Von der Weisheit zur Wissenschaft: Eine Genealogie und Typologie der Wissensformen 9783495997178, 9783495482568


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Einleitung: Problemlage
1. Wissensrevolutionen
2. Ziel der Untersuchung
I. Teil: Historischer Paradigmenwandel des Wissens
1. Wortgeschichte desWissensbegriffes im deutschen Sprachraum
2. DerWeisheitsbegriff und seine Wandlung
2.1. Allgemeine Charakteristik
2.2. Ägyptische Weisheitslehren
2.3. Die Lehre des Ptahhotep
2.4. Die israelitische Weisheitslehre (Chokma) im allgemeinen
2.5. Die israelitische Weisheitslehre im besonderen
2.6. Die griechischeWeisheitslehre (Gnomologie)
2.7. Der griechische sophía-Begriff
2.8. Der Weisheitsbegriff heute
3. Die Auflösung der ursprünglichen Einheit von Theorie und Praxis und die Verwissenschaftlichung
II. Teil: Morphologischer Aufbau des Wissens
1. Methodologische Vorüberlegung: Descartes’ anthropologischer und metaphysischer Dualismus und dessen Kritik
2. Instinktives Wissen
2.1. Objektive Beschreibung
2.2. Analogiemodell oder Panlogismus?
3. Stimmungen – Befindlichkeiten: situatives Verstehen
4. Intentionale Gefühle: gestisches Verstehen
4.1. Allgemeine Kennzeichnung
4.2. Faszination
4.3. Exkurs über das Erhabene
4.4. Suggestion
5. Praktisches Wissen
5.1. Charakteristik und Abhebung des praktischen Wissens vom situativen und gestischen sowie vom theoretischen Wissen
5.2. Das magisch-rituelle Wissen
5.3. Das Verhältnis vom praktischen zum theoretischen Wissen
6. Theoretisches, wissenschaftlichesWissen (Kognition): intellektuelles, begriffliches Verstehen
6.1. Platons Theaitet als Versuch einer Wissensdefinition
6.2. Platons Systembegriff
a.) Konzeption des Systembegriffes
b.) Status des Systems
c.) Komplikationen
d.) Mathematik
6.3. Historischer Wandel der Systemtheorie
6.4. Wissenschaftskriterien
7. Modifizierte Wissenszustände
7.1. Allgemeines
7.2. Theorie des Doppelbewußtseins
7.3. Traumbewußtsein
a.) Zugang
b.) Inhalt
c.) Funktion
7.4. Weissagung bzw. Wahrsagung
7.5. Hellsehen, Telepathie
a.) Prophetie
b.) Moderne Psi-Forschung
7.6. Besessenheit
7.7. Schamanismus
7.8. Meditation (Yoga)
Schluß: Dominanz des wissenschaftlichen Wissens?
Literaturverzeichnis
Personenverzeichnis
Sachverzeichnis
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Von der Weisheit zur Wissenschaft: Eine Genealogie und Typologie der Wissensformen
 9783495997178, 9783495482568

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Karen Gloy

Von der Weisheit zur Wissenschaft Eine Genealogie und Typologie der Wissenschaftsformen

ALBER PHILOSOPHIE

https://doi.org/10.5771/9783495997178

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Karen Gloy Von der Weisheit zur Wissenschaft

ALBER PHILOSOPHIE

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https://doi.org/10.5771/9783495997178 .

Zu diesem Buch: Jede Kultur und jede Epoche, insbesondere unsere auf kritische Selbstreflexion abgestellte, sieht sich in die Pflicht genommen, auf den ihr genuinen Wissensbegriff zu reflektieren, wenn sie nicht einfach wissenschaftsgläubig verfahren will. Eine Wissensdiagnose im Kulturenund Epochenvergleich erscheint insbesondere an Bruchstellen angezeigt, an deren einer wir stehen, insofern unser Zeitalter von einem Wissenschaftszeitalter, das von der systematischen Darstellbarkeit des Gegebenen überzeugt war, zu einem Informationszeitalter übergeht, das an die Stelle des systematisch geordneten Wissens ein isoliertes, fragmentarisches, allenfalls lexikalisch oder enzyklopädisch gesammeltes Wissen setzt. Einerseits gehe ich in dieser Arbeit den historischen Wandlungen und Revolutionen des Wissens nach, andererseits versuche ich, phänomenologisch die sehr heterogenen Wissenstypen wie das instinktive, das emotional-situative und gestische, das praktische, das theoretisch-wissenschaftliche Wissen sowie paranormale oder transnormale Wissensarten wie Traum, Weissagung, Hellsehen, Telepathie in einen morphologischen Raster zu bringen, der eine Übersicht und Ordnung gestattet. Die Autorin: Gloy, Karen, Prof. Dr. Dr. h. c., geb. 1941, o. Prof. für Philosophie und Geistesgeschichte an der Universität Luzern, ständige Gastdozentin an der Universität Wien; Studium der Philosophie, Germanistik, Physik, Psychologie und Kunstgeschichte an den Univ. Hamburg u. Heidelberg, an letzterer 1974 Promotion, 1980 Habilitation und Venia legendi. Seit 2002 auch an der Universität Wien. Forschungsgebiete: antike Philosophie, Kant, Idealismus, moderne Philosophie, Rationalitätstheorien, Zeittheorien, Naturphilosophie. Buchpublikationen: Kants Theorie der Naturwissenschaft (1976); Einheit und Mannigfaltigkeit (1981); Studien zur Platonischen Naturphilosophie (1986); Studien zur theoretischen Philosophie Kants (1990); Das Verständnis der Natur, Bd. 1: Geschichte des wissenschaftlichen Denkens (1994, 2. Aufl. 2005); Bd. 2: Geschichte des ganzheitlichen Denkens (1996, 2. Aufl. 2005); Bewußtseinstheorien (1998, 3. Aufl. 2004); Das Analogiedenken, zus. mit M. Bachmann (2000); Vernunft und das Andere der Vernunft (2001); Denkanstöße zu einer Philosophie der Zukunft (2002); Wahrheitstheorien (2004); Grundlagen der Gegenwartsphilosophie. Eine Einführung (2006); Zeit. Eine Morphologie (2006).

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Karen Gloy

Von der Weisheit zur Wissenschaft Eine Genealogie und Typologie der Wissensformen

Verlag Karl Alber Freiburg / München https://doi.org/10.5771/9783495997178 .

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Originalausgabe Alle Rechte vorbehalten – Printed in Germany © Verlag Karl Alber GmbH Freiburg / München 2007 www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise, Föhren Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg 2007 ISBN 978-3-495-48256-8

https://doi.org/10.5771/9783495997178 .

Inhalt

Einleitung: Problemlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Wissensrevolutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ziel der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Teil: Historischer Paradigmenwandel des Wissens . .

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1. 2.

3.

Wortgeschichte des Wissensbegriffes im deutschen Sprachraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Weisheitsbegriff und seine Wandlung . . . . . . . 2.1. Allgemeine Charakteristik . . . . . . . . . . . . . 2.2. Ägyptische Weisheitslehren . . . . . . . . . . . . 2.3. Die Lehre des Ptahhotep . . . . . . . . . . . . . . 2.4. Die israelitische Weisheitslehre (Chokma) im allgemeinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5. Die israelitische Weisheitslehre im besonderen . . 2.6. Die griechische Weisheitslehre (Gnomologie) . . . 2.7. Der griechische sophía-Begriff . . . . . . . . . . 2.8. Der Weisheitsbegriff heute . . . . . . . . . . . . Die Auflösung der ursprünglichen Einheit von Theorie und Praxis und die Verwissenschaftlichung . . . . . .

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29 38 38 44 54

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58 67 72 79 89

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II. Teil: Morphologischer Aufbau des Wissens . . . . . . 115 1. 2. 3. 4.

Methodologische Vorüberlegung: Descartes’ anthropologischer und metaphysischer Dualismus und dessen Kritik Instinktives Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Objektive Beschreibung . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Analogiemodell oder Panlogismus? . . . . . . . . . Stimmungen – Befindlichkeiten: situatives Verstehen . . Intentionale Gefühle: gestisches Verstehen . . . . . . . . 4.1. Allgemeine Kennzeichnung . . . . . . . . . . . . . 4.2. Faszination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

115 123 123 133 139 146 146 154 A

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Inhalt

5.

6.

7.

4.3. Exkurs über das Erhabene . . . . . . . . . . . . . 4.4. Suggestion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Praktisches Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1. Charakteristik und Abhebung des praktischen Wissens vom situativen und gestischen sowie vom theoretischen Wissen . . . . . . . . . . . . . . . 5.2. Das magisch-rituelle Wissen . . . . . . . . . . . 5.3. Das Verhältnis vom praktischen zum theoretischen Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theoretisches, wissenschaftliches Wissen (Kognition): intellektuelles, begriffliches Verstehen . . . . . . . . . 6.1. Platons Theaitet als Versuch einer Wissensdefinition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2. Platons Systembegriff . . . . . . . . . . . . . . . a.) Konzeption des Systembegriffes . . . . . . . b.) Status des Systems . . . . . . . . . . . . . . c.) Komplikationen . . . . . . . . . . . . . . . . d.) Mathematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3. Historischer Wandel der Systemtheorie . . . . . . 6.4. Wissenschaftskriterien . . . . . . . . . . . . . . Modifizierte Wissenszustände . . . . . . . . . . . . . 7.1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2. Theorie des Doppelbewußtseins . . . . . . . . . 7.3. Traumbewußtsein . . . . . . . . . . . . . . . . . a.) Zugang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b.) Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c.) Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4. Weissagung bzw. Wahrsagung . . . . . . . . . . . 7.5. Hellsehen, Telepathie . . . . . . . . . . . . . . . a.) Prophetie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b.) Moderne Psi-Forschung . . . . . . . . . . . . 7.6. Besessenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.7. Schamanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.8. Meditation (Yoga) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Schluß: Dominanz des wissenschaftlichen Wissens?

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. 160 . 168 . 173 . 173 . 178 . 187 . 194 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

194 221 222 224 226 235 239 247 254 254 259 262 262 264 267 272 277 280 283 292 301 311

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Inhalt

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343

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»[…] und die findigen Tiere merken es schon, daß wir nicht sehr verläßlich zu Haus sind in der gedeuteten Welt.« Rainer Maria Rilke, Duineser Elegien, 1. Elegie

Einleitung: Problemlage

1.

Wissensrevolutionen

Jede Kultur und jede Epoche, insbesondere unsere auf kritische Selbstreflexion abgestellte, sieht sich in die Pflicht genommen, auf den ihr genuinen Wissensbegriff zu reflektieren, wenn sie nicht einfach wissensgläubig und das heißt in unserem am Modell der exakten mathematischen Naturwissenschaften orientierten Zeitalter wissenschaftsgläubig verfahren will, indem sie an die alleinige systematisch-gesetzmäßige Strukturiertheit der Welt glaubt. Eine Wissensdiagnose im Kulturen- und Epochenvergleich erscheint insbesondere an Bruchstellen angezeigt, an denen ein Wissenstyp in einen anderen übergeht und an deren einer wir uns gegenwärtig befinden, insofern unser Zeitalter von einem Wissenschaftszeitalter, das von der systematischen Darstellbarkeit des Gegebenen überzeugt war, zu einem Informationszeitalter übergeht, das an die Stelle des systematisch geordneten Wissens ein isoliertes, fragmentarisches, allenfalls lexikalisch oder enzyklopädisch gesammeltes Wissen setzt. Daß der Träger dieses neuen Wissens, der Computer und die ihm eigentümliche Sprache, die Logik und moderne Algebra, das Gesicht unserer Welt grundlegend zu verändern im Begriffe ist, ist unübersehbar. Nicht wenig zu dieser Entwicklung hat die linguistische Tendenz des 20. Jahrhunderts, der sogenannte linguistic turn, beigetragen, der mit seiner analytisch sezierenden Methode zur Gewinnung eines neuen Wissensbegriffes geführt hat. Pilotwissenschaften sind heute die Sprachphonologie, linguistische Theorien, Spieltheorien, Automatentechnik, Kybernetik u. ä., die sich zum sprachtheoretischen und sprachtechnischen Aspekt der Kultur zusammenfassen lassen. Computer, Internet, Mikrochips, Datenbanken mit ihrer enormen A

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Einleitung: Problemlage

Speicherkapazität und der Abrufbarkeit der Daten in Sekundenschnelle an allen Orten der Welt zugleich sind dabei, unser Leben total zu verändern. Noch nie standen Informationen in solcher Fülle in so kurzer Zeit an beliebigen Orten und von jedermann abrufbar zur Verfügung wie heute. Ihr beständiges exponentielles Anwachsen, ja ihr Ausufern ins Unermeßliche schafft allerdings auch neue Probleme, nicht nur die schnelle Alterungs- und Verfallsrate von Innovationen und die damit zusammenhängende Dauerüberholung, 1 sondern auch die Notwendigkeit, Suchmaschinen zur Durchforstung und Selektion zum Zwecke eines effizienten Gebrauchs einzusetzen. Schon Leibniz verglich unser gespeichertes Wissen, nämlich unser Gedächtnis, mit einem großen Kramladen, in dem man sich orientieren können muß, um einen sinnvollen Gebrauch davon zu machen. War das Wissen, das wir im Begriffe sind zu verlassen, das naturwissenschaftliche – modifiziert auch das geisteswissenschaftliche –, dadurch ausgezeichnet, daß es sich in Theoriesystemen, in Komplexen aus Super- und Subsystemen, Taxonomien, Ordnungsgefügen mit hierarchischem oder zentralistischem Aufbau niederschlug und so Überblick und Ordnung in Form von Klassifikation und Spezifikation, von Auf- und Abstieg vom Besonderen zum Allgemeinen und zurück oder vom Zentrum zum Marginalen ermöglichte, so ist der neue Typ des Wissens dadurch gekennzeichnet, daß er isolierte Daten aneinanderreiht, kumuliert und so lediglich ein fragmentarisches, unsystematisches Wissen verschafft. Auch frühere Jahrhunderte brachten Veränderungen des Wissens mit sich, selbst gravierende, oft bedingt durch die Erfindung oder Einführung neuer Medien und Kommunikationstechnologien. Herbert Butterfield hat in seinem Buch Origins of Modern Science. 1300–1800 (1949) den Ausdruck ›scientific revolution‹ geprägt und populär gemacht. Obzwar dieser Terminus heute oft angegriffen und Asari Polikarov: Strukturmodelle der Wissenschaftsentwicklung, in: Friedrich Rapp (Hrsg.): Naturverständnis und Naturbeherrschung. Philosophiegeschichtliche Entwicklung und gegenwärtiger Kontext, München 1981, S. 111–128, bes. S. 118 f., hat auf der Basis von Arbeiten von Derek John de Solla Price: Science since Babylon, New Haven, London 1975, und Aleksandr Ivanovich Mikhailow, Arkadij Ivanovich Tschernyj und Rudzhero Sergeevich Giliarewskij: Wissenschaftliche Kommunikationen und Informatik, Moskau 1976, S. 171 f. (russisch), gezeigt, daß sich die Zahl der Publikationen im Durchschnitt alle 14 Jahre verdoppelt, so daß sie in den letzten zwei Jahrhunderten auf 215 ( 3  104 ) angestiegen ist. In etwa derselben Zeit ist die Zahl der Wissenschaften auf 28 ( 250) angewachsen.

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Wissensrevolutionen

in Abrede gestellt wird mit dem Hinweis auf die Tatsache kontinuierlich vor sich gehender inhaltlicher wie methodischer Modifikationen, sind radikale Wissensveränderungen, also Revolutionen, nicht zu leugnen, selbst wenn sie sich nicht wie heute innerhalb weniger Jahre oder Jahrzehnte vollzogen, sondern Jahrhunderte in Anspruch nahmen. Solche Umbrüche sind nicht nur mit einer Veränderung der Quantität verbunden, sondern auch mit einer der Qualität und Struktur, der Verortung der Vermittlungsinstanzen u. ä. Zu einer solchen Wissensrevolution gehört der Übergang von der oralen zur schriftlichen Wissenskultur. In oralen Gesellschaften war das Wissen, und zwar das praktische Erfahrungswissen, welches zum Leben und Überleben des Einzelnen wie der Gesellschaft erforderlich ist und entweder im eigenen Lebensvollzug in Auseinandersetzung mit der Umwelt angeeignet oder im Zusammenleben mit anderen diesen abgeschaut ist, an die Familie bzw. Dorfgemeinschaft und speziell an einzelne ihrer Angehörigen gebunden und wurde von der älteren, lebenserfahreneren Generation an die jüngere, weniger erfahrene vermittelt – vom Vater an den Sohn, von der Mutter an die Tochter, vom Meister an den Lehrling, vom Lehrer an den Schüler –, was nicht zuletzt den Autoritätsstatus der Älteren erklärt, die Achtung und den Respekt, den die jüngere Generation der älteren wegen deren Lebensweisheit und Klugheit entgegenbrachte. Dies änderte sich mit der Erfindung der Schrift, sei es der Bilder- oder Symbolschrift, der Zeichen- oder Keilschrift in den verschiedenen Teilen der Welt, im alten Ägypten, bei den Sumerern, Assyrern, Babyloniern, in China, bei den Azteken und Maya. Die Aufwendigkeit des Schriftgebrauchs, sowohl was das Erlernen des Lesens wie der Niederschrift und Gravur auf Stein- und Tontafeln, auf Papyros oder Blättern betraf, machte dafür besonders Ausgebildete, Experten, erforderlich, nämlich die Kaste der Schriftgelehrten, bei denen es sich meist um Hofbeamte oder Priester handelte, die an besonderen Stätten wie den Tempel- und Palastschulen im alten Ägypten, dem Astronomischen Büro im alten China, 2 den Skriptorien der mittelalterlichen Klöster in Europa ausgebildet wurden. Sie genossen hohes Ansehen gegenüber den Schriftunkundigen, dem gemeinen Volk. Die Aufwendigkeit der Schrifterlernung und des Schriftgebrauchs Vgl. Geoffrey Lloyd: Wissenschaft und Gesellschaft in antiken Kulturen, in: Johannes Fried und Johannes Süßmann (Hrsg.): Revolutionen des Wissens. Von der Steinzeit bis zur Moderne, München 2001, S. 96–115, bes. S. 104.

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Einleitung: Problemlage

war mitverantwortlich für die Ausbildung eines bestimmten Typs von Wissen, der sogenannten Listenwissenschaft, wie sie sich im gesamten altorientalischen Raum von Babylonien über Ägypten und die angrenzenden Länder bis in den frühen griechischen Kulturraum ausgebreitet hat. Bei dieser handelte es sich um eine topologische Auflistung von Gegenständen und Sachverhalten unter bestimmten Determinativen. Verständlicherweise hatten Herrscher und Priester ein Interesse an der Aufzeichnung ihrer Besitztümer, ihrer Felder, Ländereien, Ortschaften, ihrer Einnahmen und Ausgaben, womit zugleich auch Mathematik zur Feldvermessung und Astronomie und Omen zur Zukunftsdeutung auf den Plan traten. So kam es zur Auflistung aller Besitzstände und Verfügbarkeiten, zur Ausbildung der Listenwissenschaft oder Onomastik, bei der auf Tafeln additiv und seriell, allenfalls nach Assoziationsgesetzen geordnet, alles Bekannte verzeichnet wurde. Waren es anfangs Inventar- und Verwaltungslisten, auf denen die Güter und Geschäfte tabellarisch aufgeführt wurden, so dehnte sich diese Wissenschaft zunehmend auf die gesamte damals bekannte Welt aus, indem nun Tabellen botanischer und zoologischer Art, medizinischer, diagnostischer wie therapeutischer Art, mathematisch-astronomischer, juristischer, grammatikalischer Art sowie Omentafeln, Götterlisten, Sprichwortverzeichnisse u. ä. erstellt wurden und so eine Ordnung und Gliederung parataktischer, nicht hypotaktischer Art in die Wissensbestände gebracht wurde. Wenngleich die Listenmethode mit der Erfindung und Ausbildung der Schrift einherging und die sich in ihr bekundende Denkart typenmäßig der Schriftlichkeit nahekam, war die letztere auf sie nicht eingeschränkt, was auch andersartige, schriftlich fixierbare rationale Strukturierungen der Welt zeigen, wie sie sich z. B. in der klassischen griechischen Philosophie mit ihrem begründenden Denken, dem lgon didnai, ausgebildet haben, das zu einer hypotaktischen Struktur führte, 3 im dialektischen Denken 4 oder im analogischen. 5 War mit der Erfindung der Schriftkultur auch eine quantitative Ausweitung des Wissens sowie eine Differenzierung desselben verbunden, indem das fixierte Wissen als Ganzes tradiert, erweitert, Vgl. Karen Gloy: Vernunft und das Andere der Vernunft, Freiburg, München 2001, S. 67 ff. 4 Vgl. a. a. O., S. 115 ff. 5 Vgl. a. a. O., S. 207 ff. 3

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Wissensrevolutionen

spezifiziert werden konnte, so ließen sich auf der anderen Seite die Nachteile nicht leugnen, die wohl erstmals Platon in seinem Phaidros-Dialog im Rahmen des Thot-Mythos aufgezeigt hat. 6 Zum einen bedingt, mnemotechnisch gesehen, die Verschriftlichung ein Nachlassen der Gedächtnis- und Erinnerungskraft, da man sich auf das schriftlich Fixierte verläßt und keine Mühe mehr auf die Erinnerung verwendet. Vermochten die fahrenden Sänger des griechischen Altertums wie Homer und selbst noch die Minnesänger des Mittelalters ihre Epen und Lieder als Gesamtwerke mündlich vorzutragen, wenngleich mit Modifikationen und Anpassung an das Publikum und an die jeweilige Situation, so wie auch heute noch in Afrika die LoDagaa in Nordghana bei Initiationen ihre Mythen ohne weiteres durchgehend 6 bis 8 Stunden vorzutragen vermögen, 7 ja konnte selbst noch die Generation unserer Großeltern Goethes Faust auswendig hersagen, während die nachfolgende Generation allenfalls noch Schillers Glocke auswendig zu lernen vermochte und die heutige Jugend kaum noch zu irgendeinem Auswendiglernen und Kopfrechnen imstande ist, da sie sich auf die Abrufbarkeit von Informationen aus dem Computer bzw. auf den Taschenrechner verläßt, so begann mit der Verschriftlichung ein Rückgang der Gedächtniskultur. Zum anderen ging mit der Verschriftlichung und damit der Veräußerlichung des Wissens eine Verflachung zur Vielwisserei und zum intellektuellen Spiel einher, da das nur extern angeeignete, nach Art eines Nürnberger Trichters eingeträufelte, nicht aber durch innere Bemühung und selbsteigenes Ringen internalisierte Wissen lediglich ein Schein- oder Dünkelwissen ist. Nicht zu Unrecht bezeichnet Platon im Phaidros 276 a die niedergeschriebene, tote Rede im Vergleich zur gesprochenen, im lebendigen Dialog vollzogenen als Schattengebilde. Gilt dies schon für die identifizierende und reidentifizierende in- und exkludierende Begrifflichkeit, wieviel mehr für die fixierte begriffliche Rede. Während der ägyptische Thot im ThotMythos, der Erfinder der Buchstaben und Zahlen, des Brett- und Würfelspiels, der Meß- und Sternkunde, kurzum aller rationalen Künste, seine Erfindung vor dem Pharao Thamus als Mittel für Er-

Vgl. Platon: Phaidros 274 c ff. Vgl. Jack R. Goody: Wissen und die Arten seiner Weitergabe, in: Johannes Fried und Johannes Süßmann (Hrsg.): Revolutionen des Wissens, a. a. O., S. 40–55, bes. S. 41 f.

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Einleitung: Problemlage

innerung und Weisheit anpreist, das die Ägypter weiser und gedächtnisstärker machen würde, 8 kontert der Pharao: »O kunstreicher Theut [Thot], einer weiß, was zu den Künsten gehört, ans Licht zu bringen; ein anderer zu beurteilen, wieviel Schaden und Vorteil sie denen bringen, die sie gebrauchen werden. So hast auch du jetzt, als Vater der Buchstaben, aus Liebe das Gegenteil dessen gesagt, was sie bewirken. Denn diese Erfindung wird den Seelen der Lernenden vielmehr Vergessenheit einflößen aus Vernachlässigung der Erinnerung, weil sie im Vertrauen auf die Schrift sich nur von außen vermittels fremder Zeichen, nicht aber innerlich sich selbst und unmittelbar erinnern werden. Nicht also für die Erinnerung, sondern nur für das Erinnern hast du ein Mittel erfunden, und von der Weisheit bringst du deinen Lehrlingen nur den Schein bei, nicht die Sache selbst. Denn indem sie nun vieles gehört haben ohne Unterricht, werden sie sich auch vielwissend zu sein dünken, obwohl sie größtenteils unwissend sind, und schwer zu behandeln, nachdem sie dünkelweise geworden statt weise.« 9

Kritisiert wird hier das Buchstabenwissen, das ein nur äußerliches, vermeintliches ist und zur Vielwisserei führt, nicht aber ein eigentliches, das durch intensive innere Anstrengung und Bemühung erreicht wird und zum wahren Wissen (sofffla) 10 führt. Die Niederschrift kann immer nur eine Gedächtnisstütze sein, nicht aber ein Ersatz für das Gedächtnis. Ein weiterer Kritikpunkt ließe sich hinzufügen: Nicht nur zur Gedächtnisreduktion und Verflachung führt die Verschriftlichung, sondern auch zur Verengung. Denn während das mündliche Gespräch durch Offenheit nach allen Seiten charakterisiert ist und je nach dem Bedürfnis des Mitunterredners die Ziehung dieser oder jener Gedankenlinie erlaubt, verengt die Niederschrift, wenn sie nur einigermaßen folgerichtig und logisch verständig verfährt, den Blick auf die Verfolgung einer einzigen Linie, allenfalls mit kurzen Abschweifungen und Umwegen. Schriftlichkeit ist auf strategische Rationalität ausgerichtet, die effizient, ohne große Umwege und Abschweifungen zum Ziel zu gelangen sucht. Der Schreiber muß sich überlegen, was er zu Papier bringen will, der Redner kann sich vom Gespräch führen lassen. Die zweite große Revolution ereignete sich mit der Erfindung der Buchdruckerkunst. Im Westen war es Johannes Gutenberg (um Vgl. Platon: Phaidros 274 e. A. a. O. 274 e ff. (in der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher). 10 A. a. O. 278 d. 8 9

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Wissensrevolutionen

1400–1468), der den Buchdruck mit beweglichen Lettern um die Mitte des 15. Jahrhunderts erfand und 1445 in Mainz die erste Drukkerei gründete. Obgleich der Buchdruck auch in Ostasien bekannt war, entwickelte er sich in Europa mit rascherer Geschwindigkeit, was mit der geringeren Zahl und der Simplizität der Buchstaben des lateinischen Alphabets gegenüber der großen Anzahl und Kompliziertheit der chinesischen Zeichen zusammenhängen dürfte. Die mechanische Reproduktion des geschriebenen Wortes führte quantitativ zu einer Vermehrung und Verbreitung der schriftlichen Wissenskultur, die ökonomisch verbunden war mit einer Verbilligung der Literatur, soziologisch und bildungspolitisch mit einer zunehmenden Egalisierung der Bevölkerung, da der Stand der Schriftgelehrten, der hauptsächlich vom Klerus eingenommen wurde, durch das gebildete und bildungsbeflissene Bürgertum zurückgedrängt und schließlich abgelöst wurde, und sprachgeschichtlich, zumindest was Deutschland betrifft, mit einem Zusammenwachsen der deutschen Volkssprache; denn gedruckt wurde zunächst das Buch aller Bücher, die Bibel, die in Gestalt der in deutscher Mundart verfaßten LutherBibel zur Ausbreitung der deutschen Sprache beitrug, wohingegen das klerikale Latein die Nation eher gespalten hatte. Unterstützt wurde dieser Prozeß durch die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in immer mehr Staaten obligatorische Schulpflicht, die zur Erlernung der Schrift und des Lesens zwang und damit zur Erhöhung des Bildungsniveaus der Bevölkerung beitrug. War ein in den mittelalterlichen Skriptorien in monatelanger mühevoller Arbeit hergestelltes Manuskript, sei es ein Original oder eine Abschrift, z. B. eine Bibel, ein Gebetsbuch, ein Stundenbuch wie das französische Stundenbuch des Duc de Berry oder eine Liederhandschrift wie die manessische oder auch ein naturwissenschaftliches, physikalisches oder medizinisches Werk mit kunstvollen Inkunabeln, arabeskenhaften Tier- und Pflanzenornamenten, Gold-, Blau- und Rotfarben, jeweils ein Unikat und unvorstellbar kostbar – der Wert eines Buches entsprach oft dem eines Dorfes –, so ergoß sich nun eine Flut preisgünstiger, bezahlbarer Bücher religiöser wie wissenschaftlicher wie auch belletristischer Art über die Bürgerschaft. Der Einsatz von Dampfkraft und Rotationspresse bei der Drukkerei anstelle der manuellen Betätigung erhöhte die Geschwindigkeit der Produktion und damit die Wissenszirkulation. Bestand auf der einen Seite ein Vorteil darin, daß mit der raschen Verbreitung auch eine Steigerung der Allgemeinbildung der Bevölkerung einherging, A

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Einleitung: Problemlage

ganz abgesehen von der oben erwähnten Ausbreitung der deutschen Volkssprache und des dadurch bedingten Zusammenwachsens der Gesellschaft, so lag auf der anderen Seite eine Gefahr darin, daß mit der Vermassung auch eine Verflachung des Wissens in Richtung auf eine bloße Informationsübermittlung und Unterhaltungsindustrie verbunden war. Man vergleiche dazu die exorbitant anwachsende Zahl der Romane im 18. Jahrhundert. Ähnliches gilt für die Tageszeitungen. Während der von Addison und Steele herausgegebene Spectator im 18. Jahrhundert in England nur geringe Verbreitung fand und die politischen und sozialen Kommentare darin dem größeren Teil des Publikums laut vorgelesen werden mußten, 11 schossen im 19. Jahrhundert Tageszeitungen, Magazine und Almanache geradezu aus dem Boden und trugen mit ihrem massenhaften Absatz einerseits zur Ausbreitung des Wissens von der Stadt auf das Land bei, erfüllten aber auch mit ihrem täglichen, wöchentlichen oder jährlichen Absatz rein ephemere informatorische Bedürfnisse ähnlich wie heute die tägliche Publikation der Aktienkurse der Börse in Wirtschaftszeitungen. Erhöht wurde die Attraktivität dieser Blätter noch durch die Erfindung des Lithographie- und Farbdrucks; sie läßt sich vergleichen mit der der heutigen Bild-Zeitung in Deutschland oder des Blicks in der Schweiz. Hinzu kamen in rascher Folge andere Veränderungen, bedingt durch die Erfindung des Radios, Telefons, Faxes, des Kinos und Fernsehens, die allesamt das ihrige zur rasanten und massenhaften Verbreitung des Wissens beitrugen, teils zur Übermittlung von Daten und Informationen wie den täglichen Nachrichten, teils zur Verbreitung von Forschungsergebnissen und neuen Erkenntnissen wie in Dokumentarfilmen (Tierfilmen, geographischen, ethnographischen Filmen), die der Belehrung dienen, aber auch der Unterhaltung. Die dritte große Wissensrevolution ist mit der Erfindung und Ausbreitung des Computers zu datieren. Erfunden in der frühen Nachkriegszeit für militärische Zwecke, begann der Computer in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts seinen Siegeszug anzutreten und nicht nur Firmen und Betriebe, sondern auch Privathaushalte zu erobern. Zunächst in Form riesiger unhandlicher Maschinen in Rechenzentren installiert, führte die Entwicklung zu immer handlicheren Tischcomputern, PCs, und schließlich zum portablen Laptop. Die massenhafte Produktion derselben und die Einführung in Schulen 11

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Vgl. Jack R. Goody: Wissen und die Arten seiner Weitergabe, a. a. O., S. 45.

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Wissensrevolutionen

macht heute jedes Schulkind mit der Anwendung von Computern vertraut. Interessant ist festzustellen, daß der Computer nicht nur in den entwickelten westlichen Ländern Absatz gefunden hat, sondern weit mehr noch in den Entwicklungsländern. In Südamerika, das lange Zeit von der globalen Entwicklung abgeschottet war, sind heute Privathaushalte, Schulen und Universitäten neben Handys mit modernsten Computern ausgestattet, weitaus moderneren als in den vergleichbaren Institutionen Westeuropas, was mit deren finanziellen Schwierigkeiten zusammenhängt, die es nicht erlauben, jedes Seminar und jede Bibliothek mit neuesten Geräten auszustatten, so daß oft weiterhin der alte Zettelkasten seinen Dienst tun muß. Ebenso gilt für Indien, daß dort aufgrund einer massiven finanziellen Unterstützung und Investitionspolitik Computerspezialisten ausgebildet wurden, die von dort nach Westeuropa und in die USA transferiert wurden. Diese Investitionspolitik hat zu dem Erfolg geführt, daß sich die Wissensschere zwischen Erster, Zweiter und Dritter Welt zunehmend schließt. Internet, E-Mails, CD-Rom und fast täglich hinzukommende Innovationen haben das Antlitz unserer Welt gründlich verändert und sind dabei, es ständig neu zu formen. Die fast unbegrenzte Speicherung des Wissens auf Mikrochips und in Datenbanken, die Abrufbarkeit desselben an jedem Ort zu jeder Zeit haben nicht nur den Typ und Stil des Wissens verändert, sondern auch den Ort und die Art der Wissensaneignung. Eines dieser Resultate ist die Entwurzelung und Verselbständigung des Wissens, die Entbindung vom Einzelsubjekt, von Gruppen und festen Institutionen sowie festen Ausbildungsund Arbeitszentren. Statt der Verrichtung der Arbeit in fest installierten Büros, Firmen, Verwaltungen und innerhalb fester Arbeitszeiten ist es jetzt möglich, dieselbe Arbeit zuhause privat zu verrichten und rund um die Uhr zu arbeiten, zumal die Tages- und Nachtzeiten zwischen weit entfernten Ländern variieren. Anstelle des obligatorischen Universitätsstudiums in Vorlesungssälen standortgebundener Universitäten ist jetzt Fernunterricht möglich geworden, wie ihn die Fernuniversität Hagen seit Jahren praktiziert. Eine Folge der Entwurzelung und Autonomisierung des Wissens ist seine Anonymisierung, die sich u. a. darin dokumentiert, daß gegenwärtig an einer Enzyklopädie gearbeitet wird, an der nicht mehr wie bisher Experten und Fachberater beteiligt sind, sondern jeder seine Erfahrungen und Erlebnisse über das Internet einfügen kann. Wie sich Ort, Zeit und Art der Wissensvermittlung geändert A

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Einleitung: Problemlage

haben, so hat sich auch der Typ und Stil des Wissens selbst verändert. Ähnlich wie die langen Romane des 18. Jahrhunderts, die zum Zeitvertreib für eine adlige und gutbürgerliche Gesellschaft gedacht waren, im 20. Jahrhundert durch die short stories ersetzt wurden, so ist an die Stelle der umfassende Überblicke ermöglichenden Systematiken des wissenschaftlichen Zeitalters mit ihrer hierarchischen oder zentralistischen Ordnung im Computerzeitalter das aneinandergereihte lexikalische bzw. enzyklopädische Wissen getreten, das in kleinen Häppchen, bit für bit, isoliert und komprimiert übermittelt wird. An die Stelle des Ganzen bzw. der Tendenz zum Ganzen ist die dezidierte Entscheidung für beliebig viele Teilaspekte getreten. Mit der Flut von Informationen, die zum Zwecke der Entscheidungsfindung zu bewältigen sind, hat sich der rudimentäre Telegrammstil eingeschlichen, der gleicherweise Satzbau wie Orthographie und Interpunktion vernachlässigt, indem er nur die sinn- und bedeutungstragenden Wörter, meist Substantive, akzentuiert und alles weniger Gewichtige ignoriert. Zur Not gibt es auch Rechtschreibprogramme. Verlangte die Schreibkultur früherer Jahrhunderte, insbesondere die Abfassung von Liebesbriefen, wohlformulierte Sätze und die Überlegung, was auf das Blatt Papier zu bringen sei, so sind heute an deren Stelle die Kurzinformationen der E-Mails und die SMS der Handys getreten, die der rein äußerlichen Nachrichtenübermittlung dienen und von der Erreichbarkeit jedes für jeden zeugen. Da täglich auf dem Computer nicht selten 70 bis 80 E-Mails erscheinen, haben große Firmen bereits Selektierer und Sortierer eingesetzt, um die Flut zu bewältigen. Die geschilderten Symptome des computerisierten Wissens sind Entwurzelung, Autonomisierung, Anonymisierung und Veroberflächlichung. Unterstützt werden sie noch durch die Computerspiele der Kinder, die entsprechend der im Westen herrschenden Fun-Kultur, deren Vorreiter Amerika ist, das Wissen auf intelligentes Spiel, auf beliebige Wort- und Bildmanipulation und irreale Tatsachenverarbeitung reduziert. Charakteristisch hierfür war nicht zuletzt die Nachrichtenübermittlung aus dem Golf- und Irakkrieg, die mit Realitätsnähe und Wahrheitsfindung nichts mehr zu tun hatte, sondern seitens der sogenannten eingebetteten Journalisten, nämlich der in die jeweiligen militärischen Einheiten integrierten und an vorderster Front positionierten Berichterstatter, zu einer nicht nur einseitigen, sondern auch verfälschenden Dokumentation, zu Datenverstellung und zu Collagen führten. Jean Baudrillard hat bezüglich unserer mo18

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Ziel der Untersuchung

dernen Welt nicht zu Unrecht von einer Inszenierung von Wirklichkeit anstelle der Wirklichkeitserfahrung gesprochen und dafür die amerikanische Fernsehserie der Familie Loud zitiert, die ein Pendant in der deutschen Serie Big Brother hat und dem Zuschauerpublikum Privatheit, sogar Intimität vortäuscht, während tatsächlich Millionen von Zuschauern durch das Schlüsselloch schauen. 12 Wie sich das Fernsehen in Leben auflöst, d. h. die Realität erobert, so löst sich auch umgekehrt das Leben in Fernsehen, in Illusion und Simulation auf. 13 Realität und Irrealität verschmelzen. Der Aufnahmeleiter der amerikanischen Fernsehserie konstatierte die Vortäuschung von Privatheit der Familie Loud mit den Worten: »Sie [die Louds] haben so gelebt, als ob wir nicht dabei gewesen wären« 14 , eine Aussage, die den paradoxen Stellenwert hat, »als ob … [die Zuschauer] dort gewesen wären«. »In dieser Erfahrung der ›Wahrheit‹«, kommentiert Baudrillard, »handelt es sich weder um ein Geheimnis noch um eine Perversion, sondern vielmehr um eine Art Schauder des Realen oder eine Ästhetik des Hyperrealen, Schauder einer betrügerischen und schwindelerregenden Exaktheit, Schauder vor einer zur gleichen Zeit ablaufenden Entfernung und Vergrößerung, Schauder einer Distorsion im Maßstab einer exzessiven Transparenz. Lust am Exzeß des Sinns, wenn die Trennlinie des Zeichens im Pegel des Sinns unter den Normalzustand absinkt: der Insignifikant wird durch die Einnahme des Blickwinkels eingesetzt. Hieraus wird ersichtlich, daß das Reale niemals existiert hat (aber man sieht es so, ›als ob man dabei gewesen wäre‹), ohne die Distanz, die den perspektivischen Raum und unsere Visionen im Grunde ausmacht (doch ist der Eindruck, den man bekommt, ›wahrer als die Natur‹). Lust an mikroskopischer Simulation, die das Reale ins Hyperreale übergehen läßt.« 15

2.

Ziel der Untersuchung

Die Nachzeichnung der geschichtlichen Stationen der Wissensrevolution hat deutlich gemacht, wie eng Wissen und Gesellschaft mitVgl. Jean Baudrillard: Das Ende des Panoptikums, in: ders.: Agonie des Realen. Aus dem Französischen übersetzt von Lothar Kurzawa und Volker Schaefer, Berlin 1978, S. 44–51. 13 Vgl. a. a. O., S. 49. 14 Vgl. a. a. O., S. 45. 15 A. a. O. 12

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Einleitung: Problemlage

einander verknüpft sind. Ändern sich die gesellschaftlichen Konstellationen durch Erfindung und Einführung neuer Medien oder Technologien, so zieht dies eine Veränderung des Wissenstyps nach sich; ändert sich das Wissen und sein Zugang zur Wirklichkeit wie durch globale Vernetzung, immense Speicherkapazität, Abrufbarkeit der Daten zu jeder Zeit an jedem Ort der Welt, so bringt dies gravierende gesellschaftliche Konsequenzen mit sich wie die Veränderung des Arbeitsplatzes und der Arbeitszeit, des Ortes und der Form der Wissensübermittlung, ja sogar der Wahrheitsauffassung, der gesellschaftlichen Akzeptanz von Simulation, der Inszenierung von Wirklichkeit. Das Verhältnis von Wissen und Wissensarten zur Gesellschaft wird gegenwärtig unter den Begriffen ›Wissenskultur‹ und ›Wissenskulturen‹ behandelt, genauer unter dem Terminus ›Kultur des Wissens‹ im Singular und ›Wissenskulturen‹ im Plural, so bei Johannes Fried und Thomas Kailer in dem von ihnen herausgegebenen Sammelband Wissenskulturen. Beiträge zu einem forschungsstrategischen Konzept. 16 Gemeint ist damit, daß Wissen zum einen ein Konstituens jeder Kultur ist, und zwar nicht irgendeines, sondern ein essentielles, insofern es die gesamte Wirklichkeit einschließlich der soziologischen in den Blick nimmt und reflektiert und damit ein normativ definitorisches Kriterium darstellt, und zum anderen, daß es im historisch deskriptiven Sinne diverse Wissenskulturen gibt, so wie es auch diverse Eß- und Trinkkulturen gibt, d. h. je besondere innerhalb einer Kultur. Im ersten, historischen Teil des Buches soll der Wissensbegriff in seiner historischen Entwicklung dargestellt werden, wobei sich allerdings die Betrachtung auf den abendländischen Kulturraum und seine altorientalischen Vorläufer bei den Babyloniern, Ägyptern und Israeliten beschränkt. Weitergehende Vergleiche haben allenfalls die Funktion von Verweisen auf andere Kulturen, sind aber selbst nicht in die geschichtliche Entwicklung der abendländischen Vorstellungen einbezogen. In der Etymologie des Wissensbegriffes ebenso wie in den diversen begrifflichen und wortschatzmäßigen Stadien kommen verschiedene Interessen und Wirklichkeitsbeziehungen zum Ausdruck, mögen sie in der Tendenz zur Differenzierung und SpezifizieJohannes Fried und Thomas Kailer: Einleitung: Wissenskultur(en) und gesellschaftlicher Wandel. Beiträge zu einem forschungsstrategischen Konzept, in: dies. (Hrsg.): Wissenskulturen. Beiträge zu einem forschungsstrategischen Konzept, Berlin 2003, S. 7–19, bes. S. 9 f.

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Ziel der Untersuchung

rung, in der zur Präzisierung oder in der Tendenz zur Interessensverlagerung auf andere Gebiete bestehen. Stets ist die terminologische Änderung mit einer sachlichen Interessensverlagerung verbunden. Im zweiten, systematischen Teil ist eine Systematik aller nur möglichen Wissensarten intendiert. Dies setzt eine vorgängige methodologische Reflexion auf die Wahl des Gliederungsprinzips voraus. Das klassische Einteilungsschema, das die Spezifikation bzw. bei umgekehrter Perspektive die Klassifikation nach genus proximum per differentiam specificam vornimmt, scheidet a limine aus, da es nur für die begriffliche Sphäre, also die Einteilung des Wissensbegriffes in Unter- und Unter-Unter-Begriffe usw. gilt, nicht aber für Einteilungen, die auch nicht-begriffliche Wissensarten einbeziehen, wie das instinktive, intuitive, situative oder gestische, praktische Wissen usw. Soll es nicht nur bei einer narrativen Aufzählung der Wissensarten bleiben, so legt sich eine Stratifizierung nahe, bei der man, analog der Schichtung von Gesteinsarten, an eine Schichtung oder Stufung der Wissensarten zu denken hat. In diesem Sinne hat schon Platon in der Politeia 17 eine Einteilung der Seele in einen begehrenden, mutigen und intellektuellen Teil vorgenommen und Aristoteles in De anima 18 eine Einteilung und Gliederung der menschlichen Vermögen in ein vegetatives, sensitives und intellektuelles, welche ihm zugleich zur Unterscheidung der Lebewesen, der Pflanzen, Tiere und des Menschen, gelten. Bei Kant findet sich in der Kritik der Urteilskraft 19 eine triadische Einteilung der gesamten Gemütsvermögen (der Seele) in Erkenntnisvermögen, Begehrungsvermögen und dazwischen das Gefühl von Lust und Unlust sowie in der Kritik der reinen Vernunft eine Einteilung des Erkenntnisvermögens in einen oberen, superiorischen und einen unteren, inferiorischen Teil, Verstand und Vernunft auf der einen Seite, Sinnlichkeit auf der anderen 20 und ein Zwischenvermögen, die Einbildungskraft, zur Vermittlung. 21 Platon: Politeia 435 c- 444 a; 504 a; 550 b; 571 c ff.; 580 d ff. Z. B. Aristoteles: De anima, Buch II, 1, 2, 3; II, 3. 19 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, hrsg. von Kurt Vorländer, Hamburg 1974, L VIII (Schema). 20 Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, hrsg. von Raymund Schmidt, unveränderter Neudruck nach der 2. durchgesehenen Aufl. von 1930, Hamburg 1956, A 835 B 863, A 15 B 29. Vgl. Transzendentale Deduktion A und B, bes. A. 21 Ob und wieweit diese Einteilungen der in unserer Arbeit intendierten entsprechen, muß sich erst im Verlauf der weiteren Untersuchung herausstellen. 17 18

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Einleitung: Problemlage

Stratifizierungen dieser Art stehen von Anfang an unter einer Wertung, was schon die Nomenklatur von höheren und niederen sowie von Zwischenvermögen anzeigt. Seit der Antike besteht eine Präferenz des geistigen, intellektuellen Vermögens gegenüber dem inferiorischen, sinnlichen, welche durch die christliche Theologie noch unterstützt wurde. Mit Parmenides beginnt in unserer Geistesund Kulturgeschichte die Degradierung und Diffamierung der Sinnenwelt als bloßer Meinung (dxa) der Sterblichen und die alleinige Akzeptanz der Denkwelt und Orientierung an ihr, die durch den christlichen Dualismus von Leib und Seele noch verstärkt wurde. Das Sinnliche galt als das Veränderliche, Entstehende und Vergehende, das geistig Wahrnehmbare, intellektuell Erfaßbare als das ungewordene und unvergängliche Ewige, das daher zum alleinigen Maßstab avancierte. Nach Friedrich Nietzsches ›Umwertung aller Werte‹ und nach der Fundamentalkritik der Postmoderne am Logozentrismus des Abendlandes, 22 welche mit einer Aufwertung der bisher marginalisierten, unterdrückten und geknechteten Vermögen wie der Sinnlichkeit, Imagination, Phantasie, ja sogar des Wahnsinns verbunden war, ist die bisherige Wertung nicht länger aufrechtzuerhalten. Wenn dennoch an einer Stufung festgehalten wird, so nicht im Sinne einer Axiologie, sondern in dem einer Konstitutionstheorie. In dieser Richtung argumentiert auch der späte Husserl, wenn er die wissenschaftliche Erkenntnis in der vorwissenschaftlichen Lebenswelt fundiert sein läßt. In der Krisis der europäischen Wissenschaften sagt er: »Es ist freilich selbst eine höchst wichtige Aufgabe der wissenschaftlichen Erschließung der Lebenswelt, das Urrecht dieser Evidenzen zur Geltung zu bringen, und zwar ihre höhere Dignität der Erkenntnisbegründung gegenüber derjenigen der objektiv-logischen Evidenzen. Es muß völlig aufgeklärt, also zur letzten Evidenz gebracht werden, wie alle Evidenz objekt-logischer Leistungen, in welcher die objektive Theorie (so die mathematische, die naturwissenschaftliche) nach Form und Inhalt begründet ist, ihre verborgenen Begründungsquellen in dem letztlich leistenden Leben hat, in welchem ständig die evidente Gegebenheit der Lebenswelt ihren vorwissenschaftlichen Seinssinn hat, gewonnen hat und neu gewinnt. Von der objektiv-logischen Evidenz (der mathematischen ›Einsicht‹, der naturwissenschaftlichen, der positiv-wissenschaftlichen ›Einsicht‹, so wie sie der forschend-begründende Vgl. Jacques Derrida: Grammatologie (Titel der Originalausgabe: De la grammatologie, Paris 1967), aus dem Französischen von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler, Frankfurt a. M. 1974, S. 11.

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Ziel der Untersuchung

Mathematiker usw. im Vollzug hat) geht hier der Weg zurück zur Urevidenz, in der die Lebenswelt ständig vorgegeben ist.« 23

Das Verhältnis der niederen zu den höheren Stufen ist aber nicht als ein logisches Implikations-Explikations-Verhältnis zu verstehen derart, daß auf den höheren Stufen nur das zu Bewußtsein gebracht würde, was auf den niederen bereits angelegt ist, bedeutete dies doch, daß die niederen begrifflich prästrukturiert wären. Solche Strukturierungen sind aber erst zu schaffen. Das Verhältnis kann daher nur als das einer zunehmenden Strukturierung und Differenzierung betrachtet werden, dergestalt, daß die unteren Stufen als relativ unstrukturierte, indifferente, vage anzusehen sind, die erst im Aufstieg zu detaillierteren ausgebildet werden. Die Vagheit und Unbestimmtheit bedeutet nun aber keineswegs, daß die unteren Stufen weniger wichtig, weniger bedeutend wären als die oberen, begrifflichen. Im Gegenteil, gewöhnlich sind die instinktiven, intuitiven, emotionalsinnlichen Stufen weitaus sicherer und verläßlicher als die abgehobenen, von der Wirklichkeit separierten intellektuellen. Nelson Goodman hat diesen Sachverhalt in seinem Aufsatz Kunst und Erkenntnis hervorgehoben, wenn er sagt: »Im täglichen Leben ist die Klassifizierung von Sachverhalten anhand von Gefühlen oft lebenswichtiger als die Klassifikation anhand von anderen Eigenschaften: wir fahren wahrscheinlich besser damit, wenn wir Geschick im Fürchten, Wollen, Trotzen oder Mißtrauen gegenüber den richtigen, belebten oder unbelebten Dingen besitzen, als wenn wir nur ihre Formen, Ausmaße, Gewichte etc. wahrnehmen würden. Und die Bedeutung der Unterscheidung mit Hilfe von Gefühlen wird nicht gemindert, wenn die Motivation eher theoretisch als praktisch ist.« 24

Die Vagheit und Indifferenz der niederen Sphären bilden vielmehr den Ausgang und die Basis für eine begriffliche Bestimmung, welche in unserem wissenschaftlich geprägten Kulturkreis das Ziel und den Maßstab von Verständigung darstellt, was jedoch nicht zu einer Diffamierung der unteren Schichten Anlaß geben darf. Gänzlich inadäquat wäre es, diese simultane Schichtung im historischen Sinne als Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, hrsg. von Walter Biemel, 2. Aufl. (photomechanischer Nachdruck) Den Haag 1976 (Husserliana, Bd. 6), S. 131 (§ 34 d). 24 Nelson Goodman: Kunst und Erkenntnis, in: Dieter Henrich und Wolfgang Iser (Hrsg.): Theorien der Kunst, Frankfurt a. M. 1982, S. 569–591, bes. S. 578. 23

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Einleitung: Problemlage

einen geschichtlichen Prozeß von primitiven Wissensarten in archaischen Gesellschaften zu höherentwickelten und der angeblich höchsten, nämlich unserer westeuropäisch-nordamerikanischen Wissenschaftsstufe, anzusehen, käme dies doch einem Ethnozentrismus oder gar einem Eurozentrismus gleich. Insbesondere würde man der in anderen Kulturkreisen wie Indien ausgebildeten Aufhebung der begrifflichen Spaltung, u. a. der von Subjekt und Objekt, wie sie in der yogischen Spiritualität vorliegt und dort als höchstes Lebensziel angestrebt wird, Unrecht tun. Die Vagheit und Indifferenz der niederen Stufen erklärt sich aus der Noch-Ungespaltenheit der späteren Relata. Sie wird gemessen an der Wissensrelation zwischen Subjekt und Objekt, wie sie auf der entfalteten Bewußtseinsstufe, dem wissenschaftlichen Wissen, besteht. Während auf den niederen Stufen eine ursprüngliche, sachlich und terminologisch ungeschiedene Einheit von Subjekt und Objekt herrscht, löst sich diese auf den späteren Stufen in ein Relationsgeflecht zwischen Subjekt und Objekt auf, was mit Distanzierungsund Objektivationsprozessen sowie mit der intentionalen Struktur des wissenschaftlichen Wissens zusammenhängt. Die Herkunft des Relationsgefüges aus den tieferen Schichten macht aber deutlich, daß es stets an diese zurückgebunden bleibt. Es gibt keine wissenschaftliche Erkenntnis, die trotz ihrer formalen begrifflichen Struktur, ihrer Allgemeinheit und Notwendigkeit nicht verankert bliebe in der emotionalen Sphäre des Individuums und in der noch tiefer gelegenen instinktiven. Die beabsichtigte Konstitutionstheorie zeigt daher das Herauswachsen immer schärferer, exakterer, präziserer Formen aus einem indifferenten Grund bzw. bei umgekehrter Perspektive ihre Fundierung in diesem. Dieses Stufensystem enthält folgende Stufen von unten nach oben: 1. das instinktive Wissen, 2. das emotionale, sinnliche Wissen, a) das situative Verstehen und b) das gestische Verstehen 3. das praktische Erfahrungswissen mit seiner Grundlage, dem magischen Wissen, 4. das intellektuelle, wissenschaftliche Wissen, die Kognition, 5. das transrationale Wissen bzw. die modifizierten Wissensarten, wie Traum, Weissagung, Prophetie, Fernwahrnehmung, Besessenheit, Meditation. 24

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Ziel der Untersuchung

Andere Gliederungen und Systematiken scheiden a limine aus. Eine bloße Nominaldefinition, die lediglich einen Terminus durch einen anderen, mehr oder weniger ähnlichen aufgrund von Konvention ersetzte – hier das ›Wissen‹ durch Synonyme wie ›Weisheit‹, ›Kognition‹, ›Denken‹, ›Mythos‹, ›Wissenschaft‹ o. ä. –, diente nicht der Aufklärung und Wesenserhellung des Wissensbegriffes. Solche Substitutionen mögen zwar in gewissen Fällen und gewissen Bereichen sinnvoll und befriedigend sein, nämlich dann, wenn es gilt, einen längeren, komplizierten, unübersichtlichen Ausdruck durch einen kürzeren, einfacheren zu ersetzen. Da sie aufgrund von Konvention erfolgen, vermögen sie aber nicht zur Wesensaufklärung beizutragen. Im obigen Fall wäre sogar zweifelhaft, ob die terminologischen Substitute überhaupt den gesamten Bereich des Wissens abdeckten. Ebenso scheidet eine an der Realdefinition orientierte Systematik aus, die nach dem klassischen Definitionsschema von genus proximum et differentia specifica vorginge. Sie setzte bei einem obersten genus an und gelangte durch zunehmende Spezifikation zu den subordinierten Arten und Unterarten, so daß sich ein hierarchisches System aus Über- und Unterordnungen nach dem Spezifikationsbzw. Klassifikationsprinzip ergäbe. Da der Oberbegriff hier das Wissen wäre und die Unterbegriffe die subordinierten Wissensarten sein müßten, wäre angesichts der Pluralität und Diversität der Wissenstypen zu fragen, welche dies im einzelnen sein sollten. In Anbetracht der Existenz nicht-begrifflicher Wissenstypen wie des rein sinnlichen geriete man bei dieser begrifflichen Einteilung sofort in Schwierigkeiten. Vor allem aber wäre nach dem Einteilungskriterium zu fragen, nach dem die Gliederung erfolgen soll, ob bereichsspezifisch in Allgemein- und Fachwissen oder artspezifisch in begriffliches und sinnliches, eventuell übersinnliches Wissen, vermittlungstheoretisch in unmittelbares und mittelbares Wissen oder historisch in archaisch-mythisches oder modern-wissenschaftliches Wissen usw. Schon die Verfolgung der Wissensrevolutionen zeigte, daß nicht ein statisches Modell mit Ober- und Unterstufen als Paradigma fungieren kann, sondern nur eines, das die historisch-genetische Entwicklung und Evolution durch Akzentuierung jeweils besonderer Aspekte mit einbezieht. Ebenso scheidet ein Einteilungs- und Systematisierungsprinzip wie das der Explikation aus, das den Namen ›verengende oder verschärfende Definition‹ trägt. Dieses unterscheidet zwischen einem Explikans und einem Explikandum, deren Beziehung zueinander geA

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Einleitung: Problemlage

wissen Bedingungen untersteht. Erfordernis wäre zum einen, daß beide einander ähneln, da sie sonst nichts Gemeinsames aufwiesen. Des weiteren müßte das Verhältnis der Präzision und Einengung erfüllt sein, indem das Explikans eine Verschärfung und Verdeutlichung des Explikandum darstellte, und zum dritten würde von wissenschaftlicher Seite die Erfüllung des Kriteriums der Fruchtbarkeit verlangt, demzufolge möglichst viele Gesetzmäßigkeiten und Prognosen aus der Festlegung ableitbar sein sollen. Anliegen wäre es, einen umgangssprachlichen, vagen und inkonsistenten Begriff durch einen wissenschaftlich exakten und präzisen zu ersetzen. In der Beziehung zwischen Explikans und Explikandum wäre noch zu unterscheiden zwischen einer logisch notwendigen Beziehung wie bei der Begriffs- oder Bedeutungsanalyse und einer empirisch kontingenten wie bei der empirischen Analyse. Mag dieses Schema auch in den Naturwissenschaften eine sinnvolle Anwendung finden, z. B. bei der Festlegung dessen, was als Fisch gelten soll, indem der vage, umgangssprachliche Ausdruck, der Säugetiere wie Delphine und Walfische und Weichtiere wie Tintenfische einschließt, durch einen präziseren wissenschaftlichen ersetzt wird, der auf Kaltblütler und Kiemenatmer sowie auf Skelettiere unter Ausschluß der Säugetiere festgelegt ist, so taugt es doch nicht zur Präzisierung des umgangssprachlichen Wissensbegriffes, da mit dem Ansatz des präziseren wissenschaftlichen Begriffes die Erörterung bereits unter der Perspektive des engeren, exakteren Wissenschaftsbegriffes erfolgte, die Explikation also selbstbezüglich und zirkulär wäre. Nach Exklusion aller dieser möglichen Einteilungs- und Gliederungsschemata bleibt nur die phänomenologische Morphologie übrig, die eine Schichtung bzw. Stufung vorsieht, bei der sich eine Stufe über die andere legt, beginnend mit der untersten, basalsten, der Befindlichkeit, Stimmung, Emotionalität, wobei diese allenfalls noch unterschritten wird durch die noch basalere des animalischen, instinktiven Wissens. Darauf baut sich als weitere Konstitutionsstufe das Handlungs- oder Gebrauchswissen auf, das im praktischen Erfahrungswissen to know how besteht und sich vom theoretischen Wissen to know what und to know that unterscheidet, und schließlich die kognitive Schicht mit ihrer terminierenden Begrifflichkeit, die möglicherweise noch überboten wird durch überdeterminierte Wissensarten, wie Traum, Hellsehen, Prophetie, Meditation u. ä. Dieser Aufbau läßt eine zunehmende Strukturierung von indifferenten, nicht oder wenig strukturierten Schichten zu immer differenzierteren er26

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Ziel der Untersuchung

kennen gemäß den Prinzipien der Determination, Formalisierung, Abstraktion und Idealisierung und, damit verbunden, der Entsubjektivierung und Objektivation. Das physiologisch-psychologische Schema, das diesem Aufbau zugrunde liegt, ist die Leiblichkeit des Menschen in all ihren Facettierungen, angefangen von der Emotionalität bis hin zur Intellektualität, wobei freilich die Gliederung und Stufung nach unteren und oberen und mittleren Vermögen eine kontingente ist. 25 Das Paradigma für diese Art von Untersuchung haben die Arbeiten von Oskar Becker, Beiträge zur phänomenologischen Begründung der Geometrie und ihrer physikalischen Anwendungen, 26 und Elisabeth Ströker, Philosophische Untersuchungen zum Raum, 27 sowie Hermann Schmitz, System der Philosophie, 28 abgegeben, die zwar nicht in bezug auf die Kategorie des Wissens, aber in bezug auf den Raum einen solchen Aufbau versuchen. In bezug auf die Zeit wurde dasselbe Schema von mir in dem Buch Zeit. Eine Morphologie 29 verfolgt. Obwohl die oben genannten Arbeiten eine andere Bezugsgrundlage haben, können sie insofern zum Vorbild dienen, als sie eine Schichtung der Raum- bzw. Zeitarten und somit eine Konstitution von Räumlichkeit bzw. Zeitlichkeit vornehmen. So unterschiedlich diese Arbeiten im einzelnen sein mögen, sie alle gehen von indifferenten oder wenig differenzierten Raum- und Zeitfeldern aus, die der Sphäre der Befindlichkeit, des Erlebens, der Stimmung angehören, und bauen darauf zunehmend differenziertere Formen von Raum und Zeit auf, etwa solche, die der Handlungsorientierung entsprechen und teleologisch strukturiert sind, wie auch solche, die der begrifflich kognitiven Erfassung entsprechen und mit dem homogenisierten, topologisch strukturierten, mathematischen Raum bzw. der Zeit zusammenfallen, wobei das Aufstiegskriterium die zunehmende Topologisierung, Homogenisierung, Idealisierung und Abstraktion ist. Gleiches soll auch vom Wissen versucht werden.

Vgl. Karen Gloy: Zeit. Eine Morphologie, Freiburg, München 2006, S. 14 ff. In: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, Bd. 6 (1923), S. 385–560, als selbständige Arbeit 2. Aufl. Tübingen 1973. 27 Frankfurt a. M. 1965. 28 Bd. 1 ff., Bonn 1964 ff., bes. Bd. 3.1. 29 A. a. O. 25 26

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I. Teil Historischer Paradigmenwandel des Wissens

1.

Wortgeschichte des Wissensbegriffes im deutschen Sprachraum

In den meisten Sprachen, zumal den Kultursprachen, begegnen wir einer Vielzahl von Begriffen des Wissens, die teils synonym gebraucht werden, wie dies für ›klug‹, ›gescheit‹, ›schlau‹, ›gerissen‹, ›gewitzt‹, ›weise‹ gilt, teils diverse Aspekte des konkreten Wissensphänomens zum Ausdruck bringen – als Paradebeispiel fungiert der Unterschied zwischen anschaulichem und begrifflichem Wissen oder der zwischen Erfahrungswissen und wissenschaftlichem Wissen –, teils in einem geschichtlichen Wandel stehen derart, daß einst aktuelle und dominante Wissensbegriffe durch sich vordrängende neue zurückgedrängt und schließlich verdrängt werden, indem diese an ihre Stelle rücken und die früheren obsolet und antiquiert erscheinen lassen, wobei den jüngeren meist dasselbe Schicksal begegnet. Eine solche Paradigmensubstitution der Begriffe im Sinnbereich des Wissens hat für den deutschen Sprachraum Jost Trier in einem Festvortrag mit dem Titel Die Worte des Wissens 1 aufgezeigt. Obwohl Jost Trier: Die Worte des Wissens. Festvortrag, gehalten anläßlich der 11. Hauptversammlung am 28. Juni 1931, in: ders.: Aufsätze und Vorträge zur Wortfeldtheorie, hrsg. von Anthony van der Lee und Oskar Reichmann, Den Haag, Paris 1973, S. 66–78. Weitere, detailliertere Literatur: Jost Trier: Der deutsche Wortschatz im Sinnbezirk des Verstandes. Von den Anfängen bis zum Beginn des 13. Jahrhunderts, 1931, 2. Aufl. Heidelberg 1973; Hans L. Stoltenberg: Das Wort Weisheit, in: Blätter für deutsche Philosophie, Bd. 15 (1941/42), S. 183–186; vgl. Artikel: weise, Witz, List, in: Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, bearbeitet von Elmar Seebold, 24., durchgesehene und erweiterte Aufl. Berlin, New York 2002; Artikel: wîs, wîse, witze, witz, wizzen, list, in: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, hrsg. von Matthias Lexer, Leipzig 1872– 1878; Artikel: weise, wissen, List, in: Duden, Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache, 3., völlig neu bearbeitete und erweiterte Aufl. Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich 2001, Bd. 7; Gertrud Hermans: List (masch. Diss.), Freiburg 1953; Willy Sanders: Lehren und Lernen. Verfall einer Wort-Familie, in: Franco-Saxonica. Münstersche Studien zur niederländischen und niederdeutschen Philologie, Jan Goosens zum 60. Geburtstag, Neumünster 1990, S. 107–118.

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Historischer Paradigmenwandel des Wissens

diese Studie entsprechend dem Vortragsstil schematisch bleibt, ohne detailliertere Begründung und Belege, ist sie bis heute unüberholt wegen der Klarheit der Nachzeichnung der Paradigmensubstitution, auch wenn sie inzwischen Kritik, Richtigstellungen und Erweiterungen erfahren hat, z. B. durch die Arbeit von Felix Scheidweiler. 2 Sie soll daher zur Grundlage und zum Leitfaden unserer Untersuchung dienen, freilich komplettiert werden durch Verweise und Belege aus der alt-, mittel- und neuhochdeutschen Literatur. Auch wenn die Studie von Trier global gesehen nur einen kleinen Ausschnitt, eben den deutschen Sprachraum, abdeckt, kann sie doch für paradigmatisch für eine diachrone Darstellung der Wortbedeutung, d. h. für den Begriffswandel genommen werden, zumal die deutsche Sprache und Kultur eingebettet ist in den größeren Rahmen der abendländischen Entwicklung, die über die lateinische Sprache und Kultur zurückreicht auf die griechische, die ihrerseits beeinflußt ist von der altorientalischen. Jede bildet so weitgehend den Hintergrund der anderen. Bedingt sind der Wandel der Begriffe und der Ersatz der Worte teils durch ein Präzisierungs- und Differenzierungsbedürfnis, teils durch ein sich wandelndes Interesse, eine Verlagerung der Aufmerksamkeit von diesem auf jenen Aspekt, teils durch eine Ausweitung der Möglichkeiten, die sich durch neue Medien und Technologien ergeben. So kann die Wortgeschichte zugleich als eine Kulturgeschichte gelesen werden, ist doch jede Wissensform einer Kulturstufe eine spezifische Antwort auf eine spezifische Frage nach dem Zugang zur Wirklichkeit und Ausdruck eines bestimmten Vorverständnisses und Verständnisses der Realität. Soweit sich die schriftliche Dokumentation der deutschen Sprache zurückverfolgen läßt, nämlich bis ins 10. Jahrhundert in die althochdeutsche Sprachperiode, läßt sich auch eine teils partiale, teils totale Verdrängung der Worte des Wissens konstatieren. Zeigen läßt sich diese Verdrängung anhand der Wörter ›Witz‹, ›List‹, ›Kunst‹, ›Weisheit‹ (wîsduam, wîstuom, wîsheit), ›Wissenschaft‹. Zu den ältesten Wissenswörtern des deutschen Sprachschatzes gehört das Wort ›Witz‹ (ahd. wizzı¯, witzi, mhd. witze, nhd. Witz), das eine Substantivierung des Verbs ›wissen‹ ist und etymologisch auf die indogermanische Wurzel *ueid = ›sehen‹, ›erblicken‹ mit dem Perfekt *uoida = ›ich habe gesehen‹, ›ich habe erblickt‹, ›ich weiß‹ Felix Scheidweiler: Kunst und List, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur, hrsg. von Julius Schwietering, Bd. 78 (1941), S. 62–87.

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zurückgeht. Man vergleiche hierzu das griechische Präterito präsens oda = ›ich habe gesehen und nun weiß ich‹. Derselben Wurzel gehören altindisch ve¯da, altslawisch veˇdeˇ, altpreußisch waid, altnordisch veit, gotisch wait (1. und 3. Person Singular Präsens) sowie die Infinitive angelsächsisch witan, altfriesisch wita, englisch wit, altnorwegisch vita, dänisch vide, schwedisch veta, gotisch witan usw. an. Die Herkunft vom sinnlichen Sehen, vom Wahrnehmungsbereich überhaupt, läßt verständlich werden, daß ›Witz‹ ursprünglich den gesamten im Sinnenbereich fundierten konkreten Wissensbestand abgedeckt hat, keineswegs nur die abstrakten, rein intellektuellen Fähigkeiten, das Verstandes- und Denkvermögen. Zwar nennt Jost Trier Witz (ahd. witzi, mhd. witze) »ein Intellektualwort schlechthin, ein Urwort des intellektuellen Bereiches, in welchem eine allen Menschen zukommende ratio, eine natürliche, dem Individuum mitgegebene Klugheit und eine einmal erworbene Kunde, ein Wissensinhalt, noch ganz ungetrennt ineinanderfließen« 3 . Gemeint ist damit einerseits das Angeborensein, andererseits das Erworbensein von Kenntnissen, sei es das durch Reife erlangte oder das durch Übung und Studium angeeignete Wissen. 4 Obwohl ahd. witzi im Unterschied zu ahd. sin, das dem Lateinischen sensus entspricht und sowohl die äußeren fünf Sinne wie die inneren Sinne imaginatio, ratio und intellectus bezeichnet, aber auch zur Übersetzung des lateinischen mens = ›Verstand‹ gebraucht wird, mehr die intellektuelle Komponente akzentuiert, ist der konkrete Bezug nie geleugnet. Die Formulierung Notkers uuizze unde sin 5 mag ein Dokument für ratio = ›menschliches konkretes Denkvermögen‹ sein, könnte aber auch eine subtile Aspektierung in Intellektuelles und Sinnliches zum Ausdruck bringen. Die weitere Entwicklung wird in die Richtung einer zunehmenden Trennung des Intellektual- und Sinnenbereiches gehen, zunächst aber ist der gesamte Wissensbereich vom niedersten bis zum höchsten Vermögen umfaßt. Wie weitumspannend das volkstümliche ahd. witzi ist, zeigt sich daran, daß es in der geistigen Literatur bei der Übersetzung lateinischer Vorlagen, bei der auf Genauigkeit Wert gelegt wird, nicht zur Wiedergabe von ratio und intelligentia benutzt wird, da es zu weit und unklar ist. 6 Mit dem heutigen einge3 4 5 6

Jost Trier: Die Worte des Wissens, a. a. O., S. 68. Vgl. Jost Trier: Der deutsche Wortschatz im Sinnbezirk des Verstandes, a. a. O., S. 141. Vgl. Jost Trier: Der deutsche Wortschatz, a. a. O., S. 50. Vgl. a. a. O., S. 142. A

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schränkten Sprachgebrauch, wonach ›Witz‹ eine geistreiche, pointierte, spritzige Formulierung bezeichnet, die zudem ein Gesellschaftsphänomen ist und die anderen zum Lachen bringen soll und die sich im 17. Jahrhundert unter dem Einfluß des französischen esprit durchgesetzt hat (vgl. englisch wit = ›Geist‹, ›Witz‹), hat die ursprüngliche Bedeutung nicht viel zu tun. Im Mittelhochdeutschen, etwa bei Wolfram von Eschenbach im Parzival, ist die Trennung von witze und sin nahezu vollzogen, indem witze für den Verstandesbereich reserviert wird, sin die Bedeutung von ›Gemüt‹, ›Gesinnung‹, ›Stimmung‹, ›Neigung‹, gelegentlich auch ›Bewußtsein‹, ›Besinnung‹ hat. Witzehaft, bî witzen, mit witzen, witze rîche u. ä. sind die im Parzival gebräuchlichen Wendungen und Umschreibungen für den intellektuellen Bereich. 7 Witze, das den Gesunden, Verständigen charakterisiert, wird auch dem Verhalten des Toren und Tumben konfrontiert. 8 Wegen seiner breiten, vagen und unpräzisen Bedeutung geriet das Wort bald in Konflikt mit einem anderen Wort, ›List‹, das etymologisch auf germanisch *listi-, Abstractum zum Stamm *lis, zurückgeht (vgl. gotisch lists, angelsächsisch, altnordisch list, vgl. auch die Sinne von altslawisch li˘sti˘, von romanisch, z. B. französisch leste, italienisch lesto = ›gewandt‹, ›flink‹), das auch ›lehren‹ und ›lernen‹ zugrunde liegt. Dieser Umstand weist darauf, daß mit ›List‹ ein methodisches Wissen, ein know how, gemeint ist, ein Sich-Auskennen, Vertraut-sein-mit, Sich-auf-etwas-Verstehen, 9 da es sich bei ›lehren‹ und ›lernen‹ um methodisch geleitete Überlieferung und Aneignung handelt, auch wenn dies nicht explizit gewußt sein muß und wegen fehlender Einsicht bei den Unwissenden sogar den Eindruck des Übernatürlichen, Dämonischen, Ungeheuerlichen erzeugen kann. Zur List gehören die Technik der Jagd und des Kampfes (vgl. ›Kriegslist‹ = ›Kriegskunst‹) wie überhaupt die handwerklichen Fertigkeiten, Vgl. a. a. O., S. 262 f. Vgl. Parzival, Vers 153.11; 152.24. Beispiele: 112.20: ê er kœme an sîner witze kraft = gereifter Verstand des Heranwachsenden; 115.14: sô dunket mich ir witze kranc = Die hat wenig Verstand; 117.27: nu habt iuch an der witze kraft = nehmt euren Verstand zusammen; 288.13 f.: do er der za her niht mêr sach, frou witze im aber sinnes jach = Frau Witze ist Spenderin der klaren Gedankenbeherrschung; vgl. auch 295.8: dô kom aber frou witze als ê, diu im den sin her wider gap. 9 Vgl. Jost Trier: Die Worte des Wissens, a. a. O., S. 68. Zur kulturgeschichtlichen Bedeutung von List nicht nur im europäischen Kulturraum, sondern auch im islamischen, indischen und chinesischen vgl. den Sammelband Harro von Senger (Hrsg.): Die List, Frankfurt a. M. 1999. 7 8

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desgleichen die technische Beherrschung der kultisch-magischen Bräuche, der Umgang mit Gewalten, zu dem seit alters das Schmiedehandwerk zählt, das wegen der Kunstfertigkeit stets Bewunderung und Erstaunen auslöste. Die Zwerge, die nach der germanischen Mythologie dieses Handwerk beherrschen, waren unterirdisch wirkende Wesen, die dem magisch-dämonischen Bereich angehörten. Bedenkt man, daß die Anführer des Kampfes und Krieges, die sich auf ihr erlerntes Waffenhandwerk verstanden, zugleich Verwalter des Kultes waren, so verwundert diese Kategorisierung der List nicht. Während das Wort einerseits mit seinem dunklen, magischen Ursprung verbunden blieb und im Zuge der Christianisierung unter das Verdikt des Zaubers, der Magie, sogar des Paktes mit dem Teufel geriet – schon bei Otfried ist List die Wissenschaft mit magischem Einschlag und wird mit Zauberei in Verbindung gebracht 10 (vgl. die negative Konnotation von ›Arglist‹, ›Hinterlist‹ im Sinne eines schlauen Verhaltens zur Erreichung eines Zwecks, ›geschicktes, praktisches Verfahren‹, ›Schläue‹, ›Ränke‹, ›bösartige Machenschaften‹, ›listige Absicht‹) –, wurde das Wort andererseits aufgrund des Einflusses der römischen Kulturwelt mit neuem Inhalt versehen und mit dem dieser Kultur entstammenden geregelten, nämlich in Regeln gefaßten Wissens- und Könnenserwerb, dem methodischen Lehren und Lernen, in Verbindung gebracht. Das Wort wurde zur Fortsetzung der spätantiken artes et scientiae verwendet, die Handwerke, Künste und Wissenschaften theoretischer wie praktischer, weltlicher wie geistiger Art umfaßten. Der Begriff reichte somit von der niedersten bis zur höchsten Stufe und schloß auf der letzteren die artes liberales, die sieben freien Künste, ein: das Trivium Grammatik, Logik, Rhetorik und das Quadrivium Geometrie, Arithmetik, Astronomie und Musik. Der weite Umfang des Listbegriffes von der niedersten bis zur höchsten Sphäre zeigt sich bei Notker. Dieser kennt sowohl die magische Bedeutung, und zwar in den Psalmen als Übersetzung von dolus und magica ars: II, 28, 22: non movebor a generatione ad generationem sine malo … âne argeliste neuuirdo ih mâre … ze êuuigheite nemag ih chomen, magicae artes netuen iz, alse symon ze himele fliegen uuolta mit tien selben listen,

wie auch die intellektuelle Bedeutung als Übersetzung von disciplina, ars, ars liberalis: 10

Vgl. Jost Trier: Der deutsche Wortschatz, a. a. O., S. 41. A

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I, 793, 5: Artesque cunctas solita probare – Unde alle liste zechiesenne … I, 796, 6: Inclita virgo, caput artibus (die Philologie wird angeredet) – Mâre dierna, anagenne dero listo. I, 800, 20: nunc beantur artes … nu werdent sâlig tie liste. I, 800, 30: Vos sacrate disciplinas omnes – Pe diu geheilegont unsih unde alle liste,

vgl. weiter I, 65, 24 und 28 (Rhetorik): I,65,2: (ohne lateinisches Vorbild) … Rhetorica ist ein dero septem liberalium artium, daz chit tero buohliste. 11

Auch im mittelhochdeutschen Parzival des Wolfram von Eschenbach findet sich die gesamte Skala des Listbegriffes, angefangen von Zauber, zauberischer Steinbaukunst und Steinkunde, Schmiedekunst über Pflanzenkunde, ärztliche Kunst, arabische Naturphilosophie, hauptsächlich ärztliche, bis hin zur Astronomie. 12 Allerdings wird hier das Wort zunehmend in den unteren Bereich abgedrängt. In den gelehrten geistlichen Kreisen führte die als unerträglich empfundene Spannweite von magischer Konnotation bis hin zu abgeklärter, gänzlich magie- und dolusferner, unter dem Einfluß der stoischen Begriffe ars und scientia stehender oberer Sphäre zu einer Verdrängung und Substitution des Listbegriffes durch den Begriff ›Kunst‹, der sich von ›können‹ ableitet. Kunst hat mit ›können‹ zu tun, d. h. mit ›sich auf etwas verstehen‹, ›etwas beherrschen‹, ›etwas anzuwenden wissen‹ (know how), was auf Erwerb und Unterweisung beruht und auf ein Gelernt-haben verweist. Die Kunst, das Können, meint nicht so sehr das angeborene Vermögen, die Fähigkeit, sondern das auf Unterweisung und Ausbildung beruhende, auch wenn in ihm das Methodenbewußtsein nicht explizit zu sein braucht, sondern in bloßer Nachahmung bestehen kann, in handwerklicher Tüchtigkeit ohne Einsicht. Dennoch ist das theoretische Moment nicht wegzudenken. Praxis und Theorie bilden hier noch eine ungeschiedene Einheit. Zuerst belegt ist die Verdrängung von list aus dem scientiaBereich durch kunst bei Williram in der Paraphrase des Hohenlieds. 13 Seiner Quelle – Haimos Kommentar zum Hohenlied – entsprechend, unterscheidet Williram zwischen sapientia und scientia, übersetzt

11 12 13

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Vgl. a. a. O., S. 57. Vgl. a. a. O., S. 253 ff. Vgl. a. a. O., S. 112 und S. 146.

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das erstere mit wîstuom und das letztere mit kunst, nicht mit list. So heißt es 18,6: »ih gibo dir sulihe doctores. dîe der habent sensum sapientiae, qui auro comparatur, unte dîe den selben uuîstuom mit scônemo gesbrâche kunnon vure bringen, quod per argentun figuratiur.«

Demgegenüber heißt es 58,14: »daz mîn wîghûs daz sint dîe, dîe da vure ander daz lûit also verre treffent mit iro kunste unte mit iro uuoletâte, samo daz wîghûs ubertriffet andere gezimbere.«

Vorlage ist Heimo (Migne 117.317c): »Turris autem … illi sunt qui vel scientia vel operationis perfectione caeteris praeeminent.«

Kunst deckt also nur einen Teil des durch gewizzede vertretenen Bereiches ab, ist enger als dieses und begriffsschärfer und ersetzt das ältere list. Im älteren Althochdeutsch, so bei Notker, ist der Begriff kunst für den scientia-ars-Bereich unbekannt. Den Unterschied zwischen ›Kunst‹ und ›List‹ kann man an der höfischen Literatur beobachten, die um 1200 in Blüte stand. Wolfram von Eschenbach verwendet im Parzival, ebenso in anderen Werken, beide Begriffe, und zwar ›List‹ für das Sich-auf-etwas-Verstehen im unteren Bereich, ›Kunst‹ für das im oberen Bereich. Das bedeutet, daß ›List‹ sich auf die außerhöfischen Bezirke des Fachwissens bezieht, wie auf Pflanzen- und Kräuterkunde, Arzneikunde, Schmiedekunst, z. B. Goldschmiedekunst, mithin auf Bereiche, denen eine gewisse Nähe zu Magie und Zauberei nachgesagt wurde, und ›Kunst‹ auf die höfische Gesittung, die ritterlichen Tugenden und die mit ihnen einhergehenden äußeren Umgangsformen, wie sie sich in Gebärde, Sprache und Wort sowie im ritterlichen Verhalten dokumentieren. Diese höfische Gesittung umfaßte sowohl die körperliche Ausbildung im Waffengebrauch wie die musische Erziehung mit Dichtung und Musik wie auch die geistige: gewisse Lehrstücke der artes liberales wie Dialektik, Geometrie, Sprachkenntnisse, kurzum, sie bezeichnete die gesamte Ausbildung des nach dem höfischen Ideal erzogenen und geformten Menschen. Der Ritter mußte sich gleicherweise durch körperliche Tüchtigkeit im Waffengebrauch beim Kampf A

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und auf der Falken- und Eberjagd wie in der hohen Kunst des Minnesangs auszeichnen – vom niedersten Ritter bis hinauf zum Kaiser übte sich der gesamte höhere Stand in diesen Tugenden. Wolfram von Eschenbach rühmt sich selbst nicht nur seiner Dichtkunst, sondern auch seines Rittertums: »schildes ambet ist mîn art«. 14 ›Kunst‹ bezeichnet nicht wie heute reine Ästhetik, l’art pour l’art, sondern die gesamtheitliche physisch-psychisch-geistige Formung des Menschen, die die höfisch-gesellschaftlichen Wissensinhalte und Erziehungsformen umfaßt. Bedeutet ›List‹ die Kampferfahrenheit und Kampferprobtheit, die praktisch-materielle Seite, so ›Kunst‹ die Art und Weise, in der sie ausgeübt wird, die formale Seite. Immer aber bleibt der Mensch Mittelpunkt dieser Zucht, wie es die großartigen Meisterwerke, der Bamberger Reiter und die Stifterfiguren des Naumburger Domes, Uta und Ekkehard, zum Ausdruck bringen, deren lässige Haltung sich in dem durch Zucht gewonnenen Ineinanderspiel von Körper und Seele dokumentiert. Das heutige Wort ›Bildung‹ kommt diesem Ideal am nächsten, da es den gesamten Menschen in der Einheit von Leiblichkeit und Sittlichkeit betrifft. ›Kunst‹ ist ein ganzheitliches Bildungs- und Wissensideal. Wurde das Wort ›List‹ in der Zeit von 1100 bis 1500 durch das Wort ›Kunst‹ verdrängt und verschwindet am Ende des Mittelalters aus der Hochsprache gänzlich, so ereilt dasselbe Schicksal im 17./18. Jahrhundert im Zuge der großen revolutionären Denkumwälzungen, die zum mechanistischen Zeitalter führen, den Kunstbegriff. Während der alte Begriff verdrängt wird, tritt an seine Stelle im Zuge der Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaften der Wissens- bzw. Wissenschaftsbegriff, während der Kunstbegriff, der bereits in der Renaissance aufgrund des Vergleichs des Künstlers mit dem göttlichen Schöpfer als alter deus eine andersartige Prägung und Aufwertung erfahren hatte – was im 17. und 18. Jahrhundert durch die Genietheorien Lessings, Hamanns, Schillers und Goethes noch gestärkt wird –, nun für die auf selbsteigenen Plänen, Ideen und Erfindungen beruhenden Ausdrucksformen reserviert wird. Mit ›Witz‹, ›List‹ und ›Kunst‹ stand von Anfang an ein anderes Wort in Konkurrenz, nämlich ›Weisheit‹ (althochdeutsch wîsduam, wîstuom, mittelhochdeutsch wı¯sheit), das teilweise als zusammenfassende Bezeichnung für ›Listen‹ und ›Künste‹ im Plural benutzt

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Parzival, Vers 115,11.

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wurde. 15 Wîsduam, wîstuom verstand sich als Inbegriff des in den artes liberales vermittelten Wissens. Bezog sich dieser Begriff zunächst auf den objektiven Bereich, auf die Gesamtheit des objektiv Wißbaren, so ging er doch stets darüber hinaus, indem er in der persönlichen Erfahrung des Subjekts fundiert war. Der Schritt vom sachlichen zum intellektuellen, sittlichen und religiösen Wissen war von Anfang an in der Übersetzung des lateinischen sapientia-Begriffes angelegt. Wie wı¯sheit über den objektiven Bereich und dessen Inhalt hinaus in Richtung auf die persönliche Reife ging, die mit dem ganzen Reichtum an ethischen und religiösen Beiklängen versehen war, so ging das Wort auch über das Einzelwissen hinaus zum Gesamtwissen, so bei Otfried und Notker. Im Übergang zur Neuzeit, zum mechanistischen Zeitalter, löst sich dieses Gefüge auf, sichtbar daran, daß der Begriff ›Weisheit‹ zurückgedrängt wird und an seine Stelle andere Begriffe wie ›Wissen‹ und ›Gelehrsamkeit‹ treten oder mehr noch ›Wissenschaft‹. Der Wissenschaftsbegriff hebt sich vom Menschen und von dessen persönlichem Leben ab, so daß mit dieser Abhebung eine Verobjektivation und Versachlichung, sogar ein Unmenschlichwerden verbunden ist. Möglich wurde die Abtrennung durch die Konzentration auf das formale know how des Wissens, das sich als allgemeine Form vom speziellen Inhalt wie auch vom Bezug auf den individuellen Menschen ablösen ließ. Mit dieser Entsubjektivierung und Depersonalisierung, mit dieser Verobjektivierung der Wissenschaften wurde der Begriff der Weisheit obsolet. Diesen Prozeß konnten auch humanistische Tendenzen, wie sie sich in der zweiten Hälfte des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts anbahnten und auf Bildung, auf die gesamtheitliche Formung des Menschen, Wert legten, nicht stoppen. Bemühungen, den Weisheitsbegriff wieder aufleben zu lassen, waren nur von vorübergehender Dauer. Das Riesengebilde der Wissenschaften mit der Trennung von Theorie und Praxis und der Aufhebung der Verwurzelung im persönlichen Leben des Menschen, das auch zur Auflösung des Begriffspaares ›Kunst und Wissenschaft‹ führte, marginalisierte die tiefer verankerten Begriffe ›Weisheit‹, ›Kunst‹ und ›Bildung‹ mehr und mehr und setzte an ihre Stelle das entpersönlichte, versachlichte Wissen. Die Ausdrücke ›Wissen‹ und ›Wissenschaft‹ beziehen sich seither nur noch auf das unpersönliche Sachwissen, das der rein intellektuellen, kognitiven Sphäre angehört. 15

Vgl. a. a. O., S. 145 f. A

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2.

Der Weisheitsbegriff und seine Wandlung

2.1. Allgemeine Charakteristik Ging es im vorigen Kapitel darum, anhand eines begrenzten Sprachgebietes, des deutschen, den Begriffs- und Wortwandel im Sinnbezirk des Wissens aufzuzeigen, d. h. die Verdrängung eines Terminus durch einen anderen, der den gewandelten Bedürfnissen und Interessen besser Rechnung trug als der alte, so geht es im jetzigen Kapitel darum, anhand eines Einzelbegriffes, der Weisheit, seine Bedeutungsgeschichte aufzuzeigen, und dies, da der Begriff ein Grundbestandteil der abendländischen Geistes- und Kulturgeschichte ist, innerhalb des abendländischen Kontextes und seiner Vorläufer. Dabei wird sich zweierlei zeigen: zum einen eine zunehmende Ablösung des Begriffes vom Subjekt und von dessen Erfahrungsdimension, also eine zunehmende Autonomisierung und Objektivation, wie dies schon am Ende des letzten Kapitels bei der Substitution des Weisheitsbegriffes durch den Wissenschaftsbegriff sichtbar wurde, zum anderen eine mit der Ablösung einhergehende Trennung der theoretischen Sphäre von der ethischen. 16 Trotz der heutigen Dominanz der Wissenschaften und des wissenschaftlichen Wissens ist der Weisheitsbegriff nicht gänzlich aus dem Sprach- und Vorstellungsbereich eliminiert. Wir sprechen von einem ›weisen Rat‹, einer ›weisen Entscheidung‹, einem ›weisen Handeln‹, z. B. in der Politik, teils in Übereinstimmung mit der Bedeutung von ›klug‹, ›gescheit‹ (›kluger Rat‹, ›kluge Entscheidung‹, ›kluges Handeln‹), teils in semantischer Abweichung, insofern mit einem weisen Rat und Handeln ein weitsichtiger Rat gemeint ist, der sich nicht nur auf fragmentarische, bruchstückhafte Detailkenntnisse stützt, sondern auf eine umfassende Einsicht in komplexe Zusammenhänge, und ebenso ein nicht primär zweckrationales, strategisches, möglichst effizientes Handeln, sondern ein wertrationales, ethisch und religiös fundiertes, um Ausdrücke Max Webers zu gebrauchen. Während das tagespolitische Handeln des Normalpolitikers meist opportunistisch ist, nur dem Eigennutz und Machterhalt dient und lediglich die nächste Legislaturperiode berücksichtigt, gewitzt und gewieft die eigenen Interessen oder die der Partei durchzusetzen versucht und daher ›klug‹ genannt wird, ist das staatspoliti16

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Vgl. dazu Kap. 7, S. 60 ff.

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sche Handeln des Staatsmannes, der das Wohl des Ganzen im Blick hat, die unterschiedlichen Interessen auf das Gemeinwohl bezieht und die Konsequenzen einer Entscheidung für einen längeren Zeitraum bedenkt, mit dem Prädikat ›weise‹ zu versehen. Pointiert und paradox könnte man sagen, daß derjenige, der weise handelt, gerade nicht klug handelt, und derjenige, der klug handelt, gerade nicht weise. Zumindest in gewisser Hinsicht schließt Weisheit Klugheit aus und umgekehrt. Damit werden zwei Charakteristika unseres Weisheitsverständnisses sichtbar, zum einen Umfassendheit, Ganzheit, Gesamtüberblick, nicht Einzel- und Detailkenntnis, zum anderen Verantwortung, ethische und moralische Fundiertheit, nicht rein neutrale Theoretisierung. Weisheit ist praktische Intelligenz und hat mehr mit praktischer Vernunft und Ethik zu tun als mit reinem Verstand, Intellekt und Intelligenz und auch mehr mit geordnetem Gesamtwissen als mit isoliertem Einzel- und Fachwissen. Es ist ein vielschichtiger, facettenreicher Begriff, der trotz seiner Dimensionen und Faktoren seine Momente integriert. Im Unterschied zum wissenschaftlichen Wissen, das sich kurz umreißen läßt als abstrakte Verstandeserkenntnis, als hypothetischer Entwurf von allgemeinen, notwendigen und intersubjektiv kommunikablen Gesetzen, die in Experiment und Beobachtung empirisch verifiziert oder falsifiziert, zumindest erprobt werden müssen und aufgrund ihrer Allgemeinheit, Formalität und Intersubjektivität aus dem persönlichen Erlebnis- und Verantwortungsbereich des Einzelsubjekts entlassen sind, folglich auch keine Bindung mehr an das Einzelsubjekt haben mit Ausnahme der Registrierung der empirischen Ergebnisse, ist der Weisheitsbegriff dadurch charakterisiert, daß er in der Lebenserfahrung des Einzelnen gründet und aus der konkreten Lebenspraxis wie aus der persönlichen Bildung und Erziehung hervorgegangen ist und infolgedessen in Lebensreife besteht. Es handelt sich bei Weisheit um ein gereiftes, abgeklärtes Wissen, das den Persönlichkeitskern eines Menschen ausmacht und in einer Sphäre angesiedelt ist, in der es auf die ungetrennte Ganzheit der intellektuellen, emotionalen, moralischen und religiösen Kräfte ankommt. Nicht ein aus sezierender Verstandesanalyse resultierendes Detailwissen – Fachkenntnisse, Spezialwissen – ist gemeint, sondern ein in umfassende Kontexte eingebettetes holistisches Wissen, das sich in einem Verhalten dokumentiert, das in Übereinstimmung mit den Einsichten lebt und handelt. Als Ideal schwebt uns das Bild des stoischen Weisen vor, wie es A

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in der Reiterstatue des römischen Kaisers Marc Aurel plastischen Ausdruck gefunden hat, einer Persönlichkeit, die abgeklärt und unerschütterlich, durch nichts zu beunruhigen, durch keinen Schicksalsschlag aus der Fassung zu bringen ist, die gemäß ihren Einsichten in die lex naturae lebt. Weisheit hat mit einem Vollkommenheitszustand zu tun in dem Sinne, in dem Platon im Symposion 17 erklärt, daß eigentlich nur der Gott weise (sof@) genannt werden kann, der Mensch hingegen nach Weisheit strebt (filsofo@). Dies schließt die Beantwortung der Frage nach dem Wesen des Menschen und seinem Dasein ein. In diesem Verständnis findet zweifellos der antike Weisheitsbegriff – griechisch sophía, lateinisch sapientia – seinen Abschluß, wobei jedoch der ursprüngliche Begriff ein Phänomen sui generis darstellt, das es näher zu betrachten gilt. Schon der Umstand, daß wir im heutigen Sprachgebrauch von den ›Wirtschaftsweisen‹ sprechen und damit Sachverständige – Fachleute, Experten also – auf dem Gebiet der Ökonomie meinen, freilich solche, die die wirtschaftlichen Daten nicht nur unter dem eingeschränkten Aspekt eines parteipolitischen Programms oder gar einer Ideologie betrachten, sondern neutral, frei von Scheuklappendenken, unter Einbeziehung möglichst vieler Daten und Fakten, um daraus ein komplexes Bild zu gewinnen, das Prognosen für die Zukunft erlaubt, kann uns ein Hinweis auf eine seiner Bedeutungen sein, nämlich auf Sachverstand und Fachwissen, bezeichnet man doch in der Antike den Schiffer, der aufgrund seiner Sachkenntnis ein Schiff durch Wind und Wellen und ungestüme See sicher zu steuern und seine Mannschaft unversehrt in den Hafen zu bringen vermag, als sof@, 18 ebenso den politischen Ratgeber, der nicht nur Sachkenntnisse, z. B. in der Kriegsführung mitbringt, sondern auch weiß, wie man eine Schlacht mit möglichst geringen Verlusten gewinnt. Der antike Begriff der Weisheit umfaßt drei Komponenten: 1. SachPlaton: Symposion 204 a; vgl. Phaidros 278 d. Das Bild vom Schiffer oder Steuermann ist ein weitverbreitetes, vgl. Die ägyptische Weisheitslehre des Ptahhotep, Vers 181, in: Die Weisheitsbücher der Ägypter. Lehren für das Leben, eingeleitet, übersetzt und erläutert von Hellmut Brunner, Düsseldorf, Zürich 1988, Neuaufl. 1998, S. 117. Die Weisheitslehre des Amenemope, Vers 9 f., a. a. O., S. 237, benutzt den Topos vom Segeln und rechtem Steuern in der Einleitung: »Lehre […], um das Herz fortzusteuern vom Bösen«, vgl. Walther Zimmerli: Zur Struktur der alttestamentlichen Weisheit, in: Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft und die Kunde des nachbiblischen Judentums, Bd. 51 (1933), S. 177–204, bes. S. 183 Anm. 2. Platon: Phaidon 99 c f. spricht von der zweitbesten Fahrt bei der Ursachenforschung.

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kenntnisse, also Fachwissen, mag es aus eigener Erfahrung oder aus Fremdbelehrung, aus Erziehung, Bildung und Übung stammen, 2. Lebensklugheit, rationales, verstandesmäßiges Handeln bis hin zu Gewitztheit und Schläue, was durch das erstere Moment nicht ausgeschlossen ist, folglich keine Negativkonnotierung bedeutet, 19 und 3. Verantwortung wie Gesittung und Sitte, also ein ethisches Moment einschließt. Man kann Weisheit als ethisch orientierte Lebensführung bezeichnen. Der antike Weisheitsbegriff gehört in die altorientalische Tradition der Weisheitslehren, die einen gewichtigen, prominenten Bestandteil des damaligen Geistes- und Kulturlebens bildeten, in unzähligen Dokumenten auf Tafeln und Papyri überliefert sind und nicht nur in Babylonien und Ägypten, sondern auch in Israel und Griechenland sowie in den Nachbarstaaten heimisch waren. Aus Ägypten sind uns aus drei Jahrtausenden, vom Alten über das Mittlere bis zum Neuen Reich, Weisheitslehren überkommen, deren älteste die des Prinzen Djedefhor, die des Wesir Ptahhotep und die Lehre für Kagemni aus dem Alten Reich sind, die Lehre für König Merikare, die Lehre des Cheti, die Lehre des Königs Amenemhet I. sowie die Loyalistische Lehre aus dem Mittleren Reich, die Lehre des Ani, des Amenemope aus dem Neuen Reich und aus der Spätzeit die Spruchsammlung des Anch-Scheschonki sowie einige andere. 20 Zum Teil gingen diese Lehren oder Instruktionen in die israelitische Weisheitslehre – Chokma genannt – ein, so ein Teil der Lehre des Amenemope, die in Proverbia 22,17–23,11 (bzw. 24,22) exzerpiert wurde. Die demotische, d. h. volkstümliche altägyptische Weisheit ist nachweisbar in den letzten Kapiteln der Proverbia, in den Worten des Augur (30,1–14) und in den Worten der Mutter an den König Lamuel (31,1–9). Zur israelitischen Weisheitsliteratur zählen die Sprüche Salomos (= Proverbia), der Prediger Salomo (Koheleth bzw. Ecclesiastes), aus den Apokryphen die Weisheit Salomos (Sapientia), die Weisheit des Jesus ben Sirach, außerdem gewisse Psalmen und andere Stellen. Gelegentlich wird auch das Buch Hiob dazu gerechnet, dessen Thema der ungerecht Leidende ist und auf sumerisch-akkadische Vorbilder zurückgeht, auf Klagegedichte wie das Ludlul be¯l Vgl. die Goldene Regel do ut des, vulgär übersetzt »wie du mir, so ich dir«. Vgl. die vollständigere Auflistung im Inhaltsverzeichnis in: Die Weisheitsbücher der Ägypter, a. a. O.; vgl. Miriam Lichtheim: Late Egyptian Wisdom Literature in the International Context. A Study of Demotic Instructions, Freiburg/Schweiz, Göttingen 1983.

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ne¯meqi (= »ich will preisen den Herrn der Weisheit«). 21 In jüngster Zeit haben sich die Schriftfunde aus Qumran inhaltlich wie formal als zur Weisheitsliteratur gehörig herausgestellt. 22 Obwohl es mit der sumerisch-akkadisch-babylonischen Überlieferung schlechter bestellt ist, da noch nicht alle Tafeln aus der Tempelbibliothek in Nippur veröffentlicht sind, gibt es genügend Hinweise und Belege der Existenz einer solchen Weisheitsliteratur auch aus diesem Gebiet, nicht nur das im Kontext des Hiob-Buches erwähnte Ludlul be¯l ne¯meqi, sondern auch Omenliteratur, innerhalb derer sich eine besondere Form, der Sittenkanon, ausgebildet hat, der ein Sprichwortwissen in Omenform vorträgt (vgl. physiognomische Omina). 23 Daß Griechenland nicht unbeeinflußt blieb, versteht sich von selbst. 24 Hier gibt es eine reiche Gnomenliteratur (Gnomologie), bekannt auch unter dem Namen lgoi sofn, wenngleich ihre Erforschung wegen der Überlieferungslage schwierig ist, da, abgesehen von den Werken Hesiods und des Theognis, die Sprüche nur aus Testimonien bekannt sind oder über langwierige Rekonstruktionen hergestellt werden müssen. Immerhin gibt es zahlreiche Fragmente von Sentenzensammlungen griechischer Autoren. Eine Zusammenstellung hat Max Küchler 25 vorgenommen, in der er die Praecepta Delphica, also die delphischen Orakel, die Worte der Sieben Weisen, die Thales, Solon, Chilon, Kleobulos und anderen zugeschrieben werden, eine Reihe ungeschriebener Gesetze, die buzygischen Verwünschungen, die Hypotheken des Chiron, die Gnomen des Axiopistos, die Gnomen des Chares, Pseudo-Isokrates, die Gnomen des Demokritos, Vgl. dazu Hartmut Gese: Lehre und Wirklichkeit in der alten Weisheit. Studien zu den Sprüchen Salomos und zu dem Buche Hiob, Tübingen 1958, S. 51 ff., bes. S. 52 ff. 22 Vgl. The Wisdom Texts from Qumran and the Development of Sapiential Thought, ed. by Charlotte Hempel, Armin Lange, Hermann Lichtenberger, Leuwen, Paris, Sterling 2002, vgl. hier insbesondere die Einleitung von Armin Lange: Die Weisheitstexte aus Qumran: Eine Einleitung, S. 3–30; Dianne Bergant: Israel’s Wisdom Literature. A Liberation-Critical Reading, Minneapolis 1997; Daniel J. Harrington: Wisdom texts from Qumran, London, New York 1996. 23 Vgl. Hartmut Gese: Lehre und Wirklichkeit der alten Weisheit, a. a. O., S. 67. 24 Zu Fragen des Verhältnisses Ägypten – Griechenland vgl. Gay Robins and Charles Cameron Donald Shute: Wisdom from Egypt and Greece, in: Discussions of Egyptology, Bd. 1 (1985), S. 35–41. 25 Max Küchler: Frühjüdische Weisheitstraditionen. Zum Fortgang weisheitlichen Denkens im Bereich des frühjüdischen Jahweglaubens, Freiburg/Schweiz, Göttingen 1979, S. 241 ff. 21

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die Chrien des Kleitarchos, die Goldenen Worte des Pythagoras, die Maßgebendsten Ansichten des Epikur und aus hellenistischer Zeit die Aesopvita (§ 109 f.), die Gnomen des Menandros, das Gnomologium Epicteteum und die Gnomen des Sextus nennt. Offensichtlich fanden die Sentenzen des Menander und des Sextus im Hellenismus große Verbreitung, da sie ins Koptische, Syrische, Arabische und in andere Sprachen übersetzt wurden. 26 Aus dem Hellenismus drang unter dem Einfluß der Stoa und ihres reichen Zitatenschatzes die Gnomenliteratur in die christliche Apologetik ein und wurde hier sowohl für Erziehungszwecke wie auch für den rhetorischen Aufputz von Predigten verwendet. Aus dem reichen Erbe der Antike entstanden bei den Byzantinern die Sammlungen des Johannes von Stoboi im 8. Jahrhundert, des Maximus Confessor im 9. Jahrhundert, das Gnomologium DemocritoEpicteteum und andere Werke. 27 Spruchdichtung begegnet nach dem Ende des Altertums auch in der deutschen Literatur und in deutscher Sprache. Überliefert sind aus dem Mittelalter die Spruchdichtungen des unter dem Künstlernamen bekannten Spervogel, des Herger – letzterer dürfte in der Zeit von 1150 bis 1180 gelebt haben – und des Freidank, von dem eine Spruchsammlung unter dem Titel Bescheidenheit, d. h. hier ›Unterscheidungsvermögen‹, ›Verständigkeit‹, ›Einsicht‹ bekannt ist, in der das Ideal des guten und rechten Menschen aufgestellt wird. Am Ende dieses moralisch lehrhaften Typus von Spruchdichtung steht Heinrich Frauenlob aus Meißen, auch Heinrich von Meißen genannt, im 13./14. Jahrhundert (gestorben 1318). Sucht man eine Generalkennzeichnung dieser Weisheitslehren, so verschiedenartig sie auch sein mögen, so geht es um die Festschreibung von Lebens- und Klugheitsregeln, die im alltäglichen, lebenspraktischen Umgang mit den Mitmenschen gewonnen wurden, also gesellschaftsrelevant und gesellschaftsregulativ waren, weniger ihren Ursprung in der Auseinandersetzung mit der Natur hatten. Abgesehen vom altorientalischen Kulturraum hat es Weisheitslehren auch bei anderen Völkern gegeben, wenn man an die Sittengedichte der Edda denkt oder an altindische und chinesische Spruchsammlungen wie die von dem Chinesen Sunzi stammende Kunst des Krieges. 27 Vgl. hierzu Konstantin Horna: Artikel: Gnome, Gnomendichtung, Gnomologien, in: Pauly’s Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, neue Bearbeitung begonnen von Georg Wissona, hrsg. von Wilhelm Kroll, Supplementbd. 6, Stuttgart 1935, S. 74–90, bes. S. 82. 26

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Ihre Niederlegung in markanten, leicht memorierbaren Sprüchen sollte den rechten Weg durch das Leben bahnen. Gleichsam als Zeichen sollten sie fungieren, die den sicheren Weg durch die Gefahren des Lebens weisen. Diese Allgemeincharakteristik gilt es nach Inhalt und Form, Ursprung und Ziel genauer zu untersuchen. 2.2. Ägyptische Weisheitslehren Die aus dem alten Ägypten überlieferten Weisheitslehren tragen im Titel sämtlich die Bezeichnung sb jt = ›Lehre‹, ›Weisung‹, ›Vorschrift‹, ›Instruktion‹. Auf die Gattungsbezeichnung folgt der Name des Verfassers mit Titeln und Ämtern sowie der des Empfängers, gelegentlich noch ein Hinweis auf die näheren Umstände, unter denen das Werk verfaßt ist, sowie auf die Wichtigkeit und Notwendigkeit der Belehrung. e

»Beginn der Lehre, die verfertigt hat der Fürst und Graf, der von Gott geliebte Gottesvater, der Verhöre durchführt in den sechs großen Gerichtshöfen, der Mund, der im ganzen Lande Zufriedenheit schafft, der Bürgermeister und Wesir Ptahhotep. Er sagt zu der Majestät des Königs von Ober- und Unterägypten Isesi: […] Laß Befehl ergehen an diesen Diener da (d. i. er selbst), sich einen Stab des Alters zu schaffen. Lasse meinen ›Sohn‹ an meine Stelle treten. Ich will ihn erziehen zu den Worten derer, die noch hören (konnten), das ist: zu den Ratschlägen der Vorfahren […]« 28

oder »Beginn der Lehre für das Leben, […] verfaßt von dem Vorsteher der Felder, erfahren in seinem Amt, dem Nachkommen des Schreibers von Ägypten, dem Vorsteher des Korns, der den Scheffel kontrolliert, der den Ernteertrag festsetzt für seinen Herrn, der die Neulandinseln zuweist im Großen Namen Seiner Majestät, der die Markierungssteine auf den Feldergrenzen festsetzt, Die Lehre des Ptahhotep, Vers 1–24, a. a. O., S. 109 f. Die Einleitung erwähnt außerdem den Anlaß für die Instruktionen des Sohnes: Alter, Krankheit und Gebrechen des Ptahhotep.

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der den König mit seinen Steuerlisten beschützt, der den Kataster von Ägypten herstellt, von dem Schreiber, der die Opfer für alle Götter bestimmt, der den Leuten Pachtland gibt, von dem Vorsteher der Gerste, der Nahrung beschafft, der die Speiche mit Getreide versorgt; von dem wahren Schweiger in This im Gau von Abydos, dem Gerechten in Achmim, dem Besitzer eines Grabes in Senut, dem Herrn an der Grabkammer in Abydos, Amenemope, Sohn des Ka-nacht, dem Gerechtfertigten in Abydos, (für) seinen Sohn, das jüngste seiner Kinder […].« 29

Da es sich bei den Verfassern durchgehend um hochgestellte Persönlichkeiten handelt – im Alten Reich um den Pharaonensohn, den Prinzen Djedefhor, sowie die Wesire Ptahhotep und Kagemni, im Mittleren Reich um zwei Könige, Merikare und Amenemhet I., im Neuen Reich waren es nicht mehr ganz so hochgestellte Persönlichkeiten, wohl aber Beamte und Priester des mittleren Standes – und da die Angesprochenen ›Söhne‹ genannt werden, was im Altägyptischen teils auf leibliche Nachkommen, hier also königliche Söhne und Söhne der Wesire, hinweist, teils auf die nach dem Familiensystem im Hause erzogenen und herangebildeten fremden jungen Leute, die zu ›Schreibern‹ (= Schriftgelehrten) und hohen Ministerialen ausgebildet wurden, handelt es sich bei den Lehren vorzugsweise um solche für den höheren Stand, insbesondere für den Berufsstand der Schreiber und Verwalter, denen die Administration des Landes oblag. Da diese den Umgang mit den Menschen pflegten, sowohl höher- wie niedrigergestellten – dem Pharao wie den Bittstellern – wie auch gleichrangigen, und Verhandlungen mit Freund und Feind führen, Botengänge erledigen und Botschaften überbringen mußten, war soDie Lehre des Amenemope, Vers 1–32, a. a. O., S. 237 f. Die Einleitung nennt außerdem die Wichtigkeit und Notwendigkeit der Belehrung: »Beginn der Lehre für das Leben, der Unterweisung für das Heil, aller Vorschriften für den Umgang mit Alten, der Regeln für (den Umgang mit) Hofleute(n), um eine (mündliche) Äußerung zu erwidern dem, der sie sagt, um eine (schriftliche) Botschaft zu beantworten dem, der sie sendet; um einen recht zu leiten auf den Wegen des Lebens, um ihn heil sein zu lassen auf Erden […]« (Vers 1–8, a. a. O., S. 237).

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wohl ein gediegenes äußeres Auftreten und Benehmen – gute Manieren, angenehme, gefällige Umgangsformen – angesagt, angefangen von Tisch-, Eß- und Trinksitten, dem Umgang mit Frauen bis zum Verhalten bei der Überbringung von Kriegserklärungen, wie auch eine loyale, verläßliche, wahrhafte und gerechte innere Einstellung, kurzum, Qualitäten, die wir zum diplomatischen Dienst gehörig ansehen würden. Man hat diese Anstandsregeln auch den »antiken Knigge« 30 genannt. Angesprochen wurden alle Situationen, in die der Mensch geraten kann: das Verhalten bei Armut wie Reichtum, bei Freude wie Leid, bei Arbeit wie Genuß, bei Freundschaft wie Feindschaft, bei Zorn wie bei Wut, sowohl der eigenen wie der fremden usw. Es ging also um höhere Bildung und Gesittung, um Erziehung zu einem gesellschaftskonformen Menschen. Da mit den geforderten äußeren wie inneren Qualitäten zugleich allgemeinmenschliche Verhaltensweisen und Umgangsformen angesprochen waren, drangen sie mit der Zeit auch in die mittleren und unteren Schichten und damit ins Allgemeinbewußtsein ein. Der Beweis dafür ist die Tatsache, daß ein Mann aus dem gemeinen Volk, ein Arbeiter der königlichen Nekropole im Tal der Könige, nachdem man ihm wegen seiner ›Ungebildetheit‹ eine mildernde Strafe für ein Vergehen gegeben hatte, auf eine Votivtafel schreiben ließ: »Ein unwissender, unvernünftiger Mann, wußte nicht Gut von Böse (zu unterscheiden).«31

In Termini, die für die Lebensmaximen charakteristisch sind: Gebildetheit – Ungebildetheit, Wissen – Unwissen drückt er aus, daß man ihm wegen mangelnder Bildung die Übertretung nachsehe und mildernd anrechne. Dafür, daß diese Lehren und das Menschen- und Weltbild, das sie wiedergeben, bis ins Volk drangen und zu dessen sittlicher Lebensgrundlage wurden, spricht die ungeheure Stabilität der ägyptischen Gesellschaft im Vergleich zu unserer heutigen schnellebigen mit ihrem ständigen Wechsel, nicht weniger die Tatsache, daß die ägyptischen Lehren zum Vorbild auch für die israelitischen wurden, überhaupt zum Allgemeingut avancierten und bis heute ihre Gültigkeit bewahrt haben, wie etwa die Sprüche »Hochmut kommt vor dem Walter Baumgartner: Israelitische und altorientalische Weisheit, Tübingen 1933, S. 5. 31 Zitiert nach: Die Weisheitsbücher der Ägypter, a. a. O., S. 74. 30

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Fall«, »Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein«. Zur Verbreitung mag beigetragen haben, daß die Lehren in den Schreibschulen – ›Lebenshäuser‹ genannt –, die den Tempeln und Palästen angeschlossen waren, als Vorlage für Schreib- und Leseübungen und insbesondere für das Auswendiglernen dienten und durch das ständige Nachsprechen, gerade wenn es sich um einprägsame Formulierungen handelte, sich nicht nur bei den Schülern festsetzten, sondern auch von ihrer Umgebung aufgenommen wurden. Bei den Lehren handelt es sich um praktische Lebenserfahrungen, um Erkenntnisse und Einsichten, die vom Einzelnen immer und immer wieder in seinem persönlichen Leben gemacht und durch die Geschichte hindurch bestätigt wurden, so daß sie sich auf eine doppelte Autorität berufen konnten, einerseits auf die Einzelpersönlichkeit, andererseits auf die Tradition. Für die letztere wird das Bild des Seihens und Filterns benutzt. Wie beim Bierbrauen die trübe Flüssigkeit vor dem Genuß durch ein Sieb gegossen und gefiltert wird, so sind auch die Lehren durch den Geschichtsverlauf gereinigt und sanktioniert. 32 Die Tatsache, daß die Regeln auf die Lebenspraxis zurückgehen, vor allem auf die gesellschaftliche Wirklichkeit, unterscheidet sie von rein abstrakten theoretischen Erkenntnissen (Wahrheiten), wie sie sich in der späteren europäischen Geschichte durch die Abtrennung von Theorie und Praxis entwickelt haben, aber auch von Gesetzmäßigkeiten, wie sie durch die Naturgesetze repräsentiert werden, die Anspruch auf schlechthinnige Allgemeinheit, Notwendigkeit und Ausnahmslosigkeit erheben, wie auch von gesellschaftlichen Geboten und Verboten, Vorschriften und Dekreten, deren Übertretung juristisch verfolgt werden konnte. Die konkreten Lebenserfahrungen, aus denen die Ratschläge erwuchsen, berechtigen nur zu einer relativen Notwendigkeit, die nicht ohne Ausnahme ist. Sinn und Zweck dieser Lebensregeln war es, demjenigen, der auf diese Lehren hört, und d. h. im Altägyptischen: der sie nicht nur akustisch wahrnimmt, sondern sie auch versteht und beherzigt, ihnen gehorcht,33 ein relativ sicheres, gefahrloses, angenehmes und glückliches Leben zu garantieren, ein Leben, das ihn bei seinen MitmenVgl. Die Lehre für Kagemni, Vers 40 f., in: Die Weisheitsbücher der Ägypter, a. a. O., S. 142, vgl. auch S. 18. 33 Vgl. die noch heute übliche Redewendung »Hast du gehört?« bzw. »Hast du zugehört?«, d. h. »Hast du mich verstanden?«, »Willst du meinen Rat befolgen?« 32

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schen wenig anecken ließ, ihn angenehm und beliebt machte und ihm Anerkennung und Respekt verschaffte. Neben dem Bild des Steuermannes, der sein Schiff sicher landet, 34 spielt das Bild des rechten Weges oder des sicheren Pfades in den Texten eine eminente Rolle, was sich daraus erklärt, daß in archaischen Gesellschaften die Unsicherheitsfaktoren und Imponderabilien, die Abhängigkeit von geographischen und klimatischen Bedingungen wie dem rechtzeitigen Eintritt der jährlichen Nilschwemme, der rechtzeitigen Ernte und Sicherstellung der Ernährung, kurzum, der Kampf ums Überleben beträchtlicher waren als in heutigen saturierten Gesellschaften und der rechte Weg, der rechte Pfad durch Gefahren und Nöte gefunden werden mußte. Auf den ersten Blick vermitteln diese Lehren nicht selten einen opportunistischen, um nicht zu sagen utilitaristischen Eindruck, so, wenn sie auf die Beamtenausbildung und -laufbahn zu sprechen kommen und dabei einen karrieristischen Zug an den Tag legen, wie man möglichst schnell und sicher die Karriereleiter erklimmt, oder ganz allgemein, wenn eine angenehme Lebensführung avisiert wird. Sie erwecken dann den Anschein reiner Lebensklugheit. Dies ist jedoch nur die eine Seite, wenngleich ein nicht zu vernachlässigender, im alten Ägypten durchaus nicht negativ, sondern positiv zu sehender Zug. Die andere Seite ist die Fundierung in einem religiösen Weltbild, welches im alten Ägypten die Maat, die göttliche Ordnung, war, die sowohl die Natur wie die Gesellschaft beherrschte, den Aufbau des Staates mit dem Pharao an der Spitze und der Beamtenhierarchie ebenso bestimmte wie die Verwaltung, die Abgaben- und Steuerregelung, den Tempelbau, die Scheidung der Völker nach Rassen und Sprachen, die Beziehung der Geschlechter usw. Wer gemäß der Maat und dem von ihr aufgezeigten Weg lebte, konnte ein erfolgreiches Leben erwarten, das ihn mit großer Wahrscheinlichkeit sicher auf dem richtigen Pfad zum Ziel führte. Der dieser Konzeption unterstellte Automatismus von Handeln und Erfolg läßt sich nur erklären, wenn man annimmt, daß die soziale Ordnung auf allgemeinen anthropologisch-psychologischen Faktoren basiert. In den Ratschlägen und Maximen finden psychologische Beobachtungen von Verhaltensweisen ihren Niederschlag, die Men›Landen‹ heißt im Altägyptischen ›sterben‹ und bedeutet ›ankommen‹ am Westufer des Nils, dem Land der Friedhöfe bzw. dem Jenseits (vgl. Die Weisheitsbücher der Ägypter, a. a. O., S. 17).

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schen im Umgang miteinander natürlicherweise an den Tag legen und die ihr Zusammenleben bestimmen. So läßt sich beispielsweise beobachten, daß Vorgesetzte durch Widerspruch und Widerstreben der Untergebenen in Unmut und Zorn geraten, wodurch die Existenz der letzteren gefährdet wird (»Gefährdet ist, wer seinem Vorgesetzten widerstrebt, denn man lebt nur, solange er milde gesinnt ist« 35 ). Durch üble Nachrede macht man sich unbeliebt, wenn diese dem Betreffenden wieder zu Ohren kommt (»Rede überhaupt nicht über jemanden, weder über hoch noch niedrig – das ist dem Ka ein Greuel!« 36 ). Ungerechte Kritik und Schläge von Höhergestellten soll man kritiklos einstecken, da man von ihnen abhängig ist und sie auch in Zukunft weiter für einen sorgen sollen (»Beuge deinen Rücken vor deinem Chef, der dir vorgeordnet ist in der Residenz [Verwaltung], dann wird dein Hausstand samt seiner Habe Bestand haben und deine Entlohnung bleibt in Ordnung.« 37 ). Die Beobachtung, daß nach Unterwerfungs- und Demütigungsgesten und nach Festsetzung oder Bekräftigung der Rangordnung der Sieger sich dem Unterlegenen und Besiegten wieder zuwendet und ihm seinen Schutz gewährt, weil auch für ihn ein Platz in der Gesellschaft ist, begegnet schon im Tierreich bei den Primaten. Für einen Bittsteller gilt, daß es oft für ihn wichtiger ist, daß man ihm ein geneigtes Ohr schenkt, als daß man seine Bitte erfüllt, da diese häufig nicht erfüllt werden kann, was auch der Bittsteller einsieht. Man hört ihm zu, nimmt ihn ernst, respektiert ihn und zeigt so ein menschliches Antlitz (»Einem Bittsteller ist es wichtiger, daß man seine Rede geneigt anhört, als daß erfüllt wird, weshalb er gekommen ist. Er freut sich darüber mehr als irgendein [anderer] Bittsteller, mehr, als wenn dem stattgegeben wird, was zuvor angehört wurde« 38 ). Psychologisch begründet sind auch viele der Hinweise wie die, Überheblichkeit, Arroganz, Eingebildetheit zu vermeiden, etwa: »Sei nicht eingebildet auf dein Wissen und verlasse dich nicht darauf, daß du ein Weiser seist« 39 , welche in die Sprüche des Alten Testamentes eingegangen sind und bis heute ihre Gültigkeit bewahrt haben, wie »Hochmut kommt vor dem Fall« 40 oder »Wo Stolz ist, da ist auch 35 36 37 38 39 40

Die Lehre des Ptahhotep, Vers 378 f., a. a. O., S. 125 f. Die Lehre des Ptahhotep, Vers 131 f., a. a. O., S. 115. Die Lehre des Ptahhotep, Vers 374 ff., a. a. O., S. 125 f. Die Lehre des Ptahhotep, Vers 230 ff., a. a. O., S. 119. Die Lehre des Ptahhotep, Vers 46 f., a. a. O., S. 111. Proverbia 16,18. A

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Schmach« bzw. »Kommt Übermut, so kommt auch Schande« 41 . Sie drücken den fast gesetzmäßigen Zusammenhang aus, daß der Hochmütige, sich überlegen und unangreifbar Fühlende auf keine Stolpersteine mehr achtet, unvorsichtig wird und daher durch sich selbst oder durch andere und deren Neid leicht zu Fall gebracht wird, wodurch sich die soziale Balance wiederherstellt. In vielen der Regeln dokumentiert sich das für archaische Gesellschaften typische Balance- und Harmoniestreben, das auf dem Prinzip der Vergeltung basiert und in der Goldenen Regel do ut des zum Ausdruck kommt 42 und das auf Ausgleich und Wiederherstellung der Ordnung abzielt. Will man das Leben meistern, so muß man diese anthropologisch-psychologisch tief verwurzelten Regeln beachten und, da niemand wissend geboren wird, 43 muß man zum Wissenden erzogen werden. ›Wissen‹ (rh) bedeutet gleicherweise ›erkennen‹ wie ›aner˘ der Regeln, das Gegenteil (hhm) meint ›Unkennen‹, d. h. befolgen ˘ wissen‹ und ›Ablehnung‹. Die altägyptischen Weisheitslehren werden durchzogen von dem Gegensatz des Weisen (Wissenden) und des Törichten (Unwissenden), wobei der letztere sowohl den Debilen bezeichnet, der aufgrund seiner Naturveranlagung unfähig ist, ausgebildet zu werden, wie auch den Dummkopf (Tor), der aufgrund seines obstinaten Charakters nicht ausgebildet werden will, 44 die Regel also nicht anwenden will und dem Vater widerspricht, wie auch den Einfältigen (Einfaltspinsel), der wegen seiner Lebensumstände, z. B. des Wohnens auf dem Land weitab von Bildungsstätten, keine Gelegenheit hat, ausgebildet zu werden. Andere, oft verwendete Begriffe im Altägyptischen sind ›der Schweiger‹ und ›der Hitzige‹ : Ist mit jenem der Selbstbeherrschte gemeint, der zur rechten Zeit am rechten Ort zu reden wie auch zu schweigen versteht, was in der rhetorischen Kultur des Orients außerordentlich wichtig war, der sich auch angesichts von Kränkungen, Beleidigungen und Wutausbrüchen zu beherrschen weiß, so mit dem Hitzigen der Unbeherrschte, der, hemmungslos aufbrausend, seinen Gefühlen Ausdruck gibt, sich nicht in der Gewalt hat. Erziehung und Bildung formen den Menschen äußerlich wie innerlich; sie wenden sich an das Herz, das im Altägyptischen nicht nur wie bei uns der Sitz der Gefühle, sondern 41 42 43 44

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Proverbia 11,2. In manchen Kulturen auch Payback-System genannt. Vgl. Die Lehre des Ptahhotep, Vers 34, a. a. O., S. 111. Vgl. Die Lehre des Ani, in: Die Weisheitsbücher, a. a. O., S. 196 ff.

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auch der Sitz des Verstandes und der Vernunft, der kühlen Ratio und Überlegung ist. Die Lehren verfolgen also eine pädagogische Aufgabe, die von der mehr äußerlichen Beamten- und Verwaltungsausbildung nach dem ägyptischen Staatsideal bis zur allgemeinen Menschenbildung und Gesittung, zur Formung des Menschen als Sozialwesen nach der Sozialordnung der Maat reicht, welche Fundament dieser Ausbildung ist und durch dieselbe stets bestätigt wird. Auch wenn reines Fachwissen wie Geometrie (Feldvermessung), Astronomie, Sprachkenntnisse verlangt werden, das die Priester und Ministerialbeamten beherrschen mußten, so geht es doch mehr um das Sozialverhalten, in das jenes integriert ist. Intendiert ist letztlich das gesellschaftliche, kommunikative Verhalten des Menschen. In den fast dreitausend Jahren altägyptischer Geschichte haben sich die Weisheitslehren nicht wesentlich verändert. Ihr Ziel ist stets dasselbe geblieben: das Wohlergehen des Menschen und der Gesellschaft. Allerdings wurde dieses unterschiedlich definiert, im Alten Reich zumeist durch äußere Güter, ausreichend Nahrung, Reichtum, hohe, königsnahe Stellung, Beliebtheit, 45 im Mittleren und Neuen Reich durch innere Zufriedenheit, seelisches Gleichgewicht und Ruhe sowie das Bewußtsein, gott- und maatgerecht zu leben. Dieser Wandel erklärt sich aus der Inkompatibilität von Handlung und Erfolg, der den Menschen durch die politischen Umbrüche und Revolutionen der Umbruchzeiten bewußt geworden war. Daß der Vergeltungsmechanismus eines maatgerechten, sozialkonformen Handelns nicht immer zum gewünschten Erfolg führt, leuchtet angesichts der Realität ein. Bei den Lehren handelt es sich ja nicht um strikte, ausnahmslos gültige Naturgesetze, sondern um empirisch-psychologische Beobachtungen und daraus abgeleitete Regeln, die allenfalls eine hypothetische, relative Notwendigkeit für sich reklamieren können. So geschieht es nicht selten, daß gerade der Bösewicht Reichtum ansammelt und Erfolg im Berufsleben hat, während der Gute und Gerechte erfolglos bleibt und ein schweres Los zu tragen hat. In der neuen Frömmigkeitsbewegung, die das Mittlere Reich durchzieht, sucht man die Divergenz zwischen Verhalten und Resultat dadurch zu erklären, daß entweder der Mensch den göttlichen Willen nicht einzusehen vermag oder es Gottes Absicht ist, den Bösewicht später Auch heute spielt bei vielen Naturethnien, z. B. in den Gesellschaften der Südsee, das Ansehen, die Anerkennung durch die Mitmenschen, eine entscheidende Rolle. Verehrt und beliebt ist der, der viel für die Gemeinschaft tut.

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im Jenseits zu bestrafen, spielt doch das Totengericht gerade in Ägypten eine bedeutende Rolle. So erfolgt ein Ausweichen entweder in Richtung auf das Unverständnis des Menschen oder in Richtung auf eine Bestrafung im Jenseits, so daß auf jeden Fall und auf lange Sicht die Konvergenz gewahrt bleibt. Für den im Leben trotz maatgerechten Verhaltens Benachteiligten bedeutet dies, daß er die Erfüllung in sich selbst finden muß, in seiner inneren Zufriedenheit angesichts eines Gott wohlgefälligen Lebens. Gute Taten tragen in sich selbst ihren Lohn. 46 Der innere Friede zählt mehr als das äußere Ansehen, heißt es in den neuen Lehren, besonders den demotischen aus der zweiten Hälfte des letzten vorchristlichen Jahrhunderts. Allerdings verbietet sich für den Ägypter die Vorstellung, um der Maat willen zu leiden und zum Märtyrer zu werden. Dazu ist sein Leben zu sehr auf das Diesseits gerichtet. Die zeitliche Dauer wird als schicksalhaft hingenommen in der Hoffnung und Zuversicht, daß Gott die Not wenden werde, da die Überzeugung von der Gültigkeit der Maat bestehen bleibt. Mit diesem Rückzug ins Innere, diesem Verzicht auf äußere Erfolge und der Erkenntnis, daß das stille, innere Glück eines Gott wohlgefälligen Lebens das höchste irdische Ziel sei, wie dies in der Lehre des Amenemope vertreten wird, konnte die altägyptische Weisheitslehre zum Vorbild für die israelitische werden, auch wenn diese, ähnlich wie die ursprüngliche ägyptische, zunächst auf das Diesseits gerichtet war. Zu Form und Stil der altägyptischen Weisheitslehren sind drei miteinander zusammenhängende Bemerkungen zu machen: 1. Im Unterschied zu unserem durch die griechische Philosophie geprägten Denken und Sprechen handelt es sich bei den Sprüchen nicht um theoretische Wahrheiten, d. h. allgemeine, abstrakte, von individuellen Fällen abgezogene Aussagen mit Gesetzescharakter, sondern um konkrete, individuelle Aussagen, die sich auf eine Vielzahl von Fällen beziehen und diese in sich bündeln und so zur Stützung von allgemeinverbindlichen Ratschlägen dienen. Mit Kurt Hübner könnte man hier von »ideelle[n] und materielle[n] Individuen mit Allgemeinheitsbedeutung« 47 sprechen. Individuelles bzw. BeVgl. Die Spruchsammlung des Anch-Scheschonki, Vers 189, in: Die Weisheitsbücher, a. a. O., S. 277: »Wenn du hundert Menschen Gutes tust und nur einer davon es anerkennt, so ist kein Stückchen davon verloren« oder Vers 301 (a. a. O., S. 283): »Tu eine gute Tat und wirf sie in die Flut; wenn das Wasser austrocknet, wirst du sie wiederfinden.« 47 Kurt Hübner: Die Wahrheit des Mythos, München 1985, S. 111. 46

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sonderes und Allgemeines, Konkretes und Abstraktes sind hier noch nivelliert: sie fallen noch nicht auseinander, sind noch nicht in Begriff und Anwendungsfall, also Über- und Untergeordnetes, geschieden. 2. Damit hängt auch die für unsere Vorstellung offensichtliche Ungegliedertheit des Textes zusammen. Abgesehen von der obligatorischen Einleitung und einem eventuellen Epilog oder einem Hymnus in der Mitte, erscheint der Stoff unstrukturiert, indem die Sprüche ohne ersichtliche Ordnung aneinandergereiht werden. Wenn äußere Gliederungshinweise vorkommen wie Numerierung der Kapitel, Zählung der Verse oder Rotmarkierung der ersten Wörter oder der ersten Zeile eines Abschnittes, 48 so hängt das mit mnemotechnischen Maßnahmen zusammen, nämlich dem Abschreiber das Auffinden der Sinnabschnitte zu erleichtern. Ein Ordnungsprinzip nach Ober- und Unterordnung, nach Wichtigkeit und Unwichtigkeit, Bedeutung und Unbedeutung, z. B. was das Verhältnis des Menschen zu den Göttern, zum Pharao, zu Höhergestellten, zu Gleichrangigen, Niedergestellten, zu Familie, Beruf u. ä. betrifft, fehlt. Die Anordnung ist rein aggregativ, parataktisch, nicht hypotaktisch, wie es für Sammlungen typisch ist. Wir begegnen hier dem altorientalischen Denktyp der Listenmethode, wie er sich auch auf anderen Gebieten der Wissenschaft, der Künste, der Politik, der Geschichtsschreibung usw. findet und in der sumerisch-assyrisch-babylonischen Onomastik seinen prägnantesten Ausdruck gefunden hat. Dort wurde auf Tafeln in Reihenform, seriell das gesamte Wissen der Zeit über Pflanzen, Tiere, Länder, Berufe, medizinische, mathematische, astronomische Kenntnisse usw. verzeichnet. 49 Allenfalls läßt sich in diesem topologischen Denken eine Gedankenassoziation konstatieren, die aber sehr offen ist wie im Beispiel des Zusammentreffens mit einem Diskussionspartner, der entweder als über- oder als unterlegen oder als ebenbürtig klassifiziert wird. 50 Oder es wird vom Diskussionspartner, dem geschätzten, übergeleitet zum Mann in leitender Stellung und von dort zur Erlangung dieser Stellung. 51 3. Da Auswendiglernen der Ratschläge angesagt war, was durch kurze, prägnante Formulierungen unterstützt wurde, lief alles auf Spruch- und Sentenzendichtung hinaus. Auf diese Weise dürften 48 49 50 51

Vgl. dazu Die Weisheitsbücher, a. a. O., S. 77. Vgl. Karen Gloy: Vernunft und das Andere der Vernunft, a. a. O., S. 44 ff. Vgl. Die Lehre des Ptahhotep, Vers 53 ff., a. a. O., S. 111 f. Vgl. Die Lehre des Ptahhotep, Vers 76 ff., a. a. O., S 113 f. A

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viele besonders markante Wendungen zu geflügelten Worten und Sprichwörtern geworden oder nachträglich als solche in die Lehren eingearbeitet worden sein. Dies erklärt, warum im gesamten östlichen Mittelmeerraum inhaltlich wie formal übereinstimmende Aussagen vorkommen, deren Ursprung nicht immer eindeutig auszumachen ist. Die Tendenz zur Spruchliteratur verstärkt sich in den israelitischen Weisheitslehren, aus denen zahlreiche Sprichwörter bis heute überdauert haben. 3.3. Die Lehre des Ptahhotep Der im vorigen Kapitel aufgezeigten allgemeinen Schematik folgt auch die Weisheitslehre des Ptahhotep, die aus der 5. Dynastie, also aus der Zeit um 2350 v. Chr., stammen dürfte und auf vier Papyri, einer Schreibtafel und fünf Ostraka erhalten ist. In ihr erteilt ein Wesir des Pharao Isesi, ein Beamter namens Ptahhotep, seinem Sohn und präsumptiven Nachfolger Ratschläge. Das Werk ist deutlich gegliedert in einen Prolog, einen Hauptteil von 37 Maximen und einen Epilog. Im ersten schildert Ptahhotep sein hohes Alter und dessen Beschwerlichkeit, die es ihm angeraten erscheinen lassen, dem Pharao seinen Sohn als Nachfolger im Amt zu empfehlen. Er soll traditionell in der Weise der Vorfahren nach der alten Ordnung der Maat erzogen und belehrt werden. Das fiktive Gespräch endet mit der Anweisung des Pharao: »So erziehe ihn [den Sohn] zu den Worten der Vergangenheit, bevor du dich zur Ruhe setzest. Bringe ihm das Benehmen von Söhnen hoher Beamter bei. Das Gehörte soll in ihn eingehen und jede Einsicht dessen, der zu ihm spricht. Niemand kommt ja weise auf die Welt.« 52

Im Hauptteil folgen 4–18zeilige Maximen, deren Anfänge mit roter Farbe markiert sind. Formal werden mit Vorliebe Gegensatzpaare gewählt, so die Konfrontation von Weisem und Törichtem, Selbstbeherrschtem und Unbeherrschtem, Höher- und Niedergestelltem, Armem und Reichem, z. B.

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Die Lehre des Ptahhotep, Vers 30–34, a. a. O., S. 110 f.

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»Wenn du groß geworden bist, nachdem du gering warst, wenn du Reichtum erworben hast, nachdem du zuvor in Not warst […].« 53

Die formale Zusammenstellung erfolgt durch lockere Aneinanderreihung. Inhaltlich werden alle Bereiche des privaten wie des öffentlichen Lebens angesprochen. Was den ersteren betrifft, so wird u. a. das Verhältnis gegenüber Frauen thematisiert wie auch das gegenüber Söhnen, sowohl gutgeratenen wie mißratenen, deren letztere ähnlich wie nach der Bibel, 5. Mose 21,18–21: »Du sollst das Böse von dir tun«, unbarmherzig auszurotten sind. Was den öffentlichen Bereich anbelangt, so findet das gesamte Spektrum von Verhaltensweisen gegenüber Vorgesetzten einschließlich des Pharao wie gegenüber Bittstellern eine Erörterung. Es beginnt mit Eßmanieren, sich im Hause des Höhergestellten mit dem zufrieden zu geben, was einem serviert wird, und nicht auf den Teller des Vorgesetzten zu schauen, 54 geht über zu Manieren des Ansprechens (wer als erster spricht) weiter zu Anweisungen beim Botengang, nämlich die Wahrheit zu sagen, weder zu über- noch zu untertreiben, insbesondere die Großen nicht gegeneinander aufzuhetzen, nicht zu klatschen und tratschen, 55 bis zu Anweisungen des Verhaltens im Palast und im Vorzimmer, je nach Rangordnung zu sitzen oder zu stehen und erst einzutreten, wenn man aufgerufen wird, 56 bis hin zur Austeilung von Strafen. 57 Eine eminente Rolle spielt das Verhalten beim Reden, was der Relevanz der oralen Tradition des Orients entspricht. Ist ein Diskussionsredner, womit offensichtlich ein Ratgeber vor dem Pharao gemeint ist, bedeutender und redegewandter als man selbst, dann verhalte man sich so und so, ist er geringer, dann in der Weise, und ist er ebenbürtig, dann auf die und die Weise. 58 Bei allen Ratschlägen spielt die Mahnung zur Selbstbeherrschung und Selbstzucht eine entscheidende Rolle, so das Zurückhalten von Eßgier, Habsucht, Wutausbrüchen, Aggressionen, emotiona-

Die Lehre des Ptahhotep, Vers 366 f., a. a. O., S. 125; vgl. auch die Gegenüberstellung beim Zusammentreffen mit einem überlegenen und unterlegenen und ebenbürtigen Diskurspartner, Vers 53 ff., a. a. O., S. 111 f. 54 Vgl. Die Lehre des Ptahhotep, Vers 101 ff., a. a. O., S. 114. 55 Vgl. Die Lehre des Ptahhotep, Vers 121 ff., a. a. O., S. 114 f. 56 Vgl. Die Lehre des Ptahhotep, Vers 182 ff., a. a. O., S. 117. 57 Vgl. Die Lehre des Ptahhotep, Vers 417 ff., a. a. O., S. 127. 58 Vgl. Die Lehre des Ptahhotep, Vers 53 ff., a. a. O., S. 111 f. 53

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ler Entladung, 59 wie es auch in die sophrosy´ne und phrónesis der griechischen Klassik und später in die mâze des mittelalterlichen Tugendkatalogs eingegangen ist. Zu dieser Forderung gehört auch die ständig wiederkehrende Mahnung zur Bescheidenheit und Demut. Wenngleich es sich bei diesen um hohe ethische Tugenden handelt, haben sie ihren Grund in ganz konkreten lebenspraktischen Erwägungen und Klugheitsmaßnahmen. Ein zu aggressives, überhebliches Verhalten gegenüber einem Geringeren würde nur dessen Rache heraufbeschwören, um den Ausgleich und die Balance wiederherzustellen, ebenso würde ein zu aufdringliches Verhalten gegenüber einem hochgestellten Gastgeber, Eßgier oder Durchbohren mit Blicken, diesen irritieren. 60 Auch die anderen, anscheinend ebenso hohen ethischen Tugenden wie Loyalität, Wahrhaftigkeit, Generosität, Gerechtigkeit haben letztlich ihren Grund in handfesten Lebensinteressen und Klugheitserwägungen. Was als Altruismus erscheint, nämlich mit Freunden zu teilen, entpuppt sich als Klugheit, kein ausschließlich egoistisches Verhalten an den Tag zu legen, um in Notzeiten die Unterstützung der Freunde zu erfahren. 61 Was als Mildtätigkeit erscheint gegenüber Benachteiligten, entpuppt sich als lebenspraktische Klugheit, da Freigiebigkeit in Erinnerung bleibt, Geiz hingegen nachgetragen wird. 62 Gleiches gilt von der Gerechtigkeit. Wie schon das Wort erkennen läßt, meint Gerechtigkeit Richtigkeit, Befolgung des rechten bzw. richtigen Weges, den die Welt- und Sozialordnung der Maat vorgibt. Wer diesen richtigen Weg findet, gelangt zum Ziel, wer den falschen Weg wählt, verpaßt das Ziel. Ein wirklich ethisches, kulturell institutionalisiertes Verhalten wäre erst dann gegeben, wenn es sich von dem natürlichen, anthropologisch-psychologisch bedingten Verhalten unterschiede oder diesem sogar zuwiderliefe, wie z. B. das Verhalten gegenüber physisch und psychisch Anormalen (Krüppeln, Paranoiden), die das natürliche Verhalten des Menschen und der Gesellschaft brutal aussondert, während das kulturell geprägte ethische Nachsicht walten läßt, weil – so die Argumentation – der Gott einen selbst mit diesen Übeln strafen könnte. Z. B. Die Lehre des Ptahhotep, Vers 60, 69, a. a. O., S. 112; Vers 520, 522, a. a. O., S. 131; Vers 128, a. a. O., S. 115 usw. 60 Vgl. Die Lehre des Ptahhotep, Vers 67 ff., a. a. O., S. 112 und Vers 106 f., a. a. O., S. 114. 61 Vgl. Die Lehre des Ptahhotep, Vers 280 ff., a. a. O., S. 121. 62 Vgl. Die Lehre des Ptahhotep, Vers 402 ff., a. a. O., S. 126 f. 59

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Daß bei allen moralisierenden Ermahnungen, bei allen Tugendlehren auch Freude und Genuß nicht zu kurz kommen sollen, geht aus Hinweisen wie denen hervor: »Verkürze nicht die Zeit für deine Vergnügungen, hör mal auf, dich um das Haus zu kümmern« 63

oder: »Wenn du eine wohlbeleibte Frau geheiratet hast und sie ist fröhlich und ihren Mitbürgern wohlbekannt, wenn sie diese beiden Eigenschaften vereint und den Augenblick genießt, dann verstoße sie nicht, sondern gib ihr zu essen, so daß sie aus vollem Herzen lacht … Eine fröhliche Frau bringt Ausgeglichenheit.« 64

Gesucht wird stets ein Mittelweg zwischen den Extremen, wie er auch im Ideal des mhdþn ˝gan (= ›nichts zu viel‹, Solon) und der aurea mediocritas (Horaz) zum Ausdruck kommt. 65 Der Mittelweg, von Aristoles der ›goldene‹ genannt, ist nicht identisch mit Mittelmäßigkeit und bloßer Vorsichtsmaßnahme, vielmehr mit dem Waagehalten, der Balance. Auch wenn die Instruktionen hauptsächlich für den Staatsdiener in gehobener Stellung gedacht sind, haben sie allgemeine Gültigkeit und sind von allen Menschen im alltäglichen Umgang und in den lebenspraktischen Bereichen anzuwenden. Durch sie wird die göttliche Ordnung bestätigt, deren Abbild die gesellschaftliche Ordnung ist, die immer wieder auf jene verweist. 66 Die Befolgung dieser Regeln verspricht einen sicheren, gefahrlosen Weg durch das Leben, wie es der Teleologie der Vergeltungsregel entspricht. Da niemand freiwillig sich schaden will, andererseits niemand wissend geboren wird, muß ihm durch Erziehung und Bildung dieses Wissen beigebracht werden. So wird immer wieder der Weise oder Gebildete, der den Weisungen folgt, dem Törichten, Unwissenden konfrontiert 67 und das pädagogische Programm nachhaltig betont. Die Lehre des Ptahhotep, Vers 143 f., a. a. O., S. 115. Die Lehre des Ptahhotep, Vers 421 ff., a. a. O., S. 127 f. 65 Wie Johannes Fichtner: Die altorientalische Weisheit in ihrer israelitisch-jüdischen Ausprägung. Eine Studie zur Nationalisierung der Weisheit in Israel, Gießen 1933 (Beihefte zur Zeitschrift für alttestamentliche Wissenschaft, Bd. 62), S. 14, unterstellt. 66 Vgl. Die Lehre des Ptahhotep, Vers 429, a. a. O., S. 128; Vers 506, a. a. O., S. 131; Vers 80, a. a. O., S. 113. 67 Vgl. Die Lehre des Ptahhotep, z. B. Vers 475 ff., a. a. O., S. 130. 63 64

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Im Epilog wird noch einmal auf den Wert des Hörens und Hinhörens, d. h. des Gehorchens hingewiesen, bei dem es nicht nur um das äußerliche Vernehmen der Ratschläge, sondern um deren Internalisierung geht. Es gilt, die Lehre über Kinder und Kindeskinder zu tradieren, um die Ordnung zu bewahren, deren Befolgung dem Menschen ein langes Leben (genannt werden 110 Lebensjahre) 68 und Glück 69 gewähren soll, was auch im Alten Testament als Wunschvorstellung gilt. 2.4. Die israelitische Weisheitslehre (Chokma) im allgemeinen Nicht zuletzt aufgrund der geographischen Lage Israels gehört die israelitische Weisheitsliteratur in den Kontext des altorientalischen Kulturraumes. Einflüsse sind nicht nur aus Ägypten nachweisbar, so das schon erwähnte Exzerpt aus der Lehre des Amenemope in Proverbia 22,17–23,11, sondern auch aus Babylonien, was das Hiobsthema, das Thema des ungerecht Leidenden, anbelangt. Einflüsse gibt es aus allen sogenannten Ostländern, von den Arabern und Edomitern, 70 von den letzteren ebenfalls das Hiobsthema, das in den letzten Kapiteln der Proverbia in den Worten des Agur 30,1–14 und in denen an Lamuel 31,1–9 nachweisbar ist. Von aramäischer Seite stammt die Achiqar-Geschichte. 71 Die Frage nach Umfang und Ausmaß der Übernahme, desgleichen nach der Art und Weise derselben, ob als Zitation oder Exzerpt, Adaption, entfernte Anlehnung oder Kongenialität, wird in der Forschung kontrovers behandelt. Gleichwohl müssen wir versuchen, Gemeinsamkeiten wie Unterschiede bezüglich Inhalt und Form herauszuarbeiten. Eine erste Frage betrifft die Alternative, ob es sich bei der Chokma genauso wie bei den ägyptischen Weisheitslehren ursprünglich Vgl. Die Lehre des Ptahhotep, Vers 544, a. a. O., S. 132. Vgl. Die Lehre des Ptahhotep, Vers 527, a. a. O., S. 132. 70 Vgl. 1. Könige 5,10 f.; Jeremia 49,7; Baruch 3,23. 71 Zur Literatur: Robert H. Pfeiffer: Edomitic wisdom, in: Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft und die Kunde des nachbiblischen Judentums, Bd. 44 (1926), S. 13–25; Walter Baumgartner: The Wisdom Literature, in: The Old Testament and Modern Study. A Generation of Discovery and Research, ed. by Harold Henry Rowley, Oxford 1951, S. 210–237; William Foxwell Albright: Some Canaanite-Phoenician Sources of Hebrew Wisdom, in: Supplements to a Vestus Testamentum, Vol. 3: Wisdom in Israel and in the Ancient Near East, presented to Harold Henry Rowley, Leiden 1969, S. 1–15; Max Küchler: Frühjüdische Weisheitstraditionen, a. a. O., S. 319 ff. 68 69

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um eine ›Berufsethik‹ für die Schreiberkaste, die hohen Verwaltungsbeamten und Priester, handelt, welche im Laufe der Zeit aufgrund ihrer Allgemeingültigkeit immer mehr popularisiert wurde, oder ursprünglich um ganz allgemeine, volkstümliche Ansichten und lebenspraktische Wahrheiten, die an den Höfen, insbesondere am Hof Salomos, gesammelt und kanonisiert und zum Kodex der höheren Verwaltungsbeamten erhoben wurden. 72 Für beide Varianten finden sich Argumente. Zum einen war der hochangesehene Berufsstand der Schreiber notwendig für die Administration des Landes, was für Israel nicht weniger als für Ägypten und Babylon und die angrenzenden Länder galt, auch wenn Israel weniger autokratisch und hierarchisch, mehr liberal und demokratisch verfaßt war als das Pharaonenreich. Dies läßt den Schluß auf die Internationalität der Schreiber zu. Verlangt wurden für diesen Dienst gute Manieren, gediegene äußere Umgangsformen neben Sachkenntnissen, ebenso ein loyales Verhalten und ein gerütteltes Maß an Aufrichtigkeit, Wahrhaftigkeit und Selbstdisziplin, die sich auf alle Bereiche des öffentlichen wie privaten Lebens bezogen: auf das Verhältnis zu Hoch und Tief, Freund und Feind, auf das Verhältnis der Kinder zu ihren Eltern, zu Frauen und Sklaven, auf das Verhältnis des Menschen zu Gott. Da solche Anstandsregeln zugleich für das allgemeine Sozialleben verbindlich waren, drangen sie immer mehr in das öffentliche Bewußtsein ein und wurden zu standardisierten Lebensregeln schlechthin. Es läßt sich aber auch die Gegenthese vertreten, nämlich daß hinter den Maximen und Instruktionen, und zwar schon bei den Ägyptern, ursprünglich mündliche elterliche Unterweisungen, Ratschläge und Mahnsprüche standen, die die Erfahreneren den weniger Erfahrenen angedeihen ließen, z. B. vom Sterbebett aus oder bei Abschied und Auszug in die Fremde. Die Worte des Tobias an seinen Sohn als sein letzter Wille und Vermächtnis in Tobias 4,1 ff. sind hierfür ein Beispiel. In einer Zeit, in der die Autorität des Alters aufgrund der größeren Lebenserfahrung bei der Wissensvermittlung eine entscheidende Rolle spielte, mag es sich ursprünglich um solche Ratschläge gehandelt haben, die die Älteren, seien es Vater, Mutter, Meister, Lehrer, den Jüngeren mit auf den Weg gaben. Obzwar sie für alle sozialen Schichten verbindlich waren, erlangten sie für die höheVgl. die Spruchsammlung Salomos, die unter dem Namen des König Salomo bekannt ist.

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ren Stände, die sogenannte politische Elite, besondere Bedeutung, da dieser das schwere Amt der Staatsführung und -verwaltung zufiel. So lag es nahe, solche Sprüche an den Höfen in Spruchsammlungen zusammenzufassen und als Grundlage der höheren Bildung zu benutzen, sei es als Vorlage für Schriftübungen, sei es als Orientierungsgrundlage der berufsspezifischen Ausbildung. Eine zweite Frage betrifft den Charakter der Chokma. Die auffällige Profanität der israelitischen Weisheitslehre, die sie als Fremdkörper aus dem übrigen theologisch gefärbten Alten Testament heraushebt – sie richtet sich an den Einzelnen, nicht an das Volk Israel, es fehlen die Sinai-Offenbarung, der Gottesbund, die Erwählung des Volkes Israel und seine Geschichte –, hat immer wieder den Eindruck erweckt, als handle es sich bei der Chokma um ein rein pragmatisches, ausschließlich auf das Diesseits gerichtetes Werk, das bloßen Nützlichkeitserwägungen bis hin zu eudaimonistischen Vorstellungen folge nach dem Motto, wie man sich am besten durch das Leben schlägt, wie man sich am einfachsten durchlaviert. 73 Wenn das Werk schon kein theologisch fundiertes, d. h. im spezifischen Jahweglauben und in der Jahwefrömmigkeit gegründetes Werk ist, so bleibt doch die Alternative offen, ob es sich um ein rein diesseitiges, opportunistisches, utilitaristischen Zwecken folgendes Spruchwerk handle oder um Sinnsprüche, die ähnlich wie die ägyptische Weisheitsliteratur in einer religiösen Ordnung, nämlich der göttlichen Schöpfungsordnung, gründen. Walther Zimmerli hat in seinem Aufsatz Zur Struktur der alttestamentlichen Weisheit 74 die Alternative in die Form gekleidet: Ist der Ausgang ein anthropozentrischer, bei dem der Mensch, der einzelne, ungeschichtliche, den Ausgang bildet und nach seinen Möglichkeiten und Grenzen fragt, oder ist der Ausgang ein autoritativer, die übergeordnete göttliche Ordnung, in die der Mensch gestellt ist und an die er als Glied derselben verpflichtend gebunden ist? 75 Man kann das Verhältnis ›menschlicher Lebenswille Rudolf Anthes: Lebensregeln und Lebensweisheit der alten Ägypter, Leipzig 1933 (Der alte Orient, Bd. 32, Heft 2), S. 12, spricht vom »korrekten« jungen Mann, »der klug Anstoß vermeidet und in Taten und Gedanken sich der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung einfügt; ihm winkt eine sichere Laufbahn als Beamter. Bei dieser Auffassung stehen moralische Begriffe wie gut und schlecht nicht zur Diskussion.« Die Lebensbetrachtung ist nüchtern und objektiv. 74 In: Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft und die Kunde des nachbiblischen Judentums, Bd. 51 (1933), S. 177–204. 75 A. a. O., bes. S. 178 f. und S. 180. 73

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– Gottessetzung‹ auch so formulieren: Wird Gott bzw. die göttliche Schöpfung aus der Perspektive des Menschen gesehen oder der Mensch aus der Perspektive Gottes bzw. der göttlichen Schöpfung? Daß diese Frage eine durchgehend die Menschheit begleitende ist, zeigt ein Vergleich mit sehr viel späteren Werken aus der deutschen Literatur. Könnte man die erste Alternative mit Grimmelshausens Simplicissimus und dessen Überlebenskunst vergleichen, in schwieriger Zeit, der des 30jährigen Krieges mit seinen Gefahren, Greueln und Widerwärtigkeiten, mit seiner Mangelsituation und seinen Nöten, sich zu behaupten und durch das Leben zu schlagen, gegebenenfalls mit Schläue und Tricks, mit Raffiniertheit, Täuschung, Lug und Trug, so die zweite Alternative mit dem Bild Walthers von der Vogelweide aus der Manessischen Liederhandschrift, das den Minnesänger sinnierend zeigt, das Haupt in die Hand gestützt und über Gott, Welt und Menschen, über den Sinn des Lebens nachdenkend: »Ich saz ûf eime steine und dahte bein mit beine: dar ûf satzt ich den ellenbogen: ich hete in mîne hant gesmogen daz kinne und ein mîn wange. dô dâhte ich mir vil ange, wie man zer welte solte leben: deheinen rât kond ich gegeben. wie man driu dinc erwurbe, der keines niht verdurbe. diu zwei sint êre und varnde guot, daz dicke ein ander schaden tuot: daz dritte ist gotes hulde, der zweier übergulde. die wolte ich gerne in einen schrîn. jâ leider desn mac niht gesîn, daz guot und werltlich êre und gotes hulde mêre zesamene in ein herze komen. stîg unde wege sint in benomen: untriuwe ist in der sâze, gewalt vert ûf der strâze: fride unde reht sint sêre wunt. diu driu enhabent geleites niht, diu zwei enwerden ê gesunt.« 76 In: Die Gedichte Walthers von der Vogelweide, hrsg. von Carl von Kraus, 12. unveränderte Ausg. Berlin 1962, S. 9 f.

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Als Güter nennt Walther zwei äußere, Besitz und weltliche Ehre, mit welcher letzteren die öffentliche Anerkennung gemeint ist, und ein inneres Gut, Gottes Gnade (Huld), mit Verweis auf eine übergeordnete Macht. Die Menschenbilder sind sich prinzipiell gleichgeblieben. Walther Zimmerli selbst ist ein vehementer Vertreter der ersteren Alternative, der zufolge es um die Möglichkeiten des freien, selbstbestimmten Menschen geht, um seine Interessen, seinen Vorteil und seinen Nutzen im weltlichen Leben gemäß der Frage »Wie sichere ich als Mensch mein Dasein?«, »Wie führe ich ein möglichst langes und angenehmes Leben?«, und nicht primär um eine theologische Ausrichtung, nämlich die Bindung an einen Gott, wobei Zimmerli noch unterscheidet zwischen der spezifisch jüdisch-theologischen Bindung an den Jahweglauben und der Bindung an eine allgemeine Ordnung im weitesten Sinne, die Schöpfer und Geschöpf betrifft. 77 Er begründet diese These sowohl durch äußere, formale wie innere, inhaltliche Momente, so zum einen durch den Hinweis auf die Tatsache, daß es sich formal um Ratschläge, nicht um Gebote oder Verbote handelt. Ratschläge sind offen und kontrovers diskutabel. Sie setzen Überlegung, Abwägung und freie Entscheidung des Menschen voraus, während Gebote aufgrund ihrer Rigorosität kategorisch zu befolgen sind. Zur mangelnden Autorität der Ratschläge paßt auch die relative Wertestufung von ›gut‹ und ›besser‹ bzw. ›schlecht‹ und ›schlechter‹, 78 was die Lebensführung betrifft, z. B. Proverbia 15,16: »Es ist besser ein wenig mit der Furcht des Herrn denn großer Schatz, darin Unruhe ist«, 15,17: »Es ist besser ein Gericht Kraut mit Liebe denn ein gemästeter Ochse mit Haß«, Ecclesiastes 4,6: »Es ist besser eine Hand voll mit Ruhe denn beide Fäuste voll mit Mühsal und Haschen nach Wind.« Diese Abstufung von ›besser‹ bzw. ›schlechter‹ widerspricht dem absoluten Prinzip des Guten, das sich an einer autoritären Norm orientiert. Begründet wird die relative Werteskala nicht durch Rekurs auf eine vorgegebene gesetzmäßige Ordnung, sondern durch ein sich lohnendes menschliches Wohlverhalten, dem der den menschlichen Wünschen willfahrende Gott entspricht. 79 Schließlich geht es auch um irdische Güter, um Sättigung, Reichtum, Ansehen und Ehre, um Gesundheit und ein langes, 77 78 79

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Vgl. Walther Zimmerli: Zur Struktur der alttestamentlichen Weisheit, a. a. O., S. 179. Vgl. a. a. O., S. 192 f. Vgl. a. a. O., S. 189.

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glückliches Leben, wobei der Tod als Gegenspieler figuriert und immer wieder die Frage aufkommen läßt, wie man sein Dasein gegen Gefährdungen jeder Art und auch einen vorzeitigen Tod sichert. Nun ist zwar nicht zu bezweifeln, daß es in der Chokma vor allem um eine Diesseitssicherung geht, um äußere Güter und ein gelingendes, glückliches, langes Leben, dies schließt aber eine religiöse Fundierung des Lebens in einer, wenngleich allgemeinen göttlichen Weltordnung nicht aus, sowenig wie in Ägypten die Weisheitslehre eine Fundierung in der göttlichen Maat ausschloß. Profanität und Religiösität in diesem weiten Sinne sind keine Gegensätze, allenfalls wären dies Profanität und Theologizität. Immer wieder heißt es in der Chokma, z. B. Proverbia 3,23 f.: »Dann [wenn du diesen Regeln folgst] wirst du sicher wandeln auf deinem Wege, daß dein Fuß sich nicht stoßen wird. Legst du dich, so wirst du dich nicht fürchten, sondern süß schlafen«,

oder Proverbia 1,33: »Wer aber mir gehorcht, wird sicher bleiben, und genug haben, und kein Unglück fürchten.«

Der Hinweis auf Sicherheit bei richtiger Wegwahl und die Warnung vor falscher Sicherheit bei unrichtigem Weg sind unüberhörbar. Diese Überzeugung einer Konvergenz oder sogar Koinzidenz von Handlung und Resultat hat ihren Grund in einer Ordnung, die bei Befolgung des rechten, d. h. des richtigen Weges zum Ziel führt, bei Befolgung des unrechten, d. h. falschen das Ziel verfehlt. Wer den rechten Weg weiß und befolgt, d. h. wer ordnungsgemäß handelt, gelangt an das erwünschte Ziel, wer, aus welchen Gründen auch immer, dem unrichtigen, falschen folgt, verfehlt notwendig das Ziel. Die teleologische Verknüpfung von Guttat und Heil, desgleichen von Untat und Unheil ist hier noch rein taxonomisch, noch nicht ethisch gesehen, wie ja auch die Ausdrücke ›rechts‹ und ›links‹, ›zur rechten Hand gehen, sitzen oder liegen‹ und ›zur linken Hand gehen, sitzen oder liegen‹ ursprünglich reine Ordnungsbegriffe sind. Dasselbe gilt von der Gerechtigkeit, von der permanent die Rede ist, z. B. Proverbia 10,2; 10,30; 11,21; 13,25: Der Gerechte ist der, der den rechten, d. h. den richtigen Weg wählt, der ordnungskonform handelt und sich verhält. Die Unterstellung einer ursprünglich ethischen Bedeutung, der zufolge Gut und Böse Recht und Unrecht festlegten, implizierte einen naturalistischen Fehlschluß, bei dem das, was einer A

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späteren, ethisch-juristischen Interpretation entstammt, als naturgegebene Ordnung unterstellt würde. Vielmehr begründet und legitimiert die naturale Ordnung erst die ethisch-juristische Interpretation. Ihren Ursprung hat diese Koinzidenz von ethischem und metaphysischem System im magischen Denken archaischer Völker, das von einer teleologischen Beziehung von Guttat und Heil bzw. Untat und Unheil überzeugt ist. In dem Moment, in dem diese Einheit von Theorie und Praxis aufbricht, wird auch der teleologische Zusammenhang zwischen Handeln und Resultat fragwürdig, da ihm das Fundament entzogen wird. So kann es vorkommen, daß der Gerechte gleichwohl im Leben leidet und der Bösewicht ein glückliches Leben führt. Dieses Dilemma wird dann auf die Uneinsehbarkeit und Unverfügbarkeit der göttlichen Ordnung seitens des Menschen zurückgeführt. Vor allem aber führen das Aufbrechen der Einheit und das Auseinanderfallen der Systeme zu einer größeren Freiheit und Selbstverantwortung des Menschen gegenüber seinen Handlungen, da sich in das von der Ursprungsdimension Abgelöste jetzt leichter eingreifen läßt. Für den Wissenstyp, der in den Weisheitslehren vorliegt, bedeutet das, daß er schon nicht mehr der ursprüngliche, unhinterfragte ist, sondern ein derivater, der allerdings seinen Bezug zum metaphysischen Ursprung noch erkennen läßt, aber bereits in der Verfügungsgewalt des Menschen steht, wenngleich nicht in der Weise wie die späteren, allein aus der Subjektivität folgenden konstruktiven Wissensverständnisse. Der Wissensbegriff der Weisheitslehren geht von einer gewissen Rationalität und Berechenbarkeit der Lebensführung aus. Er ist Ausdruck des gesunden Menschenverstandes. Nach der Exposition des Ursprungs und der Zielsetzung sowie des Inhalts der Chokma ist noch ein Blick auf die Form derselben zu werfen. Sind schon die altägyptischen Lehren gerade in jüngerer Zeit gespickt mit Sprichwörtern und geflügelten Worten, so steigert sich dies in der israelitischen Spruchliteratur. Gattungspoetisch ist von einer Stufung auszugehen: Auf der ersten Stufe finden sich ein- und zweizeilige Sinnsprüche, die das Grundelement bilden; 80 die zweite Stufe besteht entweder aus einer Gruppe von Einzelsprüchen, welche inhaltlich oder formal miteinander verwandt sind, 81 oder aus Mehrzeilern bis hin zu Lehrgedich80 81

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Vgl. Proverbia 10,2. Vgl. Proverbia 26,13–16 über den Faulen; 26,7–10: Sprüche im Partizipialstil.

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ten, eventuell mit Einleitung und Schluß; 82 die dritte Stufe umfaßt lockere Sammlungen von Einzelsprüchen, Spruchgruppen, Lehrgedichte ohne straffes Ordnungsprinzip und die vierte das Buch, das entweder eine große Sammlung darstellt wie bei Jesus ben Sirach oder eine Sammlung von Sammlungen wie bei Hiob, Ecclesiastes, Sapientia. 83 Über die Chronologie und Genese ist damit noch nichts gesagt, da neben den Einzelsprüchen und deren Sammlung von Anfang an auch Lehrgedichte nach dem Vorbild der Altägypter oder der Babylonier entstanden sein könnten wie das Hiobbuch. Die formgeschichtliche Variationsbreite der Sprüche ist beträchtlich. Es kann sich um kurze, prägnante, leicht memorierbare Sprüche handeln, die oft noch unterstützt werden durch Alliteration (wie ›Leib und Leben‹, ›Liebe und Leid‹) oder durch Antithesen 84 und Paradoxien 85 oder um Rätsel- und Zahlensprüche, Parabeln, Sprichwörter usw. Unterscheiden lassen sich zwei Arten von Sinnsprüchen: die rein konstatierenden, indikativischen Aussagen, die Tatbestände und Relationen zwischen ihnen wiedergeben, indirekt aber einen Hinweis auf Verhaltensregeln enthalten, und die explizit pädagogisch-didaktischen Aussagen, die sogenannten Mahnworte, welche sich entweder individuell oder allgemein an jemanden richten 86 und ihn auffordern, etwas zu tun oder zu unterlassen. 87 Die Aufforderungen sind allerdings stets in allgemeinen Erfahrungen fundiert, aus denen sie ihre Legitimation beziehen. 88 Entsprechend der Empirizität und Kontingenz der Erfahrungsbasis sind sowohl die indirekten Aufforderungen wie die direkten Vgl. Proverbia 5,1–23. Vgl. hierzu Walter Baumgartner: Israelitische und altorientalische Weisheit, a. a. O., S. 7 f. 84 Vgl. Proverbia 27,7: »Eine satte Seele zertritt wohl Honigseim; aber einer hungrigen Seele ist alles Bittere süß«, besser übersetzt: »Der Satte tritt Honig mit Füßen, dem Hungrigen ist das Bittere süß«; vgl. auch Proverbia 13,4. 85 Proverbia 13,24: »Wer seine Rute schont, der haßt seinen Sohn; wer ihn aber liebhat, der züchtigt ihn bald« oder Proverbia 25,15: »Eine linde Zunge bricht die Hartnäckigkeit.« 86 Vgl. Proverbia 1,8: »Mein Kind, gehorche der Zucht deines Vaters, und verlaß nicht das Gebot deiner Mutter«, Proverbia 1,10: »Mein Kind, wenn dich die bösen Buben lokken, so folge nicht.« 87 Proverbia 19,20: »Gehorche dem Rat, und nimm Zucht an, daß du hernach weise seist« oder Proverbia 16,3: »Befiehl dem Herrn deine Werke, so werden deine Anschläge fortgehen.« 88 Vgl. Proverbia 1,19: »Also geht es allen, die nach Gewinn geizen, daß ihr Geiz ihnen das Leben nimmt.« 82 83

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Mahnsprüche keine schlechthin verbindlichen Gebote und Verbote, die Normen mit autoritärem Charakter artikulierten, denen gegenüber Pflichten bestünden und denen vorbehaltlos zu gehorchen wäre. Vielmehr formulieren sie Ratschläge, die bei Befolgung einen relativ sicheren Weg durch das Leben versprechen, allerdings nicht unfehlbar sind. Sie fungieren lediglich als Wegmarken und Leuchtbojen, die den rechten Weg anzeigen. Ihre grundsätzliche Offenheit bekundet sich in ihrer Widersprüchlichkeit, wie sie beispielsweise in Proverbia 26,4–5 zum Ausdruck kommt: »Antworte dem Narren nicht nach seiner Narrheit, daß du ihm nicht auch gleich werdest.« »Antworte aber dem Narren nach seiner Narrheit, daß er sich nicht weise lasse dünken.«

Während Gesetzen und Geboten bedingungslos zu gehorchen ist, kann man über Ratschläge frei diskutieren. Rat besagt, daß man überlegen und erwägen, sogar kontrovers diskutieren kann, wofür das Rededuell der Räte Ahithophel und Husai vor dem König Absalom über die Aufnahme oder Nicht-Aufnahme des Kampfes mit David eines der illustrativsten Beispiele antiker Rhetorik ist. 89 Während der eine die Kampfaufnahme empfiehlt, lehnt der andere sie vehement ab. Mit der prinzipiellen Offenheit und Widersprüchlichkeit der menschlichen Lebenserfahrungen trifft eine stilistische Eigenheit der Sprüche und Spruchsammlungen zusammen, nämlich ihr aggregativer, reihender Charakter, der gemäß der altorientalischen Listenmethode erfolgt, auf die bei der Darstellung der altägyptischen Weisheitsliteratur bereits aufmerksam gemacht wurde. Diese Auflistung entspricht dem sammelnd registrierenden Zugang zur Wirklichkeit, der rhapsodischen Aufnahme von Lebenserfahrungen und ihrer topologischen, parataktischen Ordnung. In Übereinstimmung mit dem konkreten, bildhaften Denken jener Zeit steht auch ein anderes stilistisches Merkmal, das der Analogiebildung, die aus der Analogie von Mikro- und Makrokosmos bekannt ist und das Entsprechungsdenken begründet. Es begegnet hier in der Zuordnung von sozialer Menschenwelt und göttlicher Weltordnung oder in der Entsprechung von Vorgängen im Menschenleben und solchen in der umfassenderen Natur. So heißt es in Proverbia 25,23: 89

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Vgl. 2. Samuel 17,1 ff.

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»Der Nordwind bringt Ungewitter, und die heimliche Zunge macht ein saures Angesicht«

oder 26,20: »Wenn nimmer Holz da ist, so verlischt das Feuer; und wenn der Verleumder weg ist, so hört der Hader auf.« 90

2.5. Die israelitische Weisheitslehre im besonderen Es ist wiederholt bemerkt worden, daß die Weisheitslehre des Alten Testamentes in zwei Gruppen zerfällt: in eine mehr säkulare, die salomonische Spruchsammlung (Proverbia) – eigentlich eine Sammlung aus Sammlungen –, die, wenn sie auch nicht auf Salomon selbst als ihren Urheber zurückgeht, so doch unter seinem Namen zusammengestellt und ihm zugeschrieben wurde, und in die mehr theologisch ausgerichteten, persönlich-individuell gehaltenen Predigten Salomos (Ecclesiastes), die auch unter dem Namen Die Lehre Koheleths bekannt sind. Spiegelt sich in der ersteren eine optimistische Weltsicht, so ist die letztere von einem skeptisch-pessimistischen Grundton durchzogen. Ihre Ausgangsfrage ist beidemal dieselbe, nämlich die nach dem Sinn und Zweck des Lebens, nach dem Ertrag aller Mühe und Arbeit auf Erden. Während Ecclesiastes diese Frage negativ beantwortet: 1,8: »Es sind alle Dinge so voll Mühe, daß es niemand ausreden kann. Das Auge sieht sich nimmer satt, und das Ohr hört sich nimmer satt«, 3,9: »Man arbeite, wie man will, so hat man keinen Gewinn davon«, 5,15: »Das ist ein böses Übel, das er hinfährt, wie er gekommen ist. Was hilft’s ihm denn, daß er in den Wind gearbeitet hat?«, 6,8: »Denn was hat ein Weiser mehr als ein Narr? Was hilft’s dem Armen, daß er weiß zu wandeln vor den Lebendigen?«,

begegnen in der ersten Spruchsammlung überall eine positive Lebenseinstellung und die unerschütterliche Überzeugung von einem erfolggekrönten richtigen Handeln wie vom Mißerfolg unrichtigen Handelns. Wegen seiner Thematik, des aufkommenden Zweifels an Auf diesen Sachverhalt hat Gerhard von Rad: Theologie des Alten Testaments, Bd. 1: Die Theologie der geschichtlichen Überlieferungen Israels, München 1960, 10. Aufl. 1992, S. 437, hingewiesen.

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der Erfolgsgekröntheit rechten Handelns, wie er im zu Unrecht Leidenden durchbricht, wird meist auch das Hiobsbuch, das seinen Ursprung im babylonischen Klagelied hat, zur zweiten Gruppe gerechnet. Ebenso ist wiederholt herausgestrichen worden, daß die salomonische Spruchsammlung in einen mehr theologisch ausgerichteten ersten Teil (Proverbia 1–9) und einen mehr profanen zweiten Teil (Proverbia 10–29) zerfällt, welcher letztere nochmals unterteilt ist in die Sammlung 10–22,16, in der häufiger als sonst in diesem zweiten Teil von Jahwe, seinem Willen und Walten die Rede ist, und in die als besonders weltlich geltende Sammlung der letzten Kapitel 25– 29. 91 Proverbia 22,17–23,11 wurde bereits als Exzerpt aus der Weisheitslehre des Amenemope ausgemacht. Nahm die frühere Forschung, herkommend von den Geschichtsbüchern, den Geboten, den Propheten und Psalmen, an, daß der erste Teil der salomonischen Sprüche (Proverbia 1–9), da er einen weitaus theologischeren Eindruck macht als der zweite Teil, der frühere sei, der zweite hingegen wegen seiner Säkularisierungstendenz der spätere, der bereits Verfallsformen zeige und eine Dekadenz darstelle, so ist die jüngere Forschung von der gegenteiligen Annahme überzeugt: älter, weil weniger theologisch ausgerichtet und in der internationalen profanen Weisheitsliteratur verankert, seien die letzteren Sprüche (Proverbia 10–29). Sie dienten dem Aufspüren weltlicher Ordnung, während die ersteren, heilsgeschichtlichen bereits die Integration der weltlichen Lehren in den jüdischen Jahweglauben bekundeten. Ob die interne Differenz der zweiten Hälfte der Sammlung auch chronologisch zu deuten ist oder nur auf eine unterschiedliche Perspektivierung hinausläuft, ist schwer zu sagen. Der gravierende Unterschied der beiden großen Teile der Sammlung läßt sich formengeschichtlich auch dadurch belegen, daß es sich bei dem letzten Teil um eine Sentenzensammlung handelt wie in den ägyptischen Weisheitslehren und denen der umliegenden Völkerschaften, bei dem ersten hingegen um eine theologisch weit ausladende Dichtung von ganz anderem Stil. Daß in die alttestamentliche Weisheitslehre das Gedankengut der angrenzenden Länder einging, wurde schon betont. Ebenso klar Vgl. dazu Gerhard von Rad: Theologie des Alten Testaments, Bd. 1, a. a. O., S. 450 f. Anm. 41 und S. 455; Hartmut Gese: Lehre und Wirklichkeit in der alten Weisheit, a. a. O., S. 32.

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aber dürfte sein, daß dieses Gedankengut gemäß den spezifisch kulturellen, politischen und religiösen Voraussetzungen in Israel gefärbt und modifiziert wurde. Im ältesten Teil der Sammlung treffen die beiden von Beginn an zu konstatierenden Strömungen der Weisheitslehre zusammen: zum einen die volkstümliche, die auf Lebensweisheit und Klugheit basiert und eine elementare Ordnung und Sicherheit im Leben sucht, und zum anderen die standesbedingte, die auf pädagogische Ausbildung zielt und didaktische Bildungsziele verfolgt, wenngleich es in Israel wegen der weniger autokratischen Verfassung des Landes niemals eine dem Pharaonenreich vergleichbare Schreiber- und Höflingskaste gegeben hat. Dieser Sachverhalt wird formal dadurch bestätigt, daß die ägyptischen Weisheitslehren »ihrer ganzen didaktischen Abzweckung nach fast ausschließlich im Stil der Mahnrede« gehalten sind, während in den israelitischen »durchaus die indikativisch-thetische Setzung, also die genuine Form des eigentlichen Sprichwortes« überwiegt. 92 »Tatsächlich«, schreibt Gerhard von Rad, »zeigt schon eine oberflächliche Durchsicht, daß im biblischen Sprüchebuch ein breiter Grundstock von Volkssprichwörtern Aufnahme gefunden hat, und das bedeutet, daß in ihm viel zentraler das allgemeine Menschliche mit seinen ganz elementaren Erfahrungen jenseits aller Standesgrenzen zur Sprache kommt.« 93 Daß trotz aller Unterschiede die ägyptische Weisheitslehre im alten Israel in hohem Ansehen stand, belegen Stellen wie Jesaia 19,11–15. Ausgesprochen höfische Sprüche finden sich auch in Proverbia 14,28,35; 16,12; 19,12; 20,2,8,26,28; 21,1; 23,1–3; 24,21; 25,3; 29,4,12,14,26, die sich mit der Position des Herrschers und der Untertanen befassen, die Gehorsam gegenüber dem König fordern, galt er doch als Garant der Ordnung, bei dessen Verfehlung auch die Ordnung kollabierte. So wie man Vater und Mutter als Stellvertretern einer höheren Macht zu gehorchen hat, so auch dem König als Stellvertreter der höheren Ordnung. Daß man sich auch in Israel die Erziehung und Bildung der jungen Leute von höherem Stand zu Schreibkundigen und Beamten angelegen sein ließ, steht außer Frage, selbst wenn das allgemeinmenschliche Wohlverhalten und seine Verfehlungen in der israelitischen Weisheitsliteratur in den Vordergrund drängen. Das 92 93

Gerhard von Rad: Theologie des Alten Testaments, Bd. 1, a. a. O., S. 443. A. a. O. A

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Erziehungs- und Bildungsideal jener Zeit war wie später bei den Griechen und Römern bis ins höfische Mittelalter hinein die gesamtheitliche gymnastisch-musisch-geistige Bildung, 94 die sowohl auf körperliche Ertüchtigung in der Erlernung der Waffentechnik abzielte wie auf die Erlernung des Saitenspiels 95 und, einer altorientalischen Tradition zufolge, auf die Beherrschung der Rhetorik. Zur letzteren gehörten nicht nur Sachkenntnisse, sondern gehörte auch die schöne äußere Form der Darstellung: die wohlgesetzten Worte, die Schmuckrede, die auf Überredung hinauslief 96 und eines der wichtigsten Ausbildungsziele war. 97 Trotz dieser Bildungsziele hat sich die Absicht der israelitischen Weisheitslehre gegenüber der ägyptischen verschoben in Richtung auf eine allgemeine Lebensmeisterung und Lebensbemächtigung, die das breite Volk angeht und nicht nur die höheren Stände. 98 Die standesgemäße Bildung, die auf die Bewahrung von Stand, Besitz und Ehre angelegt war, findet sich zurückgedrängt zugunsten einer allgemeinen Menschenbildung und Überlebensfähigkeit, also der Lebensklugheit. In vielen Sprüchen gerade jüngeren Datums bricht ein ganz anderer, neuer Ton hervor, der in Richtung auf eine Theologisierung, genauer zu reden, auf eine Einverleibung der profanen Weisheitslehre in den jüdischen Jahweglauben zielt. Nicht nur wird häufig das Wort ›Jahwe‹ gebraucht – dies wäre auch mit der altägyptischen Maatvorstellung kompatibel gewesen, für die in Israel der Name ›Jahwe‹ eintrat, da entsprechend dem israelitischen Glauben kein anderer als Schöpfer und Garant dieser Ordnung denkbar war. Vielmehr geht es um das Aufbrechen der alten metaphysischen Fundierung des Vergeltungsdogmas von Handlung und Resultat (Guttat – Heil, Untat – Unheil), das seinen Grund in der Befolgung des richtigen bzw. unrichtigen Weges hatte. Erfolg oder Mißerfolg sind jetzt allein von Gott abhängig. Die göttliche Allmacht wird über jede anVgl. den lateinischen Spruch mens sana in corpore sano, vgl. auch Platons triadisches Erziehungsideal in der Politeia: gymnastische, musische und intellektuelle Ausbildung. 95 Vgl. dazu das Bild vom jungen David 1. Samuel 16,18: »Siehe, ich habe gesehen einen Sohn Isais, den Bethlehemiten, der ist des Saitenspiels kundig; ein rüstiger Mann und streitbar und verständig in seinen Reden und schön, und der Herr ist mit ihm.« 96 Vgl. noch im klassischen Griechenland die hohe sophistische Einschätzung der Rhetorik. 97 Vgl. Proverbia 23,9; 25,11,15; 29,20. 98 Gerade umgekehrt argumentiert Gerhard von Rad: Theologie des Alten Testaments, Bd. 1, a. a. O., S. 445 f. 94

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dere Ordnung gestellt. Zum einen zeigt sich dies darin, daß sie selbst über den König, einstmals Symbol und Identifikationsausdruck der göttlichen Ordnung, frei verfügen kann, wie in Proverbia 21,1: »Des Königs Herz ist in der Hand des Herrn wie Wasserbecher, und er neigt es, wohin er will«, eine Auffassung, die der altägyptischen und auch altisraelitischen Königsideologie total widerspricht, zum anderen zeigt sich dies in der allgemein menschlichen Abhängigkeit von der göttlichen Willkür – Gnade oder Ungnade –, etwa in Proverbia 16,9: »Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg; aber der Herr allein gibt, daß er fortgehe« (besser bekannt als: »Der Mensch denkt, Gott lenkt«) oder Proverbia 16,1: »Der Mensch setzt sich’s wohl vor im Herzen; aber vom Herrn kommt, was die Zunge reden soll«, Proverbia 21,31: »Rosse werden zum Streittage bereitet; aber der Sieg kommt vom Herrn.« Hierin drückt sich nicht nur die Unerkennbarkeit und Unverfügbarkeit der göttlichen Ordnung seitens des Menschen aus, wie sie bereits in der altägyptischen Weisheitslehre des Mittleren Reiches anklang, sondern die völlige Abhängigkeit des menschlichen Geschicks vom frei waltenden und schaltenden Gott. Der Mensch kann jetzt mit aller seiner Weisheit, die ihm einst ein sicheres, gefahrloses Leben garantierte, vor Gott scheitern. In dieser Behandlung der altorientalischen Weisheitslehre liegt zweifellos ein israelitischer Sonderweg, in dem sich, zumindest teilweise, ein tragisch-resignatives Lebensgefühl dokumentiert, ähnlich wie in der griechischen Schicksals- und Nemesislehre, die von der Unberechenbarkeit des Schicksals überzeugt war. Zum anderen bekundet sich darin ein Vertrauen in ein umfassenderes, dem Menschen freilich unverständliches Ganzes (absolutes Gottvertrauen), das zum bedingungslosen Gehorsam gegenüber dem geoffenbarten Wort auffordert. Das Vertrauen basiert glaubensmäßig auf der Güte des Weltschöpfers und -beherrschers. Die profane Weisheitslehre, die einst von der Lebensbemächtigung und -gestaltung des Menschen ausgegangen war und ihren Sitz im Leben hatte, sieht sich hier an ihre Grenzen gelangt und in ihr Gegenteil verkehrt, abhängig von einer transzendenten Macht, die nur im Glauben, nicht mehr in der Erkenntnis (Weisheit) zugänglich ist.

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2.6. Die griechische Weisheitslehre (Gnomologie) Auch Griechenland kennt eine umfassende Weisheitsliteratur, 99 wenngleich dieser Sachverhalt im heutigen Allgemeinbewußtsein weniger bekannt ist als die Existenz der biblischen Weisheitsbücher. Das hängt zum einen damit zusammen, daß wegen der ungeheuren Popularität der Sprüche und Spruchsammlungen diese in hellenistischer Zeit zu bloßen Zitatensammlungen (Anthologien, Florilegien) mit banalen Allerweltsweisheiten verkamen, die, ihrer ursprünglich pädagogischen, wegleitenden Absicht verlustig, vorrangig rhetorischen Zwecken dienten, nämlich der Ausschmückung der Predigten der christlichen Apologeten und der Vortäuschung von Gelehrsamkeit. Dies führte zu immer neuen Variationen der Sprüche, ohne daß ein Interesse an den Quellen bestand. Da uns kein einziges originales Werk vollständig überkommen ist, hat Konstantin Horna zu Recht in seinem Artikel über die griechischen Gnomen von einem ›unübersehbaren Trümmerfeld‹ gesprochen. 100 Der zweite Grund für die Verkennung des obigen Tatbestandes besteht darin, daß für uns Heutigen Griechenland in geistesgeschichtlicher Hinsicht vor allem für die Entwicklung eines anderen Wissensbegriffes, nämlich des wissenschaftlichen steht. Die Tatsache, daß auch in Griechenland eine Weisheitsliteratur existierte, überrascht nicht angesichts der vielfältigen kulturellen Beziehungen Griechenlands zu den Ländern des östlichen Mittelmeeres. Zum einen trieben die Griechen des Mutterlandes wie die Kleinasiens (Ioniens) regen Handel zu Wasser und zu Lande mit den Nachbarländern, wodurch deren geistige Errungenschaften auch nach Griechenland drangen, zum anderen übte die ägyptische Kunst über die Vermittlung der minoischen einen starken Einfluß auf Griechenland aus, was sich nicht nur in der Architektur, sondern auch in der Literatur niederschlug, und zum dritten berichten Diogenes Laertius und Plutarch, daß etliche der berühmten griechischen Persönlichkeiten Ägypten besuchten und schätzen lernten. Von den Sieben Weisen soll Thales, der Begründer der griechischen Geometrie, in Zur Literatur vgl. Anton Elter: De gnomologiorum Graecorum historia atque origine commentatio, 9 Programme der Universität Bonn 1893–1897; Konstantin Horna: Artikel: Gnome, Gnomendichtung, Gnomologien, a. a. O.; H. Chadwick: Artikel: Florilegium, in: Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 7, Stuttgart 1969, Sp. 1131–1160; Max Küchler: Frühjüdische Weisheitstraditionen, a. a. O., bes. S. 240–261; Gay Robins and Charles Cameron Donald Shute: Wisdom from Egypt and Greece, a. a. O. 100 Konstantin Horna: Artikel: Gnome, Gnomendichtung, Gnomologien, a. a. O., S. 82. 99

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Ägypten gewesen sein und dort eine Zeitlang bei Priestern geweilt und die Höhe der Pyramiden aus deren Schattenlänge errechnet haben. Bei diesem Aufenthalt wird er nicht nur Landvermessung (Geometrie) und Astronomie kennengelernt haben, sondern auch mit den Weisheitslehren vertraut geworden sein. 101 Ebenso soll sich Solon, der erste Gesetzgeber Griechenlands, bei den Priestern von Heliopolis und Sais aufgehalten haben. 102 Der ihm zugeschriebene Ausspruch mhdþn ˝gan = ›nichts allzu sehr‹ weist mit seiner Forderung nach Maßhalten auf ägyptische Vorbilder. Kleobulos soll ebenfalls mit ägyptischer Lehre bekannt und vertraut gewesen sein, 103 und Bias war offensichtlich in die Lösung ägyptischer Rätsel eingeweiht, 104 was möglicherweise aus seinem philosophischen Kontakt zum Pharao Amasis resultierte. Ein weiterer prominenter Besucher Ägyptens war Pythagoras, der offensichtlich, einer Empfehlung Thales’ folgend, die Priester von Memphis besuchte. Plutarch berichtet, 105 daß er lange Zeit mit den weisen Männern Ägyptens gelebt, sie in vielfacher Hinsicht imitiert habe, desgleichen in die Geheimnisse und Kulte Ägyptens eingeweiht worden sei, und noch Platon spricht im Timaios 106 mit Hochschätzung von der Stabilität des ägyptischen Staatswesens. So ist es nicht verwunderlich, daß auf merkantilen, politischen, künstlerischen und anderen Wegen auch die ägyptischen Weisheitslehren in Griechenland Eingang fanden. Allerdings hatten die griechischen Weisheitslehren, die von der modernen Forschung als Gnomen oder Gnomologien bezeichnet werden, eine andere Funktion als im alten Ägypten wie auch schon in Israel. Sie waren von Anfang an volksnäher und volkstümlicher, wenngleich bestimmte Sprüche und Spruchsammlungen aus Autoritätsgründen berühmten Einzelpersönlichkeiten wie Solon, Pythagoras oder Epikur 107 zugeschrieben wurden, gleichgültig, ob sie von diesen selbst verfaßt und in Sammlungen angelegt worden waren 101 Vgl. Diogenis Laertii vitae philosophorum, Vol. 1, libri 1–10, ed. Miroslav Marcovich, Stuttgart, Leipzig 1999, 1.27. 102 Vgl. Diogenis Laertii vitae philosophorum, a. a. O., 1.50; Plutarch’s Lives with an English translation by Bernadotte Perrin in 10 volumes, Vol. 1: Theseus and Romulus, Lycurgus and Numa, Solon and Publicola, London 1914, Solon, XXVI, S. 476/477. 103 Vgl. Diogenis Laertii vitae philosophorum, a. a. O., 1.89. 104 Plutarch: Moralia 146. 105 Plutarch: Moralia 729. 106 Platon: Timaios 21 a ff. 107 Vgl. die Goldenen Worte des Pythagoras oder die Maßgebendsten Ansichten des Epikur.

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oder von ihren Schülern und Anhängern. Die andersartige Funktion erklärt sich aus der dezentralen politischen Struktur und Verwaltung Griechenlands. In archaischer Zeit war das Land zersplittert in kleine und kleinste Fürstentümer und Königreiche, ohne durch eine Zentralmacht geeint zu sein. Aus dieser Struktur gingen schon bald die demokratisch verfaßten Stadtstaaten wie Athen, Theben, Sparta usw. hervor. Während die archaische Adelsgesellschaft ihr sittliches Vorbild und ihr gesellschaftliches Identifikationsideal in Homers Epen, der Ilias und der Odyssee, fand – Gnomen kommen hier nur spärlich vor –, sah sich der Volksgeist in Hesiods Werken gespiegelt, allen voran in den 7Erga ka½ mffrai (= Werke und Tage), die als erste Weisheitslehre (Gnomendichtung) angesehen werden. Selbst aus bäuerlichem Stand kommend und mit den Sorgen und Nöten der einfachen Leute vertraut, legte Hesiod in der alten Form der Kurzverse, der sogenannten Paroemiaci, die aus vier Längen und einer frei handhabbaren Anzahl von Kürzen bestanden, volksnahe Lebensregeln nieder. Obwohl es auch in Griechenland Lehren gab, in denen sich der Vater, Erzieher oder Freund an den Sohn, Zögling oder Freund wendet wie in den ägyptischen Weisheitslehren, z. B. in den Hypotheken des Chiron, in den Gnomen des Chares, in der Aesopvita und dann besonders in Pseudo-Isokrates, handelte es sich nicht primär um Instruktionen für den höheren Stand, was dessen Aufgaben und Verantwortung in der Verwaltung des Landes oder dessen Erziehung zum diplomatischen Verkehr, zum kultivierten Umgang mit den Mitmenschen betraf, sondern um allgemeine Anweisungen, die aus dem Alltagsleben stammten, die über Dinge des alltäglichen Lebens belehrten und die Grundordnung der griechischen Gesellschaft betrafen. Es waren Grundregeln einer kultivierten humanen Gesellschaft. Ihre Relevanz und nicht zuletzt ihre Beliebtheit führte dazu, daß sie im Schulunterricht als Vorlage für Schreib- und Leseübungen dienten. Die Sammlungen gaben den Lehrstoff ab, der diktiert und auswendig gelernt wurde. In den Nomoi 108 gibt Platon durch den Mund des Atheners eine Schilderung der damaligen Lehrsituation: Die jungen Leute sollten durch Vorlesen und Auswendiglernen entweder der ganzen Dichtungen oder der hauptsächlichsten Stellen zu Vielwissenden und Vielbewanderten herangebildet werden. Mit dem Erlernen der Buchstaben wurde auch die Moral der Sprüche inter108

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Platon: Nomoi 810 d f.

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nalisiert, wozu die Kürze und Prägnanz und leichte Memorierbarkeit beitrugen. Die Degradierung der Sprüche und Spruchsammlungen zu rein pädagogischen Zwecken des Lesen- und Schreibenlernens war auch der Grund für die massenhafte Multiplikation und beiläufige Modifikation derselben – bekannt geworden sind weit über 1000 Sammlungen –, desgleichen für die Verflachung des Inhalts zur Banalität. Der Form nach handelt es sich teils um Einzelsprüche, teils um Spruchsammlungen. Zu den ältesten Sprüchen zählen die der Sieben Weisen, die aus späterem Material über inhaltliche Konvergenz rekonstruiert wurden, so der Thales zugeschriebene Spruch: 3Egg [Ða p€ra d3 ˝ta] = »Bürgschaft, schon ist Unheil da«, S[pouda…a melffta] = »Um Ernstes bemüh dich«,

der dem Solon zugeschriebene: Mhdþn ˝gen = »Nichts allzu sehr«,

der dem Chilon zugeschriebene: Gnq[i] seautn = »Erkenne dich selbst«,

der dem Kleobulos zugeschriebene: 7Aristo[n t mfftron] = »Das Maß ist das Beste.« 109

Bei der Gnomendichtung wie der von Theognis handelt es sich um geschlossene Werke, die nicht als Sammlungen fremder Autoren entstanden, sondern um ihrer selbst willen geschaffen wurden, auch wenn Theognis’ Werk wegen seines lehrhaften Charakters weniger als Dichtung angesehen wird. Geschrieben wurde in Versform wie in Prosa, immer aber wurde Einprägsames und gut Memorierbares intendiert. Die großen Sammlungen sind entweder alphabetisch geordnet oder nach Sachgruppen, wie die Gnomen des Menandros (die ältesten Papyri sind alphabetisch, die späteren aus dem 13. Jahrhundert nach Chr. teils alphabetisch, teils sachlich), oder benutzen verschiedene Assoziationen zum Übergang. Stets ist die Anordnung locker. Ihrem Inhalt nach unterscheiden sich die griechischen Gnomen mit einer Ausnahme, der Schicksalsauffassung, nicht wesentlich von den schon beschriebenen der Nachbarländer, was sich daran zeigt, 109

Vgl. Max Küchler: Frühjüdische Weisheitstraditionen, a. a. O., S. 242. A

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daß sich sowohl direkte wie indirekte Verbindungslinien ziehen lassen. Zum einen geht es in ihnen um Verhaltensregeln im Alltag, zum anderen um die Ethik des Maßhaltens, der Selbstbeherrschung und Selbstdisziplinierung, der Besonnenheit und Demut im Gegensatz zu Hybris, Maßlosigkeit, Unbesonnenheit und Zügellosigkeit und zum dritten um die Schicksalshaftigkeit. Einige markante Beispiele mögen dies belegen: Wenn es in bezug auf Eß- und Trinkmanieren in der Satire des Tradis heißt: »Wenn du drei Stück gegessen, zwei Glas Bier getrunken hast und du bist noch nicht satt, zügle dich«, so hat das in der ägyptischen Weisheitsliteratur ein Vorbild in der Lehre des Ptahhotep, Vers 101 ff.: »Wenn du ein Gast bist am Tische eines, der größer ist als du, dann nimm, was er dir gibt, wie man es dir vorlegt. Blicke nicht auf das, was vor ihm liegt, sondern blicke immer nur auf das, was vor dir liegt« 110 , sowie in der Lehre des Kagemni, Vers 8 ff.: »Wenn du mit mehreren beisammen sitzest, dann enthalte dich der Speise, die du magst. Man hat sich ja nur einen kurzen Augenblick zu bezwingen. Gier ist niedrig, man deutet mit dem Finger auf sie. Ein Becher Wasser löscht schon den Durst, und ein Mundvoll Gemüse stärkt das Herz. Ein einziges gutes Ding steht für alles Gute, ein winziges Bißchen steht für viel. Widerlich ist, wer für seinen Bauch giert […]. Wenn du mit einem Gefräßigen zusammensitzest, dann iß erst, wenn seine Eßlust vorbei ist. […] Reiß dich nicht um ein Stück Fleisch an der Seite eines Gierigen […].« 111

Auch Verbote wie lügen, betrügen, stehlen, falsch Zeugnis schwören, Unredlichkeit beim Besitzerwerb, desgleichen Gebote von der Art, den Freunden zu helfen, Mitleid zu haben, auf Ansehen, Ehre, guten Ruf zu achten, die Grundbestandteile der griechischen Ethik waren, gehen auf ägyptische Lehren zurück und haben dort ihr Pendant. Auszüge aus den Gesetzesepitomen des Philo: »Nicht von einem Haufen etwas Großes oder Kleines wegnehmen, einfach nichts«, »Nicht das Feuer einem Bedürftigen neiden«, »Nicht die Wasserquellen abschneiden«, »Vielmehr: Den um Nahrung bettelnden Armen 110 111

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Die Weisheitsbücher der Ägypter, a. a. O., S. 114. A. a. O., S. 134.

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und Krüppeln aus Pietät zu Gott mit frommer Gesinnung darreichen« 112 , oder Auszüge aus der Inschrift von Kyzikos: »Ungerechtes fliehe!«, »Bezeuge, was recht ist!«, »Tue Gerechtes!«, »Der Ehre jage nach!«, »Die Tugend lobe!«, »Den Freunden hilf!«, »Freunden sei gutgesinnt!«, »Dem Freund sei gefällig!«, »Die Freundschaft liebe!« 113 , weisen auf die Lehre des Ptahhotep: »Sei nicht habgierig nach den Gütern bei der (Erb)teilung, begehre nicht, was dir nicht zusteht« (Vers 252 f.) 114 , »Gib deinen Freunden ab von dem, was dir zuteil geworden ist, es ist ja nur gekommen durch Gottes Gnade. Von einem, der seinen Freunden nichts abgibt, sagt man: ›Das ist ein egoistischer Mensch!‹« (Vers 280 ff.) 115 , ebenso auf die Lehre des Amenemope: »Hüte dich, einen Elenden zu berauben oder einem Schwachen Gewalt anzutun« (Vers 61 f.) 116 , »Hüte dich, den Scheffel zu beschmieren, um seine Teile zu verfälschen« (Vers 352 f.) 117 , »Schädige nicht einen Menschen durch die Schreibbinse auf dem Papyrus: das ist für den Gott ein Abscheu. Lege auch mit Worten kein falsches Zeugnis ab und schiebe nicht einen anderen mit deinem Munde beiseite« (Vers 292 ff.) 118 , »Tritt nicht ins Gericht vor einen Beamten, wenn du dort falsche Angaben machen willst (oder mußt?). […] Sprich die Wahrheit vor dem Beamten« (Vers 391 ff.) 119 , »Sprich nie verlogen zu einem Menschen, denn das ist dem Gott ein Abscheu« (Vers 249 f.) 120 und auf viele andere Stellen in der ägyptischen Literatur. Wie in Ägypten ist auch in Griechenland das Maßhalten, die Selbstbeherrschung, nicht nur beim Essen und Trinken, sondern auch beim Sprechen und Antworten besonders auf Beleidigungen und Verletzungen wie überhaupt im Umgang mit Menschen, oberste Tugend. Es gilt, seine Triebe zu beherrschen, seine Emotionen in Schach zu halten. Wenn es im Ägyptischen bei Ptahhotep heißt: »Erhebe dein Herz nicht zu sehr, damit es nicht gedemütigt wird« (Vers 330) 121 oder »Wenn du die Rede eines hitzigen Mannes beantwortest, 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121

Vgl. Max Küchler: Frühjüdische Weisheitstraditionen, a. a. O., S. 224. Vgl. a. a. O., S. 242 f. Die Weisheitsbücher der Ägypter, a. a. O., S. 120. A. a. O., S. 121. A. a. O., S. 239. A. a. O., S. 249. A. a. O., S. 247. A. a. O., S. 251. A. a. O., S. 245. A. a. O., S. 123. A

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dann wende dein Gesicht ab, beherrsche dich« (Vers 332 f.) 122 , so könnte dies auch in den griechischen Gnomen stehen. Wie in den ägyptischen Weisheitslehren immer wieder die Rede davon ist, Zorn und Wut zu bändigen, Aggressionen zu unterdrücken, Beleidigungen und Heißblütigkeit nicht mit gleicher Münze heimzuzahlen, zur rechten Zeit sein Inneres in Schach zu halten, zur rechten Zeit zu reden und zu schweigen, so gilt Entsprechendes auch für Griechenland. »Den Zorn beherrsche!«, »Den Stolz verabscheue!«, heißt es in der Inschrift von Kyzikos. 123 Das Maßhalten, die mâze, gilt noch bis in den mittelalterlichen ritterlichen Tugendkatalog hinein und findet seinen Ausdruck in der Kunst, in der Lässigkeit und Zügelung des Bamberger Reiters. Wie es im Ägyptischen gerade in bezug auf das richtige Reden und Schweigen etliche Instruktionen gibt: »Offen ist das Zelt für den Schweiger, geräumig ist der Ort des Zufriedenen. Sprich nicht (zuviel)« (Vers 3 ff.) 124 , »Antworte nicht erregt« (Vers 398) 125 , »Achte auf deinen Mund und beherrsche das Herz. Es ist dir zuträglicher zu schweigen, als dein Herz zu zeigen« (Vers 312 f.) 126 , so entsprechen dem in Griechenland Kleobulos’ Hinweis, eher zuzuhören als zu reden, 127 ebenso wie Bias’ Aussage: »Sei nicht hastig in der Rede, denn das ist ein Zeichen von Schwachheit« 128 oder Chilons Aussage: »Laß deine Zunge nicht deinem Verstand davonrennen.« 129 Selbstkontrolle, An-sich-Halten, Temperierung der Gefühle, Ruhe, eventuell Schweigen, allenfalls beherrschte Erwiderung werden in Griechenland großgeschrieben. Ein Unterschied zwischen Griechenland und Ägypten läßt sich am ehesten in bezug auf den Schicksalsglauben konstatieren. Während die Ägypter der alten Zeit von der unaufhebbaren Verbindung von Handeln und Resultat überzeugt waren und allenfalls in Krisenund Umbruchzeiten diesen Automatismus außer Kraft gesetzt und geschwächt sahen, niemals aber den Glauben aufgaben, daß auf lange Sicht das adäquate Ergebnis eintreten werde, ist in Griechenland an 122 123 124 125 126 127 128 129

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A. a. O., S. 123 f. Max Küchler: Frühjüdische Weisheitstradition, a. a. O., S. 242 f. Die Lehre des Kagemni, a. a. O., S. 134. Die Lehre des Ptahhotep, a. a. O., S. 126. A. a. O., S. 122 f. Vgl. Diogenis Laertii vitae philosophorum, a. a. O., 1.92. A. a. O., 1.88. A. a. O., 1.70.

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die Stelle des Vergeltungsdogmas die Überzeugung von der unvorhersehbaren und unbeherrschbaren Schicksalsmacht getreten, wie sie in den Dramen und Tragödien des Sophokles, etwa im Ödipus, zum Ausdruck kommt. Fatalismus, Schicksalsergebenheit, Unausweichlichkeit des Schicksals nehmen nun den Platz von Rationalität und Berechenbarkeit der Handlungen und ihrer Ergebnisse ein. Sprüche wie aus Ptahhotep: »Niemals noch ist es gut ausgegangen, wenn man Menschen in Furcht versetzt, allein was Gott anordnet, das geht gut aus. Nimm dir vor, in Zufriedenheit zu leben – was die Götter zuteilen, das kommt von selbst« (Vers 97 ff.) 130 , die noch wie selbstverständlich vom Funktionieren der Ordnung der Maat ausgehen, werden umgedeutet. Die Lehren des Mittleren Reiches, z. B. Amenemope: »Lege dich nicht schlafen, wenn du das Morgen fürchtest: ›Wenn es tagt, wie ist dann das Morgen?‹ Der Mensch weiß nicht, wie das Morgen ist. Gott ist immer in seinem Erfolg, während der Mensch immer in seinem Versagen ist« (Vers 371 ff.) 131 , die bereits eine Brüchigkeit erkennen lassen, werden in Griechenland vertieft; denn die Tragik des Menschen, das Gute zu beabsichtigen und dennoch in Schuld zu geraten, wie im Falle des Ödipus, ist für die Griechen konstitutiv. 2.7. Der griechische sophía-Begriff Das Menschenbild, das hinter den Gnomen sichtbar wird und das griechische Leben, den Alltag ebenso wie die Wissenschaft und die Philosophie, bestimmt, ist das Bild des Weisen (sophós) und die Art seines Wissens, die Weisheit (sophía). Was bedeuten sophós bzw. sophía? Der Versuch Karl Brugmanns 132, den griechischen sophía-Begriff etymologisch aufzuklären und dem Wortfeld von griechisch ¡r”n, lateinisch videre zuzurechnen, das für die visuell veranlagten Griechen eine so bedeutende Rolle spielte und dem sich auch die Herkunft des althochdeutschen Wissensbegriffes (wizzan) verdankt, Die Weisheitsbücher der Ägypter, a. a. O., S. 114. A. a. O., S. 250. 132 Karl Brugmann: Etymologische Miszellen, in: Indogermanische Forschungen. Zeitschrift für indogermanische Sprach- und Altertumskunde, Bd. 16 (1904), S. 491–509, bes. S. 499–503. 130 131

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ist kläglich gescheitert. Eine Verwandtschaft ist nicht erkennbar. Viel plausibler erscheint es, den Begriff mit dem altägyptischen sb jt = ›Lehre‹ in Verbindung zu bringen, da der Anfangsbuchstabe – ein Dental – und der Binnenlaut – ein Labial phi (f) bzw. b – in beiden Sprachen gleichlautend sind. Im Hebräischen war der Titel eines der höchsten Ministerialbeamten am Hof zu Jerusalem so¯fe¯r = ›Schreiber‹, und ebenso wird Achiqar, der Wesir und Siegelbewahrer Sanheribs, ›weiser und geschickter Schreiber‹ genannt. Der kanaanäische Titel für den ›geschickten Schreiber‹ war so¯fe¯r ma¯he¯r, 133 und die judäische Stadt Debir hatte den Beinamen Qirjat-Sefer oder mit geringer Änderung Qirjat-Sofer, was soviel bedeutet wie ›Schreiberstadt‹. 134 Sofismus ist noch heute im Arabischen der Name für eine religiöse mystische Richtung im Islam, die über spirituelle Praktiken wie Rezitation und Tanz 135 in Kontakt mit dem Göttlichen zu kommen versucht. Demselben Wortstamm gehört auch das lateinische sapientia an. Sollte es sich hier nicht um ein indogermanisches Wort handeln, so dürfte es als Lehnwort aus den altorientalischen Sprachen einzustufen sein. Mit dem lautlichen Gleichklang hält auch die inhaltliche Bedeutung Einzug in die griechische Kultur. Das Wort sofffla (ionisch soffflh) sowie die in dieses Wortfeld gehörigen Begriffe sof@, sofistffi@, soffflzein sowie alle mit ›so‹ bzw. ›sw‹ (Voll- oder Dehnstufe) gebildeten Begriffe wie swfrosÐnh weisen damit in die Richtung eines in gerüttelter Lebenserfahrung fundierten Wissens, auf das sich die höhere Bildung und Gesittung aufbaut, die den rechten Weg zu einem erfolgversprechenden Leben ebnen soll und die nicht nur in hervorragendem Einzelwissen auf allen Gebieten der Administration, des Militärs, der Staatsführung besteht, so wie es von dem ägyptischen Schreiber einmal heißt: »Es gibt nichts, was er nicht wüßte« 136 , sondern die auch eine integrative Überschau verlangt. Der griechische sophía-Begriff enthält damit alle Facetten des klassischen Weisheitsbegriffes. Seine Grundbedeutung ist die noch ungebrochene Einheit von theoretischem und praktischem Wissen, die noch nicht in ihre Einzelkomponenten auseinandergetreten ist. Die praktische Seite umfaßt dabei die gesamte Spannweite von praktische

133 134 135 136

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Vgl. Psalm 45,2; Esra 7.6; Achiqar 1. Vgl. Walter Baumgartner: Israelitische und altorientalische Weisheit, a. a. O., S. 20 f. Vgl. die Derwischorden. Walter Baumgartner: Israelitische und altorientalische Weisheit, a. a. O., S. 20.

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handwerklichem bis hin zu praktisch-ethischem Wissen. Sie reicht hinab bis zu manueller Tätigkeit, zur Beherrschung handwerklicher Methoden, und reicht hinauf bis zur Integration der Detailerkenntnisse in einem umfassenden Ganzen, einer Ordnung, die der altägyptischen Maat und der israelitischen göttlichen Ordnung im weitesten Sinne entspricht und bei den Griechen der Kosmos ist. ›Kosmos‹ meint ›Wohlordnung‹, wie man sie am Planetarium studieren kann, und damit auch ›Schönheit‹ ; denn das Geordnete, Strukturierte, Gesetzmäßige galt im Gegensatz zum Chaotischen den Griechen als das Schöne. Aristoteles definiert dieses umfassende Gesamtwissen in der Nikomachischen Ethik 137 als Wissen von den Prinzipien und deren Folgen, d. h. als systematisches Wissen, als Wissen vom Gesamtsystem in seiner internen Ordnung und Stufung, in dem jedes seinen genuinen Ort, sein Verhältnis und seine Beziehung zu jedem anderen hat und die Wege der Zuordnung festliegen. Der sophós muß nicht nur Meister seines Faches sein, sich auf seine Sache verstehen, geschickt mit ihr umgehen können, sondern auch ein Überblickswissen haben, das nicht bloß kumulativ und aggregativ ist, sondern gegliedert, wenn der rechte Weg durch das Leben gefunden und die Ordnung aufrechterhalten werden soll. Das Verhältnis von theoretischem Einzel- wie Allwissen zur Ethik, zum guten, sittlichen Leben (eª pr€ttein) wie auch zum Wohlbefinden und Glück (e'daimone…n), ist Thema von Platons Charmides 171 d ff, 138 wobei es um den Traditionszusammenhang von Sachkenntnis und erfolgreichem, gelingendem Leben geht. Bezeichnenderweise ist von Heraklit bei Stobaeus: Florilegium 1.178 das Wort überliefert: swfrone…n ⁄ret¼ megfflsth, ka½ soffflh ⁄lhqffa lffgein ka½ poie…n katÞ fÐsin ¥pafflonta@ 139 = »Gesund denken ist größte Tugend, und die Weisheit besteht darin, die Wahrheit zu sagen und zu handeln gemäß der Natur, auf sie hinhörend.« Zwar ist das Fragment wegen seiner angeblich stoisierenden Tendenz mehrfach als unecht angefochten worden, 140 aber, wie Burkhard GlaAristoteles: Nikomachische Ethik, 6. Buch, Kap. 6,7 (1141 a f.). Vgl. Karen Gloy: Bewußtseinstheorien. Zur Problematik und Problemgeschichte des Bewußtseins und Selbstbewußtseins, Freiburg, München 1998, 3. Aufl. 2004, S. 138 ff. 139 Fragment 112 in: Die Fragmente der Vorsokratiker, griechisch und deutsch von Hermann Diels, hrsg. von Walther Kranz, Bd. 1, 18. Aufl. Zürich, Hildesheim 1989 (unveränderter Nachdruck der 6. Aufl. 1951), S. 176. 140 Vgl. Friedrich Schleiermacher und Jacob Bernays, ebenso William Arthur Heidel: On Certain Fragments of the Pre-Socratics: Critical Notes and Elucidations, in: Proceedings 137 138

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digow gezeigt hat, mit fragwürdigen Argumenten. Zudem paßt es exakt in den ausgeführten Kontext. Das ›gesunde‹ Denken ist das ›richtige‹ Denken, das der vorgegebenen normativen Weltordnung entspricht, das den richtigen Weg erkennt und einschlägt und damit zum gewünschten Resultat gelangt. Es bezeichnet den Idealzustand, die Einheit von naturgegebener Ordnung und Gesetzmäßigkeit und ihr entsprechender Einsicht und Handlung. Mit dem sophía-Begriff stellt sich auch hier automatisch die Frage nach dem guten und gelingenden, dem glücklichen Leben, wenngleich sie möglicherweise anders beantwortet wird als in Ägypten und in Israel. Das Gute und Nützliche für einen selbst ist nicht so sehr in äußeren, materiellen Gütern wie Reichtum, Ämtern und Ehren zu erblicken als vielmehr im sittlichen Wohlverhalten gegenüber der staatlichen Ordnung, der Polis, und damit in den sogenannten bürgerlichen Tugenden der Besonnenheit, Tapferkeit, Gerechtigkeit, Frömmigkeit usw. Aufschlußreich ist Platons Zuordnung der Tugendbegriffe zu den jeweiligen optimalen Funktionen der Seelenteile und der ihnen korrelierten Gesellschaftsklassen im Staat. So ist sofffla (›Einsicht‹) dem höchsten Seelenteil des logistikn (›logisches Vermögen‹) und der Führungsschicht zugeordnet, ⁄ndreffla (›Tapferkeit‹) dem mittleren Seelenteil des qumoeidff@ (›mutiges Vermögen‹) und damit dem Stand der Krieger, swfrosÐnh (›Besonnenheit‹) dem unteren Seelenteil des ¥piqumhtikn (›Begehrungsvermögen‹) und der Gesellschaftsschicht der Produzierenden, der Handwerker und Bauern. Da die Seelenteile in jedem Menschen eine hierarchische Einheit bilden und die Klassen des Staates den ebenfalls hierarchisch geordneten Gesamtstaat formieren, dürfte in ihrer Analogie der Hinweis liegen, daß die optimale Verfassung der Seele die optimale Verfassung des Staates garantiert. Die Einsicht in diese Gesetzmäßigkeit und das ihr gemäße Leben definieren das Ideal des richtigen (= gerechten) Lebens. Gerechtigkeit (dikaiosÐnh) ist für Platon dann gegeben, wenn jeder gemäß seinem Stand und seinen genuinen Kräften das Seine tut, also nach der generellen Ordnung handelt und den von ihr vorgegebenen Direktiven folgt. Die griechische Kultur- und Geistesgeschichte überblickend, hat Aristoteles von einem späteren, schon fortgeschritteneren Standof the American Academy of Arts and Sciences, Bd. 48 (1913), S. 681–734, bes. S. 713 (Diskussion bei Burkhard Gladigow: Sophia und Kosmos. Untersuchungen zur Frühgeschichte von sof@ und soffflh, Hildesheim 1965, S. 111 f. Anm. 3).

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punkt aus in der Nikomachischen Ethik, 6. Buch, Kap. 7 141 versucht, eine begriffsgeschichtliche Darstellung des sophía-Begriffes zu geben, wobei er eine Zwei-Stadien-Theorie entwirft, die das Anfangsund Endstadium der Entwicklung kennzeichnet. Ausgehend von einer rein praktisch-handwerklichen Bedeutung, der zufolge sophía sich auf einzelne handwerkliche Tätigkeiten und Fachbereiche bezieht, soll im Verlaufe der Entwicklung eine Abtrennung der theoretischen Komponente von der praktischen erfolgt sein, nach der der Begriff fürderhin als Oberbegriff für no‰@ und ¥pistffimh (›Vernunft‹ und ›Verstand‹) fungiert. Die Absprungbasis für das Aristoteles vorschwebende Ziel bildet ein Margites-Zitat, das seinerzeit noch Homer zugeschrieben wurde: tn d3 ot3 r skapt»ra qeo½ qffsan ot3 ⁄rot»ra ot3 ˝llw@ ti sofn, p€sh@ d3 m€rtanh tffcnh@ (»Ihn nun hatten die Götter zum Gräber nicht, auch nicht zum Pflüger noch sonst weise gemacht«).

Aus der Tatsache, daß Margites auf keinem Einzelgebiet versiert ist, weder zu graben noch zu pflügen noch sonst eine bäuerliche oder handwerkliche Tätigkeit auszuüben versteht, wird gefolgert, daß er in umfassendem Sinne verständig ist, gleichsam alles überblickend, und daß sich hierauf seine Weisheit gründet, die als Vereinigung von verstandes- und vernunftmäßiger Erkenntnis die rein theoretische Komponente des sophía-Begriffes ausmacht. Zur Stützung der Aristotelischen These könnte man eine Homer-Stelle heranziehen, den Ilias-Vers O 412, in dem erstmals in der erhaltenen Literatur ein Wort des Stammes sof- auftritt, soffflh, und mit einer praktisch-handwerklichen Tätigkeit in Verbindung gebracht wird, der des Zimmermannes. Allerdings ist die Stelle oft als fremdartig empfunden und als spätere Interpolation betrachtet worden, 142 wobei als Argument die Tatsache dient, daß soffflh hier als ¿pax kefflmenon gewertet wird. 143 Einen weiteren Beleg jedoch könnten die uralten Eigennamen bieten, die auf handwerkliche Tätigkeiten und das Sich-verstehen auf solche deuten, so Ceirfflsofo@, 144 was 1141 a f. Vgl. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die Ilias und Homer, Berlin 1916, S. 239, ähnlich Johannes Lohmann: Besprechungen, in: Lexis. Studien zur Sprachphilosophie, Sprachgeschichte und Begriffsforschung, Bd. 4,1 (1954), S. 133 u. 154 f. 143 Vgl. Burkhard Gladigow: Sophia und Kosmos, a. a. O., S. 9 Anm. 1. 144 Xenophon: Anabasis, I.4,3 f.; vgl. Bruno Snell: Die Ausdrücke für den Begriff des 141 142

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›Hand-Werker‹ bedeutet, oder Sofoklffi@, Soffflllo@, was ›Waffenschmied‹ bedeutet und auf jemanden hinweist, der die Kunst des Waffenschmiedens beherrscht. In seinem Endstadium als umfassende theoretische Erkenntnis, die das Teilwissen in das Gesamtwissen integriert und folglich auf intellektueller Einsicht in das Ganze und seine Allgemeinprinzipien basiert, ist der sophía-Begriff aus der klassisch griechischen Philosophie von Platon und Aristoteles bekannt. Wiewohl der Gott allein im strengen Sinne ›weise‹ genannt werden kann (sophós), ist der Mensch ein nach Weisheit strebender (philósophos). 145 Als zwischen Weisheit und Torheit stehend, sucht er nach Weisheit, während der Gott sich im Besitze derselben und somit im Zustand der Vollkommenheit befindet. Hier klingt der alte Gegensatz des Weisen zum Toren aus der Weisheitsliteratur an. Eine nicht zwei-, sondern dreistufige Entwicklungsthese vertreten spätere Interpreten wie Bruno Snell 146 und, ihm folgend, Burkhard Gladigow 147, und dies auf der Grundlage einer prinzipiellen Beobachtung von Wilhelm von Humboldt über die Entwicklung von Kulturen, die stets mit Realitätsnähe beginnt und über die künstlerische Zusammenfassung und Gestaltung von Daten durch die Einbildungskraft bei abstrakten theoretischen Betrachtungen der Begrifflichkeit der Wissenschaft landet. Snell beruft sich auf folgende Passagen bei Humboldt: »Denn beide [Poesie und Prosa] bewegen sich von der Wirklichkeit aus zu einem ihr nicht angehörenden Etwas: die Poesie fasst die Wirklichkeit in ihrer sinnlichen Erscheinung, wie sie äusserlich und innerlich empfunden wird, auf, ist aber unbekümmert um dasjenige, wodurch sie Wirklichkeit ist, stösst vielmehr diesen ihren Charakter absichtlich zurück. Die sinnliche Erscheinung verknüpft sie sodann vor der Einbildungskraft und führt durch sie zur Anschauung eines künstlerisch idealischen Ganzen. Die Prosa sucht in der Wirklichkeit gerade die Wurzeln, durch welche sie am Daseyn haftet, und die Fäden ihrer Verbindungen mit demselben. Sie verknüpft alsdann auf in-

Wissens in der vorplatonischen Philosophie (sofffla, gnðmh, sÐnesi@, storffla, m€qhma, ¥pistffimh), Berlin 1924, 2. unveränderte Aufl. Hildesheim, Zürich 1992, S. 6. 145 Vgl. Platon: Symposion 204 a. 146 Bruno Snell: Die Ausdrücke für den Begriff des Wissens in der vorplatonischen Philosophie, a. a. O., S. 8 ff. 147 Burkhard Gladigow: Sophia und Kosmos, a. a. O., S. 139 f.

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tellectuellem Wege Thatsache mit Thatsache und Begriffe mit Begriffen und strebt nach einem objectiven Zusammenhang in einer Idee.« 148 »Die fortschreitende Bildung des Geistes führt zu einer Stufe, wo er, gleichsam aufhörend zu ahnden und zu vermuthen, die Erkenntniss zu begründen und ihren Begriff in Einheit zusammenzufügen strebt. Es ist dies die Epoche der Entstehung der Wissenschaft und der sich aus ihr entwickelnden Gelehrsamkeit und dieser Moment kann nichts anders, als im höchsten Grade einflussreich auf die Sprache seyn. […] Des allgemeinen Einflusses aber dieser Epoche ist es hier der Ort zu erwähnen, da die Wissenschaft in strengem Verstande die prosaische Einkleidung fordert und eine poetische ihr nur zufällig zu Theil werden kann.« 149

Auf dieser Grundlage fügt Snell 150 unter Berufung auf Athenäus, von welchem die Aussage stammt, daß die ältere griechische sophía vorzüglich in der Dichtkunst gelegen habe, zwischen die sophía als handwerkliches Können und die sophía als theoretisches Kennen die sophía als künstlerisches, insbesondere dichterisches Schaffen ein. Gegenüber diesen zwei- und dreistufigen Entwicklungsmodellen möchte ich eine andere Interpretation vertreten, die im sophía-Begriff den latenten, aus der traditionellen Weisheitslehre stammenden Facettenreichtum als ganzen sieht, der bei den einzelnen griechischen Dichtern und Philosophen sowie im Alltagsbewußtsein lediglich unterschiedliche Ausprägung gefunden hat. Dafür spricht folgendes: In der griechischen Literatur, sowohl der Dichtung wie der Prosa, finden sich in der vorklassischen wie klassischen Zeit eine Reihe von Berufsangaben, deren Vertreter sophós genannt werden. Neben dem schon erwähnten Handwerker im allgemeinen und dem Waffenschmied im besonderen sowie dem Zimmermann 151 sind es Künstler im allgemeinen 152 und Kitharaspieler im besonderen 153 , au148 Wilhelm von Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, in: ders.: Werke in 5 Bden., hrsg. von Andreas Flitner und Klaus Giel, Bd. 3: Schriften zur Sprachphilosophie, Stuttgart 1963, 5. Aufl. 1979, S. 368–756, bes. S. 584 f. 149 A. a. O., S. 591. 150 Bruno Snell: Die Ausdrücke für den Begriff des Wissens in der vorplatonischen Philosophie, a. a. O., S. 8. 151 Homer: Ilias O 411 f.; Pindar: Pythische Ode III, 113; Euripides: Alkestis 348; Kritias: Sisyphos, Fragment 25, 34 d; Platon: Dialog über die Tugend 376 b; vgl. Aristophanes: Die Vögel 1155. 152 Pindar: Olympische Ode VII, 53; [Anakreon] Fragment 104 Cr; Aristoteles: Nikomachische Ethik, VI, 7,1 (1141a) (in bezug auf Phidias und Polyklet). 153 Hesiod: Fragment 193 und Erga 649 (in bezug auf sich selbst).

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ßerdem der Steuermann 154 , der Feldherr 155, der Wagenlenker 156, der Ringer 157, der Seher 158, der Arzt 159 und der Scheidekünstler (Metallurg) 160 . 161 Sieht man sich diese auf den ersten Blick bunte Mischung genauer an, so springen drei Gruppierungen in die Augen: 1. die Gruppe der Steuermänner, Wagenlenker, Führer überhaupt, 2. die Gruppe der Seher, Ärzte, Metallurgen und Waffenschmiede und 3. die Gruppe der Künstler (Kitharaspieler) und Dichter. Mit Ausnahme des Ringers nennen alle Gruppen Berufe, die mit der alten Weisheit in Verbindung stehen. Es sind also nicht irgendwelche Berufe, sondern ganz bestimmte, deren Vertreter sophós genannt werden. Der Steuermann, der sein Schiff selbst bei gefahrvoller, ungestümer See sicher zum Zielhafen leitet, wird schon in einer der ältesten ägyptischen Weisheitslehren, der des Ptahhotep, als Paradigma eines Weisen genannt. Dem entspricht der Wagenlenker, der den Streitwagen sicher durch die feindlichen Reihen oder bei den Olympiaden geradewegs in das Ziel zu lenken vermag. Der Feldherr, der im Altertum seinem hohen Stand gemäß der König war, führt sein Heer bzw. sein Volk ebenfalls sicher zum Sieg. Bei der zweiten Gruppe handelt es sich um die der alten Magier und Weisen, die wie der Seher und Prophet nicht nur die Wege der Gegenwart, sondern auch die der Zukunft kennen und vorausschauen. Die Ärzte, die wie in Ägypten und Mesopotamien die Einbalsamierung der Leichname vornahmen, standen den Omendeutern z. B. bei dem Leberschauorakel nicht fern, d. h. einer Berufssparte, die die Zeichen der Zukunft kenntnisreich, d. h. methodisch aus der Farbgebung, Struktur und 154 Archilochos: Fragment 44 D; Bakchylides XI,1; Aischylos, Supplices (Die Schutzflehenden) 770; Platon: Sophistes 233 b; Hesiod: Erga 649; Phaidrus 4,17.8. 155 Euripides: Fragment 352 und 581 N.; Pollux I, 178. 156 Pindar: Pythische Ode V, 115; Platon: Theag. 123 c; Alkman: Fragment 2,2 D. 157 Sophokles: Philoktet 431. 158 Aischylos: Die Sieben gegen Theben 382; Sophokles: Antigone 1059; Ödipus auf Taurus 484; Euripides: Iphigenie auf Taurus 662; Aristophanes: Plutos 11; Herodot II,49,2; Empedokles: Fragment 146. 159 Pindar: Pythische Ode III, 54; Sophokles: Ajax 581; Aristophanes: Plutos 11; Platon: Theaitet 167 b; Gesetze VI, 761 d; Bion (Ziegl.) XI,2; Agathon: Anthologia Palatina XI, 382, 6. 160 Theognis, 120 (vgl. Bakchylides: Fragment 14 Bl); Sophokles: Fragment 1021 N; Platon: Dialog über die Tugend 376 b; Xenophon: Hiero I, 23; Aristophanes: Pax 603; Xenophon: Oeconomicus XVI,9. 161 Vgl. zu der Berufsauflistung Bruno Snell: Die Ausdrücke für den Begriff des Wissens in der vorplatonischen Philosophie, a. a. O., S. 6 f.; Burkhard Gladigow: Sophia und Kosmos, a. a. O., S. 11 ff.

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Gliederung etwa der Leber herauslasen, entweder auf analogische Weise durch Entsprechungsbezüge und abbildliches Aussehen oder auf historisch-induktive Weise durch Schluß von der Vergangenheit auf die Zukunft. 162 Waffenschmiede und Metallurgen, Erzarbeiter und Scheidekünstler galten stets als mit magischen Kräften ausgestattet. Auch in der germanischen Mythologie sind die Zwerge, die dieses Handwerk beherrschen, mit unheimlichen, übernatürlichen Kräften ausgestattet. Als gnomische Wesen arbeiten sie unter der Erde. Bei der Gruppe der Dichter und Künstler handelt es sich um die Fortsetzung der Gruppe der Räte (Ratgeber), die nach altorientalischer Tradition wohlgeformte Reden zu halten vermochten, d. h. schöne Worte zu machen verstanden, wie sie noch heute vom Rhetor verlangt werden, der seine Sache formgerecht vortragen muß, um zu überzeugen. Zu bedenken ist auch, daß die Kunst zur damaligen Zeit noch nicht wie seit der Renaissance, der Genie- und der Sturm- und Drangzeit mit Genialität, Originalität und Virtuosität, kurzum mit Schöpferkraft in Verbindung gebracht wurde, welche den Künstler zum alter deus stempelte, sondern mit Können identifiziert wurde. Dieses bestand in der handwerklichen, methodischen Ausübung der Imitation der Natur oder der Tradition. 163 Kunst war die praktische Beherrschung der Methoden. Das Wort, der Ton, das Material mußten in rechter Weise gesetzt werden können. Der Künstler war nicht das Regeln schaffende Genie, sondern der Regeln befolgende Handwerker. Alle diese Berufe weisen auf Fertigkeiten (englisch skills), die in einem methodengerechten Umgang mit den Dingen und Werkzeugen bestehen und im täglichen Gebrauch bei der Berufsausübung, also in der Praxis, gewonnen werden und auf diese stets bezogen bleiben, wobei es gleichgültig ist, ob das know how explizit gewußt wird und übermittelt werden kann oder unexpliziert bleibt. Beides – expliziertes wie unexpliziertes know how – deutet auf die Kenntnis von Zusammenhängen und Ordnungsstrukturen, deren Wege zur Erreichung des Ziels verstanden sein müssen. Auch hier steht die Einordnung in größere oder kleinere Ordnungszusammenhänge im Vordergrund. Daß daraus die von Aristoteles anvisierte Strukturerkenntnis als höchste Wissensart erwachsen konnte, die nur noch Vgl. Hartmut Gese: Lehre und Wirklichkeit der alten Weisheit, a. a. O., S. 48 Anm. 1. Vgl. den mimetischen Charakter der Kunst, wie er in dem Spruch zum Ausdruck kommt: ars imitatur naturam. 162 163

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theoretisch ist, allenfalls indirekt auf Empirisches bezogen bleibt, versteht sich. Sophía als methodisches Wissen, als know how, könnte auch mit ›Wegekunde‹ übersetzt werden, zumal in griechisch mffqodo@ der ›Weg‹ (¡d@) steckt. Wie das Wagenlenken und Führen ein handwerkliches, methodisches Wissen voraussetzt, so auch das Saitenspiel, das Ringen, die ärztliche Heilkunst. Sie alle beruhen auf einem methodengeleiteten, in der handwerklichen Praxis erlernten, geübten und bestätigten Wissen. Auch ein anderer Zug der alten Weisheit kehrt bei den Griechen wieder: die Klugheit (Lebensklugheit), ja Schlauheit (Lebensschläue), die im Altertum noch nicht wie im heutigen Sprachgebrauch eine durchgängig negative Konnotation hatte. Noch im höfischen Mittelalter war Schläue mit den ritterlichen Tugenden kompatibel. 164 Genauso wie sich der sophós-Begriff in seiner Entwicklung zum Theoretischen aus der handwerklichen, praktischen Verankerung löste, so löste er sich auch vom Ethischen, so besonders bei Herodot, bei dem sophós häufig ›schlau‹ bedeutet. 165 Mit der Auflösung der ursprünglichen Einheit von Theorie und Praxis und der Abhebung des theoretischen Wissens um den richtigen Weg vom entsprechenden ethischen Handeln und infolgedessen der freien Disponibilität der theoretischen Einsicht kommt es erstmals in der Geschichte zu einer Konfrontation von Intellektualität und Ethik und im weiteren Sinne von Handeln überhaupt. Die intellektuelle Einsicht kann zum reinen Spiel werden und sich gegen das ethische Handeln richten. Nicht zufällig ging Platons Lösungsangebot in die Richtung einer Wiedervereinigung von ¥pistffimh als Einsicht in das Ganze und pr€ttein, Handeln entsprechend dieser Einsicht. In der weiteren sprachgeschichtlichen Entwicklung und ihrer zunehmenden Ausdifferenzierung erwies sich der inhaltsreiche, schillernde sophía-Begriff als viel zu unpräzise und unscharf, als daß er hätte weiter dienen können. Zunehmend wurde er durch exaktere, weil speziellere Begriffe ersetzt wie gnðmh, gnsi@, sÐnesi@,

164 Vgl. Jost Trier: Der deutsche Wortschatz im Sinnbezirk des Verstandes, a. a. O., S. 236: »list: listiges Verfahren, auf Unkenntnis des Gegners beruhend, schlauer Plan und Anschlag, dolus; oft in der Form mit listen … steht der ritterlichen Ehre nicht entgegen.« 165 Vgl. Herodot: Historien I,68; II,172; III,4; III,85 usw.

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storffla, m€qhma, ¥pistffimh, 166 die Teilsphären des im sophía-Begriff zusammentreffenden praxis- und realitätsbezogenen Wissens mit dem umfassenden, ganzheitlichen Strukturwissen betrafen. Die weitere Entwicklung ging, wie schon angedeutet, in die Richtung einer reinen Theoretisierung, einer Abhebung der Intellektualität und Begrifflichkeit von der praktischen Fundiertheit. Wie der alte griechische sophía-Begriff innerlich zerfiel und durch präzisere Begriffe ersetzt wurde, die der geistigen Entwicklung mehr entsprachen, so geschah dasselbe auf germanischem Boden mit dem alten Begriff ›Weisheit‹ (althochdeutsch wîsduam, wîstuom, mittelhochdeutsch wîsheit), der zunehmend zersetzt und schließlich durch die modernen Begriffe ›Wissen‹ und ›Wissenschaft‹ substituiert wurde. 2.8. Der Weisheitsbegriff heute Auch in der heutigen modernen Gesellschaft ist der Weisheitsbegriff nicht gänzlich ausgestorben trotz der Dominanz des Wissenschaftsbegriffes und der Marginalisierung des Weisheitsbegriffes. Er tritt in zwei Versionen auf: zum einen als indifferentes, schwammiges Alltagsbewußtsein, bei dem jeder immer schon zu wissen meint, was unter diesem Begriff zu verstehen sei, zum anderen als Untersuchungsobjekt wissenschaftlicher Forschung, wobei das vom Alltagsverständnis in den Blick Genommene der präzisierenden, aber auch uniformierenden Untersuchung der Wissenschaft und insbesondere ihrer quantifizierenden, statistischen Methode unterworfen wird. Damit wird das ursprüngliche Verhältnis von Weisheit und Wissen geradezu pervertiert. Fungierte der multidimensionale und multifaktorielle lebenspraktische Weisheitsbegriff ursprünglich als Fundament des auf Theoretisches und Formalisierbares eingeschränkten Wissensbegriffes, so wird er hier aus der Perspektive des exakten wissenschaftlichen Wissens gesehen, verwissenschaftlicht, objektiviert, formalisiert, statistisch überprüft und damit nicht nur auf illegitime Weise angegangen und verengt, sondern auch in seiner Andersartigkeit ertötet. Weisheit, das Fundament von Wissen, wird paradoxerweise verwissenschaftlicht. Ina Rösing, die jüngst ein Buch über Weisheit aus sozialwissen166 Vgl. Bruno Snell: Die Ausdrücke für den Begriff des Wissens in der vorplatonischen Philosophie, a. a. O., S. 18.

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schaftlicher Perspektive verfaßt hat, 167 analysiert das Verhältnis mittels zweier Kriterien, die sie auch im Untertitel ihres Buches benutzt: Weisheit als Meterware und Weisheit als Maßschneiderung. Unter dem ersteren nimmt sie eine Sammlung – das Wort ›Sammelsurium‹ wäre angemessener – von Auffassungen und Charaktereigenschaften der Weisheit vor, z. B. daß Weisheit ein multidimensionales Konzept mit intrapersonellen und transpersonellen Aspekten sei, ein Ausbalancieren von Emotionen, Motivationen, Werten und Denken, eine praktische Intelligenz, die verschiedene Interessen im Blick auf das Gemeinwohl auszugleichen weiß, eine ethisch orientierte Lebensführungskompetenz, ein Modell zur Gestaltung von Wirklichkeit, eine Lebenseinstellung zu sich selbst und zu anderen, ein Kapital an Lebenserfahrung und Reflexion, verbunden mit Orientierung und Ordnungsstiftung, eine Sinnsuche und Sinnstiftung, ein Ausbalancieren von individuellen und sozialen Anforderungen, das Suchen und Finden eines Mittelweges, ein Optimierungshandeln unter Ausgleich von Verschiedenheit, ein Wissen über die Grundprobleme des Lebens (conditio humana), ein Grenzbewußtsein, ein Wissen um die Begrenztheit aller Dinge, eine philosophisch-spirituelle Neigung, ein relativistisches und dialektisches Denken, eine Anweisung zum guten Leben, Tugend, Zucht, sittlicher Wert usw., 168 während sie unter dem zweiten Kriterium die in den gegenwärtigen wissenschaftlichen Modellen erfolgte, mehr oder weniger beliebige Ausgrenzung charakteristischer Eigenschaften dokumentiert, also die künstlich-technische Maßschneiderung der Weisheit. Rösing stellt drei solcher maßgeschneiderten Weisheitsmodelle vor: das sogenannte Berliner Modell, das Balance- und das Integrationsmodell, denen sie dann ihr eigenes Dreiecksmodell folgen läßt. 1. Das Berliner Modell, das auf die Forschergruppe Paul B. Baltes, Ursula Staudinger und Ute Kunzmann zurückgeht und durch vielfache Publikationen dokumentiert ist, erweist sich als ein typisch kognitives Modell, das nicht nur den Kognitionsbegriff herausarbeitet, sondern ihn auch durch statistische Methoden überprüft. Es definiert Weisheit als »ein System von Expertenwissen, das sich auf die fundamentale Pragmatik des Lebens bezieht, unter Einschluß von Wissen und Urteil über das Verhalten und den Sinn des Lebens« 169 . 167 168 169

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Ina Rösing: Weisheit. Meterware, Maßschneiderung, Missbrauch, Kröning 2006. Vgl. a. a. O., S. 19 ff. Paul B. Baltes and Alexandra M. Freund: The Intermarriage of Wisdom and Selecti-

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Auffällig an dieser Definition ist, daß sie Weisheit als Expertenwissen versteht, als Expertise im Sinne von Expertentum, also gerade als nicht-alltägliches, sondern streng wissenschaftliches Wissen, und zwar als eines, das auf die fundamentale Pragmatik des Lebens gerichtet ist. »Zum Gegenstand der fundamentalen Pragmatik des Lebens gehören zum Beispiel Wissen um die Veränderungen, die Bedingungen und die Geschichtlichkeit lebenslanger Entwicklung. Ebenso gehören dazu Kenntnisse über Lebensaufgaben und Lebensziele, das Wissen um die soziale Vernetztheit menschlichen Lebens sowie nicht zuletzt Wissen über sich selbst und die Begrenztheit des eigenen Wissens und der eigenen körperlichen Existenz. Zum Kern wahrheitsbezogenen Wissens und Urteilens gehören auch die sogenannten Unverständlichkeiten des Lebens, die ›Lebensrätsel‹ der Zeugung, der Geburt, der Entwicklung und des Todes. Er beinhaltet Einsicht in die Macht des Zufalls und die menschliche Grundsituation (conditio humana), wie sie zum Beispiel durch Sterblichkeit, Verletzlichkeit, Sexualität und Emotionalität sowie ihre Folgen für menschliches Erleben und Verhalten gekennzeichnet ist. So hat weisheitsbezogenes Wissen und Urteilen immer auch eine existentielle Dimension.« 170

Hieraus ergeben sich für die Berliner Forscher fünf Identifikationskriterien der Weisheit: 1. reiches Faktenwissen 2. reiches Verfahrenswissen 3. Werterelativismus 4. Lifespan-Kontextualismus 5. Erkennen und Umgehen mit Ungewißheit. Während die beiden ersten Kriterien Merkmale jeder Expertise und jedes Expertenwissens sind und nicht einmal mit dem Anspruch auf Systematik auftreten – offensichtlich genügt Aggregation –, gehören die anderen in den Kontext von Weisheit. Zur Weisheit gehört immer auch eine ethische Sphäre, die hier als gemäßigter Wertepluralismus und -relativismus bestimmt wird, als Akzeptanz verschiedener Lebensziele, Sinnentwürfe, Standpunkte usw. Lifespan-Kontextualismus bedeutet, daß der weise Mensch bei der Bewältigung ve Optimization with Compensation (SOC): Two Meta-Heuristics Guiding the Conduct of Life, in: Corey L. M. Keyes and Jonathan Haidt (Hrsg.): Flourishing. Positive Psychology and the Life Well-Lived, Washington 2003, S. 249–273, bes. S. 253 (zitiert nach Ina Rösing: Weisheit, a. a. O., S. 24; Übersetzung von Rösing). 170 Ursula M. Staudinger und Paul B. Baltes: Weisheit als Gegenstand psychologischer Forschung, in: Psychologische Rundschau, Bd. 47 (1996), S. 57–77, bes. S. 59 f. A

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und Lösung von Problemen seine gesamte bisherige Lebenserfahrung mit berücksichtigt: Geburt, Erziehung, Beruf, Alter, Kultur usw. Kennen und Umgehen mit Ungewißheit ist einerseits Einsicht in die prinzipielle Imponderabilität des Lebens und andererseits eine Kosten-Nutzen-Kalkulation, die die größten und kleinsten möglichen Fehler abwägt, Gewinn- und Verlustspiel bedenkt und alternative Wege mit im Auge hat. Das Modell tritt mit dem prinzipiellen Anspruch einer kognitivwissenschaftlichen Erfassung und Beherrschung der Lebenswirklichkeit auf, die die Lebenspraxis, den Lebensvollzug, theoretisch-kognitiv einzufangen und wissenschaftlich zu beherrschen versucht. Dies geschieht durch Überprüfung der fünf Kriterien in seriellen Befragungen und Experimenten, indem einer Gruppe von Probanden Fragen über weises Verhalten in bestimmten Situationen, z. B. in Sinnkrisen, bei Suizidankündigung usw. vorgelegt werden, deren Antworten mit Verhaltensweisen verglichen werden, die landläufig für weises Verhalten stehen. Die von den Probanden gegebenen Antworten werden unabhängigen Auswertern vorgelegt und von diesen auf ihre Übereinstimmung oder Nicht-Übereinstimmung beurteilt. Abgesehen davon, daß man aus Befragungen und Experimenten genau nur das herausholt, was man zuvor hineingesteckt und stillschweigend an Beurteilungskriterien zugrunde gelegt hat – ob man eine materialistische oder idealistische, eine monistische oder pluralistische Antwort erhält, hängt davon ab, ob man einen materialistischen oder idealistischen, monistischen oder pluralistischen Standpunkt vertritt –, hat sich dieses kognitive Weisheitsmodell dem Vorwurf auszusetzen, ein kaltes, rationales Weisheitskonzept zu sein, eine lebensfremde, aseptische Laborweisheit, 171 die mit der Realität nichts oder nur wenig zu tun hat. Es ist zu eng und einseitig, zu denk- und wissenslastig, es läßt den realen Lebensvollzug und die Ethik draußen 2. Das zweite von Rösing beschriebene Modell ist das des Amerikaners Robert J. Sternberg 172 von der Yale Universität, das den Aspekt der Ausbalancierung und Austarierung von Gegensätzen hervorhebt, der stets ein zentrales Moment des Weisheitsbegriffes war. Dieser Aspekt der Balance wird auf verschiedenen Ebenen unterVgl. Ina Rösing: Weisheit, a. a. O., S. 28 f. Robert J. Sternberg (Hrsg.): Wisdom. Its nature, origins, and development, Cambridge University Press 1990. 171 172

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sucht, auf der Ebene der Interessen, der Ebene der Lösungsansätze, der Ebene der Zeitperspektive. Auf allen geht es darum, ein Gleichgewicht herzustellen, wobei auf der ersten Ebene sowohl persönliche, intrapersonelle wie gemeinschaftliche, interpersonelle Interessen, Ziele und Werte und schließlich extrapersonelle zu berücksichtigen sind. Auf der Ebene des Lösungsansatzes ist ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Konvention und Modernisierung, Anpassung an Gegebenes und moderater Änderung konventionellen Verhaltens sowie Revolutionierung der Umwelt und Suche nach neuen Regeln herzustellen. Auf der Ebene des Zeitproblems ist die Ausgewogenheit zwischen lang- und kurzfristigem Handeln zu suchen. Im Unterschied zum ersten Konzept, das das ethische Moment ausblendet, berücksichtigt dieses Konzept in der Definition des Weisheitsbegriffes dasselbe, indem es Wissen und Wert verbindet. Weisheit ist Wissen um die Wege des Erreichens von relevanten Werten, welche vor allem in Gemeinschaftswerten gesehen werden. Obzwar auch dies ein »›maßgeschneiderter‹ Anzug der Weisheit« 173 ist, wenn er auch anders als der erste Entwurf, welcher rein kognitiver Art ist, den ethischen Aspekt mit berücksichtigt, fällt es schwer, diesen quantitativen, statistischen Prinzipien zu unterwerfen, d. h. zu messen und zu bestimmen. 3. Das dritte Modell, das sogenannte Integrationsmodell, liegt in mehreren Varianten vor: so insistiert Deidre A. Kramer 174, der die Reduktion von Weisheit auf Intelligenz, Denkleistung und Wissen zu eng erscheint, auf der Integration und Interdependenz von Kognition und Affektion; W. Andrew Achenbaum und Lucinda Orwoll 175 entwerfen ein Neun-Felder-Modell mit der Unterscheidung dreier Funktionsbereiche: Gefühl (affect), Kognition (cognition), Handlung (conation), und dreier personeller Beziehungen: Intra-, Inter- und Transpersonalität, deren Kombination ein Neun-Felder-System von Aspekten der Weisheit und Eigenschaften weiser Personen ergibt. Hier werden außer kognitiven Leistungen wie Denken, Urteilen, A. a. O., S. 33. Deidre A. Kramer: Conceptualizing wisdom. The primacy of effect-cognition relations, in: Robert J. Sternberg (Hrsg.): Wisdom. Its nature, origins, and development, Cambridge, New York, Port Chester, Melbourne, Sydney, Cambridge University Press 1990, S. 279–313. 175 W. Andrew Achenbaum and Lucinda Orwoll: Becoming Wise: A Psycho-Gerontological Interpretation of the Book of Job, in: International Journal of Aging and Human Development, Bd. 32/1 (1991), S. 21–39. 173 174

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Wissen auch Emotionen und Handlungen berücksichtigt, ebenso tritt mit dem Begriff der Transpersonalität ein neuer Begriff auf den Plan, der über äußere, weltliche Interessen hinausgeht und auf eine psychische Tiefendimension und Spiritualität deutet. Auch für Monika Ardelt 176 ist Weisheit eine Kombination von kognitiven, reflexiven und affektiven Qualitäten des Menschen. Zwar ist diesem Modell wie den anderen die Analytik und Diversifizierung in Einzeldimensionen und -faktoren eigentümlich, es bleibt aber zweifelhaft, ob mit solchen Maßnahmen, Abgrenzungen, Stützungen, Umrandungen Weisheit wirklich getroffen wird. 4. Das Weisheitsdreieck von Ina Rösing 177 geht von der Erkenntnis aus, daß Weisheit immer auch und primär mit Wesentlichkeit, Sinn und Wert zu tun hat und stellt diese an die Spitze einer Dreieckskonstruktion. Doch geht es nicht um den Wert eines Einzelnen oder einer Gruppe oder Fraktion, sondern um den der Gemeinschaft. Die Basis des Dreiecks bilden zwei unterschiedliche Pole, von denen der eine Begrenzung und Struktur, der andere Entgrenzung bedeutet, wobei unter den ersten Begriffe wie ›integrative Orientierung‹, ›Ordnung schaffende Kraft‹, ›Gleichgewicht‹, ›Ausgewogenheit‹, ›Maß und Mitte suchende Haltung‹, ›Bewußtsein von Grenzen‹ zu subsumieren sind, unter den zweiten Begriffe wie ›Offenheit für alternative Sichtweisen‹, ›Wissen um die Vielfalt von Erkennen, Denken, Wählen, Urteilen, Entscheiden, Handeln‹, ›Erkennen von Multikausalität und Relativität‹, ›Aushalten der Paradoxie des Lebens‹, ›Wissen um Unsicherheitsfaktoren‹. An dieser Konstruktion fällt außer der analytischen Behandlung der Weisheit, die auch den anderen Modellen eigentümlich ist, bei der Aufzählung der inhaltlichen Momente die Kulturgebundenheit der Weisheit auf. Es handelt sich, wie Rösing selbst bemerkt, 178 um ein Weisheitsparadigma des modernen westlichen Denkens. 176 Monika Ardelt: Wisdom in the Later Years. A Life Course Approach to Successful Aging, University of North Carolina 1994; dies.: Wisdom and life satisfaction in old age, in: Journals of Gerontology, Bd. 52/1 (1997), S. 15–27; dies.: Intellectual Versus Wisdom-Related Knowledge: The Case for a Different Kind of Learning in the Later Years of Life, in: Educational Gerontology, Bd. 26/8 (2000), S. 771–789; dies.: Where Can Wisdom be Found? A Reply to the Commentaries by Baltes and Kunzmann, Sternberg, and Achenbaum, in: Human Development, Bd. 47 (2004), S. 304–307; dies: Wisdom as Expert Knowledge System: A Critical Review of a Contemporary Operationalization of an Ancient Concept, in: Human Development, Bd. 47 (2004), S. 257–285. 177 Ina Rösing: Weisheit, a. a. O., S. 43 ff. 178 A. a. O., S. 46.

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Stach schon an den ersten Weisheitskonzepten die moderne, ja modernistische Terminologie von Expertenwissen, Expertise, Exzellenzforschung, Quantifizierung, statistischer Meßbarkeit u. ä. hervor, so in diesem Modell noch stärker die Angabe spezifisch moderner Merkmale, die erst nach dem Historismus und Relativismus des 19. Jahrhunderts und der Postmoderne der 60er-Jahre des letzten Jahrhunderts möglich geworden sind, wie Pluralität, Diversität, Heterogenität, Relativität von Werten, Aspekten, Standpunkten, Lebens-, Denk- und Handlungsentwürfen, Multikausalität, Kontextualität, Unsicherheitstoleranz usw. Für die starre ägyptische Kultur mit ihrer mehr als dreitausendjährigen Geschichte wären diese Charaktermerkmale ebenso unmöglich gewesen wie für die jüdische Kultur mit ihrem Monotheismus und ihrer Festlegung auf die eine einzige gottgewollte Schöpfung. Aber auch für die Konzeption des in sich ruhenden Weisen griechischer und stoischer Provenienz wäre eine solche Relativität unvorstellbar gewesen. Die modernen weltweiten Umwälzungen, die nicht nur oberflächlich, sondern tiefgreifend sind, wie die des Arbeits- und Berufslebens, die Globalisierung, das Näherrücken der Kulturen und Religionen auf dem einen Planeten, die mit Konfliktpotential, Imponderabilien und Unsicherheiten behaftet sind, scheinen einen anderen Weisheitsbegriff notwendig zu machen, der die Relativität der Werte und die Multikausalität mit berücksichtigt. Das von Rösing entworfene Modell ist ein typisch modernes maßgeschneidertes Weisheitskonzept. Dies wirft eine nicht unwichtige Frage auf, nämlich die nach der Universalität und Zeitunabhängigkeit des Weisheitsbegriffes oder nach seiner kulturellen und historischen Gebundenheit. Sie wird unterschiedlich beantwortet. Während eine Reihe von Forschern, u. a. die Berliner, von der Universalität ihres Konzeptes überzeugt sind, das auf einer Metaebene der Beurteilung, also auf einer extrem hohen Ebene der Analyse angesiedelt ist, nicht in den Niederungen der konkreten Alltagsprobleme, 179 vertreten andere Forscher die Kulturgebundenheit und -abhängigkeit, und zwar mit dem Hinweis auf eine Reihe von Forschungsdisziplinen wie die Kulturanthropologie, die sozialwissenschaftliche Identitätsforschung, die Werteforschung, die Kognitionsforschung, die Motivationsforschung, welche über simultan vergleichende Studien oder historische Vergleiche zu einem Kultur- und Weisheitsrelativismus gelangen. Zum einen braucht 179

Vgl. a. a. O., S. 56. A

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Weisheit stets einen Raum, um entstehen und sich entfalten zu können. Beim reinen Überlebenskampf, bei der täglichen Sorge um Essen und Trinken, bei der nackten Existenzsicherung im Krieg wird alles andere zurückgedrängt, so daß Weisheit überhaupt nicht aufkommen kann. Ebenso gibt es in verschiedenen Kulturen unterschiedliche Akzentuierungen des Weisheitsbegriffes oder einzelner seiner Momente wie Intelligenz und Selbst, die sich z. B. in der Aufund Abwertung des Ich unterscheiden, sei es, daß sie ein autonomes, selbstbestimmtes, individuelles Ich 180 oder ein dependentes, relationales, kollektives Selbst annehmen, oder die eine unterschiedliche Gewichtung von Reden und Schweigen vornehmen, Unterschiede in der emotionalen Intelligenz, z. B. bei der Wahrnehmungs- und Ausdrucksfähigkeit innerpsychischer Erlebnisse, beim Umgang mit eigenen und fremden Gefühlen aufweisen. Ein sprechendes Beispiel ist die Sprachlosigkeit ostasiatischer Kulturen in bezug auf die Gefühlswelt, deren sprachlicher Darlegung nicht nur kein Wert zugemessen wird, sondern explizit ein Unwert. Und noch eine andere Frage werfen die von Rösing inaugurierten Konzepte auf, nicht nur die der Abhängigkeit von Kultur und Geschichte, sondern auch die des Alters, womit das Problem von Weisheit und Alter in den Mittelpunkt des Interesses rückt. Für den common sense ist diese Verbindung paradigmatisch. Das drückt sich in der Redewendung von dem oder der weisen Alten aus. Dem Kind und Jugendlichen spricht niemand Weisheit zu. Es wäre geradezu paradox, ein Kind oder einen Jugendlichen weise zu nennen, wiewohl deren Fragen gelegentlich weise erscheinen. Auch die wissenschaftlichen Entwicklungstheorien, z. B. von Erik H. und Joan M. Erikson 181 , unterstellen eine Entwicklung und Reifung des Menschen, die auf einen Abschluß und eine Vollendung auf einer höchsten Stufe tendiert und Weisheit und Alter assoziiert. Alter als Vollendung dieses Prozesses wird geradezu mystifiziert und sakralisiert. Gegen diese Idealisierung, Euphemisierung und Mythologisierung stehen die empirischen Fakten der Psychologie, Soziologie und besonders der Gerontologie, die auf die Defizite des Alters, Demenz und Debilität, hinweisen, welche durch die ersteren verdeckt und verschleiert werden. Das Alter ist durch Fähigkeitsverluste charakterisiert, durch das Vgl. a. a. O., S. 112. Erik H. Erikson: The Life Cycle Completed. Extended Version with New Chapters on the Ninth Stage of Development by Joan M. Erikson, New York, London 1997. 180 181

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Nachlassen körperlicher und geistiger Kräfte, physischer und geistiger Mobilität und Flexibilität, durch Kontrollverluste, durch Erstarrung der Charaktereigenschaften, Dogmatismus u. ä. 182 Bei diesem kontroversen Disput darf man die Höhe des Alters nicht aus den Augen verlieren. Bedenkt man, daß innerhalb der letzten hundert Jahre, von 1900 bis 2000, die durchschnittliche Lebenserwartung von ca. 45–50 Jahren auf 80 Jahre gestiegen ist und innerhalb der letzten Jahre nochmals, so daß heute 90jährige keine Seltenheit mehr sind, während das Durchschnittsalter in früheren Epochen und noch heute bei Naturethnien bei 35–45 Jahren liegt, so ist mit Alter jeweils etwas recht Verschiedenes gemeint. Die traditionellen Weisheitslehren, die Weisheit und Alter in Verbindung bringen und im Allgemeinbewußtsein weiterleben, beziehen sich auf reife Menschen, d. h. auf Erwachsene, die aufgrund ihrer Lebenserfahrung Übersicht, Weitblick und Verantwortungsbewußtsein haben. Diese Personen wie oft auch solche, die trotz körperlicher Schwäche und Mängel, z. B. Erblindung, geistig hellwach, oft seherisch sind, lassen sich nicht durch Greisentum charakterisieren, das oft nur noch einem Dahinvegetieren gleicht und mit Hinfälligkeit, Krankheit und Demenz verbunden ist. Die Weisheit des Alters der traditionellen Lehren ist keine »greisige Leistung« 183 , sondern die Erfahrung des Erwachsenen gegenüber den Heranwachsenden, des Meisters gegenüber dem Schüler und Lehrling. Außer dem Kultur- und Alterungsproblem haben das Buch von Rösing und die von ihr zitierte Literatur insbesondere auf das schon angesprochene Kognitionsproblem aufmerksam gemacht und die Schwächen der wissenschaftlichen Erfassung der Weisheit aufgezeigt. Besonders scharf sind die Unterschiede zwischen weisheitlichem und intelligent-kognitivem Wissen von Monika Ardelt 184 elaboriert worden, was die jeweiligen Ziele, methodischen Zugänge, Ränge, Aneignungsweisen, Rückwirkungen auf den Menschen und

182 Vgl. Julius Kuhl: Aging and Models of Control: The Hidden Costs of Wisdom, in: Margret M. Baltes and Paul B. Baltes (Hrsg.): The Psychology of Control and Aging, Hillsdale/New Jersey 1986, S. 1–33. Kuhl schlägt in dem Aufsatz eine Reihe von Kontrollverfahren vor, die zur Eindämmung der Fähigkeitsverluste dienen. 183 Ina Rösing: Weisheit, a. a. O., S. 15. 184 Monika Ardelt: Intellectual versus Wisdom-Related Knowledge: The Case for a Different Kind of Learning in the Later Years of Life, a. a. O., bes. S. 774 f. Vgl. Ina Rösing: Weisheit, a. a. O., S. 237 ff.

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die Beziehung zum Alter betrifft, wobei hier nur die wichtigsten Punkte herausgehoben seien. Ist das Ziel der Wissenschaft und der von ihr beanspruchten Intelligenz ein quantitatives, die Anhäufung von Daten, Fakten, Informationen, so das der Weisheit ein qualitatives, wobei es nicht um das Wieviel, sondern um das Was des Anzustrebenden geht. Während die intellektuelle Seite an der Bewältigung der Außenwelt, der Befreiung von äußeren Fesseln, interessiert ist, ist der weisheitlichen an der Meisterung der Innenwelt, der Befreiung von inneren Zwängen, gelegen. Besteht die wissenschaftliche Methode in der Theoretisierung, Formalisierung und Abstraktion, sowohl der Ablösung vom konkreten Inhalt wie der Entemotionalisierung und Entpersonalisierung des individuellen Zugangs, so besteht die weisheitliche im konkreten, emotionsinvolvierten, wertegetragenen persönlichen Zugang. Ist das wissenschaftliche Wissen seinem Range nach zeitabhängig, einer gesellschaftlichen, politischen, persönlichen Fluktuation unterworfen, so das weisheitliche zeitlos, wenigstens in dem Sinne, daß es nicht dem alltäglichen oder modisch schnellen Wandel unterworfen ist. Während das wissenschaftliche Wissen auf spezielle, eng begrenzte Bereiche zielt, die selektiv ausgewählt werden und folglich fragmentarisch sind, erweist sich das weisheitliche Wissen als ein holistisch umfassendes und integratives. Was die Aneignungsweise betrifft, so basiert das intellektuelle Wissen auf Kognition, das weisheitliche auf Erfahrung. Sind die Rückwirkungen des wissenschaftlichen Wissens auf den Menschen mit vermeintlicher Selbstsicherheit verbunden wegen des Glaubens, mehr zu wissen, so die des weisheitlichen Wissens mit weniger Selbstzentriertheit, weil man weiß, daß man nichts weiß. Intellektuelles Wissen forciert Egozentrik und Individualismus, weisheitliches forciert Universalismus. Bezüglich des Alters zeigt Intelligenz einen Abfall, Weisheit nicht. Ob man nun auf diese oder andere Unterschiede rekurriert, stets wird sich herausstellen, daß Weisheit ein umfassenderer, vielschichtigerer und facettenreicherer Begriff ist als Wissen und folglich durch jenen nicht eingeholt werden kann, weil dieser nur ein Moment an jenem ausmacht. Zwar sind wir auf dem heutigen wissenschaftlichen Standpunkt, hinter den wir nicht mehr zurückgehen können, gehalten, auch wissenschaftlich den Weisheitsbegriff zu eruieren, jedoch 98

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Die Auflsung der ursprnglichen Einheit von Theorie und Praxis

wird seine lebendige Paradoxie aus Einheit und Vielgestaltigkeit, aus Pluralität und Integration, aus theoretischer und praktischer Ebene auf einseitig theoretisierende Weise nicht wirklich zu erfassen sein.

3.

Die Auflsung der ursprnglichen Einheit von Theorie und Praxis und die Verwissenschaftlichung

In den vorangegangenen Kapiteln ist die historische Entwicklung des Weisheitsbegriffes, der ein multidimensionaler und multifaktorieller Begriff ist, zum reduzierten Wissenschaftsbegriff dokumentiert worden. Das weisheitliche Wissen zeigte sich dadurch charakterisiert, daß es eine ungebrochene Einheit von Theorie und Praxis unterstellte. Genaugenommen gilt es nicht nur zwei Ebenen zu unterscheiden, sondern drei, was mit der Spannweite des Praktischen zusammenhängt, die vom reinen Tun bzw. Handeln bis zum Ethischen reicht, vom Praktisch-Handwerklichen bis zum Praktisch-Ethischen. Zu unterscheiden gilt es 1. eine theoretisch erkennbare, rein taxonomische Ordnungsebene jenseits jeder Axiologisierung und Qualifizierung nach ›gut‹ und ›böse‹, die nur durch die neutralen Ausdrücke ›richtig‹ und ›falsch‹ zu fassen ist, 2. eine Handlungsebene, auf der das Tun, der reine Vollzug, stattfindet, und 3. eine ethisch-juristische Ebene, in der die Bewertung des Tuns nach ethischen Gesichtspunkten erfolgt, die später in einem juristischen Kanon aufgefangen werden, welcher die Richtschnur für das Handeln abgibt. Offen bleibt allerdings die Frage, ob es sich bei dem Ordnungssystem um ein konstantes, invariantes System oder um ein offenes, variables handle. Gegeben ist nur der Hinweis auf bestimmte psychologische Verhaltensweisen. Sollten sich diese, wie die gesamte dahinterstehende Seelenstruktur, als anthropologische Konstanten erweisen, so würden sie auf ein universell verbindliches System deuten, sollten sie kulturspezifisch sein, so würde dies auf ein offenes, variables System schließen lassen; die dritte Variante wäre die, daß es sich um eine primäre Grundstruktur mit der Möglichkeit zu diverser Ausformung in verschiedenen Kulturen handelt. Die ursprüngliche Einheit von Verhalten und Resultat ist immer wieder Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen gewesen, die nach dem Grund bzw. der Ursache derselben gesucht haben, da sie nicht nur für die alten Mittelmeervölker charakteristisch ist, sondern für fast alle Naturvölker und bis in unsere Tage im AlltagsbewußtA

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sein weiterlebt. Gerade im Kontext der Auslegung des Alten Testamentes und seiner mesopotamischen Vorläufer wurde diese Frage unter dem Titel »Gibt es ein Vergeltungsdogma im Alten Testament?« 185 untersucht. Johannes Pedersen 186 hat die teleologische Verknüpfung zurückgeführt auf eine bestimmte Psychologie und Seelenkonzeption: »Goodness and happiness are parallel expressions of the working of the healthy soul« 187 , wie ja auch schon das HeraklitWort (Fragment 112) den Zusammenhang von ›gesund‹ und ›richtig handeln‹ herausstellte. Dabei braucht man nicht von einer primitiven Seelenkonzeption zu sprechen, nur weil sie prälogisch ist; das Prälogische ist vielmehr Indiz der originären Einheit. Der These justice as right, die die Korrespondenz von Tun und Ergehen zum Ausdruck bringt, steht die andere justice as favor entgegen, die offensichtlich für das alte Mesopotamien galt und die Erfahrung der absoluten schutzlosen Ausgeliefertheit des Menschen an die göttliche Willkür zum Ausdruck brachte, wie dies im Ludlul be¯l ne¯meqi der Fall ist. Es ist ungeklärt, welche die ursprünglichere ist. Zwar gibt es Argumente, die letztere für die originäre zu halten und die erstere für die schon höherstufige, die bestimmte kulturhistorische Prägungen, nämlich ein gewisses Ordnungsgefüge, voraussetzt und dieses nicht zuletzt auf Wissen gründet. Dazu paßte, daß im altorientalischen Raum Bildung und Wissen eine eminente Rolle spielten und immer wieder an sie appelliert wurde. Plausibler jedoch erscheint es, die synthetische Lebensauffassung für die ursprüngliche zu nehmen und die andere für die abgeleitete, welche in dem Moment auftritt, in dem die ursprüngliche Einheit zerbricht. Auch hierfür liefert die Geschichte des Alten Ägypten ein Beispiel, indem auf die alte, fraglos akzeptierte und unproblematische koinzidentielle Ordnung das Auseinanderklaffen von Tun und Ergehen folgt. In der weiteren Entwicklung des Wissensbegriffes jedenfalls löst sich das Gesamtgefüge auf, indem sich die theoretische Ebene von der praktischen trennt und in sich immer mehr in Einzelmomente zerfällt. Während das wissenschaftliche Wissen noch die systematische Einheit der Einzelerkenntnisse darstellt, ist das informative nur noch 185 So ein Aufsatztitel von Klaus Koch in: Zeitschrift für Theologie und Kirche, Jg. 52, Heft 1 (1955), S. 1–42. 186 Johannes Pedersen: Israel. Its Life and Culture, Bd. 1 und 2, London, Kopenhagen 1926 resp. 1946, Bd. 3 und 4 1940, resp. 1953. 187 A. a. O., Bd. 3/4, S. 359.

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eine Aggregation derselben, eine fragmentarische, beliebig erweiterbare Sammlung separater analytischer Einzelerkenntnisse. Dieser Zerfall läßt sich auch nicht wieder rückgängig machen trotz mancher gegenteiliger Versuche, wie z. B. Heideggers Bemühung, die Seinsfrage und die mit ihr verbundene Wissensfrage wieder an den Ursprung zurückzubinden. Die Auflösung beginnt schon mit der Theoretisierung der metaphysisch-psychologischen Ordnungsstruktur, wie sie im weisheitlichen Wissen vorliegt, die eine erste derivative Form darstellt, an die sich die ethische Bewertung nur sekundär anschließt, und sie geht weiter im heutigen wissenschaftlichen und informatorischen Wissen. Die Schwierigkeit, mit der wir heute zu kämpfen haben und die sich vor allem in dem Auseinanderfall von Theorie und Praxis sowie dem ständigen Hinterherhinken und Zu-spät-Kommen der Ethik angesichts unserer intellektuellen Einsichten in Handlungsabläufe zeigt, hat jüngst wieder auf dem X. Internationalen Kant-Kongreß in Sao Paulo Oskar Negt in einem Vortrag mit dem Titel Kant und Marx. Ein Epochengespräch über Friedenssicherung herausgestellt. 188 Im Blick auf die Kernspaltung und die Genmanipulation stellt er die provokative Frage: Müssen wir alles wissen, was wir wissen können?, was die weitergehende Frage impliziert: Müssen wir alles machen, was wir wissen? Unsere heutige Wissenskultur, der Typ des wissenschaftlichen Wissens, erlaubt uns eine extensiv wie intensiv unbegrenzte Ausweitung der Forschung. Schranken sind nicht erkennbar, es sei denn praktische, die jedoch nur einen Anreiz bieten, überwunden zu werden. Unser Wissen ist ins Unendliche – Unendlich-Große wie Unendlich-Kleine – erweiterbar, indem wir in immer fernere Räume des Weltalls vorstoßen, Sternensysteme über Sternensysteme erkunden und ebenso immer tiefer in die atomare Struktur eindringen, nicht nur Protonen, Neutronen und Elektronen erkennen, auch nicht nur Quarks, sondern noch sehr viel kleinere, nur Bruchteile von Sekunden dauernde Teilchen. Niemand vermag die Wissenschaft auf ihrem Gang aufzuhalten und zu bremsen. Selbst wenn sich innerhalb der scientific community Einzelne oder einzelne Forschergruppen Grenzen setzen, wie dies die deutschen Physiker Werner Heisenberg und Carl Friedrich von Weizsäcker getan haben, die, wie aus den inzwischen veröffentlichten Stockholmer Protokollen hervorgeht, 188 Den Inhalt gibt im wesentlichen auch das Buch von Oskar Negt: Kant und Marx. Ein Epochengespräch, Göttingen 2003, wiederholte Auflage 2005, wieder.

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sich dem Wissen um den Bau der Atombombe verweigerten, weil sie diese nicht bauen wollten, finden und fanden sich andere in Amerika oder anderswo auf der Welt, die sich dem Wissen und der Umsetzung dieses Wissens durch den Bau der Bombe nicht verschließen. Nicht anders steht es mit der Entschlüsselung des genetischen Codes von Menschen, Tieren und Pflanzen und der Verwendung dieser Kenntnisse in der Genmanipulation. Weder private Initiativen noch staatliche Direktiven können die Forschung und die Umsetzung der Forschungsergebnisse letztlich verhindern, da diese aufgrund ihrer generellen Verfügbarkeit jederzeit an allen Orten der Welt jedermann zugänglich sind. Der Typ des wissenschaftlichen Wissens, der aufgrund seiner Formalisierbarkeit, Quantifizierbarkeit und Logifizierbarkeit objektivierbar ist, in Büchern, auf Chips, in Datenbanken gespeichert werden kann und daher jederzeit abrufbar ist, hat es mit sich gebracht, daß er mit der Entbindung aus der persönlichen Erfahrung des Subjekts auch aus der ethischen Bindung entlassen wurde. Man beklagt heute, daß die Ethik der wissenschaftlichen Forschung ständig hinterherhinke, statt ihr vorauszugehen: Die Diskussionen um die Zulassung oder Nicht-Zulassung genmanipulierter Produkte, um den Anbau von Monokulturen, die Begrenzung des Kohlendioxyds, die Begradigung der Flüsse, die Zubetonierung freier Flächen u. ä. sind sprechende Beispiele. Wenn ethische Bedenken erhoben und Richtlinien aufgestellt werden, so stammen sie nicht aus dem Wissen selbst, sondern sind von außen aufoktroyiert. Sie beziehen ihre Legitimation entweder aus religiösen Glaubensüberzeugungen wie dem Christentum oder aus säkularen Idealen wie dem Humanismus oder den der westlichen Aufklärung entstammenden sogenannten Menschenrechten oder noch anderen Vorstellungen und Utopien. Wie immer sie begründet sein mögen, sei es theologisch durch Rekurs auf die gottgewollte Schöpfungsordnung oder metaphysisch durch Rekurs auf eine teleologische Stufenordnung mit dem Menschen an der Spitze und als Krone (wie bei Hans Jonas in seinem Buch Das Prinzip Verantwortung) oder naturalistisch durch Rekurs auf eine natürliche Ordnung, die lex naturae, ihre Legitimation kommt von außen und ist daher unqualifiziert, in den Wissensmechanismus einzugreifen. Dies war nicht immer so, sondern ist die Konsequenz einer Entwicklung, die zur Entwurzelung des Wissens aus dem Gesamtgefüge und aus dem Zusammenhang mit dem subjektiven Erfahrungsbereich geführt hat und mit der Abkoppelung des theoretischen 102

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Aspekts vom ethischen auch zu einer Manipulierbarkeit des ersteren. In der angelsächsischen sprachanalytischen Literatur 189 wird die These vertreten, daß ein bestimmter Theorierahmen, d. h. ein bestimmtes begriffliches Raster mit bestimmten ethischen Implikationen verbunden ist, Geboten wie Verboten, geforderten, erlaubten, erwünschten, geduldeten, gerade noch gestatteten wie ungern gesehenen und verbotenen Handlungen. So macht es einen Unterschied in bezug auf unser Naturverhalten, ob die Natur metaphorisch als Mutter Erde, als lebensspendende und -erhaltende Kraft angesehen wird, zu der man ein partnerschaftliches, an zwischenmenschlichen Beziehungen orientiertes Verhalten unterhält, das Eingriffe und Manipulationen verbietet, oder als neutrales Objekt der Wissenschaft, das beliebig manipulierbar und dirigierbar ist, in Beobachtung und Experiment auf verschiedene Weise gestellt und verstellt werden kann. Gleiches gilt für das Wissen: Es ist etwas anderes, ob das Wissen in persönlicher Lebenserfahrung gründet, ein im individuellen Existenzkampf gewonnenes, dem Leben abgerungenes Wissen ist, das sowohl die eigenen Fähigkeiten wie auch die eigenen Grenzen erkennen läßt, oder ein vom Individuum und seiner Erfahrung abgespaltenes, allgemeines, intersubjektiv kommunikables Wissen, das aufgrund der Objektivation wertneutral ist und aus der unmittelbaren Bewertung und Verantwortung des Einzelnen entlassen wurde. Um dem ersteren Wissenstyp, der noch ungebrochenen Einheit von Theorie und Praxis, näherzukommen, der archaische Gesellschaften charakterisiert, allerdings in Relikten und als Tiefendimension auch des wissenschaftlichen Wissens weiterexistiert, und damit auch seiner Distanz zum heutigen Wissensverständnis näherzurücken, ist auf denselben bestimmter einzugehen. Wenn wir jenen ursprünglichen Wissenstyp genauerhin als magisches Wissen klassifizieren und mit ihm nach unserem heutigen, entwickelten Verständnis fast automatisch Zauberei und Hexerei in 189 Vgl. Stanley Cavel: Must We Mean What We Say?, in: Philosophy and Linguistics, ed. by Colin Lyas, London, Basingstoke 1971, S. 131–165, bes. S. 148, 164 f.; ferner Charles Taylor: Neutrality in Politic Sciences, in: The Philosophy of Social Explanation, ed. by Alan Ryan, Oxford 1973, S. 139–170, bes. S. 144–146 und S. 154 f.; Carolyn Merchant: Der Tod der Natur. Ökologie, Frauen und neuzeitliche Naturwissenschaft (Titel der Originalausgabe: The Death of Nature. Women, Ecology and the Scientific Revolution, New York 1980), aus dem Amerikanischen von Holger Fliessbach, München 1987, S. 20 ff.; Karen Gloy: Das Verständnis der Natur, Bd. 1: Die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens, München 1995, Lizenzaufl. Köln 2005, S. 16.

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Verbindung bringen, so ist Vorsicht geboten, haben doch Zauberei und Hexerei in unserer ›aufgeklärten‹ Wissenskultur eine pejorative Konnotation, indem sie als Humbug, Täuschung, Taschenspielerei, Gaukelei u. ä. abgetan und in den Bereich des Phantastischen und der Lüge, der Irrealität verbannt werden. Diese negative Einschätzung gilt jedoch nicht für den originären Wissenstyp und ist nur aus dessen Unverständnis erwachsen, denke man doch daran, daß die heiligen drei Könige der Bibel, Kaspar, Melchior und Balthasar, als ›Weise‹ wie als ›Magier‹ bezeichnet wurden, da sie der Sternkunde fähig waren, die gleicherweise den Bereich der Astronomie wie der Astrologie abdeckte. Der Magier oder Zauberer archaischer Kulturen, mag er wie in Nordsibirien, den Anden oder am Amazonas Schamane genannt werden, Sangoma und Devina in Afrika, Spiritdoctor in Papua-Neuguinea, ist eine angesehene, teils sogar hochgeschätzte Persönlichkeit seines Stammes (Mann oder Frau), oft ein Würdenträger, der sich nicht prinzipiell, nur graduell durch sein Wissen von den ›normalen‹ Clanmitgliedern unterscheidet, keineswegs unnatürliche oder übernatürliche Kräfte und Fähigkeiten besitzt, sondern nur gesteigerte, die über das gewöhnliche Maß hinausgehen. Oft geht er einer ganz normalen Tätigkeit nach und wird nur in besonderen Fällen, nämlich Heilungsseancen oder Verzauberungen, gerufen. Das magische Wissen ist kein exorbitantes, kein Privileg nur eines Menschen, sondern im Prinzip allen Menschen eigentümlich, was sich bei Heilungsseancen durch Heranziehung aller Clanmitglieder zeigt. Das hindert nicht, daß es in einem bestimmten Repräsentanten kulminiert. Um die Diskrepanz zwischen unserem heutigen Wissen und dem magischen Wissen archaischer Kulturen zu überbrücken, wäre es wünschenswert, eine unmittelbare Anschauung von diesem zu gewinnen und so einen Vergleich anzustellen. Das hieße nichts Geringeres, als die Spanne zwischen Steinzeit und Moderne zu überwinden. Wenngleich dies wegen der historischen Ferne und des Aussterbens von Naturethnien immer schwieriger wird, ist es nicht gänzlich unmöglich, da es auch im 21. Jahrhundert noch einige weiße Flecken auf der Landkarte gibt, unerforschte Gebiete in Irian Jaya, Papua-Neuguinea, am Amazonas und seinen Nebenflüssen. Eine Fallstudie soll dies dokumentieren. Im Sommer 2005 hatte ich Gelegenheit, an einer wissenschaftlichen Expedition ins Innere Papua-Neuguineas teilzunehmen und zu nicht pazifizierten Kopfjägerstämmen vorzudringen, die noch kei104

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ne Bekanntschaft mit Weißen und deren Kultur gemacht hatten. Die Expedition bestand aus einem australischen Ehepaar (Ornithologen), zwei amerikanischen Ethnologen und mir, die mir die Aufgabe zufiel, über knowledge, wisdom und sorcery zu forschen. Des weiteren gehörten zur Expedition die Träger, eine Handvoll Krieger mit Pfeil und Bogen und zwei Führer, die sich hauptsächlich auf die beiden Ethnologen und mich verteilten, da sich die Ornithologen, nachdem ihnen die Balzplätze der Paradiesvögel gezeigt worden waren, allein mit diesen beschäftigten. Nachdem uns eine kleine, fünfsitzige Privatmaschine, bei der nicht nur das Gepäck, sondern auch wir mitgewogen wurden, um die Belastbarkeit nicht zu überschreiten, auf einer schmalen Graspiste im Regenwald abgesetzt hatte, machten wir uns auf den Weg: zunächst auf Einbäumen flußwärts, dann zu Fuß, wobei wir weite, unbewohnte Gegenden durchquerten und gelegentlich Dörfer passierten, deren Sprache selbst unsere Führer nicht verstanden. In Papua-Neuguinea sind bis heute an die 1000 Sprachen und Dialekte gezählt worden, wobei oft Dörfer, die nur einen Steinwurf voneinander entfernt liegen, sich nicht miteinander verständigen können. Da der Stamm noch nicht mit Weißen vertraut war, hatten uns unsere Führer zuvor angekündigt als die Ahnen des Stammes, um uns überhaupt die Aufnahme nach dem Wantok-System zu ermöglichen. Das Wantok-System ist das Sozialsystem der Papua, das ihnen auf Reisen, etwa entlang des Flusses, Aufnahme, Unterkunft, Nahrung und Hilfe bei Clanverwandten, die sich am Ufer angesiedelt haben, gewährt. Da unsere weiße Hautfarbe Ähnlichkeit aufwies mit dem grauweißen Schlamm und der Asche, mit dem sich die Papuas bei Totenzeremonien und während der Trauerzeit bestreichen und auch ihre Toten anmalen, war die Ahnenthese, die uns Zugang verschaffte, die plausibelste Erklärung. Außerdem war der Stamm durch Geschenke, die vorher gebracht worden waren, freundlich gestimmt. Bei diesen handelte es sich um ein Babykrokodil, dessen Schnauze mit Bast zusammengebunden war, und um ›schöne‹ grauschwarze Schlangen, deren ›Schönheit‹ sich aber wohl mehr auf deren Giftigkeit bezog. Gleichwohl sandte uns der Stamm bei unserem Näherkommen, das sich herumgesprochen hatte, seine Hauptkrieger entgegen, die, abgesehen von der martialischen Ausrüstung mit Lanze und Steinaxt, wie Paradiesvögel angestampft kamen mit Paradiesvogelfedern auf dem Kopf – einer hatte sich sogar einen ganzen blauschwarzen Flügel aufgesteckt –, durch die Nase gebohrten EberknoA

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chen, Kinamuscheln um den Hals und Kassowariknochen um die Hüfte. Beim Näherkommen verließ diese mutigen Krieger dann doch ihr Mut; sie zögerten, waren irritiert – wie mir schien, sogar etwas beleidigt, da wir uns nicht für ihre Waffen interessierten –, verfielen dann aus Verlegenheit in ein Gelächter und bestaunten uns zusammen mit den inzwischen herbeigeeilten Dorfbewohnern wie Tiere im Zoo. Da wir uns im Gegensatz zu den hölzernen Ahnenfiguren (ancestors) bewegten, wurden wir zu Buschgeistern erklärt, ob zu guten oder bösen, mußte sich zeigen. Da meine Aufgabe in der Erkundung der Wissensart dieser archaischen Gesellschaft bestand, galt mein Interesse vorrangig dem Spiritdoctor, einer hochangesehenen Persönlichkeit mit Bilumbändern, symbolischem Schmuck um den Hals, den obligatorischen Federn auf dem Kopf und weiteren Insignien. Mein erster Eindruck von einer Heilungsseance mit Spiritdoctor, Gehilfen, Kranken und Clanangehörigen, der bekanntlich zumeist der prägnanteste und signifikanteste ist, war der ungeheure Respekt, ja geradezu die Ehrfurcht, mit der nicht nur der Kranke und seine Familienangehörigen sowie die Helfer dem Spiritdoctor begegneten, was verständlich war, da der Kranke und seine Familie Heilung suchten, die Helfer in einem Schüler-Meister-Verhältnis zu ihm standen oder als Neophyten ihm untergeordnet waren, sondern die der Spiritdoctor selbst in seinem Verhalten an den Tag legte und die offensichtlich auf seinem Wissen basierte. Das ihm zukommende Wissen, vor allem ein psychotherapeutisches, ist Macht, freilich nicht wie im heutigen Verständnis als intellektuelle Beherrschung und Verfügung durch abgehobene Konstruktion und Neukombination, auch nicht wie im Baconschen Sinne, demzufolge wir ins Innere der Natur einzudringen haben wie die Bergleute ins Innere der Erde oder die Natur zu bearbeiten haben wie die Schmiede das Erz auf dem Amboß, um auf diese Weise, nämlich durch Bezwingung und Gewalt, durch Unterwerfung und Unterjochung die Herrschaft über die Natur zu erlangen und so die einstige Einheit von Mensch, Natur und Gott, wie Bacon religiös argumentiert, wiederzugewinnen. Macht wird hier vielmehr verstanden als Kraft, bei der sich zwischen theoretischem Verständnis und physischer Grundlage nicht unterscheiden läßt, sondern beide koinzidieren. Dieser Animismus liegt jedem cartesianischen Dualismus voraus und hat jene unheilvolle Spaltung, mit der wir bis heute zu kämpfen haben, noch nicht vollzogen. Macht ist hier ein lebendiger Vollzug, der weder die Differenz von toter, passi106

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ver Materie und aktivem Geist kennt noch die unbeschränkte Verfügungsgewalt des Geistes über die Materie noch den ungeordneten Einbruch bloßer Naturgewalt in die geordnete Welt des Geistes. Obwohl auch Wundheilungen auf der Liste der zu kurierenden Krankheiten des Spiritdoctors stehen, Heilungen von Schlangenund Spinnenbissen, für deren Linderung oder Behebung bestimmte Kräuter von bestimmter Form und Zubereitung eingesetzt werden, Atemwegserkrankungen (Schnupfen, Asthma), gegen die ein penetrantes, beißendes Kraut hilft, Schwellungen und Fiebererkrankungen, gegen die es reduzierende Mittel gibt, fällt doch auf, daß es sich zumeist um psychosomatische Erkrankungen handelt, deren Entstehungsursachen in den Unsicherheitsfaktoren des Regenwaldes wie in Zwistigkeiten der geschlossenen Familienclans liegen. Was mir an den Seancen besonders auffiel, war die schützende, bergende Gestik des Spiritdoctors, die nicht nur dem vor ihm hockenden Kranken galt und Aufnahme, Schutz und Sicherheit signalisierte, sondern auch den im Halbkreis sitzenden Familienangehörigen, und die auf die Überwindung eines Bruches deutete. Unterstützt durch ein wärmendes Feuer, das eine angenehme Atmosphäre verbreitete, da es im Hochland trotz des tropischen Klimas angesichts des ständigen Regens feuchtmodrig und kühl ist, zelebrierte der Spiritdoctor so etwas wie eine Wiederaufnahme des Kranken in die Gemeinschaft. Zur gesamten Atmosphäre gehörte, daß sich die Heilung nicht nur zwischen dem Spiritdoctor und dem Patienten abspielte, sondern auch zwischen dem Familienclan bzw. der Dorfgemeinschaft: Spiritdoctor, Patient, Familie und die umgebende Natur bilden eine vielgliedrige Einheit, die bei Störung und Unordnung wieder in ihre Balance zu bringen ist. Demselben Zweck dienen die Symbolik und der Gebrauch bestimmter Gegenstände wie konisch geformter Körper, konvex und konkav ineinander passender Steine und Schalen, die ineinandergreifend eine Harmonie der Gegensätze demonstrieren, wie auch der kristallklare Bach, der an einer noch geheiligteren Stätte, als es der Seanceort mit seiner Hütte war, vorbeifloß und quasi die Krankheit hinwegschwemmen sollte. Zumindest erzeugte er eine reine, kristalline, diaphane Atmosphäre. In ganz eminenter Weise zeigte sich die Einheit von psychischer und physischer Sphäre darin, daß der Spiritdoctor nach einer Methode, die auch die Schamanen in den Anden und am Amazonas praktizieren, die Krankheit und unheilbringenden Kräfte, die bösen Dämonen, aus dem Haupt des Patienten aussaugte und ausspie und durch A

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Aufstellung eines Palmblattes mit klarem Wasser vor der Hütte die Rückkehr der Geister, wenn sie denn wiederkehren sollten, durch Reflexion, d. h. durch Zurückspiegelung und Zurücktreibung verhinderte. Die Magie des Wassers leuchtet ein. Nicht nur ist es das hellste, klarste, spiegelnde Element, sondern auch einer der sublimsten, vergeistigtsten Stoffe. Die Tatsache, daß das Wissen nicht ein bloßes Wissen von einem davon unterschiedenen Objekt oder Sachverhalt ist, zu dem es sich in einer Subjekt-Objekt-Relation verhält, sondern ein Wissen von einer psycho-physischen Kraft, der nur mit einer ebensolchen Kraft begegnet werden kann, die Tatsache also, daß es selbst eine psycho-physische Kraft ist, setzt Selbsterfahrung voraus, die in einer lebendigen Auseinandersetzung der eigenen Kräfte – in diesem Falle der des Spiritdoctors – mit Gegenkräften besteht. Das Ringen und Messen mit solchen läßt Stärken wie Grenzen der eigenen Kräfte erkennen, was die auffällige Demut erklärt, die sich gravierend von westlichen Hybrisvorstellungen und Allmachtsphantasien des entfesselten Geistes unterscheidet. Nur der Initiierte, der gewisse Reifeprüfungen abgelegt hat, der durch eine Reihe von Gefahren hindurchgegangen ist, der selbstauferlegte Schmerzen erduldet und ihnen standgehalten hat und seine Kräfte abzuschätzen weiß, vermag das Ritual auszuführen. Nicht selten sind Schamanen durch frühere Krankheiten und Krisen hindurchgegangen und an ihrer Bewältigung gewachsen und gereift. Demselben Zweck dienen in Papua-Neuguinea auch die qualvollen Tätowierungen wie die Krokodilstätowierung, bei der die Haut mit Bambusspitzen aufgeritzt wird, die Wunden mit Asche bestreut werden, so daß Pusteln und Narben entstehen, die, in bestimmten Ornamenten auf Rücken und Brust angeordnet, ein Krokodilsmuster ergeben. Derjenige, der diese Tortur überstanden hat, hat nicht nur das Aussehen eines Krokodils, sondern auch die Kraft des Krokodils gewonnen. Er ist selbst zum Krokodil geworden, das meist das Ahntier des Stammes ist. Nur wer seine Kräfte in Auseinandersetzung mit den Gegenkräften der Natur gemessen hat, kennt dieselben, weiß sie zu lenken, zu dirigieren und zu manipulieren, sei es in weißer oder in schwarzer Magie, d. h. zum Zwecke der Heilung oder der Destruktion. Das ihm zuteil gewordene Wissen ist in diesem Sinne Herrschaftswissen, ja mehr noch, selber Herrschaft über die Kräfte der Natur. Anders gesagt, der Vollzug in der Messung der eigenen Kräfte mit den fremden ist Wissen, nicht Wissen wie in unserem wissenschaftlichen Verständnis als Intellektualisierung und 108

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Theoretisierung von Vorgegebenem, sondern als Ringen und konkretes Beherrschen. Darin liegt freilich auch die Begrenzung, die diese Kulturen nie über sich hinauswachsen und entwickeln ließ, sondern in einer 40000 bis 50000-jährigen Tradition ihre Stabilität bewahren ließ. Noch an einem anderen Beispiel mag die Art und Weise dieses Wissens demonstriert werden, an den Initiationsriten, die der Aufnahme des Jugendlichen in die Gemeinschaft der Erwachsenen dienen und aus ihm erst nach bestandenen Prüfungen ein vollwertiges Mitglied machen. Solange der Jugendliche nicht initiiert ist, befindet er sich im Zustand der Unmündigkeit, der ihn bei vielen Anlässen und in vielen Angelegenheiten zurücksetzt. Ohne das Bestehen der ›Feuerproben‹ gilt er nicht als vollwertiger Mensch. So verschiedenartig die Prüfungen und Proben in den einzelnen Kulturen sein mögen, ihr Grundzug besteht im ›Stirb und Werde‹, wobei durch einen Scheintod, der durch die oft qualvollen und martervollen Prüfungen hervorgerufen wird, hindurchgegangen werden muß zur Wiedergeburt eines neuen Menschen. Am Sepikfluß in Papua-Neuguinea und in den Swamps des Blackwater-Gebietes wachsen die Jungen bis zur Pubertät bei ihrer Mutter zusammen mit den Schwestern auf. Nahezu unvermittelt werden sie der Mutter entrissen und ins Männer- oder Geisterhaus (Haus Tambaran) gesteckt und in die Obhut eines nahen Verwandten, meist eines Onkels mütterlicherseits, gegeben, der ihnen allerlei Martyrien auferlegt, die sie geduldig und widerspruchslos zu ertragen haben. Schlaf- und Nahrungsentzug sind noch das mindeste, meist handelt es sich um blutige Rituale wie die Erzeugung von Rachenbluten durch Schlucken von Bambusstückchen, Beschneidung, Tätowierung u. ä. Bekanntlich haben die Initiationsriten unterschiedliche Erklärungen und Interpretationen erfahren, die von Mut- und Ausdauerproben, welche die Mannhaftigkeit beweisen sollen, nämlich die Fähigkeit, Schmerzen zu ertragen, bis hin zur Herstellung einer mystischen Partizipation und Gemeinschaft des Novizen mit dem Totemtier des Stammes reichen. 190 Gewiß ist an allen diesen Interpretationen etwas Richtiges, tiefer jedoch dringt die Erklärung, die auf das ›Stirb und Werde‹ rekurriert und in der Initiation den Vor190 Vgl. Lucien Levy-Brühl: Das Denken der Naturvölker, in deutscher Übersetzung hrsg. und eingeleitet von Wilhelm Jerusalem, Wien, Leipzig 1921, S. 317.

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gang der Reinkarnation sieht, den Vorgang der Entstehung neuen Lebens und der Geburt als neuer Mensch. Dafür sprechen eine Reihe von Indizien, nicht nur das höhlenartige Aussehen des Innenraumes des Hauses Tambaran, das den Uterus symbolisiert, sondern auch die Aufstellung der geschnitzten Mutter- und Sohnfigur, der Figuren und Masken der Ahnen, die blutigen Praktiken, die nach der amerikanischen Ethnologin Nancy Sullivan (Making Men in Papua New Guinea) »the expelling of a mother’s postpartum blood« 191 symbolisieren. Was das moderne westliche wissenschaftliche Denken durch abstrakte medizinische Theorien erklärt, den Vorgang des Heranreifens des Embryos und der Geburt, wird im magischen Denken rituell praktiziert, also vollzogen, um dadurch Macht über den Vorgang zu gewinnen. Versucht das eine Denken diese Vorgänge durch rein biologisch-physiologische Kausaltheorien zu erfassen und zu begreifen, so das andere durch den konkreten imitierenden Vollzug. ›Wissen ist Macht‹, dieser Spruch, ursprünglich gemünzt auf das theoretische Wissen, gilt auch für das praktische. Indem ein Vorgang durchlebt, durchlitten und ertragen wird, gewinnt derjenige, der ihn besteht, die Herrschaft über ihn. 192 Das magische Wissen kann sowohl in positiver wie in negativer Absicht benutzt werden (weiße und schwarze Magie). In Papua-Neuguinea glauben die Eingeborenen, daß niemand eines natürlichen Todes stirbt, sondern der Tod immer veranlaßt ist durch den Zauberer des feindlichen Stammes. Im Hochland wie auch an manchen Küstenstreifen wie der Milne Bay schließen die Eingeborenen sogar Kontrakte mit dem Zauberer ab, ihre Feinde zu töten. Aus diesem Grunde dürfen keine Utensilien und Exkremente in die Hand des feindlichen Zauberers geraten, damit dieser nicht nach dem Analogiedenken Macht über den Einzelnen oder über den gesamten Clan gewinnt. Zugrunde liegt auch hier die Vorstellung eines Systems aus Kräften und Gegenkräften, die gelenkt, kanalisiert, gesteigert oder minimiert werden können. An ihnen beteiligt sind nicht nur der Zauberer und der Bezauberte oder Verhexte, sondern die ganze Dorfgemeinschaft. 191 Nancy Sullivan: A Brief Introduction in History, Culture and Ecology of Papua New Guinea, Mt. Hagen/ Papua New Guinea 2005, S. 13. 192 Dasselbe Phänomen läßt sich am Ursprung des griechischen Dramas konstatieren. Das Wort ›Drama‹ (drðmenon) geht auf griechisch dr”n = ›vollziehen‹, ›ausführen‹ zurück und weist darauf, daß das Drama ursprünglich nicht bloße Repräsentation, Nachvollzug eines einst unmittelbaren Vorgangs, war, sondern im eigentlichen Sinne Präsentation, kultisch-ritueller Vollzug, und zwar Vollzug des ›Stirb und Werde‹.

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Über eine psycho-physische Beeinflussung, die zwar vom Zauberer, Spiritdoctor, Schamanen ausgeht, aber indirekt an die Selbstheilungsoder Selbstaufgabekräfte des Betreffenden appelliert, wird das jeweils gewünschte Ergebnis erreicht. Anders gesagt, nicht der Zauberer, Spiritdoctor oder Schamane heilt oder tötet auf irgendeine mysteriöse Art, sondern veranlaßt durch das Wechselspiel der Kräfte, das er aufgrund seines größeren Wissens kennt und beherrscht, die Kräfte des Anderen zur Selbstheilung oder Selbstaufgabe. Den sich hier abspielenden psycho-physischen Mechanismus hat Walter B. Cannon in seinem Artikel »Voodoo« Death 193 ausführlich dargelegt, wenngleich an Vodu-Zauberern. Die Verhältnisse lassen sich im Prinzip auf Verhexungen in aller Welt übertragen. Psychologisch gesehen setzt die Wirksamkeit der Magie den Glauben an dieselbe voraus. Das Opfer, das sich bewußt wird, verhext zu sein, teilt diese Überzeugung ebenso wie sein Clan, der ihm nach und nach das Vertrauen auf sein Weiterleben entzieht. Nicht nur das Opfer selbst zieht sich aus der Gemeinschaft zurück und wähnt sich zum Tode verdammt, auch die Gemeinschaft sieht in ihm mehr und mehr einen Gefahrenherd für die gesamte Umgebung und entzieht ihm das tragende Kollektivbewußtsein sowie die übrigen Beziehungssysteme, die normalerweise dem Einzelnen Halt, Sinn, Bestätigung und Funktion innerhalb der Gemeinschaft gewähren. Der so aus der Gemeinschaft Herausgedrängte akzeptiert immer mehr diese Aussonderung und Aufhebung seiner physischen Existenz. Cannon hat dies eindrücklich beschrieben: »During the death illness which ensues, the group acts with all the outreachings and complexities of its organization and with countless stimuli to suggest death positively to the victim, who is in a highly suggestible state. In addition to the social pressure upon him the victim himself, as a rule, not only makes no effort to live and to stay a part of his group but actually, through the multiple suggestions which he receives, cooperates in the withdrawal from it. He becomes what the attitude of his fellow tribesmen wills him to be. Thus he assists in committing a kind of suicide.« 194 193 In: American Anthropologist, New Series Bd. 44, Nr. 2 (1942), S. 169–181. Vgl. auch Curt P. Richter: On the Phaenomenon of Sudden Death in Animals and Man, in: Psychosomatic Medicine, Bd. 19/3 (1957), S. 191–198; Claude Lévi-Strauss: Strukturale Anthropologie I (Titel der Originalausgabe: Anthropologie structurale, Paris 1958), übersetzt von Hans Naumann, Frankfurt a. M. 1997, S. 183 ff.; Martin E. P. Seligman: Helplessness. On depression, development, and death, San Francisco 1975. 194 Walter B. Cannon: »Voodoo« Death, in: American Anthropologist, a. a. O., S. 174.

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Dem entsprechen die physiologischen Vorgänge. Die zunächst einsetzende Wut und Angst intensivieren die Tätigkeit des vegetativen Nervensystems, das, in Jahrtausenden der Entwicklung ausgebildet, die inneren Organe und ihre Funktionen konstelliert und normalerweise den Menschen auf Gefahren angemessen reagieren läßt, sei es durch Aggression oder Flucht, in Ausnahmesituationen wie diesen jedoch aufgrund der enormen emotionalen Steigerung und Perturbation, ohne daß diese nach außen entweichen könnten, Desorganisation und Destabilisierung herbeiführt. In Beobachtungen und Experimenten an Tieren (Katzen) und unter Wundschock stehenden Kriegsverletzten des 1. Weltkriegs hat man herausgefunden, daß sowohl der plötzliche Adrenalinanstieg, die Erhöhung der Herzschlagfrequenz und der Anstieg der Blutzuckerkonzentration über mehrere Stunden wie auch das durch Angst verursachte plötzliche Absinken des Blutdrucks, welches irreversible Schäden an den Kreislauforganen, besonders an den Kapillaren, hinterläßt und einen Ausstoß des Blutplasmas in die Umgebung sowie eine Konzentration roter Blutkörperchen im Blut bewirkt, zum Tode führen, ohne daß ein äußerer Blutverlust oder eine sonstige äußere Auffälligkeit konstatierbar wären. Die Zurückweisung von Essen und Trinken, die bei Kranken häufig auf Angstzustände deutet, steigert diese Entwicklung und läßt fast automatisch den Tod eintreten. Es ist das Phänomen einer Selbsthypnotisierung, das hier zu beobachten ist. Ein australischer Dokumentarfilm über die Aborigines von Anfang des 20. Jahrhunderts hat einen ähnlichen Vorgang authentisch festgehalten. Er zeigt, wie ein Tabubrecher und folglich aus seiner Gemeinschaft Verbannter, nachdem ihn zunächst unbändige Wut und Aggression packten, dann ihn aber das Bewußtsein seines vorherbestimmten Schicksals einholt, im Outback umherirrt, immer weniger Wasser und Speise zu sich nimmt, so daß seine Kräfte erschlaffen, bis er sich schließlich, das Urteil seines Clans akzeptierend, quasi wie natürlich zum Sterben hinlegt, um schicksalsergeben den Pfeil der ihn verfolgenden Rächer zu empfangen. In Anbetracht der Tatsache, daß bei Naturethnien das Individualbewußtsein noch unterentwickelt ist und das Kollektivbewußtsein den Einzelnen trägt, spielen die Gewährung oder der Entzug desselben eine viel größere Rolle als in Kulturen, die ein ausgeprägtes Individualbewußtsein entwickelt haben. Bei der Heilung umgekehrt wird der Kranke psychosomatisch an den Punkt geführt, der Ausgang seines Fehlverhaltens im Um112

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Die Auflsung der ursprnglichen Einheit von Theorie und Praxis

gang mit der Gemeinschaft oder der Natur ist. Die Rückversetzung in die Ursprungsdimension und die Eröffnung andersartiger Reaktionsmöglichkeiten als der ersten, die durch den Spiritdoctor veranlaßt werden, eröffnen die Chance auf Heilung, und zwar auf Selbstheilung. Eine ähnliche Praxis liegt heute in der im Westen üblichen Psychoanalyse, im autogenen Training, in der Yoga-Meditation und verwandten Übungen vor. Auch wenn wir heute angesichts der Dominanz des wissenschaftlichen Wissens meinen, das magische Wissen überwunden zu haben, existiert es weiter. Nicht nur im religiösen Kontext, in kultisch-rituellen Vollzügen wie Gebeten und Gesängen, im Abendmahl, bei dem Brot und Wein Fleisch und Blut Christi symbolisieren, oder im Glauben an eine Transsubstantiation (fleischliche Auferstehung) lebt es weiter, auch in säkularisierter Form findet es eine Fortsetzung, so in den Talismanen und Maskottchen der Fußballspieler und anderer Sportler, in farbigen, glücksbringenden Steinen, in abergläubischen Sprüchen wie denen ›Von rechts nach links, was flink’s, von links nach rechts, was schlecht’s‹, wenn uns eine schwarze Katze über den Weg lief. Auch Astrologie und Chiromantie setzen die Tradition des magischen Wissens fort. Darüber hinaus bildet es das Fundament und die Tiefenstruktur unseres gängigen Wissens. Auch vermöchten wir keinen Zugang zu uns fremden, historisch wie geographisch fernen Kulturen zu gewinnen, wenn wir uns nicht über ein Ein- und Einsfühlen in sie hineinversetzen könnten. Zudem beruht jedes situative Verstehen einfacher wie komplexer Situationen, jedes gestische Verstehen von Freude oder Trauer, Wut und Verärgerung, Zufriedenheit und Wohlbefinden, auf einer ursprünglichen Einheit von Psyche und Physis (Wissen und Sachverhalt). Die Darstellung dieses originären Ineinandergreifens im situativen und gestischen Verstehen und dem ihm vorgängigen instinktiven Verstehen wird Thema der folgenden Kapitel sein. Was schließlich das ethische Moment im magischen Wissen betrifft, das mit der Praxis in seiner Doppelrolle von Praktisch-Ethischem und Praktisch-Handwerklichem gegeben ist, so ist entscheidend, daß das magische Wissen als das von Kräften selbst eine Kraft ist, gebunden an die persönliche Erfahrung, die um ihre Stärken und Schwächen, ihre Belastbarkeit wie ihre Grenzen weiß und ein bestimmtes Maß niemals übersteigt im Gegensatz zum heutigen entfesselten Verstand. Insofern ist dieses Wissen unmittelbar mit ethischer Verantwortung verbunden, freilich einer naturgemäßen. Mit A

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Historischer Paradigmenwandel des Wissens

der Entbindung des Wissens von der subjektfundierten Erfahrung als seiner Grundlage sowie der Autonomisierung, die das Resultat eines geschichtlichen Wandlungsprozesses ist, geht auch die Entbindung von der ethischen Verantwortung einher. Die ›emanzipierte‹ Menschheit erscheint heute wie der Zauberlehrling aus Goethes gleichnamigem Gedicht, der erstaunt und erschrocken über die ihm verfügbaren Mittel und die ihm zuteil gewordene Macht (siehe Atombombe, Monokulturen, Genmanipulation usw.) die Geister, die er rief, nicht mehr zu bändigen weiß. An die Stelle des ursprünglichen, konkreten Wissens ist heute das abgeleitete wissenschaftliche getreten. Auf seinem langen geschichtlichen Weg hat sich das ursprüngliche Gesamtgefüge, das nicht nur ein multidimensionales Gebilde, sondern auch ein integratives war, zunehmend aufgelöst, einerseits durch Abhebung der theoretischen von der praktischen Ebene, sowohl der praktisch-ethischen wie der praktisch-handwerklichen, andererseits durch Auflösung der theoretischen Ebene in Einzelerkenntnisse, die, systematisch oder aggregativ, die heutigen Formen des theoretischen Wissens ausmachen. Nach dieser Darstellung der Entwicklungsgeschichte des Wissensbegriffes soll der zweite, konstitutive Teil dieses Buches die Wissenstypen in ihrem Schichtenaufbau zeigen.

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II. Teil Morphologischer Aufbau des Wissens

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Methodologische Vorberlegung: Descartes’ anthropologischer und metaphysischer Dualismus und dessen Kritik

In gewisser Weise sind wir alle Erben Descartes’ und seines anthropologischen und metaphysischen Dualismus, sei es, daß wir als Anhänger und noch radikalere Verfechter seiner Theorie auftreten wie im 19. Jahrhundert Franz Brentano und Johannes Rehmke 1 , oder sei es, daß wir uns als entschiedene Opponenten verstehen, die seinen Ansatz kritisieren und zu überwinden trachten entweder nach Seiten eines reinen Materialismus wie im 20. und 21. Jahrhundert die Neurologen, z. B. Gerhard Roth 2 , oder nach Seiten eines reinen Psychismus wie George Santayana und die östlichen Meditationssysteme. Descartes ging von einem radikalen Dualismus zweier Seinsbereiche aus, der res cogitans und der res extensa, wobei er unter dem letzteren Bereich die materiell erfüllte räumliche Ausdehnung verstand, die mit den Körpern und dem Körperlichen zusammenfällt und wegen ihrer Extensionalität als teilbar und zusammensetzbar gilt, und unter dem ersteren die denkende Substanz, die er in genauer Opposition zu jener materiellen charakterisierte, nämlich durch die negativen Prädikate der Unausgedehntheit und Unzusammengesetztheit, folglich auch der Unteilbarkeit oder, positiv ausgedrückt, durch absolute Einfachheit und Unzerstörbarkeit, also Ewigkeit. Denn was unauflöslich ist, existiert ewig. Das Zusammengehen beider Substanzen zum Zwecke der Erkenntnis wie auch zum Zwecke der Umsetzung des Willens dachte sich Descartes in Form eines physo-psychischen bzw. psycho-physischen Influxus über die Vermittlung des einzig Franz Brentano: Psychologie vom empirischen Standpunkt, Bd. 1, Leipzig 1924, unveränderter Nachdruck 1955, S. 109 ff.; Johannes Rehmke: Philosophie als Grundwissenschaft, 2., umgearbeitete Aufl. Leipzig 1929, S. 381. 2 Gerhard Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen, Frankfurt a. M. 1994. 1

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unpaarigen Organs im Körper, der Zirbeldrüse (Hypophyse), einer Gehirnanhangsdrüse. Die ganze Theorie bleibt ein einziges Rätsel, nicht nur wegen der Unerklärlichkeit und Unverständlichkeit der kausalen Einwirkung total heterogener Substanzen aufeinander, sondern mehr noch wegen der Unerklärlichkeit der Transformation ausgedehnter räumlicher Eigenschaften in einfache Vorstellungen von ihnen in der Seele und umgekehrt der Transformation einfacher Willensimpulse in ausgedehnte Körperteile, ganz abgesehen von den Komplikationen, die sich bezüglich des Bewegungserhaltungssatzes – modern ausgedrückt, des Energieerhaltungssatzes – bei der Einwirkung des einen auf das andere ergeben. Nehmen wir einen lokalen Schmerz am Knie, der von einem Stoß herrührt. Wie gelangt dieser über eine bestimmte größere oder kleinere Region ausgebreitete körperliche Schmerz zum Bewußtsein, zur einfachen Schmerzempfindung in der Seele, die ihren Sitz in der Zirbeldrüse hat? Zum Transport bemüht Descartes das damals gerade entdeckte Nervensystem. Wie aber ist dieser Transport zu denken? Als ein rein physikalisches, mechanisches Kausalverhältnis, bei dem ausgedehnte räumliche Körpereigenschaften bis zur Zirbeldrüse gelangen, wo sie in einfache Seeleneigenschaften transformiert werden, oder indem schon vorher räumlich ausgedehnte Eigenschaften in einfache Impulse umgesetzt sind und über die Nerven vermittelt werden? Ein Desiderat dieser Theorie besteht vor allem in der Auslegung des Seelenbegriffes bzw. des Begriffes des Geistes. Während die Interpretation der res extensa als teilbare, begrenzbare Ausdehnung eindeutig ist, scheint die res cogitans ein Sammelbegriff zu sein, der nicht nur das Bewußtsein auf seiner höchsten Stufe, das Selbstbewußtsein, als schlechthin unbezweifelbaren Akt des Zweifelns enthält, da man an allem – an allen Wahrnehmungen und intellektuellen Leistungen – zweifeln kann, nicht aber am Zweifel selbst, sondern auch Denkakte, Willensakte, Wahrnehmungen, Gefühle und Empfindungen mit umfaßt. Angesichts der schon ausgearbeiteteren traditionellen Theorien, etwa der platonischen, die die Seele triadisch gliedert in einen intellektuellen, mutigen und begehrenden (trieblichen) Teil, oder der aristotelischen Dreiteilung der Seele in De anima in ein intellektuelles, sensitives und vegetatives Vermögen, nimmt sich Descartes’ Seelenlehre vage und unbestimmt aus. Vermißt wird nicht nur eine Gliederung, auch und gerade das Verhältnis der körpergebundenen Empfindungen und Gefühle wie des Schmerzes in Bezug zu seinem körperlichen Lokal und die Reaktionen darauf blei116

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ben ungeklärt. Das, was wir heute als leiblich-sinnliche Reaktion über das Reiz-Reaktionsschema erklären, also das vegetative, instinktive Verhalten, wird von Descartes ausschließlich durch eine Automatentheorie erklärt, indem er den menschlichen Körper ebenso wie den tierischen als bewußtlosen Automaten betrachtet. Die Theorien des 20. und 21. Jahrhunderts haben Bemühungen unternommen, diesen radikalen Dualismus zu unterlaufen, indem sie nicht von zwei selbständigen heterogenen Instanzen und deren nachträglicher Verbindung ausgehen, was immer problematisch bleibt, sondern von einer ursprünglichen Einheit beider, einem ursprünglichen Angelegtsein beider aufeinander, ohne daß dies schon in die differenten Teile auseinandergetreten ist. Es handelt sich um eine Einheit allenfalls mit interner, potentieller Gliederung. Diesem Konzept folgt Martin Heidegger, indem er in Sein und Zeit vom Dasein der menschlichen Existenz ausgeht und dieses als In-der-WeltSein bestimmt. In diesem Konzept ist die klassische triadische Struktur zwar angelegt, aber unexpliziert. Sie läßt sich allenfalls abstraktiv auseinandernehmen, was jedoch ihre originäre Zusammengehörigkeit nicht mindert. Da ist zum einen die Welt und Wirklichkeit als Objekt, dann das Dasein als Subjekt und das In-sein als Beziehung beider aufeinander, wobei In-sein aber nicht in räumlich-lokalem Sinne als Enthaltensein eines vorhandenen Dinges in einem anderen gemeint ist, etwa der Bank im Hörsaal, des Hörsaals in der Universität, der Universität in der Stadt usw. Rekurrierend auf das althochdeutsche innan- = ›wohnen‹, ›habitare‹, ›sich aufhalten‹, bedeutet Insein hier soviel wie ›vertrautsein mit‹, ›zu tun haben mit‹, ›pflegen‹. Es hat also die Bedeutung von colere im Sinne von habitare und diligere. 3 Als existenzialontologisches Grundkonstituens des Daseins nimmt Heidegger Befindlichkeit an, die er als ein Apriori im Unterschied zu den ontischen Bestimmungen der Affekte und Gefühle bestimmt, analog wie Kant zwischen allgemeiner apriorischer Objektivität und speziellen konkreten Objekten unterscheidet. Befindlichkeit bedeutet für Heidegger Gestimmtsein, Stimmung. Mit ihr ist eine Erschließungsweise der Welt benannt, die in bezug auf das eigene Dasein, »das pure ›daß es ist‹« 4 , als Lastcharakter im Unterschied zur Leere empfunden wird. Aus dieser Befindlichkeit leitet Heidegger nach Art einer Ursprungslogik die derivativen Bewußtseinsmodi 3 4

Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit, 1926, 18. Aufl. Tübingen 2001, S. 54. A. a. O., S. 134. A

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ab, wie das Verstehen, das sich in Aussagen (Sätzen) artikuliert und die Form hat ›etwas als etwas verstehen‹ und zum theoretischen Wissensbegriff überleitet. Während Heidegger in der Prolegomena-Vorlesung noch ausschließlich mit der Befindlichkeit auszukommen meint, führt er in Sein und Zeit neben der Befindlichkeit als gleichberechtigte vortheoretische, vorreflexive Fundamentalbestimmung das Verstehen ein, freilich nicht das derivative Etwas-als-etwas-Verstehen, sondern das Verstehen als primären, originären Modus noch vor jeder Differenzierung in die derivativen Formen von Erklären und Verstehen als spezifischen Erkenntnisweisen von Natur- und Geisteswissenschaft. 5 Daß auch die ursprüngliche Befindlichkeit oder Gestimmtheit von einer potentiellen triadischen Form lebt, wird am Beispiel der Furcht deutlich: Sie hat ein Wovor (Objekt), ein Worum (Subjekt) und das Fürchten selbst als Beziehung zwischen beiden (Relation). Man fürchtet sich vor einem furchterregenden, furchteinflößenden Bedrohlichen, das einen bestimmten Ort hat oder aus einer bestimmten Gegend kommt, in der es nicht geheuer ist; man fürchtet um Haus und Hof oder um das zu einem selbst Gehörige, dessen Verlust eine Bedrohung des eigenen Seins bedeutet; und zum dritten ist das Fürchten selbst der Charakter der Befindlichkeit, die, wie Heidegger ausführt, das »sich-angehen-lassende Freigeben des so charakterisierten Bedrohlichen« 6 ist. Dies meint nicht, daß zunächst das zukünftige Übel (malum futurum) festgestellt wird, das dann Furcht aufkommen läßt, auch nicht, daß das Fürchten selbst zuerst das Herannahende als solches konstatiert, sondern daß das Fürchten das Furchtbare in seiner Bedrohlichkeit entdeckt, beide also aufeinander bezogen und angewiesen sind. Einen zweiten Versuch, den anthropologischen und metaphysischen Dualismus Descartes’ zu unterlaufen, hat Hermann Schmitz in seinem vielbändigen Werk System der Philosophie 7 unternommen mit seiner Konzeption des Leibes, die inzwischen Vertreter und Nachahmer gefunden hat, so Gernot Böhme in seinem Buch Leibsein als Aufgabe. 8 Leib meint nicht dasselbe wie Körper. Während Körper Vgl. a. a. O., S. 142 ff. A. a. O., S. 141. 7 Hermann Schmitz: System der Philosophie, Bd. 1 ff., Bonn 1964 ff. 8 Gernot Böhme: Leibsein als Aufgabe. Leibphilosophie in pragmatischer Hinsicht (Die Graue Reihe 38), Zug/Schweiz 2003; vgl. auch Regine Kather: The Relation of Body and 5 6

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den cartesianischen Begriff der res extensa fortsetzt und eine bestimmte, begrenzte Ausdehnung hat, die man quantifizieren und deren relativen Ort im Verhältnis zu anderen relativen Orten man mittels eines Koordinatensystems angeben kann, hat Leib keinen relativen Ort, sondern einen absoluten, ebenso eine absolute Gegenwart, ein Hier und Jetzt. 9 Ein absoluter Ort ist für Schmitz einer, der unabhängig von räumlicher Orientierung identifizierbar ist. 10 Auch wenn es sich hier nur um eine negative Bestimmung handelt, so läßt sich diese z. B. an der Enge, die mit Angst und Schmerz verbunden ist und einen absoluten Ort bezeichnet, positiv aufweisen. Wiewohl aus dem Begriff des absoluten Ortes nicht per se gefolgert werden kann, daß die mit ihm koinzidierende Leiblichkeit erlebt oder bewußt sein muß – das Problem einer unbewußten Leiblichkeit wie im traumlosen Tiefschlaf bleibt offen –, 11 zielt Schmitz’ Argumentation darauf ab, daß die Leiblichkeit von psychischen Phänomenen wie Empfindungen, Gefühlen, Bewußtsein begleitet ist. Hierzu beruft sich Schmitz auf die ursprüngliche Leibkonzeption der frühgriechischen Dichtung und Philosophie, Homers etwa, die die seelischen Modifikationen: Freude, Trauer, Mut, Wut, Ärger an sogenannte Leibesinseln in der Herz-, Brust-, Magen-, Leber-, Nierengegend bindet, so wie man noch heutigentags zu sagen pflegt: ›eine Wut im Bauch haben‹, ›mit dem Kopf (in der Antike mit dem Herzen) denken‹, ›Stolz in der Brust haben‹, ›eine von Stolz geschwellte Brust haben‹. Nicht nur das antike Denken bannt psychische Phänomene an bestimmte Körpergegenden, sondern auch im heutigen alltäglichen Denken ist diese Bindung üblich. So sagt man etwa, daß der Magen vor Hunger knurre, daß die Kehle trocken sei und dürste, daß man Trauer im Herzen verspüre, den Kopf voller Gedanken habe usw. Leibesinseln und Körperteile stimmen nur in etwa überein, indem die Leibesinseln eine absolute Örtlichkeit, die Körperteile eine relative bezeichnen, die ersteren eine unteilbare, definitive Ausdehnung haben, die letzteren eine teilbare. Auch gibt es den Fall, daß der Körper über die Leibesinseln hinausreicht, etwa mit den nicht spürbaren Nägeln oder Haaren, wie auch den umgekehrten Fall, daß die LeibesMind as a Key for the Definition of Person (SM); Rudolf zur Lippe: Sinnenbewußtsein. Grundlagen einer anthropologischen Ästhetik, 2 Bde., Hohengehren 2000. 9 Vgl. Hermann Schmitz: System der Philosophie, a. a. O., Bd. 2.1, S. 5 ff. 10 Vgl. a. a. O., S. 6. 11 Vgl. a. a. O., S. 10. A

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inseln über den reinen Raumkörper hinausreichen wie bei Phantomschmerzen, die in Phantomgliedern empfunden werden. Eine produktive Überwindung der Einseitigkeit der cartesianischen Philosophie wird nur dann gelingen, wenn man sich der originären Einheit von Körper und Seele bewußt wird. Der Hauptfehler der cartesianischen Konzeption, einerseits die Verkennung der Leiblichkeit, andererseits die phänomenwidrige Konzeption der Seele, die den mannigfachen, äußerst heterogenen Phänomenen des Seelischen ein einheitliches Substrat unterstellt, 12 läßt sich nur überwinden, wenn man der originären Einheit auch sprachlich Genüge tut. Von hier sind die Linien sowohl nach Seiten des denkenden und wollenden Bewußtseins wie nach Seiten bloßer Körperlichkeit auszuziehen. 13 Wie Schmitz eine Einteilung des körperlichen Leibes in Übereinstimmung mit anatomischen, histologischen und physikalischen Befunden in eine Feinstruktur akzeptiert, so in Zellen, die ihrerseits aus Zellwand, Protoplasma und Zellkern bestehen, in den Zellkern, der Chromosomen enthält, in die Chromosomen, die Gene enthalten, in die Gene, die aus Molekülen und diese wiederum aus Atomen und noch kleineren Bestandteilen bestehen, so versucht er andererseits eine Gliederung der Seelenstruktur in die Klasse der leiblichen Regungen, der Gefühle und der Denk- und Willensakte, 14 wobei zu den leiblichen Regungen die Triebe und instinktiven Verhaltensweisen zählen dürften. Während die leiblichen Regungen unmittelbar an das Leibliche gebunden sind, zeichnen sich die Gefühle durch eine größere Unabhängigkeit und ein Eigenleben aus, denen das Körperliche lediglich zum Ausdruck dient, d. h. zur Darstellung in einem fremden Medium, während Denk- und Willensakte unabhängig vom Leiblichen sind, wenngleich letztlich auf dieses bezogen. Eine Schwierigkeit, die sich angesichts einer solchen Konzeption stellt und welcher Heidegger durch die gleichrangige Korrelation von Befindlichkeits- und Verstehensbegriff zu begegnen trachtete, ist die, wie die primär leibgebundenen Regungen, des weiteren die Gefühle ›verstehend‹ auf Einflüsse reagieren können. Sind sie adäquat genug beschrieben, um sinnvoll zu reagieren? Woher ›weiß‹ der an den leeren Magen gebundene Hunger, daß er nach Nahrung begehren, woher ›weiß‹ der an die leere Kehle gebundene Durst, daß er nach Was12 13 14

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Vgl. a. a. O., S. 56. Vgl. a. a. O., S. 63 und S. 66. Vgl. a. a. O., S. 68.

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ser verlangen soll? Es entsteht die Frage, ob angesichts eines solchen Systems, wie es Schmitz entfaltet, die natürlichen, instinktiven Verhaltensweisen des Menschen und anderer Organismen erklärt werden können. Mögen die Ansätze von Heidegger und Schmitz auch zur Lösung des Leib-Seele-Dualismus beitragen, so bleibt doch noch ein weiteres Problem bestehen, das die Einteilung des Seelenbereiches betrifft, und zwar insbesondere die der unterhalb der Denk- und Willensleistungen angesiedelten, unmittelbar leibfundierten und leibbezogenen Vermögen. Die Schwierigkeit der Einteilung und Auffächerung hat zum einen historische Gründe. Sie hängt mit dem Umstand zusammen, daß seit der Antike (vgl. Parmenides, Platon), gefördert durch das Christentum, der sogenannte ›untere‹ Bereich diffamiert, diskreditiert, ja geradezu diabolisiert wurde und folglich keinen Anlaß zur Erforschung und Durchdringung bot. Verwirrend und erschwerend erweist sich zum anderen die Tatsache, daß dieser Bereich hochgradig komplex und vielschichtig ist, so daß er bis heute eine eindeutige Gliederung sowohl in der Phänomenologie wie in der Psychologie verhindert hat. 15 Schmitz 16 trifft – wie bereits angedeutet – eine Unterscheidung und Staffelung nach leiblichen Regungen, Gefühlen und Denk- und Willensakten, wobei er die leiblichen Regungen als unmittelbare leibliche Gegebenheiten definiert, wohingegen die Gefühle schon freiere, nicht unmittelbar an den Körper gebundene Bekundungen sind, die ein Eigenleben führen und allenfalls im Körperlichen ihren Ausdruck finden. Die Bezeichnung ›Empfindung‹ für die ersteren lehnt Schmitz ab, zum einen, weil der Ausdruck ›Organempfindung‹ nicht auf Phantomempfindungen paßt, zum anderen, weil mit Farb- und Tonempfindungen oft nichts anderes gemeint ist als Farben und Töne als solche. 17 Da Schmitz explizit Hunger und Um nur einige Beispiele zu nennen, so unterscheidet Max Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 4. Aufl. Bern 1954, S. 341–356, vier Gruppen: die sinnlichen, vitalen, seelischen und geistigen Gefühle; Wilhelm Wundt kennt drei Skalen: Lust und Unlust, Spannung und Lösung, Erregung und Beruhigung; Gilbert Ryle: Der Begriff des Geistes (Originalausgabe: The Concept of Mind), aus dem Englischen übersetzt von Kurt Baier, Stuttgart 1969, S. 107, unterscheidet 3 bis 4 Gemütsbewegungen: 1. Neigung oder Motiv, 2. Stimmung, 3. Erregung oder Erschütterung und 4. Gefühl. Zur kritischen Diskussion vgl. Hermann Schmitz: System der Philosophie, a. a. O., Bd. 3.2, S. 342 ff. 16 Hermann Schmitz: System der Philosophie, a. a. O., Bd. 2.1, S. 70. 17 Vgl. a. a. O. 15

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Durst, Schmerz, Angst und Wollust 18 zu den leiblichen Regungen zählt, die gewöhnlich für Triebe oder instinktive Verhaltensweisen gelten, dürften mit der untersten Schicht, den unmittelbar leibgebundenen Regungen, instinktive Verhaltensweisen gemeint sein, wenngleich Schmitz diese mehr von der psychisch-emotionalen Seite betrachtet denn von ihrer Bezogenheit und Fixiertheit auf ein Objekt. Auf den instinktiven Verhaltensweisen bauen die Gefühle auf, die nach einer in der Psychologie gängigen Klassifikation 19 in zwei Hauptklassen zerfallen, in die unbestimmten und die bestimmten, von denen die ersteren ›Befindlichkeiten‹, ›Stimmungen‹ genannt werden und sich auf keinen bestimmten Gegenstand beziehen, sondern atmosphärisch-situativ sind, eine ›bewußtseinserfüllende Breite und Weite‹ haben, während die letzteren, auch ›intentionale Gefühle‹ genannt, auf ein bestimmtes Objekt, seine Verhaltensweise und seinen Zustand gerichtet sind. Im Unterschied zu dem weiter gefaßten Atmosphärisch-Situativen der Stimmungen sind die Gefühle auf enger gefaßtes Gestisches bezogen. Die den Gefühlen in ihrer zweifachen Modifikation übergeordneten Denk- und Willensakte zeichnen sich durch eine Lockerung der Subjekt-Objekt-Beziehung aus, durch ein weiteres Auseinanderdriften der Momente und damit durch eine Subjekt-Objekt-Differenz. Nimmt man die Subjekt-Objekt-Relation als Leitfaden der Gliederung, so läßt sie sich durch alle genannten Stufen hindurch feststellen, angefangen von der untersten, dem instinktiven oder triebhaften Verhalten, in dem sie in einer unmittelbaren, noch undifferenzierten und ungelockerten Einheit vorliegt, über die Gefühle, bei denen zunehmend eine Abhebung subjektiven Empfindens vom Objekt, zunächst vom unbestimmten, dann vom bestimmten, stattfindet, um auf der kognitiven Stufe in eine freie Subjekt-Objekt-Beziehung überzugehen, der sich auf einer transkognitiven Stufe, die Traum- und Trancezustände umfaßt, eine ganz freie, willkürliche Beziehung anschließen wird. Dieser Stufung soll gefolgt werden. Trotz Stufung bleiben die höhergeordneten Stufen auf die niederen bezogen und in ihnen fundiert. Vgl. a. a. O., Bd. 2.1, S. 60. Vgl. Otto Friedrich Bollnow: Das Wesen der Stimmungen, Frankfurt a. M. 1941, S. 17 ff.; Philipp Lersch: Aufbau der Person, München 1962, 11. Aufl. 1970, S. 215 ff., 306 ff.

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2.1. Objektive Beschreibung Seitdem Aristoteles im 2. Buch der Physik, Kapitel 8 im Blick auf den hochartifiziellen Bau von Vogelnestern zur Aufzucht der Jungen – man denke an die hängenden Kunstwerke der Webervögel –, auf den hochartifiziellen Netzbau einer Spinne zum Fliegenfang, auf das hochartifizielle Arrangement von Griffel, Staubgefäßen, Blütenblättern und Blättern einer Pflanze zur Bestäubung und zum Schutz der Frucht die Frage aufwarf, ob es sich hier um bewußte Zwecktätigkeiten, also um Wissen, handle oder lediglich um unbewußte Vorgänge (Naturteleologie), die wir uns nicht anders als nach Analogie zu bewußten, planenden, entwerfenden und durchführenden Handlungen verständlich machen können, 20 ist diese Frage nicht wieder verstummt, weder in der Philosophie noch in der Biologie. Unter anderen griff Kant diese Frage in der Kritik der Urteilskraft erneut auf und beantwortete sie dahingehend, daß wir jene teleologischen Vorgänge der Natur nach regulativen Prinzipien der reflektierenden Urteilskraft beurteilen, nicht nach konstitutiven der bestimmenden Urteilskraft, so, als ob eine intelligente Ursache am Werke sei. Im heutigen Sprachgebrauch sprechen wir von instinktivem Verhalten und verstehen darunter angeborene Verhaltensmuster, die im genetischen Code des Organismus vorprogrammiert sind, und zwar für jede Art und Gattung von Organismen in spezifischer Weise. Diese Muster werden durch Vererbung weitergegeben. Man kann darüber streiten, ob es sinnvoll ist, auf diese Verhaltensweisen den Wissensbegriff anzuwenden oder nicht. Letztlich ist die Definition von Wissen, d. h. die Festlegung dessen, was man darunter verstehen will und was nicht, eine konventionelle Angelegenheit. Es ließe sich denken, den Wissensbegriff ausschließlich für das begriffliche Wissen zu reservieren und alle anderen Arten wie das instinktive, das emotional-situative und emotional-intentionale, das praktische, das hyperbegriffliche Traum- und Trancewissen nicht als Wissen im strengen Sinne zu bezeichnen. Wo aber soll man vernünftigerweise die Grenze ziehen? Soll das praktische Erfahrungswissen, das know how, das durch Nachahmung erlernt wird, ohne daß es zur Abstraktion und Explikation des Theoriegehaltes kommt, nicht unter den 20

Aristoteles: Physik, 2. Buch, Kap. 8 (199 a). A

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Wissensbegriff fallen? Sinnvoller erscheint es, auf alle zweckgerichteten psychischen Tätigkeiten, die sich nicht als bloße Aggregation erklären lassen, sondern einen vorgängigen Plan vom Ganzen zwecks Verständnis voraussetzen, der Umfang und Arrangement der Teile bzw. den Weg zwischen Anfang und Ende, welches zugleich das Ziel ist, festlegt, den Wissensbegriff anzuwenden. Dieser umfassende Begriff schließt alle finalistischen Vorgänge ein, mögen sie explizit oder unexplizit und unexplizierbar sein. Instinktives, d. h. angeborenes Wissen macht den größten Teil der Verhaltensweisen von Organismen, ob von Pflanzen, Tieren oder Menschen, aus. Dies gilt es auch und gerade bezüglich des letzteren zu betonen, der, ob total oder partial, ein Triebwesen ist, mögen die angeborenen instinktiven Verhaltensschemata auch Freiräume für variables Handeln lassen. An dieser These muß entschieden gegenüber der von Günter Dux in seinem Buch Die Logik der Weltbilder 21 vertretenen Ansicht festgehalten werden, wonach der Mensch eine Sonderstellung gegenüber den Tieren einnimmt aufgrund einer Instinktreduktion und eines Überwiegens gestalterischer Freiheit, eines Erlernens von nicht Angeborenem. Angesichts der Künstlichen Intelligenzforschung und ihrer Fortschritte, die sich inzwischen auch auf die Erforschung von Emotionen ausgedehnt hat, wäre zu fragen, ob sich der Begriff der Freiheit überhaupt noch retten läßt, ob nicht letztlich alles Verhalten auf angeborene Verhaltensschemata zurückgeht, freilich solche, die einen gewissen Spielraum für Variationen zulassen, was dann Freiheit genannt wird. Ohne diese Frage definitiv beantworten zu wollen oder zu können, sei darauf verwiesen, daß sämtliche vegetativen Vorgänge instinkthaft, also im genetischen Code des Organismus festgelegt sind, sowohl das Ein- und Ausatmen, das bei Reduktion des Sauerstoffgehaltes im Blut automatisch einsetzt und zur Wiederherstellung des entwichenen Anteils dient, das Eß- und Trinkbedürfnis, das bei Abfall bestimmter Stoffe im Stoffwechselvorgang entsteht und die Wiederherstellung des Gleichgewichts verfolgt, der Schlaf- und Wachrhythmus, der der Regeneration der Zellen dient, das Jagdverhalten, insbesondere bei Tieren, das nach einem ganz bestimmten Schema abläuft und das Ziel hat, Beutetiere zu erlegen, der Paarungs- und Bruttrieb zum Zweck der Arterhaltung u. ä. Bei etlichen Tierarten, z. B. den Zugvögeln, LachGünter Dux: Die Logik der Weltbilder. Sinnstrukturen im Wandel der Geschichte, Frankfurt a. M. 1982, 3. Aufl. 1990, bes. S. 43 ff.

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sen, Walen, Pinguinen und Meeresschildkröten, kommt ein für die Wissenschaften immer noch verblüffender und rätselhafter Orientierungssinn über tausende von Kilometern hinzu, der die Tiere zu bestimmten Zeiten an ihre angestammten Brut- und Laichplätze führt oder in ihre Sommer- und Winterquartiere. Beim instinktiven Wissen handelt es sich um ein rigides Schema von Ursache und Wirkung, sofern man den Vorgang auf physikalischer Ebene beschreibt, bzw. um ein Schema von Reiz und Reaktion, sofern man in die Biosphäre wechselt. Auf das Erscheinen eines bestimmten Gegenstandes, Merkmals oder einer Verhaltensweise erfolgt nach einem genauen, im voraus festgelegten und eingeprägten Mechanismus eine Reaktion, die mit einem bestimmten Zweck verbunden ist. Registriert die Pflanze, das Tier oder der Mensch ein für seinen Organismus relevantes Datum der Umwelt, so antwortet der Organismus mit einem diesem Datum Rechnung tragenden Verhalten, das stets im Kontext eines teleologischen Ganzen zu sehen ist. Eine einfache Reizreaktion aufgrund eines angeborenen Mechanismus läßt sich bei Jungdrosseln beobachten. Etwa zehn Tage, nachdem sie aus dem Ei geschlüpft sind, sperren sie zwecks Nahrungsaufnahme beim Anflug der Eltern den Schnabel auf. Dabei ist das Signal zum Schnabel-Aufsperren festgelegt. Das auslösende Objekt, im Normalfall der heimkehrende Altvogel, muß sich bewegen, eine bestimmte Größe haben und oberhalb der Ebene erscheinen, auf der die Jungvögel im Nest hocken; denn ein auf Augenhöhe anfliegender Vogel wird zwar konstatiert, löst aber nicht den Sperrmechanismus aus. Hier liegt eine simple, rigide Abhängigkeit von einem Schlüsselreiz vor, der eine bestimmte Reaktion evoziert. Konrad Lorenz nennt dies im Anschluß an Untersuchungen von Jakob Johann von Uexküll das angeborene auslösende Schema. 22 Obwohl die Umgebung der Jungvögel weitere Faktoren als nur Schlüsselkonstellationen aufweist, lösen nur bestimmte Reize bestimmte Verhaltensweisen aus. Hierin liegt ein selektives Verhalten: nur der richtige Schlüssel öffnet die Münder – bildlich gesprochen –, der falsche läßt sie geschlossen. Ein Beispiel für ganze Reaktionsketten liegt beim Stichlingsverhalten während der Paarungszeit vor. Nikolaas Tinbergen hat in seiner Instinktlehre 23 eine eingehende Beschreibung davon geliefert. Vgl. Nikolaas Tinbergen: Instinktlehre. Vergleichende Erforschung angeborenen Verhaltens, Berlin, Hamburg 1964, S. 39. 23 A. a. O., S. 41, 45 f. Zitiert auch bei Günter Dux: Die Logik der Weltbilder, a. a. O., S. 32 f. 22

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Während sich dreistachlige Stichlinge normalerweise im Schwarm aufhalten, sondern sich die Männchen zur Paarungszeit ab, legen ein Revier an und bauen ein Nest. Kommt ein Weibchen vorbeigeschwommen, so beginnt das Männchen einen Zick-Zack-Tanz, der das Weibchen entweder anzieht oder abstößt. Im Falle eines paarungsbereiten Weibchens wendet dieses dem Männchen seinen von Eiern aufgetriebenen Bauch zu, worauf das Männchen mit dem Tanz innehält und zum Nest schwimmt, während das Weibchen folgt. Dort beginnt jenes mit einem Schnauzenstoß den Hinterleib des Weibchens zur Eiablage zu stimulieren. Nach der Ablage wird das Weibchen vertrieben, da die Brutpflege und Aufzucht allein dem Männchen obliegt. Hier liegt ein programmiertes Wechselspiel zwischen den Partnern mit unterschiedlichen Stationen vor. Nicht weniger belehrend sind die Beobachtungen von Kurt von Frisch 24 über die Organisation und das Sozialverhalten von Bienen. Der Bienenstaat besteht aus Königin, Arbeiterinnen, Wächterinnen, Kundschafterinnen und Drohnen, von denen jede ihre genau festgelegte Aufgabe hat: die einen sind zum Auskundschaften von Nahrung bestimmt, die anderen übernehmen den Transport, die dritten überwachen und verteidigen den Bau. Alle Abläufe erfolgen nach einem festen Plan, den man wohlausgetüftelt nennen könnte, wenn er nicht in der genetischen Veranlagung mitgegeben wäre. Ein eindrucksvolles Beispiel hierfür ist der Schwänzeltanz der Bienen, wenn sie Nahrungsquellen ausfindig gemacht haben und diese ihren Artgenossen mitteilen wollen. Sie vollführen dann einen Tanz in genauer Koordination von Nahrungsquelle, Sonnenstand und Lokalisation des Bienenstocks. Im einfachsten Fall, bei Richtungsanweisung auf horizontaler Fläche und bei fern gelegener Fruchtquelle, zeigt die Sammlerin bei ihrer Heimkehr in den Stock den Artgenossen die Richtung des Futterplatzes auf folgende Weise an: »Wenn die Sammlerin beim Flug vom Stock zum Futterplatz die Sonne z. B. unter einem Winkel von 40o links vor sich hatte, so hält sie nun hernach beim Schwänzellauf diesen selben Winkel zur Sonne ein und weist direkt nach dem Futterplatz. Die nachtrippelnden Kameraden erfassen diesen Winkel zum Sonnenstand und, indem sie ihn bei ihrem eigenen Ausflug einhalten, haben sie die Richtung zur Futterquelle. Das geht aber nur, wenn die Tänzerin die

Kurt von Frisch: Aus dem Leben der Bienen, Berlin, Heidelberg 1927, 10. Aufl., ergänzt und bearbeitet von Martin Lindauer, Berlin usw. 1993.

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Richtungsweisung nach dem Sonnenstand beim Tanz auf horizontaler Fläche. Links: St = Stock, F = Futterplatz, - - - - Flugrichtung zum Sammelplatz, rechts: Schwänzeltanz auf horizontaler Fläche.

Richtungsweisung nach dem Sonnenstand beim Tanz auf der vertikalen Wabenfläche. Links ist jeweils dargestellt, wie bei der gegebenen Lage des Futterplatzes der Schwänzeltanz auf der vertikalen Ebene orientiert ist. A

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Sonne – oder wenigstens blauen Himmel – sieht, z. B. bei Tänzen auf dem Flugbrettchen […]. Im Inneren des Bienenstockes ist es finster, vom Himmel ist nichts zu sehen […]. Unter diesen Umständen gebrauchen die Bienen die zweite, sehr merkwürdige Methode. Sie übertragen den Winkel zur Sonne, den sie beim Flug zum Futterplatz einzuhalten hatten, auf die Richtung zur Schwerkraft, wobei sie sich des folgenden Schlüssels bedienen: Schwänzelläufe nach oben bedeuten, daß der Futterplatz in der Richtung zur Sonne liegt; Schwänzelläufe nach unten sagen die entgegengesetzte Richtung an; solche z. B. 60o nach links von der Richtung nach oben weisen auf eine Futterquelle 60o nach links von der Richtung zur Sonne hin usw.« 25

Daneben gibt es den Rundtanz als Aufforderung an die Artgenossen, das Futter in der Nähe rund um den Stock zu suchen. Kurt von Frisch kommentiert die unterschiedlichen Tanzarten: »Der Schwänzeltanz mit seinem gradlinig vorstoßenden Schwänzellauf und andererseits der Rundtanz mit seinen kreisenden Läufen scheinen mit überraschend sinnbildlicher Deutlichkeit zur Tat aufzurufen: der eine zum Vorstoß in die Weite, der andere zum Suchen rund um den Heimatstock.« 26

Wenngleich das instinktive Reiz-Reaktionsmuster ein starres ist, so handelt es sich doch um ein Rahmenschema, das einen kleineren oder größeren Spielraum für Variationen sowohl des Auslösemechanismus wie des Reaktionsmechanismus zuläßt. In der amerikanischen Literatur wird dieser Freiraum als Plastizität bezeichnet. Ohne diese Variationsbreite wären weder Täuschung noch Lernvorgänge verständlich. Ein nahrungssuchender Fisch, der gewöhnlich einem kleineren Fisch oder Wurm nachschwimmt, läßt sich durch eine Attrappe an einer Angel täuschen. Die Funktion des Köders übernimmt hier die bewegliche Attrappe. Der Fisch ist also nicht auf einen ganz bestimmten kleineren Fisch oder Wurm fixiert, sondern nur auf das Schema eines beweglichen Gegenstandes von einer gewissen Größe, das verschiedene Ausfüllungen offen läßt. Das beweist auch das Erlebnis, das der Verhaltensforscher Konrad Lorenz mit Graugänsen hatte und das in die Geschichte der Ethologie eingegangen ist. Als Lorenz, einen Schwarm fliegender Graugänse beobachtend, mit dem Rad auf unwegsamem Pfad stürzte, fiel der gesamte Schwarm hernieder, da ihn die Graugänse als ihr Leittier 25 26

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A. a. O., S. 193 ff. A. a. O., S. 201.

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betrachteten. Auch hier zeigt sich, daß nur ein Schema, ein allgemeiner Umriß für die Funktion des Leittieres existiert, nicht aber dessen genaue Ausfüllung. Ich selbst kann dies durch eine Erfahrung bestätigen. Als Kind erfüllte mir meine Mutter einen sehnlichen Wunsch und kaufte mir auf dem Wochenmarkt ein Entenkükken. Trotz Warnung der Bäuerin, daß sich eines allein nicht aufziehen lasse, schon gar nicht in städtischen Wohnverhältnissen, gedieh das Entlein prächtig, indem es nachts in eine Kiste mit einer Wärmflasche kam und tagsüber auf meinen beiden Füßen saß. Es betrachtete mich als seine Ziehmutter und war derart auf mich fixiert, daß es mir ständig, auch auf der Straße, im ›Gänseschritt‹ folgte, so daß sich die Leute verwundert umschauten. Innerhalb dieses Rahmens findet auch Lernen statt, wie dies der Pawlowsche Versuch des bedingten Reflexes zeigt. Normalerweise sondert ein Hund Speichel ab, sobald er ein Stück Fleisch gewahrt. Wird ihm solches gezeigt und damit gleichzeitig und wiederholt ein Glockenton verbunden, so lernt der Hund den kombinierten Reiz und sondert schließlich Speichel ab, auch wenn nur der Glockenton erklingt. Hier ist eine Reizkonstellation mit einer Assoziation verbunden, für die das Rahmenschema eine Offenheit läßt. Auf eine Eigentümlichkeit im Reiz-Reaktionsschema sei besonders eingegangen, da sie immer wieder Erstaunen und Verwunderung hervorruft und auch heute in der Wissenschaft nicht eindeutig geklärt ist. Es handelt sich um den zeit- und raumüberbrückenden Orientierungssinn gewisser Tiere. Vom pazifischen Goldregenpfeifer, einem Brutvogel Westalaskas, wird berichtet, daß er zum Teil in ›Tuchfühlung‹ mit den ostasiatischen Inselketten, zum Teil aber auch auf hohe See hinausfliegend über 3000 km zurücklegt und treffsicher in den Weiten des Ozeans die Hawaii-Inseln und nach nochmals 3000 km die Marquesas (Inseln im Pazifik) findet. 27 Der buntfüßige Schwalbensturmvogel verläßt seine südlichen Brutstätten im März und April in Richtung Norden, um im November und Dezember zurückzukehren. Dabei legt er eine Strecke von zweimal jährlich bis zu 12000 km zurück, ohne je Land gesehen zu haben. Nach Beobachtungen, die Roberts an 27 Brutvögeln dieser Art anstellte, die er im Dezember 1935 auf der antarktischen Argentine-Insel beringt hatte, waren bereits im Februar 1937 22 in die Bruthöhlen zurückgekehrt,

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Vgl. Ernst Schüz: Vom Vogelzug, Frankfurt a. M. 1952, S. 99. A

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davon 20 mit demselben Partner. 28 Die Küstenseeschwalbe legt jährlich 25000 km (nach manchen Angaben bis zu 45000 km) zurück, um aus dem Norden in wärmere Gebiete zu fliegen und aus diesen wieder zurück. Der Grauwal nimmt eine Strecke von 15000 km auf sich, um entlang der ostamerikanischen Küsten vom Süden in arktische Gewässer zum Kalben zu gelangen und mit dem Kalb zurück in den Süden. Zur Aufklärung dieses Befundes hat man Tast- und Wärmesensorien anzuführen versucht oder auch mit geodätischen Linien, etwa Küstenlinien, atmosphärischen Strömungen, Auf- und Abwinden operiert. Als plausibelste Erklärung legt sich die Orientierung an Magnetfeldern der Erde nahe. An der Universität Oldenburg wurden Versuche mit Rotkehlchen durchgeführt, die man über Nacht in einen Käfig in einiger Entfernung von ihrem Heimatort einsperrte, unterdessen man das Magnetfeld änderte. Während sie bei unverändertem Magnetfeld in die Richtung ihrer Heimat flogen, wechselten sie bei geändertem Magnetfeld die Richtung. Die Forscher erklären sich die Orientierung als Umsetzung der Wahrnehmung des Magnetismus in eine quasi visuelle Vision. Schon 1985 wurden im Gehirn der atlantischen Meeresschildkröten magnetische Feinpartikel entdeckt, die ebenso wie bei anderen migrierenden Spezies, angefangen von magnetotaktischen Bakterien über Lachse bis hin zu Brieftauben, deren Navigation steuern. Was genau passiert bei dieser Umsetzung? Wie läßt sich die Raumorientierung instinktiven Verhaltens epistemologisch erklären? Drei Möglichkeiten bieten sich an: die systemtheoretische, die phänomenologische und die analogische. 1. Der systemtheoretische Ansatz erklärt das Reiz-Reaktionsschema als Extrapolation eines inneren genetischen Codes auf die Außenwelt und als die Beziehung des Organismus zu ihr. Zum Verständnis dieses Ansatzes ist an den bekannten Ausspruch des chilenischen Neurobiologen und Epistemologen Umberto R. Maturana, des Hauptvertreters der Autopoiesistheorie, zu erinnern, daß wir nicht mit den Augen sehen, sondern mit dem Gehirn. Was sich uns als Um- und Außenwelt präsentiert, ist Produkt und Konstrukt unseres Geistes. Die von außen kommenden und über die Nervenbahnen ins Gehirn gelangenden Reize werden dort entsprechend den Vgl. a. a. O., S. 103 f. Die voranstehenden Beispiele sind Hermann Schmitz: System der Philosophie, Bd. 3.1, S. 213, entnommen.

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Strukturen des Gehirns in spezifischer Weise organisiert, also kognitiv verarbeitet und dann extrapoliert. So erscheint als je spezifische Umwelt genau das und nur das, was die Hirnverarbeitung festlegt und was ihrem Muster entspricht. Nicht mehr sind es wie in der älteren Abbildtheorie Abbilder der Gegenstände, die an unser Auge und in unser Gehirn gelangen, sondern reine Impulse, die entsprechend verarbeitet werden. Das gilt nicht allein für autopoietische, selbstorganisierende Systeme, sondern auch für allopoietische, fremdorganisierte Maschinen. Für eine Klimaanlage beispielsweise reduziert sich die Umwelt im einfachsten Fall auf die Werte ›warm‹ und ›kalt‹. Alles andere interessiert die Klimaanlage nicht, etwa, ob der Raum, in dem sie steht, hell oder dunkel, rein oder verstaubt ist, ob es dort lärmig oder leise ist u. ä. Wird ein bestimmter registrierter Grad der Außenwelt über- oder unterschritten, so schaltet sich die Klimaanlage automatisch an und nach Erreichen der gewünschten Temperatur wieder ab. Entsprechend ist auch das Aktions- und Reaktionsverhalten bei autopoietischen Maschinen geregelt. Die genetisch vorprogrammierte Reiz-Reaktionskonstellation wird auf die Außenwelt übertragen und bedingt die Verhaltensweise des autopoietischen Systems zu ihr. In diesem Sinne ist das Binnen-Außenschema unauflöslich. Der Zugvogel oder der Zugfisch können sich deswegen so sicher in der Außenwelt bewegen, weil diese ihrem genetischen Code entspricht. Sie ist auf diejenigen Faktoren reduziert, die im genetischen Code prästrukturiert sind. Alles andere interessiert und existiert in der Umwelt des Zugtieres nicht. Für ein anderes Wesen mag die Umwelt reicher strukturiert sein, für das betreffende spezielle Tier ist sie aufgrund seines genetischen Codes die einzige Umwelt, selbst wenn sie für andere Wesen nur einen Teilausschnitt bildet. Auf der reicheren und höheren Ebene gilt entsprechend dieselbe Argumentation und so in infinitum. 2. Einen anderen, phänomenologisch zu nennenden Lösungsvorschlag hat Hermann Schmitz in seinem Buch System der Philosophie 29 vorgelegt, wenngleich seine Sprache und die Wahl seiner Termini gelegentlich fremdartig erscheint. Um Schmitz zu verstehen, überlege man sich folgendes: Wer sagt uns denn, daß die Raumwahrnehmung der Zugvögel dieselbe ist wie unsere Raumwahrnehmung, bei der wir dem Seh- und Tastraum sogleich den quantifizierbaren, Hermann Schmitz: System der Philosophie, a. a. O., Bd. 3.1, S. 212 ff., vgl. auch S. 47 ff.; vgl. auch Bd. 2.1, S. 341 ff.

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homogenen, kontinuierlichen und unendlichen Raum unterstellen? Schon unser Raumgespür, das dem geometrischen Raum zugrunde liegt, ist nicht von der Art des quantifizierbaren Raumes, sondern ein bestimmter, nicht quantifizierbarer Weiteraum, das Gefühl eines Raumvolumens. Dies zeigt sich besonders markant bei akustischen und klimatischen Erscheinungen. Dumpfe Baßtöne weiten den Raum, schrille, kreischende ziehen ihn zusammen. Ein heller, heiterer, sonnendurchfluteter Tag weitet unser Herz, dehnt unser Raumempfinden aus, während ein dunkler, trüber Tag sich schwer auf unser Gemüt legt, uns zusammenpreßt und einengt. Der Blick in die unendliche Weite und Bläue des Himmels reißt uns ins Unendliche fort, dehnt uns unermeßlich, während sich Dunkelheit schwer auf uns legt und uns zusammenzieht. Schmitz zitiert in diesem Zusammenhang die Beobachtung von Géza Révész: »Wir können die strahlende Wärme sogar in gewissem Sinne als ein ›raumerfüllendes‹ Quale erleben, wenn sie uns nämlich von allen Seiten umgibt, von allen Seiten auf uns eindringt. In diesem Fall kann man der strahlenden Wärme sogar eine quasi-räumliche Qualität, eine Art von Voluminosität zusprechen. Freilich geht dabei gerade die ursprüngliche Lokalisation, die Ortsund Richtungsbezogenheit verloren, so daß der Raum, den die strahlende Wärme ›erfüllt‹, kein autochthoner mehr ist, sondern nur durch Beziehung der Temperatureindrücke auf den optisch-haptischen Raum zustande kommt.« 30

Dieses Raumvolumen verspüren wir auch bei Wetterumschwüngen, deren Ursache, die Wetterfront, noch hunderte von Kilometern entfernt sein kann; es ist ein leibliches Spüren, fernab jeder Quantifikation. Die leibliche Ausdehnung ist der räumlichen Weite gleich; sie kann ebenso 1,50 m wie auch 1500 km einnehmen. Die Distanzüberschreitung ist bereits an unserem Sehraum konstatierbar, was die Orientierung und das Finden von Objekten und Orten betrifft. Dieses Finden ist für Schmitz ›Einleibung‹ entweder in dem Sinne, daß das Subjekt sich dem Objekt oder dem Ort einleibt oder umgekehrt sich diese einverleibt. Das Subjekt, das sich dem Objekt oder dem Ort eingeleibt hat, ist nicht mehr bei sich, sondern außer sich; Raum und Distanz sind überbrückt; es ist eins mit ihnen in einer »participation mystique« 31 . Die Einleibung des einen in das andere ist Ausdruck für Géza Révész: Die Formenwelt des Tastsinnes, Bd. 1, Den Haag 1938, S. 22 f., zitiert bei Hermann Schmitz: System der Philosophie, a. a. O., Bd. 3.1, S. 49. 31 Hermann Schmitz: System der Philosophie, a. a. O., Bd. 2.1, S. 343. 30

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eine ursprüngliche Zusammengehörigkeit, für eine originäre Einheit der im geometrischen Anschauungsraum auseinanderfallenden Glieder. Sie ermöglicht auch den Zugvögeln die Orientierung über tausende von Kilometern hinweg. Über den Begriff der Einleibung erklärt Schmitz nicht nur die Distanz- und Differenzüberwindung beim instinktiven Verhalten, sondern auch die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt bei der Hypnose, der Suggestion, Faszination und Attraktion, wie selbst bei der ganz normalen Wahrnehmung, bei der die Wahrnehmung auch nicht dem Objekt gegenübersteht, sondern mit dem Objekt zusammenfällt. Der systemtheoretische wie der phänomenologische Ansatz haben beide den Vorteil, bei der Deutung des natürlichen, instinktiven Verhaltens das Bewußtseins- bzw. Wissensmoment in die Natur selbst zu verlegen und unmittelbar mit ihr zu verbinden, während der dritte, analogische Vorschlag, der in einem eigenen Kapitel näher zu diskutieren ist, die natürlichen Vorgänge lediglich in Analogie zu bewußten und wissenden Handlungen interpretiert. 2.2. Analogiemodell oder Panlogismus? Bisher wurde das instinktive Wissen beschrieben als angeborenes Wissen. Damit aber scheint sich ein Widerspruch aufzutun, zumindest ein Problem zu ergeben, da die Begriffe des Wissens, die mit einem hellwachen, durchsichtigen Bewußtsein, einem reflexiven Bewußtsein, verbunden sind und folglich in den bewußten Bereich gehören, auf einen unbewußten angewandt und Verhaltensweisen dieses Bereiches wie bewußte Vorgänge beschrieben werden. Diese Übertragung gestattet zwei Deutungsmöglichkeiten: zum einen die nach dem Analogiemodell, demzufolge bewußte, reflexive Vorgänge per analogiam auf einen anderen, ihnen von Hause aus nicht zukommenden Bereich übertragen und die dortigen Prozesse nach Art jener verständlich gemacht werden, nämlich so, als ob auch die unbewußte Natur zweckmäßig eingerichtet sei und zielgerichtet handle, oder die nach Art des Panpsychismus bzw. Panlogismus, der unterstellt, daß die gesamte Natur, sowohl die bewußte wie die unbewußte, sei sie organisch oder physikalisch, wissensmäßig agiere. Im letzteren Fall entfällt der für den common sense selbstverständliche Unterschied von Bewußtem und Unbewußt-Lebendigem wie auch der von OrgaA

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nischem und Anorganischem. Allenfalls werden in der Natur Stufen unterschiedlicher Bewußtheit angenommen, d. h. keine prinzipiellen, nur graduelle Unterschiede der Bewußtheit. Der ersteren These hängen kritische Philosophen wie Immanuel Kant an, der in seiner Als-ob-Philosophie in der Kritik der Urteilskraft die Zweckhaftigkeit der Natur nach Analogie eines göttlichen oder menschlichen Schöpfers erklärt, dergestalt, daß das zweckhafte natürliche Verhalten von Organismen nach Art eines artifiziellen Uhrwerkes, das ein Uhrmacher plant und realisiert, gedeutet wird. Vertreter der zweiten These sind Philosophen wie Gottfried Wilhelm Leibniz in seiner Monadologie und Alfred North Whitehead mit seiner ›Philosophy of Organism‹ in Process and Reality (1929). Sie versehen alles Seiende mit einer Logizität bzw. Bewußtheit und knüpfen damit letztlich an animistische Vorstellungen an. Rein physikalische Begriffe und Gesetze, die selbst Abstraktionen sind, reichen ihrer Meinung nach zur Beschreibung und Erklärung der natürlichen, organischen Prozesse nicht aus. Die Forderung nach einem ›Newton des Grashalms‹, wie Kant sie in der Kritik der Urteilskraft 32 formuliert, dürfte selbst angesichts der Errungenschaften der modernen Physik eine unrealistische Idee sein. Für welche These immer man sich entscheidet, die Verhaltensweisen der unbewußten organischen oder anorganischen Natur scheinen nicht aus sich allein verständlich zu sein, sondern nur unter Zugrundelegung bewußter Termini des menschlichen Wissensbereiches. Die moderne Medizin und Grundlagenforschung, Biochemie und Biophysik, haben daraus die Konsequenz gezogen, die Vorgänge auf molekularer und zellulärer Ebene gemäß Wissensbegriffen zu erklären. Das soll an zwei Beispielen demonstriert werden, einem aus dem physikalischen, atomaren Bereich und einem aus dem organischen, zellulären. 1. Atome, so auch das Sauerstoff-Atom, lassen sich modelltheoretisch als System aus Atomkern, bestehend aus Protonen und Neutronen, und der Elektronenhülle, beschreiben. Beim SauerstoffAtom sind es 8 Protonen, deren Zahl den Code vorgibt, der auch im Kern 8, eventuell 9 Neutronen verlangt und auf der Ebene der Schale 8 Elektronen. Da die Sauerstoff-Atome offensichtlich einen defizitären Charakter haben, neigen sie dazu, Elektronen anderer Atome an sich zu binden und sich zu vervollständigen, indem sie z. B. den Wasserstoff-Atomen deren Elektronen entreißen oder diese als Ganze an 32

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Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, a. a. O., S. 338 (§ 75).

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sich binden, so daß sie insgesamt 10 Elektronen aufweisen, 8 auf der äußeren und 2 auf der inneren Schale. Dieser Vorgang läßt sich sowohl äußerlich-objektiv beschreiben von einer publiken Seite aus, wie auch innerlich-subjektiv von einer privaten Seite, indem man im letzteren Fall die Protonen und ihren Code als logische Subjekte mit Zielen, subjektiven Intentionen oder sogar Willensakten zur Erfassung anderer Elektronen beschreibt, etwa in dem Sinne »Mein Ziel ist es, 10 Elektronen zu erreichen«, »Ich sehne mich nach Elektronen, habe Hunger auf Elektronen«, »Meine Erfüllung habe ich dann, wenn meine beiden leeren Plätze besetzt sind«. Wir unterstellen dann in der Tendenz der Protonen auf Vervollständigung Triebkräfte des uns bekannten subjektiven, menschlichen Bereiches, wie übrigens schon Newton bei der Beschreibung der rein physikalischen Gravitations- und Fliehkraft nicht umhin konnte, Kräfte in Anspruch zu nehmen, vitale, indem er von Anziehungs- und Abstoßungskraft sprach und damit lebendige Kräfte unterstellte. 33 2. Ein wesentlich komplizierteres Beispiel entstammt dem organischen Bereich: es ist die Zelle und ihr Verhalten. Sie ist eine hochkomplexe Gesellschaft mit Untergesellschaften, deren hoher Ordnungsgrad mittels eines Codes aufrechterhalten wird. Das Paradigma hierfür ist der genetische Code, der ein Set von Aussagen formuliert. Träger desselben, quasi das logische Subjekt, sind vier verschiedene Purin- und Pyrimidinbasen, welche Buchstaben gleich in verschiedener Kombination einer als Support dienenden Polynucleotidkette aufgesetzt sind. Die vier Basen ordnen sich auf dieser Kette so an, daß sie Worte bilden, welche aus jeweils drei Buchstaben, sogenannten Basentripletten, bestehen, im Beispiel aus CUG – Cytosin, Uracil und Guanin. Während die Basen das logische Subjekt bilden, ist die Ordnung der Basen quasi das Prädikat der Aussage, das auf den Code hinweist. Eine der fundamentalsten Eigenschaften der Zelle ist das Wissen um die eigene Identität. Die Zelle muß sich selbst in ihrer Ausdehnung und in ihrem Wirkungssradius erkennen und von anderen, verwandten wie fremden Zellen unterscheiden können in einem komparierenden und kontrastierenden Verfahren. Insbesondere müssen Zellen eines größeren Verbandes wissen, welche anderen Zellen mit zu demselben Verband gehören und welche als toxisch zu eliminieÄhnlich verhält es sich bei Empedokles, der zur Erklärung von Weltentstehung und Weltuntergang Kräfte wie filffla und ne…ko@, Liebe und Haß, ansetzte.

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ren, d. h. zu fressen sind wie die Viren. Das leistet beim Menschen auf zellulärer Ebene ein Protein, Major-Histocompatibility-Complex (MHC) genannt. Die Zelle ist also fähig, andere Zellen vergleichend zu erfassen und zu entscheiden, welche von ihnen Aussagen machen, die von ihren eigenen abweichen, und diese nach dem Korrespondenzkriterium auszuschalten. Bei gewissen Krankheiten wie Krebs und Autoimmunerkrankungen nimmt man an, daß das Wissen der Zelle um die eigene Identität verlorengegangen und einem Mißverstehen der eigenen Gesellschaftsmitglieder als fremder gewichen ist, so daß sich die Zelle gegen sich selbst richtet. Obgleich dies zunächst nichts mit Bewußtsein zu tun hat, bedarf es zu solchen Identitäts- und Abgrenzungsfragen einer Ich-Perspektive, die der Zelle sagt, wieweit sie sich erstreckt und wo sie auf anderes trifft. Auch wenn auf der zellulären Ebene das Ich-identifizierende Substrat ein Protein mit einer Information ist und nicht wie beim wissenden Menschen die Sprache mit Ich-Ausdrücken, fungiert das Protein als Grundlage und Baustein für derartige ichhafte, identifizierende Handlungen. Die Frage, wie es Zellen schaffen, so schnell, effizient und gezielt andere Zellen zu erkennen, läßt auf Lern- und Gedächtnisprozesse schließen, derart, daß die Vorgängerzelle Bekanntschaft mit einem Virus gemacht, dessen Gestalt gespeichert hat und nun die erfaßte Gestalt zwecks Entlarvung bereitstellt. Nicht weniger kompliziert sind die im Zellinnern sich abspielenden Vorgänge; sie lassen sich ebenfalls nur mittels Wissensbegriffen wie ›erfassen‹, ›beurteilen‹, ›erinnern‹ beschreiben. Damit auch im Innern der Zelle Befehle erteilt und ausgeführt werden können, bedarf es auch hier der Verständigung, indem z. B. ein Organell, eine Untergesellschaft der Zelle, den Befehl der im Zellkern aktiv gewordenen Aussage der Basentriplette CUG, die Aminosäure Leucin zu bilden, versteht. So muß das Organell fähig sein, die Basentriplette und den damit verbundenen Befehl nicht nur physisch-mechanisch, sondern auch begrifflich-kognitiv zu erfassen. Im Falle des Zellorganells geschieht dies durch ein explizit auf den Zellkern ausgerichtetes Erfassungssystem. Ist ein solches Translationssystem nicht vorhanden, so kann die Aussage des Zellkerns nicht verstanden werden, sein spezifischer, hochdifferenzierter begrifflicher Aspekt geht verloren. Während das Organell bei der Befolgung des Codes und der Leucin-Produktion dem Code nur entspricht bzw. folgt, ist der Zellkern imstande zu beurteilen, ob eine Aussage richtig oder falsch ist. 136

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Er verwendet dafür ein Kohärenzkriterium, das die Übereinstimmung oder Nicht-Übereinstimmung mit früheren Aussagen prüft. Wird dieses verletzt, so wird dies erkannt und als unrichtig beurteilt und gegebenenfalls korrigiert. 34 Auf ähnliche Weise, nämlich vermittels Wissensbegriffen, die dem subjektiven menschlichen Bereich entnommen sind und das objektive Verhalten verständlich machen sollen, werden die internen und externen Prozesse der Zelle wie Teilung, Wachstum, Vermehrung, Bewegung, Einlassen, Abwehr beschrieben. Diese durchgängig wissensmäßige Beschreibungsweise hat zwar den Vorteil, den Bruch zwischen dem Anorganischen und Organischen, dem Nur-Lebendigen und Bewußten aufzuheben und darin lediglich Stufen zunehmender Komplexität zu sehen. Die Ausdehnung der Wissensterminologie auf sämtliche Bereiche aber läßt die Frage unausweichlich werden, ob diese Sprache naturgemäß oder metaphorisch sei und ihren Grund in einer Verschiebung des Psychischen auf Physisches, des Bewußten auf Unbewußtes habe oder was sonst zur Anwendung der Wissensterminologie legitimiere. Wenn die Beschreibung sowohl auf physikalischer wie auf organisch unbewußter bzw. instinktiver Ebene epistemische Modalitäten wie Befindlichkeit, Stimmung, Gefühl, Intention, Wille, Wissen, Gedächtnis u. ä. verlangt, kann die Frage nicht ausbleiben: Handelt es sich um eine bloß metaphorische Übertragung epistemischer Ausdrücke auf einen nicht-epistemischen Bereich, der an sich unabhängig von solchen Modalitäten ist und dessen wissenschaftliche Beschreibung auch auf solche verzichten kann und letztlich muß, oder haben wir es hier mit einer Einheit von Erfahrung zu tun, wie sie eigentlich nur in mythischer Vorstellungsweise vorkommt und heute allein noch von der Dichtung wachgehalten wird, also mit einer gesamtheitlichen Erfahrung, die epistemische Modalitäten notwendiger- und nicht nur kontingenterweise einschließt? Während der Behaviorismus als prinzipiell materialistische PoVgl. sog. DNA-Reparaturmechanismen. Daß die internen und externen Vorgänge hier nur sehr schematisch und simplifizierend wiedergegeben wurden, in Wirklichkeit sehr viel komplizierter und reichhaltiger sind, belegen die Beispiele der Lehrbücher der Zellbiologie, z. B. Georg Löffler: Basiswissen Biochemie, Berlin 2003; Katharina Munk (Hrsg.): Grundstudium der Biologie, Heidelberg, Berlin 2000; Eckhart Buddecke: Grundriß der Biochemie, Berlin 1994. Die voranstehenden Beispiele verdanke ich der Lizentiatsarbeit von Dr. med. Piet van Spijk »Was ist Leben? Naturphilosophische Grundlagen der Medizin«, Philosophisches Seminar der Universität Luzern, 2005.

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sition die physikalische Sprache als Letztes, Unhintergehbares nimmt und alles Psychisch-Geistige auf körperliche Verhaltensweisen und Dispositionen reduziert, so beispielsweise Angst auf Blaßwerden und Schweißausbruch, Aufregung auf Erröten, selbst die Sprache auf unmerkliche Mundbewegungen oder neuronale Prozesse, und für den Fall, daß das Psychisch-Geistige beibehalten wird, dieses als Metaphorisches betrachtet, als einen prinzipiell auflösbaren und überwindbaren Restbestand, ein Relikt auf dem Wege vom Mythos zum Logos, geht die diametral entgegengesetzte Position vom Psychisch-Geistigen aus und fragt danach, ob die Ursprungsdimension in ihrer physikalisch-psychischen Einheit prinzipiell unaufhebbar ist, um mit Hans Blumenberg 35 zu sprechen, ob die Metaphorik eine absolute Metaphorik ist, die aufgrund ihrer begrifflich nicht ablösbaren Aussagenfunktion einen essentiellen Bestandteil der Verständigung ausmacht. Ist die wissenschaftliche Sprache nur die physikalistische und die übrige Ausdrucksweise und Terminologie der Literatur und Dichtung angehörig, oder ist die Wissenschaftssprache grundsätzlich metaphorisch, dies auf dem Hintergrund einer Einheit von Wissenschaft und Lebenswelt? Noch anders formuliert: Ist die Sprache nur ›verbal‹ und jene andere Dimension nur vermittels sprachlicher Termini beschreibbar, welche per analogiam angewendet werden, oder gibt es eine ›nonverbale‹ Kommunikation, die durch ihre Auftritts- und Verhaltensweise etwas ›besagt‹, ›bedeutet‹, ›anzeigt‹ und somit eine Sprache bzw. Aussage an sich ist, aus der gegebenenfalls die verbale Sprache hervorwächst? Während erstere in den Bereich der Wissenschaft in ihrer klassischen Form gehört, gehört letztere in den Bereich der Literatur, Dichtung und Mythologie. Bevor diese Frage entschieden werden kann, muß nach dem Grund der Unterscheidung in prinzipiell substituierbare und prinzipiell nicht substituierbare Metaphern gefragt werden; denn die obige Trennung einfach zu behaupten, ist unbefriedigend. Hat die Literatur, hat der Mythos einen anderen Sachbereich als die Wissenschaft oder gehen sie mit demselben Sachbereich nur anders um als die Wissenschaft, und wenn sie dies tun, welchen Aspekt an der Sache akzentuieren sie, den die traditionelle Wissenschaft vernachlässigt? Die Frage nach der Ablösbarkeit oder Unablösbarkeit der MetaHans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie, in: Archiv für Begriffsgeschichte, Bd. 6 (1960), S. 7–142, bes. S. 9.

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Stimmungen – Befindlichkeiten: situatives Verstehen

phorik vom Sachbereich kann nur im Kontext der Struktur der menschlichen Erfahrung beantwortet werden. Hierzu ist an Kants Gedanken aus der Kritik der reinen Vernunft von der Regulativität der Ideen zu erinnern. Wie die Ideen keine konstitutiven Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis sind, sondern regulative Bedingungen des Verstandesgebrauchs, Ermöglichungsgründe von Einheits- und Ganzheitsvorstellungen der Erfahrung, so scheint auch die absolute Metaphorik der Sprache ein Grundprinzip zu sein, das, obzwar es in der Erfahrung nicht belegbar und beweisbar ist, auf die Ganzheit und Zusammengehörigkeit der diversen Bereiche von Physikalismus und Psychologismus sowie deren diverse Beschreibungsweisen in wissenschaftlicher und metaphorischer Terminologie hinweist und damit auch die durchgängige Verständigung des unbewußten, sei es atomistischen, sei es organischen Bereiches ermöglicht. Sie scheint den Status einer regulativen Idee zu haben. Ein solches Grundprinzip wäre eine Welthypothese, die die Einheit der Erfahrung und d. h. unseres Wissens und Verstehens von allem gewährleistete. Obgleich sie nicht durch Einzelinstanzen überprüfbar ist, zeigt sich ihre Tragfähigkeit darin, daß sie unsere wissenschaftlichen und lebensweltlichen Bedürfnisse befriedigt, und in diesem Sinne gilt sie als Maxime größtmöglichen Vernunft- und Wissensgebrauches. Weder kann ein Panpsychismus bzw. Panlogismus noch ein Dualismus von materiell-behavioristischen und immateriell-geistigen Theorien dogmatisch behauptet werden, immer ist die Einheit beider in der Beschreibung unbewußter, sei es physikalischer oder organisch-instinktiver Vorgänge ein Regulativ für die Interpretation. Für eine kritische Denkweise behält die metaphorische Beschreibung und der Gebrauch metaphorischer Termini anders als für die mythische Lebensart, die diese lebt, ihren metaphorischen Charakter bei; sie bleibt eine bloße Denkkonstruktion.

3.

Stimmungen – Befindlichkeiten: situatives Verstehen

Einen Schritt weiter in Richtung Emanzipation des Wissensmomentes aus der ursprünglich ungesonderten Einheit von Subjekt und Objekt stellen die Gefühle dar, von denen zunächst die unbestimmten betrachtet werden sollen. Prominente Beispiele für Stimmungen, Gestimmtheiten, Befindlichkeiten sind Hoch- und Tiefstimmung, Heiterkeit und Betrübtheit, Freude und Trauer, Frohsinn und NiederA

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geschlagenheit, Angespanntheit und Entspanntheit u. ä. Bei Hochstimmung fällt einem alles leicht: Gedanken kommen und gehen, Entscheidungen werden schnell getroffen, Arbeiten gehen einem leicht von der Hand. Ebenso ist die Umgebung, in die der Betreffende eingebettet ist, heiter, hell, leicht, beschwingt wie an einem sonnigen Frühlingstag; man fühlt sich wie auf einer Wolke schwebend, alles ist in ein Rosarot getaucht. Bei Betrübtheit und Niedergeschlagenheit hingegen fällt einem alles schwer; nichts will von der Hand gehen, Empfindungen, Gedanken, Entscheidungen stagnieren und kommen gar nicht oder nur zögerlich voran. Handlungen bleiben unausgeführt, die Aktivität ist erlahmt, und auch die umgebende Welt ist in ein trübes, graues Einerlei getaucht wie an einem dunklen, grauen Herbst- oder Novembertag. Nicht nur wird dem Betreffenden alles schwer, sondern er selbst wird schwer über allem. Ebenso drückt sich eine mürrische Stimmung nicht nur in Gebärden und Wortkargheit des Subjekts aus, sondern färbt auch auf die Umgebung ab, so daß auch die Mitmenschen mißmutig, nörglerisch, verstimmt erscheinen. Wie alle Handlungen des Subjekts zögerlich und widerwillig verlaufen, so auch die Reaktionen aus der Umwelt. Und wer kennt nicht eine feierliche, gehobene, sonntägliche Stimmung, bei der man ein Sonntagskleid anlegt anstelle des alltäglichen, ein Sonntagsgesicht aufsetzt, würdigen Schrittes daherschreitet, statt wie im Alltag zu hetzen und zu hasten. Zur sonntäglichen Stimmung trägt auch die Umgebung bei, das Glockengeläut der Kirche, die Ruhe und Leere auf den Straßen, die Schließung der Geschäfte, die sonntägliche Andacht u. ä. Wie sich eine gespannte Stimmung und Atmosphäre darin bekundet, daß die in einem Raum anwesenden Personen steif und kalt, wie erstarrt, kontaktlos und isoliert nebeneinander stehen, ohne ein Wort miteinander zu wechseln oder auch nur gestisch miteinander zu kommunizieren, in höchster Disziplinierung ihre Aggressionen verbergend, so daß die Situation jederzeit zum Platzen kommen kann wie bei einer Gewitterstimmung, die zur Entladung drängt, so dokumentiert sich eine entspannte Atmosphäre darin, daß die Partner leger herumstehen oder freundlich und offen aufeinander zugehen, diskutieren, gestikulieren, durcheinanderlaufen, kurzum, in Bewegung statt in Erstarrung sind. Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren. Die Tatsache, daß bei der Beschreibung der Befindlichkeiten und Stimmungen das Atmosphärische eindringt, ist nicht zufällig. Oft wird die Stimmung geradezu mit dem Wetterverhalten identifiziert, 140

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und es werden Ausdrücke des Wetters und Klimas wie heller, sonniger Morgen, dunkler, trüber Novembertag, sich zusammenbrauendes Gewitter mit Blitz und Donner zur Explikation herangezogen. 36 Sagt man angesichts einer Situation ›hier herrscht dicke Luft‹, so ist dies nicht nur eine metaphorische, gekünstelte Paraphrase, sondern gibt eine konkrete, physische Atmosphäre phänomenologisch wieder. Wie den Beschreibungen zu entnehmen ist, bezieht sich die Stimmung nicht nur auf das Subjekt, sondern auch auf den Objektbereich, die Um- und Mitwelt. Betroffen ist innerhalb dieser nicht nur ein einzelnes, bestimmtes Objekt, sondern betroffen ist die unbestimmte Gesamtheit der Umgebung, die wir Atmosphäre nennen. Dies wirft die Frage auf, wie das Verhältnis beider zueinander zu denken ist, wer wen beeinflußt. Legt sich die subjektive Stimmung auf die umgebende Welt und bestimmt die Atmosphäre oder umgekehrt, oder ist dieses Wechselverhältnis grundsätzlich zu suspendieren zugunsten einer anderen Beschreibungsweise? Zwei Möglichkeiten legen sich nahe: 1. Die ältere Psychologie und Epistemologie vertreten eine Projektionstheorie. Sie gehen von der Annahme aus, daß die Stimmungen primär dem Subjekt zukommen und von dort auf die Außenwelt übertragen werden. Aufgrund dieses Transfers erscheint dann die Umwelt in der Stimmung des Subjekts, entweder als heiter oder trüb, entspannt oder gespannt, als feierlich oder alltäglich, mürrisch oder gelockert usw. Diese Annahme ist nur möglich, wenn die Umwelt als neutrale supponiert wird, die dem Subjekt gemäß seiner eigentümlichen Stimmung im Zeitpunkt t1 so, im Zeitpunkt t2 gemäß der dann herrschenden Stimmung anders erscheint oder verschiedenen Subjekten verschieden. Sie wird folglich aus der jeweiligen Perspektive des Subjekts beurteilt. Die Prämissen dieser Theorie sind Subjektgebundenheit der Stimmung und Neutralität der Umwelt. Hiergegen erhebt sich ein Bedenken. Nimmt man die These von der Übertragung der Stimmung des Subjekts auf die Objektwelt ernst, dann bedeutet das, daß man der Objektwelt selbst Gefühle, Stimmungen, z. B. der Heiterkeit oder Schwermut, unterstellen müßte. Die Umwelt würde dann das über sie ergossene Gefühl bzw. die Stimmung der Heiterkeit oder Schwermut selbst haben, im Falle der Freude sich selbst freuen. Das führte zu einem Animismus, allenHermann Schmitz: System der Philosophie, a. a. O., Bd. 3.1, S. 47 ff.; Gilbert Ryle: Der Begriff des Geistes, a. a. O., S. 129.

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falls zu einem Anthropomorphismus. Eine solche Theorie hat Theodor Lipps erörtert und als Fehlschluß zurückgewiesen. 37 2. Der aufgezeigten Absurdität entgeht man nur, wenn man sich dem von Hermann Schmitz im Rahmen seiner Descartes-Kritik unterbreiteten Vorschlag anschließt, der die Aufhebung der Dualität von Körper und Seele intendiert. Stimmung oder Atmosphärisches ist dann als etwas Subjekt wie Objekt gleichermaßen Umfassendes zu nehmen, als eine über die ganze Welt ausgegossene Ganzheitsqualität. Schmitz steigert seine Meinung zu der pointierten Formulierung, daß »Gefühle [einschließlich Stimmungen] ganzheitlich in die Weite ergossene Atmosphären sind, die das einzelne Subjekt einbettend umschließen« 38 . Hier wird das der subjektiven Sphäre angehörende Erleben objektiviert. Das Atmosphärische übernimmt die Funktion eines tertium comparationis, das die beiden heterogenen Sphären von Subjekt und Objekt ursprünglich verbindet und nivelliert. Einen Beweis für die Objektivität der Stimmung im Gegensatz zu der von der älteren Psychologie und Erkenntnistheorie behaupteten ursprünglichen Subjektivität liefert die Tatsache, daß eine Umwelt objektiv in bestimmter Weise gefärbt oder getönt sein kann, z. B. im Karneval laut, schrill, schräg, ausgelassen, rauschend, obwohl das einzelne Subjekt in ihr durchaus ernst und traurig oder mißmutig gestimmt sein mag und der andersgearteten Atmosphäre fremd gegenübersteht. Ein illustratives Beispiel aus der Literatur findet sich in Friedrich Schillers Räubern, jener Szene, in der Karl Mohr, in einer amönen Gegend der Donau lagernd, sich selbst angesichts dieser friedlichen, harmonischen Landschaft aufgrund seiner tragischen Verstrickungen als heulender Abbadona empfindet. »Die Erde so herrlich. […] Und ich so häßlich auf dieser schönen Welt – und ich ein Ungeheuer auf dieser herrlichen Erde.« 39

Die Gartenarchitektur des 18. Jahrhunderts hat bei der Gestaltung herrschaftlicher Gärten und Parks, bei der Auswahl von Landschaften, der Kombination offener und geschlossener Flächen, der ArranTheodor Lipps: Das Selbstbewusstsein. Empfindung und Gefühl, Wiesbaden 1901, S. 6 f.; vgl. auch Hermann Schmitz: System der Philosophie, a. a. O., Bd. 3.2, S. 369. 38 Hermann Schmitz: System der Philosophie, a. a. O., Bd. 3.2, S. 106. 39 Friedrich Schiller: Die Räuber, in: ders.: Sämtliche Werke, aufgrund der Originaldrucke hrsg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert in Verbindung mit Herbert Stubenrauch, Bd. 1, München 1958, S. 561 (3. Akt, 2. Szene). 37

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gierung von Bäumen und Sträuchern, der Anlage von Teichen und Seen Seelenstimmungen einzufangen und auszudrücken versucht, die Landschaft als Spiegel der Seele betrachtet, als ernst und gravitätisch oder leicht und heiter, melancholisch, schwermütig oder beschwingt. So zeigt Christian Cay Lorenz Hirschfeld in seiner Theorie der Gartenkunst exakte Parallelen auf: »Der Charakter der Gebirge ist Erhabenheit und feyerliche Majestät, wovon sie den Einfluß über die Landschaft, worin sie ruhen, nach ihrer Höhe und Ausdehnung verbreiten. Sie sind schon an sich so überaus wichtige Gegenstände der Landschaft, daß sie allein diese zu einer heroischen erheben können. Alles, was überhaupt in solchen großen, hohen und ausgebreiteten Massen Kühnes und Majestätisches seyn kann, bestimmt ihren Charakter. Selbst die Rauhigkeit und Wildniß, die auf ihnen zu herrschen pflegt, die Schneelasten auf den Spitzen, die gespaltenen Absätze, die drohenden Abstürze, die aufgerissenen weiten Zwischenräume mit ihren Klüften und Abgründen, helfen ihren Eindruck verstärken.« 40 »Das Wasser ist in der Landschaft, was die Spiegel in einem Gebäude sind, was das Auge an dem menschlichen Körper ist. Es ist, die Vergnügungen der Fahrt und des Fischfangs nicht einmal gerechnet, so belebend, so erfrischend und fruchtbar an Einwirkungen, daß seine Gegenwart überall gefällt, und seine Abwesenheit auch in den schönsten Gegenden mit Bedaueren empfunden wird […]. Die Klarheit des Wassers macht seine vorzügliche Schönheit aus, und theilet allen Gegenständen umher Munterkeit und Freude mit. Der Widerschein der Wolken, der Bäume, der Gesträuche, der Hügel und der Gebäude macht eine der lieblichsten Stellen im Gemälde der Landschaft aus. Die Dunkelheit hingegen, die auf Teichen und andern stillstehenden Gewässern ruhet, verbreitet Melancholie und Traurigkeit. Ein tiefes schweigendes, von Schilf und überhangendem Gesträuch verdunkeltes Wasser, das selbst das Licht der Sonne nicht erhellt, schickt sich sehr wohl für Sitze, die diesen Empfindungen gewidmet sind, für Einsiedeleyen, für Urnen und Denkmäler, welche die Freundschaft abgeschiedenen Geistern heiligt.« 41

Um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen in Anbetracht der bewußten und gewollten Gestaltung der Natur durch das Subjekt: es handelt sich hier nicht um einen Anthropomorphismus, bei dem menschliche Eigenschaften und seelische Stimmungen extrapoliert und in Andersgeartetes, nämlich die Natur, hineinprojiziert und in Christian Cay Lorenz Hirschfeld: Theorie der Gartenkunst, 5 Bde., Leipzig 1779– 1785, Bd. 1, S. 194. 41 A. a. O., S. 200 f. 40

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dieser wiedererkannt werden, sondern es handelt sich um eine Erkenntnis auf dem Grunde einer Natur und Mensch gleicherweise umgreifenden Einheit und Ganzheit, zumal im Idealfall solche Landschaften und Kombinationen auch natürlicherweise anzutreffen sind. Wir erkennen das Sanfte, Melancholische, Bedrückende, Niedergeschlagene, das Drängende, Strebende, Erhebende nicht, weil es uns aus dem menschlichen Bereich vertraut ist und in der Natur wiederentdeckt wird, sondern, weil wir Teil einer umfassenden, integrativen Einheit und Ganzheit sind, zu der ebenso die Natur gehört. Auf dieser Basis wird es möglich, den der Befindlichkeit bzw. Stimmung zukommenden Wissenstyp näher zu beschreiben. 1. Befindlichkeit bzw. Stimmung hat eine Erschließungskraft in bezug auf den Objektbereich, wobei, wie betont wurde, dieser nicht in einem bestimmten einzelnen Objekt besteht, sondern in der unbestimmten Umgebung. Die Stimmung öffnet uns für bestimmt gefärbte, getönte Charaktere der Umwelt. Weder ist damit gemeint, daß solche in der Natur selbst liegen und von einem passiven Subjekt nur rezipiert werden müßten, noch, daß das Subjekt aktiv solche in die Umwelt hineinprojiziert. Vielmehr handelt es sich um ein ursprüngliches Angelegtsein beider aufeinander, um ein Ein- und Einsfühlen. Nicht zu Unrecht spricht Gilbert Ryle in seinem Buch Der Begriff des Geistes 42 von einem immanenten Objekt der Zeitwörter des Fühlens, wozu auch die Stimmung gehört, um diesen Vorgang von der spezifisch intentionalen Objektbezogenheit der intentionalen Gefühle abzusetzen. 2. Eine andere Ausdrucksweise für dieses originäre Aufeinanderangelegt- und Bezogensein von Stimmung und Atmosphäre ist das unmittelbare Situationsverstehen. So komplex eine Situation, so vielschichtig und unspezifiziert eine Umgebung auch sein mag, in der Stimmung erschließt sie sich unmittelbar, ad hoc, instantan. Man spürt sofort, ob eine Gesellschaft, in die man tritt, steif, konventionell ist oder sich modern, offen und frei gibt. Das situative Verstehen ist ein direktes, nicht indirektes, vermitteltes. 3. Am Situationsverstehen ist der ganzheitliche Charakter hervorzuheben. Das bedeutet von seiten des Objekts, daß die Situation und ihre Atmosphäre als Ganzheitsqualität erschlossen wird, nicht hinsichtlich einzelner, isolierter Eigenschaften wie rot und blau, hart und weich, sondern als Ganzheit. Diese zeichnet sich durch semanti42

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Gilbert Ryle: Der Begriff des Geistes, a. a. O., S. 132.

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Stimmungen – Befindlichkeiten: situatives Verstehen

sche Dichte aus, die einer unendlichen begrifflichen Auslegung fähig ist, ohne je zu einem Abschluß zu kommen. Goethe hat von der Symbolkraft und Wertgeladenheit aller Eigenschaften gesprochen und ihnen eine gleicherweise physiologische wie ästhetische wie ethische Wirkung zugesprochen. Nicht zufällig verbinden sich mit einem hellen, sonnigen Tag Freude, Leichtigkeit, Glück, mit einem dunklen, trüben Schwermut. Schwarz gilt im europäischen Kulturkreis als Trauerfarbe, dasselbe gilt für Weiß im außereuropäischen. Das ist kein Widerspruch oder Hinweis auf spezielle kulturelle Einstellungen, sondern Indiz dafür, daß beide keine Farben im eigentlichen Sinne sind, sondern diese absorbieren. 4. Von seiten des Subjekts gilt die Betroffenheit dem ganzen Menschen in seiner physisch-psychisch-mentalen Verfassung und nicht nur einem besonderen Teil desselben. Wie ein Schiff als ganzes stampft, schlingert oder sich auf die Seite legt, so ist auch der Mensch als ganzer niedergeschlagen oder heiter, matt oder aufgekratzt. Die Stimmungen sind nicht auf psychische Zustände restringiert, sondern haben ihre Auswirkungen bis in die Körperlichkeit hinein. Sie zeigen sich als Mattigkeit der Glieder, als Müdigkeit und Schlaffheit des ganzen Menschen oder als Spannkraft, Energie, Lebensdrang desselben. 5. Die Vernehmensweise der Stimmung ist eine holistisch intuitive, nicht eine analytisch sezierende und rationale. Sie erfolgt nicht über logische Operationen wie Argumentation, Demonstration und Schluß, sondern über ein sympathetisches Mitgehen, mag man dieses ›Mitschwingen‹ nennen, wobei die Vorstellung der Stimmung als Schwingung eines Saiteninstrumentes zugrunde liegt, oder ›Sympathetik‹, ›Mitfühlen‹ und ›Beeindrucktwerden‹, was auf eine Wechselwirkung und Doppelseitigkeit deutet, oder, abstrakter, ›Anschauung‹, ›Intuition‹, die auf den ganzheitlichen Charakter weisen. Diese Erschließungsweise muß sich nicht öffentlich vor einer scientific community durch Beibringung von Belegen und Beweisen rechtfertigen und kann es auch gar nicht; sie ist in sich überzeugend und bezeugend. Hierauf gründet ihre unbezweifelbare Authentizität. 6. Nichtöffentlichkeit bedeutet jedoch keineswegs Privatsubjektivität in dem Sinne, daß eine bestimmte Stimmung nur einem einzelnen Subjekt, einem Individuum, zukäme, vielmehr ist sie allen fühlenden, empfindsamen, zumindest einigermaßen sensiblen und nicht gänzlich verhärteten Menschen in gleicher Weise zugänglich. Eine gespannte Atmosphäre, bei der dicke Luft herrscht, wird von A

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jedem situativ verstanden, der in eine solche Situation unvermutet hineinplatzt. 7. Stimmung ist eine Grundbefindlichkeit des Menschen dergestalt, daß jeder sich in jedem Augenblick in einer bestimmten Stimmung befindet, gleichgültig, ob diese bewußt ist oder nicht. Jeder ist entweder froh gestimmt und heiter oder traurig und niedergeschlagen, meist beherrscht den Menschen im geschäftigen Alltag eine indifferente Stimmung, die erst bei Ausschlag in die eine oder andere Richtung, in das eine oder andere Extrem auffällig wird. 8. Die Frage nach Wahrheit oder Falschheit einer Stimmung ist unangebracht, da diese Frage nur Aussagen betrifft. Allenfalls kann über eine Aussage wie ›ich bin traurig‹ geurteilt werden, da diese als mittelbare, derivative Erkenntnis falsch oder vorgetäuscht sein könnte, etwa zu dem Zweck, daß man in Ruhe gelassen und vor lästigen Angriffen geschützt sein möchte, indem man an den Takt der anderen Menschen appelliert, angesichts der Traurigkeit Rücksicht zu nehmen. Kann man auch nicht nach der Wahrheit oder Falschheit einer Stimmung fragen, so doch nach deren Echtheit oder Unechtheit, da auch Stimmungen vorgetäuscht sein können wie in der Schauspielkunst und Pantomime, die geradezu davon leben, daß sie Stimmungen und Gefühle durch Gesten, Gebärden, Verhaltensweisen und Reden imitieren, die gewöhnlich diese oder jene Stimmung charakterisieren. Da auch die Darstellung vermittelt ist, kann auch hier nach Echtheit und Unechtheit oder nach Graden des Echt-Erscheinens gefragt werden. Die imitierte Stimmung als solche in ihrer Beziehung auf eine bestimmte Atmosphäre bleibt davon untangiert.

4.

Intentionale Gefhle: gestisches Verstehen

4.1. Allgemeine Kennzeichnung Im Unterschied zur vagen, weiträumigen, atmosphärischen Stimmung oder Befindlichkeit, die die gesamte Umgebung integriert, ist das Gefühl differenzierter, spezifizierter, auf einen einzelnen Gegenstand bezogen. Gefühle (im vorab definierten Sinne) 43 sind intentional, d. h. sie haben ein jeweiliges, von anderen wohlunterschiedenes Objekt, das sich auch von der Umwelt abhebt. Diese Intentionalität 43

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Vgl. S. 122 dieser Arbeit.

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Intentionale Gefhle: gestisches Verstehen

stellt keine nachträgliche Beziehung ursprünglich getrennter, selbständiger Relata – Subjekt und Objekt – dar, sondern ein ursprüngliches Aufeinander-Angelegtsein. In Abwandlung einer Husserlschen Terminologie, die den Ausdruck des meinenden Gerichtetseins auf ein Objekt gebraucht, könnte man hier von einem fühlenden Gerichtetsein auf ein Objekt sprechen, das als Intentum eines intentionalen Aktes diesem nicht äußerlich adjunktiert, sondern ihm genuin und immanent ist. Gefühle treten in unterschiedlichen Modifikationen auf. Am bekanntesten sind Liebe und Haß, Furcht und Zorn, Ärger und Wut, Neid und Abgunst. Von ihnen bestehen die einen in einer aktiven Hinwendung auf das Objekt, die anderen in einer passiven Abhängigkeit von diesem. Beiden aber liegt eine ursprüngliche Gebundenheit aneinander zugrunde. Während jemand, der haßt, sein Gegenüber verfolgt, ihm nachstellt, ihn mit verbalen oder physischen Attacken drangsaliert, Macht und Herrschaft über sein Opfer zu erlangen sucht, ist der Neidische abhängig vom beneideten Objekt. Er erliegt dessen Mehrkönnen, Mehrsein, Mehrhaben, Mehrbesitzen, die er mißgünstig registriert und sich ebenfalls wünscht, seine eigenen Defizite fühlend. In der Terminologie von Herrschaft und Knechtschaft ausgedrückt, haben wir es mit unterschiedlichen Verhaltensweisen von Macht und Unterdrückung einerseits und Abhängigkeit und Unterworfenheit andererseits zu tun. Entweder geht vom Subjekt die Herrschaft aus in der Absicht, das Objekt zu unterwerfen, wie bei Haß, Zorn, Wut, oder umgekehrt vom Objekt mit der Tendenz, das Subjekt zu besiegen und zu binden, wie bei Neid, Furcht, Bewunderung. Diese dynamische Sprechweise des Kampfes um Vormacht und Unterdrückung ersetzt eine ältere, mechanische von Prägen und Geprägtwerden, Eindruck und Eingedrücktwerden, die am Prägevorgang orientiert ist. 44 Daß auch Gefühle leibbezogen und leibfundiert sind genau wie Stimmungen, zeigt die Tatsache, daß mit psychischen Regungen stets körperliche einhergehen, zumindest die Disposition zu solchen besteht. Dies bekunden die Redewendungen: ›vor Neid erblassen‹, ›vor Wut rot anlaufen‹, ›vor Angst kreideweiß werden und zittern‹. Der Behaviorismus hat auf die Tatsache, daß sich subjektive Gefühle und Empfindungen in objektiv wahrnehmbaren, also publiken und intersubjektiv kommunikablen körperlichen Verhaltensweisen ausdrük44

Vgl. S. 153 f. dieser Arbeit. A

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ken, seine These von der Reduzibilität der ersteren auf die letzteren gegründet. Sie ist allerdings Einwänden ausgesetzt, da die Imitation in der Schauspielkunst und Pantomime durch körperliches Verhalten Emotionen vortäuschen kann, die real nicht existieren. Daß gleichwohl phänomenologisch Emotionalität und Körperlichkeit zusammengehören, zeigt sich besonders einprägsam an einem allbekannten Beispiel, dem Augenkontakt zweier Partner, der auf deren erotische Beziehung schließen läßt. Die Körpersprache, die sich im Blickkontakt bekundet, gibt hier den Verweis auf das Vorliegen einer bestimmten Emotionalität. Zum Zwecke einer näheren Auslegung möchte ich von Versen Goethes ausgehen: »Warum gabst du uns die tiefen Blicke, Unsre Zukunft ahndungsvoll zu schaun, Unsrer Liebe, unserm Erdenglücke Wähnend selig nimmer hinzutraun? Warum gabst uns, Schicksal, die Gefühle, Uns einander in das Herz zu sehn, Um durch all’ die seltenen Gewühle Unser wahr Verhältnis auszuspähn?« 45

Das Gedicht, am 14. 4. 1776 an Frau von Stein gesandt, gehört in die Phase der Liebesbeziehung Goethes zu Charlotte von Stein. Zur gleichen Zeit schrieb Goethe an Christoph Martin Wieland: »Ich kann mir die Bedeutsamkeit, die Macht, die diese Frau über mich hat, anders nicht erklären als durch die Seelenwanderung. Ja, wir waren einst Mann und Weib! Nun wissen wir von uns, verhüllt in Geisterduft. Ich habe keinen Namen für uns: die Vergangenheit – die Zukunft – das All.« 46

Die tiefe, innige Beziehung zwischen den Liebenden, die sich über die wechselseitigen Blicke abspielt, begründet der Dichter im weiteren Verlauf des Gedichtes mythologisch mit dem Hinweis auf eine Präexistenz, in der beide als Mann und Frau, Bruder und Schwester vereint waren. 47 Der Rekurs auf die pythagoreische Palingenesislehre, die mehrfach auch in Platons Dialogen, z. B. im Menon, Phaidon, Symposion, anklingt und die zu Goethes Zeit vielfach diskutiert wurde und eine vorgeburtliche Existenz sowie eine Inkarnation – sogar eine mehrfache Inkarnation der Seele in den Körper – vorsieht, dient 45 46 47

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In: Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 1, Hamburg 1949, 5. Aufl. 1960, S. 122. A. a. O., S. 468, auch Weimarer Ausgabe, Abt. IV: Briefe, Bd. 3, S. 51 f. Vgl. Ende der dritten Strophe.

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hier dazu, eine Ursprungsdimension zu charakterisieren, in der eine orts- und zeitübergreifende Einheit bestand, von der die Gegenwart nur ein schwaches Abbild, ein Dämmerzustand, ein Traum ist, 48 der lediglich die Erinnerung und Ahnung an die Ursprungsdimension wachhält. Die Konfrontation von ursprünglich reiner Welt und getrübter Realität leistet das Urbild-Abbild-Verhältnis, welches nur der tiefe Blick durchbricht, der »in das Herz« zu dringen vermag. Tritt man von außen an die Liebenden mit der Frage heran, wie und woran sie denn erkennen, daß sie wiedergeliebt werden, so erhält man aus dem Gedicht und gemäß dem phänomenalen Befund die Antwort: ›am Blick‹. Neben dem Blick verraten auch andere Gesten, wie die Hinwendung eines Menschen zum anderen, das Interesse und die Aufmerksamkeit, die jemand am anderen nimmt, das Lächeln, Augenzwinkern, Streicheln und Liebkosen die entsprechende emotionale Beziehung. Alle diese körperlichen Verhaltensweisen sind transparent. Sie verweisen auf eine psychische, emotionale Sphäre; sie fungieren als Zeichen oder Signantien, die unmittelbar und instantan eine andere, jedoch direkt mit ihnen verbundene Dimension sichtbar machen. Die Instantaneität des Verstehens bekunden Ausdrücke wie: ›daß einem die Schuppen von den Augen fallen‹, ›daß einem ein Licht aufgeht‹, ›daß der Funke überspringt‹ u. ä. Wie das Stimmungsverstehen als situatives Verstehen ad hoc und instantan die gesamte umgebende Sphäre erfaßt, so erfaßt das gestische Verstehen ad hoc und instantan einen einzelnen, herausgehobenen Zustand. Da ein Zustand jedoch aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden kann, muß in unserem Fall gefragt werden, welche Bewandtnis es mit dem Blick habe. Für die Optik als Unterdisziplin der Physik ist der Blick ein Sehstrahl zwischen Auge und Gegenstand, der ein verkleinertes Bild des Gegenstandes auf die Netzhaut projiziert. Da der Sehstrahl Linien folgt und da dem gesamten Vorgang geometrische Verhältnisse zugrunde liegen, läßt sich dieser formal und mathematisch exakt beschreiben. Etwas ganz anderes jedoch hat es mit dem hier gemeinten Blick auf sich. Um ihn präzise zu erfassen und zu beschreiben, ist er vom objektiv beobachtenden Blick abzuheben, der sich auf die Augenfarbe und -form, auf die Konturen des Partners konzentriert und diese aufmerksam und scharf registriert. Man hat experimentell festgestellt – und alltägliche Beobachtungen bestäti48

Vgl. die Ausdrücke ›Traum‹, ›Traumglück‹, ›Traumgefahr‹. A

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gen dies –, daß die sinnlich-wahrnehmbare Grundlage nicht ausreicht, den Blick als emotional-erotischen zu deuten. Je genauer die objektiven, sinnlich-wahrnehmbaren Nuancen heraustreten, desto geringer ist die Emotionalität und umgekehrt; die Konstatierung körperlicher Merkmale verschwindet, sobald der Blick zu einem emotionalen mutiert. 49 Der emotionale Blick des Partners ist eine Kraft- und Machtausübung, die in den anderen eindringt, ihn überwältigt, unterwirft, beherrscht, gelegentlich auch überrumpelt. Den intensiv heftenden, fixierenden Blick hat man daher stets als aufdringlich und aggressiv empfunden, als Beeinträchtigung und Beraubung der Freiheit des anderen oder gar, wenn er einer Dame galt, als Beleidigung, die zum Zweikampf auf Leben und Tod herausforderte. 50 Die fixierte Person empfindet sich als überwältigtes Objekt. So wie ein Beuteobjekt von einem Tier erspäht, fixiert, verfolgt und gejagt wird, so empfindet sich der stark fixierte, durch den fesselnden Blick außer Aktion gesetzte Mensch als überwältigtes Opfer. Das Wechselspiel von Herrschaft und Unterwerfung, von Sieg und Niederlage, Macht und Ohnmacht, das im Spiel der Blicke zweier Menschen bei erotischem Blickkontakt aufbricht, mag ein Zeitungsartikel von Hedwig Rohde in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 6. 7. 1957 illustrieren, der wegen seiner Plastizität hier wiedergegeben werden soll. »Sie hat noch nicht versucht, aus der Objektmaske herauszukommen und den Blick mit einem ebensolchen Blick zu erwidern. Zwingt sie sich aber dazu und taucht für Bruchteile von Minuten in den fremden Blick ein, dann zuckt sie in der Bewegung zusammen und überwindet mühsam die Scham, die dieses Erlebnis einer Umarmung gleichsetzt. Hält sie stand, so wird unter ihrem eigenen Blick der Mann zum Objekt, und sie macht ihn sich untertan als einen möglichen Geliebten. Er ist, wie sie, in diesem Moment gefährlicher und geheimnisvoller, als er in Wirklichkeit sein wird. Sie begehrt von seiner täglichen Wirklichkeit gar nichts zu wissen. Sie sucht ihn genau da auf, wo er sie gesucht und getroffen hat. Jetzt ist er es, der sich in wachsender Unruhe eine Zigarette anzündet, eine Pose annimmt, seine Hände darstellt. Sie muß lächeln. Aber er lächelt keineswegs zurück. Er ist nicht gewillt, ihr das Recht auf solche Blicke zu überlassen. Sein Ausdruck wird finster, er sucht gewaltsam,

49 50

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Vgl. auch Hermann Schmitz: System der Philosophie, a. a. O., Bd. 3.2, S. 378 f. Vgl. a. a. O., Bd. 3.2, S. 382 f.

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die vorherige Situation wiederherzustellen und sie mit durchbohrendem Blicke in ihre Objektrolle zurückzuzwingen. Eigentlich hätte sie nichts dagegen, ihm zu willfahren. Sie war sich in ihrer aufblühenden Passivität viel reicher vorgekommen und hatte sich selbst genossen. Aber nun hat sie sich schon zu weit in die Sphäre des anderen vorgewagt und ist ihrem verheißungsvollen Spiegelbild entglitten. Sie hat den Schritt aus dem Bannkreis heraus getan und den erweckenden Blick in einen feindlichen verwandelt. Schon fängt der andere an, sich gegen sie zu wehren. Wenn er jetzt sein ursprüngliches Begehren in Handlung umsetzen und sie ansprechen würde, wäre er nichts als ein zudringlicher Herr … Und mit dem ersten Wort, das zwischen ihnen fiele, hätte er sie in eine gleichgültige, alltägliche Frau zurückverwandelt. Sie senkt schnell den Kopf und beeilt sich, aus dem Bereich seiner männlichen Initiative zu kommen. Aber sie ist enttäuscht: er hätte sie ansprechen sollen, bevor sie Zeit zu diesen Überlegungen hatte. Er hätte sich ihren Blick sechzig Sekunden lang gefallen lassen müssen, das hätte genügt; sie hätte seine ungenutzten Möglichkeiten erkannt und wäre imstande gewesen, ihnen zuliebe für immer Objekt zu werden.« 51

Das Beispiel dokumentiert in eindrücklicher Weise das wechselseitige Ringen um die Bemächtigung des anderen, um Gegenwehr, Unterliegen und Sich-wieder-Sammeln. Wie das Augenspiel hier dargestellt wird, ist es ein leiblich-emotionaler Kampf der Geschlechter miteinander. In allen Kulturen ist der böse Blick bekannt, der über Leben und Tod entscheidet, wofür Siegfried Seligmann in seinem Buch Geschichte des Aberglaubens aller Zeiten und Völker (Der böse Blick) 52 unzählige Beispiele gesammelt und kommentiert hat. In der mexikanischen Chronik des Tezozomoc wird erwähnt, daß die Zauberin Malinalxoch die Leute tötete, wenn sie sie nur anblickte, und ihre Körperteile, Herz und Wade, am lebendigen Leibe verzehrte, weshalb die altmexikanischen Zauberer auch ›Herzfresser‹ oder ›Wadenfresser‹ genannt wurden. 53 In Neuseeland bei den Maoris fungiert der böse Blick zusammen mit dem Ausstrecken der Zunge als aggressives, abschreckendes Kampfmittel, als Angriffsattacke. Archaische Völker pflegen die Dämonie des Blickes durch übertriebene Umrandung und ornamentale Ausschmückung des Auges oder in der Kunst, in Zitiert bei Hermann Schmitz: System der Philosophie, a. a. O., Bd. 3.2, S. 381 f. Siegfried Seligmann: Geschichte des Aberglaubens aller Zeiten und Völker (Der böse Blick), 2 Bde., Wien 1910. 53 Vgl. a. a. O., Bd. 1, S. 44. 51 52

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Maske von den Marquesas

den Masken durch überdimensionierte Augen und Augensymbole auszudrücken, die Schrecken einflößen und zum Abstandhalten auffordern. 54 Man braucht nicht einmal auf räumlich oder zeitlich ferne Kulturen zu rekurrieren, um dem Phänomen des bösen Blicks zu begegnen, auch im heutigen europäischen Kulturraum, besonders auf dem Dorf, ist der Glaube an die Wirkung des bösen Blicks noch lebendig. In den Dörfern Nordkorfus ist es üblich, ein Büschel aus Pflanzen, stark riechendem Knoblauch, Netzen, in denen sich der Blick verfangen soll, außerdem Fähnchen und Symbole der Freude und Helligkeit an die Haustür zu hängen, um den neidischen Blick der Nachbarn wegen irgendeiner Errungenschaft oder Neuigkeit, die die Mitbewohner übertrumpfen könnte, abzuwehren.

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Die Mächtigkeit und Gewalt des Blickes zeigt sich auch im Blick von Sterbenden (Sterbeblick). Dieser kann einen Menschen derart treffen, daß er ihn lebenslang verfolgt, wie dies die altnordische Saga beschreibt, in der der Held Grettir, der den Riesen Glam tötete, von dessen Sterbeblick getroffen wird, so daß er sein ganzes Leben lang, den Blick vor Augen habend, geschwächt ist. 55 Die stieren und rollenden Augen des Riesen, die Grettir bannen, werden ihm zum Fluch, so wie dies der Riese auch ausspricht: »Den Fluch lege ich auf dich, daß diese meine Augen dir stets und ständig vor den Blicken stehen, wie ich sie habe; und es wird dich schwer bedünken allein zu sein, und das wird dich wohl zum Tode ziehen.« 56

Die Völker Ozeaniens, die dem Blick besondere Beachtung schenken, so auf den Osterinseln oder den Marquesas, haben daraus die Folgerung gezogen, bei der rituellen Tötung von Gefangenen diesen von hinten den Nacken zu brechen. 57 Auch Hitlers Schergen in den Konzentrationslagern, z. B. Buchenwald, konnten den zum Tode bestimmten Gefangenen nicht in die Augen sehen, sondern erschossen sie von hinten durch Nackenschuß, indem sie bei deren medizinischer Körpervermessung perfide durch ein Loch in der Wand, das den Gefangenen verborgen blieb, auf diese zielten. Am Blick lassen sich zwei gegensätzliche, einander anscheinend widersprechende Momente unterscheiden: Zum einen gleicht der Blick wegen seiner Gerichtetheit und Einsinnigkeit einem Pfeil, der in das Innere des anderen dringt, zum anderen hat er, solange er Herrschaftsblick ist, eine Sogwirkung, indem er den anderen anzieht und geradezu aufsaugt. Sofern dieser Blick aber auch vom Objekt, dem Anderen, fasziniert ist und seinerseits angezogen wird, schlägt seine Aktivität in Passivität um; er verliert sich in den Augen des Anderen, die ihn gleichsam wie Brunnen in die Tiefe ziehen. Die Sprache der Erotik drückt dies durch das Sich-Verlieren oder Aufgehen im Anderen aus, das auch der Mystik in der unio mystica eigen ist. Der Blick ist ambivalent. Während eine frühere, ältere Beschreibungsweise die SubjektObjekt-Beziehung der intentionalen Gefühle durch die mechanische Vgl. Die Geschichte von dem starken Grettir, dem Geächteten, übertragen von Paul Herrmann, Jena 1913, S. 103–105. 56 A. a. O., S. 104. 57 Solche Nackenbrecher finden sich heute in einem kleinen, von der Schweizer Familie Grelet eingerichteten Museum in Omoa auf Fatu Hiva (Marquesas) ausgestellt. 55

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Metaphorik des Prägevorgangs auszudrücken versuchte, bei der das Subjekt seitens des Objekts einen Eindruck erfährt, versucht die moderne Beschreibungsweise dasselbe durch die dynamische Metaphorik, die der Faszination, des affektiven Betroffenseins, wiederzugeben, 58 wodurch sich der Vorgang von der subjektiven auf die objektive Seite verlagert. Er spielt sich nicht mehr wie beim Prägen im Subjekt ab, sondern das Objekt wird zum Ort der Faszination und Attraktion, dem das Subjekt folgt. Da Faszination und Attraktion Fernwirkungen sind, bringt diese Beschreibungsweise zudem den Vorteil mit sich, daß sie zeit- und raumübergreifend ist und die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt nicht an einen bestimmten Ort oder Raum und an eine bestimmte Zeit bindet, wie ja tatsächlich Emotionen und Affektionen raum- und zeitübergreifend sind. Da Attraktion und Faszination und ihre Variante Suggestion fundamentale gefühlsmäßige Beziehungen zwischen Subjekt und Objekt sind, ohne die schon das situative Verstehen nicht auskommt, viel weniger das gestische, und die in abgeschwächter Form jeder Wahrnehmungsbeziehung zwischen Subjekt und Objekt zugrunde liegen, bedürfen sie einer genaueren Analyse. 4.2. Faszination Während beim ›gewöhnlichen‹ Erkenntnisvorgang, der Wahrnehmung und dem daraus resultierenden Wissen, das Interesse des Subjekts auf einen einzelnen Gegenstand oder Sachverhalt gerichtet ist, was zweierlei voraussetzt, zum einen die Differenzierung der Objekte, die den Wechsel zwischen ihnen durch Verlagerung der Konzentration von dem einen auf das andere ermöglicht, und zum anderen die Differenz zwischen Subjekt und Objekt, die sogenannte Subjekt-Objekt-Spaltung, die dem Subjekt die Möglichkeit gibt, seine Aufmerksamkeit verschiedenen Objekten zuzuwenden, sind diese Voraussetzungen bei der Faszination eingeschränkt und im Extremfall sogar aufgehoben. Die Faszination ist eine gebundene, rigide Form der Subjekt-Objekt-Beziehung, die bei der stimmungsmäßigen Befindlichkeit und beim intentionalen Gefühl vorliegt und Vgl. Hermann Schmitz: System der Philosophie, a. a. O., Bd. 2.1, S. 341–349 und Bd. 3.1, S. 151 ff. sowie weitere Stellen.

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in der Wahrnehmungserkenntnis, noch mehr in der kognitiven Erkenntnis gelockert ist, gleichwohl aber deren Voraussetzung bildet. Das faszinierende Objekt, das das Subjekt in seinen Bann zieht und gefangen hält, gewinnt eine derartige Dominanz, daß es zur alles beherrschenden Macht wird, die allein vorhanden zu sein scheint und es für den Faszinierten auch ist. Das faszinierende Objekt avanciert zum ausschließlichen Gegenstand, und das Subjekt seinerseits ist derart angezogen und angesogen, daß es vom Objekt geradezu absorbiert wird und in ihm auf- und untergeht. Etliche Ausdrücke unserer Sprache weisen auf diesen Umstand, so die Redewendung vom Vertieftsein in den Anblick eines schönen Kunstwerkes, vom Aufgegangensein im Lauschen einer Melodie, vom Hingegebensein an eine spannende Lektüre oder auch vom Absorbiertsein durch die Lösung einer mathematischen Aufgabe. Das Ego als Zentrum des Subjekts mag latent im Hintergrund stehen und auf seine Abrufbarkeit warten, solange jedoch die Faszination andauert, ist es eliminiert. Präsent ist nur das faszinierende Objekt, während das Ich in dasselbe eingetaucht und in ihm untergegangen ist. 59 Ebenso wie die Subjekt-Objekt-Differenz in der Faszination zur Aufhebung tendiert, so auch die Objekt-Objekt-Differenz, was mit dem Umstand zusammenhängt, daß das Objekt in der Faszination als einziges auftritt, wobei es gleichgültig ist, ob es als einzelnes oder als Singularetantum vorkommt. Damit hängt zusammen, daß die Faszination sowohl für nicht-intentionale Stimmungen wie für intentionale Gefühle gilt. Eine Faszination ausüben können alle Objekte, tote wie lebendige, artifizielle wie natürliche: Menschen, Tiere, Pflanzen, LandschafDiesen Sachverhalt hat erstmals Edmund Husserl in den Logischen Untersuchungen, Bd. 2, 1. Teil, Tübingen 1968, S. 376, beschrieben. Ihm ist Jean-Paul Sartre in der Transzendenz des Ego. Versuch einer phänomenologischen Beschreibung (Titel der Originalausgabe: La Transcendance de l’ego, 1936/37), aus dem Französischen übersetzt von Herbert Schmitt, Reinbek bei Hamburg 1964, S. 14 f., gefolgt: »Während ich las, hatte ich Bewußtsein von dem Buch, von den Romanhelden, aber das Bewußtsein war nicht vom Ich bewohnt, es war lediglich Bewußtsein vom Gegenstand und nicht-positionales Bewußtsein seiner selbst. […] Wenn ich hinter einer Straßenbahn herlaufe, wenn ich auf die Uhr schaue, wenn ich in die Betrachtung eines Porträts versunken bin, gibt es kein Ich. Es gibt Bewußtsein von-der-zu-erreichenden-Straßenbahn usw., und nicht-positionales Bewußtsein des Bewußtseins. Tatsächlich bin ich also in die Welt der Gegenstände eingetaucht, sie bilden die Einheit meiner Erlebnisse und sie stellen sich mit Werten, anziehenden oder abstoßenden Qualitäten, dar – ich aber bin verschwunden, ich habe mich genichtet.« 59

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ten, architektonische und andere Kunstwerke, einzelne Eigenschaften wie Farben, Töne, Bewegungen, aber auch Ideen – politische, religiöse –, die, wenn sie fanatisch verfolgt werden, zu Ideologien, Dogmen und Utopien werden. Auf die faszinierende Wirkung von Personen aufeinander in der erotischen Beziehung wurde schon eingegangen. Eine Faszination üben aber auch bestimmte Tiere aus, besonders Schlangen, Drachen, Krokodile, Adler, Kondore, Falken, die in verschiedenen Religionen als Kulttiere verehrt werden. Die ägyptische Religion ist voll von solchen. Nicht weniger ziehen Pflanzen an, besonders uralte solitäre Mammutbäume, die in der Naturreligion Japans als heilige Bäume Verehrung finden. Im deutschen Kulturkreis sind es Eiche und Linde, um die sich Sagen und Legenden ranken. Und wer hätte sich je der Faszination des Bildes von Caspar David Friedrich mit dem Titel »Der einsame Baum« entziehen können, das eine vom Sturm zerzauste, in der Krone gebrochene und gleichwohl trotzig und fest in der Landschaft stehende Eiche zeigt, die als Symbol des standhaft durchgehaltenen, allen Stürmen und allem Ungemach trotzenden Lebens fungiert. Auch Landschaften können diese Wirkung ausüben, insbesondere, wenn sie Weite, Tiefe, Unendlichkeit ausdrücken, wie das Meer, die Wüste, Schneefelder. Auch hierfür sind die Gemälde von Caspar David Friedrich exzellente Beispiele, so das Bild, das einen Wanderer auf den Kreidefelsen Rügens zeigt, den Blick in die unendliche Weite des Meeres gerichtet, oder das Bild, das die Eingangspforte eines Friedhofes darstellt, hinter der sich unendliche Ruhe, Stille und Tiefe ausbreiten. Als Romantiker war Caspar David Friedrich ein Meister in der Kunst, Stimmungen und Gefühle der Unendlichkeit, Sehnsüchte, die per se keine Grenzen haben, auszudrücken. Wie sehr gerade Abgründe eine Sogwirkung entfalten, wird immer wieder von Bergsteigern und Gebirgsjägern berichtet, die auf einsamem Pfad entlang des Abgrundes von der Tiefe magisch angezogen werden und gelegentlich auch abstürzen, was für Außenstehende, die nicht mit der Psychologie des Abgrundes vertraut sind, befremdlich erscheint, da man jenen sichere Bewegung im Gebirge unterstellt. Nicht erst Jean-Paul Sartre hat in Das Sein und das Nichts den Schwindel vor dem Abgrund als Phänomen absoluter Freiheit zwischen Angezogensein und Widerstreben beschrieben. »Der Schwindel kündigt sich durch die Furcht an: ich befinde mich auf einem engen Pfad ohne Geländer, der an einem Abgrund hinführt. Der Abgrund

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bietet sich mir als etwas dar, das vermieden werden muß, er veranschaulicht eine Lebensgefahr. Zugleich erfasse ich eine gewisse Zahl von Ursachen, die vom allgemeinen Determinismus abhängen und jene Lebensbedrohung in Tod verwandeln können: ich kann auf einem Stein ausgleiten und in den Abgrund stürzen, der bröckelige Pfad kann unter meinen Schritten in die Tiefe versinken. Durch diese verschiedenen Vermutungen hindurch bin ich mir selbst wie eine Sache gegeben, bin ich in Ansehung dieser Möglichkeiten passiv; sie kommen von außen auf mich zu und soweit ich auch ein Ding in der Welt bin und der allgemeinen Anziehungskraft unterworfen bin, sind es nicht meine Möglichkeiten. In diesem Augenblick erscheint die Furcht, die von der Situation her im Besitz meiner selbst ist, als eines zerstörbaren Transzendenten inmitten von Transzendentem, als ein Gegenstand, der den Ursprung für sein künftiges Verschwinden nicht in sich trägt. Die Reaktion wird reflexiver Natur sein: ich ›werde achten‹ auf die Steine im Weg, ich werde mich möglichst weit weg vom Rande des Pfades halten. Ich realisiere mich als einen, der mit allen Kräften die drohende Situation von sich abwehrt, und ich entwerfe mir eine gewisse Anzahl künftiger Verhaltensweisen, dazu bestimmt, die Drohungen der Welt von mir fernzuhalten. Diese Verhaltensweisen sind meine Möglichkeiten.« 60 »Das besagt, daß ich, indem ich eine bestimmte Verhaltensweise als mögliche und gerade, weil sie mein Mögliches ist, konstituiere, mir darüber im klaren bin, daß nichts mich zwingen kann, diese Verhaltensweise durchzuhalten. Indessen bin ich selbst dort in der Zukunft; zu ihr hin werde ich an der Wegbiegung sogleich sein, strebe ich mit allen Kräften, und in diesem Sinne besteht bereits eine Beziehung zwischen meinem künftigen und meinem gegenwärtigen Sein. Aber in das Innere dieser Beziehung hat sich ein Nichts [néant] geschlichen: ich bin nicht der, der ich sein werde.« 61 »Das Bewußtsein, seine eigene Zukunft zu sein in der Weise, sie nicht zu sein, das ist genau das, was wir Angst nennen. Und gerade die Nichtung des Schauders als Motiv, die eine Verstärkung des Schauders als Zustand zur Folge hat, hat als positives Gegenstück die Erscheinung der anderen Verhaltensweisen (besonders von derjenigen, die darin besteht, sich in den Abgrund zu stürzen) als meine möglichen Möglichkeiten. Wenn nichts mich zwingt, mein Leben zu bewahren, hindert mich nichts, mich in den Abgrund zu stürzen. Die endgültige Verhaltensweise wird aus einem Ich hervorgehen, das ich noch nicht bin. So hängt das Ich, das ich bin, an und für sich von dem Ich ab, das ich noch nicht bin, und zwar genau in dem Maße, indem das Ich, das ich noch nicht bin, von dem Ich, das ich bin, nicht abhängt. Und der Schwindel erscheint als das Erfassen dieser Abhängigkeit. Ich trete an den Abgrund, und mich selbst suchen meine Augen in der Tiefe. Von diesem AuJean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie (Titel der Originalausgabe: L’être et le néant, Paris 1943), aus dem Französischen übersetzt von Justus Streller, Hamburg 1962, wiederholte Auflage 1976, S. 72. 61 A. a. O., S. 74. 60

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genblick an spiele ich mit meinen Möglichkeiten. Meine Blicke laufen durch den Abgrund von oben bis unten, veranschaulichen sich meinen Sturz und lassen ihn symbolische Wirklichkeit werden; zugleich läßt die selbstmörderische Verhaltensweise auf Grund der Tatsache, daß sie ›mein mögliches‹ Mögliche wird, ihrerseits mögliche Motive als annehmbar erscheinen […]. Glücklicherweise bieten sich diese Motive schon auf Grund der Tatsache, daß sie Motive von etwas Möglichem sind, ihrerseits als unwirksam und nichtdeterminierend dar: sie können ebensowenig den Selbstmord hervorbringen, wie mein Schauder vor dem Sturz mich nicht dazu bestimmen kann, ihn zu vermeiden. Diese Gegenangst beendet in der Regel die Angst und verwandelt sie in Unentschlossenheit. Die Unentschlossenheit ruft ihrerseits den Entschluß herbei: man entfernt sich plötzlich vom Rande des Abgrundes und setzt seinen Weg fort.« 62

Unter dem hier beschriebenen absoluten Freiheitsbewußtsein versteht Sartre das Hin- und Hergerissenwerden zwischen der Verlokkung, sich in die Tiefe zu stürzen, den eigenen zukünftigen Sturz als Möglichkeit vorwegzunehmen, und der Entscheidung, sich dies zu versagen. In der Alternative zwischen Leben und Tod erfährt das Dasein seine absolute, schwindelerregende Freiheit. Mehr noch als der Abgrund als solcher sind es bewegte, herabrollende Steine, Geröll, Lawinen, die eine mitreißende Wirkung haben, wie Kletterer und Wildschützen berichten. Es ist nicht der Abgrund allein, der anzieht, sondern das Herabrollen der Felsbrokken, die nicht nur den Blick des Wanderers, sondern die gesamte Person mit in die Tiefe reißen. In ihrer Bewegung wird das Subjekt mitgerissen, so daß sich beider Bewegung vereint zu einer Einheit, die vom Objekt gesteuert wird. Und das gilt für alle runden, bewegten Gegenstände wie den Fußball, den Tennisball, den Basketball, die den Blick des Zuschauers in ihrer Bewegung mitreißen und nicht loslassen. Von den Ballspielen der Azteken bis zu den modernen Sportveranstaltungen ist die mitreißende Wirkung bekannt, die ganze Massen mobilisiert, in Rage versetzt, Fans zu Hooligans macht, Zuschauer zu Rabauken werden läßt und sie jeder distanzierten Überlegung, jeder Reflexion beraubt. Daß auch Farben eine Sogwirkung haben können, belegen nicht nur »Das weiße Quadrat« von Kasimir Malewitsch, das aus einem einzigen weißen Quadrat von unendlicher attrahierender Kraft und einem dünnen blauen Randstreifen besteht, oder das Farbtableau von Barnett Newman »Who is afraid of Red, Yellow, Blue III«, das eine 62

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riesige kadmiumrote Fläche von 2,45  5,44 m darstellt, die von hauchdünnen ultramarinblauen und kadmiumgelben Randzonen links und rechts umrahmt ist 63 und allein schon von ihrer Größe her, aber auch von der Spezifität des Rots eine absorbierende Wirkung ausübt, der sich niemand entziehen kann. Ebenso gilt von der Bläue des Himmels, wenn wir an einem Sommertag im Gras liegen, den Blick in die unendliche Weite des Himmels gerichtet, daß sie uns mit- und wegzieht. Und wie die Töne in der Musik eine mitreißende Wirkung haben können, so auch die Schwung- und Drehbewegungen beim Tanz. Der Psychologe Rudolf Bilz hat zwei Arten von Faszination unterschieden, zum einen die fixierende, bannende, bei der das Subjekt trotz heftigster Erregung erstarrt, an den Ort gebannt ist und dem faszinierenden Gegenstand sensorisch-frontal zugewandt bleibt, und zum anderen die anziehende oder ansaugende, die eine motorische Wirkung auf das Subjekt ausübt, quasi einen Sog bildet, der das Subjekt mitreißt. 64 Zu den letzteren zählen die aufgeführten Beispiele. Es sind nicht nur große Objekte, die eine Faszination auszuüben vermögen, sondern auch kleine, die dann die Funktion von Fetischen haben. Versucht man, die Ursache der Faszination anzugeben, so muß sie in der Übermächtigkeit des Objekts gesehen werden, die das Subjekt überwältigt und in seinen Bann zieht. So sind es einerseits Symbole der Unendlichkeit, der Weite und Tiefe, andererseits der Dichte, Konzentration und Eindringlichkeit, die in der Kunst als Erhabenheit behandelt werden und dort immer wieder zu analytischen Untersuchungen geführt haben. Ein Exkurs über die Geschichte der Erhabenheit mag dies bestätigen.

Vgl. Max Imdahl: Barnett Newman: Who’s afraid of red, yellow and blue III, in: Christine Pries (Hrsg.): Das Erhabene zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn, Weinheim 1989, S. 233–252. Von dem Anblick einer riesigen kahlen Wand, bei der das Gemüt wegen Unüberschaubarkeit in Unruhe gerät, erratisch umherirrt, weil es wegen der Größe, Höhe und Lage nicht so schnell Grenzen findet, unterscheidet sich Newmans Bild durch die Sogwirkung, wozu die feine Umrandung beiträgt. 64 Vgl. Rudolf Bilz: Das Belagerungserlebnis in den Alkoholhalluzinosen. Eine Untersuchung über die Situation und das Verhalten des Subjekts, in: Der Nervenarzt, Jg. 27, Heft 9 (1956), S. 402–409, bes. S. 406. 63

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4.3. Exkurs über das Erhabene Den Ausgang der europäischen Diskussion über das Erhabene bildet die Schrift Per½ ˜you@ Über das Erhabene von Pseudo-Longinos aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert und deren Übersetzung und teilweise Verwendung in Nicolas Boileau-Despréaux’ (1636–1711) Traité du sublime ou du merveilleux dans le discours (1674). Longinos untersucht das Erhabene in der Rhetorik, indem er seine Bewunderung für das Große, Gewaltige und Machtvolle in der Rhetorik und Dichtung und deren Wirkung auf die Hörer zeigt. Das Erhabene stellt für ihn die »Vollendung und den Gipfel sprachlicher Gestaltung« 65 dar, es ist die höchste rhetorische und generell ästhetische Norm, nach der sich der Wert eines Werkes bemißt. Im Erhabenen überschneiden sich Kunst und Natur, Rationalität und Irrationalität. Neben den künstlich-künstlerischen Stileigenschaften, den Figuren, der Diktion, der Satzfügung, ist die wichtigste Quelle des Erhabenen die natürliche Begabung des Dichters, große Gedanken zu erzeugen, Leidenschaft und Pathos zu erregen, Begeisterung bei den Hörern hervorzurufen. Es sind vier Punkte, die sich in Longinos’ Schrift hervorheben lassen und für die weitere Tradition wichtig werden. 1. Es wird unterschieden zwischen dem Schönen, das gefällt, und dem Erhabenen, das erstaunt und erschüttert aufgrund seiner überwältigenden Macht und Gewalt. 2. Die Wirkung des Erhabenen wird als außerordentlich beschrieben. Der Mensch ist ihr wehrlos ausgeliefert, was zu seiner Entmachtung führt, so daß er nicht mehr Herr seiner selbst ist, nicht mehr in und bei sich, sondern außer sich ist. Das Außer-sich-Sein erklärt die Ekstase, das Mitgerissensein der Seele. Diese Ergriffenheit ist ein von seiten des Objekts ausgehender Prozeß, ein nicht mehr in der Verfügungsgewalt des Subjekts stehender Zuspruch des Großen der Dichtung. Die Ergriffenheit stellt keine autonome Selbststeigerung des Subjekts auf das Große hin dar, was allerdings nicht hindert, daß eine Veranlagung, eine Liebe zum Großen, in der Natur des Menschen vorhanden ist. »Von der Natur […] geleitet, bewundern wir […] nicht die kleinen Bäche, […] wenn sie auch durchsichtig und nützlich sind, sondern den Nil und die Donau oder den Rhein und noch viel mehr als sie den Ozean. Und über dem 65

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Flämmchen hier, das wir selbst anzünden, staunen wir, auch wenn es sein Leuchten rein bewahrt, nicht so sehr wie über jene Feuer des Himmels, die doch häufig ins Dunkel tauchen; auch die Krater des Ätnas halten wir für ein größeres Wunder […].« 66

Geboren zum Großen, können wir dessen Macht nicht widerstehen. 3. An einigen Stellen verwendet Longinos zur Bezeichnung des vom Erhabenen ausgehenden Affektes nicht nur das Verb ˛kplhxi@, das ›Bewunderung‹, ›Staunen‹, ›Erstaunen‹, ›Ehrfurcht‹ bedeutet, sondern auch ›Erschrecken‹, ›Erschütterung‹ heißen kann. Bewunderung ist unmittelbar mit Erschütterung verbunden, woraus sich die Affinität des Begriffes zu Erschrecken erklärt. Bewunderung, Erschütterung und Ekstase gehen für Longinos zusammen. 4. Die Wirkungsweise des Erhabenen erfolgt plötzlich und unvermittelt, sie vollzieht sich momentan wie ein Blitzschlag, sie bricht plötzlich und unerwartet herein, wobei sich schlagartig die geballte Kraft des Redners offenbart. Neben der Blitzmetaphorik tauchen auch Metaphern von Gewitter, Feuer, Sturzbach auf, die die überwältigende Macht des Erhabenen enthüllen und zugleich den Übergang aus dem Gebiet der Rhetorik und Dichtung auf das Gebiet der Natur erklären, das den präferierten Bereich des Erhabenen im 17. und 18. Jahrhundert bildet. Obwohl Longinos beide Bereiche voneinander abgrenzt, schreibt er der Natur dieselbe Wirkung auf den Betrachter zu wie der Rhetorik und Dichtung. Bei beiden herrscht die Faszination und das Erstaunen über das Beeindruckende, Große, das gleicherweise Entzücken wie Schrecken bewirken kann. Neben der Longinos-Tradition entstand in England im 17. Jahrhundert ein Bewußtsein für das Erhabene in der Natur und für seinen Zusammenhang mit dem Unendlichen, Dunklen und Schreckerzeugenden. Es war John Dennis, der als erster explizit den Schrecken in die Ästhetik des Erhabenen einführte. In einem Brief vom 25. Oktober 1688 spricht er anläßlich einer Alpenüberquerung und des Anblicks der hochalpinen Landschaft mit ihren Bergmassiven von einer gemischten Gemütsbewegung, einem angenehmen Grauen (»a delightful Horrour, a terrible Joy, and at the same time, that I was infinitely pleas’d, I trembled« 67 ). Diese Dissonanz und Carsten Zelle: Schönheit und Erhabenheit. Der Anfang doppelter Ästhetik bei Boileau, Dennis, Bodmer und Breitinger, in: Christine Pries (Hrsg.): Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn, a. a. O., S. 55–73, bes. S. 63. 67 John Dennis: Letter describing his crossing the Alps, dated from Turin, Oct. 25, 1688, 66

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Koppelung von Grauen und Angenehmheit, Schrecken und Freude, Überwältigtwerden und Selbsterweiterung wird in der Ästhetik des Erhabenen eine der wichtigsten werden, freilich auch eine der am schwierigsten zu interpretierenden. Vor allem Edmund Burke führt die Ästhetik des Erhabenen weiter, und zwar im Sinne des englischen Empirismus und Sensualismus. Sein Werk A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful (1757) hat neben Kants Analytik des Erhabenen den wirkungsmächtigsten Beitrag zur Debatte des Erhabenen geleistet. Auch Burke hält an der Dichotomie von Erhabenheit und Schönheit fest. Als erhabene Gegenstände nennt er das Unendliche wie den Ozean, das Riesige, das Dunkle, das Schroffe, Mächtige, die Leere, die Stille, das schrecklich Aussehende – alles Formen der Privation –, während zum Schönen das Kleine, Zarte, Feine, Zierliche, Glatte, Reine und Helle gehört, was fast schon einer Depotenzierung des Schönen zum Hübschen, Niedlichen und Reizenden gleichkommt. Mehr noch als Longinos hebt er den Schrecken als Charakteristikum des Erhabenen hervor. »Alles, was auf irgendeine Weise geeignet ist, die Ideen von Schmerz und Gefahr zu erregen, das heißt alles, was irgendwie schrecklich ist oder mit schrecklichen Objekten in Beziehung steht oder in einer dem Schrecken ähnlichen Weise wirkt, ist eine Quelle des Erhabenen; das heißt, es ist dasjenige, was die stärkste Bewegung hervorbringt, die zu fühlen das Gemüt fähig ist. Ich sage, die stärkste Bewegung: denn ich bin überzeugt, daß die Ideen des Schmerzes weit mächtiger sind als diejenigen, die auf der Seite des Vergnügens stehen.« 68

Verbanden sich schon bei Longinos der Effekt des Staunens und der Effekt des Schreckens, so schließt Burke an diese Tradition an, da die vom Erhabenen ausgehende Erschütterung dem Schrecken nahekommt. Eine Legitimation dieses Zusammengehens von Bewunderung, Erschauern und Schrecken versucht Burke über den Hinweis auf das Griechische: q€mbo@ heißt im Griechischen sowohl ›Staunen‹ wie ›Furcht‹, dein@ heißt ›erstaunlich‹ und ›schrecklich‹ ; ebenso in: The Critical Works of John Dennis, ed. Eward Niles Hooker, 2 Bde., Baltimore 1939/ 43 (Nachdruck 1964), Bd. 2, S. 380–382, bes. S. 380. 68 Edmund Burke: Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen (Titel der Originalausgabe: A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and the Beautiful), übersetzt von Friedrich Bassenge, neu eingeleitet und hrsg. von Werner Strube, Hamburg 1980, S. 72.

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drückt im Lateinischen das Wort stupere den Zustand eines erstaunten Geistes aus, in dem sich sowohl die Wirkung des eigentlichen Erstaunens wie die der bloßen Furcht bekunden. Ähnliches gilt für das Französische und Englische, wo sich beide Konnotationen nahekommen oder decken. Französisch étonnement und englisch astonishment und amazement bezeichnen Bewegungen, die das SichWundern und -Fürchten begleiten. 69 In diesem Zustand ist die Seele nur noch von einem einzigen Gegenstand erfüllt und beherrscht, während alles andere verdrängt ist, so auch die Gemütsbewegungen, die zum Stillstand gekommen sind und einen Zustand völliger Passivität anzeigen. Durch Übernahme der aus der longinischen Tradition stammenden erschütternden, überwältigenden und freiheitsberaubenden Macht des Erhabenen erklärt Burke die aus dem Einfluß des Erhabenen resultierende Beraubung der Eigentätigkeit des Subjekts. In diesem Punkt unterscheidet er sich von anderen Engländern wie John Dennis und Joseph Addison, die mit der Erfahrung des Erhabenen als Überwältigung die Herausforderung zur Befreiung und zur imaginativen Selbsterweiterung verbinden. 70 Der Anblick einer Naturlandschaft wird bei ihnen zum Sinnbild der Freiheit, da der Blick an keine Grenzen stößt und sich nach allen Richtungen ausdehnen kann. An die Stelle des entmachteten, überwältigten Subjekts tritt hier das sich selbst befreiende Subjekt. Ob dies allerdings eine adäquate phänomenologische Beschreibung ist, muß bezweifelt werden. Obzwar Befreiung und Selbsterweiterung mit dem Eindruck des Erhabenen verbunden sind, erklären sie sich kaum aus einer Selbsttätigkeit und Aktivität des Ich. Wenn sich auch für Burke das Gefühl von Furcht und Schrecken mit dem Gefühl des Frohseins verbindet, dann nur insofern, als der Betrachter der unmittelbaren Gefahr und Bedrohung entzogen ist, aus sicherer Distanz den Schrecken beobachtet oder vermittelt über die Imitation auf der Bühne erlebt. »Wenn Gefahr oder Schmerz zu nahe auf uns eindringen, so sind sie unfähig, uns irgendein Frohsein zu verschaffen; sie sind dann schlechthin schrecklich. Aber aus einer gewissen Entfernung und unter gewissen Modifikationen können sie froh machen – und tun es wirklich, wie wir alle Tage erfahren.« 71 Vgl. a. a. O., S. 92. Vgl. Paul Barone: Schiller und die Tradition des Erhabenen, a. a. O., S. 57. 71 Edmund Burke: Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen, a. a. O., S. 73. 69 70

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Es ist unverkennbar, daß Burke hier die aristotelische Theorie von Furcht und Mitleid aufnimmt und fortsetzt, welche dem Schauspiel eine reinigende, kathartische Wirkung auf den Zuschauer zuschreibt, da dieser aus sicherer Entfernung und nicht unmittelbar betroffen und beteiligt Gefahr und Schrecken als Nachahmung der Schauspieler auf der Bühne erlebt. Zur genaueren Erklärung der affektiven Wirkung des Erhabenen benutzt Burke gemäß seinem empiristisch-sensualistischen Ansatz eine sensualistisch-physiologische Theorie, die der Wirkung des Erhabenen im Organismus des Betrachters nachspürt. Das Erlebnis des Schreckens verursacht im Körper heftige Schmerzen. Der Mensch »preßt die Zähne aufeinander, zieht die Augenbrauen krampfhaft zusammen, runzelt die Stirn, rollt heftig die Augen und kehrt sie nach innen; seine Haare stehen zu Berge, seine Stimme preßt kurze Schreie und Seufzer aus, und der ganze Körper zittert« 72 . Die unnatürliche und schmerzhafte Nervenanspannung soll zugleich eine »Übung der feineren Teile unseres Systems«, insbesondere der Sinnesorgane mit sich bringen, die diese »von gefährlichen und beschwerlichen Störungen« 73 reinigt und somit ein gewisses Frohsein – nicht Vergnügen, aber eine Art frohen Schreckens, eine Art Ruhe mit einem Beigeschmack von Schrecken – evoziert. Die Tatsache, daß die Koppelung von Unlust und Lust anhand körperlicher Vorgänge beschrieben wird, zeigt die Verlagerung des Begriffes des Erhabenen, der bei Longinos im objektiven Bereich angesiedelt war, da die objektiven Stileigenschaften der Rhetorik als Ursache für die Wirkung des Erhabenen angesehen wurden, auf den subjektiven Bereich. Es ist ein Schritt auf dem Wege zu Kant, der allerdings gemäß seinem transzendentalphilosophischen Ansatz die mentale Aktivität betonen wird. Zweifellos hat Kants Analyse des Erhabenen, die er der Analytik des Schönen in der Kritik der Urteilskraft hinzufügt, die größte Ausund Nachwirkung gehabt. Ob seine transzendentalphilosophische Analyse jedoch den phänomenologisch-anthropologischen Sachverhalt trifft, d. h. den Vorgang, der sich beim Gefühl des Erhabenen abspielt, läßt sich bezweifeln. Während das Schöne in ruhiger Kontemplation erlebt wird, was die Einheit und Harmonie im Zusammenspiel der daran beteiligten 72 73

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Vermögen des Subjekts, der Einbildungskraft und des Verstandes, voraussetzt, befindet sich beim Erhabenen das Gemüt in Bewegung und in innerem Widerstreit der Vermögen von Einbildungskraft und Vernunft. Entsprechend den beiden Arten der Vernunft, der theoretischen und der praktischen, unterscheidet Kant zwei Arten von Erhabenheit, das Mathematisch-Erhabene und das Dynamisch-Erhabene, deren erstes das anschaulich Große und Gewaltige in der Natur bezeichnet und deren zweites das physisch Furchterregende, Mächtige in den Naturerscheinungen anzeigt, das der Existenz zur Bedrohung wird. Als Mathematisch-Erhabenes gelten Gegenstände der Natur, die sich jeder Messung und Größenschätzung mittels objektiver Maßstäbe entziehen und selbst das subjektiv Große des Augenscheins übersteigen. Zu Kants Zeiten und generell im 18. Jahrhundert wurden als solches große und gewaltige Naturerscheinungen wie schroffe Gebirgszüge, die unendlichen Weiten des Ödlandes angesehen und, in streng kantischem Sinne, der unendliche Sternenhimmel und Ozean, welche über alle Vergleichung, sei es nach objektiven oder subjektiven Maßstäben, hinausliegen. Daraus folgt konsequenterweise, daß das eigentlich Erhabene gar nicht in der Sphäre der Sinnlichkeit zu suchen ist, d. h. gar nicht in den Dingen der Natur, sondern im Gebiet des Übersinnlichen und damit auf das subjektive Vermögen der Vernunft und dessen Totalitätsbegriffe verweist. »Das eigentliche Erhabene kann in keiner sinnlichen Form enthalten sein, sondern trifft nur Ideen der Vernunft, welche, obgleich keine ihnen angemessene Darstellung möglich ist, eben durch diese Unangemessenheit, welche sich sinnlich darstellen läßt, rege gemacht und ins Gemüt gerufen werden.« 74

Das Scheitern der Einbildungskraft bei der Synthese des Anschaulichen (comprehensio aesthetica) wird zum Anlaß, sich mit der Vernunft und den Vernunftbegriffen zu befassen. Soll am Begriff des Erhabenen festgehalten werden, so muß er aus der Außenwelt in die Innenwelt des Gemüts verlegt werden und dort einen Gemütszustand bezeichnen, der den Eindruck des unmittelbar Sinnlichen verläßt und sich mit den Begriffen der Unendlichkeit, den Ideen, verschwistert. »Das Erhabene besteht bloß in der Relation, worin das Sinnliche in der Vorstellung der Natur für einen möglichen übersinnlichen Gebrauch desselben als tauglich beurteilt 74

Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, a. a. O., Hamburg 1974, S. 89. A

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wird.« 75 Erhaben sind nicht mehr die äußeren Objekte, sondern das Subjekt, das sich durch die unendliche Größe der Naturerscheinungen nicht bezwingen läßt, sondern in der Vernunft und deren Unabhängigkeit ein Vermögen besitzt, sich zu erheben. Die vermeintliche Bedrohung durch die Fassungslosigkeit der Natur wird mit der Aktivierung der Vernunft und deren Souveränität beantwortet. Die Gefühlsmischung von Unlust und Lust, die Kant von Burke übernimmt mit dem Unterschied, daß dieser sie körperlich interpretiert, jener als Geistesgefühl, wird von Kant verstanden als Paarung des Selbstverlustes mit der Erfahrung der Selbsterweiterung und -steigerung – des Selbstverlustes im Sinne des Scheiterns der Einbildungskraft, der Selbsterweiterung und -steigerung im Sinne der Erhöhung durch die Vernunft. Hier wird auf zwei Vermögen des Subjekts verteilt, ein affektives und ein rationales, was im Grunde kein rationaler Vorgang, sondern ein gefühlsmäßiger Prozeß des Ich ist. Die Erörterung des Begriffes des Dynamisch-Erhabenen zeigt dies noch drastischer. Die bedrohliche Vorstellung der Naturmacht und die Aufgabe ihrer Bewältigung werden hier nicht an die theoretische Vernunft, sondern an die praktische delegiert. Die Bedrohung der physischen Existenz durch die Natur wirft das Subjekt auf sich selbst zurück, so daß es in sich, in seinem intelligiblen Wesen, eine neue Macht der Freiheit und der sittlichen Ideen erfährt. Die große Bedeutung, die Kant dem Sich-selbst-Fühlen der Vernunft einräumt, ist ungleich eindrucksvoller als beim Mathematisch-Erhabenen und auch bei der Selbsterfahrung des über das Schöne ästhetisch reflektierenden Subjekts. Hier liegt ein Hinweis auf den Primat der praktischen Vernunft bei Kant und auf die Tatsache, daß der menschliche Wille von der Vernunft und nicht vom empirisch Gegebenen bestimmt wird. Mit einer phänomenologischen Beschreibung von Erliegen und Sich-Wiederfinden angesichts des Erhabenen hat dies allerdings nichts mehr zu tun. Kant gesteht dies auch indirekt, indem er in seiner Theorie eine schon entwickelte sittliche und moralische Kultur des Menschen voraussetzt, die Vernunft verlangt, während das ganz natürliche psychologische Verhalten von Naturethnien zeigt, daß der Mechanismus von Überwältigung und Befreiung anders erklärt werden muß als durch den Appell an die Vernunft und ihre Aktivierung. In der Moderne hat die französische Avantgarde, insbesondere 75

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Jean-François Lyotard, das Programm des Erhabenen wieder aufgegriffen. Das Erhabene wird hier jedoch mehr zur Beschreibung und Analyse der postmodernen Situation, ihrer Pluralität, Differenz und Heterogenität, der Zersplitterung jedweder Einheit, der Fragmentarität der Welt, als zur adäquaten Beschreibung des Erlebnisses des Erhabenen benutzt. Bedeutete Schönheit in der Tradition die Darstellung des Endlichen im Endlichen und Erhabenheit die Darstellung des Unendlichen in endlichen Symbolen, so wird diese bei Lyotard zur Nicht-Darstellbarkeit des Unendlichen, wovon die moderne Malerei mit den Mitteln der Abstraktion oder der art minimal Zeugnis ablegt. Thema ist die Nicht-Verfügbarkeit des Seins ›daß es ist‹. Zwar können wir denken und ausdrücken, was geschieht, nicht aber, daß es geschieht. Dieses ›daß es geschieht‹, das dem Heideggerischen Ereignis entspricht, ist die absolute Unbestimmtheit, die nicht mehr auf eine Transzendenz verweist, sondern diese nur noch in der Immanenz der unüberschaubaren Potentialitäten findet. »Das Postmoderne wäre dasjenige, das im Modernen in der Darstellung selbst auf ein Nicht-Darstellbares anspielt; das sich dem Trost der guten Formen verweigert, dem Konsensus eines Geschmacks, der ermöglicht, die Sehnsucht nach dem Unmöglichen gemeinsam zu empfinden und zu teilen; das sich auf die Suche nach neuen Darstellungen begibt, jedoch nicht, um sich an deren Genuß zu verzehren, sondern um das Gefühl dafür zu schärfen, daß es ein Undarstellbares gibt.« 76

Indiz der Nicht-Darstellbarkeit des Unendlichen im Endlichen ist die Formlosigkeit, das Zerbrechen jeder Form, die Abwesenheit derselben. Die Faszination, die hier vom erhabenen Gegenstand, dem Unendlichen, ausgeht, ist bei Lyotard aufgelöst in eine zeitliche und historische Geschichte fragmentarischer Interpretationen. Das Innovative gegenüber früheren Deutungen ist die Auflösung des statischen Erlebnisses in einen temporal expandierten Prozeß. Zur Analyse der von dem Erhabenen ausgehenden Faszination, des Gefühlsaufschwungs, trägt diese Temporalisierung allerdings nichts bei. Vielmehr fragt sich, ob die ›Gefühlsverschärfung‹, von der im Zitat die Rede ist, der Aufschwung des Gefühls als erhabenes und erhebendes, als Steigerung des Seins, als Grund zum Jubel aufgefaßt Jean-François Lyotard: Beantwortung der Frage: Was ist postmodern?, in: Wolfgang Welsch (Hrsg.): Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Weinheim 1988, S. 193–203, bes. S. 202.

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werden kann, wie Lyotard das postmoderne Gefühl im Unterschied und Gegensatz zum modernen interpretiert, das nur durch Trauer über den Verlust, Melancholie und Nostalgie bestimmt ist. Selbst wenn dieses Gefühl nicht rein negativ konnotiert sein sollte, bleibt es doch indifferent, ohne positiv bestimmt werden zu können. Der bloße Neuanfang, die reine Innovation, das pure Wagnis, das die Postmoderne für sich beansprucht, begründet noch keinen Jubel. 4.4. Suggestion Eine mit der Faszination verwandte Form, gleichsam eine Abart oder Modifikation derselben, ist die Suggestion, die auf eine zwischenmenschliche Beziehung zwischen Suggestor und Suggerendus festgelegt ist. Sie bezeichnet einen zwischenmenschlichen, sozialen Grundvollzug, den Viktor von Weizsäcker, später auch Paul Christian und Renate Haas 77 eine »bipersonale Bezogenheit« genannt haben, Manfred Pflanz 78 ein »überindividuelle[s] Ordnungsschema«, das immer schon vorgegeben ist, bevor zwei Menschen in ein Suggestionsverhältnis treten. Für Christian und Haas ist das Individuum nur innerhalb einer bipolaren Beziehung konkret vorhanden. Gemeinschaftsbildung und Bipolarität erst ermöglichen einzelne Handlungen. Das Verhältnis ist durch die Dominanz des einen Partners, des Suggestors, und die Unterlegenheit des anderen, des Suggerendus, asymmetrisch charakterisiert. Ob sich der Unterschied zwischen Suggestion und Faszination allerdings auf die Fixierung bzw. Nicht-Fixierung zwischenmenschlicher Verhältnisse reduziert, bleibt fraglich, da von Psychologen selbst konzediert wird, daß z. B. der Anblick einer offenen Tür, der nichts mit einem zwischenmenschlichen Verhältnis zu tun und auch nichts Faszinierendes an sich hat, gleichwohl suggestiv ein Gähnen veranlaßt. 79 Zunächst freilich sind Objekte mit suggestiver Kraft, oft sogar mit magisch-dämonischer Attraktivität, Personen, häufig Volkstribune, die meist nicht nur als Volksführer, sondern als Volksverführer Paul Christian und Renate Haas: Wesen und Formen der Bipersonalität. Grundlagen für eine medizinische Soziologie, Stuttgart 1949, S. 1. 78 Manfred Pflanz: Suggestion als zwischenmenschlicher Grundvollzug, in: Der Nervenarzt, Jg. 29, Heft 1 (1958), S. 71–74, bes. S. 71. 79 Vgl. a. a. O., S. 73. 77

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Intentionale Gefhle: gestisches Verstehen

auftreten, wie Hitler, Mussolini oder Stalin, die nicht nur andere Einzelpersonen, sondern ganze Massen zu bewegen, nach Lust und Laune aufzupeitschen und wieder zu beschwichtigen vermögen. Dem unbeteiligten, fernstehenden Betrachter, der nicht in deren Bann steht, bleibt dieses Phänomen zumeist verschlossen. Auch Körperteile des Menschen wie die Augen üben eine solche Wirkung aus, wie bereits beschrieben. Wie der Blick eines Subjekts anziehend, ja geradezu aufsaugend sein kann, so daß sich der Blick des Anderen darin verliert, so kann er auch fixierend sein, Furcht und Schrecken verbreiten, Erstaunen und Schauder auslösen oder, wie der Medusenblick, andere Personen versteinern. Dasselbe gilt von der Stimme als einem menschlichen Attribut, die einerseits einschmeichelnd, besänftigend wirken kann, andererseits, wie auf dem Kasernenhof die Kommandostimme des Vorgesetzten, herrisch, befehlend, so daß die Rekruten vor Schreck und Einschüchterung wie Marionetten marschieren, 80 und dies nicht aus Furcht vor Strafe oder aus opportunistischen Erwägungen, daß es zweckmäßiger sei zu gehorchen, statt den Gehorsam zu verweigern, sondern aufgrund der Erstarrung und Einfrierung des Ego, das dadurch in seinen Willensentscheidungen und seiner Motivation außer Kraft gesetzt wird. Wie das Ich im ersten Fall aufgeht und ausgelöscht wird im Suggestor und seinem Blick, so wird es im zweiten Fall depotenziert und seiner Eigenständigkeit beraubt. Wie im ersten Fall nur der Suggestor oder ein Teil von ihm präsent ist, während das Subjekt in ihn eintaucht und in ihm untergeht, so auch im Fall von Erstaunen, Entsetzen, Schreck- und Schockwirkung. Präsent ist nur noch der Suggestor bzw. ein Teil von ihm, sei es der suggestive, hypnotisierende Blick oder die herrische Stimme oder eine sonstige Geste, die freiheitsberaubend wirkt und in ihren Bann zieht. Die für Werbe- und Propagandazwecke benutzte Reklame, der eine Suggestivkraft nicht abgesprochen werden kann, und zwar um so weniger, je raffinierter sie ist, wie in der Zigaretten-, Tabak-, Getränke- und Waschmittelindustrie, scheint der These von der Notwendigkeit einer zwischenmenschlichen Beziehung bei der Suggestion prima vista zu widersprechen. Bei den Aussprüchen ›Mach mal Pause, trink Coca Cola‹, ›Reinwaschen wie Persil‹, ›Der Duft der großen, weiten Welt‹ u. ä. handelt es sich aber um Befehle, Anweisungen, Anregungen, Empfehlungen, Zureden, Vorschläge u. ä., also um 80

Vgl. Hermann Schmitz: System der Philosophie, a. a. O., Bd. 3.5, S. 80 und Anm. A

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verbale oder prä-verbale, gestische Ausdrucksformen, die in einen sozialen Kontext gehören und als ständig repetierte Aufforderungen eine Suggestivwirkung ausüben dahingehend, daß sie die potentielle Käuferschaft zum selbstverständlichen und unüberlegten Kauf der Ware animieren. Unterstützt wird die semantische Werbung nicht selten durch die Größe, die Ausmaße, aber auch die Farben und Formen der Plakate. Zur Suggestivkraft von Ideen und Ideologien ist es dann nur noch ein Schritt. Nicht unerwähnt bleiben darf das Phänomen der Massensuggestion, das nicht selten bis zur Massenpsychose reicht. Belegt ist es schon im Märchen vom Rattenfänger von Hameln. Der Rattenfänger ist nicht nur jemand, der Ratten fängt, sondern auch jemand, der menschliche Seelen einfängt und verführt; denn die ihm nachlaufende Kinderschar wird nicht mehr gesichtet. 81 Aus der Gegenwart kennen wir das Phänomen der Massensuggestion von Massenaufläufen beim Tod der englischen Prinzessin Diana, von der Papstwahl in Rom, von Rockfestivals und anderen Events, von den geradezu hysterischen Massentumulten bei Fußballspielen, die alle dokumentieren, daß eine Suggestivkraft und Einflußnahme auf alle Menschen besteht, mag diese auch unterschiedlich ausgeprägt sein je nach Charakter und Persönlichkeit. Die Tatsache einer generellen Suggestivkraft, ausgehend vom Objekt auf das Subjekt, wobei das erstere ebenfalls ein Subjekt sein kann, erklärt nicht nur speziell die zu psychologischen und therapeutischen Zwecken eingesetzte Suggestion im eigentlichen und strengen Sinne, sondern erklärt auch generell die in den epistemologischen Bereich gehörende Wahrnehmbarkeit von Objekten durch Subjekte, die, wenngleich in moderaterem Sinne, die Bannung des Subjekts durch das Objekt voraussetzt. Wahrnehmung ist Faszination und Suggestion durch das Objekt, so daß sich das Subjekt auf jenes konzentriert. Eine Affinität liegt allen Zuwendungen des Subjekts zum Objekt zugrunde. Faszination und Suggestion wurden hier herangezogen zur Erklärung der emotionalen Variante der Subjekt-Objekt-Beziehung, wie sie sowohl bei stimmungsmäßiger Befindlichkeit im situativen Verstehen wie bei intentionalen Gefühlen im gestischen Verstehen Vgl. Die Kinder zu Hameln, in: Deutsche Sagen, hrsg. von den Brüdern Grimm, Ausgabe auf der Grundlage der ersten Auflage, ediert und kommentiert von Heinz Rölleke, Frankfurt a. M. 1994, S. 281–283.

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Intentionale Gefhle: gestisches Verstehen

vorliegt. Wie aber sind Faszination und Suggestion selbst zu verstehen, damit sie diese Aufgabe erfüllen können? Die Etymologie kann uns einen ersten Hinweis geben. Faszination, abgeleitet von dem lateinischen fascis = ›Bündel‹, bedeutet ›Bündelung‹ der Aufmerksamkeitsstrahlen, und Suggestion, abgeleitet vom subgerere, heißt ›unterschieben‹, ›unterlegen‹. Untergeschoben wird dem suggerierten Subjekt das Objekt, sei es partial, sei es total, so daß nun an die Stelle des Ichbewußtseins das Objektbewußtsein tritt. Indem das fremde Objekt, mag es sich um einen Gegenstand oder ein anderes Subjekt handeln, das Ichbewußtsein unterminiert, entzieht es diesem seine Eigenständigkeit, depotenziert es, macht es zur Marionette, zum bloßen Schatten, welcher beherrscht wird vom Anderen, der mit ihm schaltet und waltet, wie er will. Theorien zur Erklärung der faszinativen bzw. suggestiven Beziehung zwischen Subjekt und Objekt pflegen im Kontext von Gefühlen aufzutreten, was sich aus der Privatheit und Intimität der Gefühle erklärt. Denn Verstand und Vernunft, d. h. die kognitiven Verarbeitungsweisen im wissenschaftlichen Erkennen beziehen sich auf das Objekt in anderer Weise, nämlich in indirekter, distanzierter. Insofern Faszination und Suggestion stets zusammen mit Gefühlen auftreten, kann das zweierlei heißen, entweder, daß Faszination und Suggestion Gefühle erklären, oder, daß Gefühle Faszination und Suggestion erklären. Beide Erklärungen laufen auf eine Interdependenz hinaus, wenn sie nicht als Zirkel mißverstanden werden sollen, als eine petitio principii, bei der das erst zu Erklärende in der Erklärung bereits vorausgesetzt wird. Ein zweiter Auftrittsbereich von Faszination bzw. Suggestion ist die Kommunikationstheorie, so bei Erwin Straus 82, Johannes Heinrich Schultz 83 , Berthold Stokvis und Manfred Pflanz 84 . Faszination bzw. Suggestion wird von diesen Autoren nicht als nachträgliche Wechselbeziehung zwischen selbständigen Instanzen (Personen) definiert, die nach dem Kausalverhältnis konstruiert ist, sondern als Erwin Straus: Wesen und Vorgang der Suggestion, Berlin 1925, wieder abgedruckt in: ders.: Psychologie der menschlichen Welt, Gesammelte Schriften, Berlin, Göttingen, Heidelberg 1960, S. 17–70. 83 Johannes Heinrich Schultz: Grundfragen der Neurosenlehre. Aufbau und Sinn-Bild, Stuttgart 1955, S. 35; ders.: Das autogene Training, 9. Aufl. Stuttgart 1956, S. 258. 84 Berthold Stokvis und Manfred Pflanz: Suggestion in ihrer relativen zeitbedingten Begrifflichkeit, medizinisch und sozial-psychologisch betrachtet, Basel, New York 1961, bes. S. 9. 82

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ursprüngliches Gemeinschaftserlebnis, als Wir-Bildung, als tragender Kontakt u. ä., also durch ursprüngliche Kommunikation und wechselseitiges Angelegtsein aufeinander. Es soll eine latente zwischenmenschliche Beziehung zwischen Partnern bestehen, ein sogenanntes Grundverhältnis der Ich-Du-Beziehung, das je nach Bedarf aktualisiert werden kann. »Nicht Suggerendus und Suggestor schaffen den Grundvollzug aus irgendwelchen Bedürfnissen der Beherrschung und Unterwerfung heraus, sondern der Grundvollzug ist überhaupt erst die Voraussetzung dafür, daß so etwas wie ein Suggestor und ein Suggerendus auftauchen kann.« 85

Die von den genannten Autoren vertretene zwischenmenschliche Kommunikationsthese relativierend, also über die rein sozialen Bezüge hinausgehend, vertritt Hermann Schmitz, einem Hinweis von Friedrich Wilhelm Rehdorf Über die Suggestion in jeder Wahrnehmung 86 folgend, die These einer leiblichen Kommunikation, die jeder Wahrnehmung zugrunde liegen soll und zu deren Aufklärung er die etwas merkwürdigen Begriffe der Aus- und Einleibung verwendet. Dadurch, daß in der Faszination und Suggestion das faszinierte bzw. suggerierte Ich in die Enge getrieben wird und so die natürliche Rhythmik von Systole und Diastole, Engung und Weitung, Spannung und Schwellung unterbrochen wird, schiebt sich an die freigewordene Stelle das fremde Objekt (gegebenenfalls das fremde Subjekt) und übernimmt die Herrschaft, sei es, daß es das erstarrte Ich gänzlich einschränkt und an seine Stelle tritt, sei es, daß es das Ich in seinem Sog mitzieht und unendlich ausweitet. In beiden Fällen findet seitens des Subjekts eine Ausleibung und Einleibung in das Andere statt. »Suggestion beruht nach dem Gesagten auf leiblicher Kommunikation, bei der einem Schlüsselreiz oder Signalherd, der dabei als Suggestor fungiert und so gut unpersönlich wie Person sein kann, die Rolle der Enge des Leibes übertragen wird.« 87

Mit leiblicher Kommunikation ist sicher zuviel gesagt, auch und gerade, wenn ›Leib‹ nach Schmitz nicht nur den Körper, sondern die Einheit von Körper und Geist, den lebendigen Körper, meint. Denn nicht wird der Leib durch einen anderen Leib verdrängt oder ersetzt, 85 86 87

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Manfred Pflanz: Suggestion als zwischenmenschlicher Grundvollzug, a. a. O., S. 71. Med. Dissertation (ungedruckt), Berlin 1949. Hermann Schmitz: System der Philosophie, a. a. O., Bd. 3.5, S. 85.

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Praktisches Wissen

sondern der Leib des Suggerierten sinkt zu einem bloßen Schatten oder Schema des Anderen hinab. Indem das Ich-Bewußtsein entweder begrenzt oder entgrenzt wird, dadurch daß das Andere sich dasselbe einverleibt oder, anders ausgedrückt, das Ich sich im Anderen ausleibt, taucht es in die unendliche Weite des Anderen ein und erfährt dessen Macht und Dominanz. Diese Sachlage erklärt sowohl das Umgriffenwerden des Subjekts in der generellen Stimmung wie die Bannung beim intentionalen Gefühl wie auch die Bannung des Subjekts bei der Wahrnehmung, kurzum, alle Verhältnisse zwischen Objekt und wahrnehmender Vorstellung von ihm.

5.

Praktisches Wissen

5.1. Charakteristik und Abhebung des praktischen Wissens vom situativen und gestischen sowie vom theoretischen Wissen Gewöhnlich pflegen wir zwei Arten von Wissen zu unterscheiden, das praktische und das theoretische, die sich am besten durch die englischen Begriffe to know how und to know what (that) wiedergeben lassen. Von ihnen bedeutet das erste ›können‹, ›sich auf etwas verstehen‹, ›imstande sein, etwas zu tun‹, ›Kenntnis haben, wie man es macht‹, das zweite ›etwas wissen‹ bzw. ›wissen, daß etwas der Fall oder nicht der Fall ist‹. Bezieht sich das erste auf ein handwerklichtechnisches Tun, auf die Anfertigung von Gebrauchsgegenständen sowie den Umgang und die Handhabung solcher, im übertragenen Sinne auf das Management von Situationen, also auf ein Herstellungs-, Gebrauchs- und Verfügungswissen, so das zweite auf die intellektuelle Einsicht in Gesetze und Regeln sowie deren Zusammenhänge, mithin auf das Erkenntniswissen. Im übrigen hängt mit dem ersteren auch Kunst zusammen, sofern diese auf Können basiert. 88 Inzwischen haben wir weitere Wissensarten kennengelernt, das instinktive Wissen, das situative und das gestische Wissen, die weder auf Handlung (Tun) noch auf Einsicht basieren, sondern auf reaktivem Verhalten (Reizverhalten) sowie auf Stimmung und Gefühl. Es gilt also zunächst das praktische Wissen per se zu charakterisieren und von den anderen Wissensarten abzuheben. Das praktische Wissen begegnet vor allem im Alltag in der Le88

Vgl. S. 34 dieser Arbeit. A

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benswelt, gelegentlich auch im Kontext der Wissenschaften bei der Applikation und Umsetzung ihrer Einsichten und in der modernen Wissenschaft zunehmend zur Vorbereitung für die Eruierung neuer Erkenntnisse, die aus technisch-experimentellen Konstellationen resultieren. Schon das Kind schaut den Eltern und Erwachsenen diese oder jene Bewegung, diesen oder jenen Handgriff, diese oder jene Herstellung von Dingen ab, z. B. wie man einen Becher mit Händen greift und festhält und nicht losläßt, wie man mit Messer und Gabel ißt, wie man eine Zeichnung anfertigt, wie man bei der Weihnachtsbäckerei Formen aussticht oder beim Basteln ein Knusperhäuschen herstellt. Es beobachtet aufmerksam und scharf, ahmt den Vorgang nach, wiederholt ihn unzählige Male, wobei Mißlingen und Ungeschicktheiten nicht ausbleiben, die aber spielend überwunden werden und zu erneuter, gegebenenfalls modifizierter Nachahmung anregen, bis der Vorgang zur Perfektion gereicht. Beobachtung, Imitation und Iteration sind die typischen Charakteristika dieses Lernvorgangs. Dasselbe Verhalten läßt sich schon im Tierreich konstatieren, indem ein Großteil der Verhaltens- und Umgangsformen, z. B. Jagen und Töten der Beute, Freßverhalten, Paarungsverhalten, Gesang, den Eltern abgeschaut, imitiert und geübt werden. 89 Isoliert und ohne Vorbilder aufgewachsene Tiere bestätigen dies, da sie oft zu bestimmten Verhaltensweisen unfähig sind, die sie nicht erlernt haben, so Raubkatzen zum Beutefang, Vögel zu Lande- und Manövriertechniken bei starkem, böigem Wind aus wechselnden Richtungen, Bären zum Lachsfang u. ä. Das Eltern-Kind-Verhältnis beim Erlernen setzt sich fort im Verhältnis Meister-Lehrling, Lehrer-Schüler. Der Meister zeigt dem Lehrling bei der Herstellung eines Möbelstückes, eines Tisches oder Stuhls, welche Werkzeuge zu benutzen sind, Säge, Hobel, Spachtel, Klebe, zunächst gröbere, dann feinere Geräte, welche Handgriffe, gegebenenfalls auch Tricks, welche Vorsichtsmaßnahmen erforderlich sind, wie sich die Arbeitsphasen aneinanderreihen u. ä. Der Lehrling lernt über trial and error, indem er dem Meister zuschaut und die Handgriffe abschaut und diese dann selbst probiert, zunächst ungeschickt, zunehmend besser und schließlich professionell. Die Ausbildungszeit, die Lehrjahre, sind diesem Lehrvorgang angepaßt. Nach Nikolaas Tinbergen: Instinktlehre, a. a. O., S. 135 f., soll das Lernen durch Nachahmung bei Menschen und, eingeschränkter schon, bei höheren Säugetieren einen größeren Anteil haben als das Lernen durch Übung, das vor allem auf niedere Tiere zutrifft.

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Praktisches Wissen

Nicht anders verhält es sich beim Erlernen des Geigen- oder Klavierspiels sowie jedes anderen Musikinstrumentes. Seit frühestem Alter schaut das Kind auf die Bewegungen des musizierenden Vaters oder der Mutter; es berührt die Geige, zupft an dieser oder jener Saite – eventuell mit dem Erfolg des Herauszupfens –, es probiert es noch einmal, bis ein Ton erklingt; aufgemuntert durch den Erfolg, versucht es das Zupfen wieder und wieder. Der Vater belehrt das Kind: ›So mußt du es machen.‹ Die Übung wird geschickter und geschickter, bis die Handgriffe sitzen und das Spiel zur zweiten Natur des Kindes wird. Auch die Muttersprache wird auf diese Weise erlernt. Das Kind schaut den Erwachsenen bestimmte Mundstellungen und -bewegungen ab; es stößt Laute aus und modelliert sie, plappert Vokabeln und Sätze nach, bis die Sprache spielend erlernt ist. Fast immer ist derjenige, der die Sprache durch Praxis erlernt hat, besser und stilsicherer als jener Fremdsprachenstudent, der sich die Sprache über die Erlernung grammatikalischer, semantischer und stilistischer Regeln aneignet, zumal sich etliche sprachliche Wendungen nicht in Regeln fassen lassen, sondern dem Sprach- oder Stilgefühl obliegen. Die Redewendung, daß jemand ein besserer Praktiker als Theoretiker sei oder daß jemand mehr praktisch als theoretisch veranlagt sei, bringt dies zum Ausdruck. Neben handwerklicher und künstlerischer Tätigkeit pflegt man die bäuerliche Tätigkeit als Paradigma für praktisches Wissen zu nehmen. Auch hier lernt der Sohn vom Vater dadurch, daß er ihn zu jeder Jahreszeit, bei Wind und Wetter begleitet und auf diese Weise erfährt, wann es Zeit zum Pflügen und Bestellen der Felder, zum Säen, Pflanzen, Hacken und Jäten, zur Ernte und Einfuhr des Getreides ist, welcher Boden sich für welche Getreidesorte eignet. Der Unterschied zur heutigen agrarwissenschaftlichen Bewirtschaftung von Äckern und zur wissenschaftlich fundierten Tierzucht und Tierhaltung ist eklatant, da diese auf der Kenntnis der chemischen Zusammensetzung des Bodens, der physikalischen Konsistenz, der durch Experimente herausgefundenen bestangepaßten Getreidesorten, der Mendelschen Vererbungsgesetze u. ä. basiert. Den Versuch einer adäquaten phänomenologischen Beschreibung dieser praktischen Sphäre hat Heidegger in Sein und Zeit unternommen. In Abhebung vom rein theoretischen Wissen und dessen Gegenständen und Zugangsweisen beschreibt er die Gegenstände der Praxis nicht als ›Vorhandenes‹, sondern als ›Zuhandenes‹ und die A

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Zugangsweise zu diesen nicht als objektivierende Erkenntnis, sondern als ›Besorgen‹ mit seinen vielen Modifikationen: dem ›Zu-tunHaben-mit‹, ›Bestellen und Pflegen von etwas‹, ›Verwenden von etwas‹, ›Herstellen von etwas‹, 90 die freilich nicht stupide vor sich gehen, sondern durch Vorsicht, Umsicht und Rücksicht geleitet sind. Das Nächstliegende im lebensweltlichen Alltag, d. h. die Art, wie uns die Dinge ›zunächst und zumeist‹ begegnen, ist ihr Zuhandensein, insofern uns die Dinge zur Hand gehen, stehen und liegen, gegebenenfalls auch im Wege liegen oder in die Quere kommen. Die Gegenstände sind nicht primär Objekte im Sinne des lateinischen obicere = ›sich gegenüber aufstellen‹, ›vor sich hinstellen und stehen lassen‹, die nur aus der Distanz betrachtet werden können – Heidegger sagt »begafft« 91 werden können –, sondern sie erschließen sich im vertrauten, besorgenden Umgang. Sie sind ›Zeug‹, wie sich dies noch in den Fortbildungen ›Spielzeug‹, ›Nähzeug‹, ›Flugzeug‹, ›Zeug, das man anzieht oder gebraucht‹, bekundet. Man weiß, was es damit auf sich hat, wozu es taugt und dienlich ist, in welchen Kontext und Bewandtniszusammenhang es gehört. Heideggers Paradigma ist der Hammer, der zum Einschlagen von Nägeln dient, diese zur Befestigung von Balken, diese zum Hausbau und dieser zum Schutz gegen Unwetter. Jedes steht in einer Mittel-Zweck-Relation, in der jedes für jedes andere Mittel ist, selbst aber auch Zweck eines anderen. Es handelt sich um einen Funktionszusammenhang, der charakterisiert ist durch das ›um zu‹ und in dem jedes seinen genauen Platz und seine Eignungsweise hat. Betritt man eine Werkstatt, so weiß man, wo ein gesuchtes Gerät zu finden ist, genauso wie man bei Betreten eines Arbeits- oder Schlafzimmers weiß, wo jedes Möbelstück steht und wohin es gehört. Daß ein Tintenfaß auf einem Klavier deplaziert ist, versteht sich daraus, daß es in den Funktionszusammenhang des Schreibens gehört und auf den Schreibtisch zusammen mit anderem Schreibzeug, der Schreibfeder, dem Blatt Papier, dem Tintenlöscher usw., seinen angestammten Platz hat. Dieses Wissen ist im besorgenden Umgang mit den Dingen angeeignet, wobei ›Sorge‹ nicht ›Mühsal‹, ›Trübsinn‹ oder ›Lebenssorge‹ bedeutet, 92 sondern ›Vertrautsein mit‹ im Sinne von ›ich bin gewohnt‹, ›ich bin vertraut mit‹, ›ich pflege etwas zu tun‹. 93 90 91 92 93

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Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit, a. a. O., S. 56 f. A. a. O., S. 69 und S. 74. Vgl. a. a. O., S. 57. Vgl. a. a. O., S. 54.

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Praktisches Wissen

Nach dieser Bestandsaufnahme lassen sich die typischen Merkmale des praktischen Wissens herausstellen: 1. Der Erwerb und die Ausübung des praktischen Herstellungs-, Gebrauchs- und Umgangswissens erfolgt im und über den Umgang selbst. Dieses Wissen beruht auf dem Vollzug und ist von ihm nicht verschieden. 2. Dieser Umstand qualifiziert den Vollzug mehr zu einem unbewußten Tun als zu einer bewußten Handlung, da Handlung stets eine intellektuelle und ethische Konnotation hat. Sie basiert auf einem vorgängigen Plan, dem das Ziel vor Augen schwebt und der den Weg zwischen Anfang und Ziel organisiert. Der Handlung im eigentlichen Sinne liegt stets ein Plan von dem Umfang des Ganzen, der Stellung und dem Arrangement der Teile zugrunde. Mag letztlich auch das Tun nur verständlich sein auf dem Hintergrund eines organisierenden Plans, so bleibt dieser doch unexpliziert. Die Griechen brachten den Unterschied zwischen Tun und Handeln auf die Begriffe von poe…n und pr€ttein, wobei poe…n das handwerkliche Tun, wie es bei der Herstellung von Kleidern und Schuhen vorliegt, und pr€ttein das ethische Handeln bezeichnet. 94 Im Begriff des praktischen Wissens zeigt sich damit eine Ambivalenz zwischen dem niederen, unbewußten Tun und dem höheren, bewußten Handeln, die zugleich seine Zwischenstellung zwischen den niederen und den höheren Wissenstypen erklärt. 3. Der Erwerb eines bestimmten know how, d. h. einer bestimmten Kunstfertigkeit oder Technik, sei es in der Fabrikation einer Sache oder in ihrem Gebrauch, dient der Beherrschung derselben. Praktisches Wissen ist Herrschaftswissen, nicht anders als theoretisches Wissen, von dem es heißt, Wissen sei Macht. Auch das Können und Imstandesein des praktischen Wissens bedeutet Macht und Herrschaft über die Sache, so daß sich bezüglich seiner die Formel aufstellen läßt: Praxis = Herrschaft. 4. Da die Beherrschung einer Sache Ziel und Zweck dieses Wissenstyps ist, haben wir es mit einem zweckorientierten, d. h. finalistischen Vorgang zu tun. Als seine Grundstruktur erweist sich die Intentionalität zwischen Subjekt und Objekt, die Gerichtetheit auf etwas. 5. Da Intentionalität (Ziel- und Zweckgerichtetheit) nur verständlich ist auf der Basis einer im Subjekt zentrierten Entwurfsstruktur, d. h. der Vorstellung vom Ganzen und von den Teilen und 94

In dem Terminus ›praktische Philosophie‹ hat sich die ethische Komponente erhalten. A

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deren Organisation, die dafür sorgt, daß jeder Teil um des anderen und um des Ganzen willen da ist und umgekehrt, so daß bei Aufhebung des einen Teils das Insgesamt aufgehoben wird, finden sich in dieser Struktur gleicherweise Anknüpfungspunkte an das theoretische Wissen wie an das situative und gestische, an das erstere deswegen, weil im praktischen Vollzug antizipiert wird, was im theoretischen thematisiert und auf eine explizite Begrifflichkeit gebracht wird, und an die letzteren deswegen, weil auch Stimmungen und Gefühle von einer latenten Intentionalität zwischen Subjekt und Objekt leben, die aber dort noch rudimentär und weniger abgehoben ist als beim praktischen Wissen. Während das Subjekt im situativen und gestischen Wissen mittels Stimmung und Gefühl vom Objekt attrahiert wird und in ihm weitgehend aufgeht, wie Faszination und Suggestion zeigen, indem das Objekt zum vorherrschenden bzw. zum allbeherrschenden und damit einzigen Gegenstand avanciert, ist das Objekt im praktischen Wissen nicht nur vom Subjekt abgehoben, sondern auch von anderen Objekten. Es ist der bestimmte Gegenstand der praktischen Handhabung. Indem sich das Subjekt aus dem totalen Bann des Objekts herauslöst, gleichwohl in der Bearbeitung an dasselbe gebunden bleibt, bildet sich im Praxisbezug die Unterschiedenheit und Relation zwischen Subjekt und Objekt heraus. Diese Doppelung von Gebundenheit und Freiheit ist es, die dem praktischen Wissen seine Zwischenstellung zwischen den niederen und höheren Wissenstypen garantiert. 6. Mit dieser Lockerung hängt auch zusammen, daß das praktische Wissen, wiewohl es sich am Einzelfall entwickelt, auf ähnliche Fälle innerhalb eines gewissen Spielraums übertragbar ist und damit eine gewisse Allgemeinheit erlangt. Bei der Übertragung auf andere Situationen gehen häufig die individuellen Entstehungsbedingungen und Fundierungskontexte verloren. Da nur die Mittel-Zweck-Relation als Handlungsanweisung erhalten bleibt und übertragen wird, weist es auf formale Strukturen wie Regeln und Gesetze voraus, welche das theoretische Wissen thematisiert, auch wenn sie im Handlungskontext selbst unbewußt oder unexpliziert bleiben. 5.2. Das magisch-rituelle Wissen Eine spezielle Form des praktischen Wissens – eigentlich die ursprünglichste – ist das magisch-rituelle Wissen, wie es sich in archai178

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schen Kulturen und bei Naturethnien findet. Die Herkunft des praktischen Wissens aus dem magischen belegt die Etymologie des Wortes ›Magie‹, das wahrscheinlich ein griechisches Lehnwort aus dem Persischen ist 95 und mit den gleichlautenden Wörtern ›machen‹, ›Macht‹, ›Maschine‹, ›Mechanik‹ auf die indo-europäische Wurzel *mag(h) zurückgeht. Bedeutete im Griechischen dorisch macan€, attisch mhcanffi die Fähigkeit und Kunst, die Natur zu überlisten, diese sich dienstbar zu machen und zu beherrschen, also ›Kunstgriff‹, ›Überlistung‹, ›List‹, später auch die Werkzeuge und Vorrichtungen, dies zu vollbringen, 96 so verlief erst die weitere Entwicklung in Richtung einer Identifikation dieser anscheinend ›widernatürlichen‹ Vorgänge und Mittel mit den ›natürlichen‹, da sich die Prozesse der Natur als keine anderen erwiesen als die künstlichen. Diese Einsicht erfolgte erst im Zuge der Begründung der neuzeitlichen Mechanik bei Galileo Galilei und seinen Zeitgenossen. 97 Der ursprüngliche Sinn von ›Magie‹, wie er noch in ›Macht‹ zum Ausdruck kommt, ist Naturbeherrschung, wie sie auch das praktische Handeln und Wissen kennzeichnet, ohne die später hinzugefügte, dem heutigen Sinn von Magie anhaftende Geheimniskrämerei und Zauberei. Was es mit dem magischen Wissen auf sich hat, läßt sich am besten Beispielen entnehmen. Jens Lüning, Ur- und Frühgeschichtler, hat in seinem Beitrag »Zwischen Alltagswissen und Wissenschaft im Neolithikum«, den er im Forschungsband über Wissenskulturen publizierte, von der Herstellung von Steinbeilklingen eines neuguineischen Stammes, der Una, im Hochgebirge von Irian Jaya (Indonesien) berichtet. 98 Der Stamm lebt fernab der Zivilisation noch auf der Stufe der Steinzeitkultur und stellt Steinbeile nach steinzeitlicher Methode und mit steinzeitlichen Mitteln her, nämlich nur durch Behauen mit anderen Vgl. Jean Gebser: Ursprung und Gegenwart, 1. Teil: Die Fundamente der aperspektivischen Welt. Beitrag zu einer Geschichte der Bewußtwerdung, Schaffhausen 1986, 2. Aufl. 1999, S. 87. 96 Vgl. Karen Gloy: Das Verständnis der Natur, a. a. O., Bd. 1, S. 160. 97 Vgl. a. a. O., S. 168 ff. 98 Jens Lüning: Zwischen Alltagswissen und Wissenschaft im Neolithikum, in: Johannes Fried und Thomas Kailer (Hrsg.): Wissenskulturen. Beiträge zu einem forschungsstrategischen Konzept, Berlin 2003, S. 21–56, bes. S. 23–25. Das Beispiel hat Lüning den Berichten der Ethnologen Pierre und Anne-Marie Pétrequin: Écologie d’un outil: la hache de pierre en Irian Jaya (Indonésie), Paris 1993, bes. S. 219 ff., 349 ff., entnommen. 95

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Steinen. Die Verfertigung der Steinbeilklingen erfolgt nach genau festgelegten Schritten und Handgriffen und zeugt von einer gewissen handwerklichen Kunstfertigkeit. Von unserem heutigen Standpunkt aus würden wir diese Prozedur als ganz normales ›stummes Alltagswissen‹ beschreiben, das eine praktische Problemlösungskompetenz dokumentiert, geht es doch bei jeder Herstellung von Produkten oder deren Handhabung um Problemlösungsverfahren zur Bewältigung bestimmter Aufgaben. Mit einigem, kaum zurückgehaltenem Staunen referiert Lüning, daß sich der Vorgang in einem hochkomplexen und komplizierten, tief im Sozialsystem verankerten symbolischen, magisch-mythischen Gesamtzusammenhang abspielt. Die hergestellten Steinkeulen gelten als wertvoll, als Prestigeobjekte, die nur Häuptlingen zukommen oder als Brautgaben fungieren. Nur die höchsten Würdenträger der Clans – beim Volk der Sentani nur die beiden Häuptlinge der ältesten Clans des Dorfes – sind legitimiert, nach wochenlanger Vorbereitung, nach Vollzug etlicher ritueller Praktiken in die Steinbrüche aufzubrechen und die Abbaustellen zu bestimmen. Und nur ein gewisser auserwählter Personenkreis des Dorfes ist legitimiert, die weitere Feinbearbeitung der Keile vorzunehmen. Die Berechtigten tun dies demonstrativ, öffentlich, indem sie in Gruppen von zwei bis acht Personen zusammensitzen, wobei jeder Handgriff von rituellen Ausrufen, Gesängen, Rezitationen und Anrufungen des mythischen Schöpfergeistes der Beile begleitet wird. Lüning schließt seinen Bericht mit den Worten: »Die ganze Produktion eines scheinbaren Allerweltsgerätes erweist sich also als soziale Demonstration, als Vorführung und Erneuerung einer Gruppenidentität innerhalb der Dorfgemeinschaft. Sie ist beladen mit Experten- und Geheimwissen, mit Regelkenntnis, Symbol- und Kulturwissen, mit sozialen Ideen, Weltanschauung und sogar mit Offenbarungswissen, denn den Häuptlingen wurde in einsamer nächtlicher Sitzung offenbart, wo nach dem Gestein gegraben werden durfte.« 99

Die Einbettung eines für uns gewöhnlichen handwerklichen Prozesses in einen umfassenden magisch-rituellen Kontext kann nur den Nicht-Ethnologen und den Wissenschaftler westlicher Provenienz, der dem modernen westlichen Denkparadigma verhaftet bleibt, überraschen, nicht aber den, der mit dem magischen Weltbild einigermaßen vertraut ist. Ohne hier im Detail auf das magische Weltbild ein99

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A. a. O., S. 25.

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gehen zu wollen, 100 steht soviel fest, daß es ein animistisches System ist, ein Fluktuationssystem von Kräften und Mächten, die weder einseitig physisch noch einseitig psychisch genannt werden können, vielmehr lebendige Kräfte sind, daher auch Geister oder Dämonen genannt werden. Sie gilt es in einem solchen Prozeß zu beherrschen, nicht nur durch Zwang und Gewalt, sondern durch Überredung und Beschwichtigung. Die Herstellung von Produkten, hier von Axtklingen, das Gelingen des Produktionsprozesses stellt einen Akt der Bemächtigung dieser Kräfte dar. Er ist eine Auseinandersetzung mit den strebenden und widerstrebenden Mächten in dem Sinne, daß den Kräften (Geistern) etwas abgerungen werden muß, wozu ein know how erforderlich ist, ein Wissen, wie man es macht; und das ist keineswegs selbstverständlich. Die sach- bzw. artgerechte Ausführung, die das Gelingen garantiert, bedeutet daher den Sieg über die Mächte. Die gebührende Zurschaustellung der Sondergruppenzugehörigkeit, die öffentliche Demonstration der Ausführung, eventuell nach vollbrachter Arbeit die Feier – dies alles dokumentiert die Bezwingung der Natur. Einen fernen Nachklang dieser Auffassung haben wir bis heute bewahrt, indem bestimmte Personen ihre Gruppenzugehörigkeit und Sonderstellung durch das Tragen bestimmter Kleidung dokumentieren, wie die Eaton-Schüler oder die Oxfordund Cambridge-Studenten oder die Burschenschaftler, und indem der Abschluß von Schul- und Lehrjahren durch bestimmte Prüfungen, Diplome und Auszeichnungen dokumentiert wird, der Sieg über Feinde durch bestimmte Sieges- und Triumphgesten demonstriert wird, wie überhaupt das Vollbringen einer Tat, der Abschluß einer geleisteten und gelungenen Arbeit, die der äußeren oder inneren Natur etwas abringt, durch bestimmte Symbole ausgedrückt wird. Das zweite Beispiel entstammt dem Buch von Leo Frobenius Das unbekannte Afrika. 101 Es beschreibt ein Jagdritual eines afrikanischen Pygmäenstammes im Kongo. Im Morgengrauen versammeln sich drei Männer und eine Frau, um auf einer Lichtung eine Antilope in den Sand zu zeichnen. Beim ersten Sonnenstrahl trifft dieser die gezeichnete Antilope in den Hals. Hatte die Jagdgesellschaft bis dahin schweigend das Ritual vollzogen, allenfalls Formeln und Gebete gemurmelt, so schießt jetzt einer der Männer einen Pfeil ab, die Frau Vgl. dazu Karen Gloy: Das Verständnis der Natur, a. a. O., Bd. 1, S. 31 ff. Leo Frobenius: Das unbekannte Afrika. Aufhellung der Schicksale eines Erdteils, München 1923, S. 34 f., 144. 100 101

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stößt einen Schrei aus, die ganze Gesellschaft bricht zur Jagd in den Busch auf und kehrt am Nachmittag mit einer erlegten Antilope heim. Am nächsten Morgen, wiederum bei Sonnenaufgang, kehrt die Jagdgesellschaft zur Zeichnung zurück, um Blut und Haare in das Antilopenbild zu schmieren und den Pfeil herauszuziehen und das Bild auszulöschen. Es herrscht absolutes Stillschweigen. Das Ritual ist integriert in einen Gesamtzusammenhang von Mensch und Natur, in dem jedes mit jedem verknüpft ist, und zwar nicht nur nach der bloßen Kausalkategorie von Ursache und Wirkung, sondern nach dem Analogiedenken, das heterogene Ebenen miteinander verknüpft wie die von Zeichenebene und realer Ebene. Auf der Basis einer Alleinheit der Dinge steht jedes für jedes andere repräsentativ. Eigentlich sollte nicht einmal von Repräsentation gesprochen werden, sondern von Identität, von einem gleichzeitigen Sein des anderen, worauf die Formel pars pro toto und totum pro parte weist. Diese Diaphanität und Transparenz, diese Transformation des einen in das andere erklärt, daß die Zeichnung nicht nur ein Bild für den Vorgang, sondern der reale Vorgang selbst ist, indem das Bild Macht über diesen gewinnt und gleichsam dessen Vollstreckung bedeutet. Die reale Erlegung des Tieres ist hiernach eine zwingende Folge des Rituals, bei dem der künstliche Pfeil an den natürlichen Sonnenstrahl delegiert wird und die Handlung der menschlichen Jagdgesellschaft zu einem Vollzug der Natur selbst wird. Die richtige und adäquate Ausführung des Rituals entscheidet über Erfolg oder Mißerfolg der Jagd, da die Beherrschung desselben zugleich die Beherrschung der Natur ist. Daß es sich bei dieser Jagdszene nicht um einen Einzelvorgang handelt, belegen prähistorische Höhlenmalereien, z. B. aus der Höhle von Niaux in den französischen Pyrenäen, die einen Büffel zeigen, den Pfeile treffen. Die Malerei hat dieselbe Funktion, den realen Vorgang zu antizipieren und sein Gelingen herbeizuführen. Daß das magische Wissen bis heute weiterlebt, freilich in einem Stadt-Land-Gefälle, derart, daß in städtischen, stärker zivilisierten Gebieten die Nachwirkung geringer ist, in ländlichen wie den Alpen größer, belegt das Buch Goldener Ring über Uri von Eduard Renner (1891–1952), der als Land- und Militärarzt im Kanton Uri in der Innerschweiz auf seinen Krankengängen Gelegenheit hatte, die Denk- und Glaubenswelt der Einheimischen kennenzulernen und ihre Wurzeln zu studieren. 102 Er schildert unter anderem, wie der 102

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Eduard Renner: Goldener Ring über Uri. Ein Buch vom Erleben und Denken unserer

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Älpler beim Viehauftrieb auf höhergelegene Almen einen Kreis – Ring genannt – als Symbol der Besitzergreifung des Landes, der Machtergreifung über die Natur zieht, indem er nach allen Himmelsrichtungen Bittrufe und -formeln durch einen Schalltrichter ausstößt. Der Kreis, ein Symbol der Geschlossenheit und Bannung, soll die bösen Geister und das Unheil vom Kreis fernhalten und das Vieh und die Familie innerhalb des Kreises vor Krankheit, Absturz und Tod schützen. Das Kreisziehen ist ein uraltes, weltweit verbreitetes Ritual der Besitz- und Machtergreifung, das bei den Aborigines in Australien in der Form begegnet, daß ein Ritualpfahl in den Boden gerammt und um diesen ein Kreis gezogen wird, der die Inbesitznahme des Gebietes indiziert. Der Zauber- und Schutzkreis, in den kein Unbefugter eindringen darf, ist aus der Mythologie, aus Sagen und Märchen bekannt, wie aus dem Dornröschen-Märchen. In moderner Form taucht er als Bannmeile um bestimmte Gebäude, z. B. um Parlament oder Rathaus, auf. Bis heute kennzeichnen Kinder durch Kreise und runde Burgbauten am Strand den von ihnen beanspruchten Platz. Im Kanton Uri, so Renner 103, werden bis heute in jeder Gemeinde Häuser und Güter ›Ring‹, ›Ringli‹, ›im Ring‹ genannt. Aus der Landgemeinde Betzlingen an der Gant ist ein sogenannter Landsgemeindering bekannt, wobei ein kleiner Tisch, der dem Landammann und Landschreiber zum Schreiben dient und das Siegel und das Schwert trägt, in der Mitte eines Kreises aufgestellt wird. 104 Bei dem Ritual des Kreisziehens, des Absteckens des beanspruchten Besitzes, handelt es sich um eine Auseinandersetzung des Menschen mit dem Numinosen, Übermächtigen – in Uri taucht dies Bergler. Von Magie und Geistern und von den ersten und letzten Dingen, 3. Aufl. Zürich, Freiburg i. Br. 1976, 4. Aufl. Zürich 1991. Vgl. auch Ernst Buss: Der Alpsegen im Entlebuch, in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde, Bd. 6, Heft 4 (1902), S. 294–298; Meinrad Lienert: Schweizer Sagen und Heldengeschichten, Stuttgart 1915; Josef Müller: Betrufer aus Uri, in: Schweizer Volkskunde, Bd. 8, Heft 11/12 (1918), S. 61–63; Max Peter Baumann: Zur Bedeutung des Betrufes in Uri, in: Neue ethnomusikologische Forschungen, Festschrift für Felix Hoerberger zum 60. Geburtstag, hrsg. von Max Peter Baumann, Rudolf Maria Brandl und Kurt Reinhard, Regensburg 1977, S. 71–83; Martin Staehelin: Bemerkungen zum sogenannten Alpsegen. Weisen und historische Tiefe, in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde, Bd. 78, Heft 1–2 (1982), S. 1–35; Bernhard Bremberger und Stefanie Döll: Der Betruf auf dem Urnerboden im Umfeld von Geschichte, Inhalt und Funktion, in: Jahrbuch für Volksliedforschung (1984), S. 65–96. 103 Eduard Renner: Goldener Ring über Uri, a. a. O., S. 181. 104 Vgl. a. a. O., S. 183. A

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unter dem Namen ›Es‹ auf und bildet die Gegenmacht zum Ring. Es handelt sich um einen Kampf, bei dem das Es zwar nicht substantiell vernichtet, wohl aber zurückgedrängt wird, widerwillig das ihm auferlegte Joch der Form akzeptiert und seine Unform zurückzugewinnen sucht. Da der Zerfall der Form ständig droht, muß der Ring ständig erneuert werden. Das setzt voraus, daß der Sänger durch Bittrufe und Gebete den Kreis ständig neu zieht und, vor allem, daß er weiß, wie man es macht, weil er den Bogen weder unter- noch überspannen darf. Das Wissen um den Machterhalt ist also ein know how, wobei interessant ist zu erfahren, 105 daß auch Täuschung der Übermacht im Ringen um die Machterhaltung des Menschen dazugehört wie bei Gegnern im Zweikampf. In Notzeiten und am Tiefpunkt des Jahres im Winter, wenn die Vorräte zur Neige gehen, gibt sich der Bergler gern bescheidener Schlemmerei hin, um seine Not zu verbergen und den höheren Mächten Überfluß, Unerschrockenheit und Mut vorzuspiegeln. Auf der anderen Seite tendiert er dazu, Hab und Gut sowie bescheidenen Wohlstand zu verbergen, um nicht den Neid heraufzubeschwören. Das ursprünglich heidnische Ritual des Kreis- oder Ringziehens ist im Laufe der Zeit eine Synthese mit christlichen Elementen eingegangen, die ihrerseits die magischen Vorstellungen bewahrt haben. Der Sänger beginnt seinen Bittruf mit den Bibelworten »Am Anfang war das Wort, Und das Wort war bei Gott, Und Gott war das Wort«,

die Hans Leisegang als typische Ausdrucksform des Kreis- oder Kettendenkens freigelegt hat, wie sie das magische Denken kennzeichnet. Die Verse sind nach dem Schema ABBA aufgebaut, beginnen und enden mit demselben Wort und drehen sich um ein Achsenwort und sind so sprachlich und semantisch ein Ausdruck der Geschlossenheit. Die folgenden Zeilen »Und das Wort ist Fleisch geworden Und hat unter uns gewohnt, Und wir haben seine Herrlichkeit gesehen; Voll der Gnade und Wahrheit!«

weisen darüber hinaus auf die poietische Kraft des Wortes, die eben105

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Vgl. a. a. O., S. 119.

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falls typisch ist für das magische Denken, auf die Wucht und Kraft, die in der Nennung liegt und die zugleich Seinssetzung ist und die Botschaft ausdrückt, daß Gott selbst dem Menschen das Recht eingeräumt hat, Wohnstätten aufzuschlagen. Im Mittelpunkt des Bittgesanges steht gleichsam wie in einem Triptychon die Mutter Gottes. Sie steht mit allem, was dem Bergler heilig, wert und teuer ist, mit Familie und Vieh, im Ring, d. h. im Schutzkreis. Da das Ziehen des magischen Kreises gelegentlich noch heutigentags auf den Almen der Innerschweiz praktiziert wird, bat ich, als ich davon hörte, einen Innerschweizer, mich an einen solchen Ort zu führen. Wir brachen von Altdorf Richtung Klausenpaß auf, bogen dann in ein einsames, abgelegenes Seitental nach Unterschächen ein, ließen uns mit einer Seilbahn hochkurbeln und machten uns dann über einen schmalen, steilen, geröllhaltigen Pfad zu einer Alm auf, die unterhalb des Grates lag, auf der fünf heute nicht mehr bewirtschaftete Hütten standen. Nur eine einzige, die ›Alp Obsaum‹, betreibt während der Sommermonate von Juni bis Ende September noch eine sogenannte Muttertier-Kuhhaltung, d. h. eine Haltung von Kühen mit Kälbern. Als sich der Tag neigte und die Sonne hinter den Berggipfeln zu sinken begann, holte der Älpler einen Holztrichter, eine sogenannte Betruf-Folle, hervor und stieß, mit dem Rücken gegen die Felswand stehend, gegen das Tal nach den offenen Richtungen dreimal ein Ave Maria mit anschließendem Betruf aus und zog damit symbolisch einen magischen Kreis, um Unheil, Krankheit, Gefahren wie Bergstürze von diesem Gebiet – soweit der Ruf erschallt – abzuhalten und die guten Kräfte zu aktivieren. Anstelle der ursprünglichen Berggeister und Dämonen werden heute christliche Heilige angerufen. Iserä Alpsägä »Ave Maria, Ave Maria, Ave Maria, Es walte Gott und d’Maria, B’hiät is Gott und der liäb Heiland Jesus Christ, Vih, Hab und Guät und alles, was hiä obä isch, B’hiät is Gott und der heilig Johannes, B’hiät is Gott und der heilig Santä Toni, B’hiät is Gott und der liäb Bruder Klaus, B’hiät is Gott und der heilig Sankt Wendelin, B’hiät is Gott und der heilig Gallus, und iseri Heiligä all, A

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Ave Maria, Ave Maria, Ave Maria, B’hiät is Gott vor böser Hand, B’hiät is Gott vor Wätterschlag, Krankheit, Durst und Plag, Miär stelled is i d’Wachsamkeit von der Allerheiligstä Drifaltigkeit, Gott der Vater, Gott der Sohn und Gott heilger Geist, Gelobt sei Jesus Christ in Ewigkeit Amen. Ave Maria, Ave Maria, Ave Maria.«

Anschließend blies der Älpler, uns zu Ehren, noch feierlich auf seinem Alphorn. Er erzählte uns, daß er es niemals wagen würde, den Betruf zu unterlassen, da man ja sehe, was in einem solchen Fall geschehe, und er zeigte damit auf das neben der Hütte liegende riesige Geröllfeld, das von einem Bergabsturz im letzten Jahrhundert stammte und etliche Häuser im Tal unter sich begraben hatte. Auch heute müßten Vieh und Bergwanderer vor abbröckelndem Gestein immer wieder geschützt werden. In der Dämmerung hatte auf dem Geröllfeld ein Rudel von Gemsen friedlich geäst, und die Pfeiflaute der Murmeltiere waren von dorther erschollen. Noch bis spät in die Nacht hinein, als wir um den Tisch in der engen, niedrigen Stube saßen, erzählte uns der Älpler von Spukgeschichten, die sich hier wie auch anderswo in der Nachbarschaft im Kanton Uri zugetragen haben sollen, so beispielsweise, daß er als junger Bub zusammen mit seiner Mutter mitten im Sommer unter dem Felsgrat ein Schneefeld mit einem weißgekleideten Mann und einer Sense gesehen und darin die Gestalt eines hinter dem Felsgrat lebenden Nachbarn erkannt habe, der frevelnderweise Bäume und Gebüsch, die zum Schutz der Erdmassen gedacht waren, gefällt habe. Im September darauf sei dieser gestorben, wobei die Vision eine Vorahnung oder Vordeutung von dessen Tod gewesen sei. Solche Spukgeschichten und Visionen, die von der Struktur her ziemlich gleich gebaut sind und immer von weißen Gestalten, Lichterscheinungen und Auren berichten, 106 sind bei den Bergbauern häufig anzutreffen. Sie sind authentisch, glaubhaft mitgeteilt und belegt, ohne jedoch in ihrem Zustandekommen psychologisch erforscht zu sein. Da wir nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr ins Tal zurückkehren konnten, mußten wir bei dem Älpler über dem Kuhstall in einem Massenlager übernachten, wurden jedoch am Morgen durch das kristallklare, kalte Quellwasser sowie die noch vom nächtlichen Tau tropfenden Gebirgsblumen der

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Vgl. S. 299 ff. dieser Arbeit.

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umliegenden Wiesen entschädigt. Wir waren von dem Erlebnis so überwältigt, daß mein Begleiter ins Gästebuch schrieb: »Den Ring gezogen von des Alpen-Saum, bannt und lenkt im ewgen Numenraum. Wessen Wille hält der berstenden Felsenwand, vor dem Bruche schützend die Hand? Ist’s eines Christen Heiliger Namen, oder des Heiden ältester Samen? Dies zu ergründen schmälert nicht den Nutzen, seit jeher die Rufer den Gewalten trutzen.« 107

5.3. Das Verhältnis von praktischem zu theoretischem Wissen Im Kontext der Beschreibung des praktischen Wissens und seiner Abgrenzung u. a. vom theoretischen Wissen war bereits die Frage nach dem Verhältnis beider aufgetaucht, die es jetzt näher zu diskutieren gilt. Auf sie sind prinzipiell drei Antworten möglich: 1. der Primat des praktischen Wissens vor dem theoretischen, 2. der Primat des theoretischen Wissens vor dem praktischen und 3. die Einheit beider, der zufolge sie lediglich verschiedene Seiten derselben Medaille darstellen. 1. Von einer Priorität der Praxis vor der Theorie geht Heidegger in Sein und Zeit aus, indem er den besorgenden Umgang mit den Dingen, wie er im Alltag in Hege und Pflege, in der Herstellung, Beschaffung und Bestellung besteht, für das Primäre hält, für das, was uns ›zunächst und zumeist‹ begegnet. Die Dinge des alltäglichen, vertrauten Umgangs, die pr€gmata, stehen uns nicht in distanzierter Entfernung gegenüber; sie sind keine bloß vorhandenen Objekte der theoretischen Erkenntnis, sondern etwas, das uns zur Hand geht, liegt, steht, etwas, von dem man weiß, in welchen Bewandtniszusammenhang es gehört und wozu es taugt. Das Aufbrechen dieses Bewandtniszusammenhangs, das Heidegger in den Steigerungsformen des Auffällig-, Aufdringlich- und Aufsässigwerdens beschreibt, 108 läßt die zuhandenen Dinge in einer thematischen Modifikation in die nur noch vorhandenen Dinge der theoretischen Erkenntnis übergehen. Auffälligwerden stellt sich ein, 107 108

Daniel Bosshard am 11. 7. 2006. Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit, a. a. O., S. 73 f. A

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wenn ein Hammer z. B. defekt oder das Material ungeeignet zum Hämmern ist. Beschädigung und Ungeeignetheit des Materials transformieren das Zuhandene noch nicht sogleich in ein bloß Vorhandenes, dieses macht sich jedoch an ihm bemerkbar. Das Aufdringlichwerden ist bereits eine stärkere Form der Störung, die auftritt, wenn das erwartete Zuhandene nicht mehr zur Hand liegt, sondern fehlt oder vermißt wird. Je dringender das Betreffende gebraucht wird, desto aufdringlicher wird es, desto mehr verliert es den Charakter der Zuhandenheit. Die stärkste Form der Störung ist die Aufsässigkeit, die eintritt, wenn das Betreffende im Wege liegt oder in die Quere kommt, sich als nicht mehr in den Funktionszusammenhang gehörig erweist, so daß man es nur noch als Außenstehendes betrachten oder, wie Heidegger sagt, ›begaffen‹ kann. 109 Theoretisches Wissen ist hiernach ein defizienter Modus des praktischen Umgangs mit den alltäglichen Dingen, der eintritt, wenn das Betreffende aus seinem vertrauten Kontext herausfällt und in einen neuen tritt, der nun ein entfremdeter, distanzierter ist. Was Heidegger hier beschreibt, den Übergang von einem selbstverständlichen, fraglos akzeptierten Zusammenhang zu einem neuen, unvertrauten aufgrund einer thematischen Modifikation, ist dasselbe, was Bert Brecht einen Verfremdungseffekt genannt und für seine Bühnenstücke und Theatertheorie genutzt hat. Wir gehen z. B. tagtäglich wie selbstverständlich, gleichsam automatisch durch dieselben Straßen zur Universität; plötzlich fällt uns ein Hausportal auf, man weiß nicht, wie und warum; es sticht von der Umgebung ab, wird als gotisches Portal identifiziert; von ihm gleitet der Blick zu den Fenstern, zu den Giebeln, zum Nachbarhaus; man konstatiert die Brüchigkeit, eventuell die Deplaziertheit gegenüber einem sonst klassizistischen Gebäude; alles wird einem fremd, weil die alten, vertrauten Strukturzusammenhänge sich auflösen und neue an ihre Stelle treten. Die Tatsache, daß beim Übergang vom besorgenden praktischen Umgang mit den Dingen zur betrachtenden theoretischen Erkenntnis der Zweckzusammenhang, das Um-zu, verlorengeht, sagt nun allerdings noch nichts aus über ein mögliches Zugrundeliegen oder Nicht-Zugrundeliegen eines Systems allgemeiner und besonderer Naturgesetze im praktischen Vollzug, dessen Potentialität mit der intellektuellen theoretischen Erkenntnis in die Aktualität überginge. 109

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Vgl. a. a. O., S. 69 und S. 74.

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Ein solches System könnte eingebettet sein in die Mittel-Zweck-Relation und mit der theoretischen Thematisierung bewußt werden, muß es aber nicht. Die thematische Modifikation, die eine radikale Einstellungsänderung und nicht eine bloße Bewußtmachung potentieller Strukturen ist, schließt eine solche Annahme vielmehr aus. 110 2. Die Gegenthese behauptet den Primat des theoretischen Wissens und dessen Umsetzung in die Realität in der Praxis. Diese These wäre kaum verständlich ohne die in der europäischen Tradition vorherrschende Überzeugung von der Dominanz des Intellektuellen über alle anderen Vermögen. Was den Menschen vor dem Tier, die Zivilisation vor dem Barbarentum, den göttlichen Geist vor dem menschlichen auszeichnet, ist die Intelligenz, die Begabung für strenge Theoriebildung. 111 Andere Fähigkeiten und Vermögen, andere Vorgänge werden nur dann als vernünftig angesehen, wenn sie vom verstandesmäßigen Denken geleitet werden. Das gilt auch für die Praxis, die nur dann als vernunftgeleitetes, sinnvolles Handeln betrachtet wird, wenn sie der intellektuellen Einsicht untersteht. Hiergegen sprechen jedoch zwei Argumente: (1.) Wäre die praktische Erfahrung nicht ohne theoretisches Wissen möglich, so käme sie niemals zustande, da wir niemals im Besitze aller theoretischen Erkenntnisse, d. h. des vollständigen Regelsystems sind, allenfalls eines Teils. Müßten wir sämtliche grammatikalischen und stilistischen Sprachregeln beherrschen, bevor wir der Sprache mächtig sind, so käme diese niemals zustande. Wie schon ausgeführt wurde, bewegt sich derjenige, der eine Sprache von Kindheit an im praktischen 110 Thematische Modifikationen liegen z. B. vor bei Vexierspielen, bei denen aus dem Gestrüpp des Hintergrundes plötzlich eine bestimmte Figur hervortritt und bei Akzentverlagerung ebenso plötzlich wieder im Gestrüpp verschwindet. Dasselbe gilt für Doppelphänomene, Ambivalenzen usw. Mit ihnen hat sich die Gestaltpsychologie und -theorie befaßt, für die die letzte irreduzible Wahrnehmungseinheit das Figur-GrundSchema ist. Das Hervorheben einer bestimmten Figur aus dem Hintergrund ist aber nicht als bloße Aktualisierung einer an sich immer schon vorhandenen, nur unthematischen Struktur zu verstehen, sondern als Entwicklung einer neuen. Noch deutlicher zeigt sich dies am Beispiel des Quadrats, das nicht – wie man zunächst meinen könnte – die Zusammensetzung aus 4 Seitenlinien und dieser aus zweimal zwei Parallelseiten und dieser wiederum einer Vielzahl von Punkten ist, was als Aktualisierung potentieller Strukturen verstanden werden könnte, sondern ein Quadrathaftes, das bei thematischer Modifikation in eine neue Gestalt: die Parallelseiten übergeht und bei weiterer Modifikation in eine wiederum neue Gestalt: die Einzellinien und Punkte. Vgl. Karen Gloy: Das Verständnis der Natur, a. a. O., Bd. 1, S. 165 f. 111 Vgl. Gilbert Ryle: Der Begriff des Geistes, a. a. O., S. 28.

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Umgang erlernt, sicherer in ihr als derjenige, der sich die Regeln über ein Sprachstudium aneignet. Mittels der theoretischen Erkenntnis beherrscht man zumeist nur relativ allgemeine Gesetze, nicht die spezielleren und schon gar nicht die speziellsten, die zur Realisierung notwendig wären. Es besteht eine beträchtliche Kluft zwischen der tatsächlichen theoretischen Kenntnis und der realen Anwendung derselben. Diese wird ausgefüllt durch intelligentes Verhalten, das man mit Vokabeln wie ›klug‹, ›gescheit‹, ›umsichtig‹, ›sorgfältig‹, ›scharfsinnig‹, ›verständig‹ u. ä. beschreibt, kurzum mit Vokabeln der Intelligenz, die aber nicht die Kenntnis des Gesetzessystems voraussetzen. In Kantischer Sprechweise ist dies der Bereich der Urteilskraft und des gesunden Menschenverstandes. Es geht hier um die adäquate und richtige Anwendung der allgemeinen Gesetze auf empirische Einzelfälle bzw. umgekehrt die Subsumption des Besonderen unter das Allgemeine. Dieser Bereich ist weder durch ein rein theoretisches Wissen gekennzeichnet noch durch rein mechanische, automatische Vollzüge, die aus bloßer Praxis und Gewohnheit resultieren. Gewohnheit wäre lediglich eine Wiederholung von Präzedenzfällen, die es jedoch erst zu schaffen gilt. In diesem Bereich muß vielmehr ständig neu kombiniert werden; es müssen innovative Ideen eingeführt und bislang unbekannte Zusammenhänge aufgebaut werden sowie neue Beweismittel ausprobiert werden. Es ist ein Bereich, der durch intelligentes Handeln, durch Geschick und Kunstfertigkeit bestimmt ist, welche nach einer Ausdrucksweise von Gilbert Ryle auf ›halb dispositionellen‹, ›halb episodischen‹ Operationen basieren. 112 Das bedeutet, daß ein Autofahrer nicht alle möglichen Verkehrsunfälle vorhersehen kann, wohl aber prinzipiell auf solche eingestellt sein muß, also achtsam fahren muß, um im Bedarfsfall jederzeit entsprechend reagieren zu können. Der gute Chirurg, der gute Sportler, der gute Schriftsteller – sie alle zeichnen sich durch entsprechende Talente und Fähigkeiten aus, weder durch rein theoretisches Wissen noch durch bloße Imitation, sondern durch die Art und Weise, wie sie ihr Allgemeinwissen in die Praxis umsetzen. Das Talent und die Kunstfertigkeit des Chirurgen zeigen sich in der Art, wie er operiert, nicht darin, was er über den physiologischen Aufbau des Körpers und die Operationsmethoden weiß. Ebenso zeichnet sich der gute Sportler, etwa ein Segelflieger, dadurch aus, wie er bei einer Windböe reagiert, nicht 112

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Vgl. a. a. O., S. 58.

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Praktisches Wissen

dadurch, was er über Aerodynamik, Flugbahnberechnung, Wellenfunktionen u. ä. in der schulischen Vorbereitung gelernt hat. Gleiches gilt für den Schriftsteller, dessen Talent sich in der Art, wie er schreibt, in der Stilsicherheit und Anwendung rhetorischer Figuren zeigt, nicht in der Beherrschung grammatikalischer Regeln. Sein Kritiker hingegen mag ein exzellenter Theoretiker, wiewohl ein schlechter Praktiker sein, da ihm das fehlt, was jenen auszeichnet. Die Genialität des guten Schriftstellers kann sich darin dokumentieren, daß er mit traditionellen Regeln bricht und neue Sprachformen schafft. Allerdings schließen diese Beispiele eine zunehmende Verwissenschaftlichung nicht aus. Wußte der Bauer früherer Jahrhunderte aufgrund jahrelanger Erfahrung und Belehrung durch Vater und Großvater, welche Getreidesorten sich für welchen Boden eignen, so sind heute an diese Stelle agrarwissenschaftliche Studien über die chemische und physikalische Zusammensetzung des Bodens und der Pflanzen getreten. Die zunehmenden wissenschaftlichen Detailkenntnisse dieses Bereiches optimieren dessen praktische Beherrschung. (2.) Trotz fortgeschrittener Wissenschaft gibt es auch heute noch Bereiche der Technik und Technologie, in denen man mit rein wissenschaftlich-theoretischer Erkenntnis nichts ausrichtet, sondern auf handwerkliche, praktische Fertigkeiten angewiesen ist, z. B. im Transportwesen, in der Schwermetallurgie und -chemie, im Bergbau und besonders im Bauwesen. 113 Wissenschaftliche Detailerkenntnise sind nicht immer Voraussetzung technischen Gelingens. So traten Autound Dieselmotoren ihren Siegeszug an, obwohl bis heute nicht genau bekannt ist, wie die Strömungs- und Verbrennungsprozesse in ihnen ablaufen. Auch moderne Spitzentechnologien wie die Raketentechnik sind nicht durchgängig theoriegesteuert. Die Abläufe in den Brennkammern von Raketen: die Mischung, Verbrennung, Verdunstung, Dissoziation innerhalb kürzester Zeit entziehen sich einzelwissenschaftlicher Erkenntnis. Dies schließt allerdings ihre Erforschung und ihr Kennenlernen in Zukunft nicht aus, wenngleich dies ein unendlicher Prozeß sein dürfte. 3. Keiner der bisherigen Ansätze steht jedoch der Annahme einer engen Zusammengehörigkeit von praktischem und theoretischem Wissen im Wege. Insbesondere das zweite Modell legt es nahe, beide nur als verschiedene Seiten einer und derselben Medaille zu 113

Heinrich Stork: Einführung in die Philosophie der Technik, Darmstadt 1977, S. 43. A

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betrachten. Daraus würde folgen, daß aus der Praxis durch zunehmende Explikation der ihr zugrundeliegenden und in ihr wirksamen theoretischen Gesetze die Kenntnis derselben gewonnen werden kann, wie umgekehrt die Praxis bei fortgeschrittener theoretischer Erkenntnis als angewandte Theorie aufgefaßt werden kann. Hierfür spricht nicht nur die zunehmende Verwissenschaftlichung der Technik, sondern auch die zunehmende Technisierung der Wissenschaft, da die Eruierung wissenschaftlicher Gesetze immer mehr unter bestimmten experimentellen und konstruktiven Voraussetzungen erfolgt. Die traditionelle Distinktion zwischen theoretischem Wissen und empirischer Praxis wird zunehmend hinfällig, da die theoretischen Anteile ständig im Wachsen begriffen sind und die handwerklich-praktischen Elemente, die einst eine so eminente Rolle in der Technik spielten, an Bedeutung verlieren. Vor allem aber ist hinzuweisen auf den Umstand, daß in der europäischen Tradition seit der Antike der Erkenntnisprozeß am Handwerksprozeß orientiert wurde. Verstehen bedeutet Nachkonstruktion ursprünglicher Konstruktion. Im Timaios schildert Platon einen Schöpfungsmythos, demzufolge der göttliche Demiurg (Handwerkergott) die vorgegebene amorphe Materie im Blick auf die vorgegebenen formalen Strukturen, die Ideen, zu unserem Kosmos gestaltete. Diese Schilderung ist nicht wie jene im Alten Testament im Sinne eines realen Schöpfungsprozesses zu verstehen, weil die griechische Ontologie den letztlich erschaffenen, also entstandenen, vergehenden und wandelbaren Kosmos nicht kennt, sondern nur den ewigen. Die Schilderung stellt vielmehr ein technomorphes Modell für die Verständlichmachung der Aufbau- und Konstruktionsgesetze des Kosmos dar. Indem der Mensch den göttlichen Produktionsprozeß in intellektueller Rekonstruktion nachvollzieht, vermag er die Aufbaugesetze des Kosmos sich zu vergegenwärtigen und anzueignen. Diese Abhängigkeit des Verstehens vom handwerklichen bzw. künstlerischen Prozeß wird durch die Geistesgeschichte durchgehalten. Laktanz’ Ausspruch: »Wer, wenn nicht der Künstler, kennt sein Werk« 114 ist hierfür ein Beleg. Auch bei Nicolaus Cusanus gewinnt der Mensch Einsicht und Wissen in die Schöpfung nur aufgrund sei114 »Quis scire nisi artifex potest cui soli opus suum notum est?« De opificio dei, lib. 14,9, in: Lucius Coelius Firmianus Lactantius: Opera omnia, recensuerunt Samuel Brandt et Georgius Laubmann, Pars II, Fasciculus I, Prag, Wien 1893, S. 50.

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ner Ebenbildlichkeit mit Gott, insofern sein endlicher Geist dem unendlichen, göttlichen analog ist und er die ursprünglichen Gesetze nachzuvollziehen vermag, die Gott bei der Erschaffung der Welt ursprünglich vollzog. 115 Noch bei Kant heißt es, daß wir die Gesetze, von denen wir wähnen, sie aus der Erfahrung abstrahiert zu haben, zuvor selbst in die Natur hineingelegt haben und sie nur deshalb zu erkennen vermögen, weil wir sie selbst hineingelegt haben. »Der Verstand ist selbst der Quell der Gesetze der Natur […].« 116 Er ist »nicht bloß ein Vermögen, durch Vergleichung der Erscheinungen sich Regeln zu machen: er ist selbst die Gesetzgebung für die Natur« 117 . Im Opus postumum taucht die stereotype Formel auf: »Wir [machen] die Erfahrung […] selbst […,] von der wir wähnen [,] durch Observation und Experiment gelernt zu haben« 118 oder »Erfahrung wird nicht (empirisch) gegeben, sondern Gemacht« 119 . In der Gegenwart wird diese Auffassung fortgeführt vom Konstruktivismus und Operationalismus der Erlanger Schule, z. B. von Paul Lorenzen. Für die konstruktivistische Sichtweise sind die Dinge mit ihren Eigenschaften nicht schlicht vorgegeben, so daß man sie zwecks Definition nur zu rezipieren brauchte, sondern sie werden in der Konstruktion gemäß einer Konstruktionsanweisung allererst erzeugt. Hiernach ist z. B. ein Kontinuum das, was man mit ihm machen kann, nämlich teilen: es ist ein Teilbares aus lauter Teilbaren. Dem handwerklichen oder künstlerischen Prozeß aber liegt stets ein Plan nach Verstandesregeln zugrunde, der im Prozeß selbst umgesetzt wird, wenngleich die Regeln nicht vollständig explizit sein mögen. Die These einer Einheit von Theorie und Praxis, von theoretischem Wissen und praktischem know how, unterstellt also, daß jeder praktische Vollzug geleitet ist von einem vollständigen und durchgängigen System begrifflicher Bestimmungen, auch wenn dieses nicht total erkannt und durchschaut ist. Die vollständige und durchgängige Erkenntnis desselben bleibt als Ideal bestehen. Sie fun115 Vgl. Nicolaus Cusanus: Idiota de mente, cap. 7, fol. 86, in: Nikolaus von Kues: Philosophisch-theologische Schriften, hrsg. und eingeführt von Leo Gabriel, übersetzt und kommentiert von Dietlind und Wilhelm Dupré, Studien- und Jubiläumsausgabe, lateinisch und deutsch, 3 Bde., Wien 1964–1967, Bd. 3, S. 532 ff./533 ff. 116 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 127. 117 A. a. O., A 126. 118 Immanuel Kant: Opus postumum, in: Akad.-Ausg., Bd. 22, S. 362,2 ff. 119 A. a. O., Bd. 22, S. 392,19; vgl. ferner S. 322,28 ff.; 366,22; 391,9 f.; 394,28 f.; 395,12 f.; 404,25 f.; 405,26 f. u. ö.

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giert als heuristisches Prinzip oder regulative Idee und bildet den Anreiz für weitere Forschung. Um diese Distinktion kenntlich zu machen, wären die klassischen Methodenbegriffe von prteron fÐsei und ˜steron pr@ m”@ sowie von prteron pr@ m”@ und ˜steron fÐsei angebracht, die auf den Unterschied von ontologischer Struktur und epistemischem Zugang weisen. Was im Gange der Erkenntnis das Spätere, das Letzte, sein mag, schließt nicht aus, daß es hinsichtlich der ontologischen Bedingungsstruktur das Vorgängige ist. Das sind hier die theoretischen Gesetze. Und was im Gange der Erkenntnis für uns das Primäre ist, die Praxis, ist im ontologischen Sinne das Letzte.

6.

Theoretisches, wissenschaftliches Wissen (Kognition): intellektuelles, begriffliches Verstehen

6.1. Platons Theaitet als Versuch einer Wissensdefinition Die Beschäftigung mit dem Wissen im eigentlichen Sinne, dem theoretischen (griechisch ¥pistffimh [epistéme] 120 , lateinisch scientia 121 ), ist Thema der Philosophie, solange diese existiert; denn Philosophie als Verständigung nicht nur über Fremdes, sondern letztlich über sich selbst sucht in einer selbstreferentiellen Zuwendung sichere, gewisse Erkenntnisse, nicht nur schwankende, unzuverlässige über sich und das Andere zu gewinnen. Sie strebt nach allgemeingültiger Erkenntnis, ja sogar im radikalen Sinne nach universeller und stringenter Erkenntnis, die ausnahmslos gültig, allen Menschen gleicherweise zugänglich, überprüfbar und kommunizierbar ist, mithin den Kriterien der Allgemeinheit und Notwendigkeit, der Überprüfbarkeit und Kommunikabilität, der Intersubjektivität und Objektivität genügt, 120 Etymologisch enthält das Wort epi-stéme den Stamm st, der auch in ›stehen‹ vorliegt, ebenso in ›ver-stehen‹ und ›Ver-stand‹ und auf etwas Festes, Geronnenes weist. Grundbedingung der geforderten Haltung ist, sich etwas gegenüberzustellen. Vgl. u. a. Johann Hermann Heinrich Schmidt: Synonymik der griechischen Sprache, 4 Bde., Leipzig 1876–1886; Émile Boisacq: Dictionnaire étymologique de la langue grecque, 3. Aufl. Paris 1938; Johann Baptist Hofmann: Etymologisches Wörterbuch des Griechischen, München 1950; vgl. auch Platons Hinweis in Kratylos 412 a auf peistffimh und 437 a auf 2st€nai. 121 Das Wort scientia basiert auf dem Stamm sci, der auf ›schneiden‹, ›trennen‹, ›messerscharf abheben‹ deutet und damit auf Ein- und Abgrenzung verweist, wie sie auch in den platonischen Dihairesen vorliegt.

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Theoretisches, wissenschaftliches Wissen (Kognition)

welche für Kriterien der Wissenschaftlichkeit gelten und nicht nur privatsubjektiv, kontingent und individuell sind. Sie bemüht sich um Erkenntnisse, die zeitlich wie räumlich unbeschränkt und von sozialen wie ständischen Schranken und kulturell-ethnischen Differenzen unabhängig sind. Daß es sich bei diesem Wissensverständnis gleichwohl um ein spezifisch kulturell geprägtes Wissensverständnis handelt, und zwar das der griechischen Antike, das von Platon und Aristoteles erarbeitet wurde und die nachfolgende europäische Wissenschafts- und Kulturgeschichte bestimmte und heute eine globale Ausweitung erfahren hat, ist nicht zu leugnen. Es erscheint daher unumgänglich, den Wissensbegriff und seine Bedeutung am Anfang seiner Geschichte aufzusuchen, wo es um die Gewinnung und Absetzung desselben von mehr oder weniger verwandten Begriffen ging, und nicht erst am Ende, wo er Gegenstand der Kritik und Skepsis geworden ist. Um etwas in Frage stellen zu können, muß dasselbe bereits vorliegen. Die historischen Veränderungen des Wissensbegriffes sowie seine radikale Infragestellung in der Moderne bis hin zum Relativismus sind nur möglich, wenn seine Existenz vorausgesetzt werden kann. Eine der frühesten systematischen Erörterungen des Wissensbegriffes findet sich in Platons Theaitet, einem Dialog, den man zu den reifen Werken Platons zählt. Der Dialog ist deswegen von Interesse, weil er die bekannte sokratisch-platonische tffl ¥sti-Frage stellt, die dem Wesen bzw. der Natur einer Sache nachforscht – hier dem Wesen des Wissens bzw. der Erkenntnis – und eine Reihe von Definitionen in ihrem pro und contra durchspielt, die an bestimmte Philosophennamen und -schulen der damaligen Zeit gebunden sind, darüber hinaus aber Grundpositionen der Philosophie bezeichnen. Es handelt sich um die Definition des Wissens 1. als sinnliche Wahrnehmung (a—sqhsi@), 2. als richtige Meinung (⁄lhq¼@ oder ¤rq¼ dxa), 3. als richtige Meinung plus Begründung (⁄lhq¼@ dxa metÞ lgou). Diese drei Antworten geben die Gliederung des Hauptteils des Dialogs in drei Teile vor, deren erster von 151 d – 187 b reicht, deren zweiter von 187 b – 201 c und deren dritter von 201 c – 210 b. Wenngleich im Endeffekt alle Definitionsversuche scheitern und der Dialog aporetisch endet, ist das Resultat kein gänzlich negatives. Nicht nur, daß jede Erörterung, und so auch diese, eine kathartische Wirkung hat, indem sie die Dialogpartner und das Auditorium oder die A

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Leserschaft klüger entläßt, als diese ursprünglich an die Erörterung gingen, insofern durch die Ausscheidung der Extrempositionen die Richtung der Weitersuche sichtbar geworden ist – es zeigt sich auch, daß die jeweils gegebenen Antworten, für sich genommen, zwar unzureichend zur Definition des Wissens sind, jedoch notwendige Elemente desselben bilden, deren keines bei der Konstitution fehlen darf. Wenngleich sie das Wissen letztlich nicht zu erklären vermögen, es sei denn in einer zirkulären, selbstreferentiellen Definition, sind sie notwendige Bestandteile desselben. Die Erörterung dieser definientia des definiendum ›Wissen‹ vermag daher einen guten Einstieg in die Wissensproblematik zu bieten, so daß dem Gang des Dialogs in seinen Hauptargumenten gefolgt werden soll. Der sich zwischen einem Vorspann (142 a – 145 b) und einem Schlußteil (210 b – d) ausspannende Hauptteil (145 b – 210 b) wird mit der Frage eröffnet, was Erkenntnis (¥pistffimh) wohl sein mag (145 e). Da einleitend epistéme und sophía identifiziert werden und die letztere das Einzel- oder Spezialwissen innerhalb jedes Bereiches bezeichnet, sowohl innerhalb des intellektuellen wie des handwerklichen, also sowohl Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Harmonik wie auch Schuhmacher- und Tischlerkunst umfaßt, ist hier allgemein von Wissen, reinem wie angewandtem, die Rede, d. h. von Strukturerkenntnis wie auch von handwerklich-technischem Wissen. 122 1. Erkenntnis = Wahrnehmung Die erste Definition der Erkenntnis (epistéme) identifiziert diese mit der sinnlichen Wahrnehmung (aísthesis). Das griechische Wort aísthesis ist ein überaus schillernder, vieldeutiger Begriff. Die Skala seiner Bedeutungen reicht von simpler sinnlicher Empfindung bis hin zu kognitiver Wahrnehmung. Das Wort zeigt damit eine Spannweite, die bei der rein sinnlichen, auf Empfindung basierenden Komponente ansetzt und bis zur kognitiven Verarbeitung derselben reicht, die mehr ist als eine bloße Organempfindung, nämlich Erfassen eines eidetischen Bestandes der sinnlichen Gegebenheit, z. B. 122 Reine Strukturerkenntnis begegnet nur in der reinen Mathematik als Arithmetik, während Geometrie, Astronomie und Harmonik bereits angewandte Wissenschaften sind, ebenso Schuhmacherei und Tischlerei, die hier jedoch nach ihrer theoretischen Komponente, dem know what, betrachtet werden, nicht nach der praktischen Umsetzung des know how.

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einer bestimmten Farbe im Unterschied zu einer anderen oder eines bestimmten Tons im Unterschied zu anderen Tönen. Im letzten Fall untersteht die aísthesis bereits Begriffen wie denen der Einheit, Identität und Differenz, ohne daß diese jedoch explizit würden. In dieser Bedeutung ist Wahrnehmung ein implizites Urteil in Abhebung vom expliziten Urteil, das die Voraussetzung und Grundlage des letzteren bildet. Aufgrund dieses kategorialen Mehr könnte man hier mit Husserl von einer ›kategorialen Anschauung‹ sprechen, bezeichnet diese doch nicht nur eine disparate Vielheit von Sinneseindrücken, sondern eine einheitliche Anschauung oder Ansicht der Sache, eine holistische Vorstellung, die durch synthetisierende Kategorien vereinheitlicht ist. Gleichwohl bleibt die sinnliche Komponente dominant. Bei Platon ist im vorliegenden Kontext mit aísthesis das rein sinnliche Element gemeint, wie aus dem in 152 b angeführten Beispiel der Wärme- und Kälteempfindung hervorgeht, welche verschiedene Personen bei einem und demselben Luftzug verspüren, und zum anderen aus der in 156 a gebrachten ausführlichen und umfassenden Aufzählung der einzelnen Sinnesorgane, des Gesichtssinnes, des Gehör- und Geruchssinnes wie auch des Gespürs für Wärme und Kälte, zu denen sich bei Platon noch Lust und Unlust, Begierde und Abscheu sowie etliche andere benannte wie unbenannte Wahrnehmungen gesellen. Mit der Auslegung des Wissens als Wahrnehmung wird eine sensualistische Auffassung thematisiert. Mit dieser Theorie dürfte Platon eine populäre Auffassung aufgegriffen haben, wie sie sowohl im Alltag vorherrscht wie auch die griechische Philosophie seit Parmenides und Empedokles durchzieht und noch in Theophrasts Schrift De sensu 123 ihren Niederschlag findet. Wollte man einen bestimmten Philosophen für diese Annahme angeben, so wäre vor allem auf Aristipp und Antisthenes zu verweisen, eventuell auf Platon selbst in seiner Frühzeit, etwa im Charmides. Ein Name für die historische Herkunft dieser These wird nicht genannt. Daß es sich gleichwohl um eine schulmäßige Formulierung handelt, die auf eine Behandlung in den damaligen Philosophenschulen schließen läßt, geht aus der kurzen prägnanten Formulierung hervor, die ein zugespitzter Ausdruck für diverse Richtungen und Strömungen ist. Für die Erwägung der Bedeutung, Reichweite und Grenzen dieses Definitionsversuches ist zu beachten, daß er von Platon in drei 123

Theophrast: De sensu et sensibilibus, §§ 13, 23, 25. A

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Varianten erörtert wird: 1. als Identifizierung von Erkenntnis (epistéme) und Wahrnehmung (aísthesis), 2. als protagoreischer homo-mensura-Satz, demzufolge der Mensch das Maß aller Dinge ist, und 3. als homerisch-herakliteische Lehre von der Allbewegung. Diese drei Varianten artikulieren verschiedene Seiten desselben Sachverhalts; sie stehen folglich untereinander in Verbindung und sind gegeneinander austauschbar. Während die erste Version ›Erkenntnis = Wahrnehmung‹ auf die subjektive Seite des Erkenntnisvorgangs rekurriert, indem sie eine Aussage über die Art und Weise des Erkenntnisprozesses macht, rekurriert die zweite, der homo-mensura-Satz, auf die objektive Seite, indem er eine Aussage über die Art und Weise des Auftretens des Objekts formuliert. Wie man von seiten des Subjekts sagen kann: ›ich sehe etwas‹, so kann man auch von seiten des Objekts sagen: ›etwas zeigt sich mir‹, ›etwas erscheint mir‹. Wie Perspektive und Aspekt in einer Korrelation stehen, so, ad genus erweitert, auch Wahrnehmung und Erscheinung. Die dritte Variante, die herakliteische These von der Allbewegung, rekurriert auf den Umstand, daß es in der Wahrnehmungswelt als Werde-Welt nichts Beständiges gibt. Geht man der Beziehung der beiden ersten Varianten genauer nach, so wird erkennbar, daß sich die Wahrnehmung an die Außenseite der Dinge, deren Erscheinungsweise, wendet, die von der Relation auf das Subjekt abhängt und mit dieser ständig wechselt. Der dem Sophisten Protagoras zugeschriebene homo-mensura-Satz, der offensichtlich in dessen Schrift Alétheia oder Über die Wahrheit stand, bringt dies zum Ausdruck, indem er besagt, daß ein jedes Ding so, wie es einem erscheint, auch ist. Wie mir etwas erscheint, so ist es auch für mich, und wie einem anderen etwas erscheint, so ist es auch für ihn. Belegt wird dies durch die unterschiedliche Wirkung des Windes auf verschiedene Menschen: Während den einen friert, ist dem anderen warm und dem dritten weder warm noch kalt, sondern angenehm. Kälte und Wärme kommen dem Wind nicht an sich zu, sondern nur relativ auf die betreffende empfindende Person. Das Beispiel läßt drei wichtige Merkmale der protagoreischen Erkenntnistheorie erkennen: (1.) Geleugnet wird jedes An-sich-Sein der Dinge und Sachverhalte. Es gibt kein Dasein und Sosein, das an sich wäre (160 b f.), sondern nur ein Dasein und Sosein, das relativ ist in Beziehung auf ein wahrnehmendes Subjekt an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Situation. (2.) Die Bestreitung 198

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des An-sich-Seins der Dinge zieht die Auflösung des objektiven Wahrheitsbegriffes nach sich. Wenn wir gewöhnlich von einer Sache sagen, so verhält es sich an sich, so meinen wir damit, daß es sich so in Wahrheit verhält. Normaliter bezeichnet Wahrheit das An-sichSein der Dinge ohne unser subjektives Zutun und Wollen. Wird das An-sich-Sein bestritten, so wird damit auch die objektive, überindividuelle, intersubjektive Wahrheit in Abrede gestellt. (3.) Zurück bleibt ein rein subjektivistischer Wahrheitsbegriff, demzufolge der Einzelne, das Individuum, als Maßstab alles Daseins und Soseins fungiert. Täuschung und Irrtum sind unmöglich; denn erscheint mir eine Sache so und einem anderen anders, dann haben beide recht, nämlich jeweils in bezug auf ihre Person. Die Konsequenz ist ein reiner Subjektivismus und Relativismus. Dem entspricht die These von der Allbewegung. Daß alles in der Welt in Bewegung und Veränderung begriffen sei, ist eine uralte Vorstellung, die auf mythologische Traditionen zurückgeht und bei Homer einen dichterischen Ausdruck in dem Vers gefunden hat, daß der Ursprung der Götter Okeanos und Tethys die Mutter sei. 124 Prominentester philosophischer Repräsentant dieser Panta-rhei-Lehre ist Heraklit, von dem Sprüche wie die folgenden überliefert sind: »Denen, die in dieselben Flüsse hineinsteigen, strömen andere und wieder andere Wasserfluten zu« 125 , »In dieselben Flüsse steigen wir und steigen wir nicht, wir sind und wir sind nicht« 126 , »Man kann nicht zweimal in denselben Fluß steigen« 127 . Obgleich Bewegung diverse Formen annehmen kann – Aristoteles unterscheidet vier: 1. Ortsbewegung, 2. quantitative Veränderung, 3. qualitative Veränderung und 4. substantielle Veränderung als Entstehen und Vergehen, Platon selbst führt in den Nomoi nicht weniger als zehn Arten an –, ist die Grundbedeutung von Bewegung in allen Fällen Änderung, sei es Stellen-, Zustands- oder Daseinsänderung. Hier ergibt sich der Zusammenhang mit dem protagoreischen homo-mensuraSatz; denn da dieser das An-sich-Sein der Dinge leugnet und nur ihr Für-uns-Sein konzediert, ihr Sein für diese oder jene Person bzw. für eine und dieselbe Person in verschiedenen Zeiten, löst er alles Konstante und Invariante in Relationen und somit in ein Relationsgefüge 124 125 126 127

Vgl. Platon: Theaitet 152 e. Fragment 22 B 12. Fragment 22 B 49 a. Fragment 22 B 91. A

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auf. Es gibt nach ihm nicht mehr das eine Ding mit diesen oder jenen Eigenschaften, das sich diachron durchhält und auf das man von verschiedenen Standpunkten und zu verschiedenen Zeiten als auf dasselbe zurückkommen kann, sondern es gibt nur noch die Vielheit und Diversität der Erscheinungsweisen in bezug auf verschiedene Personen oder in bezug auf eine Person in verschiedenen Zeiten. Das eine, identische, konstante Ding zerfällt in eine schillernde Vielheit und Diversität. Es ist niemals eines, sondern immer ein anderes, ein je und je Verschiedenes, und genau dies drückt Bewegung als Veränderung aus, die ein m¼ o˜tw (›so nicht‹, 183 a, b) bezeichnet, und zwar bis ins Unendliche. Das Substanz-Akzidens-Modell, das eine durch die Zeit sich durchhaltende, beharrliche Substanz unterstellt, unterdessen die Akzidenzien an ihr wechseln, wird hinfällig. Übrig bleiben nur die wechselnden Akzidenzien ohne Bezug auf ein einheitliches Substrat. Die dritte Definitionsvariante formuliert damit die ontologische und kosmologische Quintessenz der sensualistischen These, die Allbewegtheit, die nichts Festes, Beharrliches zuläßt, sondern nur noch die Abfolge isolierter Daten. Nach der Exposition der ersten Definition in ihren drei Varianten ist es Platons Anliegen, dieselbe zu sichern und möglichst überzeugend erscheinen zu lassen, da nur bei hinreichender Fundierung auch die Widerlegung radikal genug ausfallen kann. Es ist daher stets eine methodische Maxime, die zu kritisierende These zunächst argumentativ zu stärken, um sie anschließend um so entschiedener widerlegen zu können. Allerdings sind die Argumente von unterschiedlichem Wert. In einem ersten Schritt (vgl. 153 a ff.) versucht Platon, die Allbewegungslehre durch naturwissenschaftliche Beobachtungen zu stützen, indem er darauf verweist, daß Bewegung Ursprung und Prinzip von allem ist. Bewegung durchzieht den gesamten Kosmos, angefangen vom physischen Bereich über den psychischen bis hin zum kosmischen. Bewegung fungiert dabei nicht nur als causa efficiens, d. h. als Wirkursache, sondern auch als causa finalis, d. h. als Zweckursache, als Prinzip des Guten und Nützlichen, der Erhaltung, während Ruhe das Gegenprinzip ist. Wie der Leib durch Bewegung in seiner Gesundheit und Kraft erhalten und gestärkt wird – man denke an Gymnastik –, so erlahmt er durch Ruhe und Trägheit. Wie die geistigen Kräfte durch Bewegung im Sinne von Geistestätigkeit aktiviert werden, so lassen Ruhe und Trägheit sie verkümmern, und ebenso gilt im kosmischen Bereich, daß Windstille Fäulnis und Ver200

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derben bewirkt, Bewegung hingegen das Gegenteil, nämlich Erhaltung und Wachstum. Was den homo-mensura-Satz betrifft, als dessen Konsequenz sich ein radikaler Subjektivismus und Relativismus herausgestellt hat, so scheint er nicht allein Geltung für den Wahrnehmungsbereich zu besitzen, sondern selbst noch für den mathematischen Bereich, eben jenen, der für die griechische Vorstellung und auch für die heutige als privilegierter Bereich zeitloser, ewiger, invarianter Aussagen gilt. Nicht nur die Wahrnehmungsgegenstände verändern sich ständig, indem eine Speise oder ein Getränk dem Gesunden süß, dem Kranken bitter schmeckt oder ein Gegenstand im Tageslicht weiß, bei Nacht schwarz erscheint, auch die Gegenstände der Mathematik scheinen der Relativität und Veränderung unterworfen zu sein. So sind sechs Bohnen im Vergleich zu vier mehr, im Vergleich zu zwölf weniger (vgl. 154 c), Sokrates im Vergleich zu Theaitet größer, in einem Jahr, wenn Theaitet gewachsen sein wird, hingegen kleiner (vgl. 155 b f.), dies, ohne daß ein Wachstum oder Schwund stattgefunden hätte. Da Mehr und Weniger, Größe und Kleinheit keine An-sich-Bestimmungen sind, sondern relative, scheint Relativität auch das Gebiet der Mathematik zu beherrschen. Das stärkste und bedeutendste Argument zur Stützung des ersten Definitionsversuchs in seiner sensualistischen Variante, der Identität von Erkenntnis und Wahrnehmung, ist die Ununterscheidbarkeit von Wach- und Traumzustand, von krankhafter Wahnvorstellung, Halluzination oder Sinnestäuschung und gesundem Bewußtsein (vgl. 157 d ff.). Wenngleich das Faktum des Traumes, der Sinnestäuschung, der Halluzination usw. zunächst gegen die protagoreische These zu sprechen scheint, insofern wir im Traum allerlei sehen, hören, fühlen, was keinerlei Wahrheit hat, so decouvriert sich dieser Tatbestand bei genauerer Analyse als das stärkste Argument zur Stützung des Satzes. Denn so wie der Wachende seine vorgestellte Welt für die wahre hält, so auch der Träumende. Kein Träumer träumt, daß er träume. Und wie der Gesunde seine Welt für die eigentliche und reale hält, so glaubt dies auch der Wahnsinnige von der seinigen. Kein Wahnsinniger hält sich selbst für wahnsinnig. Damit entfällt jedes Differenzkriterium zwischen Wach- und Traumzustand, desgleichen zwischen dem Zustand des Gesunden und dem des Kranken. Kant glaubte später, ein solches Kriterium in den Analogien der Erfahrung – den Prinzipien von Substanz und Akzidens, Kausalität und Wechselwirkung – entdeckt zu haben. Seine Theorie A

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ist jedoch nicht einwandsimmun, kann man sich doch eine Welt einbilden, die ähnlichen Gesetzmäßigkeiten folgt wie die reale Erfahrungswelt, in der es Substanzen mit Akzidenzien gibt, die untereinander in ein- und wechselseitigen Kausalverhältnissen stehen, und die doch nichts mit der unsrigen zu tun hätte, sondern von einem versierten Romancier phantasiert wäre. Gesetzt den Fall, es fände sich ein Unterscheidungskriterium, so könnte auch dieses imaginiert oder erträumt sein, so daß man nur träumte, mittels seiner den Wach- und Traumzustand unterscheiden zu können. Mit dem Entfall eines Differenzkriteriums entfällt jedes objektive, subjektunabhängige Wahrheitskriterium; Wahrheit wird zu einer rein privatsubjektiven Vorstellung. Wie die Exposition und Begründung der ersten Erkenntnis-Definition in drei Schritten erfolgte, so erfolgt auch ihre Widerlegung in drei Schritten, deren jeder sich gegen eine bestimmte Auslegungsversion richtet. Überblickt man die von Platon gegebenen meist kurzen Argumentationen, dann zeigt sich als ihr gemeinsames Ziel die Aufdekkung einer Differenz zwischen Erkennen (Wissen) und Wahrnehmen in bezug auf die Zeitmodi, sowohl in bezug auf die Gegenwart wie in bezug auf die Vergangenheit und die Zukunft. Daß zwischen Wahrnehmen und Erkennen – wir würden heute besser sagen Verstehen 128 – eine Differenz bezüglich der Gegenwart besteht, belegt das Beispiel einer Fremdsprache, die man zwar hören, aber nicht ohne weiteres verstehen kann, oder das Beispiel unbekannter Zeichen, die man zwar sehen, aber nicht gleicherweise begreifen kann (163 b f.). Wären Wahrnehmen und Erkennen identisch, so würde die Alternative gelten, entweder die Sprache zu hören und zu verstehen, die Zeichen zu sehen und zu begreifen oder, im Falle des Nicht-Verstehens, sie auch nicht zu hören und zu sehen, was absurd wäre. Die Differenz zwischen Wahrnehmen und Erkennen besteht darin, daß das Erkennen ein Mehr gegenüber dem Wahrnehmen bedeutet. Ob man dieses nun so erklärt, daß das Wahrnehmen unmittelbar auf einen Gegenstand geht, das Erkennen mittelbar, gleich ob diese Mittelbarkeit implizit oder explizit ist, oder wie bei Kant so, daß das Wahrnehmen rezeptiv gegenüber einer Mannigfaltigkeit von Daten ist, während das Erkennen diese synthetisch auf einen Gegenstand oder Sinn bezieht und damit transzendiert, wird 128

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Platon verwendet in Theaitet 163 b f durchgehend den Ausdruck ¥pfflstasqai.

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Theoretisches, wissenschaftliches Wissen (Kognition)

an dieser Stelle nicht weiter erörtert. Auf jeden Fall erweist sich das Erkennen als etwas anderes denn als reines Wahrnehmen. Eine Differenz zwischen Wahrnehmen und Erkennen läßt sich auch aus der Perspektive der Vergangenheit konstatieren. Sie tritt, genau besehen, als Differenz zwischen Wahrnehmung (a—sqhsi@) und Erinnerung (mnffimh) auf (163 d). Gemeinhin pflegen wir zu unterscheiden zwischen der Wahrnehmung eines Präsenten im Zeitpunkt t1 und dessen späterer Erinnerung im Zeitpunkt t2, wobei die erste das Sehen einer Farbe oder das Hören eines Tones ist, einschließlich des Erkennens desselben, die letzte eine Erkenntnis bzw. ein Wissen ohne unmittelbare Wahrnehmung des Gegebenen, kann man doch auch bei geschlossenen Augen sich an etwas erinnern. Daraus folgt, daß im Falle einer Identifizierung beider sich die Ungereimtheit ergäbe, »daß jemand das, wovon er Erkenntnis bekommen hat, indem er sich dessen erinnert, doch nicht erkennt, weil er es nicht sieht« 129 . Da Erinnerung Kenntnis ohne unmittelbaren Wahrnehmungsbezug ist, führte die Gleichsetzung von Wahrnehmung und Erkenntnis bzw. ihres Gegenteils, Nicht-Wahrnehmung und Nicht-Erkenntnis, zu der absurden Konsequenz, daß wegen der Negation des unmittelbaren Wahrnehmungsbezugs in der Erinnerung diese eine Nicht-Erkenntnis wäre. Der logische Widerspruch wäre eklatant, indem Erinnerung Kenntnis bzw. Wissen ohne unmittelbaren Wahrnehmungsbezug auf Präsentes ist, wegen des nicht vorhandenen unmittelbaren Bezugs aber als Nicht-Erkenntnis bzw. Nicht-Wissen gelten müßte. Auch diese Argumentation führt auf ein Mehr der Erkenntnis in Form der Erinnerung gegenüber bloßer Wahrnehmung. Schließlich zeigt sich die Notwendigkeit einer Differenzierung von Wahrnehmung und Erkenntnis auch in bezug auf die Zukunft. Nach dem protagoreischen Satz von der Identität von Wahrnehmung und Erkenntnis wären die Vorstellungen bzw. Meinungen (dxai, 170 a) aller Menschen gleicherweise wahr, da so, wie jedem etwas erscheint, es auch für ihn ist. Täuschung und Irrtum wären prinzipiell ausgeschlossen. Der auf der Hand liegende Einwand, daß wir doch von an sich wahren und falschen Vorstellungen überzeugt sind, dürfte dadurch aus dem Wege geräumt werden, daß Protagoras zwar keine wahren und falschen Vorstellungen konzediert, wohl aber bessere und schlechtere. Die Vorstellungen bzw. Meinungen des Sach129

Platon: Theaitet 164 b (nach der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher). A

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verständigen wären demnach nicht wahrer als die des Nicht-Sachverständigen, nur besser. Die absoluten Werte ›wahr‹ und ›falsch‹ würden hier auf die relativen ›besser‹ und ›schlechter‹ reduziert werden. Die These wird jedoch unhaltbar in bezug auf die Zukunft; denn hier erweist sich die Prognose des Sachverständigen, etwa des Arztes, daß beim Patienten kein Fieber eintreten werde, durch den Nicht-Eintritt als richtig und nicht nur als besser, die Prognose des Unsachverständigen hingegen, daß Fieber eintreten werde, durch den Nicht-Eintritt als falsch. Wenngleich von der gegenwärtigen Vorstellung des Sachverständigen wie des Unsachverständigen über die Zukunft eingeräumt werden muß, daß sie für jeden von ihnen untrüglich und richtig ist, so erweist sich doch am tatsächlichen Eintritt oder Nicht-Eintritt des Vorgestellten in der Zukunft, daß Wahrnehmungsvorstellung und Erkenntnis bzw. Wissen auseinanderklaffen. Die Konfundierung der gegenwärtigen Wahrnehmungsvorstellung über das Zukünftige mit der zukünftigen Vorstellung des dann Gegenwärtigen zeigt die Unhaltbarkeit einer Identifikation. Am Eintritt oder Nicht-Eintritt einer Vorstellung in der Zukunft erweist sich deren Wahrheit oder Falschheit, nicht aber bloß deren bessere oder schlechtere Qualität. Von besonderem Interesse ist Platons Widerlegung der zweiten Variante, des protagoreischen homo-mensura-Satzes (170 d ff.). Seine Widerlegung erfolgt über den Nachweis eines Selbstwiderspruchs. Nach Protagoras sind die Meinungen aller Menschen wahr. Damit aber wird auch die Wahrheit der Gegenthese konzediert. Es wird zugegeben, daß es Personen gibt oder geben könnte, die das Gegenteil der protagoreischen Lehre annehmen, nämlich die These vertreten, daß nur einiges wahr, anderes falsch sei und die damit dem protagoreischen Satz widersprechen. Da der Satz des Protagoras aber die Wahrheit der Gegenthese impliziert, die eben diesen Satz negiert, widerlegt sie sich selbst in Form eines performativen Widerspruchs. Protagoras gibt also durch seine Lehre denen recht, die diese Lehre für einen Irrtum halten. Indem er allen Menschen aufgrund der Annahme, daß der Mensch das Maß aller Dinge sei, Kompetenz über wahr und falsch zugesteht, folglich auch dem Gegner, der seine Annahme für absurd hält, gibt er zu, daß seine Lehre für gewisse Leute falsch ist, diese aber werden ihrerseits nicht zugeben, daß ihre Lehre, wonach es auch falsche Ansichten gibt wie die des Protagoras, falsch sein könne. Genau genommen haben wir es hier nicht mit einem schlichten 204

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logischen Selbstwiderspruch und der Selbstaufhebung der These zu tun, sondern mit einer Paradoxie, die gleicherweise die Wahrheit wie die Falschheit des Satzes bedeutet und diese Einsicht in Form eines unendlichen Regresses auf jeder höheren Stufe wiederholt. Indem der protagoreische homo-mensura-Satz sich selbst und die Antithese umfaßt, seine Selbstwiderlegung also einschließt, restituiert er sich auf einer neuen, höheren Ebene, für die dasselbe gilt, nämlich, daß er sich und sein Gegenteil umfaßt, damit aber letzteres übersteigt und so in infinitum. Die These, daß aller Menschen Meinung wahr sei, ist ebenso unwiderlegbar wie die Gegenthese von der Existenz von Wahrheit und Falschheit. Die Widerlegung der dritten Definitionsvariante, der herakliteischen These von der Allbewegung, erfolgt in Form einer großangelegten Attacke. Ebenso wie Platon im Sophistes- und ParmenidesDialog mit dem Eleatismus abrechnet, so rechnet er im Theaitet mit dem Herakliteismus ab (179 d – 183 c). Die herakliteische Lehre behauptete die Allbewegung sowohl hinsichtlich des Ortes wie hinsichtlich der Eigenschaften. Während in der Ortsbewegung der Gegenstand oder Punkt noch als ein und derselbe vorgestellt werden kann, der lediglich seine Relationen im Raum ändert, unterliegt er in der qualitativen, quantitativen und substantiellen Veränderung einem Wechsel seiner Totalbeschaffenheit, ohne daß weiterhin von einem durchgängig beharrlichen Substrat gesprochen werden könnte. Mit der These von der Allbewegtheit ist offensichtlich gemeint, daß ausnahmslos alles in Bewegung und Veränderung begriffen ist, was bedeutet, daß auf objektiver Seite die eine Eigenschaft und das durch sie bezeichnete Objekt, z. B. die Röte, in die andere, Nicht-Röte, übergeht und entsprechend auf subjektiver die Wahrnehmung der betreffenden Eigenschaft in ihre Nicht-Wahrnehmung. Dieses Phänomen ist einer zweifachen Auslegung fähig, einer gemäßigteren und einer weniger gemäßigten. Die schwächere These würde behaupten, daß auf seiten des Objekts beispielsweise die Röte, wenn sie in Nicht-Röte übergeht, in Orange, Gelb, Grün oder eine sonstige Farbe übergeht und entsprechend auf seiten des Subjekts die Wahrnehmung der Röte in die Wahrnehmung von Orange, Gelb, Grün usw., wobei in jedem Fall die Farbqualität und die ihr korrespondierende Wahrnehmung erhalten bleibt. Die radikalere Interpretation hingegen würde behaupten, daß die Röte in Nicht-Röte übergeht und entsprechend die Wahrnehmung in Nicht-Wahrnehmung bzw., wegen der Identifikation mit der Erkenntnis, die ErA

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kenntnis in Nicht-Erkenntnis, so daß Wahrnehmung und NichtWahrnehmung, Erkenntnis und Nicht-Erkenntnis gleichviel gelten. Auf die Frage, wie sich etwas verhalte, könnte dann nur geantwortet werden, daß es sich so und auch nicht so verhalte, wobei beide Antworten aufgrund des ständigen Übergangs gleichberechtigt wären. Eine solche Allbewegung würde Denken und Sprechen unmöglich machen; denn da diese mit Begriffen operieren, setzen sie etwas prinzipiell Konstantes, Unveränderliches voraus, worauf sie jederzeit zurückkommen können. Sowohl innerhalb der persönlichen Denk- und Sprachwelt wie innerhalb der Denk- und Sprachwelt einer Gemeinschaft sind die Wortbedeutungen relativ konstant; denn besagte ein Begriff bald dieses, bald jenes, z. B. der Begriff ›Bewegung‹ auch ›Nicht-Bewegung‹, der Begriff ›Veränderung‹ auch ›Nicht-Veränderung‹, so stünden dem Nonsens Tür und Tor offen. Die Normalsprache besitzt zur adäquaten Explikation reiner Bewegtheit nicht einmal Ausdrücke. Im Griechischen verfügt sie nur über ein o˜tw und o'c o˜tw, im Deutschen über ein ›so‹ und ›nicht so‹, die jedoch etwas Bestehendes bezeichnen: ›es ist so‹ bzw., bei Negation, ›es ist nicht so‹, während die reine Bewegung nur durch ein ›so nicht‹ (m¼ o˜tw) ausgedrückt werden könnte, wobei völlig unbestimmt bliebe, wie ein Gegenstand, wenn er ›so nicht‹ ist, positiv angesehen werden müßte. Gegenständlichkeit entfiele bei dieser Hypothese. Die Unhaltbarkeit der herakliteischen Position von der Allbewegtheit weist in die entgegengesetzte parmenideische Richtung, die ein Sein annehmen zu müssen meint, wenngleich auch nicht in der Radikalität, in der es Parmenides getan hat. Erklärte Parmenides das All für ein total Unbewegliches, so genügt die moderatere Annahme, daß etwas Beharrliches existiert. Zu dieser Position wird Platon durch die Frage gedrängt, ob wir durch unsere Sinnesorgane erkennen oder nur vermittels ihrer. Sind die Augen dasjenige, womit († ) wir sehen, oder dasjenige, wodurch (d3 o ) wir sehen (184 c)? Abgehoben wird mit dieser sprachlichen Distinktion auf die sachliche Differenz von Agens und Instrument, von Gebrauchendem – dem Subjekt – und Werkzeug, das jemand gebraucht. Das Auge wie auch die übrigen Sinnesorgane sind nach Platon bloße Mittel und Werkzeuge, nicht das Gebrauchende selbst. Nicht das Auge sieht, sondern vermittels des Auges wird gesehen. Das, was sieht, hört, tastet, ist in allen Wahrnehmungen ein Einheitliches, Gemeinsames, das nur durch ein einziges Erkenntnisvermögen erstellt werden kann. Mit dieser Argumentation sieht sich Platon zu einer Unterscheidung innerhalb der Sphäre des 206

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Erkenntnisvermögens genötigt in eine Wahrnehmungssphäre, die durch die Vielheit differenter Sinnesorgane wie Gesichts-, Gehör-, Geruchs-, Geschmacks-, Tastsinn gekennzeichnet ist, und eine andere, die Denksphäre, für die ein einziges Vermögen, die Seele oder der Verstand (di€noia), konstitutiv ist. Die ausschließliche Annahme einer Pluralität von Sinnesorganen würde die Gefahr in sich bergen, daß diese wie in einem hölzernen trojanischen Pferd nebeneinander lägen ohne innere Einheit. Die Seele oder der Verstand stellt demnach das Verbindungsprinzip der Sinnesorgane und ihrer Wahrnehmungen dar; es handelt sich um ein synthetisierendes Vermögen, das die Wahrnehmungen auf eine einheitliche Struktur bezieht (e§@ mfflan tinÞ §dffan, 184 d). Wie auf seiten des Subjekts eine Differenz zwischen den vielen Sinnesorganen und dem einen Denkvermögen anzusetzen ist, so auch auf seiten des Objekts; auch hier muß eine Differenz zwischen den mannigfachen Wahrnehmungsdaten, den Farben, Tönen, Gerüchen, Tastempfindungen usw., und der ihnen gemeinsamen Struktur (t koinn, 185 b) unterstellt werden. Bei der letzteren handelt es sich um die sumplok¼ tn genn-Struktur, wie sie aus den interdependenten generischen Ideen wie Sein und Nicht-Sein, Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, Identität und Differenz, Eins und Zahlen, Geradheit und Ungeradheit gebildet wird (vgl. 185 c f), die auch aus anderen Dialogen Platons, dem Sophistes und Parmenides, bekannt sind. Diese generellen ontologischen Strukturen markieren den Bereich des unentstandenen, unvergänglichen und unwandelbaren Seins, wie er sowohl in der Logik wie in der Mathematik vorliegt. Der erste Teil des Dialogs endet mit dem Hinweis auf eine im subjektiven wie im objektiven Bereich vorkommende Erkenntnis- und Strukturdifferenz, nämlich die zwischen Wahrnehmung und Erkenntnis bzw. Wahrnehmungs- und Erkenntnisstruktur. 2. Erkenntnis = richtige Meinung Die zweite Definition von Erkenntnis, die im Theaitet gegeben wird, ist die, daß Erkenntnis wahre bzw. richtige Meinung (⁄lhq¼@ dxa, 187 b) sei. Der Begriff dóxa ist im Griechischen nicht weniger schillernd als der zuvor diskutierte der aísthesis. Sein Bedeutungsspektrum reicht von ›meinen‹, ›vermuten‹, ›wähnen‹, ›glauben‹, ›vorstellen‹ bis hin zu ›denken‹ und ›urteilen‹. Im Theaitet ist dóxa jedoch eindeutig definiert als eine Beschäftigung der Seele mit sich selbst über das Seiende (187 a, vgl. auch 189 e). In der ausführlichen Definition von 189 e f. heißt es: A

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»Eine Rede (lgo@) [verstehe ich darunter], welche die Seele bei sich selbst durchgeht über dasjenige, was sie erforschen will. […] Denn so schwebt sie mir vor, daß, solange sie denkt, sie nichts anderes tut als sich unterreden, indem sie sich selbst fragt und antwortet, bejaht und verneint. Wenn sie aber langsamer oder auch schneller zufahrend nun etwas feststellt und auf derselben Behauptung beharrt und nicht mehr zweifelt, dies nennen wir dann ihre Vorstellung (dxa). Darum sage ich, das Vorstellen (dox€zein) ist ein Reden (lffgein), und die Vorstellung (dxa) ist eine gesprochene Rede (lgo@ e§rhmffno@), nicht zu einem andern und mit der Stimme, sondern stillschweigend zu sich selbst.« 130

Hiernach weist die dóxa zwei Momente auf, eines, worüber die Untersuchung und Nachforschung geht, welches stets ein Mannigfaltiges sein muß, in dem das Gemeinsame gesucht wird, und welches nach den bisherigen Erörterungen sinnlicher Art ist, und eines, das die Untersuchung führt und von anderer Verfassung sein muß, eine intellektuelle Instanz, eben der einheitsstiftende Verstand, der das Gemeinsame in der Mannigfaltigkeit sucht. Diese Ambivalenz qualifiziert die dóxa, die Mittelposition zwischen dem ersten und dem zweiten Teil des Dialogs einzunehmen, auf der einen Seite an die sinnlichen Wahrnehmungsvorgänge wie Sehen, Hören, Tasten anzuknüpfen, auf der anderen Seite an die intellektuellen Akte, an die logische Begründung, die den dritten Teil bildet. Insofern die dóxa den Verstand und seine Operationsweise, das lffgein, einschließt, sind diese Implikate derselben. Während das lffgein selbst die Aktualität des Urteilsvollzugs ist und dieser seinerseits in der Herstellung einer Subjekt-Prädikat-Beziehung besteht, kann die zur Ruhe gekommene, fest-gestellte Rede, die ihr Ergebnis gefunden hat, als eine holistische Vorstellung betrachtet werden, die ein implizites Urteil ausdrückt. Die holistische Vorstellung ist hervorgegangen aus der Deliberation der Seele mit sich selbst, in welcher diese die Gründe für und gegen etwas abgewogen hat, bis der Zweifel in ihr beschwichtigt worden ist. In diesem Sinne stellt die dóxa das Resultat eines Prozesses dar und bildet zugleich die Grundlage und den Ausgangspunkt einer Explikation, die das Thema des dritten Definitionsversuches ist, der sich explizite Klarheit über die Gründe der Meinungsbildung verschaffen will. Den weitaus größten Teil des zweiten Hauptabschnittes des Theaitet bildet nun aber nicht ein Diskurs über Möglichkeit, Umfang 130

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Nach der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher.

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und Grenzen der richtigen Meinung, sondern einer über die der falschen Meinung, so daß man sich fragen muß, ob hier ein Abschweifen auf eine nebensächliche Angelegenheit vorliegt. Oder gehört die Untersuchung des Irrtums notwendig mit zur Untersuchung der wahren Meinung? Am Ende des zweiten Hauptabschnittes (200 c f.) kommentiert Platon seine eigene Untersuchung dahingehend, daß er wohl unangemessen handelte, wenn er die falsche Meinung eher untersuchte als die wahre, und daß es unmöglich sei, jene zu verstehen, wenn man diese nicht hinlänglich erfaßt habe. Wie das Verständnis der falschen Meinung das der wahren voraussetzt, so hat aber auch umgekehrt das Verständnis der wahren Meinung das der falschen zur Voraussetzung. Beide gehören zusammen; beide sind aneinander gekoppelt. Die Wesensbestimmung der einen ist nicht möglich ohne die der anderen. Seinen Grund hat dies darin, daß der Bereich der dóxa der genaue systematische Ort für die Einführung von Wahrheit und Falschheit ist (erkenntnistheoretischer Dualismus), während das Gebiet der sinnlichen Wahrnehmung allein durch Wahrheit gekennzeichnet ist (erkenntnistheoretischer Singularismus), genauso wie es der protagoreische Satz besagte, daß so, wie einem jeden etwas erscheint, es auch für ihn ist. Im Bereich der Meinung tritt erstmals die Wahrheits- oder Falschheitsfrage auf, weil hier die Vorstellung auf einen Gegenstand bezogen werden muß und dieser Bezug richtig oder falsch sein kann. Im Unterschied zum sinnlichen Bereich haben wir es nicht mehr mit einem bloß subjektiven Wahrheitsbegriff zu tun, der für eine bestimmte individuelle Person zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort in einer bestimmten Situation gilt, sondern mit einem objektiven Wahrheitsbegriff. Im Theaitet werden fünf Erklärungsversuche von Irrtum durchgespielt, von denen die drei ersten zusammengehören aufgrund der Tatsache, daß ihnen die parmenideisch-eleatische Erkenntnistheorie zugrunde liegt, die vom polaren Gegensatz von Erkenntnis und NichtErkenntnis bzw. Wissen und Nicht-Wissen lebt: entweder man weiß oder man weiß nicht; ausgeschlossen sind alle Zwischenstufen und Übergänge wie die des Erlernens und des Vergessens. Ausgeschlossen sind aber auch strukturelle Differenzen innerhalb des Wissens und Nicht-Wissens wie die propositionalen und nicht-propositionalen Akte, die sich in Aussagen von der Art niederschlagen ›wissen bzw. meinen, daß etwas der Fall ist oder daß etwas nicht der Fall ist‹ und ›etwas wissen bzw. meinen‹ bzw. ›nicht etwas (nichts) wissen bzw. meinen‹. Im Detail lauten die Erklärungsversuche wie folgt: A

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Angesichts einer Theorie, die von der radikalen Konfrontation von Wissen und Nicht-Wissen ausgeht, ist Irrtum nur als Verwechslung zweier Gegenstände denkbar. Dabei lassen sich drei Möglichkeiten denken: zum einen die Verwechslung zweier gewußter Gegenstände, zum anderen die Verwechslung zweier ungewußter Gegenstände und zum dritten die Verwechslung eines gewußten mit einem ungewußten bzw. eines ungewußten mit einem gewußten. Alle drei Möglichkeiten halten jedoch einer Kritik nicht stand; denn daß jemand im ersten Fall etwas, was er kennt, für etwas hält, was er ebenfalls kennt, ist unmöglich. Wer, um ein Beispiel zu nennen, sowohl Theodorus wie Theaitet, die beiden Gesprächspartner des Sokrates im Dialog, kennt, vermag sie nicht zu verwechseln, da er beide kennt. Ebenso unmöglich ist die Verwechslung von Gegenständen, die man nicht kennt. Wer weder Theodorus noch Theaitet kennt, kann sie auch nicht verwechseln. Auch der dritte Fall, daß jemand das, was er kennt, für etwas hält, was er nicht kennt, oder umgekehrt, ist undenkbar. Wer Theodorus kennt, kann ihn nicht für Theaitet halten, den er nicht kennt, und umgekehrt wer Theodorus nicht kennt, vermag ihn auch nicht für Theaitet zu halten, den er kennt. Die Erklärung des Irrtums nach diesem Modell ist unmöglich. Der zweite Erklärungsversuch basiert auf der Opposition von Sein und Nicht-Sein. Bediente sich der erste der Antithetik von Wissen und Nicht-Wissen im subjektiven Bereich, so der zweite der korrespondierenden Antithetik von Sein und Nicht-Sein im objektiven. Während die richtige Meinung nach dieser Auffassung zu verstehen ist als ›Seiendes meinen‹, ist die falsche zu definieren als ›Nicht-Seiendes meinen‹. Diese These hat eine gewisse Plausibilität; denn wenn ich meine, es regne, und es regnet tatsächlich nicht, so meine ich etwas, was nicht existiert. Ich meine also Nicht-Seiendes und in diesem Sinne Falsches. Doch auch dieser Erklärungsversuch erweist sich als nicht einwandsimmun. Das Durchdenken der These, daß Irrtum soviel bedeutet wie ›Nicht-Seiendes meinen‹, führt zur Konsequenz, daß überhaupt kein Meinen vorliegt. Denn meine ich Nicht-Seiendes, so meine ich nichts, und meine ich nichts, so meine ich überhaupt nicht. ›Nicht-Seiendes meinen‹ kommt überein mit ›überhaupt nicht meinen‹. Diese Interpretation von Meinung orientiert sich am Modell der sinnlichen Wahrnehmung und versteht ›meinen‹ ebenso wie sehen, hören, betasten als einen einstrahligen intentionalen Akt. Damit erliegt sie derselben Konsequenz wie diese. Nichts sehen, weder eine 210

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Farbe noch eine Gestalt, bedeutet: überhaupt nicht sehen; nichts hören, weder ein Geräusch noch auch die Stille, bedeutet: überhaupt nicht hören. Negiert wird mit dem Objekt sowohl der Wahrnehmungsakt wie das analog gebaute Meinen. Auch der dritte Erklärungsversuch des Irrtums basiert auf der eleatischen Ontologie und Epistemologie und besteht in der Verwechslung eines Seienden mit einem anderen Seienden im Sinne des ›Andersmeinens‹ (⁄llodoxffla, 189 b). Der Vorteil dieser Erklärung besteht darin, daß man nicht mehr zu sagen braucht, der Irrende meine etwas, was nicht ist, also Nicht-Seiendes, sondern er verwechsle ein Seiendes mit einem anderen Seienden, er meine etwas, aber ein Anderes als das wirklich Vorliegende. Die Widerlegung dieser Erklärung vollzieht sich nach denselben Regeln wie die der vorausgegangenen, wobei drei Fälle zu unterscheiden sind: (1.) Wenn man beide Gegenstände, A und B, kennt, scheidet eine Verwechslung aus; denn wer A wirklich kennt, kann A nicht für B halten, und wer B wirklich kennt, B nicht für A. (2.) Wenn man beide Gegenstände, A und B, nicht kennt, ist eine Verwechslung ebenfalls unmöglich; denn was man nicht kennt, kann man auch nicht vertauschen. (3.) Wenn man den einen der beiden Gegenstände, z. B. A, kennt, den anderen (B) aber nicht, so ist eine Verwechslung ebenfalls ausgeschlossen; denn man kennt ja nur den einen, den anderen aber nicht, so daß man den bekannten auch nicht für den unbekannten halten kann und umgekehrt. Auch diese Widerlegung bestätigt das Grundübel der eleatischen Erkenntnistheorie: die Ignorierung einer notwendig zu ziehenden Differenz zwischen Erkenntnisstrukturen, propositionalen und nicht-propositionalen, vermittelten und unmittelbaren. Die Strukturen des Denkens und Sagens sind nicht einfach denen der Wahrnehmung bzw. Empfindung gleichzusetzen. Kann man auch problemlos sagen ›etwas wahrnehmen‹, so doch nicht ›etwas denken und sagen‹, vielmehr muß es heißen ›denken und sagen, daß etwas der Fall ist oder nicht der Fall ist‹. Fälle ich z. B. eine Existenzaussage über den Regen, so lege ich immerhin den Regen als etwas Bestimmtes zugrunde, dessen Existenz oder Nicht-Existenz erst zu überprüfen ist. Gleiches gilt für qualitative Aussagen wie ›Der Baum ist grün‹. Hier setze ich den Baum voraus, auch wenn das Zusprechen der grünen Farbe erst zu überprüfen ist und sich als falsch erweisen könnte. Die A

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Korrektur der Erkenntnistheorie muß also in die Richtung gehen, die Unmittelbarkeit oder Einstrahligkeit durch eine Vermittlung oder Zweistrahligkeit zu substituieren. Die weiteren Erklärungsversuche des Irrtums berücksichtigen denn auch die Differenz zwischen Wahrnehmungs- und Denkstruktur. Der vierte Erklärungsversuch bedient sich des bekannten Bildes von der Wachstafel. 131 Die Seele wird mit einer wächsernen Prägemasse (kffirinon ¥kmage…on, 191c) verglichen, die individuell verschieden ausfällt, bei dem einen aus härterem Wachs, bei dem anderen aus weicherem besteht, bei dem einen aus reinerem, bei dem anderen aus unreinerem. Dies erklärt die individuellen Differenzen des Wahrnehmungs- und Gedächtnisvermögens der Menschen. In die so geartete Seele prägen sich die Wahrnehmungen und die von ihnen abhängigen Vorstellungen ein, die dort als Gedächtnisbilder aufbewahrt (vgl. 191 d) und anläßlich einer momentanen Wahrnehmung mit dieser zusammengeführt werden. Dabei kann die Zuordnung passend oder unpassend ausfallen wie die Zuordnung von rechtem und linkem Schuh zu den entsprechenden Füßen. Die unterschiedliche Qualität des Wachses erklärt die Unterschiede in der Veranlagung und Fähigkeit der Menschen, was Behalten, Erinnern und Vergessen betrifft: zu weiches Wachs bedeutet eine schlechte Disposition der Seele zur Aufnahme und Einprägung von Bildern, schnelles Vergessen, ebenso erweist sich zu hartes Wachs als ungeeignet, Eindrücke präzise aufzunehmen. Gegenüber den vorigen erkenntnistheoretischen Modellen hat dieses den Vorteil, der propositionalen Struktur des Denkens und Sagens, nämlich der Zweistrahligkeit, Rechnung zu tragen durch die Zuordnung des Erinnerungsbildes zum Wahrnehmungsbild. Bei deren Kombination lassen sich insgesamt sechzehn Möglichkeiten denken, vorausgesetzt, daß man von zwei zu komparierenden Gegenständen ausgeht. Da vier Formen Irrtum ausschließen: 1. die Wahrnehmung und Erinnerung der beiden Gegenstände, 131 Das Bild von der Wachstafel ist eines der geschichtlich wirkungsmächtigsten gewesen, das sich auch bei Aristoteles in De anima, 424 a17, findet und dann die gesamte weitere Tradition durchzieht und beim Rationalisten Descartes nicht anders anzutreffen ist als im englischen Sensualismus bei Locke und Hume. Sein Ursprung geht, vielleicht nicht ausschließlich, auf Demokrit zurück, der den Sehvorgang als Prägevorgang interpretiert, der in der Mitte zwischen Auge und Gegenstand stattfindet, derart, daß sowohl vom Auge wie vom Gegenstand Ausflüsse ausgehen und im Medium der Luft zusammengedrückt und geprägt werden.

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2. die Nicht-Wahrnehmung und Nicht-Erinnerung der beiden Gegenstände, 3. die Wahrnehmung der beiden Gegenstände, aber Erinnerung an nur den einen, und 4. die Erinnerung der beiden Gegenstände, aber die Wahrnehmung nur des einen, kommen nur noch die folgenden drei Fälle in ihrer Doppelung in Betracht: 1. Gegenstand A und B – denken wir an Theodorus und Theaitet – werden wahrgenommen und sind außerdem bekannt. Sie werden aber von fern und undeutlich gesehen, so daß eine Vertauschung der Gedächtnisbilder bei der Zuordnung zu den entsprechenden Wahrnehmungen eintreten kann. So kann beispielsweise Theodorus fälschlich für Theaitet gehalten werden und umgekehrt. 2. Theodorus und Theaitet sind beide zwar bekannt, aber nur der eine von ihnen wird gesehen, der andere nicht. Eine Vertauschung ist dann möglich, indem ich z. B. Theodorus aus der Ferne sehe, ihn aber nicht richtig erkenne und für Theaitet halte, den ich zwar kenne, de facto aber nicht wahrnehme und so auch umgekehrt. 3. Ein Gegenstand A oder B wird gesehen, ist aber nicht bekannt und wird für etwas Bekanntes, z. B. Theodorus oder Theaitet, gehalten. In diesem Falle halte ich fälschlicherweise etwas für etwas oder jemanden, den ich zwar kenne, aber nicht wahrnehme. Bei einer kritischen Überprüfung erweist sich diese Erklärung des Irrtums zwar nicht als falsch, doch als unzureichend. Sie ist nicht allgemeingültig, da sie sich nur auf eine Gruppe von Irrtümern beschränkt, diejenigen, die aus der Kombination von Wahrnehmungsund Gedächtnisbild resultieren. Sie erklärt aber nicht die Fehler im rein dianoetischen Bereich, z. B. nicht, wie es zum Verrechnen in der reinen Mathematik kommen kann, wo gelegentlich 5 und 7 nicht für 12, sondern für 11 gehalten werden. Hierauf versucht der fünfte Erklärungsvorschlag eine Antwort zu geben mit dem Bild des Taubenschlags. Die Seele wird hier mit einem Vogelkäfig verglichen und die Kenntnisse mit Vögeln, die eingesperrt entweder einzeln oder scharweise in größeren oder kleineren Gruppen im Käfig herumflattern. Zum Verständnis des Bildes ist auf die begriffliche Distinktion von Besitzen (kt»si@) und Haben (xi@) (197 b) hinzuweisen. Wie es einen Unterschied macht, ob man einen Mantel besitzt, d. h. sein legitimer Eigentümer ist, auch wenn man ihn nicht trägt, sondern im A

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Schrank hängen hat, und auf der anderen Seite einen Mantel hat, also trägt, zur Schau stellt, auch wenn man ihn nicht besitzt, so macht es einen Unterschied in bezug auf Kenntnisse, ob man sie nur besitzt oder präsent vor sich hat. Abgehoben ist mit dieser Differenz auf den Unterschied zwischen potentiellem und aktuellem Wissen, latenten und expliziten Kenntnissen. Die Kenntnisse im Vogelkäfig, die mit Ideen gleichzusetzen sind, welche teils einzeln, teils im Verbund mit anderen auftreten, gelegentlich auch, wie bei den generischen Ideen, im Verbund mit allen anderen generischen Ideen, haben den Status eines latenten Wissens. Sie sind vorerst nur in unserem Besitze, aber noch nicht aktualisiert, d. h. noch nicht präsent, was erst der Fall ist, wenn die eine oder andere herausgegriffen und für sich thematisiert wird. 132 Die richtige Meinung nun besteht im Herausgreifen der richtigen Idee, die falsche im Herausgreifen der falschen. In Bezug auf das Zahlenbeispiel, die Frage, ob 7 + 5 = 12 oder 11 sei, bedeutet Irrtum das Herausgreifen der 11 anstelle der 12. Die Widerlegung dieses Lösungsvorschlags erfolgt mit dem Hinweis, daß unverständlich bleibt, wie aus Kenntnissen falsche Meinung resultieren kann. Wie kann die Vertauschung von Kenntnissen zu Nicht-Erkenntnis führen, wie die von Richtigem zu Falschem? Wenn Unwissenheit zufolge des Wissens zustande kommt, dann könnte es auch für möglich erachtet werden, Unwissenheit für den Grund des Wissens oder Blindheit für den Grund des Sehens zu halten, was absurd ist. Theaitets Verbesserungsvorschlag geht daher in die Richtung, in der Seele, gedacht als Vogelkäfig, nicht nur Kenntnisse, sondern auch Unkenntnisse zuzulassen, also eine Mischung aus beiden (199 e). Da jedoch die Unkenntnisse für Kenntnisse gehalten werden, weil niemand glaubt, Falsches vorzustellen, kehrt die Untersuchung damit an den Ausgangspunkt der Erörterung zurück, allerdings auf höherem Niveau, indem nun eine Kenntnis sowohl von den Kenntnissen wie von den Nicht-Kenntnissen unterstellt und gefragt wird, ob man das, was man kenne, für das halten kann, was man ebenfalls kenne, oder das, was man nicht kenne, für das, was man ebenfalls nicht kenne, oder das, was man kenne, für das, was man nicht kenne und umge132 Diese Unterscheidung ist auch aus der Anamnesis-Lehre Platons bekannt, wo sie anhand des mytho-poetischen Bildes vom präexistenten, bei der Geburt jedoch vergessenen Wissen und der Wiedererinnerung desselben anläßlich einer Wahrnehmung dargestellt wird.

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kehrt. Die Argumentation hat damit die starre parmenideische Gegenüberstellung von Wissen und Nicht-Wissen wiedergewonnen, an die sich die übrigen Erklärungsversuche des Irrtums anschlossen, die Gegenüberstellung von Sein und Nicht-Sein, die Verwechslung, das Bild der Wachstafel und schließlich das vom Vogelkäfig. Statt voranzuschreiten, hat sich die Argumentation im Kreis gedreht und als zirkulär erwiesen. Wenngleich alle Versuche zur Erklärung des Irrtums scheitern und der Dialog aporetisch endet, wissen wir nach dem Durchgang durch sämtliche Möglichkeiten mehr über wahre und falsche Meinung als am Anfang. Da die aporetische Methode hier wie auch sonst bei Platon ein kathartisches Mittel ist, Extrempositionen zu eliminieren, um durch die sukzessive Ausscheidung der Wahrheit näherzukommen, selbst wenn dies ein unendlicher Prozeß sein sollte, stellt sich am Schluß des Durchgangs noch einmal die Frage nach der Möglichkeit der Definition der Erkenntnis als wahre Meinung. Als definiens von Erkenntnis ist sie unzureichend, was sich anhand einer einfachen Überlegung demonstrieren läßt: Ein Richter, der über ein Delikt zu befinden hat, hat aufgrund der Überzeugungs- und Überredungskünste von Ankläger und Angeklagtem im besten Fall eine wahre Meinung (richtige Vorstellung) vom Vorgang, nicht jedoch ein Wissen, letzteres deswegen nicht, weil er beim Vorgang nicht anwesend war. Wissen verlangt eine Komplexität von Bedingungen. Zum einen setzt es den Wahrnehmungsbezug voraus, wie er im ersten Teil des Dialogs thematisiert wurde, zum anderen, darauf aufbauend, die wahre Meinung (richtige Vorstellung), die die Mannigfaltigkeit der Sinneseindrücke zu einer holistischen Vorstellung synthetisiert, wie sie im zweiten Teil des Dialogs relevant wurde und als implizites Urteil die Grundlage zur weiteren Explikation abgibt. Es fehlt noch drittens das Rechenschaftgeben über die richtige Vorstellung, die rationale Begründung, die im dritten Teil zur Sprache kommt. Kenntnis im Vollsinne konstituiert sich sowohl aus einem sinnlichen wie aus einem logisch-begrifflichen Element wie aus der Synthesis beider. So wichtig das sinnliche Moment, das Präsentsein am Tatort, sein mag, so genügt es doch nicht zur Erkenntnis, ebenso wie die bloße Vorstellung, auch wenn sie das Richtige treffen mag, ständig in Gefahr ist, ›davonzulaufen‹, solange sie nicht durch eine hinreichende Begründung gebunden ist.

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3. Erkenntnis = richtige Meinung plus Begründung Der dritte Hauptteil des Theaitet widmet sich daher der Aufgabe, die noch fehlende Bedingung, nämlich das logisch-begriffliche Moment, zur Sprache zu bringen. Aufbauend auf dem zweiten Definitionsversuch, wonach Erkenntnis wahre Meinung ist, wird ergänzend hinzugefügt, daß sie wahre Meinung plus Erklärung (metÞ lgou ⁄lhq¼@ dxa, 201 c f.) sei. Der Begriff lgo@ weist im Griechischen ein breites Bedeutungsspektrum auf, das von Denken und Sagen über Urteilen, Erklären, Begründen, Rechenschaftgeben, Argumentieren, Diskurs bis hin zu Verhältnis und Grund reicht. Wenn Erkenntnis hier als wahre Meinung plus Logos definiert wird, dürfte am ehesten das Begründen, Erklären, Argumentieren gemeint sein, wie denn auch im Phaidon (95 d, vgl. 101 d) das lgon didnai, d. h. das Rechenschaftgeben, das Anführen von Gründen als Aufgabe der Wissenssuche genannt wird. Die gegenwärtige Situation weist eine markante Eigentümlichkeit auf, nämlich die der Selbstreferentialität. Da Meinung definiert wurde als Selbstgespräch der Seele (lgon ˚n a't¼ pr@ a¢t¼n  yucffi, 189 e, vgl. 190 a), das, zum Abschluß und zur Ruhe gekommen, ein geschlossenes implizites Urteil darstellt, dem jetzt ein metÞ lgou = ›Rechenschaftgeben‹ angefügt wird, kann die Charakteristik nur darauf hinauslaufen, die bereits vorliegende implizite Erklärung zu explizieren. Das ist ein evident redundantes Verfahren, das die gesamte folgende Argumentation von vornherein in den Rahmen eines Kreisgangs stellt. Rechenschaftsablegung, Erklärung ist prinzipiell ein Ableitungsverfahren aus Gründen. Platon präsentiert deren mehrere Modelle. Das erste ist ein Modell der Deduktion, das sich den Hervorgang des Zusammengesetzten aus unzusammengesetzten, irreduziblen, einfachen Bestandteilen, sogenannten Urelementen (stoice…a, 202 b u. ö.), denkt. Da absolut einfache Elemente, die eingestaltig (monoeidff@, 205 d) und unteilbar (⁄mffriston, 205 d) sind, zwar wahrgenommen werden können (a§sqhta, 202 b), aber unerklärbar und damit auch unerkennbar (˝gnwsta, 202 b) sind, indem sie weder aus anderem noch aus sich selbst abgeleitet werden können, läuft das Modell darauf hinaus, Erkennbares, nämlich Erklärbares, aus Unerkennbarem, nämlich Unerklärbarem, abzuleiten. Eine solche These, wie sie wahrscheinlich von Antisthenes und seinen An216

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hängern vertreten wurde, 133 erscheint absurd. Bei ihrer Zurückweisung rekurriert Platon auf die Doppelnatur dessen, was man ein Ganzes (ˆlon, 204 a u. ö.) nennt. Zum einen ist dies im aggregativen Sinne ein Insgesamt von Teilen (tÞ p€nta mffrh, 204 b), bei dem nichts fehlen darf – ein Ganzes besteht aus Teilen und ist stets ein Ganzes aus Teilen –, zum anderen aber ist es im holistischen Sinne eine einzige Gestalt (mffla t½@ §dffa, 203 c, vgl. n ti edo@, 204 a), ein absolut Einfaches ohne Teile, quasi eine synthetische Einheit qua Einheit, aber nicht qua Synthesis der Mannigfaltigkeit der Teile, mithin ein Ganzheitseindruck. Als Demonstrationsbeispiel dienen Silben und Zahlen. Wie die Silbe ›So‹ aus Sokrates zum einen eine Zusammensetzung aus zwei Teilen, nämlich S und o, ist, so stellt sie andererseits eine einfache, einheitliche Gestalt dar. Ebenso die Zahl 2, die eine Zusammensetzung aus 1 und 1 ist, andererseits jedoch eine aus beiden hervorgehende neue synthetische Einheit, ein Einfaches. Aufgrund der Ambivalenz ergibt sich die Alternative, daß entweder Silben und Zahlen die Gesamtheit der Buchstaben bzw. der Einheiten sind und damit erkennbar und erklärbar, da sich die Buchstaben und Einheiten in ihrer Gesamtheit als gleichartig mit dem Ganzen erweisen, oder aber, daß Silben und Zahlen einfach und unteilbar sind und damit unerklärbar und unerkennbar. Die Entscheidung der Alternative fällt zugunsten der ersteren aus, da das Erlernen des Sprach-, Zahlen- oder Tonsystems in der unterscheidenden visuellen, intellektuellen und akustischen Erfassung der Elementarbestandteile, der Buchstaben, Einheiten und Töne, besteht und diese meist viel deutlicher erkannt werden als ihre Zusammensetzung. Ist erst einmal sichergestellt, daß Erkennbares nicht aus Unerkennbarem hergeleitet werden kann, so folgt nun die Erklärung von Herleitung selbst bzw. von lógos. Hierbei geht es um eine Definition der Definition, eine Erklärung der Erklärung. Angegeben werden drei Erklärungsweisen: 1. Verlautbarung, 2. Enumeration der Teile und 3. Angabe von Differenzen. Auf den ersten Blick scheinen diese Auslegungen nichts miteinander zu tun zu haben, bei näherer Betrachtung jedoch erweisen sie sich als wohlgewählt, als notwendige, wenngleich für sich genommen nicht hinreichende Bedingungen der Erklärung, die erst in ihrer Gesamtheit – auch bei äußerem Eindruck

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Vgl. Aristoteles: Metaphysik, 8. Buch, Kap. 3 (1043 b23 ff.). A

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des Scheiterns – Aufschluß über den Status von Erkenntnis zu geben vermögen. Die erste Interpretation versteht den lógos als Explikation im Sinne von Äußerung, Verlautbarung, Transfer des Gedankens in das Medium der Sprache. Nahegelegt wird diese Interpretation durch die Tatsache, daß lógos im Griechischen die Doppelkonnotation von Denken und Sagen hat. Bedeutet lógos im ersteren Sinne das lautlose, stille Gespräch der Seele mit sich selbst, das in Urteilsform geschieht, und zwar in Form einer Subjekt-Prädikat-Beziehung und damit einer Zusammensetzung von Haupt- und Zeitwörtern, so meint lógos im zweiten Sinne den Ausdruck im Medium der Sprache durch Ausströmen der Laute und Worte aus dem Mund, wobei sich das Innere im Äußeren gleichsam wie im Spiegel oder Wasser als Abbild manifestiert. Lógos ist hier der Transfer des Gedankens in das sinnliche Material der Sprache. Die Interpretation ist jedoch als ungenügend zurückzuweisen, da hiernach jede richtige Meinung (¤rq¼ dxa, 206 e) Erkenntnis wäre; denn jeder, mit Ausnahme des Taubstummen, vermag seine Meinung sprachlich zu artikulieren, der eine schneller, der andere langsamer, der eine genauer, der andere ungenauer. Selbst den Taubstummen könnte man noch mit einbeziehen, obgleich Platon dies expressis verbis nicht tut, etwa wenn man an eine Explikation nicht im sprachlichen, sondern im bildlichen Medium von Farben und Materialien wie bei Zeichnungen, Gemälden, Kunstwerken dächte. Auch das ist in Platons Sinne Abbild (e—dolon). Enthält die voranstehende Interpretation der sprachlichen Verlautbarung den mehr oder weniger versteckten Hinweis auf die einzelnen stimmlichen Laute bei der Äußerung, so greift die zweite Interpretation diesen Hinweis auf und nennt die Aufzählung der Elemente einer Sache als Definitionskriterium des lógos. So wie nach einer stehenden Redewendung Hesiod bei der Definition »die hundert Hölzer des Wagens« (207 a) aufzählt: Räder, Achsen, Obergestell, Sitz, Joch usw., so sollen die internen Bestandteile einer Sache das notwendige und zureichende Kriterium der Erklärung sein und damit die Erkenntnis der Sache ermöglichen. Obwohl die stocheía-Methode eine notwendige und unerläßliche Bedingung zur Definition eines Gegenstandes ist, ist sie keine zureichende; denn ein Gegenstand konstituiert sich nicht nur aus der Gesamtheit seiner Elemente, sondern bedarf darüber hinaus der Zusammenfassung und Subsumption dieser Gesamtheit unter eine ein218

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zige einheitliche Vorstellung – wir würden heute sagen: unter einen Begriff. An der Gegenüberstellung von p”n und ˆlon wird deutlich, daß p”n die Gesamtheit der Elemente als Summe meint, ˆlon das Ganze, Zusammenfassende, Einheitliche. Beides ist notwendig zur Erfassung eines Gegenstandes, wie das Beispiel des Lesens und Schreibens zeigt. Beim Lesen und Schreiben muß der Weg durch alle Elemente genommen werden, doch genügt dieser Weg allein nicht zum Verständnis der Worte und Sätze. Wer die Buchstaben nur durchgehen, also lesen und schreiben kann, ist noch nicht sprachkundig und verständig. Bedeutungsverstehen der Wörter und ihre richtige, ordnungsgemäße Schreibweise setzen die Subsumption der Elemente unter einen einheitlichen Begriff (platonisch: Gestalt) voraus. So ist es geradezu zwingend, daß Platon mit der dritten Interpretation des Logos dieses Moment herausstellt. Nach der dritten Interpretation besteht der lógos nicht in der Angabe der internen Bestandteile, sondern in der Angabe der externen Differenzen zu anderen Gegenständen ( diaforÞ tn ˝llwn, 208 e). Verlangt wird die Namhaftmachung sowohl des Gemeinsamen wie auch des Differenten. Als Beispiel wählt Platon die Charakteristik Theaitets. Es genügt nicht, ihn als Menschen mit Augen, Ohren, Mund und Nase zu beschreiben, weil er diese Charakteristika mit allen anderen Menschen gemein hat. Gesucht wird nach einem Spezifikum, das ihn von anderen unterscheidet, wie seine Krummnasigkeit und das Hervorquellen seiner Augen. Da er diese Eigenschaften jedoch auch wieder mit anderen teilt, z. B. mit Sokrates, ist nach weiteren Differenzkriterien zu suchen, etwa der besonderen Krummnasigkeit oder dem besonderen Hervorquellen der Augen und so in infinitum. Diese Auslegung von Logos läuft auf das hinaus, was Platon in etlichen seiner Dialoge – in der Politeia andeutungsweise, im Sophistes und Politikos in extenso – vorexerziert hat. Es ist das Definitionsschema von genus proximum per differentiam specificam, demzufolge ein Gegenstand durch Angabe eines höheren Genus, unter das er fällt, und einer spezifischen Differenz, kraft deren er sich von anderen Gegenständen unterscheidet, definiert wird. Das Schema ist iterierbar und führt daher zu einem hierarchischen Aufbau aus Gattungen, Arten, Unterarten, Unter-Unterarten usw. Was hier von Platon erarbeitet wird, ist das aus der späteren Logik und Wissenschaftstheorie bekannte Spezifikations- und Klassifikationssystem. Der Grund, weswegen auch diese von Platon eruierte und hochA

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geschätzte Interpretation des lógos dem Anspruch nicht genügt, erklärt sich aus dem Umstand, daß die richtige Vorstellung einer Sache bereits die Vorstellung ihrer Unterscheidung von anderen involviert, so daß die Interpretation redundant ausfällt. Da dies für jede Stufe des Spezifikations- bzw. Klassifikationssystems gilt, kann sich keine – weder eine spezielle noch eine generelle – dieser Redundanz entziehen. Damit endet auch der letzte Interpretationsversuch zirkulär: Ausgegangen war von der Erkenntnis als richtiger Vorstellung plus lógos, lógos wurde zuletzt interpretiert als Vorstellung des Unterschieds. Setzt man diese Interpretation in die obige Formel ein, so wird die richtige Vorstellung durch die Vorstellung des Unterschieds definiert, die ihrerseits Voraussetzung des lógos ist. Von der Zirkularität und dem vermeintlichen Scheitern der Definition der Erkenntnis aufgrund der aporetischen Situation einmal abgesehen, bietet das Ergebnis des Dialogs interessante methodologische Aufschlüsse. Wie die Unmöglichkeit einer Ableitung des Zusammengesetzten aus Unzusammengesetztem (absolut Einfachem) gezeigt hat, läßt sich die Erkenntnis niemals von einem archimedischen Punkt außerhalb ihrer ableiten und erklären und damit als echte Erkenntnis ausweisen. Sie verlangt stets den Sprung mitten hinein in das, was wir Erkenntnis nennen und was wegen der Unausweisbarkeit immer nur Meinung bleibt. Das im Theaitet auftauchende Methodenproblem zeigt, daß man mit der Suche nach einer Definition der Erkenntnis, also einer selbstreferentiellen Erkenntnis der Erkenntnis, eingesteht, nicht im Besitze einer solchen zu sein. Gleichwohl muß man, um die Definitionsfrage überhaupt stellen zu können, irgendwie wissen, was Erkenntnis ist, mit Heidegger zu sprechen, ein Vorverständnis haben, um dieses als Leitfaden und Kriterium der Abweisung ungenügender Definitionen benutzen zu können. Konkret läßt sich die Situation durch das Bild beschreiben, daß man ins Wasser springen muß, um zu schwimmen. 134 Erkenntnis läßt sich nur vermittels der Erkenntnis aufklären; wo Erkenntnis unausgewiesen bleibt, handelt es sich um Meinung und Meinungsbildung. Die Zirkularität der Argumentation verhindert, von echter Erkenntnis zu sprechen. Zugleich gibt die Argumentation Aufschluß über das Verhältnis von Sachuntersuchung und Erkenntniskritik. Bezüglich dieses Ver134 Vgl. Hermann Gauss: Philosophischer Handkommentar zu den Dialogen Platons, 3. Teil, 1. Hälfte, Bern 1960, S. 101.

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hältnisses bieten sich mehrere Möglichkeiten an, die auch historisch von unterschiedlichen philosophischen Positionen realisiert worden sind. Der einen zufolge, als deren Vertreter Leibniz gelten kann, aber auch andere, wie der Neuthomist Amadeo Silva-Tarouca 135 , geht die Beschäftigung von Sachproblemen aus, an die sich die Erkenntniskritik anschließt in der Meinung, zunächst müsse ein Fundament errichtet werden, bevor man dieses kritisch auf seine Tragfähigkeit überprüfen könne. Das ist ein dogmatischer Standpunkt, dessen Kritik zwar zur Selbstkorrektur führt, niemals aber so weit geht, daß das Fundament völlig destruiert wird. Die andere Position, repräsentiert durch Kant, läßt in undogmatischer, kritischer Absicht eine Erkenntniskritik der Erörterung von Sachproblemen vorausgehen, ist sich aber nicht bewußt, daß sie selbst dogmatisch verfährt, insofern sie den Erkenntnisbegriff, nach dessen Möglichkeit, Umfang und Grenzen sie fragt, als anthropologische Konstante unterstellt, deren Apriori einer Selbstevidenz zugänglich sein soll, statt ihn als historisch bedingtes Kulturprodukt zu nehmen. Die dritte Position stellt die platonische dar, die die Erkenntniskritik stets zusammen mit der Sachuntersuchung betreibt. Das hat zur Konsequenz, daß die erkenntnistheoretischen Einsichten in die logischen Bedingungen immer zusammen mit den Bemühungen um Sachfragen auftreten und solange unabgeschlossen bleiben, wie die empirischen Untersuchungen andauern, d. h. für immer. Die erkenntnistheoretischen Bedingungen, z. B. das Logossystem, erweisen sich damit als ein offenes, nie abschließbares und definitiv gliederbares Feld. Gegenüber der geschlossenen axiomatischen Logik des Aristoteles decouvriert sich Platon als prinzipiell offener Theoretiker in einem höchst modernen Sinne, wie später zu zeigen sein wird. 136 6.2. Platons Systembegriff Es legt sich nahe, an dieser Stelle auf Platons Systembegriff einzugehen, nicht nur, weil dieser eine eminente Rolle, vielleicht sogar die entscheidende überhaupt im Verständnis der Erkenntnis, d. h. des

135 Amadeo Silva-Tarouca: Thomas heute. Zehn Vorträge zum Aufbau einer existentiellen Ordnungs-Metaphysik nach Thomas von Aquin, Wien 1947. 136 Vgl. S. 234 f. dieser Arbeit.

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theoretischen Wissens spielt, 137 sondern auch, weil der Systembegriff in der auf Platon folgenden und durch ihn inspirierten Tradition zum Fundamentalbegriff des wissenschaftlichen Wissens avanciert ist. Einzugehen ist sowohl auf seine Konzeption wie auf seinen Status. a) Konzeption des Systembegriffes Der Terminus ›System‹ geht auf den griechischen Verbalstamm sunist€nai 138 mit der Bedeutung ›zusammenstellen‹ sowie auf die Substantivbildung sÐstasi@ = ›Zusammenstellung‹ 139 zurück. In denselben semasiologischen Kontext gehören sun€gein = ›zusammenführen‹ 140 , sunde…n = ›verbinden‹ 141 , sumbafflnein = ›zusammengehen‹ 142 , sunarmttein = ›zusammenfügen‹ 143 , sunffrcesqai = ›zusammenkommen‹ 144 . Das massive Auftreten des Begriffes und seiner Synonyme in Timaios 31 b – 33 a ist Indiz für die Relevanz desselben. Immer wenn Platon Begriffe in Häufungen verwendet – hier vierzehnmal kurz nacheinander –, stellt dies einen Kunstgriff dar, auf die Bedeutung eines Terminus aufmerksam zu machen. Die Nennung geschieht im Kontext einer Erörterung über den Kosmos und seinen Aufbau. Während im Theaitet der Systembegriff im Rahmen der Erkenntnis, mithin der subjektiven Sphäre, verwendet wird zur Erklärung der Struktur der die Erkenntnis legitimierenden Definition, erfolgt im Timaios die Verwendung im objektiven Bereich im Rahmen einer Charakterisierung des Kosmos. Dies weist auf einen Unterschied in seinem Gebrauch, und zwar in dem Sinne, daß er zum einen als subjektive Zusammenstellung auftritt, zum anderen als objektiv Zusammengestelltes. Die Unterscheidung läuft auf eine formale und eine angewandte, materiale Bedeutung hinaus. Es ist Platons Verdienst, diese Distinktion elaboriert zu haben, 145 137 Im Siebten Brief nennt Platon außer dem Namen (noma) einer Sache und dem Abbild (e—dolon) die Definition (lgo@), deren sinnvollste Auslegung nach dem Theaitet die systematische Einordnung der Sache ist. Sie alle bilden Konstituentien der Erkenntnis (¥pistffimh) in bezug auf das Sein (n). 138 Platon: Timaios 31 b. 139 A. a. O., 32 c. 140 A. a. O., 31 c1. 141 A. a. O., 31 c2 f.; 32 b7; 32 c4. 142 A. a. O., 32 a6. 143 A. a. O., 32 b3. 144 A. a. O., 32 c3. 145 Vgl. Platon: Phaidon 85 d ff., 92 a ff.

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zwar nicht am Systembegriff selbst, wohl aber an dem mit ihm verwandten Harmoniebegriff. In einer Kritik an der pythagoreischen Harmonieauffassung, die das Harmonie-Haben und das HarmonieSein konfundierte, weist Platon auf die Notwendigkeit einer Distinktion hin; denn eine gestimmte Leier und, im übertragenen Sinne, eine gestimmte Seele können Harmonie haben, ohne selbst Harmonie zu sein. Die Harmonie – Entsprechendes gilt für das System – ist ein formal, sogar mathematisch exponierbares Verhältnis von Tönen, das der Applikation auf diverse Instrumente vorausgeht und daher a priori, unabhängig von seiner materiellen Anwendung einsehbar ist. Formal gesehen handelt es sich beim System nicht um irgendeine beliebige, zufällige Zusammenstellung, so wie der Wind am Strand die Sandkörner zusammenweht, sondern um ein bestimmtes planvolles Arrangement. Dem ersteren, dem sogenannten Aggregat, ist das System konfrontiert. Darauf weist schon die Tatsache, daß der Systembegriff im Timaios im Kontext der Frage nach der Strukturierung des Kosmos auftritt. Ksmo@ = ›Welt‹ bedeutet ursprünglich ›Wohlordnung‹ und ›Schönheit‹ – für das griechische Empfinden ist Ordnung mit Schönheit, Unordnung mit Chaos, Anarchie und Häßlichkeit verbunden. Der Systembegriff muß also nach seiner strukturellen Verfassung dem Postulat der Wohlordnung, Gleichförmigkeit und Schönheit genügen. In jeder Zusammenstellung geht es um die Zusammenstellung einer Mehrheit, zumindest einer Zweiheit zur Einheit. Vielheit und Einheit sind die beiden Pole, die über eine Synthesis miteinander zu vermitteln sind. Gilt es nicht nur eine einzelne Zweiheit von Instanzen zur Einheit zu verbinden, sondern eine beliebige Menge, so ist das Prinzip so oft zu iterieren, wie sich noch eine Zweiheit findet. Auf diese Weise kommt über Teilsysteme ein Gesamtsystem, ein einziges, allumfassendes Universalsystem zustande. Dieses weist dann die Struktur eines Ganzen aus Teilen auf, deren Teile selbst wieder Ganze aus Teilen sind und diese ihrerseits usf., so daß die Homogenität der Grundstruktur durch alle Teile hindurch garantiert ist. Die Tatsache, daß das Ganze (ˆlon) als eine Einheit aus Vielem verstanden wird, bestätigt Platons Analyse der Ambivalenz des ˆlon als einfache Einheit (mffla ti@ §dffa) und gleichzeitige Gesamtheit der Teile (p”n oder p€nta) im Theaitet. Allerdings ist der Struktur der Synthesis noch genauer nachzuforschen, da die bisherige Beschreibung auch zur Interpretation von räumlicher und zeitlicher Relativität A

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dient, da sich auch hier in jedem herausgegriffenen Raum- oder Zeitstück die Struktur des Ganzen iteriert. Beim Vorliegen zweier Instanzen zielt deren begrifflich-systematische Erfassung stets darauf, das Gemeinsame der beiden zu finden sowie eine spezifische Differenz zu benennen, kraft deren sie sich unterscheiden. Für den Fall, daß sich herausstellen sollte, daß das beiden Gemeinsame selbst wiederum in einer Differenz zu einem anderen Gemeinsamen von Instanzen steht, ist wiederum nach dem Gemeinsamen dieser beiden Gemeinsamen zu fragen sowie nach einem Differenzkriterium, kraft dessen sie sich unterscheiden und so beliebig fort. Auf diese Weise resultiert ein hierarchischer Aufbau, der von niederen Stufen zu immer höheren, allgemeineren und umfassenderen reicht bzw. bei umgekehrter Perspektive von Gattungen über Arten zu Unterarten und Unter-Unterarten usw. geht. Diesem Klassifikations- bzw. Spezifikationssystem liegt das bekannte Schema von genus proximum per differentiam specificam zugrunde, bei dem man zur Bestimmung einer konkreten Sache das nächsthöhere Genus plus einer spezifischen Differenz angibt und diesen Vorgang solange wiederholt, bis man zum ˝tomon edo@ gelangt. Je tiefer man steigt, desto reicher wird der inhaltliche Merkmalskomplex, freilich desto enger dessen Umfang, und je höher man aufsteigt, desto ärmer werden die Merkmale, desto umfassender jedoch der Umfang. Inhalt und Umfang verhalten sich reziprok. In formaler Hinsicht ist das angestrebte Ideal eine dichotomische Dihairesis, ein Zweiteilung, nach der jede Gattung in zwei und nur zwei Arten zerfällt, um auf diese Weise das gesamte Seiende einzufangen. Dabei sind die logischen Grundsätze der Identität, des auszuschließenden Widerspruchs und des ausgeschlossenen Dritten zu wahren, wenngleich diese bei Platon noch nicht expressis verbis auftreten, sondern erst von Aristoteles formuliert werden. In der Realität begegnen allerdings meist mehrteilige Gliederungen, wie sie aus Biologie und Geologie und anderen empirischen Disziplinen bekannt sind. b) Status des Systems Ist damit auch die Konzeption des Systems als solche beschrieben, so steht doch die Kennzeichnung seines Status noch aus. Hierüber gibt Platon im Phaidon im Kontext der Errichtung des Systems Auf224

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schluß.146 Danach legen wir jedesmal den Logos, welcher uns der stärkste und überzeugendste zu sein scheint (¥rrwmenffstato@ lgo@, 100 a), zugrunde, d. h. wir setzen ihn als Hypothese (¢poqffmeno@, 100 a), ziehen daraus die Folgerungen, die nach logischen Gesetzen miteinander kompatibel und konsistent sein müssen, also widerspruchsfrei miteinander vereinbar, umfassend und vollständig wie auch anhand der Realität überprüfbar, um dann zum nächsthöheren Logos aufzusteigen, der in demselben hypothetischen Verfahren angenommen wird und von diesem wieder zum nächsthöheren mit dem Ziel, an einen absoluten Anfang, einen letzten, allumfassenden und zureichenden Grund zu gelangen, der Grund von allem ist, selbst aber nicht mehr in anderem gründet. Dieser wäre dann eine voraussetzungslose Voraussetzung. Solange dieselbe nicht gefunden ist, bleibt das gesamte System ein Hypothesensystem, das zwar interne Notwendigkeit aufweisen mag, aber keine externe. Eine Bestätigung findet diese Hypothetik in der Politeia im Rahmen des Liniengleichnisses, anhand dessen Platon seine Ontologie und Epistemologie demonstriert. Dort erörtert er den Unterschied zwischen mathematischer und philosophischer Methode, die beide dem höheren, nämlich intellektuellen Erkenntnisbereich (gnsi@) angehören, nicht dem niederen, sinnlichen, auf den sich die bloße Meinung bezieht, mit anderen Worten, dem formalen, nicht dem realen Bereich. Nach dem Vorbild der euklidischen Mathematik setzt er das mathematische Verfahren als axiomatisches an, das von einer bestimmten, begrenzten Anzahl von Axiomen ausgeht, die für evident gehalten und von mathematischer Seite nicht weiter hinterfragt werden und aus denen durch Deduktion und Kombination die übrigen Sätze des mathematischen Systems gewonnen werden. Obwohl von einer inneren Konsistenz des Axiomensystems gesprochen werden kann – in moderner Ausdrucksweise würde man den Terminus ›implizite Definition‹ verwenden, die ihrer empirischen Interpretation noch harrt –, hat es nur hypothetischen Charakter, was sich daran zeigt, daß die philosophische Methode (dialektik¼ tffcnh) die für evident genommenen Axiome hinterfragt, also genau dort ansetzt, wo die Mathematik endet. Geht die letztere, metaphorisch gesprochen, von oben nach unten, so die erstere von unten nach oben. Sie sucht nach noch höheren Gründen, auf die die Grundannahmen der Mathematik reduzierbar sind und, im Falle des Antreffens einer Plu146

Vgl. a. a. O., 100 a und 101 d f. A

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ralität solcher, nach noch höheren, allgemeineren Gründen usf. Bei diesem Procedere bewegt sie sich nur innerhalb der Begriffssphäre, indem sie bei Begriffen beginnt, durch Begriffe hindurch sich vollzieht und bei Begriffen endet mit dem Ziel, ein Voraussetzungsloses (⁄nupqeton, 511 b) zu finden, das die Ableitung der begrifflichen Stufen legitimiert. Solange die Fundierung des Systems in einem solchen Voraussetzungslosen nicht geleistet ist, bleibt das System ein reines Hypothesensystem. Im Klartext heißt dies, daß das Wissenschaftssystem lediglich hypothetischen Charakter aufweist, lediglich ein rein formales Modell ist, dessen Applikation auf die Realität noch aussteht, zumindest solange, wie das höchste, allgemeinste, allumfassende Prinzip, das umfangmäßig deckungsgleich ist mit der unendlichen Realität, nicht aufgefunden ist. c) Komplikationen 1. Was die Frage nach der möglichen Auffindung eines allumfassenden Prinzips und der Verankerung des wissenschaftlichen Hypothesensystems in einem solchen betrifft, so erhalten wir Aufschluß darüber im Sonnengleichnis der Politeia. Wie das Licht (f@) im sichtbaren Bereich Ermöglichungsgrund des Sehvorgangs ist, dafür, daß das Auge zum Gegenstand durchdringen und der Gegenstand vom Auge gesehen werden kann, selbst aber nicht sichtbar ist, denn im Lichte sehen wir, das Licht selbst sehen wir nicht, so fungiert im denkbaren Bereich die Idee des Vollkommenen (§dffa to‰ ⁄gaqo‰) als Ermöglichungsgrund der Erkenntnis, dafür, daß der Nus die Ideen in ihrem An-sich-Sein, d. h. ihrer Wahrheit, zu erfassen vermag und umgekehrt diese von ihm erfaßt und erkannt werden können. Selbst aber ist sie jenseits des Seins (¥pffkeina t»@ o'sffla@, 509 b) und, wie hinzugefügt werden kann, auch jenseits der Erkenntnis. Aufgrund dieser Seins- und Erkenntnistranszendenz ist die höchste Idee selbst weder Gegenstand der Erkenntnis noch der Erkenntnisakt noch die Erkenntnisrelation. Obwohl Ermöglichungsgrund von allem, entzieht sie sich der Erkennbarkeit. Allerdings hat man immer wieder darauf hingewiesen, daß dies nicht die einzige Aussage Platons bezüglich der höchsten Idee sei. Daneben gibt es andere, widersprechende, z. B. 511 b: »So verstehe denn auch, daß ich unter dem andern Teil des Denkbaren dasjenige meine, was die Vernunft selbst ergreift mittels des dialektischen Ver-

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mögens, indem sie die Voraussetzungen nicht zu Anfängen, sondern wahrhaft zu Voraussetzungen macht, gleichsam als Zugang und Anlauf, damit sie, bis zum Nichtvoraussetzungshaften an den Anfang von allem gelangend, diesen ergreife, und so wiederum, sich an alles haltend, was mit jenem zusammenhängt, zum Ende hinabsteige, ohne sich überhaupt irgendeines sinnlich Wahrnehmbaren zu bedienen, sondern nur der Ideen selbst an und für sich, und so bei Ideen endigt.« (Übersetzung von Friedrich Schleiermacher).

Oder 532 a f.: »So auch wenn einer unternimmt, durch Dialektik ohne alle Wahrnehmung nur mittels des Wortes und Gedankens zu dem selbst vorzudringen, was jedes ist, und nicht eher abläßt, bis er, was das Gute selbst ist, mit der Erkenntnis gefaßt hat, dann ist er an dem Ziel alles Erkennbaren, wie jener dort am Ziel des Sichtbaren.« (Übersetzung von Friedrich Schleiermacher). 147

Der scheinbare Widerspruch läßt sich jedoch unter Zugrundelegung der epistemischen Differenz von noe…n und dianoe…sqai, d. h. intellektueller Anschauung und begrifflicher, analytisch-synthetischer Definition, dahingehend auflösen, daß zwar eine spontane holistische intellektuelle Einsicht des Grundes möglich ist, aber keine Erkenntnis im strikten Sinne, der zufolge das holistisch Geschaute hinsichtlich seiner Teile expliziert, also im logischen Diskurs begründet werden können muß. Es ist derselbe Unterschied, von dem Platon im Theaitet bei der Diskussion der einfachen, unteilbaren Urbestandteile Gebrauch machte. Diese wurden dort 148 zwar als wahrnehmbar bezeichnet – in diesem Falle als sinnlich einsehbar –, jedoch wegen der Unerklärlichkeit und Undefinierbarkeit als unerkennbar. Erkenntnis ist mehr als bloß sinnliche oder intellektuelle Anschauung; sie verlangt stets eine ausweisende Begründung im diskursiven Durchgang. Das Verhältnis von Systemgrund und explizitem System ist so zu denken, daß die Intellektualeinsicht des Grundes erst durch die vollständige Systemexplikation zur vollständigen Erkenntnis führt. Genau dies aber macht die Unendlichkeit und Unabschließbarkeit der differenzierenden Spezifikation unmöglich. 2. Nicht nur bezüglich des Anfangs und Ursprungs des Systems resultieren Schwierigkeiten, sondern auch bezüglich des Abschlusses, 147 Eine ausführliche Erörterung mit der Auflistung und Diskussion sämtlicher Stellen in Platons Politeia hat Rafael Ferber in seinem Aufsatz: Ist die Idee des Guten nicht transzendent oder ist sie es doch? Nochmals Platons 6EPEKEINA THS OUSIAS, in: Méthexis, Bd. 14 (2001), S. 7–21, vorgenommen. 148 Vgl. Platon: Theaitet 202 b.

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insofern das formale System – und mag es noch so weit expliziert und differenziert sein – niemals totaliter mit dem materiellen System zusammenfällt. Zwischen zwei Individuen lassen sich immer noch weitere Unterschiede denken, ohne daß man bei der Bestimmung an ein Ende käme. Eine vollendete, durchgängige Bestimmung liefe auf die Koinzidenz des Formalsystems mit der Existenz hinaus. Die Unmöglichkeit einer solchen hat die mittelalterliche Scholastik durch den Spruch ausgedrückt: individuum est ineffabile (»Das Individuum ist unaussprechlich hinsichtlich seiner Prädikate«). Zwischen dem System formaler Bestimmungen und dem Individuum bleibt stets eine Kluft, die ihre sprachliche Exposition darin findet, daß man im Unterschied zur ›Subordination‹ der logischen Bestimmungen von einer ›Subsumption‹ des realen Individuums unter den Begriff spricht. Einen Grund für diese Inkongruenz hat Platon im Philebos (16 c) genannt. Dort bestimmt er jeden konkreten Gegenstand als Zusammensetzung aus Einem und unbestimmt Vielem, Begrenztem und Unbegrenztem, wobei das Begrenzte durch die Idee und das Unbegrenzte durch die räumlich-materielle Extensionalität repräsentiert wird. Es ist diese Unbegrenztheit und Unbestimmtheit der Raumstruktur bzw. Materie, 149 die eine vollständige und durchgängige Fixierung verhindert. 3. Eine weitere Schwierigkeit resultiert aus der Tatsache, daß sich bei der Einteilung des Systems zu den logischen Stufen des öfteren keine entsprechenden Namen (noma) in der Sprache finden, entweder keine treffsicheren oder überhaupt keine. Der Grund ist darin zu sehen, daß die allein aus der logischen Übung entspringenden Einteilungen oft beliebig, nicht in der Sache selbst begründet und daher im Alltag ungebräuchlich und ohne Namen sind. Zwar läßt sich für jede dihairetische Einteilung ein Logos, eine definitorische Erklärung durch Angabe von Gattungs- und Artbegriff geben, wegen der willkürlichen Einteilung aber nicht ohne weiteres auch ein Name finden. Sondert man z. B. aus einer Gesamtsphäre einen x-beliebigen Teil aus, eine Myriade 150 oder 10 oder 12, so kann es für diesen Teil zwar einen eigenen Namen geben, gegebenenfalls mag er sogar sinnvoll sein wie die Dekade im Falle des Dezimalsystems und die Zwölf im Falle des Sexagesimalsystems, für den Rest aber, der nach Abson149 150

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In Timaios 52 a f. cðra genannt. Vgl. Platon: Politikos 262 d f.

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derung des Teils übrigbleibt, findet sich keine spezifische und schon gar nicht eine sinnvolle Bezeichnung. Ebenso mag bei der Einteilung der Menschen in Hellenen und Barbaren 151 ein Name vorhanden sein, doch ist er nur im Falle der Hellenen auch sachlich gerechtfertigt durch die Einheit des Volkes, die Gleichheit von dessen Sprache, Herkunft und Kultur, während im Falle der Barbaren der Name lediglich eine Sammelbezeichnung für die vielen heterogenen Volksgruppen mit ihren je verschiedenen Sprachen, Kulturen und Herkünften außerhalb Griechenlands ist. Zum Scherz fügt Platon im Politikos 152 hinzu, daß die Kraniche, wenn sie denken könnten, die gesamte Sphäre des Lebendigen in Kraniche und die übrigen Tiere einschließlich des Menschen einteilen würden, d. h. in das aus ihrer Sicht Relevante und Irrelevante. 4. Mit dem Problem der Namengebung für die logische Gattung oder Art deutet sich ein weiteres Problem an, das der Beziehung zwischen dem rein logischen System und der Realität. Gemeint ist damit das Problem einer sachgerechten Definition. Die Konformität von logischem und ontologischem System ist nur dann gewährleistet, wenn die Einteilung die in der Sache selbst liegenden Schnitte trifft. Das Geschäft des Logikers besteht daher darin, sachgerechte logische Einteilungen zu finden. Man kann den Logiker mit einem Opferpriester vergleichen, der das Opfertier gliedgerecht entsprechend dessen natürlichem Organismus zerlegt, nicht willkürlich wie der Fleischer, der es in beliebige Stücke zerschneidet. Damit ist angedeutet, daß zwischen dem rein logischen System und der Sache eine Diskrepanz besteht, die Platon u. a. anhand der nicht deckungsgleichen Termini ›Art‹ (edo@ bzw. gffno@) und ›Teil‹ (mffro@) erörtert. 153 Wie die obigen Beispiele zeigten, z. B. das der Einteilung einer beliebigen Zahlenmenge in eine Myriade und den Rest oder des menschlichen Geschlechts in Hellenen und die übrigen Völker, trifft die Einteilung oft nur einen kontingenten Ausschnitt aus einer Gesamtmenge, aber nicht die Wesensbestimmungen. Die Garantie für eine sachgerechte Definition wäre nur im Falle der Erfüllung zweier Prämissen gegeben: zum einen der eines geschlossenen Systems und zum anderen der einer dichotomischen Einteilung. Nur wenn feststünde, daß die das Ganze bezeichnende 151 152 153

Vgl. a. a. O., 262 c f. Vgl. a. a. O., 263 d. Vgl. a. a. O., 262 a ff. A

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Gattung in zwei und nur zwei Arten zerfiele und diese wiederum in zwei und nur zwei Unterarten usw., so daß auf diese Weise die Gesamtsphäre des Seienden ohne Ausnahme stufenweise gegliedert wäre, bestünde die Gewähr, daß jede Einteilung genau den Komplex notwendiger und zureichender Bestimmungen trifft, der der Einteilungsstufe und dem Wesen der Sache entspricht. Wie wir jedoch aus den realen Systemen wissen, ist eine Dichotomie oft unmöglich; vielmehr gibt es triadische und polytomische Einteilungen, wie in der Zoologie die Einteilung der Tiere in fünf Klassen: Säugetiere, Fische, Vögel, Reptilien und Kriechtiere. 5. Ein schwerwiegender Mangel ist das starke Schwanken der Einteilungsperspektive, die Unmöglichkeit oder Unfähigkeit des Festhaltens und Durchziehens einer bestimmten Sichtweise. Im Sophistes, in dem Platon anhand der Definition des Angelfischers und des Sophisten die meisten Systemprobleme artikuliert, zeigt sich gerade am Angelfischerbeispiel ein wiederholter Perspektivenwechsel. Nach dem Subordinations- und Subsumptionsvorgang fällt der Angelfischer, wie die beiliegende Skizze zeigt, unter den Oberbegriff des Sachverständigen (tecnfflth@). Er ist ein Experte, der sich in einer Sache auskennt. Was die weitere Einteilung anlangt, so gehört er in die Klasse der Erwerbenden, d. h. der Vorgegebenes oder Produziertes umsetzenden Sachverständigen, nicht der selbsttätig Hervorbringenden. Innerhalb der ersteren Klasse gehört er wieder in die der mittels Gewalt besitzergreifenden Sachverständigen, nicht in die der durch Geld oder Miete besitznehmenden. Im weiteren Verlauf wird er eingeordnet in die Klasse der heimlich Bezwingenden, der Nachsteller, nicht in die Klasse der offenen Kämpfer, und innerhalb jener in die Klasse der Jäger auf Belebtes, nicht in die der auf Unbelebtes, innerhalb jener wieder in die Klasse der Jäger auf Tiere im Flüssigen, nicht auf dem Land, innerhalb jener auf Fische, nicht auf Vögel, innerhalb jener auf Fischfang mittels Verwundung, nicht mittels Netzen, innerhalb jener wieder in die Klasse des Wundfangs bei Nacht, nicht bei Tag, und innerhalb jener mittels Haken und nicht mittels Harpune. Wie aus dieser Definition hervorgeht, erfolgt die Einteilung teils nach der Art und Weise der Fähigkeiten und Kunstfertigkeiten (Modalität), teils nach dem räumlichen Gebiet der Ausübung, teils nach der Zeit und teils nach den bei der Ausführung verwendeten Instrumenten, teils nach noch anderen Kriterien. Einmal ist es die Offenheit oder Verdecktheit der Nachstellung, die Art und Weise des Kampfes, welche für die Einteilung ausschlaggebend ist, dann das 230

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Angelfischer Sophist 6

Knstler Knstler (tecnfflth@) . & Sophist 7 hervorbringende erwerbende Kunst Kunst (poihtik¼ tffcnh) (kthtik¼ tffcnh) . & Sophist 2 umsetzende bezwingende Kunst Art und Weise Sophist 3 (mittels Geld, (mittels Gewalt) Sophist 4 Geschenk) (metablhtikn) (ceirwtikn) . & Sophist 5 Kampf Nachstellung Art und Weise (⁄gwnistikn) (qhreutikn) . & auf Lebloses auf Belebtes Objekt (˝vucon) (˛mvucon) . & Sophist 1 auf Landtiere auf Tiere im Flssigen Gebiet (peroqhrikn) (¥nugroqhrikn) . & in der Luft im Wasser Gebiet (Vogeljagd) (Fischfang) (¤rniqeutikffi) (lieutikffi) . & mit Gehege mit Verwundung Mittel (Netzfang) (Wundfischerei) ( rkoqhrikn) (plhktikffi) . & bei Nacht bei Tag Zeit (nukterinn) (⁄gkistreutikn) . & mit Harpune mit Haken Richtung (triodontffla) (spalieutikffi)

Revier der Jagd: Wasser oder Land, dann die Zeit: Jagd bei Tag oder bei Nacht, schließlich das Instrumentarium: Jagd mit Haken oder mit Harpune. Angesichts einer solchen Beliebigkeit der Wahl des Einteilungsprinzips ist die Artifizialität des Systems unausweichlich. Die reine Äußerlichkeit läßt die Frage nach einer fach- und sachgerechten Einteilung aufwerfen, die dem Wesen der Sache entspricht. In der vorliegenden Form stellt das System allenfalls einen willkürlichen, einseitigen Ausschnitt des Wesens dar. Es gleicht einem Gradnetz, das beliebig über das Seiende geworfen wird. Doch selbst im Falle des Durchhaltens ein und desselben PrinA

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zips bleibt fraglich, welches Kriterium das Wesen einer bestimmten Sache trifft. Aus der Traditionsgeschichte sind prinzipielle Änderungen in der Wahl des Einteilungsprinzips bekannt. Nicht nur, daß die Antike grundsätzlich an der Gestalt (morfffi), einer optisch-intellektuell konstatierbaren Ganzheit von zumeist statischer Natur, orientiert war, die Neuzeit hingegen am Gesetz, das als invarianter Funktions- und Relationszusammenhang zwischen Variablen innerhalb eines Zeitintervalls verstanden wird. Auch zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert läßt sich ein Wandel konstatieren von der äußeren Gestalt zur inneren oder, um mit Michel Foucault zu sprechen, 154 von der Struktur zur Organisation. Die jeweilige Präferenz läßt sich innerhalb der Naturgeschichte anhand der Klassifikationssysteme von Botanik und Zoologie studieren, einerseits den Taxonomien von Tournefort, Linné, Buffon, Adanson, andererseits den Klassifikationssystemen von Jussieu, Vic d’Azur, Lamarck und Candolle. War man anfangs an quantitativen Merkmalen wie Anzahl und Größe sowie an geometrischen Figuren, der räumlichen Anordnung von Instanzen, oder an biologischen Mustern interessiert, so ging man zwischen 1775 und 1795 zum Zusammenhang und Zusammenwirken der Teile über, zur Architektur, Organisation und Funktionsweise. Jetzt war nicht mehr die äußere Gestalt von Interesse, sondern die Beschaffenheit des Körperbaus für bestimmte Funktionen, beispielsweise für die Ernährung, ob es sich beim Tier um einen Pflanzenfresser mit breiten Mahlzähnen, langem Verdauungs- und Ausscheidungstrakt oder um einen Fleischfresser mit scharfen, spitzen Reißzähnen, Krallen, starkem Magen handelt. Zu welcher Ridikülität das Festhalten ein und desselben Einteilungsprinzips führen kann, zeigen Carl von Linnés botanische Taxonomien, die das Sexualprinzip zugrunde legen. Danach ist das lila Veilchen (viola odorata) eine getrenntblumenblättrige, zweikeimblättrige, bedecksamige, offen sich fortzeugende Pflanze. 155 Ist damit wirklich das Wesen des Veilchens getroffen, jenes kleinen, duftenden Pflänzchens, das im Frühjahr als eines der ersten aufbricht und nicht nur auf dem Dürerschen Gemälde des Veilchensträußchens mit un154 Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften (Titel der Originalausgabe: Les mots et les choses, 1966), aus dem Französischen von Ulrich Köppen, Frankfurt a. M. 1974, 10. Aufl. 1991, S. 173 ff., 279 ff. Dazu auch Karen Gloy: Vernunft und das Andere der Vernunft, a. a. O., S. 98 ff. 155 Das Beispiel findet sich bei Hans Leisegang: Denkformen, Berlin, Leipzig 1928, S. 203.

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nachahmlicher Naturtreue festgehalten ist, sondern auch in dem Spruch des Volksmundes seinen Ausdruck gefunden hat: »Sei wie das Veilchen im Moose, bescheiden, sittsam und still, und nicht wie die stolze Rose, die immer bewundert sein will«,

oder ist mit jener Systematik nur ein kontingenter Merkmalkomplex bezeichnet? 7. Das größte Problem der Einteilung aber dürfte sich bei der Wahl des Ausgangspunktes ergeben, der Gattung, bei der begonnen wird. Hier können durchaus unterschiedliche, ja konträre Gattungen zugrunde gelegt werden. Drastisch führt Platon dies im Sophistes anhand der Definition des Sophisten vor, von dem er nicht weniger als sieben Definitionen angibt. Vor dem Hintergrund des Angelfischerparadigmas wird der Sophist in einer ersten Definition als Nachsteller (Jäger) bestimmt, zwar nicht auf Tiere im Flüssigen wie der Angelfischer, wohl aber auf solche auf dem Land, und zwar auf zahme, nicht auf wilde, wie Platon mit unverhohlener Ironie bemerkt. Innerhalb der ersteren Klasse wird er wiederum als Jäger eingestuft, der auf überredende, nicht auf gewaltsame Weise Menschen nachstellt, und dies durch privaten, nicht durch öffentlichen Umgang. Des weiteren zeichnet er sich durch Lohnforderung, nicht durch Geschenkannahme aus und, was die Lohnforderung betrifft, aufgrund von Darbietungen scheinbar belehrender, nicht ergötzender Art. Kurzum, nach der ersten Definition ist der Sophist ein Jäger auf reiche Jünglinge. Die zweite Definition nimmt ihren Ausgang nicht von der nachstellenden Tätigkeit, sondern von der umsetzenden und ordnet den Sophisten unter die durch Handel, nicht durch Schenken umsetzenden Tätigen ein, hier wieder unter die Zwischenhändler, die fremde, nicht eigene Ware umsetzen, hier wieder unter die Großhändler, die zwischen Städten und nicht wie die Kleinhändler innerhalb einer Stadt Ware austauschen, und zwar Seelenware, nicht materielle Güter, und, was jene betrifft, unter die, die auf Kenntnisverkauf, nicht auf Schaustellung aus sind, des näheren auf Tugend-, nicht auf Kunstverkauf. Hiernach ist der Sophist ein Großhändler in Kenntnissen der Seele. Die dritte Definition sieht ihn nicht als Großhändler, sondern im

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Gegenteil als Kleinhändler, als Krämer innerhalb einer Stadt mit der Ware ›Seelenkenntnisse‹. Die vierte Definition bestimmt ihn als Zwischenhändler fremder Ware, nicht als Eigenhändler mit eigener Ware. Die fünfte Definition sieht im Sophisten einen Kunstfechter im Streitgespräch, indem sie im Unterschied zur heimlichen Nachstellung vom offenen Kampf ausgeht und den Sophisten hierunter subsumiert. In der sechsten Definition wird ein gänzlich anderer Ausgangspunkt gewählt und der Sophist als Scheidekünstler, genauer als Reinigungskünstler in Sachen Seele eingestuft. Die siebente Definition wiederum nimmt vor dem Hintergrund des Angelfischerbeispiels ihren Ausgang diesmal nicht von der erwerbenden, sondern von der produzierenden Kunst und bestimmt den Sophisten als einen angeblichen Sachverständigen, dessen Kunstfertigkeit sich auf menschliche, nicht auf göttliche Produkte bezieht, und zwar auf solche, die durch Trug und nicht auf ebenbildnerische Weise zustande kommen. In Anbetracht dessen, daß jene Produkte in solche zerfallen, die entweder auf Nachahmung durch sich selbst oder auf Nachahmung durch Werkzeuge basieren, gehört der Sophist in die Klasse der durch Dünkelnachahmung Produzierenden. Das Beispiel ist insofern interessant, als hier gezeigt wird, wie in bezug auf ein bestimmtes System die Einordnung unter wechselseitig sich ausschließenden Rubriken erfolgt, sowohl unter der Rubrik der hervorbringenden wie der nicht-hervorbringenden, sondern erwerbenden Sachverständigen, sowohl unter der Rubrik der umsetzenden wie der nicht-umsetzenden, sondern bezwingenden Experten, sowohl unter der Rubrik der offenen wie der nicht-offenen, sondern heimlichen Nachsteller, sowohl unter der Rubrik der Großwie der Nicht-Groß-, sondern Kleinhändler usw. Das angebliche Wesen des Sophisten genügt weder dem Prinzip der Identität noch dem des auszuschließenden Widerspruchs noch dem des ausgeschlossenen Dritten. Es ist offen und unbestimmt sowohl nach oben wie nach unten wie zu den Seitengliedern; es läßt sich nicht eindeutig fixieren. Von besonderem Tiefsinn erweist sich das Beispiel insofern, als der Sophist für Platon ein Scheinkünstler ist, der durch den ständigen Entzug einer eindeutigen Definition begrifflich das ausdrückt, was er seinsmäßig ist. Seine Seinsbestimmung befindet sich auf der ständigen Flucht, indem sie sich durch keine eindeutige Definition ein234

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fangen läßt. Dies gilt aber nicht nur für den Sophisten, sondern indirekt für alle Gegenstände. d.) Mathematik Zur formalen Struktur des wissenschaftlichen Wissens gehört neben dem logisch-begrifflichen System von Beginn an die Mathematik. So faßt Platon im Liniengleichnis der Politeia unter intelligibler Erkenntnis (¥pistffimh, gnsi@) sowohl die philosophische Methode (dialektik¼ tffcnh), die in logisch-begrifflicher Klassifikation und Spezifikation besteht, wie auch die axiomatisch-mathematische Methode zusammen, und dies im Unterschied zur bloßen, auf die Sinnenwelt gerichteten Meinung, und Kant sieht sich später zu dem berühmten Ausspruch in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft veranlaßt, daß jede Disziplin nur soviel eigentliche Erkenntnis enthält, wie sie Mathematik aufweist. »Ich behaupte aber, daß in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist.« 156

Die Konzeption der Mathematik und ihr Verhältnis zum Begriffssystem ist in der Geschichte der europäischen Wissenschaften unterschiedlich ausgelegt worden. Im wesentlichen haben sich drei Typen herausgebildet: die analytische axiomatische Methode, die synthetische Konstruktion und die symbolische Logik oder ars combinatoria. 1. Axiomatik Nach dem Vorbild der euklidischen axiomatischen Geometrie konzipiert Platon in der Politeia 157 die mathematische Methode dergestalt, daß sie von einer bestimmten endlichen Anzahl von Axiomen, Definitionen und Postulaten – bei Euklid z. B. dem Parallelenaxiom – ausgeht und von diesen die übrigen Sätze des Systems ableitet. Dabei muß man sich bewußt halten, daß die Axiome, die dem Mathematiker für selbstevident und unbezweifelbar gewiß gelten und als Grundlage der Ableitung fungieren, für den Philosophen unausgewiesen und hinterfragbar bleiben, sofern und solange sie 156 Immanuel Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, in: Akad.Ausg., Bd. 4, Berlin 1903/11, S. 470. 157 Platon: Politeia 510 b ff.

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nicht in höheren, allgemeineren und umfassenderen Gründen und letztlich in einem einzigen, allumfassenden Grund fundiert sind. Sie bleiben für ihn vor dem Hintergrund einer umfassenden Systematik bloße Setzungen, Hypothesen. Philosophie versucht daher mit ihrer dialektisch-argumentativen, logisch-begrifflichen Methode auch diese Voraussetzungen herzuleiten. Während die Mathematik deduktiv verfährt, steigt die Philosophie ihrerseits ›von unten nach oben‹ auf, indem sie dort beginnt, wo die Mathematik endet, wobei sie sich ausschließlich des begrifflichen Instrumentariums bedient, ohne sinnliches Material zu Hilfe zu nehmen. Die mathematische Methode hinwiederum sucht den Anschluß an die sinnliche Welt, indem sie sinnlich-anschauliche Gebilde als Modelle und Demonstrationsmittel benutzt. Das heißt allerdings nicht, daß sie auf solche angewiesen wäre, sondern lediglich, daß die sinnlichen Wahrnehmungsgegenstände ihr zur Unterstützung und Demonstration, mithin zur leichteren Darstellung der Beweise dienen. Den platonischen hypothetischen Ansatz der Mathematik hat in der Moderne der Mathematiker David Hilbert aufgegriffen und weiterverfolgt; er ist konstitutiv für die moderne Axiomatik überhaupt. Danach haben die Axiome und die in ihnen vorkommenden Ausdrücke zunächst keinerlei Realitätsgehalt; sie sind vielmehr rein formal zu verstehen. Ihre Bedeutung wird erst intern durch sogenannte implizite Definitionen festgelegt. Nicht also werden in den Axiomen der Erfahrung entnommene Begriffe miteinander verknüpft, sondern umgekehrt durch die Axiome werden die Begriffe allererst eingeführt. Ob sie dann auf die Erfahrung applikabel sind oder rein formal bleiben, muß die externe Interpretation lehren. Die Definitionen geben überhaupt erst die Sicht auf potentielle Objekte frei und legen fest, was als mögliches Objekt in Betracht kommt. So sind beispielsweise im arithmetischen Axiomensystem Eins, Zahl, Nachfolger Grundelemente, im geometrischen Axiomensystem Punkt, Gerade, Ebene usw. Trifft man nun in der Erfahrung auf Objekte, die in unabschließbaren Reihen abzählbar sind, die ein erstes, aber nicht ein letztes Element haben und außerdem so beschaffen sind, daß jedes Glied in einer Folge von Schritten von Eins aus erreicht werden kann, dann gilt dies als ein Realmodell für die formale Struktur der Zahlenreihe. Ebenso wäre als reales Modell des (euklidischen) geometrischen Axiomensystems dasjenige anzusehen, das die in den axiomatischen Begriffen angesprochenen Eigenschaften kraft physikalischer Kriterien erfüllte, wie z. B. der Lichtstrahl, 236

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der als physikalische Gerade beschrieben werden kann. Wie diverse Realsysteme um die angemessene Interpretation des formalen Axiomensystems miteinander konkurrieren können, so können auch umgekehrt Korrekturen am formalen Axiomensystem seitens der Realität erfolgen. So gehen heutige Physiker meist nicht mehr von der euklidischen Struktur des empirischen Raumes aus, sondern von der Riemannschen des Kugelraumes oder von Minkowskischen Weltlinien o. ä. 2. Konstruktion Im Unterschied zur analytisch verfahrenden Axiomatik, die Mathematik auf Logik reduziert, existiert eine Auffassung von Mathematik, die diese als Konstruktion der Begriffe in der reinen Anschauung versteht, wie Kant dies getan hat. Hier handelt es sich um ein synthetisches Verfahren. Es herrscht die Meinung, daß Mathematik nicht nur in der Zergliederung eines Begriffes in seine analytischen Implikate besteht, sondern im Hinausgang über diesen, wozu es der (reinen) Anschauung nicht nur als Hilfsmittel, sondern als notwendiger Konstruktionsbasis bedarf. Im arithmetischen Beispiel von 7 und 5 = 12 meint Kant nachweisen zu können, daß wir die einzelnen Zahlen 7 und 5 sowie das Pluszeichen noch so weit zerlegen können, niemals aber auf anderes als auf 7 Einheiten und 5 Einheiten sowie ihre Verbindung stoßen, nicht jedoch auf das Resultat 12. Dieses läßt sich nur über einen Konstruktionsvorgang, den des Abzählens, gewinnen, dem der primitive Vorgang des Fingerabzählens zugrunde liegt. Gleiches gilt für den Nachweis der Winkelsumme eines Dreiecks in der ebenen Fläche, die 180o beträgt. Der Begriff des Dreiecks läßt sich zwar in drei Ecken, drei Winkel, drei Seiten zerlegen, führt aber nicht zur Einsicht in die Winkelsumme von 180o, zu der wir nur auf der Basis der Konstruktion in der reinen Anschauung gemäß bestimmten Konstruktionsprinzipien und in ihnen niedergelegten Handlungsanweisungen gelangen. In der Moderne haben sowohl die Intuitionisten wie der Niederländer Luitzen Egbertus Jan Brouwer wie die Konstruktivisten und Operationalisten der sogenannten Erlanger Schule diesen Gedanken eines konstruktiven Charakters der Mathematik fortgesetzt, welcher auf die Zuhilfenahme der Intuition und die konstruktive Darstellung der Begriffe in derselben angewiesen ist. Dieses Modell setzt die Ausarbeitung eines Begriffssystems und damit die Logik voraus. Für das Verhältnis von logisch-begrifflicher und mathematischer Methode A

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bedeutet dies, daß die analytisch-begriffliche Methode der synthetisch-konstruktiven der Mathematik vorausgeht und eine ihrer Grundlagen bildet, welche neben der Anschauung zu Konstruktionszwecken unerläßlich ist, aber für sich selbst nicht ausreicht zur Begründung mathematischer Erkenntnisse. 3. Kalkül Eine Vermittlungsposition zwischen analytischer und synthetischer Methode nimmt Gottfried Wilhelm Leibniz mit seinem Kalkülbegriff ein, wie er ihn in der mathesis universalis entworfen hat. Obwohl Leibniz eine Reduktion der Mathematik auf Logik vornimmt, intendiert er mit der Mathematik kein rein analytisches Explikationssystem nach Art der euklidischen Axiomatik, vielmehr möchte er ein synthetisches Moment des Erkennens einbringen, dergestalt, daß die Begriffsanalyse zugleich die Kriterien einer sach- und gegenstandsbezogenen Erkenntnis freigibt. Dies sei anhand von Leibniz’ Raumvorstellung demonstriert. Phänomenale Räumlichkeit wie Abstand, Entfernung, Extension überhaupt gelten Leibniz nicht als primäre, sondern als sekundäre Charaktere, abgeleitet aus logischen Ordnungsverhältnissen. Grundbestandteile seiner Logik in ihrer spezifischen Anwendung auf den Raum sind Lage und Relation. Aus diesem Minimum an Grundelementen will er ein Maximum an Bestimmungen entwickeln. So ist die Gerade Ausdruck einer bestimmten Ordnungsfunktion von Punkten, Resultat eines eindeutig geregelten Übergangs von einem Punkt zum anderen. Richtung, Distanz, Ebene, jede Raumfigur versteht sich in funktionaler Abhängigkeit von zwei oder mehreren Punkten. Der Raum selbst wird als ein geordnetes Beziehungsgeflecht von Stellen gedacht, in dem jede Stelle durch interne Beziehungen zu jeder anderen in einem Ordnungsgefüge festgelegt ist. Eine Stelle bestimmt sich nicht durch ihre Relation zum vorgängig gegebenen, umfassenden phänomenalen Raum, sondern durch ihre Gleichursprünglichkeit mit dem gesamten Stellensystem. Wenn sich damit der Kalkül einerseits von der konstruktiven Methode unterscheidet, die den Raum als gegebene Anschauung voraussetzt, um in ihm die Begriffe anschaulich darstellen zu können, so unterscheidet er sich andererseits von der rein axiomatischen Methode dadurch, daß er nicht wie sie aus einem Ursprung in Form einer linearen Kette sequentieller Abhängigkeit Folgesätze ableitet, also aus Einheit Vielheit deduziert, sondern Vielheit auf derselben Ebene ansetzt wie Ein238

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heit und so zur Bestimmung einer jeden Stelle des Gesamtsystems gelangt. Vielheit wird hier nicht auf eine ausgezeichnete externe Einheit reliert, sondern ist der Einheit immanent. Daß bei dieser holistisch-ästhetischen Konzeption der theologische Gedanke der visio beatifica, der seligen Schau, Pate gestanden hat, unterliegt keinem Zweifel. Wenn die analytische Methode aus einer endlichen Menge von Axiomen eine Vielzahl von Aussagen ableitet, so verfügt der Kalkül von Anfang an mit wenigen Grundbestandteilen über unbegrenzt viele Alternativen, die relational definiert sind. 158 Ob das Leibnizsche Modell tatsächlich ohne Anschauung auskommt, läßt sich bezweifeln, da auch Ordnungsstrukturen wie das Nacheinander, die sequentielle Abhängigkeit u. ä. phänomenale Anschauung voraussetzen. Im übrigen sei darauf verwiesen, daß selbst die angeblich reine Logik mit ihren Vorstellungen der Über-, Unterund Nebenordnung im Klassifikations- und Spezifikationssystem, mit ihren Dihairesen, mit rechter und linker Seite, mit ihren Inhaltsund Umfangseinteilungen nicht ohne Anschauung auskommt. So sprechen wir in bezug auf die Klassifikation und Spezifikation von einer Begriffspyramide oder einem Gliederbaum und legen bei der Definition oberster Begriffe das Kreis- oder Spiralmodell zugrunde und benutzen damit anschauliche Bilder. Dieser Appell an die Anschauung dürfte keineswegs als bloße Metaphorik zu verstehen sein, sondern für das Verständnis von Sub- und Koordination sowie Zirkularität unerläßlich sein. 6.3. Historischer Wandel der Systemtheorie Überblickt man die europäische Wissenschaftsgeschichte, so ist ein Wandel sowohl in der Konzeption der Systematik wie bezüglich des Geltungscharakters des Systems unübersehbar. Was den letzteren Punkt betrifft, so wird der Übergang von der traditionellen Auffassung zur modernen nicht selten als ein Übergang von einem absolutdeduktiven System zu einem hypothetisch-deduktiven beschrieben, etwa von Alwin Diemer in seinen Aufsätzen Klassische und moderne Wissenschaftskonzeption 159 und Der Wissenschaftsbegriff in historiVgl. Karen Gloy: Vernunft und das Andere der Vernunft, a. a. O., S. 113 f. Alwin Diemer: Klassische und moderne Wissenschaftskonzeption, in: ders. (Hrsg.): Beiträge zur Entwicklung der Wissenschaftstheorie im 19. Jahrhundert. Vorträge und 158 159

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schem und systematischem Zusammenhang 160 . Die klassische Wissenschaftskonzeption versteht er als ein »kategorisch-deduktives System absoluter Wahrheiten bzw. Erkenntnisse, die moderne als hypothetisch-deduktives System konditionaler Sätze, die ein bestimmtes als Wissenschaftskriterium fungierendes ›Sinnkriterium‹ erfüllen müssen, um als wissenschaftlich sinnvolle Sätze anerkannt zu werden« 161 . Der Wandel wäre demnach einer von absoluter Wahrheit, Gewißheit und Unbezweifelbarkeit zu bloßer Hypothetik und ginge einher mit einer Entmetaphysizierung, Konditionalisierung, Propositionalisierung, generell mit einer Problematisierung. Dies beträfe nicht nur die Grundannahmen der Wissenschaft, sondern auch die Ableitungen. Zur Begründung seiner These verweist Diemer u. a. auf Studien von Co-Autoren des von ihm herausgegebenen Bandes Historische und systematische Untersuchungen wie Alois von der Stein, der in seinem Beitrag System als Wissenschaftskriterium 162 die Systeme des 17. Jahrhunderts, etwa von Bartholomäus Keckermann, Clemens Timpler, Christian Wolff und Johann Heinrich Lambert, untersucht. Unter ausdrücklicher Berufung auf die Systematik als tragendes Element der Wissenschaft entwirft Johann Heinrich Lambert im Neuen Organon und in der Anlage zur Architectonic eine Grundwissenschaft, die als generelles Fundament aller speziellen Wissenschaften dienen soll und die Aufgabe hat, den menschlichen Erkenntnissen absolute Gewißheit und Sicherheit zu verschaffen. Die Methode, welche dies leisten soll, besteht in der Reduktion der abgeleiteten Begriffe auf einfache Grundbegriffe. Die letzteren haben drei Bedingungen zu erfüllen: 1. Es muß sich um absolut einfache Begriffe handeln, die nur durch ein einziges Merkmal charakterisiert sind, da mehrere Merkmale zu Widersprüchen führen könnten. 2. Sie müssen phänomenal ausweisbar sein, um den Anforderungen objektiver Gültigkeit zu genügen, und 3. auf sie müssen alle zusammenDiskussionen im Dezember 1965 und 1966 in Düsseldorf, Meisenheim am Glan 1968, S. 1–223. 160 Alwin Diemer: Der Wissenschaftsbegriff in historischem und systematischem Zusammenhang, in: ders. (Hrsg.): Historische und systematische Untersuchungen. Vorträge und Diskussionen im April 1968 in Düsseldorf und im Oktober 1968 in Fulda, Meisenheim am Glan 1970, S. 3–20. 161 A. a. O., S. 5, vgl. auch S. 19. 162 Alois von der Stein: System als Wissenschaftskriterium, in: Alwin Diemer (Hrsg.): Historische und systematische Untersuchungen, a. a. O., S. 99–107, bes. S. 104 ff.

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gesetzten Begriffe zurückführbar sein bzw. umgekehrt aus ihnen herleitbar. Unter solchen Bedingungen weisen nicht nur die Grundbegriffe, sondern weist auch die auf ihnen basierende Architektonik von Begriffen absolute Gültigkeit auf. So heißt es in der Anlage zur Architectonic: »Da die einfachen Begriffe die erste Grundlage unserer Erkenntniß sind, und bey den zusammen gesetzten Begriffen, so fern wir sie uns sollen vorstellen können […], sich alles in solche auflösen läßt; so machen diese einfachen Begriffe einzeln und unter einander combinirt, zusammen genommen ein System aus, welches nothwendig jede ersten Gründe unserer Erkenntniß enthält. Von diesem Systeme läßt sich eine wissenschaftliche Erkenntniß gedenken […].« 163

Und im Neuen Organon: »Dieses System oder das Reich der Wahrheit nehmen wir hier so, daß, wenn wir alle Wahrheiten nach unsrer Art sie vorzustellen wüßten, sie dieses Reich der Wahrheiten ausmachen würden. Wir betrachten demnach hier das ganze System aller Begriffe, Sätze und Verhältnisse, die nur immer möglich sind, als bereits in seiner Verbindung und Zusammenhange, und sehen das, was wir etwann bereits davon wissen, als Theile und einzelne Stücke dieses Systems an, weil wir auf diese Art, so oft wir neue Stücke finden und mit den bereits gefundenen zusammenhängen wollen, den Grundriß des ganzen Gebäudes vor Augen haben, und jede einzelne Stücke darnach prüfen können.« 164

Die Methode der Reduktion aller Ableitungen auf absolut einfache Grundbestandteile und der Verankerung derselben in diesen, die ihrerseits den Bezug zur Realität garantieren, verleiht dem formalen System objektive Realität. Der methodus scientifica, die Erstellung eines Begründungszusammenhangs nach logischen Prinzipien – der Identität, des auszuschließenden Widerspruchs und des zureichenden Grundes –, hilft dabei, den Erkenntnis- und Gewißheitscharakter von den Urbestandteilen auf die abgeleiteten Bestandteile zu übertragen. Diese logische Herleitung der Sätze, die formal korrekt, vollständig

163 Johann Heinrich Lambert: Anlage zur Architectonic, Riga 1771, § 74, in: ders.: Philosophische Schriften, hrsg. von Hans-Werner Arndt, Bd. 3, Hildesheim 1965, S. 57. 164 Johann Heinrich Lambert: Neues Organon oder Gedanken über die Erforschung und Bezeichnung des Wahren und dessen Unterscheidung von Irrthum und Schein, Leipzig 1764, Bd. 1, Alethiologie oder Lehre von der Wahrheit, § 160, in: ders.: Philosophische Schriften, hrsg. von Hans-Werner Arndt, Bd. 1, Hildesheim 1965, S. 538.

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und durchgängig ist, garantiert dem gesamten objektbezogenen Formalsystem Erkennbarkeit. Nun mag es sich zwar bei dieser Konzeption wie auch bei ähnlichen, die besonders aus dem Rationalismus des 17. Jahrhunderts stammen, um solche handeln, die aufgrund einer bestimmten Erkenntnistheorie mit dem Anspruch auf absolute Gewißheit auftreten. Generalisieren und auf alle Systeme der Tradition applizieren aber läßt sich diese Methode nicht, wie die Platondiskussion gezeigt hat. Diese dokumentiert vielmehr, daß am Anfang der Tradition tiefe Einsichten in die Systematik und ihre mögliche oder unmögliche Fundierung stehen, welche zu bloß hypothetischen Annahmen und nicht zu absolut gewissen Anlaß geben. Abgesehen von der Frage, ob es absolut einfache, unteilbare, atomare Bestandteile, sei es begrifflicher oder realer Art, gebe, erkennen lassen sie sich zumindest nicht, allenfalls intellektuell oder sinnlich registrieren, nicht jedoch dianoetisch begründen und in sensu stricto erkennen, da dies, wie Platon im Theaitet zeigte, die Kombination von Begriffen verlangt, wie sie Erklärung, Definition, Begründung u. ä. fordern. Eine mittelalterliche lateinische Formulierung bringt dies zum Ausdruck: Scientia non est cognitio principiorum, sed ex principiis. 165 Die modernen Konzeptionen, die sich insgesamt als hypothetische Systemkonzeptionen verstehen, greifen direkt oder indirekt auf Platon zurück. Gegebenenfalls erfahren sie, wie die Hempelsche For166 zeigt, eine Erweiterung, indem sie außer den allgemeinen mel CþL E Sätzen spezifische Anfangsbedingungen formulieren. Was sich im Übergang von der Klassik zur Moderne grundlegend geändert hat, ist nicht so sehr der Geltungsanspruch der Systeme, sondern die Systemform, insofern an die Stelle der traditionellen hierarchischen Architektonik in der Gegenwart Netzwerke bzw. Verbundsysteme oder, um noch einen anderen Ausdruck zu wählen, Rhizome getreten sind. Eine Übergangsform bilden die sogenannten Sprachspiele, die strukturtheoretisch eine Pluralität disparater Einheiten, genauer Verbindungen aus Einheiten, darstellen. Die Sprachspieltheorie, die auf den späten Wittgenstein zurückgeht und in der Folge von einer Reihe von Theoretikern des 20. und 165 Vgl. Alwin Diemer: Der Wissenschaftsbegriff in historischem und systematischem Zusammenhang, in: ders. (Hrsg.): Historische und systematische Untersuchungen, a. a. O., S. 17. Vgl. auch Thomas, Duns Scotus usw. sowie Aristoteles: Analytica, II c.2. 166 C = Conditions, L = Laws, E = Event.

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21. Jahrhunderts fortgesetzt, ausgebaut und modifiziert wurde, u. a. von Jean-François Lyotard in seinem Buch Le différend, Paris 1983 (deutsch: Der Widerstreit), soll hier nur in rein strukturalistischer Absicht betrachtet werden unter Absehung der Vieldimensionalität in grammatikalischer, semantischer, genetischer, handlungstheoretischer Hinsicht. Sprachspiele, so definiert Ludwig Wittgenstein im Blue Book, »sind einfachere Verfahren zum Gebrauch von Zeichen als jene, nach denen wir Zeichen in unserer äußerst komplizierten Alltagssprache gebrauchen. Sprachspiele sind die Sprachformen, mit denen ein Kind anfängt, Gebrauch von Wörtern zu machen. Das Studium von Sprachspielen ist das Studium primitiver Sprachformen oder primitiver Sprachen.« 167

Elementarbestandteile dieser Verbände sind unterschiedliche Satzarten wie Frage, Antwort, Befehl, Fluch, Behauptung usw., die jeweils unter einer bestimmten Regel oder einem Code stehen und aufgrund dieser Festlegung unübersetzbar ineinander sind. Im Hinblick auf einen gemeinsamen Zweck oder eine gemeinsame Absicht wie einen Dialog, Unterricht, eine Rechtsprechung, Verführung, ein Argumentieren u. ä. lassen sich diese heterogenen Satzarten zusammenstellen, so etwa Frage und Antwort im Dialog, vielleicht noch ergänzt um Definition und Ostentation. Diese aus heterogenen Bestandteilen zusammengesetzten Diskursarten, die strukturell Verbände aus Einheiten darstellen, sind selbst untereinander nicht mehr verbindbar, sondern disparat, was ihre Pluralität rechtfertigt. Die Sprache ist ein offenes System konkreter Sprachspiele. Sie ist selbst ein Sprachspiel. Insofern stellt das Sprachspiel eine Mischform zwischen jenen auf absolute Einheit hin orientierten hierarchischen oder zentralistischen Systemen und den total nivellierten Netzwerken dar. Das Netzwerk oder Rhizom ist eine weitergehende Auflösung der festen hierarchischen Struktur, bei dem der klassische hypotaktische Denk- und Systemtyp durch einen parataktischen ersetzt wird. Ob es sich wie beim Netzwerk um einen artifiziellen Begriff handelt, der an ein Fischernetz erinnert, das dem Seienden künstlich übergeworfen wird, oder wie beim Rhizombegriff um einen natürlichen, aus der Biologie stammenden, der ein lebendiges Wurzel-Knollen-Geflecht wie das Myzel von Pilzen oder das Wurzelwerk von Maiglöck167 Ludwig Wittgenstein: Das Blaue Buch. Eine Philosophische Betrachtung (Das Braune Buch), in: ders.: Schriften, Frankfurt a. M. 1984, Bd. 5, S. 37.

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chen bezeichnet, das beliebig nach allen Richtungen wuchert und überall Sprossen treibt, gemeinsam ist ihnen die Nivellierung von höherer und niederer Stufe. Es waren die Postmodernisten Gilles Deleuze und Félix Guattari, die den Begriff ›Rhizom‹ in dem von ihnen herausgegebenen Band mit dem sprechenden Titel Tausend Plateaus 168 einführten. Wie hier an die Stelle des Berges Plateaus treten, an die Stelle des einen steilen Gipfels tausend abgeflachte Plateaus, so ist auch der Begriff ›Rhizom‹ als Gegenkonzept zum traditionellen Hierarchiedenken gedacht, das Deleuze und Guattari als Baum- oder Wurzeldenken charakterisieren, bei dem an einen Tannenbaum oder an eine Pfahlwurzel zu denken ist. Während das letztere seit den Anfängen der europäischen Tradition dominiert und seinen Ausdruck in Termini wie Wurzel, Grund, root, foundation usw. gefunden hat, hat das östliche Denken seit eh und je das flächenhafte Rhizom präferiert. Das neue Paradigma des Wurzel-KnollenGeflechts, das überallhin wuchert, ist antihierarchisch, antigenealogisch, antigeneralistisch, flächenhaft, vernetzt, dezentralisiert, demokratisiert, allenfalls weist es gewisse Ballungen und Zentren auf, ist aber im großen und ganzen nivelliert. Zusammenfassend läßt es sich folgendermaßen beschreiben: »Fassen wir die wesentlichen Merkmale eines Rhizoms zusammen: im Unterschied zu Bäumen oder ihren Wurzeln verbindet das Rhizom einen beliebigen Punkt mit einem anderen beliebigen Punkt, wobei nicht unbedingt jede seiner Linien auf andere, gleichartige Linien verweist; es bringt ganz unterschiedliche Zeichenregime und sogar Verhältnisse ohne Zeichen ins Spiel. Das Rhizom läßt sich weder auf das Eine noch auf das Mannigfaltige zurückführen. Es ist nicht das Eine, das zu zwei wird, oder etwa direkt zu drei, vier oder fünf, etc. Es ist kein Mannigfaltiges, das sich aus der Eins herleitet und dem man die Eins hinzuaddieren kann (n+1). Es besteht nicht aus Einheiten, sondern aus Dimensionen, oder vielmehr aus beweglichen Richtungen. Es hat weder Anfang noch Ende, aber immer eine Mitte, von der aus es wächst und sich ausbreitet. Es bildet lineare Mannigfaltigkeiten mit n Dimensionen, die weder Subjekt noch Objekt haben, die auf einer Konsistenzebene verteilt werden können und von denen das Eine immer abgezogen wird (n-1). Eine solche Mannigfaltigkeit kann in ihren Dimensionen nicht variieren, ohne ihre Beschaffenheit zu verändern und sich völlig zu verwandeln. Im Gegensatz zu 168 Gilles Deleuze und Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie (Titel der Originalausgabe: Mille plateaux, Paris 1980), aus dem Französischen übersetzt von Gabriele Ricke und Ronald Vouillié, hrsg. von Günther Rösch, Berlin 1997, S. 11–42.

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einer Struktur, die durch eine Menge von Punkten und Positionen definiert wird, sowie durch binäre Beziehungen zwischen diesen Punkten und durch bi-univoke Verhältnisse zwischen den Positionen, besteht das Rhizom nur aus Linien: aus Dimensionen der Segmentierungs- und Stratifizierungslinien, aber auch der Flucht- und Deterritorialisierungslinie, einer äußersten Dimension, in der die Mannigfaltigkeit, der Fluchtlinie folgend, sich völlig verwandelt und dabei ihre Beschaffenheit verändert. Man darf solche Linien und Umrißlinien nicht mit den Abstammungslinien des Baumtypus verwechseln, die nichts als lokalisierbare Verbindungen zwischen Punkten und Positionen sind. Im Gegensatz zum Baum ist das Rhizom kein Gegenstand der Reproduktion: weder als äußere Reproduktion wie beim Bild-Baum, noch als innere Reproduktion wie in der Baum-Struktur. Das Rhizom ist eine Anti-Genealogie. Es ist ein Kurzzeitgedächtnis oder ein Anti-Gedächtnis. Das Verfahren des Rhizoms besteht in der Variation, Expansion und Eroberung, im Einfangen und im Zustechen. […] Anders als zentrierte (auch polyzentrische) Systeme mit hierarchischer Kommunikation und feststehenden Beziehungen, ist das Rhizom ein azentrisches, nicht hierarchisches und asignifikantes System ohne General. Es hat kein organisierendes Gedächtnis und keinen zentralen Automaten und wird einzig und allein durch eine Zirkulation von Zuständen definiert. Im Rhizom geht es um eine Beziehung […] zum Animalischen und Pflanzlichen, zur Welt, zur Politik, zum Buch, zu natürlichen und künstlichen Dingen, die sich völlig von der baumartigen Beziehung unterscheidet: um alle möglichen Arten des ›Werdens‹.« 169

In dieselbe Richtung zielt der Netzwerkbegriff aus den modernen Netzwerktheorien. Nach einer Definition von Dorothea Jansen in ihrer Einführung in die Netzwerkanalyse besteht ein Netzwerk aus »eine[r] abgegrenzte[n] Menge von Knoten oder Elementen und der Menge der zwischen ihnen verlaufenden sogenannten Kanten« 170 , wobei die Knoten oder Elemente die zu verbindenden Instanzen, z. B. Personen oder kooperative Akteure, sind und die Kanten die vielfältigen Relationen zwischen ihnen. 171 Obwohl diese Definition in gewisser Weise noch von substanztheoretischen Momenten lebt, erweisen sich die Beziehungen zwischen ihnen als das Wichtigste und Entscheidende. Die substanztheoretischen Elemente stellen Fremdkörper innerhalb einer reinen Relationstheorie dar, da sie als konstante, invariante, mithin substanGilles Deleuze und Félix Guattari: Rhizom, in: Tausend Plateaus, a. a. O., S. 35–37. Dorothea Jansen: Einführung in die Netzwerkanalyse. Grundlagen. Methoden. Forschungsbeispiele, 2. erw. Aufl. Opladen 2003, S. 58. 171 Diese Definition ist an graphischen Darstellungen orientiert, was die Terminologie von Kanten erklärt, die ungerichtete Linien bezeichnen; vgl. a. a. O., S. 91. 169 170

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tielle Momente unterstellt werden, die nachträglich in Verbindung zueinander treten. Löst man sie in Rollen, Aspekte oder Beziehungsgeflechte auf, dann gelangt man zu einer konsistenten und kohärenten Interpretation, zu einem reinen Netzwerk oder Relationsgefüge. Dieser Vorgang läßt sich mit der modernen Sprachtheorie vergleichen. Nahm die ältere Sprachtheorie Platons, Aristoteles’, Leibnizens, der Port-Royal-Schule an, daß die Wörter und Zeichen in einer Eins-zu-Eins-Relation zu den bezeichneten Gegenständen stehen, so bestreitet die moderne Sprachtheorie seit Ferdinand de Saussure solche Externrelationen, zumal nicht alle Wörter einer Sprache objektive Korrelate haben, so z. B. ›und‹, ›wenn‹, ›dann‹, ›weil‹. Zudem müßten die Gegenstände vorher in präsprachlicher Form erfaßt sein, so daß die Wörter und Zeichen lediglich Hüllen eines Vorgedachten oder Vorgewußten wären. Für de Saussure ergibt sich daraus die Konsequenz, die Bedeutung der Wörter und Zeichen ausschließlich durch Internrelationen innerhalb einer Sprache festzulegen. Da die Beziehung eines Wortes oder Zeichens zu den anderen Wörtern oder Zeichen unendlich vielfältig ist und deren Beziehung zu anderen wiederum, kann nicht von konstanten, invarianten Wörtern oder Zeichen mit feststehenden, identischen Merkmalen ausgegangen werden, sondern nur von ständig wechselnden differentiellen Beziehungen. Die Sprache erweist sich damit als Paradigma für ein differentielles Relationssystem, das nicht feststehende Zeichen zur Grundlage hat und diese nachträglich in Beziehung setzt, sondern umgekehrt Differenzen, welche die Zeichen allererst bestimmen, freilich damit auch relativieren. Die moderne Auffassung zielt nicht mehr auf hierarchisch oder zentralistisch aufgebaute Systeme, die zielgerichtet auf Einheit und Umfassendheit tendieren, sondern bleibt bei wildwuchernden Gewächsen, denen Richtung, Ziel und Einheit und damit auch Vollständigkeit abgeht. Da nach traditioneller Auffassung Erkenntnisse durch Einordnung in ein System entstehen, muß hier auf Erkenntnisintention in strengem Sinne a limine verzichtet werden, zumindest bleibt man sich der Vorläufigkeit und Relativität der Erkenntnis bewußt. Im Sinne Willards van Orman Quine und Hilary Putnams könnte man von einem »unaufhörliche[n] Neuweben eines Glaubensnetzes« 172 spre172 Vgl. Richard Rorty: Solidarität oder Objektivität, in: ders.: Solidarität oder Objektivität? Drei philosophische Essays, aus dem Englischen übersetzt von Joachim Schulte, Stuttgart 1988, S. 11–37, bes. S. 20.

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chen oder mit Richard Rorty von einem »kriterienlosen Sich-durchwursteln« 173 , indem man irgendwo ansetzt und sein Ordnungsnetz von dort ausspannt. 6.4. Wissenschaftskriterien Die vorangehenden Analysen sind soweit gediehen, daß nunmehr eine Zusammenfassung der Wissenschaftskriterien erfolgen kann, d. h. derjenigen Merkmale, die das wissenschaftliche (theoretische) Wissen zum wissenschaftlichen (theoretischen) machen. Hervorzuheben sind: 1. ein anthropologischer Aspekt, 2. ein pädagogischer, 3. ein struktureller, 4. ein objektiver, 5. ein allgemeiner und notwendiger, 6. ein realer, 7. ein wahrheitstheoretischer, 8. ein kultureller. 174 1. Was den anthropologischen Aspekt betrifft, so gehört das wissenschaftliche Wissen in den Kontext der menschlichen Vermögen und Fähigkeiten und ist insofern der subjektiven Seite der Wissenstypen zuzuordnen, was immer darüber hinaus es noch sein mag. Genau wie Instinkt, Befindlichkeit, Gefühl, Praxis zählt auch das wissenschaftliche, theoretische Wissen zu den menschlichen Eigenheiten, unterscheidet sich jedoch von ihnen durch die Insistenz auf dem Geistigen, Intellektuellen – auch wenn dies nicht alles ausmacht, sondern andere Momente zur Erkenntnis hinzukommen müssen –, durch die kognitive Verarbeitung und durch die Art des resultierenden Verhaltens, das am ehesten als feste, ruhige Einstellung, als Habitus, bezeichnet werden kann und sich von der schwankenden, unsicheren Meinung abhebt. 2. Der pädagogische Aspekt, die Übertragbarkeit des Wissens, hat von Anfang an eine eminente Rolle gespielt. Sie setzt eine Lehrund Lernsituation zwischen Lehrer und Schüler voraus, mag diese A. a. O., S. 25. Die Unterscheidung der ersten drei Aspekte findet sich auch bei Alwin Diemer: Der Wissenschaftsbegriff in historischem und systematischem Zusammenhang, a. a. O., S. 5. 173 174

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nun an eigens dafür eingerichtete Institutionen wie Schule, Universität, Hoch- und Fachschule gebunden sein oder an den persönlichen Umgang und das dialogische Gespräch. Im Unterschied zum praktischen Erkennen ist die theoretische Wissensvermittlung kein unmittelbar imitierender Vorgang, keine bloß nachvollziehende Einübung, sondern ein vermittelter Prozeß, bei dem das Wissen in Form der Lehre vom Lehr- und Lernvorgang abgehoben werden kann, so daß wir drei Momente zu unterscheiden haben: Lehrende, Lernende und Lehre. Die Mittelbarkeit der Erkenntnis, die auf der Isolierbarkeit der Lehre beruht, ist das entscheidende Moment des theoretischen Wissens gegenüber dem praktischen. Manifestieren kann sich die Lehre in unterschiedlichen Formen, gedanklich im Denken, sprachlich in der Rede, in Frage und Antwort, in Mitteilung und Diskurs, schriftlich in der Niederschrift auf Stein, Tontafeln, Pergament, in Büchern und heute im Rahmen der modernen Computertechnik auf Mikrochips und in Datenbanken. Gelegentlich hat man das Wissen als das bestimmt, was wert ist, in Buchform festgehalten zu werden. So sagt etwa Bernard Bolzano in seiner Wissenschaftsdefinition: »Ich erklärte mich gleich § 1, daß ich unter Wissenschaft in der eigentlichen, objectiven Bedeutung nichts Anderes verstehen wolle, als den Inbegriff aller Wahrheiten einer gewissen Art, die so beschaffen sind, daß es der uns bekannte und merkwürdige Theil derselben verdienet, in einem eigenen Buch dergestalt niedergeschrieben und nöthigen Falls auch mit so vielen andern zu ihrem Verständnisse und Beweise dienlichen Seiten verbunden zu werden, daß sie die größte Faßlichkeit und Ueberzeugungskraft erhalten.« 175

Hier dürfte es sich allerdings um ein argumentum ad hominem handeln, da auch nicht-wissenschaftliche Sätze wie in der schöngeistigen und der Schundliteratur in Buchform niedergelegt werden. 3. Was den strukturellen Aspekt betrifft, so läuft er auf den formalen Charakter des Wissens hinaus, demzufolge das Wissen als Lehre faßbar ist. Theoretisieren und theoretisches Wissen wären ohne die Unterscheidung von Form und Materie, von struktureller Präsentation und konkreter Anwendung unmöglich. Nicht zufällig ist der Systemgedanke, ebenso die Idee der Mathematisierung an den theoretischen Wissenschaftsbegriff gekoppelt, stellen doch beide 175 Bernard Bolzano: Wissenschaftslehre. Versuch einer ausführlichen und größtentheils neuen Darstellung der Logik mit steter Rücksicht auf deren bisherige Bearbeiter, hrsg. von mehreren seiner Freunde, Bd. 4, Sulzbach 1837, S. 6, § 393.

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Gebiete, Logik wie Mathematik, Strukturwissenschaften dar. Sowohl das begrifflich-logische System wie auch der Quantifizierungsgedanke in Arithmetik und Geometrie sind fundamentale Strukturmomente. Dabei ist es gleichgültig, ob das System nach der klassischen Vorstellung als Hierarchie oder nach der modernen bzw. postmodernen als Netzwerk angenommen wird, wie es auch gleichgültig ist, ob man nur an eine Axiomatik oder an ein logisch-begriffliches System und eine darauf basierende mathematische Konstruktion denkt. Der Erfolg der Wissenschaften verdankt sich der Einsicht, die schon Platon im Timaios formuliert, daß sich die sinnlich-materielle Welt in einer met€basi@ e§@ ˝llo gffno@ auf formale Strukturen reduzieren läßt. Bei Platon sind dies im ersten Schritt geometrische Figuren, Polyeder, im zweiten arithmetische Zahlenverhältnisse. In der Neuzeit wurde dieser Gedanke aufgegriffen und radikalisiert, indem die aus der Antike stammende Frage nach dem Wesen einer Sache, z. B. nach dem Wesen der Bewegung, welche dort beantwortet worden war durch ›das der Möglichkeit nach Seiende‹, gänzlich suspendiert und ersetzt wurde durch Raum-Zeit-Funktionen, die der Quantifizierbarkeit unterstehen. Mit Descartes, ebenso mit Galilei und seinen physikalischen Nachfolgern wurde die Identifizierung der realen Gegenstände mit geometrischen Eigenschaften wie Ausdehnung, Größe, Gestalt, Lage, Bewegung vorgenommen, was Edmund Husserl dazu veranlaßte, hier von einer »Unterschiebung der mathematisch substruierten Welt der Idealitäten« unter »die wirklich wahrnehmungsmäßig gegebene, die je erfahrene und erfahrbare Welt – unsere alltägliche Lebenswelt« 176 zu sprechen. Es ist diese Mathematisierung der Natur, die in den mathematischen Naturwissenschaften ihren Niederschlag gefunden und diesen in der beginnenden Neuzeit ihren Aufschwung verschafft hat. Das entsprechende Defizit in den Geisteswissenschaften, sofern sie nicht wie Psychologie und Soziologie teilweise quantifizierenden Prinzipien folgen wie in der Statistik, hat es bis heute verhindert, diese als echte Wissenschaften zu betrachten. Vielmehr hat es am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts den Versuch gegeben, für die Geisteswissenschaften eigene Wissenschaftskriterien zu kreieren und dem Erklären und Begründen der Naturwissenschaften das Verstehen und Einfühlen der Geisteswissenschaften gegenüberzustellen, der 176 Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, a. a. O., Bd. 6, S. 49.

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Nomothetik jener die Idiographie dieser. Beschäftigen sich die Naturwissenschaften mit dem Generellen und Notwendigen, so die Geisteswissenschaften mit dem Besonderen, Individuellen und Kontingenten. 4. Mit der Strukturalität der (Natur-)Wissenschaften hängt ihre Objektivation zusammen. Der formale und zugleich allgemeine Charakter dieser Wissenschaften ermöglicht ihre Ablösbarkeit vom Einzelsubjekt und folglich ihre objektive Darstellung und intersubjektive Zugänglichkeit und Kommunikabilität. Während Instinkt, Stimmung, Gefühl und Praxis an das Individuum gebunden bleiben, ist das theoretische Wissen unabhängig von diesem, für jedermann zu jeder Zeit und an jedem Ort der Welt unter denselben Bedingungen zugänglich und kontrollierbar. Die Objektivierbarkeit des theoretischen Wissens ist der Grund für die Polarität von Subjekt und Objekt, die sich bei den anderen Vermögen in dieser extremen Form nicht findet. 5. Mit dem formalen Charakter des wissenschaftlichen Wissens hängt noch ein weiteres Merkmal zusammen: der Anspruch wissenschaftlicher Aussagen auf Allgemeinheit und Notwendigkeit. Obwohl sich im Laufe der Wissenschaftsgeschichte der Charakter der Prinzipien fundamental geändert hat, ist der Anspruch auf allgemeine Gültigkeit erhalten geblieben. War es in der Antike das edo@, der äußere Anblick, die Figur bzw. die morfffi = ›Gestalt‹, der ein genereller Charakter zukam, so ist an deren Stelle in der Neuzeit das Gesetz, der Funktionszusammenhang, getreten, unter dem eine konstante, invariante Beziehung zwischen Variablen verstanden wird; und in der Gegenwart hat dessen Stelle die Aussage eingenommen. Der Geltungsanspruch auf Allgemeinheit ist jedoch wegen der Bindung an die Form stets erhalten geblieben. Außer der Unterscheidung von Gestalt, Gesetz, Aussage lassen sich noch weitere formale Differenzen denken, so die zwischen äußerer und innerer Gestalt oder zwischen Struktur und Organisation, die die Wissenschaftskriterien in verschiedenen Epochen abgegeben haben. Ihre jeweilige Präferenz läßt sich anhand der Klassifikationssysteme der neuzeitlichen Naturgeschichte, insbesondere der Botanik und Zoologie studieren. 177 Für die großen Ordnungssysteme des 17. und 18. Jahrhunderts 177 Vgl. hierzu auch Karen Gloy: Vernunft und das Andere der Vernunft, a. a. O., S. 98 ff.

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ist ein Einteilungsprinzip kennzeichnend, das sich am Beobachtbaren orientiert und aus der Fülle der sinnlichen Qualitäten insbesondere die visuellen und in bescheidenerem Maße die taktilen auswählt, und zwar nicht die sekundären, sondern die sogenannten primären Sinnesqualitäten, welche sich auf geometrische und arithmetische Strukturen beziehen wie die Anzahl der Elemente, ihre Größe, ihre Form, ihre Anordnung. Die Anwendung dieses Schemas auf Pflanzen und Tiere und deren Teile, z. B. auf Blüten, Stiele, Blätter, Wurzeln und Früchte, ergibt dann Einteilungen nach der Zahl der Staubfäden und Stempel, der Größe und Gestalt derselben, ihrer geometrischen Anordnung im Kreis, Dreieck oder Sechseck. Es sind also quantitative Merkmale sowie geometrische Figuren und Muster, die zur Klassifikation dienen. Von ganz anderer Art ist das Einteilungsprinzip im ausgehenden 18. Jahrhundert. Es zielt nicht auf die sichtbare äußere Gestalt, sondern auf die nicht direkt sichtbare, erst durch Sezierung freizulegende Funktionalität der inneren Bestandteile. Es zielt auf die Organisation und Funktionsweise, beispielsweise bei der Ernährung oder Fortpflanzung. Von der Ernährungsart hängt der gesamte Körperbau der Lebewesen ab, die Beschaffenheit der Greif- und Kauorgane, des Verdauungs- und Ausscheidungstraktes, der Bewegungsorgane usw. So verlangen Pflanzenfresser breite Mahlzähne, einen langen Ernährungstrakt, Fleischfresser scharfe, spitze Reißzähne und Krallen, einen starken Magen usw. Zwischen der Art der Nahrungsaufnahme und der Art des Körperbaus bestehen geregelte funktionale Zusammenhänge, die hier entscheidend sind. 178 6. Trotz aller Formalität begnügt sich das wissenschaftliche Wissen nicht damit, reine Strukturerkenntnis zu sein, sondern bezieht diese auf die Realität und beansprucht damit, wissenschaftliche Erkenntnis der realen Welt zu sein. Hieraus erklärt sich die Spannung zwischen reiner Form und Empirie, auf die jene anwendbar ist. Stets geht es darum, zwischen zwei Vorgegebenheiten zu vermitteln, den Prinzipien einerseits und der Empirie andererseits. 7. Die Wahrheitsfrage, die im Kontext der Wissenschaften gestellt und von den meisten Wissenschaftlern positiv entschieden wird, erledigt sich nach den bisherigen Ausführungen von selbst. Absolute Wahrheit wäre nur möglich im Falle eines absolut einheitlichen und umfassenden sowie vollständig und durchgängig geglie178

Vgl. S. 232 dieser Arbeit. A

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derten Totalitätssystems, bei dem die vollendete Systematik mit dem Individuum koinzidierte. Eine solche Möglichkeit ist ausgeschlossen, nicht nur kontingenter-, sondern prinzipiellerweise, da zwischen Form und Materie selbst bei noch so weitgehender formaler Bestimmung der indifferenten materiellen Grundlage bzw. der unendlichen räumlichen Ausdehnung eine ontologische Differenz bleibt. Nicht einmal eine zunehmende, sukzessive Approximation ist zu denken möglich, da dies die Koinzidenz beider Ebenen voraussetzte und eine solche allenfalls als Limes figuriert. Formale Einheit und unendlichfache materielle Bestimmung sind nicht vereinbar. Die Systematik behält daher stets einen hypothetischen Charakter und dokumentiert lediglich einen relativen Ausschnitt des Seienden. Was jeweils als Wahrheit auftritt, und zwar als relative, dependiert vom Systementwurf, der gewisse interne Zusammenhänge und eine gewisse Ordnung aufweist, aber keine definitive. 8. Offen ist noch die Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Kultur, die Frage nach der Transkulturalität oder der kulturellen Abhängigkeit der Wissenschaft. Denkbar sind mehrere Alternativen: Zum einen könnte man sich eine Transkulturalität der Wissenschaft und damit eine sowohl strukturelle wie globale Universalität derselben vorstellen, die auf dem Allgemeinheitsanspruch der Prinzipien, Axiome, Begriffe, Gesetze usw. basierte und für alle Menschen auf der Erde gelten würde. Das andere Extrem wäre eine spezifische Kulturabhängigkeit der Wissenschaftsausarbeitung, die auf einen Kulturrelativismus hinausliefe. Wissenschaft wäre nur in bezug auf eine Gemeinschaft formulierbar, nicht in bezug auf eine transzendente Realität, wie Richard Rorty dies in seinem Aufsatz Solidarität oder Objektivität? 179 ausgeführt hat. Die dritte Möglichkeit bestünde in einer teilweisen Transkulturalität und teilweisen Kulturspezifität, insofern ein Teil der Strukturen, und zwar die grundlegenden, unter der Voraussetzung, daß es sich um anthropologische Konstanten handelt, allen Kulturen gemeinsam wären, während die spezielleren Ausarbeitungen sowohl von der jeweiligen Kultur wie vom jeweiligen historischen Stand der Forschung dependierten. In etwas anderem, aber durchaus vergleichbarem Kontext hat die sogenannte ›transzendentale Argumentation‹ in der Kant-Nachfolge zwischen allgemeinen, überall gleichbleibenden, konstanten Strukturen und der veränderlichen, vom jeweiligen hi179

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Richard Rorty: Solidarität oder Ojektivität, a. a. O., bes. S. 11.

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storischen Stand der Forschung abhängigen Begrifflichkeit gesprochen. 180 Bezüglich der ersten These stellte sich die Frage, welche der im Kultur- und Geschichtsvergleich aufgetretenen Wissenstypen Anspruch auf transkulturelle Wissenschaftlichkeit erheben könnte. Wahrscheinlich wäre dies von unserem Standpunkt aus die westliche Wissenschaft, die heute global expandiert ist. Dies käme jedoch einem Ethnozentrismus und speziell einem Eurozentrismus gleich; denn einen archimedischen Standpunkt außerhalb aller Wissenschaftsentwürfe und Wissenschaftstypen, der sämtliche überblickte, vermag der Mensch nicht einzunehmen. Und der Schluß von der internen Allgemeinheit der Gesetze und Regeln eines Systems auf die externe universale Geltung wäre ein Fehlschluß, da zwischen der schlechthinnigen Allgemeinheit der Formen innerhalb eines Systems und der intersubjektiven Geltung dieser Formen, der Geltung für alle Menschen dieser Erde, unterschieden werden muß. Die formale Universalität, die stets eine genuine des spezifischen Systems ist, besagt noch nichts über die Ausbreitung und globale Anerkennung: die momentane Globalität ist eine Faktizität, nicht aber identisch mit formaler Universalität. 181 Wir können uns unterschiedliche Interpretationssysteme denken, deren jeweils universeller Charakter von der Frage globaler Akzeptanz unabhängig ist. 182 Was die zweite These betrifft, so implizierte ein Kulturrelativismus die Annahme einer Pluralität von Wissenschaftstypen. Da die unterstellte Pluralität kulturabhängiger Wissenschaften jeden Bezug derselben untereinander verhinderte, die Termini und Gesetzmäßigkeiten des einen Systems denen des anderen inkomparabel wären und somit unverständlich blieben, folglich alles auf absolute Inkommensurabilität hinausliefe, widerlegt sich diese Annahme von selbst. Es scheint nur die dritte These übrigzubleiben, die auf eine teil180 Vgl. die transzendentale Argumentation, die im Kontext der Kant-Interpretation auftritt und die Frage erörtert, wieweit das Apriori in die Erfahrung ausgedehnt werden kann, s. Rüdiger Bittner: Artikel: Transzendental, in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe, hrsg. von Hermann Krings, Hans Michael Baumgartner und Christoph Wild, Bd. 5, München 1974, S. 1524–1539, bes. S. 1535 ff. 181 Rudolf Stichweh: Die Universalität wissenschaftlichen Wissens, in: Karen Gloy und Rudolf zur Lippe (Hrsg.): Weisheit – Wissen – Information, Göttingen 2005, S. 177– 191. 182 Den Ausdruck ›Wissenschaft‹ nur auf unser westliches System anzuwenden und andere Auffassungen auszuklammern, verbietet sich schon deshalb, weil auch das westliche System kein einheitliches ist, sondern selbst eine Geschichte durchlaufen hat.

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weise, wenngleich nicht gänzliche Verständigung und Intersubjektivität abzielt. Jede Kultur, auch die unsere, muß irgendwo und irgendwie anfangen, respektive des Begegnenden Ordnungsstrukturen zu schaffen, ohne daß das Ideal eines absoluten Systems und definitiver Kriterien erfüllt werden könnte. Vielmehr erfolgt die Suche nach einem solchen umfassenden System im Bewußtsein unüberwindbarer Vorläufigkeit, was aber nicht die Überzeugung hindert, daß die von der einen Kultur nahegelegten Annahmen zumindest teilweise auch in anderen Kulturen verständlich sind.

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Modifizierte Wissenszustnde

7.1. Allgemeines Außer den gewöhnlichen Wissenszuständen, dem instinktiven, dem intuitiv-situativen und -gestischen Wissen, dem praktischen know how und dem theoretischen know what und that, gibt es Wissensarten, die einen außergewöhnlichen Zustand anzeigen. Teils treten sie sporadisch auf, teils wiederkehrend oder sogar permanent, teils sind sie an Einzelpersonen gebunden, teils begegnen sie als Massenphänomene wie Massenpsychose und Massenekstase. Hielt man diese früher für Krankheiten – so spricht man beispielsweise von der Schamanenkrankheit –, für Abnormität, Geistesverwirrung, Verrücktheit, Wahnsinn oder auch für heilige Offenbarungen, so bevorzugt man heute besonders im angelsächsischen Bereich den Ausdruck »altered states of consciousness« 183 und im deutschen Sprachbereich den Ausdruck »veränderte Wachbewußtseinszustände« 184 , zum einen, um jede Wertung zu vermeiden, zum anderen, weil sich die Meinung durchgesetzt hat, daß alle Menschen mehr oder weniger zumindest die Disposition zu solchen Zuständen haben, was auch die Möglichkeit des Hineinversetzens in solche erlaubt, und zum dritten, weil sich solche Zustände aufgrund psychosomatischer Korrelationen 183 Vgl. Charles T. Tart (Hrsg.): Altered States of Consciousness. A Book of Readings, New York, London, Sydney, Toronto 1969. 184 Vgl. den Titel des Aufsatzes von Wolfgang George Jilek: Veränderte Wachbewußtseinszustände in Heiltanzritualen nordamerikanischer Indianer, in: Adolf Dittrich und Christian Scharfetter (Hrsg.): Ethnopsychotherapie. Psychotherapie mittels außergewöhnlicher Bewußtseinszustände in westlichen und indigenen Kulturen, Stuttgart 1987, S. 135–149.

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immer mehr experimentell evozieren und damit wissenschaftlich studieren lassen. Mit den veränderten Bewußtseinszuständen sind teils hyperbewußte Zustände gemeint, die wie Hypermnesie, Meditation und Yoga ein gesteigertes, hellwaches, kristallklares, sogar überwaches und hochdetailliertes Bewußtsein mit sich bringen, 185 teils subbewußte Zustände, die wie Träume und hypnoide Zustände auf ein herabgesetztes Bewußtsein deuten, das entweder partial oder total sein und alle Grade bis hin zur Amnesie annehmen kann. Mit dem verminderten Bewußtsein ist allerdings nur die Vergewisserungsweise dieser Zustände vom normalen Wachbewußtsein aus gemeint, wobei Erinnerung und Wiedererinnerung herabgesetzt oder gänzlich suspendiert sind, nicht gemeint ist die Vergewisserungsweise dieser Zustände während ihres Vorliegens. Vielmehr scheinen diese Zustände selbst gegenüber dem Wachbewußtsein ungemein reichhaltiger, komplexer und intensiver zu sein, was mit der Entfesselung und Befreiung vom reglementierten Normalbewußtsein zusammenhängen dürfte. Obwohl die modifizierten Bewußtseinszustände außerordentlich vielgestaltig sind und sich zum Teil inhaltlich wie formal überlagern und in der langen Geschichte ihres Bekanntseins unter den verschiedensten Namen behandelt worden sind, wollen wir uns hier auf die folgenden Phänomene beschränken: – Traum – Weis- oder Wahrsagung – Vision und Audition (Halluzination) – Prophetie, zeitliches und räumliches Fernsehen, Telepathie – Besessenheit, Hypnose – Trance, Schamanismus – Meditation, Yoga. Die Schwierigkeit des Zugangs zu diesen Phänomenen vom Wachzustand aus hat dazu geführt, korrelative physiologische und insbesondere neurophysiologische Phänomene hinzuzuziehen. So ist gerade die Verknüpfung von psychischen und neurophysiologischen Vorgängen gegenwärtig zum präferierten Forschungsfeld geworden, 185 Bei der Hypermnesie vermag man sich z. B. an vergessene Inhalte, etwa Details einer Entführung, überscharf wiederzuerinnern, vgl. dazu Vladimir Aristo Gheorghiu: Hypnose und Gedächtnis. Untersuchungen zur hypnotischen Hypermnesie und Amnesie, München 1973.

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wodurch man hofft, die Phänomene auch wissenschaftlich zu erschließen, d. h. nach dem zuvor skizzierten Wissenschaftsmodell behandeln zu können. Nicht nur, daß die modifizierten Bewußtseinszustände künstlich in seriellen Experimenten erzeugt werden können, was sie in ihrer Entstehung beliebig iterierbar, damit auch studierbar und kontrollierbar macht wie andere wissenschaftliche Experimente, auch ihre Ursachen lassen sich auf diese Weise genauer eruieren. Teils handelt es sich um Stoffwechselstörungen wie mangelnde Sauerstoffzufuhr (Hypoxie) 186 oder Überzuckerung (Hypoglykämie), teils um Vergiftungserscheinungen durch Narkotika und Drogen, wie Haschisch, Meskalin, Fliegenpilzgift 187 , Kokain und LSD, teils um bewußt und gewollt eingesetzte Techniken, wie Sitzund Atemübungen, Mantrameditation u. ä. beim Yoga. Die moderne Neurobiologie hat zur Erforschung dieser Phänomene den Weg eingeschlagen, über die Lokalisation und Isolation von Gehirnzentren und über elektroenzephalographische Messungen näheren Aufschluß über die mit ihnen verbundenen Bewußtseinszustände zu gewinnen, da sich herausgestellt hat, daß sowohl den normalen wie den modifizierten Bewußtseinszuständen hirnelektrische Aktivitäten entsprechen. So sind meditative wie still hypnoide Zustände durch einen regelmäßigen Alpharhythmus charakterisiert, der sich auch bei entspanntem Wachzustand zeigt. Mit der Vertiefung der Versunkenheit nehmen die Amplituden an Regelmäßigkeit zu, es treten Wellenmuster auf, ähnlich wie bei leichtem Schlaf. 188 Bewußtseinsmäßig aber scheint es Unterschiede zu geben, da sowohl normale Schläfrigkeit und Einschlafen wie auch modifizierte Bewußtseinsformen unter denselben Bedingungen zu beobachten sind. Ebenso hat man festgestellt, daß östliche und westliche Meditation unterschiedliche Gehirnzentren aktiviert. Die Ergebnisse der Neurobiologie können auch für eine phänomenologische Untersuchung interessant werden, sofern die Grenzziehung zwischen den beiden Methoden gewahrt bleibt. Trotz gelegentlicher Hinweise auf psychosomatische Zusammenhänge soll hier prinzipiell an der phänomenologischen 186 So wurde z. B. dem tibetanischen Staatsorakel von Nechung ein Helm übergestülpt, um die Sauerstoffzufuhr zu unterbinden. 187 Vgl. Sigrid Knecht: Magische Pilze und Pilzzeremonien, in: Zeitschrift für Pilzkunde, Bd. 28, Heft 3/4 (1962), S. 6978. 188 Vgl. Dieter Vaitl: Entspannungstechniken, in: Kurt Gottschaldt, Philipp Lersch, Friedrich Sander, Hans Thomae (Hrsg.): Handbuch der Psychologie, Bd. 8.2, Göttingen, Toronto, Zürich 1978, S. 2104–2143.

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Untersuchungsmethode festgehalten werden: die Phänomene sollen in ihrer Eigenart und kognitiven Funktion, in ihrer Bedeutung möglichst scharf herausgestellt werden, selbst wenn sich ihre Inhalte und Strukturen teilweise überschneiden. Nicht ganz einfach gestaltet sich die Einordnung der modifizierten Bewußtseinszustände in ein System von Wissenstypen, wirft doch dies zwei Fragen auf, zum einen, ob und inwiefern es sich überhaupt um generelle Wissensarten und nicht um rein subjektive, individuelle Bewußtseins- oder Erlebnisarten handelt, und zum anderen, ob und wie sie einer Klassifikation zugänglich sind. Zum einen könnte man vom wissenschaftlichen Standpunkt aus grundsätzlich bezweifeln, daß es sich überhaupt um Wissensphänomene handelt, da sie weder die Kriterien wissenschaftlichen Wissens wie Formalisierbarkeit, Objektivierbarkeit, Gesetzmäßigkeit, Iterierbarkeit usw. erfüllen, noch Voraussetzung oder Bestandteile wissenschaftlichen Wissens sind wie Empfindung, Wahrnehmung, Befindlichkeit usw. Als rein subjektiv fehlt ihnen zudem ein objektives Korrelat in der Realität, wie es zumindest der ›Normalmensch‹ in seinen Wissensbezügen verlangt. Die oben beschriebene neurophysiologische Behandlung, die diese Phänomene seriellen Experimenten unterwirft, ist der Versuch einer Reduktion derselben auf wissenschaftliche Verfahrensweisen und Gesetzmäßigkeiten, die allein für verbindlich gelten. Diese Methode geht jedoch an den Phänomenen in ihrer Spezifität vorbei. Die Betrachtung dieser Phänomene als ›nicht wissenschaftlich‹ bedeutet aber nicht automatisch, daß sie als ›unwissenschaftlich‹ anzusehen wären in dem Sinne, daß sie überhaupt keine Wissensarten darstellten. So wenig sie wissenschaftlich im bisher definierten Sinne sind, sowenig sind sie das kontradiktorische Gegenteil: unwissenschaftlich, vielmehr folgen sie einem anderen, reicheren, komplexeren Wissenstyp. Sie sind Phänomene anderer Organisation und Struktur, als es der reduktionistische, gesetzmäßige Wissenschaftstyp unseres gängigen Verständnisses ist. Charles T. Tart, der sich in seinem Buch Transpersonale Psychologie 189 mit diesen Phänomenen auseinandergesetzt hat, definiert Wissen im weitesten Sinne »als ein unmittelbar gegebenes, empirisches Empfinden einer Kongruenz zwischen zwei verschiedenen Erlebnis- bzw. Erfah189 Charles T. Tart: Transpersonale Psychologie (Titel der Originalausgabe: Transpersonal Psychologies, New York 1975), Übersetzung von Gisela Uellenberg und Gisela Hesse, Olten, Freiburg i. Br. 1978, bes. 21–98.

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rungsarten, d. h. ein Empfinden der Übereinstimmung« 190 . Während die eine Erlebnis- bzw. Erfahrungsreihe auf Wahrnehmung basiert, ob auf wirklicher oder eingebildeter sei dahingestellt, basiert die andere auf Theoriebildung, auf dem Begreifen eines Systems oder einer Glaubensvorstellung. Das Empfinden der Kongruenz ist dann das, was sich im Erlebnis unmittelbar mitteilt. Ich selbst präferiere die Ausdrucksweise von einer kognitiven Verarbeitung von Daten zu einer bestimmten Organisations- und Funktionseinheit, die sich von jeder anderen möglichen unterscheidet, was immer auch die angebliche Realität sein mag. In dieser Beziehung unterscheidet sich die Verarbeitungsweise der modifizierten Zustände nicht von der wissenschaftlichen Verarbeitungsweise. Die Frage nach den Kriterien der Klassifizierbarkeit dieser Phänomene ist deswegen schwierig zu beantworten, weil es sich um inhaltlich und formal wie auch erlebnismäßig ungeheuer reichhaltige Phänomene handelt. Das zeigt bereits die Diskussion um das Traumund Tagesbewußtsein und seine verschiedenen Logiken. Geht man vom vernünftigen, geregelten Tagesbewußtsein aus, das zudem die Basis von Wissen und Wissenschaftlichkeit bildet, so erscheint ihm gegenüber das Traumbewußtsein als das entfesselte, enthemmte, ungebändigte Bewußtsein. Nimmt man hingegen das Traumbewußtsein für das vorgängige und das Tagesbewußtsein für das abgeleitete, so erscheint dieses als durch den Filter der kritischen Vernunft filtriert und abstrahiert. Und was die Phänomene von Besessenheit, Trance, Schamanismus betrifft, so sind sie schon deswegen reicher und komplexer, weil sich hier ein Fremdbewußtsein mit dem Eigenbewußtsein, dieses überlagernd, vermischt. Eine Klassifikation ließe sich nur nach den Gesichtspunkten Struktur und Erlebnisintensität denken, wobei jedoch zu berücksichtigen ist, daß sich diese nicht klar scheiden lassen, sondern überlagern. Während Traum, ebenso Wahrsagung, Weissagung, Prophetie, Telepathie u. ä. noch am ehesten strukturalistisch interpretiert werden können aufgrund ihrer durchgängigen, repetitiven Strukturen, lassen sich Besessenheit, Trance, Yoga, Meditation am ehesten von der Intensität ihrer Erlebnis- und Zugangsweise fassen, da sie eine Vereinigung nicht nur von Einzelbewußtseinen untereinander, sondern auch von Bewußtsein und Welt, eine Alleinheit, anstreben. Als Grund für die Hinwendung vieler amerikanischer Jugendlicher 190

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zu Yoga und Meditation wie auch zu Drogen, was zugleich mit einer Abwendung von der abstrakten, sterilen, kalten Wissenschaft verbunden ist, hat Tart die Erfahrung von anderen Dimensionen, von Entrückung aus Raum und Zeit, von Transzendenz, mystischer Vereinigung mit einem höheren Wesen und transpersonaler Erkenntnis angegeben: »Für erfahrene Marihuana-Raucher ist es relativ einfach, sich wieder offener und kindhafter zu fühlen und mit Staunen und Verwunderung auf das Universum zu blicken, die sexuelle Liebe nicht nur als körperliche, sondern auch als seelische Vereinigung zu empfinden, eine immaterielle Energie den Körper durchpulsen zu spüren, sich im Einklang mit der Welt zu befinden und das Gefühl zu haben, daß die Zeit stillsteht. Nicht so weit verbreitet, aber doch auch relativ häufig ist die Erfahrung, mit anderen Menschen über räumliche Entfernungen hinweg eine geistige Verbindung herstellen zu können (Telepathie), sowie das Gefühl, sich in unmittelbarem Kontakt zu einer höheren Macht bzw. zu Gott zu befinden.« 191

7.2. Theorie des Doppelbewußtseins Die Schwierigkeit des Zugangs zu den modifizierten Wissensarten vom Wachbewußtsein aus, die sich beispielsweise darin zeigt, daß wir im Wachzustand keine oder kaum eine Erinnerung an das Traumbewußtsein haben, weil dieses durch jenes zurückgedrängt oder gar verdrängt ist, oder auch darin, daß im Falle von Hypnose und Trance ähnlich wie bei Faszination und Suggestion an die Stelle des eigenen Bewußtseins ein fremdes tritt – der Name ›Besessenheit‹ besagt bereits, daß etwas anderes von uns Besitz ergreift –, deutet auf eine Bewußtseinsdissoziation in Gestalt zweier unterschiedlich organisierter Bewußtseinszustände. Übrigens gilt dies auch schon im Falle des natürlichen Objektbewußtseins, bei dem das Objektbewußtsein an die Stelle des Ichbewußtseins tritt, womit sich die Durchgängigkeit der faszinierenden Fremdsuggestion sowohl in normalen wie anormalen Bewußtseinszuständen erweist. Vergleichen könnte man diese Bewußtseinsdissoziation mit der Bewußtseinsspaltung in der Schizophrenie, bei der die eine Persönlichkeit nichts von der anderen weiß. Paul Lindau hat in seinem Theaterstück Der Andere eine solche Situation nachgezeichnet: Ein Staatsanwalt plant somnambulant ein 191

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Verbrechen und bricht in seinem eigenen Hause ein. Als Verbrecher weiß er nichts von der Existenz des Staatsanwaltes, der ihn zu verfolgen hat, und als Staatsanwalt weiß er nichts von der Existenz des Verbrechers. Nur gelegentlich finden kleine Übergänge statt. Bei der Bewußtseinsdissoziation handelt es sich nicht nur um pathologische Fälle, sondern um ganz normale, in denen zwei selbständige, separate Bewußtseine von unterschiedlicher Verfaßtheit auftreten, von denen das eine ichhaft strukturiert ist, egologisch, das andere ichlos, nicht-egologisch, wenn es nicht gerade durch ein anderes, ichhaftes Fremdbewußtsein okkupiert wird. Während das egologische sowohl das emotional-situative wie das gefühlsmäßigzielgerichtete, das praktische wie das theoretische Wissen umfaßt, die alle um einen Ich-Kern kreisen oder in einem solchen zentriert sind, ist es fraglich, ob und wie das ichlose Bewußtsein einem individuellen Selbst zugeschrieben werden kann. Gehört es vielleicht einem anonymen Kollektivbewußtsein zu, an dem wir alle teilhaben, welches aber auch durch fremde Ichbewußtseine wie Personen, Geister, Dämonen, Götter besetzt werden kann? Max Dessoir 192 hat dieses Phänomen in seiner Theorie des Doppelbewußtseins als Oberund Unterbewußtsein unterschieden, ohne jedoch die aufgeworfene Frage zu beantworten. Mystiker haben oft behauptet, daß wir im Grunde ständig träumen – unser ganzes Leben ein Traum! –, daß das Wach- oder Ichbewußtsein nur die Oberflächenerscheinung eines tieferen Traumbewußtseins sei, das durch die kritische Vernunft filtriert und reglementiert und in feste Ordnungsstrukturen gebracht wird. Dafür sprechen die Vorgänge des Einschlafens und Aufwachens. Bekanntlich versinkt als erstes das Ich, erst langsam entziehen sich auch die übrigen Sinneseindrücke, Körper- und Organempfindungen, Lustoder Unlustgefühle und lösen sich in ein nebulöses Einerlei auf. Umgekehrt treten beim Aufwachen zunächst die diffusen Körper- und Organempfindungen, Farben, Töne, Gestalten hervor, als letztes das Ich, um das sich die bewußte, hellwache Welt zentriert. Während das ichhafte Wachbewußtsein geordnet und strukturiert erscheint und verständlichen Gesetzmäßigkeiten folgt, pflegen wir dies von den modifizierten Wissensarten nicht zu sagen, weder vom Traum, den wir phantastisch und irreal nennen, noch von den 192 Max Dessoir: Das Doppel-Ich, 2., vermehrte Aufl. Leipzig 1896, S. 13; vgl. auch Albert Moll: Der Hypnotismus, 3., vermehrte Aufl. Berlin 1895, S. 192 ff.

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Visionen und Auditionen, die uns als hyperphysisch, wunderbar und auch unverständlich erscheinen, noch von der Trance, die allenfalls dem Schamanen oder dem Besessenen zugänglich ist, nicht jedoch den übrigen Anwesenden. Der römische Arzt und Gelehrte Celsus hat seinen Eindruck von einem Ekstatiker, insbesondere von dessen Rede wiedergegeben »als unverständliches, wilderregtes und höchst mysteriöses Zeug […], dessen Sinn kein vernünftiger Mensch entdecken kann; denn es ist unklar und absolut nichts, gibt jedoch allen Narren und Scharlatanen jederzeit Anlaß, das Gesprochene nach Gutdünken sich anzueignen!« 193 In der Unverständlichkeit für den Normalmenschen liegt zweifellos die Wurzel für die Ausnutzung von Visionen und Auditionen, Träumen und Prophetien zu Manipulationen und Täuschungen bis hin zur Scharlatanerie; denn wegen der Suspendierung der kritischen Vernunft und des Willens, wegen des Zurücktretens der Herrschaft des Ichbewußtseins über Gedanken, Vorstellungen, Gefühle und Willensimpulse und deren Selektion ist der Interpretation der Vorstellungsassoziationen freier Lauf gelassen. Wahrheit und Schein werden ununterscheidbar, Wahrnehmung und Simulation gehen ineinander. Da das kritische Urteilsvermögen ausgeschaltet ist ebenso wie die selektierende und strukturierende Kraft des Geistes, scheint eine allseitige Auflösung und Unordnung die Folge zu sein. Andererseits jedoch haben Menschen zu allen Zeiten und in allen Kulturen eine heilige Scheu vor Träumen, Visionen, Prophetien und Ekstasen gehabt und sie als übernatürliche Offenbarungen, göttliche Eingebungen und Wahrheiten betrachtet, eventuell sogar von höherem Wahrheitsgehalt als die normalen Vorstellungen. Wie läßt sich dies erklären? Da solche tiefverwurzelten Annahmen, auch wenn sie vom heutigen wissenschaftlichen Standpunkt kritisch beurteilt werden müssen, einen Kern an Wahrheit enthalten, ist diesem nachzugehen. Das bedeutet nichts Geringeres, als den kognitiven Gehalt der modifizierten Wissensarten zu prüfen.

193 Celsus: Orig. contra Celsum, VII,9, zitiert nach: Gustav Hölscher: Die Profeten. Untersuchungen zur Religionsgeschichte Israels, Leipzig 1914, S. 21 f.

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7.3. Traumbewußtsein a) Zugang Von den hier genannten modifizierten Wissensarten ist der an den Schlaf gebundene und während desselben auftretende Traum 194 das bekannteste und natürlichste Phänomen, da er keiner künstlichen physischen oder psychischen Mittel zur Herstellung bedarf, sondern auf ganz natürliche Weise entsteht. Allerdings ist der Eintritt des Schlafes, der die Möglichkeit von Träumen eröffnet, auch artifiziell evozierbar. Ähnlich wie bei hypnotischen Träumen und Trance lassen sich Kinder durch Besprechen und monotonen Gesang einlullen; bei Erwachsenen kann die Aufmerksamkeitsfokussierung Müdigkeit und Schwere in den Augenlidern hervorrufen und zum Entzug des Wachbewußtseins führen. Bekannt ist, daß Redner nicht nur aufwiegeln, sondern auch beschwichtigen können, sogar ermüdend und einschläfernd wirken können, nicht etwa nur durch Langeweile der Rede und Mangel an Aufmerksamkeit der Hörer, sondern durch Überspannung und Übersteigerung der psychischen Aufmerksamkeit. Überzogene Reaktion führt ebenso wie Monotonie zur Erschlaffung der Kräfte und zur Ermüdung. Hermann Schmitz hat in seinem Werk System der Philosophie 195 sehr eindrücklich beschrieben, wie wir beim Reisen mit dem Zug, zurückgelehnt ins Fauteuil, den Blick durch das Fenster gerichtet, die Landschaft an uns vorbeigleiten lassen, die unser waches Ichbewußtsein mitreißt und schließlich entreißt. Durch die Bewegung des Vorbeigleitens, wobei kein Gegenstand gesondert fixiert wird und hervortritt, wird die Landschaft zur verschwimmenden Kulisse depotenziert, verliert an Gewicht und Schwere, rückt in träumerische Ferne und läßt den Schauenden dahindämmern und schließlich in Schlaf versinken. Der Absorbierung des Schauenden durch die dahingleitende und entgleitende Landschaft, bei der der Schauende ganz und gar ›Auge‹ ist, entspricht die zunehmende Hinfälligkeit, die in Dämmern und schließlich Einnicken übergeht. 196 Nun mag man zwar bestreiten, daß mit dem Entgleiten des Allerdings gibt es auch Tagträume. Hermann Schmitz: System der Philosophie, a. a. O., Bd. 3.5, S. 98 f. 196 Das Phänomen ist auch von langen monotonen Autofahrten auf Autobahnen bekannt. Die ständige Aufmerksamkeit führt zu abruptem, spontanem Abgleiten der Aufmerksamkeit und Wachheit, was schwere Unfälle verursachen kann. 194 195

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Wachbewußtseins und dem Eintritt des Schlafes zugleich auch Traumbewußtsein eintritt. Die meisten Menschen beantworten die Frage, ob sie träumen, mit ›nein‹ oder ›selten‹, vielleicht ›einmal im Jahr‹. Nach einer im Spiegel 1983 publizierten Studie 197 meinten 15 % der Männer und 5 % der Frauen, daß sie noch nie im Leben geträumt hätten. Allenfalls psychoanalytisch geschulte Patienten haben sich darauf spezialisiert, ihre Träume ins Wachbewußtsein hinüberzuretten und wiederzugeben. Der Übergang von Schlaf zu Erwachen ist allermeist mit einem Vergessen des Traumes verbunden, ähnlich wie bei Hypnose und Trance die Amnesie. Allenfalls erinnert man sich angesichts eines Albtraumes, eines schweren, lastenden, beängstigenden Traumes, noch kurze Zeit nach dem Erwachen, bis auch diese Erinnerung verblaßt und in Vergessenheit übergeht. Nichtsdestoweniger dürften Träume die meiste Zeit des Schlafes ausfüllen. 1892 beobachtete der amerikanische Psychologe George Trumbull, daß Schlafende rasche Augenbewegungen vollziehen, sogenannte rapid eye movements, abgekürzt REM, und schloß daraus auf eine intensive Aktivität des Gehirns auch während der Schlafphase, d. h. bei Ausfall der Reize über die wachen, geöffneten Augen und die sonstigen Wahrnehmungsorgane. 1953 gelang es den Traumforschern Kleitmann und Aserinsky, solche REM-Phasen systematisch zu erforschen. Im Verlaufe dieser Untersuchungen wurden die Patienten bei Eintritt der REM-Phase geweckt und erzählten dann regelmäßig einen Traum, was den Schluß auf die Koppelung von REM-Phase und Traumbewußtsein nahelegte. Neueste Studien lassen auf Träume auch außerhalb der REM-Phase schließen. Statistische Erhebungen wie auch Versuche mittels des Elektroenzephalogramms haben zu dem Ergebnis geführt, daß jeder Mensch mehrmals, zwischen fünfund siebenmal, während der Nachtruhe träumt, etwa 2 bis 2 ½ Stunden, ohne dies im Wachbewußtsein zu memorieren. Kinder träumen meist intensiver als Erwachsene, ältere Menschen weniger. Das entspricht der Tatsache, daß Kinder auch im Wachbewußtsein eine lebhaftere Phantasie an den Tag legen. Was das Entrücken der Träume beim Erwachen betrifft, so sind die Ergebnisse vergleichbar mit den Erfahrungen über Trancezustände. Hier wie dort ist der Übergang zum Wachbewußtsein mit einem totalen oder partialen Vergessen des andersartigen Bewußtseins verbunden. Dem versucht man ent197 Vgl. Jürgen vom Scheidt: Traum, in: Handwörterbuch der Psychologie, München, Weinheim 1988, S. 803–807, bes. S. 804.

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gegenzuwirken durch Bewußthalten und unmittelbare Niederschrift der Träume gleich nach dem Aufwachen. In der Traumforschung werden verschiedene Stadien von Traumbewußtsein unterschieden: 1. der Traum, wie er wirklich ist und erlebt wird, 2. der Traum, wie er unmittelbar nach dem Erwachen, solange er noch lebhaft ist, erinnert und niedergeschrieben wird, 3. der Traum, wie er einige Zeit später erinnert wird, wenn er bereits am Verblassen ist, 4. der Traum, wie er Freunden und Bekannten erzählt und der Traumanalyse zugrunde gelegt wird und wie er zumeist zensiert ist und unangenehme Motive ausblendet. b) Inhalt Sofern sich Träume aufgrund der intensiven wissenschaftlichen Traumforschung und psychoanalytischen Traumdeutung inhaltlich wie strukturell rekonstruieren lassen, ist festzustellen, daß sie gegenüber dem Wachzustand weitaus reichhaltiger, bunter und intensiver sind, zum einen wegen der Fülle an Vorstellungen, zum anderen wegen der Geschwindigkeit der Assoziationen und zum dritten wegen der Willkür der Kombination. Im Traum vereinen sich Sinnesempfindungen, Lageempfindungen, Organempfindungen wie Hunger und Durst, Übelkeit, Schwindel, Lust und Unlust, Gefühle, Erinnerungsbilder von konkret Erlebtem, Wünsche und Symbole, allesamt in phantastischen Umformungen und beliebigen Assoziationen. Das Repertoire ist enorm. Den Stoff bilden Erlebnisse des eigenen Lebens, die sich häufig emotional hervorheben und eine nachhaltige Wirkung entfalten. Sie wiederholen sich daher auch im Traum und fungieren als Motive. Das Wachbewußtsein mit seiner Logik und Rationalität, mit dem Satz der Identität, des auszuschließenden Widerspruchs und des ausgeschlossenen Dritten, denen zufolge ein Gegenstand mit sich selbst übereinstimmen muß, nur durch eines von zwei kontradiktorischen Prädikaten bestimmt sein kann und eine dritte Möglichkeit ausgeschlossen ist, erscheint dem Traumbewußtsein gegenüber wie ein Raster oder Filter, der von dem chaotischen Grund, auf dem es aufruht, nur einiges durchläßt. Zwar kann das Traumbewußtsein hin und wieder logisch kombinieren; gebunden an die Wachlogik aber ist es nicht. Es gibt im Traum keine durchgängige Identität; Widersprüche sind allpräsent; das Sowohl-als-auch ist üblich. Personen mutie264

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ren in einer Metamorphose ineinander oder schlüpfen ungehemmt in Tiere, Pflanzen, Elemente. Sigmund Freud 198 berichtet von einem Traum, in dem eine ihm bekannte Patientin namens Irma auftritt, die zunächst alle ihr im Leben zukommenden Züge trägt und die er im Traum mit einer anderen Dame vertauschen möchte, da beide dieselbe Untersuchungshaltung am Fenster einnehmen. Dann gleitet die Patientin in Freuds älteste Tochter über, veranlaßt durch Diphteriesymptome, die an beiden auftreten. Hinter der Tochter erscheint eine andere namensgleiche Person, die durch Intoxikation verstarb. Im weiteren Verlauf des Traumes verwandelt sich Irma zu einem der Kinder in der öffentlichen Ordination eines Kinderkrankenhauses, wobei der Übergang durch die Vorstellung der kindlichen Tochter Freuds vermittelt wird. Durch das Sträuben beim Mundöffnen wird Irma zur Anspielung auf eine weitere Patientin in ähnlicher Abwehrhaltung, dann zu Freuds Frau usw. Die Mutation ist stets veranlaßt durch bestimmte Krankheitssymptome, Untersuchungsstellungen, Namensgleichheit oder sonstige Ähnlichkeiten. Albert Moll 199 berichtet von einem Offizier, der Hannibal verehrte, daß jener im Traum Hannibal gewesen sei und eine imaginäre Schlacht geschlagen hätte. Dieselben Beobachtungen belegen Romane, die oft auf Träumen basieren. In Novalis’ Roman Heinrich von Ofterdingen macht die Hauptfigur eine solche metamorphotische Wandlung durch. Es heißt: »Heinrich wird im Wahnsinn Stein – [Blume] klingender Baum – goldner Widder.« 200 Auch Mythologie und Religion bedienen sich solcher Metamorphosen. Aus der ägyptischen Mythologie ist die Verwandlung des Osiris bekannt: Mit grünem Gesicht repräsentiert er den Vegetationsgott, mit schwarzem den Totengott, mit weißem ist er Verklärter. Hator ist Göttin, Frau, Kuh, Löwin, Auge zugleich. Personen und Gegenstände treten bei solchen Mutationen in verschiedener Form auf: Entweder mutieren sie sukzessiv in andere Personen oder andere Gegenstände, oder sie stellen Mischwesen dar, die sich aus verschiedenen Wesen zusammensetzen wie die ägyp198 Sigmund Freud: Die Traumdeutung, Nachwort von Hermann Beland, Frankfurt a. M. 1991, wiederholte Aufl. 1996, S. 298. 199 Albert Moll: Der Hypnotismus, a. a. O., S. 156. 200 Novalis: Heinrich von Ofterdingen, in: Novalis Werke, hrsg. und kommentiert von Gerhard Schulz, München 1969, 3. Auflage 1987 auf der Grundlage der zweiten, neubearbeiteten Aufl. 1981, S. 286.

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tische Sphinx, die aus Menschenkopf und Löwenleib besteht, oder die Kentauren der griechischen Mythologie, die sich aus Stierkörper und Menschenkopf zusammensetzen, oder die Nymphen der germanischen Mythologie, die Wesen aus Mensch und Fisch sind. Zum dritten kann eine Person als Sammelwesen auftreten, indem sie Eigenschaften und Sprechweise einer anderen übernimmt. Ist das Wachbewußtsein durch räumliche und zeitliche Abständigkeit charakterisiert, durch ein räumliches Oben und Unten, Rechts und Links sowie durch ein zeitliches Nacheinander und Gleichzeitigsein, durch Kausalität und Interaktion, so sind diese Strukturen im Traumbewußtsein aufgehoben. Distanzen werden in Windeseile überwunden wie im Flug des Schamanen mit dem Flugroß oder in Mohammeds Traum, in dem Mohammed alle Himmel und Höllen durchquert und 10000 Gespräche führt, während der bei seinem Weggang umgestoßene Wasserkrug noch nicht einmal ausgelaufen ist. Letzterer repräsentiert die reale Zeit. Personen fliegen durch die Luft wie auf Chagalls Bildern oder stehen auf dem Kopf wie auf Kinderzeichnungen, Boote schweben auf Dächern, die räumliche Ordnung ist ebenso suspendiert wie die zeitliche. Sukzessiv aufeinanderfolgende oder kausal auseinanderfolgende Vorgänge werden vertauscht oder zeitlich zusammengezogen und schließlich als gleichzeitig dargestellt. Gerade die Traumlogik gestattet, sich in frühe und früheste Zeiten der Kindheit und des Heranwachsens zu versetzen, z. B. in die Abitursituation, auch wenn Jahrzehnte vergangen sind. Polymorphie, der räumliche Zusammenfall von Gestalten, Metamorphose, die zeitliche Verwandlung ineinander, convenientia, das nachbarschaftliche räumliche oder zeitliche Auftreten heterogener Instanzen, aemulatio, das Überspringen räumlicher und zeitlicher Distanzen, sind die termini technici des Analogiedenkens, das hier Anwendung findet. 201 In jeder Hinsicht, räumlicher wie zeitlicher wie logischer, werden die festen Strukturen des Tagesbewußtseins im Traum gelockert und aufgelöst. Phänomenologisch korrekt beschreibt Ernest R. Hilgard in Divided Consciousness: Multiple Controls in Human Thought and Action 202 im Ausgang vom Tagesbewußtsein das modifizierte Bewußtsein in Traum und hypnotischen Zuständen durch das Konzept der Dissoziation. Die dissoziierten Tei201 Vgl. Karen Gloy: Vernunft und das Andere der Vernunft, a. a. O., S. 207 ff., bes. 224– 229. 202 New York, London, Sydney, Toronto 1977.

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le können im Traum wie in verwandten Situationen beliebig neu kombiniert werden, was denselben ein phantastisches, übernatürliches Aussehen verleiht. Angesichts der verschiedenen Ordnungen von Wach- und Traumzustand fragt sich, welche die ursprünglichere sei. Ist das Tagesbewußtsein und sein Wissen das originäre, aus dem durch Auflösung das Traumbewußtsein resultiert, oder ist das Traumbewußtsein, das auch dem naiven Bewußtsein von Kleinkindern, dem Bewußtsein Paranoider und Naturethnien entspricht, das originäre, aus dem durch Reglementierung, Filtrierung und Kontrolle mittels der kritischen Vernunft das vernünftige Tagesbewußtsein hervorgeht? 203 Hinzuzufügen wäre noch, daß emotional Träume selten als glückhafte, selige und beseligende auftreten, häufiger als Angst- und Albträume – so genannt nach Alben, Gnomen, die Angst und Schrekken einjagen. Träume evozieren meist furchterregende Szenen von Verfolgung, Flucht, Einkerkerung, Fallen in Brunnen und Schächte, von blutrünstigen Ungeheuern und Menschenfressern und erinnern damit an die dunkle, triebhafte Sphäre im Menschen wie auch an archaische Situationen der Menschheit. Das Grauen von Träumen hat Franz Kafka in seinen Erzählungen festgehalten: »Zwei Gruppen von Männern kämpften miteinander. Die Gruppe, zu der ich gehörte, hatte einen Gegner, einen riesigen nackten Mann, gefangen. Fünf von uns hielten ihn, einer beim Kopf, je zwei bei den Armen und Beinen. Leider hatten wir kein Messer, ihn zu erstechen, wir fragten in der Runde eilig, ob ein Messer da sei, keiner hatte eines. Da aber aus irgendeinem Grunde keine Zeit zu verlieren war und in der Nähe ein Ofen stand, dessen ungewöhnlich große gußeiserne Ofentüre rotglühend war, schleppten wir den Mann hin, näherten einen Fuß des Mannes der Ofentüre, bis er zu rauchen begann, zogen ihn dann wieder zurück und ließen ihn ausdampfen, um ihn bald neuerlich zu nähern. So trieben wir es gleichförmig, bis ich nicht nur im Angstschweiß, sondern wirklich zähneklappernd erwachte.« 204

c) Funktion Eine immer wieder gestellte Frage ist die nach dem Sinn und der Funktion von Träumen, nicht nur in emotionaler Hinsicht, sondern auch und gerade in kognitiver, was uns im Rahmen unserer UnterVgl. Karen Gloy: Vernunft und das Andere der Vernunft, a. a. O., S. 261 ff. Franz Kafka: Tagebücher 1910–1923, hrsg. von Max Brod, Reutlingen 1967, S. 352. Kafka notierte diesen Traum am 20. April 1916. 203 204

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suchung über Wissensarten besonders interessiert. Haben Träume einen kognitiven Gehalt, geben sie Kenntnisse wieder, enthüllen sie Einsichten? Die Antwort auf diese Frage fällt kontrovers aus. Der Biochemiker und Nobelpreisträger Francis Crick und der Mathematiker Graeme Mitchison vertreten die These, daß wir träumen, um zu vergessen. 205 Das Gehirn radiere durch Träume sinnlose Erinnerungsspuren aus, die das normale Bewußtsein und rationale Denken nur störten. Träume hätten quasi die Aufgabe eines ›mentalen Hausputzes‹. Die genaue Gegenthese findet man bei Sigmund Freud. Sie läßt sich in dem Satz zusammenfassen, daß wir träumen, um uns zu erinnern. »Daß alles Material, das den Trauminhalt zusammensetzt, auf irgendeine Weise vom Erlebten abstammt, also im Traum reproduziert, erinnert wird, dies wenigstens darf uns als unbestrittene Erkenntnis gelten.« 206 Es wäre allerdings ein Irrtum zu glauben, daß sich die Rückführung des Traumbewußtseins auf das Wachbewußtsein mühelos herstellen ließe. Oft erinnert man sich an den Traum, erkennt seinen Inhalt aber nicht als zu seinem Wachbewußtsein, seinem Erleben und Wissen gehörig und meint dann, er beruhe auf Phantasie, bis irgendein neues Erlebnis das in der Erinnerung verlorengegangene Erlebte assoziiert und damit die Traumquelle aufdeckt. »Man muß dann zugestehen, daß man im Traum etwas gewußt und erinnert hatte, was der Erinnerungsfähigkeit im Wachen entzogen war.« 207 Oft sind es bestimmte, emotional stark gefärbte und hervortretende Inhalte, die motivartig immer wiederkehren und uns wie Leitfäden in die Tiefe des vergangenen, obzwar verdeckten Bewußtseins zurückführen, oft in frühe oder früheste Phasen der Kindheit. Die Trauminterpretation in der Psychoanalyse benutzt sie, um im Falle von Neurosen in die Ursprungssituation des Fehlverhaltens und der Fehlleistungen zurückzuversetzen und diese aufzuarbeiten, neu zu interpretieren und damit das Fehlverhalten zu überwinden. Das Traumgedächtnis speichert also alle möglichen Eindrücke von Personen, Gegenständen und Situationen, auch solche, die mo205 Vgl. Theodore Melnechuk: Aus der Traum? Der Nobelpreisträger Francis Crick hat eine neue Traumtheorie formuliert: Wir träumen, um zu vergessen. Träume sind nichts anderes als »Hausputz« des Gehirns, in: psychologie heute, Bd. 11, Heft 2 (1984), S. 21– 26. 206 Sigmund Freud: Die Traumdeutung, a. a. O., S. 27. 207 A. a. O., S. 28.

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mentan keiner besonderen Achtung wert zu sein scheinen, um sie dann in einer anderen Konstellation wieder freizugeben. 208 Noch einen Schritt weiter geht Carl Gustav Jung in seiner Theorie der Archetypen. Aufgrund der Beobachtung, daß alle Völker in Mythen und Religionen bestimmte Symbole und Vorstellungen benutzen, die auch in Träumen vorkommen, z. B. das Motiv von Gut und Böse, das Symbol der Schlange (Drache) und des Schlangentöters (vgl. hl. Georg), das von Himmel- und Höllenfahrt, schließt Jung auf kollektive archetypische Vorstellungen, die allgemeinseelische Kräfte und Tendenzen explizieren. Es sind Urbilder der Menschheit, die als Strukturen ›zeitlos‹ sind, d. h. durch alle Zeitmodi: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hindurchgehen und damit nicht nur den Anschluß an Vergangenes ermöglichen, sondern auch den Anschluß an Zukünftiges. Unter Zuhilfenahme einer substanztheoretischen Ausdrucksweise hat der Soziologe Günter Dux diesen Sachverhalt auszudrükken versucht. »Die Strukturlogik der Zeit, die die Gegenwart substanzlogisch an die Vergangenheit und die Zukunft an die Gegenwart und durch sie hindurch ebenfalls der Vergangenheit verhaftet« 209 , ist für ihn die Grundlage nicht nur der erinnernden, son208 Das Traumgeschehen mit seinen wiederkehrenden, niemals jedoch identischen, sondern stets selbstähnlichen Mustern hat ein Pendant in der fraktalen Geometrie, die auf simplen mathematischen Formeln basiert, in die komplexe Zahlen eingesetzt werden, durch Rekursion dann auf eine ›Reise geschickt‹ werden, bis sich hoch-komplexe und komplizierte Muster bilden, stets mit der Wiederkehr eines bestimmten Motivs. Die Ingenieure David Brooks und Dan Kalikow haben eine solche Reise einer Mandelbrotmenge (auch bekannt als Apfelmännchen) auf dem Computer visualisiert. Sie zeigt die phantastischsten filigranen Muster, Wellen, Farne, Perlen, Seepferdchen, Glöckchen, Spiralen u. ä., jedoch stets mit der Wiederkehr des Apfelmännchens. Vgl. John Briggs und F. David Peat: Die Entdeckung des Chaos. Eine Reise durch die Chaos-Theorie (Titel der Originalausgabe: Turbulent Mirror. An Illustrated Guide to Chaos Theory and the Science of Wholeness, New York 1989), aus dem Amerikanischen übersetzt von Carl Carius unter wissenschaftlicher Beratung von Peter Kafka, München, Wien 1990, S. 143–148. Auch der Psychiater Montague Ullman hat in einem David Bohm gewidmeten Aufsatz Wholeness and Dreaming, in: Quantum Implications. Essays in honour of David Bohm, ed. by Basil J. Hiley und F. David Peat, London, New York 1987, S. 386– 395, Fraktale gedeutet, indem er in den Träumen stories, Reflexe von Verfehlungen und Frustrationen wie auch von Glückserlebnissen und Erfolgen des Träumers, sieht, die sich sowohl in der gesamten Story wie auch in den immer feineren Details wiederholen und damit den Bohmschen Gedanken vom Hologramm, von der Präsenz des Ganzen in den Teilen, bestätigen. 209 Günter Dux: Die Zeit in der Geschichte. Ihre Entwicklungslogik vom Mythos zur Weltzeit. Mit kulturvergleichenden Untersuchungen in Brasilien (J. Mensing), Indien

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dern auch der zukunftsgerichteten, seherischen (visionären), prophetischen Fähigkeiten und letztlich auch der Traumdeutung in bezug auf die Zukunft, der Traumprophetie. Diese These hat zwei Prämissen: eine zeitbezogene und eine realitätsbezogene. Bezüglich der ersteren gilt, daß die in unserem wissenschaftlichen Denken unterschiedenen Zeitmodi: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft für das magisch-mythische Denken und ebenso für die Traumlogik in einer einzigen Ur-Zeit zusammenfallen, dergestalt, daß die Vergangenheit weiterwirkt in der Gegenwart und in der Zukunft und niemals wirklich vergangen ist, also eine gegenwärtige und zukünftige Vergangenheit ist, und die Zukunft bereits in der Gegenwart und noch weiter zurück in der Vergangenheit grundgelegt ist: was immer geschehen wird, liegt schon im Ursprungsgeschehen beschlossen. Die Zukunft reicht in die Tiefendimension der Vergangenheit und in das Ursprungsgeschehen hinab. Daher kann auch Homer vom Seher Kalchas in der Ilias sagen: »Er wußte, was ist, was sein wird, was zuvor war.« 210 Bezüglich der zweiten Prämisse, die auch als symbolischer Realismus bekannt ist, fallen Traum und Wirklichkeit zusammen. Der Traum steht für das Realgeschehen, ähnlich wie im Wort- und Bildzauber der Name oder das Bild für die Person stehen. Wie der Name und das Bild die Person herbeizwingen, so zieht auch das Wort die Tat nach sich. 211 Traum, Gedanke, Wort, Bild haben nicht nur einen Verweisungscharakter auf etwas Reales, sondern haben selbst einen realen Gehalt; sie sind selbst das, auf das sie verweisen. Bei diesem Verständnis kommt dem Traum eine kognitive Funktion insofern zu, als er eine zeitenthobene oder, besser, zeitkontinuierende Strukturerkenntnis ausdrückt. Paradigmatische Beispiele hierfür liefern die in der Josefsgeschichte des Alten Testamentes berichteten Träume. Der Mundschenk und der Bäcker des Pharao träumen von ihren Berufen, 212 die mit Lust- und Unlustgefühlen verbunden sind, ebenso wie der Pharao von seinen Regierungsgeschäften und Sorgen träumt, wie das Überleben seines Volkes zu sichern ist, 213 der im Krieg befindliche Soldat träumt in seinem Zelt vom Ausgang (G. Dux, K. Kälble, J. Meßmer) und Deutschland (B. Kiesel), Frankfurt a. M. 1992, S. 193 f. 210 Homer: Ilias 1,70. 211 Vgl. im Alten Testament die poietische Kraft des Wortes: Gott sprach und es ward. 212 Vgl. Genesis 40,5 ff. 213 Vgl. Genesis 41,1 ff.

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der Schlacht Gideons mit den Medianitern, 214 der junge Josef träumt vom Verhältnis gegenüber seinen Brüdern und von seinem jugendlichen Ehrgeiz, größer und bedeutender zu werden oder zu sein als sie, so daß sie sich in Form von Garben vor ihm verneigen. 215 Der große Traumzyklus des Sacharja drückt die enthusiastische Hoffnung der damaligen Jerusalemer Judenschaft aus: Der Prophet sieht den Sturz Babels voraus, die Rückkehr aus Babel, den Neuaufbau und die Verherrlichung Jerusalems, ein glänzendes Hohepriesteramt Josuas und die Verheißung des Königtums Zemach. 216 Es sind jeweils Alltagssorgen, Ängste und Nöte, Lust- und Unlustgefühle, Wünsche und Hoffnungen, Triebe, Veranlagungen und Charaktereigenschaften, die sich in den Träumen spiegeln. Bei diesen handelt es sich nicht nur um momentane, kontingente Befindlichkeiten, sondern um wiederkehrende, konstitutive Merkmale, sei es des Menschen, sei es des Lebens, sei es der Geschichte, die einen positiven oder negativen Ausfall des Geschehens, das Auf und Ab des Lebens, den Wechsel des Schicksals wiedergeben. Wenn der Pharao von den sieben fetten Kühen träumt, die aus dem Wasser steigen und von den sieben mageren verschlungen werden, oder von sieben dicken Ähren, die von sieben dürren aufgezehrt werden, deutet dies auf den fast naturgesetzlich verlaufenden Wechsel des Lebens und Schicksals, des politischen wie des wirtschaftlichen Lebens mit seinem Auf und Ab, seiner Hausse und Baisse. Wenn der Mundschenk des Pharao vor sich im Traum einen Rebstock mit drei Reben ergrünen sieht, aus deren reifen Trauben Wein in den Becher des Pharao quillt, deutet dies auf einen positiven Ausgang, wie umgekehrt der Traum des Bäckers, aus dessen drei mit weißen Broten gefüllten Körben, die er auf dem Kopfe trägt, sich die Vögel nähren, auf einen negativen Ausgang der Situation weist. Träume sind Ausdruck von Strukturen, Charakteren und Grundeinstellungen, vergleichbar den Situationen im Märchen. Wie Hans im Glück nicht durch Zufall ständig Glück hat und der Pechvogel nicht durch Zufall ständig Pech, sondern diese Ausgänge dem Charakter und Grundzug der Personen zu verdanken sind, indem sie entweder eine positive oder eine negative Lebenseinstellung verraten, kraft deren ihnen alles, was sie anpacken, gelingt oder mißlingt, so dokumentieren sich auch im 214 215 216

Vgl. Richter 7,13 ff. Vgl. Genesis 37,5 ff. Vgl. Sacharja 1,7 ff. A

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Traumgeschehen konstante, ständig wiederkehrende, strukturelle Merkmale, ähnlich wie dies auch bei der Omendeutung der Fall ist. 217 Insofern ist die Traumdeutung kein bloßes Raten, sondern ein Verweis auf kognitive Strukturen. Wenn in emotionaler Hinsicht den Träumen die Funktion des Abbaus von Aggressionen und Ängsten zugeschrieben wird, indem Situationen, die im Alltagsbewußtsein unbewältigt bleiben, im Traum ausgelebt werden und solange als Stachel fungieren, wie sie nicht bewältigt sind, und wenn in der Psychoanalyse die Patienten an den Ursprung ihrer Fehlverhalten zurückgeführt werden, um den Aufbau neuer Strukturen zu ermöglichen, so bestätigt dies von emotionaler Seite die hier vorgelegte strukturalistische Analyse. 7.4. Weissagung bzw. Wahrsagung Zeigt schon das gewöhnliche Traumgeschehen die Herrschaft zeitüberdauernder signifikanter Motive, indem es diese mit Vergangenem verknüpft und in die Zukunft kontinuiert, um so mehr ist dies bei den sogenannten Wahrträumen der Fall, die ein bestimmtes Ereignis zeitlich antizipieren, das dann tatsächlich in der Zukunft eintritt. Dem steht die Weissagung bzw. Wahrsagung nahe, die auf die Zukunft gerichtet ist und die Fähigkeit darstellt, Zukünftiges vorauszusagen. Auch hier handelt es sich um ein Wissen von sich kontinuierenden Strukturen. Verwandt mit dieser wiederum ist das ganze Gebiet der Mantik und Orakeldeutung, bei der das Würfeln, Losen, Stäbchenwerfen, Kartenlegen (Tarot) bis hin zum Kaffeesatzlesen eine Rolle spielen, also Handlungen, die an materielle Gegenstände gebunden sind und eine zukunftsoffene Entscheidung an den Ausfall eines bestimmten Geschehens binden. Auch Astrologie, Horoskope, Chiromantie gehören hierher, die allesamt das zukünftige Schicksal von externen Konstellationen: Gestirnkonstellationen oder Handlungen abhängig machen. Welche ungeheure Bedeutung ihnen zu allen Zeiten und in 217 Omendeutung ist im Grunde Strukturdeutung nach dem abbildlichen Aussehen, indem beispielsweise beim Leberschauorakel aus der Lebergestalt, -farbe und -lage gesunder oder kranker Tiere auf den positiven oder negativen Ausgang eines Geschehens geschlossen wird oder aus Wolken- und Rauchformationen auf den entsprechenden Verlauf.

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allen Kulturen zugemessen wurde, geht aus dem Umstand hervor, daß im Altertum und Mittelalter bis in die Neuzeit hinein Staatsgeschäfte, Entscheidungen in Regierungsangelegenheiten, z. B. über Krieg und Frieden, über den Beginn einer Schlacht u. ä., von ihnen abhängig gemacht wurden. Noch heute richten nicht wenige Politiker und Wirtschaftsbosse ihre Entscheidungen in politischen und monetären Angelegenheiten, Termine für Vertragsabschlüsse, Investitionen und dergleichen nach astrologischen Konstellationen aus. Der Astronom Tycho de Brahe wurde noch zu Beginn der Neuzeit vom dänischen Königshof mehr für seine astrologischen Vorhersagen als für seine astronomischen Erkenntnisse finanziert. Wallenstein machte im Dreißigjährigen Krieg seine Entscheidungen von planetarischen Konstellationen abhängig. 218 Zu allen Zeiten glaubten die Menschen an Vorzeichen. Schon die Bibel berichtet vom Menetekel Nebukadnezars, das sich noch in derselben Nacht erfüllte. 219 Wie im alten Europa, beispielsweise im antiken Griechenland, Handlungen und Verhaltensweisen an den Ausfall des delphischen Orakels gebunden wurden, so fungierte in Tibet bis ins 20. Jahrhundert hinein, bis zur Besetzung des Landes durch die Chinesen, das NechungOrakel als offizielles Staatsorakel. Auch die Flucht des Dalai Lama geht auf ein Orakel zurück. Alle diese Vorgänge verraten eine psychische Situation, bei der der Betreffende unsicher, schwankend, zaudernd bezüglich einer zukunftsrelevanten Entscheidung ist und durch den äußeren Ausfall eines Geschehens einen Leitfaden und eine Stütze für den vor ihm liegenden Weg sucht, der ihn sicherer macht. Daß es hier – wenigstens nach unserem dualistischen, separatistischen Denken – um ein psychologisches Phänomen geht, steht außer Frage, auch wenn das magisch-mythische Denken aufgrund seines Außen- und Innenwelt vereinigenden Holismus hier ein Zusammenwirken mit Geistern, Dämonen oder energetischen Kräften sieht, eine Einflußnahme derselben. Es ist vor allem der in seinen Entschlüssen und Handlungen unsichere Mensch, der äußere Zeichen und Orakel braucht, an die er sich klammert, der sich den Weg von außen vorzeichnen läßt, den er 218 Vgl. dazu Friedrich Schillers Wallenstein, vor allem den 2. Teil ›Wallensteins Tod‹, dessen Szenen von Astrologie durchzogen sind. So beginnt gleich die erste Szene mit einer Betrachtung der Planeten Jupiter, Venus, Mars und am Ende erfüllt sich die dunkle Ahnung, die durch die Sternkonstellation nahegelegt wird, die Ermordung Wallensteins. 219 Vgl. Daniel 5,25 ff.

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dann beschreitet. Daß hierbei Suggestion, sowohl Fremd- wie Autosuggestion, eine maßgebliche Rolle spielt, dürfte kaum zu bezweifeln sein. Schon bei Träumen läßt sich ein suggestives Moment nicht ausschließen, kann es doch vorkommen, daß jemand träumt, er werde krank werden oder sterben. Abgesehen davon, daß hier im Unterbewußtsein die ersten Keime einer Krankheit gespürt werden könnten, mag es sein, daß der Träumende im Gefolge des Traumes autosuggestiv die Krankheit oder gar den Tod herbeiführt. 220 Ganz sicher ist die suggestive Wirkung bei Weissagungen bzw. Wahrsagungen des Alten Testamentes im Spiele. Ein evidentes Beispiel findet sich in 2. Könige 8,7–15: Als der Prophet Elisa nach Damaskus kommt, sendet der kranke Aramäerkönig Benhadad seinen Diener Hasael zu ihm und läßt ihn bitten, ihm den Ausgang seiner Krankheit zu weissagen. Elisa spricht zu ihm: »Gehe hin und sage ihm: Du wirst genesen! Aber der Herr hat mir gezeigt, daß er des Todes sterben wird«, worauf der Prophet den Diener lange und starr anschaut und in Tränen ausbricht. Nach dem Grund der Trauer befragt, antwortet ihm der Prophet: »Ich weiß, was für Übel du den Kindern Israel tun wirst: du wirst ihre festen Städte mit Feuer verbrennen und ihre junge Mannschaft mit dem Schwert erwürgen und ihre jungen Kinder töten und ihre schwangern Weiber zerhauen.« Hasael erwidert entrüstet, wie wohl ein Diener solch Ungeheures vollbringen solle, doch Elisa spricht: »Der Herr hat mir gezeigt, daß du König von Syrien sein wirst.« Der Diener kehrt zum kranken König zurück und teilt ihm nur den ersten Teil der Weissagung mit, den von der Genesung. Am anderen Tag jedoch nimmt er eine Bettdecke, taucht sie in Wasser und erstickt damit den Kranken und wird selbst statt seiner König. Hier ist zweifelsohne der Traum Anlaß des Mordes und hat seine suggestive Kraft in diese Richtung entfaltet. Bei der Weissagung bzw. Wahrsagung gehen neutrale Zukunftsschau und suggestive Einflußnahme Hand in Hand. Einen Hinweis darauf bietet das hebräische Wort für einen weisen bzw. klugen Mann und eine weise bzw. kluge Frau, ha¯ka¯m, 221 das auch das Wort 220 Vgl. Hans Driesch: Parapsychologie. Die Wissenschaft von den »okkulten« Erscheinungen. Methodik und Theorie, Zürich 1943, 3. Aufl., mit Beiträgen von Joseph B. Rhine und Hans Bender, 1952, S. 68. 221 Vgl. Jeremia 18,18; Jesaja 3,2 f.; Genesis 41,33; 1. Könige 5,9 ff.; Hesekiel 28,3; 2. Samuel 14,2; 20,16.

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für Zauberer, Magier, Mantiker ist, also für jemanden, der mit besonderem, weitsichtigem Wissen und besonderen Kräften ausgestattet ist. Auch das deutsche Wort ›Weissagung‹, ›Wahrsagung‹, das die Zukunftsvision an das Wort bzw. den Spruch bindet, der nach alter Auffassung poietische, seinsschaffende Kraft hat, deutet darauf, daß hier zwei Momente zusammentreffen, die Zukunftsschau und die Suggestionskraft. Beiden ist genauer nachzugehen. 1. Ähnlich wie sich der kognitive Gehalt von Träumen auf die sporadische oder durchgängige Wiederkehr signifikanter Motive zurückführen ließ, so läßt sich auch die Schau des Zukünftigen aus durchgängigen Strukturen erklären: bei Voraussagen für einen Menschen aus dessen Persönlichkeitseigenschaften, bei Voraussagen für ein Volk aus dessen Verhalten, mag es sich um energische, ehrgeizige, aufstrebende oder dekadente, morbide Verhaltensweisen handeln. Deutlich wird dies an den Weissagungen Jakobs in bezug auf seine zwölf Söhne. 222 So prophezeit er Ruben, der zwar sein Ältester und damit an Würde und Ansehen der Höchste ist, aufgrund seiner Leichtfertigkeit doch nicht den höchsten Status, Simeon und Levi aufgrund ihres ungestümen, kriegerischen Wesens Unfrieden, Juda aufgrund seines Löwenmutes Siege und Ehre. Von Sebulon heißt es, möglicherweise aufgrund seines Fernwehs, daß er an der Zufahrt zum Meer wohnen werde; Isaschar wird ein knochiger Esel genannt, der Ruhe sucht und »sich lagert zwischen den Hürden«; Dan werde Richter werden und die Straffälligen wie eine Schlange verfolgen; Gad erscheint standhaft und widerständig: ebenso wie er bedrängt werden wird, wird er seinerseits bedrängen; Asser werde das Wohlleben vorziehen; Naphtali wird als schneller Hirsch charakterisiert und als redegewandt; Josef wird wie ein Baum an der Quelle wachsen und gedeihen, hervorragen und sich behaupten; und Benjamin ist ein reißender Wolf und wird auch ein entsprechendes Leben führen. Durch ihre Charaktere ist ihr Schicksal prädeterminiert. Zwar mag es Abweichungen geben, im großen und ganzen aber halten sich aufgrund der Unveränderlichkeit des Charakters gewisse Züge durch. Weissagungen und Prophezeiungen sind insofern nichts Exorbitantes, sie sind Zukunftsprojektionen von typischen Eigenschaften und Merkmalen, so wie man auch im heutigen Sprachgebrauch angesichts eines draufgängerischen Charakters zu sagen pflegt: »Du wirst dir noch einmal das Genick brechen«, »Du riskierst Kopf und Kra222

Vgl. Genesis 49,1 ff. A

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gen«, »Du wirst dir noch den Tod holen«, »Deine Tollkühnheit wird dich noch umbringen« u. ä. Der Eintritt eines Ereignisses in der Zukunft ist die Folge konstitutiver Merkmale und struktureller Verhältnisse. Wie bei Zukunftsweissagungen für einen Einzelmenschen, so verhält es sich auch bei solchen für ein ganzes Volk, von dem der Weissagende entweder die Keime des Aufstiegs und Aufschwungs oder die Anzeichen des Verfalls, der Dekadenz und des Untergangs erkennt, die das Verhalten in Zukunft bestimmen werden. 2. Die mit der Weissagung bzw. Wahrsagung verbundene Suggestion rückt diese in die Nähe von Segensworten und Flüchen, die Heil oder Unheil bringen, Schaden, Unglück, Krankheit abwenden oder auch evozieren können. Wie stark die suggestive Kraft für den Eintritt einer Begebenheit in der Zukunft ist, bezeugt eine Geschichte aus dem Arabischen, wo ein Vater seinen jugendlichen Sohn zu Boden wirft, um ihn vor dem Fluch zu bewahren, den der sterbende Chubaib b. 2Adı¯ vor seiner Hinrichtung gegen seine Feinde schleudert: »O Gott! zähle sie nach der Zahl, Und töte sie, jeden einzelnen, Und laß keinen einzigen von ihnen übrig!« 223

Im Rechtswesen hatten Schwüre und Flüche eine ähnliche Bedeutung. Um seine Unschuld zu beweisen, verfluchte der Angeklagte sich selbst für den Fall, daß sich seine Schuld herausstellen sollte. Ebenso schloß jemand den Bruch eines beschworenen Versprechens durch Selbstverfluchung aus. Im Alten Testament, das sich als Fundgrube solcher Fälle erweist, wurden die Weissagungen oft Sterbenden in den Mund gelegt, um ihnen Nachdruck zu verleihen, da es sich um das letzte Wort handelte. Auf diese Weise ist eine ganze Literaturgattung entstanden. 224 Daß das Wort, gerade das lautgesprochene, häufig rhythmisch gestützte, von hoher Wirkungskraft ist, ist unbestreitbar. Nicht zufällig wurden die Weissagungen und Wahrheitssprüche in alter Zeit in rhythmische Form gekleidet und in monotonem Sprechgesang gesungen. Im Altarabischen bezeichnet das Wort sag˘’, welches dem 223 B. Hisam 641,12 f., zitiert nach Gustav Hölscher: Die Profeten. Untersuchungen zur Religionsgeschichte Israels, Leipzig 1914, S. 94. 224 Vgl. Genesis 27,4,19,25 ff. Es sind die Sprüche Noahs: Genesis 9,25–27, Isaaks: Genesis 27,27 f., 39 f.; Jakobs: Genesis 49,1 ff.

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hebräischen Wort šagá verwandt ist, eine rhythmische Form, in welcher Heils- und Schutzgebete, Flüche, Schmäh- und Spottverse, Zaubersprüche ausgedrückt wurden. Das Wort deutet auf das Gurren und Girren von Tauben sowie auf die Klagelaute von Kamelen, meint also ›girren‹, ›gurren‹, ›Klagetöne ausstoßen‹, deren Form auch der Weissager oder Wahrsager benutzt. 7.5. Hellsehen, Telepathie Konnten die bisherigen Phänomene – Traum, Weissagung bzw. Wahrsagung – hinsichtlich ihres kognitiven Gehaltes noch auf natürliche Weise erklärt werden, nämlich als Strukturbewußtsein, als Auftreten durchgängiger Motive und Muster, als Fortschreibung von Charaktereigenschaften und typischen Verhaltensweisen, so betreten wir mit Hellsehen, Gedankenlesen, Telepathie, Telekinesis u. ä. ein Gebiet, das bis heute einer wissenschaftlichen Erklärung harrt und weitgehend verfemt ist. Durch die Kulturgeschichte hindurch und bei allen Völkern der Erde wird immer wieder über rätselhafte Erscheinungen – Wissens-, Gefühls- und Bewegungsübertragungen – berichtet, die weder auf direktem Wege durch normale sinnesphysiologische Übermittlung noch auf indirektem Wege durch schriftliche oder mündliche Informationsvermittlung zustande kommen und daher ›paranormal‹ oder ›parapsychisch‹ genannt werden. Wegen ihrer Nichtalltäglichkeit haben sie zu allen Zeiten im öffentlichen wie im privaten Leben eine prominente Rolle gespielt. Nicht nur für Zukunftsprognosen werden hellseherische und telepathische Fähigkeiten von Medien und Metagnomen eingesetzt, sondern auch zur Aufklärung von Delikten, z. B. zur Lokalisation von verstecktem Diebesgut, Leichen, entführten Personen oder Verschollenen, zur Identifikation von Mördern, und nicht zuletzt zu militärischen Zwecken. Ebenso stark aber sind die Bedenken gegenüber diesen parapsychischen Phänomenen, die besonders von seiten der Aufklärung, der rationalistischen Weltsicht und der strengen Wissenschaft erhoben werden und die nicht selten ihren Grund in Täuschung und Betrügerei, in Taschenspielertricks und Gaukeleien haben, was häufig bei Geistheilungen und Ufosichtungen der Fall ist. Hinzu kommt, daß sich Gegenstände und Methoden der Parapsychologie nicht denselben Wissenschaftskriterien unterwerfen lassen wie in den ›seriösen‹ Wissenschaften: ihre Experimente lassen sich nicht ebenso iterieren A

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wie physikalische oder chemische. Die Gleichförmigkeit der Ergebnisse kann nachlassen, wofür man dann Ermüdungserscheinungen der Medien verantwortlich macht, oder das Sich-Einstellen eines Ergebnisses kann gänzlich ausbleiben. Sicherheit und Eindeutigkeit der empirischen Ausgänge sind nicht mit denen von physikalischen Experimentalreihen vergleichbar, was häufig zu ihrer Diskreditierung als okkulter oder esoterischer Phänomene führt. Gleichwohl ist an dem Vorkommen solcher Phänomene nicht zu zweifeln. Dazu gibt es über Jahrtausende hinweg und unter allen Völkern der Erde zu viele Berichte. Sicherlich wird der eine oder andere Leser oder Hörer auch schon einmal ein sonderbares Erlebnis gehabt haben, indem sich der Tod eines Verwandten oder selbst eines ferner stehenden Menschen ankündigte, obgleich äußerlich nichts wie eine Krankheit, gefährliche Lage oder das Alter auf das nahe Ende hinwies, oder indem Angehörige zusammengezuckt und aufgeschreckt sind während eines Autounfalls von Familienmitgliedern, der sich in weiter Ferne zutrug, oder indem eine Person von einer anderen, entfernten eine Nachricht erhielt in Form einer Stimme oder einer Vision. Man spricht dann von Spontanerlebnissen oder, wenn es sich um eine dumpfe, aber nachhaltige Empfindung handelt wie bei der Todesankündigung, von einer Ahnung. In allen Fällen handelt es sich um ein intuitives Wissen, das für denjenigen, der es hat, absolut gewiß und unbezweifelbar ist. Eines der eindrucksvollsten Beispiele einer solchen Präkognition geht aus einem Bericht aus dem Zweiten Weltkrieg hervor. An der Westfront tobte ein heftiger Kampf zwischen den Deutschen und den Alliierten. An einem dieser Kriegstage aber war es ruhig an der Front. Ein feindlicher Angriff der Engländer war nicht in Sicht und auch nicht zu erwarten. Man gab den jungen Soldaten den Nachmittag über frei für einen längeren Spaziergang. Der Berichterstatter dieses Erlebnisses kehrte in seine Unterkunft zurück, um seinen Stubenkameraden zum Spaziergang abzuholen, fand diesen jedoch auf der Bettkante sitzen, über das Foto seiner Verlobten gebeugt und dieses traurig betrachtend, murmelnd, daß er sie nie wiedersehen und er noch heute sterben würde. Da ein Kampfgeschehen in weiter Ferne lag, erschien dies unwahrscheinlich. Der Berichterstatter machte sich mit den übrigen Kameraden auf den Weg. Nach dreieinhalb Stunden wurden feindliche Flieger gesichtet. Die Gruppe von Soldaten mußte mit ihrer Fliegerstaffel aufsteigen. Die meisten wurden abgeschossen, u. a. auch der betreffende Kamerad, 278

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der sich mit einem Fallschirm zu retten versuchte, jedoch im Meer ertrank. Aufbauend auf Studien und Experimenten des Wiener Arztes Franz Anton Mesmer (1734–1815), der mit tierischem Magnetismus operierte, begann die systematische Erforschung dieser paranormalen Phänomene mit der Gründung der ›Society for Psychical Research‹ in London 1882. Die akademische Integration erfolgte erst 1927 mit der Gründung des Parapsychologischen Laboratoriums an der Duke Universität in Durham, North Carolina, USA, durch den Psychologen William McDougall (1871–1938) und den Biologen Joseph B. Rhine (1895–1980). Inzwischen gibt es eine Reihe meist privater, weniger universitärer Forschungseinrichtungen, ebenso eine Vielzahl von Publikationsorganen wie das Handbook of Parapsychology, Journal/Proceedings of the Society for Psychical Research, Journal of Parapsychology, Journal of the American Society of Psychical Research, European Journal of Psychology und die Zeitschrift für Parapsychologie und Grenzgebiete der Psychologie. Auftrieb erfahren hat die wissenschaftliche Erforschung dieser Phänomene inzwischen durch die Neurobiologie, die dem Zusammenhang zwischen solchen Phänomenen und deren biologisch-neuronalen und hormonalen Grundlagen, den Gehirnzentren und Glückshormonen, nachgeht. 225 Die paranormalen Phänomene, auch Psi-Phänomene genannt nach dem 23. Buchstaben des griechischen Alphabets, umfassen sowohl mentale, kognitive wie physisch-motorische Erscheinungen, von denen uns hier nur die ersteren interessieren, nicht die letzteren wie Telekinesis, Materialisation, Levitation, Apport, Spuk u. ä. und ihr Verhältnis zu den ersteren. Bei den kognitiven Phänomenen handelt es sich um das Hellsehen (clairevoyance), das in mehreren Varianten auftritt: als zeitliches wie räumliches. Gemeint ist damit zum einen ein in die Zukunft gerichtetes Schauen, das bevorstehende Ereignisse voraussieht und daher auch den Namen ›Prophetie‹ hat, wie auch ein in die Vergangenheit gerichtetes Schauen, das in die Tiefe der vergangenen Ereignisse reicht, die dem Seher unmöglich bekannt sein können, schon gar nicht im Detail, und zum anderen ein räumliches Schauen bzw. Er225 Inzwischen gibt es auch schon eine Neurotheologie, die ein Gen für Religiösität und theologische Vorstellungen verantwortlich macht.

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kennen weit entfernter Gegenstände und Ereignisse, das eine Art räumliches Hellsehen, eine Fernwahrnehmung, darstellt. Daneben gibt es Gedankenübertragung in Form von Telepathie, bei der das Agens, d. h. der Sender, Gedanken oder Gefühlsinhalte an einen Empfänger übermittelt, während dieser sie registriert, oder in Form von Gedankenlesen, bei dem umgekehrt der Perzipient aktiv, der Hergebende passiv ist und angezapft wird. Zumeist geschieht dies unbewußt und unwillentlich, jedoch nicht immer. Im religionswissenschaftlichen Kontext ist die Gedankenübertragung in der besonderen Form der Kardiognosie bekannt, d. h. des Ins-Herz-Schauens, das die sittliche oder religiöse Einstellung eines Menschen ergründet. So wie Gott ins Herz der Menschen zu schauen vermag, so vermag der Heilige ins Herz eines anderen zu schauen. Im Pa¯li-Buddhismus heißt diese Herzensschau ceto-pariya-ña¯na = ›Erkenntnis anderer ˙ Herzen‹ oder a¯desana¯-pa¯tiha¯riyam = ›Wunder der Auskunft‹. Sie ˙ ist eine Abart des Gedankenlesens. Einige Forscher wie Hans Driesch 226 unterscheiden das Hellsehen mit seinen Modifikationen von der Telepathie und dem Gedankenlesen dadurch, daß sie jenes auf Naturobjekte und -situationen beschränken, also als ein Wissen von objektiven Sachverhalten, nicht von Fremdseelischem und auch nicht mit Zwischenschaltung eines solchen definieren, letztere für ein Wissen von den Gedankenfolgen und Seelenzuständen anderer Personen halten. Die Wissensübertragung ohne Ein- und Zwischenschaltung einer anderen Person und auch ohne Objekte, die einer anderen Person zugehören, wie Kleidungsstücke, Schuhe, Anorak u. ä., welche Medien oft zu berühren wünschen (man nennt das Psychometrie), ist die radikalste Form der Wissensübermittlung. Da sich das historisch überlieferte, besonders aus dem Alten Testament bekannte Hellsehen, die Prophetie, von den modernen experimentellen Formen radikal unterscheidet, sind beide gesondert zu behandeln. a) Prophetie Ein nicht geringer Teil des Alten Testamentes besteht aus den sogenannten Prophetenbüchern, deren bekannteste die Bücher Jesaja, Je-

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Hans Driesch: Parapsychologie, a. a. O., S. 59.

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remia und Hesekiel sind, gefolgt von den anderen Hosea, Joel, Amos usw. Zu unterscheiden sind zwei Arten von Prophetie im Alten Testament: 227 die ekstatisch-charismatisch-inspiratorische des Alten Israel (das vorexilische Prophetentum), die nur besonders auserwählten und begnadeten Menschen zukam, denen Teilhabe an einem übermenschlichen, göttlichen Wissen zugeschrieben wurde, und die jüngere, nicht-inspiratorische, die eine Angelegenheit der Vernunft und des gesunden Menschenverstandes sowie der Gottesfurcht war trotz mancher pneumatischer und psychologischer Begleiterscheinungen und eher in den Bereich der Weisheit gehört und daher als theologische Weisheit zu bezeichnen ist. Eine historisch-kritische Aufarbeitung hat mit mehreren Schwierigkeiten zu kämpfen, zum einen damit, daß die Prophezeiungen, Visionen und Auditionen, seien sie zukunftsgerichteter oder räumlicher Art, nicht in einen profanen, säkularen Kontext gehören, zum anderen damit, daß sie von Legendenbildung überwuchert sind, und zum dritten damit, daß textliche Bearbeitungen und Korrekturen stattgefunden haben, um Prophezeiung und Erfüllung in Einklang zu bringen, was besonders an der nachträglichen Bearbeitung von Sacharja auffällt, da die Prophezeiung eines Königtums Serubbabels notorisch falsch war. 228 Bei der Beurteilung des Eintreffens oder Nicht-Eintreffens von Prophetien ist daher Vorsicht geboten, und dies in mehrerer Hinsicht: 1. Zum einen handelt es sich um recht allgemein gehaltene Prophezeiungen mit selten genauen Terminen in der Zukunft, zumindest mit dehnbaren Zeitangaben. 229 Immer wieder wird die Erfüllung einer Prophetie in allernächster Zukunft angekündigt; verstreicht jedoch der Termin ohne Eintritt des prophezeiten Ereignisses, so wird er unbekümmert hinausgeschoben. Gustav Hölscher bemerkt dazu: »Das ganze Leben eines Jesaia oder eines Jeremia war ja im Grunde ein immerwährendes Warten, ein stetes Hinausschieben der Weissagung. Anfangs sah Jeremia im Erscheinen der skythischen Reiterhorden in Vorderasien die Erfüllung seiner Weissagung vom ›nordischen Feinde‹ ; aber der Skythensturm brauste vorüber, und der Profet mag schmerzlich das Achselzucken 227 Vgl. Gerhard von Rad: Theologie des Alten Testaments, a. a. O., Bd. 1, S. 105 ff. und S. 454 ff. 228 Vgl. Gustav Hölscher: Die Profeten, a. a. O., S. 74. 229 Vgl. Jesaja 7,16; 8,4; Jeremia 28,16.

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des hauptstädtischen Publikums erfahren haben. Und doch bleibt er unentwegt bei seiner Weissagung, wiederholt sie vor aller Welt, als nach Jahren die Babylonier auftreten, und behält nun in der Tat recht. Auch bei Hesekiel sieht man, wie er Jahr um Jahr seine eintönige Drohung gegen Jerusalem immer neu variiert, unbekümmert, ob die Tage sich hinziehen und die Vision zu schanden zu werden scheint (Hes. 12,21 ff.), bis am Ende doch die Zerstörung von Tempel und Stadt erfolgt.« 230

Dies spricht für die früher dargelegte Einsicht, 231 daß es sich bei den Unheilsankündigungen um Voraussagen handelt, die sich einer tieferen Analyse der Situation, sei es des Königstums oder sonstiger Staatsämter oder des Verhaltens des Volkes, kurzum, die sich Dekadenzerscheinungen verdanken und die irgendwann mit Zwangsläufigkeit eintreten mußten. Es sind ganz natürliche Vorzeichen und Anzeichen eines Kommenden, die sich aus der Gegenwartskonstellation in folgerichtiger Weiterentwicklung ergaben und deren Prophezeiung auf nationaler Ebene den Sinn gehabt haben mochte, König und Volk zur Umkehr zu bewegen, um den Untergang zu vermeiden. 2. Wo genauere Termin- oder Ortsangaben vorliegen, wie Hesekiel 24,1 f., wo der Prophet Hesekiel den 10. Tag des 10. Monats im 9. Jahr (von der Inthronisation eines Königs an gerechnet) als Niederlassung der Truppen des babylonischen Königs und als Belagerung Jerusalems ansetzt, oder wie Hesekiel 11,13, wo der Prophet in Babylon den Tod des Pelatja in Jerusalem hellseherisch wahrnimmt, oder Hesekiel 8,5 ff., wo er detailgetreu das greuelhafte Treiben fremdländischer Kulte im Tempel von Jerusalem beschreibt, ist die Frage unvermeidbar, wo und wie sich diese Koinzidenzen überhaupt feststellen ließen. Vom Treiben im Tempel könnte Hesekiel durch Reiseberichte der Kaufleute erfahren haben, die er ›weitergesponnen‹ haben könnte, so daß die Vision auf der Basis dieser Berichte zustande gekommen wäre. Von der Belagerung und dem Tod des Pelatja könnte er nur durch Reisende aus Jerusalem erfahren haben. Da dies wegen der nicht geringen Entfernung eine unsichere Nachrichtenquelle war, könnte man den in der Nähe gelegenen Sterbetag genau auf den Tag der Weissagung gelegt haben. Und was den Tag der Niederlassung vor Jerusalem betrifft, so dürfte er so genau nicht zu nehmen sein, da Truppenaufstellung und Belagerungseinrichtung stets länge-

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Gustav Hölscher: Die Profeten, a. a. O., S. 75. Vgl. S. 275 f. dieser Arbeit.

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re Zeit in Anspruch nehmen. Auch nachträgliche redaktionelle Überarbeitungen und Korrekturen sind denkbar. 3. Wirklich eingetroffene und historisch beglaubigte Prophezeiungen finden sich selten. Die Weissagung Jeremias, daß sein Gegner Hananja innerhalb Jahresfrist sterben werde, trat tatsächlich im siebten Monat des Jahres ein. 232 Doch auch hier ist der Zeitraum nicht extrem eng, zum anderen könnte durch die Todesprophezeiung eine Suggestion stattgefunden haben, wie sie psychologisch nicht selten beobachtet wird. Offensichtlich ist das jüdische Prophetentum weniger im Zusammenhang wirklichen Hellsehens zu beurteilen als vielmehr im Rahmen von Vorahnung und Vorausschau naturgesetzlicher Vorgänge, die ihren Grund in bestimmten politischen und religiösen Verhaltensweisen des Volkes hatten und sich folgerichtig entwickeln mußten und Mahner und Rufer auf den Plan riefen, die das drohende Unheil abzuwenden versuchten. Es liegen keine exorbitanten, paranormalen hellseherischen Fähigkeiten vor, sondern aus der Gegenwartsanalyse gewonnene und in die zeitliche Dimension eingeordnete, insbesondere in die Zukunft extrapolierte und kontinuierte Strukturerkenntnisse. b) Moderne Psi-Forschung Ganz anders als mit der traditionellen Überlieferung von Prophetien aus dem Alten Testament verhält es sich mit der modernen wissenschaftlichen Behandlung von Psi-Phänomenen, die weitgehend auf Experimenten und Versuchsreihen unter Laborbedingungen und strenger Kontrolle beruht und auf die statistische Methoden der Wahrscheinlichkeitsrechnung angewandt werden. Die moderne PsiForschung speist sich aus drei Quellen: zum einen aus Spontanberichten über Einzelerlebnisse, d. h. Schilderungen außergewöhnlicher Ereignisse und Vorgänge, die aus allen Bevölkerungsschichten beigetragen werden und die jeder wohl schon einmal in seinem Leben gehabt hat, zum anderen aus sogenannten qualitativen Experimenten mit besonders prädestinierten, über parapsychische Fähigkeiten verfügenden Medien, sogenannten Sensitiven, Metagnomen, Hellsehern und Wahrsagern, 233 und zum dritten aus quantitativen, seri232 233

Jeremia 28,16; vgl. Gustav Hölscher: Die Profeten, a. a. O., S. 75. Die Lehrbücher der Parapsychologie sind voll von Schilderungen dieser Art. So beA

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ellen Experimenten, bei denen beliebige Versuchspersonen standardisierten Tests unterzogen werden, deren bekannteste die Voraussagen von Würfelaugen, die Folge von Spielkarten oder das Lesen verschlossener Briefe sind. 234 Als akzeptierte Psi-Phänomene – wir beschränken uns auf die kognitiven – gelten nur diejenigen, die folgenden Bedingungen genügen: 1. Die Voraussage muß vor ihrem Eintritt entweder schriftlich niedergelegt oder mündlich vertrauenswürdigen Personen mitgeteilt worden sein. 2. Das Signifikante, Einzigartige der Aussage muß feststehen. 3. Termin- und Inhaltskonkordanz zwischen Voraussage und Faktum müssen gesichert sein. Termin wie Inhalt müssen exakt und dürfen nicht verschwommen sein; denn oft betonen Hellseher, etwas zwar klar zu sehen, es aber nicht in größere Kontexte einordnen zu können. 4. Das Vorliegen von Fernwahrnehmung setzt räumliche Distanz zwischen Sender und Empfänger voraus. Während sich manche Forscher bereits mit unterschiedlichen Räumen innerhalb eines Hauses zufrieden geben, verlangen andere beträchtliche Distanzen wie zwischen London und New York oder Europa und Indien. 235 Zur Feststellung der fraglichen Phänomene hat man die verschiedensten Experimente ersonnen. Auf Joseph B. Rhine, einen der renommiertesten Forscher auf diesem Gebiet und ehemaligen Leiter des amerikanischen parapsychologischen Laboratoriums der DukeUniversität, gehen folgende Experimente und Tests zurück. 236 richtet Theodore Besterman: The Mediumship of Rudi Schneider, in: Proceedings of the Society for Psychical Research, Bd. 40 (1931–1932), S. 428–436, von einer Person, die in einer Trancesitzung detailliert das Innere eines Hauses beschreiben konnte, ohne daß sie oder eine andere in der Sitzung anwesende Person je das Haus gesehen hatten. Oder Hans Driesch: Parapsychologie, a. a. O., S. 61 f., berichtet von einer Metagnomin namens Wasielewski, die einer indischen Vase den einstmaligen Besitzer, einen früheren Kapitän, zuordnen konnte. Ich selbst habe im Sommer 2004 im Amazonasgebiet einen Schamanen des Jaguastammes erlebt, der in Trance die Richtung und den Ort einer verlorengegangen Person bestimmte, die dadurch gerettet werden konnte. 234 Zum letzteren vgl. Hans Driesch: Parapsychologie, a. a. O., S. 60 f. 235 Vgl. a. a. O., S. 20. Driesch nennt als weitere Bedingung noch das Auftreten ähnlicher Erlebnisse bei einer größeren Anzahl von Personen. 236 Vgl. Joseph B. Rhine und J. Gaither Pratt: Parapsychologie. Grenzwissenschaft der Psyche. Das Forschungsgebiet der außersinnlichen Wahrnehmung und Psychokinese. Methoden und Ergebnisse (Titel der Originalausgabe: Parapsychology – Frontiers Sci-

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1. Zur Feststellung räumlichen Hellsehens mit Mittelsperson hat eine in einem bestimmten Raum befindliche Versuchsperson (Empfänger) Karten in der Reihefolge zu nennen, wie sie eine andere Person (Sender, hier Mittelsperson) in einem anderen Raum betrachtet. 2. Zur Feststellung räumlichen Hellsehens ohne Mittelsperson hat eine Versuchsperson die Reihenfolge der Karten so anzugeben, wie sie sich in einem anderen Raum aufgereiht finden, jedoch ohne eine zweite Person (Sender). 3. Zur Feststellung zeitlichen Hellsehens (Präkognition) muß eine Versuchsperson die Reihenfolge der Karten angeben, bevor diese gemischt und in einer bestimmten Folge gelegt sind. Übersteigt die Voraussage die nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung zu erwartende Treffergenauigkeit, und dies bei langen Versuchsreihen von mittlerer Zufallserwartung, z. B. 5 Treffer bei einem 25 Calls umfassenden Run, dann wird dies als paranormal interpretiert. Ein anderes Experiment ist das Ganzfeld-Experiment, bei dem einer Versuchsperson die Augen verbunden und die Ohren durch Überstülpung eines Kopfhörers verschlossen werden, der ein Rauschen erzeugt. Gleichzeitig versucht ein Sender ein zufällig ausgewähltes Bild auf die Versuchsperson zu übertragen. Das Erraten desselben durch den Empfänger wird dann ausgewertet. 237 Ein weiteres Experiment betrifft die Fernwahrnehmung (remote-viewing). 238 Hier bleibt die Versuchsperson (Empfänger) mit dem Versuchsleiter A in einem Raum des Laboratoriums, während ein zweiter Experimentator B einen bestimmten Ort, z. B. einen Kinderspielplatz oder ein Museum innerhalb einer dreißigminütigen Autofahrt aufsucht. Während der Besichtigung des Zielgebietes durch den Experimentator B schildert die zurückgebliebene Versuchsperson ihre Eindrücke, fertigt Zeichnungen an u. ä., die von einem unabhängigen Beurteiler nach dem Grad der Übereinstimmung beurteilt werden. Das Vorkommen paranormaler Phänomene ist wissenschaftlichence of the Mind, Illinois 1957), ins Deutsche übertragen von Hans Bender und Inge Strauch, Bern, München 1962. 237 Vgl. Eberhard Bauer und Walter von Lucadou: Parapsychologie, in: Handwörterbuch der Psychologie, München, Weinheim 1999, S. 517–524, bes. S. 520. 238 A. a. O. A

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experimentell gesichert und somit nicht zu bestreiten. Die Höhe des Vorkommens in der Bevölkerung wird allerdings unterschiedlich geschätzt, wobei manche Forscher zu der Ansicht neigen, daß alle Menschen mehr oder weniger zu paranormalen Erlebnissen fähig sind und solche aktual oder potentiell haben. Der Vorbehalt gegenüber diesen Phänomenen betrifft nicht so sehr ihre Existenz als vielmehr die Fragwürdigkeit der Erklärung ihres Zustandekommens und damit auch ihren Wissensstatus. Diesbezüglich sind verschiedene Theorien aufgeboten worden, von denen bis heute keine Anspruch auf exklusive Geltung machen kann: 1. die Hyperästhesie bzw. der sechste Sinn 2. die Signaturenschau 3. das seelische Feld 4. die Strahlentheorie 5. der phänomenologische Weiteraum. 1. Für die Übertragung, die bei räumlichem und zeitlichem Hellsehen wie auch bei sonstigen telepathischen Erscheinungen stattfindet, liegt es nahe, eine Überempfindlichkeit der Sinne, eine Hyperästhesie, zu unterstellen, die jede Situationsveränderung, und sei sie noch so minimal, konstatiert. Bedenkt man, daß es unterschiedlich sensible Menschen gibt, ganz zu schweigen von den Unterschieden zwischen Mensch und Tier – Raubvögel wie Falken, Sperber, Bussarde, die man Spähvögel nennt, haben weitaus schärfere Augen als wir und können noch aus großer Höhe eine Maus entdecken, die sich dem menschlichen Blick entzieht, Fledermäuse orientieren sich in dunklen Höhlen und bei Nachtflug über Schallwellen, von denen der Mensch nichts weiß und ahnt –, dann ist die Annahme nicht abwegig, daß es besonders qualifizierte Menschen gibt wie Medien und Hellseher, die mit einer außergewöhnlichen Empfindsamkeit (Gespür) ausgestattet sind, welche die normale Sensibilität übersteigt. Es braucht zur Erklärung nicht einmal eines eigenen Organs wie des sechsten Sinnes, obwohl auch ein solcher denkbar wäre; das Gespür könnte über den ganzen Körper verteilt, also ein ganzheitliches sein. Ein solches Gespür oder auch ein sechster Sinn würde dann analog den Wahrnehmungsorganen die Erfassung der Objekte garantieren. Unter diesem Aspekt ließen sich Hellsehen und Telepathie unter die erweiterten sinnlichen Wahrnehmungen und die ihnen zukommende Wissensart einordnen. 2. Das Pendant auf objektiver Seite zu dieser besonderen subjektiven Ausstattung ist die jeweils besondere Situation und Konstel286

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lation der näheren und ferneren Umgebung. Paracelsus und Jakob Böhme sprachen von einem Signaturensystem der Natur, das der Arzt kennen müsse, um heilen zu können. Sie gaben damit eine Vorahnung dessen, was die heutige Sinnesphänomenologie durch Begriffe wie Atmosphärisches, Physiognomisches, Gestisches, Ekstatisches u. ä. zu beschreiben versucht,239 dessen Erfahrung in die Klasse des situativen und gestischen Wissens gehört. Die Gegenstände der natürlichen und künstlichen Welt beschränken sich nicht darauf, nur wissenschaftlich konstatierbare Objekte zu sein, die in der objektivierenden Einstellung von Beobachtung und Experiment der Fülle ihrer Qualitäten und Habitualitäten, ihrer Symbol- und Werthaftigkeit, ihrer Beziehungen verlustig gehen und auf reine Quantitäten restringiert werden. Vielmehr sind sie ursprünglich eingebettet in die gesamten, auch emotionalen und leiblichen Bezüge zu ihrer Umwelt, sie sind gerade nicht die defizienten, abstrakten, manipulierten und dirigierten Restbestände der Wissenschaft, was die wissenschaftliche Betrachtung geflissentlich übersieht, weil sie solche Qualitäten nicht messen, zählen und wägen, d. h. exakt und präzise beschreiben kann. Vorzüglich der erlebende Mensch erfährt solche Qualitäten im lebendigen Umgang mit den Dingen, nicht auf mechanische Weise über Druck und Stoß, sondern auf affektive durch ein affektives Betroffensein. Im situativen und gestischen Verstehen erschließt sich uns ein langgezogenes, verzerrtes Gesicht mit weit aufgerissenen Augen und Mund wie auf dem Gemälde von Edvard Munch mit dem Titel »Der Schrei« unmittelbar als Schmerz. Situatives und gestisches Verstehen erfolgen im Leben über die Wechselbeziehung zwischen Lebendigem, und dies ermöglicht uns, nah wie auch fern die geringsten Veränderungen zu registrieren. Betritt man ein vertrautes Zimmer, in dem nur minimale Veränderungen vorgenommen wurden, so erzeugt es, zumindest bei sensiblen Menschen, vielleicht nicht bei allen, den Eindruck der Unvertrautheit, ohne daß man oft sagen kann, was sich verändert habe und einem unvertraut erscheine. In manchen Teilen Afrikas werden für die Aufdeckung von Dieben die Dorfbewohner in einem Rund positioniert. Der Schamane 239 Vgl. Hermann Schmitz: System der Philosophie, a. a. O.; Rudolf zur Lippe: Sinnenbewußtsein, a. a. O.; Gernot Böhme: Für eine ökologische Naturästhetik, Frankfurt a. M. 1989; ders.: Ästhetische Erkenntnis der Natur, in: Karen Gloy (Hrsg.): Natur- und Technikbegriffe. Historische und systematische Aspekte: von der Antike bis zur ökologischen Krise, von der Physik bis zur Ästhetik, Bonn 1996, S. 118–145.

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richtet dann an jeden einzelnen eine Frage und ist danach imstande, den Dieb zu benennen. Die angeblich hellseherische Fähigkeit läßt sich hier ganz normal psychologisch erklären durch ein Feingefühl. Jemand, der etwas zu verbergen hat, wird befangener antworten als jemand, der nichts zu verbergen hat, und damit durch eine unmerkliche Kleinigkeit sich dem Experten oder dem besonders dazu Veranlagten als Dieb zu erkennen geben. Wenn in Indonesien hierfür Kinder eingesetzt werden oder wenn solche Fähigkeiten besonders bei Naturethnien registriert werden, dann spricht dies für eine unverbildete und unverstellte Sensibilität, die dem Erwachsenen und Zivilisierten oft abhanden gekommen ist. Wenn ich bei Expeditionen im Amazonas-Regenwald mit Indios unterwegs bin, geschieht es nicht selten, daß der Anführer unserer Kolonne plötzlich stehenbleibt und horcht. Gefragt nach dem Stop, antwortet er dann ›nicht gut‹, ›Schlange‹ oder ähnliches. Er spürt etwas, was ich als europäischer Stadtmensch selbstverständlich nicht spüre. Oft warten wir, manchmal kehren wir um oder schlagen einen Umweg ein. Diese ›hellseherische Fähigkeit‹ ist einem ausgeprägten Situationsverstehen zu verdanken, das einen unterschiedlich weiten Radius haben kann. Diese Fähigkeit ist auch von anderen beobachtet worden und darf damit als wissenschaftlich belegt gelten: In Australien galten manche Reptilien, da sie mehr als hundert Jahre nicht gesichtet worden waren, für ausgestorben. Als sich westliche Forscher mit den Aborigines zusammentaten und auf die Suche machten, fanden sie auf Anhieb gleich mehrere Exemplare, teils aufgrund des Gespürs der Eingeborenen, teils aufgrund von deren Kenntnis der Umgebung und der Gewohnheiten der Tiere (sie kommen nur nachts aus ihren Verstecken hervor), teils aufgrund der Fähigkeit der Einheimischen zum Fährtenlesen und tausend anderer Kleinigkeiten, die den Zivilisierten abhanden gekommen sind. Das Gedankenlesen läßt sich ebenso erklären. Am Krankenbett von Paralysierten oder im Wachkoma liegenden Patienten oder Sterbenden können die nächsten Angehörigen oft anhand unmerklicher Lippen- und Augenbewegungen, die man normalerweise nicht bemerkt und auch Meßinstrumente nicht zu registrieren vermögen, die Befindlichkeit, die Wünsche und Gedanken lesen. Das Gedankenlesen beruht auf der Nähe und Vertrautheit mit dem Anderen, die aus einem gemeinsamen Aufgewachsensein oder einer lebenslangen Kommunikationsgemeinschaft oder aus genetischer Verwandtschaft 288

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resultieren und aufgrund deren der eine die Gedanken, Gefühle, Empfindungen, Verhaltens- und Reaktionsweisen des anderen zu erkennen und abzuschätzen vermag. Hellseherische und telepathische Fähigkeiten bei geringer oder größerer Entfernung zwischen Subjekt und Objekt lassen sich damit weitgehend auf natürliche Weise erklären. Einen Hinweis enthält schon das Märchen von der Prinzessin auf der Erbse, das von einer Prinzessin berichtet, deren Sensibilität so groß ist, daß sie über unzählige Decken und Matratzen hinweg den Reiz einer Erbse spürt und sich damit als Prinzessin, d. h. dem Prinzen ebenbürtig zu erkennen gibt. Mit der natürlichen Erklärung als erhöhter Wahrnehmungsfähigkeit bzw. ausgeprägtem Situationsverstehen wäre auch der Wissensstatus besagter Fähigkeiten gesichert. 3. Zur Erklärung hellseherischer und telepathischer Fähigkeiten und ihrer Übertragungswege unterstellen andere Theorien wie etwa die von Hans Driesch 240 ein ›Seelenfeld‹, so wie man zur Erklärung physikalischer Übertragungen ein physikalisches Raum-Zeit-Feld voraussetzt. Wie im letzteren Nah- und Fernkräfte angenommen werden, so entsprechend im ersteren. Wenn Newton nicht nur von nahwirkenden Kräften wie Repulsionskräften ausging, sondern auch von fernwirkenden wie Attraktions- oder Gravitationskräften, die über Riesendistanzen wirken, so empfindet niemand dies als wissenschaftlich phantastisch, paranormal, obgleich die letzteren genauso mysteriös sind wie die Fernkräfte beim Hellsehen oder bei der Telepathie. Der Unterschied besteht nur darin, daß sich die Attraktionsund Repulsionskräfte und ihr Verhältnis zu den daran beteiligten Massen exakt berechnen und verallgemeinern lassen, während Hellsehen und Telepathie auf Einzelfälle beschränkt bleiben und selbst bei Versuchsreihen nicht diejenige Allgemeinheit erreichen, die physikalische Verhältnisse an den Tag legen. Eine Stütze für die Annahme eines psychischen Feldes ist die Wetterfühligkeit vieler Menschen, aufgrund deren sie zeitlich wie räumlich über weite Distanzen Wetterumschläge, das Herannahen von Gewitter, Föhn u. ä. spüren, was sich auf ganz natürliche Weise aus der Spannung der Luft und ihrer Rückwirkung auf das Gemüt der Menschen erklärt. Auch dies kann als Beleg für fernwirkende Kräfte innerhalb der Atmosphäre und des Empfindungslebens gewertet werden. 240

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Dasselbe gilt für Sympathie und Antipathie, Liebe und Haß, die ihrerseits ein emotionales Feld voraussetzen. Die an zwei Partner gerichtete Frage, wie sie sich finden, wie und wodurch sie erkennen und wissen, daß sie einander sympathisch oder unsympathisch sind, mag zunächst beantwortet werden mit dem Hinweis auf die getauschten Worte, die Gestik, das Spiel der Gesichtszüge, die Verhaltensweisen, bei Entfernung und Trennung aber durch das fortbestehende emotionale Band. Ist dies etwas wesentlich anderes als spirituelle Fernkräfte beim Gedankenlesen und bei der Telepathie? Betrachtet man räumliches wie zeitliches Hellsehen, Telepathie, Telekinesis u. ä. unter dem Aspekt intentionaler Kräfte – Nah- wie Fernkräfte –, so könnte man sie unter die intentionalen Gefühle und deren Vergewisserungsweise subsumieren. Die Existenz solcher Felder, ob physikalischer, emotionaler oder spiritueller Art, mag sich aus der gemeinsamen phylogenetischen Herkunft aller Lebewesen und letztlich aus dem gemeinsamen Ursprung alles Seienden erklären. Die Tatsache, daß aus einem Einzeller nach Trennung der Furchungszellen mehrere ganze Organismen hervorgehen 241 und umgekehrt aus der Verschmelzung zweier Zellen ein Riesenorganismus erwächst, ferner, daß der weibliche Organismus, der selbst einmal im embryonalen Stadium eine Zelle war, eine Vielzahl von Eizellen produziert, die sich weiter teilen, zeigt die Variation des Themas ›Einheit und Vielheit‹ und die durchgängige Verwandtschaft der Organismen, die auch die Verwandtschaft der verschiedenen Felder erklärt. 242 4. Gleichwohl hat es in der Parapsychologie immer wieder Bemühungen gegeben, die psychischen bzw. parapsychischen Phänomene auf physikalische zu reduzieren, um ihre Wissenschaftlichkeit zu erhärten. Hier geht es nicht nur um den Hinweis auf die physikalisch-physiologischen Grundlagen der spirituellen Kräfte, sondern um deren Reduktion auf solche oder deren Parallelisierung mit solchen. Zurückgegriffen wird dann meist auf eine Strahlungstheorie, 243 nach der energetische Ströme auf physikalische Weise die Gedanken übertragen sollen. Solche Theorien unterliegen jedoch der Kritik, da 241 Vgl. Stammzellen sowie auch die Experimente mit der Seeigellarve. Vgl. dazu Karen Gloy: Das Verständnis der Natur, Bd. 2: Die Geschichte des ganzheitlichen Denkens, München 1996, Lizenzaufl. Köln 2005, S. 156. 242 Vgl. Hans Driesch: Parapsychologie, a. a. O., S. 102. 243 Vgl. a. a. O., S. 95 ff.

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psychische bzw. parapsychische Phänomene nicht ebenso behandelt werden können wie physikalische und es für einen strikten Parallelismus keinen Beleg gibt. Festzuhalten ist aber, daß beide Theoriekonzeptionen Anleihe bei intentionalen Kräften machen wie im vorigen Fall, um den Wissensstatus zu sichern. 5. Nimmt man eine rein psychische Übertragung ernst ohne Reduktionsversuche auf Physisches, so kann man in diesem Kontext an das Analogiedenken bei Naturethnien erinnern, welches unterschwellig auch im modernen Denken weiterlebt, wie die Alltagssprache und Alltagsempfindung zeigen. 244 Raum- und Zeitdistanzen spielen hier keine Rolle. Nach dem Glauben von Naturvölkern dürfen daher beispielsweise Accessoires von Angehörigen eines Stammes nicht in die Hände des Zauberers des feindlichen Stammes fallen, damit dieser nicht durch Berührung des Kleidungsstückes oder sonstiger Attribute Macht über den Besitzer und dessen Clan gewinnt. In Anlehnung an diese aus dem magisch-mythischen Denken stammende Vorstellungsweise der aemulatio hat Hermann Schmitz 245 eine Raumtheorie entwickelt, die ebenfalls keine physikalische ist. Sie unterstellt einen phänomenologischen Weiteraum, in dem sich alle Objekte des Fernsehens und -wirkens befinden und mit dem unser leibliches Spüren weitemäßig übereinstimmt, obgleich diese Weite keinem Sehen, Hören und Betasten zugänglich ist. Durch das Weitegefühl wird es möglich, beliebig entfernte Objekte zu erreichen, ohne Zwischenräume überwinden zu müssen. Es genügt nach Schmitz, »sich in die Weite des eigenen Leibes zu vertiefen und in dieser das beliebig entfernte Objekt anzuzielen« 246 . Es ist derselbe Vorgang wie bei Faszination und Suggestion, bei denen ebenfalls eine leibliche Kommunikation, nach Schmitz insbesondere eine Einleibung des eigenen Subjekts in das Objekt oder umgekehrt des fremden Objekts in das eigene Subjekt, statthat. Auch hier erfolgt die Erfassung ausschließlich über das eigenleibliche Spüren. Diese Theorie dürfte so fremdartig nicht sein, wie sie auf den ersten Blick erscheint, da auch unser Sehen eine Fernwahrnehmung ist, was sich 244 Vgl. Karen Gloy: Vernunft und das Andere der Vernunft, a. a. O., S. 207–276; Karen Gloy und Manuel Bachmann (Hrsg.): Das Analogiedenken. Vorstöße in ein neues Gebiet der Rationalitätstheorie, Freiburg i. Br., München 2000. 245 Hermann Schmitz: System der Philosophie, a. a. O., Bd. 3.1, S. 210 f. Zur Raumtheorie von Schmitz vgl. auch Bd. 3.1, S. 28 ff. 246 A. a. O., S. 210.

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daran zeigt, daß wir bis zum Horizont sehen können oder beim Blick in den Himmel in unermeßliche Weiten blicken können, und dies ohne Nahwirkung. 7.6. Besessenheit Unter Besessenheit versteht man in der Psychologie das Phänomen, daß eine Person von einem Geistwesen, sei es einem Dämon, einem guten oder bösen Geist, Gott oder dem Teufel, 247 ergriffen und beherrscht wird. Das normale Wachbewußtsein einer Person wird dann überlagert von einem anderen Bewußtsein, das einer fremden Instanz zugeschrieben wird. Damit findet auch eine Überlagerung der Wissenszustände der Person durch andere statt. Die Überlagerung kann partial oder total sein. Bei partialer Überlagerung bleibt das normale, klare Wachbewußtsein der Person bestehen. Sie empfindet jedoch in einer Art Zwiespalt ihren Körper (eventuell auch ihre psychische und geistige Verfassung) als entfremdet und betrachtet erstaunt oder auch entsetzt, wie das dem fremden Geist zugeschriebene Bewußtsein ihren Körper instrumentalisiert. Bei totaler Überlagerung und Dominanz der fremden Instanz und ihres Bewußtseins wird die Alltagspersönlichkeit durch einen somnambulen Zustand ausgeschaltet und der Mensch nur noch durch das Geistwesen bestimmt. Der Übergang erfolgt in Form von Ekstase (Aus-sich-Herausgehen und -Stehen) und Trance (transitus = ›Überstieg‹), einem Vorgang, der sowohl auf seiten des neu eintretenden Bewußtseins als ›Aufgang‹ oder ›Erwachen‹ beschrieben wird, eben eines neuen, fremden Bewußtseins, wie auch auf seiten des in die Normalität zurückkehrenden Bewußtseins. In beiden Fällen geht Amnesie, meist völlige, damit einher. Ich will von zwei Trance-Erlebnissen aus eigener Erfahrung berichten. Zum einen handelt es sich um eine Candomblé-Zeremonie zu Ehren der dämonenhaften Kriegsgottheit Xango, ursprünglich eine Gottheit für Blitz und Donner, in Salvador da Bahia, die von Afrobrasilianern, welche für Trance besonders qualifiziert sind, in 247 In der christlichen Tradition kennt man sowohl die Besitzergreifung durch Gott – die Propheten des Alten Testamentes wurden nicht selten als gottbesessene Leute angesehen und verehrt, durch deren Mund Gott sich mitteilt – wie auch die Besitzergreifung durch den Teufel, der ausgetrieben werden muß (vgl. Exorzismus).

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der Nacht des 16. Mai 2005 begangen wurde. Das Fest fand in einem Vorstadtviertel in einem der ärmeren Bezirke von Salvador statt. Mein Begleiter und ich bogen von einer normal beleuchteten Hauptstraße in eine dunkle Seitengasse ab und hielten vor einem Haus, vor dessen erleuchteten Fenstern sich bereits Kinder und Schaulustige eingefunden hatten, um einen Blick in das Innere zu erhaschen. Drinnen war der Raum festlich geschmückt mit Lametta, Fähnchen, Silberfäden und allerlei glitzerndem Zeug. An den Wänden befanden sich Dämonendarstellungen. Der größere Raumteil war für die aktiven Teilnehmer reserviert, an den Wänden rundherum hatten sich Angehörige und Helfer eingefunden, hinter einer Schranke waren einige Plätze für Gäste vorgesehen, auf denen auch ich Platz nahm. Nachdem sich der Raum mit Menschen gefüllt hatte – es war ein Kommen und Gehen –, eröffneten Trommler, die an der Querwand Aufstellung bezogen hatten, mit monotonen Rhythmen die Feier. Aus einem Nebenraum erschienen nacheinander vierzehn weibliche Personen, angeführt von einer alten, vielleicht 80jährigen Dame, der eine Herkunft aus königlichem Geblüt nachgesagt wurde, was etwas merkwürdig war, da es sich bei den Afrobrasilianern um ehemalige Sklaven handelt. Gleichwohl war ihre Erscheinung würdevoll und gebieterisch, wahrhaft königlich. Sie nahm auf einem Ehrensessel bei den Musikern Platz, vor ihr verneigten sich alle anderen Teilnehmerinnen und fielen später auch vor ihr auf die Knie, während sie die Hand auf den Kopf der Niederknienden legte und ihnen offensichtlich freundliche Worte zuflüsterte. Alle waren in schneeweiße Kleider gekleidet: in Spitzen- und Rüschenblüschen mit aufgeplusterten Ärmeln, Stickereien und Schleifen, Steifröcken, kunstvoll gebundenen Turbanen, wie sie für die negroide brasilianische Bevölkerung typisch sind und sich von der schwarzen Hautfarbe stechend abheben. Unter ihnen war eine Hellhäutige. Alle bewegten sich in wiegenden, gehobenen Schritten mit vorgestreckten Händen nach dem eintönigen Trommelrhythmus. Nach etwa einer halben Stunde bemerkte man an den Gesichtszügen einiger Personen eine Veränderung. Während manche Tänzerinnen unkonzentriert zu sein schienen und ihren abschweifenden Blick immer wieder auf sich zurücklenkten, da sie offensichtlich nicht ganz bei der Sache waren, bemerkte man bei anderen eine zunehmende innere Konzentration und Starrheit des Blicks. Plötzlich fiel eine der Tänzerinnen – es war die hellhäutige – zu Boden: zuckend, winselnd, Zähne knirschend, unheimliche tierische Laute ausstoA

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ßend. Sofort eilten Helferinnen herbei und richteten sie wieder auf, so daß sie nun mit vorgestreckten Armen und Händen sich im Schrittanz weiterbewegte. Immer mehr Teilnehmerinnen fielen um, wurden von Helferinnen aufgerichtet; manchmal dauerte es eine Weile, bis sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatten und weitertanzen konnten. Von den vierzehn Personen fielen schließlich acht in Trance. Immer wieder hörte man tierisches Stöhnen und nichtmenschliche Laute. Nach einer Stunde zogen sich alle Teilnehmerinnen in den Nebenraum zurück, aus dem sie gekommen waren, und erschienen nach einer Pause wieder, nun in der Tracht des jeweiligen Dämons, dessen Priesterin jede der in Trance befindlichen Personen war. Die Hellhäutige tanzte die Hauptgottheit: sie war nun in ein enges, blaßgrünes, über und über mit glitzernden Pailletten und Steinen besetztes Gewand und eine entsprechende zipfelartige Kopfbedeckung gehüllt, die anderen trugen glitzernde, bunte Gewänder in teils rötlicher, teils gelber Farbe. Die Anführerin brachte eine silberne Platte mit Reiskörnern und anderen Speisen herein und stellte sie in der Mitte der Tanzfläche auf. Über diese stürzten sich nun die in Trance Befindlichen und aßen wie wilde Tiere ohne Zuhilfenahme der Hände, besser gesagt, fraßen grunzend, schmatzend, rülpsend. Es war ein teils abstoßender, beschämender, grotesker, teils faszinierender Anblick, der die Augen des Betrachters immer wieder auf die Gruppe lenkte. Dann wurde weiter getanzt, stundenlang die ganze Nacht hindurch. Auffällig war, daß die in Trance Mutierten nirgends anstießen und sich auch nicht in die Quere kamen, also ein eigenartig abgetretenes Bewußtsein hatten, das gleichwohl die Umgebung konstatierte. Nach fünf Stunden ging ich, ohne das Erwachen aus der Trance miterlebt zu haben. Die Zeremonie soll bis in den Morgen hinein gedauert haben. Auf dem Heimweg wurde mir noch erklärt, daß der Geist durch eine Öffnung im Haupt, vielleicht die Fontanelle, in die Personen eingedrungen sein und sie so auch wieder verlassen haben soll. Das andere Erlebnis war eine Pferdetrance in einem Dorf auf Java in Indonesien, an der ich 1983 teilnahm. Pferdetrancen sind in Mitteljava verbreitet und von Anthropologen mehrfach beschrieben worden. 248 Der Zürcher Ethnologe Wolfgang Marschall hat auf einer 248 Vgl. Wolfgang Maximilian Pfeiffer: Besessenheit, normalpsychologisch und pathologisch, in: Jürg Zutt (Hrsg.): Ergriffenheit und Besessenheit. Ein interdisziplinäres Ge-

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Tagung in Luzern über »Weisheit – Wissen – Information« vom 3.–5. Dezember 2004 einen Dokumentarfilm über solche Zeremonien vorgeführt. Der Dorfplatz war umzäunt. Um ihn herum hatten sich überall dichtgedrängt die Kinder des Dorfes und der Nachbardörfer eingefunden und versuchten, die Köpfe übereinander gereckt, einen Blick auf die Fläche zu erhaschen. Etwa fünfzehn Personen unter Leitung des Meisters und Spielleiters, des Dalang, kamen unter Trommelrhythmen auf Steckenpferdchen hereingeritten, wie sie in der westlichen Hemisphäre Kinder als Spielzeuge benutzen: Pferdekopf auf einem Stock. Nach Darbringung des obligatorischen Opfers und Rezitation von Beschwörungsformeln und nach längerem Herumreiten – ob dies kunstvolle Muster waren oder ein Durcheinander, vermag ich nicht zu entscheiden – fiel der erste Reiter zu Boden und in Trance. Die Mitteilnehmer richteten ihn auf, so daß er nun wie zuvor, nun aber in Trance, weiterritt. Das geschah nacheinander bei allen. Dirigiert wurden sie vom Meister mit dem Knallen einer Peitsche. Mit der Trance waren ungewöhnliche Kräfte verbunden: Einige aßen Glassplitter, ohne den Magen zu verletzen, andere durchbohrten sich Lippen und Zunge mit Stäbchen, andere hinwiederum hingen Gewichte an ihre Wangen, und wieder andere liefen barfuß durch das Feuer (Pyrovasie). 249 Bei einem, dem man eine anderthalb Meter lange, ungefähr einen halben Zentimeter dicke Eisenstange in die Weichkehle gesetzt hatte, verbog sich diese, ohne ihn zu durchbohren. Die Schmerzunempfindlichkeit und Unverletzlichkeit erklärt sich aus der Anwesenheit einer geistigen Kraft, eines Dämons, dessen Maske die Person geworden ist und die in dem Augenblick, in dem die Person in Trance fällt, in sie eingedrungen sein soll. Nach Stunden fanden die meisten Teilnehmer ohne besondere Auffälligkeiten ins normale Leben zurück, manchmal nach einem Sturz, nach Konvulsion und tiefem Ausatmen, wobei der Geist ausgehaucht wird. Zumeist wurden die in Trance Befindlichen, auf dem Rücken liegend, von den anderen Teilnehmern hochgehoben, damit sie sich beim Wiedererwachen aus dem Streckkrampf und der Starre nicht verletzen. Einer jedoch, der unter fürchterlichen Zuckungen spräch über transkulturell-anthropologische und -psychiatrische Fragen, Bern, München 1972, S. 25–39, bes. S. 26 f. 249 Solche Feuerläufe sind auch auf Ceylon üblich. Sie lassen sich erlernen und einüben. Inwieweit die Schmerzausschaltung auf Trance beruht, ist in der Forschung strittig. A

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und Verrenkungen und Starrheit litt und vor dem Meister kniete, welcher sich über ihn beugte, umringt von den anderen, hatte die Hilfe des Meisters nötig, um in den Wachzustand zurückzukehren. Um das Phänomen der Besessenheit auf möglichst natürliche und rational nachvollziehbare Weise zu erklären, möchte ich die These von Max Dessoir von einem Doppelbewußtsein – einem »Oberund Unterbewusstsein« 250 – zugrunde legen, das wir aus dem normalen, alltäglichen Leben kennen, und in Schritten die graduelle Verdrängung des normalen Oberbewußtseins durch das Unterbewußtsein und schließlich die Vorherrschaft des letzteren zeigen. 1. Jeder von uns kennt aus dem Alltag sogenannte automatische Handlungen. Wird z. B. ein Arzt während seiner Praxis von einem von außen hereinstürmenden, aufgeregten Passanten mit dem Bericht eines Autounfalls konfrontiert, der sich soeben einige Straßen weiter ereignet hat, so hört er aufmerksam und vollkonzentriert den Angaben über den Unfall zu, über das Wo, Wie, Wann, greift gleichzeitig automatisch nach seinem Medizinkoffer, zieht den Mantel an und macht sich auf den Weg zur Unfallstelle. Auf der Straße fällt ihm plötzlich ein, den Schlüssel vergessen zu haben; er läuft ins Haus zurück, um festzustellen, daß er ihn automatisch doch eingesteckt habe. Der auf der Straße wartende Begleiter konstatiert: »Das hätte ich Ihnen vorher sagen können. Ich sah, wie Sie den Schlüssel einsteckten. Wie kann man nur so zerstreut sein!« Er kommentiert damit den der Aufmerksamkeit und dem achtsamen Bewußtsein entzogenen vollautomatischen, aber gleichwohl Verstandesregeln folgenden manuellen Vorgang als geistige Abwesenheit. 2. Jeder von uns hat schon erlebt, daß während eines lauten Vorlesens oder auch bei Korrekturarbeiten die Gedanken plötzlich abglitten und sich mit ganz anderen Dingen beschäftigten, obwohl man sinnvoll und mit richtiger Betonung weiterlas oder auch richtig weiterkorrigierte. Obwohl das Vorlesen, Sprechen, Umblättern beim Lesen, das Korrekturlesen usw. intelligente Leistungen sind und aufmerksames Bewußtsein verlangen, stellen sich andere Gedankenund Vorstellungsreihen ein, die nicht minder bewußt sind und ihre eigene Ordnung haben. Diese sind nicht mehr rein automatische Handlungen (praktische Vollzüge), sondern intellektuelle, intelligente Leistungen, die sich unterbewußt – nämlich unterhalb des anderen Bewußtseins – ereignen. »Wir tragen gleichsam eine verborgene Be250

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Max Dessoir: Das Doppel-Ich, a. a. O., S. 13.

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wusstseinssphäre in uns, die, mit Verstand, Empfindung und Willen begabt, eine Reihe von Handlungen zu bestimmen fähig ist.« 251 Diese Bewußtseinssphäre agiert gelegentlich völlig selbständig neben der verdrängten normalen. 3. Die Beobachtung gilt nicht nur für Fälle praktischer Handlungen und intelligenter Leistungen, sondern auch für jene, bei denen Erinnerung im Unterbewußtsein im Spiele ist. Ein Mitglied der ›Society für Psychical Research‹ übte sich ein bis zwei Wochen darin, beim Gehen die Schritte zu zählen und gleichwohl auf die Straße zu achten und ein Gespräch zu führen und brachte es zu der Fertigkeit, während des Spaziergangs und eines angeregten Gesprächs, ohne im mindesten abgelenkt zu werden, die Schrittfolge anzugeben, ebenso größere Zahlenreihen schnell und richtig zu addieren. Das Beispiel spricht nicht nur für eine unterbewußte Intelligenz, sondern auch für ein unterbewußtes Gedächtnis. 252 Auch andere Beispiele bestätigen dies. Ein Betrunkener erinnert sich im wachen Normalzustand oft nicht mehr an die Vorgänge im Delirium, wohl aber während der nächsten Trunkenheit. 253 4. Ein schon in den pathologischen Bereich fallendes Beispiel ist das folgende, das Azam berichtet. 254 Eine von ihm behandelte hysterische Patientin wechselte zwischen zwei Zuständen, der condition prime und der condition seconde. Im ersten, normalen Zustand wußte sie nur von den Vorgängen des gewöhnlichen Lebens, im zweiten, einer Somnambulie, wußte sie von den früheren Anfällen und den normalen Zuständen. Als sich mit der Zeit die Anfälle häuften, verdrängten diese den ursprünglichen normalen Zustand gänzlich, so daß der Kampf der beiden Iche mit dem Sieg der neuen, somnambulen Persönlichkeit über die alte, normale endete. Ähnliches wird auch von manchen Hypnosen berichtet, bei denen die hypnotisierte Person Kenntnis von beiden Zuständen, dem somnambulen und dem wachen, hat, während im Wachzustand der somnambule Zustand für gewöhnlich nicht erinnert wird. Die Sachlage gilt nicht nur für Intelligenz und Gedächtnis, sondern auch für das Gefühls- und Stimmungsleben. An Geisteskranken läßt sich in der Phase des vollständigen Gedächtnisses beobachten, 251 252 253 254

A. a. O., S. 11. Vgl. a. a. O., S. 12. Vgl. a. a. O., S. 13. Vgl. a. a. O., S. 15 f. A

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daß sie ihren normalen Zustand als état bête bezeichnen und einschätzen, diesen also mit dem ›anormalen‹ vergleichen können. Das Gefühls- und Stimmungsleben des Patienten ist hier nicht minder gespalten als die Verstandes- und Erinnerungstätigkeit. 255 5. Mit der vorangehenden Stufe ist bereits die Stufe der Besessenheit erreicht. In der Besessenheit drängen sich an die Stelle des Normalzustandes und der in ihm vorherrschenden Reihen von Gedanken, Vorstellungen, Bildern, Empfindungen, Gefühlen andere, die dem Unterbewußtsein angehören und die ersteren schließlich gänzlich verdrängen und an ihren Platz treten. Die Herrschaft der letzteren über die ersteren, die Besitzergreifung des Oberbewußtseins in allen Wissensschattierungen durch das Subbewußtsein, nennen wir den Zustand der Trance. Diese für unser normales Wachbewußtsein fremdartige Situation schreiben wir dann externen Kräften wie Geistern und Dämonen zu, in die wir unsere Verstandes-, Erinnerungs- und Gefühlslagen extrapolieren. In Wahrheit handelt es sich jedoch um innerseelische Komplexe, die lediglich in der externen Beschreibung zu Projektionen in die Außenwelt werden. Auf solche Weise verobjektiviert, werden sie einer fremden, dämonischen Kraft zugeordnet. Das unterschwellige Weiterleben des normalen Gedächtnisses im umfassenden Trancebewußtsein erklärt auch, warum die in Trance befindlichen Personen sich wie im normalen Leben weiterbewegen, ohne irgendwo anzustoßen und sich in die Quere zu kommen. Auch andere in denselben Kontext gehörige Phänomene wie Tagträume, Illusionen, Halluzinationen sowie Hypnose, aber auch normale Vorgänge wie Konzentration, Faszination, Suggestion vermag die These vom Doppelbewußtsein zu erklären. Wie oft doch geschieht es beim Schreiben eines Buches, das volle Konzentration auf einen bestimmten Inhalt verlangt, daß unsere Gedanken abschweifen, daß Vorstellungen, Gefühle, Triebe sich vordrängen, mehr und mehr die Oberhand gewinnen und sich schließlich zu Tagträumen ausweiten. Max Dessoir schildert eine solche Situation: »Mit einem Male drängt sich die Berührungsempfindung des Federhalters so in den Vordergrund, dass die vorwiegende Gedankenreihe zerstört wird: ich bringe den Federhalter in eine andere Lage, denke daran, dass ich mir eigentlich einen Korkfederhalter anschaffen wollte, nehme mir vor, das Versäumte morgen nachzuholen, und zwar auf dem Wege nach der Bibliothek, also etwa 255

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Vgl. a. a. O., S. 16.

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gegen neun Uhr, – bis ich plötzlich aus solchen Träumereien auffahre und den Entschluss fasse, meine Gedanken nicht mehr in dieser Weise wandern zu lassen.« 256

Handelt es sich hier um Ablenkung von einer konzentrierten Arbeit durch mehr oder weniger zerstreute, assoziative Vorstellungen, die freilich auch größere organisierte Felder abgeben können und an die Stelle der konzentrierten Geistestätigkeit treten, so haben wir den entgegengesetzten Fall bei der Konzentration vor uns. Hier konzentrieren wir unsere Aufmerksamkeit auf einen bestimmten ausgewählten Teil des Umgebungsbewußtseins, beschränken uns auf einen Gedankenkreis und blenden die übrigen Assoziationen aus, obwohl diese weiterhin unterschwellig in unserem Bewußtsein sind: ich fühle beim Schreiben die Feder, ich sehe die Buchstaben, ich höre den Lärm der Straße, ich habe die Empfindung eines dunklen Assoziationsspiels von allerhand Vorstellungen, Gefühlen, Trieben usw. 257 Der Wechsel zwischen der Konzentration auf einen bestimmten Gedankeninhalt und dem zerstreuten, assoziativen Tagtraumbewußtsein ähnelt dem Wechsel der Aufmerksamkeitsverteilung bei Vexierspielen, bei denen plötzlich aus einem Gewirr von Linien eine bestimmte Gestalt hervorspringt und im nächsten Augenblick, wenn die Aufmerksamkeit abgezogen wird, wieder im Dickicht der Linien verschwindet. Da bei Tagträumen die Konzentration häufig von den Vorstellungsinhalten, Erinnerungen und Empfindungen des normalen, konzentrierten Lebens abgezogen wird, verbindet sich mit ihnen eine geistige und empfindungsmäßige Abwesenheit – wir sprechen auch von einem Wegtreten –, die bis hin zu Anästhesie, Unempfindlichkeit, Erinnerungslosigkeit, zu sogenannten Bewußtseinspausen, reichen kann. 258 Erweitern sich die Tagträume ins Phantastische, dann entstehen die bekannten Illusionen und Halluzinationen, bei denen man das Telefon läuten hört, seinen Namen rufen hört, einen Schatten vorbeihuschen sieht u. ä. Das sind noch die am wenigsten auffälligen Erscheinungen. Spektakulärer sind die großen Visionen und Auditionen, die in religiösen Ekstasen erlebt werden und die sporadisch wie auch iterativ auftreten, wie die Marienerscheinungen von Lourdes, 256 257 258

A. a. O., S. 49. Vgl. a. a. O., S. 48 f. Vgl. a. a. O., S. 49. A

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Fatima und Medjugorje, in jüngerer Zeit von Marpingen (Saarland) und Sievernich (Eifel), 259 und die sich zu Massenekstasen ausweiten können wie bei der Erscheinung des Heiligen Geistes im Pfingstwunder in den Pfingstgemeinden. Diese Vorstellungen und Visionen, die bestimmten religiösen und kulturellen Kreisen zugehören, sind naturgemäß von deren Inhalten geprägt. Als 1846 die Hirtenkinder Mélanie Calvat und Maximin Giraud von einer Dame berichteten, die ihnen beim Kühehüten auf der Alm von La Salette in den französischen Alpen erschienen sei, und dieser Bericht 1851 vom Ortsbischof als Marienerscheinung gedeutet und akzeptiert wurde, als 1858 die vierzehnjährige Bernadette Soubirous an der Grotte von Massabielle in Lourdes eine Marienvision hatte oder 1970 in Fatima, Portugal, ein blutvergießender Engel gesichtet wurde, waren diese von christlichen Inhalten und Vorstellungen geprägt. So unterschiedlich die Visionen in den verschiedenen Religions- und Kulturkreisen sein mögen, es gibt bestimmte übereinstimmende Merkmale von der Art, daß immer wieder von hellen, leuchtenden, strahlenden Erscheinungen berichtet wird, konkretisiert in sogenannten weißen Liebfrauen, oder von Auren, Strahlenkränzen und Heiligenscheinen die Rede ist, wie sie für Trancezustände in aller Welt charakteristisch sind. Schon auf prähistorischen Felszeichnungen in Nordwestaustralien und Afrika findet man Köpfe mit Strahlenkränzen, in denen die Aura klar zum Ausdruck kommt. Noch mehr sind diese Licht- und Helligkeitserscheinungen in den Himmelfahrtsvisionen des Pfingstwunders faßbar. Da der Vorstellungsinhalt solcher Visionen aus dem religiösen und alltäglichen Leben der Visionäre schöpft, auf jeden Fall aus einem vertrauten Milieu, ist er, was den Wissensgehalt betrifft, nicht gänzlich fremd, und was die Vergewisserungsweise betrifft, wird er als wahr oder sogar von höherer Wahrheit empfunden als gewöhnlich und oft als Auftrag, Aufforderung oder Befehl verstanden, denen der Angesprochene folgt. Epistemologisch-wahrnehmungstheoretisch dürften sich diese Phänomene so erklären, daß innersubjektive Wahrnehmungen extrapoliert und als objektive Wahrnehmungen konstatiert werden. Ein solcher Extrapolationsvorgang läßt sich aus den bekannteren Phänomenen wie dem Telephonläuten und manchen visionären Erscheinungen, die im Halbschlaf auftreten, erschließen und auf die spektakuläreren Visionen und Au259 Vgl. Patrick Dondelinger: Visionäre Ekstasen. Was sind eigentlich Marienerscheinungen? in: Herder Korrespondenz, Bd. 58, Heft 5 (2004), S. 244–248.

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ditionen übertragen. Man wird sich in den genannten Fällen halbschlafmäßig bewußt, daß es privatsubjektive, geträumte oder intern vorgestellte Phänomene sind, von denen man in anderen Situationen geglaubt hat, daß sie objektiv seien. 7.7. Schamanismus Ein anderes bewußtseinsmäßiges Überlagerungsphänomen, das jedoch kulturspezifisch und kultisch institutionalisiert ist, ist der Schamanismus mit seinen Himmel- und Höllenfahrten. Seinen Ausgang nahm er wahrscheinlich in Nordsibirien; heute ist er über weite Teile der Erde verbreitet und reicht von den Anden über Amazonien, Afrika bis Indonesien. Über seine Funktion als Prophetie, Weissagung und Orakel hinaus hat er vor allem eine praktische Aufgabe: er dient der Krankenheilung von Einzelpersonen wie auch der Herstellung des Wohls einer Gemeinschaft, z. B. einer Dorfgemeinschaft, dem Abbau von Streß und der Erzeugung eines psychischen Gleichgewichtes. Das im Schamanismus implizierte Wissen ist kein rein neutrales, sondern hat eine soteriologische Aufgabe: die Befreiung von Leid und die Herstellung eines heilen Zustandes. Mit der kulturspezifischen Ausprägung ist gemeint, daß der Schamanismus an bestimmte Kulturkreise gebunden ist. Sein Ursprung liegt, wie angedeutet, wahrscheinlich in Sibirien und Zentralasien, worauf das Wort shaman deutet, das aus dem Tungusischen über die Vermittlung des Russischen kommt. 260 Allerdings gibt es auch Versuche, ihn auf buddhistische (lamaistische) Einflüsse zurückzuführen und aus dem Pali samana (skr. cramana) abzuleiten. 261 Falls die erste These richtig ist, dürfte sich ˙der Schamanismus von Nord- und Zentralasien einerseits nach Nordwesten zu den lappischen Samen ausgebreitet haben, andererseits nach Südosten bis nach Indonesien, zu den Inseln Bali, Sumatra, Java, sowie in den ge-

260 Vgl. Mircea Eliade: Schamanismus und archaische Ekstasetechnik (Titel der Originalausgabe: Le chamanisme et les techniques archaiques de l’extase, Paris 1951), Frankfurt a. M. 1975, S. 14. Vgl. auch Joan Halifax: Die andere Wirklichkeit der Schamanen. Erfahrungsberichte von Magiern, Medizinmännern und Visionären (Titel der Originalausgabe: Shamanic Voices, 1979), deutsche Ausgabe 1981, vollständig überarbeitete deutsche Neuausgabe Freiburg 1999, S. 11. 261 Vgl. Mircea Eliade: Schamanismus und archaische Ekstasetechnik, a. a. O., S. 457 ff.

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samten südpazifischen Raum. 262 Ebenso begegnet der Schamanismus in Süd- und Zentralafrika, wie schon aus Höhlenzeichnungen hervorgeht und wie er heute noch von den Devinas (göttliche Menschen) und Sangomas (einfache Medizinmänner oder -frauen) ausgeübt wird. Von dort hat er mit den Negersklaven Einzug in die neue Welt gehalten, wo er in Form afrobrasilianischer Kulte in Verbindung mit christlichen Elementen vor allem an der Ostküste Südamerikas (Bahia) zu finden ist. Wie er sich dort mit christlichen Elementen verband, so in Zentralasien mit buddhistischen bzw. lamaistischen. Daneben gibt es nicht nur bei den Eskimos, sondern auch in Peru oder Guatemala autochthone Formen des Schamanismus, die sich historisch wahrscheinlich aus Wanderungen asiatischer Stämme über die Beringstraße und entlang der Westküste Amerikas erklären. Und mit kultischer Institutionalisierung ist gemeint, daß der Schamanismus an bestimmte rituelle Vollzüge gebunden ist. Dies unterscheidet den Schamanen vom einfachen Medizinmann, der aufgrund physiologischer und psychologischer Kenntnisse den Kranken mit Heilkräutern, Tinkturen, Pulvern, Handauflegen und Suggestion behandelt, während der Schamane in der spezifischen Form der Trance heilt. Zugleich ist damit sichergestellt, daß sich sein Bewußtsein sowohl von den unkontrollierten, spontanen Attacken des modifizierten Bewußtseins unterscheidet, wie sie für psychotische Menschen symptomatisch sind, wie auch von Massenpsychosen, wie wir sie heute z. B. bei Hooligans auf dem Fußballfeld erleben, die alles kurz und klein schlagen, oder bei gemeinschaftlichen Bewußtseinstrips, die durch Drogen evoziert werden, auch wenn der Schamane oft einige Pilze oder andere Halluzinogene zu sich nimmt. Schamanismus ist eine kontrollierte, regulierte und sanktionierte Form der Trance, die sowohl den Ein- und Ausstieg wie den Verlauf der Trance regelt. Die zeitweisen Wut- und Aggressionsausbrüche des Schamanen sind nicht naturwüchsig wie bei psychotischen Menschen, bei denen unterschwellige Stimmungen und Impulse plötzlich die Oberhand gewinnen und das Bewußtsein überschwemmen können, son-

262 Eine andere Ausdeutung von Süd nach Nord, von West nach Ost gibt der russische Ethnologe Shirokogorov. Vgl. Nikolai Dmitrievich Mironov und Sergei Mikhailovich Shirokogorov: Sramana-Shaman, in: Journal of the North-China Branch of the Royal Asiatic Society, Bd. 55 (Shanghai 1924), S. 110–130; Sergei Mikhailovich Shirokogorov: Versuch einer Erforschung der Grundlagen des Schamanentums bei den Tungusen, in: Baeßler-Archiv, Bd. 18 (1935), S. 41–96.

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dern sie sind reglementiert und kontrolliert oder können zumindest in kontrollierbare Bahnen gelenkt werden. Darauf weist bereits die Ausbildung zum Schamanen. Zwar ist die Disposition, in Trance zu fallen, als Naturveranlagung gegeben und macht sich durch allerlei auffällige Verhaltensweisen bemerkbar: durch erratisches Suchen, diffuse Schmerzen, begleitet von heftigen Träumen, wirren Visionen und Halluzinationen, durch unsinniges, manchmal auch unflätiges Verhalten, 263 durch sporadische TranceAnfälle bei Séancen. Oft sind es kränkelnde, schwächliche Menschen, die sich zu Schamanen qualifizieren. Sobald diese Symptome der ›Verrücktheit‹ auftreten, die als Schamanenkrankheit diagnostiziert werden, wird der Betreffende in die Lehre eines Meisters gegeben. In Indonesien, wo bei Massentrance bereits Kinder in Trance fallen, indem sie spielerisch den Zustand der Erwachsenen imitieren, tritt an die Stelle des Lehrer-Schüler-Verhältnisses das Eltern-Kind-Verhältnis. Die Ausbildung zum Schamanen setzt nicht nur das Erlernen von Heilung voraus, die sich unter Trance vollzieht, sondern auch das Erlernen vorbereitender und unterstützender Maßnahmen, wie Opfer- und Reinigungszeremonien, Meditations- und Konzentrationsübungen. Zu erlernen sind Gebete und Gesänge, das monotone Murmeln von Formeln, z. B. lamaistischer. Alles dient dazu, den geordneten Ablauf des Ein- und Austritts aus der Trance zu garantieren und auch die während der Trance freiwerdenden Kräfte zu bändigen. Bei Wegfall der Maßnahmen kann es zu aggressiven Ausschreitungen und hysterischen Anfällen kommen, wie sie aus den orgiastischen Kulten der griechischen und römischen Antike bekannt sind, etwa aus dem Dionysoskult, den Eleusinischen Mysterien, die auch unter dem Namen ›bacchantischer Taumel‹ bekannt sind und Formen des Kannibalismus wie der reinen Zerstörungswut annehmen können. Während des Lernstadiums gilt der Schamanenanwärter noch als im Naturzustand befangen, d. h. einem noch unentschiedenen Kampf zwischen guten und bösen Mächten ausgeliefert, wobei die ersteren mit gezügelten, gebundenen Kräften, die letzteren mit ungezügelten, ungebundenen identifiziert werden. Die Lehre und die anschließende Initiation dienen der Trennung beider. Daß die fraglichen Kräfte sowohl nach der einen wie nach der 263 Vgl. Ina Rösing: Trance, Besessenheit und Amnesie. Bei den Schamanen der Changpa-Nomaden im ladakhischen Changthang, Gnas 2003, S. 96.

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anderen Seite die Oberhand gewinnen können, belegen dem Schamanismus verwandte Beispiele. Während im Schamanenkult die positiven Kräfte obsiegen, hat das Christentum das Phänomen der Ergriffenheit bzw. Besessenheit zumeist negativ konnotiert, nämlich als Besessenheit vom Teufel oder von bösen Dämonen, die nach katholischer Lehre durch Exorzismus auszutreiben sind. Wie drastisch solche Teufelsbeschwörungen und -austreibungen sein können und gelegentlich sogar zum Tod des Patienten führen, dokumentieren immer wieder Presseberichte, nach denen der Pfarrer irgendeines abgelegenen Dorfes zu exorzistischen Maßnahmen griff. Auch in der Schauspielkunst kommt es vor, daß ein Schauspieler sich derart in die Rolle der zu imitierenden Person hineinsteigert, daß er die Kontrolle über sich verliert. In den Nachtwachen schildert Bonaventura das Schicksal einer Schauspielerin, die dem Wahnsinn der Ophelia verfällt. »Eine Hülse sitzt über der andern, und ich bin oft auf dem Punkt den Verstand darüber zu verlieren. Hilf mir nur meine Rolle zurücklesen, bis zu mir selbst. Ob ich dann selbst wohl noch außer meiner Rolle wandle, oder ob alles nur Rolle, und ich selbst eine dazu.« 264

Die Kluft, die zwischen solchen Schauspielern und dem Schamanen besteht, zeigt P. Wilhelm Schmidt unter Berufung auf den russischen Ethnologen und Schamanenforscher Shirokogorov auf: »Shirokogorov vergleicht diesen Zustand [des Schamanen] dem hervorragenden Schauspieler und Schriftsteller (wie Dostojewski), die einen fremden Komplex sich so aneignen können, wie Personen dieses Komplexes: Verdoppelung und Spaltung der Person, die in schweren Formen so weit gehen kann, daß der Betreffende nicht mehr als ›normale‹ Person zu handeln vermag. Diese Verdoppelung und Spaltung kann beim Schamanen verschiedene Grade haben; sie darf nur nicht die beiden Grenzen erreichen, nicht den bloßen hysterischen Anfall, weil er diesen nicht zu beherrschen vermag, und nicht die bloße ›performing‹. Er muß Mittel kennen und zu gebrauchen verstehen, die diesen Zustand herbeiführen und dauern lassen, so lange es zu seinem Zweck erforderlich ist.« 265

264 Bonaventura: Nachtwachen, Penig 1805, 14. Nachtwache, in: ders.: Nachtwachen. Im Anhang: Des Teufels Taschenbuch, hrsg. von Wolfgang Paulsen, Stuttgart [1964], S. 118 f.; vgl. Hermann Schmitz: System der Philosophie, a. a. O., Bd. 3.4, S. 470. 265 P. Wilhelm Schmidt: Der Ursprung der Gottesidee. Eine historisch-kritische und positive Studie, Bd. 10, Münster i. Westf. 1952, S. 611.

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Die französische Sprache hat für den Zustand der Grenzüberschreitung den Ausdruck la mauvaise foi geprägt. Die Bestimmung durch gute Kräfte erlaubt jederzeit die Rückkehr ins normale Leben, auch wenn diese mit Amnesie verbunden ist. Eingeleitet und begleitet wird die Rückkehr durch Rhythmen, Trommeln, Glockengeläut, Gebete, die quasi als Wegweiser fungieren. Mit der Initiation, der Erlangung der Reife, erfolgt die Scheidung der Kräfte. Die Prüfung besteht darin, daß der Initiant seine außergewöhnliche Fähigkeit unter Beweis stellen muß, indem er z. B. unter dem Teppich versteckte Reiskörner in richtiger Reihenfolge abschreiten oder versteckte Gegenstände finden muß. 266 Was den Trancezustand des Schamanen betrifft, so sind zwei Formen möglich: das Heraustreten der Seele aus dem Körper (Ekstase), die sogenannte Seelenfahrt, auch Schamanenflug oder Flugtrance genannt, wobei Himmel und Hölle durchstreift werden und die entschwundene Seele des Kranken zurückgeholt und damit deren personale Einheit wiederhergestellt wird, oder die Besessenheit, die Besitzergreifung des Schamanen durch ein oder mehrere fremde Geistwesen, die den Körper für eine geraume Zeit in Besitz nehmen und zum Ausführungsorgan ihrer Befehle und Impulse machen. Für die letztere ist der Ausdruck possession trance und embodiment trance geläufig. Mircea Eliade hat sich allerdings vehement gegen die zweite Auslegung gewandt mit dem Argument, daß der Schamane die Geister meisterte, während der Besessene von ihnen gemeistert werde und ihnen erliege. 267 Es läßt sich m. E. zwischen beiden Positionen vermitteln, sofern Besessenheit nicht nur als Beherrschung durch böse Geister, also durch ungezügelte Kräfte, angesehen werden kann, sondern auch als Beherrschung durch gute, gebändigte und gezügelte. Die Besitzergreifung durch übermächtige Kräfte und Mächte liegt in beiden Erscheinungsformen von Trance vor, auch im Falle der Ekstase, bei der der Schamane ins Reich der übernatürlichen Kräfte eindringt und mit ihnen eine Verbindung eingeht, die von jenen gesteuert wird. In beiden Fällen sind Tierlaute, Stammeln und

266 Bei den Dogon in Mali, Afrika, die auf und im Felslabyrinth der Falaise Biangara wohnen und die ich 2006 mit einer Expedition besuchte, muß der Schamanenanwärter vergrabene Wertgegenstände wie Schmuck und Geld auffinden. 267 Vgl. Mircea Eliade: Schamanismus und archaische Ekstasetechnik, a. a. O., S. 15.

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Lallen, Zuckungen, vor allem Glossolalie, das Reden mit fremder Zunge, an der Tagesordnung. Im ersten Fall werden räumliche und zeitliche Distanzen mit ungeheurer Geschwindigkeit zurückgelegt, indem der Schamane Himmel und Hölle mit seinem Flügelroß und seiner Trommel durchquert, um die entflohene Seele des Kranken wieder einzufangen, was ihm nur über die Identifikation mit höheren Kräften gelingt. Nicht nur räumliche und zeitliche Distanzen werden mit Rasanz überwunden, sondern auch die an das Individuum gebundenen Grenzen, indem Mutationen und Transformationen in andere Personen und Tiere stattfinden. Im zweiten Fall erfolgt die Besetzung und Steuerung des Schamanen durch ein fremdes Ich, wie sie in gewisser Weise auch bei Faszination, Suggestion und Hypnose stattfinden. Der Einzug des Dämonen dokumentiert sich durch Erschütterung, Krämpfe, Erstarrung, Konvulsion; bei Auszug bleibt ein total ermatteter Körper zurück, der eine Zeitlang regungslos verharrt, bis er sich wieder sammelt. Der Schamane steht dann auf und tut, als ob nichts gewesen sei. In beiden Fällen geht es also um eine Bewußtseinsdissoziation in ein normales Ich-Bewußtsein und ein außergewöhnliches Bewußtsein, das zeitweise das erste überschattet und dominiert. Unser bildhaftes Vorstellen hat dafür Bilder von Dämonen und Geistern und einer übernatürlichen Geisterwelt entworfen, deren Gemeinschaft mit dem Schamanen diesem übernatürliche Kräfte verleiht. Auch hier sind also zwei Bewußtseinsschichten im Spiele. Von Wissen, emotionalem, praktischem, intellektuellem (soweit damit Unterscheidungsfähigkeit gemeint ist), läßt sich insofern sprechen, als der Schamane in signifikanter Weise mit dem anderen Bewußtsein das Bewußtsein des Anderen übernimmt. Auch dies ist eine Form der Bewußtseins- und Erkenntniserweiterung. Im Mittelpunkt des Schamanenkultes steht bereits in den Frühformen (Bonreligion), noch vor der Vermischung mit buddhistischen oder christlichen Elementen oder solchen anderer Religionen, die Himmel- und Höllenfahrt des Schamanen, die sich der Bilder von oben und unten, Himmel und Hölle, Ober- und Unterwelt bedient, die auch in den Hochreligionen begegnen. Damit wird auf die Polarität von Gut und Böse angespielt, die die Welt beherrscht und die beim Kranken oder der Dorfgemeinschaft aus dem Gleichgewicht geraten ist durch das Überhandnehmen negativer Kräfte und Motive: negativer Gedanken, Grübeleien, Aggressionen, Streß, Erstarrtsein, Lähmung usw. Es gilt, das Gleichgewicht wiederherzustellen durch 306

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Zurückdrängung der negativen Einflüsse und durch Stärkung der positiven. Schamanistische Heilung ist »Bemeisterung« der bösen Kräfte und »Gleichgewichtsherstellung« 268 , die praktisch (nicht über theoretisches Wissen) unter Zuhilfenahme der außergewöhnlichen Kräfte geschieht und im sozialen Rahmen der Dorfgemeinschaft oder des Clans stattfindet und ein ›Stirb und Werde‹, eine Neugeburt, ist. Der Gegensatz von Gut und Böse ist für den Schamanismus konstitutiv. Er spielt nicht nur bei den Praktiken, sondern auch im Schamanengesang eine Rolle. Ina Rösing hat in ihrem Buch Trance, Besessenheit und Amnesie den Schamanengesang aus einer Heilungsséance in Changthang in Ladakh, an der sie selbst teilnahm, auf Tonband aufgenommen und später übersetzen lassen. Wenngleich der von ihr dokumentierte Schamanengesang mit buddhistischen Elementen durchsetzt ist, wenngleich der Text durch die schwierige Übersetzung nicht ganz authentisch ist, ist er so aufschlußreich, daß er hier wiedergegeben werden soll. »Ich bin Paldan Lhamo, ich bin Paldan Lhamo. Hört zu. Seit Beginn der Welt habe ich allen sechs Klassen von Lebewesen Gutes getan. Geboren aber wurde ich in der Welt der bösen Geister. Denn mein Vater ward geboren als Dämon und meine Mutter als tsan. Und ich wurde als lha geboren, als Gottheit, genannt Paldan Lhamo. Meine Eltern pflegten sich von Leichen zu ernähren. Sie fraßen täglich Menschen, Pferde, Esel und wilde Yaks. Von den Mahlzeiten meiner Eltern trank der böse Geist Adag die Seen von Blut. Mein Vater wohnte auf den Hörnern von hundert männlichen Yaks, meine Mutter wohnte auf der Stirn von hundert weiblichen Yaks. Hört zu. Als ich in Tibet geboren wurde, und als ich dort war, beriet ich in Gestalt einer Krähe und eines tsan-Dämonen die mächtigen Herrscher der Hor, beriet ich Masar Gyalmo. Von Hunderten von Dämonen abhängig zu sein und ihre Namen zu rufen – das ist nicht gut. Rezitiert ihr Glücklichen lieber die Mantras der Welt. Hört nicht auf die Stimme der Hor! 268

Mircea Eliade: Schamanismus und archaische Ekstasetechnik, a. a. O., S. 38. A

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Und in Tibet kam ich zusammen mit König Tresong und mit Padmasambhava. Hört zu. Nun bin ich hier, euch die Lehren des Buddha zu bringen. Es ist die Botschaft des Königs und des Padmasambhava, dass ein jeder in der Welt der Lehre des Buddha folgen soll. Also bin ich, Paldan Lhamo, nach Sabu gereist und habe die Lehre verbreitet. Und dann reiste ich nach Naro Koson und verbreitete die Lehre dort. Ich ging nach Paru und lehrte auch dort. Und ich ging nach Phayul und traf Tsering Chednga und Gyalu Yulna und wir drei verbreiteten die Botschaft des Buddha in hundert oder zweihundert Orten. Und jetzt gibt es nur eine Lehre und das ist die Lehre des Buddha. Wenn ihr Menschen auf uns hört, wird es euch gut gehen. Anderenfalls aber bringen wir Unheil. Seit dreizehn Generationen bin ich der lha. Hört meine Botschaft. Ihr Menschen solltet in Einheit leben. Doch heutzutage ändern sich die Menschen so sehr. Heutzutage sind die Menschen neidisch und voller Hass, sie bekämpfen sich gegenseitig und haben Streit. Mehr Blut fließt die Täler hinab denn je. Es gibt Krieg und Gewalt und die Zeit ist ganz anders jetzt. Das Wetter gar hat sich geändert. Es gibt Wirbelstürme und wilde Gewitter. Es gibt allenthalben Konflikt und Gewalt. Die Ladakhis haben eine große Krise mit der Wasserversorgung. Die Zeiten ändern sich in unserer Welt! Ihr aber steckt noch immer in eurem kleinen Lebenskreis. Ihr habt noch genug zu essen. Und trotzdem seid ihr unzufrieden. Bei euch hat sich noch gar nicht viel geändert. Ihr solltet deshalb zufrieden sein. Ihr Menschen seid neidisch. Ihr schaut und sagt: Der hat mehr als ich. So sollt ihr nicht denken. Macht eure Arbeit und achtet auf euer Bewusstsein. Alles hängt von eurem Bewusstsein ab.

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Wenn ihr nicht Klarheit habt in eurem Bewusstsein, dann geratet ihr in Schwierigkeit. Seid immer rein in eurem Bewusstsein. Wenn ihr euer Bewusstsein nicht lenkt, dann ist die Hölle in euch. Es gibt zu diesem Ansatz keine Alternative. Alles hängt von eurem Bewusstsein ab. Euer Bewusstsein soll klar sein. Wenn ihr grübelt und grübelt und grübelt, schafft ihr nur innere Spannung und ihr schafft euch Probleme. Wenn ihr in Spannung lebt und in Problemen steckt, werdet ihr auch leichter krank, versteht ihr das? Ihr braucht ein klares Bewusstsein. Alles hängt von eurem Bewusstsein ab. Ich bin Paldan Lhamo, ich gebe euch diesen Rat. Und ihr sollt diesem Rate folgen. Wenn ihr mir nicht glaubt, wenn ihr kein Vertrauen habt in die buddhistischen Lehren, dann ist das ganz und gar eure Angelegenheit. Die Dinge hängen nur von euch selber ab, versteht ihr das? Es hängt von euch ab, wo ihr steht und wohin ihr geht. Natürlich hat nicht jeder den gleichen Geist. Im Bewusstsein und Denken unterscheiden wir uns. Du denkst dies, er das, ein anderer jenes. Doch jeder steht auf eigenem Fuß. Jeder ist verantwortlich für sich selbst. Und ich sehe nach jedem von euch. Ich behandle alle gleich. Ich bin nicht für die Reichen da und nicht für die Armen. Für mich ist niemand groß und niemand ist klein. Ich kümmere mich um alle Menschen, alle lebenden Wesen. Und ich tue das sehr gut. Ihr müsst nur auf mich hören. Ihr müsst euch einig sein. Ihr müsst versuchen, Klöster zu bauen und Paläste. Geht achtsam um mit den lu. Wenn ihr es im Dorf fertig bringt, die lu gut zu behandeln, dann geben sie auch, was immer ihr braucht. Anderenfalls schaden sie euch.

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Es gibt so viele lha, so viele Gottheiten. Es gibt Paldan Lhamo und viele mehr. Seit dreizehn Generationen sind sie unter uns. Wenn ihr ihnen Respekt entgegenbringt, dann beschützen sie euch. Anderenfalls aber schaden sie. Hört zu. Untrennbar einig können wir auf diesem Wege sein, wie Knoten im Schwanz eines Pferdes. Und so werden wir auch die bösen Geister verjagen in Windeseile, schnell wie der Aufschlag des Augenlids. Das ist mein Rat. Doch wenn ihr meinem Rate nicht folgt, dann gebrauche ich meine (spirituelle) Macht.« 269

Die Interpretation drängt sich von selbst auf. Der Schamanengesang geht von dem Kontrast zwischen Gut und Böse, alter, grausamer, kannibalischer und neuer, gütiger, durch den Buddhismus geprägter Welt aus und berichtet von dem dramatischen Kampf beider und der Überwindung des Alten durch das Neue, was ein weltweit verbreitetes Motiv von Religionen ist. 270 Die den Schamanen besetzende Gottheit Iha wurde in die Welt menschenfressender, blutrünstiger Ungeheuer hineingeboren und diente den mächtigen Herrschern der Hor, bis er Padmasambhava, einem historisch nachweisbaren Gründer des Buddhismus in Tibet, begegnete. Er besiegte und bezähmte die bösen Geister, zu denen auch die Eltern des Iha gehörten, und machte sich auf den Weg, Buddhas Lehre zu verbreiten. Dieser Kampf und die schließliche Überwindung des Bösen stellt das Paradigma für den Kranken dar, es steht stellvertretend für den eigenen Kampf gegen die Krankheit; denn jeder ist für sich selbst verantwortlich, zumindest mitverantwortlich. Um die Krankheit zu überwinden, muß der Kranke sein Bewußtsein von trüben Gedanken, Aggressionen, Wut oder sonstigen negativen Einflüssen reinigen. Der Schlüssel zur Genesung liegt in ihm selbst. Nicht anders verhält es sich mit den Ratschlägen des Schamanen, die über das Individuelle, sprich Personale hinausgehen und das

Ina Rösing: Trance, Besessenheit und Amnesie, a. a. O., S. 204–209. Vgl. Karen Gloy: Zeit, a. a. O., S. 105 ff., bes. S. 106 f., den babylonischen Schöpfungsmythos Enuma elisch. 269 270

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Zusammenleben der Gemeinschaft betreffen. Immer ist bei Séancen der Clan dabei, um das gestörte Verhältnis wieder zu kitten. Der Schamanengesang artikuliert verbal, was sich in der Heilungsséance real vollzieht. Alle Teilnehmer, Patient wie Verwandte und Nachbarn, verlassen die Séance tiefbewegt und ergriffen. Sie sind erschüttert, gerüttelt und geschüttelt und damit verändert in ihrem Bewußtsein. Der Schamanismus ist eine auf praktischem Mitvollzug beruhende Heilungsmethode, nicht unähnlich dem frühgriechischen Drama, das ursprünglich nicht einfach Darstellung (Repräsentation) war, sondern realer Vollzug (Präsentation) des ›Stirb und Werde‹, was sich aus seiner kultischen Herkunft, den Vegetationsriten, erklärt. Die Heilung läuft über psychosomatische Prozesse, entweder so, daß die Steigerung der Affekte zu einer Steigerung der Muskelspannung und der körperlichen Ausdrucksbewegungen führt, wie Beschleunigung des Pulses (Tachykardie), der Atmung (Hyperventilation), Erweiterung der peripheren Gefäße, Erröten, Zu-Berge-Stehen der Haare, Zähneklappern u. ä., die wiederum die Affekte steigern und so fort, bis über einen Höhepunkt hinaus sich die Leben und Gesundheit gefährdende Spannung löst und Entspannung in Form von Erschlaffung eintritt, oder so, daß durch Angst, Schreck und Überwältigtwerden Schockerscheinungen wie Lähmung und Erstarrung eintreten, zeitweiliges Aussetzen des Herzschlags, Erblassen der Haut, die bis zu Ohnmacht und Bewußtlosigkeit gehen können und bei Nachlassen ein verändertes Bewußtsein zurücklassen. Die Kantischen Ausdrücke ›sthenisch‹ und ›asthenisch‹ aufgreifend, liegen zwei Formen von Affekten vor, die aufwühlenden und die lähmenden, die beide die geschilderte Lösung zur Folge haben. 271 7.8. Meditation (Yoga) Hatten wir es im vorigen Fall mit einer Bewußtseins- und Wissensübertragung und damit einer transpersonalen Erweiterung zu tun, so begegnet in der Meditation ein Phänomen, das eine Alleinheit herzustellen sucht nicht nur zwischen Subjekten, sondern auch zwischen Subjekt und Objekt. Es tritt mit dem Anspruch eines umfassenden, integralen Wissens auf, das alles Bisherige übersteigt. 271

Vgl. dazu auch Gustav Hölscher: Die Profeten, a. a. O., S. 5 f. A

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Spricht man von Meditation, so denkt man als erstes an Yoga, das indische Meditationssystem. Unser westliches Indienbild ist derart von den indischen Bemühungen um Verinnerlichung, Versenkung, Selbstfindung, Einkehr in sich und in den Urgrund bestimmt im Unterschied zu unserem westlichen extrovertierten, auf die objektive Welt gerichteten Denken, wie es in den Naturwissenschaften manifest wird, daß sich fast automatisch der Gedanke an den indischen Yoga einstellt. Daneben legt sich der Gedanke an die fernöstliche Zen-Meditation im japanischen und chinesischen Buddhismus nahe, wie sie Eugen Herrigel in seinem Buch Zen in der Kunst des Bogenschießens 272 beschrieben und uns nahegebracht hat. Allerdings hat es auch im Westen seit der Antike besonders im christlichen Kontext Meditation gegeben, die teils ähnliche, teils andersartige Techniken und Meditationsübungen verwendet. Das Aufgehen im Ureinen spielte für Plotin in den Enneaden 273 eine entscheidende Rolle; seine Auswirkungen auf die christliche Mystik lassen sich bei Meister Eckhart (um 1260–1327), Johann Tauler (um 1300–1361), Heinrich Seuse (um 1300–1366), Jakob Böhme (1575–1624), Ignatius von Loyola (um 1491–1556) u. a. nachweisen, wenn diese das Einswerden mit Gott suchen. Gleichwohl hat es die im Westen dominierende Rationalität, die von Aufklärung und Reformation getragen wurde, verhindert, daß es hier zur Ausbildung eines derart komplizierten und subtilen Meditationssystems kam, wie es für Indien charakteristisch ist und geradezu als kulturspezifisch gelten kann. Wenn heute auch im Westen eine vermehrte Zuwendung zu Meditationsübungen stattfindet, teils aufgrund einer Kritik an der westlichen Wissenschaft, teils als Gegengewicht und Kompensation zum westlichen Denken und Verhalten, so handelt es sich hier doch mehr um eine äußerliche Übernahme von Techniken aus den indischen und fernöstlichen Systemen, die therapeutischen Zwecken wie der Entspannung und dem Streßabbau des modernen Menschen dienen, als um eine wirkliche Suche nach Erleuchtung und ein der Meditation vollständig gewidmetes Leben, wie es für die indischen Yogi charakteristisch ist. Das höchste Ziel des spirituellen Lebens Indiens war und ist stets die meditative Weisheit, ein Zustand, der zwar als kognitiv anzusprechen ist, aber im Unterschied zum westlichen Kognitions272 273

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o. O., 20. Aufl. 1981. Vgl. Plotin: Enneade VI,9,11; IV,8,1.

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begriff, mit dem das vom praktischen Leben und Handeln abgelöste rein theoretische Denken, das Denken über einen Gegenstand oder Sachverhalt, bezeichnet wird, ein Nachdenken oder Nachsinnen ist, das Körper, Seele und Geist umfaßt und ein integratives Gesamtgeschehen ausmacht. Meditation ist ein holistischer Vorgang, ein psycho-mentaler Prozeß, der die Leiblichkeit mit einschließt, ja zur Voraussetzung hat, insofern einer bestimmten Leibkonstellation Auswirkungen auf die affektive, emotionale und kognitive Befindlichkeit nachgesagt werden. Die yogische Meditation ist ein integrales Bewußtsein, auch wenn sie die Ausschaltung oder, besser, die Gleichgültigkeit gegenüber der irdischen Körperlichkeit, Affektivität und Emotionalität und die Erlangung reiner Geistigkeit zum Ziel hat. Das Ziel ist nur über Stufen erreichbar, bei denen leibliche und seelische Zustände eine bestimmte unverzichtbare Rolle spielen. Die Bedeutung, die diese als Hilfsmittel des Aufstiegs haben, zeigt sich daran, daß sie auf dem Weg zum samâdhi-Zustand unumgänglich sind. Es handelt sich um zwei Arten von Praktiken, zum einen um körperliche: bestimmte Sitzposen, Atemübungen wie Verlangsamung und Anhalten des Atems, Khecharı¯-Mudra, d. h das Zurückschlagen der Zunge in den Rachen u. ä., zum anderen um geistige Übungen: Fixationsübungen, wobei der Blick auf einen bestimmten Gegenstand oder Punkt, z. B. auf die Nasenspitze oder auf einen Gedanken gerichtet wird, Konzentrationsübungen, Mantrameditationen, unablässiges, monotones Hersagen an sich bedeutungsloser Silben wie om, hum, rem, ram, rum, pad, u. a. auch der bekannten lamaistischen Formel om mani padme hum. Alle diese Übungen dienen der Bemeisterung, und zwar nicht allein, wie Hermann Schmitz 274 meint und worauf er sein Augenmerk legt, der »Leibbemeisterung«, sondern auch der Bemeisterung der Gemütszustände, ja des gesamten menschlichen Lebens, um einen quasi übermenschlichen Zustand herzustellen, der von den indischen Schulen mit verschiedenen Namen belegt wird: mit moksa ˙ (Freiheit), nirvâna (Jenseits, welches Leere wie Fülle bedeutet), ˙ asamskrta, samâdhi (Aufhebung der normalen Bewußtseinsspaltung ˙ ˙ und Objekt) usw. Intendiert wird ein Übergang von der in Subjekt normalen, profanen, personalen Seinsweise zu einer schwer faßbaren und beschreibbaren nicht-profanen, transpersonalen. Nicht zufällig hat man den Übergang der yogischen Meditation auch mit Initiati274

Hermann Schmitz: System der Philosophie, a. a. O., Bd. 2.1, S. 189 u. ö. A

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onsriten verglichen, 275 bei denen es ebenfalls um die Neugeburt des Menschen geht. Mircea Eliade weist darauf, daß nach der brahmanischen Tradition der Initiierte geradezu als der »zweimal Geborene« 276 bezeichnet wird. Wie das theoretische Wissen des Westens Anspruch auf ein Herrschaftswissen macht und das praktische Wissen von Naturethnien in Form des eingeübten Vollzugs, des Könnens, ebenfalls eine Beherrschung der Sache, ein Herrschaftswissen, ist, so gilt dies auch von der Meditation, indem sie auf allen Ebenen eine Bemeisterung darstellt, die freilich auf ihrer höchsten Stufe nicht mehr als gewaltsam und zwanghaft empfunden wird, sondern als gelingendes Leben. Das Wissen dient hier dem Wohlbefinden und Glück des Menschen im Sinne der Glückseligkeit. Da das indische Yogasystem nicht nur eines der kompliziertesten und komplexesten ist, was man ohne weiteres zugeben wird, wenn man den Ausführungen von Eliade in seinem Buch Yoga folgt, sondern auch ein System der Totalbemeisterung auf leiblich-seelisch-geistiger Ebene, ist seine wirkliche Erfassung nicht auf abstrakt theoretischem Wege möglich, sondern nur über den realen Nachvollzug, der eine jahrelange, eventuell lebenslange Übung unter einem Meister verlangt, ohne daß die Garantie besteht, wirklich die höchste Stufe der Erleuchtung zu erreichen. Dieser Umstand erschwert nicht nur die Exposition des Systems, sondern macht ein begreifendes Verstehen letztlich unmöglich. Damit hängt zusammen, daß diejenigen, die als erleuchtet gelten, sich über diesen Zustand nur bildhaft, paradox oder in Paraphrasen zu äußern vermögen. 277 Das klassische indische Yogasystem geht auf Patañjali zurück und ist von diesem im Yoga-Sûtra niedergelegt. Patañjali ist jedoch 275 Vgl. Mircea Eliade: Yoga. Unsterblichkeit und Freiheit (Titel der Originalausgabe: Le Yoga, Paris 1936), aus dem Französischen übersetzt von Inge Köck, Frankfurt a. M. 1985, S. 14. 276 A. a. O. 277 Trotz dieses Vorbehaltes gibt es eine Reihe von Werken, die sowohl deskribierend wie praktizierend in das Yogasystem einzudringen versuchen, deren bekannteste die folgenden sind: Arthur Avalon: Die Schlangenkraft. Die Entfaltung der schöpferischen Kräfte im Menschen. Beschreibung und Untersuchung der sechs körperlichen Zentren in zwei Werken über Laya-Yoga, aus dem Sanskrit übersetzt und mit Einführung und Kommentar (Titel der Originalausgabe: The Serpent Power being the Sat-Cakra-Niru¯˙ ˙i. Obb. 1961, pana and Pa¯duka¯-Pañcaka), übersetzt von Gerhard Laqua, Weilheim 2. Aufl. 1971; Sigurd Lindquist: Die Methoden des Yoga, Lund 1932; Jakob Wilhelm Hauer: Der Yoga als Heilsweg nach den indischen Quellen, Stuttgart 1932; Sri Aurobindo: The Synthesis of Yoga, Pondicherry 1948; Mircea Eliade: Yoga, a. a. O.

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weder der Erfinder der Yogatechniken noch der Schöpfer der Yogaphilosophie, vielmehr hat er die seit alters bestehenden indischen Askese- und Meditationstechniken gesammelt und philosophisch durch die Sâmkhya-Philosophie untermauert 278 und damit ein ˙ umfassendes Werk geschaffen, in dem die Technikgruppen zugleich Stationen auf dem Wege zum höchsten Ziel darstellen. Das System umfaßt insgesamt acht Stufen: 1. Bezähmungen (yama), 2. Disziplinen (niyama), 3. Körperhaltungen (âsana), 4. Atemübungen (prânâyâma), 5. Emanzipation der Empfindung von der Herrschaft ˙der äußeren Objekte (pratyâhâra), 6. Konzentration (dhâranâ), 7. yogische Meditation (dhyâna) und 8. Erleuchtung (samâdhi),˙279 bei deren Darstellung ich Eliade folge. Die ersten beiden Gruppen sind nicht spezifisch yogisch, sondern stellen Präliminarien dar und können auch in jeder Ethik vorkommen. Die sogenannten ›Bezähmungen‹ – fünf an der Zahl: Verletzungs- bzw. Tötungsverbot, Lügenverbot, Verbot zu stehlen, sexuelle Enthaltsamkeit, Enthaltung von Habsucht – dienen der Reinigung des menschlichen Zustandes, indem sie egoistische Neigungen eliminieren. Denselben Zweck verfolgen die ›Disziplinen‹, die teils physischer, teils psychischer Art sind und auf Sauberkeit, Askese, Heiterkeit zielen sowie auf das Studium der Yogametaphysik und die Bemühung, Gott zum Motiv aller Handlungen zu machen. 280 Erst mit der dritten Gruppe, den Körperhaltungen, insbesondere den Sitzübungen wie dem Lotussitz, der die Aufrechtstellung des Oberkörpers und die Kreuzung der Beine vorsieht, beginnen die spezifischen Yogatechniken. Sie verfolgen die Absicht, den Körper auf sich selbst zu beziehen, ihn aus dem Kosmos auszugrenzen und ihm durch die in sich geschlossene Haltung Festigkeit zu verleihen. Das âsana beschreibt Eliade als eine Übung »auf ›körperlicher‹ Ebene, eine Konzentration auf einen einzigen Punkt; der Körper ist ›gespannt‹, in einer einzigen Stellung ›konzentriert‹. Wie die ekâgratâ dem Fluktuieren und der Zerstreuung der ›Bewußtseinszustände‹ ein Ende macht, so das âsana der Beweglichkeit und Verfügbarkeit des Körpers, indem es die unendliche Zahl möglicher Stellungen zu einer einzigen archetypalen, ikonographischen Positur reduziert.« 281

278 279 280 281

Vgl. Mircea Eliade: Yoga, a. a. O., S. 15. Vgl. a. a. O., S. 56. Vgl. a. a. O., S. 58. A. a. O., S. 62 f. A

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Einung und Totalisierung ist allen yogischen Techniken eigen, nicht nur denen auf körperlicher Ebene, sondern auch denen auf psychischer, indem auch hier gefordert wird, einen sogenannten ›psychischen Block‹, ein festes, einheitliches, in sich geschlossenes Kontinuum zu bilden, das nicht mehr durch die äußeren Fluktuationen und Zerstreuungen abgelenkt wird. Die Atemübungen, die Disziplinierung des gewöhnlich unregelmäßigen Atems durch ein langgezogenes Ein- und Ausatmen, dienen der Rhythmisierung und Verlangsamung und in deren Folge der Ruhigstellung aller organischen Tätigkeiten einschließlich der Gemütsbewegungen und Bewußtseinstätigkeiten. Intendiert wird der Rhythmus des Schlafenden, wobei vier Bewußtseinsmodalitäten unterschieden werden: 1. das Tagesbewußtsein, 2. das Traumbewußtsein, 3. der traumlose Tiefschlaf und 4. das kataleptische Bewußtsein. 282 Die Annahme scheint nicht abwegig zu sein, als solle durch die tiefe, langsame und stille Atmung der Winterschlaf der Tiere imitiert werden 283 oder der ruhige, in sich geschlossene, autonome und von außen undurchdringliche Kreislauf des Embryos. 284 Eliade vermutet, daß hier »die uralte Sehnsucht nach der Seligkeit und Spontaneität des Tieres« 285 durchbricht. Die nächste Stufe bedeutet den Rückzug der Sinne, der Empfindungstätigkeit und Gedächtnisassoziation von der Inanspruchnahme durch die äußeren Gegenstände, deren Fluß ablenkt und zerstreut. Pratyâhâra bedeutet Zurückziehung der Sinne oder Abstraktion 286 und meint den Zustand, in dem der Yogi nicht mehr durch die Macht, Faszination und Suggestion der äußeren Gegenstände abgelenkt und zerstreut wird, sondern sein Intellekt sich ohne Dazwischentreten der Sinnesempfindungen, autonom auf die Gegenstände bezieht. Es ist die letzte Stufe der physio-psychischen Askese. Alle diese Maßnahmen dienen der Stabilisierung der Körperund Gemütshaltung. Die Verlangsamung der Atmung, die Zurückziehung der Sinnesempfindungen, der Rückzug und die Konzentration auf sich, wodurch der Yogi einen Schutzwall gegen Eindrücke 282 Vgl. a. a. O., S. 64. Es ist bekannt, daß Fakire, die sich in tiefer Meditation befinden, sich für geraume Zeit lebendig begraben lassen können, ohne Schaden davonzutragen, da ihre Atmung auf ein Minimum reduziert ist. 283 Vgl. Mircea Eliade: Yoga, a. a. O., S. 70 f. 284 Vgl. a. a. O., S. 70 f., 76 f. 285 A. a. O., S. 71. 286 Vgl. a. a. O., S. 78.

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und Einflüsse von außen bildet, die Verengung des Bewußtseinsfeldes auf einen Punkt – dies alles wirkt zusammen, um den Yogi einer Pflanze ähnlich zu machen, 287 was für das indische Vorstellen nichts Negatives ist, da die vegetative Sphäre mit dem Aufbrechen neuer Keime, mit Fruchtbarkeit und Überfülle verbunden ist. Die indische Mythologie und Ikonographie hat mit der Lotusblüte und ihren in die Tiefe reichenden Wurzeln Symbole kosmischer Manifestation und Verankerung geschaffen. Auf der anderen Seite, so meint Eliade, ahmen Körperhaltung und psychische Verhaltensweise einen »göttlichen Archetypus«288 nach. Das archetypische Modell ist die Überschreitung der menschlichen Verfassung, die Befreiung und vollkommene Autonomie des freien Geistes. Erreicht wird sie insbesondere über die letzten drei miteinander zusammenhängenden Stufen. Zu dieser Gruppe gehört zum einen die Konzentration. Der indische Ausdruck dhâranâ, der auf die Wurzel dhr zurückgeht und ˙ ˙ ›zusammengedrückt halten‹ bedeutet, meint die Fixierung und Konzentration auf einen Punkt. Einziger Sinn und Zweck ist das Anhalten des psycho-mentalen Bewußtseinsstromes, das Zurückwerfen auf sich und das Ruhen in sich. Die yogische Meditation wird in Yoga-Sûtra III,2 ein »Strom geeinten Denkens« genannt, was nach dem Vorhergehenden verständlich ist und auf ein in sich geschlossenes Denken weist, bei dem der Geist es fertiggebracht hat, eine Zeitlang vor sich selbst als Meditationsgegenstand stehenzubleiben, also rein sich selbst zu reflektieren. Das letzte Glied, samâdhi, ist das angestrebte Ziel des Stufenweges, das wir mit Erleuchtung zu übersetzen pflegen und das einen Zustand der Bewußtseinserweiterung bezeichnet, der mit körperlicher Levitation, innerer Glückseligkeit und geistiger Helle, also mit Daseinserweiterung einhergeht. Es ist ein Zustand hellwachen, klaren, durchsichtigen, in keiner Weise getrübten Bewußtseins. Das indische Yogasystem differenziert auch hier noch samâdhi mit und ohne Stütze, wobei das erste unter Zuhilfenahme eines Objekts oder Gedankens geschieht, also einer Stütze bedarf, indem das Denken auf einen Punkt oder Gedanken geheftet ist. Das letztere ist durch den Entfall einer solchen Stütze charakterisiert. 287 288

Vgl. a. a. O., S. 76. A. a. O., S. 77. A

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Was die erste Form, samâdhi mit Stütze, betrifft, so unterscheiden Patañjali und seine Kommentatoren vier Stufen: 1. die argumentierende, 2. die nicht-argumentierende, 3. die reflektierende und 4. die überrationale. 289 Auf der ersten Stufe identifiziert sich das Denken mit seinem Meditationsobjekt in dessen ›wesentlicher Totalität‹, bestehend aus Sache, Wort und Begriff. Auf der nächsten Stufe werden worthafte und logisch-begriffliche Assoziationen hinfällig, das Denken beschäftigt sich, wenn das Objekt keinen Namen und keinen Sinn mehr hat, nur noch mit sich selbst; es hat das Objekt internalisiert. Eliminiert wurden aber nicht nur Wort und Begriff des Objekts, sondern auch das Ich des Subjekts. Der Bewußtseinsakt ist nicht mehr ein ›ich erkenne dieses Objekt‹ oder ›dieses Objekt gehört mir‹, sondern reines Selbstbewußtsein. Die dritte und vierte Stufe sind durch diese Überwindung der Subjekt-Objekt-Spaltung bzw. der Spaltung von Denken und Sein bestimmt, nicht mehr nur einer Einzelspaltung, sondern aller, dadurch daß durch Konzentrations- und Meditationsübungen eine Verschmelzung aller Seinsmodalitäten eingetreten ist. Das Denken ist nicht mehr durch den äußeren Anblick der materiellen Objekte bestimmt, sondern ist eingetaucht in das immaterielle Wesen derselben und hat sich dieses assimiliert. Was dem Universum, seiner Phänomenalität und Individualität zugrunde liegt, sind Energiekerne, die auf der dritten Stufe erkannt werden, doch noch begleitet sind vom Bewußtsein des Raumes und der Zeit, während die vierte Stufe auch davon abstrahiert. Für samâdhi ohne Stütze führt Patañjali aus, daß es zwei Wege zur Erreichung desselben gebe: den technischen, der durch die charakterisierten Stufen vorbereitet wird und für den Menschen vorgesehen ist, und den natürlichen, der nur göttlichen und übernatürlichen Wesen zukommt. Wie immer das höchste Ziel zustande kommt, sein Eintritt erfolgt spontan und unmittelbar. So falsch es ist, den Zustand der Erleuchtung bzw. der meditativen Weisheit als absolute Leere zu bezeichnen, weil er die Absenz aller Objekte bedeutet – paradoxerweise ist er vielmehr und genauso ein Zustand absoluter Fülle, nämlich der Identität von Bewußtsein und Sein –, so falsch wäre es, diese Selbsterfassung oder Besitzergreifung durch sich selbst mit dem Selbstbewußtsein in unserem westlichen Verständnis zu identifizieren, nämlich mit der rein theoretischen, von der Praxis abgelösten Selbstreflexion, da jene Selbst289

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Vgl. a. a. O., S. 90.

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erkenntnis über eine praktische Selbstbemeisterung erfolgt und, wie beschrieben wurde, eine integrale Form ist, noch dazu eine Bewußtseinserweiterung. Diese Selbsterkenntnis wird als Aufhebung der Subjekt-Objekt-Spaltung, überhaupt jeder Bewußtseinsspaltung interpretiert, bei der das Bewußtsein im Sein aufgeht und das Sein sich dem Bewußtsein assimiliert. Der Zustand kann nur noch paradoxal beschrieben werden, da er das normale Wissen transzendiert. Er ist Bewußtsein und Sein zugleich, Leere und Fülle, Sein und Nichtsein, Ganzes und Teil, Ewigkeit und Tod oder wie immer die Gegensätze lauten mögen. 290

290

Vgl. a. a. O., S. 104. A

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Schluß Dominanz des wissenschaftlichen Wissens?

Zum Schluß sei eine kritische Frage erlaubt. Wir haben eine Reihe von Wissensarten kennengelernt, die sich weniger einem historischen Überblick und gegenwärtigen Kulturenvergleich verdanken als vielmehr einer phänomenologischen Analyse menschlicher Möglichkeiten hier und jetzt. Alle diese Wissensarten stellen Grundmöglichkeiten des Menschseins dar, auch wenn die eine oder andere von ihnen zu gewissen Zeiten und an gewissen Orten und in bestimmten Kulturen eine besondere Ausprägung gefunden haben mag. Daß es sich bei allen Wissensarten um allgemeinmenschliche Phänomene handelt, beweist die Tatsache, daß wir alle diese Phänomene kennen und nachvollziehen können. Das gilt auch für die parapsychischen Bewußtseinszustände. Denn welcher einigermaßen sensible Mensch hätte nicht schon einmal eine Präkognition, eine dunkle Vorahnung eines zukünftigen Ereignisses oder eines gleichzeitig an einem entfernten Ort stattfindenden Vorgangs gehabt? Gleichwohl hat in unserem Kulturkreis eindeutig das intellektuelle, kognitive, wissenschaftliche Wissen eine Präferenz erlangt und ist zum Paradigma von Wissenschaftlichkeit und Wissen überhaupt avanciert. Zumindest gilt dies nach den Maßstäben unserer Kultur und Zivilisation, wenn auch in den Niederungen des Alltags weiterhin Instinkt, Emotionalität, Intuition, Gespür, Ahnung u. ä. weiterleben. Gemessen am kulturellen Maßstab sind instinktives und intuitives, emotional-situatives und -gestisches Wissen zu Irrationalitäten disqualifiziert worden. Und auch Traum, Weissagung, Hellsehen, Telepathie und andere parapsychische Phänomene werden trotz Einführung der Psychoanalyse durch Sigmund Freud und trotz wissenschaftlicher Entwicklung der Parapsychologie heute keineswegs generell als Wissensarten akzeptiert. Worauf ruht die Dominanz und Überlegenheit des wissenschaftlichen Wissens? Gibt es objektive Gründe, die über ein bloßes Glaubensdogma hinausgehen? Ist das intellektuelle, kognitive Wissen in irgendeiner Weise sicherer und verläßlicher als die übrigen Wissensarten? Diese Frage muß eindeutig negiert werden. Im Gegenteil, wegen 320

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seiner Abstraktheit und Abgelöstheit von der individuellen Erfahrungsdimension des Subjekts und nicht zuletzt wegen seiner formalen, objektiven Darstellbarkeit ist das wissenschaftliche Wissen weniger sicher als jedes subjektfundierte Wissen, und dies in zweierlei Hinsicht. Zum einen läßt die Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte einen historischen Wandel der Wissenschaftssysteme erkennen, einen Übergang vom traditionellen absoluten, geschlossenen System zum offenen, relativen Hypothesensystem bis hin zum Netzwerk in der Moderne, wobei eine Weiterentwicklung darüber hinaus nicht ausgeschlossen ist. Der Wandel dokumentiert eine Unabgeschlossenheit und Unsicherheit, ja eine Indefinitheit in formaler Hinsicht. Paul Feyerabend 1 hat die Geschichte unserer abendländischen Wissenschaft, besonders der Physik, den Übergang von der aristotelischen Naturphänomenologie zur newtonischen ›widernatürlichen‹ Mechanik, weiter zu den Feldtheorien, der Quantentheorie, der Relativitätstheorie, mit der Kunstgeschichte verglichen, von der ebenfalls weder behauptet werden kann, sie sei ein Fortschritt, noch, sie sei ein Rückschritt, was Feyerabend zu seinem Motto anything goes veranlaßte. Zum anderen zeigt die Entbindung des formalen wissenschaftlichen Wissens aus der individuellen, subjektiven Erfahrung, daß es auch in dieser Beziehung, nämlich was seine Verankerung betrifft, problematischer ist als jedes subjektfundierte Wissen. Da die individuelle, emotionale Bindung bei allen Wissensarten mit Ausnahme des intellektuellen, rationalen, wissenschaftlichen Wissens eine fundamentale Rolle spielt und tragend ist, sowohl beim situativen wie gestischen Verstehen, beim praktischen Können, bei Traum, Hellsehen, Telepathie, Besessenheit und Meditation, ist sie das Sicherste und Zuverlässigste. Wie bereits einleitend bemerkt wurde, hat Nelson Goodman in seinem Aufsatz Kunst und Erkenntnis 2 ausgeführt, daß es im täglichen Leben häufig lebenswichtiger und verläßlicher ist, bei der Beurteilung von Personen und Gegenständen sowie der Klassifikation von Sachverhalten sich von Gefühlen leiten zu lassen statt von Rationalität: wir fahren meist besser damit, wenn wir Geschick im Fürchten, Wollen, Trotzen und Mißtrauen gegenüber den

Paul Feyerabend: Irrwege der Vernunft (Titel der Originalausgabe: Farewell to reason, 1986), aus dem Amerikanischen von Jürgen Blasius, Frankfurt a. M. 1989, bes. S. 212 ff. 2 Nelson Goodman: Kunst und Erkenntnis, a. a. O., bes. S. 578. 1

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belebten oder unbelebten Dingen walten lassen, als wenn wir sie nach ihren rationalen Formen, Ausmaßen und Gewichten beurteilen. Jeder Firmenchef wird bestätigen, wenn er ehrlich ist, daß bei der Einstellung eines Kandidaten der allererste Eindruck entscheidet, wenn der Betreffende zur Tür hereinkommt, während die spätere rationale Begründung über Qualifikation oder Nicht-Qualifikation nachgeschoben ist. Ein weiterer Beweis ist die Tatsache, daß es nichts Sichereres und Bindenderes gibt als den Glauben. Für ihn opfern Menschen ihr Leben, während für die rationale Wissenschaft niemand bereit ist, sein Leben hinzugeben. Typisch hierfür ist die Auseinandersetzung Galileo Galileis mit dem Papst: Galilei fand sich schließlich bereit zu widerrufen, zumal er der Meinung war, daß sich sein heliozentrisches Weltbild von selbst durchsetzen werde allein aufgrund von dessen Evidenz und Überzeugungskraft. Nun behielt Galilei zwar mit seiner Meinung recht, daß sich die neuzeitlichen Naturwissenschaften und ihre Grundlagen durchsetzen würden, es bleibt jedoch zu bezweifeln, ob dies nur aufgrund ihrer Selbstevidenz und Überzeugungskraft und nicht vielmehr aufgrund von Überredung, Einflußnahme, Insinuation, Suggestion u. ä. geschah. Wir pflegen zu unterscheiden zwischen Überzeugung und Überredung, wobei der erste Begriff an rationale Einsicht, der zweite an Emotionalität appelliert. Beweise, daß wissenschaftliche Theorien sich nicht von selbst durchsetzen, weil sie nicht aus sich verständlich und überzeugend sind, gibt es genügend. Führte man einem Angehörigen eines anderen Kulturkreises, etwa eines Naturvolkes, einen für uns noch so überzeugenden mathematischen Beweis vor, so würde der Betreffende ihn nicht verstehen, weil ihm die Voraussetzungen für das Verständnis fehlten. Diese sind kultureller Art. Jede Kultur ist das Resultat eines gewissen Anpassungsprozesses an bestimmte geographische, klimatische, ethnische, religiöse Gegebenheiten, wobei auch die Sprachstruktur eine eminente Rolle spielt. Und diese Faktoren müssen durch einen Sozialisationsprozeß erlernt werden, durch Hineinwachsen in eine bestimmte Gesellschaft und ihre Denkart. Das gilt nicht nur für die Akzeptanz des wissenschaftlichen Wissensmodells, sondern auch für die Wandlungen desselben. Bei der Einführung der Quantentheorie mit ihrem Indeterminismus und der Auseinandersetzung mit dem Determinismus der klassischen Physik, wie er in Einsteins Bonmot ›Gott würfelt nicht‹ zum Ausdruck kommt, galt das geflügelte Wort, daß die ältere Generation erst aussterben müsse, bevor die neue Theorie sich 322

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durchsetzen könne. 3 Der Kampf der Quantentheorie gegen die klassische Physik glich mehr einem mit religiösem Eifer ausgetragenen Religionskampf als einer rationalen Überzeugungsarbeit. Nicht zu Unrecht hat Thomas S. Kuhn in seinem Werk The Structure of Scientific Revolutions die These vertreten, daß sich neue Paradigmen nicht so sehr durch ihre Vernünftigkeit, Einsichtigkeit und Selbstevidenz, also ihre rationale Überzeugungskraft, durchsetzen als vielmehr auf der Basis von Überredung, Propaganda, Suggestion, Zwang und Gewalt, nicht selten auch Krieg. Ihre Durchsetzung gleicht einem Bekehrungsvorgang. Auch die rationale Überzeugung wissenschaftlicher Thesen basiert letztlich auf suggestiv-emotionaler Überredung. 4 Dem könnte man die Ansicht entgegenstellen, daß sich die abendländische Wissenschaft global durchgesetzt habe, daß sie nicht nur Anspruch auf universelle Gültigkeit ihrer Gesetze erhebe, sondern auch global akzeptiert sei, wofür objektive Gründe ausschlaggebend gewesen sein müßten, etwa die Tatsache, daß die Naturwissenschaften so gut zur Natur paßten oder die menschlichen Bedürfnisse befriedigten. Sie seien optimale Anpassungen an biologische und kukturelle Gegebenheiten. Dem läßt sich jedoch das Argument entgegenhalten, daß auch andere Wissenschaftsmodelle und andere Wissensformen als das hierarchisch oder zentralistisch strukturierte abendländische Modell, wie etwa die topologische Listenmethode oder das Analogiedenken oder die Dialektik die Natur zu erklären vermögen 5 und Ordnungsgefüge schaffen, in denen der Mensch leben kann. Bei der Einführung der neuzeitlichen Naturwissenschaften in der Renaissance und beim Konkurrenzkampf mit dem bis dahin herrschenden, hochkomplizierten Analogiedenken waren Simplifizierungs- und Reduktionsgründe auf reine Quantitäten ausschlaggebend für die Durchsetzung, auch wenn man heute mehr und mehr die Defizite des wissenschaftlichen Denkens und des auf ihm basierenden Weltbildes erkennt. Die Meinung, alle Probleme des menschlichen Lebens durch Quantifizierungsmaßnahmen und durch Vgl. dazu Max Plancks resignierende Feststellung, daß neue wissenschaftliche Erkenntnisse sich nicht in der Weise durchsetzen, daß die Gegner überzeugt werden, sondern dadurch, daß die Gegner allmählich aussterben. Vgl. Wolfgang Stegmüller: Strömungen der Gegenwartsphilosophie. Eine kritische Einführung, Bd. 3, Stuttgart 1986, S. 301. 4 Vgl. Wolfgang Stegmüller: Strömungen der Gegenwartsphilosophie, a. a. O., S. 299 ff. 5 Vgl. Karen Gloy: Vernunft und das Andere der Vernunft, a. a. O., S. 44 ff. 3

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Reduktion auf objektive Formalien lösen zu können, hat sich als Irrtum erwiesen, ebenso zeigt die materialistische Tendenz dieses Weltbildes die Defizite in Sachen Spiritualität, Vergeistigung, Verinnerlichung u. ä., welche andere Kulturen wie die indische und fernöstliche gepflegt und ausgebildet haben, so daß man heute Anleihen bei diesen macht. Wie für jedes rationale Wissenschaftsmodell gilt, daß seine Akzeptanz selbst auf irrationalen Momenten, auf Glauben, emotionaler Sympathie, Suggestion basiert, so trifft dies auch für das europäische Wissenschaftsmodell und seine Rationalität zu. Kein Wissen, selbst das formalste und intersubjektivste, kann sich einer individuell subjektiven, emotionalen Fundierung entziehen.

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Personenverzeichnis

Absalom 66 Achenbaum, W. Andrew 93, 94 Achiqar 58, 80 Adanson 232 Addison, Joseph 16, 163 Aesop 43, 74 Agur 58 Ahithophel 66 Albright, William Foxwell 58 Amasis 73 Amenemhet I. 41, 45 Amenemope 40, 41, 45, 52, 58, 68, 77, 79 Anch-Scheschonki 41, 52 Ani 41, 50 Anthes, Rudolf 60 Antisthenes 197, 216 Ardelt, Monika 94, 97 Aristipp 197 Aristoteles 21, 81–85, 87, 123, 195, 199, 212, 217, 221, 224, 242, 246 Arndt, Hans-Werner 241 Aserinsky, Eugene 263 Asser 275 Augur 41 Avalon, Arthur 314 Axiopistos 42 Azam 297 Bachmann, Manuel 291 Baier, Kurt 121 Baltes, Margret M. 97 Baltes, Paul B. 90, 91, 97 Balthasar 104 Barone, Paul 160, 163 Bassenge, Friedrich 162 Baudrillard, Jean 18, 19 Bauer, Eberhard 285 Baumann, Max Peter 183 Baumgartner, Walter 46, 58, 65, 80

Baumgartner, Hans Michael 253 Becker, Oskar 27 Beland, Hermann 265 Bender, Hans 274, 285 Benhadad 274 Benjamin 275 Bergant, Dianne 42 Besterman, Theodore 284 Biemel, Walter 23 Bilz, Rudolf 159 Bittner, Rüdiger 253 Blasius, Jürgen 321 Blumenberg, Hans 138 Bodmer, Johann Jakob 161 Bohm, David 269 Böhme, Gernot 118, 287 Böhme, Jakob 287, 312 Boileau-Despréaux, Nicolas 160 Boisacq, Émile 194 Bollnow, Otto Friedrich 122 Bolzano, Bernard 248 Bonaventura 304 Brandl, Rudolf Maria 183 Breitinger, Johann Jakob 161 Bremberger, Bernhard 183 Brentano, Franz 115 Briggs, John 269 Brod, Max 267 Brouwer, Luitzen Egbertus Jan 237 Bruder Klaus 185 Brugmann, Karl 79 Brunner, Hellmut 40 Buddecke, Eckhard 137 Buddha 308 Buffon, Georges-Louis Leclerc de 232 Burke, Edmund 162–164, 166 Buss, Ernst 183 Butterfield, Herbert 10

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Personenverzeichnis Calvat, Mélanie 300 Candolle, Augustin Pyramus de 232 Cannon, Walter B. 111 Carius, Carl 269 Cavel, Stanley 103 Celsus 261 Chadwick, Henry 72 Chagall, Marc 266 Chares 42, 74 Charmides 81, 197 Cheti 41 Chiron 42, 74 Christian, Paul 168 Chubaib b. ’Adî 276 Crick, Francis 268 Cusanus, Nicolaus (Nikolaus von Kues) 192, 193

Erikson, Joan M. 96 Euklid 235

Dan 275 Deleuze, Gilles 244, 245 Demokrit 212 Dennis, John 161–163 Derrida, Jacques 22 Descartes, René 5, 115–118, 142, 212, 249 Dessoir, Max 260, 296, 298 Diels, Hermann 81 Diemer, Alwin 239, 240, 242, 247 Diogenes Laertius 72 Dittrich, Adolf 254 Djedefhor 41, 45 Döll, Stephanie 183 Dondelinger, Patrick 300 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 304 Driesch, Hans 274, 280, 284, 289, 290 Dupré, Dietlind 193 Dupré, Wilhelm 193 Dux, Günter 124, 125, 269, 270

Gad 275 Gabriel, Leo 193 Galilei, Galileo 179, 249, 322 Gallus, hl. 185 Gauss, Hermann 220 Gebser, Jean 179 Georg, hl. 269 Gese, Hartmut 42, 68, 87 Gheorghiu, Vladimir Aristo 255 Giel, Klaus 85 Giliarewskij, Rudzhero Sergeevich 10 Giraud, Maximin 300 Gladigow, Burkhard 82–84, 86 Glam 153 Gloy, Karen 12, 27, 53, 81, 103, 179, 181, 239, 250, 266, 267, 290, 291, 310, 323 Goethe, Johann Wolfgang 145, 148 Goodman, Nelson 23, 321 Goody, Jack, R. 13, 16 Goosens, Jan 29 Göpfert, Herbert G. 142 Gottschaldt, Kurt 256 Grettir 153 Grimm 170 Grimmelshausen, Hans Jakob Christoph von 61 Guattari, Félix 244, 245 Gutenberg, Johannes 14 Gyalu Yulna 308

Ekkehard 36 Eliade, Mircea 301, 305, 307, 314–317 Elisa 274 Elter, Anton 72 Empedokles 86, 135, 197 Epiktet 43 Epikur 43, 73 Erikson, Erik H. 96

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Ferber, Rafael 227 Feyerabend, Paul 321 Fichtner, Johannes 57 Fliessbach, Holger 103 Flitner, Andreas 85 Foucault, Michel 232 Freidank 43 Freud, Sigmund 265, 268, 320 Freund, Alexandra M. 90 Fricke, Gerhard 142 Fried, Johannes 11, 13, 20, 179 Friedrich, Caspar David 156 Frisch, Kurt von 126, 128 Frobenius, Leo 181

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Personenverzeichnis Haas, Renate 168 Haidt, Jonathan 91 Haimo 34 Halifax, Joan 301 Harrington, Daniel J. 42 Hasael 274 Hator 265 Hauer, Jakob Wilhelm 314 Heidegger, Martin 117, 118, 120, 121, 175, 176, 187, 188, 220 Heidel, William Arthur 81 Heinrich Frauenlob (Heinrich von Meißen) 43 Heisenberg, Werner 101 Hempel, Carl Gustav 242 Hempel, Charlotte 42 Henrich, Dieter 23 Heraklit 81, 100, 199 Herger 43 Hermans, Gertrud 29 Herrmann, Paul 153 Hesekiel 274, 281, 282 Hesse, Gisela 257 Hilbert, David 236 Hiley, Basil J. 269 Hilgard, Ernst R. 266 Hiob 41, 42, 65 Hirschfeld, Christian Cay Lorenz 143 Hitler, Adolf 169 Hoerberger, Felix 183 Hofmann, Johann Baptist 194 Hölscher, Gustav 261, 276, 281–283, 311 Homer 13, 83, 85, 199, 270 Hooker, Edward Niles 162 Horna, Konstantin 43, 72 Hübner, Kurt 52 Humboldt, Wilhelm von 84, 85 Husai 66 Husserl, Edmund 22, 23, 155, 197, 249 Ignatius von Loyola 312 Imdahl, Max 159 Isaschar 275 Iser, Wolfgang 23 Isesi 44, 54 Isokrates 42, 74

Jansen, Dorothea 245 Jeremia 58, 274, 281, 283 Jesaia 69, 281 Jesus Christus 185, 186 Jilek, Wolfgang George 254 Johannes 185 Johannes von Stoboi 43 Juda 275 Jung, Carl Gustav 269 Kafka, Franz 267 Kafka, Peter 269 Kagemni 41, 45, 47, 76, 78 Kailer, Thomas 20, 179 Kälble, Karl 270 Kant, Immanuel 21, 101, 117, 123, 134, 164, 165, 166, 193, 201, 202, 221, 235, 237, 252, 253 Kaspar 104 Kather, Regine 118 Keckermann, Bartholomäus 240 Keyes, Corey L. M. 91 Kiesel, B. 270 Kleitarchos 43 Kleitmann, Nathaniel 263 Kleobulos 42, 73, 75, 78 Knecht, Sigrid 256 Koch, Klaus 100 Köck, Inge 314 Köppen, Ulrich 232 Kramer, Deidre A. 93 Kranz, Walther 81 Krings, Hermann 253 Kroll, Wilhelm 43 Küchler, Max 42, 58, 72, 75, 77, 78 Kuhl, Julius 97 Kunzmann, Ute 90, 94 Kurzawa, Lothar 19 Lactantius, Lucius Coelius Firmianus 192 Lamarck, Jean-Baptiste de 232 Lambert, Johann Heinrich 240, 241 Lamuel 41, 58 Lange, Armin 42 Laubmann, Georgius 192 Leibniz, Gottfried Wilhelm 10, 134, 221, 238

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Personenverzeichnis Leisegang, Hans 184, 232 Lee, Anthony van der 29 Lersch, Philipp 122, 256 Levi 275 Levi-Strauss, Claude 111 Levy-Brühl, Lucien 109 Lexer, Matthias 29 Lichtenberger, Hermann 42 Lichtheim, Miriam 41 Lindauer, Martin 126 Lindquist, Sigurd 314 Lienert, Meinrad 183 Linné, Carl von 232 Lippe, Rudolf zur 119, 253, 287 Lipps, Theodor 142 Lloyd, Geoffrey 11 Löffler, Georg 137 Lohmann, Johannes 83 Longinos 160–162, 164 Lorenz, Konrad 125, 128 Lorenzen, Paul 193 Lucadou, Walter von 285 Lüning, Jens 179, 180 Luther, Martin 15 Lyas, Colin 103 Lycurgus 73 Lyotard, Jean-François 167, 168, 243 Malewitsch, Kasimir 158 Marc Aurel 40 Marcovich, Miroslav 73 Margites 83 Maria 185, 186 Marschall, Wolfgang 294 Marx, Karl 101 Masar Gyalmo 307 Maturana, Humberto R. 130 Maximus Confessor 43 Meister Eckhart 312 Melchior 104 Melnechuk, Theodore 268 Menandros 43, 75 Menon 148 Merchand, Carolyn 103 Merikare 41, 45 Mesmer, Franz Anton 279 Meßmer, J. 270 Mikhailow, Aleksandr Ivanovich 10

340

Mironov, Nikolai Dmitrievich 302 Mitchison, Graeme 268 Mohr, Karl 142 Moll, Albert 260, 265 Müller, Josef 183 Munch, Edvard 287 Munk, Katharina 137 Mussolini, Benito 169 Naphtali 275 Naumann, Hans 111 Nebukadnezar 273 Negt, Oskar 101 Newman, Barnett 158, 159 Newton, Isaac 134, 135, 289 Notker 33, 35, 37 Novalis (Georg Philipp Friedrich von Hardenberg) 265 Numa 73 Ofterdingen, Heinrich von 265 Okeanos 199 Ophelia 304 Orwoll, Lucinda 93 Osiris 265 Otfried 33, 37 Padmasambhava 308, 310 Paldan Lhamo 307–310 Parmenides 22, 121, 197, 205–207 Parzival 32, 34–36 Patañjali 314, 318 Paulsen, Wolfgang 304 Pauly 43 Peat, F. David 269 Pedersen, Johannes 100 Pelatja 282 Perrin, Bernadotte 73 Pétrequin, Anne-Marie 179 Pétrequin, Pierre 179 Pfeiffer, Robert H. 58 Pfeiffer, Wolfgang Maximilian 294 Pflanz, Manfred 168, 171, 172 Phaidon 40, 148, 216, 222, 224 Philo 76 Platon 13, 14, 21, 40, 73, 74, 82, 84–86, 121, 192, 195, 197, 199, 200, 202,

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Personenverzeichnis 203, 205, 206, 209, 215–219, 221– 225, 227–230, 233–235, 242, 249 Plotin 312 Plutarch 72, 73 Polikarov, Asari 10 Pratt, J. Gaither 284 Pries, Christine 159, 161 Protagoras 198, 203, 204 Ptahhotep 5, 40, 41, 44, 45, 49, 50, 53– 58, 76–79, 86 Publicola 73 Pythagoras 43, 73 Rad, Gerhard von 67–70, 281 Rapp, Friedrich 10 Rehdorf, Friedrich Wilhelm 172 Rehmke, Johannes 115 Reichmann, Oskar 29 Reinhard, Kurt 183 Renner, Eduard 182, 183 Révész, Géza 132 Rheinberger, Hans-Jörg 22 Rhine, Joseph B. 274, 279, 284 Richter, Curt P. 111 Ricke, Gabriele 244 Roberts 129 Robins, Gay 42, 72 Rohde, Hedwig 150 Rölleke, Heinz 170 Romulus 73 Rorty, Richard 246, 247, 252 Rösch, Günther 244 Rösing, Ina 89–92, 91, 92, 94–97, 303, 307, 310 Roth, Gerhard 115 Rowley, Harold Henry 58 Ruben 275 Ryan, Alan 103 Ryle, Gilbert 121, 141, 144, 189, 190 Sacharja 271, 281 Salomo 41, 59 Sander, Friedrich 256 Sanders, Willy 29 Santayana, George 115 Sartre, Jean-Paul 155–158 Schaefer, Volker 19 Scharfetter, Christian 254

Scheidweiler, Felix 30 Scheidt, Jürgen vom 263 Scheler, Max 121 Schiller, Friedrich 142, 160, 163 Schmidt, Johann Hermann Heinrich 194 Schmidt, P. Wilhelm 304 Schmidt, Raymund 21 Schmitt, Herbert 155 Schmitz, Hermann 27, 118–122, 130– 133, 141, 142, 150, 151, 154, 169, 172, 262, 287, 291, 304, 313 Schulte, Joachim 246 Schultz, Johannes Heinrich 171 Schulz, Gerhard 265 Schüz, Ernst 129 Schwietering, Julius 30 Sebulon 275 Seebold, Elmar 29 Seligmann, Siegfried 151 Seuse, Heinrich 312 Sextus 43 Shirokogorov, Sergei Mikhailovich 302, 304 Shute, Charles Cameron Donald 42, 72 Silva-Tarouca, Amadeo 221 Simeon 275 Snell, Bruno 83–86, 89 Solla Price, Derek John de 10 Solon 42, 57, 73, 75 Soubirous, Bernadette 300 Spijk, Piet van 137 Sri Aurobindo 314 Staehelin, Martin 183 Stalin, Josef 169 Staudinger, Ursula M. 90, 91 Steele, Richard 16 Stein, Alois von der 240 Stein, Charlotte von 148 Sternberg, Robert J. 92–94 Stobaeus, Johann 81 Stokvis, Berthold 171 Stork, Heinrich 191 Strauch, Inge 285 Straus, Erwin 171 Streller, Justus 157 Ströker, Elisabeth 27

A

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Personenverzeichnis

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Strube, Werner 162 Stubenrauch, Herbert 142 Sullivan, Nancy 110 Süßmann, Johannes 11, 13

Uellenberg, Gisela 257 Uexküll, Jakob von 125 Ullman, Montague 269 Uta 36

Tart, Charles T. 254, 257, 259 Tauler, Johann 312 Taylor, Charles 103 Timpler, Clemens 240 Tethys 199 Thales 42, 72, 73, 75 Theaitet 6, 86, 194, 195, 199, 201–203, 205, 207–210, 213, 216, 220, 222, 223, 227, 242 Theodorus 210, 213 Theognis 42, 75, 86 Theophrast 197 Theseus 73 Thomae, Hans 256 Thomas von Aquin 221 Timaios 73, 192, 222, 223, 228, 249 Tinbergen, Nikolaas 125, 174 Toni, St. 185 Tournefort, Joseph Pitton de 232 Trier, Jost 29–33, 88 Trumbull, George 263 Tschernyj, Arkadij Ivanovich 10 Tsering Chednga 308

Vaitl, Dieter 256 Vorländer, Kurt 21 Vouillié, Ronald 244 Walther von der Vogelweide 61 Weizsäcker, Carl Friedrich von 101 Welsch, Wolfgang 167 Wendelin, St. 185 Whitehead, Alfred North 134 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von 83 Wild, Christoph 253 Wissona, Georg 43 Wittgenstein, Ludwig 242, 243 Wolff, Christian 240 Wolfram von Eschenbach 32, 35, 36 Xango 292 Zelle, Carsten 161 Zimmerli, Walther 40, 60, 62 Zischler, Hanns 22 Zutt, Jürg 294

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Sachverzeichnis

Abgrund 156–158 Abstraktion 27, 98, 123, 167 aemulatio 266, 291 Ahnung 149, 273, 278, 320 Allbewegung 198, 199, 205, 206 Allgemeinheit 24, 39, 47, 178, 194, 250, 253, 289 Antipathie 290 ars 33–35, 87, 235 Atmosphäre 140–142, 144–146 Atom 134 Audition 255 Aufwachen 260 Aura 300 Axiomatik 235–238, 249 Begründung 27, 30, 179, 195, 202, 208, 215, 216, 227, 238, 240, 242, 322 Bemeisterung 307, 313, 314 Besessenheit 24, 25, 258, 259, 292, 294, 296, 298, 303–305, 307, 310, 321 Betruf 183, 185, 186 Bewegung 137, 140, 150, 156, 158, 162, 165, 174, 199–201, 205, 206, 249, 262 Bewußtsein 23, 32, 51, 59, 94, 112, 116, 119, 133, 136, 155, 157, 161, 173, 201, 254, 255, 258, 260, 266, 267, 268, 292, 294, 296, 299, 302, 306, 310, 311, 313, 316, 318, 319 –, Individualbewußtsein 112 –, Kollektivbewußtsein 111, 112, 260 Bewußtseinsdissoziation 259, 260, 306 Blick 149–153, 156, 158, 159, 163, 169, 188, 192, 262, 286, 292, 313 –, böser 151 CD-Rom 17 Chokma 41, 58, 60, 63, 64

convenientia 266 Dämon 292, 307 Deduktion 21, 216, 225 Definition 25, 91, 93, 119, 123, 193, 195, 196, 200, 202, 207, 215, 217, 218, 220, 222, 225, 227, 229, 230, 233, 234, 239, 242, 243, 245 –, Nominaldefinition 25 –, Realdefinition 25 Denken 12, 25, 52, 53, 64, 66, 82, 90, 93, 94, 109, 110, 119, 182, 184, 185, 189, 206, 216, 218, 244, 248, 268, 270, 273, 291, 309, 312, 313, 317, 318 Drama 110, 311 Dualismus 22, 106, 115, 117, 118, 121, 139, 209 –, anthropologischer 115 –, metaphysischer 115 Einbildungskraft 21, 84, 165, 166 Einheit 24, 34, 36, 64, 80, 82, 85, 88, 99, 100, 103, 106, 107, 113, 117, 120, 122, 133, 137–139, 144, 149, 155, 158, 164, 167, 172, 187, 193, 197, 207, 217, 223, 229, 238, 239, 243, 246, 252, 290, 305, 308 Einschlafen 256 E-Mail 17 Empfindung 121, 142, 196, 211, 257, 278, 297, 299, 315 Entspannung 311, 312 ¥pistffimh (epistéme) 194, 196, 198 Erhabenes 159–162, 165, 167 Erinnerung 13, 14, 56, 149, 203, 212, 213, 255, 259, 263, 268, 297 Erkenntnis 22–24, 52, 71, 83, 84, 94, 115, 139, 144, 146, 155, 176, 187, 188, 190–196, 198, 201–207, 209, A

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Sachverzeichnis 214–216, 218, 220–222, 226, 227, 235, 238, 241, 246–248, 251, 259, 268, 280, 287, 321 Erkenntnistheorie 142, 198, 209, 211, 212, 242 Erkenntnisvorgang 154 Erklärung 171, 210, 211, 213, 215– 218, 222, 228, 242, 277, 286, 289 Ethik 39, 76, 81, 83, 85, 88, 92, 101, 102, 121, 315 Eurozentrismus 24, 253 Faszination 133, 154–156, 159, 161, 167, 168, 170–172, 178, 259, 291, 298, 306, 316 Feld 221[tab] –, emotionales 290 –, physikalisches 289, 290 –, psychisches 289 –, seelisches 286 Fernsehen 19, 255 Fernwirkung 154 Florilegium 72, 81 Freude 46, 57, 113, 119, 139, 141, 143, 145, 152, 162 Funktion 20, 73, 74, 111, 128, 129, 142, 159, 182, 183, 275, 267, 270, 272, 301 Ganzes 12, 71, 217, 319 Gedächtnis 10, 13, 14, 137, 245, 255, 297 Gedanke 239, 249, 270, 312 Gefühl 21, 93, 121, 132, 137, 141, 142, 146, 163, 164, 167, 168 –, intentionales 146, 154, 173 Gegenstand 122, 146, 149, 154, 155, 157, 159, 163, 167, 171, 178, 201, 202, 205, 206, 209, 212, 213, 218, 219, 226, 228, 245, 262, 264, 313 Gegenwart 86, 119, 143, 149, 170, 179, 193, 202, 242, 250, 269, 270 Geist 32, 107, 172, 186, 189, 193, 292, 294, 295, 307, 309, 313, 317 genus proximum per differentiam specificam 21, 219, 224 Gespür 286, 320 Gestimmtheit 118

344

Globalität 253 Glück 52, 81, 145, 271, 314 Gnomen 42, 43, 72–75, 78, 79, 267 Gnomendichtung 43, 72, 74, 75 Gnomenliteratur 42, 43 Guttat 63, 64, 70 Halluzination 201, 255 Handlung 51, 63, 70, 82, 93, 151, 173, 177, 182 Heil 45, 63, 64, 70, 276 Heilung 106–108, 112, 113, 303, 307, 311 Heilungsséance 106, 307, 311 Hellsehen 26, 277, 279, 280, 286, 289, 290, 320, 321 Herrschaftswissen 108, 177, 314 Hochstimmung 140 Hypermnesie 255 Hyperästhesie 286 Hypnose 133, 255, 259, 263, 298, 306 Hypothese 206, 225 Hypothetik 225, 240 Ich-Bewußtsein 173, 306 Information 136, 253, 295 Initiation 109, 303, 305 Inkommensurabilität 253 Instinkt 247, 250, 320 Interpersonalität 93 Intuition 145, 237, 320 Kalkül 238, 239 Kardiognosie 280 Klassifikation 10, 21, 23, 235, 239, 251, 257, 258, 321 Klugheit 11, 31, 39, 56, 69, 88 know how 26, 32, 34, 37, 87, 88, 123, 173, 177, 181, 184, 193, 196, 254 know that 26 know what 26 Körper 36, 107, 116–121, 142, 143, 148, 164, 172, 259, 260, 286, 292, 305, 306, 313, 315 Kognition 24, 25, 93, 98, 194 Kommunikabilität 194, 250 Konstitution 27, 196 Konstitutionsstufe 26

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Sachverzeichnis Konstruktion 94, 106, 192, 193, 235, 237, 249 Konstruktivismus 193 Kraft 94, 103, 106, 108, 113, 150, 158, 161, 168, 169, 184, 185, 200, 261, 270, 274–276, 295, 298 Kriegskunst 32 Kriterium 20, 90, 201, 218, 220, 232 Kulturabhängigkeit 252 Kulturkreis 23, 145, 156, 320 Kulturrelativismus 252, 253 Kunst 23, 30, 34–37, 42, 72, 78, 84, 87, 151, 156, 159, 160, 173, 179, 231, 234, 312, 321 Leben 10, 11, 19, 22, 23, 37, 40, 44, 45, 47, 48, 50, 52, 57, 58, 60–66, 69, 71, 79–82, 90, 103, 126, 137, 150, 151, 153, 157, 158, 260, 263, 265, 275, 277, 281, 283, 287, 295, 296, 298, 300, 305, 311–314, 321, 322 Lebensklugheit 41, 48, 70, 88 Lebenspraxis 39, 47, 92 Lebensvollzug 11, 92 Lebenswelt 22, 23, 138, 249 Lehrsituation 74 Leiblichkeit 27, 36, 119, 120, 313 Lernsituation 247 Liebe 14, 62, 65, 135, 147, 148, 160, 259, 290 List 29, 30, 32–36, 88, 179 –, Arglist 33 –, Kriegslist 32 Logik 9, 33, 124, 125, 207, 219, 221, 235, 237–239, 248, 249, 264 Logos 138, 216–220, 225, 228 Maat 48, 51, 52, 56, 63, 79, 81 Magie 33–35, 108, 110, 111, 179, 183, 333 –, schwarze 110 –, weiße 110 Magier 86, 104, 275 Magnetismus 130, 279 Mathematik 12, 196, 201, 207, 213, 225, 235–238, 249 Meditation 24, 26, 113, 255, 256, 258, 259, 311–317, 321

Meinung 22, 134, 142, 195, 205, 207, 209, 210, 214–216, 218, 220, 221, 225, 235, 237, 247, 254, 322, 323 Methode 9, 89, 98, 107, 128, 179, 218, 225, 235–242, 257 –, axiomatische 235 –, mathematische 235–237 Mittel-Zweck-Relation 176, 178, 189 Modell 9, 25, 90, 92–95, 191, 192, 200, 210, 216, 226, 236, 237, 239, 317, 323 Morphologie 26, 27 Mystik 153, 312 Mythologie 87, 138, 183, 265, 266, 317 Mythos 13, 25, 52, 138, 269 Nahwirkung 292 Netzwerk 243, 245, 246, 249, 321 Notwendigkeit 10, 24, 44, 45, 47, 51, 169, 194, 203, 223, 225, 250 Objekt 24, 103, 108, 117, 118, 122, 125, 132, 133, 139, 141, 142, 144, 146, 147, 150, 151, 153–155, 158, 170–173, 177, 178, 205, 211, 231, 236, 244, 250, 289, 291, 311, 313, 318, 319 Objektbewußtsein 171, 259 Operationalismus 193 Organ 112, 286 Palingenesis(lehre) 148 Paradigma 25, 27, 86, 135, 175, 176, 244, 246, 310, 320 Parapsychologie 274, 277, 279, 280, 283–285, 289, 290, 320 Phänomen 40, 110, 112, 152, 156, 196, 170, 205, 260, 262, 273, 292, 296, 304, 311 Präsentation 110, 248, 311 Praktisch-Ethisches 99, 113, 114 Praktisch-Handwerkliches 99, 113, 114 Praxis 34, 37, 47, 64, 87–89, 99, 101, 103, 113, 175, 177, 187, 189, 190, 192–194, 247, 250, 269, 318 Prophet 86, 271, 274, 282

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Sachverzeichnis Prophetie 24, 26, 255, 258, 279–281, 301 Psi-Forschung 283 Psychoanalyse 113, 268, 272, 320 Rationalität 14, 64, 79, 160, 264, 312, 321, 324 Reflexion 21, 90, 108, 158 Regeln 33, 45, 47, 50, 51, 57, 63, 87, 93, 173, 175, 178, 190, 191, 193, 211, 253 –, Klugheitsregeln 43 –, Lebensregeln 47, 59, 60, 74 Reiz-Reaktions-Schema 117, 129, 130 Relation 108, 118, 122, 165, 176, 178, 189, 198, 238, 264 Relativismus 91, 95, 195, 199, 201 Religion 156, 265 Repräsentation 110, 182, 311 Rhizom 243–245 Ritual 108, 181–184 samâdhi 313, 315, 317, 318 Schamane 104, 111, 287, 302, 305, 306 Schamanismus 255, 258, 301, 302, 305, 307, 311 Schauder 19, 158, 169 Schlaf 109, 124, 256, 262, 263 Schönes 81, 164, 166 Schrift 11, 12, 14, 15, 160, 197, 198 –, Bilderschrift 11 –, Keilschrift 11 –, Symbolschrift 11 Schwindel 156, 157, 264 scientia 34, 35, 194, 242 Sein 156, 157, 160, 182, 198, 199, 206, 207, 210, 212, 215, 222, 223, 226, 318, 319 Sinnenwelt 22, 235 Situation 13, 140, 141, 144, 146, 151, 157, 159, 167, 198, 209, 216, 220, 259, 271, 273, 282, 286, 298 Sogwirkung 153, 156, 158, 159 soy@ (sophós) 79, 81, 84–86, 88 soyffla (sophía) 40, 79, 80, 82–86, 88, 89, 196

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Spannung 121, 172, 251, 289, 309, 311 Spezifikation 10, 21, 25, 227, 235, 239 Spiritualität 24, 94, 324 Stimmung 26, 27, 32, 117, 137, 140, 141, 142, 144–146, 173, 178, 250 –, feierliche 140 –, gehobene 140 –, sonntägliche 140 Strahlentheorie 286 Struktur 11, 12, 24, 40, 60, 62, 74, 86, 94, 101, 117, 139, 178, 186, 189, 194, 207, 212, 222–224, 232, 235–237, 243, 245, 250, 257, 258 Strukturierung 23, 26, 223 Strukturiertheit 9 Suggestion 133, 154, 168, 169, 170, 171, 172, 178, 259, 274, 276, 283, 291, 298, 302, 306, 316, 322–324 Sympathie 290, 324 Subjekt 24, 38, 108, 117, 118, 122, 132, 133, 135, 139, 141–145, 147, 153– 155, 158, 159, 163, 166, 169–172, 177, 178, 198, 206, 208, 218, 244, 250, 289, 291, 311, 313, 318, 319 Subjekt-Objekt-Spaltung 154, 318, 319 System 64, 90, 93, 94, 99, 105, 118, 134, 181, 189, 193, 222, 223, 225– 229, 231, 234, 235, 239–241, 243, 246, 249, 253, 254, 257, 262, 314, 315, 321 –, absolutes 239 –, deduktives 239, 240 –, explizites 227 –, geschlossenes 229, 321 –, hierarchisches 25, 245 –, offenes 99 Systematik 21, 25, 91, 233, 236, 239, 240, 242, 252 Systembegriff 221–223 Systemgrund 227 Systemtheorie 239 Teil 144, 145, 169, 178, 229, 252, 299, 319 Teilung 77, 137 Telepathie 255, 258, 259, 277, 280, 286, 289, 290, 320, 321

ALBER PHILOSOPHIE

Karen Gloy https://doi.org/10.5771/9783495997178 .

Sachverzeichnis Theorie 22, 34, 37, 47, 64, 83, 88, 99, 101, 103, 115, 116, 141–143, 164, 166, 187, 192, 193, 197, 201, 210, 259, 260, 269, 274, 291, 322 Tiefschlaf 119, 316 Tiefstimmung 139 Trance 255, 258, 259, 261–263, 284, 292, 294, 295, 298, 302, 303, 305, 307, 310 Trancezustand 305 Transkulturalität 252 Transpersonalität 93, 94 Trauer 113, 119, 139, 168, 274 Traum 24, 26, 122, 123, 149, 201, 255, 258, 260, 263–268, 270–272, 274, 277, 320, 321 Traumgedächtnis 268 Traumzyklus 271 Unheil 63, 64, 70, 75, 183, 185, 276, 283, 308 Universalität 95, 252, 253 Untat 63, 64, 70 Vergangenheit 54, 87, 148, 202, 203, 269, 270, 279 Vergeistigung 324 Verhexung 111 Vernunft 12, 21, 39, 51, 83, 139, 165, 166, 171, 193, 226, 232, 258, 260, 261, 267, 281, 321 Verstand 21, 31, 32, 37, 39, 78, 83, 113, 171, 193, 207, 208, 297, 304 Verstehen 24, 32, 35, 113, 118, 139, 144, 149, 154, 170, 192, 194, 249, 287, 314 –, gestisches 24, 113, 146, 170, 321 Vielheit 197, 200, 207, 223, 238, 239, 290 Vision 130, 186, 255, 278, 282 Voodoo (Vodu) 111 Wachen 268, 297 Wahrheit 19, 55, 77, 81, 146, 198, 199, 201, 202, 204, 205, 209, 215, 226, 241, 251, 252, 261, 298, 300 Wahrnehmung 130, 133, 154, 170, 172, 173, 195–198, 201, 203, 205–

207, 209–213, 227, 257, 258, 261, 284 Wahrsagung 255, 258, 272, 274–277 Weisheit 25, 30, 36–42, 71, 79, 81, 84, 86, 89–94, 96–98, 281, 312, 318 Weisheitsbegriff 38–40 –, antiker 40, 41 –, moderner 89 Weisheitslehre 40, 52, 54, 63, 67–69, 70–72, 74, 85 Weissagung 24, 258, 272, 274–277, 281–283, 301, 320 Weltbild 46, 48, 180, 322 Werbung 170 Wetterfühligkeit 289 Widerspruch 49, 133, 145, 203, 227 Wissen 9–14, 16, 18–21, 24, 27, 29, 31, 32, 37, 39, 46, 50, 53, 57, 81, 88–91, 93, 94, 97–104, 106, 108, 110, 113, 123, 133, 136, 137, 154, 173, 175, 177–179, 181, 187–197, 199, 202– 204, 209, 210, 214, 215, 247, 248, 250, 254, 257, 258, 260, 267, 268, 272, 275, 278, 280, 281, 301, 306, 307, 314, 319–321, 324 –, emotionales 123, 306 –, gestisches 21, 178, 254 –, instinktives 21, 24, 123, 133 –, intuitives 21, 278 –, magisch-mythisches 24, 104, 110 –, modifiziertes 24, 259–262 –, paranormales 277, 286 –, parapsychisches 277 –, praktisches 21, 80, 81, 123, 173, 175, 177, 178, 188, 260, 306, 314 –, situatives 21, 320 –, theoretisches 26, 110, 175, 177, 178, 187, 192, 193, 247, 248, 250, 260, 307, 314 –, transpersonales 311, 313 –, wissenschaftliches 24, 25, 29, 39, 89, 91, 98, 100, 194, 247, 320, 321 Wissensart 20, 21, 24, 25, 87, 106, 173, 254, 257, 259–262, 268, 286, 320, 321 Wissensbegriff 9, 20, 21, 64, 123, 124, 195 Wissensdefinition 194

A

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Sachverzeichnis Wissenschaften 22, 23, 33, 36–38, 125, 174, 174, 196, 235, 240, 249–251, 277 Wissenschaftlichkeit 195, 253, 258, 290, 320 Wissenschaftskonzeption 239, 240 Wissenschaftstheorie 219, 239, 321 Wissenschaftsgeschichte 239, 250, 321 Wissensrevolution 11, 16, 19 Witz 29–32, 36 Yoga 113, 255, 256, 258, 259, 311, 312, 314–317

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Zauberei 33, 35, 103, 104, 179 Zauberer 104, 111, 151, 275 Zeit 10, 17, 19, 20, 27, 36, 42, 43, 46, 50, 53, 54, 57, 59, 61, 64, 66, 70, 72– 74, 78, 85, 87, 117, 118, 154, 175, 184, 187, 191, 195, 198, 200, 209, 230, 231, 249, 250, 259, 263, 264, 266, 267, 269, 270, 276, 283, 289, 297, 300, 305, 308, 310, 316, 318 Zelle 135–137, 290 Zellkern 120, 136 Zeug 176, 261, 293 Zuhandenheit 188 Zukunft 40, 49, 86, 87, 148, 157, 191, 202–204, 269, 270, 272, 276, 279, 281, 283

ALBER PHILOSOPHIE

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