Genealogie der Selbstführung: Zur Historizität von Selbsttechnologien in Lebensratgebern 9783839446379

A perspective on regimes of genesis of the idealization of the subject, informed by the theory of governementality.

202 77 22MB

German Pages 482 Year 2019

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Inhalt
Einführung
Kapitel 1: Die 1920er Jahre
Kapitel 1: Die 1920er Jahre
Kapitel 2: Die 1960er/1970er Jahre
Kapitel 2: Die 1960er/1970er Jahre
Kapitel 3: Die 1990er/2000er Jahre
Kapitel 3: Die 1990er/2000er Jahre
Die Lebensratgeber und die Krise der Subjektivität im 20. Jahrhundert. Eine Genealogie der Selbstführung
Quellen- und Literaturverzeichnis
Danksagung
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Genealogie der Selbstführung: Zur Historizität von Selbsttechnologien in Lebensratgebern
 9783839446379

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Stefan Senne, Alexander Hesse Genealogie der Selbstführung

Praktiken der Subjektivierung  | Band 15

Editorial Poststrukturalismus und Praxistheorien haben die cartesianische Universalie eines sich selbst reflektierenden Subjekts aufgelöst. Das Subjekt gilt nicht länger als autonomes Zentrum der Initiative, sondern wird in seiner jeweiligen sozialen Identität als Diskurseffekt oder Produkt sozialer Praktiken analysiert. Dieser Zugang hat sich als außerordentlich produktiv für kritische Kultur- und Gesellschaftsanalysen erwiesen. Der analytische Wert der Kategorie der Subjektivierung besteht darin, verwandte Konzepte der Individuierung, Disziplinierung oder der Habitualisierung zu ergänzen, indem sie andere Momente der Selbst-Bildung in den Blick rückt. So verstehen sich die Analysen des DFG-Graduiertenkollegs »Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive« als Beiträge zur Entwicklung eines revidierten Subjektverständnisses. Sie tragen zentralen Dimensionen der Subjektivität wie Handlungsfähigkeit und Reflexionsvermögen Rechnung, ohne hinter die Einsicht in die Geschichtlichkeit und die Gesellschaftlichkeit des Subjekts zurückzufallen. Auf diese Weise soll ein vertieftes Verständnis des Wechselspiels von doing subject und doing culture in verschiedenen Zeit-Räumen entstehen. Die Reihe wird herausgegeben von Thomas Alkemeyer, Gunilla Budde, Thomas Etzemüller, Dagmar Freist, Rudolf Holbach, Johann Kreuzer, Sabine Kyora, Gesa Lindemann, Ulrike Link-Wieczorek, Norbert Ricken, Reinhard Schulz und Silke Wenk.

Post-structuralism and practice theories have shaken the Cartesian universal notion of the self-reflecting subject to its core. No longer is the subject viewed as the autonomous point of origin for initiative, but rather is analysed in the context of its respective social identity constructed by discourse and produced by social practices. This perspective has proven itself to be of exceptional utility for cultural and social analysis. The analytical value of the ensuing concept of subjectivation is the potential of supplementing related terms such as individualisation, disciplinary power, or habitualization by bringing new aspects of self-making to the fore. In this context, the analyses of the DFG Research Training Group »Self-Making. Practices of Subjectivation in Historical and Interdisciplinary Perspective« aim to contribute to the development of a revised understanding of the subject. They still take the fundamental dimensions of subjectivity such as agency and reflexivity into account, but do not overlook or lose sight of the historicity and sociality of the subject. Thus, the ultimate aim is to reach a deeper understanding of the interplay of doing subject and doing culture in various spaces of (and in) time.

Stefan Senne (Dr. phil.) studierte Sozialpsychologie und Soziologie an der Leibniz Universität Hannover. Er promovierte am DFG-Graduiertenkolleg »Selbst-Bildungen« an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Poststrukturalismus und Subjektivierungspraktiken. Er lebt in Hannover. Alexander Hesse (Dr. phil.) studierte Philosophie, evangelische Theologie und Psychologie an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, am Tamilnadu Theological Seminary in Madurai und an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er promovierte am DFG-Graduiertenkolleg »Selbst-Bildungen« an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Seine Schwerpunkte sind Subjektphilosophie und Gesellschaftstheorie. Er lebt in Berlin.

Stefan Senne, Alexander Hesse

Genealogie der Selbstführung Zur Historizität von Selbsttechnologien in Lebensratgebern

Die vorliegende Arbeit wurde von der Fakultät IV – Human- und Gesellschaftswissenschaften – der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg als Gemeinschaftsdissertation zur Erlangung des Grades der Doktorwürde (Dr. phil.) für Stefan Senne und Alexander Hesse angenommen. Gefördert und gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fritz-Thyssen-Stiftung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abruf bar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4637-5 PDF-ISBN 978-3-8394-4637-9 https://doi.org/10.14361/9783839446379 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt EINFÜHRUNG Eine neue Art, sich selbst zu führen | 17 1.1 Die Aktualität der Selbstführung | 18 1.2 Eine Geschichte der Lebensratgeber als Teil einer Genealogie der Gegenwart | 20 1

2

Genealogien der Subjektivierung. Forschungsstand und -desiderat | 23

2.1 Genealogien der Subjektivierung | 24 2.2 Untersuchungen zur Lebensratgeberliteratur | 29 2.3 Forschungsdesiderat | 34 3

Auf dem Weg zu einer Genealogie der Selbstführung. Hintergrund und Methodik | 35

3.1 Anleitungen zur Selbstführung: Lebensratgeber als Untersuchungsgegenstand | 35 3.2 Der Gang durch die Bibliotheken: Erstellung unseres Quellenkorpus | 36 3.3 Drei Epochen der Selbstführung: Periodisierung der Ratgeber | 37 3.4 Eine gouvernementalitätstheoretische Forschungsoptik für Lebensratgeber | 39 4

Zur Modernität der Selbstführung | 51

4.1 4.2 4.3 4.4 4.5

Stoa | 52 Christliche Askese | 57 Anstands- und Manierenbücher | 60 Lebensratgeberliteratur | 62 Zusammenfassung | 65

KAPITEL 1: DIE 1920ER JAHRE A) DAS REGIME DER SELBSTFÜHRUNG Die Geburt der Lebensratgeber | 71 1.1 Herkünfte: Wie die Lebensführung zum Genre wurde | 71 1.2 Gedankliche Strenge: das frühe Erscheinungsbild | 75 1.3 Die Ästhetik des Apodiktischen: das Autor/in-Leser/in-Verhältnis der frühen Lebensratgeber | 78 1

Das Subjekt im Zweifrontenkrieg | 83 2.1 Die Düsternis des Daseinskampfes: die Welt als Wille und Verfall | 83 2.2 Der Geist als Schlachtfeld | 89 2.3 Das wiedergewonnene Selbst | 97 2

3

Die Techniken des Willens | 99

Das Übungsregime der frühen Lebensratgeber: der Schulungsweg | 99 Die Kraft des Willens: Steigerungstechniken | 103 Die Ausbreitung des Willens | 109 Der Wille als Wächter – Techniken zur Bekämpfung innerer Feinde | 115 Von der Technik zur Lebensführung – reflexive Techniken der Willensschulen | 117 3.6 Soziale Magie – Techniken für den Umgang mit anderen | 122 3.7 Zusammenfassung | 126

3.1 3.2 3.3 3.4 3.5

4

Nebenpfade. Drei Gegenentwürfe zur Selbstführung der Willensschulen 129

4.1 4.2 4.3 4.4

Übung in Demut: die Selbsterziehungsratgeber | 129 Die Rechnung geht auf: Selbstrationalisierung als Lebensführung | 130 Ein Moment der Ruhe: Die indirekte Selbstführung | 133 Zusammenfassung | 136

Teleologie des Subjektes | 137 5.1 Die Realfiktion der frühen Lebensratgeber: das verpanzerte Herrschersubjekt | 137 5.2 Versprechungen | 139 5

6

Analytische Zusammenschau . Innere Dynamik und Machtaspekte der ersten Epoche der Selbstführung | 145

6.1 Widersprüche und Oszillationsfiguren | 145 6.2 Achsen der Gouvernementalität: Subjektentwürfe und Machtverhältnisse in der ersten Epoche | 153

KAPITEL 1: DIE 1920ER JAHRE B) HISTORISCHE PERSPEKTIVE AUF DAS SELBSTFÜHRUNGSREGIME DER 1920ER JAHRE 1

Taumelnde Moderne: Die zeitgeschichtliche Situierung der frühen Lebensratgeber | 161

Rekonstruktion zeitspezifischer Wissensformationen | 171 2.1 Willenspsychologie | 172 2.2 Thermodynamik, Erschöpfungsforschung und Überbürdungsfrage | 174

2

2.3 Sozialdarwinismus, Soziallamarckismus und Degenerationslehren | 177 2.4 Lebensreformbewegung | 179 2.5 Zusammenfassung: Liberale Strukturdynamik und Disziplinierung – Selbstführung zwischen Krisenbewusstsein und Optimismus | 181 3

Rekonstruktion zeitspezifischer Diskurse in Anstalten der Menschenführung. Von Arbeiter/innenkörpern und der Selbstregierung der Schüler/innen | 183

3.1 Die Eliminierung des subjektiven Faktors: das innerbetriebliche Ordnungsdenken | 183 3.2 Die Schüler/in als Objekt von Subjektivierungsstrategien? | 187 3.3 Zusammenfassung | 192 Schluss. Auf dem Weg zu einer Genealogie der Gegenwart | 195

KAPITEL 2: DIE 1960ER/1970ER JAHRE A) DAS REGIME DER SELBSTFÜHRUNG 1

Einleitung . Die Modernisierung der Lebensratgeber in den 1960er und 1970er Jahren | 201

1.1 Professionalisierung ohne Profession | 202 1.2 Ein Medium kommt zu sich | 205 1.3 Die Blüte deutscher Gründlichkeit und frischer Wind vom Atlantik: die Neuausrichtung der Selbstführung in den 1960er und 1970er Jahren | 206 2

Die Problematisierung der gestörten Natur . Das Subjekt zwischen Anpassung und Eigensinn | 209

2.1 2.2 2.3 2.4

Von der fehlenden zur falschen Selbstführung | 209 Der Vorrang der Objektwelt oder: das Subjekt ohne Gewicht | 211 Die anderen als Problem der Selbstführung | 218 Zusammenfassung | 219

3

Auf der Suche nach dem verlorenen Selbst . Techniken der zweiten Epoche der Lebensratgeberliteratur | 221

3.1 Das Entfaltungsprogramm als neues Übungsregime | 221 3.2 Im Dienste der Selbstentfaltung: das Feld der Techniken in der zweiten Epoche | 223 3.3 Die Verzweigung der Kontrolle: Metatechniken in der zweiten Lebensratgebergeneration | 246 3.4 Zusammenfassung | 247

3.5 Drei Wege zum Selbst-Sein: Selbstrationalisierung, kybernetische Steuerung und radikaler Individualismus | 248 3.6 Zusammenfassung | 253 4

Entfaltete Individualität . Die Teleologie der 1960er und 1970er Jahre | 255

4.1 Äußere Gestalt oder Realfiktion der Teleologie: Das authentische Individuum | 255 4.2 Innere Struktur der Teleologie | 259 4.3 Zusammenfassung | 263 5

Analytische Zusammenschau . Innere Dynamik und Machtaspekte der zweiten Epoche der Selbstführung | 265

5.1 Widersprüche und Oszillationsfiguren | 265 5.2 Achsen der Gouvernementalität: Subjektentwürfe und Machtverhältnisse in der zweiten Epoche | 269

KAPITEL 2: DIE 1960ER/1970ER JAHRE B) HISTORISCHE PERSPEKTIVEN AUF DAS SELBSTFÜHRUNGSREGIME DER 1960ER UND 1970ER JAHRE 1

Die Krise und die Durchsetzung von gesellschaftlichen Individualisierungsprozessen. Die zeitgeschichtliche Situierung der 1960er und 1970er Jahre | 277

2

Rekonstruktion zeitspezifischer Wissensformationen | 283

2.1 Kybernetik: die Antwort auf alle möglichen Fragen | 283 2.2 Der Psychoboom: Urknall eines neuen Universums | 286 2.4 Zusammenfassung | 294 3

Rekonstruktion zeitspezifischer Diskurse in Anstalten der Menschenführung. Betrieb und Schule im Fokus von Subjektivierungspraktiken | 295

3.1 Die Subjektivierung der Vorgesetzten: Mobilisierung subjektimmanenter Potenziale in der Betriebssphäre | 296 3.2 Die Schule als Ort expansiver Subjektivierung oder: die Einkreisung der Schüler/in | 301 3.3 Zusammenfassung | 305 Schluss . Auf dem Weg zu einer Genealogie der Gegenwart | 307

KAPITEL 3: DIE 1990ER/2000ER JAHRE A) DAS REGIME DER SELBSTFÜHRUNG 1

Aktivierung der Eigenverantwortung . Die Lebensratgeber der dritten Epoche | 311

1.1 Die Emotionalisierung der Oberfläche | 311 1.2 Die aktuellen Lebensratgeber aus soziologisch-ökonomischer Perspektive | 314 1.3 Das Buch als Baukasten für souveräne Subjekte | 316 1.4 Das Projekt Selbst zwischen Emotionalisierung und Ökonomisierung: Tendenzen im Feld der Lebensratgeber der 1990er Jahre | 318 2

Das Risiko der Sicherheit und die flexiblen Freiheiten | 321

2.1 2.2 2.3 2.4

Ein goldenes Zeitalter? | 321 Die Erziehung als Abstoßungspunkt | 327 Die Umwertung aller Krisen. Grenzenlose Freiheiten | 328 Zusammenfassung | 333

3

Reflexion der Selbstführung . Die Techniken der 1990er und 2000er Jahre | 335

3.1 Arbeit an sich | 336 3.2 Netztechniken | 349 3.3 Zuhören, Managen, Aktivieren: das neue Regime der Sozialtechniken der dritten Epoche | 356 3.4 Zusammenfassung | 359 3.5 Fünf Wege der Eigenverantwortung und Selbstoptimierung | 360 3.6 Zusammenfassung | 363 4

Selbstaktualisierung als Lebensmanagement . Die Diskrepanzteleologie der 1990er | 365

4.1 Abschiede vom Altbekannten | 366 4.2 Die Entstehung der Diskrepanzteleologie | 367 4.3 Sicherheitsliebende Angestellte und unbegrenzte Alleskönner: Antisubjekte der dritten Epoche | 372 4.4 Versprechungen | 373 4.5 Zusammenfassung | 374 5

Analytische Zusammenschau. Innere Dynamik und Machtaspekte der dritten Epoche der Selbstführung | 377

5.1 Oszillationsfiguren | 377 5.2 Achsen der Gouvernementalität: zeitgenössische Subjektentwürfe und Machtverhältnisse | 383

KAPITEL 3: DIE 1990ER/2000ER JAHRE B) HISTORISCHE PERSPEKTIVEN AUF DAS SELBSTFÜHRUNGSREGIME DER 1990ER JAHRE 1

Zeitgeschichtliche Situierung der 1990er Jahre – Die neoliberale Transformation . Zur Heraufkunft einer neuen gouvernementalen Regierungsweise | 391

2

Die Rekonstruktion zeitspezifischer Wissensformationen | 395

2.1 Die Neurologie der Gesellschaft | 395 2.2 Emotionale Intelligenz: fühlende Gehirne | 398 2.3 Selbstökonomisierung | 400 3

Rekonstruktion zeitspezifischer Diskurse in Anstalten der Menschenführung | 405

3.1 Verflüssigte Hierarchien – Schule und Betrieb als Orte marktnaher Selbstführung | 405 3.2 Die emanzipierten Angestellten | 406 3.3 Die Schüler/innen als Projektemacher/innen | 409 3.4 Zusammenfassung | 414 Rückblick . Der Siegeszug der Subjektivierung | 417

DIE LEBENSRATGEBER UND DIE KRISE DER SUBJEKTIVITÄT IM 20. JAHRHUNDERT. EINE GENEALOGIE DER SELBSTFÜHRUNG 1

Einleitung | 421

2

Mikrostruktur der Selbstführung . Krise der Subjekte | 423

2.1 Einleitung | 423 2.2 Zwischen Untergang und Chance: die von den Ratgebern thematisierte Krise | 424 2.3 Die Mikrostrukturen der Krise aus genealogischer Perspektive | 428 3

Selbstführung als Problem der Menschenführung. Selbstführungsdiskurs und institutioneller Diskurs im Vergleich | 439

3.1 Betrieb und Schule ohne Subjekte | 440 3.2 Konvergenz des Problemraums | 442 3.3 Durchdringungen | 444

Fall und Aufstieg des Selbst in der Selbstführung | 449 4.1 Der Fall: Entkernung des Subjekts | 451 4.2 Der Aufstieg: ein Netz unbegrenzter Selbst- und Menschenführung | 454 4.3 Schluss | 459 4

Quellen- und Literaturverzeichnis | 461 Danksagung | 479

Einführung

1

Eine neue Art, sich selbst zu führen

Wir befassen uns in dieser Arbeit mit Selbstführung. Wir werden dafür argumentieren, dass Selbstführung zu einer zentralen Kategorie des Selbstverständnisses und Selbstverhältnisses im 20. Jahrhundert für Menschen in den westlichen Industrienationen, namentlich für den deutschsprachigen Raum, mit dem wir uns befassen, wird. Dabei ist unser Ansatz von Michel Foucaults Forschungen zur Gouvernementalität geprägt. Gerade in diesen seinen späten Arbeiten analysiert Foucault gesellschaftliche Verhältnisse daraufhin, wie eine alte, von Disziplin, Strafe und Zwang angetriebene gesellschaftliche Konstellation abgelöst wird durch eine, in derer die Rolle und Rechte der Einzelnen mit ihren Freiheiten und persönlichen Eigenschaften in den Fokus des wissenschaftlichen Interesses wie auch der politischen Rationalität rücken. Dies bedeutet nicht eine Verminderung, wohl aber eine Verwandlung der Herrschaft. In diesem Kontext taucht Selbstführung in Abgrenzung zu, aber auch in Wechselwirkung mit Fremdführung auf. Den Verlauf, den die Thematisierung der Selbstführung genommen hat, kann man nicht aus der Untersuchung der großen Institutionen oder aus bloßen wissenschaftlichen oder literarischen Darstellungen herleiten. Darin würde ihr zu wenig Raum gegeben. Sie würde im ersten Falle nur als Abgeleitetes, im zweiten Falle nur als Objekt von Diskursen aufgefasst werden. Diese Arbeit hat hingegen die Aufgabe, die positiven Formen von Selbstführungsregimen, die sich im 20. Jahrhundert entwickeln, in ihrer Besonderheit zu untersuchen. Dabei haben wir uns für die Untersuchung von Lebensratgebern entschieden und zwar aus zwei Gründen: Erstens, so werden wir belegen, fungieren Lebensratgebertexte als Verdichtungen des Diskurses über Selbstführung. An ihnen lassen sich gesellschaftliche Fragestellungen und Antwortmöglichkeiten, Problematisierungen und Versprechungen ablesen. Sie sind ein Genre, das sich genau dem widmet, was die von Foucault thematisierte Veränderung fordert: nämlich der Führung des eigenen Lebens auf selbstbestimmte Weise, mit keinem anderen Ziel, als eben dieses Leben gut zu führen. Zweitens bieten Lebensratgeber konkrete Anleitungen in Form von Übungen. Sie bieten Techniken, die auf alltäglicher Basis praktiziert werden können, um das Verhältnis zu sich selbst und in der Konsequenz zum ganzen Leben gelungener zu gestalten. Wir werden zeigen, dass diese Techniken keine losen Zusammenstellungen sind, sondern ausgearbeitete und konzentrierte strategische Arrangements, die auf ein Idealbild gelungenen Selbstverhältnisses, auf ein teleologisches Subjekt zielen. Wir wollen zeigen, dass die Selbstführung sowohl einen starken Aufstieg als auch einen großen Wandel im 20. Jahrhundert vollzogen hat. Hierfür analysieren wir drei von uns als wesentlich bestimmte Abschnitte und vergleichen sie in Form einer Ge-

18

| Genealogie der Selbstführung

nealogie. Die folgenden drei großen Kapitel widmen sich jeweils einem Zeitabschnitt, das letzte ist der genealogische Vergleich. In diesem ersten Kapitel führen wir zunächst in die Thematik der Selbstführung und der Lebensratgeber ein. Im Anschluss stellen wir den Forschungsstand vor und klären das von uns festgehaltene Forschungsdesiderat. Dann entwickeln wir unsere Methodik und beschreiben, wie wir bei der Analyse vorgehen. Schließlich grenzen wir das, was wir moderne Selbstführung nennen, von anderen historischen Figuren ab und schärfen daran den Blick für die analysierten Texte.

1.1 DIE AKTUALITÄT DER SELBSTFÜHRUNG Sich selbst zu führen, ist in aller Munde und nicht nur Gegenstand spezialisierter Diskurse oder Thema für das Genre der Lebensratgeber. Heute beschäftigen sich Personalmanager/innen, Schulleiter/innen, Ärzt/innen, Psycholog/innen, Pädagog/innen für delinquente Jugendliche oder Arbeitslosen-Selbsthilfe-Initiativen mit der Frage, wie Menschen sich in die Lage setzen können, ihre Handlungsfähigkeit zu vergrößern oder wiederherzustellen, ihre Kräfte zu steigern, sich vor gesundheitlichen Risiken, Stress, Depressionen oder Burnout zu schützen, ihre Arbeitskraft verkäuflicher zu machen, sich Genuss zu verschaffen oder einfach ihren Alltag besser zu bewältigen. Die Thematisierung einer zeitgemäßen Führung seiner selbst und der anderen breitet sich in vielen gesellschaftlichen Bereichen aus – auch und besonders da, wo es auf den ersten Blick unerwartet scheinen mag. So nehmen beispielsweise Offizier/innen der Bundeswehr im Rahmen eines Weiterbildungskonzeptes für militärische Führungskräfte an einem Training teil, das durch externe Berater/innen, aktive oder ehemaligen Soldat/innen, angeleitet wird.1 Ziel ist es dabei, das Führungsverhalten an situativ und strukturell variierende Bedingungen und Erfordernisse anzupassen, vor dem Hintergrund vermehrter globaler Kriegseinsätze, vergleichsweise großer Fluktuationen des Personals in militärischen Einheiten und der erst jüngst entstandenen Notwendigkeit, den Soldat/innenberuf für Nachwuchs attraktiv zu machen. 2 Auch innerhalb einer zunehmend präventiv ausgerichteten Medizin spielt die Aktivierung der Patient/innen für bestimmte therapeutische Zwecke eine immer größere Rolle. Vor allem bei chronischen Erkrankungen wie Asthma oder Diabetes werden die Betroffenen durch speziell geschulte Haus- bzw. Fachärzt/innen in die Pflicht ge-

1

2

Sauer, Walter et al. (2004): Führungsbegleitung in militärischen Organisationen. Konzept und erste Effekte in der Praxis. In: Personalführung: Das Fachmagazin für Personalverantwortliche (11); 44-51; 44f. In mehrwöchigen Trainings werden die Soldat/innen sowohl innerhalb kleinerer Gruppen am Zentrum „Innere Führung“ geschult als auch „on the job“, also innerhalb des laufenden Dienstbetriebs, um sofort Möglichkeiten zur Implementierung der Selbsttechniken und wenn nötig des korrigierenden Eingreifens von außen zu schaffen. Schwerpunktmäßig können Zeit- und Selbstmanagementtechniken, Stressbewältigung mittels progressiver Muskelentspannung, emotional-empathische Gesprächsführung oder beispielsweise interkulturelle Kompetenzen erlernt werden.

Einführung

| 19

nommen, selbstregulativ auf sich einzuwirken.3 Die verabredeten Maßnahmen sollen das Einverständnis der Patient/innen in die medikamentöse Therapie erhöhen, das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten stärken und erweist sich zudem als „eine kosteneffiziente Maßnahme“.4 Als Vorbild vieler aktueller Selbstführungsstrategien und -techniken, die in den verschiedenartigen Bereichen der Gesellschaft Anwendung finden, dient nicht zuletzt das Personalmanagement in den Unternehmen. Dort wurde bereits frühzeitig eine Praxis der Führungskräfteentwicklung angewendet, die auf Selbstmobilisierung und strategische Selbstführung setzt.5 Neuere Verfahren, das „Führungskräftepotenzial“ festzustellen, haben die Selbstführungsstrategien von Mitarbeiter/innen so weit ins Zentrum gestellt, dass sie die traditionellen unternehmerischen Machtverhältnisse umzukehren scheinen.6 Maßgeblich für einen Aufstieg innerhalb der Unternehmenshierarchien ist nicht mehr allein, inwiefern die Kandidaten einem positiv formulierten Anforderungsprofil des Unternehmens entsprechen, sondern inwiefern die Subjekte ihr Verhältnis zu sich selbst fruchtbar für ein unternehmerisches Handlungsfeld machen können.7 So unterschiedlich die Anwendungsfelder und Lebenslagen auch sein mögen, ihnen gemeinsam ist, dass sich der betreffende Mensch in einer kalkulierten, strategisch angelegten und technisch angeleiteten Art und Weise des Selbstzugriffs übt. Diese moderne Form der Subjektivierung geht jedoch weit über die unternehmerische Sphäre, die medizinischen, staatlichen oder privaten Einrichtungen und Institutionen hinaus. Denn die Selbstführung hat gerade jene Bereiche erobert, die fernab eines verfahrensförmigen Eingreifens zu liegen scheinen: den Alltag und das Privatleben: Dazu zählen die Freizeit, der Schlaf, die Ernährung, die körperliche und „geis3

4 5 6 7

In der Asthmabehandlung werden die Patient/innen zunehmend zur Selbstwachsamkeit angeleitet, die sich mittels medizinischer Beobachtungskategorien vollziehen soll. In Form eines schriftlich ausgefertigten „Aktionsplans“, der die Dosierungen und täglichen Inhalationen sowie – in vereinfachter Form – ein „Peak-Flow“-Phasenmodell mit Anweisungen enthält, soll die schnelle Selbstbehandlung im Falle einer sich verschlechternden Symptomatik sichergestellt werden. Der Plan, der als Tagebuch angelegt ist, fordert den Patienten auf, seine körperliche Verfassung mittels eines medizinisch geschulten Blicks fortdauernd zu überwachen, zu interpretieren, in einem schriftlichen Reflexionsprozess kontrollierbar zu machen und notfalls entsprechend einzugreifen. Streurer-Stey (2008): Die Rolle des Selbstmanagements bei Asthma. In: Therapeutische Umschau, 173. Vgl. Sauer et al. (2004), 45. Vgl. Borlinghaus, Ralf; Siebert, Lutz (2010): Strategisches Selbstmanagement. In: 2010 – Jahrbuch Personalentwicklung, 359-367; 362f. Trainiert werden daher die Selbstreflexivität, „biografische Arbeit“, die Entwicklung einer klaren Zielvorstellung für das Berufs- wie Privatleben sowie einer überzeugenden Persönlichkeit mittels Übungsaufgaben, Feedbackgesprächen, einer schriftbasierten Analyse der eigenen „Unternehmenspotenziale“ (SWOT-Analyse), mehrstündiger Coachings und auch der Erstellung eines individuellen Businessplans. Den Führungskräften soll durch diese Selbstführungstrainings zur einer innerlichen Klärung und Fokussierung verholfen werden, um sie als Unternehmer/innen in eigener Sache zur Dienstleister/in sowohl an Kund/innen, als auch am Unternehmen zu machen.

20

| Genealogie der Selbstführung

tige Hygiene“, die Tageseinteilung, die Schaffenskraft und der künstlerische Selbstausdruck sowie die sozialen Beziehungen. Das Resultat ist, dass es natürlich erscheint, die Zukunft als eine über Zeit- und Aufgabenpläne verfügbar zu machende Materie anzusehen. Auch anderen Feedback zu geben oder ein Brainstorming durchzuführen, fügt sich nahtlos in Gruppenprozesse, Paartherapien und Betriebsabläufe ein. Und sich vor einer wichtigen Angelegenheit positive Gedanken einzugeben, erscheint in der Regel gar nicht als eine spezifische Technik mit einer eigenen Geschichte. Selbstverständlich scheint es hingegen, dass – ob es um beruflichen Stress, private Probleme oder das alltägliche Multitasking geht –, wer keine Entspannungstechniken wie autogenes Training oder kassenfinanzierte Atemschulung nutzt, langfristig sein produktives Subjektsein riskiert. Kaum ein Aspekt des Lebens ist ausgenommen. Dabei verhält sich das Subjekt der Selbstführung in einer Weise zu sich selbst, die ihm nicht freigestellt ist, sondern sich innerhalb eines gouvernementalen Gefüges vollzieht, das auf dem Wechselverhältnis von Fremd- und Selbstregierung basiert. Diese realisiert sich konkret über ein historisch spezifisches Register von Techniken und Strategien. Obgleich wir uns heute mit einem breiten, unverbindlichen Angebot zur Selbstführung mittels Techniken konfrontiert sehen, aus dem wir scheinbar frei für das Berufs- und Privatleben auswählen, verhalten sich die Techniken nicht neutral zu denen, die sie benutzen, sondern präfigurieren Räume und Richtungen, innerhalb derer sich die Einzelnen dann mehr oder weniger frei bewegen können.

1.2 EINE GESCHICHTE DER LEBENSRATGEBER ALS TEIL EINER GENEALOGIE DER GEGENWART Während also aktuelle Technologien der Selbstführung als etwas Normales, Natürliches, ja geradezu Notwendiges erscheinen, sind sie bei genauerem Hinsehen höchst erklärungsbedürftig. Deswegen wollen wir im Folgenden die in vielen Bereichen unthematisch mitgeführte Selbstführung eigens untersuchen und die historische Gewordenheit ihrer Technologien aufzeigen sowie die Prozesse untersuchen, die den Eindruck zeitloser Selbstverständlichkeit erzeugen. Unser Ansatz folgt dabei den auf Michel Foucault zurückgehenden Gouvernementalitätsstudien, mit denen wir die Überzeugung teilen, dass in liberalen Gesellschaften Freiräume und Selbstführungspflichten Hand in Hand gehen. Selbstführung ist nicht nur ein zentrales Paradigma der Gegenwart, sondern hat eine Geschichte mit Kontinuitäten und Brüchen, in der Subjekte verschiedene, spezifisch konstituierte Verhältnisse zu sich einnehmen. Uns geht es in dieser Untersuchung darum, in Foucaults Sinne eine Genealogie der modernen Selbstführung zu schreiben als eine Geschichte der Gegenwart: die aktuelle Struktur als etwas Bestimmendes, zugleich Gewordenes und damit Fragwürdiges erkennbar zu machen vor dem Hintergrund ihrer Geschichte. Die Frage nach der Selbstführung in ihrer modernen Form verdichtet sich im deutschsprachigen Raum Anfang des 20. Jahrhunderts zu einem eigenständigen Diskurs und formiert sich bald zu einem bis in die Gegenwart bestehenden Genre: den Lebensratgebern. Erst Anfang des 20. Jahrhunderts wird Selbstführung sowohl zu einer Gelegenheit als auch zu einer Pflicht für alle und jeden, in rein immanenter Le-

Einführung

| 21

bensführung die Steigerung des Lebens, die Optimierung des Alltags als sittliche Obliegenheit anzustreben, und zwar rein aus sich selbst heraus und wesentlich anhand von Techniken. Selbstführung durch Selbsttechniken, deren einziger Zweck es ist, das Leben zu verbessern, den Alltag zu bewältigen und die Arbeit an sich in den Kontext gesellschaftlicher Teilhabe zu stellen: als Abwehr verschiedener Bedrohungen und aufgeladen mit universalen Versprechungen. Als Untersuchungsmaterial wählen wir Lebensratgebertexte aus dem deutschsprachigen Raum, aus verschiedenen Zeitabschnitten über ein Jahrhundert hinweg. 8 Wegen der Materialfülle war es notwendig, nach einer ersten Durchsicht eine Vorauswahl der Texte zu treffen. Bei der Periodisierung haben wir uns außerdem an anderen einschlägigen Studien orientiert, da es unsere Absicht ist, besonders die zentralen Umbrüche kenntlich zu machen und in Bezug zu anderen Forschungen zu setzen. Wir untersuchen drei Zeiträume, die frühen Ratgeber (ausgewählte Texte von 1916 bis 1942), die mittleren (1960-1979) und die aktuellen (1995/1996, 2000/2001, 2004/2005).9 Einige Tendenzen wollen wir an dieser Stelle vorwegnehmen. Die frühen deutschsprachigen Texte stellen eine historische Besonderheit dar. Hier mischt sich die Tradition bürgerlicher Selbstbildung mit den Kriegserfahrungen einer z.T. stark militarisierten Gesellschaft. Der Diskurs ist so konzentriert wie ambitioniert und kreist um ein heldenhaftes Willenssubjekt. Dabei wird das Verhältnis des Subjektes zu sich schon beim Aufkommen der Lebensratgeber als grundsätzlich krisenhaft angesehen. Diese um die Jahrhundertwende prävalenten Diskurse beginnen an unterschiedlichen sozialen Orten um sich zu greifen und werden von Menschen verschiedener gesellschaftlicher Stellung, Profession und politischer Haltung mit gleicher Intensität betrieben. Sie haben einen Begriff vom modernen Menschen, dessen Realität sie als unvereinbar sowohl mit den Forderungen der Zeit als auch einem Konzept gelungener Subjektivität bewerten: Dieser Mensch existiere bloß als „betriebsamer Schemen“10, eingeordnet in die Taktung beruflicher Notwendigkeiten, getrieben durch seine latenten Gewohnheiten, Meinungen und Leidenschaften, verführt von den Reizen großstädtischer Vergnügungs-, Schau- und Sinnenlust. Er gehört sich nicht selbst, sondern muss sich durch gelungene Selbstführung zurückgegeben werden. Es handelt sich hier nicht um eine Sorge um das Heil der eigenen Seele, nicht um einen Mangel an Moral, auch nicht um das Verhaftetsein in der eigenen psychischen Entwicklung noch um eine philosophische Sinnfrage oder um ein höheres, dem Leben selbst entrücktes Ziel. Vielmehr wird in diesen Diskursen ein Mensch evoziert, dessen Ziel es ist, sich, sein Leben vollständig in Besitz zu nehmen und zu meistern – und zwar mithilfe von disziplinären Techniken, die auf den Willen, den Körper und die Gefühle abzielen. Wille und Vernunft, der Kern dieses Entwurfs von Subjektivität, sollen durch einen soldatisch-monastischen Schulungsweg so geübt werden, dass sich das Subjekt zu jeder Zeit vollkommen unter Kontrolle hat.

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Genaueres dazu im Methodenabschnitt. Wegen der drastischen Zunahme infrage kommender Quellen haben wir den dritten Untersuchungszeitraum in drei Schnitte aufgeteilt. 10 Müller-Guttenbrunn, Herbert (1936): Wege zur inneren Freiheit. Eine Schule des Willens und der Persönlichkeit. Wien: Saturn, 5.

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Ab den 1960er Jahren wird scharf mit diesem Modell gebrochen. In den Konzepten der zweiten Epoche sind es nämlich gerade die unbewussten oder zumindest unwillkürlichen Seelenkräfte wie die Schöpferkraft, die Intuition, die Kreativität und die intimen Sozialinteraktionen, die das Wachstumsmilieu der Seele bilden. Die neuen Techniken zielen in Form von Praktiken über Atemtechniken oder Techniken zur Gefühlsfreisetzung auf Selbstausdruck, Authentizität und auf Selbstentfaltung und ein vages Konzept von innerem Wachstum. Sie kritisieren ein Zuviel an willentlicher Selbstführung und setzen stattdessen auf ein fluides Modell von Steuerung, das ihnen der Natur des Menschen angemessener erscheint. Die Lebensratgeber sehen sich selbst als Anwälte des Individuums, das sie vor sozialer Unfreiheit und autoritärer Erziehung schützen wollen. Sie entwickeln verschiedene Versionen einer Bedürfnisanthropologie. Dabei gilt Glück als ein Gefühl universeller Stimmigkeit, als das Resultat gelungener Selbstführung nach eigenem Maßstab. Demgegenüber markieren die 1990er Jahre einen weiteren entscheidenden Umbruch. Im Zentrum dieser neuartigen Diskurse stehen die emotionalen Kompetenzen und die an neurologischem Wissen ausgerichtete Selbsteinwirkung. Gelungene Selbst- und Lebensführung heißt in der dritten Epoche, die Intelligenz der Emotionen zu nutzen, die der nüchternen, zweckrationalen Vernunft überlegen sind. Fremdführung und Selbstführung gleichen sich dabei an. Emotionen im Allgemeinen und Lust im Besonderen werden eingesetzt, um schwierige und kreative Aufgaben in Gruppen zu lösen. Umgekehrt wird das Subjekt selbst als eine Pluralität verschiedener personenähnlich gedachter Anteile gesehen, die es analog zu Gruppen oder Unternehmen, Zielscheibe eines ausgearbeiteten Managements sind. Gleichzeitig nehmen Techniken, die der Reflexion, der Achtsamkeit und der rationalen Planung dienen, einen ungeheuren Aufschwung. Bestimmte reflexive Strukturen zu etablieren, wird zum Kernbegriff von Subjektivität und damit zur zentralen Aufgabe von Selbstführung. Innerhalb eines Jahrhunderts zeigen sich also bedeutende Brüche und Verschiebungen. Was bleibt, wenn es auch verschieden interpretiert und technisch gerahmt wird, ist eine Abfolge von gesellschaftlichen Formationen, die, wie die Lebensratgeber selbst, immer wieder in einen Ruf nach Selbstführung münden. Diese gilt es, im Einzelnen zu untersuchen.

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Genealogien der Subjektivierung Forschungsstand und -desiderat

Wir haben bereits ausgeführt, warum wir für die Untersuchung der Selbstführung den außerinstitutionellen Bereich als zentral ansehen. Lebensratgeber sind genau die Orte, an denen sich regionale Thematisierungen der Kunst, sich selbst richtig zu führen, zu Regimen verdichten. Dies kann aber nach dem Bisherigen nur heißen, über eine bloße Besprechung der ideologischen Rhetorik hinauszugehen und das produktive, d.h. sich in Praktiken, Anleitungen, Techniken niederschlagende Moment dieser Texte zu analysieren: eine Systematik der Untersuchung zu entwickeln, die es erlaubt, die tatsächlich verwendeten Techniken ans Licht einer zusammenhängenden Darstellung zu bringen und darüber hinaus die zentralen Elemente des strategischen Arrangement dieser Techniken auf ein Ziel hin, nicht nur in den vereinzelten Texten, sondern in der Gesamtheit der einzelnen Korpora, kleinschrittig herauszuarbeiten und so zu spezifischen, repräsentativen Aussagen zu kommen. Im Folgenden besprechen wir die für unsere Forschung wesentlichen Arbeiten, die soziologisch und historisch die Frage nach moderner Subjektivität und deren Konstitutionsbedingungen gestellt haben. Diese teilen sich in zwei Kategorien auf: erstens Genealogien der Subjektivierung, die Subjektregime entweder im Anschluss an Foucault, namentlich die governmentality studies, oder doch zumindest in einem für die Frage der Verbindung von Selbst- und Fremdführung sensiblen Forschungsansatz (Boltanski/Chiapello) untersucht haben (1.3); zweitens diejenigen Untersuchungen, die Lebensratgeber als Forschungsgegenstand haben und sich im engeren oder weiteren Sinne um ein Verständnis dieser Texte im gesellschaftlichen Kontext bemühen. Was genau als „modern“ oder als „Moderne“ aufgefasst wird, ist dabei von Text zu Text unterschiedlich, sowohl in der inhaltlichen als auch in der zeitlichen Bestimmung. In Anschluss an Michel Foucault bestimmen wir die Moderne als eine Epoche, die in Europa im 19. Jahrhundert beginnt (auch wenn einige Elemente schon früher identifizierbar sein mögen) und bis in die Gegenwart anhält. Für Foucault ist die Moderne die Zeit, in der die Fragen nach dem Regieren, dem Subjekt, dem Menschen und seiner Geschichtlichkeit mit großer Virulenz gestellt und in Form von wissenschaftlichen Diskursen, politischen Technologien und Regimen der Subjektivie-

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rung beantwortet werden.1 Wir argumentieren jedoch dafür, dass sich dasjenige, was wir moderne Selbstführung nennen, erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts herausbildet. Zwei Tendenzen lassen sich in der Sekundärliteratur insgesamt feststellen. In einigen von diesen Forschungen läuft die Frage der Selbstführung eher unthematisch mit, d.h. sie taucht fragmentarisch auf, als das Resultat der Rücknahme oder Adaption der untersuchten Fremdführung (wenn wir hier einmal auch Herrschaft, Ausbeutung und Normalisierung darunter verstehen), dazu zählen u.a. die Texte von Castel und Boltanski/Chiapello. In den anderen wird Selbstführung zwar zum Thema gemacht, aber als Teil einer vermeintlichen conditio humana essentialisiert und enthistorisiert, wie bei Tretzel und Moog. Wir besprechen zunächst Arbeiten, die wir als Genealogien der Subjektivierung ansehen, also Forschungen, welche die Genese bestimmter Subjektformen in ihrer historischen Entstehung und Wandlung zum Gegenstand haben. Dann wenden wir uns umfassenden Untersuchungen von Lebensratgebern zu, die jedoch andere methodische oder zeitlich-räumliche Schwerpunkte haben, so dass schließlich das von uns identifizierte Forschungsdesiderat sichtbar wird.

2.1 GENEALOGIEN DER SUBJEKTIVIERUNG Verschiedene bedeutsame soziologische und kulturwissenschaftliche Studien der letzten Jahrzehnte haben sich das moderne Subjekt als geschichtlich variables Konstrukt mit doch ganz manifesten Mitteln der Selbstbearbeitung und -hervorbringung zum Gegenstand genommen, um es als eigentätigen „accomplice of government“2 sichtbar und verstehbar zu machen. Insbesondere das Subjekt des (späten) 20. Jahrhunderts ist auf seine Neuartigkeit und Alternanz hin befragt worden. Für den institutionellen Bereich bieten Anne Lovell, Robert und Francoise Castels Untersuchung über die Etablierung, Krise und Deinstitutionalisierung der USamerikanischen Psychiatrie im Zuge der politischen Reformbewegungen in den 1960er und 1970er Jahren eine erste Diagnose in Bezug auf den Wandel der subjektiven Mobilisierungsformen im Zuge der gouvernementalen Krise der 1960er Jahre.3 Sie zeigen, welche ambigen Effekte von einer zunehmenden Entinstitutionalisierung und Verwandlung der Psychiatrie mit ihren Techniken und Diskursen auf die Selbstund Lebensführung auch gerade von nicht psychiatrisch behandelten Menschen ausgehen.4 Psychiatrie, so Castel, findet bis ins beginnende 20. Jahrhundert hinter den

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Vgl. Foucault, Michel (1990 [1984]): Was ist Aufklärung? In: Erdmann, Eva; Forst, Rainer; Honneth, Axel (Hrsg.): Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung. Frankfurt/New York: Campus, 42f. Burchell, Graham (1993): Liberal gouvernment and technique of the self. In: Economy and Society (22/3), Volume 22, 267–281; 271. Castel, Francoise; Castel, Robert; Lovell, Anne (1982): Psychiatrisierung des Alltags. Produktion und Vermarktung der Psychowaren in den USA. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Ähnlich sind auch die Untersuchungen von Nikolas Rose zu verstehen, auch wenn dieser in „Governing the Soul“ die Ausbreitung der Psychologie mehr bei Test- und Eignungsverfahren für Personen, besonders im Militär und auch in Fabriken sieht und weniger von der

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verschlossenen Türen spezialisierter Institute statt und richtet sich an als krank identifizierte Menschen. Ihre gesellschaftliche Ausgrenzung und die Art ihrer Behandlung werden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verstärkt zum Gegenstand der Kritik. Öffnung der Psychiatrien, Humanismus in der Behandlung und umfassende psychische Gesundheitsfürsorge für alle werden zu so dominanten Forderungen, dass das alte Psychiatriesystem der USA grundlegend reformiert werden muss. Dadurch treiben gerade die Protestbewegungen mit ihren Forderungen nach einer positiven Psychologie, die statt auf den Kampf gegen das Kranke auf Selbstbestimmung, Autonomie, Spontanität und Authentizität abzielt, die Dispersion von verschiedenartigen neuen Therapiemethoden und „Psychowaren“ voran. 5 Damit, so zeigen Castel et al., verschwindet die psychiatrische Sicht auf den Menschen nicht einfach, sondern verbindet sich vielmehr mit den Konsum- und Erlebniswelten des gegenwärtigen Kapitalismus zu einer Psychiatrisierung des Alltags. Ihre Arbeit zeigt diese Entwicklung mit beeindruckender historischer Akribie auf. Allerdings entgehen der Untersuchung durch ihren Fokus auf die heteronomisierenden Effekte der Psychologisierung des alltäglichen Lebens die produktiven Wirkungen und Wechselwirkungen. So bleibt die entscheidende Bedingung für die Mobilisier- und Ansprechbarkeit der Individuen für die Belange der Selbstregierung notwendig unbestimmt. 6 Das Außerinstitutionelle wird somit weitgehend als die Fortsetzung des Institutionellen mit anderen Mitteln betrachtet und nicht auf seine Eigenlogik hin untersucht. Aus kultursoziologischer Perspektive kommt Eva Illouz den Thesen Castels von der gesellschaftlichen Verallgemeinerung psychologischer Diskurse und Modelle recht nahe.7 Emotionale Selbststeuerung wird als Form der Errettung der modernen Seele zentraler Rohstoff sowohl für ökonomische Diskurse als auch für populärkulturelle Produkte und für alltägliches soziales Handeln. Damit verfolgt sie Elemente psychologischen Denkens und Handelns bis in den Alltag der Gegenwart. Illouz Ansatz bewegt sich zwischen den Thematisierungsweisen wie von Moog und Tretzel auf der einen und Rose und Castel auf der anderen Seite, insofern sie die moderne Therapeutisierung des Selbst ins Zentrum ihrer Untersuchung rückt und als gesellschaftlich gewordene Formierung aufzeigt, die gleichwohl produktiv und positiv (d.h. wirkmächtig und erfahrungskonstituierend) ist. Allerdings fragt sie weder historisch noch inhaltlich, was Selbstführung außerhalb der Verbreitung psychologischer Konzepte, Deutungsmuster und Techniken, welche für sie bei Freud beginnen, heißen kann. Zudem beruht ihre Untersuchung auf einem nicht aus historischem Material gewonnen Begriff des Psychologischen (außer einem recht allgemeinen Rückgriff auf Freud), der, ähnlich wie bei Castel et al., in eine vor- oder unpsychologisch verstandene Gegenwart Einzug hält. Was das Kriterium oder die Essenz des Psychologi-

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Psychiatrie als zentraler Institution ausgeht: Rose, Nikolas (1991): Governing the Soul. The shaping of the private self. New York: Routledge. Castel 1982, 278. Vgl. hierbei auch Maasen, Sabine (2010b): Sexualberatung auf dem Boulevard. Ein Beitrag zur Genealogie normal/istisch/er Selbstführungskompetenz. In: Bänziger, Peter-Paul et al. (Hrsg.): Fragen Sie Dr. Sex. Berlin: Suhrkamp, 331. Vgl. Illouz, Eva (2009): Die Errettung der modernen Seele. Therapien, Gefühle und die Kultur der Selbsthilfe, Frankfurt/Main: Suhrkamp.

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schen (Therapeutischen, Psychiatrischen) sein soll, wird in dieser Art der Untersuchung nicht gezeigt.8 Sabine Maasen und andere haben hinsichtlich der institutionellen Beratungs- und Therapeutisierungspraktiken (Berufsberatung, Sexualberatung, Psychotechnik, Psychoanalyse) einen ähnlichen Aufschwung von Praktiken der individuellen Selbstführung aufgezeigt.9 In ihren Untersuchungen werden Entwicklungen neuer Formen der Selbstthematisierung und -problematisierung innerhalb einer neoliberalen Wissensgesellschaft erkennbar. Damit wird erhellt, inwiefern das Subjekt sowohl Problem als auch Lösung für Therapie- und Beratungsdiskurse ist. So sehr sich Maasen, Uffa Jensen und andere um die historische Rekonstruktion der durch die Beratungs- und Therapeutisierungsdiskurse und -praktiken implizierten Subjektverhältnisse im frühen 20. Jahrhundert verdient machen, bleibt doch die Frage nach unterscheidbaren Selbstführungsregimes, zugunsten der These einer fortschreitenden Therapeutisierung, weitgehend offen. Gezeigt wird auch nicht, vermittels welcher Techniken diese Konzepte in der alltäglichen Selbstführung bedeutsam wurden.10 Die Untersuchungen über den „Neuen Geist des Kapitalismus“ von Luc Boltanski und Ève Chiapello11 zeigen ausgehend von einer Analyse der Managementliteratur der 1960er und 1990er Jahre einen radikalen Bruch in den unternehmerischen Mobilisierungsformen auf. Der neue kapitalistische Geist der 1990er Jahre basiert ihnen zufolge auf einer zunehmenden Integration emotionaler, entformalisierter und zugleich entgrenzter Selbst- und Fremdführung in einer projektbasierten Ökonomie.12 Dabei erweisen sich auch hier die kritischen Einwände marxistischer Aktivist/innen und die Infragestellung der hierarchischen bürokratischen Wirtschaftsapparate durch (Lebens-)Künstler/innen und politische Gegenkultur (z.B. aus der Arbeiter/innenselbstverwaltung) als entscheidendes Moment für die Ausbildung einer neuen ökonomischen Regierungsweise. Die Auflösung unflexibler unternehmerischer Machtbeziehungen, das Zurückfahren von Sicherheitsgarantien und Statusdenken korrespondiert mit einem veränderten subjektiven Anforderungsprofil: gefordert sind nun Subjekte, die Laufbahndenken zugunsten „persönlicher Weiterentwicklung“, äußere Kontrolle zugunsten verstärkter Selbstkontrolle, Formalismus zugunsten Authentizität in den Vordergrund stellen. Hier taucht Selbstführung als ein wirkmächtiges Moment auf dem Gebiet der Ökonomie auf und ist zugleich historisch gefasst (im Vergleich zu den 1960er und 1990er Jahren). Diese Arbeit bietet deshalb einen wichtigen Hintergrund, um die Bedeutung der Selbstführung genealogisch und anhand von Techniken herauszuarbeiten. 8

Ähnliches gilt auch für Sabine Maasens und Uffa Jensens ansonsten aufschlussreiche Untersuchungen zur Therapeutisierung. Vgl. Jensen, Uffa (2011): Die Konstitution des Selbst durch Beratung und Therapeutisierung. Zur Geschichte des Psychowissens im frühen 20. Jahrhundert. In: Maasen, Sabine et al. (Hrsg.): Das beratene Selbst. Zur Genealogie der Therapeutisierung in den ‚langen‘ Siebzigern. Bielefeld: transcript, 37-57. 9 Vgl. Maasen (2011), 7-35. 10 Ähnlich wie Illouz legen sie viel argumentatives Gewicht auf den Begriff des Therapeutischen/Psychologischen und geraten in ein ähnliches Dilemma. 11 Vgl. Boltanski, Luc; Chiapello, Ève (2006): Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz: UVK, v.a. Teil I. 12 Ebda., 147ff.

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Während in den Untersuchungen von Castel et al. sowie Boltanski/Chiapello jeweils eine Dimension der Gesellschaft als bestimmend für die Subjektivierung ihrer Mitglieder betrachtet wird (das Psychologische/die Ökonomie), besteht Andreas Reckwitz in seinen Untersuchungen zum „hybriden Subjekt“ darauf, die Moderne stärker als ein Arrangement verschiedener ungleichzeitiger Subjektkulturen mit ihren jeweils spezifischen Selbstpraktiken aufzufassen.13 Für das 20. Jahrhundert setzt er die zentralen Umbrüche in den 1920er Jahren und den 1970er Jahren an und fragt, wie sich die verschiedenen Subjektivierungsweisen in den Bereichen der Erwerbsarbeit, der Nahbeziehungen und der Selbsttechniken vollziehen. Obwohl seine Forschung sich unseres Erachtens in der Betonung der kulturellen Codes und sozialen Praktiken zu weit von der gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsbasis entfernt, lassen sich sowohl aus seiner zeitlichen Verortung der Subjektkulturen als auch aus seiner Bestimmung des räumlichen Arrangement der Subjektivierung (Arbeit, Nahbeziehungen, Selbsttechniken) wichtige Differenzierungen für eine Untersuchung der Selbstführungsdispositive im 20. Jahrhundert finden. Ulrich Bröcklings Analysen zum „unternehmerischen Selbst“ wiederum heben sich von Reckwitz’ Konstruktion einer vorgängigen praxeologisch und sozial-kulturell dominierten Sphäre ab, indem sie Subjektivierungsprozesse untrennbar mit Machttechniken verknüpfen und so Subjektivität als in Herrschafts- und Ungleichheitsstrukturen verwickelt begreifen.14 In vielen Punkten kommen seine Untersuchungen, was den aktuellen Stand des Selbstführungsregimes angeht, unserem Anliegen am nächsten. Er untersucht anhand lokaler Programme und Mechanismen aktuelle Rationalitäten des Sich-selbst-Regierens, die sich auf das unternehmerische Selbst zuspitzen. Das moderne Subjekt sieht sich stetigen, umfassenden und nur schwer abzuweisenden Forderungen zweckrationaler Lebensführung und ökonomischer Selbstverwertungsimperativen ausgesetzt. Bröckling betont zu Recht den sozialkonstruktiven Charakter der gegenwärtigen jeweiligen Subjektordnung. Jedoch sollte sein Befund, dass das moderne Subjekt dem Gebot einer „permanenten Selbstverbesserung im Zeichen des Marktes“15 ausgesetzt sei, vor einer zeitlichen Rückprojektion bewahrt werden, da der eingeschränkte Untersuchungszeitraum kaum Aufschlüsse über frühere Subjektivierungsweisen erlaubt. Zu vermeiden gilt es, Selbstführung mit Ökonomisierung kurzzuschließen, da man sonst eine differenzierte Perspektive für 13 Reckwitz, Andreas (2006): Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft. 14 Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Siehe auch: Ders. (2004): Über Kreativität. Ein Brainstorming. In: Bröckling, Ulrich et al. (Hrsg.): Vernunft - Entwicklung - Leben, München: Wilhelm Fink Verlag, 235-245; Bröckling, Ulrich (2002): Das Diktat des Komparativs. Zur Anthropologie des „unternehmerischen Selbst“. In: Bröckling, Ulrich; Horn, Eva (Hrsg.): Anthropologie der Arbeit, Tübingen: Gunter Narr, 157-175; Bröckling, Ulrich (2006): Empowerment. In: Bröckling, Ulrich et al. (Hrsg.): Glossar der Gegenwart. Frankfurt/ Main: Suhrkamp, 55-63 und Bröckling, Ulrich (2002): Das unternehmerische Selbst und seine Geschlechter. Gender-Konstruktionen in Erfolgsratgebern. In: Leviathan 30, 175194. 15 Bröckling (2007), 283.

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das 20. Jahrhundert nicht einnehmen kann 16 und sich zudem Selbst- in Fremdführung aufzulösen droht17. Für die Frage der Selbstführung im 20. Jahrhundert erweist sich also die Perspektive, die auf die Subjekteffekte, die von institutionellen Arrangements, wie Psychiatrie (Castel et al.) oder Ökonomie/Unternehmen (Boltanski/Chiapello; Bröckling) ausgehen, als notwendig, aber noch nicht hinreichend für ein Verständnis der Praktiken der Selbstführung in ihrer Spezifität. Es bleiben entscheidende Fragen offen: Wie gerät das Subjekt mit seinen Strategien und Techniken in den Blick, das nicht einfach darin aufgeht, eine Verlängerung dieser Konstellationen zu sein, sondern sich selbst zum Objekt von Beobachtungen, Korrekturen und Steigerungsimperativen macht? Welche Mittel werden in Eigenregie in Stellung gebracht, um ein geregeltes Verhältnis zu sich selbst zu gewinnen, das nicht nur als wertvolle Ressource im ökonomischen Wettbewerb oder als Rekonstruktionsort für triebschicksalhaftes Leiden determiniert ist, sondern als der problematische, aber auch verheißungsvolle Ort, von dem aus das alltägliche Leben reflektiert, geplant, vor allem aber aktiv gestaltet wird? Wo gerät das Subjekt als schaffendes, physiologischen Bedürfnissen unterliegendes, familiären Verpflichtungen nachkommendes, ermüdendes Subjekt als Ganzes in den Blick? Diese Fragerichtung ist gerade für die Analyse der zeitgenössischen Gouvernementalität fruchtbar, die ein Verhältnis zwischen Regierung und Selbstregierung konstruiert, welches zunehmend davon abhängt, wie die Individuen sich zu Subjekten ihres eigenen Lebens machen und ihre Freiheiten ausüben.18

16 Der Historiker Peter-Paul Bänziger hat seinerseits auf die Problematik verwiesen, dass die „Selbst- und Körperverhältnisse“ im 20. Jahrhundert nur ungenügend gekennzeichnet sind, wenn man lediglich den Übergang eines Subjektes des ausgehenden 19. Jahrhunderts, das in der thermodynamischen Vorstellung des „menschlichen Motors“ gedacht wurde, zu einem „Managersubjekt“ der postindustriellen Gesellschaft konstatiert. Er schlägt für seinen eigenen Untersuchungsgegenstand, nämlich den „arbeitenden Körper“ von jungen Arbeiter/innen und Angestellten seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert anhand von Egodokumenten zu rekonstruieren, vor, bereits ab dem frühen 20. Jahrhundert von einem aktivischen oder, wie er es formuliert, „betriebsamen“ (227) Selbstverhältnis auszugehen. Dieses unterscheide sich sowohl vom Subjekt der industrialisierten Fabrik des 19. Jahrhunderts, als auch vom Unternehmen heutiger Tage. Bänziger, Peter-Paul (2012): Der betriebsame Mensch. In: Kulturgeschichten, Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, (23/2), 222-236. 17 Vgl. die Kritik von Cathren Müller an den Gouvernementalitätsstudien; Müller, Cathren (2003): Neoliberalismus und Selbstführung. Anmerkungen zu den „Governmentality Studies“. In: Das Argument (249), 98-106. 18 Vgl. Burchell (1993), 276.

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2.2 UNTERSUCHUNGEN ZUR LEBENSRATGEBERLITERATUR In unserer Systematik handelt es sich bei Ratgebern um eine Sammelbezeichnung, unter die alle Formen lebensweltlicher Problematisierung fallen, von Gesundheit bis Partnerschaft. Die Bezeichnung Lebensratgeber19 behalten wir hingen für solche Schriften vor, die auf den Menschen als „Ganzes“ abzielen.20 In der bisherigen Forschung rückt seit Mitte der 1980er Jahre das Ratgebergenre insgesamt sukzessiv in den Fokus sozialwissenschaftlicher Analysen. 21 Während für die 1980er Jahre nur wenige Vorarbeiten aufzufinden sind, die sich aus prozessanalytischer und psychologisch-psychoanalytischer Sicht dem Feld der Ratgeber nähern,22 lässt sich seit den 1990er und vor allem seit den 2000er Jahren ein vermehrtes Interesse feststellen. Analog zur Ausdifferenzierung des Ratgebergenres selbst stehen bestimmte Aspekte der ratgeberischen Problematisierungen im Mittelpunkt, so zum Beispiel Sprach- und Kommunikationsprobleme,23 Geschlechter-,24 Ehe-25 und Sexualitäts-,26 Stressdiskurse27 sowie „Positives Denken“.28 Zum anderen Teil befasst

19 Andere Forschungen sprechen von „Lebenshilferatgebern“. Vgl. Duttweiler (2007), z.B. 31. Dieser Ausdruck erscheint uns als Pleonasmus, deshalb verwenden wir den einfacheren Ausdruck „Lebensratgeber“. 20 Das kann Sexualitäts-, Stress- und Kommunikationsprobleme und Ähnliches explizit einbegreifen, muss es aber nicht. 21 Diese verspätete und zögerliche Behandlung eines Genres, das Aufschluss über Bedingungen, Genese und Wandlung moderner Subjektivierungsprozesse zu geben vermag, nötigt zu einer Erklärung. Eine Antwort kann an dieser Stelle nur skizzenhaft ausfallen und betrifft im Wesentlichen zwei Aspekte: Einerseits liegt es an der Entwicklungsdynamik der Lebensratgeber selbst, die sich seit Ende der 1970er Jahre explosionsartig vermehren und in verschiedene Subgenres zu differenzieren beginnen. Andererseits hält sich die sozialwissenschaftliche Forschung lange Zeit in distinkter Entfernung zu diesen Texten, besonders dann, wenn sie stark zwischen seriösen Expert/innendiskursen und intellektuell wenig anspruchsvoller Populärkultur polarisieren. 22 Krumrey, Horst-Volker (1984): Entwicklungsstrukturen von Verhaltensstandarten. Soziologische Prozeßanalyse auf Grundlage von Anstands- und Manierenbüchern 1870 bis 1970. Frankfurt/Main: Suhrkamp; Koch-Linde, Birgitte (1984): Amerikanische Tagträume. Success und self-help literature in den USA. Frankfurt/Main: Campus. 23 Vgl. u.a. Bremerich-Vos, Albert (1991): Populäre historische Ratgeber. Historisch-systematische Untersuchungen. Tübingen: Niemeyer; Antos, Gerd (1996): Laien-Linguistik. Studien zu Sprach- und Kommunikationsproblemen im Alltag. Am Beispiel von Sprachund Kommunikationstrainings. Tübingen: Niemeyer. 24 Abele, Andrea/Schaper, Stefanie (1995): Die Karrierefrau. Eine Inhaltsanalyse populärwissenschaftlicher Ratgeberliteratur. In: Gruppendynamik (26/2), 237-254. 25 Mahlmann, Regine (1991): Psychologisierung des Alltagsbewusstseins. Die Verwissenschaftlichung des Diskurses über Ehe. Opladen: Westdeutscher Verlag. 26 Wellmann, Annika (2012): Beziehungssex. Medien und Beratung im 20. Jahrhundert. Köln (u.a.): Böhlau.

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sich die sozialwissenschaftliche Expertise mit bestimmten Sub- oder Grenzgenres des lebensratgeberischen Feldes, wie Elternratgeber, 29 Psychotests30 bzw. dem Grenzbereich der Anstands- und Manierenbücher31 und den Ratgeberrubriken in Zeitschriften, Zeitungen und im Fernsehen.32 In den 1990er und frühen 2000er Jahre gilt das Interesse also partikularen Fragestellungen, und einzig zwei monografische Arbeiten aus dem Umfeld einer „Soziologie des Postmoderne“ tragen zur Analyse der Lebensratgeberliteratur bei, die im Unterschied zu den spezialisierten Ratgebern einen umfassenden Problematisierungs- und Organisationsanspruch aufweisen, nämlich die Frage der Lebensführung auf alltäglicher Basis, verbunden mit einer durch Techniken zu erreichenden idealen Subjektivität.33 Birgitta Koch-Linde legte Mitte der 1980er Jahre eine Dissertation vor, in der sie über die Ursprünge der Erfolgs- und Lebensratgeber forschte und 50 aktuelle USamerikanische Ratgeber (insbesondere Bestseller) untersuchte. In ihrer ideologiekritischen Untersuchung mittels psychologisch-psychoanalytischer Textkritik analysiert sie die Veränderungen der Motiv- und Verhaltensstrukturen innerhalb der „success literature“ in den Ratgebern der 1970er und frühen 1980er Jahre. Sie stellt im Vergleich zu den Ratgebern der 1930er bis 1950er Jahre zu denen der 1970er Jahre einen Wandel der Motive und ihrer Begründungen weg von einem konformistischen, hin zu einem hedonistisch oder aggressiv gefärbten Individualismus fest. Koch-Linde sieht diesen Wandel im Kontext gesellschaftlich-ökonomischer Veränderungen, die einen neuen Erwerbstypus erfordern würden, der flexibel, innerlich ungebunden und in Fragen der Arbeit nicht mehr vollständig mit dem Unternehmen identifiziert ist 27 Kury, Patrick (2012): Der überforderte Mensch. Eine Wissensgeschichte vom Stress zum Burnout. Frankfurt/New York: Campus. 28 Scheich, Günter (1997): Positives Denken macht krank. Vom Schwindel mit gefährlichen Erfolgsversprechen. Frankfurt/Main: Eichborn; Ehrenreich, Barbara (2010): Smile or Die. Wie die Ideologie des positiven Denkens die Welt verdummt. München: Kunstmann. 29 Höffer-Mehlmer, Markus (2003): Elternratgeber. Zur Geschichte eines Genres. Baltmannsweiler: Schneider-Hohengehren. 30 Kliche, Thomas (2001): Das moralisch abgezogene und kapitalisierte Selbst. Psychotest, die Erbauungsliteratur flexibler Normalisierung. In: Gerhard, Ute; Link, Jürgen; SchulteHoltey, Ernst (Hrsg.): Infografiken, Medien, Normalisierung. Zur Kartografie politischsozialer Landschaften, Heidelberg: Synchron Wissenschaftsverlag, 115-126. 31 Mixa, Elisabeth (1994): Erröten Sie, Madame! Anstandsdiskurse der Moderne. Pfaffenweiler: Centaurus; Burmann, Henriette (2000): Die kalkulierte Emotion der Geschlechterinszenierung. Galanterierituale nach deutschen Etikette-Büchern in soziohistorischer Perspektive. Konstanz: UVK; Döcker, Ulrike (1994): Die Ordnung der bürgerlichen Welt. Verhaltensideale und soziale Praktiken im 19. Jahrhundert. Frankfurt/New York: Campus. 32 Krüger, Kirsten (1996): Lebenshilfe als Programm. Zur Entwicklung des Angebots und der Rezeption psychosozialer Lebenshilfe im Fernsehen. Konstanz: UVK; Lindau, Susanne (1998): Lebenshilfe in Ratgeberrubriken. Analyse unterhaltender Wochenzeitschriften der Jahre 1962 und 1992. Konstanz: UVK. 33 Tretzel, Annette (1993): Wege zum rechten Leben. Selbst- und Weltdeutungen in Lebenshilferatgebern. Pfaffenweiler: Centaurus; Moog, Markus (2002): Wer lebt, dem muß geholfen werden. Das Massenmedium Lebenshilferatgeber und die philosophische Reflexion über individuelle Lebensführung. Würzburg: Königshausen&Neumann.

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und sich hauptsächlich der Durchsetzung eigener Interessen verpflichtet sieht. Die Ratgeber erscheinen in Koch-Lindes Lesart als bloßer Ausdruck von etwas Grundlegendem. Sie nehmen nur die durch die dynamisierten ökonomischen Verhältnisse hervorgebrachten Gefühle der Ohnmacht, Angst und objektiven Bedeutungslosigkeit des vereinzelten Individuums auf und bieten psychische Reparatur- und Leistungssteigerungsdienste an. So ist die Ratgeberliteratur bei Koch-Linde ein ideologisches Moment, das die gesellschaftlichen Gewaltverhältnisse verschleiert und die Individuen (vor allem die Verlierer/innen) ruhigstellt, indem sie Kompensationen anbietet. Die Ratgeber greifen somit einzig vom Ergebnis her auf die Gefühls-, Denk- und Wahrnehmungsweisen der Subjekte zu, indem sie Schablonen zur Angstabwehr anbieten, ohne selbst aber im foucaultschen Sinne positiv in der Subjektdisposition zu wurzeln oder diese produktiv mitzugestalten.34 Markus Moog schlägt einen anderen Pfad zur Untersuchung der Lebensratgeberliteratur ein.35 Im Gegensatz zu Koch-Linde begreift er sie als legitime Formen der Reflexion über das gelungene Leben, denen er Werke aus der Philosophiegeschichte gegenüberstellt. Moog erarbeitet aus den aktuellen „strebensethischen“ und moralphilosophischen Diskussionssträngen36 sein Konzept einer weltoffenen Selbstbestimmung heraus, mit dem er die Lebensratgeber und die philosophischen „Klassiker“ auf ihr Lebensführungsverständnis untersuchen will. Er sieht dabei in den Lebensratgebern wie in der philosophischen Lebenshilfe eine notwendige sowie grundsätzlich zu begrüßende Antwort auf die anthropologisch bedingte Krisenhaftigkeit der Lebensführung. Vom Ergebnis her ähnlich, aber von ihrer Herangehensweise wesentlich differenzierter urteilt Annette Tretzel in ihrer Dissertation.37 Ihre Arbeit zeichnet sich dadurch aus, dass sie zum einen versucht, eine Typologie der Lebensratgeber zu entwickeln, und zum anderen die ältesten Texte der jeweiligen Typen heranzieht. 38 Sie bestimmt die in ihnen vermittelten Menschen- und Weltbilder sowie Wertvorstellungen, um die in einer bestimmten historischen Konstellation vorgenommene Konstruktion von Wirklichkeit durch die Lebensratgeber herauszuschälen. Tretzel geht es schlussendlich – ähnlich wie Moog – darum, die angebotenen Welt- und Wertkonstruktionen zu systematisieren und auf ihre Tauglichkeit zur Orientierung hin zu überprüfen.39 Auch sie diagnostiziert ein grundsätzliches individuelles Orientierungsbe-

34 Koch-Lindes Darstellung ist besonders im Hinblick auf die 1990er Jahre unhaltbar. Während sie in den US-amerikanischen Texten der 1920 Jahre noch Hinweise darauf findet, dass es sich hier um die Literatur der gesellschaftlichen Verlierer handelt, muss dies für die von uns analysierten Lebensratgeber, besonders ab den 1990ern, geradezu umgekehrt werden. Wir werden zeigen, dass diese Texte konkret zu einer Arbeit an sich selbst anleiten, die auf einen gesellschaftlichen Erfolgstypus hin ausgerichtet ist, und dass bestimmten Technologien mit bestimmten Partizipationsversprechen korrelieren (wenn auch nicht immer in dem Ausmaße, das die Texte versprechen). 35 Vgl. Moog (2002). 36 Moog (2002), 32. 37 Tretzel (1993). 38 Vgl. ebda., 49. 39 Vgl. ebda., 25ff.

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dürfnis, wobei sie dieses vor allem auf die Auflösung tradierter Weltdeutungen in modernen Gesellschaften zurückführt. Die bisherigen nicht-gouvernementalen Untersuchungen scheinen unterschiedliche, sich widersprechende Auffassungen von der gesellschaftlichen Rolle der Lebensratgeber zu vertreten. Während Koch-Linde ihnen einen bloßen ideologischen Scheinwert für die eigene Lebensführung zumisst, situieren Tretzel und Moog die Lebensratgeber auf Seiten eines legitimen Orientierungswissens für die modernen Subjekte in enttraditionalisierten Gesellschaften. Doch trotz der scheinbar unüberbrückbaren Differenzen gibt es ein strukturelles Einverständnis zwischen beiden Ansätzen: beide gehen von einem festen Begriff des Menschen mit entsprechenden Bedürfnissen aus. Lebensführung erscheint bei ihnen als unhintergehbare Aufgabe menschlichen Seins, wenngleich die Enttraditionalisierung und Liberalisierung moderner westlicher Gesellschaften den Einzelnen dieses Problem mit verschärfter Dringlichkeit zugewiesen haben. Somit gelingt es beiden Ansätzen nicht, die Historizität der Selbst- und Lebensführung mit ihren jeweils diskontinuierlichen Techniken und Diskursen zu erfassen. Drei jüngere Forschungen aus dem Umkreis der Gouvernementalitätsstudien untersuchen explizit die Lebensratgeberliteratur unter den theoretischen Prämissen und mit den methodischen Elementen der (foucaultschen) Diskursanalyse, jedoch ohne dabei ein Konzept von Selbstführung als genealogisch zu untersuchenden Forschungsgegenstand zu entwickeln. Nichtsdestotrotz erschließen vor allem Stefanie Duttweilers Arbeit über „Glücksratgeber“ und Boris Traues Untersuchung zum Coaching wesentliche Aspekte für ein Verständnis der Selbstführungstechniken. Duttweiler untersucht Lebensratgeber von 1990 und 2004, die gut zugänglich waren und „Glück“ im Titel tragen.40 Glück, so Duttweiler, dient den Ratgebern als Verheißung, sinnstiftender Maßstab in einer säkularen, individualisierten Gesellschaft und als Problematisierungsformel für die eigene Lebensführung. Die Ratgeber zwingen alle Aspekte der Lebensführung in eine Dichotomie, in der es nur zwischen „glücksverhindernd“ und „glücksfördernd“ zu unterscheiden gilt. Glück gerinnt dabei zu einer nicht-kontingenten Materie, die auf vielfache Weise verfügbar gemacht werden kann: durch „selbstbestimmtes“ Tätigwerden in Form angeleiteter Übungen, die auf Selbsterkenntnis, auf Observation auch alltäglicher sozialer Handlungen, auf reflexiv-objektivierende Durchdringung der Lebensführung, auf planhaft-zukunftsfixierte Realisierung der eigene Wünsche hinzielen. So wertvoll ihre Beschreibung der Selbsttechniken in Lebensratgebern ist, so sehr fehlt hier eine historische Differenzierung. Dadurch wächst bei ihr zusammen, was für eine genealogische Analyse nicht zusammengehört. Dies hat den deutlichsten Effekt bei ihrem Urteil über die gesellschaftliche Bedeutung und Genese der Glücksratgeber: Diese geraten bei ihr zu einem bloßen Modernisierungseffekt, der auf die Komplexitätssteigerungen und Individualisierungspflichten in Bezug auf das moderne Subjekt antwortet. Damit gibt sie die Möglichkeiten für die Analyse historischer Diskontinuitäten der Selbstführungsproblematik preis und fällt hinter den Ansatz der Gouvernementalitätsstudien zurück, Selbsttechniken als produktiv in ihrer Bedeutung für die Hervorbringung einer spezifischen Subjektivität zu untersuchen. 40 Duttweiler, Stefanie (2007): Sein Glück machen. Arbeit am Glück als neoliberale Regierungstechnologie. Konstanz: UVK.

Forschungsstand

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Ähnliche Schwierigkeiten hat der Sammelband „Guter Rat“, herausgegeben von Stephanie Kleiner und Robert Suter, der Glücks- und Erfolgsratgeber zwischen 1900 und 1940 zum Gegenstand hat.41 Akkurat benennen die Herausgeber/innen diese Zeit als „,Sattelzeit‘ der Ratgeberliteratur des 20. Jahrhunderts“42 und erkennen deren „seismographisch[en]“ Charakter.43 Allerdings genügt ihnen ein Bezug auf Glück oder Erfolg für eine Auswahl ihrer Quellen. Dadurch entgeht ihnen die Gestalt des hegemonialen Selbstführungsdiskurses dieser Zeit. Die Fokussierung auf Glück und Erfolg führt einerseits dazu, dass ihnen notwendigerweise Lebensratgeber entgehen, die keinen expliziten Bezug zu diesen Begriffen ausweisen und andererseits dazu, dass sie Texte als Ratgeber kennzeichnen, die hauptsächlich Sammlungen von vorbildlichen Biographien sind,44 aber kaum eine strategisch-technische Ausrichtung aufweisen. Einzelne Beiträge gehen z.B. auf einzelne Texte ein, aber es wird nicht auf Grundlage eines systematisch erstellen Quellenkorpus versucht, das Feld der Lebensratgeber zu erschließen. Das macht es schwierig, die einzelnen Texte richtig zu situieren und ihre Bedeutung abzuschätzen. Boris Traue unternimmt in seiner Untersuchung über die Genese des Coachings einen vielversprechenden Versuch, einen lebensratgeberischen Teilbereich historisch aufzuarbeiten.45 Traue sieht im Coaching eine Kombination verschiedener historisch ungleichzeitiger Techniken wie Therapeutik und Personalmanagement konvergieren, die sich beide auf kybernetische Modelle sowie Modelle der Humanistischen Psychologie beziehen.46 Über Techniken der Zukunftsrationalisierung, der Beziehungsgestaltung und der Kontraktualisierung formt das Coaching eine in völlige innere und äußerer Beweglichkeit aufgehende Subjektivität. Beweglichkeit schlechthin, auch als Aufhebung „falscher“ Glaubensgrundsätze und Gewohnheiten, erweist sich als Voraussetzung für soziale Anerkennung und Teilhabe. Das Coaching hat laut Traue so Anteil an einem umfassenderen „Optionalisierungsdispositiv“.47 Traues Untersuchung zeigt jedoch eine Tendenz zu einer eher genetischen Untersuchung48 der Herkunft der für das Coaching wichtigsten Techniken, weswegen seine Erkenntnisse ein wichtiger, aber nur partieller Hintergrund für eine Genealogie der Selbstführung (hauptsächlich für das Dispositiv der 1990er Jahre) sein können.

41 Vgl. Kleiner, Stefanie; Suter, Robert (2015): Konzepte von Glück und Erfolg in der Ratgeberliteratur (1900-1940). Eine Einleitung. In: Kleiner, Stefanie; Suter, Robert (Hrsg.): Guter Rat. Glück und Erfolg in der Ratgeberliteratur 1900-1940. Berlin: Neofelis, 9-40. 42 Ebda., 11. 43 Ebda., 12. 44 Vgl. ebda., 16f. 45 Traue, Boris (2010): Das Subjekt der Beratung. Zur Soziologie einer Psychotechnik. Bielefeld: transcript. 46 Vgl. ebda.,139ff., 150ff. sowie 196. 47 Ebda., 284. 48 Eine genetische Perspektive hebt auf die Entstehung und Entwicklung eines Konzeptes ab, also auf die Kontinuitäten und sukzessiven Ausdifferenzierungen, während ein genealogischer Ansatz, wie wir ihn verfolgen, gerade die Diskontinuitäten untersucht. Zur weiteren Unterscheidung von genetischer und genealogischer Vorgehensweise vgl. Abschnitt 3.1.4 in diesem Kapitel.

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2.3 FORSCHUNGSDESIDERAT Trotz ihrer unbestreitbaren Leistungen, dem Feld der Lebensratgeber eine soziologische Bedeutsamkeit zuzusprechen, entgehen den Autor/innen aus dem Bereich der Soziologie der Postmoderne, wie Tretzel und Moog, allerdings auch Koch-Linde, zentrale subjektkonstitutive und historische Aspekte. Im Gegensatz zu den bisherigen Forschungen weisen sie (zumindest teilweise) auf den produktiven Beitrag der Lebensratgeber für die Herausbildung einer historisch spezifischen Subjektivität hin.49 Allerdings bleiben die soziologischen Erträge dieser Ansätze bisher fragmentarisch, was eine Genealogie der Selbstführung angeht. Um zu verstehen, wie sich Subjekte zu Subjekten machen und gemacht werden, wollen wir deshalb die konkreten Techniken der Selbstführung in ihrer historischen Spezifität untersuchen. Die Generierung belastbarer Aussagen über die historischen und zeitgenössischen Dispositive der Selbstführung steht und fällt mit einem einerseits ausreichend thematisch eingegrenzten und zugleich ausreichend breiten historischen Material. Bisherige Befunde haben sich zu stark auf die Tragfähigkeit eklektizistisch ausgewählter Quellen verlassen und sind davon ausgehend oft zu eher spekulativen Aussagen über die Umbrüche in den Formen sich selbst zu regieren, gelangt. Zwar lässt sich kein fixer, globaler Standpunkt zur Untersuchung der vielfältigen Selbstregierungsweisen innerhalb eines bestimmten gesellschaftlichen Gefüges einnehmen und es kann auch nicht darum gehen, alle Phänomene erschöpfend zu erfassen, die um die Führung des Selbst kreisen. Jedoch ist es möglich, über eine breite Auswertung und Analyse derjenigen Quellen ausreichend distinkte Aussagen zu treffen, die sich den Menschen als „Ganzes“ angenommen haben und sich als die geschwätzigste, populärste und umfassendste Problematisierung moderner Subjektivität erwiesen haben: die Lebensratgeber.

49 Siehe auch den Artikel von Rimke, Heidi Marie (2000): Gouverning citizens through selfhelp literature. In: Cultural Studies (14/1), 61-78.

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Auf dem Weg zu einer Genealogie der Selbstführung Hintergrund und Methodik

3.1 ANLEITUNGEN ZUR SELBSTFÜHRUNG: LEBENSRATGEBER ALS UNTERSUCHUNGSGEGENSTAND Da es unser Anliegen ist, zeitlich begrenzte, lokale Formen der Selbstführung herauszuarbeiten, haben wir die zu untersuchenden Quellen auf mehreren Achsen systematisch eingegrenzt. Unsere Forschung ist auf den deutschen Sprachraum beschränkt. Einerseits ist es nötig, die untersuchten Texte lokal einzugrenzen, um eine genealogische Untersuchung sowohl dicht genug als auch in Bezug auf den Umfang bewältigen zu können. Andererseits erlaubt uns dieses Vorgehen, differenziertere Bezüge zu gesellschaftlichen Basisprozessen der deutschen Gesellschaft herzustellen. Nur so erscheint es uns möglich, zu belastbaren Aussagen über historische Subjektordnungen zu gelangen, die sich nicht in Großkategorien (wie „therapeutisches Subjekt“, „Homo oeconimicus“) erschöpfen. Wir untersuchen Lebensratgeber, weil sie nicht nur Selbstführung diskutieren, sondern Anleitungen bereitstellen. Sie bieten z.T. ausführliche, z.T. kürzere Instruktionen zu Techniken. So sollen die Leser/innen allein in die Lage versetzt werden, ihre eigene Selbstführung zu gestalten und zu verbessern, nämlich, indem sie die Techniken gemäß den Anleitungen einüben. Die Techniken bilden für unseren Ansatz die fundamentale Ebene. Lebensratgeber listen die Techniken jedoch nicht einfach auf, sondern setzen sie zueinander ins Verhältnis und bauen sie in einen Gesamtentwurf gelungener Selbstführung ein. Es wird sich zeigen, dass die untersuchten Ratgeber keine neutralen Paletten von Angeboten für Techniken der Selbstführung sind, aus denen sich die mündigen Subjekte das für sich Passende heraussuchen könnten. Vielmehr sind die einzelnen Techniken eingebettet in übergreifende Ordnungen („Regimes“), in denen spezifische Formen von Subjektivität erst verwirklicht werden sollen. Wir untersuchen, wie sich die Techniken, deren Objekte und ihr Arrangement im Hinblick auf eine vorgestellte Selbstführung verändern. Wenn wir Umbrüche diskutieren, so sind Veränderungen in den Techniken und deren Anordnung grundlegend.

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3.2 DER GANG DURCH DIE BIBLIOTHEKEN: ERSTELLUNG UNSERES QUELLENKORPUS Bislang gibt es in der Forschung keine historisch repräsentativen und systematisch erschlossenen Quellenkorpora für deutschsprachige Lebensratgeber. Um die Repräsentativität der untersuchten Texte zu gewährleisten, war es für die Untersuchung deshalb zuerst notwendig, eine breite Basis an potenziell infrage kommenden Texten zu ermitteln. Da die Lebensratgeber, gerade zu Anfang des 20. Jahrhunderts, kein festes Buchsegment bilden, haben wir eine Liste infrage kommender Texte durch ein Raster von 36 Schlagworten erstellt.1 Dieses wurde in verschiedenen Katalogen und Metakatalogen2 eingegeben und die ursprünglichen mehrere Tausend Treffer wurden direkt im Katalog überprüft und konnten in diesem ersten Schritt auf unter Tausend reduziert werden.3 Anschließend wurden sie vor Ort gesichtet und auf ihre Eignung – anhand eines von uns aufgestellten Kriterienkatalogs – überprüft und bewertet. Vier Kriterien waren im zweiten Selektionsprozess maßgeblich: Erstens, dass es sich um allgemeinverständliche, instruktive Texte zur Lebensführung insgesamt handelte. Wir untersuchen aufgrund unseres Fokus auf Selbstführung also keine Texte, die sich nur einem speziellen Lebensbereich wie Arbeit, Gesundheit oder Partnerschaft widmen. Seit den 1970ern boomt das Genre der spezialisierten Ratgeber im deutschsprachigen Raum. In manchen, wie Erziehungs- oder auch Gesundheitsratgebern, finden sich zwar auch Elemente von Fremd- und Selbstführung, jedoch nicht in derselben Konzentration und im selben Umfang wie in Lebensratgebern oder dem Anspruch auf eine umfassende Lebensführung. Zweitens wählten wir nur Texte aus, die nicht für eine bestimmte religiöse oder esoterische Tradition geschrieben wurden. Wir wählten vielmehr nur Texte, die bei den Leser/innen keine Vorannahmen machen, was ihre religiösen Überzeugungen angeht, noch sie zu missionieren versuchen. Die Lesesituation für erbauliche oder missionierende Literatur ist eine andere. Wir untersuchen Texte, die niederschwellig angesetzt sind und ein möglichst breites Publikum ansprechen.

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Die Schlagworte im Einzelnen sind: Lebensführung, Selbstführung, Selbststeuerung, Selbstmodifizierung, Selbsterziehung, Selbstentfaltung, Persönlichkeitsentwicklung, Lebenserfolg, Selbstmanagement, Selbstregulation, Selbsttherapie, Selbstsorge, Selbsttätigkeit, Selbsttechnologie, Selbstüberwachung, Selbstverantwortung, Selbstverwirklichung, Selbstheilung, Selbstkontrolle, Selbstgefühl, Selbstfindung, Selbstevaluation, Selbsterfahrung, Selbstdisziplin, Selbstbestimmung, Verhaltensmodifikation, Lebenskunst, Lebensberatung, Lebensbejahung, Lebenssinn, Ratgeber, Erfolg, Glück, Leistung, geistige Leistung und Kreativität. Neben dem Karlsruher Virtuellen Katalog und der Staatsbibliothek Berlin waren für uns die Kataloge der Deutschen Nationalbibliothek ausschlaggebend. Letztere hatte für uns den Rang eines Referenzkataloges, da die DNB ab 1913 einen umfangreichen, großräumig abdeckenden Bestand deutschsprachiger Medien besitzt. Während also ein Schlagwort z.B. „Kreativität“ war, konnten bereits Texte ausgeschlossen werden, die Titel wie „Kreativität in Ingenieursberufen“ hatten und entsprechend keine infrage kommenden Lebensratgeber waren.

Methodik

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Drittens untersuchen wir nur Texte, die erkennbare Techniken aufweisen. Diese müssen den Leser/innen in nachvollziehbarer Form vorliegen, sie müssen Angaben über konkrete Übungsschritte und -abfolgen enthalten, möglicherweise mit Angaben über örtliche und zeitliche Bedingungen und/oder Intervalle der Einübung. Kurzum, sie müssen eine bestimmte Ordnung aufweisen, die sie praktisch handhabbar machen. Andere Texte, z.B. solche, die nur Aphorismen, vage Anweisungen oder Anekdoten enthalten, werden von uns ausgelassen. Viertens müssen die Techniken in ihrer strategischen Anlage erkennbar sein, d.h. sie müssen eingebettet sein in Aussagen über ein Ausgangs- sowie Zielsubjekt und eine gewisse narrative Grundstruktur besitzen. Reine Übungsbücher, wie Logik- und Kreativitätsübungen, ohne eine Leser/innenführung, ohne Problematisierungen, Versprechungen und eine Teleologie wurden von uns nicht berücksichtigt. Die so erfolgte Sichtung und Exzerpierung der Texte mündete in eine Liste derjenigen Lebensratgeberliteratur, die in engere Auswahl kam. Diese erhielten eine weiterqualifizierende Bewertung in Form von Punkten, um so zu einer Binnenhierarchie der Texte zu gelangen: wie präzise, allgemeinverbindlich, aussagekräftig, charakteristisch ist der Text? So ergab sich innerhalb der engeren Quellenbasis ein Kreis hervorgehobener Quellen, denen ein doppeltes Augenmerk zuteil wurde. 4

3.3 DREI EPOCHEN DER SELBSTFÜHRUNG: PERIODISIERUNG DER RATGEBER In unserer Untersuchung der Selbstführungsweisen anhand deutschsprachiger Lebensratgeberliteratur haben wir bestimmte Knotenpunkte, bestimmte zeitliche Ballungsräume für das ausgemacht, was wir „Regime der Selbstführung“ genannt haben. Als wir zu Beginn unserer Recherchen zur Lebensratgeberliteratur einen allgemeinen, zeitlich nicht periodisierten Fokus eingenommen hatten, um uns einen Überblick über die Thematiken und die Ordnung zu verschaffen, fiel uns auf, dass es bestimmte zeitliche Hot Spots der Selbstführungsdiskurse gab. Diese waren zumeist gekennzeichnet durch einen spezifischen Wandel der Thematiken, Felder, Techniken und neuer Grenzziehungen (Abgrenzungen zu vorangegangen Lebensratgebern), der sich durch eine Fülle von Publikationen hindurchzog. Die Sichtung der Texte zeigte, dass in diesen kurzen Zeitspannen im Ringen um die rechte Führung seiner selbst etwas zum Ausdruck kommt, was sich uns als besonders charakteristisch für eine gesamte Epoche darstellte. Die entscheidenden Zäsuren zwischen den dominanten Selbstführungsregimes konnten wir zwischen (und z.T. in) den beiden Weltkriegen (erstes Regime) und in den 1960er und 1970er Jahre (zweites Regime) sowie in den 1990er und 2000er Jahre (drittes Regime) identifizieren. Diese Brüche stimmen mit den Ergebnissen anderer für uns bedeutsamer historischer Untersuchungen überein, z.B. denen von Reckwitz, Castel oder Boltanski und Chiapello.

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Diese galt als obligatorisch zu analysierendes Quellenmaterial für beide Autoren dieser Untersuchung und diente als gemeinsames theoretisches Fundament zur Erschließung einer Epoche.

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Nachdem wir so zu einer groben Periodisierung gelangt waren, wählten wir uns entsprechend großzügig bemessene Zeiträume (anhand der oben dargelegten Kriterien) um die in unserer Voruntersuchung identifizierten Hot Spots. Sie umfassten die Zeiträume von 1916 bis 1942, 1960 bis 1979 und 1995 bis 2005. Für die dritte Epoche ziehen wir Lebensratgeber heran, die wir aufgrund der Fülle der Lebensratgeber, aus drei Schnitten gewonnen haben, und zwar 1995/96, 2000/2001 und 2004/2005. Dabei war der Anfangszeitpunkt ausschlaggebend, weil sich ab der Mitte der 1990er Jahre die Konturen des dritten Regimes deutlich abzuzeichnen beginnen. Die Schnitte innerhalb der Dekade sind dagegen randomisiert. Die 1950er oder 1980er Jahren sind in dieser Geschichte der Selbstführung nicht belanglos oder überflüssig, aber ihnen fehlt es an der Klarheit in der Form der Problematisierung und der Ausgereiftheit bzw. Neuerung in den technischen Arrangements. In den 1950er Jahren gibt es im deutschsprachigen Raum nur vereinzelte Neuauflagen der Klassiker (z.B. Grossmann), aber keine eigenständige Diskussion oder distinkte Entwürfe. Die 1980er Jahre führen z.T. die Diskurse der 1970er weiter (besonders in der Linie von Selbstmanagementratgebern und von Autor/innen wie Ulrich Beer) oder sie deuten Tendenzen an, die jedoch erst in den 1990ern zur Blüte kommen. So gelangten wir zu 20 bis 30 Texten für jeweils die frühe, die mittlere und die zeitgenössische Epoche der Selbstführung. Ziel unserer Quellenauswahl war es, hegemoniale Diskurse bzw. Selbstführungsregimes zu identifizieren. Unsere These war und ist dabei, dass auch in einem Feld, das wenig durch äußere Rahmenbedingungen (wie finanzierte Forschung an etablierten Instituten) oder innere Maßstäbe (wie wissenschaftliche Seriosität) strukturiert ist, welches zumeist als populär und somit als potenziell strukturarm und inhaltlich flach gilt, sich identifizierbare innere Ordnungsstrukturen ergeben. Mehr noch: unsere These lautet, dass es in allen drei Epochen hegemoniale Diskurse gibt, die ausdifferenzierte strategisch-technische Arrangements aufweisen. Die Regelhaftigkeit ist nicht auf simples Kopieren oder Festhalten an einer prädiskursiven Leitidee zurückzuführen noch auf makrostrukturelle historische Lagen reduzierbar, sondern auf die Dichte eines beredten Ringens um die Frage nach der richtigen Führung seiner selbst, die sich vor verschiedenen historischen Hintergründen aus unterschiedlichen Gründen heraus für die Texte als dringlich darstellt. Wir zeichnen nach, wie ein bestimmtes Subjekt und Selbstführungsmodell strategisch und technisch geradezu eingekreist werden. Jeder Lebensratgeber wurde von uns analysiert, was entsprechend unserer Analyseebenen, Dreifaches hieß: Erstens haben wir alle in den Texten vorkommenden Techniken in eine Tabelle eingearbeitet und dabei die wichtigen Aspekte wie Genus und Objekt festgehalten. Wir haben drei Techniktabellen für drei Zeitabschnitte entworfen, welche jeweils ca. 700-800 Techniken verzeichnen. Die in dieser Arbeit explizit diskutierten Techniken sind diejenigen, die wir für repräsentativ oder herausragend halten. Wir haben dazu ähnliche Techniken zu Gruppen zusammengestellt und diejenige Technik bestimmt, die am klarsten in ihrer Formulierung oder am differenziertesten in ihrer Instruktion war. Diese Techniken machen nur ein paar Prozent der exzerpierten Gesamtmenge aus. Uns geht es darum, das Feld der Techniken jeder Epoche strukturell abzudecken, wobei uns die ausgewählten Techniken als Eckpunkte dienen. Sie dienen uns auch als Grundlage dafür, hegemoniale Positionen und Subtypen zu identifizieren.

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Zweitens haben wir für jeden Text ein Strategiepapier erstellt, welches die Problematisierungen, die Teleologie und die Transformation des Subjektes betreffen sowie die zentralen Momente des Autor/innen-Leser/innen-Verhältnisses und der Rezeptionslenkung. Ziel war es, die strategische Ausrichtung der Texte einer Epoche zu rekonstruieren und in der Konsequenz die Kernstruktur der Ratgeber zu entwerfen, welche die zentralen Züge der Epoche widerspiegelt. Es gibt natürlich gewisse Abweichungen von den Texten, dafür zeigt sich aber ein zusammenhängendes Bild einer Epoche. Schließlich haben wir die wichtigen expliziten Bezüge der Texte zu den Diskursen ihrer Zeit identifiziert. Diese werden einzeln im Regimeteil der Kapitel aufgeführt und besprochen, um einen zeitlichen Hintergrund abzubilden, welcher die Struktur der Ratgeber erhellt. Wir haben dazu für die entsprechenden Diskurse Literatur (Primär- und Sekundärquellen) in Auswahl recherchiert, nicht, um diese repräsentativ abzubilden, sondern um das Selbst- und Fremdführungsscharnier innerhalb der Lebensratgeber besser zu verstehen.

3.4 EINE GOUVERNEMENTALITÄTSTHEORETISCHE FORSCHUNGSOPTIK FÜR LEBENSRATGEBER Uns interessiert die Selbstführung moderner Subjekte, wie sie in den Lebensratgebertexten umrissen wird. Die leitenden Fragen sind dabei: Welche strategischen Arrangements werden in Stellung gebracht und welche Techniken sollen in jeder der drei Perioden eingeübt werden, um eine gelungene Selbstführung und somit ein für seine Zeit gewappnetes Subjekt hervorzubringen? Für unsere Arbeit ist deshalb ein Rückgriff auf Foucaults klassische gouvernementalitätstheoretische Untersuchungen als historischer Hintergrund unerlässlich. Uns interessiert sein Spätwerk in Bezug darauf, wie sich die Problematisierung und Praxis von Menschenführung im 19. und vor allem im 20. Jahrhundert verändert. Die zugrunde liegende Beobachtung ist dabei, dass die Einzelnen eine tragende Rolle in den modernen Gesellschaften übernehmen sollen. Sie sind nicht nur mehr Subjekte im Sinne von Untertanen, sondern sollen nach dem Selbstverständnis der Gesellschaften freie Bürger/innen und (vor allem ab den 1960/1970er Jahren) mündige Menschen sein. Während damit eine autoritative Form der Fremdführung spätestens zu Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend als überkommen kritisiert wird, erscheint die Selbstführung der Subjekte immer wichtiger für eine als freiheitlich oder modern verstandene gesellschaftliche Ordnung. Mit den aufkommenden politischen und wissenschaftlichen Diskursen über Mensch und Gesellschaft wird damit auch das Wohl der Einzelnen zum Problem der Politik. Gleichzeitig hängt das Wohl einer Gesellschaft von den Einzelnen ab: Die Ökonomie von den Arbeiter/innen, die Wehrhaftigkeit der Nation von den Soldat/innen, der soziale Friede von engagierten Bürger/innen. Während die Problematisierung des Übergangsgebietes von Fremd- und Selbstführung durch Foucault von der Richtung der Fremdführungen her eingekreist und dann von den Gouvernementalitätsstudien weitverzweigt untersucht wurde, blieb eine Untersuchung, die von der spezifisch modernen Form der Selbstführung im 20.

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Jahrhundert ausgeht, weitgehend eine Skizze. Wir drehen deshalb in unserer Analyse die Blickrichtung um. Uns interessiert, wie die Frage nach der Selbstführung, nach der Lebensführung auf alltäglicher Basis diskutiert wurde und welche Anleitungen entworfen wurden – nicht von Regierungs- oder Wirtschaftsprogrammen, sondern in Form von in der Öffentlichkeit dezidiert zu diesem Thema publizierten Texten, nämlich den Lebensratgebern. Unsere Untersuchung fokussiert sich auf die lokalen, zeitlich situierten Formen der Regierung des Selbst, indem sie die Selbstführung als einen Kreuzungspunkt von Techniken und Strategien analysiert, die ähnlich wie die Umbrüche in den Regierungsweisen, die Foucault darstellt, bedeutenden Wandlungen unterliegt. 3.4.1 Genealogische Perspektive Wir nutzen Foucaults Genealogie-Konzept für die Untersuchung von Lebensratgebern, insofern es unser Anliegen ist, eine Geschichte der Gegenwart zu schreiben. Es geht darum, sich von der Gegenwart irritieren zu lassen und das Selbstverständliche, Hintergründige und scheinbar Geschichtslose – hier die Begriffe des Selbstführung und der Lebensführung – zu hinterfragen, und auf dessen eigene Geschichte zu befragen. Deswegen läuft unsere Forschung auf die Analyse der gegenwärtigen Ratgeberliteratur (von den 1990ern bis heute) hin, dem Regime, das bis in Gegenwart hinein andauert. Erstens bringt eine genealogische Vorgehensweise eine Skepsis gegenüber monokausalen oder teleologischen Erklärungskonzepten mit sich. 5 Diese Skepsis ist methodisch und bewahrt vor einem theoretischen Reduktionismus. Deshalb hebt die Genealogie gegenüber einer traditionellen, genetischen Vorgehensweise die Diskontinuitäten, Brüche und Mehrdeutigkeiten hervor. Wie Hubert L. Dreyfus und Paul Rabinow es in ihrem Werk über Foucault ausdrücken, das inzwischen selbst ein Klassiker geworden ist: „Genealogy seeks out discontinuities where others found continuous development. It finds recurrences and play where others found progress and seriousness.“6 Eine Genealogie in diesem Sinne untersucht lokale, partikulare Felder und gesteht diesen eine relative Eigenständigkeit zu und versucht nicht, das Besondere aus dem Allgemeinen globaler Theorien zu deduzieren. Eine genealogische Untersuchung muss zweitens anti-essentialistisch sein, darf also keine Annahmen bezüglich der Wirklichkeit der von den Praktiken behandelten Phänomenen machen, sondern muss sie vielmehr alle als historische Formen behandeln. Unter dieser Perspektive rücken gerade solche Gegenstände in den Fokus der genealogischen Betrachtung, die auf den ersten Blick von historischen Wandlungen unberührt scheinen:

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„For the genealogist, there are no fixed essences, no underlying laws, no metaphysical finalities“, Dreyfus, Hubert L.; Rabinow, Paul (1983): Michel Foucault. Beyond Structuralism and Hermeneutics. Chicago: Chicago University Press, 106. Die Tatsache, dass die Untersuchung keine quasi-natürlichen Gesetzmäßigkeiten oder Teleologien voraussetzt, hindert sie natürlich nicht daran, eben solche als Gegenstand der Forschung methodisch zu analysieren. Dreyfus/Rabinow (1983), 106.

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„Sie [die Genealogie] muss die Ereignisse in ihrer Einzigartigkeit und jenseits aller gleichbleibenden Finalität erfassen, sie dort aufsuchen, wo man sie am wenigsten erwartet, und in solchen Bereichen, die keinerlei Geschichte zu besitzen scheinen.“ 7

Auf die Techniken der Lebensratgeber bezogen ist die genealogische Frage also nicht, ob der Gegenstand einer Technik eine absolute Wirklichkeit hat, sondern, wie diese Wirklichkeit sich in den Techniken manifestiert. In unserem Falle heißt dies, keine Aussagen darüber zu treffen, ob es ein bestimmtes Selbst, eine Psyche oder eine Seele gibt, so wie die Lebensratgeber sie konzipieren. Stattdessen untersuchen wir, wie die jeweiligen Entwürfe eines Selbst konzipiert und in Technologien des Selbst integriert sind bzw. in den Technologien erst entworfen werden. Der Vorteil von Foucaults Genealogiekonzeption liegt vor allem in der Analyse spezifischer, lokaler Praktiken. Paul Veyne nennt dies die „kopernikanische Wende“ in den Geschichtswissenschaften: weg von den „natürlichen Gegenständen“, welche die Geschichtsschreibung einer bestimmten Zeit als gegebene, überhistorische Größen erscheinen, hin zu den „unterschiedlichen Praktiken“, die diese Gegenstände zuallererst konstituieren.8 Die Praktiken sind in der Regel heterogen und die interessanten historischen Gegenstände verdanken ihre Form einem komplexen Zusammenspiel der Praktiken. Die genealogische Untersuchung von Praktiken der Selbstführung bewegt sich also notwendig in einem Spannungsfeld, bei dem von außen sowohl autonomisierend als auch heteronomisierend erscheinende Elemente, namentlich Techniken und Strategien, zu einer lokal und zeitlich je einzigartigen Formation zusammenfließen, die das Subjekt gleichermaßen als Schöpfer und Geschöpf erscheinen lassen. Genau diese Formation gilt es, in Gestalt der Techniken und Strategien zu untersuchen. Unser dritter Bezugspunkt zu Foucault besteht in der Form der Analyse. Wir folgen seinem Spätwerk darin, besonders Techniken (Foucault spricht auch von „Praktiken“) und Strategien als Grundbausteine der Selbstführung anzusehen. Deren Gesamtheit, eingebettet in die historischen Wechselverhältnisse, macht das Regime der Selbstführung aus. In den einzelnen Kapiteln bilden Techniken, Strategien und das Regime die jeweils drei Untersuchungsebenen. 3.4.2 Sich selbst führende Subjekte Unsere These der Historizität der Selbstführung basiert auf der Annahme, dass Subjekte einerseits nicht als bloße Produkte einer sozialen Ordnung begriffen werden können, deren Normativität und Stabilität sie blind reproduzieren. Andererseits lassen sie sich auch nicht als souveräne Individuen betrachten, deren Subjektivierung sich unbeeindruckt und unbeeinflusst von Herrschaftsverhältnissen entfaltet. Das Subjekt muss vielmehr als ein verwickeltes Ineinander von Selbst- und Fremdbildung verstanden werden. Gesellschaftliche Strukturen von Macht und Herrschaft auf der einen und Momente eigensinniger und situativer Aneignung und Befähigung auf der 7 8

Foucault, Michel (2002): Nietzsche, die Genealogie, die Historie. In: Foucault, Michel: Schriften Bd. 2: 1970-75. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 166-191; 166. Veyne, Paul (1992): Foucault – die Revolutionierung der Geschichte. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 14.

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anderen Seite sind aufeinander verwiesen. 9 Insofern kann jedes Subjekt als konflikthafte Einheit von Selbst- und Fremdführung aufgefasst werden. Diese Perspektive ist für unser Forschungsanliegen ausschlaggebend. Sie öffnet historische Ausformungen von Subjektivität für die Frage, wie in ihnen Lebensführung auf der einen und politische Rationalität auf der anderen Seite miteinander vermittelt sind. An Lebensratgebern lässt sich das auf zwei miteinander verbundenen Ebenen zeigen, nämlich derjenigen der Techniken und derjenigen der Strategien. Unsere Blickrichtung setzt dabei bei den Subjekten und deren Selbstführung an. Das „Subjekt“ benutzen wir insofern als Beobachtungskategorie. Es hilft uns, zu verstehen, wie in den Texten das eigene Selbst als Ort und Gegenstand der Arbeit konzipiert wird und Techniken in Anschlag gebracht werden, um das Verhältnis zu sich und zur Welt grundsätzlich neu auszuhandeln. Dies geschieht nicht in einem ahistorischen oder vorsozialen Raum. Subjekt zu sein und zu werden sowie als solches anerkannt zu werden vollzieht sich vielmehr innerhalb einer sozialen Welt, die von materiellen Ordnungen, Infrastrukturen und Sinn- und Zwecksetzungen bestimmt ist, über die die Einzelnen nicht „frei“ verfügen können. Gleichzeitig erwerben die Subjekte Befähigungen zum flexibleren Umgang mit dieser Welt, zur kritischen oder distanzierten Bezugnahme. Subjektwerdung, Subjektivierung ist somit als ein relationales und interaktionales Geschehen zu begreifen, das auf andere Subjekte, soziale Gruppen, Artefakte und dergleichen bezogen ist. „Das Konzept [der Subjektivierung] betont erstens zusammen mit der Prozesshaftigkeit der Entstehung und Ausformung ‚kompetenter‘ Handlungsträgerschaft, dass es sich dabei um ein relationales Geschehen handelt, in dem Selbst- und Fremdbezüge vielfach ineinander verschränkt sind. Es richtet den Blick zweitens auf den reflexiven und reflektierten Vollzugsmodus dieser Ausformung im Sinne eines körperlich-leibliche, mentale und affektive Momente einschließenden Sich-Orientierens, Sich-Findens und Sich-Verstehens in der Praxis. Sie ereignet sich als eine Praxis, bei der die Einzelne sich ins Verhältnis mit sich selbst setzt und zu diesem ‚Selbst‘ einen spezifischen Zugang entwickelt.“10

Selbstführung ist insofern ein Spezialfall von Subjektivierung. Umgekehrt lässt sich Selbstführung nur dann verstehen, wenn das Selbstverhältnis der Subjekte, wie wir es in den Texten vorgezeichnet finden, in seiner grundlegenden Struktur erhellt wird. Was stellt sich den Einzelnen als „Bausteine“ ihres Selbst dar? Welche Kräfte bedrohlicher und nützlicher Art walten in ihm? In welchem Verhältnis stehen diese zueinander? Was ist das, was im Subjekt führt und damit den Interessen, Neigungen und „Bedürfnissen“ ein besonderes (historisch spezifisches) Gepräge gibt? Das Subjekt konstituiert sich nicht nur zwischen gesellschaftlicher Normierung und selbstermächtigender sozialer Praxis, sondern zugleich zwischen „sich“ und „sich selbst“ oder genauer: Das Subjekt der Selbstführung zerfällt notwendigerweise seinerseits in ein Subjekt und ein Objekt. Subjekte werden die Einzelnen insofern, als etwas in ihnen identifiziert und mit Mitteln und Möglichkeiten, mit Handlungsmacht ausgestat9

Vgl. Alkemeyer, Thomas; Buschmann, Nikolaus (2016): Praktiken der Subjektivierung – Subjektivierung als Praxis. In: Schäfer, Hilmar (Hrsg.): Praxistheorie. Ein soziologisches Forschungsprogramm. Bielefeld: transcript, 115-136; 129. 10 Vgl. ebda.

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tet wird. Objekte werden die Einzelnen insofern, als sie in sich bestimmte Bereiche ausweisen müssen, die umgestaltet, verändert, verbessert, gestärkt, bekämpft werden sollen. So macht die erste Epoche der Selbstführung den Willen zum Träger einer Handlungsmacht, die gegen die Leidenschaften und Gelüste gerichtet ist, während die zweite Epoche die intuitiven, unbewussten Kräfte gegen die Ratio gerichtet sieht. Wie das Selbst als Subjekt gegen das Selbst als Objekt gerichtet ist (z.B. disziplinierend oder erlaubend), ist zudem ein wichtiger, ja wesentlicher Aspekt der Historizität von Subjektivierung. Selbstführung stellt somit einen bestimmten Modus oder wie man mit Kierkegaard sagen kann, eine bestimmte Verhältnismäßigkeit her zwischen dem Selbst als Subjekt und dem Selbst als Objekt. Sören Kierkegaards so berühmte wie paradoxe Definition vom Selbst als einem „Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält“11 muss also auch auf die Selbstführung angewendet werden. Dieses reflexive Verhältnis macht aus der Einzelnen erst ein Subjekt, das adressierbar wird und mit bestimmten Interessen, Sichtweisen und „Bedürfnissen“ sichtbar werden kann. Dabei werden weder die Eigenständigkeit des Subjektes noch historische Handlungsräume grundsätzlich geleugnet. Subjektivierung im Allgemeinen und Selbstführung im Besonderen geschieht innerhalb vorgezeichneter Freiräume, welche erstens durch historische Verhältnisse begrenzt sind, zweitens dadurch, wie die Subjekte sich selbst verstehen, und drittens dadurch, wie sie, allein oder in Interaktion, daraus Praktiken entwickeln. Alle drei bedingen einander und können sich zueinander verschieben. Es geht bei einer Genealogie der Selbstführung also um ein genaues Verständnis dieser Freiräume, in denen die gegenseitige Bedingtheit von subjektiver Lebensführung und politischer Rationalität erkennbar wird. Uns interessieren deshalb die Entwürfe von Subjektivität (analysiert unter dem Strategiebegriff) und die Frage, wie sie in Anleitungen umgesetzt werden (Techniken). 3.4.3 Ebene der Techniken In unserer Untersuchung moderner Selbstführungsformen nimmt die Analyse der Selbsttechniken eine zentrale Stelle ein. Sie sind der Dreh- und Angelpunkt jeder Subjektveränderung und bilden die kleinste Einheit unserer genealogischen Untersuchung. Selbsttechniken greifen sowohl in körperliche, mentale, affektive als auch handlungsbezogene Zustände und Vorgänge mit dem Ziel ein, eine weitreichende Selbsttransformation zu bewirken. Wesentlich ist ihnen im Fall der Lebensratgeber, dass sie den Menschen in einen Zustand größeren Glücks, gesteigerter Leistungsfähigkeit oder umfassender Gesundheit zu versetzen trachten. Sie richten das Verhalten nicht nur auf einzelne zu vermeidende oder zu erwirkende Handlungen aus, sondern intendieren in der Gesamtheit ihrer Ausrichtung eine Neuschöpfung der eigenen Daseinsform. Selbsttechniken können so als eine Art von Öffnung für neuartige Subjektivitäten betrachten werden, die aber wiederum auf ein bestimmtes Bild verweisen, das man sich vom Menschen in dieser Zeit gemacht hat. Selbsttechniken sind also Öffner und Schließer für eine historisch spezifische Ausgestaltung von Subjektivität, insofern sie einen Freiraum möglicher Arbeit an sich selbst schaffen, diesen aber auch begrenzen. In diesem Sinne beziehen sich Selbsttechniken und Subjektivität aufeinander. 11 Kierkegaard, Sören (2005): Die Krankheit zum Tode. Hamburg: Meiner, 9.

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„Ein solcher Zugang, der die Herausbildung von Subjekten und Praktiken als zirkulär miteinander verquicktes Geschehen denkt, würde den performativen Vollzugscharakter der Subjektbildung anerkennen, sich jedoch nicht pauschal gegen die Rede von Subjekten überhaupt wenden, sondern deren Um- und Neubildung zu einem zu untersuchenden Problem machen.“ 12

Lebensratgeber sind Sachbücher mit instruktiven Inhalten, die ihre Anleitungen in Form von Texten darlegen. In diesem Sinne verstehen wir unter Techniken all dasjenige, was Gegenstand eben dieser Anleitungen, Instruktionen und Handlungsanweisungen ist. Dadurch gewinnt der Technikbegriff Kontur: Es sind abgegrenzte (oder zumindest abgrenzbare) Einheiten nachahmbarer, prinzipiell wiederholbarer, regelhafter und übbarer Tätigkeit oder Aktivität. Techniken zielen auf Verhaltensmodifikationen, auf Veränderungen des Handelns, der Einstellungen, der Gedanken, der Gefühle und der Wahrnehmungen ab. Da die Techniken immer einem Zweck dienen (welchem genau, kann sehr unterschiedlich sein), muss dieser Zweck im Text in Erscheinung treten und es muss nachvollziehbar sein, warum eine Technik ein adäquates Mittel zur Erreichung des Zweckes ist. In einem relativen, kontextuellen, subjektiven Sinne sind Techniken also zweckrational. Damit sind die Kernmerkmale der Techniken benannt: Zweckrationalität,13 Kommunizierbarkeit,14 Regelhaftigkeit/Übbarkeit,15 Distinktheit16 und ihre Einbettung.17 Diese Technikverständnis ist zwangsläufig ein anderes als das, welches an der Untersuchung der empirischen Realität gewonnen wird.18 Insofern sind Techniken für uns ein Sonderfall von Praktiken. 12 Alkemeyer/Buschmann (2016), 130. Im Zitat ist von Praktiken die Rede, dasselbe Argument ist aber für (Anleitungen zu) Techniken gültig. 13 Wir unterlegen ein sehr formales Verständnis von Zweckrationalität. Es spielt keine Rolle, ob wir die Techniken überzeugend finden oder ihnen Aussicht auf Erfolg einräumen. Wichtig ist für uns, dass sie im Hinblick auf ihr Ziel plausibilisiert werden. Es geht uns darum. den „Kontext“ zu erhellen, in dem sie rational erscheinen. 14 Das Wissen über Techniken und ihre richtige Ausführung muss den Leser/innen sprachlich vermittelt zugänglich gemacht sein. So trivial wie es auch erscheint, implizites Praxiswissen kann bei einer Analyse medialer Selbstführungstechniken nicht untersucht werden. 15 Zentrales Element der Selbsttechniken ist es, dass sie geübt werden sollen: dass durch achtsame Wiederholung derselben Handlungsabfolge auf Dauer die Qualität der Durchführung steigt. 16 Techniken ist es wesentlich, dass sie zeitlich, räumlich oder situativ begrenzt sind. Damit es sich in Lebensratgebern um eine umsetzbare Technik handelt, muss sie ausreichend konkret sein, also die Umstände der Ausführung und die Elemente benennen. Instruktive Passagen, die vage gehalten sind, fallen heraus und sind unter die Kategorie Tipps, allgemeine Ratschläge, Appell oder Sprichwörter zu rechnen. So ist zum Beispiel „Sei nicht so hart zu dir“ keine Technik, wohl aber „Schreibe jeden Tag abends vor dem Zubettgehen eine Sache in dein Erfolgsbuch, die du heute gut gemacht hast, und lies sie jeden Sonntagmorgen durch“. 17 Jede Technik ist eingebettet in eine bestimmte Normativität oder, wie wir sagen würden, sie besitzt ein bestimmtes „Genus“. Auch wenn die Techniken zahlreich und oft recht verschieden sind, lassen sich doch gewisse strukturelle Merkmale erkennen, die sie miteinander teilen. Vgl. hierzu auch untenstehende Ausführung. 18 Hierzu gehören zum Beispiel die Praxistheorien, die auch eher von Praktiken als von Techniken sprechen. Als Praktiken gelten ihnen konkrete, beobachtbare, leiblich-routini-

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Wir verhalten uns in unserer Untersuchung inhaltlich agnostisch dazu, was eine Technik sein kann, was ihre Objekte sind und ob sie die versprochenen Effekte tatsächlich erwirken kann. Wir haben alles an Techniken exzerpiert, was unseren formalen Kriterien (s. Abschnitt Quellenkorpus) genügt. Unsere Untersuchung und Auswertung verlief in zwei Schritten. Wir haben alle Techniken aus den Texten extrahiert, sie tabellarisch erfasst und ihre zentralen Eigenschaften bestimmt. Erstens haben wir ihr dominierendes Genus bestimmt, zweitens sie nach ihren Objekten aufgegliedert und drittens haben wir ihre Gewichtung untereinander innerhalb eines Ratgebers verzeichnet. Die drei Ebenen bilden die Übergangspunkte von den Techniken zu den Strategien, da sie bereits über die ausschließlich deskriptive Erfassung einer Technik hinausgehen. Das Genus kennzeichnet die Art und Weise, wie die Techniken auf das Subjekt einwirken. Es stellt die allgemeine Regel dar, wie sich das Subjekt zu sich selbst als Objekt der Selbstformung zu stellen hat, damit die Selbstführung erfolgversprechend sein kann. Als allgemeine Regel stellt es ein strukturelles Merkmal verschiedener Techniken dar und verbindet sie miteinander. So wirken die typischen Techniken der frühen Lebensratgeber aktiv, direkt, disziplinierend auf das Subjekt ein. Aktive Techniken sind in der Regel konfrontativ, rigide und lassen wenig individuellen Spielraum. Ein zweites Genus der Techniken bezeichnet eine Einwirkungsweise, die passiv, indirekt und gewährend verfährt. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie übermäßige Willensanstrengung und eine besondere aktive Haltung als eher hinderlich für eine erfolgreiche Ausführung ansehen. Typische passive Techniken sind u.a. Entspannungsübungen. Das dritte Genus lässt sich weder der ersten noch der zweiten Kategorie zuordnen. Sie setzen weder auf passive Selbsteinwirkung noch auf einen Zwang zur willentlichen Tat, sondern auf gedankliche Ordnung, Klärung und verstandesmäßige Durchdringung. Sie verfahren reflexiv und achtsamkeitslenkend. Typische Techniken dieses Genus sind Mindmapping, Brainstorming oder das Erstellen von Listen und Fragebögen. Sie sollen oft zur Tat führen, z.B. indem sie Defizite oder Handlungsoptionen bzw. Schritte aufzeigen, dabei sind sie aber der Umsetzung vorgeschaltet. Deswegen beziehen sie sich manchmal auf Techniken des ersten (aktiven), manchmal des zweiten (passiven) Typs. Um aber die Technik einem bestimmten Genus zuordnen zu können, reicht es nicht aus, die Techniken allein zu vergleichen. Es würde kaum aufschlussreich sein, die unzähligen, vielfach abgewandelten Übungen, die zum Beispiel die Nahrungsaufnahme betreffen, aufzuzählen. Nicht die Technik für sich genommen, sondern ihre Ausrichtung auf ein Teilziel und letztendliches Ziel, wir nennen es das Finalobjekt einer Technik, geben für die Anordnung und Gewichtung den Ausschlag. Neben dem Finalobjekt lassen sich noch direkte und indirekte Objekte einer Technik ausmachen. Am Beispiel des Fastens hieße dies, dass das direkte Objekt einer Technik der Verzicht auf Nahrung wäre. Je nachdem, in welchem strategischen Arrangement die Technik eingebettet ist, könnte das indirekte Objekt des Fastens zum Beispiel die sierte Bewegungen, in die bereits eine gewisse „Zweckrationalität“ in Form von kollektivem Wissen implizit eingelassen ist. Vgl. Reckwitz, Andreas (2003): Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive. In: Zeitschrift für Soziologie, (32/4), 282-301.

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Bekämpfung der Leidenschaft sein oder – völlig gegensätzlich – die Aufreizung einer bestimmten Sinnlichkeit (beispielsweise den Geruchssinn). Wenn die Technik letztendlich darauf abzielt, durch Entsagung den Willen zu stärken oder den Selbstgenuss zu fördern, wäre das Finalobjekt entweder der Wille oder eben Selbstgenuss. Formal ausgedrückt ist das Finalobjekt das Ziel einer Technik, das nicht mehr einem anderen Objekt untergeordnet werden kann. Durch diese Ausdifferenzierung auf der Ebene der Objekte gelangen wir zu einer Anordnung der Technik auf der Ebene des Genus und können gleichermaßen Gruppen von Ratgebern zusammenfassen, die sich zum Beispiel um die Stärkung des Willens bemühen. Auch wenn es in einem Ratgeber nur einige wenige Finalobjekte gibt, häufig nur ein einziges, sind die Techniken meist vielzählig. Die Menge an systematischen Anleitungen, die wir exzerpiert haben, ist sehr groß (für alle Zeitabschnitte zusammen sind es ca. 600). Wir haben wiederkehrende Techniken und zentrale Objekte identifiziert, die Techniken nach Genus geordnet und die zentralen formalen wie inhaltlichen Ähnlichkeiten identifiziert. Die kleine Auswahl an Techniken, die wir diskutieren, halten wir für exemplarisch. Sie vermitteln ein lebendiges Bild der Epoche. 3.4.4 Ebene der Strategien Strategien zielen auf eine bestimmte Form von Subjektivität: Sie entwerfen einen Raum, in dem sich die Subjekte bewegen und zu dem diese sich verhalten. Durch diesen Raum bewegen sich Kraftlinien zwischen Anziehungs- und Abstoßungsmomenten. Dadurch schaffen sie präformierte Felder für spezifische Subjektivitäten. Gleichzeitig ermöglicht es uns der Strategiebegriff, Abstand zu nehmen von der Frage, wie es den einzelnen Subjekten persönlich mit ihren Umständen geht. Dies ist für unsere Untersuchung uninteressant, weil uns die Strukturen interessieren und die Subjekte selbst in der Regel keine Einsicht in diese haben. Sie verhalten sich im Wesentlichen nur zu jeweils vorgegebenen Freiheitsräumen. Natürlich haben sie Spielräume und Möglichkeiten der Selbstgestaltung, aber nur innerhalb von historischen Formationen. Zwar sind es letztendlich die Subjekte selbst, welche diese Formationen hervorbringen, aber nicht in schöpferischen Akten und gemeinsamen Verhandlungen (diese finden innerhalb der Formationen statt), sondern durch ein komplexes Netz praktischer Vollzüge, durch ein Wechselspiel aus Verhältnissen und Verhalten. Unsere Untersuchung gilt der Struktur der strategisch ausgerichteten Räume der Selbstführung. Die grundlegenden Bereiche der Strategien in unserer Analyse sind erstens die Problematisierungsweise, zweitens die Teleologie des Subjekts. Diese markieren den Ausgangs- und den Endpunkt der Selbsttransformation. Sie sind Abstoßungspunkt und Zielscheibe der Selbstführung. Zwischen ihnen liegt das Feld der Techniken. Unter der Problematisierungsweise haben wir all diejenigen Aspekte versammelt, die Auskunft darüber geben, wie die Lebensratgeber die gesellschaftliche und soziale Situation einschätzen und wie sie das Selbstverhältnis der Person bestimmen, für die sie schreiben und der sie den Weg zur richtigen Selbstführung weisen wollen. Dies entspricht im Großen und Ganzen der Art und Weise, wie Foucault im Gebrauch der

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Lüste von Problematisierung spricht.19 Es für uns ist eine Beschreibung der Ausgangssituation, die aber auch Bedrohungsszenarien einschließt: also die Beschreibungen dessen, was die negativen Folgen für diejenigen sind, die nicht anfangen, in der richtigen Art und Weise an sich zu arbeiten. Am anderen Ende des strategischen Spektrums steht die Teleologie des Subjektes, also das Idealbild davon, wie ein fertig gebildetes, sich selbst richtig führendes Subjekt aussieht. Alles ist auf diesen Entwurf ausgerichtet. Ihm verdanken die Ratgeber ihre innere Systematik. Das ideale Subjekt hat eine innere Struktur, durch die es durch die Herausforderungen seiner Zeit navigieren kann. Diese Struktur gilt es in einem Vergleich der Texte freizulegen. Gleichzeitig ist das Idealsubjekt eingebettet in ein historisches Narrativ. Es ist zeitspezifisch aufgeladen mit Vorstellungen von Freiheit, Glück und Schaffenskraft. Dieser Entwurf, den Bröckling „Realfiktion“ nennt, entwickelt eine eigene Zugkraft. Deshalb gehören zum Aspekt der Teleologie in unserer Analyse auch die Versprechungen, die es als lohnend erscheinen lassen, sich selbst zu diesem idealen Subjekt umzuarbeiten. Die Problematisierungen und die Teleologie finden sich ausnahmslos in jedem untersuchten Ratgebertext, wenn auch mit verschiedenen Schwerpunkten und unterschiedlicher Ausführlichkeit. Wir haben alle Elemente exzerpiert und zu Übersichten zusammengestellt. Das ermöglicht uns erstens, wiederkehrende, tragende Elemente von bloßen Nuancierungen zu unterscheiden. Zweitens können wir die gesamte Strategien-Schicht einer Epoche auf ihre innere Struktur hin analysieren. An einem einzelnen Text ist es schier unmöglich (in jedem Fall nicht gesichert), herauszufinden, auf welche tragende Konstruktion er ausgerichtet ist. In einer Analyse des Gesamtkorpus ergibt sich jedoch das Bild einer Grundstruktur. Dadurch wird verständlich, wie die Texte im gouvernementalitätstheoretischen Sinne funktionieren. Zwischen den beiden Feldern Problematisierungsweise und Teleologie des Subjekts steht die Transformation des Subjektes, also der Weg der Arbeit an sich, der sich anhand der spezifischen Techniken vollzieht. Dieser konkretisiert sich im Falle der Lebensratgeber wesentlich in den Techniken und fällt unter die entsprechende Analyseebene. Die Techniken bilden die Brücke von der strategischen Ebene der Problematisierungen zu derjenigen der Teleologie. In den Kapiteln zu den Zeitabschnitten stellen wir deshalb die Problematisierungen den Techniken als deren Ausgangspunkt voran. Die Teleologie ist ihnen, als deren Fluchtpunkt, nachgestellt. Die Ebene der Strategien teilt sich also in jedem Kapitel in zwei Unterabschnitte auf. 3.4.5 Ebene des Regimes: Oszillationsfiguren und Achsen der Gouvernementalität Wir nutzen unsere Analyse der Techniken und Strategien einer Epoche am Ende jedes Epochenabschnitts, um zwei Blickpunkte klarer markieren zu können. Zum einem verdeutlichen wir die inneren Ambivalenzen, krisenhaften Momente, Aporien, Widersprüche und die daraus resultierenden Dynamiken der Selbstführungsregimes in jedem Zeitabschnitt unter dem Oberbegriff der Oszillationsfiguren. Damit wollen wir ausdrücken, dass gerade in Momenten des Wechselspiels und der inneren Kon19 Foucault (1991), allgemeiner 17-21 und im Einzelnen 22-35.

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flikte ein zentrales positives Moment der historischen Selbstführungsformen liegt. Mehr noch: Sie bestimmen, was der Selbstführung in einer Zeit Kraft und Aufschwung gibt. Damit sind sie auch die Grundlage für die Klärung der Frage, welche krisenhaften Momente von Gesellschaft und Subjektivität sich in dem jeweils anderen Teil widerspiegeln. Dies ist für die Genealogie zentral, erlaubt es uns doch, Verwerfungen zwischen den verschiedenen Epochen und auch unterschwellige Kontinuitäten zu erkennen, ohne sie gegeneinander auszuspielen. Zum anderen blicken wir von unseren Analysen aus auf das Verhältnis von Selbst- und Fremdführung: Welche historisch bedingten Freiräume der Subjektivierung, welche Subjektentwürfe und Möglichkeiten des Selbstverständnisses gehen mit welcher Verzahnung von Selbst- und Fremdführung einher? Wie lässt sich die Konstellation von bedingten Freiheiten innerhalb der Texte erfassen? Was können wir aus den Texten über das Wechselspiel von Machtverhältnissen und Subjektentwürfen lernen? Wir gehen dabei davon aus, dass es nicht nur einen neuralgischen Punkt im Subjekt gibt, sondern dass vielmehr Achsen der Gouvernementalität, die durch das Subjekt laufen, in ihrer Dynamik, ihrem Wechselspiel, vielleicht auch in ihren konfligierenden Bewegungen bestimmt werden müssen. Selbst- und Weltverhältnis der Subjekte sowie das in den Texten vorkommende Verhältnis von Freiheit (z.B. in Form von Selbstbestimmung oder Liberalismus) und Bedingtheit (z.B. als Subjektnatur oder als Zwang), die Dimensionen der Selbstführung und Fremdführung sind dafür entscheidend. Dabei werden wir auch dasjenige epochenübergreifende Phänomen erhellen, das wir als liberale Strukturdynamik gefasst haben. 3.4.6 Historische Perspektiven auf das Selbstführungsregime Während die Schritte zur Analyse der Techniken und Strategien auf eine wichtige analytische Verdichtung hinauslaufen, nämlich die jeweilige Form der Führung herauszuarbeiten, die sich aus Texten zur Selbstführung ergibt, so wollen wir unter der Perspektive des Regimes die wissens- und machtspezifischen Konstellationen einer Zeit bestimmen, in die die Frage der Selbstführung eingewoben ist. Wir gebrauchen den Begriff des Regimes für diese Untersuchung, da er uns im Vergleich zum ersten Analyseschritt erlaubt, diejenigen Elemente zu benennen, die die Selbstführung begrenzen. Die Aufgabe des Regimeabschnitts ist eine dreifache: Zum Ersten werden wir die wichtigsten Wissensformationen rekonstruieren, auf die die Lebensratgebertexte über bestimmte Figuren, Topoi und Modelle bezogen sind. Diese expliziten und impliziten Verweise können sich auf ein wissenschaftliches oder kulturell geteiltes Wissen beziehen. Sie dienen nicht nur der äußeren Legitimation der Selbstführung, sondern spannen einen diskursiven Raum auf, in dem bestimmte Aussagen darüber, was Subjektivität ist und was sie nicht ist, erst plausibel werden. Warum zum Beispiel kann der Wille in der frühen Lebensratgeberepoche eine so dominante Position in der Selbstführung einnehmen – welche wissensimmanenten Bedingungen mussten dafür erfüllt sein? Dass der Selbstführungsdiskurs aber mehr als eine bloße Abbildung, sondern eine eigene Rezeptions- und Verarbeitungsleistung darstellt, wird gleichermaßen Thema dieses Abschnitts sein. Zum Zweiten werden wir danach fragen, welchen Stand Selbstführung in zentralen gesellschaftlichen Institutionen der Menschenführung, wie der Fabrik (Betrieb, Unternehmen) und der Schule (Anstaltserziehung, Heils- und Korrekturanstalten) hat. Wie und welcher Weise taucht in diesen

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ein Subjekt auf, das zur Führung seiner Selbst als ermächtigt betrachtet wird? Diese Ebene soll uns Aufschluss darüber geben, inwiefern die Selbstführung nicht nur ein privates, sondern auch ein öffentliches Problem wird. In welchem Verhältnis stehen die Texte der Lebensratgeber zu den institutionellen Diskursen, wo verlaufen die Schnittmengen und wo die Grenzlinien? Zur Untersuchungen dieser Fragen werden historische Quellen herangezogen, die aus einer praktischen und institutionsnahen Perspektive an dieses Thema herantreten, wie Mitteilungsblätter für Lehrer/innen und Rektor/innen, anstaltseigene Veröffentlichungen, Manager/innenzeitschriften, Betriebsberichte oder auch wissenschaftliche Untersuchungen mit direkten Bezug zur institutionellen Praxis der Menschenführung.20 Zum Dritten werden wir abschließend eine gesellschaftstheoretische Perspektive auf die von uns untersuchte Epoche entfalten. Welche bedeutenden Entwicklungen in dieser Zeit sind zu registrieren, die die Frage der Selbstführung erstmals aufgebracht bzw. in ein bestimmtes Licht getaucht haben? Inwiefern ist die gesellschaftliche Mobilisierung der Subjekte in Form einer Selbstführung mit bestimmten Krisenszenarien einer Epoche verknüpft? Diese drei Ebenen des Regimes erhellen den Konnex zwischen scheinbar privater Arbeit am Selbst, die beliebig und mitunter kurios auf eine ungeschulte Betrachter/in wirken und zeitspezifischen Macht- und Herrschaftskonstellationen. Denn die Form der Selbstführung ist so wenig zufällig und selbstverständlich wie die Zeit, in der sie sich vollzieht.

20 Bei der Zusammenstellung dieser Quellen wurden umfangreiche Zeitschriften und Artikel recherchiert, um einen allgemeinen, zeitspezifischen Stand um die Frage der Selbstführung in den Institutionen zu rekonstruieren bzw. theoretisch zu erarbeiten. Es wurde besonders darauf geachtet, einen breiten Fundus an Quellen heranzuziehen. Wir konnten dabei nicht oder nur partikular auf bestehende wissenschaftliche Arbeiten zurückgreifen, da diese Frage bisher keine besondere Aufmerksamkeit zu genießen scheint. Daher ist die Rekonstruktionsarbeit notwendigerweise grobstichig und vollzieht nur die größeren Bewegungen nach.

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Zur Modernität der Selbstführung

Der folgende Abschnitt dient dazu, die Charakteristika der Selbstführung, wie wir sie in der Lebensratgeberliteratur finden, durch ausgewählte historische Kontrastierungen genauer herauszuarbeiten. Wir argumentieren, dass mit den Lebensratgebern eine neue Form der Selbstführung beginnt, die wir die moderne nennen können. „Modern“ bezeichnet hier keinen Effekt einer wie auch immer theoretisch gefassten Modernisierung, etwa die notwendige Folge eines übergreifenden historischen Kausalstranges. Unser Anliegen ist es vielmehr, die spezifischen Umbrüche und z.T. widerstreitenden Bewegungen innerhalb der Geschichte der modernen Selbstführung zu untersuchen. Wir kontrastieren diese mit drei anderen prominenten historischen Figuren der Verhaltensanleitung und Menschenführung, nämlich der antiken Stoa, dem mittelalterlichen Exerzitium und der Anstandsliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts. So können wir unseren Begriff der modernen Selbstführung an konkretem historischen Material schärfen, bevor wir uns den einzelnen Selbstführungsregimen im 20. Jahrhundert zuwenden. Dies ist auch deshalb notwendig, weil die wissenschaftliche Literatur mehrheitlich die Kontinuitäten herausgehoben und die Brüche kaum benannt hat. Während sich die Stoa und die christlichen Exerzitien (zönobitische Praktiken) durchaus als Subjektivierungsstrategien auffassen lassen, welche die Formung des Subjektes auf eine ethisch ideale oder transzendente Innerlichkeit zum Gegenstand haben, unterscheidet sich die Anstands- und Manierenliteratur von diesen auf einer grundlegenden Ebene, da sie auf Sozial- und nicht auf Selbstverhältnisse abhebt. Dass wir letztere im gleichen Atemzuge wie die Stoa und die christlichen Exerzitien behandeln, trägt allein dem Umstand Rechnung, dass sie in der soziologischen Literatur des Öfteren in eine Art wesenhafter Nähe zur modernen Selbstführung gerückt wurde.1 Unser Anliegen ist es hingegen, die aktuelle, um die Jahrhundertwende aufkommende hegemoniale Form von Selbstführung zu untersuchen, in der die verschiedenen untersuchten Dispositive verortet sind. Damit werden die Umbrüche zu den vorhergehenden Formen der Selbstführung hervorgehoben und ans Licht der Analyse gehoben, nicht um jegliche Kontinuitäten zu leugnen, wohl aber, um die Struktur der Selbstführung zumindest für den von uns untersuchten Bereich in ihrer Komplexität 1

Vgl. Maasen, Sabine (2004): Es ist ihre Entscheidung! Die Hypostasierung der Wahl in Ratgeberbüchern. In: Balke, Friedrich et al. (Hrsg.): Paradoxien der Entscheidung. Wahl/ Selektion in Kunst, Literatur und Medien. Bielefeld: transcript, 211-243.

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zu erfassen und nicht unter vermeintlich Altbekanntem zu begraben. Insofern steht moderne Selbstführung in unserem Sinne geradezu im Gegensatz zu einem Verständnis von aktueller Selbstführung als Konsequenz eines allgemeinen, historisch weitgreifenden Prozesses der Modernisierung.2 Da wir die genaue Struktur der verschiedenen Selbstführungsregime im 20. Jahrhundert erst im Verlauf dieser Arbeit auf den drei Ebenen der Techniken, der Strategien und des Regimes analysieren, beschränken wir uns im Folgenden zunächst auf einen Vergleich der allgemeinen Struktur der Selbstführung in Lebensratgebern. Wir thematisieren für alle historischen Figuren erstens deren Instruktionsform. Damit meinen wir die soziale oder mediale Vermittlung der Techniken: Für die Techniken lassen sich in Lebensratgebern, Anstandsbüchern, stoischer Philosophie und christlicher Askese schriftliche Quellen finden, aber damit ist noch nichts darüber gesagt, welchen genauen Stellenwert und welche Funktion die Texte innerhalb der jeweiligen (Selbst-)Führungsformen haben und in welchen sozialen und gesellschaftlichen Hintergrund diese eingebettet sind. Zweitens interessiert uns die Frage nach dem Geltungsanspruch: An wen sind die Instruktionen gerichtet? Wer kommt überhaupt dafür infrage, sich selbst zu führen oder zum höchsten Lebensziel geführt zu werden? Es zeigt sich: Der Geltungsanspruch, d.h. die soziale Ausrichtung der verschiedenen Führungsformen, ist so unterschiedlich wie ihr historischer Hintergrund. Das dritte zentrale Unterscheidungsmerkmal betrifft das Weltverhältnis der Subjekte, genauer: die Finalität der Selbstführung. Finalität bezeichnet den Charakter der Ausrichtung der Selbstführung auf bestimmte Felder von Zielen. An dieser Stelle geht es um die generelle Ausrichtung, nämlich um die Unterscheidung zwischen einer immanenten Form der Finalität, in der also weltliche Ziele angestrebt werden, und einer transzendenten Finalität, die das Heil jenseits der (sozialen) Welt sucht.

4.1 STOA Die Stoa3 geht von einer notwendig dialogischen, persönlichen und situativen Führung zur Selbstführung aus. Das zu führende Subjekt ist somit dezentriert: Zentral ist die Beziehung von Schüler und Meister.4 Die Aufgabe des Letzteren ist es nicht einfach, die Lehre und die Techniken zu vermitteln, sondern vor allem gemäß seiner eigenen Weisheit darüber zu urteilen, wann welche Lehrstücke und Übungen für den Schüler hilfreich sind. Wissen zu vermitteln ist damit genauso wichtig wie Wissen zurückzuhalten, die Kunst besteht aber vor allem darin, das Allgemeine auf die spezifische Situation des Schülers zuzuschneiden. Natürlich gab es verbreitete Lehrsätze, weise Sprüche und Verhaltensregeln, standardisierte philosophische Abhandlungen

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Vgl. Degele, Nina; Christian Dries (2005): Modernisierungstheorie. Eine Einführung. München: Fink, 10ff. Bei der Stoa beziehen wir uns auf Seneca und Epiktet in Auswahl sowie auf einschlägige, zu unserem Thema aussagekräftige Sekundärliteratur. Wir benutzen hier ausschließlich die männliche Schreibweise, da die Stoa in ihrer Praxis androzentrisch verfasst war, auch wenn sie Ansätze hätte, darüber hinauszugehen. Gleiches gilt auch für die christlichen Exerzitien.

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zu bestimmten Themen und einen festen Kanon an Techniken. 5 Diese sind aber eingebettet in eine persönliche Beziehung zwischen Meister und Schüler, wobei ersterer darüber entscheidet, wann letzterer die nötige Reife für die jeweiligen Instruktionen hat. So belegt Rabbow die Allgemeinheit der „Forderung, dass man sich einen persönlichen sittlichen Aufseher bestelle und unter seiner ständigen Bewachung und scharfen Beurteilung lebe, eine Art Gewissensrat, einen älteren, braven Mann“ 6 sowohl für die Stoa als auch für andere philosophische Strömungen. „Oft führte der Erziehungswille zu einem engen, gemeinsamen Zusammenleben bei Tag und Nacht“. 7 Das häufig bemühte Bild des Arztes verdeutlicht die Aufgabe des Lehrers: Wie dieser sein medizinisches Wissen und seine Erfahrung nutzt, um die beste Heilung des Patienten zu ermöglichen (und ihm nicht einfach ein Fachbuch und den Schlüssel zum Medikamentenschrank gibt), so zeigt sich die Weisheit des Weisen gerade darin, die geeigneten Mittel für die geistige Genesung an den Schüler und seine Situation anzupassen. Der Schüler wird insofern mit einem Kranken verglichen, als es ihm an der Entwicklung seiner Vernunft, seiner Tugend und seiner charakterlichen Reife gebricht. Der Weise ist aber, anders ein gewöhnlicher Arzt, vollkommen gesund und als einziger in der Lage, sowohl seinen als auch den gesundheitlichen Stand der anderen einzuschätzen: „Zwischen dem vollendeten Weisen und dem erst im Fortschreiten Begriffenen zeigt sich ein ähnlicher Unterschied wie zwischen dem Gesunden und dem nach einer langen Krankheit wieder Genesenden, dem ein leichter Fieberanfall schon als Gesundheit gilt; nimmt er sich nicht gehörig in acht, so verschlimmert sich sein Zustand wieder, und es erfolgt ein Rückschlag in die alte Krankheit, während bei dem Weisen weder an einen Rückfall, noch überhaupt an eine Krankheit zu denken ist.“8 Sofern sich der Schüler einen Lehrer sucht, hat er zumindest eine basale, nicht selbstverständliche Einsicht in den desolaten Zustand seiner geistigen Gesundheit. Foucault hat darauf aufmerksam gemacht, dass sich der Mensch aus Sicht der Stoa zunächst in einem Zustand der stultitia befindet, einer Form der Torheit oder Unwissenheit, in der ihm die Hinweise der Natur auf die Verfasstheit der Welt und das menschliche Telos der Tugend notwendigerweise entgehen.9 „Im 1. und 2. Jahrhun-

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Vgl. dazu z.B. Rabbow, Paul (1954): Seelenführung. Methodik der Exerzitien in der Antike. München: Kösel, besonders 15 und 122ff. (Techniken der Beherzigung) sowie 215 (zur Technik der erbauliches Lesung von Sprüchen). Rabbow nennt die Stoa ein „hochentwickeltes System methodischer Seelenführung“ von „lehrhaft-dogmatische[n] Erörterungen“ (Rabbow 1954, 15), gleichzeitig zeigt er sich jedoch irritiert davon, dass kein systematisches Kompendium der Techniken vorliegt. Vielmehr sieht er besonders bei Marc Aurel und Seneca ein eine zunehmende „Verschlammung“ der Anleitungen „mit lehrhaft moralischer Mahnrede“ (ebda., 23). Ebda., 260. Ebda. Seneca, Lucis Annaeus (1993): Briefe an Lucilius über Ethik, 72.6. Philosophische Schriften Bd. IV. Hamburg: Meiner, 286. Vgl. Hengelbrock, Matthias (2000): Das Problem des ethischen Fortschritts in Senecas Briefen. Hildesheim et al.: Olms-Weidmann, 81. Vorsichtiger formuliert: Die Vernunft, nach stoischer Auffassung keine Gegenpol zur, sondern eine Anlage der Natur, ist bei den meisten Menschen nicht ausreichend entwickelt.

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dert wird die Beziehung zu sich selbst stets als etwas betrachtet, worin es eines Lehrers, eines Leiters, auf jeden Fall aber eines Drittens bedarf. Dabei unterschiedet sich die Beziehung immer deutlicher von der Liebesbeziehung. Dass man sich um sich selbst nur mit Hilfe eines anderen kümmern kann, ist allgemein anerkannt. Seneca sagte, niemand sei so stark, dass er sich selbst vom Zustand der stultitia, in dem er sich befinde, befreien könne: ‚Er braucht jemanden, der ihm die Hand reicht und ihn herauszieht.‘“10 Für den stultus ist es nicht ohne Weiteres möglich, Einsicht in seine Ignoranz zu gewinnen, ja er erkennt noch nicht einmal, wenn er tatsächlich Fortschritte macht. 11 Dazu benötigt er einen Lehrer. Das heißt im Falle der Stoa aber, sich einer philosophischen Schule anzuschließen, nicht bloß Interessent, sondern Schüler, Anhänger zu werden und sich so nicht nur innerlich, sondern auch sozial zu verpflichten. 12 Beim Stoizismus ist es notwendig, zwischen dem universalen Geltungsanspruch der stoischen Philosophie, begründet in deren Konzeption von Natur und Vernunft, und der sozialen und politischen Wirklichkeit des Stoizismus zu unterscheiden. Mit einigem Recht werden die stoischen Schulen als Vorläufer eines Humanismus gesehen, der alle Menschen als gleich erklärt, insofern sie teilhaben an derselben naturgegebenen Vernunft. Prinzipiell sind also alle Menschen fähig, ein naturgemäßes, vernunftbestimmtes und das heißt bei der Stoa tugendhaftes Leben zu führen. Im Konkreten gibt es aber große Hindernisse, die in der sozialen Welt, vor allem aber im Subjekt selber liegen.13 Auch Sklaven können große Stoiker sein, wie das Beispiel Epiktets belegt, allerdings ist die stoischen Philosophie, darin im Altertum keine Ausnahme, eine Philosophie von Männern für Männer und bewegt sich im Wesentlichen in der griechisch-römischen Gedankenwelt. In der Art der innerlichen und äußeren Verpflichtung auf einen Lehrer und seine Tradition, die ein notwendiges Element auf dem Wege zur Weisheit ist, unterscheidet sich der Universalismus der Stoa von dem der Ratgeber. Selbst wenn ein Buch eine Forderung auf Verpflichtung erhebt oder behauptet, das einzig nötige Mittel für ein gelungenes Leben zu sein, steht es allen Leser/innen frei, sich daran zu halten oder auch nicht. Der Universalismus der Stoa bleibt auf der sozialen Ebene restringiert, wohingegen der Universalismus der Ratgeber immer die praktische Möglichkeit des Pluralismus beinhaltet.14 Diese Form eines abstrakten, potenziell pluralen Universalismus ist implizit in dem, was heute mit großer Selbstverständlichkeit „Ratgeber“

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Der stoische Weise hilft, diese Entwicklung voranzutreiben durch Vorbild und Unterweisung. Foucault, Michel (2007): Die Hermeneutik des Subjekts. In: Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 123-136; 128. Vgl. Rabbow (1954), 277, wo deutlich wird, dass Senecas Schüler Serenus sich weiterhin für (geistig) krank hält, auch wenn Seneca deutlich seine Besserung sieht. Vgl. Rabbow (1954), 266. „Der Mensch ist nämlich ständig von irgendwelchen scheinbar wichtigen Geschäften mit Beschlag belegt, und die Aussicht, irgendwann einmal mehr Zeit zu haben [für eine philosophische Betrachtung des Lebens], stellt sich als Illusion heraus, weil sich der Mensch selbst dies äußeren Verpflichtungen auferlegt“ (Hengelbrock 2000, 78). Gerade dieser Aspekt wird von den Soziolog/innen der Postmoderne gerne als besonders positiv hervorgehoben.

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genannt wird: Sachbücher mit instruktiven, isolierbaren Elementen, für gewöhnlich in einer übersichtlichen Systematik präsentiert. Stoische Texte sind häufig Briefe oder Meditationen. Sie dienen entweder der Instruktion und Erbauung von Schülern oder Mitstreitern, zu denen der Verfasser ein inniges Verhältnis hat, oder der Selbstreflexion. Der Fokus liegt auf der konkreten Situation, die bestimmt ist vom inneren Zustand des Stoikers (des Schülers oder des sich selbst Vergewissernden), deswegen gibt es keine vollständige systematische Ausarbeitung der stoischen Lehre von einem Stoiker. Dem philosophischen Universalismus steht also auch ein Partikularismus in der Form der Darstellung entgegen. Die Finalität der Stoa enthält ein wesentlich transzendentes Element, das in ihrem Naturbegriff implizit und nicht unbedingt auf den ersten Blick zu erkennen ist. Seneca, Marc Aurel, Cicero und andere werden als praktische Weltmänner und einflussreiche Politiker dargestellt – nicht zu Unrecht, da der stoische Pflichtbegriff dort ein politisches Engagement fordert, wo es möglich ist. Jedoch wird dabei übersehen, dass die Lebensaufgabe eines Stoikers nicht aus der Realisierung politischer (oder privater) Ziele besteht, nicht in Taten also, sondern allein im Einnehmen und Bewahren einer vollkommenen Haltung der Unabhängigkeit, Sicherheit und Sittlichkeit.15 Der Weise zeigt sich unerschütterlich in allen Wendungen des Lebens: Nicht weltlichen Erfolg, den Applaus der Massen oder materiellen Reichtum zu suchen, ist geradezu die erste Lektion des Stoikers. 16 Der zweite Grund für die vermeintliche Anschlussfähigkeit moderner Subjekte an die Stoa liegt möglicherweise in einer verkürzten Interpretation des stoischen Naturbegriffs, sei er explizit oder implizit. Zwar ist es richtig, dass für die Stoa das Ziel des menschlichen Lebens ein Leben gemäß der Natur ist, doch diese Natur hat wenig gemein mit der Natur der modernen Naturwissenschaften. Mitnichten versuchen die Stoiker aus den physikalischen Dingen und ihren Gesetzmäßigkeiten eine Ethik abzuleiten. Auch wenn, besonders in der älteren und mittleren Stoa Demokrits Atomtheorie als naturphilosophisch verbindlich angesehen wird, rekurrieren die Stoiker für ihre Ethik auf eine intelligente Natur, die nicht die Gesamtheit der Objekte der Welt noch einfach deren gesetzmäßige Beziehungen umfasst, sondern deren Natur im doppelten Sinne vorgängig ist: Einmal, in-

15 Lukoschus verweist auf den frühen Stoiker Antipater, der die Aufgaben des Menschen mit denen eines Schauspielers oder Tänzers vergleicht: Seine Tugend liegt in dem Bemühen, die Rolle bzw. die Bewegungen sorgsam und pflichtbewusst auszuführen und nicht in dem sozialen oder materiellen Erfolg seiner Handlungen. Der Stoiker bemüht sich so, seine von der Vorsehung vorgegebene Rolle auszufüllen; die Unerschütterlichkeit liegt darin, dass er sie erfüllt, obwohl er sie sich nicht ausgesucht hat; er kennt die Vorsehung nicht, weiß aber, dass sie insgesamt zum Besten für die Welt ist. Vgl. Lukoschus, Joachim (1999): Gesetz und Glück. Untersuchungen zum Naturalismus in der stoischen Ethik. Frankfurt/Main: P. Lang, 138. 16 Unabhängig davon sind viele Stoiker dennoch eher wohlhabend (wie Zenon von Kition) und einflussreich (wie Seneca und Marc Aurel) und nur wenige, wie der Sklave Epiktet, arm und von sozial niedrigem Stand.

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sofern sie Leben, auch gerade menschliches und soziales Leben ermöglicht,17 zum anderen, indem sie den Menschen eine Bestimmung gibt und eine Vernunft, diese Bestimmung zu erkennen: Ein Leben gemäß der Natur ist ein sittliches Leben gemäß der höchsten Natur. Entsprechend äußert sich Seneca in den Briefen an Lucilius über das sittlich Gute: „Woran wird ein Gut erkannt? Wenn es vollkommen der Natur gemäß ist.“18 Insofern schreitet die stoische Ethik in ihrer Finalität notwendigerweise 17 So schreibt Veyne: „Die Natur, die die Stoiker meinen, ist die göttliche, der Vorsehung gemäße Macht, die aus der Erde mit ihren Jahreszeiten ihrer Fruchtbarkeit und ihren Lebewesen […] einen unermeßlichen Garten gemacht hat“, Veyne (1993), 65. 18 Seneca, Briefe an Lucilius über Ethik, 118.12. Naturgemäßheit ist also bei Seneca steigerbar, was aus heutiger Sicht ungewöhnlich scheint. Die Stoa denkt aber schon seit ihren Anfängen die Naturgemäßheit eher in einem teleologischen Rahmen: Zumindest alle Lebewesen haben eine in ihnen angelegte Natur, die sie erst nach und nach entwickeln müssen, ähnlich wie ein Samen erst zu einer Pflanze heranwachsen muss und dafür Licht und Wasser braucht. Zur Natur des Menschen gehört die Vernunft, die ihn von den Tieren unterscheidet (Seneca, Briefe an Lucilius über Ethik, 76.8-10). Diese muss sich auch erst entfalten und dabei kann ihr geholfen werden. Eine Besonderheit liegt freilich darin, dass es Teil der Vernunft ist, sowohl die allgemeine Teleologie in der Natur als auch die dem Menschen spezifische Teleologie der Vernunft (die sich deckt mit Glückseligkeit und Pflicht) erkennen zu können. Insofern die Vernunft natürlich ist, gibt es keinen unüberbrückbaren Dualismus von Geist und Körper, von Natur und Vernunft, von moralischer Einsicht und sinnlichen Leidenschaften, wie in anderen Moralphilosophien. Das liegt schon in der Anlage des Begriffs der Tugend: Sittliche und nichtsittliche Aspekte sind bei den Stoikern nicht immer kategorisch getrennt. Wie im antiken griechischen Denken die areté sowohl die Tugend einer Person im strengen Sinne als auch die besondere Eignung, Zweckmäßigkeit oder Vorzüglichkeit eines Dinges, eines Lebewesens, eines Organs oder eines Menschen bezeichnen kann (so liegt die areté eines Winzermessers darin, dass mit seiner krummen Klinge die Reben besonders gut beschnitten werden können), so bezeichnet die Vernunft aus Sicht der Stoa nur eine, wenn auch die den Menschen besonders auszeichnende, von ihm während seines Lebens zu entfaltende Anlage, die ihm gemäß der Vorsehung von der Natur gegeben worden ist. Unter allen Lebewesen (Götter hier einmal ausgenommen) gibt dies dem Menschen zwei herausragende Fähigkeiten: zum einen die Sittlichkeit (die Fähigkeit, Gut und Übel zu unterscheiden), zum anderen, das vernünftige Wirken der Natur zu erkennen, darin einen göttlichen Plan zu erahnen und zu versuchen, seine Rolle in diesem Plan zu spielen (nach Lukoschus konkret durch die Zueignung [oikeíosis] der natürlichen Bestimmung des menschlichen Lebensziels durch die einzelne Person [vgl. Lukoschus 1999, 92]). Je nach Stand der charakterlichen Entwicklung und d.h. nach dem Grade der Zueignung des von der Natur vorgegebenen Lebensziels erreicht der Stoiker also eine gewisse Tugend, sein Leben einen gewissen Grad an Naturgemäßheit (Hengelbrock hält trotzdem daran fest, dass laut Seneca, zumindest das Glück nicht in Graden kommt, sondern nur von je einem Weisen in 500 Jahren erreicht wird [Hengelbrock 2000, 1]. Dies widerspricht u.E. der Konzeption relativer Naturgemäßheit nicht, wenn es um einen emphatischen und objektiven Glücksbegriff geht: Er antwortet auf die Frage, wer schlechterdings und ohne jeden Zweifel glücklich geschätzt werden kann. Dies ist nur der seltene Weise. Der Teleologie tut es also keinen Abbruch, wenn ihr Telos nur in Ausnahmefällen vollkommen erreicht wird).

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über eine Immanenz im strengen Sinne hinaus: Ihr letzter Referenzpunkt für das Gute ist eine Natur mit personalen Eigenschaften. Diese zentrale Konzeption einer vernünftigen, ja sogar gütigen Natur, die die erste Ursache aller Dinge und Wesen ist, wird von den Stoikern deshalb die göttliche Natur, manchmal auch (ein) Gott genannt. Daraus folgt, dass „nach Auffassung der Stoa die göttliche Natur als die Ursache der natürlichen Weltordnung in Bezug auf alle innerweltlichen Dinge transzendent zu nennen ist.“19 Nur so lässt sich überhaupt ein archimedischer Punkt schaffen, in dem der unerschütterliche Weise sich sicher und glücklich bewahrt vor dem Leid jedweder Wendung des Schicksals weiß: Das Glück der Stoa ist nicht von dieser Welt.

4.2 CHRISTLICHE ASKESE Ähnlich wie die Stoa weist die christliche Askese einige zentrale Unterschiede zur Instruktionsform der Lebensratgeber, allerdings auch einige wichtige Veränderungen in Bezug auf die stoische Tradition auf. Diese Unterschiede sollen mit Fokus auf die exercitia spiritualis von Ignatius v. Loyola aus dem Jahre 1522 verdeutlicht werden. Diese jesuitische Schrift ist nicht allein deshalb so wichtig, weil sie explizit eine Reihe von Selbsttechniken vorstellt, die in ein größeres Feld christlicher Seelenführung eingebunden sind, sondern weil sich gerade die Ratgeberliteratur vom Anfang des 20. Jahrhunderts bisweilen explizit auf Loyolas Buch und die in ihm verbürgten Techniken bezieht. Zunächst ist zu bemerken, dass die exercitia spiritualia kein Ratgeberbuch für die religiösen Suchenden sind, sondern ein Handbuch für den Exerzitienleiter.20 Die Einführung umfasst zwanzig Empfehlungen an den Leiter, wie er die erfolgreiche Übung des Exerzitanden sicherstellen kann. Auch hier sind die Techniken eingebettet in ein Lehrer-Schüler-Verhältnis, bei dem Ersterer die Reife, den körperlichen Zustand und die geistigen Anlagen des Letzteren zum Empfang der jeweiligen christlichen Wahrheit vor Beginn der Übungen zu prüfen hat.21 Der Exerzitienleiter wählt nicht nur die Exerzitien für den Schüler aus, sondern legt auch Umfang, Abfolge und Intensität der Übung fest. Er hat die Aufgabe, über die geistige Entwicklung des Schülers zu wachen und ihm je nach dessen Seelenzustand Trost oder Rat, Mahnung oder Aufmunterung zukommen zu lassen. Er hat zudem das Recht, jederzeit über den Stand der Exerzitien Auskunft zu verlangen.22 Dabei ist es wichtig, festzuhalten, dass der Exerzitienleiter für den Exerzitanden Schritt für Schritt einen Weg schafft zwischen Versuchung und Anfechtung, zwischen Hochmut und Beschämung, zwischen vorschnellem Eifer und drohender Verzweiflung.23 Nur der weise Rat eines verständigen Älte19 Lukoschus (1999), 145. 20 Vgl. dazu Rahner, Karl (2002): Vorwort. In: Loyola, Ignatius von: Geistliche Übungen. Freiburg i. Br. et al.: Herder, 9. 21 Vgl. Loyola, Ignatius von (1922 [1548]): Geistliche Übungen. München, Regensburg: Regensburger Verlagsanstalt, 27. 22 Ebda., 22. 23 Vgl. dazu ebda., 24: „Wenn der Exerzitienmeister sieht, daß der Exerzitand sich im Zustand des Trostes befindet und mit viel Eifer vorangeht, so muß er ihn im Voraus warnen,

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ren, der ihn kennt und seine Bemühungen durchschaut, kann dem Schüler bei der Nachfolge Christi helfen. Wenn bei den Stoikern die stultitia es dem Schüler unmöglich macht, den Fortschritt oder das Abgeraten vom eigenen Weg zu erkennen, ist es in Loyolas Exerzitien das Böse, Sündige, Trügerische selbst: „Denn gemeiniglich versucht der Feind der menschlichen Natur mehr unter dem Scheine des Guten“, als dass er sich dem Übenden offen zeigen würde.24 Der böse Feind wird in Loyolas Sicht gar zu einer niemals vom Übenden abzulegenden Eventualität des Willens. Er wird nur dann stark, wenn der hochmütige Eigenwille des Menschen überhandnimmt.25 Im Gegensatz zur Stoa ist nicht einfach das unvernünftige Wollen problematisch, sondern der freie Wille selber, da dieser erst die Möglichkeit der Bedrohung und Versuchung in sich birgt, insofern er sich jederzeit als Wille zum Schlechten und Bösen manifestieren kann. Das Ablegen des eigenen Willens, die Übung in Gehorsam und die Verleugnung seiner selbst, ist daher sowohl bei Loyola, als auch in anderen christlichen Ordenstraditionen zentral.26 Damit ist das Subjekt schlechterdings dezentriert.27 Normalerweise beinhaltet die vita religiosa nicht nur die Hingabe an Christus und das vertrauensvolle Geführt-Werden durch einen Älteren, sondern auch das Eingebundensein in eine relativ abgeschlossene Gemeinschaft und deren Regeln. Das zönobitische Leben als geregelte und gemeinschaftliche geführte Lebensform zur Selbstheiligung gilt dabei als prinzipiell für jeden Christenmenschen erstrebenswert, wenn auch nur von wenigen erreichbar. Denn nur innerhalb eines gemeinsamen, also klösterlichen Leben mit der bedingungslosen Unterordnung des Einzelnen unter die Gemeinschaft, mit seiner strengen zeitlichen Verriegelung und den gemeinsamen Lektüren, Meditationen und Sündenbekenntnissen darf man sich der Hoffnung auf Erlösung hingegeben. Das Zönobium als ein „lückenloser Stundenplan des Daseins“

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daß er kein Versprechen und auch nicht unüberlegt und übereilt irgendein Gelübde ablegt. Und je mehr er erkennt, daß derselbe unbeständigen Charakters sei, desto mehr muß er ihn im Voraus warnen und mahnen.“ Ebda., 23. „Der böse Feind benimmt sich wie ein Weib, insofern er schwach ist bei fremder Gewalt und stark bei freiem Willen.“ Ebda., 146. Vgl. ebda., 91; „Denn das soll ein jeder bedenken, daß er in allen geistigen Dingen nur insoweit Fortschritte machen wird, als er aus seiner Eigenliebe, seinem Eigenwillen und seiner Eigensucht herausgeht.“ Vgl. auch Balthasar, Hans U. (1974): Einführung. In: Ders. (Hrsg.): Ordensregeln. Einsiedeln: Johannes, 7 und 23f.; vgl. auch Agamben, Giorgio (2004): Höchste Armut. Ordensregeln und Lebensform. Frankfurt/Main: Fischer, 212 darüber hinaus zur christlichen Askese auch Foucault (2006a), 296-307. „Für die christliche Askese kam es vor allem auf die Tötung des als sündhaft verstandenen Eigenwillens an, positiv auf die Erlangung und Übung der Demut. Gewiß finden sich in der Motivierung der Askese auch zahlreiche Parallelen zwischen der vorchristlichen Philosophie und dem Christentum, nicht zuletzt in dem Gedanken, daß es darauf ankomme, Gott ähnlicher zu werden. Aber neben dieser vor allem in der platonischen Tradition gepflegten Anschauung ist doch immer ein Moment der Selbstbehauptung in der nicht-christlichen Askese enthalten gewesen, wohingegen es für die christliche Askese letztlich auf die Selbstpreisgabe und auf die Hingabe an Gott ankam.“, Lohse, Bernhard (1969): Askese und Mönchstum in der Antike und der alten Kirche. München et al.: Oldenbourg, 23.

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regelt die gesamte Existenz und greift damit viel genauer und letztendlich auch tiefer in die Tages- und Lebensstrukturierung des Einzelnen und der Gemeinschaft ein, als es die antiken Selbstsorgepraktiken getan haben.28 Auch wenn nicht unterschlagen werden soll, dass die zönobitische Lebensform nicht auf die Auslöschung der Innerlichkeit abzielt, sondern diese in gewissem Sinne sogar eine Aufwertung erfährt,29 führt für die vita religiosa nur die strikte und bedingungslose Selbstpreisgabe, als Zeichen der uneingeschränkten Liebe zu Gott, zur Nachfolge Christi. Dies leitet über zur Frage nach dem Geltungsanspruch. Obwohl die Botschaft des Christentums allen Menschen gilt, sind zur Nachfolge Christi und damit zu den Exerzitien im Sinne Loyolas nur wenige berufen. Zwar ergeht der Ruf nach christlicher Reinigung, Gewissenserforschung und gottgefälligem Leben auch an die im weltlichen Beruf tätigen Menschen, so dass Loyola auch ein verkürztes Exerzitium für möglich hält, das bestimmte Praktiken in den Alltag überführt.30 Allerdings findet die christliche Lebensform erst in der klösterlichen Existenzweise ihre höchste Gestalt, bei der die völlige Abschließung von der Welt die Erfüllung der göttlichen Gebote möglich macht.31 Die Nachfolge erfordert ein blindes Sich-hinein-Werfen in die göttliche Führung in Form einer reuelosen Entsagung von der Geschäftigkeit der Außenwelt für die Errichtung eines „Seelenklosters“, wie Melville es ausdrückt. 32 Gegenüber dem Universalismus der Lebensratgeber ist die christliche Askese also partikularistisch.33 In der christlichen Askese ist die transzendente Finalität offensichtlich. Loyolas Exerzitien suchten keine Gewinne in dieser Welt, in seinem Herzen wie in seinem Leben ist er ganz auf Gott, auf den gekreuzigten und auferstandenen Christus und das

28 Vgl. Agamben (2012), 40ff. 29 Vgl. Melville Gert (2012): Die Welt der mittelalterlichen Klöster. Geschichte und Lebensformen. München: Beck. 30 Die Renaissance der jesuitischen Praktiken zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die auch durch die Rezeption ihrer Praktiken der Gewissenserforschung durch die Lebensratgeber mitgetragen wurden, ist sicherlich auch auf diese Alltagsnähe zurückzuführen. 31 Im Übrigen gilt diese Berufung zur klösterlichen Existenzweise durch Gott auch für die anderen Ordenstraditionen wie zum Beispiel die Augustiner, Benediktiner, Franziskaner usw. Vgl. Balthasar (1974), 24. 32 Melville (2012), 273. 33 Beispielhaft findet sich die gestufte, letztlich aber exklusive Selbstführung in den exercitia spiritualia bei der Erlangung der christlichen Demut, von der es nach Loyola drei Formen gibt: den Gesetzesgehorsam, den aktiven Gottesdienst und als höchste Form der Demut die Nachfolge Christi, die in der Erwählung von Armut und Schmach als die größte Lobpreisung und Ehrerbietung gegenüber Christus besteht. Loyola rät auch dem Exerzitienleiter davon ab, die Schüler zu einem bestimmten Lebenswandel zu bewegen, denn die Berufung, zum Beispiel zu einem Leben als Mönch, liegt bei Gott. Der Lehrer kann nur für seinen Schützling hoffen und beten: „Unser Herr möge ihn zu dieser dritten höheren und besseren Art von Demut auserwählen, auf daß er umso mehr ihn nachahme und ihm diene.“, Loyola (1922), 83. Vgl. auch Balthasar (1974), 24.

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Leben im Jenseits ausgerichtet; zumindest ist dies das Ziel der Exerzitien. 34 Während es bei den Stoikern noch möglich ist, sein Lebensziel zu verwirklichen, ohne auf materielle Güter und politische Ämter zu verzichten, ist bei Loyola die Armut Programm. Fixpunkt der christlichen Askese ist die Loslösung von der Welt, nicht die Verwirklichung innerweltlicher Ziele.35 Natürlich kann in den Augen Loyolas auch der seinen Geschäften verpflichtete Kaufmann durch eine zeitweise Abkehr durch Meditation über das Leben, Leiden und die Wiederauferstehung Christi das Wirken Gottes im eigenen Leben klarer hervortreten lassen, ohne dass die individuelle Verpflichtungen des Exerzitanden für die diesseitige Welt aus den Augen verloren wird. Die Anregungen, die Gott in seiner Seele bewirkt, können aber nur dann eintreten, wenn die Übungen nicht bloß auf die Beruhigung der Seele aus sind, sondern letztlich die Seele auf das Ziel auch jedes weltlichen Treibens ausrichtet: die Erlösung durch Gott.

4.3 ANSTANDS- UND MANIERENBÜCHER Während es sich bei Stoizismus und Exerzitien um Selbst- und Fremdführungsregime handelt, die eindeutig Selbsttechniken beinhalten, geht es bei der Anstandsliteratur darum, Regeln für das angemessene (oder auch vorzügliche) Verhalten in schriftlicher Form zu explizieren, die in aller Regel schon in den jeweiligen sozialen Kreisen bestehen. Ziel ist zwar die Reproduktion eines bestimmten einübbaren Verhaltens, aber keine Selbstveränderung (außer in dem trivialen Sinne, sich selbst so zu verändern, dass man ein guter Gastgeber oder ein ausgezeichneter Briefeschreiber ist). Die zentrale Aufgabe ist es, zwischen angemessenem und unangemessenem Verhalten zu unterscheiden. „Anstandsbücher oder Etikettenbücher sind Bücher, in denen Hinweise auf fast jedes jeweils in bestimmten gesellschaftlichen Gruppen zu bestimmter Zeit geforderte Verhalten schriftlich niedergelegt sind. In der Regel waren auch die gesellschaftlichen Sanktionen genau angegeben, die erfolgen, wenn gegen das geforderte Verhalten verstoßen wird.“36 Normalerweise wird die hierfür notwendige soziale, kulturelle und kommunikative Urteilskraft zusammen mit den entsprechenden Verhaltensweisen im sozialen Umfeld einer Person erlernt und eingeübt. Familie, Erziehung und soziale Peers tragen in unterschiedlichem Maße dazu bei. Dabei geht es um allgemeine Regeln des Anstandes, der Höflichkeit und auch der Moral, aber auch und vor allem um Verhaltensweisen, die den gesellschaftlichen Status und die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe ausdrücken. So hat die Anstandsliteratur eine doppelte Aufgabe: Sie gibt einerseits Auskunft darüber, welches Verhalten ich von anderen (je nach deren sozialer Position) erwarten kann und darf – genauso wie sie klärt, was von mir erwartet wird –, andererseits übt sie bestimmte Verhaltensweisen ein, die der gesellschaftlichen Distinktion dienen. Bei der zweiten Aufgabe besteht das kaum zu überbrückende Problem darin, dass diese Distinktion sich nicht angemessen (in je34 Vgl. Loyola (1922), 149: „Denn nur dem Schöpfer ist es eigen, in der Seele ein- und auszugehen und in ihr seine Anregungen zu bewirken“. 35 Vgl. ebda., 30 sowie Lohse (1969), 194. 36 Krumrey (1984), 21.

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dem Falle nicht vollständig) durch Regeln ausdrücken lässt, sondern sich auch und vor allem unmittelbar zeigt z.B. wie Bourdieu gezeigt hat, im Geschmack. 37 Nichtsdestotrotz scheint in der Verbreitung der Anstandsliteratur deutlich die Hoffnung auf den sozialen Aufstieg auf38 – und damit verbunden die eigene nachträgliche, quasi handwerkliche Sozialisation in den angestrebten Kreisen. Insofern teilen die Anstandsbücher mit den Lebensratgebern den Anspruch, gesellschaftlich bedeutsames Wissen durch reine schriftlich fixierte Instruktion zu vermitteln, auch wenn die inhaltlichen Bestimmungen dieses Wissens sich im Wesentlichen nicht überschneiden. Prinzipiell können Anstands- und Manierenbücher universell sein, insofern sie sich an alle Mitglieder einer Gesellschaft richten. Aber sie können sich nicht an alle gleichermaßen richten, zumindest dann nicht, wenn ein wichtiger Teil der Regeln gerade der sozialen Distinktion gilt. Insofern geben sie ein Verhalten nur für einen sozialen Typ (z.B. großbürgerliche verheiratete Frau) und eine bestimmte Rolle (z.B. Gastgeber) vor, welches in verschiedenem Maße erfüllt werden kann. So richtet sich die Anstands- und Manierenliteratur an das bürgerliche Publikum, ja sie ist gerade als ein Versuch zu verstehen, Orientierungswissen und -praktiken für eine Gesellschaft bereitzustellen in der sich konfessionelle und ständische Schranken auflösen und die Anziehungskraft feudaler Verhaltensideale stark nachlässt. Sie dienen insofern der ideologischen Selbstbehauptung des Bürgertums. 39 Zu bemerken ist, dass die in diesen Texten impliziten Versprechungen notwendig einhergehen mit der Forderung nach gesellschaftlicher Konformität, nach der Erfüllung und sogar Übererfüllung aller Ansprüche an Sittlichkeit, Höflichkeit und Manieren: „Was von den Lesern (und Leser/innen) verlangt wird, ist die widerspruchslose Anerkennung bereits etablierter Höflichkeitsregeln, die nicht verinnerlicht, sondern bloß sichtbar an den Tag gelegt werden sollen.“40 Anstands- und Manierenbücher verfolgen dezidiert innerweltliche Ziele: Ihre Finalität betrifft einerseits die individuelle Seite der Erfüllung einer Rolle zur Festigung persönlicher Beziehungen und zur Verbesserung der sozialen Aufstiegschancen. Andererseits bilden sie gesellschaftlich eine klare Regelung verschiedener Geltungsan-

37 So schreibt Bourdieu über die ästhetische Wertschätzung von Kunst, was für den Geschmack als soziales Distinktionsmerkmal allgemein gilt: „Der gesellschaftlich anerkannten Hierarchie der Künste […] korrespondiert die gesellschaftliche Hierarchie der Konsumenten.“, Bourdieu, Pierre (1987): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 18). Denn von „Bedeutung und Interesse ist die Kunst einzig für den, der die kulturelle Kompetenz, d.h. den angemessenen Code besitzt“ (ebda., 19). Ästhetisches Empfinden, nicht anders als ein Gefühl für das Schickliche oder das Empörende, überkommt die Angehörigen eine bestimmten Klasse demnach als etwas Unmittelbares, so dass sich diese in der Regel nicht bewusst sind, dass und wie gesellschaftliche Hierarchien durch sie reproduziert werden. Diejenigen, die die Anstandsregeln erst vom Buche lernen müssen, sind deshalb immer noch notwendigerweise jenen gegenüber im Nachteil, denen die Manieren in Fleisch und Blut, Bourdieu würde sagen: in ihren Habitus (vgl. ebda., 171ff.), übergegangen sind. 38 Vgl. Krumrey (1984), 23f. 39 Vgl. Döcker (1994), 54f. 40 Ebda., 57.

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sprüche und Verhaltensnormen zur Stabilisierung der gesellschaftlichen Struktur und der Vermeidung sozialer Konflikte (bzw. Regelungen für deren Beilegung) ab.

4.4 LEBENSRATGEBERLITERATUR Die Instruktionsform der Ratgeber scheint recht simpel zu sein: Es sind Bücher, die in Buchhandlungen ausliegen und von allen gekauft und gelesen werden können. Dies scheint umso selbstverständlicher, als es Ratgeber zu vielen verschiedenen Themen gibt, wie Gesundheit, Partnerschaft, beruflichem Erfolg oder Erziehung. Der historische Vergleich zeigt aber, wie besonders diese Form ist und welche impliziten Voraussetzungen und Probleme damit einhergehen. Wir besprechen diese für die Lebensratgeber, die sich aus dem Ratgebergenre dadurch ausnehmen, dass sie die Leser/innen nicht nur über Fragen alltäglicher Lebensbewältigung aufzuklären und anzuleiten gewillt sind, sondern ihre Lebensführung als ganze und damit verbunden eine bestimmte Form der Subjektivierung zum Anliegen haben.41 In der Buchform eines massenhaft für den anonymen Markt produzierten Lebensratgeber ist implizit, dass es keine persönliche Interaktion zwischen Instruierenden und Instruierten gibt und für ein Gelingen der Subjektivierung auch gar nicht als notwendig erachtet wird.42 Diese Konstellation ist deshalb bemerkenswert, weil dadurch die Instruktionen für alle Menschen und zu allen Zeiten dieselben sind.43 So können weder die persönlichen Voraussetzungen des Instruierten berücksichtigt werden, wie Vorkenntnisse, kognitive, körperliche, emotionale Dispositionen oder individuelle Beweggründe, noch können sie auf ihre individuellen Verhältnisse und Umstände eingehen. Die Lebensratgeber adressieren ein allgemeines, seiner konkreten Lebensvollzüge und indi41 Alfred Messerli datiert den Aufschwung der „Medien des Rates“ auf die Neuzeit zurück. Unter den Frühdrucken des 15. Jahrhunderts seien bereits Kochbücher gewesen, später auch Schulbücher, Lehrgespräche oder Katechesen. Doch wird das Subjekt als Ort der Problematisierung und Transformation erst in der Moderne zum Gegenstand ausschließlich medialer Ansprache. Vgl. Messerli, Alfred (2010): Zur Geschichte der Medien des Rates. In: Bänziger, Peter-Paul et al. Duttweiler, Stefanie; Sarasin, Philipp; Wellmann, Annika (Hrsg.): Fragen Sie Dr. Sex! Berlin: Suhrkamp, 30-57; 30ff. 42 Obwohl Leser/innenbriefe oder Seminarteilnahme von einigen Autor/innen explizit gewünscht werden, sind diese keine notwendigen Voraussetzungen dafür, sich die Inhalte des Ratgebers anzueignen. Der mögliche Nachteil, sich ohne die Anleitung und Führung einer Autoritätsperson mit der eigenen Innerlichkeit zu auseinanderzusetzen, wird aus Sicht der Lebensratgeber mehr als aufgewogen durch die Möglichkeit, sich bestimmten, direkten Formen von Fremdführung von vornherein zu verwehren. Die apersonale Form der Instruktion enthebt nicht nur den Übenden eines Gehorsam gegenüber einer leiblichen Autorität, sie zielt geradezu darauf ab, das Subjekt gegen jede Fremdführung abzuschotten. 43 Es gibt natürlich Instruktionen, die gerade für bestimmte Situationen gedacht sind. Aber genauer betrachtet sind sie nur für gewisse Typen von Situationen formuliert. Es sind vorliegende Anweisungen, die der Leser/in unmittelbar zugänglich sind, und nicht solche, die nach Ermessen einer instruierenden Person unter Abwägung aller Aspekte einer Situation gegeben werden. Gibt es eine Form des Ermessens oder der Abwägung, so liegt diese von Vornherein bei den Leser/innen, den Instruierten.

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viduellen Charakteristika enthobenes Leser/innensubjekt. So sehr die Lebensratgeber einer persönlichen Interaktion entbehren und ein notwendig abstraktes Leser/innensubjekt adressieren, so sehr sind sie aber darum bemüht, ein persönliches Verhältnis zu den Leser/innen medial nachzubauen.44 Der Text entfaltet einen bestimmten Ton, einen Klang, eine bestimmte Ansprache, er setzt sich auf eine direkte Weise mit seinen Rezipienten ins Verhältnis, indem er implizit einen bestimmten Leser/innentypus voraussetzt. Je nachdem, wie dieser ausfällt, richtet er sich mal umschmeichelnd, mal streng ermahnend, mal seine Vernunft ansprechend an ihn. Dies kann durchaus die Form einer Pseudointeraktionalität einnehmen, zum Beispiel indem die Leser/innen dazu aufgerufen werden, Fragen zu beantworten, oder ihm werden Fragen untergeschoben, die die Autor/in anschließend selbst beantwortet. Manchmal findet sich die Leser/in in der Rolle einer Briefpartner/in der Autor/in wieder oder ihr werden Freundschaftsgesuche angetragen.45 Dieser fiktive Beziehungsmodus lässt die Leser/in nicht mehr als unbekannte, sondern als transparente, nahbare Größe erscheinen. Er situiert die Leser/in in einem quasi virtuellen reziproken Gefüge und weist ihnen von Beginn an darin eine bestimmte Position zu. Ob als Partner/in auf Augenhöhe oder als Noviz/in in Demutshaltung hängt weniger von den individuellen Präferenzen der Autor/innen, sondern von den Prioritäten einer bestimmten Zeit ab. D.h. Autor/in und Leser/in werden durch den Text in ein bestimmtes Verhältnis zueinander gesetzt, das nicht nur von Lebensratgeber zu Lebensratgeber changieren kann, sondern auch epochenspezifischen Veränderungen unterliegt. Stärkster und offenkundigster Ausdruck der Verhältnismäßigkeit und Veränderlichkeit des Autor/inLeser/in-Verhältnis ist, wie viel Spielraum die Texte den Leser/innen für die Aneignung lassen. Die meisten Lebensratgeber arbeiten damit, dass sie Lese- und Bearbeitungsregeln für ihre Leser/innen aufstellen: In welcher Situation der Text zu lesen ist, in welcher Reihenfolge, mit welcher zeitlichen Rhythmik, unter Zuhilfenahme welcher Mittel? Auf diese Weise wird die Leser/in und der mögliche Gebrauch der Übungen vom Text selbst gelenkt, ein bestimmtes Verhalten soll wahrscheinlicher gemacht werden. Nicht nur die richtige Anwendung der Techniken, sondern auch die richtige Aneignung des Ratgebers entscheiden über den Erfolg der Unterweisung. So wird der Rezeption des Ratgebers durch die Leser/in zum ersten Schritt auf dem Wege zu seiner Selbsttransformation. Das impliziert, dass der Text und seine Aneignung bereits den Rang einer (Selbst-)Technik haben. Wie auch immer die Lebensratgeber die Rezeption ihrer Leser/innen zu beeinflussen trachten, einige setzten betont auf ihren zurückgenommenen Stil und die Fähigkeit ihrer Leser/innen, von sich aus über die Art und Weise der Aneignung zu befinden; andere nehmen explizit, aber transpa44 Dies ist Ergebnis einer paradoxen Konstellation, bei dem ein Massenmedium als persönlicher und individueller Ratgeber auftritt. Zum anderen erweist sich dies als Strategie zur Generierung von Glaubwürdigkeit und Autorität der Autor/innen. Da, anders als in einer personalen Lehrer/innen-Schüler/innen-Beziehung, die Übende nicht mehr die überzeugende Präsenz der Führenden und die situative Angepasstheit des Rates heranziehen kann, um die Güte der Lehrer/in zu beurteilen, lädt sich das Medium mit bestimmten Attributen auf, die seine Qualität bezeugen sollen. 45 Die Leser/in wird als „Du“ angesprochen und die einzelnen Brieffragmente treiben das Quasidialogische in ihrem Antwortstil à la „Ich weiß deine Einwände und Bedenken zu würdigen, allerdings...“ auf die Spitze.

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rent, andere wiederum implizit-manipulativ Einfluss, aber immer ist der Gebrauch durch die Leser/in im Text reflexiv gegenwärtig. Er ist auf eine doppelte Weise reflexiv: als Ratgeber, der die Bedingungen und Regeln der Selbsttransformationen offenlegen will, und als Anleitung zur Anleitung. Die Instruktionsform der Lebensratgeber kann folglich als apersonal, medial, gemeingültig charakterisiert werden. Sie ist auf doppelte Weise reflexiv und baut auf einem fiktiven Beziehungsmodus auf. Aus dieser grundsätzlichen Konstellation folgt, dass bei allen Leser/innen bereits eine gewissen Mündigkeit, also eine Form von Selbstführung in nuce unterstellt ist, welche sie befähigt, die Techniken erfolgreich umzusetzen. Selbstführung steht also nicht nur am Ende, sondern, wenn auch in einem unvollkommenen Sinne, schon am Anfang eines Übungsweges. Die Kontrolle über Fortschritte muss mithin auch von den Instruierten übernommen werden. Diese sind also Subjekt und Objekt der Führung zugleich, anders formuliert: Das zu führende Subjekt ist in dieser Konstruktion zentriert, es muss sich sozusagen am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen. Diese Herausforderung erscheint sogar noch größer angesichts der Tatsache, dass die Lebensratgeber praktisch durchgehend sowohl das Verhältnis des Subjektes zu seiner sozialen Umwelt, als auch und gerade sein Verhältnis zu sich selbst als grundsätzlich krisenhaft oder doch zumindest immerwährend krisenanfällig darstellen. Ein zweites Spezifikum moderner Selbstführung ist ihr universaler Geltungsanspruch. Sich selbst zu führen, das eigene Leben aktiv zu gestalten, das meiste aus dem Alltag herauszuholen, an sich zu arbeiten, sich selbst zu verwirklichen – das sind Imperative, die für alle gleichermaßen gelten. Lebensratgeber sind nicht geschrieben für eine spezifische Gruppe, sondern für dich und mich. Es sind Lebensratgeber für Subjekte, welche gleichzeitig durch die Anleitungen erst zu Subjekten gemacht werden sollen.46 Zu dem Universalismus – jede/r kann und muss ein selbstbestimmtes und selbstgestaltetes Leben führen – kommt mit dem Auftauchen der Lebensratgeber gleichermaßen ein Individualismus auf, der sich über schriftlich fixierte Techniken herstellen lässt – Weg und Ziel der Selbstführung ist es, die eigene Einzigartigkeit und Vorzüglichkeit in allen Lebensbereichen bis zur Vollkommenheit herauszuarbeiten.47 Sich nicht fremd bestimmen lassen, aus der Masse herauszuragen, ganz man selbst zu sein – das ist der Anspruch an alle, der Universalismus der Individualität. Dass sich die Individualisierung der Subjekte in Form der Anleitung durch in Serie gedruckte Bücher vollziehen soll, verweist auf die widersprüchlichen und ambigen Bedingungen, unter denen sich ein universaler Anspruch auf Individualität einlösen lässt. 46 Davon, dass der generelle Anspruch universal ist, kann nicht darauf geschlossen werden, dass die Texte keinerlei Vorannahmen über ihre normalen oder idealen Subjekte machen. So sind die Texte an Erwachsene (in einigen Fällen auch an Heranwachsende) gerichtet und besonders die frühen Ratgeber implizit an Männer (an der androzentrischen Sprache, den vielfältigen Beispielen und Illustrationen sowie den vielfältigen Ähnlichkeiten der Subjektteleologie zu prominenten Vorstellungen hegemonialer Männlichkeit deutlich bemerkbar). Das heißt jedoch nur, dass das Subjekt der Selbstführung implizit männlich ist – jedoch nicht, dass Frauen nicht denselben Ansprüchen unterworfen sind, gerade insofern sie dazu aufgerufen sind, Subjekte ihrer eigenen Lebensführung zu werden. 47 Genauer gilt der Anspruch auf Individualisierung in sensu eminenti erst für die zweite und dritte Epoche, wohingegen wir für die erste Epoche von Subjektivierung sprechen müssen.

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Lebensratgeber streben in ihrer Finalität weltimmanente, häufig gesellschaftskonforme und nicht selten plakative Ziele an. Für das ideale Subjekte gibt es je nach Epoche zu unterscheidende emanzipative und partizipative Versprechen. Das menschliche Leben verwirklicht seine Bestimmung z.B. in gesellschaftlichem und wirtschaftlichem Erfolg, in sozialem und persönlichem Glück. Der berufliche und außerberufliche Alltag mit seinen vielfältigen Anforderungen und die Selbstverwirklichung kristallisieren sich im 20. Jahrhundert zunehmend als die strategischen Felder der Selbstführung heraus. In der Verwirklichung konkreter, praktischer Ziele realisiert und bewahrt sich die Individualität der einzelnen Person. Alles ist machbar: Es bedarf nur der richtigen Techniken, der richtigen Art und Weise, sich selbst zu führen. Sie implizieren ein gewaltiges Potenzial, das gegenwärtige Leben zu steigern, zu verbessern, ja, vollkommen zu verwandeln: Lebensratgeber evozieren die Hoffnung, mehr aus sich und aus seinem Leben zu machen, sei es, Außergewöhnliches zu tun, Einzigartiges zu fühlen, Geniales zu denken oder bislang Unerreichbares zu besitzen. Der innere Adel der Seele verpflichtet diese allerdings auch: Er enthält implizit den Imperativ, diese Möglichkeiten auch zu entfalten und die neuen Wege mutig zu beschreiten, die Gelegenheiten nicht zu vertun. Sich selbst und seinen Gaben gerecht zu werden, wird dadurch zu einer ungeheuren Aufgabe, die methodisch und doch irgendwie organisch bewältigt werden muss, die einer genauso genialen wie einfachen, individuellen wie allgemein durchsetzungsfähigen Form der Selbstführung bedarf. Darin wird das Leben der einzelnen Person selbst nicht nur zum Feld, sondern auch zum Fluchtpunkt der Selbstführung. Das Ziel des Lebens ist gewissermaßen ein Leben im Superlativ (oder zumindest im Elativ), und alles, was dazu gehört kann prinzipiell auch gerichtet, korrigiert, gesteigert oder minimiert, vorsichtig gepflegt, kreativ gestaltet oder diszipliniert gelenkt werden.

4.5 ZUSAMMENFASSUNG Die Anfang des 20. Jahrhunderts entstehende, massenhaft für den anonymen Markt produzierte Lebensratgeberliteratur trägt etwas Ungewöhnliches und Neuartiges in die lange Geschichte der verschiedenen Philosophien und Systeme der Subjektivierung. Nie zuvor ist das Subjekt so ins Zentrum seiner eigenen Gestaltbarkeit gerückt und wurde mit Mitteln ausgestattet, die es ihm gestatten sollen, sich zugleich zum Urheber und Adressaten einer performativen Selbstschöpfung zu machen. Was bisher in der Stoa oder den christlichen Askesepraktiken nicht nur als logische Unmöglichkeit erschien, sondern als Ursprungspunkt bzw. beständige Quelle von Fehlbarkeit und Schwäche, bildet das Zentrum dieser neuartigen Führungsform: Das Subjekt ist Schöpfer/in und Geschöpf, Lehrer/in und Schüler/in, Befehlende/r und Untergebene/r in eins. Die Anleitung und Führung durch einen fortgeschrittenen Anderen, um die sich lange Zeit ein eigener Diskurs hält, 48 löst sich auf, zugunsten

48 In der antiken Selbstsorgetradition ist die Parrhesia der terminus technicus für all diejenigen Regeln, Ratschläge und Praktiken, die es dem Meister erlauben, den genauen Zeitpunkt abzustimmen, an dem der Schüler für das Empfangen einer bestimmten philosophischen Wahrheit bereit ist. Die freie und offene Aussprache durch den Meister soll dem Schüler

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einer systematischen Strenge und technischen Verfahrensförmigkeit. Es verschwindet damit nicht einfach die Figur des kundigen Lehrers oder erfahrenen Meisters, der den Übenden durch die Untiefen seiner Selbst führt, sondern ein spezifischer Beziehungsmodus, in dem das Telos der Selbstführung bereits modellhaft eingelassen ist. Das übende Subjekt verwirklicht im Verhältnis zu sich selbst, was das Verhältnis des Lehrers zum Übenden in den jeweiligen Traditionen charakterisiert. Während bei der Stoa und den Exerzitien die ideale Zukunft des Subjektes in der Gegenwart der Meister-Schüler-Beziehung bereits vorweggenommen ist, haben sich die Vorzeichen bei der modernen Selbstführung verkehrt. Das Subjekt ist als das ideale Subjekt vorausgesetzt, das es aber erst durch die Selbstformung werden wird. Es findet seine Möglichkeiten dort präexistent vor, wo sich die eigene Wahrheit bisher verdunkelt hat: im Verhältnis zu sich selbst. Im Verlauf der Selbstwerdung ist nicht mehr der Andere (bzw. das Verhältnis, das den Übenden mit dem Lehrer/Meister verbindet) der Spiegel der eigenen Potenzialität, vielmehr spiegelt das Subjekt sich in sich selbst wider. Zu welchen Schwierigkeiten dies führt, behandeln wir in den Regimeabschnitten der folgenden Kapitel. Die Anlehnung an eine äußere Instanz ist damit keineswegs obsolet geworden, sondern hat sich von einem personalen Verhältnis auf ein technikförmiges Übungsregime verlagert.49 Die Lebensratgeber lösen damit die universelle Forderung nach Selbstführung ein, die bis dahin nur wenigen vorbehalten war. Anders als in der Anstandsliteratur glänzen die Subjekte moderner Selbstführung nicht durch Manieren, sondern durch Selbsttechniken, nicht durch ihr Verhalten, sondern durch ihre verwirklichte Subjektivität. Der Subjektivierungsmodus der Lebensratgeber ist, da sie für einen breiten Markt gedruckt werden, notwendig abstrakt und (im Vergleich zum stoischen Führungsmodell und zum zönobitischen Exerzitium) entkontextualisiert. Die Formel der Finalität moderner Selbstführung, nämlich sich selbst und sein Dasein in einen Zustand höherer Subjektivität zu transformieren, darf dabei nicht als bloßes Anrecht auf (jenseitige) Erlösung oder Glücksversprechen verstanden werden. Wir werden in den folgenden Kapiteln zeigen, wie diese mit den spezifischen ökonomischen und sozialen Erfordernissen der Zeit in Wechselbeziehung stehen. Der produktive Zugang zur eigenen Innerlichkeit ist nicht der Tugend oder der Selbstheiligung untergeordnet, sondern ist Teil einer Teleologie des eigenen Lebens, der auf verschiedene Weise nachgeholfen werden muss. Dadurch radikalisiert sich der Imperativ des Selbstseins: Die Machbarkeit der Steigerung des eigenen Lebens legt ein Wahrheiten vermitteln, die für seine augenblickliche Selbsttransformation von Nutzen sind. Vgl. Foucault (2007), 178f. 49 Der Buchdruck hat sicherlich einer Entwicklung Vorschub geleistet, bei der eine personale Beziehung durch eine mediale ersetzt werden kann, aufgrund der breiteren Verfügbarkeit des Mediums. Michael Gieseke hat diesen Prozess beispielhaft am Lateinunterricht im 16. Jahrhundert beschrieben. Das gedruckte Schulbuch ermöglichte es nun auch, eine außerschulische Gruppe mit Wissen zu versorgen, so dass die Lehrer/innenautorität langfristig relativiert wurde. Dass sich für die Selbstführung Ähnliches erst deutlich später zeigen lässt, hat seinen Grund sicherlich in der Besonderheit dieser Subjektivierungspraktiken. Ersetzt wurde nicht einfach eine sonst mündliche Instruktion durch den geschriebenen Text, sondern eine Beziehungsform, die lange Zeit als unabkömmlich für die Erlangung eines bestimmten Wissens über sich und die Welt angesehen wurde. Vgl. Messerli (2010), 34.

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Fehlgehen bzw. Unterlassen in der Selbstführung verstärkt den Einzelnen selbst zur Last. Darin hat der moderne Selbstführungsimperativ nicht nur etwas Befreiendes, sondern auch Bedrohliches. Das 20. Jahrhundert steht für die Selbstführung im Zeichen der sukzessiven Loslösung von der Moral, der Religion und den Verhaltensnormen. Diese drei großen Blöcke sind nicht mehr der Rahmen der Selbstführung, noch weniger der Endpunkt der subjektiven Teleologie, auch wenn sich hier und da, besonders in der ersten Epoche der Lebensratgeber, noch Residuen finden lassen. Erst in dieser Loslösung erkennt sich die subjektive Führung selbst und entfesselt ihre ganze Kraft, spitzt aber auch latente, potenziell krisenhafte Dynamiken immer weiter zu. Den Weg, den die Selbstführung im 20. Jahrhundert nimmt, ihre Umbrüche und Krisen einbegriffen, vollziehen wir in den nächsten drei Kapiteln nach. Den Beginn machen im deutschen Sprachraum die Willensschulen, welche den Diskurs um die richtige Führung seiner selbst mit großer Verve und ungeheurer Vorstellungskraft vorantreiben. Was der modernen Selbstführung bevorsteht ist, hat alle Eigenschaften einer Feuertaufe.

Kapitel 1: Die 1920er Jahre A) Das Regime der Selbstführung

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Die Geburt der Lebensratgeber

1.1 HERKÜNFTE: WIE DIE LEBENSFÜHRUNG ZUM GENRE WURDE Der Diskurs um die technisch angeleitete Schulung seiner Selbst zum Zwecke der Daseinsbewältigung und Steigerung der Kräfte wächst im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts heran. Seine Anfänge reichen aber bis ins 19. Jahrhundert zurück. Da es sich bei den Lebensratgebern nicht um einheitliche, klar abgrenzbare, in sich reine Gebilde handelt, sind auch die Herkünfte vielfältig. Von Beginn an speist sich der Diskurs um richtige Führung seiner selbst aus unterschiedlichen Wissensformationen und Praxiskontexten: den Diskursen um die Selbsterziehung, den Traditionen religiöser Erbauung und Subjektivierung, der im 19. Jahrhundert weit verbreiteten Popularphilosophie, den Handbüchern für geschäftlichen Erfolg, der Lebensreformbewegung (Ernährung, Gymnastik), den Hygienediskursen (Psycho-/Sozialhygiene) oder den medizinischen Selbsthilferatgebern. Doch keiner für sich genommen kann Anspruch darauf erheben, den Ursprung dieser Literatur zu begründen, die sich doch gerade dadurch auszeichnet, dass sie eine interdiskursive Anschlussfähigkeit besitzt. Die Lebensratgeberliteratur teilt mit ihnen die Frage nach den Bedingungen, Regeln und Zielen des Selbsttätigseins, aber nur sie diskutiert sie vor dem Horizont einer verfahrensförmigen, technischen Herstellbarkeit von Subjektivität als Auftrag für jede/n zum Zwecke diesseitiger Lebensbewältigung. Dies kann durchaus hygienische Aspekte, Ernährungsfragen, geschäftlichen Erfolg, Fragen nach der sittlichen Vervollkommnung einbegreifen, doch findet sie darin weder ihren erschöpfenden Gegenstand noch ihre letztliche Begründung. Lebensratgeber zielen auf die Problematisierung des ganzen Subjektes vor dem Hintergrund, dass der moderne Mensch zwar freigesetzt ist von traditionellen Bindungen mit ihrem festen Kanon von sozialen Verhaltenserwartungen und Normen, wie sie in ständischen oder feudalen Gesellschaften vorherrschten, aber dass er damit noch nicht a priori sich selbst gehört. Nur die Lebensratgeber zielen auf ein Subjekt, das methodisch angeleitet auf sich selbst einwirkt und dadurch imstande ist, die Kräfte für seine Souveränität freizulegen. Diese Freilegung eines Selbst beansprucht allgemeine Gültigkeit und ist daher von den vielfältigen diätetischen Schriften des 19. Jahrhunderts abzugrenzen, die auf die Selbsterzeugung des bürgerlichen Subjektes abzielen.1 1

Stilbildend im deutschsprachigen Raum für eine Reihe populärmedizinischer Schriften über die Abwehr körperlicher Leiden und die Aufrichtung einer leistungsbereiten männlichen Subjektivität war Ernst von Feuchterslebens Vollkommenheitslehre „Zur Diätetik der

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Vor dem 20. Jahrhundert lassen sich kaum Schriften auffinden, die „Lebenserfolg“, „Lebensführung“, “Lebenskunst“, „Lebensmeisterung“, „Lebensberatung“ oder „Persönlichkeitsentwicklung“ zum Gegenstand haben.2 Zweifelsohne interessiert sich das 19. Jahrhundert für den (bürgerlichen) Menschen in seinem Verhältnis zur sozialen Umwelt, für Fragen des sittlichen Verhaltens, des Anstands und der Etikette, ja, dass 19. Jahrhundert scheint geradezu die Blütezeit für solcherart gelagerte Schriften und Fragestellungen zu sein.3 Der Erfolg medizinischer Laienschriften um die geistige Gesundheitspflege und die Abwehr melancholischer und neurasthenischer Erkrankungen weisen auch darauf hin, dass das Subjekt durchaus in seiner Krisenanfälligkeit vielfach thematisiert wird.4 Aber das Subjekt als Gegenstand kräfte-

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Seele“. 1838 erschienen, erlebte sie 50 Auflagen. Feuchtersleben, der als Arzt und Dichter wirkte, befasste sich darin mit der psychischen Gesundheit seiner Zeitgenossen, denen er einen Hang zur Hypochondrie und Melancholie attestierte. Sein Anliegen, die Gesetze des Geistes offenzulegen, um den Körper und die Seele vor Krankheiten zu bewahren, mündeten in eine Anleitung zur Übung des „moralischen Willens“. Er wies seine Leser/innen dazu an, durch tägliche Verschriftlichung der Beobachtung bezüglich der eigenen affektiven und geistigen Entwicklung eine züchtige Form des Selbstbezugs aufzurichten. In ihm sah er einen Schlüssel für die größere Vergeistigung des bürgerlichen Menschen, der im Verbund mit einer Kontrolle, Mäßigung und Kanalisierung unliebsamer Affekte den „diätetischen Forderungen nach starker, männlicher Präsenz in der neu entstehenden bürgerlichen Öffentlichkeit“ nachkommen sollte. Feuchterslebens Schrift beförderte eine Reihe weiterer in diätetischer Absicht verfasster Publikationen im 19. Jahrhundert, die sich um die sittlich notwendige Züchtigung des bürgerlichen Subjektes drehten, aber zunehmend Abstand von seiner medizinischen Intention nahmen und stärker auf Persönlichkeitsbildung, insbesondere die kulturellen Distinktion, abhoben (z.B. Ideler, Carl Wilhelm [1846]: Die allgemeine Diätetik für Gebildete. Halle: Schwetzschke und Sohn; Findel, Joseph Gabriel [1864]: Quickborn der Lebensweisheit: Bausteine zur Diätetik der Seele. Leipzig: Förster & Findel; Kirchner, Friedrich [1886]: Diätetik des Geistes. Eine Anleitung zur Selbsterziehung. Berlin: Brachvogel & Boas; Scholz, Friedrich [1887]: Diätetik des Geistes. Leipzig: Mayer). Vgl. Wozonig, Karen S. (2011): Psychosomatik und Literatur. Ernst von Feuchtersleben zur Diätetik der Seele. In: Gustav, Frank; Podewski, Madleen (Hrsg.): Jahrbuch Forum Vormärz Forschung 17: Wissenskulturen des Vormärz. Bielefeld: Aisthesis-Verlag. 289315. Die Deutsche Nationalbibliothek gibt für den Zeitraum zwischen 1850 und 1899 für die entsprechende Schlagwortsuche nur insgesamt drei Treffer aus die Staatsbibliothek Berlin findet 13 Titel. Unter diese Ergebnisse sind Treffer gerechnet wie „Das Geheimnis der Lebenskunst. Ein Wanderbuch für alle Freunde des Nachdenkens und der Erhebung“ oder „Wunderbare Lebensführung eines katholischen Dienstmädchen“, die also offensichtlich an der ganzheitlichen Perspektive der Lebensratgeber vorbeigehen und ohne instruktiven Wert sind. Hingegen für den von uns bearbeiteten Zeitraum von 1905 bis 1941 konnten 185 Titel gefunden werden, davon 42 mit bedeutenden instruktiven Anteilen. Vgl. Döcker, Ulrike (1994): Die Ordnung der bürgerlichen Welt. Verhaltensideale und soziale Praktiken im 19. Jahrhundert. Frankfurt/Main: Campus, 9ff. Vgl. auch Radkau, Joachim (1998): Das Zeitalter der Nervosität. München [et al.]: Hanser; Kleeberg, Bernhard (2012) (Hrsg.): Schlechte Angewohnheiten. Eine Anthologie 1750 – 1900. Berlin: Suhrkamp.

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steigernder Selbsttechniken zum Zwecke der Daseinsbewältigung, als Brennpunkt von präventiven Strategien der Gesunderhaltung und willensbetonter Selbstschöpfung ist noch nicht entdeckt worden. Dies ändert sich fast schlagartig mit der Jahrhundertwende, was an den gestiegenen Publikationen und Auflagenzahlen der entsprechenden Schriften abzulesen ist. Um 1905 veröffentlicht der Bühnenschriftsteller, Schauspieler und Gründer verschiedener Vereine für Körperpflege in Berlin, Reinhold Gerling, sein Buch die „Gymnastik des Willens“. Es ist titelgebend für eine Reihe nachfolgender Schriften und Traktate um die Ertüchtigung des Willens. Es wird immer wieder neu bearbeitet und erreichte bis 1924 sechs Auflagen. Seine Schrift, die stärker auf die Leibesertüchtigung als Bedingung harmonischer Persönlichkeitsentwicklung abhob, „Der vollendete Mensch und das Ideal der Persönlichkeit“, geht 1917 in die fünfte Auflage. Gerlings Popularität ist groß. Er reist als Hypnotiseur durch Deutschland und tritt als Redner in Erscheinung. Wilhelm Walter Gebhardts Anleitung „Wie werde ich energisch?“ zur Förderung der Willenskraft erscheint unter verschiedenen Titeln und leichten Bearbeitungen bis in die 1920er Jahre hinein und findet großen Absatz. Allein bis 1922 erleben die „als Manuskript gedruckte Verordnungen“ des Arztes Gebhardt zwölf Auflagen.5 Martin Faßbenders Schrift „Wollen, eine königliche Kunst“ wurde 1923 sogar zum zwanzigsten Male aufgelegt. Gustav Grossmann kann sich als einer der wenigen Autoren 6 der frühen Lebensratgeberliteratur darüber hinaus rühmen, bis in die frühen 1990er Jahre hinein aufgelegt worden zu sein, und erreichte 28 Auflagen. Bemerkenswert sind nicht allein die Auflagestärke und der Publikationserfolge dieser Bücher, sondern die soziale Heterogenität der Autoren. Auch sie begründet den Erfolg der Lebensratgeberliteratur. Die Autoren, die vom Hochschullehrer bis zum Geschäftsmann, vom anarchistischen Einsiedler bis zum Zentrumspolitiker, vom Selfmademan bis zum „Geheimen Regierungsrat“ reichen, bilden quasi das sozialstratifikatorische Panoptikum ihrer Gesellschaft ab. Sie problematisieren von unterschiedlichen Orten aus den modernen 5

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Gebhardt, Wilhelm Walter (1922 [1895]): Wie werde ich energisch? Vollständige Beseitigung körperlicher und seelischer Hemmnisse, wie Energielosigkeit, Zerstreutheit, Niedergeschlagenheit, Schwermut, Hoffnungslosigkeit, nervöse Angst- und Furchtzustände, Gedächtnisschwäche, Schlaflosigkeit, Verdauungs- und Darmstörungen, allgemeine Nervenschwäche, sexuelle Verirrungen usw., Erlangung von Selbstbewußtsein, Schaffensfreude u. Erfolg in allen Unternehmungen durch eigene Willenskraft! Leipzig: F.W. Gloeckner & Co. Da unser Quellenkorpus der frühen Lebensratgeber ausschließlich männliche Autoren umfasst, verwenden wir für diesen Zeitabschnitt die männliche Schreibweise. Wie wir erörtern werden, ist die Literatur dieser Epoche androzentrisch sowohl in ihrer Beschreibung einer idealen Persönlichkeit als auch in den vorgestellten Rezipienten. Wie für eine androzentrische Sichtweise typisch, tut dies dem universalen Gültigkeitsanspruch aus Sicht der Autoren keinen Abbruch. Für alle anderen Fälle sprechen wir jedoch durchgehend von Leser/in, Schüler/in und Lehrer/in und benutzen das weibliche Personalpronomen. Auch das Autor/in-Leser/in-Verhältnis behält seinen Titel aus Gründen der Einheitlichkeit der Darstellung. Wir verwenden im weiteren Verlauf der Arbeit – aus Gründen einer besseren Lesbarkeit – das weibliche Personalpronomen weiter, sprechen also von der Leser/in oder der Mitarbeiter/in. Selbstverständlich sind dabei Angehörige der männlichen Genusgruppe mitgemeint.

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Menschen und erreichen damit verschiedene Milieus und Schichten. Einige sprechen durch ihren dezidiert akademischen Stil den Klassengeschmack bildungsbürgerliche Kreise an.7 Beliebt sind eingestreute Sinnverse und Aphorismen von Goethe oder Bismarck, zuweilen abgewechselt durch sich historisch gebende Berichte über die herausragenden Willensleistungen von Napoleon oder Krupp. Domroese lässt zur besseren Ausbildung des Gedächtnisse Gedichte repetieren oder hält die Leser/in an, zum Thema „Lebe ich nach dem Tode fort“ eine freie Rede zu halten, die durch vorher auswendig gelernte „schöne Ausdrücke“ ausgeschmückt werden soll. Währenddessen entfalten die Schriften von Helmel, Gerling oder auch Hugin eine schlichtere sprachliche Raffinesse. Ihre Beispiele sind häufig den Lebenslagen der Subordinierten entnommen, appellieren in stark emotionalisierter, mitunter populistischer Weise an ihre Leser/innen und betonen die Kraft der Einzelnen, sich aus schwierigen sozialen Lagen emporzuarbeiten. Gustav Grossmann wendet sich gerade an die Mittellosen und sieht in ihrer sozial prekären Lage einen möglichen Antrieb für die Selbstrationalisierung. Allein sie seien gezwungen, „sich nach einer überlegenen Arbeitsmethode umzusehen, denn die Leiter von ganz unten nach oben, sie besteht nur aus Leistungen. […] Die beste persönliche Arbeitsmethode wird den Ausschlag geben, wird den Lebenserfolg bestimmen, nicht jedoch Geburt, Erbe und ‚Protektionʻ“.8

Und trotzdem ist es gerade das Erkennungsmerkmal der Neuartigkeit der Lebensratgeber, dass sie sich, anders als die Verhaltenslehren des 19. Jahrhundert, nicht ausschließlich an eine bestimmte Schicht oder Klasse wenden. Im Gegenteil das diskursive Feld der Lebensratgeber fächert sich zwar an der Frage auf, wie das Subjekt in eine starke (Willens-)Persönlichkeit transformierbar wird, aber dies geschieht nicht entlang der Herkunft der Autoren oder der sozialen Adresse der Leser/innenschaft. Der Wille zur Selbstführung ist jedem von Nutzen, sei es die Geistesarbeiter/in am Schreibtisch, der nach Orientierung verlangenden Schüler/in, die Arbeiter/in in der Fabrik, der Geschäfts/frau/mann im täglichen Wettbewerb. Denn darin sind sich alle ausnahmslos einig: „Wir müssen als Menschen einen Doppelkampf führen: einen Kampf um unser Dasein und einen Kampf mit uns selbst, gegen unsere Triebe, Wünsche, Neigungen und Leidenschaften. Je besser wir den Kampf gegen uns selbst be-

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Faßbender, Martin (1916): Wollen. Eine königliche Kunst. Gedanken über Ziel und Methode der Willensbildung und Selbsterziehung. Freiburg i. Br.: Herder; Maximilian Klein (1921): Glück. Grundzüge der Lebensweisheit auf naturwissenschaftlicher Basis. BerlinSteglitz: H. Stoß; Klein, Maximilian (1924): Meistere Dein Leben durch Gefühls- und Willensschulung. Berlin-Steglitz: H. Stoß; Domroese, Waldemar (1924): Der Wille zur Persönlichkeit. Eine wissenschaftlich begründete Methode zur Willenserziehung, Steigerung der geistigen Fähigkeiten, zur rednerischen Schulung und Entwicklung der Persönlichkeit. Leipzig: Oldenburg; Schneider, Friedrich (1941): Praxis der Selbsterziehung in 48 erläuterten Beispielen. Freiburg: Herder; Lindworsky, Johannes (1953 [1923]): Willensschule. Paderborn: Schöningh. Grossmann, Gustav (1933): Sich selbst rationalisieren. Wesen und Praxis der Vorbereitung persönlicher und beruflicher Erfolge. Stuttgart/Wien: Verlag für Wirtschaft und Verkehr, 18.

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stehen, desto leichter können wir den Kampf um unser Dasein führen.“9 Wer diesen Kampf nicht anzunehmen bereit ist, werde zwischen Hammer und Amboss geraten, ohne dass ihm erlaubt sei, über seine Form zu entscheiden.

1.2 GEDANKLICHE STRENGE: DAS FRÜHE ERSCHEINUNGSBILD Der Diskurs um die richtige Führung seiner selbst nimmt diejenige äußere Gestalt an, die ihm von seinen heterogenen Herkünften gegeben ist: Er tritt als philosophisches Traktat, als weltanschauliche Selbstversicherung, als kaufmännisches Erfolgsrezept oder lebensreformerische Schrift auf. Ihm fehlt es noch an den Merkmalen und Erkennungszeichen eines zum Dienstleister professionalisierten Beratungswesens. 10 Die Bücher sind nicht ohne Weiteres als ein dem Lebensrat verpflichtetes Medium erkennbar: Es existieren nur in wenigen Fällen spezialisierte Verlage, es fehlt an dem auf Wiedererkennbarkeit ausgelegten Design und den heute geläufigen gleichförmigen semantischen Formeln, die die Titel der Lebensratgeber zieren.11 Überhaupt geben sich die frühen Ratgeber äußerst zurückhaltend im Umgang mit Fotos, Bildern und gestaltenden Elementen. Die Textform ist der lineare Fließtext, der nur selten von typografischen Einschüben oder Hervorhebungen unterbrochen ist und der ganz auf die aufmerksame und vor allem systematische Lektüre seiner Leser/innen setzt. Die Autoren treten zumeist hinter ihr Werk zurück und sind nur selten mit biografischen Details oder gar fotografischen Abbildungen gegenwärtig. In nur wenigen Fällen wird auf die eigenen herausragenden Leistungen und Erfahrungen verwiesen. 12 Es fällt auf, dass die frühen Lebensratgeber nicht darauf setzten, mittels der plakativen Herausstellung der einzigartigen Individualität der Autoren die Autoritätseffekte zu erzielen, die für die Begründung eines Autor/in-Leser/in-Verhältnis wichtig sind.

9 Domroese (1924), 28. 10 Stefanie Duttweiler hat zurecht darauf hinwiesen, dass es dem Feld der Lebensberatung bis in Gegenwart hinein eigen ist, dass er sich nicht zu einem spezifischen Berufsfeld institutionalisiert. Keine Profession kann es daher beanspruchen ausschließlich für den Lebensrat zuständig zu sein. Wir meinen mit einem Professionalisierungsprozess etwas anderes als die Herausbildung eines bestimmten Berufsfeldes. Darunter zählen spezialisierte Verlage, die einfache Wiedererkennbarkeit der Buchtitel als Ratgeber und darüber hinaus das ganze Netz ökonomischer Beziehungen, dass sich um die Lebensberatung gebildet hat mit ihren Vortragsreisenden, Workshopangeboten und weiterführenden Coachings. Vgl. Duttweiler, Stefanie (2007): Sein Glück machen. Arbeit am Glück als neoliberale Regierungstechnologie. Konstanz: UVK, 85. 11 Hierzu sei auf Duttweilers Analyse der aktuellen Glücksratgeberliteratur hingewiesen. Duttweiler (2007), 81ff. 12 Gerling, Reinhold (1918 [1905]): Die Gymnastik des Willens. Praktische Anleitung zur Erhöhung der Energie und Selbstbeherrschung, Kräftigung von Gedächtnis und Arbeitslust durch Stärkung der Willenskraft ohne fremde Hilfe. Oranienburg-Berlin: Möller; Grossmann (1933); Helmel, Heinrich (1935): Der bejahende Mensch. Selbsterziehung zum zielbewußten, lebensstarken sonnigen Vollmenschen. Stuttgart: Süddeutsches Verlagshaus.

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Aber wie wird der Autor in den Augen seiner potenziellen Leser/innen zu einem Experten in Fragen der Lebensführung? Nichts weist ihn unmittelbar als zuständig in diesen Dingen aus, keine Berufsorganisation, keine staatlichen Programme, keine geldmächtigen Industrieunternehmen. Durch welche diskursiven Mittel versucht sich der Autor also Zugang zu seiner Leser/in zu verschaffen, wo es ihm doch einerseits an Möglichkeiten gebricht, sich einer spezialisierten Profession zugehörig zu zeigen, und andererseits die persönliche Einflussnahme in Form eines direkten Schüler/inLehrer/in-Verhältnisses obsolet geworden ist?Einmal, indem er in seiner beruflichen und sozialen Stellung als Autor erkennbar wird, die ihn für eine lebensratgeberische Expertise qualifiziert. Bestimmte Berufe mit einer speziellen und zumindest angemaßten Nähe zu den „heimlichen“ Sorgen der Subjekte finden so des Öfteren ihren Platz bereits auf der Titelseite: der Arztberuf,13 der Politiker,14 der Philosoph,15 der Psychologe,16 der Geschäftsmann17. Indes sind es oft auch schlicht die akademischen Gratifikationen, die für eine Seriosität und Autorität bürgen und daher gleichermaßen deutlich herausgestellt werden.18

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Gebhardt (1922). Faßbender (1916). Klein (1921); Klein (1924). Lindworsky, Johannes (1953 [1923]): Willensschule. Paderborn: Schönigh. Grossmann (1933). Faßbender (1916); Klein (1921); Gebhardt (1922); Klein (1924); Vom Bühl, Walter (1928): Jeder seines Glückes Schmied! Ein Lebensführer zu Glück und Erfolg. Pfullingen i. Württ.: Baum; Kienzle, Richard (1934): Wege der Verinnerlichung und Lebensgestaltung. Eine Unterweisung zur Selbsterziehung und zu geistiger Zucht. Kampen: Kampmann; Lindworsky (1953).

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Abbildung 1: Titelseite (1924)

Abbildung 3: Inhaltsverzeichnis (1922)

Abbildung 2: Titelseite mit Korrekturen einer Leser/in (1925)

Abbildung 4: Titelseite (1934)

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Zum anderen und dies ist für die Erzielung bestimmter Autoritätseffekte in einem Bereich wie der Lebensführung viel wesentlicher verbürgt der Autor mit seiner Persönlichkeit bereits das, was er durch seine Schulungsschrift bei seinen Leser/innen zu bewirken trachtet. So wird die Leistungsbereitschaft, die treue Pflichterfüllung und der unerschütterliche Glaube an die eigenen Kräfte mit Beispielen aus dem Schulungsalltags der Autoren nachvollziehbar gemacht. Es entfalten sich so für die Zeit typische Narrative, die sowohl mobilisierende wie (selbst-)legitimatorische Funktionen erfüllen sollen: Oft trifft darin der unbedingte Wille zur Stärke und zum Erfolg auf die Widerstände der Gewohnheiten oder der sozialen Not, aber letztlich gelingt es dem Autor regelmäßig, trotz eines zeitweisen Wankend-Werdens, den Versuchungen zu widerstehen. Diese Narrationen finden bei einigen Autoren eine besonders aktuelle Note. Sie greifen auf ihre Erfahrungen als Soldaten im Ersten Weltkrieg zurück, um zwei wesentliche Topoi der frühen Lebensratgeberliteratur zu versinnbildlichen: persönliche Leistungsbereitschaft bei gleichzeitiger Unterordnung unter das Interesse und Wohl der Gemeinschaft.19 Die Integrität der Persönlichkeit des Autors soll in dieser Weise auf die Schulungsschrift übergehen und so Autoritätseffekte erzielen. Das Werk soll belebt werden durch die Synchronizität mit seinem Autor und wird dadurch erst als Expertise an seine Leser/innen adressierbar. Einige Autoren wiederum verleihen auf eine dritte Art und Weise der Schulungsschrift eine Bedeutsamkeit, deren sich die Leser/innen nicht entziehen können sollen. Sie heben auf die über/individuelle, von den Autoren unabhängige Tragweite der entfalteten Techniken ab. In diesem Fall stehen die altehrwürdige Herkunft der Praktiken (Partikularexamen, Suggestion) oder die objektiven Leistungen der Wissenschaft (biologische Gesetzmäßigkeiten, Psychologie, Darwinismus) Pate für die Glaubwürdigkeit der Autoren. Die Autoren treten dabei ganz zurück und machen sich zu bloßen Vermittlern anerkannten Wissens. Die Autorität fließt ihnen von der Tradition, den ehernen Gesetzen der Wissenschaften oder dem „gesunden Menschenverstand“ zu.

1.3 DIE ÄSTHETIK DES APODIKTISCHEN: DAS AUTOR/IN-LESER/IN-VERHÄLTNIS DER FRÜHEN LEBENSRATGEBER Zu verstehen, wie sich der Autor an seine Leser/innen wendet, wie er einen bestimmten Typus von Leser/innen voraussetzt, an den er seine Expertise richtet, und wie er gegebenenfalls auf die Rezeption des Textes Einfluss nimmt, ist nicht ohne Belang für die Analyse des Führungstyps einer Zeit. In der Art und Weise, wie der Autor

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Bei Helmel kann man lesen, wie er in den Gefechtspausen, „anstatt mich faul hinzulegen oder Karten zu spielen [...] Gymnastik, Körperpflege u. dgl. trieb“, was ihm selbst in bitterster Kälte gestattete, ohne Mantel und Decke zu schlafen sowie Erkrankungen schneller auszuheilen (Helmel [1935], 142 u. 144). Gustav Grossmann hat „den Weltkrieg vom ersten Tag an mitgemacht, wurde 3 mal verwundet, 2 mal schwer“ (Grossmann [1927], 17) und stellt für sich als Leistung heraus, dass er trotz Kriegsinvalidität in der Lage gewesen sei, sich im Wirtschaftsleben durchzusetzen.

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seine Leser/innen für die Sache der Selbstführung gewinnt, bildet sich immer auch das allgemeine Verhältnis ab, das der Führende zu den Geführten, das selbstermächtigte zu den unterworfenen Subjekten einnehmen soll. Dies gibt uns einen ersten Aufschluss darüber, auf welche teleologische Subjektkonstruktion das Schulungsprogramm zuläuft. Für die frühen Lebensratgeber sind besonders zwei (idealtypische) Positionen markant. Zum ersten das sachbetonte, egalitäre Beziehungsmodell: Der Autor wendet sich nüchtern und sachlich an seine Leser/innen, indem er argumentativ arbeitet und auf die intellektuelle Nachvollziehbarkeit setzt. Er spart nicht die Ambivalenzen einer gelungenen Selbstführung aus und überlässt es ein gutes Stück weit den Leser/innen, inwieweit die vorgeschlagenen Selbsttechniken adaptiert werden. Autor und Leser/in befinden sich in einem Sachverhältnis, wobei ersterer einen Informationsvorsprung hat.20 Dieses Sachverhältnis kann auch mit direkten Ansprachen an die Leser/in verbunden sein, die eine einnehmende, mitunter kumpelhafte Färbung annehmen können. Die Gleichwertigkeit der Erfahrungen von Autor und Leser/in stehen im Mittelpunkt, niemand genießt Vorrang vor dem anderen.21 Zum zweiten das autoritäre Weisungsmodell: Der Autor tritt seinen Leser/innen von einer höheren geistigen und moralischen Warte unnachgiebig und strikt gegenüber. Er hält alle Fäden in der Hand, er ermahnt, er weist zurecht, er moralisiert, er gängelt. Im Extremfall kann die Ansprache an die Leser/in den Tonfall einer Standpauke annehmen. 22 Der Autor lässt keinen Zweifel daran, welche Rolle den Rezipient/innen zugedacht ist: sie sind Weisungsempfänger, ohne dass ihnen in Aussicht gestellt wird, eigene Adaptionen der vorgeschlagenen Übungen vorzunehmen. Sie werden gelegentlich sogar davor gewarnt, das Buch eigensinnig zu handhaben. Die Leser/in wird meist direkt angesprochen, ihre (durch den Autor antizipierten) Bedenken und Probleme werden relativiert, manchmal sogar lächerlich gemacht. Stattdessen zielt der Autor darauf ab, durch emotionale Motivierung und Begeisterung seine Leser/innen mitzuziehen, z.B. durch hochfliegende Versprechungen oder durch Appelle an den Durchhaltewillen („Nur keine Schwäche und Nachgiebigkeit dulden! Wenn die Arbeit an

20 Faßbender (1916); Klein (1921); Klein (1924); Domroese (1924); Kienzle (1934); Schneider (1941); Lindworsky (1953). 21 Kruse (1921); Grossmann (1933); Zeddies, Adolf (1939): Die Autosuggestion im Dienste der Selbsterziehung. Bad Homburg: Siemens Verlagsgesellschaft; ders. (1936): Willensschulung und Charakterformung: Wege zur Selbsterziehung. Bad Homburg: Siemens Verlagsgesellschaft. 22 „Weißt du, wer du bist? Nein, du weißt nichts von dir. Weißt nicht, woher du kamst; weißt nicht, wohin du gehst. Weißt du etwas von deinen Schwächen? Ist’s wahr, was deine Freunde offen und heimlich über dich reden, was deine Gegner hämisch tuscheln? Oder kommst du mit deinem eigenen Urteil der Wahrheit näher? Nichts weißt du; denn du hattest niemals Zeit, weil du feige bist. Zu faul, aus bitteren und aufrüttelnden Erkenntnissen deines Unwertes die Notwendigkeit der Umformung und des Neuwerdens zu lernen. Und deine Kräfte? Kennst du ihre Wirkungsmöglichkeiten und ihre Grenzen? Das eine so wenig wie das andere. Nach deiner Stimmung schätzt du dich ein. Greifst heute wagemutig in die Sterne und bist beim ersten Mißerfolg ein traurig weggekrümmter Wurm.“, Hugin, Hjalmar (1925): Lebensmeisterung. Varel i. O.: Verlag „Am Kamin“, 9f.

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dir hart ist, werde du noch härter!“). 23 Dieses virtuelle Beziehungsmodell kann in seiner rhetorischen Klangfarbe von jovial bis herrisch schwanken. 24 Ein Großteil der im frühen 20. Jahrhundert publizierten Lebensratgeber sind dem autoritären Weisungsmodell zuzurechnen.25 Die Lese- und Bearbeitungsregeln von diesen Autoren sind in der Regel strikt, weitreichend und werden als Voraussetzung für eine erfolgreiche Aneignung und mithin für eine erfolgreiche Selbstführung betrachtet. Bruch beispielsweise verlangt, dass die Anleitung in Form von zehn Briefen gründlich und der Reihe nach durchgearbeitet werden soll. Nach jedem Brief ist der Lesende angehalten, das Gesagte nochmals zu überdenken.26 Bei Müller-Guttenbrunn verbürgt einzig die „peinlich genaue Befolgung“27 der Reihenfolge der gegebenen Anweisungen ihren Erfolg und warnt: „Ausnahmen dürfen keinesfalls gemacht werden. Jede Ausnahme ist Gift und zerstört mit absoluter Sicherheit alles wieder, was vielleicht schon errungen worden ist.“28 Kruse lässt jede neue Stufe der Willensbildung mit einer Warnung vor dem gefährlichen Eindämmern von Akribie und Selbstdisziplin beginnen, die er als heimliche Gedanken der Leser/innen ausgibt. „Hören Sie bei den Übungen nicht manchmal Ihre Gedanken zueinander sagen: ‚Aber auf solche Kleinigkeiten kommt es doch nicht an! Was kann es schaden, wenn ich jetzt dies tue oder jenes lasse?ʻ“29 Solche, den Leser/innen unterstellte, dämonischen Einflüsterungen münden bei ihm zumeist in dringliche Einschärfungen, nämlich die auf siebzehn Wochen angelegte Schulung keinesfalls eigensinnig zu verändern und den Wechsel zwischen Regel- und Sonderübungen akribisch zu beachten. Die zeitliche Dimension und anspruchsvolle Systematik des Schulungsprogramms zieht so mehr indirekt bestimmte Rezeptionsbedingungen und Lesesituationen nach sich. Die Schulung erfordert ein hingebungsvolles, wortgetreues Überantworten des gesamten Alltags unter die Maßgaben des Autors. Gerling exemplifiziert seine Vorstellung einer idealen Lesesituation. Jedes Kapitel und jede Seite soll einzeln, der Reihe nach und mit Zeit und Muße gelesen werden. Während des Lesens soll man sich vorschneller Urteile enthalten und am Ende jedes Kapitels den gelesenen Text genau überdenken.30 Das Durchlaufen der Leser/innen 23 Helmel (1938), 131. 24 Gerling (1918); Kruse, Jens Uve (1921): Ich will! Ich kann! Eine Schule des Willens und der Persönlichkeit. Buchenbach in Baden: Felsen-Verlag; Gebhardt (1922); Hugin (1925); Jacoby, Hermann P. (um 1925): Stirb und Werde. Ein erfolgssicheres System zu Lebensneugestaltung und Vollmenschentum durch Lebenskunst, Willens- und Charakterschulung; [6 Briefe]. Leipzig: Hugo Orlob; Vom Bühl (1928); Helmel (1938); Müller-Guttenbrunn, Herbert (1936): Der Weg zur inneren Freiheit. Eine Schule des Willens. Wien: SaturnVerlag; Keulers, Peter Heinrich (um 1941): Die Leistungsschule. Erfolg durch Wollen und Können. Essen: Bildgut. 25 Da es sich um eine idealtypische Ausstellung handelt, können einzelne Autoren in ihren Werken von Kapitel zu Kapitel durchaus zwischen diesen beiden Positionen hin- und herpendeln, z.B. Kruse (1921), Klein (1921 und 1924), Jacoby (1925). 26 Bruch, K. (1919): 10 Stufen zum Erfolg. Leipzig: Xenien, 3, 14. 27 Müller-Guttenbrunn (1936), 24. 28 Ebda., 25. 29 Kruse (1921), 63. 30 Gerling (1918), 34.

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durch das Schulungsprogramm hat so die Implementierung von Selbsttechniken (im Sinne von Lese- und Rezeptionstechniken) zur Voraussetzung, die erst Ergebnis dieses Prozesses sein können: eine Selbsttechnik au moment de la lettre. Gerling hat sogar ein zweites Vorwort zwischen Einführung und praktischen Teil eingefügt, um die Kontrolle eng zu halten. Launig hält er seinen Leser/innen vor, dass häufig „Kapitel, die scheinbar nur theoretische Angaben oder gar philosophische Deduktionen enthalten, überschlagen [werden]. Das ist falsch. Jedenfalls wird nur der ein Meistern eisern Kunst [sic], der von der Theorie zur Praxis übergeht“. 31 Die Bindung der Leser/innen an den Text trägt bereits wichtige Kennzeichen der Form der Selbstführung dieser Zeit: Das Subjekt tritt erst dann auf den Pfad seiner Freiheit, wenn es sich mit Haut und Haar der lückenlosen Schulung seines Seins überlässt. Nur dann ist es in der Lage, den heiklen Bewährungen entgegenzutreten, die es von zwei Seiten her bedrohen. Der Blick auf das virtuelle Beziehungsmodell der frühen Lebensratgeber enthüllt eine weitere, nämlich eine geschlechterspezifische Dimension. Die von uns versammelten Texte weisen allesamt Männer als Autoren aus. Frauen scheinen grundsätzlich in dieser Zeit kaum als Urheber/innen von Lebensratgeberliteratur in Erscheinung zu treten, die den Anspruch haben, universell gültiges Wissen und Praktiken für die Selbstführung zur Verfügung zu stellen.32 Zwar gibt es zahlreiche in erzieherischer und erbaulicher Absicht verfasste Schriften mit weiblicher Autor/innenschaft, diese haben aber in der Regel religiösen Charakter oder befassen sich mit Fragen von Anstandserziehung von Mädchen (z.B. erzieherischem Unterricht in Berufsschulen für Mädchen) bzw. genuin weiblicher Subjektivierung (z.B. Anleitungen zur Selbsterziehung der weiblichen Jugend). Offensichtlich dürfen Frauen in dieser Zeit öffentlich sichtbar werden, wenn sie Frauen (und Mädchen) Lebensrat erteilen. Jedoch gilt dies nicht in gleicher Weise, wenn sie einen allgemeinen, Privat- wie Berufsleben umfassenden Organisationsanspruch verfolgen, der auch Männer adressiert. Umgekehrt werden Frauen als Leser/innen von Lebensratgeberliteratur gelegentlich angesprochen, wie die von den Autoren ausgesprochenen Warnungen vor dem suggestiven Einfluss von Modebotschaften33 oder die Kritik an „ungesunder“ Frauenbekleidung und -frisuren34 zeigen. Aber letztlich bleiben diese Appelle ein randständiges Phänomen und stehen unzähligen Beispielen, Anekdoten und Erzählungen gegenüber, die der männlichen Lebenswelt entnommen worden sind und auf ein männliches Subjekt abzielen. Die Lebensratgeberliteratur der frühen Epoche ist in ihrer Grundtendenz eine Literatur, die von Männern für Männer geschrieben wurde, auch wenn sie Frauen nicht explizit ausschließt. Auf den nächsten Seiten wollen wir die Krisen- und Bedrohungslage skizzieren, in die das moderne Subjekt von den Autoren gestellt wird, um die Fragen einer bewussten, angeleiteten Selbstführung zu plausibilisieren. Es wird zu zeigen sein, dass seine Prekarität als eine Folge von subjektimmanenter Missstände und gesellschaftli31 Ebda., 34. 32 Dass es sich nicht um ein zufälliges Resultat unserer Auswahlkriterien handelt, zeigt sich daran, dass von den 190 Texten, die von uns im ersten Schritt als Lebensratgeberliteratur eingestuft worden sind, nur ganze sieben von Frauen verfasst wurden. 33 Vgl. Gerling (1918), 21. 34 Vgl. Vom Bühl (1928), 50f.

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chen Fehlentwicklungen aufgefasst wird, die sich auf unheilvolle Weise verknüpfen. Die Aufrichtung eines von „Schwäche“ und „Schlacken“ der Moderne befreiten Selbstverhältnisses wird im anschließenden Teil beschrieben, um im letzten Abschnitt den teleologischen Fixpunkt zu umreißen, auf die die Selbstführung des frühen 20. Jahrhunderts hinsteuert.

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Das Subjekt im Zweifrontenkrieg

2.1 DIE DÜSTERNIS DES DASEINSKAMPFES: DIE WELT ALS WILLE UND VERFALL Der Kampf ums Dasein, der verschiedentlich als Lebenskampf oder Erhaltungskampf in den Lebensratgebern thematisiert wird, ist die zentrale Problematisierungsachse, um die der Diskurs der Selbstführung rotiert. Er bildet den Hintergrund, er liefert die gesellschaftstheoretischen Interpretationsmuster, er bildet die allgemeine Bedrohungslage, vor die jede Überlegung zur Selbstführung gestellt wird. Er rechtfertigt nicht nur die Vorhaben einer technischen Selbstverfertigung für den heutigen Menschen, er erhebt die Führung des Selbst zu einer naturnotwendigen Pflicht für die menschliche Gattung. Die als prekär empfundene Lage des Subjektes erscheint in den Augen der Autoren von einer fundamentaleren Misere verursacht, nämlich von den Bewegungsgesetzen der modernen Welt, gleichwohl diese – wie wir noch sehen werden – auf problematische Weise darin verstrickt sind. So finden in der Welt der Ratgeber die Kämpfe nur augenscheinlich zwischen Klassen, Interessengruppen oder sozialen Milieus statt. Zwar werden das Treiben egoistischer Parteiinteressen, 1 die schwierigen sozialen und ökonomischen Lebensverhältnisse, 2 die drohende Verelendung großer Bevölkerungsgruppen3 oder die Übelstände in der monotonen Fabrikarbeit4 beanstandet. Aber nicht diese sind es letztlich, die den Pflichtcharakter der Selbstführung in den Texten begründen. Das Ansinnen einer Selbstregierung wird deswegen vernünftig und notwendig, weil dem Einzelnen eine meist abstrakte, wenig konkret nachgewiesene, oft biologisch verstandene, existenziellen Daseinskrise attestiert wird, die den Kampf aller gegen alle um einen aussichtsreicheren Platz an der Sonne zur Grundlage hat. Die Haupttriebfeder des Lebens, das Movens jeder Fortentwicklung, so führt der an der Friedrich-Wilhelm-Universität zu Berlin in den 1920er Jahren lehrende Philosoph Maximilian Klein aus, der mehrere Ratgeber zum Thema Glück und Lebensmeisterung geschrieben hat, besteht darin, „daß sich die bestausgerüsteten Individuen auch am besten, selbst unter den schwierigsten Verhältnissen zu behaupten vermögen“.5 Es komme, so Klein weiter, also auf die Erlangung eines psychophysischen Zustandes an, der den Bedingungen des Lebenskamp1 2 3 4 5

Vgl. Gerling (1918), 130. Vgl. Faßbender (1916), 7. Vgl. Domroese (1924), 298. Vgl. Zeddies (1936), 245.; vgl. Kruse (1921), 58f.; vgl. Gebhardt (1922), 48. Klein (1924), 10.

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fes am adäquatesten ist. Der sogenannte Erhaltungszustand des Einzelnen sei zwar von der Natur gegeben, aber durchaus der Umbildung und Formung zugänglich, so dass der Eigentätigkeit eine maßgebliche Rolle zukomme. 6 Die zur Weichlichkeit führende Ruhesucht – so seine Worte zur Bezeichnung eines willensschwach und zugleich zügellos wahrgenommenen Strebens des modernen Menschen – müsse überwunden und die Kampfesfreude gestärkt werden. Als nützlichste innere Haltung empfiehlt er den „grundlosen Optimismus“, da er die Arbeitslust und den Lebensmut steigere. Bei Klein geraten die Affekte und Gemütslagen, die er als nützlich dafür betrachtet, zur Grundlage für eine innere Gefechtsbereitschaft. Es sei das anzustreben, „was tauglich zum Ringen und Kämpfen macht“.7 Nur die dauerhafte Übung ermögliche es, Anlagen zu entwickeln, die der Fortentwicklung des Einzelnen und der Menschheit am gedeihlichsten seien. Selbstführung erscheint bei Klein als die Pflicht zur selbsttätigen Erziehung seiner Natur, als ein Dienst gegenüber der Gattung. 8 Nicht alle Lebensratgeber binden die Forderung nach Selbstführung so eng an eine biologisch getönte Daseinsschuld. Vielen genügt der Verweis auf ein geteiltes Gemeinwissen, um den Leser/innen den Ernst der Lage in Erinnerung zu bringen. Das Topos des Daseinskampfes gerinnt bei ihnen zu einem in der Gesellschaft wirkenden Lebensgesetz, das damit letztlich genauso objektiv unabweisbar wird. Beschaut man sich dieses geschwätzige Vor-Augen-Stellen von unerschütterlichen Maximen, erkennt man schnell, dass auch hier das Lebensgesetz den Geist mitleidloser, zwangsläufiger Konfrontation atmet. Gesellschaftliche Ordnung unterliegt in der Sichtweise der Autoren dementsprechend einer Herr-Knecht-Polarität. Domroese schwört seine Leser/innen auf die Akzeptanz des Unvermeidlichen ein: „Es wird immer lebensschwache, das heißt energielose, und lebensstarke Naturen geben. Daß der Schwächliche vom Starken ausgenützt wird, ist etwas so Lebens- und Menschennatürliches, daß hieran kaum jemals etwas geändert werden wird.“9 Von einer ähnlich polaren Sicht auf die soziale Welt sind auch Kruses Ausführungen getragen. Bei ihm ist die Gesellschaft ein Unter-/Überordnungsverhältnis zwischen starken und schwachen Willen. Als Grundtatsache des Sozialen sei die „geheimnisvolle Obergewalt des Menschen über den Menschen“ zu akzeptieren. 10 Steinhagen vermittelt seinen Leser/innen das Bewusstsein, dass sie sich durch die Arbeit an ihrem Selbst zum „Herrenmenschen“ emporarbeiten können und so letztlich am Sieg über den Her-

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„Ein vernünftiger, kräftiger, beständiger Wille ist es, was wir zu erreichen wünschen. Oder drücken wir es anders aus: wir möchten unsere Natur so umgestalten, daß ihre Betätigung immer und kraftvoll in den Bahnen der Vernunft läuft.“ Ebda., 65. 7 Ebda., 59. 8 Glück, das eigentliche Ansinnen seiner Schrift, wird von Klein auch schnellstens seiner selbstgenügsamen, selbstreferentiellen Momente entkleidet. Glück ist Klein zufolge mehr eine Art Lackmustest, um die eigene Lebensweise auf ihre größtmögliche Nähe zu einem agonal verstandenen Naturzustand des Menschen zu überprüfen. Denn es stellt sich immer dann ein, wenn die individuellen Voraussetzung zur Führung des Daseinskampfes auf das Bestmöglichste aktiviert worden sind. 9 Domroese (1924), 298. 10 Vgl. Kruse (1921), 8.

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denmenschen teilhaben werden.11 Auch Gerling erklärt gesellschaftliche Privilegierung aus dem einnehmenden Wirken von vermeintlich edlen und gewaltigen Triebkräften einer hochstehenden Persönlichkeit. Gesellschaftsgeschichte geht bei ihm nahtlos in Personengeschichte über: „Jede Institution ist der verlängerte Schatten eines einzigen Menschen […], die ganze Weltgeschichte löst sich mit Leichtigkeit in die Biographien einiger weniger kraftvoller und ernster Gestalten auf.“12 Neben der elitären Schwärmerei für die sogenannten Ausnahmemenschen – und fast jeder Lebensratgeber dieser Zeit sucht sich einen Krupp, Goethe, Napoleon oder Bismarck, um deren herausragende geistige und körperliche Kräfte zu bekunden –, bringen Gerling und viele seine Kollegen eine bedrohliche Kulisse in Stellung. In dieser tummeln sich eine Reihe fratzenhaft gezeichneter Gestalten – Onanisten, Neurasthenische, Nichtstuer und Vergnügungssüchtige, ja überhaupt „schwache“ Menschen, gegen die, wie Grossmann behauptet, die Menschheit eine natürliche Abneigung zeige. 13 Diese sollen den Leser/innen zu Bewusstsein bringen, dass auch diejenigen für ihre Lage verantwortlich seien, die sich auf der Verliererseite der sozialen Ordnung befinden, und dass sie keine Schonung erwarten dürfen. Gerling geht so weit, für diesen Menschenschlag zu fordern: „Er soll sich hängen, nicht aber durch besondere Pflege seines faulen Körpers seine zwecklose Existenz verlängern und den Schaffenden den Raum nehmen.“14 Die dichotome Aufteilung des sozialen Raumes durch den Topos des Daseinskampfes radikalisiert, man möchte sagen, brutalisiert die Entscheidungserzwingung für das Schulungsprogramm der Lebensratgeber. Sie setzt die Leser/innen, vor dem Hintergrund ihres drohenden Niedergangs, unter Handlungsdruck, der kaum als freie Wahl bezeichnet werden kann. Die Adressierung der Leser/innen durch Selbstführungsimperative macht sich mal mehr, mal weniger offen ein Selektions- und Ausgrenzungsdenken zunutze. Dem Einzelnen wird schnell klargemacht, wenn auch nicht immer unter diesen existenziellen Vorzeichen, dass derjenige, der Selbstführung unwillentlich oder bewusst entsagt, rasch zum Spielball äußerer Mächte wird. Helmel stellt, in der für die frühen Ratgeber üblichen Mischung aus Pathos und Gewaltförmigkeit, die Leser/innen vor eine schauerliche Wahl: „[E]s geht um die lebendige Entscheidung, ob du Amboß sein willst oder Hammer, ob du in der Lebensverneinung oder -bejahung stehen und leben willst. Klar muß es dir werden, ob ‚duʻ das Werk schmieden willst, oder ob auf dir geschmiedet werden soll. Wähle! Wählst du den Amboß, wirst du Schläge über dich ergehen lassen müssen, arbeitest du dich durch zum Hammer, so wirst du selber schwingen.“ 15

11 Steinhagen, Robert (ca. 1918): Vom Herdenmenschen zum Herrenmenschen. Ein Evangelium der Lebenskunst. Brieg: Kroschel, 3ff. 12 Gerling (1918), 37. 13 „Diese Abneigung geht auf den primitiven Kulturstufen der Menschheit so weit, daß man die Kranken und Schwachen ausmerzt, daß es der Sitte solcher Stämme entspricht, sich von den Kranken und Schwachen zu befreien. Auf den primitiven wie auch auf den feinnervigen wirken lebensunfähige Menschen peinlich“, Grossmann (1933), 45. 14 Ebda., 106. 15 Helmel (1938), 20.

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Wer hier die falsche Entscheidung trifft oder sich seiner Wahl gar nicht bewusst ist, gerät schnell unter den Hammer und findet sich sogleich auf der Seite des sogenannten Dutzend- oder Massenmenschen wieder.16 Daher der Aufruf zur Kampfesbereitschaft, bei dem aber die Autoren ihren Leser/innen häufig gar keine Hoffnung auf einen zwangsläufig glücklichen Ausgang machen. Zur „Hammerexistenz“ kann man sich wohl entscheiden, doch ob die Wahl in jedem Falle glückt, ist ungewiss. Bei Grossmann liest man: „Hat man sich auf diese Weise an ein Ziel gebunden, so hat man ein Gelübde getan, dieses Ziel zu verwirklichen. Für eine Persönlichkeit bedeutet aber der Entschluß zu einem Ziel, entweder dieses Ziel zu verwirklichen, oder bei dem Kampf um die Verwirklichung zugrunde zu gehen.“17 Den Leser/innen wird ein Szenario präsentiert, dass sie untergehen, aber auch zu Held/innen werden lassen kann, wenn sie sich zu beständiger, beflissener Arbeit bereitfinden: „[R]eckt und erhebt euch über die Fluten hinaus, teilt sie mit kräftigen Armen. Besiegt sie und sie werden euch tragen, wenn ihr durch rege Bewegungen euch vor dem Versinken bewahrt!“18 Der individuelle (Über-)Lebenskampf hat bei einigen Autoren seine Voraussetzungen nicht nur im Kampf aller gegen alle, sondern wird als ein Gebot einer Zeit dargestellt, die sich an einem Scheideweg befinde. Die Lebensratgeber transportieren nicht nur ein bedrohliches Bild von der aktuelle Lage des Menschen, sie sehen am Horizont bereits den Zeitpunkt einer finalen Abrechnung aufziehen. Diese wird entscheidend davon bestimmt sein, ob der Einzelne die Hülle seiner niederen Daseinsweise abgestreift hat und sich eine gebieterische Gestalt zu geben vermochte. Denn der „zivilisierte[n] Menschheit“ drohe der Untergang, so vom Bühl, wenn der Einzelne sich aus dem dumpfen Alltag nicht zum „Voll-Menschentum“19 emporarbeite.20 Helmel schließt sich dieser endzeitlichen Sicht an, sieht jedoch schon ein „neues und starkes Geschlecht heranwachsen“, das den Forderungen des Lebens gerecht wird und es über sein heutiges „verkrüppeltes, degeneriertes, krankheitsgeschwängertes“21 Dasein erhebt. Mitunter bemächtigt sich so der Rhetorik der Ratgeber ein gewisses Krisen- und Weltenwendebewusstsein, das die Arbeit am Selbst zum Scharnier und Exerzierplatz einer neuen Zeit erhebt. Doch es fragt sich, warum waren die Appelle an die Entscheidungsmacht der Subjekte notwendig? Warum dieses Hantieren mit Untergangs- und Bedrohungsszenarien? Ist die Welt, bewegt durch die biologischen Gesetze von der Auswahl des Besseren und der Selektion der Schwachen nicht a priori folgerichtig, so wie sie ist? Warum bemüht man sich um das Einschärfen einer bewussten Wahl bei den Leser/innen, wenn es doch naturhaft so bestimmt ist, dass die Menschen zum Fortschritt des Einzelnen und der Gemeinschaft gegeneinander konkurrieren? Weil, so die ein16 17 18 19 20

Vgl. Gerling (1918), 36. Grossmann (1933), 215. Gerling (1918), 104. Vom Bühl (1928), 32. Ähnlich auch Gebhardt (1922), 102f.: „Es ist auf dem psychischen wie auf dem physischen Gebiet ein über alle Maßen unnatürliches Leben, das gegenwärtig breite Schichten der Gesellschaft führen (zum Teil auch führen müssen). Da muß eine Rückkehr zu anderer, dem Geist wie dem Körper sein Recht gebender Lebensweise zur elften Stunde noch versucht werden, oder es wird ein innerer und äußerer Bankrott die unvermeidliche Folge sein“. 21 Helmel (1938), 140f.

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hellige Meinung der Lebensratgeber, der moderne Mensch zwar in der Lage gesehen wird, seine ihm gegebenen Anlagen durch Übung und Schulung wettbewerbsreif zu machen, er aber in der Regel weder etwas von seiner Pflicht zum Daseinskampf weiß noch das Elend erkennt, das sich aus diesem Unwissen ergibt. Alle stimmen darin überein, dass es dem modernen Menschen an Einsicht in seine Lage mehr oder minder gebricht.22 Jacoby spricht von einer „trostlosen, geradezu unglaublichen Unkenntnis über das eigene Selbst“.23 Wie auch immer die Lebensratgeber über den modernen Menschen im Detail befinden, ob sie ihn für pflichtvergessen, faul, kraftlos oder selbstverliebt halten, immer ist ein wesentlicher Teil seiner selbst für ihn verdunkelt, dem eigenen Zugriff entzogen. Die Lebensratgeber rechnen es aber nicht allein den Individuen zu, dass sie ihrer Pflicht zur Selbstführung nicht nachkommen. Vielmehr gilt ihnen die Moderne als ein wesentlicher Hinderungsgrund für die Ausbildung einer kämpferischen, den Tatsachen des Daseinskampfes ins Auge sehenden Subjektivität. In trauter Einheit mit den kulturpessimistischen und modernitätsskeptischen Positionen des deutschen Bürgertums um die Jahrhundertwende, wenden sich viele Autoren mit gleichermaßen dringlicher Rhetorik an ihre Leser/innen: Ist nicht die moderne Zivilisation selbst von einem ungeheuren Sinnentaumel befallen, der die Menschen ruhelos, zerstreut und krank werden lässt?24 Muss man nicht bereits in der verweichlichenden, verkopften Erziehung der Kinder den Grund dafür suchen, dass die Erwachsenen im Daseinskampf nicht bestehen können?25 Beherrscht das öffentliche Leben nicht die geistlose Jagd nach materiellem Gewinn und „lustbetonte[r], geile[r] Lebensführung“ 26? Das großstädtische Leben, dem als Inbegriff der Ruhelosigkeit und Verkommenheit der Zeit nahezu babylonische Ausmaße zuerkannt werden („Hexenkessel und Menschenmühle“27), hat in den Darstellungen der Lebensratgeber eine verleblosende und zugleich eine ungesund erregende Wirkung auf den Einzelnen: Es vermasse und blockiere die Schöpferkraft und Originalität, 28 es kopple die Menschen von natürlichen

22 Die Tonlagen sind jedoch verschieden: Faßbender gibt erstaunt zu erkennen, dass, obgleich die heutige Zeit hohe Anforderungen an den Willen des Menschen stellt, kaum jemandem die Pflicht zur Veredelung des Willens bewusst sei. Müller-Guttenbrunn bemüht zur Erklärung der kritischen Besinnungslosigkeit des Subjektes gesellschaftliche Entfremdungsprozesse; der Mensch vegetiere, so sein Tenor, nur mehr als betriebsamer Schemen dahin, es fehle ihm die Kraft aus seiner verkrüppelter Existenz herauszutreten, weil er als Funktionsträger, Spezialist oder Angehöriger irgendeines Berufes ein verdinglichtes, rein partikulares Dasein friste. Helmel hingegen rechnet es der inneren Haltlosigkeit der meisten Menschen zu, dass sie zu einem Suggestionsprodukt ihrer Umgebung werden und nur mehr Sklaven der Verhältnisse und Spielball fremder Mächte seien. Vgl. Faßbender 1916, 6; MüllerGuttenbrunn (1936), 5; Helmel (1938), 12 und 18. 23 Jacoby (1925), VI. Brief, 14. 24 Vgl. u.a. Helmel (1938), 195; Gerling (1918), 116; Gebhardt (1922), 24f.; Klein (1921), 84. 25 Vgl. u.a. Domroese (1924), 298; Klein (1921), 121f.; Jacoby (1925), IV. Brief, 10. 26 Helmel (1938), 136. 27 Esdorp, Viktor (1934): Kartothek des Ich. System einer Lebensführung. Wien: Saturn, 73. 28 Ebda., 73.

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Rhythmen ab und unterwerfe sie den Takt von Maschinen,29 es treibe sie zu lasterhaften, ungesunden Gewohnheiten30 und es betöre sie mit schnell wechselnden Reizen bis zur Besinnungs- und Willenlosigkeit. Neben der Großstadtfeindlichkeit findet in die Lebensratgeber eine Problematik Eingang, die gleichermaßen viele Zeitgenossen des frühen 20. Jahrhunderts zu zahlreichen Kritiken und Klagen veranlasste: die Schule.31 Mit großer Regelmäßigkeit zieht sie den Unmut der Lebensratgeber schreibenden Zeitgenossen auf sich. Ihr wird vorgehalten, weniger der Stärkung und Stählung der nachwachsenden Generation zu dienen, als dass sie ein Drill zu äußerem Gehorsam sei.32 Sie überfrachte die Kinder mit unnützem Wissensballast und unterdrücke jedes vitale Willensziel der Schüler/innen.33 Folgerichtig produziere sie Befehlsempfänger ohne Sinn für die Notwendigkeit planhafter Selbstführung. Die spätere Berufsarbeit bilde schließlich genau das ab, was in der Schulzeit an verhängnisvollen Entwicklungen ihren Anfang genommen habe: Sie sei zunehmend verkopfte, der neurasthenischen Erkrankung nahewohnende, monotone Tätigkeit, die überanstrengt und krank mache. So schließt sich für die Lebensratgeber ein Zirkel aus krankmachender Moderne und moderner Krankheit. Das politische Leben ist für die meisten Autoren kein Ort, an dem diesen als Kulturverfall erlebten Prozessen Einhalt geboten wird, sondern wird selbst wiederum als korrumpiert durch die Logiken der modernen Massengesellschaft wahrgenommen. 34 Die Suche der Lebensratgeber nach Vorbildern für sogenannte willensstarke Persönlichkeiten flüchtet sich so regelmäßig ins Reich historischer Narrative (und Konstruktionen!) und vermeintlicher „Heldentaten“. Klar wird dem Betrachtenden dieser Problematisierungsszenarien indes eines: Die Lebensratgeber sahen in ihrer Zeit kaum Anhalts- und Bezugspunkte, kaum ein günstiges Klima für eine öffentliche Programmatik der Selbstführung. In der Welt der Ratgeber ist die den modernen Subjekten attestierte Willensschwäche vor allen Dingen Ausdruck einer viel weitgehenderen Degenerationserscheinung, nämlich der der modernen Kultur. Sie wird als Subjekt mit zweifelhaftem Charakter aufgefasst, die die Menschen geradezu überwältigt. Die schulungswillige Leser/in dieser Literatur sieht sich also zu einer Arbeit aufgerufen, die nicht nur das eigene Selbst, sondern ein Stück weit die Zeit selbst zum Gegenstand hat. Der sich verstärkende Zusammenhang zwischen überwältigender Moderne und schwächelndem Subjekt macht den Schulungsweg zu einem heroischen Akt mit ungewissem Ausgang. Der Daseinskampf wiederum macht aus ihm eine unhintergehbare Bedingung sozialen (gelegentlich auch physischen) Überlebens. Doch wie stellt sich für die Lebensratgeber ein Zusammenhang her zwischen kulturellem Verfall und zweifelhafter Selbst- und Lebensführung? Wie kann sich die 29 Vgl. Grossmann (1933), 249. 30 Vgl. u.a. Klein (1921), 110; vgl. Gerling (1918), 116. 31 Die Kritik an der Schule ist fast so alt wie die Schulpflicht selbst. Während des 19. Jahrhunderts, insbesondere im letzten Drittel, gehört die Diskussion sog. Überbürdung und sog. Verkopfung durch Schulerziehung zum Standardrepertoire des (Bildungs-)Bürgertums in Deutschland. Siehe unser Kapitel „Der Zögling als Objekt von Subjektivierungsstrategien“. 32 Vgl. Lindworsky (1953), 97ff. 33 Vgl. Grossmann (1933), 249. 34 Vgl. Domroese (1924), 307.

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Außenwelt so leicht auf die beschriebene Weise im Inneren des modernen Menschen Geltung verschaffen? Warum kann sie ihn von seinen Pflichten, nämlich den Kampf ums Dasein zu führen, entfremden, abhalten oder diese sabotieren? Was im Subjekt drängt, in den Darstellungen der Lebensratgeber, den Einzelnen dahin, sich mit den Sünden der modernen Welt gemeinzumachen?

2.2 DER GEIST ALS SCHLACHTFELD Mit der Beschwörung eines Kampfes ums Dasein stecken die Lebensratgeber nur ein Problemfeld ab, vor dem Selbstführung notwendig erscheint und innerhalb dessen sie sich behaupten muss. Wesentlicher noch als durch die Fehlentwicklung der modernen Welt ist der Einzelne durch sich selbst in eine bedrohliche Lage gebracht. Die Gefahren, die aus der Beschaffenheit des menschlichen Innenlebens heraus resultieren, haben in den Augen der Lebensratgeber nahezu endzeitliche Dimensionen. Die menschliche Natur wird nicht einfach in der Krise gesehen, weil ihr die Bedingungen für eine adäquate Entwicklung vorenthalten werden. Sie erscheint selbst äußerst unzuverlässig, wechselstimmig, launisch. In ihr werden Kräfte am Wirken gesehen, die, wenn sie undurchschaut und unbearbeitet bleiben, den Menschen in größte innere Not bringen können. Die Warnungen vor einer Natur und mithin einem Willen, der sich selbst überlassen bleibt, wird häufig mit einer Reihe wachrüttelnder Beispiele unterlegt. Diese zeigen, wie der Weg in die Delinquenz, in die Krankheit oder in die soziale Deprivation ihren Ausgang von einem laissezfaire des Willens nehmen. Bei Friedrich Schneider beispielsweise gerät ein junger Angestellter, der „sich bisher als intelligent und anstellig, als fleißig, pflichteifrig und zuverlässig erwiesen“ hat und dem der Weg für einen beruflichen Aufstieg vorgezeichnet war, in eine schwierige Lage. Denn ohne der Gefahren gewahr zu sein, überlässt er sich während seiner Botengänge seinen schwärmerischen Träumereien für große Überseereisen und gerät damit in eine Verkettung von Diebstahlhandlungen und eines Fluchtversuchs nach England, der ihn schließlich vor den Richter bringt.35 Auch bei Gebhardt steht die sehr erregbare Phantasie eines Studenten im Mittelpunkt unglücklicher Ereignisse. Diese ist Quelle „lasciver Bilder [sic]“, derer er sich aufgrund seiner mangelnden Kenntnis und Übung des Willens nicht erwehren konnte. Bereits im Alter von 15 Jahren verfällt er der „beklagenswerten Gewöhnung der Onanie“36 und steht fortan in einem beständigen Kampf mit sich selbst. Regelmäßige Rückfälle bringen den jungen Mann in eine zunehmend aussichtslose Lage. Sein körperliches und vor allen seelisches Befinden verschlechtert sich dramatisch. Gebhardt zieht die Aufzeichnungen des jungen Mannes heran, um den Zustand fortgeschrittener Willensschwäche zu kennzeichnen: „Ich hatte natürlich in diesem Zustande keine Lust zum Studium mehr; ich lebte ja nur in jenem wahnwitzigen Traumleben, immer zwischen Himmel und Erde schwebend. Eine meiner Freunde sagte mir damals: ‚Du bist entweder ein Vieh oder ein Geist, aber Du bist kein Mensch mehr.‘ Es gab für mich nur ein Ding, wegen dessen es sich zu leben lohnte, und dies war meine 35 Schneider (1941), 156f. 36 Gebhardt (1922), 153.

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Leidenschaft, die ich in krankhaft fieberischer Weise genoß, und in der ich ebenfalls litt […] ohne daß ich Willen und Kraft besaß mich vom Abgrund fern zu halten, der mich verschlingen würde.“37

Der Aufruf zur Züchtigung seiner selbst ist von der Angst getrieben, dass der Mensch „von Hause aus an einer gewissen Willensschwäche“38 krankt. Diese muss nicht einen so fatalen Verlauf nehmen wie in den obigen Fällen. Zumeist befinden sich die Menschen eher in einem weniger klar umrissenen Zustand beständiger Missstimmung,39 Schwarzseherei,40 Grübelei,41 Schlaffheit42 oder hedonistischer Ausschweifung.43 Kruse schreibt: „Ist der Wille nicht gehärtet, so fehlt die Kraft, dem Unbehagen innerer Spannungen und Antriebe zu widerstehen. Kommt dann ein Warten, so ist Ungeduld, kommt ein Ungewohntes oder eine Häufung von Geschehnissen, so ist Aufregung, kommt ein Ärgernis, so ist Explosion in Affekten, kommt ein unrechtes Begehren, so ist Nachgeben und folgende Reue.“ 44

Aber egal, wie sich die Beschreibung der Symptomatiken im Einzelfall ausnehmen, es ist allgemeine Auffassung, dass die der Natur des Menschen attestierte konstitutionelle Schwäche, eine konsequente Züchtigung des Selbst nötig macht. Die Schwäche des Willens treibt die Autoren der Lebensratgeber auch deshalb um, da sie nicht nur ein partikulares Versagen des Subjektes darstellt. Sie befällt nicht nur einzelne Fähigkeiten des Menschen, sondern erobert sich alle Gebiete, in denen der Wille seinen Wirkungskreis hat: die Affekte, die Vorstellungskraft, die Vernunft, die Handlungsfähigkeit. Jeder Teilbereich in dieser Willensarchitektur entfaltet seinen eigenen Abwärtsstrudel, setzt eigene Unwägbarkeiten, destruktive Mechanismen und Probleme frei. Die zugrunde liegende Ursache dieser globalen Krise des Subjektes liegt in der spezifischen Funktionsweise des Willens. Denn er stellt in den Augen der Lebensratgeber den eigentlich steuernden, organisatorischen Rahmen des Subjektes bereit. Er bewertet, weist ab, verstärkt oder entscheidet über Erscheinung und Ziel von Vorstellungsinhalten, Gefühlen, Gedächtnisinhalten, körperlichen Zuständen. Er gilt als eine Metafähigkeit des Subjektes. Krankt dieser oder ist er durch Nachlässigkeiten des Einzelnen geschwächt, d.h. in einem Zustand der Widersprüchlichkeit und Uneinheitlichkeit gebracht, hat dies Auswirkungen auf alle kognitiven Basisprozesse, auf seine Handlungsfähigkeit und seine körperlich-mentale Verfasstheit. Ein fehlender oder schwacher Wille führt im Inneren zu Desorganisation und macht – so das Szenario der Lebensratgeber – das Subjekt offen und schutzlos gegenüber den Reizen und Eingriffen der Außenwelt. Das Subjekt wird zu seiner Na37 38 39 40 41 42 43

Ebda., 155. Faßbender (1916), 75. Helmel (1938), 13. Klein (1921), 93. Vom Bühl (1928), 48. Kruse (1921), 74. U.a. Faßbender (1916), 59; Klein (1921), 93; Müller-Guttenbrunn (1936), 83; Hugin (1925), 7ff. 44 Kruse (1921), 142.

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tur in ein höchst ambivalentes, kritisches und fragiles Verhältnis gesetzt: Zum einen kann, soll und will es sich nicht gänzlich von Affekten, Phantasie, Lustempfindungen und dergleichen freimachen, zum anderen darf es sie nicht sich selbst überlassen, da sie sich feindlich gegen ihn wenden können. Die frühen Lebensratgeber zeigen eine deutliche Neigung, volatilen und motivationalen Prozessen Vorrang vor den affektiven und unbewussten zu geben. Willensschwäche bedeutet daher eine Umkehrung dieser Hierarchie – sie versinnbildlicht sich für die Autoren in einem aus-den-FugenGeraten dieser Ordnung des Selbst. Willensschwäche stellt daher nicht einfach eine allgemeine Schwächung des Subjektes und seiner Kräfteökonomie dar. Es handelt sich mehr auch um ein Freilassen dekultivierender, eigenlogisch ablaufender innerer Impulse. Am Beispiel der Affekte und der Vorstellungskraft lässt sich recht anschaulich demonstrieren, wie sich in den Augen der Lebensratgeber die Willensschwäche auf sie auswirkt. So sehr den Affekten ein gewisser Raum der Legitimität, der Nützlichkeit und Notwendigkeit eingeräumt wird, ihnen stehen die meisten Lebensratgeber sehr argwöhnisch gegenüber.45 Sie verkörpern alles, was dem Willen feindlich sein muss: Sie neigen zum Übermaß, zu heftigen impulsiven Ausbrüchen, machen die Menschen blind für rationale Belange, veranlassen ihn zu schädlichen Verrichtungen. Als gefährlich eingestufte Affekte stehen zumeist in enger Verbindung mit weiteren problematischen Verhaltensweisen – ihre Gefährlichkeit resultiert immer auch ein Stück aus ihrer engen Verkettung, etwa dergestalt: Sinnlichkeit wird zu Lust, Lust wird zu ungezügelter Erregung und blindem Verlangen „ohne Rücksicht auf das wahre Wohlbefinden des ganzes Körpers und das wahre Glück der Seele“. 46 Da den Affekten eine determinierende Tendenz zugeschrieben wird, nämlich sich quasi automatisch in eine entsprechende Handlung umzusetzen, bedrohen sie die Subjektivität des Subjektes nicht nur in seinem Kern, sondern gefährden auch die Schulung des Willens, weil sie kaum mehr ein bewusstes Eingreifen, Lenken und Steuern erlauben: „Eine Triebhandlung, einmal begonnen, läuft wie automatisch zu Ende. Die Täuschung ist: man glaubt, es bedürfe zum letzten Schritt immer noch eines besonderen Entschlußes; habe man nicht die Absicht auf dieses Letzte, so sei man in der Versuchung ohne Gefahr. Aber so ist es nicht: sondern wenn man einmal begonnen hat, so bedarf es zum Letzten keines besonderen Anstoßes, es kommt von selbst.“47

Die Willensschwäche stellt nun aber gerade einen Schwund jener moralischen, kultivierenden und energetischen Kräfte dar, die die Affekte an ihrer bedrohlichen Vollzugslogik hindern können. Ein Gewähren-Lassen aus innerer Schwäche wird zur bedrohlichen Präfiguration einer noch viel größeren, zukünftigen Schwäche: „[J]e öfter wir dem Zorn nachgeben, desto leichter und tiefer geraten wir in Zorn; und so bei Ungeduld und Angst und den andern; der Widerstand wird jedesmal schwerer: denn durch die 45 Besonders die Ratgeber, die sich kritisch zur Willensathletik stellen, sehen durchaus nützliche und positive Aspekte an der affektiven Konstitution des Menschen. Sie präferieren – im gewissen Rahmen – die Freizügigkeit der inneren Regungen. 46 Faßbender (1916), 75. 47 Kruse (1921), 128f.

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häufige Öffnung werden die Nebenbahnen leichter gänglich, wegsamer, so daß immer geringere Spannungen oder Hemmungen ausreichen, den Affekt zu bringen. Darum ist es notwendig, Affekte von Grund aus zu bekämpfen: und am nötigsten, ihnen vorzubeugen.“ 48

Die Willensschwäche ist gegenüber den Affekten daher von doppeltem Nachteil: Sie macht unkontrollierte Entäußerungen nicht nur immer leichter und wahrscheinlicher, sondern im gleichen Prozess nehmen die verbliebenen Willenskräfte immer mehr Schaden, was wiederum den Einflussbereich der Affekte vergrößert. So treten die Affekte meist negativ bei den Lebensratgebern in Erscheinung. Sie erhalten Namen, die ihren moralisch minderwertigen Charakter offen zutage treten lassen sollen: Leidenschaften, Sinnlichkeit, Verstimmtheiten, sexuelle Promiskuität, Sorge, Kummer. Ihre Träger sind Geschöpfe der Krankheit und des Verfalls: Onanisten, Spieler, Alkoholiker, Syphilisten. Zulässig werden die Affekte erst, sie durch den Willen gemäßigt, beherrscht und in nützliche Bahnen gelenkt worden sind. Die allgemeine Willensschwäche wirkt sich auf die Vorstellungskraft ähnlich fatal aus. Aber anders als bei den Affekten können die frühen Lebensratgeber dieser mehr positive, nützliche Eigenschaften abgewinnen. Jedoch drohe auch hier die Gefahr, dass die Willensschwäche einer degenerative Spirale in Gang setzt. Als bewusst betriebene Vorstellungskraft könne sie dem züchtigen Menschen durchaus Mittel zur Erreichung herausragender Taten und daher ein Instrument seiner Freiheit sein. Aber in Form einer zügellosen Phantasie macht sie indes den Träumer zum Sklaven fixer Ideen und Schwärmereien. Den Unterschied zwischen Phantasie und Vorstellungskraft klären wollend, zitiert Gerling den französischen Willenstheoretiker Jules Payot: „Während bei der Träumerei die Aufmerksamkeit schlummert und ruhig zuläßt, daß die Gewebe von Vorstellungen und Gefühlen sich im Bewußtsein spielend vollziehen, sich nach Belieben der Zufälligkeiten der Ideenverbindung und oft auf die unvorhergesehenste Weise verketten, überläßt das beschauliche Nachsinnen dem Zufall nichts.“49

So liege die Bedrohlichkeit eben in diesem spielend-grenzenlosen Zusammenkommen dessen, über das man keine direkte Verfügung hat, weil es nach eigenen Bewegungsgesetzen und ohne Abgleich moralischer Zulässigkeit oder nutzbringender Effekte sein Recht sucht. Derjenige, der seinen Vorstellungen kein willentliches Ziel zu geben vermag, kann so in die Lage gebracht sein, plötzlich Ziel ihn schädigender Vorstellungen zu werden: Nicht mehr das Subjekt drückt den Wegen seiner Vorstellungskraft den Stempel auf, sondern er wird mitgerissen vom Strom spontaner und tendenziell gefährlicher Träumereien. Die Autoren sehen damit zumeist zwei Seiten verknüpft: Zum einen neigen solcherart sich selbst überlassene Phantasien dazu, sich sexuell aufzuladen und dementsprechende Handlungen auszulösen, denen grundsätzlich willensschädigende Wirkungen zugeschrieben werden (hier zeigt sich die Nähe des freien Phantasierens zu den ungesteuerten Affekten). Zum anderen bedeutet eine geringe Kontrolle über die Vorstellungsgehalte, dass sich die Phantasie wahllos von 48 Ebda., 92f. 49 Payot, Jules (1910): Die Erziehung des Willens. Leipzig: Voigtländer, 114f.

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den Eindrücken und suggestiven Reizen ihrer Umgebung beeinflussen lässt. Eine ungezügelte Phantasie macht den Träumer folglich schutzlos vor den Einflüssen der Umgebung und verzerrt sie in ihrer Größe und Eigenart. Der Einzelne läuft damit Gefahr von externen, ich-fremden Mächten beherrscht zu werden, was durch die Lebensratgeber in der Sprache medizinischer Termini beschrieben wird. Noch einmal hören wir Gerling dazu: „Es liegt die Gefahr nahe, daß in uns Vorstellungen zeitweilig die Herrschaft gewinnen, die wir bei ruhiger Erwägung als Irrtümer leicht erkennen würden. Diese Beeinflussung durch das Milieu nennen wir ‚geistige Ansteckungʻ“.50 Ein in der Problematisierungsdramatik der frühen Lebensratgeber entscheidender Zusammenhang wird hier benannt: In einer für Außenreize durchlässigen Phantasie vermehren sich, einer schwärenden Wunde gleich, die Keime einer tendenziell infektiösen Wirklichkeit. „Sie schafft – ungezügelt – einen geeigneten Nährboden für Ausbreitung von Seuchen, und es ist deshalb zur Zeit einer Seuche eine unbeherrschte Phantasie oft geradezu verhängnisvoll. Nervosität und Ekstase, Wahnwahrnehmungen und Wahnvorstellungen können durch sie verbreitet werden.“51 Eine innere Schwäche zieht immer ein Vordringen ich-fremder Willen nach sich, die als Angriffe, als grundsätzliche Infragestellung des Subjektstatus des Einzelnen erfahren werden. Bei Gebhardt müssen ganz besonders die Kinder mit ihrer noch schlecht beherrschten Phantasie vor den suggestiven Einflüssen geschützt werden, selbst wenn sie aus dem Kreise der Kinder selbst kommen. „In der Schule z.B. vermehren sich die Stotterer sehr beträchtlich; einmal werden sehr leicht namentlich ängstliche und zerstreute Kinder durch unvorsichtige Behandlung zu Stotterern gestempelt. Und dann wirkt ein an diesem Übel leidendes Kinde ansteckend.“52 Die Ansteckungsgefahr, die von ihnen ausgeht, wird als so hoch eingeschätzt, dass man sie von den anderen Kindern absondern und isolieren müsse. Ein düsteres gesellschaftliches Panorama suggestiver Infektionsherde, von den Massenmedien bis zur Mode, von den Schundromanen bis zu freizügigen Bühnenstücken wird entfaltet; an jeder Ecke eine Ansteckungsmöglichkeit.53 Diejenigen, die sowieso in ihrer Willenskraft indisponiert, geschwächt und verkleinert sind, haben verringerte Abwehrmöglichkeit gegen geistige Seuchen und werden schnell zu Opfern weiterer willensschädigender Einflüsse. Allerdings gilt dies ebenso für erwachsene Träumer wie für fragile Kinderseelen. Die Furcht der Lebensratgeber vor einer Innerlichkeit, die nach eigenlogischen Bewegungsgesetzen funktioniert und aus dem Dunkel undurchschauter Begierden und Ängste heraus agiert, scheint keinen unheilvolleren Ort zu kennen als die zuchtlose Vorstellungskraft. Die vom Willen losgekoppelte Phantasie, als ein zwischenweltliches Gebilde oszillierend zwischen der äußeren Welt, von der sie nur unvollständige und unwillkürliche Eindrücke sammelt, und einem innerweltlichen Raum der archaischen Bilder, Gefühle, Begierden macht sie zum vorzüglichsten Objekt lebensratgeberischer Aversion und Betriebsamkeit. Sie neigt nicht allein dazu, den Einzelnen in Verwirrung zu stürzen, ihn mit Trugbildern und Verheißungen zu betören, sondern macht ihn eroberungsbereit für eine tendenziell feindlich gesinnte Au50 51 52 53

Gerling (1918), 101. Klein (1921), 178. Gebhardt (1922), 174. Vgl. Faßbender (1916), 114; vgl. Keulers (1941), 55; vgl. Klein (1921), 185.

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ßenwelt: die Phantasie, ein trojanisches Pferd, ein Stück Feindesland in der eigenen Seele. Schließlich betrifft die Willensschwäche den Kern dessen, was die frühen Lebensratgeber zum zentralen Vermögen für eine planhafte Selbstführung erhoben haben: das geistige, das bewusste Erleben. Träumereien und affektive Zügellosigkeit sind für sich genommen eine schwere Bürde für das Willenssubjekt, aber die größte Niederlage wird dem Subjekt durch das Erlahmen und widersprüchlich-Werden des Geistes beigebracht, so die Lebensratgeber dieser Zeit. Hier bewirkt die Willensschwäche ihre schädlichsten Ergebnisse. Hier trifft sie den Mittelpunkt, die Heimstätte der moralischen und energetischen Kräfte – ist dieser zentrale Aspekt betroffen, droht dem Subjekt seine Auflösung und Zersetzung. Die Beschreibungen sind dementsprechend von einer Metaphorik des Auseinanderreißens getragen. Willensschwäche verleitet zu Selbstbetrug, gedanklicher Bequemlichkeit, sie mache oberflächlich und zerstreut, weil sie den Geist dem ungeordneten Chaos der Außenwelt ausliefere. Hin- und hergerissen von den vielen Reizen und Eindrücken wird er selbst uneinheitlich und zerrissen.54 Ein so geschwächter Geist lässt alles zu, jagt unterschiedslos jedem Reiz, jedem Gedanken hinterher, ohne je einen Gedanken richtig zu fassen. Kennzeichen seiner Schwäche ist bereits das Vorhandensein von widerstreitenden Gedanken – sie sind bereits Vorboten eines allgemeineren Verfallsprozesses: „Wer auch nur zwei verschiedenen Erklärungspr/inzipien huldigt, begibt sich schon in Gefahr, dadurch die Einheit seiner Persönlichkeit zu zerreißen“. 55 Ohne ordnende Kraft zerfällt der Geist in disparate Teile. „Wenn unser Wille naturgemäß jedem zustrebt, was sich ihm als sein Gut präsentiert, so wird er der Magnetnadel gleichen, die unruhig bald nach rechts, bald nach links ausschlägt, je nachdem ein anziehendes Eisen in ihre Nähe gebracht wird. Von einer Charakterfestigkeit wird da nicht mehr die Rede sein können. Und haben wir den Gedanken an ein Scheingut nur einmal in unsere Seele gelassen, so wird er bald unsere Aufmerksamkeit ganz erobern und sich im Mittelpunkt des Bewusstseins festsetzen, alle Gedanken an andere Werte verdrängend.“ 56

Die Willensschwäche als Krankheit des Geistes, wie sie von den Lebensratgebern problematisiert wird, erweist sich keinesfalls als ein bloßes gedankliches Leerlaufen, als eine krankhafte Trägheit gedanklicher Aktivität. Sie ist keine Bettlägerigkeit des Willens, keine primäre Ruhesüchtelei, sie ist kein Stillstellen der Welt durch Abwesenheit gedanklicher Beweglichkeit. Vielmehr erweist sie sich gerade als ein Überlaufen des Geistes mit ungeprüften und situativen Willenszielen. Was ihn schwach macht, ist seine Übertaktung mit situativen Zielen. Denn der unaufhörliche Wechsel reibt seine Kräfte auf und lässt ihn rasch ermüden.57 54 Vgl. u.a. Jacoby (1925), II. Brief, 11; vgl. Lindworsky (1953), 186f.; vgl. Helmel (1938), 19; vgl. Klein (1921), 93. 55 Domroese (1924), 303. 56 Lindworsky (1953), 110. 57 Es gibt genau betrachtet zwei Arten der Überanstrengung und Erschöpfung des Willens. Die eine entsteht durch eine flackernde Aufmerksamkeit und eine Vereinnahmung des Willens durch disparate Objekte. Die zweite beruht hingegen auf einem im Grunde richtigen, d.h. konsequenten Einsatz des Willens, bei der die Übenden sich jedoch zu viel zumuten.

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Da der Geist des Willensschwachen derart Schaden genommen hat, kann der Einzelne kaum mehr als eigentlicher Urheber seiner Handlungen gelten. Die Erfassung der menschlichen Natur als eine doppelte, nämlich eine vernunfts- bzw. willensgeleitete und eine tierisch-instinktgebundene Natur ist nicht neu. Sie schließt an ein bürgerliches Subjektverständnis seit Ende des 18. Jahrhunderts an, das von der Idee getragen ist, der „tierische Teil“ des Menschen müsse durch Erziehung und Disziplinierung kultiviert werden.58 Der Willensschwache gilt in den Lebensratgebertexten des frühen 20. Jahrhunderts seiner Subjekthaftigkeit gerade dadurch beraubt, dass er sich ganz zum passiven Objekt seiner Leidenschaften gemacht hat, statt als aktives Handlungssubjekt hervorzutreten. Eine Umkehrung, ein Auf-dem-Kopf-stehen des Selbst droht. Von Lüsten getrieben, von den zügellosen Phantasien bewegt, von Gedanken gedacht, erscheint der Willensschwache in den Augen der Ratgeberautoren doch kaum mehr als ein Karren, der in den eigenen Spuren seiner schlechten Gewohnheiten verbleibt. Da es ihm an bewusst gesetzten, einheitlichen Zielen und den geeigneten Mitteln, diese umzusetzen, fehlt, verstetigt sich in ihm nur das, was ihn begrenzt und verkleinert, was eben Quelle seiner Schwäche ist: Bequemlichkeit und Sinnentaumel, egoistisches Gewinnstreben und Eitelkeit. Er ist nicht allein eine Figur der moralischen Entrüstung, wie man sie beispielsweise in den Hygieneschriften und Aufklärungsbroschüren des Bürgertums zur Bekämpfung der Brandweinsucht oder des Spielertums wiederfindet. Denn der schlechten Gewohnheit wohnt nicht allein ein moralischer Verfall inne, sondern ist eben Ausdruck einer desorganisierten Ordnung der Kräfte. Diese führt den Menschen in einen Situation der Unfreiheit. „In der Tat ist die Gewohnheit ja auch das einzige, was die menschliche Freiheit im höchsten Grade in Frage stellen kann.“59 Sie automatisiert das Handeln, macht es unabhängig vom Urheber und drückt die Existenz auf die Stufe eines unbelebten Objektes. Die schlechte Gewohnheit ist das was übrig bleibt, wenn die Persönlichkeit ihren Niedergang erlebt hat, wenn die Grundlage für reifes Handeln durch ungehaltene Entschlüsse und fehlenden Selbstgehorsam zerrüttet wurde. Sie ist in den Augen der frühen Lebensratgebertexte die niedrigste Form menschlichen Handlungsvermögens. Schnell gerät man in ihren Bannkreis und kann sich nur durch äußerste Anspannung aller Kräfte aus ihm wieder entfernen. Den schlechten Gewohnheiten, als äußeres Kennzeichnen einer allgemeinen inneren Haltlosigkeit, ist dieselbe Abwärtsspirale eigen: „Zwar sagt das Sprichwort: einmal ist keinmal. Das ist – jedenfalls für unsere Sache so töricht und bösartig, wie nur etwas sein kann.“60 Klüger und ratsamer erscheint den Autotoren dieser Zeit indessen, dem Sprichwort einen neue, bedrohliche Wendung zu geben: Einmal ist hundertmal, einmal ist tausendmal. 61

58 59 60 61

Davor warnen die Lebensratgeber eindringlich, weil jeder Fehltritt die Gefahr von Kettenreaktionen von Rückschritten in sich birgt. Mehr dazu im Kapitel „Techniken des Willens“, darin v.a. Kapitel 3.2. Vgl. König, Eugen (1989): Körper – Wissen – Macht. Studien zur historischen Anthropologie des Körpers. Berlin: Reimer, 4ff. Faßbender (1916), 66. Klein (1921), 98. Vgl. Schneider (1941), 203f.; Gerling (1918), 138; Kruse (1921), 92, 129; Domroese (1924), 291.

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Eine Betrachtung der frühen Lebensratgebertexte kommt zu folgenden Schlussfolgerungen: Die Krise der menschlichen Natur wird von den Lebensratgebern zu Beginn des 20. Jahrhunderts als deutlich verschärft wahrgenommen, ja nimmt in ihrer Rhetorik bisweilen endzeitliche Züge an. Wie wird aber das ständig wiederkehrende Motiv der erhöhten gesellschaftlichen Anforderungen an den Willen des modernen Menschen erklärbar? In welchem Verhältnis steht eine krisenanfällige menschliche Natur zu einer als degenerativ wahrgenommenen gesellschaftlichen Entwicklung? Die Scharnierstelle dieses Zusammenhang wird durch die Lebensratgeber im Subjekt selbst verortet. Denn einen wesentlichen Zug des schwächelnden Subjektes macht seine kritiklose Reizoffenheit gegenüber seiner Umwelt aus. Die Seele des Willensschwachen ist porös, sie saugt wie ein weicher Stein alle Substanzen auf, die seine Oberfläche berühren. Ohne einen lenkenden und wehrhaften Willen treffen die Reize der Außenwelt ungefiltert und ungeprüft auf das Innenleben. Der Mensch ist schwach und unterworfen, weil er für seine Umwelt zu durchlässig ist. Er wird nur von dem zusammengehalten, was ihm nicht selbst gehört, und verliert dadurch, was sein ureigenster Besitz ist, sich selbst. Auf dramatische Weise verschärft nun in den Augen der Autoren eine der Natur und Natürlichkeit entfremdete Gesellschaft mit ihrer besinnungslosen Jagd nach materiellen Profit und sinnlichen Genüssen nicht nur eine ideelle Krise, vielmehr eine ganz handgreifliche, körperliche wie mentale Krise des Subjektes. Sie macht sich die Willensschwäche zunutze und verstärkt sie gleichermaßen. Die materialistische Gesinnung der Gesellschaft lässt Bequemlichkeit als Fortschritt, die Sinnenlust als Wohlstand, die Schnelllebigkeit als Vorteil im Konkurrenzkampf erscheinen. Der Materialismus, so das gängige Feindbild, befördert die Willensschwäche, weil er daraus Vorteile und Gewinne erzielt. Die Schule verkommt für einige zur verlängerten Werkbank, für andere wiederum wird sie zum Trichter für abstraktes, lebensfernes Wissen. Sie verweichlicht die Kinder, macht sie zu entvitalisierten Objekten einer Anstaltserziehung, indem sie Meinungslosigkeit, äußeren Gehorsam und Willenlosigkeit belohnt. Das kulturelle Leben wird beherrscht von Obszönitäten und bedient damit ein Affektleben, das schnellen und einfachen Lustgewinn erzielen will. Die Schundhefte und Abenteuerromane befeuern eine Phantasie, die zum Schwärmen neigt. Die politischen Parteien erzielen ihre Effekte über eine suggestive Propaganda, die dem Geist des Selbstbetrugs und der Verblendung gehorcht. Bei Helmel und seinen Kollegen wird die Klage über die geldgierige Zivilisation aber wieder in den Verantwortungsbereich der Einzelindividuen zurückgezwungen und soll dort als Aufforderung zur Selbstveränderung und nicht zur Weltveränderungen ihre Wirkung tun: „Lieber Freund, [...] dieses Mutlos-sich-in-das-Schicksal-Ergeben, das ist ja gerade diese engherzige, kalte Anschauung, die dir der Materialismus im Laufe der vergangenen Jahrzehnte eingeimpft hat, um dich blind zu machen dem wahren Leben gegenüber. Sand ist es, was er dir in die Augen gestreut – du nanntest es Geld, Hungerlohn, Zerstreuung, sonstwie. Schwach solltest du bleiben, in steter Sorge, Angst und Furcht. Du meintest, mit Zerstreuung dann das elende Leben wieder anzufachen, merktest nicht, daß gerade sie es zum größten Teile ist, die dich immer tiefer in den Verfall und in des Materialismus Fangarme treibt.“62 62 Helmel (1938), 136.

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Im Selbstverhältnis der Subjekte spiegelt sich also das Elend der Zeit, ja gräbt seine Wurzeln darin besonders tief ein. Körper, Geist und Gesellschaft spiegeln sich ineinander wider: Der Wille ist so überanstrengt und gleichzeitig so schwach, wie die verkehrte Zivilisation, in der er wirksam wird. Der Mensch und sein Körper ist so hinfällig und degeneriert wie der dekadente Körper des Volkes. Die Natur des Menschen ist in Aufruhr und zeigt verschiedentliche Symptome ihrer Erkrankung. Dabei sind die Anzeichen ihrer Schwäche genauso zersplittert und uneinheitlich wie die Subjekte, an denen sie sich manifestieren. Sie geben sich als Kopfschmerz, Stuhlverstopfung, Empfindlichkeit der Kopfhaut, Hautjucken, vermehrtes Gähnen zu erkennen, können aber genauso als fibrilläre Muskelzuckungen, konvulsivisches Zusammenschrecken oder als Vorliebe für onanistische Neigungen in Erscheinung treten.63 Der Körper ist genauso davon betroffen wie die Gewohnheiten und der Wille selbst. Emotionale Empfindlichkeiten, wie gehemmte Handlungsfähigkeit oder die charakterologische Ausprägung eines unangepassten sozialen Typus gehören genauso in diese expansive Ätiologie. Die Probleme entstehen dabei nicht nur weit entfernt von ihren Ursachen, sondern haben die Eigenschaft, diese zu verdecken. Der Erkrankte fühlt sich schwach und unentschlossen, ist wehleidig und oberflächlich. „Man ist im eigentlichen Sinne des Wortes nicht krank, und doch auch sehr weit entfernt gesund zu sein.“64 Diese latente Krankheit ist das Ergebnis einer falschen Selbstführung und einer falschen Zeit. Sie entsteht da, wo ein schwächelnder Wille auf eine erschöpfte und doch atemlose Epoche trifft.65 Die Hinfälligkeit des modernen Subjekts und die als widernatürlich wahrgenommene Gesellschaft werden durch die Lebensratgeber in ein enges Verhältnis gebracht. Sie stehen mehr noch als in einem sich spiegelnden, in einem kokonstitutiven Zusammenhang: Grundlage der Entartung der Epoche, sei das ruchlose und willensschwache Subjekt, und zugleich sei es diese Epoche, die immer wieder entscheidend in die Schwächung des Einzelnen eingreift. Der neuralgische Punkt dieses Verhältnisses wird mitten ins Verhältnis des Subjektes zu sich selbst verlegt. Der Wille bzw. seine Schwäche erscheint dabei als die Scheidelinie, als die zentrale Umschlagstelle und schließlich als der Grenz- und Umkehrpunkt für die Verwerflichkeit und Erschöpfung einer Epoche. Das Subjekt und sein Verhältnis zu sich, gelten als der Knotenpunkt für einen neuen Menschen, in einer neuen Zeit.

2.3 DAS WIEDERGEWONNENE SELBST Betrachtet man die durch die Autoren gezeichnete heikle Lage, ist es überraschend, dass die Lebensratgeber gerade im Inneren des Menschen die Keime seiner Wieder63 Besonders systematisch bei Gebhardt (1922), 66. 64 Ebda., 26. 65 Die Willensschulen konzipieren verschiedene Antisubjekte und deren Pathologien, wobei sie mitunter auf verbreitete diskursive Topoi wie die Neurasthenie zurückgreifen, die sich besonders deshalb anbietet, weil sie nicht nur so umfassend wie vage in ihrer Symptomatik ist, sondern auch die Figur einer geistig-körperlichen Immunologie entfaltet. Die Selbstführung muss entsprechend immunologisch handeln und dort ein System des Regierens entwickeln, wo das Innere und das Äußere miteinander in Austausch stehen.

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geburt und Stärke erblicken. Wie kann das Subjekt, um das es so schlecht bestellt zu sein scheint, das sich an der Front des Daseinskampfes und des inneren Kampfes aufzulösen droht, wie kann dieses Subjekt und sein Verhältnis zu seinem Selbst den Ausgangspunkt seiner Wiedereroberung bilden? Die Antwort scheint paradox: Gerade das Leiden des modernen Menschen an sich selbst ist Ausdruck seiner eigentlichen Stärke. Zwar ist der Willensschwache niedergedrückt von inneren Gesetzen und einer krankmachenden Umwelt, aber sie erlangen nur deshalb Hoheit über sein Selbst, weil er ihnen aus Unkenntnis oder Unfähigkeit erst diese Stellung einräumt. Der Fähigkeit des Menschen, seine Realität durch eine bestimmte Wahrnehmung der Welt selbst zu erzeugen, wird durch die Lebensratgeber ein zentraler Stellenwert gegeben, im Guten wie im Schlechten: „Alles was Menschen geschaffen haben ist ja nichts anderes als die Verwirklichung von Gedanken. Flugzeuge, Maschinen und das Häusermeer der Städte. Durch sein Denken kann der Mensch in der Tat sein Leben anders gestalten; aber die allermeisten Menschen ahnen nichts von den Kräften in ihnen und wenden sie darum unbewusst falsch an.“66

So besehen, sind die geistigen Epidemien und nervösen Störungen nichts anderes als die fehlgeleiteten inneren Kräfte, die unkontrolliert und unverstanden eine zerstörerische Wirkung zeitigen. Willensschwäche weist primär nicht auf einen Mangel an geistigen Energien hin, sondern auf ein exzessives, wechselhaftes Verausgaben, auf eine falsche Organisation und fehlende Zucht. Der Willensschwache erscheint grundsätzlich zur Wiederinbesitznahme seines Selbst fähig, hat es aber bisher nur nicht verstanden, sein Verhältnis zu sich so zu reorganisieren, dass der kontraproduktive Abfluss oder die falsche Zuleitung geistiger Energien verhindert wird. Was den Menschen zur Schwäche herabdrückt, kann also gleichermaßen Ausgangspunkt zu seiner Selbsterhöhung sein. Es kommt nur darauf an, sich zu dem Bewusstsein durchzuringen, dass die kontingente Welt durch die Kraft des Geistes zur Ordnung gebracht, dass das eigene Leben gemeistert werden kann. Erst die Subjekte entscheiden, wie sie sich zur Welt mit ihren abgründigen Einflüssen stellen, nur sie entscheiden, welchem Impuls sie in sich Vorrang geben. Es ist eine Frage der gedanklichen Fokussierung, eine Frage der richtigen Motive und akribisch installierter Zucht- und Kontrolltechniken. Der eigene Geist, das eigene Leben, das Verhältnis zum Körper und seinen Sensationen und Bedürfnissen, wird zum Ort, wo man sich selbst und die Welt bezwingt. Von dort aus kann man sie aus den Angeln heben, dort ist der Ort, wo man sie von ihrer kränkelnden Existenz gesunden lässt. In diesem noch näher zu bestimmenden Verhältnis des Einzelnen zu sich selbst versöhnt sich die Welt, hier findet der Mensch der 1920er Jahre seine Stärke und Unbezwingbarkeit. Hier wird es eigentlich erst zum Subjekt.

66 Vom Bühl (1928), 8.

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Die Techniken des Willens

3.1 DAS ÜBUNGSREGIME DER FRÜHEN LEBENSRATGEBER: DER SCHULUNGSWEG Die Morgenröte der Lebensratgeberliteratur steht mehr als alle anderen Ratgeberepochen im Zeichen des Imperativs – und zwar im doppelten Sinne. Zum einen scheinen die Zwillingsforderungen „Sei Herr in deinem eigenen Haus!“ und „Lass dich nicht fremd bestimmen!“ bis in die einzelnen Übungsanleitungen durch. Die Techniken der frühen Ratgeber sind Techniken der Selbstbestimmung. Zum anderen sind die Anweisungen geprägt von einem Duktus des mahnenden Appells, der unabweisbaren Forderung, ja häufig des militärischen Befehls. Diese Doppelfigur der Pflicht zur Selbstbestimmung als höchster und ernstester Pflicht, welche gleichzeitig die erste und die letzte Freiheit des Individuums ist, bildet die Achse, an der entlang die wichtigsten Techniken angegliedert sind. Sie ist die erste Bürgerpflicht und gleichzeitig eine lebenslange, geradezu religiöse Aufgabe. Wie wir im Folgenden zeigen, findet sich diese Figur gespiegelt im zentralen Gegenstand der Selbsttechnologie der frühen Lebensratgeber: dem Willen. Wie stellt sich das Feld der Lebensratgeber aus einer Perspektive der Techniken dar? Die Zusammenschau der frühen Texte unter dem Fokus auf ihre Techniken bringt Erstaunliches zutage. Während selektive wissenschaftliche oder journalistische Darstellungen den Eindruck erwecken, die Frühphase des Genres sei durch eine willkürliche Zusammenstellung disparater Elemente aus wissenschaftlichen Diskursen, religiösen wie lebensreformerischen Motiven sowie einem Mischmasch aus dem Zeitgeist der Zwischenkriegszeit und nicht zuletzt „mehr oder minder großen Anteilen einer heruntergekommenen Lebensphilosophie“ geprägt, 1 ergibt ein Analysefokus auf den instruktiven Gehalt ein völlig anderes Bild. Schon die Texte der 1920er erscheinen auf fast unheimliche Weise fertig, geschlossen und in sich ruhend. Sie folgen einer klaren Struktur, deren Rückgrat eine starre Hierarchie von Techniken ist. Obwohl viele Texte eine beeindruckende Anzahl von Techniken aufbieten, kristallisieren sich in diesen in den meisten Fällen sehr ähnliche Themen, Funktionen und Ordnungsprinzipien in überschaubarer Variation heraus. Dies ist deshalb überraschend, weil es zu Beginn des 20. Jahrhunderts keine Vorgaben dafür gibt, wie ein Lebensratgeber dieser Zeit auszusehen hat. Es gibt weder ein paradigmatisches Werk oder Genre (in dem Sinne, dass es als Vorbild für die Konzeption verschiedener Tex1

So z.B. Steinfeld, Thomas: „Als das neue Denken kam“. In: Süddeutsche Zeitung, (Zugriff: 22./23.02.2014), 15.

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te gedient haben könnte), noch entstammen die Autoren derselben Profession, so dass sie auf dieselbe implizite Methodik beim Aufbau eines Ratgebers hätten zurückgreifen können. Um es noch einmal zu betonen: Das Charakteristische der frühen Lebensratgeber, welches sie untereinander eint, aber vor anderen früheren oder kontemporären Texten auszeichnet, liegt nicht in der literarischen Form oder dem rhetorischen Aufbau der Texte, sondern in der Architektur der Anleitungen. Der geistige Horizont der Texte mag der heutigen Philosophiehistoriker/in genauso unbefriedigend erscheinen wie der Feuilletonjounalist/in; der Fundus der gängigen Zitate, angeführten Autoritäten und verlauteten Weisheitssprüche ist so klein, dass er eher die klösterlich-asketischen Verpflichtung der Texte widerspiegelt als die literarische décadence der 1920er Jahre. Die große Eigenleistung der Texte besteht gerade darin, die Frage nach der Selbstführung weit über scholastische Spekulation und schriftstellerische Tradition hinaus zu verfolgen und mit großer Prägnanz als eine Frage nach den richtigen Techniken zu formulieren und sie zu systematisieren als die Frage nach der richtigen Ordnung der Techniken. Der Stil dieser Texte erscheint unromantisch, harsch, prosaisch und für den heutigen Geschmack vielleicht unangenehm schulmeisterlich. Nichts darf ablenken von der Frage, welcher Schritte es bedarf, um das Leben zu meistern. Entlang der Techniken lassen sich vier Gruppen von Ratgebern unterscheiden, wobei es einen Typus gibt, der alle anderen dominiert, sowohl in der Anzahl der Texte (weit mehr als die Hälfte) als auch in seiner diskursiven Hegemonie, was die zentralen Selbsttechnologien anbetrifft – es sind die Willensschulen. Alle anderen frühen Ratgeber, die keine Willensschulen im eigentlichen Sinne sind, stehen zu diesen in einem gespannten Verhältnis: die stark moralisch-ethisch eingefärbten Selbsterziehungsratgeber, die auf ein eher kaufmännisches Selbstverhältnis setzenden Selbstrationalisierungsratgeber und Lebensratgeber, die eine indirekte Form der Selbstführung präferieren. Was die drei Gruppen gemeinsam haben, ist, dass sie dem Willen – und damit auch den Willenstechniken – nicht die zentrale Position in der Selbstführung zubilligen. Sie unterscheiden sich untereinander deutlich darin, was sie an dessen Stelle setzen. Sie kritisieren zwar das zugrunde liegende Modell des Willens und entwerfen Gegenmodelle, bleiben aber in verschiedener Hinsicht mehr oder weniger stark auf die Willensschulen bezogen.2 Sie zeigen so anschaulich, welche hegemonialen Positionen die Willensschulen im Diskursfeld der Lebensratgeber im frühen 20. Jahrhundert einnehmen. Wer in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum einen Lebensratgeber schreibt, bewegt sich folglich im Gravitationsfeld der Willensschulen. Im Anschluss werden wir uns daher hauptsächlich auf diese konzentrieren und danach kurz die Nebenpfade der Selbstführung analysieren. Was die Techniken der Willensschulen angeht, zeigt diese Gruppe aus dreizehn Texten eine nie wieder erreichte Homogenität. Es gibt ein klares Finalobjekt: den Willen. Es gibt eine Hierarchie, welche die Techniken danach anordnet, wie nahe sie diesem Objekt stehen. Und es gibt ein dominierendes Genus, dem nicht nur die meisten, sondern vor allem auch die wichtigsten Techniken angehören: aktiv, direkt, disziplinierend. Techniken, die auf den ersten Blick aus dem strengen Raster herauszu2

Erstens übernehmen (oder benutzen) sie gerade die typischen Willenstechniken, zweitens orientieren sie sich rhetorisch und begrifflich an den Texten der Willensschulen und drittens teilen sie im Großen und Ganzen auch die Problematisierungen.

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fallen scheinen, zeigen bei der genauen Analyse klare Bezüge zu dieser Hauptachse. Da die Techniken oft ähnlich sind und in großer Fülle vorkommen, ist es notwendig, diejenigen Techniken herauszugreifen und zu besprechen, welche wir für repräsentativ halten. Was sind die richtigen Techniken, um sich selbst zu führen? Es sind diejenigen, die den Willen stärken, unterstützen und seinen Einflussbereich ausdehnen. In den Techniken erscheint der Wille sowohl als Essenz der Subjektivität des Subjekts als auch als Kern der Persönlichkeitsstruktur. Der Wille und die Fähigkeit, vernünftig zu wollen sowie gefasste Entschlüsse in die Tat umzusetzen, ist die Voraussetzung für die Selbstbestimmung, also auch für eine Lebensgestaltung, die auf der täglichen Übung einer Vielzahl von Techniken beruht.3 Gleichzeitig ist das Wollen aber auch das am meisten zu Übende, die Gesetzmäßigkeiten des Wollens sind das am meisten zu Wissende. Der Wille, der so schwierig zu wecken und in stabile Bahnen zu bringen ist, ist also immer schon das, was allem Anfang vorausgesetzt ist. Was stärkt den Willen, was schwächt ihn? Was verdunkelt die besonnene Lebensplanung, was erhellt den Weg des Wollens? Und: Wie lassen sich immer mehr Daseinsbereiche für einen systematischen, willentlichen Zugriff erschließen? Dieses Wollen ist niemals blind, sondern, wenn es das wahre Wollen ist, sich selbst durchsichtig und darin vernünftig. Der Wille ist nicht nur die Kraft-, sondern auch die Lichtquelle für den Lebensweg. Wollen ist in der Frühzeit der Lebensratgeber eine königliche Kunst.4 Richtiges Wollen übt in Selbstbestimmung und fungiert gleichzeitig als Abwehr von Fremdbestimmung, sei diese äußerlich oder innerlich. Die Übung des Willens vollzieht sich in Form einer Schulung. Dies ist etwas durchaus Besonderes und Erwähnenswertes. Denn die Systematik, mit der hier eine komplexe Struktur an Anleitungen, Hinweisen und einzelnen Übungsformen einer unbestimmte Leser/innenschaft nahegelegt wird, ist in dieser Form neu. Die Schulung ist nicht irgendeine, sondern zeigt eine dem Ziel entsprechend spezifische Ausgestaltung. Dies bedeutet dreierlei: Erstens sind die Anleitungen zu den verschiedenen Techniken in der Regel zu ineinandergreifenden Schulungsabfolgen zusammengestellt, oft in der Form, dass es Pläne dafür gibt, welche Techniken wie lange und zu welcher Tageszeit einzuüben sind. Die zu übenden Techniken sind bestimmten Abschnitten, gewissen Übungsstufen zugeteilt, wobei schwierige, komplexere oder voraussetzungsreiche Techniken erst ab einem bestimmten Punkt der Übung oder der Reife ausgeführt werden sollen. Zweitens sind die Übungen häufig so konzipiert, dass die Bedingungen, unter denen das Subjekt eine bestimmte Fähigkeit steigern oder einen Mangel beseitigen soll, kontrolliert werden können. Unmittelbares Objekt der Techniken ist (fast) immer das eigene Selbst. Der Übungsort ist zumeist das Private oder ein einsamer Rückzugsort, besonders beliebt sind Wald und Wiesen, ein Garten oder Park. Der Schwierigkeitsgrad lässt sich so systematisch steigern, auch Pausen und Unterbrechungen lassen 3

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Dieses Wollen hat aber keinen immanent egoistischen Zug, weder in Form rücksichtsloser Gier noch in der Formulierung eines politisch-ökonomischen Eigeninteresses. Selbstbeschränkung, Selbstkritik und Freundschaft sind zentrale Elemente der willensbestimmten Lebensführung. Das Interesse spielt in den Anleitungen der 1920er Jahre nur eine untergeordnete Rolle. Willenssubjekte sind gerade keine Interessenssubjekte. Vgl. Faßbender (1916).

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sich auf diese Weise steuern. Gleichermaßen ermöglicht dieses vorherige Nachstellen von realen Situationen, wie zum Beispiel im Falle der Herstellung einer charismatischen Persönlichkeit, die Effekte der Autoritätsgenerierung vorher gezielt zu erproben.Drittens, und dies betrifft das Genus der Techniken, sind sowohl die Techniken als auch die Art ihrer Einübung rigoros. Sie gehen das Wollen genauso direkt an wie die diesem im Weg stehenden Hindernisse. Die Härte und Schonungslosigkeit erinnern stark an die schulische, monastische oder militärische Ausbildung der Zeit. Disziplinierung ist der gemeinsame Nenner der meisten Techniken. Die Disziplinierung des Geistes (Phantasie, Gedächtnis, Logik), des Körpers (Körperkraft, Schlafgewohnheiten, Atem, physische Abhärtung) der Regungen (Zorn, Lust, Eigendünkel) und gerade des Willens selber vollzieht sich nach demselben Schema einer konsequenten Durchsetzung, allerdings selten in Form eines einmaligen seelischen oder körperlichen Gewaltaktes, sondern eines schrittweisen, sich steigernden Verfahrens. Dabei sehen sich die Übungen immer der Ambivalenz ausgesetzt, die dem Diktat der Steigerung und Disziplinierung immanent sind, dass sie nämlich das zu befördern drohen, was sie zu bekämpfen gedenken. Der rettende Wille kann sich leicht erschöpfen, wenn er ohne die richtige Führung in Einsatz gebracht wird. Abbildung 5: Bei Helmels Wochenplan sind Erledigungsvermerke für jeden Schulungstag vorgesehen (1938)

Diese durch die Lebensratgeber vorgenommene Systematik des Schulungsweges folgt, wie wir sie im Folgenden darstellen wollen, einer bestimmten strategischen Logik. Der Wille erobert sich nicht nur vereinzelte, neuralgische Punkte des Selbst-

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verhältnisses. Er unterwirft sich das Selbst komplett und dies mithilfe einer schachbrettartig organisierten Schulung. Diese Schulung ist ein Feldzug des Willens im Feindesland des eigenen Selbst. Die Techniken, welche das Finalobjekt Wille durch aktives Eingreifen direkt beeinflussen, stehen an der Spitze der pyramidalen Hierarchie. Darauf folgen diejenigen Techniken, die den Einfluss des Willens auf verschiedene Bereiche ausdehnen sowie Techniken zur Entwicklung hilfreicher Eigenschaften, die den Willen unterstützen und als universell nützlich für das selbstbestimmt geführte Leben angesehen werden. Diese Gruppen sowie deren verschiedene Untergruppen sollen im Folgenden exemplarisch erläutert werden.

3.2 DIE KRAFT DES WILLENS: STEIGERUNGSTECHNIKEN Die Steigerung der Willenskraft ist die ars artium der Willensschulen. Die Beherrschung des Willens ist die Beherrschung des eigenen Lebens, ist die Herrschaft über sich und die Grundelemente des Psychischen. Nur wer sie beherrscht, kann sich richtig führen und ist berechtigt, auch andere zu führen. Dieser Wille ist etwas anderes als der Wille, der in den philosophiegeschichtlichen Disputen um die Willensfreiheit auftaucht. Er besitzt weder moralische noch transzendentale Dimensionen. Nichts am Willen der frühen Lebensratgeber weist ihn mehr als grundsätzliches menschliches Vermögen aus, das seinem Träger voraussetzungslos zur Verfügung steht. Der Wille gilt nicht als Träger einer fest mit dem Menschen verbundenen Bestimmung, auch wenn ihm ab und an königliche Attribute (siehe Martin Faßbenders Ratgeber „Wollen – eine königliche Kunst“) zuerkannt werden, sondern er ist in erster Linie Träger einer Kraft. Was genau unterscheidet den Willen als Träger einer Kraft von der Auffassung des Willens als eines menschlichen Vermögens? Erstens, diese Kraft ist in ihrer Intensität und Qualität veränderlich, je nach dem kann sie steigen oder schwinden. Sie kann zu einem nahezu unerschöpflichen Reservoir für die lebensweltliche Daseinsbewältigung und Steigerungspraktiken werden oder auch un- bzw. fehlgenutzt abfließen und so den Menschen dem Verfall preisgeben. Zweitens ist sie aktivisch, sie strömt dem Menschen nur dann zu, wenn er die Bedingungen ihres Wachstums kennt und aktiv an der Herstellung dieser Bedingungen arbeitet. Der Wille ist Tat, er ist synonym mit dem tätigen Ich, er hat keine Realität außerhalb der tätigen menschlichen Natur. Das Schicksal des Willens und seiner Kraft ist daher unmittelbar an eine bestimmte Handlungsfähigkeit des Menschen geknüpft. Diese kann als ein tätiges, aktivisches Gerichtet-Sein auf sich selbst wie auf Objekte der Außenwelt vonstattengehen. Drittens ist der Wille Träger einer Kraft, die selbst unspezifisch ist. Es sind keine besonderen Verrichtungen vonnöten, um ihn anwachsen zu lassen. Der Wille beweist gleichermaßen beim Aufzählen zufälliger Silbenreihen seine Stärke, wie er durch Übungen zum rechtzeitigen Aufwachen wächst und zwar gleichzeitig für alle anderen Verrichtungen, die vom Willen abhängig sind. Da der Wille sich aller Grundelementen der Psychischen bemächtigt – und in diesem Sinne eine Metaebene des Psychischen ausmacht – lässt er sich eben an isolierten Gegenständen trainieren und gewinnt trotzdem für das gesamte Seelenleben Geltung. Die Techniken der 20er Jahre verlieren, so besehen, ihren gelegentlich kuriosen, befremdlichen oder sogar unfreiwillig komischen Charakter. Warum es für

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die Durchsetzung im Daseinskampf von Belang sein soll, mit der rechten Hand einen Kreis und gleichzeitig mit der linken ein Quadrat zeichnen zu können, wie es von Steinhagen verlangt wird,5 erschließt sich eben erst aus der Konzeption der Willenskraft als unspezifische, prinzipiell aber in jede Tätigkeit transformierbare Kraft des Seelischen. Diese Techniken der Steigerung haben drei hauptsächliche Vertreter: Techniken der Entschlusskraft, der Überwindung und der Konzentration. 3.2.1 Wille und Tat – Techniken der Entschlusskraft Da der Wille aufs Engste mit einem aktivischen Selbst- und Weltverhältnis verflochten ist, muss das Tätig-Werden selbst Gegenstand von Übung werden. Wie kann aber ein bestimmter Aktivitätszustand geübt werden, quasi als Reinform? Diese kleine, aber wichtige Gruppe von Techniken übt den Willen in der Form des Fällens und Ausführens von Entschlüssen. Es spielt dabei in erster Linie keine Rolle, ob die Entschlüsse einen über die Übung hinausgehenden lebensweltlichen Zweck erfüllen. Wichtig ist allein, dass sie eine unmittelbare Beziehung zwischen Entschluss und Ausführung herstellen, dass sie das Subjekt im Selbstgehorsam üben: „Zwischen Wollen und Tun soll ein unlösbares Band geknüpft werden, wie zwischen Befehl und Gehorchen. Das ist der Eckstein der Selbstbeherrschung. So wenig Sinn ein FührerBefehl hat, der nicht auf Gehorsam rechnet, so wenig Sinn hat ein Willensentschluß, dem nicht bestimmt die Ausführung folgt.“6 Domroese fordert seine Leser/innen daher zu folgender Technik auf, die als Grundlage jeder weiteren Technik dienen soll: „Wir fassen den Vorsatz, die Sprechübung 3b des Kapitels 2 zu wiederholen [die daraus besteht, einen einseitigen Text in sog. klangreiner Aussprache vorzulesen, wobei jede Silbe einzeln auszusprechen ist] und die Handlung sofort vorzunehmen. Wir lenken die Aufmerksamkeit auf uns, führen uns den Vorsatz vollständig zu Bewusstsein, derartig, daß wir uns innerlich den Akt des Sprechens veranschaulichen und möglichst auch bei dieser Veranschaulichung mit Zunge und Lippen Sprechbewegungen ausführen. Mit der Zielvorstellung der Handlung verbinden wir gleichzeitig eine Zweck- und Erfolgsvorstellung. […] Das ist der Vorsatz. Nun kommt der zweite Teil der Aufgabe: Wir führen die Tat sofort aus und achten mit erhöhter Aufmerksamkeit auf eine laute und deutliche Aussprache. – Zur Tat! –.“7

Einige Übungen, wie die folgende von Jacoby, variieren die Übungsbedingungen und setzen der Entschlusskraft damit einige zusätzliche Hindernisse in den Weg. Er schlägt vor, dass man einen 50 bis 100m entfernten Punkt, zum Beispiel einen Baumstamm oder ein Haus, fest ins Auge fasst und mit ruhigen gleichmäßigen Schritten darauf zugeht. Die Ausführung soll vom Entschluss getragen sein, sich keinesfalls von Störungen ablenken zu lassen und immer auf das gewählte Objekt fokussiert zu bleiben. Erst wählt man sich eine ruhige Straße, nach einigen Tagen Übung (10-20 Minuten pro Tag) kann man sich eine belebtere Straße aussuchen. Fortgeschrittene können später dem Wagnis ausgesetzt werden, „schönen Mädchen“ oder dem groß5 6 7

Steinhagen (1918), 48. Kruse (1921), 32. Domroese (1924), 35.

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städtischen Trubel zu begegnen.8 Manche Übungen zur Entschlusskraft setzen mit besonderer Vehemenz darauf, dass ein Teil der inneren Antriebe dagegen rebelliert. Zum Beispiel kann man sich, wie bei Kruse, vornehmen, „ein Glas mit einer übelriechenden Flüssigkeit [zu trinken]“9 oder sich der Versuchung aussetzen, wie von Klein verlangt, Zeit mit Freunden im Wirtshaus zu verbringen, ohne Alkohol zu trinken.10 Innere Widerstände, Ekel und Unwohlsein, die sich der Ausführung entgegenstellen, sind ein wichtiger Aspekt dieser Übung. Der Willenstüchtige, der durch die Schule des Selbstgehorsam gegangen ist, ruft nach seinem Wollen, wie ein Vorgesetzter nach seinem Untergebenen. Dieser kommt sofort und in vollkommener Arbeitsbereitschaft. Er zeigt sich ohne Zaudern und erfordert so – im eigentlichen Sinne – kein bedeutungsschweres Ringen und Niederkämpfen der eigenen Trägheit. Denn auch wenn anfänglich sich der Entschluss zur Tat quälen musste, dem Ergebnis ist es mit zunehmender Dauer der Übung nicht mehr anzusehen. Jede Selbstüberwindung soll es dem nächsten Entschluss leichter machen, sich in die Tat umzusetzen. Jede Bezwingung der inneren Widerstände soll sie auf ein Minimum herabdrücken. Es geht um eine enge Verkettung von Entschluss und Ausführung. Die Übungen zielen damit in einem gewissen Sinn auf einen Modus der Automatisierung. 11 3.2.2 Willensgymnastik – Techniken der Überwindung Dieser Gruppe von Techniken kommt die zeitgleiche Entwicklung eines großen gesellschaftlichen Interesses für Sport, Turnen und Gymnastik und deren Systematisierung durch Übungspläne genauso zugute, wie der Rekurs auf klösterliche Tradition. Die Übungen variieren, sind aber geordnet. Auch das direkte Objekt kann stark variieren, wichtig ist nur, dass sich das übende Subjekt negativ überwindend zu ihm verhält. Anders als die Techniken zur Übung der Entschlusskraft, die mitunter auch die Bezwingung von Hindernissen zum Gegenstand haben, zielt diese Gruppe nicht darauf ab, dem Willen letztlich etwas zu erleichtern oder den Übenden zu einem bestimmten positiven Zustand (z.B. Selbstgehorsamkeit) zu verhelfen. Hier zählt hauptsächlich, dass dem Übenden Mühen gemacht werden, um den Willen aufzureizen und wachzuhalten. Denn, so die zugrunde liegende Logik, was ist ein Wille wert, wenn er sich nicht vorher im Inneren gegen konkurrierende Antriebe durchsetzen musste? Bringt nicht erst der Kampf sowohl zwischen den Menschen als auch zwischen den eigenen Begierden und dem Willen das hervor, was sich am stärksten und lebensfähigsten herausstellt? Der Wille wächst, wenn ihm immer stärkere Widerstände in den Weg gestellt werden. Nur da tritt er in Erscheinung, wo er sich reibt, wo Überwindungswille gefordert ist, wo er in ein konkretes – arbeitendes – Verhältnis mit den Wirrnissen der (Innen-)Welt gesetzt wird. Dahinter steckt auch ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber der Doppelnatur des Menschen. Denn ohne 8 9 10 11

Vgl. Jacoby (1925), II. Brief, 27. Ebda., 22. Klein (1921), 98. Dies ist nicht frei von Paradoxien. Wenn diese Technik einen Zustand zum Ziel hat, bei dem sich eine Handlung befehlsartig, ja reflexhaft einstellt, läuft das Subjekt dann nicht Gefahr, dass sich ihm wieder ein Teil seiner Subjektivität der bewussten Kontrolle entzieht?

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Widerstände, Ekel und ohne erforderlichen Kraftakt kann man sich nie sicher sein, ob man in seinem Wollen tatsächlich frei ist. Denn im „Triebwollen bin ich unfrei; da gilt nicht: Ich kann wollen was ich will. Im Tatwollen kann ich frei sein: und der Willenstüchtige ist frei: er ist vollkommen Herr seines Wollens, er kann wollen was er will: das Tatwollen kommt, wann er es ruft, und in einer Stärke wie er es braucht.“12 Daher wird der Schwierigkeitsgrad beständig gesteigert. Die Spannung, unter den der Wille gesetzt wird, soll gleichbleibend hoch sein. Die konstante Aufrechterhaltung einer kämpferischen Haltung durch die direkte Konfrontation mit den Schwächen des Übenden ist das Ziel dieser Technikgruppe. Klein bringt dies auf den Punkt, indem er sagt: „Jede Anstrengung bedeutet eine Willensäußerung.“ 13 Für Heinrich Helmel und andere bietet sich das Frühaufstehen als Übungsgegenstand an, denn das „Bett, besonders das Federbett, hat vampirische Eigenschaften, so es uns einmal in Fesseln geschlagen, und das Zuspätkommen zur Gewohnheit wurde. Es zermürbt den Willen, verführt zur Bequemlichkeit“. Daher „setze das Frühaufstehen auf dein Willensprogramm. Nimm dir vor, den einen Tag um eine Viertelstunde früher aufzustehen als sonst, den anderen Tag um drei Viertelstunden, den nächsten Tag um eine Stunde, dann wieder einen Tag um 10 Minuten, den anderen um fünf Viertelstunden und so eine Zeitlang fort“.14 Gebhardt schlägt eine sanftere Steigerungen vor und verlangt, jeden Tag fünf Minuten früher aufzustehen, bis man die Schlafdauer auf das Maß reduziert hat, das keine Reue über die verlorene kostbare Zeit mehr aufkommen lässt.15 Müller-Guttenbrunn treibt es mit dem willkürlichen Setzen von Zeitpunkten des Aufstehens am weitesten. Er schlägt folgende Übung zur Willenshärtung vor: „Man geht eine Stunde früher als gewöhnlich schlafen, und zwar mit folgendem Vorsatze: Punkt 2 Uhr nachts werde ich erwachen, sofort munter sein, mich ankleiden und das und das tun. Punkt 3 Uhr lege ich mich wieder zu Bette und werde sogleich wieder einschlafen.“ 16

Auch andere Willenshindernisse bieten sich zur Übung an. Gerling hält es für sinnvoll, sich im Alltag immer wieder neue Anstrengungen zu verschaffen, wie zum Beispiel kleinen Gelüsten zu widerstehen.17 Steinhagen präferiert die bereits erwähnte Übung zum gleichzeitigen Zeichen von Kreis und Quadrat. 18 Müller-Guttenbrunn wiederum erweist sich als besonders strenger Zuchtmeister. Er dehnt die Überwindungsübungen auf soziale Situationen aus und hält den Übenden dazu an, für ihn besonders kompromittierende Gelegenheiten zu schaffen. Als Beispiel führt er die Aufnahmeprüfung eines Dresdner Jugendvereins an. „[D]er Aufnahmebewerber musste im Frack, einen Papiertschako auf dem Kopf und einen Hering in der Hand, mittags über den Dresdner Korso gehen; […] oder: ein Aufnahmebewerber, 12 13 14 15 16 17 18

Kruse (1921), 23. Klein (1924), 83. Beide Helmel (1938), 107. Gebhardt (1922), 234f. Müller-Guttenbrunn (1936), 87. Gerling (1918), 176. Steinhagen (1918), 48.

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der zum erstenmal bei der Mutter seiner Auserwählten zum Tee geladen war, bekam den Auftrag, ununterbrochen Kuchen zu verlangen, ein Stück nach dem anderen, ohne etwas zu reden, zu verschlingen und so mindestens den halben Kuchen allein aufzuessen […]. Man denke sich etwas Ähnliches aus und gebe in den folgenden vier Tagen allen Leuten reichlich Gelegenheit, sich etwas zu denken.“19

Zu den Techniken der Überwindung gehören auch solche, bei denen die Überwindung wesentlich darin besteht, einer bestimmten Sache zu entsagen.20 Diese haben einen großen Stellenwert für die Willensschulen der 1920er Jahre. Sie verbinden wesentliche Anliegen der Selbstführung dieser Zeit: die Bekämpfung schlechter Gewohnheiten und die Implementierung einer grundsätzlichen Praxis der Mäßigung. Die Vorherrschaft des Willens über Bedürfnisse und Gewohnheiten lässt sich nämlich nur dann sicherstellen, wenn der Einzelne jederzeit in der Lage ist, sie abzuweisen oder aufzuschieben. Zugleich bieten Entsagungstechniken dem Willen wieder ein vorzügliches Kampffeld, da die Entsagung liebgewonnener Gewohnheiten oder physiologischer Bedürfnisse notwendigerweise dem Willen Widerstände bietet. Gebhardt empfiehlt für den, der diese Technik anwendet: er entziehe „sich 2-3 Tage aller festen Nahrungsmittel und nahrhaften Getränke und trinke bloß Wasser. Dieses Fasten wiederhole man bis zur Erreichung des erstrebten Zieles zwei- bis dreimal hintereinander nach jedesmaliger Unterbrechung von zwei Tagen“. 21 Auch der gleichzeitige vollständige Flüssigkeitsentzug (!) habe heilsame Wirkungen. 22 Er empfiehlt die Hungerkur besonders auch für diejenigen, die durch ihre schwärmerische Phantasie oder durch übergroßes sexuelles Verlangen getrieben sind. Der Hunger lähme und nehme ihnen ihre Energie. Im Falle von Gemütsverstimmungen und Trauer helfe das Fasten, „indem [der Hunger] an die Stelle dieses lediglich psychisch begründeten ‚Unlustgefühlesʻ ein anderes und schwerer wiegendes setzt, das durch Unbefriedigtbleiben gröberer körperlicher Bedürfnisse entstanden ist“.23 Entsagungen können aber auch moralische Gebrechen, wie eine unkontrollierte Affektivität, 24 nervöse Ticks,25 Hast26 oder zu große Geschwätzigkeit zum Gegenstand haben. Für Letzteres nimmt die Enthaltsamkeitstechnik die Form eines zeitweise Schweigegelübdes an. In 19 Müller-Guttenbrunn (1936), 73. 20 Entsagung von liebgewonnenen Dingen und Gewohnheiten kann zwei Formen annehmen: Einmal können sich die Übenden einer Tätigkeit für eine festgelegte Zeit enthalten oder sich von einem Objekt fernhalten oder sie können etwas Schädlichem ein für alle Mal entsagen. Im ersten Falle geht es hauptsächlich um die Übung selbst, im zweiten ergibt sich der praktische Nutzen, dass Hindernisse eines selbstbestimmten und willensbetonten Lebens aus dem Weg geräumt werden. Fasten ist eine häufig vorkommende Technik der ersten Ordnung, Abstinenz von Alkohol oder Tabak, aber auch Schweigeübungen sind typisch für die zweite. 21 Gebhardt (1922), 6. Ähnliches findet man bei Gerling (1918), 98; Klein (1921), 96f.; Helmel (1938), 48, 123, 187; Kruse (1921), 36 und Müller-Guttenbrunn (1936), 30f. 22 Ebda., 8. 23 Ebda., 11. 24 Hugin (1925), 29; Domroese (1924), 37; Bruch (1919), 9. 25 Kruse (1921), 43. 26 Müller-Guttenbrunn (1936), 27f. u.a.

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der Regel wird der sozialen Realität der Übenden Rechnung getragen, indem man „halbes Schweigen“ verlangt, wie zum Beispiel Kruse. In diesem Sinne solle man sich vier Tage lang jedes überflüssigen Geredes, worunter Klagen, Witzeln, Gezänk, neugierige Fragen und dergleichen gehört, enthalten.27 Mit den Enthaltsamkeitstechniken verbindet sich meist das weiterreichende Ziel, den unkontrollierten Zufluss sinnlicher Reize und Substanzen in die Körperinnenwelt zu regulieren. Enthaltsamkeitstechniken sollen sensibilisieren bzw. hypersensibilisieren für den Einfluss einer sinnlichen Außenwelt auf den Bereich des Willens. Sie bringen es mit sich, dass das Subjekt seine Außengrenzen strikt überwacht und nur dem Einlass gewährt, das einer willentlichen Kontrolle unterzogen wurde. Die Reduktion der Abhängigkeit von Substanzen und äußeren Reizen, auf die alle Techniken dauerhaft abzielen, soll die Durchlässigkeit des Subjektes vermindern und die Unabhängigkeit von einer Welt befördern, die sich, anders als das Innenleben, nicht ganz dem eigenen Willen unterwerfen lässt. 3.2.3 Das Brennglas des Willens: die Konzentrationsübungen Die Konzentration ist die erste Dienerin des Willens. Nur wer seine Konzentration lenken kann, kann auch sich selbst lenken. Die Konzentration bezeichnet mehr als einen Modus der Selbstführung. Sie bezeichnet den Zustand eines maximal bewussten, einheitlichen und zielgerichteten Welt- und Selbstverhältnisses. Er drückt das ideale Verhältnis des Willens zum Augenblick oder zur Bewältigung von Tätigkeiten aus. Konzentration (manchmal auch als Achtsamkeit oder Aufmerksamkeit bezeichnet) umfasst dabei in der Willensschulung ein weites Spektrum einzelner Zustände, von der sinnlichen Konzentration über das aufmerksame Lernen, vom Beobachten bis hin zur zielgerichteten Ausführung der Tagesplanung und der Lebensführung überhaupt. Der Zustand der Konzentration umfasst dabei eigentlich zwei zusammengehörige Zustände des Einzelnen. Zum einen gedankliche, innere Fokussierung auf einen bestimmten Gegenstand und zum anderen ein hohes Maß an Widerstandsfähigkeit gegenüber Störungen und Ablenkungen, die von innen oder außen kommen.28 Konzentration ist nicht nur der natürliche Zustand des starken, geübten Willens, sondern über die Herstellung des Zustands der Konzentration lässt sich Willensstärke erfahren und verstärken. Er lässt sich üben hinsichtlich seiner Dauer, Intensität, Kontrolliertheit und auch, wie in der folgenden Übung, ihrer Weite. Domroese nennt dies die Verteilung der Konzentration auf ein größeres Feld. Diese mit anderen an einem Tisch geübte Technik sieht vor, eine bestimmte Anzahl Geldstücke auf den Tisch zu werfen. Die Herumsitzenden versuchen möglichst schnell zu erfassen, wie viele es sind. „Man kann die Schnelligkeit der Ansage eventuell mit dem Sekundenzeiger einer Taschenuhr messen […]. Der Blick übt sich bald so weit, daß auf einen Schlag die Anzahl der Geldstücke überblickt und genannt werden kann.“29 Gleichermaßen gehen Hugins Konzentrationsübungen vom Visuellen aus, sind aber mehrstufig angelegt und werden von Stufe zu Stufe abstrakter und anspruchsvoller. Dabei nimmt dieses Technikarrangement ihren Ausgang von einem schwarzen, auf Augenhöhe ange27 Vgl. Kruse (1921), 26f., ähnlich bei Müller-Guttenbrunn (1936), 48f. 28 Vgl. Domroese (1924), 69. 29 Vgl. ebda., 78f.

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brachten Punkt (1m Abstand), der für zwei Minuten unter Ausschluss jedes Gedankens fixiert werden soll. Nachdem man in einer zweiten Variation eine brennende, seitwärts gehaltene Kerze, die der Übende um sich herumbewegen und dabei aufmerksam fokussieren soll, geht man zur Beobachtung komplexerer Sachverhalte über. Da Vincis „Abendmahl“ wird betrachtet, und zwar so sorgfältig, dass es am nächsten Tag in jeder Einzelheit in der Erinnerung reproduziert werden kann. Den Höhepunkt bildet eine fast weltmeisterliche Gedächtnisübung, bei der Stück für Stück ein ganzes Buch mündlich und schriftlich exakt wiedergegeben werden kann.30 Manchmal führen die Konzentrationsübungen ein Moment nahezu übermenschlicher Omnipräsenz ein. So sieht Gerling vor, zwei Tätigkeiten gleichzeitig auszuführen, um den Willen vollständig in die besagten Tätigkeiten einzubinden, dabei auf die völlige Abkapselung von anderen Eindrücken hinzuarbeiten. „Ich habe, den Wert innerer Konzentration erkennend, mich darin geübt, inmitten des mich umgebenden Lärms im Café zunächst wichtige Briefe zu schreiben. Später unterhielt ich mich mit einer anderen Person und erledigte zugleich meine Korrespondenz. Ich habe es schließlich so weit gebracht, daß ich einen Leitartikel für mein Blatt schreiben konnte, während ich mich laut unterhielt.“31

Wer dies nicht schafft, soll im Zimmer ein Gedicht aufsagen, musizieren oder beten.32

3.3 DIE AUSBREITUNG DES WILLENS Die Techniken lassen sich in ihrem tieferen Sinn nur im Zusammenhang verstehen. Ein zentraler Zug der Übung und Schulung ist es nämlich, nicht nur den Willen, die Tat- und Entschlusskraft, die Überwindung und Enthaltung und die Konzentrationsfähigkeit zu üben und so den Willen zu steigern. Denn dadurch verändern sich zwar die Kräfte, aber nicht die Einflussbereiche des Willens. Deswegen gibt es eine weitere Gruppe von Techniken, die systematisch verschiedene strategische Felder erschließt, um sie der willenszentrierten Lebensführung zu unterwerfen. Es ist zwar auch den obigen Techniken gemein, zum Beispiel über ihre Steigerungslogik sich immer größere Bereiche zu unterwerfen, aber die folgenden Techniken erschließen sich Felder, die gemeinhin kaum der Willenskraft zugänglich scheinen. Neben dem Körper als naheliegendem Feld, das dem Willen zu Diensten gemacht werden soll, stehen die Kontrolle des Schlafs, der Verdauung und sogar des Unbewussten hoch im Kurs.

30 Hugin (1925), 74ff. 31 Gerling (1918), 98. 32 Ebda., 99f.

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3.3.2 Leibesbeherrschung – Übungen zur Aktivierung des Körpers und Kontrolle körperlicher Prozesse Die Techniken, die unmittelbar den Körper einbeziehen, haben in den frühen Ratgebern eine herausragende Position. Sie unterscheiden sich stark von auf den Körper bezogenen Techniken späterer Epochen, nicht allein aufgrund ihres direkten, disziplinierenden Charakters, sondern aufgrund ihrer spezifischen Systematik. Diese besteht aus zwei Momenten, die zusammen gedacht werden müssen. Erstens ist der Körper ein Feld, das sich der Wille aneignen muss, soll sein Tätig-Sein in der Welt von Erfolg gekrönt sein. Der Körper ist zwar potenzieller Herd verschiedener Schwierigkeiten, die mit der Selbstführung der Willensschulen kaum vereinbar scheinen, wie Krankheit, Müdigkeit, Energielosigkeit. Er kann aber auch (und soll) kraftstrotzender Ausdruck des tätigen Willensmenschen, sein wichtigstes Hilfsmittel und vorzüglichster Diener und nicht zuletzt ein für andere sichtbares Fanal der Gesundheit, Energie, Tatkraft und Tugend sein. An ihm soll sichtbar werden, was sich sonst nur im uneinsehbaren Bereich der Innerlichkeit abspielt. Der Körper wird zum zentralen Inszenierungsort für eine gelingende Selbstführung. An ihm sollen die Qualitäten einer willentlichen Durchdringung der Persönlichkeit anschaulich werden. „Liest man nicht auch des Menschen Geschichte in dessen Gesicht? Es heißt so und es ist so. Wie innen, so außen. Jeder sein eigener Bildhauer. Darum wie notwendig: Innenkultur mit Außenkultur, Körperkultur mit Seelenkultur verbinden.“ 33 Der Körper ist nicht nur Repräsentationsort des Willens, sondern steht in einem innigen Wechselverhältnis zu ihm. Ein gesunder, starker, abgehärteter Körper ist eine wichtige Stütze für die energische Lebensführung, für die Mobilisierung der Kräfte, für die Überwindung von Schwächen und schädlichen Gewohnheiten. Der Körper ist dabei kein dem Bereich des Seelischen äußerliches oder passives Objekt der Beeinflussung, er ist nicht allein globale Gesamtheit innerlicher Willenskultur und nicht allein allgemeine Bedingung für eine gelingende Selbstführung. Vielmehr unterhält er sehr spezielle, nämlich reziproke Beziehungen zu dem, was direkter Gegenstand der Willensertüchtigung ist: zu den Stimmungen, zur Ausdauer, zur Konzentrationsfähigkeit, ja sogar zum Gedächtnis. So ist der Körper nicht nur Ausdruck des Seelischen, an ihm kann man nicht nur lesen, was sich im Inneren abspielt. Er ist ein Instrument des Schreibens, genauer des Einschreibens seelischer Zustände. „Haben Sie schon einmal das körperliche Gebaren beobachtet, wenn ein lebhaftes Wollen auf starken Widerstand trifft und sich trotzdem durchsetzt? Der so stark Wollende presst Zähne und Lippen zusammen, ballt die Fäuste, und zuletzt hebt er die Fäuste bis in Kopfhöhe, um sie von da kräftig niederzuschleudern mit dem Ausruf: ‚Aber ich will!ʻ Diese Willensmimik werden wir üben; denn so wie sie von selber die stärkste Willensanspannung begleitet, so ist sie imstande, wenn man sie macht, ein schwaches Wollen zu beleben und ihm Nachdruck und Spannkraft zu leihen. Also: Sie pressen die Lippen zusammen, ballen die Fäuste bis Augenhöhe und schleudern sie nieder mit dem Ausruf: ‚Ich will Herr werden meiner selbst!ʻ. Sie sprechen den Satz so, daß die Betonung der niedersausenden Fäuste auf das Wort ‚willʻ fällt. – Diese Übung morgens, mittags, abends je 5-15 mal.“34 33 Helmel (1938), 64. 34 Kruse (1921), 19.

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Dieses Wechselverhältnis macht es möglich, gezielt Stimmungen zu beeinflussen. So soll zum Beispiel der zum Trübsinn Neigende sich bei Klein vor einen Spiegel stellen und sich in die Rolle eines heiteren oder komischen Menschen hineinversetzen und versuchen, seine Gebärden nachzumachen. „Aber ernstlich und eifrig! Es müsste wunderlich zugehen, wenn ihm dabei nicht immer freier und heiterer zumute würde.“35 Fröhlichkeit ist in diesem Sinne keine Frage des schauspielerischen Talents, sondern der körperlichen Disziplin. Die Techniken zielen nicht auf eine Maskierung der Subjekte, sie wollen keine sozialmanipulative Hülle über die Fassade des Subjektes werfen. Ihnen geht es um die „seelische Umbildung des Menschen“. 36 Über den Körper will man in den Griff bekommen, was flüchtig, wächsern, zumindest schwer willentlich zu kontrollieren scheint. Der Körper ist das eine Ende einer Saite, auf dem der Wille aufgespannt ist. Wenn man ihn in der richtigen Weise in Spannung setzt und auf ihm spielt, müssen sich zwangsläufig die Vibrationen bis ins Innere fortsetzen. Die Bedeutung dieser körperlichen Ertüchtigung für die Willens- und Charakterbildung hat niemand stärker gemacht als Heinrich Helmel. Er widmet den Großteil seiner Instruktionen einem selbst entwickelten Gymnastikprogramm und verdeutlicht sie durch viele fotografische Darstellungen der Übungen (Abb. 6). Abbildung 6: Grundpositionen für das Kraftatmen (1938)

35 Klein (1924), 34. 36 Ebda., 33.

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Seine „Energetisierungsübung“ nennt sich daher auch folgerichtig eine „Nachstimmung für Wille und Nerven“. Wir lassen ihn etwas ausführlicher zu seiner Übung zu Worte kommen, da sie gut erkennen lässt, welche komplexen Körperübungen getätigt werden und welche körperlichen Einschreibemöglichkeit man sich damit erwartet: „Nachmittags, wenn schon ein guter Teil unserer Kraft verbraucht oder gestaut ist, wir anfangen müde zu werden, dann ist es gut, wenn wir das Blut und die Gedanken wieder in eine andere Richtung bringen. Wie ein Saiteninstrument nachlässt, wenn längere Zeit darauf gespielt wird, und wir nachziehen, also nachstimmen müssen, so ist es auch mit unseren Nerven und Willen. Für erste mache eine kleine Durchschwungübung. Nehme Grätschstellung ein, führe die Hände ohne Spannung über den Kopf und schwinge dann sogleich tief zwischen die Beine und wieder hoch und tief, so in lebhaftem Wechsel. Beim Hochführen der Arme einatmen, beim Tiefgehen ausatmen. Dann nimm Straffhaltung an: Beine zusammen, balle die Hände zur energetisierenden Faust und führe sie unter langsamem, tiefem Einatmen zur Brust herauf. Hier hältst du die Fäuste, Unter- und Oberarme, Rücken und Brustmuskeln gespannt, während du dir energisch und betont laut, oder mit starker Mundbewegung flüsternd, zusprichst: Du – sammelst mit jedem bewussten Atemzug Energie! Kraftvoll, tatfroh und unbeugsam führst du das einmal Vorgenommene durch! […] Wiederhole diese Übung 5-7mal.“37

Die Kontrolle des Schlafes ist eine in fast allen Texten der Willensschulen vorkommende Technik. Sie erfreut sich einerseits größerer Beliebtheit, weil sie, wie im obigen Falle beschrieben, dem Willen besondere Hindernisse in den Weg legt und ihn dadurch zu größerer Kraftentfaltung aufstachelt. Doch noch aus einem anderen Grund ist der Schlaf ein beliebtes Objekt willenssteigernder Übungen. Seine beliebige Unterbrechung oder auch seine bewusste Herbeiführung, seine Verkürzung oder Aufteilung auf den Tag dient dem Willen als Maßstab seiner eigenen Stärke. Der Wille soll durch nichts anderes begrenzt sein als durch den Willen zum Wollen. Keine Welt außerhalb der straff und klar organisierten Realität des eigenen Willens darf mehr Bedeutung erheischen, als ihr unbedingt zusteht. Nichts anderes darf dem Willen sein Wollen aufnötigen, als er selbst. Der Schlaf, wie überhaupt jedes physiologische Bedürfnis, scheint dem Totalitätsanspruch des Willens zu widersprechen und wird daher zum vorzüglichen Objekt der Modifizierung. Auch wenn die physiologischen Bedürfnisse des Körpers nicht grundsätzlich infrage gestellt werden, so muss doch alles andere an ihm unter willentlichen Einfluss gestellt werden: Das Schlafbedürfnis soll durch Verkürzung der Schlafzeiten auf eine irreduzibele Form gebracht werden und die Einschlaf- und Aufwachübungen sollen den Schlaf zum Diener des Entschlusses machen. Der Schlaf soll für den Willenstüchtigen dann kommen, wenn er es will, in der Länge, die er ihm zuweist. Auch andere Bedürfnisse des Körpers geraten daher notwendig in den Fokus der Willenstechniken, wie zum Beispiel das Kälte- oder Hitzeempfinden oder das Atmen.38 Selbst das Altern scheint nicht unbeeindruckt von den Willensübungen.39 37 Helmel (1938), 49. 38 Neben körperlichen Übungen im engeren Sinn finden sich mit großer Regelmäßigkeit Atemübungen in den Ratgebern wieder. Diese sind nicht nur wichtig, weil sie als gesundheitsfördernd und energetisierend gelten, sie haben auch positive Effekte auf Konzentration

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Manche Texte bieten sogar Techniken zur Regulierung der eigenen Verdauung. Auch wenn diese aus heutiger Sicht kurios wirken, sind gerade sie ein Zeichen dafür, wie ernst es den Willensschulen mit der konsequenten Durchführung einer durchdachten und disziplinierten Selbstführung in allen Prozessen des eigenen Daseins ist. Der trainierte Wille wird auch dem Entleerungsvorgang Herr. Der Übende „hat die Pflicht“, doziert Gerling, „alltäglich zu bestimmter Stunde den Abort aufzusuchen und dort den Entleerungsversuch einige Minuten lang zu machen. Vorher aber gebe er sich die Suggestion: ‚Heute tritt um – Uhr der Stuhlgang bestimmt ein!ʻ“ Der Versuch gelingt, wenn man „die Stunde mit großer Pünktlichkeit täglich [einhält]“.40 3.3.3 Seelenbeherrschung – Techniken der Autosuggestion Auf den ersten Blick wirkt gerade die Autosuggestion deplatziert, geht es bei ihr doch darum, die unbewussten Kräfte zu aktivieren, zu stärken und sich ihnen anzuvertrauen – dies scheint der vernünftig-willenszentrierten Selbstführung diametral entgegengesetzt. So sind die Autosuggestion und die ihr nahestehenden Entspannungstechniken auch eine der wenigen regelmäßig auftauchenden passiven Techniken. Ihr Einsatz ist allerdings ein ganz spezifischer, strategischer: Sie hilft mit dabei, den Einfluss des Willens auf das Unwillkürliche auszudehnen und das Unbewusste bzw. Unterbewusste und dessen Kräfte in den Dienst des Willens zu stellen. Die Techniken der Autosuggestion sind somit als Übungen zu verstehen, das dem selbstbestimmten, bewussten, vernünftigen Wollen schlechterdings Entgegengesetzte unter dessen Einfluss zu bringen strebt: nämlich die unbewussten, instinktiven, gleichwohl mächtigen Seiten eines Menschen, die untergründigen Triebe der eigenen Person, in der Sprache der Lebensratgeber: das Unterbewusste. Die Autosuggestion ist unter diesem Namen schon Anfang des 20. Jahrhunderts vom französischen Apotheker

und innere Ausgeglichenheit. Sie sammeln körperliche Kraft und beruhigen den Geist. Vor allem aber nimmt der Atem eine Mittelstellung zwischen den einfachen, unmittelbar steuerbaren körperlichen Prozessen (wie Bewegung der Extremitäten) und den unwillkürlichen Prozessen wie Schlaf und Verdauung ein. Wer seinen willentlichen Einfluss auf alle Körperfunktionen ausdehnen will, ist gut beraten, sich zuerst in Atemtechniken zu üben, dann kann der Atemfluss sowohl unbewusst geschehen als auch willentlich gesteuert werden. Vgl. Domroese (1924), 21f.; Helmel (1938), 34ff.; Klein (1924), 111; Gerling (1918), 85 und 111; Kruse (1918), 16 und 64; Steinhagen (1918), 61f.; Hugin (1925), 43f.; Jacoby (1925), VI. Brief, 25f.; Müller-Guttenbrunn (1936), 85. 39 Vgl. Klein (1924), 11. 40 Gerling (1918), 184. Auch Gebhardt hält den Darm zur Pünktlichkeit an: „Man muß den Darm genauso an bestimmte Zeiten gewöhnen wie den Magen. Wer zum ersten Mal den Versuch macht, zu genau bestimmten Zeiten zu Stuhl zu gehen, achtet jetzt, sei es aus Neugier, sei es infolge der erhaltenen Willensaufgabe, eifrig auf das geringste Anzeichen, das ihm die Neigung zum Stuhlgang verrät. Ist der letztere für 8 Uhr morgens angesetzt, so wird der Betreffende sich etwa schon um ½ 8 Uhr innerlich sagen: ‚ich bin doch neugierig, ob die Sache eintreffen wirdʻ; den leisesten Bewegungen der Därme, denen er früher keine Beachtung geschenkt hat, widmet er jetzt die gespannteste Aufmerksamkeit, und siehe da, es gelingt ihm, sich seiner Aufgabe zu entledigen“, Gebhardt (1922), 24.

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Emil Coué popularisiert und als Wunderwaffe gepriesen worden.41 Die damit verbundenen Techniken finden auch im deutschsprachigen Raum eine große Verbreitung. Auch wenn einige Texte der Willensschulen davor warnen, sich ganz auf eine Form der Selbstveränderung zu verlassen, die gewissermaßen hinter dem Rücken der bewussten Persönlichkeit geschieht, konnte die Willensschulung dennoch nicht darauf verzichten, die im Innern der Person vermuteten Reservoirs an urtümlicher Kraft und archaischer Lebensverbundenheit zu bemühen. Es galt also für die Lebensratgeber, diesen Techniken eine Stellung in der Hierarchie der Techniken zu geben, die die Ambivalenz berücksichtigt. Die entsprechenden Kräfte sollen anzapft werden, ohne die Kontrolle über sie zu verlieren. Nicht eine Verweigerung der Nutzung der potenziell ausufernden und zerstörerischen Kräfte galt als die größte Gefahr, sondern ein Mangel an bewusster Kontrolle.42 Die Autosuggestion begleitet andere Techniken mit Sprechformeln, um diese zu verstärken. Nahezu keine Ruhe- oder Entspannungsübungen findet sich ohne das obligatorische Formel-aufsagen, mal verbunden mit Atem-, ein anderes Mal mit Imaginationsübungen.43 Als typisch kann die Übung von Kruse gelten, die richtig eingeübt und regelmäßig ausgeführt es dem Übenden ermöglichen soll, auf den Zuruf „Grundstimmung!“ eine entspannte innere Haltung in Alltags- und Krisensituationen einzunehmen. „Jeden Tag mehrere Male, wann gerade Gelegenheit ist, sollen Sie sich in eine Stimmung vollkommener Ruhe, Entspanntheit, Ausgeglichenheit hineindenken, hineinfühlen. Sie legen oder setzen sich bequem hin, streichen glättend die Stirn, lassen Glieder und alle Muskeln behaglich ausspannen, lösen sich innerlich von allem, was Sie bedrückt. Alle Sorgen schieben Sie für eine Weile beiseite. Sie sagen sich wiederholt: So, jetzt bin ich ruhig, harmonisch, zufrieden, fröhlich, sonnig!“44

Wenn diese Übung über einen längeren Zeitraum täglich mehrere Male geübt wird, tritt der Übende nicht nur in eine bestimmende Position gegenüber den Affekten, er wird in die Lage gesetzt, dem Unbewussten einen Disput abzuringen und sich damit auf dem Feld des Willens zu offenbaren: „eine Selbstaussprache bis ins letzte Geheimnis“, nennt er dies. „Überviele Menschen leiden daran, daß sie sich selber etwas verbergen […]. Sie müssen durch reine Selbstaussprache dahin kommen, daß sie mit sich völlig einig werden und unbedingtes Vertrauen zu Ihrer eigenen Leitung und Entscheidung gewinnen.“45 Allerdings wird eine Selbstaussprache der Gefahr, die aus dem Inneren, aus dem Unwillkürlichen droht, nicht vollständig gerecht. Nicht alle, ja nicht einmal die Mehrheit der inneren, willensschwächenden Regungen, sind so verständig, dass sie ihr unheilvolles Wirken einsehen und so „zur Vernunft“ gebracht werden können. 41 Coué, Emil (1997 [1924]): Selbstbemeisterung durch bewusste Autosuggestion. Basel: Schwabe. 42 Um ein Bild Nietzsches aufzugreifen: Wenn das Bewusstsein schon auf einem Tiger reitet, dann ist es sinnvoll, ihn lenken zu lernen. 43 Vgl. u.a. Gerling (1918), 32 und 181; Steinhagen (1918), 58f.; Jacoby (1925), II. Brief, 8f., 24f; Müller-Guttenbrunn (1936), 31, 36, 87; Helmel (1938), 32, 77f., 86f, 162. 44 Kruse (1921), 44. 45 Ebda., 125f.

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3.4 DER WILLE ALS WÄCHTER – TECHNIKEN ZUR BEKÄMPFUNG INNERER FEINDE Die Lebensratgeber offerieren ihren Leser/innen eine umfängliche Gruppe von negativen Eigenschaften, Gewohnheiten und Gefühlen, die der willensbestimmten Lebensführung entgegenstehen und konsequent gehandhabt werden müssen: Dies sind die Trägheit, die Phantasie, die Sinnlichkeit und Sinnenlust, wozu auch die sexuelle Lust gehört, sowie Eigendünkel, Neid und Zorn. Die Gefahr geht also von all jenen Elementen des Psychischen aus, in denen der Wille regieren muss, es aber aus dem einen oder anderen Grund (noch) nicht kann. Das Besondere an diesen Feinden des Willens ist, dass sie sich besonders dann regen, wenn sie unschädlich oder besiegt erscheinen. Es gilt also nicht nur, sie zu dezimieren, sondern auch eine gesteigerte Wachsamkeit ihnen gegenüber zu entwickeln und Mechanismen zur Kontrolle zu etablieren, da der Übende nie sicher sein kann, ob in der bedeutungslosesten Regung des Herzes oder des Geistes nicht bereits wieder die Schwäche erstarkt. Ein schädlicher Gedanke genügt, ein vermeintlich wohlgeordnetes Haus ins Chaos zu stürzen. So stark und mächtig der Wille des Tüchtigen auch zu sein scheint, den inneren Feinden gegenüber ist er von einer grundlegenden Hilflosigkeit befallen. In Bezug auf die dem Subjekt gefährlich werdenden Gedanken sagt Klein zum Beispiel folgendes: „Die unmittelbare Bekämpfung schädlicher Gedanken erfordert zu große Kraftanstrengung und lässt trotzdem den Erfolg so oft vermissen.“ 46 Schädliche Gedanken erweisen sich nicht nur als nachteilig, weil sie andere, nützliche verdrängen, sondern weil in ihrem Verbunde Begierden und Affekte Eingang ins Bewusstsein finden.47 Die unmittelbare Konfrontation des Willens mit ihnen hat nun den Effekt, dass sie erst recht erstarken und damit dem Übenden kaum mehr Einfluss auf das Geschehen lassen. Daher handelt es sich bei den Techniken zur Gedankenbeherrschung um reine Ablenkungstechniken. „Das Hauptkampfmittel aber ist, daß wir so schädlichen Gedankengängen und Gefühlsrichtungen die Aufmerksamkeit verweigern, es versuchen, sie in unserem Geistesleben verkümmern zu lassen. Das Schädliche müssen wir als Unkraut ausjäten, – ‚vergessenʻ. […] Kommen wir nur auf diesem Wege schreitend, nicht zum Ziele – also zur Befreiung von entnervenden Geisteszuständen –, so müssen wir Hilfstruppen herbeiziehen: guten Lesestoff, fesselnde andere Sinnesreize (Bilder ansehen, Musik hören usw.), turnen (Zimmergymnastik) oder sonst Bewegung machen, Spaziergänge, gute Unterhaltung mit anderen usw. Kurz, wir dürfen jedenfalls nicht zulassen, daß wir ein Opfer der schädlichen Gedanken und Gefühle werden, sondern müssen, wenn sie uns zu überwältigen drohen, mit irgendwelchen Ablenkungsmitteln entgegentreten.“48

Kruse wagt sich etwas näher an die Gefahr heran, gleichwohl er die Einschätzung von Klein zur grundlegenden Schwäche des Willens gegenüber diesen Gefahren teilt. Statt reaktiv die schädlichen Gedanken zu bekämpfen, entwirft er einen Übungsplan,

46 Klein (1924), 40. 47 Vgl. Kruse (1921), 112f. 48 Klein (1924), 78f.

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der vorsieht, sich bewusst ein „zudringliches Gedankengebilde“ 49 zu schaffen (er hat wohl die Zudringlichkeit sexueller Phantasien vor Augen), um sich dann 24 Stunden zu verbieten, daran zu denken.50 „Nehmen Sie die Übung streng: nur dann erlangen Sie diesen höchsten Sieg des Willens. Wenn trotz Ihres Aufpassens das Gedankengebilde noch einmal einschlüpft in Ihr Bewusstsein, so weisen Sie es auf der Stelle hinaus. Und Sie sagen sich auf schärfste: Es darf nicht wiederkommen!“ 51 Quasi aus den Augenwinkeln heraus hat der Übende einer kommenden Gefahr gewahr zu werden, um beim kleinsten Anzeichen seine Abwehrreihen fest zu schließen. Der Kampf gegen die mit endzeitlicher Bedrohung assoziierte Trägheit ist vor ähnliche Problematiken gestellt. Im direkten Kampf ist der Wille, so sehr er sich auch anspannen mag, nicht in der Lage, den Sieg davonzutragen. Dies ist umso heikler, als die Trägheit das negative Double zur Willenskraft darstellt und eine rücksichtslose Auskehr aus dem Inneren erfordere. Wenn die Trägheit nicht bekämpft wird, siedeln sich schnell moralische Verfehlungen und Laster aller Art im Einzelnen an. „Im Zustande der Faulheit kann jeder Feind von uns Besitz ergreifen, so vor allem die üblen Neigungen und Leidenschaften. Aber auch Krankheiten befallen faule Menschen leichter. Der Rost frisst den ungenutzten Stahl. Der Tod tritt eher an den trägen Menschen heran, als den tätigen“.52 Es gibt daher keine Abmilderung der Trägheit zur Lässigkeit, sondern man kann ihr nur einen aktiven Zustand entgegensetzen.53 Gerling und Bruch verlangen in diesem Sinne von den Übenden, sich sofort nach dem Aufwachen an die Arbeit zu begeben, selbst wenn es bedeutet, die Körperhygiene zu vernachlässigen oder auf das Frühstück zu verzichten.54 Bei Klein hilft eine allgemein aktivische Haltung, die von fleißiger Arbeit, der Vermeidung langandauernder sitzender Tätigkeit, regelmäßigem Spazierengehen bis zur der Entsagung von Alkohol und Fleischspeisen reicht.55 Überhaupt hilft als Allheilmittel gegen Versuchungen aller Art, in den meisten Lebensratgebern, die Selbsterziehung zum Arbeitsmenschen. „So wird es in der Tat Aufgabe und Pflicht jedes einzelnen sein, sich den Segen der Arbeit im ganzen wie im einzelnen klarzumachen.“56 Das zentrale Anliegen des Willens als Wächter ist also die Ablenkung und Marginalisierung unbotmäßiger Impulse. Sein Arbeitsmodus ist der einer entdifferenzierenden Aufmerksamkeit. Der Wille ist nirgends vor so große Herausforderungen gestellt wie beim Kampf gegen diese inneren Feinde. In den meisten Texten wird dieser Kampf als ein notwendiger dargestellt. Umgekehrt wird in der Auseinandersetzung mit diesen Eigenschaften deutlich, dass die schwerwiegenderen Bedrohungen des Menschen nicht aus der Lebenswelt kommen, sondern vor allem aus den eigenen dunklen Tiefen: Die Struktur des Subjektes ist fragil und jede bestehende Stabilität verdankt sich einem 49 50 51 52 53

Kruse (1921), 126. Ähnlich auch Müller-Guttenbrunn (1936), 101f. Kruse (1921), 127. Klein (1924), 82. Auch die sogenannten Entspannungstechniken der 1920er Jahre implizieren immer einen Zustand innerer Tätigkeit, auch wenn sie auf äußere Ruhe und Abgeschlossenheit hinzielen. Freies Phantasieren oder ein Zustand des Müßiggangs sind undenkbar. 54 Vgl. Bruch (1919), 11 und Gerling (1918), 82. 55 Klein (1924), 79. 56 Ebda., 85.

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fundamental agonalen Selbstverhältnis. Dies wird nirgendwo so deutlich wie bei den langen, vielfältigen und eindringlichen Anleitungen und Erläuterungen zum Umgang mit den inneren Feinden. Beides sei gleich wahr: Wer sich selbst überwindet, dem liegt die Welt zu Füßen – und: Wer die Überwindung für endgültig hält, droht in seiner Wachsamkeit nachzulassen. Die Techniken üben systematisch eine Haltung der ständigen, lückenlosen, hochsensiblen und über Kontrollrelais stabilisierten Selbstüberwachung ein – nicht, weil die Gesellschaft dies den Subjekten aufoktroyierte, sondern weil das Subjekt selbst ein Wirt parasitärer, desintegrierender, infektiöser Kräfte ist.

3.5 VON DER TECHNIK ZUR LEBENSFÜHRUNG – REFLEXIVE TECHNIKEN DER WILLENSSCHULEN Die bisher beschriebenen kämpferischen Aspekte der Selbstführung etablieren einen aktiven und disziplinierenden Modus der Selbsteinwirkung, der, wie oben beschrieben, von einer mal mehr, mal weniger misstrauischen Selbstobservation begleitet und durchdrungen ist. Allerdings haben die genannten Techniken bis auf einen allgemeinen Appell an die Wachsamkeit keinen operanten Modus dafür vorgesehen. Und doch hängt alles an der Erringung und Verstetigung der Willensherrschaft davon ab, wie ihre Fortschritte kontrolliert und ihre Rückabwicklung vermieden werden kann. Verschiedene reflexive Techniken, vom klassischen Tagebuchschreiben über Mängellisten bis zu hin Tagesplänen, verhelfen den Übenden zu einer sicheren, überwachten Form der Willensschulung. In diesem Sinne fungieren die reflexiven Techniken als eine Form von Rahmentechniken für den gesamten Schulungsweg der frühen Lebensratgeberliteratur. Sie haben indes ihre Geltung auch über den Zeitpunkt des erfolgreichen Abschlusses der Schulung hinaus, indem sie dem Alltag des Willenssubjektes eine grundsätzliche, verzeitlichte und selbstreferentielle Struktur geben. So wenig wie die Willenstechniken selbst sind die reflexiven Techniken ein neutrales Registrieren, eine bloß mathematische Kalkulation von Wahrscheinlichkeiten und Kostenfaktoren. Sie fungieren nicht zuletzt auch als eine Detektionstechnik für die wachsame Erfassung von Indisponiertheiten in der Willensherrschaft und Ermattung in der Selbstführung. Ihr zentrales Ziel ist die Sichtbarmachung. 3.5.1 Die Planung des Tagesablaufes Die feingliedrige Strukturierung der eigenen Schulungs- und Lebenszeit ist die Art und Weise, wie sich der Wille auf einen Zeitraum hin entfaltet. Ein Tagesplan der Willensschulen überlässt nichts dem Zufall und gibt den eigenen Aktivitäten eine höhere Ordnung und ein nutzbringendes Kalkül. Zeit planvoll zu nutzen, erscheint als Inbegriff einer bedeutungsvollen Weihe, ja ist Ausdruck und Mittel einer tätig zur Welt stehenden, strebsamen Persönlichkeit. Ein klarer, zwar selbst gegebener, in seinen Grundzügen aber monastischer, täglich wiederkehrender Tagesablauf wird von den meisten Texten als besonders produktiv eingeschätzt. In Form von Listen oder einfachen Tabellen (Kruse schließt an seinen Text ein eigenes, vorgefertigtes Merk-

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büchlein mit verschiedenen vorgefertigten Seiten an), 57 gelegentlich auch Karteikärtchen, wird die Tagesplanung täglich konkretisiert. Oft ist die Tages- und Wochenplanung Teil eines größeren Lebensplanes. Kruse fordert die Leser/innen zu folgendem Vorgehen auf: „Jeden Abend machen Sie einen Plan für den nächsten Tag, was Sie arbeiten wollen und wie sonst Sie den Tag verbringen wollen. Dabei dürfen Sie aber nicht den Fehler begehen, nun möglichst viel zu wollen; auf das Vielwollen kommt es gar nicht an; vorläufig handelt es sich einzig darum, daß Sie klar wissen, was Sie wollen. Sie sagen sich klar und bestimmt: Das und Das will ich morgen tun! Vielleicht auch: Das und Das will ich lassen! Und diesen Tagesplan wiederholen Sie am nächsten Morgen. Und dann am nächsten Abend durchprüfen Sie den Tag, ob er gehalten hat, was Sie ihm zusprachen.“58

Der Plan gibt Struktur, er fordert zur Klarheit des Wollens auf und macht es täglich überprüfbar. Er impliziert gleichzeitig eine seltsame Verkehrung des UrsacheWirkungs-Gefüges, wie im Falle von Kruses Technik. Das Subjekt steht nicht mehr am Ende der Geschehnisse des Tages, die auf ihn zukommen, sondern er gibt dem Tag sein Gepräge und überprüft anschließend, inwiefern der Tag gehalten hat, was man ihm zusprach. Vom Schreibtisch aus ordnet sich die Welt nach den Vorhaben des eigenen Wollens. Der zukünftige Tag erscheint damit nicht mehr als ein Tätigsein unter den Bedingungen des Situativen, Unvorhersehbaren und Zufälligen, das notwendig das menschliche Trachten und Wollen bestimmt. Der Tag soll mittels Planung stattdessen möglichst frei gehalten werden von all dem, was sich dem eigenen Ansinnen entgegenstellt. Auch wenn das Arbiträre nicht vollständig ausgegliedert werden kann, so soll es doch wenigstens nur eine unbekannte Variable werden, für die wiederum ein Platz in der Planung vorgesehen ist. Jacoby rät: „Aber denken Sie schon jetzt mit daran, daß Dinge vorkommen können, die nicht in die gedankliche Vorbereitung einbezogen werden konnten. Durch dieses an Unvorhergesehenes Denken schaffen Sie bereits eine Kraftreserve für alles, was leicht an Unvermuteten eintreten kann, und das Sie sonst aus dem sorgfältig geschaffenen Gleichgewicht werfen könnte“. 59

Das Unvorhersehbare erscheint durch diesen fast magisch anmutenden Akt des abstrakten Antizipierens auf eine geringfügige Eventualität verkleinert, die dann – so die Hoffnung der Willensschulen – durch entsprechend planvolles Handeln handhabbar werden soll.

57 Vgl. Kruse (1921), Merkbüchlein. 58 Kruse (1921), 15 und 31f. 59 Jacoby (1925), III. Brief, 5.

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3.5.2 Jesuitische Selbstreflexion: das Partikularexamen Abbildung 7: Merkbüchlein mit Anleitung (1921)

Abbildung 8: Gelöbnistafel (1921)

Eine ganze Reihe von Lebensratgebern aus dem Bereich der Willensschulung baut eine Technik in den Schulungsweg ein, die aus der Praxis der katholischen Gewissenserforschung und monastischen Subjektivierung entnommen ist: das Partikularexamen. Ein bestimmter Typus der Lebensratgeber, die wir im Anschluss kurz vorstellen wollen, hat diese Technik zum Herz der Selbstführung erkoren, aber sie hat auch in den Texten der Willensschulen Verbreitung gefunden, allerdings mit einigen wesentlichen Veränderungen. Das Partikularexamen, das als schriftlich fixierte und verzeitlichte Reflexion über Mängel und lasterhafte Gewohnheiten in der religiösen Subjektivierung einen stark moralisch normativen Charakter besitzt, ist bei den Willensschulen zur einer grundlegenden Reflexionstechnik über Stärken, Schwächen, Versäumnisse, aber auch schlechte Gewohnheiten vor dem Hintergrund des energetischen Paradigmas der Willenskraft geworden.60 Dabei ist die Reflexion und Erkenntnis derselben schon selbst ein erster Schritt zu deren Bekämpfung. 61 Die strenge zeitliche Struktur und schriftliche Praxis ist beibehalten worden. Kruse fügt seinem Buch ein „Merkbüchlein“ bei, dass die Leser/in von Beginn des Schulungsweges an zu führen hat. Zu festgelegten Zeiten in der Schulung wird sie von Kruse aufgefordert, eine Unzulänglichkeit in der Selbstführung herauszugreifen und diese in das 60 Mehr zum energetischen Paradigma in unserem Kapitel B) 2.2 „Rekonstruktion zeitspezifischer Wissenssysteme“. 61 Daher tendiert diese Technik dazu hin, über eine Begleitung und Absicherung des Schulungsweges hinaus, selbst invasive Effekte zu zeitigen.

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Heftlein – mit dem Vorsatz, diesen abzustreifen – einzutragen.62 „Sie schreiben also (auf die dritte Seite des Büchleins) etwa Folgendes: 25. Mai 1917: Ich war immer Langschläfer; ich will von nun ab pünktlich aufstehn! Und jeden Abend tragen Sie an der zugewiesenen Stelle des Buches ein Zeugniszeichen ein.“63 Eine Eins bedeutet, dass man den Mangel abstellen konnte, eine Zwei heißt, dass man nur mittelmäßig erfolgreich dabei war, eine Drei, dass die Leser/in gescheitert ist. Die Quantität der zu beobachtenden Mängel und Fehler wird im Schulungsverlauf immer weiter erhöht, bis er über den Verlauf einer Woche sechs zugleich beobachtet und den (Miss-)Erfolg schriftlich dokumentiert. Sein auf siebzehn Wochen angelegtes Schulungsprogramm sieht eine kontinuierliche, ohne Pausen fortzusetzende Selbstbeobachtung in dieser Form vor. Gerling genügt es, acht Tage am Stück die Unterlassung einer „üble[n] Gewohnheit“ zu beobachten. Im Falle des Scheiterns nehme man sich diese „am nächsten Tage gesondert vor und achte nur auf ihre Unterlassung“.64 3.5.3 Rechenschaft über Übungen und Erfolge Das Tagebuchschreiben ist eine der am häufigsten genutzten reflexiven Techniken der frühen Ratgeber. Es steht aber kaum in der Tradition romantischer Innenschau, Gefühlsbesprechung und Reflexion über soziale Beziehungen, sondern ist stark vom Charakter der Kontrolle und Rechenschaft geprägt; Rechenschaft im Sinne einer Vergewisserung darüber, ob das Tagesziel erreicht worden ist und ob der Wille seinen selbst gesteckten Zielen wie geplant nähergekommen ist. Hier kommt es im Unterschied zu dem Partikularexamen darauf an, den Alltag in seinem Verhältnis zu den vorgenommenen Entschlüssen und Zielsetzungen als Gesamtes in den Blick zu nehmen, wobei es jedoch nicht an der Achtsamkeit für das Detail fehlen soll: „Wir müssen uns klar werden, was befördert, was bekämpft werden muss und mit welchen Mitteln. Deshalb müssen wir uns alles, was wir zur Selbsterziehung brauchen, bis ins Einzelnste überlegen und klarstellen. Alle unsere Vorsätze und Lebensregeln müssen immer von neuem an der Hand unserer Erfahrungen gemustert werden. Das erste Ergebnis unserer Selbstprüfung wird eben sein, dass wir auf Grund [sic] unseres Rückblicks unsere bisherigen Lebensregeln schärfer fassen, fortbilden und durch neue Entschlüsse ergänzen.“ 65

Das Tagebuchschreiben dient folglich als grundsätzliche Versicherung, als eine Form der Sichtbarmachung der Selbstführungsfortschritte, die sich eben mühselig und kleinschrittig vollziehen. Es soll Ansporn für eine beflissene und genaue Umsetzung der Schulungstechniken sein und manchmal auch zu vorsichtigere, realistischerer Planung gemahnen.66 In der reflexiven Dokumentation sollen darüber hinaus alle 62 63 64 65 66

Exakt genauso geht Müller-Guttenbrunn vor. Vgl. Müller-Guttenbrunn (1936), 30ff. Kruse (1921), 17. Gerling (1918), 120. Klein (1924), 101f. Die Willensschulen warnen, wie in den Problematisierungsweisen ausgeführt, vor den Konsequenzen der Überlastung. Nicht notwendigerweise, aber unter bestimmten Bedingungen bringt sie persönliche Enttäuschung oder eine Desorganisation der inneren Kräfte

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niedrigen Gesinnungen, fehlgehenden Selbstpraktiken und Irrtümer aufgeschreckt werden und zum Vorschein kommen, so dass sich mitunter eine systematische Beobachtung im Sinne des Partikularexamens anschließen kann.67 Als zusammenhängender Fließtext erfordert es eine bestimmte Schreibsituation, die wiederum als dem Willen günstig eingeschätzt wird: „völlige Ungestörtheit von außen, also Vornahme der Innenschau im einsamen Zimmer oder auf einsamen Spaziergängen. Unterstützung derselben durch geeigneten Lesestoff oder durch Flucht in die Natur, an deren Busen wir in der Tat am ersten die rechte Weihestimmung gewinnen dürften.“68

3.5.4 Autoteleologische Prüfung: der zudringliche Charakter reflexiver Selbstschau Bestimmte reflexive Techniken werden in den Ratgebern auf eine einzigartige, wegweisende Art angeordnet. Wir haben diese Techniken mit dem Tagebuchschreiben und den Partikularexamen beschrieben, aber nur unter dem Aspekt der Überwachung und Absicherung des Schulungsweges. Sie besitzen jedoch eine weitere Qualität, nämlich, dass sie als eine Art verselbständigte Prüfungssituation fungieren und den Übenden in eine bestimmte Dynamik hineinbringen, derer er sich schwer entziehen kann. Als Prüfungstechniken verstanden, erreichen sie eine neue Qualität: Es sind Techniken, deren Objekte selbst wieder Techniken sind.69 Dies ist Ausdruck des neuartigen, medialen Führungsgeschehens, bei dem die Anwesenheit eines persönlichen Lehrers oder Meisters als verzichtbar gilt. Diese Techniken übernehmen auf eine veränderte Weise eine Funktion des Schüler/in-Meister/in-Verhältnisses: den der kontinuierlichen Prüfung. Sie haben in der Regel keine andere Aufgabe, als den Übenden – ohne dass ein wiederkehrender Entschluss vonnöten ist – den Grad der Systematik und Kontinuität seiner Selbstführung vor Augen zu führen. Dies scheint erklärungsbedürftig, da weder technische Messinstrumente noch der Übende selbst diese Rolle des Meisters einnehmen. Da aber die Prüfungstechniken weder außerhalb der Übenden verortet sind noch durch die Übenden selbst ausgeführt werden, liegt es nahe, dass der spezifische Gebrauch eines Mediums jene Aufgabe zu erfüllen hat. Genauer gesagt, ist es eine bestimmte Form der Schriftlichkeit, die den autoteleologischen Charakter der Prüfung sicherstellt. Viele Lebensratgeber des frühen 20. Jahrhunderts benutzen, wie wir gezeigt haben, schriftliche Aufzeichnungen, um Erkenntnisse, und somit einen großen Rückschritt mit sich, so dass den Übenden zu einer realistischen Planung geraten wird. 67 Manchmal wird auch der Wert des Tagebuchschreibens für das Gedächtnis darin gesehen, dass es eine Form der Repetition beinhaltet. Vgl. Gerling (1918), 153. 68 Klein (1924), 102. 69 Dieses Arrangement ist deshalb bemerkenswert, weil es alle frühen Ratgeber, nicht nur die Willensschulen umfasst, ja, es ist bei den Selbsterziehern und bei den Selbstrationalisierern sogar noch ausgeprägter. Es ist nämlich völlig unerheblich, wie die Ratgeber die Konversion des Subjektes betreiben, ob durch Willensmacht, monastische Reflexivität, ob als Buchführung oder Appell ans Unbewusste – auf eine Kontrolle des Übungsweges verzichten die wenigsten Ratgeber.

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Aufgaben oder Entschlüsse festzuhalten. Indes ist es nicht jeder Form der Schriftlichkeit zu eigen, diese Funktion auszufüllen. Nur eine solche, die die kontinuierliche, lückenlose Verzeitlichung der Aufzeichnung notwendig macht, ist in der Lage, prüfende Effekte auf das Subjekt auszuüben. Vielleicht lässt sich analog zu dem, was Foucault für den Bentham’schen panoptischen Gefängnisbau festgestellt hat, sagen, dass ein bestimmter Modus der Sichtbarkeit etabliert wird, bei dem das Subjekt, ohne dass es selbst will, in seine eigene Überwachung integriert wird. Für den Bereich der Ratgeber zeichnet sich die Architektur der Überwachung wesentlich subtiler ab. Sie haben häufig die Form von Tagebüchern, Mängellisten oder Karteikarten. Aber gleich, welche Gestalt sie genau innehaben, wenn man sich zu ihrer Ausführung entschließt, verstricken sie den Übenden – unter der Drohung des Scheiterns – in eine transformative Totalität. Am Beispiel des Partikularexamens ist nachvollziehbar geworden, dass es nur dann erfolgreich im Sinne der Schulung in Anwendung gebracht wurde, wenn es in einen Zustand gleichbleibender Sichtbarkeit mündet. Nichts im Inneren darf sich verdunkeln, kein Raum nachlässiger Selbstschau darf einer Leidenschaft zum Versteck werden. Wesentlich ist nun, dass das Leerbleiben einer Spalte, einer Notiz, einer abendlichen Aufzeichnung aus Bequemlichkeit oder Vergesslichkeit dem Übenden ein bedeutungsschweres Versagen offenkundig macht. So sehr diese Schriftlichkeit Auskunft gibt über das, was sie auf dem Papier festhält, so redselig ist sie in Bezug auf das, was fehlt. Gleiches gilt auch für täglich zu führende Tagebücher und dergleichen. Es steht dem Übenden natürlich frei, weiter auf die ihm richtig vorkommende Weise fortzufahren, aber er stellt sich damit außerhalb bzw. gegen den lebensratgeberischen Schulungsaufbau. Das würde die bisher aufgewandten Mühen und Kämpfe zu einer absurden, widersinnigen Episode machen. Wenn er jedoch der Übung Wahrheit und Geltung beimisst, ist er in einer moralischen Bringschuld. Ein Teil seines Selbst ist in die Pflicht genommen, korrigierend, wenn nötig maßregelnd, einzugreifen. Die Dynamik des Schulungsweges setzt auf die Identifizierung des Übenden oder zumindest eines bestimmten Teils („Vernunft“, „Bewusstsein“, „Wille“) mit den Instruktionen und Problematisierungen der Autoren, weil dieser so zum Mitspieler und Ko-Dirigenten einer Intentionalität des Textes wird. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als das Leck in der Totalität der Selbstführung zu schließen oder sich das eigene Scheitern einzugestehen.

3.6 SOZIALE MAGIE – TECHNIKEN FÜR DEN UMGANG MIT ANDEREN Der überwiegende Teil der Techniken aus den frühen Ratgebern sind Selbsttechniken im strengen Sinne. Es gibt nur verhältnismäßig wenige, die sich der sozialen Interaktion widmen. Wenn sie indes von den Lebensratgebern im Schulungsweg eine Rolle spielen, haben sie einen ganz eigenen Charakter. Während viele Selbsttechniken auf Abschottung und Zurückgezogenheit zielen, auf ein Ethos der Askese, Ehrlichkeit und Strenge sich selbst gegenüber, sind die sozialen Techniken vor allem darauf ausgerichtet, beim Gegenüber einen bestimmten Eindruck zu erzeugen. Es geht darum, Fremdbeeinflussung abzuwehren, vor allem aber selbst andere für sich günstig zu beeinflussen.

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Die meisten Techniken zielen deshalb vor allem darauf ab, das Bild einer charismatischen Persönlichkeit in den anderen zu erzeugen. Das, was für die Lebensratgeber der vollendete Charakter, die erfüllte Teleologie das Subjektes ist, soll hier bereits eingelöst sein (oder erscheinen), gerade auch dann, wenn die übende Person noch weit vom Ziel entfernt ist. Das übende Subjekt soll nun die Bewunderung und Anerkennung der anderen auf sich ziehen, die doch eigentlich erst Resultat einer abgeschlossenen, in sich stimmigen Selbstführung sein kann. Abbildung 9: Der Mittenblick soll suggestive Kräfte freisetzen (1918)

Den Grundton gibt dabei eine Aura der Zurückhaltung, Selbstgewissheit, Selbstzufriedenheit. Wer in sich ruht, lässt sich weder von Lob noch von Tadel beeinflussen. Steinhagen mahnt: „Behalten Sie Ihre Beschwerden für sich. Begehren Sie weder Sympathie noch Schmeichelei. Bedenken Sie, dass jeder Wunsch eine Kraft ist und machen Sie sich diese Kraft zu eigen.“70 Es geht also darum, die eigenen Kräfte nicht nach außen zu richten und etwa in einem Anfall von Neugier oder Gefallen-Wollen zu verausgaben, sondern im Gegenteil diese so auf sich zu konzentrieren, dass es anziehend auf andere wirkt. In diesem Sinne warnt Bruch, das „Herz nicht auf der Zunge [zu] tragen“,71 immer das eigene Wissen und die eigenen Pläne zu verschweigen, überhaupt in jeder Hinsicht verschwiegen (und so vertrauenserweckend) und unparteiisch zu sein („sonst verschaffen Sie sich Feinde“). 72 Den großen inneren Mut und den starken Willen, den sich das übende Subjekt im Zuge der Schulung aneignet, soll es nicht darauf verwenden, in der Öffentlichkeit auf offene Konfrontation zu gehen. Neben diesen Techniken der Zurückhaltung gibt aber noch eine Gruppe von Techniken, die in vielen Texten mit großer Ähnlichkeit angeführt werden und die den

70 Steinhagen (1918), 18ff. 71 Bruch (1919), 25. 72 Ebda.

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Eindruck einer charismatischen Persönlichkeit aktiver ans Gegenüber bringen sollen. Am wichtigsten ist dabei der Blick, der als das mächtigste Werkzeug der Fremdbeeinflussung gilt: „der centrale Blick“ besteht für Steinhagen darin, im Gespräch auf die Nasenwurzel des Anderen zu schauen: „Bilden Sie sich ein, dass Sie dort ein kleines Pünktchen sehen und dass Sie die schwache Seite im Charakter dieses Mannes entdeckt haben“; dabei „nicht finster“ starren; „Zwingen Sie ihn, Sie anzusehen, während Sie mit ihm sprechen. Aber wenn er spricht, wenden Sie Ihren Blick von Ihm [seinen Augen] ab“.73 Ähnlich erklärt Bruch den Weg zum machtvollen Mittenblick: Zunächst gilt es, „sich alles Blinzeln abgewöhnen“, danach „üben, mindestens drei Minuten lang einen Punkt fixieren zu können, ohne die Lider zu bewegen“. Da dies mit größeren Erschwernissen verbunden sein kann, rät er, die „Augen von Zeit zu Zeit mit Wasser [zu] kühlen“. Wenn dies beherrscht wird, soll „jeder Person, mit der Sie sprechen, auf die Nasenwurzel“ geschaut werden. Dies ist der gefürchtete „Zentralblick“, der andere nervös macht.74 Andere Übungen konzentrieren sich auf spezielle Momente in der Interaktion, z.B. den Handschlag bei Begrüßung und Abschied, der mit dem zentralen Blick kombiniert werden kann: „Der magnetische Händedruck“ beginnt bei Steinhagen damit, jemanden „freundlich mit dem centralen Blick“ anzusehen, dann die Hand des Anderen „so weit als möglich, sie hinten anfassend, mit der Ihren zu umspannen […] Schütteln Sie seine Finger nicht […] Nach einem schnellen, beherzten Druck ziehen Sie Ihre Hand wieder zurück, indem Sie diese, wenn möglich, über seine flache Hand und Fingerspitzen gleiten lassen“.75

Doch nicht nur der Blick und der Händedruck, der gesamte Körper wird Teil einer bis ins kleinste kalkulierten Außenwirkung. Die straffe Körperhaltung ist Aushängeschild der Souveränität des Willens, weil sie alle Anzeichen von Weichlichkeit und Bequemlichkeit abgestreift hat. Kruse hat sich eigens darauf kapriziert, die Körperhaltung für solche repräsentative Zwecke herzurichten.

73 Steinhagen (1918), 34. 74 Bruch (1919), 22f. 75 Steinhagen (1918), 35.

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Abbildung 10: Dieses Titelbild eines populären Willensratgebers visualisiert das Ergebnis erfolgreich ausgeführter sozialer Magie. Die autoritäre Bildsymbolik erfasst exakt die Beziehung des Willensmenschen zu seiner Umwelt (1921)

„Sie meiden Nachlässigkeiten des Körpers im Gehen, Stehen, Sitzen! Kopf hoch, nicht die Schultern hängen lassen, nicht geduckt gehen, sondern straff! straff! Und im Sitzen lehnen Sie sich nur an, wenn Sie ausdrücklich freigegeben haben! Seien Sie in den nächsten Zeiten pedantisch straff, lieber zu viel als zu wenig!“76

Selbst bestimmte Gesten werden eigens trainiert, um den Körper für entsprechende Feldherrenposen gefügig zu machen: „Straff aufrecht stehend strecken Sie den rechten Arm und Zeigefinger aus, als wenn Sie herrisch auf einen Punkt hinweisen wollten. Sie fassen auch mit den Augen den gezeigten Punkt. Diese Zeigestellung lassen sie erstarren! Ruhig atmen und Atem zählen bis 40 oder mehr, je nach Ihren Kräften. Alle anderen Gedanken ausschließen!“77 Wer kleinschrittig den Anleitungen folgt, soll eine geradezu magische Wirkung auf seine Mitmenschen entfalten. Nichts gilt den frühen Ratgebern als erstrebenswerter, als selbst eine jener strahlenden Persönlichkeiten zu sein. Die Techniken der sozialen Magie sollen das erreichen, was den charismatischen Persönlichkeiten mühelos gelingt. Statt sich in einzelnen Begegnungen, im Tauschen und Verhandeln zu verzetteln oder sich in der Organisation des sozialen oder politischen Lebens aufzureiben, wirkt der Willensheld allein durch seine Präsenz. Dieses Wirken ist so allgemein wie undurchsichtig, so komplex wie effektiv: Die anderen richten sich automatisch nach ihm aus, wollen ihm zu Diensten sein und mit in seinem Licht stehen. Die histori76 Kruse (1921), 26. 77 Ebda., 149.

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schen Persönlichkeiten, die den Lebensratgebern als Vorbild dienen, beseelen mit ihrem Charakter nicht nur die Menschen, sondern auch die Dinge, die sie berühren. So ist der Stahl, der in Essen geschmiedet wird, nur so hart, weil hinter ihm der eiserne Wille eines Alfred Krupp steht. Auch wenn die soziale Magie differenzierte Anweisungen gibt, vom Händedruck bis zum Ausdruck der Stimme, so versucht sie doch nur, dieses überkomplexe Wirken nachzuahmen. Bei manchen Autoren, besonders bei Steinhagen, spielt sich im Hintergrund der Interaktion das eigentlich Bedeutsame ab. Steinhagens Theorie eines, wenn nicht eigentlich magischen, so doch magnetischen Kraftfeldes geht davon aus, dass die diffusen Kräfte innerhalb einer Person mit denen der anderen ein Verhältnis der sozialen Physik eingehen. Am anderen Ende des Spektrums stehen diejenigen, die die soziale Begegnung eher aus immunologischer Perspektive betrachten, die Gefahr der Ansteckung mit schlechten Eigenschaften und Angewohnheiten macht in letzter Konsequenz die anderen zu den (potenziellen) Feinden der gelungenen Selbstführung. Resonanztechniken stehen unvermittelt neben Abschottungstechniken und Beeinflussungstechniken. Insofern ist es nicht nur die Wirkung des Willensmenschen, die ans Magische grenzt, sondern auch seine Fähigkeit, sich vollständig von den anderen abzuschotten und sie trotzdem an passender Stelle organisch zu begeistern und freundlich zu stimmen. Bei der Übung eines charismatischen Blickes und einer distanzierten, edlen, aber Vertrauen einflößenden Umgangsform geht es also um weit mehr als eine fassadenhafte Selbstinszenierung. Die Autoren mögen sich darin unterscheiden, wie Beeinflussung der anderen zu denken ist, sie gehen in ihren Instruktionen aber alle von einem Rückkopplungseffekt der Selbstbeeinflussung aus, durch den sich das Subjekt den Habitus einer überlegenen Persönlichkeit Stück für Stück dadurch aneignet, dass er seine äußeren Kennzeichen nachstellt. Beide konvergieren bei entsprechend langer Einübung: Wer charismatisch auftritt, ist eine charismatische Persönlichkeit.78

3.7 ZUSAMMENFASSUNG Die Techniken der Willensschulen zeigen eine komplexe, schrittweise ineinandergreifende Ordnung, die nicht nur den Willen, sondern verschiedenste Aspekte des Subjektes umgestalten will: kognitive Fertigkeiten, körperliche Zustände wie unbewusste oder unwillkürliche Prozesse und Abläufe. Der Wille erscheint dabei sowohl als eine Haltung der stetigen Selbstüberwindung bzw. -entgrenzung, der gegen innere Feinde gerichtet ist, als auch als ein Zustand bewusst herbeigeführter sowie reflexiv kontrollierter Planmäßigkeit. Der Wille ist sowohl als Basisimpuls zur Verfolgung der Schulungsanleitung vorausgesetzt, wird als Mittel der Selbstzüchtigung eingesetzt als auch als ein Ergebnis innerer Zucht ausgewiesen. Er ist einerseits unerschöpfliche Kraftquelle und andererseits anfälliges Substrat für die Selbstwerdung. Er kann nur als grenzenlose Entgrenzung, als beständiges Hinausschieben von psychologischen wie physiologischen Grenzen, als auf Dauer gestellter Kampf existieren. Dem gattungsmäßigen Gebot des Daseinskampfes folgt der Wille also nicht nur 78 Dies folgt derselben Logik der reziproken Beziehung zwischen innen und außen, wie wir dies für den Bereich der körperlichen Steigerungstechniken für den Willen beschrieben haben.

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durch die Herstellung einer äußeren Wettkampffähigkeit, durch ein blindwütiges Hineinstürzen in soziale Auseinandersetzungen, sondern er verfolgt vor allem an der „Heimatfront“ einen Kurs unnachgiebiger Härte und widerspruchsfreier Ordnung. Soziale Superiorität erscheint eher als ein Resultat indirekter Wirkungen des erstarkten Willens in Form von Charisma denn als eine unmittelbare Gewaltherrschaft des sich Überlegen-Wähnenden.

4

Nebenpfade Drei Gegenentwürfe zur Selbstführung der Willensschulen

4.1 ÜBUNG IN DEMUT: DIE SELBSTERZIEHUNGSRATGEBER Diejenige Gruppe von Ratgebern, deren Diskurs die größte Selbständigkeit gegenüber den Willensschulen in den 1920er Jahren behauptet, bildend die Selbsterziehungsratgeber. Zu ihnen gehören die Schriften des katholischen Publizisten und Zentrumspolitikers Martin Faßbender, des in Prag lehrenden Hochschullehrers für Psychologie Johannes Lindworsky und des in Bonn lehrenden Professors für Pädagogik Friedrich Schneider. Sie bilden ein dichtes Netz von gegenseitigen Verweisen und Bezügen und stellen sich in die katholische Selbsterziehungstradition, wobei jesuitische Praktiken im Anschluss an Loyola den Kern der Techniken bilden. Die Kritik der Selbsterziehungsratgeber an der Willensathletik hat zwei wesentliche Momente. Erstens rücken sie den Willen aus dem Kern des Geschehens heraus. Er bekommt eine bloß vermittelnde Funktion zwischen Motiv und Tat zugewiesen. Grundlegend für das eigene Wirken ist nicht mehr der Wille selbst, sondern das Motiv, welches wiederum dem Bewusstsein und damit der Vernunft zugänglich ist. Während alles Mögliche ein Motiv sein kann – und Menschen sich selten von sich aus die richtigen Motive suchen –, ist es für Lindworsky zentral, zunächst ein einziges, alle Lebensführung fokussierendes, vernünftiges, sittlich erstrebenswertes Lebensziel zu etablieren, dieses zu stärken und alle anderen Motivbildungen zu unterdrücken. Zweitens wird bei ihnen der Willen de-essentialisiert. Der Wille besitzt keine eigene Energie, es kann auch durch energisches Wollen keine Energie in ihn hineingetragen werden, der Wille ist kein Besitz und ist weder als allgemeine Kraft noch in einer einzelnen Leistung steigerbar; der Wille ist demnach kein „allgewaltiger Tyrann“, sondern ein moderner „Oberbefehlshaber“, welcher darauf angewiesen ist, dass andere seine Absichten verwirklichen.1 Damit ist grundsätzlich infrage gestellt, dass Wollen etwas ist, das gelernt, geübt und so gesteigert werden kann. Die Selbsterziehungsratgeber zielen in erster Linie darauf ab, das Bewusstsein in einen Zustand der Selbstreflexivität, Selbstbeobachtung und korrigierenden Eingreifens zu setzen. Es geht in erster Linie um die Herstellung eines moralischen Subjektes. Die größten Gefahren drohen daher der sittlichen Fundierung des Motivs aus der „menschlichen Urschwäche“ der Selbsttäuschung. Während es den Willensschulen 1

Lindworsky (1953), 46.

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nur darum gehen kann, immer stärker, konzentrierter, kontinuierlicher zu wollen, steht für die Selbsterziehungsratgeber jedes Wollen unter dem Generalverdacht, nur Eigendünkel und Leidenschaft zu sein, ein Verfolgen unreflektierter Motive. Hier lebt also durchaus ein klassisches Motiv der christlichen Askesetradition fort, nämlich eine grundsätzliche Skepsis gegenüber dem Eigenwillen des Einzelnen. Typische Techniken betreffen deshalb die Gewissenserforschung, die Tages- und Lebensstruktur, die Gedanken und Affektbeherrschung. Die wesentliche Technik ist die des Partikularexamens und die kleinschrittige Erarbeitung von stabilen Motivkomplexen. 2

4.2 DIE RECHNUNG GEHT AUF: SELBSTRATIONALISIERUNG ALS LEBENSFÜHRUNG Diese kleine Gruppe von Lebensratgebern macht ähnlich den Selbsterziehungsratgebern diejenigen Techniken, die in den Willensschulen noch den Charakter der Rahmentechniken hatten, zum eigentlichen Zentrum systematischer Lebensführung. Neben dem Begründer der Selbstrationalisierungsschule Gustav Grossmann, zählen dazu Viktor Esdorp und Oskar Hanselmann der stark von Grossmann beeinflusst ist. Die innere Konsequenz des technischen Aufbaus ist dabei allerdings so ausgefeilt, dass die Selbstrationalisierung gegenüber der Selbsterziehung und den anderen frühen Ratgebern eine eigene, neue Qualität erreicht. Dies ist auch ein wesentlicher Unterschied zu den reflexiven Techniken der Selbsterziehungsratgeber: Weder legen Letztere so viel Wert auf eine genaue, ausgefeilte, lückenlose und effiziente Planung des Lebens und Strukturierung des Alltags, noch legen sie die bürokratische Genauigkeit und den systematischen, enzyklopädischen Anspruch bei der Rekapitulation des Geschehenen an den Tag wie die Selbstrationalisierung.3 Die zentrale Technik ist dabei für Gustav Grossmann der Werkplan, den er wie folgt beschreibt: Der Werkplan enthält alle Angaben über das private oder betriebliche Vermögen, nach Einnahmen und Ausgaben aufgeschlüsselt. Eine Übersicht über den Stand des Wissens (und sein Wachstum), der Fertigkeiten, der Beziehungen und die Verbesserung der Arbeitsmethode durch die Umsetzung von Grossmanns Anleitungen ist ebenfalls lückenlos durch die Anlage eines Ordners in DIN-A4 zu verzeichnen. Es ist eine Form der inneren Inventur. Der Werkplan bietet zudem ein standardisiertes Vorgehen für die Erarbeitung von Vorhaben, Lebenszielen und Fragen der Alltagsbewältigung. Auf eine einheitliche, rationalisierte Dokumentationsform wird genauso Wert gelegt, wie auf eine exakte Kosten- und vor allem Zeitkalkulation. Der Werkplan funktioniert dabei wie eine Art modernes Orakel: Hat man einmal alle Daten eingespeist, kann man sich vom ihm eine realistische Auskunft über die Chancen zu seiner Verwirklichung erwarten.4 Es gilt, Buch über die eigene Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu führen, nach dem Modell der Unternehmensführung oder Buchhaltung.

2 3

4

Vgl. Faßbender (1916), 250. Grossmann gibt detaillierte Anleitungen für eines Tagesplan (Grossmann 1933, 221ff.), einen Monatsplan (230ff.), einen Jahresplan (233f.) und einen Lebensplan (235f.), die jeweils zu entwerfen, zu prüfen und zu aktualisieren sind (240ff.). Grossmann (1933), 127ff.

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Abbildung 11: Hier verzeichnen die Übenden ihren Fortschritt zur Erlangung eines guten Prosastils. Der Kurs des Deutschen Prosaseminars (D.P.S.) besteht aus 195 Übungen (Ü) und 367 Aufgaben (A), deren Fortschreiten täglich auf Millimeterpapier dokumentiert wird (1933).

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Abbildung 12: Bestandteil jeden Werkplans sind prozentuale Darstellungen über die Produktion und Reproduktion der persönlichen Arbeitskraft (1933).

Gradmesser für den Erfolg ist nicht mehr die maximale Kraftentfaltung, sondern der rationale Einsatz von Zeit und Arbeit; Ihr minimaler Einsatz bei maximalen Ergebnissen; Effizienz statt Mühe und Mühsal.5 Die Planung der Zukunft wird bei der Schule der Selbstrationalisierung technisch so erschlossen, dass künftige Ereignisse kalkulierbar werden (im Sinne der damit verbundenen Kosten und des Nutzens). Der Werkplan liefert die Anleitungen, die es möglich machen, auch über die eigene Vergangenheit lückenlos Rückschau zu halten und sich selbst dabei ganz durchsichtig zu werden. Diese Bemühungen gipfeln darin, eine Selbstinventur das ganze Leben betreffend durchzuführen. Die Selbstinventur gipfelt in einer Selbsttypologisierung, durch die Qualitäten und eigene Grenzen sichtbar werden.6 Diese Inventur ist bei Esdorp Teil einer universalen Kartothek, 7 die nicht nur die eigene Zeitplanung, Wissen und Kenntnisse umfasst 8, sondern auch eine

5 6 7 8

Vgl. ebda., 281. Ebda., 185-92. Ebda., 241ff. Alles Wissen wird auch bei Grossmann in einer Wissenskartei systematisch gesammelt, Grossmann (1933), 366ff.

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„Kartothek der Kunden“9 für Geschäftsleute und einen „Personalakt“ 10 über alle Bekanntschaften sowie eine vollständige Übersicht über deren Netz. Auch Hanselmann und Grossmann entwerfen ein ganzes System aufeinander verweisender Karteikartenordnungen, auf denen nicht nur Ideen, Anregungen und Aufgaben vermerkt sind, sondern auch Planungsbögen, genaue Termine für die Sammlung und Realisierung von Projekten sowie ein täglich zu führendes Arbeitsplankataster. Dies erfordert ein tägliches Umstecken, Umgruppieren und Aussortieren der entsprechenden Vorhaben, Aufgaben und Termine. Dem rationalisierten Fabrikarbeiter gleich bringt die Vereinfachung der Arbeitsabläufe „es mit sich, dass jeder Arbeitsvorgang in wenige, immer wiederkehrende Verrichtungen zerfällt, die sich ohne weiteres automatisieren lassen.“11 Sie fungieren hier als ein Arrangement von Prüfungstechniken (wie wir sie im vorigen Kapitel gekennzeichnet haben), die in einer Automatisierung gipfelt. Zwar führt diese zu gewissen Erleichterungen, gleichsam aber auch zu neuen Zumutungen, da jede Form der Nachlässigkeit den gesamten Produktionszyklus sabotiert. Diese Techniken sind aber auch gleichzeitig die Grundlage für eine Reihe von Sozialtechniken, die es ermöglichen sollen, die andere Person mit ihren Wünschen und Eigenarten zu erkennen und den Nutzen der Beziehung für einen selber einzuschätzen.12 Die Selbstrationalisierer stecken folglich für die soziale Interaktion einen gänzlich anderen Raum ab als alle anderen Lebensratgebertypen der Zeit. Sie bringen gänzlich neue und andersartige Techniken hervor, entwerfen eine differente Sichtweise auf die eigene und fremde Subjektivität. Der Raum der Sozialität ist mehr ein Raum der Aushandlung, der Taktik und Strategie, sicherlich auch gelegentlich einer der Überrumpelung und Manipulation, aber eben keiner der eindimensionalen Herrschaft des Charismas. In die Sozialbeziehungen der Selbstrationalisierer hält erstmals eine Form von Interaktionalität Einzug.13 Bedeutend ist zudem die abweichende Haltung der Selbstrationalisierer in Bezug auf die inneren Regungen der Einzelnen:

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11 12 13

Esdorp (1934), 164ff. Diese Kartei umfasst alle bekannten Wünsche und persönlichen Eigenarten der Kunden. Ebda., 118-33. Der „Personalbogen“ umfasst alle „Wesensmerkmale“ des Anderen. Dabei ist schriftlich alles festzuhalten von der äußeren Erscheinung über die seelische Hauptform bis zum geistigen Niveau. Der Personalakt gibt Rechenschaft darüber, was „Anlage“, was „Milieu und Schicksal“ ist. Esdorp empfiehlt sofort nach dem ersten Gespräch ein neues Blatt anzulegen und dabei auch Stimmung, Verdacht und Vermutung festzuhalten, um den ersten Eindruck vor subjektiven Entstellungen zu bewahren. Teil dieser Personalakte werden zudem Briefe (die graphologisch analysiert werden können), sog. „Momentphotos“, Karten, Telegramme und sogar Familienanzeigen. Hanselmann, Oskar (1942): Arbeitstechnik und Planung. Grundlagen der Erfolgsplanung. Leipzig: Gropengiesser, 7. Vgl. Esdorp (1934), 137. So lässt sich nach Esdorp für jeden Menschen und jedes Gespräch eine „Gesprächstaktik“ entwickeln: „Du sollst mit jedem sein Gespräch führen“, d.h. sich jeweils die spezifischen Kenntnisse und „Vokabular“ des Gegenübers aneignen und wenn nötig, „stimulierenden Gesprächsstoff“ vorsichtig selbst einstreuen mit Gespür für die Interessen des n (91ff.). Ein Ziel des Gesprächs kann z.B. sein, den „Funken der Sympathie aus dem rein Menschlichen heraus“ zu erwecken oder aber das „Verwandte“ zu finden (137). Grossmann legt hingegen

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„Der erfolgreiche Mensch verhält sich seinem Willen gegenüber wie ein korrekter Kaufmann. Es fällt ihm nicht ein seinem Willen irgendwelche berechtigten oder harmlosen Wünsche abzuschlagen, im Gegenteil, er ist über dieses Interesse höchst erfreut und genügt sich lediglich damit, auf den Preis hinzuweisen.“14

Für ihn wie die Selbstrationalisierer generell sind alle inneren Impulse (die eigenen wir die der anderen) zunächst und zumeist positiv, sie müssen nur mit geeigneten Mitteln nutzbar gemacht werden. Die Befriedigung von Bedürfnissen ist der zentrale Motor für Wohlstand und Fortschritt. Bei Esdorp wird bei gewissenhafter Rückschau das Dunkel des eigenen Inneren und der persönlichen Biographie aufgelöst im Lichte übergreifender, bisweilen transzendent anmutender Führung (des höheren Waltens). Alle Kontingenz verschwindet, nicht durch Willens-, sondern durch Vernunfteinsatz, und löst sich in die Erkenntnis der Notwendigkeit auf. Für den, der alles einkalkuliert, gibt es keine inneren oder äußeren Feinde, sondern nur verschiedene Faktoren, nichts Böses oder Verabscheuungswürdiges. Alle Dichotomien sind, zumindest in der Theorie, überwunden. Nicht nur die Landschaft der Zukunft, auch die Seele selbst bedarf hier und da noch einer leichten Flurbegradigung. Die eigenen Bedürfnisse sollen bei Grossmann so gesehen werden, als wären sie die der anderen, und die anderen sollen so wahrgenommen werden, als wären sie die eigenen. Er resümiert: „Jedes wirtschaftliche Denken ist Denken für andere, darüber nachdenken, wie man den andern immer größeren Nutzen zu bieten vermag, denn nur je größer, je besser, je vollkommener die dargebotene Leistung ist, desto größer wird auch das Entgelt dafür sein.“15 Für alle gilt dieselbe Formel. Was bei Hegel noch wie eine Mischung aus Logo-Mystizismus und intellektueller Unverfrorenheit klingt, ist bei den Ratgebern der Selbstrationalisierung performative Wirklichkeit: Das Innere ist das Äußere und das Äußere ist das Innere.16 Während nun auch die Willensschulen alles dafür tun, Inneres und Äußeres voneinander klar zu separieren, weil dem Inneren des Menschen mit dem Verschwimmen dieser Grenzen größte Gefahr droht, versprechen sich Grossmann und seine Anhänger davon gerade nützliche Effekte für den sozialen Verkehr.

4.3 EIN MOMENT DER RUHE: DIE INDIREKTE SELBSTFÜHRUNG Während die Willensschulen die aktiven, disziplinierenden Techniken an die Spitze der Technikhierarchie heben und die Selbstführung und Selbstrationalisierung ihre Schulung auf reflexiven Techniken aufbauen, gibt die indirekte Selbstführung den passiven, sanften Techniken Priorität. Entspannung und Autosuggestion stehen im

mehr Wert auf Techniken zur Verbesserung der eigenen Redefähigkeit, besonders des fließenden Sprechens (191) und der Schlagfertigkeit (449). 14 Grossmann (1933), 120. 15 Ebda., 411. 16 Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1979 [1816]): Wissenschaft der Logik II, Werke in 20 Bänden, Bd. 6, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 181.

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Zentrum. Dabei argumentieren diese Ratgeber sowohl auf inhaltlicher als auch auf methodischer Ebene gegen die Willensschulen. Kienzle macht gerade die „übersteigerte Verstandes- und Willenskultur“17 für die Schwierigkeiten der modernen Menschen verantwortlich. Eine willenszentrierte Selbstführung kann deshalb, so auch Zeddies, nur die oberflächlichen Äußerungen von Nervosität und anderen psychosomatischen Erscheinungen bekämpfen, nicht aber deren Ursachen.18 In aller Regel bewirkt willentlicher Kampf gegen negative Eigenschaften nur deren Verstärkung, weil die ganze Aufmerksamkeit und Energie auf diese gerichtet wird statt auf die positiven Kräfte.19 Die „Lebenskräfte“, so vom Bühl, werden aber nur durch positive Gedanken gestärkt, durch Konzentration auf Negatives (auch die Absicht dessen Beseitigung ist) geschwächt. 20 Nach Zeddies führen sich die Willensschulen selbst ad absurdum, denn ihre Techniken verhindern gerade jene Fokussierung, der sie dienen sollen: Die Selbstreflexion, und die Aufmerksamkeit auf die eigenen Gedanken während einer Tätigkeit führt nicht zur Selbsterkenntnis, sondern im Gegenteil zur Unaufmerksamkeit gegenüber der Tätigkeit. Wer zwei Dinge gleichzeitig tut, verteilt notwendigerweise seine Aufmerksamkeit und Kräfte.21 Die Kraft, die landläufig der „Willensanstrengung“ zugesprochen wird, z.B. bei gelungener Konzentration,22 gebührt hier – und darin ist sich Zeddies mit den Selbsterziehungsratgebern einig – dem Motiv: „Die größte Arbeit der Konzentration leistet nicht der Wille, sondern die Sache.“23 Er gesteht der bewussten Einsicht sogar mehr Einfluss auf das „Gefühls- und Willensleben“24 zu als der „unpsychologischen Willensathletik“.25 Unsere eigentlichen Kräfte, und hier trennen sich indirekte Selbstführung und Selbsterziehung, entwickeln wir jedoch erst durch Autosuggestion. „Eine Vorstellung vermag erst dann ihre Macht auf das Unbewusste zu entfalten, wenn jeder Wille, jede Anstrengung ausgeschaltet ist“.26 Dieses Unbewusste im Innern des Menschen ist jedoch nicht die Ursache der Schwierigkeiten (kein Nest der inneren Feinde wie bei den Willensschulen und den Selbsterziehern), sondern gerade deren Lösung, nämlich die Verbindung zu unserer Natur, der Natur um uns herum und einer natürlichen Lebensweise. „Die Autosuggestion als ein Mittel zur Selbsterziehung dient in erster Linie dazu, unser Selbstgefühl, unseren Mut, unsere Sicherheit, unsere Zuversicht, unser Bewusstsein des Könnens zu stärken, die lebensbejahenden Triebe in uns zu erwecken.“27 Wer sich auf die „Macht der Gedanken“ einlässt,28 so vom

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Kienzle (1934), 16. Vgl. Zeddies (1937), 21. Ebda., 22. Vom Bühl (1928), 10. Vgl. Zeddies (1937), 12. Zeddies (1936), 139. Ebda. 142. Ebda., 88. Ebda., 13. Ebda., 118. Ebda., 149. Vgl. vom Bühl (1928), 7.

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Bühl, dem stehen „unerschöpfliche Kräfte“ zur Verfügung. 29 Der erste Schritt zur Nutzbarmachung der inneren Seelenkräfte sei dabei für alle, die sich selbst erziehen wollen, gerade die Entspannung. Entspannung hat für die Lebensratgeber einerseits einen Stellenwert an sich, ist andererseits aber die Voraussetzung für eine wirksame Autosuggestion. Nicht nur das Genus der Techniken ändert sich, sondern der Stil der Anleitungen selbst. Zeddies können wir fast vorsichtig und sanft sprechen hören: „Wir lesen den folgenden Abschnitt zunächst in aller Ruhe durch und stellen uns dabei vor, wir selbst sprächen zu uns wie der Arzt zu seinem Patienten.“ Während des Lesens „versetzen wir uns in die Stimmung [...] hinein“, indem wir uns die Bilder „ganz plastisch vor Augen führen“; im entspannten Liegen hören wir die Worte, die nur uns allein gelten: „Ich fühle mich froh und leicht. Alle Schwere entschwindet. Neue Kräfte fühle ich in mich einströmen. Sie machen mich stark, froh und stark.“ 30 Vom Bühl greift auch auf entspannende Atemübungen bei Kopfschmerz und Müdigkeit zurück. 31 Sowohl die Techniken zur Entspannung als auch die Autosuggestion sind ausgesprochen klar entwickelt und systematisch dargestellt. Zeddies richtet sich dabei nicht nur gegen den Willen, sondern auch gegen die Selbsterziehung. Das bewusste Denken muss ausgeschaltet werden, um wieder auf den richtigen Pfad zu gelangen. Die Technik der „Vakuumkonzentration“ dient deshalb der „Abschaltung alles oberbewussten Denkens“: die Gedanken werden „kommen und gehen“ gelassen, „ohne sie festzuhalten“.32 Das Vorgehen gegen negative Eigenschaften (ein Ziel, das sie also mit den Willensschulen teilen) folgt einem anderen Schema – sie werden weder durch Willen noch durch Verstand, sondern durch eine entgegengesetzte autosuggestiv implementierte Eigenschaft verdrängt.33 Die Techniken sind bei Zeddies, Kienzle und vom Bühl eingebettet in eine kontinuierliche Tagesplanung, bei der sowohl reflexive als auch disziplinäre Techniken zum Einsatz kommen.34 Es mag überraschen, wie selbstverständlich sich bei Kienzle und den anderen Ratgebern dieser Art eine disziplinarische Haltung und disziplinierende Techniken an die indirekten angliedern. Gerade dies ist jedoch typisch für die indirekte Selbstführung: Die Willensschulen theoretisch zu bekämpfen, aber einige ihrer verbreiteten aktiven Techniken zum Teil des Schulungsweges zu machen. 35 Die 29 30 31 32 33 34

Ebda., 54. Zeddies (1936), 105f. Vom Bühl (1928), 37. Zeddies (1936), 120. Ebda., 174ff. Kienzle schlägt zwar einen Sonderweg ein, was seine zentrale Technik betrifft, gibt jedoch einen guten Eindruck von komplexen, durchstrukturierten Aufbau der Übungen. Seine passiven Techniken beruhen nicht auf der Ver/innerlichung einer Wortformel, sondern eines Bildes in vier Stufen: einer detaillierten Wahrnehmung formaler Bildaspekte und einer innerlichen Reproduktion, einer gefühls- und stimmungsmäßigen Erfassung, die in einer Haltung „geduldigen Geöffnetseins“ mündet, und letztlich einer Überformung des Bildes mit persönlicher Bedeutung, auf die ein Willensentschluss folgt. Vgl. Kienzle (1934), 10-16. 35 So leitet auch Zeddies den Übenden dazu an, sich zusätzlich zur Autosuggestion jeden Morgen irgendein charakterliches Ziel ähnlich den Willensschulen in knapper Befehlsform zu geben. Zur weiteren Unterstützung empfiehlt er Körpergymnastik mit Atemübungen

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Vertreter der indirekten Selbstführung machen daher einen mitunter uneinheitlichen, d.h. unentschiedenen Eindruck. Besonders stark tritt der hybride Charakter dieser Selbstführung zutage in ihrer Bewertung und Handhabung innerer Kontrolle. Zwar unterscheidet sich der Introspektionsmodus der indirekten Selbstführung von den anderen deutlich – die Wachheit gegenüber den inneren Regungen ist eher eine sanfte, ermutigende. Jedoch ist diese, gleichsam als ob dem nicht vollständig getraut wird, flankiert von einer konsequenten Prüfung des Übungsweges (u.a. über Tagebuchaufzeichnungen).36 Insbesondere Kienzles Techniken schwanken extrem zwischen innerer Versenkung und einem kritischen Blick auf sich selbst. Es gilt für die indirekte Selbstführung das Modell des Lebenskampfes und das der inneren Feinde nur eingeschränkt, aber auch sie können sich nur teilweise vom hegemonialen Diskurs der Willensschulen lösen. Dennoch: Sie bleiben die einzigen, die im Diskurskomplex der frühen Selbstführung auch und gerade das Innerste und das Unkontrollierbare als Quelle des Glücks, Erfolgs und der Selbstwerdung erfassen. Sie sind daher einer der wenigen Orte in der frühen Ratgeberliteratur, wo sich die Hoffnung auf eine den Kampf ablösende, umfassende Harmonie finden lässt – allerdings nur am Horizont.37

4.4 ZUSAMMENFASSUNG Selbsterziehung, Selbstrationalisierung oder indirekte Selbstführung – sie begründen jeweils für sich genommen ein Feld von dicht aufeinander bezogenen Texten, mit hoher gegenseitiger Kenntnisnahme, aber ohne einen durchschlagenden Erfolg gegenüber den Willensschulen. So sehr sie ihre Selbstführungsformen auf einer Kritik der Willensschulen abstützen, es gelingt ihnen nur unvollkommen, sich den hegemonialen Setzungen des Willensdiskurses zu entziehen. Ihre Problematisierung einer Krise des Subjektes bewegt sich in den Fahrwassern kulturkonservativer Modernekritik (und damit analog zu den Willensschulen), aber ohne, dass sie mit denselben griffigen, unmittelbar Wirksamkeit beanspruchenden Techniken aufwarten können. Ihnen fehlt es am Duktus der kämpferischen Selbstwirksamkeit, der scheinbar grenzenlosen Selbsterhöhung und der energetischen Autarkie der Willensschulen. Die Selbsterziehungsratgeber kaprizieren sich vor allem auf die Herstellung eines moralischen Subjekts, das sich innerweltlich auf Motivfindung und Sinnstiftung konzentriert und nach außen zurücknehmend auftritt. Die indirekte Selbstführung hingegen bleibt zwischen gelassener Innenschau und einem feindlichen Introspektionsmodus hin- und hergerissen. Einzig die Selbstrationalisierer markieren mit ihrem kaufmännischen Liberalismus gegenüber den inneren Regungen und der Konzeption einer verhandlungsbasierten sozialen Sphäre einen stabilen Kontrapunkt gegenüber den Willensschulen. Dennoch bleiben sie in der frühen Lebensratgeberepoche eine Minderheitenstimme.

und Techniken zur Körperhaltung und -sprache. Auch Geduldsaufgaben (z.B. lange Additionsaufgaben), die zu den monotonsten und mühsamsten Übungen der Willensschulungen gehören, finden hier Anklang. Vgl. Zeddies (1937), 258ff. 36 Vgl. Zeddies (1936), 28ff, findet sich nicht bei vom Bühl (1928). 37 Vgl. Zeddies (1936), 27; vgl. Kienzle (1934), 7.

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Teleologie des Subjektes

5.1 DIE REALFIKTION DER FRÜHEN LEBENSRATGEBER: DAS VERPANZERTE HERRSCHERSUBJEKT Die Lebensratgeber des frühen 20. Jahrhunderts geben sich ausgesprochen auskunftsfreudig und bildgewaltig in der Evokation eines idealen Subjektes. Keine nachfolgende Epoche wird sich zu einer ähnlich dicht beschriebenen und breit geteilten Teleologie bereitfinden. Nie mehr wird es so viele übereinstimmende Deskriptionen geben, die sich bis hin zu bestimmten Ausdrücken ähneln. „Vollmenschentum“, „charakterfest“, „Hammernatur“, „Einheitlichkeit“ und „Harmonie“ sind narrative Verdichtungen des frühen Lebensratgeberdiskurses, die auf die affektive und assoziative Aufladung des teleologischen Subjektes hindeuten und der Selbstführung eine Aura des Dramatischen, Heldenhaften, Zwingenden, aber auch tendenziell des Gewalt- und Gefahrvollen verleihen. Es vermengt sich eine Spur prahlerisch-hochtrabender Versprechungen von persönlicher Größe und Ansehen mit einer Verachtung des Schwachen und einem fast defätistischen Gewahr-Seins eines möglichen absoluten eigenen Scheiterns. Die Narrationen durchzieht eine Romantik der Härte. Alles am Selbst ist für die Zeitgenossen dieser Tage auf die Probe gestellt und läuft auf einen finalen Wendepunkt zu, der ganze Gesellschaften und Kulturkreise erfasst und ins Unglück stürzen oder aber zu einer schwärmerisch und heil gemalten neuen Wirklichkeit hinführen kann. Weltenwende und Selbstwerdung sind aufs Engste miteinander verflochten. Der Alltag wird zu einer Schlacht an der Front der Veränderung. Er ist alles andere als banal und unscheinbar, er ist mit einer gewissen höheren Weihe, einer weltlichen Feierlichkeit ausgestattet. Den „Mittenblick“ zu üben und Zahlenreihen zu lernen erscheint daher nicht als Gängelung und Zuchtobsession, als kleinliche Schikane, sondern als ein Drill des Neuen, als das Exerzitium einer neuen Zeit: „Wir sind überzeugt, dass, wenn diese Grundgedanken, die Jedem nutzen können, erst einmal in die Herzen der Massen gedrungen sind, die Welt sich von Grund auf verändern wird! Das ganze Leben wird einen neuen sieghaften Rhythmus erhalten und die Arbeit einen neuen Sinn, unser ganzes Streben einen neuen Inhalt!“1

Subjektwerdung und -sein ist in der Teleologie der frühen Lebensratgeber ein Absolutheit beanspruchendes Herrschaftsverhältnis – es ist Niederwerfung und planmäßige Kultivierung des Selbst. Es ist Flurbegradigung des Selbst, um auf den Feldern 1

Vom Bühl (1928), 54.

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seines neuen Daseins gesunde und produktive Gewohnheiten, Schöpferkraft und Kraft umso ersprießlicher wachsen zu lassen. Kennzeichen einer nach innen, auf das Selbstverhältnis gerichteten Herrschaft sind vor allem Folgendes: Widerspruchsfreiheit von Gefühlen und Gedanken, Einheitlichkeit in den Entschlüssen und Handlungen und eine als harmonisch empfundene Ausgewogenheit zwischen Kopf und Hand, zwischen Körper und Geist. Charakterfest zu werden, sich sein sogenanntes Vollmenschentum zu erarbeiten, bedeutet die Unterdrückung und das Zurückdrängen einer inneren Vielstimmigkeit. „Herr [werden] im Hause Ich“ 2 ist idealtypisch gefasst eine totale Verfügungsmacht über Zeitpunkt, Art des Ausdrucks und Ziel von eigentlich Unverfügbarem: Gefühlen, Gedanken, Vorstellungen u.v.m. Es bedeutet, die Ambivalenzen, die eine als unnatürlich interpretierte Moderne in diese „niederen Instinkte“ hineingetragen bzw. zum Wuchern gebracht haben soll, einzuebnen. Ein schwebender und mehrdeutiger, öfter auch ein rastloser und sinnenbetonter Zustand soll in eine eindeutige, formfeste Gestalt gebracht werden. Zögern und Zaudern, Gebrechlichkeit und Beschädigt-Sein, Bequemlichkeit und Leidenschaft, die als schwere Hypothek auf die Willensfreiheit und Selbstbeherrschung erlebt werden, sollen unterdrückt und ausgesondert werden und einem Zustand durchstrahlter Klarheit, Ordnung und natürlich anmutender Wohlgeformtheit weichen. Sprachlich und teleologisch betreiben die Lebensratgeber dieser Zeit eine Ästhetisierung des Apodiktischen. Das ideale Subjekt verfügt dann über sich wie ein Offizier über seine Untergebenen – es dirigiert und befehligt, es bringt Einheiten in Bewegung oder lässt sie in neuer Formation erstarren. Es hat sich eine Kommandostruktur gegeben, die als „befehlsartige Verkettung von Wollen und Tun“ funktioniert.3 „Der weniger disziplinierte Teil des Menschen muss sich gewöhnen, dem kategorischen Imperativ des besseren ohne Murren zu gehorchen. Wenn er das mit soldatischer Auffassung kann, dann ist der Mensch auf dem rechten Wege.“4 Ein „Charakter aus einem Gusse“5 zu werden, impliziert zweierlei. Zum einen, dass man besagte Schwächen in sich niedergerungen hat, zum anderen will diese Subjektteleologie eine planhafte Kultivierung „unseres Eigenwesens gegenüber allen Störungen der Außenwelt, ein volles Sich Ausleben auf Grund unserer eigensten Wesenheit, – ein naturgemäßes Entfalten und Sich Betätigen aller Anlagen und Neigungen, die vor unserer Vernunft bestehen – sich selbst treu bleiben können in jeder Lage des Lebens“.6 Kennzeichen einer souveränen Herrschaft des Selbst über sich selbst ist die Doppelfigur von Verpanzerung und Abwehr gegenüber ungeprüften Fremdeinflüssen und zugleich Dominanz und Macht über andere.7 Das Herrschersubjekt beugt sich die Willen anderer, da es energisch und gebieterisch auftritt und sich gleichzeitig den Eindruck einer nach außen und inneren wirkenden Ordnungsmacht erhält. Ihn überwinden weder Verzagtheit und Wankelmut noch Schmeicheleien und Drohgebärden anderer und dies in absoluter Konsequenz. „Ein vollständiger Mann ist stets derselbe, 2 3 4 5 6 7

Kruse (1921), 8. Ebda., 32. Jacoby (1925), V. Brief, 24. Klein (1924), 92. Ders. (1921), 5. Vgl. u.a. Kruse (1921) 8; vgl. Jacoby (1925), II. Brief, 19; vgl. Helmel (1938), 20; vgl. Hugin (1925), 78.

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in allen seinen Vollkommenheiten, und erhält sich dadurch den Ruf der Gescheutheit.“8

5.2 VERSPRECHUNGEN Aus heutiger Sicht ist „Glück“ wohl die erste und nächstliegende Versprechung, die mit Lebensratgeberbüchern verbunden wird. Umso erstaunlicher ist es, dass Glück für die frühen Lebensratgeber nur eine untergeordnete, fast nebensächliche Stellung hat. Warum aber sollen die Subjekte den mühevollen, langwierigen und schwierigen Übungsweg auf sich nehmen? Was wird ihnen versprochen, zugesichert, nahegelegt? Die Antwort ist erstaunlich komplex und sie betrifft alle von uns untersuchten Lebensratgebertypen, besonders aber natürlich die Willensschulen. Einerseits wird denjenigen, die sich selbst meistern, ein relatives Entkommen aus den Problematisierungen und eine Überwindung der Bedrohungsszenarien im individuellen Maßstab als Resultat erfolgreicher Arbeit an sich in Aussicht gestellt. Die Versprechungen lassen sich nicht streng von der Teleologie des Subjektes trennen, also den Vorstellungen davon, wie das Selbstverhältnis des Idealsubjektes beschaffen ist. Denn die Versprechungen umfassen eben nicht nur die materiellen und sozialen Vorteile, die der entfalteten Persönlichkeit zuteilwerden, sondern das Selbstverhältnis selbst erscheint als etwas Wünschens- und Lohnenswertes. Ein besonderes Charakteristikum der frühen Lebensratgeberliteratur hinsichtlich dieser Frage ist es aber, dass genau in diesem Punkt den Übenden keine direkte, zwangsläufige, unmittelbare Finalität in der Selbsttransformation in Aussicht gestellt wird. Vielmehr liegt in der gelungenen Selbstwerdung ein theatralisches Moment, ein unabschließbares Moment der Verwandlung: die Umkehrung der Verhältnisse, die Überbrückung des Antagonistischen und die Versöhnung des Widersprüchlichen. Gleichwohl (oder deswegen) bleibt den Versprechungen der Moment des Versetzten, Verformten, Ungelösten, wie beim Blick auf ein Escher-Bild. Die Teleologie zielt auf ein Subjekt, das Entgegengesetztes vereinen soll. Entsprechend haben die Versprechungen entgegengesetzte Pole, die aber nicht ausgeglichen werden oder konvergieren, sondern entgegengesetzt respektive versetzt stehen bleiben und gerade darin aufeinander verweisen. Drei solcher zentralen Bezüge lassen sich in den Versprechungen ausmachen. Einzelne Ratgeber mögen mehr dem einen oder mehr dem anderen Ende des Spannungsverhältnisses zuneigen, in keinem fällt jedoch ein Pol völlig weg. Fast durchgängig über die Differenzen der verschiedenen Lebensratgebertypen hinweg (wenngleich mit kleineren spezifischen Akzentuierungen) versprechen die Texte sowohl eine Rückkehr zur Natur, zu einer natürlicheren Lebensweise – und gleichzeitig den Status einer Ausnahmepersönlichkeit für die ehrgeizig Übenden; sie preisen den sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg an – für alle, die sich völlig von materiellen und sozialen Dingen unabhängig machen; sie locken mit der Bewältigung des Daseinskampfes – genauso wie mit völliger Innerlichkeit und Harmonie mit sich; sie werben allerorts mit enormen Kraftsteigerungen – für diejenigen, die sich in Selbstgewissheit und Pflichterfüllung genügen. So ergibt sich ein paradoxes Gesamtbild, das einerseits von einer ten8

Gebhardt (1922), 272.

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denziellen Ungewissheit und Abstraktheit in den Subjektteleologien geprägt ist und gleichzeitig von einer ans Fantastische grenzenden Ausdehnung des Möglichen. 5.2.1 Die Rückkehr zur Natur und die Erzeugung einer Ausnahmepersönlichkeit Die unnatürliche Lebensweise des modernen Menschen, die Klage über die Großstädte und die seelische wie leibliche Erkrankung der Menschen – so zeigten sich die uniformen und geläufigsten Problematisierungen. Die Versprechungen verhalten sich jedoch nicht wirklich symmetrisch zu ihnen. Keine gesellschaftliche Rückkehr zum Agrarstaat steht zur Debatte, höchstens eine individuelle, dazu meist zeitlich begrenzte Flucht in Wald und Wiesen, auf Berge oder an die See. Einzig Müller-Guttenbrunn buchstabiert aus, was vollständige Weltabkehr im Einzelnen heißen kann, und thematisiert Aspekte wie Subsistenz. Umso mehr wird auf eine emotionale Bindung an Grund und Boden und eine innerliche Wiedervereinigung von Mensch und Natur abgezielt, gerne kombiniert mit Spaziergängen, Genuss der Landschaften in der Freizeit und Sensibilisierung für natürliche Rhythmen wie Tages- oder Jahreszeiten sowie Wertschätzung für die Früchte des Feldes (und der Weinberge). 9 Im Kern wird diese Natürlichkeit und Urwüchsigkeit als ein Körper und Geist durchwirkender Zustand erfasst. Er lässt sich nicht an äußeren Dingen festmachen. Er verweist gerade in der Evokation seiner physischen Greifbarkeit wie zeitlosen Präsenz auf seine letztendlich metaphysische Verwurzelung. Die Natürlichkeit lässt sich nicht einfach an diesem und jenem festmachen, sie muss vor allem gefühlt, erfahren, vorsprachlich erfasst werden. Gerade dadurch wird aber die Natur das Gegenteil von Flora und Fauna, nämlich eine intuitiv erfasste abstrakte Absolutheit. Natürlichkeit wird zu einem mehr inneren Verhältnis, welches das Subjekt zu den ihm als gegeben unterstellten, vermeintlich ursprünglichen Willenskräften herstellt. Entsprechend opak wie vollmundig sind auch die Versprechungen einer umfassenden Heilung durch die Wiedererlangung eines ursprünglichen Verhältnisses zur Natur. Sie drückt sich nicht nur in körperlicher Gesundheit, sondern in einer Vitalität, die die ganze Person durchdringt, nicht nur in der Heilung von den Leiden und Wehwehchen der Moderne, sondern auch in einer Reinigung von allen ihren falschen Gedanken und Denkweisen aus. Dies ermöglicht den in und durch Natur Wiedergeborenen umgekehrt, an dem Platz in der Gesellschaft und in den ökonomischen Abläufen zu bleiben oder sich sogar umso mehr in sie hineinzustürzen. Wer aus sich heraus natürlich lebt, braucht keine radikale Rückkehr zur Natur in seiner Lebensweise (Spaziergänge, Morgengymnastik, kaltes Duschen und Wanderurlaube sind dennoch wichtige Kraftquellen), sondern ist kompatibel mit, ja sogar bestens gerüstet für die Herausforderungen der Industriegesellschaft. Es ist eine grundlegende, paradoxe Versprechung der Lebensratgeber seit ihrer Geburtsstunde bis heute: Alle können etwas ganz Besonderes werden und Großartiges vollbringen, wenn sie nur den gebotenen Instruktionen folgen. Mit Lindworskys 9

Diese Hinwendung zur Natur ist häufig kombiniert mit einer Rhetorik von Blut und Boden. Die Aufforderungen, lokal produzierte Produkte zu essen, hat also nicht nur ökologische und diätetische Gründe, sondern verdankt sich auch einem Pathos des Nationalen und einer Angst vor Überfremdung.

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Worten: „[J]eder [kann] ein Willensheld werden.“10 Prinzipiell können alle Menschen Ausnahmepersönlichkeiten werden, de facto benötigen sie aber eine Masse, aus der sie hervorstechen können. Das Spezifische dieses Verhältnisses besteht in der frühen Lebensratgeberliteratur darin, dass diese in den gesellschaftlichen prävalenten Dominanzverhältnissen etwas Natürliches und unter bestimmten Vorzeichen auch Wünschenswertes sehen und davon ausgehen, dass die Gesellschaft insgesamt von einem Wetteifern der Lebenstauglichsten profitiert – und insofern auch alle davon einen Nutzen haben (z.B. durch wirtschaftlichen Aufschwung oder technische Erfindungen). Die Schulung seiner Selbst unter den Bedingungen einer als Daseinskampf wahrgenommenen Durchsetzung individueller Interessen produziert notwendig eine Selektion nach Starken und Schwachen und unterläuft damit gewissermaßen die universellen Versprechungen der Lebensratgeberliteratur. In diesem Sinne ist es weder denkbar noch wünschenswert, dass jeder ein Held wird. Allein Gerling hat diese Konsequenz einer zumindest teilweise biologisch verstandenen gesellschaftlichen Ordnung benannt: „Ihnen wie jenen [Dyspeptiker und Neuropathen], die sich in ihrer Trägheit wohl befinden, da sie das Glück zu handeln niemals kennengelernt haben, wollen wir nicht zu Hilfe kommen. Man würde unrecht tun, sie ihrer Apathie zu entreißen, denn wenn alle Menschen im gleichen Maße energisch wären, würden die sozialen Gegensätze sich auf unerhörte Weise verschärfen. Außerdem glauben Sie mir, gibt es für solche Seelen keine Heilung, da es für sie keine Reue gibt.“11

5.2.2 Wirtschaftlich-sozialer Aufstieg und Unabhängigkeit Auch wenn die Texte betonen, dass wirtschaftlicher Erfolg und soziales Ansehen nur Nebenprodukte der Persönlichkeitsentwicklung sind, rekurrieren sie auf diese greifbaren Qualitäten gelungener Selbstführung nicht nur regelmäßig, sondern auch in recht anschaulicher Weise. In diesem Sinne verspricht Klein: „Vermehrte geistige und körperliche Kraft, die Freuden der Selbstvervollkommnung und Selbstbeherrschung, bessere wirtschaftliche Verhältnisse, gehobene soziale Stellung, auch Erringung von ,Glückʻ blühen dem Arbeitsamen am ersten.“12

Einige Autoren wie Steinhagen13 oder Jacoby14 betonen mehr den sozialen Aspekt – das Ansehen einer charismatischen Persönlichkeit, die Beliebtheit eines in sich ruhenden Charakters und dessen Fähigkeit, andere zu beeinflussen –, andere, wie Grossmann15 und vom Bühl,16 eher die materielle Komponente. Dabei sind für beide, 10 Lindworsky (1953), 191. 11 Gerling (1918), 72. 12 Klein (1924), 84. Maximilian Klein ist einer der wenigen Autoren, die dem Glücksbegriff einige Bedeutung zumessen. 13 Vgl. Steinhagen (1918), 7. 14 Vgl. Jacoby (1925), II.Brief, 27f. 15 Vgl. Grossmann (1933), 18, 24, 215. 16 Vgl. vom Bühl (1928), 26.

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wenn auch auf verschiedene Weise, Armut und Mangel sowieso nur die Folgen falschen Denkens. Bei Grossmann sind sie ein Defizit an Planung, Unternehmer/innengeist und rationalisierter Tätigkeit, bei vom Bühl ist es die schädliche Energie des falschen Denkens selbst sowie die Armut an konstruktiver Vorstellungskraft, die Menschen in materiellen Notlagen gefangen halten. Hier zeigen sich zwei grundlegende Merkmale der Lebensratgeber in ihrer Verbundenheit. Einerseits wird gesellschaftlicher Erfolg den Leser/innen plastisch als etwas Erstrebenswertes vor Augen geführt, hier häufig durch das Anführen und Heroisieren von Unternehmern wie Krupp oder Rockefeller, andererseits wird dieser Erfolg als etwas ganz Natürliches und Notwendiges, ja geradezu als Nebenprodukt disziplinierter Selbstführung beschrieben. Gesellschaftlicher Aufstieg, Wohlstand, Status und die Fähigkeit, andere zu beeindrucken, zu beeinflussen und indirekt oder auch direkt zu führen, sind nicht dem Zufall zu verdanken, sondern der konsequenten und systematischen Arbeit an sich. Sie sind somit für alle erreichbar, sie sind die Früchte der Arbeit an sich. Allerdings verdient diese Gaben paradoxerweise nur derjenige, der in seiner Selbstführung auf weitaus Höheres abzielt (und diesem fallen sie auch am Zuverlässigsten zu). Denn die Selbstführung ist autark und sie macht die Subjekte zu autarken Persönlichkeiten. Die Unabhängigkeit von außen, die nicht nur gesellschaftlich, sondern auch physisch und psychisch zu verstehen ist, muss mühsam errungen werden, ist aber der Selbstführung höchstes Gut. Sie betrifft bei Faßbender alle Arten von äußeren Reizen,17 von den unmittelbar leiblichen bis zur modernen Lebensweise. Helmel betont stellvertretend die Unabhängigkeit von Schmerz, Leiden, Kälte, Hitze, Ungeduld,18 Gerling u.a. diejenige von materiellen Gütern,19 Esdorp misst der Gleichgültigkeit gegenüber Lob und Tadel große Bedeutung bei.20 Müller-Guttenbrunn geht noch einen Schritt weiter: „Der Körper wird frei durch die Verringerung der Bedürfnisse, der Geist wird frei durch die Überwindung der Vorurteile, das Leben wird frei durch Befreiung des Körpers und die Befreiung des Geistes.“ 21 Auch das Innere, Geistige, Seelische wird selbstbestimmt, der Kern der Persönlichkeit ist frei von den vielfältigen Feinden und befriedet ein Gebiet des Psychischen nach dem anderen. Was für eine Versprechung angesichts der vielfältigen Bedrohungsszenarien, nicht nur des äußeren, unerbittlich tobenden Daseinskampfes, sondern auch und noch mehr angesichts der Gefahr innerer Feinde, die das Ausgangssubjekt noch mit tiefen Spannungen und desintegrativen Schwelbränden durchziehen! Diese Freiheit ist jedoch keine eskapistische. Gerade wer aufhört, Spielball der Umstände zu sein, kann diese nach seinem Willen formen, sagt Helmel und führt einmal mehr die Metaphorik von Hammer und Amboss an.22 In diesem Sinne qualifiziert die Freiheit von jeder Gefahr der Fremdbestimmung zur Führung schlechthin.23 Wohlstand und Ansehen sind also eigentlich nur der Ausdruck der Selbstheilung und Selbstvervollkommnung, die Blü17 18 19 20 21 22 23

Vgl. Faßbender (1916), 245. Vgl. Helmel (1938), 55, 62, 173. Gerling (1918), 42. Vgl. Esdorp (1934), 180. Müller-Guttenbrunn (1936), 55f. Vgl. Helmel (1938), 20. Vgl. Faßbender (1916), 111.

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te am starken Baum der Selbsterziehung. Sie sind Anzeiger, aber nicht unmittelbar Ziel der vollkommenen Willensschulung. 5.2.3 Daseinsbewältigung und pflichterfüllende Innerlichkeit Die Versprechungen sind nicht nur mit anderen Aspekten der Teleologie verknüpft, sondern auch miteinander. Deshalb tauchte die Versprechung, den Daseinskampf nicht nur zu bestehen, sondern aktiv und siegreich mitzukämpfen, bereits in den anderen Themen auf. Da der Daseinskampf der Fokus der Problematisierungen ist, liegt es nahe, eine Versprechung ex negativo als Meisterung dieser existenziellen Bedrohung zu formulieren. Positiv vollzieht sich diese in Form einer gewaltigen Kraftsteigerung, die gar nicht überschätzt werden kann. „Sie haben Ihr Selbst wahrhaft zu eigen bekommen; Sie fühlen in sich ungeahnte Kräfte; Sie stehen in freudiger Arbeit einem hohen Ziel zugewendet; Sie sind lebenssicher; Sie fühlen, dass ihre Worte und Entschlüsse Schwergewicht gewonnen haben; Sie wissen sich als einen der mitzählt, wo immer er nur will.“24 Die Willensschulen sind sich darin einig, dass der Willensheld im Grunde alles erreichen kann, was er will. 25 Gebhardt erwartet nicht weniger als das Heranzüchten jeder physiologischen Funktion bis zur Virtuosität. 26 Gerling verspricht unentwegte, erschöpfungsfreie Arbeit, dabei sei „eine aufsteigende Entwicklung bis zum Lebensende möglich“.27 Dabei gibt es keine endgültige Beherrschung der natürlich-gesellschaftlichen Kampfsituation und auch kein Entfliehen. Niemanden kann ein Erfolg sicher in Aussicht gestellt werden. Doch selbst ein möglicher Untergang ist noch getragen vom Pathos des Heldischen: „Für eine Persönlichkeit bedeutet aber der Entschluß zu einem Ziel, entweder dieses Ziel zu verwirklichen, oder beim Kampf um die Verwirklichung zugrunde zu gehen.“28 Allerdings verspricht Klein eine heitere Grundstimmung, die teils Ergebnis, teils Mittel zur Versöhnung mit der „Düsternis des Daseinskampfes“ ist.29 Bemerkenswerter ist, dass die Willenshelden nicht nur auf Unabhängigkeit und einen bereicherndem Weltbezug abheben, sondern auch einer so genügsamen wie erfüllenden Form der Innerlichkeit anhängen. Weit davon entfernt, dass sie ihr Glück an vornehmlich äußeren Vorhaben oder gar an der Dominanz über andere hängen, leben sie aus den Freuden der Kraftanstrengung und des Tätig-seins selbst. Dieses aktivische Selbstverhältnis nimmt bei den meisten Lebensratgebern der Zeit die Form einer erschöpfungsfreien, rationellen, unentwegten Arbeitsorientierung an. Diese ist eine allgemeine Forderung an die Zeit („die Kinder zu Arbeitsmenschen erziehen“),30 ihre Einlösung ist Resultat einer Form höherer Welt- und Selbsthaltung. Das Obligatorisch-Werden einer tätigen Grundorientierung ist der höchste Zustand einer Selbstführung, der Gipfelpunkt moralischer Selbsterhöhung und kraftmeiernder Autarkie. In der Ausbildung einer solchen selbstläufigen, freiwillig sich in Mühen hineinfü24 25 26 27 28 29 30

Kruse (1921), 153. Vgl. Keulers (1941), 62; Kruse (1921), 8; Lindworsky (1953), 94; Bruch (1919), 8. Vgl. Gebhardt (1922), 169. Gerling (1918), 58. Grossmann (1933), 215. Klein (1924), 14. Ebda., 82.

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genden Betriebsamkeit findet die Subjektteleologie ihren zentralen Fixpunkt. Dass Versprechen auf ewige Arbeit und dauerhaften Kampf ist das steinige, spitzkantige Ruhebett für die Subjekte dieser Zeit: „Fassen wir das Leben ernst auf, bedenken wir, dass das Glück des Lebens nicht in ‚erfüllten Wünschenʻ, sondern in ‚erfüllten Pflichtenʻ besteht.“31 Der autarke Willensmensch kann aus der „eigenen Tiefe leben“, so dass „nichts ihn mehr bedrohen [kann]“:32 Diese innere Tiefe, Widerspruchslosigkeit und Harmonie wird hauptsächlich ex negativo gefasst: als das Ende der inneren Zerrissenheit, als Sieg über die Bedrohung von innen und damit auch als Entschärfung sozialen Sprengstoffes. Am Ende der disziplinierenden Schulung, der Härte gegenüber sich und der Durchsetzung im täglichen Leben steht also ein Zustand tieferer innerer Harmonie, in der Regel ist das Subjekt darin allein, wenn auch sich selbst genug.

31 Gerling (1918), 67. 32 Kienzle (1934), 6.

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Analytische Zusammenschau Innere Dynamik und Machtaspekte der ersten Epoche der Selbstführung

6.1 WIDERSPRÜCHE UND OSZILLATIONSFIGUREN Jede Epoche der Lebensratgeber entwirft eine für die Zeit spezifische Architektur oder wie wir sagen, ein Regime der Selbstführung, bestehend aus strategischen, technischen und diskursiven Elementen. Wir haben diese auf den letzten Seiten als expansiv, disziplinär und bedrohlich gekennzeichnet, ihre Teleologie als verpanzert und kämpferisch. So geschlossen und einheitlich sich jede Epoche (und jeder Lebensratgeber) eine ganz bestimmte Form der Selbstführung zu geben gewillt ist – und die frühen Lebensratgeber haben dies im besonderen Maße getan, weil alles andere ihre eigenen Prämissen der Subjektteleologie unterlaufen würde –, so sehr ist sie ein spannungsvolles Gebilde, das von zahlreichen Widersprüchen, Unschärfen und Wechselfiguren durchzogen die typisch für ihre Epoche sind. Diese betreffen nicht nur Nebenaspekte oder einzelne Fragen, sondern das grundlegende Arrangement von Techniken und die strategische Ausrichtung der Texte. Wir haben bereits einige von ihnen anklingen lassen, so zum Beispiel die paradoxe Konstruktion der Entschlusskrafttechniken in den Willensschulen. Im folgenden Abschnitt geht es uns darum, einen Überblick über die grundlegend widersprüchlichen, ambigen Bewegungen der Schulungstexte zu geben, die notwendigerweise jeden Übenden mit zahlreichen impliziten Problematiken bzw. Hindernissen konfrontieren und so den Schulungsweg unwegsam und fragil machen. 6.1.1 Selbstführung zwischen Daseinsschuld und Daseinskampf Sich selbst zu führen, heißt in der ersten Epoche der Lebensratgeber, einer allgemeinmenschlichen Pflicht nachzukommen und sein Leben den unausweichlichen Erwägungen disziplinärer Steuerung zu unterwerfen. Wer dies nicht tut, ist dieser Pflicht nicht enthoben, sondern ihrer bloß nicht gewahr und trägt damit, so die Autoren dieser Zeit, meist schwer an den Folgen seiner Uneinsichtigkeit – mal in Form nervlicher Überreizung, mal als körperliche Schwäche, immer aber als Nachteil und Unangepasstheit im Kampf ums Dasein. Sicherlich empfiehlt sich den Übenden vor jeder Teilnahme an einem Schulungsprogramm die innere Einkehr, oft in einer temporären monastisch-einsiedelnden Variante mit Rechenschaftszwang und Gewissensschau,

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aber denkbar ist es nicht, dass er etwas anderes in diesem verordneten Innenraum findet als das zudringliche Echo der Zeit – Leben ist Pflichterfüllung, es ist Dienst an dir selbst! Entscheiden heißt hier also bloß Einsicht in die Notwendigkeit, dass leistungsfähiges, gesundes und sittlich hochstehendes Subjekt-Sein nur um den Preis eines Eingeständnisses zu haben ist: Der Mensch steht in einem Schuldverhältnis zu seinem Leben. Niemand hat diese konstitutionelle Zwiespältigkeit des Menschen seinen Leser/innen klarer vor Augen gestellt als Heinrich Helmel. Bei ihm geriert sich das Leben als eigenständiges und -williges Subjekt, das seinen „Inhaber“ zur radikalen Natürlichkeit auffordert. Andernfalls revoltiert es in Form von Krankheit und Schwäche gegen seine pflichtvergessene Vernachlässigung. 1 Drastischer noch, es bestraft seinen Besitzer für den Missbrauch einer Sache, die ihm nicht frei zur Verfügung steht. Das Leben gehört nur insofern seinem Besitzer, als er sich zum Diener seines eigentlichen Zweckes macht. Andernfalls gerät es aus den Fugen, ja es gehen sogar kritische Effekte von ihm aus. Wir finden das Motiv eines zum Akteur heraufgestuften Lebens, das als urteilende und strafende Instanz seinem Träger zum Teil klar benennbare körperliche Strafen auferlegt, auch bei anderen Autoren. Grossmann warnt seine Leser/innen im Tonfall testamentarischer Offenbarungen: „Wer aber seine Ziele nicht daraufhin beurteilt, ob sie dem biologischen Lebenszweck dienen oder nicht, der läuft Gefahr, dass sich selbst seine vorübergehenden Erfolge katastrophal für ihn auswirken.“ Solcherart unbedarften Menschen müsse klar sein, „dass diese Sünde heimgesucht wird und mitunter sogar an seinen Kindern bis ins dritte und vierte Glied“.2 Der eigene Körper wird zum Ort der Bestrafung, an ihm exekutiert das Leben seine Souveränität über das Einzelindividuum mit seinen egoistischen Absichten, an ihm wird die Strafe für den Abfall vom Lebenszwecke organische Realität. Strafe findet nicht nur der fehlende oder der falsche Gebrauch seines Körpers, seiner schlummernden Fähigkeiten, sondern auch die Übersteigerung der eigenen Bedeutsamkeit in Form eines bloß selbstischen Interesses: „Wir können nicht ohne Nachteil für unsere Selbsterhaltung irgendein Organ beschädigen oder zerstören oder um seine natürliche Funktion bringen. Wir können nicht ohne Nachteil Fähigkeiten unentwickelt lassen. Und so wie wir unsere Organe nicht beeinträchtigen dürfen und deren Funktionen, so dürfen wir auch unsere Mitmenschen und deren Funktionen nicht beeinträchtigen. Weil diese Einsicht fehlt, daher die heute übliche egozentrische Einstellung, daher die differenzierte Einstellung zum Nächsten, daher die Impotenz. Jeder Egoist ist impotent, im schöpferischen wie im leiblichen.“3

Dem Leben wohnen so nicht nur Gesetzmäßigkeiten inne, die Beachtung finden müssen, es ist auch ein Ort der Gerechtigkeit. Niemand kann sich dem entziehen, selbst diejenigen, die sich nach den Gesetzen der Welt erfolgreich dünken, müssen 1

2 3

„Und dieses ‚Esʻ, dieses Leben, unser eigenstes Leben rührt sich dann und wann, wenn es gar zu bunt wird mit der Tünche, wenn Schein und Flitter gar zu dicht aufgetragen werden, wenn das Leben geradezu zur Fratze gestempelt werden sollte. Dann rumort es, rührt und regt sich, zwickt und sticht es in und an uns, und ein: ‚bis hierhin und nicht weiterʻ klingt uns entgegen“. Helmel (1938), 59. Grossmann (1933), 76. Ebda., 283.

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den Preis dafür entrichten, gegen die Gesetze des Lebens gehandelt oder sich ihrem Ruf verschlossen zu haben. Reich und wohlhabend wird vielleicht der, der seine Belange zum eigenen Vorteile gegenüber anderen rücksichtslos durchgesetzt hat, doch wird er krank werden an Körper und Geist. Seltsamerweise wird damit das Leben zu etwas, das sich dem Einzelnen entzieht, weil es über die Interessen des Einzelnen hinausgeht und von einem Standpunkt aus über ihn richtet, der nicht beeinflusst werden kann, weil er als biologisches, gattungsmäßiges, gelegentlich auch sittliches Gesetz in ihm vorliegt. Das führt zu eigentümlichen Ergebnissen. Wenn die Selbstführung auch mit einer reflexiven Einkehr ihren Anfang nimmt und dem Einzelnen darin gerade eine Erweiterung seiner Spielräume unterstellt wird, endet die Einsicht mit der Erkenntnis, dass die Führung seiner Selbst einer über ihn hinausgehenden Rationalität gehorcht, die ihn wiederum begrenzt. Selbstführung ist in dieser Sicht also die Extrapolation einer bestimmten Zweckmäßigkeit unter den Bedingungen des Daseinskampfes. Es braucht nicht erst Grossmanns apokalyptisches Stimmungsbild von der Sünde, die den Menschen bis ins dritte oder vierte Glied verfolgt, um zu erkennen, dass in der paradoxen Anrufung des Subjektes durch den Diskurs der Selbstführung eine an Loyola erinnernde Sorge um ein Ich liegt, das zunächst nur sich selbst überlassen ist, aber nicht sich selbst überlassen bleiben darf. Allerdings zeigt sich auf den ersten Blick bei der frühen Ratgeberliteratur ein uneinheitliches Bild. Denn abgesehen von der an monastische Traditionen anknüpfenden Selbsterziehungsliteratur, wie sie Schneider, Lindworsky und Faßbender vertreten, wird diese Begrenzung des Anspruchs des Ichs keinesfalls durch die Autorität einer göttlichen Instanz verkörpert. Während bei ihnen die Selbsterziehung immer wieder mit dem Gottesgedanken verknüpft wird und sie ihre von außen kommende objektive Begrenzung erhält, 4 liegt die Sachlage bei den anderen Selbstführungsdiskursen schwieriger. Bei ihnen fehlt der klare Verweis auf eine übergreifende Ordnung, gleichwohl, wie bei Grossmann, bestimmte christliche Motive auf eine mehr oder weniger implizite Weise wiederzufinden sind. Auch ihnen ist die Angst vor einem freigesetzten, nur allein sich selbst verantwortlichen Subjekt inhärent, das allein seinen egoistischen und materiellen Interessen nachgeht. So verlangt beispielsweise Helmel von seinen Leser/innen, dass sie zu sich selbst nicht mehr in der ersten Person sprechen, sondern in der „DuAnsprache“. „Das ‚Ichʻ ist eingegrenzt, das ‚Duʻ greift weiter, ist tiefer, umfassender und positiver. Es ist auch etwas anderes, wenn ich mir befehle: ‚Du hast so zu seinʻ als ‚Ich bin soʻ, wenn ich es gar nicht bin. […] Wie im ‚Duʻ die Weite liegt, ist im ‚Ichʻ die Enge, der Egoismus, Härte, Absonderung, Vereinzelung – jeder ‚Ichʻ-Mensch möchte am liebsten nur sich anerkennen, die Gemeinschaft ist ihm fremd.“5

Helmels Sentenz: „[D]as ‚Ichʻ muss sterben, damit das ‚Duʻ lebe“6 sowie Zeddies Ausspruch: „[W]er sein Ich verliert, wird es wiederfinden – nämlich im höherer Sin4 5 6

„Nimm hin, o Herr, und empfange alle meine Freiheit, mein Gedächtnis, meinen Verstand und all meinen Willen, alles was ich habe und besitze“. Lindworsky (1953), 182. Helmel (1938), 146f. Ebda., 147.

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ne: als Selbst“7 lassen ihre missbilligenden Haltung gegenüber dem Ich in eine nahezu ähnlich lautende Forderung nach einer Subjektform münden, die Eingang gefunden hat in einen höheren, kollektiven Lebenszweck. Bei Gerling nimmt das unmittelbare Verwiesen-Sein des Einzelwesens auf eine kollektive Ordnung, anders als bei Zeddies, der einem Ideal der Weltverschmelzung anhängt, deutlich völkische Züge an. Die das Weltgeschehen antreibende Ausnahmepersönlichkeit, zu deren Fürsprecher er sich gemacht hat, ist nun plötzlich weit davon entfernt, allein ausgehend von ihrem genialischen Wesen bereits das Beste für andere zu bewirken: „Arbeit an uns selbst im Interesse des allgemeinen Fortschritts ist unsere Pflicht, sie steht am höchsten. Ihr haben wir all unsere Wünsche und Neigungen unterzuordnen.“ 8 Jeder Mensch ist nur unentbehrlich, „solange er den Zwecken der Volksgemeinschaft dient“, denn „ich bin Mensch, bin eine Zelle im Volksorganismus, also ist alles auch meine Angelegenheit, was das Volk oder seine Glieder betrifft“.9 Das Gebot der (Volks-)Gemeinschaft ist somit keine dem Subjekt äußerliche Begrenzung individuellen Wollens, sondern soll ihm bereits in der Art seines Selbstverhältnisses (Du, Selbst) eingeschrieben sein. Gelungenes Subjekt ist derjenige, der sich letztendlich in eine höhere, ihn übersteigende bzw. umfassende Ordnung einfügt und zwar auf der Basis des eigenen Wollens. Geltung darf nur das in ihm erlangen, was sich (auch) als allgemeines Interesse ausweisen kann. Das Subjekt verhält sich infolge dieser paradoxen Anrufung der Lebensratgeber zu sich selbst wie ein doppelt gespaltener Akteur. Er ist nicht nur Opfer seiner Willensschwäche und zugleich Hervorbringer seines besseren Ich, sondern auch Anwalt seiner selbst und vertritt gleichzeitig die zum Teil gegenläufigen Interessen eines abstrakten Kollektivs. Es würde jedoch einen falschen Eindruck von den frühen Lebensratgebern vermitteln, wollte man die Manöver gegen eine sich selbst überlassene Subjektivität allein dem völkischen Denken zuordnen. Im Grunde verläuft dies wesentlich geräuschloser als bei Helmel, Gerling und anderen. Statt auf die genuinen Interessen der Gemeinschaft hinzuweisen, genügt es, der gesellschaftlichen Ordnung und dem Walten der Individuen darin einen biologischen Antrieb zu unterstellen. Ähnlich wie es der biologische Lebenszweck ist, der zur Selbstführung im eigentlichen Sinne keine Wahl lässt, begrenzt die Natur wiederum die Aufwallung der Ich-Bestrebungen wiederum – und zwar nicht in erster Linie in Form eines normativen Gebotes der Gemeinschaft gegenüber dem Einzelnen, sondern als „inneres Gesetz“ des Selbsterhaltungsstrebens der Menschen. Maximilian Klein trägt als Vertreter sozial-lamarckistischer Positionen Folgendes zur Notwendigkeit der Anpassung des Einzelnen vor: „Jedenfalls gilt, wenn wir in dieser Umgebung gedeihen wollen, hat unser Ich Anlagen zu entwickeln, die eine Betätigung im Sinne der Umgebung ermöglichen. Solche Anlagen bilden sich auf Grund zahlreicher Übungen, d.h. fortgesetzter Einwirkungen derselben Art auf unseren Organismus unter der Voraussetzung, dass derselbe die Kraft zu solchen Umbildungen besitzt […]. Wir müssen unbedingt im Einklang, in Harmonie mit den Forderungen der ‚Natur‘, mit den Naturgesetzen leben, wenn wir gedeihen wollen. – Die Forderung der Anpassung gilt aber

7 8 9

Zeddies (1937), 47. Gerling (1918), 135. Beide Ebda., 136.

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auch im weiteren Sinne für den Beruf und unsere Unternehmungen. Sie gilt auch für die gesellschaftlichen Verhältnisse.“10

Hier erhalten die Selbsttechniken ihre Berechtigung und Sinn. Sie verhelfen zur Wiedererweckung einer inneren Natur, die aus sich heraus den Übenden zu einer erfolgreichen Anpassung an ihre gesellschaftliche Umgebung verhilft. Denn so abwegig es sich ausnimmt, die Selbstführung durch Willensgymnastik führt – trotz aller Verpanzerungsabsichten – keineswegs auf eine totale innere Opposition des Subjektes gegenüber seiner sozialen und natürlichen Umwelt hin. Vielmehr zielen sie in letzter Konsequenz wiederum auf ein Aufgeben festgesteckter Ich-Grenzen hin, auf eine Harmonisierung mit einer höheren, das kleinliche Ich übersteigenden Realität. Die Freiheit, zu der sich die Leser/innen der Lebensratgeber aufgerufen sehen, ist also keine des „anything goes“. Sie ist Wahrnehmung einer pflichtgemäßen Verantwortung sich selbst und einer Gesellschaft gegenüber, in welcher der Übende auch erfolgreich, auch wohlhabend, auch herausragend sein kann, aber vor allem, in der er identisch mit einem dem Leben unterstellten, innewohnenden Zweck werden kann. Was dieser Lebenszweck aber konkret bedeutet, wie er die Subjekte zu einem angepassten Selbstverhältnis anleiten kann, ist keineswegs frei von den spezifischen Anforderungen der organisierten Industriegesellschaft und ihren Herrschaftsformen. 6.1.2 Eine unendliche Geschichte: die Subjekt-Objekt-Spaltung Das Grundverhältnis des Subjekts zu sich ist in allen Texten der frühen Ratgeber dasselbe: Die Übenden sind zugleich Lehrer/in und Schüler/in, Kontrollierende und Kontrollierte, Befehlsgeber/in und Gehorchende. Insofern ahmt das Selbstverhältnis ein echtes soziales Verhältnis nach, wie wir es bei der vormodernen Selbstführung besprochen haben. Der subjektive Teil ist dabei der anleitende, kontrollierende, herrschende: der Wille. Das Objektive ist das zu Schulende, das dem Willen und der klaren Erkenntnis entgegengesetzt ist: die inneren Feinde natürlich, aber auch die unwillkürlichen Regungen des Leibes sowie die schlechten Gewohnheiten und die Schlupflöcher des Unproduktiven im Tagesablauf. Der Fortschritt auf dem Schulungsweg, das Erarbeiten des Buches, geschieht unter den Argusaugen der Übenden selbst, nach einem Modell großer Strenge. Die Kontrolltechniken bilden die Relais dafür, dass die zu erledigenden Aufgaben im Nachhinein kontrolliert werden können. In diesem Fall sind Subjekt (Prüfende/r) und Objekt (Geprüfte/r) zeitlich versetzt: das etwas spätere Ich kontrolliert das frühere durch dessen Aufzeichnungen. Verschriftlichung ist somit die Grundlage der Kontrolle. Sie macht aus dem Verhältnis des Ich zu seinem Selbst aber auch ein gleichermaßen räumlich externalisiertes Verhältnis: In der schriftlichen Niederlegung veräußerlicht der Einzelne Teilaspekte seines Selbst, um sich an die Einhaltung seiner Ziele, an die Konsequenz seiner Übungen und dergleichen zu gemahnen. Das Subjekt verhält sich nicht nur zu sich selbst als einem zu objektivierten, zu transformierenden Tatbestand, sondern es verhält sich über die Kontrolltechniken zudem zu sich als eben jenes in sich gespaltene Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt.

10 Klein (1921), 85ff.

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Das Ideal jeder Selbstprüfung liegt aber darin, diese zeitliche und örtliche Versetzung wieder in einem einzigen unteilbaren Moment zusammenfallen zu lassen: Im Akt des Handelns, ja sogar im Akt des Wollens, wird durch beständige Übung die Kontrolle im gleichen Moment aufgerichtet wie der Impuls, der ihm zugrunde liegt. In diesem idealen Falle wäre das Wollen immer spontan und immer bereits reflektiertes Wollen. Die Techniken zur Einlösung dieses Versprechens auf ein Subjekt, das sich vollständig im Griff hat, zeitigen aber paradoxe Effekte, denn sie halten nun gerade das aufrecht, was sie zu überwinden vorgeben, nämlich die antagonistische Struktur des Selbst. Denn wenn das Bedrohliche (die Leidenschaft, die Willenlosigkeit, das Saftbequeme) in seiner Entstehung, in seiner sich entfaltenden Potenzialität bereits ausgeschaltet oder zumindest in Schach gehalten werden soll, muss es auch mit einer nie endenden Konsequenz belauert werden und besteht damit ad infinitum fort. Wenn Kruse seine Leser/innen auffordert, sich ein „sündhaftes Bild“ in all seinen Einzelheiten und Begehrlichkeiten auszumalen, um dann 24 Stunden lang ganz gezielt dieses Bild vollständig aus seinem Bewusstsein fernzuhalten, stößt er zum Kern dieser paradoxen Struktur der Selbstprüfung vor. Das Bedrohliche in Form der Sünde bricht nur dann in das Bewusstsein nicht ein, wenn man ihm als Potenzial immer schon einen Platz eingeräumt hat. Aus den Augenwinkeln muss es in seiner Gestalt erkannt sein, damit man jedes weitere Übergreifen verhindern kann. Wer es vollständig ausblenden würde, wäre einem plötzlichen Einbruch hilflos ausliefert. Zum anderen füttert diese Form der Subjekt-Objekt-Spaltung aber auch Teile des Objektiven dem Subjektiven zu: Was sich der Wille mühsam an Helfern angeeignet hat, die Achtsamkeit, die Konzentration, das Gedächtnis, aber auch die Fähigkeit zur Selbstüberwindung, kommt unmittelbar der Führung und Kontrolle, der weiteren Übung und dem Kampf gegen innere wie äußere Widerstände zugute. Zu Beginn ist keine übende Person ein wirklich in sich selbst ruhendes Subjekt. Es ist dieses nur im Moment der Anrufung, des Aufrufs zu einem selbst geführten Leben und in der Projektion künftiger Selbstbestimmung. Ansonsten ist sie ein undurchdringliches Durcheinander, ja, ein Herz der Finsternis. Deshalb ist es wesentlich, zunächst Licht und dann Ordnung in dieses zu bringen. Je mehr und je klarer sich die Übenden selbst aufteilen in objektive, strategische Felder für selbst geführte Interventionen anhand von Techniken, sei es im Üben des Gedächtnisses, im Überwinden von Widerständen oder Abhärten des Körpers – je mehr sie also bestimmte Anteile von sich als zu kartographierende und kontrollierende Objekte ansehen, desto stärker wird ihre (kartographierende und kontrollierende) Subjektivität. Und wie bei der permanenten Selbstprüfung kommt man zum Schluss, dass, so sehr die Überwindung einer Subjekt-Objekt-Spaltung auch angestrebt wird, es diese nicht geben kann. Im Gegenteil, die Selbstführung der frühen Ratgeberliteratur braucht und betreibt eine starke Subjekt-Objekt-Spaltung. Die Auflösung der antagonistischen Struktur würde das Ende des Willensmenschen bedeuten. Ein nie vergessendes Gedächtnis, ein unempfindlicher Körper, ein immer schon überwundener Widerstand wäre ein Automatismus und würde den Willen obsolet werden lassen. Der Wille braucht sein Gegenüber, als das schlechthin andere des Selbst, als dunklen Quell seiner Bedrohung. Die Techniken der Willensstärkung haben also nicht nur Anteil an der „inneren Zerrissenheit“ des Menschen, die so ausgiebig wie monoton von den Lebensratgebern gegeißelt wird. Der Schulungsweg der frühen Lebensratgeber betreibt zu einem guten Teil das Ge-

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schäft der Subjektspaltung selbst. Denn letztlich sind alle Willenstechniken darauf angewiesen, dass sich das Subjekt nie ganz gehört. 6.1.3 Freiheit und Unterwerfung – das verpanzerte Subjekt zwischen Selbstaffirmation und Selbstauflösung Der Schulungsweg der Willensschulen changiert zwischen zwei Polen. Zum einen stellt er eine totale willentlich Verfügbarkeit über sich selbst in Aussicht und verkörpert damit eine kaum mehr steigerbare Affirmation des Subjektes und seiner Kräfte. Die Freiheit, die hier errungen werden kann, findet weder an physischen noch psychischen Gegebenheiten eine Grenze: eine Ausdehnung der Gestaltungsmacht in den Bereich der körperlichen Vitalfunktionen ist ebenso möglich wie der Einfluss auf Unwillkürliches. Sie stellt sich als eine Freiheit von Fremdbestimmung durch innere und äußere Kräfte dar, als eine Bündelung und Mobilisierung rein subjektimmanenter Potenziale: eine Freiheit des Subjektes, ohne Gläubiger, ohne soziale Voraussetzung, ohne Verhältnismäßigkeit außer der zum eigenen Selbst. Der Wille der Willensschulung als Inbegriff dieser absoluten Selbstverfügungsmacht kann nur funktionieren, wenn er von Anfang an in sich seinen Ursprung hat und wiederum auf nichts anderes zurückführt als den Willen selbst. Sobald der Wille die Kainsmale fremder Kräfte trägt, ist er per definitionem ein geschwächter. Mit dem Willen, wie mit der Schulung insgesamt verhält es sich wie mit Baron Münchhausen, der versehentlich in einen Sumpf geraten ist und feststeckt: An den eigenen Haaren zieht das Subjekt der Willensschulen sich aus seiner Schwäche heraus. Das Subjekt der Willensschulen ist ein monadisches, einsam und frei soll es auf seinem Feldherrenhügel über den Niederungen tierischer Leidenschaften und fremder Willen thronen. Zum anderen verwirklichen die Willenstechniken ein Selbstführungsregime, das disziplinär funktioniert und nicht nur eine zeitweise, sondern dauerhafte Unterwerfung unter eine ich-fremde Ordnung darstellt, und zwar auf mindestens drei Ebenen: Zum Ersten auf einer philosophisch-logischen Ebene. Jedes Führungsverhältnis, das auf eine Befähigung zur Freiheit abhebt, ist von einer grundsätzlichen, unaufhebbaren Widersprüchlichkeit geprägt. Eine Anleitung zur Freiheit basiert auf dem zumindest partiellen Eindringen fremder Kräfte in das angeleitete Subjekt. Es setzt ein anzuleitendes Subjekt voraus, das sich nicht ohne den Rat, die Anleitung und Hilfestellung in den Zustand der Freiheit hineinfinden kann. Sobald es sich aber zu seiner Freiheit führen lässt, ist diese Freiheit eine abhängige, durch den Einfluss der anderen determinierte, mithin keine Freiheit in umfassendem Sinne mehr. Die Lebensratgeber des frühen 20. Jahrhunderts basieren genauso auf dieser paradoxen Lage und verschärfen sie noch, da sie Hinführung zu den Kräften der Freiheit nicht die Form einer sanften Erweckung, in Form eines voraussetzungsvollen, situativ agierenden Meister/in-Schüler/in-Verhältnisses vollziehen, sondern als apersonalen Weckruf, mit teilweise stark moralisierenden Anteilen und gelegentlich im Kasernenhofton.11

11 Besonders ausgeprägt bei Hugin: „Weißt du, wer du bist? Nein, du weißt nichts von dir. Weißt nicht, woher du kamst; weißt nicht wohin du gehst. […] Nichts weißt du; denn du hast dich nie geprüft.“ Dies führt in die Aufforderung: „Folge mir! Ich führe dich die steile Straße des erfolgreichen Aufstiegs“, Hugin (1925), 7f.

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Zum Zweiten auf der Ebene der Schulungsordnung. Diese lässt den Übenden von Beginn an kaum eine Möglichkeit freier Adaption. Sie gängelt und schreibt bis ins letzte Detail vor. Die Schulung der Willensschulen misstraut ihren Leser/innen mindestens genauso, wie sie der Natur der Menschen skeptisch gegenübersteht. Sie ist in der Regel aufgebaut als ein stetiges Unterordnungsverhältnis der Leser/innen unter die imperativen Diktate des Textes, aus der die Übenden erst mit Abschluss der Schulung entlassen sind. Gehorsamkeit ist die Haltung, die von der Leser/in erwartet und gefordert wird, ihr Fehlen gilt als wesentliche Bedingungen des Scheiterns der Schulung. Zum Dritten auf der Ebene des Selbstverhältnisses des Übenden. Die Herrschaft des Willens ist so disziplinär wie endlos. Selbsthärte und Selbstüberwindung werden nicht versöhnt mit einer Aussicht auf einen unmittelbar erreichbaren Zustand relativer Ruhe, Stabilität und Befreiung. Willensschulung ist die Gefahr in Permanenz, ist die Verstetigung des Kampfes, des Widerstands und der Skepsis. Wie wir gezeigt haben, sind es nicht allein die Bedingungen des Daseinskampfes, sondern die Techniken des Willens selbst, die jene Kräfte am Leben halten, am Leben halten müssen, die das Subjekt grundlegend bedrohen. Das Selbstverhältnis in seinem idealen Wirken, ist ein Perpetuum mobile ich-fremder (im Sinne von durch Leidenschaften und Versuchungen dominierter) Kräfte. Es ist in den Widersprüchen eines Unter/Überordnungsverhältnisses unrettbar verfangen, bei dem das Subjekt in seiner behaupteten Herrschaftlichkeit nicht nur auf einen Untergebenen (schwachen Willen) angewiesen, sondern immer schon beides zugleich ist.12 Viertens auf der Ebene der Subjektteleologie. Denn so sehr das Willenssubjekt sich gegen innere und äußere Feinde abschottet und einen disziplinären Selbstführungstyp installiert, so sehr wird es immer wieder aufgelöst in der finalen Anerkennung eines es übersteigenden Zusammenhangs, sei dieser nun biologischer (das Leben, die Natur, der Daseinskampf), moralischer (Gewissen) oder politisch-phantastischer (Volksorganismus, Zellstaat) Natur. Der Willensdiskurs und das entsprechende Schulungsprogramm sind somit hochgradig widersprüchlich und instabil. Der Übende wird eingesponnen in eine Ordnung, die ihm als Ausgang aus der Unmündigkeit und Schwäche versprochen wird, die selbst aber wieder Momente in das Subjekt eintragen, die Zerrissenheit und Uneinheitlichkeit befördern, ja sogar Stolpersteine für die Selbstschulung insgesamt bedeuten.

12 So ergibt sich hier ein Bild, das kaum etwas mit einer bisher in der Forschung behaupteten oder unterstellten relativ einfachen wechselseitigen Hervorbringung von Makro- und Mikromächten zu tun hat. Im untersuchten lokalen und zeitlich situierten Raum begegnet uns kein Subjekt, dem man seine Begierden und Interessen im Vertrauen auf ihre Intelligibilität einfach überlässt, weil sie als positiv und natürlich vorausgesetzt ihren Weg zum Nutzen für den Einzelnen und den Staat von sich aus schon finden werden. Ganz im Gegenteil ist es in den Diskursen überaus zweifelhaft, ob sich das Subjekt den Freiheiten, die ihm gegeben sind, in der richtigen Weise annehmen kann.

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6.2 ACHSEN DER GOUVERNEMENTALITÄT: SUBJEKTENTWÜRFE UND MACHTVERHÄLTNISSE IN DER ERSTEN EPOCHE In der historischen, soziologischen und philosophischen Fachliteratur zum 20. Jahrhundert ist die Bedeutung des Subjektes und der Subjektivierung von vielen Autor/innen herausgestellt worden. Häufig laufen solche Analysen auf eine pointierte Etikettierung eines bestimmten Zeitalters heraus – die Epochen werden nach den in ihnen vorherrschenden Formen der Subjektivierung benannt, d.h. je nach theoretischem Einschlag ist dann von Therapeutisierung oder Ökonomisierung der Subjekte die Rede. Wir stimmen der Grundeinsicht zu, dass das Subjekt (und für uns entscheidend: der Bereich der Selbstführung) einen ungeheuren Bedeutungsaufschwung zu verzeichnen hat. Allerdings stehen wir, gerade nach unseren Forschungen zur frühen Ratgeberliteratur, kritisch zu einer vereinheitlichenden Perspektive auf Subjektivierung. Wie wir im anschließenden Teil zu den wissenschaftlichen und institutionellen Diskursen weiter belegen werden, lassen sich nicht nur mehrere Bezugsysteme für Subjektivierung (inner- und außerhalb der Selbstführung im engeren Sinne) aufmachen, sondern diese können für sich genommen das in den Ratgebertexten identifizierte Regime kaum erklären. Wir wollen unsere Ergebnisse im Folgenden deshalb einerseits abgrenzen gegen andere gängige Lesarten (nämlich solche, die schon aus unserer Diskussion der Sekundärliteratur bekannt sind) und andererseits die Frage nach dem Subjekt mit der Frage nach Machtverhältnissen zusammen denken. Deshalb benennen wir drei Achsen der Gouvernementalität für die Subjektivierung im 20. Jahrhundert. 6.2.1 Der Willensheld: Subjektivierung jenseits der Normalisierung Die Frage, wie Subjektivität und Macht/Herrschaft miteinander zusammenhängen, ist eine entscheidende Analyseachse für die gouvernementalitätstheoretische Untersuchung historischer Ordnungen. In der bisherigen Forschung dominieren für das frühe 20. Jahrhundert partikulare und mitunter widersprüchliche Erklärungsansätze. Das Subjekt der 1920er Jahre wird als fordistisches Angestelltensubjekt, als therapeutisches Subjekt, als präfaschistisches Subjekt oder als Homo oeconomicus beschrieben.13 Der Willensmensch ist aber weder als therapeutisches oder beratenes Subjekt beschreibbar, wie es von Sabine Maasen und Uffa Jensen konzipiert wird,14 das quasi in ängstlich defensiver Hinwendung zu seiner triebhaften Innenwelt ein psychologischen Narrativum über sich und die Welt in Gang setzt, auch wenn es auf Techniken affektiver Selbstführung zurückgreift.15 Noch ist die Arbeit am Selbst freiwillige Unterwerfung unter entfremdete, gewaltförmige Verhältnisse zu bewerten, auch wenn Techniken der Verpanzerung und Selbsthärte Verwendung finden. Auch geht der Willensmensch nicht einfach in den ökonomischen Rationalisierungsdiskursen auf, 13 Siehe unsere Literaturdiskussion im Methodenkapitel. 14 Vgl. Maasen (2011), 9f. und Jensen (2011), 37ff. 15 Ähnlich Illouz (2009), 9ff, die dem Elitendiskurs der Psychoanalyse die entscheidende Weichenstellung in der Subjektivierung des 20. Jahrhunderts zuschreibt.

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auch wenn er Techniken der Rationalisierung (z.B. der geistigen Arbeit oder der Lebenszeit) und Leistungssteigerung einsetzt, wie es Bröcklings These der Ökonomisierung nahelegt.16 Die Untersuchung der Voraussetzungen, des Verlaufs und der Kur der Willensschwäche führt nicht auf einen im Prinzip unauffälligen wie verkehrsfähigen Normaltypus zurück, der sich zumindest an der Grenze zur gesellschaftlichen Funktionsfähigkeit zu halten hat. Es ist kaum zu bezweifeln, dass die Sorge um die Willensschwäche eine herausragende Stellung in den Diskursen dieser Zeit einnimmt. In ihr verdichtet sich auf der Ebene des einzelnen Menschen all dasjenige, was in der Gesellschaft falsch läuft. Sie ist die Bedrohung schlechthin für die Souveränität der Subjekte und mitunter auch für den Fortbestand der Gesellschaft. In ihr vermengen sich moralische, medizinische und biopolitische Elemente zu einem dichten Problemtyp. Die Willensschwäche gerinnt dabei zum Gegenpol des Willensmenschen; wir haben gezeigt, dass eine Vielzahl technischer Arrangements an der Wehrhaftigkeit des Subjekts gegenüber diesen zerrüttenden Einflüssen arbeitet. Als erschwerend erweist sich dabei die subtile Komplizenschaft der Willensschwäche mit dem, was als degenerative Auswüchse der Moderne wahrgenommen wurde. Und dennoch handelt es sich bei den Selbstführungsdiskursen dieser Zeit nicht um eine inkubatorische Zelle für die Selbstpsychologisierung, die auf den Horizont einer Normalisierung der Subjekte hinausläuft. Es geht ihnen weder um eine bloß defensive Abwehr bzw. Überwindung einer als krank interpretierten psychischen Verfasstheit noch um die disziplinarische Regulation der Psyche und ihrer Triebe im Dienste der verbesserten Leistungsfähigkeit. Die Heranzüchtung des Willensmenschen zielt stattdessen auf Selbsttranszendenz oder genauer: auf die für andere wahrnehmbare Selbstüberschreitung im Dienste einer höheren Sache. In diesem Sinne sind Selbstverhältnis und objektive Ordnung nicht in Form eines sich bruchlos gegenseitig erzeugenden Wechselverhältnisses zu denken, sondern als eine spannungsgeladene Verweisstruktur, in der auch Momente der Zurückweisung, Adaption, Abwandlung enthalten sind. Der neue gouvernementale Führungstyp, wie er aus den Selbstschulungsprogrammen der 1920er Jahre emergiert, verbindet daher zwei aufeinander bezogene und doch gegenläufige Aspekte: die Selbsterzeugung als ein Hineinfügen in die Imperative der Zeit (z.B. in der Reproduktion bestimmter Problematisierungen, wie Willensschwäche, Daseinskampf und dergleichen) und die Überschreitung bzw. Transzendierung dieser Ordnung in Form eines neu justierten, über Techniken trainierbaren Selbstverhältnisses. Es ist ein Charakteristikum der Selbstführungsdiskurse der 1920er Jahre, dass sie das Subjekt dieser ambigen Verweisstruktur aussetzen: Auf keiner Seite findet es letztlichen Halt und Gewissheit, weder auf Seiten einer modernen Welt, die besinnungslos taumelnd ihren eigenen Verfall bewirkt, noch auf der Seite der Subjekte mit ihrer Subjektivität, die ihnen niemals ganz gehört und ihnen ständig zu entgleiten droht. Nirgends kann es in einen sicheren Hafen einlaufen, es wird weder ganz heimisch in sich noch in der Welt. Es scheint so, als ob das Subjekt in ein Rennen geschickt wird, das es nicht gewinnen kann. Das Subjekt der frühen Lebensratgeber ist in seinem Welt- und Selbstbezug grundsätzlich haltlos. Diese Haltlosigkeit ist konstitutiv für diesen Führungstyp, auch wenn ihm ein Zustand finaler, aber nie erreichbarer Selbstgenügsam16 Vgl. Bröckling (2007).

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keit und Verwurzelung in Aussicht gestellt wird. Doch erweist sich das Zur-RuheKommen der Welt im eigenen Selbst, dieses endgültige Erstarren eines gut eingerichteten Innenraums meist als trügerisches Vexierbild; eine kleine Veränderung des Blickwinkels genügt, um es umkippen zu lassen. Daher gibt es keine konkrete Zusicherung auf Abschließbarkeit der Prozesse der Selbstverfertigung. Auch wenn also Andreas Reckwitzʼ These von der hybriden Verfasstheit der Subjekte recht gegeben werden muss, unterschätzt er sowohl die Komplexität der einzelnen Subjektivierungsregimes als auch deren Eigendynamik.17 So sehr die doppelte Haltlosigkeit der Subjekte und die Selbsterzeugung ad infinitum aus heutiger Sicht ein eher betrübliches Bild für alle diejenigen abgeben muss, die für die Selbstführung gewonnen werden sollen, führen sie doch zu einem zentralen Kern selbsttätigen Regierens in den 1920er Jahren. Der Selbstführung wesentlich ist nicht die schnelle Realisierung bestimmter finaler Zielmarken, sondern vielmehr, dass sie im Subjekt den Zustand disziplinärer Aufmerksamkeit verstetigt. Haltlosigkeit und Unabschließbarkeit sind daher nicht als ungewollte Paradoxien zu verstehen, die aus der Willensschulung heraus resultieren, sondern als gerade für die Aufrichtung einer kämpferischen Willensarchitektur günstig, ja ihr inhärent. 6.2.2 Leistungssteigerung und Antimaterialismus So sehr in den bisherigen Untersuchungen (u.a. Michel Foucault, Sabine Maasen, Uffa Jensen, Andreas Reckwitz, Eva Illouz) auf die Feststellung Wert gelegt wurde, dass in den 1920er Jahre eine Subjektform sich zu konstituieren beginnt, die als frühe Form der Selbstökonomisierung betrachtet werden kann, so erstaunlich ist es, dass sich dies für den Bereich der deutschsprachigen Selbstführungsdiskurse nicht nachweisen lässt.18 Der Verdacht der Ökonomisierung bezieht sich im Wesentlichen auf zwei Aspekte der frühen Ratgeber: Leistungssteigerung und planerische Durchdringung des Alltags. Dabei ist erstere in den Lebensratgebern jedoch unbedingt im Kontext einer Lebensschuld und Gemeinschaftsverpflichtung zu sehen und hat, wie gezeigt, nur als Nebeneffekt einen sozialen und wirtschaftlichen Aufschwung zur Folge. Die Überwachung der Fortschritte wie die Verzeichnung materieller Gewinne haben reflexive Funktion, sie zeigen die gesteigerte Lebensfähigkeit des Subjektes. Umgekehrt lässt sich der Erfolg nicht allein an den Finanzen ablesen. Die Bildung des Charakters geschieht gerade da, wo das Subjekt zeigt, dass ihm die materielle Seite seines Erfolges nichts bedeutet: in der Einfachheit, Selbsthärte und fortgesetzten Anstrengung. Der Wert der Arbeit liegt letztlich in der Selbstbildung. Die Selbstbildung kumuliert in einer verstetigten, selbstreferentiellen, wenn auch gemeinschaftsdienlichen Arbeitshaltung. Die Steigerung der Leistung und Lebenskräfte steht also nicht unter dem Diktat einer durch Marktverhältnisse und Optimierungszwänge bestimmten Gesellschaft, der sich der Einzelne anzupassen hätte. Nicht zirkuläre und wechselseitige 17 Vgl. Reckwitz (2006), 15ff. 18 Begünstigt wurde diese Leseart sicherlich durch die starke Rezeption von Grossmanns Bestseller „Sich selbst rationalisieren“ durch die subjektivierungstheoretisch informierte Soziologie der letzten Jahre. Wie wir bereits gezeigt haben, ist Grossmann jedoch in großen Teilen nicht repräsentativ für die frühen Lebensratgeber.

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Formen von Tausch, Verhandeln und Gefälligkeit bestimmen die soziale Welt des Willensmenschen, sondern Moral, charismatisches Wirken und Abgrenzung. 19 Die planerische Durchdringung des Alltages auf der anderen Seite mit einer Vielzahl von Aufschreibetechniken ist in ihrem universalen Anspruch im frühen 20. Jahrhundert so neu wie bemerkenswert. Sie dient zuvorderst der Rechenschaft über das Geleistete, welche zurückgebunden ist an Daseinsschuld und Lebenspflicht. Der ökonomischen Lesart der effizienten Gestaltung von täglichen Arbeitsabläufen, Aktivitäten und Diäten steht dabei die Bedeutung der Selbstüberwindung, des Kampfes und der Gefahr entgegen. Grossmann stellt hier eine Ausnahme dar, insofern er darüber klagt, dass die Willensschulen denjenigen Weg loben, der die größte Kraftanstrengung und Überwindung bedeutet, anstatt den effektivsten. 20 Das Ideal der planerischen Selbstführung gleicht eher einem Militärstrategen, der über Mittel und Streitkräfte informiert sein muss, weil er nicht weiß, wann es zum Kampf kommt, als der Glorifizierung des Kaufmanns. Letzterer ist smart, geht kalkulierte Risiken ein, versucht aber diese zu minimieren, wohingegen nur derjenige ein Willensheld zu werden vermag, der sich echter Gefahr aussetzt oder zumindest auszusetzen bereit ist. Er ist sich selbst in seinem Denken, Wollen und Handeln vollkommen durchsichtig. Alle drei fallen in eins. Dieser Akteur hat keine Geschichte, keine inneren Widersprüche, keine Moral. In dieser Rationalität ist das Begehren positiv, 21 ausgefallene Geschmäcker und Interessen machen individuell und alle Bedürfnisse sollen bedient werden. Die frühen Ratgeber sind, bis auf die genannten Ausnahmen, diesem Modell absolut entgegengesetzt. Hier haben wir das agonale Selbstverhältnis eines krisenhaft verfassten Subjektes, eines Subjektes, das sich von feindlichen Konstellationen umgeben und durchzogen zieht, die es unter seinen Willen zwingt oder an ihnen zugrunde geht. Wollte man der Figur des Willenshelden ein anthropologisches Etikett umhängen, stünde darauf nicht homo oeconomicus, sondern homo militaris. 6.2.3 Der antiliberale Liberalismus der frühen Lebensratgeber oder: die Geburt der Freiheit aus einer Praxis des Zwangs Der Willensmensch ist durch starke antiliberale Tendenzen charakterisiert: sowohl in seiner Kritik der Verhältnisse wie auch in der Art und Weise seines Selbstverhältnisses sowie in der teleologischen Ausrichtung. Indes bleibt die Form der Selbstführung dieser Zeit an die Freiheitsspielräume geknüpft, die sie auf der Ebene der Selbstverhältnisse zurückzudrängen versucht. In einer allgemeinen Weise stellt sie die Bedingung sine qua non der Selbstführung dar. Ohne die Bedingung relativer gesellschaftlicher und individueller Freiheit ist keine Führung seiner selbst notwendig. Sie würde stattdessen ausgefüllt sein durch starke Dispositive der Fremdführung. Das Subjekt kommt unter diesen Bedingungen nicht in die Lage, seine Freiheiten als bedrohlich wahrzunehmen, weil ihnen kein oder kaum Raum zur Verwirklichung gelassen wird. Natürlich handelt es sich dabei um keine ausschließende Entgegensetzung. Selbst unter totalitären gesellschaftlichen Bedingungen sind gewisse individuelle Freiheitsspielräume denkbar und sogar notwendig, auch wenn die Selbstregierung kein öffent19 Siehe Abschnitt „Die Selbstführung und die anderen“. 20 Vgl. Grossmann (193), 18, 31f. 21 In seiner Betonung dieses Punktes ist Grossmann sicherlich seiner Zeit voraus.

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liches Problem wird. Wissenschaftliche Untersuchungen zu dieser Zeit wie die von Fritz Haug versuchten zu zeigen, dass der Nationalsozialismus auf eine ideologische Subjektivierung im Sinne der Aufrichtung einer faschistischen Subjektivität angewiesen war oder diese mit ihm zumindest parallel (bzw. ihm voraus) lief. 22 Doch zeigt sich gerade in der Untersuchung der Selbstführungsdiskurse für die Zeit des Nationalsozialismus, wie wesentlich ein gewisses Maß an gesellschaftlicher Freiheit für die Selbstregierung ist. Denn während das Genre in der Zeit des ausgehenden Kaiserreiches und insbesondere der Weimarer Republik aufblüht, finden sich für die Jahre 1933 bis 1945 kaum Neuerscheinungen, dafür werden eine Reihe bisher populärer Lebensratgeber nicht mehr neu aufgelegt oder verschwinden völlig. Zudem weisen die neu erschienenen Lebensratgeber deutliche Verfallserscheinungen auf. Die Selbsttechniken schrumpfen auf einige wenige Anweisungen zur Mobilisierung von Leistungs- und Opferbereitschaft zusammen. Pflichterfüllung und das Aufgehen in der Gemeinschaft erhalten herausragende Bedeutung.23 Tatsächlich subjektivierende Lebensratgeber, die dem Subjekt weitreichende Gestaltungskräfte zugestehen, scheinen also im Nationalsozialismus massiv an Bedeutung zu verlieren. Während das Telos der Selbstführungsliteratur vor 1933 immer ein widersprüchliches Zusammengehen von Selbstaffirmation und Selbstnegation ausmachte, verschieben sich die Gewichte für die Zeit nach 1933: Selbstführung oszilliert nicht mehr zwischen beiden Polen, sondern liefert das Selbst der Volksgemeinschaft aus. Die Imperative des du kannst und des du sollst weichen einem du musst: „Das Müssen […] entspringt letzten Endes der höchsten Freiheit des Menschen, nämlich der klaren und wohlüberlegten Aufgabe des eigenen Ich zugunsten eines vielfachen Du und zur Erzeugung eines Werkes, das nur durch den Einsatz vieler Ich in einem gemeinsamen Wir möglich wird.“24 Wie verhalten sich nun aber Freiheit und Zwang in den Texten der Selbstführung der 1920er Jahre zueinander, ohne ein Überwältigungsverhältnis zwischen beiden anzunehmen, ohne also die Selbstführung in einer liberalen Selbstbefreiung aufgehen zu lassen oder die Lebensratgeber als Präfiguration für eine faschistische Subjektivität zu betrachten? Dazu ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass die Ausschaltung von Freiheit kein Ziel der Willensschulen ist, wenngleich sie selbst disziplinierend operieren. Zwar geht es ihnen um die Beseitigung einer Freiheit des laissezfaire, aber nie hebt sie auf einen mechanischen Willenszwang ab. Kruse, vielleicht der hell-

22 Kritisch an Haugs Untersuchung ist u.a. seine schmale Quellenbasis. Er zieht allein Gerling heran, dessen Publikationen allesamt vor 1933 erschienen sind. Sicher ist es problemlos möglich, in Gerling völkische, antisemitische und präfaschistische Aussagen zu finden, allerdings ist dies noch kein Beleg für die strukturell antiliberale Grundtendenz bei Gerling. 23 Selbstführung und Geführtwerden durch den NS-Apparat und die Volksgemeinschaft sind eng miteinander verzahnt, wie der von uns analysierte Text von Keulers vor Augen führt. Selbstführung ist hier kein Selbstzweck, sondern dient der Mobilisierung der eigenen Kräfte, des Gehorsams und der Opferbereitschaft für die Gemeinschaft. Insofern ist die Unterwerfung unter Pflicht und Befehl unbedingt. Andererseits scheint der Text mehr auf die richtige Umleitung (also Gleichschaltung) prävalenter Selbstführungsformen abzuzielen, anstatt ein differenziertes System aufeinander bezogener Techniken zu entwickeln. 24 Keulers (1941), 160.

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sichtigste unter den Autoren der Selbstführungsliteratur, bestimmt das Verhältnis zwischen Freiheit und Zwang wie folgt: „Es geschieht so, wie man einem wohlgezogenem Pferde freien Lauf geben kann: man läßt die Zügel locker, es fühlt sie nicht mehr, es läuft in eigenem Willen; aber der Reiter ist gewärtig, jeden Augenblick lenkend einzugreifen, falls es fehlgehen sollte. Voraussetzung seiner Freiheit ist also die vollkommene Lenkbarkeit des Pferdes. So wird auch der Mensch in Leben und Arbeit sich Freiheit des Laufs geben können, wenn er bereit und imstande ist einzugreifen, sobald die entscheidenden Interessen seines Lebens, seiner Arbeit gefährdet werden. Dafür ist Voraussetzung, dass er die Kunst der Selbstbeherrschung von Grund auf gelernt habe. Nur wer sich ganz in der Gewalt hat, kann sich Freiheiten geben. Wer seiner noch nicht sicher ist, bedarf strenger Zügelhaltung. Wir lernen Selbstbeherrschung zu dem Zwecke, um uns freigeben zu dürfen. Nur wer durch die Schule des Zwanges hindurchgegangen ist, verträgt die Freiheit.“25

Kruse spricht hier zwar über das Verhältnis seiner Schulungsschrift zur Freiheit, doch stehen seine Ausführungen paradigmatisch für das Willensregime der 1920er Jahre. Das letztendliche Ziel der Selbstführung ist eine Selbstfreigabe, die, obgleich durch die Schule der Disziplin gegangen, nicht mechanisch, gezwungen oder pedantisch wirkt. Ähnlich einem züchtigen Pferde hat sie alle Spuren ihrer Dressur und künstlichen Verfertigung abgelegt und erscheint als der natürliche und spontane Ausdruck ihres Urhebers. Wie von sich aus weiß sie die Spur zu halten und handelt quasi blind innerhalb der Wegbegrenzungen, die man ihr auferlegt hat. Es handelt sich hier um eine überformte, transformierte Freiheit, der die Disziplin vorangegangen ist. Ihr manifester Ausdruck ist bereits das Resultat eines Herstellungs- und Züchtigungsvorgangs und nicht erst Ansatzpunkt für die Disziplin. Freiheit kann es also nur dann geben, wenn ihr die Bedingungen und Regeln eingebrannt wurden, unter denen sie frei sein darf. Und dennoch bleibt ihr die Gefahr des Fehlgehens inhärent, was die dauerhafte Kontrolle und das nötigenfalls züchtigende Eingreifen erforderlich macht. Freiheit und Zwang sind – in dieser idealtypischen Konstruktion des wohlgezogenen Pferds – schließlich keine unversöhnlichen Pole mehr. Zwar macht die chaotische, wenn man so will: ursprüngliche Freiheit des Subjektes die Schulung des Willens notwendig, doch ist das, was dann schließlich – in gewissen Grenzen – aus der Schule der Disziplin entlassen wird, kaum mehr als diese ursprüngliche Freiheit identifizierbar. Die Freiheit hat sich so weit dem Zwang angenähert, sich mit ihm angereichert, dass ihr eine Entäußerung zugestanden werden kann. Es handelt sich eher um eine intelligibel gewordene, qualifizierte Freiheit, die zwar nicht völlig einer Überwachung entbehren kann, aber den Rahmens in dem sie nützlich wird, kennt. Daher sollte man bei den Willensschulen weder von einem Überwältigungs- noch einem Wechselverhältnis zwischen Freiheit und Zwang sprechen, als vielmehr von einem Überformungsverhältnis. Die Freiheit des Subjektes bleibt maßgeblich für die Selbstführung, aber sie nimmt im Verlaufe ihrer Schulung jene Färbung an, die sie im Raum ihrer Freigabe nützlich werden lässt.

25 Kruse (1921), 151, Hervorhebung von uns.

Kapitel 1: Die 1920er Jahre B) Historische Perspektive auf das Selbstführungsregime der 1920er Jahre

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Taumelnde Moderne: die zeitgeschichtliche Situierung der frühen Lebensratgeber

Bis hierher haben wir einige wichtige wissensimmanente Kreuzpunkte markiert, ohne derer bestimmte Problemstellungen, Topoi und letztlich auch Schulungsprogramme für gelingende Subjektivität im frühen 20. Jahrhundert nicht verständlich werden können. Zugleich blieb es bis jetzt unterbestimmt, wie sich der Diskurs der Selbstführung als eine auf einen anonymen Massenmarkt gerichtete, apersonale Schulungsanleitung gesellschaftlich etablieren konnte. Innerhalb welcher epochenspezifischen Konstellationen konnten die Selbstführung erst als ein gesellschaftliches Problem auftauchen? Warum sind die Jahrzehnte nach der Jahrhundertwende und insbesondere die Zeit der 1920er Jahre die Sattel- und Reifezeit für lebensratgeberische Expertise? Welche Entwicklungsdynamiken der deutschen Gesellschaft schufen erst die Bedingungen der Möglichkeit für ihr Entstehen? Es wird zu fragen sein, inwiefern das Schulungsprogramm der Willensgymnastik auch vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Krisenerscheinungen verstanden werden muss, die mit den rasanten gesellschaftlichen Entwicklungen auf das Engste verbunden waren. Die frühen Lebensratgeber behaupten mit großer Regelmäßigkeit und im larmoyanten Tonfall, wie wenig vertraut ihre Zeitgenossen mit ihrem Schicksal seinen. Die Problematisierung von Tagträumerei und die zahlreichen bedrohlich daherkommenden Fallbeschreibung von Menschen, die ihren Subjektstatus dadurch eingebüßt haben, dass sie sich haben „gehen lassen“, weisen darauf hin, wie wenig Bewusstsein die Autoren ihren potenziellen Leser/innen in der Frage der sittlichen Notwendigkeit der Selbstführung unterstellt haben. Die Klage ist so einhellig wie zahlreich geäußert worden. Die meisten Menschen des frühen 20. Jahrhunderts wissen demnach nichts von ihrem Selbst und den ihnen daraus erwachsenden Pflichten und Freiheiten. Ein Blick auf die Gegebenheiten lässt hinter dieser Anklage der moralischen Verderbtheit von Individuum und Gesellschaft den historischen Kern hervortreten. Erst bestimmte Entwicklungen innerhalb einer kapitalistisch organisierten, industriellen Gesellschaft, verschaffen den Lebensratgebern eine potenzielle Leser/innenschaft, die über die Möglichkeiten, die Voraussetzung für und das Interesse an einer Rezeption verfügt. Die deutsche Gesellschaft erfährt diese Veränderungen in einer kurzen Zeit, insbesondere die Jahrzehnte um die Jahrhundertwende sind durch eine „spektakuläre Dynamik“ (Ulrich Herbert) in der industriekapitalistischen Produktion gekennzeichnet, die zu massiven wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Veränderungen führt. Die deutsche Gesellschaft, die auch im 19. Jahrhundert noch in bedeutendem Umfang ag-

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rarisch und ständisch strukturiert ist, wandelt sich zu einer städtisch dominierten, kapitalistischen Marktgesellschaft. Große Wanderungsbewegungen führen den Industriestädten eine immer größere Zahl an volatilen Arbeiter/innen zu. 1907 wohnen etwa 50% der Deutschen nicht mehr an ihrem Geburtsort, sondern zumeist in großen Städten.1 In diesen gelten Regeln, Umgangs- und Verhaltensanforderungen, die sich von denen der Kleinstädte und des Landes radikal unterscheiden. Alte Orientierungslinien können hier keine dominante Gültigkeit mehr beanspruchen – das Geschlechter- und Generationenverhältnis, der Verkehr der sozialen Klassen, das Freizeitverhalten tariert sich neu aus und stellt ganz neue Anforderungen an die Subjekte. 2 Die räumliche Mobilität überträgt sich zu einem gewissen Teil auch auf die soziale Mobilität. Die soziale Durchlässigkeit der deutschen Gesellschaft erhöht sich im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwung ab den 1890er Jahren und führt – in begrenztem Umfang – zu sozialen Aufstiegsmöglichkeiten auch für Angehörige der Arbeiterklasse. Die Lebensverhältnisse erweisen sich zwar in den Mietskasernen der Arbeiterstadtteile als immer noch schwierig. Aber die Einkommens- und Arbeitsbedingungen verbessern sich bis zum Ersten Weltkrieg deutlich. Die Reallöhne liegen 1913 im Vergleich zu dem Jahr 1871 um 90 Prozent höher, die Arbeitszeiten nehmen ab und der Sonntag als freier Tag setzt sich allgemein durch.3 Mit der fortschreitenden Industrialisierung ist also nicht nur die Voraussetzung für Massenproduktion und Massenkonsum geschaffen. Die verbesserten Einkommensverhältnisse schaffen zudem eine gewisse Massenkaufkraft.4 Die Nachkriegszeit bringt, trotz anfänglicher dramatischer Inflations- und Reparationskrisen, weitere Verbesserungen: „Die Republik hatte mit der 40-Stunden-Woche und den ersten tariflichen Urlaubsregelungen überhaupt erst den Rahmen für die Freizeit der lohnabhängigen Massen geschaffen. Ursprünglich dem Bürgertum vorbehaltene Vergnügungen standen nun potenziell allen offen. So entstand die moderne Freizeit eigentlich erst in den zwanziger Jahren.“5

Ein dezidiertes gesellschaftliches Interesse an sich selbst regierenden Subjekten taucht sicherlich nicht zufällig mit größerer Vehemenz in einer Zeit auf, in der breitere Bevölkerungsgruppen über sowohl zeitliche wie materielle Ressourcen verfügen, aber – anders als das Bildungsbürgertum oder religiös sozialisierte Schichten – nicht auf tradierte Selbstführungspraktiken zurückgreifen oder aber sich von ihnen loslösen. Die Lebensratgeber schaffen mit ihrem universellen Geltungsanspruch, ihrer säkular-diesseitigen Finalität und einer subjektzentrierten Instruktionsform zahlreiche Anknüpfungsmöglichkeiten für diese Gruppen. Sie reagieren auf ein gewachsenes Interesse enttraditionalisierter und zugleich verunsicherter Bevölkerungskreise an gesellschaftlicher Teilhabe unter den Bedingungen der liberalen Moderne und spezifi1 2 3 4 5

Vgl. Herbert, Ulrich (2014): Die Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. München: Beck, 34. Vgl. Ebda., 44. Vgl. Ebda., 38 und Kroll, Frank-Lothar (2013): Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert; Bd. 1: Die Geburt der Moderne. Bonn: BpB, 74. Vgl. Peukert, Detlev (1987): Die Weimarer Republik. Krisenjahre der klassischen Moderne. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 175. Ebda., 175f.

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scher historischer Konstellationen. Die strukturell induzierten Wandlungsprozesse bringen auch massive Veränderungen der sozialen und mentalen Landschaft: die Auflösung alter Sozialmilieus und der Aufschwung neuer gesellschaftlicher Mentalitäten und kultureller Ausdrucksformen, die Ausbildung neuer Lebensstile und Subjektivierungsformen. Das frühe 20. Jahrhundert und besonders die Zeit ab den 1920er Jahren zeigt den zunehmenden Bindekraftverlust von politischen, sozialen und religiösen Lagern. Der Erste Weltkrieg und die Auflösung der wilhelminischen Gesellschaft im Zuge der politischen Umbrüche von 1918/1919 weichen die begrenzten Milieuerfahrungen und -ansprüche – vor allem der jüngeren Generation – auf und führen zu einer Suchbewegung jenseits von traditionellen Lebensformen: „Nach der Jahrhundertwende und dem Weltkrieg war offenkundig geworden, dass im Gegensatz zum offiziösen Bekenntnis des deutschen Staates zum Christentum die Säkularisierung immer weitere Bevölkerungsgruppen erreichte und die christlich geprägte Lebenswelt nicht mehr allgemeinverbindlich war […] Die Suche nach neuer Substantialität, neuen Werten, tiefen Gefühlen, großen Perspektiven war daher allgemein.“6

Die Lebensratgeber bieten hier Interpretationsschemata und praktische Verfahrensweisen zur Ausbildung einer Subjektivität, die den veränderten Partizipationsmöglichkeiten und Anforderungen einer großstädtischen, liberalen Moderne angemessener erscheinen als die starre Verteidigung einer überkommenen Bürgerlichkeit, wie sie häufig bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges zu beobachten ist. 7 Die Lebensratgeber sind Teil jener reformerischen Kräfte, die auch die privaten Bereiche des Lebens umzukrempeln gedenken, um es auf die veränderten Möglichkeiten und Bedingungen der modernen Massengesellschaft einzustellen. Nicht die Betonung der sozialen Distanz und Distinktion, sondern soziale Mobilität und gesellschaftliche Partizipation stehen für sie im Vordergrund. Die Lebensratgeber zielen prinzipiell auf eine vergrößerte Gestaltungsmöglichkeit für größere Bevölkerungskreise und führen – wie Peukert insgesamt dem Massenkonsum und dem Freizeitverhalten attestiert – zu einer gewissen kulturellen Nivellierung. 8 Zugleich werden die veränderten Verkehrsformen einer städtisch orientierten Moderne von den Zeitgenossen nicht nur als verheißungsvoller, geradliniger Weg in eine vielversprechende Zukunft angesehen, da sie von einer Reihe politischer, ökonomischer und kultureller Krisen begleitet werden. Die kapitalistische Modernisierung ermöglicht nicht nur Spielräume für eine Individualisierung der Subjekte, die von den Lebensratgebern als allgemeines Partizipationsversprechen an breitere Bevölkerungskreise jenseits von Milieu-, Schicht- und Klassenschranken adressiert wird, sondern sie induziert eine Reihe von Krisen-, Spaltungs- und Polarisierungstendenzen mit großer gesellschaftlicher Sprengkraft. Die Lebensratgeber, ihre Themen, ihre Dramatik und Rhetorik, sind ohne diesen Hintergrund nicht zu verstehen. Auf drei verschiedenen Ebenen sei an dieser Stelle die Krisenhaftigkeit der Epoche skizziert, nämlich die überfordernde Modernitätserfahrung, die widersprüchlichen

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Ebda., 238. Vgl. Herbert (2014), 47. Vgl. Peukert (1987), 178.

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Effekte einer rationalisierten Ökonomie und die Radikalisierung der politischen Auseinandersetzungen. Erstens, die Veränderungsdynamik der deutschen Gesellschaft erreicht die Zeitgenossen häufig als Wahrnehmung einer atemlosen, nervösen, überwältigenden Rastlosigkeit, die als bedrohlich erlebt wird. Der 1906 von Galizien nach Berlin reisende Bäckergeselle Jessaia Gronach beschreibt seine Gefühlslage in Anbetracht des großstädtischen Treibens: „Hier kam ich nicht in eine Stadt. Hier kam eine Stadt über mich. Hier fühlte ich mich überfallen, attackiert, nach allen Seiten gerissen von einem neuen Rhythmus, neuen Menschen, einer neuen Sprache, neuen Sitten und Gebräuchen. Ich musste an mich halten, Augen aufreißen, Muskeln anspannen, um nicht überrannt, nicht zermalmt, nicht zerquetscht zu werden.“ 9

Das städtische Leben mit ihrer Zusammenballung von Hunderttausenden Menschen auf engsten Raum konfrontiert den Einzelnen mit unzähligen verschiedenen Eindrücken, die ihn zur ununterbrochenen Verarbeitung nötigen. Die gewohnten Lebensund Wahrnehmungsweisen müssen sich in der Großstadt mit einer viel schnelleren Veränderungen anpassen, als im kleinstädtischen oder gar ländlichen Raum. „Geschwindigkeit, Organisation, Planung, erweiterte Arbeitsteilung, die veränderte Wahrnehmung von Raum und Zeit stellten neue Anforderungen und wurden vielfach als Überforderung empfunden.“10 Georg Simmel charakterisiert das Nervenleben der Großstädter als bis auf das Äußerste überreizt und die Abstumpfung und Ausbildung einer Blasiertheit scheint ihm die einzige Abwehrstrategie gegenüber einer sensorisch-vergewaltigenden Umwelt.11 Während aber Simmel gleichermaßen die Möglichkeiten der Großstadt für die Ausbildung und Kultivierung einer expressiven Individualität und damit einen Freiheitsgewinn hervorhebt, zeichnet die Mehrheit seiner Zeitgenossen ein bedrohlicheres Bild. So hält man den Anstieg von „Nervenkrankheiten“ wie der Neurasthenie für die direkte Folge einer unbewältigten, manchmal auch unbewältigbaren Moderne. Den diskontinuierlichen ablaufenden Wahrnehmungsweisen im großstädtischen Leben wird die Macht eingeräumt, den dünnen Reizschutz des Menschen zu verletzen. „Überraschendes und Plötzliches bricht in das Wahrnehmungsfeld ein, zerrüttet seine Struktur und verhindert dadurch die allmähliche, gelassene Erweiterung des Wissens. Die Übermacht der Stadt, ihre Autonomie als soziales Gebilde, zeigt sich zunächst an dieser Oppression der Sinne.“12 Der vermeintliche Verlust einer souveränen Reizbewältigung korrespondiert, in diesem kulturkritischen Diskurs, mit einem vermeintlich allgemeinen moralischen Niedergang in der Großstadt.13 Prostitution, Vergnügungssucht, Kriminalität scheinen ihnen eine direkte Folge der „Massengesellschaft“. Untergangsphantasien mischen 9 Herbert (2014), 42f. 10 Ebda., 44. 11 Vgl. Simmel, Georg (1903): Die Großstädte und das Geistesleben. In: Bücher, Karl; Petermann, Theodor (Hrsg.): Die Großstadt. Vorträge und Aufsätze zur Städteausstellung. Jahrbuch der Gehe-Stiftung Dresden. Bd. 9. Dresden: v. Zahn&Jaensch, 185-206. 12 Sofsky, Wolfgang (1986): Schreckbild Stadt. Stationen der modernen Stadtkritik. In: Die alte Stadt. Zeitschrift für Stadtgeschichte, Stadtsoziologie und Denkmalpflege (13),1-12; 5. 13 Ebda., 4.

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sich im deutschen Diskurs mit einer Idealisierung der Kleinstadt und des Landlebens. Die Land- und Provinzbewohner gelten in diesem antimodernistischen Fluchtreflex als Sinnbild für einen unverbildeten, fleißigen und tugendbewahrenden Arbeitsmenschen.14 Diese vorgeblich ganzheitliche Persönlichkeit wird der Vielfalt an Rollenangeboten der Großstadtgesellschaft gegenübergestellt. 15 Der Verlust gewohnter Bindungen und Verhaltensstandards fällt aber auch mit einer geschichtlichen Situation zusammen, in der neue verbindliche Leitbilder und Orientierungsformen noch nicht in Sicht sind oder sich noch nicht gesellschaftlich durchgesetzt haben.16 Die Kritik am großstädtischen Leben findet daher größte Verbreitung und wächst sich mitunter zu einer Opposition gegen die Moderne selbst aus.17 Nicht nur konservativ orientiertes Bildungsbürgertum, auch die kulturelle Avantgarde stimmt in diese Endzeitstimmung ein, wie etwa Georg Heym oder Rainer Maria Rilke. Die großstadtkritischen Stimmen sind zwar auch in anderen europäischen Ländern wie England und Frankreich vernehmlich (meist sogar bereits seit Ende des 18. Jahrhunderts), aber nur in Deutschland gewinnen sie ab Ende des 19. Jahrhunderts ihre charakteristische Radikalität.18 Herbert hält die Ausbildung einer manifesten Orientierungskrise gar für ein zentrales Kennzeichen dieser gehetzten und von der selbst angestoßenen Wandlungsdynamik überwältigten Epoche.19 Zweitens, die Rationalisierungsmaßnahmen, die auf einer zunehmenden Verwissenschaftlichung der Ökonomie aufsetzten, führen zu Ausschlusstendenzen sowie einer Standardisierung der Arbeit und in ihrem Gefolge zu Verlust- und Krisenerfahrungen für breitere Bevölkerungsschichten. Bereits vor dem ersten Weltkrieg erfolgt eine teilweise Erprobung des Taylorismus in den Betrieben. Dieser sieht eine wissenschaftliche Analyse der Arbeitsabläufe, ihre prozedurale Zerlegung und zeitliche Kontrolle vor, um Arbeitsabläufe normieren und dadurch effizienter gestalten zu können.20 Dies bedeutet für die Arbeiter/innen eine starke Zunahme „entseelter Arbeit“; sie ist eng eingetaktet in den Rhythmus streng vorgegebener Abläufe, die das Subjektive eliminiert. Die industrielle Produktion in den Fabriken ist dem arbeitenden Körper zugeschnitten und macht ihn zugleich zum bloßen Ausführenden von Arbeitstätigkeiten, deren Urheber er nicht mehr ist. Hinzu kommt der großflächige Einsatz neuer arbeitssparender Fertigungsmaßnahmen, wie zum Beispiel Werkzeugmaschinen oder der Einsatz des Fließbandes. Mit der Rationalisierung sind die Erwartungen einer umfassenden Modernisierung der Wirtschaft verknüpft; sie soll sowohl eine dynamische und prosperierende Entwicklung einleiten als auch die zerklüftete soziale Realität und die Interessengegensätze zwischen Arbeitern und Betriebsleitung 14 Sadowsky, Thorsten (1998): Agrarromantik und Großstadtkritik im Zeitalter der Aufklärung. In: Conrad, Anne; Herzig, Arno; Kopitzsch, Franklin (Hrsg.): Das Volk im Visier der Aufklärung. Studien zur Popularisierung der Aufklärung im späten 18. Jahrhundert. Hamburg: LIT, 103-120; 111. 15 Vgl. Lenger, Friedrich (2013): Metropolen der Moderne. Eine europäische Stadtgeschichte seit 1850. München: Beck, 240. 16 Vgl. Herbert (2014), 44. 17 Vgl. ebda., 45. 18 Vgl. Sofsky (1986), 2f. sowie Lenger (2013), 235. 19 Vgl. Herbert (2014), 44. 20 Vgl. Peukert (1987), 119f.

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aufheben. Besonders nach dem Ersten Weltkrieg ist schließlich eine verstärkte Rationalisierung von Organisationen zu beobachten. Um 1920 sind circa 600 private Vereinigungen, 86 staatliche Einrichtungen sowie 67 Prüf- und Forschungsstellen mit der Popularisierung, Umsetzung und Kontrolle von Rationalisierungsmaßnahmen beschäftigt.21 In den 1920er Jahren ist Deutschland das führende Land auf diesem Gebiet.22 Die zuerst von Gewerkschaften und Arbeitgebern gemeinsam befürwortete Taylorisierung der Produktion und der Einsatz neuer effizienter Fertigungsverfahren kann den sozialtechnischen Anspruch auf Aufhebung der Klassenkonflikte durch werksgemeinschaftliche Integration der Arbeiter aber nicht einlösen. Stattdessen setzen sie Entwicklungen in Gang, die auf Disqualifikation von bestimmten handwerklichen Tätigkeiten, verschärfte Segmentierung der Arbeiterschaft (in Gelernte und Ungelernte) und einen Sockel struktureller Arbeitslosigkeit hinauslaufen. Denn der Anstieg der Arbeitsproduktivität führt nicht, wie gewerkschaftlich erhofft, zu Lohnsteigerungen und Arbeitszeitverkürzung, sondern zu einer Entlassung von durch den technischen Fortschritt disqualifizierten Arbeitern. Dadurch entsteht in den 1920er Jahren der vorher unbekannte Typus des Dauerarbeitslosen, der sich zwar auf bestimmte Branchen und Regionen konzentriert, aber ein allgemeines Phänomen ist. „Die Rationalisierung eröffnete keineswegs das wohlgeordnete Vernunftsreich sozialtechnisch geführter Produktivität. In der Produktionstechnik bewirkt sie oftmals im Dienste höherer Rentabilität einen schnelleren menschlichen ‚Verschleiß‘. Erhöhte Produktivität je Arbeiter führte zu erhöhter Erwerbslosigkeit und damit zur Stilllegung von Arbeitskräftepotenzial. Visionen rationaler Lenkung auf betrieblicher und überbetrieblicher Ebene verblaßten vor der Realität bürokratischer Marktkontrolle und angesichts unaufhebbarer sozialer Gegensätze“. 23

Drittens, nicht nur die irrationalen Dynamiken der Wirtschaft, sondern auch die politischen Spaltungen und Kämpfe vor allem in der Zwischenkriegszeit tragen viel zum Bild einer Gesellschaft in der Krise bei. Die Weimarer Republik erlebt nur eine kurze Zeit relativer politischer Stabilität, in der es gelang, linke Ansprüche auf eine Fortsetzung der sozialen Revolution und aggressiv-nationalistische Bewegungen abzuwehren und einen zeitweiligen parlamentarischen Basiskompromiss durchzusetzen. Die politischen Auseinandersetzungen bringen die „ungeliebte Republik“ mehrmals an den Rand des Zusammenbruchs. Putschversuche und eine Paramilitarisierung der politischen Auseinandersetzung auf der einen Seite und die zunehmende parlamentarische Selbstobstruktion und die antiliberale Gesinnung zahlreicher Eliten auf der anderen Seite destabilisieren die Weimarer Ordnung und vermitteln den Eindruck einer tiefgreifenden Krise. Insbesondere die rechtsradikale Bewegung, deren Bekämpfung die politischen Entscheidungsträger deutlich weniger Gewicht beimessen als der radikalen Linken, behauptet sich nicht nur mittels Massenaufmärschen und der politischen Repräsentation in den Parlamenten, sondern beansprucht auch über die kulturelle Deutung (Dolchstoßlegende, die sog. Schmach von Versailles, Antisemitismus,

21 Vgl. Richter, Nancy (2014): Organisation, Macht, Subjekt. Zur Genealogie des modernen Managements. Bielefeld: transcript, 222. 22 Vgl. ebda. 23 Peukert (1987), 122.

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Antibolschewismus etc.) eine zunehmende gesellschaftliche Hegemonie und verschärft die politischen Konfrontationen. Die hier nur grob skizzierten Krisen- und Fraktionierungstendenzen der deutschen Gesellschaft, sind aber mehr als eine Krise der sozialen Ordnung, der politischen und ökonomischen Verfasstheit. Sie erschüttern das traditionelle, an das bürgerliche Subjekt angelehnte Subjektivierungsmodell. Die aufkommende ‚Massengesellschaft‘ mit dem Partizipationsstreben breiter Bevölkerungsschichten stellt nicht allein den gesellschaftlichen Vorrang des bürgerlichen Subjektes in Frage, die sozioökonomischen Umwälzungen im Gefolge der industriellen Massenproduktion lösen die Grundlage „bürgerlicher Innerlichkeit“ auf. Bereits Ende des 19. Jahrhundert büßt die (bürgerliche) Familie als autonome Sozialisationsagentur ihre Bedeutung sukzessive ein. Sie verliert in dem Maße an Autonomie und Stabilität, wie kapitalistische Großunternehmen die Familie als zentrale Reproduktionsinstanz ablösen und den Einzelnen in abhängiger Beschäftigung halten und zugleich eine sich entwickelnde staatliche Wohlfahrtsbürokratie die (notfall-)versorgende Funktionen der Familie übernimmt.24 Die Frauenbewegung und die Ausweitung der weiblichen Erwerbstätigkeit stellt zudem die soziale Herrschaft der Männer über Frauen in Familie und Öffentlichkeit zur Disposition (mithin die bürgerlich-patriarchale Männlichkeit), während die Arbeiterbewegung die Superiorität des Bürgertums in der Klassengesellschaft infrage stellt. Je mehr das bürgerliche Subjekt und seine soziale und politische Herrschaft an Legitimität verliert, umso mehr zeigt die deutsche (wilhelminische) Gesellschaft die Tendenz zur trotzig-restaurativen Verknöcherung. Repressive Verfolgung von Sozialdemokratie und Gewerkschaften auf der einen Seite und das ostentative Ausstellen einer unpolitischen sowie autoritätsfixierten Innerlichkeit auf der anderen Seite sind Ausdruck eines zutiefst verunsicherten, kriselnden bürgerlichen Subjekts. Gleichwohl behält die bürgerliche Lebensform und -führung für andere Bevölkerungsschichten eine gewisse Ausstrahlungskraft (zum Beispiel in Facharbeiterkreisen oder im Kleinbürgertum), auch wenn sich bereits unverkennbare Risse zeigen. Nicht zuletzt die Reformbewegungen aus dem Bürgertum heraus, wie die Jugendbewegung im Kaiserreich im frühen 20. Jahrhundert zeigen den fragilen Status des bürgerlichen Subjekts und seiner nicht mehr selbstverständlichen Vorherrschaft an. Sie kritisieren die Erstarrung und Ermüdung der bürgerlichen Gesellschaft, die man von Rationalismus und Materialismus geprägt sieht. 25 Man stellt ihr ein naturromantisches und asketisch-kämpferisches Subjektideal gegenüber, welches man in männerbündisch organisierten Gruppen, auf Wanderfahrten und im Lagerleben ausleben will. Wir finden hier eine weitere historische Manifestation für eine Abkehr und Abschottung von einer als degeneriert empfundenen Welt in autoritäre Gegenkulturen und in neue Formen der Selbst- und Lebensführung. Der erste Weltkrieg ist schließlich der Katalysator für die Krise und den Untergang der wilhelminischen Gesellschaft und der mit ihr verbundenen Konventionen, Orientierungen und Werthaltungen. Der Erste Weltkrieg lässt nicht nur die sozialen Widersprüche der deutschen Gesellschaft mit verstärkter Vehemenz wieder aufbrechen, er verstärkt die Frontstellung gegen das bürgerliche Zeitalter. Der Untergang des wilhelminischen Reiches 24 Vgl. Sonntag (1986), 159ff. 25 Vgl. Schulze, Hagen (1969): Freikorps und Republik 1918-1920. Boppard am Rhein: Harald Boldt, 57.

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bedeutet für viele Menschen auch den völligen Zusammenbruch des Glaubens an lange Zeit dominierende Wertvorstellungen wie Vernunft oder auch die selbstverständliche Akzeptanz der Obrigkeit, die schon in der Vorkriegszeit in die Kritik gerät. An seine Stelle tritt in der Weimarer Zeit ein Pluralismus von Interessen, eine neue Unübersichtlichkeit der politischen Orientierungen, der sozialen Verkehrsformen und ein In-Fluss-Kommen tradierter Lebensformen und des Geschlechtermodells. Diese bereits in der Vorkriegszeit sich entfaltenden, nur durch den „Burgfrieden“ still gestellten sozialen und mentalen Modernisierungstendenzen der deutschen Gesellschaft brechen sich aber erst unter den liberalen Verhältnissen der Weimarer Republik Bahn. Diese werden wiederum von Teilen der deutschen Gesellschaft als bedrohlich erlebt. Nicht nur völkisch, nationalistisch und rechtsradikal orientierte Milieus, sondern auch größere Kreise der Arbeiter/innenbewegung weisen autoritäre Haltungen auf und schotten sich gegen liberale Lebens- und Selbstverhältnisse ab.26 Besonders aggressiv und politisch wirkmächtig erweisen sich dabei bestimmte Teile der desillusionierten, sozial entwurzelten und psychisch verrohten Kriegsheimkehrer. Ihre Unfähigkeit, sich mit dem zivilen Leben innerhalb der neuen Verhältnisse abzufinden, führt zur Gründung von Freikorpsverbänden, die eine soldatisch-kämpferische, antibürgerliche Selbst- und Lebensführung aufrechterhalten.27 Sie sind, ähnlich wie ein großer Teil der Selbstführungsliteratur dieser Zeit, von einer Frontstellung gegenüber einer widersprüchlichen, zerklüfteten und pluralen Moderne getragen, die in aggressive Abschottung gegenüber allem, was als „schwach“, uneinheitlich und ambig erlebt wird, mündet. Der politische Kampf gegen die „braven Bürger“, die „Faulenzer“, die psychisch Kranken, gegen die „Fremden“, aber auch gegen sinnliche Versuchungen, wird zur Überlebensstrategie eines Subjektes, das sich gelockt und überwältigt sieht.28 Sie praktizieren eine Form der Selbst- und Lebensführung, die auf einer Glorifizierung von Unnachgiebigkeit und Disziplin fußt. Nach außen manifestiert sie sich als Verfolgungs- und Vernichtungswut gegenüber ihren Gegnern und nach innen als Gefühls- und Sinnenpanzer. Die Vorliebe für militärische Umgangsformen, klare Hierarchien und Führungsstrukturen sind Reaktionsformen eines hochgradig fragilen Subjektes, das sich ohne Zwang und Drill der existenziellen Vernichtung als Subjekt preisgegeben glaubt. Die Lebensratgeberliteratur entsteht also in einer historischen Situation, in der sowohl die Notwendigkeiten und die Möglichkeiten für eine Selbstführung aufkommen, zugleich aber die gesellschaftlichen Krisen- und Fraktionierungstendenzen offenkundig werden und traditionelle Orientierungsmuster verloren gehen. Die Lebensratgeberliteratur bietet Interpretationsschemata (die wiederum eine historische Konstruktion waren, siehe Daseinskampf) und gibt den Einzelnen Instrumente in die Hand, auf eine subjektzentrierte Weise auf die Krisen und Herausforderungen der Zeit zu reagieren. Die Lebensratgeber lassen die krisenhaft verfasste liberale Gesellschaft vor allem als ein Problem der Krisenverfasstheit der Subjekte selbst erscheinen. Sie markieren damit genau den Ort, an dem die Krise und Versprechen der liberalen Moderne einer Lösung zugeführt werden sollen – dem einzelnen Selbst. 26 Vgl. Bonß, Wolfgang; Fromm, Erich (1980): Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches. Stuttgart: DVA. 27 Vgl. ebda., 59. 28 Vgl. Theweleit, Klaus (2000): Männerphantasien, Bd. 2. München/Zürich: Piper, 12ff.

Die 1920er Jahre: Zeitgeschichtliche Situierung

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Der Selbstführungsdiskurs fungiert daher als ein Öffner und Schließer für historische Subjektivitäten. Er entfaltet ein feines Instrumentarium für das Registrieren von Krisen- und Umbruchsituationen und problematisiert überkommene Formen der Selbstführung. Zugleich fungiert er als eine Art Relaisstation für die Popularisierung neuer angepasster Subjektivierungspraktiken und Integrationsformen. Die Lebensratgeberliteratur bietet ihren Leser/innen zahlreiche Anknüpfungspunkte für die lebensweltliche Implementierung moderner Verkehrsformen. Der Diskurs um den Willenshelden hat gezeigt, dass er einerseits autoritäre, mitunter elitäre Vorstellungen von einer soldatisch-verpanzerten Führungspersönlichkeit bedienen kann, die sich in den zwanziger und dreißiger Jahren als totalitäre Alternative zum „Chaos von Weimar“ inszeniert hat. Er hat aber auch gezeigt, dass er diese Figur in ein individuelles Selbstverbesserungsprogramm münden lässt, das auf eine ökonomische und soziale Integration in die bestehende liberal verfasste Gesellschaft hinausläuft und eine Skepsis gegenüber Massenmobilisierung, Kollektivdenken und politischer Agitation und Fremdführung behauptet. Letztlich nimmt es so nicht wunder, dass die Lebensratgeber im Zuge der nationalsozialistischen Herrschaft fast vollständig verschwinden oder nur noch in Verfallsformen weiterexistieren. Dies ist historisches Zeugnis dessen, was wir als liberale Strukturdynamik des Genres bezeichnet haben. Die Figur des Willenshelden, das allgemeine Untergangs- und Weltenwendepathos, das von den Autoren bemüht wird, und die Aussicht auf eine glänzende Zukunft zeigen aber auch vor dem Hintergrund der Epochenkrise der 1920er Jahre, wie stark sich der Einzelne von einem gesellschaftlichen Ausschluss und den damit verbundenen Gefahren bedroht sieht. Nur ein auf alles gefasster und zu allem entschlossener Willensheld wird in der Lage gesehen, den vielfältigen Bedrohungslagen Herr zu werden und seine Partizpiationschancen zu ergreifen. Die Lebensratgeber bieten einen Ausweg aus den Überreizungen der Moderne, den segregierenden und entsubjektivierenden Arbeitsbedingungen und den Anrufungen einer radikalisierten Massengesellschaft, ohne dass sie selbst auf totalitäre Antworten verfallen. Der Willensheld erscheint so als eine spezifische Verarbeitungsform einer schwer ins Taumeln gekommenen liberalen Moderne, im Geiste des Liberalismus.

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Rekonstruktion zeitspezifischer Wissensformationen

Der Selbstführungsdiskurs jeder Epoche beruht auf einer Reihe voraussetzungsvoller Annahmen, Vorbedingen, impliziter Setzungen, wissenschaftlicher wie kultureller Verweise. Diese werden in der Regel selten als solche gekennzeichnet, da es den Lebensratgebern mehr um die bilderreiche Projektion eines bestimmten (Bedrohungsbzw. Problematisierungs-)Szenario zur Plausibilisierung des Selbstführungsgedankens geht und eine darauf folgenden Anleitung als um ein argumentative, vernunftsinnige Diskussion der Grundlagen für ihre weitreichenden Behauptungen und transformativen Programme. Und doch sind gerade die Lebensratgeber getragen von zahlreichen Bezugnahmen auf wissenschaftliches und kulturelles Wissen, die aus heutiger Sicht kaum in ihren Details abrufbar und folglich kaum erkennbar sind. Tatsächlich geschieht dies weder zufällig noch willkürlich. Der Diskurs der Lebensratgeber zieht all jenes Wissen einer Zeit an sich heran und adaptiert es für sich, das ihm nützlich und tauglich erscheint, den Leser/innen die Idee der Selbstführung einzuschärfen und den Modellen der Selbstführung einen überzeugenden und legitimen Unterbau zu geben. Letzteres ist umso wichtiger, als der Diskurs der Lebensratgeber ein reiner Laiendiskurs ohne professionellen Bezugsrahmen ist und er sich daher mit äußeren, Autorität erheischenden Gewissheiten aufladen muss. Das kann wissenschaftliches Wissen, bestimmte Praktiken und kulturelle Topoi der Epoche einbeziehen. Er muss für seine Leser/innen decodierbar, verständlich und auf der Höhe der spezifischen Diskurse der Zeit sein. Er muss als lebenspraktisch wirkende und freiwillig von den Leser/innen umzusetzende Schulung für die Einzelnen plausible Interpretationen der eigenen Lage liefern (und natürlich auch dementsprechende Lösungen). Die Lebensratgeber stellen eine ganz bestimmte Verarbeitungsform dieses Wissens dar, das sich nicht immer unbedingt mit seiner ursprünglichen Form deckt. D.h. sie weichen in wichtigen Punkten von den Annahmen und Prämissen ab, verdichten, prägen um oder modifizieren sie, wenn es ihnen geboten erscheint. So ist die Idee eines grenzenlos steigerbaren Willens zwar von Annahmen der Thermodynamik getragen, widerspricht aber in wichtigen Punkten einer zentralen Prämisse der Thermodynamik. Es wird Aufgabe des nächsten Kapitels sein, zu rekonstruieren, auf welche zeitspezifischen Wissensformationen der Diskurs um den Willen bezogen ist und wie er sich davon absetzt und ein ganz eigenes, charakteristisches Feld absteckt.

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2.1 WILLENSPSYCHOLOGIE Die Beschäftigung mit dem Willen, seiner Schwäche, seinen Hemmungen und den Möglichkeiten, ihn im Dienste der Gesundheit und Leistungsfähigkeit zu stärken, reicht bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts zurück. Anders als die philosophischen Debatten um die Willensfreiheit, die wesentlich weiter zurückreichen, ist die Problematisierung des Willens durch Ärzte, Physiologen, Psychologen und Arbeitswissenschaftler im 19. Jahrhundert nicht mehr von moral- oder transzendentalphilosophischen Erwägungen geprägt.1 Die Philosophie verliert ihre dominante Rolle für die Beschreibung des menschlichen Seelenlebens im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend an die entstehende Biologie, die Physiologie und Psychologie, womit sich auch die Fragestellungen, ja überhaupt der Gegenstand verändern. Man nimmt Abstand davon, einheitliche Wirkungsgesetze der Seele feststellen zu wollen, da die Konzeption einer Seele als eines lokalisierbaren Ortes, von dem die lebens- und antriebsspendenden Kräfte ihren Ausgang nehmen, sich auflöst. An ihre Stelle tritt das Bewusstsein, dessen einheitsstiftender Rahmen verloren geht, nämlich verwiesen zu sein auf eine transzendentale Realität. Das Bewusstsein ist nun gerade dadurch geprägt, dass es aus heterogenen Einzelteilen besteht (Reize, Empfindungen, Wahrnehmung etc.), deren Wirkungen zwar (experimentell) erforschbar werden, die aber die Frage nach dem, was die Gesamtheit der einzelnen Elemente ausmacht, was sie verbindet und sichert, prekär werden lässt.2 Bei Wilhelm Wundt, dem Vater der experimentellen Psychologie, finden sich als Reaktion auf diese konzeptionelle Unbestimmtheit das Bewusstsein und seine einzelnen Elemente grundsätzlich verzeitlicht. Das Bewusstsein stellt sich nicht mehr als eine feste, a priori bestimmbare Entität dar, sondern als eine „ständiges instabiles ‚Feld‘ von fortwährend wechselnden Impressionen, Vorstellungen und Assoziationsbildungen“.3 Es handelt sich dabei nicht um einen vorübergehenden oder insuffizienten Zustand, vielmehr ist das Bewusstsein seiner Struktur nach bereits ein Schauplatz veränderlicher Prozesse und Vorgänge. Die Einheit der Prozesse stellt sich immer nur zeitlich begrenzt her und nur noch ausgehend vom unmittelbar inneren Erlebnis des Einzelnen und damit – dies ist hier entscheidend – von seinem willentlichen Verhalten her ein. So weist Wundt bei der Untersuchung der Wahrnehmung nach, dass sich das Bewusstsein in einem beständigen Wechsel zwischen zwei Zuständen befindet, einmal in einer diffusen, undifferenzierten Wahrnehmung eines gesamten Blickfeldes und einem zweiten, bei dem ein bestimmtes Objekt in den Blickpunkt gerät. Die Fokussierung der Aufmerksamkeit geschieht als willentlicher Akt, bei dem alle störenden, nicht wesentlichen Elemente ausgeblendet werden und so ein differenziertes Erfassen ermöglicht wird. Der Wille wird bei Wundts Apperzeptionstheorie zunehmend stärker in den Mittelpunkt psychischen Geschehens gerückt und bezeichnet mehr als eine erst nachgeordnet ins Bewusstsein tretende Eigenschaft. Vielmehr sei, so Wundt, der Wille das bestimmende Element einer tätigen Aufmerksamkeitslenkung und somit auch allen anderen seeli1 2 3

Vgl. Stöckmann, Ingo (2009): Der Wille zum Willen. Der Naturalismus und die Gründung der literarischen Moderne 1880-1900. Berlin: de Gruyter, 5f. Vgl. Sonntag, Michael (1986): Die Seele als Politikum. Psychologie und die Produktion des Individuums. Berlin: Dietrich Reimer Verlag, 55f. Stöckmann (2009), 27.

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schen Geschehens, das von der Aufmerksamkeit abhängig ist, was für ihn im Prinzip jegliche Bewusstseinstätigkeit ist. Er erhielt eine Sonderrolle, die ihn weit von der vermögenspsychologischen Konzeption, wie sie bis zum 19. Jahrhundert üblich war, entfernte. Statt, dass der Wille eine substanzielle psychische Gegebenheit neben dem Fühlen und Denken darstellt, der dem Menschen angeboren ist und quasi von sich aus seiner Verwirklichung entgegenstrebt, ist er zu dem Grundprinzip psychischen Geschehens emporgehoben worden. Über ihn lässt sich nicht mehr wie über eine stoffliche Gegebenheit verfügen, er ist stattdessen nur aktivisch als situativer Zustand herstellbar. Die Skepsis der naturwissenschaftlich orientierten Wissenschaften gegenüber fest konstellierten Grundelementen des Psychischen führt in der Konsequenz zur einer radikal verzeitlichten Wahrnehmung und ungeheuren Dynamisierung des psychischen Geschehens.4 In deren Folge wird dem Willen, der mit der Bewusstseinstätigkeit schlechthin zusammenläuft, eine Bedeutung zugewiesen, wie sie für die Diskurse der Willensschulen grundlegend sind. Allerdings fehlen ihm noch die inneren Bestimmungen, ist er doch bei Wundt noch stark in die peripheren Bereiche des Seelenlebens verlegt worden, in die Welt der Sinnesempfindungen und Reizschwellen. Während andere physio-psychologische Forschungen im ausgehenden 19. Jahrhundert das in seine Einzelelemente zerfallene Seelenleben auf bestimmte Aspekte hin untersuchen, wie z.B. das Gedächtnis (durch Ebbinghaus), gerät der Willensbereich erst Anfang des 20. Jahrhunderts als isolierbares und damit experimentellen Untersuchungen zugängliches Gebiet in den Blick. Der deutsche Psychologe Narziss Ach entwickelt im Anschluss an die Ebbinghausʼsche Methode zur Untersuchung der Gedächtnisleistung ein Verfahren zur Untersuchung des Willens, das ihn systematischen Beobachtungen zugänglich macht. Er nutzt ein sogenanntes kombiniertes Verfahren, das darin besteht, seine Probanden sinnlose Silben nach abgestuften Lernreihen laut auswendig lernen zu lassen.5 Er zeigt in diesen Untersuchungen, dass ähnlich wie bei einer Maschine im Akt der Willensrealisierung Reibungsverluste entstehen, die aber erst die dynamische Seite des Wollens in Gang bringen.6 Die Schlussfolgerung von Ach kommt der theoretischen Vorbereitung einer Willensgymnastik schon sehr nahe – denn je mehr sich dem Willen Hindernisse in den Weg stellen, umso größer die Intensität des Wollens. Die aus einer erfolgreichen Willenshandlung resultierende Steigerung des Lebensgefühls wird „nur durch ernstes und immer wiederholtes Wollen [gewonnen], das gegen äußere und innere Hemmnisse, auch solche der intensivsten Art, mit Energie vorgeht und sie durch den Erfolg überwindet“.7 Die Steigerungswirkung ist also genauso situativ begrenzt, wie sie auf beständige, tätige Wiederholung angewiesen ist. Es lässt sich leicht ersehen, wie Ach den Bereich des Willens für die Zwecke der Übung öffnet. Der Wille beginnt bei Ach über eigene Vorgänge und Gesetzmäßigkeiten zu verfügen, die ihn für einen punktuellen Zugriff zugänglich machen. Die schwankenden 4 5 6 7

Vgl. ebda., 31. Wir sehen, welche Nähe zwischen wissenschaftlichen Testverfahren und Willenstechniken der Lebensratgeber bestehen kann. Ausführlich in: Ach, Narziss (1910): Über den Willensakt und das Temperament. Eine experimentelle Untersuchung. Leipzig: Quelle&Mayer, 24ff. Ebda., 14.

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Zustände des Wollens, die bei Wundt noch einem natürlichen Wechsel der Aufmerksamkeit entsprechen, sind bei Ach Folgen der hemmenden Leistung bestimmter isolierbarer Störgrößen. Damit verliert der Wille seine physiologischen Begrenzungen und findet allein in seinen inneren Funktionsgesetzen Halt. Er wird damit frei für die der Moderne eigentümlichen Steigerungsimperative und Übungsreihen. Willensleistung ist nun Resultat eines optimalen Einsatzes der hemmend-aufreizenden Willenswiderstände. Es verwundert daher auch nicht, dass sich seine Ausführungen trotz ihrer abstrakten, experimentellen Grundlagen immer wieder im Bereich der praktischen Psychologie bewegen.8 Die Schnittstellen zwischen einer gänzlich lebenskundlich verstandenen Willensbehandlung und der wissenschaftlichen Expertise sind markiert.

2.2 THERMODYNAMIK, ERSCHÖPFUNGSFORSCHUNG UND ÜBERBÜRDUNGSFRAGE Wichtige Bestimmungen erhält der Wille zudem aus einer Begriffsrevolution, wie sie Anson Rabinbach genannt hat, die ein neues wissenschaftliches und kulturelles System für das ausgehende 19. Jahrhundert liefert. 9 Es zeigt sich, dass die Annahme eines trainier- und steigerbaren Willens wichtige Bestimmungen aus der Physik und Arbeitsphysiologie bezieht. Durch diese gewinnt er seine fortschrittsverheißenden, aber auch bedrohlichen Implikationen. Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelt sich ein neues Verständnis des Menschen in seiner (industrialisierten) Umwelt. Ausgehend von den gravierenden Umwälzungen im Zuge der industriellen Revolution und dem mit ihr einhergehenden Aufschwung naturwissenschaftlicher Erklärungsmodelle, werden die traditionellen Vorstellungen vom arbeitenden Menschen abgelöst. Das traditionelle Arbeitsethos, das den Menschen entweder angetrieben durch die Suche nach spiritueller Erlösung sieht oder seine edle Bestimmung in Gegensatz zur mühseligen Plackerei der Arbeit stellt, verliert an Erklärungskraft. Die Arbeit ist nicht mehr Träger eines transzendenten Sinns oder moralisch fragwürdig, sondern Ausdruck einer „Kraft“. Diese Kraft entfalte sich sowohl in der produktiven Arbeit des Menschen, als auch in den Verrichtungen der Maschinen. Kraft wird zu einem Gesetz der belebten und unbelebten Materie, was dazu führt, dass Mensch und Maschine einander immer ähnlicher werden. Eingeleitet durch die Formulierung thermodynamischer Gesetze durch Helmholtz entwickelt sich die Vorstellung, dass das Treiben der Natur, die mechanische Leistung der Dampfmaschine und die produktive Tätigkeit des Menschen nur verschiedene Formen einer einzigen universellen Kraft sind. Sie sind nur die spezifischen Erscheinungsformen einer viel grundlegenderen abstrakten Entität. Sie sind prinzipiell verlustfrei ineinander transformierbar, so dass sich der Vorrat an gesamtverfügbarer

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So erweist sich die „strenge Einhaltung von Lebensmaximen“ als die beste Grundlage für die Realisierung selbstgesteckter Ziele und die gelegentlichen Misserfolge können sich äußert günstig auswirken, wenn sie vom Einzelnen dazu genutzt werden, den freigesetzten Ärger für ein erneutes, intensiviertes Wollen anzustauen etc., vgl. ebda., 8 und 15. Rabinbach, Anson (2000): Motor Mensch. Kraft, Ermüdung und die Ursprünge der Moderne. Wien: Turia&Kant, 11.

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Kraft nicht ändern kann (Gesetz von der Krafterhaltung). Ihr kann weder etwas hinzugefügt noch kann sie verringert werden. Schon bald wird dieser Optimismus der Krafterhaltung durch die Formulierung eines ihm widersprechenden Gesetzes zurückgenommen oder zumindest in eine schwere Ambiguität gestürzt. Denn jede Übertragung der Kraft von einem Körper auf den anderen produziert unter bestimmten Bedingungen notwendig eine gewisse Menge an Energieverlusten, die sich mit zunehmender Dauer aufsummieren und damit die zur Verfügung stehende Gesamtmenge an Kraft verringere. Dieses Phänomen wird als Entropie bekannt. Das Tätigwerden von Mensch und Maschine ist daher nicht nur Ausdruck einer universalen Kraft, sie kann sich auch erschöpfen. Die Idee einer universalen, frei transformierbaren Kraft, der die Gefahr ihrer Erschöpfung innewohnt, affiziert weitere Kreise der Wissenschaften Ende des 19. Jahrhunderts, von der Medizin bis zur Ökonomie, und setzt eigene Forschungsvorhaben in Gang. Die Arbeitswissenschaften beginnen Studien über die Ermüdbarkeit des menschlichen Körpers anzufertigen und messen mit eigens dafür konzipierten Apparaturen das Verhalten der Muskeln unter Belastung. 10 Die Medizin sorgt sich um die übermäßige kräftemäßige Auszehrung des menschlichen Körpers und Geistes und warnt vor seiner krankhaften – neurasthenischen – Schädigung.11 Die Pädagogik treibt wiederum die Sorge um die verschulten Kinder um, die durch geistige Überbürdung bereits früh ihre Nervenkraft einbüßen und kaum mehr imstande sind, unter den Bedingungen des Daseinskampfes zu bestehen. Es werden psychologische Techniken in Schulen und Universitäten eingesetzt, um die geistige Ermüdung in Abhängigkeit unterschiedlicher Belastungsbedingungen zu messen und in der Folge die Schüler/innen nach ihrer Arbeitsfähigkeit zu selektieren.12 Die Willensproblematik der Selbstführungsdiskurse nimmt die Sprache der Arbeit, Energie und Krafterhaltung selektiv auf und führt sowohl die fortschrittsoptimistischen als auch die degenerativen Bestimmung mit, ohne jedoch deckungsgleich mit dem thermodynamischen Paradigma zu werden. Analog zur mechanischen oder elektrischen Kraft war auch die Willenskraft rückführbar auf eine einzige universale Kraft, ja genauer noch, der Wille nimmt selbst die Bestimmungen dieser abstrakten Entität an. Der Wille wird nicht nur eine konkrete Ausprägung dieser abstrakten Kraft, sondern selbst zu einer unspezifischen, substanzlosen Entität, die es möglich macht, völlig disparate Verrichtungen (Selbsttechniken) konvergieren zu lassen. So dient beispielsweise die Morgengymnastik gleichermaßen der Steigerung der Willenskraft wie das gleichzeitige Zeichnen von Kreis und Quadrat mit zwei Händen. Beide sind über die Willenskraft miteinander verbunden und können so von verschiedenen Orten und Übungen aus Energien freisetzen, von denen die andere Übung oder Tätigkeit profitierte. Dieser Vorstellung nach vermehrt sich die unspezifische Kraft des Wille an konkreten Objekten, wie zum Beispiel der körperlichen Ertüchtigung, um sie wiederum an anderer Stelle abzugeben, die nichts mit Gegenstand der Übung zu tun haben muss. Die Willensübungen haben also einen transgressiven Charakter. Sie haben neben dem klar eingrenzbaren Ziel der Verrichtung den Effekt,

10 Vgl. Ebda., 17 und 211ff. 11 Vgl. Ebda., 175ff. 12 Vgl. Ebda., 181.

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die allgemeine Willensenergie zu steigern, welche sich wiederum universal in beliebige andere Willenshandlungen einsetzen lässt. Über den energetisch aufgefassten Willen haben die Subjekte aber gleichermaßen Anteil an den Problematiken, die sich an seine Erschöpfbarkeit knüpfen. Auch die Willenskraft ist davon bedroht, dass kleine Reibungsverluste sich zunehmend zu einer nahezu vollständigen Verausgabung verfügbarer Energie aufsummieren. Seelische Energien können aufgrund einer falschen Verwaltung der Kräfte ungenutzt abfließen oder sich sogar gegen die Subjekte richten und sie so weit schädigen, dass sie dauerhaft im Zustand der Schwäche verbleiben. Besonders die exzessive Verteilung des Willens auf verschiedene Objekte bringt die Energiebilanz des Einzelnen in schwere Nöte. Die Willensthematik teilt daher auch gewisse kulturpessimistische Annahmen über eine sich selbst auszehrende Moderne, die den Subjekten eine falsche Verausgabung ihrer Kräfte abfordert. Doch hat die Nähe der Willensschulen zum thermodynamischen Paradigma auch deutliche Grenzen. Die Willensschulen sind keine Agenten naturwissenschaftlicher Diskurse, sie sind keine neutralen Relais in der gesellschaftlichen Popularisierung thermodynamischer Annahmen. Man sieht leicht, wo sie Anleihen nehmen, aber öfter noch entfalten sie die Willensproblematik gegen die Annahmen der Thermodynamik. Die Verheißung, dass die Subjekte bei entsprechender Selbstführung einen Zugang zu einem nahezu unendlichen Kräftereservoir haben, macht als Anrufungsstrategie in Lebensratgebern durchaus Sinn, in der thermodynamischen Auffassung von der Erhaltung der Kräfte, die weder verbraucht noch gesteigert werden können, ist sie schlicht fehl am Platze. Deutlicher noch wird die Differenz, wenn man versucht, den degenerativen Mechanismus des Entropiesatzes auf die Techniken zur Willenssteigerung anzuwenden. Er muss am Kern des Willensaktes vorbeigehen. Denn die Willensschwächung ist keine Folge einer sich notwendig abnutzenden Energietransformation, sie ist kein harter physikalischer Kausalzusammenhang, sondern ein moralischer Mangel. Die Willensschwachen haben sich in der Regel nicht zu viel verausgabt und leiden nun notwendigerweise an der Verringerung der Kräfte, sie haben sie falsch verausgabt. Und darin liegt die individuelle Verantwortung und zugleich die Möglichkeit der Regeneration, die gar nicht unter entropischen Bedingungen denkbar ist. Der Willensdiskurs bedient sich dort bestimmter energetischer Modellvorstellungen, wo er die Selbsttätigkeit der Subjekte und die Steigerbarkeit ihrer Subjektivität in den Rahmen einer naturwissenschaftlichen Allgemeingültigkeit stellen kann. Gleichzeitig zeigt er sich dort resistent gegen ihre Annahmen, wo sie moralische Kategorien zu unterlaufen drohen und den Einzelnen Mechanismen preisgeben, die die individuelle Verantwortlichkeit negieren. Dies liegt nicht in erster Linie an einem „spirituellen Rest“, den sich die Lebensratgeber bewahrt haben, sondern daran, dass sie einer gouvernementalen Rationalität angehören, die das Subjekt in eine völlig auf es selbst zulaufende Totalität einspinnt.13 13 Ingo Stöckmann behauptet, dass die Ratgeber zur Willensschulung bloße Sammelplätze von naturwissenschaftlichen Konzepten seien und sie sich nur aufgrund einer spirituellen Restverankerung über bestimmte thermodynamische Gesetzmäßigkeiten hinwegsetzen. Er übersieht, vielleicht auch wegen seiner spärlichen Quellenbasis (nur Gerling wird von ihm angeführt), dass die Autoren keineswegs unter naturwissenschaftliche Diskurse subsummierbar sind. Die Rezeption bestimmter naturwissenschaftlicher, psychologischer oder an-

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2.3 SOZIALDARWINISMUS, SOZIALLAMARCKISMUS UND DEGENERATIONSLEHREN Die Rede vom Daseinskampf ist in den Ratgebern so gebräuchlich wie kontrastreich. Es werden sowohl sozialdarwinistische Motive von der Auswahl des Besseren und Stärkeren aufgegriffen als auch die grundsätzliche Fähigkeiten aller Menschen zu sozialem Aufstieg und individueller Selbstverbesserung hervorgehoben. Der Willensdiskurs integriert sowohl Momente degenerativer Entstrukturierung des Willens (z.B. bei nervösen Leiden), zeigt sich aber auch zurückhaltend hinsichtlich einer genetischen Determinierung menschlichen Verhaltens. Wie ist das zu verstehen? Der Bezug auf eine biologische Handlungstheorie folgt einer spezifischen Logik, ohne aber, dass es den Lebensratgebern um eine wissenschaftliche Syntheseleistung widersprüchlichen Begriffe geht. Um zu verstehen, auf welche Weise auf das Topos des Daseinskampfes zugriffen wird, wo dessen Geltungsbereich anerkannt und wo er hingegen zurückgewiesen wird, muss man in Rechnung stellen, dass es sich bei der Übertragung biologischer Standpunkte auf das gesellschaftliche Geschehen selbst um widersprüchliche und gegenläufige Auslegungen handelt. Neben den bis ins 20. Jahrhundert überdauernden soziallamarckistischen Interpretationen existieren eine Reihe von Sozialdarwinismen, die verschiedene Lesarten des Gesellschaftlichen verbreiten.14 Das Verhältnis zwischen Subjekt und Gesellschaft im Rahmen der Biologie zu denken, erlebt ab Mitte des 19. Jahrhunderts eine Hochkonjunktur, die etwa bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs andauert.15 Ihr Einflussbereich reicht aber bis in die Weimarer Republik und vor allem in die NS-Zeit (in der das Konzept des Daseinskampfes auf einen Kampf zwischen „Rassen“ und Völkern ausgedehnt wurde). 16 Gesellschaftliche Prozesse wie die Entwicklung der Arten und der Menschheit sollen als ein einheitlicher Prozess der Natur erklärt werden: „‚Natur‘ und Kultur bilden ein Kontinuum; beide funktionieren nach den gleichen Prinzipien und sind deshalb mit den gleichen Methoden und Theorien zu erklären.“ 17 Besonders die agonale Auslegung des von Darwin eingeführten Begriffs des „struggle“ wird zu einem Schlüsselbegriff einer neuartigen Natur- und Kulturauffassung. Er löst das Paradigma einer stabilen und festgefügten Ordnung auf, das seit der Renaissance Geltung hat, zuguns-

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derweitiger wissenschaftlicher Vorstellungen ist weder rein eklektizistisch noch mimetisch, sondern folgt der liberalen Strukturdynamik des Genres. Vgl. Stöckmann (2009), 16 sowie ders.: Willensschwäche oder von der Selbstbemeisterung durch Gewohnheit. In: Kleeberg (2002), 336-345. Vgl. Vogt, Marcus (1997): Sozialdarwinismus. Wissenschaftstheorie, politische und theologisch-ethische Aspekte der Evolutionstheorie. Freiburg im Breisgau (u.a.): Herder, 192ff. Vgl. Sieferle, Rolf, Peter (1989): Die Krise der menschlichen Natur. Zur Geschichte eines Konzepts. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 61ff. Vgl. Puschner, Uwe (2014): Sozialdarwinismus als wissenschaftliches Konzept und politisches Programm. In: Hübinger, Gangolf (Hrsg.): Europäische Wissenschaftskulturen und die politischen Ordnungen in der Moderne (1890-1970). München: Oldenbourg Verlag, 99123, 107f. Sieferle (1989), 70.

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ten einer um Licht- und Lebensverhältnisse ringenden, dynamisch gefassten Welt. Als zentraler Evolutionsfaktor erweist sich z.B. bei Thomas Malthus der Bevölkerungsdruck, der dazu führt, dass die überzähligen Nachkommen um die endlichen Quellen der Nahrung konkurrieren müssen. 18 Die Theorie einer unbegrenzten Vermehrung der menschlichen Population bei begrenzten Ressourcen wird zur Vorlagen für eine Reihe biologisch unterlegter gesellschaftlicher und individueller Entwicklungstheorien. Bei Herbert Spencer beispielsweise sollte dieser Kampf um die Existenzgrundlagen (idealerweise) kulturelle Anstrengungen freisetzen, welche die Besten zum Überleben begünstigen, also jene, die über die größte Intelligenz, Selbstkontrolle oder Anpassungsfähigkeit verfügen. In den Willensdiskurs gehen neben dieser allgemeinen Charakterisierung evolutionärer Gesellschaftstheorie Motive ein, die auf zwei Spielarten der biologischen Handlungstheorie zurückgeführt werden können, nämlich auf eine liberale Ausprägung des Sozialdarwinismus, wie sie beispielsweise durch den besagten englischen Soziologen Herbert Spencer in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vertreten wird,19 und auf soziallarmarckistische Positionen. Zunächst nehmen die Willensschulen mit dem liberalen Sozialdarwinismus eine ähnliche Blickachse ein. Die Entwicklung der individuellen Fähigkeiten unter dem Handlungsdruck evolutionärer Erfordernisse, aber ohne den Zwang staatlicher Eingriffe, bilden für sie die treibenden Kräfte des Fortschritts der Gesamtheit. Die Gesellschaftsordnung soll so gestaltet sein, dass sie den Anpassungsdruck, der von einem konkurrenzförmigen sozialen Verkehr ausgeht, nicht abschwächt, sondern die Individuen gerade zur spontanen Realisierung ihrer Interessen auffordert. Dies soll die individuelle Leistungsfähigkeit erhöhen, die auch anderen von Nutzen sein kann, weil sie das gesellschaftliche Gefüge in Form einer Vermehrung materiellen Wohlstands, insgesamt stärkt. Doch hält man diese Form sozialer Integration, die sich im Prinzip als Nebenprodukt egoistischer Bestrebungen ergibt, für ungenügend, und es werden immer wieder Versuche unternommen, die biologischen Grundlagen für eine Anpassung des Individuums an die Gemeinschaft zu bestimmen.20 18 Malthus, Thomas Robert (1905 [1798]): Eine Abhandlung über das Bevölkerungsgesetz oder eine Untersuchung seiner Bedeutung für die menschliche Wohlfahrt in Vergangenheit und Zukunft, nebst einer Prüfung unserer Aussichten auf eine künftige Beseitigung oder Linderung der Übel, die es verursacht. Jena: Fischer. 19 Spencer, Herbert (1877): Die Principien der Biologie. System der synthetischen Philosophie 3. Stuttgart: Schweizerbart. 20 In diesem Sinne sind die Unternehmungen von Spencer, aber auch deutscher Soziologen in den 1870er Jahren zu verstehen, die Evolutionstheorie mit bestimmten Vorstellungen aus der Zellforschung zu kombinieren. Der Zellverband erscheint als Vorbild des Zusammenwirkens von stark differenzierten Einzelzellen zum Nutzen des gesamten Organismus, was auch für die menschliche Gesellschaft maßgeblich sein sollte (vgl. Vogt, 165f.). Die Synthese von individueller Selbstverbesserung und moralischem Handeln sollte vor dem Hintergrund des „Zellstaates“ plausibel werden. In den Willensschulen wird auf die eine oder andere Weise auf die Metapher des Zellstaates rekurriert, um ethisches Handelns mit einer biologischen Handlungstheorie zu verknüpfen. Der Einzelne bildet quasi die Zelle, zu deren Verbesserung er beiträgt und die sich letztendlich dem „Willen“ des gesamten Organismus unterordnet. So kann man ihn gleichermaßen auf sich selbst verpflichten und ihn an ein übergeordnetes Interesse binden. Vgl. u.a. Gerling (1918), 136.

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Zum anderen liefert die eigentlich von Darwin abgelöste Larmarckʼsche Theorie von der erblichen Weitergabe erworbener Eigenschaften den wesentlichen Bezugspunkt für eine evolutionstheoretische Unterfütterung der individuellen Selbstverbesserungsdiskurse der Lebensratgeber. Jean-Baptiste de Lamarck führte Anfang des 19. Jahrhunderts in seiner Evolutionstheorie an, dass Organismen ihre Eigenschaften, die sie während ihres Lebens erworben haben, an ihre Nachkommenschaft weitergeben können. Anders als im Sozialdarwinismus haben also die Lebensumstände sowie die individuelle Lebensführung einen entscheidenden Einfluss auf das erfolgreiche Handeln, aber auch auf abweichendes Verhalten und sogar auf die Ausbildung pathologischer Phänomene. Günstige und problematische Lebensverhältnisse bestimmen nicht nur darüber, ob sich gegebenenfalls ein „Normaltyp“ ausbildet, sondern sie schlagen sich auch im Erbgut nieder und haben so direkte Auswirkungen auf die Nachkommenschaft. Diese Auffassung findet in den Degenerationslehren von Bénédict Augustin Morel ihren Niederschlag, der vor allem auf die degenerativen Folgen abweichenden Verhaltens für die Erblinie abhob, die bis hin zum moralischen und physischen Verfall führen kann.21 Allerdings eröffnet sich dadurch die Möglichkeit sowohl sozialpolitischen als auch individuell-intervenierenden Handelns. Denn wenn die Lebensumstände und die Lebensführung so eng an den Fortschritt, aber auch Verfall gesellschaftlicher Entwicklung gekoppelt wird, erhalten selbstreformerische Programme einen allgemeine Sinn. Sie führen zur Erhöhung des Individuums, seiner Gesundheit und Leistungsfähigkeit und zum Fortschritt der Zivilisation in einem sich wechselseitig begünstigenden Kreislauf. Der Soziallarmarckismus kann also den Sinn von Selbstverbesserungsdiskursen vorzeichnen und gleichzeitig vor einem Verfall und einer Entartung der Kultur warnen. Dieses Doppelmotiv ist daher eine grundlegende Achse der Willensdiskurse. Sie amalgamiert Fortschrittsoptimismus und Degenerationsangst in Form einer hoch ambivalenten Anrufung des Willenssubjektes.

2.4 LEBENSREFORMBEWEGUNG Am sichtbarsten sind die Bezugnahmen der Lebensratgeber auf einige wichtige Themen der Lebensreformbewegung: auf Fragen der Ernährung (des Vegetarismus, der Abstinenz von Alkohol, Tabak, Gewürzen und ähnlichem), der gesundheitlichen Prophylaxe, der „naturgemäßen“ Kleidung und Schlafgewohnheiten. Die in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland entstandene Lebensreformbewegung war von einer Kritik an den Folgen der Industrialisierung, wie der Verstädterung, dem schlechten Hygienezustand in den Arbeitersiedlungen und einer „verkopften“ Schule, getragen, wie wir sie in ähnlicher Weise bei den frühen Lebensratgebern wiederfinden. Ein Blick auf die Autorenschaft der Lebensratgeber zeigt zudem, dass einige von ihnen direkt in Kontakt mit der Lebensreformbewegung standen. 22 21 Morel, Bénédict Augustin (1857): Traité des dégénérescences physiques, intellectuelles et morales de lʼespèce humaine: et des causes qui produisent ces variétés maladives; accompagné dʼun Atlas de XII planches. Paris [u.a.]: Baillière. 22 Reinhold Gerling verkörpert die Überschneidung zwischen Lebens- und Selbstreform sicherlich am offensichtlichsten. Er trat als Autor diverser Selbstführungsschriften auf, war aber gleichzeitig auch in der Naturheilbewegung aktiv und gründete in Berlin verschiedene

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Trotz des Interesses der Lebensratgeber an Ideen der Lebensreformbewegung und einigen sich partiell überschneidenden Wirkkreisen in Gestalt von Autoren wie Gerling muss das Verhältnis zwischen beiden ganz anders bestimmt werden als das einer einseitigen, direkten Abhängigkeit. Zu groß sind die strukturellen Differenzen, sei es in der Frage der vereinsmäßigen Organisation der Lebensreformbewegung, sei es im thematischen Monismus der verschiedenen sich in der Lebensreform organisierenden Bewegungen. Das Interesse dieser Vereine und Verbände an den Themen Vegetarismus, Naturheilkunde, Bodenreform oder der Antialkoholbewegung liegt darin, den Lebensalltag in seinen praktischen Vollzügen zu reformieren, hierin sind sie den Lebensratgebern ähnlich. Sie unterscheiden sich jedoch dadurch von den Ratgebern, dass das Verhältnis des Einzelnen zu seiner Subjektivität explizit nie in den Fokus gerät. Die Veränderung des Einzelnen geht schlicht in der veränderten Haltung zu Fragen der Ernährung, Kleidung, körperlichen Ertüchtigung auf. Das Subjekt ist in diesem Sinne identisch mit seinen Handlungen, während die Lebensratgeber gerade dieses Verhältnis als krisenhaft und ambig problematisieren und die Frage nach der Veredelung der Persönlichkeit tief ins Innere des Subjektes verlagern. Selbstreform ist für den Selbstführungsdiskurs somit keine Frage eines veränderten Verhaltens, sondern eines veränderten (Selbst-)Verhältnisses. Selbstführung ist nicht angewiesen auf bestimmte im Äußeren vorfindliche Möglichkeiten, sie ereignet sich vielmehr im Ereignishorizont der eigene Begierden, Willenskräfte und Entschlussfähigkeiten. Bei ihr gibt es in letzter Instanz keine schlechten Lebensverhältnisse, nur schlechte Selbstverhältnisse, daher auch die Affinität und Abhängigkeit von technischen Arrangements und systematischer Schulung. Die strukturellen Homologien sind eher in einem geteilten Horizont zu suchen, in dem die sich selbst steigernde Persönlichkeit als zentraler Wert der Lebensführung auftritt. Von ihr wird nicht nur ein rationales, zur Natur und Natürlichkeit zurückgefundenes Handeln erwartet, sie steht an der Front jeder makrostrukturellen Transformation, sie ist die Keimzelle des Neuen, in ihr sollen die Heilsversprechen ihren ersten und letzten Ausdruck finden.23 Die persönliche Reform des eigenen Lebens hat nicht nur Vorrang vor jeder Reform gesellschaftlicher Verhältnisse, in ihr gewinnt sie bereits ihren allgemeinsten Gehalt. Vom Leben des Einzelnen strahlt sie in die Gesellschaft aus und bewirkt wiederum die Umgestaltung anderer Individuen. Dieser grundsätzliche Optimismus gegenüber den Kräften des Einzelnen legt der bedrohlichen Einschätzung der gesellschaftlichen Zustände Grenzen auf. Lebensreform wie Vereine für Körperpflege. Er popularisierte die Hypnose, um Krankheiten durch die Stärkung natürlicher Selbstheilungskräfte zu bekämpfen, die er auch als Folge zivilisatorischer Fehlentwicklungen ansah. Heinrich Helmel wiederum gab zahlreiche Kurse in Fragen der Gymnastik, Körperpflege und Leibesertüchtigung. Die Leibesübungen standen gleichermaßen im Kontext von zahlreichen Abstinenzregeln und naturheilkundlichen Maßnahmen, wie Luft- und Lichtkuren, wie sie zu einer harmonischen Körperausbildung führen sollten, die sich vom Übungsziel reinen Leistungssport abzugrenzen hatte. Ausgehend von einer konsequenten und methodisch angeleiteten Betätigung und Ausbildung des Körpers wurden auch Auswirkungen auf das Geistesleben und die moralischen Empfindungen erwartet, also, wenn man so will, ein klassischer Ansatz der Körperkulturbewegung. 23 Vgl. Barlösius, Eva (1997): Naturgemäße Lebensführung. Zur Geschichte der Lebensreform um die Jahrhundertwende, Frankfurt/Main [u.a.]: Campus, 218.

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Selbstführungsdiskurs leiten zwar die Notwendigkeit transformativen Handelns aus einer modernitätskritischen und pessimistischen Perspektiven auf die Gesellschaft ab, die sie von Hast, Unruhe, Entseelung und Entwurzelung bestimmt sehen, jedoch ohne dass diese aber Überhand nehmen und damit eine strukturierte Lebensführung unterlaufen würde. Sei es nun der Körper oder der Wille, ihm werden vitalistische Kräfte unterstellt, die es möglich machen sollen, die ihn gefährdenden, schwach oder krank machenden Zusammenhänge zu überwinden. Besonders die Naturheilkunde beruht auf der Prämisse einer „‚Naturheil-‘ oder ‚Lebenskraft‘, unter der man eine Art immanente Restitutionsfähigkeit des Menschen versteht“, die gewisse Gemeinsamkeiten mit einer energetisch aufgefassten Willenskraft hat: „Sie gilt als Integrationsfaktor, der den ganzheitlichen Menschen zusammenhält und die Abwehrregulationen organisiert.“24 Zudem gilt die Lebenskraft als der entscheidende Faktor, der den menschlichen Entwicklungsprozess steuert, und zwar in Form einer Entelechie. Das aufstrebende Individuum entwickelt sich zu dem fort, was es bereits in sich trägt. Die Entwicklung nimmt die Form einer Evolution an, sie ist von spezifischen Gesetzen getragen und strebt einem bestimmten Ziel zu, nämlich der Höherentwicklung des Menschen. Die Lebensreformbewegung wie die Willensschulung zielen darauf ab, den Einzelnen für die individuelle Selbst-/Lebensverbesserung zu mobilisieren, für deren Plausibilität man sich gleichermaßen auf eine an Darwin begründete Entwicklungslehre bezieht: „Es entstand das futuristische Bild des ‚Neuen Menschen‘, das als säkularisierte Heilslehre der Moderne im Sozialismus, in der Jugendbewegung und in anderen Strömungen des frühen 20. Jahrhunderts verbreitet wurde.“ 25 Auch wenn man in unterschiedlicher Weise an diesen „alten Menschen“ herantritt, ihn einerseits in seinen körpergebundenen Vollzügen, anderseits in seinem Verhältnis zu sich selbst reformieren will, übt diese Vorstellung einen starken Sog auf beide Konzepte aus. Obwohl sie den Menschen den überzeitlichen Gesetzmäßigkeiten agonaler Selbstbehauptung ausliefert und diese zu einem modernitätskritischen Moment erklärt, entspricht die Idee einer Reform in eigener Regie doch sehr deutlich den Ansprüchen einer organisierten, liberal verfassten Industriegesellschaft.

2.5 ZUSAMMENFASSUNG: LIBERALE STRUKTURDYNAMIK UND DISZIPLINIERUNG – SELBSTFÜHRUNG ZWISCHEN KRISENBEWUSSTSEIN UND OPTIMISMUS Wir haben einige zentrale Momente des aufkommenden Regimes bereits an anderer Stelle eingeführt, um die Differenz zwischen modernen und vormodernen Selbstführungsdiskursen hervorzuheben. Es handelt sich dabei erstens um seine Subjektzentrierung, zweitens um die universalistische Adressierung und drittens um die säkulare Ausrichtung. Sie machen zusammen die liberale Strukturdynamik der modernen 24 Beide Krabbe, Wolfgang (2001): Die Lebensreformbewegung. In: Kai Buchholz; Latocha, Rita; Peckmann, Hilke; Wolbert, Klaus (Hrsg.): Die Lebensreform, Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, Band 1. Darmstadt: Häusser, 25-31; 27. 25 Ders. (2001): Biologismus und Lebensreform. In: ebda., 179-183; 179.

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Selbstführung aus. In ihr gewinnt der Diskurs sein distinktes Gepräge, sie stellten die Koordinaten dar, innerhalb derer die Rezeption angrenzender Diskurse Sinn erhält. Es sind diese ihm eigentümlichen Strukturdynamiken und weniger die schichtspezifischen Vorlieben oder habituellen Neigungen und Denkstile seiner Autorenschaft, die einer Problematik des ausgehenden 20. Jahrhundert eine spezifische Wendung geben, die wesentlich für die Begründung des Selbstführungsdiskurses ist: die Durchsetzung individueller Handlungsfreiheiten gegenüber dem Rückgriff auf deterministische Theorien. Dieses liberale Moment setzt sich gegenüber den diskursiven Rahmenbedingungen eigenmächtig durch: Wie gezeigt, sind den Modellvorstellungen der Willenspsychologie, der Thermodynamik und der biologischen Handlungstheorien wesentliche Elemente eigen, die sie für eine lebenspraktische Rezeption öffnen. Dennoch handelt es sich insbesondere bei den beiden letzteren um deterministische Theorien, die die autonomen Handlungsmöglichkeiten der Subjekte eng begrenzen. In der Logik dieser deterministischen Ansätze müsste man die Objekte dem freien Daseinskampf überlassen, der von sich aus den Stärksten zum Vorteil verhelfen würde, oder aber man setzt auf aktives staatliches Eingreifen in Form sozialhygienischer, eher bevölkerungspolitischer Interventionen, wie medizinische Diagnostik und Selektionsprogramme sowie die Isolierung der „Leistungsschwachen“ von den „Leistungsfähigen“. In beiden Fällen wird eine schulbare Selbstführung gegenstandslos. Wie lässt sich dieses konfliktreiche Arrangement in Übereinstimmung mit einem Genre bringen, das auf die grundsätzlich alle adressierende individuelle Selbstmächtigkeit setzt? Dies geschieht auf zwei Weisen. Zum einen kommen die liberalsten Spielarten deterministischer Ansätze zum Zuge, im Falle des Biologismus war es, wie gezeigt, eher ein individualistischer Sozialdarwinismus à la Spencer oder ein Soziallarmarckismus. Diese lassen größeren Spielraum für (Selbst-)Erziehung, weil sie in einem Fall die kulturelle Bedeutung der Entwicklung einer Anlage hervorheben und im anderen ein strikter Determinismus zugunsten eines reziproken Determinismus aufgeweicht ist. Zum anderen setzt sich der grundsätzliche Optimismus des Genres (alle können, wenn sie wollen) gegen die Grundrichtung strenger Determinismen durch, obgleich einzelne Autoren z.B. durchaus Sympathien mit sozialhygienischem Eingreifen bekunden (Herauslösung nervöser Schüler/innen aus dem Klassenverbund, Verwahrung „psychopathisch Erkrankter“ in Anstalten etc.). So besteht mitunter eine Doppeldenkstruktur in den Ratgebern, die elitäre und egalitäre Positionen gleichzeitig vertritt. Sicherlich zeigen sich die Lebensratgeber der 1920er Jahre empfänglich für die naturwissenschaftlichen, gesellschaftlichen Diskurse ihrer Zeit, aber sie tun dies in einer Weise, die eine subjektivierungspraktische Perspektive bestärkt. Das heißt eben auch, dass sie eine allgemeine Formbarkeit und gewisse Unbestimmtheit der physiopsychischen Konstitution voraussetzen müssen, um nicht Gefahr zu laufen, überflüssig zu werden. Dies widerspricht nicht grundsätzlich der Erkenntnis, dass einige Autoren völkischen, sozialhygienischen oder gar nationalsozialistischen Positionen anhängen, sondern verortet sie in einem mehrschichtigen Gesamtbild.

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Rekonstruktion zeitspezifischer Diskurse in Anstalten der Menschenführung Von Arbeiter/innenkörpern und der Selbstregierung der Schüler/innen

Während der letzte Abschnitt die Verankerung der Lebensratgeber in zeithistorische Wissensformationen untersucht hat und zeigen konnte, dass dieser ganz wesentlich von einer spezifischen Interpretation und Auslegung dieses Wissens getragen ist, wollen wir den Blick im anschließenden Kapitel in eine andere Richtung lenken. Wir wenden uns Diskursen zu, die sich um die Ökonomie, Pädagogik, die Heil- und Anstaltserziehung drehen, um danach zu fragen, ob das Problem der Selbstführung in Bezug auf das arbeitende und lernende Subjekt in ihnen auftaucht oder vorformuliert erscheint. Wie gewinnt in diesen Diskursen das Subjekt als Problemfall Gestalt, und existiert gegebenenfalls eine Programmatik, die in eine Selbstschulung einmündet? Wir erhoffen uns dadurch wichtige Aufschlüsse über die Frage, ob und in welcher Weise der Diskurs um die Selbstführung institutionelle Stützen in dieser Zeit hat. Hat sich die liberale Moderne im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts bereits auf die Subjektivität ihrer Mitglieder gestützt in den Bereichen der staatlichen und wirtschaftlichen Menschenführung oder wird die Subjektivität des Einzelnen gar nicht als Problem erkannt – oder nur in einer Weise, die ein Selbstführungswissen und -praxis nicht zwingend notwendig erscheinen lässt? Die Beantwortung dieser Fragen hilft uns besser zu verstehen, wie vernetzt der Lebensratgeberdiskurs in dieser Zeit ist und in welcher Weise Fremd- und Selbstführung ineinander übergehen.

3.1 DIE ELIMINIERUNG DES SUBJEKTIVEN FAKTORS: DAS INNERBETRIEBLICHE ORDNUNGSDENKEN Ein Blick auf die betrieblichen Diskurse ergibt recht schnell folgenden Eindruck: So breit die Angebotspalette des Selbstführungsdiskurses mit ihren Büchern, Broschüren, Zeitschriften und Vorträgen auch ist, so sehr die 1920er Jahre als die Sattelzeit der Lebensratgeber gelten müssen, so eigentümlich wortkarg geben sich die institutionellen Diskurse in Bezug auf die Rolle des Einzelnen als Subjekt seiner Lebensführung. Der Betrieb kann kaum als ein Ort gelten, in dem die Selbstregierung des Einzelnen eine besondere Rolle gespielt hätte. Die uns heute s0 vertraut vorkommende,

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fast natürlich erscheinende enge Nützlichkeitsbeziehung, die der Bereich der Ökonomie zum Subjekt und seiner Subjektivität unterhält, existiert nicht bzw. nicht in dieser Form. Bettina Langfeldt hat diese Ausklammerung des Subjektes und seiner Subjektivität in der Arbeitssoziologie auf die bis in die Nachkriegsjahre dominierende Sichtweise zurückgeführt, dass das Subjekt als vollständig durch die Großstrukturen des Betriebs vereinnahmt galt.1 Diese „Instrumentalismusthese“ verhinderte die Erfassung der subjektiven Dimension der betrieblichen Arbeitswelt. Das Interesse der Industrie- und Arbeitssoziologie richtet sich dagegen auf die Prozesse der Rationalisierung, die im Zuge der wissenschaftlichen Betriebsführung durch Frederick Winslow Taylor Einzug hielten und „neben Arbeitsintensivierung eine Standardisierung von Arbeitsstrukturen sowie die extreme Partialisierung von Arbeitstätigkeiten [bewirkte].“2 Man interessierte sich nicht für die subjektiven Bedingungen von Arbeitsleistung, -motivation oder auch -verweigerung, stattdessen dominierten makrooder mesosoziologische Perspektiven, die auf Fragen der Arbeitstaktung, der sozialen Lage oder der Leistungsbereitschaft abhoben. Langfeldt resümiert: „Da sie in der Erwerbsarbeitssphäre keine Berücksichtigung mehr finden, verlagern sich Autonomie und Selbstverwirklichungsansprüche der Arbeitenden bei konsequenter Umsetzung des tayloristischen Prinzips in den Privatbereich. Kreative subjektive Potenziale bleiben quasi über den ‚Dienstboteneingang‘ zugelassen.“3 Gleichwohl sollte man nicht außer Acht lassen, dass das industriebetriebliche Ordnungsdenken sich durchaus dem Individuum und seiner Potenziale annimmt und daher die recht allgemeine Beurteilung von Langfeldt spezifiziert werden muss. 4 Bereits Ende des 19. Jahrhunderts und verstärkt nach dem Ersten Weltkrieg gerät die vorherrschende Betrachtungsweise des Betriebes als einer sich selbst steuernden Maschine in die Kritik, in welcher der darin arbeitende Mensch als kaum von der Maschine unterschiedener „human motor“ galt. 5 Angetrieben durch die Humanisierungsforderungen von Soziolog/innen, Sozialpolitiker/innen, Ingenieur/innen, Unternehmer/innen und Gewerkschaften wandelt sich erst langsam die mechanistische Betrachtung des Betriebes und seiner Arbeiter/innen, bedeutende Veränderungen finden sich aber erst in der Nachkriegszeit.6 So bewegen sich die Diskurse der 1920er Jahre, 1

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Langfeldt, Bettina (2009): Subjektorientierung in der der Arbeits- und Industriesoziologie, Theorien, Methoden und Instrumente zur Erfassung von Arbeit und Subjektivität, Wiesbaden: VS, 25. Ebda., 33. Ebda. Dies ist insoweit verständlich, als dass Langfeldt ausschließlich die soziologischen Klassiker untersucht hat (Durkheim, Marx, Spencer und Weber) und ihr daher die Forschungsarbeiten z.B. im Bereich der Psychophysik entgehen. Vgl. Luks, Timo (2010): Der Betrieb als Ort der Moderne. Zur Geschichte von Industriearbeit, Ordnungsdenken und Social Engineering im 20. Jahrhundert. Bielefeld: transcript, 140ff. Der Betrieb erscheint nun vielmehr als ein lebendiger Organismus, bei dem die Arbeiter/innen die einzelnen Organe bilden. Dies hat eine Wandlung im Umgang mit dem Menschen zur Folge, da zunehmend sozial- und verhaltenswissenschaftliches Wissen in die Unternehmens- und Menschenführung einfließt. Man interessiert sich infolgedessen für die sozialen Aspekte der Arbeiter/innenbeziehung wie Kooperationsbereitschaft, Kommunika-

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trotz der einsetzenden Kritik, noch in einem deutlich vom energetischen Paradigma geprägten Raum. Dennoch hat das sich langsam etablierende wissenschaftliche Management in dieser Zeit (Taylor wird 1913 ins Deutsche übersetzt) wichtigen Anteil daran, dass die direkten materiellen Machtbeziehungen zwischen Betrieb und Arbeitenden sich aufzulösen beginnen. Der sichtbare Zwang zur Durchsetzung von Betriebsinteressen, zum Beispiel über Fabrikordnungen, gerät genauso in die Kritik wie eine auf bloße Herrschaft und Gehorsam abzielende Menschensteuerung. Zwei Entwicklungen sind dafür verantwortlich, dass das wissenschaftliche Management Abstand von strengen Disziplinarmaßnahmen nehmen kann: Zum einen bildete sich im 20. Jahrhundert zunehmend ein Arbeitssubjekt heraus, das die Disziplinarordnungen bis zu einem gewissen Grade verinnerlicht hatte. Arbeiter müssen weder an ihre Arbeitsbänke angekettet, noch müssen Fabriktore abgeschlossen werden, um ein Entweichen der Arbeiter zu verhindern. Die deutsche Arbeiterbewegung zeichnete sich schon seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts durch eine Orientierung an bürgerlichen Werten wie Beflissenheit und Disziplin aus.7 Zum anderen implementierte die Arbeitsphysiologie und die Rationalisierungsbewegungen einen sachlichen Mechanismus zur Intervention, der direkte körperliche Straf- und Gewaltpraktiken überflüssig, ja schädlich machte. Die Korrektur des Arbeiters erfolgte über formale Strukturen wie hierarchisierte Betriebsabläufe und über normierende Sanktionen (Lohn, Zeitnormen, Einteilung in standardisierte Körperbewegungen etc.). Menschen waren „ähnlich den Produktionsfaktoren Teil einer umfassenden Maschinerie“. 8 Erst die Begründung der Psychophysik (bzw. Psychotechnik) durch den in der Tradition von Wilhelm Wundt stehenden Psychologen Hugo Münsterberg bringt die Hinwendung auf die psychologischen Dimensionen der Leistungssteigerungen. Interessant für die Frage der Verschränkung von Selbst- und Fremdführung ist in diesem Zusammenhang, wie auf der Ebene konkreter Mitarbeiter/innenführung im Betrieb das Subjekt adressiert wird. Ein Psychotechniker der ersten Stunde, Karl August Tramm, entwickelt eine entsprechende Handreichung für Vorgesetzte, die auf beispielhafte Weise zum Ausdruck bringt, wie der Untergebene als ein spezifisch zu führendes arbeitendes Subjekt konstituiert wird. Dies führt direkt zur Ausgangsfrage zurück, ob und gegebenenfalls wie das Subjekt in Bezug auf seine Subjektivität in den ökonomischen Diskursen problematisiert wird. Tramm geht es in seinem Aufsatz „Über die Behandlung der Arbeiter“ von 1923 um den Entwurf einer standardisierten Menschenbehandlung. Die Menschen, so seine Ausgangsthese, „das allerfeinste Material im Betriebe, die empfindlichsten Werkzeuge und Maschinen, welche Güte, Menge und den Arbeitsfrieden jedes Betriebes wohl am erheblichsten beeinflussen, werden auch heute noch ziemlich planlos behandelt.“9

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tionsbeziehungen und Gruppenprozesse. Diese gelten nun als entscheidend für die Arbeitsproduktivität des Einzelnen. Vgl. hierzu ebda. 136-155. Vgl. Kocka, Jürgen (1994): Arbeiterbewegung in der Bürgergesellschaft. Überlegungen zum deutschen Fall. In: Geschichte und Gesellschaft (4), 487–496. Richter (2014), 210. Tramm, Karl August (1923): Über die Behandlung der Arbeiter. Ein Beitrag zur Frage der Menschenbehandlung. In: Praktische Psychologie: Monatszeitschrift für die gesamte angewandte Psychologie (14/2). Leipzig: Hirzel, 44-56; 44.

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Ihm schwebt eine Art von Arbeitertypologie vor, die ausgehend vom Grad der Führbarkeit und damit der Arbeitsproduktivität speziell abgestimmte Führungsweisen vorsieht. Diese sollen die als natürlich im Betrieb vorausgesetzten Widerstände gegen Vorgesetzte und Rationalisierungsprogrammen abschwächen und die Arbeitslust befördern. An der Spitze der Arbeiterpyramide stehen bei ihm die „musterhaften Arbeiter“, die nur wenig Überwachung und Führung bedürfen, etwa in Form „gelegentlicher Anregung und Belobigung“, gefolgt von den sicheren, aber langsamen Arbeiter/innen bei denen die Vorgesetzte für „Übungsmöglichkeiten zu sorgen und gelegentlich durch Hinweise auf leistungsfähigere Arbeiter zum Wetteifer anzuspornen [hat]“.10 Deutlich aufmerksamer muss sich die Vorgesetzte dem sozial unbotmäßigen Teil der Arbeiter/innenschaft widmen, die auf die ein oder andere Weise das konsequent erzieherische Eingreifen notwendig macht. Die „Intriganten und Krakeeler“ sind zu isolieren und einer „energischen Behandlung, ständigen Überwachung“ zuzuführen, während die „Redner“, die ihre Fähigkeiten häufig dazu ausnutzen, Arbeit zu verschleppen, „das Ziel in drei Worten zu sagen [haben]“.11 Zupackend wird das Vorgehen der Vorgesetzten gegenüber den „Brutalen und Widersetzigen“. 12 Ihnen ist nötigenfalls mit Gewaltanwendung beizukommen, gleichwohl man sich nur in Ausnahmefällen auf ein direktes Kräftemessen einlassen solle, da „die Anwendung von Zwang und Gewalt nur die unsympathischen Gefühle des Untergebenen [vergrößert] und diesen in der Arbeitsleistung [hemmt].“13 Ziel solle es vielmehr sein, in ihm sympathische, vertrauensvolle Gefühle für den Vorgesetzten bewusst zu erziehen. Nur so kann man „den Willen des anderen Menschen für bestimmte Zwecke gefügig machen, also die Selbständigkeit des anderen durch unseren Willen beeinflussen.“14 Man sieht leicht, dass dieser Führungstypus den Arbeiter/innen ihre Subjektivität nicht selbst überlassen kann im Vertrauen darauf, dass sie ihren Weg zum nutzbringenden Einsatz finden wird. Stattdessen entfaltet sich dieser Führungstypus innerhalb einer psychologisch-sozialen Typologisierung, die das Maß des äußeren Eingreifens festlegt. Er ist damit von außen leiteten und paternalistisch-erzieherisch: die Arbeiter/in gerät in eine infantilisierende Behandlungsart, die sie zum passiven Objekt von Lob und Tadel, Überwachung und Freiheitsgewährung, Drohung und moralischer Führung macht. Die Vorgesetzte wirkt aufgrund ihrer Persönlichkeit, sie führt mit den Insignien persönlicher Autorität, wie Redlichkeit, Wahrheit, Gerechtigkeit und Unnahbarkeit, ihre Methoden sind die der Unterweisung und Belehrung. Dieser Führungstypus kann kaum Raum für die Selbstführung lassen, da er auf einem konfrontativen Modell fußt: Arbeiter/in und betriebliche Ordnung treten in ein Wechselspiel aus repressiver Disziplinierung und Aufsässigkeit, das eine Koinzidenz von Selbstund Fremdführung ausschließt. Man macht sich in den 1920er Jahren also durchaus daran, dass Subjekt im Bereich der Ökonomie zu erfassen und seine Leistungspotenziale auszuschöpfen. Allerdings fehlt es völlig an einem dem Subjekt zugestandenen Reich der Selbstregierung, auf das sich dieser Führungstypus stützen könnte. Die betrieblichen Diskurse adres10 11 12 13 14

Beide ebda., 47. Alle ebda. Ebda. Ebda., 46 Ebda., 45.

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sieren das Subjekt zwar als Träger eines bestimmten Charakters, der eine abgestimmte Behandlungsart erfordere, doch ist man weit entfernt diesen als Ergebnis eines bestimmten Selbstverhältnisses anzusehen, in dem Selbst- und Sozialtechniken zum Tragen kommen. Der Arbeiter der 1920er Jahre wird auf doppelte Weise um seine Subjektivität gebracht: Innerhalb der Arbeitswissenschaften taucht er nur als Problem der körperlich-geistigen Erschöpfbarkeit auf und innerhalb der betrieblichen Sozialordnung ist er bloß passiver Gegenstand erzieherischer Sozialtechniken oder eines scheinbar neutralen Normierungsmechanismus.

3.2 DIE SCHÜLER/IN ALS OBJEKT VON SUBJEKTIVIERUNGSSTRATEGIEN? Während der Betrieb nicht als eine Institution gelten kann, in der der Diskurs um die rechte Führung seiner selbst eine Heimstätte gefunden hätte, stellt sich das Bild bei den Erziehungs- und Korrekturanstalten (Schule, Heil- und Pflegeanstalten, psychiatrischen Kliniken, Jugendgefängnis etc.) etwas anders dar. An den Rändern dieser Institutionen beginnt sehr leise und kaum wahrnehmbar ein Diskurs Gestalt anzunehmen, bei dem zwar noch nicht auf die zentrale Bedeutsamkeit selbstregierenden Handelns verwiesen wird, wo aber schon so etwas wie eine dem institutionellen Anliegen korrespondierende Sphäre der Lebensführung anklingt – manchmal mehr in der Form einer Leerstelle, in die sich die Überlegungen des Selbstführungsdiskurses einfügen lassen, manchmal schon recht explizit, indem stark an die Welt der Lebensratgeber erinnernde Übungs- und Technikanleitungen vorgeschlagen werden. Die Frage nach dem Subjekt und seinen Möglichkeiten zur Selbstführung taucht nicht zufällig am Anfang des 20. Jahrhunderts in institutionellen, pädagogischen Kontexten wie der Schul- und Anstaltserziehung auf. Sowohl in den konfessionellen wie auch in den weltlichen Schulen galt die Selbsterziehung der Schüler/in als wichtiges Ideal erzieherischer Arbeit. Die klassische, an Humboldt angelehnte Pädagogik baut auf ein dem Menschen innewohnendes Bildungsbedürfnis auf und betrachtet die Fremderziehung als Vorstufe zur Selbsterziehung. Auch insbesondere die katholischen Erziehungs- und Lehreinrichtungen besaßen eine größere Affinität zu Fragen der Seelenführung. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass die Diskussion zur Schüler/innenselbstregierung um die Jahrhundertwende und zu Anfang des 20. Jahrhunderts um eine Problematik zu kreisen scheint, die bereits in vormodernen Selbstführungsdiskursen aufgeworfen worden war: nämlich, welche Rolle kommt der Schüler/in innerhalb einer Beziehung zu, die sie zur Selbstregierung befähigen soll? Doch anders als in den antiken Selbstsorgetraditionen (oder im humboldtschen Bildungsideal) ist die Diskussion nicht so sehr von der Frage getragen, wie die Schüler/in vom Objekt einer Belehrung zum Subjekt einer Wahrheit (oder Moral) werden kann. Sie ist vielmehr ein Problemfeld für eine institutionelle Gehorsamkeitsproduktion. Wie kann man die Schüler/innen dazu bringen, sich dem Willen eines Lehrers auszuliefern? Wie können all jene negativen Effekte der Anstaltserziehung vermieden werden, die darin bestehen, dass die Schüler/in dem Worte nach gehorcht, aber innerlich noch nach eigenen Gesetzen lebt?

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„Wann habe ich den Willen des Kindes in der Hand? Offenbar nur dann, wenn es sich mir so vertrauensvoll übergibt, dass ich damit machen kann, was ich will. Der Wille des Kindes muß sich mir selbst ausliefern; ihn unter allen Umständen dazu zu zwingen, habe ich kein sicheres Mittel, denn er ist frei. Frei, das heißt dem Erzieher gegenüber so viel als: es kann ihm Gehorsam leisten oder nicht; es kann ihm äußerlich gehorsam sein, aber die innere Zustimmung versagen; es kann ihm innerlich gehorsam sein, aber aus Gründen des Eigennutzes und der Selbstsucht. In allen diesen Fällen hat der Erzieher den Willen des Kindes nicht; er hat ihn nur dann, wenn ihm das Kind seinen Willen ohne Vorbehalt zur Verfügung überantwortet. Was der Erzieher anzustreben hat, ist nicht das gehorsame, es ist das willige Kind“.15

Selbsterziehung soll die Reichweite für den lenkenden Einfluss der Lehrer/in vergrößern bzw. überhaupt erst ermöglichen. „Führen und wirklich autoritativ beeinflussen kann man die Jugend nur, wenn man auf ihr innerstes Leben Einfluss gewinnt. Das geschieht nur, wenn man dieses Leben selber herausholt, ermutigt, in Übung setzt, statt es mißtrauisch repressiv zur Seite zu setzen […] Es ist wohl der größte und weitverbreitetste Fehler in der älteren Generation unser Erzieher, daß viele von ihnen in dem Wahn leben, daß sie die Jugend zum Gehorsam erzogen hätten, während ihr einseitig autoritäres System in Wirklichkeit Rebellen erzogen hat, geschworenen Feinde der Autorität, Menschen, die jahrelang all ihre Seelenkräfte darauf verwendet haben, dem Gesetz ein Schnippchen zu schlagen. Die Früchte liegen heute zutage. Demgegenüber ist die Einführung einer maßvollen Selbstregierung ein höchst wirksames Mittel, das natürliche Verlangen aller Jugend nach Zucht und Schranke zur Geltung und zur Betätigung zu bringen, während dieses Verlangen gewöhnlich durch das Uebermaß an Bevormundung, durch die Nötigung zu bloß passivem Hinnehmen gegebener Ordnung erstickt und in prinzipielle Auflehnung verwandelt wird.“16

Das langsame Abrücken von den üblichen Züchtigungspraktiken der Schule, die lange Zeit in der wilhelminischen Schule üblich sind (und darüber hinaus), geschieht aus Einsicht in ihre Wirkungslosigkeit, ja Kontraproduktivität. Für das deutsche Bildungsbürgertum ist es nun erstrebenswert, da es seine Kinder in der Anstalts- und Schulerziehung schlecht behandelt, ja sogar zu Aufsässigen erzogen sieht, sie von äußerlichen Disziplinierungszwängen und militäranalogen Strafmaßnahmen zu befreien. Auch die klassische Schule konnte sich spätestens ab Anfang des 20. Jahrhundert nicht mehr vollends den Anliegen der Reformpädagogik verschließen, die zur stärkeren Berücksichtigung der Individualität der Kinder aufruft.17 Der Zwang zur Unterwerfung soll durch ein neu ausgerichtetes Lehrer/in-Schüler/in-Verhältnis ersetzt werden, bei dem die Schüler/innen von sich aus in die Führerschaft der Lehrer/in einwilligten. Dafür lässt sich das Konzept der Selbsterziehung in Stellung bringen, das bereits seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts durch die Diskussion 15 Eckinger, Johann Nepomuk (1913): Die katholische Anstaltserziehung in Theorie und Praxis. In: Blätter für Anstalts-Pädagogik. (3/4), 1. 16 O.V. (1915): Erziehung und Selbsterziehung. In: Blätter für Anstalts-Pädagogik. Herausgegeben von der pädagogischen Stiftung Cassianeum in Donauwörth (9/5), 65, Hervorhebung von uns. 17 Radkau (1998), 320f.

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geistert.18 Der Schüler/innensubjektivität wird in begrenztem Umfang Raum gegeben, um die Zöglinge zur eigenverantwortlichen Mitgestaltung des Unterrichts zu motivieren. Gleichzeitig verschiebt sich die Perspektive pädagogischer Führung auf die Frage, wie die eigenen Willensäußerungen der Kinder in die entsprechenden Bahnen gelenkt werden können. An dieser Stelle ergibt sich eine Schnittstelle – zumindest der Fragestellung nach – mit den Selbstführungsdiskursen der Zeit, ohne dass es aber zu mehr als zu einer bruchstückhaften, mehr zufällig wirkenden Rezeption vonseiten einzelner Pädagog/innen gekommen wäre. Trotz der zögerlichen Veränderung der institutionellen Gehorsamkeitsproduktion darf nicht übersehen werden, dass die Diskussion immer noch von einer autoritären Zielsetzung getragen ist. Es ist das Anliegen der Selbsterziehung, die Schüler/innen in größere Abhängigkeit von den Lehrerautorität zu bringen. Die Reibungsverluste, die aus Ungehorsam und Widerständigkeit entstehen und die Resultat schulischer Unter- und Überordnungsverhältnisse sind, werden in der Subjektivität der Schüler/in dingfest gemacht. Selbsterziehung, als Reform dieses Verhältnisses ins Gespräch gebracht, ist in diesem Sinne immer noch ein Machtinstrument in den Händen der Lehrer, ohne dass der Subjektivität tatsächlich Rechnung getragen, ohne dass sie in Gestalt einer Selbstführung lebensfähig wird.19 Es überkreuzen sich also Sphären disziplinärer Ordnung und „freier Selbsterziehung“, was diesen Diskurs anschlussfähig für Institutionen macht, die ebenfalls auf die eine oder andere Weise mit dem Problem des Gehorsam der Subjekte zu tun haben, wie zum beispielsweise Heilanstalten oder Jugendgefängnisse.20 18 Es scheint kein zufälliges Ereignis, dass der Begriff der Selbstführung erstmals in den 1830er Jahren auftauchte, zu einer Zeit, als die Schulpflicht sich im Deutschen Reich endgültig durchgesetzt hatte. Vgl. Krug, Wilhelm Traugott (1832/1838): Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften nebst ihrer Literatur und Geschichte, Dritter Band. Stuttgart: Frommann, 708. 19 Das gilt zumindest für die staatlichen Schulen, nicht die reformpädagogischen Experimentalschulen. 20 Die ausgefeiltesten Selbstführungsanleitungen stammen von einem Oberlehrer, der in einem Bautzener Jugendgefängnis arbeitet. Kurt Wittig behandelt seine Zöglinge, die in den Versorgungsnöten des Ersten Weltkrieges für sich und andere Nahrungsmittel gestohlen und damit die sittliche Pflicht des Hungerns nicht geduldig ertragen haben, mittels Willensübungen. Bei ihm gereicht der bevormundende Rahmen der Gefängnisumgebung dem Pädagogen und dem gefallenen Menschen zum Vorteil: „Die Gelegenheiten zu Willensübungen können im Gefängnis infolge der gleichbleibenden, engbegrenzten Lebensführung nicht eben reichlich sein. Die Selbstbeherrschung in allen ihren Spielarten zu üben (Entsagen, Überwinden, Sparen, Ausdauern, Verzeihen, Wohltun usw.) wird darum nicht möglich sein. Ist aber – wie das Gesetz sagt [gemeint ist dabei das Gesetz, dass ein bestimmtes Willensgebiet auch über das Training eines ihm nur verwandten Bereiches gesteigert werden kann] – auch nicht nötig. Es genügt, daß zunächst eine Form der Selbstbeherrschung (etwa Sparen bez. Einteilen) geübt wird; die anderen Formen werden dabei im Stillen vorbereitet und werden später sicher mit um so geringeren Aufwand von Übungskraft vonstatten gehen, je größer die Konzentration auf die Urform war.“ Er schlägt vor, dass der jugendliche Sträfling sein einmal am späten Nachmittag für den ganzen Tag zugeteiltes Brot (200g) zum Gegenstand entsagender Selbsttechnik machen soll. „Teile es ein, und gehe nicht davon ab von dem Vorsatz, bis zur Abendmahlzeit (o.ä.) ein Stück Brot des aufzuhe-

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Erst die verschärfte Krise der Schule als Institution Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, öffnet die Selbsterziehung für die Praxis der Selbstführung und lässt erste, zarte Ansätze entstehen. Die besagte Unzufriedenheit mit der Schule, verband sich ab den 1880er Jahren mit der Debatte um die Neurasthenie. Die Debatte um die Überbürdung findet durch immer wiederkehrende Berichte über die Zappeligkeit der Schüler/innen, manchmal gar durch Berichte über die epidemisch auftretenden „Zitterkrankheiten“ in Volksschulen21 oder die Berichte über Schüler/innenselbstmorde neue Nahrung. 22 „In ganz Westeuropa wurde keiner Institution als möglicher Hauptquelle nationaler Gesundheitsverschlechterung größere Aufmerksamkeit gewidmet als den klassischen Sekundarschulen.“23 Nicht nur Forscher wie der bereits erwähnte Kraepelin machen die Schule zum Untersuchungsgegenstand und zum Gegenstand der Kritik. 24 Auch die Lehrer/innen selbst beteiligen sich rege an der Diskussion und beanstanden die institutionelle Überfrachtung der Schüler/innen mit Lehrstoff. Die Diskussion verläuft aber nicht nur in eine Richtung. Vielfach wurden Stimmen aus dem Bereich der Wissenschaft, aber auch der Schule selbst laut, die die Kritik an den Institutionen als alleiniger Faktor für die Nervosität der Schüler/innen zurückwies. Kraepelin beispielsweise stellt den Zuhörern seines Überbürdungsvortrages vor Augen, dass „nicht außer Acht gelassen werden [darf], dass die Schule nicht ohne weiteres verantwortlich gemacht werden kann [für die Nervosität der Kinder]. Vielfach liegen die eigentlich wirksamen Schädigungen auf ganz anderen Gebieten, namentlich in unzweckmäßiger Lebensführung, verkehrter Erziehung, im Drucke häuslichen Elends, schwerer Entbehrungen u.s.f.“ 25

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ben. Mag die Lust zum Essen sich regen, mag dich Hunger quälen – bleibe fest!“ Wittig, Kurt (1921): Der Einfluß des Krieges und der Revolution auf die Kriminalität der Jugendlichen und ihre Behandlung im Jugendgefängnis durch Willensübungen. Langensalza: Beyer&Söhne, 46) Die Einschließung in die kargen Zellen mit dem zugeteilten Brot, die den Übenden einer unmittelbaren Versuchung aussetzen, dem Willensgebot zuwiderzuhandeln, erweist sich als perfekter Übungsrahmen, dem sicherlich so einige Lebensratgeber viel abgewinnen könnten: „So darf die im Gefängnis gebotene Beschränkung auf Weniges geradezu als ein Vorteil angesprochen werden“. (Wittig 1921, 45) Ist es nicht sogar so, dass man in dem regulierenden (kontrollierbaren) Arrangement totaler oder doch zumindest erzieherischer Institutionen (siehe Schule) nicht eine Idealform für die gestaffelte, sukzessive und eben konzentrierte Übungsform der Willenssteigerung sehen kann, wie er in den Lebensratgebern popularisiert wird? Wie dem auch sei, festzuhalten bleibt, dass selbst totale Institutionen wie das Gefängnis oder die Anstalt nicht nur die Pragmatik der Selbsterziehung nicht ausschließen, sondern sie sogar mit einer institutionellen Fremdbestimmung überkreuzen lassen.“ Wittig (1921), 172. Dix, Kurt Walter (1907): Über hysterische Epidemien an deutschen Schulen. Langensalza: Beyer&Söhne. Vgl. Radkau (1998), 315f. Ebda., 315. Kraepelin, Emil (1897): Zur Überbürdungsfrage. Jena: Fischer. Ebda., 36.

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Der Psychiater August Cramer spricht in seinem Beitrag „Über die außerhalb der Schule liegenden Ursachen der Nervosität der Kinder“ gar davon, dass die „Laienseite“ den Einfluss der Schule beim Zustandekommen selbiger immer überschätzt. Die meisten Schädigungen gingen aus endogenen (erbliche Belastung) und exogenen Ursachen hervor. Letztere finden sich beispielsweise in den unzweckmäßigen Verhältnissen, in denen Kinder leben, der zunehmenden Überreizung (insbesondere durch die Großstadt!) der Kinder und dem übergroßen Ehrgeiz der Eltern. Die Schule fördere daher nur die Anlagen zur Nervosität, die bereits durch endo- und eben besonders exogene Faktoren verursacht worden sind.26 Cramers und Kraepelins Beiträge implizieren daher die Notwendigkeit einer viel früher und wesentlich enger an dem ganzen Lebensalltag der Kinder ansetzenden Nervositätsbekämpfung. Knauthe, der Direktor einer Erziehungsanstalt für psychopathische Kinder, wird in dieser Hinsicht genauer, indem er die Erfolge der freien Willenskräftigung seiner Zöglinge vor einer restriktiven Heilpädagogik hervorhebt: „Es war eine allzu bequeme und darum längst überholte Pädagogik, die den Zögling auf Schritt und Tritt einengte und gängelte, unter harten Zwang hielt, um ihn dadurch zu gewöhnen an Zucht und Selbstzucht. Eine derartige Erziehungsmethode hat noch immer Bankrott erlitten. Bei der ‚Willensgymnastik‘ ist vor allem die Autosuggestion zu Hilfe zu nehmen. Sich Schweigen auferlegen, zu straffer Haltung zwingen, auf gewisse Bequemlichkeiten verzichten usw., das sind Übungen, die der Jugendliche selbst vornehmen und auf Merktafeln oder in Merkheften selbst kontrollieren kann.“27

Der Diskurs um die Schüler/innennervosität verschiebt die Perspektive auf außerhalb der Institutionen liegende Ursachen, womit neben der genetischen Veranlagung vor allen Dingen die Lebens- und Selbstführung der Kinder in den Blick kommt. Auch wenn man dafür noch keine ausgefeilte Systematik präsentiert und es möglicherweise auch nicht kann, bildet sich ein Feld heraus, in dem sich institutionelle Fremdführung und Selbstführung überschneiden oder zumindest ineinander übergehen können. Dies geschieht unter der impliziten Maßgabe, dass nur durch die Mobilisierung der Eigenverantwortung der Kinder – die nicht erst in der Schule, sondern bereits im eigenen Lebensalltag anfängt – sowohl die kontraproduktiven als auch gesundheitsschädlichen Effekte der Schule aufgefangen werden können und es nur dadurch gelingen kann, ihnen das beabsichtigte Erziehungsziel einzupflanzen. Das gesellschaftliche Interesse an einer sozialhygienisch motivierten Gesunderhaltung der Schüler/innen schuf einen ausgeweiteten pädagogischen Gesichtskreis und traf sich mit der Kritik an der alten Schule, die schon um die Jahrhundertwende als weithin unzeitgemäß erlebt wurde. Die Erziehungs- und Korrekturanstalten zeigen sich also aus verschiedenen Gründe dafür geeignet, die Idee der Selbstregierung zu diskutieren und vereinzelt und fragmentarisch umzusetzen. Neben der erwähnten historischen Affinität der höheren Schulen und vor allen der katholischen Anstaltserziehung für die Fragen der sittli26 Vgl. Cramer, August (1899): Über die außerhalb der Schule liegenden Ursachen der Nervosität der Kinder. Berlin: Kreuther&Reichard 7ff. 27 Knauthe, Fritz (1920): Die erzieherische Behandlung der psychopathischen Konstitutionen. Langensalza: Beyer&Söhne, 15.

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chen Selbsterziehung ist es vor allem ihre durch die Kritik an der Überbürdung geschwächte Position in der öffentlichen Diskussion. Die Idee der Selbstregierung der Schüler/innen lässt sich als eine Strategie lesen, sowohl auf die beharrlichen Neurasthenieklagen zu reagieren und zugleich die Frage, wie Macht über das Subjekt hergestellt werden kann, anders zu stellen und zu beantworten. Selbstregierung setzt auf die Mobilisierung der Eigenaktivität des Subjektes und umgeht damit die konfrontative Entgegensetzung, wie sie beispielsweise noch typisch für den Betrieb ist mit seiner hierarchisierenden, von außen eingreifenden Menschenführung. Es wird ihm in gewissen Grenzen (die, wie im Falle der jugendlichen Delinquenten extrem eng gefasst sein können) selbst überlassen, in sich jene Zucht herzustellen, die seinen Subjektstatus begründet. Anders als im Betrieb, im Militär oder in der Berufsberatung wird das Subjekt als verantwortlich für seine Subjektivität adressiert und hat damit den ersten Schritt getan, jenen trainierenden Selbstbezug zu entwickeln, der für die Lebensratgeberliteratur typisch ist.

3.3 ZUSAMMENFASSUNG Wir haben gesehen, dass der Selbstführungsdiskurs in der Frühphase der Lebensratgeber einen recht schwachen Stand in den ausgewählten Diskursen der Menschenführungsanstalten hat und er sich erst zu etablieren beginnt. Es ist zwar nicht von der Hand zu weisen, dass die Verkaufszahlen, die Auflagenhöhen und die Vielfalt der Drucke auf eine gesellschaftliche Bedeutsamkeit deutlich hinweisen und die Idee einer in Eigenregie betriebenen Selbstverbesserung eine größer werdende Anhängerschaft findet, aber in wichtigen gesellschaftlichen Bereichen bleibt der Selbstführungsdiskurs seltsam stumm. Die Vorstellung, dass das Subjekt ein Selbst hat, zu dem es sich verhalten muss, und dass aus diesem Verhältnis viele Potenziale für Leistung, Gesunderhaltung und Produktivität entstehen, hat keinen Befürworter bzw. keine adäquate Entsprechung innerhalb der ökonomischen und staatlichen Institutionen. Die Psychotechnik vermisst und kartographiert zwar den Körper sowie die Bewusstseinsfunktionen des Arbeiters, seine Bewegungen und seine Kräfteökonomie, aber als Subjekt seiner Subjektivierung ist er noch nicht entdeckt worden. Seine soziale Beschreibbarkeit in der betrieblichen Menschenführung erschöpft sich in einer herrschaftsförmigen sozialen Typologisierung, die auf Identifizierung von Störern, Agitatoren und leistungsbereiten Arbeitern abzielt. In der Schule geht es der Schüler/in nur in geringerem Maße anders. Ihre Selbsterziehung steht in den pädagogischen Diskussionen immer wieder im Raume, aber ihr wird dieser Raum nur im eingeschränkten Maße praktisch zugebilligt. Selbstführung ist nur in Ausnahmefällen etwas anderes, als die Schüler/innen für die lehrerzentrierte Beeinflussung und die schulischen Routinen zugänglich zu machen. Selbsterziehung bleibt ein Herrschaftsinstrument in den Händen der Lehrer/innen. Einzig der Diskurs um die Prophylaxe der Neurasthenie der Schüler/innen weist erste Spuren einer subjektzentrierten Selbstführung auf. Der Selbstführungsdiskurs zirkuliert nahezu ausschließlich unter Menschen, die es zu ihrer privaten Angelegenheit gemacht haben, die Idee der Selbstführung zu popularisieren, auch wenn diese in ihrer sozialen Rolle als Lehrer, Dozent, Mediziner, Politiker kenntlich werden. Es gibt keinen stabilen Wissens- und Erfahrungsexport

Die 1920er Jahre: Rekonstruktionen

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oder eine spürbare Resonanz zwischen dem außerinstitutionellen Selbstführungsdiskurs und einer betrieblichen bzw. schulischen Praxis, da er dort keine Wurzeln hat oder entsprechenden Bedingungen vorhanden sind. Der Selbstführungsdiskurs der Lebensratgeber hat daher etwas Unzeitgemäßes im Sinne eines avantgardistischen Diskurses, der schließlich unter der Hinwendung der deutschen Gesellschaft zu einer autoritär-kriegerischen Krisenbewältigung für Jahre verschüttet wird.

Schluss Auf dem Weg zu einer Genealogie der Gegenwart

Besieht man sich den Aufschwung des Selbstführungsdiskurses, ist es erstaunlich, wie hoch strukturiert und komplett er sich von Beginn an darstellt. Die Anrufung eines sich selbst regierenden Subjektes ist dem frühen 20. Jahrhundert nicht nur vertraut, sie stellt mit besonderer Dringlichkeit die autonomen Kräfte des Einzelnen in den Mittelpunkt der Selbstschulung. Aus der Perspektive des frühen 21. Jahrhunderts, einer Epoche, die sich viel auf die Entdeckung des Subjektes, seiner Praktiken und Gestaltungsspielräume einbildet, muss es verwundern, mit wie viel Handlungsmacht und Selbstschöpfungspotenzialen der Einzelne hier ausgestattet wurde. Dies muss die Sicht auf eine vermeintlich sukzessive Geschichte der „Individualisierung“ irritieren, wenn nicht gar infrage stellen. So ist es keineswegs eindeutig, dass sich das Subjekt erst im Verlaufe gesellschaftlicher Emanzipationsprozesse, die Mitte des 20. Jahrhunderts in den westlichen Staaten einsetzten, zu jener (universalistischen sowie) individualistischen Freiheitspraxis vorgekämpft hat, die uns heute so vertraut erscheint. Das Subjekt und seine in Eigenregie verwalteten und steigerbaren Kräfte sind, wie gesehen, von Anfang an ein Tummelplatz zahlreicher Diskurse. Es wird im frühen 20. Jahrhundert von verschiedenen gesellschaftlichen Akteuren aufgesucht, angerufen, umgarnt und verhießen, die sich von ihm die lebenspraktischen Vorwegnahme einer verbesserten, heileren Welt versprechen. Man hat gesehen, wie viel (eschatologisches) Gewicht der Selbstführung des Einzelnen beigemessen wird. Dem Subjekt wird zugetraut, sowohl individuelle als auch gesellschaftliche Prozesse aktiv mit- bzw. umzugestalten, indem es in sich Kräfte, heute würde man eher sagen: Ressourcen, mobilisiert. Die Techniken, die ihm dafür nahegelegt und gelegentlich auch aufgedrängt werden, haben zwar ihren spezifischen historischen Ort in dieser Zeit (ihre Zuspitzung und Einbettung in strategischen Arrangements sind originär), aber ihre Basiskoordinaten (säkular, subjektorientiert, universalistisch) sind in keiner Weise von den heutigen unterschieden. Wer von dem historischen Bedeutungsgewinn des Subjektes spricht, sollte also von der Zeit der Willensschulen, der Selbsterziehungsratgeber, der Selbstrationalisierung und indirekten Selbstführung nicht schweigen. Die Sicht auf diese Zeit kann uns zeigen, in welch vielgestaltiger und von den heutigen Selbstführungsforderungen verschiedener Weise Subjektsein gedacht und historisch hergestellt werden soll. Sie zeigt uns, mit vielen Forderungen und Voraussetzungen Subjektsein belegt ist, wie heikel, prekär und reversibel der Zustand verkehrstauglicher Subjektivität erlebt wird. Sie kann uns zeigen, welche Last, wel-

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che Nötigungen und welche Gewalt die Mitglieder einer Gesellschaft auf sich zu nehmen bereit sind, um den Rang einer botmäßigen Existenz verliehen zu bekommen. Sie kann den Blick dafür schärfen, dass die Rechnung einiger postmoderner Subjektapotheosen, die Freiheit mit Subjektsein gleichsetzen, nicht aufgehen muss, dass Subjektivierung durchaus in Bahnen soldatischer Zucht und mönchischer Askese verlaufen kann, auch innerhalb gesellschaftlich liberaler Daseinsbedingungen. Dass Freiheit und Zwang auf eine verwickelte Weise ineinandergreifen können, so dass Selbstsein nicht ohne eine vorausgehende Schule der Pflicht und des Gehorsams verstanden werden kann und Freiheit nicht ohne die historischen Grenzen, die ihr auferlegt sind. Ein genealogisch geschulter und zeitlich distanzierter Blick auf die Epoche des frühen 20. Jahrhunderts kann so die Arbeit am Selbst, die uns heute so selbstverständlich und zeitlos vorkommt, stärker in ihrem historisch kontingenten Charakter hervortreten lassen. Die Anrufungen des Subjektes und der Weg, wie die Einzelnen sich in die jeweils historischen Subjektordnungen hineinarbeiten, sind immer anders. Wir haben aber auch gesehen, dass die Subjektivierungs- und Individualisierungsforderungen, so vehement und dringlich sie die Zeitgenossen in Gestalt der Lebensratgeber erreichen, in der Regel das Geschäft von einigen wenigen Akteuren ist. Sie sind anders, als es uns heute vertraut ist, ohne institutionelle Basis – sie haben nie die Form staatlicher Programme oder unternehmerischer Initiative angenommen. Der Diskurs um die Selbstführung des Einzelnen findet in dieser Frühphase als ein Treiben „von unten“ statt. Er nimmt seinen Ausgangspunkt beim (bildungsbürgerlichen) Einzelnen und adressiert den Einzelnen. Anders als heute, wo sich staatliche, parastaatliche, unternehmerische (etc.) Kalküle mit den Techniken der Selbstführung verknüpfen – vom Fitnessprogramm für Migrant/innen bis zur Asthmaprophylaxe –, beginnt die Epoche der Selbstführung als selbständiger, individualistischer Diskurs. Eingedenk dieser Tatsache sind die Kritiken an einer zeitgenössischen wohlfahrtsstaatlichen und ökonomischen Vereinnahmung des Subjektes nicht überflüssig, aber ein Blick auf die Historie der Selbstführung lässt die in gesellschaftskritischer Absicht vorgetragenen Verheißungen auf ein autonomes Subjekt jenseits von Staat und Ökonomie zumindest fragwürdig erscheinen. Denn die genealogische Betrachtung der Selbstführung zeigt, dass die staatliche und unternehmerische Aufladung der Selbstregierungspotenziale des Einzelnen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine nachfolgende Entwicklung auf den zivilgesellschaftlichen Diskurs der ersten Epoche darstellt (wir werden darauf im anschließenden Kapitel näher zu sprechen kommen). Selbstführung war zu Anfang kein ordnungspolitisches oder wohlfahrtsstaatliches Problem. Es war ein Problem des Einzelnen, dem Wege und Möglichkeiten der individualistischen Selbstbehauptung, Gesunderhaltung und Leistungssteigerung durch sich als erfolgreich gerierende Autoritäten vermittelt wurden. In diesem Sinne gibt es in der Frühphase noch keinen sehr starken Konnex zwischen makropolitischen Aktivitäten und mikropolitischen Führungsformen. Die Führung seiner selbst ist hier ohne den Druck von Sanktionsmöglichkeiten überpersoneller Strukturen und Einrichtungen zustande gekommen. Anders als die gouvernementalitätstheoretische Diskussion nahelegt, war das Problem der Markttauglichkeit des Selbst kein wesentliche Kategorie für die Selbstführungsform des frühen 20. Jahrhunderts. Der Homo oeconomicus als subjektivierungstheoretisches Korrelat einer liberalen Gouvernementalität konnte für unsere lokale Untersuchung der Selbstführungsformen

Die 1920er Jahre: Schluss

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nicht nachgewiesen werden. Stattdessen wird das Problem des Subjektes aus einer ganz anderen Perspektive gestellt, nämlich: Wie kann der Einzelne seiner gattungsmäßigen Pflicht der Gesunderhaltung und (biologischen) Leistungsfähigkeit am gedeihlichsten nachkommen? Das Regime der Selbstführung durch Ratgeberbücher erreicht hier, also bereits nach kurzer Zeit, ein Plateau, das an Dichte und Dringlichkeit, an stilistischer Strenge und argumentativem Ernst nicht mehr übertroffen wird. Gerade weil die Texte aus der ersten Hälfte des Jahrhunderts wenig augenscheinliche Ähnlichkeit mit aktuellen Ratgebern haben, ist in Vergessenheit geraten, dass mit ihnen die Sattelzeit der modernen Selbstführung begann.

Kapitel 2: Die 1960er/1970er Jahre A) Das Regime der Selbstführung

1

Einleitung Die Modernisierung der Lebensratgeber in den 1960er und 1970er Jahren

Tritt man an das Medium des Lebensrates der 1960er und 70er Jahre heran, fällt zunächst auf: Man erkennt es rasch als ein solches. Man braucht kein besonders geschultes Auge und auch kein Wissen um die Entwicklung des Genres, um sich als potenzielle Leser/in einer glücks- und erfolgsfördernden Expertise angesprochen zu fühlen. Titel wie „Alles ist erreichbar“, „Mehr lernen und leisten ohne Streß“ oder „Mehr Freude am Leben“ kommen ohne Umschweife zum Kernanliegen ihres Vorhabens. Keine allzu akademisch geratenen Untertitel prangen auf den Umschlagseiten, die möglicherweise Zweifel aufkommen lassen, ob man dem vorausgesetzten Bildungsniveau genügen könne. Stattdessen geht man mit großer Zielsicherheit daran, eine sozial nivellierende Sprache in Anschlag zu bringen, die mit Kurzformeln wie „Glück“, „Erfolg“,„Leistung“ auf klare Erkennbarkeit und universelle Adressierbarkeit setzt. Die Gliederungen sind zumeist kurz geraten, die einzelnen Kapitelüberschriften lassen niemanden im Unklaren darüber, was sie zu erwarten haben, sondern kommen als Resümee daher, etwa: „Ob die anderen Sie gut finden, ist nicht entscheidend.“1 Beim Text selber handelt es sich fast immer um einen unbebilderten Fließtext, zuweilen durch Abrückungen, Kursivdruck und Aufzählungen typografisch nuanciert, der sprachlich zumeist eingängig bis schlicht gehalten ist. Oft enthält man sich der für die 1920er Jahre typischen Ausflüge ins philosophisch Grundsätzliche mit entsprechenden die Leser/in intellektuell fordernden Passagen, sondern arbeitet in der Regel mit zusammenfassenden Darstellungen und setzt auf einen schnell zugänglichen, konkret-anschaulichen Gedankengang. Der Text bietet sich dadurch für einen leichten Einstieg an, der auch einen selektiven und freien Umgang der Leser/in erlaubt, wenngleich die meisten Autor/innen zur systematischen Lektüre auffordern. Von außen besehen fällt zunächst auf, dass das Buchcover nun neben typografischen Herausstellungen und Spielereien auch bildliche Elemente einsetzt, wie Fotos, Grafiken, grafische Darstellungen etc. Sinnfällige Glücks- und Erfolgssymbole wie Marienkäfer und dergleichen, wie sie in den 1990er Jahren dominant werden, finden sich zwar noch nicht, dafür aber einfache figürliche Darstellungen wie zum Beispiel das Kleeblatt. Interessanterweise findet meist eine recht spärliche, zurückgenomme1

Dyer, Wayne W. (1977): Der wunde Punkt. 12 Therapieschritte zur Überwindung der seelischen Problemzonen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 3.

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ne, eher abstrakt als figürlich arbeitende Bildsprache Gebrauch, deren bevorzugte Elemente der Pfeil und eine menschliche (männliche) Silhouette sind. Der zusätzliche Einsatz von geometrischen Formen, von Kreisen, Linien oder sich zum Horizont erstreckenden Schachbrettmustern unterstreicht den Eindruck einer kühlen, eher emotionslosen Ästhetik. Wenn der Mensch auf den Büchern als bildliches Stilmittel auftritt, dann nicht als unterscheidbares Individuum, sondern als auf seine allgemeinste Form gebrachtes Schema. Das Buchcover als erstes Werbemittel und Anrufungsinstrument hat so ein eher nüchternes, sachliches, fast technisches Aussehen. Der Mensch (Silhouette) und sein Denken (Pfeil) erscheinen als Abstraktionen. Selbstführung, so die bildliche Metaphorik, will also nichts anderes sein als die Exemplifizierung eines den Menschen strukturierenden objektiven Zusammenhangs, der sich eher logisch als emotional, eher systemisch als individuell darstellt.

1.1 PROFESSIONALISIERUNG OHNE PROFESSION Neben der unprätentiösen Ansprache der Leser/innen und der reduzierten Bildsprache tritt ein deutlich professionalisiertes Auftreten hinzu, sowohl was die Qualität des Druckes, der Bindung als auch der Gesamterscheinung angeht. Bemerkbar macht sich hier, dass sich die Großen der Buchbranche der Produktion von Lebensratgeberliteratur angenommen haben. Renommierte Verlage wie Econ, Herder, Rowohlt, Knaur, Bauer nehmen die Lebensratgeber in ihre Programmauswahl mit auf und verhelfen ihnen zur ihrem Weg in nahezu jeden bundesrepublikanischen Haushalt, in Stadt- und Gemeindebibliotheken und in der Konsequenz auch auf Flohmärkte und in Antiquariate. Denn neben dem verlegerischen Wissen bringen sie Absatz- und Vertriebsstrukturen mit, die zu ihrer deutlichen Verbreitung führen. Fritz Wiedemanns „Geistig mehr leisten“ erscheint 1982 bei Forkel in der 15. Auflage, Josef Kirschners „Die Kunst, ein Egoist zu sein“ wird 1995 in der 42. Auflage bei Droemer Knaur gedruckt und bei verschiedenen Verlagen neu aufgelegt, letztmalig 2012, und Dyers „Der wunde Punkt“ erlebt bis 2013 bei Rowohlt die 35. Auflage und verkauft sich weltweit etwa 30 bis 35 Millionen mal. Die Bestsellerlisten des Spiegel, die seit Anfang der 1960er Jahre nicht nur Belletristik, sondern auch Sachbücher auflisten, führen immer wieder Lebensratgeber in Topplatzierungen auf und tragen dadurch zur weiteren Popularisierung bei. Obgleich für den von uns untersuchten Zeitraum keine genauen Zahlen über die Anzahl der Neuerscheinungen, Auflagenstärken und Absatzzahlen existieren, führt die Deutsche Nationalbibliothek für 1960-1979 etwa 900 Titel auf.2 Doch nicht allein die Verlage, auch die Autor/innenschaft hat ihren Anteil an der Professionalisierung des Genres, da sie sich – anders als noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts – in gewissem Sinne mitprofessionalisiert. Treten die frühen Autoren ausschließlich nebenberuflich als Lebensratkundige in Erscheinung, wobei ihre beruflichen Tätigkeiten nicht zwangsläufig die Voraussetzungen dazu schaffen (z.B. in ihrer ärztlichen oder pädagogischen Tätigkeit), beginnt sich mit den 1960er Jahren ein eigenes ökonomisches Feld um die Lebensberatung herauszubilden. Neben dem Verkauf von entsprechender Literatur bieten die Autor/innen Workshops, Ferienkur2

Gesucht wurde unter 15 Schlagworten wie Lebensführung, Erfolg, Glück.

Die 1960er/1970er Jahre: Einleitung

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se und dazugehörige Tonträger und Materialien an. 3 Das gesteigerte Leser/inneninteresse und der ökonomische Erfolg ermöglicht, ja erfordert die Entstehung neuer gewerblicher Strukturen wie spezialisierter Verlage (z.B. Econ) oder Dienstleistungsangebote (Unternehmensberatung, Trainings), ohne dass sich eine eigenständige Berufsgruppe formieren würde, wenn man so will, eine Professionalisierung ohne Profession.4 Obzwar sich ein gewinnträchtiges und lukratives Feld der (Selbst-)Führungsberatung zu etablieren beginnt, bürgt immer noch die eigene berufliche Erfahrung für die Autorität des Rates. Abbildung 13: Titelbild (1979)

3

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Abbildung 14: Titelbild (1966)

Hans Endres bietet, in seinem eigenem Buch annonciert, beispielsweise weiterführende Kassettenseminare, Verhaltenstraining und Balearen-Urlaub zur „seelische[n] Harmonisierung“ an. Endres, Hans (1979): Das Beste aus dem Leben machen. Deggendorf: Ulrich, 335. Oder man findet nun öfter in Managementzeitschriften Anzeigen wie solche: „Harzburger Managementtermine Oktober 1974“. Im Oktober 1974 wurde ein Seminar für das „Middle Management“ namens „Arbeitstechniken, Kreativitätstechniken und Problemlösungsmethoden (ACP-Seminar)“ angeboten. So stützen sich die wenigsten der von uns untersuchten Autor/innen allein auf ihre Tätigkeit als Sachbuchautor und Lebensratgeber. Beispielhaft sei hier Heinz Ryborz genannt, der durchaus erfolgreich in den 1970er Jahren durch die Publikation von Planungs- und Entspannungsratgebern in Erscheinung tritt, indes weiterhin in der Industrie, später als promovierter Chemiker an einer Hochschule arbeitet. Ryborz verkaufte sein Buch „Entspannt durch Bewußtseinstraining“ in den ersten sechs Wochen etwa 24.000 Mal. Vgl. Ersatz für Großmütter. In: Spiegel (51/1973), http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-41810 678.html (Zugriff: 30.04.2015).

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Abbildung15: Titelbild (1973)

Abbildung 16: Titelbild (1976)

Auch die soziale Struktur der Autor/innen weist deutliche Veränderungen zur früheren auf. Sind in den 1920er Jahren die Autoren Ärzte, Pädagogen und Hochschullehrer, dringen nun praktizierende Psycholog/innen, Psychotherapeut/innen, Ökonom/innen und kaufmännische Berufe in den Kreis der Autor/innen vor. Wenn sie auch in der Unterzahl sind, so treten auch Frauen als Autor/innen in Erscheinung. Vera Birkenbihl ist z.B. eine erfolgreiche Unternehmensberaterin, die auch Lebensratgeber schreibt. Die in den Lebensratgebern aufgeführten Anschauungsbeispiele und biografischen Narrative sind aber immer noch zumeist der männlichen Lebenswelt entnommen. Glaubwürdigkeit und Autorität garantiert nun verstärkt der Verweis auf den akademischen Hintergrund, den bisherigen Erfolg (verkaufte Bücher, berufliche Führungsposition), Selbstinszenierung (Verwendung von Zuschriften und Leser/innenbriefen als Popularitätsgewähr) und die mediale Repräsentation (Arthur Ulene besitzt zum Beispiel seine eigene Fernsehshow in den USA). 5 Besondere Glaubwürdigkeit scheint die Mobilisierung wissenschaftlichen Wissens auszustrahlen. Nahezu kein Ratgeber kommt ohne die sich seriös bis floskelhaft gebenden Verweise auf neuere wissenschaftliche Erkenntnisse aus, die mitunter in eine recht dezidiert analytische Struktur des Buches münden. Robert Sharp und David Lewis lassen ihr Buch beispielsweise wie eine verhaltenstherapeutische Sitzungsabfolge ablaufen, 5

Hier tritt also noch ein weiteres Charakteristikum einer modernisierten und ökonomisierten Lebensberatung auf: die Entstehung einer neuen Art von Öffentlichkeit, in der Experten sprechen können, so zum Beispiel im Fernseh- und Radiosendungen, Zeitungskolumnen und dergleichen mehr.

Die 1960er/1970er Jahre: Einleitung

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inklusive Pausen, Wiederholungen und der einführenden Darstellung der Verhaltenstherapie. Wie wir für diese Epoche zeigen werden, sind besonders kybernetische Vorstellungen, psychologisches Wissen und ökonomische Modelle wesentlich für die technisch angeleitete Aufrichtung einer botmäßigen Subjektivität. Aber trotz dieser Entwicklung zeigt der Selbstführungsdiskurs modernitätsfeindliche Tendenzen, die in einigen Bereichen noch über die 1920er Jahre hinausgehen und in eine dezidierte Intellektualitäts- bzw. Rationalitätsfeindschaft mündet. Dazu dienen Selbstinszenierungen der Autor/innen als Entlarver/innen und Aufklärer/innen, die auch gerne wissenschaftliches Wissen zu Hilfe rufen, um dem Verstand seine Grenzen aufzuzeigen.

1.2 EIN MEDIUM KOMMT ZU SICH Das Autor/innen-Leser/innen-Verhältnis durchläuft von der ersten zur zweiten Epoche einen deutlichen Wandel. Wesentliche Veränderungen betreffen v.a. den Modus, wie das Leser/innen-Subjekt durch das Medium angesprochen und in ein transformatives Verhältnis zu sich selbst verwickelt wird. Wir haben bereits für die frühen Lebensratgeber festgestellt, dass nicht nur das Verhältnis, das die Autor/innen zu ihren Leser/innen entwickeln, ein wichtiges Charakteristikum der Novität des Genres ist, sondern dass die Lebensratgeber auch auf doppelte Weise reflexiv sind: einmal im Hinblick auf die Systematik des Transformationsprozesses und andererseits auf den Gebrauch der Schulungsschrift durch die Leser/in. 6 Nehmen die frühen Lebensratgeber über Lese- und Bearbeitungsregeln Einfluss auf die Interpretations- und Lesegewohnheiten der Rezipientinnen, zum Beispiel durch die Aufforderung, schriftliche Notizen zum Gesagten anzufertigen oder wichtige Passagen zu unterstreichen, geht das Medium ab den 1960er Jahren über diesen eher rhetorischen Zugriff auf seine Leser/innen hinaus. Das Leser/innen-Subjekt kommt nicht nur durch den Diskurs zur Praktik, sondern der Diskurs (in Form des Buches) beginnt sich selbst zu technisieren. Erstmals treten kleinschrittige und niederschwellige Techniken auf, die eine bestimmte Mitarbeit in Bezug auf die Aneignung des Mediums betreffen, aber ohne den Lesefluss dabei zu unterbrechen. Anders als die Kontrolltechniken, die den Akt der Selbsttransformation überwachen, beziehen sich diese neuen Techniken auf den Akt der Aneignung des Ratgebers durch die Leser/innen, und zwar durch die Materialität des Buches. Kleine leere Kästchen beginnen die letzten Zeilen eines Kapitels zu besiedeln, ein Häkchen der Leser/in soll den Vorgang des Lesens abschließen und ihr den Fortschritt ihrer Aneignung verbildlichen. Nun wird man öfter aufgefordert, in fünf Punkten, deren Beginn durch gedruckte Gedankenstriche im Buch vorgegeben ist, die Kernaussagen des Kapitels zusammenzufassen. In einigen Texten findet sich jede Übung durchnummeriert auf den letzten Seiten des Buches, um durch die Leser/innen mit Datum und Benotung versehen zu werden. Beim Text von Sharp und Lewis wird man gar dazu angehalten, einen kleinen multiple-Choice-Test über ein gelesenes Kapitel direkt nach dessen Lektüre zu absolvieren. 7 Die deutlichste Aus6 7

Siehe Kapitel 4.4 im Einführungsteil. Sharpe, Robert; Lewis, David (1977): Der Egowecker. Ein Schlüssel zu Glück und Erfolg. Düsseldorf/Wien: Econ, 23.

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kunft über die Modernisierung und Reifung des Genres mag aber das Auftreten einer neuen Art von Technik geben, die über die Ratgeber aus den USA Einzug in den deutschsprachigen Raum hält – es sind die Selbsttests. Diese verändern die Art der Leser/innenführung, indem anstatt einer moralischen Ansprache oder imperativer Anrufungen spielerisch daherkommende Verfahren eingesetzt werden. Die Raffinesse besteht darin, dass man von einer direktiven Lenkung absieht, wobei sich aber die indirekten Verfahren zur Kontrolle der Techniken und Überwachung der Rezeption vervielfachen. Diese Mischung aus egalitärer Rhetorik, aktivierend-kontrollierender Verfahren und individualisierender Praktik zeichnet die Lebensratgeber der zweiten Epoche aus. Sie finden zu der Form, die uns heute vertraut vorkommt und die doch das Ergebnis einer historischen Entwicklung war.

1.3 DIE BLÜTE DEUTSCHER GRÜNDLICHKEIT UND FRISCHER WIND VOM ATLANTIK: DIE NEUAUSRICHTUNG DER SELBSTFÜHRUNG IN DEN 1960ER UND 1970ER JAHREN Abbildung 17: Neue Formen der Leser/innenführung

Wille und Verstand, Anstrengung und Disziplin, vor allem aber eine moralisch gerahmte Selbstführung ist in den 1960er Jahren völlig verschwunden. 8 Auf eine sittliche Pflicht zur inneren Vervollkommnung will sich kaum jemand mehr festlegen lassen. Die indirekte Selbstführung passt mit ihrer Betonung passiv-sanfter Techniken, der Bedeutung von Entspannungstechniken und ihrer unverkrampften Haltung zu den eigenen Trieben und Leidenschaften besser in die neue Zeit. Eine gewisse Kontinuität gibt es nur bei der Selbstrationalisierung. Bis 1937 erlebt Grossmanns „Sich selbst rationalisieren“ 14 Auflagen, von 1949 bis 1978 weitere zehn Auflagen (bis 1993 sogar 14). Wichtiger jedoch ist, dass eine Reihe neuer Autor/innen, wie Wiedemann, Hartleb, Niessen oder Scheitlin selbst erfolgreich in der jungen Bundesrepublik Ratgeber zur rationellen Organisation von Planungsprozessen und Subjektressourcen publizieren, zum Teil bis in die 1990er Jahre hinein. 8

Mehr aus historischem Bewusstsein (die Ersterscheinung liegt genau 30 Jahre zurück) erscheint 1953 letztmalig Lindworskys „Willensschule“. Nicht unwichtig ist sicherlich, dass sie von einem Jesuitenkollegen neu herausgebracht wird. Zumindest überlebt Lindworsky das Ende der von ihm eigentlich kritisierten „Willensgymnastik“ um einige Jahre. Seine Kritik am Willen wird länger Bestand haben.

Die 1960er/1970er Jahre: Einleitung

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Neben die historischen Kontinuität der Selbstrationalisierung9 treten aber eine Reihe bedeutender neuer Impulse, die um zwei Positionen herum angeordnet werden können. Sie folgen zeitlich aufeinander, ohne dass sie einander vollständig ablösen würden, obwohl sie deutliche Differenzen und Bruchlinien aufweisen. Der Diskurs um die optimale Anpassung an innere und äußere Regulationsmechanismen, der auf den Begriff der Selbststeuerung, und der Diskurs um die hohen subjektiven Kosten kultureller Anpassungsforderungen, der auf den Begriff der Selbstentfaltung gebracht werden kann. Sie stellen die Innovationen dieser neuen Epoche der Selbstführung dar. Der Diskurs um die Selbststeuerung lässt sich bereits voll entwickelt in den frühen 1960er Jahren nachweisen. Er bringt ein den frühen Lebensratgebern völlig unbekanntes Problem hervor, nämlich den Menschen, der durch die überregulierende Tätigkeit des Verstandes den naturgemäß reibungslosen Ablauf innerer Steuerungsmechanismen hemmt und somit sein körperlich-seelisches Wohlbefinden stört. Großen Einfluss auf die Popularisierung dieses Diskurses hatte das 1962 in der Bundesrepublik erschienene Buch des US-amerikanischen Schönheitschirurgen Maxwell Maltz: „Erfolg kommt nicht von ungefähr“. Es ist stilbildend für eine ganze Anzahl ähnlicher Schriften, die bis hinein die 1970er Jahre hinein gefragt sind. Der zweite Diskursstrang entwickelt sich ab den späten 1970er Jahren und kritisiert den hohen sozialen Konformitätsdruck, der durch mehr oder minder subtile Manipulationen der sozialen Umwelt erzeugt wird, z.B. durch Erziehungseinrichtungen wie die Schule, aber auch die Gesellschaft im Allgemeinen. Die Einzelne würde zur Anpassung an überalterte Normen und zur Abhängigkeit von ihren Mitmenschen gedrängt und verliere so ihre Individualität. Subjektiver Ausdruck auf der Ebene des Selbstverhältnisses sind Hemmungen, Tabudenken, Pedanterie, Freud- und Lustlosigkeit sowie geistige Provinzialität. Zum ersten Mal wird ganz mit der ambivalenten Erbschaft der christlichen Selbstführung gebrochen, die auf die eine oder andere Weise seit den Anfängen der Lebensratgeber mitgeführt wurde. Der Erfolg dieses Führungsdiskurses verbindet sich mit zwei Namen: zum einem dem österreichischen Journalisten und Werbetexter Josef Kirschner und zum anderen dem bereits erwähnten US-amerikanischen Psychotherapeuten Wayne W. Dyer. Übergreifend ist ein rapider Bedeutungsverlust der rationalen Kräfte des Individuums und der unaufhaltsame Aufstieg der unwillkürlichen Kräfte, v.a. des sog. „Unterbewusstseins“ zu verzeichnen. Außerdem gelangt das soziale Umfeld zu großer Bedeutung und mit ihm eine neue Gattung der Sozialtechniken. Sowohl beim Unterbewusstsein als auch bei der sozialen Umwelt geht es von nun an mehr darum, etwas reibungslos funktionieren zu lassen, es freizumachen von ungebührlichen Einflussnahmen und Druck, als es neu zu schöpfen und total zu beherrschen.

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Wie darzustellen sein wird, bleiben die Selbstrationalisierer nicht unbeeindruckt von den veränderten Rahmenbedingungen, was seinen Niederschlag in einem teilweise modernisierten Technikarsenal findet, wohingegen die Technikbasis stabil bleibt.

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Die Problematisierung der gestörten Natur Das Subjekt zwischen Anpassung und Eigensinn

2.1 VON DER FEHLENDEN ZUR FALSCHEN SELBSTFÜHRUNG Die Welt der 1960er und 1970er Jahre erscheint in der Lebensratgeberliteratur als ein ungleich freundlicherer Ort. Das Subjekt ist zwar eingelassen in eine Welt, die sich bedrohlich in sein Inneres ausdehnt und ihn stört und hemmt, aber es bringt von Haus aus das Rüstzeug mit, diese Herausforderung zu meistern und zwar nicht mehr, wie in den frühen Lebensratgebern, in Form eines menschlichen Vermögens, das potenziell abrufbar ist, aber zuerst geschult und schließlich beständig beaufsichtigt werden muss (was misslingen kann). Vielmehr besitzt das Subjekt von Natur aus und in toto jene gut funktionierende Innerlichkeit, die ihm zur Bewältigung seines Lebens dienen soll. Der Blick des Subjektes in sein Inneres offenbart ihm nicht mehr seine Abgründe, sondern seine bereits vollständig ausgebildeten Möglichkeiten. So hat sich nicht nur eine äußere, sondern auch eine innere Kampfesfront aufgelöst. Die Regungen, welche die Willensschulen noch als innere Feinde wahrgenommen haben, verlieren ihre Bedrohlichkeit. Ja mehr noch, gerade aus dem, was sich einer willkürlichen Kontrolle entzieht und sich des Subjekts ohne sein bewusstes Zutun bemächtigt, nämlich Wünsche, Bedürfnisse, Eingebungen und Träume, kommt dem Subjekt die Hilfe, Kraft und Einsicht zu, derer es für seine gelungene Selbstführung bedarf. Gerade in ihnen erkennt es sich in seiner Individualität. Somit sind Disziplinierung und Willensschulung zu Beginn der 1960er Jahre nicht nur obsolet geworden, sondern Gegenstand der Kritik: Ein Übermaß an Kontrolle und innerem Zwang versperrt nun gerade den Zugang zu den eigenen tieferen Wesensschichten und macht den Umgang mit der sozialen Umwelt unflexibel, hölzern und gehemmt. Das Herabdrücken der individuellen Neigungen unter die Herrschaft des Verstandes, so die Lebensratgeber der 1960er Jahre, führt zu Freudlosigkeit und kann deshalb gar nicht die Entfaltungsbedingungen hervorbringen, derer es bedarf. Zum ersten Mal sind bestimmte affektive Zustände des Subjektes wesentlich für ein Gelingen der Selbstführung. „Eine tatsächliche Entfaltung ohne Glückserleben gelingt nicht. Wenn sich der Mensch nicht glücklich fühlt, kann er sich nicht entfalten. So viel er es auch mit aller Kraft versuchen will, er wird immer und immer wieder versagen, Mißerfolge und Enttäuschungen ernten und dazu auch noch seine Gesundheit schädigen […] Schon das [verstandesmäßige] Suchen nach entfaltungs-

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fördernden Ideen, Gedanken und Möglichkeiten ist eine geistige Anstrengung und eine kaum zu bewältigende geistige Leistung, die durch und durch verkrampft und anspannt.“ 1

Der Mensch der 1960er Jahre soll sich in einen Zustand von Freude und Glück begeben, da dieser die eigentliche Bedingung für seine Selbstentfaltung darstellt. Genauer noch: Zufriedenheit und Glück machen den Naturzustand des Menschen aus. Nur wenn er diesen Naturzustand erreicht, kann er über seine volle körperliche und geistige Leistungsfähigkeit verfügen.2 Wenn aber der Mensch am besten funktioniert, wenn er sich seiner Natur überlässt, wird dann nicht die Schulung der Selbstführung überflüssig? Die Lebensratgeber der 1960er und 1970er Jahre beantworten dieses mögliche Obsolet-Werden der Selbstführung, indem sie den Topos der gesellschaftlich blockierten Entfaltung zum Kern ihrer Problematisierung erheben. Der Mensch sei zwar von Natur aus reich mit vielfältigen und nützlichen Mechanismen ausgestattet, aber diese menschliche Natur ist in den Augen der Autor/innen zumeist tief verschüttet und blockiert, bisweilen sogar in ihr Gegenteil verkehrt. Die conditio humana erscheint in den Lebensratgebern dieser Epoche zwar einerseits als sehr kraftvoll und dynamisch, anderseits aber auch als sehr sensibel und störungsanfällig. Sie ist sowohl gegenüber einem harten Zugriff des Subjekts empfindlich als auch gegenüber einer sozialen und gesellschaftlichen Umwelt, die beständig Einfluss auf sie nimmt. Die Lebensratgeberliteratur der zweiten Epoche ist dicht bevölkert von einer spezifischen Art von gescheitertem Menschen, dem man aber anders als noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts sein Gescheitert-Sein nicht mehr ansieht. In der Regel handelt es sich bei diesen Menschen um äußerlich betrachtet hoch funktionale Subjekte, familiär und beruflich integriert, sozial angesehen oder zumindest unauffällig, aber doch unglücklich. Ihr Unglück besteht aber nicht mehr darin, dass sie sich von ihren Launen und Vorlieben treiben lassen, sondern darin, dass sie sich auf eine falsche Weise mit sich selbst ins Verhältnis setzen, dass sie an ihrer Natur vorbei bzw. gegen ihre Natur handeln. Ein solches Subjekt „ist eine gehemmte, nicht voll entwickelte Persönlichkeit und entspricht einem Menschen, der sein schöpferisches Ich in sich vergraben hält, der nicht ‚aus sich herauskommt‘, sich nicht entwickelt. Ein solcher Mensch hat sein Selbst eingeschlossen, in Fesseln gelegt und den Schlüssel zu der Seelenzelle noch weggeworfen.“ 3

Was ihn einsperrt, ist nicht seine Verweigerung einer Selbstführung, es ist gerade das extreme Exerzieren einer bestimmten Selbstpraktik. Am Beispiel eines Klienten führt der Psychotherapeut Dyer aus:

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Gaschler, Tony (1966): Der neue Weg. Glück, Gesundheit, Entfaltung. Regen: Alois Ulrich Verlag, 26. „Das menschliche Nervensystem ist von Natur aus auf Glückserleben eingestellt. Es funktioniert daher nur dann einwandfrei, wenn sich der Mensch glücklich fühlt.“, Gaschler (1966), 23. Maltz, Maxwell (1962): Erfolg kommt nicht von ungefähr. Psychokybernetik. Düsseldorf: Econ, 214 f.

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„Im Laufe der Explorationssitzung kam ans Tageslicht, daß Heinrich ein wahrer Planfanatiker war. Er aß Tag für Tag das gleiche Frühstück, plante seine Kleidung schon Tage im Voraus und hatte in seinen Kommodenschubladen alle Gegenstände bis ins Kleinste nach Farbe und Größe geordnet. Auch seine Familie hatte sich seinem Organisationszwang zu fügen. Heinrich erwartete von seinen Kindern, daß sie ihre Sachen stets ordentlich aufgeräumt hatten, und von seiner Frau, daß sie sich an eine Reihe fester Regeln hielt, die er aufgestellt hatte. Kurz gesagt, Heinrich war ein ordentlicher, aber zugleich ein sehr unglücklicher Mensch.“ 4

Die Problematisierungen der zweiten Epoche der Lebensratgeber zielen also zunächst darauf ab, die Verschüttung des Selbst und den Prozess des Fehlgehens der Selbstführung aufzuheben. Sie fragen: Wie kann die dynamische Struktur des Menschen wieder freigelegt werden, ohne dass dies unter die tyrannische Herrschaft von Willen und Verstand führt? Wie kann das Subjekt in ein Selbstverhältnis eintreten, in welchem die Früchte der inneren Anlagen und Mechanismen durch Sein-Lassen ihrer Reifung zustreben?

2.2 DER VORRANG DER OBJEKTWELT ODER: DAS SUBJEKT OHNE GEWICHT Drei wesentliche Konstellationen und Tendenzen werden für die Schwäche des Subjektes verantwortlich gemacht. In ihnen suchen vor allem die Autor/innen der zweiten Dekade ab 1970 die Ursache für sein Fremdbestimmt-Sein: Erstens in der starken Rationalitätsorientierung der westlichen Kultur, zweitens in einer wachstumsfeindlich eingerichteten Gesellschaft und drittens in dem problematischen Einfluss erzieherischer Institutionen wie Familie und Schule (aber auch der sozialen Sphäre insgesamt). In der einen oder anderen Weise haben sie Anteil am Unglück der Menschen. Sie bilden sowohl als allgemeine mentale Struktur, als konkretes Umwelterleben, als auch als Form sozialer Erfahrung einen mächtigen, nahezu übermächtigen Rahmen für die Selbstführung der Subjekte. Die gesellschaftliche Umwelt steht nicht mehr für einen das Subjekt verflüssigenden, die vernünftige innere Ordnung destabilisierenden Einfluss. Vielmehr steht sie in der Kritik, weil sie gerade eine rigide innere Ordnung im Subjekt installiert und aufrechterhält. Die soziale Welt wird nicht problematisch, weil sie Grenzen verschwimmen lässt und das Subjekt seinen Leidenschaften preisgibt, sondern weil sie sein Inneres erstarren lässt und zu einem Ort der Normierung macht. Disziplin und Selbsthärte stehen nun im Verdacht, Agenten einer sozialen Welt zu sein, die aus der Einzelnen brave und hörige Normalbürger macht. Anders als im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts hat die Selbstführung nicht mehr die Aufgabe, den Menschen eine Selbstführung überhaupt plausibel zu machen, sondern es hat die feste Struktur – die als Resultat einer fehlerhaften Selbstführung gewertet wird – wieder zu verflüssigen. Die Lebensratgeber nehmen Anstoß an einer inneren Struktur des Subjektes, der die Zeichen einer überkommenen Subjektordnung eingeprägt sind. Auch wenn die Lebensratgeber dieser Zeit das Unglück des Menschen nicht anders als in Form einer Kritik von Willensherrschaft und Verstandesorientie-

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Dyer (1977), 140.

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rung kennzeichnen können, problematisieren sie die mentalen und affektiven Erbschaften einer früheren und nun unzeitgemäß gewordenen Subjektivierung. 2.2.1 Die Welt steht Kopf Die zweite Epoche der Lebensratgeber markiert den Höhepunkt der Rationalitätsund Verstandesfeindschaft. Es geraten nicht nur einzelne gesellschaftliche Bereiche in den Fokus der Kritik, wie zum Beispiel die Wissenschaften, die den Autor/innen als überspezialisiert gelten und die kaum in der Lage seien, ihr partikulares Wissen zu einer Wissenschaft vom ganzen Menschen zu machen, sondern die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit gilt als verkopft und veraltet. „Ermessen wir, daß bei uns seit mehr als einem Jahrtausend fast nur die rationale Objektwelt gültig war, gepflegt, erforscht, gelehrt wurde, so ist der heutige Zustand erklärlich. Was objektiv, sachlich, also durch den Gegenstand (das heißt: was gegenübersteht, Widerstand leistet) bestimmbar ist, das hat für den rational eingestellten Menschen (allein) Gültigkeit; das Subjektive bleibt in seiner Gültigkeit beschränkt, spezifisch gewertet durch persönliche Umstände usw. Daher wird der Begriff des Subjektiven heute als ein Scheltwort benutzt. Es bezeichnet (vom Verstand, der Ratio, her gesehen) das mangelnde Vermögen (ja Unvermögen), lediglich nach sachbezogenen Gründen zu urteilen und zu handeln. Ein subjektives Urteil gilt der Ratio (und darin wird die Rüge ganz deutlich) als unsachlich, einseitig.“ 5

Das Subjektive wird durch die allgegenwärtige Rationalitätsorientierung der westlichen Gesellschaften zu einem Ort der Irrationalität. Gesellschaftlicher Fortschritt wird mit der sukzessiven Ausbreitung verstandesmäßigen Denkens gleichgesetzt. „Überreales und Geistiges gilt eher als Ausschweifung des Gehirns, als unnützer, elitärer Ballast, womit man weder die Produktion erhöhen, noch die Güterverteilung verbessern, noch die Gesellschaft reorganisieren kann.“6 Diese allgemeine Tendenz zur Intellektualisierung mache weder vor der Arbeitswelt noch vor dem Privatleben halt und drückt sich nicht nur in einer Geringschätzung von Gefühlen, Intuition oder eines ruhigen Innenwerdens aus. Sie führe mitunter auch zur Vorherrschaft einer kalten, sachlichen, berechnenden Denkweise, die ihren Erfolg mit Hilfe von Gewaltmitteln durchsetzen wolle, so die Autor/innen dieser Zeit. Für einige Texte v.a. der späten 1970er werden die Mitmenschen nur noch als gefügig zu machende Instrumente der eigenen Interessen betrachtet.7 „Dies bedeutet Entfremdung zwischen dem Menschen und seiner Arbeitswelt und Entfremdung von seinen Mitmenschen.“ 8 Selbst durch „die meisten Ehen zieht sich ein Grundmuster von Herrschaft und Unterwerfung.“9 Die Einzelne lebt in einer „pathologische[n] Isolation“, zu der die sowieso 5 6 7 8 9

Michligk, Paul (1974): Gestalte dein Leben erfolgreich. Lebensführung, Erfolgsgestaltung, Menschenbehandlung. München: Goldmann, 141. Lindner, Otto J. (1978): So lebt sich’s leichter. Ein ABC der Lebenskunst. Freiburg im Breisgau: Herder, 211. Vgl. Michligk (1974), 187. Beyer, Günther (1979): Mehr lernen und leisten ohne Streß. Mit Einführung in das Streßgeschehen. Weil der Stadt: Lexika-Verlag, 23. Dyer (1977), 216.

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schon hohe „moderne, schleichende Unlustbelastung“ 10 sowie Anspannung und Stress hinzutreten. Der Mensch zersplittert, weil er einen wesentlichen Teil seiner Gefühlswelt von sich abtrennen und unter die Herrschaft der Vernunft zu stellen hat. Er ist gezwungen, seine Gefühle so tief in sich zu verbergen, dass er kaum mehr in der Lage ist, sie zu erkennen, geschweige denn, sie auszudrücken. Sie gelten als „irgendwie primitiv“,11 daher schämen sich ihrer die meisten Menschen, selbst wenn sie der Situation angemessen erscheinen. Wird aber die eigene Natur dergestalt beschnitten, unterdrückt und gehemmt, stellen sich physische und psychische Fehlhaltungen ein, die zu gefährlichen Krankheiten führen können. Die unbeachteten Wünsche und unterdrückten Gefühle verschwinden nicht, sondern wenden sich gegen den Menschen und letztlich gegen die Gesellschaft, die sie mit hervorbringt. So sind laut Ryborz 40% aller Krankheiten psychischer Natur.12 Petrie und Stone sehen sogar 90% aller Krankheiten als direkt oder indirekt durch Geisteshaltung und Gemüt verursacht an. 13 Folgen der Fremdbestimmung durch eine dem ganzen Menschen feindliche Ratio sind „Magengeschwüre, Depressionen, Manien, Bluthochdruck, Impotenz, Frigidität und Herzinfarkt“.14 Prominentes Opfer einer im weitesten Sinne kontraproduktiven Verstandesherrschaft ist aber auch die Gesellschaft, die sie hervorbringt und für notwendig erklärt. Denn die sozialen Kosten für die stressbedingten Erkrankungen sind enorm. Laut Vester hat der Sozialmediziner Hans Schaefer 1972 errechnet, „daß bei einer Fortsetzung jener Entwicklung in weiteren 50 Jahren die Soziallasten das gesamte Bruttosozialprodukt unseres Volkes auffressen würden.“15 2.2.2 Das ungelebte Leben in der wachstumsfeindlichen Gesellschaft Die Vorstellung, dass der Mensch eine Natur besitzt, die, wie Victor Scheitlin es formuliert, „auf Erfüllung und Selbstverwirklichung [drängt]“, 16 bringt eine neue, kritische Perspektive auf das Verhältnis zwischen dem Subjekt und seiner sozialen Umwelt. Die Gesellschaft erscheint den Autor/innen nun gerade so eingerichtet, dass sie die innere Natur des Menschen kaum zur Entfaltung kommen lässt und sie unter ihrem Druck Schaden nimmt. Für Tony Gaschler und andere Autor/innen der 1960er und 1970er Jahre eine absurde Situation: Die westlichen Gesellschaften haben nie zuvor in ihrer Geschichte über bessere Möglichkeiten für die individuelle Selbstverwirklichung verfügt. Dennoch bestehe ein Widerspruch zwischen „tatsächlich vorhandenen Entfaltungsmöglichkeiten einerseits und der entfaltungsfeindlichen Menta10 Lindner (1978), 69. 11 Gaschler (1966), 39. 12 Ryborz, Heinz (1977): Die geheime Kraft Ihrer Wünsche. Zu Erfolg und Glück durch Aktivierung des Unterbewußtseins. Zürich: Schweizer Verlagshaus, 37. 13 Vgl. Petrie, Sidney; Stone, Robert B. (1975): Geistige Isometrik. Der Weg zu Glück, Reichtum, Gesundheit, Erfüllung. Freiburg im Breisgau: Hermann Bauer, 40. 14 Ryborz (1977), 37. 15 Beyer (1979), 21. 16 Scheitlin, Victor (1977): Erfolgreiche Lebensgestaltung. Persönlichkeitsentfaltung; positive Lebensführung; Harmonisierung mit der Umwelt. Olten: Walter, 18.

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lität andererseits“, sie mache den „eigentliche[n] Kern aller modernen Menschheitsprobleme aus“.17 Interessant ist, dass Gaschler vor dem Hintergrund eines biologischen Anpassungs- und Entfaltungsmodells bereits in den 1960ern, also vor dem öffentlich deklarierten Wertewandel,18 die sozialen Wachstumsmilieus der Subjekte kritisiert.19 Arthur Ulene sieht die alltägliche Orientierung der Einzelnen an überkommenen Werten und Verhaltensvorstellungen als wesentliches Anzeichen einer weithin sichtbaren Unfreiheit. Gesellschaftliche Tabus „erscheinen so ,natürlich‘, dass wir sie schon gar nicht mehr als das erkennen, was sie eigentlich sind – unnötige Barrieren für Freiheit und Spontanität.“20 Statt dem „dunklen Drang“ nach kreativem Eigensinn nachzugehen, so Paul Michligk, unterdrücken viele die ihnen „ur- und eigentümliche Lebensmöglichkeit“21 umso stärker, je mehr die moderne Lebenswelt von Leistungsdruck, Hetze, Massenausbeutung und Kollektivzwang geprägt ist. Die Menschen glauben, sich immer wieder durch bestimmte Leistungen anderen beweisen zu müssen und meinen, darin ihre Individualität zu erkennen. 22 Ähnlich im Inhalt und schärfer im Ton urteilt Otto Lindner über die Mechanismen, die eingesetzt werden, um den Menschen ihren Eigensinn auszutreiben: „Mit Lohn und Strafe, Lust und Unlust werden wir zum Menschen gelockt und geschlagen – und damit gleichzeitig konditioniert […]. Die Gesellschaft prägt uns damit bis in die verborgensten Schlupfwinkel unserer Seele. Wir glauben, dass wir eigenwillig herumschwimmen, aber in Wirklichkeit werden wir von den Wassermassen fortgetragen, wie ein Ruderboot in einer Meeresströmung.“23

Am Ende komme ein Mensch heraus, der zwar von seiner Einzigartigkeit überzeugt, der aber im Grunde von einem Abhängigkeitsdenken ergriffen sei. Denn „unabhängiges Denken widerspricht nicht nur den Konventionen, sondern wirkt gerade auf die Institutionen bedrohlich, die die wesentlichen Stützpfeiler unserer Gesellschaft bilden.“24 Die Familie, die Kirche, die Arbeitgeber spielen ihre Rolle dabei, das Vertrauen in die eigenen Kräfte zu unterminieren. Die Lage des Menschen wird von Michligk offenbar so betrüblich eingeschätzt, dass er die Individualität der Einzelnen 17 Beide Gaschler (1966), 89. 18 Vgl. Rödder, Andreas (2014): Wertewandel in historischer Perspektive. Ein Forschungskonzept. In: Dietz, Bernhard; Neumaier, Christopher; Rödder, Andreas (Hrsg.): Gab es den Wertewandel? Neuere Forschungen zum gesellschaftlich-kulturellen Wandel seit den 1960er Jahren. München: Oldenbourg, 17-40. 19 Für Petrie und Stone lassen sich die wachstumsfeindlichen Bedingungen im gestiegenen Druck nachvollziehen, der auf Kinder, Jugendliche aber auch erwachsene Menschen in Beruf und Privatleben ausgeübt wird, sich nach den Wünschen anderer zu richten. „Sie verlieren dadurch das Gefühl, ihr eigenes Leben zu bestimmen“, Zielbewusstsein und Entschlusskraft werden zerstört. Petrie/Stone (1975), 274. 20 Ulene, Arthur (1978): Mehr Freude am Leben. Ein 20-Tage-Programm für Gesundheit und Lebensfreude. Landsberg: mvg, 29. 21 Michligk (1973), 10. 22 Vgl. Dyer (1977), 143. 23 Lindner (1978), 15f. 24 Dyer (1977), 67.

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gegen die objektiven Mächte verteidigen will, indem er ihnen ein „Naturrecht“ auf sein Selbst-Sein ausstellt.25 In den späten 1970er Jahren bekommen diese Klagen einen staatskritischen Einschlag. Die staatlichen Sozialpolitiken geraten vor allem in den 1970ern in den Verdacht, den Menschen mehr zu schwächen als bestimmte strukturelle Ungleichheiten zu kompensieren. Nach Meinung von Josef Kirschner passiviert er die Menschen durch soziale Absicherung.26 Ulrich Beer geht sogar so weit, zu behaupten, dass eine „neue Hilfsbedürftigkeit und Schwäche erzeugt wird, weil die größere Gemeinschaft dem einzelnen viel abnimmt, was er selbst leisten könnte.“27 Trotz einer grundsätzlich optimistischen Grundhaltung durchzieht ein hintergründiger, zutiefst ernster Ton die Texte dieser Zeit. In letzter Konsequenz droht dem konformistischen Subjekt zwar nicht mehr ein gänzlicher Verlust seines Subjektstatus wie noch in der frühen Lebensratgeberliteratur, aber es hat dennoch eine eigentümliche Schuld auf sich geladen. Über diese Lebensschuld hat nicht mehr ein abstraktes Kollektiv oder eine allgemein anerkannte Moral zu richten. Genauer noch, die Lebensratgeber nehmen Abstand davon, diese nach objektiven Maßstäben zu erfassen. Wie Glück ist die Schuld eine Frage des gefühlsmäßigen Erfassens der Einzelsubjekte, eine Frage der Gesamt(un)stimmigkeit. Anders noch als in der frühen Lebensratgeberliteratur resultiert sie nicht mehr aus Unkenntnis oder mangelnder Bereitschaft, einer sittlichen Pflicht auf Selbstverbesserung nachzukommen, sondern daraus, seine Natur verfehlt zu haben, sein eigenes Leben nicht gelebt, sich selbst verpasst zu haben. Für Ulrich Beer handelt es sich bei den in diesem Sinne schuldig Gewordenen um die „Eigentlichen“: „Es ist der Mensch, der eigentlich immer etwas anderes hätte sein können“,28 der es aber nie dazu gebracht hat, gemäß seiner zu entfaltenden Möglichkeiten zu leben. Das Subjekt ist folglich nicht einer sozialen Moral oder spezifischen gesellschaftlichen Erwartungen gegenüber verantwortlich, aber es wird in Haftung für die ihm unterstellten Möglichkeiten genommen. Da diese Möglichkeiten tendenziell ohne Grenze und Abschluss sind, der Übende also niemals einer Selbstentfaltungsaktivität enthoben ist, hat – trotz aller Freiheitsrhetorik der Lebensratgeber – diese Schuldfrage eine unabschließbare Note. 2.2.3 „Wir alle aber wurden gedrängt und verführt, überredet und gezwungen.“ 29 Auf einer sozialen Ebene konkretisieren sich die Erfahrungen von Abhängigkeit und Konformismus, die das Subjekt macht, innerhalb dreier Sphären: der elterlichen Erziehung, der schulischen Ausbildung und des (beruflichen wie privaten) sozialen Verkehrs. 25 Michligk (1973), 13. 26 Vgl. Kirschner, Josef (1976): Die Kunst, ein Egoist zu sein. Das Abenteuer, glücklich zu leben – auch wenn es anderen nicht gefällt. München: Droemer Knaur, 9 und 190. 27 Beer, Ulrich (1978): Mut zum Glück. Richtig entscheiden lernen. Düsseldorf: Econ-Verlag, 48. 28 Ebda., 54. 29 Ryborz (1977), 14.

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Auch die zweite Epoche der lebensratgeberischen Problematisierung erhebt mit großem Verve und zudem in großer Einstimmigkeit eine Anklage gegenüber der elterlichen Erziehung und der Schule. Diese geraten in den Fokus der Kritik am gesellschaftlich produzierten Konformismus. Die meisten Menschen, so hebt beispielsweise Ryborz hervor, wissen nichts von ihrer Natur und ihren Wünschen, weil sie als Kinder einer „entfremdeten, meist autoritären Erziehung“30 unterworfen waren, die Anpassung und Aufopferung von ihnen forderte. Die Kinder wurden vor allem darin erzogen, die Wünsche der Außenwelt, also in erster Linie die Wünsche der Eltern, zu registrieren und sich ihnen gegenüber beliebt zu machen, anstatt eine Wahrnehmung für das eigene Innere zu entwickeln.31 Alles, was einem freien Verhältnis der Kinder zu ihrem Inneren entsprang, wie Neugier, Abenteuerlust und Spontaneität, verkehrte sich unter dem Druck der Eltern zu Vorurteil, Vorsicht und Tabudenken. Der Schule wird ein kaum weniger folgenschwerer Einfluss auf das Kind und seine spätere Entwicklung von den Autor/innen nachgesagt. Sie setzt nahtlos fort, was in der Familie erlebt wurde: fehlende Wahlfreiheit, Unfreiheit, Druck und Unterdrückung der Entschlusskraft.32 Die dort erlernten Denk- und Verhaltensgewohnheiten lassen sich auch später nicht so leicht abschütteln: „Nur zu viele junge Menschen nehmen von der Schule Leiden mit, die sie seelisch lebenslänglich belasten.“33 Diese Art Mensch verstecke sich in sich selbst, entwickle Minderwertigkeitsgefühle und verfalle einem Sicherheitsdenken.34 „Kurz, wir waren damals – in unserer Kindheit, in unserer Jugend – nicht Herr unserer Selbst, waren unserer nicht mächtig“ 35 und bleiben es, so Ryborz, häufig ein Leben lang. Die Erfahrungen der Arbeitswelt zeigen vielen später, dass alle „ständig [versuchen], andere für ihren Vorteil einzuspannen“, und sie tun dies kaum anders als in den Kindertagen erlernt, nämlich mittels „Unterwerfung, Unterwanderung und Verführung“.36 Diese Einflussnahmen unserer sozialen Umwelt sind vielfältig und manipulieren die Einzelne, gleichwohl sie es nicht bemerke. „So übernehmen wir unbemerkt die empfohlenen Ziele und Ängste, auf differenziertere Art als die berüchtigten Hunde des Herrn Pavlov, aber nach den gleichen Gesetzmäßigkeiten.“ 37 Zwar seien alle Menschen bis zu einem gewissen Grade von den Ideen anderer hypnotisiert, wie Maltz glaubt,38 aber die Werbeindustrie zeige beispielsweise, wie man diese im Laufe seiner Sozialisation eingepflanzten Schwächen gezielt nutzen und ausbeuten könne. Denn da die meisten Menschen über die Kräfte in ihrem Inneren nicht im Bilde sind, kann die Manipulation des Unterbewusstsein durch die Umwelt problemlos greifen. Die Kritiken der Lebensratgeber an der Erziehung, der Schule und der sozialen Umwelt entfalten sich vor dem Hintergrund einer konformistisch wahrgenommenen 30 31 32 33 34 35 36 37 38

Ebda., 49. Vgl. Lindner (1978), 62 und vgl. Dyer (1977), 209. Vgl. Petrie/Stone (1975), 273f. Michligk (1973), 32. Vgl. Hartleb, Kurt (1978): Positive Lebensgestaltung. Stuttgart/Wiesbaden: Forkel, 43 und vgl. Dyer (1977), 134. Ryborz (1977), 15. Beide Kirschner (1976), 9 und 108. Lindner (1978), 15f. Vgl. Maltz (1962), 81.

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Gesellschaft, die mittels Geboten und subtilen Manipulationen die Freiheit, Spontanität und den individuellen Selbstausdruck einschränken bzw. unterdrücken. Die erzieherischen Institutionen und die soziale Welt insgesamt setzen in dieser Sichtweise nur fort und weiten aus, was Verstandesherrschaft und wachstumsfeindliche Konventionen auf der Ebene von kulturellen Gewohnheiten, Mentalitäten und Praktiken bewirken: die Entfremdung des Menschen von seiner inneren Natur. Die autoritären Praktiken in der Aufzucht und die Machttechniken in der Arbeits- und Lebenswelt, der Mangel an Lebensfreude und Individualität erscheinen in den Darstellungen der Lebensratgeber als Ausdruck einer tieferliegenden, diffusen Fehlentwicklung der modernen westlichen Welt. Die Kritik der Lebensratgeber schwankt zwischen einer konservativen Kulturkritik, die der Epoche der Willensschulen nicht unähnlich ist (fehlende „harmonische Entwicklung“ des Subjektes, Rückbezug auf eine vermeintlich beschauliche Vergangenheit, Kritik an der Überspezialisierung etc.),39 und einer autoritätskritischen, fast postmodern zu nennenden Gesellschaftswahrnehmung, 40 bei der auf die Einlösung von Freiheitsversprechen gepocht wird, fernab einer normativ formierenden Vergesellschaftung. Die Autor/innen pendeln daher auch zwischen Positionen, die auf die uneingeschränkte Verwirklichung der individuellen Wünsche und Neigungen abzielen, und der Warnung vor „übersteigertem Individualismus“41 und einer grundsätzlichen Infragestellung gesellschaftlicher Hierarchien. Wenngleich hier keine expliziten Auseinandersetzungen der Lebensratgeber mit den Umbrüchen ihrer Zeit stattfinden, gibt es doch eine Art implizite Verhandlung darüber: erstens in Form einer kritischen Betrachtung des autoritären Erbes einer überkommenen, aber immer noch exerzierten Subjektivierungsstrategie der vergangenen Epoche. Hier wird der Gewaltcharakter und Herrschaftsanspruch gleichermaßen angeprangert wie die sogenannte Gemütskälte und Ineffizienz dieser Selbstführung. 42 Zweitens in Form einer Positionierung gegenüber der bundesrepublikanischen Wohlfahrtsgesellschaft, der kollektivistische Tendenzen unterstellt werden, namentlich in Gestalt von Staats- und Bürokratiekritik.43 Und zum Dritten in Form einer mal gewogenen, mal kritisch-distanzierten Rezeption der antiautoritären Bewegung bzw. der durch sie evozierten Umbrüche in den Verkehrsformen und Ansprüchen der Subjekte.44 In unserem Material zeigt sich, dass die konservativen Positionen besonders durch die Publikationen aus Übersee und insbesondere in den mittleren und späten 1970er Jahren deutlich ins Hintertreffen geraten. Nicht zuletzt an der sich wandelnden Haltung gegenüber den anderen lassen sich diese Entwicklungen gut nachvollziehen.

39 Vgl. u.a. Michligk (1973), 141, 167; Scheitlin (1977), 16f., 85; Endres (1978), 214; Lindner (1978), 21. 40 Vgl. u.a. Kirschner (1976), 9, 14; Dyer (1977), 68; Beer (1978), 48. 41 Endres (1979), 214. 42 Vgl. Maltz (1962), 69, 87, 115, 262; Gaschler (1966), 47; Michligk (1973), 187; Endres (1978), 227ff. 43 Vgl. Kirschner (1976), 9, 190; Beer (1978), 48. 44 Vgl. Dyer (1977), 157; Endres (1978), 214; Lindner (1978), 18; Beer (1978), 98.

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2.3 DIE ANDEREN ALS PROBLEM DER SELBSTFÜHRUNG Die mitmenschliche Umwelt erhält für die Frage der Selbstführung einen ungeheuren Bedeutungsaufschwung. Der oder die Andere muss als Variable der eigenen Selbstführung einkalkuliert werden. Der Andere ist nicht mehr dieser amorphe, irgendwie formbare Teil der Außenwelt, die sich letztlich dem eigenen Charisma, dem eigenen Willen wie von selbst fügt. Er ist nunmehr mit einer eigenen Subjektivität ausgestattet. Die anderen haben in der zweiten Epoche eigene Wünsche, Bedürfnisse, Neurosen, Ziele, Pläne. Sie sind außerdem für die meisten Texte zum unumgänglichen Teil der Erfüllung der eigenen Wünsche und Befriedigung der persönlichen Bedürfnisse geworden. Kurzum, sie sind zu Subjekten geworden. Ein Subjekt, dessen man für das eigene Fortkommen bedarf: „Sie werden sehr bald merken, daß Sie ohne die Hilfe anderer nie auskommen.“45 Niemand im Betrieb ist mehr fähig, alle Abläufe und Produktionsprozesse zu überblicken und jeden Bereich fachlich zu erfassen. Die Interdependenz der wirtschaftlichen Sektoren ist so hoch, dass es völlig aussichtslos ist, nur etwas für sich erreichen zu wollen und dies allein in Gang zu setzen. 46 Die Gewinnung anderer Menschen für die eigene Sache bedarf ganz eigener Mittel und Zielsetzungen. „Wir wollen andere Menschen werblich behandeln. […] Die Kunst der Menschenbehandlung schließt Taschenspielerei und ähnliches aus, auch jeglicher Versuch, ein doppeltes Gesicht zu zeigen. Wer die Menschen in Beherrschte und Umworbene gruppiert, in Untertanen und Hofierte, in Elitemenschen und Nichtqualifizierte usw., wird für eine gedeihliche Menschenbehandlung niemals den Maßstab finden, der ihn und andere in einer Atmosphäre beglückt, die auf Harmonie zielt.“47

Dem anderen Subjekt sieht man sich also von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Auch sein Glück, seine Bedürfnisse zählen nun. Mit diesen muss sich das Subjekt der Selbstführung direkt ins Verhältnis setzen und über sein Verhalten, seine Erwartungen und Ziele nachdenken und sie darauf abstimmen. Alle bewegen sich in einem beweglichen Gefüge, das aus Interaktionen besteht. Dementsprechend kreisen die Problematisierungen darum, wie das Subjekt eine solche zum eigenen Nutzen und gleichzeitig zu dem der Anderen in Gang bringen kann. Interessen werden also bis in die späten 1970er Jahre in der Regel nicht als gegenläufig wahrgenommen, sondern als kompatibel und kommunizierbar. Zwei Richtungen werden dabei eingeschlagen. Zum einen werden Tableaus entwickelt, um die Bedürfnisse der Anderen zu erkennen und ihnen Angebote zu deren Erfüllung machen zu können. Zum anderen gewinnt die Kommunikation einen hohen Stellenwert. Denn um dasjenige bei der Anderen zu bekommen, was ich brauche, ist es wesentlich, zu wissen, was die Andere erwartet und wie ich dies in das Gespräch einbeziehe. So sehr die Anderen in den 1960er und 1970er Jahren zunehmend menschliche Konturen gewinnen und man sich in eine gewisse Form der Abhängigkeit von ihnen gebracht sieht, sie werden ab Ende der 1970er Jahren bei einigen wenigen, aber sehr 45 Ryborz (1977), 212. 46 Vgl. Endres (1979), 218. 47 Michligk (1973), 223.

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erfolgreichen Lebensratgebern zum Gegenstand der Kritik schlechthin. Genauer, die Texte beginnen, die Verflechtung von Selbstführung und der Anderen als ein ernsthaftes Hindernis für die Ausbildung einer autonomen Persönlichkeit anzusehen. Es scheint geradezu eine Art von Absetzbewegung gegenüber dem vorangehenden, positiv aufgeladenen Bedeutungsaufschwung der Anderen einzusetzen. Der Andere erscheint plötzlich keineswegs so dienlich dem eigenen Fortkommen. Das kommunikative Wechselspiel zwischen erkennen und anerkennen, so scheint diesen Ratgebern klar, hat sich zum Nachteil des Einzelnen gewandelt. Es bringt keine tendenziell reziproke Kommunikation hervor, sondern dient eher der Aufrechterhaltung sozialer Herrschaft: „Anerkennung läßt sich großartig zu Manipulationszwecken benützen. Über ihren Wert bestimmen andere; finden Sie sich nicht bereit, ihnen gnädig etwas Anerkennung zuzuteilen, dann stehen Sie mit leeren Händen da. Dann sind Sie wertlos. Und immer weiter so: je mehr Anerkennung Sie brauchen, desto leichter sind Sie manipulierbar.“48

Für Kirschner und Dyer ist die Regel nicht mehr eine Kommunikation zwischen Subjekten, die auf ein gleichwertiges Miteinander zielt, sondern ein Beziehungsmodus, der die Kommunikationspartner/innen zu Objekten, zu Mitteln oder Hindernissen der eigenen Interessen macht und sich in seiner Ausbreitung zerstörerisch auf die Einzelnen wirkt. Die meisten wollen „möglichst viel für sich gewinnen“, und auf der „Strecke [bleiben] jene, die es nicht verstehen, sich durchzusetzen“.49 Die späten 1970er Jahre betreiben mithin eine Neuverhandlung der Rolle der Anderen. Kirschner und Dyer, auch Ryborz und Ulene, nehmen eine skeptische Haltung gegenüber der auf soziale Harmonie abzielenden Verknüpfung von Selbstführung und Führung der Anderen ein. Gleichwohl sie keineswegs auf eine Wiederbelebung der souveränen Herrscherpersönlichkeit, der immunologischen Verpanzerung oder der Meisterung der sozialen Magie zielen, betreiben sie doch eine radikale ReAutonomisierung des Subjektes in eigener Regie. Darin zeigt sich jedoch, dass auch sie nicht umhinkommen, die erhöhte Bedeutung der Anderen anzuerkennen.

2.4 ZUSAMMENFASSUNG Obgleich das Subjekt nicht mehr von existenziellen Bedrohungen umgeben und durchzogen ist, werden die inneren und äußeren Probleme von den Autor/innen der Lebensratgeber auch in den 1960ern und 1970ern als schwerwiegend wahrgenommen. Sowohl die konformistisch wahrgenommene soziale Umwelt als auch eine mit falscher Härte agierende Selbstführung stürzen das Subjekt in eine weitreichende Krise, die nach außen gar nicht als solche erkennbar sein muss, sondern als affektive Krise von der Einzelnen erlebt wird. Diese resultiert, so die Autor/innen, aus einem Zustand der Fehlanpassung, aus einem Zustand des Vorbeilebens an den im Subjekt verschütteten Möglichkeiten und Sinndimensionen. Innerhalb der 1960 und 1970er Jahre gibt es zwei verschiedene Arten und Weisen, die Frage nach der Natur des 48 Dyer (1977), 67. 49 Kirschner (1976), 15.

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Menschen zu stellen und die Wege ihrer Freisetzung und Freilegung zu konkretisieren. Die erste, vor allem in den 1960ern dominante Form zielt vor allem darauf ab, die Grundstruktur des Menschen freizulegen. Diese wird vorgestellt als eine dynamische Totalität, in welcher es keinen bewussten subjektiven Kern gibt. Orientiert an kybernetischen Modellen stellen sich Autor/innen wie Maxwell Maltz, aber auch Vera Birkenbihl oder Tony Gaschler den Menschen als ein System von Systemen vor, die hochsensibel und extrem wandlungsfähig sind. Die Subjekte greifen nur ein, wenn dies nötig ist, und überlassen die Abläufe ansonsten sich selbst. Sie nehmen Eingaben ins System vor, zielgerichtet, aber zurückhaltend und kontrolliert. Die eigentlichen Dynamiken sind dann jedoch dem Steuerungssubjekt entzogen. Die erste Form der Problematisierung lautet demnach: Wie die Fremdsteuerung zurücknehmen? Wie die Systeme in ihre natürliche Selbstregulierung zurückversetzen? Wie sich selbst besser steuern? Die zweite einflussreiche Form der Problematisierung der inneren Verfasstheit des Subjektes geht einen anderen Weg. Diese Richtung, die besonders gegen Ende der 1970er Jahre an Fahrt gewinnt und in ihrer Bedeutung mit den Vorstellungen eines kybernetischen Unterbewussten konkurriert, nimmt ihren Ausgang von einer Archäologie der Bedürfnisse. Autoren wie Dyer, Kirschner oder Ulene wenden sich gegen die allgegenwärtige soziale Anpassung des Menschen, indem sie im Menschen unveränderliche Bedürfnisschichten offenlegen und zur Entfaltung bringen wollen. Die Vorstellung von festen, phylo-, wie ontogenetisch erworbenen Bedürfnissen geht – anders als die vom kybernetischen Unterbewussten – davon aus, dass es einen wesensmäßigen Kern des Menschen gibt, der über die Bedürfnisse erkennbar ist. Genauer, die Bedürfnisse sind der eigentliche Kern des Subjektes. Da es sich bei den Bedürfnissen um eine fest verankerte Tiefenstruktur des Menschen handelt, geht die Unterdrückung der persönlichen Bedürfnisse nicht ohne hohe emotionale Kosten vonstatten. Für Dyer liegen sie im neurotischen, für Kirschner im opportunistischen, für Ulene im konventionellen Verhalten vieler Menschen. Der Mensch wird schwach und krank, weil er sich die Möglichkeit vorenthält, nach seinem einzigartigen Wesen zu leben, und er stattdessen die Verantwortung für sein Leben abgibt, „um sich reibungslos in einem bestimmten System anzupassen“.50 Die zweite Form der Problematisierung lautet also: Wie können die eigenen Bedürfnisse erkannt und freigelegt werden und wie kann man sie gegenüber einer sozialen Umwelt durchsetzen? Diese zwei Problematisierungen teilen die Einschätzung, dass es auf der individuellen wie gesellschaftlichen Ebene ein Problem der Unterdrückung von Individualität gibt. Beide erkennen die neue Rolle der sozialen Sphäre, also anderer gesellschaftlicher Akteure, für den Erfolg der eigenen Selbstführung an, auch wenn sie sich auf unterschiedliche Weise auf sie stützen. Der Ausgang des Subjektes aus seiner Krise erscheint dabei ein so einfacher und gleichzeitig so verwickelter zu sein: sich freizumachen von zu viel äußeren und inneren (willentlichen) Einflussnahmen und zugleich Subjekt seiner Selbstführung zu bleiben.

50 Dyer (1977), 19.

3

Auf der Suche nach dem verlorenen Selbst Techniken der zweiten Epoche der Lebensratgeberliteratur

3.1 DAS ENTFALTUNGSPROGRAMM ALS NEUES ÜBUNGSREGIME Der Umbruch, der sich im Feld der Selbstführung von den frühen Lebensratgebern zur zweiten Epoche hin vollzogen hat, wird nirgends deutlicher als im Hinblick auf die transformativen Praktiken, die das Subjekt an sich zu vollziehen hat. Dies betrifft nicht nur die Frage, was Gegenstand einer Technik werden kann (Objekt), sondern vielmehr auch die Frage, wie (Genus) und mit welchen Mitteln (Subtypen von Techniken). Es lassen sich drei große Veränderungen im Vergleich zur frühen Lebensratgeberliteratur feststellen. Erstens stehen wie erwähnt die unwillkürlichen Seelenkräfte wie das sog. Unterbewusstsein oder die Bedürfnisstruktur des Menschen im Zentrum. Sie machen die bewegenden Kräfte im Individuum aus. Zweitens hat sich das Subjekt, wenn es zu diesen Kräfte durchstoßen will, auf eine Weise zu sich selbst zu verhalten, die man als indirekt oder passiv bezeichnen kann. Und zum Dritten nehmen reflexivitätsorientierte Techniken einen ungeheuren Aufschwung. Es treten völlig neue Techniken, die zum Beispiel ausschließlich mit Stift und Papier arbeiten, in Erscheinung. „Umbruch“ heißt hier also vielerlei: einen radikalen Schnitt mit vergangenen Formen der Selbstveränderung, aber auch Neuverhandlung und -gewichtung von bestimmten Übungsmodalitäten. Der Wille als zentrale, ordnende Kraft der Selbstführung verschwindet gänzlich, aber bestimmte Elemente, die zur Erzeugung eines starken Willens vonnöten waren, wie Konzentrations- und Gedächtnistechniken, Selbstbefehle oder Beobachtungsübungen, erhalten sich besonders in den 1960ern an den Rändern.1 Hier zu nennen sind Entspannungstechniken, prominent durch das Autogene Training vertreten. Sie rücken ins Zentrum einer neuen Führungsweise auf und beginnen sich mit Bedeutungen aufzuladen, die ihnen in den frühen Lebensratgebern niemals zugekommen sind. Festzuhalten bleibt aber, dass ganz gleich, ob wir hier und dort alte Techniken erkennen können, eine neue Art systematischer Verfasstheit der Techniken erkennbar wird, die auf ein völlig verändertes Subjektverständnis hinweist.

1

Zu nennen wären hier auch rein kognitive Techniken, wie die zur Schulung der Sinneswahrnehmung, der Konzentrations- und Gedächtnisfähigkeit und dergleichen.

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Die Systematik der Techniken wird nicht allein durch die Techniken selbst und ihre Objekte garantiert, sondern vor allem dadurch, in welchen strategischen Zusammenhang sie gebracht werden. Die Rede ist hier von der Übungsanordnung als zeitliche und logische Struktur, als Art und Weise, wie die Übenden angesprochen und wie sie in den Prozess der Selbsttransformation einbezogen werden. Als Übungsregime lösen Entfaltungsprogramme die Schulungswege der frühen Ratgeberliteratur ab. Es herrscht in den 1960er und 1970er Jahren ein Gestus der Zurückhaltung. Hinter dem individuellen Willen der Leser/innen, der natürlich nur fiktiv bestimmt werden kann, muss jedes Programm der Autor/innen zurückstehen. Kommentare wie die folgenden sind nun häufiger anzutreffen: „Wichtig: An einigen Stellen werden Sie lesen, daß Sie bestimmte Übungen jeden Tag machen sollen. Das ist als eine Empfehlung des Autors zu verstehen […] Im Übrigen aber betreiben Sie konsequent die Übungen weiter, von denen Sie persönlich am meisten überzeugt sind.“ 2

Vorgeschlagenen Techniken sollen die Leser/innen nicht nur „für sich modifizieren“,3 sondern sie „sollen den Leser in die Lage versetzen, eigene Zielprogramme zu entwickeln.“4 Man wird dazu aufgefordert, das Schulungsregime der eigenen „Wesensart anzupassen.“5 Der Gestus der Zurückhaltung soll also in eine Praxis der Individualisierung münden, die auf einer aktiveren Adaptionsarbeit der Leser/in fußt. Die Aufforderungen zur Individualisierung kann also von Ratgeber zu Ratgeber verschiedene Gestalt annehmen – in der Konsequenz ist es immer den Leser/innen anheimgestellt, wo im Buch und in welchem Umfang sie selbsttransformierendes Handeln ansetzen. Doch bei genauerem Hinsehen stellt man nicht selten fest, dass die Adressierung die Leser/innen als aktive eigensinnige Subjekte wieder zurückgenommen wird. Exemplarisch lässt sich das zeigen an Raymund Hulls Vorgehen. So schärft er den Leser/innen ein, dass sie in der Umsetzung des Angebotenen frei sind: „Es handelt sich hier schließlich nicht um eine Religion mit streng zu befolgenden Regeln. Dies ist ihr Selbstentfaltungsprojekt.“6 Im gleichen Atemzug verlangt er den Leser/innen aber wiederum Einiges an Verzicht auf diese vorgebliche Freiheit ab. So ist es nun doch notwendig, systematisch vorzugehen („Zwingen Sie sich schrittweise vorzugehen“7), oder aber die Leser/in muss jedes Kapitel stichpunktartig zusammenfassen. Eine Tabelle, in der jede im Buch dargelegte Technik verzeichnet ist, soll dazu dienen, dass die Übende den Beginn und die Vollendung einer Technik mit Datum versieht und dergestalt den Fortschritt des Übungsweges überprüfen kann. 8 Trotz Freiheitsversprechen ist eine Verregelungstendenz sichtbar. Der Gestus der Zurückhaltung findet 2 3 4 5 6 7 8

Beyer (1979), 30. Kirschner (1976), 11. Sharp/Lewis (1977), 7. Wiedemann, Fritz (1963): Geistig mehr leisten. Wege erfolgreicher Denkarbeit für Vielbeschäftigte. Stuttgart: Forkel, 14. Hull, Raymond (1995 [1973]): Alles ist erreichbar. Erfolg kann man lernen. Ungekürzte Ausg. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 100. Ebda., 9. Vgl. ebda., 199f.

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somit bei einigen Lebensratgebern hauptsächlich in der Rhetorik statt, der die Struktur des Buches aber teilweise zuwiderläuft. Die Aufforderung zur Individualisierung erreicht die Leser/innen dort manchmal nur noch als Pseudoindividualisierung mit stark infantilisierender Färbung. Bei Ulene zum Beispiel soll das Buch in den geistigen Besitz der Leser/in übergehen (und damit auch in die Deutungshoheit), indem man seinen Namen auf die erste Seite schreibt.9 Eine zweite markante Veränderung betrifft den zeitlichen Nexus der neuen Entfaltungsprogramme. Es ist das Versprechen auf zeitliche Sparsamkeit und unmittelbare Ergebnisse. Die Techniken müssen sich nun in ihrer Dauer und das Programm in seiner Gesamtheit an den Lebensalltag der Übenden anpassen, der offensichtlich deutlich weniger Raum zulässt. Die Autor/innen sehen sich dazu veranlasst, immer wieder darauf hinzuweisen, dass „dem Leser nur ein wenig Zeit und Mühe abverlangt“ wird.10 Selten werden für das gesamte Programm mehr als drei Wochen veranschlagt mit kaum mehr 60 Minuten pro Tag an Übungszeit, meist deutlich weniger. Veränderungen im Verhalten werden nicht erst für eine fernere Zukunft in Aussicht gestellt, sie müssen sich nun rasch einstellen. Lust und Genuss muss in ihnen erlebbar werden. Denn „im Grunde hören die Leute mit den Übungen auf, weil sie keinen Spaß daran haben, und die langfristigen Belohnungen – ein stärkeres Herz, längeres Leben, eine bessere Figur – sind einfach zu weit entfernt, um sie auf die Dauer bei der Stange zu halten. Wir werden ihnen ein anderes Konzept vorstellen. Konzentrieren Sie sich nicht auf die langfristigen Ziele; die werden schon für sich selbst sorgen. Konzentrieren Sie sich stattdessen auf die Freuden, die sich im Vorgang selbst finden lassen.“11

Die Hinwendung zu einer potenziell früh greifenden Individualisierung ist so interpretierbar, dass die Leser/innen über ihre Mitarbeit schnell in das Anliegen des Buches nach Selbsttransformation verwickelt werden. Eine (manchmal eher rhetorisch) zugestandene Freiheit soll aber nicht in Beliebigkeit münden, sondern im Gegenteil im Sinne der Lebensratgeber genutzt werden. Mitarbeit und eine aktive, auch Kritik einschließende Haltung der Leser/in wird zentral für eine veränderte Mobilisierungsform der 1960er und 1970er Jahre.

3.2 IM DIENSTE DER SELBSTENTFALTUNG: DAS FELD DER TECHNIKEN IN DER ZWEITEN EPOCHE Das Feld der Techniken ist in der zweiten Epoche der Lebensratgeber wesentlich vielgestaltiger und weniger homogen, sowohl was die direkten Objekte einer Technik angeht (z.B. gedankliche Entspannung) als auch die Technik selber (z.B. gelenkte Phantasie) wie auch der in Aussicht gestellte finale Gegenstand einer Technik (z.B. Stärkung unterbewusster Kräfte). Die Lebensratgeber entfalten ein breites Spektrum

9 Vgl. Ulene (1978), 12. 10 Sharp/Lewis (1977), 14. 11 Ulene (1978), 21.

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an Techniken, ohne dass immer eine klare und strenge Hierarchie der Techniken vorausgesetzt ist. Man ist in den 1960er und 1970er Jahre viel stärker dazu geneigt, sich verschiedener, durchaus disparater Techniken zu bedienen, um sein Ziel zu erreichen. Es geht stärker darum, den Übenden ein breiteres Arsenal an Techniken zur Verfügung zu stellen, Möglichkeiten und Versuchsformen anzubieten, als ihnen ein vollständig durchkonstruiertes Schulungsprogramm aufzudrängen, bei dem jeder Schritt in genauer Abfolge zum nächsten steht. So stehen die angebotenen Techniken oft (aber nicht immer) gleichwertig nebeneinander. Gleichwohl erfordert weiterhin eine Reihe von Übungseinheiten das logische Ineinandergreifen bestimmte Techniken. Um beispielsweise seine Phantasie lenken zu können, ist es immer zwingend vorausgesetzt, dass man sich in einen Zustand der Entspannung bringt. Der Wunscherfüllung vorgängig sind immer Techniken zur Bewusstwerdung und Konkretisierung der Wünsche. Zudem gibt es eine kleine Gruppe von Ratgebern, bei denen die Techniken streng systematisch, kleinschrittig und hierarchisch geordnet sind. Aber als allgemeine Tendenz lässt sich für die zweite Epoche festhalten, dass die vertikale Ordnung der Techniken durch eine horizontale abgelöst wird. Doch darin ist weder eine Beliebigkeit in den Mitteln noch in den Zielen zu sehen. Die folgenden fünf großen Kategorien von Techniken sind in den meisten Ratgebern über den gesamten Zeitraum der zweiten Lebensratgeberepoche dominant: Mobilisierung des Nicht-Rationalen, Modi der Einfühlung, diversifizierte Sozialtechniken, niederschwellige Aufschreibetechniken und Metatechniken. 3.2.1 Die Kraft des Nicht-Rationalen Die Mobilisierung der unwillkürlichen Kräfte im Menschen markiert einen Eckpunkt selbsttransformativer Praxis für die zweite Epoche der Lebensratgeber. Über kaum einen Punkt besteht größere Einigkeit. Wem es gelingt, diese Kräfte für sich arbeiten zu lassen, besitzt den Schlüssel für Glück und Erfolg. Wer es schafft, sie vom Druck des Verstandes zu befreien, erschließt sich zugleich den Weg zu seiner Natur. Die Namen für dieses dem Menschen eigentümliche Innere differieren. Mal ist es das Unbewusste, mal sind es alle Kräfte des Unwillkürlichen, wie Träume, Phantasie, Kreativität, in den meisten Fällen wird es von den Autor/innen als Unterbewusstsein bezeichnet. Das Unterbewusstsein stellt die Steuerungszentrale des Menschen dar. In den Augen der Autor/innen ist es eine dem Menschen fest verbundene Tiefenstruktur, die weder in ihrer Arbeitsweise beeinflusst noch in ihren Äußerungsformen manipuliert werden kann. Man kann sich dem Unterbewusstsein weder entledigen noch kann man es von einer ihm fremden Kraft wie zum Beispiel dem Bewusstsein direkt regieren lassen. Es existiert unabhängig von der Persönlichkeitsstruktur bzw. es ist jeder Persönlichkeit vorgelagert und zugrunde gelegt. Von ihm aus werden „der bewußte Geist und unsere Handlungen […] bestimmt“.12 Darüber hinaus nimmt es Einfluss auf die Gefühle und Vorstellungen, drückt sich in Träumen und spontanen Einfällen aus. Das Unterbewusstsein ist der eigentliche Herr im Hause. Umgekehrt bedeutet dies, dass die rationalen Kräfte von Natur aus eine untergeordnete Stellung zugewiesen bekommen, auch wenn im modernen Menschen diese Ordnung verkehrt wurde: 12 Ryborz (1977), 111.

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„Vernunft und Verstand sind also keineswegs die hohen Herren, für die man sie gemeinhin hält. Es sind demütige Knechte, die Befehle klug, aber sklavisch ausführen.“13 Dem Bewusstsein komme eigentlich nur die Funktion der Reizregulation zu; es entscheidet darüber, was Eingang in die unterbewussten Schichten findet: „Sind sie [die Sinneseindrücke] einmal angenommen, dann werden sie durch das sympathische Nervensystem eingegeben. Von nun an beeinflussen sie automatisch sämtliche Tätigkeiten.“14 Da das Unwillkürliche im Verborgenen arbeitet und einem direkten Zugriff entzogen ist, sind die Anwendung von Wille und Zwang überflüssig, ja sogar schädlich. „Schöpferische Kräfte entwickeln sich nicht durch Anstrengung. Die Entfaltung der eigenen Energien wird vielmehr gerade dadurch behindert.“ 15 Die Stimulation der unwillkürlichen Kräfte gelingt nur auf indirekten Wege. Hull beschreibt das Verhältnis von indirekter Steuerung und unbewusstem Wirken in den Bildern einer modernen Industrieorganisation: „Im Bewußtseinszentrum, sozusagen dem Hauptbüro, in dem Sie sitzen, beurteilen Sie die Ideen, die aus den Hinterzimmern, den Lagerhallen und Werkstätten des Geistes hereinflattern. Ein Unternehmer kann sein Büro verlassen, um zu sehen, was dort passiert. Sie können aber Ihr geistiges Hauptbüro nicht verlassen (wenigsten nicht in einem gewöhnlichen Denkvorgang). Sie müssen auf Ihrem Platz bleiben und darauf warten, was Ihnen die Ideenfabrik des Unterbewußtseins zur Prüfung liefert.“16

Da ein direkter Zugriff auf die Produktionsabteilung dieser Ideenfabrik ist nicht möglich ist, zielen die Techniken der zweiten Epoche auf eine Beeinflussung der Umgebungsvariablen ab. Sie sind im eigentlichen Sinne Techniken der Peripheriesteuerung, und zwar zumeist, jedoch nicht immer, auf drei Ebenen: erstens in Form der Erzeugung einer Haltung der Passivität, wobei zweitens eine lenkende Aktivität in Bezug auf seelische Fertigkeiten, die mit dem Unwillkürlichen in näherer Verbindung stehen, entfaltet werden soll, die schließlich drittens in eine Haltung empfangsbereiter Passivität mündet, betreffend der ihm aus dem Unwillkürlichen zufließenden Ergebnisse. Diese drei Ebenen stellen die Subtypen der ersten Kategorie von Techniken dar. 3.2.1.1 In Kontakt mit den unwillkürlichen Kräften: Entspannung und Ausschaltung des Verstandes Maßgeblich für die Anregung der unwillkürlichen Kräfte ist, dass man die Übende in einen bestimmten Zustand der Entspannung versetzt. Maxwell Maltz bestimmt diesen Ansatz, der sowohl das Entfaltungsprogramm im Allgemeinen als auch die Entspannungstechniken im Besonderen kennzeichnet, so, dass „der Weg zum Erfolg [über] die Unterwerfung, die Aufgabe des Willens, die Hingabe an die wohltuende Entspannung, das Sich Wegwenden von der Aktivität der Vielgeschäftigkeit und der nutzlosen ,Gedankenmühle‘ [führt]. Aufgabe des Verantwortungsbewusstseins und 13 14 15 16

Lindner (1978), 41. Petrie/Stone (1975), 115. Ryborz (1977), 66. Hull (1995), 37.

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Aufgabe der Berufung zu höheren Dingen, Wegwerfen aller Fesseln des bisherigen Lebens, völliges Abschalten und keine Gedanken mehr an das Morgen verschwenden. Dem kleinen, verbrauchten ‚Ich‘ Ruhe gönnen und durch die Ruhe das größere Ich finden. Die Erfolge – mögen sie plötzlich eintreten oder sich langsam entwickeln, mögen sie groß oder klein sein, die Erfolge des völligen ‚Sichgehenlassens‘ werden sich einstellen. Neue Ideen, neue Kräfte und schöpferische Gedanken werden sich aus dieser absoluten Ruhepause des Geistes entwickeln. Das völlige Abschalten der Gedanken, das Aussetzen des Willens ist ein Erfordernis der menschlichen Natur.“ 17 Wer Erfolg haben will, muss sich allerdings die Möglichkeit vorbehalten, den unwillkürlichen Kräften eine gewisse Richtung aufzuerlegen. Die Entspannung des Körper und die Ausschaltung des Geistes schaffen aber erst die Voraussetzungen gezielter Mobilisierung bestimmter subjektimmanenter Befähigungen und damit der Ergebnisse, die man sich erwartet. Der Zustand körperlicher und geistiger Reizfreiheit ermöglicht für die Texte der zweiten Epoche eine Annäherung an das Unwillkürliche und eine größere Empfänglichkeit des Subjektes für steuernde Eingaben. Ein Großteil der Techniken setzt daher an der Herstellung dieses Zustandes an, einige Ratgeber, wie Sidney Petrie und Robert Stone, halten die Techniken der tiefen Entspannung für die einzigen, die von wirklicher Bedeutung ist.18 Sie sind die Grundlage für alle nachfolgenden Techniken. Petrie und Stone präferieren folgendes Vorgehen: Man begebe sich an einen ruhigen Ort, an dem man es sich bequem macht, so dass man den eigenen Körper nicht mehr spürt. Im Geiste stelle man sich nun eine Wandtafel vor. „An der Tafelunterkante verläuft ein Bord, auf dem sich Kreide und Schwamm befinden. Auf der linken Tafelseite sind Zahlen von eins bis zehn untereinandergeschrieben, können Sie sie deutlich vor Augen sehen? Vielleicht rücken Sie näher an die Tafel heran, so daß sie das ganze Blickfeld ausfüllt. Jetzt sollten Sie die Zahlen klar sehen können. Lesen Sie von unten nach oben! Zehn, neun, acht, sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins. Stehen Sie jetzt auf, gehen Sie zur Tafel und nehmen Sie den Schwamm! Wischen Sie die unterste Zahl, 10, aus! Machen Sie das gründlich! Setzen Sie sich wieder! Schauen Sie auf die Zahlen an der Tafel! Stehen Sie nun wieder auf und wischen die neun aus! […] Bald ist Ihr Geist vollkommen leer und frei. Machen Sie sich für die geistige Erholung bereit. Vier, drei, zwei... Wenn Sie jetzt die eins auswischen und auf Ihren Platz zurückkehren, dann bleiben Sie bitte eine ganze Minute sitzen, während Sie vor Ihrem geistigen Auge die leere Tafel sehen. […] Was geschah nun eigentlich während dieser Minute? Als Sie sich die vollkommen leer gewischte Wandtafel vorstellten, unterbrachen Sie den normalen Gedankenfluss. Sie gaben sich selbst den Befehl, Stück für Stück aus Ihrem Gedankenstrom auszuwischen. Sie ermöglichten also Ihrem Gedankenstrom für diese eine Minute, die die Tafel leer war, ebenfalls leer zu sein.“ 19

Die Abwesenheit von bewussten Gedanken stellt also bei Petrie und Stone den Zustand der Entspannung her. Es handelt sich um ein Zur-Ruhe-Bringen des Verstandes, mehr noch, um dessen Ausschaltung. Wichtig ist hier, dass Entspannung gleichzeitig als ein wesentlich geistiger Zustand vorgestellt wird. Deshalb kann Visualisie17 Maltz (1962), 112. Hier bezieht sich Maltz in seinen Ausführungen auf William James. 18 Vgl. Petrie/Stone (1975), 98. 19 Ebda., 33f.

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rung auch Bedeutendes zur Entspannung beitragen. Um das Denken auszuschalten, lenken die Autor/innen es auf einen kleinschrittig vorgestellten Prozess. Hier wird also die Entspannung als Ausschaltung des engen Verstandesdenkens ein Stück weit mit dessen eigenen Mitteln betrieben. Tony Gaschler hingegen versucht, den Verstand und seine Helfer aus der Entspannung stärker herauszuhalten, da ihm bewusst ist, wie er durch die Hintertür den Kräften wieder Geltung verschafft, die den Zugang zum Unwillkürlichen eigentlich versperren. Er bringt stärker die körperliche Komponente ins Spiel. Entspannung setzt bei ihm dann ein, wenn Arme, Beine, Augen und Atmung in eine bestimmte Stellung gebracht und von einem Gefühl der Schwere durchströmt erlebt werden: eine körperliche Grundstellung wird eingenommen, die Beine werden etwa 30 Zentimeter voneinander entfernt fest auf den Boden gestellt, die Arme und Schultern werden herunterhängen gelassen, der Kopf muß aufrecht und doch in keiner Weise angespannt gehalten werden, der Blick richtet sich ohne festen Blickpunkt geradeaus.20 Nun wird der so präparierte Körper in systematischer Weise sensibel gemacht: Erst werden Arme und Schultern, anschließend der Unterkiefer und die Augen erfühlt – sie sind „ganz entspannt und schwer“. Sie bewegen sich nur mehr unter der Schwere ihres eigenen Gewichtes und nicht mehr aufgrund einer bewussten Bewegung. Sobald die Augen von selbst zugefallen sind, „ganz langsam und nicht etwa in Form eines willentlichen Schließens der Augen“, tritt die Übende in die letzte Phase ein: „Lenken Sie Ihre ganze Aufmerksamkeit – und damit Ihr ganzes Bewußtsein – voll und ganz auf den Körper, auf das Körpergefühl, auf die vollbewußte Wahrnehmung des ganzen Körpers. Verweilen Sie nun etwa 2 bis 3 Minuten lang einzig und alleine beim Körpergefühl.“21 Die von Gaschler „Somatisierung“ genannte Entspannungstechnik „kann praktisch in jeder Körperstellung durchgeführt werden. Ihr Ziel ist es, die Fähigkeiten zu erwerben, an jedem Ort alles Denken, Phantasieren usw. unmittelbar, plötzlich und schlagartig abzuschalten und sich einzig und alleine mit vollem Bewußtsein der eigenen, körperlichen und tatsächlichen Wirklichkeit voll und ganz hinzugeben.“22

In diesem Falle tritt Entspannung ein, wenn das bewusste Denken durch die gefühlsmäßige Wahrnehmung und Aufladung des Körpers verdrängt wird. Der Körper hilft, anders als bei der Technik von Petrie und Stone, bei der Überwindung des Verstandesdenkens. Die Hinwendung der Aufmerksamkeit auf den Körper soll die Übende sensibel für eine irrationale Wirklichkeit machen und ihr so Zugang zu ihren intuitiven, unwillkürlichen Kräften ermöglichen. 3.2.1.2 Peripheriesteuerung Da das Unterbewusste sich gegenüber Vernunftgründen resistent zeigt („Rein gedankenmäßige und verstandesmäßige Faktoren versteht das Leben nicht“), 23 muss es auf andere Weise angesprochen werden. In der Regel stützen sich die Techniken haupt20 21 22 23

Vgl. Gaschler (1966) 163. Alle ebda., 164. Ebda., 160f. Ebda., 40.

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sächlich auf zwei Bereiche: auf die Phantasie oder Vorstellungskraft und die Träume bzw. den Schlaf. Häufig finden sich Mischformen, die eine oder mehrere Bereiche miteinander verbinden. Am verbreitetsten ist das Vorgehen, einfache, positiv formulierte und kurzen Phrasen aufzustellen. Diese werden beständig wiederholt, um das Unwillkürliche zur Produktion bestimmter subjektimmanenter Zustände (Selbstbewusstsein, Zuversicht, Angstlosigkeit) oder zur Anbahnung einer bestimmten Handlung zu veranlassen. Im Gegensatz zu den simplen Autosuggestionstechniken der frühen Lebensratgeber bedienen sich diese verbalorientierten Techniken meist noch einer Reihe steigernder und unterstützender Schritte. Zu größerer Komplexität haben es hierbei die Techniken von Hull und Ryborz gebracht, die darauf hinwirken sollen, sehr gezielt Wünsche ins Unterbewusstsein einzuspeisen. Den konkreten „Memos“, also den suggestiven Kurzformeln, sind eine Vielzahl kleinerer Techniken zur Wunschpräzisierung und -beschreibung vorgelagert, die erst die Grundlage für erstere bilden. Der Ablauf ist folgender: Ein Wunsch wird über mehrere Wochen lang in seiner konkreten Materialität vorgestellt und beschrieben. „Seien Sie genau. Wenn Sie z.B. eine Farbe beschreiben müssen, tun Sie das nicht einfach mit ‚dunkel‘ oder ‚hell‘ ab. Seien Sie genau: Geben Sie die genaue Farbe, die Sie meinen. Oder wenn z.B. von Geld die Rede ist – Preis eines Artikels, Gehalt, Gebühren –, seien Sie nicht vage. […]. Wenn Sie die Absicht haben abzunehmen, führen Sie auf, um genau wieviel kg Sie abnehmen wollen.“24

Mindestens zehn Attribute müssen so zusammenkommen. Um das Gewünschte weiter in der Vorstellung zu verfeinern, wird der Übende aufgefordert, dreimal am Tag den obigen Prozess zu wiederholen und Veränderungen in ein kleines Übungsheft eingetragen. So oft es geht, wird tagsüber das Gewünschte im Geiste aufgerufen. „Stellen Sie sich jetzt vor, daß er schon in Erfüllung gegangen ist […] Wenn Sie sich gerne als Sänger, Schauspieler, Musiker sehen, stellen Sie sich ruhig schon auf einer Bühne schauspielernd vor. Lassen Sie sich die Melodie, den Dialog oder die Musik durch den Kopf gehen; stellen Sie sich die Hitze des Scheinwerferlichts vor, den Klang des Applauses. Erleben Sie in Ihrer Vorstellung Ihren Wunsch als Realität.“25

So sehr man mit Einsatz und Leidenschaft zu Werke zu gehen hat, muss jedwede Verkrampfung vermieden werden. „Zwingen Sie sich nicht zu diesen Gedanken. Gehen Sie nicht mit geballter Faust und zusammengebissenen Zähnen an diesen Plan. Entspannen Sie sich physisch soweit als möglich. Sie können diese Übung beim Gehen machen. Hundertprozentige Entspannung ist dabei fast unerreichbar, aber man kann die Hände lose hängen lassen, kann das Tempo ein wenig drosseln, ruhig und tief atmen und sein Gesicht durch ein kleines Lächeln entspannen.“ 26

24 Hull (1995), 26. 25 Ebda. 26 Ebda., 27.

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Erst nachdem keine Ergänzungen hinzugefügt werden können, beginnt die Übende aus dem Wunsch ein Memo zu entwickeln (z.B. „Durch mein harmonisches, ausgeglichenes Verhältnis zu meinem Arbeitgeber und meinen Mitarbeitern habe ich die Voraussetzungen für eine Beförderung erreicht“). 27 „Wenden Sie damit täglich jene Technik an, die wir von jetzt an die Steuerung des Unterbewußtseins nennen wollen […]. Lesen Sie sie dreimal täglich. Denken Sie hin und wieder daran. Schreiben Sie sie täglich neu ab.“28 Diese Technik, die detailgetreue Imagination bei gleichzeitiger Entspannung von den Übenden verlangt, ist gerade in dieser Zuspitzung typisch für die Epoche. Die geistige Antizipation des Gewünschten in einem Zustand tiefer Empfänglichkeit gilt als Schlüssel zu den eigenen unwillkürlichen Kräften. Wenn man so regelmäßig übt, „kann man das Unterbewußtsein ansprechen wie ein intelligentes Kind“.29 In abgewandelter Form findet sich diese Technik deshalb in vielen Texten. Bei Lindner nennt sie sich „Tiefhirntraining durch Verbalsuggestion“, 30 welches stärker noch auf die Gefühlskomponente bei der Beeinflussung des Unwillkürlichen setzt. In der Variante von Petrie und Stone wird der Aspekt des bildlichen Vorstellens stärker betont.31 Niessen hingegen rückt die Ausführung der Technik näher an die Einschlaf- und Aufwachphasen.32 Aber so oder so nimmt die autosuggestive Beeinflussung einen großen Stellenwert ein. Als eine Art Basistechnik lässt sie sich mit verschiedenen anderen zentralen Elementen verknüpfen, mit Motivations-, Vorstellungs-, Phantasietechniken und einer Vielzahl verbal- oder schriftorientierter Techniken. Über alle Modifikationen hinweg erfordert sie einen Zustand entspannter und empfänglicher innerer Verfassung als Grundlage, in die hinein kurze, positiv formulierte Zieleingaben ins Unterbewusstsein gemacht werden sollen. Dieses Unterbewusstsein kann man auch auf eine andere Weise auf Mitarbeit verpflichten, die noch etwas näher an der eigentlichen Wirkungsstätte des Unwillkürlichen liegt. Viele Autor/innen schlagen vor, die Träume und überhaupt den Schlaf zu nutzen. Bei Arthur Ulene werden Träume verwendet, um Probleme zu lösen. „An Ihren Träumen sehen Sie vielleicht, daß Sie sich weigern, sich mit Problemen zu beschäftigen, die sich beispielsweise aus Ihrer Arbeit oder aus anderen Beziehungen ergeben. Wenn Sie sich durch Ihre Träume auf diese Stressursachen aufmerksam machen lassen und dann daran arbeiten, werden Sie einige dieser Ängste, die in ihrem wachen Leben auftreten, lindern.“ 33

Günther Beyer geht einen Schritt weiter, indem er den Schlaf zu einem Ort für leistungsorientierte Inputs macht. Er empfiehlt die Nutzung eines Tonbandgerätes mit einem Endlosband, das so eingerichtet ist, dass es aufgesprochene, zu lernende Vokabeln immer zu den empfänglichen Traumphasen abspielt.34 Andere Ratgeber präfe27 28 29 30 31 32

Ebda., 43. Ebda., 44. Ebda. Lindner (1978), 78. Petrie/Stone (1975), 101f., 120, 160, 200f., 281f., 285f., 310f., 333. Niessen, Gunther (1973): Neue Wege zum Erfolg. N.E.M., die neue Erfolgsmethode. Essen: Lebensfreude-Verlag, 35ff. 33 Ulene (1978), 155. 34 Vgl. Beyer (1979), 84f. Zur technischen Umsetzung empfiehlt Beyer eine Zeitschaltuhr.

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rieren eine Mischung aus den genannten Techniken zur Steuerung der Träume und den Techniken der Vorstellungslenkung oder Autosuggestion und schlagen, wie Birkenbihl, ein gezieltes Tagträumen vor. 35 Dabei wird den Übenden abverlangt, sich sowohl in einen Zustand der Passivität zu begeben als auch lenkend in das Geschehen einzugreifen.36 Andere hingegen schlagen eine regelmäßige Meditation vor, um einen traumähnlichen Zustand der Selbstbeeinflussung zu schaffen. 37 Indes ist es ganz gleich, ob als Techniken der Vorstellungslenkung oder als Techniken zur Steuerung von Träumen, Schlaf oder verwandten Zuständen: Ihnen allen ist eigen, dass sie vom Rande her das Unwillkürliche einzukreisen versuchen. Wenn aber zwischen einer bestimmten Technik und seinen Ergebnissen nicht immer eine unmittelbare Relation liegt – weil das Unwillkürliche eben liefert, wenn es will –, dann müssen Techniken ins Spiel kommen, die es in den frühen Lebensratgebern, in dieser Form nicht gab bzw. nicht geben konnte, nämlich Techniken, die eine bestimmte Haltung in Bezug auf das Ergebnis herstellen, welches das Subjekt aus dem Unwillkürlichen erreicht. 3.2.1.3 In Erwartung des Schöpferischen Nachdem das übende Subjekt seine Wünsche und Botschaften, seine Zielvorgaben und Wissensstoffe ins Unwillkürliche versenkt hat, tritt es in eine Phase ein, die man als empfangsbereites Warten auf die schöpferischen Impulse bezeichnen könnte. Zwischen dem Akt der Versenkung und dem Ereignis des Schöpferischen liegt eine nicht genau definierte Zeitspanne. Hull rät: „Lassen Sie die Idee in Ihrem Kopf Wurzeln schlagen. Lassen Sie sie dort arbeiten […] Durch Anregung und Inspiration wird Ihr Wunsch Wirklichkeit. Die Ideen kommen von selbst – und nützliche Ideen bringen Sie der Verwirklichung Ihrer Ziele näher.“ 38 Die Ideen kommen zwar von alleine, aber nur diejenige kann sie erkennen, die sich ihnen gegenüber als offen erweist. Eine Haltung der erwartungsvoll gerichteten Hinwendung zu sich selbst ist hier der entscheidende Introspektionsmodus, den das Subjekt einnimmt, um die Ideenimpulse wahrzunehmen zu können, ohne sich zu verkrampfen. Denn es soll einerseits erkennen können, wann es die Ergüsse des Unwillkürlichen erreichen, und gleichzeitig darf es nicht wieder in eine inspirationsfeindliche geistige Gewaltanstrengung verfallen. Am besten ist es, wenn man den „Geist zwar wach hält“, wie Maltz den Präsidenten der Nationalen Rundfunkanstalten in den USA zitiert, aber mit etwas, „was den Geist aber nicht zu sehr anstrengt. Autofahren, Rasieren, Sägen, Fischen, Jagen oder Reiten. Oder mit einem Freund eine interessante Unterhaltung führen. Manche meiner besten Ideen stammen aus belanglosen Unterhaltungen, die kaum etwas mit meiner Arbeit und meinen Problemen zu tun hatten.“39 Gleichzeitig muss man aber

35 Birkenbihl, Vera F. (1973): Der persönliche Erfolg. Ein Test- und Trainingsprogramm zur Selbstaktivierung. München: Goldmann, 90. 36 So soll man eine unglückliche Begebenheit in der Phantasie wieder erleben und bestimmte Geschehnisse wegimaginieren, so zum Beispiel eine schlechte Zensur in einer Arbeit etc. 37 Ryborz (1977), 182f. 38 Hull (1995), 71. 39 Maltz (1962), 113.

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doch aus den Augenwinkeln nach dem Schöpferischen Ausschau halten und in Lauerstellung verharren. „Für den guten Einfall muß man jederzeit und in allen Lagen bereit sein. Gerade in den ungewöhnlichsten Lagen, etwa auf Toilette oder im Bett, in denen eine aktive Leistungshaltung durchbrochen oder zumindest in eine andere Richtung gelenkt ist, treten solche Fälle am häufigsten auf. So lächerlich es klingt: Gerade dann sollte man einen Notizblock zur Hand haben, um sie festzuhalten. Fünfzig Prozent der Einfälle, so hat man festgestellt, gehen unwiederbringlich verloren, wenn man sie nicht gleich notiert.“40

Ein zweiter Komplex an Techniken tritt in den Lebensratgeber der zweiten Epoche auf, die ihren Siegeszug bis hin zur neusten Ratgeberliteratur antreten werden: Unter ihnen hat es vor allem das Brainstorming zur allgemeinen Bekanntheit gebracht. Diese Techniken durchbrechen scheinbar die geforderte passive Erwartungshaltung. Sie führen ein aktives Element in die Produktion des Schöpferischen ein, indem sie die Übenden dazu anhalten, den Geist durchaus in einem Zustand der aktiven Beschäftigung mit dem Problem oder Wunsch zu halten und nach Lösungen selbständig zu suchen. Außerdem nutzen sie das assoziativ-kreative Potenzial sozialer Gruppen. Victor Scheitlins Übung zum Brainstorming kann allein oder in einer kleinen Gruppe ausgeführt werden: Zu einem vorher bestimmten Problem oder einem Thema werden Vorschläge zu dessen Lösung sowie Assoziationen zum Thema zunächst ohne Bewertung gesammelt. Die Ideen sollen frei assoziiert werden, also unter Ausschaltung der zensierenden Arbeit des Verstandes. Alles wird gleichwertig und so, wie es in den Sinn kommt, aufgeschrieben und dient als Inspirationsquelle und Ausgangspunkt für weitere Eingebungen. Nichts wird in diesem Schritt kritisiert und bewertet. Erst nachdem die Quellen versiegt sind, macht man sich daran, das Gesammelte zu sortieren und auszuwerten.41 Die Techniken können auch beliebig modifiziert werden. Günther Beyer empfiehlt eine Technik, bei der ein Problem gerade aus einem gegenteiligen, paradox anmutenden Blickwinkel mit der Methode des Brainstormings angegangen werden soll, so z.B.: „Wie kann man in seiner Freizeit unter möglichst starken Stress geraten?“42 Nach 15 Minuten soll man zu sieben verwertbaren Ideen gekommen sein. Im Anschluss wird mit Freunden, Kollegen oder auch alleine jede Idee darauf geprüft, wie sie helfen kann, Stress in der Freizeit zu reduzieren. „Sie lernen, auf unkonventionelle Art und Weise Probleme genereller Art (in unserem Falle den Abbau von Streß in der Freizeit) dadurch in den Griff zu bekommen, daß Sie sie einmal aus einer ganz anderen Blickrichtung betrachten.“43 Ähnlich in der Betonung wie in der Überschreitung der offenen Erwartungshaltung zu den Kräften des Unwillkürlichen verhalten sich fast alle Kreativitätstechniken der zweiten Epoche. Die Beziehung des Übenden zum Unterbewusstsein bleiben genauso indirekt und gleichzeitig um Effekte bemüht, der Prozess der Entäußerung ist genauso anfällig für ein Übermaß an gedanklichem Willenszwang und einer zu

40 41 42 43

Beer (1978), 160. Vgl. Scheitlin (1977), 185ff. Beyer (1979), 70. Ebda., 71.

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aktiven Haltung. Die Warnung vor der Überanstrengung bleibt trotzdem oder gerade deswegen omnipräsent. 3.2.2 Einfühlung Es lässt sich kaum überschätzen, welchen Bedeutungsaufschwung die Gefühle und die mit ihnen verbundenen, auf sie abzielenden Techniken in der zweiten Epoche genommen haben. Sie bilden einen eigenen Gegenstand für zahlreiche Techniken der 1960er und 1970er Jahre. Sie sind eine Art innerer Kompass, der anzeigt, ob man den Erfordernissen seiner Natur gerecht wird. „Gefühle sind angeblich eine unzuverlässige Methode, wenn wir wissen wollen, ob das, was wir tun, richtig oder falsch ist. Das ist aber nicht so. Wenn Sie eine Entscheidung treffen, dann ein ungutes Gefühl dabei haben, teilt Ihnen Ihr Körper auf diese Art mit, daß ein Teil von Ihnen unglücklich ist über die Wahl, die Sie getroffen haben.“ 44

Zum anderen richtet sich von nun an eine eigene Aktivität auf die Gefühle, mit dem Ziel, diesen freien Lauf zu lassen unabhängig davon, ob man diese als moralisch hochwertig oder als nützlich oder unnütz einstuft. Genaugenommen entziehen sich die Gefühle dieser moralischen Aufspaltung. Nicht mehr die Gefühle sind falsch/richtig, sondern allein die Art und Weise, wie man sich zu seiner Natur stellt. Da die Gefühle in enger Verbindung mit der grundsätzlich gut eingerichteten Natur des Menschen stehen, besteht das Problem der zweiten Epoche darin, die Gefühle von ihren kulturellen Fesseln zu lösen und sie frei zirkulieren zu lassen. Sie müssen dem Übenden erst wieder zu Bewusstsein gebracht werden, da er es gewohnt war, sie in sich zu verstecken und sich ihrer zu schämen, und darüber eine Fähigkeit verloren ging, die erst wieder erlernt werden muss: eine Sensibilität für die Gefühle zu entwickeln. Dass in der Wahrnehmung der Gefühle durchaus wieder ein Moment der Berechnung und des Kalküls eingehen kann, zeigt Lindner selbst, wenn er die Leser/innen anstiftet, bei jeder Aktivität, besonders bei denen, die Lust bringen sollen, z.B. dem Urlaub, eine „Gefühlsstandskontrolle“ vorzunehmen. „Eine Tagebuch brauchen Sie dazu nicht zu führen, aber ab und zu sollten Sie sich schon eine freie Minute nehmen zum rückblickenden Abschätzen der Stimmung. Zum Beispiel 3 x täglich, wie eine Medizin […]. Und genau an dieser Stelle – beim Bewerten der Gefühlsausbeute – liegt das Geheimnis der Lebenskunst. Ein Lebenskünstler ist nämlich ein kühler Rechner. Nicht während er etwas erlebt, sondern vorher und nachher.“45

44 Ulene (1978), 230f. 45 Lindner (1978), 152f.

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Abbildung 18: Ein neues Verständnis von Gefühlen (1978)

Sensibilisierung und Objektivierung von Gefühlen gehen hier Hand in Hand und schaffen damit auch einen neuen Modus der Beherrschbarkeit und Steuerbarkeit: nicht mehr das Hineinformen der Gefühle in eine kulturell zulässige Form, sondern die Verteilung innerhalb einer Normkurve, bei der auch überschießende und unbotmäßige Gefühlsexpressionen zum Erwartbaren gehören. So verfahren die Ratgeber mit Gefühlen, die kaum dazu geeignet sind, dass Subjekt einer gelungenen Selbstführung näher zu bringen, wie Sorgen, Minderwertigkeitsgefühlen, Angst, Aggression und dergleichen, auf eine neue Weise. Es existiert bei den Lebensratgebern der zweiten Epoche zwar kein fester Begriff dafür, welches und was an einem Gefühl falsch und richtig ist, weil man ihnen eine grundsätzliche Legitimität zuerkennt. Gleichzeitig bedürfen sie aber einer eigenen Form technischer Interaktion, häufig mit dem Impetus, einen als natürlich gesetzten Gefühlsausdruck zu befreien. Türen laut zuzuschlagen ist z.B. kein Mangel an Selbstbeherrschung, sondern eine akzeptable Strategie des Aggressionsabbaus.46 Gleichmaßen können Ängstlichkeit, Eifersucht und Frust einen wichtigen und notwendigen Bestandteil eines positiven Krisenszenarios darstellen und müssen deshalb angemessen durchlitten und gefühlt werden, damit sie eine Wende im Verhalten bewirken können.47 Daher verschwindet die lange Zeit vorherrschende dreischrittige Form der Introspektion und Intervention: beobachten, erahnen, unterdrücken. An deren Stelle tritt die Trias von Einfühlung, Ausdruck, Integration. Die letzten beiden finden sich manchmal separat, manchmal bauen sie auf der ersten Stufe auf.

46 Vgl. Birkenbihl (1974), 115. 47 Z.B. Beer (1978), 177ff.

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Bei Lindner zum Beispiel liegt der erste Schritt darin, die wenig lustvollen Gefühlen erst einmal genau zu erfühlen: „Stellen Sie sich der Unlust. Weichen Sie ihr nicht aus. Unterdrücken Sie keine unangenehmen oder peinlichen Vorstellungen. Lassen Sie diese ruhig hochkommen […]. Wir neigen eher zum Verdrängen oder – weniger beschönigend ausgedrückt – zum Davonlaufen.“ Er schlägt sogar vor, absichtlich unlustvolle Vorstellungen hervorzurufen, um sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Die wiederholte Vergegenwärtigung führe so von sich aus schon zu einer Reduzierung der Unlust. „Alles läuft wie von selbst und ohne Willensanstrengung ab. Der ungewünschte Unlust-Eindringling wird ja nicht direkt angegriffen. Ihm werden nur Hindernisse in den Weg gelegt, und seine natürlichen Feinde werden auf ihn losgelassen. Das genügt vollauf. Gewalt ist überflüssig.“48 Michligk präferiert Techniken des Ausdrucks bei Gefühlen des Ärgers und Zornes, allerdings mit einem Moment der Verzögerung und Besinnung: „Du darfst schimpfen, kannst zornig werden, und sollst deinen Ärger nicht herunterschlucken; denn hinterher könnte dich die Galle plagen. Was raus will, das muß schon raus. Aber ehe du anfängst, zornig zu werden oder zu schimpfen, solltest du unter allen Umständen dreimal tief, ganz tief Luft holen. Hebe dabei nicht die Schultern, sondern atme mit dem Bauch, daß du die Bewegung des Zwerchfells deutlich merkst. Also langsam derart atmen und dreimal ganz tief. Dann überlegen, ob du Ursache hast, dich zu erregen.“49

Auch Birkenbihl und andere setzen die körperliche Entspannung und Atemtechniken ein.50 Das erklärte Ziel ist es, dass den unlustvollen Gefühlen – bei allem Recht auf Ausdruck – keine neue Nahrung gegeben wird. Sie müssen, wie in diesem Falle körperlich, im unteren Beispiel geistig integriert werden. Das Ziel ist weniger die immunologische Eindämmung, sondern die Integration der negativen Energien in einen produktiven Zusammenhang.51 Das Verschwinden der missliebigen Gefühle setzt keinen Kampf voraus. Im Gegenteil, die Übende stellt sich zuallererst gewährend, gelegentlich gar aktiv zu seinen missliebigen Gefühlen. Er nimmt ihnen gerade dadurch die Kraft, dass er sie sich in geregelten Bahnen ausagieren lässt. Nur wer die Gefühle in sich vergräbt, macht sie sich zum Feind. Wer ihnen einen gewissen Raum zugesteht und es gelernt hat, sie zu integrieren, kann ihnen einen positiven Wert für die Selbstführung abgewinnen. Auch der negative gedankliche Rest versickert in den Kanälen, die man ihnen gegraben hat.

48 49 50 51

Beide Lindner (1978), 83. Michligk (1973), 54. Birkenbihl (1973), 117. Ähnliches in Bezug auf Minderwertigkeitsgefühle und Angst bei Scheitlin (1977), 173ff., bei Wiedemann in Bezug auf Ärger und Sorgen ([1963)], 102ff.). Ein ähnliches Vorgehen findet man bei Hull wieder, und zwar in Bezug auf Depressionen: „Setzen Sie sich mit Bleistift und Papier hin und schreiben Sie Ursprung aller depressiven Gedanken auf, die Sie belasten. Verweilen Sie immer nur bei einem Problem und versuchen Sie es mit der Wurzel zu eliminieren. Streichen Sie jeden Punkt von der Liste, sobald Sie ihn losgeworden sind.“, Hull (1995), 155.

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3.2.3 Der Andere im Fokus der Selbstführung Es ist in der zweiten Epoche unumgänglich, sich mit der Anderen zu beschäftigen. Die Interaktionalität der Sozialbeziehungen wird zwar auf verschiedene Art und Weise gestaltet, sie ist aber als Grundtatsache der Selbstführung unhintergehbar geworden. Zum Ich ist ein Du hinzugetreten, das in gewissem, noch darzustellendem Sinne, irreduzibel geworden ist. Es gibt zwei grundsätzliche Wege, das Aufeinanderverwiesen-Sein für die Übende regierbar zu machen und in den Geltungsbereich der eigenen Interessen zu ziehen: einmal als offene Einflussnahme auf die Andere und zum Zweiten als Distanzierung von ihr. 3.2.3.1 Die werblich-demokratische Behandlung der Anderen oder das Soziale als Verhandlungsgeschehen Die Umsetzung eigener Ziele und Vorhaben ist in einer von den Lebensratgeber als interdependent und arbeitsteilig wahrgenommen Gesellschaft auf die anderen angewiesen, denn mit den „uns geschenkten Anlagen und Fähigkeiten, mit unserem Wissen und unseren Fähigkeiten, können wir beispielsweise unsere eigene Bedürfnisse nur im eingeschränkten Umfang befriedigen. Wir sind eingebettet in eine mitmenschliche Umwelt. Zum Realisieren unserer Zwecke und unseres Lebenszieles brauchen wir Helfer, Mitarbeiter, Gefährten, Verbündete. Wir sind darauf angewiesen, auch die unterschiedlichen Gruppenbildungen mit ihren wechselnden Autoritätsbereichen mehr oder weniger zu beachten; denn sie sind alle bestrebt, im Geben und Nehmen ihren Einfluß auszudehnen.“52

Neben einem Wissen über die Strukturen und Dynamiken von Gruppengeschehen ist es unerlässlich, ein bestimmtes Wissen über den Menschen zu erlangen, den man zur Mitarbeit überzeugen will. Die Lebensratgeber halten zumeist in Form typologisierten Wissens wesentliche Interpretationsschemata bereit. Gängig sind hierbei Charaktertypologie,53 Temperamentenlehre54 und mehr noch eine an Maslow angelehnte Sicht auf die Bedürfnisstruktur des Menschen.55 Diese dienen dann als Ausgangspunkt für ein individuell abgestimmtes Verhalten in Bezug auf das Gegenüber. Die erste Aufgabe besteht laut Hartleb darin, das „Wesen Ihres Verhandlungspartners“ kennenzulernen und anschließend die Umgangsart darauf abzustimmen: den leicht Erregbaren wird durch eine feste Haltung Ruhe eingeflößt, die Bequemen werden durch „Beredsamkeit“ aufgerüttelt, die Pessimisten werden zuversichtlich gestimmt, den Listigen gegenüber wiederum verhält man sich zurückhaltend.56 Raymund Hull nennt zehn wesentliche Motive des Menschen, die man im Auge behalten muss, wenn man andere Menschen zur Mitarbeit bringen will: Profit, Angst, Stolz, Gefühl, 52 53 54 55

Michligk (1973), 212. Ebda., 67ff.; Hartleb (1978), 101f.; Ryborz (1977), 218ff. Hartleb (1978) 132f.; Michligk (1973), 96ff.; Wiedemann (1963), 175ff. Beer (1978), 138 sowie Endres (1979), 29ff.; Scheitlin (1977), 43ff.; Kirschner (1976), 89; Birkenbihl (1974), 154ff. 56 Hartleb (1978), 76f.

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Bequemlichkeit, Macht, Vergnügen, Neugier, Ehrgeiz, Sex. „Wie wir schon früher gesehen haben, liegt das Geheimnis, die Mitarbeit anderer Menschen zu gewinnen, darin, diese Menschen dazu zu bringen Ihnen helfen zu wollen. Mit anderen Worten, zeigen Sie Ihnen, daß das, was sie auf Ihre Anregung hin tun, zu ihrem eigenen Nutzen ist.“57 Sinnoller sei daher eine Charakteranalyse, denn sie zeigt, welche Motivanteile besonders vorrangig sind. Abbildung 19: Flexibles Bedürfnistableau

Ulrich Beer hingegen greift auf seine abgewandelte Bedürfnisbestimmung zurück, um das Gesprächs- und interaktionale Geschehen zu individualisieren. Bei ihm ergeben sich ein Tableau 36 grundlegender Bedürfnisse, die in Abhängigkeit von Bedürfnistyp (materiell, geistig, seelisch, sozial) und „Lebensbereich“ (insgesamt neun, z.B. Sicherheit, Sinnerfüllung, Aktivität, Struktur usw.) zustande kommen. Die Anordnung der Bedürfnisse nach ihrer Priorität ist bei Beer individuell verschieden. Eine pyramidale Hierarchie von fundamentalen Bedürfnissen ist durch den humanistischen Psychologen Abraham Maslow bekannt geworden.58 Seine Theorie geht von einer festen Bedürfnisstruktur des Menschen aus. Beers Bedürfnistableau (Abb. 19) ist hingegen eine konsequente Weiterführung der Demokratisierung und Individualisierung der Selbst- und Fremdführung. Die Erkenntnis der Anderen setzt hier eine etwas anders geartete Form sozialer Interaktion voraus, nämlich eine, die der Anderen ein größeres Maß an Freiheitsraum zugestehen muss. Der Andere wird als aktiver Teil des sozialen Austauschs adressiert. Ihm wird in einer zurückhaltenden Gesprächsführung, die auf akzeptierendes Verhalten setzt, Raum gewährt, sich zu erkennen zu geben. Das eigene Verhalten dient als Vorbild für die Andere. „Ich spiele immer mit offenen Karten und mache jede Freude und jeden Unmut deutlich. Damit erkläre ich meine ständige Bereitschaft, Partner zu sein und ein offenes Gesprächs zu führen.“59 Die Sozialtechniken zielen daher stärker als beispielsweise bei denjenigen, die mit festen Typologien arbeiten, auf ein SprechenMachen des Gegenübers: fragen, zuhören, erkennen.60 „Werden Sie Meister dieser 57 Hull (1995), 114. 58 Siehe unsere Besprechung der Humanistischen Psychologie im Abschnitt B „Rekonstruktion zeitspezifischer Wissenssysteme“. 59 Beer (1978), 21. 60 Ebda., 207, 223.

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Kunst. Nach und bei jedem Gespräch soll man rekapitulieren: ‚Was wollte er [mein Gesprächspartner] sagen‘, und ‚Warum drückte er sich so aus?‘, sowie ‚Was sagte er nicht?‘, schließlich ‚Wie reagierte er auf meine Frage?‘, und ‚Wie muß ich das Gespräch fortsetzen?‘“61 Soziale Gleichwertigkeit und Akzeptanz sowie die (zeitweise) Unterordnung unter die Gesprächsführung des Gegenüber sind hierbei die Grundbedingungen eines lenkenden Eingreifens. Denn nur die Erkenntnis in Verbindung mit dem Anerkennen der Bedürfnisse der Anderen führt bei ihm zur Realisierung der eigenen Bedürfnisse. Man müsse „den anderen und seine Bedürfnisse wichtig nehmen – so wichtig wie sich selbst und die eigenen Bedürfnisse. Wer dies zustande bringt, wird großen Einfluß auf seine Mitmenschen ausüben.“62 Die Techniken der Führung münden in ein neues strategisches Paradigma: Bleib, wer Du bist und lasse Dich darin erkennen! 3.2.3.2 Distanzierung von den anderen Eine weitere Form der Sozialtechniken gewinnt ab den mittleren und späteren 1970er Jahren an Bedeutung, die sich auf andere Weise mit der Rolle der Anderen beschäftigen. Sie sind als eine Art Gegen- oder Absetzbewegungen anzusehen gegenüber der oben verhandelten positiven Geltung der Anderen für die Selbstführung und seinem Widerschein in der werblich-demokratischen Selbstführung. Das Band kommunizierbarer und kompatibler Bedürfnisse zwischen dem Subjekt und den anderen wird ab den späten 1970er Jahren von einer kleinen, aber extrem erfolgreichen Gruppe von Lebensratgebern durchschnitten. An seine Stelle tritt ein distanziertes bis konfrontatives Modell. Der soziale Raum der siebziger Jahre ist für Autoren wie Josef Kirschner und Wayne Dyer, aber auch Otto Lindner und Heinz Ryborz, geprägt durch konkurrierende Interessen, die verborgen bleiben und damit dem Raum der direkten Kommunikation entzogen sind. Diese manifesten Interessen erscheinen den Autoren kaum vermittelbar, richten sie sich doch großteils darauf, andere Menschen zum eigenen Vorteil auszunutzen, zu manipulieren oder gar in ständige Abhängigkeit zu bringen. Typisch ist der aufklärerisch-aufrüttelnde Gestus wie hier bei Lindner. „Überlegen Sie sich doch, was Ihre Umgebung im Grunde von Ihnen will. Die freundlich lächelnde Dame hinter der Ladentheke, der Fabrikant, der Staat und überhaupt die meisten Leute wollen nur Ihr Geld. Der Abgeordnete und seine Partei wollen Ihr Kreuzchen auf dem Stimmzettel. Ihr Chef will Ihre Arbeitsleistung. Andere wollen Ihre Aufmerksamkeit, Ihre Hilfe, Ihre Anerkennung. Und so fort, und so fort. Für Ihr Glück interessiert sich kaum jemand, bis auf Ihre Familie und Ihre allernächsten Verwandten und Bekannten – manchmal.“63

Typisch an dieser Aufklärung ist auch, dass die Texten das lesende Subjekt als einen der letzten in Unwissenheit befangenen, gutgläubigen und wohlwollenden Menschen sehen, dessen Ausnutzung sie erklärterweise beenden helfen wollen. Auch Kirschner klärt über den fast naturgesetzartig dargestellten Zusammenhang auf, dass alle stän-

61 Wiedemann (1963), 40. 62 Beer (1978), 142. 63 Lindner (1978), 18.

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dig versuchen, „andere zu ihrem Vorteil einzuspannen“.64 In diesem allgegenwärtigen Spiel des Zusammenlebens sei jeder und jede „sich selbst am nächsten, vor allem jene, die vorgeben, sich für uns verantwortlich zu fühlen“.65 Statt eines gemeinsamen Vermittelns der Bedürfnisse zum Vorteil aller sehen diese Ratgeber vom Typ des Radikalen Individualismus ein Nullsummenspiel kalkulierter Interessen. Der Vorteil der einen ist der Nachteil der anderen. Das Gebot der Stunde lautet demnach Distanzierung, Abgrenzung und Ausstieg aus dieser zivilisierten Variante des Kriege aller gegen aller. Auf der Ebene der Techniken ist der erste Schritt derjenige der konsequenten Entlarvung. „Kennzeichnen Sie Mißbilligung, indem Sie auf neue Art, mit Du (oder: Sie) beginnend, darauf antworten. Sie bemerken zum Beispiel, daß Ihr Vater nicht mit Ihnen übereinstimmt und schon ganz ärgerlich wird. Anstatt Ihre Position zu ändern, antworten Sie nur: ‚Du wirst jetzt ärgerlich, und du meinst, ich sollte anderer Ansicht sein. Dadurch bleiben Sie sich der Tatsache bewußt, daß die Mißbilligung seine Sache ist, nicht Ihre. Die ‚Du-Strategie‘ ist jederzeit anwendbar, und zwar mit erstaunlichem Erfolg, sobald Sie die Technik beherrschen. Sie müssen nur der Versuchung widerstehen, mit ‚Ich‘ anzufangen, weil Sie sich dadurch in die Lage manövrieren, Ihre Worte zu verteidigen oder abzuändern, um Zustimmung zu finden.“ 66

In dieser Vorstellung von sozialer Interaktion geben sich die tieferliegenden Motive nicht so einfach zu erkennen, selbst wenn man ihnen die Möglichkeiten gibt, sich auszudrücken. Sie müssen vom Übenden im Vorhinein erkannt und dann im Raum der Kommunikation offengelegt werden, aber nicht um die relative Deckungsgleichheit oder Komplementarität der eigenen und fremden Interessen zu konstatieren, sondern um ihre unüberbrückbare Differenz zu kennzeichnen. Distanzierung oder sogar Ausstieg scheinen die beste Strategie. Wo dies nicht möglich ist, ist aber auch souveräne Abwehr und gezielter Gegenangriff erlaubt, nachdem das Subjekt die Regeln des Spiels durchschaut hat. Im beruflichen Leben kommen nach Kirschner hauptsächlich Unterwerfungsmethoden zum Einsatz. Es werden Macht und Autorität eingesetzt, um die Andere zu erwünschten Verhalten zu zwingen. Ryborz teilt diese Ansicht und empfiehlt als Gegenmaßnahme, die Angriffe anderer durch sicheres Auftreten abzuwehren, z.B. indem man ihnen, je nach Maßgabe der Situation, Komplimente macht oder ihnen Unbehagen bereitet.67 Ein offener, aber sicherer Blick, eine adrette Kleidung, ein ungezwungener, aber doch zurückhaltender Umgang, ruhiges und deutliches Sprechen sowie eine sehr zurückhaltende Reaktion auf fremden Rat soll den Eindruck von Selbstbewusstsein vermitteln. Oft genug ist die Distanzierung von den anderen im privaten wie im gesellschaftlichen Leben aber nur dadurch zu haben, so der Tenor einiger kulturkritisch ausgerichteten Lebensratgeber der späten 1970er Jahre, dass sich das Subjekt gegenüber den gesellschaftlichen Konventionen eigensinnig verhält und sie dort zu unterlaufen versucht, wo es möglich ist. Dieser Eigensinn richtet sich gegen alle gesellschaftlichen und kulturellen Gewohnheiten, Traditionen, Regeln und Gesetze, die dazu ange64 65 66 67

Kirschner (1976), 9. Ebda., 9. Dyer (1977), 84. Ryborz (1977), 230ff.

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tan sind, den Menschen in blinder Abhängigkeit zu halten.68 Mit großem Pathos kommt Dyer auf die Notwendigkeit der Distanzierung von fremden, steuernden Mächten zu sprechen. Die größten Verbrechen in der Geschichte, schreibt er, „wurden unter dem Deckmantel des Befehlsgehorsams verübt.“ 69 Daher sei Eigensinn ein Gebot persönlicher Reife und gesellschaftlicher Humanität. „Aller Fortschritt, Ihr persönlicher wie der der Welt, hängt von unbotmäßigen Menschen ab, nicht von Leuten, die sich an ihre Umwelt anpassen und alles hinnehmen, wie es kommt. Der Fortschritt ist auf einzelne angewiesen, die die Konventionen mißachten und sich ihre eigene Welt schaffen. Um vom bloßen ‚über die Runden kommen‘ zum eigenen Handeln überzugehen, müssen sie lernen, sich gegen die Enkulturation und die zahlreichen Anpassungszwänge zur Wehr zu setzen. Widerstand gegen den Enkulturationprozeß ist beinahe die Grundvoraussetzung, um voll und unbehindert leben zu können.“70

Die Lebensratgeber der späten 1970er Jahre tendieren mit ihrer Hypostasierung des subjektiven Eigensinns zu einem radikalen Individualismus. Sie zeichnen ein Subjekt, das zwar nicht mehr hinter die Tatsache seiner sozialen Interdependenz zurückkann, aber die sozial-normativen Zwänge einerseits und die konkurrenzförmigen Beziehungen als fundamentale Bedrohung seiner Subjektivität erlebt. 3.2.4 Mobilisierung, Sichtbarmachung und Wirklichkeitsbeschwörung: der Aufschwung der Aufschreibetechniken 3.2.4.1 Schriftlichkeit als Mobilisierungsform Ab den 1960er Jahren etabliert sich eine neue Form von Schriftlichkeit in den Lebensratgebern. Die Lesende wird angehalten auf einen Handzettel oder ein sorgsam präpariertes Heft, auf eine Karteikarte oder auf ein großes Poster zu schreiben; auch ins Buch selbst, wenn man Tests, Übungen, Denkspiele absolviert. Manchmal reicht ein Häkchen, manchmal zählt man Punkte zusammen, manchmal ist man aufgefordert, eine Geschicklichkeitsübung im Buch durchzuführen, z.B. einen Satzteil spiegelverkehrt zu schreiben, oder man soll die gelesenen Kapitel in einigen Merksätzen zusammenfassen. Für diese Fälle ist in vielen Büchern zum Beispiel am Ende eines Kapitels oder am Ende des Buches ein freier Raum reserviert, in dem eine Zusammenfassung oder eigene Gedanken schriftlich niedergelegt werden sollen. Daneben existiert natürlich noch eine Reihe von Aufforderungen, einen Stift bereitzuhalten, um Unterstreichungen im Buch vorzunehmen, Bemerkungen an den Rand hinzuzufügen oder auch eigene Notizen anzufertigen. In welcher Form auch immer, regelmäßig wird von den Leser/innen erwartet, sich schriftlich auf die eine oder andere Weise zu beteiligen. Sie müssen aber keineswegs durchweg affirmativ auf die im Buch dargelegten Sachverhalte Bezug nehmen. Kor-

68 Vgl. Dyer (1977), 157f..; vgl. Kirschner (1976) 190ff. 69 Dyer (1977), 169. 70 Ebda., 171, unsere Hervorhebung.

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rekturen, Ergänzungen und Kritik sind vorgesehen, erwünscht und gewollt. Sie bürgen dafür, dass die Leser/innen in ein aktives Verhältnis zu dem Ratgeber getreten sind. Nach dem Motto, nur wer schreibt, bleibt (dabei), geht es darum, die Leser/innen erst einmal grundsätzlich für die Sache des Ratgebers einzunehmen und sie aus einer passiven, rein konsumtiven Haltung herauszubewegen. Die schriftliche Aneignung des Ratgebers, und sei es auch in einer kritisierenden Art und Weise, bringt die Leser/in dazu, sich mit dem Gelesenen ins Verhältnis zu setzen und bestimmte Aspekte, die Zustimmung finden, effektiver zu verinnerlichen. Ergänzungen und Veränderungen durch die Leser/innen können zudem ein Stück weit das erreichen, was ein auf ein anonymes Publikum ausgerichteter Ratgeber nie bewirken kann: gezielt einzelne Personen anzusprechen und auf ihre jeweilige Lebenssituation angepasst, Techniken und Anleitungen zur Verfügung zu stellen. Die Schriftlichkeit des Rezeptions- und Aneignungsprozesses des Ratgebers kann also durchaus als eine Aufforderung zur Individualisierung verstanden werden. Doch über ihre mobilisierenden Effekte hinaus hat die Schriftlichkeit noch wesentlich weitergehendere Bedeutung für die Selbstführung. 3.2.4.2 Die Verdopplung der Welt: Karteikarten und Pläne In den 1960er Jahren tritt vermehrt eine Form der schriftbasierten Selbsttechnik auf, die in der ersten Epoche sehr erfolgreich war und sogar bis in den aktuellen Lebensratgeberdiskurs hineinreicht. Es handelt sich um Techniken der Selbstrationalisierung. Sie zielen darauf ab, rationelle Ordnungen und Sinnzusammenhänge zwischen den Dingen zu stiften, und zwar in Bezug auf die Zeit, die eingesetzten Kräfte und die materiellen Mittel. Als herausragende Instrumente erweisen sich dafür Pläne, Karteikarten, Tabellen, Ordner, Kalender und Notizblöcke. Sie werden zu den wichtigsten Arbeitsmitteln einer gelingenden Selbstführung. Sie dienen der Übenden dazu ihre Kräfte, Fähigkeiten, ihr Können und Wissen sicht- und kalkulierbar zu machen. Im Gegensatz zu den Techniken der zweiten Epoche unterscheiden sie sich nur in Details von denen eines Grossmann oder Esdorp. Hier wie da werden Fähigkeiten eruiert und gewichtet. Hier wie da sind Zahlen und Zeitpläne die Grundeinheiten für das Steigerungspotenzial des Subjektiven. Wir finden eher eine Ausweitung dieser Sphäre des Nüchternen in einer Welt, die doch eigentlich so stark vom Affektiven und Unterbewussten zu sprechen scheint. Viele Ratgeber greifen auf diese Techniken zurück, was auf den starken Stellenwert der Selbstrationalisierung hindeutet und gleichzeitig auf die Adaptionsfähigkeit dieser Technikgruppe. Verändert hat sich eher die materielle Manifestation auf dem Papier. Eine gewisse barocke Opulenz ereilt diese Sphäre im Vergleich zur früheren Epoche. Netzpläne, großformatige Diagramme, Pfeile werden eingesetzt, um der Welt eine so visuell erfassbare wie eindeutige Gestalt zu geben. Reale und symbolische Ordnungen verschwimmen und gehen mitunter ineinander über bei diesen Techniken. Auf dem Papier enthüllen verborgene Zusammenhänge ihre Wahrheit, die in der realen Welt schwierig zu erkennen sind. Schwachstellen werden bloßgelegt, Stärken werden sichtbar. Bei Niessen beispielsweise werden vermutete und eingetroffene Projekthindernisse in einem Ordner, dem sog. „G-Ordner“ gesammelt. Diese werden alphabetisch geordnet und mit einem Register versehen. Die zur Gegenkraft geronnene Welt wird in ein Diagramm gebracht, in dem jede einzelne Störung isoliert dargestellt wird und in ihren Zusammenhang zu

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anderen Störungen und Blockaden gesetzt ist. Starke und schwache Pfeile, Kreise und Rechtecke versinnbildlichen die Kräfteverhältnisse und ihre Intensität.

„‚Welche Gegenkräfte werden von den anderen am wenigsten gedeckt‘ ist eine gute Frage. Doch kehren Sie sie einmal um: ‚Welche Gegenkräfte decken eine große Anzahl Gegenkräfte?‘ und fragen wir dazu dann: ‚Welche von den Gegenkräften, die je eine größere Anzahl von Gegenkräften decken, ist selbst relativ am wenigsten geschützt?‘ Nehmen Sie bitte einen großen Bogen Papier. Verteilen Sie auf ihm, durch Kreise eingerahmt, die Namen der Gegenkräfte zum Ziel Z, die Ihnen zu schaffen machen. Zeichnen Sie dann von jeder Gegenkraft zu jeder anderen, die von der ersten gedeckt wird, einen Pfeil. Mit einem dünn ausgezogenen Pfeil können Sie andeuten, daß das Deckungsverhältnis schwach ist. Ein stark gezogener Pfeil bedeutet, daß es stark ist […] Ist eine die Situation beherrschende Gegenkraft aus dem Feld geräumt, so schlagen Sie von den kleineren jetzt ungeschützten Gegenkräften, was sie fassen können, und richten sich dann gegen die nächste beherrschende Gegenkraft, die viele andere Kräfte deckt, selbst aber Blößen bietet, bei denen Sie sie packen und aus dem Feld werfen können.“71

Für die Übersicht aller Projekte sorgt ein komplexes Organisationssystem, in dem alle Projektpapiere und zudem Exzerpte, Zeitschriftenartikel, Prospekte zu Büchern, Kopien von Patentschriften, Verträge, Garantiescheine zu Geräten usw. einsortiert werden. Die Aufbauanleitung für dieses System nimmt in Niessens Buch ganze drei Seiten in Anspruch. Niessen exemplifiziert hier, bis in die Höhen bürokratischer Pedanterie, was andere seiner Zunft ähnlich machen. Scheitlin oder Wiedemann, Endres oder Beyer, sie alle haben gemeinsam, dass sie Pläne und Karteikarten zum Einsatz bringen, um über die soziale Welt und das eigene Selbst ein Raster rationeller Kalkulation und Inwertsetzung zu legen. Die Aufschreibetechniken erweisen sich als Sichtbarkeitstechniken. Zur Sichtbarkeit gebracht wird, was sich als Basiselemente einer rationalisierten, werterzeugenden Wirklichkeit darstellt: Kraft/Gegenkraft, Zeit und Gewinn. Das Unwillkürliche ist in dieser verzettelten Welt der erwartbaren und folgerichtigen Ereignisse Teil der Planung. Auch das Unwillkürliche wird, ähnlich wie es dem Zufall widerfahren ist, nur als eine bestimmte Modalität dieser vom Schreibtisch aus beherrschbaren Welt aufgefasst. Niessen rät, sollte das Unterbewusstsein sich sträuben, in der auf dem Plan vorgesehenen Weise zu funktionieren, so solle man „klar und nüchtern überlegen, ob denn die Verwirklichung eines bestimmten Zieles oder der Eintritt eines bestimmten Ereignisses möglich ist. Um dann, wenn das Oberbewusstsein ein deutliches ‚ja‘ spricht, dem Unterbewusstsein zu sagen ‚Bitte schön, Unterbewusstsein, Du hast mich falsch beraten.‘ Wenn man wiederholt so vorgeht, bleibt das nicht ohne Wirkung.“ 72

Was sich hier in Form einer verzweigten technischen Anleitung präsentiert, ist eine Aufteilung und Quantifizierung auch und gerade der widerständigen Lebensprozesse. Es ist eine Übersetzungsleistung eigener Art, nämlich eine Übersetzung der Welt in eine trainierbare Form der Schriftlichkeit. Allerdings leisten die Leser/innen den bedeutendsten Beitrag dazu selbst, nämlich, indem sie Wesentliches und Unwesentli71 Ebda., 80f. 72 Ebda., 40.

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ches in ihrer Wahrnehmung trennen und operabel machen. Dass diese Übertragung möglich, dass z.B. Gegenkräfte lokalisierbar und nach einem Newton’sch anmutenden Diagramm ins Verhältnis gesetzt werden können, ist eine Behauptung, mehr noch: ein Versprechen der Ratgeber. 3.2.4.3 Die Wirklichkeit im Stift: invozierendes Schreiben Ein zweiter Strang schriftbasierter Selbsttechniken nähert sich der Wirklichkeit nicht wie ein Buchhalter, sondern eher wie ein Beschwörer. Diese Techniken bringen auf ihrem Papier nicht die ausrechenbare Ordnung der Welt ans Tageslicht, sondern sie begreifen die Schriftlichkeit als eine Welt höherer Ordnung, von der aus bestimmende Einflüsse auf die „reale Welt“ ausgeübt werden können. „Die Macht des Schreibens ist lange Zeit nur sehr vage und undeutlich verstanden worden. Die Leute trugen als Talisman irgendeinen erleuchtenden Satz oder einen heiligen Namen auf Pergament geschrieben bei sich in einem Kästchen oder Döschen. Von diesem Schriftstück erwartete man, daß es die Macht und Kraft hat, um Unglück und böse Geister fernzuhalten. Aber bis vor zweihundert Jahren waren im wesentlichen nur Priester des Schreibens kundig. Historisch gesehen ist Schreiben ein neues Werkzeug des Menschen. Ihre Unterschrift kann rund um die Welt als Botschafter reisen, kann in Ihrem Namen Geschäfte tätigen, kaufen, verkaufen, austauschen. Machen Sie von der Macht des Schreibens Gebrauch, um Ihre Ideen sichtbar und dauerhaft zu machen. Gebrauchen Sie sie großzügig.“73 Mit Stift und Papier kann man bei diesen Techniken invozierenden Schreibens nicht allein seine Wünsche klären und konkretisieren und nutzt kurze schriftliche Memos, um Nachrichten ins Unterbewusstsein zu versenken.74 Vielmehr kann man mit diesen Instrumenten andere Menschen zur Mitarbeit gewinnen oder bestimmte Situationen herbeiführen. Petrie und Stone halten es für möglich, dass der vorher niedergelegte Erfolgsplan über den Weg des Geistes Effekte auszuüben imstande ist, die man gar nicht vorab kontrollieren und willentlich bestimmen kann: „Die Kraft des Geistes arbeitet oft in merkwürdiger Weise, und es ist sehr häufig vorgekommen, daß im richtigen Moment die richtige Person, die Sie benötigen, zufällig vorbeikommt. Sie können genau die Person, die Sie benötigen, um Ihre finanziellen Probleme zu lösen oder um eine Geschäftsverbindung anzuknüpfen, anziehen.“75

Hull sieht es ähnlich, wenn er von den telepathischen Möglichkeiten einer schriftorientierten Instruktion des Unterbewusstseins spricht. „Obwohl Sie anderen Menschen gegenüber nie über den Plan sprechen, werden Gedanken direkt von Ihrem Geist auf andere übertragen. Ohne ein Wort zu sagen, veranlassen Sie andere Menschen an das zu denken, was Sie in Ihrem Unterbewusstsein gerade beschäftigt.“ 76 Nicht nur andere Menschen, auch die eigenen Sorgen und Kümmernisse sind nicht vor der Macht des Stiftes gefeit. Dyer und andere schlagen zur Bekämpfung 73 74 75 76

Hull (1995), 99. Siehe Kapitel 3.2.1.2 Petrie/Stone (1975), 166. Hull (1995), 38.

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von Sorgen und Schuldgefühle vor, eine Liste mit den Punkten aufzustellen, die die Übenden bedrücken, wobei der Akt des Aufschreibens bereits die Sinnlosigkeit der ans Tageslicht gebrachten Kümmernisse offenbar werden lässt. Der Akt des Schreibens und der Niederlegung entfaltet also bereits eine kathartische Wirkung. 77 Es findet im nüchternen Akt der Aufklärung über die eigenen Sorgen eine Evokation der quälenden Kräfte statt. Selbst pathologische Depression weicht zwangsläufig vor der Macht des Stiftes. Hull fordert seine Leser/innen auf: „Setzen Sie sich mit Bleistift und Papier hin und schreiben sie den Ursprung aller depressiven Gedanken auf, die Sie belasten. Verweilen Sie immer nur bei einem Problem und versuchen Sie, es mit der Wurzel zu eliminieren. Streichen Sie jeden Punkt von Ihrer Liste, sobald Sie ihn losgeworden sind.“78 Wen wundert es, dass selbst die Lossagung von dem fremdgesteuerten Verhalten und einer manipulierenden sozialen Umwelt (auch) als schriftlicher Akt vollzogen wird? Dyer gibt hier das Beispiel vor. „Verfassen Sie eine Resolution, in der Sie Ihre Selbständigkeit erklären und Punkt für Punkt festhalten, wie Sie sich in allen Beziehungen verhalten wollen – und zwar nicht, indem Sie Kompromisse abschaffen, sondern jegliche Manipulation ohne Mitsprache ausschließen.“79 Die schriftliche Niederlegung der proklamierten Beschlüsse ist nicht nur ein Vorspiel vor ihrer praktischen Umsetzung, sondern der erste Schritt darin. Im Falle von Dyer kann das Benennen der „seelischen Problemzonen“ bereits ein wichtiger Teil zu ihrer Aufhebung sein. Allerdings geht dem zu Papier bringen in der Regel keine langwierige Introspektion und Selbstschau voraus. Der „Ursprung aller depressiven Gedanken“ bei Hull oder die Beschlüsse zur Unabhängigkeit bei Dyer scheinen bereits abrufbereit im Subjekt vorzuliegen. Niemand muss sich bei diesen Lebensratgebern erst im Klaren über seine Gefühle und Gedanken werden, muss sie abwägen oder sie in ihrem biografischen Werdegang betrachten. Als ob die Dinge von sich aus über ihren Sinn und Unsinn Bescheid wüssten, ist es nurmehr Aufgabe der Übenden, sie durch schriftliches Benennen zum Eingeständnis dieser Tatsache zu bringen. Diese Form der Aufschreibetechnik tendiert also zur Autoteleologie, zumindest aber zu einer Form ganz eigener, fast magisch anmutender Kausalität. 3.2.4.4 Kodifizierung und Individualisierung: Checklisten und Selbsttests Die dritte Aufschreibetechnik wird besonders prominent in der zweiten Epoche der Lebensratgeber. Sie ist anders als die Techniken der Selbstrationalisierung und der Verschriftung, wie sie oben beschrieben sind, ohne Vorläufer und Vorbilder. Sie tauchen unvermittelt in den 1960er Jahren auf und verbreiten sich über das gesamte Genre, unabhängig von den jeweiligen selbsttechnologischen Ansätzen der Lebensratgeber und unabhängig von der zugrunde liegenden Subjektteleologie. Es handelt sich um Checklisten und Selbsttests. Checklisten können zum Beispiel darauf abzielen, Hobbys und Interessen oder die Berufserfahrung abzufragen. In der Regel werden eine Vielzahl von Aspekten vorgeschlagen, die beliebig erweitert werden kön77 Dyer (1977), 119 und 130, Wiedemann (1963), 103 und Hull (1995), 151. 78 Hull (1995), 155. 79 Dyer (1977), 226.

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nen. Die Leser/in wählt aus und ergänzt, um ein spezifisches Gesamtbild in einem bestimmten Persönlichkeitsaspekt zu erhalten. Bei Birkenbihl, die exzessiv dieser Technik frönt, wählt die Leser/in aus folgenden Punkte zum Bereich Sozialleben aus: „Bin gesellig, bin gerne allein, politisch interessiert, aktive Arbeit in der Gesellschaft, aktive Arbeit in politischer Partei, lebe gerne zurückgezogen (Elfenbeinturm), habe Einfühlungsvermögen, habe Takt, trete oft ins Fettnäpfchen (taktlos), brauche harmonisches Familienleben, gehe gerne auf Parties [...]“.80

Abbildung 20: Selbsttest mit Antworten einer Leser/in

Die Auswahl der Punkte gibt dann Aufschluss über die Verteilung und Schwerpunktsetzung der eigenen Charaktereigenschaften, ohne dass eine moralische Beurteilung intendiert ist. Checklisten haben eher den Charakter einer Bestandsaufnahme, um daran anschließend für die Leser/in angepasste Möglichkeiten anbieten zu können. Während Checklisten die Übenden dazu auffordern, ihre Fähigkeiten, ihre Zeit und Neigungen selbst einzuschätzen und relativ ergebnisoffen sind, arbeiten die Selbsttests anders. Sie legen den Leser/innen eine Reihe vorgefertigter Fragen und Antwortmöglichkeiten vor und liefern ihnen am Ende eine Bewertung oder Einschätzung. In den frühen 1960er Jahren ist ein solcher Selbsttest, der die Frage nach dem sogenannten Erlebnistyp beantworten soll, noch recht schlicht aufgebaut. Er besteht aus einer Reihe einfacher Ja- oder Nein-Antworten, wie beispielsweise folgende: „Hassen Sie es, aus Höflichkeit zu lügen?“ oder „Haben Sie Mitleid mit sich selbst, sofern Ihnen etwas schiefgeht?“ Am Ende wird zusammengezählt. „Überwiegt die 80 Birkenbihl (1974) 53.

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Ja-Seite, dann sind Sie – nach Meinung der USA-Psychologen – wahrscheinlich ein introvertierter, im andern Falle ein extrovertierter Typ.“ 81 Im Anschluss wird des Wesens von intro- und extrovertierten Typ nach C.G. Jung skizziert, mit dem Ziel, den Schwerpunkt der Begabung herauszuarbeiten.82 Bei den Checklisten und Selbsttests handelt es sich um die im einleitenden Kapitel angesprochenen Individualisierungstechniken, die sich auf den Rezeptionsprozess der Leser/innen erstrecken. Sie sind flexibel für den Anlass und das jeweilige Leser/innensubjekt modifizierbar. Mit ihnen kann man die beruflichen Neigungen genauso abfragen wie das Sozialleben oder die eigenen Charaktereigenschaften analysieren. Die Tests und Checklisten entsprechend adäquat den neuen Mobilisierungsformen der zweiten Lebensratgeberepoche. Sie binden die Leser/innen in die Rezeption ein und adressieren sie als aktive Leser/innensubjekte. Mal erst, mal spielerisch, auf jeden Fall aber leicht zugänglich und leicht bewältigbar, präsentieren sich die Selbsttests und Checklisten. Die angebotenen Antwortmöglichkeiten und Bewertungen erlauben einen raschen Einstieg, ohne viel mühsame Selbstschau und „verkniffene“ Verstandestätigkeit. Die Möglichkeiten zur Erweiterung bei den Checklisten und die verschiedenen Ergebnisse, die die Selbsttests liefern, geben den Leser/innen zudem den Eindruck. wesentlich individueller und passgenauer beraten zu werden. Der Lebensratgeber scheint so nicht für einen hegemonialen Subjekttypus geschrieben zu sein, sondern setzt gerade auf eine gewisse Vielfalt der Subjektivitäten, die augenscheinlich wertneutral nebeneinanderstehen.83 Allerdings darf man nicht außer Acht lassen, dass gerade der Eindruck der Individualisierung mit den strukturellen Grenzen des Genres zusammentrifft. Die Fragen der Selbsttests sind begrenzt, die Antwortmöglichkeiten gleichermaßen, und die Bewertungen sind schematisch. 84 So individuell die Selbsttests und Checklisten auch erscheinen mögen, sie wirken hoch präformierend auf die Entscheidungs- und Selbstdarstellungsmöglichkeiten der lesenden Subjekte. Individualisierung (die im Vergleich zu den frühen Lebensratgebern nicht von der Hand zu weisen ist) geht einher mit einer Kodifizierung, also einer wieder von außen kommenden Eingrenzung und Strukturierung der subjekttransformativen Selbstführungsweise. So sehr sie der Vielfältigkeit Rechnung zu tragen trachten, so sehr begründen sie eine neue Abschließung und Grenze.

81 Michligk (1973), 72. 82 „Werfen wir einen Blick auf die Eignung der unterschiedlichen Charaktertypen gemäß ihrer psychischen Energie als Vorgesetzter und ihrer Einwirkungsmöglichkeit auf Mitarbeiter. […] Wer verbrauchbarer [sic], zweckmäßiger ist, das hängt von der Aufgabe, der gegebenen Situation ab. Näher der Mannschaft (den Mitarbeitern) ist der Introvertierte als Vorgesetzter dann, wenn sie überwiegend zu seinem Typus gehört; für Führungsaufgaben höherer Art eignet sich der Extrovertierte besser“, ebda. 73f. 83 Zum widersprüchlichen Gehalt scheinbarer Wertneutralität siehe Kapitel 4.1. 84 So läuft zum Beispiel Scheitlins Selbstanalyse auf eine Identifizierung von einigen wenigen Reifegraden für eine Persönlichkeit hinaus, vgl. Scheitlin (1977), 81.

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3.3 DIE VERZWEIGUNG DER KONTROLLE: METATECHNIKEN IN DER ZWEITEN LEBENSRATGEBERGENERATION Der Aufschwung der Aufschreibetechniken hat in seinem Gefolge auch Auswirkungen auf eine Technikgruppe, die dazu dient, den Übungsweg überprüfbar zu machen, nämlich die Metatechniken. Die Metatechniken sind in der Regel an eine bestimmte Form der Schriftlichkeit gebunden. Sie müssen zwei gegenläufige Momente miteinander verbinden. Zum einen müssen sie reflexiv genug sein, um den Fortgang der Übung abzusichern, zum anderen dürfen sie nicht zu reflexiv sein – denn das hieße, sich in einen Modus abgekoppelten Nachdenkens zu versetzen. Man benötigt also eine Form der Technik, die das einlösen kann, was Lindner als das schlaglichtartige Umschalten auf eine Innenschau bezeichnet hat.85 Man könnte sagen, diese Kontrolltechnik sollte Folgendes gewährleisten: ein kurzes, gezieltes Innenwerden mit einem klaren, partikularen Fokus. Kein Tagebuch also, sondern – man könnte sagen – ein Momentebuch: ein Buch, das situationsspezifische „Daten“ erhebt. Das führt dazu, dass sich die Medien der Kontrolle in der zweiten Lebensratgeberepoche vervielfachen. Die Übende ist aufgefordert, Buch zu führen über verschiedenste Aspekte ihres Handelns. Wann und warum sie aus Frust isst, wann und warum sie Tabletten einnimmt oder Alkohol trinkt, wie und wann sich selbstbelohnendes Verhalten ausdrückt, was man konkret gegen Sorgen und Kummer unternommen hat, wie und wann man Projektschritte umgesetzt hat und welcher Ergebnisse sie gezeitigt haben oder ob der Urlaub die erwünschten Lustmomente erbracht hat, die man sich erwartete.86 Die Listen und Notizen werden alle mit einer bestimmten Frist oder einer bestimmten Frequenz ihrer Durchführung oder ihrer Gültigkeit versehen. Die Leser/in ist somit eingespannt in ein Netz niederschwelliger und zugleich expansiver Kontrolltechniken. Sie erfordern nicht mehr die Reflexion des Tages als Totalität, sondern zerlegen ihn in zu überwachende Teilbereiche, die unendlich teilbar sind. Die Kontrolltechniken bewegen sich weg von einer Zentralperspektive hin zu einer Froschperspektive, die eben nur zeitweise bestimmte Phänomene in den Blick nehmen, dafür aber eine Fülle von Details sichtbar machen kann. Durch eine Vielzahl von verzweigten, großteils einfach strukturierten Techniken wird aus dem Lebensratgeber selbst eine Art dezenter Kontrolltechnik. Die Kontrolltechniken erfüllen, so schlicht sie mitunter daherkommen, drei Funktionen: Sie machen den Fortschritt im Übungsweg sichtbar, machen zugleich auf eventuelle Nachlässigkeiten aufmerksam und gemahnen die Leser/innen an das Einhalten der Übungen. Dass die Lebensratgeber also ihre lenkenden und steuernden Effekte verloren haben, kann nicht behauptet werden. Denn im Zuge ihrer Liberalisierung haben sie durchaus an vielfältigen, niederschwelligen, aber expansiven Kontrollmomenten gewonnen.

85 Vgl. Kapitel 3.2.2 sowie Lindner (1978), 64. 86 Vgl. Ulene (1978), 198ff. und 193; vgl. Sharp/Lewis (1977), 40ff.; vgl. Hull (1995), 151; vgl. Lindner (1978), 152; vgl. Dyer (1977), 240f.

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Abbildung 21: Günther Beyer fordert auf eine für die Zeit typischen Weise seine Leser/innen zur Selbstkontrolle ihrer Mitarbeit auf.

3.4 ZUSAMMENFASSUNG Zuerst fällt der große Aufschwung der indirekten, passiven Techniken, aber auch der reflektierenden, medialen ins Auge. Entspannung ist sowohl ein Ziel für sich als auch die Grundlage für die gelungene Selbstführung. Mit Anstrengung erreicht des Subjekt der 1960er und 1970er Jahre nichts. Das neue Übungsregime, das Entfaltungsprogramm, treibt Individualität und Natürlichkeit nicht nur voran, es erklärt sie auch zum Maßstab der Anwendung. Die Subjekte sollen stets selbst entscheiden, was für sie gut und richtig ist. Doch damit erübrigt sich eine strukturierte Selbstführung keineswegs, im Gegenteil. Die Techniken der zweiten Epoche präsentieren sich durchwegs systematischer, kleinschrittiger und engmaschiger, als es der individualistische Jargon der 1960er und 1970er Jahre vermuten lässt. Momente individueller Aneignungsmöglichkeiten treffen auf ein Übungsregime, das die Leser/innen in eine umfangreiche, angeleitete Aktivität überführt und sie auf den ersten Blick sich selbst überlässt. Auch der Eindruck einer sanften, bloß passiven Wirkungsweise der Techniken ist nur in einem speziellen Sinne zutreffend. Zwar kann das Unwillkürliche bzw. das Unterbewusstsein nicht direkt adressiert und dadurch nicht unmittelbar beeinflusst werden, aber in Bezug auf die Steuerung der Umgebung(svariablen) entwickelt das Übungsregime der zweiten Epoche eine emsige, rastlose Betriebsamkeit. Insbesondere die ausgeweiteten Aufschreibetechniken erfordern vom Übenden eine kontinuierliche Aktivität. Auch die Techniken, die auf eine mittelbare Ansteuerung der unwillkürlichen Kräfte abheben, wie Verbalsuggestion, Brainstorming und dergleichen, machen das Selbst zu einem Ort der gezielten Transformation und weniger zu einem Ort freier Spontaneität. So sehr das Selbst im Idealfall ein sich selbst regulierendes System ist, das produktive Impulse für die Selbstführung liefert, so sehr muss man für die entsprechende Abwesenheit von Störgrößen wie Grübelei, Verkrampfung und ängstlichen Stimmungen aktiv Sorge tragen. Passiv, oder besser gesagt abseits, bleibt das Subjekt hingegen auf die ihm zukommenden, antreibenden, motivierenden Kräfte und Energien – diese sind ihm im Hinblick auf ihre Hervorbringung und ihre spezifischen Stärke vollständig entzogen. Es ist in diesem Sinne nicht mehr unmittelbarer Schöpfer seiner Selbst, sondern das Subjekt muss sich mit einem bestimmten Teil seiner selbst ins Benehmen setzen – es muss die Bedingungen für sein Funktionieren und Fehlgehen kennen, es muss seine Entäußerungsmodalitäten kennen, es muss die von ihm gesetzten Grenzen anerkennen (wie zum Beispiel

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die Grenzen des Willens). Kurzum, das Subjekt ist ein ganzes Stück weit aus dem transformativen Geschehen herausgedrängt, aber in seiner Abseitsposition ist ihm eine sehr bestimmte Rolle zugewiesen. Insofern die willkürlichen und bewussten, reflektierenden und erkennenden Prozesse des Subjektes nur von der Peripherie her die Selbstführung lenken, müssen wir von einer Peripherisierung des Subjektes sprechen. Am Beispiel der Gefühlsfreisetzung zeigte sich der doppelte Charakter einer zu sich selbst zurückgefundenen Natur: So ist den Gefühlen keine absolute Grenze der Moralität mehr auferlegt, sie können und sollen sich frei ausdrücken, aber sie sind weit davon entfernt, zu einer wilden archaischen Veranstaltung zu gerinnen, bei der es um ein Abwerfen aller kultureller Fesseln geht. Tatsächlich erweisen sich diese Gefühle durchaus einer Verzweckmäßigung zugänglich – sie sind kalkulierbar und können als gezielte und befristete Modalität des Seins abgerufen und gegen die Rationalität ins Felde geführt werden. Die wiedererweckte Natur trägt so alle Zeichen einer bereits über sie und mit ihr erfolgten Inkulturation. Der Ruf nach einer störungsfreien Natur kann damit sowohl dem Bedürfnis nach einer Zurücknahme gesellschaftlichen Zwangs und Normativität als auch nach einer Anbahnung steuerbarer, botmäßiger Selbstfreisetzung genügen.

3.5 DREI WEGE ZUM SELBST-SEIN: SELBSTRATIONALISIERUNG, KYBERNETISCHE STEUERUNG UND RADIKALER INDIVIDUALISMUS Wie wir gesehen haben, bewegt sich der Diskurs um die richtige Führung seiner selbst innerhalb mehrerer Gravitationszentren. Sie bilden die Einheit des Diskurses, die übergreifende Bewegung sowie die Grenze des Sag- und Machbaren. An dieser Stelle wollen wir die Spezialisierungen der Diskurse in Form dreier verschiedener Selbstführungsstile innerhalb dieser Einheit skizzieren. Diese sind sowohl bei der Behandlung der Sozialtechniken als auch bei der Frage der verschiedenen Aufschreibetechniken angeklungen, ohne dass ihnen dort bereits die Bedeutung eines eigenen Stils innerhalb der 1960er und 1970er Jahre zugesprochen wurde. Sie sind deswegen hier als solche einzeln zu benennen, da sie – innerhalb des Rahmen den die zweiten Epoche vorgibt – durchaus sehr verschiedene Vorstellung mit sich führen, wie und mit welchem Ziel eine bestimmte Subjektivität aufzurichten ist. 3.5.1 Der Mensch, ein Zettelkasten: die Planungsratgeber Diese Lebensratgeber machen eine zahlenmäßig bedeutende Gruppe aus. Victor Scheitlin, Gunther Niessen, Kurt Hartleb und Fritz Wiedemann, die herausragenden Vertreter dieser Gruppe, adressieren das Subjekt als ein planvoll kalkulierendes Wesen. Da es aufgefordert wird, seine Fähigkeiten, sein Wissen, seine Kraft und Zeit in eine werterzeugende Ordnung zu bringen, kommen insbesondere solche Techniken zur Anwendung, die effizienzsteigernd wirken sollen. Es handelt sich vorwiegend um mediale, reflexive Techniken, die auf das Finalobjekt einer umfassenden Lebensplanung ausgerichtet sind. Es geht diesen Ratgebern in erster Linie um einen sparsamen und ergebnisorientierten Einsatz der Kräfte mit dem Ziel, ein Projekt umzusetzen

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oder ein Problem zu lösen. Neben den erwähnten Aufschreibetechniken (Pläne, Karteikarten) kommen Techniken zum Einsatz, die vor allem auf die kognitive Fähigkeiten abzielen: auf das Gedächtnis, auf die Sinneswahrnehmung, auf das Denken, das Vorstellungsvermögen oder auf die Intelligenz. Wie kann man schneller lesen und dabei vor allem die Sachverhalte erfassen, die der Leser/in von augenblicklichem Nutzen sind? Wie kann man seine Reaktionsschnelligkeit erhöhen, um Entscheidungen rasch treffen zu können? Wie kann man seine Gedächtnisinhalte so festigen und organisieren (im Sinne von aufschreiben, ordnen, zugreifbar machen), dass sie in der richtigen Situation, das richtige Ergebnis liefern (Namen, Gesichtserkennung)? Wie kann man das logische und räumliche Denken, wie kann man seine Ausdrucksvermögen verbessern, um günstige Eindrücke auf andere zu erzielen? Die Steigerung dieser Fähigkeiten erfolgt stets mit dem Ziel, einen überprüfbaren Output zu erreichen: um ein Geschäft anzubahnen, einen Partner zu gewinnen, ein Etappenziel zu erreichen oder auch, um seinen Stresspegel zu senken. Nur im Hinblick auf die Ergebnisse, die sie dem Subjekt zu erreichen verhelfen, haben sie ihre Berechtigung und ihren Sinn. Zentrale Maxime ist, dass die aufgewendeten Kräfte in einem ökonomischen Verhältnis zu dem eingebrachten Ergebnis stehen. Es geht stets darum, mit einem Minimum von Kraft den größten Ertrag zu erzielen. Die Planungsratgeber sind zurückhaltend damit, den Übenden, neben der Steigerung allgemeiner Fertigkeiten, auf eine fixe Subjektivität einzuschwören. Was die Subjekte an sich hervorarbeiten, welcher konkreten Befähigung sie den Vorzug geben, hängt vom notwendigen Kraftaufwand sie aufzuwerten (der muss minimal sein, um den größten Nutzen zu zeitigen) und den Bedürfnissen der anderen ab („Welches sind die Werte auf dem Gebiet meines Könnens, die die Menschen am meisten begehren?“87). Es geht ihnen mehr darum, die Subjekte in eine allgemeine Handlungsbereitschaft zu versetzen und mit einer rationellen Handlungskompetenz zu versehen, die sich im gesellschaftlichen Verkehr erfolgreich behaupten kann. Dass sich das Subjekt dabei eine recht kaufmännische (Selbst-)Ordnung gibt, ist naheliegend und hat seine Vorbilder schon bei den Selbstrationalisierern der ersten Epoche. Zwei Aspekte sind aber grundsätzlich neu. Erstens wird in die buchhalterische Struktur des Selbst auch ein passives und unwillkürliches Moment getragen. Mehr noch, gerade das Unwillkürliche ist eine notwendige und produktive Eventualität eines sich selbst rationalisierenden Subjektes. Gleichzeitig entfallen natürlich alle Prägungen der Texte durch den hegemonialen Willensdiskurs. Zweitens geht es weder um ein enzyklopädisches Wissen über Wirklichkeit in Schriftform, wie sie in Viktor Esdorps Kartothek aus dem Jahre 1934 vorgesehen war, noch um eine Form abstrakter Rechenschaft über die Nutzung der eigenen Lebenszeit, die Gustav Grossmanns Entwurf von 1923 hintergründig bestimmte. Vielmehr geht es darum, die eigene Energie und Zeit nach persönlichem Dafürhalten effektiv zu strukturieren, um mit möglichst wenig Aufwand möglichst viel erreichen zu können. Die freigesetzten Energien und geschaffene Zeit kann das Individuum dann eigensinnig ausfüllen. Die Planungsratgeber sind, gänzlich vom moralisch-religiösen Horizont der frühen Texte befreit. Ihr Verhältnis zur Selbstrationalisierung ist instrumenteller und pragmatischer, wenn auch nicht unbedingt weniger ehrgeizig.

87 Niessen (1973), 6.

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3.5.2 Der Mensch, eine Erfolgsrakete: die kybernetische Selbstführung Diese Lebensratgeber bilden einen zweiten großen Komplex, der vor allem für die 1960er Jahre bedeutsam ist und ab Mitte der 1970er Jahre an Einfluss verliert. Zu den wichtigen frühen Autor/innen gehört vor allem Maxwell Maltz, zu den späten Vera Birkenbihl sowie das Autorenteam Sidney Petrie und Robert Stone. Auch die Texte Raymund Hulls oder Paul Michligks setzen ein strukturell ähnliches Konzept des Unwillkürlichen und Unterbewussten voraus, wenn auch mit weniger kybernetischem Vokabular. Tony Gaschlers Text ist stärker an die Biologie angelehnt, folgt aber der Idee einer „natürlichen“ und „guten“ Einrichtung des Menschen und einem freisetzenden Selbststeuerungsmodell. Diese Untergruppe der Ratgeber setzt auf indirekte, passive Techniken. Das Beeinflussen des Unterbewussten ist das Zentrum der technischen Ordnung, ihr Finalobjekt ein selbstgesteuertes Leben aus eben jenem Unterbewussten heraus. Die Frage der Programmierung des Unterbewusstseins bildet den Kern des kybernetischen Selbstführungsstils. Der Technik der Programmierung zugrunde gelegt ist die Auffassung, dass Thermostatregler, hormonelle Steuerungssysteme, Computer und menschliche Gehirne aufgrund der gleichen Prinzipien funktionieren. Sie alle sind in der Lage, auf dem zweckmäßigsten Wege zielgerichtet Aufgaben zu lösen, und zwar unabhängig von einem bewusst eingreifenden, von außen kommenden Willen oder Einfluss. Sie besitzen einen automatischen Mechanismus, der sie der Erfüllung ihrer Aufgaben entgegenführt. „Gehirn und Nervensystem arbeiten etwa vergleichbar mit einem automatisch sich selbst steuernden Torpedo- oder Raketenmechanismus, der sein Ziel selbständig findet, wenn ihm die Richtung vorher angegeben wurde. Der eingebaute Hilfsmechanismus des Menschen funktioniert wie ein Steuerungssystem, das automatisch das Ziel findet, das die richtigen Reaktionen auf Reize aus der Umgebung auslöst, und gleichzeitig wie ein Elektronengehirn, das automatisch Probleme zu lösen vermag, notwendige Antworten erarbeitet und neue Ideenkombinationen oder Inspirationen zur Verfügung stellt.“88

Identifiziert wird dieser Steuerungsmechanismus von den kybernetischen Lebensratgebern in einer speziellen Funktion des Gehirns, dem Unterbewusstsein. Vergleichbar mit den vorher im Steuerungsapparat von Raketen abgelegten Daten und Zieleingaben, erfüllt es die Vor- und Eingaben des menschlichen Bewusstseins, ohne nach Sinn oder Unsinn zu fragen. Das Unbewusste arbeitet aufgrund der Reize, die ihm durch das Bewusstsein geboten worden sind, und sucht dementsprechend die Zielvorgaben zu verwirklichen, seien sie nun dem Subjekt dienlich oder schädlich.89 Die Techniken der Programmierung zielen nun auf zwei Aspekte ab. Zum Ersten soll das Unterbewusste von nun ab nur noch mit solchen Eingaben gespeist werden, 88 Maltz (1962), 43. 89 „Experimentelle und klinische Psychologen haben auch den Schatten eines Zweifels beseitigt, dass es dem menschlichen Gehirn möglich ist, zwischen wirklicher Lebenserfahrung und lebhaft vorgestellten, in allen Einzelheiten ausgedachten Erfahrungen zu unterscheiden.“, Maltz (1962), 16.

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die es zur Verwirklichung von Glück und Erfolg beauftragen und nicht mehr, wie im unkontrollierten Zustand, mit negativen Erwartungen und Selbstbildern. Raymund Hull warnt davor, dass das Unterbewusste nicht mit negativen Gedanken programmiert werden darf, da dies ungewollte Effekte zeitigen könne.90 Außerdem können einmal vorgenommene Programmierungen nicht ohne Weiteres zurückgenommen werden.91 Zum Zweiten wird der Großteil bewusster Aktivität des Subjektes, jede Form willentlichen Erzwingen-Wollens, jede Form bewusster Steuerung zugunsten des Unterbewusstseins zurückgestellt. Man gibt dem Unterbewusstsein sein Ziel vor und lässt sich anschließend von ihm tragen. Die Techniken der Programmierung basieren im Wesentlichen auf der Mobilisierung unwillkürlicher Kräfte, wie wir sie im obigen Kapitel dargestellt haben. Man setzt Entspannungs- und autosuggestive Techniken ein, man begibt sich in eine passiv-rezeptive Erwartungshaltung und zieht Nutzen aus den spontanen Ausflüssen des Unwillkürlichen. Mit der Konzeption eines Unterbewussten als unterbewussten Steuerungsmechanismus sind die Ergüsse, die dem Subjekt aus einem richtig ins Werk gesetzten Unterbewusstsein zufließen, nicht nur wahrscheinlich, sondern sie sind automatisierbar, wenngleich sie immer auch mit einer gewissen Unschärfe behaftet bleiben. Maxwell Maltz beschreibt diese Kausalbeziehung so: „Setzt man den Mechanismus ,Erfolgsziele‘ so wird er auf Erfolg geschaltet arbeiten.“92 In dieser radikal „mechanischen“ Vorstellung des Subjekts, die vom lebensratgeberischen Kybernetiker der ersten Stunde Maxwell Maltz besonders scharf vertreten wird, muss man das Unwillkürliche nicht wachsam erwarten, ihm den Ausfluss in die Wirklichkeit erleichtern – es ist schlicht das erwartbare Ereignis einer Wirkungskette. Auch wenn die Implikationen eines radikal technisierten Naturverständnisses des Menschen von den kybernetischen Lebensratgebern noch zurückgewiesen wird, es holt sie doch wieder ein: „Die Wissenschaft der Kybernetik will uns nicht weismachen, dass der Mensch eine Maschine ,ist‘, sie erklärt uns dagegen, dass er eine Maschine ,besitzt‘, und diese eingebaute Maschine zweckentsprechend benutzen kann.“93 3.5.3 Der Mensch für sich allein: radikaler Individualismus Diese Gruppe von Lebensratgebern taucht gegen Mitte der 1970er Jahre auf und übt großen Einfluss aus. Die sehr erfolgreichen Texte von Wayne Dyer und Josef Kirschner stehen dabei klar in der ersten Reihe. Weniger radikale, aber nichtsdestotrotz bekannte Autor/innen übernehmen den Impetus, mildern ihn jedoch in ihrer Radikalität ab (Arthur Ulene, Otto Lindner) oder ordnen ihn in einen weitläufigeren Kontext ein (Heinz Ryborz). Markant und als eigenständigen Selbstführungsstil identifizierbar werden lässt sie ihre dezidiert kritische Absetzbewegung gegenüber der sozialaffinen Grundtendenz 90 Vgl. Hull (1995), 17. 91 Vgl. ebda., 45, und Birkenbihl (1974), 84. Obwohl sie ein radikal technisiertes Modell indirekter Selbstführung durch Selbstprogrammierung vertritt, macht Birkenbihl auch deutliche Anleihen bei der Humanistischen Psychologie, namentlich bei der Betonung von grundlegenden menschlichen Bedürfnissen. 92 Maltz (1962), 35. 93 Ebda., 14.

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der Planungsratgeber und kybernetischen Selbstführung. Die soziale Sphäre ist ihnen nicht ein Ort der Selbstverwirklichung und des Gewinns, bei dem die Akteure gleichwertig und notwendig aufeinander angewiesen sind. Vielmehr ist ihnen die Ausrichtungen der Selbstführung auf die Bedürfnisse der anderen ein Aspekt der Schwäche und des Scheiterns der Subjekte. Zwar haben sie mit den Selbstrationalisierern und den Kybernetikern gemeinsam, dass sich der Mensch auf seine verschüttete Natur zurückbesinnen solle, aber diese Natur leidet unter den manipulativen Einflüssen der anderen und rät zum Vorrang und in gewisser Hinsicht zur Autonomie ihrer Bedürfnisse. „Innere Unabhängigkeit besteht darin, auf andere nicht angewiesen zu sein […]. In dem Moment nämlich, in dem Sie auf andere Menschen angewiesen sind, werden Sie verletzlich, zum Sklaven.“ 94 Ihnen geht es in erster Linie darum, ein Bewusstsein der eigenen Bedürfnisstruktur zu erlangen und sie auch gegen den Widerstand einer sozialen Umwelt durchzusetzen. Das schließt ein, das Bedürfnis einer Anhänglichkeit an andere Menschen zu unterdrücken, da es als falsches, sozial eingepflanztes, widernatürliches Bedürfnis betrachtet wird. Radikale Individualisierung ist das Finalobjekt dieser Untergruppe – ein Leben in Freiheit von sozialer Interdependenz. Die Techniken bewegen sich zum einen im Rahmen einer Sensibilisierung der Übenden für ihre Bedürfnisse. So sehr die Lebensratgeber dies als einen freien Schürfungsprozess von Bedürfnissen inszenieren, die der Einzelnen naturwüchsig gegeben sind, so sehr handelt es sich um einen Herstellungsprozess, bei dem die Subjektwelt in eine hintergründig feste Normativität begrenzter Bedürfnisse hineingeformt werden soll (siehe Teleologie). Zum anderen geht es diesen Lebensratgebern um Techniken zu ihrer Durchsetzung. Sie haben reflexive und aktive Formen. Die Techniken der Durchsetzung verlaufen dabei zumeist in zwei Richtungen, zum einen muss man die Bedürfnisse gegenüber einer Umwelt durchboxen, die dieses Verhalten als egoistisch brandmarkt.95 Zum anderen muss man in sich selbst den eigenen Bedürfnissen Geltung verschaffen, indem man sie vor verinnerlichten normativen Geboten der Gesellschaft schützt. Die geläufigsten und gebräuchlichsten Techniken stellen darauf ab, die Grenzen der Scham, Verlegenheit oder Schuldgefühle systematisch zu überschreiten. Peinliche Situationen werden zum Beispiel bewusst herbeigeführt, um sich gegen die eigene Wertung und die der sozialen Umwelt abzuhärten. 96 Moralische und sexuelle Verklemmung werden durch Aufrufe zu unbotmäßigem und experimentellem Verhalten angegangen. 97 Genussentsagendes und selbstreglementierendes Verhalten werden durch Übungen in Selbstgenuss und Spontaneität aufzuweichen versucht.98 Diese Lebensratgeber neigen also zu einer gesteigerten Selbstaffir94 Dyer (1977), 210. 95 Kirschner will zum Beispiel von seinen Leser/innen, dass sie sich Konzepte überlegen, diese Vorwürfe zu entkräften und ihnen offensiv zu begegnen; Kirschner (1976), 70. Ähnlich Beer (1978), 22f. 96 Dyer (1977), 153. 97 Ebda., 183. 98 Dies kann bedeuten, einen teuren Wein zu einem nichtigen Anlass zu öffnen, der eigentlich für eine besondere Gelegenheit gedacht war, das Familien-Tafelsilber für Toast und Marmelade zu verwenden, oder sich mit einem gewünschten Konsumartikel selbst zu beschenken. Vgl. Ulene (1978), 87 und 166ff. Ähnlich Dyer (1977), 59ff.

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mation durch das Autonom-Setzen und die Priorisierung der eigenen Bedürfnisse sowie die Abkehr von einem sozial harmonischen Blick auf die Gesellschaft. Gegen Ende der zweiten Epoche gibt es verschiedene Syntheseentwürfe, welche sowohl kybernetische, psychologische als auch ökonomische Steuerungsmodelle zu kombinieren versuchen. Dazu ist unter anderem Ulrich Beers Modell zu nennen, der mit seinem Glücks- und Entscheidungsbegriff ein managerial orientiertes Selbst- und Fremdführungsregime der dritten Epoche ein Stück weit antizipiert. Auch Hans Endres’ stark anthropologisch aufgeladenes Selbstentwicklungsprogramm zeigt die Tendenz, Aspekte des radikalen Individualismus aufzunehmen und diese in eine weniger stark einsiedelnde Selbstführung zu überführen, wobei aber Konfliktbereitschaft, Selbstgenuss und die Ablehnung eines normativen sozialen Einflusses als Kernelemente erhalten bleiben.

3.6 ZUSAMMENFASSUNG Der Ruf der Lebensratgeber in den 1960er und 1970er Jahren ist der nach Selbstentfaltung. Dieser bleibt der Referenzrahmen aller Texte. Sie mögen sich in der genauen Definition dieses Konzeptes ein Stück weit unterscheiden, aber alle halten daran fest. Auch über das Wie herrscht weitgehend Einigkeit: durch eine überschaubare Anzahl an typischen passiven Techniken und reflexiven Übungen sowie Sozialtechniken, die von einem durchlässigeren sozialen Raum ausgehen. Der Unterschied liegt vor allem in der Gewichtung der einzelnen Untergruppen. Die Ratgeber der zweiten Epoche bilden keinen so engen Diskursraum mehr wie die der ersten, auch wenn die strategische Ausrichtung im Grunde dieselbe ist. Zwar gibt es ähnliche Techniken und Tropen, aber die Art, mit der sich auf die hegemonialen Elemente bezogen wird (wie Individualismus, Entfaltung, Natürlichkeit und die sanfte, niederschwellige Führung seiner selbst), ist selbst freier und weniger eng an bestehende Strukturen wie einen bestimmten Aufbau der Texte gekoppelt. Dennoch lässt sich auch an den Ausreißern der späten 1970er Jahre ihr Bezug zu den Grundthemen ihrer Epoche deutlich nachweisen. Es gibt durchgehende Linien, sowohl was die Objekte, die Techniken als auch die Modelle der Selbstführung betrifft. Wie wir unter den Abschnitten zu den Oszillationsfiguren im Folgenden verdeutlichen werden, sind es gerade die widersprüchlichen Momente von Fortschrittsdenken und technizistischen Modellen einerseits (wie sie in Form der kybernetischen Steuerung in den 1960er Jahren innerhalb der Ratgeber eine Hochzeit erleben) und dem Ruf nach Individualität und Natürlichkeit andererseits, welche die Texte prägen.

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Entfaltete Individualität Die Teleologie der 1960er und 1970er Jahre

Im folgenden Abschnitt wird die Teleologie der zweiten Epoche untersucht. Erstens wird die Realfiktion, also die äußere Gestalt der Teleologie untersucht. Im zweiten Schritt widmen wir uns der inneren Struktur der Teleologie. Der dritte Abschnitt beleuchtet schließlich das Verhältnis von Fremd- und Selbstführung in der zweiten Epoche.

4.1 ÄUSSERE GESTALT ODER REALFIKTION DER TELEOLOGIE: DAS AUTHENTISCHE INDIVIDUUM Das ideale Subjekt der zweiten Epoche hat alles Heldenhafte abgelegt, seine äußere Erscheinungsform trägt nicht die Zeichen eines siegreichen Kampfes, sondern einer einträchtigen Versöhnung mit seiner inneren Natur. Es will nicht mehr absolute innere und äußere Grenzen überwinden und verschieben, vielmehr überlässt es sich den Grenzen und Modalitäten, die ihm durch seine Bedürfnisse und den unwillkürlichen Steuerungsmechanismen gegeben sind – es findet allein in ihnen seinen Maßstab und sein Auskommen. Das kann im Einzelfall auch heißen, ein zurückgezogenes Leben einem gesellschaftlich erfolgreichen vorzuziehen. Der Blick des Subjektes schweift nicht eroberungslustig in eine weite Ferne, er ruht mal gelassen, manchmal auch besorgt auf den verborgenen Möglichkeiten seines Selbst. Es sucht nicht nach Situationen, denen es nicht gewachsen ist und kann sich auch mit Niederlagen anfreunden. Kurzum: Das Subjekt der 1960er Jahre ist häuslich geworden. Die Realfiktion der zweiten Epoche bezieht ihren Sog aus einem Rigorismus des Eigenen und Authentischen, der bedingungslosen Lebendigkeit und von innen geleiteten Aktivität. Auch wenn die Ratgeber der 1960er und 1970er nicht mehr mit dem Hammer und dem Amboss philosophieren, geben sie dem idealen Subjekt eine dramatische Aura. In der zweiten Epoche ist die Entscheidung für oder gegen die Selbstwerdung nicht neutral gehalten. Wer sich nicht auf den Weg der vorgeschlagenen Subjektivierung begibt, begeht geradezu Verrat am Selbst. Das Subjekt, das z.B. Dyers Ratgeber zur Hand nimmt, sieht sich unversehens mit einer sein ganzes Leben betreffenden Entscheidung konfrontiert:

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„Sie können sich selbst mit anderen Augen ansehen und sich für Erfahrungen öffnen, die Sie bislang noch nicht einmal als Teil Ihres menschlichen Potenzials begriffen haben – oder aber weiterhin immer das gleiche auf die gleiche Art tun, bis Sie unter der Erde liegen.“ 1

Das Authentisch-Werden des Selbst ist mehr als eine Freisetzung selbstregulativer natürlicher Strukturen und ein Sich-tragen-Lassen von der Eigendynamik der inneren Wachstumsbestrebungen. Es gehört sicherlich zur Teleologie der 1960er und 1970er Jahre, verbissene Anstrengung und disziplinäre Selbstbeherrschung abzuschütteln, doch „erfülltes Leben setzt aktive Bemühungen um Wachstum an selbstgestellten Aufgaben voraus, aber auch Ausschöpfen unserer Fähigkeiten und Talente sowie des uns gegebenen schöpferischen Spielraum“ 2: ein aktives Bemühen, das, wie wir gesehen haben, nie wirklich zum Stehen kommt. Denn es ruht erstens auf keinen trennscharfen Unterscheidungen und Beschreibungen dessen, was freigegeben werden soll, zweitens hat es das Subjekt eben nur mittelbar in der Hand, sein „individuelles Optimum“ zu erzielen, und drittens hält das Subjekt auch nur eine Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit in einem Zustand des Strebsamkeit: „Das aktuelle Selbst muß immer unvollkommen bleiben, denn sonst könnte es nicht dauernd einem Idealziel zustreben. Es muß ständig wachsen und nach Erfüllung streben, sonst würde es sterben.“3 Das Subjekt muss sich also rege halten, gewähren und ermuntern, Probleme erkennen und lösen und einer gewissen Uneinlösbarkeit bzw. Unschärfe seines Tuns gewahr sein. Das „Glück, das daraus resultiert, wird kein süßer Harmoniezustand, sondern ein dauerndes lebendiges Auf und Ab sein.“4 Die individuelle Selbstführung ist daher, so sehr sie mit Glücksversprechen arbeitet, krisenorientiert. Krisen und sogar ein individuelles Scheitern gelten nicht mehr als Beweis fehlenden Kalküls, schlechter Planung, mangelhaften Willens oder moralischer Indisponiertheit – sie sind notwendige Voraussetzung für einen Korrekturprozess auf dem Weg der Zielerfüllung. Bedürfniserfüllung – Krisenmomente – Selbstkorrektur – Selbstentfaltung sind (analog zum Selbstkorrekturprozess von Lenkraketen) elementare Bestandteile des circulum salutaris in der Teleologie der 1960er Jahre, eine partiell selbsttragende Struktur des authentischen Selbst.5 Authentisch erscheint des Selbst aber vor allem durch den Rigorismus des Eigensinns. Was sich so einfach wie gut anhört, entpuppt sich als eine schwer greifbare Angelegenheit. Auf der einen Seite wird der menschliche, zivilisatorische und evolutionäre Fortschritt gefeiert. Das Subjekt ist freigestellt von Zwecken der Gattung und zunehmend auch von einer moralischen Inanspruchnahme durch die soziale Welt – es ist ganz auf sich selbst verpflichtet. Für das authentische Subjekt zählen allein die Erfordernisse seiner inneren Natur, zu deren Kenntnis und Förderung es aufgerufen ist. „Kennen Sie Ihre wichtigste Lebensaufgabe? Das sind Sie selbst! Denn die Lebens1 2 3 4 5

Dyer (1977), 136. Scheitlin (1977), 231. Maltz (1962), 160, Hervorhebung von uns. Beer (1978), 30. Die Selbstentfaltung als kybernetischer Regelkreislauf suspendiert nicht die Eigentätigkeit des Subjektes, aber es verortet sie innerhalb einer Abfolge von autonomen Regelgrößen. Die aktivische Haltung des Subjektes ist daher ein Teilzeitzustand, ein an- und abstellbarer befristeter Daseinsmodus.

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und Leistungsfähigkeit jedes Menschen hängt doch in erster Linie von der Entwicklung und Entfaltung seiner eigenen Persönlichkeit ab.“6 Authentisch ist für die Ratgeber der zweiten Epoche dasjenige Subjekt, was die Fesseln, die der eigenen Natur durch Verstandesherrschaft und Pedanterie angelegt worden sind, lösen und zugleich die inneren Regungen innerhalb eines sozialen Verkehrs zirkulieren lassen kann, d.h. sie einzulösen imstande ist. Auf der anderen Seite muss das Natürliche und Authentische der eigenen Erziehung und der Gesellschaft laut den Texten erst abgerungen werden. Dass die Menschen zu sich selbst kommen, ist also der Höhepunkt eines vielschichtigen und auch widersprüchlichen Prozesses zwischen Selbstverwirklichung und Selbstbehauptung. Das In-Deckung-Bringen von eigensinnigen Verhalten und verflüssigender Haltung zum eigenen Selbst gilt den Lebensratgebern der 1960er und 1970er Jahre als Mutterboden einer glücksproduzierenden Gesamtstimmigkeit. Daran halten alle Texte fest. Nur vor dem Hintergrund sich selbst regelnder kybernetischer Systeme erscheint die Kombination von Authentizitätsimperativ und Technizismus verständlich. In Bezug auf die sozialen Interaktion ist dem authentischen Individuum in den 1960er Jahren die freie Interaktion mit seinen Mitmenschen versprochen; sowohl frei von Sozialisationsblockaden und Erziehungshemmnissen als auch frei von den normativen Setzungen der Außenwelt. Sie klären die Einzelnen und damit indirekt die Gesellschaft über die Grundmechanismen des Sozialen auf. Darin steckt auch ein Moment von Fortschrittsdenken. Das soziale Wissen hat denselben Charakter und Anspruch wie das kybernetisch-technizistische. Alles Psychologische gilt den Texten, wie wir im Abschnitt über die Diskurse der Zeit besprechen werden, als gesellschaftlich wie wissenschaftlich avantgardistisch. Die Bewertung der durch soziales Wissen aufgeklärten Zustände fällt bis zur Mitte der 1970er Jahre durchweg sehr optimistisch aus. Umso vehementer weisen Kirschner und Dyer auf die versteckte „Tyrannei“ des sozialen Alltags hin und kehren der Gesellschaft und dem sozialen Fortschrittsdenken zumindest teilweise den Rücken. Gemessen an ihren hohen Verkaufszahlen haben sie einen wunden Punkt in der gesellschaftlichen Stimmung getroffen. Insgesamt heißt das, dass Freiheit zwar allen Autor/innen wichtig ist, aber entweder unbestimmt bleibt oder negativ bestimmt wird. Das entfaltete Subjekt lebt im Idealfall frei: frei von Zwängen, Ängsten und krankmachendem Minderwertigkeitsgefühl. Besieht man sich die Deskriptionen der Idealsubjekte in der zweiten Epoche genauer, fallen verschiedene Aspekte ins Auge. Die Authentizität des Subjektes, dem ja gerade dadurch Leben eingehaucht wird, dass es sich frei von äußeren Zuschreibungen entfalten soll, haftet eine dezidierte Normativität des Guten und Gesunden an. Der Psychotherapeut Wayne Dyer listet auf mehr als 14 Seiten 37 Merkmale eines reifen Individuums auf. Er scheut sich nicht, ins Detail zu gehen und den Leser/innen so eindringlich vor Augen zu halten, auf welches Ziel hin die Natur sich „frei“ zu entfalten hat.7 Prominent sind Selbstliebe, Liebe zum Leben und Selbstgenuss sowie Freude an Aktivität („müssen bestimmte Situationen radikal verändert werden, dann unternehmen sie Anstrengungen, sie zu verändern – und genießen die Anstrengungen noch obendrein“)8 und Natürlichkeit („Als Menschen sind sie Naturalisten, unver6 7 8

Endres (1979), 17. Vgl. Dyer (1977), 246ff. Ebda., 245.

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fälscht und ehrlich, und sie lieben die Natürlichkeit der Welt.“) 9. Diese Individuen, die keine „Null-acht-fünfzehn“-Typen sind,10 zeichnen sich auch durch eine Überwindung gängiger Neurosen aus.11 Sie klagen nicht, wünschen nichts und sind zudem umfänglich interessiert, sie ignorieren kleinliche Regeln, können lachen und verbreiten Heiterkeit. Sie akzeptieren die Natur, das Wetter und die Wechselfälle des Lebens. Sie verspüren weder eine Abneigung gegen irgendeine Tätigkeit noch stürzen sie sich in unnütze Kämpfe. Sie denken nicht in Stereotypen, kränkeln nicht und sind niemals verblüfft oder verunsichert.12 Die Kybernetiker/in Birkenbihl hat zwei ähnliche Listen. Die erste ist eine eher anschauliche Beschreibung des erfolgreichen Menschen mit 15 Aspekten, die zweite eine Checkliste mit zwölf Eigenschaftsblöcken am Ende des Buches. In beiden Aufstellungen kann die „Erfolgreiche“ ihre Gefühle authentisch ausdrücken13 und „braucht sich nicht mehr hinter einer Maske oder Rolle zu verstecken“.14 Sie ist aufgeschlossen, „aktualisiert sein inneres Ich, bei voller Nutzung innerer Qualitäten und äußerer Gegebenheiten“,15 außerdem ist sie eigenverantwortlich, liberal, realistisch und problembezogen und relativ unabhängig, aber zugleich auf andere bezogen.16 Allen Charakteristika, liegt ein gutes „Selbstwertgefühl“ zugrunde, „die zentrale Instanz unseres Lebens.“17 Solche Listen sind typisch für die Epoche und ersetzen ein Stück weit eine Realfiktion in Form eines narrativen Typus. Diese narrative Landschaft bevölkern Subjekte, die über eine spezifische Form von (entfaltungsfähiger) Natur verfügen, und keineswegs einen individuellen Schöpfungs- oder Formungsprozess nötig haben. In dieser ist weder ein Platz für Gewalt und Destruktivität noch Phlegma und Schwäche vorgesehen. Sie ist ein Herbarium des Integren, Anständigen und Redlichen. Wenn man diese Natur lässt, wachsen aus ihr – ohne größeres eigenes Zutun – die Blumen der Menschenliebe und intuitiver Intelligenz. Kurzum, die Teleologie ist organismisch und positiv. Zum anderen fällt bezüglich der Deskriptionen von idealer Subjektivität ihre anspruchsvolle Umfänglichkeit auf. Drei Elemente sind charakteristisch: Erstens vereinen sie durchaus kontrastierende Eigenschaften. Bei Birkenbihl sind dies Realismus und Konzentration auf konkrete Ziele mit Spontaneität18 und Genuss im Augenblick,19 bei Dyer Anstrengung und entspannter Selbstgenuss. Man soll natürlich sein, aber definitiv auch anders als die Masse. Alle zentralen Eigenschaften sind zweitens nach oben offen (wie Selbstwertgefühl und Eigenverantwortung) bzw. müssen ständig performiert werden (wie Spontaneität und Authentizität). Der dritte und schwierigste Aspekt ist jedoch, dass all diesen Eigenschaften das Moment des Leichten und Natürlichen anhaften muss. Die Anstrengung muss für Dyer lustvoll sein, die Leis9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19

Ebda., 251. Ebda., 244. Ebda., 253. Vgl. ebda., 244ff. Birkenbihl (1974), 170. Ebda., 26. Ebda. Ebda. Ebda., 149. Ebda., 31. Ebda., 25.

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tung soll bei Birkenbihl zwar steigerbar sein, aber trotzdem soll das Subjekt jeden Abend „für heute“ mit ihr zufrieden sein.20 Die Teleologie ist folglich hochgradig ambig und offen für Steigerungsimperative. Einige Lebensratgeber feiern das authentische Subjekt fast ein wenig so wie in früheren Zeiten den Willenshelden. War dieser ein Fanal schierer Persönlichkeit, so sind jene die Fackelträger gesteigerter Individualität. „Wir geraten in einen neuen Zustand des Seins, da nun jede Schranke und jede Schablone gewohnten Denkens überflüssig geworden ist. Wir sind mit uns wieder eins und können die entstandene Leere mit einer entsprechenden Erkenntnis erfüllen, die uns dem eigenen Wesen und dem der Wünsche allgemein näherbringt.“21

Die Persönlichkeit der Willensschulen war noch dazu angehalten, im Öffentlichen Großes zu wirken und sein Privates geheim zu halten. Das authentische Individuum hingegen verstoffwechselt seine intime Natur gerade im sozialen Prozess. Es macht seine innersten Regungen kommunzier- und sichtbar, sein Leiden, seine Schwäche, und bezieht seine Größe daraus, den Anforderung seiner neuen Häuslichkeit gerecht geworden zu sein. Die Realfiktion des authentischen Individuums bezieht ihren Reiz aus der Gleichzeitigkeit von Natürlichkeit und Technizismus, von Glücksanspruch und Fortschrittsorientierung, von liberaler Individualität und sozialer Kompatibilität.

4.2 INNERE STRUKTUR DER TELEOLOGIE Wie im Autor/innen-Leser/innen-Verhältnis und in den Anrufungsstrategien deutlich geworden ist, geben sich die Texte der zweiten Epoche durchweg optimistisch, demokratisch, niederschwellig und individualistisch. Für die Subjektteleologie setzt sich dies wie folgt um: Diese ist erstens optimistisch, was die Machbarkeit der gelungenen Selbstführung angeht. Zwar sind verschiedene Techniken nötig, um das Subjekt auf den Weg der Selbstentfaltung zu bringen, aber letztere ist in der Subjektstruktur selbst angelegt. Der Optimismus des Wachstums unterstützt ein liberales Selbstverhältnis. Er setzt in Weg und Ziel auf Freiheit und Freiwilligkeit statt auf Zwang. Die Teleologie ist außerdem ihrem Anspruch nach demokratisch. Es geht darum, dass sich die Eigenart einer jeden Person, ihr Eigensinn und ihr ganz persönlicher Selbstausdruck unabhängig von den anderen realisieren können. Gleichzeitig betont die zweite Epoche die große Bedeutung der anderen für eine geglückte Selbstverwirklichung. Vor allem aber ist die Teleologie niederschwellig angesetzt. Alle haben ihre individuellen Ziele, ihr eigenes Tempo und ihren inhärenten Maßstab des Gelingens. Die Texte raten bisweilen explizit davon ab, sich auf äußere Ziele wie materiellen Gewinn oder sozialen Status auszurichten. Ähnlich formuliert Ulene: „Sich wohl fühlen bedeutet nicht, den Körper eines Filmstars zu haben oder die Kraft eines Athleten. Es 20 Ebda. 21 Ryborz (1977), 305.

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erfordert nicht, daß Sie alte orientalische Meditationstechniken meistern oder die Lebensgewohnheiten eines Heiligen haben. Vergessen Sie die Versprechungen absoluter Fitness. Vergessen Sie die absolute Selbstkontrolle. Vergessen Sie die absolute Entspannung. Nur wenige von uns sind zu diesen Zuständen befähigt – aber wir alle haben die Fähigkeit, uns wohl zu fühlen.“22 Insofern geht die Demokratisierung über in eine Bewegung der Pluralisierung und einer spezifischen Form der Individualisierung. Das Individuum zu verteidigen, ist der Ausgangspunkt der Problematisierungen, es ist auch der Horizont der Teleologie. Nur sein eigenes Glück, seine eigene Freiheit und sein eigener Erfolg zählen, auch wenn es dies innerhalb eines sozialen Geschehens umsetzen muss und auf andere verwiesen bleibt. Dieser Individualismus macht die Selbstführung ab den 1960er Jahren in hohem Maße selbstreferentiell. Trotz des demokratischen Grundanspruches formulieren die Texte keine sittliche Grenze des eigenen Entfaltungsstrebens, keine Verpflichtung aufs Gemeinwohl oder gängige soziale Normen (wenngleich, wie wir gesehen haben, das Modell einer störungsfreien Natur eine ganze Welt an normativen Setzungen mit sich führt). Der Mensch, der sich der Selbstverwirklichung verschrieben hat, konstatiert Birkenbihl, „unterwirft sein Leben frei akzeptierten ethischen und moralischen Grundsätzen“.23 Hier lässt sich ein klarer Bruch zur Anfangszeit der Lebensratgeber markieren. Die Teleologie der 1960er und 1970er Jahre verschreibt sich also kompromisslos dem zeittypischen Topos der Entfaltung der Individualität. 4.2.1 Selbstausrichtung: Organisches Wachstum und dezentralisierte Selbststeuerung Die notwendige Form der Arbeit der Zielsubjekte an sich und ihrem Leben findet sich in dem Modell der Steuerung. Das strategische Moment der Teleologie ist ganz anders gelagert als in den frühen Lebensratgebern. Es orientiert sich weder sprachlich noch systematisch an der militärischen Kampagne. Gerade das Beherrschen-Wollen bringt ja die Systeme an den Rand des Kollaps. Die Strategie ist gerade eine des InRuhe-Lassens. Es ist eine Strategie der Steuerung eben nicht im Sinne der konstanten Kontrolle und Nachbesserns im Detail, sondern des relativen laissezfaire. Gerade wenn die Entfaltung einmal in Gang gekommen ist, soll nur noch so viel gelenkt werden wie unbedingt nötig. Eine Aktivität entfaltet sich nur an der Peripherie des Selbst – das Subjekt hat keinen direkten Bezug zu den schöpferischen Kräften, es ist nur ihr Empfänger.24 Steuerung ist also das zentrale Momentum der 1960er und 1970er Jahre. Gesteuert werden dynamische Totalitäten, die alle zueinander in einem Verhältnis komplexer Wechselwirkungen stehen: Der eigene Organismus (betont bei Gaschler), das Unbewusste (bei Hull und Birkenbihl), letztlich auch das Soziale (z.B. Beer). Diese undurchsichtige Anlage macht das Steuern zu einer diffizilen Angelegenheit. Das 22 Ulene (1978), 12. 23 Birkenbihl (1974), 168. 24 Auch wenn die Texte den Verstand in der Regel geringschätzen, bedarf gerade die Steuerung zweier kognitiver, bewusster Momente: Der eine besteht darin, die eigenen Muster zu erkennen und zu durchschauen, und der andere im gekonnten, gut abgewogenen Zugriff auf die unbewussten Kräfte.

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Subjekt ist Förderer und Anwalt, Günstling und Objekt einer Struktur, die sich gerade in Unabhängigkeit von seinem aktiven Zutun entfaltet. Es ist aber damit in gleichem Maße aus dem Zentrum seiner Transformation herausgerückt. Die Teleologie folgt keinem Programm bewusster, manchmal sogar gegen die eigenen Neigungen formulierter Zielsetzung, sie kommt dem Subjekt von allein zu, wenn es auch eines aktiven Moments des Zutuns bedarf. Das organische Wachstum des Individuellen folgt daher einer Logik der Autoteleologie. Das Subjekt nimmt folglich eine abseitige Rolle im Hinblick auf die Quelle und Stärke der ihm zukommenden Kräfte – seiner Bedürfnisse – ein. 4.2.2 Dynamische Architektonik: von der Pyramide zum Tableau der Bedürfnisse Die Arbeit an sich vollzieht sich konkret anhand eines Tableaus von Bedürfnissen.25 Sie sind der sichtbare Ausdruck des Individuellen. Es liegt hier eine fundamentale Neuerung vor, und zwar in der Konzeption des Menschen als Bedürfniswesens. Der Mensch ist in der zweiten Epoche der Lebensratgeber bestimmt durch seine Bedürfnisse, diese machen seine Grundstruktur als Mensch aus. Gleichzeitig individuieren sich Menschen aber auch über ihre Unterschiedlichkeit, was die Gewichtung ihrer einzelnen Bedürfnisse angeht. Durch alle Texte hindurch gelten Bedürfnisse ohne Einschränkung als positiv, ihre Existenz als unbestreitbar. Ihr Zustandekommen ist sowohl eine spontane und vitale Bekundung der inneren Natur als auch ein Formungs- und Herstellungsprozess, der – wie wir gesehen haben – auf bestimmte Techniken der Vorstellungslenkung zurückgreift. Sie sind sowohl Ausdruck einer gewährenden und liberalen Haltung des Subjektes zu sich selbst als auch Ausdruck einer inneren Demokratisierung. Das Konzept des Bedürfniswesens ist zentral für eine neue, amoralische Perspektive auf das Selbst und die inneren Antriebe. Schädigende Antriebe ergeben sich eher aus unterdrückten oder verformten Bedürfnissen. Freigesetzte Bedürfnisse wiederum gelten als Garanten der Selbstbestimmung. Wer seine Bedürfnisse erkennen, kommunizieren und ihre Verwirklichung betreiben kann, scheint in eine höhere Reifestufe der Persönlichkeitsentwicklung eingetreten zu sein. Die Selbstführung der Subjekte über die je individuelle Bedürfnisstruktur scheint auf das Hervorragendste den Führungsmodus dieser Zeit bedienen zu können. Anders als den Zielen muss man den Bedürfnissen weder ihre Richtung vorgeben noch sie mit einem affektiven Schwung ausstatten. Bedürfnisse haben ihre eigenen Antriebe und Kräfte, sie sträuben sich dagegen, wenn man ihnen ein willentliches, „vernünftiges“ Ziel geben will. Sie scheinen zudem frei von fremden Zwecken zu sein und allein den Einzelnen selbst zu gehören. Auch den Ansprüchen nach zeitlicher Sparsamkeit und konkreter Sinnerfüllung können die Bedürfnisse entsprechen: eingelöste Bedürfnisse sind nicht nur ein weiterer Schritt auf ein fernes Ziel hin, sondern selbst schon (zumindest teilweise) eingelöstes Gesamtziel, nämlich eingelöster Glücksgewinn. Bedürfnisse geben Sinn und Richtung, sie fungieren als eine Art Landkarte der Selbstentfaltung. Hier neigen die Texte zu sprichtworthaften, im 25 Kirschner führt z.B. fünf „Bedürfnisebenen“ an: 1. physiolog. B.; 2. Sicherheit; 3. soziale B.; 4. Anerkennung; 5. „Persönlichkeitsentwicklung“ und fragt: „Wie holen wir in jeder dieser fünf Ebenen das beste für uns heraus?“ Kirschner (1976), 89.

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Grunde redundanten Beschreibungen: „[D]er schönste Erfolg ist also wohl darin zu erblicken, dass Sie selbst zum Erfolg werden.“ 26 An der Spitze der Bedürfniserfüllung wird das Individuum ganz auf sich selbst verwiesen. Gleichwohl viele Lebensratgeber die von Abraham Maslow etablierte pyramidenförmige Hierarchisierung aufnehmen und adaptieren, tendieren insbesondere die Lebensratgeber der späten 1970er Jahre zu einer Auflösung der starren, anthropologisch fixen Rangfolge. Auch hierin lässt sich ein Moment der Demokratisierung und Individualisierung sehen, nämlich darin, dass die Einzelnen ihre eigenen Schwerpunkte selbst auswählen können. 4.2.3 Glücklich leben zwischen Selbstentfaltung und Selbstgenuss: die Versprechungen der zweiten Epoche Die Texte sind sich einig, dass das sich selbst richtig führende Subjekt das Glück des Augenblicks genießt, die Freude an der natürlichen Aktivität und das Gefühl der Stimmigkeit. Damit gewinnen Gegenwart und Glück eine bedeutende Rolle. Das Subjekt „lebt das Leben“, es „erlebt jeden einzelnen Tag“, sagt Birkenbihl.27 Die zeitliche Dimension ist entscheidend. Glück muss unmittelbar einlösbar sein und es wird nur als konkrete, gegenwartsbezogene Modalität des Daseins erlebbar und nicht als ein Ideal. Beer sieht die Glück abwerfende Selbstführung darin, „jeden Augenblick zu wissen und zu tun, was ich wesentlich finde“.28 Bei Gaschler gibt es sogar eine Komplementarität zwischen einer diesseits- sowie augenblicksbezogenen Wahrnehmung des Menschen und seinem Glücksempfinden. Glück ist eine zentrale Kategorie der Teleologie. Ihm kommt aus drei Gründen eine wichtige Funktion zu: Erstens ist es legitimes Ziel der Lebensführung, Teil der Trinitas von Glück, Gesundheit und Lebendigkeit. Es ist individuell – niemand kann einer anderen Person sagen oder gar vorschreiben, was sie glücklich macht. Nicht objektive Kriterien, sondern eine gefühlte Stimmigkeit sind der Maßstab gelungener Selbstführung. Umgekehrt sind Unglück, Krankheit und Passivität deutliche Anzeigen einer misslungenen Lebensführung. Das Glück individualisiert die Menschen insofern, als dass dasjenige Leben, welches die einen glücklich und lebendig macht, für die anderen eine Quelle ständigen Leidens ist und ihnen die Lebenslust raubt. Die gefühlte innere Stimmigkeit, die der einzige Ankerpunkt für das Gelingen der Selbstführung ist, kann somit auch zum Grund der tiefsten Unruhe werden: Schließlich haben die Texte problematisiert, dass die unnatürlich Aufgewachsenen ihrem Gefühl nicht trauen können, bis sie sich ausreichend befreit haben. Was aber, wenn der einzige Hinweis auf eine gelungene Befreiung wiederum ein Gefühl ist? Zweitens ist Glück nicht nur ein fernes Ziel der guten Selbstführung, sondern auch konstanter Anstoß eines guten Umgangs mit sich selbst. Glück, Gesundheit und lebendige Aktivität sind ein Feedback gut eingespielter Selbststeuerung.29 Gerade die gefühlte Stimmigkeit und unmittelbare Lebensfreude sind die harten Kriterien dafür, 26 27 28 29

Ryborz (1977), 314. Birkenbihl (1974), 25. Beer (1978), 10. Genaueres zur Bedeutung des Feedbacks und der Steuerung wird in Abschnitt 2.3 behandelt.

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ob sich ein Individuum richtig führt. Viele der Ratgeber der zweiten Periode gestehen den Individuen ein großes Potenzial an Selbstveränderung zu. Glück und Gesundheit aber können nie durch Programmierung oder Manipulation hergestellt werden. Anders als später in den 1990ern kennen die 1960er und 1970er Jahre keine eigentlichen Glückstechniken, also Techniken, die unmittelbar Glücksgefühle hervorrufen sollen. Dies ist eben deshalb der Fall, weil Glück das Resultat einer Stimmigkeit ist: dass die Menschen dasjenige Leben führen, das sie sich wünschen. Drittens ist Glück aber nicht nur Ziel und Ausdruck gelungener Selbstführung, sondern auch Mittel zum Zweck. Denn nur, was glücklich getan wird, wird in der Regel auch gut getan. „Das menschliche Nervensystem ist von Natur aus auf Glückserleben eingestellt. Es funktioniert nur dann einwandfrei, wenn sich der Mensch glücklich fühlt. Auch die körperlichen Organe und Organsysteme funktionieren nur dann einwandfrei und ungestört, wenn sich der Mensch glücklich fühlt. Wissenschaftler haben sogar festgestellt, dass die Sinnesorgane und auch die geistigen Fähigkeiten nur beim glücklichen Menschen voll funktionieren.“ 30 Glück ist in dem oben beschriebenen Sinne keine freie Ressource der Selbstführung, sondern vielmehr der große Indikator gelungener Selbstentfaltung. Es ist die finale Selbstvergewisserung der Kursstabilität selbststeuernder Systeme, sprich: eine Selbstvergewisserung, endlich man selbst zu sein.

4.3 ZUSAMMENFASSUNG Individualität, Authentizität und Eigensinn sind das zentrale Movens der Teleologie in der zweiten Epoche. Sie erweisen sich als ein widersprüchliches Amalgam von Eigenaktivität und selbsttragender Struktur, von freiem Selbstentwurf und einer Normativität des Guten, von selbstreferentieller Glücksorientierung und einer Apologie der Zweckorientierung, von Demokratisierung und Praktiken der Verschleierung und Manipulation. Gelingendes Subjektsein heißt in der Teleologie der zweiten Epoche, eine nach außen kommunizierbare Stimmigkeit zwischen diesen Bestimmungen des Subjektes herzustellen. Eine Stimmigkeit, die sich nach außen als Authentizität erkennbar zeigt, erscheint im Innern als Glück und Gesundheit. Eigensinnig zu leben heißt, seiner tendenziell autoteleologischen Grundverfassung in Form von Bedürfnissen Ausdruck zu geben, ohne sich von moralischen Imperativen und einer als heteronom aufgefassten gesellschaftlichen Wirklichkeit (in Gestalt einer Herrschaft des Rationalen) einschnüren zu lassen. Insofern ist Eigensinnigkeit der einzige Weg zum Glück. Diese Verzahnung von Eigensinn und Glück ermöglicht in den Augen der Lebensratgeber dieser Zeit eine autonome Selbstführung. Autonomie erhält sich gerade durch gelungene, und das heißt: zurückhaltende Steuerung. Paradoxerweise gehen deshalb Eigensinn, Authentizität und Autonomie mit einer Art Abseitsstellung des Subjektes einher. Zwischen den inneren Impulsen (Bedürfnissen, Gefühlen und Eingebungen) wie den bereits präformierten natürlichen Grundstrukturen auf den einen Seite und einem Modell der Steuerung von Systemen durch Systeme bleibt kein Platz für ein durch Vernunft, Wille und Sittlichkeit zusammengehaltenes Subjekt.

30 Gaschler (1966), 24.

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Analytische Zusammenschau Innere Dynamik und Machtaspekte der zweiten Epoche der Selbstführung

5.1 WIDERSPRÜCHE UND OSZILLATIONSFIGUREN In der zweiten Epoche finden sich die zentralen Widersprüche entlang der Achse von organischer Freiheit und technischer Herstellbarkeit. Dies betrifft sowohl die diskursive als auch die strategische und technische Ebene. Die andere große Oszillationsfigur betrifft das Verhältnis zu den anderen. 5.1.1 Organische Freiheit und technische Herstellbarkeit Die Selbstführung der zweiten Epoche besitzt eine widersprüchliche Dynamik. Sie bewegt sich strategisch auf Feldern, die von zwei Seiten eingegrenzt sind. Auf der einen Seite stehen der freiheitlich-individualistische Impetus, die Betonung des Irrationalen und des Organischen, auf der anderen eine Betonung des Verstandes und des Rationalen bei der Planung und Kontrolle der Prozesse. Zu dieser Seite gehört auch das prävalente, aus der Kybernetik stammende Modell der Steuerung. Diese Opposition zieht sich durch alle Ebenen: von der diskursiven über die der Techniken und ihrer Einübungsweisen bis hin zu der strategischen Ebene, namentlich den Problematisierungsweisen und der Teleologie. Die Texte sprechen deutlich vehementer und ausführlicher über die erste Seite (individuelle Freiheit, Überwindung des Verstandes, organische Selbstentfaltung), während die andere (Vorschriften, Rationalität, Steuerung) sich eher unter der Hand in den spezifischen Themenbereichen findet. Nichtsdestotrotz stellt diese zweite Weise einen zentralen Bestandteil der Kernstruktur der erneuerten Selbstführung dar. Besonders deutlich treten sie dabei als Instrumente hervor, die Aporien zu überwinden, die sich aus einer Hermeneutik des Verdachts gegenüber jedweder Form der Fremdbestimmung ergeben. Die Übungsprogramme sind vorgeschlagene Arrangements, zu denen sich die Einzelnen verhalten können, ja, in der individualisierten Aneignung besteht ein zentrales Moment der Aktivierung. Die passive Grundausrichtung des Übungsprogramms wird hier also schon von Anbeginn durch eine notwendig aktivische Grundausrichtung kontrastiert. Das passive Genus vieler Techniken wird gerade gegen Ende der 1970er Jahre zunehmend eingeschränkt. Techniken wie das Brainstorming nutzen zwar die Kräfte des Unwillkürlichen und Assoziativen, aber sie takten den Gebrauch

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immer mehr ein. Sie legen inhaltliche Richtung und zeitliche Rahmen der Äußerungen des Unbewussten fest.1 Es geht also nicht nur darum, auf der technischen Ebene alles sich selbst zu überlassen, sondern das Unwillkürliche mit konkreten Vorgaben zur Tätigkeit anzuregen. Das laissezfaire bleibt ein relatives. Und gerade am Anfang der Selbstführung kann das Subjekt nicht sich selbst überlassen bleiben. Das Selbst, auf das die Texte nach eigener Aussage treffen, bedarf nämlich größerer Umbauarbeiten. Diese sind zwar auf ein freieres und spontaneres, eigensinniges und nur sich selbst verpflichtetes Individuum hin ausgerichtet. Das Zielsubjekt transzendiert das Übungsprogramm: Das Programm zielt darauf, nicht mehr nötig zu sein; aber nicht im Sinne einer Meisterung durch diszipliniertes Training wie in den frühen Ratgebern, sondern durch enge Tuchfühlung mit den eigenen natürlichen Abläufen. Aber was Ausdruck einer vermeintlich lebendigen Vitalität ist und was Zeichen einer durch die soziale Welt eingeschliffenen Unfreiheit, ist kaum für den Übenden zu erkennen. Was ist ein wahres, was ein falsches Bedürfnis? Steht der Ordnungssinn auf der Seite einer selbstregulierenden Natur oder ist er Kennzeichen für verkrampfte Kontrollsucht? Wie soll Natur von Kultur unterschieden werden, wenn die Natur – im dargestellten Sinne als Herbarium des Redlichen – hochgradig vergesellschaftet erscheint und die Natur – im Sinne von Konkurrenz- und Leistungsdenken – wiederum die Zeichen des Natürlichen eingeprägt sind. Die Lebensratgeber geben keine festen Kriterien in die Hand – und dürfen ihres Anspruches nach dies auch nicht tun, aber dadurch gerinnt die Aufforderung zur Natürlichkeit zu einer wechselvollen, unabschließbaren Verdachtspraxis. Dem Glücksgefühl die Entscheidung darüber zu belassen, setzt nicht nur ein ungeheures Urvertrauen in die Weisheit der Steuerungsmechanismen voraus, es verschiebt diese widersprüchliche Adressierung des Subjektes nur auf die Ebene des Affektiven. Ähnlich lässt sich dieselbe Konstellation auch vom Aspekt des Rationalen und Irrationalen her beschreiben. Der rationale Verstand steht im Zentrum der Kritik der zweiten Epoche. Er steht für vieles, was sowohl auf gesamtgesellschaftlicher Ebene wie auch auf der Ebene der individuellen Selbstführung falsch läuft und auch schon lange falsch gelaufen ist. Die Freiheit ist immer auch eine Freiheit vom allzu eingeschränkten Verstandesdenken. Das Unwillkürliche und Organische, die Phantasie und das Gefühl ins Zentrum der persönlichen Lebensführung zu rücken, darauf richten sich die Programme nach eigener Aussage aus. Dabei fallen sie doch gerade bei den Galionsfiguren der neuen Selbstführung, namentlich beim Unterbewusstsein und der Phantasie, ein Stück weit in einen Technizismus und Instrumentalismus zurück. Auf diskursiver Ebene neigen sie zu simplen und mechanistischen Darstellungen, die an Diagramme Newtonʼscher Mechanik erinnern. Obwohl die Darstellungen nur symbolisch sein sollen, wecken sie doch das Vertrauen in die Einfachheit und Verlässlichkeit des Angebotenen. Niessen schlägt vor, mit dem Unbewussten so zu reden wie mit einem unliebsamen Hausangestellten, während Wiedemann sich nicht zu schade ist, von den Heinzelmännchen zu sprechen. Damit ist zwar die Gefahr der intellektuellen Überforderung der Leser/innen gebannt, nicht aber die Reduktion des anthropologischen Fundamentes auf ein – gelegentlich als hochkomplex – meistens aber simpel, immer jedoch mechanisch vorgestelltes Systems. Das Unterbewusste der

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Kirschner (1976), 44f.; Beyer (1979), 69 und Scheitlin (1977), 185ff.

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frühen Ratgeber, die insgesamt einen eher nüchternen Ton anschlugen, ist hingegen ein viel geheimnisvollerer und unbestimmterer Ort. 2 Das Unterbewusste der zweiten Epoche ist programmierbar wie ein Computer. Mehr noch, Unterbewusstes, Computer und Gehirn werden zur Deckung gebracht. Die bildlichen Einfälle und problemlösenden Traumbilder erscheinen wie Endausgaben eines Großrechners, nur eben nicht in Zahlen und Sätzen, sondern in Zeichen und Formen. Die Natur des Menschen ist kein verborgenes Wirken von Triebschicksal oder Begierden, von Wille und Macht, sie hängt vielmehr der nüchternen Rationalität eines binären Rechensystems an. Damit verliert die „Natur“ deutlich an ihrer scheinbar apriorischen Objektivität und neutralen Urteilskraft – sie wird selbst zu einem zeitspezifischen Gebilde. Der Zugriff auf sie darf entsprechend instrumentell sein. Auf der Ebene der Techniken wird den Leser/innen oft wenig zugetraut, was ihre Phantasie betrifft. In einer Visualisierungsübung von Petrie und Stone hat die Phantasie nur die Aufgabe, sich eine Tafel mit Zahlen vorzustellen, um das Unterbewusste in die Entspannung einzubeziehen.3 Ähnlich werden ans Unterbewusste häufig Dienstaufträge ausgeteilt, die nur in Bildsprache codiert sein dürfen. So schreibt Wiedemann, im „Unterbewußtsein“, den „tiefen Gewölben“, „bereiten unterbewußte Kräfte, fast wie geheimnisvolle Heinzelmännchen, sehr viel zur Denkarbeit vor. Sie suchen aus dem Gedächtnis das Passende heraus“. 4 So vielfältig und bildlich diese Darstellungen wirken, so sehr halten sie an einem System der Ein- und Ausgabe fest. Damit laufen die Autor/innen aber jener kybernetischen Aufklärung zuwider, welche die Komplexität, Sensibilität und Reflexivität der Systeme betont. Die Funktionsweise wird in geradezu simplizistischer Weise anschaulich gemacht. Gleichzeitig wird das Unbewusste als hochkomplexe Anlage dargestellt. Die Texte unternehmen keinen Versuch, diese Differenz zu überbrücken. Es geht aber auch außerhalb dieses Subtyps nicht wirklich darum, mit Leib und Seele eine Träumer/in oder gar eine Traumreisende/r zu werden, sich mit viel Lust und wenig konkreten Zielen ans Phantasieren zu machen oder sich in phantastische Literatur zu stürzen. Technizistische, rationale Strukturen und antirationaler Impetus bleiben somit in letzter Konsequenz unvermittelt. Die genannten Gegensätze koexistieren aber nicht nur unthematisiert, sondern verweisen aufeinander. Wachstum und Selbstentfaltung bestimmen den Jargon der Ratgeber seit Anfang der 1960er Jahre. Gleichzeitig beginnt die Rede von Steuerung und die Einführung und Vorherrschaft von kybernetischem Vokabular im Allgemeinen. Wachstum und Steuerung sind explizit aneinandergeknüpft. Wachstum wird somit eben doch nicht als schlichte Entfaltung impliziter Anlagen interpretiert, sondern als etwas, in das man hier und da regulierend eingreifen kann und muss. Insofern sich die Texte überhaupt mit dem Verhältnis der beiden Bezugssysteme ausein2

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Zeddies Rede vom Unbewussten hat wenig gemein mit einem mechanistischen Entwurf. Für ihn ist das Unbewusste ein Ort der Begegnung mit sich, mit der Welt und dem, was sie zusammenhält. „Da treten wir in Verbindung mit dem Weltwesen, mit dem Unbekannten, Namenlosen“; ein „Entgleiten unseres Ich“ wie „Meister Eckehard“ es beschreibt, findet in diesem unbestimmten und unbegrenzten Raum statt. „Wir fühlen uns aufgeladen […] mit kosmischer Energie“; alle Zeddies (1936), 263. Vgl. die Diskussion im Technikteil zu Petrie/Stone (1975), 33. Wiedemann (1963), 30.

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andersetzen, scheinen sie eine Identität von Organizität und Regelkreislauf-Systemen zu behaupten. Allerdings impliziert die Sprache vom Wachstum, die die Texte benutzen, die Entfaltung eines guten und natürlichen Kerns, einer Substanz der Persönlichkeit. Dagegen kennt das Vokabular der Steuerung keine derart manifesten und überkomplexen Entitäten, sondern im Grunde nur Systeme und Subsysteme. Damit entfällt auch die für die Ausrichtung der Selbstführung so zentrale Unterscheidung zwischen Eigenem, Originären und Fremden, Überformendem. Alle Eingaben ins System sind eben Eingaben, das Außen hat nur eine relative Bedeutung. Wie lässt sich also die zentrale Kategorie des Eigensinns bewahren, wenn alles nur Eingaben (Selbst- oder Fremdeingaben) sind, die nur hinsichtlich der Erwünschtheit ihrer Wirkung unterscheiden und gewertet werden können? Auf technischer Ebene sind sie jedenfalls nicht voneinander zu unterschieden und auch in den strategischen Aussagen der Ratgeber bleibt diese Problematik unbeleuchtet. 5.1.2 Mehr Demokratie wagen? Selbst- und Fremdführung in der zweiten Epoche Es gibt in den Texten den zweiten Epoche eine Korrelation von innerer und äußerer Demokratisierung. Die innere zeigt sich in dem nicht-hierarchischen Modell von Bedürfnissen und in der horizontalen Anordnung der Techniken. Die äußere liegt in der Interaktion mit anderen. Die Texte schreiben der entwickelten Persönlichkeit auch eine soziale Anziehungskraft und natürliche Führerrolle zu, dies aber gerade, insofern sie auf die anderen eingeht und mit ihnen in unmittelbaren Austausch geht, insofern sie ihre Bedürfnisse kennt und Verantwortung für sie übernimmt. Ausführlich diskutiert wird dieser Zusammenhang von Selbstführung und Führung einer Gruppe nur bei Scheitlin, Endres und Beer. In ihren Darstellungen liegt aber eine konsequente Weiterführung des demokratischen Impetus der 1960er und 1970er Jahre. Nicht in ihrer Unnahbarkeit und Erhabenheit, sondern in einem kommunikativen Umgang auf Augenhöhe liegen die Führungsqualitäten einer solchen Persönlichkeit. Sie tritt nicht charismatisch herrschend – mit einer scheinbar natürlichen Superiorität –, sondern vielmehr analytisch den anderen gegenüber. Sie überblickt das Ganze (der Gruppe, des Arbeitszusammenhanges), sieht aber auch jeden Einzelnen. In diesem Aspekt ist die Führung der 1960er pastoral: Die Gruppe als Ganzes führen und jeden Einzelnen in seiner Besonderheit berücksichtigen, diese beiden Momente durchdringen sich gegenseitig in diesem Modell der Führung. Wer sich selbst gut führt, ist mit seinen eigenen Bedürfnissen in Kontakt und kann diese vermitteln und repräsentieren, ohne sie den Anderen gewaltvoll aufzunötigen oder ihn zu übervorteilen. „Nicht herrschen, sondern werben“, formuliert Michligk, denn wer selbstsicher ist, kann und soll auch den „anderen gelten lassen“.5 Gut kommunizieren heißt, die eigenen und die fremden Bedürfnisse zu klären und Raum für Austausch zu schaffen. In der Regel geht es darum, Kompromisse zu finden. Es ist dabei implizit, dass ein glückliches, authentisches, selbstbestimmtes Subjekt schon für sich selbst ein günstiges soziales Klima schafft, das sich schließlich auch gesellschaftlich positiv auswirkt. Der Korrelation von innerer und äußerer Demokratisierung findet aber auch seine klaren Grenzen – es ist keine Reziprozität des Blicks und der Transparenz der Ziele aller Beteiligten vor5

Michligk (1973), 233.

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gesehen. Demokratisierung heißt hier also in keinem Falle eine vollständige Gleichberechtigung; sie gewährt nicht allen die gleiche Verfügungsmacht. Der Führungsanspruch Einzelner ist immer noch vorgesehen und drückt sich darin aus, andere sprechend zu machen und von diesem Wissen sowohl die eigene Zielsetzung als auch die Bedürfnisse des Gegenübers profitieren lassen zu können.6 Dem analytischen Blick auf die Andere und ihre Bedürfnisse haftet daher immer ein Moment der Verdunkelung der eigenen Zielsetzungen, des tendenziell Manipulativen und des Ungleichen an.

5.2 ACHSEN DER GOUVERNEMENTALITÄT: SUBJEKTENTWÜRFE UND MACHTVERHÄLTNISSE IN DER ZWEITEN EPOCHE Das Telos des authentischen Individuums zieht – trotz aller Widersprüchlichkeiten und Brüche, die ihm eigen sind – seinen Reiz aus der Verteidigung der eigenen Natur gegen die Kräfte einer konformistisch wahrgenommenen Außenwelt. Doch erweist sich die Figur des authentischen Individuums, wie gezeigt, nicht als eskapistische Weltabkehr. Es ist so wenig ein individualistischer Einzelkämpfer wie ein eigensinniger Rebell, der sich dazu aufgerufen fühlt, soziale Verhältnisse umzuwerfen. Aber wie ist die Subjektivierung als authentisches Subjekt mit Machtverhältnissen verknüpft? Oder andersherum gefragt: Wie wird ein Subjekt, das durch die Lebensratgeber zumindest teilweise in Opposition zu seiner gesellschaftlichen Umwelt gesetzt wird, innerhalb dieser adressier- und steuerbar? 5.2.1 Die Konstitution des Subjekts als Bedürfniswesen Der Diskurs der zweiten Epoche ist von einer wirkmächtigen Metapher getragen. Diese stellt ähnlich wie die „Hammernatur“ der frühen Lebensratgeber einen teleologischen Fixpunkt und zugleich den Weckruf für die Zeitgenossen einer bestimmten Epoche dar. Es ist die Rede von der „Selbstentfaltung“. Diese dem Pflanzenreich entlehnte Metapher steht für eine (partiell) eigenlogisch und selbsttätig sich vollziehende Selbstregierung und einen neuen Führungsstil. Was im Selbst eingefaltet erscheint und auf Bedingungen zur Entäußerung wartet, sind die Bedürfnisse. „Individualität“ wird einklagbar gegenüber einer sozialen Welt, weil sie als Naturrecht des Menschen gedacht wird. Die soziale Welt wird skandalisierbar – Unterdrückung und Entfremdungstendenzen in der Gesellschaft erhalten dadurch eine subjektive, innerliche Dimension. Die Lebensratgeber der zweiten Epoche haben ihren Anteil, der Einzelnen ihre Verantwortung gegenüber sich selbst (seinen Bedürfnissen) einzuschärfen und sie als Bedürfniswesen zu konstituieren. Ganz gleich, ob als Tableau oder in pyramidaler Form, dem Subjekt ist sein Selbst wesensmäßig zugrunde gelegt. Es hat eine psychologische Struktur, an die sich eine neue Sprache des Selbst knüpft. Diese ist 6

Es wird daher von vielen Lebensratgebern ausdrücklich gegen eine grundsätzliche Autoritätskritik Stellung genommen; vgl. Endres (1978), 214; vgl. Lindner (1978), 18; vgl. Beer (1978), 98.

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amoralisch, affirmativ und subjektiv: Sie ermöglicht eine Definition von „gesund“ und „normal“ innerhalb einer flexiblen Ordnung, sie setzt auf eine Identifizierung positiver, nützlicher Eigenschaften und Bedürfnisse und sie ist von psychologischen Begriffen und Termini durchzogen. Die Einzelne, die über sich in dieser neuen Sprache des Selbst nachdenkt und unter dieser Perspektive ihr Selbst durchforscht und reorganisiert, tut dies im Bewusstsein, dass ihre Leiden aus einem Mangel an Selbstentfaltung heraus entstanden sind. Sie ist sich trotz der sie umgebenden konformistisch organisierten Gesellschaft im Klaren, dass dieser Mangel nur durch ein Mehr an Selbstentfaltung behebbar ist. Sie steht ab diesen Zeitpunkt in voller Verantwortung für die gedeihliche Führung ihres selbst, für die Verwirklichung ihrer Bedürfnisse. Psychologische Gesundheit und individuelle Leistungsfähigkeit ist nun daran geknüpft, wie stark die Einzelne ihr Selbst entfaltet hat, d.h. wie gut sie ihre Blockaden und Funktionsstörungen gelöst und ihre Bedürfnisse in Deckung mit der sozialen Welt gebracht hat. Dies ermöglicht und erfordert neue Formen des Sozialverhaltens. Denn die Bedürfnisverwirklichung ist auf eine Außenwelt angewiesen, die sich ermöglichend, helfend, fördernd dazu stellt. Eine werbende, verhandlungsförmige Kommunikation mit den anderen ist daher eine entscheidende Voraussetzung für die Selbstentfaltung. Sie soll die Bedürfnisse realisieren helfen, ohne dass man selbst aber egoistisch und selbstherrlich erscheint, was nur dadurch gelingt, dass man den eigenen Vorteil an den Vorteil des anderen knüpft. Macht hat in diesem Sinne diejenige, die die eigenen Bedürfnisse als die der anderen ausweisen kann. Zwang und Autorität verlieren an Bedeutung, da der Andere über seine Bedürfnisse steuerbar wird. Und dies ist ein zentraler Kern der Frage, wie Gouvernementalität und das Selbstführungsregime der zweiten Epoche verbunden sind – Bedürfnisse (ihre Hervorbringung und Steuerung) werden zu einer Machttechnologie. In das, was die Einzelne als Bedürfnis zu kennzeichnen lernt, fließen auch gesellschaftliche Interpretations- und Formungsprozesse ein. Was als legitimes Bedürfnis anerkannt wird, ist davon abhängig, was in einer Zeit botmäßig erscheint. Die Versuche von Maslow, den Bedürfnissen eine feste anthropologisch fundierte Hierarchie zu geben, waren daher zum Scheitern verurteilt und haben ihren Urheber nicht überlebt. Was „Selbstentfaltung“ oder „Sicherheit“ bedeutet, um nur zwei Maslowʼsche Bedürfnisse herauszunehmen, liegt nicht allein in der Interpretationshoheit des Einzelnen – umso weniger, als die Verwirklichung, wie erwähnt, auf eine kooperative Außenwelt angewiesen ist. Wie gezeigt wurde, sind der Vorstellung von Authentizität und Individualität, also zwei zentralen teleologischen Dimensionen der zweiten Epoche, recht dezidierte Vorstellungen eingeprägt, wie sich diese konkret darstellen. Sie werden eben dadurch sozial vermittelbar und zum Ansatzpunkt für Interventions- und Steuerungspraktiken. 7 Die Selbstdeutung des Subjektes als Bedürfniswesen ermöglichte das weitreichende Einsickern einer utilitaristischen Sprache der Psychologie in Selbst- und Sozialbeziehungen. Und genau damit ist ein weiterer Punkt benannt, wie die Konstitution des Selbst als Bedürfniswesen gouvernementale Dimensionen erhält: Wer seine Subjektivität dadurch (zurück-)gewinnen will, dass er auf die Bedürfnisse als Vehikel und Telos der Selbstführung setzt, kauft sich dadurch ein gutes Stück weit von außen kommende Bestimmungen ein. Bedürfniswesen zu sein/zu werden, ist an ein spezifi7

Mehr empirisches Anschauungsmaterial dazu ist im nachfolgenden Kapitel zu finden.

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sches Selbstverhältnis geknüpft. Sobald etwas im Selbst als Bedürfnis identifiziert worden ist, erhält dieser Teil des Subjektes ein objektives Gewicht und erscheint in einer dringlichen appellativen Gestalt; seinen Bedürfnisse die Befriedigung zu versagen, gleicht der Selbstentsagung. Aber gerade die Bedürfnisse sind fern von jeder Unschuld; sie sind kein Ergebnis eines spontanen und freien Explorationsaktes. Sie sind in hohem Maße präfiguriert – um als solche erkennbar zu werden, müssen sie eine bestimmte Struktur aufweisen. Das Selbstentfaltungsprogramm der Lebensratgeber der zweiten Epoche hat recht anschaulich gezeigt, wie diese aussieht, damit die Bedürfnisse den Weg zu ihrer Verwirklichung gehen können: positiv, isolierbar und teleologisch (d.h. hier: kurzfristig einlösbar). Dies läutet einen umfassenden Prozess der Rationalisierung ein (wenngleich dies der Rationalitätsfeindschaft der zweiten Epoche zuwiderläuft): Bedürfnisse verwandeln das Selbst in eine Herberge von zueinander ins Verhältnis zu setzenden Motiven, die in die soziale Welt eingespeist werden können und müssen. Kommunikation macht sie in sozialen Beziehungen (ver)handelbar. Damit wird das Bedürfnis zu einem hochgradig voraussetzungsvollen Gebilde, voller impliziter Bestimmungen, über das das einzelne Subjekt nicht vollständig verfügen kann. Das Bedürfniswesen ist folglich nicht nur eine bestimmte Figur, deren emanzipativer Gestus die soziale Umwelt als individualisierungsfeindlich brandmarken kann, sondern sie ist zugleich eine Form, Selbstführung an ein eigenlogisch funktionierendes und zweckorientiertes psychisches System abzutreten. Bedürfnisse autonomisieren und heteronomisieren das Subjekt gleichermaßen. Nun ist das authentische Subjekt nicht nur ein Weg zur Identifizierung und zur Verwirklichung seiner Bedürfnisse, sondern es ist auch eine Form des Auf-DauerStellens der eigenen Bedürftigkeit. Immaterielle Bedürfnisse, wie Zeit-, Sicherheitsund Anerkennungsbedürfnisse und ganz besonders das Bedürfnis nach Selbstentfaltung sind prinzipiell unstillbar. An sie knüpft sich – egal wie gelingend die Selbstführung sich darstellt – immer ein Zweifel ihres letztlichen Eingelöstseins. Wer kann in einer wachstumsfeindlich eingestellten Gesellschaft schon ausreichend Möglichkeiten zur Selbstentfaltung vorfinden? Wer aber kann sich sicher sein, alle zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ausgeschöpft zu haben? Die Konstitution des Bedürfniswesens bringt also eine kaum aufhebbare Mangelhaftigkeit mit sich. Der Selbstentfaltung haftet daher zwangsweise eine gewisse Ruhe- und Rastlosigkeit an. Castel et al. konnten zeigen, dass sich in den 1960er und 1970er Jahren zunehmend verschiedene gesellschaftliche Agenturen und „Erfahrungsindustrien“ des Aufschwunges subjektiver Sinndimensionen und Potenziale annehmen und marktförmige Rezepte für ihre Einlösung anbieten.8 Ob nun in Form von Sensitivity Trainings, Urschreiworkshops, Retreat-Wochenenden oder in Form eines Selbstentfaltungsprogramms anhand von Lebensratgebern, ihre Virulenz liegt darin, dass sie dem Bedürfnis nach Selbstentfaltung eine immer wieder neue Form der Befriedigung versprechen, die letztendlich immer wieder unterlaufen wird. Das Bedürfniswesen wird anschlussfähig an (Sinn-)Märkte; Subjektivität gerinnt zu einem einkaufbaren Produkt. Die Konstitution des Subjektes als Bedürfniswesen ermöglicht nicht nur individuelle „Befriedigungserlebnisse“, sie macht (unstillbar) bedürftig. Die Konstitution des Bedürfniswesens kann also beides bedienen; sie kann sowohl ein Versprechen auf eigensinnige Individualisierung mit einer konsumtiven 8

Castel et al. (1982), 288ff.

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Einlösung verbinden. Ein Bedürfnissubjekt zu sein, heißt daher nicht allein, in einer unverwechselbaren Weise seiner Natur zu Entfaltung zu verhelfen, es bedeutet gleichermaßen, sein Selbst einer (zeitspezifischen) Vergesellschaftung zu überantworten. Anders als das (ökonomische) Interessensubjekt ist das Bedürfnissubjekt nicht über seine Suche nach Nutzenmaximierung, sondern vielmehr über die Entfaltungsrationalität subjektiver Sinndimensionen steuerbar. 5.2.2 Von der Disziplin zur Steuerung: das veränderte Verhältnis zwischen Freiheit und Zwang in der zweiten Epoche der Lebensratgeber Wie ist das Verhältnis zwischen Freiheit und Zwang in der zweiten Epoche zu denken? Die frühen Lebensratgeber hatten zu dieser Frage zwar keine einfache Antwort, aber sie haben sowohl Zwang als auch Freiheit als konstitutiv für den Willenshelden angesehen. Die Lebensratgeber der 1960er und 1970er Jahre haben selbst widersprüchliche Antworten parat. Auf der einen Seite wird kaum etwas so klar und beharrlich in dieser Epoche behauptet wie die Ablehnung von Druck und Härte in der Selbstführung. Die Techniken der Selbstfreigabe und das Abseits-Drängen der rationalen Verstandesherrschaft geben dieser Behauptung einen subjektivierungspraktischen Unterbau. Sie zeigen, dass der Selbstführungsdiskurs auf ein weitaus liberaleres Subjekt zusteuert, das von den Vorgaben einer rigiden Moral und kollektiver Verpflichtungen freigestellt ist. Zum anderen sind die Techniken der Selbstführung keineswegs frei von aktivierenden und einschränkenden Elementen. Das Ausschalten der Grübelei und „Verstandesherrschaft“ hat Aspekte einer disziplinärer Introspektion, die Techniken des Unwillkürlichen zielen durchaus auf eine beständige Aktivierung des Subjektes und die Techniken der Planungsratgeber haben teilweise pedantischen Charakter. Was diesen Elementen jedoch vollständig im Vergleich zu vorangegangenen Epoche fehlt, ist ihre Einbettung in eine disziplinarische Gesamtanordnung der Schulung. Die Lebensratgeber der zweiten Epoche verhalten sich zwar nicht explizit zu diesen widersprüchlichen Konstellationen, aber sie haben einen anderen Modus gefunden, Freiheit und Zwang zusammenzubringen. In der ersten Epoche war Freiheit nur denkbar, wenn sie durch die Schule der Disziplin gegangen ist. Dann konnte sie aber bis zu einem gewissen Grade des Zwangs entbehren. Sie war selbst züchtig geworden. Die Disziplin hatte ein formendes, antizipierendes Verhältnis zur Freiheit. Für die zweite Epoche beschreibt das Bild einer Lenkrakete treffender ihren Zusammenhang. Ist einmal der Freiheit, in Gestalt der wesensmäßigen Anlagen und Bedürfnisse zum Ausdruck verholfen, steuert die Einzelne nur noch über Umgebungsvariablen. Intervenierendes Eingreifen ist negativ und reaktiv auf die Freiheit des Subjektes gerichtet. Die Freiheit muss nicht mehr belehrt, zurechtgewiesen und ihr eine Richtung gegeben werden, sie selbst ist schon gelehrt, geordnet und zielgerichtet. Zwang ist nicht mehr nötig, es genügen fortan Kontrollverfahren. Diese zumeist schriftbasierten, gelegentlich mündlich abzuwickelnden Techniken funktionieren nach der Logik von Feedbackschleifen. Der Einzelne greift nur mehr korrigierend in ein selbstlaufendes System ein und gibt Impulse für eine Verhaltensveränderung. Es werden (Fehl-)Ergebnisse korrigiert, aber nicht mehr selbst formend in das Ergebnis eingegriffen. Die eingangs beschriebenen Rückkopplungsaufforderungen in

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Gestalt von „Beschreiben Sie in fünf Sätzen das aus dem Kapitel Gelernte“ zeigen auf der Ebene der Leser/innenführung, wie solche Kontrollverfahren operationalisiert werden. Die Test- und Checklisten sind ein weiteres Beispiel für die Überführung der Dressur in ein neutrales, technisches Verfahren im Verlauf des Selbstentfaltungsprogramms. Sie implizieren einen vollständig veränderten Begriff von Freiheit und Zwang. Das Subjekt ist in diesem Sinne nicht mehr alleiniger Urheber seiner Freiheit, es ist mehr Vollzugsorgan und Aufsichtsfunktion einer viel tiefer liegenden, von ihm abgerückten, ihm mehr widerfahrenden als aufgrund von Entschlüssen und Handlungen aktiv gestalteten Freiheit. Es ist damit sowohl frei von einer unbeschränkten handlungsermächtigenden, subjektformenden Gestaltungskraft, wie sie für die vorangegangene Epoche kennzeichnend war, als auch freigestellt von Zwang und Disziplin. Lindner hat für das Verhältnis des Subjektes zu dieser ihm entzogenen Freiheit das Bild vom Knecht gefunden, „der Befehle klug, aber sklavisch [ausführt]“9 und nur beim Widerstreit zwischen Trieben und Gefühlen eigenmächtig eingreift. Grundsätzlich sei das Subjekt auf einen „klaren Auftrag“ vonseiten seiner intuitiven Natur angewiesen.10 Doch wie muss die Freiheit des Subjektes beschaffen sein, dass die Einzelne in diesem exekutiven Verhältnis zur ihr funktional werden kann? Da es nicht mehr das Subjekt selbst ist, das der Freiheit seine Stempel aufdrückt, ihr die Grenzen aufzeigt, was ist es dann? Die Freiheit der Einzelnen vollzieht sich innerhalb der psychologischen und technischen Struktur, die dem Subjekt wesenhaft zu eigen ist. Sie ist Ausdruck seiner identifizierten Bedürfnisstruktur und ihres Dranges, sich selbsttätig zu entfalten. Sie ist Ergebnis eines zielstrebigen Erfüllungsmechanismus, dem Unterbewusstsein. Die Freiheit des Subjekts ist also normativ und strukturell determiniert. Das relative laissezfaire als zeittypischer Modus der Selbstführung hat seine Voraussetzungen somit in einem Determinismus. So sehr sich Disziplin und Lenkraketensteuerung unterscheiden, so ähnlich sind sie sich damit bei genauerem Hinsehen bei einer zentralen Frage. Sowohl die frühen Lebensratgeber als auch die nachfolgende Epoche zielt keineswegs auf ein Subjekt, das eine irgendwie geartete „ursprüngliche Freiheit“ zurückgewonnen hätte. Trotz aller Natürlichkeitsappelle ist, was sich als Freiheit des Subjektes gebärdet, hochgradig geordnet: einmal durch die Disziplin, ein anderes Mal durch eine apriorische Struktur – die systemisch und psychologisch gedachte Beschaffenheit des Selbst.

9 Lindner (1978), 41. 10 Ebda.

Kapitel 2: Die 1960er/1970er Jahre B) Historische Perspektiven auf das Selbstführungsregime der 1960er und 1970er Jahre

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Die Krise und die Durchsetzung von gesellschaftlichen Individualisierungsprozessen Die zeitgeschichtliche Situierung der 1960er und 1970er Jahre

Die bundesrepublikanische Gesellschaft erfährt in den 1960er Jahren, vor allem ab Mitte der 1970er Jahre, einen vehementen Veränderungsprozess. Die „alte“ Nachkriegsordnung transformiert sich aufgrund von äußeren Faktoren, aber insbesondere durch Strukturbrüche, die sie selbst mit ausgelöst hat, und macht einen tiefgreifenden sozialen Wandel durch. Neuere zeitgeschichtliche Forschungen erheben das Jahrzehnt der 1970er Jahre sogar zum Scharnier- oder Gelenkjahrzehnt für das späte 20. Jahrhundert. Diese 20 Jahre, die hier kursorisch beschrieben werden sollen, bilden das Plateau einer neuen Epoche. Die deutsche Gesellschaft erlebt in den 1960er und auch 1970er Jahren einen Zustand vergleichsweise großer Stabilität. Bis zur Ölkrise 1973 und abgesehen von einigen konjunkturellen Dellen 1966/1967 blickt die Bundesrepublik auf einen langanhaltenden wirtschaftlichen Aufschwung zurück. Vollbeschäftigung, steigende Löhne und die endgültige Durchsetzung des Massenkonsums sowie die rapide Zunahme höherer Bildungsabschlüsse macht die sozialen Aufstiegsmöglichkeiten für größere Bevölkerungsschichten zu einer realen Möglichkeit und einer weit verbreiteten Erfahrung. Obwohl die bundesdeutsche Bevölkerung immer noch von einer tiefsitzenden Krisenangst getrieben ist, wie soziologische Untersuchungen zur Konsumpraxis und -wahrnehmung zeigen, setzt sich ein durch den realen materiellen Aufschwung gedecktes Sicherheitsgefühl sukzessive durch.1 In den Erfahrungen der Zeitgenossen der jungen Bundesrepublik erscheint sozialer und wirtschaftlicher Aufstieg zunehmend gesellschaftlich vorgezeichnet. „Das dichotome Gesellschaftsbild der alten Arbeiterbewegung, in dem die Lage der Arbeiter als unveränderlich angesehen wurde,

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Siegfried, Detlef (2011): Prosperität und Krisenangst. Die zögerliche Versöhnung der Bundesbürger mit dem neuen Wohlstand. In: Kießling, Friedrich; Rieger, Bernhard (Hrsg.): Mit dem Wandel leben. Neuorientierung und Tradition in der Bundesrepublik der 1950er und 1960er Jahre. Köln: Böhlau, 63-78.

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begann sich aufzulösen und wurde – bei den Jüngeren wiederum mehr als bei den Älteren – allmählich ersetzt durch eine eher auf die eigene individuelle Tüchtigkeit abhebende, optimistische Zuversicht und die Überzeugung, das eigene Schicksal selbst in der Hand zu haben.“2 Was für die 1950er Jahre gilt, bleibt auch für die folgenden Jahrzehnte bestimmend, nämlich dass Wiederaufbau und Modernisierung, restaurative und liberale Prozesse nicht starr entgegengesetzt sind, sondern ineinander verschränkt ablaufen.3 Auf der Ebene der Ökonomie sorgt eine fordistisch strukturierte Produktionssphäre dafür, dass der Aufschwung auch bei den breiten Schichten der Bevölkerung ab dem Jahre 1960 angekommen ist. Zugleich führen die gewerkschaftlich erkämpften Lohnerhöhungen zu einer größeren Massennachfrage nach Konsumartikeln und gestiegenen materiellen Erwartungen. Zwar ist die Arbeit im fordistischen Produktionsregime zumeist körperlich hart und von vielen starren Routinen geprägt, aber die Arbeitenden dürfen sich dauerhafte Arbeitsbeziehungen und eine steigende Beteiligung an Unternehmensgewinnen erhoffen. „Im Übergang zu den 1970er Jahren wurde der Massenkonsum zum kollektiven Verhaltensstil und begann die materielle Kultur der Gesellschaften zu formen. Jetzt entstanden Fußgängerzonen als standardisierte Einkaufsmeile für den standardisierten Konsumenten.“ 4 Das enorme wirtschaftliche Wachstum, das dadurch auslöst wird, bringt aber auch die Bedingungen mit sich, die zu einer massiven Veränderung des Produktionsregime führen. Denn die technischen Innovationen bringen eine starke Nachfrage nach gut ausgebildetem Personal mit sich. Der daraus folgende Übergang der traditionellen Industrieproduktion zu einer stärker wissensbasierten Ökonomie führt zu heftigen Debatten über die Rückständigkeit des bundesrepublikanischen Schul- und Ausbildungssystems. „Die technisch höher qualifizierten Arbeitnehmer mit differenzierter Berufsausbildung traten an die Stelle des bisherigen Industriearbeiters. Verfahrenstechnische Neuerungen und EDVgestützte Prozesssteuerung marginalisierten die körperliche Schwerstarbeit. Die Arbeit neuen Typs bestand aus Überwachen, Steuern, Optimieren.“ 5 Die Modernisierung des Bildungswesen wird daher zum zentralen Anliegen der bundesdeutschen Regierung zwischen den Jahren 1964 und 1973. Der darauffolgende massive Ausbau des Schul- und Hochschulsektors und die Reform des Ausbildungswesens sind beispiellos für die westeuropäischen Gesellschaften. Der längere Verbleib der Jugendlichen im „Kulturschutzpark“6 von Schule und Universität und der relative materielle Wohlstand der bundesdeutschen Gesellschaft hat Rückwirkungen auf die Verhaltensstandards und Lebensweisen vor allem der 2 3

4 5 6

Ebda., 787. Vgl. Schildt, Axel (1993): Von der Not der Jugend zur Teenager-Kultur. Aufwachsen in den 50er Jahren. In: Ders.: Sywottek, Arnold (Hrsg.): Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre. Bonn: J.H.W. Dietz, 337f. Doehring-Manteuffel, Anselm; Raphael, Lutz (2008): Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte nach 1970. Göttingen: Vandehoeck&Ruprecht, 43. Doehring-Manteuffel/Raphael (2008), 36. Vgl. Brückner, Peter (1970): Provokation als organisierte Selbstfreigabe. In: Ders.; Oestmann, Axel-R. (Hrsg.) (1983): Selbstbefreiung. Provokation und soziale Bewegung. Berlin: Wagenbach, 11-78.

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jüngeren Generation. Neue soziale und kulturelle Grundorientierung, neue Modelle und Lebensweisen bilden sich heraus, die vermehrt auf individuelle Freiheiten abzielen. So fällt „der Wandel zu postmateriellen Werten in eine[...] Zeit, in der materielle Wünsche in immer größerer Zahl geweckt und befriedigt wurden“. 7 Werden diese zuerst in der jungen Generation, in der Jugendsubkultur, bei Schüler/innen und Studierenden prävalent, finden sie im Laufe der späten 1960er und insbesondere 1970er Jahre in allen anderen gesellschaftlichen Gruppen Anklang.8 Die tendenzielle Modernisierung, Liberalisierung und Pluralisierung der Lebensstile, die in der deutschen Gesellschaft besonders bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen seit Ende der 1950er sukzessive Einzug hält, stößt auf eine weit verbreitete autoritäre Grundhaltung der bundesdeutschen Bevölkerung. Zwar ist der Konflikt der Generationen von beiden Seiten dramatisch überhöht und politisch zugespitzt worden, aber an ihm treten strukturelle Umbruchmomente deutlich sichtbar zutage. Auf der Ebene der Gesellschafts- und Ordnungspolitik sehen wir, dass sich technokratische Konzepte immer mehr durchsetzen. Die frühen CDU-Regierungen stellen sozialkonservative Aspekte in den Mittelpunkt ihrer Politik (man denke nur an Adenauers Wahlkampfslogan „Keine Experimente“), bei der es mehr darum ging, das Erreichte zu festigen, als die Orientierung an einem vergangenen Modell fiktiver Bürgerlichkeit zu überwinden.9 Das Erhardtʼsche Programm der „Formierten Gesellschaft“ ist exemplarisch für den Demokratie- und Partizipationsbegriff der frühen Bundesrepublik. Das im Zuge der Bundestagswahlen 1963 vorgestellte Programm stellt die staatliche Gesamtsteuerung vor die Berücksichtigung von gesellschaftlichen Partikularinteressen, was sich explizit gegen den Einfluss von gewerkschaftlichen Organisationen richtet, aber auch gegen die politische Selbstorganisation der Einzelnen. Die sozialliberale Politik ab 1969 bedeutet zwar einen erheblichen Bruch mit der konservativen Ära, aber sie treibt gleichzeitig eine Politik der expertenbasierten Globalsteuerung der Gesellschaft voran. Der Einfluss von Expert/innengremien erreicht einen Höhepunkt. Die Widersprüche eines „ideologischen Zeitalters“ scheinen durch diese technokratische Steuerungspolitik überwunden, soziale, wirtschaftliche und politische Defizite bewältigbar. Nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Gesellschaft und Politik sollten der Planung und Steuerung unterliegen; „Im ,kurzen Sommer der konkreten Utopie‘ meinten sie einen maßvollen, kontinuierlichen Fortschritt vorausberechnen und politisch umsetzen zu können.“10 Auf dem Feld der Gesellschaftspolitik kommt es zu bedeutenden Liberalisierungen und Emanzipationsprozessen, z.B. im Ehe- und Familienrecht. In der Sozialpolitik rücken Randgruppen in den Fokus wohlfahrtsstaatlicher Förderung. Die Umgestaltung des städtischen Raums über riesige Infrastrukturmaßnahmen, die z.B. starken Einfluss auf die soziale Umschichtung von Stadtteilen und Wohngebieten hatten, ist an der Tagesordnung. Liberalisierungsund Steuerungsprozesse sind im wissenschaftlichen Regieren der 1960er und frühen 1970er Jahre auf das Engste miteinander verbunden. Selbst die Zukunft wird Gegen7

Etzemüller, Thomas (2005) :1968 – Ein Riss in der Geschichte? Gesellschaftlicher Umbruch und 68er-Bewegungen in Westdeutschland und Schweden. Konstanz: UVK, 213. 8 Vgl. Herbert (2014), 820. 9 Vgl. ebda. 696f. 10 Doering-Manteuffel/Raphael (2008), 24.

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stand der Erforschung. Der Typ des Planers wird als Prototyp einer neuen Menschheit gefeiert. Auch wenn Kritiker/innen und Reformer/innen einiges im stadtpolitischen Bereich verändern können, behält in dieser Zeit eine planerische politische Rationalität Oberwasser, die nach Eckart Conze basisdemokratischen Bemühungen letztendlich zuwiderläuft: „Planung beruhte aber zugleich auf einem staatsorientierten Politikverständnis, das kaum Platz ließ für Prozesse gesellschaftlicher Selbststeuerung“.11 Ab Mitte der 1970er Jahre kommt das etablierte Produktions- und Wirtschaftsregime in eine tiefgreifende Krise. Ölpreiskrise, der Zusammenbruch des BrettonWoods-Abkommen, Inflation und höhere Arbeitslosigkeit auf der einen Seite, der veränderte Arbeitstypus auf der anderen Seite sowie die Aufbruchsstimmung der Studenten- und Hippiebewegungen führen zur Auflösung der globalen Steuerungspolitik. Just in dem Moment, als der Wohlstand für die breiten Massen spürbar wurden, zerfielen seine Fundamente. Der Ordnungsanspruch des Staates, der Ausbau von wohlfahrtsstaatlichen Leistungen, die bürokratisierten Großunternehmen und der normierende Zugriff von Eltern, Schule, Verbänden und Unternehmen geraten in schwieriges Fahrwasser. Auf der Ebene der Wirtschaftspolitik wird eine antikeynesianische Wende eingeleitet, die auf die Zurückdrängung des Staates zugunsten des „freien“ Marktgeschehens abzielt. Auf der Ebene der Industrieproduktion vollzieht sich ein „wirtschaftlich wie soziokulturell tief einschneidender ‚Abschied vom Malocher‘. In den Stahlfabriken wurden die Werkshallen geschlossen, wo die Arbeiter im Lärm von Maschinen und im Dunst von Schmieröl und Ruß ihren Platz hatten. In den Textilfabriken verstummten die Geräusche der Webstühle, die den rastlosen Takt der Mensch-Maschine-Symbiose des Industriezeitalters vorgegeben hatten.“12 Die Unternehmen müssen sich jetzt im internationalen Wettbewerb behaupten und benötigen wesentlich mobilere und flexiblere Mitarbeiter/innen. Gleichzeitig kritisieren die neuen sozialen Bewegungen die technokratische Modernisierungspolitik und die anhaltenden autoritären Tendenzen innerhalb von Staat, Wirtschaft und Familie. Die Lebensstilrevolution der „68er“ setzt nachdrücklich auf den Vorrang des Individuums und die Pluralität von Lebensstilen. In vielen Bereichen folgen die bundesdeutschen Entwicklungen dabei denjenigen in den USA. Die Zweite Frauenbewegung kritisiert die Geschlechterverhältnisse in der BRD in den 1970er Jahren nachhaltig. Dabei können sich Frauen in Deutungen USamerikanischer Autor/innen wie Betty Friedan wiederfinden. Die Kategorien Herrschaft, Arbeit und Geschlecht werden in ihrer wechselseitigen Konstitution offengelegt.13 Obwohl sich politische Konflikte zwischen den Lagern der sog. 68er-Generation und ihrer Gegner zum Ende der 1960er Jahre zuspitzen, kommt es nicht zu fundamentalen gesellschaftlichen Umbrüchen. Vielmehr zersplittern sich die radikalen Linken in Kleingruppen ohne gesellschaftliche Rückendeckung, während moderate Strömungen in eine auf Reformen zielende Politik unter Brandt und eine alternative 11 Conze, Eckart (2009): Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik von 1949 bis in die Gegenwart. München: Siedler, 283. 12 Ebda., 36. 13 Vgl. Friedan, Betty (1966): Der Weiblichkeitswahn oder die Selbstbefreiung der Frau. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.

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politische Kultur kanalisiert werden. Bis heute grundlegend bleiben allerdings die Deutungsschemata der Protestbewegungen: „Die 68er-Bewegungen haben die staatliche Reformpolitik nicht entzündet, doch mit ihnen war ein spezifisches Vokabular und Denken der Gesellschaftskritik entstanden, das es […] erlaubte, den bislang eher diffus wahrgenommenen Strukturwandel und seine problematischen Effekte, das Unbehagen an den Verwerfungen zwischen ,Tradition‘ und ,Moderne‘ in klare Begriffe und Sinnzusammenhänge zu fassen.“14

Die Lebensratgeber docken nicht nur an diese neuen kulturellen Deutungen an, sie machen sich bereits früh zu Fürsprechern für veränderte Subjektformen, insbesondere solche Texte, die aus den USA kommend in Deutschland verlegt werden. Das lässt sich an ihrer Kritik an Familie, Schule und Arbeit, an Konformismus und Konsum deutlich ablesen. Umgekehrt tragen sie selbst zum Wandel der Subjektivierungsformen bei, indem sie autoritäre Selbstführungsformen problematisieren. Sie halten den Subjekten der erstarrten gesellschaftlichen Verhältnisse deren Unglück produzierende Effekte vor Augen und attestieren allen ein Recht auf Selbstsein. Damit haben die Lebensratgeber einen aktiven Anteil daran, dass gesellschaftskritische Tropen in entpolitisierter Form ins Grundwasser öffentlicher Diskurse sickern. Gleichzeitig sind die Ratgeber federführend darin, den Subjekten die Verantwortung für die Überwindung unglücklicher biografischer Prägung zu übergeben und damit den Zeitgeist rational planbarer Veränderung auf der Ebene subjektiver Instruktionen zu befeuern. Die Lebensratgeber nehmen bemerkenswerterweise bereits Anfang der 1960er Jahre bestimmte Topoi der gegenkulturellen Modernisierungsbewegungen vorweg, die sich auf die Ziele der inneren Befreiung und Selbstverwirklichung stützen.15 Mit der Behauptung einer fest im Subjekt verankerten Bedürfnishierarchie bzw. einer selbstregulativen menschlichen Natur können sowohl gesellschaftliche Entfremdungsprozesse skandalisiert als auch (mitunter nonkonforme) Individualisierungsprozesse begründet werden. So zeichnet der Selbstführungsdiskurs der 1960er Jahre eine starke Parteinahme für die unter dem Druck der Außenwelt zu Schaden gekommene Subjektivität des Menschen aus und stellt sich dezidiert auf die Seite der individuellen Freiheiten.16 Sichtbar wird allerdings auch, dass die Lebensratgeber mit ihrer Präferenz für die individuellen Selbststeuerungskräfte des Einzelnen auf eine widersprüchliche Weise in diese epochenspezifische Konstellation verwickelt sind. Zum einen sind sie affirmativ auf bestimmte gesellschaftliche Größen gerichtet, indem sie zum Beispiel dem kybernetischen Denken einen bedeutenden Stellenwert einräumen. Der Optimismus eines kalkulierbaren und notwendig eintretenden Fortschritts, der ohne politische 14 Etzemüller (2005), 199. 15 Man sieht aber, dass die Lebensratgeber sich durchaus auf einer historischen Scheidelinie bewegen, die auch das Feld der Lebensratgeber teilt. Die Selbstrationalisierungsratgeber atmen noch deutlich den Gestus buchhalterischer, bürokratischer, letztlich einer konformistischen Selbstführung. 16 Und dies nicht nur faktisch, wie die 1920er Jahre, wo sich der Liberalismus mitunter gegen die Intention der Autoren durchsetzte, sondern auch auf der Ebene der argumentativen Grundstruktur.

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Auseinandersetzungen und Kämpfe auskommt, beflügelt auch den Selbstführungsdiskurs. Planungs- und Rationalisierungsmodelle werden auf individueller Ebene vehement eingefordert, während sie auf gesamtgesellschaftlicher Ebene unter Generalverdacht stehen, die Einzelnen auf willens- und gesichtslose Räder einer übermächtigen Maschinerie zu reduzieren. Die Lebensratgeber reagieren insofern auf eine Krise des Individuellen, die nicht in einer autoritären Mentalität der Bevölkerung begründet ist, sondern auch in einer Gesellschaftspolitik, bei der durch den Vorrang der Gesamtsteuerung vor der Selbststeuerung das eigensinnige, selbstverantwortliche Individuum ungedacht bleibt. Die Verlagerung der kybernetischen Steuerungsgrößen ins Subjekt ist vor diesem Hintergrund mehr als eine Strategie, sich durch die Rezeption eines hegemonialen gesellschaftlichen Diskurses Autorität zu verschaffen. Sie ist Ergebnis einer gesellschaftlichen Situation, bei der die Möglichkeit, vielleicht sogar Notwendigkeit einer liberalen Selbstfreigabe vorgezeichnet, zugleich aber blockiert ist. Die Popularisierung einer freien Entfaltung der menschlichen Natur geschieht unter Bedingungen relativer gesellschaftlicher Prosperität, wie sie für die bundesrepublikanische Gesellschaft mindestens bis Mitte der 1970er Jahre feststellbar ist. Die Verlegung des Selbstführungsdiskurses auf indirekte und sanfte Techniken ist vor einem sozialen und politischen Hintergrund zu denken, in dem wesentliche Grundbedürfnisse nach materieller Absicherung und gesellschaftlicher Stabilität erfüllt sind. Die Partizipationsversprechen der Lebensratgeber spiegeln diese Wandlung recht anschaulich wider. Nicht allein Integration und Teilhabe an Gesellschaft oder gar Abwehr von Abstiegs- und Dequalifizierungstendenzen wird zum genuinen Ziel der Selbstführung, sondern eine sich am eigenen Erleben messende Selbstfreigabe und demokratische Interaktionen.

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Rekonstruktion zeitspezifischer Wissensformationen

Es gibt zwei wesentliche diskursive Stränge, welche in den Lebensratgebern der zweiten Epoche verwoben sind: erstens ein technisch-modernistisches Welt- und Menschenbild, dessen Flaggschiff die bereits erwähnte Kybernetik ist, und zweitens eine kreative Explosion und soziale Ausbreitung verschiedener sich als psychologisch begreifender Ansätze.

2.1 KYBERNETIK: DIE ANTWORT AUF ALLE MÖGLICHEN FRAGEN Die Bezugnahmen der Texte auf die Kybernetik sind offen und zahlreich. Auch wenn es für die zweite Epoche der Ratgeber keinen hegemonialen Diskurs gibt, wie es für die erste der Willensdiskurs war, kommt der Bezug auf die Kybernetik diesem doch am nächsten. Birkenbihl und Maltz bauen ihre Ratgeber auf dem kybernetischen Wissen auf und ziehen zentrale Kategorien aus diesem Sprachregister. Aber auch bei anderen Autoren wie Ryborz,1 Hull,2 Beyer,3 Ulene4 oder Scheitlin5 lassen sich deutliche Bezugnahmen finden. Die Kybernetik ist schon zu Beginn der zweiten Epoche mit ihrer Sprache, ihren Techniken, vor allem aber mit ihren Modellen ins Grundwasser der Selbstführungsdiskurse eingesickert. Sie ist hintergründig präsent und wird häufig gar nicht mehr eigens thematisiert, geschweige denn hinterfragt. „Der Mensch ist von Natur aus ein zielstrebig angelegtes Wesen. Und weil der Mensch so ist, wie er ist, wird er nicht glücklich, ehe er so reagiert, wie er strukturiert ist, nämlich zielstrebig, zielsuchend und zielerreichend“,6 schreibt Maxwell Maltz. Die Zielstrebigkeit ist hier der Kerngedanke: eine flexible Ausrichtung auf ein Ziel, verknüpft mit der Idee, dass es im Menschen einen Zielmechanismus gibt. Dieser 1 2 3 4 5 6

Ryborz spricht sogar explizit von „Psycho-Kybernetik“; Ryborz (1977), 23. Vgl. Hull (1995), 197, 53ff. Vgl. Vesters Einleitung in Beyer (1979), 7-30. Vgl. Ulene (1977), 33. Vgl. Scheitlin (1977), 123-31. Maltz (1962), 20.

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liegt im menschlichen Gehirn, welches zugleich das Unterbewusste zu sein scheint. „Es besteht heute kein Zweifel mehr, daß das menschliche Gehirn und das Nervensystem ähnlich arbeiten, wie es von den einfacher gelagerten Mechanismen der Automatik, der Kybernetik, bekannt geworden ist, um das geforderte Ziel eines Auftrages zu erreichen.“7 Die Zielfindung funktioniert vom bewussten Denken unabhängig, sobald sie einmal ins System eingeben wurde. Der Mensch ähnelt also zumindest in Teilen den seinerzeit fortschrittlichsten Maschinen. Paradigmatisch ist für Maltz diejenige Vorrichtung, mit der die Kybernetik auch historisch auf der Bildfläche erscheint: die Lenkrakete.8 Dieses Bild hat seinen Grund in der Geschichte der Kybernetik. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges entwickelt der Mathematiker Norbert Wiener ein Programm für Anti-Flugzeug-Raketen. Feindliche Kampfmaschinen, die ihren Kurs schnell und schwer vorhersehbar ändern konnten, waren von einfachen Bodenraketen gerade bei größerer Entfernung schwer zu treffen. Wiener entwickelte zusammen mit anderen einen Anti-Aircraft-Predictor, mehr oder weniger einen mit Feedbackschleifen programmierten Computer, der es der durch ihn gesteuerten Rakete ermöglichte, selbst Veränderungen der Flugbahn des Zieles einzuspeisen und den eigenen Kurs entsprechend im Flug zu korrigieren.9 Was die Rakete damit leistet, wird zum Modell für andere technische Geräte, aber auch für Organismen, Menschen, soziale Gruppen und ganze Gesellschaften. Sie ist ein sich selbst steuerndes System. Der universalistische Anspruch der Kybernetik beruht darauf, dass sie alles als informationsverarbeitendes System auffasst. Verschiedene Systeme können selbst als Subsysteme aufgefasst werden. Es ergibt sich über Feedbackschleifen eine Form der Selbststeuerung und Selbstregulation, ohne dass es eines steuernden Kerns, eines Subjektes bedarf. Wie das Thermostat einer Heizung reagieren solche systemsensibel auf Umweltveränderungen und passen sich an. Sie sind auch in der Lage, sich nach Störungen neu auszurichten und zu ihrer ursprünglichen Funktionsweise zurückzufinden. Dabei dienen „abstrakte, weniger komplexe Repräsentationssysteme“ 10 als Modelle für die biologische oder soziale Wirklichkeit. Norbert Wiener selbst arbeitet u.a. am MIT an einer einheitlichen Theorie, die „technische und menschliche Systeme umschließen sollte“, 11 und tut sich gleichzeitig mit Vertretern verschiedener Fachrichtungen zusammen. Er gründet eine Cybernetics Group,12 überträgt zusammen mit dem Physiologen Arturo Rosenblueth die kybernetischen Modelle auf Organismen, sucht Anschluss an den Behaviorismus und beeinflusst maßgeblich Kurt Lewins Theorie der Gruppendynamik. Letzte ist ein gutes Beispiel für die Übertragung kybernetischen Gedankenguts von technischen auf soziale Zusammenhänge. Was dem Projekt großen Auftrieb und große Beachtung ein7 8 9

Ebda., 13. Vgl. Ebda., 43. Vgl. Aumann, Philipp (2009): Mode und Methode. Die Kybernetik in der Bundesrepublik Deutschland. Göttingen: Wallstein, 87. 10 Bluma, Lars (2005): Norbert Wiener und die Entstehung der Kybernetik im Zweiten Weltkrieg. Eine historische Fallstudie zur Verbindung von Wissenschaft, Technik und Gesellschaft. Münster: Lit, 141. 11 Ebda., 119. 12 Ebda.

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bringt, ist die Idee einer universellen Wissenschaft mit einer universellen Sprache, die im Prinzip alle Vorgänge, soziale wie natürliche, beschreiben kann. Das Konzept des Feedbacks, das ursprünglich eben genau die Wiedereingabe eines Outputs in ein (Informations-)System bezeichnet, wird schnell auf soziale Prozesse übertragen. Das menschliche Zusammenleben wirkt somit nicht nur theoretisch leichter zu fassen, sondern auch praktisch steuerbar. „Für den gruppendynamischen Sozialingenieur ließ sich das menschliche Zusammenleben letztendlich regeln wie die Raumtemperatur mittels Thermostat, der Druck einer Dampfmaschine mittels Fliehkraftregler oder eben die Luftabwehr mittels Wieners antiaircraft predictor.“13 In demokratisch organisierten Gruppen ist Feedback die Rückmeldung der gesamten Gruppe an eine einzelne teilnehmende Person, die Konfrontation dieser Person mit ihrer Außenwahrnehmung. Kurt Lewin erhebt dieses Modell zur Grundbedingung des Lernens überhaupt.14 Bröckling nennt dieses kybernetische Modell von Gruppenprozessen zu Recht ein „System kommunikativer Selbstkontrolle“.15 Dabei ist die Selbstkontrolle oder Selbststeuerung im doppelten Sinne zu verstehen: Einerseits bestimmt die Gruppe selbst ihre Regeln und die Formen des Feedbacks, andererseits ergibt sich aus den Rückkopplungsroutinen ein Netz, dem die Einzelnen nicht mehr entkommen können – oder nur durch Ausstieg aus der Gruppe. Als ab 1973 die Wirtschaftskrise den Fortschrittsglauben erschüttert und die Zuverlässigkeit optimistischer wissenschaftlicher Prognosen infrage gestellt wird, ist auch die Stunde des kybernetischen Universalprojektes vorüber. Was der Kybernetik bislang zum Vorteil gereichte, nämlich keine Spezialwissenschaft zu sein, macht es ihr nun unmöglich, sich als eigenständige akademische Disziplin zu etablieren. Der Zugriff der Lebensratgeber auf die Kybernetik ist weitreichend, aber im Grunde instrumentell. Zwar liegt es im Geist der Zeit, sie für den Individualismus einzuspannen, dies aber auf der Ebene von Techniken und Strategien praktisch zu vollziehen, ist sicherlich als eine eigenständige Leistung der Texte anzusehen. Maltz will den Menschen vor allem zu einem positiveren Selbstbild verhelfen, Birkenbihls Programm ist geradezu ein Empowerment-Regime, um den durch unglückliche Kindheit und lebensfeindliche Anforderungen der Mitwelt eingeengten Individuen doch noch zu einem lebendigen, freudvollen und erfüllten Dasein zu verhelfen. Die Ratgeber verbinden Steuerung mit Befreiung, Programmierung mit Entspannung und Feedback-Systeme mit Abwehr von Fremdführung. Im Paradigma der Steuerung ist nicht nur eine Kritik an zu viel Führung oder falscher Führung implizit, sondern auch schon der Weg zur Veränderung vorgezeichnet: systemgerechte, und das heißt hier menschengerechte Selbstführung mit einem relativen laissezfaire und einer vorsichtigen Intervention mittels moderner Techniken aus dem Bereich der Entspannung, Visualisierung und Suggestion. Damit verbindet das kybernetische Regime das neue Modell des Unterbewussten mit dem flexiblen Anstreben von selbstgesetzten Zielen. Das Modell, sei es die Rakete oder der Computer, beschreibt das Ganze (das System), das Problem und die Lösung in einem. 13 Bröckling, Ulrich (2008): Über Feedback. Anatomie einer kommunikativen Schlüsseltechnologie. In: Hagner, Michael et al. (Hrsg.): Die Transformation des Humanen. Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 326-347; 330. 14 Ebda., 336. 15 Ebda., 337.

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2.2 DER PSYCHOBOOM: URKNALL EINES NEUEN UNIVERSUMS Psychologisierung, Psychiatrisierung und Therapeutisierung sind Schlagwörter zeitgenössischer soziologischer Debatten. Sie tragen in sich eine eigentümliche Evidenz: Sind wir nicht alle irgendwie psychologisiert und therapeutisiert? Eva Illouz schreibt in Die Errettung der modernen Seele: „Begriffe, die in den spezialisierten und professionalisierten Foren der Wissenschaft entwickelt werden, prägen das Alltagsverständnis unserer gesellschaftlichen und natürlichen Umwelt, ähnlich wie religiöse Vorstellungen gelegentlich aus den Spezialistendiskursen der Theologen hervorgehen. Diese Feststellung gilt besonders für die Wissenschaft der klinischen Psychologie, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Begriffe wie Intimität, Sexualität oder Führungsqualität zu definieren, die an der Schnittstelle zwischen spezialisierten Institutionen des Wissens und den gewöhnlichen kulturellen Praktiken angesiedelt sind.“ 16

Es gibt also eine ausgeprägte Osmose zwischen psychologischem Experten- und Alltagsdiskurs. Auch wenn der Beginn dieser Entwicklung, wie immer sie jeweils benannt wird, um die Wende zum 20. Jahrhundert angesiedelt wird, 17 ist es unstrittig, dass sie ihren gesellschaftlichen Durchbruch, ihre Breitenwirkung, vor allem aber die unüberschaubare Vielfältigkeit ihrer Wissensformen und Praktiken in den 1960er und 1970er Jahren gewinnt – in der Zeit des Psychobooms.18 In den 1960er Jahren setzt sich in den USA und etwas später in Europa die Psychologie als Kur der an sich selbst erkrankten Moderne durch. Menschliches Erleben

16 Illouz 2009, 29. 17 Die Autor/innen unterscheiden sich darin, wo sie den Beginn der modernen Psychologie ansetzen. Illouz sieht Freuds charismatisches Wirken, besonders in den USA, als zentral an für der Proliferation psychologischen Wissens in der Bevölkerung (vgl. Illouz 2009, 48ff.). Michael Sonntag hingegen setzt deutlich früher an, beim bürgerlichen Roman im späten 18. Jahrhundert, besonders beim Briefroman (Sonntag (1988), 20) Zeitgenössische Einschätzungen unterscheiden sich hingegen deutlich. Der Psychoanalytiker Schülein schreibt 1978, „es steht zu erwarten, daß das modisch Neue am Psychoboom auch wieder verblaßt, und im übrigen dürfte keine der vielen Neubildungen eine echte Chance haben, sich in dem Maße gesellschaftlich zu etablieren, wie dies der Psychoanalyse gelungen ist“ (Schülein, Johann (1978): Psychoanalyse und Psychoboom. Bemerkungen zum sozialen Sinnkontext therapeutischer Modelle. In: Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen [32/5-6], 421). 18 Gerade die Weitläufigkeit des Begriffs Psychoboom weist auf ein großes Problem der Betrachtungsweise hin: Es ist eine große und disparate Menge von Phänomenen, die wir prima facie als psychologisch oder mit Psychologie verbunden sehen, ohne dabei eine klare Vorstellung davon zu haben, was eigentlich das Psycho- in Psychoboom, Psychotechnik oder Psychopolitik ist. Wie Michael Sonntag herausgearbeitet hat, gibt es schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts durchgängig eine Pluralität konkurrierender, zumeist jedenfalls schwer vereinbarer Modelle und Vorstellungen, die alle für sich beanspruchen, wissenschaftliche Psychologie zu sein (vgl. Sonntag [1988], 76).

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und Leiden werden mithilfe psychologischer Sprache ausgedrückt. Damit erhalten sie einen Zuwachs an Objektivität und Gültigkeit. Die Psychologie der erschütterten Nachkriegsgesellschaften bietet nicht nur Therapie für einzelne Menschen, sondern auch Erklärungen für kulturelle Entwicklungen und gesellschaftliche Missstände. Sie hat sich bis dahin einen starken Stand in der Deutung des modernen Leidens und der Verfahren zu seiner Heilung erarbeitet. Im Phänomen, das schon von Zeitgenossen als „Psychoboom“ beschrieben wird,19 wird trotz der fortschreitenden Pluralisierung der psychologischen Ansätze diese hegemoniale Tendenz ausgeweitet. Die Psychologie schafft sich eine neue, eigene Wirklichkeit und eine Vielfalt neuer sprachlicher Möglichkeiten für die einzelnen Menschen, sich selbst zu thematisieren. Vom eigenen Fühlen und Erleben zu sprechen, erhält einen ungeheuren Aufschwung. Nach Illouz zeigt sich dies im Alltag, vor allem in Nahbeziehungen, durch eine veränderte Art, sich selbst und seine Gefühle zu thematisieren – in einem neuen emotionalen Stil: „Ein emotionaler Stil wird begründet, wenn eine neue ,Vorstellung vom Zwischenmenschlichen‘ entwickelt wird, das heißt, eine neue Weise, über die Beziehung des Selbst zu den anderen nachzudenken, Vorstellungen über die Chancen und Möglichkeiten dieser Beziehung zu entwickeln und sie in die Praxis umzusetzen.“20

Dennoch oder gerade deshalb fällt es schwer, an den neuen Formen der Selbstthematisierungen oder Selbstpraktiken einen gemeinsamen Nenner auszumachen, welcher zuverlässig das Psychologische an ihnen markieren könnte. Insofern scheint es konsequent, wie Michael Sonntag vorschlägt, den Terminus im Plural zu benutzten und von den Psychologien im Plural zu reden.21 Unter dieser Perspektive ist es nötig, die wichtigsten Linien des Psychobooms zu rekapitulieren, ohne der Psyche – oder dem Boom – damit eine Essenz unterstellen oder den Phänomenen eine apriorische Einheitlichkeit geben zu wollen. Für das Verständnis der Lebensratgeber sind dabei drei Momente ausschlaggebend, die besprochen werden: die Psychoanalyse und die Therapeutisierung (1), die gesellschaftlichmedizinische Thematisierung des psychischen Leidens, exemplarisch an Stress und der Depression verdeutlicht (2) und die humanistische Psychologie, insofern sie deutliche Beziehungen zum Selbstführungsdiskurs hat (3). 2.2.1 Joch und Befreiung: Beratung und Therapeutisierung Sabine Maasen betrachtet die „Therapie- und Beratung als Selbst- und Fremdführungstechnologie“.22 Sie sieht unsere Gesellschaft als Therapie- und Beratungsgesellschaft an, deren Sattelzeit für die BRD in den 1970ern beginnt: „Die Ubiquität und laufende Diversifizierung therapeutisch-beratender Angebote sind indessen nicht ganz neu, sondern reichen bis in die 1970er Jahre zurück: In etwa dieser Phase findet die 19 20 21 22

Vgl. Schülein (1978), 420-440. Illouz (2009), 32. Vgl. Sonntag (1988), 127. Maasen (2011), 9.

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diskursiv-institutionelle Explosion dessen statt, was auch die Zeitgenossen selbst bereits als Psychoboom beobachteten.“23

Maasen betont den ursprünglich emanzipativen Charakter dieser Umwälzung: Die 1970er-Therapeutik verstand sich als „Aufklärung“, als „,Befreiung‘ des ,wahren Selbst‘“: „Du bist krank, weil die Gesellschaft krank ist, also musst du die Gesellschaft ändern.“24 Dieser kritischen Optik folgen die Lebensratgeber der zweiten Epoche in dem Maße, in dem sie die Sozialisationsbürden betonen, die die Gesellschaft den Einzelnen auferlegt.25 Dieser Impetus verkehrt sich dann in den folgenden 20 Jahren in sein Gegenteil. „Die Gesellschaft ist krank, weil du krank bist, also musst du dich verändern.“26 Maasen und die meisten der im Folgenden besprochenen Autor/innen bemühen sich, diesen Umbruch zu verstehen und die gegenwärtige Gestalt zu kritisieren. Zunächst aber gilt es, die 1960er und 1970er Jahre besser zu verstehen. In dieser Zeit holen sich Menschen „immer mehr Rat“27 zu allen möglichen Fragen des Lebens, besonders zu persönlichen, emotionalen Themen, aber auch zur Lebensgestaltung überhaupt. Umgekehrt schwingen sich gerade PsychologInnen zu Expert/innen in allen Lebensangelegenheiten auf.: „Die Psychologen nahmen sich das Recht heraus (das ihnen auch bereitwillig zugestanden wurde), sich als selbsternannte Experten zu einer Vielzahl von sozialen Problemen zu äußern. Von anderen Experten wie Juristen oder Ingenieuren unterschieden sie sich insofern, als sie sich im Laufe des 20. Jahrhunderts zunehmend dazu berufen fühlten, Menschen in praktisch allen Belangen anzuleiten.“28

Die Beratung erfolgt in der BRD teils als Angebot des Wohlfahrtsstaats, teils in einer zunehmend unüberschaubaren Fülle von Angeboten. Nicht aber allein die Quantität, sondern die Qualität dieses Beratungsangebots ist bemerkenswert, und zwar in dreifacher Weise. Erstens scheint nämlich die Notwendigkeit, sich beraten zu lassen, mit der Zahl der Beratungsmöglichkeiten zu steigen. Durch die Unüberschaubarkeit der Möglichkeiten, die gehobenen Ansprüche an die Alltagsbewältigung und die virulente Forderung, aus dem eigenen Leben, vor allem aber aus sich, das Beste zu machen, entsteht nicht nur der äußere Druck, sich beraten zu lassen. Vielmehr gilt: Wer sich nicht beraten lässt, entscheidet sich bewusst dagegen. 29 Es gibt außerdem immer noch Möglichkeiten, sich noch mehr und noch besser beraten zu lassen. Selbstbestimmung wird graduell steigerbar. Analog unterstellen die Therapieangebote dem Subjekt eine Brüchigkeit, Verletzlichkeit und Anfälligkeit für Krisen. Nach Maasen mündet dies in ein „Verhältnis von Selbst und Gesellschaft, das sich zunehmend über die Schemata 23 Ebda., 8. 24 Ebda., 11. 25 Zugleich haben die Lebensratgeber schon immer das größere Veränderungspotenzial bei der Einzelnen gesehen. 26 Ebda. 27 Ebda., 7. 28 Illouz (2009), 95. 29 Ebda., 16.

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,Problem/Lösung‘ oder ,Krise/Bewältigung‘ formiert“. 30 So drehen Therapie und Beratung mit an einem Karussell der perennierenden Krisenbewältigungsanstregungen.31 Obwohl die Bewegung gestartet ist als eine Kritik der krank machenden gesellschaftlichen Verhältnisse, entwickelt sie schnell einen therapeutischen Fokus, der ausschließlich auf die angeschlagenen Selbstverhältnisse gerichtet ist. Einerseits wird das Subjekt damit zum Austragungsort sich weit erstreckender Konfliktlinien, zweitens erscheint damit gelungene (gut beratene) Selbstführung als die vorzügliche Antwort auf schwierige gesellschaftliche Lagen. Beides zusammen generiert eine Situation, die die fragile Position des Subjektes sowohl zuspitzt als auch perpetuiert. Das weist auf den zweiten Punkt hin: Persönliche Krise und gesellschaftliche Realität sind nämlich nicht nur dadurch miteinander verzahnt, dass letzte die erstere hervorruft. 1967 nimmt der Bundestag analytische und tiefenpsychologische Psychotherapie in den Leistungskatalog der Krankenkassen auf.32 Damit wird die Therapie des individuellen Leidens zumindest teilweise gesellschaftlich finanziert. Gleichzeitig werden zumindest einige therapeutische Verfahren mit einem staatlichen Gütesiegel ausgestattet. Einerseits werden also sowohl psychisches Leiden als auch psychologische Therapieansätze zunehmend gesellschaftlich akzeptabel. Andererseits wächst das Interesse der Gemeinschaft daran, dass die Einzelnen gut für sich sorgen. Prävention wird wichtiger, um spätere Kosten zu vermeiden. Der Begriff des Risikos taucht in Debatten über diese Prävention auf. „Erhöhtes Versicherungsrisiko“ wird zum Wort der Stunde.33 Drittens wird durch die Pluralisierung der Therapie- und Beratungsmöglichkeiten, besonders außerhalb der staatlichen Institutionen, die alte Patient/in der Psychoanalyse zu einer potenziellen Kund/in oder Klient/in. Und Kund/innen wollen gut beraten sein. Sie wollen aus einer Vielzahl der Angebote für sich das Beste auswählen. Dadurch werde die Therapien und Beratungen zu Waren auf einem Psycho-Markt.34 Zum Teil als Konsequenz aus der Wettbewerbssituation der Angebote heraus steigern sich auch die Erwartungen bzw. die Ziele der Angebote. Therapie ist nicht mehr nur angelehnt an die Schulmedizin eine Heilung für Kranke, sondern ein Angebotskomplex, um das eigene Wohlbefinden zu verbessern, das Glück zu steigern und in vollem Umfang ein menschliches Leben zu leben. Damit zielen sie zunehmend auf die Sphäre der Selbstführung. Zur institutionellen Seite schreibt Tändler: „Der Aufweichung der räumlich-sozialen Trennung von psychisch ,Kranken‘ und ,Gesunden‘ entsprach mithin auch einer Gradualisierung des strikten diagnostischen Dualismus von ,krank‘ und ,gesund‘.“35 Was für die institutionellen Angebote gilt, wird umso mehr von den freien erwartet. Sie sollen ein höheres Maß an Gesundheit, Lebendigkeit und Erfüllung bringen. In den 1970ern steigern sich diese zu „Heilsversprechen“ 30 Ebda., 9. 31 Vgl. ebda., 21f. Siehe auch ebda., 23: „Therapie und Beratung prozedieren dieses Paradox durch die fortgesetzte, systematisierte und institutionalisierte Bemühung um die Bezwingung von krisenhaften Lagen.“ 32 Vgl. Tändler, Maik (2011): „Psychoboom“. Therapeutisierungsprozesse in Westdeutschland in den späten 1960er- und 1970er-Jahren. In: Maasen (2011) (Hrsg.), 59f. 33 Maasen (2011), 20. 34 Vgl. Castel et al. (1982), 278ff. 35 Tändler (2011), 65.

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der „Authentizität und Selbstbestimmung“. 36 Auch diese Versprechungen sind nicht neutral, sondern implizieren die Möglichkeit, noch mehr und noch besser (man selbst) sein zu können. Es wird selbstverständlich, sich zu diesem Zweck Rat einzuholen, nicht nur durch Menschen, sondern auch durch mediale Angebote. Das Leben muss nicht nur gut sein, es muss auch individuell sein: Ein normales Leben erscheint nicht mehr als erstrebenswert, es muss zumindest gefühlt besonders sein. Insofern lässt sich schlussfolgern, dass sich ein Moment des Marktes auf die Lebensführung überträgt. Die Einzelnen wollen nicht unbedingt mehr oder besser als ihre Mitmenschen sein, aber mindestens genauso außergewöhnlich. Von dieser Entwicklung profitieren wiederum die Lebensratgeber. Nicht zuletzt sie sind es, die mit ihrer leichtgängigen Rezeptionsform das vermeintlich natürliche „Bedürfnis“ des Subjektes nach Besonderheit, psychischer Gesundheit und gesellschaftlicher Leistungsfähigkeit befeuern und ihnen einen populärkulturellen Ausdruck verschaffen. 2.2.2 Leiden unter den gesellschaftlichen Umständen: das Aufkommen von Stress Es gibt in den 1960ern und 1970ern die Bemühung, das Leid der Gesellschaft auf eine zentralen Nenner zu bringen. Was ist dieses Leiden an den gesellschaftlichen Umständen? Für manche Psychiater der Zeit ist es die Depression.37 Die allgemeinste Ursache scheint jedoch vielen Zeitgenossen der Stress zu sein. Was für die Zeit der frühen Lebensratgeber die Neurasthenie ist, ist für die 1960er, vor allem aber 1970er der Stress. Beide deuten auf eine Störung im Subjekt hin. Während die Neurasthenie jedoch weitgehend als eine Nervenkrankheit gesehen wird, die zwar auch äußere, aber höchst diffuse Ursachen hat,38 ist Stress eine erfassbare Reaktion des Subjektes auf zumindest prinzipiell klar lokalisierbare äußere Einflüsse.39 Dass der Begriff „Stress“ und der Pionier der Stressforschung, Hans Selye, eine solche Karriere machen, hätte sich anfangs gar nicht erwarten lassen. Denn ursprünglich kommt der Begriff aus der Metallverarbeitung und beschreibt die Belastungen, denen das Material durch Außeneinwirkung ausgesetzt ist.40 Selye entwickelt daraus das Konzept des Allgemeinen Anpassungssyndroms, das er auf tierische und später auf menschliche Organismen überträgt. Was den Begriff für Selye und seine Nachfolger brauchbar macht, ist eine Kombination von objektiver Belastung bei gleichzeitig unbestimmt gelassenen Ursachen. Die naturwissenschaftlich-experimentelle 36 Maasen (2011), 11. 37 Vgl. Ehrenberg, Alain (2013): Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 143. 38 Vgl. ebda., 50. 39 Gleichzeitig ist die Stressreaktion, wie sie Hans Selye (s.u.) einführt, nicht abgestimmt auf den äußeren Stressor. Sie ist in diesem Sinne allgemein oder unspezifisch, auch wenn sie (und das ist Selyes zentraler Punkt) physiologisch messbar ist. Vgl. Cooper, Cary L.; Dewe, Philip (2004): Stress: A Brief History. Oxford, U.K. (u.a.): Blackwell Pub, 22. 40 Vgl. Kury, Patrick (2012): Der überforderte Mensch. Eine Wissensgeschichte vom Stress zum Burnout. Frankfurt/Main: Campus, 56. Für etymologische Wurzeln sowie frühere Verwendungen, die eine Beziehung zum Phänomen aufweisen, vgl. Cooper/Dewe (2004), 2-7.

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Grundlage zur Gewinnung dieses Wissens scheint die Objektivität und Übertragbarkeit zu verbürgen. Das Verhalten von Ratten auf Umweltdruck dient Selyes Paradigma der Stresspsychologie als allgemeiner Referenzpunkt, um zugleich spezifisch menschliche Reaktionsweisen interpretieren zu können. Im ersten Schritt von Selyes dreigliedrigem Modell zeigen die Ratten eine Alarmreaktion, die mit Adrenalinausschüttung und erhöhtem Blutdruck einhergeht; im zweiten, dem State of Resistance, ereignet sich eine komplexe Anpassungsleistung des Organismus an die neuen Bedingungen. Gelingt es dem Organismus nicht, sich anzupassen und den physiologischen Haushalt auszugleichen und zu stabilisieren, tritt der State of Exhaustion ein, der zu „Stresstod“ führen kann,41 weil der Körper seine gesamte Energie aufbraucht.42 Das gilt nach Selye auch für den menschlichen Organismus. Er zeigt, dass es eine Vielzahl möglicher Ursachen für Stress gibt, die sowohl akut wirken als auch hintergründig präsent sein können. Mit der Popularisierung des Stressbegriffs, die in der BRD Mitte der 1970er Jahre u.a. durch Vesters Bestseller Phänomen Stress43 vorangetrieben wird, werden zu den möglichen Ursachen der Stressreaktion immer mehr psychosoziale Faktoren gerechnet. So wird Stress ein Sammelbegriff für alle Arten von Belastungen und Beschwerden und gleichzeitig ein wichtiges und wissenschaftlich begründetes Instrument der Kritik. Die Rede von den unvermeidlich ablaufenden Stressmechanismen, die durch die technogene Umwelt ausgelöst werden, befördert eine Reihe von bevölkerungspolitischen Krisendiagnosen, verbunden mit der Warnung vor den gesellschaftlichen Kosten der Stressbelastung. Der Stresstod erscheint in diesen nicht nur als eine Eventualität eines überlasteten Organismus, sondern auch als erwartbares Resultat einer unangepassten menschlichen Population. Stressbekämpfung wird daher zu einem gesellschaftlichen Gebot, um die prognostizierten Soziallasten zu reduzieren und den Kollaps der sozialen Systeme zu verhindern. Während das Stressparadigma eigentlich auf die Veränderung der technischen Systeme abzielen müsste, die im Wesentlichen für die Belastung der Einzelnen verantwortlich gemacht werden, öffnen populärwissenschaftliche Arbeiten wie die von Vester das Feld der Selbstführung für individuelle Prophylaxemaßnahmen. Veränderungen in den individuellen Verhaltensweisen sollen nun die behäbigen Veränderungsdynamiken der sozialen und technischen Systeme flankieren. Die Bewältigung von Hetze und Erschöpfung arbeitet somit nicht nur am Wohlergehen der Einzelnen, sondern es macht sich um die (Über-)Lebensfähigkeit des Makrosystem der menschlichen Gesellschaft verdient. Die Arbeit am individuellen Glück (Antistressfaktor!) kann sich als sowohl individuell erstrebenswert als auch gouvernemental vernünftig ausweisen. Im lebensratgeberischen Diskurs findet die Stressbekämpfung ihren festen Platz, weil sie Selbstsorge mit gesellschaftlicher Verantwortung aufs Eindringlichste zu verbinden scheint.

41 Vgl. Kury (2012), 68. Außer im Begriff des Stresstods taucht in Selyes Rattenuntersuchungen der Begriff „Stress“ bemerkenswerterweise noch nicht auf. 42 Vgl. Cooper/Dewe (2004), 25f. 43 Vgl. Kury (2012), 223f. Vester ist auch derjenige, der das Vorwort zu Beyers Stressratgeber geschrieben hat.

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2.2.3 Private Freedom, Public Benefits: Humanistische Psychologie Die Humanistische Psychologie bietet die Grundlage für einen auf persönliches Wachstum und individuelle Entfaltung ausgerichteten Diskurs, der weit über akademische Kreise hinausreicht. Carl R. Rogers, einer der Urväter der Humanistischen Psychologie und ein konsequenter Kritiker des psychiatrischen Establishments seiner Zeit, ist dadurch eine herausragende Figur im Wandel der psychologischen Landschaft, dass er (nach eigener Aussage) sowohl persönlich als auch professionell jenen Wandel vollzieht, den er sich für die Gesellschaft und für seine Klienten wünscht. „One brief way of describing the change which has taken place in me is to say that in my early professional years I was asking the question, How can I treat, or cure, or change this person? Now I would phrase the question in this way: How can I provide a relationship which this person may use for his own personal growth?“44

Rogers beschreibt, dass seine Erfahrungen mit Klient/innen auf die gesamte Gesellschaft übertragbar sind. Er hebt nicht nur die Grenzen zwischen den Kranken und den Gesunden auf, er verkehrt auch das Verhältnis von Mittel und Zweck in der Therapie: Es gehe weniger darum, diese und jene Störungen zu beseitigen und dadurch die Defizite gegenüber einer als normal gesetzten Persönlichkeit zu minimieren. Vielmehr sei eine Persönlichkeit zu werden die Kur für viele der Leiden der Menschen, mit denen er professionell und privat Kontakt hat. Menschen leiden darunter, nicht sie selbst zu sein – und das sei das Grundproblem, aus dem vielfältige Symptomatiken sich entwickeln. Die Kur muss individuell sein, weil jede Persönlichkeit anders ist – es gibt aber gewisse menschliche Grundkonstanten, die Rogers in seiner Arbeit erforscht und der Öffentlichkeit 1961 in On Becoming A Person präsentiert. „Hence its task is to enable its clients to change away from facades, from the constant preoccupation with keeping up appearances, from an internalized sense of duty springing from externally imposed obligations, from the constant attempt to live up to the expectations of others.“45

Rogers überschreitet bewusst Grenzen, so auch die von privat und öffentlich, indem er Therapiesitzungen vor einem Publikum und laufender Kamera abhält. In der Humanistischen Psychologie sind ein optimistisches Menschenbild und die Betonung von Eigenverantwortung und Aktivität aneinander gekoppelt. Abraham Maslow, eine weitere Größe der Humanistischen Psychologie, beschreibt als Resultat aus seinen motivationspsychologischen Untersuchungen bereits 1943 die Grundlage des humanistischen Menschenverständnisses. Seine Bedürfnispyramide hat es zu außerordentlicher Berühmtheit gebracht. Er unterscheidet fünf

44 Rogers, Carl R. (1961): On Becoming a Person. A Therapistʼs View of Psychotherapy. A Distinguished Psychologist’s Guide to Personal Growth and Creativity. Boston: Houghton Mifflin, 32. 45 Rose (1991), 246.

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zentrale Bedürfnisse (needs), die sukzessive aufeinander aufbauen.46 Paradigmatisch ist hier nicht nur die Einführung von genuin menschlichen Bedürfnissen, 47 sondern auch der Übergang von Bedürfniserfüllung als Ausgleich von Defiziten hin zu einem unabschließbaren und reflexiven Prozess. Neben physiologischen Bedürfnissen (physiological’ needs),48 Sicherheitsbedürfnissen (safety needs) und den sozialen Bedürfnissen nach Lieben und Zugehörigkeit (love needs) sowie Selbstwertgefühl (esteem needs) führt Maslow die Selbstverwirklichung (need for self-actualization)49 ein. Dieses ist ein unabschließbarer Prozess innerer Erfahrung und Ziel der menschlichen Entwicklung. „It refers to the desire for self-fulfillment, namely, to the tendency for him to become actualized in what he is potentially. This tendency might be phrased as the desire to become more and more what one is, to become everything that one is capable of becoming.“ 50

Maslow formuliert das letzte Bedürfnis somit offen und unendlich, gleichzeitig als Erfüllung des Menschseins überhaupt. Damit wird Selbstverwirklichung zur Aufgabe der meisten Menschen, zumindest in den Industrienationen, wenn sie sich nicht gegen ihre menschlich-natürliche Bedürfnisanlage stellen wollen. Bei Rogers wie Maslow sind natürliche Bedürfnisse und ein aktivisches, eigenverantwortliches Selbstverständnis eng aneinander gekoppelt. Lassen sich aus den Bedürfnissen Rechte ableiten, so auch, zumindest ex negativo, Pflichten: Wer sich nicht selbst entfalten will, verzichtet auf einen wesentlichen Aspekt seines Menschseins. Gewinnt die Lust aufs Mensch- und Selbstsein an Fahrt, so werden diejenigen Individuen verdächtig, die das gar nicht wollen. Die Kritik der Humanistischen Psychologie findet schon in den 1960ern zunehmend Gehör. Ihre Schlagworte tauchen in fast allen wichtigen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen auf. Maslows Bedürfnispyramide wird zitiert, erweitert, reorganisiert, z.T. von ihm selbst, z.T. von anderen. Rogersʼ optimistisches Menschenbild fällt innerhalb der westlichen Staaten, die sich in einer krisenhaften Umbruchsituation befinden auf einen fruchtbaren Boden. Es verbindet eine soziale und politische Skandalisierung mit einem individualistischen Heilungsversprechen.

46 Maslow, Abraham (1943): A Theory of Human Motivation. In: Psychological Review (50), 370-396; 385. 47 Vgl. Maslow (1943), 392: „This theory starts with the human being rather than any lower and presumably ‚simpler‘ animal. Too many of the findings that have been made in animals have been proven to be true for animals but not for the human being. There is no reason whatsoever why we should start with animals in order to study human motivation“. 48 Maslow (1943), 372: „Once these desires are accepted for discussion, we see that they too form themselves into a small hierarchy in which the desire to know is prepotent over the desire to understand. All the characteristics of a hierarchy of prepotency that we have described above, seem to hold for this one as well“. 49 Alle ebda., 376-382. 50 Ebda., 383.

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2.4 ZUSAMMENFASSUNG Die diskursive Explosion des Psychobooms löst allerlei Grenzen auf. Er bietet der Selbstführung Elemente der Problematisierung wie auch der Teleologie. Anders als die Kybernetik, aber mit ähnlichen Ergebnis für die Selbstführung, wirken ein Jargon der Machbarkeit und ein Recht aller auf individuelle Selbstverwirklichung (das oft zu einer Verpflichtung tendiert) auf große Bereiche der Gesellschaft und prägen ein neues Bild vom Umgang mit sich selbst und mit anderen. Positive Selbstführung ersetzt oder ergänzt zumindest die etablierte Psychopathologie. Die wahrgenommene Macht des Mitmenschlichen steigt und öffnet eine neue Vermittlung von Selbstführung und Fremdführung inner- und außerhalb der Arbeitswelt. Die Therapeutisierung, Stressforschung und Humanistische Psychologie bescheinigen den Menschen der modernen Industriegesellschaft ein Leiden unter gesellschaftlichen Umständen, die letztendlich ihr persönliches Wachstum blockieren. Sie überführen eine dichotome Sicht auf den Menschen in den Begriffen krank/gesund zu einem in Graden bestimmbaren Zustand des Leidens und Wohlergehens, der immer weiter auf persönliches Wachstum hin steigerbar ist. Gleichzeitig werden Angebote in Form von Therapien, Beratungen und Selbsttechniken in Stellung gebracht, welche die Subjekte befreien sollen, ihnen dabei aber latent ihre Angewiesenheit auf Hilfe vor Augen führen. Genau an dieser Stelle setzen sich auch die Lebensratgeber der zweiten Epoche an. Für sie sind Eigenverantwortung, Individualität, Authentizität und Persönlichkeitsentwicklung bereits Tropen, auf die sie mit großer Selbstverständlichkeit zurückgreifen. Gerade des Themas der Verteidigung des Individuums gegen äußere Einflüsse haben sich Psychologie und Lebensratgeber gleichermaßen angenommen. Die Anwälte des Individuums profitieren vom Aufwind der Stresskritik und deren wissenschaftlicher Rückendeckung. Der Boom von Beratungs- und Therapieangeboten lässt einerseits bewusste Selbstführung zum Zwecke psychischer Gesundheit als etwas Notwendiges erscheinen, zum anderen ebnet er den Weg für mediale Formen von Beratungsangeboten. Das Stressgeschehen bestätigt und befördert individuelle Strategien als einen wesentlichen Baustein zur Vorsorge. Die Humanistische Psychologie bietet die Hintergrundfolie für den Menschen als ein Bedürfniswesen; Selbstführung erscheint so als ein (bislang von der Gesellschaft vorenthaltenes) Recht, sich persönlich zu entwickeln, und erscheint zugleich als Basis ihres Wohlergehens und Fortbestands. Ein großes, aber durch Erziehung unterdrücktes Wachstumspotenzial bietet einen hervorragenden Ansatzpunkt für Lebensratgeber. Sie können ihre Techniken für alle anbieten, die sich emanzipieren wollen. Gleichzeitig profitieren sie davon, dass der Ruf zur Selbstaktivierung und Eigenverantwortung gesellschaftlich auf so vielen Ebenen Resonanz findet.

3

Rekonstruktion zeitspezifischer Diskurse in Anstalten der Menschenführung: Betrieb und Schule im Fokus von Subjektivierungspraktiken

Etliche Jahre vor den Umbrüchen im Ordnungsdenken der Nachkriegszeit wird im Betrieb und in der Schule bereits heftig über die veränderten Voraussetzungen für die Menschen- und Selbstführung diskutiert. Unter dem Stichwort des Autoritätswandel in der Gesellschaft werden jene Strukturen als krisenhaft und überlebt identifiziert, die ab Mitte der 1970er Jahre ihren raschen Niedergang finden werden. Die Diskussionen um eine veränderte Führungspraxis zeigen, dass es sich bei dem Epochenbruch nicht bloß um eine tiefgreifende Transformation im Ordnungsdenken, in den Steuerungsmodellen oder den Lebensstilen handelt, sondern auch und gerade um einen Umbruch in der Fremd- und Selbstführungspraxis. Die Hinwendung zum Subjekt und die Mobilisierung seiner subjektiven Potenziale mittels Techniken und Training ist nicht allein Thema der Lebensratgeber oder psychologischer Diskurse, sondern zeigt sich in zwei zentralen Feldern der Menschenführung, nämlich Betrieb und Schule. Erstmals öffnen sich die Institutionen für die Möglichkeiten, Menschen über die Freisetzung ihres Selbst zu führen. Kommt man im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts kaum über ein direktives Weisungsverhältnis zwischen Vorgesetzten und Arbeiter/innen hinaus, ist nun dieses Autoritätsverhältnis Gegenstand zahlreicher Kritiken. In der Schule werden zunehmend die Position der Lehrer/innen und ihre Unterrichtsformen als Überbleibsel einer auf Gehorsam abgestellten Praxis gebrandmarkt.1 Im Bereich der Betriebsführung wird das strenge Unterordnungsverhältnis zwischen Vorgesetzten und Arbeiter/innen als anachronistisch betrachtet, da es weder den kulturellen Veränderungen noch der veränderten Wirtschaftsstruktur adäquat ist. Bei beiden spielen die wissenschaftlichen Forschungen, in der Arbeitssphäre vor allem die betriebswirtschaftlichen Untersuchungen zur Mitarbeiter/innenführung, eine entscheidende Rolle.

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Strzelewicz, Willy (1961): Der Autoritätswandel in Gesellschaft und Erziehung. In: Die deutsche Schule. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Bildungspolitik und pädagogische Praxis (4), 166.

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3.1 DIE SUBJEKTIVIERUNG DER VORGESETZTEN: MOBILISIERUNG SUBJEKTIMMANENTER POTENZIALE IN DER BETRIEBSSPHÄRE Die Frage, wie Menschen in Betrieben geführt werden, um sie zu einem erwünschten Verhalten zu veranlassen, ist eine der entscheidenden Fragen des Managements. Der wesentliche Umbruch im Vergleich zum ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ist, dass man es im Betrieb nicht mehr nur mit einem arbeitenden Körper zu tun hat. Im Managementdiskurs der 1960er und 1970er Jahre beginnt allmählich ein neuer Typ von Arbeiter/in aufzutauchen, die so gar nichts mehr mit der Mensch-Maschine früherer Tage zu schaffen hat. Dies hängt nicht zuletzt mit der oben skizzierten veränderten Wirtschaftsstruktur und veränderten Produktionsprozessen zusammen. Der Aufschwung des Dienstleistungssektors bringt eine Arbeitsweise mit sich, die auf intellektueller und kommunikativer Tätigkeit beruht und eine stärkere soziale Kooperation der Arbeitssubjekte notwendig macht. Doch auch der klassische Industriesektor erfordert einen bedeutend geringeren Einsatz von rein körperlicher Kraft und Präzision. Gleichwohl die fordistisch organisierte Fließbandarbeit im Industriesektor immer noch allgegenwärtige Arbeitsrealität ist, hat der Einsatz von technischen Systemen und automatisierten Prozessen zu einer Verringerung des „Malochertums“ geführt.2 Der Arbeiter/innen sind nun auch mit steuernden, überwachenden und optimierenden Aufgaben betraut. Die hochgradig spezialisierten und technisierten Produktionsabläufe erfordern den Einsatz von besser ausgebildetem und qualifiziertem Personal: „Die Frage zur Anwerbung von Führungspersonal gibt in den 60er Jahren vielfältigen Anlass zur Sorge. Man weiß nicht recht, wie sich die besten Nachwuchskräfte aus der Mittelschicht in den Dienst des Kapitalismus stellen lassen.“ 3 Das aufgewertete individuelle Anspruchsdenkens der Arbeitssubjekte verändert auch die Form, sie in den Arbeitsprozess einzubinden und zu führen. Die Vorgesetzten sind umgekehrt nicht mehr die fachlichen Autoritäten, die alle Arbeitsschritte im Einzelnen im Überblick haben und in jedem Fall ihren Untergebenen fachlich überlegen sind. In einigen Texten warnt man sogar vor einem zu großen Ehrgeiz der Vorgesetzten: „Die Tatsache, daß seine Mitarbeiter manches besser wissen und können, darf ihn nicht zu dem aussichtslosen Versuch verführen, es ihnen gleichzutun oder sie noch übertreffen zu wollen. Im Gegenteil, er muß die Überlegenheit seiner Mitarbeiter noch fördern und sie produktiv für die Gesamtaufgabe nützen.“4

Er muss ihnen nun die Fähigkeit zugestehen, mitzudenken, mitzuurteilen und „sie als geistige Partner akzeptieren.“5 Wer die Mitarbeit seiner hochspezialisierten Facharbeiter/innen gewinnen will, muss sie persönlich für sich einnehmen. Der Diskurs der 2 3 4

5

Vgl. Doering-Manteuffel/Raphael (2008), 24 Vgl. Boltanski/Chiapello (2008), 98. Eberhard, Paul Karl (1969): Hilfen zur Menschenführung in der modernen Arbeitswelt. In: Neumann, Karl Heinz (Hrsg.): Optimal führen. Konzeption und Methodik neuen Führens in der modernen Leistungsgesellschaft. Heidelberg: Sauer, 127-155; 141f. Ebda., 138.

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Betriebsführung dieser Zeit sieht dementsprechend Beteiligungsformen vor, die der Mitarbeiter/in eine größere Freiheit und Verantwortlichkeit zuerkennt. Das bereits erwähnte Harzburger Modell, das von der Akademie für Führungskräfte der Wirtschaft unter der Leitung von Reinhard Höhn ab den späten 1950er Jahren entwickelt wurde, und die betriebspsychologischen Forschungen von Guido Fischer übten hier einen entscheidenden Einfluss aus. Sie sahen größere Entscheidungsspielräume, flachere Hierarchien und die Möglichkeiten vor, „innerhalb ihres Delegationsbereiches ihre Fähigkeiten voll zu entfalten“.6 Der Betrieb war aufgefordert, keine eindeutig fixierten Aufgabenbereiche vorzugeben, die dann ständig dem Eingriff der Vorgesetzten ausgesetzt sind, sondern der Mitarbeiter/in einen Rahmen aufzuerlegen, innerhalb dessen sie eigene Entscheidung treffen kann. Das Beurteilungsinstrument in den Händen der Vorgesetzten, so schlägt Fischer vor, soll die Personalbeurteilung sein. Diese hebt die Mitarbeiter/in aus der Sphäre der Beurteilung von reinen Leistungsnormen und beurteilt diejenigen Aspekte des Arbeitssubjektes, die Grundlage seiner neuen Freiheit sind. In den Personalbeurteilungen wird demgemäß ein „Überblick über das menschliche Verhalten der einzelnen Mitarbeiter gewonnen, sowohl über das berufliche als auch deren charakterliches Verhalten“. 7 Sie wird mit der Mitarbeiter/in schließlich besprochen, damit sie ihre steuernde Rolle entfalten kann. Die Mitarbeiter/in soll in dieser Weise zur Einsicht gebracht werden, „dass es auf das menschlich wertvolle Verhalten eines jeden einzelnen ankommt, wie sich dieser dabei zu verhalten hat und wie er sich selbst bei seinem eigenen Verhalten ständig beobachten und gegebenenfalls beeinflussen muss“. 8 Lenkung und Führung geschieht nicht mehr, indem man die Mitarbeiter/in über Lohn und Strafe einen fremden Willen aufzwingt, sondern indem man ihren eigenen Willen für die Interessen des Betriebes mobilisiert. Das Arbeitssubjekt ist dabei in allen seinen Facetten angesprochen, auch und gerade hinsichtlich seiner tieferliegenden Motivlagen: „Der Versuch, das Verständnis der Mitarbeiter für ihre Aufgabe oder für eine bestimmte Anweisung zu gewinnen, zielt letztlich nicht nur auf eine Beteiligung im Denken, nicht nur auf den Intellekt.“9 Dort, wo sich die Zielsetzung des Individuums mit denen des Betriebes inhaltlich nicht in Deckung bringen lassen, macht man sich seine latenten Bedürfnislagen zunutze. „So wird ein Grundschulkind häufig nur schwer zum Lernen durch das Interesse am Lernstoff oder durch die Vorstellung der Ertüchtigung für das in weiter Ferne liegende Berufsleben zu bewegen sein. […] Es wäre unrealistisch, anzunehmen, dass erwachsene Menschen nur mit Appellen an ihr Verständnis und an ihre Einsicht geführt werden können. Auf das Verhalten aller Menschen üben Lohn und Strafen, wenn auch in noch so sublimen Formen, als Nebenziele [gemeint ist die Führung über die betriebsfremden Bedürfnisse] mitunter entscheidenden Einfluss aus.“10 6

Volk, Hartmut (1968): Vom Betriebsuntertan zum Mitarbeiter. In: Arbeit und Leistung (22/10), 184-185; 185. 7 Fischer, Guido (1960): Aufgaben und Zielsetzungen betrieblicher Menschenführung. In: Mensch und Arbeit. Zeitschrift für schöpferische Betriebsführung (12), 2-5; 2f. 8 Ebda., 3. 9 Eberhard (1969), 138. 10 Ebda., 139f. Dass Eberhard ein Beispiel aus der Kinderpädagogik wählt, ist nicht völlig zufällig, sondern der Sicht auf die Mitarbeiter/in adäquat. Wie weiter unten beschrieben wer-

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Das Arbeitssubjekt der 1960er/1970er Jahre wird über seine Partizipationsansprüche und sogar über seine Bedürfnisse, die sich den funktionalen Zielen des Betriebes mitunter entziehen, geführt und gesteuert. Es ist augenfällig, dass, umso mehr die Mitarbeiter/in als frei gesetzt wird, die Subjektivität der Vorgesetzten in den Fokus tritt. Wenn über den Einfluss und die Förderungen der individuellen Persönlichkeit gesprochen wird, und dies geschieht in zahlreicher Weise, in Artikeln und Zeitschriftenaufsätzen, Sammelbänden und Monografien, dann ist in der Regel die Vorgesetztenpersönlichkeit gemeint. Dies hat drei Gründe: Zum Ersten ist die Vorgesetzte mehr als eine stille, sanft lenkende Gestalt, die nur die Fäden zusammenhält, die andere knüpfen. Der Vorgesetzten werden zwar die Aufgaben einer grob materiellen Zucht und Intervention entzogen, aber ihr werden umso mehr indirekte und subtile Steuerungsaufgaben aufgebürdet. Zweitens kommt der Vorgesetzten in der Zeit kriselnder Autorität nicht mehr von Amts wegen Autorität zu. Dass die Mitarbeiter/innen sich ihnen mit ihrem Willen, ihren Antrieben und Kraft übergeben, dafür müssen sie mit ihrer Persönlichkeit bürgen.11 Zum Dritten hat die Vorgesetzte die persönliche Beziehungen ihrer Mitarbeiter/innen zu ihm und untereinander positiv auszugestalten. Sie ist nicht nur für die Bewertung und Ermunterung zuständig, sie muss „Gruppenpflege“ 12 betreiben. Sie muss um die persönlichen Beziehungen der Mitarbeiter/innen in der Gruppe wissen und darauf achten, dass sie zum Vorteil der Gruppe zusammenwirken. Die Arbeitsleistung ist also eng an die Gruppendynamik gebunden, die wiederum von der Vorgesetzten im Hintergrund wesentlich mitbeeinflusst wird.13 Die Vorgesetzte vereinigt neuartige und widersprüchliche Aufgaben auf sich, wobei gleichzeitig ihre Autorität auf schwankenden Fundamenten steht. Sie ist für die Managementliteratur der 1960er und 1970er Jahre deshalb das Resultat eines Trainings, mehr noch: Sie muss sich selbst zum Gegenstand der Steuerung machen. Sie muss sich im Sinne eines kybernetischen Modells im Wechsel erkennen und verändern.14 Die Vorgesetzte erkennt und soll sich und ihre Angestellten mit ihren Bedürfnissen erkennen – es ist indes nicht vorgesehen, dass sie als eine Erkennende erkannt wird oder sich selbst zu erkennen gibt. Sie erscheint ihren Mitarbeiter/innen als offene, vorurteilsbefreite und verständnisvolle Persönlichkeit, hat sich aber im gleichen Maße hohe Zurückhaltung und Disziplin aufzuerlegen:

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den soll, pädagogisiert sich die Beziehung der Vorgesetzten zu ihren Mitarbeiter/innen. Die Mitarbeiter/in taucht in der Betriebsführungsliteratur statt als mündiges Subjekt häufig als anlehnungsbedürftiges Kind in Erscheinung, dem zu ihrer Freiheit verholfen werden muss. „Heute muß es darum gehen, daß die Menschen sich ‚einfügen‘ und das werden sie nur tun, wenn sie in irgendeiner Form über diese Verfügung mitbestimmen, und sei es nur dadurch, daß sie die Überlegenheit des Führenden vorbehaltlos anerkennen“, Dederra, Erich (1960): Von der autoritären Herrschaft zur demokratischen Autorität im Betrieb. In: Mensch und Arbeit. Zeitschrift für schöpferische Betriebsführung (12), 226–228; 227. Eberhard (1969), 144. Vgl. Kreitz, H.J. (1970): Führungsstil und Arbeitsleistung. In: Arbeit und Leistung. Zentralblatt für Arbeitswissenschaft und soziale Betriebspraxis (1), 19-24; 22. Vgl. Kunze, H.H. (1969): Weiterbildung und Selbsterziehung der Führungskräfte. In: Fortschrittliche Betriebsführung (18/1-2), 21–25; 23.

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„Vom Vorgesetzten muss gefordert werden, dass er im persönlichen Verhalten zu seinen Mitarbeitern bewusst der fruchtbaren Zusammenarbeit Rechnung trägt. Damit ist schon gesagt, dass er seinen Gefühlen nicht freien Lauf lassen darf, dass er insbesondere seine Sympathien und Antipathien unter Kontrolle halten muss. So förderlich für die Erfüllung seiner Aufgabe ein hoher Grad an unmittelbarer Kontaktbereitschaft und Kontaktfähigkeit sein kann, so kommt doch der bewussten Orientierung und Steuerung seines Verhaltens den Mitarbeitern gegenüber eine noch wesentlichere Bedeutung zu.“15

Insofern ist das Verhältnis zwischen Vorgesetzten und Angestellten trotz des demokratischen Anspruchs grundsätzlich asymmetrisch. Auf der Ebene der in den Texten vorgeschlagenen Übungen ist auffällig, dass neben solchen Übungen zur Selbst- und Fremdsensibilisierung Techniken in die betriebliche Praxis Eingang finden, die aus dem Bereich der Selbstrationalisierung stammen. Auf die Technik des Zeitmanagements wurde von Kunze bereits verwiesen und sie taucht regelmäßig als Anleitung für Geschäftsführer/innen und Vorgesetzte in den Zeitschriften für Unternehmensführung auf.16 Darüber hinaus finden die allseits bekannten Techniken zur Steigerung kognitiver Fähigkeiten wie Intelligenz, Lesegeschwindigkeit, Gedächtnisfähigkeiten und dergleichen Beachtung. 17 Diese könnten direkt aus den Schriften von Wiedemann, Scheitlin oder Niessen entnommen sein. Neben der allgemeinen geistigen Effizienzsteigerung werden der Vorgesetzten die Techniken der Selbstrationalisierung als Rezept gegen Hetze und Stress im Arbeitsalltag, gegen Überforderung und Zeitmangel angepriesen. 18 Gleichzeitig sollen Vorgesetzte wie Angestellte kreativer werden. Die Freisetzung von Kreativität setzt dabei vor allem eine aufbegehrende Haltung des Subjektes voraus. Es „muss die Fähigkeit besitzen, immer wieder auszubrechen. Kreative sind

15 Eberhard (1969), 142. 16 Vgl. Siegert, Werner (1969): Stundenplan für Unternehmer. In: Plus. Zeitschrift für Unternehmensführung (2), 45-52 oder Schoeller, V.D. (1968): Zuerst die eigene Arbeit rationalisieren. In: Fortschrittliche Betriebsführung (17), 42ff. 17 Raphael Paul (1968): Gedächtniskunst für strapazierte Gehirne. In: Plus. Zeitschrift für Unternehmensführung (8), 53-58; Morawa, Hans (1970): Mobilisieren Sie Ihre Intelligenz! In: Plus. Zeitschrift für Unternehmensführung (7), 41-46; Knabe, Gerald (1971): Schneller lernen. In: Plus. Zeitschrift für Unternehmensführung (11), 67-69; Schweisheimer, Waldemar (1969): Wie man seine Merkfähigkeit schulen kann. In: Personal. Mensch und Arbeit (4), 114-115; Zingg, Edwin (1967): Positives Denken und Handeln überwindet jede Resignation. In: Personal. Mensch und Arbeit (5), 130-131; Zielke, Wolfgang (1969): Schneller lesen mit Gewinn. In: Plus. Zeitschrift für Unternehmensführung (1), 41-44; Heydemann, Bernd (1962): Hilfen zur Entwicklung der geistigen Leistungsfähigkeiten. In: Mensch und Arbeit. Zeitschrift für schöpferische Betriebsführung (14); S. 105-106. 18 Das Auftauchen von Entspannungstechniken wie dem Autogenen Training in den Zeitschriften für Unternehmer/innen und leitende Angestellte scheint bereits auf eine gewisse Rastlosigkeit und Überbeanspruchung hinzudeuten. Vgl. Wallnhöfer, Heinrich (1970): Sauna für die Seele. In: Plus. Zeitschrift für Unternehmensführung (2), 79-82; Tittes, Christa (1969): Entspannung am Arbeitsplatz durch Ausgleichsgymnastik. In: Personal. Mensch und Arbeit (1), 8-9.

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Ausreißer aus der Gesellschaft.“19 Die Techniken reichen hier von der Implementierung neuer Denkmethoden20 bis zum partiellen Rückzug in eine idyllische landschaftliche Szenerie21 oder der Anwendung des Brainstorming.22 Wir sehen also, dass die neuartige Rolle, die der Vorgesetzten innerhalb eines gewandelten Führungsmodells für die betriebliche Praxis gegeben ist, es notwendig macht, sich mit ihr und ihrer Subjektivität zu beschäftigen. Aus einer gouvernementalitätstheoretischen Sichtweise ist klar, dass die Abkehr vom autoritären Führungsmodells alter Tage keineswegs eine Aufhebung von Machtverhältnissen im Betrieb zur Folge hat. Es handelt sich beim demokratischen Führungsstil gewiss nicht um eine simple Freigabe von Individualitäten, auch wenn das neue Führungsmodell individualisierend wirkt (wie wir gesehen haben, insbesondere auf die Vorgesetzten). Stattdessen lässt sich besonders an den Aspekten der Vorgesetztenpersönlichkeit, die einem Training zugänglich gemacht werden, nachvollziehen, welche Art von Führung, welche Art von Machtverhältnissen paradigmatisch für den Betrieb der 1960er/1970er Jahre wird. Die offensichtlichste Veränderung liegt darin, dass man sich wegbewegt von einer autoritären, direktiven, auf Gehorsam setzenden Kontrolle der Arbeitssubjekte.23 „Dem abhängigen Angestelltenverhältnis einen Sinn, dem Kapitalismus einen Geist zu verleihen, bildet demnach ein wichtiges Anliegen der Managementautoren.“24 Dies macht ein Führungsmodell plausibel, bei dem die Mitarbeiter/innen des Betriebes über das, was man an und in ihnen an individuellen Neigungen und Bedürfnissen identifiziert, gesteuert werden. Der Vorgesetzten wurde in diesem Führungsmodell, wie gezeigt, eine so besondere, wie fragile Rolle zugewiesen. Sie hat die Zustimmung der Arbeitssubjekte herzustellen, indem sie diese tieferliegenden Neigungen registriert und sie zum Vorteil des Betriebes mobilisiert. Zugleich muss sie ihre Autoritätseffekte punktgenau ausüben, genau kontrollieren und auf die jeweilige Situation abstimmen. Gelingen kann dies aber nur, wenn sie ihre eigene Subjektivität im Griff hat. So erwartet man sich, dass die Vorgesetzte zweierlei vollbringt: sowohl freisetzend als auch lenkend auf das Verhalten ihrer Mitarbeiter/innen zu wirken und zwar mittels ihrer durch Training in Form gebrachten Subjektivität. Die Krise der („autoritären“) Autorität ist also keineswegs eine Bürde für die betriebliche Praxis, sie ist die entscheidende Lebensbedingung für ein neues Steuerungsmodell menschlichen Verhaltens.

19 Wagenführ, Horst (1971): Den Kreativen eine Gasse! In: Plus. Zeitschrift für Unternehmensführung (3), 62-67. 20 Morowa (1970), 41f. 21 Siegert, Werner (1973): Mieten Sie sich eine Kreativklause! In: Plus. Zeitschrift für Unternehmensführung (3), 70. 22 Naase, Karl-Heinz (1961): Wie man Ideen durch „Brainstorming“ findet. In: Personal. Mensch und Arbeit (6), 172-173 sowie Wagenführ (1971),172-173; 66. 23 Angemessen war sie sowohl in Bezug auf das Produktionsregime, dass eben auf der Arbeit menschlicher Körper basierte, als auch adäquat in Bezug auf eine Gesellschaft, die selbst streng hierarchisch und autoritär gegliedert war. 24 Boltanski/Chiapello (2006), 99.

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3.2 DIE SCHULE ALS ORT EXPANSIVER SUBJEKTIVIERUNG ODER: DIE EINKREISUNG DER SCHÜLER/IN Die Schule wird in den 1960er Jahren voll von der Modernisierungspolitik der Bundesregierung erfasst. 1969 erklärt Willy Brandt die Reform des Bildungswesens zur vordringlichsten Aufgabe seiner Regierungspolitik. Der Aus- und Umbau der Schul-, Hochschul- und Ausbildungssystems war beispiellos und erreichte nie wieder erlangte Dimensionen. Der Intensität der Modernisierung zugrunde lag eine seltene Koalition von heterogenen Kräften. Vertreter der Wirtschaft, politische Parteien und die Student/innenbewegungen sehen sich unvermittelt in ihrem Ziel vereint, breitere Schichten in das Bildungssystem einzubeziehen. Je nach politischem Standpunkt nannte man es „Aktivierung von unausgeschöpfte[r] Begabungspotenzial[e]“, „Aufhebung der sozialen Diskriminierung“ oder „die Sicherstellung der verfassungsmäßig verbürgten Chancengleichheit aller Bürger“. 25 Hinsichtlich der Schule hatte dies eine Reihe von inneren und äußeren Schulreformen zur Folge, die zwar zumeist hinter den großen Reformerwartungen zurückblieben, aber einen entscheidenden Einfluss auf den Wandel der sozialen Verkehrsformen in der Schule ausübte. 26 Zum einen öffneten sich die weiterführenden Schulen für breitere gesellschaftliche Kreise. Die Schaffung von Orientierungsstufen, die Reform der Oberstufen und die Revision der Curricula senkten die Ausleseschranken im Bildungssystem ab. Die „Demokratisierung von Entscheidungsstrukturen“ und die Partizipation der Schüler/innen an der Schulverwaltung brachten neue Individualisierungsspielräume mit sich. Zum anderen korrespondierte den strukturellen Reformen des Schulwesens eine Entwicklung, die genauso entscheidend für eine veränderte soziale Praxis der Schule und des Unterrichts sein sollte: „Wer etwa 1960 die Schule besucht hat, wird sich noch an die typischen Züge einer autoritären Schulkultur erinnern: Das Aufstellen auf dem Pausenhof, der Begrüßungschor zu Stundenbeginn, die hohe personale Abhängigkeit vom Klassenlehrer, die je nach Person Schrecken oder Glück bedeuten konnte, und die Notenpeitsche, die vor allem im Gymnasium ohne große Hemmungen geschwungen wurde – dies alles gehörte wie selbstverständlich dazu. Seit Beginn der siebziger Jahre hat 25 Tillmann, Klaus-Jürgen (1987): Zwischen Euphorie und Stagnation. Erfahrungen mit der Bildungsreform. Hamburg: Bergmann&Helbig, 9ff. 26 Bis 1960 erhielt sich ein stark segregierendes schulisches System, das darauf fußte, dass etwa 70% der Heranwachsenden die Volksschule besuchten. Nach der 8. Klasse gingen die Jugendlichen in die Lehre und wurden Jungarbeiter/innen. Mit dem 18. Lebensjahr erreichten sie zumeist die volle Berufsfähigkeit und gliederten sich in das Erwerbssystem ein. Nur etwa 17% aller Jugendlichen besuchten ein Gymnasium. Die sogenannten „Höheren Schulen“ waren nahezu ausschließlich den bürgerlichen Kreisen vorbehalten. Sie hatten die Heranwachsenden auf ihre Rolle als Träger des abendländischen Kulturgutes vorzubereiten. Ihrem Auftrag nach sollten sie gegen die Vergnügungs- und Genusssucht der Jugendlichen vorgehen, vor allem sollte der geschlechtliche Kontakt unter den Schüler/innen bekämpft werden. „Das aus dem 19. Jahrhundert überkommene klassische Modell von der kurzen proletarischen und der lang-andauernden bürgerlich-asketischen Jugend hatte auch 1960 noch einen hohen Realitätsgehalt.“, aus: Tillmann (1987), 21.

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sich diese ‚alte‘ Schulkultur mehr und mehr verflüchtigt, ohne dass sie überall völlig verschwunden sein dürfte. Generell läßt sich aber sagen, dass Heranwachsende in der heutigen Schule weit weniger als vor zwanzig Jahren reglementiert und autoritär behandelt werden.“27 Ende der 1960er Jahre drängten viele Junglehrer/innen in die Schule, die sich im Klima einer delegitimierten, überkommenen Autorität sozialisiert hatten, was den Wandel innerhalb der Schule beschleunigte.28 Die Lehrer/innen alten Schlags geraten nun in den Verdacht, verkopfte Befehlsempfänger/innen auszubilden, die an Unterwerfung und Gehorsam gewöhnt sind. Man stellt infrage, ob die autoritäre Unterrichtsgestaltung überhaupt geeignet sein kann, den Schüler/innen zu effektiven Lernerfolgen zu verhelfen. Denn die Fähigkeiten zu selbständigem Urteilen und eigenverantwortlichem Handeln blieben unterentwickelt, weil die natürlichen Autonomiebestrebungen des Kindes als störend empfunden und systematisch unterdrückt würden. „Die Reformpädagogik und die geisteswissenschaftliche Pädagogik kennzeichneten den Lehrer als Künstler, als Menschen, der die Fähigkeit zu lehren und zu erziehen von Natur aus besitze – oder eben nicht besitze. Erfolgreiches Lehren und Erziehen wurde der Intuition, dem pädagogischen Instinkt zugeschrieben. Demgegenüber betrachtet die moderne Pädagogik Lehren und Erziehen als rationale, erlernbare Profession.“29

Die Lehrer/innenausbildung wird nun darauf abgesucht, inwiefern sie durch ihre traditionellen Strukturen wie Vorlesungen, Seminare und Vorträge immer noch am Bild des „Naturtalents“ festhalte.30 In der pädagogischen Forschung und Praxis wird seit Ende der 1960er (mit den einflussreichen Forschungsarbeiten von Tausch und Tausch)31, verstärkt aber seit Beginn der 1970er Jahre diskutiert, ob man nicht einen „Katalog von Persönlichkeitseigenschaften [identifizieren könne], die mit hohen Schülerlernerfolgen korrelieren“.32 Ein wahre Flut von Forschungsarbeiten ergießt sich in Form wissenschaftlicher Fachartikel, pädagogischer Sonderhefte und Monographien über die Zeitgenossen, die auf der Suche nach dem „idealen Lehrerverhal27 Tillmann (1987), 27. 28 Vgl. ebda., 26. 29 Einsiedler, Wolfgang (1976): Veränderung von Lehrverhalten durch Training. In: Pädagogische Welt. Monatsschrift für Erziehung, Bildung und Schule (30), 258–268; 258. 30 Vgl. Kretschmann, Rudolf (1977): Auswirkungen eines Lehrertrainings auf das Verhalten von Lehrern. Bericht über die Durchführung und Ergebnisse eines Programms zum Training von (Lehrer-) Sozialverhalten im Unterricht. In: Psychologie in Erziehung und Unterricht. Zeitschrift für Forschung und Praxis (24), 76-85; 76f. 31 Tausch, Reinhard/Tausch Anne-Marie (1965): Erziehungspsychologie. Göttingen: Verlag für Psychologie, Hogrefe; Tausch, Anne-Marie (1958): Empirische Untersuchungen über das Verhalten von Lehrern gegenüber Kindern in erziehungsschwierigen Situationen. In: Zeitschrift für experimentelle und für angewandte Psychologie. Organ der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (5), 127-163; Tausch Anne-Marie (1960): Die Auswirkung der Art sprachlicher Verbote erziehender Erwachsener auf das Verhalten von Schulkindern. In: Zeitschrift für experimentelle und für angewandte Psychologie. Organ der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (164), 514-539 u.a. 32 Einsiedler (1976), 258.

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ten“ keinen Fragenbogen, keine Stichprobenverteilung, keine Korrelationszusammenhänge undiskutiert lassen.33 In den anhebenden Forschungsbemühungen ist ablesbar, dass als begünstigender Faktor des Lehrer/innenverhaltens keineswegs allein technische Fertigkeiten betrachtet werden, sondern dass gerade die sozialen und emotionalen Aspekte herangezogen werden. Die Lehrkraft, die ihre Effekte auf die Schüler/innen kontrollieren will, muss dementsprechend tief in ihre Subjektivität eingreifen. Spezielle Trainingsansätze berücksichtigen die hohen Anforderungen an die Lehrer/innensubjekte. So gibt es ein Verfahren, das die „Sensitivierung der persönlichen Einstellungen und des Gesamtverhaltens als Voraussetzung für Verhaltensänderung im Erziehungsfeld [hat] […]. Die Sensitivierung der Einstellungen erfolgt vor allem durch gruppendynamische Veranstaltungen. In Selbsterfahrungsgruppen werden verkrustete Persönlichkeitsstrukturen bewußt gemacht.“ 34 Der Entwicklungspsychologe Nickel (u.a.) setzt beim Verhaltenstraining mit Lehramtsstudierenden auf die Wirkung von Videoanalysen sowie gezieltem Sensitivierungs- und Verbalisierungstraining, um bestimmte Lernziele für eine nichtautoritäre Erziehung einzuüben. 35 Gruppenunabhängige und in eigener Regie ausführbare Selbsttrainingsmöglichkeiten

33 Eine solche Untersuchung konnte folgendermaßen aussehen: Der Unterricht einer Klasse wird auf Tonband aufgezeichnet. Aus jeder Unterrichtsstunde werden am Anfang, in der Mitte und am Ende 5 Minuten herausgenommen und daraufhin eingeschätzt und numerisch bewertet, ob bestimmte Verhaltensweisen im Lehrer/in-Schüler/in-Verhältnis gezeigt worden sind. Auf einer fünfstufigen Ratingskala wird zum Beispiel eingeschätzt, ob sich das Verhalten der Lehrer/in eher durch Missachtung, Kälte und Härte oder durch Achtung, Wärme und Rücksichtnahme auszeichnet. Am Ende des Unterrichts müssen die Schüler/innen einen Fragebogen ausfüllen, der unter anderem ihre Gefühle in Bezug auf den Unterricht („Wenn der Lehrer mich etwas fragte, wurde ich irgendwie aufgeregt“), die Arbeitsatmosphäre und ihre geistigen Prozesse (vier Stufen: von unselbständig bis in hohem Maße eigenständiges Denken) erfasst. Alle Werte werden mit den vorher ermittelten verrechnet. Die Ergebnisse werden in Zusammenhang gesetzt. So zeigt sich bei dieser Erhebung: „[B]ei der Lehrergruppe mit eher günstigen Verhalten machen die Schüler positivere Erfahrungen während der Unterrichtsstunde.“ Dies wirkt sich wiederum auf ihre Beteiligung am Unterricht und ihren Lernerfolg aus. So lag der Mittelwert bei nicht-autoritären Lehrverhalten in Bezug auf die geistigen Prozesse des Schülers bei 3.2 und damit deutlich höher als der Mittelwert von 2.1 bei autoritären Verhalten (vierstufige Skala). Vgl. Joost, Hartmut (1978): Förderliche Dimensionen des Lehrerverhaltens im Zusammenhang mit emotionalen und kognitiven Prozessen bei Schülern. In: Psychologie in Erziehung und Unterricht (25), 69-74; 73. 34 Einsiedler (1976), 260. 35 „Stärkung der Fähigkeit zur sozial-emotionalen Zuwendung, Abbau vorwiegend lenkender Verhaltensweise, Steigerung der eigenen anregenden Aktivität, Stärkung der Fähigkeit zu helfender Verbalisierung psychischer Vorgänge, Ermöglichung persönlicher Erfahrungen, die für die zukünftige Erziehertätigkeit relevant sind.“, aus: Nickel, Horst; Schwalenberg, Renate; Ungelenk, Bernd (1974): Ein erziehungspsychologisches Verhaltenstraining mit Lehrerstudenten. Ansätze und Ergebnisse einer empirischen Kontrolle. In: Zeitschrift für experimentelle und für angewandte Psychologie: Organ der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (21), 67-80; 68.

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müssen die Entwicklung der Lehrkompetenz unterstützen.36 Schulz von Thun empfiehlt mit Hilfe seines kybernetischen Trainingsprogramms zum Beispiel an der Verständlichkeit der eigenen Informationsvermittlung zu arbeiten. 37 Andere bringen die Möglichkeiten von verhaltenstherapeutischen Techniken ins Spiel, um beispielsweise in Gruppensituationen unbefangener reagieren zu können.38 Die partikularen Ziele dieser Selbsttrainings verbinden sich aber wieder in einem zentralen Moment: Sie sollen die Lehrer/innen in den Stand versetzen den Schüler/innen als Modell eines lernenden und selbstbestimmten Menschen zu dienen, zu dem diese sie erziehen wollen. So sehr man mit dem Training an der Selbstwahrnehmung und dem Selbstverhalten der Lehrer/innen ansetzen will, sie sind nicht das eigentliche Ziel. Im schulischen Bereich finden wir, ähnlich wie im Betrieb, einen sehr beredten Mangel an Literatur, was die Subjektivität der Schüler/innen betrifft. So unübersehbar es auch ist, dass alles Lehrer/innentraining die Schüler/innen als emanzipierte Subjekte zum Gegenstand hat, so wenig beschäftigt man sich mit der Frage, welche Techniken ihnen vermittelt werden können, sich als solche selbst einzusetzen. Einige schüchterne Versuche, das Brainstorming in die kreative Arbeit von Schüler/innen einzubringen (kaum überraschend geschieht dies zuerst für die Kunsterziehung), lassen sich beobachten, aber diese bleiben doch hinter der Systematik und Ausführlichkeit des Lehrer/innentrainings weit zurück.39 Letztlich scheinen doch alle Verhaltenstrainings, auch wenn sie sich schüler/innenzentriert nennen, auf die Persönlichkeit der Lehrkraft zurückzuführen. Sie hält die Fäden in der Hand, auch wenn sie nun hinter ihrem Rücken zusammenlaufen. Die Lehrer/innen verstecken ihre Autoritätseffekte hinter einer von Kritik und Tadel bereinigten Sprache. An ihre Stelle treten Techniken, die das Verhalten zwischen Lehrer/in und Schüler/in auf ein vorher festgelegtes und genormtes Beziehungsverhältnis bringen. Dieses überwindet den Grundtatbestand nicht, nämlich, dass die Lehrer/in steuert und die Schüler/in gesteuert wird. Allein die manifesten Zeichen ihrer Macht verschwindet.

36 Insbesondere video- oder tongestützte Aufnahmen. Vgl. Kern, Horst (1978): LehrerSelbsttraining durch Videofeedback und Analysen non-verbalen Verhaltens. In: Psychologie in Erziehung und Unterricht (25), 111-114 oder ders.: (1974): Verhaltensmodifikation in der Schule. Anleitung für die Schulpraxis. Stuttgart: Kohlhammer. 37 Schulz von Thun, Friedemann; Langer, Inghard; Tausch, Reinhard (1972): Trainingsprogramm für Pädagogen zur Förderung der Verständlichkeit bei der Wissensvermittlung. Kiel: Landesverband der Volkshochschulen Schleswig-Holsteins. 38 Teegen, Frauke (1974): Möglichkeiten der Selbsthilfe bei der Veränderung von eigenen Problemen. In: Psychologie in Erziehung und Unterricht. Zeitschrift für Forschung und Praxis (21), 321-323. 39 Petzold, H. (1972): Komplexes Kreativitätstraining mit Vorschulkindern. In: Psychologie in Erziehung und Unterricht: Zeitschrift für Forschung und Praxis (19), 146-157; Zöpfl, Helmut (1970): Erziehung zur Kreativität. In: Pädagogische Welt. Monatsschrift für Erziehung, Bildung, Schule (33), 443-445; Sauter, Helmut (1974): Möglichkeiten zur Entwicklung und Verstärkung der emotionalen Dimension im Unterricht. In: Pädagogische Welt: Monatsschrift für Erziehung, Bildung, Schule (37), 594-601; Seitz, Rudolf (1973): Kreativität: In: Pädagogische Welt: Monatsschrift für Erziehung, Bildung, Schule (36), 315-316.

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Dieses Steuerungsmodell hat die Eigenschaften, weitere Personenkreise einzubeziehen. Da der eigentliche Adressat des Trainingsverfahrens nur mittelbar erreicht wird, kommen alle in den Trainingsfokus, die die elementare soziale Umwelt der Schüler/in in Bezug auf ihr Lernverhalten bilden. Neben der Schule bzw. den Lehrer/innen sind dies die Eltern. „Mehr und mehr wurde das Elternhaus als wesentlicher Rahmen erzieherischer Einwirkungen zum Ansatzpunkt intermediärer Verhaltensmodifikationen.“40 Das wachsende Angebot psychischer Trainingsverfahren für die Familie, setzt an der familiären Erziehungssituation an und versucht, über eine kleinschrittige Verhaltensänderung der Eltern Einfluss auf das Verhalten der Kinder zu erlangen: „Durch den Aufbau von Erziehungsfertigkeiten bei den Eltern soll die für die Kinder im Vorschulalter wichtigste Sozialisationsumwelt verbessert werden.“ 41 Der Aufbau trainierbarer Elternkompetenzen kann in jedem Fall Vorteile bringen, zum Beispiel bei alltäglichen Erziehungsproblemen, bei Lernbehinderungen, bei schweren Verhaltensstörungen oder zur Prävention. Besieht man sich das Heranführen der Eltern an eine Veränderung ihrer Einstellung, lässt sich gar kein Unterschied mehr zwischen Lehrer/innen und Eltern erkennen. Hier wie dort wird das Kind Gegenstand objektivierender Verfahren, die auf der Basis einer gesteuerten und trainierten Subjektivität der Erzieher/innen und der Eltern funktioniert. Es wird zwar im schulischen Diskurs und auch in der Praxis als freieres Subjekt gesetzt, gleichzeitig vervielfältigen sich die indirekt-steuernden Elemente. Der partiellen Freisetzung der Schüler/in entspricht die Verlagerung der Steuerungsimpulse in eine „Erziehungsumgebung“. Die Schüler/in und ihre Beziehung zur Lehrer/in bzw. zu den Eltern hat nicht mehr bestimmten festen normativen Kriterien zu genügen, aber ihr Verhalten hat sich in Vorgaben einzufinden, die von außen bestimmen, was wünschenswert erscheint und was nicht.

3.3 ZUSAMMENFASSUNG Wie der Mitarbeiter/in, so geschieht es dem Kinde: ihnen widerfahren die Techniken der Steuerung mehr, als dass sie sich zu ihren Urhebern machen und nach eigenem Gutdünken von ihnen Gebrauch machen. Die Schüler/in und die Mitarbeiter/in sind so in eine ähnliche Lage gesetzt. Sie sind die erste Adresse für eine sich subjektivierende institutionelle Umgebung und bleiben doch im Großen und Ganzen in einer passiven Position. Ihre Subjektivität entfaltet sich in Abhängigkeit und unter persönlicher Anleitung von der Subjektivität der Vorgesetzten bzw. Lehrer/innen oder der Eltern, wenn überhaupt. Sie ist dann das Resultat eines Abstrahleffekts, mitunter auch eines dezidiert persönlichen Führungsverhältnisses, und nicht Ergebnis einer autonomen Selbstmobilisierung. Währenddessen weist der Diskurs um das Vorgesetzten-, Lehrer/innen- und Elterntraining durchaus größere Gemeinsamkeiten zum 40 Voges, Wolfgang (1977): Änderung der Erziehungseinstellung durch Elterntraining. In: Psychologie in Erziehung und Unterricht: Zeitschrift für Forschung und Praxis (24), 310313; 310. 41 Fischer, Jürgen W. (1979): Elterntrainingsverfahren: Konzept, Indikation und Formen. In: Psychologie in Erziehung und Unterricht: Zeitschrift für Forschung und Praxis (26), 216226; 217.

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Selbstführungsdiskurs der Lebensratgeber auf. Was aber in den Texten der Lebensratgeber schon sehr ausführlich entworfen ist, wird erst allmählich ein Teil institutioneller Wirklichkeit, und daher muss man hier stark relativieren. In der 1960er und 1970er Jahren kann man zu keinem Zeitpunkt davon sprechen, dass der Selbstführungsdiskurs und seine Techniken im Feld des Betriebes und der Schule eine starke Resonanz finden. Vielmehr kann man das Auftauchen selbsttechnischer Elemente eher als eine Form von partieller Apperzeption verstehen, die niemals die Systematik und den umfassenden Geltungsanspruch des Lebensratgeberdiskurses erreicht. Bestimmte Elemente des Selbstführungsdiskurses sickern dort ein, wo aufgrund struktureller Umbrüche das Problem des Subjektes und seiner Führung entsteht. Die das Individuum stark verteidigende Tendenz der Lebensratgeber, die sich mitunter in einer Betonung subjektiver Eigensinnigkeit und individueller Interessenlagen äußert, findet nur mäßigen Widerklang in den institutionellen Diskursen. Selbstführung erhält hier seinen Wert darüber, wie sie die effiziente Führung der anderen sicherstellt. Oder anders formuliert: Selbstführung muss sich darüber legitimieren, wie sie die gesteuerte Freisetzung botmäßiger Individualitäten anderer ermöglicht und aufrechterhält, ohne dass sie selbst als treibendes Moment dieses Prozesses kenntlich wird.

Schluss Auf dem Weg zu einer Genealogie der Gegenwart

Die hier gekennzeichnete Epoche wird häufig als die eigentliche Sattelzeit eines Selbstführungsdiskurses und des Aufschwungs von Subjektdiskursen betrachtet, sei es im Kontext von Management- und wissenschaftlichen Diskursen oder im Bereich populärkulturellen Wissens. Aus einer genealogisch arbeitenden Perspektive auf den Bereich der Selbstführung handelt es sich jedoch mehr um eine Modernisierung des Diskurses und seiner Praxisformen als um seinen eigentlichen Ursprung. Allerdings heben zwei von uns skizzierte Entwicklungen die besondere Qualität dieser Entwicklung und damit dieser Epoche in besonderer Weise hervor. Zum einen öffnet sich die Selbstführung für nicht-disziplinäre Praktiken und befreit das Subjekt endgültig von einer außer seiner Selbst liegenden Verpflichtung auf abstrakte Kollektive oder einer vermeintlich allseits geteilten Moral. Damit steht das Subjekt nunmehr ganz im Mittelpunkt seiner Führung. Es wird sich nur noch auf solche Zwecke hin entwerfen, die ihm, seinen Interessen und Bedürfnissen gemäß und dienlich erscheinen. Am Objekt der Lebensratgeber, ihrer Anrufungsweise und Adressierung der Leser/innen ließ sich exemplarisch zeigen, dass an das Subjekt werbend herangetreten werden muss, wenn man es für eine bestimmte Thematik – und sei es die eigene Selbstführung – gewinnen will. Man muss die Sprache der Bedürfnisse der Einzelnen sprechen und diese befördern und entfalten helfen können. Auch wenn der Diskurs der Selbstführung gewisse Bedrohungen skizziert, die eintreten können, wenn man sich nicht zur Führung seiner Selbst entschließt, entspringen daraus keine existenziellen Notlagen mehr und man versündigt sich nicht mehr an der Gattung oder dem Gemeinwesen. 1 Ein bemerkenswerter Ausdruck einer Selbstführung, die sich ganz auf die Einzelne in ihrer ausschließlichen Verantwortung für sich kapriziert, ist der Aufschwung von Glücksversprechen in der Lebensratgeberliteratur. Dieses Glück ist, wie das Subjekt selbst, von Bestimmungen befreit, die seine Einlösung entweder in ferne Zukunft stellen oder es an eine moralische oder biologische Pflichterfüllung koppeln. Glück erscheint stattdessen mittel- und kurzfristig erreichbar und entsteht nunmehr ausschließlich dadurch, dass der Einzelne sein Selbstverhältnis reorganisiert. Dies ist eine wesentliche Dimension, eine wesentlich neue Qualität, die der Selbstführungsdis-

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Dennoch kann die Einzelne Schaden davontragen, der aber nunmehr die Welt seiner potenziellen Entfaltungsmöglichkeiten betrifft. Die Daseinsschuld ist einer (potenziell drohenden) Daseinsscham gewichen.

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kurs gewonnen hat. Zum anderen beginnt sich eine liberale Gouvernementalität zunehmend ab den 1960er und 1970er Jahren auf ein sich selbst regierendes Subjekt zu stützen. Anhand der betrieblichen und schulischen Diskurse konnten wir zeigen, dass es nun eine partielle Adressierung (respektive Trainings) eines sich selbst führenden Subjektes gibt, die neuartig ist. Es beginnt sich ein Konnex zwischen den veränderten Anforderungen der betrieblichen und schulischen Sphäre einerseits, der Leistungsfähigkeit der Einzelnen innerhalb dieser andererseits und der Selbstführung der Einzelnen herauszubilden. Dieser betrifft in dieser Epoche aber nur bestimmte soziale Gruppen und institutionelle Leistungsträger, nämlich Lehrer/innen und Vorgesetzte, allerdings mit der Tendenz, auch auf Schüler/innen und Angestellte überzugreifen. Zugleich haben wir gezeigt, dass sich mit verstärkter Konsequenz eine Dynamik fortsetzt, die schon für die frühen Lebensratgeber zu konstatieren war; nämlich, dass das Vorwärtsdrängen des Selbstführungsdiskurses in weitere gesellschaftliche Sphären nicht das Ergebnis einer von oben herab verordneten Subjektivierung der gesellschaftlichen Subjekte ist und ganz gewiss nicht auf das Wirken einer hintergründig, aber doch irgendwie „von oben“ wirkenden Macht zurückzuführen ist, die auf Ausbeutung der Einzelnen hinzielt. Stattdessen ist ein Ineinander, eine gewisse Gleichzeitigkeit von veränderten institutionellen und individuellen Ansprüchen zu verzeichnen. Es sind sowohl bestimmte strukturelle, politische als auch mentalitätsbedingte Notwendigkeiten gegeben, das „subjektive Potenzial“ der Einzelnen in den institutionellen Strukturen gelten zu lassen und einzubeziehen. Und zugleich dringen in selbige Strukturen Menschen vor, die (durchaus in kritischer Absicht) auf eine Umorientierung auf das Individuum, seine Bedürfnisse und seine Selbststeuerungskräfte abheben und die Berücksichtigung dieser Dimension einklagen und einfordern. An die Subjektteleologie des authentischen Individuums können sich verschiedene, mitunter sogar tendenziell konfligierende Interessen knüpfen und geben dieser typischen Figur der 1960/1970er Jahre daher auch ihre große Strahlkraft und Beharrlichkeit. Wir sehen also, im Vergleich der Lebensratgeber mit den Institutionen Schule und Betrieb, dass zwei grundlegende Dimensionen und Entwicklungen zusammentreffen, nämlich die Freisetzung und die Vereinnahmung des Subjektes, die im auch Hinblick auf die zeitgenössische Gouvernementalität bestimmend sind. Zwar unterliegt die Form der Selbstführung für die heutige Epoche entscheidende Veränderungen (die wir im Folgenden beschreiben wollen), aber an dieser grundsätzlichen Konstellation wird sich nichts ändern. Beide sind zusammen zu denken, auch wenn äußerlich die Ratgeber mehr auf Freisetzung, die Institutionen eher auf Vereinnahmung abzuzielen scheinen. Die uns heute vertraute starke Koinzidenz von individueller Freiheit und gouvernementaler Regierbarkeit der Einzelnen nimmt hier vielleicht nicht ihren Ausgang, aber sie erfährt einige wesentliche Anstöße und Veränderungsdynamiken. In dieser Hinsicht bleibt die Zeit der 1960er und 1970er Jahre der entscheidende Umschlags- und Wendepunkt für das 20. und beginnende 21. Jahrhundert.

Kapitel 3: Die 1990er/2000er Jahre A) Das Regime der Selbstführung

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Aktivierung der Eigenverantwortung Die Lebensratgeber der dritten Epoche

1.1 DIE EMOTIONALISIERUNG DER OBERFLÄCHE Mit den 1990er Jahren (vor allem in deren zweiter Hälfte) beginnt diejenige Epoche der Lebensratgeber, in der wir uns noch immer befinden. Besieht man sich das heutige Spektrum der Lebensratgeber von ihren Außenseiten her, kann man bereits einige interessante Feststellungen machen, die den Kern veränderter Lese- und Rezeptionsgewohnheiten in der dritten Epoche von 1995 bis 2005 offenlegen. Der Blick auf den Umschlag, den Buchrücken, die textlichen und vor allem visuellen Gestaltungsmerkmale enthüllt einige wesentliche Neuerungen in der werblichen Inszenierung des Lebensratgebers und der Leser/innenführung. Das sachliche, ja fast technische Antlitz der Lebensratgeber der 1960er und 1970er Jahre ist zum großen Teil durch eine visuelle Gestaltung verdrängt worden, die mit Bildern oder Bildcollagen von Naturszenerien und -details, mit sorgsam ins rechte Licht gerückten Gesichtern und Personendarstellungen oder mit einfach bis dilettantisch wirkenden Zeichnungen um die Aufmerksamkeit der potenziellen Leser/innenschaft werben. In diesen visuellen Botschaften verdichten sich bereits die Kernaussagen der im Buch entfalteten Problematiken und Zielzustände gelungener Selbstführung. Zum einen versuchen sie ein der Leser/in unterstelltes Leiden zu erfassen und bildlich zu pointieren: So soll beispielsweise der Goldfisch im Glas, der vor einer idyllischen Meeresansicht abgebildet ist, auf glücksverhindernde subjektive Blockaden verweisen.1 Zum anderen stellen die bildlichen Botschaften das Anliegen des Buches vom Ende her dar: Ein glücklich-genießerischer Gesichtsausdruck, die schwungvoll-energische Körperhaltung eines Anzugträgers 2 oder die zurückgenommene, ästhetische Inszenierung von fallenden Wassertropfen oder Landschaften im Nebel sollen Harmonie, Ausgeglichenheit, innere Stärke und Selbstbewusstsein in Aussicht stellen. Doch egal, auf welche visuelle Arrangement die Lebensratgeber setzen, es ist auffällig, dass man die Leser/in mit emotionalisierten Botschaften einzufangen gedenkt. Die Leser/in soll schnell und intuitiv erfassen, was ihn erwartet; er soll sich sofort erkannt, verstanden und unterstützt fühlen, ohne längeren Umweg 1 2

Siehe Mapstone, Elizabeth (2006): Träumst du noch oder lebst du schon? Das Lifeplanning-Programm. Bergisch Gladbach: Bastei Lübbe, Titelbild. Siehe Pfeifer, Helmut (2001): Power ja, Stress nein. Fit, ausgeglichen und stark durchs Leben. Landsberg am Lech: mvg, Titelbild.

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über die Verstandestätigkeit. Die Bilder vermeiden jede schwer zu entschlüsselnde Metaphorik oder Symbolik – nichts soll sich dem schweifenden Blick der potenziellen Leser/innenschaft störend entgegenstellen. Gezielt verstärkt wird dieser Eindruck durch einfache (gelegentlich von den Autor/innen selbst angefertigte) Zeichnungen, die das Innenleben eines solchen Lebensratgebers bevölkern. Sie vermitteln gerade durch ihre amateurhafte Schlichtheit den Eindruck, dass die Autor/innen keinen abstrakten und besserwisserischen hohen Standpunkt gegenüber den Leser/innen einnehmen, sondern als bodenständige und alltagsnahe Subjekte auftreten und sich ihnen auf Augenhöhe nähern. Die Titel und Untertitel suggerieren Verständnis, Ermunterung und Ansporn. „Denk Dich nach vorn!“,3 „Träumst Du noch oder lebst Du schon?“,4 oder „Sei gut zu dir, wir brauchen dich“5 sind typische Beispiele für eine freundschaftliche oder coachende Ansprache der Leser/innen auf den Buchumschlägen der 1990er Lebensratgeber. Im Untertitel klingt bereits der Beziehungsmodus an, der sich zwischen Autor/in und Leser/in idealerweise entfalten soll. Der Lebensratgeber der dritten Epoche, so suggeriert es das Buchcover, setzt sich mal freundschaftlich der Leser/in zur Seite, mal stellt er sich anspornend-fordernd an den Seitenrand des Übungsweges, (fast) immer aber begibt er sich in einfühlsame Nähe zu den Gefühlen und Zielen seiner Leser/innen. So entsteht der Eindruck, dass die visuelle und rhetorische Umschlaggestaltung dieser Bücher darauf ausgerichtet ist, das flüchtige Interesse ihrer potenziellen Leser/innenschaft durch Emotionalisierung und einfache Botschaften zu fangen. Dieser visuell-rhetorischen Selbstpräsentation scheint das Motto zugrunde zu liegen, das auch weithin die Verkaufspsychologie und Marketingstrategie dominiert: Wo Verstand und Gefühl aufeinandertreffen, gewinnt immer das Gefühl. Wer sich also das Gefühl zu seinem Verbündeten macht, hat den ersten Schritt dazu getan, der Leser/in in den virtuellen Beziehungsmodus einzuspinnen und sie für eine Sache zu gewinnen, die ihr als ureigenste Angelegenheit unterstellt wird.

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Schwarz, Aljoscha A.; Schweppe, Ronald P. (2000): Praxisbuch NLP. Denk dich nach vorn! Die Kräfte des Unterbewussten aktivieren und für sich nutzen. Mit gezielten Übungen das eigene Handeln auf Erfolg programmieren. München: Südwest. Titel des Buches von Mapstone (2005). Titel des Buches von Conen, Horst (2005): Sei gut zu dir, wir brauchen dich. Vom besseren Umgang mit sich selbst. Frankfurt/Main: Campus.

Die 1990er/2000er Jahre: Einleitung

Abbildung 22: Titelbild (2004)

Abbildung 24: Titelbild (2006)

Abbildung 23: Titelbild (1995)

Abbildung 25: Titelbild (1995)

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1.2 DIE AKTUELLEN LEBENSRATGEBER AUS SOZIOLOGISCH-ÖKONOMISCHER PERSPEKTIVE Der hoch professionalisierten äußeren Aufmachung der Lebensratgeber der 1990er Jahre geht ein Prozess voraus, der zwar seit dem ersten Auftreten der Lebensratgeber im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts anhebt und sich vor allem seit den 1960er und 1970er Jahren beschleunigte aber erst im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts zur vollen Blüte gelangt: Nämlich, dass sich Wissen und die Praxis der medial angeleiteten Selbstführung zu einem profitablen, eigenständigen und ausdifferenzierten Wirtschaftszweig entwickelt. Der 1. Oktober 2007 markiert einen denkwürdigen Moment in dieser Entwicklung. Das entscheidende Dokument ist eine acht Tage verspätete, von der Gesellschaft für Konsumforschung herausgegebene Pressemitteilung. Ihr nüchterner Inhalt: Die deutsche Verlags- und Handelsbranche hat eine längst überfällige Neuordnung der Warensystematik im Büchersegment vorgenommen. Aufgrund der gestiegenen wirtschaftlichen Bedeutung werden von nun an Sachbuch und Ratgeber voneinander getrennt. Jene unscheinbare distributive Maßnahme markiert einen sichtbaren Höhepunkt des gesellschaftlichen Bedeutungsaufschwungs (lebens)ratgeberischer Expertise, ausgedrückt in ökonomischen Wertmaßstäben. Und die Zahlen sprechen für sich. In Deutschland wurde 2007 jedes sechste Buch als Ratgeber verkauft. Es ist damit die zweitgrößte Gruppe hinter der Belletristik. Unter dem Oberbegriff „Ratgeber“ verbergen sich zwar an erster Stelle Koch- und Gesundheitsbücher, aber danach folgen schon die Ratgeber zu „Lebenshilfe & Alltag“. Bei einem Gesamtumsatz der Buchbranche von geschätzten 9,6 Milliarden Euro (2007) und des Buchsegments Ratgeber von 1,56 Milliarden realisiert der Verkauf von Lebensratgeber etwa 239 Millionen Euro.6 Der umsatzstärkste Ratgeberverlag Gräfe und Unzer setzte 2004 allein 60 Millionen Euro um.7 Etwa 45 Verlage sind mittlerweile in einer „Interessengruppe Ratgeber“ beim Börsenverein des deutschen Buchhandels organisiert, was nur die Spitze des Eisberges darstellt. Ein vom Börsenverein herausgegebenes Verlagsverzeichnis zählt 280 Verlage, die teilweise oder ganz dem Ratgebergenre zuzuordnen sind.8 Neuartig ist auch die enge Verzahnung zwischen dem Buch und anderen lebensratgeberischen Dienstleistungsangeboten, wie zum Beispiel Workshops, Kursen, Internetbefragungen, sogenannten Experten-Hearings bei Firmentagungen. Das Buch bietet sich zum einen als Einstieg in eine über es hinausführende Angebotswelt an, so dass die Einzelne ihre Selbstführungspraxis ausweiten und auf spezielle Lebenssituationen gezielt abstimmen kann (zum Beispiel, indem er sich einer Gruppe anschließt oder ein individuelles, personales Coaching absolviert). Es liefert mitunter Adressen, Anlaufpunkte (Volkshochschulen u.ä.), nennt weiterführende Literatur oder Medien, bringt andere Autor/innen ins Gespräch. Zum anderen führen bestimmte Dienstleistungsangebote, zu nennen wären hier besonders die von Lebensrat-Expert/innen ge-

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http://de.statista.com/statistik/daten/studie/195369/umfrage/umsaetze-im-deutschenbuchhandel-seit-2007/ (Zugriff: 07.03.2016) http://www.graefe-und-unzer.de/unternehmen/chronik/ (Zugriff: 07.03.2016) Dieses Verzeichnis ist uns in Kopie zugänglich gemacht worden.

Die 1990er/2000er Jahre: Einleitung

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führten Gruppenschulungen,9 wieder auf das Buch als vertiefendes und reüssierendes Medium zurück. Der Lebensratgeber erscheint hier als begleitende Kursliteratur oder als zusammenfassender Anleitungstext. In gewisser Hinsicht verknüpfen sich dadurch verschiedene Angebots- und Praxistypen, darunter Einzelberatung und Gruppenseminare, längere Kurse sowie Vorträge vor z.T. großem Publikum, dazu diverse mediale Inszenierungen, zu einer verweisstarken Matrix, der die Einzelnen nach eigener Maßgabe folgen können. In diesem Sinne multikontextualisiert sich der Lebensratgeber ab den 1990er Jahren. Der praktische Vollzug von Selbstführungstechniken mittels eines Übungstextes wird zu einem zwar wichtigen, aber nicht mehr gänzlich für sich alleinstehenden Baustein innerhalb einer auf Selbstsein setzenden Anrufungsweise. Allein in Deutschland werden in diesem Bereich Schätzungen zufolge etwa 25 Milliarden Euro umgesetzt. 10 Erfolgreiche Autor/innen können nun anders als in den ersten beiden Epochen allein von ihren Vortragsreisen, Workshops und Publikationserlösen leben. Sie werden zu Talkshows eingeladen oder von großen Unternehmen engagiert. In Feuilletons von Tageszeitungen und Magazinen finden sich sogenannte Expert/inneninterviews, bei denen bekannte Größen des Diskurses zu Fragen persönlichen Glücks und beruflichen Erfolges befragt werden. Das gestiegene Selbstbewusstsein und der gesellschaftliche Bedeutungsgewinn der Akteur/innen des Selbstführungsdiskurses äußert sich auch darin, dass sie bei öffentlichen Gelegenheiten als Trainer/in, Coach/in, (Selbst-)Managementberater/in vorgestellt werden, ohne dass dies erklärungsbedürftig erscheint. Da es sich nicht um eine eigenständige, geschützte Berufsgruppe handelt, deren Eintritt durch formalisierte und nachprüfbare Qualifikationen geregelt ist, kann sich prinzipiell jede/r als Trainer/in oder Coach/in bezeichnen. Der Gestus der Professionalität leistet sicherlich seinen Beitrag zur gesellschaftlichen Dauerpräsenz und kann einen Teil des kulturellen Erfolgs der sog. (Selbst-)Managementexperten erklärlich machen. Da es sich nicht um spezialisiertes Wissen handelt, ist es hoch anschlussfähig an verschiedene gesellschaftliche Felder: von der medizinischen Prophylaxe bis zur betrieblichen Umstrukturierung. Analog zu dieser Entwicklung lässt sich eine deutliche Veränderung in der sozialen Struktur der Autor/innenschaft der von uns untersuchten Ratgeber konstatieren. Zwei Tendenzen zeichnen sich ab. Zum Ersten treten verstärkt bestimmte Berufsgruppen auf, die vermöge ihrer Profession eine starke Affinität zu lebensratgeberischer Wissensvermittlung und Praxis haben, wie Pädagog/innen, vor allem aber auch Psycholog/innen, Kommunikationswissenschaftler/innen oder Personalmanager/innen. Zum Zweiten tritt aber die autoritätsgenerierende Funktion des beruflichen Werdeganges generell in den Hintergrund. Auf den Innenseiten der Umschläge der 9

Vgl. Rosenfeld, Evelin Liven (2004): Was dir wirklich wichtig ist. Das Arbeitsbuch zum Personal Empowerment. Paderborn: Junfermann, 19; vgl. Mapstone (2005), 24ff.; vgl. Borstnar, Nils; Köhrmann, Gesa (2004): Selbstmanagement mit System. Das Leben proaktiv gestalten. Kiel: Ludwig, 6. 10 http://www.focus.de/gesundheit/ratgeber/psychologie/gesundepsyche/tid-28775/titel-sinnsuchen-glueck-finden-lebenssinn4_aid_888911.html (Zugriff: 07.03.2016). Diese Zahlen sind sicherlich zu hoch gegriffen, auch weil sie sich etwas undifferenziert auf einen „Sinnmarkt“ beziehen, worunter grundsätzlich das Yogaangebot für Schwangere genauso darunter zählt wie der Klangschalen-Kurs in einer Grundschulklasse.

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Ratgeber werden die eigentlichen Berufe der Autor/innen meist nur an zweiter bzw. beiläufiger Stelle genannt. Stattdessen finden sich typischerweise Bezeichnungen wie „die Autoren sind schon lange als Dozenten und Berater tätig“, 11 die Autor/in „führt zu diesem Thema mit Erfolg Workshops durch“12 oder auch die Autor/in hat „Programme zur Förderung von Firmengründungen und für bessere Lern-, Denk- und Managementstrategien“13 aufgebaut. Es reicht nicht mehr aus, dass man sich als beruflich erfolgreich präsentiert, um sich in eine legitime Expert/innenrolle gesetzt zu sehen, man muss sich darüber hinaus im unübersichtlichen Feld der Selbstführung bereits als herausragend platziert haben. Man spart, da es an objektiven Maßstäben fehlt, nicht an Superlativen, um die eigene herausgehobene Stellung zu begründen. Der Hinweis auf die Zahl der Seminarteilnehmer, verkaufte Medien oder das Erscheinen der eigenen Bücher auf Bestsellerlisten bürgt scheinbar für die Qualität des vermittelten Wissens. Kurzum, die Expert/innenautorität der Autor/innen der 1990er und 2000er Jahre muss sich doppelt ausweisen: als beruflich erfolgreich und als eigene Marke innerhalb des lebensratgeberischen Individualisierungsspektakels.

1.3 DAS BUCH ALS BAUKASTEN FÜR SOUVERÄNE SUBJEKTE Abbildung 26: Der Text als Baukasten (1995)

11 Borstnar/Köhrmann (2004), 15. 12 Mapstone (2005), Einband. 13 Steiner, Verena (2005): Energiekompetenz. Produktiver denken, wirkungsvoller arbeiten, entspannter leben; eine Anleitung für Vielbeschäftigte, für Kopfarbeit und Management. München: Pendo, Einband (Rückseite).

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Stefanie Duttweiler hat zu Recht auf eine besondere Entwicklung des Ratgebergenres hingewiesen, die auf veränderte Lese- und Rezeptionsweisen hindeutet. Einige auf Lebensratgeber spezialisierte Verlage wie die bereits erwähnten Gräfe und Unzer oder der Südwest-Verlag radikalisieren den Buchtyp, indem sie die Linearität des Textes auflösen und den Leser/innen beliebig kombinierbare, relativ unabhängig rezipierbare Versatzstücke anbieten.14 Diese Buchtypen sind durch eine sehr starke Gliederung gekennzeichnet: durch schnell überblickbare Textblöcke, kurze herausgehobene Zusammenfassungen, Diagramme und Graphiken. Die Kapitel eignen sich für einen eklektizistischen Gebrauch und einen schnellen Zugriff. Zum anderen wollen sie die flüchtige Aufmerksamkeit der Leser/innen, zu der sie mit ihrer Form selbst beitragen, durch eine ausladende typografische, textliche und bildliche Gestaltung wieder einfangen. So bietet fast jede Seite der Leser/in einen Fundus an Anknüpfungsmöglichkeiten: Lässt man sich eher von den am Seitenrand platzierten Aphorismen berühren, absolviert man eher den Selbsttest oder vergegenwärtigt man sich lieber die Hauptaussagen, die in einem Kästchen besonders hervorgehoben sind? Diese Lebensratgebertypen brechen mit einer langen Lesetradition, bei der der fortlaufende Fließtext eine dominante Stellung behauptete. Dieser legte den Leser/innen einen bestimmten Gebrauch nahe. Man musste in der Regel von vorne beginnen und die einzelnen Schritte in ihrem Zusammenhang betrachten sowie die zentralen Stellen durch intellektuelle Eigentätigkeit als solche erkennen. Es gab also gewisse Anforderungen an eine Leser/innenhaltung und an die Lesesituation. Die neuen Lebensratgebertypen, die den Text als eine Art Baukasten behandeln, der mit „was sie erwartet“ beginnt, „was sie bisher gelernt haben“ fortfährt und das Ganze mit resümierenden Spiegelstrichen beschließt, ermöglichen den Leser/innen einen schnellen und selektiven Zugriff auf inhaltliche Module des Textes. Das textliche Baukastenprinzip ist zwar weder für die von uns untersuchten Ratgeber in überwiegender Mehrzahl anzutreffen noch für die Mehrheit der publizierten Ratgeber. Indes bringen die neuen Ratgebertypen eine Tendenz zur Sichtbarkeit, die – in anderer Weise – auch für die hauptsächlich linear arbeitenden Lebensratgeber markant wird und die ein wichtiges Charakteristikum in der Autor/in-Leser/inBeziehungen der 1990er und 2000er Jahre ist. Es ist die Freisetzung der Leser/in als souveräner Entscheidungsinstanz. Die Lebensratgeber machen sich fast vollständig frei von den Resten moralischer Ansprache und eines strengen Dirigismus der frühen Ratgeber oder einer indirekt-kontrollierenden Leser/innenführung der 1960er und 1970er Jahre. Die Leser/innen werden als eine Instanz adressiert, deren Entscheidungsfreiheit es nicht nur zu respektieren gilt, sondern welche für das Lesen und Einüben bereits vorausgesetzt wird. An vielen Stellen sind sie aufgefordert, die Anleitungen an ihre eigene Lage anzupassen: „Möglicherweise ist Ihr Leben so kompliziert, daß es – wie in unserem Fall – einer Umsetzung vieler oder aller hier angesprochener Vorschläge bedarf. Vielleicht brauchen Sie aber auch nur ein oder zwei Schritte zu unternehmen.“15 Die Lebensumstände, die beruflichen und privaten Zusammenhänge und die persönlichen Voraussetzungen und Erwartungshaltungen erscheinen den Autor/innen so heterogen, dass man sich nicht mehr auf einen einheitli14 Vgl. Duttweiler (2007), 87f. 15 Saint James, Elaine (1996): Zurück zum Selbst. 100 Schritte zu einem erfüllten Leben in einer überfüllten Welt. München: Goldmann, 16.

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chen Ausgangspunkt festlegen kann. Letztlich „gibt es keine objektiven Maßstäbe für richtig oder falsch. Jeder muss selbst herausfinden, was er wirklich ändern will“. 16 Da allein die Leser/in selbst darüber befinden kann, muss sie im Stande sein, solcherart reflexive Fähigkeiten an den richtigen Stellen einzusetzen. Daher rücken die Lebensratgeber der dritten Epoche zwar auffällig von einer progressiven Übungsanordnung ab, bei der alles in einer festgelegten Reihenfolge durchgeführt wird. Jedoch warten sie mit einem gesteigerten Maß Reflexionsaufforderungen auf. Die durch die Leser/in zu erbringenden Reflexionen, welche sich auf die im Buch vorgestellten Techniken und Vorgehensweisen beziehen, sind nun konstitutiv für den Erfolg der Übungen. Hier wird im Verhältnis zu früheren Ratgebern eine zusätzliche Ebene eingeschoben. Auf dieser sollen die notwendigerweise zu allgemeinen Techniken an die individuellen Lebenswirklichkeiten angepasst werden. Reflexivität und souveräne Entscheidungsfreiheit des Subjektes werden hierbei – und das wird sich für alle Aspekte der gegenwärtigen Selbstführung als kennzeichnend erweisen – in einen engen Zusammenhang gebracht. Idealerweise nutzt Leser/in dabei nicht allein die eigenen reflexiven Ressourcen, „sondern [holt] sich auch ein Feedback von Freunden und Kollegen“ ein.17 Die Anleitungen präsentieren sich als ein Angebot, das bestimmte Voraussetzungen auf Seiten des Übenden verlangt und insofern Investitionen, Aufwand oder Kosten mit sich bringt. Die Autor/innen diskutieren gelegentlich im Buch den Nutzen einer bestimmten Vorgehensweise, um es dann den Leser/innen anheimzustellen, sie für sich zu nutzen oder auch nicht. Gleichzeitig erfährt die praktische Bedeutung der Reflexion, wie wir im Technik-Abschnitt zeigen werden, ein große Aufwertung. Reflexion, Entscheidungsprozesse und Individualisierung werden als sich wechselseitig bedingend vorgestellt. Die Leser/in individualisiert sich also nicht nur durch ein allgemein gehaltenes Übungssystem, sondern sie wird gleichzeitig als bereits individualisiert vorausgesetzt. Das Leser/innensubjekt tritt als ein in hohem Maße eigenverantwortliches Subjekt in den Übungs- und Leseprozess ein.

1.4 DAS PROJEKT SELBST ZWISCHEN EMOTIONALISIERUNG UND ÖKONOMISIERUNG: TENDENZEN IM FELD DER LEBENSRATGEBER DER 1990ER JAHRE Welche inhaltlichen Neuerungen lassen sich nun neben der veränderten Adressierung der Leser/innenschaft feststellen? Wie strukturiert sich das Feld der Selbstführung für die dritte Epoche neu? Der aktuelle Selbstführungsdiskurs fächert sich in drei verschiedene Diskurs-/Praxisfelder auf, die sich zum Teil vermischen oder ineinander übergehen können, aber einen distinkten Gegenstandsbereich bilden. Zum Ersten dreht sich der Selbstführungsdiskurs um ein ökonomisiertes, unternehmerisches Sub16 Fischer-Epe, Maren; Epe, Claus (2004): Stark im Beruf – erfolgreich im Leben. Persönliche Entwicklung und Selbst-Coaching. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 138. Ähnlich auch Borstnar/Köhrmann (2004), 15 und Rosenfeld (2004), 19. 17 Fischer-Epe/Epe (2004), 181.

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jekt, dessen Herauslösung aus als überkommen empfundenen traditionellen Arbeitsbeziehungen in eine Führung seiner selbst als Unternehmen im Kleinen münden soll. Das Selbstverhältnis wird Zielscheibe eines umfassenden Umgestaltungsprozesses, an dessen Ende, eine projektorientierte und flexibel umstellbare Subjektivität, eine radikal individualistische Selbstvermarktung sicherzustellen hat. Die Ratgeber von Harriet Rubin, aber auch Verena Steiner und Anne von Blomberg führen diese Richtung an. Zweitens gibt es einen Siegeszug der Emotionen. Damit verbunden hebt ein neurobiologisch unterfütterter Diskurs um die Steigerung und Optimierung der eigenen Gefühls- und Gedankenwelt an. Emotionen gelten nicht nur als mächtig, sondern auch als zuverlässig herstellbar. Ziel der neuen technischen Anleitungen ist dabei Glückssteigerung, Gesundheit sowie die Regulation von Energiezuständen, Stimmungen und des geistigen Arbeitsvermögens. Dies soll den Einzelnen durch die planmäßige Wahrnehmung körperlicher Zustände, durch auf die Bedürfnisse des Gehirns abgestimmte Verhaltensänderungen bis hin zu einer weitreichenden Neuprogrammierung mentaler Vorgänge möglich werden. Für diesen Strang maßgeblich sind eine Reihe von Lebensratgebern aus dem Bereich des sog. Neurolinguistischen Programmierens. Dazu zählen die Texte von Wolfgang Weikert und Aljoscha Schwarz und Ronald Schweppe. Zum Dritten bricht sich ab den 1990er Jahren ein Diskurs Bahn, der die kontraproduktiven Effekte eines übertakteten, überdisziplinierten Selbstverhältnisses ins Zentrum stellt. Das Subjekt erscheint hier als Opfer seines eigenen Leistungsdenkens und seiner Konsumorientierung. Das Freiheitsversprechen der individuellen Selbstverbesserungsdiskurse hat sich in diesem (selbst)kritischen Selbstführungsdiskurs in sein Gegenteil verkehrt und stellt sich hier als vertiefte Form fremdbestimmter Abhängigkeit dar. Die Wiedergewinnung individueller Entscheidungsspielräume und Deutungsfreiheiten soll durch die Rückbesinnung auf verborgene Träume und Wünsche sowie durch eine Abkehr von einer zu ehrgeizigen Selbst-/Lebensführung vonstattengehen. Dabei beziehen sie durchaus Aspekte der ersten beiden Tendenzen mit ein. Ob im Bereich der ökonomischen Produktion oder im privaten/öffentlichen sozialen Verkehr, das Herausstellen seiner individuellen Besonderheit wird zur Attraktion und zum kapitalen Vermögenswert. Zum Problem wird jetzt eher ein Subjekt, das sich trotz der zahlreichen gesellschaftlichen Möglichkeiten zur Individualisierung diesen Aufforderungen verweigert oder unter dem Druck einer zu rigiden Selbstführung krank und dysfunktional zu werden droht. Das Irritierende dieser Umkehr in den Problematisierungen ist aber vor allem eines: So sehr die 1990er Jahre auch das Subjekt auf sein Selbstsein verpflichten und ihm diese Aufgabe als erregendes Abenteuer oder als ein lustvolles Spiel verheißen, so wenig können sie ihm einen stabilen Untergrund in seinem Inneren ausweisen, von dem aus er sich sein Selbst und die Welt erschließen kann.

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Das Risiko der Sicherheit und die flexiblen Freiheiten

2.1 EIN GOLDENES ZEITALTER? Die Lebensratgeber der 1990er Jahre können nicht nur mit unterschiedlichen Merkwürdigkeiten und Traditionsabbrüchen im Vergleich zu vorangegangenen Epochen aufwarten, sie verhandeln die Struktur der Problematisierungen grundsätzlich neu. Augenfällig werden diese Veränderungen zunächst an den Anrufungs- und Aktivierungsstrategien. Über einen Großteil des 20. Jahrhunderts hinweg schien den Lebensratgebern das Subjekt mit einem eigenem Beharrungsvermögen ausgestattet zu sein. Man musste ihm gegenüber unter Aufbietung von Argument und Sprachbild seine innere und äußere Bedrohung vor Augen stellen, um es für die Selbstführung zu mobilisieren. Liest man die Problematisierungen der beiden ersten Epochen aus der Distanz, scheint sich für sie eine Aktivierung der Leser/innen vor allem dann einzustellen, wenn man ihnen die vielgestaltigen verderblichen gesellschaftlichen Einflüsse und zugleich die fatalen Konsequenzen der eigenen Untätigkeit vorführte. Die Subjektivierung in Form einer glückenden Selbstführung gelang nur unter einer anfänglichen (zumindest partiellen) Frontstellung gegenüber einer gesellschaftlichen Umwelt, die das eigene Selbstführungs- und Selbstwerdungsunterfangen auf die eine oder andere Weise konterkarierte. Es war entsprechend eine Konsequenz dieser energischen wie obligatorischen Problematisierungsformen, sich dieser Umwelt gegenüber zu verpanzern respektive sich ihr gegenüber eigensinnig zu verhalten, um der eigenen Sache treu zu bleiben. Die Lebensratgeber der 1990er und 2000er Jahre nehmen keinen Anteil an diesem Narrativ des Widerstreits zwischen Individuum und Gesellschaft. In den Augen der Autor/innen mutet die Welt der 1990er Jahre dem Individuum zwar in seinen Subjektivierungsanstrengungen durchaus viel zu, aber sie sind diesem Anliegen nicht mehr feindlich gesinnt. Damit lässt sich eine deutliche Wende zur Problematisierung der ersten beiden Epochen kennzeichnen, die auch Konsequenzen für alle anderen Bereiche des aktuellen Selbstführungsregimes zeitigt. Auffällig wird diese Kehrtwende zunächst in dem fast vollständigen Fehlen von gemeinsam geteilten kulturkritischen Topoi. Die Gesellschaft erscheint nicht in einer grundsätzlichen, konstitutiven Weise in die Probleme des Subjektes verstrickt, ihr muss die Subjektivierung nicht abgerungen und abgetrotzt werden. Die Konsequenz zeigt sich auf der Seite der Subjekte: Das neue Narrativ wirft die Einzelnen auf ein hohes Maß an Selbstverantwortlichkeit zurück, was angesichts dessen, was wir über die beiden ersten Epochen her-

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ausgearbeitet haben, erstaunlich wirken mag. Tatsächlich hat sich aber keine Epoche der Selbstführung so vehement für die radikale Eigenverantwortlichkeit stark gemacht wie unsere heutige (wenngleich dies auch nicht unbemerkt und unwidersprochen von einigen Autor/innen blieb). Das stellt sich in den Texten vor allem dadurch dar, dass einige Autor/innen rückhaltlos die Möglichkeiten glorifizieren, die sich durch die gesellschaftlichen Strukturveränderungen für die Individualisierung der Einzelnen ergeben haben. Autor/innen wie Anne von Blomberg setzen in einer so ungebrochenen Radikalität das Gesellschaftliche in ein positives Verhältnis zu den Entfaltungsbedürfnissen des Subjektes, wie es für die vorangegangen Epochen kaum denkbar war. „Das 21. Jahrhundert serviert uns Glück auf dem Silbertablett der Geschichte. Nicht nur für den kurzen Moment eines Orgasmus, für eine halbe Stunde Sonnenuntergang, den ersten Monat nach dem Lottogewinn. Das Schicksal öffnet endlich eine breite Straße ins Glück auf Dauer statt eines Schleichweges um Schicksalsschläge herum. Weil das Leben heute leichter und sicherer ist als in früheren Jahrtausenden.“1

Das liege nicht zuletzt am globalen Siegeszug des (Neo-)Liberalismus. „Die westlichen Ideale von Demokratie, individueller Freiheit und freiem Unternehmertum erobern den Globus im Sturm und bringen Reichtum, Wachstum und Freiheit für die Menschen, wo auch immer sie ernsthaft angewandt werden. Es hat wahrscheinlich für Sie nie eine bessere Zeit gegeben als jetzt, mehr Erfolg, Freiheit, Glück und finanzielle Unabhängigkeit zu erlangen.“2

Für die Einzelne bedeutet diese neue Welt in Ella Kensingtons Zuspitzung sogar, „dass alle unsere Grundbedürfnisse permanent erfüllt sind.“3 Die Menschen haben „keine echten Probleme“ mehr.4 Es seien nur mehr die Menschen selbst, die ihr Glück und ihren Erfolg begrenzten.5 Hier endet nicht nur die alte Form von Problematisierung, es kann sogar von Anti-Problematisierung gesprochen werden: es gibt nur noch Möglichkeiten. Diese Linie wird zwar nur von Kensington, Blomberg und Grochowiak umfassend thematisiert, dieselbe Grundstruktur findet sich jedoch in fast allen Texten und ist für die Zeit typisch: Das Problem des Subjektes und seiner Subjektivität zirkuliert damit nicht mehr in einem Spannungsverhältnis zwischen innerer Verfasstheit und äußeren Widerständen, es ist einzig auf die Ebene der Einzelnen heruntergebracht worden. Die äußere Welt kommt so zu einer ganz neuartigen Rolle für die Subjektivierung der Einzelnen: In ihr ist für die Individualisierung der Einzelnen 1 2 3 4 5

Blomberg, Anne von (2001): Der Lustquotient. Glücklich leben im 21. Jahrhundert. Reinbek bei Hamburg: Wunderlich, 14. Tracy, Brian (1995): Das Gewinner-Prinzip. Wege zur persönlichen Spitzenleistung. Wiesbaden: Gabler Verlag, 13. Kensington, Ella (2004): Die Glückstrainer. Wie man bei sich und anderen die guten Gefühle entstehen lässt. Reimsbach: Kensington, 137. Ebda., 137. Vgl. Grochowiak, Klaus (1996): Vom Glück und anderen Sorgen. Wie man es schafft, mehr Glück zu ertragen, als man denkt. Bern/München/Wien: Scherz, 10.

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bereits Platz eingeräumt worden. Dass hier der Grundstein für eine neue Art von Normativität liegt, ist evident. Doch muss man an diesem Punkt eine Einschränkung vornehmen, die zunächst wie ein Widerspruch erscheinen mag. Die aktuellen Lebensratgeber formulieren eine dezidierte Kritik an bestimmten, als verkrustet wahrgenommenen institutionellen Strukturen und Mentalitäten und sind sich darin auffällig einig. Wie noch nie zuvor beschäftigen sich die Ratgeber seit den 1990er Jahre mit den Veränderungen der Arbeitsgesellschaft. Hinter den fast zeitlosen Kritiken an der zunehmenden Leistungsverdichtung,6 am Stress,7 an der zu rigiden Leistungsmoral, 8 der erschöpfenden Betriebsamkeit,9 der Hast und Zeitnot,10 bricht sich ein neuartiger Problematisierungsdiskurs Bahn. Anders als in den vorangegangenen Epochen versucht dieser nicht, die Ambiguitäten der Leistungsgesellschaft kritisch zu benennen und die Bedingungen abzustecken, unter denen man leistungsfähig bleiben kann. Er macht vielmehr die traditionelle Organisation von Arbeit zu einem Gegenstand einer Generalabrechnung. Es geraten vor allem persönliche Sicherheiten, vermeintlichen Privilegien, Routinen sowie eine feste, hierarchische Arbeitsweise in Großorganisationen ins Visier. „Wer sich bisher noch hinter seinem Schreibtisch versteckt, hinter Personal- und Betriebsräten, gewerkschaftlich festgelegten Arbeitszeiten, garantiertem Urlaubsanspruch und Rentenrecht, sobald das Hobby mehr lockt als das Weiterarbeiten – wer glaubt, das alles könne ihn vor dem Tornado der Veränderung schützen, muss sich in eine Maus verwandeln, um zu überleben.“11 Sicherheitsbestrebungen, betriebliches Schubladendenken (Hierarchien und Arbeitsteilung) und ein etabliertes, träges System von Privilegien werden als ein Strang einer höchst problematischen geistigen Rigidität problematisiert. Ihre gegenwärtige Situation nehmen viele Texte als einen Umbruch zwischen alter und neuer Denkweise wahr. Aus der Sichtweise zahlreicher Autor/innen haben nicht zuletzt die Konzerne und Unternehmen selbst der alten, starren Mentalität ihrer Mitarbeiter/innen Vorschub geleistet. Denn innerhalb der Unternehmensstrukturen wurde, so die Ratgeber, bis in die 1990er Jahre vor allem berechenbares und genormtes Handeln belohnt. Strukturkonservatives Know-how wurde überbewertet und darunter litten die Kreativität, Authentizität und das Engagement der Subjekte.12 Die Arbeit in solchen Strukturen geriet zu einem statischen, besitzstandswahrenden Tauschgeschäft: Für die Pflichten, die die Einzelnen erfüllten, erhielt sie Rechte und Sicherheitsgarantien.13 Das Subjekt verlor, um den Preis relativer Berechenbarkeit seiner Zukunft, den „Thrill“ des Alltags, der nur aus einer radikal ver6 7

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Borstnar/Köhrmann (2004), 73. Steiner (2005), 39, 105; Becker, Peter R.; Becker, Helmut L.; Frangopoulos-Blank, Dorothéa (2010): Selbstmanagement. Intensiver leben – erfolgreicher arbeiten. Renningen: expert-Verlag, 86. St. James (1996), 160; Jaenicke, Sabine (2001): Die Zeit kann man anhalten. Mit Achtsamkeit den Alltag verändern. München: Nymphenburger, 10. Steiner (2005), 73; Conen (2005), 11. Rosenfeld (2004), 38. Blomberg (2001), 235. Vgl. Rubin, Harriet; Steeb, Anne (2001): Soloing. Die Macht des Glaubens an sich selbst. Frankfurt am Main: Krüger, 32f. Vgl. Rosenfeld (2004), 30.

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standenen Selbstverantwortlichkeit entstehen könne, so z.B. Blomberg.14 Der zwangsläufige Mangel an vielseitiger Arbeit, neuen Herausforderungen und spezifischer Anerkennung für geleistete Arbeit und eingebrachte Ideen wurde mit Machtgier, Prestigedenken und Territorialgehabe kompensiert. Als Überlebensstrategie, wenn man so will, vergrub das angestellte Subjekt seine Persönlichkeit (und viele seiner besten Ideen und Qualitäten) in sich, um am Spiel um materielle Pfründe und symbolische Güter (z.B. Status) teilnehmen zu können. Da diese Art Kritik an einem bürokratisch organisierten Unternehmenskapitalismus auffallend oft in der Lebensratgeberliteratur der 1990er Jahre von Frauen vorgebracht wird, knüpft sich daran implizit eine Geschlechterdimension: Die Kritik an fehlenden Investitionen in subjektive Mitarbeiter/innenpotenziale erweist sich als Kritik an der Aufrechterhaltung patriarchaler Vorrechte. Die überkommenen männlich codierten, objektivierenden Strukturen eines unflexiblen Unternehmenskapitalismus treten nun in Konkurrenz zu den neuen, tendenziell weiblich konnotierten fluiden, subjektiven Dimensionen einer Kreativ- und Projektökonomie, die verstärkte auf soziale Fähigkeiten setzt. Auch das innerbetriebliche Organisationsdenken macht aus Sicht der Texte einen analogen, nicht minder tiefgreifenden Wandel durch. „Wo früher Ausführung detailliert vorgegebener Arbeitsanweisungen vorherrschte, ist heute die selbständige Planung und Durchführung von Aufgaben gefordert. Wo früher in streng hierarchischer Zuordnung Arbeit verteilt, beaufsichtigt und kontrolliert wurde, werden heute Eigeninitiative und Selbstkontrolle erwartet. Wo früher jedem einzelnen Mitarbeiter sein Arbeitspensum von Fall zu Fall zugemessen wurde, werden heute Gruppen gebildet, die ihren Arbeitsauftrag selbständig lösen.“15

Mit der veränderten Arbeitsweise gehen aber herkömmliche Arbeitsplätze verloren. Die Unternehmen vergeben zwar immer weniger Arbeitsplätze, aber nach wie vor Arbeit: „an Zulieferer, Selbständige, freie Mitarbeiter, Zeitpersonal. Qualität, die das neue Verständnis von Arbeit und ihrer Organisation fordert, muß jeder selbst schaffen.“16 Der globale Wettbewerb fordert also immer mehr eigenverantwortliche Subjekte, was – in den Augen der meisten Lebensratgeber – der Einzelnen durchaus entgegenkommt. Denn dieser Wandel bietet die Chance, der erarbeiteten Individualität auch einen ökonomischen Nutzen zu geben. „Wer wird diesen Wandel in der Arbeitswelt am besten überstehen? Jeder, der bereit ist, das, was er liebt, zu einer Nische zu entwickeln, in der er oder sie brillieren kann. Niemals war es wichtiger, unsere Begabung zu entdecken.“17

Der hier stellvertretend von Barbara Sher konstatierte Wandel kommt also gar nicht unbedingt bedrohlich daher. Die Subjektivierung der Einzelnen und der Wandel der 14 Vgl. Blomberg (2001), 87f. 15 Halbe, Paul (1996): Ihr Kopf – Ihr Kapital. Wie Sie die Regie für Ihr Leben übernehmen. Wiesbaden: Gabler, 7. 16 Ebda. 17 Sher, Barbara; Smith, Barbara (2009 [2005]): Ich könnte alles tun, wenn ich nur wüsste, was ich will. München: DTV, 20.

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Arbeitswelt stellen keine Gegensätze dar. Sie gehen vielmehr fließend ineinander über, weil sie das Interesse an hoch eigenverantwortlichen, flexiblen Subjektivitäten teilen. Da veränderte Arbeitsbeziehungen an die Subjektivierungspraktiken nahtlos anschließen können bzw. diese voraussetzen, stellen sie eher eine Art der Kosubjektivierung dar. Wie wir sowohl an den Techniken, als auch in der Teleologie ausführen werden, sind die anderen, z.B. über Feedback-Techniken, konstruktiv und konstitutiv in die eigene Subjektivierung integriert. Umgekehrt entwickelt das Subjekt zentrale Fähigkeiten, die inner- wie außerhalb des Berufslebens die anderen bei deren Selbstwerdungsbemühungen unterstützen. Subjektivierung soll nicht ausschließend, sondern inklusiv ablaufen. Sie ist Ziel wie Motor der Lebensführung. Hier können wir markieren, wie zentrale Elemente der Problematisierung früherer Epochen umgeprägt werden zu teleologischen Dynamiken. Die Warnung vor Fremdführung, konstitutiv für die ersten beiden Epochen, verhallt in der dritten. Die anderen werden vom Problem zur Lösung. Sie sind Mitspieler, nicht Manipulatoren. Ihre Subjektivierung bedroht nicht die eigene, sondern bietet Anknüpfungspunkte. Es handelt sich um eine schöne neue Welt sozialer, kommunikativer, ökonomischer und persönlichkeitsbildender Synergieeffekte. Die Kritik an den überkommenen ökonomischen Strukturen und Arbeitsbeziehungen mündet also keineswegs in eine kulturkritische, ausschließlich das Recht des Individuums verteidigende Position der Lebensratgeber. Sie machen sich stattdessen zum vehementen Fürsprecher eines ökonomischen Strukturwandels, der in den Augen der Autor/innen ganz im Interesse des Subjekts nach Individualisierung und Selbstführung aufgeht. Wenn die ökonomischen Strukturen, der Selbstführung so entgegenkommen, wird ein Nicht-Gelingen zwangsläufig der Einzelnen angelastet. Obgleich die 1990er Jahre verglichen mit der vorangegangen Epoche ein Zeitalter des wohlwollenden Aktivierens und des zuversichtlichen Aufbruchs sind, bleibt sie nicht ohne Kritik an überkommenen Strukturen, die aber in hohem Maße als ein Problem der Einzelnen verhandelt werden. Genaugenommen nehmen die Lebensratgeber in den 1990er Jahren an einer kollektiven Mentalität und Haltung Anstoß, in der sie ein bestimmtes wohlfahrtsstaatliches Anspruchsdenken widergespiegelt sehen, das die Einzelnen passiviert und abhängig macht. Die Autor/innen fragen sich, „warum Menschen einen Großteil ihres Strebens und ihrer Aufmerksamkeit auf die Illusion von Sicherheit richten statt auf Freude, Wachstum und Fülle. Warum sie wütend und frustriert sind, wenn der Arbeitsmarkt sie einfach ausspuckt. Warum sie Schuldige und Zustände suchen statt Chancen und neue Wege.“18 Die meisten Menschen gehen, so die Lebensratgeber, viele für sie schädliche Kompromisse ein, um sich diesen Zustand der Sicherheit zu erhalten, obwohl niemand diesen letztendlich garantieren kann. 19 Jede Person kann jederzeit die nächste gekündigte sein. Weder eine hart erarbeitete Karriereposition noch eine devote Dienstbeflissenheit noch eine einmal erworbene berufliche Qualifikation kann sie davor bewahren, wie Rosenfeld es ausdrückt, vom Arbeitsmarkt ausgespuckt zu werden. Die wohlfahrtsstaatlichen und innerbetrieblichen sozialen Sicherungssysteme haben den Menschen nur vorgegaukelt, dass man sich mit Hörigkeit und dem Verzicht auf subjektiven Eigensinn Sicherheit erkaufen kön18 Rosenfeld (2004), 12. 19 Vgl. ebda., 35.

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ne, so der entlarvende Duktus der Texte. Lange Zeit hat dieses Modell funktioniert, aber die „Zeiten mündelsicheren Überlebens gehen zu Ende“.20 Nun erscheint der verlorene „Kampf um Privilegien und langfristige Sicherheiten“21 aber ganz im Sinne eines sich auf sich selbst stützenden postmodernen Subjektes. Denn soziale Anspruchshaltung hat die meisten Menschen unbeweglich, unsicher und gelangweilt gemacht. „Die TV- und Printnachrichten sind eine Ersatzdroge für den Thrill, den das ‚normale Leben‘ produzierte. Uns fehlen die existenziellen Herausforderungen, denen sich früher jeder stellen musste. Die hatten nämlich auch eine positive Seite: Wer den täglichen ‚Kampf ums Dasein‘ gewonnen hatte, war aus tiefsten Herzen dankbar für kleine Geschenke des Schicksals.“ 22

Die ökonomische und soziale Prekarität wirkt sich in diesem Sinne wohltuend auf ein aktivisches Selbstverhältnis aus. Man begegnet in den Lebensratgebern unserer Tage einem immer wiederkehrenden und sehr redseligen Narrativ, das vom Freiheitsgewinn und abenteuerlichen Thrill durch die Aufgabe des Sicherheitsdenkens erzählt.23 In der existenziellen Gefährdung blühen, so das neue Narrativ, die besten Eigenschaften im Menschen auf. Sicherlich, es „war ein gefahrvoller, kalter und unendlich einsamer Sprung von einer Klippe mit dem Namen Sicherheit“ 24, aber es „gibt Ihnen Ihre Identität, Ihr Selbstwertgefühl zurück […], es bedeutet Befreiung vom Versteckspielen und Zurückweichen zu dem wir ein Leben lang gezwungen waren“.25 Es stellt sich heraus, dass diejenigen, die zu sehr auf die Sicherheit gesetzt haben, sich in viel größere Gefahr begeben haben als diejenigen, die zum einsamen Sprung in ihr allein sich selbst verantwortliches Selbstsein bereit sind. Ihnen bleibt nichts anderes übrig als ein Leben zu führen, das sie nicht selbst bestimmen.26 „Die meisten von uns wissen nicht, warum sie sich so vorsichtig verhalten. Wenn es einmal einen Grund gegeben hat, ist er längst verschwunden. Dabei übersehen wir etwas sehr Wichtiges: Wenn wir im Leben zu sehr auf Sicherheit setzen, gehen wir das größte Risiko unseres Lebens ein.“27 In der solcherart gegen das beharrende Subjekt gerichteten Logik der verflüssigenden Selbstführung erscheint das Risiko nicht mehr riskant, sondern es erweist sich als der natürliche, lebensweltliche Modus freien Selbstseins. Selbstentwurf, Wechselfall, Krise und Neubeginn finden in enger Liaison zusammen. 20 21 22 23

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Halbe (1996), 7. Rosenfeld (2004), 13. Blomberg (2001), 88. Zu ergänzen wäre, dass nicht alle von uns untersuchten Lebensratgeber ihre Kritik des Sicherheitsdenkens auf einer Kritik an sozialstaatlichen Strukturen aufsitzen lassen. Einige, wie Grochowiak und Kensington, wollen das Sicherheitsdenken eher im privatintrasubjektiven Bereich zum Wanken bringen, um Glücksmöglichkeiten freizusetzen. Die Lebensratgeber aus dem Bereich des neurolinguistischen Programmierens hingegen haben die äußere Realität nahezu gänzlich suspendiert zugunsten einer frei programmierbaren Subjektivität. Rubin (2001), 15. Ebda., 74. Vgl. Sher (2009), 65ff. Ebda., 59, Hervorhebung im Original.

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Diese Romantisierung und Naturalisierung sicherheitsabstinenter Selbstführung zeigt vor allem eines: Das Spannungsverhältnis zwischen dem Subjekt und seiner Außenwelt hat seine Vorzeichen verkehrt. Geißelten die 1960er Jahre noch die die Einzelnen normierenden gesellschaftlichen Verhältnisse, die ihnen drohten, sie innerlich erstarren zu lassen, ist es nun das Subjekt selbst, dass aus Gründen falscher Sicherheitsbedürfnisse seine Entwicklung zum Selbstsein still stellt. Die neuen ökonomischen und sozialen Realitäten sind es nunmehr, die es darauf anlegen, dass die Einzelnen zu ihrer Lebendigkeit kommen. Sie meinen es geradezu gut mit ihnen.

2.2 DIE ERZIEHUNG ALS ABSTOSSUNGSPUNKT Besieht man sich die sozialen und intrapsychischen Gründe für das Sicherheitsdenken und den Konformismus der Einzelnen, fällt auf, dass sich die Verkehrung der Vorzeichen auf andere Weise fortsetzt. Auch die 1990er Jahre kennen Subjekte, die zu streng und pedantisch geraten sind, um glücklich und leistungsfähig zu sein. Was an dem scheinbaren Wiederaufleben der Sozialisationskritiken in den 1990er Jahren auffällt, ist, dass die Eltern, die zuvor deutlich auf der Seite der objektiven Außenwelt gestanden haben, auf sich selbst zurückverwiesen worden sind. Ihr Erziehungshandeln, das sich der Kritik der 1990er Jahre aussetzt, scheint mehr durch ihre eigene Lage als psychische Wesen bedingt zu sein: „Eltern haben ihre eigenen Träume – und drängen Sie, diese Träume zu verwirklichen, nicht ihre eigenen. In ihren Köpfen haben sie Bilder von erfolgreichen Söhnen und schönen Töchtern, von beeindruckenden Kinder, die im Leben abgesichert sind. Nur wenige Eltern haben die Ruhe und Gelassenheit, zu erkennen, dass der beste Weg für ihr Kind darin besteht, seine eigene Vision zu erkennen und ihr zu folgen.“28

Die Erziehung zur Abhängigkeit ist also hier Folge eines neurotischen Eigeninteresses der Eltern und weniger einer gesellschaftlichen Normierung. Die Kinder würden unter dem Druck der familiären Anforderungen, die zudem häufig widersprüchlich sind, einen geringen Selbstwert entwickeln. Da viele Menschen darauf konditioniert wurden, so die Lebensratgeber, die Erwartungen anderer zu erfüllen, haben sie nie die Erfahrung der Freiheit und Individualität machen können. Im Erwachsenenalter halten sie oft starr an diesen frühkindlichen Mustern fest. „Egozentrische, unsichere, kontaktarme Personen machen sich und anderen das Leben schwer. In einer schnelllebigen, komplexen Welt verliert Wissen an Halbwertzeit, neben der fachlichen Qualifikation wird die soziale Kompetenz zum zentralen Erfolgsfaktor.“ 29 In diesem Lichte besehen, gerät das Erziehungsverhalten auf doppelte Weise in die Schusslinie: Es macht die Subjekte unglücklich und ist den gesellschaftlichen Verkehrsbedingungen nicht mehr angemessen. Es verhindert die Ausprägung eines Selbstverhältnisses, das auf wechselnde Anforderungen adäquat reagieren kann und sich in einem zunehmend hierarchiearmen ökonomischen Umfeld bewegen und behaupten kann. Es ist sowohl für die mittleren als auch für die höheren beruflichen Tätigkeiten dysfunk28 Sher (2009), 28, Hervorhebung im Original. 29 Becker/Becker (1996), Vorwort, vii.

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tional geworden. Denn es macht befangen gegenüber höherstehenden Personen und autoritär gegenüber Untergebenen, was Lösungs- und Entwicklungspotenziale verschwendet.30 Für viele Autor/innen haben sich die Subjekte also sozialisationsbedingt in ein Netz von Affektlagen und psychischen Dispositionen, Abhängigkeitsbeziehungen verfangen, die ihnen nicht einmal das Unglück zum Preis einer relativen sozialen Stabilität bieten können. „Heute in unseren aufgeklärten 90er Jahren wissen wir, daß wir alle aus gestörten Familienverhältnissen kommen.“ 31 In diesem Satz scheint viel aus den Problematisierungen der zweiten Epoche anzuklingen. Zentral ist jedoch, dass die Texte ab den 1990er Jahren ihn durch einen Aufruf zur radikalen Eigenverantwortung ergänzen. Sie stellen auch bemerkenswert simpel wirkende Techniken bereit, sich der eigenen schädlichen Biographie zu entledigen – oder sie als Ressource für künftigen Erfolg zu erschließen. So sehr die Lebensratgeber auf die Muster der Sozialisation abheben (und daraus die ängstliche Starre ihrer Leser/innen ableiten), sehr weit ist es mit der „Tiefenstruktur unserer Seele“32 nicht her. Die Prozesse der Einschreibung mögen dem Subjekt der 1990er Jahre zwar gravierend und persistent vorkommen, die Auswege, die die Lebensratgeber aufzuzeigen geneigt sind, weisen sie hingegen als veränderlich und formbar aus. Den Mustern und Mechanismen, den Gewohnheiten und Widerständen ist, wie wir im Abschnitt zu den Techniken ausführen werden, leicht beizukommen.

2.3 DIE UMWERTUNG ALLER KRISEN. GRENZENLOSE FREIHEITEN Die Lage des Subjektes wird zwar als durchaus belastend und verwickelt dargestellt, aber es fehlt generell an einem dramatisch-bedrohlichen Tonfall. Das Krisenhafte wird ab den 1990er Jahren durchaus nicht als exzeptionelle Situation gewertet, der man rasch beikommen muss, um größeren Schaden abzuwenden. Vielmehr wird es als erwartbare, ja notwendige Modalität der aktivischen Selbstführung verstanden, das neue Impulse setzt, ohne all das bereits Erreichte zur Disposition zu stellen. Das Subjekt leidet mehr unter den Möglichkeiten, die ihm gegeben sind, als unter den Grenzen, die ihm von außen gesetzt werden. „Diese Freiheit ist etwas Wunderbares. Aber sie quält uns auch, weil wir uns selbst eigene Ziele setzen müssen.“ 33 Die Fülle der Chancen, die ihm geboten zu sein scheinen, rufen danach, dass es sich gerade in ihnen individualisiert und sie stellen ihm zugleich vor Augen, was es aus sich alles hätte machen können, wenn es in der Lage gewesen wäre, sein Selbst in eigener Regie zu führen. In der Konsequenz wird es geradezu unmöglich, Hinderndes und Gefährdendes jenseits der Einstellung des Subjektes trennscharf vom Förderlichen und Hilfreichen abzugrenzen. Alles kann als gewinnbringende, den Charakter stärkende Herausforderung begriffen werden. Es gibt, anders als in der zweiten Epoche, kein

30 31 32 33

Vgl. Fischer-Epe/Epe (2004), 199ff. St. James (1996), 84. Grochowiak (1996), 34. Sher (2009), 14.

Die 1990er/2000er Jahre: Risiko der Sicherheit

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festes Register an Bedürfnissen, die objektiv bedroht sein könnten. Die Ratgeber interessieren sich ab den 1990ern viel mehr für Interpretationen. Etwas Schwieriges, vielleicht Bedrohliches zur Chance uminterpretieren zu können, darin liegt für sie gerade eine Kernaufgabe der erfolgreichen Subjektivität. Dadurch wird es schließlich schwierig, einen ambivalenzfreien Raum der Selbstführung auszuweisen, ja überhaupt ein eigenes Reich des Subjektes zu markieren. 2.3.1 Riskante Sicherheiten An der Arbeit und an der Erziehung kristallisiert sich die Kritik des Sicherheitsdenkens als zentrale Problematisierung der dritten Epoche heraus. Das Sicherheitsdenken, so der Impetus der Texte, birgt nicht zu verantwortende Risiken. Was riskiert das Subjekt genau, wenn es in den Bahnen von Gewohnheiten, äußeren Erwartungen und festen Selbstüberzeugungen bleibt, selbst wenn es sie zu einem bestimmten Zeitpunkt als wahr erkannt hat? Dazu geben die Texte ausführliche und klare Antworten. Zuallererst setzt es alle Eventualitäten seines Daseins, seiner Möglichkeiten und Freiheiten aufs Spiel, die zugleich Eventualitäten seiner selbst sind. „Anlässe zu Veränderungen gibt es im Leben immer wieder. Es liegt an uns, ob wir genügend Mut aufbringen, um sie zu erkennen und den Sprung zu wagen. An einmal getroffene Entscheidungen ist man nicht auf ewig gebunden […] Ohnehin ist es realistisch – auch wenn es unglaublich klingen mag –, sich etwa alle zehn Jahre zu überlegen, ob man sein Leben nicht umkrempeln möchte. Oft haben wir nicht gelernt, bewusst Entscheidungen zu treffen, daher ‚stolpern‘ wir in irgendetwas hinein oder entschließen uns, lieber ‚alles beim Alten zu lassen‘ bis wir eines Tages feststellen, dass unsere Jugend vorbei ist – oder dass die mittleren Jahre vorbei sind – und das wir eigentlich gar nicht richtig wissen, was wir mit unserem Leben angefangen haben […]. Warum sollte eine Entscheidung, die man mit fünfzehn oder auch mit einundzwanzig getroffen hat, über das ganze Leben bestimmen? Es ist wichtig, solchen Entscheidungen nicht mehr Bedeutung beizumessen, als sie verdienen.“ 34

Viele Menschen neigen dazu, so Autor/innen wie Elizabeth Mapstone und Brian Tracy, im Bannkreis ihrer Entscheidungen zu verbleiben. Jedes Mal, wenn sie etwas denken, sagen oder tun, das im Gegensatz zu ihren gegenwärtigen Gewohnheiten steht, wird ein inneres Beharrungsvermögen mobilisiert, das sich in Unlustgefühlen, Stress und Angst ausdrückt. „Weil Sie sich immer vom Unbehagen weg und zum Komfort bewegen, neigen Sie dazu, dahin zurückzugehen, was Sie ohne Unbehagen tun, und von Dingen Abstand zu nehmen, die neu und herausfordernd sind [...] Es kann tatsächlich so nervenzerreibend sein, aus seiner Komfortzone herauszukommen, daß die meisten Menschen es niemals tun, wenn sie nicht gezwungen sind.“35

Auf die innere Natur ist somit gar kein Verlass. Aus ihr kommt dem modernen Subjekt in der Regel keine Hilfe zu, um sich in der Welt und seinem Selbst zu orientie34 Mapstone (2005), 14f. 35 Tracy (1995), 76f.

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ren. Sie versucht uns „in Übereinstimmung mit dem zu halten, was Sie in der Vergangenheit gewesen sind“.36 Diese unterbewussten Widerstände gegen alles Neue gehen bisweilen subtile Wege, so dass sie sich der Wahrnehmung des Subjektes entziehen können. Sie äußern sich dann in inneren Konflikten, selbstsabotierenden Gedanken und Handlungen oder münden in einen Zustand der Unentschiedenheit. Selbst kreative Beschäftigungen oder das Ausleben von Begabungen können angstauslösend sein, da wir „von einer Ebene, auf der wir die Dinge gewohnheitsmäßig tun, auf eine Ebene umschalten, auf der alles, was wir tun, neu und intensiv ist. Etwas zu lernen und zu erschaffen sind Tätigkeiten mit hohem Risiko. Nur daran zu denken, kann schon alle möglichen Vermeidungsstrategien hervorrufen […]. Künstler müssen bekannte Wege verlassen, um Neues zu entdecken. Und das müssen auch Sie, egal, ob Sie Künstler sind oder nicht. Alles Neue ist riskant, und die Evolution hat uns gelehrt, Risiken zu vermeiden. Sie hat uns mit einem überaus wirkungsvollen Mechanismus ausgestattet, der versucht, alles Neue in eine Gewohnheit zu verwandeln.“ 37

Das Subjekt ist also einerseits (z.B. sozialisationsbedingt) Opfer, wirkt andererseits aber gleichermaßen aktiv an der Begrenzung seiner Handlungsmöglichkeiten mit. Es macht sich die verkleinernden Einflüsterungen seiner (frühen) sozialen Umwelt fortdauernd zu eigen, weil es ihm an Mut, richtig verstandenem Egoismus, genügend Zeit zum Reflektieren sowie an Selbständigkeit fehlt.38 Strukturell ist das Subjekt aber seiner Opferrolle bereits transzendent. Es kann sich durch eine veränderte Denkweise relativ frei zu diesem verhalten. Zur Last wird ihm deshalb nicht gelegt, dass er nicht zur Potenz seines Seins gekommen wäre, sondern dass es die Potenzialitäten seines Seins fortwährend unterdrückt. Völlig ungewöhnlich für die vorangegangen Epochen ist das weitgehende Fehlen konkreter, trainierbarer ambivalenzfreier Tugenden: Alles außer der Flexibilität und dem Willen zur Selbsterneuerung kann ein Hindernis auf dem Wege zur erfolgreichen Selbstführung darstellen, wenn es das Subjekt in sich verharren lässt. „Ich glaube nicht, dass man ein gutes Leben führt, wenn man das tut, was man kann; man lebt gut, wenn man das tut, was man tun will. Ihre größten Begabungen kommen nicht unbedingt darin zum Ausdruck, was sie gut können. Wir alle können einige Dinge gut, die wir nicht besonders mögen. Und wir alle haben Talente, die wir noch nicht eingesetzt haben. Sich von seinen Fähigkeiten und Stärken die Richtung vorgeben zu lassen ist inakzeptabel.“39 2.3.2 Die Gefahren des unbegrenzten Lebens Ein zweiter Problemkreis schließt sich an die Selbstbegrenzung des Subjektes an bzw. greift in diesen hinein, der auf den ersten Blick besehen schräg dazu zu stehen scheint. Das Subjekt, das in der oben beschriebenen Weise an eine bestimmte Moda36 Ebda., 77. 37 Sher (2009), 73f. 38 Vgl. Steiner (2005) 77; vgl. Grochowiak (1996), 24; vgl. Mapstone (2005), 16; vgl. Halbe (1996), 51; vgl. Borstnar/Köhrmann (2004), 14. 39 Sher (2009), 12.

Die 1990er/2000er Jahre: Risiko der Sicherheit

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lität seines Seins festgebunden ist, wird in den 1990er und 2000er Jahren auch meist als ein solches beschrieben, das in einem Zustand der Unbegrenztheit lebt. Die Menschen sind den Anforderungen moderner Lebensführung vor allem deshalb nicht gewachsen, weil sie „kein Gespür dafür [haben], was sie sich zumuten und abverlangen können und wo sie beginnen, das gesunde Maß aus den Augen zu verlieren“. 40 Eine zu starr geratene Subjektivität kann sich nämlich auch darin ausdrücken, im gesellschaftlichen Leistungsdenken zu verharren. Im äußerlichen Sinne erfolgreich zu sein, kann deshalb fälschlicherweise mit dem Festhalten an Gewohnheiten gleichgesetzt werden. Viele Menschen befinden sich dann, ohne das richtige Maß für eine spezifische Situation im Auge zu haben, ununterbrochen im „non-Stop-Modus“.41 Sie treten häufig sehr bestimmt auf und erscheinen sehr durchsetzungsfähig, haben sich aber tatsächlich einem bestimmten Teil ihrer selbst hoffnungslos ausgeliefert. Damit ist „eine große Gefahr verbunden. Das Ego will immer mehr: mehr Geld, mehr Sex, mehr Wissen etc. Diese Maßlosigkeit des Immer-mehr bringt das persönliche Leben aus dem Gleichgewicht.“42 Diese Selbstbehandlung kann nicht ohne hohe Kosten für die psychische und physische Gesundheit vonstattengehen. Wer in Absehung von seinen eigenen Leistungsreserven handelt, wird auf Dauer einen Preis entrichten müssen, der auch die Grundlage für diese Art leistungsbezogener Selbstführung untergraben kann. Andere Autor/innen sehen in einer konsum- und warenförmigen Lebensweise einen weiteren Aspekt einer das Maß verlierenden Selbstführung. Sie kritisieren, dass das Leistungsdenken nicht nur in der Arbeitshaltung Einzug gehalten habe, sondern weite Teile des Alltags mitbestimme. Die beständige Suche nach konsumierbarer Unterhaltung und die Anhäufung von materiellem Besitz gelten für Elaine St. James als Ausdruck einer unflexiblen und überfordernden Lebensweise. „Wie so viele meiner Generation hatten auch mein Mann Gibbs und ich uns die Philosophie der 80er Jahre zu eigen gemacht, welche besagt: Je größer desto besser, und noch mehr ist noch besser […]. Dazu merkten wir allmählich, daß viele Dinge nicht zu einem besseren Lebensgefühl beitrugen, sondern das Leben nur weitaus komplizierter machten, als wir uns einzugestehen bereit waren.“43 So sind letztlich viele Menschen in ihren beruflichen und privaten Lebenssphären, selbst und gerade, wenn sie erfolgreich daherkommen, so die Diagnose der Lebensratgeber, Gefangene ihrer ungelenken Innerlichkeit. Diese ist nichts anderes als das Anklammern an das Vertraute, als der Verzicht auf ein abenteuerliches Leben ohne Netz und doppelten Boden. Die Unbegrenztheit der Lebensweise des zeitgenössischen Menschen ist damit zugleich Ausdruck einer Subjektivität, die in zu rigiden Grenzen verläuft, als dass ihre Bedürfnisse und Ansprüche jeweils den Lebenssituationen angemessen reguliert werden könnten.

40 Conen (2005), 11. 41 Steiner (2005), 39. 42 Chresta, Gion (2005): Die 7 Lebens-Fragen. Anleitung zur Führung des Unternehmens „Ich“. Petersberg: Verl. Via Nova, 54. 43 St. James (1996), 14.

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2.3.3 Technikkritik und Selbstbegrenzung: die Problematisierung früherer Ratgeber Erschwerend kommt hinzu, dass das moderne Subjekt einer neuen Ambivalenz ausgesetzt ist. Denn die hochtourige Betriebsamkeit der Einzelnen ist nicht nur seinem im Sozialisationsprozess verfertigten Streben anzulasten, sondern sie ist selbst Resultat eines Herstellungsvorgangs, in den Wissen und Techniken vergangener Selbstführungsdiskurse eingegangen sind. Anders ausgedrückt, der Mensch ist in dieser verzwickten Lage, weil er bestimmten, einseitigen Ratschläge des Selbstführungsdiskurses vergangener Tage gefolgt ist. Er ist in dieser Lage zwischen Abenteuerscheue und Überforderung, da er sich in widersinnige Techniken zur Selbststeigerung heillos verstrickt hat und dadurch irre gelaufen ist. Die erste Form der Problematisierung stellt die Wirkungslosigkeit bestimmter Selbsttechniken heraus. Zur gängigen Zielscheibe wird vor allem eine Technik, die zu den Klassikern des Selbstführungsdiskurses zu rechnen sind – das positive Denken. Führt das positive Denken für die Texte der vorangehenden Epochen das Subjekt zu der Einsicht, dass ihm diejenigen Wirkungen zukommen werden, die es durch sein Denken und Glauben verursacht hat, entpuppt sich diese Technik in den 1990er Jahren immer häufiger als zahnlos. „Viele Seminarteilnehmer berichten mir immer wieder, dass sie auf Schulungen für positives Denken waren, Suggestionstexte auswendig gelernt haben, aber in der Realität einfach nicht reüssieren.“ 44 Dass sich die Realität den suggestiven Eingaben nicht mehr zu fügen bereit ist, liegt nun nicht mehr am Zögling, dem man gerne den letzten Rest Überzeugung abgesprochen hatte. Die Technik gerät stattdessen in den Verdacht, die Angelegenheiten des Subjektes bloß oberflächlich zu verschönern, ohne an den zugrunde liegenden Problemen zu rütteln. „Die eigenen Gedanken aufzupeppen und vorzugeben, sich anders zu fühlen, als es tatsächlich der Fall ist, hält nicht lange genug vor, um jemanden ernsthaft weiterzubringen.“45 Zum Zweiten können Selbsttechniken nicht nur in die Irre führen, sie können mitunter auch Schaden anrichten. Zeitmanagementtechniken können ihren Übenden vorgaukeln, dass etwas in ihrer Verfügbarkeit und Kontrolle liegt, was sich ihm aber tatsächlich entzieht, da „Zeit in letzter Konsequenz nicht gemanagt werden“ 46 kann. Der Zeitplan gibt ihm das Gefühl, steigenden Anforderungen gerecht werden zu können und sie in ein beherrschbares Maß zu bringen, was aber regelmäßig durch die Unwägbarkeiten des Alltags widerlegt wird. So musste eine Autorin, die lange Jahre die Technik an sich praktiziert hat, feststellen, dass „dieses Zeitmanagementsystem beinahe die Dimensionen des Staates Nebraska annahm. Das Ding quoll über mit ‚Aktivitäten‘ – Listen, Telefonnummern, Terminen, Kalendarien, Systemen, Tabellen und Maßnahmen zur Optimierung von Konferenzabläufen, Besprechungen und Arbeitszielen und mit Lebensplanern über fünf und zehn Jahre hinweg.“ 47 Sie wurde gewahr, dass sie zur Sklavin ihres Terminkalenders und Organizersystems geworden 44 Pfeifer (2001), 75. 45 Sher (2005), 16; vgl. McKenna, Paul (2005): Ein neues Leben in 7 Tagen. Erfahren Sie die Strategien erfolgreicher Menschen für ein erfülltes Leben. München: Goldmann, 36. 46 Borstnar/Köhrmann (2004), 75. 47 St. James (1996), 13.

Die 1990er/2000er Jahre: Risiko der Sicherheit

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war. Die doppelte Belastung führt in der Folge nicht selten zu Burnout, Depressionen oder durch Stress ausgelösten psychosomatischen Erkrankungen wie Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit und Magengeschwüren.48 Die strenge Befolgung eines Übungsregimes kann nicht dafür garantieren, dass sich das Subjekt die höheren Weihen der Selbstführung adäquat erarbeitet. Der Weg der Selbstführung selbst ist vieldeutig und offen. Vergleicht man dies mit den vorangegangenen Epochen der Lebensratgeber, so stellt sich in den 1990er Jahren der scheinbar feste Grund einer angeleiteten Selbsttransformation als wankend dar. Damit verlieren die Entgegensetzungen an Bedeutung, die wesentlich für die Adressierung des Subjektes waren: auf der einen Seite, der in dunkle Farben gemalte Zustand des „ungelebten Lebens“, auf der anderen Seite die lichte Figur des zur Reife gelangten Subjektes. Diese Grenze wird löchrig, sie verschiebt sich, wenn man so will, in die verschiedenen Subjektstatus hinein. Die Dinge fallen im zeitgenössischen Diskurs nicht so einfach, daher ist niemand per se ein Gefallener. Selbst ein richtig befolgter Schulungsweg (wenn die 1990er Jahre einen solchen überhaupt mit Gewissheit auszuweisen bereit sind) und das Erreichen einer teleologischen Subjektform kosten einen Preis. „Die Prüfung, ob ein Ziel ökologisch [d.h. sozial bzw. bezogen auf die eigene Bedürfnislage] sinnvoll und vertretbar ist, befasst sich mit den Wirkungen und unerwünschten Nebenwirkungen, die mit dem Erreichen eines Ziels verbunden sein können […]. Mit welchen Konsequenzen muss ich rechnen, wenn ich dieses Ziel tatsächlich erreiche? Was ist der Preis? Was gebe ich damit auf, oder was wird eventuell schwieriger? Wer könnte Einwände haben? Passt das Ziel – noch – zu meinen Bedürfnissen, zu meinen Werten und zu meinem Selbstverständnis? Mit vielen ersehnten Zielen sind unangenehme Nebenwirkungen verbunden.“49

Insofern sind die aktuellen Ratgeber nüchtern: Sie weisen darauf hin, dass alles seinen Preis hat und dass es keine einfachen Techniken gibt, die das Subjekt in einen neuen Zustand des Seins katapultieren könnten. Der Weg zum Selbstsein geht in den 1990er Jahren somit zwar von einer weniger akuten Ausgangslage aus, er ist aber fragil, ambivalent und, das ist neu, in seiner Grundstruktur episodisch. Nichts ist auf Dauer zu haben, nichts ist ohne Kosten zu erreichen, niemand ist über alle Zweifel erhaben.

2.4 ZUSAMMENFASSUNG Die Problematisierungen verändern sich in der dritten Epoche sowohl inhaltlich als auch strukturell. Auch wenn einige Topoi an die zweite Epoche erinnern, wie die Kritik der Erziehung, werde diese nahezu ausschließlich auf der Ebene der Subjekte und ihrer Eigenverantwortung diskutiert. Anders als in den Epochen zuvor scheinen dem Leiden oder dem Fehlgehen der Subjekte keine gesellschaftlichen Bedingungen mehr zugrunde zu liegen, sondern es werden ausschließlich psychologische oder so48 Vgl. Pfeifer (2001), 11f., 38. 49 Fischer-Epe/Epe (2004), 80; vgl. Borstnar/Köhrmann (2004), 53f.; vgl. Schwarz/Schweppe (2001), 88f., 91f.

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zialisationsbedingte Faktoren in Rechnung gestellt. Die für die erste und zweite Epoche konstitutive Kritik an sozialen Verkehrsformen und zwischenmenschlicher Interaktionalität ist fast völlig suspendiert. Sie wird abgelöst durch die Idee einer Kosubjektivierung der Subjekte durch die soziale Mitwelt. Damit gerät das Subjekt selbst, genauer: sein Sicherheitsdenken, in den Fokus der Kritik. Das Bedürfnis nach Sicherheiten wird als Ursache für verfehlte Selbstführung identifiziert. Ängste und Sicherheitsbedürfnisse werden im Kern nicht mehr als gerechtfertigt betrachtet, da sie an einer grundsätzlich subjektaffinen und möglichkeitsgenerierend aufgefassten gesellschaftlichen Wirklichkeit vorbeigehen. Dem Subjekt werden nun gerade jene inneren Strukturen als unvorteilhaft ausgewiesen, die ihm Routine, Gewohnheiten und Dauerhaftigkeit versprechen. Sie werden ihm als Wirklichkeitsabkehr, als Lust- und Abenteuerverweigerung ausgelegt. Das Sicherheitsdenken wird im Bereich der Arbeit mit starren patriarchalen Hierarchien und unflexiblem Standesdünkel identifiziert. Insofern führen Autor/innen wie Harriet Rubin mit ihrer Kritik am Angestelltenkapitalismus erstmals eine explizitere Geschlechterebene ein, um die Überkommenheit bestimmter institutioneller Strukturen und gesellschaftlicher Mentalitäten zu kennzeichnen. Die Konsequenz dieser Kritik der Sicherheit ist die Umprägung von Krisen zu Chancen, von Instabilität zu Flexibilität: Gerade Unsicherheiten und Existenzängste rütteln die Subjekte wach, wecken den Abenteurergeist und das unternehmerische Denken. Auf struktureller Ebene werfen die Problematisierungen bereits den Schatten der Subjektteleologie voraus: Da es kein fundamentales Bedrohungsszenario gibt, dem es zu entkommen gilt, sondern es vielmehr darum geht, Herausforderungen mit der richtigen Haltung (und dem richtigen Werkzeug) anzugehen, bauen die Problematisierungen keine geschlossene Front, keinen klar umrissenen Abstoßungspunkt: Alles kann, nichts muss problematisch sein. Es ist vielmehr die Anpassungsfähigkeit des Subjektes selbst, an der dies liegt. Es muss volle Verantwortung für alle Krisen, Probleme, Ängste, Möglichkeiten, Chancen, Herausforderungen übernehmen, darin kann und darin muss es sich erfolgreich subjektivieren. Nur weil die Welt bereits von fundamentalen Bedrohungen in der Sprache der Texte entschärft wurde, kann dies als bewältigbares Anliegen gesehen werden. Allerdings gewinnt jede Meisterung schwieriger Lagen einen episodischen Charakter. Anders als in den vorangehenden Epochen kann das Subjekt durch deren Bewältigung nicht an dauerhafter Substanz gewinnen. Entsprechend anders müssen die Techniken sein, derer es sich zur Selbstführung bedient.

3

Reflexion der Selbstführung Die Techniken der 1990er und 2000er Jahre

Die Techniken der 1990er erscheinen aus heutiger Sicht sehr nahe, vertraut, ja gar nicht unbedingt „technisch“ in ihrem Charakter. Auch wenn häufig vertretene Typen schon ihre Vorläufer in den 1960er und 1970er Jahren finden, ändert sich ihre Form und Darstellung so, dass sie aus heutiger Sicht das Antlitz des Bekannten bekommen. Der durch historische Distanz (vermeintlich) geschärfte Blick von außen verliert sich leicht. Umso mehr gilt es, die typischen Techniken und vor allem die ihnen zugrunde liegende Struktur zu analysieren, um sich vom scheinbar Vertrauten erneut irritieren zu lassen. Viele typische Überzeugungen über Selbstführung lassen sich implizit von diesen Techniken ableiten, so z.B. die Verstärkung der Eigenverantwortung und der Fokus auf Arbeit. Wie wir gesehen haben, ist das für die vorangehenden Epochen jedoch nur sehr eingeschränkt gültig. Das technische Arrangement der aktuellen Ratgeber ist ein Paradox: Überall dringen Instruktionen auf Reflexion und Transparenz, gleichzeitig wirkt die Gesamtanlage schwer durchschaubar. Das hängt auch damit zusammen, dass das Arrangement der Techniken weder hierarchisch ist noch in isolierte Blöcke zerfällt. Vielmehr handelt es sich, im Großen wie im Kleinen, eher um zirkuläre Verhältnisse. Dass diese Anlage in praktisch allen Quellen vertreten ist, ohne dass sie in den Texten selbst als solche thematisiert wird, spricht für eine Hegemonie auf struktureller und performativer Ebene. Für die Übersichtlichkeit der Darstellung ist es dennoch unumgänglich, bestimmte Blöcke isoliert zu betrachten, um dann deren Zusammenhang zu erhellen. So unterscheiden wir weiterhin Selbst- und Sozialtechniken (dritter und letzter Abschnitt), auch wenn einerseits das Selbst als eine Pluralität zu führender Personen verstanden wird und andererseits die anderen kaum als Gegner der gelungenen Subjektivierung, sondern eher als Mitspieler gedacht werden. Innerhalb der Selbsttechniken gibt es primäre Techniken, welche im Umfeld einer „Arbeit an sich“ in einem noch näher zu bestimmenden Sinne arrangiert sind (erster Abschnitt) und solche, die ein reflexives Netz über die Selbstführung legen (zweiter Abschnitt). Diese sind von ihrer Bedeutung für die Selbstführung nicht einfach Metatechniken, die im etablierten Sinne das Befolgen des Übungsregimes gewährleisten sollen, sondern nehmen selbst einen großen Raum ein und sind auf Dauer gestellt. Gerade die Metatechniken werden die gebräuchlichsten Techniken. Sie geben ihre zentrale Funktion, das Übungsregime zu kontrollieren, nicht auf. Allerdings sind sie nicht mehr so eng an das Lesen des Rat-

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gebers und das Üben der Techniken gekoppelt. Lang angelegte Einübung gibt es in der dritten Epoche ohnehin nur selten. Vielmehr setzen die Metatechniken kurze Impulse, sich über sich klar zu werden. Dadurch, dass dies niederschwellig und auf vielen Gebieten geschieht, aber stets nach demselben Modus, ergibt sich ein Netz der Selbstaktualisierung durch Reflexion in den Metatechniken. Nicht die einzelne Technik, wohl aber deren Einbettung in eine Gesamtanlage offenbart diese Verschiebung. Kontrolltechniken kommen nicht mehr punktuell, sondern flächendeckend vor. Sie etablieren als über das Subjekt geworfenes Netz einen Modus der Introspektion, eine Art Selbstvergewisserung und Selbstaktualisierung. Diese Metatechniken können wir deshalb auch aktualisierende Metatechniken nennen. Die Übung dieser soll die Subjekte weder völlig umbauen, disziplinieren, noch eine verschüttete Individualität freilegen oder die inneren Landschaften renaturieren. Es geht vielmehr darin, das Subjekt auf allen wichtigen Ebenen in einen Zustand flacher, horizontaler Aktivierung zu versetzen. Das Übungsprogramm der dritten Epoche lässt sich somit als Aktivierungstraining beschreiben. Für die Entfaltung des Netzes sind die reflexiven Techniken (Abschnitt 3.2) entscheidend. Es gibt aber einige zentrale (neue) Objekte der Techniken. Diese werden im folgenden Abschnitt dargelegt.

3.1 ARBEIT AN SICH Die folgenden vier Unterpunkte zu den wesentlichen Objekten der Techniken markieren gleichzeitig die Eckpunkte des Übungsregimes. Es sind Responsibilisierung, Projektarbeit, Emotionalisierung und Bewältigung innerer Heterogenität. Wie sich im Folgenden zeigen wird, sind sie eng aufeinander bezogen. 3.1.1 Responsibilisierung Eigenverantwortung ist ein zentrales Konzept der 1990er und 2000er Ratgeber. Typisch für die Zeit und herausragend demonstriert an der im Folgenden beschriebenen Technik ist jedoch die implizite Verwiesenheit auf andere, gerade bei Angelegenheiten, die augenscheinlich das Subjekt in seinem Selbstverhältnis charakterisieren. Will man die Verantwortungskonzeption der beiden früheren Epochen beschreiben, erklärt sich diese im Lichte der Verwahrung gegen Fremdführung und Fremdbestimmung. Dagegen werden in der dritten Epoche bei Verträgen mit sich selbst, welche auch nach dem Anspruch der Texte auf eine innere Angelegenheit der Subjekte zielen, die anderen eingebunden. Typisch für die Techniken der dritten Ratgeberepoche ist außerdem die Kopplung an Emotionen, welchen wir einen eigenen Abschnitt widmen. Bei Evelin Rosenfeld befindet sich die vertragliche Verpflichtung zur Selbstveränderung am Anfang, bei Horst Conen am Ende des Buches. „Dein Vertrag mit dir für dich“1 soll laut Rosenfeld die vier großen Lebensbereiche (Selbst, soziale Interaktion, Wirken, Umwelt/Weltbild) umfassen. Unter drei Perspektiven (sachlich, emotional, interpretativ) sollen mögliche Veränderungen überlegt werden, und zwar, ohne

1

Rosenfeld (2004), 26.

Die 1990er/2000er Jahre: Techniken

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deren Umsetzbarkeit zu berücksichtigen.2 Dazu gehört zunächst eine Checkliste (Wie sieht mein Tagesablauf aus? Wie meine Wohnsituation? Was verbinde ich mit meinem Job?), die sogleich an die Emotionen zurückgebunden wird: „[D]a, wo du dich tief bewegt fühlst und das Gefühl hast: ‚So soll es nicht bleiben‘ – setze Ziele für dein Empowerment. Schreibe auf, was du durch die Arbeit mit diesem Buch erreichen willst.“3 Der Rahmen dieses „Empowerments“, bei Rosenfeld ein Schlüsselbegriff und Synonym für die von ihr gebotenen Anleitungen, soll dann in vertraglichen Eckdaten festgelegt werden: „Definiere außerdem, in welchem Zeitraum du das Training einmal vollständig für dich absolviert haben willst und wann du dir fest Zeit einräumst, dich mit den Übungen und deinem Wandel zu befassen. Schließe dann den folgenden Vertrag mit dir selbst.“4 Auf einer vorgefertigten Seite im Buch können sich die Übenden dann unter dem Anschein des Offiziellen vertraglich binden: „Ich, [Leerstelle], gebe mir für die Monate [Leerstelle] bis [Leerstelle] Raum, Zeit und Ruhe, das Empowerment Arbeitsbuch gewissenhaft zu studieren und die Übungen regelmäßig, schriftlich (soweit nötig) und ehrlich vor mit selbst durchzuführen. Dazu nehme ich mir täglich ca. [Leerstelle] (Minuten, Stunden) Zeit und zusätzliche einmal in der Woche [Leerstelle] Stunden.“5 Dazu soll je ein Wunsch pro Lebensbereich genau formuliert werden. Abschließend wird eine Belohnung für die Vertragserfüllung schriftlich festgehalten: „Wenn ich diesen Vertrag erfüllt habe, werde ich mir endlich gönnen: [3 Leerzeilen]“, dann mit Datum und Unterschrift die Selbstverpflichtung besiegelt.6 Bei Conen ist der Vertrag weniger detailliert und bürokratisch angesetzt, dafür sieht seine Version vor, sich vor Zeugen (Freunden) zu selbstgesetzten Zielen zu verpflichten. Dadurch gewinnt die Verbindlichkeit eine soziale Dimension.7 Der Vertrag ist eher eine Verpflichtung zur Selbstveränderung als die strukturierte Arbeit an dieser. Diese Art der Kontrolltechnik dient also nicht nur zur Messung des Lernfortschritts, sondern zur Selbstverpflichtung und -aktivierung. Elemente der Listenerstellung und Zielfindung gibt es schon in früheren Epochen. Die entscheidende Neuerung liegt hier darin, dass der Selbstverpflichtung eine höhere Weihe dadurch gegeben wird, dass sich die Subjekte vor sich und/oder anderen verpflichten. Eigenverantwortung ist also alles andere als selbstreferentiell. Sie bekommt einen neutralen, zugleich aber durch zumindest symbolische Sanktionen bewehrten Rahmen. Um im Jargon der Texte zu sprechen: Es müssen verschiedene Ressourcen bemüht werden, um der Selbstverpflichtung Zugkraft zu verleihen: einmal in Form einer Selbstaffizierung durch Steuerung der eigenen Emotionen, einmal durch Einbezug der anderen als Ko-Subjekte, welche die Ernsthaftigkeit der Verpflichtung erkennen und bezeugen. Hier wird ein Netz, wenn nicht erzeugt, so doch aktualisiert, in welches sich das Subjekt einflicht bzw. schon eingeflochten ist. Das scheint zumindest eine abstrakte Idee von größeren Sanktionen bei Vertragsbruch zu suggerieren. 2 3 4 5 6 7

Ebda., 25. Ebda. Ebda. Ebda., 26. Ebda. Vgl. Conen (2005), 241f. Auch Conen sieht Belohnungen als Teil der vertraglichen Vereinbarung vor.

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Was die Selbstresponsibilisierung bemerkenswert macht (auch wenn sich das Vertragsmodell nur in wenigen Texten ausdrücklich findet), ist, dass sie für die dritte Epoche eine strategische Leerstelle füllt: Die Bedrohungsszenarien haben rasant abgenommen; die Versprechungen sind weitgehend vage gehalten (wie wir unten sehen werden). Was also bringt die Subjekte dazu, sich auf Selbstführung anhand eines Übungsregimes zu verpflichten? Die Eigenverantwortung wird hier der Eckstein der Subjektivierung: Sie wird in den Subjekten vorausgesetzt und muss nur durch technischen Zugriff ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt werden. Es bleibt nicht bei einem abstrakten Appell, sondern bei einer technischen Herstellung und Verdichtung einer Situation der Eigenverantwortung und Selbstverpflichtung. Es geht in der dritten Epoche weniger darum, den Subjekten eine neue Subjektivität durch ein ausgefeiltes Selbstführungstraining zu verpassen. Die Techniken zielen vielmehr darauf, eine latente Struktur der Subjektivität aus den Subjekten in Aktion zu versetzen. Das nennen wir Selbstaktualisierung. Die Texte implizieren, dass alle Subjekte bereits gewissermaßen vorsubjektiviert sind. Die grundlegende Struktur ist vorhanden, aber ineffektiv genutzt, getrübt, untrainiert. Sie muss durch ein Arrangement von Techniken in allen Bereichen aktualisiert werden. Jede Technik ist also auf Responsibilisierung angesetzt, auch wenn ihre Objekte, isoliert betrachtet, andere sind. Zu den 1960er und 1970er Jahren sind zwei zentrale Unterschiede zu markieren. Einerseits zielen die Techniken der dritten Epoche auf die reflexiven Kräfte und nicht auf das Unterbewusste als Sitz eines natürlichen Selbst. Andererseits gehen die aktuellen Ratgeber nicht davon aus, dass die technische Selbstaffizierung zurückgenommen werden kann, nachdem ein inneres natürliches Gleichgewicht erreicht worden ist. Eine eigentümliche Doppelstruktur liegt dem zugrunde, was die Eigenverantwortung und Selbstverpflichtung als so evident wie wirksam annimmt: Die Technik hilft den Subjekten nicht nur bei der Umsetzung des Vorgenommenen, sie versetzt sie auch in einen aktualisierten Status des Subjektseins. Gleichzeitig gewinnt das Arrangement einen artifiziellen und formalisierten Charakter durch Einbezug der Emotionen und der anderen. Der Entschlussfähigkeit der Subjekte scheint es an eigener Kraft zu fehlen, sie scheint in sich zusammenzufallen zu drohen, wenn sie nicht zusätzlich verstärkt und eingebunden wird. Hier haben wir es also überhaupt nicht mit einem Willensmodell wie in der ersten oder mit einem Modell autoteleologischer Natürlichkeit wie in der zweiten Epoche zu tun. Die Doppelfigur gilt es zu markieren: Anrufung einer autonomen Subjektivität bei gleichzeitigem Stützen auf ein Netz von (äußeren) Bezugspunkten. 3.1.2 Das Selbst als Projekt Dieselbe Doppelstruktur findet sich auch in der wechselseitigen Durchdringung von Selbst und Arbeit, wie sie ab den 1990ern typisch wird. Das Selbst soll sich in seiner Arbeit finden – gleichzeitig ist es selbst hauptsächlicher Gegenstand seiner Arbeit. Kein Pol dieses Verhältnisses kommt ohne den anderen aus. Was von der Idee der Selbstverwirklichung der 1970er geblieben ist, findet sich nur noch im Bereich der Arbeit wieder – wobei wiederum Arbeit etwas anderes bedeutet als in den ersten beiden Epochen. Arbeit an sich selbst und Arbeit an Projekten – um so die verschiedenen Formen zusammenzufassen – gehen ineinander über, sie verschränken sich. Projekte bezeichnen hier mittelfristige Arbeitszusammenhänge im

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weitesten Sinne, welche der Umsetzung einer Idee, mit der das Subjekt (oder die Subjekte) innerlich verbunden sind, dienen. Die Arbeitsweise ist dabei kreativ, flexibel und reflexiv. Sie schmiegt sich den Subjekten und ihren Ideen an. Projekte vermischen unternehmerisches Denken mit künstlerischer Kreativität zu einem Arbeitsprozess größter Intensität. Da Projekte häufig vielfältige Ressourcen und Menschen miteinander verbinden, eignen sie sich vorzüglich dafür, gemanagt zu werden. Die Texte gehen in der Regel davon aus, dass es in den Leser/innen mehrere solcher potenzieller Projektideen gibt, die nur ans Licht gebracht, aktiviert und in konkrete Zielfindung überführt werden müssen. Projekte sind so gesehen durch Arbeit verwirklichte Träume. Umgekehrt ist es gerade und hauptsächlich die projektförmige Arbeit, durch die das Individuelle der Individuen ans Tageslicht kommt. Träume sind somit zentrale subjektive Ressourcen. Sie sind der Steinbruch der persönlichen Ideen, die von Haus aus emotional stark aufgeladen sind. Träume kondensieren aber in der Regel nicht von selbst (oder mit ein wenig Aktivierung), sondern müssen auch Widrigkeiten und Veränderung durchlaufen. Sie sind auf Vernetzung angewiesen. Obwohl sie untrennbar mit der sie entwerfenden Person verknüpft sind, sind sie doch an vielfältige Interaktionen mit anderen Menschen gebunden, bis sie vollständig umgesetzt werden. Wo der uninspirierte Arbeitsalltag der Angestellten die Subjektivität der Einzelnen nur dämpft, hemmt, diffundiert, erkennt sich das Individuum der 1990er Jahre erst im Lichte seiner – selbstbestimmten – Arbeit. Durch Arbeit, durch Projekte, durch innerliche Beteiligung kommt das Subjekt erst in seine eigentliche Lebendigkeit. Dies ist die typische Dichotomie: unerfülltes Angestelltenverhältnis einerseits gegen den selbst gestalteten Traumjob andererseits. Nur in letzterem kann man laut den Lebensratgebern zu sich kommen. Selbstverwirklichung bzw. Selbstaktualisierung heißt wert- und sinnproduzierende Tätigkeit. Selbstverwirklichung ist damit zu einer wesentlichen Dimension von Arbeit geworden. Eine Selbstverwirklichung ohne Arbeit wird kaum angedacht. Arbeit als solche und die Form der Projektarbeit (als dasjenige, was die unflexible Lohnarbeit ersetzt) verweisen in den Texten der dritten Epoche also ständig aufeinander. Insofern findet hier schon auf der Ebene der Techniken eine Selbstökonomisierung statt. Die Subjekte werden dazu angeleitet, sich selbst wie ein Unternehmen zu verstehen und entsprechend zu handeln. Harriet Rubin beschreibt, wie sie selbst zu einer Marke geworden ist, und instruiert die Leser/in dazu, in sich selbst zu investieren.8 Anne von Blomberg, federführend in der Anwendung des modernen Vokabulars der Unternehmensführung auf die Selbstführung, bietet Techniken zum Branding (Kernkompetenzen zu einem Profil des unternehmerischen Ichs machen), 9 Benchmarking (Qualitäten erfolgreicher Vorbilder erkennen und entwickeln), 10 Downsizing (Aufschreiben, auf was man verzichten kann, um Energie für die Selbstoptimierung frei zu setzen),11 Quality Management (Störungen der Lust durch BrainstormingListen ausfindig machen und ausbessern),12 Future Tolerance und Management by Vision (Klarheit über Erreichtes und Ängste durch Aufschreiben gewinnen, Zu8 9 10 11 12

Vgl. Rubin (2001), 247. Vgl. Blomberg (2001), 70. Vgl. ebda., 76. Vgl. ebda., 84. Vgl. ebda., 78.

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kunftsängste klar definieren. Sich eine Vision von dem machen, was man mittelfristig erreichen will).13 Sie spricht auch ganz selbstverständlich vom Reengineering: Der Ist-Zustand muss ständig überprüft werden, vor allem daraufhin, ob das Unternehmen Ich noch im Trend liegt; gegebenenfalls muss es sich neu entwerfen, um wieder eine attraktive Außenwahrnehmung zu erreichen.14 Ist das nur der alte Wein bekannter Rationalisierungstechniken in den neuen Schläuchen anglophonen Management-Jargons? Nicht ganz, denn es gibt hier eine charakteristische Bedeutungsverschiebung: Waren in den ersten beiden Epochen Rationalisierungstechniken erklärungsbedürftig und wurden sehr systematisch instruiert und eingeübt, so sind Aufschreibeverfahren und Brainstorming-Methoden in den 1990er Jahren so selbstverständlich geworden, dass sie unkommentiert als Elemente neuer Techniken miteinander rekombiniert werden können. Das vorausgesetzte Subjekt ist es bereits gewohnt, in dieser Weise über sich zu reflektieren, es muss es nur dezidierter und durchgängiger praktizieren. Gleichzeitig ist das hier beschriebene Arrangement keine Blaupause für Menschen, die einen Kleinbetrieb führen, sondern die Formel des selbstbestimmten und lustvollen Lebens überhaupt. Es geht nicht primär um die Verwaltung materieller Güter oder die Organisation des Arbeitstages – sondern darum, wie Menschen über sich selbst denken sollen – als zu managendes Ressourcenkonglomerat. Diese Form der Selbstrationalisierung vereint also Aspekte strategischer Zukunftsausrichtung des Selbst mit postmateriellen, episodischen und situativen Selbstrepräsentation. Das rationalisierte Subjekt der 1990er Jahre ist weder Kaufmann noch Bürokrat – es ist ein Künstler. Unternehmerisches Denken und Handeln heißt in Fortsetzung dieser Linie auch: Widerstände und Misserfolge müssen nicht zwangsläufig schöngefärbt werden. Sie sind vielmehr das neue Material, aus dem sich die weitere Arbeit ableitet. „Viele Erfolge beruhen auf den Einsichten, die aus Niederlagen gezogen wurden“, weiß Paul Halbe.15 Und „[j]eder muss um seine körperlichen Stärken und Schwächen wissen und seine intellektuellen Fähigkeiten und Defizite kennen. Aus Schwächen lassen sich Stärken machen!“16 Es gibt eine eigene Lust am Unvollkommenen. Insofern ist es ein wesentlicher Teil der Arbeit, Stroh in Gold zu verwandeln. Dabei greifen die Texte auch auf die schon in der zweiten Epoche dominante Trope persönlicher Entwicklung zurück: „Wer nie scheitert, der entwickelt sich auch nicht.“17 Typisch für die dritte Epoche ist allerdings, dass Entwicklung an Arbeit gebunden ist. Die schnöde Planung und Kontrolle ist für die dritte Epoche geradezu das Unwesentliche an den Projekten geworden. „Projekte sind Heimstätten der Kunst. Man betritt sie und wird von ihnen vereinnahmt. Man beginnt experimentierfreudig, chaotisch, man beginnt, ohne genau zu wissen, wonach man sucht, nur im Bewusstsein der Chance, Großes zu leisten“,18 sagt Harriet Rubin folgerichtig. Wer sich in seiner 13 14 15 16 17 18

Vgl. ebda., 81. Vgl. ebda., 72. Halbe (1996), 19. Ebda. Grochowiak (1996), 57. Ähnlich auch Rubin (2001), 185f. Rubin (2001), 123. Den chaotisch-experimentellen Part würden andere Texte wie der von Borstnar und Köhrmann lieber klein halten. Dennoch benennt Rubin die Geisteshaltung der Projektarbeit, ja das immanente Sendungsbewusstsein, in großer Klarheit.

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Arbeit selbst finden will, muss sich zunächst in ihr verlieren. 19 Sie schreibt über sich selbst: „Ich tauchte in die Projekte ein und ging aus ihnen hervor, ohne mich selbst wiederzuerkennen. Arbeit verwandelte sich in etwas anderes, etwas Neues, und ich musste anders und neu werden, um Schritt zu halten.“ 20 Verklären Borstnar und Köhrmann die Arbeitskontrolle zu einer Zeit der Ruhe und des Selbstgenusses, so wird bei Rubins Projektarbeit die Versagung von Ruhe, Freiheit und Genuss zum Privileg: „Bei der Durchführung von Projekten darf man etwas richtig Sündhaftes tun: Man darf sich in Ideen und Problemstellungen verlieben. Man darf in eng gesteckten Rahmen arbeiten. Man darf seine Arbeit im Zustand totaler Selbstverachtung abschließen, wegen der vielen Kompromisse, auf die man sich eingelassen hat, um den Abgabetermin einzuhalten. Und wenn sich dann das nächste Projekt anbietet, kann man es kaum abwarten, wieder so zu arbeiten.“ 21 Die Lust an der Hingabe als Grenzüberschreitung wird hier geradezu erotisch aufgeladen. Ausdrücke wie „Sünde“ und „sich verlieben“ sind nicht zufällig, sondern charakteristisch für den Lustund Glücksgedanken der dritten Ratgeberepoche. Sie dient der Emotionalisierung und Individualisierung von Arbeitsprozessen. Es ist eine Aufladung der Arbeitsform und Ziele mit Genuss und Begehren, welche die Subjekte motiviert. Umgekehrt zeigt sich die Arbeit, der harte Umgang mit sich selbst und die Hingabe an die Formung der weichen Wirklichkeit – welche die Chance bietet, sich in ihr zu erkennen – als der vorzügliche Ort der erotischen Anziehung. Das Selbst ist also das Projekt im doppelten Sinne. Zum einen fließt es in das Projekt hinein und macht es zu etwas Künstlerischem (besonders, wenn das Ich im Rubinʼschen Sinne als Marke darin sichtbar wird), zum anderen bietet die Arbeit auch einen zentralen Ort der Selbstveränderung und Selbsterkenntnis in Konjunktion. Jede Arbeit ist wertvoll, weil sie einem etwas über sich selbst verrät. 22 Umgekehrt bedeutet dies aber auch: Das Ziel jeder Arbeit ist das eigene Selbst. Barbara Sher fasst das Credo ihrer Zeit entsprechend zusammen: „Es gibt nur einen einzigen wirklich wichtigen Job in Ihrem Leben, und dieser Job besteht darin, Ihr Leben zu leben.“23 Es gibt viele Techniken der Zielfindung, welche Träume in Projekte überführen sollen. Das gewährleistet am sichersten, so die Ratgeber, dass sich das Moment des Persönlichen in der Arbeit abzeichnet. Eine große Anzahl von Techniken, die in den untersuchten Texten zwischen 1995 und 2005 zu finden sind, beschäftigt sich gerade damit, innere Antriebe, Fähigkeiten und Wünsche umzusetzen in eine systematische Handlungsplanung. Dabei liegt der Großteil der Aufmerksamkeit in der spezifischen Form der Traumarbeit, d.h. dem Erarbeiten und der Realisierung von Träumen. Dabei ist der Fokus von Vornherein auf die Entwicklung von Zielen gerichtet. Das ungerichtete, autosuffiziente Träumen ist für die Ratgeber der dritten Epoche im Gegensatz zur zweiten nicht wertvoll.

19 Umgekehrt ist für die dritte Epoche der Ratgeber die Arbeit genau der richtige Ort dafür, sich zu verlieren und zu finden. 20 Rubin (2001), 122f. 21 Ebda., 123. 22 Vgl. Sher (2005), 221. 23 Ebda., 219.

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Maren Fischer-Epe und Claus Epe leiten zu einem breit angelegten Zukunftsentwurf an, in welchem die Übenden einen Brief an einen Freund schreiben und berichten sollen, was sie die letzte Zeit getan haben (wobei sie aus der imaginierten Zukunft berichten); dann wird der Zukunftsentwurf konkretisiert. Die auf einem gesonderten Blatt geschriebenen Ziele werden auf ihre „Lebens- und Motivationstauglichkeit“24 geprüft: „Ist das Ziel positiv formuliert? Ist das Ziel (selbst-) erreichbar? Ist das Ziel attraktiv und motivierend? Ist das Ziel konkret/messbar? Ist das Ziel ‚ökologisch‘ sinnvoll und verträglich?“25 Zentral ist hierbei, dass diese Vorstellung nicht nur konkret und umsetzbar ist, sondern vor allem sich aus dem Inneren, dem Eigenen speist; sie muss persönlich sein. Nur so können sich die Übenden emotional selbst kontinuierlich aktivieren, wenn es an die Umsetzung geht. Die Traumarbeit hat weder etwas mit dem kaufmännischen Opportunismus eines Gustav Grossmann zu tun, noch mit der Sondierung innerer Bedürfnislandschaften. Es ist vielmehr eine neuartige Vermengung von Pragmatik und Gefühl, von Selbst und Anderem, von (emotionalen) Ressourcen und Wertrealisierung. Die überwiegende Mehrheit der Anleitungen macht dabei die reine Vorbereitung und emotionale Mobilisierung aus, nur ein kleiner Teil widmet sich der konkreten Umsetzung. Das markiert eine weitere Verschiebung gegenüber den 1960er und 1970er Jahren. Auch typisch für die aktuellen Ratgeber ist die virtuelle Einnahme einer anderen Position, im Beispiel die aus der Zukunft. Die Idee dahinter ist ein Perspektivismus, der ebenfalls neu ist. Die Subjekte nehmen virtuell (unmögliche) Perspektiven ein und erzielen dadurch reale, neue, konkrete Erkenntnisse. Interessanterweise fällt der Vormarsch des Virtuellen nicht in die Hochzeit der Kybernetik, sondern in die der aktuellen Ratgeber. Was sich hier zeigt, ist, dass es trainierbar wird, beliebige Perspektiven einzunehmen. Wie wir bei den Sozialtechniken sehen werden, normalisiert sich der Blick auf sich selbst aus der Perspektive (konkreter oder abstrakter) anderer. Der Akt des Perspektivenwechsels, der wohl trainiert sein soll, ist dennoch nichts Herausragendes für die aktuellen Lebensratgeber. Er zeugt vielmehr davon, dass dem Subjekt eine natürliche Gravitation und Trägheit, Beharrlichkeit im Verweilen auf deiner eigenen Position abhandengekommen ist. Deshalb widerspricht der kunstvolle Perspektivenwechsel nicht dem Pragmatismus der Traumarbeit. Es gilt weiterhin, dass Träume ungemein handhabbar sind. Die Techniken sind reflexiv und könnten auch den Planungstechniken und der Rationalisierung zugeordnet werden. Die Zielfindung hat aber eine Scharnierfunktion zwischen Traum und Projekt und somit zwischen erfahrenem und sichtbarem Selbst. Sie bindet die Subjekte an ihre Projekte. 3.1.3 Emotionalisierung: Lebensratgeber im Goldrausch Die wesentliche Neuerung der 1990er liegt, was die Objekte der Techniken angeht, darin, wie man (auch, aber nicht nur unter Zuhilfenahme der Reflexivität) die eigenen Emotionen und die der Mitmenschen gewinnbringend ausrichten kann. Glück oder Lust im Titel sind dafür genauso paradigmatisch wie die entstehenden Glückstechniken. In den Menschen wird eine neue Ressource entdeckt und es herrscht wahre 24 Fischer-Epe/Epe (2004), 108. 25 Ebda., 108ff.

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Goldgräberstimmung. Versprochen wird ein nebenwirkungsloser Hedonismus, den die Subjekte gänzlich selbst steuern können. Glück ist nicht mehr Resultat einer lang angelegten Lebensführung, sondern für die Geübten innerhalb von fünf Minuten herstellbar. Glück war in den 1970ern das umfassende Resultat einer stimmigen Lebensweise. In den 1990ern ist es schlichtweg die nützlichste aller Emotionen und Mittel zu allen wesentlichen Zwecken. Obwohl viele Texte auch in der aktuellen Epoche den Begriff „Glück“ verwenden, handelt es sich also um ein völlig verändertes Konzept. Das neue Paradigma der Emotionalisierung beruht auf drei Vorstellungen: Erstens, so die Lebensratgeber, motivieren Emotionen viel mehr als kalte rationale Planung. Was nicht emotional besetzt ist, wird schnell aufgegeben. Eine fluide, kraftvolle Emotionalität macht sowohl den Alltag als auch das Zusammenleben leichter. Letztendlich kommt es im Leben nicht auf objektiven Erfolg, sondern auf persönliche Erfülltheit an. Zweitens sehen die Ratgeber der 1990er und 2000er Jahre einen engen Zusammenhang zwischen (Glücks-)Gefühlen und Leistung. Sie koppeln emotionale Erregungszustände an Produktivität im Denken und Handeln. Das Loblied auf die Emotionen ist jedoch nicht als Preisen des Irrationalen (wie in der zweiten Epoche) zu verstehen. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass sie für die Ratgeber bereits selbst eine weitgehend rationale, meist evolutionär begründete, Struktur haben. Sie sind außerdem vorgeformt für eine selektive Benutzung. Durch eine vorausgesetzte Durchdringung von Rationalität und Emotionen können letztere zu einem Gegenstand der Planung und des kalkulierten Einsatzes werden. Die Subjekte nehmen daher ein instrumentelles Verhältnis zu ihnen ein. Emotionen fungieren als inneres, selbst steuerbares Motivations- und Belohnungssystem. Sie sind somit komplementär zu der Responsibilisierung und den Reflexionstechniken. Gegenüber den Gefühlen der 1960er und 1970er sind sie isoliert und direkt ansteuerbar. Emotionen, allen voran die Lust, kann das Subjekt in Eigenregie herstellen, denn sie sind neuro-hormonale Körperzustände. Grochowiak spricht davon, den „‚Jackpot der Endorphine‘“ zu knacken.26 Emotionen mit ihrer physiologischen Verankerung unterlegen den zirkulären und hochreflektierten Subjektaufbau mit einer unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung, z.B. durch Lusterzeugung. Während ein wichtiger Teil der Techniken die Subjekte zu hochfunktionalen, zumindest mittelfristig planenden Manager/innen machen soll, erfolgt die emotionale Befriedigung unmittelbar, kompromisslos, hedonistisch: Bei Freud war gesellschaftliche Leistungsfähigkeit nur durch Aufschub von Lustgefühlen erreichbar. Nun ist Leistungsfähigkeit nur durch eine (vermeintliche) Gleichzeitigkeit von unmittelbarer Lustbefriedigung und Tätigsein erreichbar. Zudem sind Emotionen auch der Schlüssel zum Umgang mit den anderen, wie wir im Abschnitt über die Sozialtechniken ausführen werden. Das neue Paradigma der Emotionen führt zu einem regelrechten Goldrausch aufs Glück. Hedonismus wird zum Grundrecht: „Langsam und gegen den großen Widerstand der Strafprediger ändert sich jetzt die Auffassung, was Glück ist – ein für Psyche, für den Einzelnen und die Gesellschaft sehr gesunder Zustand. Kein Zufall, sondern durch Training erreichbar“, erklärt Blomberg. 27 Das Training wird dadurch möglich, dass Emotionen als biologische Funktionen betrachtet werden: Sie sind der 26 Grochowiak (1996), 94. 27 Blomberg (2001), 21.

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spürbare Output des Körpers (des Gehirns und der Hormone). Durch veränderten Input lassen sie sich folglich verändern. Interessanterweise gibt es keine einzelne, herausragende Technik, welche auf Glückszustände zielt, sondern das Glück wird eher von allen Seiten umstellt. Zentral sind Techniken zur körperlichen Herstellung von Glücksmomenten, zur Änderung von glücksverhindernden Überzeugungen, Suggestionen, Visualisierungstechniken oder rational – reflektierende Techniken. Wie beschrieben, erlebt das Glück des Augenblicks einen großen Bedeutungsaufschwung in den 1990er Jahren. Dazu ist im Grunde jedes Mittel recht. Die entsprechenden Techniken sind zumeist aktiv: Becker und Becker leiten dazu an, Kaffeeduft zu genießen, statt hektisch zu trinken, in der Mittagspause Spaziergänge zu machen und sich in der Sauna am Schwitzen zu erfreuen. 28 Ähnlich identifiziert McKenna acht zentrale „Glücksauslöser“,29 dazu gehört der Flow-Zustand, das kindlichlustvolle Aufgehen in einer Aktivität, Ziele, Feedback, Konzentration sowie „[d]as Gefühl, die Kontrolle darüber zu haben, was im eigenen Leben passiert“. 30 Grochowiak bietet eine Abbildung von einem „Glücksbaum“. 31 Er ist eine verzweigte Abbildung mit Worten, welche mit Glück zu tun haben. Allein das Ansehen soll die Übenden glücklicher stimmen. Bei Horst Conen findet sich eine dreischrittige Übung auf zehn Seiten ausgedehnt dazu, das Lachen in allen Situationen zu erlernen. Der Akt des Lachens selbst soll dabei glücklicher machen. 32 Bemerkenswert und typisch für die Epoche ist dabei, dass das Spontane durch systematische Übung hergestellt werden soll. Die Suggestionstechniken folgen dem aus den beiden früheren Epochen bekannten Modell von im Entspannungszustand wiederholten Sätzen, die das gewünschte Ergebnis positiv beschreiben. Dabei wird das alte Modell des Unterbewusstseins bemüht, das allerdings in der dritten Epochen einen neuronalen Unterbau bekommt: „Einschlafsuggestionen bringen deine neue Wahrheit direkt ins Unterbewusstsein.“33 Das Unterbewusstsein kann auch direkt adressiert werden: Brian Tracy instruiert dazu, positive, im Präsens formulierte und persönliche Befehle ans Unterbewusstsein schicken: Entweder morgens in einen Notizblock die Hauptabsicht formulieren und visualisieren – oder aber die Ziele mit fetten Buchstaben auf eine Karteikarte schreiben, dies zweimal am Tag machen und für einige Minuten in entspannter Atmosphäre Karteikarten herausholen und visualisieren.34 Bei den Techniken zur Emotionalisierung erreichen die aktuellen Lebensratgeber anders als auf dem Feld der Visualisierungen neue Höhen, sie kommen häufig vor und reichen von einfachen bis zu sehr komplexen Übungen. Ein einfacherer Fall ist McKennas Übung, sich „Endorphine wie kleine Delfine vor[zu]stellen“, sie beim Schwimmen durchs eigene Blut zu visualisieren oder sie sich wie goldenen Honig

28 29 30 31 32 33 34

Becker/Becker (1996), 95f. McKenna (2005), 232. Ebda., 237. Vgl. Grochowiak (1996), 64ff. Vgl. Conen (2005), 227ff. Kensington (2004), 165f. Vgl. Tracy (1995), 92ff.

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vorzustellen.35 Endorphine gelten in vielen Ratgebern als spezielle Glückshormone und können auch ohne physiologisches Wissen durch eine solche Visualisierung angeregt werden. Emotionen können so bei McKenna ohne Interaktion mit der Welt trainiert werden. Ein Gefühl des Vertrauens soll z.B. dadurch eingeübt werden, dass in entspannter Körperhaltung eine vergangene Situation detailliert visualisiert wird, die das Gefühl des Vertrauens hervorgerufen hat. Die Visualisierung reaktiviert dieses Gefühl nicht nur, sie verstärkt es in einem weiteren Schritt, indem sie ihm eine Farbe zuordnet, diese visualisiert und dann schrittweise deren Strahlkraft in der Vorstellung erhöht.36 In einer folgenden Übung wird diese Vorstellung an eine einfache Handbewegung gekoppelt, so dass das Gefühl durch die Handbewegung jederzeit hergestellt werden kann. Das Subjekt installiert in sich so einen „Vertrauensschalter“.37 Eine komplexe Visualisierungsübung von Schwarz und Schweppe findet sich am Ende des folgenden Abschnittes über innere Heterogenität. Es gibt weiterhin Einsichtstechniken, welche die als unangepasst und unzweckmäßig kategorisierten Emotionen durch vernünftiges Argumentieren korrigieren sollen. „Stellen Sie die Sinnfrage“: „Überprüfen Sie jeden Ärger: fragen Sie, was er Ihnen nutzt.“38 Durch vernünftiges Nachdenken soll nach Kensington das Unterbewusstsein davon überzeugt werden, dass innere Blockaden überflüssig geworden sind.39 In der Regel dienen die Techniken dazu, und das ist eine wesentliche Neuerung, dass die Subjekte mit dem eigenen Gehirn effektiv kommunizieren. So wird erstmals in der Geschichte der Ratgeber ein Organ, eben das Gehirn, Adressat einer Technik. Bis auf die unmittelbaren Techniken zu Glücksmomenten dienen alle anderen Verfahren hauptsächlich der Kommunikation mit dem eigenen Gehirn, welches auch mit dem Unterbewusstsein gleichgesetzt wird. Entweder wird es direkt und verbal angesprochen, z.B. bei Einsichtstechniken, oder es werden Visualisierungen eingesetzt. Denn nach einer gängigen Vorstellung denkt das Gehirn selbst in anschaulichen Vorstellungen. Bestimmte Bilder oder auch Arrangements echter Gegenstände geben dem Gehirn, quasi im eigenen Code, zu verstehen, wie das Subjekt seine eigene Situation sieht oder sehen möchte. Daraufhin leitet das Gehirn selbst die notwendigen biologischen Prozesse ein. Emotionen sind also wichtige Bausteine des subjektiven Erlebens. Das gehirnkundige Subjekt hat auf sie zumindest prinzipiell einen absolut technischen Zugriff. Jedes Gefühl ist beliebig herstellbar. Wo die emotionale Vernunft des Körpers nicht ausreicht, kann (und soll) ihr beliebig nachgeholfen werden. Glück oder Lust ist für die Lebensratgeber ab den 1990ern eine Emotion und damit wesentlich ein physiologischer Prozess, der sich isolieren und reproduzieren lässt – unabhängig davon, wie die Welt um die Subjekte aussieht.

35 36 37 38 39

McKenna (2005), 239. Ebda., 65f. Vgl. ebda., 68f. Conen (2005), 94. Vgl. Kensington (2004), 318.

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| Genealogie der Selbstführung Abbildung 27: Neurologisierung von Gefühlen (2005)

3.1.4 Manager/in im eigenen Haus: Bewältigung innerer Heterogenität Der robuste Subjektkern ist nicht mehr Thema, geschweige denn Zielscheibe der Techniken in den 1990ern. Es gilt nun jedoch, auch im Inneren Heterogenität zu bewältigen. Dies geschieht nicht nur durch Emotionsarbeit, sondern auch in Form innerer Anteile. Innerer Anteil ist hier unser Terminus für die beharrlicheren Aspekte der inneren Heterogenität der Subjekte, welche von den Ratgebern mit großer Regelmäßigkeit ausgemacht werden. Es wird im Subjekt eine ordnende, managende Instanz vorausgesetzt. Sie kommt im Wesentlichen in ihrer Funktion vor, die inneren Anteile zu führen. Die Texte kennen eine Pluralität innerer Anteile, unter denen erst einmal Egalität herrscht wie unter Mitgliedern eines Teams. Diese Form der Subjekt-Objekt-Spaltung ist neu. Das Managen innerer Anteile und das Managen anderer Menschen bedeutet hier in wesentlichen Punkten dasselbe, nämlich ein günstiges Verhältnis zwischen verschiedenen Qualitäten und Rollen herzustellen, Heterogenität zu nutzen, statt sie einzuebnen und die zu Führenden immer neu ins Verhältnis zueinander zu setzen, wenn sich die Ziele ändern. Management ist nicht nur Führung der Einzelnen, sondern sie dient der Lenkung von Prozessen. Innere Anteile sind wie Subjekte im Subjekt, haben ihre eigenen Interessen, die man kennen muss, und sie können mit dem eigentlichen Subjekt und miteinander kommunizieren. Sie können sich einerseits gegenseitig blockieren, aber auch hocheffektiv zusammenarbeiten. Sie funktionieren wie Subjekte in einer Gruppe oder einem Arbeitszusammenhang, einem Unternehmen, wie Gion Chresta sagt: „Doch genauso,

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wie das Unternehmen einen CEO braucht, brauchen auch wir als Person und Persönlichkeit eine Instanz, welche auf einer übergeordneten Ebene Strategien festlegt, Entscheidungen trifft und Lernen steuert.“40 Chrestas innerer CEO sorgt für „Dialog“ und „faire Auseinandersetzung“, dass „das Bewusstsein, einem Ganzen anzugehören, wächst, dass gemeinsam auf dasselbe Ziel hingearbeitet wird.“ 41 Schwierigkeiten treten mit inneren Anteilen vor allem auf, wenn die Kommunikation gestört ist oder die Interessen der verschiedenen Anteile nicht im Gleichgewicht sind: „Das Modell geht davon aus, dass alle vorhandenen Probleme eben in ineffektiven Beziehungsmustern der Subpersönlichkeiten zueinander liegen.“42 Sie sind also an sich kein Problem, sie müssen nur richtig gemanagt werden, dann sind sie sogar vorteilhaft. Neben spezifischen Übungen für bestimmte Anteile finden sich in den Texten vor allem generalisierte Anleitungen zum Umgang mit inneren Konflikten. Dabei werden die Anteile wie reale Personen vorgestellt, die man in der eigenen Vorstellung räumlich zusammentreffen lässt. Fischer-Epe und Epe raten, die inneren Stimmen, die verschiedenen Seelen in der Brust erst einmal zu differenzieren. „Wenn sich verschiedene Ziele und Bedürfnisse gegenseitig widersprechen, entstehen innere Konflikte, die unsere Motivation nachhaltig hemmen und unsere Handlungsfähigkeit blockieren können. Wenn wir diese inneren Blockierungen auflösen wollen, müssen wir uns zunächst einmal bewusst werden, welche Ziele oder Bedürfnisse es genau sind, die sich nicht vereinbaren lassen […]. Innere Konflikte kann man klären, indem man die verschiedenen ‚Seelen in der Brust‘ gedanklich voneinander trennt und sich vorstellt, sie wären Mitglieder eines inneren Teams. Alle Teammitglieder müssen gehört und beachtet werden, auch wenn sie mit ihren Ansichten und Bedürfnissen konkurrieren.“43

Schwarz und Schweppe bieten ausführliche Instruktionen zum Umgang mit der inneren Heterogenität unter dem Schlagwort der Personalen Integration („PI“):

40 41 42 43

Chresta (2005), 14. Chresta (2005), 16. Schwarz/Schweppe (2001), 137. Fischer-Epe/Epe (2004), 81f.

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| Genealogie der Selbstführung Abbildung 28: Neben innerer Heterogenität werden verschiedene Anforderungsprofile thematisiert (2004)

„Der erste Schritt: legen Sie die für Sie wichtigsten Subpersönlichkeiten fest. [...] Im Lauf der Zeit können Sie immer mehr Subpersönlichkeiten hinzufügen und immer mehr Einsicht in Ihre Persönlichkeitsstruktur gewinnen. Der zweite Schritt: Persönlichkeitszentrum erstellen. Das ‚Subpersönlichkeitsbild‘ kann mit realen Personen (in der PI-Gruppenarbeit), auf dem Papier oder mit symbolischen Gegenständen auf einem ‚Spielfeld‘ dargestellt werden. […] Eine Möglichkeit ist, ein gewöhnliches Schachbrett und Schachfiguren zu verwenden. Auf die Art und Weise haben Sie sofort verschiedene Symbolfiguren für Ihre Subpersönlichkeiten zur Verfügung, können diese gruppieren und umordnen und haben ein deutliches Bild vor Augen. “44

Die Autor/innen gehören einer Richtung an, die stark auf komplexe Visualisierungen setzt: das Neurolinguistische Programmieren, kurz NLP. Sie trauen der Veränderung von Visualisierungen zu, tatsächliche Veränderungen zu bewirken. Eine virtuelle Umstellung der vorgestellten Subpersönlichkeiten auf dem Spielbrett wie im obigen Beispiel soll eine wirklich, gefühlte Veränderung im Verhältnis der Subpersönlichkeiten hervorrufen. Das ist bei Schwarz und Schweppe der fünfte von sieben Schritten. „Gehen Sie nun daran, allmählich die Positionen Ihrer Sps [Subpersönlichkeiten] zu verändern […]. Gehen Sie dann einfach der Reihe nach die ausgewählten Sps durch. Sie können dabei Folgendes verändern: die Entfernung vom Integrationszentrum (IZ), die Ausrichtung (Blickrichtung) in Bezug auf das IZ, die Position (vorne/hinten, rechts/links). Achten Sie bei jeder Veränderung darauf, ob Sie das Gefühl haben, dass die Harmonie des Gesamtbildes zunimmt.“45

Die Idee, dass das Subjekt die neurologische Substanz von Wahrnehmungen, Emotionen, Gedanken (oder eben inneren Anteilen) direkt verändern und beeinflussen kann, ohne den „Umweg“ über die Außenwelt zu nehmen (wie zum Beispiel bei der 44 Schwarz/Schweppe (2001), 141f. 45 Ebda.

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Autosuggestion), mündet in eine hochgradig symbolische, zumeist überkomplexe Technikkonzeption, die etwas unerhört Neues darstellt.

3.2 NETZTECHNIKEN Die überwältigende Mehrheit der Techniken lässt sich dem reflexiv-medialen Genus zurechnen. In fast allen Texten findet sich eine große Auswahl an Tests und Checklisten sowie introspektiven, achtsamkeitslenkenden Techniken. Die Einübung erfolgt weder als Schulungsweg, noch als Freilegung einer internen Steuerung, sondern als flache horizontale Aktivierung. Das Übungsregime der dritten Epoche lässt sich deshalb als Aktivierungstraining fassen. Auch die Elemente des ersten Blocks zur Responsibilisierung, Emotionalisierung und Arbeit lassen sich in diesem Sinne verstehen. Das Subjekt soll nicht mehr grundlegend von einem Seinszustand in einen anderen überführt werden, sondern nur mit seinen Möglichkeiten mitgehen (ohne sich dabei zu übernehmen). Es geht auch und gerade bei den reflexiven Techniken darum, einen Zustand der Wachheit, Klarheit, Aufmerksamkeit und inneren Transparenz herzustellen, der aktivierend wirkt und es ermöglicht, Entscheidungen zu fällen, Pläne zu formulieren und strukturiert daran zu arbeiten. Das Aktivierungstraining ersetzt Schulungsweg und Selbstentfaltung. Dabei tritt jedoch gerade diejenige Untergattung von reflexiven Techniken in den Hintergrund, die in den vorangehenden Epochen die geläufigste war: die der Planungstechniken. Planung, im Sinne einer Zeit- und Mitteleinsatz kalkulierenden, selbst erstellten Handlungsanleitung, um äußere Ziele zu erreichen, wird zur Ausnahme. Dies ist ein Beispiel dafür, wie die äußere Realität innerhalb der Techniken eingeklammert wird. Die verbreiteten Aufschreibetechniken der 1990er dienen der Selbstvergewisserung durch Verschriftlichung. Es findet eine Selbstaufklärung statt, welche die Handlungsgrundlage für äußere Aktivität ist, wobei letztere praktisch von selbst erfolgt, zumindest ist sie nicht wesentlicher Bestandteil der Einübung. Die Ratgeber der 1990er sind offenbar der Ansicht, dass Selbstaufklärung für Selbstveränderung reicht – oder zumindest den Großteil ausmacht. Deshalb widmen sie dem Erlernen von Tugenden oder Fertigkeiten genauso wenig Zeit wie der Freilegung eines individuellen Persönlichkeitskernes. Sie bauen kein Subjekt auf, noch legen sie es frei. Es wird vielmehr eben nur aktiviert, aktualisiert. Das Training findet im Subjekt selbst statt und ist an keine ausgestalteten Übungen gekoppelt, sondern an Aktualisierung, Aktivierung, Reflexivität und Selbsttransparenz. 3.2.1 Transparenz: Durchlässigkeit nach innen Introspektion wird zum Fokus einer ganzen Untergattung reflexiver Techniken. Die Selbstdurchsichtigkeit soll nicht allein durch verschriftlichte Reflexionen hergestellt werden, sondern auch durch geführte Vergegenwärtigung der Erfahrungen, Wahrnehmungen und Wünsche des Subjekts. Diese leiten die Subjekte, so die Richtung der Texte, in einen Zustand immer größerer Klarheit. Die Techniken beseitigen lediglich eine Trübung, wischen eine Schliere beiseite. Dahinter wird Verschiedenes sichtbar: die eigene Vergangenheit und Rolle in der Herkunftsfamilie, hintergründige

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Antriebe, das Gefühlsleben, das hinter dem Konfliktverhalten steht, die eigenen unzensierten Wünsche. Harriet Rubin fordert dazu auf, die persönliche Biographie im ganzen Schwung zu überdenken: „Denken Sie im historischen Kontext über Ihren erkorenen Beruf nach – unter Berücksichtigung Ihrer eigenen Geschichte und der Ihrer Familie.“46 Ihr einziger Hinweis zur Durchführung ist dabei: „Geschichte ist eine Interpretation des Geschehenen, und Sie haben das Recht, Ihre eigene Geschichte zu interpretieren.“47 Diese Anleitung ist typisch für ihre Zeit, gibt sie doch der Interpretation der Wirklichkeit mehr Raum als deren tätiger Umformung. Ansonsten werden vielfach anschauliche Methoden (solange sie mit Stift auf Papier vollbracht werden können) bevorzugt. So instruiert Mapstone, ein Bild des Lebens zu zeichnen, und zwar als Zeitlinie, als Graph, als innere Landschaft, als Bildergeschichte oder als Schnappschuss: Die Bedeutung des Gezeichneten soll dann erkannt werden. Besondere Aufmerksamkeit gilt den negativen Stimmen, den Dämonen. Das Verhältnis des Subjektes zu diesen lässt sich mittelbar aus der anschaulichen Darstellung erschließen: „Sind die Dämonen auf dem Bild zu erkennen? Oder haben Sie sie ausgelassen?“48 Das Wesentliche soll also nicht nur unmittelbar geschaut werden – die Leser/in soll sich auch noch das Ausgelassene (die Dämonen) aus dem Dargestellten erschließen. Das eigenen Innenleben ist den Subjekten also ungeheuer leicht zugänglich, die Transparenz stellt sich allein durch beharrende, gelenkte Aufmerksamkeit her. Der Blick ins Innere oder in die Vergangenheit ist hier keine mühevolle oder langwierige Arbeit an sich, sondern durch die einfache Reflexion erscheint die eigene Biographie als Material für die Selbstschöpfung in Eigenregie oder als emotionale Ressource. In den meisten Fällen vollziehen die einzelnen Techniken diese Erhellung des Inneren also als schematische Abklärung. Das Subjekt muss nicht zu einer bestimmten Weise des Hinsehens eigens angelernt werden. Es muss sich nicht mit möglichen Täuschungen oder Irrwegen im eigenen Innern bekannt machen und diese vermeiden – denn solche gibt es anscheinbar gar nicht. Das Innenleben der Subjekte ist für die Ratgeber der dritten Epoche ein Raum fast ohne Schatten. Die Techniken setzen voraus, dass das Subjekt die Antworten auf die grundlegenden Fragen der Selbsterkenntnis fast parat hat. Im (seltenen) Zweifelsfall markieren sie die angebrachte Blickrichtung, so z.B. Gion Chresta: Zur Introspektion in einer schwierigen Situation sollen die Übenden sich zunächst distanzieren und die „Gesamtsituation […] wahrnehmen“.49 Chresta leitet dazu durch eine tendenziöse Fragestruktur: Auf „Was mache ich eigentlich hier?“ folgt direkt „Mir wird klar, dass ich von … abhängig bin“ usw. und schließlich „Ich merke, dass diese Situation für mich so nicht stimmt.“ 50 Zur Verbesserung in dieser akuten Introspektionsmethode empfiehlt der Autor folgende Übung: „Nehmen Sie mehrmals täglich die dritte Perspektive ein und nehmen

46 Rubin (2001), 104. Ähnlich Pfeiffer (2001), 85 und Sher (2005), 23f. 47 Rubin (2001), 104f. 48 Vgl. Mapstone (2005), 97ff. In ihrem Text vorangegangen ist bereits eine eigene Übung, die sich mit dem Kreis der dämonischen Stimmen beschäftigt. 49 Chresta (2005), 56. 50 Ebda. Auslassungszeichen im Original.

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Sie sich selbst im Kontext wahr.“51 Zur Reflexion steht im Buch ein Notizkästchen für die „Erkenntnisse diese Übung“ mit fünf angelegten Bullet Points bereit. 52 Es bedarf bei diesen Techniken also keiner grundlegenden Arbeit an sich, keiner Aufarbeitung des in sich Gefundenen, um es handhabbar zu machen. Was ans Licht gebracht ist, wird eben dadurch biegsamer und offen dafür, in neue Verhältnisse gesetzt zu werden. 3.2.2 Permeabilität: Durchlässigkeit nach außen So wie das Subjekt im Inneren sehr durchlässig erscheint, so zeichnet es sich auch durch eine große Durchlässigkeit im Verhältnis mit der Außenwelt aus: Die Techniken zeichnen das Bild von einem Subjekt, das nicht in der Abgrenzung zur, sondern in der Verwobenheit mit seiner (sozialen) Wirklichkeit an Subjektivität gewinnt. Es wirkt auf diese ein und nimmt Einwirkungen von außen auf. Die Gefahr einer Verfremdung oder Überwältigung durch ein Außen ist in den Texten nicht mehr zu finden. Vielmehr scheinen Subjekt und Wirklichkeit gut zueinander zu passen – zumindest dann, wenn das Subjekt sich aktiv zur Wirklichkeit in Bezug setzt oder die Wirklichkeit auf seine eigenen Anliegen zuschneidet. Die Anpassung an die soziale Wirklichkeit nimmt im Gegenteil manchmal den Charakter eines freien und künstlerischen Aktes an.53 Da es kaum einen robusten Kern im Inneren des Subjektes gibt (noch ein zu schützendes Pflänzchen der Individualität), kann das Subjekt flexibel auf verschiedene Anforderungen seiner Umwelt eingehen. Anstatt sich entscheiden zu müssen, ob es sich der Welt anpasst oder zu sich selbst steht, kann es Anforderungsprofile für sich selbst entwerfen, in denen seine Subjektivität Konturen gewinnt. Ein Anforderungsprofil ist ein situatives, temporäres Arrangement von Ressourcen und inneren Anteilen, um äußere Anforderungen zu bewältigen. Ein Anforderungsprofil zu entwickeln heißt, den Forderungen der sozialen Wirklichkeit einen subjektiven Gehalt zu geben. Das Anforderungsprofil ist die konkrete Gestalt, die das Subjekt (zeitweise) annimmt und die als „Marke“, „Identität“ oder Rolle empfunden und interpretiert wird. Bei vielen Autor/innen wird diese Entwicklung von Anforderungsprofilen implizit zum Kern der Subjektivität. Das Subjekt entwickelt, um im Bild zu bleiben, in diesem Sinne Profil, indem es bestimmte Herausforderungen annimmt und sich zu ihnen verhält. Indem es zentrale Anforderungen identifiziert, schärft es seine Kompetenzen im Umgang mit ihnen. Barbara Sher bringt die Hauptanforderung der Umwelt an deutlichsten auf den Punkt: Die Menschen müssen sich einerseits so gut kennen, dass sie wissen, was sie lieben. Dann müssen sie an und mit dieser Liebe und Leidenschaft arbeiten – weil sie in nichts anderem gut genug sein können, um relevant zu bleiben: „Wer wird diesen Wandel in der Arbeitswelt am besten überstehen? Jeder, der bereit ist, das, was er liebt, zu einer Nische zu entwickeln, in der er oder sie brillieren kann. Niemals war es wichtiger, unsere Begabung zu entdecken.“54 Tu, was du liebst! Das ist keine befrei51 Ebda. Mit der dritten Perspektive ist ein nüchterner, quasi neutraler Blick von außen auf eine Situation gemeint. 52 Ebda., 57. 53 Vgl. Rubin (2001), 30. 54 Sher (2005), 20.

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ende Parole mehr, sondern eine Aufforderung der Umwelt an die Subjekte mit einer impliziten Warnung. Bei Evelin Rosenfeld findet sich dasselbe Verhältnis, nur optimistischer verpackt. Sie setzt auf Responsibilisierungs- und Transparenz- sowie Traumarbeitstechniken. (Nur) wer diese benutzt, um seiner Arbeit die Aura der Berufung zu geben, wird von der Umwelt das bekommen, was sie oder er braucht. 55 Harriet Rubin führt die Idee der Permeabilität konsequent weiter aus. Sie setzt Techniken ein, die aus der Individualität der Einzelnen eine Marke machen sollen. Individualität wird damit in erster Linie zu einer Präsentation; was nicht präsentiert wird, existiert auch nicht. In dieser Zuspitzung ist gerade die Individualität anziehend, zumindest, wenn sie in eine markante Form gebracht wird. „Sie brauchen eine Identität. Die besten Soloisten haben ein untrügliches Gespür für Stil.“56 Soloisten sind Rubins Helden der neuen Form der Subjektivierung. Die Individualisierung kann und soll viele Bereiche des Subjektes und seines Lebens einschließen und ist eine performative: Sie zeigt sich in der Arbeit an künstlerisch-unternehmerischen Projekten und deren Präsentation. Performanz und Präsentation lassen sich dabei nicht mehr voneinander trennen. An der Individualisierung des Subjektes sind in Rubins Entwurf vor allem die anderen interessiert, und das ist auch ihr primärer Nutzen: Durch das Individuelle der Soloisten lassen sich Produkte (Waren wie Dienstleistungen) verkaufen, die den Glanz des Einzigartigen, ja Künstlerischen, Idiosynkratischen haben. Es geht nicht um glatte Perfektion. Marke heißt laut Rubin nicht umsonst auf Englisch brand: „Man brennt oder destilliert eine Substanz, und man brennt alles Unnötige, Triviale heraus.“57 Gleichzeitig steht die Marke für Qualität, sie ist ein Versprechen: „Ein Soloist verspricht etwas, und dann erfüllt er seine Versprechen“, sagt Rubin.58 Versprechen und Marke stehen dabei in einem steigerbaren Verhältnis: „Je mehr Versprechen Sie abgeben, desto stärker wird Ihre Marke.“59 Rubins Credo ist sicherlich ein Extrempunkt innerhalb der dritten Ratgeberepoche. Was jedoch typisch ist, ist die Struktur: Die Individualität, die in der zweiten Epoche noch vor dem Zugriff der (bisweilen vereinnahmenden) anderen zu schützen ist, ist nun positiv auf diese verwiesen. Sie ist die performative, veränderliche Kontur, die sich das Subjekt in seinem Verhältnis zu den anderen gibt. Gleichzeitig zeigt sich hier, wie Selbst- und Fremdführung sich aufeinander zu bewegen: Die Individualisierung dient der Sichtbarkeit nach außen hin, umgekehrt gibt das Feedback der anderen den Subjekten Korrekturmöglichkeiten für ihre Subjektivierung. Da im Grunde alle auf diesem Weg sind (oder aus Sicht der Texte sein sollten), geraten die Individualisierung und das soziale Feedback zu einem Netzwerk gemeinsamer Subjektivierungsanstrengungen. 3.2.3 Rationalisierung: Optimiertes Ressourcenmanagement Den Kern der reflexiven Techniken der ersten und zweiten Epoche bildeten Planungsund Selbstrationalisierungstechniken sowie (eher bei den frühen Ratgebern) Kontrolltechniken. Diese werden auch weiterhin benutzt, stehen jedoch in ihrer Bedeu55 56 57 58 59

Vgl. Rosenfeld (2004), 31f. Rubin (2001), 247. Rubin (2001), 86. Ebda., 96. Ebda., 94, Hervorhebung im Original.

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tung hinter den oben angeführten Techniken. Zudem werden sie häufig an die Emotionalisierung angeschlossen oder ihr vorgeordnet. Hier zeigt sich der zirkuläre Charakter des technischen Arrangements. Abbildung 29: Energetische Selbstrationalisierung (2005)

Abbildung 30: Persönliche Leistungskurve (2005)

Spezifischer ist Fischer-Epes Form der emotionalen Selbstrationalisierung bei der „Motivationsräuber“ entfernt werden sollen.60 Die Mittel sind dabei durchaus bekannt: den Arbeitstag am Vortag schriftlich planen; komplexe Aufgaben in Teilschritte zerlegen; angemessene Pausen einhalten. Typisch für die 1990er ist es, dabei die persönliche Tagesleistungskurve zu berücksichtigen, d.h. das Wissen darum, zu welchen Tageszeiten man effektiv (oder weniger effektiv) arbeitet, einfließen zu lassen. Die Subjekte sollen also keine gleichbleibende Leistung von sich erwarten. Sie sollen vielmehr erkennen, zu welcher Tageszeit sie effektiv arbeiten und zu welcher sie Entspannung oder einfacheren Tätigkeiten und Abwechslung den Vorzug geben sollen (Abb. 29 und 30). Verena Steiner hat dies zum zentralen Konzept ihres Ratgebers „Energiekompetenz“ gemacht. Bereits eingangs können sich die Leser/innen einem speziellen „Chronotyp“ anhand einer Tabelle zuordnen. 61 Anschließend können sie mit dem Gelernten eine eigene „Energiekurve“ 62 zeichnen und werden instruiert, wie sie Störungen in diesen ihren persönlichen Kurven identifizieren und beseitigen.63 Für die Rationalisierung als Verschlankung steht auch die am Anfang des Abschnittes thematisierte Technik des „Downsizing“ von Anne von Blomberg. Sie fordert in der typischen Reflexivität der dritten Epoche schlicht auf, alles aufzuschreiben, auf was man verzichten kann, um Energie für die Selbstoptimierung freizusetzen. „Nach diesem Rezept arbeiten die ‚Downsizer‘. Sie stoßen überflüssig gewordene Unternehmensteile ab und konzentrieren sich auf ihre Core Competences, etwa nur Porzellangeschirr zu verkaufen, statt zusätzlich Badewannen und Industriekeramik zu produzieren. […] Downsizing empfiehlt sich auch im Privatbereich, weil unsere Wunschträume häufig ins Uferlose wuchern […]. Downsizing lässt sich mal wieder am einfachsten anhand von Listen vorbereiten. Schrei-

60 61 62 63

Fischer-Epe/Epe (2004), 86f. Steiner (2005), 20. Ebda., 25. Vgl. ebda., 31, 123, 189.

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ben Sie auf, auf was Sie verzichten können, damit mehr Energie zur Optimierung Ihrer Core Competences frei wird. “64

Die Meister/in dieser Techniken ist jedoch Elaine St. James, deren Buch „Zurück zum Selbst“ (Simplify Your Life) eine systematische Sammlung von kleinen Tipps und vollwertigen Techniken zur konsequenten Vereinfachung ist. Es ist ein Stück weit eine Absage an die Warenwelt und ihren impliziten Aufforderungscharakter. Das Regime ist dabei so simpel wie konsequent. In der radikalsten Formulierung bedeutet es eine Reduktion der Tätigkeiten. St. James leitet dazu an, eine Liste mit Dingen, die wirklich wichtig sind, zu erstellen. „Kürzen Sie diese Liste um die Hälfte.“ Dann gilt es, die allerwichtigste Sache heraussuchen und zu erledigen; dann erst die anderen Punkte abarbeiten; nach einigen Wochen die Dinge, die man erledigen muss, nochmals um die Hälfte zu reduzieren.65 Ein schematisches, systematisches Reduzieren des Besitzes wie der Anstrengungen und Aktivitäten soll bei St. James zur Reduktion der Belastung und zur Freisetzung von Leichtigkeit und Flexibilität führen. Reflexivität als Mittel der Prozesssteuerung geht eine enge Bindung ein mit der Reduktion durch Rationalisierung. In St. Jamesʼ Technologie ist durchaus ein Moment der inneren Einkehr, der Herauslösung aus dem gesellschaftlichen Leben zu sehen. So rät sie z.B., einen Tag im Monat in Einsamkeit zu verbringen: „Die Befreiung vom Druck, den uns das moderne Leben auferlegt, ist schließlich ein wesentlicher Bestandteil dessen, worum es beim Vereinfachen geht.“ 66 Sie verspricht Einfachheit, Klarheit und vor allem – Zeit. Auch Rubin, die eine Wortführerin der Verschlankung (vor allem von Arbeitsstrukturen und Unternehmenskulturen) ist, betont ein Moment der Einkehr, der Zurücknahme und Klärung und des Auf-sich-selbstzurückgeworfen-Seins als zentrales Moment echter Lebendigkeit. Die Autor/innen überlassen das Subjekt in dieser Einkehr jedoch nicht einfach sich selbst: Es geht nicht nur um eine einfache Existenz, sondern um eine optimiert einfache, nämlich mit minimalem Einsatz von Zeit und Kapital das Maximale zu erreichen. Die Form der Reduktion erinnert insofern auch an ökonomische Optimierungsprozesse. Zwar ist die Fokussierung auf individuelle Leistungskurven kein Loblied auf eine unendliche Leistungsmaximierung, aber sie dient weniger der Lebensfreude der Subjekte als deren Leistungserhaltung. 3.2.4 Verstetigung der Reflexion: Der Siegeszug der Kontrolltechniken Die meisten Ratgeber nutzen vielfach Checklisten oder Tests, besonders zur Einführung. Dadurch geschieht eine Bestandsaufnahme und der Anleitungsprozess wird gleich zu Beginn individualisiert, wie bereits im Anfangsteil dieses Kapitels dargelegt wurde. Die Themen der Tests haben sich allerdings verschoben. Glück, Verzückung und Ekstase werden vermessen. Anne vom Blomberg entwickelt einen Test

64 Blomberg (2001), 84. Ähnliche Techniken gibt es auch bei Rubin. Vgl. Rubin (2001), 64f. und 219f. 65 St. James (1996), 188. 66 Ebda., 181.

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eigenes zur Bestimmung des von ihr propagierten Lust-Quotienten. Dazu fragt sie kulinarische und ästhetische Präferenzen ab, genauso wie Gesundheit und Sex. „Der Test ist psychologisch fundiert. An Tausenden von Menschen ausprobiert wurde er allerdings noch nicht. Für wissenschaftliche Doktorarbeiten ist er deshalb noch ungeeignet, aber das wird sich bald ändern. – Wenn Sie und andere LQ-Optimierer ihn gemacht, den LustQuotienten ausgerechnet und mir Ihre Ansichten darüber mitgeteilt haben.“67

Grochowiak geht noch einen Schritt weiter und fragt nach Glück, Verzückung und ekstatischen Momenten in seinem 5-Minuten-Ekstase-Test: „Haben Sie sich schon einmal gewünscht, sich in einer heißen Vollmondnacht zusammen mit zwanzig johlenden Nackten in einer warmen Lehmgrube zu wälzen?“ 68 Mit dieser und elf weiteren Fragen ermittelt er die Vertrautheit und den erlernten Umgang mit ekstatischen Gefühlen von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter.69 Die Biographie wird also als Ressource für einen bestimmten inneren Zustand genutzt, als Motor der Produktivität und des Selbstgenusses.. Außerdem gibt es aus der zweiten Epoche bekannte niederschwellige Kontrolltechniken. Kontrolltechniken sind von Anfang an für die Lebensratgeber zentral. Ihr ursprünglicher Ort war die Sicherstellung des Übungsfortschritts. Diese Rolle behalten sie auch in den 1990er und 2000er Jahren. Aber sie gehen darüber hinaus. Reflexivität wird nicht zur innerhalb des Übungsregimes eingesetzt, sondern wird zur zentralen Eigenschaft gelungener Subjektivität überhaupt. Dass die Texte die Leser/innen allerorts zur Reflexion instruieren, zielt nicht mehr nur darauf, die kontinuierliche Übung oder das sorgsame Lesen sicherzustellen, sondern stellt die Reflexion auf Dauer. Übungen mit Stift und Papier holen ständig zu managende Aspekte der Lebensführung ins Scheinwerferlicht der Aufmerksamkeit. Dieser Prozess selbst bekommt mitunter mehr Bedeutung zugewiesen als der konkrete Umgang mit schwierigen Situationen. Das Subjekt wirft also ein Netz über sich. Es aktiviert und erhöht seine Transparenz, Permeabilität und rationale Planung. Damit verstärkt es auch die Eigenverantwortung. Die eingangs besprochenen Verträge mit sich dienen ebenfalls als Kontrolltechniken. Da die Welt fluide ist, gibt es ständig Anpassungs- und Handlungsbedarf. Emotionalisierung, Projektplanung und -durchführung sowie Bewältigung innerer Heterogenität bedürfen ebenfalls der ständigen Adaption. Verstetigte Kontrolltechniken verbinden zwei Elemente: die ständige Abrufbarkeit isolierter Elemente (Projektziele, „Motivationsräuber“, Vertrauen ins Leben), welche eine große Selbstdurchsichtigkeit voraussetzt – und die Verlagerung des eigentlich Subjektiven in den Prozess der Reflexion. Weder Wille noch Natürlichkeit, nur das auf Dauer gestellte Reflektieren können dem Subjekt dazu dienen, sich seiner selbst zu vergewissern. Es ist, indem es reflektiert. Es gibt keinen Wesenskern der Subjekte, den man verpassen könnte, aber sich ständig wandelnde Bedingungen, die immer im Blick behalten werden müssen, um die eigene Subjektivität optimal auszurichten 67 Blomberg (2001), 257. Der Test nimmt die folgenden Seiten ein. Leser/innen können ihre Punkte zusammenrechnen und werden dann in vier Kategorien eingestuft. 68 Grochowiak (1996), 50. 69 Vgl. ebda.

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Das bringt eine tiefe Unruhe in die Ratgeber der dritten Epoche, die sie durchaus benennen, ja, der sie sogar zu entkommen versuchen. Allerdings greifen sie dabei auf das einzige vertrauenswürdige Werkzeug des Subjekts zurück: die Reflexion selbst.

3.3 ZUHÖREN, MANAGEN, AKTIVIEREN: DAS NEUE REGIME DER SOZIALTECHNIKEN DER DRITTEN EPOCHE In den 1990ern fällt eine wichtige Grenze, welche für die vorigen Epochen konstitutiv war: die Entgegensetzung von Selbst- und Fremdführung. Die Selbstführung hatte in den ersten beiden Epochen notwendigerweise ein Moment des Verweigerung. Man musste das Subjekt vor der sozialen Welt zumindest teilweise in Schutz nehmen. Deswegen musste auch Selbstführung anders als Fremdführung funktionieren. Wie die inneren Anteile als Team gemanagt werden, kann auch ein Team als eine Ganzes mit verschiedenen Subpersönlichkeiten aufgefasst werden. Hier findet der größte epochale Umbruch statt. Die liberale Strukturdynamik der dritten Epoche etabliert die Reziprozität des Blicks zwischen dem Selbst und der Anderen und führt damit gewissermaßen ein demokratisches Verhältnis ein: Subjektivierung für alle; gleichermaßen zusammen und für sich allein. Damit tritt eine Befriedung des Verhältnisses zwischen Subjekt und anderen ein, wie sie für die vorangegangenen Epochen undenkbar ist. Die Subjekte regeln sich selbst und bei Bedarf sich gegenseitig. Subjektivierung, gekoppelt an Transparenz und radikale Eigenverantwortung, ist der beste Garant einer guten Gesellschaft. Getreu dem Modell ist es zunächst wichtig, alle Personen wertzuschätzen und zur Geltung kommen zu lassen. Zuhören wird zur zentralen und trainierbaren Eigenschaft. Da die Ratgeber insgesamt dazu neigen, in ihren Instruktionen allgemeiner zu werden, stechen die Anleitungen von Gion Chresta und Brian Tracy zum aktiven oder empathischen Zuhören umso mehr heraus. Das „empathische Zuhören“70 umfasst laut Chresta, erstens aufmerksam zuzuhören und dann das Gesagte der anderen Person mit eigenen Worten wiederzugeben. Dabei sollte „ein leicht fragender Ton“ angeschlagen werden. Das Ziel ist „den anderen in seiner Sicht, in seinen Gefühle zu bestätigen“.71 Dies entspannt die Kommunikation, gleichzeitig relativiert Empathie die eigenen Gefühle und hilft beim Loslassen des eigenen Standpunktes, so Chresta. Zur Einübung rät er „zwei Wochen lang fünfmal täglich die weite Perspektive [also die einer anderen Person] einzunehmen und empathisch jemandem zuzuhören.“72 Dabei sollen „Erfahrungen mit empathischem Zuhören“ notiert werden.73 Tracys selbstbewusst „weiße Magie des Zuhörens“74 genannte Technik hingegen fordert vom Übenden erstens, „sich etwas nach vorn [zu lehnen], dem Sprecher zugewandt“ und dabei das Gewicht auf den Fußballen zu verlagern, weil so „Ihre Energie vorwärtsprojiziert wird“, zweitens geduldig zuzuhö70 71 72 73 74

Chresta (2005), 54. Ebda. 54f. Ebda., 55. Ebda. Tracy (1996), 254.

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ren, „als ob es nichts anderes auf der Welt gäbe“, drittens drei bis fünf Sekunden zu pausieren, bevor man selber etwas sagt, „da Ihre Pause deutlich [macht], daß sie das gerade Gesagte als wichtig erachten“, viertens sich mittels Fragen zu versichern, dass man das Gesagte „vollkommen verstanden hat“, und schließlich fünftens der anderen Person ein Feedback über das Gesagte zu geben, um zu zeigen, „wie gut Sie aufgepaßt haben“.75 Hier vermittelt er das zentrale Element der Empathie mit dem des sozialen Feedbacks. „Empathisches Zuhören involviert ehrliche Anteilnahme und das Agieren als Resonanzboden für die andere Person, statt zu versuchen, die Probleme der anderen Person selbst zu lösen.“76 Es ist auffällig, dass bei aller Betonung der Empathie und des Zuhörens die technischen Ausführungen nicht darum kreisen, wie Empathie entsteht oder was ihr entgegensteht. Stattdessen wird davon ausgegangen, dass sie in ihrer grundlegenden Form bereits existiert und eingespeist werden kann. Auch ist nicht klar, ob das Gefühl echter Betroffenheit beim Gegenüber einen größeren Effekt hat als das technisch geübte empathische Verhalten. Das aus den 1960ern bekannte Feedback wird zu einer wichtigen Stütze der sozialen Dynamik. Die allgemeine Meinung ist: Es ist gut, es zu geben, es ist gut, es zu bekommen. Das Feedback ist ein universelles Werkzeug. Für die Lebensratgeber darf es auch über das Verhalten hinaus auf die Person gerichtet sein, ja, gerade das ist das interessante Feedback: „Fordern Sie Ihre engsten Freunde oder Kollegen auf, Ihre Stärken und Schwächen einzuschätzen. Versichern Sie Ihnen, dass sie sagen können, was sie wollen“,77 fordert Rubin. Anschließend ist es immer angebracht, sich zu bedanken. Optimalerweise sollen drei Meinungen eingeholt werden. Erstens: „Wo gelingt es Ihnen nicht, der Mensch zu sein, der Sie zu sein glauben?“, zweitens „[w]as tun Sie, was unter Ihrer Würde ist?“ und drittens „was machen Sie gut, vielleicht besser als jeder andere, den sie kennen?“78 Für die Feedback erhaltende Person ist es zentral, zuerst Negatives zu hören, weil man anfangs genauer zuhört. Sie soll um Präzision bitten und auf harte Antworten gefasst sein.79 Das Feedback verändert aber dennoch seinen Charakter in der dritten Epoche und entfesselt dadurch seine ganze Kraft: Es wird zum Universalheilmittel. In den standardisierten Feedbackverfahren wird nämlich die Person zu einem Träger von Kompetenzen, die einzeln von anderen bewertet werden können. Diese Kompetenzen erscheinen dann, je nach Anforderung, einzeln trainierbar. Das passt viel besser zur fluiden Subjektivität der 1990er und 2000er Jahre und zur Auflösung der Entgegensetzung zwischen dem Subjekt und den anderen. Alle Subjekte sind zugleich Objekte von Feedback und auf dieses angewiesen, um ihre Subjektivität anzupassen, ihre Ressourcen effizient zu nutzen und ihre Kompetenzen zu trainieren. Gleichzeitig wird Feedback von einer Technik von Personen zu einer Eigenschaft der Wirklichkeit; „Es gibt kein Versagen, nur Feedback.“80 75 76 77 78 79

Alle Zitate ebda., 254f. Ebda., 256. Rubin (2001), 93. Ebda. Vgl. ebda. Andere Techniken zum sozialen Feedback finden sich z.B. bei Fischer-Epe/Epe (2004), 48, 51, 162. 80 McKenna (2005), 104.

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Neben Empathie und Feedback wird der Umgang mit Konflikten zum Scharnier des Managements. Konflikte werden als natürlich angesehen. Um sie zu klären, müssen sie verstanden werden. Dazu ist es wichtig, die Konfliktsituation aus der Perspektive der anderen, wie auch aus einer distanzierten, neutralen Perspektive zu sehen.81 Konflikte im Äußeren können auch auf Konflikte innerer Anteile verweisen: „Wenn der Konflikt bei Ihnen widerstreitende Gefühle auslöst, sich die eigene Situation vom inneren Team vorzustellen […], welche Teammitglieder sind im Widerstreit? Was sind ihre wichtigsten Argumente, die gehört werden müssen?“82 McKennas Technik zum Perspektivenwechsel in Beziehungen bietet eine virtuelle Übungsmöglichkeit: Erstens soll sich die übende Person einen für sie schwierigen Menschen samt „Konfliktsituation“ genau vorstellen.83 „Entferne dich nun aus deiner Vorstellung, und lasse die negativen Gefühle los.“84 Um sich in die andere Person hineinzuversetzen, hilft es „ihren Kopf wie einen Helm aufzusetzen“85 und zu hören: „Was sagt diese Person zu sich selbst in Bezug auf die Situation?“86 Um weiter aus der (vorgestellten) Situation herauszutreten, sollen sich die Übenden einen klugen Menschen vorstellen, der sich die Situation von außen anschaut, und so das Geschehen aus dessen Perspektive beschreiben. Dann kann man wieder „in deine eigenen Schuhe“ treten und die schwierige Person „in neuem Licht“ betrachten.87 Es ist charakteristisch für die Texte, dass ein reales Gegenüber gar nicht immer erforderlich ist. Auch tatsächliche Konflikte sollen, wenn sie nicht geklärt werden konnten, zumindest virtuell bewältigt werden, indem man sich die gewünschte Reaktion der Person vorstellt. Bei bleibenden Ressentiments, die nicht durch Konfliktgespräche geklärt werden konnten, rät Evelin Rosenfeld, eine Anklage zu verfassen mit Namen der Person, erlittenem Schaden und dem Grund der eigenen Wehrlosigkeit. Die Übenden sollen dann eine Strafe nennen. Danach sollen sie selbst aus Sicht der Täter/in ein „Tonband“ besprechen mit einem Eingeständnis der Schuld, Verständnis für die Leidtragenden, Reue (Vorlage im Buch). Dies sollen die Übenden so oft hören, wie es nötig ist, um ihre Ressentiments zu überwinden.88 Diese virtuelle Bewältigung von Konflikten ist also der tatsächlichen fast ebenbürtig. Der Königsweg zu den anderen läuft allerdings über die Emotionen. Wenn wir ihre Gefühle verstehen, darin ist sich der Großteil der Texte einig, können wir mit ihnen zum gegenseitigen Nutzen interagieren. Die Subjekte sollen erkennen können, durch welche emotionale Stimulation sie ihre Co-Subjekte motivieren können. Mit dem Willen oder der Vernunft zu interagieren, gilt als nicht optimal. Es führt eher zu einem Gegeneinander, zu Konflikten oder zum Stillstand. Der emotionale Aufbau und Zustand der Subjekte legt viel mehr fest, was sie wollen, als ein vernünftiger Wille, reflektierte, langfristig feststehende Interessen und Überzeugungen und auch abstrakte Grundbedürfnisse (auch wenn diese als grobe Karte für die emotionale Ansteuerung einen Restnutzen haben können). Das Motivieren der anderen unterschei81 82 83 84 85 86 87 88

Vgl. Fischer-Epe/Epe (2004), 211. Ebda., 212. McKenna (2005), 99. Ebda. Ebda. Ebda., 100. Ebda. Rosenfeld (2004), 53f.

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det sich nur gradweise von der Selbststimulation. Im günstigen Fall gibt es eine Kettenreaktion der guten Gefühle. Im ungünstigeren Fall kann eine emotional intelligente Person immer noch mit den schwierigen und unreflektierten Zuständen der anderen so umgehen, dass eine Eskalation und größerer Schaden vermieden werden kann. So rät Conen gegen den „Hitzkopf“: „Sie brauchen […] nur abzuwarten“, bis er sich wieder abkühlt. „Starten Sie keine Gegenoffensive.“89 Ab den 1990ern heißt Selbstführung also zu einem wichtigen Teil Management der eigenen Gefühle und Fremdführung Management der Gefühle anderer. Das Soziale im Allgemeinen und der Konflikt im Besonderen genießen also einerseits einen Bedeutungsaufschwung in der dritten Epoche. Andererseits wird dieser dadurch relativiert, dass ein Teil der sozialen Interaktion auch innerlich und symbolisch durchlaufen werden kann. Die Auflösung der Idee eines festen Subjektkerns zugunsten einer Vielzahl innerer Stimmen, äußerer Anforderungsprofile und Chancen der Individualisierung und Lustbefriedigung macht Fremdführung schwerer benenn- und in der Konsequenz auch problematisierbar. Einerseits werden dadurch die Subjekte genötigt, ihre sozialen Kompetenzen zu trainieren und in die Kosubjektivierung einzuwilligen. Das bedrohliche, ja explosive Potenzial gesellschaftlicher Krisen scheint wie durch Zauberhand gebannt. Einerseits werden die Subjekte dazu instruiert, mehr auf Tuchfühlung mit den anderen zu gehen. Allerdings wird dieser Ausrichtung jegliche Bedrohlichkeit dadurch genommen, dass reale Konflikte in Visualisierungstechniken virtuell ausgeglichen werden sollen. Die Entschärfung sozialer Konflikte wird im Zweifelsfall der Vorstellungskraft der Subjekte überlassen. Dies erscheint so simpel wie problematisch angesichts der fundamentalen Voraussetzung, die alle Texte machen: dass die angesprochenen Subjekte das Subjektsein andernorts bereits erlernt haben und nur etwas technische Unterstützung brauchen, ihre Emotionen und Ziele verständig anzusteuern und dass sie teilhaben wollen an der neuen Wirklichkeit der Möglichkeiten.

3.4 ZUSAMMENFASSUNG Die Vielfalt der Techniken darf nicht über die einfachen Grundstrukturen hinwegtäuschen: Die Übungen setzen mehrheitlich auf die Selbstreflexivität des Subjekts, welche durch eine gezielte Aktivierung trainiert wird. Das Subjekt soll nicht in einen anderen Seinszustand versetzt werden, sondern sich in seinem Ausgangszustand nur klarsichtiger und aktiver bewegen. Die Subjektivierung erfolgt neben der Reflexion durch den technischen Umgang mit den eigenen Emotionen und auf dem Feld als selbstbestimmt dargestellter Arbeit. Langes Üben ist nicht vorgesehen. Die Übungen sollen sich vielmehr in das Leben der Leser/innen nahtlos einfügen. Auch wenn es, wie wir im Folgenden zeigen werden, verschiedene Subtypen von Ratgebern in der dritten Epoche gibt, wird an dieser Grundausrichtung nur wenig geändert.

89 Conen (2005), 118. Conens Techniken im Umgang mit schwierigen Zeitgenossen sind recht ausführlich. Sie führen neben dem Hitzkopf auch Angriffslustige und Nörgler, Starrsinnige und notorische Miesmacher auf. Vgl. ebda., 109-127.

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3.5 FÜNF WEGE DER EIGENVERANTWORTUNG UND SELBSTOPTIMIERUNG Bei allen Ratgebern haben medial-reflexive Techniken hohen Stellenwert. Eine starke Gewichtung aktiver Techniken gibt es nur bei den Gehirnratgebern. Die Ordnung der Techniken ist allgemein, wie beschrieben recht flach und als Gewebe angelegt. Die Texte lassen sich folglich hauptsächlich danach aufteilen, welchen Stellenwert sie welchen Finalobjekten geben. Konkret bewegen sie sich auf zwei Achsen: Emotionalität und Reflexivität als die beiden Enden eines Spektrums auf der einen und Reduziertheit und Aneignung der Wirklichkeit als die beiden Polen der zweiten Achse. Die Extreme schließen einander nicht aus, aber es lässt sich doch klar erkennen, welches die wichtigere Achse und welches Extremum im Fokus ist. Damit gibt es nicht einen Typ Ratgeber, der einen hegemonialen Diskurs bestimmen würde. Analog zum unhierarchischen Aufbau der Techniken ist das Verhältnis der Subtypen untereinander das einer engen Verweisstruktur. 3.5.1 Lob der Reflexivität oder das reformierte Management Auf der Seite der Reflexion finden sich die reformierten Managementratgeber, welche die Endlichkeit, Einzigartigkeit und auch den emotionalen Unterbau der Subjekte berücksichtigen, aber dennoch ein engmaschiges technisches Netz aus Reflexivität, welche darin selbst zum Ziel der Vernetzung wird, legen. Dazu gehört Verena Steiners Management der eigenen Energie, das Selbstmanagement von Borstnar und Köhrmann, Brian Tracys an Verhaltenstherapie angelehntes Selbstmanagement sowie der Ratgeber von Becker und Becker. Auch Coaching-Ratgeber wie die von Fischer-Epe und Epe können hierzu gerechnet werden. Ihre typischen Techniken finden sich in den obigen Abschnitten über Reflexivität und Rationalisierung. Becker und Becker haben eine Checkliste zur Marktanalyse erstellt: „Wer hat Bedarf an meiner Leistung?“; „Warum? Warum nicht?“90 Dann gilt es hier, die Leistungen zu quantifizieren (u.a. Größe, Dauer möglicher Angebote) sowie Konkurrenz und deren Größe und Stärke zu ermitteln, schließlich eine eigene Präsentation, Qualität, Service und Entlohnung auszuarbeiten.91 In den Texten ist im Stil der Epoche jeweils Platz für Notizen. Außerdem findet sich eine Abwandlung, in der man als Mitarbeiter/in in einer Firma den Chef nach Zielen und Mitteln fragt sowie nach eigenen Stärken und Schwächen; daraufhin soll man die eigene Leistung und Entlohnung einschätzen. 92 Ein Merkmal für solche Ratgeber ist, dass ihre reflexiven Techniken weitaus weniger ausschweifend und genau sind – sie vermeiden einen buchhalterisch-pedantischen Eindruck und setzten dafür eher auf Vorkenntnisse (oder große Selbsttransparenz) und verwenden Elemente der Sprache modernen Managements und Coachings. Das zu Optimierende wird dabei immaterieller, die Techniken entsprechend weniger quantitativ. Die Texte preisen jedoch nicht eine rein kaufmännische Form des Selbstmanagements als Allheilmittel an. Sie grenzen sich ab von einer Form des Manage-

90 Beide Becker/Becker (1996), 29. 91 Ebda., 30. 92 Vgl. ebda., 32f.

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ments, die allen alles verspricht – und schaut vielmehr darauf, wie man die vorhandenen (aber begrenzten) Ressourcen optimal nutzen kann; dazu gehören Zeit und Energie genauso wie Kreativität und Empathie. Diese Gruppe zeigt die typische Konvergenz von Selbstführung und Fremdführung: Bei beiden geht es darum, Prozesse von Pluralität situationsspezifisch zu managen. 3.5.2 Emotionalisierung oder die Revolution im Gehirn Die zweite Gruppe hat unter sich eine große Schnittmenge an Techniken. Nicht nur reden alle der Bedeutung der Emotionen das Wort. Sie legen auch größten Wert darauf, das Gehirn und die Hormone richtig zu nutzen. Beide zusammen geben den Rahmen der Emotionalität ab. Besonders der richtige Gebrauch des eigenen Gehirns liegt diesen Texten am Herzen. Menschliche Interaktion findet zwischen Gehirnen statt, wer andere oder sich selbst beeinflussen möchte, muss die Gehirne richtig gebrauchen. Dieses Feld wird angeführt vom Neurolinguistischen Programmieren. Für den gehirngerechten Selbstgebrauch werden hauptsächlich aktive Techniken gebraucht, welche das Gehirn durch große Leistungen der Vorstellungskraft zur Selbstveränderung nötigen. Die ausführlichen Anleitungen helfen den Übenden dabei, eine eigene virtuelle Wirklichkeit zu erzeugen, die sich fast nur nach subjektiven Regeln richtet. Die Gehirnratgeber treten so das Erbe der Kybernetik an, aber auch des positiven Denkens. NLP führt den Gedanken des Programmierens genauso weiter wie die Idee, über Gedanken und Vorstellungen die (eigene) Wirklichkeit verändern zu können. Damit setzt das Neurolinguistische Programmieren auf eine biologistische Wirklichkeitsdeutung, baut jedoch gleichzeitig eine Hintertür für Veränderung ein. Denn in der Idee des Programmierens überkreuzen sich Determinismus und Konstruktivismus. Die biologische Grundausstattung gilt diesen Ratgebern als gegeben, aber mit den geeigneten Techniken kann sich das Gehirn selbst von Grund auf umbauen. Die Materialität des Gehirns stellt an diesem Punkt keine Begrenzung dar, sondern liefert nur ein Rohmaterial für unendliche Programmierungsmöglichkeiten. Gleichzeitig besetzen die Gehirnratgeber das Zentrum der Auseinandersetzung um Gefühle, denn letztendlich ist das herstellbare Glück ihr Finalobjekt. Der Körper (das heißt vor allem das Gehirn, aber auch die Hormondrüsen) ist für die Ratgeber dieses Subgenres der Ort, an dem das Glück hergestellt wird. Emotionalisierungstechniken und Techniken zum Umgang mit inneren Anteilen sind typisch für diese Ratgeber. Sie verbinden radikalen naturwissenschaftlichen Objektivismus mit noch extremerem Subjektivismus. Dieser Widerspruch tritt niemals auch nur ansatzweise in den Fokus der Texte. Zu dieser Gruppe gehören Schwarz und Schweppe sowie Grochowiak und Kensington, aber auch der Ratgeber von Helmut Pfeifer wegen seiner Fortsetzung und Adaption des Positiven Denkens sowie Wolfgang Weikert. 3.5.3 Tun, um zu sein, oder: das Projekt Selbst Setzen die Gehirnratgeber darauf, sich die Wirklichkeit durch Vorstellungskraft gefällig zu machen und das Glück als neurochemischen Prozess anzusehen, so sehen die Projekt-Selbst-Ratgeber Glück als Nebenprodukt des Arbeitsprozesses; sie wol-

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len die Wirklichkeit durch Aneignung gefügig machen. Dies erfordert weniger den Einsatz einer abgekoppelten Vorstellungskraft, sondern vielmehr den Einsatz des Selbst, seiner kreativsten Ideen, geheimsten Träume, kantigen Charakterzüge, größten emotionalen Selbstmobilisierung sowie das Denken, Handeln und Sein in Arbeitsprojekten. Das Objekt der Technologien dieses Genres ist das Selbst – aber es ist auch das Arbeitsprojekt – und der persönliche Traum. In jedem Fall ist voller Einsatz erfordert, wenn das Subjekt sich an die Arbeit macht. Blomberg, Rosenfeld und Rubin betonen eher die Chancen, Halbe den Zwang der modernen, flexiblen, deregulierten Arbeitswelten. In allen Fällen aber gilt: Das Selbst muss sich (in der Arbeit an seinen Träumen, seinen Projekten) selbst verlieren, um sich zu finden. Die Lebensratgeber dieser Gattung verstehen sich, mehr als die Texte der anderen Typen, als Avantgarde der Lebensführung. Obwohl sie nicht so zahlreich sind, können ihre Autor/innen große Bekanntheit und finanziellen Erfolg für sich beanspruchen. 3.5.4 Zurück zum Selbst? Die scheinbaren Aussteiger In allen Epochen gibt es Ratgeber, die gegen den Strom schwimmen. In der Zeit zwischen 1994 und 2005 sind dies vor allem (auf verschiedene Weise) Elaine St. James, Elizabeth Mapstone und Barbara Sher. Ihre Kritik an einschlägigen Tropen vorangehender und zeitgenössischer Lebensratgeber ist scharf. Sie kritisieren, dass sich die Subjekte gerade darin verausgaben und verlieren, dass sie an allem partizipieren und ihre Individualität in äußerlicher Geschäftigkeit zu realisieren suchen.93 „Wann immer Sie tun, was Sie lieben, schlägt Ihr Herz schneller, der Verstand wird klarer und alles verändert sich. Sie erwachen. Und das ist, worum es bei einem Abenteuer geht. Lassen Sie sich nichts anderes einreden. Und es ist auch egal, ob dieses Abenteuer weniger als eine Stunde am Tag dauert oder mit Papier und Bleistift in Ihrem Wohnzimmer stattfindet!“, schreibt Sher.94 Ähnlich berichtet Mapstone über die Menschen aus ihren Seminaren: „Manche Teilnehmer merkten, dass die Veränderungen, die sie in ihrem Leben vornehmen müssen, gar nicht so riesengroß und beängstigend sind, wie sie anfangs gedacht hatten. […] Auch Irene möchte keine radikalen Veränderungen in ihrem Alltag vornehmen […]. Michael und Philipp gehören ebenfalls zu denen, die entdecken, dass sie vor allem Veränderungen in ihrer Denkweise vornehmen müssen.“95 Es geht also nicht darum, jemand anders zu werden, sondern Klarheit in der Betrachtungsweise zu gewinnen. St. James setzt auf konsequente Reduzierung und mehr Zeit für sich. Sie hält dabei auch das Subjekt klein; es besteht keine Notwendigkeit, sich selbst beweisen oder aufs Spiel setzen zu müssen, um Subjekt zu sein. In Selbstgenuss und freier Zeit ist für das Subjekt bereits genug gesorgt. Dabei wird Reduzierung und Optimierung (im Dienste der Maximierung freier Zeit) zum Selbstzweck, der ad infinitum weiterbetrieben werden kann. Typische Techniken finden sich oben im Abschnitt über Rationalisierung. Shers Techniken hingegen zielen auf eine Form der Selbstwerdung, die in manchen Aspekten noch am ehesten an Wayne Dyer erinnert. Es gilt vor allem, das Subjekt von falschen Vorstellungen freizuschau93 St. James kritisiert vor allem das Zeitmanagement, das selbst viel Zeit in Anspruch nimmt. Sher wiederum problematisiert das „Positive Denken“. 94 Sher (2005), 73. 95 Mapstone (2005), 221f.

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feln und vor den Ansprüchen der Gesellschaft in Schutz zu nehmen – oder, wo dies nicht geht, die Ansprüche zumindest als solche zu entlarven. „Viele Menschen erkennen nicht, dass Ereignisse aus ihrer Kindheit die Ursache für ihr vorsichtiges Verhalten sein können. Und deshalb werden Sie von mir niemals hören, dass es Ihre eigene Schuld ist, wenn Sie im Leben nicht bekommen, was Sie wollen. Lassen Sie daher nicht zu, dass irgendjemand – auch Sie selbst nicht – Ihnen einredet, Sie bemühten sich einfach nicht stark genug oder wünschten sich nicht stark genug, dass sich etwas ändert.“ 96

Allerdings fällt Sher doch darauf zurück, Arbeit selbst mit Bedeutung aufzuladen und überhaupt Techniken subjektiver Aneignung zu propagieren, nicht aber einen Weg zu finden, sich den äußeren Ansprüchen konsequent zu entziehen oder zu widersetzen.97 3.5.5 Im Achsenkreuz: die Feel-Good-Ratgeber Horst Conen, Helmut Pfeifer, Gion Chresta, Sabine Jaenicke und Paul McKenna sind als Beispiele dafür zu nennen, alle vier Aspekte zu verbinden, ohne sich auf eine festzulegen. Sie spinnen ein reflexives Gewebe, ohne sich aber in ihrer Ausrichtung damit zu begnügen. Sie arbeiten mit Techniken zur Emotionalisierung und mit Selbstveränderungstechniken, die eine Nähe zu den Gehirnratgebern haben, ohne dass sie ganz auf diese Karte setzen. Sie schwanken zwischen aktiver Wirklichkeitsaneignung einerseits und der Absicht, dem Subjekt zu vermitteln, es sei gut, so wie es ist, andererseits. Ihre Techniken sollen dem Subjekt dabei helfen, etwas mehr aus sich und seinem Leben zu machen, ohne hohe Ansprüche zu stellen. Es soll ihm ein gutes Gefühl zu sich vermittelt werden und es werden ihm Techniken dazu an die Hand gegeben, dieses Gefühl noch zu steigern – aber ohne Druck. Obwohl gerade die Texte von Conen und McKenna viele Glückstechniken beinhalten, ist in ihnen doch ein Moment der Zurücknahme, ja, fast ein Versuch der Besinnung zu erkennen. Conens Titel „Sei gut zu dir, wir brauchen dich“, markiert nicht nur optimales Ressourcenmanagement, sondern setzt in seinem Impetus der Selbstaktivierung etwas entgegen. Dafür gibt es jedoch bei ihm auf technischer Ebene nichts greifbares. Es bleibt abzuwarten, ob sich hier eine neue Ausrichtung ihre Bahn bricht.

3.6 ZUSAMMENFASSUNG Die Anleitung zu Reflexivität und Emotionalisierung hat in der dritten Epoche der Lebensratgeber die Ausrichtung des „weg von...“ und „hin zu …“ In allen Lebensbereichen werden Sicherheit und Status/Territorialdenken scharf kritisiert, stattdessen wird Flexibilität und Lust das Wort geführt. In diesem Sinne muss die Angst vor Veränderung einem lustvollen Ergreifen der vielfältigen Möglichkeiten weichen. Starre und Festigkeit sollen im großen Stil durch Dynamisierung und Flexibilität ersetzt werden. Die Texte leiten dazu an, das passive Leiden in eine aktive Glücksherstellung umzuprägen. 96 Sher (2005), 80. 97 Vgl. Sher (2005), 221.

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Im Bereich der Arbeit sollen die Anleitungen den Leser/innen helfen, sich von ihren monotonen Jobs zu lösen und sich ganz ihren Projekten und der Traumverwirklichung zu verschreiben. Es geht immer weniger um materiellen Besitz und immer mehr um Erfüllung im Prozess. Bei der Arbeit wie im Alltag soll Routine reduziert und systematisch Spontaneität und Glück erzeugt werden. Fast alle Texte führen von einer negativen Denkweise zu einer positiven. Probleme werden zu Zielen nicht nur umformuliert, sondern umgedacht, Krisen werden durchweg als Chancen gefasst (das gab es in den 1970ern schon, z.B. bei Beer, hier kommt es aber flächendeckend und mit dem Gestus des Selbstverständlichen daher) und Anforderungen als Herausforderungen. Obwohl nicht alles möglich ist, kann der gefühlte Spielraum vergrößert werden; der Determinismus weicht, zumindest in einigen Texten, der Freiheit der Virtualität. Ein an quantitativer Maximierung ausgerichtetes Management wird stark kritisiert. Die Ablösung erfolgt durch eine menschen-, und das heißt häufig: gehirn- und hormongerechte Form der Selbstführung. Niemand muss mehr ein Universalmensch sein. Auch und gerade Führungspersonen sollen Marken mit Kanten sein. Emotionen werden in den Texten erst als ein großes und altbekanntes Problem dargestellt (das sie aber in den 1970ern überhaupt nicht waren), um die Techniken als Innovation einzuführen, die sich deren erfolgreicher Benutzung widmen. Die verschiedenen Untertypen der Ratgeber unterscheiden sich nicht in der Grundausrichtung, sondern vor allem in der Gewichtung verschiedener Techniken und ihrer Objekte. Die Techniken sind darauf ausgerichtet, ein neues Subjekt zu erzeugen oder ein verschüttetes freizulegen – es gibt gar keine große Kluft mehr zwischen einem alten, ungeübten, problematischen und einem neuen meisterhaften Subjekt. Die Techniken setzen vielmehr auf ein Aktivierungstraining. Die Subjektivität der Leser/innen wird mehr angesprochen und stärker vorausgesetzt als in den vorangegangenen Epochen. Sie wird nur episodisch durch die Techniken der Reflexion und der Emotionalisierung erzeugt und an die Situationen (z.B. Arbeitsprojekte) angepasst. Die Subjektivierung muss nicht gegen den Widerstand der Welt und der anderen vorangetrieben werden – das haben die Untersuchungen der Problematisierungen gezeigt und die der Techniken verstärkt. Die Welt ist vielmehr der Subjektivierung zugänglich und die anderen sind Subjekte, die ebenfalls an der eigenen Subjektivierung arbeiten. FeedbackTechniken treiben die Kosubjektivierung voran. Die Techniken zeigen jedoch ein in sich plurales und fluides Subjekt, das der kontinuierlichen Selbstvergewisserung und aktualisierung bedarf, um eine prozesshafte Integrität zu erzeugen. Die Emotionalität wird zur Zielscheibe, ja zu einer Art Klaviatur, auf welcher das Subjekt sich zu virtuosen Leistungen anreizen kann. Die Bedeutung von Arbeit und von Lust (Glück) nimmt gleichermaßen zu. Dabei vermeiden die Techniken vor allem eins: das Subjekt zu sehr festzulegen. Das betrifft sowohl die Subjektivität jeder einzelnen Leser/in als auch die Frage nach dem Wesen und den Eigenschaften des Menschen. Die Techniken überziehen das Leben der Subjekte mit einem Netz, ohne es dadurch zu definieren. Das Subjekt gewinnt keine starken Konturen durch das Übungsprogramm. Es lebt mehr durch Bezugnahmen als durch Abgrenzung. Umgekehrt gibt es keinen Raum mehr, der von Individualisierung und Kosubjektivierung ausgenommen wäre.

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Selbstaktualisierung als Lebensmanagement Die Diskrepanzteleologie der 1990er

Analog zu den Problematisierungen werden auch die teleologischen Entwürfe in den 1990ern strukturell schwerer festlegbar. Problematische Verhältnisse und Bedrohungsszenarien auf der einen und ideale Subjektentwürfe auf der anderen Seite bilden nicht mehr die entgegengesetzten Pole, die eine Subjektosmose in Bewegung bringen sollen. Der Motor der Subjektivierung muss nicht eigens in den Texten entworfen und ausgemalt werden (auch wenn er immer noch implizit vorhanden ist), er wird vielmehr vorausgesetzt. Das angerufene Subjekt befindet sich bereits in einem mehr oder minder aktivierten Zustand. Es hat zum Teil nicht die nötige Klarheit der Einsicht in sich selbst oder die probaten Techniken griffbereit – möglicherweise ist es aber auch durch kursierende falsche Vorstellungen über gelungene Selbstführung durcheinandergebracht worden. Ein logischer oder entwicklungspsychologischer Anfang von Selbstführung wird nicht (mehr) gedacht. Das Subjekt ist vielmehr stets eingebettet in ein doppeltes Gewebe: einerseits das von Selbst und Welt, von sich und den anderen; und andererseits in ein inneres Netzwerk der Reflexivität. Beide haben keinen klaren Anfang und kein abgegrenztes Ende. Problematisierungen, Techniken und Subjektteleologie sind vielmehr von einer episodischen Struktur bestimmt. Was die Dynamik einer Teleologie antreibt, ist hier eine relative Diskrepanz zwischen der möglichen und der realen subjektiven Aneignung der Wirklichkeit durch das Subjekt. Wie in den Problematisierungen und an den Techniken gezeigt, ist die Wirklichkeit der subjektiven Aneignung sehr zugänglich (mit Blombergs Worten steht die Welt allen offen), deshalb ist jede Diskrepanz auf die mangelnde Bewegung des Subjektes zurückzuführen. Gleichzeitig kann die Diskrepanz auch nie ganz geschlossen werden, weil sich Welt und Subjekt ständig verändern – die Wirklichkeit verändert sich, weil das eben ihre Art ist, das Subjekt verändert sich, insofern es an sich und seiner Wirklichkeit arbeitet. Die Diskrepanz liegt also nicht zwischen einem klar umrissenen Ausgangssubjekt und einem isolierbaren und qualifizierbaren Zielsubjekt. Denn dies ist nur für die ersten beiden Epochen kennzeichnend. Ein Grund dafür liegt darin, dass als Ausdehnungsraum der Selbstführung gar nicht die gesamte Lebensspanne in Anspruch genommen wird, sondern nur kleinere Lebenssituationen, wie die bereits benannten Projekte. Das Subjekt spürt in diesen die Diskrepanzen, im Jargon der Lebensratgeber, seine Chancen auf und nutzt sie individuell. Es verwandelt sich aber niemals in seiner grundlegenden Struktur, sondern nur darin, wie es diese ausfüllt. Mit Struktur ist hier gerade kein solider Kern gemeint, sondern eben

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die reflexive Gewebestruktur des Subjektes und seine Bestimmtheit durch flexible Aneignung, soziale Zusammenhänge und Management von Prozessen.

4.1 ABSCHIEDE VOM ALTBEKANNTEN Dass die Welt nicht immer nur das Beste für die Subjekte will, wurde von den ersten Ratgebern bis zum Ende der 1970er vorausgesetzt. Ab den 1990ern ändert sich dies. Nicht nur, dass die Bedrohlichkeit des Daseinskampfes respektive der Entfremdung als Thema verschwindet. Sie hört sogar auf, denkbar zu sein. Die Welt als Ort des Kampfes zu sehen, ist für die modernen Texte einfach ein negatives und beschränkendes Denkmuster oder eine emotionale Abwehr der großen Möglichkeiten. Das Damoklesschwert der Fremdbestimmung verschwindet, weil gar kein distinkter Kern existiert, der seine Eigenart behaupten müsste. Auch wird nicht mehr die Idee eines (kybernetischen) Systems entworfen, welches zwar komplex ist, doch sein eigenes Gleichgewicht hat: Die Dinge können deshalb gar nicht mehr so gewaltig aus dem Ruder laufen noch können sie sich dauerhaft mittels einer intrinsischen Gravitation einpendeln. Fast alles ist in den 1990ern herstellbar, andererseits muss das meiste auch eigens hergestellt werden. Die Subjekte können deshalb nicht im heroischen Sinne vollkommen scheitern oder untergehen. Sie kennen auch keine Nemesis der Lebensschuld. Das ideale Subjekt ist kein Heldengemälde oder ein ins Freie strebendes Gewächs, sondern eine Flipchartskizze voller bunter Pfeile. Zwar bringen die Ratgeber der dritten Epoche die Erziehung als der Selbstführung gegenläufiges Moment ins Spiel; dies relativiert sich jedoch. Denn die technische Überwindung der Sozialisation für erwachsene Subjekte gilt als leicht erreichbar, also als nicht dauerhaftes Hindernis. Zweitens wird davon ausgegangen, dass in den meisten Zusammenhängen, die das Subjekt vorfindet, alle Beteiligten entweder in unaufgeklärter Routine verharren oder selbst um aktivische Selbstführung bemüht sind. Die Gefahr der Manipulation (aber auch die eigene Möglichkeit dazu) tritt als solche kaum ins Blickfeld. Es gibt weniger die Vereinnahmung durch die Führung anderer als ein mehr oder minder ausuferndes Maß an Nicht-Führung. Die Erziehung der Eltern ist in diesem Sinne genauso Nicht-Führung wie die territorial-patriarchale Struktur der alten Unternehmenskolosse. Die anderen sind in erster Linie keine bedrohlichen Manipulatoren, sondern mehr oder minder engagierte Mitspielende, allerdings immer nur auf Zeit. „Ein Hauptunterschied zwischen Führern und Mitläufern ist, daß herausragende Männer und Frauen sich immer strecken und sich aus ihrer Komfortzone herauszwingen.“ 1 Zweitens sind die anderen auch wichtige Geber von Feedback, der zentralen Lerninstanz des Subjektes. Es gilt ab den 1990er Jahren nicht mehr, die Rückmeldungen anderer abzuwehren, sondern darum, sie als Ressource für die Selbstverbesserung nutzbar zu machen. Die Teleologie des Subjektes vollzieht sich also nicht primär als Absetzbewegung zu einer potenziell bedrohlichen Fremdführung. Der Unterschied zwischen Selbst- und Fremdführung verliert seine Bestimmtheit und seine Bedeutsamkeit. Eine allzu große Scheu vor Fremdführung wird eher als Ausläufer des problematischen Sicherheitsdenkens betrachtet. 1

Tracy (1995), 105.

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4.2 DIE ENTSTEHUNG DER DISKREPANZTELEOLOGIE 4.2.1 Die Radikalisierung der Eigenverantwortung Es geht für das Subjekt der dritten Epoche darum, die sich ständig verändernden Lebensumstände als Möglichkeiten der Selbstbestimmung zu ergreifen und auch Krisen als Chancen zur Selbstverbesserung zu nutzen. Dazu braucht das Subjekt „kreative Intelligenz“, wie Borstnar und Köhrmann den Oberbegriff der neuen Selbstführungseigenschaften nennen.2 Dazu zählen sie Neugier, Offenheit, Intuition, Abstraktionsvermögen, Hinterfragen, kommunikative Kreativität und visionäres Denken.3 Insofern funktioniert die Subjektivierung nicht einseitig; auch das Subjekt subjektiviert sich an der Wirklichkeit. Die Wirklichkeit ist nicht starr und beharrend, formt sich aber auch nicht einfach um das Subjekt herum. Die oben aufgezählten Eigenschaften (in der Sprache der Texte Kompetenzen) benötigen jedoch nur ein Subjekt, das sich an der Wirklichkeit abarbeitet: nicht in aufreibender Weise, sondern vermittelt durch Selbstgenuss und Leichtigkeit. Zu eruieren wie Subjekt und Wirklichkeit immer wieder neu zueinander passen können, ist Aufgabe des Subjekts: Seine Leistung, aber auch seine Verantwortung liegt darin, die Diskrepanz immer wieder neu auszufüllen. In der Diskrepanzteleologie potenziert sich die Eigenverantwortung. Jede Diskrepanz kann ja, so die Prämisse, durch kreative Subjektivierung überbrückt werden. Einschlägig sind hier Evelins Rosenfelds drei Beobachtungen: „1. Menschen, die uneingeschränkt Verantwortung für ihr Handeln, ihre Befindlichkeit und ihre Erlebnisse übernehmen, statt sich selbst durch jammern, Erwartungen, Vorwürfe auf andere zu projizieren, strahlen eine ungeheure Kraft aus. Sie scheinen ihr Leben vollständig selbst zu gestalten. 2. Menschen, die ihre Selbstverantwortung auch verstehen als das Wissen um den ‚Preis‘ ihres Handelns – d.h. die Kenntnis von Wechselwirkungen und Konsequenzen –, haben selten Konflikte, weder innen noch außen. Sie entrichten den ‚Preis‘ meist zeitgleich mit der Entscheidung für eine bestimmte Sache. 3. Menschen, die ihrem Leben gegenüber eine forschende statt suchende Haltung einnehmen, erfahren Leben als Abenteuer und Spiel. Sie sehen meist unmittelbar Wege aus komplizierten Situationen heraus.“ 4

Eigenverantwortung ist also unbegrenzt. Die Subjekte hingegen sind endlich. In dieser Wirklichkeit gibt es viele Chancen, aber diese haben ihren, wie Rosenfeld sagt, Preis. Die richtige Haltung demgegenüber ist eine von Neugier und Abenteuergeist. Wer immer nur Angst davor hat, einen zu hohen Preis zu zahlen und deshalb nicht eigenverantwortlich handelt, bezahlt den größten Preis: ein Leben, das ihm vorne und hinten nicht passt, ein ungelebtes Leben, ein Nicht-Leben. „Ein nicht gelebtes Leben ist die Hölle.“5 So einem Menschen kann es auch kaum gelingen, das Interesse seiner Mitmenschen zu wecken. Wer hingegen aktive Selbstführung betreibt, kann auch an2 3 4 5

Borstnar/Köhrmann (2004), 110. Vgl. ebda., 110f. Rosenfeld (2004), 27. Sher (2005), 33.

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dere aktivieren; wer seine Gefühle klug einsetzt, kann auch andere motivieren; wer sich selbst in seinen Projekten zeigt, kann andere begeistern. Insofern ist gelungene Selbstführung an sich schon eine zentrale soziale Kompetenz. 4.2.2 Die Selbstverendlichung des Subjektes Was das Subjekt aus Sicht der Lebensratgeber riskiert, ist einmal eine falsche Vorstellung von Sicherheit. Darüber hinaus riskiert man sich immer ein Stück selbst, indem man sich hinauswagt und sich hinter seine eigene Idee stellt. Mit der positiven Umprägung des Risikobegriffs stehen die Lebensratgeber nicht allein. Sie lässt sich auch in scheinbar wenig verwandten Felder finden, wie z.B. bei modernen Sportarten: „Die Akteure riskieren seine [des Körpers] Unversehrtheit. Im Gegensatz zu bewährten Mustern sportlichen Interaktionsverhaltens verzichten sie auf eine Position der Stärke und nehmen eine Position der Schwäche ein. Erworbene Sicherheiten – der feste Stand, das sichere Gehen, der solide Grund – werden mit Absicht suspendiert. Im Aufsuchen von Situationen der Verunsicherung und Überraschung tritt das handelnde Subjekt aus vorhersehbaren Bewegungsabläufen heraus.“6

Schwäche, Risiko und Wagnis werden in beiden Bereichen nicht nur positiv besetzt, sondern an Selbsterfahrung und Erneuerung geknüpft. Es geht in letzter Konsequenz darum, sich selbst zu wagen, sich selbst aufs Spiel zu setzen, um sich (in veränderter Form) wiedergewinnen zu können. Die Lebensratgeber der 1990er und 2000er Jahre sind ungeheuer fasziniert von dieser Konstellation: „Um großartige Arbeit zu leisten, durfte man für niemanden verantwortlich sein als für sich selbst. Es war die einzige Möglichkeit, ehrlich mit sich zu sein und sich dabei radikal auf die Probe zu stellen“, sagt Harriet Rubin.7 Ihr Buch Soloing kreist nur um diese Frage: Wie sich selbst immer rückhaltloser riskieren, wie immer größere Sichtbarkeit wagen und darauf seine Existenz (materiell wie sozial, ja in einem gewissen Sinne spirituell) gründen? Andere Ratgeber aus ihrem Subgenre tun es ihr nach, alle außer den NLP-Ratgebern beziehen daraus zumindest implizit die Dramatik ihrer Teleologie. Der Kritik der Sicherheiten wird jedoch ab den 1990ern ein Element beigesellt, welches diese wiederum beschränkt. Es ist nicht mehr möglich, alles zu sein, zu tun und zu haben, und die Subjekte, die sich in die Idee verlieben, sich vieles aneignen zu können, ohne einen Pries dafür zu zahlen, sind von Desintegration (z.B. Burnout) bedroht. Teil dieser Linie der notwendigen Selbstverendlichung ist daher der sinnvolle Umgang mit den eigenen Kräften. Paradigmatisch steht dafür Verena Steiners Energiekompetenz, aber fast alle Texte warnen vor der Überlastung, dem Burnout, dem Stress durch vielfältige Anforderungen. Es geht nicht einfach darum, zu maximieren, aber dennoch zu optimieren. Die Selbstverendlichung ist keine Suspendierung der Selbstentgrenzung, sondern eine Strategie, mit ihr umzugehen, 6 7

Gebauer, Gerd; Alkemeyer, Thomas; Boschert, Bernhard; Flick, Uwe; Schmidt, Robert (2004): Treue zum Stil. Die aufgeführte Gesellschaft. Bielefeld: transcript, 79. Rubin (2001), 18.

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Endlichkeit bedeutet auf der anderen Seite Kostbarkeit und Einzigartigkeit. „Sie werden wie eine herrliche Ming-Vase, die wegen der Sprünge, die über ihre Oberfläche laufen, nur umso mehr geschätzt wird.“8 4.2.3 Unternehmer/in, Künstler/in, Abenteurer/in: die Realfiktionen der dritten Epoche Die zwei zentralen Figuren der Epoche, das unternehmerische und das künstlerische Selbst, beziehen ihre Prägnanz gerade aus einem endlichen Subjekt einerseits und einer bis zu einem gewissen Grad subjektivierbaren Wirklichkeit andererseits. In den 1990ern sind die unternehmerischen Tugenden nicht auf Organisationsfähigkeit oder solide Planung und Haushaltsführung beschränkt. Das Unternehmerische ist stets persönlich, ebenso wie das Persönliche unternehmerisch wird. Nicht völlig neu, aber doch pointiert stellen Becker und Becker die Vereinigung von Selbstbestimmung und Unternehmer/innentum dar: „Man kann nicht nur ein Unternehmen managen, sondern vor allem auch sich selbst. Managen heißt wörtlich übersetzt: bewerkstelligen, Probleme bewältigen, mit Aufgaben fertig werden. Dabei ist die erste Aufgabe, mit uns selbst fertig zu werden, eine Persönlichkeit zu werden. Wissen, was man will und kann. Vernünftige Ziele haben. Erfolgreich arbeiten können. Sein inneres Gleichgewicht halten und ein ausgeglichenes, mit anderen harmonisierendes Leben führen. Wer ‚gebildet‘ wurde, ist wer. Dieses Buch unterstützt Sie auf diesem Weg.“ 9

Hier findet sich auch die für die Lebensratgeber aller Epochen typische Trope, dass nur, wer sich selbst gut führt, auch andere führen kann. Eine engere Bindung des Unternehmerischen ans Persönliche findet sich bei Gion Chresta: „Die Zielrichtung des Lern- und Entwicklungs-Weges besteht darin, selbst zum CEO des Unternehmens ,Ich‘ zu werden – mit allem, was das an Reifung und Verantwortung beinhaltet.“10 Die Bewältigung innerer Pluralität und äußerer Herausforderungen stellt sich Chresta als Reifungsprozess vor. Es geht jedoch nicht um das Wachstum aus einem inneren Kern heraus, sondern um den umsichtigen Umgang mit innerer und äußerer Heterogenität und Endlichkeit. Der CEO ist deshalb ein gutes Beispiel, weil er Menschen, Strukturen, Dinge managt. Er löst nicht auf, vereinheitlicht nicht, geht nicht in der Suche nach Einstimmigkeit und Vollkommenheit auf, sondern managt das, was vor ihm liegt. Innere Anteile, wie wir sie bereits besprochen haben, sind Ressourcen unter anderen. Für das Management ist es vor allem nötig, die eigenen Ressourcen effektiv zu managen. Dazu gehören auch die aus dem Technikteil bekannten Träume und Emotionen. Die 1990er stecken den Ressourcenbegriff also sehr weit ab. Im Großen und Ganzen wird davon ausgegangen, dass die Ressourcen endlich sind, das heißt aber nicht, dass aus ihnen nicht viel herausgeholt werden kann, gerade in ihrer Vielfalt und Kombinationsmöglichkeit. Herausgehoben wird von den Texten immer wieder die Rolle des Glücks: „Glück ist nicht das Ergebnis von etwas, sondern ein bestimm8 Rubin (2001), 66. 9 Becker/Becker (1996), o.S. [vii]. 10 Chresta (2005), 17, Hervorhebung im Original.

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ter geistiger und körperlicher Zustand.“11 Deshalb kann und soll es als Ressource eingesetzt werden. Glück erst macht Leistung exzellent und „ein Glücksgefühl hat immer etwas Exzellentes, und es ist keineswegs an einen bestimmten Zustand gebunden, sondern immer die exzellente Variante irgendeines Zustandes“.12 Die Verpflichtung zu ihrer Nutzung ist also in der Ressource Glück selbst angelegt: „[W]er kann schon mit Gewissheit sagen, daß er sein Glückspotential auch in der exzellentesten Variante, wirklich zu vollen 100%, ausnutzt?“13 Emotionen im Allgemeinen und Glück im Besonderen sind also in den Ratgebern der dritten Epoche zentraler Bestandteil der Selbstökonomisierung und Optimierung. Letzteres heißt hier aber nicht, an den Schrauben zu drehen, um ein maximales Quantum aus allem herauszuholen, wie die oben erwähnten 100% es nahelegen. Aus der Übersichtsperspektive geht es vielmehr darum, die Ressourcen in Abstimmung auf ein bestimmtes Ziel hin zu vereinigen und diesen Gesamtentwurf mit Exzellenz, aber auch mit einem individuellen Antlitz auszustatten. Denn nicht zuletzt gilt es, die eigene Persönlichkeit selbst sichtbar einzubringen. Diese wird in Rubins Fall zugespitzt ins Spiel gebracht und dadurch zum Versprechen, zur Marke. Das unternehmerische Selbst setzt sich also gerade im unternehmerischen Handeln selbst aufs Spiel. Es ist eher ein Risikoinvestor als ein Bürokrat. Das unternehmerische Subjekt ist jedoch nicht vollständig ohne das künstlerische. Das wird schon in der hohen Bedeutung des Persönlichen für das Unternehmen Ich deutlich. Erst das Künstlerisch-Abenteuerliche der subjektiven Existenz haucht ihm seinen Geist ein. „Bei dem Wort ‚Solo‘ denke ich an Abenteurer, denen nie der Atem stockt: Charles Lindbergh, der sein Leben aufs Spiel gesetzt hat, als er den Atlantik überflog“, aber auch an „Reinhold Messner“ oder „Billie Holiday“. 14 Die Abenteurerexistenz ist dem Sicherheitsdenken diametral entgegengesetzt. Sie haucht dem Wagnis Gefühle der Aufregung und Erwartung ein, sie evoziert die „schiere Lebendigkeit“.15 Darüber hinaus setzt die Haltung des Abenteurers Neugier und Forscherdrang frei, sie gibt der ganzen Lebensweise eine kindliche Frische, ohne dabei die hoch kontrollierte unternehmerische Selbstführung zu suspendieren. Alle Subjekte sind ab den 1990ern Künstler: Sie sind Lebenskünstler, weil sie ihr Leben kunstvoll gestalten, Neues ausprobieren und der Welt ihren Stempel aufdrücken. Sie fragen stets: Wie kann ich den „Hauch dieser Intimität [des Künstlers mit seinem Werk] in meine Arbeit einbringen“?16 Sie experimentieren, sind ewig innovativ, nehmen sich künstlerische Freiheiten, wagen zu überraschen, zu provozieren und bisweilen zu verstören. Dadurch rütteln sie auch die anderen in Sicherheit und Routine befangenen Subjekte auf und animieren sie, sich selbst genauso rückhaltlos ins Leben zu stürzen. Die Künstlersubjekte zeigen sich mit ihren Macken und Eigenarten. Sie müssen kreativ sein; aber sie wollen es noch mehr, als sie es müssen. Sie empfinden alles als Freiheit und nichts als Zwang; sie sehen jede Arbeit als Erweiterung ihrer eigenen Person. 11 12 13 14 15 16

McKenna (2005), 225, Hervorhebung im Original. Grochowiak (1996), 155. Ebda. Rubin (2001), 15. Ebda., 16. Ebda., 18.

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Freiheit und Optimierung, Selbstökonomisierung und kreatives Schaffen, Risikoinvestition und kindliche Entdeckerlust werden in der Teleologie der 1990er immer wieder ineinander überführt. Sie erzeugen ein Subjekt, das sich die Wirklichkeit immer wieder neu aneignet und kreative wie rentable Wege findet, die wechselnden Diskrepanzen zu überbrücken. 4.2.4 Der Stoff, aus dem die Träume sind: die dreifache Arbeit Es gibt einen Ort, an dem das Künstlerische und das Unternehmerische sich natürlicherweise am meisten verdichten, und das ist die Arbeit. „Arbeit ist ureigener Ausdruck der Persönlichkeit“,17 sagt Paul Halbe. Darin ist jedoch nicht nur eine Freiheit angelegt, sondern eine Notwendigkeit. Denn „Arbeit muß mehr sein als das, was Maschinen leisten können“.18 Das Persönliche und Künstlerische, das in den 1990er und 2000er Jahren alle Arbeit durchdringen soll, ist also nicht nur Ausdruck eines Strebens danach, der Welt den eigenen Stempel aufzudrücken, sondern auch des Anliegens, überhaupt eine Arbeit zu haben – und nicht wegrationalisiert zu werden. Wenn Rubin fragt, „Warum nicht das eigene Leben zum Gegenstand seiner Arbeit machen statt umgekehrt?“ dann ist das nicht nur eine Kritik an routinierter Lohnarbeit in verkrusteten Strukturen, sondern dient auch dazu, eine wettbewerbsfähige Persönlichkeit hervorzubringen. Das Selbst in diesem Sinne ist Gegenstand der Arbeit; nicht unbedingt einer mühevollen Tätigkeit noch eines Schürfungsprozesses, wohl aber in einer markanten Konturierung der Oberflächenstruktur. Wer sein Selbst mit anderen in Kontakt bringen kann, nur wer sich als Person sichtbar und interessant macht, hat Vorteile im Kampf um die Aufmerksamkeit potenzieller Kunden oder Projektpartner. Traumverwirklichung, Selbstaktualisierung und Selbstdarstellung finden vor allem in Projekten statt. Insofern geben sie dem Subjekt seine nach außen wirksame Identität. Projekte sind grundsätzlich episodisch. Sie sind verschiedenartig, aber unterliegen, zumindest bei Rubin, einer Logik der Steigerung, denn es „muss das jeweilige Projekt, um erfolgreich zu sein, besser als jedes der vorangegangenen werden“.19 So wird das Selbst an die Arbeit, ans Projekt gekoppelt. Die Bewegung funktioniert aber auch in umgekehrter Richtung. Denn nur diejenige Arbeit ist für die Subjekte die richtige, in welcher sie selbst ihre eigene Idee, einen Traum umsetzen.20 Wer seine Träume nicht ins Spiel bringt, läuft nicht nur Gefahr, zur Arbeitsdrohne zu werden, sondern auch, schneller an der Arbeit zu erschöpfen. Denn die tiefe Identifikation mit dem Projekt mindert für die Ratgeber der 1990er und 2000er die Wahrscheinlichkeit, auszubrennen. Vor allem aber erhöht sie die Qualität des Geleisteten. Rosenfeld ist zwar eine der wenigen, die das Wort „Berufung“ für Arbeit benutzt, aber ihr Enthusiasmus drückt den Geist der Zeit aus: „Die Qualität einer ‚Arbeit‘, die einer Berufung folgend entstanden ist, ist von so überragender Reinheit, dass sie begehrt wird. Und diesem Begehr folgend erhält der Schöpfer dieses Werkes alles, was er zum Leben ‚benötigt‘ – und meist weit darüber hinaus. Das Geheimnis liegt darin, 17 18 19 20

Halbe (1996), 47. Ebda. Rubin (2001), 145. Vgl. Rosenfeld (2004), 109.

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sich der Berufung hinzugeben. Einer Sache aus keinem anderen Grunde nachzugehen, als aus Liebe und Forscherdrang.“21

Es klingt verlockend, so vollkommen frei das zu tun, was man liebt. Die Texte malen diesen Weg als den schönsten und sinnvollsten aus und stellen vielfältige Techniken dafür bereit. Nur wenige machen wie Paul Halbe deutlich, dass die Subjekte gar keine Wahl haben, als den Weg der Freiheit, Liebe und Traumverwirklichung zu gehen; denn es ist nicht nur die einzige Art, wie die 1990ern wissen, sich in der Veränderung treu zu bleiben, sondern auch die verbleibende Möglichkeit, relevant zu bleiben in einer anspruchsvollen und sich ständig wandelnden (ökonomischen) Wirklichkeit. So gesehen ist Rosenfelds individualisierte Arbeit aus Liebe auch der entscheidende Wettbewerbsvorteil der Subjekte. Arbeit an sich, Arbeit an Projekten und Arbeit an den eigenen Träumen bedingen in den Ratgebern der dritten Epoche einander. Es gibt keine Vorbehalte gegenüber einer starken Identifikation mit der eigenen Arbeit, solange es eben nur die eigene, geliebte, traumverwirklichende Tätigkeit ist. 22 Vielmehr finden die Subjekte nur durch Arbeit heraus, aus was sie gemacht ist. Träume sind dann hilfreich, wenn sie zu Projektideen werden (wobei Projekt hier nicht unbedingt etwas sein muss, aus dem sich Kapital schlagen lässt), welche sich wiederum zu Zielen operationalisieren lassen.

4.3 SICHERHEITSLIEBENDE ANGESTELLTE UND UNBEGRENZTE ALLESKÖNNER: ANTISUBJEKTE DER DRITTEN EPOCHE Die Teleologie der 1990er Jahre stützt sich nicht so stark auf den Schreckfiguren von Antisubjekten ab wie frühere Epochen. Dennoch werden bestimmte, z.T. aus den Problematisierungen bekannte Figuren mitgeführt. Die größte Abstoßung ist sicherlich die von einem Subjekt, das nur arbeitet, um Geld zu verdienen, das mehr nach seinen Sicherheiten und Privilegien schaut als nach seiner persönlichen Leistung. Sie arbeiten für materiellen Gewinn, finanzielle Absicherung und Status, also für Ziele, zu denen sie keinen persönlichen Bezug haben. Deshalb halten sie häufig an überholten Strukturen fest und schaden sich dabei selbst am meisten: Sie gehen nicht ihren Träumen nach, riskieren nicht alles dafür, nur das zu tun, was sie lieben, und zeichnen sich nicht in ihrer Persönlichkeit in ihrer Arbeit (oder anderswo) ab. Sie wollen vielmehr nur ihren Job machen, ohne dabei kreativ mit ihren Möglichkeiten und emotional intelligent mit ihren Mitmenschen umzugehen. Dabei ist es den Texten, was die grundsätzliche Kritik angeht, unwichtig, ob es sich um kleinbürgerliche Büroangestellte handelt oder um Patriarchen in den Chefetagen großer Unternehmen. Beide sind nur auf ihre eigenen Vorteile und nur auf Erhalt bedacht, anstatt flexibel

21 Ebda., 31f., Hervorhebung im Original. 22 Damit wird nicht eingeschränkt, dass die Texte eine Überidentifikation mit einem Job, der dem Subjekt im Grunde fremd und äußerlich ist, der mehr Stress als Enthusiasmus, mehr Verzicht als Verwirklichung bringt, rundweg verdammen.

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und kreativ neue Herausforderungen anzugehen und alle Chancen dafür zu nutzen, sich selbst als Persönlichkeit aufs Spiel zu setzen. Das macht sie zu Ewiggestrigen. Auf der anderen Seite des Spektrums liegen die Alleskönner und -woller. Sie reduzieren und spezialisieren nicht, ihnen fehlt es also an intelligentem Selbstmanagement. Sie betreiben die Selbstverendlichung nicht konsequent genug. Deshalb sind sie Kandidat/innen für Burnout. Sie zeigen zu viel Härte mit sich und wenig Gespür für die eigene Endlichkeit und Heterogenität. An sie denkt Conen, wenn er schreibt: „[Wir brauchen] ein liebevolleres Verhältnis zu uns selbst. Und zwar nicht im Sinne von Selbstverliebtheit und Egoismus, sondern in Form eines Mentalitätswechsels: Weg von jener mentalen Feindlichkeit uns selbst gegenüber, die eine krankmachende und lebensverkürzende Wirkung haben kann – hin zu einem freundlichen Verhältnis zu uns selbst und einem bedachteren Einsatz unserer Kräfte und Möglichkeiten.“23

4.4 VERSPRECHUNGEN Da die Texte eine grundsätzliche Trennung von Mittel und Zweck ablehnen, sind die Versprechungen in die Teleologie eingefaltet. Ähnlich wie die Bedrohungsszenarien wenig dramatisch auftreten, sondern eher zwischen den Zeilen zu finden sind, sind auch die Versprechungen zwischen den Zeilen zu lesen.24 Weder eine beklemmende Bedrohlichkeit der Verhältnisse noch eine opulente Beschreibung winkender Errungenschaften treiben den Motor der Subjektivierung an. Weder Peitsche noch Zuckerbrot müssen den Leser/innen extensiv vor Augen gehalten werden. Die Sorge um die eigene Subjektivierung wird vorausgesetzt. Der Imperativ der Selbstführung scheint in ihnen bereits zumindest in rudimentärer Weise eingeschrieben zu sein. Es wird wenig klassische materielle oder soziale Partizipation in Form von Wohlstand oder Status ins Zentrum der Aufmerksamkeit gesetzt. Erfolg ist zwar herstellbar, aber seinem Wesen nach für die Lebensratgeber vor allem subjektiv. Es wird auch kein sicherer Hafen am Ende der Teleologie in Aussicht gestellt; vielmehr bleibt alles im Prozess. Diejenigen, die es schaffen, in diesem Prozess jenseits der alten Sicherheiten glücklich zu werden und sich selbst auszuprobieren, sind die Gewinner der neuen Epoche. Die Freiheit des eigenen Unternehmertums ruft nach ihnen genauso wie die Abenteuerlust und die Künstlerexistenz. Sie finden Erfüllung in einer Arbeit, die sie lieben und haben die Möglichkeiten zu „genialen Taten“. 25 Glück findet sich nicht als fester Zustand am Ende des Lebensweges, sondern ist prozessbegleitend. Grochowiak erinnert an den „unendlichen Reichtum an Glück, der in uns harr“.26 Nach Wolfgang Weikert macht die gelungene Selbstführung die Subjekte

23 Conen (2005), 12. 24 Natürlich versprechen die Autor/innen den Leser/innen einen großen Gewinn vom Lesen ihrer Bücher, aber dieser ist weniger durch plastische Phantasien von Erfolg, Glück und Selbstverwirklichung unterfüttert als in den vorangehenden Epochen. 25 Blomberg (2001), 48. 26 Grochowiak (1996), 17.

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„glücklich, leistungsfähig und gesund“,27 Schwarz und Schweppe legen die Versprechungen noch etwas breiter an. Dazu gehört, sich selbst „wirklich [zu] motivieren“, „Ängste [zu] überwinden“, „Selbstsicherheit [zu] gewinnen“, „schlechte Gewohnheiten […] auf[zu]geben“, „Kommunikation mit Mitmenschen erfolgreicher [zu] machen“, „belastende Erfahrungen in Ihrer Vergangenheit [zu] bewältigen“ sowie die eigene „Gesundheit [zu] verbessern“.28 Blomberg stellt Lust in allen Lebensbereichen in Aussicht und macht sie im selben Zug sozialverträglich: „Darum geht es: Um mehr Glück, Zufriedenheit und Freude. Mehr Spaß am Sex, in Liebesbeziehungen und in der Ehe. Mehr Zufriedenheit. Mehr Erfolg im Beruf. Mehr Lust und Abenteuer in der Freizeit. Mehr Wellness den ganzen Tag über und Glücksfitness für ein langes und gesundes Leben. Für Sie persönlich. Und für die Gesellschaft, die vom Glück des Einzelnen profitiert.“29

Rubin will die alten Sicherheiten aufgeben für eine neue: „Die Sicherheit, mit sich selbst zufrieden zu sein.“30 Dies ist für sie das entscheidende Entweder-Oder. Wer wagt, gewinnt ist ein unzureichendes Motto für diese Epoche. Richtiger wäre es zu sagen: Nur wer sich selbst wagt, hat überhaupt die Möglichkeit zu gewinnen – oder in Rubins Worten: „Soloing bedeutet Befreiung vom Versteckspielen und Zurückweichen, zu dem wir unser Leben lang gezwungen waren. Beim Soloing lernt man, den Applaus entgegenzunehmen, von dem man weiß, dass man ihn verdient hat. Man lernt, sich selbst zu applaudieren.“ 31

Glück, als lustvolle Emotion, gibt es also nur momentan und im Prozess und nicht als sicheres Versprechen am Ende eines Weges. Insofern können die Subjekte nur dann glücklich sein, wenn sie nicht stillstehen, sondern sich in einen Prozess nach dem anderen stürzen. Nur darin können sie auch lernen, aller Schleier und alle Scheu abzulegen und sie selbst zu werden.

4.5 ZUSAMMENFASSUNG Die Teleologie ist darin analog zu den Problematisierungen, dass sie kein festes, in einem langen Übungsweg zu erreichendes Ziel vor Augen stellt. Sie richtet sich vielmehr auf die episodische Aneignung einer als der Subjektivierung zugänglich bestimmten Lebenswelt. Alles, was es wert ist, zu haben und zu sein, ist vor allem durch ein starres Sicherheitsdenken von den Subjekten getrennt. Eine vielfältige Reflexion, aktualisierte Selbsttransparenz und trainierte Aufmerksamkeit sind die tech27 Weikert, Wolfgang (1995): Selbstheilung durch die Kraft der Gefühle. Mit positiven Gedanken die seelischen Ursachen von Krankheiten und vorzeitigem Altern besiegen. München: Südwest, 7. 28 Schwarz/Schweppe (2001), 11. 29 Blomberg (2001), 13. 30 Rubin (2001), 337. 31 Ebda., 74f.

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nische Grundlage dafür, Risiken, Gefahren und Krisen als Chance, Möglichkeiten und Subjektivierungsaufrufe zu deuten und dadurch handlungsfähig zu werden. Dafür stellen die Lebensratgeber der dritten Epoche ein breites Instrumentarium an Übungen bereit, die sowohl im Lese- wie im Lebensfluss direkt eingesetzt werden können und nur eine vorhandene Subjektivität stärken: (Selbst-)Aktivierung, Aktualisierung und Aneignung bestimmen die fluide und flexibel vorgestellten Subjekte, welche dank ihrer neuen Kompetenzen sich sowohl lustvoll in anspruchsvolle wie unsichere Arbeitsprozesse einbringen als auch emotional intelligent die Kosubjektivierung vorantreiben. Weil sich die Wirklichkeit ständig ändert, ist die Diskrepanzteleologie unendlich – nicht im Sinne einer unabgeschlossenen Annäherung, sondern einer episodischen Subjektivierung.

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Analytische Zusammenschau Innere Dynamik und Machtaspekte der dritten Epoche der Selbstführung

5.1 OSZILLATIONSFIGUREN Wie jede Epoche, so ist auch die der 1990er und 2000er Jahre von Widersprüchen und Oszillationsfiguren durchzogen, die wesentlich für die spannungsvolle Dynamik der Selbstführung sind. Die zeitgenössischen Lebensratgeber haben es geradezu zu ihrem eigenen Anliegen gemacht, zwischen widersprüchlichen strategischen Feldern zu changieren, ohne den Versuch einer Vermittlung zu unternehmen. Die Texte verpflichten sich nicht auf Konsistenz in der Darstellung oder gedankliche Strenge. Im Gegenteil, sie lassen sich gerade als eine Anstrengung lesen, jede eindeutige Position zu verweigern. Widersprüchlichkeit und Ambivalenz ist in der Regel nichts, was den Autor/innen Kopfzerbrechen bereitet. Es werden, anders als vor allem in der ersten Epoche, auch keine Bemühungen um Glättung, Synthesenbildungen oder mehr oder weniger raffinierte argumentative Winkelzüge sichtbar, um eine Stimmigkeit herbeizuführen. Vielmehr können Widersprüche sogar als Ausweis für die Realitätsnähe und Pragmatismus aufgefasst werden. Denn die Techniken und Anleitungen präsentieren mitunter die Erfahrung einer postmodernen Zersplitterung der Arbeits- und Lebenswelt, bei der situativer Gebrauch und flexibler Einsatz bedeutsamer ist als dauerhafte Stabilität und ambivalenzfreie Stimmigkeit. 5.1.1 Bestimmende Natur – bestimmbare Natur So befremdlich es sich anhören mag: Nie zuvor haben sich die Ratgeber derart vehement auf die Annahme einer biologischen Determiniertheit des Menschen gestützt. Stellvertretend für viele Texte steht im Lebensratgeber von Fischer-Epe und Epe: „Nach Ansicht des Hirnforschers Gerhard Roth sind 40 bis 50 Prozent der Persönlichkeit genetisch bestimmt, ca. 30 bis 40 Prozent gehen auf das Konto von Prägungs- und Erlebnisprozessen im Alter zwischen null und fünf Jahren. Nur etwa 20 Prozent der Persönlichkeitsstruktur sei durch spätere Erlebnisse und durch elterliche Erziehung beeinflusst.“1 Es sei dahingestellt, durch welche Messinstrumente und verfahren man den Menschen derart prozentual zuschneiden zu können glaubt und ob

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Fischer-Epe/Epe (2004), 30f.

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man die verbleibenden 20 Prozent (von was genau?) freier Gestaltung als viel oder wenig einschätzt: Die durch die Autor/innen zur Selbstführung angehaltene Leser/in, hat ihr Selbst offenbar nur zu geringeren Teilen in der eigenen Hand. Ein Großteil des Verhaltens muss also Automatismen gehorchen, denen man eher ausgesetzt ist, als dass man sich als ihre Urheber/in verstehen kann. Andere Autor/innen führen dies am Beispiel des Stressverhaltens aus. Sie scheuen sich nicht davor, tief in die Vorgeschichte einzutauchen und anschauliche Feldbeobachtungen dabei zu machen: „Denken Sie einmal an die prähistorische Zeit zurück, an unsere Vorfahren in der freien Wildbahn. Da läuft er so dahin, unser Vorfahre. Plötzlich ein Geräusch, in 50 Metern Entfernung taucht ein Raubtier auf, Gefahr. Unser Vorfahre will und soll jedoch überleben. Ergo wird der Körper schlagartig in einen überlebensfähigen Zustand versetzt.“ 2

Was die Rettung für Frühmenschen bedeutete, stellt sich aber heute als problematische „Fehlaktivierung“ heraus. So sehr der Mensch sich seine Welt in der Zwischenzeit untertan und zu einem Ort technologischer Umgestaltung gemacht hat – genetisch betrachtet lebt er für viele Lebensratgeber immer noch in der Steinzeit. „Das Fatale an dieser Reaktion [gemeint ist die plötzlich eintretende Stressreaktion] ist aber, daß sie inzwischen auch in sozialen Situationen aktiviert wird, wenn uns gar keine körperliche Gefahr mehr droht. In der modernen Industriegesellschaft wird dieser Überlebensmechanismus tagtäglich aktiviert, ohne dass es zu einer Abfuhr der zur Verfügung gestellten Substanzen kommt.“3 Der moderne Mensch befinde sich also in einem Zustand der genetischen Unangepasstheit, was über die Stressreaktionen hinaus auch andere Bereich seines Verhaltens betrifft, so zum Beispiel seine inneren Zeitrhythmus4 oder seinen körperlichen Bewegungsbedürfnisse.5 Eine für die 1990er Jahre immer wieder selbstverständlich ins Feld geführte Verhaltensdeterminierung geht aber nicht allein von den Genen aus, sondern das Gehirn wird als die eigentliche Materie betrachtet, von der aus die bestimmenden Effekte ausgehen. Das Subjekt geht dabei ganz in seiner körperlichen Materie auf. Am Beispiel des Gedächtnisses führt eine Autor/in aus: „Unser Gehirn sammelt alle Einflüsse der Umwelt und stellt sie uns als ‚Erfahrung‘ zur Verfügung: Sieht unsere Kultur Sexkontakte eher locker und frei wie auf einigen Südseeinseln? Oder verdammt sie Sex als Sünde, wie es die christliche Kirche zwei Jahrtausende lang tat?“ 6 Dem Gehirn wird eine unbezweifelbare biologische Realität zugeschrieben, die der Realität des Geistes bzw. des Bewusstseins vorgängig ist bzw. diese erst konstituiert. Gehirnbesitzer müssen nun, um der über ihn gesammelten Erfahrungen, Erinnerungen, Ge-

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Pfeifer (2001), 35. Weikert (1995), 19. „Chronobiologische Untersuchungen haben zudem gezeigt, dass die Sinne am Abend besonders wach sind: Wir hören, fühlen, schmecken und riechen in der Dunkelheit besonders gut. Für unsere Steinzeitvorfahren war es überlebenswichtig, in der Dämmerung besonders aufmerksam zu sein“, Steiner (2005), 50. Ebda., 46. Blomberg (2001), 51.

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fühle habhaft zu werden, diese in der Sprache des Gehirns ansprechen. 7 Das Subjekt ist also seiner Materie nachgeordnet, genauer, es ist als ein unmittelbarer Effekt der Arbeit der Neuronen zu verstehen. Was in ihm wirksam ist, Erfahrungen sammelt, Gefühle auslöst, Erinnerungen (re-)konstruiert, ist ihm erst einmal entzogen. Sie spielt sich auf der Ebene von Programmen ab, deren Sprache man sprechen lernen kann, aber deren Grammatik objektiv gegeben ist. Auf eine andere Weise nehmen sich Lebensratgeber wie Sher, Mapstone und Tracy einer inneren Natur des Menschen an, die zwar weniger von biologisch gesetzten Materialitäten ausgeht, sich aber ähnlich gebieterisch zu der Freiheit des Subjektes verhält. Sie bestehe darin, dass der Mensch durch lebensgeschichtlich erworbene Erfahrungen eine im Unbewussten tätig seiende psychische Struktur aufgerichtet habe, die maßgeblich das Verhalten beeinflusse.8 Bei Sher wird dieser Struktur sogar ein eigenlogisches Verhalten attestiert, das sich darin äußern könne, bewusste Zielsetzung (beispielsweise, um eine Veränderung des eigenen Lebens herbeizuführen) zu sabotieren.9 In eine an die Psychoanalyse angelehnten Methodik, muss daher die Übende zuallererst diese sich abschottende Struktur bewusst aktivieren. Andere Autor/innen sprechen eher von einem homöostatischen Beharrungsvermögen 10 oder von inneren Blockaden.11 Ob nun durch die biologische oder die sozial-psychische Ursachen bedingt, es ergibt sich das Bild eines festgelegten, ja geradezu gefesselten modernen Menschen, das so schwer zur radikalen Eigenverantwortlichkeit, die weithin gefordert und gefördert wird, zu passen scheint. Die oben beschriebene Auflösung einer anthropologisch grundierten Subjektivitätsauffassung, die auf die Einheitlichkeit des Subjektes abhebt, zugunsten einer multipolaren, fragmentierten und flexibel umstellbaren Subjektivität widerspricht in der Grundsache den sozialen und biologisch unterstellten Determinanten. Doch so eng der biologisch gesetzte Rahmen zu sein scheint, er wird zeitweise suspendiert oder zumindest als deutlich weitläufiger dargestellt, als es aus den Ausführungen zum Steinzeitmenschen und einem zum Akteur erhobenen Gehirn geschlossen werden kann. So fahren Fischer-Epe und Epe nach der eingangs zitierten Passage fort: „Wenn 20 bis maximal 30 Prozent der Persönlichkeit beeinflusst bzw. verändert werden können, ist das mehr, als es zunächst scheint. Stellen Sie sich einen Mann vor, der von einem Se7

„Wir verfügen über verschiedene Sinneskanäle bzw. Repräsentationssysteme, über die wir Informationen aufnehmen können: den visuellen (das Sehen), den auditiven (das Hören), den kinästhetischen (das Fühlen), den olfaktorischen (das Riechen) und den gustatorischen Kanal (das Schmecken) […]. Aber wir verfügen nicht nur über fünf ‚Eingabekanäle‘ – jedes Repräsentationssystem beinhaltet beispielsweise Submodalitäten, wie Farbigkeit oder Helligkeit. Jede Submodalität kann wieder verschiedene Ausprägungen haben: Dies sind die Symbole, aus denen das Gehirn aufgebaut ist“, Schwarz/Schweppe (2001), 14f. 8 Im Unterschied zu den 1920er Jahren handelt es sich dabei nicht um eine der Natur des Menschen anhaftende konstitutionelle Schwäche, sondern um eine prinzipiell biografisch auflösbare sozial-emotionale Blockierung. 9 Vgl. Sher (2005), 38ff. 10 Vgl. Tracy (1995), 76f. 11 Vgl. Mapstone (2005), 61ff.

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minar oder einer Beratung zurückkommt und anfängt, Konflikte, denen er jahrzehntelang aus dem Weg gegangen ist, auf den Punkt zu bringen. Auch wenn sich vielleicht nur ein Prozent des Gesamtverhaltens ändert, wird das enorme Auswirkungen im Privatleben wie im Beruf geben. Man wird sagen, er sei kaum wiederzuerkennen, obwohl er sich nur in einem – wenn auch wichtigen – Aspekt seiner Persönlichkeit verändert hat.“12

Andererseits haben wir auf der Ebene der Techniken gesehen, wie Veränderungen in Wahrnehmung und Interpretation von Erfahrungen sowie aktive Visualisierungen und Transparenz- und Reflexionsübungen die Wirklichkeit und das Subjekt als formbar darstellen und voraussetzen. Mithin bewegen sich die Lebensratgeber zwischen bisweilen konstruktivistisch anmutenden Wirklichkeitskonzeptionen und populärem biologischen Determinismus, ohne diese Oszillation selbst als problematisch zu kennzeichnen. Zwar geht es vielen Texten darum, durch Selbstreflexion die eigenen Grenzen zu bestimmen, um sich innerhalb dieser Parameter optimieren oder individuell bestimmen zu können. Aber die Gehirnratgeber gehen weit darüber hinaus. Der Jargon des Programmierens und die entsprechenden Techniken zielen gerade darauf, die zuvor biologisch gefassten Grundeinstellungen zu manipulieren. Sie beziehen ihre Anziehungskraft aus dem Versprechen, das schier Unmögliche möglich zu machen. Durch Bezüge zur Biologie einerseits und die unterstellte Formbarkeit andererseits haben diese Lebensratgeber den doppelten Gewinn wissenschaftlicher Seriosität und lebenspraktischer Bedeutung, wenn auch zulasten logischer Konsistenz. 5.1.2 Autonomes Subjekt – relationales Subjekt Das widersprüchliche Verhältnis der zeitgenössischen Lebensratgeber zu der Frage, wie weitreichend oder begrenzt die Gestaltbarkeit des Subjektes und seiner Subjektivität angenommen werden kann, hat noch eine weitere Dimension. Sie betrifft nicht mehr die Frage, wie unabhängig es sich von seiner biologischen und sozialen Natur machen kann, sondern, ob und wie stark es Urheber und Garant seiner unverkennbaren Individualität sein kann. Es ist unverkennbar, dass für die dritte Epoche die Hervorbringung der individuellen Einzigartigkeit die höchste Aufmerksamkeit genießt. Insbesondere die Lebensratgeber aus dem Bereich des Selbstmanagements und eines projekteorientierten, ökonomischen Selbstverhältnisses legen größten Wert darauf, dass sich die Einzelne aktiv zu ihren subjektimmanenten „Ressourcen“ verhält und diese wie ein in seine Arbeit völlig versenkter Künstler an sich herausformt. Am Beispiel von Rubins Ausführung lässt sich dies exemplarisch zeigen: 13 „Ich lernte, dass der Begriff Soloing zweierlei Bedeutungen hat: ,etwas im Alleingang tun‘ und ,sich selbst genug sein‘.“ 14 Diese Intimität der Selbstschöpfung überträgt auch einen Teil seiner einzigartigen Besonderheiten auf die Projekte, mit denen sich ein solcherart Geführter befasst.

12 Fischer-Epe/Epe (2004), 31. 13 Ähnlich auch Blomberg (2001), 64ff.; Borstnar/Köhrmann (2004), 124f. und 151f.; Halbe (1996), 200f. 14 Rubin (2001), 24.

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„Sie beginnen mit nichts anderem als dem vagen Gefühl, zu wissen, was sie erreichen wollen, und das ist gut, weil sie alle bestehenden Grenzen überschreiten müssen […]. Man vertieft sich. Man setzt sich selbst aufs Spiel. Das Ergebnis ist Arbeit, die tiefgründig, erschütternd und provokativ ist“.15

Das Projekt und sein Ergebnis wird nur insofern individuell, wie es die Einzelne vermag, alles Gewöhnliche und Routinierte abzulegen und zu ihrer eigenen Originalität vorzustoßen. Individualität wird in den 1990er Jahren in einer spezifischen Weise zum Problem: Zum Subjekt wird man nur dadurch, dass es für andere als „individuell“ und „herausragend“ erkennbar ist; es ist auf die Wahrnehmung durch die soziale Welt ausgerichtet. Mit anderen Worten: Subjekt-sein konstituiert sich nur mehr relational. Umgekehrt bedeutet dies, dass sich das Subjekt der 1990er Jahre in einer sehr öffentlichen und distinkten Weise als individualisiert darstellen muss, um den Akt der Anerkennung durch den anderen auszulösen.16 Die Relationalität und Interaktionalität der projektbasierten Individualität bilden mit der Affirmation des autonomen, in höchstem Maße eigenverantwortlichen Subjektes also ein subjektivierungstheoretisches Doppel. 5.1.3 Selbstverendlichung – Selbstentgrenzung Anders als die Selbstführungsepochen zuvor haben die 1990er und 2000er Jahre mit großer Vehemenz die Ambiguität der unbegrenzten Selbstführung konsequent aufgezeigt. Sie sehen in einer Selbstführung, die die Einzelnen grenzenlos beanspruchen, und damit erschöpfen, ein wesentliches Problem. Die Subjekte müssen sich selbst begrenzen und aus eigenem Willen heraus endlich werden, um nicht Schaden an ihrer Gesundheit, ihrem Glück oder ihrer subjektiven Kernstruktur zu nehmen. Doch gelegentlich geht die Zurückhaltung noch weiter, als der Leistungssteigerung gewisse Grenzen aufzuzeigen. Es wird die Arbeitsgrundlage selbsttransformativen Handelns schlechthin ins Wanken gebracht, die immer von einer Dichotomie des Selbst gelebt hat. Zumeist ist diese Erschütterung in gefälligen Anweisungen versteckt, wie zum Beispiel bei Fischer-Epe/Epe: „Persönliche Entwicklung gelingt am besten, wenn wir uns gleichzeitig akzeptieren und verändern wollen. Wir brauchen sowohl einen starken Veränderungswillen als auch eine wohlwollende Grundhaltung uns selbst gegenüber.“17 Die Texte erklären jedoch nicht, wie Selbstakzeptanz mit dem Willen zur Selbstverbesserung vermittelt werden kann. Zum anderen haben die 1990er Jahre vom Steigerungs- und Leistungsdenken nicht Abstand genommen, aber seine Formen haben sich geändert. Das projektbasierte Arbeiten und der entsprechende Selbstführungstypus, sich nämlich gemäß der verschiedenen Anforderungsprofile eine fluid umstellbare Subjektivität zu geben, hat 15 Ebda., 124. 16 Nicht zuletzt die Konkurrenz der postmodernen Individuen um die Aufmerksamkeit führt zu einer sich selbst verstärkenden Dynamik, zu einem Individualisierungsspektakel. Die neuen virtuellen Repräsentationssysteme verstärken und verändern sicherlich diesen Subjektivierungsmodus. 17 Fischer-Epe/Epe (2004), 15, Hervorhebung im Original.

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neue, verstecktere Formen der Entgrenzung hervorgebracht. Wenn die Individualität nur insoweit Bestand hat, wie es sich einen projektförmigen Ausdruck verschaffen kann („Ich bin mein Projekt“) und zugleich Projekte nur insoweit lebensfähig erscheinen, wie sie mit der distinkten Individualität ihres Betreibers aufgeladen sind, verlieren begrenzende Kategorien und Bezugspunkte an Kontur: Privat/Öffentlich, Innen/Außen, Fremdbestimmung/Selbstbestimmung. Keine Gelegenheit erscheint zu gering, um als Ausgangspunkt für neue Projekte dienen zu können, kein Detail zu privat, um nicht als Material kreativen Arbeitens nützlich zu sein. Nichts ist stabil, von Dauer oder befriedigend genug, alles ist episodisch. Wenn es um etwas geht, dann zumeist um alles, daher auch die im Jargon des Abenteurertums formulierte Gegnerschaft zum Sicherheitsdenken. Die neue, selbstgewählte Prekarität soll Schaffenskräfte freisetzen, weil sie keine sicheren Rückzugsorte mehr bietet. So ist „es möglich, dass ich in einer Minute Todesängste ausstand und in der nächsten überglücklich war“,18 schreibt die Apologetin des Projektemachens. Aber auch diese Selbstverendlichungstendenz negiert keinesfalls den Diskurs der Selbststeigerung, sondern sie will ihm eine gesunde, dauernde, weil auf das Maß seiner Kräfte zurückgeführte Grundlage geben. Wer nach den endlichen Bedingungen seiner eigenen Ressourcen lebt, wird erkennen, „dass ein kluger Rhythmus mit den dazugehörigen Tiefs und umso kräftigeren Hochs letzten Endes mehr bringt als die verflachte Zeit der Non-Aktivität“.19 Wer sich in dieser Weise in Deckung mit seinen kräftemäßigen Mitteln bringt, kann, wie bei St. James, seinen Lebensalltag von überflüssigen Dingen und Routinen entschlacken, begibt sich nicht in ein Jenseits der Optimierung, sondern gerade in sein Herz. „Diese Verbesserungsvorschläge waren keine Wiederauflage des ‚Zurück zur Natur‘ der 60er Jahre […]. Einfach zu leben hieß für uns, den Aufwand und die zeitlichen Anforderungen unseres Lebensstils des 80er Jahre zu reduzieren.“20 So führt nicht allein bei St. James der Weg der Selbstbegrenzung wieder zurück auf die Überholspur des Daseins, wenn auch unter anderen Vorzeichen. Es geht darum, die Kosten für eine den Partizipationsbedingungen adäquaten Selbstführung, die notwendig existieren („alles hat seinen Preis“), zu minimieren, wie zum Beispiel Stress, psychische Blockaden, psychosomatische Erkrankungen, Lustlosigkeit, Depression und Burnout. Der Verweis darauf, welche besonders große Rolle die Glücks- und Lustmöglichkeiten spielen, schwächt den Steigerungsimperativ der aktuellen Lebensratgeber nicht ab. Im Gegenteil, Emotionen dienen in der biologistischen Auffassung der 1990er Jahre als Informationen, die dem Subjekt die nachhaltige Inanspruchnahme seiner Kräfte anzeigen und gegebenenfalls vor einer Überforderung warnen sollen. Als Biofeedback stecken sie den Rahmen ab, innerhalb dessen das Subjekt die Arbeit an seiner Individualität vorantreiben und in die gesellschaftlich Tauschprozesse einspeisen kann.21

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Rubin (2001), 21. Steiner (2005), 33. St. James (1996), 15f. Vgl. Weikert (1995), 15.

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5.2 ACHSEN DER GOUVERNEMENTALITÄT: ZEITGENÖSSISCHE SUBJEKTENTWÜRFE UND MACHTVERHÄLTNISSE Es lässt sich wie in den vorangegangenen Epochen nicht davon sprechen, dass die Subjektivierung „mehr“ geworden ist oder die Herrschaftsverhältnisse „tiefer“ in die Einzelnen eingedrungen sind. Auch wäre es zu leicht, entweder einen unterschwelligen Konformismus oder, auf der entgegengesetzten Seite, einen individualistischrevolutionären Impetus in der aktuellen Form der Selbstführung zu sehen. 5.2.1 Changierendes Selbst: die Freiheit, (immer) anders sein zu können In einigen Texten findet sich explizit eine bestimmte Form von Kritik ökonomischer Herrschaft, und das ist in dieser Form neu innerhalb der Ratgeberliteratur. Wir haben gesehen, wie Autor/innen wie Anne von Blomberg, Harriet Rubin oder Barbara Sher dezidiert einen patriarchalen Konzernkapitalismus angreifen und damit viele landläufige Kritikmuster aufgreifen. Diese Kritik an starren Hierarchien, glücks- und traumlosen Angestelltenbiographien sowie reflexhafter Verteidigung liebgewonnener, aber schrumpfender Pfründe und Privilegien ist nicht nur durch soziologische Untersuchungen wie die von Boltanski und Chiapello gedeckt, sie ist auch in den Lebensratgebern mehr als bloße Rhetorik. Dies zeigt sich auf der Ebene der Einzelnen als Katalysatoren neuer Ideen der sozialen Interaktion und der Reorganisation von Arbeitszusammenhängen. Ausprobieren und Abweichung sind nicht nur gewünscht, sie werden auch durch ein Arrangement von Techniken unterstützt. Das Selbstführungsregime der 1990er Jahre ist ohne Frage als ein Unterfangen lesbar, fordistische Verkehrsformen zu überwinden und Grenzen aufzulösen. Das Projekte-Selbst, auf das das zeitgenössische Regime zusteuert, bezieht seinen Freiheitsimpetus daraus, Aporien des Angestelltenkapitalismus zu benennen und auf diesem Boden flexiblere und durchlässigere Subjektivierungspraktiken wurzeln zu lassen. Dadurch werden zwar weder die kapitalistischen Mechanismen von Wettbewerb und Profitmaximierung ausgehebelt noch Arbeiter/innenselbstverwaltung oder Neuordnung der Finanzwirtschaft vorangetrieben, aber es wäre doch zu einfach, all dies als Verordnungen und Blendwerk einer organisierten, etablierten Herrschaftsform zu interpretieren. Die Verflüssigung der Grenzen zwischen öffentlich und privat, Lebenszeit und Arbeitszeit, zwischen Frauen- und Männerarbeit, zwischen Subjekt und der Ordnung der Objektwelt, zwischen Innen und Außen ist zwar nicht die soziale Revolution, als die sich die neoliberale Gouvernementalität gerne darstellt, aber sie bringt Freiheitsgewinne mit sich, ohne die die mobilisierenden Effekte des Projekte-Selbst unverständlich bleiben müssen. Sie sind nicht die einzige, aber eine wichtige Erklärung, warum die Subjekte für die Frage der Selbstführung gewonnen werden können und warum sie in die veränderten Subjektivierungsanforderungen einstimmen. Auf der Ebene der Selbstführung bestehen diese Freiheiten aus der Mischung von erstens einer gelassenen Selbstbezüglichkeit, zweitens einer aposteriorischen und situativen Selbstschöpfbarkeit und drittens einem globalen Bedeutungsgewinn des Subjektiven.

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Zum Ersten haben wir den wesentlichen Punkt bereits deutlich gekennzeichnet. Die Forderung nach Selbstführung geschieht nicht mehr in dichotomisierender Weise. Untergang oder Erhebung, Verlust des Selbst oder sein Gewinn sind nicht mehr die zentralen Kategorien. Selbstführung ist, zumindest so, wie sie thematisiert wird, eine Frage der Adjustierung des Mehr oder Weniger, vor allem aber der gekonnten und transparenten Selbstaktualisierung. Die Subjekte werden dazu angeleitet, den sozialen Raum und das eigene Leben im großen Umfang als gestaltbar anzusehen, aber ohne die Drohkulissen fundamentalen Versagens. Ihnen wird auch nicht direkt aufgetragen, gesellschaftliche Krisen mittels disziplinierter Willenskraft oder Urschrei der Natürlichkeit in sich umzuwandeln. Unter der radikalisierten Forderung nach Eigenverantwortung [und Ökonomisierung] blüht eine kleine, neue Schule der Selbstsorge, z.B. bei Horst Conen und Paul McKenna, welche die Subjekte in ihrem Selbstgenuss und ihrer Selbstbegrenzung stärken soll, auch wenn die materielle Absicherung der Subjekte dabei in den Hintergrund gerät. Es gibt im Gewebe der Selbstaktivierung und -affizierung ein Moment der Besinnung auf sich. Aufopferung an ein gesellschaftliches Ganzes wird genauso wenig eingefordert, wie dass die Einzelne sich gegen die Widerstände der Außenwelt zum Förderer ihrer (normativ gesetzten) Bedürfnisse machen muss. Die Subjekte entstehen weder zwischen Hammer und Amboss noch durch eine organisierte Selbstfreigabe, sondern durch ein widerstandsarme, gering-invasive Reorganisation von inneren Ressourcen. Zweitens wird die Selbstführung deutlich zugänglicher für spontane, situationsbezogene und zeitlich begrenzte Selbstentwürfe. Auch wenn nicht mehr alle alles werden können, geht es umso mehr darum, alle Spielräume bis an ihre Grenzen auszuloten. Selbst zu sein, wird mehr als eine vorübergehende Identitätserfahrungen erlebt und ermöglicht einen facettenreichen, im Wandel begriffenen Selbstbezug. Selbstschöpfung ereignet sich nun im Spiegel der Außenwelt (in Form der Anerkennung durch andere) und nicht durch einen Abgleich mit einem inneren Wesenskern oder einer Verpflichtung auf die Gattung. Das Subjekt kann nun seine Freiheit gerade darin erleben, nicht auf Grenzen, die ihm von außen oder von innen gesetzt sind, festgelegt zu sein, sondern ungebunden zwischen verschiedenen Profilen zu changieren. Soziale (und zunehmend mediale) Selbstrepräsentation als wesentliches Mittel der Selbstschöpfung kann daher durchaus als eine Form von Freiheitspraktiken interpretiert werden. Zum Dritten besteht erstmals in der Geschichte der Selbstführung – zumindest auf der Ebene des formalen Anspruchs – keine basale Unversöhnlichkeit mehr zwischen dem Ansinnen der Selbstführung und der sozialen Umwelt. Im Gegenteil, die Individualisierungsgebote der sozialen und institutionellen Umwelt räumen einer (auch in gewissen Grenzen abweichenden) Subjektivität einen Raum zum Ausdruck ein. 5.2.2 Die Konstitution des Projekte-Selbst als unabweisbare Freiheitspraxis Die Führbarkeit des Menschen in der neoliberalen Gouvernementalität wird folglich weder durch eine versteckte noch eine verschärfte Form der Disziplin erreicht, sondern durch die Eröffnung eines bestimmten Möglichkeitsspielraums, innerhalb des-

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sen ein bestimmtes Verhalten wahrscheinlich wird.22 Als mobilisierende PullFaktoren wirken die oben skizzierten realen Freiheitsgewinne des zeitgenössischen Selbstführungsregime, gegenüber einem überkommenden ordnungspolitischen Steuerungsmodell auf der einen Seite und gegenüber einer Subjektivierungspraxis, die die Subjekte anthropologisch festlegt. Andererseits erklärt sich die gesellschaftliche Hegemonie des Projekte-Selbst nicht allein aus den Möglichkeitsspielräumen, welches es bietet. Besonders für diejenigen sozialen Milieus, für die der neoliberale Umbruch eine faktische Verschlechterung ihrer sozialen Lage darstellt (Entsicherung, Erwerbslosigkeit, Prekarität) und die die habituellen Voraussetzungen (Bildungskapital etc.) zur Annahme einer ganz auf radikale Eigenverantwortung setzende Selbstführung nicht mitbringen, wirken eine ganze Reihe von Push-Faktoren. Wie jedes Selbstführungsregime zuvor, bewirkt auch das zeitgenössische eine Öffnung der Selbstführung im Hinblick auf neue Subjektivierungspraktiken, und zugleich setzt es neue Grenzlinien. Eine neuartige Konstellation ist für die 1990er und 2000er Jahre nicht deswegen zu konstatieren, weil die Begrenzung des Selbstführungsregimes obsolet geworden wäre, sondern weil sie weniger deutlich in ihrem normativen Charakter erscheint. So sehr das zeitgenössische Selbstführungsregime sich kritisch von einem fordistischen Angestelltenkapitalismus abzusetzen bemüht ist, so wenig ist es damit befasst, Subjektivierungspraktiken als eine individuelle Überwindung ökonomischer Verwertungszusammenhänge ins Werk zu setzen. Im Gegenteil: Keine Epoche zuvor hat Selbstführung so stark an eine bestimmte Form der ökonomischen Wertrealisierung geknüpft. Nie zuvor musste sich die Selbstführung als sinn- und wertrealisierende Aktivität behaupten; nie zuvor war die Subjektivierung so affirmativ auf die Sphäre der Arbeit verwiesen; nie zuvor gerieten unternehmerische Managementpraktiken zum Idealbild individueller Selbstverbesserung. Die frühen Selbstrationalisierer wie Grossmann und auch die späteren wie Wiedemann und Hartleb versuchten zwar, der Selbstführung eine ökonomische, d.h. eine rationale und kräftekalkulierende Dimension zu geben, aber nie haben sie den Bereich der Unternehmensorganisation als ein erschöpfendes Idealbild für die Führung des Selbst erblickt. Die Unternehmer/in wurde von ihnen zwar gelegentlich als Vorbild heranzitiert, aber um an ihr eine bestimmte Qualität der Selbstführung festzumachen, die nicht per se ökonomisch ist, wie Entschlussfreudigkeit und Willensstärke oder auch intuitive Wirklichkeitswahrnehmung. Das Unternehmen oder die Unternehmer/in dienten als eine Art Platzhalter, als eine anschauliche und doch leere Hülle, die man verschieden füllte. Der Blick des zeitgenössischen Selbstführungsregime hingegen hat sich völlig verkehrt. Die Welt der Unternehmensorganisation ist nun die bessere Form der Selbstführung geworden. Die Unternehmen haben nicht einfach, wie Bröckling entsetzt bemerkt, eine Seele zugesprochen bekommen – diese erscheint zudem noch vitaler als die der Subjekte, die sie sich zum Vorbild nehmen.23 Selbstführung ist also nur insofern frei, als sie sich als unternehmerisch organisiert ausweist. Gleichwohl wird ein sehr weitgefasster Begriff davon mitgeführt, was unternehmerisch sein kann. Ein Reengineering der Subjektivität wie bei Blomberg oder ein Projekte-Selbst nach Rubins Methode 22 Vgl. Heim, Timo (2013): Metamorphosen des Kapitals. Kapitalistische Vergesellschaftung und Perspektiven einer kritischen Sozialwissenschaft nach Marx, Foucault und Bourdieu. Bielefeld: transcript, 395f. 23 Vgl. Bröckling (2007), 7.

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fallen genauso darunter wie die Bemühungen um Selbstverendlichung und Reduktion, wie wir sie bei Steiner oder St. James finden. Zentral an ihnen ist aber, dass die Subjektivität – anders als in allen Epochen zuvor – nie den Kontakt zum Markt und seinen Verwertungsprinzipien verliert. Was sich zum Zweiten für die 1990ern im Gesamtbild zeigt, ist, dass Partizipationsversprechen und Partizipationsforderungen in entgegengesetzter Richtung verlaufen. Nicht nur innerhalb der Ratgeber (wie der anschließende Abschnitt zeigen wird) wird gesellschaftliche Partizipation so eng an den Willen zur Subjektivierung geknüpft wie nie zuvor. Denen, die nicht an ihrer Selbstaktualisierung arbeiten, droht die Erosion ihres sowieso brüchigen und vorläufigen Subjektseins. Denn Selbstaktualisierung hat eine Halbwertszeit. Wer seine Freiheiten nicht aktiv ergreift oder alles düster und aussichtslos malt, begeht im Nexus des aktuellen Regimes der Selbstführung geradezu Verrat am Selbst. Zur Subjektivierung durch Selbstaktualisierung gibt es innerhalb dieses Denkens keine wirkliche Alternative, nur eine Verweigerung, die sich nicht verständlich machen kann. Das Verhältnis von Subjektivierung und Partizipation wirkt durch den Umstand, dass die Art der Subjektivierung nicht dezidiert expliziert wird, ja häufig nebulös bleibt, daher frei. Solange sie unternehmerisch, künstlerisch, soloistisch, lustvoll ist, haben die Subjekte durchaus einen gewissen Spielraum. Jede Weigerung dagegen wirkt automatisch total und unversöhnlich, ja pessimistisch. Die Betonung des Glücks, der Lust, des Selbstgenusses macht diesen Zusammenhang perfide, weil die Subjekt selbst für ihre eigene positive Stimulation sorgen müssen und sich die Wirklichkeit so interpretieren müssen, dass sie bewältigbar erscheint und erregende Chancen bietet. Alle müssen sich also darum bemühen, gute Subjekte zu sein. Das bezieht sich weniger auf ein vorgegebenes, normiertes Verhalten, sondern auf das Selbstverhältnis: Es kann von allen erwartet werden, wie Unternehmer/innen und Künstler/innen zu denken, weil die Kernkomponenten gelungener Subjektivität überhaupt sind. Es werden keine Unterschiede gemacht, was die Möglichkeiten zur Subjektivierung in dieser Form angeht, z.B. nach sozialen Milieus. Dabei ist, wie Illouz 24 und auch Frevert25 ausgeführt haben, die Blaupause des teleologischen Subjektes an Fähigkeiten orientiert, welche nur von der Mittelschicht aufwärts erlernt und z.T. habituell performiert werden. Die universell wirkende Kommunikation ist hoch voraussetzungsvoll, das Selbstmanagement sitzt auf komplexen Zivilisations- und Sozialisationsprozessen auf. Innere Heterogenität als natürlich und konstruktiv zu erleben, fällt höchstens psychologisch versierten oder therapieerfahrenen Menschen leicht. Bemerkenswert an der neoliberalen Gouvernementalität ist zudem, dass sie zwar die Subjekte auf eine fluide Subjektform hin ausrichtet, aber die gesellschaftlichen Besitz- und Produktionsverhältnisse nicht einmal ansatzweise angerührt werden. Während sich die Einzelne den Entsicherungsforderungen ausgesetzt sieht und diese als Voraussetzung für Partizipationsprozesse im neoliberalen Reformdiskurs betrachtet werden, ist die Verfügungsmacht über Kapital und Vermögen weiterhin hochgradig begrenzt. Im Ordoliberalismus wurde eine weitgefasste Umverteilung von Einkommen und Besitz als Grundlage für gleich verteilte Wettbewerbsbedingungen betrachtet, um einen 24 Illouz (2009), 329ff. 25 Frevert, Ute (2011): Gefühle und Kapitalismus. In: Budde, Gunilla (Hrsg.): Kapitalismus. Historische Annäherungen. Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht, 50-72.

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„freien Markt“ zu gewährleisten.26 Im Neoliberalismus hingegen ist Wettbewerbsfähigkeit in hohem Maße eine Frage subjektiver Faktoren – einer Organisation von Ressourcen, einer Investition ins Humankapital, einer Repräsentation des Selbst. Der Neoliberalismus dynamisiert und verschärft also die Anrufung des Selbst und seiner Selbstführungsfähigkeit. Gleichzeitig werden die Partizipationsversprechen immer weniger greifbar. Die Ratgeber sind federführend in ihrer Tendenz, die Befriedigung und den Genuss direkt aus der Subjektivität der Subjekte abzuleiten. Selbstgenuss und affektive Aufladung von Zielen kann – und soll – gelernt werden. Glücksgefühle entstehen durch gekonnte Selbstaffizierung des reflektierten Gehirns. Sich Sicherheit zu wünschen, wird zum verbotenen Gut. Die Subjekte werden dafür mit einem unerschöpflichen Fundus an Unsicherheiten belohnt, welche sie als positiv erregende Abenteuer interpretieren müssen. In diesem Aspekt ist ebenfalls eine Vorreiterrolle der Lebensratgeber zu markieren: immer mehr Wert auf die Interpretation der Wirklichkeit zu legen statt auf die strukturelle und materielle Verbesserung der Verhältnisse. Auch wenn, wie wir eingangs in unserer Arbeit dargelegt haben, die Lebensratgeber im deutschsprachigen Raum keine Literatur für Verlierer sind, so überlassen sie alle vom sozialen Abstieg Bedrohten dem Paradoxon, dass sie erst dann Verlierer seien, wenn sie sich als solche interpretieren. Solange ihnen der Genuss dieser selbstaktualisierenden Selbstführung gelingt, können sie sich als (potenzielle) Gewinner betrachten. Hören sie aber auf, dieses zu tun, kann ihnen das als Versäumnis zur Last gelegt werden.

26 Vgl. Heim (2013), 385f.; vgl. Foucault (2006), 148ff.

Kapitel 3: Die 1990er/2000er Jahre B) Historische Perspektiven auf das Selbstführungsregime der 1990er Jahre

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Zeitgeschichtliche Situierung der 1990er Jahre – Die neoliberale Transformation Zur Heraufkunft einer neuen gouvernementalen Regierungsweise

Der Niedergang der keynesianischen „Globalsteuerung“ von Wirtschaft und Gesellschaft durch einen vermittelnden Staat und die Ablösung eines fordistischen Produktionssystems sind Nährboden und Abstoßungspunkt für eine neuartige gouvernementale Regierungsweise, die ab den 1980er Jahren in den westlichen Staaten Einzug hält. Diese hat ihre Wurzeln, nahezu zeitgleich mit dem Keynesianismus, in den 1930er Jahren, löst aber die hegemoniale Position des Keynesianismus erst ab Mitte der 1970er Jahre sukzessiv ab und wird ab den 1990er Jahren zur unumstrittenen Regierungsrationalität. Als Pendant hat diese Transformation mit „revolutionärer Qualität“1 die krisenhafte Entwicklung und Umstrukturierungen im Produktionssystem der westlichen Wohlfahrtsstaaten. Bereits in den 1970er und 1980er Jahren geraten sowohl keynesianische Wirtschaftspolitik, die eine weitreichende Steuerung der Wirtschaft vorsieht, als auch das fordistische Produktionsmodell aufgrund von Wirtschaftskrisen und gesellschaftlichen wie politischen Veränderungen in eine Krise. Neue ökonomische Modelle wie die des Rational-Choice und des Homo oeconomicus, die an amerikanischen Universitäten populär werden, treten an ihre Stelle. Es setzt sich eine neoliberale Sichtweise durch, der zufolge ein in (Markt-)Freiheit entlassenes Subjekt sein Humankapital wesentlich effizienter steuern kann als eine globale Regulationspolitik. Diese wissenschaftlichen Modelle finden sich in durchaus unerwarteter Einheit mit einem aus der Arbeiter/innenselbstverwaltung kommenden Selbständigenmilieu zusammen, das autonome Entscheidungsfreiheiten für die Einzelnen in den bedrohlich empfundenen Großunternehmen einklagen.2 Auch in den industriesoziologischen Debatten der 1980er Jahre um die „Subjektivierung der Arbeit“ setzen sich zunehmend solche Po1

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Doehring-Manteuffel, Anselm; Raphael, Lutz (2011): Der Epochenbruch in den 1970er Jahren. Thesen zur Phänomenologie und den Wirkungen des Strukturwandels „nach dem Boom“. In: Andresen, Knud et al. (Hrsg.): Nach dem Strukturbruch? Kontinuität und Wandel von Arbeitsbeziehungen und Arbeitswelt(en) seit den 1970er Jahren. Bonn: J.H.W. Dietz, 30. Vgl. Bröckling, (2007), 252ff. und Boltanski/Chiapello (2006), 100ff.

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sitionen durch, die die subjektiven Potenziale wie Selbststeuerung und -überwachung zu künftigen Kernkompetenzen der Arbeiternehmer/innen in Unternehmen erklären.3 Diese Prozesse modifizieren das alte, ordoliberale Projekt insofern, als sie ein Subjekt ins Zentrum stellen, das unternehmerische Funktionen auf sich vereint, den „Arbeitskraftunternehmer“.4 Es ist sowohl Rohstoff als auch Produzent und Vermarkter seiner eigenen Fähigkeiten. War im Ordoliberalismus noch eine weitreichende Umverteilung von Vermögen vorgesehen, um alle Individuen mit hinreichend Privateigentum zu versehen und sie so erst in den Stand zu setzen, auf faire Weise gegeneinander konkurrieren zu können, richtet die amerikanisch inspirierte Neoliberalität das Subjekt neu aus: Es ist apriori ein aktives Wirtschaftssubjekt, das vermöge seiner ihm zur Verfügung stehenden Arbeitskraft Kapitalbesitzer ist. 5 „Was die neoliberalen Programme und Techniken hier zu einer veränderten Sozialregulation beitragen konnten, geht über eine Absenkung der Lohnkosten (durch Befristung, Abbau von Tarifbindungen, Zeitarbeit, Minijobs etc.) hinaus und ist in seinen ökonomischen Effekten nicht auf bloße Umverteilung zugunsten des Kapitals reduzierbar. Von mindestens ebenso großer Relevanz sind die Anreizwirkungen, die die neoliberale Regulation auf die Ausbildung neuer Subjekttypen und neuer sozialer Organisationsformen hat. Diese ermöglichen erst die direkte Steigerung und Nutzung des ,Humankapitals‘ und die reale Ausschöpfung der in den neuen Produktionstechnologien angelegten Produktivitätspotenziale.“6

Die politische Steuerung richtet sich nun darauf, die gesellschaftliche Umgebung der Einzelnen so umzugestalten, dass gezielte Anreizwirkungen auf die Ausbildung unternehmerischer Subjektdispositionen ausgehen, sei es in der Arbeitsmarkt-, Bildungs- oder Sozialpolitik. Der Niedergang des Realsozialismus beschleunigt diese Prozesse. Das neoliberale Projekt erlangt globale Hegemonie und reißt damit zugleich widerständige gewerkschaftliche und soziale Kräfte in den westlichen Gesellschaften in eine tiefe Krise und schwächt sie auf Jahre hinaus. Zum anderen gerät die zunehmend globalisierte Produktion zu einer veritablen Drohkulisse für die westliche Arbeiter/innenschaft. Die Auslagerung von Produktionskapazitäten in „billige“ Länder erleichtert die weitere Flexibilisierung der Arbeitskraft und die Umverteilung zugunsten des Kapitals auch in den westlichen Industrienationen. „Drückeberger“- und „Sozialschmarotzer“Debatten seit Ende der 1990er Jahre bereiten den Weg für die unter Rot-Grün vorgenommenen Aktivierungs- und Sozialstaatsreformen (Hartz-Gesetze) von 2005 vor. „[Das] Konzept der ‚Aktivierung‘ steht im Brennpunkt von Umorientierung nicht nur von Sozial-, sondern von Gesellschaftspolitik [...]. Es bezeichnet im Kern – soziologisch betrachtet –

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Vgl. Drinkuth, Andreas (2007): Die Subjekte der Subjektivierung. Handlungslogiken bei entgrenzter Arbeit und ihre lokale Ordnung. Berlin: Ed. Sigma, 18f. Voß, Gerd-Günther/Pongratz, Hans J. (1998): Der Arbeitskraftunternehmer. Eine neue Grundform der Ware Arbeitskraft? In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (1), 131-158. Vgl. Heim (2013), 396. Ebda., 398.

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die Forderung nach Herstellung eines veränderten Beziehungsverhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft.“7

Zeitgleich mit der schwindenden Legitimität und steuernden Kraft der keynesianischen Regierungspraxis gerät das fordistische Produktionssystem in eine Krise. Ein Komplex von tieferliegenden strukturellen Problemlagen machen dem Fordismus zu schaffen. Die Steuerungsstrategien des Keynesianismus haben zu einer problematischen Anreizwirkung geführt, öffentliche Beschäftigungsprogramme und die Stützung veralteter nationaler Produktionsstrukturen haben zu einer Entdynamisierung vieler nationaler Wirtschaften und zur einem starken Aufbau von Überproduktion und Überkapazitäten geführt. Aufgrund des hohen Anteils an fixem Kapital setzen viele Industrien eher auf weitere Rationalisierungen als auf Innovation und neue Industrien.8 In der BRD zeigt sich erst in den 1980er Jahren die Krise des Fordismus in ganzer Deutlichkeit. Die alten Industriezentren und die alte Arbeiter/innenkultur sterben allmählich aus. Die mikroelektronische Revolution, die nun auch im Bereich der industriellen Fertigung, Lagerhaltung und Lieferung eingesetzt wird, macht die handwerklich-maschinelle Arbeit zunehmend überflüssig und erfordert einen ganz anderen Typ von Erwerbsarbeit.9 Eine steigende Arbeitslosigkeit ist die Folge, die sich nicht mehr auf zyklische Schwankungen der Wirtschaft beschränkte, sondern strukturelle, dauerhafte Dimensionen annimmt.10 In der kapitalistischen Produktion setzen sich neue arbeitsorganisatorische Strukturen und Anforderungsprofile durch, die auf die Kurzfristigkeit und Flexibilität des Produktionssystems abgestimmt sein müssen. Vor allem die durch die Entwicklungen im Zuge der Ölkrisen ausgelösten Firmenfusionen und Neugründungen in den 1980er Jahren bieten die Möglichkeiten für diese einschneidenden Neuausrichtungen, die auch den gewerkschaftlichen Einfluss massiv untergraben.11 Für die oberen und mittleren Firmenangestellten wurde eine diskontinuierliche, temporäre und exzessive Leistungsverausgabung in befristeten Projekten zum bestimmenden Beschäftigungsmodus.12 Die teilautonome Gruppenarbeit verlangt den Arbeitskräften eine wesentlich höhere Fähigkeit zur selbstregulierten Koordination, Kommunikation und Produktion ab. Die im Fordismus gültige Orientierung an Leistungssicherheit, die durch korrekte Erfüllung von Normen und Standards hergestellt werden soll und die mit dauerhaften und abgesicherten Beschäftigungsverhältnissen honoriert wird, löst sich auf zugunsten einer Kurzfristigkeit und Unsicherheit der Beschäftigung, die aber wiederum die subjektiven Ansprüche an Selbstverwirklichung und kreative Selbstentäußerung bedienen, sowie nutzbar machen konnte.13 Der postfordistisch umgebaute Produktionsapparat löst damit die Schranken zwischen Ökonomie und Privatem, zwischen objektiven Anforderungen 7 8 9 10 11 12 13

Lessenich, Stephan (2008): Die Neuerfindung des Sozialen. Der Sozialstaat im flexiblen Kapitalismus. Bielefeld: transcript, 87. Resch, Christine; Steinert, Heinz (2009): Kapitalismus. Porträt einer Produktionsweise. Münster: Westfälisches Dampfboot, 275. Vgl. Doering-Manteuffel/Raphael (2011), 35. Vgl. Resch/Steinert (2009), 274. Vgl. Doering-Manteuffel/Raphael (2011), 33. Vgl. Heim (2013), 399. Vgl. ebda., 398f.

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und subjektiven Bedürfnissen auf, er lässt den Subjekten die Freiheit, ihre Arbeit selbst zu organisieren, behält sich aber die letztendliche Kontrolle über die Produktionsverhältnisse und Profite vor. Er soll Kostenreduzierung bei gleichzeitiger Leistungssteigerung ermöglichen. Gleichzeitig intensiviert sich der Konkurrenzdruck am Arbeitsplatz, da die teilautonome Projektarbeit mit neuartigen Formen wechselseitiger, enthierarchisierter und auf Dauer gestellter Kontrolle arbeitet. Zur Anreizwirkung bestimmter sozialer, ökonomischer und institutioneller Rahmenbedingungen tritt noch eine Reihe von ausformulierten, hochstrukturierten Selbstführungsprogrammen und -techniken hinzu, die sich dem Subjekt anbieten und mitunter auch aufdrängen. Diese sind Teil der institutionellen Wirklichkeit der arbeitenden und lernenden Subjekte, sei es in Form von Coachings, Supervisionen oder Weiterbildungskursen. Sie sind Angebot und Gebot gleichermaßen. Im nächsten Abschnitt werden wir daher skizzieren, welche Selbsttechniken sich im Arbeitsprozess den schulischen Institutionen anreichern und in welcher Weise sie das Subjekt für eine bestimmte Subjektivität prädisponieren.

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Die Rekonstruktion zeitspezifischer Wissensformationen

2.1 DIE NEUROLOGIE DER GESELLSCHAFT Die Neurologie ist ein zentraler Referenzrahmen für die Mehrheit der Texte der 1990er und 2000er Jahren. Dies liegt zum einen daran, dass die Neurowissenschaften sich – nach wie vor – in einem großen und anhaltenden Aufschwung befinden, sowohl innerhalb der scientific community als auch in der öffentlichen Wahrnehmung. Innerhalb der Wissenschaften lässt sich die zentrale Position der Neurologie nicht nur an Forschungsmitteln und Instituten, sondern vor allem daran festmachen, wie sich andere Wissenschaften affirmativ auf diese beziehen, um Innovationspotenzial, Glaubwürdigkeit und anhaltende Bedeutung zu behaupten. Das Präfix „neuro-“ wird somit zum Emblem der wissenschaftlichen Fortschrittlichkeit. 1 In der Öffentlichkeit ist die Neurologie ebenfalls präsent, verspricht sie doch einerseits – in der Tradition der Medizin – Heilung und Minderung von körperlichem wie seelischem Leiden und andererseits – wie bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts die Physik – einen analytischen, quantitativen, materiellen wissenschaftlichen Unterbau für das menschliche Wissen. Zum anderen und noch mehr erhält die Neurologie dadurch eine so herausragende Bedeutung, dass sie – nicht ohne anhaltende Gegenwehr2 – weitenteils akzeptiert ist als eine grundlegende Form von Wissen, die Menschen über sich selbst haben. Um uns selbst zu verstehen, so die unthematisch mitgeführte Vorstellung, müssen wir vor allem unsere Gehirne verstehen. Zugespitzt ließe sich in dieser Denkweise sogar sagen: Wer alles über das Gehirn weiß, weiß (fast) alles über den Menschen und also über sich selbst. Dass neurowissenschaftliches Wissen per se als so bedeutsam wahrgenommen wird, verdankt sich einerseits der großen Akzeptanz naturwissenschaftlicher Verfahren und andererseits derer medialen Kommunikation. „From images of the craving brains of drug addicts to those of the hallucinating brains of poeple with schizophrenia, it now appears that one can actually see emotions, desires, thoughts, intentions,

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Vgl. Schroeter, Matthias L. (2001): Die Industrialisierung des Gehirns. Eine Fundamentalkritik der kognitiven Neurowissenschaften. Würzburg: Königshausen&Neumann, 23. Vgl. zur Debatte zwischen Philosophie und Neurowissenschaften Denis Nobles Vorwort sowie Bennetts und Hackers Einleitung in Bennett, M.R. und Hacker, P.M.S. (Hrsg.) (2003): Philosophical Foundations of Neuroscience; Malden et al.: Blackwell.

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and feelings in the living brain“,3 schreibt Nicholas Rose. Im Zuge der Methoden wird aber nicht nur das Deviante (Drogenkonsum, Schizophrenie) als solches neu sichtbar und vorführbar. Auch das Normale benötigt eine andere Form der Legitimation. Die Evidenz der Rede vom eigenen Erleben und Fühlen ist nicht mehr ohne Weiteres gedeckt, sondern muss sich neuronal ausweisen können.4 Umgekehrt lässt fragen, was es für eine Gesellschaft ist, in der eine derartige Form der Wissensproduktion als vorbildlich gilt. Sabine Maasen akzeptiert in diesem Sinne die Idee einer einseitigen Prägung der Gesellschaft durch eine einzelne Wissenschaft nicht. „Die These lautet: Es ist weniger die Hirnforschung, die die Gesellschaft nach ihrem Bilde formt – vielmehr ist die Hirnforschung die Wissenschaft eben dieser Gesellschaft.“5 Es lässt sich fragen, was es über die Gesellschaft aussagt, dass sie gerade der Hirnforschung so viel Bedeutung zugesteht. Nach Maasen ist es eine „Gesellschaft […], die die Regierung des Lebens zum Angelpunkt individueller und politischer Bearbeitungen erhebt“.6 Sie sieht die Neurowissenschaften als eine aktuelle Form von Biopolitik im Sinne Foucaults: „Biopolitisch avanciert das Leben seit Beginn der Moderne zum zentralen Scharnier der Gestaltung und Veränderung von Individuen und Gesellschaften.“7 Wissen im Allgemeinen ist von besonderem Wert für die Individuen unserer Gesellschaft, und Wissen über das Leben im Besonderen ist zentral für die Gesellschaft als Ganze. Gleichzeitig ist die Gesellschaft neoliberal organisiert. Sie regiert weniger über Disziplin, Zwang und Strafe, sondern mehr über Freiheiten, Anreize, Wettbewerb und implizite Steigerungsimperative. Die Neurowissenschaften erfüllen also die Bedingungen, für uns zur zentralen Wissenschaft zu werden, weil sie diese Doppelzielscheibe ins Visier nehmen. Sie zielen auf die einzelnen Subjekte, indem sie sie zum lebenslangen Lernen anleiten und damit darauf verpflichten und indem sie Psychopharmaka entwickeln, mit denen sich diese 3

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Rose führt als Beispiel Experimente zu emotionalem Schmerz an. Tut soziale Ausgrenzung genauso weh wie körperlicher Schmerz? Ähneln sich also die Gehirnzustände in beiden Situationen? Nur in diesem Fall wäre unsere Rede von emotionalem Leid neurologisch gedeckt. Das Ergebnis eines (am Computer) durchgeführten Experimentes über soziale Exklusion fasst Rose zusammen: „Emotional hurt consequent upon social encounters is not just metaphorical hurt, rejection hurts because it ‚really‘ hurts in the body – in the brain.“, Rose, Nikolas (2007): Governing the Will in A Neurochemical Age. Self-Help: The Making of Neosocial Selves in Neoliberal Society. In: Maasen, Sabine; Sutter, Barbara (Hrsg.): On Willing Selves. Neoliberal Politics vis-á-vis the Neuroscientific Challenge. New York et al.: Macmillan, 83. Vgl. Rose (2007), 84. Maasen, Sabine (2006): Hirnforscher als Neurosoziologen? Eine Debatte zum Freien Willen im Feuilleton. In: Jo Reichertz; Nadia Zaboura (Hrsg): Akteur Gehirn – oder das vermeintliche Ende des handelnden Subjekts. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 289. Maasen, Sabine (2010a): Neurogouvernmentality Ahead? Diskursanalytische Untersuchungen am Beispiel des Experimentalsystems Neuropädagogik. In: Angermüller, Johannes und van Dyk, Silke (Hrsg.): Diskursanalyse meets Gouvernementalitätsforschung. Perspektiven auf das Verhältnis von Subjekt, Sprache, Macht und Wissen. Frankfurt/Main: Campus, 185. Ebda.

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normalisieren und optimieren können.8 Und sie zielen auf die Gesellschaft, indem sie nützliches Wissen über das Leben (des Gehirns) generieren, das in Bildung, Erziehung, Gesundheitswesen und Wirtschaft genutzt werden kann.9 Maasen ist in ihrer „gouvernementalitätstheoretischen Perspektive“ zu folgen, „wonach die neoliberal verfasste Wissensgesellschaft eine spezifisch biopolitische Verarbeitungsweise neurowissenschaftlichen Wissens nahelegt, und zwar in einer Weise, die die Kopplung an Selbst- und Fremdführungstechnologien [...] erlaubt“.10 Das Neurolinguistische Programmieren, kurz NLP, gehört zu denjenigen Strömungen, die die Aura von wissenschaftlicher Objektivität, Fortschrittlichkeit und Verlässlichkeit des Präfixes „neuro-“ für sich vereinnahmen. Dabei handelt es sich nicht um eine spezialisierte akademische Disziplin, sondern um ein hybrides Konglomerat aus Techniken, Ideen und Glaubenssätzen, das keiner externen Prüfung unterliegt. In den USA, woher diese Strömung kommt, aber auch in Deutschland und der gesamten westlichen Welt, gibt es Seminare, Ausbildungen und Vereinigungen, die sich dem Neurolinguistischen Programmieren widmen. Das Assoziationsspektrum reicht von wissenschaftlichem Futurismus und Humanismus bis zu fast magischen Möglichkeiten der Selbstkontrolle und Manipulation der anderen. Die Gründer, John Grinder und Richard Bandler, untersuchten die Startherapeut/innen der 1970er wie Virginia Satir, Carl Rogers und Fritz Perls auf die Geheimnisse ihres Erfolgs. Wenn es möglich wäre, die sprachlichen und nichtsprachlichen Muster hinter diesen Interaktionen ans Licht zu bringen, dann könnten im Prinzip alle Menschen lernen, solche „‚Meisterzauberer‘“ zu werden.11

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Vgl. z.B. Maasen (2010), 199 zu Ritalin. Dabei wird an den Neurowissenschaften häufig gerade kritisiert, dass ihre Ergebnisse noch nicht gesellschaftlich nutzbar sind. Deren Übertragung ist immer ein eigener, bisweilen langwieriger Prozess. Neurowissenschaften und Gesellschaft treten also in einen wechselseitigen Experimentalzusammenhang ein; dazu analog findet eine Übersetzung von gesellschaftlichen Forderungen (z.B. Flexibilität, lebenslanges Lernen) in neurowissenschaftliche Fragestellungen statt, umgekehrt bietet sich im Bindestrich-Experimentalfeld ein Raum, die Neurowissenschaften anwendungsorientiert zu machen: Die Bedeutsamkeit der neurowissenschaftlichen Befunde für gesellschaftliche Felder lässt sich jedoch immer noch nachträglich konstatieren; die Hoffnung auf wichtiges Wissen über uns und unsere Gesellschaft (welche ein aktuelles Nichtwissen bedeutet) gründet sich also nicht auf den positiven Leistungen der Wissenschaft, sondern auf einer prästabilierten Übersetzbarkeit von sozialer und neuronaler Welt – und einem riesigen Forschungsoptimismus: dass erstens eine Erforschung höherer Hirnfunktionen zu einer Erkenntnis über komplexere menschliche Verhaltensweisen führt (ein atomistisches Paradigma) und zweitens, dass man dem Gehirn nur lange genug mit den probaten Mitteln zu Leibe rücken muss, um ihm seine Geheimnisse zu entreißen, sowie drittens, dass die Entwicklung dieser Mittel bereits in vollem Gange ist und nur anhaltender wissenschaftlicher Anstrengung bedarf. 10 Maasen (2010), 189. 11 Stahl, Thies (1993): Neurolinguistisches Programmieren (NLP). Was es kann, wie es wirkt und wem es hilft. Mannheim: PAL, 10.

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Im NLP gibt es keine objektive Wirklichkeit mehr, sondern nur Modelle. 12 Konsequent gilt als der erste und tiefste Grundsatz des NLP: „Menschen reagieren auf ihre Abbildung der Realität, nicht auf die Realität selbst.“13 Alle Menschen haben also Repräsentationssysteme der Wirklichkeit, auf die sie sich beziehen.14 Menschen sind für Grinder und Bandler ihrerseits zeichenverarbeitende Feedbacksysteme, in denen Programme ablaufen, Informationen gespeichert und ausgetauscht werden und die eben eine eigene Wirklichkeit aus Repräsentationen entwickeln. Nach diesem Modell verstehen NLP-Vertreter/innen auch häufig die ganze Wirklichkeit: als aus kommunizierenden Systemen bestehend, die ihrerseits aus kommunizierenden Systemen aufgebaut sind. Auch der menschliche Körper besteht aus solchen Systemen, deshalb gilt es, mit ihm richtig zu kommunizieren, ob dies nun das eigene Gehirn oder das kranke Herz sei. Die Komplexität der Techniken im NLP verdankt sich zum einen der Idee, das Wechselspiel von Körper und Geist zu nutzen und komplexe Repräsentationen aufzubauen, um deren Elemente durch systematische Permutationen (z.B. Veränderungen der Sinnesqualitäten in Erinnerungen) zu rekombinieren und dadurch neue Wirkungen zu erzielen. Andererseits nutzt es das kybernetische Modell von Systemen in Systemen, um durch verschachtelte Vorstellungen neue Effekte zu erzielen. Wie das funktioniert, ist oft schwer ersichtlich. Aber wichtig ist für die Vertreter/innen des NLP hauptsächlich, dass es funktioniert. Letzteres wissenschaftlich zu belegen, haben sie jedoch noch nicht unternommen. Es erscheint auf den ersten Blick erstaunlich, dass sich die Lebensratgeber gerade der Neurologie als zentralem wissenschaftlichen Referenzrahmen bedienen. Zwar können auch sie von der Aura der naturwissenschaftlichen Seriosität und Fortschrittlichkeit profitieren. Doch wählen sie auch eine wissenschaftliche Disziplin, die vom biologischen Determinismus geprägt ist. Lebensratgeber müssen die Möglichkeit der Selbstveränderung bieten, sonst drohen sie sich obsolet zu machen. Sie geben dem Neurowissen diskursiv und vor allem technisch einen sozialen Sinn, nämlich indem sie dieses dem zugrunde liegenden Imperativ der Selbstführung entsprechend ausbuchstabieren. Sie sind damit wesentlicher Bestandteil der Zielscheibe „Individuum“ innerhalb der gouvernementalen Doppeltechnologie.

2.2 EMOTIONALE INTELLIGENZ: FÜHLENDE GEHIRNE Während Philosoph/innen und Neurowissenschaftler/innen über Bewusstsein und freien Willen debattieren, zeigen sich sowohl die Lebensratgeber als auch Teile der Ökonomie an einem anderen Zweig der biologischen Anthropologie und Neurotechnologie interessiert: den Emotionen. 12 Vgl. Paulus, Jochen (1994): „Was wir Euch erzählen, ist gelogen“. Beitrag auf dem Psychotherapeutenkongreß „Was steckt wirklich hinter der Modetherapie NLP?“. In: Die Zeit (29. Juli 1994); http://www.zeit.de/1994/31/was-wir-euch-erzaehlen-ist-gelogen (Zugriff: 31.05.2016). 13 Stahl (1993), 14. 14 Vgl. Walker, Wolfgang (1996): Abenteuer Kommunikation. Bateson, Perls, Satir, Erickson und die Anfänge des neurolinguistischen Programmierens (NLP). Stuttgart: Klett-Cotta.

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„Die Marktkräfte, die in unser Arbeitsleben eingreifen, belohnen emotionale Intelligenz auf noch nie dagewesene Weise mit Erfolg am Arbeitsplatz; schädliche Emotionen gefährden unsere körperliche Gesundheit ebenso sehr wie Kettenrauchen, und unsere emotionale Hygiene kann zur Erhaltung von Gesundheit und Wohlbefinden beitragen.“ 15

Zentrale gesellschaftliche Versprechungen werden seit den 1990ern an Emotionen und den richtigen Umgang mit ihnen geknüpft. Emotionale Intelligenz wird zum geflügelten Wort; sie steht für Glück, Erfolg und Menschlichkeit. Dabei bekommen Emotionen einen komplett neurologischen Unterbau: Emotionen sind ein Resultat von Gehirnaktivitäten, vielleicht ihr wichtigstes. „Dank der Flut neurobiologischer Daten verstehen wir besser als je zuvor, wie die emotionalen Hirnzentren uns zu Wutanfällen reizen oder zu Tränen rühren und wie gattungsgeschichtlich ältere Teile des Gehirns, die uns zum Kriegführen wie zum Lieben anstacheln, in die eine oder andere Richtung steuern“,16

schreibt Daniel Goleman in seinem zum Klassiker gewordenen Sachbuch Emotionale Intelligenz. Das Buch tritt mit einem gewissen Zeitenwende-Pathos auf. Fehlgeleitete Emotionen werden von Goleman als ausschlaggebender (wenn auch nicht alleiniger) Faktor für fast alle wichtigen gesellschaftlichen Probleme angeführt: wirtschaftlicher Misserfolg,17 Delinquenz,18 frühe Schwangerschaften,19 Depression und deren wirtschaftliche und gesundheitliche Kosten 20sowie Essstörungen,21 Schulabbrüche,22 Kriege,23 und sozialer Unfrieden überhaupt.24 Das entscheidende Wissen über die Ursachen dieser Probleme findet sich, so Goleman, nicht durch die Untersuchung der sozialen, politischen und ökonomischen Realität, sondern in einem neuen Verständnis des Aufbaus des menschlichen Gehirns. Dessen Funktionsweise ist für ihre Emotionen verantwortlich, diese wiederum für die oben angeführten Missstände. Ist die „Idee der cerebralen Lokalisierung geistiger Qualitäten“ 25 auch an sich nicht neu, so bedeutet sie für die Emotionen eine grundlegende Veränderung. Insofern ist die Emotion, wie Byung-Chul Han meint, nur noch eine Schwundstufe dessen, was mit „Gefühl“ gemeint ist: „Das Gefühl ist konstativ. So sagt man, ich „habe das Gefühl, dass ... Es ist dagegen nicht möglich zu sagen: Ich habe den Affekt oder die Emotion, dass … Die Emotion ist nicht konstativ, sie ist performativ.“26 Wie Go15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26

Goleman, Daniel (1999): Emotionale Intelligenz. München: Goldmann, 14. Ebda., 11. Vgl. ebda., 190ff. Vgl. ebda., 7 und 291f. Vgl. ebda., 292. Vgl. ebda., 303-308. Vgl. ebda., 311. Vgl. ebda., 314. Vgl. ebda., 322. Vgl. ebda., 7f. Hagner/Borck 1999, 70. Han, Byung-Chul (2014): Neoliberalismus und die neuen Machttechniken. Frankfurt/Main: Fischer, 60, Hervorhebung im Original.

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leman sagt, sind Emotionen eben physiologische „Handlungsimpulse“. 27 Das bedeutet im Umkehrschluss, dass mündige, erwachsene Menschen grundsätzlich die Verantwortung für ihre eigenen Emotionen haben – insofern sie diese ja beeinflussen können. Diese Auffassung hat noch weitere Konsequenzen. „Das Gefühl hat auch eine andere Zeitlichkeit als die Emotion. Es lässt Dauer zu. Emotionen sind wesentlich flüchtiger und kurzfristiger als Gefühl. […] Die Emotion steht nicht. Es gibt ja keine Emotion der Ruhe. Gefühl der Ruhe ist ohne weiteres denkbar.“28 Was sagt das über die Gesellschaft, in der die Emotion auf dem Vormarsch ist? Dass in ihr Geschwindigkeit maßgeblich ist: „So führt der Beschleunigungsdruck zu einer Diktatur der Emotion.“29 Was Goleman in der Folge unter emotionaler Intelligenz versteht, ist auffallend schlicht: „Selbstbeherrschung, Eifer und Beharrlichkeit und die Fähigkeit, sich selbst zu motivieren.“30 An anderer Stelle nennt er auch Empathie.31 Die performativ-technizistische Verfasstheit der Emotion wird durch ihre diskursive Dominanz in der Gesellschaft zur zentralen Kategorie dafür, wie Menschen ihr eigenes Erleben verstehen – und wie sie darauf Einfluss zu nehmen gedenken.

2.3 SELBSTÖKONOMISIERUNG Dass die Sphäre des Ökonomischen Einfluss auf die Einzelnen ausübt, ist kein Neuerung der 1990er Jahre, weder inner- noch außerhalb der Lebensratgeberliteratur. Selbstrationalisierung nach tayloristischer Façon, Naturalisierung von Wettbewerb und Handel, umfassende Planung und Buchhaltung finden sich in den Texten der 1920er und 1960er, wenn auch in recht unterschiedlicher Ausprägung. Es bedarf also einer Klärung, wenn für die dritte Epoche der Ratgeber von Selbstökonomisierung gesprochen wird – auch nicht zuletzt deshalb, weil die Ökonomie zum Ende des 20. Jahrhunderts selbst einen tiefgreifenden Wandel durchläuft. 2.3.1 Neue Subjekte in neuen Arbeitswelten Wie Boltanski und Chiapello herausgearbeitet haben, dynamisieren sich die Arbeitsverhältnisse zwischen den 1960er und den 1990ern Jahren. Hier ist vor allem der Aufbau der Unternehmen entscheidend. Nach dem Modell japanischer Firmen (seit den 1980ern steht Toyota dafür Pate) verschlanken sich die Unternehmen, indem sie neben der „Auflösung der Lagerbestände“32 vor allem ganze Hierarchieebenen abschaffen. Diese Form der strukturellen Verschlankung soll einerseits (durch Einsparung von Kosten) die Konkurrenzfähigkeit der Unternehmen fördern. Zum anderen ermöglicht sie auch, auf hartnäckige Kritiken am Kapitalismus zu reagieren: die Kritiken an monotoner, als sinnlos empfundener Arbeit, an der Kontrolle und Gängelung durch Vorgesetzte, behäbigen, überholten Hierarchieformen und gigantischen büro27 28 29 30 31 32

Goleman (1999), 22. Han (2014), 61, Hervorhebung im Original. Ebda., 65. Goleman (1999), 12. Vgl. ebda., 12f. Boltanski/Chiapello (2006), 124.

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kratischen Apparaten.33 Die von der Managementliteratur anvisierten „Lösungen“ zielen schon seit den 1960er Jahren auf „Dezentralisierung, Meritokratie und zielgesteuerte Unternehmensführung“.34 Zunächst gilt die Forderung nach mehr Autonomie, leistungsbezogener Beförderung und Sinn in der Tätigkeit vor allem für Führungskräfte; ab den 1990ern gilt sie für den Großteil, wenn nicht die Gesamtheit des Personals.35 Dies deckt sich mit unserer Untersuchung von Zeitschriften zur Unternehmensführung der 1960/1970er und 1990/2000er Jahren.36 In den neuen Beschäftigungsverhältnissen sind auch neue Qualitäten gefragt. Der neue Manager/in-Typ soll nicht durch Zwang, sondern durch seine Kommunikationsgabe führen, soll innovativ und motivierend wirken.37 Dies gilt, wenn auch in geringerem Umfang, für den Großteil der in oder für die Unternehmen arbeitenden Menschen: „Kreativität, Reaktivität und Flexibilität“, welche zunächst die Eigenschaften für konkurrenzfähige Unternehmen sind, werden nun zu den zentralen Anforderungen an die Beschäftigten.38 Der neue, paradigmatische Arbeitstypus ist das „Projekt“.39 Für Boltanski und Chiapello ist es das „Akkumulationsbecken“ für die verschiedenen Formen der Mobilisierung,40 weswegen sie die gegenwärtige Hauptform des Kapitalismus auch „projektbasierte Polis“41 nennen. Unter dem Druck der Verhältnisse gehen dann gerade in den neuen Arbeitsformen einige der zentralen Forderungen an eine menschlichere Arbeitswelt verloren, nämlich Sinn und Integrität: „Und was garantiert überhaupt, dass die Integrität der Mitarbeiter respektiert wird, verlangt man doch von ihnen, sich mit all ihren – inklusive den persönlichsten – Fähigkeiten für das Unternehmen einzusetzen, nicht nur mit fachlichen Kompetenzen, sondern auch mit ihrer Kreativität, ihrem Gespür für Freundschaft, ihrer Emotionalität usw.?“42 Die flexiblen, vorläufigen Arbeitsstrukturen mit ihren flachen Hierarchien, in die sich alle Beteiligten mit ihrer ganzen Persönlichkeit einbringen sollen, bauen auf Subjekte, die ihre eigene Emotionalität wie die der anderen kommunikativ einbinden können. Gelingt dies, so macht es die Arbeit nicht nur lebendiger, kreativer und potenziell erfolgreicher, es begeistert die Beteiligten auch für das Projekt, für sich selbst, füreinander und für diese Arbeitsweise. „Kommunikation wird zu einer Technologie des Selbst-Managements, die sich mit dem Ziel der Herstellung einer interund intraemotionalen Koordination in großem Maße auf Sprache und auf geeignetes

33 Vgl. ebda., 80ff. 34 Ebda., 102. 35 „Jetzt geht es nicht mehr allein um die Emanzipation der Führungskräfte, sondern aller Beschäftigten“, ebda., 108. 36 Vgl. unseren Abschnitt zu den institutionellen Diskursen. 37 Vgl. Boltanski/Chiapello (2006), 188f. 38 Ebda., 134. 39 Ebda., 149. 40 Ebda. 41 Ebda., 157. Paradoxerweise kann in der projektbasierten Polis alles zum Projekt werden, sogar kapitalismuskritische Aktionen. 42 Ebda., 140.

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Management der Emotionen stützt“,43 sagt Eva Illouz. Diese Form der emotionalen Beteiligung, der persönlichen Identifikation mit dem Projekt und die „kommunikative Ethik als Geist des Unternehmens“44 sollen ein altes Versprechen erfüllen: anhaltenden Arbeitsfrieden und Überwindung des Gegensatzes zwischen Beschäftigten und Führungspersonal. Kommunikation, Emotion und Projektarbeit verbinden also sowohl Versprechen für Arbeitende als auch neue ökonomische Anforderungen in einem neuen Stil der Führung, des Managements. 2.3.1.1 Management und unternehmerisches Selbst Es sind die oben genannten Veränderungen, die die Selbstökonomisierung vorantreiben. Diese besteht vor allem im Selbstentwurf als Manager/in und Unternehmer/in. Damit betrifft die Ökonomisierung direkt die Selbstführung und die Subjektivität der Einzelnen. Zum einen werden ökonomische Kategorien als natürliche präsentiert, zum anderen werden unternehmerische Qualitäten als Einlösung emanzipatorischer Forderungen inszeniert und somit positiv besetzt. Schließlich wird die Selbstökonomisierung mit Versprechen aufgeladen. Ulrich Bröckling hat dies in seinen Untersuchungen zum unternehmerischen Selbst ausführlich dargelegt. „Das unternehmerische Selbst ist ein Leitbild“ für ein „Bündel aus Deutungsschemata“, „aus normativen Anforderungen und Rollenangeboten“ sowie „institutionellen Arrangements, Sozial- und Selbsttechnologien“.45 Diese Form der Subjektivierung ist für ihn Teil einer „Dynamik der Ökonomisierung, welche den Menschen „keine Wahl lässt, als fortwährend zu wählen, zwischen Alternativen freilich, die sie sich nicht ausgesucht haben: Sie sind dazu gezwungen, frei zu sein.“46 Das Programm der Selbstökonomisierung ist also zugleich eines der Individualisierung. „Unternehmerische Initiative gilt inzwischen als Universaltherapie für alles und jeden, ihr Fehlen als Ursache sämtlicher Probleme.“47 Aber warum müssen alle unternehmerisch handeln? Und warum müssen alle unternehmerisch handeln? Hier gilt Paul Halbes Diktum, dass Menschen mehr leisten können müssen als Maschinen (zu ergänzen wäre: und als die Konkurrenz), und die Diagnose von Becker und Becker, dass fast jede Kompetenz eine (kurze) Halbwertszeit hat. Mit Bröcklings Worten: „Gerade, weil Ersetzbarkeit und Überflüssigkeit des Einzelnen offenkundig sind, erscheint die konsequente Umstellung des Handelns auf ,schöpferische Durchsetzung neuer Kombinationen‘ als einzige Chance, der eigenen Ausmusterung zu entgehen.“48 Der unternehmerische und manageriale Blick sieht das Ich also natürlicherweise als Unternehmen an. Darin mischen sich die Forderungen nach Selbstbestimmung, kreativem Selbstausdruck und Abenteuer mit denen nach Selbstverbesserung und veränderung, der Initiative und Lust zu Innovation und Risiko unter dem Schirm der 43 Illouz, Eva (2012): Gefühle in Zeiten des Kapitalismus. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2004; Frankfurt/Main: Suhrkamp, 40. 44 Illouz (2012), 33. 45 Bröckling (2007), 7. 46 Ebda., 11. 47 Ebda., 124. 48 Ebda.

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menschlichen Lebensgestaltung und universalen Eigenverantwortung. Deren zugespitzte Form findet Bröckling bei den Managementautoren Masschelein und Simons: Diese variieren Kants Definition der Aufklärung und koppeln Emanzipation schlechthin an Unternehmertum: Entrepreneurship ist für sie die Fähigkeit, sich seines eigenen Humankapitals ohne Leitung anderer zu bedienen.49 2.3.1.2 Selbst- und Fremdführung im Coaching Der Typus der Manager/in und der der Unternehmer/in ist durch den der Coach/in zu ergänzen. Seine Verbindung zu den beiden ersten sind vielfältig. Für unseren Zusammenhang ist das Coaching interessant, weil es Selbst- und Fremdführung offenkundig verschränkt. Die Sport-Coach/in, eine der frühesten und wichtigsten Formen der Coach/in, erhält bei Spitzensportlern wie etwas Tennisstars, die durch ihre Lebensumstände oft stark vereinsamt sind und trotz vielfältiger mentaler Belastungen Höchstleistungen erbringen wollen, die Bedeutung eines intimen Solidarpartners. 50 Damit sind zwei zentrale Aspekte angesprochen: erstens die Herkunft des Coachings aus dem Sport, 51 zweitens die persönliche, emotionale, umfassende Unterstützung und Förderung, die Boris Traue als das therapeutische Element des Coachings identifiziert.52 Die therapeutische Dimension folgt dabei keinesfalls einer bestimmten Tradition, sondern bedient sich der vielfältigen Strömungen des Psychobooms, vor allem der Humanistischen Psychologie und dort vor allem Rogersʼ Konzept des Zuhörens, aber auch Morenos Psychodrama oder Perlsʼ Gestalttherapie.53 So dringt der humanistische Diskurs in das sportliche Coaching ein und lädt es universalistisch auf: „Wachstum, Wandel und Veränderung werde als universell verfügbare Möglichkeiten der Lebensführung gepriesen.“54 Hatte das sportliche Coaching in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchaus noch Elemente, wie wir sie aus den Willensschulen kennen, nämlich „Unterwerfung des Leibes unter einen stählernen Willen“,55 so wurden diese einerseits durch emotionale Unterstützung, andererseits durch die eher positive Imagination von Bewegungen ersetzt. Das führt nach Traue zur dreifachen Rolle der Coach/in im Sport (die auch auf die Geschäftswelt übertragen wird): Er oder sie ist „Übungsleiter, Beistand und charismatischer Enthusiasmierer“ 56 Gute Coach/innen vermitteln nicht nur Techniken und geben einen Trainingsrahmen vor, sie vermitteln auch erfolgsfördernde 49 Vgl. Bröckling (2007), 123. 50 Schreyögg, Astrid (2010): Coaching für die neu ernannte Führungskraft. Wiesbaden: Springer, 19. 51 Die ist streng genommen nicht richtig. Laut Traue wurde der Begriff Coach an der Universität Oxford ab 1830 für einen akademischen Tutor verwendet. Die große Popularisierung und Prägung des Konzeptes erfolgte jedoch durch den Sport im angelsächsischen Sprachraum. Vgl. Traue (2010), 193f. 52 Vgl. Traue (2010), 196. 53 Vgl. Schreyögg (2010), 35. 54 Traue (2010), 196. 55 Ebda., 194. 56 Ebda., 195.

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Persönlichkeitseigenschaften und übertragen diese auf die Gecoachten. Von besonderer Wichtigkeit ist die Fähigkeit zur Begeisterung, Motivation und Erfolgswillen: „Der Coach glaubt an den Spieler/Sportler und ermöglicht dadurch dessen [...] Selbstcharismatisierung.“57 Das führt dazu, dass die Sportler/innen nach und nach ihre eigenen Coach/innen werden können. Sie können sich motivieren, strukturieren und auf erlernte Techniken zurückgreifen. Aber trotzdem kommen sie nicht ohne Trainer aus. Astrid Schreyögg zeigt dabei exemplarisch, wie die berufliche und die persönliche Dimension des Coaching ineinander übergreifen. Sie unterscheidet das Exective Coaching vom Life Coaching. Ersteres ist eine „innovative Maßnahme der Personalentwicklung“: Das „Coaching dient dann der Verbesserung der Funktionsfähigkeit von Führungskräften mit der Hoffnung auf eine Optimierung der Organisation“. 58 Der (ökonomische) Steigerungsimperativ liegt also dieser Form des Coachings zugrunde. Die zweite Form des Coaching nennt Schreyögg Life Coaching. Sie ist eine „Dialogform über Freud und Leid im Beruf“ welche der „Bewältigung von Krisen und Konflikten“ gilt, mit dem Ziel der „generellen Fortentwicklung von Einzelnen“.59 Diese „Personenentwicklung“ hat dabei großes wirtschaftliches Gewicht: „Denn in vielen Fällen können Führungskräfte erst dann wieder ihre Aufgabe optimal wahrnehmen, wenn sie sich als Menschen angesprochen und entsprechend unterstützt fühlen.“60 Daraus wird ersichtlich, dass Executive Coaching und Life Coaching nicht voneinander trennbar sind.

57 Ebda. 58 Schreyögg (2010), 21. Mit „innovativ“ spricht sie auch zugleich die unternehmerische Qualität des Coachings an. 59 Ebda., Hervorhebung im Original. 60 Ebda., Hervorhebung im Original.

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Rekonstruktion zeitspezifischer Diskurse in Anstalten der Menschenführung

3.1 VERFLÜSSIGTE HIERARCHIEN – SCHULE UND BETRIEB ALS ORTE MARKTNAHER SELBSTFÜHRUNG Die oben skizzierten gouvernementalen Umbrüche in der Regierungsweise und im Produktionsapparat reflektieren sich auf einer mesosoziologischen Ebene auch in zwei klassischen Institutionen, die unmittelbar mit der Menschensteuerung befasst sind. Sowohl in der Schule als auch im Betrieb wird um die Implementierung neuer Führungsformen gerungen, die den veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen Rechnung tragen. Auf je eigene Weise diskutieren sie die Möglichkeiten und Notwendigkeiten einer Führung des arbeitenden und lernenden Subjektes, ohne die Dominanz einer fixierten, formalen Disziplinarstruktur sicherzustellen. Anders noch als in den 1960er und 1970er Jahren geraten nicht nur die Vorgesetzte und die Lehrer/in in den Fokus von Subjektivierungspraktiken, sondern allen am Vorgang der (Wissens-)Produktion Beteiligten wird ein effektiver Einfluss auf Führungsprozesse und -ergebnisse unterstellt. Während man zuvor zwar Schüler/innen und Angestellte als Objekte eines individualisierendes Führungsverhaltens betrachtete hat, deren erfolgreiche Steuerung unmittelbar von der trainierten Subjektivität der Vorgesetzten und der Lehrer/in (oder der Eltern) abhing, machen die 1990er und 2000er Jahre ein aktivisches Verhältnis aller Beteiligten zu ihrer Subjektivität zur notwendigen Vorbedingungen für die Bewältigung der neoliberalen Realitäten. Die Schüler/in, wie die Angestellte wird nun eine Subjektivität unterstellt, zu der sie sich selbst verhalten müssen und die eine unklar definierte Kontaktfläche zu der Subjektivität der Lehrer/innen und Vorgesetzten aufweist. Dies führt nicht allein zu einer enormen Ausweitung und quantitativen Vermehrung von Diskursen und Praktiken, die auf die Selbstführung abzielen. Vielmehr treten Verfahren der subjektiven Formung hinzu, wie Gruppen- und Teamarbeit, die die Selbstführung im Verhältnis zu einer Gruppe austarieren sollen, welche nicht mehr über eine starre formale Struktur verfügt. Sowohl in der Schule als auch im Betrieb verliert die herausgehobene Position der kooperativen Autorität an Bedeutung und mit ihr zugleich die Techniken und die Trainings zu ihrer Herstellung. Sie verliert in dem Maße bzw. wandelt sich in ihrer Funktion, wie die einzelnen Subjekte ihre Aufgaben und Funktionen miterfüllen und darin die von der neoliberalen Transformation ausgerufene radikale Selbstverantwortlichkeit bedienen.

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3.2 DIE EMANZIPIERTEN ANGESTELLTEN Der Managementdiskurs der 1990er und 2000er Jahre büßt an einer unmittelbar gestaltenden Macht ein und lädt sich stattdessen mit Funktionen und Bedeutungen auf, die ihn zu einer im hohen Maße hybriden Figur machen. Zum anderen subjektivieren sich die Mitarbeiter/innen und rücken ins Zentrum managerialen Führungsdenkens. Zum ersten Mal individualisieren und emanzipieren sie sich gegenüber der vorgesetzten Autorität und übernehmen von ihr Aufgaben, die nun zum eigenen Anforderungsportfolio werden. Dies bleibt nicht ohne Konsequenz für die Form der Führung, der sie von nun ab unterliegen und in der ihre neue Freiheit konkrete Gestalt gewinnt. In den 1990er Jahren wird ein Führungstypus diskutiert, der sich vom Führungsmodus der 1960er Jahre stark unterscheidet. Unter dem Begriff der lateralen Führung wird vehement infrage gestellt, ob das Verhalten der Vorgesetzten tatsächlich für den Erfolg von Gruppen und Teams verantwortlich gemacht werden kann.1 So seien es nicht allein und nicht einmal hauptsächlich die Eigenschaften oder das Verhalten der Vorgesetztenpersönlichkeit, die im Führungsprozess relevant seien, sondern eine Vielzahl an Faktoren, so z.B. die Unternehmenskultur, situative Einflüsse und vor allem subtile Beziehungselemente im Gruppengeschehen. „Arbeitssituationen sind sozial komplex und es gibt häufig Fälle, bei denen nicht einer allein Macht ausübt, sondern zwei oder mehr Menschen Macht übereinander haben. Macht wird wechselseitig ausgeübt. Üblicherweise ist ein Mitarbeiter abhängig von seinem Vorgesetzten, aber der Vorgesetzte ist ebenso auf die gute Leistung und Informationsweitergabe seitens des Mitarbeiters angewiesen. Beide befinden sich in Abhängigkeit voneinander.“ 2 Wenn aber Vorgesetzte nicht mehr als fähig dazu angesehen werden, die Hoheit über die interpersonalen Dynamiken herzustellen, verlieren sie eine wesentliche Legitimationsgrundlage, denn die unbedingte fachliche Expertise haben sie bereits in den 1960er Jahren an die gut ausgebildeten Angestellten abgegeben. Auch Projektund Gruppenarbeit, die alte Sicherheitsgarantien unterläuft, dafür aber den Beteiligten einen Freiheitsgewinn in Aussicht stellt, kann nicht mehr um eine vorgesetzte Person herum aufgebaut sein, die letztendlich alle Fäden in den Händen hält. Die Dominanz des Vorgesetztensubjektes erscheint nicht nur illusorisch, sie ist nicht einmal notwendig oder gar zweckmäßig. Die Verlagerung von externen Märkten („König Kunde“) in die einzelnen Betriebe und Betriebsteile hinein macht ein rasches und zugleich auf kreativer Wissensproduktion basierendes Handeln nötig („Prozessorientierung“), das Kooperation der hochspezialisierten Mitarbeiter/innen verlangt. „Eine wichtige Voraussetzung für Kooperation sind Menschen, die autonom sind. Die Machtverhältnisse müssen ausgewogen sein. Wenn Kollegen dagegen hilflos und machtlos sind, dann können sie sich lediglich zuarbeiten, doch handelt es sich dabei nicht um echte Mitarbeit. Sind Machtverhältnisse zu unausgewogen, dann bestimmen eine oder einige Personen das Geschehen, und die Ideen, Bedenken oder Vorschläge der anderen, weniger machtvollen Personen, 1 2

Hans, Klaus (1994): Führung: Können oder Kunst. In: Personal. Zeitschrift für Human Resource Management (5). 223–228; 224. O.A. (2003): Führen ohne Disziplinarfunktion. Wie man Gruppen führt, ohne Personalverantwortung. In: Zeitschrift Führung + Organisation (2), 94-98; 94.

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gehen unter, werden nicht beachtet, kommen zu kurz. Das führt dazu, dass die weniger dominanten Gruppenmitglieder glauben, sich in dieser Gruppe ausruhen zu können, da sie ohnehin nichts zu sagen haben.“3

Die alte Vorgesetztenrolle gerät nun in den Verdacht, qua ihrer ihr zugewiesenen ordnungs- und rahmensetzenden Funktion den freien Austausch zu blockieren, weil sie per se ein Machtungleichgewicht mit sich bringt: „Je freier der Prozess fließt, desto innovativer und kreativer wird gearbeitet. Die Befolgung von Regeln und Strukturen schafft Abhängigkeit, macht für Neues blind und tötet jegliche Flexibilität.“4 Eine Frage, die dem Managementdiskurses umhertreibt, ist nun, wie die Vorgesetzten ihren gesunkenen Status durch selbstkritische Einsicht in ihr Führungsverhalten vermittelbar ist. Dass Coach/innen herangezogen werden, um erstarrte Subjekttypen im betrieblichen Gefüge aufzulösen, ist noch aus anderer Sicht vorteilhaft oder genauer gesagt der neuen Rolle, die die Vorgesetzte einnehmen soll, adäquat. Den Vorgesetzten wird nämlich nicht allein dazu verholfen, ihre Machtausübung auf ein Minimum zu reduzieren, ihnen wird auch eine positive Rolle zugedacht. Durch die Schulung sollen sie in den Stand gesetzt werden, im Gruppengeschehen selbst die Rolle einer Coach/innen auszuüben. Dies führt ein durchaus betriebsfremdes Element in den Führungsaufgaben der Vorgesetzten ein: „Coaching ist nicht gleichzusetzen mit Führung und Coaching kann durchaus einen Teilbereich einer Führungsaufgabe darstellen. Unter Coaching in einer Organisation verstehen wir einen zielgerichteten, zeitlich begrenzten Beratungsprozess, bei einer oder mehreren Personen (Einzel- oder Systemcoaching), bei dem das eigene Handeln (Verhalten) als auch das Umfeld reflektiert werden. Zielsetzung ist die Erweiterung der Handlungskompetenz der gecoachten Mitarbeiter oder Führungskräfte in persönlicher, sozialer oder fachlicher Hinsicht durch eine bedarfsorientierte und/oder fachliche Beratung.“5

Dies kehrt eine gängige Logik des Direktionsrechts in traditionellen Betriebshierarchien um. Den Mitarbeiter/innen wird jetzt die Rolle zugedacht, die Vorgesetzten anzuweisen, nämlich sie in einem bestimmten Belang zu beraten. Der „vorgesetzte Coach“ sollte in dieser beratenden Funktion nicht nur Unterstützung bei der Umsetzung von persönlichen Berufszielen gewähren, Motive und Ziele analysieren sowie Selbstfindungsprozesse initiieren, sondern imstande sein, „verschiedene Interventionstechniken (wie systematische Fragetechnik, Feedbackprozesse, Unterbrechen vorhandener Handlungs- und Gedankenmuster, Konfrontieren, aktiv Zuhören, etc.) [zu beherrschen]“.6 Die Coach/in steht nun als Dienstleister/in im Auftrage ihrer Mitarbeiter/in und befindet sich damit gleichzeitig ein Stück außerhalb der betrieblichen Ordnung. Er ist den individuellen Interessen der Mitarbeiters unterstellt, denen er neutral gegenüberzustehen hat. Diese situative Coachingrolle der Vorgesetzten „ist 3 4 5 6

Ebda., 96. Müri, Peter (1994): Prozessorientierung. Der Schlüssel zum neuen Management. In: Io Managementzeitschrift (5), 27-30; 28, Hervorhebung im Original. Jochum, Eduard; Jochum, Irmgard (2001): Führungskräfte als Coach? In: Personal. Zeitschrift für Human Resource Management (9), 492-496; 492. Ebda., 494.

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aber umso wichtiger, da [es] generell für gutes Führungsverhalten gelten [soll]“.7 Selbst in Konflikten begibt sie sich „in die Rolle des neutralen Moderators, der der Gruppe hilft, ihre Auseinandersetzung zu klären“. 8So hat es den Anschein, als ob die Vorgesetzte sich unter den neuen postfordistischen Verhältnissen nur behaupten kann, wenn sie wesentliche Teile ihres Aufgabenspektrums an seine Mitarbeiter/innen abtritt und zugleich neue Aufgaben an sich zieht, die der betrieblichen (Führungs-)Praxis bisher fern lagen. Die Selbstführung der Mitarbeiter/innen nimmt eine spezifische Form an, bei der das Interesse der Einzelnen nach mehr Autonomie sowie das Interesse des Betriebes nach Kostenreduktion und Flexibilisierung der Arbeitskraft zusammenfließt, nämlich in der Gestalt der Arbeitskraftunternehmer/in. Die Arbeitskraftunternehmer/in ist die spezifische Form, wie die in eigener Regie betriebene Führung der Mitarbeiter/innen organisiert sein soll. Damit rückt das Mitarbeiter/innensubjekt, nicht wie in den 1960er Jahren mit seinen verborgenen Antrieben, über das es dann von der Vorgesetzten zu führen sein wird, in den Mittelpunkt, sondern es erscheint als holistische Figur: „Intendiertes Ziel personaler Förderungsmaßnahmen ist somit nicht der durch methodisch verfeinerte Instrumentarien leicht zu bewirkende Drill elementarer Fertigkeiten motorischer und/oder intellektueller Art, vielmehr ist es die Gesamtpersönlichkeit des in einer Organisation tätigen Menschen“.9

Die Mitarbeiter/in wird nicht mehr dazu angeregt, berufliche Qualifikationen zu erwerben und weiterzuentwickeln, sie erscheint vielmehr als Träger von Kompetenzen. Es geht um den „Aufbau und die Weiterentwicklung von Kompetenzen und Persönlichkeitsmerkmalen, die zur Meisterung beruflicher, aber auch alltäglicher Situationen befähigen […]. [Sie] beziehen neben den fachlich-funktionalen auch die sozialen, motivationalen und emotionalen Aspekte menschlichen Arbeitshandelns mit ein.“10

Die Techniken zur Persönlichkeitsentwicklung orientieren sich, da sich die Grenzen zwischen Vorgesetzten und Subalternen verwischen, am Coaching, das zur Vermittlung interpersonaler Kompetenz führen soll.11 Gelegentlich findet Erwähnung, dass dieses Training mittels eines Partners, auch in Form firmeninterner Mentor/inProtegé-Beziehungen erfolgen kann.12 Darüber hinaus stehen aber auch Einübungen von Techniken im Vordergrund, die „am treffendsten als eine Komposition bestimm-

7 8 9

Ebda., 496. O.A. (2003), 98. Sonntag, Karlheinz (2002): Personalentwicklung und Training. In: Zeitschrift für Personalpsychologie (1/2); 59-79, 60. 10 Ebda., 60. 11 Vgl. Sonntag (2002), 68f. 12 Vgl. Blickle, Gerhard (2000): Mentor-Protegé-Beziehungen in Organisationen. In: Zeitschrift für Arbeits- und Organisationspsychologie (44/4), 168-178.

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ter Gefühlszustände zu beschreiben [ist], die man in sich selbst erzeugen muss“, wie Entspannung, Energie, Optimismus, Freude und Flow. 13 Eine der wahrscheinlich markantesten und charakteristischsten Technikerscheinungen der 1990er Jahre verbindet beide Ebenen: das 360° Feedbackverfahren. Eigen- und sozial induziertes Handeln überkreuzen sich in der Technik des 360° Feedbackverfahrens und haben, ganz ähnlich wie der Diskurs der Lebensratgeber zu dieser Zeit, als finales Objekt die Reflexivität zum Gegenstand. Es ist ein Instrument zur Personalbeurteilung, bei dem unterschiedliche Hierarchieebenen zu einer systematischen, formalisierten, beschreibenden und bewertenden Einschätzung des Verhaltens von Kolleg/innen und Vorgesetzten mittels Fragebögen oder anonymisierten Gesprächen veranlasst werden.14 Diese Rückmeldungen werden mit der Selbsteinschätzung des Betreffenden abgeglichen und die Selbst- und Fremdwahrnehmung unter bestimmten Aspekten (Kooperationsverhalten, unternehmerisches Handeln, Leistungsverhalten, Kundenorientierung etc.) miteinander konfrontiert. Gesteigerte Reflexivität erscheint hier als Königsweg zur Veränderung des Selbstverhältnisses, auch wenn keine pauschale Wirksamkeit postuliert wird. So sollen individuelle Entwicklungsmöglichkeiten und Wachstumschancen für die Einzelnen geschaffen werden, da aus den Ergebnissen beispielsweise individuelle Weiterbindungsmaßnahmen abgeleitet werden können.15 Die Arbeitskraftunternehmer/in als Träger/in von Kompetenzen bekommt weit mehr Aufgaben zugewiesen, als eigenverantwortlich die Produktivität und Reproduktion ihrer Arbeitskraft sicherzustellen. Das kompetenzbasierte Mitarbeiter/innensubjekt ist eine entgrenzende Figur, weil sie das ganze Subjekt dem Unternehmerischen unterwirft und zugleich die Ökonomie mit Aspekten der eigenen Subjektivität auflädt. Das Kompetenzsubjekt ist auf der Ebene seiner Subjektivität und seiner Selbstführung das, was auf der Unternehmensebene das Lean Management ist. Im Gegensatz zu den vorangegangenen Epochen ist zum ersten Mal nicht mehr unterscheidbar, ob eine Selbsttechnik hauptsächlich innerhalb der Arbeitssphäre wirksam werden soll oder auch das private Alltagsleben zum unmittelbaren Übungsfeld wird.

3.3 DIE SCHÜLER/INNEN ALS PROJEKTEMACHER/INNEN Auch die schulischen Institutionen werden in den 1990er und 2000er Jahren vehementen Reformprozessen unterworfen. Unter dem Stichwort der „Autonomie der Schulen“ setzt sich ein neues Steuerungsmodell durch, das den direkt-regulativen Eingriff des Staates in die administrativen, personalpolitischen und haushaltspolitischen Entscheidungen der Einzelschulen zurückfährt, mit dem Ziel, die Effektivität und Effizienz in den schulischen Bildungseinrichtungen zu erhöhen. Drei Momente begünstigen und beschleunigen diese Entwicklung: Zum Ersten ist diese Schulent13 Volk, Hartmut (1994): Erfolge entstehen im Kopf. In: Io Managementzeitschrift (5), 73-76; 76. 14 Vgl. Gerpott, Thorsten J. (2000): 360-Grad-Feedback-Verfahren. In: Personal. Zeitschrift für Human Resource Management (7); 354-359, 354. 15 Vgl. Poesch, Anja; Klein, Uwe (2001): 360-Grad-Feedback für den Mittelstand. In: Personalwirtschaft. Magazin für Human Resources (12), 24-26.

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wicklung eingebettet in einen größeren Reformprozess, der das staatliche Verwaltungshandeln ab Anfang der 1990er Jahre erfasst. Das New Public Management 16 führt neue Instrumentarien in das Verwaltungshandeln ein, die aus der Betriebswirtschaft entlehnt sind. Diese sollen die Eigenverantwortlichkeit staatlicher Stellen durch Dezentralisierung und Orientierung an neoliberalen Managementpraktiken stärken. Zum Zweiten hebt in den Kultusministerien eine analoge Reformdiskussion an, die den Schulen einen gewissen eigenständigen Gestaltungsspielraum zubilligen will, indem sie vor allem administrative Aufgaben an die Schule abgibt und damit von einem input- zu einem outputorientierten Steuerungsverfahren 17 übergeht. Die Schulen sollen in wichtigen Angelegenheiten (Haushalt, Beschaffung, Inventar, Grundstück/Gebäude etc.) selbst Verantwortung tragen und dezentralisierte Lösungen entwickeln. Drittens verknüpfen sich diese makrostrukturellen Reformprozesse und -diskussion mit einem pädagogischen Diskurs um eine größere Autonomie der Schulen, die aber vor allem von Fragen der pädagogischen Autonomie z.B. in Belangen der Lehrplangestaltung, aber auch hinsichtlich einer allgemeinen Frontstellung gegen die „verwaltete Schule“18 getragen ist. Diese Reformanliegen eines Teils der Lehrer/innenschaft haben die Implementierung eines neoliberalen Umbaus des Schulwesens mitbegünstigt, da sie in der Forderung nach mehr (pädagogischer) Autonomie Schnittmengen mit den Schulreformanliegen hatten. Die Reformentwicklungen bringen den Schulen aber nicht unbedingt die Form von Autonomie, die sich eine kritische Lehrer/innenschaft gewünscht hat. Es wird ersichtlich, dass sie vor allem vom Effizienzdenken und der schlechte finanziellen Lage der kommunalen Finanzen motiviert war und sich mitunter als versteckte Sparmaßnahme entpuppte. Zum anderen führt die größere Eigenverantwortlichkeit der Schulen dazu, dass sie von einer Vervielfachung von Qualitätskontrollen, Mess- und Zertifizierungsverfahren seitens staatlicher Stellen begleitet werden.19 Schulen haben nun sich einem Total Quality Management20 zu unterwerfen, bei dem sie eng getaktet Rechenschaft über Kosten, Leistungs- und Lehrqualität zu geben haben. Die Implementierung dieser Standards und managerialen Verfahrensweisen verändert aber nicht nur das Aufgabenspektrum der Schule bzw. der Schulleitungen, es führt zu einem radikalen Umbruch im Selbstverständnis und im Subjektivierungsregime Schule. Die Übertragung der betriebswirtschaftlichen Kontroll- und Messstandards bleibt den Beziehungen zwischen den einzelnen Akteuren innerhalb des schulischen Feldes nicht äußerlich, sondern unterstellt ihnen ein neuartiges Interaktionsmuster: „Schulen werden verstanden als Dienstleistungsunternehmen, deren Kunden in erster Linie die Schüler, aber auch deren Eltern sind und wo das Produkt Bildung Kernbestand ist.“21 Jede im Feld der Schule wirksame Handlungsinstanz, die Lehrer/innenschaft, die schulpolitischen Institutionen, selbst die Schüler/innen werden folgerichtig als Teil 16 Vgl. Saalfrank, Wolf-Thorsten (2005): Schule zwischen staatlicher Aufsicht und Autonomie. Konzeptionen und bildungspolitische Diskussion in Deutschland und Österreich im Vergleich. Würzburg: Ergon, 77f. 17 Vgl. ebda., 87. 18 Vgl. ebda., 117ff. 19 Vgl. ebda., 119f. 20 Vgl. ebda., 77. 21 Ebda., 81, Hervorhebung im Original.

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eines wissensbasierten Produktionsapparates betrachtet. Den Schüler/innen werden beispielsweise folgende Rollen darin zugewiesen: Sie sind „Kunden ihrer eigenen Anstrengungen im Lernprozess, der Lehrer/innen, die sie unterrichten, und der übrigen schulischen Mitarbeiter, die Einfluss auf die Gestaltung ihrer schulischen Umwelt haben; Verarbeiter, indem sie ihren Lern- und Entwicklungsprozess aktiv durchschreiten; Lieferanten von stetigen Anstrengungen zur Erlangung sozialer, methodischer und fachlicher Kompetenzen im Hinblick auf ihre eigene Zukunft, gegenüber ihrem gegenwärtigen und zukünftigen (privaten und beruflichen) Umfeld und gegenüber der Gesellschaft.“22

So sehr sich dieser Umbruch als Individualisierungs- und Eigenverantwortlichkeitsdiskurs gebärdet, so wenig hat er etwas mit dem Diskurs um eine notwendige Schüler/innenzentrierung in den 1960er und 1970er Jahren gemeinsam. Ging es diesem um die Überwindung alter Autoritätsfixierung und das Hineinüben der Schüler/innen in eine neue demokratische Mündigkeit, ist jener geprägt vom Geist unternehmerischen Qualitätsbewusstseins und managerialer Führungsformen. Es ist auffällig, dass ökonomische Realitäten und Anforderungen so tief ins Gefüge der Schule eindringen und die Schule mitunter als eine Proto-Subjektivierung für unternehmerische Selbste erscheint. Die Schulen suchen nun die Expertise und Erfahrung privatwirtschaftlicher Organisationen, um die Schüler/innen auf die neoliberale Realität vorzubereiten. So berichtet beispielsweise die Otto-Hahn-Realschule von einer fruchtbaren Zusammenarbeit mit der Unternehmensberatung „Dyrda&Partner“. 23 Sie konnte die Steuerungsgruppe der Schule davon überzeugen, ein systematisches Methodentraining zur Förderung von Teamkompetenzen aufzulegen. Die Schüler/innen der Klassen 5c und 6c lernen an den Trainingstagen, sich gegenseitig zu unterrichten, selbständig Präsentationen zu entwickeln und über Rollenspiele und Gruppenarbeitspläne kooperationsfördernde Verhaltensweisen auszubilden.24 Evaluationsverfahren im Unterricht werden von einer an einer Untersuchung teilnehmenden Lehrerin zwar als zeitintensiv beschrieben, aber wirkten sich sehr effizient auf die Zusammenarbeit mit den Schüler/innen und unter den Schüler/innen selbst aus. Am Ende jeder Woche mussten die Schüler/innen im Rahmen einer Studie in einer Stunde die eigene Leistung und die ihrer Mitschüler/innen bewerten, die ihnen für die Dauer von insgesamt sechs Wochen zugelost wurden und mit denen sie ein Team bilden sollten. Die wechselseitige Kontrolle und Bewertung wurde nicht nur den betreffenden Schüler/innen zugänglich gemacht – sie konnten also nachlesen, was die anderen Schüler/innen zum eigenen Verhalten zu sagen hatten – auch die Lehrerin nahm Einsicht in die Feedbackbögen. Man meint zu erraten, was in manchen Bewertungen zu lesen war. So bleiben in der Folge Aha-Erlebnisse, besonders in Gruppen mit sozial unbotmäßigen Schüler/innen nicht aus. „Hier saßen nach sechs Wochen noch keine Freunde am Tisch, doch dass diese Gruppe relativ schnell besonders effizient arbeitet, bekam die ganze Klasse mit.“ 25 Es klingt an diesem her22 Zitiert nach ebda., 83. 23 Körbitz, Achim; Zajonc, Nadja; Hartog, Renko (2001): Teamkompetenz. Eine Schlüsselqualifikation entwickeln. In: Pädagogik (4), 23-28; 23. 24 Vgl. ebda., 25f. 25 Ebda., 15.

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ausgegriffenen Beispiel an, dass die Rolle der Lehrer/innen im Verhältnis zu ihren Schüler/innen neu justiert wurde. Die Lehrer/in soll aus dem unmittelbaren Lernprozess ihrer Schüler/innen heraustreten, um die Rolle einer coachenden Manager/in zu übernehmen, die „als Organisator von bedeutenden Lernprozessen, die er/sie nicht direkt führt (kein ständiges Belehren!), sondern als Helfer [auftritt, der] – einsatzbereit im Hintergrund stehend – begleitet und als zurückhaltender Beobachter analysiert und fördert“.26 Sie versichert sich gleichermaßen über das Einholen von Feedback (durch ihre Schüler/innen und Kolleg/innen) ihrer Wirkungen auf den Lernprozess.27 Die Einbeziehung der Schüler/innen in den Evaluationsprozess soll aber zugleich die Selbstreflexionsaktivität im Schüler/innensubjekt in Gang bringen, das sich zunehmend vor die Aufgabe gestellt sieht, seinen Lernprozess – in einem äußerlich vorgegebenen Rahmen – selbst zu organisieren. Ähnlich der teilautonomen Gruppenarbeit in der postfordistischen Industrie gehen hier äußere Rahmenbedingungen, Selbstaktivierung, wechselseitige Kontrolle und erhöhter Leistungsdruck, aber auch ein subjektiv erlebter Freiheitsgewinn Hand in Hand. Die Schüler/innen sind Abnehmer/innen für eine Reihe von Techniken und Verfahrensweisen, die vom Lehrpersonal offeriert werden. Genauer noch: Das schulische Umfeld beginnt sich insoweit für die individuellen Lernprozesse und Bedürfnislagen der Schüler/innen zu öffnen, als sich die Schüler/innen zu Akteuren einer technisch gestützten Selbstführung machen. Die Schüler/in tritt als ein Subjekt in Erscheinung, dem eine gewisse Verfügungsmacht über die Modellierung seiner Subjektivität gegeben ist. Demokratiemündigkeit gerät an den Rand und macht für einen Autonomiebegriff Platz, der eng an ökonomische Verkehrsformen gebunden zu sein scheint. Analog zu den Entwicklungen in der postfordistischen Wirtschaft greift im schulischen Alltag die Projektearbeit für die Schüler/innen Raum, die ihre Notwendigkeit so auch mehr aus ihrem berufsvorbereitenden Charakter herleitet als aus Gründen von Solidarität oder Charakterbildung. Ganz oben stehen die bereits erwähnten sozialen Techniken zur Teamarbeit. Den Schüler/innen ist dabei durchaus klar, zu welchem Ziel sie bestimmte Kompetenzen einüben. „Gruppenarbeit hilft uns, weil das in der Wirtschaft gefordert wird. Das steht auch in den Stellenanzeigen: Teamfähigkeit wird gefordert. Das haben wir auch im Praktikum gemerkt.“ 28 Neben der Teamarbeit legt der schulische Diskurs einen großen Schwerpunkt auf die Einübung von individuellen Basiskompetenzen, die nicht nur grundlegend für eine Teamarbeit sind, sondern auch einen neuen Modus selbst geführten, und -kontrollierten Lernens vorantreiben sollen. Das Schüler/innensubjekt wird so dazu veranlasst, sich selbst eine rationale Struktur zu geben, so zum Beispiel den Wochenarbeitsplan in kleinere Tagesziele 26 Zeindler, Edmond (2000): Arbeiten nach dem Wochenplan. In: Pädagogik (11); 23-26, 26. 27 Zur Diskussion steht beispielsweise auch, ob im Zuge der Dienstrechtsreform das Schüler/innen-Feedback zur Lehrerbeurteilung durch die Kultusbürokratien mit herangezogen werden soll, um Leistungslohn, Beförderungen oder Sanktionen festzusetzen. Man sieht: Alle Akteure im schulischen Feld geraten in den individualisierenden Panoptismus des 360° FBV. Vgl. Ammon, Anna; Wendt, Heike (2001): Feedback-Kultur braucht Zeit. Ein Projekt der Hamburger Schüler/innenkammer und des Landesverbands Hamburg der GEW. In: Pädagogik (5), 34-35. 28 Körbitz/Hartog (2001), 17.

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aufzuteilen, diese „ziel- und sachgerecht zu bearbeiten und das Ergebnis zu beurteilen“.29 Die anleitende und überwachende Rolle der Lehrer/in wird vom Schüler/insubjekt sukzessive selbst übernommen und als schriftliches Dokument später von der Lehrer/in nachprüfbar. Autonomiegewinn und Rechenschaftspflichtigkeit gehen also auch hier miteinander her. 30 So sollen den Schüler/innen schon früh ein Sinn und eine Technik für eigenverantwortliches Lernen in die Hand gegeben werden. Die an die Feedbackverfahren angelehnten Lerntagebücher sollen den Schüler/innen darüber hinaus den Eindruck vermitteln, dass sie selbst Träger verschiedener Kompetenzprofile sind, deren einzelne Bausteine sich der Reflexion und dem Training gezielt zugänglich machen. Eigenverantwortlichkeit und Autonomiegewinn gehen so mit Rechenschaftspflichtigkeit und Selbstökonomisierung eine kaum mehr unterscheidbare Verbindung ein. Neben der Aktivierung der Schüler/innen für ihrenn soziale und kognitiven Kompetenzerwerb spielen seit Anfang der 1990er Jahre die informellen Bewegungsangebote eine immer größere Rolle.31 Unter dem Stichwort der „Bewegten Schule“ hat eine pädagogische Diskussion Raum gegriffen, die, ausgehend von der Diagnose einer „negativen körperlichen Leistungsentwicklung“ der jungen Generation, auf eine Umgestaltung von Unterricht und schulischen Räumen abzielt.32 Sowohl in der Wissensvermittlung als auch in der schul-räumlichen Umwelt sollen niedrigschwelligappellativ funktionierende Bewegungs- und Sportaktivitäten eingebaut werden, die die Schüler/innen für körperliche Betätigung aktivieren sollen. Wie in den obigen Fällen wollen sich die pädagogischen Autoritäten in Schule und Kultusministerien die Schüler/innen zu Verbündeten von Adipositasbekämpfung und Hygienedispositiven machen, indem sie sich auf eine selbststeuernde Struktur in den Schüler/innensubjekten stützen. Bewegungserziehung ist daher nichts anderes als „Aufforderung zur Selbsttätigkeit“; sie soll die Eigeninitiative stärken und zu einem reflexiven Umgang mit Körper und Bewegung veranlassen.33 Durchaus in kritischer Absicht gegen die kognitive Leistungserfassung von PISA und andere Evaluationsmethoden gerichtet, soll der Reduktion der Bildung auf kognitives Wissen und formale Kompetenzen 29 Vaupel, Dieter (2001): Selbstständigkeit fördern. Wochenplanarbeit als Weg zur Vermittlung von Schlüsselqualifikationen. In: Pädagogik (4), 33. 30 Das Lern- bzw. Profiltagebuch, gelegentlich auch Lerninventur genannt, etabliert eine reflexive Struktur zwischen Schüler/in und sich selbst und den Mitschüler/innen sowie der Lehrperson. Es handelt sich dabei in der Regel um eine in Tage und Tätigkeiten eingeteilte Tabelle, bei der man selbst, mitunter auch die Mitschüler/innen, bestimmte Handlung bewertet, z.B. „War konzentriert bei der Sache, hat die Arbeit der Gruppe nicht gestört, hat die Pausen nicht überzogen, hat die Freiheiten am Profiltag nicht ausgenutzt“, Nádas, Elke; Nietzschmann, Renate (2001): Erfahrungen mit Lerntagebüchern. Ein Instrument der gegenseitigen Rückmeldung und Bewertung? In: Pädagogik (5), 25-28, 26. 31 Vgl. Regensburger Projektgruppe (2001): Bewegte Schule – Anspruch und Wirklichkeit. Grundlagen, Untersuchen, Empfehlungen. Schorndorf: Hofmann, 12f. 32 Laging, Ralf (2007): Schule als Bewegungsraum – Nachhaltigkeit durch Selbstaktivierung. In: Hildebrandt-Stramann, Reiner (Hrsg.): Bewegte Schule – Schule bewegt gestalten. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 72. 33 Hildebrandt-Stramann, Reiner (2007): Bewegte Schulkultur – Konzeptentwicklung. In: Ebda., 20.

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eine leiblich-sinnliche Welterfassung hinzugestellt werden. Die „Bewegte Schule“ will „Kompetenzen der Selbstbildung entwickeln, die es dem Schüler ermöglicht, Realität produktiv zu verarbeiten und dabei eine kreativ-eigenwillige, sozial beziehungsfähige Persönlichkeit auszubilden“.34 Gibt es eine genauere Pointierung der zeitgenössischen Selbstführung?

3.4 ZUSAMMENFASSUNG Zum ersten Mal weisen die Diskurse um die richtige Menschenführung innerhalb der schulischen und betrieblichen Institutionen die vollständige Struktur eines Selbstführungsdiskurses auf. Nicht nur privilegierte Gruppen innerhalb der institutionellen Hierarchie, sondern alle zentralen Akteursgruppen wie die Angestellten und die Schüler/innen treten als Subjekte in Erscheinung, die über eine Subjektivität verfügen, zu der sich selbst gestaltend verhalten können und sollen. Sowohl der Betrieb als auch die Schule räumen den Einzelnen dafür einen gewissen Freiraum ein, der nötig ist, damit sich die Subjektivierung in Eigenregie vollziehen kann. Die teilautonome Gruppenarbeit für die Angestellten mit ihren flachen Hierarchien oder die Einführung neuer Lern- und Lehrformen können als Beispiele für einen solchen Bedeutungszuwachs der Selbstführung in den genannten Institutionen gelten. Darüber hinaus öffnen sich die Institutionen für zahlreiche Techniken, Methoden und Verfahrensweisen der Selbstführung, wie zum Beispiel dem Kompetenztraining, dem NLP, aber vor allem auch reflexiven Techniken wie dem Feedbackverfahren oder auch dem Lerntagebuch. Es ist gar nicht zu übersehen, dass sich der Betrieb und die Schule in einer Weise der eigenverantwortlichen Selbstmobilisierung der arbeitenden und lernenden Subjekte öffnen, die nicht mehr partikular zu nennen ist. Das bedeutet aber gleichermaßen, dass die Subjekte sich gegenüber den Institutionen öffnen, so dass sich das Subjekt selbst mit Interessen und Zweckmäßigkeiten des Betriebs und der Schule auflädt (Selbstevaluation, Selbstkontrolle, Leistungssteigerung, Outputorientierung). Man erkennt zugleich in beiden Institutionen, wie sehr ein von unten getragener kritischer Reformdiskurs um mehr Autonomie und Eigenverantwortung aus früheren Epochen in den 1980er und 1990er Jahren mit einer drastischen Öffnung gegenüber Marktprozessen verbunden wird. Es ist erstaunlich, welche Ähnlichkeiten beide Reformprozesse sowohl in ihren Voraussetzungen als auch in ihrem Verlauf und ihren Zielen aufweisen. Gelegentlich macht es den Anschein, dass die institutionellen Realitäten im Hinblick auf die Art der Menschenführung sich dermaßen angenähert haben, dass eine coachende Manager/in zugleich eine Lehrer/infunktion bekleidet, während die Lehrer/in zugleich als Manager/in auftritt. Die Umbauten unter den Schlagworten der Autonomie und Eigenverantwortung sind aber mehr und etwas anderes als ein simpler Bedeutungsaufschwung der Subjekte und ihrer Subjektivität. Die Institutionen drängen darauf, dem Gebot der Subjektivierung in einer bestimmten Art und Weise nachzukommen und sich selbst eine bestimmte Form und Gestalt zu geben, die wiederum die Freiheitsspielräume begrenzt, determiniert, prästrukturiert. Die Subjektivierung findet somit innerhalb eines Raumes statt, der sowohl öffnet als auch präfiguriert. Die Arbeitskraftunternehmer/in auf der einen und die unternehmerische 34 Ebda., 15.

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Schüler/in auf der anderen Seite sind die konkreten (realfiktionalen) Gussformen, in die sich die Selbstformung einschmiegt. Zwar haben die personalen, autoritativen Gestalten der betrieblichen und schulischen Führung an Nachdruck und Bedeutung verloren, sind vielleicht sogar an einigen Stellen ganz verschwunden, mit ihnen sind aber weder Leistungserwartung, Profitrate noch disziplinierende Bewertungsraster verschwunden. Stattdessen übernehmen äußere Vorgaben, ja die Subjekte selbst kontrollierende, motivationale, evaluierende Funktionen. Aus dem Genannten ergibt sich, dass die institutionellen Diskurse und die Lebensratgeberdiskurse viel näher zusammengerückt sind als in den Epochen zuvor, und zwar ausgehend von beiden Seiten. Die Institutionen haben sich den Subjekten und ihrer Selbstführung geöffnet, während die Lebensratgeberdiskurse das Subjekt einer Welt großer Aneignungsmöglichkeiten preisgegeben haben. So beginnt sich auch hier eine Grenze zu verflüssigen, die lange Zeit wesentlich war für eine lebensratgeberische Adressierung des Subjektes. Das dem Subjekt unterstellte Streben nach Individualisierung ist nun nicht allein in den außerinstitutionellen Diskursen und Praktiken aufgehoben (sprich: Lebensratgebern), sondern findet Anklang und Berücksichtigung in den neoliberal umgebauten Institutionen. Seine institutionelle Verankerung weicht aber die strikte Entgegensetzung von Fremd- und Selbstführung auf, sie trägt fremdsteuernde Elemente in die Selbstführung und selbststeuernde Elemente in die Fremdführung. So beginnt die soziale Umwelt des aktuellen Selbstführungssubjektes das Gesicht des Individuellen zu tragen, doch seine innere Struktur verrät, dass die gegenteilige Bewegung weitaus wirkmächtiger ist.

Rückblick Der Siegeszug der Subjektivierung

Die dritte Epoche feiert die Subjektivierung wie keine der beiden vorangehenden. Setzen sich die frühen und mittleren Lebensratgeber noch von der sozialen und institutionellen Umwelt ab und werden umgekehrt von dieser nicht oder nur teilweise in ihrem Streben nach Selbstführung, Selbstbestimmung und Selbstwerdung integriert, so wird Subjektivierung seit den 1990er Jahren zum gesamtgesellschaftlichen Schlüsselkonzept. Zumindest zeigen dies unsere diskursiven und institutionellen Analysen. Schüler/innen und Angestellte werden als Subjekte freigesetzt und angerufen. Damit sind Versprechen auf Selbstbestimmung, Individualität, weniger Hierarchien und mehr demokratische Mitbestimmung verbunden. Die institutionellen Untersuchungen zeigen diesen Subjektivierungsimperativ deutlich. Er wird einerseits flankiert von einer gesteigerten Eigenverantwortung und impliziten Selbststeigerungs- und Kosubjektivierungsimperativen, andererseits von einer objektivistischen Rahmung durch Gehirnkunde und statistisches Controlling. Insgesamt wächst also nicht nur die Selbstbestimmung der Subjekte, sondern auch die Anforderungen sowie die Kontrollmechanismen. Feedbacktechniken ersetzen vielleicht starre Hierarchien, verstärken jedoch den Druck zur Selbstoptimierung. Projekte gelten im Privaten, in Schule und Betrieb als neue und angemessene Arbeitsform. Sie fördern aus Sicht ihrer Apologet/innen Individualität, Zusammenarbeit und bieten den Charme des Vorläufigen und Experimentellen. Wie Eva Illouz gezeigt hat, dienen sie dabei vor allem denjenigen gesellschaftlichen Schichten, welche diese neuen Tugenden bereits habituell einüben. Die Projektexistenz ist einerseits, z.B. im Bereich der Schule, bereits auf das Wirtschaftsleben ausgerichtet, andererseits macht sie Selbstaktualisierung, eine nach außen präsentierbare, markante Identität und Networking zu zentralen Eigenschaften, Kompetenzen, erfolgreicher Subjekte. Feedbackund Reflexionstechniken sowie Übungen zu so vage wie positiv gefassten Eigenschaften wie emotionaler Intelligenz oder kommunikativer Kompetenz dienen dabei sowohl einer ausdifferenzierten Selbstkontrolle bei gleichzeitiger Optimierung als auch der Kosubjektivierung. An den Problematisierungen ließ sich bereits ablesen, dass Zwang, Antagonismus, aber auch die Bedrohungen von Fremdführung und Selbstverfehlung in der subjektivierungsfreundlichen Welt der Möglichkeiten diskreditiert werden oder gar nicht mehr ernsthaft gedacht werden können. Die Lebensratgeber haben diese Subjektivierung seit ihrer Entstehung vorangetrieben. Sie hat Einzug gehalten in viele zentrale gesellschaftliche Bereiche, dabei

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aber zunehmend einen festen Subjektkern und eine selbstgenügsame Eigentümlichkeit geopfert. Subjektivität geht in einer Verweisstruktur auf, die Eigenes und Fremdes immer schwerer trennen kann, gleichzeitig immer radikaler zur Eigenverantwortung aufgerufen wird.

Die Lebensratgeber und die Krise der Subjektivität im 20. Jahrhundert. Eine Genealogie der Selbstführung

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Einleitung

Die letzten drei Kapitel haben die große Bandbreite der Gestalten aufgezeigt, die die Selbstführung in den Lebensratgebern aus den letzten 100 Jahren annimmt. Die strategischen Achsen und technischen Arrangements wurden benannt und die Absetzbewegungen zwischen den Epochen ausgeführt. Dieses letzte Kapitel tritt einen großen Schritt zurück und schlägt den großen genealogischen Bogen. Im Folgenden setzen wir den Schlussstein unserer genealogischen Betrachtung. Es geht darum, unsere Forschungsergebnisse zu den einzelnen Epochen daraufhin zu befragen, was sie über den Wandel der Selbstführung verraten, und wie sich dadurch das Konzept der Selbstführung in seiner gegenwärtigen Form durch Blick in seine Entwicklung neu verstehen und fassen lässt. Dabei wenden wir uns zwei Fragen zu. Die erste betrifft die Struktur der Selbstführungsregimes, wie wir sie in den Quellen finden. Wie lässt sich das Aufgebot eines großen technisch-strategischen Arrangements zusammen denken mit der in den Oszillationsfiguren festgestellten Brüchigkeit der Subjektstrukturen? Und was bedeutet dieses Verhältnis für die Geschichte der Selbstführung? Unsere These ist dabei, dass wir es mit grundsätzlich verschiedenen Subjektstrukturen und strategischen Arrangements zu tun haben. Diese Regimes spiegeln innerhalb jeder Epoche in sich konfligierende Anforderungen wider, welche spannungsvolle Oszillationsfiguren hervorbringen und die Subjekte in hoch spannungsvolle Selbstverhältnisse setzen, ohne das Unterfangen der Selbstführung an sich dabei zu untergraben. Der zweite Teil fragt danach, wie die Verschiebungen im Verhältnis von Selbstund Fremdführung in Schule und Betrieb vor dem Hintergrund der Selbstführungsregimes der Lebensratgeber zu bewerten sind. Wir zeigen, wie im 20. Jahrhundert das Interesse der Institutionen an den Subjekten zunächst nur langsam erwacht, aber dann auf diese immer umfangreicher Bezug genommen wird. Dies ist jedoch nicht mit einer Freisetzung der Subjekte und ihrer Kräfte in der Gegenwart gleichzusetzen. Vielmehr zeigen wir, wie sich der grundlegende Antagonismus in die Subjekte hinein verlagert und dort in seiner Struktur verdoppelt wird. Im dritten und abschließenden Teil ziehen wir die Konsequenzen aus den ersten beiden Fragen und aus den vorangehenden Kapitel. Wie stellt sich die gegenwärtige Selbstführung dar, wenn wir sie in ihrer historischen Gewordenheit durchleuchten? Welche geläufigen Vorstellungen werden dadurch irritiert? Was ist von den Anfängen des großen Unterfangens der Selbstführung geblieben? Die These dabei lautet: Die Geschichte des Subjektes der Selbstführung ist nicht eine Geschichte zunehmender Freiheiten und Selbstbestimmung, sondern eine der zunehmenden inneren Desta-

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bilisierung des Subjektes bei steigender äußerer Belastung. Die starke emanzipatorische Aufladung des Subjektes kann immer weniger an seine gedankliche oder praktische Durchdringung zurückgebunden werden. Die Subjekte müssen sich nicht deshalb immer wieder neu entwerfen, weil sie äußerlich von Tradition und Religion freigesetzt wurden, sondern weil ihnen die innere Struktur keine in sich stabile Form der Selbstführung erlaubt. Der Ruf nach Selbstführung ist deshalb in unserer Zeit nur noch ein verhallendes Echo.

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Mikrostruktur der Selbstführung Krise der Subjekte

2.1 EINLEITUNG Das Bild der modernen Selbstführung, wie es sich in den Lebensratgebern zeichnet, ist von einer grundlegenden Krisenhaftigkeit geprägt. Damit ist zweierlei gemeint: Erstens wird Selbstführung von Anfang an als Anliegen von größter Virulenz porträtiert, gestützt sowohl durch Problematisierungen als auch durch Verquickung eines Rufes nach einem Neuen Menschen im Pathos der Zeitenwende mit einem wissenschaftlich-philosophisch informierten anthropologischen Interesse am Menschen. Was der Mensch ist und was er sein soll, diese beiden Topoi verschränken sich untrennbar miteinander und laden das Unterfangen der Selbstführung mit Spannung auf. Zweitens sind im Subjekt nicht nur theoretisch, sondern auch technischstrategisch konfligierende Anforderungen implementiert, so dass es nicht zur Ruhe kommt. Diese beiden Kraftlinien setzen sich in sich wandelnder Form durch das ganze Jahrhundert hindurch fort. Sie treiben sowohl die einzelnen Regime der Selbstführung als auch ihren Wandel an. Unsere These ist, dass zwar die einzelnen Epochen ihre eigene Rationalität der Selbstführung mitbringen und die vorangegangene Ratio kritisieren, sich daraus aber nicht das neue strategische Arrangement ableiten lässt. Die Zäsuren sind deutlich, lassen sich jedoch nicht aus Makrostrukturen ableiten, auch wenn es parallele und sich überlagernde Momente gibt. Eben deshalb gibt es keinen über die drei Epochen übergreifenden Subjekttypus. Gleichzeitig wird deutlich, welche Strukturen die Umbrüche versteckt überdauern. Wir zeigen dabei, dass der Mangel an Stabilität nicht unbedingt dem Projekt der modernen Selbstführung abträglich ist, sondern vielmehr eine eigene Dynamik erlaubt. Die Lebensratgeber etablieren zwar strategische Arrangements und geben den Subjekten insofern Orientierung. Sie erschließen auf diese Weise Subjektivitäten. Gleichzeitig appellieren, problematisieren und verunsichern sie jedoch auch; sie machen nicht nur ein Angebot an Selbstführung, sondern verstricken die Subjekte schon in der Form der Texte in grundlegende Widersprüche der Epoche. Damit zeigen sie jedoch viel über eben diese Epochen auf. An den Ratgebern lässt sich die Positivität der Selbstführung ablesen. Gezeigt wird, wie sich in jeder Epoche trotz der verschiedenen Anlagen der Ruf nach Selbstführung auf verschiedene Weise, aber mit großer Zuverlässigkeit perpetuiert. Das Genre weitet sich aus, demokratisiert und professionalisiert sich, ohne jedoch in eine abschließende Form zu kommen. Es folgen stattdessen immer weitere Öffnungen der Subjektivität,

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Aufspannungen des Horizontes der modernen Selbstführung in disparaten Aporien. Die erste Frage betrifft die Mikrostruktur der Selbstführung. Zentrales analytisches Konzept ist dabei die Konzeption der Krise.

2.2 ZWISCHEN UNTERGANG UND CHANCE: DIE VON DEN RATGEBERN THEMATISIERTE KRISE Den Lebensratgebern ist eine anspruchsvolle, wenn auch nicht widersprüchliche Ausgangssituation eigen. Diese ergibt sich erstens aus der doppelten Reflexivität des Mediums, zweitens daraus, dass alle Epochen der Selbstbestimmung großen Wert und Raum zugestehen (wir nennen dies die liberale Strukturdynamik), gleichzeitig aber auch diverse, die Selbstbestimmung stark begrenzende, Faktoren anführen und drittens darin, dass das Verhältnis des Subjektes zu sich selbst und zur Welt – epochenspezifisch – nicht glücklich aufgelöst wird, sondern zwischen verschiedenen Polen oszilliert. Die Brüchigkeit betrifft einerseits die Subjekt-Objekt-Spaltung, die im Medium der Lebensratgeber angelegt ist. In dem Moment, wo führendes und geführtes Subjekt, vermittelt über einen instruktiven Text, ein und dieselbe Person sind, muss diese Doppelung, die umgekehrt eine Aufspaltung des Subjektes in einen instruierenden und einen instruierten Teil bedeutet, und deren Überwindung immer wieder verhandelt werden. Der zweite Horizont, in welchem die Brüchigkeit der modernen Selbstführung von uns herausgearbeitet wurde, ist unter den Oszillationsfiguren behandelt worden. Darunter sind die Figuren gefasst, in die sich das komplexe Selbst- und Weltverhältnis der Subjekte einordnet, wenn es sich auf den Weg der Selbstführung macht und auf ihm voranschreitet, bis zu seinem Ziel (wenn eines vorgegeben ist). Wir haben die verschiedenen Ambivalenzen herausgearbeitet, die sich zwischen Selbstbestimmung und Fremdbestimmung, zwischen Rationalität und Irrationalem, zwischen zu viel und zu wenig Führung ergeben. Während es Grundproblematiken gibt, die sich durchweg erhalten, wird doch erkennbar, wie groß die Verschiebungen innerhalb der Brüchigkeit sind. 2.2.1 Die Krise der Subjektivität und die Transzendierung der Welt im Subjekt In der ersten Epoche der Ratgeber wird der labile Status des Subjektes und sein anfälliges Verhältnis zur Außenwelt ausführlich kritisiert. Auf der einen Seite muss das Subjekt sich wachsam zeigen und mittels aktiver Techniken gegen innere Feinde schützen. Diese sind niemals endgültig besiegt, sondern können sich immer wieder regen und die mühsam errichtete Integrität des Subjektes ins Wanken bringen. Auf der anderen Seite sieht sich das Subjekt einer Welt gegenüber, die, vom Daseinskampf und von kulturellen Fehlentwicklungen geprägt, jederzeit ihre zerstörerische Kraft entfalten und die Einzelnen unter sich zermalmen kann. Die Meisterung des Selbst wird zur Voraussetzung der Meisterung der Welt, aber die Bedrohung sozialer Desintegration und persönlichen Untergangs können niemals endgültig überwunden werden.

Die Krise der Subjektivität: Mikrostruktur

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Umgekehrt leidet die Gesellschaft der frühen Ratgeber unter der als krank dargestellten Subjektivität ihrer Mitglieder. Da diese sich wiederum in einer Gesellschaft sehen, in der sittlicher Verfall infektiös ist und Neurasthenie und Materialismus sich ausbreiten, geht von der Gesellschaft eine Gefahr für das Subjekt aus, die über das notwendige Szenario des Lebenskampfes hinausgeht. Die vorherrschende, defiziente Form von Subjektivität, nämlich willensschwach und unbeherrscht, unvernünftig und feige, perpetuiert und verstärkt ihre eigene Brüchigkeit, so die Diagnose der frühen Texte. Selbstführung in Form von Willensschulung ist also eine persönliche und zugleich eine gesellschaftliche Kur. Die Krise ist mit Zeitenwende-Pathos aufgeladen. Die beschwört einen neuen Typ Mensch herauf, der dem alten weit überlegen ist: einen Willensmenschen, eine Ausnahmepersönlichkeit, in der Sprache der Texte eine Hammernatur, dessen Amboss die Welt ist. Selbstführung ist hier der breit angelegte Versuch, die gesamte Krise im Subjekt zu bändigen. Dieser Pathos färbt und durchdringt dieses Unternehmens von Selbstführung; er spricht aus jeder Zeile der Texte. Entsprechend epochal ist das Arrangement aus Wissen und Techniken, das die frühen Ratgeber auffahren. Es geht auf der diskursiven Ebene um eine Durchdringung des Menschen, welche den Charakter des Ein-für-alle-Mal hat. Doch der Willensheld geht nicht im Kampf auf. Seine Vorbildfunktion, seine heilende Wirkung erhält er dadurch, dass er die Welt in sich überwindet. Er transzendiert den Lebenskampf und findet Frieden, dieses Motiv ist besonders bei den Selbsterziehungsratgebern deutlich: Er vereint Kraft und Ruhe. Er findet einen höheren, abstrakten Bezugspunkt, ohne den die Überwindung der Welt nur Schein wäre. Die Überwindung der individuellen und gesellschaftlichen Krise wird also durch eine Schulung in Selbstüberwindung erreicht. Die Subjekte müssen sich am eigenen Schopfe aus dem Sumpf ziehen. Wem dies gelingt, der kann es auch mit der Welt aufnehmen. Diese frühen Texte visieren eine Transzendierung der Welt im Subjekt an. Der aufgeladene Ruf nach Selbstführung kommt also aus einer umfassenden philosophischen, gesellschaftskritischen, naturwissenschaftlichen und medizinischen Auseinandersetzung mit einer als fundamental krisenhaft wahrgenommenen Situation. Der Schulungsweg ist auf der Ebene der Selbstführung die große Leistung der Texte, eine Strategie, die noch den Beiklang des Militärischen hat: Das Subjekt wird durchdrungen, eingekreist, durchleuchtet und festgestellt. Gegen die subjektivierungsfeindlichen Aspekte im Inneren, die inneren Feinde, wird ein durchdachter Feldzug geführt, der an eine Meisterpartie Schach erinnert, mit dem Unterschied, dass sie unendlich ist. 2.2.2 Die Krise der Individualität und die Befreiung des Subjektes von der Welt In der zweiten Epoche steht die Individualität im Zentrum der Krise. Die Einzelnen werden gerade dadurch krank, dass sie den Normalisierungsforderungen der Gesellschaft entsprechen. Ihnen wird eine falsche Subjektivität anerzogen und sie werden dafür sozial belohnt, dass sie ihr auch weiterhin entsprechen. Das Leiden an Normalisierung höhlt die Struktur der Subjekte aus, bis sie physisch daran erkranken. Jedwedes Glück ist innerhalb dieser Konstellation nur scheinbar. Die Individuen können nicht gut leben, solange sie sich selbst verpassen. Gesund und glücklich ist nur, wer

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aus seiner Individualität heraus lebt. Insofern ist die Krise, die die Texte der 1960er und 1970er ihrer Zeit attestieren, eine der Individualität: genauer eine Krise des Mangels an Individualität, welche durch die Dezentrierung der Subjektivität überwunden werden soll. Individualität verstehen wir dabei als ein historisches Konstrukt: Es wird den Subjekten als Ziel unterstellt und ein Mangel daran attestiert. Individualität tritt in der zweiten Epoche als ein spezifischer Modus des Weltbezugs auf – als Befreiung des Subjektes von der Welt. Gerade diejenige Form von Selbstführung wird kritisiert, die für die vorangegangene Epoche vorbildlich war. Der disziplinäre Feldzug und die intellektuelle Umzingelung des Menschen gelten als lebensfeindlich. Die Heilung kommt ab den 1960ern, verstärkt in den 1970ern, gerade aus den inneren Kräfte, die dem subjektiven Zugriff entzogen sind. Die Selbstführung ist nicht mehr getragen von der Schwere des Pathos, sondern von der Leichtigkeit eines Optimismus. Daraus gewinnt das Regime der zweiten Epoche seinen Reiz und seine Zugkraft, seine eigene Färbung. Auch diese Form der Selbstführung kommt niemals zur Ruhe, denn sobald die Natürlichkeit und Individualität der Subjekte positiv gefüllt und technisch hergestellt werden soll, überlassen die selbsternannten Anwält/innen des Individuums diese sich selbst. Die Subjekte befreien sich also in einem von der Welt außerhalb ihrer und der Welt, die sich in ihre Subjektivität eingeschlichen hat: von ihrer anerzogenen, aus dem Ruder gelaufenen Subjektivität. Dazu muss diese Form der Selbstführung das Subjekt selbst peripherisieren und bringt es somit in die diffizile Position, die typisch für die Selbstführung der zweiten Epoche ist. Einzig die Subjekte selbst können sich befreien, die Ratgeber können nur Anwält/innen ihrer Individualität sein. Sind sie befreit, können sie – auf freiwilliger Basis – ihre lebendigen Potenziale der Welt zu Verfügung stellen. In der zweiten Epoche handelt es sich also vor allem um eine Krise der Individualität, welche durch die Peripherisierung der bewussten, rationalen und disziplinierten Anteile im Subjekt überwunden werden soll. Die gesellschaftlich präformierte Subjektivität muss beiseitegeschoben werden, um die innere Natürlichkeit als Quelle der Individualität freizusetzen. 2.2.3 Die Normalisierung der Krise und die Subjektivierbarkeit der Welt Die Welt wird in den 1990ern dem Subjekt nicht mehr entgegengesetzt. Vielmehr steht sie der Prägung durch das Subjekt offen: Die Aneignung, so die Linie der Versprechungen und Antiproblematisierung steht den Subjekten offen. Subjektives und Objektives (in Gestalt der Welt) sind miteinander viel enger verwoben als in den vorangehenden Epochen. Es gibt zwar die Gefahr, sich an der Welt aufzureiben oder in Außenorientierung sich zu wenig um sich selbst zu sorgen, aber diese Gefährdung erreicht nicht das Ausmaß einer veritablen Krise. Der Ruf nach Selbstführung ist vielmehr eine Ermutigung zur Aneignung. Anders gesagt: Die Texte sprechen von kleinen Krisen, die das Subjekt bewältigen muss, um an seiner Subjektivität zu wachsen. Diese sind jedoch entschärft: Sie sind Probleme, zu deren Lösung das Subjekt sich selbst verändern muss, eher Anzeiger unterschätzter Subjektivierungsmöglichkeiten als Ausdruck tiefgreifender Missstände. Da die Subjekte sich sowieso ständig wandeln müssen, sollten sie sich davon nicht aus der Bahn werfen lassen.

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Die Texte färben dieses Verhältnis meist implizit, bei Rubin und Blomberg ganz offen, erotisch ein. Es geht darum, der diskrepanzteleologischen Subjektform Lust abzugewinnen. Es geht um den aktiv erzeugten Genuss einer Lebenssituation, die von Möglichkeiten geprägt ist. Die kreativ genutzten und persönlich genossenen Krisen sind die Kleider, die das Subjekt zur Sichtbarkeit seiner Individualität trägt. In ihnen erkennt es sich wieder. Krisen, hier zu Möglichkeiten, zu Chancen erotisiert, sind Motoren der Subjektivierung und Individualisierung. Wir können hier von einer Umkehrung des Krisenbegriffs sprechen. Die Krise ist in den aktuellen Ratgebern ausschließlich als eine Dimension der Subjekte und nicht mehr als eine Modalität der Außenwelt konstruiert. Krisen sind nun mehr per definitionem ins Subjekt verlagert und eingeschlossen. Dort sind sie dann der subjektiven Umformung (Interpretation) zugänglich. Die Form der Krise und ihrer Einbettung in die Selbstführung ändert sich also von Epoche zu Epoche. Es bleiben aber zwei Elemente gleich. Es gibt zwei Krisen, die auf verschiedenen Ebenen angesiedelt sind, aber zueinander in Bezug stehen: erstens die Krise als Ort, aus dem der Ruf nach Selbstführung erwächst. Es wird, wie wir sowohl an den Problematisierungen der Lebensratgeber als auch in den zeitspezifischen Diskurse festgestellt haben, Bezug genommen auf krisenförmige gesellschaftliche und soziale Konstellationen (oder welche, die als solche öffentlich wahrgenommen werden). Die Selbstführung wird nicht nur, aber auch als Antwort auf diese Problemlagen entworfen. Selbstführung und Krise sind hier also entgegengesetzt, weil die diagnostizierte Krise durch richtige Selbstführung überwunden werden soll. Insofern verweist jedes Selbstführungsregime auf eine Krise, von der es einen wichtigen Teil seiner Plausibilität und Legitimität bezieht. Das Selbstführungsregime problematisiert diejenigen Subjektivitäten, die sie für grundlegend für die wahrgenommenen Krisen betrachtet und bringt neue Selbstführungsformen in Stellung. Insofern verweist jedes Selbstführungsregime auf die Krise, weil sie auf sie zugeschnitten sein muss, um sie überwinden zu können. Das ist aber nur einer von zwei Aspekten. Denn zweitens zeigen die verschiedenen Formen der Selbstführung an sich jeweils spezifische Formen der Brüchigkeit. Es geht um eine Krise im Subjekt, genauer, um kritische Konstellationen innerhalb der Subjektivierung. Dies haben wir in unserer Analyse, besonders in den Abschnitten zu den Oszillationsfiguren, herausgearbeitet. Unsere Untersuchung deutet darauf hin, dass die zeitspezifischen Krisen in den Selbstführungsregimen nicht überwunden sind. Der Auftrag zur Überwindung der gesellschaftlichen Krisen ist in den Regimen abzulesen, auch Strategien zu diesem Zwecke. Aber zu einer glatten Auflösung kommt es nicht, die Regime oszillieren vielmehr zwischen verschiedenen Polen innerhalb der Subjektivierung hin und her. Jedes Regime, das ja als Überwinder und Löser von im Subjekt detektierten Krisen auftritt, bringt also neue Brüche und Krisen mit sich, weil wichtige strategische Linien zwar durch gesellschaftliche Krisenmomente vorgezeichnet sind, allerdings damit noch nicht vordefiniert ist, wie diese auf subjektiver Ebene miteinander vermittelt werden bzw. vermittelt werden können. Das Kitten oder zumindest die produktive Vermittlung von gesellschaftlichen Strukturbrüchen mit der Selbstführung der Einzelnen bleibt eine Quadratur des Kreises. Mit derselben Frische, mit der die Texte behaupten, jeweils das erste umfassende und moderne Programm zur Selbstführung an die Subjekte zu bringen, präsentieren sie auch Selbstführung als Modell zur Überwindung der von ihnen beschriebenen kri-

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tischen Verhältnisse. Dabei wird jedoch die Ruhelosigkeit selbst zur gleichsam natürlichen Subjektform, deren zerstörerische Tendenzen (wie dem Burnout) am Rande mittels probater Techniken eingefangen werden, ohne jedoch deren Ursache zu beheben. Obwohl in allen drei Epochen Selbstführung als Antwort auf eine kritische Situation gehandelt wird, hebt selbst eine erfolgreiche Teleologie diese nicht vollständig auf – nicht, weil die Stoßrichtung der Texte, gesellschaftliche Probleme auf persönlicher Ebene zu lösen, sowieso zu kurz greift, sondern, weil sie Figuren von idealer Subjektivität entwerfen, die in sich und in ihrem Bezug zur Welt widersprüchlich sind (aufgrund von Unsicherheit, Unbestimmtheit oder Unvollständigkeit).

2.3 DIE MIKROSTRUKTUREN DER KRISE AUS GENEALOGISCHER PERSPEKTIVE Die obige Darstellung hält sich im Wesentlichen an die Problematisierungen der Texte selbst. In einem zweiten Schritt geht es darum, die innere Struktur der Subjektivitätsformen in ihren Grundzügen zu analysieren. Dazu greifen wir einerseits auf die Subjekt-Objekt-Spaltung zurück, andererseits auf diejenigen Oszillationsfiguren, die in ihrer Kernproblematik die Epochen überdauern. Das ist erstens die liberale Strukturdynamik mit den ihr entgegenstehenden Momenten der Begrenzung in ihren verschiedenen Ausprägungen und zweitens das Verhältnis von Selbst- und Fremdführung. Die Subjekt-Objekt-Spaltung ist grundlegend für das Erlernen der Selbstführung mittels eines Textes – die Dezentrierung der Subjekte wie in einem alten Meister-Schüler-Verhältnis wird suspendiert. Sie ist aber auch charakteristisch für die moderne Selbstführung überhaupt, in welcher die Subjekte Führende und Geführte, Formende und Geformte, Erziehende und Erzogene in eins sind. Die liberale Strukturdynamik ist Kennzeichen der Lebensratgeber. Sie hat in verschiedenen Epochen verschiedene Ausprägungen. Diese erfahren aber auch starke Begrenzungen und Gegenmomente. 2.3.1 Ein Ritter auf tönernen Füßen In den frühen Ratgebern findet sich ein bestimmtes Modell der reflexiven Subjektivität in Reinform, das wir das strategisch-expansive Modell nennen können. Das angerufene Subjekt besteht aus einer grundlegenden, jedoch unstrukturierten Vernunft und einem untrainierten psychophysisch verfassten Willen. An diesen Willen als Lebenskraft, die leben und sich ausbreiten will, wird genauso appelliert wie an ein vernünftig-erkennendes Subjekt, dem komplexe Wissensinhalte vermittelt werden. Diese Vernunft-Willen-Basis ist die Ausgangsposition für einen groß angelegten Feldzug, der strategisch den gesamten Menschen diesem Subjektkern unterwirft und ihn dabei immer potenter macht. Das Objektive1 ist dem Subjektiven entgegengesetzt als

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Das Objektive ist hierbei dasjenige, was dem Subjekt als Anderes gegenübersteht, auf das es sich aber zugleich bezieht. Es kann sich dabei um die Welt handeln, aber auch, wie in diesem Falle, um Anteile des Innenlebens einer Person, auf die das Subjekt keinen unmittelbaren Einfluss hat.

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zu Bekämpfendes, zu Überwindendes, zu Disziplinierendes. Gleichzeitig braucht die Subjektivität das widerständige Objektive, um sich an ihm zu beweisen und zu manifestieren, es selbst zu werden. Der Wille selbst, die zentrale Zugkraft der gesamten Selbstführung, ist in eine Struktur eingebettet, die das Subjekt brüchig macht: Erstens wächst er nur an echten Herausforderungen, also an solchen, an denen das Subjekt auch scheitern könnte. Darin, dass die Subjekte diese trotzdem eingehen, sehen die Ratgeber das Heroische. Zweitens liegt in der unglaublichen Kraft, welche die Texte einem voll entfalteten Willen zugestehen, etwas potenziell Zerstörerisches. Gleichzeitig sind die Willenssubjekte auch immer weniger auf den Halt ihrer Mitmenschen angewiesen: Sie verpanzern sich auch und gerade gegen sie. Deshalb appellieren die Texte an die Moral und an die abstrakte Idee einer Gemeinschaft, also eine moralische Vernunft in den Subjekten, die sie davon abhält, ihren Willen in tyrannischer Form zu missbrauchen. Für die Selbstführung bedeutet dies, dass dasjenige, was dem Schulungsweg wie dem Zielsubjekt die Kraft, die Substanz, die Aura der Würde verleiht, in seiner Gesamtstruktur auch das ist, was den Antagonismus perpetuiert – und damit die Selbstführung zum Einsturz bringen kann. Was in der Formation der eigenen Subjektivität erarbeitet wurde, kann in einer Kettenreaktion auch rückläufig werden und bis in den Kern der Subjektivität hinein einreißen: Die Bedrohung durch Neurasthenie und andere Leiden defizienter Subjektivität bleibt allgegenwärtig. Das Subjekt kann auch bei erfolgreicher Absolvierung des Schulungsweges den inneren Frieden nie ganz sicherstellen. Unsicherheit ist das Element, das die Selbstführung perpetuiert. Auf der Seite der Oszillationsfiguren findet sich eine ähnliche Konstellation. Die liberale Strukturdynamik hat in den frühen Lebensratgebern drei Schwerpunkte: erstens, den Menschen sich selbst zurückzugeben; zweitens, die Einzelnen einer ungeheuren Wandlung zu unterziehen und sie dabei in Subjekte im eminenten Sinne zu verwandeln und drittens in ihrer Subjektivität zu festigen und dabei den schädlichen Einflüssen der Umwelt zu entkommen. Das Wandlungspotenzial, welches die Texte den Lesenden zutrauen und zumuten, ist gewaltig: Sie können und sollen vom Amboss zum Hammer, vom traurig weggekrümmten Wurm zur charismatischen Persönlichkeit, von der schwachen, kranken, zu Träumerei und Neurasthenie neigenden Existenz zum Heldendasein eines Napoleon, Goethe oder Krupp sich emporschwingen. Trotz des militärischen Rigorismus ist den Texten ein tiefes philosophischspekulatives Interesse am Menschen abzulesen: Sie sehen in ihm ein komplexes, hintergründiges Wesen, das zuallererst geistig durchdrungen werden muss, unter Bemühung von Naturwissenschaft und Philosophie, Medizin und lebensreformerischer Denkweise. Das Wissen über den Menschen soll also auf eine moderne Basis gestellt werden. Die Disziplinierung soll ihn nicht einfach zu einer funktionierenden Maschine machen, sondern es ihm ermöglichen, wie die Texte sagen, sein menschliches Potenzial auszuschöpfen, zu einer Persönlichkeit zu reifen, die einerseits einmalig ist, andererseits aber etwas universell Menschliches in Reinform ausstrahlt. Deswegen sehen die Texte in der Selbstführung auch die natürliche und notwendige Fortsetzung von Erziehung und schulischer wie charakterlicher Bildung. Die Selbstführung hat also etwas mit Menschwerdung zu tun, mit allem, was der Zeitgeist an die Steigerung des Menschlichen hängt, von Selektionsphantasien bis zu mystisch-poetischen Beschreibungen. Dabei wird die Bedeutung der Einzelnen ungeheuer herausgehoben:

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Das heißt, sie zu isolieren, als medizinisch-moralische Quarantänemaßnahme, sie zu immunisieren und sie damit im Wesentlichen sich selbst zu überlassen. Erst in der Abgeschiedenheit, in invasiver Selbsterforschung und monastisch-militärischer Selbstabhärtung wird die Struktur der Subjektivität klar und fest. Der Druck macht aus Kohle einen Diamanten, aber nur das kunstfertige Bemühen schleift ihn, lässt ihn klar werden und erstrahlen. Die liberale Strukturdynamik erfährt jedoch eine starke äußere Begrenzung: Der Betonung des Wandlungspotenzials steht der wissenschaftliche Determinismus entgegen. Wenn man alle Theorien und Gesetzmäßigkeiten zusammennimmt, bleibt kaum noch Gestaltungsspielraum übrig. Die Texte brauchen eine geregelte Natur des Menschen, um aus ihr selbst klare, quasi-wissenschaftliche Regeln der Selbsterziehung ableiten zu können. Selbstführung muss state of the art sein und an die aktuelle Wissenschaft, vor allem die Naturwissenschaften anschließen. Dies ist aber, vor hundert Jahren wie heute, in weiten Teilen deterministisch. Aus ihr heraus wird das Veränderungspotenzial nicht wirklich verständlich.2 Man muss die Verankerung der Selbstführung in der Wissenschaft der Epoche selbst aus dem Anspruch auf Modernität verstehen. Das bedeutet einerseits, die Selbstführung aus dem Esoterischen, aus dem Dunkel des Geheimwissens herauszulösen, und zweitens den Lesenden allgemein verständliche Gesetze und klare Regeln zu bieten, um sich selbst verbindlich zu führen. Die Ratgeber dieser Zeit sehen sich als gesellschaftliche Avantgarde. Insofern ist die starke äußere Begrenzung der liberalen Strukturdynamik als eine Folge ihrer eigenen Verpflichtung auf Modernität und allgemeine, quasi-wissenschaftliche Verständlichkeit und Anwendbarkeit zu sehen. Liberale Strukturdynamik und Begrenzung, Freiheit und Zwang, Selbstermächtigung und Gemeinwohl werden in der ersten Epoche also einerseits entgegengesetzt, andererseits als sich wechselseitig bedingend verstanden. Es gelingt den Texten nicht, diese Gegensätze in der Theorie zu versöhnen – sie können jedoch auch nicht auf eine Seite verzichten. Die Überwindung der Gegensätzlichkeit wird zur heroischen Aufgabe der Willenshelden selbst. Die zweite Oszillationsfigur betrifft das Verhältnis von Selbst- und Fremdführung. Der Ruf nach Selbstführung beginnt als radikale und konsequente Abwehr von Fremdführung. Damit ist einerseits die mangelhafte schulische oder elterliche Erziehung gemeint, vor allem aber die Welt der Moderne, die, wie im Fall der Großstädte, die Subjekte mit Reizen und Versuchungen attackiert und zu infizieren droht. Die Abwehr von Fremdbestimmung nimmt hier ihre äußerste Ausprägung an, nämlich die einer immunologischen Strategie, welche alles potenziell Fremde und Infektiöse aufspürt, bekämpft und aussondert. Dies führt zur Teleologie der verpanzerten Subjekte. Die Techniken der Manipulation und sozialen Magie sehen allerdings ein Subjekt vor, das immun gegen äußere Einflüsse ist, aber gleichzeitig eine kontrollierte Einflussnahme an anderen betreibt. Es gibt also einen starken Kontrast zwischen der isolierend-immunisierenden Tendenz und der aktiven Einflussnahme. Das Subjekt lässt es zu, dass etwas von ihm nach außen dringt, soll aber gleichzeitig vermeiden, 2

Immerhin versuchen die frühen Texte sich noch gelegentlich an der Überwindung dieser Widersprüchlichkeit – dieses Niveau der Auseinandersetzung geht den Texten der folgenden Epochen gänzlich verloren.

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dass etwas in es selbst eindringt, oder das zumindest extrem genau kontrollieren. Die Vorbilder sind charismatische Persönlichkeiten, die gerade durch ihre Wirkung auf andere Gewaltiges und Fortdauerndes schaffen. Die Teleologie peilt ein Ausnahme- und Führungssubjekt an. Darin zeigt sich trotz der Öffnung für alle ein sich durchziehender Elitarismus. So ist ihr Modell von autarker Selbstführung auch ein starkes Unterordnungsverhältnis: das von Befehlsgeber und Gehorchendem, nur, dass diese ein und dieselbe Person sind. 3 Zwang, wenn es Selbstzwang ist, ist der einzige Weg zur Freiheit, zur Selbstbestimmung. Genauer: Das Individuum ist nur so weit frei, wie es in der Lage ist, sich selbst zu zwingen. Der Unterschied besteht für die Ratgeber der ersten Epoche darin, dass der Zwang selbstauferlegt und vernünftig ist, es ist ein Zwang der Subjektivität gegen das Objektive und er allein ist in der Lage, dem äußeren Zwang der Fremdbestimmung die Stirn zu bieten. Freiheit wird also aus ihrem vermeintlichen Gegenteil herausgezogen. Sie muss erkämpft, erarbeitet und ausgebildet werden. Insofern hängt sie an Mündigkeit, Vernunft und Willensstärke. Nur so verfügen die Subjekte wirklich über sich, und das ist die Hauptaufgabe der frühen Selbstführung. Die Konzeption von Selbstführung als Feldzug ermöglicht es, sowohl die grundlegende Krisenhaftigkeit der Epoche in die Subjekte hinein zu verlagern (u.a. durch radikale Immunisierung gegen alles Kranke und Schwächende) als auch Selbstführung als Kur der Gesellschaft zu konzipieren. Da der Feldzug prinzipiell unendlich ist und das Reich des Willens immer (von außen, aber vor allem von innen) bedroht, wird Selbstführung zur unendlichen Aufgabe. Die grundsätzlichen Gegenpole von liberaler Strukturdynamik und Disziplinierungsdenken sowie Unterwerfung unter ein abstraktes Gemeinwohl werden in der idealen Figur des Willenshelden als aufgehoben gedacht. Mangel an Selbstbeherrschung mündet in den Ruf nach besserer Selbstführung durch Willenstraining und Bezwingung innerer Feinde. 2.3.2 Freiheit ex Machina Die zweite Epoche der Lebensratgeber wendet sich gegen ein strategisch-expansives Modell und dabei gerade gegen den Subjektkern aus Verstand und Willen, der für dieses Modell zentral ist. Sie entwickeln stattdessen ein zurücknehmend-erlaubendes Konzept von Selbstführung: Zurücknahme eben von willentlicher Beeinflussung und verstandesmäßiger Durchdringung des eigenen Selbst und Erlauben und Fördern einer ursprünglichen Natürlichkeit, welche, einmal befreit, den Subjekten eine intuitiveigensinnige Individualität schenkt. An die Subjektivität wird appelliert, gleichzeitig besteht der Appell darin, dass deren Zurückhaltung gefordert wird. Die Texte der zweiten Epoche sehen das Selbst selber wie einen Text: Man muss die alten Einschreibungen auflösen, um zur eigenen Ursprache zurückzufinden. Wie bei einem Palimpsest sind unter den falschen Einschreibungen der Erziehung die ursprünglichen Worte noch zu erkennen. Sie müssen nur rekonstruiert werden. Aber auch gute Restaurationsarbeit dreht nicht die Zeit zurück. Bei den Individuen der 3

Autoren wie Heinrich Helmel lassen es sich trotzdem nicht nehmen, im Ton an den Kasernenhof zu erinnern.

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1960er und 1970er kommt hinzu, dass sie nicht nur Text und Restaurateur in einer Person sind und den Restaurateur am Schluss in den Seiten verschwinden lassen müssen – sondern dass ihr Urtext wesentlich aus dynamischer Organizität besteht, die ausgedrückt und nicht erkannt werden soll. Die kybernetische Sprache der Texte macht diesen Gegensatz sogar noch krasser. Neben organizistischen Anleihen zelebrieren sie einen Technizismus; nicht der Text, das Buch gibt ihnen ihre Bildwelt, sondern der moderne elektronische Apparat, der Computer. Anstatt alte Palimpsestschichten zu rekonstruieren, programmieren sie einfach anstelle der gelöschten Begrenzungen eine neue Natürlichkeit in die Subjekte hinein. Darin wird offenbar, dass sie letztlich kein objektives Kriterium dafür haben, was diese Natürlichkeit im individuellen Fall ausmacht – außer einem Gefühl der Vitalität und Stimmigkeit, der Gesundheit und des Glücks. Die Lebensratgeber können also die Lesenden nur bis zu einem bestimmten Punkt führen – ab dort muss deren Natürlichkeit, Organizität, Eigensinn übernehmen. Damit bleibt das Herz der Individuen ein unkartographiertes und unkartographierbares Land.4 Die Subjekte verfügen nicht über ihre eigene Lebendigkeit, diese lebt vielmehr durch sie hindurch. Ihre Aufgabe besteht darin, das Objektive (die Organizität) sich unverfälscht (subjektive Zurichtung) ausdrücken zu lassen. Die Authentizität des Ausdrucks kann jedoch nicht technisch gesichert werden. Selbst und gerade diejenigen, die alles richtig machen wollen, sind davon bedroht, ihr wahres Leben zu verpassen. Die Brüchigkeit besteht also in der Dezentrierung und im Dilemma der Authentizität des Ausdrucks der eigenen Lebendigkeit bei deren gleichzeitiger Unverfügbarkeit. Das Subjekt muss sich klein halten und gleichzeitig das falsche Objektive (die Gesellschaft) vom wahren Objektiven (der eigenen Lebendigkeit) trennen. Was die Selbstführung perpetuiert, ist dabei eine doppelte Unbestimmtheit: Erstens, wie die verteidigte Freiheit positiv füllen, wenn das Subjekt selbst entmachtet ist? Zweitens, wie sich sicher sein, dass man wirklich authentisch lebt und sein Dasein nicht vertut? Hinter dem grundlegenden Optimismus der Epoche lauert auch immer die Gefahr, sich selbst zu verpassen, sein Leben nicht zu leben, ja es somit sogar zu vertun. Die liberale Strukturdynamik der zweiten Epoche zielt auf Demokratisierung und Individualisierung. Haftete der frühen Selbstführung trotz ihres allgemeinen Anspruches noch etwas Elitäres an in ihrer Heroisierung von Ausnahmepersönlichkeiten und der Hammer-und-Amboss-Metaphorik des Daseinskampfes, ist gelungene Subjektivierung ab den 1960ern für alle Menschen zu ihren eigenen Bedingungen erreichbar. Da die Selbstführung um die eigene Natürlichkeit kreist, haben die Subjekte Ziel und Maßstab der gelungenen Teleologie allein in sich. Äußeren, fremden Heros-Figuren nachzueifern ist mehr Ausdruck der Entfremdung denn angemessener Selbstführung. In der zweiten Epoche können die Individuen ganz für sich im Genuss ihrer Indivi4

Ein naheliegender Einwand ist, dass ja gerade die Bedürfnispyramiden und -tableaus die Aufgabe einer solchen Kartographie übernehmen. Dies ist durchaus zutreffend. Allerdings lösen diese das Problem nicht, das Innerste der Subjekte zu bestimmen. Denn an diesem Punkt biegt sich die Bedürfnisanthropologie auf die Individualität der Individuen zurück: Das oberste Bedürfnis ist Selbstverwirklichung, d.h. sich selbst finden und entwickeln, sein Eigenes ausdrücken. Worin dieses besteht, darf gerade nicht vorgeschrieben werden.

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dualität aufgehen. Sie können, aber müssen sie nicht nach außen sichtbar ausdrücken. Bürden die frühen Ratgeber mit der Verantwortung, ein voller und ganzer Mensch zu sein, sowohl Würde als auch Schwere auf, an denen die Subjekte wachsen, ist ab den 1960ern gerade Leichtigkeit das Zeichen, dass die Selbstführung auf einem guten Weg ist. Das Menschsein geht ganz im Ich-selbst-Sein auf. Anders als die frühen Texte, aber durchaus mit ähnlicher Verve, betonen die Ratgeber, dass richtige oder falsche (oder gar keine) Selbstführung einen Unterschied ums Ganze ausmacht. Ob der Unterschied äußerlich sichtbar ist oder nicht: Die Subjekte stehen zwischen Gesundheit und Krankheit, Errettung und Trostlosigkeit, Herr ihres Schicksals zu werden oder Opfer der Umstände zu bleiben. Die Ausrichtung auf Leichtigkeit schließt nicht die Dramatik der Konstellation aus. Die äußere Begrenzung der zweiten Epoche ist der ersten ähnlich: Wissenschaftliche Theorien, welche die frühen mitunter an Technizismus weit überbieten (u.a. die Kybernetik), zeigen Aspekte eines vermessenen Menschen, welche so gar nicht zum Duktus des unbegrenzten Wachstums, der Befreiung und individuellen Selbstbestimmung passen wollen. Die Texte deuten die wissenschaftlichen Theorien in einen Optimismus des Machbaren um: Wie die Systeme immer komplexer, großartiger, ja menschlicher werden, so soll auch die richtige Selbststeuerung den Menschen erst wirklich freisetzen. Die Selbstbegrenzung durch die Moral hingegen wird nun ein Opfer der liberalen Strukturdynamik: die Selbstführung wird amoralisch. Die neue, geforderte Selbstbegrenzung ist die der Verstand-Willens-Subjektivität. Dafür trennt sie sich von einer zentralen Steuerungsinstanz, ohne etwas Geeignetes an ihre Stelle setzen zu können. Im Prinzip ist das (kybernetische) Ideal eine Selbststeuerung eines Systems von Systemen ohne einen steuernden Kern. Nur befinden sich die Subjekte, wenn der Aufruf der Selbstführung an sie ergeht, im Zustand verstandesmäßiger Übersteuerung, müssen also aktiv tätig werden, um in eine Natürlichkeit zurückzugelangen, welche sich selbst überlassen werden kann. Auch die Texte der zweiten Epoche zeigen ein großes humanistisches Interesse am Menschen – allerdings nicht an dessen intellektueller Durchdringung, wohl aber an der Unergründlichkeit seiner Lebenskraft. Dementsprechend leuchten sie auch die Widersprüche nicht aus. Auch das kybernetische Modell verschleiert eher die Opposition von technizistischer Machbarkeit und humanistischem laissezfaire, als dass es sie überwinden würde. Wenn auch die immunologische Form von Abwehr und Verpanzerung in der zweiten Epoche fehlt, behalten die Texte dennoch eine mal mehr, mal weniger stark ausgeprägte Skepsis gegenüber der sozialen Umwelt bei. Dyer und Kirschner stellen den Egoismus hinter den sozialen Normen bloß. Die anderen halten die Subjekte gerade davon ab, ihre Individualität zu verwirklichen. Die Welt höflicher Umgangsformen, sozialer Anerkennung und Angepasstheit ist das Spinnennetz, in dem sich die Einzelnen nur verfangen können. Umgekehrt ist die Demokratisierung an Individualisierung gekoppelt. Außerdem tritt eine Bedürfnisanthropologie in den Vordergrund. Menschen haben wesentlich auch soziale Bedürfnisse. Darüber gehen Dyer und vor allem Kirschner hinweg, obwohl sie es nicht wirklich leugnen können. Diese sozialen Bedürfnisse mit dem Streben nach Individualität, das wesentlich in der Auslöschung von Fremdführungsspuren besteht, zu vermitteln, ist eine große offene Stelle der zweiten Ratgeberepoche. Die Lösungsvorschläge, die die Texte aus ihrem sozialen und politischen Umfeld kennen, werden in der Regel abschlägig beschieden: Die politische Rationalität des Wohlfahrtsstaates ist z.B. für Kirschner auf gesell-

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schaftlicher Ebene auch nur das, was das Verstandesdenken auf der persönlichen ist. Erziehung ist die Disziplin der Gesellschaft. Die Freiheit ist hier die Abwesenheit von Zwang, auch und gerade in Form von Vorschriften. Sich aus dem gesellschaftlichen Spinnennetz befreien kann folglich nur, wer den Programmen der Texte folgt und sich den vorgegebenen Suggestionen anvertraut. Die zweite Epoche führt also das spannungsvolle Verhältnis von deterministischer Episteme und großem Veränderungspotenzial nicht nur fort, sondern spitzt es zu: Humanistischer Gestus und technizistischer Jargon wechseln sich ab. Die Kybernetik tritt als Technik auf, die den Gegensatz von Technik und Natur zugleich überwinden soll. Die Lebensratgeber nehmen diese Programmatik auf, sind aber, wie die Kybernetiker/innen selbst, nicht in der Lage, dieses Versprechen umzusetzen. 2.3.3 Penelopes Tuch Die Lebensratgeber der dritten Epoche sind damit beschäftigt, die Subjekt-ObjektSpaltung so klein wie möglich zu halten und sie immer wieder reflexiv einzuholen. Sie propagieren ein Modell der Selbst-Aktualisierung. Dabei setzen die Texte ein Subjekt voraus, das sich selbst ungeheuer transparent ist und ein weitgehend ungestörtes Verhältnis zu seiner eigenen Lebendigkeit hat. Zwar muss die Transparenz durch reflexive Techniken immer wieder hergestellt werden – dies verlangt jedoch weder harte Arbeit noch technische Raffinesse, sondern gleicht eher dem Lüften eines Schleiers. Die Strategie hat also ein Subjekt zum Ausgangspunkt, auf das die frühen Ratgeber (wegen der Transparenz) und die mittleren (wegen der ungestörten Lebendigkeit) neidisch wären. Das adressierte Subjekt besitzt also bereits im Wesentlichen die Insignien echter Subjektivität, es befindet sich nur in einem Zustand leichter Verwirrung, Trübung und knapp verfehlter Aktivierung. Umgekehrt gehört die Subjektivität den Subjekten der 1990er in letzter Konsequenz gerade nicht. Sie verfügen nur über sie, indem sie sie herstellen – in manchen Texten für andere, in jedem Fall aber für sich selbst sichtbar. Das innere Objektive ist so widerstandsarm, dass aus dem Abarbeiten an ihm keine Subjektivität gewonnen werden kann. Umgekehrt kann es auch nicht genügsam im Genuss seiner eigenen Natürlichkeit verweilen: Es muss seine Träume umsetzen und seinem Tun immer und überall den eigenen Stempel aufdrücken. Ungeklärt ist, wie das Subjekt zu diesem Stempel kommen soll. Die Subjektivität gerinnt aber nicht ein für alle Mal in den gestalteten Objekten, sie lebt vielmehr nur im Gestaltungsprozess. Zudem ändert sie sich ständig, so dass der letzte Ausdruck schon bald nicht mehr angemessen ist. Alles hat eine kurze Halbwertszeit und in sich kein Beharrungsvermögen. Die Subjekte sind nur Subjekte, wenn sie sich selbst erkennen – aber gleichzeitig können sie sich in nichts Dauerhaftem (gewiss nichts von gestern) entdecken. Wie beim Totentuch der Penelope gehen sie jeden Tag erneut daran, Subjektivität und Objektivität zu verweben, aber sie beginnen jedes Mal wieder an derselben Stelle. Das Gestrige ist höchstens das, was es zu überbieten gilt. So stehen die Subjekte zwar nicht unbedingt in Konkurrenz zu ihrer sozialen Umwelt, denn diese begrüßt und aktiviert ihre Subjektivität und Individualität. Aber sie müssen sich ständig steigern. Das ist der Kern ihres Subjektseins. Das wird dadurch umso diffiziler, dass die Steigerung keine einfache quantitative ist, sondern ein Überbieten im Selbstausdruck. Anders als in den 1960er und 1970er Jahren haben die Subjekte keine (wenn auch opake) Quelle der

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eigenen Natürlichkeit in sich. Woraus sie ihren Ausdruck schöpfen sollen, bleibt deshalb unklar. Ihre Eigenes, das, was sie von allen anderen unterscheidet und vor ihnen auszeichnet, geht ihnen über Nacht abhanden. Nach Rubin überdauert die Marke, das Versprechen an die anderen, länger als die Identität eines Ich. Insofern ist die scheinbar leichteste und fluideste Figur der Subjektivität innerhalb der drei Epochen der Lebensratgeber zugleich die tragischste. Sie ist dadurch umso tragischer, dass sie in einer Welt lebt, die keine Tragik mehr kennt. Lust hat den Platz alles allzu Ernsten eingenommen. Die Subjekte geben Versprechen nach außen und verführen sich selbst, indem sie Objekt und Tätigkeiten mit Lust aufladen. Das Paradebeispiel des Lustobjektes ist dabei die Chance. Ihre subjektive Bewältigung ist zugleich lustvoll (oder soll es sein) und erlaubt es, sich zumindest kurzfristig ein Stück Welt genussvoll einzuverleiben. Da es immer neue Chancen gibt, ist das Subjekt darauf verwiesen, diese für sich zu nutzen. Eine Nichtnutzung wäre ein Abfall der Subjektivität. Subjekt und Welt sind über Krisen-Chancen miteinander verflochten. Damit perpetuiert sich der Ruf nach Selbstführung als Sich-ins-Verhältnis-Setzen von allein. Nicht Unsicherheit, noch Unbestimmtheit tragen ihn, sondern Unvollständigkeit. Die Ratgeber der dritten Epoche verstärken zwei widerstreitende Elemente der liberalen Strukturdynamik: Die radikale Eigenverantwortung und die Selbstbegrenzung. Einerseits liegt es mehr als zuvor in der Hand der Subjekte, ihr eigenes Leben glücklich zu gestalten. Widrige Kräfte werden von den Antiproblematisierungen kleingeredet.5 Die Welt bietet um den Millenniumswechsel mehr Möglichkeiten als je zuvor, schreiben Autor/innen wie Blomberg. Nie war Selbstführung so niederschwellig angesetzt, waren die Techniken den Subjekten so passgenau zugeschnitten. Andererseits gibt es das Moment der Selbstbegrenzung und Relativierung. Wer alle Möglichkeiten wahrnehmen will, droht, sich zu verausgaben. St. James fordert Beschränkung und Besinnung. In der Konsequenz bleibt es dem Subjekt selbst anheimgestellt, in welchem Umfang es sich Möglichkeiten aneignet oder auch nicht. Es muss sich aber in jedem Fall zu ihnen verhalten. Sich selbst richtig oder falsch zu führen ist damit nur noch eine Frage relativer Unterschiede. Im Prinzip wird davon ausgegangen, dass es die meisten ohnehin schon tun. Dem entspricht die Ausrichtung der Diskrepanzteleologie. Die Texte setzen Subjekte voraus, die man mit demselben Recht befreit oder zugerichtet nennen kann. Reflexivität dient dazu, die Selbstführung hochtourig, aber nicht im roten Bereich laufen zu lassen. Die dritte Epoche führt jedoch Selbstbegrenzung als demokratische Kategorien von vornherein ein: Es gilt, dem Burnout die Stirn zu bieten und keineswegs alles tun, haben oder sein zu wollen. Das Subjekt gewinnt Kontur in der Selbstbeschränkung, nicht im asketischen Sinne, sondern als Selbstregulierung und Professionalisierung einer nunmehr wesentlich performativ verstandenen Individualität. Die Texte der 1990er und 2000er Jahre führen wissenschaftliche Diskurse an, deren populärbiologistischer Determinismus den subjektiven Spielraum verschwindend klein erscheinen lässt. Insofern sinkt bei gesteigertem Ruf zur Eigenverantwortung der behauptete Gestaltungsspielraum. Autor/innen wie Fischer-Epe/Epe verweisen lediglich drauf, dass es dieser Spielraum sei, auf den es letztendlich ankomme. 6 5 6

Eine Ausnahme ist hier Barbara Sher. Vgl. Fischer-Epe/Epe (2004), 31f.

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Auch die Lebensratgeber der dritten Epoche beziehen die Grammatik der Selbstführung aus einen Wissen um die Regeln und Gesetzmäßigkeiten der Natur, die der biologischen Menschen wie der sozialen Welt. Das Grunddilemma der liberalen Strukturdynamik und ihrer äußeren Begrenzung hält sich also im Wesentlichen vom Anfang bis zum Ende durch. Das Potenzial des Subjektes wird besonders in den ersten beiden Epochen beschworen (in der dritten Epoche ist es eher die Subjektivierbarkeit der Welt), bleibt aber kategorisch unterbestimmt. Was dazu beiträgt, den Ruf nach Selbstführung weiterzutragen, ist also eine breiten Regeln folgende Anleitung zur Mobilisierung des schieren Potenzials der Subjekte, ohne diese jemals positiv zu bestimmen. Obwohl es wenig gibt, was der Teleologie entgegensteht, wirkt das Entwicklungspotenzial der Menschen verglichen mit dem der früheren Epochen sehr gering. Es gibt auch kein grundlegendes anthropologisches bzw. humanistisches Interesse mehr an den Menschen. Es entsteht nicht mehr der Eindruck, dass in der richtigen Selbstführung für sich ein fundamentaler Wert, eine Würde oder Anmut liegt. Die Ratgeber-Coaches feiern ihren eigenen theoretischen wie praktischen Eklektizismus als künstlerisch-lustvollen, praktischen Umgang mit einer splitterhaften Existenzform. Die Gegensätzlichkeiten werden nur scheinbar nivelliert, sie werden vielmehr nur verschoben und in eine kontinuierliche Vorläufigkeit verfrachtet. Über allem liegt ein Schleier – nicht des Nichtwissens, sondern vielmehr des Wissens: dass es keine tiefe, zu suchende Wahrheit über den Menschen gibt. In der dritten Epoche gibt es die grundsätzliche Skepsis gegenüber Fremdführung nicht mehr. Die anderen sind vielmehr konstitutiv für eine gelungene Selbstführung. Netzwerkarbeit, Synergien im Zusammenarbeiten und das wichtige soziale Feedback helfen dem Subjekt, seine Fähigkeiten einzuschätzen und auszunutzen. Es geht hauptsächlich darum, dass Freiheit nur Freiheit ist, wenn sie auch genutzt wird. Zwang kennen die Texte mit wenigen Ausnahmen nicht. Menschen können nur noch wenige Sachen besser als Maschinen. Sie müssen den leckenden Rettungsring ihrer kreativen Individualität konstant neu aufblasen. Individuum Sein oder Nichtsein ist die Kehrseite der neuen Freiheit. Und die Individuen sind, wie beschrieben, darauf angewiesen, sich im Kontakt mit ihrer (sozialen) Welt zu verbinden, um ihre Individualität performativ realisieren zu können. Die aktuellen Lebensratgeber scheinen endlich Subjekt und Welt, Natürlichkeit und Arbeit an sich zu versöhnen. Dies geschieht auf Kosten eines von seiner Umwelt klar getrennten Subjekts. Gleichzeitig setzen sie jedoch ein äußerst distinktes und selbstgewisses Subjekt voraus, dessen Existenz sie weder erklären noch vermittels Übungen herstellen können. Sie verlangen Flexibilität der Struktur, aber gleichzeitig einen so vernünftig-selbsttransparenten wie intuitiv-kreativen Subjektkern. Sie mildern zwar die Appelle an die Aneignung der Welt durch Instruktion zur Selbstbegrenzung, aber lösen nicht das grundlegende Dilemma, dass, wann immer dem Subjekt die Aneignung nicht gelingt, es die Anpassungsleistung in sich vollbringen muss. Mangel an Aneignung mündet in den Ruf nach besserer Selbstführung durch Mobilisierung interner Ressourcen.

Die Krise der Subjektivität: Mikrostruktur

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2.3.5 Zusammenfassung Das Subjekt steht also in seiner Kernstruktur und in den grundlegenden Anliegen der Selbstführung von vornherein unter großen Belastungen, Überfrachtungen und Widersprüchen, die nicht aufgelöst, sondern nur verschoben werden. Wenn Lebensratgeber als Orientierungswissen interpretiert werden, so ist dies insofern korrekt, als dass sie Techniken zur Selbstführung bieten. Diese sind jedoch keine isolierten Informationen, sondern Teile historisch differenzierter und in sich widersprüchlicher Subjektivierungsstrategien. Dass sie zu den Fragen der Subjekte über ihre Lebensführung passen, liegt nicht an der Universalität des vermittelten Wissens, sondern daran, dass die Subjekte spezifische Anforderungen an die Selbstführung übernommen haben, die sie in der Regel nicht selbst durchschauen. Ebenso verkehrt wäre es, aus den Widersprüchen ideologiekritisch zu folgern, dass die den Texten eigenen Regimes der Selbstführung nicht als Partizipationskatalysatoren fungieren können. Dass Selbstführung zwischen verschiedenen Extremen oszilliert, bedeutet nicht ihren Zusammenbruch. Vielmehr gewinnt die moderne Selbstführung aus diesen Konstellationen einen wesentlichen Teil ihrer Dynamik. Die Subjekt-Objekt-Spaltung und die Oszillationsfiguren sind genauso wie die Problematisierung einer Krise Teil der Positivität der Ratgeber. Sie negieren nicht die strategische Technologie, sondern spannen deren Raum auf.

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Selbstführung als Problem der Menschenführung Selbstführungsdiskurs und institutioneller Diskurs im Vergleich

Der Distinktionsverlust des Subjektes im Diskurs um die Selbstführung steht in Kontrast zu den Befunden, die wir aus der exemplarischen Analyse der institutionellen Diskurse ableiten konnten. Wir haben herausgearbeitet, dass das Subjekt gerade dann, wenn es mit den größten Kräften ausgestattet ist, den geringsten Eindruck auf diejenigen macht, die in den Institutionen der Menschensteuerung mit Führungsfragen befasst sind. Und zugleich sieht es so aus, dass just in dem Augenblick, wo das Subjekt seine Gestaltungsmacht an kosubjektivierende Agenturen abgibt und es an Einheitlichkeit verliert, seinen Siegeszug in Betrieb und Schule antritt. Es stellt sich unweigerlich die Frage, wie diese Gegenläufigkeit erklärlich wird. Der These, der hier nachgegangen werden soll, ist, dass es zwischen diesen disparaten Ereignissen einen inneren Zusammenhang gibt. Die epochenspezifischen Untersuchungen konnten bisher zeigen, dass die Probleme, mit denen die Institutionen der Menschenführung befasst waren, erst langsam die Idee der Selbstführung zuließen. Wir wollen hier klären, inwiefern Schule und Betrieb zuerst fast gar nicht, später aber mit umso größerer Vehemenz die Selbstführung der Subjekte als zentralen Ansatzpunkt für die Menschenführung entdeckt haben und wie dies mit dem, wie Subjektivität in den Lebensratgebern der drei Epochen gedacht wurde, zusammenhängt. Wir wollen dafür zwei Ereignisebenen heranziehen: Wir werden rekapitulierend das Einsickern eines Subjektbegriffs in die Institutionen der Menschenführung mit dem veränderten Subjekt-Objekt-Verhältnis der Subjekte in der Selbstführung der Lebensratgebertexte in Beziehung setzen. So tendieren die institutionellen Diskurse umso mehr dazu, die Möglichkeiten einer Subjektivierung des Individuums hervorzuheben, je mehr sich das Subjekt seiner klaren Grenzen und seiner anthropologischen Gewissheiten entledigt. Es wird zu fragen sein, inwiefern diese Entwicklung das enorme Spannungsverhältnis zwischen zweckrationaler Strukturlogik und Eigeninteresse des Subjektes still stellt oder ob sich eine neue Form von Störungen und Krisenhaftigkeit auftut. Mit dem Schwerpunkt auf die Entwicklungen des zeitgenössisches Selbstführungsregime wollen wir zu einem kritischen Verständnis gegenwärtiger Aporien der Selbstführung kommen.

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3.1 BETRIEB UND SCHULE OHNE SUBJEKTE Es ist durchaus verwunderlich, dass die Figur des Willenshelden eine den wichtigen gesellschaftlichen Institutionen mehr oder weniger äußerliche Gestalt geblieben ist. Der Diskurs um die Führung seiner Selbst hatte in den 1920er Jahren eine Reihe prominenter Fürsprecher. Die Autoren entstammten überdurchschnittlich häufig dem Bildungsbürgertum, waren Arzt, Journalist, Lehrer, Universitätsdozent oder Politiker. Um die Jahrhundertwende bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs nahmen diese eine nie wieder erreichte hegemoniale gesellschaftliche Position ein und waren in öffentlichen Diskursen stark vertreten. Die Anzahl der Neuerscheinungen von Lebensratgebern in dieser Zeit und die Auflagenhöhe einzelner Publikationen waren, wie beschrieben, durchaus respektabel. Zudem gibt es eine Reihe von Schnittpunkten zwischen dem Diskurs der Willensschulung und den Ordnungs- und Machtvorstellungen in Betrieb und Schule, die synergetische Effekte für die institutionelle Adaption erwarten lassen, wie zum Beispiel die Betonung und Herstellung von Selbstzucht, die Momente der Selbstrationalisierung, die asketische Selbstbegrenzung und die stetige Selbstüberwachung. Warum sind sich der Selbstführungsdiskurs und die institutionellen Praktiken der Menschenführung in der ersten Epoche so fremd geblieben? Der Diskurs um den Willenshelden hat eine antiökonomische Schlagseite und erweist sich als wenig zweckmäßig für die Machtökonomie einer mechanistisch gedachten Fabrik: Abgesehen von einigen wenigen Lebensratgebern aus dem Bereich der Selbstrationalisierung (Grossmann u.a.) halten alle anderen eine kulturkritische bzw. modernekritisch begründete Distanz zum Wirtschaftsleben. Dieses gilt als einer sittlich-gesundheitlichen Pflicht zur Selbstführung entgegengesetzt. Die ökonomische Sphäre gerät entweder in Verruf, die Menschen einer besinnungslosen Jagd nach Geld auszuliefern, oder sie gilt mit den lüsternen Versuchungen der großstädtischen Welt aufs Engste verbunden und mache die Menschen willensschwach. Die frühen Lebensratgeber intendieren für ihre Leser/innen zwar gesellschaftlichen Aufstieg, der auch wirtschaftlichen miteinschließen kann. Dieser resultiert aber aus der Steigerung der vitalen und moralischen Kräfte des Subjektes und nicht aus einer dem wechselseitigen Tausch verpflichteten Selbstführung. In diesem Sinne bieten sich die frühen Lebensratgeber nur sehr eingeschränkt ihrer Rezeption durch das innerbetriebliche Ordnungsdenken an. Daneben führt der Selbstführungsdiskurs einen Begriff von Sozialität mit, der in einem hochgradig arbeitsteiligen Produktionsprozess nicht funktional sein kann. Die Schulungsanleitungen haben im Willensmenschen keine Grundlagen für kooperatives Handeln ausgewiesen, im Gegenteil, er wird in ein tendenziell antagonistisches, agonales Verhältnis zu anderen gesetzt. Der Willensdiskurs neigt dazu, ein atomistisches elitäres Subjekt hervorzubringen, das sich in Unkenntnis, ja sogar abschottender Ignoranz zu anderen verhält. Wesentlich wichtiger noch ist allerdings, dass der Betrieb selbst keinen Bedarf an autonomen Subjekten hat, denen man Freiheiten für ihre Selbstführung zugestehen muss. Die monotone und relative anforderungslose Fabrikarbeit hat sich im Zuge der Rationalisierungsbewegungen sogar noch vermehrt und benötigt genormte Körper(bewegungen) und keine mit eigenlogischer Subjektivität ausgestattete Arbei-

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ter/innen. Gehorsam und Disziplin können für die taylorisierte Fabrik wesentlich effektiver über Lohn- und Akkordsysteme hergestellt werden, Interventionen können wesentlich unaufwendiger über die sachlich-neutral daherkommende Anforderung der Fließbandarbeit erfolgen. Die Fabrik muss folglich mehr die Herrschaft über den Körper als die Subjektivität der Arbeitenden herstellen.1 Die untersuchten institutionellen Sphären bewegen sich nur dann in den Bereich von Subjektivierungspraktiken hinein, wie wir es in der Schule (Anstalts- und Korrekturerziehung) sehen konnten, wenn sie mit Krankheitsprophylaxe (Neurasthenie), mit der Verhütung von Delinquenz oder einem reformierten Autoritätsverhältnis verbunden werden. Es ergeben sich Berührungspunkte, wo die institutionellen Akteure Zucht, Hygienedispositiv und Gehorsamkeit zu einem innerlichen Verhältnis zu machen beabsichtigen, weil die herkömmliche Machtökonomie in die Krise gerät. In diesem Falle ist ein Subjekt, das sich aktivisch mit sich selbst in Verbindung setzt, skizziert. Aber auch dann handelt es sich mehr um eine lose Verwandtschaft. Im Wesentlichen sehen die Korrekturanstalten gar kein Subjekt vor, das seine Subjektivität einer systematischen Schulung unterziehen sollte. Der Selbstführungsdiskurs kann sich in diesen Menschenführungseinrichtungen nicht durchsetzen, weil diese in letzter Konsequenz die Freisetzung des Subjektes scheuen bzw. gar nicht beabsichtigen. Der frühe Selbstführungsdiskurs der Ratgeber etabliert sich also als interinstitutioneller, lebensweltlich orientierter Diskurs im frühen 20. Jahrhundert. Sowohl exo- als auch endogene Faktoren schließen eine größere Rezeption in den Institutionen der Menschenführung aus und begrenzen damit das Einzugsgebiet für eine lebensratgeberische Expertise. Selbstführung erscheint so als eine Privatangelegenheit von Einzelnen, der kaum durch ein gesellschaftliches, institutionelles Interesse an der Selbstregierung seiner Akteure zugearbeitet wird. Institutionelle Wirklichkeit und Selbstführungsdiskurs bleiben sich insofern fremd, als sie verschiedene Problemräume besetzen. Selbstführung in Institutionen der Menschenführung scheitert an den primär gesetzten Zwecken von tayloristischer Normierung und autoritärer Gehorsamkeitserwartung. Die Machttechniken in der Schule und der Fabrik sind sicherlich nicht bar jeder Subjektivierungspotenziale – der Gewinn des Willens des lernenden und arbeitenden Subjektes spielt eine Rolle –, aber sie bleiben den Prozessen der Wertschöpfung und Wissensproduktion äußerlich.2 Die Selbstführungsdiskurse des frühen 20. Jahrhunderts sind nicht in der Lage, auf diese Ausklammerung des Subjektiven ge1

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Selbst einige Autoren der Lebensratgeber, die häufig unter den widrigsten Umständen noch Einsatzgebiet für Willenstechniken sehen, bewerten die entfremdeten Fabrikarbeit als eher ungünstigen Einsatzort. Vgl. Kruse, (1921), 58f. und Müller-Guttenbrunn (1936), 6ff. Wie Untersuchungen zur Menschenführung in der Fabrik des 20. Jahrhunderts gezeigt haben, war die Unternehmensleitung durchaus damit befasst die Arbeiter/in zum Ausgleich für die fordistische Tristesse durch bestimmte Programme innerlich für die Fabrik und die Arbeitsorganisation einzunehmen. Betriebliche Freizeitaktivitäten wie Jubilarfeiern, Sportangebote, Erholungsheime zielten darauf Sinnstiftung jenseits der konkreten Arbeitsvollzüge zu betreiben („Werks- und Arbeitsgemeinschaft“) und so die Seele der Arbeitenden zu gewinnen. Aber der konkrete Arbeitsprozess kam mit Körpern aus. Wie gezeigt, war es gerade Grundlage für die rationelle Umgestaltung der Produktion, dass der subjektive Einfluss minimiert oder ganz ausgeklammert wurde. Vgl. Richter (2014), 230ff.

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eignet Einfluss zu nehmen, da sie ihre eigene Legitimität nur zu oft auf die Grundlage von Materialismusfeindschaft und der Wiederbelebung einer vermeintlich organisch-harmonischen Lebensführung stellen. Die ihnen vorschwebende Herrscherpersönlichkeit, die über ihre magische Ausstrahlungskraft Menschen in ihren Bann zieht, ist eher von dem Impuls getragen, entfremdeten Verhältnissen eine vermeintlich natürliche Einheitlichkeit und Ungebrochenheit des Subjektiven entgegenzuhalten, als dass sie Lösungspotenziale für die Erschöpfungsproblematik der industriellen Ordnung in sich birgt. Gleichzeitig kann der Selbstführungsdiskurs Lösungen und Strategien für eine Problematik bieten, die sich Schule und Fabrik (noch) nicht stellt. In diesem Sinne vereint der Selbstführungsdiskurs rückwärtsgewandte Bezüge mit einer subjektorientierten Pragmatik, die ihrer Zeit voraus ist.

3.2 KONVERGENZ DES PROBLEMRAUMS Dies ändert sich in ganz wesentlichen Punkten für die zweite Epoche, aber unter veränderten Vorzeichen. Selbstführungspraktiken lagern sich punktuell im Betrieb und in der Schule an. Sie werden Teil von Managementstrategien zum demokratischen Führungsstil und zum Selbstverständnis einer autoritätsskeptischen Lehrer/innenschaft. Diese Demokratisierungsimpulse in Schule und Betrieb gehen für bestimmte Akteursgruppen unmittelbar mit Trainings und der Implementation von Selbsttechniken einher. Genauer noch: Die Herstellung von demokratischen Verkehrsformen in den untersuchten Institutionen tritt nunmehr als Frage einer technisch versierten, trainierbaren Subjektivität der Vorgesetzten bzw. Lehrer/innen auf. Die schulischen und betrieblichen hierarchischen Strukturen hingegen blieben weiterhin im Wesentlichen unangerührt: Die Lehrer/in bleibt das unumstößliches Zentrum der Lernprozesse der Schüler/innen, auch wenn sie ihre Effekte und Fähigkeiten stärker öffentlich ausweisen muss; die Vorgesetzte behält sich weiter die Verfügungshoheit über die eigentlichen Zielsetzungen von ihren Mitarbeiter/innen vor, auch wenn sie sie mit ihren Bedürfnissen geschickt verweben musste. Allerdings hatten die Lehrer/in oder die Vorgesetzte deutlich an Autorität und Selbstherrlichkeit und an institutioneller Unangreifbarkeit verloren. Ihr Subjektstatus ist nun selbst daran gekoppelt, wie gut es ihr gelang, Zugang zu ihren Untergebenen zu erlangen. Sie muss dabei alle kontraproduktiven Effekte direktiver Verhaltenssteuerung kontrollieren und reduzieren, indes aber die institutionellen Zielsetzungen weiterhin umzusetzen trachten. Allein darin liegt ihr Vorrang, allein dies begründet ihren im Vergleich zu anderen Akteursgruppen bevorzugten Rang als Subjekt. Selbstführung in Schule und Betrieb machte sich also dadurch interessant, dass es die zu subjektivierenden Subjekte in ein Mittlerfunktion zwischen Selbst- und Fremdzwecken einsetzt. Die Subjektivierung der Vorgesetzten und Lehrer/innen restituiert nicht ihre zunehmend kritisch beargwöhnte Macht, sie macht sie ein Stück weit zu Getriebenen ihrer mess- und evaluierbaren Machteffekte. Die Entdeckung der Subjektivität für die institutionellen Sphären kann aber nur durch ein radikal anderes Verständnis von Selbst und Selbstführung möglich werden. Die Konstellation des Subjektes als ein dezentriertes hat zum ersten Mal als unhintergehbare Tatsache das Verwiesen-Sein des Subjektes auf die soziale Welt festgehalten. Der Einzelne hat sich auch um des eigenen Glückes willen, für eine soziale

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Welt, für die Bedürfnisse der anderen zu öffnen. Das ermöglicht, dass die Interessen in einen Austausch, in Verhandlung mit der sozialen Welt kommen, wenngleich die Einzelne ein Stück ihrer Autonomie an diese abgeben muss. Einige (sehr erfolgreiche) Lebensratgeber wie Kirschner und Dyer scheinen den darin liegenden Bedeutungsschwund des distinkten Subjekts als „wunden Punkt“ indirekt zu reflektieren, nämlich in ihrer Warnung vor der Übergriffigkeit der sozialen Umwelt. Sie setzen diesem einen radikalen Individualismus entgegen, der den manipulativen Einfluss beschneiden will, aber auch nicht hinter die Anerkennung einer vom eigenen Selbst abgetrennten Welt heterogener Bedürfnisse und Interessen zurückkann. Selbstführungsdiskurs und institutionelle Diskurse zeigen gewisse Überschneidungen, weil sie einen gemeinsamen Problemraum teilen: Wie kann man den Einfluss auf eine Entität (Selbst, der Andere) sichern, ohne Potenziale zu blockieren und Gegenkräfte aufzureizen? Während der Selbstführungsdiskurs von der Frage der dem Selbst immanenten Organisation und Steuerung seiner Kräfte ausging, die ihm nur mittelbar verfügbar sind, nähern sich die institutionellen Diskurse dem Subjekt unter der Frage, wie es die verschiedenen Interessen und Bedürfnislagen seiner Mitarbeiter/innen oder Schüler/innen, über die Vorgesetzte und Lehrer/in ebenfalls nicht direktiv zu bestimmen imstande ist, lenken kann. Wie wir gezeigt haben, sind die Lösungen nicht deckungsgleich, da die Antworten des Selbstführungsdiskurses keine Rücksichten auf institutionelle Zwecke nehmen müssen und sich ganz dem Glücksanspruch des Subjektes unterstellen. Andererseits interessieren sich die institutionellen Diskurse nicht für die Glücksansprüche der zu subjektivierenden Individuen als Selbstzweck. Aber in beiden Fällen verfällt man auf eine mittelbar beeinflussende Form von Subjektivität: einmal mit einem verstärkten Bezug auf Selbst-, im anderen Fall mit stärkerer Betonung der Sozialtechniken. Das Subjekt ist in eine Mittlerrolle gebracht: auf der Ebene der Selbstführung hinsichtlich der es tragenden Kräfte wie dem Unwillkürlichen und zum anderen als institutionell adressiertes Vorgesetztenbzw. Lehrer/innensubjekt, bei dem es nur über den Umweg der eigenen Subjektivität gelingt, Einfluss auf das Verhalten der anderen zu gewinnen. Selbst- und Fremdführung müssen dem Umstand Rechnung tragen, dass sie nur mittelbar wirksam sein können und in einem Bereich der Unschärfe und mittelbarer Kausalitäten agieren. Der Selbstführungsdiskurs behält in den 1960er und 1970er Jahren aber ein Stück weit den avantgardistischen Charakter, der ihm für die 1920er Jahre in besonders markanter Weise anhing. Die institutionellen Strukturen öffnen sich nämlich erst langsam in den 1960er Jahren für die Idee einer trainierbaren Subjektivität. Die Techniken und Diskursfragmente, die sich in ihnen finden lassen, zeigen – stärker noch für die 1960er als für die 1970er Jahren – einem im Vergleich zum Stand der Selbstführung unzeitgemäßes Antlitz. Vor allem in den Managementdiskursen referiert man Autoren, die aus dem Kreise der Selbsterziehungsratgeber stammen (u.a. Lindworsky), oder rekurriert auf Techniken der Selbstrationalisierung, die mehr auf die Steigerung kognitiver Subjektressourcen abheben (Gedächtnis, Lesegeschwindigkeit etc.). Dies deutet auf eine gewisse institutionelle Schwerkraft im deutschen Raum hin. Im Vergleich dazu ist die Lebensführung doch schon deutlich früher und in umfassender Weise vom Dispositiv nicht-direktiver Selbstführung erfasst worden. Es steht zu vermuten, dass der Selbstführungsdiskurs aufgrund seiner dezidierten Trainingssystematik und des umfassenden Gestaltungsgebots im deutschen Raum ei-

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ne größere Vorreiterrolle einnimmt. Er bleibt für die 1960er Jahre stärker an die außerinstitutionelle Lebenswelt gebunden und findet erst mit einer neuen Angestelltenund Lehrer/innengeneration Eingang in das institutionelle Gefüge. Die Implementierung von Selbstführungstechniken und eines diesbezüglichen Subjektbegriffs muss unbestreitbare Vorteile bergen: Er kann auf der Ebene der Verhaltensweisen Partizipations- und Demokratisierungsansprüche mit einem machtökonomisch unaufwendigen Steuerungsmodell verknüpfen. Zugleich bleiben auf der Ebene aber der betrieblichen und schulischen Verfügungsmacht die undemokratischen Strukturen im Grunde unangerührt. Der Subjektbegriff des Selbstführungsdiskurses der zweiten Epoche ist zum einen stark und praktikabel genug, einzelnen institutionellen Akteursgruppen einen tatsächlichen Freiheitsgewinn einzuräumen, und zum anderen geschmeidig genug, um diesen Freiheitsgewinn in Form einer sozialen Zweckmäßigkeit einbinden zu können.

3.3 DURCHDRINGUNGEN Die 1990er Jahre markieren den vorläufigen Endpunkt einer Entwicklung, während der die Subjektorientierung der institutionellen Diskurse und Programme zu- und der Distinktionsgrad des zeitgenössischen Subjekts abnimmt. Es ist zweifellos deutlich geworden, dass die Umgestaltung der institutionellen Sphären stark unter dem Fokus einer Aktivierung von Selbstführungsfähigkeiten für eine großen Kreis unterschiedlicher Akteursgruppen stand. Sie ist Resultat sich kreuzender Prozesse, die wir als einen massiven kriseninduzierten Umbau des Produktionsapparates, veränderten politischen Steuerungsmodellen, einer Liberalisierung der Lebensführung und sozialstruktureller Veränderungsprozesse beschrieben haben. Die Umgestaltung der Arbeitsbeziehungen in Schule und Unternehmen rückt die Identifizierung, Aktivierung und Evaluierung von Subjektressourcen in den Mittelpunkt, die nicht mehr als feste Wesenseigenschaften begriffen, sondern als Bündel trainierbarer Kompetenzen erfasst werden. Der Kompetenzbegriff vereint dabei die fachliche/schulische Qualifikation und individuelle Persönlichkeitsmerkmale, sowie die Fähigkeit des Subjektes, diese je nach Anforderungssituation anzupassen, zu rekombinieren und in eine übergeordnete Struktur (Arbeitsgruppen, Fachgruppen, Projekte) einzuspeisen. Der Herstellung einer individuellen Bereitschaft zur selbstverantwortlichen Generierung, Verwaltung und Neujustierung der Kompetenzen, in Form eines Arbeits- bzw. Wissenskraftunternehmers, kommt dabei eine herausragende Bedeutung zu. Dem Subjekt wird vor allem die Ausbildung solcher Kompetenzen nahegelegt, die seine Beweglichkeit innerhalb flexibilisierter, dezentralisierter, episodischer Strukturen ermöglichen, wie Kommunikationsfähigkeit, Autonomie und Teamfähigkeit. Nicht nur das Aufruhen einer flexibilisierten Ökonomie und einer ökonomisierten Bildung auf dem selbstverantwortlichen Subjekt machen deutlich, wie stark die institutionellen Sphären mit den Selbstführungsbegriffen und -techniken affiziert worden sind. Auch die veränderten Rollenzuweisungen für diejenigen Akteure, denen in der zweiten Epoche die Subjektivierung vorbehalten war, stehen im Zeichen einer fortschreitenden Subjektivierung. Diese werden zunehmend innerhalb eines Interaktionsschemas verortet, das sie coachende, ja lebensberatende Funktionen einnehmen lässt. Dabei sind allerdings für Schule und Unternehmen komplementäre Prozesse zu beobachten: Während der Ma-

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nager sich pädagogisierte, managerialisierte sich die Lehrer/innenrolle. Indem aber die Institutionen, und hierbei insbesondere die Unternehmen, Bereiche der vormals privaten Lebenswelt an sich reißen (der neue Mitarbeitertyp kann während seiner Arbeitszeit schlafen, spielen und seine sozialen Bedürfnisse abdecken) und gleichzeitig aber ihre Profit- und Leistungsorientierung noch verstärken, ist diese Entwicklung unter einem doppelten Fokus zu sehen: Sie führt zum einen zu einer Subjektivierung von der Arbeitswelt und gleichzeitig erringt die Arbeitswelt damit einen tendenziell entgrenzten, totalen Anspruch auf die in ihnen arbeitenden und lernenden Subjekte. Unternehmen scheinen ihre Macht an eigenmächtige Subjekte abgegeben zu haben, die es nun führen, und die so adressierten Subjekte führen sich umgekehrt wie Unternehmen. Blickt man auf den Selbstführungsdiskurs, fällt auf, dass weitere traditionelle Entgegensetzungen, Oppositionen und Grenzführungen auf irritierende Weise löchrig werden. Die klassische Parteinahme für das unter dem Druck der Außenwelt zu Schaden gekommene Subjekt ist zwar nicht völlig obsolet geworden, ist aber von einer Perspektive an den Rand gedrängt worden, die auf die Möglichkeiten einer der eigenen Individualisierung zugänglichen Welt abheben. Die Distanz und der tendenzielle Antagonismus zwischen dem Selbst und seiner sozialen Welt verringern sich erheblich, so dass Selbst- und Fremdführung in den Texten der Lebensratgeber keine klar voneinander unterschiedene Position mehr haben. Es ist das Kennzeichen dieser neuen Lebensratgebergeneration und des Selbstführungsdiskurses insgesamt, dass diese relativ unbeschwert zwischen den Welten ökonomischer Selbstverwertung und eines hyperindividualistischen Selbstgenuss hin und her changieren können. Selbsttechniken, die dem Changemanagement von Unternehmen entlehnt sind und nun als Blaupause der eigenen Selbstinnovation dienen, finden genauso in den Texten Anklang wie die Berücksichtigung individueller Rhythmen, neurologischer Zustände und Lustansprüche. Kurzum: Es wird in den 1990er Jahren zunehmend fraglich, zwischen Selbst- und Fremdführung, zwischen lebensratgeberischer Expertise und dem Training coachender Vorgesetzter plausibel unterscheiden zu können. Selbstführungsdiskurs und institutionelle Diskurse bilden hier nicht nur eine abstrakte Schnittmenge, sie durchdringen einander. Der Selbstführungsdiskurs hat in den 1990er Jahren seinen avantgardistischen Charakter umso mehr eingebüßt, als sich die institutionellen Sphären nicht nur der Sprache des Subjektes bedienen, sondern der Selbstführungsdiskurs seine Impulse aus subjektivierten Arbeitswelten bezieht (z.B. Sozialtechniken aus dem Bereich der Gruppenmoderation oder des Konfliktmanagements). Darüber hinaus zeigt im Vergleich zu den vorangegangen Epochen der Selbstführungsdiskurs eine klare Fokussierung auf Fragen ökonomischer Selbstbehauptung und der Notwendigkeit eines daraus resultierenden kräfteschonenden, krankheitsvermindernden Energiemanagements (um den Begriff von Verena Steiner zu gebrauchen). Die institutionellen Diskurse bewegen sich so stark in den Bereich der Selbstführung hinein, wie die Selbstführungsdiskurse sich geöffnet zeigen gegenüber den Anforderungen der sozialen Welt. Die Durchdringung von Selbst- und Fremdführung ist also Resultat einer doppelten Entwicklung. Als deren Grundlage und Fixpunkt erscheint ein Subjekt, das eine reflexive Automobilität mit einer fragmentarischen, episodischen und sozial flexiblen Subjektarchitektur verknüpft. Dem Subjekt fehlen zwar die Kennzeichen seiner ursprünglichen Stärke, wie zum Beispiel seine Abgrenzbarkeit, seine Verfü-

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gungsmacht (über sich und andere), die Dauerhaftigkeit und Stabilität seiner Form und die Reichweite seiner Techniken, aber es gewinnt an sozialer Beweglichkeit und Anschlussfähigkeit sowie an Selbstresponsibilität. Was es an Selbstdistinktion verloren hat, hat es an sozialer Konnektivität gewonnen. Es ist in hohem Maße auf reflexive und relationale Interaktionalität fokussiert, wodurch es an widerspenstiger Eigensinnigkeit, aber auch an aggressiven und selbstreferentiellen Verhaltensformen einbüßt. Wir sehen hier folglich einen logischen inneren Zusammenhang zwischen Aufstieg und Schwäche des Subjektes. Genauer gesagt, je nachdem, welcher Sphäre man sich zuwendet, also ob man das Subjekt in seinem Bezug zu sich selbst oder das Subjekt als Objekt von institutionellen Führungsformen betrachtet, erscheint der Verlust an Distinktion als Vorteil für die Fremdführbarkeit des Einzelnen, oder der Bedeutungsgewinn des Subjekt erscheint als Ergebnis eines Verlustes an Eigensinn. Anders ausgedrückt, aus der Perspektive der Selbstführung koppelt sich das transformative Handeln der Subjekte immer stärker an eine subjektivierte (institutionelle) Umwelt, die wiederum auf die Selbstermächtigung der Subjekte abhebt. Dieser zirkuläre Zusammenhang fällt zugunsten der Fremdführbarkeit der Subjekte und zu Ungunsten einer eigensinnigeren Selbstregierung der Subjekte aus. Aus der Perspektive der institutionellen Diskurse scheint diese Form der sozialweltlich verkoppelten Selbstführung einen zentralen Widerspruch, eine grundsätzliche Brüchigkeit der Selbstführung aufzuheben, nämlich die zwischen einer auf Eigeninteressen der Subjekte und der institutionellen Zweckmäßigkeit beruhenden Selbstführung. In der Figur des selbstverantwortlichen Subjektes ist die Behauptung enthalten, dass die (postmodernen) Unternehmen und Schulen als ein Ort der Zwanglosigkeit, Kontrolllosigkeit und disziplinärer Freiheit funktionieren können. Diese Illusion lässt sich nur auf Kosten eines Subjektes aufrechterhalten, dem es aufgrund der beschriebenen Entwicklungstendenzen der Selbstführung kaum mehr möglich ist, zwischen Selbstund Fremdbestimmung trennscharf zu unterscheiden. Unbotmäßiges Verhalten und eigenwillige Selbstführung ist darauf angewiesen, diese Sphären logisch auseinanderzuhalten, um heteronomisierende Bestimmung abweisen zu können. 3 Durch das zunehmende Verschwimmen dieser Grenzen fallen dem subjektivierungswilligen Einzelnen neuartige Aufgaben zu: Es ist nun eine Angelegenheit richtiger innerer Aushandlungsprozesse, Fremd- und Eigeninteressen miteinander zu versöhnen – so ist es zum Beispiel Obliegenheit der Projektmitarbeiter/in, Arbeitsanforderungen und zeitliche Ressourcen in Einklang zu bringen, oder es ist Aufgabe der Schüler/in, ihre Motivation und Lernwilligkeit in Eigenregie herzustellen und zudem ihre Projektgruppenmitglieder für den Arbeitsauftrag zu motivieren. Wer sich einmal diesen Subjektivierungsregime überantwortet hat, ist kaum mehr in der Lage, Aporien zu benennen. Eine Rückdelegation dieser Aufgaben an die Vorgesetzte oder die Lehrer/in erscheint nur unter dem Preis möglich, als für seine Freiheit nicht tauglich befunden 3

So sehr das zeitgenössische Subjektivierungsregime die gesellschaftliche Welt als die unsrige inszeniert, so wenig können aber wichtige Basisdaten, bezüglich gesellschaftlicher vorhandener Gleichheit, Chancen und Einflussmöglichkeiten diese Sicht unterstützen. Im Gegenteil, die Vermögens- und Besitzungleichheiten haben sich verstärkt. Einflussmöglichkeiten auf betriebliche Prozesse werden in Zeiten global-agierender Konzerne schwieriger herzustellen und politische Prozesse bewegen sich häufig innerhalb der Einflusssphären von Lobbyverbänden und Kapitalinteressen.

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zu werden. So sehr das disponible postmoderne Subjekt die vormalige Brüchigkeit überwunden zu haben scheint, die aus der grundsätzlichen Gegensätzlichkeit zwischen Selbst- und Fremdführung resultierte, so sehr ist die lebensweltlich verkoppelte Selbstführung von neuen Fissuren durchzogen. Diese Entwicklung ist das Resultat eines Subjektivierungsregimes, das die Einzelne in Verantwortung für strukturelle, außerhalb seiner Selbst liegende, Krisen und Verwerfungen bringt. Der letzte Punkt markiert aber bereits eine Differenz von Lebensratgeber und den institutionellen Diskursen: Während die betrieblichen und schulischen Diskurse nahezu ausschließlich auf den Freiheitsgewinn und Produktivitätszuwachs rekurrieren, nehmen die Lebensratgeber diese auch unter ambivalenten Gesichtspunkten wahr und warnen vor den verausgabenden Tendenzen rein auf die Selbstverantwortung des Subjektes abzielender Anrufungen. Sie haben schon früh auf die neue Not des Subjektes hingewiesen und in Form des Selbstverendlichungsdiskurses und entsprechender Praktiken darauf reagiert. Mittlerweile – auch wenn dies noch wenig Repräsentanz in den von uns analysierten Quellen hat – wird auch innerhalb von Unternehmen die Belastung des Subjektes und seiner Subjektivität erkannt. Mit entsprechenden krankheitsprophylaktischen Maßnahmen werden Mitarbeiter/innen durch finanzielle Förderungen dazu animiert, Yogakurse, Achtsamkeitsseminare oder Fitnessstudios zu besuchen. Mitarbeiter/innen werden die Möglichkeiten zum Mittagsschlaf eingeräumt oder Coach/innen an die Seite gestellt. Aber überwinden können diese Antworten die Überbeanspruchung des Subjektes nicht. Im Gegenteil, das unruhige und instabile Moment des postmodernen Selbstführungsregimes wird perpetuiert und verstärkt. Denn alle vorgeschlagenen Maßnahmen belasten nun genau wieder jene Struktur des Subjektes, die ohnehin unter großer Beanspruchung steht, nämlich das reflexive und radikale selbstverantwortlich gedachte Selbstmanagement. So wird die Einzelne nicht nur in die Pflicht genommen, für ihre Individualisierung zu sorgen, sie hat die darauf resultierenden Widersprüche auch noch in eigener Regie abzumildern.4 Die sich notwendig fortsetzenden Bruchlinien führen aber allem Anschein nach nicht zu einem Plausibilitätsverlust des postmodernen Selbstführungsregimes. Sie führen stattdessen wie ein ewiger Rekurs auf den Ruf nach einer anderen, verbesserten Selbstführung zurück. So steht es zu befürchten, dass noch unzählige weitere Autor/innen ihre ersten Seiten so beginnen lassen, wie sie in großer Regelmäßigkeit seit über 100 Jahren begonnen haben: „Es ist erstaunlich, dass eine Buchkonzeption, wie sie hier verwirklicht wurde, fehlt – obwohl doch gerade heute das Bedürfnis nach einer umfassenden und lebensnahen Anleitung zur Entwicklung der eigenen Persönlichkeit und zu einer erfolgreichen Kommunikation mit der Umwelt eindeutig vorhanden ist“.5

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Sie bieten keine Maßgabe dafür, strukturelle, gesellschaftliche Disparitäten wie ungleiche Vermögens- und Besitzverhältnisse, politische in Gang gebrachte ökonomische Deregulierungen, soziale Entsicherungen und verschärften Wettbewerb zu skandalisieren und diese als ein wichtiges Moment postmoderner Überbürdung der Einzelnen zu kennzeichnen. Scheitlin (1977), 10f.

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Fall und Aufstieg des Selbst in der Selbstführung

Wie wir in den beiden vorangegangenen Teilen gesehen haben, gibt es einen Aufschwung des Subjektes als Ort der Überkreuzung von Fremd- und Selbstführung im 20. Jahrhundert. Dieser ist jedoch nicht kontinuierlich zu denken, sondern zerfällt in verschiedene strategische Arrangements und Machtkonstellationen. Die Ebenen der Subjekte und der Institutionen entfalten wechselseitige Bezüge. Beide gehen von bestimmten Problematiken, Krisenmomenten und Bruchlinien aus und entwickeln Regime der Menschenführung, um diese einzufangen und einzudämmen. Selbst- und Fremdführung verzahnen sich. Der gesellschaftliche Bedeutungsgewinn der Selbstführung ist also nicht gleichbedeutend mit dem Aufstieg eines distinkten, strukturell soliden, in sich ruhenden Subjekts. Wir sehen stattdessen ein zunehmend aus dem Zentrum seiner Formung herausrückendes Subjekt, das über immer weniger Gestaltungskräfte gebietet und weniger tiefgreifend in seine Selbstschöpfung eingreifen kann. Nie wieder ist dem Menschen so viel zugetraut oder angelastet worden und nie wieder ist der Einzelne auf so schonungslose Weise mit seiner Freiheit ins Verhältnis gesetzt worden wie in der Frühzeit der Lebensratgeber. Die Zeit um die 1920er Jahre präsentieren uns ein Subjekt, das seine Autarkie, Stärke und Strahlkraft nur aus sich selbst, aus einem planmäßigen, mit aller Macht und Härte vereinheitlichten Selbst bezieht. Es findet in sich seinen Anfangs- und seinen Endpunkt, es ist Begründer und Günstling seiner Macht, es ist die Sonne, deren Strahlen nur auf es selbst zurückfallen. Und zugleich ist es mit so viel unheilvollen Kräften ausgestattet, dass es von sich selbst verzehrt und verschluckt werden kann. Die 1960er und 1970er Jahre markieren nicht einfach einen Bruch zum Willenssubjekt, weil sie das Selbst sanfter und wohlwollender behandeln, sondern weil sie das Zepter den bewussten und rationalen, disziplinierenden und disziplinierten Anteilen im Subjekt entrissen haben. Stattdessen haben sie es einer Entität überantwortet, die ihr gutes Funktionieren zum Gedeihen des Subjektes gerade in einer größtmöglichen gestalterischen Abwesenheit des Selbst von den Kräften, die es führen, wurzeln lassen. Das Subjekt ist mit seiner Freiheit nicht mehr durch den Willen direkt verkoppelt. Seine Freiheit ist die Freiheit seiner Natur. Das, was das Subjekt freisetzt, ist eher ein Charakteristikum seines Menschseins und nicht in erster Linie Produkt seiner Arbeit an sich. Diese innere Natur hat damit den Status des Subjektkernes über-

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tragen bekommen, den in den frühen Ratgebern ganz allein der bewusst bestimmte, aktive-handelnde Wille innehat. Das rational-bewusste Subjekt befindet sich in einem peripherisierten Verhältnis zu den eigentlich gestaltenden, produktiven Kräften. Es führt sich selbst mittelbar, über ein relatives laissezfaire. Das Subjekt der 1990er und 2000er Jahre verfügt im Gegensatz zu den ersten beiden Epochen über keinen festen Subjektkern. Es ist insofern grundlos geworden, als es sich episodisch und situativ ausbildet. Das Subjekt konstituiert sich oder wird vielmehr konstituiert im Akt seiner ständigen Neujustierung und Managements; daher diese beständigen Frontstellung gegen alles Festgefügte, gegen Sicherheiten und Systematik. Das Selbst der dritten Epoche erlebt sich als Selbst im Prozess seiner Neujustierung und nicht dadurch, dass es zu einem metaphysischen Willen oder einer selbststeuernden Natur zurückfindet. Das Prozesssubjekt vollzieht seine Subjektivierung vor allem in Akten ständiger Reflexion. Diese Reflexion hat aber keinen festen Subjektkern zum Gegenstand, über den es Einsicht gewinnen kann. Im selben Maße, in dem die Reflexion in der dritten Epoche also einfacher wird, verlieren ihre Einsichten deshalb an Gehalt und Dauer. Die Einsicht soll zwar unmittelbar zur Handlung führen. Aber das reflektierende Selbst verfügt nicht mehr über eigene Kraftquellen wie in der ersten (Wille) oder in der zweiten (selbstgesteuerte Natur) Epoche. Im Gegenteil, um handeln zu können, muss es zwischen innerer Heterogenität (innere Anteile) und äußeren Ansprüchen (Projekte, Kosubjektivierung) ständig vermitteln. Es hat einerseits an Tiefenschärfe verloren, andererseits liegen nicht mehr Einsicht, Kriterium und Kraft der Selbsttransformation in einem einheitlichen Akteur. Das Subjekt konstituiert sich nicht vertikal-hierarchisch oder innerhalb eines ZentrumPeripherie-Spannungsfeldes, es liegt eher als heterogenes Netz vor, das je nach Anforderung verschiedenartig aktiviert werden kann. Was im Subjekt letztlich handelt und entscheidet, hängt nun ganz von den Zwecken ab, zu denen hin es sich entwirft. Die Geschichte der Selbstführung, wie sie in den Lebensratgebern geschrieben ist, zeigt sich also nicht als ein Siegeszug des Subjektes. Vielmehr lassen sich von der Gegenwart aus rückblickend hinter den dargestellten Brüchen zwei entgegengesetzte Linien aufzeigen. Die erste ist die Bewegung eines Falls, im Sinne einer Entkernung und Verflüssigung des Subjektes. Alle Strategien der frühen Ratgeber zielen auf Verfestigung des Subjektkernes, die Techniken waren vielfältig, aber systematisch ausgerichtet und ließen keine Lücke in der Architektur des Willenshelden. Mit anderen Methoden und anderem Ziel sind sie Ratgeber der zweiten Epoche dennoch darauf ausgerichtet, ein feste Substanz im Menschen freizulegen, die wie in der ersten Epoche gegen eine scharf abgegrenzte Außenwelt verteidigt werden muss. Diese fundamentale Ausrichtung wird in der aktuellen Epoche beinahe völlig aufgegeben. Das ideale Subjekt verliert, auch nach dem eigenen Anspruch der Texte, einen Großteil seiner Distinktheit und damit ein Stück weit einen festen Boden, auf dem die Subjektstruktur durch Übung errichtet werden könnte. Absolute Referenzpunkte sind suspendiert - auch als Folge der Kritik des Sicherheitsdenkens. Die zweite Linie entwickelt sich gegenläufig: Es ist der Aufstieg eines Prozesssubjektes, das seine Gewissheit über konstante Selbstreflexion und Selbstaffizierung herstellt. Eine lebenslange Selbsttransformation gemäß einem starren oder organischen Ideal von Selbstsein ist nicht mehr vorgesehen. Die Emotionen sind die perfek-

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ten Objekte für diese Art der Selbstaffektion. Das Widerständige der Außenwelt ist zwar nicht einfach verschwunden, aber schon als Herausforderung für die Subjekte auf diese hin zugeschnitten, ohne die Gefahr des absoluten Scheiterns oder der Selbstverfehlung. Dadurch bahnt sich in allen Lebensbereichen ein System der Menschenführung den Weg, das ganz auf Kosubjektivierung und gegenseitige horizontale Kontrolle und Motivation ausgerichtet ist.

4.1 DER FALL: ENTKERNUNG DES SUBJEKTS Das Verhältnis zur Außenwelt bietet den äußeren Rahmen, das Übungsregime innere Struktur, welche dem Subjekt in seiner Transformation seine Kontur geben. Beide erfahren massive Umbrüche, deren Ergebnis das aktuelle Selbstführungsregime ist. 4.1.1 Die Verflüssigung der Außenwelt Den Phasen der Verflüssigung des Selbst korrespondiert eine Entwicklung, die die Konstellation zwischen Selbst und Welt sowie dem Selbst und seinem Inneren betrifft. Das Krisenbewusstsein und eine eindeutige, scharfe Identifizierung von feindlichen Strukturen in der sozialen Welt und dem eigenen Selbst schwächen sich nach der ersten Epoche rapide ab und verschwinden im Übergang zum aktuellen Selbstführungsdiskurs nahezu vollständig. Die Krise des Subjekts in der Frühphase der Lebensratgeber ist auch eine Krise einer Welt, die am Scheideweg steht. So wie sie kann das Subjekt die feindlichen Tendenzen in sich, die sich mit den degenerativen Tendenzen der sozialen Welt auf unheilvolle Weise verbündeten, zurückdrängen, oder es gibt sich dem Verfall preis. Aufgrund der verwickelten Beziehungen zwischen der Innen- und der Außenwelt und der Dramatik und Radikalität, in der die Welt einem Wendepunkt entgegenging, versehen sie die Selbstführung mit einem hohen Bedeutungsgehalt, der bis zur Behauptung eines drohenden Niedergangs des Individuums und gar der menschlichen Art geht. Die Beobachtung und Kontrolle der Außenwelt ist schon allein deshalb von entscheidender Bedeutung, weil der Einzelne sehr genau darüber befinden muss, welchen Einflüssen er Einlass in sein bereinigtes Inneres gestattet und welche er zurückweist. Die verschiedensten Aspekte der materiellen Welt, des menschlichen Körpers oder der Natur werden zu Eingangstoren in eine lichte oder abgründige Welt. So sehr sich also das Subjekt der 1920er Jahre auch verhärtet und verpanzert und so sehr es seine Autarkie behauptet, es ist mit einem fein ausgebildeten Sensorium auf die soziale Umwelt hin ausgerichtet.1 Die Außenwelt der nachfolgenden Epochen verliert an Bedrohlichkeit, aber auch konkreter Kontur, an symbolischem und analytischem Gehalt. Die 1960er und 1970er Jahre sind zwar nicht frei von Feindbildern, aber diese sind wesentlich leichter zu handhaben. Die Frontstellung gegen die Rationalitätsorientierung kann als eine Kritik an den technokratischen, konservativ-restaurativen Zuständen der Bundesre1

Es soll hier nicht behauptet werden, dass das Willenssubjekt näher an einer Wahrheit gewesen sei. Die Interpretation der Außenwelt war, wie gezeigt, selbst strukturiert durch eine hochproblematische historische Konstruktion – den Daseinskampf.

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publik gelesen werden, aber vor allem und in erster Linie wird sie als eine Kritik am „abendländischen Menschen“ vorgebracht. Die Außenwelt verliert aber in Hinsicht auf die gelungene Selbstführung an metaphysischer Bedeutung. Während der Daseinskampf der ersten Epoche nicht nur ein persönlicher und sozialer, sondern immer auch ein gattungsgeschichtlicher ist, den das Subjekt in sich ausfechten musste, ist das Subjekt späterer Epochen davon befreit, in sich einen Kampf gegen den Untergang der Zivilisation führen zu müssen. Der Mensch der 1960er und 1970er Jahre findet sich in der Welt gut ein, wenn er gemäß seiner inneren Natur in ihr lebt und diese Eigenlogik berücksichtigt. Der Mensch ist Teil eines sozial-ökologischen Systems. Die 1990er Jahre treiben diese Entschärfung einer sozialen Außenwelt weiter voran, ja sie geben ihr eine ganz neue Qualität. Sie wird gesetzt als etwas, das dem Einzelnen mit seinen Individualisierungswünschen entgegenkommt; sie bietet sich ihm dar, als natürliche Betätigungsfläche für die Selbstführung. Die soziale Welt erscheint aber weniger als ein natürlicher Partner im Feld der Selbstführung, sie präsentiert sich eher als ein Netz aus Subjektivierungsmöglichkeiten und -praktiken für die Einzelnen. Der zeitgenössische Diskurs kann nicht mehr kennzeichnen, wo Selbst aufhört und Welt anfängt, weil in dieser Welt alles in eins fällt – die soziale Welt begegnet dem Einzelnen als Möglichkeit zur Subjektivierung, und in seiner Selbstführung entfaltet er sich auf diese hin. Während die vorigen Epochen die Subjektivierung immer im (mal mehr, mal weniger konflikthaften) Wechselspiel zwischen Subjekt und Welt vollzogen haben, bei dem der Begriff „Fremdbestimmung“ konstitutiv war, verschwimmen beide Dimensionen zu einer entgrenzten Totalität. 4.1.2 Die Entkernung der Übungsregime Anhand der Techniken, ihrer Ordnung, der Komplexität ihrer Einübung und den Objekten, die sie zum Gegenstand haben, können die Umbrüche von einem autozentrierten über ein peripherisiertes hin zu einem entkernten Subjekt gut nachvollziehbar werden. Die Techniken werden im Verlauf des von uns untersuchten Zeitraumes immer monotoner und schriftbasierter. Sie nehmen in quantitativer Hinsicht nicht ab, aber es gibt einen merklichen Schwund im Hinblick auf ihre Komplexität und Einbettung. Sie lösen sich von einer strengen, systematischen Übungsanordnung und einer Dramaturgie der Steigerung. Vor allem büßen die zwei späteren Epochen gegenüber der ersten an Widerständigkeit der Außenwelt ein, nämlich einerseits an Mühe und Aufwand, andererseits am Einbezug von Materialität, sei es der eigene zu trainierende Körper, sei es die Umwelt mit ihren Reizen. Insofern können wir hier analog von einer Entkernung sprechen. Das Instrumentarium an Techniken und der Schulungsweg haben trotz des metaphysischen Gehalts des Willens in der Frühphase der Lebensratgeber etwas eminent Plastisches, Greifbares und Anschauliches. Sie setzen die materielle Welt in Bewegung, um durch Rückwirkungen ein verbessertes Selbstverhältnis zu erzielen. Sie veranlassen das Subjekt zu Handlungen und haben seinen Körper, seine konkreten Vollzüge im Alltag mit seinen Schlaf- und Essroutinen im Fokus. Die Härten und Widerstände, die sich dem Geschulten in der Umsetzung ergeben, sind vorgesehen und ihre Überwindung wesentlicher Teil des Schulungswegs. Die Techniken zielen in der Regel auf ein klares Objekt und führen zu direkten, eindeutigen Wirkungen –

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Techniken und materielle Welt werden in ein enges Verhältnis gesetzt. Bei falschem Gebrauch können die Techniken aber alles bisher in der Selbsttransformation Erreichte ins Wanken bringen. Die Beobachtung feindlicher innerer Regungen kann z.B. schnell zu einer Anreizung selbiger umschlagen. Die Schulung hat damit etwa Gefährliches, Ambivalentes. Dies macht es notwendig, dass das Subjekt in Teilstücken an seine eigene Freiheit herangeführt wird. Es muss wohldosiert sein, wann der Einzelne zum nächsten Schritt geführt wird. Eine Schulung zieht sich daher häufig über Wochen oder Monate hin und ist angelegt wie eine beständige, sich allmählich ausweitende Repetition. Sie geht in der Haltung eines zönobitischen Exerzitiums vonstatten – in Gehorsamkeit, Einsamkeit und mit Hingabe. In der nachfolgenden Epoche bewegen sich die Techniken in einem Feld der mittelbaren Steuerung, sie zielen fast ausnahmslos auf die Herstellung einer geeigneten Verhältnismäßigkeit zwischen dem Selbst und den ihm eingegrabenen Kräften. Die Techniken begrenzen sich auf dieses innerliche Verhältnis. Das Tätig-Werden in der materiellen Welt oder Veränderungen in dieser sind in den 1960er und 1970er Jahren immer das Ergebnis einer vorher im Selbst vorbereiteten Wirklichkeit. Aber auch diese Wirklichkeit ist Ergebnis einer mittelbaren Steuerung. Das Unwillkürliche kann nur angereizt, ihm können nur die Bedingungen seines Erscheinens gut eingerichtet werden, ohne dass sich Einsatz von Techniken und anvisierte Wirkungen in ein enges Verhältnis setzen lassen. Die Techniken ermöglichen, befördern, geben Raum für, aber sie bewirken in den seltensten Fällen direkt etwas. In dem Maße aber, wie das Subjekt aus dem unmittelbaren Erwirken eines gewünschten Ergebnis herausgenommen oder zumindest an den Rand gestellt ist, vereinfacht sich das Technikinstrumentarium in erheblichem Umfang. Die Einübung hat viel von ihrer Anfälligkeit für Störungen verloren, was auch daran liegt, dass sie weniger komplex, zeitlich anspruchsvoll aufgebaut ist und weniger von einem hoch ambivalent gesetzten Subjekt ausgeht. Eine Systematik der Einübung ist zwar schon dadurch gegeben, dass Kontakt mit dem Unwillkürlichen einen vorgängigen Zustand der körperlich-geistigen Entspannung verlangt, aber darüber hinaus sehen wir eine Abkehr von einem streng-sukzessiven Schulungskorso. Insbesondere die zeitliche Dimension hat sich stark verkürzt: Was jetzt eingeübt werden soll, darf keine in Aussicht gestellte Eventualität sein, das Telos der Selbstführung muss zumindest schon in Ansätzen während der ersten Schritte erlebbar sein. Die 1990er und 2000er Jahre stellen einen vorläufigen Endpunkt einer Entwicklung dar, bei der wir eine Engführung auf eine bestimmte Objektgruppe, eine Reduktion und Abstraktion der Techniken feststellen können. Zwar findet sich in den aktuellen Lebensratgebern eine unerhörte Zunahme von Techniken, aber bei diesen handelt es sich um mehr oder weniger größere Variation von reflexiven Techniken. Auf der Ebene der Techniken scheint die materielle Welt fast vollständig suspendiert zu sein. Reflexion stellt sich hier einfach ein, sie ist kein Vermögen das verschiedene Voraussetzungen und Bedingungen hat, um stattfinden zu können. Keine Chronologie und Dramatik der Einübung versucht die Kluft zu überbrücken, die zwischen einer Technik und ihrer behauptete Wirksamkeit liegt. Die Zunahme der Einsichtstechniken stellt eine tatsächliche Umstülpung dar: Das Subjekt tritt schon in seiner Grundstruktur in den Übungsweg ein und muss – anders als in den vorangegangen Epochen – diese notwendige Unterstellung nicht mehr dadurch bestätigen, dass es sich rückwirkend um die Aufrichtung dieser unterstellten teleologischen Subjekt-

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struktur bemüht. Die Techniken verlieren damit nicht einfach an Komplexität und Ordnung und Anschaulichkeit. Sie verlieren an transformativem Gehalt.

4.2 DER AUFSTIEG: EIN NETZ UNBEGRENZTER SELBSTUND MENSCHENFÜHRUNG 4.2.1 Die Affizierung und Verweltlichung des Selbst: Glück und Selbstgenuss Den Prozessen der Peripherisierung und Entkernung des Selbst in der Selbstführung gehen Prozesse parallel, die als ein Aufschwung von Glücks- und Selbstgenusstechniken in der Selbstführung gewertet werden müssen. Während die frühen Lebensratgeber dem Subjekt die größte Autonomie und die größten Gestaltungskräfte bescheinigen, maßen sie dem Subjekt die geringsten Glücksmöglichkeiten zu, während sich die aktuellen Selbstführungsdiskurse hauptsächlich an flächigen, lokalen Neujustierungen interessiert zeigen, aber dafür deutlich mehr auf die Glücks- und Genussaspekte abheben. Das Selbst hat zwar im Laufe der 20. Jahrhunderts deutlich an Autonomie und Distinktion eingebüßt, es hat dafür aber an Fokussierung auf Glücksmöglichkeiten, an Vielfalt in seinen Ausdrucksformen und an Freiheit von äußerer Normierung und Zucht gewonnen. Es kann sogar als ein wesentliches Moment in den Umbrüchen der Selbstführung betrachtet werden, dass das Subjekt aus einer moralischen Restverpflichtung, aus einer Begrenzung seiner Ansprüche durch die Idee einer abstrakten Gemeinschaft oder durch ein transzendentes Ideal, befreit wurde und nur in und für sich die Letztbegründung für die Selbstführung findet. So sehr man sich auch müht, man wird in der ersten Epoche der Lebensratgeberliteratur das Thema einer diesseitig verankerten, real und zeitnah zu erwirkenden Arbeit am Glück nicht finden. Das Thema des Glücks, wie überhaupt die Themen, die in den Geruch selbstbezüglicher Egoismen kommen konnten, wie Wohlbehagen, Lust und Vergnügen, sind – wenn sie nicht sowieso als gefährlich galten – kein Gegenstand der Selbstführung. Zwar geben sich einige Lebensratgeber den Anstrich, in diesem Sinne für die Leser/innen tätig werden zu wollen, aber schnell stellt sich heraus, dass es als wesentlicher gekennzeichneten Themen untergeordnet war: Glück stellt sich nur dann ein, wenn die individuellen Voraussetzungen zum Führen des Daseinskampfes in Anschlag gebracht werden. Es wird also zur Fußnote, zum weiteren Kampfinstrument im Ringen um die individuelle und gattungsmäßige Pflichterfüllung. Dieser wenig erfreulichen Aussicht gesellt sich ein asketisches Verständnis des Körpers bei; er dient in der Hauptsache als Instrument der Abhärtung. Die 1960er und 1970er Jahre heben die mittelfristige Einlösbarkeit von individuellem Glück ins Zentrum ihrer Bemühungen. Glück gilt als Resultat einer Gesamtstimmigkeit in der Selbst- und Lebensführung. Es kann so wenig direkt evoziert werden, wie das Unwillkürliche durch willkürliche Eingriffe zu sinnvollen Outputs gebracht werden kann, aber es wird aufs Engste verkoppelt mit der natürlichen Leistungsfähigkeit des Subjektes und seinen verborgenen Kräften. Selbstentfaltung ist gleichbedeutend mit Glücksentfaltung. Es sind vor allem die Vertreter des radikalen Individualismus, die die den Lebensratgeberdiskurs lange Zeit bestimmende Skepsis

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gegenüber einem nur auf sich selbst bezogenen Menschen über Bord werfen. Sie markieren die Geburtsstunde eines vollständig verweltlichten Selbstführungsdiskurses. Glücksgenerierung kann nun in Absehung oder manchmal auch gegen den moralischen Imperativ einer sozialen Ordnung durchgesetzt werden, ja muss es manchmal gerade, um sich seiner Selbstpotenziale zu versichern. Der Körper wird aus dem gymnastisch-disziplinierenden Zugriff befreit und fängt an, sinnlicher und empfänglicher zu werden. Er öffnet sich für Entspannungstechniken, für Wärme- und Schwereempfinden, Massagen und Lustempfindungen. Glück ist dagegen in der dritten Epoche nicht nur zur zentralen Ressource, zum teleologischen Fixpunkt geworden, es ist seiner passiven Entstehungsbedingungen vollständig enthoben. Während Glück in der zweiten Epoche das Resultat blockadefreier, sich selbsttätig steuernder Regelkreisläufe ist und diese so dem Subjekt anzeigt, ist es in den 1990er Jahren zur einer biologisch hergeleiteten Ressource geworden, die über bestimmte Techniken vom Subjekt willentlich erzeugt werden kann. Auch die Selbstführungsprogramme müssen sich über das kurzfristig herstellbare Glück ausweisen. Seine sofortige Einlösbarkeit wird bisweilen bereits durch die Lektüre der Lebensratgeber versprochen. Der Körper in den 1990er Jahren hat sich einerseits biologisiert – er ist zu einer tabula rasa geworden, auf der sich die im Gehirn gespeicherten Erfahrungen einschreiben. Zum anderen hat der Körper sich im Selbstführungsdiskurs erotisiert. An ihm und durch ihn werden Lustempfinden und Wohlbehagen erlebt. Seine Oberfläche ist sensitiviert worden für die Kontakte mit anderen und den damit ausgelösten Gefühlen. 4.2.2 Die Emotionalisierung der Gefühle Generell lässt sich feststellen, dass der Aufschwung der Gefühle im Selbstführungsdiskurs nicht als ein linearer Bedeutungszuwachs oder als ein Akt einer einmaligen Freisetzung von Kontrolle und Unterdrückung betrachtet werden kann. Es ist nicht einmal so deutlich, wie es auf den ersten Blick zu sein scheint, dass die 1920er Jahre dem Gefühlsleben nur unter der Brille der Kontrolle Geltung gegeben, während die nachfolgenden Epochen ihnen wieder sukzessive ihre Freiheit zurückgebracht haben. Unter diesem Fokus zeigt sich, dass sich eindeutige Befunde à la „Zunahme einer Gefühlskultur“ nicht halten lassen. Keine Zeit hat ein so ambivalentes Verhältnis zu den Gefühlen wie die Texte der 1920er Jahre. Nicht nur ist die Sprache der Lebensratgeber häufig durchzogen von einem heldischen Pathos und einer naturromantischen Inbrunst, nicht nur dass die Lebensratgeber ihre Leser/innen zu den sogenannten großen und ernsthaften Gefühlen erziehen wollen, der Selbstführungsdiskurs selbst kreist zu einem Gutteil um das Verhältnis des Einzelnen zu ihnen und bot ein differenziertes Instrumentarium. Die Techniken steuern zwei Ziele an, zum einen geht es um die gezielte Inanspruchnahme und Mobilisierung derjenigen Gefühle, die energetisierend auf den Willen wirken sollen, wie zum Beispiel Enthusiasmus, Begeisterung, optimistische Beflissenheit und dergleichen. Zum anderen hat der Willensmensch auf seine Gefühle kultivierend zu wirken, insbesondere auf solche, die bei zu großer Zügellosigkeit schädliche Einflüsse auf den Willen haben, so zum Beispiel Zorn, Hass, Neid. Wichtig ist es, ihnen in diesem Zusammenhang einen bestimmten Grad an Entäußerungsmöglichkeit zu lassen, weil sie sich als durchaus nützlich für die Verfolgung von Willenszielen und

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für die Stärkung der Willenskraft erweisen konnten. Der Selbstführungsdiskurs lässt also einerseits ein gewisses Spektrum an Gefühlen zu, selbst solche, die moralisch verwerflicher scheinen als andere, grenzt aber andererseits ihre Entäußerungsformen stark ein. Der Gefahr eines immer drohenden Überschusses an Gefühlen muss in diesem Regime mit einer ständigen Wachsamkeit begegnet werden. Diesen Gefühlen wird zu einem Gutteil misstraut, da sie als wechselhaft, launig und ambivalent gelten, aber das Ziel der Selbstführung ist keine gefühlskalte Erstarrung, sondern, dass der Einzelne seine Gefühle sehr zielgerichtet kanalisiert. Was wir im Verlauf der nachfolgenden Epochen feststellen können, ist, dass das argwöhnische Moment der Selbstbeobachtung entfällt. Die mit starker Emphase verfolgte Ausgrenzung einer bestimmten (empirisch eher kleinen) Gefühlsgruppe findet ein abruptes Ende. Damit verschwindet aber auch die technische Fokussierung des Subjektes auf der Herausbildung differenzierter Beurteilungsmaßstäbe. Aber es wäre ein Missverständnis, im Umgang der zweiten und dritten Epoche eine beliebige postdisziplinäre Freisetzung und Anreizung von Gefühlen zu sehen. Der Bedeutungszuwachs der Gefühle liegt darin, dass sie durch die entsprechenden Techniken eingesetzt werden, um die als Fremdbestimmung erlebte Rationalitätsorientierung der Einzelnen zurückzudrängen. Die Wahrnehmung von Körpergefühlen soll das entfesselte Denken zur Ruhe bringen und das Subjekt näher an sein eigentliches Kraft- und Leistungszentrum heranrücken. Da die Sprache des Unwillkürlichen auch hier eine der Gefühle und der Intuition ist, geht es darum, den Einzelnen in eine uneingeschränkte Empfangsbereitschaft zu setzen und vorschnelle Bewertungsmaßstabe zu eliminieren. Die Gefühlstechniken bezwecken mehr die Suspendierung des Rationalen als eine bewusste Kultivierung der Gefühle. Die Sensibilisierung der Gefühle geht darüber hinaus mit ihrer Verwissenschaftlichung einher. Da die Gefühle als ein unmittelbarer Ausdruck der Natur des Menschen betrachtet werden, kommen Analyseinstrumente zum Tragen, die ihren objektiven Wahrheitsgehalt aufklären wollen. Für die psychologischen Tests und die Kurvendiagramme gibt in dem Sinne keine falschen, sondern nur falsch verstandene Gefühle. Zwar stellt sich kein Gefühl außerhalb der menschlichen Natur, aber möglicherweise quer zu den eigenen Zielvorgaben und zur reibungslosen Stimmigkeit des selbstregulativen Systems des Unwillkürlichen. An die Stelle der Gefühle treten in den 1990ern die Emotionen. Der neurologisch fundierte Emotionsbegriff hat nicht mehr viel mit dem Gefühl vergangener Epochen gemein. Zum einen widerfahren Emotionen dem Subjekt. Sie sind weder notwendigerweise individuell sinnvoll (sondern maximal evolutionär zweckmäßig), noch kann ihre Existenz durch soziale/individuelle Wahrnehmungs- und Deutungsprozesse verändert werden. Emotionen sind in diesem Sinne nicht (selbsttechnisch) überformbar. Zum zweiten sind Emotionen für die dritte Ratgeberepoche durch bestimmte technische Verfahren nahezu beliebig auslösbar. Sie sind daher viel zugänglicher für eine lebensratgeberische Aufbereitung, die auf kurzfriste Ergebnisorientierung und maximalen Effekt setzt und die ein Subjekt vor Augen hat, das sich gemäß den je vorliegenden Anforderungen zusammensetzt. Der Emotionalisierung der Selbstführung verdankt sich also dem Umstand, dass der Begriff der Emotionen zugleich manifeste Information, eindeutige Kausalitäten und reproduzierbare Ergebnisse versprechen. Der Aufschwung der „Gefühlskultur“ ist nicht Resultat der Befreiung einer unter-

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drückten Modalität der menschlichen Existenz, sie ist Produkt einer zur vorgängigen Realität erklärten Gehirnwirklichkeit. 4.2.3 Die Überwindung der antagonistischen anderen Neben den zwei besprochen Aspekten kommt eine dritte Entwicklung zum Tragen, die mit der Entkernung des Selbst in der Selbstführung korrespondiert. Die Angleichung von Selbst und Sozialtechniken im Selbstführungsdiskurs des 20. Jahrhunderts ist vielleicht einer der wichtigsten Vorgänge, die dem Verschwinden eines autarken Subjekts parallel laufen und die den Aufstieg der Selbstführung im gesellschaftlichen Verkehr mitbegründen. Die Abkehr von einem konfrontativen, exkludierenden Verhältnis der Einzelnen zu ihrer sozialen Umwelt hin zur Konstruktion eines auf Interessenausgleich basierenden Verhältnisses spiegelt sich in der zunehmend obligatorisch werdenden Präsenz der anderen in den Texten der Lebensratgeber und insbesondere in der Nivellierung eines Unterschieds zwischen Selbst- und Sozialtechniken wider. Wie auch zuvor besetzen die frühen Lebensratgeber einen markanten Pol in den Fragen des Verhältnis zwischen dem Selbst und den anderen. Sie stehen für die größte Differenz und Distanz zwischen dem Selbst und den anderen, was nicht überraschend ist. In einem ganz banalen Sinne wird dies erklärlich durch die Logik der Willensgymnastik: Der Willensmensch braucht für seine Selbsterhöhung niemanden anderen als sich selbst. Äußere Einflüsse sind eher störend oder sogar gefährlich. Ein vorzeitiges Gespräch mit anderen über seine Pläne gilt als genauso schädlich wie generelle Geschwätzigkeit. Soziale Verkehrsbeziehungen sind nur dann kein Ort infektiösen Kontakts, wenn der Wille abgeschieden und separiert wird. Der Willensmensch verhält sich nicht interaktional zu seiner sozialen Umwelt, sondern er strahlt auf sie aus, er nötigt sie qua seiner machtvollen Erscheinung zu Bewunderung und Gefügigkeit. In diesem Sinne ist der Willensmensch nicht von einer Rückwirkung des Anderen auf sein Selbst vollständig abgeschnitten. Aber der Andere wird als passives, formbares Objekt seiner eigenen Willensrepräsentation eingesetzt. Ihm wird keine Realität außerhalb dieser ihm zugedachten Rolle gewährt. Die Techniken zielen daher immer auf einen zweifachen Umgang mit dem Anderen: Abschottung seiner Selbst und Manipulation des Anderen. Das Subjekt zieht für sich selbst ein anderes Register von Techniken als für den Umgang mit anderen. Es geht ihm selbst um Einsicht und Willensstärkung, im Hinblick auf die anderen aber um charismatischen Eindruck und Verpanzerung. Selbst- und Sozialtechniken stehen entgegengesetzt zueinander. Die nachfolgende Epoche billigt der Anderen eine eigene Wirklichkeit, eigene Bedürfnisse und Interessen zu. Es wird zuallererst von den Lebensratgebern als eine Grundtatsache (an)erkannt, dass sich das Subjekt in wechselseitiger Abhängigkeitsbeziehungen findet und es nicht ohne den Einbezug anderer Interessen erfolgreich sein kann. Es gilt nicht mehr als verwerflicher Mangel an Selbstführungsfähigkeit, auf die Mitarbeit der anderen zu setzen und von ihnen Effekte für die eigene Selbststeuerung zu erwarten. Abhängigkeiten gelten als durch die Bedürfnisse gestiftete Tatsachen, die sich zwischen den Subjekten zwangsläufig ereignen und von denen

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die Lebensratgeber den Übenden gar nicht loskoppeln können. 2 Es ist stattdessen in den 1960er und 1970er Jahren ein zentrales Anliegen, ihre oft unbewusste Wirksamkeit zum eigenen Nutzen zur Geltung kommen zu lassen. Das Subjekt wird durch die Sozialtechniken darauf fokussiert, sich in die anderen einzufühlen, um eine Ordnung seiner Natur (Bedürfnisse) zu erkennen und ihnen die Möglichkeiten zur Verwirklichung zu bieten und um zugleich daran seine eigenen Ziele zu knüpfen. Über Charaktertypologien und Gesprächstechniken, die gerade auf das Sprechen-Machen der Anderen zielen, findet ein lenkendes Eingreifen statt. Ein auf die Natur des Gegenübers abgestimmtes kommunikatives Handeln kann sich jedoch nicht ganz von dem Eindruck befreien, dass die Andere in einem ungleichen Verhältnis gehalten wird. So sehr ihre Bedürfnisse Berücksichtigung finden, die Einzelne behält ihre Trümpfe für sich: Sie macht sich nicht in gleicher Weise für die Andere sichtbar, wie die Andere für sie selbst transparent ist, man wird nicht in gleicher Weise gesprächig, wie man sprechend macht. Die Andere wird auf diese Weise Ziel von bestimmten Intentionen und Strategien, ohne dass ihm dies offenkundig gemacht wird. Die Techniken, die die Übende auf sich selbst anwendet, sind verschieden von denen, die sie zur Führung der Anderen gebraucht. Aber die Verwendung der Sozialtechniken setzt eine bereits richtig in Gang gesetzte Selbstführung voraus, und Selbstführung ist auf die Mobilisierung der Anderen mittels Sozialtechniken verwiesen. Selbst- und Sozialtechniken stehen in den 1960er Jahren also komplementär zueinander. Das Soziale wird ein Ort der Aushandlung (damit auch der Übervorteilung), was, wie im Falle des Unwillkürlichen, eine gewisse empathische Empfangsbereitschaft und indirekte Steuerung erforderlich macht. In den 1990er und 2000er Jahren verlieren die anderen einen Großteil ihrer Fremdartigkeit, sie werden sehr nahe an das Selbst herangerückt und üben entscheidende Funktionen für die eigene Selbstführung aus. Bestimmt das andere Subjekt in den 1960er und 1970er Jahren über die Erfolgschancen für Pläne, die die Einzelne aus den Begegnungen mit ihrem Unwillkürlichen bezieht, wird ihm nun Einfluss darauf eingeräumt, welche Form sich das Subjekt überhaupt geben soll. Die anderen bekommen in sozialen und Arbeitszusammenhängen die Rolle zugebilligt, anzuerkennen und damit mitzubestimmen, welches Subjekt man wird. Der Aufschwung von Feedbackverfahren ist nur das offensichtliche Zeichen für eine Selbstführung, bei der nicht mehr im Einzelnen unterscheidbar werden kann, wo das Subjekt sich seine Form gibt oder wo es ihm gegeben wird. Erstmals wird es als erfolgsförderlich für die Selbstführung angesehen, wenn die Einzelne seine Einübung im Verbund mit anderen durchführt. Die Bewertungen, Einschätzungen und Wahrnehmungen der Anderen werden unmittelbar in den weiteren Übungsverlauf einbezogen. Sie sollen der Einzelnen durch die Bewahrung einer gewissen neutralisierten Sprache zwar die Freiheit lassen, auch Ratschläge zu verwerfen, aber der Bewertungsmaßstab, was geeignet für das Subjekt erscheint, liegt nicht mehr nur bei der Einzelnen. Maßgeblich dafür, dass die Andere eine solch aufgewertete Rolle zugebilligt bekommt, ist, dass auch das Subjekt die Andere nicht mehr 2

Auch die Lebensratgeber aus dem Bereich des radikalen Individualismus können nicht mehr hinter diese Tatsache zurück, wenn sie auch den Umstand der zunehmenden Verwobenheit des Selbst mit den Anderen als eine Form neuartiger Fremdbestimmung betrachten. Aber sie kehren dennoch nicht zu einem exkludierenden Verhältnis zum Anderen zurück, wenn sie auch ein konfrontatives Element beibehalten.

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anders behandelt als sich selbst. Wir haben das deutlich sehen können an der nahezu identischen Weise, wie die Führung von Gruppen und die Führung seiner inneren Teilpersönlichkeiten vonstattengeht. Es ist kein Unterschied mehr in der Fremd- und Selbstbehandlung zu erkennen – hier wie da tritt das Subjekt moderierend, vermittelnd, managend auf und wendet die gleichen Techniken an. Wenn so die Unterschiede zwischen Subjekt und Objekt ein gutes Stück weit verwischt sind bzw. beide Sphären ineinanderfließen, weil das Selbst de-subjektiviert und die soziale Welt subjektiviert erscheint, ist ein solchermaßen zugestandener „äußerer“ Einfluss kaum mehr als Fremdbestimmung identifizierbar. In sich findet die Einzelne das vor, was sich ihm im Außen als gut orchestrierbare, episodisch herstellbare „heterogene Einheit“ darstellt und umgekehrt. Kurzum: Selbst- und Sozialtechniken fallen in der dritten Epoche in eins. Der Andere ist nicht mehr ein Objekt, an dem Dominanz demonstriert wird, oder der strategisch gelenkt werden soll, er tritt als kosubjektivierender Faktor in die Selbstführung ein. Der Andere verliert seinen Schrecken, er verliert ein Stück weit seine klar vom eigenen Selbst separierte Existenz und tritt als Mitspieler im Individualisierungsspektakel der postmodernen Selbste ein.

4.3 SCHLUSS Die Genealogie der Selbstführung zeigt eine Reihe gegenläufiger und widersprüchlicher Prozesse auf: Sie führt uns ein Subjekt vor Augen, das im Laufe des 20. Jahrhunderts den Anspruch und die selbsttechnischen Möglichkeiten auf umfassende Gestaltbarkeit aufgibt, dafür aber an Freiheit von disziplinärer Normierung gewinnt. Es tritt in einen Übungsweg ein, an dessen Ende ein nur für sich selbst da-seiendes Subjekt in Aussicht gestellt wird. Dabei handelt es sich um eine bemerkenswerte Neuerung, die wir als moderne Selbstführung bezeichnen. Die einzelnen Elemente, die als christliches Erbe im Selbstführungsdiskurs gelten könnten, nämlich die Skepsis gegenüber einem diesseitig orientierten selbstbestimmten Subjekt, verlieren sich zur Jahrhundertmitte hin. Das Bewusstsein für gesellschaftliche Krisenszenarien nimmt in seiner Bedrohlichkeit für die Subjektivität der Einzelnen in einem Grade ab, dass sich die folgenschweren antagonistischen Konstellationen von Innen- und Außenwelt, von Subjekt und Objekt, von Fremd- und Selbstbestimmung nicht mehr als konstitutives Element im zeitgenössischen Selbstführungsdiskurs finden lassen. Überhaupt ist das Wechselspiel von Fremd- und Selbstführung komplexer und schwieriger zu durchschauen. Dies macht die krisenhaften Entwicklungen zwar schwerer erkennbar, aber nicht weniger schwerwiegend. Weil die Arbeit an sich leichter wird, erscheinen die Ansprüche an das Subjekt weniger bedrohlich. Glücksund Selbsttechniken werden zu zentralen Größen einer zunehmend auf unmittelbare Ergebnisse abzielenden Selbstführung. Dies erklärt vielleicht auch ein Stück weit die Mischung aus Unbehagen und Neugier bei der Lektüre aktueller Ratgeber. Weil die Ansprüche impliziter sind, vor allem aber, da Anrufungen zur Subjektivierung so verständlich und landläufig geworden sind, kann man sich schwer von ihnen distanzieren. Das Unbehagen kommt aus der antizipierten Konfrontation mit Ansprüchen an das Subjektsein, denen die Leser/in nicht genügen kann. Andererseits wecken Ratgeber in einer Zeit, in der Wissen und Fähigkeiten eine kurze Halbwertszeit haben, die Neugier der Subjekte. Wir leben im Zeitalter der Selbstführung.

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ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abbildung 1: Domroese (1924), Titelseite. Abbildung 2: Jacoby ([1925]), Titelblatt. Abbildung 3: Gebhardt (1922), Inhaltsverzeichnis. Abbildung 4: Esdorp (1934), Titelseite. Abbildung 5: Helmel (1938), 22. Abbildung 6: Ebda., Anhang, o.A. Abbildung 7: Kruse (1921), Anhang, 2. Abbildung 8: Ebda., 15. Abbildung 9: Gerling (1918), Titelblatt. Abbildung 10: Payot (1921), Titelseite. Abbildung 11: Grossmann (1933), 481. Abbildung 12: Ebda, 218. Abbildung 13: Beyer (1979), Titelseite. Abbildung 14: Gaschler (1966), Titelseite. Abbildung 15: Hull (1995), Titelseite. Abbildung 16: Kirschner (1976), Titelseite. Abbildung 17: Maltz (1962), 144. Abbildung 18: Lindner (1978), 120f. Abbildung 19: Beer (1978), 138. Abbildung 20: Birkenbihl (1974), 54f. Abbildung 21: Beyer (1979), 33. Abbildung 22: Kensington (2004), Titelseite. Abbildung 23: Tracy (1995), Titelseite. Abbildung 24: Mapstone (2006), Titelseite. Abbildung 25: Weikert (1995), Titelseite. Abbildung 26: Ebda., Inhaltsverzeichnis. Abbildung 27: Steiner (2005), 141. Abbildung 28: Fischer-Epe/Epe (2004), 144. Abbildung 29: Steiner (2005), 24 Abbildung 30: Ebda., 25.

Danksagung

Diese Arbeit wäre nicht geschrieben worden ohne die unterschiedlichen Arten von Unterstützung verschiedener Individuen und Institutionen. An dieser Stelle sei deshalb allen gedankt, die dabei geholfen haben, dass dieses Buch, das uns sehr am Herzen liegt, nun in dieser Form erscheint. Besonders danken wir der Fritz-Thyssen-Stiftung für die finanzielle Förderung, ohne die die Realisierung unseres Forschungsprojektes nicht möglich gewesen wäre. Der Leibniz-Universität Hannover und Prof. Dr. Barbara Duden danken wir für den Rahmen und die Hilfe zur Konkretisierung des Projekts in seiner Anfangsphase. Unser Dank gilt genauso dem DFG-Graduiertenkolleg „Selbst-Bildungen“ der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg und den Mitgliedern des bevölkerungspolitischen Kolloquiums für den Austausch und die Unterstützung, vor allem Prof. Dr. Thomas Etzemüller sowohl für das Vertrauen, als auch für die Kritik, für seine Offenheit und Genauigkeit. Auch Prof. Dr. Thomas Alkemeyer, der unser Projekt von Anfang an besonders unterstützt hat, sei hiermit ausdrücklich für sein Interesse und seine Wertschätzung gedankt.

Soziologie Sighard Neckel, Natalia Besedovsky, Moritz Boddenberg, Martina Hasenfratz, Sarah Miriam Pritz, Timo Wiegand

Die Gesellschaft der Nachhaltigkeit Umrisse eines Forschungsprogramms Januar 2018, 150 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-4194-3 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-4194-7 EPUB: ISBN 978-3-7328-4194-3

Sabine Hark, Paula-Irene Villa

Unterscheiden und herrschen Ein Essay zu den ambivalenten Verflechtungen von Rassismus, Sexismus und Feminismus in der Gegenwart 2017, 176 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3653-6 E-Book PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3653-0 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3653-6

Anna Henkel (Hg.)

10 Minuten Soziologie: Materialität Juni 2018, 122 S., kart. 15,99 € (DE), 978-3-8376-4073-1 E-Book: 13,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4073-5

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Soziologie Robert Seyfert, Jonathan Roberge (Hg.)

Algorithmuskulturen Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit 2017, 242 S., kart., Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3800-4 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-3800-8 EPUB: ISBN 978-3-7328-3800-4

Andreas Reckwitz

Kreativität und soziale Praxis Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie 2016, 314 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3345-0 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3345-4

Ilker Ataç, Gerda Heck, Sabine Hess, Zeynep Kasli, Philipp Ratfisch, Cavidan Soykan, Bediz Yilmaz (eds.)

movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies Vol. 3, Issue 2/2017: Turkey’s Changing Migration Regime and its Global and Regional Dynamics 2017, 230 p., pb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3719-9

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