demgegenüber eine tatsächliche gegen- oder wechselseitige Bezugnahme vorliegt. Legt man die Wirbezüglichkeit, das Vertreten der Gruppeninteressen als Kriterium zugrunde, wie dies besonders bei Tuomela geschieht (siehe Kapitel 3.2), so kann ein einzelnes Subjekt wie Robinson doch über eine kollektive Intentionalität im engen Sinne verfügen. Denn er kann durchaus auch in der Isolation mit einer tiefen Verbundenheit zu seinen englischen Landsleuten englische Traditionen vollziehen – auch wenn niemand Kenntnis über seine Partizipation oder seinen Partizipationswillen hat. Zudem muss eine Definition der Intentionalität – unabhängig davon, um welche
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Vgl. ebd. S. 406 (dt.: S. 106f.). Vgl. Meijers: »Can Coll. Int. Be Individualized?« (2003), S. 177 (dt.: S. 426). Vgl. ebd., S. 181 (dt.: S. 430). Searle: Mind, Language and Society (1998), S. 119 (dt.: S. 143). Vgl. u.a. (i) Husserl: Text Nr. 58: »Konstitution einer gemeinsamen Welt« (1930–1931) (Hua. XXXIX). (ii) Husserl: Beilage XLVIII: »Verrücktwerden und Tod« (um 1915) (Hua. XIII). Searle: »Coll. Intentions and Actions« (1990), S. 407.
2. Geteiltheit, Gemeinsamkeit und Kollektivität: Zwei Voraussetzungsebenen
Form es sich konkret handeln mag – dem Faktum standhalten, dass es zahlreiche, Husserls Terminologie folgend, »zum Dasein der normalen Menschen selbst gehörige, ihrem Leben immanente Anomalitäten«183 gibt, wie etwa die Ohnmacht oder den Schlaf, sodass die Betroffenen sich gegenwärtig in einer Partizipationspause, hier einer Partizipationspause hinsichtlich der Beteiligung an kollektiven Praktiken, befinden. Die Auseinandersetzung mit dem Gedankenexperiment des einsamen Robinson stellt in dieser Hinsicht eine Spezifizierung der Auseinandersetzung mit dem Gehirn im Tank dar: Mittels Robinson kann beim Bezug aufeinander hinsichtlich ein und desselben Intentionalitätsobjektes, beispielsweise dem »common feature«, hervorgehoben werden, ob die Beteiligten tatsächlich von der Partizipation der konkreten Anderen wissen müssen. Muss die Relation der Beteiligten so beschaffen sein, dass mindestens ein Beteiligter konkret weiß, dass Robinson ebenfalls nachmittags Tee trinkt und sich dabei, trotz der räumlichen Distanz, mit den Engländern verbunden fühlt? Oder müssen sie nur wissen, dass irgendjemand ebenfalls diese Kultur vollzieht? Als eines der zentralen Merkmale der Intentionalitätsformen mit mehreren Beteiligten erscheint, dass es sich um physisch real lebende Subjekte handelt, welche in einer realen Bezugnahme zueinanderstehen. In Searles eigenen Darlegungen finden sich bei einem genauen Blick allerdings gewisse Ungereimtheiten: Einerseits betont Searle ausdrücklich, dass man aus der Beobachterperspektive nicht auf die Intentionalität schließen könne, wie er mit der Flucht vor dem Regen unter einen Unterstand veranschaulicht, welcher auch eine geplante Choreografie sein könnte. Andererseits ist für ihn selbstverständlich davon auszugehen, dass Tiere – die er dezidiert nicht aus der »what-it-is-like«Perspektive beschreiben kann –, wie Searle anhand des Bienenstaates und seines eigenen Hundes untermauern möchte, wenigstens über schwache Intentionalität im Sinne der sozialen Tatsachen verfügen (siehe detaillierter: Kapitel 3.3). Zudem argumentiert er dafür, dass jegliche Intentionalitätsformen im individuellen Einzelgehirn liege, während es gleichzeitig heißt, dass kollektive Intentionalität nur im menschlichen Gehirn möglich sei. Unabhängig von inhaltlichen Unstimmigkeiten in Searles Ansatz zielt die Kritik, die etwa von Meijers und Schmid detailliert angeführt wird, darauf, dass Searle aufgrund seiner Methode des individualistischen und solipsistischen Ansatzes, der Perspektive eines Beteiligten, überhaupt nicht das Phänomen der kollektiven Intentionalität beschreiben könne. Meijers und Schmid fordern, basierend auf den Überlegungen zum Gehirn im Tank, eine begriffliche Unterscheidung zwischen geglaubter und tatsächlicher Intentionalität. Doch Searle war mit seinem Aufsatz »Collective Intentions and Actions« nicht
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Husserl: Text Nr. 58: »Konstitution einer gemeinsamen Welt« (1930–1931) (Hua. XXXIX), hier: S. 670 (Herv. selbst vorgenommen).
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nur deshalb für die Debatte prägend, weil sich daraus die Diskussion nach der methodologischen Ausgangslage und dem ontologischen Status der Beteiligten ergab, sondern auch Dispute darüber, wie viele Beteiligte für ein Kollektiv nötig seien und ob die Bezeichnung »kollektive Intentionalität« als Sammelbegriff – und wenn ja für welche Phänomene – gelten könne. Es wird sich zeigen, dass in den Konzeptionen der Intentionalitätsformen in den verschiedenen Strömungen bezüglich dieser Aspekte unterschiedliche Schwerpunkte gelegt werden: In der Phänomenologie, vor allem im Ansatz Edmund Husserls und jenem der gegenwärtigen italienischen Philosophin Francesca Maria de Vecchi dargelegt, wird dabei das Augenmerk auf die verschiedenen menschlichen Relationen gerichtet: Es bestehen ein –, gegen- oder wechselseitige Bezugnahmen, welche sich jeweils als Intentionalitätsformen sui generis beschreiben lassen: als »solitary«, »intersubjective«, »social« und »collective intentionality« (Kapitel 3.1). Dass sich die menschlichen Relationen bezüglich Handlungen als Koordination oder Kooperation – das ist als schwache oder starke kollektive Intentionalität – verstehen lassen, wird hingegen in der sprachanalytischen Auseinandersetzung, vor allem bei Autoren wie Raimo Heikki Tuomela, Michael Bratman und Margaret Gilbert, deutlich (Kapitel 3.2). Dass die kollektive Intentionalität darüber hinaus als spezifisch menschliche Intentionalitätsform zu begreifen ist, wird in der evolutionären Verhaltensforschung nach Michael Tomasello vertreten (Kapitel 3.3). Der Begriff der kollektiven Intentionalität wird dabei nach de Vecchi, Tuomela oder Tomasello – im Gegensatz zur Verwendung nach Searle – nicht mehr als Sammelbegriff verwendet, da er als eine spezifische Intentionalitätsform unter vielen anderen Formen betrachtet wird. Wie sich diese eigentümliche Form jedoch charakterisieren lässt, geschieht in den drei Hauptströmungen der Debatte auf unterschiedliche Weise. Hierbei werden andere Merkmale und Kriterien zugrunde gelegt, weshalb die Beschreibungen des Phänomens sowie die Verwendungen des Begriffs »kollektive Intentionalität« voneinander abweichen. Dabei wird dezidiert dafür plädiert, dass sich die Ansätze – auch wenn ihre Methoden und verwendeten Begriffe drastisch voneinander abweichen mögen –, wenigstens in ihrer Beschreibung hinsichtlich der menschlichen Intentionalitätsformen, fruchtbar ergänzen: Beispielsweise finden sich bei de Vecchi detailliertere Beschreibungen der ein- und gegenseitigen Intentionalitätsformen, während Bratman die Rolle der Freiwilligkeit respektive des Zwanges hinsichtlich der Beteiligung thematisiert. Searle wiederum stellt in den Vordergrund welche Tatsachen aus welcher Intentionalitätsform heraus konstituiert werden, während Tomasello explizit auf die Festsetzung der differentia specifica zielt.
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
Blickt man auf die Verwendungen des Begriffs »Intentionalität« ab dem 20. Jahrhundert – wie es spätestens seit der Debatte um die kollektive Intentionalität ab 1990 verbreitet war –, dann können unterschiedliche Schwerpunkte hinsichtlich der drei Hauptphänomenbereiche Denken, Handeln und Fühlen festgestellt werden. Diese Abweichung tritt besonders in der Extension der Intentionalität hervor: als Bewusstsein von etwas (Phänomenologie), als Bewusstsein einer Handlungsabsicht (Sprachanalytik) oder als Bewusstsein eines Handlungsvollzugs (evolutionäre Verhaltensforschung) (siehe Kapitel 1). Alle drei Strömungen nehmen an, dass verschiedene Intentionalitätsformen, wie die individuelle oder kollektive Intentionalität, bestehen. Hier nun, im dritten Kapitel, wird beleuchtet in welcher Strömung welche Intentionalitätsformen wie und warum voneinander differenziert werden. Denn die Systematisierung der Intentionalitätsformen erfolgt in den drei Hauptströmungen jeweils zu unterschiedlichen Zwecken: zur Differenzierung der Bezugsrichtungen und Bezugsakte der Beteiligten (Phänomenologie), zur Differenzierung von Koordination und Kooperation (Sprachanalytik) oder sogar zur Bestimmung der differentia specifica zwischen dem Tier und dem Menschen (evolutionäre Verhaltensforschung). Die unterschiedlichen Konzepte werden im Folgenden einzeln dargestellt, auf ihre Kohärenz hin überprüft und gegebenenfalls mit kleinen historischen Exkursen ergänzt. Während in der frühen Phänomenologie die verschiedenen Intentionalitätsformen mit mindestens zwei Beteiligten meist mit dem Sammelbegriff »Miteinander« umfasst werden, besteht in der sprachanalytischen Debatte eine größere begriffliche Varianz. Dominant sind dabei drei Hauptbegriffe: »shared«, »joint« und »collective intentionality«. Unerfreulich ist hierbei, dass auch innerhalb der Sprachanalytik keineswegs eine einheitliche Begriffsverwendung besteht, auch wenn die kollektive Intentionalität stets als »höchst entwickelste« Intentionalitätsform betrachtet wird. Die Phänomenologie, die Sprachanalytik und die evolutionäre Verhaltensforschung weichen in der Methode, dem Zweck der Differenzierung der Intentionalitätsformen, den verwendeten Begrifflichkeiten und vielen weiteren Aspekten voneinander ab. Doch liegen sie hinsichtlich des Phänomens selbst eben teils auch sehr
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Formen kollektiver Intentionalität
nah beieinander. Beispielsweise geht die vorherrschende Grundannahme – der hier behandelten, repräsentativen Autoren Husserl, de Vecchi, Tuomela, Bratman, Searle, Gilbert und Tomasello – vom Ich zum Wir beziehungsweise vom Individuum zum Kollektiv aus, weshalb ihre jeweiligen Konzeptionen der Intentionalitätsformen zugleich als genetische Intentionalitätsstufen verstanden werden können. In anderen Worten, hier anhand der Konzeption nach de Vecchi: Die individuelle Intentionalität ist die notwendige Bedingung der intersubjektiven Intentionalität, welche ihrerseits die notwendige Bedingung der kollektiven Intentionalität ist. Während zu Beginn der sprachanalytischen Debatte und der Schöpfung des Neologismus »kollektive Intentionalität« jener Begriff eher als Sammelbegriff für alle Intentionalitätsformen mit mindestens zwei Beteiligten1 diente, ist das gegenwärtige Anliegen zum einen viel eher, dass zahlreiche Intentionalitätsformen bei mindestens zwei Beteiligten in ihrem qualitativen Bezug unterschieden werden müssen – wie die »intersubjective«, »social«, »shared« oder »joint intentionality«. Zum anderen wird zunehmend vertreten, dass eine entweder-oder-Klassifizierung – das ist entweder individuelle oder kollektive Intentionalität – verfehlt ist und es sich vielmehr um eine graduelle Ausprägung handelt. Eine solche Vorgehensweise die Intentionalitätsformen als Stufenmodell zu konzipieren, wurde in aller Deutlichkeit vom Philosophen Tobias Schlicht, wie bereits an seinem Aufsatztitel »Ein Stufenmodell der Intentionalität« (2008) erkenntlich, vertreten. Sein selbsternanntes Ziel besteht in dem Versuch anhand der »Form einer Stufentheorie [...] der Komplexität intentionaler Phänomene gerecht zu werden. [...][Mit dem Zweck] unterschiedliche Manifestationen von Intentionalität in einer [...] Hierarchie komplexer werdender Stufen zu differenzieren und gemäß den unterschiedlichen Anforderungen auf den jeweiligen Stufen angemessen zu beschreiben.«2 Es gilt also, die Intentionalitätsformen in ihrer Wandelbarkeit in einem Modell, oder genauer: in einem Konzept, erfassen zu können. Betrachtet man jene Konzepte der drei Hauptströmungen, so lässt sich allerdings feststellen, dass sich innerhalb der Konzepte die primär betrachteten Bezeichnungskriterien verändern: 1 2
Vgl. u.a. (i) H.B. Schmid: »Intentionalität, koll.« in: Handbuch Politische Philo. u. Sozialphilo. (2008), S. 560. (ii) H.B. Schmid: Plural Action (2009), S. xiii. Schlicht: »Stufenmodell d. Intentionalität« (2008), S. 62. Auf diesen spezifischen Aufsatz wird jedoch im Folgenden aus mehreren Gründen nur rudimentär eingegangen: Unter anderem versteht sich dieser Aufsatz Schlichts ausdrücklich als Anlehnung an Tomasellos Werk The Cultural Origins of Human Cognition (1999). Bei Tomasello lässt sich jedoch ab 2014 ein Auffassungswandel nachweisen, weshalb jene Begriffe – etwa die Verwendung des Begriffs »shared intentionality« –, ältere empirischen Studien und die damit suggerierten Altersangaben, die Schlicht teils von Tomasello übernahm, mit Vorsicht zu behandeln sind (siehe den Abschnitt »Die »shared intentionality« nach Tomasello«).
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
Die Bezeichnung der Intentionalitätsformen richtet sich bei den Autoren der Debatte nämlich danach wer die Intentionalität besitzt: das Individuum (individuelle) oder das Kollektiv (kollektive Intentionalität). Der Fokus liegt hier auf dem Intentionalitätssubjekt und korrespondiert mit der Frage wie viele Beteiligte aufeinander bezogen sein müssen, um gerechtfertigt den Ausdruck »Kollektiv« verwenden zu können. Insbesondere bei de Vecchi und Tomasello findet die begriffliche Differenzierung zudem danach statt, auf was sich gerichtet wird – hier wird anstatt des Intentionalitätssubjektes primär das Intentionalitätsobjekt hervorgehoben. Entsprechend bezieht sich dies einerseits auf das Gegenüber, also darauf als was das Gegenüber anerkannt wird. Somit orientiert sich die Schematisierung der Intentionalitätsformen daran, ob man sich auf ein Objekt, Subjekt oder auf einen (Handlungs-)Partner bezieht (nach de Vecchi: »solitary«, »intersubjective« oder »collective intentionality«). Tomasellos Ansatz der Intentionalitätsformen macht einen solchen Verlauf unter anderem an der kognitiven Entwicklung von Kleinkindern fest: Ist das Kleinkind bereits fähig sich selbst und den Anderen als intentionalen Akteur anzuerkennen oder nimmt es das menschliche Gegenüber noch eher im Sinne eines Objektes wahr? Andererseits zielt die Überlegung zum Intentionalitätsobjekt darauf, was mittels der verschiedenen Intentionalitätsformen konstituiert wird: eine gemeinsame Welt (wie sie von Husserl ausgearbeitet wird), eine Kollaboration oder Kultur (wie von Tomasello prototypisch vertreten wird) oder eine soziale oder institutionelle Tatsache (wie es bei Searle zu finden ist). Doch nicht nur das Intentionalitätssubjekt und das Intentionalitätsobjekt, sondern auch der Intentionalitätsmodus nimmt in den drei Hauptströmungen eine elementare – wenn nicht sogar die entscheidendste – Rolle in den Konzeptionen der Intentionalitätsformen ein. Hierbei wird, je nach Autor, eher der Bezugsmodus als solcher oder eher die Bezugsrichtung genauer charakterisiert: Die Beteiligten sind, so die phänomenologischen Ansätze, mittels des verstehenden oder kommunikativen Aktes (Husserl) beziehungsweise gegen- oder wechselseitig (de Vecchi) aufeinander gerichtet. Zentral für den Sprachanalytiker Tuomela ist, ob die Beteiligten Eigen- oder Gruppeninteressen (»I-« oder »We-mode«) vertreten. Markant ist, dass beide Annahmen in zugespitzter Weise in der evolutionären Verhaltensforschung Tomasellos zu finden sind: Erstens nimmt Tomasello an, dass die Beteiligten für eine »tiefgreifende« Intentionalitätsform nicht nur wechselseitig aufeinander bezogen sind – wie es in der Phänomenologie zugrunde gelegt wird –, sondern in einer wechselseitigen Abhängigkeit, einer Interdependenz zueinander stehen. Zweitens könne die Differenz zwischen den Eigen- und Gruppeninteressen – wie sie bei Tuomela stark gemacht wird – gerade als differentia specifica dienen, da Tiere unaufhaltsam eigenbezüglich handeln würden. Annahmen, die auf den Intentionalitätsmodus referieren, können einerseits, wie in Kapitel 2.1 dargelegt, wieder zurück zur Wer-Frage führen: Wer kann – oder kann gerade nicht – in dieser spezifischen Weise gerichtet sein? Andererseits
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Formen kollektiver Intentionalität
gipfeln sie in einer, wie man sagen könnte, qualitativen Differenzierung der Intentionalitätsformen: Je nach Bezugsart liegt eine andere Intentionalitätsform vor, nämlich die geteilte oder gemeinsame Intentionalität. Die unterschiedlichen Konzeptionen der drei Hauptströmungen sollen im Folgenden anhand einiger repräsentativer Autoren nachgezeichnet werden. Leitend ist dabei die Frage: was wird wie vom wem konstituiert? Der genaue Schwerpunkt wird dabei darauf liegen, zu zeigen, dass innerhalb eines Konzeptes nicht ein Intentionalitätsmoment – das Intentionalitätssubjekt, das Intentionalitätsobjekt oder der Intentionalitätsmodus – einheitlich für die Differenzierung aller Intentionalitätsformen angewandt wird, sondern je nach Intentionalitätsform mehr die Identität des einen oder anderen Intentionalitätsmomentums betont beziehungsweise dass es zu einem Zusammenspiel mehrerer Momente kommt. Kapitel 4 ist darauf angelegt, dass notwendigerweise alle drei Intentionalitätsmomente gleichzeitig und jeweils identischen bei einer »tiefgreifenden« Intentionalitätsform auftreten: Die Beteiligten sind in ein und derselben Weise (Modus) auf ein und dasselbe gerichtet (Objekt) und bilden dabei metaphorisch oder institutionell ein Subjekt. Das Ergebnis des Vergleiches der Intentionalitätsformkonzeptionen wird dabei sein: trotz entscheidender Abweichungen, wie unter anderem in der Terminologie und Methodologie, vertreten Autoren wie Husserl, de Vecchi, Tuomela, Searle und Tomasello zumindest wenn die menschlichen Intentionalitätsformen in den Blick genommen werden der Sache nach ein und dasselbe: der parallele, nebeneinander, gegenseitig aufeinander bezogene, koordinative »I-mode«-Vollzug ist von einem miteinander, kooperativ, wechselseitig sozialen, kommunikativen und wie anzunehmen ist freiwilligen »We-mode« abzugrenzen.
3.1
Der Ansatz der Phänomenologie: Die Intentionalitätsformen als ein–, gegen- und wechselseitige Bezugnahmen
Das Stufenmodell der Intentionalitätsformen nach de Vecchi ist, wie sie selbst darlegt3 , von den Ausführungen Husserls geprägt, der seinerseits erstmals um 1910 den Begriff »Soziale Ontologie« verwendete4 . Prägnant an ihrer Konzeption der
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Vgl. u.a. de Vecchi: »Three Types of Heterotropic Int.« (2014), S. 134. Vgl. (i) Husserl: Intersubjektivität I (Hua. XIII, Texte v. 1905-1920), hier: Beilage XVIII: »Die Gegebenheiten konkreter sozialer Gegenständlichkeiten und Gebilde und die Klärung auf sie bezüglicher Begriffe. Soziale Ontologie und deskriptive Soziologie« (1910), S. 98–104. (ii) Francesca Maria de Vecchi: »The Plural Subject Approach to Social Ontology and The Sharing Values Issue«, in: Phenomenology and Mind (hg. v. Monticelli), Band 9, Band hg. v. Francesca Maria de Vecchi u. Silvia Tossut, 2015, S. 84–96, hier: S. 85. Im Folgenden als : de Vecchi: »Plural Subject Approach« (2015).
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Formen kollektiver Intentionalität
gipfeln sie in einer, wie man sagen könnte, qualitativen Differenzierung der Intentionalitätsformen: Je nach Bezugsart liegt eine andere Intentionalitätsform vor, nämlich die geteilte oder gemeinsame Intentionalität. Die unterschiedlichen Konzeptionen der drei Hauptströmungen sollen im Folgenden anhand einiger repräsentativer Autoren nachgezeichnet werden. Leitend ist dabei die Frage: was wird wie vom wem konstituiert? Der genaue Schwerpunkt wird dabei darauf liegen, zu zeigen, dass innerhalb eines Konzeptes nicht ein Intentionalitätsmoment – das Intentionalitätssubjekt, das Intentionalitätsobjekt oder der Intentionalitätsmodus – einheitlich für die Differenzierung aller Intentionalitätsformen angewandt wird, sondern je nach Intentionalitätsform mehr die Identität des einen oder anderen Intentionalitätsmomentums betont beziehungsweise dass es zu einem Zusammenspiel mehrerer Momente kommt. Kapitel 4 ist darauf angelegt, dass notwendigerweise alle drei Intentionalitätsmomente gleichzeitig und jeweils identischen bei einer »tiefgreifenden« Intentionalitätsform auftreten: Die Beteiligten sind in ein und derselben Weise (Modus) auf ein und dasselbe gerichtet (Objekt) und bilden dabei metaphorisch oder institutionell ein Subjekt. Das Ergebnis des Vergleiches der Intentionalitätsformkonzeptionen wird dabei sein: trotz entscheidender Abweichungen, wie unter anderem in der Terminologie und Methodologie, vertreten Autoren wie Husserl, de Vecchi, Tuomela, Searle und Tomasello zumindest wenn die menschlichen Intentionalitätsformen in den Blick genommen werden der Sache nach ein und dasselbe: der parallele, nebeneinander, gegenseitig aufeinander bezogene, koordinative »I-mode«-Vollzug ist von einem miteinander, kooperativ, wechselseitig sozialen, kommunikativen und wie anzunehmen ist freiwilligen »We-mode« abzugrenzen.
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Der Ansatz der Phänomenologie: Die Intentionalitätsformen als ein–, gegen- und wechselseitige Bezugnahmen
Das Stufenmodell der Intentionalitätsformen nach de Vecchi ist, wie sie selbst darlegt3 , von den Ausführungen Husserls geprägt, der seinerseits erstmals um 1910 den Begriff »Soziale Ontologie« verwendete4 . Prägnant an ihrer Konzeption der
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Vgl. u.a. de Vecchi: »Three Types of Heterotropic Int.« (2014), S. 134. Vgl. (i) Husserl: Intersubjektivität I (Hua. XIII, Texte v. 1905-1920), hier: Beilage XVIII: »Die Gegebenheiten konkreter sozialer Gegenständlichkeiten und Gebilde und die Klärung auf sie bezüglicher Begriffe. Soziale Ontologie und deskriptive Soziologie« (1910), S. 98–104. (ii) Francesca Maria de Vecchi: »The Plural Subject Approach to Social Ontology and The Sharing Values Issue«, in: Phenomenology and Mind (hg. v. Monticelli), Band 9, Band hg. v. Francesca Maria de Vecchi u. Silvia Tossut, 2015, S. 84–96, hier: S. 85. Im Folgenden als : de Vecchi: »Plural Subject Approach« (2015).
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
Intentionalitätsformen ist dabei vor allem Husserls Begriff der Ich-Du-Beziehung5 sowie dessen Unterscheidung zwischen verstehenden und kommunikativen Akten6 . Zwar erweisen sich die Ausführungen de Vecchis nicht als deckungsgleich mit den Annahmen Husserls, dennoch ist offensichtlich, dass sich diese in ihren Grundbestimmungen widerspiegeln. Verstehende Akte nach Husserl zeichnen sich dadurch aus, dass man sich auf einen Anderen hinwendet und diesen versteht, wobei der Andere die Hinwendung auf ihn nicht selbst bemerken muss.7 Man kann also sagen: es ist ein einseitiger Bezug auf den Anderen, eine Relation. Kommunikative Akte hingegen sind jene »Akte, die sich an den Anderen wenden, in denen der Andere bewusst ist als der, an den ich mich wende; [...] [und] der Andere diese Wendung versteht und evtl. sein Verhalten«8 dementsprechend verändert, wie beispielsweise indem er sich nun selbst an mich richtet. In diesem letztgenannten Fall besteht ein zweiseitiger Bezug der Beteiligten aufeinander. In Husserls Worten: »er versteht mich, gewahrt mich, ich gewahre ihn, gleichzeitig«9 , das ist eine Korrelation, eine »Ich-Du-Beziehung« beziehungsweise ein »Wechselverständnis«10 der Beteiligten.11
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Vgl. u.a. Husserl: Intersubjektivität II (Hua. XIV, Texte v. 1921-1928), hier: Text Nr. 9: »Gemeingeist I – Person, Personale Ganze, Personale Wirkungsgemeinschaften. Gemeinschaft – Gesellschaft« (1921), S. 165–184, § 2, S. 166f. u. § 8, S. 178f. Im Folgenden als: Husserl: Text Nr. 9: »Gemeingeist I« (1921) (Hua. XIV). Vgl. (i) Husserl: Intersubjektivität I (Hua. XIII, Texte v. 1905-1920), hier: Beilage XVII: »Überlegungen des Verhältnisses zwischen dem zweiten, psychologischen, und dem dritten, geisteswissenschaftlichen, Weg zum reinem Bewusstsein. Das Verstehen der geistigen Motivation und des Motivationszusammenhanges der individuellen Geister« (1910), S. 90–98, hier: S. 98. Im Folgenden als: Husserl: Beilage XVII: »Weg zum reinen Bewusstsein« (1910) (Hua. XIII). (ii) Husserl: Text Nr. 9: »Gemeingeist I« (1921) (Hua. XIV), S. 166. Vgl. ebd. Es herrscht in der Phänomenologie Einigkeit darin, dass das Verstehen eine elementare Rolle spielt. Die Uneinigkeit liegt jedoch darin, ob man den Anderen zuerst wahrnehmen müsse und sich dann ein Verständnis des Anderen entwickle oder ob vielmehr eine Gleichzeitigkeit beider Momente vorliegt. Husserl: Beilage XVII: »Weg zum reinen Bewusstsein« (1910) (Hua. XIII), S. 98. Vgl. Husserl: Text Nr. 9: »Gemeingeist I« (1921) (Hua. XIV), S. 166. Husserl: Text Nr. 9: »Gemeingeist I« (1921) (Hua. XIV), § 2, S. 167. Vgl. Husserl: Text Nr. 10: »Gemeingeist II. Personale Einheiten höherer Ordnung« (1918 oder 1921) (Hua. XIV), § 4, S. 196. Insbesondere darin, dass Husserl bei einer Kommunikation den Bezug der Beteiligten aufeinander hervorhebt, zeigt sich eine klare Differenzierung zum späteren Kommunikationsverständnis nach Paul Watzlawick. Dieser ist für den Ausspruch bekannt: »Man kann nicht nicht kommunizieren«. Durch seine Einteilung der vier Kommunikationsweisen – verbal, nonverbal, paraverbal und extraverbal – gilt nach Watzlawick, dass beispielsweise auch ein Komapatient kommuniziert, wodurch allerdings die Kommunikation als solche allumfassend und damit wiederum »nichtssagend« wird. Wenn Husserl jedoch unter einem kommunikativen Akt einen zweiseitigen Bezug fasst – und der Komapatient die Wendung auf ihn nicht wahr-
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Formen kollektiver Intentionalität
Mehr noch: der kommunikative Akt – oder die Mit-teilung – beinhaltet nicht nur, dass etwas jemandem gesagt wird, sondern auch, dass man es mit jemandem teilt. Somit wird das Mitgeteilte, in aller Regel eine Nachricht oder Information, im Moment der Mitteilung zu einem Geteilten. Es ist eine Information, die nicht nur der Sprecher, sondern nun auch der Angesprochene besitzt: Die Beteiligten verfügen damit über ein und dieselbe Information. Auf sprachlicher Ebene kann dies entsprechend präzisiert werden: Jemandem etwas mitzuteilen, heißt etwas mit jemandem zu teilen. Mit Hans Bernhard Schmid kann darüber hinaus zudem hinzugefügt werden: durch die Mitteilung und dem Geteilten ändert sich der Status desjenigen, der etwas mitteilt und desjenigen, dem etwas mitgeteilt wird. Beide Parteien werden zu Teilenden, zu »sharers«. Um zu verdeutlichen, was er hiermit meint, nimmt Schmid Bezug auf eine Situation, die kaum alltäglicher sein könnte: Ich trete aus der Haustür und sage meinem Nachbarn, dass ich das Wetter heute schön finde. Diese völlig banal erscheinende Aussage ist aber nicht einfach eine Aussage in der Art einer persönlichen Stellungnahme »Ach, ist das Wetter heute schön«. Es ist gleichzeitig eine Mit-teilung, da nun mein Nachbar über mich weiß, welche Wetterpräferenzen ich habe. Es ist ebenso, wie Schmid darlegt, ein Ausdruck von Freundlichkeit meinem Nachbarn gegenüber12 und es besteht – wenigstens implizit – eine Aufforderung darauf einzugehen, ob auch er diese Position vertritt, sodass bereits an dieser simplen Situation nach Übereinstimmungen oder Unterschieden gesucht werden kann. Wird er etwa sagen, dass er lieber Schnee hätte, weil er gerne Ski fahre, dann weiß ich als Skimuffel, dass hier sein und mein Intentionalitätsgehalt weit auseinander gehen. Antwortet mein Nachbar jedoch: »Ja stimmt, heute ist wirklich schönes Wetter. Es ist nicht zu kühl oder zu heiß und nicht zu schwül«, dann habe ich, simpel formuliert, ihn schon mal in Bezug auf das Wetter auf meiner Seite. Genau in diesem zweiten Fall gilt, so kann nun mit Schmid gesagt werden: »[t]he conversation [...] marks a step from their sharing an experience to their counting as sharers of an experience.«13 Gerade aufgrund dieser Vielschichtigkeit der kommunikativen Akte betrachtet Husserl diese als konstitutiv für die Sozialität. Sie sind, so heißt es bei Husserl wörtlich: »die Akte, die zwischen Person und Person eine höhere Bewusstseinseinheit herstellen und in sie die Dingwelt als gemeinsame Welt des Urteilens, Wollens, Wertens ein-
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nimmt – so liegt nach Husserl in Fällen dieser Art lediglich ein einseitiger verstehender Akt vor. Vgl. Hans Bernhard Schmid: »Sharing in Truth – Phenomenology of Epistemic Commonality«, in: The Oxford Handbook of Contemporary Phenomenology, hg. v. Dan Zahavi, Oxford University Press, Oxford, 2012, S. 399–419, hier: S. 399. Im Folgenden als: H.B. Schmid: »Sharing in Truth« (2012). Ebd., S. 417 (Herv. übernommen).
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
beziehen. Die Welt, soweit sie diese Einbeziehung hat, erhält den Charakter einer sozialen Welt, einer Welt, die geistige Bedeutung angenommen hat«14 Auf diese Grundaufteilung in verstehende Akte, das ist einseitige Bezüge einerseits und kommunikative Akte, Wechselverständnisse andererseits wird in der gegenwärtigen Intentionalitätsdebatte bei de Vecchi ausführlicher eingegangen. Die von ihr vertretene Differenzierung ist, so lässt sich feststellen, vorwiegend davon geleitet, wie die Rolle der involvierten Beteiligten genauer zu fassen ist. Dabei hat man es konkret mit der Frage zu tun, ob der Andere entweder erstens als Adressat, zweitens als Partner oder drittens weder als Adressat noch als Partner aufgefasst wird.15 Eine Dreiteilung dieser Art nach der Rolle des Beteiligten ist – wenn auch völlig anders ausgearbeitet – in der Sprachanalytik und evolutionären Verhaltensforschung anzutreffen. Es wird sich nämlich zeigen, dass die Frage, wie man gerichtet ist, durchaus bedingt, auf wen man bezogen ist, da durch die Art und Weise der Gerichtetheit der Andere in bestimmter Weise anerkannt wird: Ist man lediglich verstehend auf den Anderen gerichtet, so ist der Andere – ganz im Gegensatz zum Fall einer kommunikativen Zuwendung – weder ein Adressat noch ein Partner. De Vecchi diagnostiziert, dass der Intentionalitätsmodus die Intentionalität als solche prägt und spricht beispielsweise bei einem sozialen Akt von einer »sozialen Intentionalität«.16 Mit Hilfe ihrer Ausführungen und der, insbesondere im deut-
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Husserl: Beilage XVII: »Weg zum reinen Bewusstsein« (1910) (Hua. XIII), S. 98 (Herv. selbst vorgenommen). Hierbei ist zu vermerken, dass es sich um Kommunikation im weitesten Sinne handelt. Wie es auch bei Searle heißt: Ein »collective behaviour« kann – muss jedoch nicht notwendigerweise – auf einer verbalen Sprache basieren (vgl. Searle: »Coll. Intentions and Actions« (1990), S. 402). Diese Auffassung ist auch für die Arbeiten des Philosophen Enrico Terrone kennzeichnend, wie bereits Aufsatztitel wie »Making the Social World without Words« beweisen (vgl. Enrico Terrone: »Making the Social World without Words«, in: Phenomenology and Mind (hg. v. Monticelli), Band 2, Band hg. v. Francesca de Vecchi, IUSS Press, 2012, S. 219–229). Vgl. de Vecchi: »Three Types of Heterotropic Int.« (2014), S. 125. De Vecchi geht in »Three Types of Heterotropic Intentionality«, wie bereits der Aufsatztitel ausdrückt, von ausschließlich drei Intentionalitätsformen mehrere Subjekte betreffend aus: »I [de Vecchi] claim that collective, intersubjective and social intentionality are all intentionality types we experience and perform in our social and institutional everyday lives« (de Vecchi: »Three Types of Heterotropic Int.« (2014), S. 118. (Herv. selbst vorgenommen)). Stellenweise finden sich in eben diesem Aufsatz jedoch auch Passagen, die schlussfolgern lassen, dass sie von wenigstens drei Formen ausgehe: »I [de Vecchi] claim that there are at least three types of heterotropic intentionality: collective, intersubjective and social intentionality« (ebd., S. 121 (Herv. selbst vorgenommen)). Da die intersubjektive, die soziale und die kollektive Intentionalität bei ihr jedoch die dominantesten Rollen einnehmen, wird sich im Verlauf dieser Arbeit lediglich auf diese fokussiert. Zudem ist festzuhalten, dass de Vecchi die hier erörterte Stufenfolge – von der intersubjektiven über die soziale hin zur kollektiven Intentionalität – nur bedingt vertritt, da ihre Aussage auch so gelesen werden kann, dass diese Stufenfol-
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Formen kollektiver Intentionalität
schen Sprachraum möglichen, begrifflichen Unterscheidung kann prägnanter, so soll hier argumentiert werden, zwischen den einseitigen, gegenseitigen und wechselseitigen Bezugsrichtungen differenziert werden.
Der einseitige Bezug auf ein Objekt Schon bei Husserl lässt sich deutlich erkennen, dass dieser das Ich als Ausgangspunkt wählt17 und von diesem beginnend die Beschreibung der Konstitution der Gemeinschaft, des Wir vollzieht. Diese zunächst solipsistisch anmutende, auf das einzelne Lebewesen fixierte Vorgehensweise lässt sich auch bei de Vecchi, Tomasello und Schlicht finden. Unter einer »intentionality of individuals«, welche von de Vecchi auch »solitary intentionality« genannt wird18 , subsumiert sie »all intentional states, acts and actions that can be performed and experienced by myself alone, without any reference to or interaction with other subjects«19 . Das heißt es liegt ausschließlich ein Bezug auf ein Objekt oder mehrere Objekte vor.20 Hierunter sind beispielsweise folgende Phänomene zu fassen: Ich erlebe das Meer vor mir; ich habe die Absicht schwimmen zu gehen oder ich fühle mich gut, während ich schwimme.21 Für diese Gefühle, Gedanken und Handlungen benötige ich kein weiteres Lebewesen auf welches ich Bezug nehme oder das Bezug seinerseits auf mich nimmt. Die von ihr verwendete Bezeichnung »intentionality of individuals« mag demnach zwar weitläufig auf Individuen, das ist Einzelwesen jeglicher Art, ausgelegt sein, doch sind ihre Beispiele – ganz nach phänomenologischer Manier – stets aus der Ich-Perspektive gewählt, weshalb die »vereinzelte Intentionalität« in ihrem Sinne wohl wie folgt zusammengefasst werden kann: Es ist jene Intentionalität, welche einem Subjekt zuzuschreiben ist, wobei kein Bezug – nicht einmal ein einseitiger – zu einem Anderen besteht. Es liegt keine Interaktion zu oder mit einem anderem Subjekt oder mehreren Subjekten vor.22
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ge nicht in allen Fällen vorliegt: »I [de Vecchi] maintain that intersubjective intentionality is in many cases the basis of collective and social intentionality. For instance, in the case of collective intentions and collective actions, in order to cooperate towards a common goal, a relation among the subjects, which is the basis of the agreement and the commitment towards the shared goal, is needed.« de Vecchi: »Coll. vs. intersubjective and social int.« (2011), S. 82 (Herv. selbst vorgenommen)). »›Ich bin‹ ist für mich […] der intentionale Urgrund für meine Welt«. Edmund Husserl: Formale und transzendentale Logik – Versuch einer Kritik der logischen Vernunft, Martinus Nijhoff Verlag, Den Haag, 1974, Hua. Band XVII, § 95, S. 243–244, hier: S. 243. Vgl. de Vecchi: »Making the Social World or Everyday Life World« (2012), S. 17. de Vecchi: »Three Types of Heterotropic Int.« (2014), S. 121 (Herv. selbst vorgenommen). Vgl. ebd., S. 117. Vgl. ebd., S. 121. Auch hier zeigt sich gewissermaßen eine Referenz zu Husserl, bei welchem sich ebenfalls eine Differenzierung hinsichtlich des Intentionalitätsobjektes zeigt: Bin ich auf ein Objekt
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
Ähnlich, wenn auch nicht en detail als Synonym hierzu, erweist sich Tomasellos Auffassung der ersten Stufe der individuellen Intentionalität: Diese wird bei ihm als »flexible, individual self-regulated, cognitive way of doing things«23 definiert. Wie bei de Vecchis »solitary intentionality« geht es hier prinzipiell ausschließlich um den Bezug auf Objekte. Anders als de Vecchi schreibt er diese Intentionalitätsform erstens auch Tieren zu: Es ist jene Intentionalität, die einem Individuum zuzuschreiben ist. Tomasello ist zweitens, aufgrund seines Ansatzes der evolutionären Verhaltensforschung, darauf fokussiert, wie der Unterschied zwischen einer Intentionalität von Kleinkindern und jener von Menschenaffen genauer charakterisiert werden kann. Er geht dabei von folgender ontogenetischer Grundannahme aus: die kognitiven Fertigkeiten und Fähigkeiten, wie das tiefgreifende Verständnis bezüglich des Anderen als intentionalen Akteur, setzen erst um ein Entwicklungsstadium eines bestimmten Kindesalter herum ein. Folglich sei es durchaus möglich, dass ein Kleinkind im Alter von wenigen Monaten auf ein Subjekt, wie beispielsweise die Mutter gerichtet ist, dieses Gegenüber jedoch noch nicht als intentionalen Akteur auffasst und damit – plakativ formuliert – für das Kleinkind als Objekt, beispielsweise als Milchquelle, erscheint. Hieraus schlussfolgert Tomasello, wie in seiner Nachfolge auch Tobias Schlicht24 , dass es sich bei der ersten Stufe der Intentionalitätsformen lediglich um einen »Umgang mit Dingen« handelt. Als Beispiel dieser Intentionalitätsform führt Schlicht das »zielgerichtete[...] Greifen eines Säuglings nach einem Spielzeug«25 an. Wenn jedoch Tomasello dies als flexible, selbstregulierte Art und Weise des Umgangs mit Dingen fasst, so bleibt doch in seinen Ausführungen unerläutert, was genauer hierunter verstanden werden soll. Da Tomasello zum einen die Entwicklung der Gerichtetheit eines Individuums auf ein weiteres Individuum ebenfalls als individuelle Intentionalität betitelt und zum anderen von einem Ich zum Wir ausgeht, also Intentionalitätsstufen postuliert, spricht viel dafür, die obige, etwas rätselhafte Formulierung als erste Stufe der individuellen Intentionalität zu deuten. Die zweite Stufe – die Gerichtetheit auf ein weiteres Lebewesen – trete etwa dann auf, wenn ein Schimpanse bei seiner Jagd nicht nur die Beute, wie einen kleinen Columbusaffen, sondern auch das Verhalten der anderen Beutefänger, also der Konkurrenten, im Blick hat (siehe Kapitel 3.3). Um es kurz zu machen: als Gerichtetheit auf ein Objekt wählt de Vecchi die Bezeichnung »solitary intentionality«, während dies bei Tomasello der ersten Stufe
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gerichtet, verfüge ich nach Husserl über »Dingintentionalität« (vgl. Husserl: Intersubjektivität II (Hua. XIV, Texte v. 1921-1928), hier: Text Nr. 27: »Wie sieht die Motivation aus, die innerhalb der originalen Erfahrung die Konstitution der nicht original wahrnehmbaren Bestimmungen des Anderen hervortritt?« (1927), S. 473–477, hier: S. 473). Tomasello: Human Thinking (2014), S. 9 (dt.: S. 23). In diesem Sinne deckt sich diese erste Stufe der Intentionalität mit jener ersten Intentionalitätsform nach Schlicht (vgl. Schlicht: »Stufenmodell d. Intentionalität« (2008), S. 69ff.). Ebd., S. 69.
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der »individual intentionality« entspricht. Aufgrund seiner Fokussierung auf die Genese verortet Tomasello die individuelle Intentionalität – als Intentionalität eines Individuums, des Einzelwesens – sowohl bei Menschen als auch bei Tieren, weshalb diese nicht als differentia specifica gelten kann. De Vecchi verwendet in ihren Beispielen demgegenüber stets die Erste-Person-Perspektive Ich, wie etwa »I see that you intend to go to the movies«26 , sodass angenommen werden kann, dass sie vieleher von beteiligten Subjekten ausgeht. Entscheidend ist für sie, ebenso wie für Tomasello, nicht wer konkret die Intentionalität hat – ein Tier, ein Subjekt oder Ich –, sondern in welcher Lage oder in welchem Modus sich der Beteiligte befindet, hier nämlich: der Beteiligte ist vereinzelt (»solitary«) ohne jeglichen Bezug auf ein weiteres Lebewesen.
Bemerkungen und Kritik an der Auffassung der individuellen, vereinzelten Intentionalität Bei diesen Ansätzen der Gerichtetheit auf ein Objekt nach de Vecchi und Tomasello müssen jedoch mindestens drei Aspekte hervorgehoben werden: Erstens weichen de Vecchi und Tomasello beide von einem üblichen Intentionalitätsverständnis der individuellen Intentionalität, zumindest jenem Verständnis in der Philosophie, ab, weshalb sich in der Debatte schlussendlich mindestens vier unterschiedliche Verwendungsweisen dieses Begriffes finden lassen. Zweitens kann zur Gerichtetheit auf ein Objekt – also der »solitary intentionality« beziehungsweise der »individual intentionality« erster Stufe – angemerkt werden, dass beide Autoren diesen lediglich zur Vervollständigung ihrer jeweiligen Konzeption anführen und sich nicht damit befassen, wie häufig diese Intentionalitätsform tatsächlich empirisch betrachtet auftritt – unabhängig von der Tatsache, dass sich eine Vereinsamung psychisch wie physisch negativ auf den Betroffenen auswirkt.27 26 27
Vgl. de Vecchi: »Coll. vs. intersubjective and social int.« (2011), S. 74. Die empirische Erforschung der negativen Auswirkungen einer übermäßigen Vereinzelung beziehungsweise die positiven Auswirkungen der wechselseitigen, kooperativen Bezüge – wie insbesondere Freundschaft und Liebe – ist in den letzten Jahrzehnten unter dem Begriff »social cure« zu einem eigenständigen Forschungsstrang herangewachsen. Beispielsweise, dass bereits ein kurzer Körperkontakt zu einer Ausschüttung von Endorphinen führt, welche wiederum ihrerseits eine Schmerzlinderung mit sich bringt (vgl. u.a. The Social Cure – Identity, Health and Well-being, hg. v. Jolanda Jetten, Catherine Haslam u. Alexander Haslam, Psychology Press, Hove/New York, 2012). So wurde etwa empirisch festgestellt, dass eine hohe Sterblichkeitsrate in Elendsvierteln der Großstädte zwar durch offensichtliche Faktoren wie Geld- und Hygienemangel beeinflusst ist, jedoch auch erheblich von weiteren Aspekten bedingt ist, wie fehlende Unterstützung von Verwandten und Freunden sowie mangelhafte Partizipationsmöglichkeit an sozialen Praktiken (vgl. Dunbar: Grooming, Gossip, Evolution of Language (1997), S. 200f. (dt.: S. 256)).
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
Drittens kann festgestellt werden, dass beide jeweils die allererste Stufe ihrer Intentionalitätsformkonzeption dahingehend differenzieren auf was sich gerichtet wird: Es ist die Gerichtetheit auf ein Objekt. Wer dabei konkret worauf gerichtet ist, wird begrifflich nicht näher erfasst, das heißt ob ein Affe oder ein Mensch auf eine Banane gerichtet ist oder sogar ob ich gerichtet bin, ist irrelevant, da alle diese Varianten als »solitary intentionality« (de Vecchi) beziehungsweise als erste Stufe der individuellen Intentionalität (Tomasello) begriffen werden. Demgegenüber soll hier für die Unterscheidung der individuellen, subjektiven und Ich-Intentionalität argumentiert werden – wer also genau dieses Intentionalitätssubjekt ist. Darüber hinaus ist ohne dass de Vecchi und Tomasello dies selbst hervorheben, innerhalb ihrer jeweiligen Konzeptionen ein Kriteriumswechsel feststellbar: Ist bei der ersten Stufe wohl das Intentionalitätsobjekt ausschlaggebend, so ist es später vielmehr der Intentionalitätsmodus der bei beiden in den Vordergrund rückt: wie die Beteiligten aufeinander Bezug nehmen, nämlich gegen- oder wechselseitig (de Vecchi) beziehungsweise im »I-« oder im »We-mode« (Tomasello): Sind mindestens zwei Subjekte gegenseitig aufeinander bezogen, besteht eine intersubjektive Intentionalität, sind sie jedoch wechselseitig sozial aufeinander bezogen, liegt eine kollektive Intentionalität vor (de Vecchi). Sind mindestens zwei Subjekte im »I-mode« aufeinander bezogen, besteht weiterhin eine individuelle Intentionalität, sind sie jedoch im »We-mode«, so besteht, laut Tomasello, – je nach tatsächlicher Anzahl der Subjekte (noch etwas präziser: je nach tatsächlicher Anzahl der Personen) – eine »joint« oder »collective intentionality«. Bei beiden Autoren mündet die Darstellung also in der kollektiven Intentionalität: Es ist vereinfachend ein Kollektiv, das Bewusstsein von etwas beziehungsweise Bewusstsein eines Handlungsvollzuges hat. Aus der Beschreibung des Intentionalitätsmodus wurde damit jedoch slippery slope der Fokus auf das Intentionalitätssubjekt verlegt. Dieser Kriteriumswechsel vom Intentionalitätsobjekt über den Intentionalitätsmodus zum Intentionalitätssubjekt ist problematisch, weil er von beiden Autoren selbst nicht offengelegt wird. All diesen drei Aspekten – erstens den verschiedenen Verwendungsweisen des Begriffs »individuelle Intentionalität« in der Debatte, zweitens der empirischen Frage nach dem tatsächlichen Ausmaß der »vereinzelten Intentionalität« und drittens dem Kriteriumswechsel innerhalb der Konzeption de Vecchis und Tomasellos – wird nun einzeln genauer nachgegangen.
Die Verwendungsweisen des Begriffs »individual intentionality« Um deutlich zu machen, dass der Begriff »individual intentionality« in vierfacher Weise auftritt, bedarf es einer Klarstellung, dass de Vecchi, Tomasello und Schlicht in ihrer Verwendungsweise dieser Bezeichnung vom üblichen philosophischen Verständnis abweichen. Sowohl im phänomenologischen als auch sprachanalytischen Verständnis wird die Intentionalität gefasst als Gerichtetheit auf etwas – konkret:
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als Bezugnahme auf ein Objekt oder ein Subjekt. Während dieser Bezug bisher in der Forschung kaum voneinander differenziert wurde, da man meist beide Formen unter der individuellen Intentionalität subsumierte, bestehen für de Vecchi hierbei dezidiert zwei unterschiedliche Intentionalitätsformen der einseitigen Bezugnahme: die vereinzelte und die intersubjektive Intentionalität. Tomasello sticht seinerseits wiederum durch den empirischen Ansatz und der Beobachterperspektive aus den Debattenteilnehmern heraus: Ihm zufolge verfügen auch Tiere sowie menschliche Kleinkinder bis circa neun Monaten ausschließlich über eine »individual intentionality«.28 Ab dem Zeitpunkt, an dem Kleinkinder fähig sind den Anderen als gleichberechtigten intentionalen Akteur anzuerkennen ist es ihnen – ganz im Gegensatz zum Tier – möglich über die individuelle Intentionalität hinaus zu kommen.29 Wobei deutlich betont werden muss, dass Tomasello dies ausnahmslos aus seinen Beobachtungen heraus schließt. Diese Vorgehensweise steht einerseits der phänomenologischen Beschreibung entgegen, welche aus der Eigenperspektive heraus erfolgt: Als erwachsener Mensch kann ich nicht beschreiben, wie es ist ein Tier oder ein Kleinkind zu sein. Spezifischer: wie soll es möglich sein, dass ich mittels vollentwickelter kognitiver Fähigkeiten adäquat beschreiben kann, wie es ist, wenn diese Fähigkeiten eben noch unterentwickelt sind? Andererseits fällt Tomasello mit dem Ansatz seiner Beschreibung aus der Beobachterperspektive hinter die sprachanalytischen Überlegungen Searles zurück. Denn, so heißt es bei Searle im Aufsatz »Collective Intentions and Actions« (1990), die äußerlich sichtbaren Körperbewegungen können bei individuellen und kollektiven Absichten identisch ausfallen30 , weshalb eine Beobachterperspektive bei der Frage der Intentionalitätsformen eben gerade nicht angemessen ist. Drittens gilt, nach Tomasellos Adaption der Begrifflichkeiten Tuomelas, dass eine »individual intentionality« primär als Fokussierung auf die Eigeninteressen aufzufassen sei.31 Während jedoch Tuomela den Begriff »I-mode« lediglich bei Subjekten anwendet, sieht Tomasello darin letztendlich die Begründung der differentia specifica: Menschenaffen seien permanent an die Verfolgung der Eigeninteressen gebunden. Bei menschlichen Kleinkindern ab einer bestimmten Entwicklungsstufe hingegen, bestehe zumindest die Möglichkeit, dass diese ein Gruppen- statt eines Eigeninteresses vertreten könnten (siehe Kapitel 3.3). Verfolgen sie Gruppeninteressen, so handelt es sich nach Tomasello per definitionem nicht um eine individuelle Intentionalität, sondern – abhängig davon wie viele weitere Beteiligte bestehen – um eine »joint« oder »collective intentionality«. Kurz und knapp: in dem Moment, in dem ein Subjekt im »We-mode« auf ein anderes Subjekt bezogen ist, tritt nach Tomasello eine fundamentale Wende ein. In
28 29 30 31
Vgl. Tomasello: Human Thinking (2014), S. 7ff. u. S. 24ff. (dt.: S. 21ff. u. S. 43ff.). Vgl. ebd., S. 39 (dt.: S. 65). Vgl. Searle: »Coll. Intentions and Actions« (1990), S. 402f. (dt.: S. 101). Vgl. Tomasello: Human Thinking (2014), S. 135f. (dt.: S. 201).
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
dem üblichen philosophischen Verständnis der individuellen Intentionalität des 20. Jahrhundert blieb demgegenüber offen auf was genau die Gerichtetheit abzielt – auf ein Objekt oder ein anderes Subjekt – und welche Grundhaltung – das Eigenoder Gruppeninteresse – dabei vorliegt. Als kurzes Zwischenfazit lässt sich damit festhalten: die an der gegenwärtigen Debatte beteiligten Forscher Tomasello, Schlicht und de Vecchi entwerfen je ein Stufenmodell der Intentionalität. Alle drei nehmen als grundlegende, erste Stufe die Gerichtetheit auf ein Objekt an. Während de Vecchi dies »solitary intentionality« nennt, verwenden Tomasello und Schlicht hierfür die Bezeichnung »individual intentionality«. De Vecchi geht es bei der »solitary intentionality« um die Gerichtetheit eines Subjektes auf ein Objekt, während die erste Stufe der individuellen Intentionalität nach Tomasello als Gerichtetheit eines Lebewesens auf ein Objekt definiert werden kann. Als zweite Stufe der individuellen Intentionalität gilt wohl nach Tomasello die Gerichtetheit eines Lebewesens auf ein weiteres Lebewesen. Diese beiden Stufen der Gerichtetheit eines Lebewesens nach Tomasello dürfen nicht mit der individuellen Intentionalität nach de Vecchi verwechselt werden, denn hierbei geht es um die Gerichtetheit eines Subjektes auf ein anderes Subjekt. Diese Verwendungsweisen Tomasellos und Schlichts der »individuellen Intentionalität« sowie de Vecchis »vereinzelter Intentionalität« müssen dezidiert von einem phänomenologischen oder sprachanalytischen Verständnis, wie es üblicherweise vorherrscht, abgegrenzt werden, da in diesen nicht danach differenziert wird, ob das Subjekt auf ein Objekt oder ein anderes Lebewesen beziehungsweise Subjekt gerichtet ist: Die Bezeichnung »individuelle Intentionalität« im geläufigen philosophischen Sinne ist die Gerichtetheit eines Subjektes auf ein Objekt oder auf ein anderes Subjekt. Kurzum: es finden sich in der Debatte rund um die kollektive Intentionalität unterschiedliche Definitionen der individuellen Intentionalität: als »I-mode«Gerichtetheit eines Lebewesens auf ein Objekt (1. Stufe nach Tomasello und Schlicht), als »I-mode«-Gerichtetheit eines Lebewesens auf ein anderes Lebewesen (2. Stufe nach Tomasello), als Gerichtetheit eines Subjektes auf ein anderes Subjekt (de Vecchi) oder ganz und gar umfassend als Gerichtetheit eines Lebewesens auf ein Objekt oder Lebewesen (siehe Tabelle Nr. 2).
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Tabelle Nr. 2: Die Verwendungsweisen des Begriffs »individuelle Intentionalität« Verwendung des Begriffs »individual intentionality«
Für welches Phänomen?
1. Stufe der »individual intentionality« (Tomasello u. Schlicht) = »solitary intentionality« (de Vecchi)
Die Gerichtetheit eines Lebewesens auf ein Objekt.
2. Stufe der »individual intentionality« (Tomasello u. Schlicht)
Die Gerichtetheit eines Lebewesens auf ein anderes Lebewesen nach Tomasello genauer: die »I-mode«-Gerichtetheit eines Lebewesens auf ein anderes Lebewesen.
»Individual intentionality« (de Vecchi)
Die Gerichtetheit eines Subjektes auf ein Subjekt.
Übliche Auffassung: individuelle Intentionalität
Die Gerichtetheit eines bewusstseinsfähigen Lebewesens auf etwas – unabhängig davon in welchem Modus der Bezug konkret stattfindet (»I-« oder »We-mode«) und unabhängig davon auf was sich dabei konkret bezogen wird (auf ein Objekt, ein anderes Lebewesen oder ein Subjekt).
Hieran schließt sich unmittelbar die zweite zentrale Bemerkung zum Verständnis der vereinzelten oder individuellen Intentionalität an: Es wird lediglich im Allgemeinen unterschieden wer gerichtet ist, nämlich ein Lebewesen oder ein Subjekt. Die strikte Differenzierung wer konkret gerichtet ist, ist gerade deshalb hervorzuheben, da einerseits in Bezug auf die wechselseitigen Intentionalitätsformen eine Differenzierung hinsichtlich des Intentionalitätssubjektes üblich scheint, wie besonders mit der kollektiven und Wir-Intentionalität verdeutlicht werden kann: Die kollektive Intentionalität erhält ihren Namen, so die überschaubare These, daraus, dass ein Kollektiv gerichtet ist. Die Wir-Intentionalität, weil wir gerichtet sind. Liegt hierbei nicht nur eine Zusammensetzung, sondern ein Zusammenhalt der Beteiligten vor, dann lässt sich diese Intentionalität in ihrer Qualität wie folgt genauer fassen: das Kollektiv ist auf sich und wir sind auf uns gerichtet, sodass eine Identität des Intentionalitätsmodus besteht und gewissermaßen das Intentionalitätssubjekt und das Intentionalitätsobjekt zusammenfällt (siehe Kapitel 4). Andererseits wurde in dieser Arbeit an früherer Stelle gerade dafür plädiert, ebenfalls bei den einseitigen Bezugnahmen eine begriffliche Präzisierung hinsichtlich des Intentionalitätssubjektes vorzunehmen und zwischen einer individuellen, subjektiven und Ich-Intentionalität zu unterscheiden. Demnach also spezifischer zu fragen, wem diese Intentionalität zuzuschreiben ist. Unter der Bezeichnung »solitary intentionality« (de Vecchi) oder der »individuellen Intentionalität« (Tomasello und Schlicht) findet keine Binnendifferenzierung statt, ob es sich um eine
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
von mir »selbsterlebte Intentionalität«32 oder um eine Fremdzuschreibung handelt. Beispielsweise, ob der Affe auf eine Banane gerichtet ist, ob Berta ins Kino möchte oder ob ich allein am Strand das Meer genieße. Daher sollte die Bezeichnung »individuelle Intentionalität« ausschließlich dann Verwendung finden, wenn es sich um ein Einzelwesen handelt, welches allgemeiner auch als Lebewesen gefasst werden kann. Während der Begriff »Subjekt«, so wurde ebenso simpel argumentiert, ausschließlich für den Menschen reserviert sein sollte. Möchte man hervorheben, dass es sich um meine subjektive Intentionalität handelt, dann kann als Spezifizierung der subjektiven Intentionalität aus Sicht des Sprechers von einer Ich-Intentionalität die Rede sein. Die Hierarchisierung dieser drei Intentionalitätsformen – der individuellen, subjektiven und Ich-Intentionalität – lässt sich wie folgt fassen: Jede Ich-Intentionalität ist eine subjektive Intentionalität, da jedes Ich auch ein Subjekt, ein Mensch ist. Ebenso ist aber auch offenkundig, dass nicht jede subjektive Intentionalität eine Ich-Intentionalität ist. Das Verhältnis der subjektiven zur individuellen Intentionalität ist ebenfalls hierarchisch: Jede subjektive Intentionalität ist eine individuelle Intentionalität, aber nicht jede individuelle Intentionalität ist eine subjektive Intentionalität, denn: Jedes Subjekt ist ein Individuum, aber nicht jedes Einzelwesen – man denke etwa an einen Schimpansen oder ein Meerschweinchen – ist ein Subjekt. Ebenso wie deren Ontologie, muss auch ihre jeweilige Intentionalität voneinander differenziert werden (Tabelle Nr. 3). Tabelle Nr. 3: Ich –, subjektive und individuelle Intentionalität Bezeichnung
Charakterisierung
Ich-Intentionalität
Selbsterfahrung: Ich bin auf etwas gerichtet.
Subjektive Intentionalität
Fremdzuschreibung: Das Subjekt dort ist auf etwas gerichtet.
Individuelle Intentionalität
Fremdzuschreibung: Das Individuum dort ist auf etwas gerichtet.
Ausgehend von dieser Differenzierung lässt sich die Aussage Schmids präzisieren, dass die kollektive Intentionalität zumindest bei Searle als Oberbegriff verwendet wurde33 . Denn nun zeigt sich, dass zwei Begriffe als Sammelbezeichnungen fungierten: Erstens umfasst der Begriff »kollektive Intentionalität« – wenigstens bei Searle – jegliche Intentionalitätsformen mit mindestens zwei Beteiligten – völlig unabhängig davon, wie die Beteiligten konkret aufeinander bezogen sind und ob dabei Menschen und/oder Tiere involviert sind. Zweitens diente jedoch auch der Begriff »individuelle Intentionalität« als allumfassende Terminologie für 32 33
Vgl. Husserl: Text Nr. 10: »Gemeingeist II. Personale Einheiten höherer Ordnung« (1918 oder 1921) (Hua. XIV), § 2, S. 194. Vgl. (i) H.B. Schmid: »Intentionalität, koll.« in: Handbuch Politische Philo. u. Sozialphilo. (2008), S. 560. (ii) H.B. Schmid: Plural Action (2009), S. xiii.
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Formen kollektiver Intentionalität
jegliche Intentionalitätsformen eines Beteiligten – völlig unabhängig davon, ob es sich dabei konkret um ein Individuum, wie einen Affen, um ein Subjekt wie Berta oder um mich handelt. Die erste Stufe der Konzeption der Intentionalitätsformen nach de Vecchi, Tomasello und Schlicht ist jedoch nicht nur das Fehlen der Differenzierung danach, wer konkret die Intentionalität hat – das Individuum, das Subjekt oder Ich – markant, sondern auch, dass jene Intentionalitätsform immer als vereinzelte gefasst wird: die »solitary« beziehungsweise die erste Stufe der »individual intentionality« ist die Gerichtetheit eines Lebewesens auf ein Objekt. Doch wie oft tritt diese spezifische Intentionalitätsform tatsächlich auf? Obwohl es für die begriffliche Differenzierung keine Rolle spielt, zeigt die Empirie, dass eine rein vereinzelte Intentionalität wohl am prägnantesten in Situationen wie dem Robinson-CrusoeSzenario zu finden ist – was durchaus selten ist. Und selbst in diesem Sonderfall ist fraglich, ob seine Intentionalität als ausschließlich »solitary« beziehungsweise »individual« bezeichnet werden kann, denn eine Zugehörigkeit, ein kollektives Gefühl und Ähnliches kann durchaus auch in völliger Isolation auftreten: Robinson kann sich zum Kollektiv der Engländer zugehörig fühlen und nach deren Tradition leben (siehe Kapitel 2.2). Oder an einem alltäglicheren und damit viel wahrscheinlicheren Beispiel: Ich kann allein zu Hause ein Fußballspiel anschauen und mir dabei dessen gewahr sein, dass wohl irgendwo weitere Fans ebendieses Spiel verfolgen und daher von einer Fußballfangemeinde ausgehen. Das heißt konkret: es liegt wenigstens ein indirekter Bezug auf viele weitere Subjekte vor. Demnach gehen die Autoren nicht darauf ein, dass ein Objekt, wenigstens indirekt, auf mindestens ein weiteres Subjekt verweist – sei es der Hersteller, Verfasser oder Ähnliches. Dies gilt auch für Verhaltensweisen, da ich zwar zweifelsohne allein im Meer schwimmen kann, dieses mir jedoch – zumindest in den allermeisten Fällen – von einer anderen Person beigebracht wurde. Ein indirekter Bezug auf Subjekte scheint somit gewissermaßen schier unumgänglich. Daher muss gefragt werden, ob die »solitary intentionality« nach de Vecchi respektive die »individual intentionality« erster Stufe nach Tomasello als Gerichtetheit auf ein Objekt auch einen indirekten Bezug auf Subjekte zulässt. Oder fällt bereits der indirekte Bezug auf ein weiteres Subjekt unter die Bezeichnung »intersubjective intentionality« (de Vecchi) beziehungsweise muss der indirekte Bezug bereits als Beispiel der »individual intentionality« zweiter Stufe (Tomasello) gelten? Die Frage nach dem direkten und indirekten Bezug auf Subjekte ist demgegenüber mit Blick auf die weiteren Autoren der Debatte eher unproblematisch, da dort die individuelle Intentionalität als Gerichtetheit eines Lebewesens auf ein Objekt oder/und auf ein anderes Lebewesen verstanden wird und damit sowohl den direkten als auch den indirekten Kontakt umfasst. Denn hier richtet sich die Bezeichnung »individuelle Intentionalität« nicht primär danach auf was sich bezogen wird, sondern wer die Intentionalität hat, nämlich das Individuum.
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
Als Konsequenz der Annahmen de Vecchis, Tomasellos und Schlichts der »solitary« beziehungsweise der ersten Stufe der »individual intentionality« ergibt sich daher, dass man es in Situationen außerhalb des eigenen Refugiums, wohl kaum mit einer reinen, vereinzelten Intentionalität – bei der jeglicher Bezug zu oder jegliche Interaktion mit Anderen fehlt – zu tun hat. Habe ich etwa die Absicht das Fußballspiel im Stadion zu sehen, so kaufe ich möglicherweise auf dem Weg dorthin beim Bäcker Brötchen, winke dem Busfahrer, dass er noch auf mich wartet und treffe im Bus zum Fußballstadion weitere Fußballfans. Viel wahrscheinlicher ist daher im Alltag, dass wenigstens eine minimale direkte Interaktion mit Anderen stattfindet, sodass sich eine vereinzelte Intentionalität womöglich sehr rasch zu einer anderen Intentionalitätsform, wie der intersubjektiven, wandelt. Diese Art der hier angesprochenen Intentionalitätsformen werden von de Vecchi anhand eines Kinobesuches erörtert, welcher, ohne dass sie dies selbst vermerkt, von Searle in die Debatte eingeführt wurde: Angenommen ich habe die Absicht einen Film im Kino zu sehen34 , dann kann ich mir durchaus dessen bewusst sein, dass – aller Wahrscheinlichkeit nach – auch Andere diese Absicht haben. Doch dieses Wissen spielt für mein prinzipielles Vorhaben, nämlich meine Absicht ins Kino zu gehen, keine Rolle. Habe ich beispielsweise die Absicht, an diesem Samstag um 20 Uhr in das, nahe am Hauptbahnhof gelegene, Kino der Stadt Jena zu gehen, um mir einen bestimmten Kinofilm anzuschauen und rechne ich damit, dass sehr viele Personen diesen Film zu dieser Uhrzeit sehen möchten, dann werde ich meine Absicht nicht modifizieren, sondern lediglich präzisieren: Ich möchte diesen Film um 20 Uhr sehen, dafür muss ich jedoch bereits früher an der Kasse stehen, um noch eine Kinokarte zu bekommen. Weiter angenommen, dass eine andere Person – die mir bekannt ist, wie meine Freundin Berta, oder eine Person die mir unbekannt ist – die Absicht hat, ebenfalls an diesem Samstag zu derselben Zeit in dasselbe Kino zu gehen, um denselben Film anzuschauen, dann führt dies dazu, dass ich an eben diesem Samstag mit vielen Unbekannten an der Kinokasse stehen und zufällig meine Freundin Berta treffen würde. Meine vereinzelt getroffene Absicht wird sich nun – innerhalb weniger Sekunden – dahingehend verändern, dass ich erstens bemerke, dass auch andere Subjekte tatsächlich ein und dieselbe Absicht wie ich haben. Bemerke ich meine Freundin Berta an der Kinokasse, so könnte es zweitens der Fall sein, dass ich weiterhin den Film sehen möchte, allerdings nun gemeinsam mit ihr.
34
Vgl. (i) Searle: Mind, Language and Society (1998), S. 100 (dt.: S. 121). (ii) Searle: Making the Social World (2010), S. 25 (dt.: S. 47).
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Formen kollektiver Intentionalität
Die intersubjektive Intentionalität als »I-you direction« Im erstgenannten Fall – man sieht jemanden an der Kinokasse anstehen – liegt nach de Vecchi eine intersubjektive Intentionalität vor. Zwischen der »vereinzelten« (»solitary«) und der »intersubjektiven« Intentionalität besteht, folgt man de Vecchis Auffassung, gewissermaßen ein quantitativer Unterschied, da es nun um zwei Subjekte geht, aber der Bezug ist hierbei weiterhin, wie bei dem Bezug auf ein Objekt, nur einseitig.35 Anhand des Kinobeispiels: »I see that you intend to go to the movies«36 oder etwas konkreter: Ich sehe, dass du auch an der Kinokasse stehst und bilde daher die Annahme, dass du auch ins Kino möchtest. Bei der Etablierung einer intersubjektiven Intentionalität als besondere Intentionalitätsform ist de Vecchi, wie sie selbst schreibt, einer phänomenologischen Auffassung der Intersubjektivität als Bedingung der Möglichkeit weiterer Intentionalitätsformen mit mehreren Beteiligten verhaftet: »Phenomenologists like Husserl claim that the intersubjective relation is a necessary condition for social acts, for collective experiences and for the constitution of the social world.«37 Hierzu ist dreierlei zu bemerken: Erstens geht de Vecchi bei den Bezugnahmen eines Subjekts A auf ein weiteres Subjekt B – im Gegensatz zu Tomasello und Schlicht – nicht darauf ein, welche kognitiven onto- und phylogenetischen Stadien durchlaufen werden müssen, um den Anderen tatsächlich als Subjekt anzuerkennen und eben dadurch adäquat auf diesen Bezug nehmen zu können. Zweitens stellt de Vecchi heraus, dass die Intersubjektivität in ihrem Sinne durchaus einseitig vollzogen werden kann. Ein solcher einseitiger Bezug eines Subjektes auf ein anderes Subjekt lässt sich mit dem Extremfall illustrieren, dass ich auf einen Komapatienten gerichtet bin (siehe Kapitel 2.1). Wertet man diesen drastischen Fall tatsächlich als Beispiel einer Intersubjektivität, dann ergibt sich jedoch eine Eigenwilligkeit: Mit der Einseitigkeit geht nämlich einher, dass lediglich ein Subjekt, in diesem Beispiel: ich, auf ein anderes Subjekt bezogen ist und damit allerdings strenggenommen Nichts oder zumindest kaum Etwas zwischen den Subjekten geschieht, wie es der Begriff »inter-subjektiv« seinen Wortbestandteilen nach verlangt. Drittens verwendet die italienische Philosophin für diese einseitige intentionale Bezugsart eines Subjektes auf ein anderes Subjekt die Bezeichnung »I-you direction«38 . Auch wenn sie in vielerlei Hinsicht von Husserl geprägt ist, muss an dieser Stelle ausdrücklich darauf verwiesen werden, dass die Bezeichnung »I-you
35 36 37 38
Vgl. de Vecchi: »Coll. vs. intersubjective and social int.« (2011), S. 77. Vgl. ebd., S. 74. Ebd., S. 82. Vgl. ebd., S. 76.
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
direction« – ebenso wie der bei Tomasello zu findende Begriff »I-you relation«39 – nicht deckungsgleich mit Husserls Begriff »Ich-Du-Beziehung« verwendet werden kann. Denn obwohl ohne Weiteres festgehalten werden kann, dass Tomasello keineswegs, de Vecchi hingegen zweifelsohne ausdrücklich von Husserl geprägt ist, beruht die Abweichung ihrer Terminologie zu jener Husserls schlicht auf dem englischen Sprachgebrauch des Personalpronomens »you«, welcher sich in einer Doppeldeutigkeit manifestiert: Einerseits singulär als »du« und andererseits als »ihr« im pluralen Sinne. Bei Husserls »Ich-Du-Beziehung« wird demgegenüber unmissverständlich, dass es sich bei dem Gegenüber um ein Du handelt, das heißt also es wird eine Bekanntheit der Beteiligten zugrunde gelegt: »Im Gleichnis gesprochen: Wir beide, ich und du, ›sehen uns in die Augen‹, er versteht mich, gewahrt mich, ich gewahre ihn, gleichzeitig.«40 Problematisch ist hier wiederum bei Husserl, dass er bei dem Verhältnis zwischen mir und ihm – »er versteht mich, ich gewahre ihn« – ganz selbstverständlich von einem Wir spricht – »Wir beide, ich und du«. Dies impliziert, so kann Husserls Aussage verstanden werden, dass sich bereits aus dem gleichzeitigen Gewahrwerden, aus der Kenntnisnahme der Existenz und des Intentionalitätsgehaltes des Anderen notwendigerweise ein »Wir«, das heißt eben zumindest ein minimales Zusammengehörigkeitsgefühl manifestiere. Husserl betrachtet dabei ausschließlich den Fall des Wechselverständnisses41 , der Wechselseitigkeit. Wie steht es jedoch mit einem Gewahrwerden, das nicht durch eine Zusammengehörigkeit charakterisiert ist, sondern beispielsweise durch Feindseligkeit? Wie steht es zudem mit der Gegenseitigkeit, das heißt Anna und Berta erfassen sich an der Kinokasse, doch verfolgen weiterhin individuelle Absichten? Trotz dieser Ungenauigkeit in den Ausführungen Husserls ist deutlich, dass es sich bei der deutschen Bezeichnung »Ich-Du-Beziehung« um eine Dyade handelt. Mit der Doppeldeutigkeit des Bestandteiles »you« des englischsprachigen Begriffes »I-you direction« bleibt hingegen offen, ob ich auf eine Person oder mehrere Personen gerichtet bin, weshalb, so kann kurz zusammengefasst werden, die begriffliche Extension der »Ich-Du-Beziehung« (Husserl), der »I-you-direction« (de Vecchi) und der »I-yourelation« (Tomasello) nicht deckungsgleich ist. Die konkrete Anzahl von mindestens zwei oder mindestens drei Beteiligten ist allerdings, so die hier angeführten Debattenteilnehmer nebensächlich, denn es geht vielmehr um deren »Beziehung«, »direction« oder »relation«: Es ist nicht entscheidend, dass sie aufeinander bezogen sind, sondern wie sie aufeinander bezogen sind, in anderen Worten: wie ihr Intentionalitätsmodus gefasst werden kann.
39 40 41
Tomasello: Becoming Human (2019), S. 196. Husserl: Text Nr. 9: »Gemeingeist I« (1921) (Hua. XIV), § 2, S. 167. Vgl. Husserl: Text Nr. 10: »Gemeingeist II. Personale Einheiten höherer Ordnung« (1918 oder 1921) (Hua. XIV), § 4, S. 196.
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Einseitige Intersubjektivität Angenommen man hat es mit zwei Subjekten A und B, wie etwa Anna und Berta, zu tun, wobei jedoch lediglich eine einseitige Bezugnahme eines Beteiligten auf den Anderen besteht, dann kann dies wie folgt verbildlicht dargelegt werden: A → B oder B → A; wobei das Symbol → die Bezugsrichtung kennzeichnet. Eine solche Bezugsrichtung betitelt de Vecchi als »I-you direction«, als »mono-directed intentionality towards experience of other subjects«42 . Hierfür nimmt sie an: »at least two individuals [...][have] to exist«43 . Dies steht, ohne von ihr selbst explizit oder implizit hervorgehoben zu werden, in Einklang mit zahlreichen Autoren: Die Beteiligten müssen real existieren (siehe Kapitel 2.2). Die Intersubjektivität ist ihr zufolge die Bedingung der Möglichkeit der »shared« sowie »collective intentionality«.44
42 43 44
De Vecchi: »Three Types of Heterotropic Int.« (2014), S. 126. Ebd. S. 117 (Herv. selbst vorgenommen). Es muss allerdings mit aller Deutlichkeit gesagt werden, dass es sich dabei dezidiert um die Auffassung der Intersubjektivität nach de Vecchi handelt. Konkret bestehen die Gegenpositionen gegenwärtiger Autoren darin, dass erstens nicht die Intersubjektivität die Bedingung der Möglichkeit der Gemeinsamkeit, sondern nach Schmid gerade anders herum die Gemeinsamkeit die Intersubjektivität begründe: »Die Dimension der ›Intersubjektivität‹ oder der ›Anerkennung‹, die Dimension der kognitiven Wechselbezüge zwischen den beteiligten Individuen in all ihren möglichen Gestalten ist mithin sekundär gegenüber der Gemeinsamkeit. Gemeinsamkeit kommt vor Intersubjektivität. Die Gemeinsamkeit der Handlungssituation ergibt sich nicht aus dem, was die Beteiligten implizit oder explizit übereinander denken – auch nicht aus irgendeinem wechselseitigen Anerkennungsbezug. [...] [Schmid Ansatz liegt hier in Bezug auf Handlungen darin, dass] [d]ie Gemeinsamkeit der Handlung [...] unmittelbar in der Absicht der Beteiligten selbst [liegt].« H.B. Schmid: Wir-Intentionalität (2005), S. 149f. (Herv. übernommen). Sowie zweitens, dass sich die Intersubjektivität nicht auch durch eine Einseitigkeit auszeichnen könne, sondern dass die Intersubjektivität per se durch eine Wechselseitigkeit charakterisiert sei. Beispielsweise heißt es bei Thies, dass die Intersubjektivität zu verstehen sei als »wechselseitige Beziehung zweier reflexiver Wesen zueinander«. Christian Thies: »Michael Tomasello und die philosophische Anthropologie«, in: Philosophische Rundschau – Eine Zeitschrift für philosophische Kritik, Mohr Siebeck Verlag, Band 64, Heft 2, 2017, S. 107–121, hier: S. 116. Im Folgenden als: Thies: »Tomasello u. die philosophische Anthropologie« (2017). Während Andrea Lailach-Hennrich in der wechselseitigen Bezugnahme, das ist der Reziprozität, der Beteiligten ein hinreichendes Merkmal der Intersubjektivität sieht. Vgl. (i) Lailach-Hennrich: Ich u. die anderen (2011), S. 7f. (ii) Andrea LailachHennrich: »Der Begriff »Intersubjektivität«. Ein Begriffsmerkmal« https://epub.ub.uni-muen chen.de/12617/1/dgphil_endversion.pdf (zuletzt aufgerufen: 15.03.2017). Versteht man die Intersubjektivität in letztgenannter Weise, so müsse die Bezeichnung »intersubjektive Intentionalität« eher als erste, das ist grundlegende, wechselseitige Intentionalitätsstufe oder als Sammelbegriff für diese verstanden werden. Auch wenn auf diese Spezifizierung aufmerksam gemacht werden muss, kann der Streit nach dem Wesen der Intersubjektivität aufgrund ihres Diskussionsausmaßes hier nicht endgültig beantwortet werden. Im Folgenden wird
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
Um es vorwegzunehmen: dadurch, dass de Vecchi die Wechselseitigkeit – genauer: das Wissen der Beteiligten um die Wechselseitigkeit – nicht als notwendiges Merkmal der Intersubjektivität erachtet, ist es ihr möglich zwei Formen der intersubjektiven Intentionalität voneinander zu differenzieren: die einseitige und die wechselseitige intersubjektive Intentionalität45 : Bei einem einseitigen Bezug wissen nicht alle Beteiligten, dass ein Bezug besteht, während bei einem wechselseitigen Bezug alle Beteiligten wissen, dass ein Bezug aufeinander besteht. Die bisher erläuterten Intentionalitätsformen nach de Vecchi lauten demnach: Bei einer »solitary intentionality« ist ein Subjekt auf ein Objekt gerichtet. Bei der intersubjektiven Intentionalität ist entweder ein Subjekt einseitig auf ein weiteres Subjekt gerichtet – was Husserl als »verstehenden Akt« fasst –, oder die Subjekte sind beidseitig aufeinander bezogen – was dem »kommunikativen Akt« nach Husserl entspricht. Bevor der Unterschied der beiden Formen der intersubjektiven Intentionalität nach de Vecchi, nämlich der einseitige Bezug einerseits und der von beiden Beteiligten aufeinander gerichtete Bezug andererseits, genauer dargelegt werden, werden zunächst die weiteren Kriterien der intersubjektiven Intentionalität, welche beide Unterformen umfassen, betrachtet.
Weitere Merkmale der intersubjektiven Intentionalität Neben dem Bezug eines Subjektes auf ein anderes Subjekt zeichnet sich die Intentionalitätsform der intersubjektiven Intentionalität nach de Vecchi dadurch aus, dass A zwar erstens den Anderen B als Subjekt anerkennt und über dessen Intentionalitätsgehalt informiert ist, dies jedoch für A selbst keine oder nur eine äußerst marginale Rolle spielt. Anhand eines konkreten Beispieles: wenn Anna ins Kino gehen möchte und Anna weiß, dass Berta dies ebenfalls beabsichtigt, dann heißt dies noch lange nicht, dass Anna entweder auf Bertas Absicht Bezug nimmt oder sie sich gar gemeinsam dazu entschließen zusammen ins Kino zu gehen. Nur aus der Kenntnis des Intentionalitätsgehaltes des Anderen folgt noch nicht, dass sich eine gemeinsame Intentionalität bildet. In Schmids Worten: »[d]aß zwei Bewußtseinssubjekte unabhängig voneinander zufällig einander entsprechende Intentionen haben[,] macht ihre Intentionalität nicht zur gemeinsamen Sache.«46 Dass die Intentionen unabhängig voneinander gefällt wurden, schließt jedoch nicht den Fall aus, dass die Intention des Einen diejenige des Anderen beeinflussen könnte. Denn angenommen Berta kauft die letzte Kinokarte für diese Vorstellung, so wird Annas Intention durchkreuzt heute ebenfalls dort diesen Film zu sehen. Anna wird
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sich – schlicht aus Gründen der Übersichtlichkeit – bezüglich der Intersubjektivität an die Auffassung de Vecchis gehalten, auch wenn diese ihre Problematiken beinhalten mag. Vgl. de Vecchi: »Coll. vs. intersubjective and social int.« (2011), S. 82. H.B. Schmid: Wir-Intentionalität (2005), S. 199 (Herv. übernommen).
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nun ihre Absicht modifizieren müssen, sodass sie etwa an einem anderen Tag ins Kino gehen wird oder sich illegalen Zugang zum Kinosaal verschafft. Bertas individuell – oder terminologisch präziser: subjektiv – gefasste Intentionalität hat in diesem Falle einen »indirekten« Einfluss auf Annas Intentionalität. Aber ihre jeweilige Intentionalität ist eben nicht, wie nochmals gesagt werden muss, kein bloßer Bezug auf etwas, wie es in aller Regel (das Phänomen der Objektophilie eingeklammert) bei einem Bezug auf ein Objekt vorliegt (individuelle Intentionalität), denn sie erkennen den jeweils Anderen sehr wohl als Subjekt an (intersubjektive Intentionalität). Reagiert man in geringer Form auf die Intentionalität des Anderen, beispielsweise indem man sich beim Warten in der Schlange nicht bedrängt und etwas Abstand zueinander hält, so hat man es nicht mit einem bloßen räumlichen Nebeneinander zu tun – wie es nach einem Beispiel von Heidegger bei zwei nebeneinander bestehenden Felsbrocken der Fall ist47 –, aber eben dennoch mit einem Nebeneinander. Nach de Vecchi gilt bei einer intersubjektiven Intentionalität, dass der Andere weder als Adressat noch als Handlungspartner angesehen wird.48 Ihm gilt nichts, da man nicht beabsichtigt in Kommunikation mit ihm tritt. Der Andere, so könnte man in Anlehnung an den Sozialphilosophen Max Adler um 1936 sagen, ist hierbei kein Mitmensch, sondern lediglich ein »Nebenmensch«49 : Der Andere tritt zunächst nur räumlich oder geistig neben mir auf. Ich kann seinen Intentionalitätsgehalt einschätzen, der sich auf alle drei Hauptphänomenbereiche beziehen kann, wie: »›I see that you are thinking about The Apartment‹ (cognitive [intentionality]), ›I see that you are [...] amused by […] The Apartment‹ (affective [intentionality])« oder »I see that you intend to see The Apartment« (practical [intentionality])«50 . Und dennoch kann dies geschehen, ohne dass ich mich mit ihm verbunden fühle, mit ihm eine Gemeinschaft bilde oder auf ihn mittels sozialen Aktes eingehe. Ohne dass dies aus de Vecchis Ausführungen selbst hervorgeht, ist für das Wissen um den Intentionalitätsgehalt des anderen Subjekts zum ersten Mal innerhalb ihrer Stufenkonzeption der Intentionalitätsformen eine Einfühlung notwendig. Diese lässt sich vereinfachend als Hineinversetzen in den Anderen verstehen, um einen »Einblick« in dessen Intentionalitätsgehalt zu bekommen.51 Bereits frü47 48
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Vgl. Heidegger: Einleitung Philosophie [1928], S. 86. Vgl. (i) de Vecchi: »Three Types of Heterotropic Int.« (2014), S. 125. (ii) de Vecchi: »Coll. vs. intersubjective and social int.« (2011), S. 76. In eben dieser Weise versteht auch Sarah Songhorian die intersubjektive Intentionalität (vgl. Songhorian: »Affect. Int. in Social Cognition« (2012), S. 92). Vgl. Max Adler: Das Rätsel der Gesellschaft – Zur erkenntniskritischen Grundlegung der Sozialwissenschaften [1936], Scientia Verlag, Aalen, 1975, u.a. S. 6, S. 90, S. 112. Im Folgenden als: Adler: Rätsel d. Gesellschaft [1936]. de Vecchi: »Three Types of Heterotropic Int.« (2014), S. 128. Komplexer wird die Lage durchaus dann, wenn man sich vor Augen hält, dass bereits die frühen Phänomenologen Husserl, Stein und Scheler – je auf ihre eigene Weise – und in ih-
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
he Phänomenologen, wie Stein und Scheler, verweisen darauf, dass man mittels Einfühlung den Zustand des Anderen – zumindest bis zu einem bestimmten Grad – nachvollziehen kann, ohne die Gefühle des Anderen selbst zu erleben.52 Dies gilt, wie Stein 1912 beschreibt, auch dann, wenn dieser Zustand des Anderen »mir wesensfremd ist und [...] das, was mir dort neu entgegentritt, immer unerfüllt bleiben wird«53 . Beispielsweise kann ich Peters Flugangst auch verstehen ohne selbst Angst vor einem Absturz empfinden zu müssen. Auf besonders prägnante Weise vermittelt Scheler, dass eben daher die Einfühlung von einem Mitgefühl, einer Gefühlsansteckung sowie der Einsfühlung abzugrenzen ist.54 Das heißt konkret, dass die Einfühlung als notwendige Bedingung der Möglichkeit des Teilens von Gefühlen, jedoch nicht selbst als Teilen gelten kann. In den späteren Kapiteln 3.2 und 3.3 wird mit Referenz auf Tuomela und Tomasello darauf eingegangen, dass es für ein Konzept der Intentionalitätsformen ebenfalls relevant ist für welche Interessen die Einfühlung respektive das Wissen um den Intentionalitätsgehalt des Anderen genutzt wird. Die Bezeichnung »intersubjektive Intentionalität«, welche immanent in de Vecchis Ansatz ist, verweist auch auf den Bezugs»raum« »zwischen« den Sub-
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rer Folge beispielsweise Thiemo Breyer, bei dem Phänomen der Einfühlung mehrere Stufen ausmachen. Nimmt man diese Ausführungen ernst, dann ergibt sich eine weitere Beschreibungsschwierigkeiten hinsichtlich des Stufenkonzeption der Intentionalität. Vgl. (i) Husserl: Intersubjektivität I (Hua. XIII, Texte v. 1905-1920), hier: Text Nr. 4: »Stufen der Einfühlung« (um 1910), S. 62–66. (ii) Stein: Zum Problem d. Einfühlung [1917] Kapitel II, § 2 c), S. 10. (iii) Breyer: »Empathie und ihre Grenzen« (2013), S. 26ff. u. S. 36ff. »Wir erfassen im Nachfühlen [das ist Einfühlen] fühlend noch die Qualität des fremden Gefühls – ohne daß es in uns herüberwandert oder ein gleiches Gefühl in uns erzeugt wird.« Scheler: Wesen u. Formen d. Sympathie [1923], Teil A, II, S. 20. Vgl. auch Scheler: Zur Phänomenologie u. Theorie der Sympathiegefühle [1913], S. 5. Stein: Zum Problem d. Einfühlung [1917], Teil. IV, § 7b, S. 129. Vgl. Scheler: Wesen u. Formen d. Sympathie [1923]. Die gängigen englischsprachigen Bezeichnungen lauten hierfür: »empathy«, »sympathy« oder »fellow-feeling«, »emotional infection«, »emotional identification« und »co-experiencing«. Für besonders gelungen und wortgewandt kann demgegenüber der Vorschlag des gegenwärtigen Phänomenologen Joel Krueger eingestuft werden. Er unterlässt die bisher übliche Verwendung und übersetzt die von Scheler beschriebenen Phänomene vielmehr als »feeling-into«, »feeling-with« und »feelingtogether«, womit unter anderem der Begriff der Empathie, welcher eine Rückübersetzung des englischen Ausdrucks »empathy« für Einfühlung ist, vermieden werden kann. Vgl. (i) Joel Krueger: »Empathy«, in: Encyclopedia of Philosophy and the Social Sciences, hg. v. Byron Kaldis, Thousand Oaks, Sage Publications, 2013, S. 246–249, hier: S. 246. (ii) Joel Krueger u. Thomas Szanto: »Introduction – Empathy, Shared Emotions, and Social Identity«, in: Topoi, Band 38, 2019, S. 153–162, hier: S. 154. Sodass letztlich hinsichtlich der Gefühle zwischen dem »immediate feeling-together« (als kollektiver, gemeinsamer Sinn) und dem »feeling-alongsideeach-other« (als distributiver, paralleler Sinn von Wir) differenziert wird (vgl. Héctor Andrés Sánchez Guerrero: Feeling Together and Caring with One Another – A Contribution to the Debate on Collective Affective Intentionality, Springer, 2016, S. 6).
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jekten. Auffallend an ihrer Konzeption ist, dass diese Intentionalitätsform auch einseitig vorliegen kann: Anna kennt den Intentionalitätsgehalt Bertas und sie weiß auch, dass sich Bertas und ihr Intentionalitätsgehalt hinsichtlich des Kinobesuches »überschneidet«. Bereits dieses Wissen, genauer: die Einfühlung in und das Verständnis des Intentionalitätsgehaltes des Anderen, verändert, Husserl zufolge, meine eigene Intentionalität: »Ich habe meine primordiale Seinsgeltung als ursprüngliche, ich habe die einfühlungsmässig modifizierte, die des anderen Ich, in eins als die des vergegenwärtigten Anderen und als meine ›Übernahme‹, als mein das vergegenwärtigte Meinen, Wahrnehmen, Einsehen etc. des Anderen ›Mitvollziehen‹, als einen neuen Vollzugsmodus, eine neue modifizierte Intentionalität.«55 Dass dabei allerdings eben ausschließlich oder zunächst eine einseitige Bezugnahme vorliegen kann, wurde hier mit dem Kinobeispiel versucht anzudeuten: Anna sieht Berta einige Personen vor sich an der Kinokasse für eine Karte in der Schlange anstehen und erfasst damit Bertas Intentionalitätsgehalt, dass diese ebenfalls ins Kino möchte. Solange Anna nicht Berta anspricht oder Berta ebenfalls zufällig Anna erblickt, bleibt es eine einseitige Bezugnahme. De Vecchi selbst verdeutlicht eine solche Einseitigkeit anhand der »affective intersubjective intentionality«: »my understanding of your feeling depends on you and on your feeling, because your feelings are the object of my intersubjective intentionality; […]. For the most part, you totally ignore my understanding of your feeling«.56 Das heißt, dass ich dein Gefühl verstehe, aber du nicht darauf eingehst, ob ich dein Gefühl verstehe oder es bleibt von dir gänzlich ungeachtet. Ihr Verweis auf Gefühle ist in dem Sinne gelungen, da hiermit prägnant klargestellt werden kann, dass auch ein einseitiger Bezug Auswirkungen oder Beeinflussungen nach sich ziehen kann, wenn beispielsweise das Gefühl übertragen wird, sodass es zu einer Gefühlsansteckung kommt. De Vecchi führt hierbei an, dass man von der Fröhlichkeit und Ausgelassenheit einer Party oder von der tobenden Menge im Fußballstadion angesteckt werde.57 Bei einer Gefühlsansteckung gelte: »I am affected by your emotion: I feel joy because I am swayed by your joy, I have absorbed it without being aware of it; in other terms, I do not feel joy at a personal level, I do not have a first person perspective towards the joy I feel […] [I]t is manifest that we (I and you) de facto feel the same feeling, but […] the direction 55
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Husserl: Intersubjektivität III (Hua. XV, Texte v. 1929-1935), hier: Text Nr. 30: »Universale Geisteswissenschaft als Anthropologie. Sinn einer Anthropologie« (1932), S. 480–508, hier: § 4, S. 487. de Vecchi: »Three Types of Heterotropic Int.« (2014), S. 125. Vgl. ebd. S. 132.
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
of intentionality remains an intersubjective direction from I to you and the role of the subjects involved is not an agent-partners’ role.«58 Dies erscheint vollkommen zutreffend, denn bei diesem Gefühlsphänomen – anders als bei einer Einfühlung – fühlen du und ich de facto ein und dasselbe, aber auch bei der Gefühlsansteckung besteht noch eine »Distanz« zwischen den Beteiligten: Es ist (noch) nicht unser Gefühl, da du und ich uns nicht als (Handlungs-)Partner verstehen. Allerdings beschreibt bereits Scheler, in der ersten Auflage seines Werkes über das Phänomen der Sympathie um 1912, dass sich nicht nur das Vergnügen, die Traurigkeit und weitere Affekte anderer Subjekte auf einen selbst übertragen können, sondern dass diese auch »an Gegenständen der Natur oder einem ›Milieu‹ gegeben sind wie die Heiterkeit einer Frühlingslandschaft, die dunkle Düsterheit eines regnerischen Wetters, die Kläglichkeit eines Zimmers [...] [welche] ansteckend auf [meine oder] unserer Gefühlszustände wirken [oder zumindest wirken können]«59 . Eine Gefühlsansteckung, wie sie nach Scheler gefasst wird, kann durch die Referenz auf andere Subjekte oder durch die Referenz auf Objekte – was gerade dem Musterbeispiel eines einseitigen Bezugs entspricht – entstehen. Es gibt daher durchaus Fälle einer Gefühlsansteckung, welche ohne die Notwendigkeit eines weiteren Subjektes erfahrbar sind. Daraus folgt, dass man die Aussage de Vecchis präzisieren kann, indem zwei Fälle der Gefühlsansteckung voneinander differenziert werden: Erstens eine Gefühlsansteckung, welche primär nicht von Subjekten ausgeht. Sicherlich kann beispielsweise die Kläglichkeit eines Raumes von einem Subjekt gestaltet und gewollt sein, allerdings ist man dabei auf den Raum, also im weitesten Sinne auf ein Objekt, und eben nicht direkt – sondern höchstens indirekt – auf ein Subjekt und dessen Intentionalitätsgehalt fokussiert. Zweitens besteht jener Fall einer Gefühlsansteckung, in dem diese primär von einem Subjekt oder mehreren Subjekten ausgeht. Zusammenfassend gilt: ist lediglich ein Subjekt involviert, wie bei der Ansteckung der Fröhlichkeit einer Frühlingslandschaft, so muss die Gefühlsansteckung als Beispiel einer affektiven individuellen Intentionalität gelten. Sind mehrere Subjekte beteiligt, wie etwa bei einer erhitzten Stimmung im Fußballstadion, so ist die Gefühlsansteckung als Beispiel einer affektiven intersubjektiven Intentionalität zu verstehen. Schelers und de Vecchis Vorgehensweisen lassen sich, in aller Kürze, wie folgt gegenüberstellen: De Vecchi behandelt alle drei Hauptphänomenbereiche – das 58 59
de Vecchi: »Coll. vs. intersubjective and social int.« (2011), S. 76 (Herv. teils übernommen, teils selbst vorgenommen). Scheler: Zur Phänomenologie u. Theorie der Sympathiegefühle [1913], S. 12. Eine nahezu identische Formulierung findet sich auch in der zweiten Auflage (vgl. Scheler: Wesen u. Formen d. Sympathie [1923], Teil A, II, S. 26).
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Denken, Handeln und Fühlen – mit dergleichen Aufmerksamkeit. Bei ihr scheint folgende Grundidee leitend: je nach Anzahl der Beteiligten und ihre Bezugsrichtung aufeinander bestehen, so wird noch im Verlauf dieses Kapitels deutlicher, unterschiedliche Intentionalitätsformen: die vereinzelte, die intersubjektive, die soziale und die kollektive Intentionalität. Bei Scheler gilt vielmehr: je nach Gefühlsphänomen – der Einfühlung, dem Mitgefühl, der Gefühlsansteckung oder der Einsfühlung; wie also das Phänomen aufgefasst wird: als Gefühl des Anderen, als eigenes oder unser Gefühl – und je nach Bezug der Beteiligten aufeinander im Sinne der »Artqualität des Bandes«60 bestehen unterschiedliche menschliche Gefüge: In der Masse herrscht eine bloße Gefühlsansteckung vor, in der Gemeinschaft ein Miteinanderfühlen und in der Gesellschaft ein bloßes Verstehen61 . Mit anderen Worten: bei einer Einfühlung, einer Einsfühlung, einem Mitgefühl oder einer Gefühlsansteckung kann eine Wechselseitigkeit vorliegen, während sich ein Miteinanderfühlen, im engen Sinne des Wortes nach Scheler, notwendigerweise durch eine Wechselseitigkeit auszeichnet.62
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Vgl. Scheler: Wesen u. Formen d. Sympathie [1923], Teil A, IV, S. 78. Vgl. u.a. (i) Scheler: Zur Phänomenologie u. Theorie der Sympathiegefühle [1913], S. 8. (ii) Scheler: Wesen u. Formen d. Sympathie [1923], Teil A, II, S. 23. (iii) Matthias Schloßberger: »Max Scheler: Wesen und Formen der Sympathie/ Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik«, in: Hauptwerke der Emotionssoziologie, hg. v. Konstanze Senge u. Rainer Schützeichel, Springer Verlag, Wiesbaden, 2013, S. 296–303, hier: S. 302. Im Folgenden als: Schloßberger: »Sympathie/Formalismus« (2013). Auch die übliche Auffassung der Empathie und Sympathie in der Psychologie scheint hierauf hinauszulaufen. Wie beispielhaft mit folgendem Lexikoneintrag belegt werden kann: »Empathie ist eher ein Verstehen beziehungsweise ein Nachvollziehen [...] Sympathie ist eher ein Teilen von Gedanken, Gefühlen und Erfahrungen [eines anderen][...]. Empathie ist eher wahrnehmend als bewertend; [...] eher ein verstehendes Hinterfragen einer Beobachtung [...]; eher eine ausgeglichene, balancierte Beziehung als eine extreme emotionale Verschmelzung [...]; eher ein intentionaler, bewusster Prozess, weniger impulsiv«. Lexikon der Psychologie, hg. v. Markus Antonius Wirtz, Dorsch 16. Auflage, Huber Verlag, Bern, 2013, Eintrag Empathie, S. 447f. (Herv. selbst vorgenommen)). Nicht nur die Position de Vecchis zur Gefühlsansteckung, sondern beispielsweise auch Sarah Songhorians Auffassung der Einsfühlung kann genauer betrachtet werden: Sarah Songhorian vertritt, dass die Einsfühlung (emotional identification) als Beispiel für die kollektive Intentionalität gelten kann (vgl. Songhorian: »Affect. Int. in Social Cognition« (2012), S. 94). Sicherlich mag dies möglicherweise in spezifischen Fällen wie dem Torjubel im Fußballstadion auftreten. Allerdings deckt sich eine solche Annahme nicht mit den Beispielen zur Einsfühlung im ursprünglichen Sinne nach Scheler. Denn Scheler nennt als Beispiel einer Einsfühlung etwa die primitive Ahnenidentifizierung (vgl. Scheler: Wesen u. Formen d. Sympathie [1923], Teil A, VI, S. 106), das heißt eben durchaus einen einseitigen Bezug, da sich der Tote nicht mehr seinerseits mit mir einsfühlen kann. Wird aber die Wechselseitigkeit als notwendiges oder wenigstens hinreichendes Merkmal der kollektiven Intentionalität erachtet – wie es in der gegenwärtigen Debatte üblich ist und auch de Vecchi sowie Songhorian vertreten wird –, dann ist die Einsfühlung nach Scheler keinesfalls ein geeignetes Beispiel für dieses Phänomen.
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
Die wechselseitige (oder präziser: gegenseitige) intersubjektive Intentionalität Wie bereits angedeutet, bestehen bei de Vecchi zwei Formen der intersubjektiven Intentionalität: eine einseitige und eine wechselseitige. Während die einseitige mittels A → B oder B → A veranschaulicht wurde, gilt bei einer wechselseitigen: A → B und B → A. Die einseitigen Bezugnahmen sind, wie ebenfalls bereits angeklungen, identisch mit Husserls »verstehenden Akten«: Ich wende mich auf den Anderen hin und verstehe diesen, wobei der Andere die Hinwendung auf ihn nicht selbst bemerken muss63 . Jene Formen, welche de Vecchi als »wechselseitige intersubjektive Intentionalität« fasst, können in Husserls Worten – über Husserl hinausgehend –, wie folgt gefasst werden: Ich wende mich auf den Anderen hin und verstehe diesen, wobei der Andere die Hinwendung auf ihn nicht selbst bemerken muss (beziehungsweise meine Gerichtetheit auf ihn keine Relevanz für ihn hat), wobei gleichzeitig gilt, dass der Andere sich auf mich wendet und mich versteht, ich jedoch die Hinwendung auf mich nicht selbst bemerken muss (beziehungsweise seine Gerichtetheit auf mich keine Relevanz für mich hat). Diese Situation kann man sich einfacher mit der Formel »sehen und gesehen werden« vergegenwärtigen oder anhand des bisherigen Kinobeispieles mittels de Vecchi: »I see that you intend to go to the movie and you see that I intend to go to the movie«. Bei der Unterscheidung zwischen einer einseitigen und einer solchen wechselseitigen intersubjektiven Intentionalität, der Auffassung de Vecchis zufolge, kann jedoch – ohne das de Vecchi selbst darauf eingeht – nicht mehr ausschließlich die Rede von einer »I-you direction« sein: Vielmehr hat man es sowohl mit einer »I-you direction« als auch mit einer »you-I direction« zu tun. Oder vielleicht noch etwas präziser: beide Beteiligte haben aus ihrer jeweils eigenen Sicht eine »I-you direction«. De Vecchi meint daher: es liegt eine Wechselseitigkeit vor – denn beide sind aufeinander bezogen –, aber entscheidend scheint doch, dass die Beteiligten nicht wissen, dass eine Wechselseitigkeit vorliegt (beziehungsweise diese keine Relevanz für sie hat). Da jedoch im deutschen Sprachraum zwischen einem gegenseitigen und einem wechselseitigen Bezug differenziert werden kann, muss auf die Eigenwilligkeit verwiesen werden mit welcher de Vecchi den Begriff »Wechselseitigkeit« verwendet. Bei einer genaueren Betrachtung der Verhältnisse der Beteiligten zeigt sich also, dass man in dem Fall, in dem die Beteiligten zwar aufeinander bezogen sind, aber jeweils nicht von dem Bezug des Anderen auf einen selbst wissen (oder dies keine prägende Rolle spielt), ein gegenseitiger Bezug aufeinander stattfindet. Anders ausgedrückt: beide Beteiligte sind gewissermaßen jeweils einseitig auf den jeweils Anderen bezogen. Daher kann jene Intentionalitätsform, welche de Vecchi als wechselseitige intersubjektive Intentionalität fasst, terminologisch präziser als gegenseitige betitelt werden. 63
Vgl. Husserl: Beilage XVII: »Weg zum reinen Bewusstsein« (1910) (Hua. XIII), S. 98.
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Formen kollektiver Intentionalität
Eine dezidierte Wechselseitigkeit, welche mit einer Gemeinsamkeit im wirklichen Sinne gleichzusetzen ist, besteht, so könnte man schlussfolgern, nur dann, wenn die Beteiligten aufeinander bezogen sind, jeweils von diesem Bezug auf sich selbst und auf den Anderen wissen und daraus eine »Synthese« entsteht, sodass in einem engen Sinne des Wortes unsere Intentionalität vorliegt oder etwa die elf Spieler eine Mannschaft bilden. Dass eine Betrachtung der Bezugsrichtung allein nicht ausreichend ist und ebenfalls der Bezugsmodus prägnant ist, tritt bei de Vecchi erstens durch die Anlehnung an Husserls verstehenden und kommunikativen Akt hervor und wird zweitens besonders am sozialen Akt erkenntlich, welcher bei ihr als entscheidendes Momentum der sozialen Intentionalität begriffen wird. Doch bereits die Betrachtung der Bezugsrichtung verdeutlicht, dass eine einseitige oder gegenseitige Bezugnahme nicht für eine Gemeinsamkeit ausreicht. Um es nochmals an einem einschlägigen Beispiel dazulegen: Es ist möglich, dass Peter Anna liebt und gleichzeitig Anna Peter liebt, beide also in einer spezifischen Weise, nämlich ineinander verliebt, aufeinander bezogen sind, aber nichts von der Bezogenheit des Anderen auf sich wissen. Sie bilden, der alltäglichen Auffassung zufolge, kein Liebespaar. Zwar mag ihre Liebe eine Wechselseitigkeit anstreben, doch sind die Beteiligten im beschriebenen Fall bisher zum aktuellen Zeitpunkt jeweils einseitig auf den Anderen bezogen. De Vecchi geht es in ihrer Beschreibung, in Abweichung zum gerade genannten Szenario, vielmehr darum, dass beide Parteien den Intentionalitätsgehalt des jeweils Anderen kennen und wissen, dass es sich um ein und denselben Gehalt handelt, wie etwa dass beide ins Kino gehen möchten, aber aus dieser gegenseitigen Bezugnahme noch kein gemeinsamer Kinobesuch wird. Um zu einer Gemeinsamkeit zu gelangen, ist zudem ein kommunikatives aufeinander Zugehen, in de Vecchis Worten: ein sozialer Akt notwendig. Die intersubjektive Intentionalität als tatsächliche Wechselseitigkeit des sozialen Aktes bildet ihr zufolge, insbesondere mit Bezug auf Gefühle, unter anderem die Basis für Freundschaften.64 Husserl betont, dass hierbei kein Neben –, sondern ein Miteinander einer spezifischen Art besteht: »In der normalen Ehe, in der normalen Freundschaft. Zwei Menschen, die eine Lebenseinheit bilden, nicht zwei Leben nebeneinander, sondern zwei Menschen,
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Vgl. de Vecchi: »Three Types of Heterotropic Int.« (2014), S. 134f. Dass man es bereits bei der intersubjektiven Intentionalität mit der Bedingung der Möglichkeit von bestimmten sozialen Gebilden, wie der Freundschaft, zu tun hat, ist hervorzuheben: Nicht nur die soziale Intentionalität kann mittels sozialer Akte zur Bildung einer sozialen Welt beitragen, sondern auch die intersubjektive und kollektive Intentionalität kann mittels verstehender oder kommunikativer Akte hierzu ihren Beitrag leisten. Die soziale Welt als solche kann – muss jedoch nicht – durch soziale Akte bedingt sein (vgl. de Vecchi: »Making the Social World«, S. 18).
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
zwei Personen, deren jede ihr Leben lebt und doch auch Anteil am Leben des Anderen hat, ein Mitleben, ein Eigenleben, das sich mit dem anderen Eigenleben verbindet, es mitumgreift und umgriffen wird. Für das ego ist der alter nicht nur überhaupt ein Jemand, der noch da ist, unbestimmt vorgestellt als Subjekt eines Bewusstseins oder nach einzelnem seines Lebens zufällig erfasst und selbst davon noch bestimmt, sondern der Intention nach gehört das Gesamtleben des alter auch ›mit‹ zu dem meinen, und das meine zu dem seinen.«65 In dem gerade beschriebenen Fall des wechselseitigen Bezuges kommt den Beteiligten jeweils eine Doppelrolle zu: Sie werden Sprecher und Angesprochener, Handelnder und Reagierender66 : »In der Kommunikation berühren ›wir‹ uns alle, wir bilden eine personale Einheit höherer Stufe.«67 Auch in der Empirie tritt der Unterschied zwischen dem Neben- und Miteinander, dem gegen- und wechselseitigen Bezug deutlich hervor: Robin Dunbar begründet dies aus der Sicht der evolutionären Psychologie anhand der kognitiven Begrenztheit des menschlichen Gehirns: »[It is a] fact that the human brains cannot sustain more than a certain number of relations of a given strength at any one time. The figure of 150 seems to represent the maximum number of individuals with whom we can have a genuinely social relationship, that kind of relationship that goes with knowing who they are and how they relate to us [which means in the case of 150 persons quite of huge amount of
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Husserl: Beilage XXVII: »Die persönliche Lebenszeit« (1922) (Hua. XIV), S. 219. Bemerkenswerterweise gehen Husserl und de Vecchi lediglich darauf ein, welche Beziehungsarten, welche Arten des »Mitlebens« aus den verschiedenen Bezugnahmen entstehen können. Dabei ist jedoch auch zu sagen, dass die Beziehungsarten bereits selbst Grenzen in sich tragen, wie Scheler bemerkt, oder zumindest Beschränkungen tragen sollten, wie Theunissen klarstellt: (i) »[E]s gibt zwischenmenschliche Ich-Du-Beziehungen (z.B. zwischen Erzieher und Zögling oder zwischen dem Psychotherapeuten und seinem Patienten), die sich von ihrem Wesen her nie zu voller Gegenseitigkeit [hier genauer: Wechselseitigkeit] entfalten können [oder auf einer professionellen Ebene in volle Wechselseitigkeit führen sollten].« Theunissen: Der Andere [1977], S. 264 – dort: Fußnote Nr. 34. (ii) Selbst mittels Liebe kann uns die »absolute Intimsphäre seines Ich [das ist das Ich des Anderen] [...] nie gegeben sein«. Scheler: Wesen u. Formen d. Sympathie [1923], Teil A, II, S. 21. Scheler erläutert hier, ausdrücklicher als in seiner ersten Auflage Zur Phänomenologie und Theorie der Sympahtiegefühle (dort: S. 5f.), wie »tief« eine Intentionalitätsform maximal reichen kann. Vgl. James Youniss: »Moral, kommunikative Beziehungen und die Entwicklung der Reziprozität«, in: Soziale Interaktion und soziales Verstehen – Beiträge zur Entwicklung der Interaktionskompetenz, hg. v. Wolfgang Edelstein und Jürgen Habermas, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1. Auflage, 1984, S. 34–60, hier: S. 35. Im Folgenden als: Youniss: »Moral, kommunikative Beziehungen u. d. Entwicklung d. Reziprozität« (1984). Husserl: Text Nr. 10: »Gemeingeist II. Personale Einheiten höherer Ordnung« (1918 oder 1921) (Hua. XIV), § 2, S. 194.
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Formen kollektiver Intentionalität
information]. Putting it another way, it’s the number of people you would not feel embarrassed about joining uninvited for a drink if you happened to bump into them in a bar.«68 Ein wirkliches wechselseitiges kommunikatives Miteinander und dessen kognitive Verarbeitung ist, so Dunbar, auf circa 150 Personen beschränkt. Einem gegenseitigen Bezug, welcher etwa bei einer Gefühlsansteckung im Stadion vorliegt, scheint hingegen keinerlei Maximalgrenze hinsichtlich der Beteiligten gesetzt zu sein – auch wenn wohl von einer Mindestanzahl von zwei Beteiligten ausgegangen werden muss.
Die soziale Intentionalität Jene Intentionalitätsform in welcher gilt, dass erstens Subjekt A den Intentionalitätsgehalt von Subjekt B kennt – das ist die intersubjektive Intentionalität – und sich zweitens mittels einer spezifischen Kommunikation, konkret: dem sozialen Akt, auf Subjekt B richtet, bezeichnet de Vecchi als soziale Intentionalität. Im Gegensatz zur intersubjektiven Intentionalität, welche als Bezug eines Subjektes auf ein anderes Subjekt gefasst ist, ist die soziale Intentionalität durch ein besonderes, nämlich soziales Eingehen auf den Anderen gekennzeichnet. Während Husserl weitläufig von einem kommunikativen Akt spricht – »Akte, die sich an den Anderen wenden, in denen der Andere bewusst ist als der, an den ich mich wende; [...] und der Andere diese Wendung versteht«69 –, differenziert de Vecchi dies genauer, da eine soziale Intentionalität ihr zufolge notwendigerweise durch einen sozialen Akt geprägt sei. In anderen Worten: bei einer Intentionalität unter Subjekten kann mithilfe von Husserls Unterscheidung der qualitative Wandel des Bezugs erfasst werden, wie de Vecchi anhand des Kinobesuches verdeutlichen möchte: Ich kann lediglich verstehend auf dich gerichtet sein, wie etwa, weil ich verstehe, dass auch du ins Kino möchtest. Ich kann kommunikativ auf dich gerichtet sein, sodass du begreifst, dass ich deinen Intentionalitätsgehalt kenne und du hierauf wiederum reagierst. Oder ich kann, so nun eben vorwiegend mit de Vecchi, sozial, das ist in spezifischer kommunikativer Weise auf dich gerichtet sein. Der soziale Akt als solcher wurde zwar von frühen Phänomenologen wie Stein und Adolf Reinach beschrieben, wie beispielsweise als »Versichern, Gewähren, Verzeihen und Versagen«70 , als Befehl, In-
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Dunbar: Grooming, Gossip, Evolution of Language (1997), S. 77 (dt.: S. 102) (Herv. selbst vorgenommen). Im Laufe des Lebens sind es wohl deutlich mehr als 150 Einzelpersonen mit denen man eine »echte zwischenmenschliche Beziehung« eingehen kann. Worum es Dunbar hier dezidiert geht, sind die Personen mit denen man gleichzeitig – oder wie es im Zitat heißt: »at any one time« – eine solche Beziehung aufrechterhalten kann. Husserl: Beilage XVII: »Weg zum reinen Bewusstsein« (1910) (Hua. XIII), S. 98. Stein: Beiträge philo. Begründung [1922], hier: Einführung v. Beate Beckmann-Zöller, S. XLIV.
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
formieren, Auffordern, Verkünden oder Ähnliches71 , doch erst de Vecchi hebt den sozialen Akt als zentrale Charakterisierung einer besonderen Intentionalitätsform hervor. Die Rolle des Anderen ist nun dadurch bestimmt, dass er als Adressat dient72 , da ihm der soziale Akt gilt. Sie selbst führt dies am Beispiel des Versprechens vor: »I promise you to go to the movies with you«73 . Im Gegensatz zur intersubjektiven Intentionalität, welche implizit eher als unpersönliches Verhältnis der Beteiligten angesehen werden kann – »ich sehe, dass du ins Kino möchtest« –, besteht bei der sozialen Intentionalität eher ein persönlicher, vertraulicher Bezug, welcher durch eine normative Entität74 , wie vorwiegend die Verpflichtung, gefestigt wird. Genau wie diese Typologie darauf zielt, dass nicht jede individuelle Intentionalität eine Ich-Intentionalität ist, vertritt de Vecchi, dass nicht jede Bezugnahme – ihr zufolge noch nicht einmal jede kommunikative Bezugnahme – eine soziale Bezugnahme ist 75 . Zu 71 72 73 74 75
Vgl. de Vecchi: »Coll. vs. intersubjective and social int.« (2011), S. 77. Vgl. de Vecchi: »Three Types of Heterotropic Int.« (2014), S. 125. Vgl. de Vecchi: »Coll. vs. intersubjective and social int.« (2011), S. 74. Vgl. de Vecchi: »Three Types of Heterotropic Int.« (2014), S. 134f. Mit dieser Auffassung des sozialen Aktes grenzt sich de Vecchi, auch wenn sie selbst dies nicht kennzeichnet, von einflussreichen Autoren der Debatte, wie Tuomela und Tomasello (siehe Kapitel 3.2 und 3.3), ab. Desweiteren darf ihre Auffassung des »sozialen Aktes« keineswegs beispielsweise mit Max Webers Verwendung dieser Bezeichnung gleichgesetzt werden: Während de Vecchi, wie gezeigt wurde, verschiedene einseitige Bezugnahmen auf den Anderen differenziert – konkret: die einseitige intersubjektive und die soziale Intentionalität –, besteht für den Soziologen Max Weber ein einziger einseitiger Bezug auf den Anderen: der »soziale Akt«, welcher sich als »Gemeinschaftshandlung« manifestiert. Die Uneinigkeit liegt damit vereinfachend darin, ob der »soziale Akt« als Sammelbegriff für alle einseitigen Bezugnahmen oder als eine spezifische Unterform der einseitigen Bezugnahmen gelten kann. In der Debatte findet sich jedoch darüber hinaus auch eine Unstimmigkeit in Bezug auf die »Gemeinschaftshandlung«: Weber verwendet die Bezeichnung »Gemeinschaftshandlung« für die einseitige Bezugnahme. Hans Bernhard Schmid grenzt sich hiervon ab und beschreibt, dass eine Gemeinschaftshandlung als Handlung einer Gemeinschaft eben einen wechselseitigen Bezug voraussetzt. Diese Art der Abgrenzung verdeutlicht Schmid anhand des Spazierganges von Anna und Berta: »Wenn Anna ihren Schritt etwas verlangsamt in der Erwartung, daß Berta zu ihr aufschließt, Berta aber einfach unentwegt in ihrem gemächlichen Trott verbleibt« (H.B. Schmid: Wir-Intentionalität (2005), S. 109ff.). Dann ist dies, in seinem Sinne, nicht als »Gemeinschaftshandlung« zu beschreiben: »Ob in einer gegebenen Situation ein Fall von Gemeinschaftshandeln vorliegt oder nicht, ob unsere Wanderinnen an einem bestimmten Punkt noch allein unterwegs sind oder schon gemeinsam, sieht man nicht, wenn man nur in Betracht zieht, was im Kopf der einen vorgeht. Es kommt hier mindestens noch auf das ›sinnhafte Erleben‹ der anderen an«. Ebd., S. 111 (Herv. übernommen)). Konkret: man muss die Perspektive des Anderen mit einbeziehen – es handelt sich um ein relationales Phänomen. Indem Schmid jedoch hier diagnostiziert, dass sich das Erleben im Kopf vollzieht, hat es den Anschein, als ob er, ebenso wie Searle, zu einer kausalen Erklärungsweise der Intentionalität tendiert. Schmid bringt seine Definition des Gemeinschaftshandeln schließlich auf folgende Formel: »Gemeinschaftshandeln = zusammenstimmendes individuelles Verhalten + in-
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dieser Auffassung der sozialen Intentionalität sind drei Aspekte kritisch anzumerken: Erstens erläutert de Vecchi nicht, ob dieser soziale Akt auch »implizit«, etwa als nonverbale Kommunikation, vonstattengehen kann. Bei der intersubjektiven Intentionalität – dem Bezug eines real existierenden Subjektes auf ein weiteres real existierendes Subjekt – wurde gefragt, ob dies auch den indirekten Bezug, wie beispielsweise das Lesen einer Autobiografie, umfasst. Nun kann mit Blick auf den sozialen Akt gefragt werden, ob dieser auch unausgesprochen bleiben kann. Angenommen zwei Wanderer laufen zufällig nebeneinanderher. Dies ist nach de Vecchi als gegenseitige intersubjektive Intentionalität zu kategorisieren, da zunächst lediglich die Mindestbedingung erfüllt ist: Es bestehen mindestens zwei Subjekte, die aufeinander kommunikativ bezogen sind, ihren eigenen Intentionalitätsgehalt und den Intentionalitätsgehalt des Anderen kennen, dies jedoch kaum eine Relevanz hat. Beide haben für sich eine Wanderabsicht und wissen, dass der jeweils Andere ebenfalls wandert. Könnte aber nicht bereits bei diesem bloßen Nebeneinander schon ein unausgesprochener sozialer Akt vorliegen? Wie etwa das implizite gegenseitige Versprechen der Art: Ich verspreche dir, dir nicht in den Weg zu laufen und du versprichst mir, mir nicht in den Weg zu laufen, damit keine Behinderung vorliegt und jeder sein Eigeninteresse der Wanderung problemlos vollziehen kann. Ein Beispiel dieser Art ist der Beschreibung de Vecchis nach nämlich nicht mehr als gegenseitige intersubjektive, sondern als soziale Intentionalität zu begreifen, da – wenigstens implizit – ein sozialer Akt vorliegt. Zweitens geht de Vecchi nicht ausdrücklich auf die kognitiven Grundvoraussetzungen des sozialen Aktes ein: Neben der Einfühlung, welche bereits bei der intersubjektiven Intentionalität auftritt, hat man es hier zudem mit der Anerkennung
dividuelle Beitragsabsichten + wechselseitig iteriertes Wissen von diesen Absichten« (ebd., S. 121). Dabei betont er jedoch, dass dies keineswegs reduktionistisch zu verstehen sei, sondern lediglich als Modell zur Vereinfachung diene. Eine ausführliche Darlegung der möglichen Folgen des Gemeinschaftshandelns findet sich in H.B. Schmids Werk Moralische Integrität – Kritik eines Konstruktes (2011), in welchem er als Musterbeispiel für eine solche Ausgangslage das Milgram-Experiment anführt, das heißt also ein Beispiel, das in seiner Drastik und Tragik kaum noch zu überbieten ist. Auch in diesem Werk geht es Schmid darum, was aus dem Gemeinschaftshandeln resultiert, die Konklusion ist jedoch dort eine andere: Denn der Schwerpunkt des Werkes Moralische Integrität (2011) liegt dabei nicht primär auf dem Pluralsubjekt, sondern eher auf der individuellen Ebene, da das Individuum – oder spezifischer: die Person – nur mit und durch Andere, also mittels der Gemeinschaftshandlung, eine moralische Integrität aufbauen und besitzen kann. Zu beachten ist dabei allerdings, dass die moralische Integrität des Individuums ebenfalls durch die Gruppenzugehörigkeit und die kollektive Vereinbarung ins Wanken geraten kann, wenn etwa das Individuum durch das Festhalten an der eigenen Rolle innerhalb der Gruppe entgegen seiner eigenen Wertvorstellung handelt.
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
des Anderen als intentionales Wesen zu tun: Ich kann nur dann jemanden als Adressat ansprechen, wenn ich diesen zuvor als Wesen anerkannt habe, welches diese Mitteilung versteht. Drittens verschleiert de Vecchi, dass der soziale Akt selbst sozialen Normen oder Maßstäben unterworfen ist. Es ist eben beispielsweise reguliert, was als Mitteilung oder als Versprechen gelten kann. Die soziale Intentionalität unterscheidet sich jedoch nicht nur hinsichtlich des Ausmaßes der Kommunikation von seinen »Vorstufen«, sondern auch dadurch, dass das Wissen um den Intentionalitätsgehalt des Anderen (wie hier: die Absicht des Kinobesuches) und deren Überschneidung mit dem eigenen Intentionalitätsgehalt (ebenfalls die Absicht des Kinobesuches) die eigene Intentionalität erheblich »modifiziert«. Denn: durch den sozialen Akt ist man gewissermaßen an die Absicht des Anderen gebunden. Es heißt nicht mehr: »Ich möchte ins Kino« oder »Ich möchte ins Kino und nehme wahr, dass dies auch Andere wollen«, sondern »Ich möchte gemeinsam mit dir ins Kino gehen« und äußere dies im sozialen Akt des Versprechens: »Ich verspreche dir mit dir ins Kino gehen«. Es ist aber, wie betont werden muss, noch ein einseitiger sozialer Bezug: Entweder A → B, wobei A verspricht mit B ins Kino zu gehen und sich B als Adressat versteht; oder B → A, wobei B verspricht mit A ins Kino zu gehen und sich A als Adressat versteht. Eine dezidierte Sichtung der Normativität, die aus dem sozialen Akt hervorgehen kann, erörtert de Vecchi erst bei der darauf aufbauenden Intentionalitätsform, konkret der kollektiven Intentionalität. Liegt ein einseitiger oder wechselseitiger – hier terminologisch präziser: ein gegenseitiger – Bezug von Subjekten aufeinander vor, ist dies nach de Vecchi in beiden Fällen als intersubjektive Intentionalität zu bezeichnen. Liegen diese Bezugsrichtungen mittels sozialen Aktes vor, dann differenziert de Vecchi terminologisch zwischen zwei Intentionalitätsformen: der sozialen und der kollektiven Intentionalität.
Kollektive Intentionalität Einen einseitigen Bezug mittels sozialen Aktes bezeichnet sie als soziale Intentionalität (A → B oder B → A; und einer von beiden äußert einen sozialen Akt). Gilt hingegen: A → B und B → A; wobei beide mittels sozialen Aktes aufeinander bezogen sind und sich als Adressaten verstehen, dann bilden sie (Handlungs-)Partner.76 Herrscht al76
Wobei aus zeitlicher Sicht gesagt werden muss, dass B unmittelbar nach A oder gleichzeitig mit A, in Bezug auf das Versprechen Aʼs, sein Versprechen abgibt. Auch bei der kollektiven Intentionalität stellt sich die Frage, ob das Versprechen der Beteiligten zu- oder miteinander auch nonverbal vonstattengehen kann. De Vecchi selbst macht keine explizite Unterscheidung darin, ob die Beteiligten sich während des Versprechens als Handlungspartner anerkennen oder zu Handlungspartnern werden. Begrifflich präzise müsste man wohl sa-
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so ein sozialer Bezug – der nun tatsächlich als Wechselseitigkeit gefasst werden kann – vor, dann kann dieser Bezug, kurz gefasst mit Blick auf das Beispiel, mit »Sie versprechen sich gemeinsam ins Kino zu gehen« wiedergegeben werden. Bei dieser Intentionalitätsform kann man, im direkten Vergleich zu den vorherigen Stufen nach de Vecchi, dezidierter von einem Zusammengehörigkeitsgefühl sprechen, das alle Beteiligten umfasst und sich daraus etwas ergibt, dass über die Summe der Beteiligten und deren jeweilige Intentionalität hinaus geht: »Sie wollen gemeinsam ins Kino zu gehen« beziehungsweise »Wir wollen gemeinsam ins Kino gehen«. De Vecchi erläutert, dass bei einer kollektiven Intentionalität – ebenso wie bei allen von ihr zuvor genannten Intentionalitätsformen – alle drei Hauptphänomenbereiche auftreten können. Wie beispielsweise: »we intend to go to see The Apartment, or we are going to see The Apartment […][;] we believe that the Apartment by Billy Wilder is a beautiful movie […] [;] we both are amused by The Apartment and we share the same enthusiasm for this movie«77 . Hierbei zeigt sich, dass lediglich bei der »practical collective intentionality« strenggenommen ein wechselseitiger sozialer Bezug zwischen den Beteiligten vorliegt. Bei einer »cognitive« und »affective collective intentionality« könne man eher, allgemeiner gesprochen, von einem wechselseitigen kommunikativen Bezug sprechen, welcher sich als sozialer Akt manifestieren kann – aber eben nicht muss. Prinzipiell gilt somit bei einer kollektiven Intentionalität nach de Vecchi: A ↔ B, wobei nun das Symbol → nicht nur die Bezugsrichtung, sondern auch den Bezugsmodus umfasst. Aus einer intersubjektiven Intentionalität entstehen soziale Entitäten, wie etwa Freundschaften, Familien und Gemeinschaften, während die soziale Intentionalität die Bedingung der Möglichkeit normativer Entitäten, wie Versprechen und Verpflichtungen, darstellt. Doch nur die kollektive Intentionalität bildet die Grundvoraussetzung für institutionelle Entitäten, wie Geld oder politische Parteien.78 Diese Aufschlüsselung der Entitätenbildung aus den zwischenmenschlichen Aktarten heraus ist deutlich differenzierter als beispielsweise jene Ausarbeitungen Husserls, welcher bei jeglichen zwischenmenschlichen Aktarten von der Konsti-
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gen, dass sie sich vor dem Versprechen als potenzielle Partner anerkennen und erst während des Vollzugs der versprochenen Handlung zu tatsächlichen Handlungspartnern werden. Entscheidend ist allerdings nicht nur die Bezugsrichtung und der Bezugsakt – wie es etwa ein soziales wechselseitiges Versprechen sein kann –, sondern auch, wie in späterer Stelle in Kapitel 3.2 angeführt wird, das Vertrauen in das jeweilige Gegenüber, dass am Versprechen und seiner Umsetzung festgehalten wird. de Vecchi: »Three Types of Heterotropic Int.« (2014), S. 127f. Vgl. u.a. de Vecchi: »Coll. vs. intersubjective and social int.« (2011), S. 74. Vgl. (i) de Vecchi: »Three Types of Heterotropic Int.« (2014), S. 134f. (ii) de Vecchi: »Coll. vs. intersubjective and social int.« (2011), S. 78.
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
tution einer »höheren Bewusstseinseinheit«79 , von einem »Wir höherer Stufe«80 ausgeht. Man hat es zu tun mit einem »allgemeinen, überpersonalen, und doch personalen leistenden Bewusstsein [...], [das] in allen beteiligten Personen lebendig [ist], durch sie hindurchströmend oder von ihnen vielmehr ausströmend [...], als ob eine Einheit der Person [existent] wäre, mit einem Bewusstsein und einem personalen Leisten.«81 Nach de Vecchi gilt bei einer kollektiven Intentionalität, dass die Beteiligten wechselseitig aufeinander bezogen sind, jeweils um diese Wechselseitigkeit wissen und diese die Intentionalität – so der qualitative Unterschied – zu einer gemeinsamen »modifiziert«. Die Abgrenzung der Intentionalitätsformen wird, in Anlehnung an Scheler, bei de Vecchi auch anhand der Gefühlsphänomene vorgenommen: Bei der »affective intersubjective intentionality«, wie etwa die Gefühlsansteckung in den Fanreihen eines Fußballstadions, fühlen der Andere und ich zwar de facto ein und dasselbe Gefühl82 , ein und dieselbe Stimmung. Dies geschieht jedoch eher parallel. Bei einer »affective collective intentionality«, wie sie zumindest von de Vecchi ausgelegt wird, erkenne ich den Anderen als Partner an und das Erleben ist ein gemeinsames. So ist es beispielsweise nicht mehr deine oder meine Stimmung, sondern: Wir befinden uns in ein und derselben Stimmung – es ist unsere Stimmung. Es besteht nun keine »I-you direction« mehr, sondern eine »we-shared object direction: a direction from we (I and you) to a common, shared object«83 .
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Husserl: Beilage XVII: »Weg zum reinen Bewusstsein« (1910) (Hua. XIII), S. 98 (Herv. selbst vorgenommen). Husserl: Intersubjektivität III (Hua. XV, Texte v. 1929-1935), hier: Text Nr. 27: »Heim – fremd. Ich – die Anderen, Wir. Die für mich primordiale Menschheit, meine Wir-Menschheit – neues Wir. Entsprechende Realität der gemeinsamen Welt« (1931/1932), S. 428–437, hier: S. 436. Husserl: Text Nr. 10: »Gemeingeist II. Personale Einheiten höherer Ordnung« (1918 oder 1921) (Hua. XIV), § 6, S. 200. (Herv. selbst vorgenommen) Vgl. de Vecchi: »Coll. vs. intersubjective and social int.« (2011), S. 76. Ebd. Dass sich die Beteiligten in einer zueinander abgestimmten Weise und einer spezifischen Haltung, das heißt in ein und demselben Modus befinden müssen, ist ebenfalls bei Rainer Schützeichel ausgeführt: »[K]ollektive Emotionen [...] treten auf, wenn unter zuträglichen zeitlichen und räumlichen Bedingungen eine Gruppe von Personen in einer synchronen Weise und in einer bestimmten Perspektive auf ein Ereignis oder ein Objekt reagieren kann.« Schützeichel: »Fühlen als soziales Phänomen« (2014), S. 44 (Herv. selbst vorgenommen). Zwar wird hierbei die notwendige Art und Weise von Schützeichel nicht näher erläutert, wodurch er gewissermaßen hinter Husserl und de Vecchi zurückfällt, doch eröffnet sich mit Schützeichel – über Husserl und de Vecchi hinaus – ein neuer Aspekt: die zuträglichen zeitlichen und räumlichen Bedingungen. Diese stellen sich wohl insbesondere in Hinblick auf die Digitalität: Unbestreitbar ist, dass durch die digitalen Medien das Teilen von Gütern – man denke etwa an das Verbreiten von Fotos oder Gedankengut – erheblich zugenommen und vereinfacht wurde, doch ist fraglich, ob für eine digitale Gruppe, ohne jeglichen persönlichen face-
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Formen kollektiver Intentionalität
Kollektive Intentionalität als stark geteilte Intentionalität Bei ihrer Beschreibung der kollektiven Intentionalität führt de Vecchi demnach, neben der ein –, gegen- und wechselseitigen Bezugsrichtung, eine weitere »direction« ein: die »we-shared object direction«, welche sich in einer spezifischen Intentionalitätsform widerspiegelt, nämlich der »shared intentionality«. Sie betont: »collective intentionality is a shared intentionality in a very strong sense of the term ›sharing‹, a sense that implies some essential conditions, which are not required in the cases of intersubjective and social intentionality«84 . Mit einer solchen Aussage äußert sich de Vecchi, wenigstens implizit, zum einen gegen die Verwendung des Begriffs »collective intentionality« als Sammelbezeichnung nach Searle und zum anderen gegen die Zurückführung des Wortbestandteils »Kollektiv« auf dessen lateinischen Ursprung, wie dies beispielsweise von Hans Bernhard Schmid angeführt wird, nach welcher das Kollektiv als »›Zusammenlegung‹ (con-lectio) von Individuen«85 verstanden werden könne und somit eine Zusammensetzung, aber kein Zusammenhalt der Beteiligten voraussetzt. Doch eine Aufklärung, was ausdrücklich ihrerseits unter einer »shared intentionality« zu verstehen sei, bleibt bedauerlicherweise bei de Vecchi aus. Aus mehreren Gründen müsste diese jedoch eindeutig erläutert werden. Denn erstens bleibt unklar, ob sie eine bereits vorhandene Auffassung der »shared intentionality« übernimmt, wie etwa jene Tuomelas, Bratmans oder Tomasellos, oder ob sie eine eigenständige, hiervon abweichende Auffassung zugrunde legt. Zweitens bleibt unverständlich, weshalb sie einerseits dezidiert darauf verweist, dass es sich bei der kollektiven Intentionalität um eine »shared intentionality in a very strong sense of the term ›sharing‹« beziehungsweise um eine »shared intentionality stricto sensu«86 handle. Andererseits aber nicht aufklärt, was ihrer eigenen Abgrenzung nach unter einer schwachen geteilten Intentionalität zu verstehen ist. Fallen hierunter die Vorstufen der kollektiven Intentionalität, nämlich die intersubjektive und soziale Intentionalität? Eine solche Lesart, dass die »shared intentionality« als Vorstufe oder Bedingung der Möglichkeit einer kollektiven Intentionalität gesetzt wird, scheint mit Textpassagen folgender Art untermauert zu werden: »collective intentionality is constituted by states, acts and actions shared by two or more persons, for instance: collective feelings, beliefs, intentions, and collec-
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to-face-Kontakt in der offline-Welt, die Bezeichnung »Gemeinschaft« oder »Gesellschaft« gerechtfertigt ist. de Vecchi: »Coll. vs. intersubjective and social int.« (2011), S. 72 (Herv. Selbst vorgenommen). H.B. Schmid: Wir-Intentionalität (2005), S. 240f. de Vecchi: »Coll. vs. intersubjective and social int.« (2011), S. 83.
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
tively intended bodily movements (e.g. playing tennis or a piano/violin duet together)«87 . De Vecchi vertritt also, dass die kollektive Intentionalität eine spezifische, nämlich die ausgeprägte Variante der »shared intentionality« sei, welche – ebenso wie die intersubjektive oder soziale Intentionalität – mindestens zwei Personen erfordert. Doch was eine solche Intentionalitätsform nun konkret im Kern ausmacht und wie sich diese wiederum von anderen Formen abgrenzt, bleibt vage. Diese Unbestimmtheit ist besonders dann deutlich, wenn man versucht – wie es de Vecchis eigenes Anliegen ist – Schelers Gefühlsphänomene ihren Intentionalitätsformen zuzuordnen. Wenn man also fragt: welches Gefühlsphänomen nach Scheler kann als Veranschaulichung etwa beispielhaft der »affective collective intentionality« nach de Vecchi angeführt werden? Dass die »affective collective intentionality« nach de Vecchi unter anderem nicht die Gefühlsansteckung nach Scheler umfasst, scheint klar, da die Beteiligten dabei erstens parallel zu- anstatt miteinander ein Gefühl haben und zweitens die Gefühlsansteckung bei de Vecchi ausschließlich als Beispiel der »intersubjective intentionality« angeführt wird. Auch dass die Einsfühlung im Sinne Schelers unter die »affective collective intentionality« fällt, ist zu bezweifeln. De Vecchi geht bei ihrer Beschreibung der »collective intentionality« nämlich von einer Wechselseitigkeit aus, während Schelers eigene Ausführungen der Einsfühlung auch einseitige Bezüge, wie unter anderem jene in verstorbene Ahnen88 , beinhaltet. Problematisch bei der Zuschreibung des Mitgefühls und des Miteinanderfühlens in der Beschreibung nach Scheler als Beispiele der »affective collective intentionality« de Vecchis ist wiederum, dass Schelers eigene Terminologie eigenwillig ist, da bei ihm begrifflich sowohl die trauernden Eltern Miteinanderfühlen als auch der Freund C Mitgefühl empfindet89 , dass heißt also beide Fälle als spezifische Weise des Umgangs, als mit dem Anderen90 beschrieben werden. Anzunehmen 87 88 89 90
de Vecchi: »Three Types of Heterotropic Int.« (2014), S. 122 (Herv. selbst vorgenommen). Vgl. Scheler: Wesen u. Formen d. Sympathie [1923], Teil A, II, 4, S. 30. Vgl. (i) Scheler: Theorie d. Sympathiegefühle [1913], S. 9. (ii) Scheler: Wesen u. Formen d. Sympathie [1923], Teil A, II, S. 23f. Auch Heideggers Verwendung des »Mit« ist recht uneindeutig. Wie Sätze folgender Art zeigen, wobei nicht auf die Differenz zwischen »eigentlichen« und »uneigentlichen Mitsein« eingegangen wird: (i) »wir selbst sind bestimmt durch ein Mitsein mit den Anderen. Dasein und Dasein sind ein Miteinander«. Heidegger: Einleitung Philosophie [1928], S. 84f. (ii) »›Mit‹ ist zu fassen als Teilnahme, wobei Fremdheit als Teilnahmslosigkeit nur eine Abwandlung der Teilnahme ist. Das ›Mit‹ hat also einen ganz bestimmten Sinn und besagt nicht einfach ›zusammen‹, auch nicht zusammensein von solchem, was dieselbe Seinsart hat. ›Mit‹ ist eine eigene Weise des Seins« (ebd., S. 85). Nach Heidegger handelt es sich demnach beim Menschen, unabhängig davon in welcher Bezugnahme die Beteiligten aufeinander gerichtet sind oder ob sich die Beteiligten gar fremd sind, stets um ein Miteinander, obwohl gleichzeitig
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ist, dass letztlich wohl das Miteinanderfühlen im Sinne Schelers der »shared intentionality in a very strong sense of the term ›sharing‹« de Vecchis am nächsten kommt, da die Beteiligten hierbei ein und dasselbe Gefühl haben, während man beim Mitgefühl mit-dem-Anderen mitfühlt, jedoch nicht ein identisches Gefühl besitzen muss. Führt man allerdings das Miteinanderfühlen nach Scheler, wie die Trauer der beiden Eltern am Grab ihres Kindes, als Beispiel einer »affective collective intentionality« in der Auslegung nach de Vecchi an, dann besteht – so die nächste Problematik – das Kollektiv jedoch lediglich aus zwei Beteiligten (hier: Mutter und Vater) – was in der Debatte vielfach, wenn auch meist in Bezug auf Searle, berechtigterweise kritisiert wird. Dadurch dass de Vecchi also ihre Auffassung der starken und schwachen »shared intentionality« nicht näher bestimmt, bleibt nach allem unklar, was eine kollektive Intentionalität ihr zufolge überhaupt wesentlich ausmacht. Dies verwundert umso mehr, da sich hierzu bereits markante Ausführungen der frühen Phänomenologen anführen lassen. So findet sich etwa die These, dass sich eine Gemeinschaft nicht auf ihre Beteiligten und deren Beitragshandlungen reduziert werden kann, nicht erstmals um 1990 bei Searle91 , wie in der Debatte teils immer wieder fälschlicherweise hervorgehoben wird, sondern wird vielmehr unter anderem unmissverständlich etwa seit 1924 bei Husserl zugrunde gelegt: »[D]ie Gemeinschaft [ist] nicht eine bloße Kollektion außereinander und nebeneinander seiender Einzelner [...], sondern eine Synthesis der Einzelnen durch
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gelten soll: »Miteinandersein sagt [...] mehr, ja etwas anderes als: Zwei Menschen kommen gleichzeitig irgendwo vor« (ebd., S. 87). Auch bei Husserl findet sich dieses »Mit« als Sammelbegriff für jegliches Denken, Handeln und Fühlen mit mehreren Beteiligten: »Ich in meiner Intentionalität [bin] der Anderen bewusst als Mit-Ich, als mit ihnen erfahrend, mit ihnen lebend, leidend, tätig, mit ihnen (und gegen sie, das Gegen als ein Modus des Mit).« Husserl: Intersubjektivität II (Hua. XIV, Texte v. 1921-1928), hier: Beilage XLVII: »Ich und die Welt. Fungierende und realisierte Intersubjektivität. Konnex im Fungieren« (1926/1927), S. 409. Im Folgenden als: Husserl: Beilage Nr. XLVII: »Ich u. die Welt« (1926/1927) (Hua. XIV). Unter Husserls, Schelers und Heideggers »Miteinander« fällt demnach im heute alltäglichen Sinne, dass etwas mit dem Anderen, für den Anderen oder gegen den Anderen vollzogen wird oder geschieht. Bei Husserl findet sich eine weitere Begrifflichkeit: Liegt ein besonders tiefgreifendes Zusammengehörigkeitsgefühl der Beteiligten vor, so spricht Husserl jedoch nicht mehr von einem Miteinander, sondern von einem Ineinander. Dieses tritt beispielsweise Husserl zufolge bei Liebenden auf: »Liebende leben nicht nebeneinander und miteinander, sondern ineinander, aktuell und potenziell. Sie tragen also auch gemeinsam alle Verantwortungen, sie sind solidarisch verbunden, auch in Sünde und Schuld«. Husserl: Text Nr. 9: »Gemeingeist I« (1921) (Hua. XIV), § 5, S. 174 (Herv. selbst vorgenommen). Das Ineinander ist dabei selbstredend in räumlicher Sicht metaphorisch zu verstehen, da die Beteiligten über zwei unterschiedliche Körper verfügen. Vgl. Searle: »Coll. Intentions and Actions« (1990), S. 401.
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
interpersonale Intentionalität, eine durch das soziale Füreinander- und IneinanderLeben und -/Wirken gestiftete Einheit«92 . Zudem geht Husserl – im Gegensatz zu de Vecchi und vielen weiteren Hauptvertretern der Debatte – auf die besondere Leiblichkeit dieser »gestifteten Einheit« ein.
Kollektive Leiblichkeit Als Musterbeispiel der Abstimmung der Körperbewegung unter zwei Partnern dient, insbesondere ab den 1950er Jahren, die Arbeit mit der zweigriffigen Baumsäge.93 Nach Husserl kann in Fällen dieser Art jedoch nicht nur eine Abstimmung der Körperbewegungen bestehen, sondern auch eine spezifische Leiblichkeit: »Das Wir hat seine kollektive Leiblichkeit«94 . Da jedoch aufgrund der Sicht des Teilnehmers und Beobachters, wie nun mehrfach angemerkt, das Kollektiv keineswegs mit dem Wir identisch sein muss, muss präziser gelten: Das Wir hat seine Wir-Leiblichkeit und das Kollektiv hat seine kollektive Leiblichkeit. Worauf Husserl hiermit zielt ist, dass man ein Selbstbewusstsein hat: Ich weiß, wie es ist ein Subjekt zu sein und durch meine Wahrnehmung gibt es mich als Individualsubjekt in der Welt. Aber auch, dass man ein Gruppenbewusstsein hat: Wir wissen, wie es für uns ist, ein Wir zu sein und durch unsere Wahrnehmung – beziehungsweise in der prägnanten Beschreibung nach Husserl: durch unsere Leiblichkeit – gibt es uns als »Personalität ›höherer Stufe‹«95 in der Welt. Mit der Betonung dieser spezifischen Leiblichkeit wird ein weiterer immanenter Aspekt zahlreicher Ansätze vorweggenommen: Es handelt sich um ein ganz spezifisches Subjekt, 92 93
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Husserl: »Idee eines individuellen u. Gemeinschaftslebens« (1924) (Hua. VIII), S. 197f. Eine ausführliche Beschreibung dieses Beispieles findet sich unter anderem bei Paul Christian und Renate Haas in Wesen und Formen der Bipersonalität – Grundlagen für eine medizinische Soziologie (1949). Vgl. (i) Gloy: Koll. u. individuelles Bewußtsein (2009), S. 73f. (ii) Martin Dornberg: »Die zweigriffige Baumsäge – Überlegungen zu Zwischenleiblichkeit, Umweltbezogenheit und Überpersonalität«, in: Grenzen der Empathie (2013), S. 239–259, hier: S. 240ff. Die komplette Textpassage hierzu lautet bei Husserl: »Die Welt ist mit all ihrem ontischen Gehalt jedermanns Welt, sie ist aber auch ›unsere‹ Welt; und das ›unsere‹ besagt: wir, die wir hier zusammen sind, oder auch: wir Freiburger [...], wir Deutsche, wir Europäer etc. Und jedes Wir hat seine Wir-Orientierung, das Hier und Dort hat seine Wir-Bedeutung. Dem entspricht: Ich und jedermann hat seine ›Stellung‹ in der Raumzeitlichkeit; von seiner Stelle aus hat er seine orientierte Welt als Umwelt, und jedes Wir hat seine Wir-Stelle – sein Territorium – und seine Umwelt, die sich in Wir-Gemeinschaften gliedert. Hier in Deutschland – das Land, das Territorium bestimmt für jedermann in seinem Wir einheitlich die räumliche Orientierung [...]. Das Wir hat seine kollektive Leiblichkeit.« Husserl: Text Nr. 19: »Welthorizont in Zeiträumlichkeit« [1932] (Hua. XXXIX), S. 181. Husserl: Text Nr. 10: »Gemeingeist II. Personale Einheiten höherer Ordnung« (1918 oder 1921) (Hua. XIV), § 5, S. 199.
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Formen kollektiver Intentionalität
welches später etwa bei Gilbert als »pluralsubject« bezeichnet wird (siehe Kapitel 4.3).96 Zwar kann die Wortwahl als solche kritisiert werden, doch wurde in der Rezeption einerseits übersehen, dass die phänomenologischen Überlegungen auf die kollektive Leiblichkeit hinauslaufen. Zudem blieb in der gesamten bisherigen Forschung andererseits unbeachtet, dass Husserl das Hineinströmen und Aufrechterhalten des, wie man heute sagen würde, kollektiven Gedächtnisses – der »Gemeinschaftserinnerung«97 – in die Einzelperson als spezifische Intentionalitätsform kennzeichnet, nämlich als eingebildete Intentionalität. In »Die persönliche Lebenszeit und die historische Zeit, die Lebenszeit der Gemeinschaft« um 1922 heißt es bei Husserl: »In jedem Deutschen ›lebt das Bewusstsein‹, ich bin Deutscher, es ist in jeder zugehörigen Person eine Intentionalität eingebildet, die ihrem weitesten Gemeinschaftsbewusstsein und Gemeinschaftshorizont einen näheren und zugleich begrenzenden Sinn gibt, also eine engere Gemeinschaft mit einem engeren Sinn hineinzeichnet: deutsches Volk. [...] Ist ein Volk konstituiert, und natürlich zunächst für jeden Volksgenossen und in seinem Einzelwesen als diesem eingebildete Intentionalität, so kann jedes solche Subjekt (ich Deutscher als Deutscher) nicht nur verstehen, dass andere Menschen und speziell dass andere Deutsche [...], sondern auch dass andere Nationen und einzelne anderer Nationen, dazu Menschen, die ausserhalb als volkslose leben, ›bestehen‹.«98 Husserl hält fest, dass in jedem Beteiligten welcher Gruppe auch immer, hier am Beispiel des Deutschen, eine spezifische Intentionalität innewohnt: das Bewusstsein zu dieser spezifischen Gruppe zugehören. Damit ist zweierlei gemeint: zum einen wurde die Intentionalität in den Einzelnen hineingebildet, das ist hinein konstituiert, wodurch er sie, so könnte man sagen, passiv übernommen hat. Zum anderen hat sich der Einzelne aktiv in die Gesellschaft einbildet, das meint hier: eingerichtet. Als »eingebildete Intentionalität« fasst Husserl – auch wenn im Rahmen dieser Typologie lediglich eine verkürzte und im Detail ungenaue Darstellung möglich ist – jegliche Aufnahmen und Verfestigungen der konstituierten Tatsachen im Einzelnen. Er thematisiert demnach was mit dem Einzelnen als Rückwirkung des Zusammenwirkens der Beteiligten aufeinander passiert. Ganz anders gehen, wie in Kapitel 3.3 gezeigt wird, Searle und Tomasello vor, da diese beleuchten was für die Gruppe durch das Zusammenwirken der Beteiligten aufeinander passiert: Es werden soziale oder institutionelle Tatsachen (Searle) beziehungsweise eine Kollaboration oder
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Vgl. Husserl: Text Nr. 11: »Apodiktische Struktur« (1930 oder 1931) (Hua. XV), S. 160 – dort Fußnote Nr. 1. Husserl: Beilage XXVII: »Die persönliche Lebenszeit« (1922) (Hua. XIV), S. 221. Ebd., S. 219f. (Herv. selbst vorgenommen).
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
Kultur (Tomasello) konstituiert – was bei Searle mit dem Sammelbegriff »kollektive Intentionalität« umfasst wird und sich bei Tomasello im Prozess der »shared intentionality« manifestiert. Keinesfalls darf zudem verschleiert werden, dass die von Husserl gewählte Bezeichnung »eingebildete Intentionalität« mehrdeutig ist und damit eine Verwechselungsgefahr mit weiteren Begriffen besteht, welche ebenfalls im Verlauf dieser Arbeit entweder bereits ausgeführt oder später noch erläutert werden: Erstens sollte der Ansatz Husserls keineswegs im Sinne der phantasierten, geglaubten Intentionalität nach Searle, Meijers und Schmid ausgelegt werden. Diese »geglaubte Intentionalität« jener Autoren besagt nämlich, dass der Bezug auf den Anderen lediglich geglaubt ist (siehe Kapitel 2.2). Zweitens besteht die Gefahr »eingebildet« im Sinne eines eitelhaften, arroganten Verhaltens zu deuten, was wiederum eine Assoziation zu Tuomelas und Tomasellos Verwendung des »I-modes«, das ist die Fokussierung auf die Eigeninteressen, hervorrufen kann (siehe Kapitel 3.2 und 3.3). Um die bisherige Darstellung der Intentionalitätsformen nach Husserl und de Vecchi zusammenzufassen, kann insbesondere in Abgrenzung zu Searles Ausführungen gesagt werden: für Searle gelten alle Intentionalitätsformen, welche über die individuelle Intentionalität hinausgehen als kollektive Intentionalität – genauer, wie in Kapitel 3.3 gezeigt werden wird: als schwache kollektive Intentionalität (das ist die Konstitution sozialer Tatsachen) und als starke kollektive Intentionalität (das ist die Konstitution institutioneller Tatsachen). Während die individuelle Intentionalität nach Searle wohl noch – wenigstens bedingt – mit der »solitary intentionality« im Sinne de Vecchis vereinbar ist, zieht sie zu dieser Intentionalitätsform einige Grenzlinien: die intersubjektive, soziale und kollektive Intentionalität. Letztere wird bei ihr als »shared intentionality in the very strong sense of the term ›sharing‹« klassifiziert, sodass im Rückschluss womöglich die Vorstufen der kollektiven Intentionalität als schwache Varianten der »shared intentionality« gewertet werden können. Deutet man das Konzept der Intentionalitätsformen nach de Vecchi auf diese Weise, dann ergeben sich jedoch strenggenommen nur drei Begriffe: die »solitary«, die schwache und die starke »shared intentionality«, was wiederum eine Parallele zu Searle aufbaut, da er, so die späteren Ausführungen, die individuelle, die schwache und die starke kollektive Intentionalität voneinander differenziert. Nimmt man die Unterscheidung zwischen der Ein –, Gegen- und Wechselseitigkeit ernst, welche in der deutschen Sprache verankert ist, dann gilt: die schwache »shared intentionality« im Sinne de Vecchis ist als Sammelbegriff verwendbar für alle Intentionalitätsformen des gegenseitigen Bezugs, bei welchem die Beteiligten als Adressaten gelten. Die starke »shared intentionality« – die kollektive Intentionalität – ist jene Bezeichnung für das, hier in Husserls Terminologie, »Wechselseitig-füreinander-sein, das eine objektivierende Gleichstellung meines
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Formen kollektiver Intentionalität
Daseins und des aller anderen mit sich bringt«99 , das heißt, dass die Beteiligten als gleichwertige (Handlungs-)Partner fungieren. Die einseitigen Bezüge sind de Vecchi zufolge nach dem konkreten Intentionalitätsobjekt und der Aktart, das ist dem Intentionalitätsmodus, voneinander zu trennen, ob also die Gerichtetheit auf ein Objekt (»solitary intentionality«), auf ein anderes Subjekt mittels verstehenden Aktes (»intersubjective intentionality«) oder auf ein anderes Subjekt mittels sozialen Aktes (»social intentionality«) geschieht. Besteht der kommunikative Akt bei mindestens zwei Subjekten in zwei Richtungen spricht de Vecchi von einer »wechselseitigen intersubjektiven Intentionalität«. In dieser Arbeit wurde hierfür treffender die Bezeichnung »Gegenseitigkeit« verwendet, um sprachlich genauer zu erfassen, dass zwar in einem solchen Fall Bezüge aufeinander bestehen, aber die Beteiligten selbst nicht auf die Bezüge eingehen oder nicht um den Bezug auf sich selbst wissen. Bei einer »shared intentionality«, so müsste die logische Reihenfolge nach de Vecchi ergänzt werden, handelt es sich um jenes Phänomen, bei welchem die Beteiligten aufeinander gerichtet sind, um diese Gerichtetheit wissen und diese jeweils von Relevanz ist. Die Intentionalitäten der Beteiligten lassen sich nun gewissermaßen nicht mehr trennen. Es liegt etwas vor, das über die Summe der Beteiligten und ihrer Interaktion hinausgeht. Etwa zeichnet sich die Fußballmannschaft in seiner Handlungsweise dadurch aus, dass es »mehr« als elf Personen sind, die einem Ball hinterher rennen. Es sind Spieler, die selbst über gute Fähigkeiten verfügen und ihre Teilaktionen, nach Bratman: ihre Subpläne100 sind so aufeinander abgestimmt, dass ein Zusammenhalt selbst für Unbeteiligte, wie Zuschauer des Spiels – so kann entgegen Searle gesagt werden – deutlich sein kann. In der Wortwahl Schelers mit Referenz auf Gefühlsphänomene: »Sie fühlen miteinander ›dasselbe‹ Leid, ›denselben‹ Schmerz« als ob ein einzelner Bewusstseinsstrom vorläge. Ergänzt man de Vecchis Ausführungen in dieser Weise, dass die »shared intentionality« als »Synthese« der Beteiligten zu verstehen ist, so liegt die Definition der »shared intentionality« – zumindest in groben Zügen – nach Bratman vor. Einerseits beschreibt de Vecchi die kollektive Intentionalität als stark geteilte Intentionalität anstatt etwa als Konstitution einer Kultur durch ein Kollektiv, wie dies bei Tomasello (siehe Kapitel 3.3) der Fall ist. Andererseits bleibt bei de Vecchi, wie auch beim »frühen« Tomasello, undeutlich, was unter dem Begriff »shared intentionality« zu fassen ist. Gerade in dezidierter Abgrenzung zu Tomasello findet sich bei de Vecchi jedoch ein weites Verständnis der Intentionalität als Bewusstsein von etwas anstatt als Bewusstsein eines Handlungsvollzugs. Dies mündet bei ihr, wie
99 Husserl: Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, § 56, S. 156–159. 100 Vgl. u.a. Michael Bratman: »Shared Valuing and Frameworks for Practical Reasoning« [2004], in: Structures of Agency, Oxford University Press, Oxford, 2007, S. 283–310, hier: S. 294. Im Folgenden als: Bratman: »Shared Valuing and Frameworks for Practical Reasoning« [2004].
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
im Folgenden gezeigt wird, allerdings in einer begrifflichen Differenzierung der Intentionalität je nach Hauptphänomenbereich.
»Affective«, »cognitive« und »practical intentionality« Berechtigterweise wirft de Vecchi Tomasello, insbesondere in Bezug auf dessen Werk Why We Cooperate (2009), vor auf Handlungen und Denkprozesse fokussiert zu sein und die Rolle der Gefühle zu missachten.101 Sie selbst behandelt die Hauptphänomenbereiche, ganz im phänomenologischen Sinne, gleichwertig.102 Dies führt allerdings wiederum dazu, dass de Vecchi bei allen vier von ihr aufgestellten Hauptintentionalitätsformen, die auch bei ihr als aufeinanderfolgende Stufen gelten könne, eine Binnendifferenzierung hinsichtlich der Bereiche Denken, Handeln und Fühlen vornimmt. Konkret: diese Unterscheidung wird sowohl an der Intentionalitätsform mit einem Beteiligten (»solitary intentionality«), als auch an allen drei Intentionalitätsformen mit mehreren Beteiligten (»intersubjective«, »social« und »collective intentionality«) vollzogen, wodurch sich folgende Varianten (Tabelle Nr. 4) ergeben: Tabelle Nr. 4: »Cognitive«, »practical« und »affective« als Phänomenbereiche Phänomenbereich/ Intentionalitätsform
Cognitive
Practical
Affective
Collective intentionality
Cognitive coll. int.
Practical coll. int.
Affective coll. int.
Social intentionality
Cognitive social int.
Practical social int.
Affective social int.
Intersubjective intentionality
Cognitive intersubj. int.
Practical intersubj. int.
Affective intersubj. int.
Solitary intentionality
Cognitive solitary int.
Practical solitary int.
Affective solitary int.
Bezeichnungen dieser Art mögen bei spezifischen Phänomenen, welche sich klar schematisieren lassen, gerechtfertigt sein und eine feingliedrige, begriffliche Differenzierung der Phänomene ermöglichen, etwa kann eine einseitig bestehende Liebe als »affective intersubjective intentionality« bezeichnet werden. Dabei bleibt jedoch vage wie de Vecchi mit Phänomenen umgeht, welche a priori mehrere Phänomenbereiche beinhalten. Ist man gewillt an ihren Begrifflichkeiten festzuhalten, dann müssten Fälle, in welchen beispielsweise sowohl eine Handlungs- als auch eine
101
Vgl. (i) de Vecchi: »Coll. vs. intersubjective and social int.« (2011), S. 74 – dort: Fußnote Nr. 3. (ii) De Vecchi: »Three Types of Heterotropic Intentionality« (2014), S. 127 – dort: Fußnote Nr. 15. 102 Vgl. de Vecchi: »Coll. vs. intersubjective and social int.« (2011), S. 74.
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Formen kollektiver Intentionalität
Gefühlskomponente besteht, wie der Mord aus Affekt oder der leidenschaftliche Kuss, als »affective and practical intentionality« kategorisiert werden. Weiterführend müsste nun je nach Bezugsrichtung und -/akt der Beteiligten charakterisiert werden, ob diese intersubjektiv, sozial oder kollektiv ist. Mittels dieser Beispiele ist jedoch zweifellos erkennbar, dass die Betrachtung von »Zwitter-Phänomenen« zu einer unübersichtlichen Begriffsanzahl führen würde. Kurzum: bei de Vecchi lässt sich deutlich – in Abgrenzung etwa zu den typischen Ansätzen der Sprachanalytik (siehe Kapitel 1.2) und evolutionären Verhaltensforschung (siehe Kapitel 1.3) – die gleichwertige Betrachtung der drei Hauptphänomenbereiche finden. Indem sie – wie in der gegenwärtigen Debatte insbesondere mit Bezug auf die »affective collective intentionality« durchaus verbreitet – terminologisch die Phänomenbereiche in die Charakterisierung der Intentionalitätsformen integriert, ist es ihr einerseits möglich ganz spezifische Phänomen treffend zu kategorisieren, andererseits ist es damit aber unmöglich bündig Phänomene adäquat beschreiben zu können, welche durch mehrere Phänomenbereiche geprägt sind.
Der primäre Bezug auf ein und dasselbe Intentionalitätsobjekt, jedoch nicht auf den Anderen Wenn de Vecchi als Erläuterung der graduellen Unterscheidung der von ihr differenzierten Intentionalitätsformen – die vereinzelte, intersubjektive, soziale und kollektive – als Beispiel den Kinobesuch wählt, dann muss verdeutlicht werden: sie betrachtet meist jene Phänomene, welche vor dem Kinobesuch stattfinden, wie unser Versprechen zusammen dort hinzugehen. Hier dient der Andere als (Handlungs-)Partner. Doch bleibt bei ihr völlig unausgeführt, ob man während des Kinobesuches, also dem konkreten Sehen des Kinofilmes von einer Geteiltheit, Gemeinsamkeit, Kollektivität oder einem Wir sprechen kann. Und wenn ja, ob dabei eine »shared intentionality in a very strong sense of the term ›sharing‹«, das ist eine »collective intentionality« vorliegt oder eher eine schwache Form. In aller Regel ist man nämlich während des Filmes eben vorwiegend auf den Film und nicht auf die anderen Kinogänger gerichtet und versteht diese daher nicht mehr ausdrücklich als (Handlungs-)Partner. Am Beispiel ausgeführt: obwohl mir auch während des Films bewusst ist, dass ich mit Berta diesen Film ausgewählt habe, wir uns zum Kino verabredet haben und sie neben mir sitzt, besteht die Gerichtetheit eben dennoch nicht in dominanter Weise zwischen uns als Beteiligte – zumindest dann, wenn der Film das hält was er verspricht –, sondern ist hinsichtlich ein und desselben Intentionalitätsobjektes gegeben. Ich sehe den Film und »tauche« ganz in seine Handlung ein. Ebenso wie bei dem Aspekt der kollektiven Leiblichkeit, der Hervorhebung der interpersonalen Intentionalität und der Erläuterung der sozialen Akte kann auch hierbei auf die frühen Phänomenologen verwiesen werden. Daher
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
verwundert es, dass de Vecchi – welche sich selbst als Phänomenologin versteht – diese historischen Verweise nicht aus systematischen Gründen selbst aufmacht und in ihrer Argumentation mit einbezieht. Beispielsweise beschreibt Heidegger dieses Phänomen in seiner Einleitung in die Philosophie um 1928/1929 am Ergriffensein von einem Bergausblick. Es ist erstaunlich, denn einerseits sind beide Beteiligten zweifellos auf ein und dasselbe gerichtet, andererseits sind die dabei nicht aufeinander, sondern lediglich auf das Objekt bezogen: »Nehmen wir als einfaches Beispiel zwei Felsblöcke [...]. Wir können sagen: sie sind zusammen, aber nicht miteinander vorhanden. Zwei Wanderer dagegen, die an der Halde vorbei steigen, sind miteinander. Der Unterschied ist einfach zu fassen: die zwei Steine sind materielle Körper, die zwei Wanderer Lebewesen und zwar vernünftige, die mit Hilfe ihrer Vernunft sich gegenseitig erfassen. Die Menschen sind zwar auch nebeneinander vorhanden, aber überdies haben sie ein Bewußtsein von diesem Nebeneinander, der eine erfaßt den anderen. Demnach wäre ihr Miteinandersein nichts anderes als ein bewußtes Zusammenvorhandensein. [...] Aber wird durch das gegenseitige Sicherfassen das Nebeneinander zu einem Miteinander? Nehmen wir an, die beiden Wanderer kommen alsbald um eine Biegung des Pfads zu einer unerwarteten Aussicht auf das Gebirge, so daß sie beide plötzlich hingerissen sind und schweigend nebeneinander stehen. Es ist dann keine Spur von gegenseitigem Sicherfassen [...]. Sind die beiden jetzt nur noch nebeneinander wie die beiden Felsblöcke, oder sind sie in diesem Augenblick gerade in einer Weise miteinander, wie sie es nicht sein können, wenn sie unentwegt zusammen schwatzen oder gar sich gegenseitig erfassen und auf ihre Komplexe beschnüffeln?«103 Schmid diagnostiziert, dass Heidegger diese seltsame Art des Miteinanders, das ohne »Spur von gegenseitigem Sicherfassen« vonstattengeht, »wohl aus Schelers Lehre vom unmittelbaren Miteinandererleben [und dessen Fallbeispiel der trauernden Eltern um 1912 beziehungsweise 1923] gewonnen hat. [...] Man erlebt gemeinsam, ohne einander zu erleben.«104 Demgegenüber kann aus historischer Sicht gesagt werden, dass Heideggers Überlegungen der Einleitung in die Philosophie (1928/1929) nicht primär von Schelers Be103 Heidegger: Einleitung Philosophie [1928], S. 86 (Herv. selbst vorgenommen). Was es allerdings bei Heidegger heißen soll, dass sich die Wanderer mittels Vernunft gegenseitig erfassen und inwieweit dies etwa mit der Genese der Moralität nach Tomasello einhergeht, wäre anderweitig näher zu beleuchten. 104 Hans Bernhard Schmid: »Was ist gemeinsames Dasein eigentlich? – Überlegungen in Anschluss an die Heidegger-Rezeption in Sozialwissenschaft und Sozialtheorie«, in: Die Natur der Gesellschaft – Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel, hg. v. Karl-Siegbert Rehberg, Campus Verlag, Frankfurt am Main, 2006, S. 5392–5404, hier: S. 5400. Im Folgenden als: H.B. Schmid: »gemeinsames Dasein« (2006).
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Formen kollektiver Intentionalität
schreibung, sondern wie vielmehr anzunehmen ist von Gerda Walthers Dissertation Zur Ontologie der sozialen Gemeinschaft (1923) beeinflusst ist, da bereits dort exakt dieses Beispiel der Ergriffenheit zweier Wanderer bei einem Bergausblick dargelegt wird. Während Heidegger bei der unmittelbaren Gegebenheit stehen bleibt und Scheler eine ex-negativo-Beschreibung liefert, dass diese Art des Miteinanders nicht auf ein wechselseitiges Wissen um den Intentionalitätsgehalt reduziert werden könne, findet sich in Walthers Ausführungen als ex-positivo-Bestimmung eine Entwicklungsgenese, eine Stufenabfolge des Vorgangs: »seine Begeisterung über die Aussicht und meine Begeisterung über die Aussicht [bestehen] getrennt nebeneinander, trotz ihrer Ähnlichkeit. Da plötzlich vollzieht sich [unwillentlich und unwillkürlich] ein merkwürdiges ›Ineinanderspringen‹ meiner Erlebnisse in seine Erlebnisse und seine Erlebnisse in meine Erlebnisse: Wir sind plötzlich ›beisammen‹, die intentionale ›Wand‹, der innerseelische ›Zwischenraum‹ ist durchbrochen, es ist, als ob ich das, was er erlebt, auch selbst erlebte, von mir aus, als ob er, in mir, und ich in ihm, es erlebte.«105 Wobei Walther weiter ausführt, dass, ihrer Auffassung nach, selbst bei diesem räumlichen nebeneinander Stehen der Beteiligten und nebeneinander Bestehen der jeweiligen Erlebnisse die Rede von einem »Wir-Erlebnis im engsten Sinne« sein kann, wie aus folgendem Wortlaut entnommen werden kann: »Wenn er auch gleichzeitig originär [das heißt für sich] genau dasselbe aktuell erlebte, wie ich, hätten wir ein Wir-Erlebnis im engsten Sinne, es wäre dies ein besonders ausgezeichneter Spezialfall der Gemeinschaftserlebnisse.«106
105 Walther: Ontologie d. soz. Gemeinschaften [1923], Teil B, Kapitel 4, c), S. 75 (Herv. selbst vorgenommen). Dieses Zitat ist auch aufgrund seines Endes bemerkenswert – »es ist, als ob ich das, was er erlebt, auch selbst erlebte, von mir aus, als ob er, in mir, und ich in ihm, es erlebte« –, da sich darin 1923 ein Kerngedanke anklingt, der gegen Ende des 20. Jahrhunderts bei der Sprachanalytikerin Margaret Gilbert in extenso ausgeführt wird: Für Gilbert wird bei einem »joint commitment« ein »plural subject« gebildet, da die Beteiligten »as a body« agieren, eben als ob sie ein und derselbe Körper beziehungsweise ein und derselbe Leib wären. Wobei es bei ihr eindeutig heißt: »There is doubtless more than one way further to articulate the idea of a joint commitment to intend as a body to do something. One way keeps the word ›body‹ in play: roughly, the parties are jointly committed as far as possible to emulate, by virtue of the actions of each, a single body that intends to do the thing in question. […] I [Gilbert] take it whereas a single human being constitutes a single body, in the sense I have in mind, a plurality of human individuals does not and cannot constitute such a body. At least to some extent, however, such a plurality can emulate such a body. One does not have to use the term ›body‹ […]. One might refer to a single person, for instance, or agent.« Margaret Gilbert: »Shared intention and personal intentions«, in: Philosophical Studies, Springer Verlag, 2009, S. 167–187, hier: S. 180f. (Herv. übernommen). Im Folgenden als: Gilbert: »Shared intention« (2009). 106 Walther: Ontologie d. soz. Gemeinschaften [1923], Teil B, Kapitel 4, c), S. 75.
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
Ebenso in dezidiertem Bezug auf das Wir heißt es bei Sartre: »Das beste Beispiel für das Wir kann uns der Zuschauer einer Theatervorstellung bieten, dessen Bewußtsein sich darin erschöpft, das imaginäre Schauspiel zu erfassen, die Ereignisse durch antizipatorische Schemata vorherzusehen [...], und der sich dennoch beim Auftauchen selbst, das ihn zu Bewußtsein vom Schauspiel macht, nicht-thetisch als Bewußtsein (vom) Mit-Zuschauer-sein konstituiert.«107 In all diesen Fällen wird von mehreren Beteiligten ausgegangen: die beiden Wanderer, die eine Aussicht genießen oder die Zuschauer während einer Theateraufführung. In all diesen Fällen gilt ebenso, dass diese Beteiligten jedoch nicht primär aufeinander, sondern auf das Intentionalitätsobjekt gerichtet sind: die Aussicht, die Theatervorstellung oder der Kinofilm bekommt – in heutigen Worten – die ungeteilte Aufmerksamkeit. Während bei Heidegger »keine Spur mehr vom gegenseitigen Erfassen ist«, da sich das Bewusstsein – so kann mit Sartre gesagt werden – »völlig erschöpft«, da man völlig in das Theaterstück »versinkt«, beschreibt Walther, dass es gerade deshalb zu einem »Ineinanderverschmelzen« der Erlebnisse kommen kann, sodass ich die Auffassung habe als ob wir eins wären. Diese Situation ist, nach Walthers Beschreibung, als »ein besonders ausgezeichneter Spezialfall der Gemeinschaftserlebnisse« zu kennzeichnen. Genauer aufgeschlüsselt liegt ein Paradox vor: Einerseits hat der Bergausblick die ungeteilte Aufmerksamkeit, andererseits jedoch handelt es sich um ein Gemeinschaftserlebnis, da das Genießen des Bergausblickes geteilt wird. Der Andere und ich sind jeweils in ein und derselben Weise auf ein und dasselbe gerichtet und »verschmelzen« während dieser Gerichtetheit »ineinander«. Doch wie müsste man nun ein solches Phänomen mit ambivalenter Charakteristik, so kann der Bogen zurückgeschlagen werden, nach de Vecchi bezeichnen? Eine eindeutige Antwort bleibt hier – leider wiedermals – offen, da sie nicht erläutert, ob es sich bei der intersubjektiven, sozialen oder kollektiven Intentionalität in ihrem Sinne um einen starken oder rudimentären Bezug auf den Anderen handelt. Beispielsweise könnte man argumentieren, dass während des Films Berta und ich zwar – wenigstens in rudimentärer Weise, nämlich: kommunikativ – aufeinander gerichtet sind, aber eben nicht auf soziale Weise, weshalb während des Films, so könnte man mit de Vecchi darlegen, eine wechselseitige intersubjektive, aber eben keine wechselseitige soziale, das ist kollektive Intentionalität besteht. Demgegenüber könnte die Szene auch dahingehend betont werden, dass primär jeder für sich auf den Kinofilm gerichtet ist und dabei gegebenenfalls von den Gefühlen der Anderen angesteckt werden kann. Wird jedoch die kollektive Intentionalität, wie sie bei de Vecchi angelegt ist, als wechselseitige Sozialität, als »very strong sense of the term ›sharing‹«, verstanden, so liegt diese wohl nicht vor, 107 Sartre: Das Sein und das Nichts [1943], Dritter Teil, Drittes Kapitel, III, S. 721 (Herv. übernommen).
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Formen kollektiver Intentionalität
wenn die Kinogäste während der Filmvorführung vom Film »gepackt« werden und dementsprechend nicht vorrangig aufeinander bezogen sind.
»heterotropic intentionality« als Sammelbegriff Als Bezeichnung, welche all diese Intentionalitätsformen mit mehreren Beteiligten in ihrem Sinne – die intersubjektive, soziale und kollektive Intentionalität – umfasst, schlägt de Vecchi den Ausdruck »heterotropic intentionality of individuals« vor: »[H]eterotropic intentional states, acts and actions necessarily refer to and depend on other individuals, i.e. they involve at least two individuals.«108 Dabei gelte, dass »heterotropic« ein Neologismus sei »composed of two ancient Greek words: the more familiar ›héteros‹ which means other/another […] and the less familiar ›trépō‹ which means turn towards«109 , wobei dieses »turn towards«, wie geschildert, verschiedene Gestalten annehmen kann als ein –, gegen- oder wechselseitige Gerichtetheit. Unglücklicherweise erweckt der Wortbestandteil »héteros« jedoch die Assoziation mit einer Heterogenität, einer Uneinheitlichkeit. Dies steht jedoch der Erläuterung eines identischen Intentionalitätsobjektes, eines identischen Intentionalitätsmodus oder sogar eines identischen Intentionalitätssubjektes gerade entgegen: Die Intentionalität kann sich »überschneiden« und geteilt werden, weshalb sie – zumindest hinsichtlich des spezifischen Intentionalitätsobjektes, wie dem Kinobesuch – als einheitlich gelten kann: ein partiell einheitlicher Bewusstseinsstrom. Es lässt sich festhalten, dass de Vecchis Kritik an Searles Sammelbegriff der kollektiven Intentionalität für jegliche Intentionalität mit mehreren Beteiligten als solche gerechtfertigt ist. Ihr eigener Vorschlag eines neuen Oberbegriffes, konkret: der Begriff »heterotropic intentionality«, stößt jedoch seinerseits an Grenzen. Allerdings beschreibt de Vecchi die »collective intentionality«, wie dargelegt wurde, auch als »shared intentionality in the strong sense«. Hierdurch kann wiederum angenommen werden, dass es in ihrem Sinne wohl auch eine schwächere Form der »shared intentionality« gibt, wodurch bei ihr auch die »shared intentionality« als umfassender Begriff aller – oder zumindest einem Großteil der – Intentionalitätsformen mit mehr als einem beteiligten Subjekt angewendet werden kann. Wie sich die verschiedenen Intentionalitätsformen nach Searle und de Vecchi annäherungsweise – wenn auch keinesfalls deckungsgleich – zueinander verhalten, soll die Tabelle Nr. 5 deutlich machen.
108 de Vecchi: »Making the Social World or Everyday Life World« (2012), S. 18. Vgl. auch de Vecchi: »Three Types of Heterotropic Int.« (2014). 109 de Vecchi: »Making the Social World or Everyday Life World« (2012), S. 18. – dort: Fußnote Nr. 8. Vgl. auch de Vecchi: »Three Types of Heterotropic Int.« (2014), S. 118.
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
Tabelle Nr. 5: Vergleich der Intentionalitätsformen nach Searle und de Vecchi Intentionalitätsformen nach Searle
Intentionalitätsformen nach de Vecchi
»Collective intentionality« Das ist der gemeinsamer Vollzug als Sammelbezeichnung für jegliche Intentionalität mit mindestens zwei Beteiligten (diese können Lebewesen jeglicher Art sein).
»Collective intentionality« = »shared intentionality in the very strong sense of the term ›sharing‹«
»Individual intentionality« = Bezug eines Individuums (unabhängig davon, ob man sich auf ein Objekt oder Subjekt bezieht). Das ist der parallele Vollzug als Sammel-
»Intersubjective intentionality «
»Heterotropic intentionality«
»social intentionality«
»Solitary intentionality«
= »Intentionality of individuals«
bezeichnung für die Intentionalität mit einem Beteiligten.
Zwischenfazit zu Kapitel 3.1 Insgesamt betrachtet kann im Überblick der Intentionalitätsformen de Vecchis gesagt werden, dass sie diese danach unterscheidet, wie viele Beteiligte involviert sind: ein Subjekt (»solitary intentionality«) oder mindestens zwei Subjekte (»intersubjective«, »social« oder »collective intentionality«). Primär geht es ihr anstatt um die tatsächlichen Beteiligten – wie dem Individuum, dem Subjekt oder Ich – um den konkreten Bezug der Beteiligten aufeinander: die Bezugsrichtung und der Bezugsakt, das heißt ausgeführt darum, ob sie ein –, gegen- oder wechselseitig beziehungsweise verstehend, kommunikativ oder sogar sozial aufeinander bezogen sind. Bei einer »solitary intentionality« ist ein Subjekt auf ein Objekt gerichtet, wie beispielsweise, dass ich das Meer vor mir genieße. Es geht hier um die vereinzelte Situation, wie sie am deutlichen bei Robinson vorliegt. Bezieht man sich verstehend auf einen Anderen, ohne dass dieser die Gerichtetheit auf sich bemerkt und auf diese reagiert – wie es wohl am markantesten bei dem Bezug auf einen Komapatienten der Fall ist –, dann liegt, obwohl dies besonders mit jenem Extremfall strenggenommen terminologisch unplausibel erscheint, nach de Vecchi eine »intersubjective intentionality« vor. Fungiert der Andere als Adressat dem etwas mitgeteilt wird, so besteht, wie mit Husserl gesagt werden kann, ein kommunikativer Akt. Ist dieses kommunikative Eingehen genauer als sozialer Akt zu verstehen, wie »Ich verspreche dir mit dir ins Kino zu gehen«, dann ist nach de Vecchi von einer sozialen
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Formen kollektiver Intentionalität
Intentionalität die Rede. Besteht dieser soziale Bezug wechselseitig, so liegt de Vecchis Ausführungen zufolge, eine kollektive Intentionalität vor und die Beteiligten verstehen sich nun nicht nur als Adressaten, sondern auch als (Handlungs-)Partner. Erst bei dieser letzten Intentionalitätsform findet eine »Vermischung des Bewusstseinsstromes« statt, da nicht mehr deine und meine Intentionalität einander gegenüber oder parallel zueinander stehen – »I see that you intend to go to the movies«110 (intersubjektive Intentionalität) oder »I promise you to go to the movies with you«111 (soziale Intentionalität) –, sondern es handelt sich nun dezidiert um unsere Intentionalität: »we intend to go to the movies together«112 . Die Intentionalitätsformen nach de Vecchi, welche sie unter anderem in den Aufsätzen »Collective intentionality vs. intersubjective and social intentionality – An account of collective intentionality as shared intentionality« (2011) und »Three Types of Heterotropic Intentionality – A Taxonomy in Social Ontology« (2014) darlegt, können in ihrem Umfang wie folgt tabellarisch (Tabelle Nr. 6) zusammengefasst werden. Fügt man die bisherigen Überlegungen der vorangegangen Kapitel zusammen, so ergibt sich: für eine »tiefgreifende« Intentionalitätsform müssen die Beteiligte real existieren, spezifische kognitive Fähigkeiten besitzen (Kapitel 2.1) und real in Korrelation zueinander stehen (Kapitel 2.2), das heißt wie nun präziser gesagt werden kann: ihre Bezugsrichtung aufeinander ist wechselseitig, ihr Bezugsakt kommunikativ – beziehungsweise genauer: sozial –, das heißt sie verstehen sich als (Handlungs-)Partner (Kapitel 3.1).
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de Vecchi: »Coll. vs. intersubjective and social int.« (2011), S. 74 (Herv. selbst vorgenommen). Vgl. ebd. (Herv. selbst vorgenommen). Ebd. (Herv. selbst vorgenommen).
Charakteristik
- qualitativer Unterschied: Wir, A → B und B → A, wobei Wissen um den Bezug des Anderen auf einen selbst besteht. Das heißt A ↔ B (Wechselseitigkeit). - der Andere ist (Handlungs-) Partner
- einseitig: A → B oder B → A, wobei entweder A oder B auf den Anderen mittels sozialen Akt bezogen ist - der Andere ist Adressat (nach Husserl: kommunikativer Akt« – »Ich-Du-Beziehung«)
Intentionalitätsform
Collective intentionality
Social intentionality
»We believe that the movie is beautiful«
»I promise you to go to the movie with you«
»We intend to go to the movie together«
Phänomenbereiche u. Beispiele / cognitive practical affective
Tabelle Nr. 6: Überblick der Intentionalitätsformen nach de Vecchi (Fortsetzung auf der nächsten Seite)
»We both are amused by the movie; We share the same enthusiasm for this movie« (entspricht in etwa dem Miteinanderfühlen nach Scheler)
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte 191
- hierfür ist ein anderes Subjekt notwendig, jedoch noch nicht hinreichend, da es zudem zu einer Einfühlung kommen muss - quantitativer Unterschied: Ich und Du - der Andere ist weder Adressat noch (Handlungs-)Partner - einseitig: A → B oder B → A (nach Husserl: »verstehender Akt«) - wechselseitig: A → B und B → A, wobei kein Wissen um den Bezug des Anderen auf einen selbst besteht.
- hierfür ist kein anderes Subjekt notwendig - kein Anderer ist mittelbar oder unmittelbar gegeben
Intersubjective intentionality
Solitary intentionality = »intentionality of individuals«
- »I perceive the movie« - »I perceive the sea in front of me«
»I see that you believe that the movie is beautiful«
- »I intend to go to the movie« - »I intend to go to the sea«
»I see that you intend to go to the movie«
- »I enjoy the movie« - »I enjoy swimming« (als Gefühlsansteckung der Richtung Objekt-Subjekt möglich (z.B. die Heiterkeit der Frühlingslandschaft überträgt sich))
»I see that you are amused by the movie« (wenn dieses Gefühl auch auf mich »überschlägt«, dann besteht eine Gefühlsansteckung der Richtung Subjekt-Subjekt (z.B. die Stimmung im Fußballstadion überträgt sich))
192 Formen kollektiver Intentionalität
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
3.2
Der Ansatz der Sprachanalytik: Die Intentionalitätsformen als Koordination und Kooperation
In der Debatte rund um die Intentionalitätsformen, wie der kollektiven Intentionalität, lassen sich, um es nochmals ins Gedächtnis zu rufen, verschiedene methodische Herangehensweisen finden. In dieser Arbeit werden die Konzeptionen der Intentionalitätsformen der Phänomenologie, Sprachanalytik und evolutionäre Verhaltensforschung, welche hier als die drei Hauptströmungen der Debatte ab dem 20. Jahrhundert zugrunde gelegt werden, in einer Typologie erfasst. Unabhängig davon, welche Strömung in der Debatte vertreten wird, ist man sich darin einig, dass erstens mehrere Beteiligte über ein und dieselbe Intentionalität verfügen können und eben diese spezifische Intentionalität zweitens mit einer Geteiltheit, Gemeinsamkeit oder Kollektivität einhergeht. Wobei die Meinungen dahingehend voneinander abweichen, was unter jenen Phänomenen genauer zu fassen ist. Darüber hinaus dient die Untersuchung der Intentionalitätsformen je nach Strömung grundsätzlich einem anderen Zweck: in der Phänomenologie zur Differenzierung der Bezugnahmen der Beteiligten aufeinander, in der Sprachanalytik zur Differenzierung von Koordination und Kooperation und in der evolutionären Verhaltensforschung als differentia specifica zwischen dem Tier und dem Menschen. Während in der Phänomenologie, wie mit Husserl und de Vecchi gezeigt wurde, die Unterscheidung der Intentionalitätsformen mittels der Bezugrichtung und dem Bezugsakt erfolgt, ist in der Sprachanalytik Tuomelas und in der evolutionären Verhaltensforschung Tomasellos der Bezugsmodus hinsichtlich der Interessen leitend. Folgt man der phänomenologischen Grundausrichtung zur Intentionalität, dann wird allerdings hinsichtlich der Verortung der Geteiltheit, Gemeinsamkeit und Kollektivität in der Intentionalität ein neues Problem aufgeworfen: Nach Husserl lässt sich die Intentionalität genauer mit drei Fragen beschreiben: Wer ist gerichtet? Auf was ist man gerichtet? Wie ist man dabei gerichtet? Die Intentionalität verfügt demnach über drei Momente: das Intentionalitätssubjekt, das Intentionalitätsobjekt und den Intentionalitätsmodus. Wenn die Besonderheit der Geteiltheit, der Gemeinsamkeit und der Kollektivität in der Intentionalität liegt, dann kann mit jener Differenzierung Husserls nun spezifischer gefragt werden: in welchem genauen Intentionalitätsmoment steckt die Besonderheit, wenn mehrere Beteiligte ein und dieselbe Intentionalität haben? Die Systematisierung der Debattenpositionen anhand dessen vorzunehmen, in welchem einzelnen Intentionalitätsmoment die Besonderheit verortet wird, scheint jedoch nur bedingt angemessen zu sein. Denn erstens vertrat bereits Husserl, dass das Intentionalitätssubjekt, das Intentionalitätsobjekt und der Intentionalitätsmodus zwar getrennt voneinander bestehen, jedoch stets korrelativ zueinander auftreten und daher immer alle drei Momente bedacht werden müssen. Zweitens las-
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Formen kollektiver Intentionalität
sen sich nicht alle Positionen nach diesem Schema kategorisieren, was gerade auch bei Husserls Ansatz teils selbst der Fall ist.
Tuomelas Ansatz als Schnittstelle: Betrachtung der Bezugnahme der Beteiligten aufeinander und des Intentionalitätsmodus Im Verlauf dieses Kapitels wird nachgewiesen, dass in der Sprachanalytik, wie in der Phänomenologie, ebenfalls die Bezugnahme der Beteiligten thematisiert wird. Dabei lässt sich jedoch auch ein Wandel des Blickwinkels zeigen: Tuomela geht es bei der Bezugnahme der Beteiligten aufeinander primär um das Motiv aus welchem heraus ich die Handlung mit dem Anderen vollziehe. Aus welchem Interesse heraus leiste ich eine Beitragshandlung? Liegt ein Eigen- oder ein Gruppeninteresse vor? Handle ich für mich oder für die Gruppe? Es geht dabei vorwiegend nicht um meine Reaktion auf den Intentionalitätsgehalt des Anderen wie bei Husserl und de Vecchi, sondern darum, wie ich dieses Wissen um seinen Intentionalitätsgehalt nutze. Tuomelas Ansatz nimmt dabei allerdings, so soll argumentiert werden, in der Debatte, insbesondere im Vergleich zu den phänomenologischen Positionen, eine Sonderstellung ein. Genauer gesagt: er bietet eine Schnittstelle zwischen den unterschiedlichen phänomenologischen Herangehensweisen: Tuomela erfasst einerseits, wie Husserl und de Vecchi, die Bezugnahmen der Beteiligten aufeinander – auch wenn es ihm um das Handlungsinteresse (Eigen- oder Gruppeninteresse) anstatt um die Bezugsrichtung geht. Andererseits legt Tuomela die Betrachtung, wie Scheler, darauf, dass die Beteiligten auf ein und dasselbe Intentionalitätsobjekt gerichtet sind. Es bestehen, wie Scheler anhand der trauernden Eltern verdeutlichte, Fälle in welchen die Beteiligten Miteinanderfühlen, da sie in ein und derselben Weise auf ein und dasselbe gerichtet sind. Hinsichtlich des Intentionalitätsmodus liegt bei den Beteiligten, in Tuomelas Worten, ein »certain direction of fit« vor. Auch wenn beide in unterschiedlicher Weise trauern, die Trauer in unterschiedlich anhaltender Intensität empfinden und sich diese jeweils anders äußert, fühlen sie ein und dasselbe Leid. Zwar zielt der Begriffbestandteil »Mit« auf jegliches Für- und Gegeneinander, doch dient die Bezeichnung »Miteinanderfühlen« als Kennzeichnung eines spezifischen Füreinanders, das bereits in Richtung Einsfühlung tendiert. Die These ist daher, dass unter Einbezug der verschiedenen phänomenologischen und sprachanalytischen Beiträge prägnanter gefasst werden kann, dass es nicht nur ein paralleles Nebeneinander und ein gemeinsames Miteinander gibt, sondern dass es – wie Scheler mit seiner Typologie der Gefühlsphänomene verdeutlichen möchte – verschiedene Stufen oder Variationen des Mit-dem-Anderen gibt: Das Mitgefühl ist eben gewissermaßen eine Zwischenstufe von der Einfühlung, bei welcher die Gefühle der Beteiligten getrennt voneinander bestehen, hin zur Einsfühlung, bei welcher die Gefühle der Beteiligten ein und dieselben sind. Konkret: je nachdem, wer als Beteiligter in die Beschreibung mit hineingezogen
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
wird und wie »tief« die Zusammengehörigkeit verankert ist, müssen nicht nur die Gefühlsphänomene, sondern unterschiedliche Intentionalitätsformen voneinander differenziert werden. Bezüglich dieser »Tiefe« werden in der Sprachanalytik die Begriffe »shared« und »joint intentionality« angewandt, während für die Anzahl der Beteiligten die Bezeichnungen »Wir-« oder »kollektive Intentionalität« verwendet werden. Um diese zwei Ebenen zu trennen, soll hier von qualitativen und quantitativen Dimensionen gesprochen und schlussendlich in einer eigenen Typologie dafür plädiert werden, diese zu kombinieren (siehe Kapitel 4). Schelers Erläuterungen des Miteinanders sind jedoch unter anderem dahingehend zu kritisieren, dass er in Wesen und Formen der Sympathie (1923) ausschließlich einen Phänomenbereich, nämlich konkret das Miteinanderfühlen thematisiert. Dies soll mit den sprachanalytischen Darlegungen ergänzt werden, welche sich ihrerseits auf geplante oder ausgeführte Handlungen mit mehreren Beteiligten konzentrieren. Dabei wird sich auch zeigen, dass die Differenzierung in gegenund füreinander ausgeführte Handlungen nicht zu strikt als entweder-oderKlassifizierung verstanden werden kann, wie mittels Bratmans Erläuterung des Schachspiels ausgeführt wird. Tuomela wird jedoch in diesem Kapitel besonders viel Erläuterung zukommen, da sich bei ihm zusammengenommen die verschiedenen thematischen Schwerpunkte Husserls, de Vecchis und Schelers finden: Tuomela behandelt, wie Husserl und de Vecchi, die Bezugsrichtung der Beteiligten aufeinander als auch, wie Scheler, dass die Beteiligten in ein und derselben Weise auf ein und dasselbe gerichtet sind. Für Tuomela können beide Aspekte als eine spezifische Grundhaltung der Beteiligten gefasst werden: entweder sie verfolgen ihre Eigen- oder die Gruppeninteressen. Nach Tuomela könnte man daher bei den Phänomenologen beanstanden, sie hätten die Geteiltheit, Gemeinsamkeit und Kollektivität stets aus einer einseitigen Perspektive heraus – nämlich entweder hinsichtlich der Bezugsrichtung oder dem Bezugsakt – behandelt und das Phänomen als solches daher nicht vollständig erfasst. Als Ausgangsbasis dienen in der Sprachanalytik jedoch ausschließlich die gegen- und wechselseitigen Bezugnahmen. Den phänomenologischen Autoren wurde in der Debatte vorgeworfen, sie hätten sich vorherrschend mit den notwendigen Bedingungen der Geteiltheit, Gemeinsamkeit und Kollektivität, jedoch nur sporadisch mit der tatsächlich vollzogenen Geteiltheit, Gemeinsamkeit oder Kollektivität befasst.113 Die Kritik, dass die Sprachanalytiker ihrerseits die Voraussetzungen
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Eine solche Kritik äußerten beispielsweise Schmid und Schweikard (vgl. Schmid u. Schweikard: »Einleitung: Koll. Int.« (2009), S. 23). Gegen diese Position siehe etwa Emanuele Caminadas Aufsätze »Husserl intentionale Soziologie« (2011, S. 76) und »The Phenomenological Background of Collective Positionality« (2012, S. 133f.).
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kaum zum Thema machen, wie zunächst den einseitigen Bezug auf Objekte oder die Intersubjektivität als solche, ist hingegen nur selten in der Debatte zu finden.114 Aus diesen verschiedenen Vorgehensweisen werden in dieser vorliegenden Arbeit zwei zentrale Schlüsse gezogen: Erstens sowohl die phänomenologische als auch die sprachanalytische Vorgehensweise hat – ganz prinzipiell und besonders mit Blick auf die Debatte um die kollektive Intentionalität – je für sich Vor- und Nachteile. Daher soll der Versuch unternommen werden, die verschiedenen Ansätze – soweit es möglich und sinnvoll ist – miteinander zu verknüpfen, um aus verschiedenen Blickwinkeln heraus ein und dasselbe Phänomen umfassender darlegen zu können. Eine inhaltliche Verbindung dieser verschiedenen Strömungen ist, so eine zentrale Überlegung, hinsichtlich der menschlichen Intentionalitätsformen durchaus, hinsichtlich der tierischen Intentionalitätsformen allerdings kaum oder sogar keineswegs möglich. Zweitens kann durch die verschiedenen Schwerpunkte der phänomenologischen und sprachanalytischen Herangehensweise gesagt werden, dass die Intentionalitätsformen dort jeweils zu anderen Zwecken dienen: In der Phänomenologie Husserls und de Vecchis, so wurde gezeigt, werden die Intentionalitätsformen anhand der Bezugsrichtung, nämlich den ein –, gegen- und wechselseitigen Bezugnahmen und der Bezugsakte, nämlich verstehend, kommunikativ oder sozial, differenziert. In den sprachanalytischen Auseinandersetzungen führen die Überlegungen zu der Annahme, dass sich Handlungen zwischen den Polen der Kooperation, das ist dem Verfolgen der Gruppeninteressen gleichzusetzen, und der Koordination, das ist dem Verfolgen von Eigeninteressen, aufspannen: Ihre Handlungstypologien sind darauf ausgelegt, zu zeigen, dass bestimmte Handlungen sich primär durch Ko-operation – das heißt dem Wortursprung nach: durch Mitwirken oder Mit-arbeiten – auszeichnen. Wie mit dem Zusammenhalt einer Fußballmannschaft veranschaulicht werden kann. Andere Handlungen lassen sich hingegen lediglich als Ko-ordination, also als ein in Reihe oder in Ordnung bringen, charakterisieren, wie das zufällig parallele nebeneinander Hergehen. Betrachtet man die Beispiele der Phänomene, welche in der Sprachanalytik thematisiert werden, dann fällt auf, dass dies einerseits fast ausnahmslos Handlungsphänomen sind (siehe Kapitel 1.2) und andererseits jeder Referenzautor sein eigenes Beispiel vorweisen kann. Dabei stehen Handlungen im Vordergrund in welchen von mehreren Beteiligten entweder ein und dieselbe Handlung vollzogen wird (wie das gemeinsame Spazierengehen (Gilbert115 ) oder das Tragen eines schweren Tisches oder Klaviers (Tuomela116 )), oder von mehreren Beteiligten Teilhandlungen zu ein
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Vgl. Trautnitz: »Interpersonalität« (2016), S. 31. Vgl. Gilbert: »Walking Together« (1990). Vgl. u.a. Raimo Heikki Tuomela: »Actions by Collectives«, in: Philosophical Perspectives, Band 3, 1989, S. 471–496. Im Folgenden als: Tuomela: »Actions by Collectives« (1989).
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
und demselben Zweck vollzogen werden (wie das Anstreichen eines Hauses, das Singen eines Duetts (Bratman117 ) oder das Anrühren einer Sauce Hollandaise (Searle118 )). Das räumliche und zeitliche Ausmaß sowie die Anzahl der Beteiligten kann dabei auch sehr weitreichend ausfallen, wie anhand der Kriegsplanung oder dem Ziel der NASA, jemanden sicher auch den Mond zu schicken (Schmid119 ), gezeigt werden kann. Kritisiert wird von gegenwärtigen Autoren, dass dabei lediglich auf paradigmatische Fälle120 verwiesen wird, welche ein harmonisches, positives Bild der Beteiligten, ein »idyll of smooth cooperation«121 , zeichnen. Die Wegbereiter der sprachanalytischen Debatte verwenden dabei »unterschiedliche Ausdrücke wie ›walking together‹ (Margaret Gilbert), ›collective action‹ (John Searle), ›joint action‹ (Raimo Tuomela und Kaarlo Miller sowie Seumas Miller) und ›shared cooperative activity‹ (Michael Bratman)«122 . An Begrifflichkeiten für die Intentionalitätsformen mit mehreren Beteiligten mangelt es daher – im Gegensatz zum phänomenologischen Begriff des Miteinanders – in der sprachanalytischen Debatte nicht. Dabei stellt sich allerdings die Problematik des Überblicks, des Theoriehintergrundes sowie die Frage nach ihrer Deckungsgleichheit. Jens Greve fasst dies für die kollektive Intentionalität wie folgt zusammen: »Der Begriff der kollektiven Intentionalität steht für eine Reihe zum Teil abweichender Konzepte bzw. Phänomenbeschreibungen wie geteiltes kooperatives Handeln, gemeinsames Handeln, Zusammenhandeln, gemeinsames Beabsichtigen, Wir-Intentionalität etc. «123 Meinen die genannten Sprachanalytiker also ein und dasselbe Phänomen, das lediglich von unterschiedlichen Schwerpunkten heraus beleuchtet wird? Gilbert befasst sich beispielsweise eher mit der Rolle der Normativität, während für Searle 117 118
Vgl. u.a. Bratman: »Shared Cooperative Activity« [1992], S. 93 (dt.: S. 178). Vgl. (i) Searle: »Coll. Intentions and Actions« (1990), S. 410. (ii) Searle: Making the Social World (2010), S. 52 (dt.: S. 91). 119 Vgl. Hans Bernhard Schmid: »Autonomie ohne Autarkie – Begriff und Problem pluralen Handelns«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Band 55, Heft 3, Berlin, 2007, S. 457–472. Im Folgenden als: H.B. Schmid: »Autonomie ohne Autarkie« (2007). 120 Vgl. Ladislav Koreň: »Joint Intentionality – From Thin to Thick«, in: Journal of Social Ontology, de Gruyter, 2016, Band 2, Heft 1, S. 75–85, hier: S. 79f. Im Folgenden als: Koreň: »Joint Intentionality – From Thin to Thick« (2016). 121 H.B. Schmid: Plural Action (2009), S. 47. Vgl. auch (i) H.B. Schmid: Wir-Intentionalität (2005), S. 163. (ii) Hans Bernhard Schmid: Evil in Joint Action – The Ethics of Hate and the Sociology of Original Sin, Routledge Verlag, New York, 2021, S. viii. Im Folgenden als: H.B. Schmid: Evil in Joint Action (2021). 122 Schmid u. Schweikard: »Einleitung: Koll. Int.« (2009), S. 61 (Herv. übernommen). 123 Greve: »Relationaler u. reduktiver Individualismus« (2012), S. 388 – dort: Fußnote Nr. 8.
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vor allem die Tatsachenkonstitution entscheidend ist und Bratman darauf eingeht, wie die Handlungen und die Teilpläne der Beteiligten ineinandergreifen. Oder beziehen sich die Autoren auf unterschiedliche Phänomene, die in der Entwicklung hierarchisch aufeinander aufbauen, das heißt zueinander in einem Bedingungsverhältnis stehen? Die Aufgabe dieses Abschnittes 3.2 ist daher die verschiedenen sprachanalytischen Ansätze aufzuschlüsseln, um ihre Vergleichbarkeit, ihren Wahrheitswert und ihre Anwendbarkeit darzulegen: Bei den einzelnen Autoren findet sich dabei erstens teils eine synonyme Verwendung spezifischer Begriffe, sodass etwa bei einigen Hauptautoren der Debatte – welcher Strömung auch immer angehörig – die Bezeichnungen »kollektive« und »Wir-Intentionalität« gleichbedeutend angewendet werden.124 Zweitens ist bei der Untersuchung der Begriffsverwendungen zu beachten, dass sich die Auffassung des jeweiligen Autors auch teils im Verlauf der eigenen Werke präzisierte (wie bei Tuomela), wandelte (wie bei Searle) oder maßgeblich veränderte (wie mit Referenz auf Tomasellos Werke gezeigt wird). Insgesamt ist damit festzuhalten: als berechtigte Kritik an den phänomenologischen Ansätzen kann gesagt werden, dass zwar zahlreiche prägnante Phänomenbeschreibungen vorliegen, jedoch die hierfür verwendete Sammelbezeichnung »Miteinander« ungenau, da allumfassend, erscheint. Wie mit Scheler und Husserl kurz in Erinnerung geführt werden kann: nicht nur das Miteinanderfühlen, sondern auch das Mitgefühl kann im Sinne Schelers – obwohl es sich hierbei um zwei getrennte, das heißt eben eher parallele Gefühle handelt – als spezifische Art des Mit-demAnderen gefasst werden. In Husserls Erläuterungen des Miteinanders bezieht sich dieser Ausdruck zwar auf Handlungen, doch da darunter sowohl das für den Anderen als auch gegen den Anderen Ausgeführte gefasst wird, kann ebenfalls nicht der parallele und gemeinsame Vollzug begrifflich treffend differenziert werden. Oder um es mit Hans Bernhard Schmid zu sagen: Menschen befinden sich meist, wenn auch graduell, innerhalb des Miteinanderseins:
124 Dies wird in der vorliegenden Typologie anhand von de Vecchi, Searle, Gilbert und Tomasello nachgewiesen. Weitere begriffliche Unstimmigkeiten sind beispielsweise die synonyme Verwendung der Begriffe »joint« und »shared« (vgl. Schmid u. Schweikard: »Einleitung: Koll. Int.« (2009), S. 61). Wer jedoch im Einzelnen hierunter fallen soll, wird von Schmid und Schweikard selbst, zumindest innerhalb jener Textpassage, nicht ausgeführt. Ebenso lässt sich belegen, dass auch in anderen Wissenschaftszweigen, in welchen sich die Debatte um die kollektive Intentionalität ausbreitete, teils eine unsachgemäße begriffliche Gleichsetzung vorliegt, etwa verwendet der Rechtswissenschaftler Christopher Kutz die Bezeichnungen »gemeinsames« und »kollektives Handeln« synonym (vgl. Christopher Kutz: »Acting Together«, in: Philosophical and Phenomenological Research, Band 61, 2000, S. 1–31 (übersetzt v. David P. Schweikard: »Zusammen handeln«, in: Sammelband Kollektive Intentionalität, hg. v. Schmid u. Schweikard (2009), S. 433–478, hier: S. 434). Im Folgenden als: Kutz: »Acting Together« [2000] (dt.)).
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
»Unser Dasein bewegt sich, wenn auch nicht immer, in Zwischengraden der Gemeinsamkeit. Und Einzelheit bzw. Allgemeinheit, individuelles Eigeninteresse bzw. Pflicht, Rationalität bzw. Vernunft sind nur als die Eckpunkte, die Extreme im Spektrum des Miteinanderseins zu verstehen.«125 In der Phänomenologie mangelt es demnach an einer prägnanten und präzisen Namensgebung, da jegliches Zwischenmenschliche als Mit-einem-Anderen gefasst wird – das terminologisch entweder, wie unter anderem bei Husserl und Heidegger, mit dem Begriff »Miteinander« gleichgesetzt wird oder man schon diffizil, wie bei Scheler, zwischen dem Mitgefühl und dem Miteinanderfühlen differenzieren muss. In der Sprachanalytik hingegen liegt genau das Gegenteil vor, da sich unzählige verschiedene Bezeichnungen für die Intentionalitätsformen bei den verschiedenen Handlungsphänomenen finden lassen. Die ebenso berechtigte Kritik ist hierbei wiederum, dass man vor lauter Begriffen und Verwendungsweisen recht schnell den Überblick verliert, weshalb – um es nochmals kurz darzustellen – in dieser Typologie versucht wird, die verwendeten Begriffe möglichst kleinschrittig aufzuklären, weil es gerade dem Philosophen um eine präzise Beschreibung und Terminologie gehen muss. Allen sprachanalytischen Positionen nach Tuomela, Searle, Gilbert und Bratman ist grundlegend gemeinsam, dass sie hinterfragen, ob bei einer Handlung mit mehreren Beteiligten ein kooperatives Verhalten vorliegt. Dass das kooperative Verhalten wesentlich ist, schlägt sich auch in einem begrifflichen Wandel im Ansatz Searles nieder: In dessen Aufsatz »Collective Intentions and Actions« wird 1990 der Begriff »collective intentionality« eingeführt. Was jedoch detaillierter hierunter zu verstehen ist, wird dort kaum ausgeführt. Beispielsweise bleibt bei Searle offen, weshalb er dabei zunächst ausschließlich je nach Anzahl der Beteiligten – also einem rein quantitativen Merkmal – von zwei Intentionalitätsformen ausgeht und diese differenziert: die »individual« bei einem und die »collective intentionality« bei mehreren Beteiligten. Erst einige Zeit später kommt es bei Searle, in Anlehnung an Tuomela und Tomasello, zu einer Binnendifferenzierung anhand der qualitativen Merkmale (siehe Kapitel 3.3). Auffällig ist bei der Erläuterung Searles, wie bereits an Husserl und de Vecchi vorgeführt, dass das Kollektiv mit dem Wir gleichgesetzt wird. Diese Vorgehensweise lässt sich bei Searle an Stellen folgender Art nachweisen:
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H.B. Schmid: Wir-Intentionalität (2005), S. 406f. (Herv. selbst vorgenommen). Wobei hier zu fragen wäre, wann denn nach Schmid tatsächlich eine Ausnahme gegeben sei, in welcher sich der Mensch gerade nicht innerhalb dieses Spektrums befindet.
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»In addition to individual intentionality, which is described in the first-person singular forms such as ›I desire‹, ›I believe‹, ›I intend‹, there is also collective intentionality, which is described in the form, ›we believe‹, ›we desire‹, ›we intend‹.«126 Während 1990 das »collective behaviour« als zentral angesehen wird, welches ihm zufolge auch bei Tieren auftritt127 , heißt einige Zeit später um 2006 der Leitsatz: »cooperative behaviour«. Eine zentrale Textpassage seines Aufsatzes »Social Ontology – Some basic principles«, in welcher man einer Definition des Neologismus »kollektive Intentionalität« nun nahekommt, lautet: »human beings have a remarkable capacity, which many other species also have, and that is to engage in cooperative behaviour and sharing of attitudes with conspecifics. Human beings can collaborate in a number of ways, and one has only to observe any typical human interaction to see this. Two people carrying on a conversation, an orchestra playing a symphony, and two teams playing football, are all examples of cooperative behaviour. I [Searle] want to introduce a technical term for this. I call this collective intentionality.«128 Die kollektive Intentionalität wird von Searle hierbei nicht mehr durch das kollektive, sondern durch das kooperative Verhalten erklärt. Die Differenzierung zwischen individuellem (»individual«) und kollektiven Verhalten (»collective intentionality«) erfolgt demnach dadurch, ob ein kooperatives Verhalten gegenüber dem Anderen vorliegt oder nicht. Auch wenn nun vielleicht der Begriff verändert beziehungsweise eine Aspektverschiebung vorgenommen wird, so bleibt doch entscheidend, dass jegliche Art des Gruppenverhaltens bei Searle als kooperativ gefasst und mit dem Begriff »kollektive Intentionalität« umfasst wird.
»I-mode« und »We-mode« bei Tuomela In Abgrenzung zu Searles Darlegungen, findet sich bei Tuomela ein besonders ausgearbeitetes sprachanalytisches Kooperationsverständnis, das konkret auf die verschiedenen Verhaltensweisen der Beteiligten eingeht und hierauf eine Differenzierung der Intentionalitätsformen anstrebt. Tuomela kommen in der Debatte mehrere Sonderstellungen zu: Einerseits vertritt er durch seinen Auffassungswandel bei der Darlegung des Verhältnisses zwischen einer kollektiven Intentionalität und einem Gehirn im Tank eine Sonderstellung (siehe Kapitel 2.2). Andererseits hält er eine markante Position bei der Frage inne, welche Grundeinstellung, welcher 126 127 128
Searle: »Social Ontology – Some basic principles« (2006), S. 16 (dt.: S. 510f.) (Herv. selbst vorgenommen). Vgl. Searle: »Coll. Intentions and Actions« (1990), S. 402 (dt.: S. 101). Searle: »Social Ontology – Some basic principles« (2006), S. 16 (dt.: S. 510) (Herv. selbst vorgenommen).
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
Modus bei den Beteiligten bei einer Geteiltheit, Gemeinsamkeit oder Kollektivität vorliegt. Hierbei gründet die Besonderheit seiner Ansätze jedoch nicht in einem Auffassungswandel, sondern gerade in seiner Auffassungskontinuität: Wohl kaum ein anderer Gedanke ist in den Werken Tuomelas so häufig anzutreffen und über die letzten Jahrzehnte so vielfach verfeinert worden wie die Unterscheidung des »I-« und »We-modes«, der Ich- oder Wir-Bezüglichkeit. Vereinfacht bedeutet dieser Unterschied, ob der Beteiligte seine Eigen- oder die Wir-Interessen, das sind die Interessen der gesamten Gruppe vertritt.129 Dieser Ansatz zielt – entgegen Searles Auffassung des »cooperative behaviours« und der bei ihm damit verbundenen Verwendung der kollektiven Intentionalität – darauf ab, dass bestimmte Handlungen mit mehreren Beteiligten nicht per se als Beispiele einer Kooperation gelten können. Seine zugrunde liegende Argumentation basiert auf einer Analyse des Intentionalitätsmodus während der Handlung. Zur Veranschaulichung was hiermit gemeint ist, kann man sich nochmals elf Fußballspieler vor Augen halten: Elf Spieler auf einem Fußballplatz können – müssen jedoch nicht –, so die These Tuomelas, eine Mannschaft im engen Sinne bilden. Bemerkenswert ist dabei, dass eine weitere Differenzierung zwischen den Intentionalitätsformen etabliert wird: Unter dem Einbezug des Gedankenexperimentes des Gehirns im Tank legten Searle um 1990 sowie Meijers, Schmid und Tuomela um 2003 beziehungsweise um 2005 dar, dass Formen der kollektiven Intentionalität in gleicher Weise erlebt werden können: Ich kann etwa nicht unterscheiden, ob ich
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Inwieweit Tuomela mit dieser Unterscheidung jedoch der Erste innerhalb der Debatte um die Intentionalitätsformen war, müsste eigens erläutert werden, da beispielsweise der Begriff des »Wir-Modus« bereits um 1930 bei Dietrich von Hildebrand zu finden ist (vgl. Hildebrand: Metaphysik d. Gemeinschaft [1930], S. 44). Dan Zahavi führt an, dass solche Überlegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch bei den beiden Soziologen William Mc Dougall und Alfred Vierkandt zuerkennen sind (vgl. Dan Zahavi: »We in Me oder Me in We? Collective Intentionality and Selfhood«, in: Journal of Social Ontology, Band 7, Heft 1, 2021, S. 1–20, hier: S. 2f.). Schmid und Schweikard stellen jedoch verschiedentlich heraus, dass Tuomela in seiner Differenzierung des Eigen- und Gruppeninteresses von Wilfrid Sellars beeinflusst wurde, welcher seinerseits wohl unter dem Einfluss von Robin George Collingwood stand. Vgl. (i) Schmid u. Schweikard: »Einleitung: Koll. Int.« (2009), S. 32. (ii) Schweikard: »Gemeinsame Absichten« (2010), S. 140 – dort: Fußnote Nr. 8. (iii) Hans Bernhard Schmid: »Auf einander zählen – Rationale Idiotie, kollektive Intentionalität und der Kern des Sozialen«, in: Soziologische Theorie kontrovers, hg. v. Gert Albert u. Steffen Sigmund, (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 50/2010), VS Verlag, Wiesbaden, 2011, S. 589–610, hier: S. 605. Im Folgenden als: H.B. Schmid: »Auf einander zählen« (2011). Der Sammelband wird im Folgenden angeführt als: Sammelband Soziologische Theorie kontrovers (2011). (iv) Hans Bernhard Schmid: »Shared Intentionality and the Origins of Human Communication«, in: Intentionality, hg. v. Alessandro Salice, Philosophia Verlag, München, 2012, S. 349–368, hier: S. 355. Im Folgenden als: H.B. Schmid: »Shared Intentionality and the Origins of Human Communication« (2012).
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ein Gehirn im Tank bin, ob ich in einer tatsächlichen Interaktion mit anderen stehe oder diese lediglich imaginiert ist, weshalb zwischen einer geglaubten und einer tatsächlichen kollektiven Intentionalität unterschieden wurde. Unter dem Einbezug des »I-« und »We-mode« nach Tuomela hingegen wird deutlich, dass die Formen der kollektiven Intentionalität auch in ungleicher Weise erlebt werden können, nämlich im »I-« oder »We-mode«, welche er, wie aufgeschlüsselt werden wird, mit den Synonymen »shared intention« und »not full blown collective intentionality« einerseits beziehungsweise »joint intention« und »full blown collective intentionality« andererseits betitelt. Grundlegend ist, dass der Modus nach Tuomela ganz generell gesprochen als »the way of having a mental state or of acting in thus, linguistically speaking, an adverbial notion«130 definiert wird. Bereits hier – so zumindest der erste Eindruck – fand im Laufe seiner Werke eine begriffliche Präzisierung statt, da die frühere Terminologie Tuomelas um 1988131 auf die Differenzierung der »I-« und »WeIntentions« zielte, während ab 1992132 der umfassende Begriff »Mode« verwendet wird, welcher, so zumindest der Anspruch, sowohl das Denken, als auch das Handeln als auch das Fühlen, dass heißt alle drei Hauptphänomenbereiche umfasst: Es geht eben nicht mehr nur um geteilte oder gemeinsame Absichten (intentions), sondern auch um geteilte oder gemeinsame Entscheidungen, Gefühle und Ähnliches. Ein genauerer Blick zeigt allerdings, dass Tuomelas Fokus nach 1992 auch weiterhin auf dem Phänomenbereich der Handlungen liegt (siehe Kapitel 1.2). Zum »I-mode« – in der früheren Begrifflichkeit nach Tuomela: »I-Intention« – heißt es bei ihm: »thinking and acting [and feeling] in the I-mode means acting as a private person«133 . Dabei kann der »I-mode« im Grunde mit einem privaten134 130 Tuomela: »Who is afraid?« (2013), S. 16. 131 Vgl. u.a. (i) Tuomela u. Miller: »We-Intentions« (1988). (ii) Tuomela: »Actions by Collectives« (1989). 132 Vgl. Tuomela: »Group Beliefs« (1992), S. 285–318. 133 Raimo Heikki Tuomela: »Collective Acceptance, Social Institutions, and Group Beliefs«, in: Kaltblütig – Philosophie von einem rationalen Standpunkt, Festschrift für Gerhard Vollmer zum 60. Geburtstag, hg. v. Wolfgang Buschlinger u. Christoph Lütge, S. Hirzel Verlag, Stuttgart/ Leipzig, 2003, S. 429–446, hier: S. 430 (übersetzt v. David P. Schweikard: »Kollektive Akzeptanz, soziale Institutionen und Gruppenüberzeugungen«, in: Sammelband Kollektive Intentionalität, hg. v. Schmid u. Schweikard (2009), S. 534–555, hier: S. 535). Im Folgenden als: Tuomela: »Coll. Acceptance, Social Institutions, and Group Beliefs« (2003) (dt.). 134 Bei dem »I-« und »private mode« tritt bei Tuomela eine Ambivalenz auf, da er diese teils voneinander unterscheidet (wie in »Joint intention and commitment« (2002)) und sie teils aus Gründen der Übersichtlichkeit in einem weiteren Aufsatz (gemeint ist »Cooperation and trust in group context« (2005)) als Synonyme begreift (vgl. Raimo Heikki Tuomela u. Maj Tuomela: »Cooperation and trust in group context«, in: Mind and Society, Band 4, 2005, S. 49–84, hier: S. 56 – dort: Fußnote Nr. 4. Im Folgenden als: Tuomela u. Tuomela: »Cooperation and trust« (2005)).
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
oder persönlichen135 Modus gleichgesetzt werden. Bei einem »We-mode« hingegen vertritt der Beteiligte solidarisch die Interessen seiner Gruppe.136 Im Verlauf seiner Schriften wird der harte Gegensatz zwischen den Eigen- und den Gruppeninteressen – entweder es liegt ein »I-« oder ein »We-mode« vor – in einem gewissen Maße durch die Binnendifferenzierung des »I-mode« abgemildert.137 Diese Unterteilung der verschiedenen »I-mode«-Formen richtet sich danach, ob eine Person einerseits aus Eigennutz heraus eine Handlung vollzieht, welche keine anderen Beteiligten involviert (in seiner Terminologie: »plain I-mode«/»private I-mode«): »The plain Imode concerns any activity by an individual for herself, regna activity selfish or altruistic.«138 Wobei nochmals an den einsamen Robinson als Extremfall verwiesen werden kann. Oder, ob die Person andererseits im Eigeninteresse am Gruppenhandeln teilnimmt, da man – je nach Ziel – die Anderen benötigt, um sein privates Interesse überhaupt umsetzen zu können (»pro-group I-mode«/ »group behaviour in the I-mode«). Beispielsweise nutze ich die Straßenbahn, um von A nach B zu kommen. Doch notwendigerweise benötige ich dabei mindestens den Fahrer der Bahn und eventuell sogar noch die Mitreisenden, welche die Berechtigung des Nahverkehrs unterstreichen. Anhand eines Zitates: »The pro-group I-mode concerns a member’s action (or activity in the sense of holding an attitude) as a private person performed in part for the group – whatever the group’s goals are.«139 Der »I-mode« kann demnach, so die zwei von Tuomela unterschiedenen Fälle dieses Modus, in einer alleinigen Handlung oder einer Handlung mit mehreren Beteiligten vorliegen. Die hier gewählte Formulierung »in part regnan group« scheint aufgrund der vielfältigen Übersetzungsmöglichkeiten der Präposition »for« in der Verwendung als Akkusativ – »teilweise für/bei/gegen die Gruppe« – ungünstig,
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Vgl. (i) Tuomela: »We-Intentions Revisited« (2005), S. 333. (ii) Tuomela u. Miller: »We-Intentions« (1988) (hier: dt. S. 73). Vgl. Tuomela: Social Ontology (2013), S. 38 u. S. 156. »According to Tuomela […] the I-mode, can come in a variety of strengths, including pro-social variants in which come weight is given to the interests of others or social groups, but this is not understood as effectively blurring the fundamental distinction between two basic modes [I- and We-mode] of reasoning.« David P. Schweikard: »Voluntary Groups, Noncompliance, and Conflicts of Reasons: Tuomela on Acting as a Group-Member«, in: Social Ontology and Collective Intentionality – Critical Essays on the Philosophy of Raimo Tuomela with his Reponses, hg. v. Gerhard Preyer u. Georg Peter, (Studies in the Philosophy of Sociality, Band 8), Springer Verlag, 2017, S. 97–111, hier: S. 101. Im Folgenden als: Schweikard: »Voluntary Groups, Noncompliance, And Conflicts of Reasons« (2017). Tuomela: »Who is afraid?« (2013), S. 17 (Herv. selbst vorgenommen). Ebd., (Herv. selbst vorgenommen). Vgl. auch Tuomela: Social Ontology (2013), S. 37.
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Formen kollektiver Intentionalität
kann jedoch kurz und knapp in deutscher Sprache wie folgt gefasst werden: Ich handle mit Anderen, aber für mich. Anhand dieser Differenzierung Tuomelas der »I-mode«-Varianten zeigt sich ein deutlicher Unterschied unter anderem zur Auffassung der »solitary intentionality« nach de Vecchi: Eine »solitary intentionality« in ihrem Sinne, so wurde dargelegt, ist eine Handlung, welche von einem einzelnen Subjekt vollzogen wird. Bereits bei einem indirekten, wie beispielsweise eben altruistischen, Bezug auf einen Anderen müsste strenggenommen nach de Vecchi eine intersubjektive Intentionalität bestehen. Die »solitary intentionality« de Vecchis kann nun mit den Ausführungen Tuomelas präzisiert werden, dass die Intentionalitätsform als ein ausschließlicher Bezug auf die eigene Person zu verstehen ist. Dass eine vollkommen allein vollzogene Handlung, der »plain/private I-mode« nach Tuomela auch altruistische Ziele verfolgen kann, kann wie folgt veranschaulicht werden: Ich möchte aus einem »I-mode« heraus meinen eigenen Geldbeutel schonen, weshalb ich – völlig allein ohne jeglichen Bezug zu Anderen – nicht mehr zur Arbeit mit dem Auto fahre, sondern das Fahrrad nutze. Dies bringt in der Folge nicht nur Vorteile für mich selbst, sondern auch für Andere, da ich, zumindest in Bezug auf meinen Arbeitsweg, nun keine Abgase mehr produziere. Dabei liegt auf der Hand, dass ich auch aus Eigeninteressen heraus mit Anderen für die Ziele der Gruppe eintreten kann (»group behaviour in the I-mode«). Diese These ist als solche nicht neu und findet sich wohl das erste Mal 1776 ausdrücklich in Adam Smiths nationalökonomischen Werk An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations. Die Annahme ist dort in seiner ausgeprägtesten Form dargelegt: Kein Beteiligter muss die Gruppeninteressen vertreten, um die Gruppeninteressen erreichen zu können. Sogar noch drastischer: gerade dadurch, dass die Beteiligten ausschließlich ihr Eigeninteresse – bei Smith: ihren finanziellen Wohlstand – verfolgen, fördern sie, indirekt und eventuell sogar völlig unbeabsichtigt, durch die »unsichtbare Hand« des Marktes auch den Gesamtwohlstand der Gruppe.140 Tuomela selbst gibt hingegen kein Beispiel an, wie die Verfolgung
140 In der Debatte um die kollektive Intentionalität ist die Rezeption der sogenannten »unsichtbaren Hand« auf einem bemerkenswerten Stand: Jene Philosophen, welche nicht primär am Kriterium des »I-« und »We-mode« festhalten, verteidigen den Gedanken Smiths. Bei Tuomela und Tomasello hingegen, welche, wenn auch in abgewandelter Form, den »I-« und »We-mode« als zentral erachten, findet sich eine Auseinandersetzung mit der »unsichtbaren Hand« höchstens in indirekter Form: Searle nimmt in seinem Aufsatz »Collective Intentions and Actions« von 1990 Stellung zum Ansatz Tuomelas und Millers in »We-Intentions« aus dem Jahr 1988. Darin, so die Auffassung Searles, setzten Tuomela und Miller drei zentrale Annahmen: Erstens wolle jeder seinen Teil für die Gruppe beitragen. Zweitens glaube jeder, dass die Gruppenziele erreichbar seien, da jeder seinen Teil beitragen wolle. Drittens, unter den Beteiligten liege ein wechselseitiges Wissen vor, dass jeder seinen Teil zur Erreichung der Gruppenziele einbringen wolle und das Gruppenziel im Allgemeinen erreichbar
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
der individuellen Ziele den Gruppeninteressen zu Gute kommen können. Vielmehr erörtert er dem entgegengesetzt ausnahmslos die negativen Folgen des »I-mode« auf die Gruppe. Er fokussiert – ganz entgegen Smith –, dass ein Eigennutz das Gruppenziel korrumpieren oder sogar vereiteln kann, wie er anhand von Trittbrettfahrern untermauert.141
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sei (vgl. Searle: »Coll. Intentions and Actions« (1990), S. 404 (dt.: S. 103). Searle seinerseits überprüft diese Annahmen in »Collective Intentions and Actions« mittels der »unsichtbaren Hand« nach Smith. Man stelle sich, so Searle, eine »business school« vor, das ist eine ganze Klasse von Schülern, welche streng der Lehre der »unsichtbaren Hand« unterliegen: Alle verfolgen jeweils und ausschließlich ihre eigenen, eigensüchtigen Interessen, in dem Glauben damit ihren Teil zum Gemeinwohl beizutragen. Zusätzlich handle es sich, da sie alle dieselbe Erziehung erfahren haben, um ein gegenseitiges Wissen, dass alle Beteiligten jeweils und ausschließlich ihre individuellen Ziele verfolgen. Hier seien nach Searle alle Kriterien Tuomelas und Millers erfüllt, jedoch könne man nicht von einer kollektiven Intentionalität der Beteiligten sprechen (vgl. ebd., S. 404f. (dt.: S. 104)). Tuomela selbst revidiert diese Auffassung Searles in »We-Intentions Revisited« (2005), denn die »business school« sei gerade nicht als Gegenbeispiel aufzufassen. Ohne den Streit beantworten zu wollen, sollte hier lediglich gezeigt werden, dass die »unsichtbare Hand« nach Smith mindestens als Herausforderung für die Kriterien des Eigen- und Gruppeninteressen gelten muss. Tuomela selbst, so konnte dargelegt werden, nimmt lediglich indirekt, als Replik auf Searle, Bezug zu Smiths Auffassungen. Vgl. (i) Tuomela u. Miller: »We-Intentions« (1988) (dt.: S. 81). (ii) Tuomela: »We Will Do It« (1991), S. 273. (iii) Raimo Heikki Tuomela u. Kaarlo Miller: »We-Intentions, Free-Riding, and Being in Reserve«, in: Erkenntnis, Band 36, Heft 1, 1992, S. 25–52. Im Folgenden als: Tuomela u. K. Miller: »We-Intentions, Free-Riding, and Being in Reserve« (1992). (iv) Tuomela: »Collective Intentionality and Group Reasons« (2008), hier: S. 17ff. (v) Tuomela: Social Ontology (2013), S. 196. Einige Anmerkungen zum Trittbrettfahrer-Verhalten in der Debatte seien kurz angeführt: (i) Annette Claire Baier macht deutlich, dass ein korrumpierender Eigennutz auch bei Kleinkindern vorliegen kann. Jedoch ist dieses Verhalten, im Gegensatz zu Trittbrettfahrern, im Allgemeinen als unbeabsichtigt zu charakterisieren (vgl. Baier: »Doing Things« (1997), S. 29 (dt.: S. 248)). (ii) Während Tuomela dezidiert auf den Modus der Beteiligten eingeht – »I-« und »We-mode« –, und im Falle des Trittbrettfahrers von einem »plain I-mode« spricht, liegt nach Seumas Miller hierbei ein »quasi-gemeinsames Handeln« vor (vgl. Seumas Miller: »Gemeinsames Handeln« [»Joint Action«; 1992], übersetzt v. Juliette Gloor, in: Sammelband Kollektive Intentionalität, hg. v. Schmid u. Schweikard (2009), S. 194–223, hier: S. 196. Im Folgenden als: S. Miller: »Gemeinsames Handeln« [1992]). Das heißt, dass letztlich das »gemeinsamen Handeln« nach Seumas Miller als Sammelbegriff dient sowohl für Tuomelas »We-mode« als auch für dessen »pro-group I-mode«. (iii) Während Tuomela bei seiner Analyse des Trittbrettverhaltens nicht auf die Rolle des Wissens eingeht, beschreibt Annette Schnabel, dass dieses auch dann ausgeführt wird, wenn man weiß, dass die anderen das Fehlverhalten merken werden, man jedoch selbst mit keinen, oder nicht allzu hohen, Strafen rechnet. Um dies zu veranschaulichen führt Schnabel jedoch ein recht harmloses Beispiel an, nämlich eine Wohngemeinschaft, in welcher die Abwaschregeln missachtet oder keine sonderlich präzise Mülltrennung vorgenommen wird (vgl. Annette Schnabel: »Group Beliefs, Group Speakers, Power and Negotiation«, in: Sammelband Soziologische Theorie kontrovers (2011), S. 394–404, hier: S. 401). (iv) Bei Schmid dienen Personen wie Dissidenten, Willensschwache und Unkon-
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Was Tuomela unter einem »I-mode« versteht kann, ohne dass er selbst dieses Beispiel angibt, wieder prägnant mithilfe einer Fußball-Szene illustriert werden: Ein Stürmer, welcher vorwiegend durch sein persönliches Streben nach Ruhm und Ehre geleitet ist, wird alles darauf setzen selbst den Torschuss zu vollbringen, um als Torschütze gefeiert zu werden. Dieser Spieler wird wohl kaum einem anderen Spieler seiner Mannschaft den Ball zukommen lassen – schon gar nicht, wenn dieser aufgrund der gegenwärtigen Spielerpositionen über eine günstige Torchance verfügt. Gleiches gilt für einen korrupten Spieler, der sich von der gegnerischen Mannschaft kaufen lies und nun mit Absicht schlecht spielt. In Tuomelas Worten sind die Beteiligten aufgrund ihrer jeweiligen Fokussierung auf die Eigeninteressen »not ›glued‹ together in the strong sense of jointness«142 . Konkret: zwar mögen die Spieler einer Mannschaft durch ein und dieselbe Trikotfarbe gekennzeichnet sein, jeweils über außergewöhnliche Fähigkeiten mit dem Ball verfügen und bei Presseterminen ihren Verein adäquat präsentieren, allerdings treten sie durch ihr Eigeninteresse als Einzelkämpfer anstatt als wirkliche Team Player einer Mannschaft auf. Dennoch weiß der Stürmer, dass er, um seine Eigeninteressen erreichen zu können, auf die Leistung seiner anderen Mannschaftsteilnehmer angewiesen ist.143 Der evolutionäre Verhaltensforscher Michael Tomasello, welcher die »I-mode«-»We-mode«-Unterscheidung nach Tuomela in seinem Ansatz modifiziert aufnimmt (siehe Kapitel 3.3), bringt dies wie folgt auf den Punkt: »I-moder« nutzen sich als Mittel zum Zweck144 – oder noch etwas genauer in Anlehnung an de Vecchi: »I-moder« nutzen sich gegenseitig als Mittel zum Zweck. Auch diese These findet sich, wie mit einem kleinen historischen Einschub erlaubt sei, sogar in einem sehr ähnlichen Wortlaut, in den Ausführungen der frühen Phänomenologie: Der »I-mode« lässt sich als Zusammensetzung der Beteiligten fassen, während »We-moder« einen Zusammenhalt aufweisen. Edith Stein vertritt um 1919 – ebenfalls sehr kurz zusammengefasst –, dass die »Gesellschafts-« oder
zentrierte – über Tuomela und andere Autoren hinaus – als Musterbeispiele dafür, dass das Gemeinschaftshandeln keine notwendige Bedingung für die Mitgliedschaft an einer Gemeinschaft sei. Da beispielsweise Willensschwache zwar nicht an der Gemeinschaftshandlung teilnehmen, das heißt ihre Beitragshandlung zu dieser leisten, aber eben dennoch – ebenso wie Schlafende und Bewusstlose (siehe Kapitel 2 dieser Typologie) – in aller Regel zu jener Gemeinschaft gezählt werden (vgl. H.B. Schmid: Wir-Intentionalität (2005), S. 163). 142 Tuomela: Social Ontology (2013), S. 63. 143 Vgl. Klein: Sinn des Gebens (2011), S. 190. Dieses konkrete Beispiel der verschiedenen Verhaltensweisen der Fußballspieler findet sich, wenn auch noch nicht präzise ausgebaut, bereits beispielsweise bei Georg. H. Mead (vgl. Georg Herbert Mead: Geist, Identität und Gesellschaft [Mind, Self and Society (1934)], Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1. Auflage 1973, Teil III, Kapitel 27, S. 255. (Im Folgenden als: Mead: Geist, Identität u. Gesellschaft [1934])). 144 Vgl. (i) Tomasello: Becoming Human (2019), S. 12f. (ii) Tomasello u. Vaish: »Entstehung menschl. Kooperation u. Moral« [2013], S. 189.
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»Gemeinschaftseinstellung« darüber entscheide, welche menschliche Organisationsform vorliege. Es sei »typisch für die Gesellschafts-Einstellung […], daß jedes Individuum das andere als Objekt betrachtet. […] Jeder würde hier […] den anderen als Werkzeug zur Erreichung des Zweckes ansehen«145 . Mit Bezug auf die Fußballmannschaft: man hat es mit elf Spielern auf dem Spielfeld zu tun, welche nebeneinander einem Ball hinterherrennen, aufeinander reagieren und sich koordinieren damit sie nicht zusammenstoßen. Falls man so weit gehen kann in einem solchen Fall von einer Kooperation und nicht nur einer Koordination zu sprechen, so würde Tuomela stets sagen, dass Handlungen im »I-mode« jedoch nur kontingenterweise – und eben nicht notwendigerweise, oder intrinsisch – kooperativ sind.146 Die Mannschaft kann hier eben nicht im engen Sinne als Mannschaft, als eine Einheit, als Miteinander bezeichnet werden. Oder wie es in einem späteren Aufsatz bei Tuomela selbst heißt: »When people act together in the I-mode [...] they do not act as a group, which can be said to do when they act in the we-mode. In the I-mode case they act collectively in an ›aggregative‹ but dependent sense.«147 Anhand der Fußballmannschaft kann jedoch nicht nur das »group behaviour in the I-mode«, sondern auch dessen Unterschied zum »We-mode« deutlich gemacht werden. Im »We-mode« wird den Gruppeninteressen, im Vergleich zu den jeweiligen Privatinteressen, eine höhere Priorität zugesprochen. Es kann durchaus sein, dass ein Konflikt zwischen den Ich- und den Wir-Absichten besteht148 , doch idealer Weise gilt, dass sich ein Beteiligter auch dann für den »We-mode« entscheidet, wenn er weiß, dass die Gruppeninteressen seinen Eigenen zuwiderlaufen149 . Kurz und regnant: »thinking and acting [and feeling] in the we-mode means acting qua a group member and this involves respecting the group’s constitutive goals, values, standards, and norms«150 . Bezogen auf die Fußballmannschaft: als Stürmer weiß ich eben und nehme es für den Gruppenerfolg ihn Kauf, dass – wenn ich selbst nicht der Torschütze bin – ein Anderer dafür bejubelt wird. Denkt man etwa an die Fußball-Weltmeisterschaft 2014, dann ist Mario Götze als Torschütze des 145 146 147 148 149 150
Stein: Beiträge philo. Begründung [1922], hier: Individuum und Gemeinschaft [1919], II, § 4, S. 215 (Herv. selbst vorgenommen) Vgl. Tuomela: Social Ontology (2013), S. 147f. Tuomela u. Tuomela: »Cooperation and trust« (2005), S. 61. Vgl. Tuomela u. Miller : »We-Intentions« (1988), S. 367 (dt. S. 73). Vgl. Tuomela: Social Ontology (2013), S. 38 u. S. 156. Tuomela: »Coll. Acceptance, Social Institutions, and Group Beliefs« (2003), S. 430 (dt.: S. 535). Eine ähnliche Formulierung findet sich beispielsweise auch in Tuomela: »Collective Intentionality and Group Reasons« (2008), S. 4.
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entscheidenden Finales und eben nicht André Schürrle als grandioser Wegbereiter dieses Torschusses im Gedächtnis geblieben. Auch andere gegenwärtige Autoren, wie Ulla Schmid oder Anthonie W. M. Meijers, eröffnen Differenzierungen, welche trotz ihrer unterschiedlichen Schwerpunkte und Methoden letztlich auf eine Abgrenzung der Ich- und Wirbezüglichkeit hinauslaufen.151 Die Informatiker Philip R. Cohen und Hector J. Levesque fassen die Art des »We-mode«-Verhaltens – in ihren Worten: die »joint action by a team« – 1991 in ihrem Aufsatz »Teamwork« wie folgt: »Joint action by a team appears to involve more than just the union of simultaneous individual actions, even when those actions are coordinated. We would not say that there is any teamwork involved in ordinary automobile traffic, even though the drivers act simultaneously and are coordinated (one hopes) by the traffic signs and rules of the road. But when a group of drivers decide to do something together, such as driving somewhere as a convoy, it appears that the group acts more like a single agent with beliefs, goals, and intentions of its own, over and above the individual ones.«152
Der Teamgeist Die aktive Verfolgung der Gruppeninteressen, das planvolle aufeinander abgestimmt sein und die miteinander vollzogene Kooperation – der »We-mode« – macht die Mannschaft zur Mannschaft. Hierbei werden implizit zwei Fragen 151
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Ulla Schmid differenziert die aggregative und die kollektive Verwendungsweise des Begriffs »Wir«. Der aggregative, das ist schlicht summative Gebrauch von Wir sei eine missverständliche Verwendung, da hierbei die Individuen zusammengenommen werden, welche zwar dasselbe tun, fühlen oder denken, jedoch für sich. Ulla Schmid selbst denkt hier an das Bahnfahren. Ein kollektiver Gebrauch von Wir hingegen umfasse ausschließlich wirbezügliche Beteiligte (vgl. Ulla Schmid: »Ich und du sind nicht wir – Zu den intersubjektiven Grundlagen sozialer Interaktion«, in: Differenz und Dialog – Anerkennung als Strategie der Konfliktbewältigung, hg. v. Vera Flocke u. Holger Schoneville, Berliner Wissenschaftsverlag, Berlin, 2011, S. 75–102, hier: S. 75. Im Folgenden als: Ulla Schmid: »Ich und du sind nicht wir« (2011)). Wobei bei einer solchen Bezeichnung »der kollektive Gebrauch von Wir« wiedermals stark die Assoziation geweckt wird, dass das Kollektiv mit dem Wir identisch sei. Anthonie W. M. Meijers unterscheidet zwischen den »weak« und den »strong we-intentions«. Dabei zielt er auf die konkrete Absicht der Beteiligten, ob ich beabsichtige, dass wir ein Duett singen oder ob wir beabsichtigen ein Duett zu singen. Bei ihm ist dabei die Annahme zentral, dass im ersten Fall ein individuelles Subjekt die Absicht habe, im zweiten Fall, der »strong we-intention«, die Absicht einem »collective subject« im Sinne Gilberts zu zuschreiben sei. Meijers: »Dialogue, Understanding and Coll. Int.« (2002), S. 235. Philip R. Cohen u. Hector J. Levesque: »Teamwork«, in: Noûs, Band 25, 1991, S. 487–512, hier: S. 487 (Herv. selbst vorgenommen) (übersetzt v. Christian Blum: »Teamwork«, in: Sammelband Kollektive Intentionalität, hg. v. Schmid u. Schweikard (2009), S. 119–153, hier: S. 119).
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
beantwortet. Erstens: wie sind die Beteiligten aufeinander bezogen? Kooperativ. Zweitens: wie sind die Beteiligten auf ein und dasselbe Intentionalitätsobjekt, wie den Siegeswunsch im Falle der Fußballmannschaft, bezogen? Kooperativ. Es wird ein »Teamgeist« hervorgebracht, der mit den Beteiligten entsteht und diese über die konkret vollzogene Beteiligung hinaus zusammenbindet. In Abgrenzung zu Cohen, Levesque und Anderen besteht dieser »Geist« Tuomela zufolge jedoch nicht »über ihrer Köpfen« hinweg, das heißt drastisch gesprochen unabhängig von ihnen. Bei Tuomela selbst heißt es hierzu: »It is often [but not always] useful to view a group as an agent capable of acting as a unit. Thus is can be taken to accept views, form intentions, act, and be responsible. However, it is not an extra agent over and above the group members. When a group acts, its members must act as group members.«153 »[T]he we-mode group […] can be regarded as an agent from a conceptual and justificatory point of view, ontologically it exists only functionally as a social system capable of producing uniform action. It is an intentional agent only in the sense that mental attributes are extrinsically attributed to it, and it can only function through its members’ functioning appropriately. […] we may speak of it as a quasiagent.«154
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Tuomela: »Collective Intentionality and Group Reasons« (2008), S. 5 (Herv. selbst vorgenommen). Eine begriffliche Analyse des Teamverhaltens, welche der Unterscheidung Tuomelas in »I-« und »We-mode« vom prinzipiellen Grundsatz her nicht unähnlich ist, findet sich im Jahr 2000 bei Robert Sudgen. Er differenziert dort zwischen »team reasoning« und »team-directed reasoning«: Unter »team reasoning« werden individuumsgerichtete Präferenzen subsumiert, das heißt Präferenzen, bei welchen sich die Beteiligten als Privatpersonen auffassen und als solche die Handlungen ausführen. Beim »team-directed reasoning« fassen sich demgegenüber die Beteiligten als Mitglieder des Teams auf. Vgl. Robert Sudgen: »Team preferences«, in: Economics and Philosophy, Band 16, Cambridge University Press, 2000, S. 175–204 (übersetzt v. Hans Bernhard Schmid: »Teampräferenzen«, in: Sammelband Kollektive Intentionalität, hg. v. Schmid u. Schweikard (2009), S. 631–671, hier: insbesondere S. 643 u. 653f.). Ohne einen detaillierten Vergleich darlegen zu wollen, seien hier nur kurz zwei Unterschiede ihrer Ansätze markiert: Zum einen kann gesagt werden, dass Tuomelas Fokussierung auf dem »Wir« liegt, während Sudgendas »Team« betrachtet. Zum anderen, was hier zentraler ist, lassen einige Formulierung nach Sudgen zu, dass ein Individuum allein ein Gruppeninteressen vertreten oder sogar, dass er allein ein Team bilden können (vgl. u.a. ebd., (dt.: S. 654, S. 658 u. S. 664)). Doch gerade diese Haltung lehnt Tuomela – spätestens um 2005 herum – ab (siehe Kapitel 2.2). Raimo Heikki Tuomela : »An Account of Group Knowledge«, in: Collective Epistemology, hg. v. Hans Bernhard Schmid, Daniel Sirtes u. Marcel Weber (Epistemische Studien – Schriften zur Erkenntnis- und Wissenschaftslehre, hg. v. Michael Esfeld, Stephan Hartmann u. Albert Newen, Band 20), Ontos Verlag, Frankfurt/Paris/Lancaster/New Brunswick, 2011, S. 75–117,
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»Group agents […] do not have phenomenally unitary conscious minds.«155 Kurz: Die Intentionalität der Gruppe besteht nur deshalb, weil sie durch die Intentionalität der Gruppenmitglieder vermittelt ist: Es handelt sich um eine »derived intentionality«156 , eine abgeleitete Intentionalität157 (siehe Kapitel 4.3). Auch bei diesem Aspekt lassen sich historische Bezüge zu frühen Phänomenologen anbringen, sodass ihre Vorläuferschaft der Debatte beziehungsweise ihr Status als eine der dominantesten Strömungen nochmals untermauert werden kann. Nach Scheler liegt bei den Beteiligten »ein[…] Lebensstrom«158 beziehungsweise eine »vorbewußte vitalpsychische Einheit«159 vor. Bei Sartre heißt es: »die Gruppe ist […] keine metaphysische Realität, sondern eine bestimmte praktische Beziehung der Menschen zu einem Ziel und zueinander.«160 Wobei eben dennoch gilt, hier in Husserls Worten: »[D]ie Gemeinschaft [ist] nicht eine bloße Kollektion außereinander und nebeneinander seiender Einzelner […], sondern eine Synthesis der Einzelnen durch interpersonale Intentionalität, eine durch das soziale Füreinander- und Ineinander-Leben und -/Wirken gestiftete Einheit«161 .
hier: S. 77 sowie dir dortige Fußnote Nr. 51 (Herv. selbst vorgenommen). Im Folgenden als: Tuomela: »Account of Group Knowledge« (2011). 155 Tuomela: Social Ontology (2013), S. 52. 156 Ebd. Vgl. u.a. Tuomela : »Who is afraid?« (2013), S. 16. 157 Genau auf diesen Aspekt zielen die Beschreibungen beispielsweise nach Margaret Gilbert, Philip Pettit oder David Sosa : Es bestehen »groups with minds of their own«, ein »Pluralsubjekt«, das »as a body« denkt, handelt und fühlt. Nach Gilbert: (i) »There is doubtless more than one way further to articulate the idea of a joint commitment to intend as a body to do something. One way keeps the word ›body‹ in play: roughly, the parties are jointly committed as far as possible to emulate, by virtue of the actions of each, a single body that intends to do the thing in question. […] I [Gilbert] take it whereas a single human being constitutes a single body, in the sense I have in mind, a plurality of human individuals does not and cannot constitute such a body. At least to some extent, however, such a plurality can emulate such a body. One does not have to use the term ›body‹ […]. One might refer to a single person, for instance, or agent.« Gilbert: »Shared intention« (2009), S. 180f. (Herv. übernommen). (ii) »a new center of consciousness arises«. Margaret Gilbert: »Joint Commitment – What it is and why it matters«, in: Phenomenology and Mind (hg. v. Monticelli), Band 9, Band hg. v. Francesca Maria de Vecchi u. Silvia Tossut, 2015, S. 18–26, hier: S. 19. Im Folgenden als: Gilbert: »Joint Commitment« (2015). Vgl. auch (i) Tuomela: Social Ontology (2013), S. 54. (ii) David Sosa: »What is it like to be a Group?«, in: Social Philosophy and Policy, Band 26, 2009, S. 212–226, hier: S. 215. (iii) Pettit »Groups with Minds of their Own« (2003). 158 Scheler: Wesen u. Formen d. Sympathie [1923], Teil A, II, S. 36. 159 Ebd., S. 39. 160 Sartre: Kritik d. dialektischen Vernunft [1960], 2. Buch, Teil A, S. 430 – dort: Fußnote Nr. 1. 161 Husserl: »Idee eines individuellen u. Gemeinschaftslebens« (1924) (Hua. VIII), S. 197f.
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
Tuomela geht bei seinen Ausführungen auf die Rolle des Egoismus und des Altruismus ein: Ganz analog dazu, dass der »I-mode« nicht per se mit einem Egoismus einhergehe, vertritt er die Ansicht, dass der »We-mode« nicht mit einer altruistischen Haltung gleichgesetzt werden kann: Unter einem Egoismus versteht man gemeinhin, dass ich eine Handlung für mich vollziehe, während eine selbstlose Handlung für den Anderen als altruistisch gilt. Bei einem »We-mode« im Sinne Tuomelas hingegen fällt gewissermaßen beides zusammen: Ich vollziehe die Handlung für mich und für den Anderen, denn ich vollziehe sie für uns: »We can say that the we-mode is the mode of group perspective. The notion of group perspective gets central part of its content from the notion of forgroupness (of ›forus-ness‹)«162 . Doch nicht nur hinsichtlich der Frage, wie die Intentionalität der Gruppe zu beschreiben ist – etwa als interpersonale Intentionalität, die zu einem Lebensstrom führt –, sondern auch in Hinblick auf wen die Gerichtetheit zielt ist eine Referenz auf die frühe Phänomenologie lohnenswert, da sich eine solche inhaltliche – wenn auch nicht in dem Ausmaß konzeptuell ausgereifte Darstellung wie bei Tuomela – um 1924 bei Husserl findet als Differenzierung zwischen einem »für-sich« und »für-uns«: »Wir wünschen beide, dass etwas geschehe, wir entschliessen uns ›gemeinsam‹, ich tue davon den Teil, du den anderen Teil. Usw. [Subjekt] S1 und S2 wollen dasselbe G, aber nicht jedes für sich, sondern S1 will G als von S2 gleichfalls Gewollte, der Wille des S2 gehört mit zum Gewollten des S1 und umgekehrt. Dass S1 den Teil D1 realisiert und S2 D2, das liegt wiederum im Willen beider beschlossen, und ist für beide beschlossen als ›Mittel‹ (im weitesten Sinn) oder als zur Realisierung gehörig, vorher aber zur Absicht.«163 Für Husserl ist entscheidend, dass es sich um ein gemeinsam Gewolltes handelt, dass »im Willen beider beschlossen« ist. Was hierunter genauer zu verstehen ist, weshalb Husserl diese Unterscheidung vornimmt und welche Konsequenzen damit einhergehen, bleibt bei ihm allerdings undeutlich. Bei Tuomela hingegen dient die Unterscheidung des »I-« und »We-mode« dezidiert dazu, den parallelen vom gemeinsamen Vollzug abzugrenzen: Unter den »I-mode« fallen jene eigennützigen Handlungen, welche mit Anderen (»group behaviour in the I-mode«) und ohne Andere (»private/plain I-mode«) vollzogen werden. Doch auch unter die Bezeichnung »We-mode« – die »for-group-ness« – fallen, ohne dass er dies selbst darlegt, zwei Handlungstypen, nämlich: die direkte und indirekte Interaktion mit anderen um die Gruppeninteressen zu erreichen. Unter 162 163
Tuomela u. Tuomela: »Cooperation and trust« (2005), S. 55 (Herv. übernommen). Husserl: Text Nr. 9: »Gemeingeist I« (1921) (Hua. XIV), § 3, S. 170 (Herv. selbst vorgenommen).
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einer direkten Interaktion – dem »group behaviour in the We-mode« – seien jene Handlungen umfasst, in welchen ich als Gruppenbeteiligter mit anderen für die Gruppeninteressen handle. Dieser Fall lässt sich begreifen als ein Handeln in der Gruppe mit der Gruppe für die Gruppe. Um bei dem Fußballbeispiel zu bleiben: der »We-mode«-Stürmer setzt sich mit zehn Mitspielern für den Sieg der eigenen Mannschaft ein. Unter einer indirekten Interaktion mit anderen fällt hingegen jene Handlung, in welcher ich als Gruppenbeteiligter, jedoch alleine eine Handlung für die Gruppe vollziehe: Ich handle ohne die Gruppe für die Gruppe. Dies könnte man in Adaption der Begrifflichkeiten Tuomelas als »plain We-mode« betiteln. Beispielsweise kommt es bei einem Elfmeterschießen meist nicht noch vor dem Torschuss zu einem Pass mit einem Mitspieler der eigenen Mannschaft. Wenn auch ebenfalls im »We-mode« gilt, dass jeder »für sich« handeln muss – genauer gesagt: jeder muss seine eigene Körperbewegung selbst vollziehen164 , denn beispielsweise kann Anna nicht für Berta ein Tor schießen, weil dann eben Anna und nicht Berta die Torschützin ist. Diese Unterscheidung zwischen einem »für mich« (beziehungsweise »für sich«) und »für uns« mag zunächst trivial erscheinen, doch bringt sich genau darin ein entscheidender Wandel: In dominanter Weise ergaben sich die Bezeichnungen der Intentionalitätsformen – etwa der individuellen, subjektiven, Ich –, Wir- oder kollektiven Intentionalität – danach, wer die Intentionalität hat, wer also das Intentionalitätssubjekt ist. Mit Tuomelas und, wie mit den kurzen angeführten Textpassagen angerissen werden konnte, auch mit Husserls Anliegen wird die Fragestellung jedoch gewendet: Im Fokus steht nun nicht mehr wer die Intentionalität hat (Nominativ), sondern wessen Interessen dabei vertreten werden (Genitiv) oder auf wen sich die Gerichtetheit bezieht (Akkusativ). Etwa ist die kollektive Intentionalität als solche zu kennzeichnen nicht allein deshalb, weil ein Kollektiv diese Intentionalität »besitzt«, sondern vielmehr, weil das Kollektiv die Interessen und Ziele des Kollektivs vertritt. Die Wir-Intentionalität ist unsere Intentionalität, nicht weil wir
164 Beschreibungen, welche eher diesen Aspekt hervorheben, sind bereits teils bei Husserl um 1918 zu finden. Beispielsweise: »[J]eder [handelt] für sich an ›seinem Teil‹ [an seiner Spielerrolle] unmittelbar an der Sache [dem Gewinn des Spiels] [...] und [vollzieht] eine primäre Handlung [...], die ausschließlich die ihm eigene ist [z.B. den Torschuss], die aber Teil der sekundären, fundierten [bei Husserl: Gemeinschaftshandlung] ist, die die volle eines jeden von uns ist.« Husserl: Text Nr. 10: »Gemeingeist II. Personale Einheiten höherer Ordnung« (1918 oder 1921) (Hua. XIV), § 1, S. 193. Die Annahme, dass während einer wechselseitigen Bezugnahme der Beteiligten aufeinander, die »Handlungen des Subjekts nicht von denen der Anderen geschieden werden können« (Youniss: »Moral, kommunikative Beziehungen u. d. Entwicklung d. Reziprozität« (1984), S. 38) halte ich damit für verfehlt. Sicherlich wird es so sein, dass das Tor primär der Mannschaft und nicht dem einzelnen Stürmer zugeschrieben wird – und sie daher »als ein Mann agieren« –, dennoch kann man Teilhandlungen der Beteiligten aufgrund ihrer Spielerrollen ausmachen.
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
Intentionalität besitzen und in der Gruppe denken, handeln und fühlen, sondern vielmehr, weil wir für uns denken, handeln und fühlen. Nicht also die Quantität der Beteiligten allein ist wegweisend für eine Bezeichnung der Intentionalitätsform, das heißt ob es sich um ein Lebewesen, ein Subjekt oder viele Beteiligte handeln, sondern wie diese Beteiligten qualitativ aufeinander bezogen sind, nämlich verstehend oder kommunikativ (Husserl), gegen- oder wechselseitig (de Vecchi) und, wie mit den Ausführungen des bisherigen Kapitels 3.2 ergänzt werden konnte, im »I-« oder »We-mode« (Tuomela) beziehungsweise in einer jeder-»für-sich«- oder »für-uns«-Ausrichtung (Husserl): Je weiter das Intentionalitätssubjekt vom Eigennutz abrückt und mit den Anderen kooperiert, desto eher kann man von einer gemeinsamen Intentionalität sprechen, welche Tuomela als spezifische, nämlich »full blown«-Variante der kollektiven Intentionalität versteht. Für den Vergleich der Intentionalitätsformkonzeptionen der Hauptströmungen heißt das: Wären die Phänomenologin de Vecchi und der Sprachanalytiker Tuomela mit der Unterscheidung des parallelen und gemeinsamen Falles anhand ein und demselben Beispiel konfrontiert, dann hieße die Antwort, hier exemplarisch an Handlungen verdeutlicht, wie folgt: Bei den Besuchern eines Kinofilms oder bei den Fußballspielern auf dem Feld handelt es sich um einen parallelen Fall, wenn sie lediglich ein- oder gegenseitig aufeinander bezogen sind (de Vecchi) beziehungsweise ihre jeweiligen Eigeninteressen (»group behaviour in the I-mode« nach Tuomela beziehungsweise »für sich« nach Husserl) vertreten. Ein gemeinsamer Kinobesuch oder eine gemeinsam handelnde Mannschaft liegt demgegenüber dann vor, wenn die Beteiligten wechselseitig aufeinander bezogen sind (de Vecchi), sie sich im »We-mode« (Tuomela) befinden, das heißt in kommunikativer Weise »für uns« agieren (Husserl). Plakativ lässt sich der Unterschied wie folgt fassen: in der Phänomenologie geht es primär um die Beschreibung der Bezugsrichtung und den Bezugsakt auf den Anderen. In der Sprachanalytik wird hingegen eher eine Erklärung gesucht, aus welchem Grund heraus zum einen der Bezug auf den Anderen stattfindet sowie zum anderen ein Beitrag geleistet wird, welcher in der Konsequenz auch allen Anderen zu Gute kommt. Beispielsweise, ob das Tor geschossen wird, um einen Sieg der Mannschaft zu ermöglichen oder um selbst als Torschütze gefeiert zu werden. Die bisherige Konzeption der Intentionalitätsformen nach Tuomela sei hier zum Überblick tabellarisch (Tabelle Nr. 7) dargelegt.
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Formen kollektiver Intentionalität Tabelle Nr. 7: Die Intentionalitätsformen nach Tuomela Unterformen und deren spezifische Charak Modus und allgemeine Charakterisierung terisierung »I-mode« / »for-me-ness« Merkmale: - Die Beteiligten sind »not ›glued‹ together in the strong sense of jointness« - »they act collectively in an ›aggregative‹ but dependent sense« »We-mode« / »for-us-ness« Merkmale: - Die Beteiligten sind »›glued‹ together in the strong sense of jointness« - Aber es gibt keinen »extra agent over and above the group members«
»plain I-mode« /»private I-mode« - kann »selfish or altruistic« sein - um das Eigeninteresse zu erreichen, wird die Handlung »individual for herself« vollzogen. (»selfish plain/private I-mode« = »solitary intentionality« nach de Vecchi) »pro-group I-mode«/»group behaviour in the Imode« um das Eigeninteresse zu erreichen, wird die Handlung in der Gruppe vollzogen. »plain/private We-mode« um das Gruppeninteresse zu erreichen, wird eine Handlung ohne die Gruppe vollzogen: ohne die Gruppe für die Gruppe. »pro-group We-mode«/»group behaviour in the We-mode« um das Gruppeninteresse zu erreichen, wird eine Handlung in der Gruppe mit der Gruppe vollzogen.
Vergleich des »I-« und »We-mode«-Ansatzes Tuomelas mit den Begriffen »solitär« und »sozial« nach Schmid Dass ein und dasselbe Phänomen mit unterschiedlichen Termini belegt wird, zeigt sich auch anhand des Aufsatzes »Autonomie ohne Autarkie« (2007) von Hans Bernhard Schmid. Dort wird eine mit Tuomelas Ansatz vergleichbare Differenzierung der Handlungsphänomene mithilfe der leitenden Interessen vorgenommen. Dabei ist eine Strukturaffinität zum Ansatz Tuomelas, zu jenem de Vecchis als auch zu jenem Tomasellos nachweisbar. In einem ersten Schritt wird bei Hans Bernhard Schmid die Handlung begrifflich danach unterschieden, wie viele Beteiligte involviert sind: Wird die Handlung von einem Beteiligten durchgeführt, so wird dies von Schmid als »solitäre Handlung« (»solitary action«) gefasst.165 Diese von einem ohne Bezug auf ein anderes Individuum durchgeführte Handlung deckt sich zumindest größtenteils, so kann gesagt werden, mit der »individuellen Intentionalität« nach Tomasello und der »solitary intentionality« nach de Vecchi (siehe Kapitel 3.1).
165
Vgl. H.B. Schmid: »Autonomie ohne Autarkie« (2007), S. 458f.
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
Besteht hingegen eine Handlung mit mehreren Beteiligten, dann liegt eine »soziale Handlung« (»social action«) vor. Bereits an dieser Stelle ist eine dezidierte Abgrenzung deutlich, da bei Schmid die Verwendungsweise des Begriffs »sozial« erheblich von jener Verwendung nach Husserl und de Vecchi abweicht: Lediglich spezifische Bezugnahmen der Beteiligten werden nach Husserl und de Vecchi als sozial bezeichnet, während Schmid – und später auch Tomasello (siehe Kapitel 3.3) – »sozial« als Oberbegriff für jegliche Handlung mit mehreren Beteiligten verstehen. Die soziale Handlung im Sinne Schmids ist damit einerseits davon unabhängig, wie die Beteiligten aufeinander bezogen sind, etwa koordinativ oder kooperativ166 . Andererseits ist dabei nach Schmid irrelevant, ob jene Handlung zufälliger- oder notwendigerweise mehrere Beteiligte benötigt167 . Die Binnendifferenzierung der sozialen Handlung ist bei Schmid wie folgt dargelegt: das »soziale Handeln« wird bei ihm – ganz analog zu Tuomelas Differenzierung des »I-« und »We-mode« – danach unterschieden, ob erstens die Handlung von mehreren Beteiligten aufgrund verschiedener Ziele verfolgt wird, das heißt ob sie »qualitativ identische individuelle Ziele« anstreben (»singuläre Handlung«) (»singular action«) oder zweitens, ob mehrere Personen handeln, um »gemeinsame Ziele« zu erreichen (»plurale Handlung«) (»plural action«).168 Für den zweiten Fall – und nur für den zweiten Fall – ist laut Schmid 166 Vgl. H.B. Schmid: Plural Action (2009), S. 17. Besondere Ähnlichkeit hat die Verwendung »soziale Handlung« nach Schmid mit jener nach Max Weber. Allerdings versteht Schmid hierunter, dass mehrere Individuen etwas ausführen (zum Beispiel zwei Freunde winken einander zu), während bei Weber auch lediglich ein Individuum etwas in Relation zu einem anderen Individuum ausführen kann (zum Beispiel ein Freund winkt dem Anderen zu – ohne dass der Freund dies wahrnehmen und darauf reagieren muss). Letzteres müsste im Sinne Schmids, nimmt man seine Begrifflichkeiten ernst, als »solitäre Handlung« verstanden werden, da sie eben primär nur von einer Person ausgeht. 167 Damit ist die Handlungstypologie Schmids hinsichtlich der Kontingenz und Notwendigkeit mehrerer Beteiligter nicht deckungsgleich mit jener Typologie nach Schweikard. Vgl. (i) H.B. Schmid: »Autonomie ohne Autarkie« (2007) – dortige Anmerkung beziehungsweise Endnote Nr. 3. (ii) H.B. Schmid: Plural Action (2009), S. xiv. 168 Vgl. (i) H.B. Schmid: »Autonomie ohne Autarkie« (2007), S. 458f. (ii) H.B. Schmid: Plural Action (2009), S. xiv. Hierbei muss wiederum beachtet werden, dass die hier von Schmid verwendeten Bezeichnungen in der Debatte je nach Autor unterschiedliche Bedeutungen erfahren, wie anhand der »singulären Handlung« gezeigt werden kann: Für Schweikard ist eine singuläre Handlung eine Handlung, welche von einem Individuum vollzogen wird und sich nicht auf eine andere Person bezieht (vgl. Schweikard: »Limiting Reductionism« (2008), S. 103). Für Schmid hingegen ist, wie oben dargelegt wurde, eine singuläre Handlung im Unterschied zu Schweikard eine solche Handlung, welche von mehreren Individuen aus einem jeweiligen Eigeninteresse heraus geschieht. Die Unterscheidung in singulär und plural geht bei Schmid so weit, dass er damit nicht nur die Handlungen danach klassifiziert, sondern diesen Handlungen auch bestimmte Subjektivitäten zuspricht: Bei einer singulären Handlung liegt eine singuläre Subjektivität vor. Bei einer pluralen Handlung liegt eine plurale Subjektivität vor. Grundlegend ist: die Handlungstypologie nach Schweikard ist primär darauf ausgerichtet
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Formen kollektiver Intentionalität
zudem relevant, dass die Beteiligten ihre »singular autonomy« aufgeben und dafür »co-autonomous, or plurally autonomous« werden169 . Während Tuomelas Schlüsselbegriff der Modus ist – die Ich- oder Wirbezüglichkeit des Denkens, der Handlungen und des Fühlens –, legt Schmid die Unterscheidung etwas konkreter anhand der Ziele fest und eröffnet eine Typologie der Handlungen beziehungsweise der Autonomieformen. Diese kurze Darstellung sollte genügen, um zu dokumentieren, dass sich eine inhaltliche, wenn auch nicht terminologische Überschneidung bei Tuomela und Schmid finden lässt: Das »group behaviour in the I-mode« (Tuomela) ist nichts Anderes als das individuelle Verfolgen qualitativ identischer oder unterschiedlicher Ziele (»singuläre Handlung« nach Schmid) respektive das »group behaviour in the »We-mode« (Tuomela) ist nichts anderes als das Verfolgen gemeinsamer Ziele (»plurale Handlung«) (siehe Tabbelle Nr. 8).
zu differenzieren, ob die Handlung mit mehreren Beteiligten kontingenter- oder notwendigerweise mehrere Beteiligte umfasst. Die Handlungstypologie nach Schmid fragt hingegen vielmehr, ganz im Sinne Tuomelas, ob ein und dasselbe Ziel individuell oder gemeinsam verfolgt wird. Kurz und knapp: Bei Schmid liegen bei einer singulären Handlung viele Beteiligte vor, welche »qualitativ identische individuelle« Ziele verfolgen. Bei einer pluralen Handlung verfolgen die Beteiligten »gemeinsame Ziele«, wobei ein »Pluralsubjekt« vorliegt. Inwieweit sich die Auffassung dieses spezifischen Subjektes mit weiteren Begrifflichkeiten, etwa nach Frederick Stoutland, deckt, müsste näher dargelegt werden. Denn Stoutland entwickelt seinerseits eine Differenzierung des »plural« und »collective agent«: Die Bezeichnung »plural agent« dient für viele Handelnde einer Einheit und »collective agent« für einen Handelnden, der über eine Geschichte der Einübung seiner Praxis, der kollektiven Praktiken verfügt (vgl. Frederick Stoutland: »Why are Philosophers of Action so Anti-Social?«, in: Commonality and Particularity in Ethics, hg. v. Lilli Alanen, Sara Heinämaa u. Thomas Wallgren, Macmillian Press, Houndmills, 1997, S. 45–74, hier: S. 46ff. (übersetzt v. Hans Bernhard Schmid: »Warum sind Handlungstheoretiker so antisozial?«, in: Sammelband Kollektive Intentionalität, hg. v. Schmid u. Schweikard (2009), S. 266–300, hier: S. 268ff.). Im Folgenden als: Stoutland: »Why are Philosophers of Action so Anti-Social?« (1997) (dt.)). 169 Vgl. H.B. Schmid: Evil in Joint Action (2021), S. 224.
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
Tabelle Nr. 8: Vergleich der Begriffsverwendungen nach Tuomela und Schmid Definition
Begriff nach Tuomela
Begriff nach Schmid
Ein alleiniger Beteiligter agiert für sich.
»plain I-mode«/ »private I-mode«
»solitäre Handlung«
Mehrere Beteiligte agieren und haben dabei entweder verschiedene oder qualitativ identische individuelle Ziele.
»pro-group I-mode«/ »group behaviour in the I-mode«
»singuläre Handlung« (mehrere Beteiligte, daher nach Schmid eine Unterform der »sozialen Handlung«)
Mehrere Beteiligte agieren und haben dabei ein gemeinsames Ziel.
»group behaviour in the We-mode«
»plurale Handlung« (mehrere Beteiligte, daher nach Schmid eine Unterform der »sozialen Handlung«)
Nachteilig an Schmids Überlegung ist, dass es einer sprachlich sehr diffizilen Handhabung bedarf, um die solitäre, singuläre und soziale Handlung voneinander abzugrenzen. Eine terminologische Verwechslungsgefahr ist hier viel eher möglich. Daher soll im Folgenden der begriffliche Neologismus »group behaviour in the I-mode« Tuomelas um 1992 bevorzugt werden, da darin – ohne großen Assoziationsspielraum – einerseits deutlich wird, dass ich mein Interesse vertrete (»I-mode«), dies jedoch andererseits in einer Handlung mit mehreren Beteiligten (»group behaviour«) verfolge. Vorteilhaft an der konzeptuellen Handlungstypologie nach Schmid ist indes, dass er diese, im Gegensatz zu Tuomela, selbst an einem eigenen prägnanten Beispiel ausführt. Während für Tuomelas »group behaviour in the I-mode« in dieser Arbeit der Fall gewählt wurde, dass ein Stürmer aufgrund von Ruhmsucht selbst ein Tor schießen möchte und den Ball daher nicht abgibt, veranschaulicht Schmid eigenhändig, weshalb »qualitativ identische individuelle Ziele in einer Handlung mit mehreren Beteiligten« – oder wie man noch zuspitzen könnte: sogar zu ein und derselben Zeit an ein und demselben Ort – nicht ausreichend sind, um von einem gemeinsamen Ziel oder sogar von einer gemeinschaftlichen Zusammengehörigkeit im engen Sinne zu sprechen: In einer anonymen Einfamilienhaussiedlung, so Schmids Beispiel, in welcher die Einwohner nichts voneinander wissen und keine tiefgreifenden nachbarschaftlichen Beziehungen aufbauen möchten, wird bekannt, dass ein nahegelegener Autobahnzubringer gebaut werden soll. Daraufhin organisieren und veranstalten die Bewohner Demonstrationen, fundraising-events und Ähnliches. Und dennoch »könnten sie [die Bewohner der Einfamiliensiedlung] etwa sagen: ›In unserem Quartier haben nun einmal alle Einzelnen dasselbe Ziel, nämlich den Bau des Autobahnzubringers zu verhindern. Und jede und jeder tut halt das, was ihr oder ihm das beste Mittel zum Zweck scheint, gegeben die Aktivitäten der anderen. Niemand identifiziert sich hier mit irgendeiner Gemeinschaft, darum geht es gar
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Formen kollektiver Intentionalität
nicht; es geht bloß um die Verwirklichung individueller Ziele: Ruhe zu haben und reine Luft und ein Wäldchen in der Nähe für den Spaziergang mit dem Hund.‹ [...] Für sie gibt es hier keine Gemeinschaft, sondern nur Individuen und ihre individuellen Wünsche und Handlungen. Straßenfest hin, Demonstrationszug her«.170 Hierbei wird deutlich: alle Bewohner der Siedlung wissen von dem Bau des Autobahnzubringers. Sie wissen, dass auch alle anderen Bewohner dies wissen. Sie wissen, dass alle Bewohner gegen diesen Bau sind und sie ein und dasselbe Ziel verfolgen. Sie berücksichtigen ihr jeweiliges Verhalten und passen sich aneinander an. Sie planen und vollziehen Demonstrationen und dennoch können alle Beteiligte jeweils einzeln für sich das Ziel verfolgen. Um dieses Eigeninteresse erreichen zu können, ist man jedoch abhängig voneinander, da man als Einzelperson wohl keine Chance gegen den gewaltigen Bau hat.171 Oder in Searles Worten um 1990, in Anlehnung an die früheren Bezeichnungen »I-« und »We-intention« nach Tuomela um 1984: »The notion of a we-intention, of collective intentionality, implies the notion of cooperation. But the mere presence of I-intentions to achieve a goal that happens to be believed to be the same goal as that of the other members of a group does not entail the presence of an intention to cooperate to achieve that goal. One can have a goal in the knowledge that others also have the same goal, and one can have beliefs and even mutual beliefs about the goal that is shared by the members of a group, without there being necessarily any cooperation among the members or any intention to cooperate among the members.«172 Unabhängig davon, dass bei Searle hierbei nochmals die fatale Gleichsetzungen von »we« und »collective« einerseits sowie von »intention« und »intentionality« andererseits deutlich ist, ist an diesem Zitat zentral: selbst wenn alle Beteiligten erstens ein und dasselbe Ziel verfolgen und zweitens wissen, dass sie ein und dasselbe Ziel verfolgen, muss daraus noch keineswegs die Absicht einer Kooperation, 170 H.B. Schmid: »Wir-Identität: reflexiv und vorreflexiv« (2005), S. 369. Dieses Beispiel Schmids stammt aus dem Jahr 2005, in welchem sich noch nicht die spätere Unterscheidung in solitäre und soziale Handlung findet. Vielmehr geht es ihm dort darum zu zeigen, dass auch in einer Gruppe, in welcher alle nach ihren Eigeninteressen handeln und sich selbst jeweils nicht reflexiv eine Wir-Identität zuschreiben, eine Art Wir-Identität im vorreflexiven Sinne besteht, da sie alle für ein und dieselbe Sache kämpfen. 171 Die Beteiligten des »group behaviour in the I-mode« (Tuomela) respektive die Beteiligten der »singulären Handlung« (H.B. Schmid) können demnach, in Anlehnung an Garcia, als »heuchlerisches Wir« (»nous hyprocrites«) bezeichnet werden, da sie lediglich – hier etwa bei Demonstrationen – vorgeben ein starkes Wir im Sinne des »We-modes« zu sein. Denn sie sind wirklich die, die sie sind, ohne ein Gruppenzusammenhalt vorzuspielen (»nous authentique«) (vgl. Garcia: Wir [2016], Buch I, S. 40). 172 Searle: »Coll. Intentions and Actions« (1990), S. 406 (dt.: S. 106).
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
ein Zusammengehörigkeitsgefühl oder ein Gruppeninteresse bestehen – und doch fällt, so scheint es zumindest zunächst auf den ersten Blick, jegliches »collective« beziehungsweise jegliches »cooperative behaviour« bei Searle unter die Bezeichnung »kollektive Intentionalität«173 . Die qualitative Dimension der Intentionalitätsformen wird demnach von nahezu allen Debattenteilnehmern betont: Es liegt ein verstehender, kommunikativer oder sozialer Akt vor (Husserl), die Beteiligten sind ein –, gegen- oder wechselseitig aufeinander bezogen (de Vecchi), sie agieren im »I-« oder »We-mode« (Tuomela) beziehungsweise sie verfolgen »qualitativ identische individuelle« oder »gemeinsame Ziele« (Schmid). Doch dabei sind folgende Probleme zu erörtern: erstens ist es mir selbst unmittelbar möglich zu erfahren, ob ich selbst ich- oder wirbezüglich eingestellt bin. Doch wie kann ich feststellen, ob die anderen Spieler der Fußballmannschaft an der ich beteiligt bin oder die Siedlungsbewohner, deren Demonstrationszug ich von Weitem erblicke, ein Gruppeninteresse vertreten und damit als Gruppe im engen Sinne gelten können? Woher kommt zweitens die »Prise Esprit« genau, die uns hier oder die Gruppe dort zusammenhält? Drittens kann man mit Blick auf den Ansatz Tuomelas fragen: dient die Unterscheidung in Eigen- und Gruppeninteressen bei ihm als Differenzierung zwischen den Intentionalitätsformen oder ist diese eher als Differenzierung innerhalb einer Intentionalitätsform, eben als Binnendifferenzierung zu verstehen? All diesen Fragen wird im Folgenden nachgegangen, wobei sich zeigt, dass sich auch bei Tuomela – ebenso wie bei de Vecchi – begriffliche wie konzeptionelle Ungenauigkeiten finden lassen.
Die drei Bedingungen des »We-mode« Tuomela erläutert unter welchen Voraussetzungen eine Gemeinschaft im engen Sinne bestehe. Ihm zufolge gelten für einen »We-mode«, dem »strong sense of jointness«174 drei notwendige Bedingungen175 : die »critical features of the we-mode«176 . Diese erfordern ihrerseits spezifische kognitive Fähigkeiten der Beteiligten, wodurch der Kreis der möglichen Beteiligten verringert wird177 (siehe Kapitel 2.1): Erstens muss man das Gruppenziel aus einem Gruppengrund heraus anstreben
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Vgl. (i) ebd., S. 402 (dt.: S. 101). (ii) Searle: »Social Ontology – Some basic principles« (2006), S. 16 (dt.: S. 510). Tuomela: Social Ontology (2013), S. 63. Vgl. Raimo Tuomela u. Kaarlo Miller: »Collective Goals Analyzed«, in: From Individual to Collective Intentionality – New Essays, 2014, S. 34–60, hier: S. 40. Im Folgenden als: Tuomela u. Miller: »Collective Goals Analyzed« (2014). Vgl. Tuomela: Social Ontology (2013), S. 38. Vgl. ebd. S. 66.
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Formen kollektiver Intentionalität
(»we-mode group reason«), zweitens besteht eine Kollektivitätsbedingung (»collectivity condition«) und drittens eine kollektive Verpflichtung (»collective commitment«). Detailliert ausgeführt besagt das erste Merkmal, die »we-mode group reason«: »Reason R is a group member’s motivating we-mode (or full-blown group) reason for performing an action X if and only if R is the agent’s main motivating group reason for his performing X. […] [T]he group members are collectively committed to performing the collective action for reason R and mutually believe so.«178 Das heißt der Grund wird von uns als Gruppe vertreten, wobei Tuomela einräumt, dass dies zumindest auf die Mehrheit der Beteiligten179 beziehungsweise auf die Gruppenanführer180 zutreffen muss, um von einer Gruppe im »We-mode« sprechen zu können.181 Die »collectivity condition«, die zweite Hauptcharakteristik des »We-mode« wird von Tuomela auch als »the three musketeersʼ condition [...] All for one and one for all«182 bezeichnet: »Necessarily […] the goal is satisfied for a member if and
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Tuomela: »Collective Intentionality and Group Reasons« (2008), S. 8. Doch wenn gilt, dass nicht nur die Handlung, sondern auch das Handlungsmotiv in einem »We-mode« vertreten werden muss, dann ergibt sich die Frage wie weit dieser »We-mode« zurückreichen muss: Muss es – folgt man Tuomelas Auffassung der »we-mode group reason« – dann nicht auch eine »we-mode group reason« für diese »we-mode group reason« geben? Beispielsweise sind die »we-mode«-Fußballer durch die gemeinsame Absicht motiviert dieses Spiel zu gewinnen. Doch müsste man ihnen dann nicht auch weiterführend unterstellen, dass die nicht nur gemeinsam dieses einzelne Spiel gewinnen wollen, sondern auch als Mannschaft den Pokal und vieles weitere gewinnen möchten? Im Gegensatz dazu wird die »I-mode reason« bei Tuomela wie folgt definiert: »Reason R is a group member’s motivating I-mode (or private) reason for performing an action X if and only if R is the agent’s main motivating private reason for his performing X. […] [T]he agent is privately committed to performing X for reason R.« Raimo Heikki Tuomela: »Joint Intention, We-mode and I-mode«, in: Shared Intentions and Collective Responsibility, (Midwest Studies in Philosophy Volume XXX), hg. v. Peter A. French u. Howard K. Wettstein, Blackwell Publishing, Boston/Oxford, 2006, S. 35–58, hier: S. 40. Im Folgenden als: Tuomela: »Joint Intention, We-mode and I-mode« (2006). 179 Vgl. Tuomela: »Who is afraid?« (2013), S. 19 – dort: Fußnote Nr. 19. 180 Vgl. Tuomela: Social Ontology (2013), S. 228. 181 Wobei hier präziser gesagt werden kann, dass sich wohl dennoch alle Beteiligten auf die Gruppe beziehen müssen, oder wie Schweikard schreibt: »Die Bezugnahme auf das ›Wir‹ [...] ist nur dann vollständig und adäquat, wenn alle Beteiligten sich darauf beziehen.« Schweikard: »Gemeinsame Absichten« (2010), S. 143 (Herv. selbst vorgenommen). 182 Vgl. (i) Tuomela: »Joint Intention, We-Mode and I-Mode« (2006), S. 54. (ii) Tuomela: Social Ontology (2013), S. 8 u. S. 40.
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
only if it is satisfied for all (other) members.«183 Anhand des Beispieles der Einfamilienhaussiedlung: habe ich lediglich die Absicht mein eigenes Haus zu retten – unabhängig davon, ob mein Nachbar sein Haus verliert –, so bin ich im »I-mode«. Vertrete ich hingegen ein Gruppeninteresse – es geht nicht nur um mein Haus, sondern auch um das des Nachbarn –, so werde ich auch dann weiter demonstrieren und mich für die Sache einsetzen, wenn bereits mein Haus gerettet ist. Hier schließt nahtlos die dritte Bedingung des »We-mode« nach Tuomela an: die kollektive Vereinbarung184 . Hierunter fällt, dass man zum einen kollektiv ein und dasselbe Ziel als Gruppenmitglied akzeptiert hat sowie zum anderen, dass man den Anderen gegenüber im normativen Sinne verpflichtet ist das angestrebte Ziel zu verwirklichen. Auf das Beispiel bezogen: zwischen meinem Nachbarn und mir besteht – wenn auch implizit – eine wechselseitige Verpflichtung (»collective commitment«185 ) das Ziel gemeinsam zu erreichen. Gerade diese Bedingung wird in der Forschung meist als entscheidendes Merkmal einer Gruppe im engen Sinne, einer Zusammengehörigkeit angesehen186 : Das »collective commitment« bilde den »sozialen Leim«, welcher die Mitglieder zueinander und hinsichtlich des »ethos«, das ist der geteilten Werte und Normen zusammenbinde.187 Daher hebt Tuomela
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Tuomela: »Collective Intentionality and Group Reasons« (2008), S. 5. Vgl. auch (i) Tuomela u. Miller: »Collective Goals Analyzed« (2014), S. 45. (ii) Tuomela: Social Ontology (2013), S. 40, S. 69 u. S. 76. 184 Vgl. (i) Raimo Heikki Tuomela: The Philosophy of Social Practices – A Collective Acceptance View, Cambridge University Press, 2002, Kapitel 2, S. 30. (ii) Chant, Hindriks u. Preyer: »Introduction – Big Four« (2014), S. 2. 185 Vgl. Tuomela: »Intentional Single and Joint Action« (1991), S. 236. Versucht man den Begriff »commitment« zu übersetzen, dann ergeben sich je nach Auslegung zahlreiche Bedeutungsverschiebungen, wie etwa Ulla Schmid darlegt. Auf diese Weise sei es möglich von Verpflichtung, Verbindlichkeit oder Festlegung zu sprechen, weshalb Ulla Schmid in ihren Schriften schlussendlich den Begriff »commitment« unübersetzt übernimmt (vgl. Ulla Schmid: »Ich und du sind nicht wir« (2011), S. 86 – dort: Fußnote Nr. 16). 186 Anhänger dieses Kriteriums sind beispielsweise Autoren wie Mikko Salmela und Michiru Nagatsu: »The strongest mode of collectivity in sharing concerns is founded on the group member’s collective commitment […]. Through their collective commitment, the group members adopt the concern as theirs in a strong we-mode sense. Collective commitment provides the group members group reasons to think, want, feel, and act in ways that are in accordance with their shared concern.« Mikko Salmela u. Michiru Nagatsu: »Collective Emotions and Joint Action – Beyond Received and Minimalist Approaches«, in: Journal of Social Ontology, Band 2, Heft 1, 2016, S. 33–57, hier: S. 38. Im Folgenden als: Salmela u. Nagatsu: »Collective Emotions and Joint Action« (2016). 187 Vgl. u.a. Tuomela u. Tuomela: »Cooperation and trust« (2005), S. 55. Wobei der Begriff »ethos« wohl von Scheler beeinflusst ist: »Scheler calls […] specific ways of being directed towards the world, which reveal our preferences, interests, and orders of discovery, ›ethos‹.« Íngrid Vendrell Ferran: »Affective Intentionality – Early Phenomenological Contributions to a New Phenomenological Sociology«, in: Phenomenology of Sociality – Discovering the ›We‹, hg. v. Thomas
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Formen kollektiver Intentionalität
auch hervor, dass bei einem »We-mode« eine deutlich höhere Wahrscheinlichkeit der Hilfe untereinander besteht188 , eben eine Gruppensolidarität189 , -loyalität und -moralität190 , wobei die normative Bewertung mitschwingt, dass der »We-mode« zwischenmenschlich empfehlenswerter sei als der »I-mode«. Und in der Tat schreibt Tuomela, dass sich die »We-mode«-Gruppe im Idealfall durch Demokratie und Autonomie auszeichne.191 Dabei verschweigt Tuomela jedoch nicht, dass es sich um eine Idealvorstellung handelt und in der Realität eine zu intensive Fixierung auf die Gruppenwerte im Extremfall zu Nationalismus oder Patriotismus führen kann192 und damit wiederum ihrerseits zweifellos schädlich für andere Gruppen sein kann. Dass sich jedoch ein übertriebener Zusammenhalt auch negativ auf die eigene Gruppe und das individuelle Vertreten bestimmter Wertvorstellungen auswirken kann, findet in Tuomelas Werk Social Ontology hingegen keine Erwähnung. Dass beispielsweise eine Straftat eines zugehörigen Gruppenmitgliedes nicht angezeigt wird, obwohl man mit dessen Tat grundsätzlich nicht einverstanden ist, wird in der Kollektivwissenschaft mit der Bezeichnung »Korpsgeist« gefasst.
Szanto u. Dermon Moran, (Routledge Research in Phenomenology, Band 3), Routledge Verlag, New York/London, 2016, S. 119–233, hier: S. 224. 188 Dabei ist zu sagen, dass auch die gegenseitige Hilfe hier ihre Grenzen hat und nach dem Kosten-Nutzen-Prinzip erfolgt (vgl. Raimo Heikki Tuomela: »What Is Cooperation?«, in: Erkenntnis, Band 38, Heft 1, 1993, S. 87–101, hier: S. 93. Im Folgenden als: Tuomela: »What Is Cooperation?« (1993)). 189 Vgl. Tuomela: »Who is afraid?« (2013), S. 19. 190 »My [Tuomelas] we-mode account does not require full morality in general but only group morality.« Tuomela: Social Ontology (2013), S. 246. 191 Vgl. ebd. S. 17. Dieser tiefgreifende Zusammenhalt ist jedoch, wie bereits Hegel festhielt, vorwiegend bei einer kleinen Mitgliederanzahl, wie innerhalb einer Familie möglich. Je größer die Mitgliederanzahl, wie beispielsweise im Falle eines Staates, desto unwahrscheinlicher wird dieser. Inwieweit Elemente dieser Art – Elemente wie die »we-mode group reason«, »collectivity condition«, »collective commitment« – bei früheren, beispielsweise phänomenologischen, Autoren der Sache nach zu finden ist, ist in der bisherigen Forschung lediglich angerissen worden. Deutlich wird jedoch, dass etwa Dietrich von Hildebrand in Metaphysik der Gemeinschaft (1930) mit dem Begriff der »Unsrigkeit« und einer spezifischen »Einfärbung« des Intentionalitätsmodus wohl auf ebendies zielte. Vgl. (i) Hildebrand: Metaphysik d. Gemeinschaft [1930]. (ii) H.B. Schmid: »Sharing in Truth« (2012), S. 410. Auch bereits bei Adam Smith findet sich im weitesten Sinne die Erläuterung eines solches »We-modes«, der »Unsrigkeit« als »Übereinstimmung der Empfindungen und Meinungen«: »Das große Vergnügen der Geselligkeit und der Unterhaltung mit anderen entspringt [...] aus einer gewissen Übereinstimmung der Empfindungen und Meinungen, aus einer gewissen Harmonie der Seelen, die wie ebenso viele musikalische Instrumente miteinander harmonieren und den gleichen Takt halten. Aber diese höchst erfreuliche Harmonie kann man nicht erreichen, sofern nicht ein freier Austausch der Empfindungen und Meinungen stattfindet.« Smith: Theory of Moral Sentiments [1759] (dt.: Siebenter Teil, 4. Abschnitt, S. 563). 192 Vgl. Tuomela: Social Ontology (2013), S. 115.
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
Bei dieser letzten Bedingung der Möglichkeit des »We-mode« – dem »collective commitment« – kann genauer gesagt werden, dass die Beteiligten nicht nur sich selbst gegenüber (»private commitment«), sondern vielmehr einander wechselseitig verpflichtet sind. Jeder Beteiligte glaubt, dass der Andere ebenfalls diese, durch die Verpflichtung festgesetzten, Ziele erreichen möchte und seinen Beitrag zur Erreichung dieses Ziels beitragen wird. Wie weit auch die sprachanalytischen Ansätze hier auch im Detail auseinander gehen mögen, alle vertreten sie: »belief is a central ingredient in the glue that ties the participantsʼ intentions together«193 .194 193
Hans Bernhard Schmid: »Trying to Act Together – The Structure and Role of Trust in Joint Action«, in: The Background of Institutional Reality, hg. v. B. Kobow, H. B. Schmid u. M. Schmitz (Philosophy of Sociality Series Band 1), Dordrecht, Springer, 2013, S. 37–55, hier: S. 40. Im Folgenden als: H.B. Schmid: »Trying to Act Together« (2013). (Eine überarbeitete Übersetzung dieses Aufsatzes findet sich unter dem Titel »Vertrauen im Gemeinschaftshandeln«, in: Die Dimension des Sozialen – Neue philosophische Zugänge zu Fühlen, Wollen und Handeln, hg. v. Karl Mertens u. Jörn Müller, de Gruyter Verlag, Berlin/Boston, 2014, S. 287–311). 194 Tuomela betont, wie später auch de Vecchi (siehe Kapitel 3.1), dass aus dem »commitment« soziale Wirklichkeiten, wie bestimmte Personenverbände, hervorgehen können, weshalb Tuomela das »collective« auch als »social commitment« bezeichnet (vgl. Raimo Heikki Tuomela: »Collective Acceptance, Social Institutions, and Social Reality«, in: The American Journal of Economics and Sociology, Band 62, Heft 1, 2003, S. 123–165, hier: S. 133. Im Folgenden als: Tuomela: »Coll. Acceptance, Social Institutions, and Social Reality« (2003)). Searle seinerseits hebt hervor, dass aus dem »collective commitment« unter Menschen nicht nur soziale, sondern auch institutionelle Tatsachen, wie Geld, entstehen können. Vgl. (i) Searle: Mind, Language and Society (1998), S. 111ff. u. S. 126ff. (dt.: S. 134ff. u. S. 151ff.). (ii) Searle: »Social Ontology – Some basic principles« (2006). (iii) Tuomela u. Miller: »We-Intentions« (1988) (hier: dt.: S. 78). (iv) Tuomela: The Philosophy of Social Practices – A Collective Acceptance View, Cambridge University Press, 2002. (v) Tuomela: »Coll. Acceptance, Social Institutions, and Group Beliefs« (2003). Eine detaillierte Kritik an Searles Auffassung der Etablierung sozialer Institutionen findet sich unter anderem in Tuomelas Aufsatz »Searle in Social Institutions« (in: Philosophy and Phenomenological Research, Band 57, 1997, S. 435–441). Zwar mag das Beispiel des Geldes in der Debatte um die kollektive Intentionalität fest mit dem Namen Searle verbunden sein, doch findet es sich bereits bei Aristoteles: »[E]s [hat] den Namen nomisma (Geld) erhalten, weil es nicht durch die Natur, sondern durch Konvention (nomos) vorhanden ist und weil es bei uns liegt, es zu ändern und unbrauchbar zu machen.« Aristoteles: Nikomachische Ethik, übersetzt u. hg. v. Ursula Wolf, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 2006, Fünftes Buch, Gerechtigkeit, S. 174, 4b). Der Unterschied in den Überlegungen liegt darin, dass Aristoteles vorwiegend untersucht warum es zum Geld kam, was also dessen Funktion ist – nämlich die Vergleichbarkeit der Güter –, während Searle primär fragt wie es zum Geld kam, mit welchen Instrumenten es entstehen konnte – nämlich durch kollektive Anerkennung. Selbstredend kann das »collective commitment« oder die Etablierung der sozialen Tatsachen und Institutionen aus einem »I-mode« – genauer: aus einem »group behaviour in the I-mode« – heraus entstehen. Beispielsweise: mehrere Beteiligte einigen sich aus individuellen Praktikabilitätsgründen für die Einführung von Zahlungsmitteln, um nicht ausschließlich Güter miteinander tauschen zu müssen. Daher ist es für mich unverständlich wie Petri Ylikoski und Pekka Mäkelä zu der Ansicht kommen, dass bei Searle und Tuomela gelte,
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Bemerkenswert ist allerdings, dass gerade bei dieser »Schlüsselbedingung« des »We-mode« die Rede von Gefühls- und Denkphänomenen ist: Ich glaube, dass der Andere, weil wir ein »commitment« eingegangen sind, ebenfalls die Handlung vollziehen wird beziehungsweise ich fühle mich dem Anderen zugehörig.
»feel up to the task« Noch etwas präziser lässt sich sagen, dass für einen »We-mode« zudem gilt: die Absicht der Beteiligten muss mit einem Realisierungswillen einher gehen195 , die Beteiligten können nicht zugleich X und nicht-X beabsichtigen196 und jeder Beteiligte glaubt, dass die jeweils anderen Beteiligten jeweils zur Absichtsrealisierung durch Teilhandlungen beitragen. In Gilberts Worten: »each party has made it clear to the other that he is willing to join forces with the other in accepting the goal«197 (»willed unity condition«198 ). Es liegt eine »shared readiness to act«199 vor: Die Beteiligten signalisieren sich, dass sie bereit sind als Handlungspartner die gemeinsame Absicht zu realisieren200 (»expression condition«201 ) und dies ist ihr gemeinsames Hintergrundwissen (»common knowledge condition«202 ). Wieder anhand des
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dass »we-attitudes« – im Sinne des »We-mode« – notwendigerweise für soziale Institutionen benötigt werden (vgl. Petri Ylikoski u. Pekka Mäkelä: »We-Attitudes and Social Institutions«, in: Social Facts and Collective Intentionality, hg. v. Georg Meggle, Hänsel-Hohenhausen, Frankfurt am Main/München/London/Miami/New York, (Deutsche Bibliothek der Wissenschaften, Band 1), 2002, S. 459–474. Im Folgenden als: Ylikoski u. Mäkelä: »We-Attitudes and Social Institutions« (2002)). Vgl. Tuomela: »Intentional Single and Joint Action« (1991), S. 236. Ebd. S. 235. Gilbert: »Walking Together« (1990), S. 7 (dt.: S. 164). Problematisch an diesem Ausdruck »willing to join forces« ist, dass dabei zu stark der Wille der Beteiligten sowie der »einheitliche Willenspool« hervorgehoben wird: »A joint commitment is a commitment of the will. […] the wills of two or more people impose the commitment on the same two or more people – as one« (Gilbert: »Joint Commitment« (2015), S. 21). Durch diese Hervorhebung wird bei Gilbert jedoch zunehmend der Wille mit der Freiwilligkeit gleichgesetzt. Vgl. Gilbert: On Social Facts (1992), S. 222. Gilbert: »Shared intention« (2009), S. 167. Vgl. Gilbert: »Joint Commitment« (2015), S. 22. »each party must express to every other party his or her readiness to be jointly committed in the relevant way. […] In other words, without a special background I can’t jointly commit you to be my own efforts, and vice versa.« Margaret Gilbert: »Introduction – Sociality and Plural Subject Theory«, in: Sociality and Responsibility (2000), hier: Kapitel 1, S. 1–13, hier: S. 5. Im Folgenden als: Gilbert »Introduction – Sociality and Plural Subject Theory« (2000). Vgl. auch Gilbert: »Shared intention« (2009), S. 180. Vgl. Gilbert: On Social Facts (1992), S. 223. Vgl. ebd. Es liegt eine »mutual (open) recognition of agency« vor (vgl. Hans Bernhard Schmid: »Plural Self-Awareness«, in: Phenomenology and the Cognitive Sciences, Nr. 13, Heft 1, Springer Verlag, 2014, S. 7–24, hier: S. 8).
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
Beispiels der Fußballmannschaft: die Spieler haben die Absicht gemeinsam zu gewinnen. Hierfür sind die Spieler untereinander die Verpflichtung eingegangen, ihre jeweiligen Rollen, wie jene als Torwart oder Stürmer, für dieses Ziel zu erfüllen. Ebenso gilt nach Tuomela, dass die Beteiligten die Überzeugung und das nötige Selbstvertrauen haben, dass die Handlung erfolgreich vollzogen werden kann und damit das gemeinsame Ziel erreichbar ist.203 Man muss davon überzeugt sein, dass man es schaffen kann: »the agents have to believe, in general, that they can perform the action together – or at least that such performance is not impossible«204 . Oder anders formuliert: was man für unrealistisch hält, kann man nicht beabsichtigen oder kausal verursachen205 , sondern sich höchstens wünschen.206 An einem simplen Beispiel: ich kann nicht beabsichtigen, dass das Wetter morgen schöner ist als heute, das kann ich mir nur wünschen.207 Eine Absicht, so die Sprachanalytiker, ist an eine Realisierungsüberzeugung gebunden – ob diese eine Täuschung im Sinne einer Selbstüberschätzung ist oder nicht, sei dahingestellt. Dieses Phänomen betitelt Schmid um 2007 als »Prinzip des intentionalen Selbstvertrauens«208 : Man muss sich nicht sicher sein, das anvisierte Ziel tatsächlich zu erreichen, aber man muss zumindest davon überzeugt sein, es erreichen zu können. Es geht hierbei nicht nur darum, dass ich mir die Handlung zum jetzigen Zeitraum zutraue und diese für realisierbar halte, sondern auch, dass ich davon ausgehe,
203 Oder wenigstens die benötigten Fähigkeiten erworben werden können, damit in Zukunft die Handlung vollzogen werden kann. Vgl. Tuomela: »We Will Do It« (1991), S. 270. 204 Tuomela: Social Ontology (2013), hier: Kapitel 3, S. 75. Vgl. Tuomela: »Joint Intention, We-mode and I-mode« (2006), S. 37. Die Handlung muss »at least with some non-negligible degree of probability« durchführbar sein (vgl. Tuomela: »Intentional Single and Joint Action« (1991), S. 236). Es muss die logische Möglichkeit der Durchführung bestehen. Um es mit einem leicht verständlichen Beispiel Tuomelas zu veranschaulichen: um ein Fenster (gemeinsam) zu öffnen, darf das Fenster nicht bereits offen sein (vgl. Tuomela: »We-Intentions Revisited« (2005), S. 328). 205 Vgl. (i) Annette C. Baier: »Act and Intent«, in: Journal of Philosophy, Band 67, 1970, S. 648–658. (ii) Bratman: »Shared Intentions« [1993], S. 120 (dt.: S. 415). (iii) »The content of my intentionin-action can only make reference to things I can cause (or at least believe I can cause).« Searle: Making the Social World (2010), S. 53 (dt.: S. 94). (iv) Hans Bernhard Schmid: »Feeling Up to It – The Sense of Ability in the Phenomenology of Action”, in: Self-Evaluation – Affective and Social Grounds of Intentionality, hg. v. Anita Konzelmann Ziv, Keith Lehrer u. Hans Bernhard Schmid, Springer Verlag, 2011, S. 215–236, hier: S. 219. Im Folgenden als: H.B. Schmid: »Feeling Up to It« (2011). 206 Vgl. Stein: Beiträge philo. Begründung [1922], hier: Einführung v. Beate Beckmann-Zöller, S. XLVI. 207 Vgl. Leonardo Augusto Zaibert: »Collective Intentions and Collective Intentionality«, in: The American Journal of Economics and Sociology, Band 62, 2003, S. 209–232, hier: S. 211. 208 Vgl. (i) H.B. Schmid: »Autonomie ohne Autarkie« (2007), S. 457. (ii) H.B. Schmid: Plural Action (2009), S. 5.
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dass sich diese Einschätzung auch zukünftig nicht verändern wird.209 Das heißt: es muss nicht nur eine Einschätzung hinsichtlich der Erfolgswahrscheinlichkeit, sondern auch hinsichtlich der Beibehaltung des gemeinsamen Intentionalitätsobjektes und -/modus bestehen.210 Der Stürmer wird also davon ausgehen, dass der Torwart seiner Mannschaft über das gesamte Spielzeit hinweg am Ziel der eigenen Mannschaft festhalten wird, genauso wie der Torwart davon ausgeht, dass der Stürmer seiner Mannschaft während der gesamten Spiellänge das gemeinsame Ziel verfolgen wird. Hierfür bedarf es einer Selbst- und Fremdeinschätzung der Beteiligten: »Agents have some sort of awareness, consciousness, or sense of what they can and cannot do – individually or together with others, as a team. And while this sense may not be freely changed at will, it is clear that is not merely a given, but an attitude that can be cultivated and developed.«211 Kurzum: es geht um die Einschätzung, ob der Andere ein geeigneter Handlungsund Kooperationspartner ist, ob man dem Anderen vertrauen kann: Jeder Beteiligte muss erstens seine eigenen Handlungsfähigkeiten sowie jene des Anderen (zumindest bis zu einem gewissen Grad) bestimmen können212 , zweitens die Handlung (zumindest bis zu einem gewissen Grad) für sich selbst und die jeweils Beteiligten für realistisch vollziehbar und erreichbar halten und drittens nicht nur glauben, dass der Andere seine Teilhandlungen vollzieht, sondern berechtigt glauben, dass heißt dem Anderen vertrauen213 . 209 Oder in Schmids Worten: »these agents count on each other (as well as on their own future selves), and their shared goals provide them with a point from which they can critically assess other people’s behaviour as well as their own.« H.B. Schmid: Plural Action (2009), S. 244. 210 Bei Tuomela heißt es hierzu: »in each participant’s view it must be mutually believed by the participants that the presuppositions for the (intentional) jsting [that is: jointly seeing to it] of X hold or will hold with some probability«. Tuomela: »We-Intentions Revisited« (2005), S. 330. 211 H.B. Schmid: »Feeling Up to It« (2011), S. 216. Husserls Ausführungen zum »Könnensbewußtsein« können hierzu als Vorläufer gesehen werden (vgl. Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Zweites Buch: Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution, hg. v. Marly Biemel, Kluwer Academic Publishers, Dordrecht/ Boston/London, (Hua. Bd. IV), 1991, hier: Dritter Abschnitt, Zweites Kapitel, § 60 a) und b), S. 257–268). 212 Schmid meint, dass das Gespür für die Fähigkeiten nicht primär ein Glaube, sondern ein Gefühl ist (vgl. H.B. Schmid: »Feeling Up to It« (2011), S. 217). 213 Vgl. u.a. (i) Schmid beschreibt etwa treffend, dass die notwendigen und hinreichenden Kriterien des Vertrauens, insbesondere des »rationalen Vertrauens«, kaum zu bestimmen sind (vgl. H.B. Schmid: »Trying to Act Together« (2013), S. 40). (ii) Facundo M. Alonso: »Reliance and Intending the Joint Activity«, in: Concepts of Sharedness –Essays on Collective Intentionality, hg. v. Hans Bernhard Schmid, Nikos Psarros u. Katinka Schulte-Ostermann, Ontos Verlag, Frankfurt am Main, 2008, S. 211–223. (iii) Auch bei frühen Autoren rund um die Sozialontologie ist der Gedanke des Vertrauens zentral verankert: »Gemeinschaft, nach dem Sinne des Blutes
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
Diese komplexe Annahme wird durch psychologische Studien vertieft: Je geringer die Einschätzung der eigenen Fähigkeiten hinsichtlich einer bestimmten Handlung ausfallen, desto geringer kann die Wahrscheinlichkeit der Teilnahme an dieser Handlung eingestuft werden214 und damit auch, dass diese bestimmte Handlungen für die betroffene Person in geteilter, gemeinsamer oder kollektiver Weise erlebt werden kann. Um es nochmals an eingängigen Beispielen zu verdeutlichen: Menschen mit Höhenangst werden, im Vergleich zu jenen ohne eine solche Angst, wohl eher seltener zum Bungeesprung geneigt sein. Ebenso wie man mit einem Spinnenphobiker diese Tiergattung wohl kaum im Zoo oder im Tierfachhandel streicheln wird. Dasselbe gilt für Personen mit erheblichen körperlichen Einschränkungen: auch Rollstuhlfahrer können, mithilfe spezifischer wendiger Rollstühle, Basketball spielen, doch ist ihnen unter anderem die Sportart Judo unzugänglich. Tuomela selbst führt an, dass ein Rollstuhlfahrer einen »We-mode« besitzen kann, jedoch abhängig vom Gruppenziel, wie beispielsweise »the we-intention to push the bus up the hill«215 , gegebenenfalls lediglich als »non-operative member«216 zählen wird.217 Um es auf den Punkt zu bringen: bestimmte Handlungen werden oder können nicht ausgeführt werden, weshalb – zumindest in Bezug auf bestimmte Intentionalitätsgehalte – die tatsächliche Durchführung oder Beitragshandlung zur geteilten, gemeinsamen oder kollektiven Intentionalität ausgeschlossen ist, obwohl sich die Beteiligten durchaus im »We-mode« befinden können. Kriterien dieser Art sind jedoch, wie Bratman, Schmid und der Rechtswissenschaftler Christopher Kutz herausstellen, zwar relevant, jedoch nicht als enge Einschränkung zu betrachten: Es
wie der Sache, wurzelt im schrankenlosen Vertrauen ihrer Glieder. Von demselben durchdrungen, zu wissen, daß man dazugehört kraft Geburt, Einweihung, Überzeugung, Wahlverwandtschaft, bedeutet Geborgenheit im Gemeinschaftskreis den Verzicht auf Behauptung des eigenen Selbst.« Helmuth Plessner: Grenzen der Gemeinschaft – Eine Kritik des sozialen Radikalismus [1924], Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 6. Auflage, 2016, hier: Der Kampf ums wahre Gesicht – Das Risiko der Lächerlichkeit, S. 58. 214 Ebd., S. 216. 215 Tuomela: »We Will Do It« (1991), S. 262. 216 Ebd., S. 269. 217 Weitere Ausführungen Tuomelas dieses Beispieles lauten unter anderem: (i) »It is essential that this wheelchair-bound person believes that there are operative members jointly capable of pushing the bus uphill. And this person cannot be a mere outsider; he must be a group member suitably aware of what is going on here and, at least in standard cases, he will also in some way contribute (mentally and overt action) to the group’s effort.« Ebd. (ii) »the nonoperative members can in a central way take part in the group’s intention simply by functioning as group members and (tacitly) accepting the operatives’ joint intention, or at least being normatively obligated to such acceptance.« Tuomela: »Collective Intentionality and Group Reasons« (2008), hier: S. 13.
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mag wohl in den meisten Fällen gelten, dass man eine Handlung nur dann vollzieht, wenn man diese selbst für erfolgsversprechend hält. Doch gibt es ebenfalls Handlungen, in denen man versucht das Ziel zu erreichen, ohne es selbst als realistisch erreichbar einzustufen.218 So können wir wissen, dass das liegengebliebene Auto, obwohl wir beide keine körperlichen oder geistigen Einschränkungen haben und uns sogar jung und dynamisch fühlen, wohl zu schwer für uns beide ist – dennoch können wir mit aller Kraft versuchen es anzuschieben. So können wir wissen, dass wir keine Sterneköche sind und ein vier Gänge Menü weit über unseren Kochkünsten liegt, aber wir können versuchen das Beste aus den vorliegenden Zutaten herauszuholen. Ich bin mir sicher, dass ich nicht Golf spielen kann und daher nur mit sehr vielen Schlägen den Ball in das vorgesehene Loch versenken werde, das heißt ich bin mir meiner Unfähigkeit durchaus bewusst und möchte dennoch Golf spielen. Oder um es kurz und plakativ mit Schmid zu sagen: »Life would be boring indeed if we limited our intention to objects which we are confident to be able to carry out (even though we might have good reasons to […] try to avoid constant failures).«219 Handlungen sind nach Schmid – entgegen der üblichen philosophischen Auffassung – nicht vom Willen oder den Handlungsgründen, das ist der tatsächlichen Erfolgsaussicht, abhängig, sondern es geht vielmehr um das Gefühl der Sache gewachsen zu sein: »it is a matter [...] of our affective attitudes. In order to act, one has to desire, one has to have some beliefs, but one also has to feel up to the task, and in some cases at least, this turns out be an entirely different matter. In these cases, our sense of 218
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(i) Hans Bernhard Schmid führt dies etwa so aus: »It has been objected – by Bratman (1999) [in: Faces of Intention], among others – that this [setting the »Realisierungsüberzeugung« as the only basic] is too restrictive, at least if belief (or acceptance) is taken to be all-ornothing. People intend to do all sorts of things they do not really believe (or accept) they will actually achieve.« H.B. Schmid: »Feeling Up to It« (2011), S. 223 (Herv. selbst vorgenommen). (ii) Christopher Kutz spricht sich ebenfalls gegen eine zu starke Auffassung der »Realisierungsüberzeugung« aus: »agents need not believe before-hand that they will likely succeed in their aims for their actions to count as jointly intentional«. Kutz: »Acting Together« [2000], S. 18 (Herv. selbst vorgenommen) (dt.: S. 458). Allerdings erscheinen die Überlegungen nach Kutz unpräzise, da es weiterführend etwa bei ihm heißt: »participants need not intend to achieve that collective end. It is sufficient that participants regard themselves as contributing to a collective end« (ebd., S. 21 (dt.: S. 462). Hieran ist zu kritisieren, dass eine Person, nur weil sie sich selbst als Gruppenmitglied begreift, nicht auch aus Sicht der Anderen als Gruppenmitglied anerkennt werden muss – wie die Phänomene der Ausgrenzung oder des Mobbings zeigen. Vielmehr muss wohl daher gelten: »It is necessary – but not sufficient – that participants regard themselves and each other as contributing to a collective end«. H.B. Schmid: »Feeling Up to It« (2011), S. 223.
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ability – our feeling up to the task or its opposite – turns out to be recalcitrant with regard to our beliefs.«220 Hiermit lässt sich wiederum beschreiben, warum es Fälle gibt, in welchen wir wissen, dass wir etwas nicht schaffen können, wie etwa das Golfloch in 100 Metern Entfernung mit einem einzigen Schlag zu treffen, uns aber in einer selbstbewussten, entschlossenen Stimmung befinden und es zumindest versuchen. Darüber hinaus lassen sich mit einer solchen »feel up to the task«-Erklärung Fälle schildern, in welchen der Erfolg sehr aussichtsreich ist, die Handlung jedoch nicht vollzogen wird, da es an Selbstbewusstsein, an Selbstvertrauen mangelt. Doch – und das scheint das zentrale Problem dieses Ansatzes nach Schmid zu sein – wie äußert sich dieses »feel up to the task« genau? Wie ist es für mich oder für uns ein »feel up to the task« zu haben? Lässt sich dieses Gefühl als intuitives Erfassen beschreiben oder ist es eher eine erlernbare Fähigkeit? Woher kann ich wissen, dass ich dieses »Gefühl der Aufgabe gewachsen zu sein« besitze? Muss es zutreffen, dass die Beteiligten (oder zumindest die Mehrheit der Beteiligten) voneinander wissen, dass sie ein »feel up to the task« haben?221 Wie »tiefgreifend« muss dieses Gefühl sein? Es lässt sich festhalten: erstens glaubt jeder Beteiligte, dass sich die Anderen an das »collective commitment« (Tuomela) halten werden. Zweitens glaubt jeder Beteiligte, dass die Handlung realisierbar ist und sie haben ihre Absichtsrealisierung deutlich gemacht (Gilbert). Drittens verfügen alle Beteiligten über das nötige Selbstvertrauen, das nötige »Gefühl der Sache gewachsen zu sein« (Schmid). Dabei stellt sich heraus: zwar thematisieren die Sprachanalytiker primär Handlungsphänomene, doch spielen dabei – ohne dass sie selbst darauf hinweisen – »durch die Hintertür« Gefühle eine erhebliche Rolle, wie mit den Überlegungen zur Selbstund Fremdeinschätzung und zum »feel up to the task« dargelegt werden kann, welche ihrerseits auf Einfühlung und Vertrauen basieren. Das Phänomen des Vertrauens ist allerdings, wie es etwa vom Philosophen Olli Lagerspetz um 1997 ausgeführt wird, von zwei zentralen Merkmalen charakterisiert: Zum einen könne man sich zwar dazu entscheiden nicht zu vertrauen, doch
220 Ebd., S. 229f. (Herv. teils übernommen u. teils selbst hervorgehoben). 221 Hierbei kann präziser gefragt werden, wie viele Beteiligte tatsächlich das »feel up to the task« besitzen müssen. Gilbert beispielsweise vertritt die Position, dass eine Wir-Einstellung nur dann auftreten kann, wenn mindestens die Hälfte, das heißt eben die Mehrheit der Beteiligten erstens diese betreffende Einstellung hat und zweitens sich dem Fakt bewusst ist, dass die Wir-Einstellung bei mindestens der Hälfte der Beteiligten vorliegt (vgl. Tuomela: »Coll. Acceptance, Social Institutions, and Group Beliefs« (2003), S. 432 (dt.: S. 536f.)).
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eine Entscheidung zu vertrauen sei unmöglich.222 Demnach kann Vertrauen als unreflektierte Gegebenheit, als persönliches Widerfahrnis charakterisiert werden. Dies wiederum hat zur Folge, dass eine empirische Feststellung, wann ein gegen- oder sogar wechselseitiges Vertrauen der Beteiligten tatsächlich vorliegt, unmöglich erscheint. Zum anderen kann eine Kippfigur bestehen, wenn das eigene Vertrauen mittels Aussage untermauert wird, da damit gerade das Gegenteil, nämlich: Misstrauen erweckt werden kann: »Well, do I trust my friend? If I am to address the question seriously – if I am to think it needs addressing – my perception of what I have been doing will already have to be changed. Unreflecting self-evidence will be gone. My answer could be ›yes‹ or ›no‹. But even if it is ›yes‹, the situation is, in fact, changed. […] A new idea has been activated, new questions opened up. Is it reasonable for me to trust this person? Could she take advantage of me? Is she a friend? Out of the blue, the phrase ›I trust her!‹ would in fact be counter-productive. If I present you to a friend of mine and tell you by the way that I trust him not to stab you, you will probably not feel more reassured that if told nothing at all.«223 Bezogen auf die Debatte der Intentionalitätsformen bedeutet dies: einerseits besteht der Konsens, dass eine Gemeinschaft nur dann zustandekommen kann, wenn die Beteiligten einander vertrauen. Andererseits ist jedoch gebenenfalls unklar, ob sie tatsächlich einander vertrauen und eine Äußerung des eigenen Vertrauens kann unter Umständen gerade die Gemeinschaft gefährden. Mit dem Vertrauen verhält es sich also ganz ähnlich wie mit Geheimnissen. Salopp gesagt: man darf sie haben, aber man sollte nicht sagen, dass man sie hat. Kurz und knapp: wie Vertrauen entsteht, ob es empirisch analysierbar ist und inwieweit dieses verbal festgehalten werden sollte, ist keinesfalls eindeutig.
Das »private«, »joint« und »collective commitment« Die Erläuterung der »critical features of the We-mode« nach Tuomela – die »wemode group reason«, die »collectivity condition« und das »collective commitment« – werden demnach in der Debatte zahlreich erweitert oder präzisiert, wie etwa bei Gilbert durch die Ausführungen der »willed unity«, der »expression« und der »common knowledge condition«. Ein detaillierter Vergleich beider Positionen müsste einbeziehen, inwieweit erstens das »obligation criterion«, zweitens das »permission criterion« sowie drittens, wie Gilbert etwas steif betitelt, »the compatibility
222 Vgl. Olli Lagerspetz: »The Notion of Trust in Philosophical Psychology«, in: Commonality and Particularity in Ethics, hg. v. Lilli Alanen, Sara Heinämaa u. Thomas Wallgren, Macmillian Press, Houndmills, 1997, S. 95–117, hier: S. 111. 223 Ebd., S. 98.
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
with lack of the corresponding personal intentions criterion«224 mit jenen Hauptcharakteristika nach Tuomela übereinstimmen. Hier sei jedoch nur ausgeführt, wie sich Tuomelas »collective commitment« zu Gilberts »joint commitment« verhält: Bei Tuomela wird unmissverständlich deutlich, dass eine »strong sense of jointness« erst bei der Erfüllung aller »We-mode« Bedingungen auftritt, während dies bei Gilbert nicht klar hervorgeht. Doch beide zielen auf ein »commitment« mit mindestens zwei Beteiligten – genauer gesagt: mit mindestens zwei Menschen225 . Allein hieraus erscheint die Bezeichnung »collective commitment« Tuomelas eine qualitative Ebene anzusprechen, da ein Kollektiv – zumindest dem quantitativen Verständnis nach – mindestens drei Beteiligte unterstellt. Sowohl das »collective« (Tuomela) als auch das »joint commitment« (Gilbert) sind dadurch gekennzeichnet, dass dieses nur von allen Beteiligten beschlossen und aufgelöst werden kann.226 Bei einem »private/personal commitment« hingegen, bin ich nur mir selbst gegenüber verpflichtet, sodass lediglich eine private Verantwortung227 besteht und dieses »commitment« – so die in der Debatte gängige Terminologie – einseitig aufgehoben werden kann228 . Obwohl sich bereits in der frühen Phänomenologie Ausführungen zur Rolle der Vereinbarung und deren normativem Gehalt einerseits sowie andererseits dazu finden lassen, dass für eine Gemeinschaft im engen Sinne eine wechselseitige Beeinflussung der Beteiligten nicht ausreiche, da es zudem einer wechselseitigen
224 Vgl. Gilbert: »What Is It for Us to Intend?« (Version: 2000), S. 16f. 225 Wobei Gilbert die Phrase »commitment of two or more individuals« und »commitment of two or more people« synonym verwendet (vgl. u.a. Margaret Gilbert: »Agreement, Coercion, and Obligation«, in: Sociality and Responsibility (2000), Kapitel 12, S. 281–311, hier: S. 293. Im Folgenden als: Gilbert: »Agreement, Coercion, and Obligation« (2000)). Nimmt man diese Aussage Gilberts ernst, dass eine Vereinbarung ausschließlich unter »two or more people«, nur unter mindestens zwei Menschen möglich sei, so kann wiederum ihre Annahme in der Lesart nach Baltzer hinterfragt werden, was es dann genau bedeuten soll, dass auch bei einem Spaziergang von Hund und Herrchen von einem »Wir« gesprochen werden könne (vgl. Baltzer: Gemeinschaftshandeln (1999), S. 54f.). Ihre These, dass Tiere ebenfalls ein »Wir« bilden könnten, kann daher – wenn ihr Ansatz kein Widerspruch beinhalten soll – nur auf eine Weise ausgelegt werden: Gilberts Position steht in großer Nähe zu Tomasellos Annahme, dass Tiere stets im »I-mode« agieren (siehe Kapitel 3.3), das heißt nach Gilbert lediglich ein »individual commitment« aufweisen. Lediglich die Menschen seien zu einem »We-mode«, das heißt nach Gilbert ein »joint commitment«, fähig. 226 Vgl. Tuomela: »We-Intentions Revisited« (2005), S. 327. 227 Vgl. (i) Tuomela: »Coll. Acceptance, Social Institutions, and Social Reality« (2003), S. 132. (ii) Tuomela u. Tuomela: »Cooperation and trust« (2005), S. 49. (iii) Gerhard Preyer: Rolle, Status, Erwartungen und soziale Gruppe – Mitgliedschaftstheoretische Reinterpretationen, Springer Verlag, Wiesbaden, 2012, hier: S. 139. Im Folgenden als: Preyer: Rolle, Status, Erwartungen und soziale Gruppe (2012). (iv) Chant, Hindriks u. Preyer: »Introduction – Big Four« (2014), S. 2. 228 Vgl. Gilbert: »Shared intention« (2009), S. 174.
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Einigung bedürfe,229 gilt als Initialzündung dieser Betrachtung Gilbert mit ihrem Konzept des »joint commitment«: »By definition, a personal commitment is created unilaterally by the party in question, and can be rescinded unilaterally by the party. If you like, he is the sole author of his commitment […]. In contrast, a joint commitment has a joint author […], for its creation, it must at a minimum be common knowledge between the parties that each is ready jointly to commit them all in the relevant way. «230 Bei einem »personal commitment«, so Gilbert, liege lediglich ein persönliches Ziel vor231 , während bei einem »joint commitment« gilt: Es ist ein »goal of a plural subject, as opposed to the shared personal goal of the participants. Alternatively, going for a walk involves an ›our goal‹ as opposed to two or more ›my goals‹. I [Gilbert] take it that there are many activities of this kind, which may be referred to as ›shared‹, ›joint‹, or ›collective‹ action.«232
229 Zu nennen ist hier beispielsweise Gerda Walther, welche festhielt: (i) »Es bedarf zur Grundlage, zur innerseelischen Fundierung der Gemeinschaft nicht nur der Einigung eines Subjektes mit allen anderen und einer Wechselwirkung zwischen ihnen, sondern einer Einigung jedes Subjektes mit allen anderen, eine allgemeinen ›Wechseleinigung‹, die vom Standpunkt des einen Subjektes jeweils als Erwiderungseinigung erlebt wird.« Walther: Ontologie d. soz. Gemeinschaften [1923], Teil B, 3g), S. 63. (ii) »Alle Vergemeinschaftung setzt eben Einigung und Erwiderung der Einigung, Wechseleinigung voraus, alle Vergesellschaftung irgendeine intentionale Antwortbeziehung, eine Wechselwirkung« (ebd. S. 64). Klar ist damit, dass Aspekte der sprachanalytischen Debatte auch bezüglich der Einigung der Beteiligten in Phänomenologie vorweggenommen wurden. Inwieweit dies der Fall ist, bedürfte einer detaillierten Aufschlüsselung. 230 Margaret Gilbert: »Joint commitment and group belief« (Replik zu: Annette Schnabel: »Group beliefs, group speakers, power and negotiation«), in: Sammelband Soziologische Theorie kontrovers (2011), S. 405–410, hier: S. 406. Im Folgenden als: Gilbert: »Joint commitment and group belief« (Replik) (2011). 231 Vgl. Gilbert: »Walking Together« (1990), S. 3 (dt.: S. 157). 232 Ebd., S. 9. Die Übersetzung von Anita Konzelmann Ziv dieser Stelle lautet: »Ich [Gilbert] habe begründet, dass mit einer Person zusammen spazieren zu gehen die Teilnahme an einer bestimmten Art von Aktivität einschließt, deren Ziel das Ziel eines Pluralsubjektes ist, das im Gegensatz zum geteilten persönlichen Ziel der Teilnehmer steht. Man kann auch sagen, dass spazieren gehen so etwas wie ›unser Ziel‹ involviert, im Gegensatz zu zwei oder mehreren Zielen der Form ›mein Ziel‹. Ich glaube, dass es viele Aktivitäten dieser Art gibt, auf die man sich als ›gemeinsames‹, ›vereintes‹ oder ›kollektives‹ Handeln beziehen dürfte«. Gilbert: »Zusammen spazieren gehen«, S. 167. Jene Übersetzung ist daher bemerkenswert, da in ihr »shared« mit »gemeinsam«, jedoch »joint« mit »vereint« wieder gegeben wird und damit der »jointness« – der Vereinigung – implizit der Vorzug gegeben wird, da damit suggeriert wird, dass die Beteiligten »eins« sind, was dem Konzept des »Pluralsubjektes« nach Gilbert wohl am ehesten entspricht. Gilberts Wortlaut dieses Zitates selbst hingegen verdeutlicht, dass sie die Begriffe »sharedness«, »jointness« und »collectivity« synonym verwendet, ohne
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
Bei den Beteiligten besteht ein »willing to join forces«233 , um das gemeinsame Ziel zu erreichen, das nun »the goal of a plural subject« ist. Sie verfügen zum einen über ein gemeinsames Wissen bezüglich des Zieles, wie beispielsweise den gemeinsamen Spaziergang. Zum anderen beinhalte dieses bestimmte Rechte und Pflichten234 , wie etwa das Recht den Anderen zu rügen, wenn dieser vom gemeinsamen Ziel abweicht und beispielsweise – ohne sich mit dem Anderen abzusprechen – bei einem Spaziergang plötzlich abbiegt oder zu weit vorausgeht. Hierbei versuchen die Beteiligten, Gilbert zufolge, aus Klugheit und Besonnenheit (»prudence«) heraus, das gemeinsame Ziel durch zwei Aspekte zu erreichen: Erstens tun sie selbst alles was in ihrer eigenen Macht steht, um das gemeinsame Ziel zu realisieren und um nicht selbst gerügt zu werden. Zweitens überwachen sie die Handlung des jeweils Anderen und rügen diesen gegebenenfalls.235 Anhand des Musterbeispieles nach Gilbert: »if Jack’s goal is to walk alongside Sue, prudence obviously requires him to monitor the situation carefully and to take what action he can to keep the two of them together«236 . Kurz: alle Beteiligen haben das »desire to avoid a rebuke«237 – wobei die Positionen in der Debatte darin auseinander gehen, ob dies notwendigerweise stets mit normativen Konsequenzen verbunden ist (u.a. Gilbert, Meijers, Max Weber und Wilfried Sellars) oder nicht a priori (u.a. Tuomela), aber zumindest in den allermeisten Fällen mit normativen Konsequenzen verbunden ist (u.a. Bratman und Searle)238 .
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einem dieser Begriffe den Vorzug zu geben. In einem anderen Aufsatz heißt es später: »I [Gilbert] shall borrow Michael Bratman’s phrase and write of a ›shared intention‹ instead of an intention that is ›ours‹«. Gilbert: »What Is It for Us to Intend?« (Version: 2000), S. 15. Vgl. Gilbert: »Walking Together« (1990), S. 7 (dt.: S. 164). Ebd., S. 3 (dt.: S. 158). Vgl. ebd., S. 4 (dt.: S. 159f.) sowie S. 6 (dt.: S. 163). Ebd., S. 4 (dt.: S. 159f.) (Herv. übernommen). Allerdings gibt Gilbert nicht genauer an, was unter »Klugheit« zu verstehen ist. Gilbert: »Joint commitment and group belief« (Replik) (2011), S. 408. Eine Ausführung, was unter diesem Recht eine Rüge auszusprechen, zu verstehen ist, findet sich bei Tuomela insbesondere in dessen Aufsatz »Walking Together« (1990). Der inhaltliche Unterschied Tuomelas und Gilberts Konzeption besteht vorwiegend darin, dass man für Gilbert stets die Erlaubnis des Anderen einholen muss, da man ansonsten gerügt werden kann. Vgl. u.a. (i) Gilbert: »Walking Together« (1990). (ii) Margaret Gilbert: »Culture as Collective Construction«, in: Sammelband Soziologische Theorie kontrovers (2011), S. 383–393, hier: S. 389. Im Folgenden als: Gilbert: »Culture as Collective Construction« (2011). Ebendies vertreten beispielsweise auch de Vecchi und Tomasello. Vgl. u.a. (i) de Vecchi: »Three Types of Heterotropic Int.« (2014), S. 133. (ii) Tomasello: Becoming Human (2019), S. 205. Allerdings ist darauf zu achten, dass Gilbert unter einer »collective intentionality«, wie Searle, einen Oberbegriff versteht und daher bei ihr keine klare Abgrenzung zwischen »joint« und »collective« zu finden ist. Zur Rolle der Normativität bei den genannten Autoren vgl. u.a. (i) H.B. Schmid:
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»Auf einander zählen« (2011), S. 607. (ii) Schmid u. Schweikard: »Einleitung: Koll. Int.« (2009), S. 28. In Anlehnung an Gilbert nehmen Pettit und Schweikard grundsätzlich an, dass man mit der gemeinsamen Festlegung auch bestimmte Verpflichtungen eingeht sowie die Rüge bei einer Verletzung der Verpflichtungen möglich ist. In Abgrenzung zu Gilbert, wird von Pettit und Schweikard jedoch keinesfalls vertreten, dass sich a priori aus der Verpflichtung heraus ein Pluralsubjekt bilden müsse (vgl. Philip Pettit u. David P. Schweikard: »Joint Action and Group Agents«, in: Philosophy of the Social Sciences, Band 36, Heft 1, 2006, S. 18–39, hier: übersetzt v. David P. Schweikard: »Gemeinsames Handeln und kollektive Akteure«, in: Sammelband Kollektive Intentionalität, hg. v. Schmid u. Schweikard (2009), S. 556–585, hier: S. 575. Im Folgenden als: Pettit u. Schweikard »Joint Action and Group Agents« (2006) (dt.)). Nimmt man an, dass sich aus einer gemeinsamen Absicht zwar im Normalfall, aber nicht a priori eine Verpflichtung ergibt (wie Tuomela, Bratman und Searle), dann ist auch so etwas wie »nonconsequential sharing« möglich. Das heißt: ein Beteiligter müsste sich etwa bei einem Spaziergang nicht erklären und mit keinen Konsequenzen rechnen, wenn er spontan einen anderen Weg einschlägt oder den Spaziergang plötzlich abbricht, und dennoch sei es ein gemeinsamer Spaziergang. Vgl. (i) Bratman: »Shared Intentions« [1993], S. 125f. (dt.: S. 420). (ii) Bratman: »Shared Valuing and Frameworks for Practical Reasoning« [2004], S. 291 – dort: Fußnote Nr. 18. (iii) Michael Bratman: »Dynamics of Sociality«, in: Shared Intentions and Collective Responsibility, (Midwest Studies in Philosophy, Band XXX), hg. v. Peter A. French u. Howard K. Wettstein, Blackwell Publishing, Boston/Oxford, 2006, S. 1–15, hier: S. 6f. Im Folgenden als: Bratman »Dynamics of Sociality« (2006). (iv) H.B. Schmid: »Auf einander zählen« (2011), S. 607. Möglich ist etwa auch, dass die Einigung der Beteiligten darauf abzielt, dass Nichtkonformität nicht gerügt wird (vgl. Gilbert: »What Is It for Us to Intend?« (Version: 2000), S. 26 – dort: Endnote Nr. 36). H.B. Schmid selbst schlägt hinsichtlich der Rolle der Verpflichtung und Normativität eine Zwischenposition ein: Das »Faktum des Geteiltseins eines intentionalen Zustands [schafft] per se noch keine Verpflichtung [...] Grund dafür ist, dass kollektive Intentionalität nicht nur auf einer gemeinsamen Festlegung, sondern auch etwa aus bloßer Gewohnheit erwachsen kann; in letzterem Fall hat sie keinen moralisch-verbindlichen Charakter. So richtig dieser Einwand auch ist, so dürfte das Gegenteil einer völligen Normativitätsfreiheit der kollektiven Intentionalität ebenfalls unzutreffend sein.« H.B. Schmid: »Intentionalität, koll.« in: Handbuch Politische Philo. u. Sozialphilo. (2008), S. 563. Vgl. (i) H.B. Schmid: Plural Action (2009), S. 42f. (ii) H.B. Schmid: Wir-Intentionalität (2005), S. 206f. Kurzum: »Man kann Dinge gemeinsam tun, ohne sich bereits in vollwertige Verpflichtungen zu verstricken. Umgekehrt ist das Bild völlig normativitätsfreier kollektiver Intentionalität schief.« H.B. Schmid: »Auf einander zählen« (2011), S. 608. Hinsichtlich der Frage der Normativität ist auffallend, dass diese in der Debatte hauptsächlich bezüglich der kollektiven Intentionalität – verstanden als Sammelbegriff – untersucht wird. Ob und wenn ja bei welchen »verminderten« Intentionalitätsformen, beispielsweise wie der intersubjektiven oder sozialen Intentionalität nach de Vecchi, die Normativität bereits eine Rolle spielt, wird nicht betrachtet. Auf diese Weise könnte man beispielsweise herausstellen, dass bereits bei einer sozialen Intentionalität – »ich verspreche dir mit dir ins Kino zu gehen« – ein »commitment« vorliegt. Dieses kann selbstredend einseitig gebrochen werden, indem ich mein Versprechen ohne Entschuldigung nicht einhalte. Doch würde es der Anstand, um unserer Freundschaft nicht zu gefährden, verlangen, dass ich mein Versprechen dir gegenüber mit einer Entschuldigung zurückziehe – eben das Versprechen nicht breche, sondern auflöse. Zusätzlich kannst du meine Entschuldigung annehmen oder mich an meine Verpflichtung dir gegenüber er-
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
Eben diese Differenzierung der Formen des »commitments«, dem »personal« und dem »joint commitment« Gilberts, ist auch bei Tuomela mit dessen Begrifflichkeiten des »I-« und »We-mode« angelegt: »The commitment in the I-mode case is weaker than in the we-mode case because it is private and can therefore more easily be given up.«239 »A member cannot unilaterally rescind her commitment to the ethos without the other’s permission. This is because, so to speak, she has given up part of her authority to act to the group and needs the others’ permission to get it back.«240 Die Position Gilberts und Tuomelas lässt sich wie folgt auf den Punkt bringen: liegt bei den Beteiligten ein »I-mode« vor, dann ist ihr »group behaviour« lediglich von einem »private commitment« geprägt. Dieses kann jederzeit ohne Erklärung einseitig aufgehoben werden. Ein »We-mode« hingegen zeichnet sich durch ein »collective« (Tuomela) oder »joint commitment« (Gilbert) aus, welches nur miteinander aufeinander bezogen – präziser festgehalten in Anlehnung an die Beschreibung der Bezugsrichtung nach de Vecchi: wechselseitig – aufgestellt und aufgelöst werden kann.241 Tuomela und Gilbert beschreiben zwar ein und dasselbe Phänoinnern und deren Erfüllung einfordern. Damit kann geschlussfolgert werden: Ein einseitiger sozialer Akt kann zwar einseitig begründet werden, muss jedoch – wenn er nicht regelwidrig gebrochen werden soll – wechselseitig aufgehoben werden. 239 Tuomela: Social Ontology (2013), S. 34. 240 Ebd., S. 43. 241 Vgl. Margaret Gilbert: »The Idea of Collective Guilt«, in: Sociality and Responsibility (2000), Kapitel 8, S. 141–153, hier: S. 148. Im Folgenden als: Gilbert: »Collective Guilt« (2000). Wobei Gilbert genauer zwischen einem »personal« und »individual commitment« differenziert: Liegt ein »person intention« vor, was mit Tuomelas »I-mode« gleichgesetzt werden kann, dann besteht lediglich ein »personal commitment«. Doch auch bei einem »joint commitment«, so Gilbert, sind die Beteiligten individuell für sich diese Verpflichtung eingegangen: »individual commitment (vgl. Gilbert: »Shared intention« (2009), S. 184). Weiterhin ist zu fragen, inwieweit der Begriff »joint commitment« nach Gilbert mit jenem des »collective commitment« nach Tuomela tatsächlich deckungsgleich ist: Es scheint, dass bei Gilbert bereits bei einem »joint commitment« ein »plural subject«, das ist ein Agieren »as a body« vorliegt, während Tuomela präziser darlegt, dass ein solches spezifisches Subjekt neben dem »commitment« noch zwei weitere Faktoren bedürfe: die »we-mode group reason« und die »collectivity condition«. Dabei betont Gilbert, dass der Inhalt dieser Vereinbarung entweder präzise oder vage sein kann (vgl. Margaret Gilbert: »Obligation and Joint Commitment«, in: Sociality and Responsibility (2000), S. 50–70, hier: S. 57. Im Folgenden als: Gilbert: »Obligation and Joint Commitment« (2000)). Hierbei kann beispielsweise an den Birnendiebstahl nach Augustinus gedacht werden: Augustinus und seine Freunde hatten nicht von vornherein die Absicht Birnen zu stehlen und diese den Schweinen zu verfüttern, sondern seine Ausführungen legen nahe, dass es lediglich die Absicht gab etwas gemeinsam zu machen. Darüber hinaus kann jenes Beispiel nach Augustinus in zweierlei Weise als verdeutlichendes Sinnbild für die De-
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Formen kollektiver Intentionalität
men, nämlich die Vereinbarung unter einem »We-mode«, doch die Abweichung ihrer Bezeichnungen wird besonders dann deutlich, wenn man sich ihre jeweilige Erläuterung des »We-mode« näher anschaut: Den »We-mode«-Fall fasst Tuomela als »joint intention«, während der »I-mode« bei ihm als »shared intention« gefasst wird. Gilbert hingegen verwendet die Begrifflichkeit genau in entgegengesetzter Weise: Persönliche Absichten, die zwar korrelativ zu den Absichten der Anderen sein können – wie eben dass ein »I-mode«-Fußballspieler auf zehn Mitspieler angewiesen ist –, gelten bei ihr gerade nicht als »shared intention«.242 Jene Bezeichnung wird bei ihr vielmehr für den »We-mode« verwendet, bei welchem die Beteiligten die Gruppeninteressen verfolgen und – hier nun gewissermaßen doch als Übereinstimmung mit Tuomela – »jointly« verbunden sind, was Gilbert jedoch nicht als »collective«, sondern »joint commitment« fasst. Man muss sich also folgenden Fakt vor Augen halten: obwohl Gilbert und Tuomela ein und derselben philosophischen Strömung (der Sprachanalytik) zu ein und derselben Zeit (zu Beginn des 21. Jahrhunderts) angehören, Beiträge zu ein und derselben Debatte (der kollektiven Intentionalität) leisten und dabei nahezu identische Phänomene (den Gruppenzusammenhalt) analysieren, weicht ihre Terminologie eklatant voneinander ab. Doch welchen der beiden Ansätze man auch wählt, beide beinhalten jeweils für sich betrachtet irreführende begriffliche Gleichsetzungen, wie nochmals geschildert wird. Bei Gilbert wird die »shared intention« in einem Atemzug mit dem »joint commitment« genannt, wobei eben »shared« und »joint«, das heißt qualitative Unterschiede der Intentionalitätsformen, nicht voneinander differenziert werden können. Bei Tuomela werden – wie bei Husserl, de Vecchi und Searle – die Begriffe »Wir« und »Kollektiv« synonym verwendet: Besonders auffallend ist dies bei Tuomelas zweiter und dritter notwendiger Bedingung des »We-mode«, da dabei die batte dienen: Einerseits betont Augustinus fortwährend, dass der soziale Rahmen des Agierens in der Gruppe entscheidend für den Fortlauf des Geschehens war (vgl. u.a. H.B. Schmid: Evil in Joint Action (2021), S. 202). Andererseits kann es als »inherent evil agency« angesehen werden: »Juvenile fruit theft might not be foremost in our idea of inherent evil, but from a purely theoretical, philosophical point of view, it seems difficult to imagine a darker form of agency that the one in which bad action is not carried out in spite of its being known to be bad, but because its being known to be bad.« Ebd., S. x. Vgl. auch (i) Hans Bernhard Schmid: »Social Capital and Self-Alienation – An Augustinian Look at the Dark Heart of Communication«, in: Social Capital, Social Identities – From Ownership to Belonging, hg. v. Dieter Thomä, Christoph Henning u. Hans Bernhard Schmid, de Gruyter Verlag, Berlin, 2014, S. 105–123. (ii) Hans Bernhard Schmid: »The Guise of the Bad in Augustineʼs Pear Theft«, in: Ethical Theory Moral Practice, Band 21, 2018, S. 71–89. Im Folgenden als: H.B. Schmid: »The Guise of the Bad in Augustine’s Pear Theft« (2018). (Eine überarbeitete Version des Aufsatzes findet sich in: »Das Böse an Augustinusʼ Birnendiebstahl«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Band 67, Heft 4, 2019, Berlin, S. 517–538). 242 Vgl. Gilbert: »Shared intention« (2009), S. 177.
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
Rede von einer Kollektivitätsbedingung und der kollektiven Verpflichtung ist. Diese Gleichsetzung erweckt jedoch – wie nochmals betont wird – einen falschen Eindruck: Verwendet der Sprecher nämlich den Begriff »Wir«, dann zählt er sich in aller Regel – wenigstens im weitesten Sinne – zu den Beteiligten hinzu. Spricht er demgegenüber von einem Kollektiv, kann er sich selbst hinzuzählen, muss dies jedoch nicht. An einem Beispiel: wenn ich den kollektiven Jubel in einem Fußballstadion kurz nach dem Tor des F.C. Sankt Pauli wahrnehme und darüber spreche, so muss ich weder notwendigerweise Teil dieser Fankurve sein noch notwendigerweise von diesem Jubel angesteckt werden. Ich kann über dieses Kollektiv und deren Intentionalität sprechen, ohne selbst dazu zugehören oder diese Freude nachvollziehen zu können, welche dazu führt, dass sich auf einmal – bloß weil das Runde ins Eckige gelangte – fremde Menschen (je nach Mannschaftszugehörigkeit aus Freude oder aus Kummer) in den Armen liegen. Es mag zwar vollkommen richtig sein, dass ein Kollektiv, wie hier das Kollektiv der Fans, für sich betrachtet auf einem »We-mode«, einer »Wir-Perspektive«, basiert243 – aber eben nur aus ihrer Sicht, aus ihrer Innenperspektive heraus –, welche ich selbst nicht einnehmen muss, um den kollektiven Jubel wahrzunehmen und als spezifische Intentionalitätsform kennzeichnen zu können. Prägnant: das Wir ist aus der Beobachterperspektive heraus ein Kollektiv und das Kollektiv ist aus der Teilnehmerperspektive heraus ein Wir. Daher sollte, mit Blick auf die Ausführungen des »We-mode« nach Tuomela, präziser gesagt werden: bei einem Wir besteht ein Wir-Modus – wir vertreten den Grund als unseren Grund, eine Wir-Bedingung und eine Wir-Verpflichtung. Bei einem Kollektiv besteht ein Kollektiv-Modus – sie vertreten den Grund als ihren Grund, den sie als Gruppe vertreten, eine Kollektivitätsbedingung und eine kollektive Verpflichtung. Der Unterschied zwischen der Wir- und der kollektiven Intentionalität basiert jedoch nicht nur erstens darauf, wem sie zugesprochen wird und zweitens darauf, dass das Intentionalitätsobjekt ein anderes, das heißt in anderen Worten wem die Intentionalität gilt – uns hier oder ihnen dort. Folgt man der mittlerweile etablierten Mainstream-Meinung, dann weicht drittens ebenfalls die Mindestanzahl der Beteiligten bei einem Wir und einem Kollektiv ab, denn man ist sich in der gegenwärtigen Debatte wohl darin einig, dass für ein Kollektiv mindestens drei Subjekte gegeben sein müssen. Für ein Wir jedoch, so kann ohne weiteres gesagt werden, reichen bereits zwei Beteiligte aus, etwa ist es völlig berechtigt zu sagen: »Wir – Anna und ich – waren gestern spazieren«. Folgt man zudem den Ausführungen des Philosophen Karl Mertens, dann lässt sich noch ein weiterer, vierter markanter Unterschied zwischen dem Wir und dem Kollektiv darlegen, da das »›Wir‹ [...] eine Gemeinschaft [ist], deren Mitglieder nicht beliebig auswechselbar sind«244 . Ein 243 Vgl. Tuomela: »Collective Intentionality and Group Reasons« (2008), S. 3. 244 Karl Mertens: »Plurales, kollektives und institutionelles Wollen«, in: Die Dimension des Sozialen – Neue philosophische Zugänge zu Fühlen, Wollen und Handeln, hg. v. Karl Mertens u. Jörn Müller,
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Mitgliederwechsel innerhalb des Kollektivs, wie dem Kollektiv der Fußballfans des F.C. Sankt Pauli oder dem Kollektiv der rothaarigen Frauen, macht demgegenüber für das Kollektiv selbst, wie der Gesamtheit der Fußballfans dieses spezifischen Clubs – wenigstens in den allermeisten Fällen – keinen oder nur marginalen Unterschied.245 Kurz: das Wir und das Kollektiv und damit auch ihre jeweiligen Intentionalitätsformen können und müssen voneinander differenziert werden, was in der bisherigen Debatte von kaum einem Autor dargelegt wurde.246 Das Konzept der Intentionalitätsformen nach Tuomela lässt sich, ergänzend mit den Überlegungen nach Schmid und den begrifflichen Abweichungen Gilberts, überblicksartig wie folgt zusammenfassen (Tabelle Nr. 9). Doch wie auch immer man eine Gemeinsamkeit im engen Sinne oder ihre Bedingungen im Einzelnen charakterisiert, prinzipiell haben sich wohl die drei zentralen Bedingungen nach Tuomela – die »we-mode group reason«, die »collectivity condition« und das »collective commitment« – zumindest ihrer Grundlage nach in der Forschung durchgesetzt.247
de Gruyter Verlag, Berlin/Boston, 2014, S. 227–244, hier: S. 235. Im Folgenden als: Mertens: »Plurales, kollektives und institutionelles Wollen« (2014). 245 In Aron Gurwitschs Hauptwerk Die mitmenschlichen Begegnungen in der Milieuwelt um 1931 ist – in direkter Anlehnung an Ferdinand Tönnies und Gerda Walther – die Austauschbarkeit der Mitglieder, das ist der (in aller Regel) eher als unpersönlich zu charakterisierende Bezug der Beteiligten aufeinander, ein Merkmal des gesellschaftlichen Zusammenseins, welchen er vom gemeinschaftlichen Zusammensein abgrenzt (vgl. ebd., S. 239). 246 Als einer der wenigen Ausnahmen lässt sich wohl Rainer Schützeichel anführen (vgl. Schützeichel: »Fühlen als soziales Phänomen« (2014), S. 60). 247 So schließen sich etwa Salmela und Nagatsu diesen drei Bedingungen an (vgl. Salmela u. Nagatsu: »Collective Emotions and Joint Action« (2016), S. 38). Es wurde bereits zu Beginn dieses Kapitels ein Vergleich der »I-mode«-«We-mode«-Differenzierung nach Tuomela und der Handlungstypologie nach Hans Bernhard Schmid vollzogen. Nach der detaillierten Darstellung der drei Charakteristika des »group behaviour in the We-mode« nach Tuomela – »wemode group reason«, »collectivity condition« und »collective commitment« – zeigt sich eine noch umfassendere inhaltliche Übereinstimmung beider Ansätze. Nach Schmid zeichnet sich die plurale Handlung nämlich durch folgende Kriterien aus: »Erstens das Sozialitätskriterium: Plurales Handeln verlangt mehrere Individuen. Plurales Handeln gehört insofern zur Klasse sozialen Handelns [...]. Zweitens das Pluralitätskriterium: Für plurales Handeln reicht es nicht, dass mehrere Individuen an ihrem Zustandekommen irgendwie beteiligt sind. Sie müssen dies vielmehr auf eine bestimmte Art und Weise tun. Plurales Handeln liegt nämlich nur dann vor, wenn die Beteiligten in ihrem Tun ein gemeinsames Ziel verfolgen.« H.B. Schmid: »Autonomie ohne Autarkie« (2007), S. 458 (Herv. übernommen). Damit liegt Schmids »plurale Handlung« auch der Detailbeschreibung nach recht nah am »we-mode« nach Tuomela.
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte Tabelle Nr. 9: Die Intentionalitätsformen nach Tuomela – erweiterte Darstellung Untervarianten Hauptmodi »I-mode« / »for-me-ness« Merkmale: - Die Beteiligten sind »not ›glued‹ together in the strong sense of jointness« - »they act collectively in an ›aggregative‹ but dependent sense« konkretere Charakteristika: 1. »I-mode reason« 2. »personal/private condition« 3. »personal/private commitment« »We-mode« / »for-us-ness« Merkmale: - Die Beteiligten sind »›glued‹ together in the strong sense of jointness« - aber es gibt keinen »extra agent over and above the group members« konkretere Charakteristika: 1. »we-mode group reason« 2. »collectivity condition« 3. »collective commitment« (»joint commitment« (Gilbert)) = »shared intention« (Gilbert)
»plain I-mode« /»private I-mode« - kann »selfish or altruistic« sein - um das Eigeninteresse zu erreichen, wird die Handlung »individual for herself« vollzogen. (»selfish plain/private I-mode« = »solitary intentionality« nach de Vecchi) »pro-group I-mode« / »group behaviour in the I-mode« um das Eigeninteresse zu erreichen, wird die Handlung in der Gruppe vollzogen. = »qualitativ identische individuelle Ziele«/ »singuläre Handlung« (Schmid) erfordert eine »shared readiness to act« (Gilbert) »plain / private We-mode« um das Gruppeninteresse zu erreichen, wird eine Handlung ohne die Gruppe vollzogen: ohne die Gruppe für die Gruppe. »pro-group We-mode« / »group behaviour in the Wemode« um das Gruppeninteresse zu erreichen, wird eine Handlung in der Gruppe mit der Gruppe vollzogen. = »gemeinsame Ziele« / »plurale Handlung« (Schmid)
»mutuality is not the same as jointness« Das »collective commitment« ist zudem, wie Tuomela über Gilbert hinaus darstellt, nicht einfach eine Akzeptanz bestimmter Inhalte, wie bestimmter Werte oder Ziele hinsichtlich eines spezifischen Intentionalitätsobjektes, die von einem Kollektiv vertreten und praktiziert werden, sondern detaillierter nach Tuomela eine Akzeptanz bestimmter Inhalte, welche mit ein und demselben »attitudinal mode (e.g., wanting, wishing, hoping, intending, believing, fearing) or, to use another terminology,
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with a certain direction of fit«248 vertreten und praktiziert werden. Um dies zu untermauern kann ein Beispiel des Philosophen Michael Schmitz angeführt werden: Nehmen wir an, dass zwei Personen auf einen hoch angesehenen Politiker gerichtet sind. Dabei ist Person A jedoch ein Attentäter, welcher versucht den Politiker zu erschießen, während Person B den Politiker als Bodyguard begleitet und schützt. Im Laufe der Observierung des Politikers, um im passenden Moment das Attentat vollziehen zu können, werden jedoch der Bodyguard und der Attentäter durch genaue Auffassungsgabe aufeinander aufmerksam. Beide wissen sie voneinander (»mutual knowledge«), von ihrer Gerichtetheit auf ein und dasselbe und von ihrer jeweiligen Absicht. Zwar liegt eine intentionale Übereinstimmung vor, da beide auf den Politiker gerichtet sind, aber weil unterschiedliche Intentionalitätsmodi vorliegen, werden sie sich als Feinde und nicht als Gemeinschaft auffassen.249 Oder um es kurz und knapp zu sagen: »mutuality is not the same as jointness«250 . Während Bratman argumentieren würde, dass in diesem Fall keine Gemeinsamkeit bestehe, da sich die Pläne der Beteiligten, nämlich einerseits töten und andererseits schützen, widersprechen und eben nicht ergänzend ineinandergreifen251 , belegt Tuomela dies mit dem Worten, dass sich der »attitudinal mode« der Beteiligten unterscheidet. Selbst in dem Fall, in dem die Beteiligten aufeinander und auf ein und dasselbe gerichtet sind und sogar ähnliche, aber jeweils individuelle Ziele verfolgen – wie das indivuelle Unterstellen bei einem Regenschauer (Searle) oder das individuelle Ziel, das eigene Haus vor dem Bau eines Autobahnzubringers zu retten (Schmid) – also eine »mutuality« besteht – liegt keine »jointness« vor.252
248 Tuomela: Social Ontology (2013), S. 124. 249 Vgl. Michael Schmitz: »Joint Attention and Understanding Others«, in: Synthesis Philosophica, Band 58, Heft 2, 2014, S. 235–251, hier: S. 238. Im Folgenden als: Schmitz: »Joint Attention and Understanding Others« (2014). 250 Ebd. 251 Vgl. u.a. Bratman: »Shared Valuing and Frameworks for Practical Reasoning« [2004], S. 294. 252 Handlungen dieser zweiten Art werden von William McDougall als »collective mental actions« bezeichnet: »The essential conditions of collective mental actions are […] a common object of mental activity, a common mode of feeling in regard to it, and some degree of reciprocal influence between the members of the group.« (McDougall: Group Mind (1927), S. 23). Zwar führt McDougall einerseits die Abgrenzung der »collective mental actions« zu den, man könnte in seinem Sinne sagen, »collective will actions« ein (vgl. ebd., S. 56ff.), doch bleibt im Dunkeln, weshalb andererseits doch bei ihm bereits die »collective mental actions« in starke Verbindung mit einem »collective mind« gebracht werden (vgl. ebd., S. 7). McDougall ist einerseits zumindest bezüglich der Debatte um die kollektive Intentionalität weitestgehend in Vergessenheit geraten, kann jedoch andererseits geradezu als Musterbeispiel des begrifflichen Wirrwarrs gelten: Es werden bei ihm sehr viele unterschiedliche Begriffe angeführt – wie etwa »collective mental actions«, »collective will action«, »collective consciousness«, »group consciousness«, »group mind« und »group spirit« –, welche nur unzureichend erläu-
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
Die Art und Weise der Gerichtetheit, der Intentionalitätsmodus, wird demnach von Tuomela auf doppelte Weise untersucht: Es geht erstens darum, in welcher »direction to fit« man auf das Objekt und aufeinander gerichtet ist und zweitens aus welchem Interesse heraus die betreffende Handlung vollzogen wird, aus einem Eigen- oder Gruppeninteresse heraus. Diese Präzisierung – es müssten nicht nur übereinstimmende Absichten, sondern auch übereinstimmende »directions of fit« vorliegen, wie etwa beabsichtigen, hoffen und erwarten253 –, richtet sich beispielsweise gegen Searle, welcher vertritt, dass bereits übereinstimmende Absichten für eine »collective intentionality« ausreichend seien254 – wobei sich diese Kritik, wie in Kapitel 3.3 näher gezeigt, genauer auf die schwache kollektive Intentionalität nach Searle bezieht. Um bei dem Beispiel der Fußballer zu bleiben, müsste man wohl sagen, dass die Fußballer einer Mannschaft alle gewinnen möchten, alle in ein und demselben Modus, nämlich »We-mode«, sind, in ein und derselben »direction of fit« agieren, etwa siegessicher anstatt zögerlich, und ihre Subpläne ineinandergreifen, sodass ihre Haltung nicht nur »innerlich« vertreten wird, sondern auch nach »außen hin« »präsentiert« und damit präsent ist.
Der »I-« und »We-mode« als Differenzierungsgrundlage Wie bereits dargelegt, geht es Tuomela prinzipiell nicht so sehr um die Unterscheidung der Perspektive, nämlich der Innen- oder Außenperspektive, sondern um den Modus der Beteiligten: Vertritt jeder für sich Eigeninteressen oder sind die Gruppeninteressen ausschlaggebend? Das heißt, wer auch immer die Beteiligten sein mögen – wir hier oder das Kollektiv dort drüben – ist für Tuomela weniger relevant als die Haltung der Beteiligten selbst: Entweder es liegt ein »I-« oder ein »We-mode« vor. Doch wie verhält sich diese Unterscheidung Tuomelas zu seinem gesamten Konzept der Intentionalitätsformen, das heißt zur Frage des parallelen und gemeinsamen Vollzugs? Ist diese Unterscheidung als Binnendifferenzierung, also als Differenzierung einer Intentionalitätsform oder als Differenzierung zwischen unterschiedlichen Intentionalitätsformen zu verstehen? Und mit welchen Synonymen gehen
tert und zueinander differenziert werden. Daher bleibt faktisch für den Leser unter anderem fraglich, was genau damit jeweils bezeichnet werden soll, ob diese Termini also überhaupt fruchtbar sind und eine genauere Klassifizierung ermöglichen und ob der Begriff »Kollektiv« letztlich bei ihm distributiv, das heißt für die zufällige Zusammenlegung von Individuen, oder für den gemeinsamen Fall genutzt wird. 253 Auch Gerda Walther Ausführungen um 1923 zielen wohl auf diesen Aspekt, dass in einer Einigung Menschen gegeben sind, »Menschen, die ›auch‹ so [auf diese spezifische Art und Weise] werten, ›auch‹ solche Ziele haben, ›auch‹ so fühlen, wollen, denken usw., wie das betreffende Subjekt selbst«. Walther: Ontologie d. soz. Gemeinschaften [1923], B, Kapitel 4 b), S. 69. 254 Vgl. Meijers: »Can Coll. Int. Be Individualized?« (2003), S. 175 (dt.: S. 423).
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diese Modi bei Tuomela einher? So banal diese Fragen erscheinen mag, so unbanal ist sie in Bezug auf seine Werke. Im Werk The Philosophy of Sociality (2007) verwendet Tuomela die Begrifflichkeiten »joint action« und »acting together« als Synonyme255 . Doch was ist unter einem »acting together« zu verstehen? Ist es ein »group behaviour« im allgemeinen Sinne oder muss dies spezieller als »group behaviour in the We-mode« charakterisiert werden? Im Aufsatz »We-Intentions Revisited« (2005) sieht er die Ausdrücke »collectively« und »jointly« als austauschbar an.256 Doch wie sollte die Begründung lauten, dass alles, was von einem Kollektiv vollzogen wird, automatisch als »joint« zu gelten habe? Ist dies nur dann möglich, wenn der Begriff »Kollektiv«, beispielsweise in Abgrenzung zur unverbundenen Masse, von vornherein für einen starken Gruppenzusammenhalt reserviert wird? In Social Ontology (2013) hingegen heißt es bei Tuomela, dass der »I-mode« mit der »shared intention« und der »We-mode« mit der »joint intention« gleichgesetzt werden könne.257 Aus dieser letzten Annahme folgt: die Differenzierung in »I-« und »We-mode« dient als Unterscheidung zwischen den Intentionalitätsformen, konkret der »shared« und der »joint intention«: Das »group behaviour in the We-mode« unterscheide sich vom »group behaviour in the I-mode« durch eine spezifische »intention«, die »joint intention«, welche sich durch eine Kombination der drei Charakteristika des »We-mode« – der »we-mode group reason«, der »collectivity condition« und dem »collective commitment« – ergäbe. Erst hierbei bestehe ein starker Zusammenhalt der Beteiligten, das heißt eine gemeinsame Ausführung. Eine weitere Lesart seiner Begriffe findet sich auf derselben Seite desselben Buches an folgender Bemerkung: »the members [which are in this case not in the »We-mode«, but in the »I-mode«] are not ›glued‹ together in the strong sense of jointness.«258 Dies wiederum vermittelt den Eindruck, dass es die Unterscheidung in »I-« und »We-mode« auf die Binnendifferenzierung eines spezifischen Phänomens zielt: der »jointness«, nämlich im »strong sense«, wie er bei »Wemodern« besteht, und einem schwachen Sinn, welcher bei »I-modern« vorliegt.
255 Vgl. Preyer: Rolle, Status, Erwartungen und soziale Gruppe (2012), S. 135 – dort: Fußnote Nr. 14. 256 Vgl. Tuomela: »We-Intentions Revisited« (2005), S. 349. Es ist daher auch nicht verwunderlich, warum Tuomela in »Collective Intentions and Game Theory« (2009) schreibt, dass seine Auffassung des Begriffs »joint intention« – das heißt eben in seinem Sinne nur die »full blown collective intentionality« – mit demjenigen des »collective intention« nach Natalie Gold und Robert Sudgen übereinstimmen (vgl. Raimo Heikki Tuomela: »Collective Intentions and Game Theory«, in: The Journal of Philosophy, Band 106, Heft 5, 2009, S. 292–300, hier: S. 293 – dort: Fußnote Nr. 4). Dass Tuomela diese Synonymität selbst aufzeigt, ist aufgrund der maßlos unterschiedlichen Verwendungsweisen in der gesamten Forschung durchaus als hilfreich zu deuten. 257 Vgl. Tuomela: Social Ontology (2013), S. 63. 258 Ebd.
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
Demgegenüber finden sich in eben diesem Werk aus dem Jahr 2013 auch Textpassagen, welche zugrunde legen, dass der »I-« und »We-mode« zur Binnendifferenzierung eines anderen spezifischen Phänomens diene: der Kooperation. Vertreten die Beteiligten jeweils den »I-mode«, dann ist ihre Kooperation als schwach, als »contingently cooperative« zu bezeichnen. Liegt bei ihnen vielmehr ein »We-mode« vor, dann ist ihre Kooperation, Tuomela zufolge, intrinsisch259 : »we-mode cooperation [...] may be regarded as the core sense of cooperation«260 . Wiederum andererseits findet sich bei Tuomela in »Collective Intentionality and Group Reasons« (2008) der Ansatz, dass der »I-« und »We-mode« zur Binnendifferenzierung innerhalb einer Intentionalitätsform diene: der kollektiven Intentionalität. Er spricht von einer »full-blown or ,we-modeʻ collective intentionality«261 . Dies suggeriert, dass man dagegen im »I-mode« über eine verminderte kollektive Intentionalität verfüge. Bei diesen zahlreichen Differenzierungsvarianten fragt man sich allerdings unweigerlich: Was denn nun? Handelt es sich beim »I-« und »We-mode« nach Tuomela um eine Binnendifferenzierung: als Differenzierung der verminderten und »full blown« »jointness«, der verminderten und »full blown« Kooperation oder der verminderten und »full blown« kollektiven Intentionalität? Oder ist es bei Tuomela als
259 Vgl. ebd. S. 147f., S. 149 u. S. 153. 260 Ebd. S. 147. Auch in früheren Werken Tuomelas finden sich Ausführungen zur Kooperation, allerdings stehen diese, wie an zwei Beispielen vorgeführt werden soll, teils im Spannungsverhältnis zu späteren Darstellungen: Erstens findet sich dort beispielsweise innerhalb der »joint action« die Differenzierung zwischen »(fully) cooperative and noncooperative action«. Zur Erläuterung heißt es dort: »In the former type of action, in contrast to the latter, it is in accordance with the participants’ preferences to help (assist) other members in their performances of their parts.« (Tuomela: »What Is Cooperation?« (1993), S. 90). Allerdings wird eben die »noncooperative action« in den – in dieser vorliegenden Typologie primär betrachteten – späteren Schriften als »I-mode« und damit als »shared« und nicht »joint intention« verstanden. Zweitens werden im Werk Cooperation – A philosophical Study (2000) von Tuomela die Begriffe »I-mode cooperation« und »reciprocity cooperation« gleichbedeutend verwendet, was jedoch 2005 von ihm zurückgenommen wird (vgl. Tuomela u. Tuomela: »Cooperation and trust« (2005), S. 58), da ausschließlich im »We-mode« eine wirkliche wechselseitige Bezugnahme vorliegt. Die Ansicht, dass sich in der »We-mode«-Gruppe eine spezifische Kooperation – wie auch immer man diese Kooperation genau bezeichnen mag –, findet, breitet sich ebenfalls in der gegenwärtigen Unternehmensführung aus. Etwa spricht der Ökonom Peter Spiegel, ohne sich auf Tuomelas »We-mode« zu berufen, weiter-führend – in Anlehnung an den Intelligenzquotienten IQ – von einem »We-Q«: Einem Wir-Quotienten, genauer: einer Wir-Qualität. Die Gruppe verfügt aufgrund ihres kooperativen Verhaltens, dem Teilen von Wissen und Praktiken im weitesten Sinne, über eine höhere Intelligenz, über weitreichendere Qualitäten und Fähigkeiten als der Einzelne und diese Gruppenintelligenz gelte es (unternehmerisch) effektiv zu nutzen (vgl. Peter Spiegel: WeQ – More then IQ – Abschied von der Ich-Kultur, oekom Verlag, München, 2015). 261 Vgl. (i) Tuomela: »Collective Intentionality and Group Reasons« (2008), S. 3. (ii) Tuomela: »Account of Group Knowledge« (2011), S. 77.
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Differenzierung zwischen den Intentionalitätsformen angelegt, wie zwischen der »shared« und »joint intention«? Doch anstatt zu sagen, dass dabei ein Widerspruch vorliegt, scheint Tuomela vielmehr eher zu vertreten: es gilt alles gleichzeitig.262 Nach seinen Überlegungen ist »joint intention« eben nichts Anderes als eine starke Form der Gemeinsamkeit (der »jointness«), eine starke Form der Kooperation, eine starke kollektive Intentionalität – was in seiner Terminologie kurz und knapp als »Wemode« gekennzeichnet wird. Als Beispiele hierfür können, um noch einmal den weiten Vergleichsbogen zu ziehen, exemplarisch folgende Fälle angeführt werden: Es handelt sich um einen gemeinsamen Spaziergang (Gilbert), einen gemeinsamen Kinobesuch (de Vecchi) oder um eine Fußballmannschaft, die im engen Sinne ein Team ist. Die »shared intention« ist nichts Anderes als eine schwache Form der Gemeinsamkeit, eine schwache Form der Kooperation, eine schwache kollektive Intentionalität – kurz: ein »I-mode«. Dies ist beispielsweise der Fall bei einem parallelen nebeneinander Hergehen (Gilbert), wenn du und ich – aber nicht wir gemeinsam – ins Kino gehen (de Vecchi), bei ruhmsüchtigen Fußballspielern oder wenn alle Beteiligten nur für den Erhalt ihres eigenen Hauses demonstrieren (Schmid). Der Vergleich der bisherigen behandelten Hauptautoren lässt nun folgendes Bild zu: Husserl und de Vecchi gehen von verschiedenen Bezugsakten aus (verstehend, kommunikativ und sozial) und erfassen die Bezugsrichtung der Beteiligten (ein –, gegen- und wechselseitig), was bei ihnen in der »Konstitution einer gemeinsamen Welt«263 beziehungsweise einer »shared intentionality in a very strong sense of the term ›sharing‹«264 mündet. H.B. Schmid ist in seiner Handlungstypologie darauf fokussiert, welche Art von Zielen verfolgt werden (identische individuelle oder gemeinsame Ziele). Nach Tuomela konstituiert sich je nach Bezugsmodus (»I-« oder »We-mode«) eine geteilte (»shared«) oder gemeinsame (»joint«) Welt: Seine Bezeichnungen variieren dahingehend, ob man primär die Absicht (»shared« oder »joint intention«), die tatsächlich ausgeführte Handlungsweise (Koordination oder Kooperation) oder die Grundhaltung (»I-« oder »We-mode«) in den Vordergrund stellt. In Analogie hierzu, kann wohl auch Schelers Gefühlstypologie – die bei ihm in die Klassifizierung verschiedenen gesellschaftlichen Konstrukte, wie der Gemeinschaft und der Masse, führt – als Versuch gelesen werden parallele und gemeinsamen Gefühle phänomenal zu unterscheiden: Bei einer Einfühlung handelt es sich um ein Gefühl, bei welchem eine »Abgrenzung« zum Anderen besteht: Fühle ich mich in den Schmerz des Anderen ein, so ist es dennoch sein Schmerz. Bei einer Gefühlsansteckung hingegen empfinden ich und der Andere ein Gefühl, das jedoch auch 262 Vgl. Tuomela: Social Ontology (2013), S. 147f. 263 Husserl: Beilage XLVIII: »Verrücktwerden und Tod« (um 1915) (Hua. XIII), S. 398f. 264 de Vecchi: »Coll. vs. intersubjective and social int.« (2011), S. 72 (Herv. selbst vorgenommen).
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
ohne dezidierten persönlichen Kontakt der Beteiligten möglich ist, etwa in dem man in einer Kneipe von der fröhlichen Stimmung Anderer angesteckt wird265 . In beiden Fällen – der Einfühlung und Gefühlsansteckung – bestehen demnach eher die Gefühle der Beteiligten parallel nebeneinander. Der Andere ist hierbei, wie Max Adler schreibt, ein bloßer »Nebenmensch«266 im räumlichen Sinne. Demgegenüber besteht bei einem Miteinanderfühlen, wie der gemeinsamen Trauer der Eltern um das verstorbene Kind267 , für Scheler eine Gemeinschaft268 . Die Beteiligten fühlen ein und dasselbe und ihr gemeinsames Gefühl speist sich auch aus dem persönlichen Kontakt zueinander und dem familiären Hintergrundwissen.269 Vgl. Scheler: Wesen u. Formen d. Sympathie [1923], Teil A, II, S. 26ff. Vgl. Adler: Rätsel der Gesellschaft [1936], u.a. S. 6, S. 90 u. S. 112. Vgl. Scheler: Wesen u. Formen d. Sympathie [1923], Teil A, II, S. 23f. In Ansätzen ist dies bei Scheler bereits in den Werken Theorie der Sympathiegefühle ([1913], S. 8) und Wesen und Formen der Sympathie ([1923], S. 23) zu finden. Ausgeführt wird die Idee, dass spezifische Gefühle in spezifischen Gesellschaftsformen prägend sind vor allem in dessen Werk Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, genauer unter der Sechsten Abhandlung unter der Überschrift »Einzelperson und Gesamtperson«. Vgl. auch (i) Schloßberger: »Sympathie/Formalismus« (2013), S. 302. (ii) Krebs: Zwischen Ich u. Du (2015), S. 124. 269 Vgl. (i) Das Phänomen, dass die Beteiligten wechselseitig voneinander wissen, dass sie in ein und derselben Weise auf ein und dasselbe gerichtet sind, wodurch sich ein Gemeinschaftsgefühl entwickelt, belegt Adam Smith in The Theory of Moral Sentiments (1759) mit dem Begriff »fellow feeling«: durch das Gefühl zum Anderen ändert sich dessen Status: er wird zum »fellow« (vgl. Schützeichel: »Fühlen als soziales Phänomen« (2014), S. 42). (ii) Als wohl umfassendstes Gefühl kann die wechselseitige Liebe gelten, bei welcher die Beteiligten »nicht nebeneinander und miteinander, sondern ineinander« leben (Husserl: Text Nr. 9: »Gemeingeist I« (1921) (Hua. XIV), § 5, S. 174). Dieser Zusammenhalt wirkt »[t]iefer als die Vergemeinschaftung durch [den] kollektiven Willen« (Caminada: »Husserls intentionale Soziologie« (2011), S. 72). Kurz: je »tiefgreifender« das wechselseitige Gefühl, desto wahrscheinlicher ist wohl auch der »tiefgreifende« Zusammenhalt. (iii) Auch wenn man im umgangssprachlichen Sinne viele verschiedene Gefühle teilen kann – Einfühlung, Mitgefühl, Gefühlsansteckung und Einsfühlung –, so muss doch genauer differenziert werden, bei welchen Gefühlen tatsächlich ein Teilen im engen Sinne vorliegt, weil es vielmehr ein Gefühl ist: »The notion of ›shared emotion‹ is ambiguous. On the one hand, sharing of emotion refers to a phenomenon in which one person’s expressed emotion is perceived by another person. […] On the other hand, the notion of sharing refers to several individual experiencing an emotion of the same type and content, such as celebrating the success of their favourite team with other fans, with mutual awareness of their respective emotional state«. Salmela u. Nagatsu: »Collective Emotions and Joint Action« (2016), S. 35f. (iv) Wird die Differenzierung der Gefühlsphänomene Schelers mit Tuomelas Differenzierung des »I-« und »We-modes« verglichen, das heißt ob das Gefühl oder der Mode eher als individuell, parallel (schwaches Teilen (shared)) oder gemeinsam (starkes Teilen (joint)) erlebt wird, dann könnte man sagen, dass eben bereits das Mitgefühl ein geteiltes Gefühl ist. Getreu dem Motto: das Leid, das Person A gegenwärtig und Person B durch Mitleid vergegenwärtigt wird, ist ein geteiltes Leid – vielleicht sogar im »wörtlichen« Sinne geteilt, da es durch die Mitteilung zum »halben« Leid werden kann. Wird Schelers Unterscheidung der Gefühle auf diese Weise verstanden, so ist bereits das Mitfühlen – und nicht
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Der Einbezug von Schelers Ansatz bringt zutage, dass beide explizieren, dass sich aus einem spezifischen Bezug der Beteiligten aufeinander – sei es durch spezifische Gefühle wie bei Scheler oder durch spezifische (Handlungs-)Modi wie bei Tuomela – ein spezifischer Gruppenzusammenhalt ergibt, welcher sich, folgt man Scheler, jeweils in spezifischen Gesellschaftsformen niederschlägt. Während aber Scheler die Phänomene strikt trennt, besteht bei Tuomela eine Binnendifferenzierung der kollektiven Intentionalität: Es gibt eine »full blown collective intentionality« und, wie hieraus geschlussfolgert werden kann, auch etwas, das als »not full blown collective intentionality« zu klassifizieren ist. Nach Tuomela müsste demnach an einem Beispiel sowohl die Trauer der Eltern um das eigene Kind als auch der Jubel von 20.000 Fans im Fußballstadion als kollektive Intentionalität gelten. Denn: völlig unabhängig davon, ob man dazu tendiert die Trauer der Eltern als »We-« oder »I-mode« zu deuten, das heißt, ob sie gemeinsam oder viel eher parallel nebeneinander weinen, oder den Jubel der Fans als eine Einheit oder als jeweils individuelle Freude betrachtet, es ist nach Tuomela stets eine Form der kollektiven Intentionalität – eine »full blown« oder schwache Form, eine »joint« oder »shared intention«. Unter anderem ist dabei hinterfragbar, ob Mutter und Vater für sich betrachtet bereits ein Kollektiv bilden, das heißt hier kann wiedermals die Frage aufgeworfen werden, ob zwei Beteiligte ausreichend sind, um gerechtfertigt den Begriff »Kollektiv« zu verwenden, oder ob dieser nicht erst ab mindestens drei Subjekten oder sogar erst ab einer Masse, wie jene der Fußballfans, angewendet werden sollte. Zusammenfassend kann zum Konzept der Intentionalitätsformen nach Tuomela bisher gesagt werden, dass in seinem Ansatz die Differenzierung des »I-« und »We-mode« zentral ist. Beide Modi treten bei Handlungen auf, die entweder allein, isoliert von Anderen oder in der Gruppe mit Anderen vollzogen werden (»plain I-mode« und in Anlehnung hierzu »plain We-mode« beziehungsweise »progroup I-mode« und »group behaviour in the We-mode«). Der »We-mode« zeichnet sich nach Tuomela durch drei Kernmerkmale aus: die »we-mode group reason«, die »collectivity condition« und das »collective commitment«. Die Unterscheidung der Modi dient bei ihm als Hervorhebung einer spezifischen Absicht (»shared« oder »joint intention«) oder einer spezifischen Handlungsweise (Koordination oder Kooperation). Bei der Darstellung seiner Konzeption wurde mit Referenz erst das Miteinanderfühlen, wie es Thomas Szanto und Angelika Krebs auslegen – ein geteiltes beziehungsweise kollektives Gefühl und das Miteinanderfühlen ein gemeinsames Gefühl. Vgl. (i) Thomas Szanto: »Soziologie – Phänomenologie im Kontext der Sozialphilosophie und Soziologie«, in: Husserl-Handbuch – Leben-Werk-Wirkung, hg. v. Sebastian Luft u. Maren Wehrle, Metzler Verlag, Stuttgart, 2017, S. 348–354, hier: S. 348. (ii) Krebs: Zwischen Ich u. Du (2015), S. 112ff. Besonders deutlich wird diese begriffliche Verwendung bei Krebs in ihrer Abbildung 3 (ebd., S. 122f.), in welchem sie das Miteinanderfühlen der trauernden Eltern als »geteiltes Elterntrauern« bezeichnet.
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
auf Gilbert betont, dass sich die Begriffsverwendungen auch innerhalb einer Strömung erheblich voneinander unterscheiden können. Zudem wurde, in aller Kürze, der Ansatz nach Tuomela mit jenen Husserls, de Vecchis, Schelers und Schmids verglichen, welche alle – um es auf eine Kernaussage zu reduzieren – auf eine Abgrenzung des parallelen und gemeinsamen Vollzugs hinauslaufen. Sie fokussieren dabei die Bezugsrichtung (de Vecchi), den Bezugsakt (Husserl) oder den Bezugsmodus (Tuomela) und etablieren eine Typologie von Gesellschaftsformen auf Basis der verschiedenen Gefühlsphänomene (Scheler) oder eine Typologie von Handlungen aufgrund der Handlungsziele (Schmid). Der Ansatz Tuomelas sei hier, unter Einbezug einzelner anderer Ansätze, mittels Tabelle Nr. 10 kompakt dargelegt. Tabelle Nr. 10: Weitere Ergänzungen der Intentionalitätsformkonzeption nach Tuomela (Fortsetzung auf der nächsten Seite) Bezeichnung
Für welches Phänomen? Merkmale und Beispiele
»I-mode«
Merkmale nach Tuomela: - Die Beteiligten sind »not ›glued‹ together in the strong sense of jointness«. - »they act collectively in an ›aggregative‹ but dependent sense«, das heißt sie handeln nur »contingently cooperative«. - »qualitativ identische individuelle Ziele«/ »singuläre Handlung« (Schmid) - gegenseitiger Bezug der Beteiligten aufeinander (de Vecchi) - zeigt sich nach Scheler in Gefühlsphänomenen, wie der Einfühlung oder dem Mitgefühl, da hierbei die Bewusstseinsströme, und damit auch die Erlebnisse, der Beteiligten weitgehend voneinander getrennt sind - der Andere ist ein »Nebenmensch« (Adler) »shared readiness to act« (Gilbert) Beispiele: - Es bestehen elf Einzelspieler auf dem Platz. - Die Siedlungsbewohner setzen sich jeweils für ihr eigenes Haus ein.
= »shared intention« = »not full blown collective intentionality« Tuomela beschreibt hiermit, so suggerieren es zumindest seine Beispiele, nur menschliche Intentionalitätsformen
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»We-mode« = »joint intention« = »full blown collective intentionality« (»shared intention« (Gilbert)) (»joint action by a team« (Cohen u. Levesque)) Tuomela beschreibt hiermit, so suggerieren es zumindest seine Beispiele, nur menschliche Intentionalitätsformen
Merkmale nach Tuomela: - Es gibt kein »extra agent over and above the group members«. - Die Beteiligten handeln »intrinsically cooperative«, das heißt es liegt ein »core sense of cooperation« vor. Charakteristika: - »we-mode group reason« - »collectivity condition« - »collective commitment« - »gemeinsame Ziele«/»plurale Handlung« (Schmid) - wechselseitiger Bezug der Beteiligten aufeinander (de Vecchi) - zeigt sich nach Scheler in Gefühlsphänomenen, wie der Einsfühlung oder dem Miteinanderfühlen, da hierbei die Beteiligten »ein und dasselbe« fühlen (man hat es mit einem »indifferenten Bewusstseinsstrom« zu tun) - der Andere ist ein Mitmensch (Adler) Beispiele: - Die elf Spieler bilden ein Team. - Die Siedlungsbewohner setzen sich für alle Häuser ein. - Wir gehen gemeinsam ins Kino.
Für eine »tiefgreifende« tatsächliche und nicht nur geglaubte Intentionalitätsform müssen die Beteiligten demnach spezifische kognitive Fähigkeiten besitzen (Kapitel 2.1), real existieren und real in Korrelation zueinander stehen (Kapitel 2.2), ihre Bezugsrichtung ist wechselseitig und ihr Bezugsakt kommunikativ, genauer gesagt: sozial und sie verstehen sich als Partner (Kapitel 3.1), sie agieren »für uns« (Husserl), also im »We-mode« (Tuomela) und verfolgen gemeinsame – das heißt nicht identische individuelle – Ziele (Schmid), wobei die Beteiligten Miteinanderfühlen (Scheler) (Kapitel 3.2). Kurz gefasst: Es sind Phänomene, bei welchen die Beteiligten in ein und derselben Weise auf ein und dasselbe gerichtet sind. Im Folgenden wird gezeigt, dass eine hohe begriffliche Varianz auch bei der Frage vorliegt, wie der Sammelbegriff lauten sollte, welcher entweder alle Phänomene des Nebeneinanders, alle Phänomene des Miteinanders im engen Sinne oder sogar beide Phänomenarten umfasst.
Die Frage nach dem Oberbegriff Hans Bernhard Schmid äußert sich gegen den Begriff »kollektive Intentionalität« als allumfassende Bezeichnung, wie er bei Searle und auch Tuomela angelegt ist. Schmids Argumentation hierfür lautet um 2009 wie folgt: Die kollektive Intentio-
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
nalität suggeriere durch ihren lateinischen Ursprung »col-ligere«, das ist ansammeln, eher eine bloße »›Zusammenlegung‹ (con-lectio) von Individuen«270 , welche ja gerade durch die Position des Nichtreduktionismus und dem Phänomen des Nebeneinanders vermieden werden solle. Das durchaus angebrachte und diskussionswürdige Kernproblem, auf das Schmid verweist, lässt sich wie folgt veranschaulichen: Eine Fußballmannschaft im engen Sinne ist eben eine Gemeinschaft und nicht lediglich eine Ansammlung von elf Spielern auf dem Platz. Sie haben in Schmids Terminologie nicht zahlreiche individuell identische Ziele, sondern eine gemeinsame Absicht, weshalb er letztlich für dieses spezifische Phänomen den Ausdruck »gemeinsame Intentionalität«271 favorisiert anstatt von kollektiver Intentionalität zu sprechen.272 Ihm zufolge sollten alle Intentionalitätsformen mit mehreren Beteiligten und einem gemeinsamen Intentionalitätsobjekt und Intentionalitätsmodus – wobei eine »plurale Handlung«273 vorliegt – als gemeinsame Intentionalität bezeichnet werden.274 Er knüpft damit wohl genau an das an, was bei Tuomela unter einem »group behaviour in the We-mode« und bei Husserl als »Konstitution einer gemeinsamen Welt« gefasst wird. Die Bezeichnung »gemeinsame Intentionalität«, so kann Schmid gelesen werden, ist für den starken Zusammenhalt der Beteiligten reserviert, wenn beispielsweise eine Mannschaft tatsächlich als Mannschaft auftritt. Folgt man Schmids Darlegung der Begriffsetymologie, dann können nur jene Situationen – aber eben nur jene –, wie das koordinative, aber 270 H.B. Schmid: Wir-Intentionalität (2005), S. 240f. 271 Vgl. ebd. 272 Es besteht also die Position: die Bezeichnung »gemeinsame Intentionalität« als Sammelbegriff für jegliches Verhalten ist unabhängig davon, ob es sich um ein aus Eigen- oder Gruppeninteresse geleitetes Verhalten handelt. Diese Deutung kann aus Sätzen folgender Art geschlussfolgert werden: »Unser Dasein bewegt sich [...] in Zwischengraden der Gemeinsamkeit. Und Einzelheit bzw. Allgemeinheit, individuelles Eigeninteresse bzw. Pflicht, Rationalität bzw. Vernunft sind nur als die Eckpunkte, die Extreme im Spektrum des Miteinanderseins zu verstehen.« Ebd., S. 406f. (Herv. selbst vorgenommen) 273 Vgl. (i) H.B. Schmid: »Autonomie ohne Autarkie« (2007), S. 458f. (ii) H.B. Schmid: Plural Action (2009), S. xiv. 274 Wobei wohl auch Schmid letztlich für die »plurale Handlung« die Bezeichnung »joint action« verwendet: »It is true that joint actions require each participant to act; but they also require all of them to act together in such a way that it is not just a plurality of actions [e.g. the goalkeeper will inhibit the goal and striker will reach a goal], but one token action [plural action] which they jointly perform.« H.B. Schmid: »The Guise of the Bad in Augustine’s Pear Theft« (2018), S. 82f. (Herv. teils übernommen, teils selbst vorgenommen). Schmid hält, so wurde gesagt, aufgrund des lateinischen Wortursprungs, die Bezeichnung »kollektive Intentionalität« für unangemessen und spricht viel eher von der »gemeinsamen Intentionalität«. Dabei hat man zumindest bei ihm den Eindruck als gehe damit die englische Bezeichnung »shared intentionality« einher: »Collective Intentionality is a relatively new name for a basic social fact: the sharing of such attitudes as intentions, beliefs and emotions.« H.B. Schmid: Plural Action (2009), hier: Klappentext (Herv. selbst vorgenommen).
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nicht kooperative zu- und miteinander Agieren von Fußballspielern, als »kollektive Intentionalität« betitelt werden. Es ist ein solcher Fall, in welchem bei den Beteiligten entweder verschiedene oder qualitativ identische individuelle Ziele vorliegen (»singuläre Handlung«275 (Schmid) beziehungsweise »I-mode«, »shared intention«, »not full blown collective intentionality« (Tuomela)). Prinzipiell lassen sich also alle Situationen wie folgt fassen: entweder liegt eine bloße »Zusammenlegung von Individuen« vor, welche man der lateinischen Herkunft nach als »kollektive Intentionalität« fassen könnte, oder es besteht eine gemeinsame Intentionalität. Doch eine derartig strikte Differenzierung, welche als solche bereits problematisch ist276 , wird auch bei Schmid selbst nicht terminologisch eingehalten, wie hier an zwei längeren Textpassagen gezeigt werden soll. Erstens kann als Beleg für die terminologische Inkohärenz bei Schmid die Einleitung seines Werkes Wir-Intentionalität (2005), welche mit folgendem Absatz beginnt, angeführt werden: »Wer ›wir‹ sagt, bezieht sich im Normalfall auf sich selbst und andere. Dieser Bezug kann in zwei verschiedenen Grundbedeutungen geschehen: entweder in einem distributiven oder in einem kollektiven Sinn. Mit dem Satz ›wir haben in einem Unterstand Schutz vor dem Regen gesucht‹ kann man sich auf eine zufällige und anonyme Ansammlung von Individuen auf der Straße beziehen. Gemeint ist dann, daß jede und jeder für sich – individuell – im Unterstand Schutz vor dem Regen gesucht hat. ›Wir‹ ist dann distributiv gemeint. Eine andere Bedeutung kommt
275 Vgl. (i) H. B. Schmid: »Autonomie ohne Autarkie« (2007), S. 458f. (ii) H. B. Schmid: Plural Action (2009), S. xiv. 276 Hans Bernhard Schmid führt 2013 aus, dass auch Sonderfälle möglich sind, wie er mit der Beschreibung des gleichzeitig vollzogenen, aber dennoch parallelen Weinens von Achilles und Priamos als ein »seltsam ungemeinsame[s] gemeinsame[s] Trauern« veranschaulicht (vgl. H.B. Schmid: »Mitleid ohne Einfühlung« (2013), S. 473 (Herv. selbst vorgenommen)). Eine Beschreibung von »ungemeinsamer Gemeinsamkeit« findet sich 2015 ebenfalls bei de Vecchi, welche die Differenzierung zwischen dem »I-« und »We-mode« des Sprachanalytikers Tuomelas an Schelers Differenzierung der Gefühlsphänomene anwendet: Das Miteinanderfühlen (collective feeling) sei im »We-mode« und das Mitfühlen (co-feeling) im »I-mode« gegeben (vgl. de Vecchi: »Plural Subject Approach« (2015), S. 93f.). Die Gefühlsansteckung (contagion) sei hingegen besonderer Art, da hier ein »pseudo-we-mode« vorliege: »contagion [...] is a pseudo collective sharing [...] there is the creation of a pseudo-we, in which individuals are merged one in the other and the individuals’ identities are not preserved, as instead it is the case in the genuine collective feeling.« Ebd., S. 94. Ebenso mit Referenz auf die Gefühlsphänomene Schelers, hier genauer dem Beispiel der trauernden Eltern, beschreibt Rainer Schützeichel das Mitleid des Freundes C mit den Eltern A und B – das heißt eine Emotion, die lediglich in Bezug auf die Emotionen Anderer vorliegt – als »basale Form kollektiver Intentionalität, die man als [...] eine anonym fungierende oder als eine »Man-Intentionalität« begreifen könnte.« Schützeichel: »Fühlen als soziales Phänomen« (2014), S. 60.
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
hingegen ins Spiel, wenn man sich mit demselben Satz etwa auf eine Wandergruppe bezieht, als deren Mitglied man sich sieht. Gemeint ist dann nicht, daß jedes einzelne Individuum je für sich im Unterstand Schutz vor dem Regen gesucht hat, sondern daß wir dies gemeinsam getan haben. […][Kurz:] Mit ›wir‹ kann sich die Sprecherin oder der Sprecher distributiv auf ein beliebiges Aggregat von Individuen (eine Ansammlung, eine Menge) beziehen, dem sie oder er sich zurechnet, oder aber kollektiv auf eine Gruppe, als deren Mitglied sie oder er sich versteht.«277 Zweifellos ist es zu unterscheiden, ob das Phänomen – welcher Art auch immer: des Denkens, des Handelns oder des Fühlens – individuell als Teil einer bloßen Ansammlung oder als »We-mode«-Mitglied einer Gruppe vollzogen wird. Irritierend ist an diesem Textauszug ist allerdings – im Hintergrund dessen, das Schmid an die lateinische Herkunft des Begriffs »Kollektiv« erinnert –, dass er hier diesen gerade nicht für die parallele Ansammlung von Individuen, sondern vielmehr für das Miteinander verwendet. Die Bezeichnung »Kollektiv« wird also – ganz entgegengesetzt zu seinem wörtlichen quantitativen Ursprung – qualitativ angewendet. Zweitens bezeichnet Schmid folgende Situation, die primär nebeneinander oder sogar gegeneinander stattfindet, recht offensichtlich als gemeinsame: »Oft hat das gemeinsame Tun, in dem das Miteinanderbekanntsein gründet, ein anderes Ziel als das Sichkennenlernen. Vielleicht ist es sogar ein Tun, in dem das Gemeinsame daran nicht einmal im Vordergrund steht. Vielleicht kennen wir uns einfach davon, dass wir uns seit Monaten immer wieder im Lift begegnen, weil wir im gleichen Gebäude arbeiten – auch das gemeinsame Liftfahren ist ein gemeinsames Tun, sowie es von der gemeinsamen Absicht getragen ist, dass wir dabei möglichst gut aneinander vorbeikommen – was sich etwa in einem Verhalten äußert, das uns beiden in der Kabine gut Platz lässt. […] Oder wir kennen uns vielleicht daher, dass wir im gleichen Team spielen. Vielleicht haben wir uns dabei nie wechselseitig vorgestellt und auch das meiste, was wir voneinander wissen, aus anderen Quellen erfahren. Aber soweit wir zusammen gespielt haben, kennen wir uns doch durchaus persönlich – selbst wenn wir in gegnerischen Teams spielen, denn auch gegeneinander spielen ist etwas, was wir gemeinsam tun.«278
277 H.B. Schmid: Wir-Intentionalität (2005), S. 15 (Herv. teils übernommen, teils selbst vorgenommen). Vgl. Hans Bernhard Schmid: Moralische Integrität – Kritik eines Konstrukts, Suhrkamp Verlag, Berlin, 1. Auflage 2011, S. 215f. Im Folgenden als: H.B. Schmid: Moralische Integrität (2011). 278 Hans Bernhard Schmid: »Wie wir wissen, dass wir uns kennen – Plurales Selbstbewusstsein, gemeinsames Erinnern und die Funktion des Symbols«, in: Zeitschrift für Kultur- und Kollektivwissenschaft, transcript, 2019, Band 5, Heft 2, S. 43–56, hier: S. 46 (Herv. selbst vorgenommen). In Moralische Integrität (2011) heißt es in ganz ähnlicher Weise: »Das Spiel zu Ende zu spielen beabsichtigen beide Parteien gemeinsam, auch wenn jede der Parteien je für
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Formen kollektiver Intentionalität
Wird allerdings, wie man Schmid an dieser Stelle deuten kann, die Bezeichnung »gemeinsame Intentionalität« als Sammelbezeichnung für jegliche Intentionalitätsformen genutzt, da hierbei jeder vorwiegend nur auf seinen individuellen Platz im Lift oder den Sieg der eigenen Mannschaft bedacht ist, es sich aber um ein gemeinsames Liftfahren oder gemeinsames Fußballspielen handeln soll, dann ergibt sich damit eine Problematik: Denn aus der Absicht Schmids, dass der Begriff »kollektive Intentionalität« nicht für den Fall des »tiefgreifenden« Zusammenhaltes der Gemeinschaft geeignet wird, schlägt nun das Pendel in die entgegengesetzte Richtung zu weit aus: Um dem Begriff zu entgegen, der mit einer schlichten »Zusammenlegung von Individuen« in Verbindung gebracht werden kann (kollektive Intentionalität), wählt Schmid eine Bezeichnung, welche die Assoziation hervorruft, dass stets eine Gemeinsamkeit, ein »We-mode«-Zusammenhalt der Beteiligten vorliege, nämlich die Terminologie »gemeinsame Intentionalität«. Die Sammelbezeichnung wird nach Schmid, so die eben genannte Textpassage, durch eine andere ersetzt: gemeinsame statt kollektive Intentionalität. Einerseits knüpft Schmid damit wohl an Husserl an, welcher von der »Konstitution einer gemeinsamen Welt«279 ausgeht. Andererseits wird mit der »gemeinsamen Intentionalität« als umfassende Bezeichnung gerade jener qualitative Unterschied heruntergespielt, den auch Schmid selbst hervorheben möchte. Denn als »gemeinsam« wird nun, ganz in der Tradition des phänomenologischen Begriffs des Miteinanders, alles beschrieben, was im schwachen oder starken Sinne mit einem oder mehreren Anderen geschieht. Kurz gefasst gilt jedoch Schmid zufolge, dass erstens der Begriff »Kollektiv« als solcher auf eine »zufällige und anonyme Ansammlung von Individuen« hinweise und die kollektive Intentionalität, seiner Ansicht nach, daher zweitens nicht für einen Zusammenhalt im engen Sinne verwendet werden dürfe. Drittens könne der Begriff »kollektive Intentionalität« nicht in eine schwache und starke Variante unterschieden werden – wie es bei Tuomela und, wie später in Kapitel 3.3 gezeigt wird, auch bei Searle der Fall ist –, denn es liegt, nach Schmid, entweder eine bloße »Zusammenlegung von Individuen«, ein Kollektiv oder eine Gemeinsamkeit vor. Während bei Tuomela und Searle der Begriff »kollektive Intentionalität« für jeglichen Zusammenhalt der Beteiligten verwendet wird – wobei genauer zwischen einer starken und schwachen kollektiven Intentionalität differenziert wird (»not full blown« und »full blown collective intentionality«) –, vertritt Schmid, wie de Vecchi, dass es sich bei der kollektiven Intentionalität um ein spezifisches Phänomen handelt. Allerdings weicht bei Schmid und de Vecchi voneinander ab, welches
sich selbst wünscht den Sieg davonzutragen.« H.B. Schmid: Moralische Integrität (2011), S. 223 (Herv. übernommen). 279 Vgl. Husserl: Text Nr. 58: »Konstitution einer gemeinsamen Welt« (1930-1931) (Hua. XXXIX), S. 668–672.
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
spezifische Phänomen diese Bezeichnung tragen sollte: Schmid hebt hervor, dass »colligere« eine bloße parallele Ansammlung von Beteiligten beschreibt, dass also die Terminologie »kollektive Intentionalität« auf ein Nebeneinander referiert, während er sich jedoch gleichzeitig für die begriffliche Unterscheidung zwischen »distributiv« als Kennzeichnung der aggregativen Zusammensetzung und »kollektiv« für die Mitglieder im engen Sinne stark macht. De Vecchi hingegen nutzt die Bezeichnung »kollektive Intentionalität« ausschließlich für die »tiefgreifendste« Intentionalitätsform, die »shared intentionality in the very strong sense of the term ›sharing‹«. Doch welche Intentionalitätsform liegt vor, wenn mehrere Personen auf ein und dasselbe gerichtet sind ohne dass etwas Konkretes über ihren Intentionalitätsmodus ausgesagt wird oder werden kann? Beispielhaft können hierfür die Beschreibungen Gerda Walthers und Martin Heideggers zum Genießen eines Bergpanoramas zweier Wanderer280 , oder das Hingerissensein von einer Theateraufführung, wie es Jean-Paul Sartre schildert281 , angeführt werden. Wie ist es, wenn nicht entschieden werden kann, ob sie parallel oder gemeinsam, ob sie individuell identische oder gemeinsame Erlebnisse haben? Es ist – wohl etwas vage formuliert – eine Intentionalität, welche über die individuelle Intentionalität hinaus geht, weshalb Christian Thies diese als »supra-individuelle Intentionalität«282 bezeichnet. Es ist eine Intentionalität, welche zwischen den Beteiligten zu verorten ist, weshalb Ernst Wolfgang Orth um 1993283 und Hans Bernhard Schmid um 2009284 den Begriff 280 Vgl. (i) Walther: Ontologie d. soz. Gemeinschaften [1923], S. 75. (ii) Heidegger: Einleitung Philosophie [1928], S. 86. 281 Vgl. Sartre: Das Sein und das Nichts [1943], S. 721. 282 Vgl. Thies: »Tomasello u. die philosophische Anthropologie« (2017), S. 115. 283 Vgl. Ernst Wolfgang Orth: »Interkulturalität und Inter-Intentionalität. Zu Husserls Ethos der Erneuerung in seinen japanischen Kaizo-Artikeln«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Band 47, Heft 3, 1993, S. 333–351. Im Folgenden als: Orth: »Interkulturalität und InterIntentionalität« (1993). (i) »[S]ich recht verstehende Subjektivität ist Intersubjektivität. Statt von Intersubjektivität sollte man besser von Inter-Intentionalität sprechen – eben weil personale Subjektivität [...][mit dessen Intentionalitätsstrom] stets auch mögliche andere Subjektivitäten [...] impliziert.« Ebd., S. 342f. (ii) »War es nicht Husserl, der [...] erkannt hatte, daß Intentionalität konkrete Inter-Intentionalität bedeutet! Demgemäß ist das, was wir Intentionalität nennen, eine Form von Inter-Intentionalität. Solche Inter-Intentionalität bedeutet aber auch, daß jedwedes Subjekt, jedweder Mensch und jedes historisch vergesellschaftete Menschentum eine je eigentümliche Kristallisation oder Konfiguration von Intentionalitäten manifestiert«. Ebd., S. 350. 284 Vgl. H.B. Schmid: Plural Action (2009), S. 169. Weitere Begriffe, welche auf ihre Extension oder Deckungsgleichheit überprüft werden könnten, wären etwa die Bezeichnungen »Transintentionalität« (Schimank) oder das Verhältnis zur »(proto-kollektiven oder pro-sozialen) Normativität von […] Intentionalität« (Szanto). Vgl. (i) Uwe Schimank: Handeln und Strukturen – Einführung in die akteurtheoretische Soziologie, Beltz Juventa, Weinheim/Basel, 1. Auflage 2000, hier: 5. Auflage 2016, hier: insbesondere Kapitel 7.1, S. 186ff. (ii) Thomas Szanto: Bewusstsein,
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Formen kollektiver Intentionalität
»Inter-Intentionalität« wählen, wobei beide jeweils kaum ausführen, dass bereits bei Husserl um 1923 die Bezeichnung »interpersonale Intentionalität«285 fiel. Allerdings bleibt bei diesen begrifflichen Vorschlägen – »supra-individuelle«, »InterIntentionalität« oder »interpersonale Intentionalität« – unklar, ab wann genau etwas über die individuelle Intentionalität hinaus beziehungsweise zwischen den Beteiligten geschieht: Liegt dabei eine Bezugnahme der Individuen (supra-individuelle beziehungsweise Inter-Intentionalität) respektive der Subjekte (intersubjektive Intentionalität) zugrunde? Oder ist dies notwendigerweise bereits spezifischer mit einer Anerkennung des (oder der) Anderen als (Rechts-)Person(en) (interpersonale Intentionalität) verbunden? Oder muss dabei doch mindestens ein sozialer Akt vorliegen (das heißt im Sinne de Vecchis: eine soziale Intentionalität)? Geht etwas bereits über das Individuum – beziehungsweise nach Husserl genauer: über die Person hinaus –, wenn ein einseitiger verstehender Akt auf einen Anderen vorliegt? Besteht dieses »Zwischen« ausschließlich in einer »Ich-Du-Beziehung«, wie Angelika Krebs mit ihrem Werk Zwischen Ich und Du (2015) andeutet? Husserl selbst würde wohl sagen, dass eine interpersonale Intentionalität, eine »Ich-Du-Beziehung« erst bei einer Gemeinschaft vorliegt.286 Er deutet zudem mit dem Begriff »interpersonale Intentionalität« an, dass diese ausschließlich bei Subjekten – noch spezifischer bei Personen – möglich ist, während man bei der »supra-individuellen« (Thies) oder der »Inter-Intentionalität« (Orth und Schmid) – ausschließlich dem Wortbestandteil »In-dividuum« nach – die Vermutung hegen könnte, es ginge um Lebewesen im umfassenden Sinne. Dass sie also auch bei Tieren, wie zwei Vögeln, die ein Nest bauen, zwei jagenden Schimpansen oder einem Mann, der mit seinem Hund Gassi geht, um Beispiele nach Searle zu nennen, besteht. Ebenso wie mit der Unterscheidung des »für mich« und »für uns« (Husserl) beziehungsweise des »I- und »We-mode« (Tuomela) die Frage, wer die Intentionalität hat, zur Frage transformiert wird, für wen die Interessen respektive wessen Interessen dabei vertreten werden, wird mit der »interpersonalen« (Husserl), der »Inter-« (Orth und Schmid) oder der »supra-individuellen Intentionalität« (Thies) ebenfalls eine Wandlung vollzogen: Nun geht es nicht darum, wer die Intentionalität hat oder wem sie gilt, sondern wo sie liegt. Die zwei gängigsten Antworten – die Intentionalität liegt über oder zwischen den Beteiligten – bergen jedoch entweder Intentionalität und mentale Repräsentation – Husserl und die analytische Philosophie des Geistes, de Gruyter Verlag, Berlin/Boston, 2012, S. 574. 285 Vgl. Husserl: »Idee eines individuellen u. Gemeinschaftslebens« (1924) (Hua. VIII), S. 197f. Im Detail lässt sich sagen, dass der Begriff »interpersonale Intentionalität« bei Husserl alle drei Hauptphänomenbereiche – Denken, Handeln und Fühlen – abdeckt, während de Vecchi vertritt, dass diese spezifische Intentionalitätsform vorwiegend als Basis bei affektiven Phänomenen vorzufinden sei. Vgl. (i) de Vecchi: »Coll. vs. intersubjective and social int.« (2011), S. 82. (ii) de Vecchi: »Three Types of Heterotropic Int.« (2014), S. 132. 286 Vgl. Husserl: »Idee eines individuellen u. Gemeinschaftslebens« (1924) (Hua. VIII), S. 197f.
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
die Assoziation einer metaphysischen Instanz oder es wird verschleiert, dass diese Intentionalität eben primär mit den Beteiligten und durch sie besteht. Diese kurze Ausführung soll genügen um zu zeigen, dass in der Forschung mehrere Sammelbegriffe für die Intentionalitätsformen mit mehreren Beteiligten bestehen: Kollektive Intentionalität (Searle und Tuomela), Inter-Intentionalität (Orth und Schmid) sowie die, in Kapitel 3.1 erläuterte, »heterotropic intentionality« (de Vecchi) (siehe Tabelle Nr. 11). Tabelle Nr. 11: Sammelbegriffe für die Intentionalitätsformen mit mehreren real existierenden Beteiligten Bezeichnung
Definition
Kollektive Intentionalität nach Searle
Alle Intentionalitätsformen mit mehr als einem Beteiligten, die aufeinander gerichtet sind.
Kollektive Intentionalität nach Tuomela
Alle Intentionalitätsformen mit mehr als einem Beteiligten, die aufeinander gerichtet sind und entweder im »I-mode« agieren: »not full blown collective intentionality« oder im »We-mode« agieren: »full blown collective intentionality«.
»Heterotropic intentionality« nach de Vecchi
Alle Intentionalitätsformen mit mehr als einem Beteiligten, die aufeinander gerichtet sind, das heißt eben genauer als Sammelbegriff für die intersubjektive, soziale und kollektive Intentionalität, das heißt für alle ein –, gegen- und wechselseitigen Bezugnahmen von Menschen auf Menschen.
Inter-Intentionalität = gemeinsame Intentionalität nach Schmid
Alle Intentionalitätsformen mit mehr als einem Beteiligten, die aufeinander gerichtet sind, und dabei ein Pluralsubjekt »Wir« zwischen den Beteiligten entsteht, das heißt die Beteiligten sind eben nicht nur zusammengesetzt (»col-ligere«).
All diesen Bezeichnungen ist jedoch immanent, dass sie entweder Wortbestandteile beinhalten, welche eine irreleitende Assoziation ermöglichen, oder undeutlich bleibt, welche Intentionalitätsformen oder Bezugnahmen der Beteiligten tatsächlich hierunter zu verorten sind. Zudem kann in all diesen Vorschlägen eine Vermischung der qualitativen und quantitativen Merkmale nachgewiesen werden: Begriffe wie »kollektive«, »Wir«, »individuelle« oder »Ich-Intentionalität« verweisen primär darauf wer die Intentionalität hat, konkret: viele oder einzelne Beteiligte beziehungsweise Lebewesen oder Subjekte. Mit der kollektiven Intentionalität sollte man jedoch, so die Argumentation des vorliegenden Versuches einer umfassenden Typologisierung, ausschließlich jene Intentionalitätsform benennen, welche auf eine große Anzahl Beteiligter hinweist, zu welchen sich der Sprecher üblicherweise nicht selbst hinzuzählt. Die Schwäche des Begriffs »kollektive Intentionalität« liegt, wie Schmid betont, darin, dass die gedankliche Verbindung zu einer bloßen Ansammlung von Individuen geweckt wird, welche keine Gemeinschaft im
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Formen kollektiver Intentionalität
engen Sinne bilden. Wird der Begriff »kollektive Intentionalität« jedoch dafür verwendet, um zu kennzeichnen, wem sie zukommt ohne damit gleichzeitig eine qualitative Dimension implizieren zu müssen, dann liegt genau darin eine Stärke: Mit der kollektiven Intentionalität können eben jene Intentionalitätsformen bezeichnet werden, welche auf eine beobachtete Gruppe zutrifft ohne zunächst kategorisieren zu müssen wie »tiefgreifend« ihr Gruppenzusammenhalt, ihr »We-mode« tatsächlich ist: Es ist schlicht die Intentionalität eines Kollektivs, sodass hierzu noch die weitere Klassifizierung kommen kann, ob sie jeweils individuell für sich (geteilte kollektive Intentionalität) oder für sich als Gruppe (gemeinsame kollektive Intentionalität) denken, handeln oder fühlen.
Der Begriff »gemeinsame Intentionalität« nach Tuomela und Schmid Um eine spezifische qualitative Dimension kenntlich zu machen, verwendet Schmid den Begriff der gemeinsamen Intentionalität, nämlich dann, wenn die Beteiligten auf ein numerisch identisches Intentionalitätsobjekt gerichtet sind287 , beispielsweise wenn sie einen Kuchen oder ein Taxi teilen. Es ist in mehrere Stücke zerteilt, wie eben Kuchenteile, oder mehreren Nutzern zugeordnet, wie ein Auto bei einem Carsharing: »In ordinary language, we share things as cars and cakes, and in these cases, ›sharing‹ seems to imply one (token) cake with many pieces, or one (token) taxi with many passengers.«288 Hierdurch hat es den Anschein als ob diese Begriffsverwendung ganz und gar ausschließlich auf Basis ein und dasselbe Intentionalitätsobjektes geschehe. Dies wäre jedoch nur die halbe Wahrheit, da Schmid ebenfalls den Intentionalitätsmodus beachtet: als gemeinsame Intentionalität fasst er, so kann mittels seiner Handlungstypologie gesagt werden, jene Intentionalität, bei welcher die Beteiligten in ein und derselben Weise auf ein und dasselbe gerichtet sind289 : Entweder es besteht ein individuelles Ziel (das ist eine singuläre Handlung beziehungsweise individuelle Intentionalität) oder ein gemeinsames Ziel (das ist eine plurale Handlung beziehungsweise gemeinsame Intentionalität)290 . Diese Auslegung nach Schmid hat, wie sich 287 Vgl. (i) Hans Bernhard Schmid: »Shared Feelings – Towards a Phenomenology of Collective Affective Intentionality«, in: Concepts of Sharedness – Essays on Collective Intentionality, hg. v. Hans Bernhard Schmid, Katinka Schulte-Ostermann u. Nikos Psarros, Ontos Verlag, 2008, S. 59–86, hier: S. 67. Im Folgenden als: H.B. Schmid: »Shared Feelings« (2008). (ii) H.B. Schmid: Plural Action (2009), S. 69. 288 Schmid: Plural Action, Introduction, S. xv.f. 289 Vgl. H.B. Schmid: Wir-Intentionalität (2005), S. 240f. 290 Vgl. (i) H.B. Schmid: »Autonomie ohne Autarkie« (2007), S. 458f. (ii) H.B. Schmid:Plural Action (2009), S. xiv.
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
im Kapitel 3.3 mit der Ausführung der Position nach Searle zeigen wird, einige Überschneidungen mit diesem, da auch bei Searle eine strikte terminologische Abgrenzung der individuellen einerseits und der, in seiner Terminologie, kollektiven Intentionalität vertreten wird. Bei Tuomela ist ebenfalls die Art und Weise der Gerichtetheit der Beteiligten zentral, doch lassen sich besonders mit einem Vergleich, hier zur Position Schmids, dessen Besonderheiten in der Debatte herausstellen: In den Ansätzen beider Autoren ist elementar, auf welche Art und Weise die Beteiligten auf ein und dasselbe gerichtet sind, doch findet eine unterschiedliche Gewichtung statt. Hier am Beispiel der Eigeninteressen, ob mehr in den Vordergrund gerückt wird, dass »qualitativ identische individuelle Ziele« (Schmid) vorliegen oder ob betont wird, dass ein »group behaviour in the I-mode« (Tuomela) besteht, das heißt ob die Handlung mit Anderen vollzogen wird. Diese unterschiedliche Betonung führt dazu, dass Schmid von einer individuellen Intentionalität der Beteiligten oder einem summativen, distributiven Gebrauch des Begriffes »Wir« ausgeht, während Tuomela ein solches Verhalten zumindest als »shared intention« begreift. Diese Verwendung des Begriffs »sharing« nach Tuomela für Fälle, in denen die Eigeninteressen der Beteiligten dominieren, ist keineswegs ungewöhnlich. Er findet sich, wie zumindest mit Blick auf den englischsprachigen Raum gesagt werden kann, zur Bezeichnung des Intentionalitätsobjektes im Alltag wieder: Wenn zwei Personen ein Auto miteinander aus Eigeninteresse teilen, so betreiben sie Carsharing.291 Es gilt: je nach Modus der Beteiligten und je nach dem wer als Beteiligter hinzugezählt wird, liegt etwas Geteiltes oder Gemeinsames vor: Ich kann lediglich aus dem Eigeninteresse heraus, um Geld zu sparen, mit Anderen ein und dasselbe Taxi nutzen, mich bei einer Mitfahrgelegenheit anmelden oder Ähnliches. Hierbei muss ich keinesfalls genau wissen, wer tatsächlich das Auto ebenfalls nutzt, es vor mir genutzt hat oder nach mir nutzen wird. Die Beteiligten können ausgetauscht werden, da ihre eigene Persönlichkeit keine Rolle spielt, denn es besteht lediglich ein Nebeneinander. Entgegen der Auffassung Tomasellos, welcher die gemeinsame (»shared«) Intentionalität als Bezeichnung für den Entwicklungsprozess von der individuellen über die »joint« zur kollektiven Intentionalität verwendet (siehe Kapitel 3.3), soll hier – wie beispielsweise bei Tuomela – die geteilte (»shared«) Intentionalität als Bedingung der Möglichkeit der gemeinsamen (»joint«) Intentionalität angesehen werden: Haben die Beteiligten kein identisches Intentionalitätsobjekt, können sie auch keine gemeinsame Intentionalität etablieren. Kurz gefasst: wer nichts teilt, kann auch nichts gemeinsam haben.
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Die Eigenwilligkeit der Verwendung tritt viel eher in Bezug auf den deutschsprachigen Raum auf. Während der englische Begriff »flat-sharing« – wenn »sharing« im Sinne Tuomelas verwendet wird – nur besagt, dass mehrere Personen eine identische Wohnung nutzen, weckt die deutsche Bezeichnung »Wohngemeinschaft« bereits die Assoziation, dass dabei ein engerer Zusammenhalt der Nutzer besteht.
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Formen kollektiver Intentionalität
Oder anders gewendet: wenn man etwas gemeinsam hat, dann hat man auch ein geteiltes Objekt auf das man jedoch in spezifischer Weise gerichtet ist, sodass es kein Geteiltes, sondern ein Gemeinsames ist. Um es bereits vorweg zu sagen: im Laufe der Arbeit wird sich zeigen, dass in Tomasellos Ansatz die Begriffe »geteilte« und »gemeinsame Intentionalität« ähnlich wie bei Tuomela als zwei verschiedene Stufen des Erlebens verwendet werden. Dabei muss jedoch beachtet werden: bei Tuomela dienen diese zwei Begriffe als Unterscheidung des qualitativen Erlebens, des »I-« und »We-mode«, welche er als Binnendifferenzierung der kollektiven Intentionalität begreift (»full blown« und in Anlehnung hierzu »not full blown collective intentionality«). Tomasello verwendet hingegen vielmehr die Bezeichnungen »individual« und »shared intentionality« für die Differenzierung der Modi, das heißt des qualitativen Erlebens, sodass sich bei ihm sowohl die »joint« als auch die »collective intentionality« durch den »We-mode« auszeichnen und eine quantitative Unterscheidung leisten, nämlich: ob zwei oder viele »We-mode«-Subjekte involviert sind. Doch wie bei Husserl, de Vecchi, Searle und Gilbert treten die Bezeichnungen »Wir« und »Kollektiv« auch bei Tuomela und Tomasello als Synonyme auf. In den früheren Schriften Tuomelas sind die Beispiele zur Veranschaulichung eher so gewählt, dass sie intuitiv einer entweder-oder-Klassifizierung entsprechen: Entweder gemeinsam, kooperativ, »joint«, im »We-mode« oder ungemeinsam, koordinativ, »shared«, im »I-mode«: »We can cooperate to build a house or to write a book. In such cases cooperation is a joint action. In some other cases cooperation can fall short of being a proper joint action; e.g., the drivers in the street cooperate by following traffic rules, but they do not always act jointly (at least in the sense in which I [Tuomela] will be speaking of joint action).«292 Selbstredend gibt es bestimmte Phänomene, welche eher einer Kooperation verlangen als andere. Man denke beispielsweise an das Fußballspiel einer Mannschaft im Gegensatz zum Straßenverkehr. Doch durch seine Differenzierung des »I-« und »We-mode« macht Tuomela darauf aufmerksam, dass es einer präzisieren sprachlichen Beschreibung der Grundhaltung des Beteiligten bedarf. Auf diese Weise ist es möglich zu zeigen, dass einerseits Phänomene, welchen im Alltag eine tiefgreifende Kooperation zugesprochen wird nicht per se von diesem geleitetet sein müssen: Elf Spieler auf dem Fußballfeld oder die Beteiligten eines Demonstrationszugs bilden nicht notwendigerweise eine Mannschaft oder Einheit im engen Sinne. Andererseits können Phänomene, welche in einer oberflächlichen Analyse lediglich durch Koordination charakterisiert werden, wie das Fahren in einem Konvoi, durch den Einbezug des »We-mode« eben als deutlich mehr beschreiben werden als nur 292 Tuomela: »What Is Cooperation?« (1993), S. 87.
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
ein hintereinander Herfahren zu einem bestimmten Ziel. Doch trotz der eingängigen und aussagekräftigen Differenzierung in »I-mode« (»shared intention«) und »We-mode« (»joint intention«) nach Tuomela, bleiben einige Fragen bei ihm hierzu unerläutert.
»but how can one demarcate between having and not having a we-attitude?« In der Tat muss unter anderem mitbedacht werden, dass es sich bei der »I-mode«»We-mode«-Unterscheidung nicht um ein entweder-oder, sondern vielmehr um eine graduelle Kategorisierung handelt. Um es etwas anders auszudrücken: der »I-« und »We-mode« wird bei Tuomela in der Theorie schärfer voneinander getrennt als dies in der Praxis tatsächlich möglich ist. Beispielsweise kann während der Fahrt bei einer Mitfahrgelegenheit eine tiefe Freundschaft entstehen oder die Siedlungsbewohner können sich, da sie nun auf einen Feind, wie ein konkretes Bauunternehmen, eingestimmt sind, in einen viel stärkeren Ausmaß als noch vor der Demonstration zusammengehörig fühlen. »I-mode«-Fußballspieler können sich zu einer »We-mode«-Mannschaft wandeln, indem sie im Laufe der Zeit ihre jeweiligen Stärken kennenlernen, damit die beste Spieleraufstellung finden und – wie auch immer – eine Zusammengehörigkeit etablieren. Es ist eben nicht so, dass sich aus einer »I-mode«-Ansammlung von elf Spielern schlagartig, von einem Moment auf den anderen eine »We-mode«-Mannschaft bildet. Ebenso lassen sich im Alltag Beispiele für den Übergang vom »We-« zum »I-mode« finden, welcher bei Tuomela außen vor gelassen wird: Eine Mannschaft, die auseinander bricht, weil Spieler wechseln oder weil sich der Stürmer, aus seiner persönlichen finanziellen Not heraus, von der gegnerischen Mannschaft bestechen lies und daher absichtlich daneben schießt. Man kann auch schlicht an ein Paar denken, das sich auseinander lebt und nicht einmal mehr Irgendetwas zu sagen hat. Fragt man danach, wie man beweisen oder feststellen kann, dass ein »We-mode« bei den Beteiligten vorliegt, so wird Tuomela zufolge aus einem philosophischen Anliegen – der Erklärung des Unterschiedes zwischen einem parallelen Nebeneinander (»group behaviour in the I-mode«) und einem gemeinsamen Miteinander (»group behaviour in the We-mode«) – eine empirische Erhebung.293 Doch wenn sich der Modus situations- und kontextbedingt ändern kann und es in einem »group behaviour« teils »I-moder« und teils »We-moder« geben kann294 , wie ist dann – in welcher Weise auch immer – überprüfbar, welcher Modus (zumindest bei der Mehrheit der Beteiligten) vorliegt? Wie kann ich entscheiden, überprüfen oder wissen, ob tatsächlich ein tiefgreifender Zusammenhalt anstatt eine bloße Zusammensetzung, eine Kooperation anstatt eine Koordination vorliegt? Ab 293 Vgl. Tuomela: »Joint Intention, We-Mode and I-Mode« (2006), S. 57. 294 Vgl. Tuomela: Social Ontology (2013), S. 32.
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wann ist die sogenannte »Kritische Masse« erreicht, sodass man die Mannschaft berechtigterweise als Mannschaft im engen Sinne bezeichnen kann? Oder um die Formulierung der beiden finnischen Philosophen Petri Ylikoski und Pekka Mäkelä aufzunehmen: »One can accept that agents can have such attitudes, but how can one demarcate between having and not having a we-attitude?«295 In jeder einzelnen Situation, in jeder einzelnen Handlung, in jedem einzelnen Zeitabschnitt zu überprüfen, ob faktisch eine hinreichende Anzahl »We-moders« vorliegt, kommt erstens einer Sisyphusarbeit gleich und geht zweitens am Kerngedanken selbst vorbei: Beispielsweise kann sich die Mannschaft bei einem ständigen Hinterfragen des Zusammenhaltes kontrolliert fühlen und gerade deshalb ihre »Leichtigkeit«, ihre »Prise Esprit« verlieren. Es lässt sich kaum nachweisen, ob der Stürmer in einem »I-mode« aus Ruhmsucht schoss oder ob er sich vielmehr in einem »We-mode« befand, jedoch so in seinen eigenen Spielzug vertieft war, dass er seinen Mitspieler, welcher eine bessere Torchance gehabt hätte, übersah. Vielleicht war er im »Wemode«, stolperte jedoch ungeschickt vor dem gegnerischen Tor über seine eigenen Beine, weshalb es so aussah, als ob er absichtlich daneben schießen wollte. Kurz: die Basis, um zu entscheiden, ob ein »I-« oder »We-mode« vorliegt, bildet nicht die Empirie, sondern das subjektive Gefühl. In der sprachanalytischen Auseinandersetzung mit den Intentionalitätsformen werden die Gefühlsphänomene als solche überhaupt nicht oder nur äußerst geringfügig thematisiert (siehe Kapitel 1.2) – allerdings kommen sie nicht nur durch eine »Hintertür«, sondern durch viele »Hintertürchen« wieder herein, wie etwa das subjektive Gefühl, das sich der Anderen auch im »We-mode« befindet oder das subjektive Gefühl, das ich ihm vertrauen kann. Zudem entspricht es einer Vereinfachung bei einem »I-moder« anzunehmen, dass er in dem Moment aufhöre sich am Gruppenverhalten zu beteiligten, wenn sein Eigeninteresse erfüllt ist. Beispielsweise kann, um das Beispiel von Schmid aufzugreifen, der »I-mode«-Siedlungsbewohner, wenn sein eigenes Haus vor dem Bau gerettet ist, – obwohl er lieber zu Hause im Warmen sitzen würde – dennoch weiter am Demonstrationszug teilnehmen und sei es nur aus dem Eigeninteresse heraus dem eigenen Ruf in der Nachbarschaft nicht zu schaden. Das heißt es kann nicht nur ein Konflikt zwischen dem »I-« und dem »We-mode« vorhanden sein296 , sondern es können auch konkurrierende Eigeninteressen einerseits oder miteinander konkurrierende Gruppeninteressen andererseits bestehen. Welcher Modus allerdings konkret vorliegt, ist schlussendlich schwer zu bestimmen, wie
295 Ylikoski u. Mäkelä: »We-Attitudes and Social Institutions« (2002), S. 463. Wobei sich die Kritik dieser beiden Autoren nicht primär an Tuomela, sondern vielmehr an Searles Verwendung der »we-attitudes« richtet und in der Aussage mündet »the whole idea of collective intentionality [presented by Searle][…] is a black box«. Ebd. 296 Vgl. Tuomela u. Miller: »We-Intentions« (1988) (dt.: S. 73).
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
auch die Interpretationsmöglichkeiten der Verhaltensweise Antigones darlegen: Je nach Lesart kann der Hauptfigur Antigone, aus der gleichnamigen Tragödie nach Sophokles, entweder primär ein »I-« oder ein »We-mode« zugeschrieben werden. Die Grunderzählung lautet wie folgt: Antigone bestattet, entgegen den Stadtgesetzes des Anführers Kreon und entgegen dem Rat ihrer Schwester Ismene, ihren Bruder Polyneikes. Schon bei Hegels Darstellung dieses Beispieles297 bleibt letzten Endes unklar, ob es sich im Falle der Antigone um eine Gegenüberstellung des »I-« und »We-mode« oder um – vereinfachend dargestellt – eine Rangordnung verschiedener »We-modes« handelt: dem »familiären We-mode«, der eine Bestattung des Bruders, und dem »staatlichen We-mode«, der die Einhaltung der staatlichen Gesetze vorsieht. Nach dieser Erklärung wägt Antigone zwischen den verschiedenen »We-mode«-Werten, den familiären und staatlichen Normen ab, denen sie sich beiden in »tiefgreifender« Weise zugehörig und verpflichtet fühlt. Es ist allerdings auch möglich folgende Grundhaltung anzunehmen: Antigone handelt rein egoistisch, um, wie Sophokles in seiner Tragödie schildert, nicht den Hass der Totengötter298 und der Toten selbst299 auf sich zu ziehen. Oder ist es vielmehr so wie Schweikard Antigones Situation darlegt? Dass es als Beispiel gelten kann von »conflicts between reasons an agent has in virtue of their membership in a group and other reasons unrelated to (that particular) group membership they may have in the same situation«300 . Also zugespitzt, dass ein Konflikt zwischen ihr als Staats- oder Familienmitglied (»We-mode«) einerseits und ihren Eigeninteressen andererseits besteht. Oder kann nicht doch gesagt werden, dass sie während der Bestattung eben teils nach dem »I-« und teils nach dem »We-mode« handelt und keines dieser beiden Modi schlussendlich überwiegt? Anhand eines weiteren, ebenfalls dramatischen, Beispieles: handeln Fanatiker, wie es sie wohl vorwiegend in religiösen Kontexten gibt, zumindest in Bezug auf die Mitglieder ihrer Ausrichtung in einem »We-mode«? Oder ist letztlich das Eigeninteresse leitend, nämlich die Belohnung für die radikalen Taten, welche man in diesem oder dem angenommen nächsten Leben erwarten kann, wie etwa die Verheißung auf 72 Jungfrauen? Ist man jedoch zum einen der Ansicht, dass Personen, die den Tod Anderer aus religiösen Gründen in Kauf nehmen, als Fanatiker gelten, also simpel gefasst einem kollektiven Wahn unterliegen – und damit zumindest in Hinblick auf ihre religiöse Einstellung als verrückt zu gelten haben – 297 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes [1807], Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1991, S. 329f. 298 Vgl. Sophokles: Antigone, Vers 450f. Dort heißt es im Dialog zwischen Antigone und Kreon wörtlich: »So groß schien dein Befehl [der Befehl Kreons] mir nicht, der sterbliche, dass er die ungeschriebenen Gottesgebote, die wandellosen, konnte übertreffen. [...] An ihnen wollt ich nicht, weil Menschenstolz mich schreckte, schuldig werden vor den Göttern.« 299 Vgl. ebd., Vers 93f. 300 Schweikard: »Voluntary Groups, Noncompliance And Conflicts of Reasons« (2017), S. 98.
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und folgt man zum anderen Husserls allgemein formulierten Hinweis, dass »Verrückte« keine »gemeinsame Welt« konstituieren können, so könnte wohl als Resultat dieser beiden Annahmen gesagt werden, dass religiöse Fanatiker im »I-mode« verweilen. Allerdings fasste bereits Husserl Gedankengänge dieser Art als kritisch, da die Kategorisierung »verrückt« als graduell zu fassen ist (siehe Kapitel 2.1), weshalb Husserl die Bezeichnung »anomal« statt »anormal« oder »unnormal« wählt. Um es auf den Punkt zu bringen: als Außenstehende und sogar aus der Perspektive eines Mitbeteiligten heraus ist es nahezu unmöglich zu entscheiden, ob der Andere aus einem »I-« oder »We-mode« heraus motiviert wurde. Des Weiteren besteht folgende Problematik: wenn der »I-« und »We-mode« als graduell verstanden werden müssen, dann stellt sich die Frage, wo der entscheidende Punkt zu verorten ist, an dem der Wandel des Modus geschieht. Besonders brisant wird dies auch in Hinblick auf die Rechtslage: wie sollte etwa konkret ein Unternehmen rechtlich bestraft werden, wenn es schon bei einer einzigen Person durchaus kritisch sein kann ihren Modus einzuschätzen? Tuomelas Differenzierung der Modi erfährt in der Philosophie, so lässt sich festhalten, einen harten Sinn: entweder es liegt ein »I-« oder ein »We-mode« vor. In der Empirie erfahren beide Begriffe hingegen eine weiche Bedeutung und bieten bestenfalls nur eine Einschätzung einer Momentaufnahme. Die Ich- und Wirbezüglichkeit bilden lediglich, so muss betont werden, zwei Pole, die sich in Übergangsphasen, im Wandel befinden können und daher meist nicht in einer »reinen« Form vorliegen.301
Wer kann den »We-mode« nicht eingehen? oder: Wer ist schon normal? Doch sind empirische Vorgehensweisen dennoch bei der Frage nach der Möglichkeit der Geteiltheit, Gemeinsamkeit oder Kollektivität nicht völlig von der Hand zu weisen – wobei sie allerdings gravierende Folgen mit sich bringen. Schlägt man einen empirischen Weg ein, dann ergeben sich zahlreiche Schnittstellen zu anderen Disziplinen, wie der Kollektivwissenschaft oder der Kulturanthropologie. Beispielsweise kann, wie Tuomela selbst ausführt, gefragt werden, welche Rolle
301 Durch diese strikte Trennung hat man, wie Emanuele Caminada insbesondere mit Bezug auf die frühen Werken Tuomelas vertritt, den Eindruck, dass es sich beim »I-« und »We-mode«, das heißt schlussendlich der Ich- und Wir-Intentionalität, um zwei voneinander getrennte Fähigkeiten handle (vgl.: Caminada: »Husserls intentionale Soziologie« (2011), S. 80 – siehe dort: Fußnote Nr. 64). Explizit heißt es bei Caminada: »Man kann [...] nicht zwei getrennte Fähigkeiten zur Ich-Intentionalität und zur Wir-Intentionalität annehmen, zwischen denen man umschalten kann. Es handelt sich vielmehr um zwei Perspektiven, die sich [...] wie ein Zoomobjektiv unterschiedlich fokussieren und von den nächsten Bezugspersonen bis zur offenen Intersubjektivität allmählich erweitert oder durch sie zurück auf die eigene Persönlichkeit beschränkt werden können.« Ebd. S. 80f.
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
die kulturellen Gegebenheiten bei der Präferenz der Grundhaltung der Beteiligten spielen: »the surrounding culture whether people tend to function prevalently in the wemode or in the I-mode […] or, more generally, how people tend to weigh their wemode and I-mode reasons relative to each other.«302 Genauer müsste also geklärt werden, in welcher Kultur aus welchem Grund heraus, welcher Modus besonders vertreten ist und wie dort mit einem Moduswechsel umgegangen wird303 . Etwa: wie äußert sich die Tendenz zu einem Modus konkret in der Lebenswelt dieses Kulturraumes im Vergleich zu anderen Ethnien? Tuomela reißt hier die Tatsache an, dass in verschiedenen Kulturen der »I-« und »We-mode« in einem unterschiedlichen Ausmaß vorliegt, während an früherer Stelle dieser Typologie darauf verwiesen wurde, dass der Affektausdruck und damit auch die Möglichkeit sich in den Anderen einzufühlen in den Kulturen variiert. Darlegungen zum Intentionalitätsmodus können jedoch auch als Ausgangsbasis für Disziplinen wie der Kriminalistik, den Neurowissenschaften oder der medizinischen Psychologie dienen, da, wie unter anderem in den Ausführungen Husserls, die Notwendigkeit bestimmter kognitiver Voraussetzungen angenommen wird. Gilbert legt zugrunde, dass die Etablierung eines »common knowledge« beziehungsweise in dessen Folge eines »joint commitments« nur für »normal human beings« möglich sei: »[the participants] A, B, C are normal human beings. In particular they have normal perceptual organs functioning normally, and they have normal reasoning capacities.«304 Wobei allerdings – ebenso wie bei Bratmans Ausführung, dass nur »normal adult human agents in a modern world« planende Akteure sein könnten305 und Husserls Beschreibung, dass »Verrückte« keine gemeinsame Welt konstituieren können – offen bleibt, was hierbei unter »normal« zu verstehen ist. Denn auch Kinder ab einem bestimmten Alter können planvoll handeln oder eine Person mit disfunktionalen Wahrnehmungsorganen, wie eine blinde oder gehörlose Person, kann zweifelsohne zu einem »joint commitment« fähig sein. Vielversprechender für die empirische Klärung der kognitiven Partizipationsbedingungen scheint also die »I-« 302 Tuomela: »Joint Intention, We-Mode and I-Mode« (2006), S. 57. 303 Es gibt nämlich nicht nur Belege, dass in verschiedenen Völkern verschiedene Modi dominieren, sondern auch, dass gegebenenfalls der »I-mode« – beispielsweise bei »Naturvölkern« wie den Korowai oder Kombai – zur Ausschließung der betreffenden Person aus der Kulturgruppe führt, was eben ihren Tod bedeutet (vgl. Gloy: Koll. u. individuelles Bewußtsein (2009), S. 13f.). 304 Gilbert: On Social Facts (1992), S. 188 (Herv. selbst vorgenommen). 305 Bratman: »Introduction: Planning Agents in the Social World« (1999), S. 5.
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und »We-mode«-Differenzierung Tuomelas: Für eine Kooperation im engen Sinne bedürfe es unter anderem folgender Faktoren: Einfühlungsvermögen, Anerkennung des Anderen als gleichberechtigt und das Wissen um den Intentionalitätsgehalt müsse für die Gruppe genutzt werden. Verfolgt man jene Annahmen jedoch konsequent weiter, dann ergibt sich: mangelt es bereits an einer dieser Fähigkeiten, dann entfällt man, zumindest laut Tuomela, als Beteiligter einer »strong sense of jointness«, einer »intrinsischen Kooperation« (siehe ausführlicher Kapitel 2.1): Nachgegangen wird diesem Aspekt insbesondere in den letzten Jahrzehnten in psychologischen Studien verschiedenster Art. Dort dient die Unterscheidung von Eigen- und Gruppeninteressen zur Systematisierung der Geisteskrankheiten. Studien auf diesem Gebiet liefern etwa einige Indizien dafür, dass Narzissten sowie Sozio- und Psychopathen einerseits einen ausgeprägten, selbstsüchtigen Hang haben, was sich mit Tuomela und Tomasellos als auffallende Tendenz zum »I-mode« betiteln lässt. Andererseits ist es nicht die krankhafte Neigung zum »I-mode«, welche Narzissten, Sozio- und Psychopathen auszeichnet, sondern – noch viel drastischer – die prinzipielle Unfähigkeit den »We-mode« einzugehen, welcher sich bereits in dem Mangel an Einfühlungsvermögen306 manifestiert. Folgt man Tuomelas Thesen konsequenter als er dies selbst in frühen Phasen verfolgte – und in späteren Phasen in Anlehnung an Tomasello lediglich anhand von Autisten anreißt –, dann können plakative Fallbeispiele dafür herangezogen werden, dass bestimmte Subjekte nicht über jene Fähigkeiten verfügen, welche für eine Beteiligung einer Gemeinsamkeit im engen Sinne als notwendig erachtet werden und die Betroffenen dieser extrem krankhaften Züge daher im Rückschluss als Beteiligte entfallen. Betrachtet man weitere Fähigkeiten, die in der Debatte der Intentionalitätsformen angenommen werden – wie das Vertrauen in die anderen Beteiligten oder die konstante Vertretung eines »We-modes« –, dann ergibt sich, dass weitere Krankheitsbilder hinzugezogen werden müssen: Autoren wie Tuomela und Schmid betonen, dass bei den Beteiligten ein Vertrauen aufeinander bestehen muss, dass der Andere seinen Teil des »commitments« auch zukünftig einhalten wird. Eine solche notwendige Vertrauensbasis gerät jedoch bei Personen mit pathologischen Formen des Misstrauens, wie bei extremen paranoiden Persönlichkeitsstörungen, ins Schwanken. Hierbei tritt man dem Anderen in ausgeprägter Weise misstrauisch gegenüber und unterstellt diesem ohne ausreichende Gründe, dass
306 Vgl. u.a. Peter Fiedler: Persönlichkeitsstörungen, Psychologie Verlags Union, Verlagsgruppe Beltz, Weinheim, 5. Auflage, 2001, S. 284. Im Folgenden als: Fiedler: Persönlichkeitsstörungen (2001). Bei Sozio- und Psychopathen tritt meist eine Missachtung oder Übertretung von sozialen Normen hinzu, das ist eine Verletzung des »commitments«, welche wiederum häufig mit der Unfähigkeit des Erlebens von Schuldfähigkeit einhergehen (vgl. u.a. Sabine C. Herpertz u. Henning Saß: Persönlichkeitsstörungen, Georg Thieme Verlag, Stuttgart/New York, 2003, S. 71ff.).
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
er ausschließlich aus Eigennutz heraus handle oder sogar nur agiere um entsprechend Schaden zuzufügen.307 Auch Personen mit einer extremen Paranoia müssten so strenggenommen als Beteiligte einer Gemeinsamkeit im engen Sinne entfallen. Dies trifft auch auf Personen mit starken Stimmungsschwankungen, wie Borderline-Patienten, oder Personen mit multiplen Persönlichkeiten zu, da bei diesen wohl – durch den Wechsel der Stimmung oder sogar der gesamten Persönlichkeitsmerkmale – erstens besonders rasch und abrupt ein Wechsel des grundlegenden Modus möglich ist. Zweitens fällt es diesen Betroffenen im Allgemeinen schwer eine stabile Beziehung aufzubauen. Auch ist hierbei drittens denkbar, dass ihr Einfühlungsvermögen eingeschränkt ist.308 Erst in jüngeren Jahrzehnten findet sich demnach eine wissenschaftliche Fundierung zu Husserls unmissverständlicher, wenn auch bei ihm selbst nur kurz erläuterten, Aussage um 1915 in den Ausführungen Zur Phänomenologie der Intersubjektivität, dass, so seine Wortwahl, »Verrückten« die Konstitution einer gemeinsamen Welt verwehrt bleibt309 . Um es nochmals aufzulisten und den Gesamtbogen der kognitiven Bedingungen der Möglichkeit vor Augen zu halten: wird die Bewusstseinsfähigkeit zugrunde gelegt, so entfallen Bewusstlose und Tote. Wird davon ausgegangen, dass sie nicht »in ihrer eigenen Welt« leben dürfen, so entfallen nach Husserl Personen im Delirium, wobei auch an traumatisierte Personen und Ähnliches gedacht werden kann. Wird angenommen, dass man den Anderen als intentionalen Akteur anerkennen und sich in diesen einfühlen muss, dann entfallen Personen mit ausgeprägten autistischen Zügen. Müssen die Beteiligten im »We-mode« agieren, so entfallen Personen mit dissozialen Persönlichkeitsstörungen, wie Narzissten, Sozio- und Psychopathen sowie gegebenenfalls Personen mit multiplen Persönlichkeiten. Auch paranoide Persönlichkeitsstörungen gefährden eine Gemeinsamkeit im engen Sinne, da sich diese unter anderem durch Misstrauen gegenüber Anderen auszeichnet und daher angenommen wird, der Andere halte das »joint-« beziehungsweise »collective commitment« nicht ein. Zudem wird Tuomelas Konzeption vom evolutionären Verhaltensforscher Michael Tomasello – wenn auch modifiziert –, ab dem Werk Why We Cooperate um 2009, aufgenommen (siehe Kapitel 3.3). Dort heißt es – was wiederum Tuomela seinerseits ab 2013 aufgreift –, dass die kognitiven Bedingungen der Möglichkeit des »We-mode« im Kindesalter entwickelt werden: »underlying capacities that, e.g. children between one and two years of age do not seem to have in full but three- to four-year-olds may have. These include the
307 Vgl. Fiedler: Persönlichkeitsstörungen (2001), S. 172. 308 Vgl. Klein: Sinn des Gebens (2011), S. 79f. 309 Vgl. Husserl: Beilage XLVIII: »Verrücktwerden und Tod« (um 1915) (Hua. XIII), S. 398f.
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capacities to jointly attend a phenomenon and share common knowledge about it and other relevant matters, to think of the other as different persons with their own mental states, to be disposed to help others, and to understand joint commitment and to be jointly committed to a task.«310 Das heißt hier in aller Kürze konkret: Tomasello nimmt, beeinflusst auf der Grundlage Tuomelas – was in dessen Folge wieder Tuomela beeinflusst – an, dass Kinder erst ab einer bestimmten ontogenetischen Entwicklungsstufe einen »We-mode« eingehen können. Aus derartigen empirischen Überlegungen ergibt sich in Bezug auf die »Imode«-»We-mode«-Differenzierung Tuomelas, dass diese einerseits als gradueller Übergang verstanden werden muss. Beispielsweise formieren sich die elf Fußballspieler erst nach und nach und nicht von einem Moment auf den anderen zu einem »We-mode«-Team. Andererseits scheint jedoch auch deutlich zu sein, dass zahlreiche Persönlichkeitsstörungen – zumindest der Tendenz nach, wenn sie in Extremformen vorliegen – als dezidierte Beschränkung oder wenigstens als Hindernis zur Erreichung des »We-modes« gesehen werden können. Neben diesen Überlegungen, wie man den Modus feststellen kann und wer diesen überhaupt einnehmen kann, stellt sich die Frage, ob man den »We-mode« absichtlich vertreten muss.
Muss man sich des »We-modes« gewahr sein? Verfolge ich meine Eigeninteressen, so können diese, Tuomela zufolge, zufälligerweise, unbeabsichtigt mit dem Gruppenethos einhergehen. Demgegenüber sei es nur absichtlich möglich einen »We-mode« zu haben: »One cannot non-intentionally act as a group member, although one can non-intentionally conform to the ethos.«311 Gleichzeitig heißt es jedoch abmildernd bei ihm, dass der »We-mode« nicht in jedem Fall absichtlich oder bewusst an- beziehungsweise eingenommen werden muss: »neither coming to hold a we-attitude nor holding a we-attitude need be intentional actions.«312 Als Musterbeispiel hierfür wird von Tuomela angeführt, dass Kinder Einstellungen eher unbewusst, unreflektiert übernehmen313 . Nimmt man diesen Gedanken jedoch ernst, dann kann dieser einerseits wie folgt ausgelegt werden: erst besteht ein »We-Mode«, aus dem heraus sich erst im Laufe der Ontogenese der »I-Mode« entwickelt. Andererseits vertritt Tuomela die Ansicht, dass eine kollektive Akzeptanz im »We-mode« Performativität und Reflexivität aufweist, 310 311 312 313
Tuomela: Social Ontology (2013), S. 66. Tuomela u. Tuomela: »Cooperation and trust« (2005), S. 54 (Herv. selbst vorgenommen). Tuomela: »Coll. Acceptance, Social Institutions, and Social Reality« (2003), S. 125. Vgl. Tuomela: »Coll. Acceptance, Social Institutions, and Group Beliefs« (2003), S. 431 (dt.: S. 537).
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
das heißt dass die Beteiligten voneinander wissen, dass sie sich in diesem Modus befinden314 . Beide Annahmen mögen zwar für sich einzeln betrachtet ihren Wahrheitswert haben, allerdings sind sie schwerlich miteinander kombinierbar: Setzt man beide Thesen nämlich miteinander in Verbindung, dann steht man vor einer unauflösbaren Problematik: Wenn es der Fall ist, dass die Beteiligten (oder wenigstens die Mehrheit der Beteiligten), die Einstellung unbewusst einnehmen können, wie soll es dann gleichzeitig – und nicht erst in einem späteren, reflektierenden Nachdenken darüber – möglich sein, dass die Beteiligten (oder wenigstens die Mehrheit der Beteiligten) sich bewusst ist, dass sie diese Einstellung vertreten? Kann das Einnehmen des »We-mode« unbewusst, als Widerfahrnis stattfinden und ist demgegenüber die Bewusstwerdung, dass man dieses Modus gerade einnimmt stets ein aktiv eingenommener Reflexionsprozess? Die Frage, ob man nach Tuomela den »We-mode« unbewusst oder bewusst vertreten muss, bleibt damit, so lässt sich zu diesen Ausführungen abschließend sagen, ungeklärt. Um den Überblick dieses Kapitels 3.2 zu bewahren, sei hier nochmals der Ansatz Tuomelas wiedergegeben: Er beachtet in seinem Konzept der Intentionalitätsformen in erster Linie den Intentionalitätsmodus der Beteiligten. Als Hauptformen bestehen hierbei für Tuomela der »I-« oder der »We-mode«, welche jeweils allein oder in der Gruppe bestehen können: Handle ich allein ichbezüglich, spricht Tuomela von einem »plain« oder private I-mode«. Dieser kann, ihm zufolge, sowohl egoistisch als auch altruistische Züge annehmen, weshalb seine Position – ohne dass dies von den Autoren selbst bemerkt wird – von de Vecchis Auffassung der »solitary intentionality« abzugrenzen ist, da sich diese bei ihr lediglich, wenn auch nur implizit dargelegt, auf ausschließlich selbstbezügliche Phänomene bezieht. Handle ich hingegen in einem solchen Modus, in welchem ich nur mir selbst und meinen Eigeninteressen verpflichtet bin (»private commitment«) in der Gruppe, das heißt mit Anderen, so liegt nach Tuomela ein »group behaviour in the Imode« vor. Er selbst geht hier ausschließlich auf die negativen Effekte ein, wie sie etwa bei Trittbrettfahrern offensichtlich zutage treten. Dass jedoch auch positive Effekte für alle Beteiligten aus dem »I-mode« hervorgehen können, wie Adam Smith bereits Mitte des 18. Jahrhunderts auf ökonomischer Ebene zeigte, bleibt bei Tuomela unthematisiert. Um zu verdeutlichen, was mit einem solchen »ich handle in der Gruppe, das heißt mit anderen für mich« genauer gemeint ist, wurde in dieser Arbeit die Fußballmannschaft herangezogen: Um als Stürmer Ruhm und Ehre zu erlangen, ist man zunächst auf zehn weitere Mitspieler angewiesen. Er wird versuchen, selbst das Tor zu schießen und den Ball seinem Mitspieler nicht abgeben, da ja ansonsten dieser nach einem erfolgreichen Torschuss Ruhm und Ehre erlangt. Das Spiel als solches ist eher als Koordination, als Gruppenzusammensetzung anstatt als Kooperation, als Gruppenzusammenhalt beschreibbar. Die 314
Vgl. ebd., S. 430.
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Beteiligten verfolgen »qualitativ identische individuelle Ziele« und trotz ihres Wissens, dass es sich um qualitativ identische Ziele handelt, wie etwa die Absicht gegen die andere Fußballmannschaft zu gewinnen oder den Bau des Autobahnzubringers zu verhindern, wird es nicht, hier in Tuomelas Worten, zu einer »jointness in the strong sense« kommen. Es mag tatsächlich Situationen geben, in denen beispielsweise zwei Mannschaften gemeinsam das Spiel beenden wollen, aber jede Partei für sich den Gewinn anstrebt (Schmid). Dann allerdings müsste exakter beschrieben werden, dass sich die gemeinsame Intentionalität nur auf die Grundregeln des Fußballspieles, wie etwa Fairplay, und den Spielabschluss im Rahmen dieser Regeln handelt. Beziehungsweise, dass ein gemeinsames Spiel in engen Sinne strenggenommen ausschließt, dass jeder für sich den Gewinn erstrebt, sodass die beiden Parteien letztlich nicht als gegnerische Mannschaften zu verstehen sind. Es handelt sich dann nämlich eher um einen »We-mode«, etwa weil ein Verein aus Trainingszwecken zwei Mannschaften aufstellte oder um ein Freundschaftsspiel, sodass zwar beide Parteien für sich gewinnen möchten, es aber eigentlich keinen Unterschied macht, wer tatsächlich gewinnt. Ein »We-mode« liegt vor, wenn ich in der Gruppe wirbezüglich, das heißt im wirklichen Sinne für die Gruppe agiere. Die Beteiligten, wie etwa die Fußballspieler, die tatsächlich eine Mannschaft bilden oder die Siedlungsbewohner, die sich für den Erhalt aller Häuser und nicht nur ihres eigenes Hauses einsetzen, verfolgen ein »gemeinsames Ziel« und ihre Handlung wird als »plural« betitelt (Schmid). Oder in Tuomelas Terminologie: die Beteiligten haben nicht nur ein »certain direction of fit« und nicht nur eine wirbezügliche Absicht (»joint intention«), sondern diese beruht auf wirbezüglichen Gründen (»we-mode group reason«). Sie vereinen ihre Kräfte bis das wirbezügliche Ziel erreicht ist (»collectivity condition«) und sie sind einander verpflichtet (»collective commitment«). Wobei diese Verpflichtung zwar einseitig gebrochen, aber nur wechselseitig aufgelöst werden kann. Im Zusammenspiel dieser drei Bedingungen des »We-mode« – der »full blown collective intentionality«, der »joint intention« – hat man es nach Tuomela mit einer Gruppensolidarität, -moralität und -/zusammengehörigkeit zu tun, deren Handlungen intrinsisch kooperativ sind. Diese Ausführung der drei Hauptmerkmale hat sich – wenn auch die Terminologie sehr schwanken mag – etabliert. Bestehen alle drei Faktoren, so sind die Beteiligten »›glued‹ together in the sense of jointness« und die Gruppe kann als Einheit fungieren: »the we-mode in its core sense entails thinking and acting [and feeling] as a group member in a full-blown sense«315 . Doch ebenso wie das »group behaviour in the I-mode« bei Tuomela stets negativ in dessen Extremformen gedeutet wird, stellt Tuomela – wie später auch Tomasello (siehe Kapitel 3.3) – in dominanter Weise die positiven Aspekte des »group behaviour in 315
Tuomela: »Coll. Acceptance, Social Institutions, and Group Beliefs« (2003), S. 432 (dt.: S. 538).
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
the We-mode« heraus. Auch dies ist jedoch eine einseitige Darstellung, denn ein starker Gruppenzusammenhalt kann auch gehörig »aus dem Ruder laufen«, sodass etwa aus einer Selbsthingabe eine Selbstauf gabe wird, wie Phänomene wie der Korpsgeist belegen. Vor dem Hintergrund, dass Tuomela selbst empirische Fragen anklingen lässt, drängt sich allerdings die Frage auf, wer den »We-mode« überhaupt eingehen kann. Er erwähnt, ganz in Anlehnung an Tomasello, dass empirische Befunde immer prägnanter den Schluss nahelegen, dass Personen mit ausgeprägten autistischen Zügen wohl kaum einen »We-mode« eingehen können und eine Entwicklung eines menschlichen Kleinkindes zum »We-mode« hin erst in einem langjährigen ontogenetischen Prozess erfolgt. Dass auch zahlreiche weitere Einschränkungen im kognitiven und dissozialen Bereich vorliegen können, wie geradezu musterhaft mit dem Narzissmus und den psychopathischen Störungen veranschaulicht werden kann, bleibt bei Tuomela unausgeführt. Dass eine solche Erwähnung ausbleibt, ist allerdings gerade deshalb verwunderlich, da bei Narzissten der »I-mode« in seiner ausgeprägtesten, nämlich sogar krankhaften Form vorliegt, was schlimmstenfalls sogar als Unfähigkeit zum »We-mode« gedeutet werden kann. Hinsichtlich der Empirie eröffnet Tuomela zudem die Frage, wie man feststellen könne, dass bei den Beteiligten ein »We-mode« vorliege. Dabei zeigt sich indes, dass sich der Modus stets ändern kann, sodass man letztlich auf das Gefühl zurückgeworfen ist: Sie glauben, dass sich die anderen ebenfalls im »We-mode« befinden und nach diesem handeln, sodass das »joint« (Gilbert) beziehungsweise »collective commitment« (Tuomela) bestehen bleibt und erfüllt wird. Sie glauben, dass die Handlung realisiert und das gemeinsame Ziel erreicht werden kann. Sie haben ihre Bereitschaft signalisiert an der gemeinsamen Handlung teilzuhaben (Gilbert) und es besteht ein »feel up to the task«, ein »intentionales Selbstvertrauen« (Schmid). Indem die Sprachanalytiker, insbesondere jene der ersten Generation dieser Debatte, auf Handlungen fokussiert sind, fehlen bei ihren Ausführungen gerade jene Faktoren, die in der Phänomenologie präsent sind. Zu denken ist hier etwa an die Darstellung, dass sich die Gemeinschaft durch andere Gefühle wie etwa die Masse auszeichnet (Scheler) oder das eine spezifische Leiblichkeit, nämlich die kollektive Leiblichkeit (Husserl) bestehen kann. Mit den phänomenologischen Ausführungen kann des Weiteren deutlich gemacht werden, dass der Intentionalitätsmodus nicht nur als Ich- oder Wirbezüglichkeit erfasst werden kann, sondern, dass erstens verschiedene Bezugsakte (verstehend, kommunikativ oder sozial), zweitens verschiedene Bezugsrichtungen (ein –, gegen- oder wechselseitig) bestehen und drittens die Beteiligten unterschiedlich verstanden werden (weder als Adressat noch als Partner beziehungsweise als Adressat oder sogar als Partner). Nimmt man eine kritische Haltung zu den phänomenologischen Ansätzen ein, dann zeigt sich, dass in der frühen Phase dieser Strömung nicht die Handlungsweisen, sondern bei Scheler lediglich die Gefühlsphänomene danach differenziert wurden, ob die Beteiligten »identisch individuelle« oder »gemeinsame Ziele« (Schmid) verfol-
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gen, ob sie ich- oder wirbezüglich handeln (Tuomela), ob – in anderen Worten – eine Geteiltheit oder Gemeinsamkeit vorliegt. Husserl wiederum spricht ohne qualitative Differenzierung stets von der »Konstitution einer gemeinsamen Welt« und auch der Begriff »Miteinander« wird inflationär ohne jegliche Abgrenzung als Sammelbegriff für jegliches Für- und Gegeneinander gebraucht. Vergleicht man die Gedankengänge und Ergebnisse de Vecchis mit jenen Tuomelas, so ergibt sich als Bedingung der Möglichkeit der Gemeinsamkeit: bei den Beteiligten muss ein und derselbe Modus (»We-mode«) vorliegen, welcher sich als wechselseitiger sozialer Bezug der Beteiligten aufeinander charakterisieren lässt. Bei einer Geteiltheit hingegen befinden sich die Beteiligten im »I-mode« und sie sind lediglich gegenseitig verstehend oder kommunikativ aufeinander gerichtet. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass nicht nur ihre Methoden (phänomenologisch beziehungsweise sprachanalytisch) und ihre Ansatzpunkte (Bezugsrichtung, -akt oder -modus) voneinander abweichen, sondern teils auch von ihnen verwendete Terminologie der »tiefgreifendsten« Intentionalitätsform: Bei de Vecchi heißt es: »collective intentionality is a shared intentionality in a very strong sense of the term ›sharing‹«316 . Durch seine Differenzierung der »joint-« und »shared intention« versteht Tuomela demgegenüber die »shared intention« – in welchem Grad sie auch konkret vorliegen mag – als »I-mode« und damit gerade eben nur als »not full blown collective intentionality«. Vielmehr zeichnet sich die kollektive Intentionalität im engen Sinne nach Tuomela durch den »strong sense of jointness«317 aus. Während Searle unter kollektiver Intentionalität jegliche Intentionalität mindestens zweier Beteiligter – Menschen und/oder Tiere – versteht und Tuomela zwar eine Binnendifferenzierung vornimmt (»I-« und »We-mode«), jedoch auch an der Terminologie der kollektiven Intentionalität für beide Formen festhält (»not full blown« und »full blown collective intentionality«), versteht de Vecchi die kollektive Intentionalität explizit als eine spezifische Intentionalitätsform unter vielen weiteren. Wie auch Searle beschreibt de Vecchi welche Entitätsart auf welcher Intentionalitätsform basiert: Searle differenziert jedoch nur zwischen sozialen (»bloße kollektive Intentionalität«) und institutionellen Tatsachen (wie in Kapitel 3.3 näher geschildert wird), während de Vecchi ausführt: die intersubjektive Intentionalität führt zu sozialen Entitäten, wie Freundschaft; die soziale Intentionalität wiederum führt zu normativen Entitäten, wie Verpflichtungen, und die kollektive Intentionalität führt ihrerseits zu institutionellen Entitäten, wie Geld.318 Kurzum: ihre Beschreibungen des menschlichen »tiefgreifenden« Zusammenhaltes, eines gemeinsamen Denkens, Handelns und Fühlens ergänzen sich fruchtbar, denn das Phänomen wird von verschiedenen Seiten erhellt: als spezifische Be316 317 318
de Vecchi: »Coll. vs. intersubjective and social int.« (2011), S. 72 (Herv. selbst vorgenommen). Tuomela: Social Ontology (2013), S. 63 (Herv. selbst vorgenommen). Vgl. de Vecchi: »Three Types of Heterotropic Int.« (2014), S. 134f.
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
zugsrichtung, als spezifischer Bezugsakt, als spezifischer Bezugsmodus, als spezifische Vereinbarung und als Konstitution spezifischer Entitäten.
Die »interlocking intentions and meshing subplans« nach Bratman Vergleicht man die sprachanalytische Verwendungsweise der »joint« und »shared intention«, der Geteiltheit und Gemeinsamkeit und ab wann von einer Kooperation im engen Sinne gesprochen werden kann, so ist auch ein Einbezug der Position Michael Bratmans unerlässlich. Dieser zählt neben Tuomela, Gilbert und Searle zu den »Big Four«319 der sprachanalytischen Auseinandersetzung der ersten Generation hinsichtlich des Phänomens der kollektiven Intentionalität. Auch bei ihm lässt sich dabei grundsätzlich eine Einschränkung auf Absichten beziehungsweise Handlungen nachweisen, welche Schmid als »praktizistische Verengung«320 betitelt. Dabei ist zweierlei hervorzuheben: erstens werden die Begriffe »shared« und »joint« bei Bratman, wie bei Gilbert, in entgegengesetzter oder zumindest stark abweichender Weise zu Tuomela verwendet. Zweitens bestehen wiederum bei Bratman, so wird ebenfalls dargelegt, weitere Binnendifferenzierungen und Schwerpunktsetzungen: Bratman schlägt, wie unter anderem auch Ulrich Baltzer kurz darauf in Gemeinschaftshandeln (1999), folgenden Weg ein: Sein zentrales Anliegen zielt nicht so sehr auf den Bezugsmodus (»I-« oder »We-mode«), den Bezugsakt (verstehend, kommunikativ oder sozial) oder die Bezugsrichtung (ein –, gegenoder wechselseitig), sondern darauf wie die konkreten Teilhandlungen der Beteiligten zu einer gemeinsamen Handlung ineinander greifen: Eine Handlung, so argumentieren Autoren wie Bratman und Baltzer, ist dann eine gemeinsame Handlung, wenn eine zielführende Beitrags- oder Anschlusshandlung – oder allgemeiner gesprochen: eine Partizipation – erfolgte: Zwar heißt es bereits bei Tuomela, dass gelte: ein »group behaviour in the We-mode« »involves the intention to perform one’s part of the joint action«321 . Bratman führt dies jedoch detaillierter aus: die Absichten des Beteiligten, beispielsweise des Stürmers, sind nur dann tatsächlich für die Mannschaft als solche gewinnbringend, wenn der Torwart jener Mannschaft ebenfalls seine Aufgaben und Absichten im Sinne der Mannschaft erfüllt, das heißt, hier ganz simpel gesagt, keine Gegentore zulässt. Oder anders formuliert: wenn der Torwart ebenso viele Tore zulässt wie der Stürmer ein und derselben Mannschaft schießt, dann ist dies nicht zielführend, da sich deren Teilhandlungen behindern oder wie im genannten Fall schlichtweg aufheben. Die Pläne der Beteiligten, hier: des Stürmers und jene des Torwarts, sowie deren jeweilige Ausführung muss, so
319 Vgl. Chant, Hindriks u. Preyer: »Introduction – Big Four« (2014), S. 2. 320 Vgl. (i) H.B. Schmid: Wir-Intentionalität (2005), S. 48. (ii) H.B. Schmid: Plural Action (2009), S. 59. 321 Tuomela: »What Is Cooperation?« (1993), S. 89.
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Bratman über Tuomela hinaus, »für uns« zielführend ineinandergreifen. Man kann sagen: nicht allein meine Absichten als Stürmer Tore zu schießen sind für eine gelungene Kooperation entscheidend, sondern diese sind an die erfolgreiche Erreichung der Absichten des Torwartes meiner Mannschaft gebunden, weshalb seine Absichten im gewissen Sinne auch meine sind – es sind unsere Absichten. Die Subpläne müssen dabei bezüglich ein und desselben Objektes keineswegs identisch sein – wie an dem Fußballbeispiel: Tore schießen und Tore verhindern –, aber müssen zumindest »jointly realizable«322 sein. Hier sei an Beispiel eines Attentäters nach Michael Schmitz erinnert: Ein Attentäter A und ein Bodyguard B sind auf ein und denselben Politiker gerichtet323 . Diese Ausgangssituation könnte nun wie folgt charakterisiert werden: A und B sind nur gegen- und nicht wechselseitig aufeinander bezogen (de Vecchi), sie verstehen zwar ihre Absichten, aber sie gehen nicht kommunikativ – geschweige denn sozial – aufeinander ein (Husserl), sie befinden sich zueinander nicht im »We-mode« (Tuomela) und ihre jeweiligen Absichten – das Töten und das Schützen des Politikers – sind keineswegs gleichzeitig miteinander kompatibel (Bratman). Um anzureißen, wohin die Reise dieses Einbezuges der Position Bratmans gehen wird, kann gesagt werden: Bratman zielt auf die Bezugnahme der Absichten aufeinander auf das Intentionalitätsobjekt 324 anstatt auf die Bezugnahme der Beteiligten zueinander, wie unter anderem Husserl, de Vecchi und Tuomela. Er betrachtet das Zustandekommen der Kooperation mittels der »meshing subplans« anstatt die Entstehung spezifischer Tatsachen, wie Searle und de Vecchi, oder die Entstehung eines besonderen Subjektes, wie es unter anderem Husserl, Tomasello und Gilbert schildern. Bei der Darlegung der Position Bratmans ist auffallend, dass er die Begriffe »shared« und »joint« geradezu umgekehrt wie Tuomela verwendet: Tuomela bezeichnet die »tiefgreifendste« Intentionalitätsform als »joint intention«, während dieser Begriff bei Bratman gerade für den schwächsten Zusammenhalt der Beteiligten, also für das bloße Nebeneinander verwendet wird. Die »tiefgreifendste« Intentionalitätsform nach Bratman die »shared intention« – entgegen dem alltäglichen Wortgebrauch, wie mit dem Carsharing deutlich gemacht wurde – erhält bei 322 Bratman »Dynamics of Sociality« (2006), S. 2 – dort: Fußnote Nr. 3. Je nach Fallbeispiel bedarf es zur erfolgreichen Realisierung der Teilpläne gegebenenfalls eine Kompromissfähigkeit, wie Bratman anhand des Anstreichens eines Hauses verdeutlicht: »I intend that we paint it red all over, and you intend that we paint it blue all over. We each know this about the other, know that we each know this, and so on. And neither of us is willing to compromise. Even if as a result we end up painting the house together (some combination of red and blue), ours would not be a SCA [shared cooperative activity]«. Bratman: »Shared Cooperative Activity« [1992], S. 98 (dt.: S. 181). Vgl. auch Bratman: »Shared Intentions« [1993], S. 120 (dt.: S. 415). 323 Schmitz: »Joint Attention and Understanding Others« (2014), S. 238. 324 Vgl. Bratman: »Shared Intentions« [1993], S. 122f. (dt.: S. 417).
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
ihm nochmals eine Binnendifferenzierung: »shared intention«, »shared intentional activity« und »shared cooperative activity«. Allerdings ist eine solche Unterscheidung sehr graduell und stößt in der praktischen Anwendung – welches Phänomen soll wie bezeichnet werden? –, wie mit Bratmans eigenem Beispiel über Bratman hinausgehend gezeigt wird, an seine Grenzen. Auch dessen zentraler Ausgangspunkt der Beitrags- oder Anschlusshandlung ist bemerkenswert graduell325 : Wann fängt eine Beitrags- oder Anschlusshandlung an?326 Wo hört sie auf? Indem Bratman die »interlocking intentions and meshing subplans of each«327 am Beispiel einer Schachpartie betont, stellt er, im Gegensatz zu den meisten Theoretikern der Beitrags- und Anschlusshandlung, treffend heraus, dass nicht primär zu untersuchen ist, ob und wie genau die Handlungen aneinander anschließen beziehungsweise ineinandergreifen, sondern bis zu welcher Ebene sie dies konkret tun. Das Eingehen auf den Anderen und sein Handeln auf Basis der Erwartungen dessen, was der Andere tun wird328 , das Ineinandergreifen der Teilhandlungen (»meshing subplans«) und vieles andere findet sich jedoch nicht nur bei einer Kooperation, sondern – zumindest bis zu einem gewissen Grad – eben auch, wie Bratman hervorhebt, im Falle der Konkurrenz. Um dies zu verdeutlichten und zugleich kenntlich zu machen, dass man das Verhalten des Anderen auch für den eigenen Vorteil bestens erfassen muss, wählten zahlreiche Autoren wie Aron Gur-
325 Vgl. H.B. Schmid: Plural Action (2009), S. 48. 326 Zudem ist beim Ausgangspunkt der Beitragshandlung grundlegend problematisch, dass dabei letztlich ein Reduktionismus vertreten wird: Personen beabsichtigen dann etwas gemeinsam, wenn sie ineinandergreifende Handlungsbeiträge ausführen und wechselseitig davon ausgehen, dass der jeweils Andere ebenfalls seinen Beitrag leistet (vgl. H.B. Schmid: »Intentionalität, koll.« in: Handbuch Politische Philo. u. Sozialphilo. (2008), S. 562). 327 Bratman: »Shared Valuing and Frameworks for Practical Reasoning« [2004], S. 294. Ähnliche Formulierungen des Ineinandergreifens der Handlungen und Absichten finden sich beispielsweise bei ebenfalls bei Tuomela und Kutz: (i) »[B]y a joint social action we can mean an action performable by several agents who suitably relate their individual actions to each other’s actions in pursuit […] of some joint goal«. – Tuomela: »Intentional Single and Joint Action« (1991), S. 246. (ii) »all collective action [...] admits of a common analysis: a set of individuals jointly G when the members of that set intentionally contribute to G’s occurrence by doing their particular parts, and their conceptions of G sufficiently and actually overlap.« Kutz: »Acting Together« (2000), S. 27 (Herv. selbst vorgenommen) (dt.: S. 471). Wobei Kutz die gemeinsame Handlung (jointly) mit kollektiver Handlung (collective action) gleichsetzt. Bei Ausführungen dieser Art – dass die Pläne eines jeden Einzelnen mit den Plänen der Anderen ineinandergreifen müssen – geht die Erläuterungsweise prägnant vom Primat des Ich aus. Vgl. auch: »Our capacity for shared intentional activity is grounded in our individual planning capacities. Michael Bratman: »Précis of Shared Agency – A Planning Theory of Acting Together«, in: Journal of Social Ontology, de Gruyter, Band 1, Heft 1, 2015, S. 1–5, hier: S. 2. Im Folgenden als: Bratman: »Précis of Shared Agency« (2015). 328 Vgl. Bratman: »Shared Cooperative Activity« [1992], S. 95 (dt.: S. 178).
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witsch oder Georg H. Mead das Schachspiel.329 Eben jenes Beispiel, ohne den Verweis auf frühere Autoren, erläutert auch Bratman um 1992: »Suppose you and I play a game of chess together. This will involve some cooperation. We cooperate in keeping the pieces in place, making our moves public, following rules about the movements of pieces, and so on. Yet within this cooperative framework our activity is competitive: I am not trying to mesh my specific game plan with yours; instead I am trying to thwart your game plan. A joint activity can be cooperative down to a certain level and yet competitive beyond that. And [...] such an activity – one in which we do not intend that our subplans mesh all the way down – is not a SCA [shared cooperative activity]. We can nevertheless capture the sense in which our competition takes place within a cooperative framework. You and I do intend that our subplans mesh down to the level of the relevant rules and practices. Our chess playing is not a full-blown SCA. But it is jointly intentional, and it involves shared cooperation down to the cited level.«330 Auch wenn es sich also um eine konkurrierende Situation handelt, müssen du und ich uns vor Beginn des Spieles – damit das Spiel als Schachspiel und nicht nur als Verschieben von Holzklötzen gelten kann – auf bestimmte Spielregeln einigen. Und nur dann, wenn wir uns an bestimmte Regeln halten, kann unser Schachspiel als Schachspiel gelten. Die Ausgangslage ist kooperativ, jedoch lediglich »down to a certain level«, wie sich während des Spielablaufes zeigt.331 Auf den Punkt gebracht: nur weil eine Handlung im Anschluss an eine andere ausgeführt wird, muss dies noch lange keine gemeinsame Handlung sein. Deine und meine Subpläne greifen nur auf einer grundlegenden Ebene ineinander – wir kooperieren bezüglich der Spielregeln –, dann allerdings versuchen wir die Pläne, hier die Spielzüge und die Strategie, des jeweils Anderen zu behindern oder gänzlich zu verhindern, uns also gegenseitig zu boykottieren.332 Die Situation ist paradox: man kooperiert, um 329 Vgl. u.a. (i) Gurwitsch: Die mitmenschlichen Begegnungen (1931), Abschnitt III, Kapitel I, § 18, S. 149. (ii) Georg H. Mead: Geist, Identität u. Gesellschaft [1934], Teil III, Kapitel 31, S. 289. 330 Bratman: »Shared Cooperative Activity« [1992], S. 107 (dt.: S. 191). Vgl. Bratman: »Shared Intention« [1993], S. 122 (dt.: S. 417). 331 Das Schachspiel erfreut sich in der Debatte als Beispiel großer Beliebtheit. Vgl. u.a. (i) Tuomela u. K. Miller: »We-Intentions, Free-Riding, and Being in Reserve« (1992), S. 30. (ii) Tuomela: »What Is Cooperation?« (1993), S. 92ff. (iii) Kutz: »Acting Together« [2000] (dt.: S. 438f.). 332 Gerade weil beide Spieler die Regeln gegeneinander ausspielen wollen, schlägt Seumas Miller vor, zwischen »gemeinsamen Handeln« und »gemeinsamer Praxis« zu unterscheiden (vgl. S. Miller: »Gemeinsames Handeln« [1992], S. 196). Jedoch muss dabei bedacht werden, dass sich beide Spieler zuvor auf gemeinsame Regeln geeinigt haben: Konflikt und Konkurrenz, welche bei Miller unter »gemeinsamer Praxis« subsumiert werden, sind, so lässt sich plakativ sagen, nur aufgrund von gemeinsamen Handeln möglich (vgl. u.a. H.B. Schmid: »Schwerpunkt: Koll. Int. u. gemeinsames Handeln« (2007), S. 404). Es lässt sich damit feststellen,
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
sich – hier im wahrsten Sinne des Wortes – auszuspielen. Man agiert miteinander, um gegeneinander zu handeln. Es liegt, so könnte man sagen, eine kooperative Konkurrenz vor. Bratmans Ausführung des Schachspiels tritt dadurch in der sprachanalytischen Debatte hervor, dass er eine Handlung wählt, welche nicht primär entweder als Koordination oder als Kooperation – das heißt als paralleler oder gemeinsamer Vollzug – zu charakterisieren ist, sondern es ist vielmehr eine Situation in welcher – wenn auch zeitlich versetzt – sowohl konkurrierende als auch kooperative Momente bestehen: Einerseits erstrebt jeder Schachspieler für sich den Gewinn (»group behaviour in the I-mode« (Tuomela)), weshalb der Andere, so kann wiederum mit de Vecchi gesagt werden, lediglich ein Adressat ist. Andererseits besteht bezüglich der Spielregeln ein kooperativer »We-mode«. Zeigst du mir demgegenüber während des Schachspieles, wie ich am effizientesten deine Figuren aus dem Spiel entfernen kann, so ist dies eben kein Schachspiel im engen Sinne, welches gegeneinander ausgeführt wird, sondern ich erlerne die Regeln vielmehr erst unter deiner Anleitung (»We-mode«). Die bestimmende Idee ist also kurz gefasst, dass das Beispiel der Schachpartie als Verdeutlichung zweier Aspekte herangeführt werden kann: Erstens kann ein und dieselbe Handlung, je nach Handlungssequenz beziehungsweise je nach Art der Beschreibung, als etwas Gemeinsames oder eben gerade nicht als etwas Gemeinsames beschrieben werden333 . Zweitens belegt jenes Beispiel, dass es den Sprachanalytikern nicht nur um das »idyll of smooth cooperation« geht, wie H.B. Schmid zunächst unterstellt334 , aber die Wahl mit welchem Aspekt die Erläuterung beginnen soll, fällt in der Auseinandersetzung mit dem Phänomen der kollektiven Intentionalität auf die Kooperation, da sie diese als Basis der konfliktbesetzten – jedoch eben fairen – Situationen angesehen wird.335 Es erfordert von vornherein eine explizite oder implizite Einigung (»commitment«) bezüglich der Regeln – also zumindest eine Kooperation »down to a certain level«. Searle macht 1990 anhand des Boxkampfes deutlich, dass je nach Situation eine Kooperation auf grundlegender Ebene bestehen kann, aber eben nicht muss:
dass »shared activity« und die »shared cooperative activity« nach Bratman, zumindest in den Grundsätzen, eine Ähnlichkeit – wenn auch nicht vollkommene Deckungsgleichheit – mit den Begriffen »gemeinsame Praxis« und »gemeinsames Handeln« nach Miller aufweisen. 333 Vgl. u.a. Kutz: »Acting Together« [2000], S. 21 (dt.: S. 462). 334 H.B. Schmid: Plural Action (2009), S. 47. 335 Sichtet man die Hauptpositionen der Debatte – die Ansätze der Phänomenologie, Sprachanalytik und evolutionären Verhaltensforschung – hierzu, dann zeigt sich, dass ein Dissens besteht: Beruht jegliches Gegeneinander auf einem Miteinander, wie Husserl implizit vertritt, oder sind nur die meisten, also bestimmte, Formen des kompetitiven Verhaltens im Kern als kooperativ zu bezeichnen, wie Searle meint? Vgl. (i) Husserl: Text Nr. 10: »Die Welt der Normalen« (1931) (Hua. XV), S. 138. (ii) Searle: »Coll. Intentions and Actions« (1990), S. 413f. (dt.: S. 116).
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»Two men engaged in a prizefight are engaged in a form of competition, but it is a form of aggressive competition that exist only within a higher-level form of cooperation. Each prizefighter has the intention to hurt the other, but they have these intentions only within the frame of the higher-order intention to cooperate with each other in engaging in a prizefight. This is the distinction between a prizefight and a case of one man simply assaulting another man in a dark alley.«336 Mittels dieser Ausführungen stellt Searle mit Nachdruck heraus, weshalb es für ihn zwei Arten des kompetitiven Verhaltens gibt: zum einen kompetitives Verhalten ohne Kooperation, wie ein Überfall auf der Straße (der mittels eines plötzlichen Boxhiebes durch den Angreifers ausgeführt wird) und zum anderen kompetitives Verhalten, dass bis zu einem bestimmten Punkt als kooperativ bezeichnet werden kann (wie etwa ein offizieller Boxkampf). In seinem Werk Mind, Language and Society (1998) findet sich bei Searle hierzu eine weitere Präzisierung: In Situationen wie dem Überfall besteht keine kollektive Intentionalität.337 Dies wiederum lässt deutlich darauf schließen, dass für Searle die Bezeichnung »kollektive Intentionalität« nicht einfach, wie ebenfalls H.B. Schmid festhält, ein Sammelbegriff für alle Intentionalitätsformen mit mehreren Beteiligten ist338 , sondern sich lediglich auf kooperative Fälle bezieht: Der Begriff »Kooperation« wird einerseits bei Searle als spezifische Intentionalitätsform gedeutet, wobei allerdings eine genaue Erklärung der Kooperation ausbleibt – was andererseits eben doch für H.B. Schmids Deutung spricht, dass bei Searle hier ein Sammelbegriff vorliegt –, denn ohne Erläuterung scheint es, als ob Searle den Begriff »collective behaviour« lediglich durch die neuere Bezeichnung »cooperative behaviour« ersetzt habe. Autoren wie Tomasello betonen hingegen, dass sich im Falle der Kooperation ein besonderes Subjekt konstituiere: »For individuals to relate to one another as second-personal agents they must have a basically cooperative relationship and, at least in the ongoing interactive context, respect each other as equals. Two men engaged in a fistfight are not engaged with one other second-personally, whereas two men engaged in a boxing match – in which they agree to certain cooperative rules and to treat one another with respect – are.«339 Wobei darauf hinzuweisen ist, dass es sich in beiden Kontexten – dem Kampf auf offener Straße und dem offiziellen Boxkampf, also bei identischen Handlungsvollzügen – um ein und dieselben Beteiligten, wie beispielsweise Peter und Paul, han336 Ebd., S. 413f. (dt.: S. 116). 337 Vgl. Searle: Mind, Language and Society (1998), S. 120 (dt.: S. 144). 338 Vgl. H.B. Schmid: »Intentionalität, koll.« in: Handbuch Politische Philo. u. Sozialphilo. (2008), S. 560. Vgl. auch H.B. Schmid: Plural Action (2009), Introduction, S. xiii. 339 Tomasello: Becoming Human (2019), S. 201 (Herv. selbst vorgenommen).
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
deln kann, aber je nach Kontext unterschiedliche Intentionalitätsformen vorliegen können. Auch wenn die Ansätze Tuomelas und Bratmans konzeptuell andere Aspekte betrachten – die Grundhaltung der Beteiligten und die »meshing subplans« –, so differenzieren beide auf sprachanalytische Weise zwei Handlungstypen voneinander: Einerseits kann man lediglich in Bratmans Worten »down to a certain level« einander in Bezug auf kollektive Regeln verpflichtet sein, wobei nicht notwendigerweise ein Gemeinschaftsgefühl entstehen muss, wie H.B. Schmid anhand der Demonstration gegen den Autobahnzubringer darlegt.340 Diese Art der Koordination oder Konkurrenz wird von Tuomela, wie erläutert wurde, als »group behaviour in the I-mode«, »shared intention« oder »not full blown collective intentionality« betitelt. Eine Kooperation hingegen – sei es das Auftreten der Fußballmannschaft als Mannschaft, der tiefgreifende Zusammenhalt der Siedlungsbewohner oder das gemeinsame Anerkennen von Spielregeln – fasst Tuomela als »We-mode«, als »joint intention«, als »full blown collective intentionality«. Wie Tuomela bestehen auch nach Bratman im Falle der Gemeinsamkeit im engen Sinne drei Hauptmerkmale, nämlich erstens eine Festlegung auf ein gemeinsames Handeln – ein »collective commitment« (Tuomela), ein »commitment to the joint activity« (Bratman)341 . Doch während Tuomela als zweites Charakteristikum davon ausgeht, dass die Beteiligten einer kooperativen Gruppe im engen Sinne eine »we340 Vgl. H.B. Schmid: »Wir-Identität: reflexiv und vorreflexiv« (2005), S. 368f. 341 Hierbei beschreibt Bratman expliziter als Tuomela oder Gilbert, dass diese gemeinsame oder kollektive Festlegung auch aus unterschiedlichen Gründen, Motiven oder Antrieben heraus erfolgen kann: »Each agent may have such an intention [the intention in favor of the joint activity] for different reasons: When we paint together I may be primarily concerned with having a newly painted house, you with getting some exercise. But in SCA [shared cooperative activity] each agent will typically have such an intention for some reason or other.« Bratman: »Shared Cooperative Activity« [1992], S. 96 (dt.: S. 178). In der gegenwärtigen Debatte ist für diese unterschiedlichen Gründe ein und derselben Absicht das drastische Beispiel des Banküberfalls verbreiteter als das Anstreichen des Hauses: Eine Bande teilt ein und dieselbe Absicht: einen Banküberfall. Aber während Räuber A genug Geld haben möchte, um in der Karibik zu wohnen, ist Räuber B primär an der Spannung und dem Reiz des Verbotenen interessiert (vgl. Monika Betzler: »Interpersonelle Beziehungen und gemeinsame Handlungen«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Band 55, Heft 3, Berlin, 2007, S. 441–455, hier: S. 442). Mit Bratman: »[S]haring does not require commonality in each agent’s reasons for participating in the sharing. […] Though we have different background reasons for which we participate, our shared intention nevertheless establishes a common framework.« Bratman »Dynamics of Sociality« (2006), S. 5. Vgl. u.a. (i) Bratman: »Shared Intentions« [1993], S. 122 (dt.: S. 417). (ii) Bratman: »Précis of Shared Agency« (2015), S. 5. Wobei bei Bratman und Gilbert – deutlicher als bei Tuomela und de Vecchi – herausstellt wird, dass die Intentionalität, welcher Form auch immer, von Kohärenz und Kontingenz geprägt sein muss. Hier in Gilberts Worten: »If I decide to go the beach, for instance, I commit myself to going to the beach. It’s true that I can change my mind, but while the decision stands I am committed. I now have
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mode group reason« haben – das heißt, dass nicht nur die Handlung selbst, sondern auch der Handlungsgrund aus Gruppeninteressen heraus vertreten wird –, meint Bratman schlicht, dass für eine Kooperation bei den Beteiligten eine »mutual responsiveness« vorliegen müsse342 . Aus welcher Grundhaltung heraus ein »group behaviour« geschieht wird von Bratman, so scheint es zunächst, nicht beachtet, weshalb Tuomela meint, dass jener Ansatz Bratmans lediglich mit dessen »group behaviour in the I-mode« vergleichbar sei.343 Als Gegenargument zu diesem Verständnis Tuomelas der Position Bratmans kann angeführt werden, dass auch bei Bratman für einen Zusammenhalt der Beteiligten im engen Sinne gilt: »for each agent must have intentions in favor of the efficacy of the intentions of the other. In this way each agent must treat the relevant intentions of the other as end-providing for herself«344 . Das heißt, dass auch nach Bratman, um es mit Tuomelas Worten zu sagen, mindestens die »three musketeer condition«345 , die »collectivity condition« vorliegen
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reason to go to the beach. All else being equal, I should go to the beach.« Gilbert: »Collective Guilt« (2000), S. 147. Konkret heißt es detailliert bei ihm: »(i) Mutual responsiveness: In SCA [shared cooperative activity] each participating agent attempts to be responsive to the intentions and actions of the other, knowing that the other is attempting to be similarly responsive. Each seeks to guide his behaviour with the eye to the behaviour of the other, knowing that the other seeks to do likewise. (ii) Commitment to the joint activity: In SCA the participants each have an appropriate commitment (though perhaps for different reasons) to the joint activity, and their mutual responsiveness is in the pursuit if this commitment. (iii) Commitment to mutual support: In SCA each agent is committed to supporting the efforts of the other to play her role in the joint activity.« Bratman: »Shared Cooperative Activity« [1992], S. 94f. (dt.: S. 177). Vgl. Tuomela: Social Ontology (2013), S. 159. Dies kann damit untermauert werden, dass Bratman seinen eigenen Ansatz der »tiefgreifendsten« Intentionalitätsform – der »shared cooperative activity« – als »broadly individualistic in spirit« bezeichnet. Vgl. (i) Bratman: »Shared Cooperative Activity« [1992], S. 108 (dt.: S. 192). (ii) Bratman: »Shared Intentions« [1993], S. 129 (dt.: S. 421). Dies begründet sich damit, dass Bratman vorwiegend auf die »meshing subplans«, jedoch kaum auf den Bezug der Beteiligten selbst eingeht. Den Menschen ausschließlich als planend zu begreifen, so Schweikard, sei zu einseitig, da er gleichzeitig auch als sozialer Akteur erfasst werden müsse (vgl. David P. Schweikard: »›You’ll Never Walk Alone‹ – Gemeinsames Handeln und soziale Relationen«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Band 55, Berlin, 2007, S. 425–440, hier: S. 432ff.). Bratman: »Shared Cooperative Activity« [1992], S. 102f. (dt.: S. 186). Dabei erläutert Bratman jedoch nicht, wie es möglich sei zwischen den Absichten des Anderen zu differenzieren, um jene Absichten des Anderen die für mich zweckgebend sind »herauszufiltern«. Tuomela: »Collective Intentionality and Group Reasons« (2008), S. 5. Vgl. u.a. (i) Tuomela u. Miller: »Collective Goals Analyzed« (2014), S. 45. (ii) Tuomela: Social Ontology (2013), S. 40, S. 69 u. S. 76.
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
muss346 , wodurch auch in dem dritten Merkmal des »We-mode« der Sache nach eine Überschneidung mit dem Ansatz Bratmans nachgewiesen werden kann. Die Differenzierung der Phänomene der Kooperation und Koordination – und nun expliziter auch der Konkurrenz – erfolgt dabei je nach Autor anhand verschiedener Kriterien: erstens nach dem Intentionalitätsmodus der Beteiligten (Tuomela) oder danach, ob die Teilhandlungen fruchtbar ineinander greifen und die gesamte Handlung durchziehen (Bratman) und zweitens danach, ob die Beteiligten im »Wemode« eine »for-us-ness« (Tuomela) vertreten oder ob die Absichten des Anderen auch als »end-providing« für mich selbst gelten (Bratman). Entscheidend ist dabei allerdings, dass sich die begriffliche Verwendung der Bezeichnungen »shared« und »joint intention« bei beiden Denkern diametral gegenüberstehen: Tuomela spricht bei einem »I-mode« von einer »shared intention« und fasst den »We-mode« als »joint intention« – die »jointness« ist demnach laut Tuomela die »tiefgreifendste« Intentionalitätsform. Bratman hingegen bezeichnet Situationen, die sich durch die »subplans mesh to a certain level« auszeichnen als »joint intention« und fasst demgegenüber das Ineinandergreifen der Teilhandlungen durch die gesamte Handlung hindurch als »shared intention«. Laut Bratman ist demnach, ebenso wie nach de Vecchi – entgegen der Begriffsverwendung nach Tuomela und der üblichen Verwendung im englischsprachigen Raum – die »sharedness« jene Bezeichnung für die Gruppe im engen Sinne, das Auftreten der Gruppe als Einheit. Nochmals ausführlich anhand der Beispiele: möchte der Stürmer selbst aus Ruhmsucht den Torschuss vollziehen; gehen du und ich, aber nicht wir gemeinsam, ins Kino; möchten die Siedlungsbewohner nur ihr eigenes Haus retten oder spielt man gegeneinander Schach, sodass die »subplans« nur auf einer grundlegenden Ebene ineinandergreifen und der »mutual support« lediglich beschränkt ist, dann besteht ein »group behaviour in the I-mode«, eine »shared intention« oder bestenfalls ein »weak sense of jointness« (Tuomela) beziehungsweise eine »jointness« im umfassenden Sinne (Bratman). Handeln die Beteiligten hingegen kommunikativ, wechselseitig sozial (Husserl und de Vecchi), im »We-mode« aufeinander bezogen, dann besteht eine »joint intention« (Tuomela) beziehungsweise eine »shared cooperative activity« (Bratman). Zwar überschneiden sich hierbei die drei genaueren Merkmale bei Tuomela und Bratman erheblich – »we-mode group reason«, »collectivity condition« und »collective commitment« (Tuomela) beziehungsweise »commitment to the joint activity«, »mutual responsiveness« sowie »commitment to mutal support« (Bratman) –, doch werden sie bei beiden zu unterschiedlichen
346 Dass wiederum bedeutet, dass Tomasello nicht, wie er 2010 behauptet, den Terminus »shared cooperative activity« Bratmans modifizierend in Verbindung mit den drei zentralen Merkmalen nach Tuomela – »we-mode group reason«, »collective commitment« und »collectivity condition« – bringt, sondern diese Auslegung bereits in Bratmans eigenen Ansatz angelegt ist (vgl. Tomasello u. Moll: »The Gap is Social« (2010), S. 334).
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Formen kollektiver Intentionalität
Zwecken verwendet: Für Tuomela bestehen bei einer Handlung mit mehreren Beteiligten lediglich zwei Fälle: Entweder alle Bedingungen einer Gruppe im engen Sinne sind erfüllt oder nicht. Man müsste demnach sagen: Falls nur eine einzige Bedingung oder zwei der drei Bedingungen vorliegen, besteht nach Tuomela ein »I-mode«. Dies scheint jedoch, folgt man seinem sprachanalytischen Mitstreiter unplausibel: Bei Bratman besteht eine begriffliche Binnendifferenzierung je nach dem welche Kriterien genau erfüllt sind.347 In anderen Worten: mit Bratman scheint es möglich die bestehenden graduellen Stufen der Entwicklung des »I-« hin zum »We-mode« beziehungsweise vom »We-« hin zum »I-mode« detaillierter aufzuschlüsseln, da er die »shared intention«, »shared intentional activity« und »shared cooperative activity« voneinander unterschiedet: »The basic idea was that at the heart of these phenomena is shared intention – a shared intention, for example, to paint the house together [there is a »commitment to the joint activity«]. Shared intentional activity, in the basic case, is activity suitably explainable by a shared intention and associated forms of mutual responsiveness. Shared cooperative activity requires, further, the absence of certain kinds of coercion, and commitments to mutual support in the pursuit of joint activity.«348 Nochmals deutlich herausgestellt: das »commitment to the joint activity« ist, so könnte man in Tuomelas Terminologie sagen, lediglich die Vereinbarung etwas in der Gruppe mit Anderen zu tun (»group behaviour«). Liegt zudem eine »mutual responsiveness« vor, welche sich in einer Handlung ausdrückt, dann besteht, folgt man nun wiederum Bratman, eine »shared intentional activity«. Doch auch hier, hat man es noch nicht mit einer Gruppe im engen Sinne, wie der Mannschaft als Mannschaft zu tun. Denn der Aspekt der »mutual responsiveness«, welcher etwas holprig mit »gegenseitige Ansprechbarkeit« übersetzt werden kann, besagt lediglich, dass mehrere Beteiligte, mit Husserl gesagt: verstehend oder kommunikativ, aber eben (noch) nicht sozial aufeinander gerichtet sind. Besteht darüber hinaus jedoch ein freiwilliger »mutual support«, dann ist von einer Kooperation die Rede:
347 Vgl. Bratman: »I Intend That We J« [1997], S. 142 – dort: Fußnote Nr. 1 (dt.: S. 333 – dort: Fußnote Nr. 1). 348 Ebd., S. 142 (dt.: S. 333) (Herv. selbst vorgenommen). Mit Referenz auf: Bratman »Introduction: Planning Agents in the Social World« (1999), S. 9. Bei Hans Bernhard Schmid heißt es: »Die Frage ist [...] wie intentionale Zustände von Individuen geteilt und gemeinsam gehabt werden können. Raimo Tuomela [...] bevorzugt [...] den Ausdruck we-intentions (oder allgemeiner: thinking in the we-mode) gegenüber der mittlerweile allerdings gebräuchlichen Bezeichnung ›collective intentionality‹; Bratman seinerseits spricht von shared intentions.« H.B. Schmid: »Schwerpunkt: Koll. Int. u. gemeinsames Handeln« (2007), S. 405). Worauf hier Schmid aufmerksam macht ist, dass bei verschiedenen Autoren unterschiedliche Begriffe dominieren. Allerdings muss gesagt werden, dass diese keineswegs gleichgesetzt werden können, wie in diesem Versuch einer Typologisierung genauer aufgeschlüsselt wird.
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
»shared cooperative activity«. Es wäre eine Überlegung wert, ob dieses Phänomen daher anstatt als »mutual responsiveness« nicht besser als »mutual responsibility« begriffen werden sollte, das heißt als wechselseitige Verantwortung, Verpflichtung und Haftung – da man sich gemeinsam auf ein Ziel geeinigt hat und dieses gemeinsam verfolgt. Die Kernfrage lautet in Bratmans Ansatz also inwieweit die »meshing subplans« reichen, wobei darauf zu achten ist, was in der konkreten Situation bestimmend ist. Auf das Beispiel der Fußballer bezogen: nach Tuomela befinden sich die elf Spieler entweder im »I-mode« (»shared intention«) oder »We-mode« (»joint intention«), wobei sich nur im zweiten Fall eine Mannschaft im engen Sinne konstituiert. Indem Bratman verschiedene begriffliche Abstufungen des Bezugs differenziert – »shared intention«, »shared intentional activity« und »shared cooperative activity« –, kann man als Leser den Eindruck gewinnen, als sei damit, in einem direkten Vergleich zu Tuomela, terminologisch exakter möglich die Abstufungen des Wandelns, wie beispielsweise von elf Einzelspielern zu einer Mannschaft aus Team-Playern, erfassen zu können. Bevor diese begriffliche Unterscheidung nach Bratman in ihrer Anwendung konkret überprüft wird, wird diese mit jener Tuomelas holzschnittartig in Tabelle Nr. 12 zusammengetragen. Tabelle Nr. 12: Die Intentionalitätsformen nach Bratman Bezeichnungen nach Bratman
Charakterisierung
»Shared intention«
- »meshing subplans« bestehen lediglich »down to a certain level« - Bei den Beteiligten liegt ein »commitment to the joint activity« vor. (= »collective commitment« (Tuomela)) entspricht dem »group behaviour in the I-mode« (Tuomela)
»Shared intentional activity«
Bei den Beteiligten liegt ein »commitment« und »mutual responsiveness« vor.
»Shared cooperative activity«
Bei den Beteiligten liegt ein »commitment«, »mutual responsiveness« und »commitment to mutual support« vor. (= »collectivity condition« / »the three musketeer condition« (Tuomela)) Die »meshing subplans« bestehen fortlaufend. Entspricht der »joint intention«, dem »group behaviour in the We-mode« (Tuomela) Fehlt eines dieser Merkmale, dann liegt ... nach Tuomela ein »group behaviour in the I-mode« vor. ... nach Bratman beispielsweise eine »shared intentional activity« vor.
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Formen kollektiver Intentionalität
Dass sich Fälle, wie das Anstreichen eines Hauses, bei welchem man sich wechselseitig, kommunikativ, im »We-mode« auf jede einzelne Teilhandlung geeinigt hat (wie die Wahl der Farbe, die Arbeitsschritte und die Arbeitsaufteilung), und diese wechselseitig, kommunikativ, im »We-mode« vollzieht – kurz: in Situationen, die ausgeprägt vom einem »meshing of the subplans down to each level« charakterisiert sind – recht leicht nach Bratman schematisieren lassen, muss wohl nicht weiter ausgeführt werden. Doch wie steht es konkret mit jenen Fällen, in welchen sowohl Konkurrenz als auch Kooperation bestehen, das heißt exakt mit solchen Fällen die Bratman selbst anspricht, wie dem Schachspiel? Die Position des Phänomenologen Gurwitsch um 1931 hierzu lässt sich wie folgt herleiten: Gurwitsch erläutert jene Fälle, in denen »man nicht miteinander arbeitet, sondern gegeneinander agiert, wie z.B. beim Schachspielen«349 , innerhalb des Paragraphen § 18, welcher betitelt ist mit »Das Zusammensein in einer gemeinsamen Situation«. Daher könnte man schlussfolgern, dass es nach Gurwitsch, weil sich die Parteien vorher kooperativ auf Regeln geeinigt haben und auf das Handeln des Anderen reagieren, als gemeinsamer Vollzug zu gelten habe. Wie auch nach Scheler gelten könnte, dass es sich um ein Miteinander handeln, da beide Parteien in ein und derselben Weise (kooperativ) auf ein und dasselbe (Spielregeln) gerichtet sind. Verfolgt man diese Positionen, so wird allerdings entweder das konkurrierende Element des Schachspiels missachtet oder man müsste dezidiert zwischen der kooperativen Anerkennung der Spielregeln als Miteinander und dem kompetitiven Vollzug des Schachspiels als Gegeneinander differenzieren. Beide Varianten laufen auf eine zeitliche Abgrenzung hinaus und trennen damit die Elemente, die zu einem Schachspiel gehören, sodass entweder nur der andere oder nur der andere Aspekt thematisiert wird. Doch unter welche Bezeichnung nach Bratman müsste das Schachspiel, insbesondere wenn man es im Umfang aller seiner Momente schildert, kategorisiert werden? Man kann davon ausgehen, dass bei unserem Schachspiel wenigstens eine gegenseitige Unterstützung vor jedoch nicht während des Spiels gegeben ist, weil wir beide eben doch ab einem bestimmten Punkt auf das Eigeninteresse – den Gewinn des Spiels – fokussiert sind. Daher meint Bratman einerseits: das Schachspiel ist eine »joint activity […][. It] is not a SCA [shared cooperative activity]«350 . Dies erinnert an die strikte Einteilung Tuomelas in »I-« und »We-mode«: Es liegt entweder eine »joint-« oder eine »shared intention« vor – wobei wie hervorgehoben wurde, die Begriffe »joint« und »shared« bei Tuomela und Bratman unterschiedlich verwendet werden. Andererseits heißt es bei Bratman: »Our chess playing is not a full-blown SCA [shared cooperative activity]«351 .
349 Gurwitsch: Die mitmenschlichen Begegnungen (1931), Abschnitt III, Kapitel I, §18, S. 149. 350 Bratman: »Shared Cooperative Activity« [1992], S. 107 (dt.: S. 191) (Herv. selbst vorgenommen). 351 Ebd. (Herv. selbst vorgenommen).
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
Damit wird eine Differenzierung innerhalb der »shared cooperative activity« in zwei Arten erhoben, in eine »not full-blown« und eine »full-blown« Variante. Mit dieser Überlegung erscheint das Schachspiel als unvollständige, nicht gänzlich entfaltete »shared cooperative activity«, da die Kooperation in Bezug auf die Spielregeln nur rudimentär auf grundlegender Ebene vorliegt. Hierbei wird deutlicher als in der ersten Bestimmung das kooperative Moment hervorgehoben, welche sich auch in der Textpassage »within this cooperative framework our activity is competitive «352 findet. Diese nun vielmehr graduelle Aufteilung erinnert ihrerseits die Einteilung Tuomelas in eine »not full-blown« und »full-blown collective intentionality«. Während sich jedoch die Beschreibungsweisen nach Tuomela letztlich miteinander vereinen lassen, das heißt gleichzeitig gelten können – je nach dem welcher Aspekt hervorgehoben werden soll: die Absicht, das kollektive Verhalten oder der Modus –, ist dies bei Bratmans zwei Beschreibungsweisen des Schachspiels keineswegs möglich: Ist es nun »not a SCA«, also keinesfalls eine geteilte kooperative Handlung, oder »not a full-blown SCA«, also gewissermaßen eben doch eine Form der geteilten kooperativen Handlung, wenn auch eine verminderte Unterform? Oder ist das Schachspiel letztlich ein Beispiel einer Zwischenform zwischen der »joint-« und »shared intention« in seinem Sinne? Somit wäre es wiederum keine »shared cooperative activity«, jedoch zumindest eine »shared intentional activity«. Nimmt man diese Darstellungen Bratmans zusammen, dann lässt sich sagen: zwar findet sich bei Bratman eine Binnendifferenzierung, doch ob er damit prägnanter als andere Autoren Fälle in welchen konkurrenzhaftes Gegeneinander und kooperatives Miteinander auftreten, in ihrer komplexen Gesamtheit, das ist mit Blick auf alle Momente, beschreiben kann, ist nicht entschieden. Geht man rein nach den begrifflichen Inhalten der von Bratman aufgestellten Merkmale – »commitment to the joint activity«, »mutual responsiveness« und »commitment to mutal support« – vor, dann liegen bei einem Schachspiel oder einem Boxkampf im Ring lediglich die ersten beiden Aspekte vor, da man sich auf eine gewisse Handlung mit gewissen Regeln geeinigt hat und gegenseitig aufeinander reagiert, aber sich eben nicht wechselseitig unterstützt. Deutlich ist damit nochmals, dass sich in der Sprachanalytik zahlreiche harte Begrifflichkeiten finden lassen, welche allerdings in der konkreten Anwendung an ihre Grenzen stoßen, insbesondere dann, wenn man versucht Mischformen wie das Schachspiel nicht in seine einzelnen Phasen zu unterteilen – hier: das Festsetzen der Spielregeln (kooperativ) und das tatsächliche Versetzen der Figuren (das in aller Regel unkooperativ ist). Wie auch beim Verhalten der Fußballspieler als Miteinander im »We-mode« oder als notgedrungenes Miteinander, um das eigene Ziel, wie Ruhm und Ehre, erreichen zu können, gilt auch beim Schachspiel, dass in jedem Fall des »group behaviour« ein Eingehen auf den Anderen besteht. Beide Fälle 352 Ebd.
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unterscheiden sich wohl dennoch drastisch voneinander, da sich bei den elf Fußballspielern der Modus ohne Frage im Verlauf einer Spielsaison erheblich wandeln kann, dieser Wandel aber auch langsam sehr graduell vonstattengehen kann. Die kooperativen und konkurrierenden Handlungssequenzen bei einem Schachspiel lassen sich hingegen wohl getrennter voneinander betrachten. Der in der Phänomenologie verbreitete Begriff »Miteinander« ist vage, da er dort sehr weit gefasst ist, sodass letztlich alle Phänomene umfasst werden: das Teilnehmen an etwas im Sinne Heideggers353 oder nach Husserl jegliche Erlebnisse, die mit und gegen den Anderen erfahren werden354 . Die Differenzierungen der verschiedenen Bezugsrichtungen, -akte oder -modi haben demgegenüber der Definition nach einen harten Sinn, sodass sie sich nur auf ganz spezifische Phänomene beziehen sollen. In der Praxis, der konkreten Anwendung dieser Begriffe erhalten sie allerdings eine weiche Bedeutung. Da es sich um graduelle Unterscheidungen handelt, welche an den Extrempolen wie der Koordination und Kooperation beziehungsweise der Konkurrenz und Kooperation leicht auszumachen sind, aber an komplexen Beispielen wie dem Schachspiel kaum festzumachen sind. Es besteht ein klarer Konsens in der Debatte darin, dass eine Gruppe nur dann in einem engen Sinne bestehe, wenn die Beteiligten in ein und derselben Weise auf ein und dasselbe bezogen sind. Nur die Antworten dieser Autoren variieren, wann dies der Fall ist: Wenn die Beteiligten kommunikativ (Husserl), wechselseitig sozial (de Vecchi), im »We-mode« aufeinander gerichtet sind (Tuomela und Tomasello) beziehungsweise wenn die Kooperation alle Handlungsabläufe durchdringt (Bratman). Bratmans Konzept kann dabei nicht nur wegen der ineinandergreifenden Subpläne und dem Vergleich der unterschiedlichen Begriffverwendungen innerhalb der Sprachanalytik herangezogen werden, sondern auch, weil sich aus seinem Verständnis der »shared cooperative activity« um 1992 eine neue Detaildebatte eröffnete: Muss für eine Gruppe damit sie als Gruppe im engen Sinne bezeichnet werden kann eine Freiwilligkeit vorliegen? Oder anders formuliert: welche Intentionalitätsform liegt bei einer zwanghaften Situation vor, bei welcher man keineswegs davon sprechen kann, dass kooperatives Verhalten alle Handlungsweisen durchdringt?
Die Rolle der Freiwilligkeit Bratmans eigene Einschätzung der gemeinsamen Handlung ist eindeutig: Damit eine gemeinsame Handlung als gemeinsame gelten kann, muss notwendigerwei-
353 Vgl. Heidegger: Einleitung Philosophie [1928], S. 85. 354 Vgl. Husserl: Beilage Nr. XLVII: »Ich u. die Welt« (1926/1927) (Hua. XIV), S. 409.
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
se eine Kooperation vorliegen, welche ihrerseits einen zwanglosen Kontext benötigt355 : »SCA [shared cooperative activity] involves appropriately interlocking and reflexive systems of mutally uncoerced intentions concerning the joint activity.«356 Kurz gefasst heißt dies: unfreiwillig entsteht kein Wir. Als Basis für die Überlegung führt Bratman ein Beispiel an, welches unter der Bezeichnung »the mafia sense of we« bekannt wurde: »You and I each intend that we go to New York together, and this is known to both of us. However, I intend that we go together as a result of my kidnapping you and forcing you to join me. The expression of my intention, we might say, is the Mafia sense of ›We’re going to New York together‹. While I intend that we go to New York together, my intentions are clearly not cooperative in spirit. Cooperation, after all, is cooperation between intentional agents each of whom sees and treats the other as such; and in intending to coerce you in the way I intend to bypass your intentional agency.«357 Er unterstreicht mit dieser Ausführung, dass man für einen »core sense of cooperation« den Anderen nicht nur als gleichwertigen, intentionalen Akteur verstehen, sondern diesen auch als solchen behandeln muss. Das Entführungsbeispiel dient zudem nochmals dazu, zu verdeutlichen, dass die Beteiligten ein und dieselbe Absicht haben können (hier: nach New York zu fliegen) und wissen, dass sie ein und dieselbe Absicht haben, doch dies allein noch nicht für eine Gemeinsamkeit im engen Sinne ausreicht. Greifen die Pläne der Beteiligten zur Erreichung dieser Absicht ineinander, dann besteht nach Bratman eine »shared cooperative activity«358 , eine »unified agency«359 . Im Rahmen eines Zwanges, wie hier einer Entführung, liegt allerdings bestenfalls lediglich eine »shared intentional activity« beziehungsweise eine »joint activity« vor360 , wie er – intuitiv einleuchtend – wie folgt begründet: 355 356 357 358 359 360
Diese Ansicht findet sich ganz ausdrücklich beispielsweise bereits bei Émile Durkheim (vgl. Durkheim: Über soziale Arbeitsteilung [1893], S. 163, S. 175 u. S. 267). Bratman: »Shared Cooperative Activity« [1992], S. 102f. (Herv. selbst vorgenommen). Ebd., S. 100 (dt.: S. 183) (Herv. selbst vorgenommen). Vgl. Bratman: »Shared Intentions« [1993], S. 117f. (dt.: S. 415). Vgl. Bratman: »Introduction: Planning Agents in the Social World« (1999), S. 9. Bratman: »Shared Intentions« [1993], S. 118 (dt.: S. 414). Vgl. (i) Ebd. (ii) Bratman: »Shared Intention and Mutual Obligation« [1997], S. 132f. Eine ähnliche Differenzierung in zwanghafte Fälle einerseits und kooperative, gleichberechtigte Fälle andererseits findet sich bereits um 1932 beim Entwicklungspsychologen Jean Piaget: »Er [Piaget] glaubt, in der sozialen Interaktion zwei Typen der Reziprozität feststellen zu können, komplementäre und symmetrische Reziprozität. Bei der ersten interagieren die beiden Teilnehmer unter ungleichen Voraussetzungen. Die Beiträge des einen zählen mehr und besitzen größeres Gewicht als die des anderen. Insbesondere bestimmt der einflußreichere
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zum einen kann das Verhalten des Entführers nicht als kooperativ gelten. Zum anderen vollzieht das Entführungsopfer die Handlung nicht freiwillig, sondern würde gerade alles dafür tun nicht zu den Beteiligten zu gehören.361 Diese Schilderungen Bratmans sind wohl der Grund, weshalb Tuomela in Cooperation – A philosophical Study (2000) seine Auffassung modifiziert362 : »the fullest kind of we-mode cooperation«, so heißt es nun bei Tuomela, »assume that the parties truly willingly perform their parts«363 . Und auch bei Husserl, seiner Terminologie folgend zumindest bei Teilnehmer, was akzeptiert und was verworfen, was gebilligt und was mißbilligt wird. [...] In der symmetrischen Form der Reziprozität besitzt keiner der Teilnehmer ein Übergewicht in dem eben beschriebenen Sinn. Die Autor- und Herausgeberrolle gehört beiden gemeinsam [...]. Ausgehend von dieser Gegenüberstellung erklärt Piaget weiter, daß die beiden unterschiedlichen Formen der Reziprozität zu zwei Typen von Moral führen, einer Moral des Zwanges und einer davon verschiedenen Moral der Kooperation. [...] Komplementarität ist kennzeichnend für Kommunikation im Rahmen einer Autoritätsbeziehung. Die Teilnehmer sind ungleich hinsichtlich ihres Wissens und der Macht [...]. Die Kommunikation ist wesentlich einseitig [...]. Zur symmetrischen Reziprozität gehört, daß beide Teilnehmer sich in [...] einer potenziell kooperativen Beziehung [befinden, welche][...] der interpersonalen Kommunikation zwischen Gleichen entspring[t].« Youniss: »Moral, kommunikative Beziehungen u. d. Entwicklung d. Reziprozität« (1984), S. 40f. Piages Position ist dahingehend charakteristisch, da er erstens nicht wie Bratman eine Handlungstypologie, sondern vielmehr eine Typologie der interpersonalen Kommunikation erarbeitet und daher eher den phänomenologischen Ansätzen, wie beispielsweise de Vecchi, zuzuordnen ist. Zweitens kann die Reziprozität in seinem Sinne jedoch auch einseitig auftreten und ist daher nicht per se durch eine Wechselseitigkeit gekennzeichnet. 361 Nimmt man erstens an, dass der Modus der Beteiligten wandelbar ist und zweitens, dass man niemanden zum »We-mode« zwingen kann – Zwang steht gerade einer Kooperation im engen Sinne entgehen, wie Bratman mit dem »mafia sense of we« vertritt –, dann ergibt sich für Teambuilding Maßnahmen, dass diese kritisch zu werten sind: Entweder es besteht bereits ein Team – dann ist keine einzige Maßnahme nötig –, oder es besteht kein Team – dann helfen allerdings auch keine aufgezwungene Maßnahmen. 362 Jene frühere Auffassung Tuomelas lässt sich mit folgendem Zitat belegen: »A fully cooperative joint action can be performed under coercion. A person can coerce somebody else to perform an action jointly with him, e.g. into a joint business venture, once the sanction is sufficiently severe. The coerced person may willingly participate and save himself from such severe punishment. (It does not matter whether the coercer is one of the participants of joint action or some outsider.) This means that the notion of a cooperative attitude has nothing to do with altruism or related psychological attitudes.« Tuomela: »What Is Cooperation?« (1993), S. 99. 363 Tuomela u. Tuomela: »Cooperation and trust« (2005), S. 65 (Herv. übernommen). Auch bei früheren Autoren, wie beispielsweise Gerda Walther oder Martin Buber, findet sich diese Position, auch wenn diese eher von Freitätigkeit (Walther) oder Selbstständigkeit (Buber) statt von Freiwilligkeit sprechen. Vgl. (i) Walther: Ontologie d. soz. Gemeinschaften [1923], S. 38. (ii) Martin Buber: Das Problem des Menschen [1948], Lambert Schneider Verlag, Heidelberg, 1982, hier: Versuche unserer Zeit, Abschnitt 2, S. 115. Im Folgenden als: Buber: Problem d. Menschen [1948]. Positionen dieser Art werden auch von gegenwärtigen Autoren der De-
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
»Zweckgesellschaften«, heißt es, dass die Beteiligten »durch Verständigung über einen gemeinsamen von allen gewollten und gemeinsam angenehmer oder besser zu realisierender Zweck«364 zusammenfinden. Denkt man diese Ansicht allerdings konsequent weiter, dann gilt erstens: für eine »shared cooperative activity« (Bratman), für »the fullest kind of we-mode cooperation« (Tuomela), für von ihm so bezeichnete »Zweckgemeinschaften« (Husserl) müssen die Beteiligten nicht nur zahlreiche kognitive Fähigkeiten, wie unter anderem Einfühlungsvermögen und den »We-mode«, und einen ontologischen Status der realen Existenz mitbringen, sondern es muss sich zudem um freie mündige, autonome Menschen handeln. Zweitens kann aus dieser Position im Rückschluss abgeleitet werden: besteht ein Fall, in dem nicht alle Beteiligten die Beteiligung freiwillig eingehen, dann kann man nicht gerechtfertigt von einer Gruppe im engen Sinne, sondern lediglich von einem »mafia sense of we« (Bratman) sprechen. Auf den Punkt gebracht: alle Beteiligten müssen freiwillig auf ein und dasselbe gerichtet sein und freiwillig das »commitment« eingehen.365 Diese zugespitzte These kann allerdings verschiedentlich hinterfragt werden: Liegt vielleicht doch eine Gemeinsamkeit im engen Sinne vor, wenn zwar nicht alle Beteiligten jedoch zumindest ihre Mehrheit diese Beteiligung freiwillig eingegangen ist? Lassen sich nicht ebenso intuitiv Gegenbeispiele finden, das heißt Fälle, in denen aus einem Zwang heraus im Verlauf ein Zusammengehörigkeitsgefühl entstehen kann? Man denke hierbei etwa musterhaft an arrangierte Ehen, die zwar aus einem Zwang anstatt aus der wechselseitigen Freiwilligkeit heraus geschlossen werden, sich jedoch nach einiger Zeit durchaus ein tiefgreifendes Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln kann, sodass strenggenommen sehr viele verschiedene Entwicklungsstadien ein und derselben zwischenmenschlichen Beziehung beachtet werden müssten. Ähnliches gilt auch für weniger drastische Beispiele, wie den Zwang – oder aus philosophischer Sicht terminologisch präziser: für die Zumutung – des Familienverbundes: Ich bin in meine Familie, ob ich wollte
batte, wie Pettit und Schweikard, vertreten (vgl. Pettit u. Schweikard »Joint Action and Group Agents« (2006) (dt.: S. 561)). Ganz in diesem Sinne müsste man wohl auch sagen, dass eine hypnotisierte Person gerade nicht nach ihrem eigenen Willen handelt, denkt oder fühlt, sondern nach dem Willen des Hypnotiseurs. In den Begrifflichkeiten Tuomelas: die hypnotisierte Person besitzt keinen »We-mode« im engen Sinne, sondern bestenfalls liegt ein geglaubter »We-mode«, eine geglaubte kollektive Intentionalität vor. 364 Husserl: Intersubjektivität I (Hua. XIII, Texte v. 1905-1920), hier: Beilage XX: »Die menschlichen Gesellschaften und Gemeinschaften« (wohl 1910), S. 107–110, hier: S. 107 (Herv. selbst vorgenommen). 365 Auch in der Phänomenologie ist, der Sache nach, eine solche Einschätzung der Freiwilligkeit zu finden. Hier anhand von Gerda Walther: »Von einer Einigung im engsten Sinne kann aber erst die Rede sein, wo es sich um eine freitätige Einigung des freien Ich-Punktes handelt.« Walther: Ontologie d. soz. Gemeinschaften [1923], S. 38.
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oder nicht, hineingeboren und kann auch niemals vollständig aus dieser Blutsverwandtschaft aussteigen. Und dennoch liegt hierbei, obwohl durch die gesellschaftlichen Rollen unfreiwillige Verpflichtungen bestehen366 – zumindest in den allermeisten Fällen – ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl vor.367 Selbst bei einem Entführungsopfer können sich im Laufe Gefühle für den Entführer entwickeln, was als »Stockholm-Syndrom« bekannt ist, sodass der Zwang weniger oder sogar überhaupt nicht mehr als solcher empfunden wird. Welcher konkrete Gesellschaftstyp oder welche konkrete Intentionalitätsform in einem solchen Fall vorliegt, ist eine heikle Frage. Bratmans und Tuomelas Position könnte demnach dahingehend präzisiert werden, dass man einerseits den Zwang auch als Zwang, das heißt als immense Einschränkung der eigenen intentionalen Akteurschaft empfinden muss. Andererseits ist darauf zu achten, dass zwischen dem Zwang (beziehungsweise dem Gefühl des Zwanges) und der Freiwilligkeit graduelle Abstufungen bestehen. Man stelle sich zur Veranschaulichung folgendes Szenario vor: die Eltern möchten mit dem Kind einen Ausflug machen, wie etwa die Großeltern besuchen, doch das Kind möchte das nicht – aus welchen Gründen auch immer. Kurzerhand wird das Kind ins Auto gepackt und die Reise wird angetreten. Von einer dezidierten Entführung würde wohl niemand sprechen, da es sich um das eigene Kind handelt und, so die kurze Konzeption des Beispieles, keine Gesetze gebrochen werden sowie sich beide Elternteile in ihrem Vorhaben und Verhalten einig sind. Liegt hier nur eine Gruppe im schwachen Sinne vor? Ist das Kind bereits als mündiger Bürger zu behandeln, dessen Freiheit und Willen beachtet werden muss? Wie steht es mit der Phrase, dass man gegebenenfalls den Anderen »zu seinem Glück zwingen« muss? Ist vielleicht letztlich die Freiwilligkeit keine notwendige, sondern nur eine 366 Vgl. Kay Mathiesen: »We’re all in this together – Responsibility of Collective Agents and their members«, in: Midwest Studies in Philosophy, 2006, S. 240–255, hier: S. 253 (übersetzt v. David P. Schweikard: »Wir sitzen alle in einem Boot«, in: Sammelband Kollektive Intentionalität, hg. v. Schmid u. Schweikard (2009), S. 738–764, hier: S. 759f.). 367 Es scheint also einen erheblichen Unterschied zu machen, ob man (freiwillig) in die Gruppe gekommen ist oder ob man (freiwillig) in der Gruppe bleiben möchte und ob überhaupt eine tatsächliche Austrittsmöglichkeit besteht. Hans Bernhard Schmid differenziert zwischen einer schwachen und starken Freiwilligkeit: »Annas und Bertas gemeinsames Wandern ist ( […] zumindest prima facie) ›freiwillig‹. Das Beispiel unterstellt damit etwas, was für typische Grundformen der Gemeinschaft gerade nicht (oder zumindest nicht in diesem starken Sinn) gilt. Staats -, Kulturgruppen -, Standes- und Familienzugehörigkeit haben nicht die voluntaristische Grundlage […]. Selbst wenn man den hier gegen die voluntary associations stark gemachten Gemeinschaften doch noch einen Kern von ›Freiwilligkeit‹ unterstellen mag – es gibt ja in den meisten Fällen eine exit-Option: Man könnte ja schließlich austreten, auf die Staatsbürgerschaft verzichten, sich von seiner Familie lossagen etc.: Es ist dennoch klar, daß die schwache Freiwilligkeit, die sich im Nichtaustritt manifestiert, eine ganz andere ist als jene starke Freiwilligkeit«. H.B. Schmid: Wir-Intentionalität (2005), S. 28f. (Herv. übernommen).
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
hinreichende Bedingung eines Zusammenhaltes der Beteiligten? Einwände dieser Art führten ihrerseits zu einer Überarbeitung der Konzeption der »tiefgreifenden« Intentionalitätsformen hinsichtlich der Rolle des Zwanges beziehungsweise der Freiwilligkeit. Bratman selbst modifiziert seine ursprüngliche Ansicht um 1997 in »I Intend That We J« leicht aber entscheidend: »Shared cooperative activity requires [...] the absense of certain kinds of coercion, and commitments to mutual support in the pursuit of the joint activity.«368 Doch welche konkreten Arten von Zwang – physisch wie auch psychisch – dürfen (oder dürfen eben gerade nicht) bestehen?369 Wird hier ein Zwang aus Pflichten heraus – man denke beispielsweise an Pflichten aufgrund einer spezifischen gesellschaftlichen Rolle – als nicht so »schwerwiegend« betrachtet, wie etwa der physische Zwang einer Gewaltandrohung mittels Pistole? Bratmans Ausführungen scheinen zumindest den Anschein zu erwecken, dass beispielsweise ein Zwang, der von der Gruppe auf den Einzelnen ausgeübt wird, nicht legitim ist, während demgegenüber eine Art »Selbstzwang« – man denke an die Überzeugungsarbeit an der eigenen Person den inneren »Schweinhund« zu überwinden – mit der »shared cooperative activity« vereinbar sein könnte. Auch die Position Gilberts ist hierzu ambivalent, da sie in bestimmten Schriften, wie On Social Facts (1989) oder A Theory of Political Obligation (2006), davon ausgeht, dass sich alle Teilnehmer freiwillig zum »commitment« verpflichten.370 In anderen Werken wiederum, wie in Sociality and Responsibility (2000), »wechselt«, so diagnostiziert Hans Bernhard Schmid, »der Fokus zur Möglichkeit erzwungener Zustimmung«371 . Durch diese Wende wird allerdings, so nun Ulla Schmid, die Bedingung der Freiwilligkeit und damit einhergehend »die Bedeutung des joint commitment [...] nahezu bis zur Bedeutungslosigkeit abgeschwächt«372 .
368 Bratman: »I Intend That We J« [1997], S. 142 (dt.: S. 333) (Herv. selbst vorgenommen). 369 Zwar heißt es beispielsweise in Bezug auf das Streichen des Hauses, dass ich die Absicht habe, dass wir streichen und nun »simply start painting, given that I expect that you will see this and thereby, knowing me fairly well, recognize my intention that we paint and so arrive as well at such an intention and just jump in. […] you remain a fee agent; it really is a decision that is up to you and without which we really will not paint. I predict that, in part as a result of my intention [under the mental pressure], you will so decide; but that does not mean that you do not decide.« Ebd., S. 155ff. (dt.: S. 348f.). 370 Vgl. Margaret Gilbert: A Theory of Political Obligation, Oxford University Press, Oxford, 2006, S. 106. Eine detaillierte Darstellung der Freiwilligkeit und des Zwanges bei den Intentionalitätsformen findet sich bei Gilbert unter anderem im Aufsatz »Agreement, Coercion, and Obligation« (2000). 371 H.B. Schmid: Wir-Intentionalität (2005), S. 70 – dort: Fußnote Nr. 34. 372 Ulla Schmid: »Ich und du sind nicht wir« (2011), S. 93.
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Bratmans Ausführungen des extremen und drastischen Falles einer Entführung, aus welchem er schließt, dass für eine Gemeinsamkeit im engen Sinne alle Beteiligten die entsprechende Handlung freiwillig vollziehen müssen, führten in der Debatte zu weitläufigen Auseinandersetzungen. Auf den ersten Blick mögen diese einleuchtend erscheinen, sie sind jedoch auf den zweiten Blick ungenau oder sogar inkohärent. Denn es muss mit einer Ambivalenz umgegangen werden: einerseits basieren allgegenwärtige Verpflichtungen aufgrund spezifischer Rollen nicht auf Freiwilligkeit. Andererseits liegen diese Verpflichtungen wohl am deutlichsten gerade beim Ursprung der kooperativen Strukturen vor: der Familienbande. Diese scheint geradezu systematisch als Gegenbeispiel dienen zu können: Es liegt dabei keine – explizit oder wenigstens implizit – geäußerte Freiwilligkeit vor und dennoch befinden sich die Beteiligten meist im kooperativen »We-mode«. Auf Basis dieser Überlegungen nahm der Präzisierungsversuch Bratmans und Tuomelas folgenden Weg ein: damit eine Handlung als gemeinsame Handlung gelten kann, dürfen zum einen spezifische Arten des Zwanges, wie eine Entführung, nicht vorliegen. Zum anderen ist nicht der Zwang selbst, sondern vielmehr das subjektive Gefühl des Zwanges beziehungsweise das subjektive Gefühl vom Fehlen des Zwanges entscheidend.373
Zwischenfazit zu Kapitel 3.2 Innerhalb der sprachanalytischen Auseinandersetzung mit den Intentionalitätsformen lassen sich, so wurde in diesem Kapitelabschnitt dargelegt, verschiedene Ansätze des Umgangs sowie Aspektverschiebungen finden: Auch wenn der wohl erste vielversprechende sprachanalytische Aufsatz zur den Intentionalitätsformen um 1984 von Tuomela und Miller verfasst wurde, begann ein gewaltiger Anstoß 373
Diese Debatte lässt sich unter anderem mit der Frage weiterführen, ob die Pole »Zwang« und »Freiwilligkeit“ oder »Freiheit« überhaupt passende Maßstäbe sind, oder ob man nicht vielmehr danach fragen müsse, wer für die Handlung verantwortlich ist – wie es beispielsweise die Position von Edmund Husserl und Martin Buber ist. Beide sind der Ansicht, dass in einer Gemeinschaft allen Beteiligten eine Selbstverantwortung (Husserl) beziehungsweise eine individuelle Selbstständigkeit (Buber) zugeschrieben werden kann. Vgl. (i) Husserl: »Idee eines individuellen u. Gemeinschaftslebens« (1924) (Hua. VIII), S. 197f. (ii) Buber: Problem d. Menschen [1948], S. 115. (iii) Eine ähnliche Richtung schlägt auch Magnus Schlette vor, wie er im Rahmen des Jenaer Forschungskolloquiums am 04.06.2019 dargelegte: Anstatt zwischen Zwang und Freiwilligkeit sollte vielmehr zwischen Urheberschaft und Selbstmächtigkeit unterschieden werden: Vollziehe ich die Handlung freiwillig, dann bin ich der Urheber meiner Handlung, welche selbst mächtig vollzogen wurde. Stehe ich jedoch unter (Gruppen-)Zwang, dann bin ich zwar noch der Urheber meiner Handlung, eine Selbstmächtigkeit liegt jedoch nicht mehr vor. Vorüberlegungen hierzu finden sich etwa in seinem Aufsatz »Verkörperte Freiheit. Praktische Philosophie zwischen Kognitionswissenschaft und Pragmatismus« (erschienen in: Ethik und Gesellschaft, Heft 1, 2015, S. 1–22).
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
der Debatte durch Searles Neologismus »kollektive Intentionalität« im Jahr 1990. Searle differenziert die Intentionalitätsformen vorwiegend in einem quantitativen Sinne danach, wie viele Beteiligte bestehen: individuelle oder kollektive Intentionalität – wobei er, wie auch Husserl, de Vecchi und Tuomela, die Begriffe »Wir« und »Kollektiv« als Synonyme verwendet. Eine Beachtung der qualitativen Aspekte findet Searle durch die Differenzierung der Tatsachenarten statt, konkret: ob eine soziale oder institutionelle Tatsache geschaffen wird (siehe Kapitel 3.3). Auf diese qualitative Komponente zielt womöglich auch die Bezeichnung »shared intentionality«374 nach Searle, welche allerdings bei ihm selbst unerläutert bleibt. Eine genauere begriffliche Unterscheidung ist jedoch angebracht, um, wie in dieser Arbeit angestrebt, zu differenzieren, ob ich hier oder er dort drüben über eine individuelle Intentionalität verfügt (Ich- oder subjektive Intentionalität) sowie ob wir hier oder das Kollektiv dort drüben über ein und dieselbe Intentionalität verfügen (Wir- oder kollektive Intentionalität). Autoren wie Husserl, Ernst Wolfgang Orth und Hans Bernhard Schmid vertreten vollkommen berechtigt die Position, dass es bei einer Intentionalität mit mehreren Beteiligten verfehlt wäre zu sagen, dass diese Intentionalität jemand hat, sondern diese drückt vielmehr eine Relation aus und sei daher vielmehr als Inter-Intentionalität zu begreifen.375 Dennoch ist es wohl dennoch angemessen, bei einer Intentionalität mit mehreren Beteiligten zu fragen, ob dabei eine Wir- oder kollektive Intentionalität vorliegt, das heißt, ob der Sprecher sich selbst, wie es der übliche Fall ist, der betreffenden Gruppe zuordnet – in anderen Worten, ob er die Erfahrung jener Intentionalität am eigenen Leib erfährt oder nicht. Ebenso kann bei der Intentionalität eines Beteiligten – sozusagen der Intra-Intentionalität – terminologisch näher bestimmt werden, ob es die Intentionalität eines Lebewesens (individuelle), ob es die Intentionalität eines Subjektes (subjektive) oder ob es meine Intentionalität (Ich-Intentionalität) ist. In Bezug auf den Ansatz Searles und seiner Rezeption lassen sich mehrere Aspekte festhalten: Erstens wurde im Verlauf der Debatte Searles Grunddifferenzierung, dass entweder eine individuelle oder eine kollektive Intentionalität bestehe, hinterfragt. Denn: je nach Bezugsmodus, -richtung oder -akt der Beteiligten lassen sich zahlreiche unterschiedliche Intentionalitätsformen ausmachen, wie die intersubjektive, soziale, geteilte oder gemeinsame Intentionalität. Zweitens lautete eine weitere zentrale Annahme Searles, dass der Begriff »kollektive Intentionalität« auch bei zwei Tieren sowie der Tier-Mensch-Interaktion möglich sei. Dies wurde häufig negiert, denn vielmehr ist die Position verbreitet, dass ein Kollektiv mindestens drei Beteiligte benötigt – also beispielhaft mindestens
374 Vgl. u.a. Searle: »The biologically primitive sense of the other as a cnadidate [sic] for shared intentionality is a necessary condition of all collective behaviour and hence af all conversation.« Searle: »Coll. Intentions and Actions« (1990), S. 415 (dt.: S. 118). 375 Vgl. u.a. H.B. Schmid: »Wir-Identität: reflexiv und vorreflexiv« (2005), S. 373.
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Formen kollektiver Intentionalität
drei Tiere bestehen müssen –, oder weil die Bezeichnung »Kollektiv« lediglich bei Menschen gerechtfertigt ist – also mindestens zwei Menschen. Noch strikter findet sich sogar, beispielsweise bei Tomasello, die Position, dass beide Standpunkte gleichzeitig gelten, dass also mindestens drei Menschen – oder noch präziser: mindestens drei Personen – bestehen müssten. In der Phänomenologie wurde demgegenüber hinsichtlich der Beschreibung der tierischen Intentionalität vertreten, dass eine solche Einschätzung aufgrund der »what-it-is-like«-Perspektive von vornherein ausgeschlossen ist. Dass sich also die Frage nach der gerechtfertigten Bezeichnung für tierische Intentionalität aus wissenschaftlich basierter Sicht per se überhaupt nicht stellt und lediglich aus einem naiven Alltagsverständnis heraus angenommen werden kann. Drittens wurde darüber hinaus Searles Aufsatz »Collective Intentions and Actions« aus dem Jahr 1990 in der Debatte so gelesen, dass darin die These vertreten wird, dass einem einzelnen Individuum oder sogar einem Gehirn im Tank eine kollektive Intentionalität zuschreibbar sei. Zahlreiche Autoren, wie unter anderem Bratman (um 1993), Meijers (2003), Schmid (2003) und Tuomela (2005)376 , wendeten dagegen ein, dass es sich dabei nicht um eine tatsächliche, sondern nur um eine geglaubte Intentionalitätsform mit mehreren Beteiligten handelt. Markant ist dabei, dass sich diese These – wenn auch nicht ausgeführt und etwas versteckter – in eben jenem Aufsatz Searles selbst finden lässt: Bei einem Gehirn im Tank, unter dem Einfluss einer falschen Annahme, einer Halluzination etc. liegt lediglich eine »purported reference to other members of a collective«377 vor (siehe Kapitel 2.2). Die qualitative Dimension, wie die Beteiligten aufeinander bezogen sein müssen – in phänomenologischer Terminologie: kommunikativ (Husserl) oder wechselseitig sozial (de Vecchi) – wird bei den hier zum Vergleich herangezogenen Autoren der Sprachanalytik erstmals bei Tuomela und Bratman umfangreich erläutert – wenn auch, ebenso wie in der Phänomenologie, auf Basis von graduellen Kriterien: dem »I-« und »We-mode« (Tuomela) beziehungsweise der »shared intention«, »shared intentional activity« und der »shared cooperative activity« (Bratman). Erst später findet sich auch bei Searle immer häufiger die Idee der »we-intentions«, welche bei ihm jedoch – unter dem Einfluss Tomasellos – wenigstens der Tendenz nach auf eine differentia specifica zwischen dem Tier und dem Menschen zielt (siehe Kapitel 3.3). Nach Tuomela – ähnlich wie bei Searle, der strikt zwischen der individuellen und kollektiven Intentionalität nach Anzahl der Beteiligten unterscheidet
376 Vgl. (i) Bratman: »Shared Intentions« [1993], S. 116f. – dort: Fußnote Nr. 17. (ii) Meijers: »Dialogue, Understanding and Coll. Int.« (2002), S. 233. (iii) Meijers: »Can Coll. Int. Be Individualized?« (2003), S. 179 (dt.: S. 428). (iv) H.B. Schmid: »Rationality-in-Relation« (2003), S. 90f. (v) H.B. Schmid: Wir-Intentionalität (2005), S. 227. (vi) Tuomela: »We-Intentions Revisited« (2005), S. 341. 377 Searle: »Coll. Intentions and Actions« (1990), S. 407 (Herv. selbst vorgenommen).
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
– ist die Sache klar: Entweder es liegt ein »I-« oder ein »We-mode« vor, der entweder allein oder in der Gruppe, genauer: mit Anderen (»shared«) oder mit Anderen und für Andere (»joint intention«) realisiert wird. Diese begriffliche Verwendungsweise Tuomelas entspricht dem englischsprachigen Alltagsverständnis, wie beispielhaft mit den Bezeichnungen »Carsharing« und »flat-sharing« untermauert werden kann. Eine solche Überlegung ist auch in der Handlungstypologie Hans Bernhard Schmids präsent: Es liegt eine »solitäre«, »singuläre« oder »plurale Handlung« vor.378 Der »We-mode«, so heißt es bei Tuomela, ist durch drei zentrale Merkmale charakterisiert: die »we-mode group reason«, die »collectivity condition« sowie das »collective commitment«. Innerhalb der sprachanalytischen Strömung finden sich weitere solcher Charakteristika einer Gruppenhandlung im engen Sinne, welche sich der Sache nach als teils oder nahezu deckungsgleich mit jener Tuomelas erweisen: Es muss ein »commitment to the joint activity«, eine »mutual responsiveness« und ein »commitment to mutual support« (Bratman) beziehungsweise das »Obligation Criterion«, das »Permission Criterion« sowie »The Compatibility with Lack of the Corresponding Personal Intentions Criterion« (Gilbert) bestehen. Während bei Tuomela entweder keiner oder alle drei Bedingungen vorliegen müssen, differenziert Bratman in detaillierter Weise danach, welche Merkmale im Einzelnen vorliegen oder zusammen auftreten, sodass er die »shared intention«, »shared intentional activity« und die »shared cooperative activity« unterscheidet. Mit dem Einbezug des Ansatzes Bratmans kann hervorgehoben werden, dass nicht nur die Bezugsrichtung, der Bezugsakt (wie bei Husserl und de Vecchi), der Bezugsmodus (wie bei Husserls »für uns« und Tuomelas »We-mode«) und die »direction of fit« (wie bei Tuomela) eine Rolle spielt, sondern auch beachtet werden muss, wie die Rolle der Freiwilligkeit einzuschätzen ist und bis zu welcher Ebene die Teilhandlungen kooperativ ineinandergreifen. Problematisch ist jedoch, wenn auch aus verschiedenen Gründen, die Begriffsanwendung nach Tuomela und Bratman, da die Kriterien wiedermals nur in der Theorie eine klare Differenzierung ermöglichen: Da sich der Modus der Beteiligten wandeln kann, wie unter anderem mit den Fußballspielern dargelegt, ist der Nachweis wann tatsächlich welcher Modus vorliegt und eine Einschätzung der zutreffenden Intentionalitätsform bestenfalls eine Momentaufnahme. Gesetzt den Fall, dass eine Einschätzung überhaupt möglich ist – was bereits anzweifelbar ist, wenn die Einschätzung aus der Beobachterperspektive erfolgt oder sogar auf eine Bewertung des tierischen Verhaltens aus ist. Die genauere Differenzierung nach Bratman scheint zwar löblich, ist jedoch ebenso in der konkreten Begriffsanwendung heikel, wie anhand zweier Beispiele mit Referenz auf die Rolle der Freiwilligkeit einerseits und mit Referenz auf die Annahme der »subplans mesh to a certain level« vorgeführt. Zum einen kann das 378 Vgl. H.B. Schmid: »Autonomie ohne Autarkie« (2007), S. 458f.
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selbst entwickelte Beispiel der unfreiwilligen Reise des Kindes angeführt werden: Es ist ein Grenzfall, bei dem ganz offensichtlich nicht alle Beteiligten im vollsten Umfang freiwillig partizipieren, aber auch ganz offensichtlich kein Fall einer Entführung. Zum anderen dient das, von Bratman angeführte, Beispiel einer Schachpartie zur Veranschaulichung, dass es Fälle gibt, die sowohl durch kooperative als auch durch konkurrierende Momente ausgezeichnet sind. Die wohl treffendste Beschreibung wäre wohl demnach folgende: Bei einem Schachspiel haben sich die Beteiligten erstens auf ein und dieselbe Handlung geeinigt (»commitment to the joint activity«), nämlich Schach zu spielen und damit spezifische Regeln einzuhalten, da es sonst kein Schachspiel mehr wäre, und sie reagieren zweitens aufeinander (»mutual responsiveness«). Aber sie unterstützen sich nicht (»commitment to mutual support«), da sie jeweils für sich das Spiel entscheiden wollen. Zusammengenommen ergibt sich mit den bisher vorgestellten Ansätzen in diesem Versuch einer Typologisierung der Intentionalitätsformkonzeptionen: Sind die Beteiligten verstehend (Husserl), gegenseitig aufeinander bezogen (de Vecchi), dann besteht ein »commitment to the joint activity« (Bratman), so liegt lediglich ein »group behaviour in the I-mode« (Tuomela), eine »singuläre Handlung« (H.B. Schmid) vor. Sind sie kommunikativ (Husserl), wechselseitig, in sozialer Weise aufeinander bezogen (de Vecchi), sodass ein »commitment to the mutual support« im engen Sinne besteht (Bratman), so kann von einem »We-mode« oder einer »pluralen Handlung« (H.B. Schmid) gesprochen werden, welche sich als Gruppensolidarität, -loyalität und -/moralität ausdrückt und ihre Verpflichtung gilt beidseitig. In der Phänomenologie, wie in dieser Arbeit vor allem an jener Husserls und de Vecchis vorgeführt, werden vorwiegend die Bedingungen der Möglichkeit beschrieben, wie das Erkennen des Intentionalitätsgehaltes des Anderen mittels Einfühlung (siehe Kapitel 3.1), wodurch die verschiedenen einseitigen Bezugnahmen deutlich werden. In der Sprachanalytik, besonders im Vergleich zum Begriff »Miteinander« in der frühen Phänomenologie, besteht eine variantenreichere Terminologie – »shared«, »joint« und »collective intentionality« –, die jedoch zweifelsohne völlig uneinheitlich verwendet wird, sodass beispielsweise das Mit –, Neben- oder Gegeneinander nicht mehr unter dem Sammelbegriff »Miteinander«, sondern ab 1990 unter dem sich etablierenden Sammelbegriff »kollektive Intentionalität« angeführt werden. Die terminologischen Unterschiede der sprachanalytischen Phänomenbeschreibung lassen sich wie folgt anhand der Beispiele der Fußballmannschaft, der Siedlungsbewohner, des Schachspiels und des Carsharings darlegen: Ein Stürmer ist nur auf sein Eigeninteresse, wie Ruhm und Ehre, aus. Allerdings ist er dafür, zumindest in einem gewissen Rahmen, auf die anderen zehn Mitglieder der Mannschaft angewiesen. Die Siedlungsbewohner schließen sich gegen den Bau eines Autobahnbringers zu einer Demonstration zusammen, wobei sie lediglich jeweils ihr eigenes Haus retten wollen. Auch ihnen ist klar, dass sie wohl nicht
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
als Einzelne den Abbruch des Bauvorhabens erreichen können. Die Schachspieler spielen zwar ein und dasselbe Spiel, erstreben jedoch jeweils für sich den Sieg. Mehrere Personen nutzen auf ein und derselben Strecke ein und dasselbe Taxi, tun dies jedoch lediglich aus der Motivation heraus als Einzelperson geringere Kosten bezahlen zu müssen. Searle zufolge verfügen die Beteiligten über ein und dieselbe Intentionalität, da sie ein und dasselbe Ziel verfolgen (den Sieg der Mannschaft; den Erhalt der Siedlung; das Schachspiel oder das Erreichen des Ziels mit dem Taxi), weshalb seiner, zumindest bisher dargelegten, Terminologie zufolge, eine kollektive Intentionalität vorliegt. Tuomela hingegen plädiert präziser dafür, dabei lediglich von einer verminderten kollektiven Intentionalität zu sprechen, da sie zwar ein »group behaviour« aufweisen, sich dieses allerdings primär als »group behaviour in the I-mode«, als »shared intention« zeigt. Nach Bratman kooperieren die Beteiligten nur bis zu einem bestimmten Punkt – etwa die Einigung auf die Spielregeln oder bis das eigene Haus gerettet ist –, weshalb in seiner Bezeichnungsweise eine »joint intention« vorliegt. Verfügt die Mannschaft hingegen über einen »Team Spirit«, treten die Siedlungsbewohner aus Gruppeninteressen auch für den Erhalt der anderen Häuser ein, dann liegt nach Searle ebenfalls eine kollektive Intentionalität vor. Tuomela bezeichnet dies als »full blown collective intentionality«, als »joint intention« und Bratman als »shared cooperative activity«. Dass sich diese Beteiligten durch eine besondere Weise auszeichnen, wurde bereits in der Phänomenologie beispielsweise bei Schelers Miteinanderfühlen deutlich: Die Beteiligten sind in ein und derselben Weise – in ein und derselben »direction of fit« (Tuomela) – auf ein und dasselbe gerichtet. Die trauernden Eltern sind eben trauernd auf ein und dieselbe tote Person gerichtet. Bratman führt mit dem für die Sprachanalytik markanten Bezug auf Handlungsabsichten an, dass dabei die Teilhandlungen, wie etwa jene des Stürmers und Torwarts einer Mannschaft, »jointly realizable« sein müssen und sich eben nicht gegenseitig aufheben dürfen. Eine Position, welche sowohl ein und denselben Intentionalitätsmodus nach Scheler und Tuomela als auch die gemeinsam realisierbaren Teilhandlungen der Beteiligten nach Bratman umschließt, lässt sich in einer leider nur recht kurzen Beschreibung – wer hätte es gedacht: abermals mit Referenz auf die frühe Phänomenologie – um 1923 bei Gerda Walther finden. Dort heißt es, dass sich »alle seelisch-geistigen Lebensäußerungen [das ist alles Denken, Handeln und Fühlen] der Mitglieder, insoweit sie durch jenes gemeinsame intentionale Objekt motiviert sind, so [...] [verbinden lassen müssen], daß sie sich nie widerstreiten oder gegenseitig zunichte machen oder neutralisieren«379 . Bei dem Wandel der Grundhaltung im Laufe der Zeit muss jedoch betont werden, dass es sich dabei um ein und dieselben Beteiligten handeln kann, beispielsweise 379 Walther: Ontologie d. soz. Gemeinschaften [1923], S. 26 (Herv. selbst vorgenommen).
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da sich die elf Spieler zu einer Mannschaft zusammenfügen oder aus dem Carsharing eine Freundschaft entsteht. Ein und dieselben Beteiligten können eine geteilte oder gemeinsame Intentionalität bilden – die sich als Wir- oder als kollektive Intentionalität präsentiert. Auf den Punkt gebracht: für eine »tiefgreifende« Intentionalitätsform – für die der Terminus »gemeinsame Intentionalität« treffend erscheint – muss gelten, damit sie nicht nur geglaubt, sondern auch tatsächlich vorliegt: die realen Beteiligten müssen spezifische kognitive Fähigkeiten besitzen und real (Kapitel 2), kommunikativ, wechselseitig sozial, sich als Partner verstehend (Kapitel 3.1), im »We-mode« sowie (so kann zumindest ganz allgemein gesagt werden) freiwillig (Kapitel 3.2) aufeinander sowie auf ein und dasselbe Intentionalitätsobjekt bezogen sein – wobei jenes Intentionalitätsobjekt womöglich für alle Beteiligten sinnstiftend sein muss.
3.3
Der Ansatz der evolutionären Verhaltensforschung: Die Intentionalitätsformen als differentia specifica zwischen Tier und Mensch
Der evolutionäre Verhaltensforscher380 Michael Tomasello muss als besonderer Autor hinsichtlich der Debatte um die Intentionalitätsformen hervorgehoben werden. Spätestens ab 2005381 vertritt er einen außerphilosophischen Ansatz, in welchem die Intentionalitätsformen eine entscheidende Rolle spielen: Zum einen werden die von ihm differenzierten Intentionalitätsformen aufgrund seiner evolutionär-genetischen Ausrichtung dezidierter als in der bisherigen Debatte als aufein380 In dieser Arbeit wird der Ansatz Tomasellos der evolutionären Verhaltensforschung zugerechnet, da viele weitere Bezeichnungen schlussendlich, so meine Auffassung, irreleitend sind: Seine jetzige Vorgehensweise ist weder ausschließlich psychologisch, biologisch noch anthropologisch oder Ähnliches Sie umfasst viel eher Teilaspekte aller zuletzt genannten Disziplinen. Sein Ansatz ist daher, wie es bei Tomasello im Vorwort zu Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens – Zur Evolution der Kognition (2002) heißt, dezidiert interdisziplinär ausgelegt: Das »Thema sind soziale und kulturelle Tätigkeiten des Menschen und ihre Rolle für die menschliche Kognition – klassische Forschungsthemen der Geisteswissenschaften. Zugleich stammen die verwendeten Methoden aus den Naturwissenschaften. Nahezu alle Forschungen, über die hier berichtet wird, verwenden die eine oder andere Form der experimentellen Methode«. Michael Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens – Zur Evolution der Kognition, übersetzt v. Jürgen Schröder, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, hier: 5. Auf., 2015, hier: Vorwort, S. 9. Dieses Vorwort, von Tomasello 2002 verfasst, ebenso wie der Untertitel der deutschen Erstveröffentlichung finden sich noch nicht 1999 in der englischen Erstveröffentlichung The Cultural Origins of Human Cognition. 381 Vgl. Michael Tomasello, Malinda Carpenter u. Joseph Call: »Understanding and Sharing Intentions«, in: Behavioural and Brain Sciences, Band 28, 2005, S. 675–735.
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Formen kollektiver Intentionalität
da sich die elf Spieler zu einer Mannschaft zusammenfügen oder aus dem Carsharing eine Freundschaft entsteht. Ein und dieselben Beteiligten können eine geteilte oder gemeinsame Intentionalität bilden – die sich als Wir- oder als kollektive Intentionalität präsentiert. Auf den Punkt gebracht: für eine »tiefgreifende« Intentionalitätsform – für die der Terminus »gemeinsame Intentionalität« treffend erscheint – muss gelten, damit sie nicht nur geglaubt, sondern auch tatsächlich vorliegt: die realen Beteiligten müssen spezifische kognitive Fähigkeiten besitzen und real (Kapitel 2), kommunikativ, wechselseitig sozial, sich als Partner verstehend (Kapitel 3.1), im »We-mode« sowie (so kann zumindest ganz allgemein gesagt werden) freiwillig (Kapitel 3.2) aufeinander sowie auf ein und dasselbe Intentionalitätsobjekt bezogen sein – wobei jenes Intentionalitätsobjekt womöglich für alle Beteiligten sinnstiftend sein muss.
3.3
Der Ansatz der evolutionären Verhaltensforschung: Die Intentionalitätsformen als differentia specifica zwischen Tier und Mensch
Der evolutionäre Verhaltensforscher380 Michael Tomasello muss als besonderer Autor hinsichtlich der Debatte um die Intentionalitätsformen hervorgehoben werden. Spätestens ab 2005381 vertritt er einen außerphilosophischen Ansatz, in welchem die Intentionalitätsformen eine entscheidende Rolle spielen: Zum einen werden die von ihm differenzierten Intentionalitätsformen aufgrund seiner evolutionär-genetischen Ausrichtung dezidierter als in der bisherigen Debatte als aufein380 In dieser Arbeit wird der Ansatz Tomasellos der evolutionären Verhaltensforschung zugerechnet, da viele weitere Bezeichnungen schlussendlich, so meine Auffassung, irreleitend sind: Seine jetzige Vorgehensweise ist weder ausschließlich psychologisch, biologisch noch anthropologisch oder Ähnliches Sie umfasst viel eher Teilaspekte aller zuletzt genannten Disziplinen. Sein Ansatz ist daher, wie es bei Tomasello im Vorwort zu Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens – Zur Evolution der Kognition (2002) heißt, dezidiert interdisziplinär ausgelegt: Das »Thema sind soziale und kulturelle Tätigkeiten des Menschen und ihre Rolle für die menschliche Kognition – klassische Forschungsthemen der Geisteswissenschaften. Zugleich stammen die verwendeten Methoden aus den Naturwissenschaften. Nahezu alle Forschungen, über die hier berichtet wird, verwenden die eine oder andere Form der experimentellen Methode«. Michael Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens – Zur Evolution der Kognition, übersetzt v. Jürgen Schröder, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, hier: 5. Auf., 2015, hier: Vorwort, S. 9. Dieses Vorwort, von Tomasello 2002 verfasst, ebenso wie der Untertitel der deutschen Erstveröffentlichung finden sich noch nicht 1999 in der englischen Erstveröffentlichung The Cultural Origins of Human Cognition. 381 Vgl. Michael Tomasello, Malinda Carpenter u. Joseph Call: »Understanding and Sharing Intentions«, in: Behavioural and Brain Sciences, Band 28, 2005, S. 675–735.
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
ander aufbauende Stufen verstanden. Zum anderen liegt, so Tomasello, in den Intentionalitätsformen die Lösung der dezidiert philosophischen Frage der differentia specifica zwischen dem Tier und dem Menschen. Insbesondere ab 2014 mit A Natural History of Human Thinking macht er deutlich, dass es sich bei der »joint« und »collective intentionality« um menschliche Intentionalitätsformen handelt, deren Entwicklungsprozess er mit dem Begriff »shared intentionality« umfasst. Die kollektive Intentionalität dient hierbei nicht mehr, wie bei Searle, als Sammelbegriff für alle Intentionalitätsformen mit mehreren Lebewesen – und sogar nicht einmal, wie zusätzlich gesagt werden kann, als Sammelbegriff für alle Intentionalitätsformen mit mehreren Subjekten. Zwar beschränkten sich in der philosophischen Debatte Autoren wie de Vecchi und Tuomela meist auf menschliche Beteiligte, allerdings tritt eine solche Fokussierung bei ihnen eher implizit hervor. Innerhalb der Philosophie lassen sich nur wenige Autoren finden, welche die tierische Intentionalität – berechtigter oder unberechtigterweise – prägnant in ihre Konzeptionen der Intentionalitätsformen einbinden, wie Searle, oder tierische Akteure mit thematisieren, wie Gilbert und Baltzer. In Tomasellos empirischer Vorgehensweise wird demgegenüber detailliert die tierische Intentionalität sowie deren Grenzen ausgearbeitet. Unterschiedlicher könnten die philosophischen und evolutionären Grundhaltungen zur tierischen Intentionalität daher scheinbar nicht sein: Jene Philosophen der Debatte um die kollektive Intentionalität, welche Tiere explizit mit einbeziehen, schreiben dem Tier die Fähigkeit zur kollektiven Intentionalität zu. Innerhalb dieser drei hier ausgeführten philosophischen Ansätze nach Searle, Gilbert und Baltzer besteht folgender Dissens: Entweder sie lassen eine kollektive Intentionalität auch unter mindestens zwei Tieren zu, – wie Searle: »Consider two birds building a nest together, or puppies playing on a lawn, or groups of primates foraging for food, or even a man going for a walk with his dog«382 –, oder ihre Beispiele sind so gewählt, dass mindestens ein Mensch mitbeteiligt sein muss, wie Baltzer unter Berufung auf Gilbert vertritt: »Wenn ich von mir und meinem Hund sage, daß wir einen Spaziergang machen, so liegt eine angemessene Verwendung von ›wir‹ vor.«383 Für Searle ist die Intentionalität in allen ihren Formen – also unabhängig davon, ob sie in der konkreten Situation individuell oder kollektiv vorliegt – ein biologisches und zugleich primitives Phänomen.384 Daher kann sie als solche nach Searle nicht als differentia specifica zwischen dem Tier und dem Menschen gewertet werden. Eine Tier-Mensch-Abgrenzung findet bei ihm erst, wie im Laufe dieses Kapitels 3.3 ausführlicher erläutert wird, innerhalb der kollektiven Intentionalität statt. Mit Hilfe dieses Faktes wird wiederum die Kluft, welche auf den ersten Blick zwischen Searles und Tomasellos Ansatz besteht, deutlich abmildert. Vergleicht man diese 382 Searle: »Coll. Intentions and Actions«, S. 402 (dt.: S. 101) (Herv. übernommen). 383 Baltzer: Gemeinschaftshandeln (1999), S. 55 (Herv. selbst vorgenommen). 384 Vgl. u.a. Searle: »Coll. Intentions and Actions« (1990), S. 401 (dt.: S. 99).
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Formen kollektiver Intentionalität
philosophischen Annahmen Searles, Gilberts und Baltzers der tierischen Intentionalität mit der nicht-philosophischen Position Tomasellos, so stellt sich jene gerade als Paradox dar: Tomasello beschäftigt sich von allen Debattenteilnehmern am ausdrücklichsten und ausführlichsten mit dem tierischen Verhalten. Seine Studien ab den 1980er Jahren berücksichtigen vorwiegend das Verhalten menschlicher Kleinkinder einerseits und Menschenaffen, wie Bonobos, Schimpansen, Orang-Utans und Gorillas385 , andererseits386 . Diese Untersuchungen entstanden aus der Feststellung »how incredibly similar chimpanzees were to humans – [e.g.] in their basic emotions, their playful social interactions, their clever use of tools«387 und werden insbesondere heutzutage in einer immensen empirischen Tiefe und in einer beachtlichen Anzahl durchgeführt. Doch gerade aufgrund seiner fundierten empirischen Studien wird bei Tomasello erstens eine klare evolutionäre differentia specifica vertreten, welche in der Art und Weise der Interaktion mit Anderen liegt – nämlich konkret, wie sich zeigen wird, der »joint« und »collective intentionality«. Zweitens äußert sich Tomasello gegen jegliche Art des »anthropomorphizing or romanticizing the cognitive abilities of other animal species«388 . Ein Anthropomorphismus könne, aus seiner Sicht – und hier ist nur zuzustimmen –, nicht dabei helfen die kulturelle Kognition zu erfassen.389 Dies stellt gewissermaßen eine Abgrenzung zu Searle dar, welcher die Konstitution sozialer und institutioneller Tatsachen behandelt, aber bei ihm aus einer menschlichen Perspektive heraus, so könnte man sagen, eine Vermenschlichung der Tiere stattfindet, beispielsweise indem er zwei Vögeln die Intention des gemeinsamen Nestbaues zuschreibt, während Tomasello in einem solchen Fall klar von individueller Intentionalität spricht. So unterschiedlich die Ansätze Searles und Tomasellos auch sein mögen, soll dennoch betont werden, dass sie trotz unterschiedlicher Annahmen und auf unterschiedlichen Wegen letztlich zu der nahezu identischen These gelangen, dass die Konstitution institutioneller Tatsachen beziehungsweise einer Kultur nur dem Menschen möglich sei. Tomasello beschreitet diesen Weg mit einer Modifizierung der »Imode«-»We-mode«-Differenzierung Tuomelas. Dabei weist Tomasello allerdings
385 Vgl. Tomasello: Human Thinking (2014), S. 15 (dt.: S. 32). 386 Weitere Studien beschäftigten sich vor allem mit domestizierten Haustieren, wie Hunden. So stellte sich etwa heraus, dass Hunde – und nicht wie bis dato angenommen nur Menschenaffen – imperativ zeigen können. Vgl. u.a. (i) Brian Hare u. Michael Tomasello: »Human-like social skills in dogs?«, in: Trends in Cognitive Sciences, Band 9, Heft 9, Elsevier Verlag, 2005, S. 439–444. (ii) Juliane Bräuer, Milena Bös, Joseph Call u. Michael Tomasello: »Domestic dogs (Canis familiaris) coordinate their action in a problem-solving task«, in: Animal Cognition, Band 16, Springer Verlag, Berlin/Heidelberg, 2013, S. 273–285. Im Folgenden als: Bräuer, Bös, Call u. Tomasello: »Domestic dogs« (2013). 387 Tomasello: »Great Apes and Human Development: A Personal History« (2018), S. 189. 388 Tomasello: Human Cognition (1999), S. 206 (dt.: S. 258f.). 389 Vgl. ebd., S. 206 (dt.: S. 258f.).
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
nicht darauf hin, dass er trotz Modifikation alten wie neuen Problematiken ausgesetzt ist. Es kann nämlich zum Beispiel hinterfragt werden, ob der »I-mode« überhaupt ein treffender Terminus für die Beschreibung tierischen Verhaltens ist. Prägnant ist in seinem Ansatz ebenfalls, dass Tomasellos Fokus eindeutig – wie in der Sprachanalytik – auf jenen Intentionalitätsformen liegt, welche mehrere Beteiligte umfassen, während in der Phänomenologie, wie anhand von de Vecchi dargelegt, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen der Thematisierung von ein –, gegen- und wechselseitigen Formen besteht. Zwar behandelt Tomasello ebenfalls die individuelle Intentionalität als einseitige Intentionalitätsform, allerdings fallen seine Darlegungen hierzu, im Vergleich zu seinen Erläuterungen der wechselseitigen Formen – in seiner Terminologie: der »joint« und »collective intentionality« – gering aus. Außerdem kann bemerkt werden, dass in Tomasellos und de Vecchis Ausführungen jeweils nicht bezüglich der einseitigen Intentionalitätsformen danach differenziert wird wer gerichtet ist, weshalb dort keine Unterscheidung zwischen einer individuellen, subjektiven und Ich-Intentionalität etabliert wird (siehe Kapitel 3.1). Dabei muss beachtet werden: Tomasello betrachtet ausschließlich eine einseitige Intentionalitätsform, nämlich die individuelle Intentionalität. Folgt man hingegen de Vecchi und legt zugrunde, dass unterschiedliche einseitige Intentionalitätsformen bestehen können, die sich durch unterschiedliche Bezugnahmen unterscheiden – konkret: die vereinzelte, intersubjektive und soziale Intentionalität –, dann ergibt sich, dass ihre Ausführungen als Vorstufen zu Tomasellos Erläuterungen der »joint« und »collective intentionality« gewertet werden müssen. Die Auffassung de Vecchis der »solitary« und Tomasellos »individual intentionality« sind dabei nahezu deckungsgleich (siehe ebenfalls Kapitel 3.1): Hierunter wird von ihnen jene Intentionalität gefasst, welche von einem Individuum (Tomasello) beziehungsweise von einem Subjekt (de Vecchi) ausgeht und auf ein Objekt gerichtet ist. Da Objekte, wie trivialerweise gesagt werden kann, selbst nicht intentional gerichtet sein können, handelt es sich in solchen Fällen per se um eine einseitige Intentionalität. Diese Selbstverständlichkeit wird besonders beim Phänomen der Objektophilie an seine Grenzen geführt, da hierbei die Beteiligten zwar einerseits wissen, dass es sich um ein Objekt handelt, andererseits davon ausgehen, dass der Bezug keineswegs lediglich einseitig ist (siehe Kapitel 2.2). Trotz dieser eventuellen Ausnahmen, wie etwa dem Gefühl, dass vom Objekt doch etwas »zurückkommt« – wie etwa beispielhaft die Atmosphäre oder sogar Aura des Eiffelturms –, liegt das Musterbeispiel eines einseitigen Bezugs bei einer Gerichtetheit auf ein Objekt vor. Von einem solchen typischen Bezug ausgehend, zielt ihre jeweilige Konzeption der Intentionalitätsformen auf die Anerkennung des Anderen als Partner. Diese »tiefgreifende« Anerkennung wird entweder durch den wechselseitigen Bezug beschrieben, wie bei de Vecchi, oder durch den »We-mode« erklärt, wie es Tuomela und Tomasello ausführen.
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Bei der Ausarbeitung seiner Stufenkonzeption der Intentionalitätsformen ist Tomasello, aus philosophischer Sicht, besonders von Adam Smith, der sowohl als Moralphilosoph als auch als Nationalökonom gilt, sowie den »theoretical tools«390 Tuomelas beeinflusst. In Bezug auf Smith ist Tomasello dabei jedoch, wie sich im Verlauf verdeutlichen wird, de facto in einem größeren Ausmaß von dessen Werk The Theory of Moral Sentiments (1759) geprägt, als er selbst anmerkt. Während Tomasello spezifische Begriffe sowie deren Kontext nach Smith adaptiert, lässt sich feststellen, dass er die Begrifflichkeiten Tuomelas in anderen Zusammenhängen verwendet, weshalb in der hier vorliegenden Argumentation ebenfalls auf deren Bedeutungswandel eingegangen wird. Die Ausgangslage, also die Frage, wie aus einem parallelen ein gemeinsamer Vollzug werden kann, bleibt dabei identisch und kann nach Tomasello, in unmittelbarer Anlehnung an Tuomela, mit der prinzipieller Unterscheidung zwischen dem »I-« und dem »We-mode« beantwortet werden: Die beiden Wanderinnen Anna und Berta, deren Weg sich zufällig kreuzte, vollziehen ab einem bestimmten Punkt eine gemeinsame Wanderung, da sich – so die Antwort Tuomelas und Tomasellos – ein Wandel vollzog von ihrem jeweiligen Eigeninteresse hin zur Vertretung des Gruppeninteresses. Doch Tomasello zielt mit der Unterscheidung in Eigen- und Gruppeninteressen, nicht nur im Kern darauf ab, das Nebeneinander vom Miteinander im engen Sinne des Zusammenhaltes zu differenzieren. Vielmehr argumentiert er mit der Unterscheidung Tuomelas über Tuomela hinausgehend nämlich auch dafür, den philosophischen Streit schlechthin lösen zu können: den Streit um die Frage nach der differentia specifica zwischen dem Tier und dem Menschen. Die Kernfrage der Überlegungen Tomasellos, welche sich auch besonders deutlich im Werkstitel Becoming Human (2019) niederschlägt, kann demnach wie folgt kurz gefasst werden: was macht den Menschen zum Menschen? Die Beantwortung leistet er nicht primär beschreibend – was den Menschen als Menschen spezifisch charakterisiert –, wie etwa Husserl und de Vecchi, sondern vielmehr erklärend – wie der Mensch zum Menschen wurde –, da die Lösung für Tomasello in der evolutionären Entwicklung der Intentionalitätsformen liegt: Menschenaffen geraten bei ihm in den Blick, da sie genetisch dem Menschen am nächsten sind. Bei menschlichen Kleinkindern hingegen ist ein Verlauf feststellbar, da sie (spätestens) mit ihrer Geburt als Menschen gelten und sich dieser Status im Laufe ihrer Ontogenese gewissermaßen »verfestigt«, etwa in dem sie sich ihrer selbst als Subjekt, genauer gesagt als Ich bewusst werden sowie (ebenfalls spätestens) ab einem gewissen Alter als juristische Person anerkannt werden. Um Tomasellos Stufenkonzeption der Intentionalitätsformen sowie das darin integrierte Merkmal der differentia specifica zu verstehen, müssen zunächst einige seiner Grundannahmen erläutert werden. Hierunter fällt unter anderem die, von
390 Vgl. Tomasello: Becoming Human (2019), S. 7.
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
Tuomela übernommene, Ansicht, dass jegliche Verhaltensweisen entweder auf einem Eigen- oder auf einem Gruppeninteresse basieren. Deren Erläuterungen erweisen sich als entscheidend für das Verständnis der »shared«, »joint« und »collective intentionality« in der Verwendung nach Tomasello. Diese drei Termini tauchen erstmals – oder wenigstens erstmals in dominanter Weise – ab den sprachanalytischen Auseinandersetzungen mit den Intentionalitätsformen ab 1984 beziehungsweise ab 1990 auf und avancieren ab diesem Zeitpunkt zu Schlüsselbegriffen. Das Ziel des Kapitels 3.2 war die sprachanalytischen Konzepte der Intentionalitätsformen und ihre terminologischen, vielfach verwirrenden Abweichungen, insbesondere jene zwischen Tuomela, Gilbert und Bratman, herauszustellen. Hier nun in Kapitel 3.3 wird jene Intentionalitätsformkonzeption Tomasellos und dessen Verwendungsweisen jener zentralen Begriffe erhellt. Dabei wird auch der Vergleich vorwiegend mit der Position Tuomelas und Searles ausgeführt. Zwar ist Tomasello wohl der Erste, der dezidiert annimmt, dass lediglich Menschen über spezifische Intentionalitätsformen verfügen – doch bleibt er dabei, wie unorthodox das aufgrund der unterschiedlichen Disziplinen auch erscheinen mag, der phänomenologischen und sprachanalytischen Richtung treu, denn die typisch menschlichen Intentionalitätsformen müssen, so kann mit anderen Autoren gesagt werden, »as the core sense of cooperation«391 (Tuomela) beziehungsweise »as the core of human sociality«392 (Gilbert) angesehen werden.
Die phylogenetische Entwicklung Der Unterschied zwischen Menschenaffen und dem »modernen Menschen«, welcher sich vor circa 150.000 Jahren etablierte, wird nach Tomasello besonders in deren jeweiligen Jagdverhalten deutlich. Seine leitende These lässt sich dabei prägnant wie folgt auf den Punkt bringen: das Verhalten der Tiere ist stets von einem Eigeninteresse geleitet, während es den Menschen zumindest möglich ist ein Gruppeninteresse zu vertreten. Dies spiegelt sich in seinem Ansatz in der Differenzierung der Intentionalitätsformen wider, welche in einer differentia specifica zwischen dem Tier und dem Menschen münden. Hierbei besteht, wie Tomasello selbst herausstellt393 , eine ausgeprägte Anlehnung an Tuomelas Differenzierung zwischen dem »I-« und »We-mode«. Bemerkenswert ist dies vor allem deshalb, weil die Darlegungen der sprachanalytischen Ansätze in Tomasellos Werken kaum detailliert auftreten394 , aber eben konzeptuell – wenn auch in modifizierter Wei391 392 393 394
Tuomela: Social Ontology (2013), S. 147. Gilbert »Introduction – Sociality and Plural Subject Theory« (2000), S. 4. Vgl. u.a. Tomasello: Becoming Human (2009), S. 167. Beispielsweise nimmt Tomasello in Origins of Human Communication (2008) lediglich Searle, Bratman, Gilbert und Zahavi als Autoren der Intentionalitätsdebatte auf. Dies ist vor allem deshalb erwähnenswert, da Tuomela zwar ein Autor der ersten sprachanalytischen Genera-
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Formen kollektiver Intentionalität
se – eine entscheidende Rolle einnehmen: Der »We-mode« nach Tomasello deckt sich der Intension, der Charakterisierung nach mit jenem Tuomelas.395 Der markante Unterschied liegt jedoch in der Extension, dem Anwendungsbereich, denn bei Tuomela wird die Differenzierung zwischen dem »I-« und »We-mode« ausschließlich an Menschen angewandt und strebt im Kern an, das Neben- und Miteinander voneinander abzugrenzen. Tomasello legt dagegen diese Unterscheidung als differentia specifica zwischen dem Tier und dem Menschen zugrunde. Dass das Gruppeninteresse eine rein menschliche Angelegenheit sei, schlussfolgert Tomasello primär, wie in den folgenden Abschnitten dargelegt wird, aus seinen Beobachtungen und Deutungen der tierischen und menschlichen Jagd.
tion der Debatte um die kollektive Intentionalität ab 1984 ist und er einen immanenten Einfluss auf die Werke Tomasellos übte, dieser Einfluss jedoch erst in späteren Werken Tomasellos wie A Natural History of Human Thinking (2014) und A Natural History of Human Morality (2016) einsetzte. Hans Bernhard Schmid sieht gerade in dieser zurückhaltenden Beschäftigung Tomasellos mit den philosophischen Debattenteilnehmern den Grund einer Kritik. Denn Tomasello umgehe damit gerade für seinen Ansatz relevante Themengebiete: »Unternimmt man den Versuch, Tomasellos Begriff geteilter Intentionalität in der gegenwärtigen philosophischen Diskussion zu diesem Thema [Stand 2011] zu situieren, ergeben sich Nachfragen; [...]. Tomasello bezieht sich in seinem Buch [Origins of Human Communication (2008)] auf drei Philosophen der geteilten Intentionalität: Margaret Gilbert, Michael Bratman und John Searle. Diese drei Analysen unterscheiden sich indes beträchtlich voneinander. Zu den Unterschieden gehören auch solche, die für Tomasellos empirische basiertes Projekt relevant sein dürften: Sie betreffen erstens die kognitiven Anforderungen an die Teilnehmenden der geteilten Intentionalität, zweitens das Verhältnis von gemeinsamen Intendieren und Kommunikation und drittens die Art der Beziehung zwischen den gemeinsam Intendierenden.« Hans Bernhard Schmid: »Am Ursprung der Freundlichkeit«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Band 59, Heft 1, 2011, S. 153–157, hier: S. 155. 395 Tuomela beschreibt den »We-mode« mittels der »We-mode group reason«, der »collectivity condition« und dem »collective commitment« (siehe Kapitel 3.2). Bei Tomasello sind hingegen die Bezeichnungen »joint commitment to a goal«, »role reversal« und »mutual support« dominant (vgl. Tomasello u. Moll: »The Gap is Social« (2010), S. 334ff.) Die Quintessenz Tuomelas bleibt in Tomasellos Intension unverändert, da diese drei Aspekte eine »groupmindedness among all members« beziehungsweise den »sense of group identity« genauer charakterisieren. Vgl. (i) Tomasello: Human Thinking (2014), S. 5, S. 84 u. S. 120ff. (dt.: S. 19, S. 129 u. S. 180ff.). (ii) Tomasello: Human Morality (2016), S. 6 (dt.: S. 19). Diese »group-mindedness« wird dabei von Jürgen Schröder teils als Gruppengeist und teils als Gruppenbewusstsein übersetzt – wobei mit diesen verschiedenen Übersetzungen auch unterschiedliche Konzepte angesprochen werden: einerseits eine spezifische metaphysische Entität – der Geist – und andererseits eher eine bestimmte Erfahrung, nämlich, dass man als Gruppe über ein spezifisches Bewusstsein verfügen kann.
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
Die tierische Jagd: das Tier als »animal oeconomicus« Als Beispiel der tierischen Jagd dienen Tomasello Schimpansen, welche einen kleinen Columbusaffen jagen: Die Schimpansen wissen dabei, dass nicht nur sie selbst, sondern auch die anderen Fänger auf ein und dieselbe Beute aus sind.396 Sie erkennen, dass es sich um eine Beute handelt, welche sie nicht als Einzelne, nur auf sich gestellte Jäger erlegen können. Denn beispielsweise ist der Columbusaffe im Vergleich zum Schimpansen recht schnell, weshalb ihn mehrere Beteiligte von unterschiedlichen Seiten umzingeln müssen, um ihn zu erbeuten.397 Ein jagender Schimpanse wird daher, wenn er bemerkt, dass ein Anderer die Beute von links einkreist eher versuchen selbst von rechts anzugreifen. Sie koordinieren sich zueinander. Darüber hinaus werden die jagenden Schimpansen – so legen es empirische Studien des 21. Jahrhunderts nahe – versuchen auf die Intentionalitätsgehalte der jeweils Anderen zu reagieren oder diese vorherzusagen. Zudem ist mittlerweile die Ansicht verbreitet: Tiere können Andere manipulieren398 und taktisch täu-
396 Es kann also durchaus im Tierreich eine Komplexität vorliegen »in which individuals are mutually resposive to one another’s spatial position [e.g.] as they encircle the prey«. Tomasello: Human Communication (2008), S. 174 (dt.: S. 188). Vgl. auch Tomasello: Becoming Human (2009), S. 193. Genauer zu untersuchen wäre, inwieweit in der englischen Sprache mit Adverbien, wie etwa »mutally« und »reciprocally«, ebenso wie im Deutschen zwischen einer Gegen- und Wechselseitigkeit (siehe Kapitel 3.1) unterschieden werden kann. 397 Vgl. Tomasello u. Vaish: »Entstehung menschl. Kooperation u. Moral« [2013], S. 187. Das Musterbeispiel nach Tomasello lautet demnach: man geht davon aus, dass man allein die besagte Beute nicht fangen kann. Aus diesem spezifischen Fall möchte er allgemeine Schlussfolgerungen ziehen. Man stelle sich jedoch einmal folgende Situation vor: ein jagender Schimpanse, der in der Gruppe einen Columbusaffen jagt, bemerkt, dass sich ein anderer Columbusaffe in unmittelbarer Nähe des Jägers befindet, welchen er problemlos allein erlegen könnte, etwa weil es sich um einen verwundeten oder gebärenden Columbusaffen handelt. Tomasello geht nicht auf diesen Fall ein. Annehmen müsste man jedoch, dass der Schimpanse – aus Eigeninteresse – sich dem verwundeten Columbusaffen zuwendet, da er diesen allein erlegen kann und die anderen Schimpansen, die er als Nahrungskonkurrenz betrachtet, diese Beute womöglich noch nicht gesichtet haben. Zentral am tierischen Verhalten, Tomasello zufolge, ist, wie mit diesem Beispiel deutlich gemacht werden kann, dass das Tier in einer solchen Situation seine Artgenossen eben nicht signalisieren würde, dass hier eine deutlich einfachere Beute erlegbar ist. 398 Vgl. (i) Tomasello: Human Communication (2008), S. 108 (dt.: S. 120). (ii) Tomasello: Human Thinking (2014), S. 20 (dt.: S. 39).
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schen399 . Auf der Grundlage dieser neueren empirischen Erkenntnisse, welche sich aus der Beobachtung und Interpretation des tierischen Verhaltens ergeben, revidiert Tomasello seine frühere These des Werkes The Cultural Origins of Human Cognition (1999), dass es nur Menschen möglich sei den Anderen als intentionalen Akteur zu verstehen400 . »Great apes«, so heißt es zusammengefasst nun, »appear to know much more about others as intentional agents that previously believed«401 . Seit The Origins of Human Communication (2008) und insbesondere ab A Natural History of Human Thinking (2014) nimmt Tomasello daher eine Spezifizierung seiner These vor: Nicht die Anerkennung des Anderen als intentionalen Akteur selbst ist die differentia specifica, sondern vielmehr wie tiefgreifend diese Anerkennung in Abhängigkeit des Interesses vorliegt402 . Die Schimpansen sind aufeinander gerichtet: Schimpanse S1 weiß, dass Schimpanse S2 auf den Columbusaffen C dort gerichtet ist, ebenso wie S2 weiß, dass S1 auf C gerichtet ist und diesen erbeuten möchte. Beide richten ihren tatsächlichen Beutezug nicht nur nach dem Verhalten C’s, sondern auch nach dem Verhalten der weiteren Beutefänger aus, weshalb ihnen durchaus zahlreiche komplexe kognitiven Fähigkeiten zugesprochen werden können.403 Bei der Beutejagd der Tiere ist nach Tomasello allerdings zentral, dass sie die Beute
399 Vgl. u.a. Dunbar: Grooming, Gossip, Evolution of Language (1997), S. 92f. (dt.: S. 121f.). Selbst die Aufdeckung einer Täuschung wurde im Tierreich beobachtet, welche allerhand kognitiver Leistung erfordert: Ich glaube, dass er davon ausgeht, dass er mich täuschen kann, da er davon ausgeht, dass ich mich von ihm täuschen lasse. Daher schließt Dunbar, dass es wohl zumindest Schimpansen möglich ist drei oder vier Etappen des verschachtelten Wissens aufzubauen (vgl. ebd., S. 95f. (dt.: S. 125f.)). 400 Vgl. Tomasello: Human Thinking (2014), S. ix (dt.: S. 9). 401 Ebd. Oder um es in den Worten Latours zu sagen: Paviane verfügen über eine »schwindelerregende Komplexität ihrer sozialen Beziehungen« und können »nichts alleine machen, ohne das Eingreifen eines jeden ihrer Artgenossen einzukalkulieren«. Latour: Cogitamus (2016), S. 54. Tomasello richtet sich mit dieser These auch gegen Forscher seiner eigenen Disziplin, darunter Entwicklungsbiologen wie Povinelli, Penn und Heyes (vgl. Tomasello: Human Thinking (2014), S. 24 (dt.: S. 47f.)). 402 Die Kritik, wie sie beispielsweise vom Primatologen Volker Sommer 2010 vorgenommen wird, dass Tomasello Menschenaffen und Menschen zu stark voneinander abgrenze (vgl. u.a. Thies: »Tomasello u. die philosophische Anthropologie« (2017), S. 118), mag damit bis 2014 – aber eben nur bis spätestens 2014 – seine Berechtigung haben. Das Gesamtprojekt Tomasellos behält trotz des Auffassungswandelns seine Kontinuität, da seine differentia specificaThese im Laufe der Zeit lediglich detaillierter ausgearbeitet wird. 403 Vgl. Tomasello u. Carpenter: »Shared intentionality« (2007), S. 123. Tiere verfügen, laut Tomasello, erstens über individuelle Intentionalität und verstehen zweitens Andere als intentionale Akteure. Dies ist allerdings damit verbunden, dass Tieren selbst der Akteursstatus zugeschrieben wird. Inwieweit Tiere im engen Sinne jedoch die betreffende Handlung wissentlich und willentlich ausführen oder ob man strenggenommen die individuelle Intentionalität zunächst getrennt von einer Akteurschaft betrachten müsste, ist eine andere Frage.
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
aus Eigeninteresse heraus404 also jeweils für sich erlegen wollen, weshalb ihr Verhalten dezidiert von Konkurrenz geprägt ist.405 Die Devise lautet: »Ich jage die Beute, um sie mir zukommen zu lassen«. Aufgrund dessen, dass sie in der Gruppe handeln, das heißt ihre Jagdhandlungen einander anpassen, jedoch aus einem Eigeninteresse heraus agieren, muss ihr Verhalten eher als parallel statt als gemeinsam begriffen werden406 . Es verwundert daher auch nicht, dass Tomasello hierbei Tuomelas Bezeichnung »group behaviour in the I-mode« heranzieht.407 Zwar gilt, dass beispielsweise »Schimpansen sehr wohl kooperieren, sogar Zusammenarbeit gegenüber anderen Verhaltensmöglichkeiten bevorzugen«408 . Dies ist jedoch kein Widerspruch zu den Annahmen Tomasellos, wie der Philosoph Thies es darzustellen versucht. Schließlich nimmt Tomasello durchaus an, dass Tiere in Zusammenarbeit Beute jagen, da sie kognitiv erfassen in der Gruppe, also mit Anderen individuell höhere Erfolgsaussichten zu haben und daher die Zusammenarbeit bevorzugen. Doch die Jagd geschehe, folgt man Tomasellos Argumentation, ausschließlich aus dem jeweiligen Eigennutz der Beteiligten, aus einem rein egoistischen KostenNutzen-Prinzip heraus: Zwar versuchen bei der tierischen Jagd mehrere Beteiligte ein und dieselbe Beute zu ergreifen, jedoch benötigen die Jäger sich gegenseitig, da die Beute sonst nicht gefasst werden kann. Um also das Eigeninteresse überhaupt verwirklichen zu können, benötigt der Jäger andere Jäger – sie nutzen sich als Mittel zum Zweck, in Tomasellos Worten: sie nutzen sich als »social tools«409 und empfinden sich nicht als gleichberechtigte Beutefänger410 oder -empfänger, oder 404 Vgl. u.a. Tomasello: Human Morality (2016) S. 26f. u. S. 50f. (dt.: S. 47f. u. S. 83). 405 Vgl. (i) ebd., S. 23f. (dt.: S. 40). (ii) Tomasello u. Vaish: »Entstehung menschl. Kooperation u. Moral« [2013], S. 183. 406 Vgl. Tomasello: Becoming Human (2019), S. 194 u. S. 211. 407 Vgl. Tomasello: Human Thinking (2014), S. 135f. (dt.: S. 201). 408 Thies: »Tomasello u. die philosophische Anthropologie« (2017), S. 118. 409 Tomasello: Becoming Human (2019), S. 12f. Vgl. auch: Tomasello u. Vaish: »Entstehung menschl. Kooperation u. Moral« [2013], S. 189. 410 Tomasellos Beispiel der Futtersuche beziehungsweise -jagd dient ihm dabei nur als Musterbeispiel und könnte wahllos durch jegliche Art des tierischen Verhaltens ersetzt werden. Etwa fliegen Vögel zwar in einer Formation, aber eben nur weil es nützlich für sie ist: Sie sparen Flugenergie und sind besser vor Feindangriffen geschützt. Die heutzutage gern zugeschriebene Schwarmintelligenz ist hier vielmehr die Intelligenz der individuellen Kosten-NutzenRechnung. Da sich Tiere, zumindest nach Ansicht Tomasellos, ausschließlich nach ihren Eigeninteressen ausrichten, können sie als »rational fools« (in Anlehnung an Amartya Sen) oder als »idiotes« (in Anlehnung an Aristoteles) bezeichnet werden. Vgl. (i) H. B. Schmid: »Shared Intentionality and the Origins of Human Communication« (2012), S. 349f. (ii) Tomasello: Becoming Human (2019), S. 163. Weitere empirische Studien müssten sich wohl auch darauf fokussieren zu erläutern, inwieweit sich diese Art der tierischen Gerichtetheit auf den Anderen als »Werkzeug« – das heißt plakativ, dass der Andere lediglich als Objekt begriffen wird – etwa von einer Gerichtetheit von Personen mit erheblich ausgeprägten autistischen Zügen unterscheidet. Um es dramatisch zuzuspitzen: führt die kognitive Einschränkung des
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in Anlehnung an de Vecchi: sie sind gegenseitig aufeinander bezogen. Es liegt, so Tomasello, bei Tieren lediglich eine »individual intentionality« vor: Sie erkennen zwar den Anderen als intentionalen Akteur an, dieser wird jedoch – zumindest in der konkurrenzhaften Situation – wie ein Objekt, wie ein Werkzeug behandelt. Die Handlungen der Tiere können, dieser Sichtweise zufolge, nur als Zusammenarbeit im sehr schwachen Sinne gedeutet werden411 , das heißt als Arbeit, die mit Anderen, jedoch nicht für den Anderen vollzogen wird. Auf den Punkt gebracht: würde man das Tier als »animal oeconomicus« bezeichnen, das heißt eben in erster Linie als nutzenmaximierendes, zweckrationales412 Wesen, dann wäre dies für Tomasello nichts anderes als eine Tautologie. Der Unterschied zur Auffassung Tuomelas tritt, ohne dass dies Tomasello selbst präzise darlegt, besonders anhand einer solchen Beschreibung des tierischen Verhaltens hervor: Einerseits untersucht Tomasello neben Menschen ebenfalls Tiere und grenzt sich damit implizit von Tuomela ab, welcher ausschließlich Subjekte als Beteiligte thematisiert. Andererseits betont Tuomela, dass bei einem »group behaviour in the I-mode« die Handlung mit Anderen vollzogen wird (»group behaviour«): Die Beteiligten sind immerhin in ein und derselben Weise (jagend) zu ein und demselben Endzweck (das eigene Überleben) auf ein und dasselbe Ziel (Beute) gerichtet. Für diese schwache Variante verwendet er, wie in Kapitel 3.2 erläutert, die Synonyme »not full blown collective intentionality« oder »shared intention«. Die Einschätzung des »group behaviour in the I-mode«-Phänomens nach Tomasello ist hingegen eine ganz andere: Gerade aufgrund des »I-mode« liege keinerlei Autismus dazu, dass die Betroffenen die »tierische« Art der Anerkennung des Anderen nie überwinden können? 411 Die Frage, ob bei dieser Art der rein egoistischen Form der Zusammenarbeit die Rede von einer schwachen Kooperation oder von einer starken Koordination der Beutefänger die Rede sein sollte, soll und kann hier nicht beantwortet werden. Es sei hier lediglich darauf verwiesen, wie Angelika Kaufmann 2012 deutlich machte, dass sich die Unterscheidung in Eigen- (Tier) und Gruppeninteressen (Mensch) – oder wie es 2007 bei Tomasello und Rakozy heißt: »social coordination« versus »collective intentionality« – in ähnlicher Form auch bei anderen Autoren finden lassen: Brinck und Gärdenfors einerseits sowie Koreň andererseits unterscheiden zwischen einer kompetitiven (Tier) und kollaborativen Kooperation (Mensch). Vgl. (i) Angelika Kaufmann: »Collective Intentionality: A Human – not a monkey – business«, in: Phenomenology and Mind (hg. v. Monticelli), Band 2, Band hg. v. Francesca Maria de Vecchi, 2012, S. 98–105, hier: S. 100. (ii) Michael Tomasello u. Hannes Rakoczy: »The Ontogeny of Social Ontology – Steps to Shared Intentionality and Status Functions«, in: Intentional Acts and Institutional Facts – Essays in John Searle’s Social Ontology, hg. v. Savas L. Tsohatzidis, 2007, S. 113–137. (iii) Ingar Brinck u. Peter Gärdenfors: »Co-operation and Communication in Apes and Humans«, Mind and Language, Band 18, Nr. 5, 2003, S. 484–501. (iv) Koreň: »Joint Intentionality – From Thin to Thick« (2016), S. 78. 412 Vgl. Michael Tomasello und Henrike Moll: »Replik auf die Kommentare«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Band 59, Heft 1, 2011, S. 164–169, hier: S. 165. Im Folgenden als: Tomasello u. Moll: »Replik« (2011).
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
Geteiltheit oder Gemeinsamkeit, sondern ausschließlich eine »individual intentionality« vor. Kurz gefasst kann demnach gesagt werden: die beiden zentralen Unterschiede im Ansatz Tuomelas und Tomasellos hinsichtlich des »group behaviour in the Imode« liegen in der Betonung der Momente und in der Konsequenz, die hieraus gezogen wird: Es liegt ein »group behaviour in the I-mode« vor, sodass wenigstens eine »shared intentionality« besteht (Tuomela) oder es liegt ein »group behaviour in the I-mode« vor, sodass höchstens von einer »individual intentionality« gesprochen werden kann (Tomasello). Darüber hinaus vertritt Tomasello, dass Tiere lediglich im »I-mode« und demgegenüber prinzipiell nur Menschen im »We-mode« agieren könnten (siehe Tabelle Nr. 13). Tabelle Nr. 13: Die Verwendung des Terminus »group behaviour in the I-mode« nach Tuomela und Tomasello Terminus »group behaviour in the I-mode«
Auffassung
Nach Tuomela
= »shared intention« = »not full blown collective intentionality« Tuomela äußert sich lediglich zur menschlichen Intentionalität und erläutert nicht detaillierter wer im »I-mode« verweilen muss.
Nach Tomasello
= »individual intentionality« Nach Tomasello können Tiere nicht über diese Stufe hinaus kommen.
Dass Tiere über eine Intentionalität verfügen – sei die Intentionalität als Bewusstsein von etwas oder als Bewusstsein einer Absicht verstanden – scheint, zumindest im naiven Alltagsverständnis, unproblematisch: Das Tier kann die Beute wahrnehmen und diese absichtlich (oder zumindest instinktgeleitet) verfolgen. Tomasello verwendet hierfür jedoch nicht nur die Terminologie »individual intentionality«, sondern setzt diesen mit dem »I-mode« gleich, wodurch dem Tier in unmetaphorischer Weise ein »I«, das ist ein »Ich« und der Assoziation des Begriffs folgend auch eine eigenständige Persönlichkeit zugeschrieben wird, wodurch strenggenommen – ganz entgegen Tomasellos eigenem Anspruch – dem Anthropomorphismus doch eine Tür geöffnet wird. Die tierische Jagd lässt sich, nach Tomasello, damit beschreiben, dass Tiere zwar den Intentionalitätsgehalt des Anderen anhand dessen räumlicher Position einschätzen und auf dessen Handlungen reagieren, jedoch in einem parallelen Vollzug gegeneinander ein und dieselbe Beute jagen. Gesetzt den Fall, dass der Fänger die gesamte Beute für sich einnehmen kann, gilt schlicht die Maxime: »the winner
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takes it all«. Falls er einen Teil der Beute abgibt, etwa an die eigenen Nachkommen sowie an diejenige, die ihm die Beute wegreißen oder einen Teil erbetteln wollen, dann, so seine Annahme, ausschließlich aus Eigennutz heraus: die Sicherung der eigenen Nachkommen, um also die Verbreitung der eigenen Gene zu sichern; um selbst beim Fressen nicht weiter gestört zu werden oder um sich nicht mit dominanteren Affen anzulegen.413 Desweiteren »teilen männliche Schimpansen ihre Nahrung […] mit fruchtbaren Weibchen [...] in der Hoffnung, mit Geschlechtsverkehr belohnt zu werden«414 . Auch symbiotische Tierverhältnisse, wie das Verhältnis von Putzer- zu Raubfischen oder dem Büffel, welcher durch die Vogelart mit dem treffenden Namen »Madenhacker« von Parasiten befreit wird, stellen für den evolutionären Verhaltensforscher lediglich eine, auf den jeweils eigenen Nutzen fokussierte, artübergreifende Win-Win-Situation dar. Doch besonders in Jagdsituationen sei das egoistische Verhalten prägnant an zwei Aspekten ersichtlich. Erstens: die Beteiligten stecken vor der Jagd nicht »ihre Köpfe zusammen« und schmieden Pläne, wer welche Rolle übernimmt. Es herrscht einfach eine »leader-follower«Strategie, die sich darin äußert, dass einer die Beute ergreifen will und losrennt, woraufhin weitere Tiere auf die Beute aufmerksam werden, diese für sich ergreifen wollen und damit ebenfalls zu Fängern werden.415 Ist die Beute erlegt, so gelte zweitens, dass die Tiere die Beute beispielsweise nicht nach jeweiligem Jagdanteil oder Bedarf untereinander aufteilen, wie der menschliche Sinn nach Fairness es Vgl. u.a. (i) Tomasello: Human Communication (2008), S. 182f. (dt.: S. 196f.). (ii) Tomasello: Human Thinking (2014), S. 34f. (dt.: S. 58f.). (iii) Tomasello: Becoming Human (2019), S. 12f. Diese Art der Beuteaufteilung wird von Tomasello als »tolerated taking« oder »sharing under pressure« betitelt, während Frans de Waal von »passive sharing« spricht (vgl. Tomasello: Becoming Human (2019), S. 222f. u. S. 311). Menschliche Kleinkinder ab einem Alter von circa fünf Jahren unterscheiden, laut Tomasello, viel genauer mit wem sie teilen. Zwar teilen sie auch viel eher mit Personen, die selbst keinen aktiven Anteil daran hatten – wie um im Bild zu bleiben: nicht an der Jagd beteiligt waren –, allerdings teilen sie nicht freiwillig mit Trittbrettfahrern, Dissidenten und Ähnlichem (ebd. S. 237). Ob mit Referenz auf die Tiere das Teilen der Nahrung, etwa mit den eigenen Nachkommen, eben gerade weil es aus Eigennutz heraus geschieht, als selbstsüchtige Handlung zählen muss oder als – zumindest graduell – altruistisch gelten kann, bleibt bei Tomasello offen. Tuomela äußert sich hingegen deutlich dazu, dass er davon ausgeht, dass eine Handlung, welche von einem Individuum aus Eigennutz ausgeführt wird (in seiner Terminologie: »plain/private I-mode«) »selfish or altruistic« sein kann (vgl. Tuomela: »Who is afraid? « (2013), S. 17. sowie Social Ontology (2013), Kapitel 2, S. 37). Problematisch ist hierbei wiederum, dass Tuomela selbst kein Beispiel einer altruistischen Handlung aus Eigennutz angibt, weshalb auch hier im Kern vage bleibt, was darunter zu verstehen ist. Die »solitary intentionality« nach de Vecchi hingegen muss als rein selbstbezüglich gelten, da dabei ausschließlich eine Person zugrunde gelegt wird. Besteht ein Bezug auf eine weitere Person, so liegt im Sinne de Vecchis keine »solitary«, sondern eine »intersubjective intentionality« vor (siehe Kapitel 3.1). 414 Tomasello u. Vaish: »Entstehung menschl. Kooperation u. Moral« [2013], S. 185. 415 Vgl. u.a. Tomasello: Human Thinking (2014), S. 34f. (dt.: S. 58f.). 413
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verlangen würde.416 Tomasello schließt seine Erläuterung der tierischen Beutejagd daher mit den Worten: »We may thus infer that the LCA [humans’ last common ancestor] had some basic skills of collaboration, but these did not include working together toward a shared goal or voluntarily sharing the spoils at the end. Overall, as paradoxical as it may sound, our best guess is that LCA individuals had rich social lives with long-lasting relationships, but – as compared with humans – their sociality was still somewhat individualistic.«417
Die menschliche Jagd: der Mensch als »homo reciprocans« Der Mensch zeichne sich demgegenüber durch seine besondere kognitive Entwicklung aus, welche sich sowohl in der Phylo- als auch in der Ontogenese zeige. Zu nennen sind hier konkret die Konstitution eines gemeinsamen kulturellen Hintergrundes sowie die Genese hin zu einem moralischen Wesen. Der Beginn der phylogenetischen Entwicklung setzt, laut Tomasello, beim Homo heidelbergensis vor circa 400.000 Jahren ein.418 Vor diesem Zeitraum jagten die Individuen in freier Wildbahn jeweils für sich eine Nahrung, die sie selbst erlegen
416 Vgl. (i) Tomasello: Human Morality (2016), S. 60ff. u. S. 70ff. (dt.: S. 98f u. S. 112ff.). (ii) Bräuer, Bös, Call u. Tomasello: »Domestic dogs« (2013). 417 Tomasello: Becoming Human (2019), S. 14. (Herv. selbst vorgenommen). Stefan Klein nimmt in Der Sinn des Gebens (2011) die empirischen Studien Tomasellos bis 2011 auf. Klein kommt jedoch zu einem etwas anderen Ergebnis, auch wenn er diese Abgrenzung zu Tomasello nicht selbst benennt: Tiere könnten durchaus theoretisch unabhängig von ihrem Eigennutz handeln. In der Praxis würden sie dies jedoch nicht tun, da sie die hilfsbedürftige Situation des Anderen gar nicht als hilfsbedürftig einschätzen und damit auch nicht einschreiten. Klein untermauert dies mit der – für den Schimpansen allerdings unalltäglichen – Situation, dass Schimpansen nicht eingriffen, obwohl »[e]in beladener Mensch [...] reglos vor einer Schranktür steht [...] [was wohl] offenbar die Kombinationsgabe von Schimpansen [überforderte]« (Klein: Sinn des Gebens (2011), S. 103). Es mangle Tieren nicht an Altruismus, sondern ihnen fehle schlicht, so Klein wörtlich, »ein hohes Maß an Intelligenz« (vgl. ebd., S. 103). Auf das Beutebeispiel der Schimpansen angewendet, bedeutet dies: der Schimpanse S1 mit der Beute erkennt aus mangelndem Einfühlungsvermögen nicht, dass der Andere S2 ebenfalls Hunger empfindet. S1 bemerkt zwar, dass S2 ebenfalls der Beute hinterherrennt, das Maul aufreißt und an der Beute zieht, aber die Absicht selbst, hier der Hunger, bleibe ihm verborgen. Ich halte diese Einschätzung Kleins letztlich jedoch für fragwürdig, da dies konsequenterweise weiter beinhalten würde, dass erwachsene Schimpansen ebenfalls nicht erkennen könnten, wenn ihre eigenen Nachkommen Hunger haben und diese nur dann füttern, wenn es ihnen gerade selbst gelegen kommt. 418 Es ist hier nicht der Raum dafür, genauer darauf einzugehen, welcher archäologischen Funde sich Tomasello im Detail bedient, um zu begründen, dass eben dieser und kein anderer Zeiteinschnitt als Beginn der phylogenetischen Entwicklung zu gelten hat.
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konnten. Man denke hier etwa an einen freilaufenden Hasen. Ab diesem Zeitraum allerdings wurde, durch klimatische Veränderungen und deren Konsequenzen, die Nahrungsbeschaffung erschwert. Denn nun mussten unter anderem weitere Wege zurückgelegt werden. Doch Not macht bekanntermaßen erfinderisch und so erkannte der Homo heidelbergensis – wie der Menschenaffe –, dass die Jagd in der Gruppe Vorteile bringt419 : Zusammen und nur zusammen können sie die deutlich höherwertige Nahrung, wie einen Hirsch, jagen.420 Im Gegensatz zum Menschenaffen hat man es hier jedoch, Tomasellos Verständnis zufolge, mit einer gemeinsamen Jagd zu tun. Denn der Homo heidelbergensis begann nicht nur zusammen Jagdpläne zu schmieden, welche beispielsweise eine Rollenaufteilung umfasst, sondern anschließend auch die Beute untereinander aufzuteilen. Nicht nur der Jagdaufwand, welcher auf die einzelnen Beteiligten zutrifft, ist dabei im Verhältnis zur Beute deutlich profitabler, sondern durch das Teilen der Nahrung – unabhängig davon wer sie nun schlussendlich tatsächlich erlegte – ist wenigstens ein kleiner Beuteanteil gesichert. Kooperative Handlungen fanden demnach zunächst auch unter einem egoistischen Gesichtspunkt statt421 , da jeder Jäger gleichzeitig auch einen eigenen Vorteil aus der Jagdgemeinschaft zog. Statt »ich jage die Beute, um
419 Vgl. (i) Tomasello: Human Thinking (2014), S. 36 (dt.: S. 61). (ii) Tomasello: Becoming Human (2019), S. 15. Andere Autoren, wie beispielsweise Robin Dunbar, gehen vielmehr davon aus, dass kooperatives Verhalten aus zeitlicher Sicht früher, vor circa einer Million Jahre, eingesetzt haben muss. Diese These stützt Dunbar seinerseits darauf, dass in menschlichen Knochen aus dieser Zeit Hinweise, wie spezifische Isotope, gefunden wurden, die auf »höherwertige« Nahrung schließen lassen (vgl. Clive Gamble, John Gowlett u. Robin Dunbar: Evolution, Denken, Kultur – Das soziale Gehirn und die Entstehung des Menschlichen, übersetzt v. Sebastian Vogel, Springer Verlag, Berlin/Heidelberg, 1. Auflage 2016, S. 196). Diese These scheint jedoch unausgereift, da sich dabei nicht nachweisen lässt, ob die »höherwertige« Nahrung tatsächlich zusammen gejagt wurde oder als Aas aufgefunden wurde, sodass sich eine Jagd und damit auch die gemeinsame Jagd erübrigte. 420 Vgl. u.a. (i) Tomasello: Human Thinking (2014), S. 36 (dt.: S. 61). (ii) Tomasello: Becoming Human (2019), S. 174f. Das Beispiel der effizienteren Hirsch- im Vergleich zur Hasenjagd findet sich bereits bei Jean-Jacques Rousseau (vgl. Klein: Sinn des Gebens (2011), S. 40). Als noch drastischere Veranschaulichung bietet sich der Walfang an: In bestimmten Gegenden ist – oder zumindest war – der Mensch notwendigerweise dazu genötigt seine Nahrung mit Anderen zu erlegen und beispielsweise auf Walfang zu gehen. Das Beispiel der Jagd nach Walen ist eben deshalb so herausragend, da man zwar aufgrund modernster Hilfsmittel heutzutage problemlos allein in der Lage ist einen Hirsch zu erlegen, jedoch noch in der heutigen Zeit zahlreiche verschiedene Fachkräfte benötigt, wie Schiffsbauern, Harpuniere und Steuermänner, welche für den Erfolg des Walfanges notwendigerweise Hand in Hand arbeiten müssen (vgl. ebd., S. 168ff.). 421 Vgl. Tomasello: Human Communication (2008), S. 8 (dt.: S. 19).
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sie mir zukommen zu lassen« lautet das Ziel nun: »Wir jagen die Beute, um sie uns zukommen zu lassen«.422 Mittels der Überlegungen des Wissenschaftsautors Stefan Klein lässt sich an dieser Stelle einwerfen, dass das gemeinsame Jagen – im wirklichen Sinne des Gemeinsamen – von einer entscheidenden Annahme geprägt ist: Es gibt zwar wenig Nahrung, wodurch nicht die Jagd von beispielsweise vier Hasen für mich, sondern die Jagd eines Hirschen für uns sinnvoll erscheint. Allerdings gibt es eben auch nicht zu wenig Nahrung, da ansonsten die Beteiligten wieder auf ihren eigenen Überlebensinstinkt zurückgeworfen sind und ihre Nahrung eben nicht mehr teilen.423 Für Tomasello ist jedoch nicht wesentlich, wie die gegenwärtige Nahrungsversorgung eines menschlichen Stammes beschaffen ist, sondern vielmehr, dass seiner Ansicht nach nur der Mensch – zumindest potenziell – seine Nahrung mit Anderen im engen Sinne des »We-modes« teilen kann. Zwar mögen Menschenaffen über zahlreiche kognitive Fähigkeiten verfügen, wie die Einschätzung des Intentionalitätsgehaltes des Anderen und eine entsprechende eigene – angemessene oder
422 Andere Autoren, wie etwa die Anthropologin Sarah Blaffer Hrdy, gehen davon aus, dass die »soziale Intelligenz« nicht aus der Arbeitsteilung bezogen auf die Nahrungsbeschaffung, sondern aus der Arbeitsteilung bezüglich der Kinderaufzucht entwickelte: Andere würden sich am Großziehen des Nachwuchses beteiligen, damit die Mutter selbst sich von der Geburt erholen und selbst auf Nahrungssuche gehen kann. Das Kind wiederum entwickle durch den Kontakt mit verschiedenen Personen ein prägnanteres Einfühlungsvermögen, wodurch sich dessen Überlebenschancen erhöhten (vgl. Klein: Sinn des Gebens (2011), S. 156ff.). Zwar wird hierbei eine andere Ausgangssituation als Grundlage herangeführt, doch schlussendlich ist ihre Argumentation des Entwicklungsganges der »sozialen Intelligenz« sehr nahe an jener Tomasellos: Zunächst prägen egoistische Gründe die Arbeitsteilung. Bei Hrdy: durch die Stärkung der Mutter und des Kindes wird wiederum die Gruppe als solche leistungsfähiger. 423 Klein führt dies beispielhaft am »race to the bottom«-Verhalten der Mitglieder des IkStammes aufgrund einer lang anhaltenden Dürreperiode in Uganda um 1971 vor: Zunächst teilten Anhänger des Ik-Stammes ihre Nahrung noch mit Familienmitgliedern, doch »[n]ach einer Zeit wurde [auch] der gemeinsame Beutezug [unter engen Familienmitgliedern] vollends unüblich. Wer jagen wollte, schlich sich nun vor Morgengrauen aus dem Dorf, damit keiner ihn sehe. Immer größeres Misstrauen regierte. Je länger der Regen ausblieb, je mehr die Felder vertrockneten, umso höher wuchsen die undurchsichtigen Palisaden zwischen den Rundhütten des Dorfes [...]. Man besuchte einander nicht mehr, man vermied es, von anderen eine Gefälligkeit anzunehmen, um sich niemanden verpflichtet zu fühlen. [...] Als die Zeiten härter wurden, wuchs vermutlich zuerst bei einigen die Versuchung zuerst an sich selbst zu denken. Und langsam zogen immer mehr nach. Die Männer, die ihre Beute schon auf der Jagd verzehrten, ihre Frauen, die sich unterwegs an Beeren satt aßen: Sie alle glaubten nicht mehr daran, dass es sich lohnte, mit anderen zu teilen. Und damit verhielt sich jeder von ihnen auf den Moment bezogen völlig vernünftig [...]. Das Problem ist, dass die anderen dieses Verhalten erwidern. Und so kommt eine Abwärtsspirale in Gang.« Klein: Sinn des Gebens (2011), S. 60ff.
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gegebenenfalls sogar manipulative – Reaktion hierauf zeigen, aber ihnen fehle »a suite of social-cognitive and social-motivational skills that may be collectively termed shared intentionality«424 . »Die Geschichte der Menschheit«, so fasst es Klein prägnant zusammen, »begann mit einer altruistischen Revolution«425 , welche sich im Laufe der Zeit als kooperative Kommunikation426 manifestierte, das heißt letztlich wie die Rollenaufteilung der Beteiligten, deren Koordination untereinander sowie die Mittel zur Erlegung der Beute am effizientesten gestaltet werden. Diese zeigen sich par excellence in folgenden drei Aspekten. Erstens ist der Andere aus diesem Blickpunkt heraus ein Kooperationspartner, welcher den eigenen Jagdaufwand bezüglich der hochwertigeren Beute minimiert und daher gegen Feinde schützenswert ist. Zweitens etabliert sich aus diesen Verhältnissen des gemeinsamen Hintergrundes, des »common ground« heraus, wie man sagen könnte in einer zweiten phylogenetischen Entwicklungsstufe, vor circa 150.000 Jahren genauer ein »cultural common ground [...][which covers all] things that we all in the group know that we all know even if we did not experience them together«427 . Es bilden sich »normative ideals of right and wrong«428 . Pointiert formuliert: aus der Synthese des Bezugs aufeinander und deren sozialen Komponenten bildet sich eine Kultur429 , eine Etablierung und Aufrechterhaltung von Normen, Konventionen und Institutionen430 . 424 425 426 427
Tomasello u. Carpenter: »Shared intentionality« (2007), S. 121. Klein: Sinn des Gebens (2011), S. 16. Vgl. Tomasello: Becoming Human (2019), S. 16. Tomasello: Human Thinking (2014), S. 85 (dt.: S. 130) (Herv. selbst vorgenommen). Vgl. u.a. (i) Tomasello: Origins of Human Communication, S. 76f. (dt.: S. 86). (ii) »Even very young children [around an age of three] are able to make strong inferences about the knowledge of in-group strangers based on assumed cultural common ground.« Tomasello: Human Morality (2016), S. 94 (dt.: S. 147). (iii) Tomasello: Becoming Human (2019), S. 15. 428 Ebd., S. 87 (dt.: S. 136). Dieser Gedanke Tomasellos ist nur dahingehend neu, dass er die Entwicklung der Moral aus einer phylogenetischen Sicht präsentiert. Dass sich durch das Handeln in der Gruppe falsche und richtige Handlungsweisen ergeben und diese normativen Konsequenzen beinhalten, ist bereits schon seit langem bekannt und auch von Forschern dieser Debatte vor Tomasellos Erläuterungen, wie beispielsweise von Tuomela, hervorgehoben worden (vgl. Tuomela: »Coll. Acceptance, Social Institutions, and Social Reality« (2003), S. 137). Es bilden sich, wie man mit der Philosophin Olimpia G. Loddo sagen könnte, bestimmte »background rules«, welche sowohl unser Verhalten als auch unseren Wahrnehmungshorizont als auch unseren Willen beeinflussen (vgl. Olimpia G. Loddo: »The Background Power in Searle’s Social Ontology«, in: Phenomenology and Mind (hg. v. Monticelli), Band 2, Band hg. v. Francesca Maria de Vecchi, 2012, S. 50–57, hier: S. 55f.). 429 Vgl. Tomasello: Human Morality (2016), S. 85 (dt.: S. 134). 430 Vgl. Tomasello: Human Thinking (2014), S. 5 (dt.: S. 19). Bereits bei dem Soziologen Émile Durkheim findet sich um 1893 eine evolutionstheoretische Erklärung der »Zusammenarbeit an einer gemeinsamen Aufgabe«, was in Durkheims Worten der Arbeitsteilung entspricht. Letztlich sei diese »Zusammenarbeit an einer gemeinsamen Aufgabe«, nach Durkheim wie Toma-
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Man benötigt dabei nicht nur eine Hintergrundwissen, sondern spezifischer eine »hinreichend große Menge von geteiltem Hintergrundwissen«431 sowie damit einhergehend »stable sets of shared expectations«432 . Die Beteiligten schätzen sich nicht nur als Kooperationspartner ein, sondern sie wissen auch übereinander, dass sie als Mitglieder dieser Kultur über bestimmtes Wissen der kulturellen Praktiken verfügen müssen: »There are collectively accepted perspectives on things [...] and collectively known standards for how particular roles in particular cultural practices should be performed – indeed, must be performed – if one is to be a member of the group. «433
sello, anhand von Mechanismen der Variation und der Größenveränderung, wie der demographischen Veränderung, – kurz: dem Überlebenskampf – darlegbar (vgl. Durkheim: Über soziale Arbeitsteilung [1893], S. 32, S. 176 u. S. 325). Wobei zu sagen ist, dass Tomasello in der Evolution bis zu 400.000 Jahre zurückgeht, während Durkheim eher die »neueren« Jahrhunderte, etwa die Entstehung der Berufskorporationen, wie den Gewerkschaften, nachzeichnet. Während Tomasello darlegt, wie sich aus der »Zusammenarbeit an einer gemeinsamen Aufgabe« heraus eine Kultur entwickelte, beschreibt Durkheim aus seiner soziologischen Perspektive heraus eher den Kulturwandel aufgrund der Zusammenarbeit. Beispielsweise, wie sich im Laufe der Arbeitsteilung immer spezialisierte Aufgaben und damit auch Ausbildungsberufe ergaben (vgl. Durkheim: Über soziale Arbeitsteilung [1893], S. 87ff.). Oder wie sich die geschlechterspezifischen Aufgaben wandelten, die von Durkheim als »sexuelle Arbeitsteilung« bezeichnet werden (vgl. ebd., S. 103ff.). Allerdings sagt Durkheim ebenfalls, dass aufgrund dieser immer spezifischeren Arbeitsteilung die Arbeitsabläufe selbst immer monotoner werden und daher – stark vereinfachend und plakativ gesprochen – die Selbstmordrate zunimmt (vgl. ebd., S. 302ff.), wodurch die Arbeitsteilung oder zumindest deren Folgen auch als drastische Nachteile beschrieben werden können. So unterschiedlich die Ansätze und Bezeichnungen nach Tomasello und Durkheim auch sein mögen – evolutionstheoretisch und soziologisch – beide gehen davon aus, dass die »Zusammenarbeit an einer gemeinsamen Aufgabe« die Bedingung der Möglichkeit der Existenz unserer heutigen Gesellschaft ist (vgl. ebd., S. 110). 431 Tomasello: Ursprünge d. menschl. Kommunikation, Kapitel 3, S. 69 (in der Originalfassung: Tomasello: Human Communication (2008), S. 58). 432 Tomasello: Human Morality (2016), S. 98 (dt.: S. 152). Wobei sich die – empirisch wohl kaum zu beantwortende – Frage stellt: wie groß muss diese »hinreichend große Menge von geteiltem Hintergrundwissen« tatsächlich sein. Vgl. u.a. (i) Tuomela: Social Ontology (2013), S. 114. (ii) Pettit u. Schweikard »Joint Action and Group Agents« (2006) (dt.: S. 573). Wenn man – neben anderen Kriterien – gemeinsames Hintergrundwissen besitzen muss, um als Beteiligter gelten zu können, dann ist damit im Umkehrschluss die Frage verbunden, wer nicht über dieses gemeinsame Hintergrundwissen verfügt. Beispielsweise kann damit – in Abgrenzung zu Searles, Gilberts, und Baltzers These, dass Tiere auch ein »Wir« bilden können – gefragt werden, ob etwa der Hund über das Konzept »Spazierengehen« verfügt und daher das »wir gehen spazieren« versteht. 433 Tomasello: Human Thinking (2014), S. 92 (dt.: S. 140).
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Dabei gilt: »as more can be assumed to be shared between communicator and recipient, less needs to be overtly expressed«434 . Mehr noch: teilt man ein bestimmtes Maß eines gemeinsamen kulturellen Hintergrundes, so bedeutet dies auch »knowing many important things about the minds and likely behaviour of others, often without ever interacting with them directly«435 . Beispielsweise ist es durch die allgemeinen Verkehrsregeln möglich – relativ treffsicher – vorherzusagen, wie sich der Andere verhalten wird.436 Konkret in Bezug auf die Hirschjagd bedeutet das: wir wissen beide, dass der Hirsch eine wertvolle Nahrung darstellt und wir diese nur zusammen erlegen können. Zudem besteht ein Konsens darüber, dass sich eine bestimmte Rollenverteilung und ein bestimmtes Werkzeug als effizient zur Hirschjagd erwiesen haben, diese deshalb hinsichtlich der Hirschjagd gegenüber anderen bevorzugt werden und daher wiederum eine Vereinbarung eingegangen wurde auf diese konkrete Weisen bei der Hirschjagd vorzugehen.437 Dies ist seinerseits mit einem Anpassungs- und Konformitätsdruck verbunden diese Verhaltensweisen auch tatsächlich zu übernehmen, zu praktizieren.438 Tomasello vertritt die Annah-
434 Tomasello: Human Communication (2008), S. 79 (dt.: S. 90). Neben den erläuterten Bedingungen der Möglichkeit bestimmter Intentionalitätsformen, wie unter anderem der Empathiefähigkeit und dem »We-mode« (siehe Kapitel 2.1), stellt auch das Hintergrundwissen ein notwendiges Kriterium der geteilten oder gemeinsamen Intentionalität dar. Doch wenn einerseits das Hintergrundwissen als notwendig erachtet wird, so muss andererseits betont werden, dass Kleinkinder dieses erst im Verlauf erlernen, wie etwa kulturelle Praktiken, und Personen mit ausgeprägter Demenz, dieses wieder vergessen. 435 Tomasello: Human Morality (2016), S. 93 (dt.: S. 146) (Herv. selbst vorgenommen). Daher spricht Tomasello von einem »cultural common ground«: »[S]oziale[…] Praktiken müssen natürlich nicht in dem engen Sinn geteilt sein, dass man sich mit denselben Individuen schon einmal in derselben Situation befunden haben muss. Deshalb ist die Rede von gleichen (common) Erfahrungen treffender als die von gemeinsamen oder geteilten (shared) Erfahrungen, wenn es um kulturell fixierte Gepflogenheiten geht [...]. In jedem Fall gibt es auf beiden Seiten der Beteiligten bestimmte Annahmen darüber, was der jeweils andere weiß und kennt, und dieses gemeinsame Wissen oder diese gemeinsame Vertrautheit ist die Voraussetzung für menschliche Kommunikation.« Tomasello u. Moll: »Replik« (2011), S. 166. 436 Tomasello selbst differenziert begrifflich nicht zwischen der tatsächlich direkten Bezugnahme der Beteiligten und der auch indirekt möglichen Schlussfolgerung, wie sie eben der gemeinsame kulturelle Hintergrund ermöglicht. Letztere Form kann wohl mit der ManIntentionalität nach Schützeichel gleichgesetzt werden: Man hat ein Bewusstsein davon, dass viele weitere Akteure dies tun, wie es eben in dieser Kultur üblich ist. 437 Empirische Studien machen deutlich, dass wohl bereits Dreijährige nicht nur zwischen der falschen und richtigen Handlungsweise unterscheiden können, sondern Andere ermahnen, wenn diese falsch agieren und darauf hinweisen, wie es richtig gemacht wird (vgl. u.a. Tomasello u. Moll: »The Gap is Social« (2010), S. 343). 438 Vgl. (i) Tomasello: Human Communication (2008), S. 282f. (dt.: S. 301). (ii) Tomasello: Human Morality (2016), S. 108 (dt.: S. 167).
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me, dass eine solche Vereinbarung, eine solche Gruppenidentität439 und ähnliche Phänomene nicht bei Frühmenschen und Menschenaffen aufzufinden sind440 und damit als Teil der differentia specifica, als Merkmal des Menschen als Menschen angesehen werden müssen. Die Konstitution der institutionellen Tatsachen entsteht, soweit der Konsens, aus einer kollektiven Akzeptanz, dem »collective commitment« heraus.441 Allerdings finden sich dabei unterschiedliche Erläuterungsweisen: Searle begründet die Intentionalität kausal und führt sie letztlich auf die Verarbeitung neuronaler Signale zurück442 – wobei unklar bleibt, wie und weshalb neuronale Signale den Anstoß zu sozialen oder institutionellen Tatsachen geben. Tomasello betont indessen, dass Phänomene wie die kollektive Akzeptanz ausschließlich durch einen phylogenetischen Prozess ermöglicht wurden, in welchem die Interdependenz der Subjekte eine signifikante Rolle einnimmt: Erst durch die gegenseitige Abhängigkeit der beteiligten Subjekte, ergab sich in der Folge die Notwendigkeit der kollektiven Akzeptanz. Diese gegenseitige Abhängigkeit lässt sich als drittes Hauptmerkmal der »altruistischen Revolution«443 des Menschen fassen: Um zu überleben sowie meine Ressourcen möglichst effizient einzusetzen – das heißt etwa möglichst höherwertige Nahrung zu erhalten –, ist es für mich sinnvoll und sogar notwendig in der Gruppe kooperativ zu agieren, was Tomasello selbst kurz in folgender Formulierung zusammenfasst: »my survival depends on how you judge me«444 . Es kommt zu einer Bewertung aus der Eigen- und Fremdperspektive sowie zu einer entsprechenden Regulierung des eigenen Verhaltens, um von Anderen als Kooperationspartner eingestuft, das heißt tatsächlich an Beutezügen beteiligt zu werden.445
439 440 441 442 443 444
Vgl. ebd., S. 5 (dt.: S. 17). Vgl. Tomasello: Human Thinking (2014), S. 79 (dt.: S. 121). Vgl. insbesondere Searle: The Construction of Social Reality (1995). Vgl. u.a. Searle: Making the Social World (2010), S. 4, S. 25 u. S. 42 (dt.: S. 12f., S. 46 u. S. 75). Klein: Sinn des Gebens (2011), S. 16. Tomasello: Human Thinking (2014), S. 47 (dt.: S. 76). Es geht Tomasello, um es nochmals hervorzuheben, nicht um die Abhängigkeit der Teilhandlungen voneinander – wie es etwa Bratman mit den »interlocking subplans« oder Seumas Miller mit der »interdepence of action« (vgl. Seumas Miller: Social Action – A Teleological Account, Cambridge University Press, New York, S. 6) vertreten –, sondern um die Abhängigkeit der Beteiligten voneinander. 445 Vgl. (i) Tomasello: Human Thinking (2014), S. 31ff. u. S. 47ff. (dt.: S. 54ff. u. S. 75ff.). (ii) Tomasello: Becoming Human (2019), S. 21. Wie die Selbstregulierung jedoch genauer zu charakterisieren ist – beispielsweise primär kognitiv oder emotional – wird von Tomasello ebenso wenig erläutert, wie die Frage, welche verschiedenen Arten der Selbstregulierung möglich sind. Eine Aufschlüsselung der Selbstregulierungstypen findet sich etwa bei Joel Krueger (vgl. Joel Krueger: »The Affective ›We‹ – Self-Regulation and Shared Emotions«, in: Phenomenology of Sociality – Discovering the »We«, hg. v. Thomas Szanto u. Dermon Moran, (Routledge Research in Phenomenology, Band 3), Routledge Verlag, New York/London, 2016, 263–277, hier: S. 264ff. Im Folgenden als: Krueger: »Affective ›We‹« (2016)).
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Denn nur wenn ich an gemeinsamen Beutezügen beteiligt werde und mich dabei an die Norm halte, kann ich möglichst effizient höherwertige Nahrung erbeuten und dadurch wiederum am effizientesten mein Überleben und das meiner Nachkommen sichern. Nochmals auf einen Satz gebracht mit Tomasello: »Only individuals who could work well with others are well and so passed on their genes prolifically«446 . Es tritt klar zutage, dass Tomasello in Bezug auf die Normativität nicht fragt, ob bei der gemeinsamen Jagd notwendigerweise eine Verpflichtung besteht, wie Gilbert zugrunde legen würde, oder lediglich kontingenterweise eine Verpflichtung bestehen kann, wie es Tuomela vertritt. Bei Tomasello findet sich vielmehr eine Aspektverschiebung: In seinem Beispiel der Jagd geht es nicht darum, dass ich eine (kleine) Rüge ertragen muss, wie es der Fall sein kann, wenn ich einen gemeinsamen Spaziergang ohne Erklärung abbreche, wie es Gilbert in ihren Werken ausführt. Vielmehr geht es im Ansatz Tomasellos grundsätzlich um meine blanke Existenz und Überlebenswahrscheinlichkeit. Zusammengenommen bedeutet dies, dass beim Menschen gleichermaßen wie bei allen Tieren gilt, dass die Erlangung höherwertiger Nahrung, die Verteidigung der Ressourcen und Gruppenmitglieder gegen Fressfeinde oder andere Gruppen447 zu einer »mutual recognition of partner interdependence (based on strategic trust)«448 führt. Doch während sich Tiere, der Thesen Tomasellos zufolge, ausschließlich im »I-mode« befinden, ist bei einem »We-mode«, welcher lediglich dem Menschen möglich ist, deutlich markanter was aus diesem konkreten Verhalten folgt beziehungsweise unmittelbar mit diesem einhergeht: Kooperation449 , kollektive Akzeptanz sowie die Etablierung von Konventionen, Normen und Institutionen, kurz: die Etablierung einer Kultur. Aus »prudential reasons«450 und aus
446 Tomasello: Human Morality (2016), S. 45 (dt.: S. 75). 447 Vgl. Tomasello: Becoming Human (2019), S. 5. 448 Tomasello: Human Morality (2016), S. 57 (dt.: S. 92). Wobei erstens bemerkt werden kann, dass es sich, wie man wohl präziser sagen müsste, um eine wechsel- anstatt gegenseitige Interdependenz handelt. Zweitens zeigt sich hier, ohne dass dies von Tomasello selbst angeführt wird, eine ausgeprägte Parallele zu den Ausführungen Smiths: Auch dort findet sich eine Aufschlüsselung des Ursprungs der Abhängigkeitsbezüge. Diese basieren bei Smith jedoch primär auf Verwandtschafts- und Arbeitsverhältnisse. Die Grundtendenz ist jedoch bei beiden Autoren ein und dieselbe: Aufgrund der gegebenen Situation – basierend auf Verwandtschaft- und Arbeitsverhältnissen (Smith) oder der Nahrungsbeschaffung (Tomasello) – ergibt sich notwendigerweise eine gegenseitige Abhängigkeit. Smith betont, dass diese Abhängigkeitsart bereits bei den Römern erläutert wurde: »The Romans expressed this sort of attachment by the word necessitudo, which, from the etymology, seems to denote that it was imposed by the necessarity of the situation.« Smith: Theory of Moral Sentiments [1759], S. 224 (dt.: Sechster Teil, 2. Abschnitt, 1. Kapitel, S. 380). 449 Vgl. Tomasello: Human Morality (2016), S. 40 (dt.: S. 68). 450 Vgl. ebd., S. 100 (dt.: S. 156).
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einem »strategic trust«451 heraus ist es angebracht sich an die Regeln zu halten, um als adäquates Gruppenmitglied zu gelten. In indigenen Völkern, wie den Korowai oder den Kombai, ist es heutzutage noch verbreitet, Personen, die nicht den Gruppeninteressen folgen, in der Wildnis auszusetzen.452 Die Phrase »survival of the fittest« wird bei Überlegungen dieser Art demnach in Bezug auf den Menschen umgedeutet: Während bei den Tieren ein Überleben des Stärksten zugrunde liegt, hat man es beim Menschen mit einem Überleben des Kooperativsten zu tun. Der Mensch ist ein Wesen mit einer für ihn spezifischen Verhaltensweise und Intentionalität: Er ist ein »animal intentionale«, oder etwas spezifischer: »[v]iel mehr als Homo oeconomicus sind wir Homo reciprocans«453 . Es herrscht nicht nur eine Anpassung an die natürliche Umgebung, sondern auch eine dezidierte Anpassung an die Gruppe, konkret: deren kulturellen Werte, Handlungsweisen und Ähnliches. Während das Tier nur auf seinen individuellen Nutzen bedacht ist und demzufolge nach Tomasello lediglich über eine »individuelle Intentionalität« verfügt, ist der Mensch zur »joint« und »collective intentionality« fähig. Damit werden frühere – auch evolutionstheoretische – Erläuterungen zur differentia specifica zurückgewiesen: »human beings are especially sophicated cognitive not because of their greater individual brainpower, but rather because their unique ability to put their individual brainpowers together to create cultural practices, artifacts, and institutions«454 . Nicht die Gehirngröße, nicht die Sprache, nicht die Vernunft und nicht das soziale Verhalten bilden die differentia specifica, sondern jene Intentionalitätsform, die eine kooperative, wechselseitige, ultrasoziale »We-mode«-Gemeinschaft ermöglicht und erst auf Grundlage dieser können signifikante Faktoren wie die Sprache oder Vernunft etabliert werden.455 Man mag mit der These mitgehen können, dass etwa nicht die Relation der Gehirn- zur Gesamtkörpergröße, sondern ganz bestimmte Gehirnprozesse – also nicht die Quantität, sondern die Qualität des Gehirns – oder nicht das soziale, sondern das ultrasoziale Verhalten als ausschlaggebend betrachtet werden sollte. Doch Tomasello scheint sich bei genauerer Betrachtung selbst zu 451 Vgl. ebd., S. 51 (dt.: S. 83). 452 Vgl. Gloy: Koll. u. individuelles Bewußtsein (2009), S. 13f. Die wissenschaftliche Darlegung dieser »Klugheitsgründe« findet sich bereits, ohne dass Tomasello selbst dies hervorhebt, um 1990 bei Gilbert (vgl. Gilbert: »Walking Together« (1990), S. 4 (dt.: S. 159f.)). 453 Klein: Der Sinn des Gebens (2011), S. 176. 454 Tomasello u. Moll: »The Gap is Social« (2010), S. 331 (Herv. selbst vorgenommen). 455 Damit lässt sich Tomasello Ansatz in die Nähe des ebenfalls empirischen Ansatzes nach Robin Dunbar rücken. Denn auch dort wird gegen Ende des 20. Jahrhunderts gegen die üblichen Ansätze argumentiert und der Mensch als jenes Tier betrachtet, das besonders gesellig ist und erst auf Basis dieser Geselligkeit spezifische kognitive Fähigkeiten, wie ein komplexes Sprachsystem etablierte (vgl. u.a. Dunbar: Grooming, Gossip, Evolution of Language (1997)).
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widersprechen: Denn einerseits sei die Vernunft nicht die Grundlage, andererseits betont er gleichzeitig, dass »prudential reasons«, also zumindest – so könnte gesagt werden – eine »spezifische Art der Vernunft« erforderlich sei, um eine »Wemode«-Gemeinschaft zu etablieren.456 Die kollektive Intentionalität ist nach seinem Verständnis als Interaktion mit dem gesamten Kollektiv – das heißt bei ihm: der Kulturgruppe457 – zu verstehen. Daraus ergibt sich umgekehrt: für Tomasello gilt jede menschliche kulturelle Ansammlung als Kollektiv. Entscheidend ist für diese spezifisch menschliche Phylogenese jedoch nicht nur der »We-mode« und seine Folgen, sondern auch, dass der Mensch auf den kulturellen Errungenschaften seiner Vorfahren aufbaut. Dieses Phänomen des kulturellen Weitertragens – das vielleicht nicht einzigartig beim Menschen, aber zumindest dort am umfangreichsten und ausdrücklichsten vorfindbar ist – belegt Tomasello um 1993 mit der Bezeichnung »rachet effect« (»Wagenhebereffekt«)458 . Er prägt demnach kurzum folgenden Gedanken: ohne den Menschen gäbe es keine »joint« und keine »collective intentionality«. Der Mensch ist zur individuellen Intentionalität fähig, doch diese könnte es auch ohne den Menschen geben, da auch Tiere über diese spezifische Intentionalitätsform verfügen.
Der Mensch kann ultrasozial sein Beginnend mit Aufsätzen wie »Origins of Human Cooperation and Morality« (2013) und spätestens mit dem Werk A Natural History of Human Morality (2016) werden die
456 Wobei bei den hier behandelten Autoren die Positionen etwa auch darin abweichen, ob eine spezifische Vernunftart, konkret: die »prudential reasons« als Bedingung der Möglichkeit einer Gemeinsamkeit nötig ist, wie etwa von Tomasello und Gilbert vertreten, oder ob die Vernunft als Bedingung der Möglichkeit des allgemeinen Erfassens des Anderen zu gelten hat – das heißt: unabhängig davon, welche konkrete Intentionalitätsform (geteilte oder gemeinsame) daraus konstituiert wird –, wie unter anderem Husserl und Heidegger gelesen werden können. Vgl. (i) Heidegger: Einleitung Philosophie [1928], S. 86. (ii) Husserl: Intersubjektivität III, Text Nr. 10, S. 140. 457 Vgl. Tomasello: Human Thinking (2014), S. 113 (dt.: S. 170). 458 Vgl. (i) Michael Tomasello, Sue Savage-Rumbaugh u. Ann Cale Kruger: »Imitative learning of actions and objects by children«, in: Child Development, Band 68, 1993, S. 1067–1081. (ii) Tomasello: The Cultural Origins of Human Cognition (1999). Beachtet werden muss hier nochmals die begriffliche Verwendung: Da Tomasello die Kultur an den »We-mode« bindet und diesen nur Menschen zu schreibt, ist bei ihm nicht ausdrücklich die Rede davon, dass und ob Tiere über Kultur verfügen. Beim Primatologen Frans de Waal hingegen wird eindeutig bereits das Adaptieren von Verhaltensweisen vorzugsweise älterer Artgenossen unter den Begriff »Kultur« subsumiert, sodass man nach dieser Ansicht wiederum nicht umhin kommt Tieren eine Kultur zuzuschreiben (vgl. u.a. Frans de Waal: Primates and Philosophers. How Morality Evolved, Princeton University Press, 2006).
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bisher erläuterten Annahmen Tomasellos zur menschlichen Genese durch eine weitere These ergänzt: Kurz gefasst geht er, wie die hier exemplarisch genannten Titel bereits kennzeichnen, nun zusätzlich davon aus, dass sich die menschliche Moral mittels des gemeinsamen Hintergrundes sowie der Perspektivübernahme entwickelt. Anstatt nach den Merkmalen der Moral selbst zu fragen, wird bei ihm dagegen ein Erklärungsversuch der Entwicklungsgeschichte der Moral gezeichnet459 : Durch die gemeinsame Gerichtetheit, welche nach Tuomela und Tomasello gleichzusetzen ist mit der Zurückstellung des individuellen Eigennutzes, etabliert sich, beiden Autoren zufolge, zum einen die Verantwortung füreinander sowie zum anderen die soziale Vereinbarung der Gruppenmitglieder untereinander am Gruppeninteresse festzuhalten. Selbstredend lassen sich viele Situationen nachweisen, in welchen der Mensch konkurrenzbezogen und eigensüchtig handelt.460 Doch ebenso deutlich finden sich Nachweise dezidiert altruistischen Verhaltens. Dies kann man etwa daran verdeutlichen, dass ein Mann sein eigenes Leben riskiert, um ein fremdes Kind aus einem brennenden Haus zu retten. Menschenaffen hingegen, so nun der Ansatz der Konzeptweiterführung nach Tomasello, helfen Anderen nur dann, wenn erstens die Hilfsbedürftigkeit nicht nur auftritt, sondern sogar unübersehbar ist461 . Zweitens wird angenommen, dass eine Hilfe ausschließlich dann angeboten wird, wenn die eigenen Kosten, die sie für die Hilfe einsetzen müssen von ihnen selbst als nicht zu hoch eingestuft werden462 – also, um hier im Bild zu bleiben, kaum ihr eigenes Leben riskieren würden. Aufgrund dieser Einschätzung hebt Tomasello immer wieder hervor: nur der Mensch kann gemeinsam denken, handeln und fühlen, das heißt den Anderen als kooperativen Partner ansehen. Oder um es bündig mit einem Aufsatztitel Tomasellos um 2010 zu sagen »The Gap is Social«463 . Da Tiere aber doch – zumindest unter spezifischen Bedingungen – helfen oder soziale Rollen einnehmen können, heißt es bei ihm später nochmals konkretisiert, dass Menschen im Vergleich zu Tieren nicht sozial oder kooperativ
459 Auch wenn Tomasello wohl die systematisch ausführlichste Darstellung der evolutionären Entwicklung der menschlichen Kooperation- und Moralfähigkeit anbietet, so kann doch zumindest aus historischer Sicht angemerkt werden, dass eine Erklärung der menschlichen Kooperation- und Moralfähigkeit bereits bei früheren Denkern wie William D. Hamilton oder gar Charles Darwin zu finden ist. Vgl. u.a. (i) William D. Hamilton: »The Evolution of Altruistic Behaviour«, in: American Naturalist, Band 97, 1963, S. 354–356. (ii) Robert Axelrod u. William D. Hamilton: »The Evolution of Cooperation«, in: Science, Band 211, 1981, S. 1390–1396. (iii) Klein: Der Sinn des Gebens (2011), S. 39. 460 Vgl. Tomasello: Human Communication (2008), S. 190 (dt.: S. 205). 461 Vgl. Tomasello u. Moll: »The Gap is Social« (2010), S. 337. 462 Vgl. Tomasello: Human Morality (2016), S. 29 (dt.: S. 54f.). 463 Vgl. Tomasello u. Moll: »The Gap is Social« (2010), S. 331–349.
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sind, sondern »hyper-«464 oder »ultrakooperativ«465 agieren können. Ganz im Sinne Tuomelas wird demzufolge zugrunde gelegt, dass jegliche Interrelation zwischen mindestens zwei Individuen als sozial gilt 466 , jedoch ausschließlich der Mensch basierend auf dem »We-mode« die Möglichkeit hat »ultrasozial«467 zu handeln, wie hier nur anhand weniger Zitate belegt sei: »This [the evolutionary human process beginning 150.000 years ago] is of course not to say that modern human cannot use their skills of cooperative communication for individualistic, competitive, and selfish ends – they can and they do«468 . »Great apes are all about cognition for competition. Human beings, in contrast, are all about (or mostly about) cooperation. Human social life is much more cooperatively organized than that of other primates«469 . Daher muss ausdrücklich gesagt werden: bestimmte, jedoch bei Weitem nicht alle menschlichen Verhaltensweisen können als ultrasozial gelten. Entscheidend ist die zugrunde gelegte Motivation: angenommen der Retter kalkuliert ein, dass er Ruhm erntet oder in einer solchen Situation handeln muss, um nicht wegen unterlassener Hilfeleistung bestraft zu werden. In beiden genannten Fällen ist das Eigeninteresse leitend und seine Tat ist, so muss nach Tomasello gesagt werden, nicht »ultrasozial«, sondern kann bestenfalls als »sozial« betitelt werden. Während er die Bezeichnung eines Tieres als »animal oeconomicus« als Tautologie abtun müsste, ist hingegen der Begriff »homo reciprocans« keine inhaltliche Wiederholung in sich, sondern die Verdeutlichung einer spezifischen kognitiven Fähigkeit. Diese besondere menschliche, ultrasoziale »We-mode«-Fähigkeit wird von ihm – abhängig vom phylo- und ontogenetischen Entwicklungsstadium und der Anzahl der beteiligten Subjekte – als Konstitution einer Kollaboration (»joint intentionality«) oder als Konstitution einer Kultur (»collective intentionality«) gefasst. Diese Bestimmungen nach Tomasello dürfen jedoch nicht über zwei Aspekte hinwegtäuschen: Erstens muss beachtet werden, dass er als Sammelbegriff für jegliches Handeln mit mehreren Beteiligten die Bezeichnung »soziales Handeln«
464 Vgl. (i) Tomasello: Human Communication (2008), S. 172 (dt.: S. 186). (ii) Tomasello: Becoming Human (2019), S. 297. 465 Vgl. (i) Tomasello: Human Morality (2016), S. 2 u. 39 (dt.: S. 13 u. S. 67). (ii) Tomasello: Becoming Human (2019), S. 11 und S. 189. 466 Vgl. Raimo Tuomela u. Wolfgang Balzer: »Collective Acceptance and Collective Social Notions«, in: Synthese, Band 117, Heft 2, 1999, S. 175–205, hier: S. 175. 467 Vgl. Tomasello: Human Morality (2016), S. 39 (dt.: S. 67). 468 Tomasello: Human Communication (2008), S. 190 (dt.: S. 205). Vgl. auch: Tomasello: Human Thinking (2014), S. 6 (dt.: S. 19f.). 469 Tomasello: Human Thinking (2014), S. 31 (dt.: S. 54).
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
verwendet: Diese Auffassung deckt sich einerseits mit jener Verwendung des Begriffs »sozial« etwa nach Hans Bernhard Schmid470 sowie dem »collective behaviour« nach Searle, welches – wie sich noch zeigen wird – mit der Konstitution einer sozialen Tatsache verbunden ist. Andererseits wird mit dieser Begriffsverwendung der sozialen Handlung nach Tomasello eine klare Abgrenzung beispielsweise zur Auffassung de Vecchis deutlich, bei welcher der soziale Bezug nicht als Sammelbegriff für alle Bezüge aufeinander verstanden werden kann, sondern als eine spezifische Bezugsart neben weiteren, wie dem verstehenden und kommunikativen Akt, dient. Zweitens geht Tomasello davon aus, dass die Konstitution einer Kollaboration beziehungsweise die Konstitution einer Kultur notwendigerweise an den »We-mode« der beteiligten Subjekte gebunden ist. Um von diesem Phänomen den parallelen Vollzug abgrenzen zu können, scheint es plausibel auf den spezifischen Modus der Beteiligten bei einer Kollaboration zu verweisen. Die Annahme jedoch, dass die Konstitution einer Kultur stets den »We-mode« verlange, leuchtet hingegen nicht ohne weiteres ein: Betrachtet man die »Klugheitsgründe« für die Verfolgung eines Gruppenziels genauer, so bemerkt man, dass sowohl bei Tomasello als auch bei Gilbert – welche hierfür ebenfalls die Klugheit (»prudence«471 ) heranzieht –, eine aufgeschlüsselte Begründung fehlt. Denn könnte man diese »Klugheitsgründe« nicht als Eigeninteressen einstufen? Kann es nicht auch schlicht kalkuliertes Eigeninteresse sein, dass ich beispielsweise bestimmte kollektive Praktiken vollziehe, wie spezifisches Jagdwerkzeug nutze und meine Beute mit den Anderen teile, da hierdurch meine eigene langfristige Überlebenswahrscheinlichkeit in der Gruppe größer ist? Kann es nicht auch sein, dass zwei Menschen lediglich aus »I-mode«Gründen heiraten, wie zur Verbesserung des eigenen gesellschaftlichen Standes oder um Steuervergünstigungen zu erlangen? Tomasello ist, so lässt sich festhalten, durch seine Adaption des Ansatzes Tuomelas, mit ein und demselben Problem konfrontiert wie dieser: Wie lässt sich zwischen einem »wahren« Gruppeninteresse, dem »group behaviour in the we-mode« einerseits und einem Verhalten in der Gruppe, das jedoch auf dem »I-mode« beruht andererseits unterscheiden? (siehe Kapitel 3.2). Bei Tomasello tritt diese Frage in besonders prägnanter Weise hervor: Ein ausdrücklich empirischer Forschungsbereich – die evolutionäre Verhaltensforschung, die als differentia specifica den »We-mode« zugrunde legt – gerät an einer empirischen Frage, nämlich dem konkreten Unterscheidungspunkt zwischen dem »I-« und dem »We-mode« in die Kritik. Denn für eine solche Unterscheidung wählt er die Beobachterperspektive. Dass also, in anderen Worten, der Unterschied zwischen einem parallelen und gemeinsamen Vollzug sichtbar sei. Und in ganz spezifischen Fällen mag man ihm hierbei 470 Vgl. (i) H.B. Schmid: »Autonomie ohne Autarkie« (2007), S. 458f. (ii) H.B. Schmid: Plural Action (2009), S. xiv. 471 Vgl. Gilbert: »Walking Together« (1990), S. 4 u. S. 6 (dt.: S. 159f. u. S. 163).
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Recht geben, wie dem außergewöhnlichen Zusammenhalt von elf Fußballspielern, die im wirklichen Sinne eine Mannschaft konstituieren oder einer Familie mit Nachwuchs deren Glück »ausstrahlt« und »mit Händen greifbar« ist. Doch in aller Regel gilt, dass ein solcher Unterschied zwischen einem Neben- und Miteinander nicht ausschließlich von außen feststellbar ist, da die Körperbewegungen in beiden Fällen identisch sein können. Dies veranschaulichte vortrefflich unter anderem Searle mit seinem Beispiel des Unterstellens unter einen Unterstand aufgrund von Regen472 oder Gilbert sowie in deren Folge Schweikard anhand des Spaziergangs473 .
Eine menschliche Welt voller »We-moder« Tomasello stellt jedoch nicht nur den vergangenen Ablauf der menschlichen Phylogenese von der individuellen hin zur kollektiven Intentionalität dar, sondern geht sogar so weit eine Zukunftsdiagnose abzugeben: Ihm zufolge entwickelt sich der Mensch durch den Wandel des Klimas und der Population zur kollektiven Intentionalität hin, wobei »I-moder« aus der Gesellschaft ausgegliedert werden474 . Markant ist aber, dass laut Tomasello auch in Zukunft – aufgrund immer neuer globaler Herausforderungen, wie einem noch drastischeren Klima- und Bevölkerungswandel –, bei dieser hoch entwickelten Intentionalitätsform verbleiben wird. Etwa werde »die Vermischung von Menschen mit verschiedenen ethnischen Hintergründen [...] durch die Entwicklung wichtiger Institutionen wie der des Rechts oder der organisierten Religion begleitet«475 . Moderne Gegebenheiten und Mittel, wie besonders die digitalen Medien, scheinen die Beteiligten einerseits altruistischer agieren zu lassen, da – mit nur einem äußerst geringen Aufwand weniger Mausklicks – zum einen geteilte Objekte oder Interessenverbände zustande kommen können und zum anderen unkooperative Personen, etwa durch schlechte Bewertungen, effizient selektiert werden können: Es besteht eine Art moderner Pranger.476 Al472 Vgl. Searle: »Coll. Intentions and Actions« (1990), S. 402f. (dt.: S. 101)). Bemerkenswerterweise findet sich bei Tomasello selbst der Verweis auf jenes Beispiel Searles. Doch Tomasello geht dabei nicht auf die Problematik der Beobachterperspektive ein, weil die beobachtbaren Körperbewegungen im parallelen wie im gemeinsamen Fall identisch sein können, sondern hebt mittels dieses Beispiels vielmehr hervor, dass im gemeinsamen Fall ein gemeinsam Handelnder besteht, wie ein »second-personal« oder »collective agent« (vgl. u.a. Tomasello: Becoming Human (2019), S. 201). 473 Vgl. u.a. (i) Gilbert: »Walking Together« (1990). (ii) Schweikard: »Gemeinsame Absichten« (2010). 474 Vgl. Gloy: Koll. u. individuelles Bewußtsein (2009), S. 13f. 475 Tomasello u. Vaish: »Entstehung menschl. Kooperation u. Moral« [2013], S. 195. 476 »We have returned to a time when if you do something wrong or embarrassing, the whole community will know [via comments in the world-wide-web]. Free riders, vandals and abusers are easily weeded out, just as openness, trust and reciprocity are encouraged and
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
lerdings ist dabei andererseits nicht zu leugnen, dass bei einer digitalen Kommunikation durchaus Elemente bestehen können, welche einer Gemeinschaft im engen Sinne entgegenstehen. Denn durch den permanenten Ruf nach Authentizität, Selbstdarstellung und Ähnlichem werde Narzissmus gefördert, wie unter anderem der Philosoph Byung-Chul Han vertritt477 . Ebenso ist durch die digitale Kommunikation das Erfassen der Mimik des Gegenübers erschwert, sodass in der Folge Einfühlungsvermögen kaum entwickelt werden könne, wie die Soziologin Sherry Turkle darlegt478 . Tomasellos These der zukünftigen Dominanz des »We-mode« muss daher als einseitige Darstellung gelten. Denn zum einen kann die Digitalisierung als Indiz dafür gesehen werden, dass auch negative Folgen im gesamtgesellschaftlichen Wandel möglich sind, wie etwa der Mangel an Einfühlungsvermögen und die Tendenz hin zum Narzissmus, welche für einen wechselseitigen Bezug hinderlich sind (siehe Kapitel 2.1). Zum anderen werden im »We-mode« zwar die Interessen der gesamten Gruppe beachtet, hier zählt aber wohl immer nur die Position der Mehrheitsmeinung oder das Wohl der Gruppe als solcher, welcher man sich unterzuordnen hat. Daher ist, etwas prosaisch formuliert, wohl vielmehr ein »gesundes« Maß an Selbsthingabe zielführend, welches die Waage hält zwischen Selbstaufgabe auf der einen und krankhaftem Egoismus auf der anderen Seite. Weiterführend kann gesagt werden, dass Tomasello, wie Thies es beschreibt, hinsichtlich der phylogenetischen Entwicklungen zum gemeinsamen, kooperativen Handeln lediglich dessen »Fortschritte [...] [betrachtet, wobei] gleichsam die Schattenseite des neuen Lichts«479 missachtet werden: Zwar geht Tomasello davon aus, dass es unter Menschen auch zu Lug, Betrug und Unterdrückung kommt480 , »a marked in-group/out-group psychology«481 vorliegt und der Mensch seine Eigengruppe bevorzugt482 . Gleichsam geht damit aber eine dezidierte Abkehr ge-
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rewarded.« Rachel Botsman und Roo Rogers: What’s mine is yours – How collaborative consumption is changing the way we live, Harper Collins Publishers, London, überarbeitete Ausgabe 2011, Kapitel 4, S. 92f. Vgl. auch: (i) »Es kostet uns zunehmend weniger, selbstlos zu sein, während Egoismus immer riskanter wird.« Klein: Sinn des Gebens (2011), S. 16. (ii) Silke Helfrich u. David Bollier: Frei, Fair und Lebendig – Die Macht der Commons, transcript Verlag, Bielefeld, 2019. Vgl. Byung-Chul Han: Die Austreibung des Anderen – Gesellschaft, Wahrnehmung und Kommunikation heute, S. Fischer Verlag, 3. Auflage, 2018, hier: S. 31f. Vgl. Sherry Turkle: Reclaiming Conversation – The Power of Talk in a Digital Age, Penguin Press, New York, 2015, hier: S. 3. Thies: »Tomasello u. die philosophische Anthropologie« (2017), S. 120f. Vgl. Tomasello: Human Morality (2016), S. 161 (dt.: S. 244f.). Wobei auch Tomasello hervorhebt, dass der Lug und Betrug auf Vertrauen basiert: »lying only works if there is first a mutual assumption of cooperation and trust: you only lie because you know that I will trust your information as truthful and act accordingly«. Tomasello: Human Thinking (2014), S. 51 (dt.: S. 82). Vgl. u.a. Tomasello: Human Communication (2008), S. 190 (dt.: S. 205). Vgl. Tomasello: Human Thinking (2014), S. 84 (dt.: S. 129). Vgl. ebd.
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genüber Fremdgruppen einher, welche keineswegs verharmlost werden darf, wie es Thies prägnant auf den Punkt bringt: »Je besser die Kooperation innerhalb einer Gruppe [...], desto größer die Abgrenzung, ja die Aggressivität gegenüber anderen Gruppen. Innen- und Außenmoral fallen auseinander. Die Wir-Intentionalität ist eigentlich eine Wir/ Sie-Intentionalität.«483 Der Verlauf der Geschichte zeigte deutlich, dass die willentliche Diskriminierung, Unterdrückung, Sklaverei oder sogar Vernichtung von anderen Völkern beim Menschen in einem Ausmaß vorherrscht, welches im gesamten Tierreich nicht einmal annäherungsweise aufzufinden ist. Die spezifische Charakteristik des Menschen ist demnach, dass der Mensch – und nur der Mensch – eine Zusammenarbeit um der Zusammenarbeit Willen durchführen kann. Allerdings kann gerade diese kooperative Art der Zusammenarbeit der Mitglieder untereinander als Aggression oder Ausbeutung gegenüber Nicht-Mitgliedern zum Ausdruck kommen. Daher ist zu sagen: bestimmte menschliche Verhaltensweisen können als ultrasozial bezeichnet werden, wenn sie aus Gruppeninteressen heraus entstehen und vollzogen werden sowie ausschließlich innerhalb jener Gruppengrenzen betrachtet werden. Dem Menschen ist als einziges Lebewesen überhaupt die Möglichkeit dieser spezifischen Sozialisationsform gegeben. Er muss jedoch nicht diese Möglichkeit »ergreifen«, sondern kann auch auf der »tierischen« Stufe des Eigeninteresses »verweilen« oder auf diese »zurückfallen«. Smith und Tomasello argumentieren beide dafür, dass sich die Eigenmoral ausschließlich durch den Kontakt mit Anderen ab dem Vorschulalter entwickle.484 Die sich hier anschließende Frage, ob es stets moralisch angebracht sei das Gruppeninteresse im Sinne des kategorischen Imperativs zu vertreten, führt in eine für diese Arbeit zu weitreichende Diskussion.485 Während bisher vorwiegend die phylogenetische Entwicklung im 483 Thies: »Tomasello u. die philosophische Anthropologie« (2017), S. 120f. 484 Vgl. (i) Smith: Theory of Moral Sentiments [1759], S. 145 (dt.: Dritter Teil, 3. Kapitel, S. 214f.). (ii) Tomasello: Human Morality (2016), S. 120f. (dt.: S. 185ff.). 485 Tomasello selbst wirft diese Frage nicht auf, während sich bei Smith eine knappe Ausführung hierzu findet, welche eine klare Handlungsanweisung beinhaltet: »Der Weise und Tugendhafte ist jederzeit damit einverstanden, daß sein eigenes Privatinteresse dem allgemeinen Interesse des Standes oder der Gemeinschaft aufgeopfert wird, der er eben angehört.« Smith: Theory of Moral Sentiments [1759], dt.: Sechster Teil, 2. Abschnitt, 3. Kapitel, S. 398. Auf diese Weise müssten Fälle wie das Verhalten Antigones – die Bestattung ihres Bruders gegen die Anordnung des Staatsoberhauptes – als verwerflich gelten. Entgegen dieser Haltung argumentiert beispielsweise Schweikard, dass Werke wie Antigone in der Bevölkerung gerade so beliebt seien, da sie eine Dilemma-Situation darlegen, in welcher keiner der Optionen als besser bewertet werden. »[A]nd this is because the force of group allegiance is not in principle stronger than the force of other considerations«. Schweikard: »Voluntary Groups, Noncompliance and Conflicts of Reasons« (2017), S. 110.
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
Sinne Tomasellos nachgezeichnet wurde, wird nun dessen Darstellung der Ontogenese hin zu einem moralischen Subjekt näher betrachtet.
Die ontogenetische Entwicklung Tomasello erläutert nicht nur die Entwicklung der gesamten Menschheit hin zu verschiedenen Intentionalitätsformen – die beiden zentralen Einschnitte der Phylogenese sieht er, wie dargelegt, vor circa 400.000 und 150.000 Jahren –, sondern er schildert auch die Ontogenese, die Entwicklung des einzelnen Menschen: Nur unter der Bedingung, dass ich selbst auf die Beute gerichtet bin und bemerke, dass der Andere ebenfalls hierauf gerichtet ist, kann ein gemeinsamer Hintergrund entstehen sowie in dessen Folge eine Kultur und ein Moralverständnis etabliert werden. Das heißt: dem Einzelnen muss zunächst – als Bedingung der Möglichkeit einer Geteiltheit, Gemeinsamkeit oder Kollektivität – die kognitive Fähigkeit gegeben sein, selbst auf etwas gerichtet zu sein und den Anderen als gleichberechtigten intentionalen Akteur anzuerkennen. Doch im Gegensatz zu philosophischen Ansätzen, in welchen die Positionen schwanken, ob das Verstehen und Anerkennen des Anderen ein intuitives Erfassen oder eine erlernbare Fähigkeit ist486 , vertritt Tomasello deutlich – wie auch in dem Untertitel des Werkes Becoming Human – A Theory of Ontogeny (2019) markiert –, dass er von einer kognitiven Entwicklung des einzelnen Menschen ausgeht: Das Verstehen und Anerkennen des Anderen ist erlernt. Mit dem sich im Verlauf der Ontogenese vertiefenden Verständnis des eigenen Selbst geht das Verständnis des beziehungsweise der Anderen einher. Konkret lässt sich dieser Prozess, Tomasello zufolge, an vier Entwicklungsschritten darlegen487 : das »sharing in protoconversations«, das deklarative Zeigen mit einer Geste, die Akzeptanz von kollektiven Normen und die Praktizierung dieser kollektiven Normen aus moralischen Gründen heraus. Als ersten ontogenetischen Entwicklungsschritt setzt Tomasello, dass es einem menschlichen Kleinkind bereits in einem Lebensalter von wenigen Monaten möglich ist ein »emotion sharing in protoconversations«488 zu vollziehen. Seine Annahmen basieren in diesem Entwicklungsschritt auf dem Ansatz der Spiegelneuronen: Man nimmt die Gefühle des Anderen auf, »spiegelt« diese wider und teilt daher die besagten Gefühle mit Anderen.489 Hier liege ein rudimentäres Verständ486 Vgl. u.a. Sartre: Kritik d. dialektischen Vernunft [1960], 2. Buch, Teil A, S. 540. 487 Besonders übersichtlich ist dies dargelegt in: Tomasello: Becoming Human (2019), S. 306 – dort: Schaubild Nr. 11.1. Wobei es sich bei den vom ihm angegebenen Altersangaben um Durchschnittswerte handelt, welche der Prämisse unterliege, dass die Beteiligten keine psychischen oder physischen Einschränkungen aufweisen. 488 Vgl. Tomasello: Becoming Human (2019), S. 54f. 489 Diese Auffassung wird in der Debatte beispielsweise auch von Joel Krueger vertreten (vgl. Krueger: »Affective ›We‹« (2016), S. 263).
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nis des Anderen als intentionalen Akteur vor. Zentral ist, dass die Beteiligten nicht nur ihren eigenen Intentionalitätsgehalt und denjenigen des Anderen wahrnehmen, sondern zudem erfassen in welchen Punkten bezüglich dieser Intentionalitätsgehalte eine Überschneidung beziehungsweise Differenz vorliegt.490 Bei dieser Ausführung lässt sich allerdings mit Hinblick auf die verwendeten Begriffe sagen: einerseits behandelt Tomasello auf dieser Entwicklungsstufe ausnahmslos den Phänomenbereich der Gefühle (»emotion sharing«), weshalb man mittels der Unterteilung der Intentionalitätsformen nach de Vecchi an dieser Stelle präziser von einer »shared affective intentionality« ausgehen könnte. Andererseits bleibt jedoch uneindeutig, ob Tomasello hinsichtlich dieser Entwicklungsstufe – und zwar ausschließlich bei dieser – von einer »shared intentionality« spricht. Wenn Tomasello, beispielsweise von Seiten de Vecchis, vorgeworfen wird, er würde noch im Jahre 2009 hauptsächlich den Phänomenbereich der Handlungen thematisieren491 , welche nach Schmid als »praktizistische Verengung«492 bezeichnet werden kann, so ist dieser Vorwurf bezüglich dieser ersten kognitiven Entwicklung, der »sharedemotion«-Fähigkeit, nicht zutreffend. Gerade das Gegenteil scheint wenigstens bei der Darstellung dieser spezifischen Entwicklungsstufe der Fall zu sein: Bei dieser Fähigkeit, die bei einer normalen Entwicklung des Menschen ab einem Alter von wenigen Monaten auftritt, ist Tomasello der Gefühlsanalyse verhaftet und vernachlässigt die Phänomenbereiche des Handelns und des Denkens. Darüber hinaus kann angemerkt werden: es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Tomasello auf Gefühlsphänomene eingeht, wie auf die frühkindliche Nachahmung eines Lächelns, den Schuld- oder Schamgefühlen oder den kollektiven Jubel493 . Allerdings fallen diese Darstellungen noch in seinem neuesten Werk Becoming Human von 2019 relativ und absolut gesehen hinsichtlich des Ausmaßes jenes Werkes nur äußerst marginal aus. Es zeigt sich daher insgesamt betrachtet, das ist in Einbezug aller ontogenetischen Entwicklungsstufen, dass die Kritik de Vecchis berechtigt ist und sich bei Tomasello eine primäre Fokussierung auf Handlungen findet, welche ihrerseits die Position Tomasellos in die Nähe der sprachanalytischen Auffassung der Intentionalität als Intention rückt (siehe Kapitel 1.3). Neben diesen Bemerkungen muss ebenfalls gesagt werden, dass beim ersten Entwicklungsschritt, der »sharedemotion«-Fähigkeit, bei Tomasello nicht deutlich wird, ob er dabei von einer Dominanz der Eigeninteressen, das heißt einer »individual intentionality« ausgeht, oder ob, seiner Auffassung nach, bereits bei dieser Stufe die Gruppeninteressen
490 Vgl. Tomasello: Human Communication (2008), S. 48 (dt.: S. 60). 491 Vgl. (i) de Vecchi: »Coll. vs. intersubjective and social int.« (2011), S. 74 – dort: Fußnote Nr. 3. (ii) De Vecchi: »Three Types of Heterotropic Int.« (2014), S. 127 – dort: Fußnote Nr. 15. 492 H.B. Schmid: Wir-Intentionalität (2005), S. 48. Vgl. auch H.B. Schmid: Plural Action (2009), S. 59. 493 Vgl. Tomasello: Becoming Human (2019), S. 282 u. S. 284.
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
dominieren494 , aber diese noch auf das Ausdrucksmittel der Mimik begrenzt sind. Die Frage lautet also, ob es sich bei einer »shared emotion« um ein »sharing« im engen Sinne handelt. Dies kann wohl verneint werden, da Tomasello erst ab einem Alter von neun Monaten von einer »whole new suite of social behaviours« spricht: »[B]ased both on their ability to understand others as intentional and rational agents like the self and on their ability to participate with others in interactions involving joint goals, intentions, and attention (shared intentionality).«495 Der zweite entscheidende menschliche ontogenetische Entwicklungsschritt ist durch herausragende neuen Möglichkeiten gekennzeichnet. Diese nun radikale Umwandlung fasst Tomasello bereits 2002 als Revolution, genauer gesagt als »Nine-Month Revolution«496 . Ab diesem Stadium verfügen Kleinkinder über ein etwas tieferes Verständnis des Anderen als intentionalen Akteur. Diese kognitive Schwelle zeichne sich wie folgt aus: »joint attention is not just two people experiencing the same thing at the same time, but rather it is two people experiencing the same thing at the same time and knowing together that they are doing this […]. This is truly intersubjective sharing, and it is critical because it creates a shared space of common psychological ground that enables everything from collaborative activities with shared goals to humanstyle cooperative communication«497 . Zwar taucht hierbei die Bezeichnung »intersubjective sharing« auf – als erste Form wirklichen menschlichen Teilens –, doch wird bei ihm der Begriffsbestandteil »intersubjective« nicht weiter erörtert: Als inter-subjektiv, so scheint es, umfasst Tomasello jegliche Bezugnahmen – seien es ein –, gegen- oder wechselseitige – mindestens zweier Subjekte, während de Vecchi nur spezifische, konkret gesagt: die ein- und gegenseitigen, die verstehenden und kommunikativen Bezugnahmen
494 So wäre es etwa relevant, welche Gefühlsphänomene konkret bei der »shared emotion« in dieser Entwicklungsstufe bestehen. Ist es, um mit Schelers Gefühlsdifferenzierung zu sprechen, ein Miteinanderfühlen (shared feeling), eine Gefühlsansteckung (emotional contagion), eine Einsfühlung oder höchst plakativ: schlicht ein »körperliches Nachahmen«, das heißt lediglich ein paralleles Hochziehen der Mundwinkel, das vom Erwachsenen als Lächeln gedeutet wird? 495 Tomasello: Human Communication (2008), S. 139 (dt.: S. 152). Wobei auch hier nochmals deutlich wird, dass bei Tomasello eine verwirrende begriffliche Terminologie besteht: Einerseits spricht er in diesem Zitat von »joint goals, intentions, and attention«, andererseits seien jene Merkmale der »shared intentionality«. 496 Vgl. Tomasello: Human Cognition (1999), S. 61 (dt.: S. 77). Wobei er diese Revolution später als sozial kognitiv bezeichnet (vgl. ebd. S. 70 (dt.: S. 119)). 497 Tomasello u. Carpenter: »Shared intentionality« (2007), S. 121f. (Herv. teils übernommen u. teils selbst hervorgehoben).
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zwischen Subjekten, als intersubjektiv charakterisiert. Wechselseitige soziale Akte stellen nach de Vecchi eine ganz besondere Kategorie der Intersubjektivität dar, weshalb sie diese nicht als »intersubjective«, sondern präziser als »collective intentionality« begreift498 . Im Hintergrund eines solchen weitreichenden Verständnisses Tomasellos fragt man sich, was unter dem Gegenteil, also einer Art »non truly intersubjective sharing«, zu verstehen sei. Zentral für das Auftreten eines »truely intersubjective sharing« ab einem Lebensalter von circa neun Monaten ist, Tomasellos Ansatz zufolge, ein besonderes Kommunikationsmittel: das Zeigen mit einer Geste.499 Diese wird ebenfalls bei Tobias Schlicht als zentrales Charakteristikum der zweiten Stufe der Genealogie der Intentionalitätsformen hervorgehoben.500 Hierbei werden nach Tomasello mehrere Merkmale erkennbar: Erstens geht es bei einer Zeigegeste um eine vorsprachliche Mit-teilung, welche darauf beruht, dass man den Intentionalitätsgehalt des Anderen kennt und weiß was für diesen von Bedeutung ist. Diese Auffassung der Zeigegeste lässt sich besonders deutlich herausarbeiten, wenn man sich vor Augen hält, wie diese vermutlich Scheler verstehen würde: Während die Zeigegeste für Scheler wohl lediglich eine motorische Veränderung darstellt – von der primär leiblichen Einsfühlung hin zur motorischen, das heißt eher auf den Körper bezogenen Verständigung des Intentionalitätsgehaltes –, ist sie für Tomasello vielmehr eine kognitive Verbesserung, wie er am Beispiel einer Bananensuche verdeutlicht: »for me to direct your attention to that situation successfully in communication, you must know that I know it is relevant for you; [...] For example, if we have been searching unsuccessfully for bananas all day, you will naturally assume that my pointing gesture towards the banana tree is intended to indicate for you the fact that there are bananas in that tree.«501 Es lässt sich festhalten: zum einen führt Tomasello hierbei den Begriff »intersubjectivity« an und expliziert diese mittels des Beispieles der Bananensuche als de-
498 Vgl. de Vecchi: »Coll. vs. intersubjective and social int.« (2011), S. 77. 499 Dass in der Forschung zum Phänomen des Zeigens primär zwei Richtungen bestehen, nämlich die verhaltensevolutionäre und die phänomenologische Position, wird treffend von Lambert Wiesing dargelegt. Beide Positionen unterscheiden sich prägnant darin, wie mit dem Zeigen umgegangen wird: In der evolutionären Verhaltensforschung, welche maßgeblich durch Tomasello bestimmt ist, gilt die deklarative Zeigegeste eher als Vorläufer hin zur menschlichen Sprache. In der Phänomenologie wird demgegenüber das Zeigen selbst bestimmt: zum einen in seinen Arten – dem Konfrontieren und Hinweisen – und zum anderen in seiner Definition als Sehen-Lassen von etwas Intendiertem (vgl. Lambert Wiesing: Sehen lassen – Die Praxis des Zeigens, Suhrkamp Verlag, Berlin, 1. Auflage, 2013, hier insbesondere S. 9ff.). 500 Vgl. Schlicht: »Stufenmodell d. Intentionalität« (2008), S. 78ff. 501 Tomasello: Human Thinking (2014), S. 54 (dt.: S. 86).
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
zidiertes Eingehen auf den Anderen, wobei gilt, dass die Beteiligten genau wissen in welcher »Kommunikationssituation«502 sie sich befinden, hier: weshalb auf den Baum gezeigt wird. Zum anderen sieht Tomasello nicht in der Sprache im engen Sinne der mündlichen Verständigung, sondern vielmehr, wie es in der Phänomenologie angenommen wird, den verstehenden und kommunikativen Akt – welcher unter anderem auch nonverbale Elemente umfasst – als Bedingung der Möglichkeit der Entwicklung der Intentionalitätsformen an.503 Zusammengenommen verdeutlichen diese beiden Aspekte, ohne dass dies den Autoren selbst bewusst wäre, eine explizite Nähe zwischen der Intersubjektivität nach de Vecchi und der zweiten Intentionalitätsform nach Tomasello.504 Als zweites Merkmal der Zeigegeste, neben der vorsprachlichen Mitteilung als Eingehen auf den Anderen, finden sich nach Tomasello in deren Verwendung selbst verschiedene Zwecke und kognitive 502 Vgl. Michael Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens – Zur Evolution der Kognition, übersetzt v. Jürgen Schröder, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1. Auflage 2006, hier 5. Auflage 2015, Kapitel 1, S. 20. 503 Bei Tomasello heißt es konkret, dass sich die Sprache erst aus der geteilten Intentionalitätsform mit mehreren Beteiligten herausentwickle: »Language is the capstone of uniquely human cognition and thinking, not its foundation.« Tomasello: Human Thinking (2014), S. 127 (dt.: S. 190). Vgl. H.B. Schmid: »Shared Intentionality and the Origins of Human Communication« (2012), S. 359. Letztlich lassen sich daher bei Tomasello – einerseits mit der Fokussierung auf Handlungen und andererseits durch die untergeordnete Rolle der Sprache – sowohl sprachanalytische als auch phänomenologische Aspekte finden. Doch ebenso wie Searle aufgrund neurobiologischer Elemente in seinem Ansatz nicht als Biologe bezeichnet werden kann, wird auch Tomasello trotz philosophischer Elemente, welcher Art auch immer, nicht als Philosoph, sondern wegen seiner empirischen Vorgehensweise als evolutionärer Verhaltensforscher gekennzeichnet. 504 Bemerkenswert ist, dass sich bereits eine ähnliche Unterscheidung der ontogenetischen Entwicklungen 1993 bei dem Psychologen Colwyn Trevarthen finden lässt, welcher bei der Genese zwischen einer primären und sekundären Intersubjektivität differenziert: Unter der primären Intersubjektivität versteht Trevarthen die ersten Bezugnahmen zwischen Subjekten, das heißt beispielsweise die ersten Zeigegesten im Kleinkindalter ab circa neun Monaten. Unter die sekundäre Intersubjektivität fällt bei ihm hingegen jener Bezug auf das andere Subjekt, in dem der Andere als psychologisches Subjekt anerkannt wird. Diesem Verständnis schließt sich in der Debatte beispielsweise Ulrich Baltzer in Gemeinschaftshandeln (1999) an (vgl. Baltzer: Gemeinschaftshandeln (1999), S. 178ff.). Versteht man unter einem »psychologischen Subjekt«, dass es sich um ein geistig, intentionales Subjekt handelt, dann kann man die gemeinsame und kollektive Intentionalität nach Tomasello als zumindest sehr ähnlich zu den beiden Stufen nach Trevarthen verstehen (vgl. Andrea Lailach-Hennrich: »Der Begriff »Intersubjektivität«. Ein Begriffsmerkmal« https://epub.ub.uni-muenchen.de/12617/1/dgphil _endversion.pdf (zuletzt aufgerufen: 15.03.2017)). Obwohl sowohl Tomasello als auch Trevarthen davon ausgehen, dass die Intersubjektivität bei menschlichen Kleinkindern ab einem Alter von neun Monaten eintrete, meint Tomasello in The Cultural Origins of Human Cognition (1999), dass Trevarthen ein grundsätzlich anderes Verständnis in Bezug auf das Eltern-KindVerhältnis vertrete (vgl. Tomasello: Human Cognition (1999), S. 59 (dt.: S. 81)).
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Fähigkeiten: Einerseits muss derjenige, der zeigt davon ausgehen, dass derjenige, dem etwas gezeigt wird sich räumlich in diesen hineinversetzen kann. Um die Zeigegeste zu verstehen, muss der Empfänger der Zeigegeste über ein räumliches Einfühlungsvermögen verfügen, der Blickrichtung folgen und davon ausgehen, dass das Ausstrecken des Fingers beabsichtigt war.505 Andererseits lassen sich verschiedene Zeigearten feststellen: Tomasello zufolge können Menschenaffen und Autisten lediglich auf Dinge zeigen, um diese zu verlangen (imperative Geste).506 Bereits menschlichen Kleinkindern sei es darüber hinaus möglich zu zeigen, um Erfahrungen und Gefühle mit Anderen zu teilen (deklarative Geste).507 Bei der Analyse der Zeigegeste in The Cultural Origins of Human Cognition (1999) liegt der Fokus auf der gemeinsamen Aufmerksamkeit (»shared attention«): Das absichtliche Lenken der Aufmerksamkeit des Anderen führt, wie etwa von Husserl um 1921 beschrieben508 , dazu, dass die Beteiligten auf ein und dasselbe gerichtet sind, aber – und das ist nun der Clou für Tomasello – bei der deklarativen Zeigegeste ist das Objekt nicht nur ein und dasselbe, sondern es wird ein gemeinsamer Intentionalitätsgehalt (»shared inten-
505 Auch wenn Tomasello eine philosophisch unzureichende Beschreibung dieses Hineinversetzens liefert, da er es als einen »role reversal« (»Rollentausch«) bezeichnet. Vgl. u.a. (i) Tomasello: Human Cognition (1999), S. 103ff. (dt.: S. 136ff.). (ii) Tomasello: Human Communication (2008), S. 340 (dt.: S. 360). Besonders in der Medizinphilosophie wurde, etwa von Raymond Tallis, darauf eingegangen, dass es Autisten kaum möglich ist sich in den anderen hineinzuversetzen und ihnen daher das Verständnis einer Zeigegeste verborgen bleibt (vgl. Raymond Tallis: Michelangelo’s Finger – An Exploration of Everyday Transcendence, Atlantic Books, London, 2010, S. 11f. sowie Kapitel 4). 506 Vgl. u.a. (i) Tomasello: Human Communication (2008), S. 122 (dt.: S. 134f.). (ii) Tomasello u. Moll: »The Gap is Social«, S. 338ff. 507 Vgl. u.a. (i) Tomasello: Human Communication (2008), S. 112 (dt.: S. 124). (ii) Tomasello u. Vaish: »Entstehung menschl. Kooperation u. Moral« [2013], S. 192. Eine pointierte Darstellung der Forschungen zu den Zeigegesten bei Menschenaffen findet sich in Tomasellos Aufsatz »Thirty years of great ape gestures« (erschienen in: Animal Cognition, Band 22, 2019, S. 461–469). 508 Bereits bei Husserl finden sich Überlegungen zur Absichtsbasiertheit der Zeigegeste, das heißt zur Aufmerksamkeits- oder gar Handlungslenkung des Anderen. (i) Beispielsweise heißt es bei ihm wörtlich: »Ich wende mich an dich und teile dir eine Tatsache mit: Ich erfahre eine Tatsache und mache den Anderen, in dessen nächstem Erfahrungsbereich sie ebenfalls ist, auf sie aufmerksam durch ein ›Hinzeigen‹. Eine gewisse Hand- und Fingerbewegung, das Werfen eines Stückes Holz in die Richtung etc. weckt die Aufmerksamkeit, ›lenkt‹ sie in diese Richtung, in der ein für den Anderen (wie für mich vorher) Interessantes statthat, und das Interesse gleitet natürlich, von selbst, von der Hinweisbewegung auf das Neue, auf das ich aufmerksam machen wollte, ab.« Husserl: Text Nr. 9: »Gemeingeist I« (1921) (Hua. XIV), § 2, S. 167. (ii) Es ginge beim Zeigen um das »Streben, den Anderen zu ›bestimmen‹, ihn geistig zu ›bewegen‹, ihn zu einem Streben oder Wollen zu bestimmen«. Ebd., S. 168.
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
tionality«) konstituiert.509 Zeigen menschliche Kleinkinder in deklarativer Weise ab einem Alter von neun Monaten, so ist laut Tomasello ihr Modus vom Gruppeninteresse geleitet, welchen er, in Anlehnung an Tuomela, als »We-mode« bezeichnet. Kinder dieser Altersstufe können, so heißt es bei ihm weiter, einen Anderen als intentionalen und geistbegabten Akteur verstehen: Diese erste »We-mode«-Stufe ist nicht nur der Tendenz nach510 , sondern einer klaren Ausrichtung folgend, »a collaborating dyad«511 , ein »second-personal joint engagement«512 , das an die »secondpersonal perspectives of ›I‹ and ›you‹«513 gebunden ist. Dabei bestehen bei dieser Intentionalität ausschließlich zwei interdependente Beteiligte (du und ich). Diese Konzeption lässt sich deutlich beispielsweise von jener de Vecchis oder Tuomelas abgrenzen, da dort von mindestens zwei, aber eben nicht ausschließlich von zwei Beteiligten ausgegangen wird.514 Um diese ontogenetische Entwicklungsspanne herum liegt ein vermindertes Verständnis der Anerkennung vieler intentionaler Akteure vor, deren Handeln ineinandergreift und sich in kollektiven Praktiken manifestiert, wie beispielsweise in institutionellen Tatsachen. Man denke hierbei unter anderem an die Verwendung und Funktion des Geldes.515 Sie beginnen »to appreciate that shared intentionality
509 Tomasello, so lässt sich sagen, ist in seinen Ausführungen zur Zeigegeste – über Husserl hinaus – von empirischen Fragestellungen geleitet, wie: welche kognitiven Voraussetzungen müssen hierfür gegeben sein? Und wer kann in welcher Weise zeigen? 510 Hans Bernhard Schmid bemerkt: »Tomasello tendiert etwas dazu, die gemeinsame Intentionalität als im Grund dyadische Angelegenheit zu beschreiben – als mutualistische Einstellung von zwei Partner –, wohingegen die kollektive Intentionalität eine ›kollektive Identität‹ beinhaltet«. Hans Bernhard Schmid: »Eine Naturgeschichte demokratischer Werte – als Buchkritik zu Tomasellos Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral« (2016), in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Band 65, Heft 5, 2017, S. 963–968, hier: S. 966 (Herv. selbst vorgenommen). 511 Tomasello: Human Morality (2016), S. 50 (dt.: S. 82). Vgl. u.a. Tomasello: Human Thinking (2014), S. 43 (dt.: S. 71). 512 Ebd. S. 48 (dt.: S. 78). 513 Ebd. S. 79 (dt.: S. 121). 514 Inwieweit hier eine inhaltliche Übereinstimmung zu ähnlichen Konzeptionen der Debatte besteht, müsste genauer untersucht werden. In aller Kürze lässt sich beispielsweise zum Vergleich mit Husserls Auffassung der »Ich-Du-Beziehung« sagen: Husserl versteht die »Ich-DuBeziehung« als »Wechselverständnis« der Beteiligten – »er versteht mich, gewahrt mich, ich gewahre ihn, gleichzeitig« (Husserl: Text Nr. 9: »Gemeingeist I« (1921) (Hua. XIV), § 2, S. 167). Während Husserl hierbei nicht auf die Grundhaltung, den Intentionalitätsmodus, der Beteiligten eingeht, legt Tomasello – damit über Husserl hinausgehend – zugrunde, dass bei dir und mir ein »We-mode« besteht, weshalb Tomasello diese auch als Wir-Intentionalität bezeichnet (vgl. Tomasello: Human Thinking (2014), S. 48 (dt.: S. 77f.)). 515 Vgl. Tomasello u. Rakoczy: »What Makes Human Cognition Unique?« (2003), S. 139 (dt.: S. 725f.).
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and collective practices create ›derived normativity‹ […] this is the way ›we‹ use this symbol or tool; this is the way it ›should‹ be used.«516 »[I]ts real power [the power of the cognitive competency] becomes apparent only gradually as children actively employ the cultural tools that this understanding enables them to master, most importantly language.«517 Ab drei Jahren setzt, folgt man Tomasellos Darlegung des dritten markanten Einschnittes des ontogenetischen Prozesses, eine »collective intentionality« ein, da nun die kognitive Entwicklung so weit vorgeschritten ist, dass die Vermittlung von sozialen Normen, Konventionen und Ähnlichem möglich sei. Kommt es zur Anerkennung und zum Versprechen der Einhaltung dieser Normen, dann ist von einem »joint commitment« die Rede, wobei Tomasello eher an die Terminologie Gilberts statt an jene Tuomelas anknüpft: Die Beteiligten sind auf etwas gerichtet, wissen um die Gerichtetheit des Anderen, teilen diese Intentionalität und haben sich darauf geeinigt ihre Intentionalität aufrecht zu erhalten.518 Gegenwärtige empirische Studien legen zudem nahe, dass Kinder ab einem Alter von drei Jahren in normativer Weise differenzieren, ob das »joint commitment« auf Seiten des Anderen beabsichtigt oder unbeabsichtigt gebrochen wurde.519 Allerdings wurde ebenfalls belegt, dass eine eingeforderte, aber unerfüllte Aufmerksamkeit bei Kindern zu
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Ebd. S. 127 (dt.: S. 706). Tomasello: Human Cognition (1999), S. 56 (dt.: S. 77). Während bei Tomasello – ebenso wie bei de Vecchi – unabhängig davon, von welcher Intentionalitätsform gerade die Rede ist zumindest implizit die Annahme zugrunde liegt, dass sich die Beteiligten in ihrer körperlichen Präsenz tatsächlich gegenüberstehen, vertritt Schlicht die These, dass gerade ab jenem kognitiven Entwicklungsstand, welchen Tomasello als kollektive Intentionalität fasst, man die Intentionalität des Anderen auch dann verstehen und teilen kann, wenn dieser gerade abwesend ist. Diese – jedoch nur diese – Intentionalitätsform kann auch dann bestehen, wenn die Beteiligten gerade nicht zu ein und derselben Zeit an ein und demselben Ort befinden. Schlicht fasst dies in folgende Worte: »Diese [...] Stufe der Entwicklung ist durch eine vollständig gelingende Loslösung von gegenwärtigen Wahrnehmungssituationen gekennzeichnet, denn etwa ab dem vierten Lebensjahr können Kinder die eigenen Verhaltensweisen sowie die einer anderen Person allein über den Einsatz der Einbildungskraft verstehen«. Schlicht: »Stufenmodell d. Intentionalität« (2008), S. 82. Wobei man sich hierbei von Schlicht eine genauere Aufschlüsselung der »Einbildungskraft« gewünscht hätte und inwieweit diese seiner Auffassung nach etwa von der Einfühlung abzugrenzen sei. Vgl. u.a. (i) Tomasello u. Vaish: »Entstehung menschl. Kooperation u. Moral« [2013], S. 198. (ii) Ulrike Kachel, Margarita Svetlova u. Michael Tomasello: »Three-Year-Old’s Reactions to a Partner’s Failure to Perform Her Role in A Joint Commitment«, in: Child Development, Band 89, Heft 5, 2018, S. 1691–1703, hier: S. 1700.
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
simplen Verhaltensänderungen oder schlimmstenfalls zu drastischen Verhaltensstörungen führen kann.520 Als vierte und letzte Entwicklungsstufe der menschlichen Ontogenese sieht Tomasello die Herauskristallisierung einer moralischen Identität, welche circa in einem Alter von sechs Jahren einsetze.521 Die Beteiligten erfassen nicht nur die kollektiven Praktiken und deren Entstehung, sondern können diese auch selbst erfolgreich anwenden.522 Bei dieser letzteren Form, aber eben erst ab dieser gilt: die Beteiligten sind auf etwas gerichtet, wissen um die Gerichtetheit des Anderen, teilen diese Intentionalität und haben sich aus vernünftigen und verantwortlichen Gründen heraus darauf geeinigt ihre Intentionalität über die Zeit hinweg aufrecht zu erhalten. Nochmals anhand der Jagd: sie haben sich darauf geeinigt nicht nur im Verlauf dieser einen jetzigen Jagd, sondern in Bezug auf alle zukünftigen Hirschjagden auf diese spezifische Weise zu agieren. Nicht nur ihr Urteil gegenüber dem Verhalten Anderer ist moralisch, sondern auch hinsichtlich der von ihnen selbst vollzogenen Handlungsweise.
Die Etablierung des eigenen Moralverständnisses nach Adam Smith Es bedürfte einer gesonderten Forschung darzulegen, inwieweit sich die, auf den ersten Blick prägnanten, inhaltlichen Parallelen zu früheren Denkern verschiedenster Strömungen tatsächlich mit Tomasellos Auffassung decken. Am offensichtlichsten ist wohl der Vergleich mit Tuomela, von welchem er die »I-mode-Wemode«-Differenzierung aufnimmt, jedoch erstens diese auch an Tieren anwendet und zweitens durch den phylo- und ontogenetischen Blickwinkel prägnanter als Tuomela deren Gradualität hervorhebt. Drittens beschreibt Tuomela den »We-mode« anhand dreier Kriterien: die »we-mode group reason«, die »collectivity condition« und das »collective commitment«. Eine solche Erläuterung findet sich zwar ebenfalls bei Tomasello – unter den Begriffen: »joint commitment to a goal«, 520 Studien dieser Art betrachteten beispielsweise die Auswirkung der elterlichen Smartphonenutzung auf deren Kinder. Exemplarisch können hier die Ergebnisse von Julian Schmitz des Leipziger Forschungszentrum für frühkindliche Entwicklung um 2018 angeführt werden: Wird das gemeinsame Spiel unterbrochen und das Kind bemerkt die Unerfülltheit der geteilten Aufmerksamkeit, so zeigt sich die Verhaltensänderung des Kindes darin, dass es Aufmerksamkeitslenker einsetzt, wie etwa indem es zu einer quietschenden Ente greift – mit der es vorher nicht gespielt hat –, um mittels der hergestellten Geräusche die Aufmerksamkeit wieder auf den eigentlichen Handlungspartner – das heißt in diesem Fall auf sich selbst – zu lenken (vgl. u.a. Brandon T. Mc.Daniel u. Jenny S. Radesky: »Technoference – Parent Distraction With Technology and Associations With Child Behaviour Problems«, in: Child Development, Band 89, Heft 1, 2018, S. 100–108). 521 Vgl. Tomasello: Becoming Human (2019), S. 190. 522 Vgl. Tomasello u. Rakoczy: »What Makes Human Cognition Unique?« (2003), S. 138f. (dt.: S. 725f.).
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»role reversal« und »mutual support«523 – allerdings behandelt er diese meist zusammenfassend unter dem Aspekt der Moralität und setzt stattdessen primär in den Fokus, dass sich aus der menschlichen Abhängigkeit letztendlich eine Kultur konstituiert. Für gerade diese Überlegungen Tomasellos war die Moralphilosophie Adam Smiths ausschlaggebend, wie im Folgenden in aller Kürze, in erster Linie als Exkurs verstanden, dargelegt wird. Tomasello verweist nicht nur in Bezug auf die Sympathie, dem »second-personal protest« und dem »unparteiischen Zuschauer«524 auf Smith und übernimmt dessen Auffassungen in modifizierter Weise525 , sondern auch angesichts der Entwicklung des eigenen Moralverständnisses lässt sich nachzeichnen, dass Tomasello von Smiths Gedanken geprägt ist. Auch wenn die Beschreibung der Moralentwicklung nach Smith auf heutzutage eher unüblichen Begriffen, wie »decency« (deutsch: »Schicklichkeit«), basiert, so ist doch die leitende Idee eben jene, welche sich auch später bei Tomasello findet: Ab einem bestimmten Alter wird das eigene Verhalten aus der Perspektive eines »unparteiischen Zuschauers« (Smith), einem »second-personal self-monitoring«526 (Tomasello) heraus betrachtet und hinterfragt, weshalb nun das Kind gewissermaßen »gesellschaftsfähig« ist. Der Blick auf das eigene Handeln geschieht »from the perspective of a cooperative partner«527 beziehungsweise aus der »perspective of anyone [...] – a perspectiveless view from nowhere«528 . Dieser Wechsel von der Eigen- zur Gruppenperspektive führt in der Konsequenz zu einem eigenen Moralverständnis und einer »normative self-goverance«529 . Diese Perspektivübernahme beginnt, so beide Denker, um das Schulein-
523 Vgl. Tomasello u. Moll: »The Gap is Social« (2010), S. 334ff. 524 Vgl. Tomasello: Human Morality (2016), S. 69 u. S. 96 (dt.: S. 110 u. S. 150). 525 Während Smiths Sympathie Verständnis heute nicht mehr in der Philosophie vertreten wird, da er hierunter vielerlei verschiedene Phänomene subsumiert, scheint demgegenüber das, was Smith unter »second-personal protest« versteht, geradezu in der Debatte um die kollektive Intentionalität en vogue zu sein. Dieser »second-personal protest« beinhaltet kurz gefasst: wenn eine Vereinbarung nicht eingehalten wird, kann Protest eingelegt werden (vgl. Smith: Theory of Moral Sentiments [1759] (dt.: Erster Teil, 1. Abschnitt, hier: 1. u. 2. Kapitel). Der Begriff des »unparteiischen Zuschauers« fällt philosophiegeschichtlich erstmals bei Adam Smith. Obwohl dieser dort in unterschiedlichen Kontexten auftritt (vgl. ebd., hier: Sachregister, S. 615f.), kann er bei Smith prinzipiell damit wiedergegeben werden, dass man sich selbst aus den Augen des Anderen betrachten solle, um zu ergründen, ob die eigene Handlung angemessen ist (vgl. ebd., Dritter Teil, 1. Kapitel, S. 172). Husserls »unbeteiligter Beobachter« zielt hingegen eher darauf ab, das Phänomen objektiv zu beschreiben – zunächst unabhängig davon, ob die Handlung moralisch gerechtfertigt war. 526 Tomasello: Human Thinking (2014), S. 6 (dt.: S. 19). 527 Ebd. S. 33 (dt.: S. 56). 528 Ebd. S. 122 (dt.: S. 181). 529 Ebd. S. 6 (dt.: S. 19).
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
trittsalter herum.530 Auch wenn Tomasellos Darstellungen der Entwicklung und Etablierung eines eigenen Moralverständnisses umfassender, argumentativ überzeugender und zudem aus heutiger Sicht leserfreundlicher erscheinen mögen, so zeigen sich dennoch erstaunliche Ähnlichkeiten der Grundgedanken, die sich bis in die von ihnen verwendete Wortwahl hinein niederschlagen. Dies soll kurz anhand von Textauszügen aus Smiths The Theory of Moral Sentiments (1759) verdeutlicht werden. Die Passagen thematisieren ebenfalls das »child on the desert island« dem es, da es allein ist und keine kulturellen Werte mit Umgang mit anderen erlernte, nicht möglich ist, eine Moral zu entwickeln: »Were it possible that a human creature could grow up to manhood in some solitary place, without any communication with his own species, he could no more think of his own character, of the propriety or demerit of his own sentiments and conduct, of the beauty or deformity of his own mind, than of the beauty or deformity of its own face. […] Bring him into society, and he is immediately provided with the mirror which he wanted before […] and it is here that the first views the propriety and impropriety of his own passions, the beauty and deformity of his own mind.«531 »A very young child has no self-command; but, whatever are its emotions, whether fear, of grief, or anger, it endeavours always, by the violence of its outcries, to alarm, as much as it can, the attention of its nurse, or of its parents. […] When it is old enough to go to school, or to mix with its equals, it soon finds that they have no such indulgent partiality. It naturally wishes to gain their favour, and to avoid their hatred or contempt.«532 Der prägnanteste Unterschied der Ansätze nach Smith und Tomasello liegt darin, dass Letzterer die Merkmale, welche sich in der Phylo- und Ontogenese etablieren, als ausschließlich menschliche klassifiziert, während sich Smith einer solchen These enthält. Die zentralen Aussagen, die Tomasello – im Gegensatz zu den hier genannten Vordenkern – dezidiert aus empirischen Studien erarbeitet – lassen sich wie folgt zusammenfassen: bei Tieren liegt stets eine individuelle Intentionalität (»I-mode«) vor, während bereits menschliche Kleinkinder ab einem Alter von neun Monaten mittels deklarativer Zeigegeste über die Möglichkeit verfügen eine gemeinsame In-
530 Wobei Smith im Schottland des 18. Jahrhunderts möglicherweise an ein anderes konkretes Schuleintrittsalter als Tomasello im Amerika des 21. Jahrhundert denkt und man daher heutzutage vielleicht eher von Vorschulalter sprechen würde. 531 Smith: Theory of Moral Sentiments [1759], S. 110 (dt.: Dritter Teil, 1. Kapitel, S. 167f.). 532 Ebd. S. 145 (dt.: S. 214f.).
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tentionalität zu vollziehen533 . Eine kollektive Intentionalität ist nicht bei Kleinkindern, jedoch – zumindest unter der Voraussetzung einer normalen kognitiven Entwicklung – bei Vorschulkindern ab circa drei Jahren möglich, da diese tiefgreifendere kognitive Fähigkeiten besitzen.534 Mit anderen Worten: Handlungen mit spezifischen Handlungsinteressen gehen mit spezifisches Intentionalitätsformen einher: Die imperative Zeigegeste sowie der »I-mode« verweisen auf die individuelle Intentionalität, während die deklarative Zeigegeste sowie der »We-mode« als Merkmale der »joint intentionality« gewertet werden. Führt man diese Ansicht allerdings konsequent weiter, dann ergibt sich, dass – neben Autisten, welchen es an Einfühlungsvermögen mangelt und Narzissten sowie Sozio- und Psychopathen, welche nicht den »I-mode« überwinden können (siehe Kapitel 2.1) – auch Personen, welche auf dem kognitiven Stand eines Vorschulkindes verweilen, wie beispielsweise Personen mit ausgeprägten Formen des Gendefektes Trisomie 21, als Beteiligte eines »We-modes« im engen Sinne entfallen. Wie schwerwiegend solche Konsequenzziehungen in der Tat wären wenn man sich strikt nach ihnen richten würde, muss nicht erläutert werden. Führt man die vier ontogenetischen Entwicklungsschritte nach Tomasello – die »emotion sharing in protoconversation«, die deklarative Zeigegeste sowie das verminderte und vertiefte Verständnis vieler intentionaler Akteure – genauer aus, dann folgt daraus: Tomasello geht nicht nur von »two sets of specifically human capacities«, nämlich der »joint« und der »collective intentionality«, aus535 . Vielmehr legt er, obwohl er dies selbst kaum hervorhebt, innerhalb der zweiten spezifisch menschlichen Fähigkeit – der »collective intentionality« – eine Differenzierung zugrunde: »age three signals the initial emergence of young children’s skills of collective intentionality«536 , welcher in dieser Altersstufe noch als »less reasonable and less responsible« beschrieben werden kann. Eine demgegenüber ausgeprägtere, »more reasonable and more responsible collective intentionality« setzt auf der Schwelle vom Vorschul- zum Schulalter ein.537 Diese Aussage Tomasellos verleitet den Leser dazu anzunehmen, dass die kollektive Intentionalität selbst graduell ist, wenn man sie an die Moralität bindet. Andere Ausführungen dieses Autors lesen sich jedoch eher so, dass sich erst die kollektive Intentionalität entwickeln müsse und dann in der Folge Moralität ausgebildet werde, sodass der Anschein erweckt wird, dass die kollektive Intentionalität die Bedingung der Möglichkeit der Moralität sei: »As their capacities for collective intentionality mature, young children become normative creatures. They now are capable of forming with other second-personal 533 534 535 536 537
Vgl. Tomasello: Human Morality (2016), S. 76ff. (dt.: S. 121ff.). Vgl. ebd., S. 120f. (dt.: S. 185ff.). Tomasello: Becoming Human (2019), S. 305 (Herv. selbst vorgenommen). Ebd., S. 119 (Herv. selbst vorgenommen). Vgl. ebd., S. 170.
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
agents a joint commitment […], leading to still other uniquely human sociomoral attitudes, especially a sense of commitment or responsibility to partners, and resentment for partners who do not treat them in this same way.«538 Für Tomasello setzt daher eine »wirkliche« Verpflichtung – ein »joint commitment« mit anderen Beteiligten als »second-personal agents« – erst bei einer kollektiven Intentionalität nach der ontogenetischen Entwicklung der Moral im Vorschulalter ein. Andere Autoren, wie etwa de Vecchi, verorten eine gegenseitige Verpflichtung, ohne explizit auf die Moralfähigkeit der Beteiligten einzugehen, bereits bei Vorstufen der kollektiven Intentionalität, wie der sozialen Intentionalität, das heißt konkret bei mindestens zwei Beteiligten. Kurz gefasst kann also gesagt werden: nach Tomasello steht die Moralität im engen Bezug zur kollektiven Intentionalität und kann sogar als Binnendifferenzierung gelten. Während bei Tuomela mittels der Grundhaltung der Beteiligten (»I-« und »We-mode«) die schwache und starke kollektive Intentionalität unterschieden wird, dient bei Tomasello der »We-mode« – der in seinem ersten »dual-level«Auftreten von ihm als »joint intentionality« betitelt wird – als differentia specifica und die »Tiefe« der Vernunft- und Verantwortungsfähigkeit – das heißt hier vielleicht etwas sinnentstellend, aber vereinfachend: der Moralität – als Unterscheidungskriterium der Formen der kollektiven Intentionalität. Bemerkenswert ist dabei zum einen, dass Tomasello selbst nicht ausdrücklich auf die von ihm vertretene Binnendifferenzierung der »collective intentionality« – in mehr und weniger verantwortliche, moralische Formen – eingeht und diese Position ausführlicher erläutert. Zum anderen stellt er die Ontogenese als einen Prozess dar, wobei er vier Entwicklungsstufen herausgreift. Hierbei fragt man sich einerseits, weshalb man ausschließlich von vier und nicht weiteren, sehr vielen kleinen, kognitiven Entwicklungsschritten ausgehen müsse. Andererseits muss gesagt werden, dass er während der Erläuterung der vier menschlichen Entwicklungsschritte letztendlich nur zwei Hauptvarianten der dezidiert menschlichen Intentionalitätsformen begründet sieht: »There are two sets of specifically human capacities«539 , welche mit »two steps in human evolution – collaboration and culture«540 einhergehen: die »joint« und die »collective intentionality«. In der menschlichen Onto- und Phylogenese treten – ganz im Gegensatz zur tierischen – spezifische kognitive Fähigkeiten auf: »to create a joint agent ›we‹ with other individuals, creating the possibility of taking the perspective of others, including recursively (aka the dual-level structure), and relating to others second-personally as equals.«541
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Tomasello: Becoming Human (2019), S. 217. Ebd., S. 305 (Herv. selbst vorgenommen). Tomasello: »Great Apes and Human Development: A Personal History« (2018), S. 192. Tomasello: Becoming Human (2019), S. 305 (Herv. selbst vorgenommen).
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Dieses Teilen psychologischer Zustände542 fasst Tomasello unter »joint intentionality«, die Kleinkindern, aber nicht Menschenaffen gegeben ist.543 Eine »collective intentionality« hingegen, die Vorschulkindern, aber nicht Kleinkindern möglich sei544 , zeichne sich durch die Konstitution eines »group-minded ›we‹« aus, da nun nicht mehr der Bezug auf einen Anderen, sondern normativ auf viele Andere eingenommen wird.545 Tomasello unterscheidet sich daher in vielerlei Hinsicht von den weiteren Debattenteilnehmern: Erstens verwendet er eine empirische statt primär philosophische – sei es phänomenologische oder sprachanalytische – Methode. Zweitens setzt er sich unverkennbar dafür ein, dass die differentia specifica in den Intentionalitätsformen liegt: Bei Tomasello heißt es, dass der Mensch im Gegensatz zum Tier seine Eigeninteressen überwinden und eine gemeinsame oder kollektive Welt (»joint« und »collective intentionality«) haben kann. Tuomela und Tomasello fassen beide die »I-mode«-»We-mode«-Differenzierung als Grundlage zur Differenzierung der Intentionalitätsformen, konkreter: als Unterscheidung des parallelen, koordinativen Nebeneinander und gemeinsamen, kooperativen Miteinanders auf: »shared« und »joint intention«, »not full blown« und »full blown collective intentionality« (Tuomela) oder »individual« und »joint intentionality« (Tomasello). Aber bei Tomasello gilt letztere Form als differentia specifica und er hebt drittens innerhalb des »We-modes« verschiedene Arten des »Wir« hervor: ein »joint agent ›we‹« (»joint intentionality«) und ein »group-minded ›we‹ (»collective intentionality«). Die Konzeption der Intentionalitätsformen nach Tomasello sei hier nochmals anschaulich zusammengetragen (Tabelle Nr. 14).
542 543 544 545
Vgl. ebd. Vgl. u.a. Tomasello: Human Morality (2016), S. 76f. (dt.: S. 121ff.). Vgl. u.a. ebd. S. 120f. (dt.: S. 185ff.). Vgl. Tomasello: Becoming Human (2019), S. 305 (Herv. selbst vorgenommen).
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
Tabelle Nr. 14: Eine Übersicht der Intentionalitätsformen nach Tomasello Bezeichnung der Intentionalitätsform
Charakterisierung
Individual intentionality
1. Stufe: Gerichtetheit auf Objekt = solitary int. (de Vecchi) 2. Stufe: Gerichtetheit auf andere Lebewesen (Gerichtetheit auf andere Subjekte = intersubjective intentionality (de Vecchi)) - ist durch Eigeninteressen (»I-mode«) gekennzeichnet - ist sowohl Tieren als auch Menschen möglich, aber Tiere verweilen auf dieser Stufe
Joint intentionality
- ist nur dem Menschen möglich: in der Phylogenese trat sie vor circa 400.000 Jahren ein in der Ontogenese tritt sie ab circa 9 Monaten ein - die Anerkennung des Anderen als intentionalen Akteur nimmt zu - durch den »We-mode« gekennzeichnet - ab 2014 nach Tomasello die differentia specifica zwischen Tier und Mensch - in Bezug auf einen anderen (»dual-level structure«): Konstitution eines »joint agent ›we‹« - »second personal agents as equals« - Kollaboration
Collective intentionality
- ist nur dem Menschen möglich: in der Phylogenese trat sie vor circa 150.000 Jahren ein in der Ontogenese: 1. Stufe: sie tritt ab circa 3 Lebensjahren ein (»initial emergence«); 2. Stufe: sie entwickelt sich vollständig bis circa zum 6 Lebensjahr (»more reasonable and more responsible collective intentionality«) - durch den »We-mode« gekennzeichnet - Konstitution einer Kultur durch kollektive Akzeptanz (nach Searle: Konstitution institutionellen Fakten als differentia specifica) - in Bezug auf viele andere, das heißt eben in Bezug auf ein Kollektiv: Konstitution eines »group-minded ›we‹«
Die kollektive Intentionalität ist nach Tomasello kein primitives Phänomen Schaut man sich die Positionen der Debatte an, dann lassen sich diese musterhaft danach schematisieren, ob der Begriff der kollektiven Intentionalität als Sammelbegriff für alle Intentionalitätsformen mit mindestens zwei Lebewesen verwendet wurde, wie es exemplarisch von Searle vertreten wird – auch wenn dabei, wie beispielsweise bei Tuomela eine schwache und starke Variante (»not full blown« und »full blown collective intentionality«) differenziert wird. Andere Autoren, wie unter anderem Tomasello und de Vecchi, sprachen sich demgegenüber dafür aus, dass die Bezeichnung »kollektive Intentionalität« nur für eine spezifisch menschliche Intentionalitätsform adäquat sei, wobei de Vecchi von mindestens zwei Subjekten und Tomasello dezidiert von mindestens drei Subjekten ausgeht. Eng verbunden ist hier-
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mit der Dissens, ob die kollektive Intentionalität als primitives Phänomen angesehen werden kann, wie sich besonders markant anhand von Searles und Tomasellos Position nachzeichnen lässt: Nach Searle verfügen sowohl Menschen als auch bestimmte Tiere, die von ihm sogenannten »social animals«, über die »remarkable capacity […] to engage in cooperative behaviour and sharing of attitudes with conspecifics«546 . Woraus Searle wiederum schließt – und im Verlauf seiner Werke daran festhält –, dass es sich bei der kollektiven Intentionalität um ein primitives Phänomen handle547 . Legt man ausschließlich Searles Konzeption zugrunde, dass die kollektive Intentionalität schlicht die Interaktion mindestens zweier Beteiligter sei, so spricht zunächst nichts dagegen diese Form der Intentionalität als »primitiv biologisch« zu bezeichnen, da sie eben auf alle interagierenden Lebewesen zutrifft. Tomasello mag damit einhergehend vertreten, dass eine spezifische Intentionalitätsform – die individuelle Intentionalität und das Verhalten mit Anderen in der Gruppe – als fundamentale, womöglich sogar instinkthafte548 Grundlage allen Lebewesen von Natur aus gegeben ist. Eine kollektive Intentionalität in seinem Sinn als tiefgreifende »We-mode« Interaktion mindestens dreier moralischer Personen, also das Verhalten für die Gruppe ist hingegen keinesfalls einfach »naturgemäß« gegeben, sondern entwickelt sich unter und mit anderen Menschen in einem langjährigen ontogenetischen beziehungsweise über Jahrtausende hinweg während des phylogenetischen Prozesses. In Bezug auf Searles Position kann damit gesagt werden, dass er in vielerlei Hinsicht aus der Debatte hervorsticht. Um es nochmals ins Gedächtnis zu rufen: erstens geht er hinsichtlich der Intentionalität erklärend vor und verweist vielfach auf die im Gehirn verarbeiteten elektronischen Signale, weshalb Intentionalität stets im Einzelgehirn vorfindbar sei. In der Rezeption wurden Aussagen dieser Art nach Searle überwiegend so gedeutet, als könne auch ein Individuum tatsächlich kollektive Intentionalität haben, während Searle selbst wohl, wenn auch kaum ausgeführt, darauf hinaus will, dass in einem solchen Fall lediglich eine geglaubte kollektive Intentionalität vorläge und daher eher einer individuellen Intentionalität gleichkomme. Zweitens verwendet Searle den Begriff »kollektive Intentionalität« sehr weitreichend, wie etwa für den Fall, dass zwei Schimpansen jagen oder ein Mann mit seinem Hund spazieren geht. Aus einem solchen Verständnis heraus ist für Searle 546 Searle: »Social Ontology – Some basic principles« (2006), S. 16 (dt.: S. 510). Vgl. auch (i) Searle: Construction Social Reality (1995), S. 23 (dt.: S. 33). (ii) Searle: Making the Social World (2010), S. 43 (dt.: S. 76). (iii) John Rogers Searle: »Human Social Reality and Language«, in: Phenomenology and Mind (hg. v. Monticelli), Band 2, Band hg. v. Francesca Maria de Vecchi, 2012, S. 24–33, hier: S. 26. 547 Vgl. u.a. Searle: »Coll. Intentions and Actions« (1990), S. 401 (dt.: S. 99). 548 In uns wohne, so kann man beispielsweise mit Husserl sagen, ein »[i]nstinktives Streben nach Zusammensein mit unmittelbaren Geschlechtsgenossen (Familie) […] [und] Gemeinsamkeiten in der Geselligkeit«. Husserl: Text Nr. 9: »Gemeingeist I« (1921) (Hua. XIV), § 8, S. 178.
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
klar, dass die kollektive Intentionalität – so die dritte Hauptabweichung mit den anderen Debattenteilnehmern – ein biologisches Phänomen ist. Dennoch wäre es vorschnell Searles Auffassung als ausschließlich entgegengesetzt darzulegen, wie besonders mit seinen Werken jüngeren Datums gezeigt werden kann.
Searles Binnendifferenzierung der kollektiven Intentionalität: Soziale und institutionelle Tatsachen Eine Binnendifferenzierung der Intentionalitätsformen mit mehreren Beteiligten lässt sich auch bei Searle feststellen: eine »distinction between collective intentionality broadly understood (yielding social facts) and collective intentionality proper involving constitutive rules and the creation of institutional facts«549 , wie Tomasello 2003 – als einer von wenigen Autoren, die diese Binnendifferenzierung Searles in der Debatte überhaupt bemerken – kenntlich macht. Searles zielt mit dieser Differenzierung – ebenso wie Tomasello – darauf, dass in einer spezifischen Intentionalitätsform das herausragende Wesensmerkmal des Menschen liegt. Bei Searle heißt es beispielsweise im Aufsatz »Social Ontology – Some basic principles« (2006): die kollektive Akzeptanz einer Statusfunktion könne als Binnendifferenzierung der kollektiven Intentionalität betrachtet werden und damit letztlich als differentia specifica 549 Die entsprechende Textpassage, welche bei ihm lediglich als Anmerkung in der Fußnote zu finden ist, lautet wie folgt: »Our [Tomasellos and Rakoczys] distinction between shared intentionality and collective intentionality is similar to Searleʼs (1995) distinction between collective intentionality broadly understood (yielding social facts) and collective intentionality proper involving constitutive rules and the creation of institutional facts. However, the two distinctions do not match perfectly: we contend that in shared intentionality 1-year-old children may actually create a socially defined product (e.g. in pretend play [im Als-ob-Spiel] with others, and these share important features with institutional facts. What changes after four years of age is that children become able to particulate in and understand facts created not just by themselves and a partner in a momentary inter-action, but rather those created by the culture at large through a system of beliefs and practices. We should also note that we disagree with Searleʼs claim that hyenas hunting together show shared intentionality; we contend that shared intentionality is a uniquely human phenomenon.« Tomasello u. Rakoczy: »What Makes Human Cognition Unique?« (2003), S. 133 – dortige Fußnote Nr. 5 (dt.: S. 716 – dort: Fußnote Nr. 17) (Herv. selbst vorgenommen). Wobei betont werden muss, dass der Terminus »shared intentionality« bei Searle zwar auftaucht (vgl. Searle: »Coll. Intentions and Actions« (1990), S. 414 (dt.: S. 118)), doch dessen Verwendungsweise bei ihm völlig unklar bleibt. Daher kann nicht gesagt werden, ob Searle die Konstitution einer sozialen oder einer institutionellen Tatsache als »shared intentionality« bezeichnen würde und der Begriff somit als Synonym einer »schwachen« oder dem gegenüber einer »starken kollektiven Intentionalität« gelten könnte. Aufgrund der Binnendifferenzierung Searles, dass die kollektive Intentionalität zwei Varianten habe: die Konstitution der sozialen und der institutionellen Tatsachen, muss die Aussage Tomasellos der Position Searles in zweierlei Hinsicht treffender wie folgt lauten: »Searle claims that hyenas hunting together show collective intentionality in a weak sense«.
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zwischen dem Tier und Menschen dienen. Zwar lässt sich zeigen, dass Searles Unterscheidung dabei auch – wie jene Tuomelas und Tomasellos – von der Annahme der »We-intentions« geprägt ist, das heißt wie die Beteiligten an die Sache herangehen, nämlich wirbezüglich. Im Vordergrund steht bei Searle jedoch auch was aus der Beteiligung hervorgeht. In anderen Worten geht es hierbei vielmehr um den »Output«, das Handlungsergebnis anstatt um die Art und Weise des »Inputs« und der Durchführung. Zwar findet eine solche Erörterung auch bei Tomasello statt, da er auf die Kollaboration (»joint«) und Kultur (»collective intentionality«) verweist, allerdings wird hierbei die Kultur sehr eng gefasst, da sie, folgt man Tomasellos Ansicht bis zur letzten Konsequenz, nicht den Tieren zugeschrieben wird. Searle hingegen vermeidet den Begriff »Kultur« und differenziert dagegen die sozialen und die institutionellen Tatsachen. Nähern wir uns Searles Auffassung zunächst mit dessen eigenem Beispiel einer Statusfunktion: »I [Searle] like to illustrate the move from the assignment of functions to what I call status functions with a parable. Suppose a community builds a wall around its dwellings. The wall now has a collectively assigned function, which function it can perform in virtue of its structure. But suppose the wall gradually decays until the only thing is left is a line of stones. But suppose that the people continue to recognize the line of stones as a boundary, they continue to accept that they are not supposed to cross. The line now performs the function that the wall once performed, but it performs the function not in virtue of its physical structure but in virtue of the collective acceptance that the line of stones now has a certain status and with that status a function which can only be performed in virtue of the collective acceptance of that status. [The status function is: We collectively accept in our context that these stones are a boundary.] I want this to sound rather harmless and innocuous, but I think that in fact it is the decisive move that distinguishes humans from other animals.«550 Die zentrale Aussage ist kurz gefasst folgende: nur der Mensch kann durch das Zusammenspiel der deklarativen Funktion der Sprache – »the power to create a reality by declaring it to exist«551 – und der kollektiven Akzeptanz eine institutionelle Tatsache schaffen. In Searles eigenem Wortlaut: »it is this combination – status functions, deontic powers, and desire-independent reasons for actions – that gives us the specific human forms of socialization that
550 Searle: »Social Ontology – Some basic principles« (2006), S. 17f. (dt.: S. 513) (Herv. selbst vorgenommen). 551 Searle: »What is language« (2012), S. 26.
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
enable us to distinguish human beings from other social animals, even from other primates.«552 Die Grundthese, dass nur der Mensch ein symbolfähiges, institutionenkonstituierendes Lebewesen sei, wird dabei – ohne dass dies von Searle selbst thematisiert wird – aus der philosophischen Tradition übernommen553 und von ihm zugespitzt: Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das zu Institutionen fähig ist und diese spezifische Fähigkeit zeigt sich als spezifische Intentionalitätsform. Die Differenzierung der Formen der kollektiven Intentionalität bezieht sich hierbei darauf, was aus jener Intentionalität hervorgeht: einerseits die Konstitution einer sozialen Tatsache, wie der Arbeitsteilung anhand von spezifischen Rollen, oder andererseits die Konstitution einer institutionellen Tatsache, wie etwa die kollektive Anerkennung, dass ein buntes Stück Papier als Geld verwendet wird. Durch diese Abgrenzung kann eine schwache und starke kollektive Intentionalität differenziert werden. Bei Letzterer wird, der Position Searles zufolge, mittels Repräsentation – wie vielleicht präziser gesagt werden kann: mittels Abstraktion – über die physikalische Eigenschaft des Objektes hinausgegangen.554 Man kann es auch so fassen: jede institutionelle Tatsache ist eine soziale Tatsache, aber nicht jede soziale Tatsache ist eine institutionelle Tatsache. Allerdings 552 Searle: »Social Ontology – Some basic principles« (2006), S. 19 (dt.: S. 515) (Herv. selbst vorgenommen). Bereits um 1994 finden sich bei Searle erste Ausführungen in diese Richtung (vgl. Searle: »Animal Minds« (1994) (dt.: S. 137ff.)). 553 Vgl. u.a. Mead: Geist, Identität u. Gesellschaft [1934)], S. 204. 554 Searle unterscheidet demnach zwischen sozialen und institutionellen Tatsachen, wobei einige Rekonstruktionen des Ansatzes Searles hierzu irreführend sind. Um hier nur einige kurze Beispiele der fragwürdigen Rezeption zu nennen: (i) Tomasello und Vaish legen dar, dass bei Searle gelte: »Soziale Normen führen in menschlichen Gemeinschaften schließlich zur Bildung sozialer Institutionen« (Tomasello u. Vaish: »Entstehung menschl. Kooperation u. Moral« [2013], S. 193 (Herv. selbst vorgenommen)), wobei eben die Begriffe »sozial« und »Institution« zusammen auftreten. (ii) Maurizio Ferraris hingegen bemerkt: »›Intentionality‹ is the theory proposed by John Searle [...], which explains the construction of social reality through the rule ›X counts as Y in C‹, that is, the physical object X counts as the social object Y in the context C. For example, a piece of paper (X) counts as a bank note (Y) in the spring 2012 (C). This approach [for the construction of social objects] has been named ›Intentionality‹«. Maurizio Ferraris: »Perspectives of Documentality«, in: Phenomenology and Mind (hg. v. Monticelli), Band 2, Band hg. v. Francesca Maria de Vecchi, 2012, S. 34–40, hier: S. 36f. Hieran lassen sich zwei Aspekte kritisieren: Erstens scheint es problematisch die Intentionalität selbst als Theorie zu bezeichnen. Es bestehen, so müsste präziser gesagt werden, Theorien, die das Phänomen »Intentionalität« thematisiere. Zweitens nimmt Searle an, dass man mittels der Intentionalität auch soziale oder institutionelle Tatsachen schaffen kann, doch ist dies bei Searle nicht die Intentionalität im Allgemeinen, sondern geschieht mittels einer spezifischen Intentionalitätsform: der kollektiven Intentionalität – im schwachen oder engen Sinne. Zudem ist anzunehmen, dass Autoren, wie beispielsweise Christopher Kutz, die Bezeichnung »joint« im Sinne der sozialen Tatsache nach Searle verwenden: »it is entirely plausible that children (and certain animals) learn to act jointly in pursuit of a common goal through, for ex-
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kann hierbei detaillierter gefragt werden, inwieweit bei dieser Differenzierung von sozialen und institutionellen Tatsachen tatsächlich, wie Searle als Kriterium der differentia specifica impliziert, eine »trennscharfe« Unterscheidung möglich ist. Wird nämlich der Unterschied zwischen sozialen und institutionellen Tatsachen als graduell begriffen555 , so »verschwimmt« abermals die Grenze zwischen dem Tier und dem Menschen. Ein genauerer Blick zeigt, dass Searle in Mind, Language and Society (1998) den Begriff »derived intentionality« (abgeleitete Intentionalität) einführte, unter welcher er die Konstitution von Wörtern, Sätzen, Bildern und Ähnlichem versteht556 . Um einem Missverständnis vorzubeugen, lohnt es sich kurz zu erwähnen, dass Searle unter der Konstitution von Bildern wohl ausschließlich sprachliche Bilder im Sinne der Metaphern fasst. Da sowohl die »derived« als auch die »collective intentionality« im engen Sinne ausdrücklich durch sprachliche Elemente gekennzeichnet sei, scheint – zumindest bedingt – eine Gleichsetzung beider Begriffe Searles möglich.557 Doch wie auch immer Searles »derived intentionality« ausgeample, initially self-involved play activity«. Kutz: »Acting Together« [2000], S. 15 (dt.: S. 453) (Herv. selbst vorgenommen). 555 Es scheint etwa je nach Betrachtungsschwerpunkt nicht unbedingt trivial, ob die Konstitution von Geld zweier Menschen noch als soziale Tatsache begriffen werden muss oder bereits als institutionelle Tatsache gelten kann. 556 Vgl. Searle: Mind, Language and Society (1998), S. 92 (dt.: S. 112). 557 Eine synonyme Auffassung beider Termini ist dahingehend problematisch, dass unter der abgeleiteten Intentionalität auch Bestandteile fallen, bei welchen kein Kollektiv kontingenteroder notwendigerweise benötigt wird. Zudem fallen Searles Ausführungen in Mind, Language and Society jedoch beispielsweise darin knapp aus, weshalb gerade der mathematische Begriff der Ableitung gewählt wird und nicht schlicht von »weiter-« oder »höherentwickelter Intentionalität« die Rede ist. Kurz: für eine Intentionalitätsform mit mehreren Beteiligten finden sich bei Searle die Begriffe »collective«, »shared« und »derived intentionality«. Doch entweder tauchen diese Begriffe auf, ohne dass sie näher erklärt werden (wie es der Fall bei der »shared intentionality«), oder der Begriff umfasst einfach alle Handlungen mit mindestens zwei Beteiligten unabhängig davon, ob es Menschen oder Tiere sind (wie Searle die kollektive Intentionalität gebraucht) oder er wird in diametraler Weise verwendet (»derived intentionality«): In Mind, Language and Society hat man als Leser den Eindruck als ginge es um die Richtung des Ichs zum Wir, die Konstitution von Wörtern und Ähnlichem wird als abgeleitet bezeichnet. Im Aufsatz »Collective Intentions and Actions« (1990) hingegen wird beim Leser jedoch vielmehr der Eindruck erweckt als ginge es bei der »derived form« um die Ableitung des Wir zum Ich, als Ableitung der individuellen aus der kollektiven Absicht heraus: »Another clue that collective intentions are different from a mere summation of individual intentions is that often the derived form of an individual intention will have a different content from the collective intention from which it is derived. […] Suppose we are on a football team and we are trying to execute a pass play. That is, the team intention […] is […] expressed by ›We are executing a pass play‹. Each player must make a specific contribution to the overall goal. If I am an offensive lineman, my intention might be expressed by ›I am blocking the defensive end.‹ Each member of the team will share in the collective intention but will have an individual assignment that is derived from the collective but has a different content from
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
legt wird – erstens womöglich als Synonym zu seiner »collective intentionality« oder zweitens genetisch entweder als Ich zum Wir oder Wir zum Ich – sie sollte keinesfalls mit Tomasellos »derived normativity« gleichgesetzt werden, denn für Searle ist eine »abgeleitete Intentionalität« die Konstitution von Wörtern, Sätzen und Bildern. Tomasellos und Rakozys »abgeleitete Normativität« folgt nach dieser Konstitution, wobei vor allem Symbole und Werkzeuge im Blick stehen: »›derived normativity‹ […] this is the way ›we‹ use this symbol or tool; this is the way it ›should‹ be used.«558 Vor dem Hintergrund des Vergleiches der Konzeptionen der Intentionalitätsformen können bis zu diesem Punkt der Erläuterungen die Ansätze Tuomelas, Tomasellos und Searles wie folgt gegenübergestellt werden: Die Basis für die Überlegungen Tuomelas bildet die »I-mode«-»We-mode«Differenzierung, genauer gesagt: die Grundhaltung der Beteiligten ist entscheidend dafür, welche Intentionalitätsform vorliegt. Der »We-mode« ist für ihn ein Zusammenspiel aus drei Faktoren: der »we-mode group reason«, der »collectivity condition« und dem »collective commitment«. Auch für Tomasello ist die Differenzierung zwischen beiden Modi zentral und eine genauere Charakterisierung des »We-mode« anhand dreier Merkmale zu finden: dem »joint commitment to a goal«, »role reversal« und »mutual support«. Doch liegen zwei Schwerpunktverschiebungen bei Tomasello vor. Erstens befasst sich der evolutionäre Verhaltensforscher mit der Frage, wer empirisch betrachtet über die kognitiven Voraussetzungen des »We-mode« verfügt oder verfügen kann. Er schließt neben Autisten auch Kleinkinder bis zu einer bestimmten kognitiven Entwicklung und Tiere als Beteiligte aus, worin er die differentia specifica begründet sieht. Allerdings sind diese nur markante Musterbeispiele, deren Reihe zahlreich erweitert werden kann, sodass letztlich die gesamte Problematik eines solchen Vorgehens, wie in Kapitel 2.1 dargestellt, bei Tomasello selbst nicht offenkundig zutage tritt. Zweitens beachtet Tomasello in seiner Konzeption der Intentionalitätsformen auch detaillierter als Tuomela was jeweils aus den jeweiligen Intentionalitätsformen hervorgeht: die »joint intentionality« sei eine duale menschliche Beziehung, das heißt eben die Konstitution einer Kollaboration, und die »collective intentionality« sei die Konstitution einer Kultur vieler Menschen. Searle hingegen vermischt seinerseits, wenn man so will, die Ansätze Tuomelas und Tomasellos, da er Elemente aus beiden Positionen in seinem eigenen zugrunde legt: Zum einen nimmt Searle, wie Tuomela, eine begriffliche Binnendifferenzierung der kollektiven Intentionalität vor, sodass sich eine schwache und eine starke the collective.« Searle: »Coll. intentions and Actions« (1990), S. 403 (dt.: S. 102) (Herv. selbst vorgenommen). 558 Tomasello u. Rakoczy: »What Makes Human Cognition Unique?« (2003), S. 127 (dt.: S. 706).
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Form ergibt: Bei Tuomela liegt, um es nochmals ins Gedächtnis zu rufen, beim »I-mode« eine »not full blown« und beim »We-mode« eine »full blown collective intentionality« vor. Während Searle, um es vorwegzunehmen, letztere grundsätzlich mit der Repräsentationsfähigkeit basierend auf sprachlichen Mitteln verbindet. Zum anderen beachtet Searle, wie Tomasello, was aus den jeweiligen Formen hervorgeht: Doch anstatt der Differenzierung zwischen der Kollaboration und der Kultur aufzumachen, wie es Tomasello zugrunde legt, markiert Searle den Unterschied zwischen der sozialen – wie sich noch zeigen wird: vorsprachlichen – und der institutionellen, sprachbasierten Tatsache. Ab Mitte der 1990er Jahre – das heißt vor oder nahezu zeitgleich mit Tomasellos Überlegungen – kristallisiert sich auch bei Searle immer weiter die Frage der differentia specifica und ihrer Verortung in einer spezifischen Intentionalitätsform heraus: Searle vertritt, dass Menschen wie auch Tiere zweifelsfrei über individuelle Intentionalität verfügen559 , weshalb es zwei oder mehr Akteuren – Menschen und/oder Tieren –, durch Zusammenarbeit an ein und derselben Sache, möglich sei eine soziale Tatsache zu etablieren: »I [Searle] am going to define arbitrarily a social fact as any fact involving two or more [human or animal] agents who have collective intentionality. So, for example, animals hunting together, birds cooperating in building a nest, and presumably the so-called social insects, such as ants and bees, manifest collective intentionality and thus have social facts.«560 Insbesondere unter Einbezug des Werkes The Construction of Social Reality von 1995 wird deutlich, dass Searle als Bedingung der Möglichkeit einer kollektiven Intentionalität im engen Sinne annimmt, dass es einer Repräsentation – verstanden als Abstraktion von der physikalischen Eigenschaften des Objektes, als Symbolisation – bedarf, welche jedoch nicht bei Tieren gegeben sei. Diesen Gedanken drückt er, wie hier mittels zweier Zitate belegt, wie folgt aus: »It is common, for example, to read that certain ant colonies have slaves or that beehives have queens. I [Searle] think such manners of speaking are harmless metaphors, especially where the so called ›social insects‹ are concerned, but it is important to keep reminding ourselves that for a community literally to have slaves or literally to have a queen, the participants would have to have the apparatus necessary to represent something as a queen or as a slave. Just behaving in certain ways, where behaviour is construed solely in terms of bodily movements, is not sufficient for a community to have a queen or to have slaves. In addition, 559 Searle: Mind, Language and Society (1998), S. 134 (dt.: S. 160). 560 Ebd., S. 120 (dt.: S. 145) (Herv. teils übernommen u. teils selbst vorgenommen). Mit Bezug auf dessen Aufsatz »Social Ontology – Some basic principles« (2006), in welchem Tiere dezidiert als Akteure bezeichnet wird (vgl. Searle: »Social Ontology – Some basic principles« (2006), S. 16f. (dt.: S. 511)).
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
there would have to be a certain set of attitudes, beliefs, etc., on the part of the members of the community, and this would seem to require a system of representation such as language.«561 »[T]he truly radical break with other forms of life comes when humans, through collective intentionality, impose functions on phenomena where the function cannot be achieved solely in virtue of physics and chemistry but recognition, acceptance, and acknowledgement of a new status to which a function is assigned. This is the beginning point of all institutional forms of human culture, and it must always have the structure X counts as Y in [context] C«.562 Seine Position zur tierischen Intentionalität ist damit: Tiere, wie zwei Vögel bei einem Nestbau oder jagende Schimpansen563 , können »shared attitudes, shared desires, and shared beliefs«564 , das heißt einen geteilten Hintergrund haben. Zudem weisen Tiere, wie Searle betont, durchaus einen geschickten und umfassenden Umgang mit der physischen Struktur von Gegenständen auf, beispielsweise indem sie einen Ast als Werkzeug anwenden, um Nahrung zu erreichen565 . Allerdings handelt es sich hierbei, in Searles eigener Terminologie, um eine »bloße kollektive Intentionalität«566 . Denn Tieren fehle die Fähigkeit zur Repräsentation und damit einhergehend die Fähigkeit zur Konstitution institutioneller Fakten, das ist nach Searle zur kollektiven Intentionalität im starken Sinne. Weshalb dieser Denker in letzter Konsequenz – ebenso wie Tomasello – den Anspruch erhebt die differentia specifica charakterisiert zu haben567 : »[D]ie Eigenschaft, ein soziales Lebewesen
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Searle: Construction Social Reality (1995), S. 37 (dt.: S. 45f.). Zwar wurde beispielsweise von Edith Stein zu Beginn des 20. Jahrhunderts bemerkt, dass auch Tiere in Zusammenschlüssen agieren, wodurch man, so Stein, »auch beim Tierreich von einem überindividuellen psychischen Zusammenhang [...] sprechen [könne]«. Stein: Beiträge philo. Begründung [1922], S. 148. Doch erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts scheint man verschiedene Arten von Zusammenschlüssen (soziale und institutionelle Tatsachen) zu differenzieren und lediglich die letztgenannte Art als spezifisch menschlich zu betrachten. Searle: Construction Social Reality (1995), S. 40 (dt.: S. 49). Vgl. auch Searle: Freiheit u. Neurobiologie (2004), S. 72f. Aufgrund dieser Beschreibung der »bloßen kollektiven Intentionalität«, die nach Searle auch bei Tieren vorfindbar ist, als »shared« könnte man schließen, dass Searle den Begriff der »shared intentionality«, der in »Collective Intentions and Actions« (1990) unbestimmt bleibt, möglicherweise ausschließlich auf diese eine Unterform der kollektiven Intentionalität bezieht. Searle: Making the Social World (2010), S. 8 (dt.: S. 19) (Herv. selbst vorgenommen). Searle: Freiheit u. Neurobiologie (2004), S. 71. Ebd. S. 70. Es wäre eine gesonderte Untersuchung wert, inwieweit beispielsweise Georg H. Mead diese Annahme Searles vorwegnimmt (vgl. Mead: Geist, Identität u. Gesellschaft, S. 269ff. u. S. 273ff.).
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zu sein«, so bringt Searle es auf den Punkt, »[ist] noch weit entfernt von der Eigenschaft, ein institutionelles oder politisches Lebewesen zu sein«568 . Der Fokus Searles liegt jedoch nicht in der Begründung der differentia specifica selbst – wie es vielleicht zu erwarten gewesen wäre –, sondern er vollzieht eher eine noch tiefergehende Detailanalyse ihrer notwendigen Bedingungen und konzentriert sich dabei vorwiegend auf den Aspekt der Sprache: »The representations which are partly constitutive of institutional reality – the reality of government, private property, marriage as well as money, universities and cocktail parties – is essentially linguistic. The language does not describe; it creates, and partly constitutes what it describes.«569 Kurzum gilt nach Searle: entweder liegt erstens eine individuelle Intentionalität eines Beteiligten vor, zweitens eine schwache kollektive Intentionalität (Konstitution einer sozialen Tatsache), die mindestens zwei Beteiligte erfordert, oder drittens eine starke kollektive Intentionalität (Konstitution einer institutionellen Tatsache mittels Sprache), die implizit mindestens drei Menschen erfordert. Jede Intentionalitätsform mit mindestens zwei Tieren ist eine schwache, »bloße« kollektive Intentionalität. Gerade zu diesem letzten Fall ist anzumerken, dass die Bezeichnung »kollektive Intentionalität« für Interaktionen unter Tieren im Hintergrund der heutigen terminologischen Vielfalt einen merkwürdigen Anklang besitzt: Der Begriffsbestandteil »Kollektiv« ist nämlich zumindest in der Alltagssprache – wie auch in der evolutionären Verhaltensforschung nach Tomasello – eher für Menschen reserviert. Niemand sagt wohl: »Dort fliegt ein Vogel-Kollektiv« oder »Das Kollektiv der Wölfe hat das Kollektiv der Schafe gefressen«. In Bezug auf Tiere ist stattdessen etwa von Rudel, Herde oder Schwarm die Rede, wodurch im Falle der tierischen Intentionalität aus terminologischer Sicht beispielsweise die Umschreibung »schwache Intentionalität des Rudels« zutreffender ist. Wenn Searle schreibt »the central span on the bridge from physics [from the physical structure of the objects] to society is collective intentionality«570 , so muss dies in seinem Sinne wie folgt präzisiert werden: »the central span on the bridge from physics to society is strong humanly collective intentionality«. Zwar findet sich diese letzte Konsequenz der differentia specifica auch in Searles eigenen Schriften – bei ihm bezeichnet als: »the truly radical break with other forms of life«571 –, allerdings hat man jedoch letztlich den Eindruck, als ob Searle die Frage nach dem tatsächlichen Ausmaß der tierischen Intentionalitätsformen nicht von ihm selbst, sondern von »animal psychologists«, das heißt mittels empirischer Verhaltensforschung, beantwortet wissen möchte:
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Searle: Freiheit u. Neurobiologie (2004), S. 70. Searle: »What is language« (2012), S. 40. Searle: Construction Social Reality (1995), S. 41 (dt.: S. 50) (Herv. selbst vorgenommen). Vgl. (i) ebd. S. 40 (dt.: S. 49). (ii) Searle: Freiheit u. Neurobiologie (2004), S. 72f.
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
»An interesting theoretical question, by no means resolved by animal psychologists [Searle himself quoted here Frans de Waal, Joseph Call and Michael Tomasello], is, To what extent does collective intentionality exist in other species? But one thing is clear. It exists in the human species. It is only in virtue of collective recognition that this piece of paper is a twenty-dollar bill, that Barack Obama is president of the United States, that I am a citizen of the United States, that the Giants beat the Dodgers three to two in eleven innings, and that the car in the driveway is my property.«572 An dieser Stelle bietet sich also in vielerlei Hinsicht die Referenz auf andere Hauptautoren der Debatte an: Zum einen wird die kollektive Intentionalität als »vollentwickelste« Intentionalitätsform gewertet, aber sie erfährt unterschiedliche Binnendifferenzierungen in eine schwache und starke Variante. Zum anderen kann besonders anhand der Intentionalitätsform des tierischen Verhaltens der Unterschied der Positionen festgemacht werden. Diese zwei Aspekte werden nun im Einzelnen eingehender ausgeführt, wobei mit der Binnendifferenzierung der kollektiven Intentionalität begonnen wird. Wie in Kapitel 2.2 dargelegt, kann ein Lebewesen glauben, dass es Mitglied eines Kollektivs ist. Diese sei von der tatsächlichen kollektiven Intentionalität zu differenzieren, bei welcher alle real existierenden Beteiligten real gegen- oder wechselseitig aufeinander bezogen sind. Entscheidend scheint dabei jedoch nicht zu sein, dass prinzipiell zwischen der geglaubten und tatsächlichen Intentionalität unterschieden werden müsse, wie Searle, Meijers, Schmid und Tuomela darlegen, sondern, dass bei beiden Formen das Erlebnis identisch und die Erkenntnis der Täuschung erst im Nachhinein gegeben ist. Vereinfachend kann gesagt werden, dass bei diesen Autoren die Bezeichnung »kollektive Intentionalität« als Sammelbegriff für alle Intentionalitätsformen mit mehreren Beteiligten galt, weshalb man zwischen einer geglaubten und tatsächlichen individuellen Intentionalität einerseits und zwischen einer geglaubten und tatsächlichen kollektiven Intentionalität andererseits unterscheiden sollte. Beispielsweise kann ich in der Wüste in einiger Entfernung eine Wasserstelle entdecken und erst beim näheren Herankommen merken, dass ich einer optischen Täuschung erlegen bin. Oder zur Veranschaulichung einer geglaubten kollektiven Intentionalität: Anna glaubte mit ihren Freundinnen Berta und Clara am Samstag um 20 Uhr am Kino verabredet zu sein. Es stellt sich jedoch heraus, dass keiner wirklich die Absicht hatte, mit ihr in Kino zu gehen, sondern sich Berta und Clara gegen sie verschworen haben, sodass Anna nun völlig beabsichtigt einsam im Regen steht. Inwieweit das Aufdecken und Erkennen
572 Searle: Making the Social World (2010), S. 8 (dt.: S. 19f.). Wobei bemerkt werden muss, dass jene Tierpsychologen, welche Searle nennt, sich nicht selbst als solche bezeichnen, sondern sich viel eher zur Entwicklungsbiologie oder Verhaltensforschung rechnen.
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des Glaubens »das innerste Selbstverhältnis der betroffenen Person und die Struktur ihres Geistes«573 erschüttert, mag psychologisch festgehalten sein, ist bislang jedoch, wie Hans Bernhard Schmid im Jahr 2011 schildert, noch nicht ausgiebig philosophisch beschrieben worden574 . Hinsichtlich der terminologischen Verwendung der Debatte lässt sich sagen: bei den Intentionalitätsformen mit mehreren Beteiligten wurde entweder der Begriff der kollektiven Intentionalität als Sammelbegriff verwendet oder es wurde sich für verschiedene Bezeichnungen und Stufen ausgesprochen. Man denke an die Differenzierung der »shared« und »joint intention« oder an die intersubjektive und soziale Intentionalität. All diesen Überlegungen ist jedoch immanent, dass stets davon ausgegangen wird, dass die verschiedenen Intentionalitätsformen mit mehreren Beteiligten ungleich erlebt werden: je nach Bezugsrichtung, -akt oder -modus der Beteiligten aufeinander beziehungsweise je nach dem was aus dem Bezug hervorgeht. Nochmals im Detail: es macht einen Unterschied im Erleben, ob die Beteiligten ein –, gegen- oder wechselseitig; verstehend, kommunikativ, sozial oder sogar moralisch; im »I-« oder »We-mode« aufeinander bezogen sind und dabei eine Kollaboration oder Kultur beziehungsweise eine soziale oder institutionelle Tatsache konstituieren. Da einige Autoren auch hier die Bezeichnung »kollektive Intentionalität« als Sammelbegriff für alle Intentionalitätsformen mit mehreren Beteiligten oder als Binnendifferenzierung für spezifische Intentionalitätsformen unter Subjekten verwenden, ergibt sich: Tuomela, Searle und Tomasello unterscheiden Intentionalitätsformen, deren Erlebnisse ungleich ausfallen und subsummieren diese Intentionalitätsformen als kollektive Intentionalität: Für Tuomela ist der »I-« dezidiert vom »We-mode« abzugrenzen – inwieweit eine solche Trennung dieser beiden Modi in der Praxis aufgrund des potenziellen Wandel des Modus in einen anderen möglich ist, ist eine andere Frage. Beide Hauptvarianten des Modus umschreibt Tuomela jedoch auch als »not full blown« beziehungsweise »full blown collective intentionality«. Searle hingegen betrachtet zwar ebenso die »I-« und »We-intentions«, fokussiert seine Überlegungen jedoch wohl primär darauf, was aus den Intentionalitätsformen hervor geht: eine soziale oder eine institutionelle Tatsache – eine »bloße« oder eine ausdrückliche kollektive Intentionalität. Auch hierbei ist fraglich, ob die harte begriffliche Differenzierung in der Anwendung nicht eine weiche Bedeutung erfährt. Tomasello ist fraglos von Tuomela beeinflusst, hatte jedoch auch seinerseits zweifellos rückwirkenden Einfluss auf Tuomela und Searle. Tomasello plädiert entgegen Searle und Tuomela allerdings dafür, die Bezeichnung »collective intentionality« keineswegs allumfassend für alle Intentionalitätsformen mit mindestens zwei beteiligten Lebewesen oder mindestens zwei Subjekten zu verwenden, sondern diese Terminologie ausschließlich für 573 H.B. Schmid: Moralische Integrität (2011), S. 219. Vgl. ebd., S. 281. 574 Ebd. S. 221.
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
den Fall zu nutzen, wenn mindestens drei Subjekte eine Kultur konstituieren. Hierbei bestehen, Tomasello zufolge, allerdings ebenso verschiedene Erlebnisweisen aufgrund des Entwicklungsgrades der Moralfähigkeit (siehe Tabelle Nr. 15). Tabelle Nr. 15: Die Binnendifferenzierungen der kollektiven Intentionalität anhand der Erlebnisweise Erlebensweise
Charakterisierung
Das Erlebnis der beiden Formen ist gleich.
Geglaubte vs. tatsächliche Intentionalität (Searle, Meijers, Schmid, Tuomela) (wobei in der Debatte, da der Begriff »kollektive Intentionalität« bei Searle und Tuomela als Sammelbegriff für alle Intentionalitätsformen mit mindestens zwei Beteiligten dient, stets auf die geglaubte und tatsächliche kollektive Intentionalität referiert wird)
Das Erlebnis der beiden Formen der kollektiven Intentionalität ist ungleich.
Tuomela: - »I-mode« (»not full blown«) vs. »We-mode« (»full blown collective intentionality«) - wobei die kollektive Intentionalität hier als Sammelbegriff für alle Intentionalitätsformen mit mindestens zwei Beteiligten dient Searle: - Konstitution von sozialen Tatsachen (Tiere u. Menschen) vs. Konstitution von institutionellen Tatsachen (Menschen) - wobei die kollektive Intentionalität hier als Sammelbegriff für alle Intentionalitätsformen mit mindestens zwei Beteiligten dient Tomasello: - geringe Moralität vs. vollentwickelte Moralität - wobei die kollektive Intentionalität hier nicht als Sammelbegriff für alle Intentionalitätsformen mit mindestens zwei Beteiligten dient (da er bei einer kollektiven Intentionalität von mindestens drei »We-mode«-Subjekten ausgeht)
Ein Vergleich der Binnendifferenzierung der kollektiven Intentionalität nach Tuomela, Tomasello und Searle am Beispiel des tierischen Verhaltens Die Unterschiede der Positionen Searles, Tuomelas und Tomasellos treten besonders offenkundig zutage, wenn man ihre jeweilige Einschätzung des tierischen Verhaltens untersucht: Blickt man auf den Ansatz Tomasellos, so ist dort die Erklärung des Unterschieds zwischen den sozialen und institutionellen Fakten bei weitem nicht so ausgeprägt wie bei Searle. Dennoch sind sich beide darin einig, was ausschließlich dem Menschen zuzuschreiben sei, nämlich die Bildung institutioneller Tatsachen (Searle) beziehungsweise der Kultur (Tomasello) – auch wenn ihre Be-
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Formen kollektiver Intentionalität
zeichnung für dieses Phänomen voneinander abweicht: für Tomasello ist dies die kollektive Intentionalität, während Searle dies als engen Sinn der kollektiven Intentionalität fasst. Für die Konstitution einer institutionellen Tatsache, sei jedoch, folgt man Searle im gesamten Verlauf seiner Werke, nicht nur die Repräsentationsfähigkeit notwendig (das ist der Aufbau von Statusfunktionen »X counts as Y in C«), sondern auch eine »Wirbezüglichkeit«. Auch dieser Aspekt beweist eine inhaltliche, wenn auch nicht methodische Nähe zur Position Tomasellos: Was folgt, wenn sich die Beteiligten in welcher Grundhaltung befinden? Bereits in seinem ersten Aufsatz zur Debatte von 1990 findet sich, unter dem Einfluss der ersten Erläuterungen des »We-mode« nach Tuomela um 1984, bei Searle die Unterscheidung zwischen »individual-«/»I-intentions« einerseits und »collective-«/»we-intentions« andererseits.575 Unter die Bezeichnungen »individual-« oder »I-intentions« fasst Searle Absichten die unabhängig von jenen Verhaltensweisen des Anderen geschehen: »for each person, we may suppose that his or her intention is entirely independent of the intentions and behaviour of others. In this case there is no collective behaviour; there is just a sequence of individual acts that happen to converge on a common goal.«576 Im Umkehrschluss hieraus drängt sich die Annahme auf, dass für Searle ab 1990 – ganz im Sinne Tuomelas ab 1984 – ein »starkes Wir« wohl durch eine Abhängigkeit der Absichten der Beteiligten voneinander geprägt ist, das heißt hier, dass »we-intentions« vorliegen577 . Wird Searle auf diese Weise gelesen, dass »we-intentions« 575 Searle: »Coll. Intentions and Actions« (1990), S. 401ff. (dt.: S. 99ff.). 576 Ebd. S. 403 (dt.: S. 101) (Herv. selbst vorgenommen). 577 Daher schließt Wilby, dass Searle ebenfalls ein Vertreter der Position sei, dass das Besondere der kollektiven Intentionalität im Intentionalitätsmodus liege: »For Searle the collectivity aspect comes in with the mode of the propositional attitude«. Michael Wilby: »Subjekt, Mode and Content in ›We-Intentions‹«, in: Phenomenology and Mind (hg. v. Monticelli), Band 2, Band hg. v. Francesca Maria de Vecchi, 2012, S. 78–87, hier: S. 78. Im Folgenden als: Wilby: »Subjekt, Mode and Content in ›We-Intentions‹« (2012). Genauer muss man sagen, dass die Verwendung der Begriffe bei Searle und Tuomela voneinander abweicht: Angenommen es liegt der Fall vor, dass ich die Absicht habe, dass wir etwas machen – unabhängig davon, ob ich weiß, welche Absicht du verfolgst –, so liegt nach Searle eine »We-intention« als auch nach Tuomela ein »We-mode« vor. Doch angenommen es liegt folgender Fall vor: 1. Ich habe eine Absicht, dass wir etwas machen. 2. Du hast eine Absicht, dass wir etwas machen. 3. Wir wissen, dass die Absicht, die wir haben, dass wir etwas machen, ein und dieselbe ist: die Absicht, die du und ich haben, bezieht sich auf ein und dieselbe Weise auf ein und dasselbe, weshalb sie unsere Absicht ist. So bezeichnet Tuomela dies als »We-mode«, als »joint intention«. Searle verwendet hierfür jedoch die Bezeichnung »shared we-intention« (vgl. u.a. John Searle: »Reply to ›Problems with Searleʼs Account of Intrinsic Intentionality‹«, in: John R. Searle – Thinking about the Real World, hg. v. Dirk Franken, Attila Karakuş und Jan G. Michel, Ontos Verlag, Heusenstamm, 2010, S. 205–209, hier: S. 208). Daher kann man darauf schließen, dass Searle wiederum, wenn er vom einem »singular case« spricht (vgl. Searle:
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
für eine Gemeinschaft im engen Sinne benötigt werden, dann ergibt sich wiederum eine weitere Übereinstimmung mit der Position Tomasellos, da diese Annahme als Grundüberlegung zur Herausarbeitung der differentia specifica gewertet werden kann. Eine detaillierte Darstellung des »We-mode« tritt bei Searle erst in Making the Social World (2010) auf: Die starke, anspruchsvolle Form der kollektiven Intentionalität könne nicht auf die Ich-Intentionalität der Beteiligten reduziert werden.578 Es liegt bei dieser Intentionalitätsform nicht nur vor, dass Menschen bestimmte Einstellungen und wechselseitige Überzeugungen haben sowie sich als gleichberechtigte Kooperationspartner anerkennen579 , sondern, dass sie diese auch in einer spezifischen Weise – konkret: sprachlich mittels Statusfunktionen – ausdrücken und ausführen.580 Wobei im Unklaren bleibt, wie Searles Position der »we-intentions« sich im Detail zu jenem Verständnis des »We-mode« nach Tuomela oder Tomasello verhält. Zum einen verbinden beide Autoren den »We-mode« mit der Konstitution spezifischer Tatsachen: Für Searle geht mit den »We-intentions« zumindest implizit die Konstitution institutioneller Tatsachen einher, während Tomasello explizit den »We-mode« als Bedingung der Möglichkeit der Konstitution einer Kollaboration (»joint intentionality«) und einer Kultur (»collective intentionality«) zugrunde legt. Doch belegen zahlreiche Beispiele das Gegenteil. Man denke an eine Heirat, die nicht aus einem Wir-Gefühl, sondern ausschließlich aus monetären Motiven heraus erfolgt; an eine Adaption der Kultur zur Sicherung des eigenen Überlebens (Tomasello) oder die Steigerung des gesellschaftlichen Wohlstandes durch die Fokussierung auf den eigenen Wohlstand (Adam Smith). Eine institutionelle Tatsache
»Coll. Intentions and Actions« (1990), S. 412 (dt.: S. 114)), ausschließlich den »private I-mode« (Tuomela) beziehungsweise die »solitäre Handlung« (H.B. Schmid) im Auge hat und nicht das »group behaviour in the I-mode« (Tuomela) beziehungsweise die »singuläre Handlung« (H.B. Schmid) mitumfasst wird. Für diese Lesart spricht, dass auch Tuomela selbst meint, dass Searles »collective intentionality« undifferenziert sei, da er sowohl mit dem »we-mode« als auch mit dem »pro-group I-mode« erklärt werden könne (vgl. Tuomela: Social Ontology (2013), S. 85). Wobei zudem gesagt werden kann, dass die Abhängigkeit der Beteiligten im »We-mode« bei Searle, Tuomela und Tomasello unterschiedlich gedeutet werden: bei Searle und Tuomela richtet sich die Interdependenz darauf, dass unsere Handlungsabsicht nur dann erfüllt ist, wenn sie für uns alle erfüllt ist. Tomasello fokussiert hingegen, dass spezifische Intentionalitätsformen (die »joint« und »collective intentionality«) genetisch darauf zurückzuführen sind, dass die Absicht notwendigerweise nur mit Anderen – interdependent zueinander – realisiert werden könnte, wie etwa vor 150.000 Jahren die Aufgabe einen Hirsch zu erlegen. 578 Vgl. Searle: Making the Social World (2010), S. 60 (dt.: S. 104). 579 Wie im bereits erläuterten Zitat nach Searle: »capacity to recognize other people as importantly like us« (Searle: »Coll. Intentions and Actions« (1990), S. 413 (dt.: S. 116) (Herv. selbst vorgenommen)) deutlich ist. 580 Searle: Making the Social World (2010), S. 60 (dt.: S. 104f.).
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oder sogar eine Kultur kann also durchaus auch dann etabliert werden, wenn sich alle Beteiligten im »I-mode« befinden. Zum anderen kann zum Vergleich der Position Searles mit jener Tomasellos dazu herangezogen werden, ihre jeweilige Position dafür zu beleuchten, wer den »We-mode« erreichen kann oder – anders gewendet – gerade im »I-mode« verweilen muss: Bei Tomasello dient der »We-mode« ausdrücklich als differentia specifica. Dass beispielsweise zwei Vögel ein Nest bauen oder dass Schimpansen ein und dieselbe Beute jagen und dabei jeder seine Teilhandlung vollzieht – man denke etwa an das Sammeln und Zusammenfügen kleiner Äste für ein Nest oder das Einkreisen der Beute von verschiedenen Seiten –, wird auch von Tomasello nicht angezweifelt. Er beschreibt das Sozialleben der Menschenaffen sogar als »hochkomplex«581 , da es unter anderem langfristige Beziehungen umfasst. Tierisches Verhalten kann, zumindest im allerweitesten Sinne, als kooperativ bezeichnet werden, doch ist hierbei, folgt man Tomasellos Ansicht, charakteristisch, dass sich diese Verhaltensweisen bei Tieren stets durch ein Eigeninteresse auszeichnen – in Adaption der in der Debatte üblichen Terminologie: es ist ein »group behaviour in the I-mode« (Tuomela) beziehungsweise »just a sequence of individual acts that happen to converge on a common goal« (Searle). Daher kann das tierische Verhalten, so schlussfolgert der evolutionäre Verhaltensforscher, zwar als strategisch kooperativ582 , als sozial, aber eben nicht als ultrasozial, als kooperativ im engen Sinne bezeichnet werden: »If one paints with very broad strokes, it is possible to characterize much animal social behaviour as cooperative, as one might even say that herd animals cooperate by staying close together, thereby discouraging predators. But the human version of cooperation has unique characteristics, most clearly manifest in human cultural institutions form marriage to money to government, which exist because and only because of collective practices and beliefs of human groups. The cognitive bases for these special types of cooperative activity are the various skills and motivations for shared intentionality«.583 Tiere handeln zwar in der Gruppe, das ist mit mehreren Beteiligten, aber nicht für die Gruppe. Daher schreibt er ihnen nicht einmal eine geteilte (»joint«) Intentionalität – was wohl am ehesten der schwachen kollektiven Intentionalität nach Searle entspricht –, sondern lediglich eine individuelle Intentionalität zu.584 581 Vgl. Tomasello u. Vaish: »Entstehung menschl. Kooperation u. Moral« [2013], S. 183. 582 Vgl. Dorsch-Lexikon der Psychologie, hg. v. Markus Antonius Wirtz, 18. Auflage, Hogrefe Verlag, Bern, 2017 – hier: Stichwort »Kooperation« S. 946. 583 Tomasello: Human Communication (2008), S. 237f. (dt.: S. 254). 584 Gegen die Auffassung Searles, dass die kollektive Intentionalität auch Tieren gegeben sei, wendet sich auch Angelica Kaufmann, wie bereits der Titel ihres Aufsatzes »Collective Intentionality: A Human – not a Monkey – Business« verrät (erschienen in: Phenomenology and Mind – The online journal of the research centre in Phenomenology and sciences of
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
Tuomela wiederum befasst sich selbst zwar ausschließlich mit Menschen, dennoch kann seine »I-mode«-»We-mode«-Differenzierung auf die tierischen Beispiele angewendet werden. Hierbei ist die Wende Tomasellos gegen Tuomela deutlich erkennbar: Verfolgt man Tuomelas Ansatz nach dessen Kriterien, so müsste man sagen: es mag zwar richtig sein, dass Tiere stets im »I-mode« handeln, aber dennoch in der Gruppe agieren (»group behaviour«). Woraus wiederum geschlussfolgert werden kann: Tiere sind immerhin in ein und derselben Weise (jagend) auf ein und dasselbe Objekt (Beute) gerichtet. Bei Tieren besteht, so könnte man mit Tuomela, sagen, zwar keine kooperative, aber wenigstens eine gut koordinierte Zusammenarbeit, welche in seiner Terminologie als »shared intention« gefasst wird, die nicht einfach übersehen werden darf.585 Obwohl Searle selbst betont, dass er keineswegs an der Debatte der tierischen Kognition teilnimmt – eine Debatte, die er selbst als rein spekulativ bezeichnet – oder eine evolutionäre Erklärung der Sprache verfolgt586 , kann seine Position auf ähnliche Weise gelesen werden. Für Searle liegt der Fokus jedoch nicht auf den kognitiven Einschränkungen, welche daran hindern über die Eigeninteressen hinauszukommen, sondern auf den kognitiven Einschränkungen, welche daran hindern über die
the person, IUSS Press, Band 2, 2012, Schriftenreihe hg. v. Roberta de Monticelli, Band hg. v. Francesca Maria de Vecchi, S. 98–105). Ihre Argumentation beruft sich nicht auf die Ichbezüglichkeit, sondern auf die Reflexion des eigenen Bewusstseins von etwas. In aller Kürze: Tiere hätten zwar eine Intentionalität, aber kein Bewusstsein von diesem – das ist vereinfacht: kein Selbstbewusstsein. Sie hätten zwar einen Intentionalitätsgehalt, aber würden diesen nicht verstehen oder hinterfragen. Aus diesen Annahmen schließt Kaufmann, dass Tiere ihren Intentionalitätsgehalt auch nicht teilen könnten (vgl. ebd., S. 101). Dies ist jedoch ebenfalls keine neue Position, wie hier beispielhaft mittels einer Aussage von Max Scheler belegt werden kann: »Das Tier hat Bewußtsein, im Unterschied von der Pflanze, aber es hat kein Selbstbewusstsein, wie schon Leibniz gesehen hat.« (Scheler: Stellung d. Menschen im Kosmos [1928], S. 52). In der gegenwärtigen Forschung unterscheidet beispielsweise Philip Pettit zwischen bloß intentionalen und personalen Subjekten: Bloß intentionale Subjekte verfügen über Intentionalität und damit verbunden auch über ein gewisses Ausmaß an Rationalität – Pettit fasst hierunter Tiere –, während personale Subjekte – wie eben Menschen – darüber hinaus die Intentionalität als ihre eigene erfassen (vgl.: Pettit »Groups with Minds of their Own« (2003) (dt.: S. 612f.)). Hier ergibt sich jedoch die Frage: wie kann man die Position – auf welche Weise auch immer – begründen, dass Tiere als solche kein Selbstbewusstsein besitzen? Einen gewissen Spielraum scheint sich hier Pettit selbst einzuräumen: Die Terminologie »bloßes intentionales Subjekt«, welche bei ihm auch Tiere umfasst, beinhaltet eben den Begriff »Subjekt«, der – zwar nicht wie der Begriff »Person« eine Persönlichkeit – aber immerhin »ein Selbst« suggeriert. 585 Vgl. Searle: Construction Social Reality (1995), S. 38f. (dt.: S. 46). Auch die Argumentation des Entwicklungsbiologen Boesch geht 2005 in diese Richtung: Tiere koordinieren ihre Rollen zueinander, weshalb er von einer gemeinsamen Jagd ausgeht (vgl. Tomasello: Human Thinking (2014), S. 35 (dt.: S. 59)). 586 Vgl. Searle: »What is language« (2012), S. 19f.
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sozialen Tatsachen hinauszukommen. Oder anders gewendet: nur der Mensch kann aufgrund spezifischer Möglichkeiten, wie der Etablierung von Statusfunktionen, institutionelle Tatsachen schaffen. Während Tuomelas Argumentation wohl darauf hinaus läuft, dass zwischen einer Koordination (»I-mode«) und Kooperation (»Wemode«) unterschieden werden kann, wird bei Searle die kollektive Intentionalität als Sammelbegriff für jegliches tierisches und menschliches Verhalten – seien es soziale oder institutionelle Tatsachen – das Andere mit einbezieht als kooperatives Verhalten gewertet587 – was in Einklang steht mit Tomasellos Verwendung der Bezeichnung »sozial«. In Abgrenzung zum Begriff der Kooperation im Sinne Searle ist anzunehmen, dass er die Bezeichnung »Koordination« lediglich auf einen einzelnen Körper bezieht. An einem Beispiel: tanze ich allein, so ist dies eine Koordination der eigenen Gliedmaßen, tanze ich mit jemandem zusammen, so ist dies eine Kooperation.588 Der Begriff der Kooperation scheint bei Searle völlig differenzlos auf alle Handlungen mit mindestens zwei Beteiligten angewendet zu werden. Beispielsweise heißt es in »Collective Intentions and Actions« (1990) bei Searle, dass erstens auch Tiere kollektive Intentionalität haben589 sowie zweitens, dass man für eine kollektive Intentionalität den Anderen als kooperativen Partner verstehen müsse590 . Fügt man diese beiden Aussagen zusammen, so setzt sich nach Searle allerdings folgendes Bild zusammen: Ihm zufolge können auch Tiere den Anderen als kooperativen Partner ansehen. Da aber die Kooperation, wie dargelegt, bei Searle nichts anderes als eine Handlung mit mindestens zwei Beteiligten umfasst – »collective behaviour« ist »cooperative behaviour« –, heißt dies schlicht: Man erkennt den Anderen als Handlungspartner an. Eine erhebliche Präzisierung dieser Position findet sich um 2010 in Making the Social World, unter dem nachweislichen Einfluss der empirischen Verhaltensforschung beziehungsweise Entwicklungsan-
587 »Die kollektive Intentionalität ist ganz einfach das Phänomen, daß bestimmte Formen der Intentionalität im Rahmen der Kooperation unter Menschen oder Tieren geteilt werden.« Searle: Freiheit u. Neurobiologie (2004), S. 69. 588 Searles begriffliche Verwendung – des Begriffs »Koordination« für einen einzelnen Beteiligten und des Begriffs »Kooperation« bei zwei Beteiligten – entspricht jenem Verständnis in der Kognitionswissenschaften, während in der Psychologie die Koordination ebenfalls für die Ausgangssituation mit mehreren Menschen verwendet wird, welche nicht »tiefgreifend« miteinander verbunden sind. Vgl. u.a. (i) Wörterbuch der Kognitionswissenschaft, hg. v. Gerhard Strube, Barbara Becker, Christian Freska und weiteren, Klett-Cotta Verlag, Stuttgart, 1996. – dort die Stichwörter »Kooperation« und »Koordination«, S. 335–336. (ii) Dorsch-Lexikon der Psychologie, hg. v. Markus Antonius Wirtz, 18. Auflage, Hogrefe Verlag, Bern, 2017. – Stichwort »Koordination«, S. 947. Oder wie bei Tuomela zumindest innerhalb der Kooperation mit mehreren Beteiligten eine Binnendifferenzierung (»contingently« oder »intrinsically cooperative«) vorgenommen wird. 589 Vgl. Searle: »Coll. Intentions and Actions« (1990), S. 402 (dt.: S. 101). 590 Vgl. ebd., S. 413 (dt.: S. 116.)
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
thropologie auf Searles Überlegungen591 : Für ein tiefes Verständnis des kollektiven Verhaltens oder der Kooperation sei eine individuelle Intentionalität der Beteiligten sowie ihr gemeinsames Hintergrundwissen nicht ausreichend: »When I [Searle] talk about this form of collective intentionality [the strong sense of collective intentionality], I am talking about the capacity of humans and other animals to actually cooperate in their activities. Cooperation implies the existence of common knowledge or common belief [e.g. that this animal is a good spoil], but the common knowledge or belief, together with individual intentions to achieve a common goal is not be itself sufficient for cooperation.«592 Der Begriff »Kooperation« wird nun, viel eher im Sinne Tomasellos, enger gefasst und von den »individual intentions« abgekoppelt. Hierbei hinterfragt Searle die Bedingungen der Möglichkeit der Kooperation: Tiere mögen ein »common knowledge« im weiten Sinne haben, denn ihnen ist etwa bekannt, dass alle Beutefänger »individual intentions« anstreben, dass heißt die Beute je für sich erlangen wollen. Während bei Tomasello deutlich hervorhoben wird, dass Tiere keinen »Wemode« einnehmen können – den Anderen demnach nicht als Handlungspartner im
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Beispielsweise schließt sich Searle Autoren wie Tomasello, Rakoczy und Schlicht an, dass bereits Kleinkinder um das zweite Lebensjahr herum mittels der Einbildungskraft Statusfunktionen schaffen können, welche zur Schaffung und Aufrechterhaltung institutioneller Tatsachen notwendig ist. Bei Kindern zeigt sich dies vor allem in Spielsituationen folgender Art: »Iʼll be Adam, you be Eve, and weʼll let this block be the apple.« (Searle: Making the Social World (2010), S. 121 (dt.: S. 205)); der Stock wird zum Steckenpferd (vgl. Tomasello: Human Thinking (2014), S. 64 (dt.: S. 101)); die Banane zum Telefon (vgl. Schlicht: »Stufenmodell d. Intentionalität« (2008), S. 81); die Papierschachtel zum Raumschiff, zum Rennauto oder Ähnlichem. Die Beschreibungen der »als-ob«-Situation, der Statusfunktion, fallen bei den genannten Autoren ähnlich aus. Die Differenz besteht zum einen darin, wer über diese Fähigkeit verfügt: nur der Mensch (Tomasello u. Searle) oder implizit und allgemein gesprochen alle intentionalen Wesen (Schlicht). Zum anderen gehen die Meinung darin auseinander, wie feingliedrig die frühkindliche Entwicklung untersucht werden soll und demzufolge welche Relevanz der Entwicklungsschritt der »als-ob-Spiele« in der frühkindlichen Entwicklung einnimmt: Bei Schlicht werden die »als-ob-Spiele« mittels Einbildungskraft dezidiert als dritte Genealogiestufe der Intentionalität aufgeführt (vgl. Schlicht: »Stufenmodell d. Intentionalität« (2008), S. 80ff.), während sie bei Tomasello mit einer Vielzahl weiterer kognitiver Fähigkeiten als Stufenmarkierung hin zur schwachen kollektiven Intentionalität gelten. Wobei Tomasello hervorhebt, dass es ein relevanter kognitiver Unterschied sei, ob man ein sozial definiertes Produkt anerkennt, weil man es selbst für seinen eigenen Kontext geschaffen hat oder ob man es anerkennt, weil es von einer gesamten Kulturgruppe etabliert wurde (vgl. Tomasello u. Rakoczy: »What Makes Human Cognition Unique?« (2003), S. 133 – dortige Fußnote Nr. 5 (dt.: S. 716 – dort: Fußnote Nr. 17)). 592 Searle: Making the Social World (2010), S. 49 (dt.: S. 87) (Herv. teils übernommen, teils selbst vorgenommen).
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engen Sinne, das ist als gleichberechtigt anerkennen könnten –, findet sich bei Searle keine explizite Aussage dazu, ob Tieren die Möglichkeit gegeben sei prinzipiell über die »individual intentions« hinauszukommen. Dennoch lassen Searles Ausführungen der von ihm aufgestellten Kriterien einer kollektiven Intentionalität im engen Sinne – konkret nennt er als Kriterien: die Repräsentation mittels Sprache, die Statusfunktionen und die Wirbezüglichkeit – deutlich den Schluss zu, dass er, ebenso wie Tomasello, Tiere bei dieser spezifischen Intentionalitätsform ausschließt. Beide Denker vertreten, dass sich der Mensch in gravierender Weise vom Tier unterscheide: »die bloße kollektive Intentionalität [...] [wie sie auch bei Tieren vorliegen kann, ist] noch weit entfernt [von institutionellen Tatsachen wie beispielsweise] vom Geld«593 . Es sei, so wiederum Tomasello, »a huge difference in human evolution«594 ersichtlich, welche sich im »We-mode« manifestiere. Bemerkenswerterweise legen beide jedoch auch auf ihre Weise dar, dass hieraus keine Sonderstellung des Menschen abzuleiten wäre: Tomasello betont, aus seinem onto- und phylogenetischen Blickwinkel heraus, dass es sich beim Übergang der »individual« zur »collective intentionality« lediglich um »a small psychological difference«595 handle. Einerseits beschreibt Tomasello damit den »We-mode« nur als kleinen Unterschied, andererseits entfaltet dieser Unterschied als differentia specifica allerdings eine große Wirkung, was Tomasello zufolge erstmals bei jenem Phänomen auftritt, das er als »joint intentionality« bezeichnet. Searle wiederum hebt zwar die typisch menschlichen Fähigkeiten hervor, betont jedoch auch: »I am emphatically not arguing for the superiority of our species.«596 Man kann es auch kurz sagen: nach einer langen Argumentationskette führen der sprachanalytische, kausal geprägte Ansatz Searles und der empirisch vorgehende Ansatz Tomasellos – welche beide auf graduellen Elementen basieren – zu einer Untermauerung der eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten bei Tieren. Doch entweder benötigt man diese langwierigen Ausführungen nicht, weil man sich einer generellen Aussage über die tierische Intentionalität enthält – wie es in der Phänomenologie der Fall ist – oder diese langwierigen Argumentationen bestätigen lediglich das naive Alltagsverständnis, dass Tiere keine Regierung im tatsächlichen 593 Searle: Freiheit u. Neurobiologie (2004), S. 70. Wird den Tieren auch die Konstitution sozialer Fakten zugesprochen, wie die Arbeitsaufteilung in einem Bienenvolk – was bei Searle einer bloßen kollektiven Intentionalität entspricht –, so ergibt sich, dass wir eben gerade nicht »einen starken Begriff des Teilens kognitiver und praktischer Einstellungen brauchen, um zu verstehen, was es bedeutet, dass es soziale Fakten gibt«. H.B. Schmid: »Auf einander zählen« (2011), S. 589. (Herv. selbst vorgenommen). Vielmehr wird dann ein starker Begriff des Teilens für ein Verständnis der institutionellen Tatsachen benötigt. 594 Tomasello u. Carpenter: »Shared intentionality« (2007), S. 124. 595 Ebd. 596 Searle: »What is language« (2012), S. 20.
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
Sinne bilden und damit Begriffe wie »Bienenstaat« ausschließlich metaphorisch verwendet werden sollten. Die Überlegungen Tuomelas, Searles und Tomasellos können jedoch mindestens exemplarisch herangeführt werden, um die Auffassungsdifferenzen der Debatte kenntlich zu machen. Der Vergleich ihrer Positionen eignet sich hervorragend um darzulegen, wie die Ansichten innerhalb einer Strömung beziehungsweise verschiedener Strömungen voneinander abweichen können, obwohl sie mit ein und denselben Begriffen (hier: die »I-mode«-»We-mode«-Differenzierung und »kollektive Intentionalität«) ein und dasselbe Phänomen (hier: das tierische Verhalten) beschreiben: Tiere handeln stets im »I-mode«, das heißt sie verfügen nicht einmal über »joint intentionality« und sind auf die »individual intentionality« beschränkt (Tomasello). Tiere verfügen über ein »group behaviour«, das durch strategische Zusammenarbeit gekennzeichnet ist, weshalb gesagt werden kann, dass sie wenigstens eine »not full blown collective intentionality« besitzen (Tuomela). Tiere können soziale Tatsachen konstituieren, das heißt sie verfügen lediglich über eine »bloße kollektive Intentionalität« beziehungsweise »prelinguistic intentionality«597 (Searle). Dies ist mit der Position Tomasellos durchaus vereinbar, da der evolutionäre Verhaltensforscher einerseits durchaus feststellt, »how incredibly similar chimpanzees were to humans – [e.g.] in their basic emotions, their playful social interactions, their clever use of tools«598 – auch wenn eine soziale Interaktion vielleicht noch mit einer sozialen Tatsache gekoppelt sein muss. Andererseits ist für ihn klar, dass Tiere miteinander kommunizieren, wie etwa mittels imperativer Zeigegeste, aber nur der Mensch über eine Sprache verfüge. Sowohl Searle als auch Tomasello gehen hierbei, zumindest bezüglich dieses einen einzelnen Aspekt ganz im Sinne der Phänomenologie, nicht von einem Primat der Sprache aus599 . Searle geht allerdings 2012 gravierend und vollkommen unmissverständlich über jene, man könnte sagen übliche Auffassung der tierischen Fähigkeiten hinaus, in dem er behauptet, Tiere seien nicht nur instinkthaft vorbestimmt, sondern hätten – was auch immer dies im Detail heißen mag – einen freien Willen:
597 »animals have beliefs, desires, intentions, and at least some form of memory, enough to enable them to recognize familiar objects and situations. These [are] prelinguistic forms of intentionality«. Ebd., S. 21. 598 Tomasello: »Great Apes and Human Development: A Personal History« (2018), S. 189. 599 Um dies ins Gedächtnis zu rufen, seien nochmals nur einzelne, signifikante Passagen angeführt: Searle geht von einem »primacy of consciousness« aus (Searle: Mind, Language and Society (1998), S. 98 (dt.: S. 120)), während es bei Tomasello heißt: »language is the capstone of uniquely human cognition and thinking, not its foundation« (Tomasello: Human Thinking (2014), S. 127 (dt.: S. 190)).
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»We imagine a race of beasts capable of consciousness and prelinguistic intentionality. And […] they are endowed with a capacity for free action and collective intentionality. They can cooperate and they have free will.«600 Doch ausgenommen der Frage um den freien Willen können die drei Positionen Tomasellos, Tuomelas und Searles wie folgt prägnant zusammengefasst werden: Tiere können mit Anderen (Tuomela), aber nicht für Andere agieren (Tomasello) beziehungsweise nicht mit Anderen und für Andere institutionelle Tatsachen schaffen (Searle). Die Besonderheit des Ansatzes nach Tomasello und Searle ist, dass für beide die differentia specifica in einer spezifischen Intentionalitätsform liegt, welche sich durch den »We-mode« und der Konstitution einer Kultur (Tomasello) beziehungsweise durch die »We-intentions« und der Konstitution institutioneller Tatsachen (Searle) auszeichnet. Gerade in Hinblick auf die zentrale Behauptung der differentia specifica ist jedoch auffällig, dass sie sich nicht dazu äußern, wie man diese »minderwertigen« Lebewesen behandeln kann oder soll. Dies ist vor allem in Bezug auf Tomasello erstaunlich, da er nicht wie Searle die Frage schlussendlich an eine andere Disziplin abwenden kann – wie Searle, der auf die »animal psychologists« verweist601 . Einerseits befasst sich Tomasello nicht nur am Rande, sondern dezidiert mit Tieren, weshalb ein – wenn auch nur persönliches anstatt fundiert wissenschaftliches – Statement hierzu gerade gefordert ist. Andererseits findet sich der Sache nach eben jene These Searles und Tomasellos – nur der Mensch könne mittels Sprache Ideen ausdrücken und sei damit zu Symbolen fähig – bereits um 1934 bei Georg H. Mead602 . Doch während sich beide gegenwärtigen Denker einer Wertung enthalten, wie mit Wesen umgegangen werden darf, die im »I-mode« (Tomasello) beziehungsweise auf der, so charakterisierten, vorsprachlichen Stufe der sozialen Tatsachen (Searle) verweilen, nimmt Mead eine klare Position ein, die drastischer kaum formuliert werden könnte: »Wir schreiben den Tieren gern Persönlichkeit zu, doch gebührt sie ihnen nicht, und letztlich erkennen wir auch, daß sie keine Rechte haben. Es steht uns jederzeit frei, ihr Leben zu beenden.«603 Der Unterschied zwischen den Positionen in der Debatte um die Intentionalitätsformen ist demnach nicht der Inhalt der Kernthese bezüglich der menschlichen Intentionalitätsformen – der Mensch ist ein symbolisches Wesen, ein »We-mode«Wesen –, sondern wie sie zu dieser Annahme gelangen und welche Schlussfolgerungen sie hieraus ziehen. 600 601 602 603
Searle: »What is language« (2012), S. 42 (Herv. selbst vorgenommen). Vgl.: Searle: Making the Social World, S. 8 (dt.: S. 19f.). Vgl. Mead: Geist, Identität u. Gesellschaft [1934], S. 90ff. Ebd., S. 226.
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
Zum Überblick der Positionen und ihrer historischen Reihenfolge kann Folgendes festgehalten werden: Die »I-mode«-»We-mode«-Differenzierung des Sprachanalytikers Tuomela prägt die Auffassung des evolutionären Verhaltensforscher Tomasello, welcher wiederum rückwirkend Einfluss auf die späteren sprachanalytischen Werke Tuomelas und Searles hatte. Tuomela, Tomasello und in zunehmendem Maße auch Searle nehmen an, dass zwischen einer Ichbezüglichkeit (»Imode«; »individual intentions«) und einer Wirbezüglichkeit (»We-mode«; »we-intentions«) unterschieden werden müsse. Nach Tuomela sollten die Formen der kollektiven Intentionalität mittels »I-« und »We-mode« voneinander differenziert werden. Searle und Tomasello gehen in zweierlei Hinsicht über diese Grundlegung Tuomelas hinaus: Erstens vertreten beide in ihren Ansätzen jeweils eine differentia specifica zwischen Tier und Mensch, während sich Tuomela dessen enthält. Zweitens gehen Searle und Tomasello nicht nur vom »We-mode« aus, sondern legen weitere Faktoren zugrunde, wie die Repräsentation- oder Moralfähigkeit, welche für die Konstitution institutioneller Tatsachen beziehungsweise einer Kultur ausschlaggebend seien. Nach Tomasello gilt auf einen Satz gebracht: Eine Zusammenarbeit mindestens dreier wirbezüglicher, moralischer Menschen kann als kollektive Intentionalität gelten, da dabei eine Kultur konstituiert wird. Während nach Searle zufolge gesagt werden müsste: Eine Zusammenarbeit mit mindestens zwei wirbezüglichen, repräsentationsfähigen Menschen kann als kollektive Intentionalität im engen Sinne gelten, da nur dann tatsächlich in kooperativer Weise eine institutionelle Tatsache entsteht. Hinsichtlich Searles Konzeption liegen in der Rezeption zwei Missverständnisse vor: Erstens wird angenommen, dass Searle nicht zwischen einer geglaubten und tatsächlichen kollektiven Intentionalität unterscheide. Dies ist jedoch, dahingehend ein Missverständnis, da bereits Searle die Möglichkeit einer »purported reference [eines angeblichen Bezuges] to other members of a collective«604 einräumt, auch wenn er diese selbst nicht detaillierter ausführt (siehe Kapitel 2.2). Zweitens ist in der Rezeption die Annahme gängig, dass Searle die kollektive Intentionalität als Sammelbegriff für alle Intentionalitätsformen mit mindestens zwei Beteiligten anwendet. Dies ist zwar faktisch zutreffend, allerdings kann dabei leicht übersehen werden, dass er ebenfalls eine Binnendifferenzierung in eine schwache und starke Form vertritt (wie schematisch in Tabelle Nr. 16 dargelegt).
604 Searle: »Coll. Intentions and Actions« (1990), S. 407 (Herv. selbst vorgenommen).
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Formen kollektiver Intentionalität
Tabelle Nr. 16: Searles Binnendifferenzierung der kollektiven Intentionalität Intentionalitätsform
Synonyme Bezeichnungen
Charakterisierung
»individual-«/ »I-intentions«
»shared attitudes, shared desires, shared beliefs« = »bloße kollektive Intentionalität« = »prelinguistic intentionality«
Konstitution sozialer Tatsachen - Tieren und Menschen möglich
»collective-«/ »We-intentions«
starke kollektive Intentionalität = »linguistic intentionality« unter anderem Deklarationen: indem etwas gesagt wird, wird es konstituiert, z.B. Krieg, Ehe
Konstitution institutioneller Tatsachen - nur dem Menschen möglich
Tomasello macht hingegen vollkommen deutlich, dass er zum einen dem Tier nur eine individuelle Intentionalität zuschreibt und zum anderen bereits bei der »joint intentionality«, dem »common ground« einen »We-mode« zugrunde legt. Das heißt letztlich: die differentia specifica verortet Tomasello nicht wie Searle bei der Konstitution der institutionellen Tatsache, sondern bereits auf der Vorstufe zu dieser. Auch wird bei Tomasello nicht die kollektive Intentionalität danach unterschieden, ob eine soziale oder eine institutionelle Tatsache folgt, sondern in welchem Ausmaß eine Moralfähigkeit vorliegt, welche er anhand von ontogenetischen Entwicklungsstufen festmacht. Systematisch sticht Tomasello durch folgende Annahmen aus der Debatte heraus: erstens spricht er sich dezidiert dafür aus, dass sich nur Menschen im »Wemode« befinden und daher nur Menschen spezifische Intentionalitätsformen erleben können. Diese Annahme findet sich zwar auch, wie dargelegt wurde, bei Searle. Allerdings arbeitet Searle diese These nicht ausdrücklich aus und meint, dass die argumentative Untermauerung und die Untersuchung ihrer Konsequenzen nicht als Aufgabe der Philosophie, sondern der »animal psychologists« gewertet werden müsse. Zweitens zeigt sich Tomasellos Sondersituation der Debatte in der Extension seiner Verwendung des Begriffs »Kollektiv«. Der evolutionäre Verhaltensforscher geht davon aus, dass für eine kollektive Intentionalität mindestens drei »Wemode«-Subjekte notwendig seien und grenzt sich damit von der Position ab, dass mindestens zwei beteiligte Lebewesen oder zwei »We-mode«-Subjekte ausreichend wären, wie – wenigstens implizit aus ihren Beispielen heraus angenommen werden kann – unter anderem bei Searle, Tuomela und de Vecchi vertreten wird. Drittens differenziert Tomasello die Formen der kollektiven Intentionalität anhand des Ausmaßes der Moralität, wie besonders in A Natural History of Human Morality (2016) deutlich wird: In der Ontogenese könne eine »less reasonable« und eine »reasonable and responsible collective intentionality« voneinander unterschieden werden.
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
Die Moralität kann allerdings bei Tomasello aus zwei Blickwinkeln betrachtet werden: Zum einen kann sie als Bedingung der Möglichkeit einer spezifischen kollektiven Intentionalität aufgefasst werden: Wenn man Moralität besitzt, besitzt man, so Tomasello, eine kollektive Intentionalität in engen Sinne, nämlich eine moralische kollektive Intentionalität. Gleichzeitig ergibt sich, dass die Moralität sich selbst erst mittels der kollektiven Intentionalität entwickelt, dass heißt in der Interaktion mit vielen anderen Subjekten. Die Moralität kann daher im Ansatz Tomasellos je nach Lesart als Folge der kollektiven Intentionalität oder als die Bedingung der Möglichkeit einer spezifischen Form der kollektiven Intentionalität aufgefasst werden. Es lässt sich feststellen, dass in Tomasellos Konzeption der Intentionalitätsformen mehrere Differenzierungsebenen auffindbar sind. Er unterscheidet die Intentionalitätsformen grundlegend danach, ob ein »I-« oder »We-mode« bei den Beteiligten vorliegt, wobei innerhalb des »We-mode« je nach Anzahl der Beteiligten nochmals präzisiert wird, ob die Konstitution einer Kollaboration (»joint«) oder einer Kultur (»collective intentionality«) besteht. Innerhalb der zweiten Form ist nochmals kennzeichnend, in welchem Ausmaß an Moralität die Subjekte agieren. Tabelle Nr. 17 soll dies in aller Kürze reduziert auf ein Paar Stichworte wiedergeben.
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Tabelle Nr. 17: Tomasellos Binnendifferenzierung des »We-mode« und der kollektiven Intentionalität »I-mode« (wie ist der Bezug?) = »individual intentionality« - liegt bei Tieren vor - liegt beim Menschen vor, wenn dieser entweder auf ein Objekt gerichtet ist oder auf ein Subjekt gerichtet ist, das allerdings als Objekt behandelt wird
»We-mode« als differentia specifica zwischen dem Tier und dem Menschen (wie wird etwas konstituiert?)
»joint intentionality« - in der Phylogenese: vor circa 400.000 Jahren - in der Ontogenese: ab circa neun Monaten Zwei Menschen: »Ich-Du-Beziehung«, Konstitution einer Kollaboration (was wird konstituiert?)
»collective intentionality« - in der Phylogenese: vor circa 150.000 Jahren Mindestens drei Menschen für die Konstitution einer Kultur »less reasonable and responsible« In der Ontogenese: ab circa drei Jahren
»reasonable and responsible« In der Ontogenese: ab circa sechs Jahren Entspricht der »full blown collective intentionality« nach Tuomela
Sieht man demnach von den zugrunde gelegten Vorgehensweisen (sprachanalytisch oder evolutionär, empirisch) einerseits, von der Verknüpfung mit der Moralität nach Tomasello andererseits sowie zudem von der verwendeten Terminologie ab, so zeigt sich: Searle und Tomasello vertreten ein und dieselbe Grund-
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
these: Tiere agieren mit Anderen und können soziale Tatsachen, wie Hierarchien, etablieren und verfolgen (individuelle Intentionalität (Tomasello); bloße kollektive Intentionalität (Searle)). Doch Menschen – und nur Menschen – können sich im »We-mode« befinden, über die physikalische Eigenschaft der Objekte hinausgehen, institutionelle Tatsachen beziehungsweise je nach Anzahl der Beteiligten eine Kollaboration oder Kultur erschaffen und aufrechterhalten (»joint« beziehungsweise »collective intentionality« (Tomasello); kollektive Intentionalität im engen Sinne (Searle)). Doch um noch einmal den gesamten Bogen dieser Arbeit zu vollziehen, muss betont werden: Sowohl die Modusdifferenzierung – die Unterscheidung eines »für mich« und »für uns«, die Unterscheidung des verstehenden und kommunikativen Aktes – sowie die Bestimmung wer diesen Modus eingehen kann, ist in der frühen Phänomenologie angedeutet, wie mit Husserl belegt. Aber auch bereits bei ihm findet sich, wie nun gesagt werden muss, jene Konsequenz, wie sie bei Tomasello mit Referenz auf die Moralfähigkeit gezogen wird: Nur Menschen, so heißt es bei Husserl wörtlich um das Jahr 1930 herum, können ein »Universum von Realien mit ontischer [und nicht nur ontologischer, das heißt physikalischer] Struktur«605 konstituieren. Nur »den reifen ›vernünftigen‹ Menschen« ist ein bestimmter »Stil der Erfahrungswelt«, das ist die Konstitution einer gemeinsamen Welt möglich.606 Eine der Grundthesen Tomasellos ist wohl intuitiv einleuchtend und zutreffend: Es gibt etwas, das den Menschen vom Tier trennt und dieses etwas ist zum einen die Konstitution und Aufrechterhaltung einer Kultur, der institutionellen Fakten sowie zum anderen die Moralfähigkeit. Allerdings ist eben diese These, wie exemplarisch mit Husserl gezeigt werden kann, nicht gerade neu. Tomasello sticht dadurch von den gesamten vorherigen Denkern hervor, indem er explizit darauf verweist, dass diese spezifische Art der Konstitution im »We-mode« begründet liegt, dem wirbezüglichen Denken, Handeln und Fühlen, welches in der bisherigen Evolution nur beim Menschen stattfand. Gerade indem er aus der menschlichen Perspektive heraus das tierische Verhalten interpretiert, stellt er eine differentia-specifica-These auf. Doch auch gerade, weil er an die menschliche Perspektive gebunden ist, ist fraglich wie Tomasello beweisen kann, dass sich das Tier auch tatsäch605 Vgl. Husserl: Text Nr. 11: »Apodiktische Struktur« (1930 oder 1931) (Hua. XV), S. 160 – dort Fußnote Nr. 1. 606 Vgl. Husserl: Text Nr. 10: »Die Welt der Normalen« (1931) (Hua. XV), S. 140. Bemerkenswerterweise setzt Husserl selbst die Charakterisierung als vernünftig in Anführungszeichen, womöglich weil er damit die Gradualität – und damit einhergehend die Problematik – dieser Charakterisierung kenntlich machen wollte. In den Werken Tomasellos hingegen hat der Leser den Eindruck als wäre das Kriterium der Moralität, welches als Binnendifferenzierung der kollektiven Intentionalität dient, unproblematisch, obwohl durchaus die Frage gestellt werden kann, welche Intentionalitätsform nach Tomasello Personen besitzen, die wissen, dass sie unmoralisch agieren.
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lich so egoistisch im »I-mode« verhält, wie von ihm unterstellt. Die Zuschreibung in welchem Modus sich der Andere befindet, ist nämlich bereits bei Menschen aus zwei Gründen heraus kritisch: Einerseits ist der Modus im Zeitverlauf wandelbar, weshalb eine Einschätzung – wenn sie denn möglich ist – einer Momentaufnahme gleicht. Andererseits ist prinzipiell kaum feststellbar, ob sich der Andere im »We-mode« oder demgegenüber in einem ausgeklügelten »I-mode« befindet (siehe Kapitel 3.2). Die Grundlage der Überlegung Tomasellos zur Unterscheidung der Intentionalitätsformen ist demnach, wie bei allen vorherigen Konzeptionen, graduell. Gegenüber den bisherigen Positionen fällt Tomasellos Ansatz jedoch durch seine besondere Radikalität auf: Während bei Husserl lediglich anklingt, dass bestimmte Personengruppen, wie etwa Bewusstlose oder von ihm so betitelte »Verrückte«, keine gemeinsame Welt konstituieren können, wird dies bei Tomasello mit empirischen Studien zu Autisten unterlegt. Zudem ist die Einschätzung der tierischen Intentionalität für Tomasello zentral und führt zur Annahme einer differentia specifica, während Searle zwar auch zu diesem Schluss kommt, diese entscheidende Konsequenz seinerseits jedoch kaum explizit thematisiert. Phänomenologen wie Husserl betonen demgegenüber, dass eine Interpretation des tierischen Verhaltens von vornherein fehlgeleitet ist, da man lediglich die menschliche Perspektive beschreiben könne. So oder so kann aber gesagt werden, dass in der Forschung in den allermeisten Fällen entweder tierisches Verhalten (unter anderem als individuelle Intentionalität oder bloße kollektive Intentionalität) auf der einen Seite oder menschliches Verhalten (wie etwa als intersubjektive, soziale oder kollektive Intentionalität) auf der anderen Seite betrachtet wird. Doch kaum einmal findet sich die Überlegung, wie eine Interaktion zwischen dem Tier und dem Menschen, man denke beispielsweise an »a man going for a walk with his dog«607 , bezeichnet werden solle. Man kann zwar, aus phänomenologischer Sicht heraus, nicht das Verhalten unter Tieren adäquat beschreiben, aber es ist aus der »what-it-is-like«-Perspektive durchaus möglich anzugeben, was man selbst in Bezug auf das Tier erlebt oder wie das Tier auf einen selbst einwirkt. In Bezug auf das Tier wird man sich etwa, so heißt es bei Stein, der Grenzen der Einfühlung bewusst, da eine Einfühlung in das Tier nur bedingt möglich ist608 . Man erfahre, wie Husserl darlegt, das Tier eben nicht als »meinesgleichen und ›unseresgleichen‹«609 , sodass 607 Searle: »Coll. Intentions and Actions« (1990), S. 402 (dt.: S. 101). Der gegenwärtige französische Soziologe Bruno Latour, nimmt – ohne selbst auf Searle zu verweisen – diese Ansicht Searles, dass auch Tiere ein Kollektiv bilden können, ernst. Darüber hinaus vertritt Latour sogar, »daß es immer Kollektive sind, die denken, und diese Kollektive, so Latour, umfassen auch leblose Dinge und Technologie«, da auch diese gewissermaßen agieren und ein Netzwerk bilden. Latour: Cogitamus (2016), hier: Klappentext (Herv. selbst vorgenommen). 608 Vgl. Stein: Zum Problem d. Einfühlung [1917], Teil III, § 5b, S. 66. 609 Vgl. Husserl: Text Nr. 11: »Apodiktische Struktur« (1930 oder 1931) (Hua. XV), S. 169.
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
wohl zwischen dem Tier und dem Menschen ein gegen- anstatt wechselseitiger Bezug, ein kommunikativer anstatt sozialer Bezug vorliegt. Husserl, Searle und Tomasello würden daher alle sagen: Sicherlich kann eine Mensch-Tier-Interaktion mit »Wir« beschrieben werden, wie dies Margaret Gilbert und Ulrich Baltzer vorsehen610 . Allerdings sollte man sich dabei stets vor Augen führen, dass es sich um eine metaphorische, lediglich alltägliche, aber nicht wissenschaftliche Verwendung des Begriffs »Wir« handelt, da das Tier dabei so behandelt wird als ob es ein Subjekt wäre. Nur der Mensch kann mit anderen Menschen eine gemeinsame Welt (Husserl), eine institutionelle Welt (Searle) beziehungsweise eine kulturelle Welt (Tomasello) konstituieren. Allerdings tritt der Unterschied zwischen dem Tier und dem Menschen als harte Unterscheidung im Sinne der differentia specifica auf oder es wird vielmehr beschrieben, dass das Tier dennoch – wenn auch auf seine Weise – immerhin die Welt mitkonstituieren könne, indem es uns verschiedene Zugänge zur Welt zeigt, wie Husserl um 1930 schildert: »[W]enn die Tiere verstanden sind als sich auf die Welt beziehend, dieselbe, die die unsere ist, sie auch gelegentlich als Welt mitkonstituierend fungieren können. Wenn der Hund als ein Wild witternd verstanden wird, so belehrt er uns gleichsam von dem, was wir noch nicht wussten. Er erweitert unsere Erfahrungswelt. Der Hund, ein Tier, hat in sich, originaliter und vermittelt, seine einstimmige Erfahrungswelt. Es als das verstehen, heisst das nicht, eine Synthesis herstellen zwischen dieser und meiner bzw. unserer menschlicher Erfahrung?«611 Diese Mitkonstitution, diese spezifische Art des Miteinanders bei Tieren und Menschen, wiederum einbezogen – welche auf dieser rudimentären Ebene verweilen muss – erfordert wohl abermals eine spezifische Intentionalitätsbezeichnung. Bisher wurden, so sei kurz gefasst, folgende Intentionalitätsformen dargelegt und gegenübergestellt: In der Phänomenologie findet sich der verstehende und kommunikative Akt nach Husserl, welcher bei de Vecchi in der Differenzierung der »solitary«, »intersubjective«, »social« und »collective intentionality« auftritt. In der sprachanalytischen Strömung wird die schwache von der starken kollektiven Intentionalität abgegrenzt – sei es durch Searles Differenzierung der sozialen und institutionellen Tatsachen oder durch Tuomelas Unterscheidung zwischen dem »I-« und »We-mode«, wobei zahlreiche verschiedene Synonyme aufgrund weiterer Schematisierungsweisen bestehen: »prelinguistic« oder »linguistic intentionality« (Searle), »shared« oder »joint intention« (Tuomela) sowie »bloße«, »not full blown« und »full blown collective intentionality« (Searle und Tuomela). Hinsichtlich der Konzeption der Intentionalitätsformen nach Tomasello wurden bisher die »individual intentionality« und die beiden dezidiert menschlichen Intentionalitätsformen 610 Vgl. Baltzer: Gemeinschaftshandeln (1999), S. 54f. 611 Husserl: Text Nr. 11: »Apodiktische Struktur« (1930 oder 1931) (Hua. XV), S. 167.
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näher beschrieben, nämlich: die »joint« und »collective intentionality«. Diese Darstellung wurde mit einem Vergleich des Ansatzes nach Searle, Tuomela und Husserl abgerundet. Betrachtet man die Konzeption Tomasellos, so findet sich darin jedoch noch eine weitere zentrale Intentionalitätsform: die »shared intentionality«. Auch diese Terminologie wird bei Tomasello nochmals in einem ganz anderen Sinne verwendet als bisher anhand von Tuomela, Gilbert und Bratman (siehe Kapitel 3.2) geschildert.
Die »shared intentionality« nach Tomasello Der Begriff »shared intentionality« tritt bei Tomasello auf, wird dort jedoch erstens nicht in Anlehnung an eine sprachanalytische Position und zweitens zudem bei ihm in vielfacher Weise verwendet, wodurch das begriffliche Wirrwarr der Debatte nochmals offensichtlich wird. In kaum einer so interdisziplinär ausgebreiteten Debatte ist man sich bereits hinsichtlich der Kernbegriffe so uneinig: Die Positionen weichen drastisch dahingehend voneinander ab, was unter einem Kollektiv und was unter Intentionalität verstanden werden sollte, welche Intentionalitätsstufen es gibt, wie sie voneinander differenziert und wie diese bezeichnet werden sollten. Die abweichende Verwendung der aus der sprachanalytischen Auseinandersetzung mit den Intentionalitätsformen entstammende Terminologie – »shared«, »joint« und »collective intentionality« – wurde bezüglich der Sprachanalytiker in Kapitel 3.2 skizziert, während im bisherigen Kapitel 3.3 die Verwendung der Termini »joint« und »collective intentionality« bei Tomasello nachgezeichnet wurde, soll im Folgenden die »shared intentionality« in seinem Sinne dargelegt werden. Innerhalb seines Ansatzes lässt sich bei Tomasello zum einen die Gleichsetzung der Begriffe »joint« und »shared« finden.612 Zum anderen liegen bei ihm stellenweise hierarchische Verhältnisse zwischen diesen beiden Termini vor: Einerseits wird bei ihm der Eindruck erweckt, als ob die »joint« zu einer »shared intentionality« führe.613 Demnach müsse die »joint« als Bedingung der Möglichkeit der »shared intentionality« angenommen werden. Andererseits spricht er ab einem Alter von drei Monaten bei menschlichen Kleinkindern von der »shared-emotion«-Fähigkeit, während ab neun Monaten eine »joint intentionality« einsetze.614 Diese Verwendungsweise des Begriffs wiederum setzt – völlig entgegengesetzt zur gerade genannten Lesart – die »shared« als Bedingung der Möglichkeit der »joint intentionality«. Er führt jedoch noch eine weitere Variante an, nämlich die »shared intentionality« als einen einzelnen Prozess innerhalb der Ontogenese zu verstehen. Der Untertitel
Beispielsweise: »attention sharing (aka joint attention)«. Tomasello: Becoming Human (2019), S. 31. 613 Vgl. ebd., S. 22. 614 Vgl. ebd., S. 99 – siehe dort: Schaubild Nr. 4.3. 612
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eines Aufsatzes aus dem Jahr 2003 suggeriert eben dies: »from individual to shared to collective intentionality«615 . Legt man jedoch seine Darstellung der eher neueren Werken wie in A Natural History of Human Thinking (2014) und A Natural History of Human Morality (2016) zugrunde, dann ergibt sich: der Begriff »shared intentionality« ist als Sammelbezeichnung für alle Entwicklungsprozesse des »We-mode« aufzufassen, welche innerhalb der Phylo- und Ontogenese ablaufen.616 Es ist »[d]ie Hypothese geteilter [shared] Intentionalität«617 , »[d]ie Interdependenzhypothese«618 . Hierbei ist bemerkenswert: erstens äußert sich Tomasello gegen den Begriff der Reziprozität, des gegen- oder wechselseitigen Wissens um einander sowie um den Intentionalitätsgehalt, welcher zumindest in der Praxis nicht in einen infiniten Regress führt.619 Denn er vertritt zweitens vielmehr eine präzisierte Position: anstatt die gegen- oder wechselseitige Bezugnahme der Beteiligten zu untersuchen, wie es etwa das Vorgehen Husserls und de Vecchis ist, ist für Tomasello entscheidend, dass diese Bezugnahme aufeinander aus einer Abhängigkeit voneinander, einer Interdependenz entsteht.620 Die Besonderheit der »joint« und »collective intentionality« liegt in der Abhängigkeit begründet. Auch hier wird wieder der relationale Charakter der Intentionalitätsformen mit mehreren Beteiligten hervorgehoben, was bei Tomasello durch die Situation der Frühmenschen in Bezug auf die Nahrungsbeschaffung und den Überlebenskampf dargelegt wurde. Drittens wird durch seine »Hypothese geteilter [shared] Intentionalität« die »sharedness« zum Sammelbegriff, welcher den
615 Vgl. Tomasello u. Rakoczy: »What Makes Human Cognition Unique?« (2003), S. 121–147. 616 Der Begriff »shared intentionality« wird bei Tomasello aufgrund dessen Merkmal des »Wemode« auch als »we-intentionality« bezeichnet: »Shared intentionality, sometimes called ›we‹ intentionality, refers to collaborative interactions in which participants share psychological states with one another«. Tomasello u. Carpenter: »Shared intentionality« (2007), S. 121. 617 Vgl. Tomasello: Human Thinking (2014), S. 1ff. (dt.: S. 13ff.). 618 Vgl. (i) Tomasello: Human Morality (2016), S. 1ff. (dt.: S. 11ff.). (ii) Tomasello u. Vaish: »Entstehung menschl. Kooperation u. Moral« [2013], S. 194f. 619 Beispielsweise heißt es bei Tomasello: »Since people must communicate in real time, infinite computations […] cannot be at work in actual practice […]. And of course the psychological reality is not all of this backing-and-forthing about knowing what others know I know, etc., but rather simply that we both know that we both see, know, or attend to something together: we ›share‹ it«. Tomasello: Human Communication (2008), S. 95 (dt.: S. 107) (Herv. selbst vorgenommen). Dieses Zitat Tomasellos kann in Anlehnung an Scheler wohl so gelesen werden, dass es sich bei dem »mutual knowledge« eher um ein intuitives Erfassen handelt. 620 Vgl. u.a. (i) Tomasello: Human Thinking (2014), S. 36 u. 47 (dt.: S. 61 u. S. 76). (ii) Tomasello: Human Morality (2016), S. 138 u. S. 147 (dt.: S. 212 u. S. 225). Die These, dass sich eine gesellschaftliche Ordnung welcher Art auch immer aus einer Abhängigkeit der Beteiligten voneinander heraus entsteht, findet sich bereits im 19. Jahrhundert in der Soziologie (vgl. Durkheim: Über soziale Arbeitsteilung [1893], S. 339). Wobei sich hier die Frage stellt, ob nicht auch ein, zumindest implizites, Wissen von der Abhängigkeit voneinander bestehen muss.
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gesamten Entwicklungsprozess der »joint« und »collective intentionality« umfasst, während die »jointness« als eine konkrete Entwicklungsstufe gefasst wird. Man kann damit uneingeschränkt sagen: im Verlauf seiner Werke finden sich bei Tomasello unterschiedliche Fundierungsverhältnisse, weshalb eine durchgehende, konsequente Verwendungsweise der Begriffe »geteilte« und »gemeinsame Intentionalität« – sei es nun die synonyme oder hierarchische Verwendung – bei ihm nicht zu finden ist. Die Diagnose, dass bei de Vecchi undeutlich bleibt, was in ihrem Sinne unter einer »shared intentionality« im schwachen und strengen Sinn zu verstehen ist (siehe Kapitel 3.1), trifft daher in ähnlicher Weise bei den Ausführungen Tomasellos zu: Während bei de Vecchi jedoch diese Bezeichnung zu wenig erläutert wird, liegen bei Tomasello zahlreiche – sich sogar ausschließende – Verwendungsweisen vor. In positiver Hinsicht lässt sich bei ihm, im direkten Vergleich zu de Vecchi, allerdings sagen, dass er wenigstens Versuche einer ausführlichen Definition unternimmt, auch wenn diese zusammengenommen irreleitend sind. Doch trotz der Schwankungen hinsichtlich der Verwendung im Verlauf der Werke, wird deutlich, dass zumindest der »späte« Tomasello ab 2014 annimmt: dem Menschen ist es möglich eine Entwicklung von der individuellen über die gemeinsame (»joint«) hin zur kollektiven Intentionalität zu vollziehen, welche Tomasello letztlich als geteilte (»shared«) Intentionalität fasst (siehe Tabelle Nr. 18). Er verwendet diese Bezeichnung »shared intentionality« demnach erstens weder als Synonym zu einem Verhalten im »I-mode« (wie Tuomela), noch zweitens als Sammelbezeichnung für alle Intentionalitätsformen mit mehreren Beteiligten (wie es bei de Vecchi den Anschein hat), noch drittens für die Konstitution von sozialen Tatsachen, die sowohl Tieren als auch Menschen möglich ist (wie man es zumindest aus spezifischen Textpassagen nach Searle entnehmen kann). Tabelle Nr. 18: Überblick der gesamten Differenzierung der Intentionalitätsformen nach Tomasello »I-mode« (wie ist der Bezug?) = »individual intentionality«
»We-mode« als differentia specifica zwischen dem Tier und dem Menschen
»joint intentionality«
»collective intentionality« »less reasonable and responsible«
»reasonable and responsible«
Bezeichnung für die menschliche Genese von der »individual« über die »joint« zur »collective intentionality«: »shared intentionality«
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
Der Sammelbegriff der Intentionalitätsformen mit mehreren Beteiligten Man ist sich in der Debatte, so kann gesagt werden, unter anderem darin einig, dass sich spezifische Intentionalitätsformen nicht auf die Summe der Teilnehmer reduzieren lassen und dabei ihr Modus relevant ist. Allerdings herrscht Unstimmigkeit zum einen hinsichtlich der Methode mit welcher die Intentionalitätsformen betrachtet werden sollte, das heißt ob ein phänomenologischer, sprachanalytischer oder genetischer Ausgangspunkt adäquat ist. Zum anderen lautet die Frage, anhand welcher Charakteristik welche Intentionalitätsformen voneinander zu trennen sind und welche Terminologien hierfür angemessen sind. Ist beispielsweise der Begriff »kollektive Intentionalität«, wie bei Searle und letztlich auch bei Tuomela, als Sammelbegriff für alle Intentionalitätsformen mit mehreren beteiligten Lebewesen geeignet? Tomasello und Schmid negieren beide diese Frage, wenn auch auf unterschiedlichen Argumentationswegen: Schmid zufolge suggeriert der lateinische Ursprung des Begriffs »Kollektiv« eine »›Zusammenlegung‹ (con-lectio) von Individuen«621 , was den Anschein erweckt als könne man eine Gemeinschaft rein quantitativ auf die Anzahl ihre Beteiligten reduzieren. Um dieser Assoziation zu entgehen und den tiefgreifenden Zusammenhalt der Gemeinschaft angemessen erfassen zu können, plädiert Schmid für den Begriff »gemeinsame Intentionalität«622 . Damit ist jedoch lediglich der Bezeichnungsbestandteil »Kollektiv« kritisiert, ohne dass ein neuer alle Intentionalitätsformen mit mehreren Beteiligten umfassender Oberbegriff entworfen worden wäre. Denn mit dem Begriffsbestandteil »gemeinsam« wird ein spezifischer qualitativer Unterschied markiert, nämlich, dass dabei – wie in Kapitel 4 verdeutlicht wird – bei den Beteiligten ein gemeinsamer Intentionalitätsmodus hinsichtlich eines gemeinsamen Intentionalitätsobjektes vorliegt – welcher von einem lediglich geteilten Modus und Objekt differenziert werden sollte. Tomasello hält, entgegen Schmid, an der kollektiven Intentionalität als prinzipielle Terminologie fest, verwendet diese jedoch, wie de Vecchi, nur noch in Bezug auf eine spezifische Intentionalitätsformen mit mehreren Subjekten, präziser gesagt: für mindestens zwei wechselseitig aufeinander bezogene Subjekte (de Vecchi) beziehungsweise für mindestens drei, voneinander interdependente »We-mode«-Subjekte (Tomasello). Das heißt: für jene Intentionalitätsform bei welcher ein Kollektiv auf Normen, Handlungs- und Verhaltensweisen gerichtet ist und hierdurch eine Kultur etabliert. Mit de Vecchi könnte man sagen, dass als allumfassender Sammelbegriff für jegliche Intentionalitätsformen mit mehreren Lebewesen, das heißt sowohl für Tieren als auch für Menschen, der Terminus »heterotropic intentionality« möglich
621 H.B. Schmid: Wir-Intentionalität (2005), S. 240f. 622 Vgl. ebd.
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wäre, auch wenn dieser selbst wiederum mit Problematiken behaftet ist (siehe Kapitel 3.1). Bei Tomasello besteht hingegen kein Oberbegriff, welcher sowohl die tierische als auch die menschliche und zeitgleich sowohl die verstehende, koordinative, »I-mode« als auch die kommunikative, kooperative, »We-mode« Interaktion umgreift. Mit beiden Autoren, wenn auch teils eher implizit vertreten, kann zumindest die Bezeichnung »Intersubjektivität« als Kennzeichnung aller Bezugnahmen zwischen Subjekten dienen, sodass die soziale und kollektive Intentionalität (de Vecchi) beziehungsweise die »joint« und »collective intentionality« (Tomasello) als besondere intersubjektive Formen zu deuten sind.
Die Verwendung der Differenz von Eigen- und Gruppeninteressen Die Unterscheidung der Eigen- und Gruppeninteressen führt bei Tomasello nicht, wie bei Schmid, in eine Handlungstypologie (qualitativ identische individuelle Ziele (»singuläre Handlung«) sowie gemeinsame Ziele (»plurale Handlung«)623 ), sondern dient, wie bei Tuomela, der Differenzierung des Intentionalitätsmodus und demnach zu einer Unterscheidung der Intentionalitätsformen. Der Unterschied zwischen Tuomelas und Tomasellos Verwendung wiederum lässt sich wie folgt begreifen: bei Tuomela gilt der »We-mode« als »joint intention« und das »group behaviour in the I-mode«, da es eben dennoch ein »group behaviour« sei, geht bei ihm mit der Bezeichnung »shared intention« einher.624 Diese Gleichsetzung liegt in Tomasellos Ansatz gerade nicht zugrunde: Er betrachtet den »I-mode« ausschließlich als individuelle Intentionalität und der »We-mode«, der als differentia specifica angelegt ist, wird als Kernmerkmal der »joint« und »collective intentionality« gedeutet. Dass Tomasellos Ansatz seine Grundprägung durch Tuomelas »I-« und »We-mode« erhält, ist nicht von der Hand zu weisen. Doch trotz der Modifikation der Begrifflichkeiten Tuomelas ist es Tomasello nicht möglich sich von dessen Kernproblematiken zu befreien: Die Differenzierung zwischen dem »I-« und »Wemode« enthält bei Tuomela und Tomasello jeweils in der Theorie einen harten statischen Sinn – entweder es liegt ein »I-« oder ein »We-mode« vor – auch wenn spezifische Formen als Übergang gesehen werden sollen, wie das »group behaviour in the I-mode« (Tuomela) oder die »shared intentionality« als Prozess der menschlichen Onto- und Phylogenese von der individuellen zur kollektiven Intentionalität (Tomasello). Doch besonders in der Praxis, der tatsächlichen Anwendung der Begrifflichkeiten, das heißt bei der konkreten Frage, in welchem Modus sich Person P befindet, zeigt sich, ohne dass Tuomela oder Tomasello dies selbst explizit darlegen, eine graduelle Bedeutung. Zwar mögen sich Muster-Erläuterungen 623 Vgl. (i) H.B. Schmid: »Autonomie ohne Autarkie« (2007), S. 458f. (ii) H.B. Schmid: Plural Action (2009), S. xiv. 624 Vgl. Tuomela: Social Ontology (2013), S. 63.
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finden lassen, die sich signifikant einem Pol zuordnen lassen, wie der vortreffliche WM-Pass André Schürrles an Mario Götze, wodurch Schürrle seine eigene Torchance im Sinne des Gruppeninteresses aufgab. Eine strikte Abgrenzung des »I-« und »We-mode« stößt jedoch auch an Grenzen, wenn man sich der Feststellung Adam Smiths annimmt: Sein Beispiel der Fokussierung auf den eigenen Wohlstand belegt, dass es durchaus egoistische Verhaltensweisen gibt, die nicht primär der Gruppe schaden, wie es der Fall bei Trittbrettfahrern ist, sondern erheblich zur Erreichung der Gruppeninteressen beitragen. Dass sogar in ein und derselben Situation bei ein und denselben Beteiligten zu einem gewissen Sinn gleichzeitig Eigen- und Gruppeninteressen vorliegen können, verdeutlicht Bratman: Auch bei einem kompetitiven Verhalten, wie etwa dem Schachspiel, kann zumindest bis zu einem gewissen Grad eine kooperative Haltung vorliegen. Eben mittels dieses Beispiels, das bei Bratman selbst ausgeführt wird, kann nochmals – wie an früherer Stelle anhand der Bewertung des tierischen Verhaltens vorgeführt –, klar gemacht werden, dass ein und dieselbe Situation in der Debatte unterschiedlich aufgefasst wird: Für Bratman erfolgt die Kooperation beim Schachspiel immerhin »down to a certain level«, nämlich bis zur Einigung der Spielregeln (»joint intention«) – wie es in ähnlicher Weise bei Gurwitsch um 1931 als Veranschaulichung eines »Zusammenseins in einer gemeinsamen Situation«625 herangezogen wird. In anderen Konzeptionen fallen indes Beispiele dieser Art eindeutig in die Kategorie des Gegeneinanders, des »group behaviour in the I-mode«, denn es liegt eine individuelle Gewinnabsicht vor (»individual« nach Tomasello; »shared intentionality« nach Tuomela). Damit wird man jedoch nicht der Tatsache gerecht, dass beim Schachspiel, wenn auch nur bedingt, eben auch kooperative oder »We-mode«-Verhaltensweisen vorliegen können. Das Schachspiel dient demnach zur Hervorhebung zwei markanter Aspekte. Erstens: es können »Mischphänomen« bestehen, in welchen sowohl koordinative »I-mode« sowie kooperative »We-mode« Elemente enthalten sind. Zweitens ist damit allerdings eine begriffliche Erfassung solcher Phänomene in ihrer Gesamtheit erschwert. Diese Problematik ist auch bei Bratman selbst zu finden: als was nun letzten Endes das Schachspiel bezeichnet werden soll – »joint activity«, »shared intentional activity«, »not full blown« oder »full blown shared cooperative activity« – bleibt unklar. Die Intentionalitätsform der Gruppe im engen Sinne des Zusammenhaltes zeichnet sich durch die kommunikative (Husserl), wechselseitig soziale (de Vecchi), die »We-mode«-Bezugnahme (Tuomela und Tomasello) der Beteiligten aufeinander beziehungsweise durch die sich stets vollziehende Kooperation mittels ineinandergreifender Subpläne (Bratman) aus. Tomasello hingegen geht über die Sprachanalytiker der Debatte – Tuomela, Searle, Bratman und Gilbert – mittels Anlehnung an Adam Smiths Ausführungen zur Moralität hinaus und macht 625 Vgl. Gurwitsch: Die mitmenschlichen Begegnungen (1931), Abschnitt III, Kapitel I, §18.
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anhand dieser eine Binnendifferenzierung fest: Ist die eigene Moralfähigkeit ab einem Alter von circa sechs Jahren ausgereift, so spricht Tomasello von einer »full blown collective intentionality«, woraus wiederum geschlussfolgert werden kann, dass deren Vorstufe als »not full blown collective intentionality« zu charakterisieren ist. Vorteilhaft an anderen Ansätzen, wie jenem nach Bratman, Tuomela und teils auch den frühen Phänomenologen, ist die explizite Thematisierung der Freiwilligkeit beziehungsweise des Zwanges (siehe Kapitel 3.2). Dass sich eine solche Erörterung demgegenüber bei Tomasello nicht finden lässt, ist vor allem dadurch verwunderlich, da der Zwang bei zahlreichen Aspekten innerhalb der Darlegung der Onto- und Phylogenese nach Tomasello angeführt werden kann: denn ich reguliere mein Verhalten, um als Kooperationspartner angesehen zu werden, das heißt um Teilnehmer einer gemeinsamen Jagd zu sein, welche meine Chance auf eine höherwertige Nahrung erhöht. Implizit kann damit allerdings gesagt werden, dass die Beteiligten einem Überlebensinstinkt unterworfen sind – oder anders formuliert: aus dem Willen heraus agieren, dass sie selbst und ihre Nachkommen überleben. Als weiteres Beispiel kann an die Rettung des Kindes aus einem brennenden Haus erinnert werden: Nach Tomasello rettet man das Kind entweder aus einem ultrasozialen, ultrakooperativen »We-mode« heraus oder aus einem »I-mode«, welcher vom Ruhm der Kindesrettung geprägt ist. Dass ich das Kind vielleicht jedoch nur aus dem gesellschaftlichen Zwang heraus rette, um nicht selbst wegen unterlassener Hilfeleistung angezeigt zu werden, wird von Tomasello selbst nicht angeführt.
Die Anerkennung des Anderen als intentionalen Akteur Eine Abweichung des verhaltenstheoretischen vom sprachanalytischen Beitrag der Debatte findet sich auch in der Thematisierung der Anerkennung des Anderen als intentionalen Akteur: Man kann dann – und nur dann – den Anderen als intentionalen Akteur anerkennen, wenn man sich bereits selbst vorher als intentionalen Akteur erfahren hat: Je weiter das Selbstverständnis voranschreitet, desto weiter vertieft sich auch das Verständnis des Anderen als intentionalen Akteur.626 Anders als die sprachanalytischen Autoren, welche diesen Aspekt nur anreißen, findet er sich explizit an den verschiedenen kognitiven Entwicklungsstufen bei Tomasello erörtert. Ob diese Erfahrung des eigenen Selbst als intentionalen Akteur jedoch als bewusster, aktiv vollzogener Prozess oder als intuitives Widerfahrnis zu bewerten ist, bleibt in seinen Überlegungen offen. Fest steht jedoch, dass diese von Tomasello zugrunde gelegte Annahme in der Forschung durchaus umstritten ist: Es wird keinesfalls als Konsens vertreten, ob sich aus dem Eigen- ein Fremdverständnis ergibt, denn die Gegenposition lautet schlicht: erst durch ein Fremdverständnis 626 Vgl. Tomasello: Human Cognition (1999), S. 53f. u. S. 75 (dt.: S. 74 u. S. 101).
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entwickelt sich ein Eigenverständnis, da sich die eigene Persönlichkeit erst durch die Abgrenzung zum Anderen verstehen lasse – der Andere wird a priori benötigt. Ohne diese langwierige Debatte entscheiden zu wollen, soll hier lediglich darauf aufmerksam gemacht werden, dass nicht einmal innerhalb bestimmter Strömungen ein Konsens besteht. Nimmt man einmal an Tomasellos Position sei die treffende, dass man also zunächst sich selbst als intentionales Wesen verstehen müsse, um den Anderen ebenfalls als einen solchen anerkennen zu können, dann ergibt sich allerdings folgende Frage: welche Bedingungen sind nötig, um sich selbst als intentionales Wesen verstehen zu können? Ob es etwa als eine Art Selbstbewusstsein627 beschrieben werden kann, wird von Tomasello selbst nicht ausgeführt628 . Seine Erläuterung beschränkt sich auf den Erklärungsversuch, wie es vonstattengeht, dass man, wenn man sich bereits selbst als intentionalen Akteur verstanden hat, auch den Anderen auf diese Weise begreift. Dieser Prozess der Anerkennung basiert, so Tomasello, auf einer Analogie: »individuals understand other persons […] by analogy with the self – since others are ›like me‹ – in a way that they do not do, at least not in the same way, with inanimate objects – since they are much less ›like me‹«.629
627 Da er auch Tieren die Anerkennung des Selbst und des Anderen als intentionalen Akteur zuschreibt (vgl. u.a. Tomasello: Human Thinking (2014)), müsste er, falls er die Anerkennung des Selbst ebenfalls als Selbstbewusstsein charakterisiert, die Schlussfolgerung ziehen, dass den Tieren ebenfalls eine Art Selbstbewusstsein zugesprochen werden müsste – was dort allerdings keineswegs unüblich ist und anhand des sogenannten Farbklecks-Test evaluiert wird: Der Proband wird, mit einem Farbklecks im eigenen Gesicht, vor einen Spiegel gesetzt. Fasst er sich selbst an die Stirn, so erkennt er sich selbst – es liegt so die Verhaltensforschung ein Selbstbewusstsein vor. Fasst der Proband jedoch an den Spiegel, so ist er gewillt den Farbklecks im Gesicht einer anderen Person, nämlich dem Gegenüber, zu verwischen. Menschliche Kleinkinder »bestehen« diesen Test ab einem Alter von circa 18 Monaten, während dies erst zweijährigen Schimpansen, das heißt ab 24 Monaten, möglich ist. 628 Tobias Schlicht, welcher sein Modell der Intentionalitätsstufen an Tomasello orientiert, nimmt spezifischer an, dass die allererste Stufe nicht darin bestehe, dass man sich selbst, ab einen Alter von neun Monaten, als Akteur anerkenne, sondern zunächst die Erfahrung der eigenen Verkörperung (embodiment) relevant sei. In einer pointierten Formulierung: bevor man bemerkt, dass man ein intentionales Wesen ist, bemerkt man, dass man einen Körper hat (vgl. Schlicht: »Stufenmodell d. Intentionalität« (2008), S. 78). Doch könnte man nicht auch annehmen, dass man zunächst den eigenen Leib, dann den eigenen Körper und dann erst sich selbst als intentionalen Akteur verstehe? Doch unabhängig davon, ob der Leib vor oder nach dem Körper erfahren wird, kann festgehalten werden, dass die Beschreibung des Leibes bei Tomasello – aufgrund seines nicht-phänomenologischen Ansatzes – völlig fehlt. 629 Tomasello: Human Cognition (1999), S. 70 (dt.: S. 95).
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Es handelt sich um eine »like my stance« (»Wie-Ich-Einstellung«)630 beziehungsweise um die »self-other equivalence« (»Selbst-andere-Äquivalenz«)631 . Tomasello geht davon aus, dass das Verständnis des Anderen als intentionalen Akteur im Laufe der Entwicklung der eigenen kognitiven Fähigkeiten zustande kommt, sodass man es, im Gegensatz zu anderen kognitiven Kriterien, wie der Bewusstseinsfähigkeit – entweder es liegt ein Bewusstsein vor oder nicht –, bei der Anerkennung des Anderen als intentionalen Akteur mit einem graduellen Entwicklungsprozess zu tun hat.632 Zwar kann man auch fragen, ob eine Anerkennung des Anderen vorliegt, doch muss hierbei, im Gegensatz zur Bewusstseinsfähigkeit, genauer gefragt werden, wie »tiefgreifend« diese ist, etwa ob der Andere lediglich als intentionaler Akteur oder bereits als gleichberechtigter Kooperationspartner anerkannt wird. Doch auch Tomasellos Auffassung der Einfühlung, der Einschätzung des Intentionalitätsgehaltes des Anderen weicht eklatant vom gegenwärtigen Konsens in der philosophischen Debatte ab: Tomasello vertritt die These, dass die Anerkennung die Bedingung der Möglichkeit sei sich in den Anderen hineinzuversetzen, das heißt sich einfühlen zu können.633 Doch man kann auch annehmen, dass ich mich zunächst in den Anderen einfühle und erst dadurch erkenne, dass er »wie ich« ist. Die Reihenfolge, ob nun die Anerkennung oder die Einfühlung vorausgehe und wie man dies beweisen könne, ist demnach strittig. Jedoch ist nicht nur das Fundierungsverhältnis der Selbst- und Fremdeinschätzung als Akteur sowie die jeweilige Anerkennung und Einfühlung ineinander hinterfragbar, sondern auch Tomasellos Charakterisierung der Einfühlung selbst. Seine Ansicht hierzu entspricht nicht den gegenwärtigen, sondern, so lässt sich sagen, vielmehr jener Position, wie sie im 18. und 19. Jahrhundert üblich war. In Anlehnung an Adam Smith steht Tomasello für folgende Definition der Einfühlung ein: »[it is the] sense of taking her affective perspective and putting oneself ›in her shoes‹«634 . Einerseits besteht hierbei der Verdacht, dass es Tomasello – eben durch seine Anlehnung an Smith – verfehlt in deutlicher Weise zwischen den Phänomenen
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Ebd. S. 245 (dt.: S. 307). Tomasello u. Rakoczy: »What Makes Human Cognition Unique?« (2003), S. 124 (dt.: S. 702). Vgl. u.a. Tomasello: Becoming Human (2019), S. 190. Vgl. Tomasello: Human Cognition (1999), S. 5f. (dt.: S. 17). Tomasello: Becoming Human (2019), S. 227. Betrachtet man die Einfühlung nach Smith genauer, so zeigt sich, dass dabei zahlreiche Thesen, welche Theodor Lipps zugeschrieben werden, vorweggenommen werden. Hiernach kann Tomasello hinsichtlich der Einfühlung als Anhänger von Smith und zugleich als Anhänger von Theodor Lipps gelten. Die wohl bisher prägnanteste und umfangreichste Aufsatzsammlung der Einfühlungsauffassung nach Theodor Lipps ist 2018 erschienen, obwohl darin ebenfalls nicht auf die Thesenvorwegnahme bei Smith eingegangen wird (vgl. Theodor Lipps: Schriften zur Einfühlung, hg. v. Faustino Fabbianelli, (Studien zur Phänomenologie und Praktische Philosophie, hg. v. Christian Bermes, Helmuth Gander, Lore Hühn u. Günter Zöller, Band 43), Ergon Verlag, Baden-Baden, 2018).
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Einfühlung (empathy) und Mitgefühl (sympathy) zu unterscheiden635 , welche seit Schelers Wesen und Formen der Sympathie um 1923 wenigstens in der Philosophie etabliert ist. Mit Scheler – aber keineswegs mit Tomasello – ist es möglich, zu differenzieren, ob ich das Gefühl des Anderen, wie beispielsweise dessen Flugangst, verstehe (Einfühlung), an diesem Gefühl Anteil nehmen und es mildern möchte (Mitgefühl) oder ob mich nun selbst das Gefühl ergreift (Gefühlsansteckung). Tomasello suggeriert allerdings auch, womit er über Scheler hinausgeht, dass ein Mitgefühl nicht im »I-mode« entstehen könne, sondern man sich im »We-mode« befinden müsste.636 Andererseits impliziert die Definition des Einfühlungsprozesses nach Tomasello, ebenso wie seine Auffassung der Anerkennung des Anderen, ein Analogieverfahren: Ich stelle mir vor, wie meine Intentionalität an ihrer/seiner Stelle aussähe. Ich sehe den Anderen im Flugzeug sitzen, ich sehe seine zitternden Hände und seinen Schweißausbruch und überlege mir, wann ich zitternde Hände und einen Schweißausbruch bekomme, nämlich bei Panik, und schlussfolgere darauf, dass er Panik hat, wohl konkret Panik vor dem Fliegen. In seiner phänomenologischen Auseinandersetzung mit der Einfühlung machte jedoch bereits Scheler – bemerkenswerterweise gerade auf einem für Tomasello typischen Weg, das heißt mit Beispielen aus der Tier- und Kinderpsychologie637 – unmissverständlich deutlich, dass durch eine »Wie-Ich-Einstellung«, dem »putting oneself in her shoes« lediglich meine Intentionalität »quasi verdoppelt« wird, da ich meine Intentionalität in den Anderen »hineinlege«. Entscheidend ist demgegenüber allerdings zu verstehen, wie ihre/seine Intentionalität an ihrer/seiner Stelle aussieht. Zudem geht Tomasello hinsichtlich der Einfühlung – ebenfalls wie bei seinem und Tuomelas Verständnis des kooperativen »We-mode«-Verhaltens – lediglich auf deren positiven Aspekte ein. Nur dann, wenn ich das Gefühl des Anderen, hier: seine Flugangst, auch verstehe, kann ich ihm eventuell helfen und ihm rational erläutern, wie wenige Flugzeuge tatsächlich abstürzen, ihm eine Beruhigungstablette geben oder Ähnliches. Dass eine Einfühlung allerdings auch dazu verwendet werden kann dem Anderen besonders tiefgreifend Schaden zuzufügen, bleibt bei 635 Vgl. Tomasello: Becoming Human (2019), S. 228. 636 Vgl. Tomasello u. Vaish: »Entstehung menschl. Kooperation u. Moral« [2013], S. 197. In eben diesem Aufsatz scheint es auch der Fall zu sein, dass er die Einfühlung stets als Reaktion und das Mitgefühl stets als Anteilnahme auffasse. Dies stellt jedoch klar eine Vereinfachung dieser Phänomene dar (vgl. ebd. S. 199). 637 Vgl. Scheler: Wesen u. Formen d. Sympathie [1923], Teil C, Abschnitt III, S. 232ff. Mark Michalski erörtert, dass die Beispiele, die Scheler ausführt wohl ausnahmslos aus Kurt Koffkas Grundlagen der psychischen Entwicklung – Eine Einführung in die Kinderpsychologie (1921) entnommen sind (vgl. Mark Michalski: Fremdwahrnehmung und Mitsein – Zur Grundlegung der Sozialphilosophie im Denken Max Schelers und Martin Heideggers, Bouvier Verlag, Bonn, 1997, (Abhandlungen zur Philosophie, Psychologie und Pädagogik, Band 244), hier: S. 73 – dort: Fußnote Nr. 224).
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Tomasello außen vor. Denn es gilt auch: gerade dann, wenn ich weiß, wie der Andere auf was gerichtet ist, kann ich diesen besonders effizient verletzen. Ich kann der Person mit Flugangst von Flugzeugentführungen berichten oder erläutern, wie schwer diese Maschine mit Passagieren und Gepäck ist und dass es doch an ein Wunder grenzt, wie man so viel Gewicht in der Luft halten kann, wodurch seine Angst zweifellos gesteigert wird. Zwar erläutert Tomasello, so lässt sich hier festhalten, im Gegensatz zu vielen weiteren Hauptautoren der Debatte die kognitiven Voraussetzungen im Detail, doch werden diese, genetisch erklärt anstatt beschrieben und teils einseitig beleuchtet, wie exemplarisch mittels der Einfühlung dargelegt. Er führt aus, dass sich diese Voraussetzungen im Verlauf der Ontogenese entwickeln, wie anhand der Anerkennung des Anderen und der Moralfähigkeit gezeigt. Allerdings geht er dabei nicht auf die Problematik ein, dass es sich um graduelle Abstufung handelt, welche eine eindeutige Zuschreibung erschwert, wie es Husserl prägnant an der Abgrenzung von, so von ihm bezeichneten, »Verrückten« und geistig Gesunden mit immanenten Anomalien vorführt (siehe Kapitel 2.1). Insgesamt lässt sich damit zum Ansatz Tomasellos bemerken: während man es bei Tuomelas Anwendung der »I-mode«-We-mode«-Differenzierung mit einer Differenzierung innerhalb der kollektiven Intentionalität zu tun hat (»not full blown collective intentionality«, »shared intention« einerseits und »full blown collective intentionality«, »joint intention« andererseits), vertritt Tomasello damit viel entschiedener eine Unterscheidung zwischen den Intentionalitätsformen. Die individuelle Intentionalität ist durch den »I-mode« und alle weiteren Formen sind durch den »We-mode« charakterisiert: die »joint« und »collective intentionality«. Die tatsächliche Trennung ist jedoch durchaus als graduell zu werten, da sich etwa der Modus der Beteiligten im Verlauf verändern kann und zahlreiche kognitive Bedingungen notwendigerweise gegeben sein müssen. Seine Ausführungen sind dezidiert darauf ausgerichtet mit den Intentionalitätsformen die differentia specifica zu begründen: Der Mensch ist das einzige Wesen, dem eine gemeinsame (»joint«) und kollektive Intentionalität möglich ist. Eine Relativierung dieser Annahme ist bei genauerer Betrachtung allerdings durch die Wortwahl Tomasellos möglich. Während in der Sprachanalytik der Fokus auf Handlungen liegt und die indirekte Implementierung von Gefühlen – etwa als gefühlsgeleitete Handlungen; dem subjektiven Gefühl, das der Andere sich auch im »We-mode« befindet und das »feel up to the task« – dort problemlos möglich ist, relativiert die verwendete Formulierung Tomasellos jedoch seine gesamten Kernthesen, denn dort finden sich beispielsweise Aussagen der Art, dass die Sozialität der Menschenaffen »somewhat individualistic«638 : Sie sei ziemlich individualistisch. Dies lässt jedoch die Möglichkeit offen, dass sie vielleicht doch – we638 Tomasello: Becoming Human (2019), S. 14 (Herv. selbst vorgenommen).
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nigstens einmal ausnahmsweise – nicht individualistisch, sprich gemeinschaftlich handeln oder zumindest handeln könnten. Eine ähnliche Ansicht findet sich auch in folgender Textpassage: »our nearest great ape relatives […][are] operating with skills of individual intentionality [...]. What they do not possess [are] humanlike skills of shared intentionality […]. Chimpanzees and bonobos – and thus the LCA [humans’ last common ancestor] – are and were very clever, but mainly or only as individuals.«639 Aber es macht einen entscheidenden Unterschied, ob man sagt »bonobos are mainly or only individuals«, ob Menschenaffen nun »meistens/größtenteils/hauptsächlich oder ausschließlich« über individuelle Intentionalität verfügen: Sagt man einerseits sie hätten »only« (»ausschließlich«) eine individuelle Intentionalität, so wird ihnen die Möglichkeit einer geteilten, gemeinsamen oder kollektiven Intentionalität gänzlich abgesprochen und eine strikte differentia specifica vertreten. Wird andererseits allerdings behauptet, sie hätten »mainly« (»meistens/größtenteils/hauptsächlich«) eine individuelle Intentionalität, dann wird eben nicht ausgeschlossen, dass sie ausnahmsweise doch – jetzt oder in ferner Zukunft – eine (wie auch immer geartete) über die individuelle Intentionalität hinausreichende Form haben oder wenigstens haben könnten.640 Weshalb Tomasellos These etwas abgeschwächt vertreten werden muss: Der Mensch ist bisher das einzige »We-mode«-fähige Wesen. Typischerweise wird Tomasello in der Rezeption in Bezug auf die Ergebnisse seiner empirischen Studien zu Tieren und Kleinkindern herangezogen. Dass damit bei ihm eine differentia specifica einhergeht, welche auf verschiedenen Aspekten beruht – wie der Anerkennung des Anderen als Handlungspartner, die Konstitution einer Kultur oder den »We-mode« –, wird hingegen vielmehr in der Philosophie zur Kenntnis genommen. Der zentrale Wesensunterschied, so lässt sich auf einen Satz gebracht mit Tomasello diagnostizieren, liegt in einer spezifischen Intentionalitätsform. Wenn sich aber einerseits die philosophische Frage schlechthin, die Frage nach der differentia specifica mithilfe eines Forschers beantworten lassen soll, welcher selbst, so lässt sich uneingeschränkt sagen, von einigen Philosophen, wie
639 Ebd., S. 13 (Herv. selbst vorgenommen). 640 Eine sprachlich ebenso nachlässige Formulierung findet sich in Tomasellos Becoming Human mit Bezug auf menschliche Kleinkinder: »they [infants and toddlers] sometimes interact with other infants and toddlers, but their respective actions are often described as ›parallel‹; they almost never engage with one another in uniquely human forms of social interaction such as joint attention, cooperative communication, and social imitation.« Tomasello: Becoming Human (2019), S. 35 (Herv. selbst vorgenommen). Auch hier bleibt zumindest eine geringe Möglichkeit, dass sie trotz ihres bei weitem nicht ausgereiften Entwicklungsstandes doch einmal, in spezifischen Situationen kooperative Kommunikation oder Ähnliches vollziehen.
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Adam Smith oder Raimo Heikki Tuomela beeinflusst ist, dann scheint andererseits berechtigt darzulegen, wie wohl Philosophen, insbesondere der frühen Auseinandersetzung mit den Intentionalitätsformen – wie also etwa die Phänomenologie –, die gegenwärtige Position der evolutionären Verhaltensforschung einschätzen würden.
Tomasello als Geschichtenerzähler Es mag zwar löblich sein, dass sich Tomasello mit den unterschiedlichen Intentionalitätsformen mittels onto- und phylogenetischer Erkenntnisse befasst, aber er schlägt, so würde Husserls Urteil grundlegend lauten, den völlig falschen Weg ein. Hätte Husserl den genetischen Ansatz Tomasellos gekannt, dann hätte seine Kritik kurz und knapp wie folgt gelautet: Tomasello erfindet eine Geschichte.641 Es mag eine wohl formulierte, eingängige Geschichte sein, welche mittels der tierischen und menschlichen Jagd veranschaulicht wird, aber es ist eben nichts weiter als eine Geschichte. Die Wahrheit über die Entstehung und Etablierung der »joint« und »collective intentionality« – jener Prozess, welchen Tomasello als »shared intentionality« betitelt – lässt sich anzweifeln. Mit Husserl wird nicht Tomasellos Feststellung der differentia specifica hinterfragt, sondern vielmehr dessen Methode, wie Tomasello zu dieser Feststellung kommt. Ginge es nach dem frühen Husserl, so müsste man die unanzweifelbare Wirklichkeit des Phänomens beschreiben. Dies hätte allerdings zur Folge, dass über die Intentionalität von Tieren, Frühmenschen sowie Kleinkindern schlicht überhaupt Nichts gesagt werden kann. Oder etwas milder formuliert: die Interpretation des Verhaltens des Anderen, insbesondere von Tieren wird nie eine vollkommene Beweislast zur differentia specifica-Annahme leisten können. In Anbetracht einiger späterer Textpassagen Husserls müsste jedoch die Kohärenz seiner eigenen Annahmen überprüft werden, konkret inwieweit sich der späte Husserl an die von ihm selbst auferlegte Maxime des Phänomenologieverständnisses in den Frühwerken hielt, da er sich ab etwa 1921 nicht nur beschreibend, sondern auch wertend zum Verhalten von Tieren und Kleinkindern äußert und hierdurch ebenfalls die Erste-Person-Perspektive verlässt. Wie hier nur musterhaft an wenigen Textpassagen belegt werden soll: »das Kind sieht dieselben Dinge evtl. wie ich, aber es hat von ihnen noch nicht die vollständig ausgebildete Apperzeption, es fehlen ihm noch die höheren Horizonte, es konnten sich noch nicht seine Erfahrungen so organisieren und die und die
641 Vgl. Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, hg. v. Walter Biemel, Martinus Nijhoff Verlag, Den Haag, 1950, Hua. Bd. III, 1. Abschnitt, 1. Kapitel, S. 10 – dortige Fußnote Nr. 1.
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neuen Motive aufnehmen, durch welche das Kind die betreffenden Dinge als das sieht, als was wir sie sehen.«642 »Das Tier verwirklicht in Gemeinschaft ›Instinkte‹, sein Tun ist instinktiv, die Vergemeinschaftung des Strebens ist instinktiv. Die Biene handelt nicht, die Biene hat keine Zwecke [...]. Ein Tier schafft nicht in der Einheit seines Lebens ein System von geistigen Erwerben, die es als Entwicklung erfährt, es hat nicht Einheit einer die Generationen überspannenden Zeit als historische Zeit [...]. Das Tier selbst hat keine generative Welt«.643
Zwischenfazit zu Kapitel 3.3 Tomasellos Überlegungen kommt der unbestreitbare Verdienst zu eine interdisziplinäre Forschungslandschaft auf dem Gebiet der evolutionären Verhaltensforschung etabliert zu haben. Durch ihn begann zweifellos ein Boom innerhalb der Evolutionsforschung. Etwa mittels des »We-modes«, der deklarativen Zeigegeste, der Moralität, dem kulturellem »rachet effect« (»Wagenhebereffekt«), der Anerkennung des Anderen als Kooperationspartner – um nur die schlafkräftigsten Faktoren zu nennen – zeichnet sich der Mensch als Mensch aus und ist zur »joint« beziehungsweise »collective intentionality«, das heißt zur Konstitution einer Kollaboration oder Kultur fähig. Sowohl der Begriff des Kollektivs als auch der Kollaboration als auch der Kultur sollten, so kann man Tomasello deuten, ausschließlich zur Beschreibung der menschlichen Intentionalität, noch etwas genauer: zur Beschreibung einer spezifischen menschlichen Intentionalitätsform verwendet werden. Bei der Darstellung der Konzeption der Intentionalitätsformen nach Tomasello wurden in dieser Typologie drei Schwerpunkte gelegt: Es ist erstens nicht von der Hand zu weisen, dass Tomasellos Position von philosophischen Überlegungen geprägt ist, jedoch ebenfalls seinerseits Geltung in der Philosophie fand, sodass der historische Werdegang nachgezeichnet wurde. Zweitens wurde die Ansatz Tomasellos für sich im Detail hinsichtlich der Systematik und Kohärenz der Terminologie analysiert. Drittens wurde dabei hinterfragt, ob seine Methode, hier vereinfachend: die Interpretation des tierischen Verhaltens aufgrund von Beobachtung, angemessen ist. Diese drei Facetten seien im Folgenden nochmals ausgeführt. Erstens sollte gezeigt werden: Tomasello verknüpfte als Erster zahlreiche komplexen Aspekte zu einer einzelnen, sogar zur philosophischen These schlechthin: zur These der differentia specifica. Historisch betrachtet wurden jene Einzelaspekte jedoch teils in einem sehr ähnlichen Wortlaut – wenn auch dort beschreibend anstatt erklärend – ausgeführt, wie beispielhaft mit Referenz auf Smith und Husserl 642 Husserl: Text Nr. 6: »Einfühlung in Kinder u. Tiere« (1921) (Hua. XIV), S. 115f. 643 Husserl: Beilage X: »Welt u. Wir« (1934) (Hua. XV), S. 181.
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verdeutlicht wurde. Den markantesten Einfluss auf Tomasello hat Tuomela, welcher um 1984 die Unterscheidung zwischen dem »I-« und »We-mode« etablierte. Diese Grundannahme lautet hierbei, dass eine Gruppe nur dann eine Gruppe im engen Sinne ist, wenn die Beteiligten gruppenbezügliche Interessen vertreten und nach diesen agieren. Die erheblichste Modifizierung des »We-modes« nach Tomasello liegt darin, dass er in aller Deutlichkeit herausstellt, dass dieser Modus seiner Ansicht nach das Entscheidende der differentia specifica ist, welches erstmals in einer spezifischen Intentionalitätsform auftritt: der »joint intentionality«. Eine erste Ausarbeitung, dass mit der Konstitution sozialer und institutioneller Tatsachen eine spezifische Intentionalitätsform einhergeht und diese beiden Konstitutionsarten differenziert werden müssen, findet sich in der Philosophie zwar beispielsweise bei Searle (»bloße« und »tatsächliche« kollektive Intentionalität), jedoch nicht so dezidiert und empirisch ausgearbeitet wie bei Tomasello, welcher vielmehr von sozialen und ultrasozialen Verhalten beziehungsweise von der Konstitution einer Kollaboration und Kultur spricht (»joint« und »collective intentionality«). Das heißt in der evolutionären Verhaltensforschung tritt, wie bei Tuomela, das harte Kriterium der Unterscheidung des »I-« und »We-mode« auf, dieses ist bei Tomasello jedoch in der Konsequenz noch viel härter, da hieran die differentia specifica festgemacht wird. Inhaltlich ist damit in anderen Worten gemeint, dass nur Menschen Gruppen in einem engen Sinne der Zusammenarbeit, des Zusammengehörigkeitsgefühles und Ähnlichem konstituieren können. Dies ist durch die Art und Weise bestimmt wie die Beteiligten denken, handeln und fühlen. Hieraus folgt wiederum, wie bereits Husserl schlussfolgerte, dass Tiere »keine generative, historische Welt haben, damit aber auch keine reale Welt haben und [...] kein Universum von Realien mit ontischer Struktur«644 . Das Tier lebe nicht in einer Kulturwelt – oder weiß zumindest nicht, dass es in einer Kulturwelt lebt – und repetiere lediglich die Umwelt, während sich die »menschliche Kulturwelt [...] in fortwährender Entwicklung«645 befinde und ein Bewusstsein dieser »forterhaltenden Tradition«, ein »Gemeinschaftsbewusstsein« besitze646 . Wobei allerdings kritisch bemerkt werden kann, ob Husserl in seiner späten Phase mit Aussagen dieser Art selbst innerhalb des Rahmens seiner phänomenologischen Bestimmungen, das heißt konkret der Beschreibung aus der Ersten-Person-Perspektive blieb. Auch die entscheidende Rolle der Vernunft beziehungsweise der Moralfähigkeit für die – wie sich nun
644 Vgl. Husserl: Text Nr. 11: »Apodiktische Struktur« (1930 oder 1931) (Hua. XV), S. 160 – dort Fußnote Nr. 1. 645 Husserl: Beilage X: »Welt u. Wir« (1934) (Hua XV), S. 180. 646 Edmund Husserl: Aufsätze und Vorträge (1922–1937), hg. v. Thomas Nenon u. Hans Rainer Sepp, Kluwer Academic Publishers, Dordrecht/Boston/London, 1989, Hua. Band XXVII, hier: »Erneuerung als individual-ethisches Problem« (1924), S. 20–43, hier: S. 21f.
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sagen lässt: per se menschliche – Konstitution einer gemeinsamen Welt taucht gewissermaßen bei Husserl auf: Lediglich »den reifen ›vernünftigen‹ Menschen« sei ein bestimmter »Stil der Erfahrungswelt« möglich.647 Dass die Moral besonders in der kindlichen Genese bis hin zum Vorschulalter signifikant ist, wird, wie dargelegt wurde, von Adam Smith vertreten, was Tomasello für die Untermauerung seiner Konzeption der Intentionalitätsformen nahezu wortgetreu aufnahm. Neben dem historischen Bezug auf welche Autoren sich Tomasello stützte, wie mit Hilfe von Tuomela und Smith vorgeführt, beziehungsweise welche Debattenteilnehmer als Vorläufer dieser Position zu gelten haben, wie anhand von Husserl belegt, war der zweite Schwerpunkt des Kapitels 3.3 darauf ausgerichtet, zu verdeutlichen, dass in Bezug auf den Ansatz Tomasellos in der Debatte noch einige Ausarbeitungen im Detail eingefordert werden. Exemplarisch wurde angeführt, dass Thies dafür argumentiert, das Verhältnis der Innen- und Außenmoral näher zu betrachten, da in seinen Worten eine »Wir-Intentionalität« mit einer Abgrenzung und Aggression gegenüber anderen Gruppen einhergehen kann, was bei Tomasello selbst als »in-group/out-group psychology«648 lediglich angerissen wird. De Vecchi ihrerseits betont, dass Tomasello auf den Phänomenbereich der Handlungen, genauer auf dem Handlungsvollzug, fokussiert ist und damit elementare Aspekte, wie die Leiblichkeit, nicht beachtet. Zudem müsste Tomasello, so die Argumentation dieser Typologie, darlegen, weshalb der Begriff »I-mode« bei Tieren gerechtfertigt ist: Wird nämlich der »I-mode« als Beschreibung tierischen Verhaltens verwendet, dann ist dies strenggenommen, durch den Bestandteil »I« – also dem »Ich« –, mit einem Anthropomorphismus verbunden, den Tomasello selbst allerdings seinem eigenen Anspruch nach gerade nicht vertreten möchte. Daher scheint er vielmehr, wenn man seiner Position inhaltlich folgt, auf einen »individual-mode« zu zielen, der jedoch durch die synonyme Verwendung der Begriffe »Ich«, »Subjekt« und »Individuum« keineswegs zum Ausdruck kommt. Wie lässt sich also begrifflich präziser fassen, dass Tiere einerseits nicht über die individuelle Intentionalität hinauskommen, andererseits aber, wie Tomasello ebenso hervorhebt, immerhin zu komplexen sozialen Interaktionen, zum klugen Werkzeuggebrauch und Ähnlichem fähig sind, also der Sache nach wenigstens eine Tendenz hin zum kollaborativen »group behaviour« aufweisen? Trotz dieser Ausführungen, welche beide Seiten des tierischen Verhaltens markieren – nämlich die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zur menschlichen Spezies –, findet sich bei Tomasello keine moralische Bewertung oder zumindest persönliche Einschätzung zum spezifischen Umgang mit Tieren oder deren Rechte. Der dritte Schwerpunkt der Darstellung seiner Position kennzeichnete den Aspekt, dass kaum ein Hauptautor der Debatte in dem Maße in der Kritik steht wie 647 Husserl: Text Nr. 10: »Die Welt der Normalen« (1931) (Hua. XV), S. 140. 648 Vgl. Tomasello: Human Thinking (2014), S. 84 (dt.: S. 129).
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Tomasello, wie anhand der jeweiligen Vorgehensweise nach Searle, Husserl und Scheler untermauert. Denn die These der differentia specifica nach Tomasello beruht auf menschlicher Beobachtung und Interpretation des tierischen Verhaltens. Dass allerdings Annahmen zur Geteiltheit, Gemeinsamkeit oder Kollektivität nicht – oder zumindest nicht ausschließlich – aus der Beobachtung der Bewegungsabläufe oder Handlungsvollzüge geschlussfolgert werden können, legte Searle bereits um 1990 dar. Desweiteren vertritt Tomasello über die differentia specifica hinaus, dass ein menschliches Neugeborenes sein Gegenüber erst als Objekt wahrnimmt und demnach die Genese vom Ich zum Wir verläuft. Der Phänomenologe Max Scheler würde dem entgegensetzen, dass zum einen eine genetische Erklärung von Gefühlsphänomenen per se fehlgeleitet ist und zum anderen aufgrund der, ebenfalls bei Kleinkindern beobachtbaren, Einsfühlung die Genese gerade vom Wir zum Ich verläuft649 . Welcher der beiden Verläufe der Genese letztlich vorliegt, soll hier offen bleiben.650 Doch auch die Kritik, welche man nach Husserl anbringen kann, zielt auf den Kern der Untersuchung Tomasellos. Im Hintergrund der Überlegungen Husserls lässt sich nämlich die harte These formulieren, dass Tomasello lediglich eine Geschichte erzählt. Nur die Begründung, weshalb es sich um eine Geschichte
649 Das Kleinkind befindet sich mit seinem Gegenüber »in einem Lebensstrom« (Scheler: Wesen u. Formen d. Sympathie [1923], Teil A, II, S. 36.), in einer »vorbewußte[n] vitalpsychischen Einheit« (ebd., S. 39). Die gegenwärtigen Kenntnisse der Entwicklungspsychologie scheinen Scheler zumindest in der von ihm gesetzten Entwicklungsreihenfolge der Gefühle – von der Gefühlsansteckung hin zur Einfühlung – Recht zu geben. So heißt es etwa bei Doris BischofKöhler: »Gefühlsansteckung dürfte eine zentrale Rolle bei einer Verhaltenseigentümlichkeit spielen, die in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres autritt, dem ›social referencing‹. Das Baby blickt angesichts eines unvorhergesehenen Ereignisses rasch zur Mutter. Vielfach wird dies dahingehend interpretiert, ›es wolle wissen, was die Mutter von der Sitatuation hält‹. Damit unterstellt man ihm nun allerdings die Fähigkeit, Annahmen über das Bewusstsein der Mutter zu machen. Eine alternative, weniger aufwendige Erklärung geht davon aus, dass ein Baby, angesichts der veränderten Situation verunsichert, durch Blickkontakt die Nähe zur Bezugsperson sucht und dadurch sein Sicherheitsdefizit behebt […]. Die Emotion, die sie ausdrückt, überträgt sich dann durch Gefühlsansteckung auf das Kind und insodern wird ihm tatsächlich übermittelt, was die Mutter von der Situation hält.« Doris Bischof-Köhler: »Empathie, Theory of Mind und die Fähigkeit, auf mentale Zeitreise zu gehen. Zur Phylogenese und Ontogenese sozial-kognitiver Kompetenzen«, in: Psychologie – Kultur – Gesellschaft, hg. v. Boris Mayer u. Hans-Joachim Kornadt, VS Verlag für Sozialwissenschaften, 1. Auflage 2010, S. 47–69, hier: S. 49f. 650 Einige Autoren sprechen sich auch für eine Korrelation der Entwicklung des Ichs und Wirs aus, wie beispielsweise Simon Frank in Die geistigen Grundlagen der Gesellschaft (1930). Die Gleichursprünglichkeit expliziert Frederick Stoutland in Bezug auf Handlungen wie folgt: »It is pointless to establish conceptual or explanatory priority among the actions of individuals and the actions of social groups. We switch back and forth effortlessly, sometimes explaining the social in terms of the individual, sometimes the individual in terms of the social.« Stoutland: »Why are Philosophers of Action so Anti-Social?« (1997), S. 51 (dt. S. 273f.).
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
handelt, fällt bei den drei genannten Autoren unterschiedlich aus: Tomasello erzählt eine Geschichte, weil man nicht aus der Beobachtung einer Handlung auf die Handlungsmotive, den Modus schließen kann, da die Handlungsabläufe im parallelen und gemeinsamen Fall identisch ausfallen können, wie Searle betont. Husserl bekräftigt, dass keine Erklärung aus der Beobachterperspektive – schon gar nicht eine Interpretation des tierischen Verhaltens – zielführend ist, sondern es müsse sich um eine Erste-Person-«what-it-is-like«-Beschreibung handeln. Würde Scheler die Position Tomasellos kennen, so würde er darlegen, dass Tomasello bestimmte Gefühlsphänomene, wie insbesondere die Einsfühlung missachtet und bei der Darstellung der Gefühlsgenese falsch liegt. Folgt man der genetischen Überlegungen nach Tomasello dennoch, so lässt sich die Definition einer realen »tiefgreifenden« Intentionalitätsform wie folgt vervollständigen: Die realen Beteiligten müssen spezifische kognitive Fähigkeiten besitzen. Die Beteiligten müssen real, wechselseitig sozial und freiwillig im »We-mode« aufeinander bezogen sein. Dies führt dazu, dass sie sich als Partner verstehen, was in ihrem Denken, Handeln und Fühlen zum Ausdruck kommt, sodass die anderen als Partner behandelt werden und beispielsweise keine Unterdrückung stattfindet. Die Beteiligten nehmen den »point of nowhere«-Standpunkt ein, sodass sie das Denken, Handeln und Fühlen aller Beteiligten aus einer moralischen Haltung heraus beleuchten und auf den »common ground« beziehungsweise sogar »cultural common ground« beziehen. Sind sie auf diese gerade geschilderte Weise bezogen, dann liegt laut Tomasello nicht nur das soziale Verhalten einer Kollaboration vor, sondern ein ultrasoziales Verhalten, das für die Konstitution einer Kultur unumgänglich scheint. Zentral in der evolutionären Verhaltensforschung ist dabei nicht primär wie man auf den oder die anderen eingeht, wie etwa im »We-mode«, sondern wer überhaupt auf diese Weise auf den oder die anderen eingehen kann. Die zwei Kernthesen lauten hierbei: einerseits könne nur der Mensch auf diese Weise gerichtet sein, sodass in der »tiefgreifenden« Anerkennung des Anderen, in der Anerkennung als gleichberechtigten, intentionalen Akteur die differentia specifica festgemacht werden könne. Andererseits schildert Tomasello ausführlich, wie diese spezifischen kognitiven Fähigkeiten erst im Verlauf der Onto- und Phylogenese unter der Bedingung der menschlichen Sozialisation entstehen.
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Zwischenfazit zu Kapitel 3
Der Vergleich der Konzeptionen der Intentionalitätsformen der drei Hauptströmungen ab dem 20. Jahrhundert im Gesamtumfang des dritten Kapitels zeigte: die Autoren der unterschiedlichen Ansätze zielen im Kern darauf ab, dass je nach Bezugnahme der Beteiligten eine andere Intentionalitätsform vorliegt. Bei einem ausgeprägten, »tiefgreifenden« Zusammenhalt der Beteiligten ist ihre Bezugsrich-
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3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
handelt, fällt bei den drei genannten Autoren unterschiedlich aus: Tomasello erzählt eine Geschichte, weil man nicht aus der Beobachtung einer Handlung auf die Handlungsmotive, den Modus schließen kann, da die Handlungsabläufe im parallelen und gemeinsamen Fall identisch ausfallen können, wie Searle betont. Husserl bekräftigt, dass keine Erklärung aus der Beobachterperspektive – schon gar nicht eine Interpretation des tierischen Verhaltens – zielführend ist, sondern es müsse sich um eine Erste-Person-«what-it-is-like«-Beschreibung handeln. Würde Scheler die Position Tomasellos kennen, so würde er darlegen, dass Tomasello bestimmte Gefühlsphänomene, wie insbesondere die Einsfühlung missachtet und bei der Darstellung der Gefühlsgenese falsch liegt. Folgt man der genetischen Überlegungen nach Tomasello dennoch, so lässt sich die Definition einer realen »tiefgreifenden« Intentionalitätsform wie folgt vervollständigen: Die realen Beteiligten müssen spezifische kognitive Fähigkeiten besitzen. Die Beteiligten müssen real, wechselseitig sozial und freiwillig im »We-mode« aufeinander bezogen sein. Dies führt dazu, dass sie sich als Partner verstehen, was in ihrem Denken, Handeln und Fühlen zum Ausdruck kommt, sodass die anderen als Partner behandelt werden und beispielsweise keine Unterdrückung stattfindet. Die Beteiligten nehmen den »point of nowhere«-Standpunkt ein, sodass sie das Denken, Handeln und Fühlen aller Beteiligten aus einer moralischen Haltung heraus beleuchten und auf den »common ground« beziehungsweise sogar »cultural common ground« beziehen. Sind sie auf diese gerade geschilderte Weise bezogen, dann liegt laut Tomasello nicht nur das soziale Verhalten einer Kollaboration vor, sondern ein ultrasoziales Verhalten, das für die Konstitution einer Kultur unumgänglich scheint. Zentral in der evolutionären Verhaltensforschung ist dabei nicht primär wie man auf den oder die anderen eingeht, wie etwa im »We-mode«, sondern wer überhaupt auf diese Weise auf den oder die anderen eingehen kann. Die zwei Kernthesen lauten hierbei: einerseits könne nur der Mensch auf diese Weise gerichtet sein, sodass in der »tiefgreifenden« Anerkennung des Anderen, in der Anerkennung als gleichberechtigten, intentionalen Akteur die differentia specifica festgemacht werden könne. Andererseits schildert Tomasello ausführlich, wie diese spezifischen kognitiven Fähigkeiten erst im Verlauf der Onto- und Phylogenese unter der Bedingung der menschlichen Sozialisation entstehen.
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Zwischenfazit zu Kapitel 3
Der Vergleich der Konzeptionen der Intentionalitätsformen der drei Hauptströmungen ab dem 20. Jahrhundert im Gesamtumfang des dritten Kapitels zeigte: die Autoren der unterschiedlichen Ansätze zielen im Kern darauf ab, dass je nach Bezugnahme der Beteiligten eine andere Intentionalitätsform vorliegt. Bei einem ausgeprägten, »tiefgreifenden« Zusammenhalt der Beteiligten ist ihre Bezugsrich-
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Formen kollektiver Intentionalität
tung aufeinander wechselseitig (de Vecchi), ihr Bezugsakt ist kommunikativ (Husserl) und freiwillig (Bratman) und der Bezugsmodus kann als »We-intentions«/»We-mode« bezeichnet werden (Searle, Tuomela und Tomasello), sodass beispielsweise ihre Subpläne kooperativ in allen Handlungsebenen ineinandergreifen (Bratman) und sie exemplarisch gesprochen zusammenhalten wie die drei Musketiere (Tuomela). Laut den eben genannten Autoren sind die Intentionalitätsformen graduell und ihre Entwicklung geschieht stets von der individuellen hin zur kollektiven Intentionalität, welche – so zumindest die Terminologie nach de Vecchi, Searle, Tuomela und Tomasello – als höchst entwickelste, erstrebenswerteste Intentionalitätsform gilt. Dies kann mithilfe des Kinobesuches, der Fußballspieler oder der Teilnehmer einer Jagd dargelegt werden. Die Unterschiede ihrer Konzeptionen liegen zum einen in den von ihnen gewählten Methoden (phänomenologisch, sprachanalytisch oder verhaltenstheoretisch beziehungsweise beschreibend oder erklärend). Zum anderen jedoch auch, in der abweichenden Schwerpunktsetzung und Beantwortung der Frage: was wird wie von wem konstituiert? In anderen Worten: die Fokussierung liegt auf dem Intentionalitätsobjekt, dem Intentionalitätsmodus oder dem Intentionalitätssubjekt. In der Phänomenologie Husserls wird die Entwicklung nachgezeichnet vom verstehendem über den kommunikativen zum sozialen Bezug aufeinander. Bei de Vecchi dient vor allem das Kriterium der Bezugsrichtung – wie die Beteiligten aufeinander bezogen sind, nämlich ein –, gegen oder wechselseitig – zur Differenzierung der Intentionalitätsformen: Sind die Beteiligten gegenseitig aufeinander bezogen, so besteht eine intersubjektive Intentionalität. Interagieren die Beteiligten wechselseitig sozial, so liegt eine kollektive Intentionalität vor. Was dabei konstituiert wird, wird in ihren Überlegungen lediglich angerissen, wie etwa, dass die intersubjektive Intentionalität als Ausgangspunkt der Freundschaft dient. Bei Husserl hingegen findet sich keine spezifische Beschreibung des Konstituierten – bei ihm heißt es schlicht allgemein: die Konstitution einer gemeinsamen Welt –, doch führt er wiederum pointierter aus, wer beziehungsweise wer gerade nicht auf diese spezifische Weise bezogen sein kann. In der Sprachanalytik, in dem vorliegenden Versuch einer Typologisierung, vorwiegend anhand von Searle und Tuomela dargelegt, geht es um die Entwicklung des koordinativen zum kooperativen Verhalten beziehungsweise um die Konstitution sozialer und institutioneller Fakten. Der, von Searle um 1990 etablierte, Neologismus »kollektive Intentionalität« dient bei ihm als Sammelbegriff für alle Intentionalität mit mindestens zwei Beteiligten. Genauer kann mit Rückgriff auf die Phänomenologie gesagt werden: als individuelle Intentionalität bezeichnet Searle alle Formen des einseitigen Bezugs auf ein Objekt, alle Formen des gegenseitigen Bezugs mindestens zweier Lebewesen gelten als »bloße kollektive Intentionalität – wobei sich hier die Beteiligten wie man mit Tomasello und de Vecchi einwerfen könnte, ebenfalls als Objekte oder Mittel zum Zweck betrachten – und der wechselseitige
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
Bezug wird als kollektive Intentionalität im engen Sinne gefasst. De Vecchi hingegen nimmt keine Binnendifferenzierung innerhalb der kollektiven Intentionalität vor und verwendet diese Bezeichnung ausschließlich in jener letzten Variante nach Searle. Sie plädiert ihrerseits für alle Formen mit mehreren Beteiligten – gegenoder wechselseitig – für den Neologismus »heterotropic intentionality«. Zwar ist demnach für die »tiefgreifendste« Intentionalitätsform die Bezeichnung »collective intentionality« beziehungsweise »full blown collective intentionality« gängig, doch zeigte eine Detailanalyse, dass hierbei die Fokussierungen deutlich auseinander gehen: erstens geht Searle prägnanter auf die Frage ein, was konstituiert wird, nämlich soziale oder institutionelle Tatsachen. Zweitens spricht er nicht nur – wie Tuomela von »We-intentions« und einer »starken kollektiven Intentionalität« –, sondern verknüpft diese – ähnlich wie Tomasello – mit der Annahme einer differentia specifica. Während Searle hervorhebt, dass die Abstraktion von den physikalischen Eigenschaften der Objekte nur mittels Sprache geschehen kann (»linguistic intentionality«), ist es zunächst Tuomela, der primär dem »We-mode« als Bedingung der Möglichkeit einer »tiefgreifenden« Intentionalitätsform nachgeht und diesen weiter aufschlüsselt (»we-mode group reason«, »collectivity condition« und »collective commitment«). Der Modus, die Grundhaltung – wie etwas konstituiert wird – tritt nicht wie bei Searle in den Hinter –, sondern gerade in den Vordergrund: Befinden sich die Beteiligten im »I-mode«, kooperieren sie demnach notgedrungen miteinander, weil man für die Realisierung mehrere Beteiligte benötigt, so bezeichnet Tuomela dies als »shared intention« oder »not full blown collective intentionality«. Denken, handeln und fühlen die Beteiligten im »We-mode« – kooperieren sie intrinsisch miteinander – was Husserl der Sache nach mit dem »füruns« andeutet und de Vecchi als wechselseitigen sozialen Bezug fasst –, so ist dies nach Tuomela eine »joint intention« oder »full blown collective intentionality«. In der evolutionären Verhaltensforschung nach Tomasello wird demgegenüber die Frage, was wie von wem konstituiert wird, in allen ihren Facetten dezidiert nachgegangen: Mindestens zwei »We-mode«-Subjekte können eine Kollaboration (»joint intentionality«) beziehungsweise mindestens drei moralfähige »We-mode«Subjekte können eine Kultur (»collective intentionality«) konstituieren, während der »I-mode« lediglich durch die »individual intentionality« charakterisiert ist. Der »We-mode« fungiert in seinem Ansatz als differentia specifica zwischen dem Tier und dem Menschen, welche mittels menschlicher Onto- und Phylogenese erklärbar sei. Die Intentionalitätsformen sind nicht irgendwelche Phänomene, sondern sie kennzeichnen, so Tomasello, entscheidende Schritte in der Evolution: Der Einsatz der »joint intentionality« vor rund 400.000 Jahren markiert den Beginn der Menschheitsgeschichte und der Einsatz der »collective intentionality« vor circa 150.000 Jahren den Ausgangspunkt des sogenannten modernen Menschen. Nimmt man die Fußballspieler als Musterbeispiel für Tuomelas Differenzierung und verbindet man dies mit den Kernthesen Tomasellos, dann ergibt sich – poin-
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Formen kollektiver Intentionalität
tiert in höchst umgangssprachlicher Wortwahl – folgendes Fazit: Ruhmsüchtige »I-mode«-Fußballer verhalten sich »affig«, während »We-mode«-Fußballer »die Krone der Schöpfung« sind. Um einen Überblick der Intentionalitätsformen der verschiedenen Hauptansätze, deren Verzweigungen sowie Begriffsverwendungen zu erhalten, werden die verschiedenen Hauptbegriffe der Autoren aufgeführt (siehe Tabelle Nr. 19). Aufgeschlüsselt und gegenübergestellt werden dann folgend die Verwendungen der dominantesten Begriffe der Debatte ab 1984 jeweils einzeln hinsichtlich ihrer Intension und Extension (siehe die Tabellen Nr. 20, Nr. 21 und Nr. 22). Die Debattenteilnehmer meinen womöglich ein und dasselbe Phänomen, das aber unterschiedlich betitelt wird oder verwenden ein und denselben Begriff für drastisch voneinander abweichende Sachverhalte. Tabelle Nr. 19: Übersicht der verschiedenen Begriffe einiger Autoren der Debatte Autor
Differenzierung der Intentionalitätsform
Edmund Husserl
»verstehender Akt« – »kommunikativer Akt« »Ich-Intentionalität« – »interpersonale Intentionalität«
Francesca Maria de Vecchi
»solitary intentionality« – »heterotropic intentionality«: »intersubjective«, »social« und »collective intentionality«
John Rogers Searle
»individual intentionality« – »bloße kollektive Intentionalität« (»prelinguistic intentionality«) – »strong collective intentionality« (»linguistic intentionality«)
Raimo Heikki Tuomela
»shared intention« (»not full blown collective intentionality«; »I-mode«) – »joint intention« (»full blown collective intentionality«; »We-mode«)
Michael Bratman
»joint intention« – »shared intention« – »shared intentional activity« – »shared cooperative activity«
Michael Tomasello
»individual intentionality« – »joint intentionality« – »collective intentionality«; wobei der Prozess von »individual« über »joint« zur »collective intentionality« als »shared intentionality« verstanden wird
Der Begriff der kollektiven Intentionalität wird, nach dessen erstmaligen Auftreten im Jahr 1990, von den darauffolgenden Autoren der Debatte gegen Ende des 20. Jahrhunderts bis heute für die »tiefgreifendste« Intentionalitätsform verwendet. Gegen eine solche qualitative Verwendung wurde von Schmid eingewendet, dass der Begriff »Kollektiv« lediglich seinem lateinischen Ursprung nach quantitativ als »Zusammenlegung von Individuen« verstanden werden könne und somit vielmehr auf den Fall des parallelen Nebeneinanders anstatt auf das gemeinte Phänomen des gemeinsamen Miteinanders referiere. Üblich ist jedoch gerade die Position, dass die »entwickelste« Intentionalitätsform mit der Bezeichnung »collective
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
intentionality« belegt wird. Abweichungen finden sich erstens darin, wie diese näher charakterisiert wird: als »strong sense of the term ›sharing‹« (de Vecchi), als »strong sense of jointness« (Tuomela), als »We-mode« mit einem Moralverständnis (Tomasello) oder als Konstitution institutioneller Tatsachen (Searle). Zweitens gehen die Positionen darin auseinander, ob die kollektive Intentionalität als Sammelbegriff dienen kann: als Sammelbegriff für alle Intentionalitätsformen mit mindestens zwei beteiligten Lebewesen, das heißt für jegliche Konstitution sozialer und institutioneller Tatsachen (Searle) beziehungsweise für jegliches »group behaviour« unabhängig davon, ob es im »I« oder »We-mode« geschieht (»not full blown« oder »full blown collective intentionality« nach Tuomela). Oder müsste ein solcher Sammelbegriff, der zahlreiche, voneinander abweichende Phänomene beinhaltet, nicht vielmehr ersetzt werden? Diesen Weg schlagen beispielsweise de Vecchi und Schmid ein und möchten als neue umfassende Termini die »heterotropic intentionality« beziehungsweise die Inter-Intentionalität etablieren. Dies wird wiederum damit begründet, dass die Bezeichnung »kollektive Intentionalität« lediglich für eine ganz bestimmte Intentionalitätsform gerechtfertigt ist, sodass damit nicht alle Intentionalitätsformen mit mindestens zwei Lebewesen, sondern lediglich spezifische Phänomene gekennzeichnet sein sollten. Etwa wie bei Tomasello die Konstitution einer Kultur, welche durch mindestens drei moralfähige »We-mode«-Subjekte geschieht. Hierbei ist allerdings zu vermerken, dass Tomasello innerhalb der »collective intentionality« – welche bei ihm stets durch den »We-mode« charakterisiert ist – von einer Entwicklung der Moralfähigkeit spricht, weshalb gewissermaßen auch bei ihm, eine Binnendifferenzierung der »collective intentionality« zu finden ist: eine »reasonable and responsible collective intentionality« bestehe erst ab sechs Jahren. Verfolgt man diesen Ansatz des »We-mode« und der Moralfähigkeit nach Tomasello, dann müsse sich jedoch ergeben, dass bei Dreijährigen noch eine verminderte Form der kollektiven Intentionalität vorliegt. Alle diese Verwendungen des Begriffs »kollektive Intentionalität« nach de Vecchi, Searle, Tuomela und Tomasello seien hier, wenn auch äußerst vereinfachend, tabellarisch zusammengetragen (Tabelle Nr. 20).
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Formen kollektiver Intentionalität
Tabelle Nr. 20: Die Auffassungen der kollektiven Intentionalität und deren Differenzierungen (Fortsetzung auf der nächsten Seite) Autor
Welches Phänomen als »kollektive Intentionalität« bezeichnet wird
de Vecchi
- wechselseitiger sozialer Bezug mindestens zweier Beteiligter (wobei de Vecchi ausschließlich Subjekte thematisiert und daher nicht klar ist, ob und wenn ja bei welcher Intentionalitätsform eine differentia specifica in ihrem Sinne vorliegt) - strong sense of the term ›sharing‹
Searle
1. Stufe: - »capacity […] to engage in cooperative behaviour and sharing of attitudes with con-specifics« - »bloße kollektive Intentionalität« /»prelinguistic intentionality« - Tieren und Menschen möglich - mindestens zwei Beteiligte - Konstitution sozialer Tatsachen 2. Stufe: - Konstitution institutioneller Tatsachen (durch Repräsentation, »we-intentions« und Ähnliches) - »linguistic intentionality« - nur dem Menschen möglich: differentia specifica Daraus folgt: welche Form der kollektiven Intentionalität vorliegt, hängt ab von der Konsequenz, konkret davon welche Tatsache (sozial oder institutionell) konstituiert wird
Tuomela
1. Stufe: - »not full blown collective intentionality« = »group behaviour in I-mode« = »shared intention« - mindestens zwei Beteiligte 2. Stufe: »full blown collective intentionality« = »group behaviour in the We-mode« (»Wemode group reason«, »collectivity condition« und »collective commitment«) = »joint intention« (wobei Tuomela ausschließlich Subjekte thematisiert und daher nicht klar ist, ob und wenn ja bei welcher Intentionalitätsform eine differentia specifica in seinem Sinne vorliegt) Daraus folgt: welche Form der kollektiven Intentionalität vorliegt, hängt ab von dem Modus der Beteiligten (»I-« oder »We-mode«)
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
Autor
Welches Phänomen als »kollektive Intentionalität« bezeichnet wird
Tomasello
1. Stufe: - mindestens drei beteiligte »We-mode«-Subjekte - Konstitution einer Kultur - kognitives Verständnis der Anderen als intentionale Akteure und der kollektiven Praktiken (zum Beispiel der institutionellen Fakten) - die differentia specifica ist schon vorher zu finden (bei der »joint intentionality« in seinem Sinne) 2. Stufe: - tiefgreifendes Verständnis der Anderen als intentionale Akteure und tiefgreifendes Verständnis der kollektiven Praktiken - »reasonable and responsible collective intentionality« Daraus folgt: welche Form der kollektiven Intentionalität vorliegt, hängt ab von der Grundhaltung des »We-modes« und der Tiefe des Verständnisses des Anderen als intentionalen Akteur und der Tiefe des Verständnisses der kollektiven Praktiken und der Tiefe der eigenen Moralfähigkeit.
Obwohl der Begriff »joint intentionality« bei Tuomela und Tomasello im Zentrum ihrer jeweiligen Überlegung steht und Searle nachweislich von beiden beeinflusst ist, ist diese Bezeichnung bei Searle nicht zu finden. Bei Tuomela dient er als Synonym für den »We-mode«, die »full blown collective intentionality«. Die »joint intentionality« bei Tomasello ist hingegen zwar ebenfalls durch den »Wemode« charakterisiert, wird jedoch nicht als vollkommenste Intentionalitätsform gewertet, sondern bildet nur die Vorstufe zu dieser651 (Tabelle Nr. 21). Tabelle Nr. 21: Die Verwendung des Begriffs »joint intentionality« in der Debatte Autor
Welches Phänomen als »joint intentionality« bezeichnet wird
Searle
bei Searle findet sich der Begriff »joint intention« oder »joint intentionality« nicht
Tuomela
»joint intention« = »we-mode« = »full-blown collective intentionality«
Tomasello
- ist nur dem Menschen möglich durch seine spezifische Onto- und Phylogenese - durch den »We-mode« gekennzeichnet, welcher nach Tomasello die differentia specifica zwischen Tier und Mensch ist
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Daher scheint die Übersetzung des Begriffs »joint« mit »vereint« (vgl. Schmid u. Schweikard: »Einleitung: Koll. Int.« (2009), S. 61) wohl nach Tuomelas Verwendung der »joint intentionality« angemessen zu sein. Wird diese »Vereinigung« im weitesten Sinne als »We-mode« begriffen, so könnte die »joint intentionality« auch im Sinne Tomasellos hierunter gezählt werden.
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Formen kollektiver Intentionalität
Ein ebenso umfassendes Durcheinander der Begriffsverwendungen liegt zweifelsohne auch bei der »shared intentionality« vor: Während sich beim frühen Tomasello abweichende Verwendungen dieser Bezeichnung finden lassen, ist deutlich, dass damit in den späteren Werken der Entwicklungsprozess der gesamten menschlichen Onto- und Phylogenese umfasst wird. In der Sprachanalytik dient die »shared intentionality« einerseits als Synonym für den »I-mode«, die »not full blown collective intentionality« (Tuomela). Andererseits verwendet Searle zwar vereinzelt ebenfalls die Bezeichnung »shared intentionality«, diese wird bei ihm jedoch nicht weiter ausgeführt. Daher ist anzunehmen, dass die Bezeichnung dort als Synonym zur kollektiven Intentionalität in seinem weiten Sinne als Oberbegriff für alle gegen- und wechselseitigen Bezugnahmen verwendet wird. In Making the Social World (2010) heißt es allerdings, dass Tiere »shared attitudes, shared desires, and shared beliefs« haben könnten, sodass mit dem Hintergrund seiner Annahme, dass Tiere lediglich eine »bloße kollektive Intentionalität« eingehen können, die Bezeichnung »shared intentionality« möglicherweise lediglich als Synonym für die schwache kollektive Intentionalität gelten könnte. Bratman nimmt mit dem Attribut »shared« eine Dreiteilung vor (»shared intention«, »shared intentional activity« und »shared cooperative activity«). Bei de Vecchi wiederum tritt ebenfalls, wie bei Bratman, eine Art Binnendifferenzierung auf, da sie schreibt: »collective intentionality is a shared intentionality in a very strong sense of the term ›sharing‹«. Was jedoch unter diesem Terminus im Detail zu verstehen ist, bleibt, wie bei vielen weiteren genannten Autoren, ungeklärt (siehe Tabelle Nr. 22). Doch durch ihre Auseinandersetzung und Aufnahme der Differenzierung der Gefühlsphänomene nach Scheler an anderen markanten Stellen ihrer Werke könnte das »sharing« das de Vecchi im Sinn hat als Miteinander und der »strong sense of the term ›sharing‹« als Miteinanderfühlen gedeutet werden.
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
Tabelle Nr. 22: Die Verwendung des Begriffs »shared intentionality« in der Debatte Autor
Welches Phänomen als »shared intentionality« bezeichnet wird
de Vecchi
differenziert wohl zwischen einem starken und schwachen Sinne der »shared intentionality«, wobei anzunehmen ist, dass daher dieser bei ihr als Sammelbegriff dient
Searle
entweder als Synonym zur kollektiven Intentionalität, das heißt als Sammelbegriff für alle gegen- und wechselseitigen Intentionalitätsformen mit mindestens zwei Beteiligten, das heißt, dass hierunter sowohl die »bloße« als auch die »tatsächliche kollektive Intentionalität« fällt oder nur als Synonym für die »bloße kollektive Intentionalität«, das heißt als Synonym zur Konstitution sozialer Tatsachen. Welche konkrete Extension letztlich auch zugrunde gelegt werden man, in beiden Fällen sind nach Searle hierbei auch Tiere als Beteiligte umfasst.
Tuomela
»shared intention« = »group behaviour in the I-mode« = »not full blown collective intentionality«
Bratman
»shared intention«, »shared intentional activity« und »shared cooperative activity«
Tomasello
als Sammelbegriff für den Entwicklungsprozess von der individuellen über die »joint« zur kollektiven Intentionalität
Eine inhaltliche und nicht primär terminologische Gegenüberstellung der Positionen erfolgte im Verlauf dieser Arbeit anhand der Einschätzung des menschlichen Verhaltens einerseits und des tierischen Verhaltens andererseits. Die Abgrenzungen der Ansätze findet sich in den Methoden (beschreibend oder erklärend), in der Auffassung der Intentionalität (als Bewusstsein von etwas, als Bewusstsein einer Absicht oder als Bewusstsein eines Handlungsvollzugs), in der Definition des Kollektivs (kurz gefasst: mindestens zwei Lebewesen oder mindestens drei Subjekte) sowie im Zweck der Intentionalitätsformkonzeption (zur Differenzierung der Bezugsrichtungen, zur Differenzierung von Koordination und Kooperation oder zur Darstellung der differentia specifica). Bei der Einschätzung des tierischen Verhaltens treten die inhaltlichen Übereinstimmungen, die bei der Einschätzung der menschlichen Intentionalitätsformen auffallend sind, in den Hintergrund. Denn sie alle besagen auf die Kernaussage gebracht: nur der Mensch kann institutionelle Tatsachen (Searle), eine Kultur (Tomasello) oder eine gemeinsame Welt (Husserl) konstituieren. Hierbei scheint sich also vorwiegend die Terminologie, jedoch nicht der zentrale Inhalt der Ansätze zu unterschieden. Mit der Einschätzung des tierischen anstatt des menschlichen Verhaltens tritt hingegen klar hervor: ein und dasselbe Phänomen wird unterschiedlich beschrieben und damit unterschiedlich bewertet: Unter einem phänomenologischen Blickpunkt stellt eine Einschätzung der tierischen Intentionalität eine Grenze dar, da eine Aussage hierüber aus der mensch-
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Formen kollektiver Intentionalität
lichen Perspektive heraus nicht getroffen werden darf. Tuomela kann hingegen so gedeutet werden, dass bei Tieren immerhin ein »group behaviour« vorliegt, welches sich, wie Searle präziser darstellt, durch die Konstitution sozialer Tatsachen, wie beispielsweise die Aufgabenverteilung unter Bienen, auszeichnen kann. Tomasello seinerseits tritt – ausdrücklicher als Searle – für eine differentia specifica ein: Die tierische Intentionalität ist nicht die Grenze des Ansatzes, sondern vielmehr gerade der Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Den signifikanten Wesensunterschied zwischen dem Tier und dem Menschen verortet Tomasello darin, dass es nur dem Menschen möglich sei wirbezüglich zu agieren, das ist die Handlungen in einem »We-mode« auszuführen, was er als ultrasozial fasst: Tiere verfügen demnach womöglich über Intentionalität (so die Position Husserls), lediglich über individuelle Intentionalität (nach Tomasello) oder über »bloße kollektive«, »prelinguistic intentionality« (Searle). Wird als Referenz hingegen ein menschliches Verhalten angenommen, so tritt zutage, dass sich die Ansätze der drei Hauptströmungen eher ergänzen anstatt gegenüberstehen: Angenommen Anna und Berta wandern nebeneinander her und haben nur je für sich (»I-mode«) das Ziel den Berggipfel zu erreichen, so würde Tuomela dies als »shared intention« oder »not full blown collective intentionality« bezeichnen, wobei besonders die Bezeichnung »Kollektiv« problematisch erscheint, da es sich lediglich um zwei Beteiligte handelt. Für Tomasello kann demgegenüber der parallele Vollzug von Anna und Berta als markantes Beispiel der »individual intentionality« gelten. Hier ist wiederum kritisch, dass in jener Beschreibungsart kaum erfasst werden kann, dass beide Beteiligte erstens auf ein identisches Intentionalitätsobjekt gerichtet sind, zweitens sich gegenseitig erfassen, drittens wissen, dass sie auf ein und dasselbe gerichtet sind (»group behaviour«) und viertens, wenn auch aus Eigeninteressen heraus, – mehr koordinativ als kooperativ – aufeinander eingehen. Dies wird wiederum besonders in den Ausführungen de Vecchis in der Differenzierung der Bezugsrichtung deutlich: Bei Anna und Berta handelt es sich immerhin um zwei Subjekte, welche gegenseitig aufeinander bezogen sind (gegenseitige intersubjektive Intentionalität). Angenommen Anna und Berta wandern kooperativ miteinander (»We-mode«), welcher auch das wechselseitige Versprechen beinhaltet am gemeinsamen Ziel festzuhalten und dieses gemeinsam zu erreichen, so ist dies eine »joint intention« oder »full blown collective intentionality« (Tuomela), eine »joint« (Tomasello) oder eine »collective intentionality« (de Vecchi). Um es nochmals herauszustellen: bei der Einschätzung des tierischen Verhaltens liegt ein prägnanter Dissens vor, während die Autoren der Debatte bei einer Einschätzung des menschlichen Verhaltens viel eher auf ein und dasselbe zielen. Die Abweichungen finden bezüglich der menschlichen Intentionalitätsformen vorwiegend in der Verwendung der Terminologie und der angewendeten Methode, aber nicht der Einschätzung der Situation selbst.
3. Intentionalitätsformen: Drei Konzepte
Dies sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in der Debatte auch Begriffe gibt, welche die Assoziation hervorrufen, als ob sie sich auf ein und dasselbe Phänomen beziehen, jedoch tatsächlich in der Intension und Extension weitreichend voneinander abweichen. Dies wurde anhand der Begriffe »geglaubte« (believed), »eingebildete« und »abgeleitete (derived) Intentionalität« gezeigt: Searle, Meijers und Schmid beschrieben, dass der Bezug auf weitere Beteiligte auch phantasiert sein kann, dass also der Bezug nur angeblich besteht, weshalb dies als geglaubte, nicht-tatsächliche Intentionalität zu fassen ist. Nach einem Beispiel von Schmid: Anna träumt Teil einer Tanzgruppe zu sein.652 Husserl hingegen zielt mit der Bezeichnung »eingebildete Intentionalität« nicht auf einen phantasierten Bezug, sondern vielmehr darauf, dass das Individuum in eine Kultur hineingeboren ist und das Bewusstsein entwickelt Mitglied dieser spezifischen Kulturgruppe zu sein653 . Es wird demnach etwas in den Einzelnen als Gruppenmitglied »hineingebildet«, wodurch, grob gesprochen, der Einfluss der Gruppe auf das Individuum im Vordergrund steht. Tuomela verwendet den Begriff »derived intentionality« demgegenüber gerade für den Einfluss der Einzelnen auf die Gruppe: Der »group agent« ist ein besonderer Akteur, da er nicht selbst, sondern nur auf vermittelte, abgeleitete Weise aufgrund der Einzelbeteiligten über Intentionalität verfügt.654 Bei Searle wiederum dient jener Begriff zur Kennzeichnung, dass die Konstitution von Wörtern, Sätzen oder Bildern655 – oder wohl präziser: die Konstitution von Wörtern, Sätzen und Metaphern – auf spezifischen Intentionalitätsformen basiert und in diesem Sinne abgeleitet ist. Es ist nach Searle nicht die Intentionalität der Gruppe oder die Intentionalität, welche auf Basis der Gruppe in den Einzelnen hineinkonstituiert wird, sondern die Kennzeichnung der notwendigen, nämlich konkret der linguistischen Bedingung zur Konstitution einer institutionellen Tatsache, wie sie nur von Menschen möglich sind.
652 653 654 655
Vgl. H.B. Schmid: »Können Gehirne im Tank als Team denken?« (2009), S. 389f. Vgl. Husserl: Beilage XXVII: »Die persönliche Lebenszeit« (1922) (Hua. XIV), S. 219f. Vgl. Tuomela: Social Ontology (2013), S. 52. Vgl. Searle: Mind, Language and Society (1998), S. 92 (dt.: S. 112).
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4. Die Intentionalitätsmomente der Geteiltheit, Gemeinsamkeit und Kollektivität
Es ist in den vergangenen Kapiteln deutlich gemacht worden, dass sich in der Debatte um die Intentionalitätsformen in den drei Hauptströmungen unterschiedliche Konzeptionen finden, die jeweils andere Methoden und Zielsetzungen verfolgen. Gleichzeitig konnte jedoch ebenfalls festgestellt werden, dass sich ihre Beschreibungen und Analysen dennoch – wenn auch in Grenzen und wohl nur hinsichtlich der menschlichen Intentionalitätsformen – miteinander vereinen lassen, da sie unterschiedliche Nuancen ein und desselben Phänomens thematisieren, wie die Bezugsrichtung (ein –, gegen- oder wechselseitig), den Bezugsakt (verstehend, kommunikativ oder sozial), den Bezugsmodus (»I-« oder »We-mode«, freiwillig und moralisch) sowie welche Intentionalität der einzelne Beteiligte und die Gruppe zugeschrieben werden kann (etwa geglaubte, eingebildete oder abgeleitete Intentionalität). Wenn es etwas Besonderes im wechselseitigen, (ultra-)sozialen Gruppenverhalten gibt, wie etwa im Zusammenhalt einer Fußballmannschaft, dass elf Spieler ein Team bilden, dann liegt dies – so der Konsens – in der Intentionalität begründet. Eine solche Auffassung vertritt beispielsweise Searle in seinem für die Debatte wegweisenden Aufsatz »Collective Intentions and Actions«: »if there is anything special about collective behaviour, it must lie in some special feature of the mental component, in the form of the intentionality«1 . Da jedoch die Intentionalität selbst, wie besonders mit Husserl gesagt werden kann, aus verschiedenen Momenten besteht – nämlich dem Intentionalitätssubjekt, dem Intentionalitätsmodus und dem Intentionalitätsobjekt: wer wie auf was gerichtet ist – kann man durchaus die Frage stellen, in welchem Moment konkret die Besonderheit liegt. Dies verweist nach Hans Bernhard Schmid nicht auf irgendeine Problematik unter vielen weiteren, sondern ist gerade die »Gretchenfrage«2
1 2
Searle: »Coll. Intentions and Actions« (1990), S. 402 (dt.: S. 100) H.B. Schmid: »Auf einander zählen« (2011), S. 605. Ein ähnlicher Hinweis findet sich in: Hans Bernhard Schmid: »What Kind of Mode is the We-Mode? – On Raimo Tuomela’s Account of Collective Intentionality«, in: Social Ontology and Collective Intentionality (Studies in the Phi-
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Formen kollektiver Intentionalität
der Debatte. Dass sich die Positionen der Debatte danach schematisieren lassen auf welchen einzelnen Intentionalitätsmoment sie ihren jeweiligen Schwerpunkt legen, wurde von Michael Wilby, Hans Bernhard Schmid und David P. Schweikard um 2009 erstmals, wenn auch lediglich mittels der sprachanalytischen Positionen vorgeführt.3 Wilby, Schmid und Schweikard heben dabei allerdings nicht deutlich den tatsächlichen Clou dieser Methodik hervor: Eine in der Phänomenologie, vorwiegend mit Bezug auf die individuelle Intentionalität angewandte Differenzierung des Intentionalitätsobjektes, des Intentionalitätsmodus und des Intentionalitätssubjektes findet in der Debatte Anwendung zur Positionserfassung der sprachanalytischen Beiträge rund um die Intentionalitätsformen mit mehreren realen Beteiligten.4 Klassifiziert man die Positionen hinsichtlich der Frage der Verortung, so lässt sich diagnostizieren, dass diese »denkbar weit auseinander«5 liegen und »über das ganze Feld der Intentionalanalyse gestreut«6 sind. An einem einfachen Beispiel: angenommen wir haben Angst vor einem Hund, liegt dann die Besonderheit darin, dass ein besonderes Subjekt – Wir – vorliegt? Oder liegt die Besonderheit im Gehalt, da wir auf ein und dasselbe – denselben Hund – gerichtet sind? Oder liegt die Besonderheit im Modus, da wir uns doch beide vor dem Hund fürchten, uns durch unsere Angst verbunden fühlen sowie wechselseitig, kooperativ aufeinander bezogen sind und miteinander agieren, um uns zu helfen? Alle drei prinzipiellen Antwortmöglichkeiten sind allerdings, so Schmids Einschätzung, jeweils mit spezifischen Problemen konfrontiert.7 Bei dieser Zuordnung der Positionen anhand ihrer Hervorhebung eines Intentionalitätsmomentes handelt es sich jedoch (noch) nicht um ein etabliertes Modell, da zum einen gesagt werden muss, dass die Dreiteilung der Intentionalität, insbesondere in der Sprachanalytik, keinen Konsens darstellt beziehungsweise nicht als Dreiteilung thematisiert wird. Schmid und Schweikard
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losophy of Sociality, Band 8), 2017, S. 79–93. Im Folgenden als: H.B. Schmid: »What kind of Mode is the We-mode?« (2017). Vgl. (i) Schweikard: »Limiting Reductionism« (2008). (ii) Schmid u. Schweikard: »Einleitung: Koll. Int.« (2009), S. 38ff. (iii) Artikel »Collective Intentionality« – siehe: https://plato.stanford .edu/entries/collective-intentionality/ (zuletzt aufgerufen: 07.06.2017) [dortige Erstpublizierung: 2013] – verfasst von Hans Bernhard Schmid und David P. Schweikard. (iv) Wilby: »Subjekt, Mode and Content in ›We-Intentions‹« (2012). (v) H.B. Schmid: »What kind of Mode is the We-mode?« (2017). Diese Differenzierung der drei Intentionalitätsmomente trat historisch betrachtet keinesfalls erstmals in Searles Werk Intentionality (1983) auf, wie es den Anschein in der Ausführung nach Jan Skudlarek hat (vgl. Skudlarek: Relationale Intentionalität (2014), S. 18). H.B. Schmid: »Auf einander zählen« (2011), S. 605. Ebd., S. 605 (Herv. selbst vorgenommen). Die Bezeichnung »Intentionalanalyse« ist allerdings fragwürdig, da diese ausschließlich auf die sprachanalytischen Autoren, welche Intentionalität mit Intention gleichsetzen, anwendbar ist. Daher sollte umfassender und treffender von einer Intentionalitätsanalyse gesprochen werden. Vgl. H.B. Schmid: »Trying to Act Together« (2013), S. 38.
4. Die Intentionalitätsmomente der Geteiltheit, Gemeinsamkeit und Kollektivität
betonen in ihren Darstellungen daher, deutlicher als Wilby, dass es nur ein eingängiger Vorschlag zur pointierten Schematisierung der sprachanalytischen Positionen sei, welcher eben als solche auch nur bedingt den jeweiligen Autoren tatsächlich gerecht wird.8 Beispielsweise könne Tuomelas Differenzierung des »I-« und »We-mode«, wie selbst Schmid wenige Jahre später schreibt, nicht nur dem Ausdrucksbestandteil »mode« nach als Hervorhebung eines Intentionalitätsmodus, sondern auch als Kennzeichnung eines spezifischen Intentionalitätssubjektes, des »We« verstanden werden. Auch Husserls eigene Konzeption lässt sich nicht mit diesem einfachen Raster erfassen, da er erstens betont, dass die Intentionalität zwar einzeln beschreibbare Momente habe, diese jedoch stets gleichzeitig auftreten und stets in Korrelation a priori miteinander verbunden sind. Zweitens lässt sich der Bezug der Beteiligten aufeinander verschiedentlich darlegen, nämlich als Bezugsrichtung, Bezugsakt oder Bezugsmodus. Daher soll hier dafür argumentiert werden, dass die verschiedenen Konzeptionen verschiedene Beschreibungsweisen ermöglichen, die in ihrer Kernaussage der Sache nach zusammengedacht werden können, wie im vorherigen Kapitel überblicksartig dargelegt wurde, wobei die jeweiligen Stärken und Schwächen der Ansätze, unter anderem hinsichtlich ihrer Begriffsverwendungen und Kohärenz, markiert wurden. In diesem Kapitel geht es nun nicht primär um die Konzeptionen und ihre Gegenüberstellung oder Komplementierung, sondern in erster Linie um eine adäquate Phänomenbeschreibung. Um den Gedankengang bereits einmal vorwegzunehmen: Der Begriff »geteilte Intentionalität« (»shared intentionality«) sollte, ganz in Anlehnung an Tuomela, dann verwendet werden, wenn der Fokus auf einem Intentionalitätsmoment, konkret: dem identischen Intentionalitätsobjekt liegt, wie exemplarisch anhand des Carsharing oder flat-sharing illustriert werden kann. Denn die Beteiligten sind hierbei verstehend (Husserl), gegenseitig (de Vecchi), koordinativ im »I-mode« (Tuomela, Tomasello) beziehungsweise mittels »individual intentions« (Searle) aufeinander bezogen. Die Charakterisierung als »gemeinsame Intentionalität« (»joint intentionality«) ist hingegen dann berechtigt – so der neue Vorschlag dieser Typologie – wenn mehrere Intentionalitätsmomente gleichzeitig in den Blick genommen werden, das heißt dass die Beteiligten in einem identischen Modus auf ein identisches Objekt gerichtet sind. Hier sind die Beteiligten – ganz im Gegensatz zur vorherigen geteilten Intentionalität – kommunikativ (Husserl), wechselseitig sozial (de Vecchi), kooperativ (Searle), freiwillig (Bratman) und im »We-mode« (Tuomela, Tomasello) beziehungsweise mittels »We-intentions« (Searle) aufeinander gerichtet, wie anhand des gemeinsamen Autos gezeigt wird. Bei einem Phänomen dieser Art liegt in einem viel stärkeren Grad eine Zusammengehörigkeit, ein Zusammenhalt anstatt lediglich eine Zusammensetzung vor, wodurch von einer »Wir-« oder
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Vgl. H.B. Schmid: »What kind of Mode is the We-mode?« (2017), S. 80f.
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Formen kollektiver Intentionalität
»kollektiven Intentionalität« im engen Sinne die Rede ist. Genau hier beim identischen Intentionalitätsobjekt und identischen Intentionalitätsmodus – was in dieser Typologie als gemeinsame Intentionalität gefasst wird – stellt sich jedoch auch die Frage, ob nicht auch ein identisches, wenn auch nicht aus ontologischer Sicht identisches Intentionalitätssubjekt vorliegt. Denn es scheint klar, dass genau auf diese Weise beispielsweise elf Fußballspieler ein Team oder zwei Verliebte ein Liebespaar (oder sogar ein institutionell verankertes Ehepaar) formieren. Auch hierbei kann zur Veranschaulichung auf einen spezifischen Autotypus verwiesen werden: das Familienauto. Dieses erhält seine Bezeichnung nicht deshalb, weil eine ganze Familie darin Platz finden kann oder weil damit eine spezifische Reise, wie der Urlaub von blutsverwandten Personen unternommen wird – wie Autohändler den Begriff gerne verwenden –, sondern vielmehr weil sich die Beteiligten dabei als Familie fühlen. Prägnant: die Besonderheit kann sowohl im Intentionalitätsobjekt als auch im Intentionalitätsmodus als auch im Intentionalitätssubjekt liegen. Wenn mehrere Subjekte ein Team konstituieren, dann weil sie gemeinsam – wie ausgeführt etwa kommunikativ, wechselseitig sozial und im »We-mode« – auf ein und dasselbe gerichtet sind.9 Die Charakterisierung der Intentionalitätsformen mit mehreren Beteiligten soll demnach, um es auf den Punkt zu bringen, erstens danach erfolgen, welcher Intentionalitätsmodus, das heißt hier: welcher qualitative Bezug der Beteiligten aufeinander vorliegt: geteilte oder gemeinsame Intentionalität. Zweitens muss auf die Quantität geachtet werden, das heißt darauf welches Intentionalitätssubjekt tatsächlich vorliegt und ob sich der Sprecher zu dieser Gruppe selbst hinzuzählt: kollektive oder Wir-Intentionalität. Demnach soll gerade einerseits die Bezeichnung »kollektive Intentionalität« nicht automatisch für die »tiefgreifendste« Intentionalitätsform verstanden werden, wie dies unter anderem bei de Vecchi (als »shared intentionality in the strong sense of the term ›sharing‹«) oder bei Tomasello (als
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Hiermit wird die Aussage Schmids präzisiert: »wenn Individuen sich als Team sehen, dann deswegen, weil sie Einstellungen teilen; sie teilen nicht Einstellungen, weil sie sich als Team sehen«. H.B. Schmid: »Auf einander zählen« (2011), S. 607 (Herv. selbst vorgenommen). Rein terminologisch ist es, so die Argumentation dieser Arbeit, um es nochmals zu sagen, erstens fragwürdig den Begriff »Individuen« zu nutzen, da dieser von seinem Wortursprung auf Einzelwesen verweist und damit auch Tiere umfasst. Zweitens soll es hier nicht um ein »sich als Team sehen« gehen, das auf einem subjektiven Gefühl beruht und einer Illusion unterliegen kann, sondern »um ein Team sein«, das auch die Frage nach dem spezifischen Intentionalitätssubjekt beziehungsweise dem ontologischen Status hervorruft: »Team-Sein«. Drittens wird, zumindest in dieser Typologie zwischen einem Erleben in geteilter und einem Erleben in gemeinsamer Weise unterschieden, das heißt zwischen einem auf den Eigennutz bedachten, verstehenden, gegenseitigen und einem »We-mode«, kommunikativen, wechselseitig sozialen Bezug der Beteiligten aufeinander.
4. Die Intentionalitätsmomente der Geteiltheit, Gemeinsamkeit und Kollektivität
Konstitution einer Kultur) der Fall ist. Andererseits sollen aber auch nicht die Begriffe »Wir« und »Kollektiv« gleichgesetzt werden. Obwohl die gewählte Darstellungsweise der hier vorliegenden Argumentation von der geteilten über die gemeinsame Intentionalität hin zu einem identisches Intentionalitätssubjekt die Genese vom Ich zum Wir (oder vom Individuum zum Kollektiv) suggeriert, soll dies keinesfalls eine klare chronologische oder genetische Reihenfolge unterstellen. Eine solche Genese wird in der Debatte üblicherweise zugrunde gelegt und nur wenige Autoren, weichen aus verschiedenen Gründen davon ab: Die Genese gehe, wie die Einsfühlung von Kleinkindern ineinander zeigt, vielmehr von einem Wir aus, wie Max Scheler vertritt, oder man müsse sich von der Cartesianischen Annahme verabschieden, dass Intentionalität immer nur einem einzelnen Subjekt zukommt, wie Annette C. Baier und Hans Bernhard Schmid darlegen. Unabhängig von der Genese oder dem Ausgangspunkt scheint zudem klar, dass sich ein Zusammenhalt auch wieder auflösen kann. Die Reihenfolge von der geteilten hin zur gemeinsamen Intentionalität wird hier daher nur aus einem einzigen Grund gewählt, denn damit kann die »Hierarchie komplexer werdender Stufen«10 deutlich gemacht werden – von einem dominierenden Intentionalitätsmoment hin zu vielen zeitgleich auftretenden Intentionalitätsmomenten. Der hier eingeschlagene Weg ist demnach folgender: zur genauen begrifflichen Bezeichnung der Intentionalitätsformen sind drei Zugänge wegweisend. Erstens geht es – je nach ontologischem Stand und der Rolle des Sprechers – um eine rein quantitative Beschreibung, wer die Intentionalität hat. Man hat es, zugespitzt gesprochen, mit zwei Polen zu tun: »Ich« (»Jemeinigkeit«, »mine-ness«, »own-ness«) und »Wir« (»Unsrigkeit«, »us-ness«, »we-ness«11 ) hier beziehungsweise zwischen dem Individuum oder Subjekt und dem Kollektiv dort – wobei bedacht werden muss, dass je nach Ansatz der Begriff »Kollektiv« mindestens drei Subjekte verlangt, während für ein »Wir« lediglich mindestens zwei Subjekte aufeinander bezogen sein müssen. Zweitens ist relevant, wie sich der Bezug der Beteiligten aufeinander, das heißt deren Bezugsrichtung, -akt und -/modus, qualitativ beschreiben lässt – wobei hier darauf verwiesen werden muss, dass es sich um graduelle Differenzierungen handelt. Bei diesem Aspekt liegt der Fokus also darauf, ob ein schwacher oder starker Zusammenhalt der Beteiligten, das heißt eine geteilte oder gemeinsame Intentionalität besteht. 10 11
Vgl. Tobias Schlicht: »Stufenmodell d. Intentionalität« (2008), S. 62. Hans Bernhard Schmid präzisiert den Begriff »Unsrigkeit« – welcher ursprünglich auf Ludwig Binswanger zurückgeht (vgl. Binswanger: Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins (1942)) – und legt dar, dass der Gegenpol »der individuellen ›Jemeinigkeit‹ des Einzeldaseins« die »›Jeunsrigkeit‹ des Volkes« sei (vgl. H.B. Schmid: »gemeinsames Dasein« (2006), S. 5398). Da unser Denken, Handeln und Fühlen uns zuzuschreiben ist – je unsere sind –, welches sich vom Denken, Handeln und Fühlen Anderer – wie anderer Völker oder Nationen – abgrenzt.
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Formen kollektiver Intentionalität
Sodass sich in der Kombination der qualitativen und quantitativen Dimensionen folgende Formen ergeben: geteilte oder gemeinsame Wir-Intentionalität auf der einen und geteilte oder gemeinsame kollektive Intentionalität auf der anderen Seite. Der qualitative Bezug hat dabei auch Auswirkungen auf die quantitative Betrachtung, denn mit der Frage, wie die Beteiligten aufeinander bezogen sind, ist nun nicht mehr im Mittelpunkt wer die Intentionalität hat, sondern vielmehr wessen Interessen dabei vertreten werden oder auf wen dieses Denken, Handeln und Fühlen zielt. Im »We-mode« sind wir, beispielsweise neben der gemeinsamen Absicht Tango zu tanzen oder gemeinsam das Haus anzustreichen, auch auf uns gerichtet. Hieran schließt sich unmittelbar der dritte Zugang an, denn der qualitative und quantitative Aspekt kann mit der Frage verbunden werden, welche Intentionalitätsmomente – Subjekt, Modus oder Objekt – identisch ausfallen: ein identisches Objekt, der mit einem schwachen Zusammenhalt des Wir oder Kollektivs einhergeht (geteilte Intentionalität), wie bei einem Carsharing; ein identischer Modus in Bezug auf ein identisches Objekt, der mit eine starken Zusammenhalt der Beteiligten einhergeht (gemeinsame Intentionalität), wie beim gemeinsamen Auto oder ein identischer Modus in Bezug auf ein identisches Objekt, wodurch ein besonderes Subjekt konstituiert wird, wie bei einem Familienauto.
4.1
Identität des Intentionalitätsobjektes: Carsharing und Wohngemeinschaft
Unerlässlich für das Verständnis spezifischer Intentionalitätsformen ist, dass die Beteiligten dabei auf ein und dasselbe – und nicht nur ein und dasgleiche – Objekt gerichtet sind, wie etwa Heidegger betonte12 . Hierzu können zwei wesentliche Anmerkungen gemacht werden: erstens soll im Folgenden gezeigt werden, dass bei den Überlegungen der Intentionalitätsformen auch zahlreiche Intentionalitätsobjekte aufgeführt werden können, die sich nicht teilen beziehungsweise in geteilter Weise erleben lassen – was in der bisherigen Debatte nur an einzelnen Phänomenen verschiedentlich angerissen wurde, ohne deren Gesamtmenge zu thematisieren. Zweitens geht Tuomelas Differenzierung des »I-« und »We-modes« mit der Unterscheidung der Intentionalitätsformen einher, doch wird dabei nicht ausdrücklich kommuniziert, dass dies schlussendlich folgendes besagt: die Intentionalitätsformen werden danach klassifiziert, ob ausschließlich ein identisches Intentionalitätsobjekt (»shared intention«) oder ob zudem noch ein identischer Modus vorliegt (»joint intention«). 12
Vgl. Heidegger: Einleitung Philosophie [1928], S. 89f. Da eine solche präzise begriffliche Differenzierung besonders im deutschsprachigen Raum möglich ist, verwundert es nicht, dass es gerade deutsche Philosophen sind, die diese hervorheben.
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Formen kollektiver Intentionalität
Sodass sich in der Kombination der qualitativen und quantitativen Dimensionen folgende Formen ergeben: geteilte oder gemeinsame Wir-Intentionalität auf der einen und geteilte oder gemeinsame kollektive Intentionalität auf der anderen Seite. Der qualitative Bezug hat dabei auch Auswirkungen auf die quantitative Betrachtung, denn mit der Frage, wie die Beteiligten aufeinander bezogen sind, ist nun nicht mehr im Mittelpunkt wer die Intentionalität hat, sondern vielmehr wessen Interessen dabei vertreten werden oder auf wen dieses Denken, Handeln und Fühlen zielt. Im »We-mode« sind wir, beispielsweise neben der gemeinsamen Absicht Tango zu tanzen oder gemeinsam das Haus anzustreichen, auch auf uns gerichtet. Hieran schließt sich unmittelbar der dritte Zugang an, denn der qualitative und quantitative Aspekt kann mit der Frage verbunden werden, welche Intentionalitätsmomente – Subjekt, Modus oder Objekt – identisch ausfallen: ein identisches Objekt, der mit einem schwachen Zusammenhalt des Wir oder Kollektivs einhergeht (geteilte Intentionalität), wie bei einem Carsharing; ein identischer Modus in Bezug auf ein identisches Objekt, der mit eine starken Zusammenhalt der Beteiligten einhergeht (gemeinsame Intentionalität), wie beim gemeinsamen Auto oder ein identischer Modus in Bezug auf ein identisches Objekt, wodurch ein besonderes Subjekt konstituiert wird, wie bei einem Familienauto.
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Identität des Intentionalitätsobjektes: Carsharing und Wohngemeinschaft
Unerlässlich für das Verständnis spezifischer Intentionalitätsformen ist, dass die Beteiligten dabei auf ein und dasselbe – und nicht nur ein und dasgleiche – Objekt gerichtet sind, wie etwa Heidegger betonte12 . Hierzu können zwei wesentliche Anmerkungen gemacht werden: erstens soll im Folgenden gezeigt werden, dass bei den Überlegungen der Intentionalitätsformen auch zahlreiche Intentionalitätsobjekte aufgeführt werden können, die sich nicht teilen beziehungsweise in geteilter Weise erleben lassen – was in der bisherigen Debatte nur an einzelnen Phänomenen verschiedentlich angerissen wurde, ohne deren Gesamtmenge zu thematisieren. Zweitens geht Tuomelas Differenzierung des »I-« und »We-modes« mit der Unterscheidung der Intentionalitätsformen einher, doch wird dabei nicht ausdrücklich kommuniziert, dass dies schlussendlich folgendes besagt: die Intentionalitätsformen werden danach klassifiziert, ob ausschließlich ein identisches Intentionalitätsobjekt (»shared intention«) oder ob zudem noch ein identischer Modus vorliegt (»joint intention«). 12
Vgl. Heidegger: Einleitung Philosophie [1928], S. 89f. Da eine solche präzise begriffliche Differenzierung besonders im deutschsprachigen Raum möglich ist, verwundert es nicht, dass es gerade deutsche Philosophen sind, die diese hervorheben.
4. Die Intentionalitätsmomente der Geteiltheit, Gemeinsamkeit und Kollektivität
Zum ersten Punkt über die unteilbaren Objekte: von Tuomela wird begrifflich abgegrenzt, ob das Objekt aktuell geteilt wird (»shared«) oder zumindest in Zukunft grundsätzlich geteilt werden kann (»dividable«).13 Beispielsweise könnte ich das Auto, das ich gerade allein nutze, prinzipiell aufgrund seiner Größe als Mitfahrgelegenheit anbieten. Unerläutert bleibt bei Tuomela hierbei, was man per se nicht teilen kann, nicht teilen will oder sogar besser nicht teilen sollte. Ohne diese – teils durchaus trivialen – Aspekte im Einzelnen an dieser Stelle ausführlich darzulegen, sollen zumindest einige von ihnen zusammengetragen werden, um dafür zu sensibilisieren, dass zum einen die Gesamtmenge der konventionell zu teilenden Aspekte sowie zum anderen die Gesamtmenge der nicht teilbaren Phänomene nicht zu unterschätzen ist: Die Antwort auf die Frage, was man konkret besser teilen sollte, variiert kulturell bedingt, dennoch lässt sich allgemein gesprochen sagen, dass etwa Tomasello mit dem »cultural common ground« und dem gesellschaftlichen Konformitätsdruck genau auf diesen Aspekt hinweist: Man muss sich zur Aufrechterhaltung der eigenen Reputation – drastisch, wie es bei Tomasello heißt, aufgrund des täglichen Überlebenskampfes: »my survival depends on how you judge me«14 – in einer spezifischen Art und Weise verhalten. Die nicht teilbaren Phänomene treten ebenfalls am offensichtlichsten wohl bei Handlungen zutage: Handlungen, die notwendigerweise allein vollzogen werden müssen, wie das Singen eines Solos, können nicht geteilt oder gemeinsam durchgeführt werden. Sicherlich kann das atemberaubende Gefühl, das damit verbunden sein kann, geteilt oder gemeinsam erlebt werden, doch die Handlung selbst, hier: das Singen des Solos, ist per definitionem lediglich von einer einzelnen Person ausführbar.15 Scheler macht in Bezug auf Gefühle darauf aufmerksam, dass man psychische Intentionalitätsgehalte teilen oder gemeinsam erleben kann, wie er mit dem trauernden Elternpaar treffend veranschaulicht – es ist ihre gemeinsame Trauer. Physische Intentionalitätsgehalte allerdings, wie Zahnschmerzen, sind nicht im engen Sinne teilbar: Die Zahnschmerzen, die Anna hat und die Einfühlung in jene, etwa das Hineinversetzen von Berta in Anna beziehen sich zwar auf ein und dasselbe – und es liegt möglicherweise sogar ein Mit-Leid vor –, allerdings sind die physischen Schmerzen nur einem Beteiligten, nämlich hier Anna originär gegeben. Es bestehen in Situationen dieser Art, so könnte man mit Scheler sagen, zwei voneinander getrennte Bewusstseinsströme, wobei er anstatt von Einfühlung vielmehr von Nachfühlung spricht16 , um 13 14 15
16
Vgl. Tuomela u. Miller: »Collective Goals Analyzed« (2014), S. 37f. Tomasello: Human Thinking (2014), S. 47 (dt.: S. 76). Zur »singulären Handlung«, wie dem Singen eines Solos, sich selbst die Zähne putzen oder sich selbst am Kopf kratzen, siehe beispielsweise (i) Schweikard: »Limiting Reductionism« (2008), S. 103. (ii) Schweikard: Mythos des Singulären (2009), S. 106ff. Wobei hinzugefügt werden kann, dass durchaus selbstreferenzielle Handlungen bestehen, die nicht allein ausgeführt werden können. Beispielsweise kann ich mich nicht selbst kitzeln. Vgl. u.a. Scheler: Wesen u. Formen d. Sympathie [1923], Teil A, VI, S. 105ff.
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Formen kollektiver Intentionalität
die damit verbundene zeitliche Versetztheit deutlicher kennzeichnen zu können: Erst bestehen Annas Zahnschmerzen, in welche sich Berta – aufgrund der NichtOriginalität, wenn vielleicht auch lediglich in minimalstem, zeitlichen Abstand – hineinversetzen kann. Die Volksweisheit »geteiltes Leid ist halbes Leid« bezieht sich bei physischen Intentionalitätsgehalten eben nicht auf das physische Gefühl, sondern auf die sprachliche Vermittlung: indem man über sein Leid spricht, ist es mit-geteilt und daher mit jemandem ge-teilt. Als weiteres Beispiel für ein solches Teilen, das erst im Nachhinein möglich ist, kann ein Traum während der Schlafphase angeführt werden: Während des Erlebnisses selbst, lässt sich dieses nicht teilen, da nur ich es bin der träumt. Erst nach dem Traum, nachdem ich erwacht bin, kann ich den Inhalt des Traumes wiedergeben. Mit diesen Ausführungen lässt sich festhalten, dass psychische Phänomene gewissermaßen in einem doppelten Sinne geteilt sein können: als Mit-teilung und als originärer Gehalt aller Beteiligten. In Hinblick auf den Körper kann ebenfalls angemerkt werden, dass dieser nur in Sonderfällen in materieller, unmetaphorischer Hinsicht geteilt wird, wie es ausschließlich bei Siamesischen Zwillingen auftritt.17 Bei einer Organspende hingegen bekommt der Empfänger ein Organ: Es wird nicht zwischen dem Spender und Empfänger geteilt, sondern wechselt den Besitzer. Auch dieser Aspekt, dass spezifische materielle Güter nicht materiell (auf-)teilbar sind, das heißt nicht in mehrere Einzelstücke getrennt werden können, findet sich bereits bei Scheler anhand eines Kunstwerkes dargelegt: »das ›Kunstwerk‹, das von Hause aus ›unteilbar‹ ist und von dem es kein ›Stück‹ Kunstwerk geben kann«18 , da man es ansonsten mit vielen einzelnen Leinwandstücken, Marmorsteinchen oder Ähnlichem, aber eben nicht mehr mit dem Gesamtwerk und seiner ursprünglichen Konstellation zu tun hat. Fraglos kann man die ästhetische Erfahrung beim Anblick eines Kunstwerkes gemeinsam erleben, sich über die Komposition der Farben, das Dargestellte und die Werksgeschichte unterhalten, doch kann man das Kunstwerk als materielle Gegebenheit, als Objektträger nicht, wie etwa einen Kuchen, faktisch in viele materielle Einzelteile zergliedern ohne das Kunstwerk selbst zu verstören. Scheler thematisiert also – als einziger Autor der gesamten Debatte um die Intentionalitätsformen – sowohl die Unteilbarkeit physischer Intentionalitätsgehalte, wie Zahnschmerzen, als auch jene von spezifischen materiellen Gütern, wie Kunstwerken. Offenkundige Fälle, dass man spezifische Intentionalitätsobjekte nicht oder nur sehr ungern Anderen mitteilen möchte, wie Geheimnisse, Überraschungen oder Peinlichkeiten, bleiben hingegen unbeachtet. Zudem bestehen durchaus Intentionalitätsobjekte, welche man – je nach Rechtssystem – nicht teilen darf (oder vielleicht besser nicht öffentlich
17 18
Vgl. H.B. Schmid: »Shared Feelings« (2008), S. 70. Max Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die Materiale Wertethik, hg. v. Christian Bermes, Felix Meiner Verlag, Hamburg, 2014, (Philosophische Bibliothek Band 657), I Teil, Kapitel II, S. 127.
4. Die Intentionalitätsmomente der Geteiltheit, Gemeinsamkeit und Kollektivität
machen sollte), wie Staatsgeheimnisse, das Tragen verfassungswidriger Zeichen oder spezifische, insbesondere sexuelle Vorlieben19 . Um es kurz zu sagen: es bestehen allerhand Phänomene, die man nicht teilen kann, teilen möchte oder (in aller Öffentlichkeit) teilen sollte. Nun ausführlicher zum zweiten Punkt: die »I-mode«-»We-mode«-Differenzierung Tuomelas. Er unterscheidet die Intentionalitätsformen danach, welcher Bezugsmodus im Vordergrund steht. Damit ist ihm zufolge, wie genauer herausgestellt werden kann, gemeint, dass ausschließlich bei der »joint intention« die Beteiligten in ein und demselben Modus, dem »We-mode« auf ein und dasselbe Intentionalitätsobjekt gerichtet sind. Genauer gesagt: ein identisches Intentionalitätsobjekt ist sowohl für die geteilte auch als für die gemeinsame Intentionalität notwendig – allerdings ist ein identisches Objekt bereits für die geteilte Intentionalität hinreichend. Dies ist erklärungsbedürftig: liegt ausschließlich ein identisches Intentionalitätsobjekt vor – Anna und Berta spielen ein Schachspiel, teilen einen Kuchen, sind auf ein und denselben Wanderweg gerichtet, nutzen ein und dasselbe Auto, ein und dieselbe Wohnung oder Ähnliches –, so ist die Situation dadurch geprägt, dass die Beteiligten auf ihren Eigennutz fokussiert sind, wie das Sparen von Geld, den Gewinn des Spiels oder das ungehinderte Spazieren auf dem Wanderweg. Dabei gehen die Beteiligten aufeinander ein, indem man sich abspricht, wie viel Geld für den jeweiligen Wohnungsanteil gezahlt wird, indem die Spielzüge des Anderen strategisch boykottiert werden oder man darauf achtet sich nicht in die Quere zu laufen. Es ist durchaus möglich, dass die Beteiligten voneinander wissen, dass ihre Interessen auf ein und dasselbe Objekt, ein und denselben Gehalt zielen und sich hierfür mit dem Anderen einsetzen. Allerdings können sie dabei eben auch ausschließlich ihre jeweiligen Eigeninteressen verfolgen, das heißt »contingently cooperative« handeln (Tuomela), lediglich verstehend (Husserl) beziehungsweise gegenseitig (de Vecchi) aufeinander bezogen sein. Sie agieren vielmehr nebeneinander statt miteinander, eher koordinativ statt kooperativ, weshalb ihre Intentionalität, zumindest der Terminologie Tuomelas nach, geteilt ist (»shared intention«, »not full blown collective intentionality«). Selbst wenn die Motivation in Bezug auf eine bestimmte Kultur geschehen mag, das heißt auf Interessen eines gesamten Kollektivs basieren, wie etwa aus Klimaschutzgründen20 heraus vollzo19
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Beispielsweise wurde der sogenannte »Paragraph 175«, welcher in der BRD und DDR die Straftat der Homosexualität regelte, zwar ab 1957 in der DDR und ab 1969 in der BRD nicht mehr so streng ausgelegt, das heißt als Straftat nicht weiterverfolgt. Eine umfassende Gesetzesänderung, welche auf die vollständige Abschaffung des Paragraphen zielte, erfolgte bundesweit jedoch erst 1994. Vgl. http://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/180263/24jahre-homosexualitaet-straffrei (zuletzt aufgerufen: 01.11.2018) Empirische Studien, etwa des Bundesumweltamtes oder des Bundesverbandes CarSharing (bcs), legen nahe, dass ein einzelnes Carsharing-Auto – insbesondere dann, wenn es in der Stadt an einem konkreten Standpunkt abgeholt und wieder dort geparkt werden muss – bis
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Formen kollektiver Intentionalität
gen werden, so kann die Handlung dennoch anonym in der Masse stattfinden. Die Beteiligten selbst sind austauschbar, denn es ist völlig nebensächlich, wer mit mir mittels Carsharing von Ahlen nach Bottrop fährt oder mit mir gegen den Bau des Autobahnzubringers demonstriert, denn entscheidend ist, dass ich meine Eigeninteressen besser realisieren kann, wie die Gesamtsumme der Benzinkosten nicht alleine zu tragen oder nicht allein gegen ein Bauunternehmen vorgehen muss.
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Identität des Intentionalitätsobjektes sowie des Intentionalitätsmodus: Gemeinsames Auto und trauernde Eltern
Liegt nicht nur ein numerisch identisches Intentionalitätsobjekt vor, sondern ebenfalls ein numerisch identischer Intentionalitätsmodus, so besteht durchaus ein qualitativer Unterschied: Es ist nun keinesfalls unerheblich mit wem ich Kuchen esse oder die Dauer der Autofahrt überbrücke. Die Besonderheit liegt nicht im konkreten Objekt selbst, wie in der Farbe, Form, Nutzungsdauer oder Nutzungshäufigkeit des Autos. Die Besonderheit liegt auch nicht in den Rahmenbedingungen, beispielsweise wer das Auto wie finanziert oder den Kuchen gebacken hat. Vielmehr besteht das entscheidende Charakteristikum darin, dass sich mehrere Beteiligte auf ein identisches Objekt beziehen, um diesen Bezug wissen und in spezifischer Weise – um es widerholt aufzulisten: kommunikativ (Husserl), wechselseitig sozial (de Vecchi), kooperativ (Searle), freiwillig (Bratman), in einer »für-uns«-Ausrichtung (Husserl), von »we-intentions« geleitet (Searle), im »We-mode« (Tuomela, Tomasello) und moralisch (Tomasello) – auf ein und dasselbe gerichtet sind. Liegt ein solcher Bezug zwischen den Beteiligten hinsichtlich ein und desselben Objektes vor, dann erhält, so der Vorschlag, etwa in Anlehnung an Tuomela und Schmid, das Objekt eine spezifische terminologische Kategorisierung, es ist ein gemeinsames Auto. Primär gilt es, wie zahlreiche Autoren der Debatte verschiedentlich darlegen, darum zu beschreiben, wie die Beteiligten aufeinander bezogen sind. Dass sich der Modus bei den Beteiligten unterschiedlich äußern und in unterschiedlicher »Tiefe« vorhanden sein kann, lässt sich nochmals mit Schelers Beispiel der trauernden Eltern veranschaulichen: Mutter und Vater sind beide in ein und derselben Weise (trauernd) auf ein und dasselbe (die tote Person) gerichtet, aber die Mutter kann vor Trauer weinen, während der Vater vor Trauer ganz starr ist. Neben der Trauer können noch viele weitere Gefühle, wie psychischer Schmerz, bestehen, welche ebenfalls in einem unterschiedlichen Ausmaß erlebt und verarbeitet werden können. Allgemein gesprochen lässt sich daher festhalten: je ähnlicher der vorherrschende Modus der Beteiligten ist, welcher sich auf ein identisches Intentionalitätsobjekt richtet, desto zu zwanzig private Autos ersetzen könne. Vgl. https://carsharing.de/carsharing-ist-umweltfre undlich (letzter Aufruf: 04.07.2019).
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gen werden, so kann die Handlung dennoch anonym in der Masse stattfinden. Die Beteiligten selbst sind austauschbar, denn es ist völlig nebensächlich, wer mit mir mittels Carsharing von Ahlen nach Bottrop fährt oder mit mir gegen den Bau des Autobahnzubringers demonstriert, denn entscheidend ist, dass ich meine Eigeninteressen besser realisieren kann, wie die Gesamtsumme der Benzinkosten nicht alleine zu tragen oder nicht allein gegen ein Bauunternehmen vorgehen muss.
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Identität des Intentionalitätsobjektes sowie des Intentionalitätsmodus: Gemeinsames Auto und trauernde Eltern
Liegt nicht nur ein numerisch identisches Intentionalitätsobjekt vor, sondern ebenfalls ein numerisch identischer Intentionalitätsmodus, so besteht durchaus ein qualitativer Unterschied: Es ist nun keinesfalls unerheblich mit wem ich Kuchen esse oder die Dauer der Autofahrt überbrücke. Die Besonderheit liegt nicht im konkreten Objekt selbst, wie in der Farbe, Form, Nutzungsdauer oder Nutzungshäufigkeit des Autos. Die Besonderheit liegt auch nicht in den Rahmenbedingungen, beispielsweise wer das Auto wie finanziert oder den Kuchen gebacken hat. Vielmehr besteht das entscheidende Charakteristikum darin, dass sich mehrere Beteiligte auf ein identisches Objekt beziehen, um diesen Bezug wissen und in spezifischer Weise – um es widerholt aufzulisten: kommunikativ (Husserl), wechselseitig sozial (de Vecchi), kooperativ (Searle), freiwillig (Bratman), in einer »für-uns«-Ausrichtung (Husserl), von »we-intentions« geleitet (Searle), im »We-mode« (Tuomela, Tomasello) und moralisch (Tomasello) – auf ein und dasselbe gerichtet sind. Liegt ein solcher Bezug zwischen den Beteiligten hinsichtlich ein und desselben Objektes vor, dann erhält, so der Vorschlag, etwa in Anlehnung an Tuomela und Schmid, das Objekt eine spezifische terminologische Kategorisierung, es ist ein gemeinsames Auto. Primär gilt es, wie zahlreiche Autoren der Debatte verschiedentlich darlegen, darum zu beschreiben, wie die Beteiligten aufeinander bezogen sind. Dass sich der Modus bei den Beteiligten unterschiedlich äußern und in unterschiedlicher »Tiefe« vorhanden sein kann, lässt sich nochmals mit Schelers Beispiel der trauernden Eltern veranschaulichen: Mutter und Vater sind beide in ein und derselben Weise (trauernd) auf ein und dasselbe (die tote Person) gerichtet, aber die Mutter kann vor Trauer weinen, während der Vater vor Trauer ganz starr ist. Neben der Trauer können noch viele weitere Gefühle, wie psychischer Schmerz, bestehen, welche ebenfalls in einem unterschiedlichen Ausmaß erlebt und verarbeitet werden können. Allgemein gesprochen lässt sich daher festhalten: je ähnlicher der vorherrschende Modus der Beteiligten ist, welcher sich auf ein identisches Intentionalitätsobjekt richtet, desto zu zwanzig private Autos ersetzen könne. Vgl. https://carsharing.de/carsharing-ist-umweltfre undlich (letzter Aufruf: 04.07.2019).
4. Die Intentionalitätsmomente der Geteiltheit, Gemeinsamkeit und Kollektivität
höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um einen identischen Intentionalitätsmodus, das heißt um eine gemeinsame Intentionalität handelt. Wobei Scheler verdeutlicht, dass das wechselseitige Wissen aus seiner Sicht nicht auf einem unendlichen kognitiven Prozess basiert, sondern vielmehr als intuitives Erfassen verstanden werden sollte: »Sie fühlen miteinander ›dasselbe‹ Leid, ›denselben‹ Schmerz. Das heißt nicht: A fühlt dies Leid und B fühlt es auch, und außerdem wissen wie noch, daß sie es fühlen – nein, es ist ein Mit-einander-fühlen.«21 Meist muss daher, damit die Intentionalitätsform als »tiefgreifend« bezeichnet werden kann, sowohl eine Identität des Intentionalitätsobjektes als auch des Intentionalitätsmodus vorliegen. Auf einen spezifischen Fall weist Hans Bernhard Schmid 2013 hin: »Achilles trauert um Peleus [...], Priamos um Hektor. [...] Schlicht die Kopräsenz der Trauer von Achilles und Priamos, versinnbildlicht in dem vereinigten Klang des Weines, ist das entscheidende Element. [...] Dieses seltsam ungemeinsame gemeinsame Trauern von Achilles und Priamos ist ein eigenartiges Phänomen.«22 Obwohl beide nicht auf ein und dasselbe Objekt, hier konkret um ein und dieselbe tote Person trauern, kann dennoch von einer merkwürdigen Verbindung zwischen Achilles und Priamos ausgegangen werden. Eine Aufschlüsselung dieser Situation kann etwa mit der Differenzierung der ein –, gegen- und wechselseitigen Bezugsrichtungen gelingen, wie sie in de Vecchis Ansatz dargelegt wurde: Vater und Mutter sind wechselseitig aufeinander bezogen, während sich das Verhältnis von Achilles und Priamos als Gegenseitigkeit verstehen lässt. Es ist eher eine gegenseitige Gefühlsansteckung anstatt ein echtes Miteinanderfühlen. Das Ausmaß und die Erlebnisweise des eigenen Gefühls mag durch die Kopräsenz des Anderen und dessen Trauer eine völlig andere sein, allerdings trauern Achilles und Priamos jeweils um einen anderen Toten. Sie mögen zwar jeweils im »We-mode« auf die Familie des jeweiligen Toten bezogen sein, sie sind aber nicht im »We-mode« aufeinander bezogen. Dementsprechend ist diese Situation bei weitem keine Gemeinsamkeit im engen Sinne, obwohl im »vereinten Klang des Weinens« die Feindschaft zwischen Achilles und Priamos deutlich gemildert ist. Es ist wie von Schmid selbst zusammengefasst eine »ungemeinsame Gemeinsamkeit« und nach dem Vorschlag dieser Typologie viel eher eine geteilte anstatt eine gemeinsame Intentionalität, da lediglich bei einem Intentionalitätsmoment eine Identität besteht. Bei einer gemeinsamen Intentionalität sind die Beteiligten demgegenüber in identischer Weise aufeinander und auf ein identisches Objekt bezogen. Wobei zu sagen 21 22
Scheler: Wesen u. Formen d. Sympathie [1923], S. 23. H.B. Schmid: »Mitleid ohne Einfühlung« (2013), S. 473 (Herv. selbst vorgenommen). Vgl. auch H.B. Schmid: Plural Action (2009), S. 67f.
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ist, dass die hierbei aufgeführten Kriterien der Debattenteilnehmer – wie besonders am »We-mode« deutlich – erstens aufgrund ihrer konkreten Konsequenzen mit Bedacht betrachtet werden müssen (siehe Kapitel 2.1). Zweitens sind diese Kriterien graduell oder wandelbar und daher drittens in der Praxis nicht leicht auszumachen (siehe insbesondere Kapitel 3.2 und 3.3). Festzuhalten bleibt dennoch: bei der gemeinsamen Intentionalität verhalten sich die Beteiligten in einer ganz anderen Art und Weise zueinander als bei einer geteilten Intentionalität. Abermals anhand kurzer Beispiele: bei einer geteilten Intentionalität können die Beteiligten zwar zeitgleich auf ein und dasselbe gerichtet sein, wie etwa das vor ihnen liegende Schachbrett, da es aber lediglich um ihre individuellen Eigeninteressen geht, den persönlichen Gewinn können sie auch währenddessen permanent telefonieren, aus dem Augenwinkel einen Film mitverfolgen oder anderweitig abgelenkt sein. Bei einer Tätigkeit, welche die Kennzeichnung »gemeinsam« tatsächlich verdient hätte, ist so ein Verhalten hingegen völlig undenkbar. Soziale oder sogar förmliche, gesetzlich verankerte Verbindungen, wie die Ehe oder spezifische kulturelle Praktiken, können ausschließlich aus einem eigennützigen Kalkül heraus eingegangen werden. Doch macht diese Konstitution einer Kollaboration oder Kultur, diese Konstitution einer sozialen oder institutionellen Tatsache und das Wissen um die Konstitution allein noch lange keine Zusammengehörigkeit im engen Sinne aus – kurz gefasst: »mutuality is not the same as jointness«.
4.3
Identität des Intentionalitätsobjektes, des Intentionalitätsmodus sowie des Intentionalitätssubjektes: Familienauto und Fußballmannschaft
Dass für eine geteilte oder gemeinsame Intentionalität mehrere Beteiligte auf ein und dasselbe Objekt gerichtet sein müssen ist evident. Ebenfalls ist die Annahme zutreffend, dass die Beteiligten für einen »tiefgreifenden« Zusammenhalt auch in einer spezifischen Weise aufeinander bezogen sein müssen. Sind die Beteiligten in ein und derselben Weise (identischer Intentionalitätsmodus) auf ein und dasselbe (identisches Intentionalitätsobjekt) gerichtet, dann stellt sich allerdings die Frage, ob man nicht auch genauer auf das Intentionalitätssubjekt schauen müsste. Denn dass aus mehreren Beteiligten, wie zwei ineinander verliebten Personen, elf Fußballspielern oder trauernden Verwandten, eine besondere Einheit – hier konkret: ein Liebespaar, eine Mannschaft, eine Trauergesellschaft – ein »Wir« oder Kollektiv im engen Sinne entstehen kann, ist aus einer alltäglichen Perspektive heraus unproblematisch. Dies spiegelt sich auch in der Weise wider, wie Objekte bezeichnet werden: das Auto, das mehrere Familienmitglieder gleichzeitig oder nacheinander nutzen, ist aufgrund dieses besonderen Zusammengehörigkeitsgefühls der Beteiligten, des identischen Intentionalitätsmodus nicht irgendein Auto oder ein Auto
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Formen kollektiver Intentionalität
ist, dass die hierbei aufgeführten Kriterien der Debattenteilnehmer – wie besonders am »We-mode« deutlich – erstens aufgrund ihrer konkreten Konsequenzen mit Bedacht betrachtet werden müssen (siehe Kapitel 2.1). Zweitens sind diese Kriterien graduell oder wandelbar und daher drittens in der Praxis nicht leicht auszumachen (siehe insbesondere Kapitel 3.2 und 3.3). Festzuhalten bleibt dennoch: bei der gemeinsamen Intentionalität verhalten sich die Beteiligten in einer ganz anderen Art und Weise zueinander als bei einer geteilten Intentionalität. Abermals anhand kurzer Beispiele: bei einer geteilten Intentionalität können die Beteiligten zwar zeitgleich auf ein und dasselbe gerichtet sein, wie etwa das vor ihnen liegende Schachbrett, da es aber lediglich um ihre individuellen Eigeninteressen geht, den persönlichen Gewinn können sie auch währenddessen permanent telefonieren, aus dem Augenwinkel einen Film mitverfolgen oder anderweitig abgelenkt sein. Bei einer Tätigkeit, welche die Kennzeichnung »gemeinsam« tatsächlich verdient hätte, ist so ein Verhalten hingegen völlig undenkbar. Soziale oder sogar förmliche, gesetzlich verankerte Verbindungen, wie die Ehe oder spezifische kulturelle Praktiken, können ausschließlich aus einem eigennützigen Kalkül heraus eingegangen werden. Doch macht diese Konstitution einer Kollaboration oder Kultur, diese Konstitution einer sozialen oder institutionellen Tatsache und das Wissen um die Konstitution allein noch lange keine Zusammengehörigkeit im engen Sinne aus – kurz gefasst: »mutuality is not the same as jointness«.
4.3
Identität des Intentionalitätsobjektes, des Intentionalitätsmodus sowie des Intentionalitätssubjektes: Familienauto und Fußballmannschaft
Dass für eine geteilte oder gemeinsame Intentionalität mehrere Beteiligte auf ein und dasselbe Objekt gerichtet sein müssen ist evident. Ebenfalls ist die Annahme zutreffend, dass die Beteiligten für einen »tiefgreifenden« Zusammenhalt auch in einer spezifischen Weise aufeinander bezogen sein müssen. Sind die Beteiligten in ein und derselben Weise (identischer Intentionalitätsmodus) auf ein und dasselbe (identisches Intentionalitätsobjekt) gerichtet, dann stellt sich allerdings die Frage, ob man nicht auch genauer auf das Intentionalitätssubjekt schauen müsste. Denn dass aus mehreren Beteiligten, wie zwei ineinander verliebten Personen, elf Fußballspielern oder trauernden Verwandten, eine besondere Einheit – hier konkret: ein Liebespaar, eine Mannschaft, eine Trauergesellschaft – ein »Wir« oder Kollektiv im engen Sinne entstehen kann, ist aus einer alltäglichen Perspektive heraus unproblematisch. Dies spiegelt sich auch in der Weise wider, wie Objekte bezeichnet werden: das Auto, das mehrere Familienmitglieder gleichzeitig oder nacheinander nutzen, ist aufgrund dieses besonderen Zusammengehörigkeitsgefühls der Beteiligten, des identischen Intentionalitätsmodus nicht irgendein Auto oder ein Auto
4. Die Intentionalitätsmomente der Geteiltheit, Gemeinsamkeit und Kollektivität
zur Mitfahrgelegenheit, sondern ein Familienauto. Das Intentionalitätsobjekt enthält also in spezifischen Fällen seine Bezeichnung aufgrund des spezifischen Intentionalitätssubjektes, das durch einen identischen Modus und identisches Objekt gekennzeichnet ist. Prinzipiell scheinen wohl zwei Wege der wissenschaftlichen Betrachtung offen. Erstens: man negiert, dass Gruppen oder Kollektive als solche Intentionalität haben, da Intentionalität, so die verbreitete Position seit Descartes, ausschließlich einzelnen Lebewesen oder spezifischer einzelnen Menschen zukommt. Als Vertreter dieser Position kann musterhaft Searle angeführt werden: »All consciousness is in individual minds, in individual brains.«23 Legt man jedoch zweitens zugrunde, dass eine solche spezifische Intentionalitätsform nicht auf die Intentionalität der Einzelbeteiligten und deren Zusammenspiel reduzierbar ist – es ist nicht deine und meine, sondern unsere Intentionalität –, so scheint es wiederum unumgänglich ein spezifisches Subjekt, einen spezifischen Geist oder Ähnliches anzunehmen. Im Anschluss an Bratmans »it takes at least two not only to tango but even for there to be a shared intention to tango«24 , wird dies von Angelika Krebs wie folgt gefasst: »Geteilte Handlungen [in dieser Typologie sprachlich präziser: gemeinsame Handlungen] sind keine ›Zusammensetzungen‹, ›Synthesen‹ oder ›Summen‹
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Searle: »Coll. Intentions and Actions« (1990), S. 406 (dt.: S. 107). Das Paradigma, dass Intentionalität immer Intentionalität von jemandem ist, wird in der Debatte stets auf Descartes zurückgeführt. Der immense Einfluss dieses Paradigmas, dass Intentionalität ausschließlich einem Einzelnen zugeschrieben werden könne und damit strenggenommen im wörtlichen Sinne nicht unsere sein könne, wurde 1997 von Annette Baier als »cartesian brainwash« bezeichnet (vgl. Baier: »Doing Things« (1997)). Bei Descartes selbst finde sich an keiner einzigen Stelle die Erörterung eines »nos cogitamus«, wie zahlreiche Debattenteilnehmer kritisieren (vgl. H.B. Schmid: »Rationality-in-Relation« (2003), S. 89f. sowie die dortige Endnote Nr. 8 auf S. 94). Baiers Kritik richtet sich jedoch auch an die Sprachanalytiker der ersten Generation der Auseinandersetzung mit den Intentionalitätsformen: auch die »Big Four« seien noch dem Paradigma Descartes verhaftet (vgl. Schmid u. Schweikard: Einleitung, in: Koll. Int., S. 227). Denn wenn beispielsweise Searle davon spricht, dass die Intentionalität jeweils im Einzelgehirn liege, dann kann Intentionalität zwar mit Anderen erfolgen – es ist deine und meine Intentionalität – aber wie sollte sie dann tatsächlich miteinander als unsere bestehen? Probleme genau dieser Art thematisiert bereits Aron Gurwitsch in Die mitmenschlichen Begegnungen (1931): »Gleichgültig wie man [...] ›Ichzugehörigkeit‹ interpretiert, sie ist für die traditionelle Position ein wesentliches Charakteristikum der Erlebnisse als solcher. Jedes Erlebnis ist mir als mein Erlebnis gegeben [...]. Damit aber sind die ›Wir-Erlebnisse‹ unverständlich geworden. [...] Ihrem Sinne nach verweisen diese Erlebnisse auf ein ›Wir‹ und bekunden ihre ›Wirzugehörigkeit‹ darin, daß dasselbe Erlebnis vollziehend eine ihrer phänomenologischen Eigenschaften darstellt.« Gurwitsch: Die mitmenschlichen Begegnungen (1931), Abschnitt I, § 7, S. 41. Vgl. u.a. Bratman: »Shared Intention« [1993], S. 116f. – dort: Fußnote Nr. 17.
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aus aufeinander abgestimmten individuellen Handlungen. Ein Walzer ist keine Zusammensetzung aus zwei Halbwalzern. Einerseits sind also die Urheber geteilter Handlungen mehrere Einzelpersonen. Andererseits verweisen geteilte Handlungsschemata aber auch auf [...] eine integrierte Einheit aus verschiedenen Personen, auf ein ›Wir‹. [...] Wenn wir bedenken, dass der Begriff der Person mit Kant wesentlich über den Begriff der Urheberschaft von Handlungen zu verstehen ist, dann erschließt sich uns [...], warum Scheler bei einer personalen Gemeinschaft, wie sie die beiden Tänzer in ihrem Walzer darstellen, auch von einer ›Gesamtperson‹ sprechen kann, oder Gilbert von ›pluraler Subjektivität‹.«25 Nach phänomenologischer Terminologie schwindet der »Nichtoriginalitätscharakter« des fremden Erlebens und »aus dem ›Ich‹ und ›Du‹«, so heißt es bei Edith Stein, »erhebt sich das ›Wir‹ als ein Subjekt höherer Stufe«26 . Es wird, so wiederum Gerda Walther, ein »Gesamtleben höherer Ordnung«27 konstituiert. Oder anhand zweier zentraler Textpassagen Husserls: »Überall haben wir da eine Vielheit von Personen mit vielen personalen Vermögen, mit vielen Bewusstseinsströmen, in sie eintretend und sich einfügend viele Bewusstseinsakte – und doch ›ein Geist‹, eine Personalität ›höherer Stufe‹ als ideeller Träger eines Charakters, eines Vermögens (Volksart, Volkscharakter etc.) mit einem Bewusstsein, das alle die Einzelbewusstseine [...] umgreift usw.«28 25 26
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Krebs: Zwischen Ich u. Du (2015), S. 172. Stein: Zum Problem d. Einfühlung [1917], § 3e, S. 17f. Zu Steins Position kann zweierlei bemerkt werden: Zum einen beschreibt Stein die Etablierung eines »Subjektes höherer Stufe« als Stufenabfolge: ich »fühle [erstens] meine Freude und einfühlend erfasse ich [zweitens] die der andern und sehe [drittens]: es ist dieselbe« (ebd.), allerdings wird die Stufenfolge selbst nicht als Stufenfolge erlebt. Zum anderen kritisiert sie in Zum Problem der Einfühlung, dass Theodor Lipps und Max Scheler in ihren Werken diese Konstitution des »Subjektes höherer Stufe« missachten würden. Zumindest in Bezug auf Max Scheler kann jedoch gesagt werden, dass diese Kritik auf Schelers Werk Zur Phänomenologie und Theorie der Sympathiegefühle und von Liebe und Hass (1913) zutrifft, allerdings nicht mehr auf dessen zweite Auflage mit dem Titel Wesen und Formen der Sympathie (1923), da darin das Phänomen der Einsfühlung aufgeschlüsselt wird. Auch wenn Scheler hierbei nicht explizit von einem »Subjekt höherer Stufe« spricht, so ist dabei doch eindeutig, dass die Beteiligten eine besondere Einheit bilden, da sie »Miteinanderfühlen«. Vgl. Walther: Ontologie d. soz. Gemeinschaften [1923], S. 86f. Husserl: Text Nr. 10: »Gemeingeist II. Personale Einheiten höherer Ordnung« (1918 oder 1921) (Hua. XIV), § 5, S. 199 (Herv. selbst vorgenommen). Bereits in antiken Mythen finden sich Betrachtungen einer »Volksseele«, die über Generationen hinweg bestehen kann. Vgl. u.a. (i) Tuomela: »Who is afraid?« (2013), S. 13. (ii) Tuomela: Social Ontology (2013), S. 3. Eine intensive wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem spezifischen Intentionalitätssubjekt setzte – zumindest in der europäischen Welt – erst mit dem Beginn des ersten Weltkrieges ein, das heißt zu einer Zeit, in welcher solche Phänomene des »Volksgeistes« faktisch nicht mehr von der Hand zu weisen waren. Einige Autoren der phänomenologischen Strö-
4. Die Intentionalitätsmomente der Geteiltheit, Gemeinsamkeit und Kollektivität
Bei einer Gemeinschaft im engen Sinne, wie sie am deutlichsten und wohl auch am intimsten bei einem Ehepaar vorliegt, gilt, dass die Beteiligten »eine Lebenseinheit bilden, nicht zwei Leben nebeneinander, sondern zwei Menschen, zwei Personen, deren jede ihr Leben lebt und doch auch Anteil am Leben des Anderen hat, ein Mitleben, ein Eigenleben, das sich mit dem anderen Eigenleben verbindet, es mitumgreift und umgriffen wird. Für das ego ist der alter nicht nur überhaupt ein Jemand, der noch da ist, unbestimmt vorgestellt als Subjekt eines Bewusstseins oder nach einzelnem seines Lebens zufällig erfasst und selbst davon noch bestimmt, sondern der Intention nach gehört das Gesamtleben des alter auch ›mit‹ zu dem meinen, und das meine zu dem seinen.«29 Bei den Vertretern solcher Position weichen wiederum die Meinungen darin voneinander ab, wie dieses spezifische Intentionalitätssubjekt, etwa die Fußballmannschaft oder die Eheleute genauer gefasst werden können, nämlich entweder als spezifische Person: »Personalität ›höherer Stufe‹« (Husserl30 ), »plural person« (Baier31 ); als spezifisches Subjekt: »plural subject« (exemplarisch unter anderem Gilbert32 ), »Kollektivsubjekt« (Schmid33 ); als spezifischer Akteur: »group agent« (Tuomela34 ), »fused agent« (Bratman35 ), »second-personal-«, »joint-«,
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mung wiesen selbst jüdische Wurzeln auf, wie Edmund Husserl, Edith Stein oder Günther Anders, und erlebten daher die tiefgreifenden Geschehnisse auf nochmals prägnantere Art am eigenen Leib. Beispielsweise ist überliefert, dass Husserls Sohn 1916 im Krieg vor Verdun fiel. Vgl. u.a. (i) Orth: »Interkulturalität und Inter-Intentionalität« (1993), S. 341. (ii) Buber: Problem d. Menschen [1948], S. 84f. (iii) Emanuele Caminada: »Stein’s Account of Communal Mind«, S. 552. Zum historischen Kontext und der Begründung, weshalb gerade Begriffe wie »Volksgeist« und »Volksseele« unter anderem von Searle und Tuomela ausdrücklich kritisiert wurden, siehe Hans Bernhard Schmid: »Some Scenes from the History of the ›Volksgeist‹ – Social Ontology in 19th Century German Nationalism« (erschienen in: Die Klassische Deutsche Philosophie und ihre Folgen, hg. v. Michael Hackl u. Christian Danz, Vandenhoeck and Ruprecht Verlag, Göttingen, 2017, S. 111–130). Heute wurde man in einer eher vorsichtigeren, weniger pathetischen Wortwahl wohl eher beispielsweise von Nationalgefühl sprechen, bei welchem deutlicher hervortritt, dass dieses jedem einzelnen Beteiligten dieser Nation zukommt, aber nicht der Nation als solcher. Husserl: Beilage XXVII: »Die persönliche Lebenszeit« (1922) (Hua. XIV), S. 219 (Herv. selbst vorgenommen). Vgl. u.a. Husserl: Text Nr. 10: »Gemeingeist II. Personale Einheiten höherer Ordnung« (1918 oder 1921) (Hua. XIV), § 5, S. 198f. Vgl. Baier: »Doing Things« (1997), S. 16 (dt.: S. 231). Vgl. u.a. Gilbert: »Walking Together« (1990), S. 7 (dt.: S. 164). Vgl. H.B. Schmid: »Können Gehirne im Tank als Team denken?« (2009). Vgl. Tuomela: Social Ontology (2013), S. 52. Vgl. u.a. Bratman: »Shared Intentions« [1993], S. 122f. (dt.: S. 417).
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»plural-« oder »collective agent« (Tomasello36 ) oder durch einen spezifischen Geist charakterisiert werden können: »groups with minds of their own« (Pettit37 ).38 Searle macht demgegenüber unmissverständlich deutlich: »I [Searle] find this talk [about group minds] at best mysterious and at worst incoherent«39 . Eine solche Einschätzung ist jedoch nur mit dem Hintergrund zu verstehen, dass Searle diese Redeweise stets einerseits wörtlich nimmt sowie andererseits annimmt, dass die Intentionalität im Einzelgehirn bestehe, sodass er zusammengenommen viel zurückhaltender von einer »higher-level cooperation«40 spricht. Sein Argumentationsweg scheint der folgende zu sein: Wenn es etwas gibt, wie beispielsweise einen Gruppengeist, dann muss es sich an einem konkreten Punkt – wie auch immer – lokalisieren lassen. Da der Gruppengeist nicht an einem konkreten Punkt zu finden ist, sondern höchstens an vielen verschiedenen Stellen, nämlich in den Einzelgehirnen der Beteiligten, kann es einen solchen Gruppengeist im engen Sinne nicht
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Vgl. (i) Tomasello: Human Thinking (2014), S. 3 (dt.: S. 16). (ii) Tomasello: Human Morality (2016), S. 4, S. 51 u. S. 119 (dt.: S. 15, S. 83 u. S. 184). (iii) Tomasello: Becoming Human (2019), S. 201. Weitere Unterschiede ergeben sich darin, ob diese »Persönlichkeiten höherer Ordnung« beziehungsweise das »Pluralsubjekt« als reflexiv oder vorreflexiv beschrieben wird. Nach der Lesart von Hans Bernhard Schmid vertreten Husserl und Gilbert eine Reflexivität, während er selbst für eine Vorreflexivität plädiert (vgl. H.B. Schmid: »Auf einander zählen« (2011)). Nimmt man die Position ein, dass solche Phänomene bestehen – unabhängig von der Frage, ob diese terminologisch spezifischer als Subjekt, Akteur, Geist oder Ähnliches gefasst werden sollten –, dann ergibt sich vor allem für die Rechtswissenschaft eine Herausforderung: Denn wenn es kollektive Akteure gibt, dann muss auch die juristische Frage geklärt werden, wie diese gegebenenfalls zu bestrafen sind (vgl. u.a. Georg Trautnitz: Unternehmen als kollektive Akteure? – Methodologischer Individualismus, kollektive Intentionalität und die Grundlagen der betriebswirtschaftlichen Organisationstheorie (Habilitationsschrift, Otto-Friedrich-Universität Bamberg, 2016)). Nur am Rande sei erwähnt, dass Husserl in seinem Nachlass nicht nur von der Zusammenschließung einzelner Mitmenschen zu einer »Personalität ›höherer Stufe‹«, sondern auch von Völkerverbindungen als »Volk höherer Stufe« spricht: »da kann Territorium an Territorium, Volk an Volk ›angrenzen‹. Hier tritt die Gemeinschaftsbeziehung auf, der intentionale Konnex einander ›fremder‹ Völker und Welten – und eine übergreifende Historizität, die aber einen wesentlichen Charakter hat, aber in die alte Form einmünden kann, nämlich wenn die Völker sich zu einem Volk höherer Stufe vereinigen […]. So bildet die europäische Menschheit ein Volk höherer Stufe in der Einheit einer Geschichte, der eine einheitliche europäische Kulturwelt entspricht, in die die Kulturwelten der Sondervölker als fungierende Glieder eingeordnet sind.« Husserl: Lebenswelt (Hua. XXXIX, Texte v. 1916-1937), hier: Text Nr. 35, §3: »Die menschliche Umwelt, sich konstituierend durch Ausdruck und Ausdrucksverstehen. Die Welt der versachlichten Geistigkeit mit ihrem Ineinander von Sinnbeständen. Intentionaler Konnex einander fremder Völker – übergreifende Historizität«, S. 345–349, hier: S. 349. Searle: »Coll. Intentions and Actions« (1990), S. 404 (dt.: S. 103). Ebd., S. 413 (dt.: S. 116).
4. Die Intentionalitätsmomente der Geteiltheit, Gemeinsamkeit und Kollektivität
geben. Mit einer solchen unmetaphorischen Lesart geht Searle allerdings vollkommen am Selbstverständnis dieser zahlreichen Autoren vorbei. Denn die genannten Autoren zielen ganz und gar nicht darauf ab, völlig von der Annahme abzuweichen, dass Intentionalität immer nur dem Einzelnen zu kommt. Allerdings vertreten sie, wie wenigstens implizit angenommen werden kann, erstens keine kausale, physikalische Verortung der Intentionalität, wie es Searle mit der Rückführung auf die Verarbeitung der elektronischen Signale im Gehirn annimmt. Zweitens gehen Autoren wie Tuomela von einer »derived intentionality«41 aus, was der »interpersonalen Intentionalität« (Husserl)42 beziehungsweise der »Inter-Intentionalität« nach Orth und Schmid nahekommt43 (siehe Kapitel 2.2, 3.2 sowie 3.3). In kaum einer Konzeption spielt die Charakterisierung dieses spezifischen Intentionalitätssubjektes so eine offenkundige Rolle wie in Gilberts Ansatz. Sie betont in ihren Werken stets, dass die Beteiligten unter bestimmten Voraussetzungen, wie dem »joint commitment«, »as a body«, »as a single unit, or ›person‹«44 agieren. Obwohl Gilbert selbst darauf hinweist: »I do not want to argue about a label«45 , ist besonders die Phrase »as a body« vielfach beachtet und kritisiert worden: Zum einen wird dabei markiert, dass die Beteiligten nicht ein »body« sind – nicht: »they are a body« –, sondern lediglich so agieren als ob sie ein »body« wären. Zum anderen kann jedoch »body« auf unterschiedliche Weise übersetzt werden: als Körper oder als Leib. Die erste Deutung, nämlich »as a body« mit »als ein Körper« zu verstehen46 , ist unzutreffend: Die Beteiligten besitzen nicht im engen Sinne, wie Siamesische Zwillinge, einen einzigen materiellen Körper. Demnach scheint es nur plausibel »body« vielmehr als leibliche Einheit zu deuten, wie beispielsweise Karl Mertens und Schmid vorschlagen47 . So gesehen wäre die Phrase »as a body« nach 41 42 43
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Vgl. u.a. (i) Tuomela: Social Ontology (2013), S. 52. (ii) Tuomela: »Who is afraid?« (2013), S. 16. Vgl. Husserl : »Idee eines individuellen u. Gemeinschaftsleben« (1924) (Hua. VIII), S. 197f. Nach H.B. Schmid zeichnet sich so die kollektive Intentionalität – verstanden als Sammelbegriff – durch vier Hauptcharakteristika aus: Irreduzibilität, Vorreflexivität, Relationalität und Normativität (vgl. H.B. Schmid: »Auf einander zählen« (2011), S. 606). Gilbert: »Obligation and Joint Commitment« (2000), S. 54. Ähnliche Formulierungen finden sich auch in: (i) Gilbert: »What Is It for Us to Intend?« (Version: 2000), S. 19. (ii) Gilbert: »Collective Guilt« (2000), S. 147. (iii) Gilbert »Introduction – Sociality and Plural Subject Theory« (2000), S. 2. (iv) Gilbert: »Culture as Collective Construction« (2011), S. 388. Gilbert: »Walking Together« (1990), S. 12. Eine solche Lesart findet sich unter anderem auch in der Übersetzung des Aufsatzes »What Is It for Us to Intend?« (Version 1997) (übersetzt v. Anita Konzelmann Ziv, in: Sammelband Kollektive Intentionalität, hg. v. Schmid u. Schweikard (2009), S. 356–386, hier: S. 356) und bei Jan Skudlarek (vgl. Skudlarek: Relationale Intentionalität (2014), S. 93). Vgl. (i) H.B. Schmid: »Miteinander fühlen« (2006), S. 803. (ii) Mertens: »Plurales, kollektives und institutionelles Wollen« (2014), S. 238f. Beispielsweise zielen wohl die Beschreibungen Husserls in diese Richtung des spezifischen Leibbewusstseins (vgl. Husserl: Text Nr. 19: »Welthorizont in Zeiträumlichkeit« [1932] (Hua. XXXIX), S. 181). Bei Husserl heißt es etwa,
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Gilbert nichts anderes als eine Anknüpfung an Husserls Beschreibung der »kollektiven Leiblichkeit«48 . Diese Lesart »body« als Leib verständlich zu machen wird jedoch bemerkenswerterweise von Gilbert selbst abgelehnt.49 Ihr zufolge soll demnach die Bezeichnung »body« weder auf einen Körper im engen, das ist materiellen Sinne noch auf einen Leib zielen, sondern als Metapher gelten50 . Nimmt man diese Stellungnahme allerdings ernst, dann ist Wendung »as a body« nichts weiter als eine Analogie und kann nicht, so wie es die Debattenteilnehmer erhofft hatten, als Kennzeichnung einer spezifischen Ontologie dienen. Die treffendste Deutung ist daher vermutlich »as a body« so wiederzugeben, dass die Beteiligten »als eine sogenannte Körperschaft« agieren. Denn einerseits haben sie zwar keinen materiellen Körper, andererseits sind sie jedoch auch unbestreitbare spezifische, verkörperte Entitäten. Hier wiederum mit Tuomela: »Bodiless group agents do not blush when ashamed, although their members may take part in collective guilt or pride and in similar shared emotions in the we-mode. Groups can never be full-blown agents (or persons) in the flesh-andblood sense, but at best entities that share some similar functional features with intentional human agents.«51
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dass man es mit einem »allgemeinen, überpersonalen [...] Bewusstsein[...], [zu tun hat, das] in allen beteiligten Personen lebendig [ist], [...], als ob eine Einheit der Person [existent] wäre, mit einem Bewusstsein und einem personalen Leisten. Die gemeinsame, die verbundene Personalität als ›Subjekt‹ der gemeinsamen Leistung ist ein Analogon eines individuellen Subjekts, andererseits aber nicht bloss Analogon, sie ist eine verbundene Personenvielheit, die in ihrer Verbindung eine Einheit des Bewusstseins (eine kommunikative Einheit) hat. Innerhalb der Vielheit der auf die Einzelperson verteilten Willen hat sie einen für sie alle identisch konstituierten Willen [nach Gilbert: »joint commitment«] [...] Jedes Ich ist Subjekt der Handlung, aber jedes in einer Funktion [z.B. als Stürmer der Fußballmannschaft], und so ist die verbundene Einheit aller Vollsubjekt.« Husserl: Text Nr. 10: »Gemeingeist II. Personale Einheiten höherer Ordnung« (1918 oder 1921) (Hua. XIV), § 6, S. 200f. (Herv. selbst vorgenommen). Ambivalent ist hierbei, dass einerseits »die verbundene Personalität als ›Subjekt‹« in Anführungszeichen charakterisiert ist, wodurch eine spezifische Subjektivität deutlich gekennzeichnet ist. Andererseits spricht er jedoch kurz darauf von einem »Vollsubjekt«, wobei viel deutlicher ein eigener Willen und ein eigener Körper suggeriert wird. Husserl: Text Nr. 19: »Welthorizont in Zeiträumlichkeit« [1932] (Hua. XXXIX), S. 181. Vgl. (i) H.B. Schmid: »Miteinander fühlen« (2006), S. 803. (ii) Mertens: »Plurales, kollektives und institutionelles Wollen« (2014), S. 238f. Vgl. H.B. Schmid: »Shared Feelings« (2008), S. 70. Wird das Konzept des »Pluralsubjektes« nach Gilbert tatsächlich als Metapher verstanden, dann kann erstens gefragt werden, wozu die Verbildlichung gewählt wurde, was also im Kern gemeint ist. Zweitens ist kritisch, dass Gilbert zwar auf eine Metapher zielte, diese jedoch in der Rezeption selbst nie als solche verstanden und damit die Metapher selbst bei ihr ungünstig dargestellt wurde. Tuomela: Social Ontology (2013), S. 23. Vgl. auch Tuomela: »Who is afraid?« (2013), S. 15.
4. Die Intentionalitätsmomente der Geteiltheit, Gemeinsamkeit und Kollektivität
Emanuele Caminada vertritt, dass Husserl, weil jener die Rolle des Körpers und des Leibes dieses spezifischen Intentionalitätssubjektes beschreibt, dieses Phänomen umfassender und prägnanter erfasse als Gilbert.52 Hans Bernhard Schmid seinerseits betont, dass es nicht um den Körper und den Leib des, in seiner Terminologie, Pluralsubjektes gehe, sondern vielmehr darum die Inter-Intentionalität als »gemeinsamen Besitz« zu verstehen – welche Husserl als »interpersonale Intentionalität« kennzeichnete: »if you and I go for a walk together, there are two subjects involved in the case, not one (there is no collective agent walking all by himself), and not three (there is no additional collective subject escorting the two of us through our walk). […] Our walking is something we own together: in such cases, ownership is shared.«53 Um diese historische und systematische Darstellung der Positionen zu diesem besonderen Subjekt möglichst kurz zu halten, kann gesagt werden, dass sich mittlerweile folgende begriffliche Differenz etabliert hat: In Kay Mathiesens Aufsatz »Searle, Collective Intentions, and Individualism« (2002) heißt es, dass die ontologischen, materiell greifbaren, real existierenden, einzelnen Subjekte vom ausschließlich intentionalen, immateriellen Subjekt unterschieden werden müssen.54 Oder in anderen Worten nach Schmid: Es gehe darum, was geteilt wird und wer die Intentionalität »hat« – »something we own together […], ownership is shared« –, noch etwas präziser: »as who« man denke, fühle und handle: »The ontic subject is the individual who has the feeling. The phenomenal subject, by contrast, is determined by the way in which the subject implicitly conceives of him- or herself in the feeling. The ontic subject answers the ›who has it‹ question; the phenomenal subject answers the question as who the ontic subject has the feeling he or she has.«55 »Cooperation means to let other people in on determining what it is you’re doing; it is to give up one’s singular autonomy, and to be co-autonomous, or plurally autonomous.«56 52 53 54
55 56
Vgl.: Caminada: »Husserls intentionale Soziologie« (2011), S. 68. H.B. Schmid: Plural Action (2009), S. 22 (Herv. übernommen). Vgl. auch: (i) Ebd., S. 13 u. S. 127. (ii) H.B. Schmid: »Shared Feelings« (2008), S. 82. Vgl. Kay Mathiesen: »Searle, Collective Intentions, and Individualism«, in: Social Facts and Collective Intentionality, hg. v. Georg Meggle, Dr. Hänsel-Hohenhausen Verlag, Frankfurt am Main, 2002, S. 187–204. Wobei diese Unterscheidung in intentionale und ontologische Subjekte womöglich nicht alle Subjektarten abdeckt, da durchaus gefragt werden kann, ob eine Romanfigur, wie Robinson Crusoe oder Harry Potter, vollumfänglich und ausschließlich als fiktives Subjekt gelten kann. H.B. Schmid: Plural Action (2009), S. 65 (Herv. übernommen). Vgl. auch ebd., S. 68. H.B. Schmid: Evil in Joint Action (2021), S. 224 (Herv. selbst vorgenommen).
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Formen kollektiver Intentionalität
Das Phänomen wird also mit unterschiedlichen Begrifflichkeiten belegt, wie unter anderem als »Subjekt höherer Stufe«, »Pluralsubjekt« oder »kollektiver Akteur«, und von unterschiedlichen Schwerpunkten heraus betrachtet, man denke an die kollektive Leiblichkeit sowie den ontologischen oder intentionalen Status des Intentionalitätssubjektes. Zwar mag es einerseits berechtigt sein zu behaupten, dass Intentionalität immer dem einzelnen Lebewesen zuzuordnen ist, da die Intentionalität zumindest nach Searle dem Einzelgehirn »entspringt« und man etwa immer nur seine eigene Handlung im strengen Sinne beabsichtigen kann. Fraglich ist aber andererseits, ob man hieraus bereits die darauffolgende Annahme ableiten kann, wie es beispielsweise 1983 von Manuel G. Velasquez vertreten wird: »Corporate policies and procedures […] cannot serve as corporate minds for the simple reason that they are not minds: they do not form intentions, nor do they have direct control over any bodies by which they might carry out these intentions«57 . Denn eine Gruppe, eine Mannschaft und Ähnliches mag zwar als solche nicht direkt über Intentionalität verfügen, allerdings hat sie zumindest, so wurde deutlich, eine »abgeleitete Intentionalität«. Die umfassende Debatte um die Frage nach dem ontologischen, intentionalen (und damit auch unmittelbar verbunden die Frage nach dem rechtlichen) Status der Gruppe sollte hier nur in aller Kürze angerissen werden. Wir können und müssen zweifelsohne bestimmen: »what it is [...] to share a mind«58 . Kaum beachtet wird dabei – und das soll hier gerade zentral sein –, dass die Gerichtetheit des Intentionalitätssubjektes beziehungsweise der ontologischen Intentionalitätssubjekte die Bezeichnung des Intentionalitätsobjektes bestimmt. Dies ist besonders dann der Fall, wenn mehrere Subjekte in identischer Weise auf ein identisches Objekt gerichtet sind, sodass man eben kaum umhinkommt ebenfalls zu sagen, dass ein identisches »Subjekt« gerichtet ist. An einem eingängigen Beispiel: aus dem Auto, auf das ein spezifisches Subjekt (die Familie) in spezifischer Weise (kommunikativ, wechselseitig sozial, kooperativ, freiwillig, moralisch im »We-mode«) gerichtet ist, wird ein Familienauto. Während demgegenüber bei einem Fokus auf die Eigeninteressen vielmehr die Rede von einem geteilten Auto ist, wie es etwa bei einem Carsharing, einer Mitfahrgelegenheit vorliegt. Das heißt also: die Art und Weise, wie die Subjekte aufeinander sowie auf ein und dasselbe Objekt gerichtet sind, manifestiert sich in der Benennung eben jenes Objektes.
57 58
Manuel G. Velasquez: »Why corporations are not morally responsible for anything they do«, in: Business and Professional Ethics Journal, Band 2, Heft 3, 1983, S. 1–18, hier: S. 9. Thomas Szanto: »How to share a mind – Reconsidering the group mind thesis«, in: Phenomenology and the Cognitive Sciences, Band 13, Heft 1, 2014, S. 99–120, hier: S. 102.
4. Die Intentionalitätsmomente der Geteiltheit, Gemeinsamkeit und Kollektivität
4.4
Zwischenfazit zu Kapitel 4
Als was auch immer die Geteiltheit, Gemeinsamkeit oder Kollektivität bei den Autoren gefasst wird, der Konsens liegt darin, dass diese Phänomene in der Intentionalität liegen. Allerdings lassen sich bei der Intentionalität, folgt man der Phänomenologie, drei Momente ausmachen, konkret danach wer wie auf was gerichtet ist, sodass es zu einer terminologischen – wenn auch nicht a priori strikten – Differenzierung des Intentionalitätssubjektes, des Intentionalitätsmodus und des Intentionalitätsobjektes kommt. Wilby, Schmid und Schweikard nehmen 2009 mit dieser phänomenologischen Grundüberlegung eine Schematisierung der sprachanalytischen Positionen in der Debatte vor. Ihre Überlegungen zielten darauf zu zeigen, welcher Sprachanalytiker welchen Intentionalitätsmoment als Primat hervorhebt. Nimmt man beispielsweise den »We-mode«-Ansatz Tuomelas, dann ist allerdings unklar, ob dabei nicht gleichzeitig mehrere Intentionalitätsmomente betont werden: denn die Beteiligten beziehen sich als ein Intentionalitätssubjekt »We« in ein und demselben Intentionalitätsmodus auf ein und dasselbe Intentionalitätsobjekt. Zudem sollte deutlich geworden sein, dass zwar verschiedene Autoren verschiedene Schwerpunkte setzen, sich aber die Thematisierung der Intentionalitätsmodi der menschlichen Intentionalitätsformen in vielerlei Hinsicht bei allen Debattenteilnehmern findet. Daher scheint es eher angebracht darzulegen, welcher Begriff bei welchem Phänomen verwendet wird und welcher Begriff für welches Phänomen überhaupt angemessen ist. Dabei zeigt sich, dass die bestehende Intentionalitätsform auf die Bezeichnung des Intentionalitätsobjektes zurückwirkt: Wird beispielsweise das Auto von zwei Personen, nehmen wir Anna und Peter, nur aus Eigeninteresse heraus genutzt und sind sie verstehend, gegenseitig, eher koordinativ aufeinander bezogen (geteilte Intentionalität (»shared intentionality«)), so spricht man vom Phänomen des Carsharings, des geteilten Autos. Sind die Beteiligten jedoch in identischer Weise, nämlich kommunikativ, wechselseitig sozial, kooperativ, freiwillig, im »We-mode« aufeinander und auf ein identisches Objekt (hier: ein und dasselbe Auto), bezogen (gemeinsame Intentionalität (»joint intentionality«)), so ist es eben kein geteiltes, sondern vielmehr ein gemeinsames Auto – oder sogar, wenn dabei ein spezifisches Subjekt vorliegt, wie die Familie, ein Familienauto. Das heißt aber auch auf einen Satz gebracht: ein und dieselben Beteiligten können im Verlauf der Zeit in ganz unterschiedlicher Weise aufeinander gerichtet sein und damit das Objekt in ganz unterschiedlicher Weise bestimmen. Peter und Anna können für sich einzeln genommen ein und dasselbe Objekt, wie Peters Porsche, unterschiedlich bewerten: Für Peter ist sein kaffeebrauner Porsche 911 Targa, Baujahr 1974, das Traumauto schlechthin, das er sich von allerhand Jobs im Schweiße seines Angesichts zusammen gespart hat und das sonst in Deutschland nur noch dieser smarte Stuttgarter-Tatortkommissar fährt. Für Anna, die sich nicht mit Autos auskennt und deren historischen Wert nicht zu schätzen weiß, ist es hingegen ein kastanienbraunes Auto ohne Airbag, dessen
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Formen kollektiver Intentionalität
Grundfarbe es kaum ermöglicht zu erkennen, ob es sich um Farbe oder Rostflecken handelt, etwas, das von vornherein schon suspekt ist. Peter und Anna schätzen den Porsche 911 demnach für sich persönlich völlig unterschiedlich ein: einerseits als puren Luxus oder andererseits als Auto, das aus historischen Gründen zweifellos ins Museum, jedoch aus Gründen der Sicherheit keineswegs auf die Straße gehört. Völlig ungeachtet ihrer persönlichen Einschätzung hinsichtlich des Objektes, kommt es aber darauf an, wie sie aufeinander bezogen sind, wenn sie das Auto nutzen, was wiederum ihren Blick und ihre Bezeichnung für ein und dasselbe Objekt ändert.
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Zusammenfassung der Debatte Im Jahr 1990 wurde der Begriff »collective intentionality« erstmals verwendet und etablierte sich rasch zur Bezeichnung einer ganzen Debatte. Fragt man allerdings, was kollektive Intentionalität ist und für welches Phänomen diese Bezeichnung angewendet wird, dann hat man, metaphorisch gesprochen, in ein Wespennest gestochen und es öffnet sich ein umfassender Fragenkatalog: • • • • •
Was wird unter Intentionalität verstanden? Durch welche Momente zeichnet sich diese aus? Wann kann man adäquat von einem Kollektiv sprechen? Und was ist dann die kollektive Intentionalität? Welche kognitiven und ontologischen Voraussetzungen müssen notwendigerweise für die Intentionalitätsformen bestehen und wer erfüllt diese? Welche weiteren Intentionalitätsformen liegen vor und wie sollten sie voneinander abgegrenzt werden?
Um zu klären, was kollektive Intentionalität ist und wie diese von anderen Intentionalitätsformen zu unterscheiden ist, muss man zunächst einige Schritte zurückgehen und darlegen, wie die oben genannten Teilfragen beantwortet werden. Denn was unter einer Intentionalität und einem Kollektiv verstanden wird sowie mit welchem Methoden und Schwerpunkten agiert wird, weicht – das kann man zweifellos sagen – in den Hauptströmungen der Debatte ab dem 20. Jahrhundert erheblich voneinander ab und endet in einem Wirrwarr. Als Initialzündung der heute bestimmenden, jahrzehntelangen Auseinandersetzungen mit den Phänomenen der geteilten, gemeinsamen und kollektiven Intentionalität gilt die Sprachanalytik nach Raimo Heikki Tuomela, John Rogers Searle, Margaret Gilbert und Michael Bratman. In der evolutionären Verhaltensforschung Michael Tomasellos wurde der Begriff »collective intentionality« dann, um den Beginn des 21. Jahrhunderts herum, als typisches Phänomen hervorgehoben, nämlich als Intentionalitätsform, in welcher die differentia specifica zwischen dem
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Formen kollektiver Intentionalität
Tier und dem Menschen zu finden ist. Nachfolgend wurde dies erstens von Tomasello selbst präzisiert, sodass in etwas späteren Werken die »joint intentionality« als Wesensunterschied dient und die »collective intentionality« als deren menschliche onto- und phylogenetische Fortführung begriffen wird. Zweitens beeinflusste dieser, selbst unter anderem von sprachanalytischen Autoren geprägte, Denker seinerseits die Sprachanalytik: Tuomela übernahm von der Lektüre Tomasellos den Gedanken, dass Autisten und Kleinkinder in ihren Intentionalitätsformen eingeschränkt sind. Searle wiederum kann unterstellt werden, dass er gerade durch Tomasello seine Annahmen zur differentia specifica ausarbeitete, da er eine empirische Begründung dieser These von, wie es bei ihm heißt, »animal psychologists« erwartet. Es sollte jedoch auch deutlich geworden sein, dass die Phänomenologie zentral für diese Debatte ist und als ein – wenn nicht der – markante Vorläufer gelten muss, denn es finden sich der Sache nach, besonders mit Referenz auf Edmund Husserl und Max Scheler, zahl- und umfangreiche Übereinstimmungen mit heutigen Annahmen. Nennen kann man hier etwa die Beschreibung des spezifischen Intentionalitätsmodus als »für uns«, welcher mit einer spezifischen Leiblichkeit einhergeht und sich als »Personale Einheit höherer Ordnung« beziehungsweise als Konstitution einer gemeinsamen Welt, als Konstitution eines »Universum von Realien mit ontischer Struktur« manifestiert. Eine besonders treffende Textpassage Husserls lässt sich in der Abhandlung »Meditation über die Idee eines individuellen und Gemeinschaftslebens in absoluter Verantwortung« (1924) finden, welche als Motto diesem Versuch einer Typologisierung vorangestellt wurde. Um den »tiefgreifenden« Zusammenhalt der Beteiligten zu beschreiben, wählt Husserl dort zunächst eine ex-negativo-Ausrichtung und merkt an, dass es nicht ein Nebeneinander der Beteiligten, das heißt »eine bloße Kollektion« sei. Dieser spezifische Zusammenhalt ist vielmehr, so lautet nun seine ex-positivo-Darlegung, durch ein »soziales Füreinander« charakterisiert, dass sich als »interpersonale Intentionalität« begreifen lässt und zu einer »Einheit« der Beteiligten führt. Sicherlich könnte man sagen, dass ein Vergleich der Phänomenologie als Vorläufer der Debatte, der Sprachanalytik als erheblicher Impuls- und Richtungsgeber der Debatte und der evolutionären Verhaltensforschung als Musterbeispiel der interdisziplinären Verbreitung der Debatte hinkt. Und der Vergleich ist unbestreitbar vor einige Probleme gestellt, da bereits die Auffassungen und Methoden darin abweichen, was unter Intentionalität einerseits und dem Kollektiv andererseits zu verstehen ist und wie man diesem Phänomen begegnen sollte, wie etwa beschreibend oder erklärend. Ein Hauptziel dieser Arbeit war es auch herauszustellen, dass ein solcher Vergleich zwar einerseits hinkt, jedoch andererseits zahlreiche Facetten ein und desselben Phänomens eröffnet, wie hier nochmals kurz nachgezeichnet werden soll. Aus den tatsächlich thematisierten Phänomenbereichen und den angeführten Beispielen geht hervor, dass erstens der Begriff »Intentionalität« und zweitens der
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Begriff »Kollektiv« in den drei Hauptströmungen der Debatte jeweils eine andere Extension erfährt: Zwar vertreten wohl alle Autoren prinzipiell ein weites Verständnis, in welchem Intentionalität als geistige Gerichtetheit beziehungsweise Bewusstsein von etwas gefasst wird. Allerdings zeigt sich in den tatsächlichen Untersuchungen insbesondere in der Sprachanalytik und evolutionären Verhaltensforschung – zumindest in ausgeprägter Tendenz – eine Fokussierung auf den Bereich der Handlungen, sodass gesagt werden kann, dass die Intentionalität dort einen engeren Sinn, nämlich primär als Bewusstsein einer Handlungsabsicht beziehungsweise als Bewusstsein eines Handlungsvollzugs erfährt. Mit der Unterscheidung der drei Hauptphänomenbereiche, dem Denken, Handeln und Fühlen, geht meist auch eine genauere Bezeichnung der Intentionalität einher, sodass entweder eine »practical«, »cognitive« oder »affective intentionality« angenommen wird. Eine solche Schematisierung mag ihren Reiz haben, doch sind zahlreiche Phänomene möglich, die gleichzeitig mehrere Bereiche umfassen, wie mit einem Mord aus Affekt oder einem leidenschaftlichen Kuss veranschaulicht werden kann. Im Rückschluss der Verwendung des Begriffs »collective intentionality« nach Searle kann gesagt werden, dass für ihn – zumindest in der frühen Phase seiner Überlegungen – bereits dann ein Kollektiv besteht, wenn zwei aufeinander bezogene Lebewesen agieren. Seine Ausführungen zufolge, verfügen etwa zwei Vögel, die ein Nest bauen oder der Hund und sein Herrchen über das Bewusstsein einer Handlungsabsicht. Gegen diese Auffassung wird erstens vorgebracht, dass der Begriff »Kollektiv« ausschließlich für Menschen reserviert ist, ebenso wie sich die Bezeichnungen »Schwarm« oder »Rudel« im alltäglichen Gebrauch ausnahmslos auf Tiere beziehen. Zweitens ist eine qualitative Verwendung des Begriffs »Kollektiv« in der Debatte dominant, welche darauf zielt, dass die Beteiligten in einer spezifischen Art und Weise – kurz gemeinsam – aufeinander gerichtet sind, nämlich: kommunikativ (Husserl), wechselseitig sozial (de Vecchi), kooperativ (Searle), freiwillig (Bratman), voneinander abhängig und moralisch (Tomasello) sowie im »We-mode« (Tuomela, Tomasello). Es müssen demnach mindestens zwei Subjekte bestehen, die in einer spezifischen qualitativen Weise aufeinander bezogen sind. Genau diese Überlegung wird bei Tomasello zentral, denn er vertritt die Ansicht, dass ausschließlich Menschen aufgrund ihrer onto- und phylogenetischen Entwicklung auf diese spezifische »tiefgreifende« Weise aufeinander gerichtet sein können. Tomasello argumentiert demnach für eine differentia specifica zwischen dem Tier und dem Menschen, die auf spezifischen Intentionalitätsformen beruht: Je nachdem wie weit die onto- beziehungsweise phylogenetische Entwicklung konkret fortgeschritten ist, das heißt, ob zwei oder mindestens drei interdependente, sich als Subjekte anerkennende und im »We-mode« agierende Subjekte aufeinander bezogen sind (»joint« beziehungsweise »collective intentionality«). Indem Tomasello bei der kollektiven Intentionalität ausdrücklich von drei »We-mode«-Personen ausgeht, findet sich bei ihm besonders exemplarisch die Mischung des quantitativen sowie qualitativen Gebrauch des Begriffs »Kollektiv«,
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da er sowohl die Anzahl der Beteiligten (mindestens drei) als auch ihre spezifische Bezugnahme aufeinander (den »We-mode«) in den Vordergrund stellt. Mithilfe der differentia-specifica-Annahme wird hingegen der Unterschied in der Herangehensweise der drei Hauptströmungen nochmals deutlich, da Tomasello primär erklärt wie der Mensch zum Menschen wurde, während die beschreibende Perspektive vielmehr die Charakteristik beleuchtet was den Menschen als Menschen auszeichnet. Nach Tomasellos Position liegt demnach ein Kollektiv erst in einer Situation mit mindestens drei »We-mode«-Subjekten, welche eine Kultur konstituieren vor. Eine Binnendifferenzierung dieser letzten Intentionalitätsform erfolgt bei ihm danach, wie weit die Moralität und das Verständnis kollektiver Praktiken, wie exemplarisch die Verwendung von Geld, ausgeprägt ist. Neben dem quantitativen Gebrauch des Begriffs »Kollektiv« – etwa für mindestens zwei oder mindestens drei Beteiligte, die – wiederum je nach Erfüllung der graduellen und qualitativen Kriterien – genauer als Lebewesen oder Subjekte beziehungsweise Personen gefasst werden, herrscht in der Debatte mit großer Dominanz folgende Verwendungsweise: Es wird genau dann vom »kollektiven Sinn« gesprochen, wenn die Beteiligten in einer spezifischen Art und Weise – nämlich gemeinsam – aufeinander bezogen sind. Dieses Phänomen wird weitläufig unter dem Begriff »kollektive Intentionalität« gefasst, wird allerdings, wenn man sich die Autoren, ihre jeweiligen Schwerpunkte und begrifflichen Binnendifferenzierungen genauer anschaut, mit unterschiedlichen Begriffen belegt, wie etwa »kollektive Intentionalität« (Tomasello), »joint intention« beziehungsweise »full blown collective intentionality« (Tuomela), »shared cooperative activity« (Bratman) oder »starke kollektive Intentionalität« (Searle). Vom »kollektiven Sinn von Wir« als Kennzeichnung für das gemeinsame Denken, Handeln und Fühlen, wird der »distributive Sinn von Wir« abgrenzt. Hierbei sind allerdings zwei Aspekte zu beachten: Erstens entspricht diese verbreitete Begriffsverwendung nicht der lateinischen Abstammung des Wortes »Kollektiv« als »Zusammenlegung (con-lectio) von Individuen«, auf welche Schmid verweist. Würde man ausschließlich der historischen Ableitung folgen, so wäre der Begriff »kollektive Intentionalität« lediglich als terminus technicus für das parallele Nebeneinander der Beteiligten gerechtfertigt. Und in der Tat wird zweitens aufgrund der Vielzahl an Begriffsverwendungen und begrifflichen Binnendifferenzierungen ebenfalls der »distributive Sinn von Wir«, wenn auch mit Einschränkungen als kollektive Intentionalität bezeichnet: »not full blown collective intentionality« (Tuomela) oder »schwache kollektive Intentionalität« (Searle). Zusammenfassend: Im Alltag neigt man wohl zu einer quantitativen Verwendung des Begriffs »Kollektiv«, ganz im Sinne danach, dass ein Kollektiv eine bestimmte Mindestanzahl erfordert – mindestens drei Beteiligte, da ansonsten keine Gruppe, sondern vielleicht lediglich ein Pärchen vorliegt. In den wissenschaftlichen Beiträgen wird hingegen der Begriff »Kollektiv« primär qualitativ für den Zusammenhalt der Beteiligten angewandt. Der Unterschied beider Ansätze lässt sich kurz anschaulich
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belegen: Dem quantitativen Ansatz zufolge gehen Anna und Berta zwar gemeinsam spazieren, aber sie bilden kein Kollektiv, da für eine Mindestanzahl an Beteiligten, die die Bezeichnung »Kollektiv« rechtfertigen, etwa noch Clara benötigt wird. Das heißt streng terminologisch liegt in einem solchen Fall eine gemeinsame, aber keine kollektive Intentionalität vor. Dem qualitativen Ansatz nach – kurzgefasst: die Beteiligten sind kommunikativ, sozial, freiwillig, moralisch, im »We-mode« aufeinander bezogen – scheint es unproblematisch den gemeinsamen Spaziergang von zwei Beteiligten, wie Anna und Berta, etwa als »full blown collective intentionality« zu betiteln. Es ist demnach ganz immanent was unter einem »Kollektiv« verstanden wird. Vertritt man eine qualitative Verwendung des Begriffs »Kollektiv« – wie es, um es nochmals zu sagen, in der Debatte überwiegend der Fall ist – dann ist allerdings Vorsicht geboten, da gegebenenfalls – zumindest in Hinblick auf bestimmte Autoren – auch die Zusammenlegung terminologisch als abgeschwächte Variante der kollektiven Intentionalität aufgefasst wird. Gerade bei einer solchen allumfassenden Verwendungsweise für jegliche Fälle des qualitativen Bezugs – sowohl für das parallele als auch das gemeinsame Denken, Handeln und Fühlen (schwache und starke kollektive Intentionalität), wie es bei Tuomela und Searle zu erkennen ist – stellt sich, ebenso wie bei der Verwendung des Begriffs »Miteinander« in der Phänomenologie für jegliches gegen –, für- und miteinander, für jegliche (direkte und indirekte) Situationen mit (mindestens) einem Anderen, die Frage, welche Phänomene hiermit nicht erfasst werden. Darüber hinaus liegt eine weitere terminologische Problematik darin, dass der Begriff »Kollektiv« in der Debatte nahezu stets als bedeutungsgleich zum Wir verstanden wird. Geht man jedoch von der tatsächlichen sprachlichen Anwendung aus, dann sind das Wir und das Kollektiv nicht in jedem Fall identisch: Bei Aussagen der Art »Wir freuen uns über das Tor« oder »Das Kollektiv freut sich über das Tor« wird deutlich, dass sich bei der ersten Begebenheit der Sprecher in aller Regel zu dieser genannten Gruppe hinzuzählt, während im zweiten Fall eine klare Distanz zu den Beteiligten zum Ausdruck kommt. Zudem liegt bei einem Wir die Assoziation einer hohen qualitativen, »tiefgreifenden« Bezugnahme mindestens zweier Beteiligter viel eher auf der Hand als bei einem Kollektiv, bei welchem begrifflich zunächst an die Zusammenlegung von mindestens drei Beteiligten gedacht werden kann. Es herrscht also in aller Kürze bei den Autoren der drei Hauptströmungen der Debatte erstens eine Uneinigkeit darin, welche Phänomene primär zu thematisieren sind, wodurch, zumindest tendenziell die Bedeutung der Intentionalität variiert. Zweitens herrscht ein Dissens in der Frage, welche und wie viele Beteiligte vorliegen und wie sie aufeinander bezogen sein müssen, damit die Rede von einem Kollektiv – beziehungsweise von kollektiver Intentionalität – berechtigt ist. So unterschiedlich ihre Ansätze jedoch auch seien mögen, hinsichtlich der »tiefgreifenden«, menschlichen Intentionalitätsformen wird üblicherweise ange-
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nommen, dass für eine tatsächliche Intentionalitätsform alle Beteiligte real existieren und alle (oder zumindest die Mehrheit der Beteiligten) einen spezifischen Intentionalitätsmodus innehaben. Die Beteiligten müssen spezifische kognitive Voraussetzungen erfüllen, welche sie nur als Subjekte – oder noch genauer: nur als Subjekte ab einer gewissen Entwicklungsstufe, prägnant gefasst: also nur Personen – erfüllen können. Obwohl die Debattenteilnehmer dies kaum selbst explizit hervorheben ist die Fragestellung, wer überhaupt über spezifische Intentionalitätsformen verfügt, von zentraler Bedeutung, denn die Beteiligten müssen je nach Ansatz über Intentionalität (Bewusstseins –, Absichts- oder Handlungsfähigkeit) verfügen sowie sich selbst als intentionalen Akteur begreifen, Einfühlungsvermögen besitzen, den Anderen als gleichberechtigten intentionalen Akteur anerkennen und als solchen behandeln, das heißt freiwillig, wirbezüglich und wechselseitig sozial denken, handeln und fühlen, ein »tiefes« Verständnis von kollektiven Praktiken haben sowie Moralität und Repräsentationsfähigkeit aufweisen, sodass eine Kultur beziehungsweise eine institutionelle Tatsache konstituiert werden kann. Anzumerken ist zum einen, dass die Autoren dabei nur einzelne dieser zahlreichen Kriterien ausführen und diese gerade daher nicht in ihrer Gesamtheit thematisieren. Zum anderen kann anhand der Einfühlung musterhaft vorgeführt werden, dass sie, wie anhand von Husserl und Tomasello gezeigt, zwar teils von identischen Kriterien ausgehen, diese jedoch vollkommen unterschiedlich behandeln, nämlich entweder beschreiben oder genetisch zu erklären versuchen. Eine genetische Begründung der Einfühlung, wie sie Tomasello in Anlehnung an Smith, vertritt, wird in der Phänomenologie jedoch seit über 100 Jahren zurückgewiesen. Desweiteren würde man sich von manchen Autoren eine genauere Darlegung der Kriterien oder Charakteristika wünschen, beispielsweise ist offenkundig, was Bratman mit dem drastischen Entführungsfall schildern will, nämlich dass ein wahrhafter Zusammenhalt, eine gemeinsame Intentionalität nur dann besteht, wenn alle Beteiligten freiwillig daran partizipieren. Die Wahl Bratmans auf einen ausgesprochen extremen Fall physischer Gewaltandrohung ist jedoch in dem Sinne sehr dankbar, da seiner Analyse dieser Situation zumindest prinzipiell (hoffentlich) kein Leser widersprechen würde. Aus philosophischer Sicht wäre jedoch ebenso die Einschätzung von Fällen relevant, wie sie nahezu alltäglich jeden von uns betreffen, etwa die psychische Gewalt in Form des subtilen Gruppenzwanges. Desweiteren wird meist nicht auf die Konsequenzen dieser Kriterien eingegangen. Denn so graduell, eingängig und intuitiv einleuchtend Kriterien dieser Art auch sein mögen, sie gehen mit erheblichen und aus moralischer Warte heraus sogar unvertretbaren Folgen einher (Kapitel 2): Leblose Gegenstände, Ohnmächtige, Bewusstlose und Komapatienten entfallen, wie Husserl anführt, da sie gegenwärtig selbst nicht eine Gegen- oder Wechselseitigkeit eingehen, aktiv partizipieren, das heißt keine neuen Tatsachen schaffen beziehungsweise in geteilter, gemein-
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samer oder kollektiver Weise erleben können. Personen mit auffällig ausgeprägten autistischen oder dissozialen Zügen entfallen, so wiederum Tomasello, da ihr Vermögen zur Einfühlung, zum Mitgefühl oder anderen Gefühlen immens eingeschränkt ist. Doch auch Personen mit dissozialen Persönlichkeitszügen, wie Narzissmus oder Psychopathie, entfallen, was bei den oben genannten Autoren unthematisiert bleibt, da sie auf ihr Eigen- und nicht auf die Gruppeninteressen bedacht sind: Sie können sich zwar sehr wohl in den Anderen einfühlen, nutzen jedoch dieses Wissen um den Intentionalitätsgehalt des Anderen für sich. Aussagen der Art, dass nur »normalen Personen« eine spezifische Intentionalität zukommt, finden sich auch bei Gilbert und Bratman: Bei Gilbert heißt es vage, dass lediglich »normal human beings […][with] perceptual organs functioning normally […] and […] normal reasoning capacities« ein »joint commitment« etablieren könnten. Und auch die Aussage Bratmans, dass nur »normal adult human agents in a modern world« als planende Akteure begriffen werden könnten, müsste weiter ausgeführt werden. Trotz der Unklarheiten, was im Detail jeweils hierunter zu verstehen ist, ist unverkennbar, dass Gilbert und Bratman, wie eben auch Husserl und Tomasello, bei den menschlichen Intentionalitätsformen auf eine gewisse Normalität hinsichtlich der kognitiven oder sogar körperlichen Fähigkeiten zielen. Während Husserl jedoch nur indirekt durch den Terminus »interpersonale Intentionalität« auf menschliche Beteiligten mit einem »besonderen Status« hinaus will, tritt eine solche Annahme bei Tomasello offensichtlich als einer der gravierendsten Kernthesen zutage: Menschliche Kleinkinder bis circa drei beziehungsweise bis sechs Jahren entfallen strenggenommen, da sich ihre Fähigkeit zur Anerkennung des Anderen als intentionalen Handlungspartner, ihr Verständnis der kollektiven Praktiken sowie ihre Moralfähigkeit erst in einem langjährigen ontogenetischen Prozess entwickelt. Die differentia specifica liegt, wie explizit Tomasello und Searle vertreten, in einer spezifischen Intentionalitätsform: im ultrasozialen (Tomasello), repräsentationsfähigen (Searle) »We-mode«-Verhalten, das zur Konstitution einer Kollaboration und Kultur (Tomasello) beziehungsweise zur Konstitution institutioneller Tatsachen (Searle) führt. Die Argumentationsweise der hier behandelten Autoren ist drastisch: Es müssen notwendigerweise spezifische kognitive Fähigkeiten erfüllt sein, wie exemplarisch der »We-mode« und das Einfühlungsvermögen, da man ansonsten nicht als Beteiligter einer gemeinsamen Intentionalität gezählt werden kann. Verfährt man indes strikt konsequent nach den gesetzten Kriterien, dann betreffen diese Einschränkungen nicht einzelne Personen oder einzelne Personengruppen, sondern einen erheblichen Anteil der menschlichen Bevölkerung: weil sie die Bedingungen überhaupt nicht mehr (wie Tote), noch nicht (wie Kleinkinder), augenblicklich nicht (wie Bewusstlose) erfüllen oder es durchaus – je nach gradueller Störung – zweifelhaft ist, inwieweit sie diese Kriterien erfüllen (wie bei »Verrückten« (so der verwendete Terminus bei Husserl); man denke unter anderem an Autismus, Narzissmus, Sozio- und Psychopathie, Stalker etc.). Nimmt man alle denkbaren Arten
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der Sonderfälle zusammen, dann spiegeln diese allerdings keine Sonderfälle mehr ab, da aus medizinischer Sicht die Spektren dieser Verhaltensweisen weit auseinander liegen. Neben den kognitiven Voraussetzungen wurde von den Autoren in ganz unterschiedlichen Kontexten angeführt, dass es sich um real existierende Beteiligte handeln muss: Besonders Meijers und Schmid führten – verstanden als kritische Rezeption der Position Searles – an, dass die Beteiligten real und nicht nur in der Fiktion, im Traum oder sogar als Gehirn im Tank aufeinander bezogen sein müssen, da ansonsten lediglich eine geglaubte kollektive Intentionalität – beziehungsweise nach der begrifflichen Präzisierung nach Schmid: eine geglaubte kollektive oder geglaubte gemeinsame Intentionalität – besteht. Die Ausführungen des Kapitels 2.2 zielten jedoch auch darauf zu zeigen, dass sich diese Überlegung des tatsächlichen Bezuges, wenn auch nur anhand einzelner Wörter und keiner ausführlichen Begründung, bereits bei Searle finden und es sich daher nicht um eine Widerlegung – wie von Meijers, Schmid und Anderen postuliert –, sondern vielmehr um eine Ausarbeitung der Position Searles hinsichtlich der geglaubten Intentionalität handelt. Ebenso wie die kognitiven Voraussetzungen ist auch die Annahme der realen Bezugnahme der Beteiligten aufeinander als solche schlüssig. Wenn Husserl aus diesem Grund betont, dass Tote oder Objekte keine gemeinsame Welt konstituieren können, dann mag dies an Banalität kaum zu übertreffen sein, denn sie können nun mal, wie jeder weiß, per se nicht oder nicht mehr aktiv an etwas Gemeinschaftlichem partizipieren. Einige Fälle, die zu gewissen Zeiten und Kulturen üblich waren oder sogar noch üblich sind, belegen jedoch, dass dieser Fakt durchaus juristisch »umgangen« werden kann. Man denke unter anderem an die Objektophilie sowie die »Leichen-« oder »Höllenheirat«. Doch auch abgesehen von diesen Sonderfällen, führt die Annahme, dass notwendigerweise ein realer Bezugs der Beteiligten aufeinander geschehen muss, sodass die Beteiligten um diesen realen Bezug aufeinander wissen, zu einer Frage: Wie sollte dann das Phänomen bezeichnet werden, bei welchem die Beteiligten zwar aufeinander bezogen sind, jedoch nicht direkt in Verbindung zueinander stehen, wie es exemplarisch beim einsamen Robinson Crusoe der Fall ist? Tomasello führt das Gedankenexperimentes des Robinson an, um darzulegen, dass eine einzelne erwachsene Person, die ohne Einschränkungen alle kognitiven Voraussetzungen erfüllt und ontologisch real existiert, nicht über die Referenz auf ein Objekt (individuelle Intentionalität erster Stufe (Tomasello) beziehungsweise »solitary intentionality« (de Vecchi)) hinauskann. Allerdings bleibt bei Tomasello unausgeführt, dass Robinson durchaus durch Andere kollektive Praktiken erlernt haben und diese nun wie Andere in seiner Isolation ohne Andere, allerdings an Andere denkend im »We-mode« vollziehen kann. Eine physische Distanz ist eben nicht gleichbedeutend mit einer psychischen Distanz. Wird Robinsons Verhalten auf diese Weise charakterisiert, so kann wiederum mit Husserl gesagt werden, dass Robinson in seiner gegenwärtigen Isolation wohl bestenfalls in einem verstehenden Akt zu den
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Engländern steht und nur, etwa mittels Rauchzeichen, versuchen kann mit diesen in einem kommunikativen Akt zu treten. Nach Searles Auffassung der kollektiven Intentionalität als Interaktion zwischen dem Menschen und dem Tier hingegen ist Robinson, zumindest im Hintergrund seiner Interaktion mit einem Hund und einem Papagei, wenigstens eine soziale Tatsache gegeben. So plausibel die Beschreibungen und Erläuterungen der Intentionalitätsformkonzeptionen jeweils auch sein mögen, sie verfehlen doch bis zu einem bestimmten Grad, dass Robinson durchaus mit seinen englischen Landsleuten mittels »We-mode« verbunden sein kann und ebenso wie diese denkt, handelt und fühlt – wenn auch eher in einer anonymen Weise, welche als »Man-Intentionalität« bezeichnet werden könnte. Bei den Debattenteilnehmern selbst spielt allerdings das einsame Subjekt sowie der Bezug auf ein Tier, wie die Interaktion Robinsons mit dem Papageien, eine untergeordnete Rolle. Präsenter ist vielmehr die Frage, welche Intentionalitätsformen bestehen, wenn zwei oder viele Subjekte aufeinander bezogen sind. Um im Bild zu bleiben: Wie verändert sich die Intentionalität Robinsons, wenn er auf Freitag trifft? Hierbei kommt es, so ausnahmslos alle Autoren der Debatte, darauf an wie die Beteiligten qualitativ aufeinander bezogen sind. Ist nur einer von beiden auf den Anderen bezogen, beispielsweise weil Robinson plötzlich Freitag am Strand entdeckt, sich jedoch vor ihm fürchtend im Wald versteckt und Freitags Handlungen beobachtet, dann ist dies eine intersubjektive Intentionalität (de Vecchi) oder eine individuelle Intentionalität zweiter Stufe (Tomasello), da die Gerichtetheit auf ein Subjekt vorliegt. Nach de Vecchi ist Freitag für Robinson in dieser Konstellation weder ein Adressat, dem er etwas mitteilen möchte, noch ein Handlungspartner, sondern er versteht Freitag lediglich als intentionalen Akteur. Sind beide aufeinander bezogen, dann muss genauer betrachtet werden, ob sie lediglich in paralleler Weise oder miteinander denken, handeln und fühlen. Handeln die Beteiligten mit Anderen lediglich auf Basis ihrer Eigeninteressen, dann lässt sich dies als »singuläre Handlung« (Schmid) beziehungsweise als »pro-group I-mode«, »shared intention« oder »not full blown collective intentionality« (Tuomela) bezeichnen. Für Tomasello, welcher die »I-mode«-»Wemode«-Differenzierung Tuomelas abgewandelt aufnimmt, ist und bleibt ein Verhalten im »I-mode« sei es nun allein oder mit Anderen ausgeführt eine individuelle Intentionalität, da sie, so könnte die begriffliche Begründung lauten, eben ausschließlich auf das Individuum ausgelegt ist. Searle wiederum schlägt einerseits, wie Tomasello, den Weg einer differentia specifica ein, die in einer besonderen Intentionalitätsform liege, betont jedoch andererseits, wie Tuomela, dass die Agierenden – Menschen und Tiere – in einem solchen Fall, der sich eher als Nebeneinander klassifizieren lässt, dennoch soziale Tatsachen konstituieren könnten, welche er als »bloße kollektive Intentionalität« betitelt. Nicht auf die Konstitution von spezifischen Tatsachen, sondern auf die Bezugsrichtung und den konkreten Bezugsakt kommt es de Vecchi an, wenn sie gewissermaßen als Zwischenstufe annimmt, dass wenigstens ein Beteiligten in sozialer Weise auf den Anderen eingeht (»social intentionality«).
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Formen kollektiver Intentionalität
Sind beide Subjekte, wie hier Robinson und Freitag, kommunikativ (Husserl), wechselseitig sozial (de Vecchi), interdependent im »We-mode« (Tuomela und Tomasello), freiwillig (Bratman), kooperativ (Searle) aufeinander gerichtet, erkennen sich demnach beide als gleichwertige und -/berechtigte Partner an, dann besteht eine »nos cogitamus«, die »Konstitution einer gemeinsamen Welt« (Husserl), eine »shared intentionality in the very strong sense of the term ›sharing‹« (de Vecchi), ein Ineinandergreifen der Subpläne, das alle Teilhandlungen erfasst (Bratman), ein »group behaviour in the We-mode«, eine »joint intention«, eine »full blown collective intentionality« (Tuomela), eine »shared intention« (Gilbert), eine »plurale Handlung (Schmid) beziehungsweise eine »joint intentionality«, da beide Beteiligte eine Kollaboration konstituieren (Tomasello). Erst bei drei »We-mode«-Subjekten könne, laut Tomasello, eine Kultur etabliert werden, welche auf die »collective intentionality« verweist (siehe Tabelle Nr. 23). Die Beteiligten, so heißt es bei allen Debattenteilnehmern weiter, agieren bei einer solchen »tiefgreifenden Intentionalitätsform« »as a body« (Gilbert) oder bilden ein »Subjekt höherer Stufe« (Husserl, Stein), ein »plural subject« (Gilbert und Hans Bernhard Schmid). Jene Intentionalitätsform wird, wie dargelegt, meist als »collective intentionality« oder als besonders ausgeprägte Variante der »collective intentionality« betitelt. Husserl und Tomasello betonen – auf ihre jeweils eigene Art –, dass das Bewusstsein Teil einer spezifischen Gruppe zu sein auf das Individuum zurückwirkt (»eingebildete Intentionalität« (Husserl) beziehungsweise »derived normativity« (Tomasello)). Die Intentionalität des hierbei konstituierten spezifischen Akteurs, wie der Fußballmannschaft, lässt sich, so wiederum Tuomela, da nur real ontologische Subjekte im originären Sinne Intentionalität besitzen, als abgeleitete Intentionalität begreifen. Die Beantwortung der Frage, wer welche Intentionalitätsform eingehen kann, ist also mehreren Aspekten unterworfen: Es hängt einiges von der Art der Lebewesen (Individuen, Subjekt, Person), von der Anzahl der Beteiligten (mindestens zwei oder drei), ihrem ontologischen Status, ihren kognitiven Fähigkeiten und ihrer Bezugnahme aufeinander ab. Darüber hinaus kann bestimmt werden, ob es sich um eine geglaubte oder tatsächliche Intentionalitätsform handelt. Es kann also gesagt werden, dass sich ihre Annahmen und die von ihnen verwendete Terminologie teilweise einander sehr ähneln: Erstens, weil die hier genannten Autoren meist von einer Chronologie, von genetischen Intentionalitätsstufen vom Individuum zum Kollektiv ausgehen. Eine solche Vorgehensweise ist als solche jedoch kritisch, da unter anderem bei Kleinkindern zuerst eine Einsfühlung bestehe, wie Scheler vertritt, oder zu stark an der cartesianischen Annahme festgehalten werde, dass Intentionalität immer einem ontologischen Individuum zukomme, wie Annette C. Baier und in ihrer Folge beispielsweise Hans Bernhard Schmid artikulieren. Zweitens gleichen sich die Ansätze der drei Hauptströmungen der Debatte darin, dass die »tiefgreifendste« Intentionalitätsform – und damit
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ist meist wenigstens implizit ausschließlich die »tiefgreifendste« menschliche Intentionalitätsform gemeint – als »collective intentionality« bezeichnet wird. Drittens ist kennzeichnend, dass bei den Konzeptionen jeweils graduelle Kriterien zugrunde gelegt werden. Insbesondere bei Tuomela mit dessen »I-mode«-»We-mode«Differenzierung ist die Problematik erläutert worden, dass der Modus wandelbar ist und damit eine Einschätzung lediglich einer Momentaufnahme gleicht. Zwar vertritt Searle, dass man allein aus einer Beobachterperspektive heraus nicht auf die Intentionalitätsform schließen könne, dass heißt, ob eine parallele oder gemeinsame Ausführung vorliegt, doch kann dagegen gesagt werden, dass man mittels des Kontextes oder der Umgebung wenigstens Vermutungen anstellen kann. So wird es sich beispielsweise bei einem Kuss auf offener Straße wohl in den meisten Fällen nicht um eine Probe zweier Schauspieler handeln. Dass sich ein »wirkliches Miteinander« mit einem starken Zusammenhalt der Beteiligten auch für einen Beobachter »sehen« lässt, liegt augenscheinlich beim Sehen eines Fußballspieles vor. Man erkennt, beispielsweise bei den einzelnen Spielen einer Fußballweltmeisterschaft, zweifelsohne welche Mannschaft als Mannschaft besser zusammenhält sowie eine »Prise Esprit« ausstrahlt – auch wenn sie ihre entscheidenden Torchancen verpassen mag. Jenes komplexes Beispiel der Fußballmannschaft kann jedoch nicht nur zur Veranschaulichung des Pluralsubjekts dienen, sondern etwa auch, dass die verschiedenen Handlungen der Beteiligten für die Konstitution eines Pluralsubjekts kooperativ in allen Ebenen ineinandergreifen müssen und das soziale Setting – etwa die Grundstimmung im Stadion, die sich durch Gefühlsansteckung verbreitet – dabei eine Rolle spielt. Nebenbei bemerkt ist jenes Beispiel auch mit den Ansätzen kompatibel, dass erstens die Intentionalität von Tieren prinzipiell in Frage steht und ob zweitens die Bezeichnung »kollektive Intentionalität« bei einer Mindestanzahl von zwei Beteiligten gerechtfertigt ist, ob etwa der Nestbau zweier Vögel oder der gemeinsame Spaziergang von Anna und Berta terminologisch genauer nicht als kollektive Intentionalität, sondern als individuelle, geteilte oder gemeinsame Intentionalität bezeichnet werden müsse. Die, je nach Strömung primär beschreibenden oder erklärenden, Darstellungen der »tiefgreifenden« Intentionalitätsform zielen inhaltlich auf ähnliches: Wenn die Beteiligten in einem spezifischen Modus, in einem spezifischen Akt, in einer spezifischen Richtung aufeinander und auf ein und dasselbe Objekt gerichtet sind, dann liegt eine spezifische Intentionalitätsform eines spezifischen Pluralsubjektes vor, das über eine gemeinsame, kulturelle Welt verfügt. Die Debattenteilnehmer liefern jedoch erstens keine Anleitung zum Erreichen einer solchen spezifischen Intentionalitätsform – wie es etwa die Aufgabe von Paartherapien, Team Buildingoder Corporate Identity Maßnahmen ist. Zweitens wird zudem keine Handlungsoder sogar Gesetzesempfehlung ausgesprochen. Geschildert wird, wie man bei bestimmten Intentionalitätsformen mit dem Anderen umgeht, jedoch nicht wie man mit dem Anderen umgehen sollte. Es wird beispielsweise nicht darauf eingegangen,
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Formen kollektiver Intentionalität
ob und wie man – aufgrund oder trotz der vielleicht in Frage stehenden Intentionalitätsform bei Tieren – auf das Tierwohl achten sollte. Hinsichtlich des Menschen wird betont, dass sich dieser durch ein ausgeprägtes soziales Füreinander auszeichnet (oder zumindest auszeichnen kann). Doch müsste sich daraus nicht auch eine Art Pflicht ergeben, dass der Mensch als moralisches Wesen gegenüber anderen Menschen moralisch agieren müsse? Müsste er nicht einerseits Andere achten und schützen und andererseits deren Würde und Selbstbestimmung akzeptieren? Müsste sich ein solches Menschenbild nicht auch in – selbstredend streng gefassten – Gesetzen, etwa zur passiven oder sogar aktiven Sterbehilfe, widerfinden? Bei diesem historischen, systematischen und metatheoretischen Vergleich der Ansätze um die kollektive Intentionalität können jedoch demgegenüber ebenso die gravierenden Unterschiede der Positionen ausgemacht werden. Diese Unterschiede liegen prägnant darin vor, wofür eine Konzeption der Intentionalitätsformen entwickelt wird: zur Differenzierung der ein –, gegen- und wechselseitigen Bezugnahmen (das heißt zur Aufschlüsselung der Bezugsrichtung), zur Differenzierung der Koordination und Kooperation (das heißt zur Klassifizierung von Handlungsphänomenen) oder zur dezidierten Etablierung einer differentia specifica zwischen dem Tier und dem Menschen. Diese Unterschiede zeigen sich im Detail erstens in der Extension des Begriffs »Intentionalität«, zweitens in der, meist nur implizit aus den Beispielen ableitbaren, Definition des Kollektivs, drittens in der methologischen Vorgehensweise (beschreibend oder erklärend) sowie viertens in der Einschätzung des tierischen Verhaltens: Während es in der Phänomenologie üblich ist, sich einer solchen Beschreibung prinzipiell zu enthalten, ist es für Tomasello gerade die Ausgangslage seiner Überlegung: Tiere können nicht einmal, so eine der zentralen Thesen Tomasellos eine »joint intentionality« erreichen, da sie nicht zum »We-mode« fähig sind. Mit Searle und Tuomela hingegen könnte stattdessen dafür argumentiert werden, dass Tiere immerhin ein »group behaviour« und soziale Tatsachen aufweisen und damit wenigstens über eine »bloße kollektive Intentionalität« verfügen. Da die Konstitution einer institutionellen Tatsache bei Searle an die Repräsentationsoder begrifflich prägnanter: an die Abstraktionsfähigkeit mittels Wörter (hier wiederum nach ihm: »derived intentionality«) gebunden ist, verwundert es nicht, dass er die tierische Intentionalität auch als »prelinguistic« charakterisiert. Auch seine Position scheint dabei im Kern angreifbar: Zum einen nimmt er an, dass man aufgrund der beobachtbaren Körperbewegungen ohne Hintergrundwissen nicht auf eine parallele oder gemeinsame Ausführung schließen kann. Zum anderen ist für ihn jedoch gerade die Beobachtung die einzige Grundlage dafür das tierische Verhalten zu deuten, wie unter anderem das seines eigenen Hundes. Allerdings räumt er dabei ein, dass die dezidierte Belegung einer solchen differentia specifica, wie sie von ihm angenommen wird, mittels Empirie erfolgen sollte – wie es dann exemplarisch und ausdrücklich zu Beginn des 21. Jahrhunderts von Tomasello ausgeführt wird. Die Abgrenzung beider Positionen liegt primär in der Anwendung des Be-
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griffs »kollektive Intentionalität« und in der Einschätzung, ob es sich dabei um ein biologisches, von Natur aus gegebenes Phänomen handelt. Beide kommen, wenn auch auf gänzlich unterschiedlichen Wegen, zu dem Ergebnis, dass es spezifisch menschliche Intentionalitätsformen gibt, welcher rechtliche Status jedoch hieraus etwa für Tiere zu schlussfolgern ist, bleibt offen: Kann man sie, zugespitzt gesprochen, weil es ihnen an spezifischen Intentionalitätsformen mangelt anstandslos töten oder sind sie wenigstens aufgrund ihrer komplexen sozialen Interaktionsfähigkeit schützenswert? Ebenfalls fehlt eine normative Bewertung und Handlungsempfehlung dahingehend, wie mit den extremen Ausprägungen der Intentionalitätsformen und ihren negativen Folgen umzugehen ist, da es zu Vereinsamung (im Falle der »solitary intentionality«) oder zu einem übertriebenen Patriotismus (im Falle der »collective intentionality«), das heißt zu einer dezidierten »in-group/outgroup psychology« kommen kann. Es bestehen demnach teils sogar entgegengesetzte Verwendungen der Begriffe, welche sich mit der sprachanalytischen Debatte ab 1984 etablierten – »collective«, »shared« und »joint intentionality«. Wie hier nochmals kurz lediglich an den Hauptpositionen skizziert wird.
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Bezeichnung
- »solitary intentionality« (de Vecchi) - Dingapperzeption (Husserl) - »plain« oder »private I-mode« (Tuomela) - 1. Stufe der »individual intentionality« (Tomasello)
»verstehender Akt« (Husserl) »intersubjective intentionality« (de Vecchi) 2. Stufe der »individual intentionality« (Tomasello) kommunikativer Akt (Husserl) genauer: sozialer Akt: soziale Intentionalität (de Vecchi)
Phänomen
Bezug auf ein Objekt ohne ein weiteres Lebewesen
einseitiger Bezug auf weiteres Lebewesen A → B oder B → A
verstehender Akt (Husserl) spezifische kognitive Fähigkeiten, wie etwa Einfühlungsvermögen und die Anerkennung des Anderen als intentionalen Akteur der Andere ist weder Adressat noch Handlungspartner (de Vecchi) man geht kommunikativ, genauer: sozial auf den Anderen ein (eine Person versteht den Anderen als Adressaten oder Partner) (de Vecchi)
Grundhaltung »for-me-ness«/»I-mode« - »I-mode reason« - »personal/private condition« - »personal/private commitment«
Bedingungen beziehungsweise Charakterisierung
»Ich sehe, dass du ebenfalls ins Kino möchtest.« (de Vecchi) Gefühlsansteckung von Subjekt zu Subjekt, wie der Jubel im Fußballstadion »Ich verspreche dir mit dir ins Kino zu gehen.« (de Vecchi)
- »Ich möchte ins Kino gehen.« (de Vecchi) - »Ich genieße das Meer vor mir.« (de Vecchi) - Die Frühlingslandschaft versetzt mich in eine heitere Stimmung. (Scheler)
Beispiele
Tabelle Nr. 23: Stufenkonzeption der Intentionalitätsformen nach de Vecchi, Tuomela, Searle und Tomasello (Fortsetzung auf den nächsten Seiten)
432 Formen kollektiver Intentionalität
A → B und B → A
gegenseitiger Bezug aufeinander
Phänomen
»bloße kollektive Intentionalität«, »prelinguistic intentionality« als Konstitution sozialer Tatsachen (Searle) »group behaviour in the I-mode«/ »pro-group I-mode«/»shared intention«/ »not full blown collective intentionality« (Tuomela) »singuläre Handlung« (H.B. Schmid) aufgrund des »I-modes« nichts anderes als »individual intentionality« (Tomasello)
Bezeichnung auch bei zwei Lebewesen möglich (Searle) »for-me-ness« - »not ›glued‹ together in the strong sense of jointness« - »they act collectively in an »aggregative« but dependent sense« - »contingently cooperative« (Tuomela) - »qualitativ identische individuelle Ziele« (H.B. Schmid)
Bedingungen beziehungsweise Charakterisierung
»two birds building a nest together, or puppies playing on a lawn, or groups of primates foraging for food, or even a man going for a walk with his dog« (Searle) Stürmer, der nach Ruhm und Ehre für seine eigene Person strebt und daher nicht den Ball einem Mitspieler passen wird, wenn dieser eine bessere Torchance hat Siedlungsbewohner, die nur ihr eigenes Haus retten wollen
Beispiele
Gesamtfazit 433
Bezeichnung
»shared intentionality in the very strong sense of the term ›sharing‹«/ »collective intentionality« (de Vecchi) »vollentfaltete« »collective intentionality« als Konstitution institutioneller Tatsachen. Diese wird verstanden als differentia specifica (Searle). »group behaviour in the We-mode«/ »joint intention«/ »full blown collective intentionality« (Tuomela) - »shared intention« (Gilbert) - »plurale Handlung« (H.B. Schmid) wechselseitiger Bezug zweier interdependenter Subjekte: »joint intentionality«. Dieser Bezug wird verstanden als differentia specifica (Tomasello). wechselseitiger Bezug mindestens dreier interdependenter Subjekte: »cultural common ground«/»collective intentionality« (Tomasello)
Phänomen
wechselseitiger Bezug aufeinander A ↔ B Das ist die Konstitution eines spezifischen Intentionalitätssubjektes.
Alle Beteiligten verstehen und behandeln sich als gleichberechtigte Partner. »gemeinsame Ziele« (H.B. Schmid) - »we-mode group reason« - »collectivity condition« - »collective commitment« (Tuomela) - »commitment to the joint activity« - »mutual responsiveness« - »commitment to mutual support« (Bratman) - »willed unity condition«/ - »joint commitment« - »expression criterion« - »common knowledge criterion« (Gilbert) - »joint commitment to a goal« - »role reversal« - »mutual support« (Tomasello) tiefgreifendes Verständnis vieler Subjekte als intentionale Akteure sowie der kollektiven Praktiken
Bedingungen beziehungsweise Charakterisierung »Wir versprechen uns gemeinsam ins Kino zu gehen«. (de Vecchi) Wir befinden uns beide in einer heiteren Stimmung durch den Film. (Miteinanderfühlen nach Scheler) Fußballmannschaft agiert als Mannschaft, als Einheit mit »Team Spirit«. Siedlungsbewohner, welche als Siedlung zusammenhalten und sich dafür einsetzen, dass die gesamte Siedlung erhalten bleibt. - deklarative Zeigegeste menschlicher Kleinkinder ab circa neun Monaten - in der Phylogenese vor circa 400.000 Jahren - »not full blown collective intentionality« ab circa drei Jahren - »reasonable and responsible collective intentionality« ab circa sechs Jahren in der Phylogenese vor circa 150.000 Jahren
Beispiele
434 Formen kollektiver Intentionalität
Gesamtfazit
Die kollektive Intentionalität dient •
•
als Sammelbezeichnung für jegliches Verhalten mindestens zweier Lebewesen (»group behaviour«, als Verhalten mit Anderen), wobei eine Binnendifferenzierung eingeführt wird: o die »bloße kollektive«, »prelinguistic intentionality«, welche auch bei mindestens zwei Tieren möglich ist und mit der Konstitution sozialer Tatsachen einhergeht einerseits und die sprachlich geprägte »we-intention«-Konstitution institutioneller Tatsachen andererseits (Searle), o oder: der »I-mode« (»not full blown«) einerseits und der »We-mode« (»full blown collective intentionality«) andererseits (Tuomela), als Bezeichnung einer einzelnen, spezifischen Intentionalitätsform: o als Kennzeichnung der »strong sense of sharedness« (de Vecchi), o als Kennzeichnung der Konstitution einer Kultur mindestens dreier »Wemode«-Subjekte (wobei ebenfalls eine Binnendifferenzierung anhand der Moralität vorgenommen wird, Tomasello), o oder kann gerade mit dessen Gegenteil assoziiert werden, da der lateinische Ursprung des Begriffs »Kollektiv« auf die bloße »Zusammenlegung von Individuen« verweist (H.B. Schmid).
Die »shared intentionality« dient • •
•
•
als Kennzeichnung der »not full blown collective intentionality«, wobei die Beteiligten im »I-mode« denken, handeln und fühlen (Tuomela), oder als Sammelbegriff, wobei eine Binnendifferenzierung vertreten wird (»shared intention«, »shared intentional activity« und »shared cooperative activity« (Bratman)), oder – je nach Textpassage Searles – entweder als Synonym zur kollektiven Intentionalität und daher als übergeordneter Sammelbegriff, oder demgegenüber als Synonym für die »bloße kollektive Intentionalität«, die »prelinguistic intentionality« (Searle), oder als Sammelbegriff für den gesamten menschlichen phylo- und ontogenetischen Entwicklungsverlauf der Intentionalitätsformen (Tomasello).
Die Bezeichnung »joint intentionality« dient •
•
als Synonym der »tiefgreifendsten« Form, welche auch als »full blown collective intentionality« bezeichnet wird, wobei die Beteiligten im »We-mode« denken, handeln und fühlen (Tuomela) oder als Kennzeichnung der Vorstufe zur kollektiven Intentionalität, das heißt als Begriff für die Kollaboration zweier »We-mode«-Subjekte (Tomasello).
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Formen kollektiver Intentionalität
In der Debatte ist vielfach bei der menschlichen, »tiefgreifenden« Intentionalitätsform – wie auch immer diese konkret bezeichnet wird – auf einen spezifischen Intentionalitätsmodus der Beteiligten verwiesen wurden. Etwa findet sich bereits bei Husserl die Überlegung einer kommunikativen »für-uns«-Ausrichtung, welche später mit Anlehnung an de Vecchi genauer als wechselseitige, soziale oder mittels der Sprachanalytiker als freiwillig, kooperative Bezugnahme charakterisiert werden kann. Umfasst werden können diese zahlreichen Beschreibungsweisen mit Tuomelas Begriff des »We-modes«. Dieser terminus technicus wurde beispielsweise auch in der evolutionären Verhaltensforschung Tomasellos aufgenommen. Allerdings weichen, wie nochmals gesagt werden kann, die Anwendungsbereiche stark voneinander ab: der »We-mode« ist das (oder wenigstens eines der) Hauptmerkmale der vollentwickelsten Stufe der kollektiven Intentionalität mindestens zweier Lebewesen (Tuomela), der vollentwickelsten Stufe der kollektiven Intentionalität mindestens zweier Menschen (Searle) oder der kollektiven Intentionalität mindestens dreier Menschen (Tomasello). Es wird hinsichtlich des tierischen Verhaltens also entweder eine Aussage getroffen, die dezidierter nicht sein könnte, nämlich die Behauptung einer differentia specifica (Searle und Tomasello), oder eine solche Aussage findet aufgrund einer Enthaltung überhaupt nicht statt (wie es in der Phänomenologie immanent ist). Die erheblichen Differenzen der drei Hauptströmungen der Debatte ab dem 20. Jahrhundert bestehen demnach vorwiegend hinsichtlich der Einschätzung der tierischen Intentionalität, während die ebenfalls erheblichen Übereinstimmungen der Ansätze bei der Einschätzung der menschlichen Intentionalitätsformen deutlich werden. Neben dieser Aufschlüsselung der Begriffsverwendung und der Gegenüberstellung der Positionen wurde in dieser Argumentation dafür plädiert die Quantität terminologisch genauer zu fassen: Verwendet man die Bezeichnungen »Wir« und »Kollektiv« nicht als Synonyme, so wird die Selbst- und Fremdperspektive deutlich: Zählt sich der Sprecher hinzu, liegt eine Wir-Intentionalität vor, während bei einer Abgrenzung – der Einschätzung der Intentionalität mindestens dreier menschlicher Subjekte dort – eine kollektive Intentionalität besteht. Zudem sollte differenziert werden, ob ein Lebewesen oder ein Subjekt gerichtet ist: Jedes Ich ist ein Subjekt und jedes Subjekt ist ein Individuum, aber gleichzeitig ist nicht jedes Individuum ein Subjekt und nicht jedes Subjekt bin ich, weshalb die »individuelle«, »subjektive« und »Ich-Intentionalität« voneinander unterschieden werden sollten. An kurzen Beispielen: »Ich habe Angst vor dem Hund«, »Peter hat Angst vor dem Hund« und »Die Katze hat Angst vor dem Hund«. Mit einer »Man-Intentionalität«, wie sie von Rainer Schützeichel in Anlehnung an Heidegger konzipiert wird, kann demgegenüber jene Intentionalität gekennzeichnet werden, die sich durch eine kulturelle Gegebenheit auszeichnet, wie etwa ein spezifischer Werkzeuggebrauch oder die allgemeinen Verkehrsregeln, an die man sich als anonymer Irgendjemand hält, das heißt, dass man in erster Linie wie Andere agiert, wie »Man« es eben so
Gesamtfazit
tut. Auch hier zeigen sich die verschiedenen Fokussierungen der Debattenteilnehmer: Searle und Tomasello schildern, mittels des prominenten Beispiel des Geldes beziehungsweise des Jagdverhaltens, wie kollektive Praktiken etabliert werden – nämlich durch Abstraktionsvermögen, Sprache, den »We-mode« etc. –, während Schützeichel den Schwerpunkt seiner Betrachtungen darauf legt, wie diese Praktiken konkret ausgeübt werden. Während in der frühen Phänomenologie die Bezeichnung »Miteinander« als Sammelbegriff für jegliches Für- und Gegeneinander dominant ist, kann mit dem Einsatz der sprachanalytischen Debatte der qualitative Unterschied der Bezugnahmen durch die Begriffe »geteilt« und »gemeinsam« (»shared« und »joint«) präziser erfasst werden. Bei der geteilten Intentionalität – ein Denken, Handeln und Fühlen mit dem Anderen – liegt die Besonderheit, so zumindest die vorgeschlagene Verwendung dieser Typologie, lediglich in einem Intentionalitätsmoment: Die Beteiligten sind auf ein und dasselbe gerichtet (identisches Intentionalitätsobjekt), sie verfolgen primär ihre Eigeninteressen (»I-mode«), wodurch sie lediglich koordinativ, verstehend, gegenseitig aufeinander bezogen sind. Es kommt keineswegs auf die persönlichen Fähigkeiten oder Verhältnisse der Beteiligten an, da beispielsweise die Beteiligten bei einem Carsharing völlig austauschbar sind. Es ist ein paralleler, neben- oder sogar gegeneinander ablaufender Vollzug. Bei der gemeinsamen Intentionalität – dem Denken, Handeln und Fühlen mit dem Anderen und für den Anderen – liegt die Besonderheit hingegen gleichzeitig in mehreren Intentionalitätsmomenten und es ist notwendigerweise von vielerlei kognitiven Fähigkeiten auszugehen, wie insbesondere, dass sie auf freiwilliger Basis, kommunikativ, wechselseitig sozial, kooperativ, im »We-mode«, moralisch aufeinander bezogen sind. Die Beteiligten bilden »eine Einheit«, wodurch sie alles andere als austauschbar sind, wie mit dem Familienauto dargelegt wurde: Unerheblich ist, wie viele Beteiligte auf ein und dasselbe, wie das Auto, gerichtet sind. Ausschlaggebend ist nämlich vielmehr, wie ihre Bezugsrichtung, ihr Bezugsakt und ihr Bezugsmodus zu charakterisieren ist. Denn etwa der Autoverkäufer kann so oft er will das Auto als Familienauto anpreisen, es ist erst dann tatsächlich ein Familienauto, wenn sich die Beteiligten hinsichtlich dieses Autos als Familie denken, handeln und fühlen. Wir können zwar nicht, wie Thomas Nagel darlegt, genauer beschreiben »what it is like to be a bat«, aber immerhin – und das scheint viel Wert zu sein – ist es uns, so Thomas Szanto, möglich genauer beschreiben zu können »what it is like to share a mind«. Der Unterschied zwischen einer individuellen, subjektiven, Ichund kollektiven Intentionalität sei hier in Tabelle Nr. 24 nochmals im Wesentlichen dargestellt. Dass ein und dasselbe Objekt von ein und denselben Beteiligten in vielfacher Hinsicht erlebt werden kann, wurde mittels des Autos veranschaulicht: Es ist ein Carsharing, ein gemeinsames Auto oder sogar ein Familienauto. Im zwei-
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Formen kollektiver Intentionalität
ten Teil des Gesamtfazits soll dies nochmals kurz und bündig anhand des Bettes vorgeführt werden. Tabelle Nr. 24: Wer ist wie auf was gerichtet? (Fortsetzung auf der nächsten Seite) Wer
Ist wie auf was gerichtet?
Beispiel
Ein Individuum Ein Subjekt Ich
ist auf etwas gerichtet. ist auf etwas gerichtet. bin auf etwas gerichtet.
Ein Affe ist auf eine Banane gerichtet (individuelle Intentionalität). Ein Mensch ist auf eine Banane gerichtet (subjektive Intentionalität). Ich bin auf eine Banane gerichtet (Ich-Intentionalität).
Mindestens zwei Individuen
sind auf ein und dasselbe gerichtet.
Zwei Affen verfolgen eine Beute. Ein Mann geht mit seinem Hund spazieren. Robinson interagiert mit einem Papagei. - entweder »group behaviour in the I-mode« oder »group behaviour in the We-mode« (Tuomela) - je nach Modus und Konstitution der Tatsache: soziale oder institutionelle Tatsache (Searle) - da Tiere stets im »I-mode« agieren: individuelle Intentionalität (Tomasello) - unentscheidbar, ob Tiere in ein und derselben Weise gerichtet sind (Position der Phänomenologen)
Mindestens zwei Subjekte
sind gegenseitig, verstehend, im »I-mode« aufeinander bezogen und auf ein und dasselbe gerichtet.
Zwei Subjekte nutzen ein und dasselbe Auto (Car-sharing), ein und dieselbe Wohnung (flat-sharing): Es ist ein geteiltes Auto, eine geteilte Wohnung. - »shared intentionality«/»not full blown collective intentionality« (Tuomela) - individuelle Intentionalität (Tomasello) - intersubjektive Intentionalität (de Vecchi)
Gesamtfazit
Wer Mindestens zwei Subjekte
Ist wie auf was gerichtet?
Beispiel
sind wechselseitig sozial, kommunikativ, freiwillig im »We-mode« aufeinander bezogen, dass heißt in ein und derselben Weise (ein Intentionalitätsmodus) auf ein und dasselbe gerichtet (ein Intentionalitätsobjekt). ... und konstituieren dabei ein besonderes Intentionalitätssubjekt
Es ist ein gemeinsames Auto. - »joint intentionality«/»full blown collective intentionality« (Tuomela) - »collective intentionality« (Searle, de Vecchi) - bei zwei Subjekten: »joint intentionality« (Konstitution einer Kollaboration) (Tomasello) - bei mindestens drei Subjekten: »collective intentionality« (Konstitution einer Kultur) (Tomasello) Familienauto
Das Erleben des identischen Objektes als Form der kollektiven Intentionalität Alle Intentionalitätsformen, die in diesem Buch dargestellt wurden, sind verschiedene Formen des Objekterlebens. Einige (wenn auch nicht gänzlich alle) dieser Intentionalitätsformen lassen sich anhand des Beispieles des Bettes verdeutlichen. Wie wird das Bett als Objekt erlebt? Oder anders gewendet: es geht ganz und gar nicht, um das Erleben des Bettpartners, wie ein aufdringliches oder dominantes Auftreten. Es geht nicht etwa um die vielfältigen Handlungen, die im Bett vollzogen werden können, wie etwa Sex, einen spannenden Thriller lesen, fernsehen, das Frühstück im Bett oder Arbeitsprozesse. Es geht nicht darum, welche Gefühle oder Zustände man im Bett haben kann, wie Müdigkeit oder Erregung, ob man sich geborgen fühlt oder von der intimen Situation beschämt ist. Es geht nicht um die Einflüsse auf die eigene Schlafqualität, wie das Schnarchen des Anderen, die zu harte Matratze oder die zu heiße Raumtemperatur im Hochsommer. Es geht nicht um die Bedürfnisermittlung nach Schlaf oder körperlicher Nähe. Es geht nicht um einen empirischen Vergleich der kulturellen oder sozialen Unterschiede bei der Gestaltung der Schlafstätte. Denn gemeint ist vielmehr das Bett als intentionales Objekt: Befinde ich mich allein in einem Bett – sei es ein Einzelbett oder ein großes Bett, in dem mehrere Personen Platz hätten –, so ist mir in dieser Situation ein Bewusst-
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Gesamtfazit
Wer Mindestens zwei Subjekte
Ist wie auf was gerichtet?
Beispiel
sind wechselseitig sozial, kommunikativ, freiwillig im »We-mode« aufeinander bezogen, dass heißt in ein und derselben Weise (ein Intentionalitätsmodus) auf ein und dasselbe gerichtet (ein Intentionalitätsobjekt). ... und konstituieren dabei ein besonderes Intentionalitätssubjekt
Es ist ein gemeinsames Auto. - »joint intentionality«/»full blown collective intentionality« (Tuomela) - »collective intentionality« (Searle, de Vecchi) - bei zwei Subjekten: »joint intentionality« (Konstitution einer Kollaboration) (Tomasello) - bei mindestens drei Subjekten: »collective intentionality« (Konstitution einer Kultur) (Tomasello) Familienauto
Das Erleben des identischen Objektes als Form der kollektiven Intentionalität Alle Intentionalitätsformen, die in diesem Buch dargestellt wurden, sind verschiedene Formen des Objekterlebens. Einige (wenn auch nicht gänzlich alle) dieser Intentionalitätsformen lassen sich anhand des Beispieles des Bettes verdeutlichen. Wie wird das Bett als Objekt erlebt? Oder anders gewendet: es geht ganz und gar nicht, um das Erleben des Bettpartners, wie ein aufdringliches oder dominantes Auftreten. Es geht nicht etwa um die vielfältigen Handlungen, die im Bett vollzogen werden können, wie etwa Sex, einen spannenden Thriller lesen, fernsehen, das Frühstück im Bett oder Arbeitsprozesse. Es geht nicht darum, welche Gefühle oder Zustände man im Bett haben kann, wie Müdigkeit oder Erregung, ob man sich geborgen fühlt oder von der intimen Situation beschämt ist. Es geht nicht um die Einflüsse auf die eigene Schlafqualität, wie das Schnarchen des Anderen, die zu harte Matratze oder die zu heiße Raumtemperatur im Hochsommer. Es geht nicht um die Bedürfnisermittlung nach Schlaf oder körperlicher Nähe. Es geht nicht um einen empirischen Vergleich der kulturellen oder sozialen Unterschiede bei der Gestaltung der Schlafstätte. Denn gemeint ist vielmehr das Bett als intentionales Objekt: Befinde ich mich allein in einem Bett – sei es ein Einzelbett oder ein großes Bett, in dem mehrere Personen Platz hätten –, so ist mir in dieser Situation ein Bewusst-
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sein mit Bezug auf ein Bett gegeben. Dieses Bewusstsein lässt sich als vereinzelte1 , selbsterlebte, Ich-Intentionalität 2 oder individuelle Intentionalität erster Stufe3 bezeichnen. Im Folgenden wird nun veranschaulicht, dass dasselbe Bett in anderer Weise bewusst sein kann, sodass man – obwohl das Bett numerisch identisch geblieben ist –, von verschiedenen Formen der Intentionalität sprechen kann. Ich kann, faktisch immer noch völlig allein im Bett, ein Bewusstsein davon haben, dass ich mich in einer spezifischen Weise bette, nämlich nach Manier der westeuropäischen Kultur. Denn ich benutze eine Matratze, eine Bettdecke und ein Kopfkissen, wie es keinesfalls in der ganzen Welt üblich ist, da auch harte Tatami-Matten oder ein Heuboden konventionell als Schlafstätten genutzt werden. Habe ich ein Bewusstsein davon, dass viele weitere Westeuropäer sich ebenso wie ich betten – ohne jeden einzelnen Westeuropäer und dessen Schlafzimmer im Detail zu kennen (und kennen zu können) –, so ist dies eine Man-Intentionalität 4 . Ein Wandel der Erfahrungsweise ein und desselben Objektes besteht auch in folgender Situation: Liegt beispielsweise ein weiteres Lebewesen mit mir in eben diesem Bett – man denke an meinen anschmiegsamen schnurrenden Kater, der meine Füße wärmt –, so mag es durchaus sein, dass wir als intentionale Wesen adäquat aufeinander reagieren und interagieren, aber es ist keine intersubjektive oder sogar interpersonale Intentionalität im wörtlichen Sinne, weshalb viel allgemeiner im Sinne des Lebewesens von individueller Intentionalität zweiter Stufe gesprochen werden kann5 . Der Fall ist klar: obwohl sich kaum etwas an der Situation geändert hat, da ich noch vor fünf Minuten allein im Bett lag und mein Kater sich erst kürzlich auf meine Füße legte, besteht doch in beiden Situationen eine ganz andere Intentionalitätsform in Bezug auf das Bett. Eine weitere davon zu unterscheidende Erlebnisweise des Bettes besteht dann, wenn ich phantasiere, dass eine weitere Person ebenfalls konkret in diesem einen Bett liegt – wobei diese Person in der Phantasie mit aller Wahrscheinlichkeit wohl meist jung und attraktiv ist – dann hat man es mit einer geglaubten Intentionalität zu tun6 . Einen Kontrast dazu bilden die vielfältigen Möglichkeiten
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So würde es de Vecchi betiteln (siehe etwa den Abschnitt »Der einseitige Bezug auf ein Objekt«). So würde es Husserl betiteln (siehe etwa die Erläuterungen zu Tabelle Nr.3 »Ich -, subjektive und invididuelle Intentionalität«). So würde es Tomasello betiteln (siehe etwa den Abschnitt »Die Verwendungsweisen des Begriffs »individual intentionality«). So würde es Schützeichel in Anlehnung an Heidegger betiteln (siehe etwa den Abschnitt »Kann Robinson Cruesoe kollektive Intentionalität haben?«). So würde es Tomasello betiteln (siehe etwa den Abschnitt »Die Verwendungsweisen des Begriffs »individual intentionality«). So würden es Searle, Meijers und Schmid betiteln (siehe etwa den Abschnitt »Binnendifferenzierung: Geglaubte vs. tatsächliche kollektive Intentionalität«).
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des Objekterlebens, wenn ich tatsächlich mit einer anderen Person in ein und demselben Bett liege, das heißt also eine tatsächliche intersubjektive oder interpersonale Intentionalität vorliegt. Die Art und Weise, wie ich mit dem Anderen interagiere – kooperativ als Miteinander im engen Sinne oder lediglich koordinativ, parallel nebeneinander – verändert die Art und Weise des Objekterlebens. Man stelle sich folgende Situation vor: Ich trete, selbstredend voller Vorfreude, eine Reise ein. In der Einöde angelangt, bildet sich vor der Hotelrezeption eine kleine Menschenmenge. Aufgrund von Fehlern in der technischen Verarbeitung der Zimmerreservierungen sind Doppelbuchungen aufgetreten und es stehen keine weiteren freien Zimmer zur Verfügung. Es wird eine Weile hin und her diskutiert, wie nun vorgegangen werden soll, da man sich in der Einöde ohne weitere Übernachtungsmöglichkeiten befindet. Ausschließlich aus egoistischen Gründen heraus, wie etwa, um nicht eingezwängt auf der Autorückbank übernachten zu müssen, entscheide ich mich mit einer anderen Person das Hotelzimmer und damit auch das Doppelbett zu teilen. Vertritt diese Person nun ebenfalls vorwiegend egoistische Motive – denkt, handelt und fühlt sie im sogenannten »I-mode« –, so ist dies eine geteilte (shared) Intentionalität, nicht vollständige kollektive Intentionalität 7 oder jeder Beteiligte hat weiterhin eine individuelle Intentionalität 8 . In dieser Situation hat sich strenggenommen nur die Quantität der Beteiligten verändert. Denn ich könnte durchaus auch allein in diesem Bett übernachten. Doch wir – der Fremde und ich – einigen uns auf die gleichzeitige Nutzung des Bettes, wie unter anderem darauf, wer auf welcher Seite schläft, welches konkrete Verhalten bei der tatsächlichen Bettnutzung angemessen ist und schließen (wenigstens implizit) eine Vereinbarung. Auf gegenseitiger Basis werden in Bezug auf ein und dasselbe Objekt soziale Akte geschlossen, weshalb sich die Situation auch als soziale Intentionalität 9 oder als bloße kollektive Intentionalität im weiten Sinne der Konstitution einer sozialen Tatsache10 begreifen lässt. Da diese Vereinbarung, jedoch jeweils aus Eigeninteressen heraus geschlossen wurde, ist es zweifellos möglich, dass es zu einem Bruch der Vereinbarung kommt. So ist es durchaus denkbar, dass ich im wahrsten Sinne des Wortes böse erwache, da sich der Andere plötzlich – womöglich sogar mit gewissen Absichten –, auf meiner Bettseite befindet oder bereits abgereist ist, ohne seinen Kostenanteil für diese Übernachtung an der Hotelrezeption zu hinterlassen, sodass ich nun die gesamten Kosten allein übernehmen muss.
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So würde es Tuomela betiteln (siehe etwa den Abschnitt »Der »I-« und »We-mode« als Differenzierungsgrundlage«). So würde es Tomasello betiteln (siehe etwa den Abschnitt »Die tierische Jagd: Das Tier als »animal oeconomicus«). So würde es de Vecchi betiteln (siehe etwa den Abschnitt »Die soziale Intentionalität«). So würden es Searle betiteln. (siehe etwa den Abschnitt »Searles Binnendifferenzierung der kollektiven Intentionalität: Soziale und institutionelle Tatsachen«).
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Der Bezug auf Hotel- oder Gästebetten eignet sich ebenso dafür zu vermitteln, dass ich ein Bewusstsein davon haben kann, dass eben dieses Bett bereits von vielen Personen hinsichtlich vieler verschiedener Tätigkeiten, wie etwa um ein harmloses Beispiel zu nennen: das Frühstück im Bett, genutzt wurde. Besonders drastisch wird mir dies deutlich, wenn ich beim erstmaligen Eintritt in das Zimmer bemerke, dass die Bettdecke noch vom Vorgänger verknittert ist und seine Hinterlassenschaften – im besten Fall lediglich Brötchenkrümel –, noch im Bett herumliegen. Auch hier habe ich eine geteilte Intentionalität in Bezug auf das Bett, aber – man möchte fast sagen zum Glück – nicht gleichzeitig mit derjenigen Person, die ebenfalls auf dieses Bett gerichtet war. Das heißt aber: obwohl eine zerknittere Bettdecke und Brötchenkrümel mir keineswegs fremd sind oder bei mir als solche Ekel auslösen, hat sich durch sie mein Bezug auf das Objekt schlagartig geändert, da mir dadurch bewusst wurde, dass hier bereits jemand geschlafen hat. Ganz anders hierzu ist doch die Situation, wenn die Beteiligten wirbezüglich auf ein Bett gerichtet sind, wie es bei einem Liebespaar oder bei Freunden im Urlaub der Fall ist. Das Bett ist nun nicht einfach ein Bett für zwei Personen, ein Doppelbett, sondern es ist ein gemeinsames Bett. Die Benutzung selbst erfährt eine andere Qualität. Denn das Bett wird nicht schlicht zeitlich nacheinander oder zeitgleich räumlich nebeneinander – mit einem Anderen – genutzt, sondern miteinander im strengen Sinne. Sicherlich mag auch hierbei gelten, dass jeder seine eigene Bettdecke und seine bevorzugte Bettseite hat, wie etwa nahe am Fenster oder, ab einem gewissen Alter, nahe der Toilette für nächtliche Zwischenstopps, doch der Intentionalitätsmodus ist ein völlig anderer. Es besteht eine gemeinsame (joint) Intentionalität 11 , eine kollektive Intentionalität 12 beziehungsweise eine »shared cooperative activity«13 . Die Qualität des intersubjektiven Bezugs verändert die Qualität des Objektbezugs. Die Vereinbarung ist nun nur wechselseitig auflösbar, da es sich nicht um jeweils eigene Interessen, sondern um unsere Interessen handelt. Musterhaft liegt dies bei einem Ehepaar vor, das heißt der kollektiven Intentionalität im engen Sinne der Konstitution einer institutionellen Tatsache14 . Wobei man sogar sagen könnte, dass in solchen Fällen nochmals ein Wandel der Quantität stattfindet: aus zwei ontologischen Subjekten, konkret: den zwei verliebten Personen, wird ein Ehepaar, ebenso wie sich aus elf Spielern aufgrund des »Team Spirit« eine Mannschaft entwickelt.
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So würden es Tuomela und Tomasello betiteln (siehe etwa die Erläuterungen zu Tabelle Nr. 10 »Weitere Ergänzungen der Intentionalitätsformkonzeption nach Tuomela« und Tabelle Nr.14 »Eine Übersicht der Intentionalitätsformen nach Tomasello«). So würde es de Vecchi betiteln (siehe etwa den Abschnitt »Kollektive Intentionalität«). So würde es Bratman betiteln (siehe etwa den Abschnitt »Die Rolle der Freiwilligkeit«). So würde es Searle betiteln (siehe etwa den Abschnitt »Searles Binnendifferenzierung der kollektiven Intentionalität: Soziale und institutionelle Tatsachen«).
Gesamtfazit
Was für eine Intentionalität jedoch konkret vorliegt, ist lediglich aus der Ersten-Person-Perspektive erfassbar. Welche Intentionalität ich in Bezug auf das Bett habe, ist mir unmittelbar gegeben. Doch welche Intentionalitätsform liegt bei der anderen Person vor? Der Fremde, mit dem ich aufgrund der Doppelbuchung in einem Bett liege, kommt auf einmal körperlich näher und macht mir Komplimente, weshalb ich annehme, dass das Bett aus seiner Sicht nicht mehr nur räumlich geteilt, sondern eher als gemeinsames aufgefasst wird. Es ist wohl, so könnte man sagen, eine einseitige – jedoch keineswegs gegen- oder sogar wechselseitige – gemeinsame Intentionalität. Das Ehepaar kann noch auf dem Papier verheiratet sein und ein und dieselbe Schlafstätte nutzen, sich jedoch völlig auseinander gelebt haben, sodass es bei der Nutzung ein und desselben Bettes nur noch um die jeweils eigene Nachtruhe geht und man sich nebeneinander erträgt. Oder folgende Szene: Ich befinde mich wieder in einem Hotel und aus dem Nachbarzimmer sind spezifische Geräusche zu hören. Allein hieraus kann ich nicht, wie in der Debatte anhand weniger anstößlicher Beispiele, wie dem Spaziergang, näher gelegt wurde, auf die tatsächliche Intentionalitätsform der Beteiligten schließen. Das heißt: Ich kann nicht mit aller Sicherheit feststellen, in welchem Modus meine Zimmernachbarn auf das Bett gerichtet sind. Konkret: ob es für sie primär ein gemeinsames oder ein geteiltes Bett ist; ob sie »Liebe machen« oder »gegenseitig ihre Geschlechtsteile nutzen«. Kurzum: es gibt vielfache Erlebnisformen ein und desselben Objektes. Das numerisch identische Objekt, hier: ein und dasselbe Bett, kann zu unterschiedlichen Zeiten von ein und denselben Beteiligten aufgrund der sich veränderbaren Intentionalität – genauer: der sich veränderbaren Identität der Intentionalitätsmomente – eine andere Bezeichnung erhalten: geteiltes Bett, gemeinsames Bett oder Ehebett.
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Tabellenverzeichnis
Tabelle Nr. 1: Geglaubte und tatsächliche Intentionalität | Seite 125 Tabelle Nr. 2: Die Verwendungsweisen des Begriffs »individuelle Intentionalität« | Seite 154 Tabelle Nr. 3: Ich –, subjektive und individuelle Intentionalität | Seite 155 Tabelle Nr. 4: »Cognitive«, »practical« und »affective« als Phänomenbereiche | Seite 183 Tabelle Nr. 5: Vergleich der Intentionalitätsformen nach Searle und de Vecchi | Seite 189 Tabelle Nr. 6: Überblick der Intentionalitätsformen nach de Vecchi | Seite 191f. Tabelle Nr. 7: Die Intentionalitätsformen nach Tuomela | Seite 214 Tabelle Nr. 8: Vergleich der Begriffsverwendungen nach Tuomela und Schmid | Seite 217 Tabelle Nr. 9: Die Intentionalitätsformen nach Tuomela – erweiterte Darstellung | Seite 239 Tabelle Nr. 10: Weitere Ergänzungen der Intentionalitätsformkonzeption nach Tuomela | Seite 247f. Tabelle Nr. 11: Sammelbegriffe für die Intentionalitätsformen mit mehreren real existierenden Beteiligten | Seite 255 Tabelle Nr. 12: Die Intentionalitätsformen nach Bratman | Seite 281
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Tabelle Nr. 13: Die Verwendung des Terminus »group behaviour in the I-mode« nach Tuomela und Tomasello | Seite 307 Tabelle Nr. 14: Eine Übersicht der Intentionalitätsformen nach Tomasello | Seite 339 Tabelle Nr. 15: Die Binnendifferenzierungen der kollektiven Intentionalität anhand der Erlebnisweise | Seite 351 Tabelle Nr. 16 : Searles Binnendifferenzierung der kollektiven Intentionalität | Seite 362 Tabelle Nr. 17: Tomasellos Binnendifferenzierung des »We-mode« und der kollektiven Intentionalität | Seite 364 Tabelle Nr. 18: Überblick der gesamten Differenzierung der Intentionalitätsformen nach Tomasello | Seite 370 Tabelle Nr. 19: Übersicht der verschiedenen Begriffe einiger Autoren der Debatte | Seite 388 Tabelle Nr. 20: Die Auffassungen der kollektiven Intentionalität und deren Differenzierungen | Seite 390f. Tabelle Nr. 21: Die Verwendung des Begriffs »joint intentionality« in der Debatte | Seite 391 Tabelle Nr. 22: Die Verwendung des Begriffs »shared intentionality« in der Debatte | Seite 393 Tabelle Nr. 23: Stufenkonzeption der Intentionalitätsformen nach de Vecchi, Tuomela, Searle und Tomasello | Seite 432ff. Tabelle Nr. 24: Wer ist wie auf was gerichtet? | Seite 438f.
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Index
A Akt kommunikativ, 34 kommunikativer, 16, 19, 20, 22, 23, 34, 85, 104, 145, 146, 168, 170, 172, 187, 189–191, 196, 213, 219, 244, 248, 269–272, 279, 280, 282, 284, 292, 294, 296, 350, 367, 386, 388, 397, 399, 400, 406, 416, 417, 421, 423, 427, 428, 432, 437, 439 verstehender, 146, 168, 192, 219, 254, 388, 432 Anomalie, 73, 74, 78, 90, 139, 262, 378 Aristoteles, 27, 28, 73, 126, 223, 305 Autismus, 21, 85, 86, 306, 425 Auto Carsharing, 23, 99, 256, 257, 272, 293, 296, 399, 402, 405, 406, 416, 437 Familienauto, 23, 400, 402, 408, 409, 416, 417, 437, 439 gemeinsames, 23, 406, 417, 437, 439 B background skills, 45, 80, 86 Baier, Annette Claire, 54, 101, 129, 205, 225, 401, 409, 411, 428 Baltzer, Ulrich, 72, 231, 271, 297, 313, 329, 367
Bezug Akt, 20, 21, 46, 141, 174, 189, 190, 193, 195, 196, 213, 244, 247, 248, 269–271, 284, 293, 386, 397, 399, 427, 437 Modus, 20, 143, 168, 174, 193, 244, 247, 270, 271, 284, 291, 293, 386, 397, 399, 405, 437 Richtung, 20, 21, 93, 99, 141, 143, 148, 160, 166, 168, 173, 174, 176, 184, 189, 190, 194–196, 213, 235, 244, 247, 248, 269–271, 284, 293, 350, 386, 393, 394, 397, 399, 401, 407, 427, 430, 437 Bratman, Michael, 25, 26, 44, 47, 50, 51, 82–84, 86, 105, 110–113, 122, 124, 140, 142, 182, 197–199, 225, 227, 228, 233, 234, 240, 263, 271–275, 277–287, 289, 292–295, 301, 302, 315, 368, 373, 374, 386, 388, 392, 393, 399, 406, 409, 411, 419, 421, 422, 424, 425, 428, 434, 435, 442 Brentano, Franz, 25, 41, 52 Buber, Martin, 286, 290, 411
478
Formen kollektiver Intentionalität
C Caminada, Emanuele, 28, 29, 44, 47, 49, 55, 245, 262, 411, 415 child on the desert island, 100, 102, 128, 136, 335 collectivity condition, 220, 222, 230, 235, 238, 239, 242, 246, 248, 268, 278, 279, 281, 293, 302, 333, 345, 387, 390, 434 commitment collective, 220–223, 229–231, 235, 238, 239, 242, 246, 248, 265, 268, 269, 277, 279, 281, 293, 302, 315, 333, 345, 387, 390, 434 joint, 186, 210, 224, 231, 232, 235, 236, 239, 263, 266, 289, 302, 332, 333, 337, 345, 413, 414, 425, 434
D Dingapperzeption, 73, 432 Dunbar, Robin, 85, 134, 150, 169, 170, 304, 310, 317 Durkheim, Émile, 28, 95, 285, 312, 313, 369
376–378, 381, 384, 403, 407, 410, 424, 425, 432 Einsfühlung, 75, 81, 126, 163, 166, 177, 194, 245, 248, 327, 328, 384, 401, 410, 428
F Frank, Simon, 80, 384 Fußball, 13, 15, 19, 24, 39, 40, 59, 72, 82, 97, 132, 135, 156, 157, 164–166, 175, 182, 192, 196, 200, 201, 206, 207, 209, 212, 213, 219, 220, 225, 236–238, 241, 244, 246, 249, 250, 252, 258, 259, 266–268, 272, 277, 281, 283, 284, 293–295, 322, 386–388, 397, 400, 408, 411, 428, 429, 432, 434
G Garcia, Tristan, 98, 99, 218 Gefühlsansteckung, 81, 163–166, 170, 175, 177, 192, 244, 245, 250, 327, 377, 384, 407, 429, 432 Gehirn im Tank, 21, 66, 93, 95, 100–102, 105, 106, 108–110, 113, 121–125, 128, 136–139, 200–202, 292, 426
E
Gemeinschaftserinnerung, 35, 180
Eiffelturm, 115, 119, 120, 124, 299
Gilbert, Margaret, 25, 26, 28, 35, 44, 47, 51, 57, 72, 131, 140, 142, 180, 186, 196–199, 208, 210, 224, 229–236, 238, 239, 244, 247, 248, 258, 263, 269, 271, 272, 277, 278, 289, 293, 297, 298, 301, 302, 313, 316–318, 321,
Einfühlung, 21, 24, 28–31, 34, 40, 44, 58, 66, 69, 75–79, 81, 84, 86–88, 127, 128, 130, 135, 136, 162–166, 172, 192, 194, 229, 244, 245, 247, 250, 264, 265, 287, 294, 309, 311, 323, 330, 332, 336, 366,
Index
322, 332, 367, 368, 373, 410–415, 419, 425, 428, 434 Gurwitsch, Aron, 54, 274, 282, 373, 409
380–388, 393–395, 397, 399, 405, 406, 410–415, 420, 421, 424–426, 428, 432, 436, 440
H Handlung plural, 215–217, 238, 239, 248, 249, 256, 268, 293, 294, 372, 428, 434 singulär, 215–217, 239, 247, 250, 256, 293, 294, 372, 427, 433 solitär, 214, 215, 217, 218, 293, 353 sozial, 101, 110, 215, 217, 218, 320, 321 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, 79, 222, 261 Heidegger, Martin, 30, 49, 53, 70, 73, 136, 162, 177, 185–187, 199, 253, 284, 318, 402, 436, 440 Hildebrand, Dietrich von, 130, 134, 201, 222 Homo heidelbergensis, 129, 309, 310 Husserl, Edmund, 16, 22, 24, 25, 28–30, 33–35, 40, 42–44, 46, 47, 49, 53, 55, 56, 58, 61, 67–70, 72–76, 78, 83, 84, 86, 87, 89, 90, 93, 99, 103–105, 114–116, 126, 134, 135, 138–140, 142–149, 155, 158, 159, 161–164, 167–170, 174, 175, 178–182, 189, 191–196, 198, 199, 210–213, 215, 219, 226, 236, 244–249, 252–254, 258, 262, 263, 265, 269, 270, 272, 275, 280, 284, 286, 287, 290–294, 318, 330, 331, 334, 340, 365–369, 373, 378,
I Ich-Du-Beziehung, 145, 159, 169, 191, 254, 331, 364 Intentionalität abgeleitet (derived), 24, 210, 344, 345, 397, 416, 428 affective, 38, 162, 164, 174, 175, 177, 178, 183, 184, 191, 228, 326, 376, 421 cognitive, 38, 53, 162, 174, 183, 191, 421 eingebildet, 24, 35, 180, 181, 395, 428 Formen, 14, 16–18, 20–27, 30, 35, 36, 39, 40, 44, 46, 47, 54, 59–61, 63, 65–68, 70, 76, 83, 86–89, 92–94, 96, 97, 100, 103, 105, 106, 108, 112, 114, 121, 125–128, 135, 138–145, 147, 149, 150, 152, 154–158, 161–163, 166, 169, 173–175, 177, 181, 183, 184, 188–191, 193, 195–197, 199–201, 212–214, 219, 230, 234, 236, 238, 239, 241, 242, 246–249, 252, 255, 256, 264, 267, 276, 277, 281, 289–291, 293, 296, 297, 299–301, 314, 318, 325, 326, 328, 329, 336–339, 341, 345, 348–351, 353, 360–363, 366–373, 378, 380, 381, 383, 385–389, 393–395, 397, 398, 400–402, 404, 405, 409, 417, 419–421,
479
480
Formen kollektiver Intentionalität
423–425, 427, 429–432, 435, 436, 439, 440 geglaubt (believed, purported), 109, 120, 121, 123–125, 137–139, 292, 361, 395, 440 gemeinsam (joint), 15, 23, 25, 38, 39, 42, 46, 53, 55, 59, 67, 68, 71, 74–76, 78, 79, 88, 92, 99, 104, 105, 113, 122, 124, 126–129, 142, 144, 151, 161, 195, 249, 250, 252, 255–258, 268, 291, 296, 314, 318, 320, 331, 336–338, 345, 353, 358, 359, 362, 364, 368, 370, 371, 382, 387, 388, 391, 399–402, 405, 407, 408, 417, 420, 424, 426, 428–431, 434, 435, 439, 443 geteilt (shared), 15, 20, 23, 25, 38, 39, 42, 59, 61, 67, 68, 71, 74–76, 78, 99, 124, 127, 128, 142, 144, 176–178, 181, 182, 184, 188–190, 195, 244, 249, 253, 258, 270, 291, 296, 297, 307, 312, 314, 318, 326, 327, 331, 341, 344, 347, 354, 368–370, 372, 373, 379, 380, 388, 392, 393, 399–401, 408, 417, 428, 429, 434, 435, 438 heterotropic, 99, 147, 188, 189, 255, 371, 387–389 Ich-Intentionalität, 41, 65, 151, 154, 155, 171, 255, 262, 291, 299, 353, 388, 436, 438, 440 individuell (individual), 18–21, 23, 27, 34, 39–43, 46, 59–61, 63, 65–68, 71, 74, 76, 79, 86, 87, 94, 100, 101, 103–105, 107, 108, 110, 114,
119, 128, 129, 132, 136, 137, 141–143, 149–157, 162, 165, 171, 172, 179, 181, 189, 200, 205, 210, 212, 214, 216, 223, 253–257, 290–292, 298, 299, 304–307, 317, 318, 322, 326, 335, 336, 339, 340, 344, 346, 348, 349, 354, 357, 359, 362, 364–367, 370, 372, 378, 379, 383, 386–388, 393, 394, 398, 401, 413, 414, 426, 427, 429, 432, 433, 436–438, 440, 441 Inter-Intentionalität, 99, 126, 138, 253–255, 291, 389, 411, 413, 415 interpersonal, 33, 179, 184, 210, 211, 254, 388, 415, 420, 425, 440, 441 intersubjektiv (intersubjectiv), 23, 30, 43, 46, 93, 99, 142, 147, 151, 152, 158, 160–163, 165–168, 170–174, 176, 177, 181–184, 187, 188, 190, 204, 254, 255, 270, 291, 299, 350, 366, 372, 386, 394, 427, 438, 440, 441 kollektive (collective), 13–21, 23–25, 27, 28, 30, 35, 37–47, 50, 51, 58–60, 62, 63, 65–68, 71, 79–81, 88, 89, 91–108, 110, 112, 113, 119, 120, 122–133, 136–143, 147, 151–155, 160, 166, 168, 173–178, 181–184, 187–191, 193, 195–202, 204, 205, 212, 218, 219, 223, 227, 233, 234, 236, 237, 241–244, 246–250, 252, 253, 255–258, 260,
Index
270, 271, 275–277, 283, 287, 291, 292, 294–299, 301, 302, 306, 307, 317, 318, 320, 322, 328, 329, 331, 332, 334, 336–354, 356–372, 374, 378–382, 386–394, 400, 402, 405, 412, 413, 419–423, 426–431, 433–439, 441, 442 kollektive, bloße, 34, 270, 347, 358, 359, 362, 365, 366, 386, 388, 390, 392–394, 427, 430, 433, 435, 441 kollektive, full blown, 18, 89, 202, 213, 243, 246, 248, 252, 255, 258, 268, 270, 277, 295, 338, 339, 346, 350, 351, 364, 367, 374, 378, 387–391, 394, 422, 423, 428, 434, 435, 439 Konzepte, 16–18, 22, 60, 66, 93 Man-Intentionalität, 133, 250, 314, 427, 436, 440 Momente, 15, 17, 18, 20, 22, 23, 25, 36, 144, 397–399, 402, 417, 443 practical, 38, 52, 53, 162, 174, 183, 184, 191, 421 selbsterlebte, 40, 155, 440 sozial (social), 46, 93, 142, 147, 168, 170–174, 176, 177, 181, 183, 184, 187, 188, 190, 191, 254, 255, 270, 291, 299, 350, 366, 432, 441 sprachlich (linguistic), 16, 34, 362, 367, 387, 388, 390 Stufen, 142, 149, 368, 375, 428 subjektive (subjective), 21, 41, 155 supra-individuell, 253, 254
vereinzelt (solitary), 20, 40, 140, 143, 148–151, 153, 154, 156–158, 161, 181–184, 189, 192, 204, 214, 239, 267, 299, 308, 335, 339, 367, 388, 426, 431, 432 vorsprachlich (prelinguistic), 16, 359, 360, 362, 367, 388, 390, 394, 430, 433, 435 Wir-Intentionalität, 19, 33, 41, 52, 53, 59, 65, 97, 98, 154, 195, 197, 198, 212, 250, 262, 324, 331, 383, 400, 402, 436 Interdependenzhypothese, 369
K Kino, 70, 114, 121, 124, 155, 157, 158, 161, 162, 164, 168, 170, 173, 174, 184, 187, 189, 213, 234, 244, 248, 279, 349, 432, 434 Kollaboration, 27, 67, 69, 103, 143, 180, 320, 321, 339, 342, 345, 346, 350, 353, 363–365, 381, 382, 385, 387, 408, 425, 428, 435, 439 Komapatient, 71, 72, 90, 127, 132, 133, 145, 158, 189, 424 Kooperation, 14, 20, 23, 45, 62, 79–84, 86, 87, 90, 93, 113, 134, 140, 141, 150, 193, 196, 200, 201, 206–208, 218, 219, 226, 243, 244, 246–248, 258, 259, 264, 267, 271–280, 282–286, 303, 305, 306, 308, 312, 313, 315, 316, 319, 320, 322–324, 327, 330, 332, 334, 340, 343, 354, 356, 357, 369, 373, 379, 390, 393, 405, 429, 430, 433
481
482
Formen kollektiver Intentionalität
Koordination, 20, 23, 46, 140, 141, 193, 196, 207, 244, 246, 258, 259, 267, 275, 277, 279, 284, 306, 312, 356, 393, 430 Krebs, Angelika, 31, 101, 245, 246, 254, 409, 410 Krueger, Joel, 163, 315, 325 Kultur, 27, 67, 69, 77, 84, 101–103, 118, 128–133, 136, 139, 143, 181, 182, 263, 298, 309, 312–314, 316, 318, 320, 321, 325, 334, 335, 339, 342, 345, 346, 357, 405, 408, 412 L Lailach-Hennrich, Andrea, 70, 113, 160, 329 Leiblichkeit, kollektive, 35, 56, 179, 180, 184, 269, 414, 416 Leichentrauung/Höllenheirat, 66, 117–119, 127, 426 Lipps, Theodor, 376, 410 M mafia sense of we, 83, 285–287 Mathiesen, Kay, 288, 415 Mead, Georg Herbert, 28, 206, 274, 343, 347, 360 Meijers, Anthonie W. M., 24, 66, 95, 96, 106, 107, 110, 112, 113, 119–122, 126, 137–139, 181, 201, 208, 241, 292, 349, 351, 395, 426, 440 Menschenaffen, 62, 149, 152, 298, 300, 301, 304, 310, 311, 315, 319, 330, 338, 354, 378, 379 Mertens, Karl, 237, 413 meshing subplans, 271–273, 277, 278, 281
Miteinander, 17, 30–32, 58, 73, 88, 91, 141, 168–170, 177, 178, 245, 249, 275 Miteinanderfühlen, 31–33, 166, 177, 178, 191, 194, 195, 198, 199, 245, 246, 248, 250, 295, 327, 392, 407, 410, 434 Mitgefühl, 31, 33, 75, 78, 79, 81, 163, 166, 177, 178, 194, 198, 199, 245, 247, 377, 425 Mitleid, 30, 31, 33, 136, 245, 250, 407 Moral, 33, 60, 68, 77, 84, 90, 92, 93, 102, 127–130, 185, 309, 312, 319, 325, 334–337, 340, 351, 361–365, 373, 374, 378, 381–383, 389, 391, 422, 424, 425, 430, 435
N Narzissten, 69, 79, 87–89, 91, 135, 264, 265, 269, 336
O Objektophilie, 115, 118, 120, 162, 299, 426 Ohnmacht, 71, 139 Orth, Ernst Wolfgang, 34, 253–255, 291, 413
P Pettit, Philip, 96, 210, 234, 287, 313, 355, 412 Pluralsubjekt (plural subject), 18, 19, 21, 24, 35, 108, 172, 186, 210, 216, 232–235, 255, 411, 412, 416, 428, 429
Index
R responsiveness, mutual, 278–281, 283, 293, 294, 434 Reziprozität, 32, 133, 134, 160, 169, 212, 285, 286, 369 Robinson Crusoe, 21, 66, 93, 100–105, 123, 128–133, 136–139, 156, 189, 203, 415, 426–428, 438 S Sartre, Jean-Paul, 43, 79, 107, 121, 122, 136, 187, 210, 253, 325 Schach, 71, 195, 273–275, 279, 282–284, 294, 295, 373, 405, 408 Scheler, Max, 16, 20, 30–33, 35, 53, 55, 58, 65, 70, 75, 76, 79, 81, 84, 86, 126, 134, 162, 163, 165, 166, 169, 175, 177, 178, 185, 186, 191, 194, 195, 198, 199, 210, 221, 245–248, 269, 282, 295, 328, 355, 369, 377, 384, 385, 392, 401, 403, 404, 407, 410, 420, 428, 432, 434 Schlicht, Tobias, 142, 148, 149, 151, 153, 154, 156–158, 328 Schmid, Hans Bernhard, 16, 19, 24, 26, 27, 31, 33, 34, 36, 39, 43, 52–55, 66, 70, 91, 92, 94, 96, 97, 99, 101, 106, 107, 109–113, 119–123, 126, 134, 136, 137, 139, 142, 146, 155, 160, 161, 171, 172, 176, 181, 185, 195, 197–199, 201, 205, 206, 214–219, 222–229, 233, 234, 236, 238–240, 244, 247–257, 260, 264, 268, 269, 271, 273–277, 280, 288, 289, 291–294, 302, 305, 321, 326, 329,
331, 349–351, 353, 358, 371, 372, 388, 389, 391, 395, 397–401, 404, 406, 407, 409, 411–415, 417, 422, 426–428, 433–435, 440 Schmid, Ulla, 85, 208, 221, 289 Schweikard, David P., 16, 27, 43–45, 54, 55, 57, 79, 91, 92, 96, 101, 107, 110, 114, 124, 125, 129, 134, 195, 197, 198, 201–203, 215, 220, 234, 261, 278, 287, 288, 313, 322, 324, 391, 398, 403, 409, 417 Searle, John Rogers, 13, 16, 20, 22, 24–26, 34, 37, 40, 44, 45, 47–50, 52–55, 57–59, 61, 63, 67, 71, 80–84, 86, 92, 94–96, 99–101, 103–113, 122–130, 133, 134, 136–140, 142–144, 147, 152, 155, 157, 171, 176, 178, 180–182, 188, 189, 197–201, 204, 205, 218, 219, 223, 225, 233, 236, 240, 241, 248, 252, 254, 255, 257, 258, 260, 270–272, 275, 276, 291, 292, 295, 297, 298, 301, 302, 306, 312, 313, 315, 321, 322, 329, 339–362, 364–368, 370, 371, 373, 382, 384–395, 397, 399, 406, 409, 411–413, 415, 416, 419–423, 425–430, 432–442 Selbstvertrauen, 225, 229, 269 shared cooperative activity, 273, 275, 278–285, 287, 289, 292, 293, 295, 373, 388, 392, 393, 422, 435, 442
483
484
Formen kollektiver Intentionalität
Smith, Adam, 77, 204, 205, 222, 245, 267, 300, 316, 324, 333–335, 353, 376, 380, 381, 383, 424 Sozio- u. Psychopathen, 78, 79, 87–89, 91, 135, 264, 265, 336 Stalker, 78, 89, 425 Stein, Edith, 28–30, 53, 58, 75, 76, 86, 162, 163, 170, 206, 207, 225, 347, 366, 410, 411, 428 Szanto, Thomas, 163, 246, 253, 416, 437 T Thies, Christian, 160, 253, 254, 304, 305, 323, 324, 383 Tomasello, Michael, 16, 18, 20, 22, 24, 27, 33–35, 45, 46, 60–63, 67–69, 76, 78, 80–90, 92, 93, 95, 96, 99, 100, 102–105, 114, 128–130, 135–137, 140, 142–144, 148–154, 156–159, 163, 171, 180–183, 185, 198, 199, 204, 206, 214, 215, 233, 253, 258, 264–266, 268, 269, 272, 276, 279, 284, 292, 296–343, 345–355, 357–389, 391–394, 399, 400, 403, 406, 412, 420–422, 424–428, 430, 432–442 Trautnitz, Georg, 44, 196, 412 Tuomela, Raimo Heikki, 16, 18, 19, 22, 24–26, 34, 44–47, 50, 51, 55, 67, 78, 82, 83, 86–89, 93, 99, 104, 105, 109, 111, 120, 121, 134, 138, 140, 142–144, 152, 163, 171, 194–207, 209–214,
216–227, 229–231, 233, 235–244, 246–250, 252, 254–260, 262–275, 277–284, 286, 287, 290–295, 297, 299–302, 306–308, 312, 313, 316, 319, 320, 331, 333, 337–339, 342, 345, 346, 349–356, 359–362, 364, 367, 368, 370–374, 380, 382, 383, 386–395, 397, 399, 403, 405, 406, 410, 411, 413, 414, 419–423, 427–430, 432–436, 438, 439, 441, 442 U Unsrigkeit, 41, 222, 401 V Vecchi, Francesca Maria de, 16, 20, 38, 40, 44, 46, 50, 55, 93, 96, 99, 104, 112–114, 124, 140, 142–144, 147–154, 156–162, 164–179, 181–185, 187–191, 193–195, 198, 199, 204, 206, 210, 213–215, 219, 223, 233–236, 239, 244, 247, 248, 250, 252–255, 258, 270, 272, 275, 277, 279, 284, 286, 291–294, 297, 299, 306, 308, 312, 326–329, 332, 337, 339, 340, 343, 352, 355, 362, 367, 370–373, 383, 386–390, 392–394, 399, 400, 405, 406, 421, 426–428, 432, 434–436, 438–442 Verrückte, 33, 69, 73, 74, 83, 84, 90, 135, 262, 263, 265, 366, 378, 425
Index
W Wagenhebereffekt, 318, 381 Walther, Gerda, 53, 70, 79, 134, 136, 186, 187, 232, 241, 253, 286, 287, 295, 410 we-mode group reason, 220, 222, 230, 235, 238, 239, 242, 246, 248, 268, 278, 279, 293, 333, 345, 387, 434 Wilby, Michael, 352, 398, 399, 417 Z Zeigegeste deklarativ, 62, 325, 328, 330, 331, 335, 336, 381, 434 imperativ, 61, 330, 336
485
Soziologie Michael Volkmer, Karin Werner (Hg.)
Die Corona-Gesellschaft Analysen zur Lage und Perspektiven für die Zukunft 2020, 432 S., kart., Dispersionsbindung, 2 SW-Abbildungen 24,50 € (DE), 978-3-8376-5432-5 E-Book: PDF: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5432-9 EPUB: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-5432-5
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Mit Soziologie in den Beruf Eine Handreichung September 2021, 160 S., kart., Dispersionsbindung 18,00 € (DE), 978-3-8376-5934-4 E-Book: PDF: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5934-8
Gabriele Winker
Solidarische Care-Ökonomie Revolutionäre Realpolitik für Care und Klima März 2021, 216 S., kart. 15,00 € (DE), 978-3-8376-5463-9 E-Book: PDF: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5463-3
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Soziologie Wolfgang Bonß, Oliver Dimbath, Andrea Maurer, Helga Pelizäus, Michael Schmid
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Detlef Pollack
Das unzufriedene Volk Protest und Ressentiment in Ostdeutschland von der friedlichen Revolution bis heute 2020, 232 S., Klappbroschur, Dispersionsbindung, 6 SW-Abbildungen 20,00 € (DE), 978-3-8376-5238-3 E-Book: PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5238-7 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-5238-3
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