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German Pages 314 [322] Year 2014
F R I E DR IC H N I ET Z S C H E
Philosophische Werke in sechs Bänden H e r au s g e g e b e n von c l au s -a r t u r s c h e i e r
BAND 6
F E L I X M E I N ER V ER L AG H A M BU RG
F R I E DR IC H N I ET Z S C H E
Zur Genealogie der Moral (1887)
Götzen-Dämmerung (1889)
M i t N ac h wor t e n von c l au s -A r t u r S c h e i e r
F E L I X M E I N E R V E R L AG H A M BU RG
PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 656
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie ; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http ://portal.dnb.de› abruf bar. ISBN 978-3-7873-2426-2 ISBN eBook: 978-3-7873-2433-0
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Inhalt
Zur Genealogie der Moral Eine Streitschrift
Vorrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Erste Abhandlung: „Gut und Böse“, „Gut und Schlecht“ . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zweite Abhandlung: „Schuld“, „schlechtes Gewissen“ und Verwandtes . . . . .
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Dritte Abhandlung: was bedeuten asketische Ideale ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Sprüche und Pfeile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Das Problem des Sokrates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Die „Vernunft“ in der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Wie die „wahre Welt“ endlich zur Fabel wurde. Geschichte eines Irrthums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Moral als Widernatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Die vier grossen Irrthümer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Die „Verbesserer“ der Menschheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Was den Deutschen abgeht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
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Inhalt
Streifzüge eines Unzeitgemässen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Was ich den Alten verdanke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Der Hammer redet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Nachworte des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Editorische Notiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313
Friedrich Nietzsche
Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift.
Dem letztveröffentlichten „Jen seit s von Gut u nd Böse“ zur Ergänzung und Verdeutlichung beigegeben.
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Vorrede.
1. Wir sind uns unbekannt, wir Erkennenden, wir selbst uns selbst : das hat seinen guten Grund. Wir haben nie nach uns gesucht, – wie sollte es geschehn, dass wir eines Tags uns f ä nd e n ? Mit Recht hat man gesagt : „wo euer Schatz ist, da ist auch euer Herz“ ; u n s e r Schatz ist, wo die Bienenkörbe unsrer Erkenntniss stehn. Wir sind immer dazu unterwegs, als geborne Flügelthiere und Honigsammler des Geistes, wir kümmern uns von Herzen eigentlich nur um Eins – Etwas „heimzubringen“. Was das Leben sonst, die sogenannten „Erlebnisse“ angeht, – wer von uns hat dafür auch nur Ernst genug ? Oder Zeit genug ? Bei solchen Sachen waren wir, fürchte ich, nie recht „bei der Sache“ : wir haben eben unser Herz nicht dort – und nicht einmal unser Ohr ! Vielmehr wie ein Göttlich-Zerstreuter und In-sich-Versenkter, dem die Glocke eben mit aller Macht ihre zwölf Schläge des Mittags in’s Ohr gedröhnt hat, mit einem Male aufwacht und sich fragt „was hat es da eigentlich geschlagen ?“ so reiben auch wir uns mitunter h i nt e r d r e i n die Ohren und fragen, ganz erstaunt, ganz betreten „was haben wir da eigentlich erlebt ? mehr noch : wer s i nd wir eigentlich ?“ und zählen nach, hinterdrein, wie gesagt, alle | die zitternden zwölf Glockenschläge unsres Erlebnisses, unsres Lebens, unsres S e i n s – ach ! und verzählen uns dabei … Wir bleiben uns eben nothwendig fremd, wir verstehn uns nicht, wir mü s s e n uns verwechseln, für uns heisst der Satz in alle Ewigkeit „Jeder ist sich selbst der Fernste“, – für uns sind wir keine „Erkennenden“ …
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Vorrede
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2. – Meine Gedanken über die He r k u n f t unserer moralischen Vorurtheile – denn um sie handelt es sich in dieser Streitschrift – haben ihren ersten, sparsamen und vorläufigen Ausdruck in jener Aphorismen-Sammlung erhalten, die den Titel trägt „Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister“, und deren Niederschrift in Sorrent begonnen wurde, während eines Winters, welcher es mir erlaubte, Halt zu machen wie ein Wandrer Halt macht und das weite und gefährliche Land zu überschauen, durch das mein Geist bis dahin gewandert war. Dies geschah im Winter 1876–77 ; die Gedanken selbst sind älter. Es waren in der Hauptsache schon die gleichen Gedanken, die ich in den vorliegenden Abhandlungen wieder aufnehme : – hoffen wir, dass die lange Zwischenzeit ihnen gut gethan hat, dass sie reifer, heller, stärker, vollkommner geworden sind ! D a s s ich aber heute noch an ihnen festhalte, dass sie sich selber inzwischen immer fester an einander gehalten haben, ja in einander gewachsen und verwachsen sind, das stärkt in mir die frohe Zuversichtlichkeit, sie möchten von Anfang an in mir nicht einzeln, | nicht beliebig, nicht sporadisch entstanden sein, sondern aus einer gemeinsamen Wurzel heraus, aus einem in der Tiefe gebietenden, immer bestimmter redenden, immer Bestimmteres verlangenden Gr u nd w i l le n der Erkenntniss. So allein nämlich geziemt es sich bei einem Philosophen. Wir haben kein Recht darauf, irgend worin e i n z e l n zu sein : wir dürfen weder einzeln irren, noch einzeln die Wahrheit treffen. Vielmehr mit der Nothwendigkeit, mit der ein Baum seine Früchte trägt, wachsen aus uns unsre Gedanken, unsre Werthe, unsre Ja’s und Nein’s und Wenn’s und Ob’s – verwandt und bezüglich allesammt unter einander und Zeugnisse Eines Willens, Einer Gesundheit, Eines Erdreichs, Einer Sonne. – Ob sie euc h schmecken, diese unsre Früchte ? – Aber was geht das die Bäume an ! Was geht das u n s an, uns Philosophen ! …
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Vorrede
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3. Bei einer mir eignen Bedenklichkeit, die ich ungern eingestehe – sie bezieht sich nämlich auf die Mor a l , auf Alles, was bisher auf Erden als Moral gefeiert worden ist –, einer Bedenklichkeit, welche in meinem Leben so früh, so unaufgefordert, so unaufhaltsam, so in Widerspruch gegen Umgebung, Alter, Beispiel, Herkunft auftrat, dass ich beinahe das Recht hätte, sie mein „A priori“ zu nennen, – musste meine Neugierde ebenso wie mein Verdacht bei Zeiten an der Frage Halt machen, we lc he n Ur s pr u n g eigentlich unser Gut und Böse habe. In der That gieng mir be|reits als dreizehnjährigem Knaben das Problem vom Ursprung des Bösen nach : ihm widmete ich, in einem Alter, wo man „halb Kinderspiele, halb Gott im Herzen“ hat, mein erstes litterarisches Kinderspiel, meine erste philosophische Schreibübung – und was meine damalige „Lösung“ des Problems anbetriff t, nun, so gab ich, wie es billig ist, Gott die Ehre und machte ihn zum Vat e r des Bösen. Wollte es gerade s o mein „A priori“ von mir ? jenes neue, unmoralische, mindestens immoralistische „A priori“ und der aus ihm redende ach ! so anti-Kantische, so räthselhafte „kategorische Imperativ“, dem ich inzwischen immer mehr Gehör und nicht nur Gehör geschenkt habe ? … Glücklicher Weise lernte ich bei Zeiten das theologische Vorurtheil von dem moralischen abscheiden und suchte nicht mehr den Ursprung des Bösen h i nt e r der Welt. Etwas historische und philologische Schulung, eingerechnet ein angeborner wählerischer Sinn in Hinsicht auf psychologische Fragen überhaupt, verwandelte in Kürze mein Problem in das andre : unter welchen Bedingungen erfand sich der Mensch jene Werthurtheile gut und böse ? u nd we lc he n We r t h h a b e n s ie s e l b s t ? Hemmten oder förderten sie bisher das menschliche Gedeihen ? Sind sie ein Zeichen von Nothstand, von Verarmung, von Entartung des Lebens ? Oder umgekehrt, verräth sich in ihnen die Fülle, die Kraft, der Wille des Lebens, sein Muth,
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Vorrede
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seine Zuversicht, seine Zukunft ? – Darauf fand und wagte ich bei mir mancherlei Antworten, ich unterschied Zeiten, Völker, Ranggrade der Individuen, ich | spezialisirte mein Problem, aus den Antworten wurden neue Fragen, Forschungen, Vermuthungen, Wahrscheinlichkeiten : bis ich endlich ein eignes Land, einen eignen Boden hatte, eine ganze verschwiegene wachsende blühende Welt, heimliche Gärten gleichsam, von denen Niemand Etwas ahnen durfte … Oh wie wir g lüc k l ic h sind, wir Erkennenden, vorausgesetzt, dass wir nur lange genug zu schweigen wissen ! … 4. Den ersten Anstoss, von meinen Hypothesen über den Ursprung der Moral Etwas zu verlautbaren, gab mir ein klares, sauberes und kluges, auch altkluges Büchlein, in welchem mir eine umgekehrte und perverse Art von genealogischen Hypothesen, ihre eigentlich e n g l i s c h e Art, zum ersten Male deutlich entgegentrat, und das mich anzog – mit jener Anziehungskraft, die alles Entgegengesetzte, alles Antipodische hat. Der Titel des Büchleins war „der Ursprung der moralischen Empfi ndungen“ ; sein Verfasser Dr. Paul Rée ; das Jahr seines Erscheinens 1877. Vielleicht habe ich niemals Etwas gelesen, zu dem ich dermaassen, Satz für Satz, Schluss für Schluss, bei mir Nein gesagt hätte wie zu diesem Buche : doch ganz ohne Verdruss und Ungeduld. In dem vorher bezeichneten Werke, an dem ich damals arbeitete, nahm ich gelegentlich und ungelegentlich auf die Sätze jenes Buchs Bezug, nicht indem ich sie widerlegte – was habe ich mit Widerlegungen zu schaffen ! – sondern, wie es | einem positiven Geiste zukommt, an Stelle des Unwahrscheinlichen das Wahrscheinlichere setzend, unter Umständen an Stelle eines Irrthums einen andern. Damals brachte ich, wie gesagt, zum ersten Male jene Herkunfts-Hypothesen an’s Tageslicht, denen diese Abhandlungen gewidmet sind, mit Ungeschick,
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Vorrede
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wie ich mir selbst am letzten verbergen möchte, noch unfrei, noch ohne eine eigne Sprache für diese eignen Dinge und mit mancherlei Rückfälligkeit und Schwankung. Im Einzelnen vergleiche man, was ich Menschl. Allzumenschl. S. 51 über die doppelte Vorgeschichte von Gut und Böse sage (nämlich aus der Sphäre der Vornehmen und der der Sklaven) ; insgleichen S. 119 ff. über Werth und Herkunft der asketischen Moral ; insgleichen S. 78. 82. II, 35 über die „Sittlichkeit der Sitte“, jene viel ältere und ursprünglichere Art Moral, welche toto coelo von der altruistischen Werthungsweise abliegt (in der Dr. Rée, gleich allen englischen Moralgenealogen, die moralische Werthungsweise a n s ic h sieht) ; insgleichen S. 74. Wanderer S. 29. Morgenr. S. 99 über die Herkunft der Gerechtigkeit als eines Ausgleichs zwischen ungefähr Gleich-Mächtigen (Gleichgewicht als Voraussetzung aller Verträge, folglich alles Rechts) ; insgleichen über die Herkunft der Strafe Wand. S. 25. 34., für die der terroristische Zweck weder essentiell, noch ursprünglich ist (wie Dr. Rée meint : – er ist ihr vielmehr erst eingelegt, unter bestimmten Umständen, und immer als ein Nebenbei, als etwas Hinzukommendes). | 5. Im Grunde lag mir gerade damals etwas viel Wichtigeres am Herzen als eignes oder fremdes Hypothesenwesen über den Ursprung der Moral (oder, genauer : letzteres allein um eines Zweckes willen, zu dem es eins unter vielen Mitteln ist). Es handelte sich für mich um den We r t h der Moral, – und darüber hatte ich mich fast allein mit meinem grossen Lehrer Schopenhauer auseinanderzusetzen, an den wie an einen Gegenwärtigen jenes Buch, die Leidenschaft und der geheime Widerspruch jenes Buchs sich wendet (– denn auch jenes Buch war eine „Streitschrift“). Es handelte sich in Sonderheit um den Werth des „Unegoistischen“, der Mitleids-, Selbstverleugnungs-, Selbstopferungs-Instinkte, welche gerade Schopen-
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Vorrede
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hauer so lange vergoldet, vergöttlicht und verjenseitigt hatte, bis sie ihm schliesslich als die „Werthe an sich“ übrig blieben, auf Grund deren er zum Leben, auch zu sich selbst, N e i n s a g t e. Aber gerade gegen d ie s e Instinkte redete aus mir ein immer grundsätzlicherer Argwohn, eine immer tiefer grabende Skepsis ! Gerade hier sah ich die g r o s s e Gefahr der Menschheit, ihre sublimste Lockung und Verführung – wohin doch ? in’s Nichts ? – gerade hier sah ich den Anfang vom Ende, das Stehenbleiben, die zurückblickende Müdigkeit, den Willen g e g e n das Leben sich wendend, die letzte Krankheit sich zärtlich und schwermüthig ankündigend : ich verstand die immer mehr um sich greifende Mitleids-Moral, welche selbst die Philosophen ergriff und krank machte, | als das unheimlichste Symptom unsrer unheimlich gewordnen europäischen Cultur, als ihren Umweg zu einem neuen Buddhismus ? zu einem Europäer-Buddhismus ? zum – N i h i l i s mu s ? … Diese moderne Philosophen-Bevorzugung und Überschätzung des Mitleidens ist nämlich etwas Neues : gerade über den Unwe r t h des Mitleidens waren bisher die Philosophen übereingekommen. Ich nenne nur Plato, Spinoza, La Rochefoucauld und Kant, vier Geister so verschieden von einander als möglich, aber in Einem Eins : in der Geringschätzung des Mitleidens. – 6. Dies Problem vom We r t he des Mitleids und der MitleidsMoral (– ich bin ein Gegner der schändlichen modernen Gefühlsverweichlichung –) scheint zunächst nur etwas Vereinzeltes, ein Fragezeichen für sich ; wer aber einmal hier hängen bleibt, hier fragen le r nt , dem wird es gehn, wie es mir ergangen ist : – eine ungeheure neue Aussicht thut sich ihm auf, eine Möglichkeit fasst ihn wie ein Schwindel, jede Art Misstrauen, Argwohn, Furcht springt hervor, der Glaube an die Moral, an alle Moral wankt, – endlich wird eine neue Forderung laut. Sprechen wir sie aus, diese neue For d e r u n g :
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Vorrede
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wir haben eine K r it i k der moralischen Werthe nöthig, der Wer t h d ieser Wer t he i st selbst erst ei n ma l i n Frage z u stel len – und dazu thut eine Kenntniss der Bedingungen und Umstände noth, aus denen sie gewachsen, unter denen sie sich ent|wickelt und verschoben haben (Moral als Folge, als Symptom, als Maske, als Tartüfferie, als Krankheit, als Missverständniss ; aber auch Moral als Ursache, als Heilmittel, als Stimulanz, als Hemmung, als Gift), wie eine solche Kenntniss weder bis jetzt da war, noch auch nur begehrt worden ist. Man nahm den We r t h dieser „Werthe“ als gegeben, als thatsächlich, als jenseits aller In-Frage-Stellung ; man hat bisher auch nicht im Entferntesten daran gezweifelt und geschwankt, „den Guten“ für höherwerthig als „den Bösen“ anzusetzen, höherwerthig im Sinne der Förderung, Nützlichkeit, Gedeihlichkeit in Hinsicht auf d e n Menschen überhaupt (die Zukunft des Menschen eingerechnet). Wie ? wenn das Umgekehrte die Wahrheit wäre ? Wie ? wenn im „Guten“ auch ein Rückgangssymptom läge, insgleichen eine Gefahr, eine Verführung, ein Gift, ein Narcoticum, durch das etwa die Gegenwart au f K o s t e n d e r Zu k u n f t lebte ? Vielleicht behaglicher, ungefährlicher, aber auch in kleinerem Stile, niedriger ? … So dass gerade die Moral daran Schuld wäre, wenn eine an sich mögliche hö c h s t e M ä c h t i g k e it u n d P r a c h t des Typus Mensch niemals erreicht würde ? So dass gerade die Moral die Gefahr der Gefahren wäre ? … 7. Genug, dass ich selbst, seitdem mir dieser Ausblick sich öffnete, Gründe hatte, mich nach gelehrten, kühnen und arbeitsamen Genossen umzusehn (ich thue es heute noch). Es gilt, das ungeheure, ferne | und so versteckte Land der Moral – der wirklich dagewesenen, wirklich gelebten Moral – mit lauter neuen Fragen und gleichsam mit neuen Augen zu bereisen : und heisst dies nicht beinahe so viel als dieses Land erst e ntd e c k e n ? … Wenn ich dabei, unter Anderen, auch an den
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Vorrede
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genannten Dr. Rée dachte, so geschah es, weil ich gar nicht zweifelte, dass er von der Natur seiner Fragen selbst auf eine richtigere Methodik, um zu Antworten zu gelangen, gedrängt werden würde. Habe ich mich darin betrogen ? Mein Wunsch war es jedenfalls , einem so scharfen und unbetheiligten Auge eine bessere Richtung, die Richtung zur wirklichen H i s t o r ie d e r Mor a l zu geben und ihn vor solchem englischen Hypothesenwesen i n’s Bl aue noch zur rechten Zeit zu warnen. Es liegt ja auf der Hand, welche Farbe für einen MoralGenealogen hundert Mal wichtiger sein muss als gerade das Blaue : nämlich d a s G r au e , will sagen, das Urkundliche, das Wirklich-Feststellbare, das Wirklich-Dagewesene, kurz die ganze lange, schwer zu entziffernde Hieroglyphenschrift der menschlichen Moral-Vergangenheit ! – D ie s e war dem Dr. Rée unbekannt ; aber er hatte Darwin gelesen : – und so reichen sich in seinen Hypothesen auf eine Weise, die zum Mindesten unterhaltend ist, die Darwin’sche Bestie und der allermodernste bescheidene Moral-Zärtling, der „nicht mehr beisst“, artig die Hand, letzterer mit dem Ausdruck einer gewissen gutmüthigen und feinen Indolenz im Gesicht, in die selbst ein Gran von Pessimismus, von Ermüdung eingemischt ist : als ob es sich eigent|lich gar nicht lohne, alle diese Dinge – die Probleme der Moral – so ernst zu nehmen. Mir nun scheint es umgekehrt gar keine Dinge zu geben, die es mehr loh n t e n , dass man sie ernst nimmt ; zu welchem Lohne es zum Beispiel gehört, dass man eines Tags vielleicht die Erlaubniss erhält, sie he it e r zu nehmen. Die Heiterkeit nämlich oder, um es in meiner Sprache zu sagen, d ie f r öh l ic he W i s s e n s c h a f t – ist ein Lohn : ein Lohn für einen langen, tapferen, arbeitsamen und unterirdischen Ernst, der freilich nicht Jedermanns Sache ist. An dem Tage aber, wo wir aus vollem Herzen sagen : „vorwärts ! auch unsre alte Moral gehört i n d ie K omö d ie !“ haben wir für das dionysische Drama vom „Schicksal der Seele“ eine neue Verwicklung und Möglichkeit
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Vorrede
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entdeckt – : und er wird sie sich schon zu Nutze machen, darauf darf man wetten, er, der grosse alte ewige Komödiendichter unsres Daseins ! … 8. – Wenn diese Schrift irgend Jemandem unverständlich ist und schlecht zu Ohren geht, so liegt die Schuld, wie mich dünkt, nicht nothwendig an mir. Sie ist deutlich genug, vorausgesetzt, was ich voraussetze, dass man zuerst meine früheren Schriften gelesen und einige Mühe dabei nicht gespart hat : diese sind in der That nicht leicht zugänglich. Was zum Beispiel meinen „Zarathustra“ anbetriff t, so lasse ich Niemanden als dessen Kenner gelten, den nicht jedes seiner Worte irgendwann einmal tief verwundet und irgendwann | einmal tief entzückt hat : erst dann nämlich darf er des Vorrechts geniessen, an dem halkyonischen Element, aus dem jenes Werk geboren ist, an seiner sonnigen Helle, Ferne, Weite und Gewissheit ehrfürchtig Antheil zu haben. In andern Fällen macht die aphoristische Form Schwierigkeit : sie liegt darin, dass man diese Form heute n ic ht s c hwe r g e nu g nimmt. Ein Aphorismus, rechtschaffen geprägt und ausgegossen, ist damit, dass er abgelesen ist, noch nicht „entziffert“ ; vielmehr hat nun erst dessen Au s le g u n g zu beginnen, zu der es einer Kunst der Auslegung bedarf. Ich habe in der dritten Abhandlung dieses Buchs ein Muster von dem dargeboten, was ich in einem solchen Falle „Auslegung“ nenne : – dieser Abhandlung ist ein Aphorismus vorangestellt, sie selbst ist dessen Commentar. Freilich thut, um dergestalt das Lesen als K u n s t zu üben, Eins vor Allem noth, was heutzutage gerade am Besten verlernt worden ist – und darum hat es noch Zeit bis zur „Lesbarkeit“ meiner Schriften –, zu dem man beinahe Kuh und jedenfalls n ic ht „moderner Mensch“ sein muss : d a s W ie d e r k äue n… S i l s - M a r i a , Oberengadin, im Juli 1887. |
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Erste Abhandlung : „Gut und Böse“, „Gut und Schlecht“. |
1. – Diese englischen Psychologen, denen man bisher auch die einzigen Versuche zu danken hat, es zu einer Entstehungsgeschichte der Moral zu bringen, – sie geben uns mit sich selbst kein kleines Räthsel auf ; sie haben sogar, dass ich es gestehe, eben damit, als leibhaftige Räthsel, etwas Wesentliches vor ihren Büchern voraus – s ie se lbst s i nd i nter e s sa nt ! Diese englischen Psychologen – was wollen sie eigentlich ? Man fi ndet sie, sei es nun freiwillig oder unfreiwillig, immer am gleichen Werke, nämlich die partie honteuse unsrer inneren Welt in den Vordergrund zu drängen und gerade dort das eigentlich Wirksame, Leitende, für die Entwicklung Entscheidende zu suchen, wo der intellektuelle Stolz des Menschen es am letzten zu fi nden w ü n s c ht e (zum Beispiel in der vis inertiae der Gewohnheit oder in der Vergesslichkeit oder in einer blinden und zufälligen Ideen-Verhäkelung und -Mechanik oder in irgend etwas Rein-Passivem, Automatischem, Reflexmässigem, Molekularem und Gründlich-Stupidem) – was treibt diese Psychologen eigentlich immer gerade in d ie s e Richtung ? Ist es ein heimlicher, hämischer, gemeiner, seiner selbst vielleicht uneingeständlicher Instinkt der Verkleinerung des Menschen ? Oder etwa ein pessimistischer Argwohn, das Misstrauen von enttäuschten, verdüsterten, giftig und grün gewordenen Idealisten ? Oder eine kleine unterirdische Feindschaft und Rancune gegen das Christenthum (und Plato), die | vielleicht nicht einmal über die Schwelle des Bewusstseins gelangt ist ? Oder gar ein lüsterner Geschmack am Befremdlichen, am Schmerzhaft-Paradoxen, am Fragwürdigen und Unsinnigen des Daseins ? Oder endlich – von Allem
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Erste Abhandlung
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Etwas, ein wenig Gemeinheit, ein wenig Verdüsterung, ein wenig Antichristlichkeit, ein wenig Kitzel und Bedürfniss nach Pfeffer ? … Aber man sagt mir, dass es einfach alte, kalte, langweilige Frösche seien, die am Menschen herum, in den Menschen hinein kriechen und hüpfen, wie als ob sie da so recht in ihrem Elemente wären, nämlich in einem S u m pf e. Ich höre das mit Widerstand, mehr noch, ich glaube nicht daran ; und wenn man wünschen darf, wo man nicht wissen kann, so wünsche ich von Herzen, dass es umgekehrt mit ihnen stehen möge, – dass diese Forscher und Mikroskopiker der Seele im Grunde tapfere, grossmüthige und stolze Thiere seien, welche ihr Herz wie ihren Schmerz im Zaum zu halten wissen und sich dazu erzogen haben, der Wahrheit alle Wünschbarkeit zu opfern, je d e r Wahrheit, sogar der schlichten, herben, hässlichen, widrigen, unchristlichen, unmoralischen Wahrheit … Denn es giebt solche Wahrheiten. – 2. Alle Achtung also vor den guten Geistern, die in diesen Historikern der Moral walten mögen ! Aber gewiss ist leider, dass ihnen der h i s t or i s c he G e i s t selber abgeht, dass sie gerade von allen guten Geistern der Historie selbst in Stich gelassen worden sind ! Sie denken allesammt, wie es nun einmal alter Philosophen-Brauch ist, we s e nt l ic h unhistorisch ; daran ist kein Zweifel. Die Stümperei ihrer Moral-Genealogie kommt gleich am Anfang zu Tage, da, wo es sich darum han|delt, die Herkunft des Begriffs und Urtheils „gut“ zu ermitteln. „Man hat ursprünglich – so dekretieren sie – unegoistische Handlungen von Seiten Derer gelobt und gut genannt, denen sie erwiesen wurden, also denen sie nüt z l ic h waren ; später hat man diesen Ursprung des Lobes ve r g e s s e n und die unegoistischen Handlungen einfach, weil sie g ewoh n he it s m ä s s i g immer als gut gelobt wurden, auch als gut empfunden – wie als ob sie an sich etwas Gutes wären.“ Man sieht sofort :
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„Gut und Böse“, „Gut und Schlecht“
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diese erste Ableitung enthält bereits alle typischen Züge der englischen Psychologen-Idiosynkrasie, – wir haben „die Nützlichkeit“, „das Vergessen“, „die Gewohnheit“ und am Schluss „den Irrthum“, Alles als Unterlage einer Werthschätzung, auf welche der höhere Mensch bisher wie auf eine Art Vorrecht des Menschen überhaupt stolz gewesen ist. Dieser Stolz s ol l gedemüthigt, diese Werthschätzung entwerthet werden : ist das erreicht ? … Nun liegt für mich erstens auf der Hand, dass von dieser Theorie der eigentliche Entstehungsheerd des Begriffs „gut“ an falscher Stelle gesucht und angesetzt wird : das Urtheil „gut“ rührt n ic ht von Denen her, welchen „Güte“ erwiesen wird ! Vielmehr sind es „die Guten“ selber gewesen, das heisst die Vornehmen, Mächtigen, Höhergestellten und Hochgesinnten, welche sich selbst und ihr Thun als gut, nämlich als ersten Ranges empfanden und ansetzten, im Gegensatz zu allem Niedrigen, Niedrig-Gesinnten, Gemeinen und Pöbelhaften. Aus diesem P a t ho s d e r D i s t a n z heraus haben sie sich das Recht, Werthe zu schaffen, Namen der Werthe auszuprägen, erst genommen : was gieng sie die Nützlichkeit an ! Der Gesichtspunkt der Nützlichkeit ist gerade in Bezug auf ein solches heisses Herausquellen oberster rang-ord|nender, rang-abhebender Werthurtheile so fremd und unangemessen wie möglich : hier ist eben das Gefühl bei einem Gegensatze jenes niedrigen Wärmegrades angelangt, den jede berechnende Klugheit, jeder Nützlichkeits-Calcul voraussetzt, – und nicht für einmal, nicht für eine Stunde der Ausnahme, sondern für die Dauer. Das Pathos der Vornehmheit und Distanz, wie gesagt, das dauernde und dominirende Gesammt- und Grundgefühl einer höheren herrschenden Art im Verhältniss zu einer niederen Art, zu einem „Unten“ – d a s ist der Ursprung des Gegensatzes „gut“ und „schlecht“. (Das Herrenrecht, Namen zu geben, geht so weit, dass man sich erlauben sollte, den Ursprung der Sprache selbst als Machtäusserung der Herrschenden zu fassen : sie sagen „das i s t das
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Erste Abhandlung
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und das“, sie siegeln jegliches Ding und Geschehen mit einem Laute ab und nehmen es dadurch gleichsam in Besitz.) Es liegt an diesem Ursprunge, dass das Wort „gut“ sich von vornherein durchaus n ic ht nothwendig an „unegoistische“ Handlungen anknüpft : wie es der Aberglaube jener Moralgenealogen ist. Vielmehr geschieht es erst bei einem N ie d e r g a n g e aristokratischer Werthurtheile, dass sich dieser ganze Gegensatz „egoistisch“ „unegoistisch“ dem menschlichen Gewissen mehr und mehr aufdrängt, – es ist, um mich meiner Sprache zu bedienen, d e r He e r d e n i n s t i n k t , der mit ihm endlich zu Worte (auch zu Wor t e n) kommt. Und auch dann dauert es noch lange, bis dieser Instinkt in dem Maasse Herr wird, dass die moralische Werthschätzung bei jenem Gegensatze geradezu hängen und stecken bleibt (wie dies zum Beispiel im gegenwärtigen Europa der Fall ist : heute herrscht das Vorurtheil, welches „moralisch“, „unegoistisch“, „désinteressé“ als gleichwerthige | Begriffe nimmt, bereits mit der Gewalt einer „fi xen Idee“ und Kopfkrankheit). 3. Zweitens aber : ganz abgesehen von der historischen Unhaltbarkeit jener Hypothese über die Herkunft des Werthur theils „gut“, krankt sie an einem psychologischen Widersinn in sich selbst. Die Nützlichkeit der unegoistischen Handlung soll der Ursprung ihres Lobes sein, und dieser Ursprung soll ve r g e s s e n worden sein : – wie ist dies Vergessen auch nur mög l i c h ? Hat vielleicht die Nützlichkeit solcher Handlungen irgend wann einmal aufgehört ? Das Gegentheil ist der Fall : diese Nützlichkeit ist vielmehr die Alltagserfahrung zu allen Zeiten gewesen, Etwas also, das fortwährend immer neu unterstrichen wurde ; folglich, statt aus dem Bewusstsein zu verschwinden, statt vergessbar zu werden, sich dem Bewusstsein mit immer grösserer Deutlichkeit eindrücken musste. Um wie viel vernünftiger ist jene entgegengesetzte Theorie (sie
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„Gut und Böse“, „Gut und Schlecht“
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ist deshalb nicht wahrer –), welche zum Beispiel von Herbert Spencer vertreten wird : der den Begriff „gut“ als wesensgleich mit dem Begriff „nützlich“, „zweckmässig“ ansetzt, so dass in den Urtheilen „gut“ und „schlecht“ die Menschheit gerade ihre u nve r g e s s n e n und u nve r g e s s b a r e n Erfahrungen über nützlich-zweckmässig, über schädlich-unzweckmässig aufsummirt und sanktionirt habe. Gut ist, nach dieser Theorie, was sich von jeher als nützlich bewiesen hat : damit darf es als „werthvoll im höchsten Grade“, als „werthvoll an sich“ Geltung behaupten. Auch dieser Weg der Erklärung ist, wie gesagt, falsch, aber wenigstens ist die Erklärung selbst in sich vernünftig und psychologisch haltbar. | 4. – Den Fingerzeig zum r e c ht e n Wege gab mir die Frage, was eigentlich die von den verschiedenen Sprachen ausgeprägten Bezeichnungen des „Guten“ in etymologischer Hinsicht zu bedeuten haben : da fand ich, dass sie allesammt auf die g le ic he B e g r i f f s -Ve r w a nd lu n g zurückleiten, – dass überall „vornehm“, „edel“ im ständischen Sinne der Grundbegriff ist, aus dem sich „gut“ im Sinne von „seelisch-vornehm“, „edel“, von „seelisch-hochgeartet“, „seelisch-privilegirt“ mit Nothwendigkeit heraus entwickelt : eine Entwicklung, die immer parallel mit jener anderen läuft, welche „gemein“, „pöbelhaft“, „niedrig“ schliesslich in den Begriff „schlecht“ übergehen macht. Das beredteste Beispiel für das Letztere ist das deutsche Wort „schlecht“ selber : als welches mit „schlicht“ identisch ist – vergleiche „schlechtweg“, „schlechterdings“ – und ursprünglich den schlichten, den gemeinen Mann noch ohne einen verdächtigenden Seitenblick, einfach im Gegensatz zum Vornehmen bezeichnete. Um die Zeit des dreissigjährigen Kriegs ungefähr, also spät genug, verschiebt sich dieser Sinn in den jetzt gebräuchlichen. – Dies scheint mir in Betreff der MoralGenealogie eine we s e nt l ic he Einsicht ; dass sie so spät erst
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gefunden wird, liegt an dem hemmenden Einfluss, den das demokratische Vorurtheil innerhalb der modernen Welt in Hinsicht auf alle Fragen der Herkunft ausübt. Und dies bis in das anscheinend objektivste Gebiet der Naturwissenschaft und Physiologie hinein, wie hier nur angedeutet werden soll. Welchen Unfug aber dieses Vorurtheil, einmal bis zum Hass entzügelt, in Sonderheit für Moral und Historie anrichten kann, zeigt der berüchtigte Fall Buckle’s ; der Pleb e ji s mu s des mo|dernen Geistes, der englischer Abkunft ist, brach da einmal wieder auf seinem heimischen Boden heraus, heftig wie ein schlammichter Vulkan und mit jener versalzten, überlauten, gemeinen Beredtsamkeit, mit der bisher alle Vulkane geredet haben. – 5. In Hinsicht auf u n s e r Problem, das aus guten Gründen ein s t i l le s Problem genannt werden kann und sich wählerisch nur an wenige Ohren wendet, ist es von keinem kleinen Interesse, festzustellen, dass vielfach noch in jenen Worten und Wurzeln, die „gut“ bezeichnen, die Hauptnuance durchschimmert, auf welche hin die Vornehmen sich eben als Menschen höheren Ranges fühlten. Zwar benennen sie sich vielleicht in den häufigsten Fällen einfach nach ihrer Überlegenheit an Macht (als „die Mächtigen“, „die Herren“, „die Gebietenden“) oder nach dem sichtbarsten Abzeichen dieser Überlegenheit, zum Beispiel als „die Reichen“, „die Besitzenden“ (das ist der Sinn von arya ; und entsprechend im Eranischen und Slavischen). Aber auch nach einem t y p i s c he n C h a r a k t e r z u g e : und dies ist der Fall, der uns hier angeht. Sie heissen sich zum Beispiel „die Wahrhaftigen“ : voran der griechische Adel, dessen Mundstück der Megarische Dichter Theognis ist. Das dafür ausgeprägte Wort σλς bedeutet der Wurzel nach Einen, der i s t , der Realität hat, der wirklich ist, der wahr ist ; dann, mit einer subjektiven Wendung, den Wahren als den Wahrhaftigen : in dieser Phase der Begriffs-
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Verwandlung wird es zum Schlag- und Stichwort des Adels und geht ganz und gar in den Sinn „adelig“ über, zur Abgrenzung vom lü g e n h a f t e n gemeinen Mann, so wie Theognis ihn nimmt | und schildert, – bis endlich das Wort, nach dem Niedergange des Adels, zur Bezeichnung der seelischen noblesse übrig bleibt und gleichsam reif und süss wird. Im Worte κακς wie in δειλς (der Plebejer im Gegensatz zum γας) ist die Feigheit unterstrichen : dies giebt vielleicht einen Wink, in welcher Richtung man die etymologische Herkunft des mehrfach deutbaren γας zu suchen hat. Im lateinischen malus (dem ich μλας zur Seite stelle) könnte der gemeine Mann als der Dunkelfarbige, vor allem als der Schwarzhaarige („hic niger est –“) gekennzeichnet sein, als der vorarische Insasse des italischen Bodens, der sich von der herrschend gewordenen blonden, nämlich arischen Eroberer-Rasse durch die Farbe am deutlichsten abhob ; wenigstens bot mir das Gälische den genau entsprechenden Fall, – fi n (zum Beispiel im Namen Fin-Gal), das abzeichnende Wort des Adels, zuletzt der Gute, Edle, Reine, ursprünglich der Blondkopf, im Gegensatz zu den dunklen, schwarzhaarigen Ureinwohnern. Die Kelten, beiläufig gesagt, waren durchaus eine blonde Rasse ; man thut Unrecht, wenn man jene Streifen einer wesentlich dunkelhaarigen Bevölkerung, die sich auf sorgfältigeren ethnographischen Karten Deutschlands bemerkbar machen, mit irgend welcher keltischen Herkunft und Blutmischung in Zusammenhang bringt, wie dies noch Virchow thut : vielmehr schlägt an diesen Stellen die vor a r i s c he Bevölkerung Deutschlands vor. (Das Gleiche gilt beinahe für ganz Europa : im Wesentlichen hat die unterworfene Rasse schliesslich daselbst wieder die Oberhand bekommen, in Farbe, Kürze des Schädels, vielleicht sogar in den intellektuellen und socialen Instinkten : wer steht uns dafür, ob nicht die moderne Demokratie, der noch modernere | Anarchismus und namentlich jener Hang zur „Commune“, zur primitivsten Gesellschafts-
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Form, der allen Socialisten Europa’s jetzt gemeinsam ist, in der Hauptsache einen ungeheuren Nac h s c h l a g zu bedeuten hat – und dass die Eroberer- und H e r r e n - R a s s e , die der Arier, auch physiologisch im Unterliegen ist ? …) Das lateinische bonus glaube ich als „den Krieger“ auslegen zu dürfen : vorausgesetzt, dass ich mit Recht bonus auf ein älteres duonus zurückführe (vergleiche bellum = duellum = duenlum, worin mir jenes duonus erhalten scheint). Bonus somit als Mann des Zwistes, der Entzweiung (duo), als Kriegsmann : man sieht, was im alten Rom an einem Manne seine „Güte“ ausmachte. Unser deutsches „Gut“ selbst : sollte es nicht „den Göttlichen“, den Mann „göttlichen Geschlechts“ bedeuten ? Und mit dem Volks- (ursprünglich Adels-)Namen der Gothen identisch sein ? Die Gründe zu dieser Vermuthung gehören nicht hierher. – 6. Von dieser Regel, dass der politische Vorrangs-Begriff sich immer in einen seelischen Vorrangs-Begriff auslöst, macht es zunächst noch keine Ausnahme (obgleich es Anlass zu Ausnahmen giebt), wenn die höchste Kaste zugleich die p r ie s t e rl ic he Kaste ist und folglich zu ihrer Gesammt-Bezeichnung ein Prädikat bevorzugt, das an ihre priesterliche Funktion erinnert. Da tritt zum Beispiel „rein“ und „unrein“ sich zum ersten Male als Ständeabzeichen gegenüber ; und auch hier kommt später ein „gut“ und ein „schlecht“ in einem nicht mehr ständischen Sinne zur Entwicklung. Im Übrigen sei man davor gewarnt, diese Begriffe „rein“ und „unrein“ nicht von vornherein zu schwer, zu weit oder gar symbolisch zu nehmen : alle Begriffe | der älteren Menschheit sind vielmehr anfänglich in einem uns kaum ausdenkbaren Maasse grob, plump, äusserlich, eng, geradezu und insbesondere u n s y m b ol i s c h verstanden worden. Der „Reine“ ist von Anfang an bloss ein Mensch, der sich wäscht, der sich gewisse Speisen verbietet, die Hautkrankheiten nach sich ziehen, der nicht mit
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den schmutzigen Weibern des niederen Volkes schläft, der einen Abscheu vor Blut hat, – nicht mehr, nicht viel mehr ! Andrerseits erhellt es freilich aus der ganzen Art einer wesentlich priesterlichen Aristokratie, warum hier gerade frühzeitig sich die Werthungs-Gegensätze auf eine gefährliche Weise verinnerlichen und verschärfen konnten ; und in der That sind durch sie schliesslich Klüfte zwischen Mensch und Mensch aufgerissen worden, über die selbst ein Achill der Freigeisterei nicht ohne Schauder hinwegsetzen wird. Es ist von Anfang an etwas Un g e s u nd e s in solchen priesterlichen Aristokratien und in den daselbst herrschenden, dem Handeln abgewendeten, theils brütenden, theils gefühls-explosiven Gewohnheiten, als deren Folge jene den Priestern aller Zeiten fast unvermeidlich anhaftende intestinale Krankhaftigkeit und Neurasthenie erscheint ; was aber von ihnen selbst gegen diese ihre Krankhaftigkeit als Heilmittel erfunden worden ist, – muss man nicht sagen, dass es sich zuletzt in seinen Nachwirkungen noch hundert Mal gefährlicher erwiesen hat, als die Krankheit, von der es erlösen sollte ? Die Menschheit selbst krankt noch an den Nachwirkungen dieser priesterlichen Kur-Naivetäten ! Denken wir zum Beispiel an gewisse Diätformen (Vermeidung des Fleisches), an das Fasten, an die geschlechtliche Enthaltsamkeit, an die Flucht „in die Wüste“ (Weir Mitchell’sche Isolirung, freilich ohne die | darauf folgende Mastkur und Überernährung, in der das wirksamste Gegenmittel gegen alle Hysterie des asketischen Ideals besteht) : hinzugerechnet die ganze sinnenfeindliche, faul- und raffi nirtmachende Metaphysik der Priester, ihre Selbst-Hypnotisirung nach Art des Fakirs und Brahmanen – Brahman als gläserner Knopf und fi xe Idee benutzt – und das schliessliche, nur zu begreifl iche allgemeine Satthaben mit seiner Radikalkur, dem Nic ht s (oder Gott : – das Verlangen nach einer unio mystica mit Gott ist das Verlangen des Buddhisten in’s Nichts, Nirvâna – und nicht mehr !) Bei den Priestern wird
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eben A l le s gefährlicher, nicht nur Kurmittel und Heilkünste, sondern auch Hochmuth, Rache, Scharfsinn, Ausschweifung, Liebe, Herrschsucht, Tugend, Krankheit ; – mit einiger Billigkeit liesse sich allerdings auch hinzufügen, dass erst auf dem Boden dieser we s e nt l ic h g e f ä h rl ic he n Daseinsform des Menschen, der priesterlichen, der Mensch überhaupt e i n i n t e r e s s a nt e s T h ie r geworden ist, dass erst hier die menschliche Seele in einem höheren Sinne Tie f e bekommen hat und b ö s e geworden ist – und das sind ja die beiden Grundformen der bisherigen Überlegenheit des Menschen über sonstiges Gethier ! … 7. – Man wird bereits errathen haben, wie leicht sich die priesterliche Werthungs-Weise von der ritterlich-aristokratischen abzweigen und dann zu deren Gegensatze fortentwickeln kann ; wozu es in Sonderheit jedes Mal einen Anstoss giebt, wenn die Priesterkaste und die Kriegerkaste einander eifersüchtig entgegentreten und über den Preis mit einander nicht einig werden wollen. Die ritterlich-aristokratischen Werthur theile | haben zu ihrer Voraussetzung eine mächtige Leiblichkeit, eine blühende, reiche, selbst überschäumende Gesundheit, sammt dem, was deren Erhaltung bedingt, Krieg, Abenteuer, Jagd, Tanz, Kampfspiele und Alles überhaupt, was starkes, freies, frohgemuthes Handeln in sich schliesst. Die priesterlich-vornehme Werthungs-Weise hat – wir sahen es – andere Voraussetzungen : schlimm genug für sie, wenn es sich um Krieg handelt ! Die Priester sind, wie bekannt, die b ö s e s t e n Fe i nd e – weshalb doch ? Weil sie die ohnmächtigsten sind. Aus der Ohnmacht wächst bei ihnen der Hass in’s Ungeheure und Unheimliche, in’s Geistigste und Giftigste. Die ganz grossen Hasser in der Weltgeschichte sind immer Priester gewesen, auch die geistreichsten Hasser : – gegen den Geist der priesterlichen Rache kommt überhaupt aller übrige Geist kaum in Betracht. Die menschliche Geschichte wäre eine gar
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zu dumme Sache ohne den Geist, der von den Ohnmächtigen her in sie gekommen ist : – nehmen wir sofort das grösste Beispiel. Alles, was auf Erden gegen „die Vornehmen“, „die Gewaltigen“, „die Herren“, „die Machthaber“ gethan worden ist, ist nicht der Rede werth im Vergleich mit dem, was d ie Juden gegen sie gethan haben : die Juden, jenes priesterliche Volk, das sich an seinen Feinden und Überwältigern zuletzt nur durch eine radikale Umwerthung von deren Werthen, also durch einen Akt der g ei st i g sten R ac he Genugthuung zu schaffen wusste. So allein war es eben einem priesterlichen Volke gemäss, dem Volke der zurückgetretensten priesterlichen Rachsucht. Die Juden sind es gewesen, die gegen die aristokratische Werthgleichung (gut = vornehm = mächtig = schön = glücklich = gottgeliebt) mit einer furchteinflössenden | Folgerichtigkeit die Umkehrung gewagt und mit den Zähnen des abgründlichsten Hasses (des Hasses der Ohnmacht) festgehalten haben, nämlich „die Elenden sind allein die Guten, die Armen, Ohnmächtigen, Niedrigen sind allein die Guten, die Leidenden, Entbehrenden, Kranken, Hässlichen sind auch die einzig Frommen, die einzig Gottseligen, für sie allein giebt es Seligkeit, – dagegen ihr, ihr Vornehmen und Gewaltigen, ihr seid in alle Ewigkeit die Bösen, die Grausamen, die Lüsternen, die Unersättlichen, die Gottlosen, ihr werdet auch ewig die Unseligen, Verfluchten und Verdammten sein !“ … Man weiss, we r die Erbschaft dieser jüdischen Umwerthung gemacht hat … Ich erinnere in Betreff der ungeheuren und über alle Maassen verhängnissvollen Initiative, welche die Juden mit dieser grundsätzlichsten aller Kriegserklärungen gegeben haben, an den Satz, auf den ich bei einer anderen Gelegenheit gekommen bin („Jenseits von Gut und Böse“ p. 118) – dass nämlich mit den Juden der Sk laven au f st a nd i n der Mo r a l beginnt : jener Aufstand, welcher eine zweitausendjährige Geschichte hinter sich hat und der uns heute nur deshalb aus den Augen gerückt ist, weil er – siegreich gewesen ist …
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8. – Aber ihr versteht das nicht ? Ihr habt keine Augen für Etwas, das zwei Jahrtausende gebraucht hat, um zum Siege zu kommen ? … Daran ist Nichts zum Verwundern : alle l a n g e n Dinge sind schwer zu sehn, zu übersehn. D a s aber ist das Ereigniss : aus dem Stamme jenes Baums der Rache und des Hasses, des jüdischen Hasses – des tiefsten und sublimsten, nämlich Ideale schaffenden, Werthe umschaffenden Hasses, | dessen Gleichen nie auf Erden dagewesen ist – wuchs etwas ebenso Unvergleichliches heraus, eine neue L ieb e , die tiefste und sublimste aller Arten Liebe : – und aus welchem andern Stamme hätte sie auch wachsen können ? … Dass man aber ja nicht vermeine, sie sei etwa als die eigentliche Verneinung jenes Durstes nach Rache, als der Gegensatz des jüdischen Hasses emporgewachsen ! Nein, das Umgekehrte ist die Wahrheit ! Diese Liebe wuchs aus ihm heraus, als seine Krone, als die triumphirende, in der reinsten Helle und Sonnenfülle sich breit und breiter entfaltende Krone, welche mit demselben Drange gleichsam im Reiche des Lichts und der Höhe auf die Ziele jenes Hasses, auf Sieg, auf Beute, auf Verführung aus war, mit dem die Wurzeln jenes Hasses sich immer gründlicher und begehrlicher in Alles, was Tiefe hatte und böse war, hinunter senkten. Dieser Jesus von Nazareth, als das leibhafte Evangelium der Liebe, dieser den Armen, den Kranken, den Sündern die Seligkeit und den Sieg bringende „Erlöser“ – war er nicht gerade die Verführung in ihrer unheimlichsten und unwiderstehlichsten Form, die Verführung und der Umweg zu eben jenen j ü d i s c he n Werthen und Neuerungen des Ideals ? Hat Israel nicht gerade auf dem Umwege dieses „Erlösers“, dieses scheinbaren Widersachers und Auflösers Israel’s, das letzte Ziel seiner sublimen Rachsucht erreicht ? Gehört es nicht in die geheime schwarze Kunst einer wahrhaft g r o s s e n Politik der Rache, einer weitsichtigen, unterirdischen, langsam-greifenden und vorausrechnenden Rache, dass Israel
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selber das eigentliche Werkzeug seiner Rache vor aller Welt wie etwas Todfeindliches verleugnen und an’s Kreuz schlagen musste, damit „alle Welt“, nämlich alle Gegner Israel’s unbedenklich ge|rade an diesem Köder anbeissen konnten ? Und wüsste man sich andrerseits, aus allem Raffi nement des Geistes heraus, überhaupt noch einen g e f ä h rl ic he r e n Köder auszudenken ? Etwas, das an verlockender, berauschender, betäubender, verderbender Kraft jenem Symbol des „heiligen Kreuzes“ gleichkäme, jener schauerlichen Paradoxie eines „Gottes am Kreuze“, jenem Mysterium einer unausdenkbaren letzten äussersten Grausamkeit und Selbstkreuzigung Gottes z u m He i le d e s Me n s c he n ? … Gewiss ist wenigstens, dass sub hoc signo Israel mit seiner Rache und Umwerthung aller Werthe bisher über alle anderen Ideale, über alle vor ne h mer e n Ideale immer wieder triumphirt hat. – – 9. – „Aber was reden Sie noch von vor ne h me r e n Idealen ! Fügen wir uns in die Thatsachen : das Volk hat gesiegt – oder „die Sklaven“, oder „der Pöbel“, oder „die Heerde“, oder wie Sie es zu nennen belieben – wenn dies durch die Juden geschehen ist, wohlan ! so hatte nie ein Volk eine welthistorischere Mission. „Die Herren“ sind abgethan ; die Moral des gemeinen Mannes hat gesiegt. Man mag diesen Sieg zugleich als eine Blutvergiftung nehmen (er hat die Rassen durch einander gemengt) – ich widerspreche nicht ; unzweifelhaft ist aber diese Intoxikation g e lu n g e n . Die „Erlösung“ des Menschengeschlechtes (nämlich von „den Herren“) ist auf dem besten Wege ; Alles verjüdelt oder verchristlicht oder verpöbelt sich zusehends (was liegt an Worten !). Der Gang dieser Vergiftung, durch den ganzen Leib der Menschheit hindurch, scheint unaufhaltsam, ihr tempo und Schritt darf sogar von nun an immer langsamer, feiner, unhörbarer, besonnener | sein – man hat ja Zeit … Kommt der Kirche in dieser Absicht heute noch
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eine not hwe nd i g e Aufgabe, überhaupt noch ein Recht auf Dasein zu ? Oder könnte man ihrer entrathen ? Quaeritur. Es scheint, dass sie jenen Gang eher hemmt und zurückhält, statt ihn zu beschleunigen ? Nun, eben das könnte ihre Nützlichkeit sein … Sicherlich ist sie nachgerade etwas Gröbliches und Bäurisches, das einer zarteren Intelligenz, einem eigentlich modernen Geschmacke widersteht. Sollte sie sich zum Mindesten nicht etwas raffi nieren ? … Sie entfremdet heute mehr, als dass sie verführte … Wer von uns würde wohl Freigeist sein, wenn es nicht die Kirche gäbe ? Die Kirche widersteht uns, n ic ht ihr Gift … Von der Kirche abgesehn lieben auch wir das Gift …“ – Dies der Epilog eines „Freigeistes“ zu meiner Rede, eines ehrlichen Thiers, wie er reichlich verrathen hat, überdies eines Demokraten ; er hatte mir bis dahin zugehört und hielt es nicht aus, mich schweigen zu hören. Für mich nämlich giebt es an dieser Stelle viel zu schweigen. – 10. Der Sklavenaufstand in der Moral beginnt damit, dass das Re s s e nt i me nt selbst schöpferisch wird und Werthe gebiert : das Ressentiment solcher Wesen, denen die eigentliche Reaktion, die der That versagt ist, die sich nur durch eine imaginäre Rache schadlos halten. Während alle vornehme Moral aus einem triumphirenden Ja-sagen zu sich selber herauswächst, sagt die Sklaven-Moral von vornherein Nein zu einem „Ausserhalb“, zu einem „Anders“, zu einem „Nicht-selbst“ : und d ie s Nein ist ihre schöpferische That. Diese Umkehrung des werthesetzenden Blicks – diese not hwe nd i g e Richtung nach Aussen statt zurück auf sich | selber – gehört eben zum Ressentiment : die Sklaven-Moral bedarf, um zu entstehn, immer zuerst einer Gegen- und Aussenwelt, sie bedarf, physiologisch gesprochen, äusserer Reize, um überhaupt zu agiren, – ihre Aktion ist von Grund aus Reaktion. Das Umgekehrte ist bei der vornehmen Werthungsweise der Fall : sie agirt und wächst
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spontan, sie sucht ihren Gegensatz nur auf, um zu sich selber noch dankbarer, noch frohlockender Ja zu sagen, – ihr negativer Begriff „niedrig“ „gemein“ „schlecht“ ist nur ein nachgebornes blasses Contrastbild im Verhältniss zu ihrem positiven, durch und durch mit Leben und Leidenschaft durchtränkten Grundbegriff „wir Vornehmen, wir Guten, wir Schönen, wir Glück lichen !“ Wenn die vornehme Werthungsweise sich vergreift und an der Realität versündigt, so geschieht dies in Bezug auf die Sphäre, welche ihr n ic ht genügend bekannt ist, ja gegen deren wirkliches Kennen sie sich spröde zur Wehre setzt : sie verkennt unter Umständen die von ihr verachtete Sphäre, die des gemeinen Mannes, des niedren Volks ; andrerseits erwäge man, dass jedenfalls der Affekt der Verachtung, des Herabblickens, des Überlegen-Blickens, gesetzt, dass er das Bild des Verachteten f ä l s c ht , bei weitem hinter der Fälschung zurückbleiben wird, mit der der zurückgetretene Hass, die Rache des Ohnmächtigen sich an seinem Gegner – in effigie natürlich – vergreifen wird. In der That ist in der Verachtung zu viel Nachlässigkeit, zu viel Leicht-Nehmen, zu viel Wegblicken und Ungeduld mit eingemischt, selbst zu viel eignes Frohgefühl, als dass sie im Stande wäre, ihr Objekt zum eigentlichen Zerrbild und Scheusal umzuwandeln. Man überhöre doch die beinahe wohlwollenden nuances nicht, welche zum Beispiel der griechische Adel | in alle Worte legt, mit denen er das niedere Volk von sich abhebt ; wie sich fortwährend eine Art Bedauern, Rücksicht, Nachsicht einmischt und anzuckert, bis zu dem Ende, dass fast alle Worte, die dem gemeinen Manne zukommen, schliesslich als Ausdrücke für „unglücklich“ „bedauernswürdig“ übrig geblieben sind (vergleiche δειλς, δελαιος, ποvηρς, μοχηρς, letztere zwei eigentlich den gemeinen Mann als Arbeitssklaven und Lastthier kennzeichnend) – und wie andrerseits „schlecht“ „niedrig“ „unglücklich“ nie wieder aufgehört haben, für das griechische Ohr in Einen Ton auszuklingen, mit einer Klangfarbe, in der
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„unglücklich“ überwiegt : dies als Erbstück der alten edleren aristokratischen Werthungsweise, die sich auch im Verachten nicht verleugnet (– Philologen seien daran erinnert, in welchem Sinne οϊζυρς, νολβος, τλμων, δυςτυχεν, ξυμφορ" gebraucht werden). Die „Wohlgeborenen“ f ü h lt e n sich eben als die „Glücklichen“ ; sie hatten ihr Glück nicht erst durch einen Blick auf ihre Feinde künstlich zu construiren, unter Umständen einzureden, e i n z u lü g e n (wie es alle Menschen des Ressentiment zu thun pflegen) ; und ebenfalls wussten sie, als volle, mit Kraft überladene, folglich not hwe nd i g aktive Menschen, von dem Glück das Handeln nicht abzutrennen, – das Thätigsein wird bei ihnen mit Nothwendigkeit in’s Glück hineingerechnet (woher ε$ πρ"ττειν seine Herkunft nimmt) – Alles sehr im Gegensatz zu dem „Glück“ auf der Stufe der Ohnmächtigen, Gedrückten, an giftigen und feindseligen Gefühlen Schwärenden, bei denen es wesentlich als Narcose, Betäubung, Ruhe, Frieden, „Sabbat“, Gemüths-Ausspannung und Gliederstrecken, kurz p a s s iv i s c h auftritt. Während der vornehme Mensch vor sich selbst mit Vertrauen und Offenheit lebt (γενναος „edelbürtig“ | unterstreicht die nuance „aufrichtig“ und auch wohl „naiv“), so ist der Mensch des Ressentiment weder aufrichtig, noch naiv, noch mit sich selber ehrlich und geradezu. Seine Seele s c h ie lt ; sein Geist liebt Schlupfwinkel, Schleichwege und Hinterthüren, alles Versteckte muthet ihn an als s e i ne Welt, s e i ne Sicherheit, s e i n Labsal ; er versteht sich auf das Schweigen, das Nicht-Vergessen, das Warten, das vorläufige Sich-verkleinern, Sich-demüthigen. Eine Rasse solcher Menschen des Ressentiment wird nothwendig endlich k lü g e r sein als irgend eine vornehme Rasse, sie wird die Klugheit auch in ganz andrem Maasse ehren : nämlich als eine Existenzbedingung ersten Ranges, während die Klugheit bei vornehmen Menschen leicht einen feinen Beigeschmack von Luxus und Raffi nement an sich hat : – sie ist eben hier lange nicht so wesentlich, als die vollkommne Funktions-
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Sicherheit der regulirenden u n b e w u s s t e n Instinkte oder selbst eine gewisse Unklugheit, etwa das tapfre Drauflosgehn, sei es auf die Gefahr, sei es auf den Feind, oder jene schwärmerische Plötzlichkeit von Zorn, Liebe, Ehrfurcht, Dankbarkeit und Rache, an der sich zu allen Zeiten die vornehmen Seelen wiedererkannt haben. Das Ressentiment des vornehmen Menschen selbst, wenn es an ihm auftritt, vollzieht und erschöpft sich nämlich in einer sofortigen Reaktion, es ve r g i ft et darum nicht : andrerseits tritt es in unzähligen Fällen gar nicht auf, wo es bei allen Schwachen und Ohnmächtigen unvermeidlich ist. Seine Feinde, seine Unfälle, seine Unt h at e n selbst nicht lange ernst nehmen können – das ist das Zeichen starker voller Naturen, in denen ein Überschuss plastischer, nachbildender, ausheilender, auch vergessen machender Kraft ist (ein gutes Beispiel dafür aus der | modernen Welt ist Mirabeau, welcher kein Gedächtniss für Insulte und Niederträchtigkeiten hatte, die man an ihm begieng, und der nur deshalb nicht vergeben konnte, weil er – vergass). Ein solcher Mensch schüttelt eben viel Gewürm mit Einem Ruck von sich, das sich bei Anderen eingräbt ; hier allein ist auch das möglich, gesetzt, dass es überhaupt auf Erden möglich ist – die eigentliche „ L ieb e zu seinen Feinden“. Wie viel Ehrfurcht vor seinen Feinden hat schon ein vornehmer Mensch ! – und eine solche Ehrfurcht ist schon eine Brücke zur Liebe … Er verlangt ja seinen Feind für sich, als seine Auszeichnung, er hält ja keinen andren Feind aus, als einen solchen, an dem Nichts zu verachten und s e h r V ie l zu ehren ist ! Dagegen stelle man sich „den Feind“ vor, wie ihn der Mensch des Ressentiment concipirt – und hier gerade ist seine That, seine Schöpfung : er hat „den bösen Feind“ concipirt, „d e n B ö s e n“, und zwar als Grundbegriff, von dem aus er sich als Nachbild und Gegenstück nun auch noch einen „Guten“ ausdenkt – sich selbst ! …
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11. Gerade umgekehrt also wie bei dem Vornehmen, der den Grundbegriff „gut“ voraus und spontan, nämlich von sich aus concipirt und von da aus erst eine Vorstellung von „schlecht“ sich schaff t ! Dies „schlecht“ vornehmen Ursprungs und jenes „böse“ aus dem Braukessel des ungesättigten Hasses – das erste eine Nachschöpfung, ein Nebenher, eine Complementärfarbe, das zweite dagegen das Original, der Anfang, die eigentliche T h at in der Conception einer Sklaven-Moral – wie verschieden stehen die beiden scheinbar demselben Begriff „gut“ entgegengestellten Worte „schlecht“ und | „böse“ da ! Aber es ist n ic ht derselbe Begriff „gut“ : vielmehr frage man sich doch, we r eigentlich „böse“ ist, im Sinne der Moral des Ressentiment. In aller Strenge geantwortet : e b e n der „Gute“ der andren Moral, eben der Vornehme, der Mächtige, der Herrschende, nur umgefärbt, nur umgedeutet, nur umgesehn durch das Giftauge des Ressentiment. Hier wollen wir Eins am wenigsten leugnen : wer jene „Guten“ nur als Feinde kennen lernte, lernte auch nichts als b ö s e Fe i nd e kennen, und dieselben Menschen, welche so streng durch Sitte, Verehrung, Brauch, Dankbarkeit, noch mehr durch gegenseitige Bewachung, durch Eifersucht inter pares in Schranken gehalten sind, die andrerseits im Verhalten zu einander so erfi nderisch in Rücksicht, Selbstbeherrschung, Zartsinn, Treue, Stolz und Freundschaft sich beweisen, – sie sind nach Aussen hin, dort wo das Fremde, d ie Fremde beginnt, nicht viel besser als losgelassne Raubthiere. Sie geniessen da die Freiheit von allem socialen Zwang, sie halten sich in der Wildniss schadlos für die Spannung, welche eine lange Einschliessung und Einfriedigung in den Frieden der Gemeinschaft giebt, sie treten in die Unschuld des Raubthier-Gewissens z u r ü c k , als frohlockende Ungeheuer, welche vielleicht von einer scheusslichen Abfolge von Mord, Niederbrennung, Schändung, Folterung mit einem Übermuthe und seelischen Gleichgewichte
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davongehen, wie als ob nur ein Studentenstreich vollbracht sei, überzeugt davon, dass die Dichter für lange nun wieder Etwas zu singen und zu rühmen haben. Auf dem Grunde aller dieser vornehmen Rassen ist das Raubthier, die prachtvolle nach Beute und Sieg lüstern schweifende blo n d e B e s t i e nicht zu verkennen ; es bedarf für diesen verborgenen Grund von | Zeit zu Zeit der Entladung, das Thier muss wieder heraus, muss wieder in die Wildniss zurück : – römischer, arabischer, germanischer, japanesischer Adel, homerische Helden, skandinavische Wikinger – in diesem Bedürfniss sind sie sich alle gleich. Die vornehmen Rassen sind es, welche den Begriff „Barbar“ auf all den Spuren hinterlassen haben, wo sie gegangen sind ; noch aus ihrer höchsten Cultur heraus verräth sich ein Bewusstsein davon und ein Stolz selbst darauf (zum Beispiel wenn Perikles seinen Athenern sagt, in jener berühmten Leichenrede, „zu allem Land und Meer hat unsre Kühnheit sich den Weg gebrochen, unvergängliche Denkmale sich überall im Guten u nd S c h l i m me n aufrichtend“). Diese „Kühnheit“ vornehmer Rassen, toll, absurd, plötzlich, wie sie sich äussert, das Unberechenbare, das Unwahrscheinliche selbst ihrer Unternehmungen – Perikles hebt die %αυμα der Athener mit Auszeichnung hervor – ihre Gleichgültigkeit und Verachtung gegen Sicherheit, Leib, Leben, Behagen, ihre entsetzliche Heiterkeit und Tiefe der Lust in allem Zerstören, in allen Wollüsten des Siegs und der Grausamkeit – Alles fasste sich für Die, welche daran litten, in das Bild des „Barbaren“, des „bösen Feindes“, etwa des „Gothen“, des „Vandalen“ zusammen. Das tiefe, eisige Misstrauen, das der Deutsche erregt, sobald er zur Macht kommt, auch jetzt wieder – ist immer noch ein Nachschlag jenes unauslöschlichen Entsetzens, mit dem Jahrhunderte lang Europa dem Wüthen der blonden germanischen Bestie zugesehn hat (obwohl zwischen alten Germanen und uns Deutschen kaum eine Begriffs-, geschweige eine Blutverwandtschaft besteht). Ich habe einmal
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auf die Verlegenheit Hesiod’s aufmerksam gemacht, als er die Abfolge der Cultur-Zeitalter | aussann und sie in Gold, Silber, Erz auszudrücken suchte : er wusste mit dem Widerspruch, den ihm die herrliche, aber ebenfalls so schauerliche, so gewaltthätige Welt Homer’s bot, nicht anders fertig zu werden, als indem er aus Einem Zeitalter zwei machte, die er nunmehr hinter einander stellte – einmal das Zeitalter der Helden und Halbgötter von Troja und Theben, so wie jene Welt im Gedächtniss der vornehmen Geschlechter zurückgeblieben war, die in ihr die eignen Ahnherrn hatten ; sodann das eherne Zeitalter, so wie jene gleiche Welt den Nachkommen der Niedergetretenen, Beraubten, Misshandelten, Weggeschleppten, Verkauften erschien : als ein Zeitalter von Erz, wie gesagt, hart, kalt, grausam, gefühl- und gewissenlos, Alles zermalmend und mit Blut übertünchend. Gesetzt, dass es wahr wäre, was jetzt jedenfalls als „Wahrheit“ geglaubt wird, dass es eben der S i n n a l le r C u lt u r sei, aus dem Raubthiere „Mensch“ ein zahmes und civilisirtes Thier, ein H au s t h ie r herauszuzüchten, so müsste man unzweifelhaft alle jene Reaktionsund Ressentiments-Instinkte, mit deren Hülfe die vornehmen Geschlechter sammt ihren Idealen schliesslich zu Schanden gemacht und überwältigt worden sind, als die eigentlichen We r k z e u g e d e r C u l t u r betrachten ; womit allerdings noch nicht gesagt wäre, dass deren Tr ä g e r zugleich auch selber die Cultur darstellten. Vielmehr wäre das Gegentheil nicht nur wahrscheinlich – nein ! es ist heute au g e n s c he i n l ic h ! Diese Träger der niederdrückenden und vergeltungslüsternen Instinkte, die Nachkommen alles europäischen und nicht europäischen Sklaventhums, aller vorarischen Bevölkerung in Sonderheit – sie stellen den R üc k g a n g der Menschheit dar ! Diese „Werkzeuge der | Cultur“ sind eine Schande des Menschen, und eher ein Verdacht, ein Gegenargument gegen „Cultur“ überhaupt ! Man mag im besten Rechte sein, wenn man vor der blonden Bestie auf dem Grunde aller vor-
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nehmen Rassen die Furcht nicht los wird und auf der Hut ist : aber wer möchte nicht hundertmal lieber sich fürchten, wenn er zugleich bewundern darf, als sich n ic ht fürchten, aber dabei den ekelhaften Anblick des Missrathenen, Verkleinerten, Verkümmerten, Vergifteten nicht mehr los werden können ? Und ist das nicht u n s e r Verhängniss ? Was macht heute u n s e r n Widerwillen gegen „den Menschen“ ? – denn wir le id e n am Menschen, es ist kein Zweifel. – N ic ht die Furcht ; eher, dass wir Nichts mehr am Menschen zu fürchten haben ; dass das Gewürm „Mensch“ im Vordergrunde ist und wimmelt ; dass der „zahme Mensch“, der Heillos-Mittelmässige und Unerquickliche bereits sich als Ziel und Spitze, als Sinn der Geschichte, als „höheren Menschen“ zu fühlen gelernt hat ; – ja dass er ein gewisses Recht darauf hat, sich so zu fühlen, insofern er sich im Abstande von der Überfülle des Missrathenen, Kränklichen, Müden, Verlebten fühlt, nach dem heute Europa zu stinken beginnt, somit als etwas wenigstens relativ Gerathenes, wenigstens noch Lebensfähiges, wenigstens zum Leben Ja-sagendes … 12. – Ich unterdrücke an dieser Stelle einen Seufzer und eine letzte Zuversicht nicht. Was ist das gerade mir ganz Unerträgliche ? Das, womit ich allein nicht fertig werde, was mich ersticken und verschmachten macht ? Schlechte Luft ! Schlechte Luft ! Dass etwas Missrathenes in meine Nähe kommt ; dass ich die Eingeweide einer missrathenen Seele riechen muss ! … | Was hält man sonst nicht aus von Noth, Entbehrung, bösem Wetter, Siechthum, Mühsal, Vereinsamung ? Im Grunde wird man mit allem Übrigen fertig, geboren wie man ist zu einem unterirdischen und kämpfenden Dasein ; man kommt immer wieder einmal an’s Licht, man erlebt immer wieder seine goldene Stunde des Siegs, – und dann steht man da, wie man geboren ist, unzerbrechbar, gespannt, zu Neuem, zu noch Schwererem, Fernerem bereit, wie ein Bogen, den alle Noth immer
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nur noch straffer anzieht. – Aber von Zeit zu Zeit gönnt mir – gesetzt, dass es himmlische Gönnerinnen giebt, jenseits von Gut und Böse – einen Blick, gönnt mir Einen Blick nur auf etwas Vollkommenes, zu-Ende-Gerathenes, Glückliches, Mächtiges, Triumphirendes, an dem es noch Etwas zu fürchten giebt ! Auf einen Menschen, der d e n Menschen rechtfertigt, auf einen complementären und erlösenden Glücksfall des Menschen, um desswillen man d e n G l au b e n a n d e n Me n s c he n festhalten darf ! … Denn so steht es : die Verkleinerung und Ausgleichung des europäischen Menschen birgt u n s r e grösste Gefahr, denn dieser Anblick macht müde … Wir sehen heute Nichts, das grösser werden will, wir ahnen, dass es immer noch abwärts, abwärts geht, in’s Dünnere, Gutmüthigere, Klügere, Behaglichere, Mittelmässigere, Gleichgültigere, Chinesischere, Christlichere – der Mensch, es ist kein Zweifel, wird immer „besser“ … Hier eben liegt das Verhängniss Europa’s – mit der Furcht vor dem Menschen haben wir auch die Liebe zu ihm, die Ehrfurcht vor ihm, die Hoffnung auf ihn, ja den Willen zu ihm eingebüsst. Der Anblick des Menschen macht nunmehr müde – was ist heute Nihilismus, wenn er nicht d a s ist ? … Wir sind d e s Me n s c he n müde … | 13. – Doch kommen wir zurück : das Problem vom a nd r e n Ursprung des „Guten“, vom Guten, wie ihn der Mensch des Ressentiment sich ausgedacht hat, verlangt nach seinem Abschluss. – Dass die Lämmer den grossen Raubvögeln gram sind, das befremdet nicht : nur liegt darin kein Grund, es den grossen Raubvögeln zu verargen, dass sie sich kleine Lämmer holen. Und wenn die Lämmer unter sich sagen „diese Raubvögel sind böse ; und wer so wenig als möglich ein Raubvogel ist, vielmehr deren Gegenstück, ein Lamm, – sollte der nicht gut sein ?“ so ist an dieser Aufrichtung eines Ideals Nichts auszusetzen, sei es auch, dass die Raubvögel dazu ein wenig spöt-
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tisch blicken werden und vielleicht sich sagen : „w i r sind ihnen gar nicht gram, diesen guten Lämmern, wir lieben sie sogar : nichts ist schmackhafter als ein zartes Lamm.“ – Von der Stärke verlangen, dass sie sich n ic ht als Stärke äussere, dass sie n ic ht ein Überwältigen-Wollen, ein NiederwerfenWollen, ein Herrwerden-Wollen, ein Durst nach Feinden und Widerständen und Triumphen sei, ist gerade so widersinnig als von der Schwäche verlangen, dass sie sich als Stärke äussere. Ein Quantum Kraft ist ein eben solches Quantum Trieb, Wille, Wirken – vielmehr, es ist gar nichts anderes als eben dieses Treiben, Wollen, Wirken selbst, und nur unter der Verführung der Sprache (und der in ihr versteinerten Grundirrthümer der Vernunft), welche alles Wirken als bedingt durch ein Wirkendes, durch ein „Subjekt“ versteht und missversteht, kann es anders erscheinen. Ebenso nämlich, wie das Volk den Blitz von seinem Leuchten trennt und letzteres als T hu n , als Wirkung eines Subjekts nimmt, das Blitz heisst, so trennt die | Volks-Moral auch die Stärke von den Äusserungen der Stärke ab, wie als ob es hinter dem Starken ein indifferentes Substrat gäbe, dem es f r e i s t ü nd e, Stärke zu äussern oder auch nicht. Aber es giebt kein solches Substrat ; es giebt kein „Sein“ hinter dem Thun, Wirken, Werden ; „der Thäter“ ist zum Thun bloss hinzugedichtet, – das Thun ist Alles. Das Volk verdoppelt im Grunde das Thun, wenn es den Blitz leuchten lässt, das ist ein Thun-Thun : es setzt dasselbe Geschehen einmal als Ursache und dann noch einmal als deren Wirkung. Die Naturforscher machen es nicht besser, wenn sie sagen „die Kraft bewegt, die Kraft verursacht“ und dergleichen, – unsre ganze Wissenschaft steht noch, trotz aller ihrer Kühle, ihrer Freiheit vom Affekt, unter der Verführung der Sprache und ist die untergeschobenen Wechselbälge, die „Subjekte“ nicht losgeworden (das Atom ist zum Beispiel ein solcher Wechselbalg, insgleichen das Kantische „Ding an sich“) : was Wunder, wenn die zurückgetretenen, versteckt
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glimmenden Affekte Rache und Hass diesen Glauben für sich ausnützen und im Grunde sogar keinen Glauben inbrünstiger aufrecht erhalten als den, e s s t e he d e m St a r k e n f r e i , schwach, und dem Raubvogel, Lamm zu sein : – damit gewinnen sie ja bei sich das Recht, dem Raubvogel es z u z ur e c h n e n , Raubvogel zu sein … Wenn die Unterdrückten, Niedergetretenen, Vergewaltigten aus der rachsüchtigen List der Ohnmacht heraus sich zureden : „lasst uns anders sein als die Bösen, nämlich gut ! Und gut ist Jeder, der nicht vergewaltigt, der Niemanden verletzt, der nicht angreift, der nicht vergilt, der die Rache Gott übergiebt, der sich wie wir im Verborgenen hält, der allem Bösen aus dem Wege geht und wenig über|haupt vom Leben verlangt, gleich uns den Geduldigen, Demüthigen, Gerechten“ – so heisst das, kalt und ohne Voreingenommenheit angehört, eigentlich nichts weiter als : „wir Schwachen sind nun einmal schwach ; es ist gut, wenn wir nichts thun, wo z u w i r n ic ht s t a r k g e nu g s i nd “ – aber dieser herbe Thatbestand, diese Klugheit niedrigsten Ranges, welche selbst Insekten haben (die sich wohl todt stellen, um nicht „zu viel“ zu thun, bei grosser Gefahr), hat sich Dank jener Falschmünzerei und Selbstverlogenheit der Ohnmacht in den Prunk der entsagenden stillen abwartenden Tugend gekleidet, gleich als ob die Schwäche des Schwachen selbst – das heisst doch sein We s e n , sein Wirken, seine ganze einzige unvermeidliche, unablösbare Wirklichkeit – eine freiwillige Leistung, etwas Gewolltes, Gewähltes, eine T h at , ein Ve r d ie n s t sei. Diese Art Mensch hat den Glauben an das indifferente wahlfreie „Subjekt“ nöt h i g aus einem Instinkte der Selbsterhaltung, Selbstbejahung heraus, in dem jede Lüge sich zu heiligen pflegt. Das Subjekt (oder, dass wir populärer reden, die S e e le) ist vielleicht deshalb bis jetzt auf Erden der beste Glaubenssatz gewesen, weil er der Überzahl der Sterblichen, den Schwachen und Niedergedrückten jeder Art, jene sublime Selbstbetrügerei ermöglichte, die Schwäche
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selbst als Freiheit, ihr So- und So-sein als Ve r d ie n s t auszulegen. 14. Will Jemand ein wenig in das Geheimniss hinab und hinunter sehn, wie man auf Erden Id e a le f a b r i z i r t ? Wer hat den Muth dazu ? … Wohlan ! Hier ist der Blick offen in diese dunkle Werkstätte. Warten Sie noch einen Augenblick, mein Herr Vorwitz und | Wagehals : Ihr Auge muss sich erst an dieses falsche schillernde Licht gewöhnen … So ! Genug ! Reden Sie jetzt ! Was geht da unten vor ? Sprechen Sie aus, was Sie sehen, Mann der gefährlichsten Neugierde – jetzt bin ic h der, welcher zuhört. – – „Ich sehe Nichts, ich höre um so mehr. Es ist ein vorsichtiges tückisches leises Munkeln und Zusammenflüstern aus allen Ecken und Winkeln. Es scheint mir, dass man lügt ; eine zuckrige Milde klebt an jedem Klange. Die Schwäche soll zum Ve r d ie n s t e umgelogen werden, es ist kein Zweifel – es steht damit so, wie Sie es sagten.“ – – Weiter ! – „und die Ohnmacht, die nicht vergilt, zur „Güte“ ; die ängstliche Niedrigkeit zur „Demuth“ ; die Unterwerfung vor Denen, die man hasst, zum „Gehorsam“ (nämlich gegen Einen, von dem sie sagen, er befehle diese Unterwerfung, – sie heissen ihn Gott). Das Unoffensive des Schwachen, die Feigheit selbst, an der er reich ist, sein An-der-Thür-stehn, sein unvermeidliches Warten-müssen kommt hier zu guten Namen, als „Geduld“, es heisst auch wohl d ie Tugend ; das Sich-nichträchen-Können heisst Sich-nicht-rächen-Wollen, vielleicht selbst Verzeihung („denn s ie wissen nicht, was sie thun – wir allein wissen es, was s ie thun !“). Auch redet man von der „Liebe zu seinen Feinden“ – und schwitzt dabei.“ – Weiter ! – „Sie sind elend, es ist kein Zweifel, alle diese Munkler und Winkel-Falschmünzer, ob sie schon warm bei einander hok-
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ken – aber sie sagen mir, ihr Elend sei eine Auswahl und Auszeichnung Gottes, man prügele die Hunde, die man am liebsten habe ; vielleicht sei dies | Elend auch eine Vorbereitung, eine Prüfung, eine Schulung, vielleicht sei es noch mehr – Etwas, das einst ausgeglichen und mit ungeheuren Zinsen in Gold, nein ! in Glück ausgezahlt werde. Das heissen sie „die Seligkeit.“ – Weiter ! – „Jetzt geben sie mir zu verstehen, dass sie nicht nur besser seien als die Mächtigen, die Herrn der Erde, deren Speichel sie lecken müssen (n ic ht aus Furcht, ganz und gar nicht aus Furcht ! sondern weil es Gott gebietet, alle Obrigkeit zu ehren) – dass sie nicht nur besser seien, sondern es auch „besser hätten“, jedenfalls einmal besser haben würden. Aber genug ! genug ! Ich halte es nicht mehr aus. Schlechte Luft ! Schlechte Luft ! Diese Werkstätte, wo man Id e a le f a b r i z i r t – mich dünkt, sie stinkt vor lauter Lügen.“ – Nein ! Noch einen Augenblick ! Sie sagten noch nichts von dem Meisterstücke dieser Schwarzkünstler, welche Weiss, Milch und Unschuld aus jedem Schwarz herstellen : – haben Sie nicht bemerkt, was ihre Vollendung im Raffi nement ist, ihr kühnster, feinster, geistreichster, lügenreichster ArtistenGriff ? Geben Sie Acht ! Diese Kellerthiere voll Rache und Hass – was machen sie doch gerade aus Rache und Hass ? Hörten Sie je diese Worte ? Würden Sie ahnen, wenn Sie nur ihren Worten trauten, dass Sie unter lauter Menschen des Ressentiment sind ? … – „Ich verstehe, ich mache nochmals die Ohren auf (ach ! ach ! ach ! und die Nase z u). Jetzt höre ich erst, was sie so oft schon sagten : „Wir Guten – w i r si nd d ie Gerec hten“ – was sie verlangen, das heissen sie nicht Vergeltung, sondern „den Triumph der G e r e c ht i g k e it“ ; was sie hassen, das ist nicht ihr Feind, | nein ! sie hassen das „Un r e c ht“, die „Gott losigkeit“ ; was sie glauben und hoffen, ist nicht die Hoff nung auf Rache,
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die Trunkenheit der süssen Rache (– „süsser als Honig“ nannte sie schon Homer), sondern der Sieg Gottes, des g e r e c ht e n Gottes über die Gottlosen ; was ihnen zu lieben auf Erden übrig bleibt, sind nicht ihre Brüder im Hasse, sondern ihre „Brüder in der Liebe“, wie sie sagen, alle Guten und Gerechten auf der Erde.“ – Und wie nennen sie das, was ihnen als Trost wider alle Leiden des Lebens dient – ihre Phantasmagorie der vorweggenommenen zukünftigen Seligkeit ? – „Wie ? Höre ich recht ? Sie heissen das „das jüngste Gericht“, das Kommen i h r e s Reichs, des „Reichs Gottes“ – e i n s t we ile n aber leben sie „im Glauben“, „in der Liebe“, „in der Hoffnung“.“ – Genug ! Genug ! 15. Im Glauben woran ? In der Liebe wozu ? In der Hoff nung worauf ? – Diese Schwachen – irgendwann einmal nämlich wollen auch s ie die Starken sein, es ist kein Zweifel, irgendwann soll auch i h r „Reich“ kommen – „das Reich Gottes“ heisst es schlechtweg bei ihnen, wie gesagt : man ist ja in Allem so demüthig ! Schon um d a s zu erleben, hat man nöthig, lange zu leben, über den Tod hinaus, – ja man hat das ewige Leben nöthig, damit man sich auch ewig im „Reiche Gottes“ schadlos halten kann für jenes Erden-Leben „im Glauben, in der Liebe, in der Hoff nung“. Schadlos wofür ? Schadlos wodurch ? … Dante hat sich, wie mich dünkt, gröblich vergriffen, als er, mit einer schreckeneinflössenden Ingenuität, jene Inschrift über | das Thor zu seiner Hölle setzte „auch mich schuf die ewige Liebe“ : – über dem Thore des christlichen Paradieses und seiner „ewigen Seligkeit“ würde jedenfalls mit besserem Rechte die Inschrift stehen dürfen „auch mich schuf der ewige H a s s“ – gesetzt, dass eine Wahrheit über dem Thor zu einer Lüge stehen dürfte ! Denn w a s ist die Seligkeit jenes Paradieses ? … Wir würden es vielleicht schon errathen ; aber
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besser ist es, dass es uns eine in solchen Dingen nicht zu unterschätzende Autorität ausdrücklich bezeugt, Thomas von Aquino, der grosse Lehrer und Heilige. „Beati in regno coelesti,“ sagt er sanft wie ein Lamm, „videbunt poenas damnatorum, u t b e a t it u d o i l l i s m a g i s c o m p l a c e a t .“ Oder will man es in einer stärkeren Tonart hören, etwa aus dem Munde eines triumphirenden Kirchenvaters, der seinen Christen die grausamen Wollüste der öffentlichen Schauspiele widerrieth – warum doch ? „Der Glaube bietet uns ja viel mehr, – sagt er, de spectac. c. 29 ss. – v ie l St ä r k e r e s ; Dank der Erlösung stehen uns ja ganz andre Freuden zu Gebote ; an Stelle der Athleten haben wir unsre Märtyrer ; wollen wir Blut, nun, so haben wir das Blut Christi … Aber was erwartet uns erst am Tage seiner Wiederkunft, seines Triumphes !“ – und nun fährt er fort, der entzückte Visionär : „At enim supersunt alia spectacula, ille ultimus et perpetuus judicii dies, ille nationibus insperatus, ille derisus, cum tanta saeculi vetustas et tot ejus nativitates uno igne haurientur. Quae tunc spectaculi latitudo ! Qu id ad m i rer ! Qu id r idea m ! U bi g audea m ! U bi ex u ltem, spectans tot et tantos r e g e s , qui in coelum recepti nuntiabantur, cum ipso Jove et ipsis suis testibus in imis tenebris congemescentes ! Item praesides (die Provinzialstatthalter) perse|cutores dominici nominis saevioribus quam ipsi flammis saevierunt insultantibus contra Christianos liquescentes ! Quos praeterea sapientes illos philosophos coram discipulis suis una conflagrantibus erubescentes, quibus nihil ad deum pertinere suadebant, quibus animas aut nullas aut non in pristina corpora redituras affi rmabant ! Etiam poëtas non ad Rhadamanti nec ad Minois, sed ad inopinati Christi tribunal palpitantes ! Tunc magis tragoedi audiendi, magis scilicet vocales (besser bei Stimme, noch ärgere Schreier) in sua propria calamitate ; tunc histriones cog noscendi, solutiores multo per ignem ; tunc spectandus auriga in flammea rota totus rubens, tunc xystici contemplandi non in gymnasiis, sed
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in igne jaculati, nisi quod ne tunc quidem illos velim vivos, ut qui malim ad eos potius conspectum i n s at i a b i le m conferre, qui in dominum desaevierunt. „Hic est ille, dicam, fabri aut quaestuariae fi lius (wie alles Folgende und insbesondere auch diese aus dem Talmud bekannte Bezeichnung der Mutter Jesu zeigt, meint Tertullian von hier ab die Juden), sabbati destructor, Samarites et daemonium habens. Hic est, quem a Juda redemistis, hic est ille arundine et colaphis diverberatus, sputamentis dedecoratus, felle et aceto potatus. Hic est, quem clam discentes subripuerunt, ut resurrexisse dicatur vel hortu lanus detraxit, ne lactucae suae frequentia commeantium laederentur.“ Ut talia spectes, ut t a l i bu s e x u lt e s , quis tibi praetor aut consul aut quaestor aut sacerdos de sua liberalitate praestabit ? Et tamen haec jam habemus quodammodo p e r f id e m spiritu imaginante repraesentata. Ceterum qualia illa sunt, quae nec oculus vidit nec auris audivit nec in cor hominis ascenderunt ? (I. Cor. 2, 9.) Credo circo et utraque cavea (erster und vierter Rang oder, nach | Anderen, komische und tragische Bühne) et omni stadio gratiora.“ – Pe r f id e m : so steht’s geschrieben. 16. Kommen wir zum Schluss. Die beiden e nt g e g e n g e s e t z t e n Werthe „gut und schlecht“, „gut und böse“ haben einen furchtbaren, Jahrtausende langen Kampf auf Erden gekämpft ; und so gewiss auch der zweite Werth seit langem im Übergewichte ist, so fehlt es doch auch jetzt noch nicht an Stellen, wo der Kampf unentschieden fortgekämpft wird. Man könnte selbst sagen, dass er inzwischen immer höher hinauf getragen und eben damit immer tiefer, immer geistiger geworden sei : so dass es heute vielleicht kein entscheidenderes Abzeichen der „ höh e r e n Na t u r“, der geistigeren Natur giebt, als zwiespältig in jenem Sinne und wirklich noch ein Kampfplatz für jene Gegensätze zu sein. Das Symbol dieses Kampfes, in einer Schrift geschrieben, die über alle
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Menschengeschichte hinweg bisher lesbar blieb, heisst „Rom gegen Judäa, Judäa gegen Rom“ : – es gab bisher kein grösseres Ereigniss als d ie s e n Kampf, d ie s e Fragestellung, d ie s e n todfeindlichen Widerspruch. Rom empfand im Juden Etwas wie die Wider natur selbst, gleichsam sein antipodisches Monstrum ; in Rom galt der Jude „des Hasses gegen das ganze Menschengeschlecht ü b e r f ü h r t“ : mit Recht, sofern man ein Recht hat, das Heil und die Zukunft des Menschengeschlechts an die unbedingte Herrschaft der aristokratischen Werthe, der römischen Werthe anzuknüpfen. Was dagegen die Juden gegen Rom empfunden haben ? Man erräth es aus tausend Anzeichen ; aber es genügt, sich einmal wieder die Johanneische Apokalypse zu Gemüthe zu führen, jenen | wüstesten aller geschriebenen Ausbrüche, welche die Rache auf dem Gewissen hat. (Unterschätze man übrigens die tiefe Folgerichtigkeit des christlichen Instinktes nicht, als er gerade dieses Buch des Hasses mit dem Namen des Jüngers der Liebe überschrieb, desselben, dem er jenes verliebt-schwärmerische Evangelium zu eigen gab – : darin steckt ein Stück Wahrheit, wie viel litterarische Falschmünzerei auch zu diesem Zwecke nöthig gewesen sein mag.) Die Römer waren ja die Starken und Vornehmen, wie sie stärker und vornehmer bisher auf Erden nie dagewesen, selbst niemals geträumt worden sind ; jeder Überrest von ihnen, jede Inschrift entzückt, gesetzt, dass man erräth, w a s da schreibt. Die Juden umgekehrt waren jenes priesterliche Volk des Ressentiment par excellence, dem eine volksthümlich-moralische Genialität sonder Gleichen innewohnte : man vergleiche nur die verwandt-begabten Völker, etwa die Chinesen oder die Deutschen, mit den Juden, um nachzufühlen, was ersten und was fünften Ranges ist. Wer von ihnen einstweilen g e s ie g t hat, Rom oder Judäa ? Aber es ist ja gar kein Zweifel : man erwäge doch, vor wem man sich heute in Rom selber als vor dem Inbegriff aller höchsten Werthe beugt – und nicht nur in Rom, sondern fast auf der hal-
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ben Erde, überall wo nur der Mensch zahm geworden ist oder zahm werden will, – vor d r e i Jud e n , wie man weiss, und E ine r Jü d i n (vor Jesus von Nazareth, dem Fischer Petrus, dem Teppichwirker Paulus und der Mutter des anfangs genannten Jesus, genannt Maria). Dies ist sehr merkwürdig : Rom ist ohne allen Zweifel unterlegen. Allerdings gab es in der Renaissance ein glanzvoll-unheimliches Wiederauf wachen des klassischen Ideals, der vornehmen Werthungsweise aller | Dinge : Rom selber bewegte sich wie ein aufgeweckter Scheintodter unter dem Druck des neuen, darüber gebauten judaisirten Rom, das den Aspekt einer ökumenischen Synagoge darbot und „Kirche“ hiess : aber sofort triumphirte wieder Judäa, Dank jener gründlich pöbelhaften (deutschen und englischen) Ressentiments-Bewegung, welche man die Reformation nennt, hinzugerechnet, was aus ihr folgen musste, die Wiederherstellung der Kirche, – die Wiederherstellung auch der alten Grabesruhe des klassischen Rom. In einem sogar entscheidenderen und tieferen Sinne als damals kam Judäa noch einmal mit der französischen Revolution zum Siege über das klassische Ideal : die letzte politische Vornehmheit, die es in Europa gab, die des siebzehnten und achtzehnten f r a n z ö s i s c he n Jahrhunderts brach unter den volksthümlichen Ressentiments-Instinkten zusammen, – es wurde niemals auf Erden ein grösserer Jubel, eine lärmendere Begeisterung gehört ! Zwar geschah mitten darin das Ungeheuerste, das Unerwartetste : das antike Ideal selbst trat le i bh a f t und mit unerhörter Pracht vor Auge und Gewissen der Menschheit, – und noch einmal, stärker, einfacher, eindringlicher als je, erscholl, gegenüber der alten Lügen-Losung des Ressentiment vom Vor r e c ht d e r Me i s t e n , gegenüber dem Willen zur Niederung, zur Erniedrigung, zur Ausgleichung, zum Abwärts und Abendwärts des Menschen die furchtbare und entzückende Gegenlosung vom Vor r e c ht d e r We n i g s t e n ! Wie ein letzter Fingerzeig zum a nd r e n Wege erschien Napoleon, jener einzelnste und spä-
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testgeborne Mensch, den es jemals gab, und in ihm das fleischgewordne Problem des vor ne h me n Id e a l s a n s ic h – man überlege wohl, w a s es für ein Problem ist : | Napoleon, diese Synthesis von Un me n s c h und Ü b e r me n s c h … 17. – War es damit vorbei ? Wurde jener grösste aller Ideal-Gegensätze damit für alle Zeiten ad acta gelegt ? Oder nur vertagt, auf lange vertagt ? … Sollte es nicht irgendwann einmal ein noch viel furchtbareres, viel länger vorbereitetes Auflodern des alten Brandes geben müssen ? Mehr noch : wäre nicht gerade d a s aus allen Kräften zu wünschen ? selbst zu wollen ? selbst zu fördern ? … Wer an dieser Stelle anfängt, gleich meinen Lesern, nachzudenken, weiter zu denken, der wird schwerlich bald damit zu Ende kommen, – Grund genug für mich, selbst zu Ende zu kommen, vorausgesetzt, dass es längst zur Genüge klar geworden ist, was ich w i l l , was ich gerade mit jener gefährlichen Losung will, welche meinem letzten Buche auf den Leib geschrieben ist : „Je n s e it s vo n G ut u nd B ö s e“ … Dies heisst zum Mindesten n ic ht „Jenseits von Gut und Schlecht.“ – – | A n merk u n g. Ich nehme die Gelegenheit wahr, welche diese Abhandlung mir giebt, um einen Wunsch öffentlich und förmlich auszudrücken, der von mir bisher nur in gelegentlichem Gespräche mit Gelehrten geäussert worden ist : dass nämlich irgend eine philosophische Fakultät sich durch eine Reihe akademischer Preisausschreiben um die Förderung mor a l h i s to r i sc her Studien verdient machen möge : – vielleicht dient dies Buch dazu, einen kräftigen Anstoss gerade in solcher Richtung | zu geben. In Hinsicht auf eine Möglichkeit dieser Art sei die nachstehende Frage in Vorschlag gebracht : sie verdient ebenso sehr die Aufmerksamkeit der Philologen und Historiker als die der eigentlichen Philosophie-Gelehrten von Beruf.
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„Welche Fi ngerzeige g iebt d ie Sprachw issenschaf t, insbesondere die et ymologische Forschung, f ür die Entw ick lu ngsgesch ichte der mora l ischen Beg r i f fe ab ?“ – Andrerseits ist es freilich ebenso nöthig, die Theilnahme der Physiologen und Mediciner für diese Probleme (vom Wer t he der bisherigen Werthschätzungen) zu gewinnen : wobei es den Fach-Philosophen überlassen sein mag, auch in diesem einzelnen Falle die Fürsprecher und Vermittler zu machen, nachdem es ihnen im Ganzen gelungen ist, das ursprünglich so spröde, so misstrauische Verhältniss zwischen Philosophie, Physiologie und Medicin in den freundschaftlichsten und fruchtbringendsten Austausch umzugestalten. In der That bedürfen alle Gütertafeln, alle „du sollst“, von denen die Geschichte oder die ethnologische Forschung weiss, zunächst der phy s iolog i sc he n Beleuchtung und Ausdeutung, eher jedenfalls noch als der psychologischen ; alle insgleichen warten auf eine Kritik von seiten der medicinischen Wissenschaft. Die Frage : was ist diese oder jene Gütertafel und „Moral“ wer t h ? will unter die verschiedensten Perspektiven gestellt sein ; man kann namentlich das „werth wo z u ?“ nicht fein genug aus einander legen. Etwas zum Beispiel, das ersichtlich Werth hätte in Hinsicht auf möglichste Dauerfähigkeit einer Rasse (oder auf Steigerung ihrer Anpassungskräfte an ein bestimmtes Klima oder auf Erhaltung der grössten Zahl) hätte durchaus nicht den gleichen Werth, wenn es sich etwa darum handelte, einen stärkeren Typus herauszubilden. Das Wohl der Meisten und das Wohl der Wenigsten sind entgegengesetzte Werth-Gesichtspunkte : a n s ic h schon den ersteren für den höherwerthigen zu halten wollen wir der Naivetät englischer Biologen überlassen … A l le Wissenschaften haben nunmehr der ZukunftsAufgabe des Philosophen vorzuarbeiten : diese Aufgabe dahin verstanden, dass der Philosoph das P r oblem vom Wer t he zu lösen hat, dass er die R a n g or d nu n g der Wer t he zu bestimmen hat. – |
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Zweite Abhandlung : „Schuld“, „schlechtes Gewissen“ und Verwandtes. |
1. Ein Thier heranzüchten, das ve r s p r e c he n d a r f – ist das nicht gerade jene paradoxe Aufgabe selbst, welche sich die Natur in Hinsicht auf den Menschen gestellt hat ? ist es nicht das eigentliche Problem vom Menschen ? … Dass dies Problem bis zu einem hohen Grad gelöst ist, muss Dem um so erstaunlicher erscheinen, der die entgegen wirkende Kraft, die der Ve r g e s s l ic h k e it , vollauf zu würdigen weiss. Vergesslichkeit ist keine blosse vis inertiae, wie die Oberflächlichen glauben, sie ist vielmehr ein aktives, im strengsten Sinne positives Hemmungsvermögen, dem es zuzuschreiben ist, dass was nur von uns erlebt, erfahren, in uns hineingenommen wird, uns im Zustande der Verdauung (man dürfte ihn „Einverseelung“ nennen) ebenso wenig in’s Bewusstsein tritt, als der ganze tausendfältige Prozess, mit dem sich unsre leibliche Ernährung, die sogenannte „Einverleibung“ abspielt. Die Thüren und Fenster des Bewusstseins zeitweilig schliessen ; von dem Lärm und Kampf, mit dem unsre Unterwelt von dienstbaren Organen für und gegen einander arbeitet, unbehelligt bleiben ; ein wenig Stille, ein wenig tabula rasa des Bewusstseins, damit wieder Platz wird für Neues, vor Allem für die vornehmeren Funktionen und Funktionäre, für Regieren, Voraussehn, Vorausbestimmen (denn unser Organismus ist oligarchisch eingerichtet) – das ist der Nutzen der, wie gesagt, aktiven Vergesslichkeit, einer Thürwärterin gleichsam, | einer Aufrechterhalterin der seelischen Ordnung, der Ruhe, der Etiquette : womit sofort abzusehn ist, inwiefern es kein Glück, keine Heiterkeit, keine Hoff nung, keinen Stolz, keine G e g e nw a r t geben könnte ohne Vergesslichkeit. Der
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Zweite Abhandlung
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Mensch, in dem dieser Hemmungsapparat beschädigt wird und aussetzt, ist einem Dyspeptiker zu vergleichen (und nicht nur zu vergleichen –) er wird mit Nichts „fertig“ … Eben dieses nothwendig vergessliche Thier, an dem das Vergessen eine Kraft, eine Form der s t a r k e n Gesundheit darstellt, hat sich nun ein Gegenvermögen angezüchtet, ein Gedächtniss, mit Hülfe dessen für gewisse Fälle die Vergesslichkeit ausgehängt wird, – für die Fälle nämlich, dass versprochen werden soll : somit keineswegs bloss ein passivisches Nicht-wiederlos-werden-können des einmal eingeritzten Eindrucks, nicht bloss die Indigestion an einem ein Mal verpfändeten Wort, mit dem man nicht wieder fertig wird, sondern ein aktives Nicht-wieder-los-werden-wol le n , ein Fort- und Fortwollen des ein Mal Gewollten, ein eigentliches G ed äc ht n i s s de s Wi l len s : so dass zwischen das ursprüngliche „ich will“ „ich werde thun“ und die eigentliche Entladung des Willens, seinen A k t , unbedenklich eine Welt von neuen fremden Dingen, Umständen, selbst Willensakten dazwischengelegt werden darf, ohne dass diese lange Kette des Willens springt. Was setzt das aber Alles voraus ! Wie muss der Mensch, um dermaassen über die Zukunft voraus zu verfügen, erst gelernt haben das nothwendige vom zufälligen Geschehen scheiden, causal denken, das Ferne wie gegenwärtig sehn und vorwegnehmen, was Zweck ist, was Mittel dazu ist, mit Sicherheit ansetzen, überhaupt rechnen, berechnen können, – wie muss dazu der Mensch selbst vorerst | berec henba r, regel mässig, not hwend ig geworden sein, auch sich selbst für seine eigne Vorstellung, um endlich dergestalt, wie es ein Versprechender thut, für sich a l s Zu k u n f t gut sagen zu können ! 2. Eben das ist die lange Geschichte von der Herkunft der Ve r a nt wo r t l ic h k e it . Jene Aufgabe, ein Thier heranzuzüchten, das versprechen darf, schliesst, wie wir bereits begriffen
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haben, als Bedingung und Vorbereitung die nähere Aufgabe in sich, den Menschen zuerst bis zu einem gewissen Grade nothwendig, einförmig, gleich unter Gleichen, regelmässig und folglich berechenbar zu m a c h e n . Die ungeheure Arbeit dessen, was von mir „Sittlichkeit der Sitte“ genannt worden ist (vergl. Morgenröthe S. 7. 13. 16) – die eigentliche Arbeit des Menschen an sich selber in der längsten Zeitdauer des Menschengeschlechts, seine ganze vor h i s t or i s c he Arbeit hat hierin ihren Sinn, ihre grosse Rechtfertigung, wie viel ihr auch von Härte, Tyrannei, Stumpfsinn und Idiotismus innewohnt : der Mensch wurde mit Hülfe der Sittlichkeit der Sitte und der socialen Zwangsjacke wirklich berechenbar g e m ac ht . Stellen wir uns dagegen an’s Ende des ungeheuren Prozesses, dorthin, wo der Baum endlich seine Früchte zeitigt, wo die Societät und ihre Sittlichkeit der Sitte endlich zu Tage bringt, wo z u sie nur das Mittel war : so fi nden wir als reifste Frucht an ihrem Baum das s ouve r a i ne I nd i v i d uu m , das nur sich selbst gleiche, das von der Sittlichkeit der Sitte wieder losgekommene, das autonome übersittliche Individuum (denn „autonom“ und „sittlich“ schliesst sich aus), kurz den Menschen des eignen unabhängigen langen Willens, der ve r|s p r e c he n darf – und in ihm ein stolzes, in allen Muskeln zuckendes Bewusstsein davon, w a s da endlich errungen und in ihm leibhaft geworden ist, ein eigentliches Macht- und Freiheits-Bewusstsein, ein Vollendungs-Gefühl des Menschen überhaupt. Dieser Freigewordne, der wirklich versprechen d a r f , dieser Herr des f r e ie n Willens, dieser Souverain – wie sollte er es nicht wissen, welche Überlegenheit er damit vor Allem voraus hat, was nicht versprechen und für sich selbst gut sagen darf, wie viel Vertrauen, wie viel Furcht, wie viel Ehrfurcht er erweckt – er „ve r d ie nt“ alles Dreies – und wie ihm, mit dieser Herrschaft über sich, auch die Herrschaft über die Umstände, über die Natur und alle willenskürzeren und unzuverlässigeren Creaturen nothwen-
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dig in die Hand gegeben ist ? Der „freie“ Mensch, der Inhaber eines langen unzerbrechlichen Willens, hat in diesem Besitz auch sein We r t h m a a s s : von sich aus nach den Andern hinblickend, ehrt er oder verachtet er ; und eben so nothwendig als er die ihm Gleichen, die Starken und Zuverlässigen (die welche versprechen d ü r f e n) ehrt, – also Jedermann, der wie ein Souverain verspricht, schwer, selten, langsam, der mit seinem Vertrauen geizt, der au s z e ic h net , wenn er vertraut, der sein Wort giebt als Etwas, auf das Verlass ist, weil er sich stark genug weiss, es selbst gegen Unfälle, selbst „gegen das Schicksal“ aufrecht zu halten – : eben so nothwendig wird er seinen Fusstritt für die schmächtigen Windhunde bereit halten, welche versprechen, ohne es zu dürfen, und seine Zuchtruthe für den Lügner, der sein Wort bricht, im Augenblick schon, wo er es im Munde hat. Das stolze Wissen um das ausserordentliche Privilegium der Ve r a nt wor t l ic h k e it , das Bewusstsein | dieser seltenen Freiheit, dieser Macht über sich und das Geschick hat sich bei ihm bis in seine unterste Tiefe hinabgesenkt und ist zum Instinkt geworden, zum dominirenden Instinkt : – wie wird er ihn heissen, diesen dominirenden Instinkt, gesetzt, dass er ein Wort dafür bei sich nöthig hat ? Aber es ist kein Zweifel : dieser souveraine Mensch heisst ihn sein G ew i s s e n … 3. Sein Gewissen ? … Es lässt sich voraus errathen, dass der Begriff „Gewissen“, dem wir hier in seiner höchsten, fast befremdlichen Ausgestaltung begegnen, bereits eine lange Geschichte und Form-Verwandlung hinter sich hat. Für sich gut sagen dürfen und mit Stolz, also auch zu sich Ja s a g e n d ü r f e n – das ist, wie gesagt, eine reife Frucht, aber auch eine s p ät e Frucht : – wie lange musste diese Frucht herb und sauer am Baume hängen ! Und eine noch viel längere Zeit war von einer solchen Frucht gar nichts zu sehn, – Niemand hätte sie versprechen dürfen, so gewiss auch Alles am Baume vorbe-
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reitet und gerade auf sie hin im Wachsen war ! – „Wie macht man dem Menschen-Thiere ein Gedächtniss ? Wie prägt man diesem theils stumpfen, theils faseligen Augenblicks-Verstande, dieser leibhaften Vergesslichkeit Etwas so ein, dass es gegenwärtig bleibt ?“ … Dies uralte Problem ist, wie man denken kann, nicht gerade mit zarten Antworten und Mitteln gelöst worden ; vielleicht ist sogar nichts furchtbarer und unheimlicher an der ganzen Vorgeschichte des Menschen, als seine M ne mot e c h n i k . „Man brennt Etwas ein, damit es im Gedächtniss bleibt : nur was nicht aufhört, we h z u t hu n , bleibt im Gedächtniss“ – das ist ein Hauptsatz aus der allerältesten (leider | auch allerlängsten) Psychologie auf Erden. Man möchte selbst sagen, dass es überall, wo es jetzt noch auf Erden Feierlichkeit, Ernst, Geheimniss, düstere Farben im Leben von Mensch und Volk giebt, Etwas von der Schrecklichkeit n ac hw i r k t , mit der ehemals überall auf Erden versprochen, verpfändet, gelobt worden ist : die Vergangenheit, die längste tiefste härteste Vergangenheit, haucht uns an und quillt in uns herauf, wenn wir „ernst“ werden. Es gieng niemals ohne Blut, Martern, Opfer ab, wenn der Mensch es nöthig hielt, sich ein Gedächtniss zu machen ; die schauerlichsten Opfer und Pfänder (wohin die Erstlingsopfer gehören), die widerlichsten Verstümmelungen (zum Beispiel die Castrationen), die grausamsten Ritualformen aller religiösen Culte (und alle Religionen sind auf dem untersten Grunde Systeme von Grausamkeiten) – alles Das hat in jenem Instinkte seinen Ursprung, welcher im Schmerz das mächtigste Hülfsmittel der Mnemonik errieth. In einem gewissen Sinne gehört die ganze Asketik hierher : ein paar Ideen sollen unauslöschlich, allgegenwärtig, unvergessbar, „fi x“ gemacht werden, zum Zweck der Hypnotisirung des ganzen nervösen und intellektuellen Systems durch diese „fi xen Ideen“ – und die asketischen Prozeduren und Lebensformen sind Mittel dazu, um jene Ideen aus der Concurrenz mit allen übrigen Ideen zu lösen, um sie
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„unvergesslich“ zu machen. Je schlechter die Menschheit „bei Gedächtniss“ war, um so furchtbarer ist immer der Aspekt ihrer Bräuche ; die Härte der Strafgesetze giebt in Sonderheit einen Maassstab dafür ab, wie viel Mühe sie hatte, gegen die Vergesslichkeit zum Sieg zu kommen und ein paar primitive Erfordernisse des socialen Zusammenlebens diesen Augenblicks-Sklaven des Affekts und der Be|gierde g e g e nw ä r t i g zu erhalten. Wir Deutschen betrachten uns gewiss nicht als ein besonders grausames und hartherziges Volk, noch weniger als besonders leichtfertig und in-den-Tag-hineinleberisch ; aber man sehe nur unsre alten Strafordnungen an, um dahinter zu kommen, was es auf Erden für Mühe hat, ein „Volk von Denkern“ heranzuzüchten (will sagen : d a s Volk Europa’s, unter dem auch heute noch das Maximum von Zutrauen, Ernst, Geschmacklosigkeit und Sachlichkeit zu fi nden ist und das mit diesen Eigenschaften ein Anrecht darauf hat, alle Art von Mandarinen Europa’s heran zu züchten). Diese Deutschen haben sich mit furchtbaren Mitteln ein Gedächtniss gemacht, um über ihre pöbelhaften Grund-Instinkte und deren brutale Plumpheit Herr zu werden : man denke an die alten deutschen Strafen, zum Beispiel an das Steinigen (– schon die Sage lässt den Mühlstein auf das Haupt des Schuldigen fallen), das Rädern (die eigenste Erfi ndung und Spezialität des deutschen Genius im Reich der Strafe !), das Werfen mit dem Pfahle, das Zerreissen- oder Zertretenlassen durch Pferde (das „Viertheilen“), das Sieden des Verbrechers in Öl oder Wein (noch im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert), das beliebte Schinden („Riemenschneiden“), das Herausschneiden des Fleisches aus der Brust ; auch wohl dass man den Übelthäter mit Honig bestrich und bei brennender Sonne den Fliegen überliess. Mit Hülfe solcher Bilder und Vorgänge behält man endlich fünf, sechs „ich will nicht“ im Gedächtnisse, in Bezug auf welche man sein Ve r s p r e c he n gegeben hat, um unter den Vortheilen der Societät zu leben, – und wirklich ! mit
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Hülfe dieser Art von Gedächtniss kam man endlich „zur Vernunft“ ! – Ah, die Vernunft, der Ernst, die Herrschaft | über die Affekte, diese ganze düstere Sache, welche Nachdenken heisst, alle diese Vorrechte und Prunkstücke des Menschen : wie theuer haben sie sich bezahlt gemacht ! wie viel Blut und Grausen ist auf dem Grunde aller „guten Dinge“ ! … 4. Aber wie ist denn jene andre „düstre Sache“, das Bewusstsein der Schuld, das ganze „schlechte Gewissen“ auf die Welt gekommen ? – Und hiermit kehren wir zu unsern Genealogen der Moral zurück. Nochmals gesagt – oder habe ich’s noch gar nicht gesagt ? – sie taugen nichts. Eine fünf Spannen lange eigne, bloss „moderne“ Erfahrung ; kein Wissen, kein Wille zum Wissen des Vergangnen ; noch weniger ein historischer Instinkt, ein hier gerade nöthiges „zweites Gesicht“ – und dennoch Geschichte der Moral treiben : das muss billigerweise mit Ergebnissen enden, die zur Wahrheit in einem nicht bloss spröden Verhältnisse stehn. Haben sich diese bisherigen Genealogen der Moral auch nur von Ferne Etwas davon träumen lassen, dass zum Beispiel jener moralische Hauptbegriff „Schuld“ seine Herkunft aus dem sehr materiellen Begriff „Schulden“ genommen hat ? Oder dass die Strafe als eine Ve r g e lt u n g sich vollkommen abseits von jeder Voraussetzung über Freiheit oder Unfreiheit des Willens entwickelt hat ? – und dies bis zu dem Grade, dass es vielmehr immer erst einer hohe n Stufe der Vermenschlichung bedarf, damit das Thier „Mensch“ anfängt, jene viel primitiveren Unterscheidungen „absichtlich“ „fahrlässig“ „zufällig“ „zurechnungsfähig“ und deren Gegensätze zu machen und bei der Zumessung der Strafe in Anschlag zu bringen. Jener jetzt so wohlfeile und | scheinbar so natürliche, so unvermeidliche Gedanke, der wohl gar zur Erklärung, wie überhaupt das Gerechtigkeitsgefühl auf Erden zu Stande gekommen ist, hat herhalten
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müssen, „der Verbrecher verdient Strafe, we i l er hätte anders handeln können“ ist thatsächlich eine überaus spät erreichte, ja raffi nirte Form des menschlichen Urtheilens und Schliessens ; wer sie in die Anfänge verlegt, vergreift sich mit groben Fingern an der Psychologie der älteren Menschheit. Es ist die längste Zeit der menschlichen Geschichte hindurch durchaus n ic ht gestraft worden, we i l man den Übelanstifter für seine That verantwortlich machte, also n ic ht unter der Voraussetzung, dass nur der Schuldige zu strafen sei : – vielmehr, so wie jetzt noch Eltern ihre Kinder strafen, aus Zorn über einen erlittenen Schaden, der sich am Schädiger auslässt, – dieser Zorn aber in Schranken gehalten und modifi zirt durch die Idee, dass jeder Schaden irgend worin sein Ä q u i va le nt habe und wirklich abgezahlt werden könne, sei es selbst durch einen S c h me r z des Schädigers. Woher diese uralte, tiefgewurzelte, vielleicht jetzt nicht mehr ausrottbare Idee ihre Macht genommen hat, die Idee einer Äquivalenz von Schaden und Schmerz ? Ich habe es bereits verrathen : in dem Vertragsverhältniss zwischen G l äu b i g e r und S c hu ld ne r, das so alt ist als es überhaupt „Rechtssubjekte“ giebt und seinerseits wieder auf die Grundformen von Kauf, Verkauf, Tausch, Handel und Wandel zurückweist. 5. Die Vergegenwärtigung dieser Vertragsverhältnisse weckt allerdings, wie es nach dem Voraus-Bemerkten von vornherein zu erwarten steht, gegen die ältere | Menschheit, die sie schuf oder gestattete, mancherlei Verdacht und Widerstand. Hier gerade wird ve r s p r o c he n ; hier gerade handelt es sich darum, Dem, der verspricht, ein Gedächtniss zu m ac he n ; hier gerade, so darf man argwöhnen, wird eine Fundstätte für Hartes, Grausames, Peinliches sein. Der Schuldner, um Vertrauen für sein Versprechen der Zurückbezahlung einzuflössen, um eine Bürgschaft für den Ernst und die Heiligkeit seines Versprechens zu geben, um bei sich selbst die Zurück-
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bezahlung als Pfl icht, Verpfl ichtung seinem Gewissen einzuschärfen, verpfändet Kraft eines Vertrags dem Gläubiger für den Fall, dass er nicht zahlt, Etwas, das er sonst noch „besitzt“, über das er sonst noch Gewalt hat, zum Beispiel seinen Leib oder sein Weib oder seine Freiheit oder auch sein Leben (oder, unter bestimmten religiösen Voraussetzungen, selbst seine Seligkeit, sein Seelen-Heil, zuletzt gar den Frieden im Grabe : so in Ägypten, wo der Leichnam des Schuldners auch im Grabe vor dem Gläubiger keine Ruhe fand, – es hatte allerdings gerade bei den Ägyptern auch etwas auf sich mit dieser Ruhe). Namentlich aber konnte der Gläubiger dem Leibe des Schuldners alle Arten Schmach und Folter anthun, zum Beispiel so viel davon herunterschneiden als der Grösse der Schuld angemessen schien : – und es gab frühzeitig und überall von diesem Gesichtspunkte aus genaue, zum Theil entsetzlich in’s Kleine und Kleinste gehende Abschätzungen, z u R ec ht bestehende Abschätzungen der einzelnen Glieder und Körperstellen. Ich nehme es bereits als Fortschritt, als Beweis freierer, grösser rechnender, r ö m i s c h e r e r Rechtsauffassung, wenn die Zwölftafel-Gesetzgebung Rom’s dekretierte, es sei gleichgültig, wie viel oder wie wenig die Gläubiger | in einem solchen Falle herunterschnitten „si plus minusve secuerunt, se fraude esto“. Machen wir uns die Logik dieser ganzen Ausgleichungsform klar : sie ist fremdartig genug. Die Äquivalenz ist damit gegeben, dass an Stelle eines gegen den Schaden direkt aufkommenden Vortheils (also an Stelle eines Ausgleichs in Geld, Land, Besitz irgend welcher Art) dem Gläubiger eine Art Woh l g e f ü h l als Rückzahlung und Ausgleich zugestanden wird, – das Wohlgefühl, seine Macht an einem Machtlosen unbedenklich auslassen zu dürfen, die Wollust „de faire le mal pour le plaisir de le faire“, der Genuss in der Vergewaltigung : als welcher Genuss um so höher geschätzt wird, je tiefer und niedriger der Gläubiger in der Ordnung der Gesellschaft steht und leicht ihm als köstlichster
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Bissen, ja als Vorgeschmack eines höheren Rangs erscheinen kann. Vermittelst der „Strafe“ am Schuldner nimmt der Gläubiger an einem He r r e n -R e c ht e theil : endlich kommt auch er ein Mal zu dem erhebenden Gefühle, ein Wesen als ein „Unter-sich“ verachten und misshandeln zu dürfen – oder wenigstens, im Falle die eigentliche Strafgewalt, der Strafvollzug schon an die „Obrigkeit“ übergegangen ist, es verachtet und misshandelt zu s e he n . Der Ausgleich besteht also in einem Anweis und Anrecht auf Grausamkeit. – 6. In d ie s e r Sphäre, im Obligationen-Rechte also, hat die moralische Begriffswelt „Schuld“, „Gewissen“, „Pfl icht“, „Heiligkeit der Pfl icht“ ihren Entstehungsheerd, – ihr Anfang ist, wie der Anfang alles Grossen auf Erden, gründlich und lange mit Blut begossen worden. Und dürfte man nicht hinzufügen, dass jene Welt im Grunde einen gewissen Geruch von Blut und | Folter niemals wieder ganz eingebüsst habe ? (selbst beim alten Kant nicht : der kategorische Imperativ riecht nach Grausamkeit …) Hier ebenfalls ist jene unheimliche und vielleicht unlösbar gewordne Ideen-Verhäkelung „Schuld und Leid“ zuerst eingehäkelt worden. Nochmals gefragt : in wiefern kann Leiden eine Ausgleichung von „Schulden“ sein ? Insofern Leiden -m ac he n im höchsten Grade wohl that, insofern der Geschädigte für den Nachtheil, hinzugerechnet die Unlust über den Nachtheil, einen ausserordentlichen GegenGenuss eintauschte : das Leiden -m ac he n , – ein eigentliches Fe s t , Etwas, das, wie gesagt, um so höher im Preise stand, je mehr es dem Range und der gesellschaftlichen Stellung des Gläubigers widersprach. Dies vermuthungsweise gesprochen : denn solchen unterirdischen Dingen ist schwer auf den Grund zu sehn, abgesehn davon, dass es peinlich ist ; und wer hier den Begriff der „Rache“ plump dazwischen wirft, hat sich den Einblick eher noch verdeckt und verdunkelt, als leichter
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gemacht (– Rache selbst führt ja eben auf das gleiche Problem zurück : „wie kann Leiden-machen eine Genugthuung sein ?“) Es widersteht, wie mir scheint, der Delikatesse, noch mehr der Tartüfferie zahmer Hausthiere (will sagen moderner Menschen, will sagen uns), es sich in aller Kraft vorstellig zu machen, bis zu welchem Grade die Gr au s a m k e it die grosse Festfreude der älteren Menschheit ausmacht, ja als Ingredienz fast jeder ihrer Freuden zugemischt ist ; wie naiv andrerseits, wie unschuldig ihr Bedürfniss nach Grausamkeit auftritt, wie grundsätzlich gerade die „uninteressirte Bosheit“ (oder, mit Spinoza zu reden, die sympathia malevolens) von ihr als nor m a le Eigenschaft des Menschen angesetzt wird – : | somit als Etwas, zu dem das Gewissen herzhaft Ja sagt ! Für ein tieferes Auge wäre vielleicht auch jetzt noch genug von dieser ältesten und gründlichsten Festfreude des Menschen wahrzunehmen ; in „Jenseits von Gut und Böse“ S. 117 ff. (früher schon in der „Morgenröthe“ S. 17. 68. 102) habe ich mit vorsichtigem Finger auf die immer wachsende Vergeistigung und „Vergöttlichung“ der Grausamkeit hingezeigt, welche sich durch die ganze Geschichte der höheren Cultur hindurchzieht (und, in einem bedeutenden Sinne genommen, sie sogar ausmacht). Jedenfalls ist es noch nicht zu lange her, dass man sich fürstliche Hochzeiten und Volksfeste grössten Stils ohne Hinrichtungen, Folterungen oder etwa ein Autodafé nicht zu denken wusste, insgleichen keinen vornehmen Haushalt ohne Wesen, an denen man unbedenklich seine Bosheit und grausame Neckerei auslassen konnte (– man erinnere sich etwa Don Quixote’s am Hofe der Herzogin : wir lesen heute den ganzen Don Quixote mit einem bittren Geschmack auf der Zunge, fast mit einer Tortur und würden damit seinem Urheber und dessen Zeitgenossen sehr fremd, sehr dunkel sein, – sie lasen ihn mit allerbestem Gewissen als das heiterste der Bücher, sie lachten sich an ihm fast zu Tod). Leiden-sehn thut wohl, Leiden-machen noch wohler – das ist ein harter Satz, aber ein alter mächtiger
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menschlich-allzumenschlicher Hauptsatz, den übrigens vielleicht auch schon die Affen unterschreiben würden : denn man erzählt, dass sie im Ausdenken von bizarren Grausamkeiten den Menschen bereits reichlich ankündigen und gleichsam „vorspielen“. Ohne Grausamkeit kein Fest : so lehrt es die älteste, längste Geschichte des Menschen – und auch an der Strafe ist so viel Fe s t l ic he s ! – | 7. – Mit diesen Gedanken, nebenbei gesagt, bin ich durchaus nicht Willens, unsren Pessimisten zu neuem Wasser auf ihre misstönigen und knarrenden Mühlen des Lebensüberdrusses zu verhelfen ; im Gegentheil soll ausdrücklich bezeugt sein, dass damals, als die Menschheit sich ihrer Grausamkeit noch nicht schämte, das Leben heiterer auf Erden war als jetzt, wo es Pessimisten giebt. Die Verdüsterung des Himmels über dem Menschen hat immer im Verhältniss dazu überhand genommen, als die Scham des Menschen vor d e m Me n s c he n gewachsen ist. Der müde pessimistische Blick, das Misstrauen zum Räthsel des Lebens, das eisige Nein des Ekels am Leben – das sind nicht die Abzeichen der b ö s e s t e n Zeitalter des Menschengeschlechts : sie treten vielmehr erst an das Tageslicht, als die Sumpfpflanzen, die sie sind, wenn der Sumpf da ist, zu dem sie gehören, – ich meine die krankhafte Verzärtlichung und Vermoralisirung, vermöge deren das Gethier „Mensch“ sich schliesslich aller seiner Instinkte schämen lernt. Auf dem Wege zum „Engel“ (um hier nicht ein härteres Wort zu gebrauchen) hat sich der Mensch jenen verdorbenen Magen und jene belegte Zunge angezüchtet, durch die ihm nicht nur die Freude und Unschuld des Thiers widerlich, sondern das Leben selbst unschmackhaft geworden ist : – so dass er mitunter vor sich selbst mit zugehaltener Nase dasteht und mit Papst Innocenz dem Dritten missbilligend den Katalog seiner Widerwärtigkeiten macht („unreine Erzeugung, ekelhafte Ernäh rung im Mutterleibe, Schlechtigkeit des Stoffs, aus dem der Mensch
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sich entwickelt, scheusslicher Gestank, Absonderung | von Speichel, Urin und Koth“). Jetzt, wo das Leiden immer als erstes unter den Argumenten g e g e n das Dasein aufmarschieren muss, als dessen schlimmstes Fragezeichen, thut man gut, sich der Zeiten zu erinnern, wo man umgekehrt urtheilte, weil man das Leiden -m ac he n nicht entbehren mochte und in ihm einen Zauber ersten Rangs, einen eigentlichen Verführungs-Köder z u m Leben sah. Vielleicht that damals – den Zärtlingen zum Trost gesagt – der Schmerz noch nicht so weh wie heute ; wenigstens wird ein Arzt so schliessen dürfen, der Neger (diese als Repräsentanten des vorgeschichtlichen Menschen genommen –) bei schweren inneren Entzündungsfällen behandelt hat, welche auch den bestorganisirten Europäer fast zur Verzweiflung bringen ; – bei Negern thun sie dies n ic ht . (Die Curve der menschlichen Schmerzfähigkeit scheint in der That ausserordentlich und fast plötzlich zu sinken, sobald man erst die oberen Zehn-Tausend oder ZehnMillionen der Übercultur hinter sich hat ; und ich für meine Person zweifle nicht, dass, gegen Eine schmerzhafte Nacht eines einzigen hysterischen Bildungs-Weibchens gehalten, die Leiden aller Thiere insgesammt, welche bis jetzt zum Zweck wissenschaftlicher Antworten mit dem Messer befragt worden sind, einfach nicht in Betracht kommen.) Vielleicht ist es sogar erlaubt, die Möglichkeit zuzulassen, dass auch jene Lust an der Grausamkeit eigentlich nicht ausgestorben zu sein brauchte : nur bedürfte sie, im Verhältniss dazu, wie heute der Schmerz mehr weh thut, einer gewissen Sublimirung und Subtilisirung, sie müsste namentlich in’s Imaginative und Seelische übersetzt auftreten und geschmückt mit lauter so unbedenklichen Namen, dass von ihnen her auch dem zartesten hypokritischen Ge|wissen kein Verdacht kommt (das „tragische Mitleiden“ ist ein solcher Name ; ein andrer ist „les nostalgies de la croix“). Was eigentlich gegen das Leiden empört, ist nicht das Leiden an sich, sondern das Sinnlose des Leidens :
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aber weder für den Christen, der in das Leiden eine ganze geheime Heils-Maschinerie hineininterpretirt hat, noch für den naiven Menschen älterer Zeiten, der alles Leiden sich in Hinsicht auf Zuschauer oder auf Leiden-Macher auszulegen verstand, gab es überhaupt ein solches s i n n lo s e s Leiden. Damit das verborgne, unentdeckte, zeugenlose Leiden aus der Welt geschaff t und ehrlich negirt werden konnte, war man damals beinahe dazu genöthigt, Götter zu erfi nden und Zwischenwesen aller Höhe und Tiefe, kurz Etwas, das auch im Verborgnen schweift, das auch im Dunklen sieht und das sich nicht leicht ein interessantes schmerzhaftes Schauspiel entgehen lässt. Mit Hülfe solcher Erfi ndungen nämlich verstand sich damals das Leben auf das Kunststück, auf das es sich immer verstanden hat, sich selbst zu rechtfertigen, sein „Übel“ zu rechtfertigen ; jetzt bedürfte es vielleicht dazu andrer HülfsErfi ndungen (zum Beispiel Leben als Räthsel, Leben als Erkenntnissproblem). „Jedes Übel ist gerechtfertigt, an dessen Anblick ein Gott sich erbaut“ : so klang die vorzeitliche Logik des Gefühls – und wirklich, war es nur die vorzeitliche ? Die Götter als Freunde g r au s a me r Schauspiele gedacht – oh wie weit ragt diese uralte Vorstellung selbst noch in unsre europäische Vermenschlichung hinein ! man mag hierüber etwa mit Calvin und Luther zu Rathe gehn. Gewiss ist jedenfalls, dass noch die Gr ie c he n ihren Göttern keine angenehmere Zukost zu ihrem Glücke zu bieten wussten, als die Freuden der Grausamkeit. Mit welchen Augen | glaubt ihr denn, dass Homer seine Götter auf die Schicksale der Menschen niederblicken liess ? Welchen letzten Sinn hatten im Grunde trojanische Kriege und ähnliche tragische Furchtbarkeiten ? Man kann gar nicht daran zweifeln : sie waren als Fe s t s p ie le für die Götter gemeint : und, insofern der Dichter darin mehr als die übrigen Menschen „göttlich“ geartet ist, wohl auch als Festspiele für die Dichter … Nicht anders dachten sich später die Moral-Philosophen Griechenlands die Augen Gottes
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noch auf das moralische Ringen, auf den Heroismus und die Selbstquälerei des Tugendhaften herabblicken : der „Herakles der Pfl icht“ war auf einer Bühne, er wusste sich auch darauf ; die Tugend ohne Zeugen war für dies Schauspieler-Volk etwas ganz Undenk bares. Sollte nicht jene so verwegene, so verhängnissvolle Philosophen-Erfi ndung, welche damals zuerst für Europa gemacht wurde, die vom „freien Willen“, von der absoluten Spontaneität des Menschen im Guten und im Bösen, nicht vor Allem gemacht sein, um sich ein Recht zu der Vorstellung zu schaffen, dass das Interesse der Götter am Menschen, an der menschlichen Tugend s ic h n ie e r s c hö pf e n k ön ne ? Auf dieser Erden-Bühne sollte es niemals an wirklich Neuem, an wirklich unerhörten Spannungen, Verwicklungen, Katastrophen gebrechen : eine vollkommen deterministisch gedachte Welt würde für Götter errathbar und folglich in Kürze auch ermüdend gewesen sein, – Grund genug für diese Fr eu nd e d e r G öt t e r, die Philosophen, ihren Göttern eine solche deterministische Welt nicht zuzumuthen ! Die ganze antike Menschheit ist voll von zarten Rücksichten auf „den Zuschauer“, als eine wesentlich öffentliche, wesentlich augenfällige Welt, die sich das Glück nicht ohne Schauspiele und Feste zu | denken wusste. – Und, wie schon gesagt, auch an der grossen St r a f e ist so viel Festliches ! … 8. Das Gefühl der Schuld, der persönlichen Verpfl ichtung, um den Gang unsrer Untersuchung wieder aufzunehmen, hat, wie wir sahen, seinen Ursprung in dem ältesten und ursprünglichsten Personen-Verhältniss, das es giebt, gehabt, in dem Verhältniss zwischen Käufer und Verkäufer, Gläubiger und Schuldner : hier trat zuerst Person gegen Person, hier m a s s s ic h zuerst Person an Person. Man hat keinen noch so niedren Grad von Civilisation aufgefunden, in dem nicht schon Etwas von diesem Verhältnisse bemerkbar würde.
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Preise machen, Werthe abmessen, Äquivalente ausdenken, tauschen – das hat in einem solchen Maasse das allererste Denken des Menschen präoccupirt, dass es in einem gewissen Sinne d a s Denken ist : hier ist die älteste Art Scharfsinn herangezüchtet worden, hier möchte ebenfalls der erste Ansatz des menschlichen Stolzes, seines Vorrangs-Gefühls in Hinsicht auf anderes Gethier zu vermuthen sein. Vielleicht drückt noch unser Wort „Mensch“ (manas) gerade etwas von d ie s e m Selbstgefühl aus : der Mensch bezeichnete sich als das Wesen, welches Werthe misst, werthet und misst, als das „abschätzende Thier an sich“. Kauf und Verkauf, sammt ihrem psychologischen Zubehör, sind älter als selbst die Anfänge irgend welcher gesellschaftlichen Organisationsformen und Verbände : aus der rudimentärsten Form des PersonenRechts hat sich vielmehr das keimende Gefühl von Tausch, Vertrag, Schuld, Recht, Verpfl ichtung, Ausgleich erst auf die gröbsten und anfänglichsten Gemeinschafts-Complexe (in deren Ver|hält niss zu ähnlichen Complexen) ü b e r t r a g e n , zugleich mit der Gewohnheit, Macht an Macht zu vergleichen, zu messen, zu berechnen. Das Auge war nun einmal für diese Perspektive eingestellt : und mit jener plumpen Consequenz, die dem schwerbeweglichen, aber dann unerbittlich in gleicher Richtung weitergehenden Denken der älteren Menschheit eigenthümlich ist, langte man alsbald bei der grossen Verallgemeinerung an „jedes Ding hat seinen Preis ; A l le s kann abgezahlt werden“ – dem ältesten und naivsten Moral-Kanon der G e r e c h t i g k e it , dem Anfange aller „Gutmüthigkeit“, aller „Billigkeit“, alles „guten Willens“, aller „Objektivität“ auf Erden. Gerechtigkeit auf dieser ersten Stufe ist der gute Wille unter ungefähr Gleichmächtigen, sich mit einander abzufi nden, sich durch einen Ausgleich wieder zu „verständigen“ – und, in Bezug auf weniger Mächtige, diese unter sich zu einem Ausgleich zu z w i n g e n . –
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9. Immer mit dem Maasse der Vorzeit gemessen (welche Vorzeit übrigens zu allen Zeiten da ist oder wieder möglich ist) : so steht auch das Gemeinwesen zu seinen Gliedern in jenem wichtigen Grundverhältnisse, dem des Gläubigers zu seinen Schuldnern. Man lebt in einem Gemeinwesen, man geniesst die Vortheile eines Gemeinwesens (oh was für Vortheile ! wir unterschätzen es heute mitunter), man wohnt geschützt, geschont, im Frieden und Vertrauen, sorglos in Hinsicht auf gewisse Schädigungen und Feindseligkeiten, denen der Mensch au s s e r h a l b, der „Friedlose“, ausgesetzt ist – ein Deutscher versteht, was „Elend“, êlend ursprünglich besagen will –, wie man sich gerade in Hinsicht | auf diese Schädigungen und Feindseligkeiten der Gemeinde verpfändet und verpfl ichtet hat. Was wird i m a nd r e n Fa l l geschehn ? Die Gemeinschaft, der getäuschte Gläubiger, wird sich bezahlt machen, so gut er kann, darauf darf man rechnen. Es handelt sich hier am wenigsten um den unmittelbaren Schaden, den der Schädiger angestiftet hat : von ihm noch abgesehn, ist der Verbrecher vor allem ein „Brecher“, ein Vertrags- und Wortbrüchiger g e g e n d a s G a n z e , in Bezug auf alle Güter und Annehmlichkeiten des Gemeinlebens, an denen er bis dahin Antheil gehabt hat. Der Verbrecher ist ein Schuldner, der die ihm erwiesenen Vortheile und Vorschüsse nicht nur nicht zurückzahlt, sondern sich sogar an seinem Gläubiger vergreift : daher geht er von nun an, wie billig, nicht nur aller dieser Güter und Vor theile verlustig, – er wird vielmehr jetzt daran erinnert, wa s e s m it d ie sen Güter n au f s ic h h at. Der Zorn des geschädigten Gläubigers, des Gemeinwesens giebt ihn dem wilden und vogelfreien Zustande wieder zurück, vor dem er bisher behütet war : es stösst ihn von sich, – und nun darf sich jede Art Feindseligkeit an ihm auslassen. Die „Strafe“ ist auf dieser Stufe der Gesittung einfach das Abbild, der M i mu s des normalen Verhaltens gegen den gehassten, wehrlos
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gemachten, niedergeworfnen Feind, der nicht nur jedes Rechtes und Schutzes, sondern auch jeder Gnade verlustig gegangen ist ; also das Kriegsrecht und Siegesfest des vae victis ! in aller Schonungslosigkeit und Grausamkeit : – woraus es sich erklärt, dass der Krieg selbst (eingerechnet der kriegerische Opferkult) alle die For me n hergegeben hat, unter denen die Strafe in der Geschichte auftritt. | 10. Mit erstarkender Macht nimmt ein Gemeinwesen die Vergehungen des Einzelnen nicht mehr so wichtig, weil sie ihm nicht mehr in gleichem Maasse wie früher für das Bestehn des Ganzen als gefährlich und umstürzend gelten dürfen : der Übelthäter wird nicht mehr „friedlos gelegt“ und ausgestossen, der allgemeine Zorn darf sich nicht mehr wie früher dermaassen zügellos an ihm auslassen, – vielmehr wird von nun an der Übelthäter gegen diesen Zorn, sonderlich den der unmittelbar Geschädigten, vorsichtig von Seiten des Ganzen vertheidigt und in Schutz genommen. Der Compromiss mit dem Zorn der zunächst durch die Übelthat Betroffenen ; ein Bemühen darum, den Fall zu lokalisiren und einer weiteren oder gar allgemeinen Betheiligung und Beunruhigung vorzubeugen ; Versuche, Äquivalente zu fi nden und den ganzen Handel beizulegen (die compositio) ; vor allem der immer bestimmter auftretende Wille, jedes Vergehn als in irgend einem Sinne a b z a h l b a r zu nehmen, also, wenigstens bis zu einem gewissen Maasse, den Verbrecher und seine That von einander zu i s ol i r e n – das sind die Züge, die der ferneren Entwicklung des Strafrechts immer deutlicher aufgeprägt sind. Wächst die Macht und das Selbstbewusstsein eines Gemeinwesens, so mildert sich immer auch das Strafrecht ; jede Schwächung und tiefere Gefährdung von jenem bringt dessen härtere Formen wieder an’s Licht. Der „Gläubiger“ ist immer in dem Grade menschlicher geworden, als er reicher geworden
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ist ; zuletzt ist es selbst das Ma a s s seines Reichthums, wie viel Beeinträchtigung er aushalten kann, ohne daran zu leiden. Es wäre ein M ac ht b ew u s s t s e i n der Gesellschaft nicht undenkbar, bei dem sie sich den vor|nehmsten Luxus gönnen dürfte, den es für sie giebt, – ihren Schädiger s t r a f lo s zu lassen. „Was gehen mich eigentlich meine Schmarotzer an ? dürfte sie dann sprechen. Mögen sie leben und gedeihen : dazu bin ich noch stark genug !“ … Die Gerechtigkeit, welche damit anhob „Alles ist abzahlbar, Alles muss abgezahlt werden“, endet damit, durch die Finger zu sehn und den Zahlungsunfähigen laufen zu lassen, – sie endet wie jedes gute Ding auf Erden, s ic h s e l b s t au f heb e nd . Diese Selbstaufhebung der Gerechtigkeit : man weiss, mit welch schönem Namen sie sich nennt – G n a d e ; sie bleibt, wie sich von selbst versteht, das Vorrecht des Mächtigsten, besser noch, sein Jenseits des Rechts. 11. – Hier ein ablehnendes Wort gegen neuerdings hervorgetretene Versuche, den Ursprung der Gerechtigkeit auf einem ganz andren Boden zu suchen, – nämlich auf dem des Ressentiment. Den Psychologen voran in’s Ohr gesagt, gesetzt dass sie Lust haben sollten, das Ressentiment selbst einmal aus der Nähe zu studieren : diese Pflanze blüht jetzt am schönsten unter Anarchisten und Antisemiten, übrigens so wie sie immer geblüht hat, im Verborgnen, dem Veilchen gleich, wenn schon mit andrem Duft. Und wie aus Gleichem nothwendig immer Gleiches hervorgehn muss, so wird es nicht überraschen, gerade wieder aus solchen Kreisen Versuche hervorgehen zu sehn, wie sie schon öfter dagewesen sind – vergleiche oben Seite 30 –, die R ac he unter dem Namen der G e r e c ht i g k e it zu heiligen – wie als ob Gerechtigkeit im Grunde nur eine Fortentwicklung vom Gefühle des Verletzt-seins wäre – und mit der Rache die r e a k t i ve n Affekte überhaupt | und allesammt nachträglich zu Ehren zu bringen. An Letzterem selbst
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würde ich am wenigsten Anstoss nehmen : es schiene mir sogar in Hinsicht auf das ganze biologische Problem (in Bezug auf welches der Werth jener Affekte bisher unterschätzt worden ist) ein Ve r d ie n s t . Worauf ich allein aufmerksam mache, ist der Umstand, dass es der Geist des Ressentiment selbst ist, aus dem diese neue Nuance von wissenschaftlicher Billigkeit (zu Gunsten von Hass, Neid, Missgunst, Argwohn, Rancune, Rache) herauswächst. Diese „wissenschaftliche Billigkeit“ nämlich pausirt sofort und macht Accenten tödtlicher Feindschaft und Voreingenommenheit Platz, sobald es sich um eine andre Gruppe von Affekten handelt, die, wie mich dünkt, von einem noch viel höheren biologischen Werthe sind, als jene reaktiven, und folglich erst recht verdienten, w i s s e n s c h a f t l ic h abgeschätzt und hochgeschätzt zu werden : nämlich die eigentlich a k t i ve n Affekte, wie Herrschsucht, Habsucht und dergleichen. (E. Dühring, Werth des Lebens ; Cursus der Philosophie ; im Grunde überall.) So viel gegen diese Tendenz im Allgemeinen : was aber gar den einzelnen Satz Dühring’s angeht, dass die Heimat der Gerechtigkeit auf dem Boden des reaktiven Gefühls zu suchen sei, so muss man ihm, der Wahrheit zu Liebe, mit schroffer Umkehrung diesen andren Satz entgegenstellen : der let z t e Boden, der vom Geiste der Gerechtigkeit erobert wird, ist der Boden des reaktiven Gefühls ! Wenn es wirklich vorkommt, dass der gerechte Mensch gerecht sogar gegen seine Schädiger bleibt (und nicht nur kalt, massvoll, fremd, gleichgültig : Gerecht-sein ist immer ein p o s it i ve s Verhalten), wenn sich selbst unter dem Ansturz persönlicher Verletzung, Verhöhnung, Verdächtigung die hohe, klare, | ebenso tief als mildblickende Objektivität des gerechten, des r ic ht e nd e n Auges nicht trübt, nun, so ist das ein Stück Vollendung und höchster Meisterschaft auf Erden, – sogar Etwas, das man hier kluger Weise nicht erwarten, woran man jedenfalls nicht gar zu leicht g l au b e n soll. Gewiss ist durchschnittlich, dass selbst
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bei den rechtschaffensten Personen schon eine kleine Dosis von Angriff, Bosheit, Insinuation genügt, um ihnen das Blut in die Augen und die Billigkeit au s den Augen zu jagen. Der aktive, der angreifende, übergreifende Mensch ist immer noch der Gerechtigkeit hundert Schritte näher gestellt als der reaktive ; es ist eben für ihn durchaus nicht nöthig, in der Art, wie es der reaktive Mensch thut, thun muss, sein Objekt falsch und voreingenommen abzuschätzen. Thatsächlich hat deshalb zu allen Zeiten der aggressive Mensch, als der Stärkere, Muthigere, Vornehmere, auch das f r e ie r e Auge, das b e s s e r e Gewissen auf seiner Seite gehabt : umgekehrt erräth man schon, wer überhaupt die Erfi ndung des „schlechten Gewissens“ auf dem Gewissen hat, – der Mensch des Ressentiment ! Zuletzt sehe man sich doch in der Geschichte um : in welcher Sphäre ist denn bisher überhaupt die ganze Handhabung des Rechts, auch das eigentliche Bedürfniss nach Recht auf Erden heimisch gewesen ? Etwa in der Sphäre der reaktiven Menschen ? Ganz und gar nicht : vielmehr in der der Aktiven, Starken, Spontanen, Aggressiven. Historisch betrachtet, stellt das Recht auf Erden – zum Verdruss des genannten Agitator’s sei es gesagt (der selber einmal über sich das Bekenntniss ablegt : „die Rachelehre hat sich als der rothe Gerechtigkeitsfaden durch alle meine Arbeiten und Anstrengungen hindurchgezogen“) – den Kampf gerade w id e r die reaktiven | Gefühle vor, den Krieg mit denselben seitens aktiver und aggressiver Mächte, welche ihre Stärke zum Theil dazu verwendeten, der Ausschweifung des reaktiven Pathos Halt und Maass zu gebieten und einen Vergleich zu erzwingen. Überall, wo Gerechtigkeit geübt, Gerechtigkeit aufrecht erhalten wird, sieht man eine stärkere Macht in Bezug auf ihr unterstehende Schwächere (seien es Gruppen, seien es Einzelne) nach Mitteln suchen, unter diesen dem unsinnigen Wüthen des Ressentiment ein Ende zu machen, indem sie theils das Objekt des Ressentiment aus den Händen der Rache herauszieht, theils an Stelle
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der Rache ihrerseits den Kampf gegen die Feinde des Friedens und der Ordnung setzt, theils Ausgleiche erfi ndet, vorschlägt, unter Umständen aufnöthigt, theils gewisse Äquivalente von Schädigungen zur Norm erhebt, an welche von nun an das Ressentiment ein für alle Mal gewiesen ist. Das Entscheidendste aber, was die oberste Gewalt gegen die Übermacht der Gegen- und Nachgefühle thut und durchsetzt – sie thut es immer, sobald sie irgendwie stark genug dazu ist – ist die Aufrichtung des G e s et z e s , die imperativische Erklärung darüber, was überhaupt unter ihren Augen als erlaubt, als recht, was als verboten, als unrecht zu gelten habe : indem sie nach Aufrichtung des Gesetzes Übergriffe und Willkür-Akte Einzelner oder ganzer Gruppen als Frevel am Gesetz, als Auflehnung gegen die oberste Gewalt selbst behandelt, lenkt sie das Gefühl ihrer Untergebenen von dem nächsten durch solche Frevel angerichteten Schaden ab und erreicht damit auf die Dauer das Umgekehrte von dem, was alle Rache will, welche den Gesichtspunkt des Geschädigten allein sieht, allein gelten lässt – : von nun an wird das Auge für | eine immer u n p e r s ö n l i c he r e Abschätzung der That eingeübt, sogar das Auge des Geschädigten selbst (obschon dies am allerletzten, wie voran bemerkt wurde). – Demgemäss giebt es erst von der Aufrichtung des Gesetzes an „Recht“ und „Unrecht“ (und n ic ht , wie Dühring will, von dem Akte der Verletzung an). A n s ic h von Recht und Unrecht reden entbehrt alles Sinn’s, a n s ic h kann natürlich ein Verletzen, Vergewaltigen, Ausbeuten, Vernichten nichts „Unrechtes“ sein, insofern das Leben e s s e n t ie l l , nämlich in seinen Grundfunktionen verletzend, vergewaltigend, ausbeutend, vernichtend fungirt und gar nicht gedacht werden kann ohne diesen Charakter. Man muss sich sogar noch etwas Bedenklicheres eingestehn : dass, vom höchsten biologischen Standpunkte aus, Rechtszustände immer nur Au s n a h me -Zu s t ä nd e sein dürfen, als theilweise Restriktionen des eigentlichen Lebenswillens, der auf Macht aus
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ist, und sich dessen Gesammtzwecke als Einzelmittel unterordnend : nämlich als Mittel, g r ö s s e r e Macht-Einheiten zu schaffen. Eine Rechtsordnung souverain und allgemein gedacht, nicht als Mittel im Kampf von Macht-Complexen, sondern als Mittel g e g e n allen Kampf überhaupt, etwa gemäss der Communisten-Schablone Dühring’s, dass jeder Wille jeden Willen als gleich zu nehmen habe, wäre ein leb e n s f e i n d l ic h e s Princip, eine Zerstörerin und Auflöserin des Menschen, ein Attentat auf die Zukunft des Menschen, ein Zeichen von Ermüdung, ein Schleichweg zum Nichts. – 12. Hier noch ein Wort über Ursprung und Zweck der Strafe – zwei Probleme, die auseinander fallen oder fallen sollten : leider wirft man sie gewöhnlich in Eins. | Wie treiben es doch die bisherigen Moral-Genealogen in diesem Falle ? Naiv, wie sie es immer getrieben haben – : sie machen irgend einen „Zweck“ in der Strafe ausfi ndig, zum Beispiel Rache oder Abschreckung, setzen dann arglos diesen Zweck an den Anfang, als causa fiendi der Strafe, und – sind fertig. Der „Zweck im Rechte“ ist aber zu allerletzt für die Entstehungsgeschichte des Rechts zu verwenden : vielmehr giebt es für alle Art Historie gar keinen wichtigeren Satz als jenen, der mit solcher Mühe errungen ist, aber auch wirklich errungen s e i n s ol lt e, – dass nämlich die Ursache der Entstehung eines Dings und dessen schliessliche Nützlichkeit, dessen thatsächliche Verwendung und Einordnung in ein System von Zwecken toto coelo auseinander liegen ; dass etwas Vorhandenes, irgendwie Zu-Stande-Gekommenes immer wieder von einer ihm überlegenen Macht auf neue Ansichten ausgelegt, neu in Beschlag genommen, zu einem neuen Nutzen umgebildet und umgerichtet wird ; dass alles Geschehen in der organischen Welt ein Ü b e r w ä lt i g e n , He r r we r d e n und dass wiederum alles Überwältigen und Herrwerden ein Neu-Interpretieren, ein Zurechtmachen ist,
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bei dem der bisherige „Sinn“ und „Zweck“ nothwendig verdunkelt oder ganz ausgelöscht werden muss. Wenn man die Nüt z l ic h k e it von irgend welchem physiologischen Organ (oder auch einer Rechts-Institution, einer gesellschaftlichen Sitte, eines politischen Brauchs, einer Form in den Künsten oder im religiösen Cultus) noch so gut begriffen hat, so hat man damit noch nichts in Betreff seiner Entstehung begriffen : so unbequem und unangenehm dies älteren Ohren klingen mag, – denn von Alters her hatte man in dem nachweisbaren Zwecke, in der Nützlichkeit eines Dings, | einer Form, einer Einrichtung auch deren Entstehungsgrund zu begreifen geglaubt, das Auge als gemacht zum Sehen, die Hand als gemacht zum Greifen. So hat man sich auch die Strafe vorgestellt als erfunden zum Strafen. Aber alle Zwecke, alle Nützlichkeiten sind nur A n z e ic he n davon, dass ein Wille zur Macht über etwas weniger Mächtiges Herr geworden ist und ihm von sich aus den Sinn einer Funktion aufgeprägt hat ; und die ganze Geschichte eines „Dings“, eines Organs, eines Brauchs kann dergestalt eine fortgesetzte Zeichen-Kette von immer neuen Interpretationen und Zurechtmachungen sein, deren Ursachen selbst unter sich nicht im Zusammenhange zu sein brauchen, vielmehr unter Umständen sich bloss zufällig hinter einander folgen und ablösen. „Entwicklung“ eines Dings, eines Brauchs, eines Organs ist demgemäss nichts weniger als sein progressus auf ein Ziel hin, noch weniger ein logischer und kürzester, mit dem kleinsten Aufwand von Kraft und Kosten erreichter progressus, – sondern die Aufeinanderfolge von mehr oder minder tiefgehenden, mehr oder minder von einander unabhängigen, an ihm sich abspielenden Überwältigungsprozessen, hinzugerechnet die dagegen jedes Mal aufgewendeten Widerstände, die versuchten Form-Verwandlungen zum Zweck der Vertheidigung und Reaktion, auch die Resultate gelungener Gegenaktionen. Die Form ist flüssig, der „Sinn“ ist es aber noch mehr … Selbst innerhalb
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jedes einzelnen Organismus steht es nicht anders : mit jedem wesentlichen Wachsthum des Ganzen verschiebt sich auch der „Sinn“ der einzelnen Organe, – unter Umständen kann deren theilweises Zu-Grunde-Gehn, deren Zahl-Verminderung (zum Beispiel durch Vernichtung der Mittelglieder) ein Zeichen wachsender Kraft und | Vollkommenheit sein. Ich wollte sagen : auch das theilweise Un nüt z l ic hwe r d e n , das Verkümmern und Entarten, das Verlustiggehn von Sinn und Zweckmässigkeit, kurz der Tod gehört zu den Bedingungen des wirklichen progressus : als welcher immer in Gestalt eines Willens und Wegs zu g r ö s s e r e r M ac ht erscheint und immer auf Unkosten zahlreicher kleinerer Mächte durchgesetzt wird. Die Grösse eines „Fortschritts“ b e m i s s t sich sogar nach der Masse dessen, was ihm Alles geopfert werden musste ; die Menschheit als Masse dem Gedeihen einer einzelnen s t ä r k e r e n Species Mensch geopfert – das w ä r e ein Fortschritt … – Ich hebe diesen Haupt-Gesichtspunkt der historischen Methodik hervor, um so mehr als er im Grunde dem gerade herrschenden Instinkte und Zeitgeschmack entgegen geht, welcher lieber sich noch mit der absoluten Zufälligkeit, ja mechanistischen Unsinnigkeit alles Geschehens vertragen würde, als mit der Theorie eines in allem Geschehn sich abspielenden M ac ht-W i l le n s . Die demokratische Idiosynkrasie gegen Alles, was herrscht und herrschen will, der moderne M i s a r c h i s mu s (um ein schlechtes Wort für eine schlechte Sache zu bilden) hat sich allmählich dermaassen in’s Geistige, Geistigste umgesetzt und verkleidet, dass er heute Schritt für Schritt bereits in die strengsten, anscheinend objektivsten Wissenschaften eindringt, eindringen d a r f ; ja er scheint mir schon über die ganze Physiologie und Lehre vom Leben Herr geworden zu sein, zu ihrem Schaden, wie sich von selbst versteht, indem er ihr einen Grundbegriff, den der eigentlichen A k t i v it ät , eskamotirt hat. Man stellt dagegen unter dem Druck jener Idiosynkrasie die „Anpassung“ in den
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Vordergrund, das heisst eine Aktivität zweiten Ranges, | eine blosse Reaktivität, ja man hat das Leben selbst als eine immer zweckmässigere innere Anpassung an äussere Umstände defi nirt (Herbert Spencer). Damit ist aber das Wesen des Lebens verkannt, sein W i l le z u r M ac ht ; damit ist der principielle Vorrang übersehn, den die spontanen, angreifenden, übergreifenden, neu-auslegenden, neu-richtenden und gestaltenden Kräfte haben, auf deren Wirkung erst die „Anpassung“ folgt ; damit ist im Organismus selbst die herrschaftliche Rolle der höchsten Funktionäre abgeleugnet, in denen der Lebenswille aktiv und formgebend erscheint. Man erinnert sich, was Huxley Spencern zum Vorwurf gemacht hat, – seinen „administrativen Nihilismus“ : aber es handelt sich noch um me h r als um’s „Administriren“ … 13. – Man hat also, um zur Sache, nämlich zur St r a f e zurückzukehren, zweierlei an ihr zu unterscheiden : einmal das relativ D aue r h a f t e an ihr, den Brauch, den Akt, das „Drama“, eine gewisse strenge Abfolge von Prozeduren, andrerseits das F lü s s i g e an ihr, den Sinn, den Zweck, die Erwartung, welche sich an die Ausführung solcher Prozeduren knüpft. Hierbei wird ohne Weiteres vorausgesetzt, per analogiam, gemäss dem eben entwickelten Hauptgesichtspunkte der historischen Methodik, dass die Prozedur selbst etwas Älteres, Früheres als ihre Benützung zur Strafe sein wird, dass letztere erst in die (längst vorhandene, aber in einem anderen Sinne übliche) Prozedur h i ne i n g e le g t , hineingedeutet worden ist, kurz, dass es n ic ht so steht, wie unsre naiven Moral- und Rechtsgenealogen bisher annahmen, welche sich allesammt die Prozedur e r f u nd e n dachten zum Zweck der Strafe, so wie man sich ehe|mals die Hand erfunden dachte zum Zweck des Greifens. Was nun jenes andre Element an der Strafe betriff t, das flüssige, ihren „Sinn“, so stellt in einem sehr späten Zustande der
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Cultur (zum Beispiel im heutigen Europa) der Begriff „Strafe“ in der That gar nicht mehr Einen Sinn vor, sondern eine ganze Synthesis von „Sinnen“ : die bisherige Geschichte der Strafe überhaupt, die Geschichte ihrer Ausnützung zu den verschiedensten Zwecken, krystallisirt sich zuletzt in eine Art von Einheit, welche schwer löslich, schwer zu analysiren und, was man hervorheben muss, ganz und gar u n d e f i n i r b a r ist. (Es ist heute unmöglich, bestimmt zu sagen, w a r u m eigentlich gestraft wird : alle Begriffe, in denen sich ein ganzer Prozess semiotisch zusammenfasst, entziehen sich der Definition ; defi nirbar ist nur Das, was keine Geschichte hat.) In einem früheren Stadium erscheint dagegen jene Synthesis von „Sinnen“ noch löslicher, auch noch verschiebbarer ; man kann noch wahrnehmen, wie für jeden einzelnen Fall die Elemente der Synthesis ihre Werthigkeit verändern und sich demgemäss umordnen, so dass bald dies, bald jenes Element auf Kosten der übrigen hervortritt und dominirt, ja unter Umständen Ein Element (etwa der Zweck der Abschreckung) den ganzen Rest von Elementen aufzuheben scheint. Um wenigstens eine Vorstellung davon zu geben, wie unsicher, wie nachträglich, wie accidentiell „der Sinn“ der Strafe ist und wie ein und dieselbe Prozedur auf grundverschiedne Absichten hin benützt, gedeutet, zurechtgemacht werden kann : so stehe hier das Schema, das sich mir selbst auf Grund eines verhältnissmässig kleinen und zufälligen Materials ergeben hat. Strafe als Unschädlichmachen, als Verhinderung weiteren Schädigens. Strafe | als Abzahlung des Schadens an den Geschädigten, in irgend einer Form (auch in der einer Affekt-Compensation). Strafe als Isolirung einer Gleichgewichts-Störung, um ein Weitergreifen der Störung zu verhüten. Strafe als Furchteinflössen vor Denen, welche die Strafe bestimmen und exekutiren. Strafe als eine Art Ausgleich für die Vortheile, welche der Verbrecher bis dahin genossen hat (zum Beispiel wenn er als Bergwerkssklave nutzbar gemacht wird). Strafe als Ausscheidung eines ent-
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artenden Elementes (unter Umständen eines ganzen Zweigs, wie nach chinesischem Rechte : somit als Mittel zur Reinerhaltung der Rasse oder zur Festhaltung eines socialen Typus). Strafe als Fest, nämlich als Vergewaltigung und Verhöhnung eines endlich niedergeworfnen Feindes. Strafe als ein Gedächtnissmachen, sei es für Den, der die Strafe erleidet – die sogenannte „Besserung“, sei es für die Zeugen der Exekution. Strafe als Zahlung eines Honorars, ausbedungen Seitens der Macht, welche den Übelthäter vor den Ausschweifungen der Rache schützt. Strafe als Compromiss mit dem Naturzustand der Rache, sofern letzterer durch mächtige Geschlechter noch aufrecht erhalten und als Privilegium in Anspruch genommen wird. Strafe als Kriegserklärung und Kriegsmaassregel gegen einen Feind des Friedens, des Gesetzes, der Ordnung, der Obrigkeit, den man als gefährlich für das Gemeinwesen, als vertragsbrüchig in Hinsicht auf dessen Voraussetzungen, als einen Empörer, Verräther und Friedensbrecher bekämpft, mit Mitteln, wie sie eben der Krieg an die Hand giebt. – 14. Diese Liste ist gewiss nicht vollständig ; ersichtlich ist die Strafe mit Nützlichkeiten aller Art überladen. | Um so eher darf man von ihr eine ve r me i nt l ic he Nützlichkeit in Abzug bringen, die allerdings im populären Bewusstsein als ihre wesentlichste gilt, – der Glaube an die Strafe, der heute aus mehreren Gründen wackelt, fi ndet gerade an ihr immer noch seine kräftigste Stütze. Die Strafe soll den Werth haben, das G ef ü h l der Sc hu ld im Schuldigen aufzuwecken, man sucht in ihr das eigentliche instrumentum jener seelischen Reaktion, welche „schlechtes Gewissen“, „Gewissensbiss“ genannt wird. Aber damit vergreift man sich selbst für heute noch an der Wirklichkeit und der Psychologie : und wie viel mehr für die längste Geschichte des Menschen, seine Vorgeschichte ! Der ächte Gewissensbiss ist gerade unter Verbrechern und Sträf-
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lingen etwas äusserst Seltenes, die Gefängnisse, die Zuchthäuser sind n ic ht die Brutstätten, an denen diese Species von Nagewurm mit Vorliebe gedeiht : – darin kommen alle gewissenhaften Beobachter überein, die in vielen Fällen ein derartiges Urtheil ungern genug und wider die eigensten Wünsche abgeben. In’s Grosse gerechnet, härtet und kältet die Strafe ab ; sie concentrirt ; sie verschärft das Gefühl der Entfremdung ; sie stärkt die Widerstandskraft. Wenn es vorkommt, dass sie die Energie zerbricht und eine erbärmliche Prostration und Selbsterniedrigung zu Wege bringt, so ist ein solches Ergebniss sicherlich noch weniger erquicklich als die durchschnittliche Wirkung der Strafe : als welche sich durch einen trocknen düsteren Ernst charakterisirt. Denken wir aber gar an jene Jahrtausende vor der Geschichte des Menschen, so darf man unbedenklich urtheilen, dass gerade durch die Strafe die Entwicklung des Schuldgefühls am kräftigsten au f g e h a lt e n worden ist, – wenigstens in Hinsicht auf die Opfer, an | denen sich die strafende Gewalt ausliess. Unterschätzen wir nämlich nicht, inwiefern der Verbrecher gerade durch den Anblick der gerichtlichen und vollziehenden Prozeduren selbst verhindert wird, seine That, die Art seiner Handlung, a n s ic h als verwerfl ich zu empfi nden : denn er sieht genau die gleiche Art von Handlungen im Dienst der Gerechtigkeit verübt und dann gut geheissen, mit gutem Gewissen verübt : also Spionage, Überlistung, Bestechung, Fallenstellen, die ganze kniffl iche und durchtriebne Polizisten- und Anklägerkunst, sodann das grundsätzliche, selbst nicht durch den Affekt entschuldigte Berauben, Überwältigen, Beschimpfen, Gefangennehmen, Foltern, Morden, wie es in den verschiednen Arten der Strafe sich ausprägt, – Alles somit von seinen Richtern keineswegs a n s ic h verworfene und verurtheilte Handlungen, sondern nur in einer gewissen Hinsicht und Nutzanwendung. Das „schlechte Gewissen“, diese unheimlichste und interessanteste Pflanze unsrer irdischen Vegetation, ist n ic ht
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auf diesem Boden gewachsen, – in der That drückte sich im Bewusstsein der Richtenden, der Strafenden selbst die längste Zeit hindurch Nic ht s davon aus, dass man mit einem „Schuldigen“ zu thun habe. Sondern mit einem Schaden-Anstifter, mit einem unverantwortlichen Stück Verhängniss. Und Der selber, über den nachher die Strafe, wiederum wie ein Stück Verhängniss, herfiel, hatte dabei keine andre „innere Pein“, als wie beim plötzlichen Eintreten von etwas Unberechnetem, eines schrecklichen Naturereignisses, eines herabstürzenden, zermalmenden Felsblockes, gegen den es keinen Kampf mehr giebt. 15. Dies kam einmal auf eine verfängliche Weise Spinoza zum Bewusstsein (zum Verdruss seiner Ausleger, | welche sich ordentlich darum b e mü he n , ihn an dieser Stelle misszuverstehn, zum Beispiel Kuno Fischer), als er eines Nachmittags, wer weiss, an was für einer Erinnerung sich reibend, der Frage nachhieng, was eigentlich für ihn selbst von dem berühmten mor s u s co n s c ie nt i ae übrig geblieben sei – er, der Gut und Böse unter die menschlichen Einbildungen verwiesen und mit Ingrimm die Ehre seines „freien“ Gottes gegen jene Lästerer vertheidigt hatte, deren Behauptung dahin gieng, Gott wirke Alles sub ratione boni („das aber hiesse Gott dem Schicksale unterwerfen und wäre fürwahr die grösste aller Ungereimtheiten“ –). Die Welt war für Spinoza wieder in jene Unschuld zurückgetreten, in der sie vor der Erfi ndung des schlechten Gewissens dalag : was war damit aus dem morsus conscientiae geworden ? „Der Gegensatz des gaudium, sagte er sich endlich, – eine Traurigkeit, begleitet von der Vorstellung einer vergangnen Sache, die gegen alles Erwarten ausgefallen ist.“ Eth. III propos. XVII schol. I. II. N i c ht a nd e r s a l s S p i no z a haben die von der Strafe ereilten Übel-Anstifter Jahrtausende lang in Betreff ihres „Vergehens“ empfunden : „hier ist Etwas unvermuthet schief gegangen“, n ic ht : „das hätte ich nicht
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thun sollen“ –, sie unterwarfen sich der Strafe, wie man sich einer Krankheit oder einem Unglücke oder dem Tode unterwirft, mit jenem beherzten Fatalismus ohne Revolte, durch den zum Beispiel heute noch die Russen in der Handhabung des Lebens gegen uns Westländer im Vortheil sind. Wenn es damals eine Kritik der That gab, so war es die Klugheit, die an der That Kritik übte : ohne Frage müssen wir die eigentliche W i r k u n g der Strafe vor Allem in einer Verschärfung der Klugheit suchen, in einer Verlängerung des | Gedächtnisses, in einem Willen, fürderhin vorsichtiger, misstrauischer, heimlicher zu Werke zu gehn, in der Einsicht, dass man für Vieles ein-für-alle-Mal zu schwach sei, in einer Art Verbesserung der Selbstbeurtheilung. Das, was durch die Strafe im Grossen erreicht werden kann, bei Mensch und Thier, ist die Vermehrung der Furcht, die Verschärfung der Klugheit, die Bemeisterung der Begierden : damit z ä h mt die Strafe den Menschen, aber sie macht ihn nicht „besser“, – man dürfte mit mehr Recht noch das Gegentheil behaupten. („Schaden macht klug“, sagt das Volk : soweit er klug macht, macht er auch schlecht. Glücklicher Weise macht er oft genug dumm.) 16. An dieser Stelle ist es nun nicht mehr zu umgehn, meiner eignen Hypothese über den Ursprung des „schlechten Gewissens“ zu einem ersten vorläufigen Ausdrucke zu verhelfen : sie ist nicht leicht zu Gehör zu bringen und will lange bedacht, bewacht und beschlafen sein. Ich nehme das schlechte Gewissen als die tiefe Erkrankung, welcher der Mensch unter dem Druck jener gründlichsten aller Veränderungen verfallen musste, die er überhaupt erlebt hat, – jener Veränderung, als er sich endgültig in den Bann der Gesellschaft und des Friedens eingeschlossen fand. Nicht anders als es den Wasser thieren ergangen sein muss, als sie gezwungen wurden, entweder Landthiere zu werden oder zu Grunde zu gehn, so gieng es
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diesen der Wildniss, dem Kriege, dem Herumschweifen, dem Abenteuer glücklich angepassten Halbthieren, – mit Einem Male waren alle ihre Instinkte entwerthet und „ausgehängt“. Sie sollten nunmehr auf den Füssen gehn und „sich selber tragen“, wo sie bisher vom | Wasser getragen wurden : eine entsetzliche Schwere lag auf ihnen. Zu den einfachsten Verrichtungen fühlten sie sich ungelenk, sie hatten für diese neue unbekannte Welt ihre alten Führer nicht mehr, die regulirenden unbewusst-sicherführenden Triebe, – sie waren auf Denken, Schliessen, Berechnen, Combiniren von Ursachen und Wirkungen reduzirt, diese Unglücklichen, auf ihr „Bewusstsein“, auf ihr ärmlichstes und fehlgreifendstes Organ ! Ich glaube, dass niemals auf Erden ein solches Elends-Gefühl, ein solches bleiernes Missbehagen dagewesen ist, – und dabei hatten jene alten Instinkte nicht mit Einem Male aufgehört, ihre Forderungen zu stellen ! Nur war es schwer und selten möglich, ihnen zu Willen zu sein : in der Hauptsache mussten sie sich neue und gleichsam unterirdische Befriedigungen suchen. Alle Instinkte, welche sich nicht nach Aussen entladen, we nd e n s ic h n ac h I n ne n – dies ist das , was ich die Ve r i n ne rl ic hu n g des Menschen nenne : damit wächst erst das an den Menschen heran, was man später seine „Seele“ nennt. Die ganze innere Welt, ursprünglich dünn wie zwischen zwei Häute eingespannt, ist in dem Maasse aus einander- und aufgegangen, hat Tiefe, Breite, Höhe bekommen, als die Entladung des Menschen nach Aussen g e h e m mt worden ist. Jene furchtbaren Bollwerke, mit denen sich die staatliche Organisation gegen die alten Instinkte der Freiheit schützte – die Strafen gehören vor Allem zu diesen Bollwerken – brachten zu Wege, dass alle jene Instinkte des wilden freien schweifenden Menschen sich rückwärts, sich g eg en den Men sc hen se lbst wandten. Die Feindschaft, die Grausamkeit, die Lust an der Verfolgung, am Überfall, am Wechsel, an der Zerstörung – Alles das gegen die Inhaber solcher In|stinkte sich wen-
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dend : d a s ist der Ursprung des „schlechten Gewissens“. Der Mensch, der sich, aus Mangel an äusseren Feinden und Widerständen, eingezwängt in eine drückende Enge und Regelmässigkeit der Sitte, ungeduldig selbst zerriss, verfolgte, annagte, aufstörte, misshandelte, dies an den Gitterstangen seines Käfigs sich wund stossende Thier, das man „zähmen“ will, dieser Entbehrende und vom Heimweh der Wüste Verzehrte, der aus sich selbst ein Abenteuer, eine Folterstätte, eine unsichere und gefährliche Wildniss schaffen musste – dieser Narr, dieser sehnsüchtige und verzweifelte Gefangne wurde der Erfi nder des „schlechten Gewissens“. Mit ihm aber war die grösste und unheimlichste Erkrankung eingeleitet, von welcher die Menschheit bis heute nicht genesen ist, das Leiden des Menschen a m Men sc hen , an s ic h : als die Folge einer gewaltsamen Abtrennung von der thierischen Vergangenheit, eines Sprunges und Sturzes gleichsam in neue Lagen und Daseins-Bedingungen, einer Kriegserklärung gegen die alten Instinkte, auf denen bis dahin seine Kraft, Lust und Furchtbarkeit beruhte. Fügen wir sofort hinzu, dass andrerseits mit der Thatsache einer gegen sich selbst gekehrten, gegen sich selbst Partei nehmenden Thierseele auf Erden etwas so Neues, Tiefes, Unerhörtes, Räthselhaftes, Widerspruchsvolles u nd Z u k u n f t s vol le s gegeben war, dass der Aspekt der Erde sich damit wesentlich veränderte. In der That, es brauchte göttlicher Zuschauer, um das Schauspiel zu würdigen, das damit anfieng und dessen Ende durchaus noch nicht abzusehen ist, – ein Schauspiel zu fein, zu wundervoll, zu paradox, als dass es sich sinnlos-unvermerkt auf irgend einem lächerlichen Gestirn abspielen dürfte ! Der Mensch zählt seitdem m it unter | den unerwartetsten und aufregendsten Glückswürfen, die das „grosse Kind“ des Heraklit, heisse es Zeus oder Zufall, spielt, – er erweckt für sich ein Interesse, eine Spannung, eine Hoff nung, beinahe eine Gewissheit, als ob mit ihm sich Etwas ankündige, Etwas vorbereite, als ob der Mensch kein
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Ziel, sondern nur ein Weg, ein Zwischenfall, eine Brücke, ein grosses Versprechen sei … 17. Zur Voraussetzung dieser Hypothese über den Ursprung des schlechten Gewissens gehört erstens, dass jene Veränderung keine allmähliche, keine freiwillige war und sich nicht als ein organisches Hineinwachsen in neue Bedingungen darstellte, sondern als ein Bruch, ein Sprung, ein Zwang, ein unabweisbares Verhängniss‚ gegen das es keinen Kampf und nicht einmal ein Ressentiment gab. Zweitens aber, dass die Einfügung einer bisher ungehemmten und ungestalteten Bevölkerung in eine feste Form, wie sie mit einem Gewaltakt ihren Anfang nahm, nur mit lauter Gewaltakten zu Ende geführt wurde, – dass der älteste „Staat“ demgemäss als eine furchtbare Tyrannei, als eine zerdrückende und rücksichtslose Maschinerie auftrat und fortarbeitete‚ bis ein solcher Rohstoff von Volk und Halbthier endlich nicht nur durchgeknetet und gefügig, sondern auch g e for mt war. Ich gebrauchte das Wort „Staat“ : es versteht sich von selbst, wer damit gemeint ist – irgend ein Rudel blonder Raubthiere, eine Eroberer- und Herren-Rasse, welche, kriegerisch organisirt und mit der Kraft, zu organisiren, unbedenklich ihre furchtbaren Tatzen auf eine der Zahl nach vielleicht ungeheuer überlegene, aber noch gestaltlose, noch schweifende Bevölkerung legt. Dergestalt beginnt | ja der „Staat“ auf Erden : ich denke, jene Schwärmerei ist abgethan, welche ihn mit einem „Vertrage“ beginnen liess. Wer befehlen kann, wer von Natur „Herr“ ist, wer gewaltthätig in Werk und Gebärde auftritt – was hat der mit Verträgen zu schaffen ! Mit solchen Wesen rechnet man nicht, sie kommen wie das Schicksal, ohne Grund, Vernunft, Rücksicht, Vorwand, sie sind da wie der Blitz da ist, zu furchtbar, zu plötzlich, zu überzeugend, zu „anders“, um selbst auch nur gehasst zu werden. Ihr Werk ist ein instinktives Formen-schaffen, Formen-aufdrücken, es sind die unfreiwilligsten, unbewuss-
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testen Künstler, die es giebt : – in Kürze steht etwas Neues da, wo sie erscheinen, ein Herrschafts-Gebilde, das lebt , in dem Theile und Funktionen abgegrenzt und bezüglich gemacht sind, in dem Nichts überhaupt Platz fi ndet, dem nicht erst ein „Sinn“ in Hinsicht auf das Ganze eingelegt ist. Sie wissen nicht, was Schuld, was Verantwortlichkeit, was Rücksicht ist, diese geborenen Organisatoren ; in ihnen waltet jener furchtbare Künstler-Egoismus, der wie Erz blickt und sich im „Werke“, wie die Mutter in ihrem Kinde, in alle Ewigkeit voraus gerechtfertigt weiss. S ie sind es nicht, bei denen das „schlechte Gewissen“ gewachsen ist, das versteht sich von vornherein, – aber es würde nicht oh ne s ie gewachsen sein, dieses hässliche Gewächs, es würde fehlen, wenn nicht unter dem Druck ihrer Hammerschläge, ihrer Künstler-Gewaltsamkeit ein ungeheures Quantum Freiheit aus der Welt, mindestens aus der Sichtbarkeit geschaff t und gleichsam l at e nt gemacht worden wäre. Dieser gewaltsam latent gemachte I n s t i n k t d e r F r e i h e it – wir begriffen es schon – dieser zurückgedrängte, zurückgetretene, in’s Innere eingekerkerte und zuletzt nur an sich selbst | noch sich entladende und auslassende Instinkt der Freiheit : das, nur das ist in seinem Anbeginn das s c h le c ht e G ew i s s e n . 18. Man hüte sich, von diesem ganzen Phänomen deshalb schon gering zu denken, weil es von vornherein hässlich und schmerzhaft ist. Im Grunde ist es ja dieselbe aktive Kraft, die in jenen Gewalt-Künstlern und Organisatoren grossartiger am Werke ist und Staaten baut, welche hier, innerlich, kleiner, kleinlicher, in der Richtung nach rückwärts, im „Labyrinth der Brust“, um mit Goethe zu reden, sich das schlechte Gewissen schaff t und negative Ideale baut, eben jener I n s t i n k t d e r Fr e i he it (in meiner Sprache geredet : der Wille zur Macht) : nur dass der Stoff, an dem sich die formbildende
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und vergewaltigende Natur dieser Kraft auslässt, hier eben der Mensch selbst, sein ganzes thierisches altes Selbst ist – und n ic ht , wie in jenem grösseren und augenfälligeren Phänomen, der a nd r e Mensch, die a nd r e n Menschen. Diese heimliche Selbst-Vergewaltigung, diese Künstler-Grausamkeit, diese Lust, sich selbst als einem schweren widerstrebenden leidenden Stoffe eine Form zu geben, einen Willen, eine Kritik, einen Widerspruch, eine Verachtung, ein Nein einzubrennen, diese unheimliche und entsetzlich-lustvolle Arbeit einer mit sich selbst willig-zwiespältigen Seele, welche sich leiden macht, aus Lust am Leidenmachen, dieses ganze a kt iv i sc he „schlechte Gewissen“ hat zuletzt – man erräth es schon – als der eigentliche Mutterschooss idealer und imaginativer Ereignisse auch eine Fülle von neuer befremdlicher Schönheit und Bejahung an’s Licht gebracht und vielleicht überhaupt | erst d ie Schönheit … Was wäre denn „schön“, wenn nicht erst der Widerspruch sich selbst zum Bewusstsein gekommen wäre, wenn nicht erst das Hässliche zu sich selbst gesagt hätte : „ich bin hässlich“ ? … Zum Mindesten wird nach diesem Winke das Räthsel weniger räthselhaft sein, in wiefern in widersprüchlichen Begriffen, wie Selbst losigkeit, Selbst verleug nu ng, Selbstopfer u ng ein Ideal, eine Schönheit angedeutet sein kann ; und Eins weiss man hinfort, ich zweifle nicht daran –, welcher Art nämlich von Anfang an die Lu s t ist, die der Selbstlose‚ der Sich-selbst-Verleugnende, Sich-selber-Opfernde empfi ndet : diese Lust gehört zur Grausamkeit. – Soviel vorläufig zur Herkunft des „Unegoistischen“ als eines mor a l i s c he n Werthes und zur Absteckung des Bodens, aus dem dieser Werth gewachsen ist : erst das schlechte Gewissen, erst der Wille zur Selbstmisshandlung giebt die Voraussetzung ab für den We r t h des Unegoistischen. –
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19. Es ist eine Krankheit, das schlechte Gewissen, das unterliegt keinem Zweifel, aber eine Krankheit, wie die Schwangerschaft eine Krankheit ist. Suchen wir die Bedingungen auf, unter denen diese Krankheit auf ihren furchtbarsten und sublimsten Gipfel gekommen ist : – wir werden sehn, was damit eigentlich erst seinen Eintritt in die Welt gemacht hat. Dazu aber bedarf es eines langen Athems, – und zunächst müssen wir noch einmal zu einem früheren Gesichtspunkte zurück. Das privatrechtliche Verhältniss des Schuldners zu seinem Gläubiger, von dem des längeren schon die Rede war, ist noch einmal, und zwar in einer historisch überaus merkwürdigen und bedenklichen Weise in ein | Verhältniss hineininterpretirt worden, worin es uns modernen Menschen vielleicht am unverständlichsten ist : nämlich in das Verhältniss der G e g e nw ä r t i g e n zu ihren Vor f a h r e n . Innerhalb der ursprünglichen Geschlechtsgenossenschaft – wir reden von Urzeiten – erkennt jedes Mal die lebende Generation gegen die frühere und in Sonderheit gegen die früheste, geschlechtbegründende eine juristische Verpfl ichtung an (und keineswegs eine blosse Gefühls-Verbindlichkeit : man dürfte diese letztere sogar nicht ohne Grund für die längste Dauer des mensch lichen Geschlechts überhaupt in Abrede stellen). Hier herrscht die Überzeugung, dass das Geschlecht durchaus nur durch die Opfer und Leistungen der Vorfahren b e s t e ht , – und dass man ihnen diese durch Opfer und Leistungen z ur üc k z u z a h le n hat : man erkennt somit eine S c hu ld an, die dadurch noch beständig anwächst, dass diese Ahnen in ihrer Fortexistenz als mächtige Geister nicht aufhören, dem Geschlechte neue Vortheile und Vorschüsse seitens ihrer Kraft zu gewähren. Umsonst etwa ? Aber es giebt kein „Umsonst“ für jene rohen und „seelenarmen“ Zeitalter. Was kann man ihnen zurückgeben ? Opfer (anfänglich zur Nahrung, im gröblichsten Verstande)‚ Feste, Kapellen, Ehrenbezeigungen, vor
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Allem Gehorsam – denn alle Bräuche sind, als Werke der Vorfahren, auch deren Satzungen und Befehle – : giebt man ihnen je genug ? Dieser Verdacht bleibt übrig und wächst : von Zeit zu Zeit erzwingt er eine grosse Ablösung in Bausch und Bogen, irgend etwas Ungeheures von Gegenzahlung an den „Gläubiger“ (das berüchtigte Erstlingsopfer zum Beispiel, Blut, Menschenblut in jedem Falle). Die F u r c ht vor dem Ahnherrn und seiner Macht, das Bewusstsein von Schulden gegen ihn nimmt nach die|ser Art von Logik nothwendig genau in dem Maasse zu, in dem die Macht des Geschlechts selbst zunimmt, in dem das Geschlecht selbst immer siegreicher, unabhängiger, geehrter, gefürchteter dasteht. Nicht etwa umgekehrt ! Jeder Schritt zur Verkümmerung des Geschlechts, alle elenden Zufälle, alle Anzeichen von Entartung, von heraufkommender Auflösung ve r m i nd e r n vielmehr immer auch die Furcht vor dem Geiste seines Begründers und geben eine immer geringere Vorstellung von seiner Klugheit, Vorsorglichkeit und Macht-Gegenwart. Denkt man sich diese rohe Art Logik bis an ihr Ende gelangt : so müssen schliesslich die Ahnherrn der m äc ht i g s t e n Geschlechter durch die Phantasie der wachsenden Furcht selbst in’s Ungeheure gewachsen und in das Dunkel einer göttlichen Unheimlichkeit und Unvorstellbarkeit zurückgeschoben worden sein : – der Ahnherr wird zuletzt nothwendig in einen G ot t transfigurirt. Vielleicht ist hier selbst der Ursprung der Götter, ein Ursprung also aus der F u r c ht ! … Und wem es nöthig scheinen sollte hinzuzufügen : „aber auch aus der Pietät !“ dürfte schwerlich damit für jene längste Zeit des Menschengeschlechts Recht behalten, für seine Urzeit. Um so mehr freilich für die m it tle r e Zeit, in der die vornehmen Geschlechter sich herausbilden : – als welche in der That ihren Urhebern, den Ahnherren (Heroen‚ Göttern) alle die Eigenschaften mit Zins zurückgegeben haben, die inzwischen in ihnen selbst offenbar geworden sind, die vor ne h me n Eigenschaften. Wir werden
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auf die Veradligung und Veredelung der Götter (die freilich durchaus nicht deren „Heiligung“ ist) später noch einen Blick werfen : führen wir jetzt nur den Gang dieser ganzen Schuldbewusstseins-Entwicklung vorläufig zu Ende. | 20. Das Bewusstsein, Schulden gegen die Gottheit zu haben, ist, wie die Geschichte lehrt, auch nach dem Niedergang der blutverwandtschaftlichen Organisationsform der „Gemeinschaft“ keineswegs zum Abschluss gekommen ; die Menschheit hat, in gleicher Weise, wie sie die Begriffe „gut und schlecht“ von dem Geschlechts-Adel (sammt dessen psychologischem Grundhange, Rangordnungen anzusetzen) geerbt hat, mit der Erbschaft der Geschlechts- und Stammgottheiten auch die des Drucks von noch unbezahlten Schulden und des Verlangens nach Ablösung derselben hinzubekommen. (Den Übergang machen jene breiten Sklaven- und Hörigen-Bevölkerungen, welche sich an den Götter-Cultus ihrer Herren, sei es durch Zwang, sei es durch Unterwürfigkeit und mimicry, angepasst haben : von ihnen aus fl iesst dann diese Erbschaft nach allen Seiten über.) Das Schuldgefühl gegen die Gottheit hat mehrere Jahrtausende nicht aufgehört zu wachsen, und zwar immer fort im gleichen Verhältnisse, wie der Gottesbegriff und das Gottesgefühl auf Erden gewachsen und in die Höhe getragen worden ist. (Die ganze Geschichte des ethnischen Kämpfens, Siegens, Sich-versöhnens, Sich-verschmelzens, Alles was der endgültigen Rangordnung aller Volks-Elemente in jeder grossen Rassen-Synthesis vorangeht, spiegelt sich in dem Genealogien-Wirrwarr ihrer Götter, in den Sagen von deren Kämpfen, Siegen und Versöhnungen ab ; der Fortgang zu Universal-Reichen ist immer auch der Fortgang zu Universal-Gottheiten, der Despotismus mit seiner Überwältigung des unabhängigen Adels bahnt immer auch irgend welchem Monotheismus den Weg.) Die Heraufkunft des christlichen
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Gottes, als des Maximal-|Gottes, der bisher erreicht worden ist, hat deshalb auch das Maximum des Schuldgefühls auf Erden zur Erscheinung gebracht. Angenommen, dass wir nachgerade in die u m g e k e h r t e Bewegung eingetreten sind, so dürfte man mit keiner kleinen Wahrscheinlichkeit aus dem unauf haltsamen Niedergang des Glaubens an den christlichen Gott ableiten, dass es jetzt bereits auch schon einen erheblichen Niedergang des menschlichen Schuldbewusstseins gäbe ; ja die Aussicht ist nicht abzuweisen, dass der vollkommne und endgültige Sieg des Atheismus die Menschheit von diesem ganzen Gefühl, Schulden gegen ihren Anfang, ihre causa prima zu haben, lösen dürfte. Atheismus und eine Art z we it e r Un s c hu ld gehören zu einander. – 21. Dies vorläufig im Kurzen und Groben über den Zusammenhang der Begriffe „Schuld“, „Pfl icht“ mit religiösen Voraussetzungen : ich habe absichtlich die eigentliche Moralisirung dieser Begriffe (die Zurückschiebung derselben in’s Gewissen, noch bestimmter, die Verwicklung des s c h le c ht e n Gewissens mit dem Gottesbegriffe) bisher bei Seite gelassen und am Schluss des vorigen Abschnittes sogar geredet, wie als ob es diese Moralisirung gar nicht gäbe, folglich, wie als ob es mit jenen Begriffen nunmehr nothwendig zu Ende gienge, nachdem deren Voraussetzung gefallen ist, der Glaube an unsern „Gläubiger“, an Gott. Der Thatbestand weicht davon in einer furchtbaren Weise ab. Mit der Moralisirung der Begriffe Schuld und Pfl icht, mit ihrer Zurückschiebung in’s s c h le c ht e Gewissen ist ganz eigentlich der Versuch gegeben, die Richtung der eben beschriebenen Entwicklung u m z u k e h r e n , mindestens ihre Bewegung stillzustellen : jetzt s ol l gerade die Aussicht auf eine | endgültige Ablösung ein-für-alle-Mal sich pessimistisch zuschliessen, jetzt s ol l der Blick trostlos vor einer ehernen Unmöglichkeit abprallen, zurückprallen, jetzt
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s ol le n jene Begriffe „Schuld“ und „Pfl icht“ sich rückwärts wenden – gegen we n denn ? Man kann nicht zweifeln : zunächst gegen den „Schuldner“, in dem nunmehr das schlechte Gewissen sich dermaassen festsetzt, einfrisst, ausbreitet und polypenhaft in jede Breite und Tiefe wächst, bis endlich mit der Unlösbarkeit der Schuld auch die Unlösbarkeit der Busse, der Gedanke ihrer Unabzahlbarkeit (der „e w i g e n Strafe“) concipirt ist – ; endlich aber sogar gegen den „Gläubiger“, an die causa prima des Menschen, denke man dabei nun an den Anfang des menschlichen Geschlechts, an seinen Ahnherrn‚ der nunmehr mit einem Fluche behaftet wird („Adam“, „Erbsünde“, „Unfreiheit des Willens“) oder an die Natur, aus deren Schooss der Mensch entsteht und in die nunmehr das böse Princip hineingelegt wird („Verteufelung der Natur“) oder an das Dasein überhaupt, das als u nwe r t h a n s ic h übrig bleibt (nihilistische Abkehr von ihm, Verlangen in’s Nichts oder Verlangen in seinen „Gegensatz“, in ein Anders-sein, Buddhismus und Verwandtes) – bis wir mit Einem Male vor dem paradoxen und entsetzlichen Auskunftsmittel stehn, an dem die gemarterte Menschheit eine zeitweilige Erleichterung gefunden hat, jenem Geniestreich des Ch r isten t hu ms : Gott selbst sich für die Schuld des Menschen opfernd, Gott selbst sich an sich selbst bezahlt machend, Gott als der Einzige, der vom Menschen ablösen kann, was für den Menschen selbst unablösbar geworden ist – der Gläubiger sich für seinen Schuldner opfernd, aus L ieb e (sollte man’s glauben ? –), aus Liebe zu seinem Schuldner ! … | 22. Man wird bereits errathen haben, w a s eigentlich mit dem Allen und u nt e r dem Allen geschehen ist : jener Wille zur Selbstpeinigung‚ jene zurückgetretene Grausamkeit des innerlich gemachten, in sich selbst zurückgescheuchten Thiermenschen, des zum Zweck der Zähmung in den „Staat“ Eingesperrten, der das schlechte Gewissen erfunden hat, um sich
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wehe zu thun, nachdem der n at ü rl ic he r e Ausweg dieses Wehe-thun-wollens verstopft war, – dieser Mensch des schlechten Gewissens hat sich der religiösen Voraussetzung bemächtigt, um seine Selbstmarterung bis zu ihrer schauerlichsten Härte und Schärfe zu treiben. Eine Schuld gegen G ot t : dieser Gedanke wird ihm zum Folterwerkzeug. Er ergreift in „Gott“ die letzten Gegensätze, die er zu seinen eigentlichen und unablöslichen Thier-Instinkten zu fi nden vermag, er deutet diese Thier-Instinkte selbst um als Schuld gegen Gott (als Feindschaft, Auflehnung, Aufruhr gegen den „Herrn“, den „Vater“, den Urahn und Anfang der Welt, er spannt sich in den Widerspruch „Gott“ und „Teufel“, er wirft alles Nein, das er zu sich selbst, zur Natur, Natürlichkeit, Thatsächlichkeit seines Wesens sagt, aus sich heraus als ein Ja, als seiend, leibhaft, wirklich, als Gott, als Heiligkeit Gottes, als Richterthum Gottes, als Henkerthum Gottes, als Jenseits, als Ewigkeit, als Marter ohne Ende, als Hölle, als Unausmessbarkeit von Strafe und von Schuld. Dies ist eine Art Willens-Wahnsinn in der seelischen Grausamkeit, der schlechterdings nicht seines Gleichen hat : der W i l le des Menschen, sich schuldig und verwerfl ich zu fi nden bis zur Unsühnbarkeit, sein W i l le , sich bestraft zu denken, ohne dass die Strafe je der Schuld äquivalent werden könne, sein W i l le, den unter|sten Grund der Dinge mit dem Problem von Strafe und Schuld zu inficiren und giftig zu machen, um sich aus diesem Labyrinth von „fi xen Ideen“ ein für alle Mal den Ausweg abzuschneiden, sein W i l le, ein Ideal aufzurichten – das des „heiligen Gottes“ –, um Angesichts desselben seiner absoluten Unwürdigkeit handgreifl ich gewiss zu sein. Oh über diese wahnsinnige traurige Bestie Mensch ! Welche Einfälle kommen ihr, welche Widernatur‚ welche Paroxysmen des Unsinns‚ welche B e s t i a l it ät d er Idee bricht sofort heraus, wenn sie nur ein wenig verhindert wird, B e st ie der T h at zu sein ! … Dies Alles ist interessant bis zum Übermaass, aber auch von einer schwarzen düsteren
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entnervenden Traurigkeit, dass man es sich gewaltsam verbieten muss, zu lange in diese Abgründe zu blicken. Hier ist K r a n k he it , es ist kein Zweifel, die furchtbarste Krankheit, die bis jetzt im Menschen gewüthet hat : – und wer es noch zu hören vermag (aber man hat heute nicht mehr die Ohren dafür ! –), wie in dieser Nacht von Marter und Widersinn der Schrei L ie b e , der Schrei des sehnsüchtigsten Entzückens, der Erlösung in der L ieb e geklungen hat, der wendet sich ab, von einem unbesieglichen Grausen erfasst … Im Menschen ist so viel Entsetzliches ! … Die Erde war zu lange schon ein Irrenhaus ! … 23. Dies genüge ein für alle Mal über die Herkunft des „heiligen Gottes“. – Dass a n s ic h die Conception von Göttern nicht nothwendig zu dieser Verschlechterung der Phantasie führen muss, deren Vergegenwärtigung wir uns für einen Augenblick nicht erlassen durften, dass es vor neh mer e Arten giebt, sich der | Erdichtung von Göttern zu bedienen, als zu dieser Selbstkreuzigung und Selbstschändung des Menschen, in der die letzten Jahrtausende Europa’s ihre Meisterschaft gehabt haben, – das lässt sich zum Glück aus jedem Blick noch abnehmen, den man auf die g r ie c h i s c he n G öt t e r wirft, diese Wiederspiegelungen vornehmer und selbstherrlicher Menschen, in denen das T h ie r im Menschen sich vergöttlicht fühlte und n ic ht sich selbst zerriss‚ n ic ht gegen sich selber wüthete ! Diese Griechen haben sich die längste Zeit ihrer Götter bedient, gerade um sich das „schlechte Gewissen“ vom Leibe zu halten, um ihrer Freiheit der Seele froh bleiben zu dürfen : also in einem umgekehrten Verstande als das Christenthum Gebrauch von seinem Gotte gemacht hat. Sie giengen darin s e h r we it , diese prachtvollen und löwenmüthigen Kindsköpfe ; und keine geringere Autorität als die des homerischen Zeus selbst giebt es ihnen hier und da zu verstehn, dass sie es sich zu leicht machen. „Wunder ! sagt er
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einmal – es handelt sich um den Fall des Ägisthos, um einen s e h r schlimmen Fall – „Wunder, wie sehr doch klagen die Sterblichen wider die Götter ! Nu r von u n s sei Böses, vermeinen sie ; aber sie selber Schaffen durch Unverstand, auch gegen Geschick, sich das Elend.“
Doch hört und sieht man hier zugleich, auch dieser olympische Zuschauer und Richter ist ferne davon, ihnen deshalb gram zu sein und böse von ihnen zu denken : „was sie t hö r ic ht sind !“ so denkt er bei den Unthaten der Sterblichen, – und „Thorheit“, „Unverstand“, ein wenig „Störung im Kopfe“, so viel haben auch die | Griechen der stärksten, tapfersten Zeit selbst bei sich z u g e l a s s e n als Grund von vielem Schlimmen und Verhängnissvollen : – Thorheit, n ic ht Sünde ! versteht ihr das ? … Selbst aber diese Störung im Kopfe war ein Problem – „ja, wie ist sie auch nur möglich ? woher mag sie eigentlich gekommen sein, bei Köpfen, wie w i r sie haben, wir Menschen der edlen Abkunft, des Glücks, der Wohlgerathenheit, der besten Gesellschaft, der Vornehmheit, der Tugend ?“ – so fragte sich Jahrhunderte lang der vornehme Grieche Angesichts jedes ihm unverständlichen Greuels und Frevels‚ mit dem sich Einer von seines Gleichen befleckt hatte. „Es muss ihn wohl ein Got t bethört haben“, sagte er sich endlich, den Kopf schüttelnd … Dieser Ausweg ist t y p i s c h für Griechen … Dergestalt dienten damals die Götter dazu, den Menschen bis zu einem gewissen Grade auch im Schlimmen zu rechtfertigen, sie dienten als Ursachen des Bösen – damals nahmen sie nicht die Strafe auf sich, sondern, wie es vor ne h me r ist, die Schuld … 24. – Ich schliesse mit drei Fragezeichen, man sieht es wohl. „Wird hier eigentlich ein Ideal aufgerichtet oder eines abgebrochen ?“
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so fragt man mich vielleicht … Aber habt ihr euch selber je genug gefragt, wie theuer sich auf Erden die Aufrichtung je d e s Ideals bezahlt gemacht hat ? Wie viel Wirklichkeit immer dazu verleumdet und verkannt, wie viel Lüge geheiligt, wie viel Gewissen verstört, wie viel „Gott“ jedes Mal geopfert werden musste ? Damit ein Heiligthum aufgerichtet werden kann, mu ss ei n Hei l ig t hu m z erbroc hen werden : das ist das Gesetz – man zeige mir den Fall, wo es nicht erfüllt ist ! … Wir modernen Men|schen, wir sind die Erben der GewissensVivisektion und Selbst-Thierquälerei von Jahrtausenden : darin haben wir unsre längste Übung, unsre Künstlerschaft vielleicht, in jedem Fall unser Raffi nement, unsre GeschmacksVerwöhnung. Der Mensch hat allzulange seine natürlichen Hänge mit „bösem Blick“ betrachtet, so dass sie sich in ihm schliesslich mit dem „schlechten Gewissen“ verschwistert haben. Ein umgekehrter Versuch wäre a n s ic h möglich – aber wer ist stark genug dazu ? – nämlich die u n n at ü rl ic hen Hänge, alle jene Aspirationen zum Jenseitigen, Sinnenwidrigen, Instinktwidrigen, Naturwidrigen, Thierwidrigen, kurz die bisherigen Ideale, die allesammt lebensfeindliche Ideale, Weltverleumder-Ideale sind, mit dem schlechten Gewissen zu verschwistern. An wen sich heute mit s olc he n Hoff nungen und Ansprüchen wenden ? … Gerade die g ut e n Menschen hätte man damit gegen sich ; dazu, wie billig, die bequemen, die versöhnten, die eitlen, die schwärmerischen, die müden … Was beleidigt tiefer, was trennt so gründlich ab, als etwas von der Strenge und Höhe merken zu lassen, mit der man sich selbst behandelt ? Und wiederum – wie entgegenkommend, wie liebreich zeigt sich alle Welt gegen uns, so bald wir es machen wie alle Welt und uns „gehen lassen“ wie alle Welt ! … Es bedürfte zu jenem Ziele einer a nd r e n Art Geister, als gerade in diesem Zeitalter wahrscheinlich sind : Geister, durch Kriege und Siege gekräftigt, denen die Eroberung, das Abenteuer, die Gefahr, der Schmerz sogar zum Bedürfniss geworden ist ; es
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bedürfte dazu der Gewöhnung an scharfe hohe Luft, an winterliche Wanderungen, an Eis und Gebirge in jedem Sinne, es bedürfte dazu einer Art sublimer Bosheit selbst, eines letzten selbstgewissesten Muth|willens der Erkenntniss, welcher zur grossen Gesundheit gehört, es bedürfte, kurz und schlimm genug, eben dieser g r o s s e n G e s u nd he it ! … Ist diese gerade heute auch nur möglich ? … Aber irgendwann, in einer stärkeren Zeit, als diese morsche, selbstzweiflerische Gegenwart ist, muss er uns doch kommen, der e rlö s e nd e Mensch der grossen Liebe und Verachtung, der schöpferische Geist, den seine drängende Kraft aus allem Abseits und Jenseits immer wieder wegtreibt, dessen Einsamkeit vom Volke missverstanden wird, wie als ob sie eine Flucht vor der Wirklichkeit sei – : während sie nur seine Versenkung, Vergrabung‚ Vertiefung i n die Wirklichkeit ist, damit er einst aus ihr, wenn er wieder an’s Licht kommt, die E rlö s u n g dieser Wirklichkeit heimbringe : ihre Erlösung von dem Fluche, den das bisherige Ideal auf sie gelegt hat. Dieser Mensch der Zukunft, der uns ebenso vom bisherigen Ideal erlösen wird, als von dem, w a s au s i h m wac h s e n mu s s t e, vom grossen Ekel, vom Willen zum Nichts, vom Nihilismus‚ dieser Glockenschlag des Mittags und der grossen Entscheidung, der den Willen wieder frei macht, der der Erde ihr Ziel und dem Menschen seine Hoffnung zurückgiebt, dieser Antichrist und Antinihilist, dieser Besieger Gottes und des Nichts – er muss ei nst kom men … 25. – Aber was rede ich da ? Genug ! Genug ! An dieser Stelle geziemt mir nur Eins, zu schweigen : ich vergriffe mich sonst an dem, was einem Jüngeren allein freisteht, einem „Zukünftigeren“, einem Stärkeren, als ich bin, – was allein Z a r at hu s t r a freisteht, Z a r at hu s t r a d e m G ot t lo s e n … |
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Unbekümmert, spöttisch, gewaltthätig – so will u n s die Weisheit : sie ist ein Weib, sie liebt immer nur einen Kriegsmann. A l so s pr ac h Z a r at hu st r a. |
1. Was bedeuten asketische Ideale ? – Bei Künstlern Nichts oder zu Vielerlei ; bei Philosophen und Gelehrten Etwas wie Witterung und Instinkt für die günstigsten Vorbedingungen hoher Geistigkeit ; bei Frauen, besten Falls, eine Liebenswürdigkeit der Verführung m e h r, ein wenig morbidezza auf schönem Fleische, die Engelhaftigkeit eines hübschen fetten Thiers ; bei physiologisch Verunglückten und Verstimmten (bei der Me h r z a h l der Sterblichen) einen Versuch, sich „zu gut“ für diese Welt vorzukommen, eine heilige Form der Ausschweifung‚ ihr Hauptmittel im Kampf mit dem langsamen Schmerz und der Langenweile ; bei Priestern den eigentlichen Priesterglauben, ihr bestes Werkzeug der Macht, auch die „allerhöchste“ Erlaubniss zur Macht ; bei Heiligen endlich einen Vorwand zum Winterschlaf, ihre novissima gloriae cupido, ihre Ruhe im Nichts („Gott“), ihre Form des Irrsinns. D a s s aber überhaupt das asketische Ideal dem Menschen so viel bedeutet hat, darin drückt sich die Grundthatsache des menschlichen Willens aus, sein horror vacui : er br auc ht ei n Zie l, – und eher will er noch d a s N ic ht s wollen, als n ic ht wollen. – Versteht man mich ? … Hat man mich verstanden ? … „ S c h le c ht e r d i n g s n ic ht ! m e i n H e r r ! “ – Fangen wir also von vorne an.
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2. Was bedeuten asketische Ideale ? – Oder, dass ich einen einzelnen Fall nehme, in Betreff dessen ich oft | genug um Rath gefragt worden bin, was bedeutet es zum Beispiel, wenn ein Künstler wie Richard Wagner in seinen alten Tagen der Keuschheit eine Huldigung darbringt ? In einem gewissen Sinne freilich hat er dies immer gethan ; aber erst zu allerletzt in einem asketischen Sinne. Was bedeutet diese „Sinnes“Änderung, dieser radikale Sinnes-Umschlag ? – denn ein solcher war es, Wagner sprang damit geradewegs in seinen Gegensatz um. Was bedeutet es, wenn ein Künstler in seinen Gegensatz umspringt ? … Hier kommt uns, gesetzt, dass wir bei dieser Frage ein wenig Halt machen wollen, alsbald die Erinnerung an die beste, stärkste, frohmüthigste, mut h i gs t e Zeit, welche es vielleicht im Leben Wagner’s gegeben hat : das war damals, als ihn innerlich und tief der Gedanke der Hochzeit Luther’s beschäftigte. Wer weiss, an welchen Zufällen es eigentlich gehangen hat, dass wir heute an Stelle dieser Hochzeits-Musik die Meistersinger besitzen ? Und wie viel in diesen vielleicht noch von jener fortklingt ? Aber keinem Zweifel unterliegt es, dass es sich auch bei dieser „Hochzeit Luther’s“ um ein Lob der Keuschheit gehandelt haben würde. Allerdings auch um ein Lob der Sinnlichkeit : – und gerade so schiene es mir in Ordnung, gerade so wäre es auch „Wagnerisch“ gewesen. Denn zwischen Keuschheit und Sinnlichkeit giebt es keinen nothwendigen Gegensatz ; jede gute Ehe, jede eigentliche Herzensliebschaft ist über diesen Gegensatz hinaus. Wagner hätte, wie mir scheint, wohlgethan, diese a n g e ne h me Thatsächlichkeit seinen Deutschen mit Hülfe einer holden und tapferen Luther-Komödie wieder einmal zu Gemüthe zu führen, denn es giebt und gab unter den Deutschen immer viele Verleumder der Sinnlichkeit ; und Luther’s Verdienst ist vielleicht | in Nichts grösser als gerade darin, den Muth zu seiner Si n n l ic h k e it gehabt zu haben (– man hiess
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sie damals, zart genug, die „evangelische Freiheit“ …). Selbst aber in jenem Falle, wo es wirklich jenen Gegensatz zwischen Keuschheit und Sinnlichkeit giebt, braucht es glück licher Weise noch lange kein tragischer Gegensatz zu sein. Dies dürfte wenigstens für alle wohlgeratheneren, wohlgemutheren Sterblichen gelten, welche ferne davon sind, ihr labiles Gleichgewicht zwischen „Thier und Engel“ ohne Weiteres zu den Gegengründen des Daseins zu rechnen, – die Feinsten und Hellsten, gleich Goethen, gleich Hafis, haben darin sogar einen Lebensreiz me h r gesehn. Solche „Widersprüche“ gerade verführen zum Dasein … Andrerseits versteht es sich nur zu gut, dass wenn einmal die verunglückten Schweine dazu gebracht werden, die Keuschheit anzubeten – und es giebt solche Schweine ! – sie in ihr nur ihren Gegensatz, den Gegensatz zum verunglückten Schweine sehn und anbeten werden – oh mit was für einem tragischen Gegrunz und Eifer ! man kann es sich denken – jenen peinlichen und überflüssigen Gegensatz, den Richard Wagner unbestreitbar am Ende seines Lebens noch hat in Musik setzen und auf die Bühne stellen wollen. Wo z u d o c h ? wie man billig fragen darf. Denn was giengen ihn, was gehen uns die Schweine an ? – 3. Dabei ist freilich jene andre Frage nicht zu umgehn, was ihn eigentlich jene männliche (ach, so unmännliche) „Einfalt vom Lande“ angieng, jener arme Teufel und Naturbursch Parsifal, der von ihm mit so verfänglichen Mitteln schliesslich katholisch gemacht wird – wie ? war dieser Parsifal überhaupt er n st ge|meint ? Man könnte nämlich versucht sein, das Umgekehrte zu muthmaassen‚ selbst zu wünschen, – dass der Wagner’sche Parsifal heiter gemeint sei, gleichsam als Schlussstück und Satyrdrama‚ mit dem der Tragiker Wagner auf eine gerade ihm gebührende und würdige Weise von uns, auch von sich, vor Allem von der Tragöd ie habe Abschied nehmen wollen,
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nämlich mit einem Excess höchster und muthwilligster Parodie auf das Tragische selbst, auf den ganzen schauerlichen Erden-Ernst und Erden-Jammer von Ehedem, auf die endlich überwundene g r ö b s t e For m in der Widernatur des asketischen Ideals. So wäre es, wie gesagt, eines grossen Tragikers gerade würdig gewesen : als welcher, wie jeder Künstler, erst dann auf den letzten Gipfel seiner Grösse kommt, wenn er sich und seine Kunst u nt e r sich zu sehen weiss, – wenn er über sich zu l ac he n weiss. Ist der „Parsifal“ Wagner’s sein heimliches Überlegenheits-Lachen über sich selbst, der Triumph seiner errungenen letzten höchsten Künstler-Freiheit, Künstler-Jenseitigkeit ? Man möchte es, wie gesagt, wünschen : denn was würde der e r n s t g e me i nt e Parsifal sein ? Hat man wirklich nöthig, in ihm (wie man sich gegen mich ausgedrückt hat) „die Ausgeburt eines tollgewordenen Hasses auf Erkenntniss, Geist und Sinnlichkeit“ zu sehn ? Einen Fluch auf Sinne und Geist in Einem Hass und Athem ? Eine Apostasie und Umkehr zu christlich-krankhaften und obskurantistischen Idealen ? Und zuletzt gar ein Sich-selbst-Verneinen, Sich-selbst-Durchstreichen von Seiten eines Künstlers, der bis dahin mit aller Macht seines Willens auf das Umgekehrte, nämlich auf höc hs t e Ver g e i s t i g u n g u nd Ver s i n n l ic hu n g seiner Kunst aus gewesen war ? Und nicht nur seiner Kunst : auch seines Lebens. Man | erinnere sich, wie begeistert seiner Zeit Wagner in den Fusstapfen des Philosophen Feuerbach gegangen ist : Feuerbach’s Wort von der „gesunden Sinnlichkeit“ – das klang in den dreissiger und vierziger Jahren Wagner’n gleich vielen Deutschen (– sie nannten sich die „j u n g e n Deutschen“) wie das Wort der Erlösung. Hat er schliesslich darüber u m g e le r nt ? Da es zum Mindesten scheint, dass er zuletzt den Willen hatte, darüber u m z u le h r e n … Und nicht nur mit den Parsifal-Posaunen von der Bühne herab : – in der trüben, ebenso unfreien als rathlosen Schriftstellerei seiner letzten Jahre giebt es hundert Stellen, in denen sich ein heimlicher
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Wunsch und Wille, ein verzagter, unsicherer, uneingeständlicher Wille verräth, ganz eigentlich Umkehr, Bekehrung, Verneinung, Christenthum, Mittelalter zu predigen und seinen Jüngern zu sagen „es ist Nichts ! Sucht das Heil wo anders !“ Sogar das „Blut des Erlösers“ wird einmal angerufen … 4. Dass ich in einem solchen Falle, der vieles Peinliche hat, meine Meinung sage – und es ist ein t y p i s c he r Fall – : man thut gewiss am besten, einen Künstler in so weit von seinem Werke zu trennen, dass man ihn selbst nicht gleich ernst nimmt wie sein Werk. Er ist zuletzt nur die Vorausbedingung seines Werks, der Mutterschooss, der Boden, unter Umständen der Dünger und Mist, auf dem, aus dem es wächst, – und somit, in den meisten Fällen, Etwas, das man vergessen muss, wenn man sich des Werks selbst erfreuen will. Die Einsicht in die H e r k u n f t eines Werks geht die Physiologen und Vivisektoren des Geistes an : nie und nimmermehr die ästhetischen Menschen, die Artisten ! | Dem Dichter und Ausgestalter des Parsifal blieb ein tiefes, gründliches, selbst schreckliches Hineinleben und Hinabsteigen in mittelalterliche Seelen-Contraste, ein feindseliges Abseits von aller Höhe, Strenge und Zucht des Geistes, eine Art intellektueller Pe r ve r s it ät (wenn man mir das Wort nachsehen will) ebensowenig erspart als einem schwangeren Weibe die Widerlichkeiten und Wunderlichkeiten der Schwangerschaft : als welche man, wie gesagt, ve r g e s s e n muss, um sich des Kindes zu erfreuen. Man soll sich vor der Verwechselung hüten, in welche ein Künstler nur zu leicht selbst geräth, aus psychologischer contiguity, mit den Engländern zu reden : wie als ob er selber das w ä r e, was er darstellen, ausdenken, ausdrücken kann. Thatsächlich steht es so, dass, we n n er eben das wäre, er es schlechterdings nicht darstellen, ausdenken, ausdrücken würde ; ein Homer hätte keinen Achill, ein Goethe keinen Faust gedichtet, wenn
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Homer ein Achill und wenn Goethe ein Faust gewesen wäre. Ein vollkommner und ganzer Künstler ist in alle Ewigkeit von dem „Realen“, dem Wirklichen abgetrennt ; andrerseits versteht man es, wie er an dieser ewigen „Unrealität“ und Falschheit seines innersten Daseins mitunter bis zur Verzweiflung müde werden kann, – und dass er dann wohl den Versuch macht, einmal in das gerade ihm Verbotenste, in’s Wirkliche überzugreifen, wirklich zu s e i n . Mit welchem Erfolge ? Man wird es errathen … Es ist das d ie t y pi sc he Ve l leit ät des Künstlers : dieselbe Velleität, welcher auch der altgewordne Wagner verfiel und die er so theuer, so verhängnissvoll hat büssen müssen (– er verlor durch sie den werthvollen Theil seiner Freunde). Zuletzt aber, noch ganz abgesehn von dieser Velleität, wer möchte nicht überhaupt | wünschen, um Wagner’s selber willen, dass er a nd e r s von uns und seiner Kunst Abschied genommen hätte, nicht mit einem Parsifal, sondern siegreicher, selbstgewisser, Wagnerischer, – weniger irreführend, weniger zweideutig in Bezug auf sein ganzes Wollen, weniger Schopenhauerisch, weniger nihilistisch ? … 5. – Was bedeuten also asketische Ideale ? Im Falle eines Künstlers, wir begreifen es nachgerade : g a r N ic ht s ! … Oder so Vielerlei, dass es so gut ist wie gar Nichts ! … Eliminiren wir zunächst die Künstler : dieselben stehen lange nicht unabhängig genug in der Welt und g e g e n die Welt, als dass ihre Werthschätzungen und deren Wandel a n s ic h Theilnahme verdiente ! Sie waren zu allen Zeiten Kammerdiener einer Moral oder Philosophie oder Religion ; ganz abgesehn noch davon, dass sie leider oft genug die allzugeschmeidigen Höfl inge ihrer Anhänger- und Gönnerschaft und spürnasige Schmeichler vor alten oder eben neu heraufkommenden Gewalten gewesen sind. Zum Mindesten brauchen sie immer eine Schutzwehr, einen Rückhalt, eine bereits begründete Autorität : die
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Künstler stehen nie für sich, das Alleinstehn geht wider ihre tiefsten Instinkte. So nahm zum Beispiel Richard Wagner den Philosophen Schopenhauer, als „die Zeit gekommen war“, zu seinem Vordermann, zu seiner Schutzwehr : – wer möchte es auch nur für denkbar halten, dass er den Mut h zu einem asketischen Ideal gehabt hätte, ohne den Rückhalt, den ihm die Philosophie Schopenhauer’s bot, ohne die in den siebziger Jahren in Europa z u m Ü b e r g ew ic ht gelangende Autorität Schopenhauer’s ? (dabei noch nicht in An|schlag gebracht, ob im neue n Deutschland ein Künstler ohne die Milch frommer, reichsfrommer Denkungsart überhaupt möglich gewesen wäre). – Und damit sind wir bei der ernsthafteren Frage angelangt : was bedeutet es, wenn ein wirklicher Ph i lo s o ph dem asketischen Ideale huldigt, ein wirklich auf sich gestellter Geist wie Schopenhauer, ein Mann und Ritter mit erzenem Blick, der den Muth zu sich selber hat, der allein zu stehn weiss und nicht erst auf Vordermänner und höhere Winke wartet ? – Erwägen wir hier sofort die merkwürdige und für manche Art Mensch selbst fascinirende Stellung Schopenhauer’s zur K u n s t : denn sie ist es ersichtlich gewesen, um derentwillen z u n äc h s t Richard Wagner zu Schopenhauern übertrat (überredet dazu durch einen Dichter, wie man weiss, durch Herwegh), und dies bis zu dem Maasse, dass sich damit ein vollkommner theoretischer Widerspruch zwischen seinem früheren und seinem späteren ästhetischen Glauben aufriss, – ersterer zum Beispiel in „Oper und Drama“ ausgedrückt, letzterer in den Schriften, die er von 1870 an herausgab. In Sonderheit änderte Wagner, was vielleicht am meisten befremdet, von da an rücksichtslos sein Urtheil über Werth und Stellung der Mu s i k selbst : was lag ihm daran, dass er bisher aus ihr ein Mittel, ein Medium, ein „Weib“ gemacht hatte, das schlechterdings eines Zweckes, eines Manns bedürfe um zu gedeihn – nämlich des Drama’s ! Er begriff mit Einem Male, dass mit der Schopenhauer’schen Theorie und Neuerung m e h r zu
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machen sei in majorem musicae gloriam, – nämlich mit der S ouve r a i net ät der Musik, so wie sie Schopenhauer begriff : die Musik abseits gestellt gegen alle übrigen Künste, die unabhängige Kunst an sich, n ic ht , wie diese, Abbilder der Phänomenalität | bietend, vielmehr die Sprache d e s Willens selbst redend, unmittelbar aus dem „Abgrunde“ heraus, als dessen eigenste‚ ursprünglichste, unabgeleitetste Offenbarung. Mit dieser ausserordentlichen Werthsteigerung der Musik, wie sie aus der Schopenhauer’schen Philosophie zu erwachsen schien, stieg mit Einem Male auch d e r Mu s i k e r selbst unerhört im Preise : er wurde nunmehr ein Orakel, ein Priester, ja mehr als ein Priester, eine Art Mundstück des „An-sich“ der Dinge, ein Telephon des Jenseits, – er redete fürderhin nicht nur Musik, dieser Bauchredner Gottes, – er redete Metaphysik : was Wunder, dass er endlich eines Tags a s k et i s c he Id e a le redete ? … 6. Schopenhauer hat sich die Kantische Fassung des ästhetischen Problems zu Nutze gemacht, – obwohl er es ganz gewiss nicht mit Kantischen Augen angeschaut hat. Kant gedachte der Kunst eine Ehre zu erweisen, als er unter den Prädikaten des Schönen diejenigen bevorzugte und in den Vordergrund stellte, welche die Ehre der Erkenntniss ausmachen : Unpersönlichkeit und Allgemeingültigkeit. Ob dies nicht in der Hauptsache ein Fehlgriff war, ist hier nicht am Orte zu verhandeln ; was ich allein unterstreichen will, ist, dass Kant, gleich allen Philosophen, statt von den Erfahrungen des Künstlers (des Schaffenden) aus das ästhetische Problem zu visiren, allein vom „Zuschauer“ aus über die Kunst und das Schöne nachgedacht und dabei unvermerkt den „Zuschauer“ selber in den Begriff „schön“ hinein bekommen hat. Wäre aber wenigstens nur dieser „Zuschauer“ den Philosophen des Schönen ausreichend bekannt gewesen ! – nämlich als eine grosse p e r s ön l ic he Thatsache und Erfahrung, als eine Fülle
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eigen|ster starker Erlebnisse, Begierden, Überraschungen, Entzückungen auf dem Gebiete des Schönen ! Aber das Gegentheil war, wie ich fürchte, immer der Fall : und so bekommen wir denn von ihnen gleich von Anfang an Defi nitionen, in denen, wie in jener berühmten Defi nition, die Kant vom Schönen giebt, der Mangel an feinerer Selbst-Erfahrung in Gestalt eines dicken Wurms von Grundirrthum sitzt. „Schön ist, hat Kant gesagt, was oh ne I nt e r e s s e gefällt.“ Ohne Interesse ! Man vergleiche mit dieser Defi nition jene andre, die ein wirklicher „Zuschauer“ und Artist gemacht hat – Stendhal‚ der das Schöne einmal une promesse de bonheur nennt. Hier ist jedenfalls gerade Das a bg e le h nt und ausgestrichen, was Kant allein am ästhetischen Zustande hervorhebt : le désinteressement. Wer hat Recht, Kant oder Stendhal ? – Wenn freilich unsre Aesthetiker nicht müde werden, zu Gunsten Kant’s in die Wagschale zu werfen, dass man unter dem Zauber der Schönheit s og a r gewandlose weibliche Statuen „ohne Interesse“ anschauen könne, so darf man wohl ein wenig auf ihre Unkosten lachen : – die Erfahrungen der K ü n s t le r sind in Bezug auf diesen heiklen Punkt „interessanter“, und Pygmalion war jedenfalls n ic ht nothwendig ein „unästhetischer Mensch“. Denken wir um so besser von der Unschuld unsrer Aesthetiker, welche sich in solchen Argumenten spiegelt, rechnen wir es zum Beispiel Kanten zu Ehren an, was er über das Eigenthümliche des Tastsinns mit landpfarrermässiger Naivetät zu lehren weiss ! – Und hier kommen wir auf Schopenhauer zurück, der in ganz andrem Maasse als Kant den Künsten nahestand und doch nicht aus dem Bann der Kantischen Defi nition herausgekommen ist : wie kam das ? Der Umstand ist wunderlich genug : | das Wort „ohne Interesse“ interpretirte er sich in der allerpersönlichsten Weise, aus einer Erfahrung heraus, die bei ihm zu den regelmässigsten gehört haben muss. Über wenig Dinge redet Schopenhauer so sicher wie über die Wirkung der ästhetischen Contemplation : er
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sagt ihr nach, dass sie gerade der g e s c h le c ht l ic he n „Interessirtheit“ entgegenwirke, ähnlich also wie Lupulin und Kampher, er ist nie müde geworden, d ie s e s Loskommen vom „Willen“ als den grossen Vorzug und Nutzen des ästhetischen Zustandes zu verherrlichen. Ja man möchte versucht sein zu fragen, ob nicht seine Grundconception von „Willen und Vorstellung“, der Gedanke, dass es eine Erlösung vom „Willen“ einzig durch die „Vorstellung“ geben könne, aus einer Verallgemeinerung jener Sexual-Erfahrung ihren Ursprung genommen habe. (Bei allen Fragen in Betreff der Schopenhauer’schen Philosophie ist, anbei bemerkt, niemals ausser Acht zu lassen, dass sie die Conception eines sechsundzwanzigjährigen Jünglings ist ; so dass sie nicht nur an dem Spezifischen Schopenhauer’s, sondern auch an dem Spezifischen jener Jahreszeit des Lebens Antheil hat.) Hören wir zum Beispiel eine der ausdrücklichsten Stellen unter den zahllosen, die er zu Ehren des ästhetischen Zustandes geschrieben hat (Welt als Wille und Vorstellung I 231), hören wir den Ton heraus, das Leiden, das Glück, die Dankbarkeit, mit der solche Worte gesprochen worden sind. „Das ist der schmerzenslose Zustand, den Epikuros als das höchste Gut und als den Zustand der Götter pries ; wir sind, für jenen Augenblick, des schnöden Willensdranges entledigt, wir feiern den Sabbat der Zuchthausarbeit des Wollens, das Rad des Ixion steht still“ … Welche Vehemenz der Worte ! Welche Bilder der Qual und | des langen Überdrusses ! Welche fast pathologische Zeit-Gegenüberstellung „jenes Augenblicks“ und des sonstigen „Rads des Ixion“, der „Zuchthausarbeit des Wollens“, des „schnöden Willensdrangs“ ! – Aber gesetzt, dass Schopenhauer hundert Mal für seine Person Recht hätte, was wäre damit für die Einsicht in’s Wesen des Schönen gethan ? Schopenhauer hat Eine Wirkung des Schönen beschrieben, die willen-calmirende, – ist sie auch nur eine regelmässige ? Stendhal, wie gesagt, eine nicht weniger sinnliche, aber glücklicher gerathene Natur als
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Schopenhauer, hebt eine andre Wirkung des Schönen hervor : „das Schöne ve r s p r ic ht Glück“, ihm scheint gerade die E r r e g u n g d e s W i l le n s („des Interesses“) durch das Schöne der Thatbestand. Und könnte man nicht zuletzt Schopenhauern selber einwenden, dass er sehr mit Unrecht sich hierin Kantianer dünke, dass er ganz und gar nicht die Kantische Defi nition des Schönen Kantisch verstanden habe, – dass auch ihm das Schöne aus einem „Interesse“ gefalle, sogar aus dem allerstärksten, allerpersönlichsten Interesse : dem des Torturirten, der von seiner Tortur loskommt ? … Und, um auf unsre erste Frage zurückzukommen „was b e d eut et es, wenn ein Philosoph dem asketischen Ideale huldigt ?“, so bekommen wir hier wenigstens einen ersten Wink : er will vo n e i ne r Tor t u r lo s k om me n . – 7. Hüten wir uns, bei dem Wort „Tortur“ gleich düstere Gesichter zu machen : es bleibt gerade in diesem Falle genug dagegen zu rechnen, genug abzuziehn, – es bleibt selbst etwas zu lachen. Unterschätzen wir es namentlich nicht, dass Schopenhauer, der die Ge|schlechtlichkeit in der That als persönlichen Feind behandelt hat (einbegriffen deren Werkzeug, das Weib, dieses „instrumentum diaboli“), Feinde nöt h i g hatte, um guter Dinge zu bleiben ; dass er die grimmigen galligen schwarzgrünen Worte liebte ; dass er zürnte, um zu zürnen‚ aus Passion ; dass er krank geworden wäre, Pe s s i m i s t geworden wäre (– denn er war es nicht, so sehr er es auch wünschte) ohne seine Feinde, ohne Hegel, das Weib, die Sinnlichkeit und den ganzen Willen zum Dasein, Dableiben. Schopenhauer wäre sonst n ic ht dageblieben, darauf darf man wetten, er wäre davongelaufen : seine Feinde aber hielten ihn fest, seine Feinde verführten ihn immer wieder zum Dasein, sein Zorn war, ganz wie bei den antiken Cynikern, sein Labsal, seine Erholung, sein Entgelt, sein remedium gegen den Ekel, sein G l ü c k . So viel in Hinsicht auf das Persönlichste am
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Fall Schopenhauer’s ; andrerseits ist an ihm noch etwas Typisches, – und hier erst kommen wir wieder auf unser Problem. Es besteht unbestreitbar, so lange es Philosophen auf Erden giebt und überall, wo es Philosophen gegeben hat (von Indien bis England, um die entgegengesetzten Pole der Begabung für Philosophie zu nehmen) eine eigentliche Philosophen-Gereiztheit und -Rancune gegen die Sinnlichkeit – Schopenhauer ist nur deren beredtester und, wenn man das Ohr dafür hat, auch hinreissendster und entzückendster Ausbruch – ; es besteht insgleichen eine eigent liche Philosophen-Voreingenommenheit und -Herzlichkeit in Bezug auf das ganze asketische Ideal, darüber und dagegen soll man sich nichts vor machen. Beides gehört, wie gesagt, zum Typus ; fehlt Beides an einem Philosophen, so ist er – dessen sei man sicher – immer nur ein „sogenannter“. Was b e d eut et das ? | Denn man muss diesen Thatbestand erst interpretiren : a n s ic h steht er da dumm in alle Ewigkeit, wie jedes „Ding an sich“. Jedes Thier, somit auch la bête philosophe, strebt instinktiv nach einem Optimum von günstigen Bedingungen, unter denen es seine Kraft ganz herauslassen kann und sein Maximum im Machtgefühl erreicht ; jedes Thier perhorreszirt ebenso instinktiv und mit einer Feinheit der Witterung, die „höher ist als alle Vernunft“, alle Art Störenfriede und Hindernisse, die sich ihm über diesen Weg zum Optimum legen oder legen könnten (– es ist n ic ht sein Weg zum „Glück“, von dem ich rede, sondern sein Weg zur Macht, zur That, zum mächtigsten Thun, und in den meisten Fällen thatsächlich sein Weg zum Unglück). Dergestalt perhorreszirt der Philosoph die E he sammt dem, was zu ihr über reden möchte, – die Ehe als Hinderniss und Verhängniss auf seinem Wege zum Optimum. Welcher grosse Philosoph war bisher verheirathet ? Heraklit, Plato, Descartes, Spinoza, Leibniz, Kant, Schopenhauer – sie waren es nicht ; mehr noch, man kann sie sich nicht einmal d e n k e n als verheirathet. Ein verheiratheter Philosoph gehört i n d ie K omö d ie,
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das ist mein Satz : und jene Ausnahme Sokrates, der boshafte Sokrates hat sich, scheint es, ironice verheirathet‚ eigens um gerade d ie s e n Satz zu demonstriren. Jeder Philosoph würde sprechen, wie einst Buddha sprach, als ihm die Geburt eines Sohnes gemeldet wurde : „Râhula ist mir geboren, eine Fessel ist mir geschmiedet“ (Râhula bedeutet hier „ein kleiner Dämon“) ; jedem „freien Geiste“ müsste eine nachdenkliche Stunde kommen, gesetzt, dass er vorher eine gedankenlose gehabt hat, wie sie einst demselben Buddha kam – „eng bedrängt, dachte er bei sich, ist das Le|ben im Hause, eine Stätte der Unreinheit ; Freiheit ist ein Verlassen des Hauses“ : „dieweil er also dachte, verliess er das Haus“. Es sind im asketischen Ideale so viele Brücken zur Un a bh ä n g i g k e it angezeigt, dass ein Philosoph nicht ohne ein innerliches Frohlocken und Händeklatschen die Geschichte aller jener Entschlossnen zu hören vermag, welche eines Tages Nein sagten zu aller Unfreiheit und in irgend eine Wü s t e giengen : gesetzt selbst, dass es bloss starke Esel waren und ganz und gar das Gegenstück eines starken Geistes. Was bedeutet demnach das asketische Ideal bei einem Philosophen ? Meine Antwort ist – man wird es längst errathen haben : der Philosoph lächelt bei seinem Anblick einem Optimum der Bedingungen höchster und kühnster Geistigkeit zu, – er verneint n ic ht damit „das Dasein“, er bejaht darin vielmehr s e i n Dasein und nu r sein Dasein, und dies vielleicht bis zu dem Grade, dass ihm der frevelhafte Wunsch nicht fern bleibt : pereat mundus, fiat philosophia, fiat philosophus, f i a m ! … 8. Man sieht, das sind keine unbestochnen Zeugen und Richter über den We r t h des asketischen Ideals, diese Philosophen ! Sie denken an s ic h , – was geht sie „der Heilige“ an ! Sie denken an Das dabei, was i h ne n gerade das Unentbehrlichste ist : Freiheit von Zwang, Störung, Lärm, von Geschäften, Pfl ichten, Sorgen ; Helligkeit im Kopf ; Tanz, Sprung und Flug der
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Gedanken ; eine gute Luft, dünn, klar, frei, trocken, wie die Luft auf Höhen ist, bei der alles animalische Sein geistiger wird und Flügel bekommt ; Ruhe in allen Souterrains ; alle Hunde hübsch an die Kette gelegt ; kein Gebell von Feindschaft und zotteliger Ran|cune ; keine Nagewürmer verletzten Ehrgeizes ; bescheidene und unterthänige Eingeweide, fleissig wie Mühlwerke, aber fern ; das Herz fremd, jenseits, zukünftig, posthum, – sie denken, Alles in Allem, bei dem asketischen Ideal an den heiteren Ascetismus eines vergöttlichten und flügge gewordnen Thiers, das über dem Leben mehr schweift als ruht. Man weiss‚ was die drei grossen Prunkworte des asketischen Ideals sind : Armuth, Demuth, Keuschheit : und nun sehe man sich einmal das Leben aller grossen fruchtbaren erfi nderischen Geister aus der Nähe an, – man wird darin alle drei bis zu einem gewissen Grade immer wiederfi nden. Durchaus n ic ht , wie sich von selbst versteht, als ob es etwa deren „Tugenden“ wären – was hat diese Art Mensch mit Tugenden zu schaffen ! – sondern als die eigentlichsten und natürlichsten Bedingungen ihres b e s t e n Daseins, ihrer s c hön s t e n Fruchtbarkeit. Dabei ist es ganz wohl möglich, dass ihre dominirende Geistigkeit vorerst einem unbändigen und reizbaren Stolze oder einer muthwilligen Sinnlichkeit Zügel anzulegen hatte oder dass sie ihren Willen zur „Wüste“ vielleicht gegen einen Hang zum Luxus und zum Ausgesuchtesten, insgleichen gegen eine verschwenderische Liberalität mit Herz und Hand schwer genug aufrecht erhielt. Aber sie that es, eben als der d o m i n i r e n d e Instinkt, der seine Forderungen bei allen andren Instinkten durchsetzte – sie thut es noch ; thäte sie’s nicht, so dominirte sie eben nicht. Daran ist also nichts von „Tugend“. Die Wü s t e übrigens, von welcher ich eben sprach, in die sich die starken, unabhängig gearteten Geister zurückziehn und vereinsamen – oh wie anders sieht sie aus, als die Gebildeten sich eine Wüste träumen ! – unter Umständen sind sie es nämlich selbst, | diese
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Gebildeten. Und gewiss ist es, dass alle Schauspieler des Geistes es schlechterdings nicht in ihr aushielten, – für sie ist sie lange nicht romantisch und syrisch genug, lange nicht Theater-Wüste genug ! Es fehlt allerdings auch in ihr nicht an Kameelen : darauf aber beschränkt sich die ganze Ähnlichkeit. Eine willkürliche Obskurität vielleicht ; ein Aus-dem-WegeGehn vor sich selber ; eine Scheu vor Lärm, Verehrung, Zeitung, Einfluss ; ein kleines Amt, ein Alltag, Etwas, das mehr verbirgt als an’s Licht stellt ; ein Umgang gelegentlich mit harmlosem heitren Gethier und Geflügel, dessen Anblick erholt ; ein Gebirge zur Gesellschaft, aber kein todtes, eins mit A u g e n (das heisst mit Seen) ; unter Umständen selbst ein Zimmer in einem vollen Allerwelts-Gasthof, wo man sicher ist, verwechselt zu werden, und ungestraft mit Jedermann reden kann, – das ist hier „Wüste“ : oh sie ist einsam genug, glaubt es mir ! Wenn Heraklit sich in die Freihöfe und Säulengänge des ungeheuren Artemis-Tempels zurückzog, so war diese „Wüste“ würdiger, ich gebe es zu : weshalb f e h le n uns solche Tempel ? (– sie fehlen uns vielleicht n ic ht : eben gedenke ich meines schönsten Studirzimmers, der Piazza di San Marco, Frühling vorausgesetzt, insgleichen Vormittag, die Zeit zwischen 10 und 12.) Das aber, dem Heraklit auswich, ist das Gleiche noch, dem w i r jetzt aus dem Wege gehn : der Lärm und das Demokraten-Geschwätz der Ephesier, ihre Politik, ihre Neuigkeiten vom „Reich“ (Persien, man versteht mich), ihr Markt-Kram von „Heute“, – denn wir Philosophen brauchen zu allererst vor Einem Ruhe : vor allem „Heute“. Wir verehren das Stille, das Kalte, das Vornehme, das Ferne, das Vergangne, Jegliches überhaupt, bei dessen Aspekt die Seele sich | nicht zu vertheidigen und zuzuschnüren hat, – Etwas, mit dem man reden kann, ohne l aut zu reden. Man höre doch nur auf den Klang, den ein Geist hat, wenn er redet : jeder Geist hat seinen Klang, liebt seinen Klang. Das dort zum Beispiel muss wohl ein Agitator sein, will sagen ein Hohlkopf,
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Hohltopf : was auch nur in ihn hineingeht, jeglich Ding kommt dumpf und dick aus ihm zurück, beschwert mit dem Echo der grossen Leere. Jener dort spricht selten anders als heiser : hat er sich vielleicht heiser g e d ac ht ? Das wäre möglich – man frage die Physiologen –‚ aber wer in Wo r t e n denkt, denkt als Redner und nicht als Denker (es verräth, dass er im Grunde nicht Sachen, nicht sachlich denkt, sondern nur in Hinsicht auf Sachen, dass er eigentlich s ic h und seine Zuhörer denkt). Dieser Dritte da redet aufdringlich, er tritt zu nahe uns an den Leib, sein Athem haucht uns an, – unwillkürlich schliessen wir den Mund, obwohl es ein Buch ist, durch das er zu uns spricht : der Klang seines Stils sagt den Grund davon, – dass er keine Zeit hat, dass er schlecht an sich selber glaubt, dass er heute oder niemals mehr zu Worte kommt. Ein Geist aber, der seiner selbst gewiss ist, redet leise ; er sucht die Verborgenheit‚ er lässt auf sich warten. Man erkennt einen Philosophen daran, dass er drei glänzenden und lauten Dingen aus dem Wege geht, dem Ruhme, den Fürsten und den Frauen : womit nicht gesagt ist, dass sie nicht zu ihm kämen. Er scheut allzuhelles Licht : deshalb scheut er seine Zeit und deren „Tag“. Darin ist er wie ein Schatten : je mehr ihm die Sonne sinkt, um so grösser wird er. Was seine „Demuth“ angeht, so verträgt er, wie er das Dunkel verträgt, auch eine gewisse Abhängigkeit und Verdunkelung : mehr noch, er | fürchtet sich vor der Störung durch Blitze, er schreckt vor der Ungeschütztheit eines allzu isolirten und preisgegebenen Baums zurück, an dem jedes schlechte Wetter seine Laune, jede Laune ihr schlechtes Wetter auslässt. Sein „mütterlicher“ Instinkt, die geheime Liebe zu dem, was in ihm wächst, weist ihn auf Lagen hin, wo man es ihm abnimmt, a n s ic h zu denken ; in gleichem Sinne, wie der Instinkt der Mu t t e r im Weibe die abhängige Lage des Weibes überhaupt bisher festgehalten hat. Sie verlangen zuletzt wenig genug, diese Philosophen, ihr Wahlspruch ist „wer besitzt, wird besessen“ – :
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n ic ht , wie ich wieder und wieder sagen muss, aus einer Tugend, aus einem verdienstlichen Willen zur Genügsamkeit und Einfalt, sondern weil es ihr oberster Herr s o von ihnen verlangt, klug und unerbittlich verlangt : als welcher nur für Eins Sinn hat und Alles, Zeit, Kraft, Liebe, Interesse nur dafür sammlet, nur dafür aufspart. Diese Art Mensch liebt es nicht, durch Feindschaften gestört zu werden, auch durch Freundschaften nicht : sie vergisst oder verachtet leicht. Es dünkt ihr ein schlechter Geschmack, den Märtyrer zu machen ; „für die Wahrheit zu le id e n“ – das überlässt sie den Ehrgeizigen und Bühnenhelden des Geistes und wer sonst Zeit genug dazu hat (– sie selbst, die Philosophen, haben Etwas für die Wahrheit zu t hu n). Sie machen einen sparsamen Verbrauch von grossen Worten ; man sagt, dass ihnen selbst das Wort „Wahrheit“ widerstehe : es klinge grossthuerisch … Was endlich die „Keuschheit“ der Philosophen anbelangt, so hat diese Art Geist ihre Fruchtbarkeit ersichtlich wo anders als in Kindern ; vielleicht wo anders auch das Fortleben ihres Namens, ihre kleine Unsterblichkeit (noch unbescheidener drückte man sich im alten | Indien unter Philosophen aus „wozu Nachkommenschaft Dem, dessen Seele die Welt ist ?“). Darin ist Nichts von Keuschheit aus irgend einem asketischen Skrupel und Sinnenhass, so wenig es Keuschheit ist, wenn ein Athlet oder Jockey sich der Weiber enthält : so will es vielmehr, zum Mindesten für die Zeiten der grossen Schwangerschaft, ihr domi nirender Instinkt. Jeder Artist weiss, wie schädlich in Zuständen grosser geistiger Spannung und Vorbereitung der Beischlaf wirkt ; für die mächtigsten und instinktsichersten unter ihnen gehört dazu nicht erst die Erfahrung, die schlimme Erfahrung, – sondern eben ihr „mütterlicher“ Instinkt ist es, der hier zum Vortheil des werdenden Werkes rücksichtslos über alle sonstigen Vorräthe und Zuschüsse von Kraft, von vigor des animalen Lebens verfügt : die grössere Kraft ve r b r au c h t dann die kleinere. – Man lege sich übrigens den
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oben besprochenen Fall Schopenhauer’s nach dieser Interpretation zurecht : der Anblick des Schönen wirkte offenbar bei ihm als auslösender Reiz auf die H au pt k r a f t seiner Natur (die Kraft der Besinnung und des vertieften Blicks) ; so dass diese dann explodirte und mit Einem Male Herr des Bewusstseins wurde. Damit soll durchaus die Möglichkeit nicht ausgeschlossen sein, dass jene eigenthümliche Süssigkeit und Fülle, die dem ästhetischen Zustande eigen ist, gerade von der Ingredienz „Sinnlichkeit“ ihre Herkunft nehmen könnte, (wie aus derselben Quelle jener „Idealismus“ stammt, der mannbaren Mädchen eignet) – dass somit die Sinnlichkeit beim Eintritt des ästhetischen Zustandes nicht aufgehoben ist, wie Schopenhauer glaubte, sondern sich nur transfigurirt und nicht als Geschlechtsreiz mehr in’s Bewusstsein tritt. (Auf diesen Gesichtspunkt werde ich ein | andres Mal zurückkommen, im Zusammenhang mit noch delikateren Problemen der bisher so unberührten, so unaufgeschlossenen Phy s iolog ie d e r Ä s t het i k .) 9. Ein gewisser Ascetismus‚ wir sahen es, eine harte und heitere Entsagsamkeit besten Willens gehört zu den günstigen Bedingungen höchster Geistigkeit, insgleichen auch zu deren natürlichsten Folgen : so wird es von vornherein nicht Wunder nehmen, wenn das asketische Ideal gerade von den Philosophen nie ohne einige Voreingenommenheit behandelt worden ist. Bei einer ernsthaften historischen Nachrechnung erweist sich sogar das Band zwischen asketischem Ideal und Philosophie als noch viel enger und strenger. Man könnte sagen, dass erst am G ä n g e l b a nd e dieses Ideals die Philosophie überhaupt gelernt habe, ihre ersten Schritte und Schrittchen auf Erden zu machen – ach, noch so ungeschickt, ach, mit noch so verdrossnen Mienen, ach, so bereit, umzufallen und auf dem Bauch zu liegen, dieser kleine schüchterne Tapps und Zärtling mit krummen Beinen ! Es ist der Philosophie
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anfangs ergangen wie allen guten Dingen, – sie hatten lange keinen Muth zu sich selber, sie sahen sich immer um, ob ihnen Niemand zu Hülfe kommen wolle, mehr noch, sie fürchteten sich vor Allen, die ihnen zusahn. Man rechne sich die einzelnen Triebe und Tugenden des Philosophen der Reihe nach vor – seinen anzweifelnden Trieb, seinen verneinenden Trieb, seinen abwartenden („ephektischen“) Trieb, seinen analytischen Trieb, seinen forschenden, suchenden, wagenden Trieb, seinen vergleichenden, ausgleichenden Trieb, seinen Willen zu Neutralität und Objektivität, seinen Willen | zu jedem „ s i ne ira et studio“ – : hat man wohl schon begriffen, dass sie allesammt die längste Zeit den ersten Forderungen der Moral und des Gewissens entgegen giengen ? (gar nicht zu reden von der Ve r nu n f t überhaupt, welche noch Luther Fraw Klüglin die kluge Hur zu nennen liebte.) Dass ein Philosoph, falls er sich zum Bewusstsein gekommen w ä r e, sich geradezu als das leibhafte „nitimur in vet it u m“ hätte fühlen müssen – und sich folglich hüt et e, „sich zu fühlen“, sich zum Bewusstsein zu kommen ? … Es steht, wie gesagt, nicht anders mit allen guten Dingen, auf die wir heute stolz sind ; selbst noch mit dem Maasse der alten Griechen gemessen, nimmt sich unser ganzes modernes Sein, soweit es nicht Schwäche, sondern Macht und Machtbewusstsein ist, wie lauter Hybris und Gottlosigkeit aus : denn gerade die umgekehrten Dinge, als die sind, welche wir heute verehren, haben die längste Zeit das Gewissen auf ihrer Seite und Gott zu ihrem Wächter gehabt. Hybris ist heute unsre ganze Stellung zur Natur, unsre Natur-Vergewaltigung mit Hülfe der Maschinen und der so unbedenklichen Techniker- und Ingenieur-Erfi ndsamkeit ; Hybris ist unsre Stellung zu Gott, will sagen zu irgend einer angeblichen Zweck- und Sittlichkeits-Spinne hinter dem grossen Fangnetz-Gewebe der Ursächlichkeit – wir dürften wie Karl der Kühne im Kampfe mit Ludwig dem Elften sagen „je combats l’universelle araignée“ – ; Hybris ist unsre Stellung zu
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u n s , – denn wir experimentiren mit uns, wie wir es uns mit keinem Thiere erlauben würden und schlitzen uns vergnügt und neugierig die Seele bei lebendigem Leibe auf : was liegt uns noch am „Heil“ der Seele ! Hinterdrein heilen wir uns selber : Kranksein ist lehrreich, | wir zweifeln nicht daran, lehrreicher noch als Gesundsein, – die K r a n k m ac he r scheinen uns heute nöthiger selbst als irgend welche Medizinmänner und „Heilande“. Wir vergewaltigen uns jetzt selbst, es ist kein Zweifel, wir Nussknacker der Seele, wir Fragenden und Fragwürdigen, wie als ob Leben nichts Anderes sei, als Nüsseknacken ; ebendamit müssen wir nothwendig täglich immer noch fragwürdiger, w ü r d i g e r zu fragen werden, ebendamit vielleicht auch würdiger – zu leben ? … Alle guten Dinge waren ehemals schlimme Dinge ; aus jeder Erbsünde ist eine Erbtugend geworden. Die Ehe zum Beispiel schien lange eine Versündigung am Rechte der Gemeinde ; man hat einst Busse dafür gezahlt, so unbescheiden zu sein und sich ein Weib für sich anzumaassen (dahin gehört zum Beispiel das jus primae noctis, heute noch in Cambodja das Vorrecht der Priester, dieser Bewahrer „alter guter Sitten“). Die sanften, wohlwollenden, nachgiebigen‚ mitleidigen Gefühle – nachgerade so hoch im Werthe, dass sie fast „die Werthe an sich“ sind – hatten die längste Zeit gerade die Selbstverachtung gegen sich : man schämte sich der Milde, wie man sich heute der Härte schämt (vergl. „Jenseits von Gut und Böse“ S. 232). Die Unterwerfung unter das R e c ht : – oh mit was für Gewissens-Widerstande haben die vornehmen Geschlechter überall auf Erden ihrerseits Verzicht auf Vendetta geleistet und dem Recht über sich Gewalt eingeräumt ! Das „Recht“ war lange ein vetitum, ein Frevel, eine Neuerung, es trat mit Gewalt auf, a l s Gewalt, der man sich nur mit Scham vor sich selber fügte. Jeder kleinste Schritt auf der Erde ist ehedem mit geistigen und körperlichen Martern erstritten worden : dieser ganze Gesichtspunkt, „dass nicht nur das Vorwärtsschreiten, nein ! | das Schreiten, die
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Bewegung, die Veränderung ihre unzähligen Märtyrer nöthig gehabt hat“, klingt gerade heute uns so fremd, – ich habe ihn in der „Morgenröthe“ S. 17 ff. an’s Licht gestellt. „Nichts ist theurer erkauft, heisst es daselbst S. 19, als das Wenige von menschlicher Vernunft und vom Gefühle der Freiheit, was jetzt unsern Stolz ausmacht. Dieser Stolz aber ist es, dessentwegen es uns jetzt fast unmöglich wird, mit jenen ungeheuren Zeitstrecken der „Sittlichkeit der Sitte“ zu empfi nden, welche der „Weltgeschichte“ vorausliegen, als die wirkliche und entscheidende Hauptgeschichte‚ welche den Charakter der Menschheit festgestellt hat : wo das Leiden als Tugend, die Grausamkeit als Tugend, die Verstellung als Tugend, die Rache als Tugend, die Verleugnung der Vernunft als Tugend, dagegen das Wohlbefi nden als Gefahr, die Wissbegierde als Gefahr, der Friede als Gefahr, das Mitleiden als Gefahr, das Bemitleidetwerden als Schimpf, die Arbeit als Schimpf, der Wahnsinn als Göttlichkeit, die Ve r ä nd e r u n g als das Unsittliche und Verderbenschwangere an sich überall in Geltung war !“ – 10. In demselben Buche S. 39 ist auseinandergesetzt, in welcher Schätzung, unter welchem D r uc k von Schätzung das älteste Geschlecht contemplativer Menschen zu leben hatte, – genau so weit verachtet als es nicht gefürchtet wurde ! Die Contemplation ist in vermummter Gestalt, in einem zweideutigen Ansehn, mit einem bösen Herzen und oft mit einem geängstigten Kopfe zuerst auf der Erde erschienen : daran ist kein Zweifel. Das Inaktive, Brütende, Unkriegerische in den Instinkten contemplativer Menschen legte lange | ein tiefes Misstrauen um sie herum : dagegen gab es kein anderes Mittel als entschieden F u r c ht vor sich erwecken. Und darauf haben sich zum Beispiel die alten Brahmanen verstanden ! Die ältesten Philosophen wussten ihrem Dasein und Erscheinen einen Sinn, einen Halt und Hintergrund zu geben, auf den
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hin man sie f ü r c ht e n lernte : genauer erwogen, aus einem noch fundamentaleren Bedürfnisse heraus, nämlich um vor sich selbst Furcht und Ehrfurcht zu gewinnen. Denn sie fanden in sich alle Werthurtheile g e g e n sich gekehrt, sie hatten gegen „den Philosophen in sich“ jede Art Verdacht und Widerstand niederzukämpfen. Dies thaten sie, als Menschen furchtbarer Zeitalter, mit furchtbaren Mitteln : die Grausamkeit gegen sich, die erfi nderische Selbstkasteiung – das war das Hauptmittel dieser machtdurstigen Einsiedler und GedankenNeuerer, welche es nöthig hatten, in sich selbst erst die Götter und das Herkömmliche zu vergewaltigen, um selbst an ihre Neuerung g l aub e n zu können. Ich erinnere an die berühmte Geschichte des Königs Viçvamitra, der aus tausendjährigen Selbstmarterungen ein solches Machtgefühl und Zutrauen zu sich gewann, dass er es unternahm, einen neue n H i m me l zu bauen : das unheimliche Symbol der ältesten und jüngsten Philosophen-Geschichte auf Erden, – Jeder, der irgendwann einmal einen „neuen Himmel“ gebaut hat, fand die Macht dazu erst in der e i g n e n Höl le … Drücken wir den ganzen Thatbestand in kurze Formeln zusammen : der philosophische Geist hat sich zunächst immer in die f r ü he r f e s tg e s t e l lt e n Typen des contemplativen Menschen verkleiden und verpuppen müssen, als Priester, Zauberer, Wahrsager, überhaupt als religiöser Mensch, um in irgend einem Maasse auch nur | mög l ic h z u s e i n : d a s a s k et i s c he Id e a l hat lange Zeit dem Philosophen als Erscheinungsform, als Existenz-Voraussetzung gedient, – er musste es d a r s t e l l e n , um Philosoph sein zu können, er musste an dasselbe g l aub e n , um es darstellen zu können. Die eigenthümlich weltverneinende, lebensfeindliche, sinnenungläubige‚ entsinnlichte Abseits-Haltung der Philosophen, welche bis auf die neueste Zeit festgehalten worden ist und damit beinahe als Ph i lo s o phe n-At t it üd e a n s ic h Geltung gewonnen hat, – sie ist vor Allem eine Folge des Nothstandes von Bedingungen, unter
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denen Philosophie überhaupt entstand und bestand : insofern nämlich die längste Zeit Philosophie auf Erden g a r n ic ht mög l ic h gewesen wäre ohne eine asketische Hülle und Einkleidung, ohne ein asketisches Selbst-Missverständniss. Anschaulich und augenscheinlich ausgedrückt : der a s k et i s c he P r ie s t e r hat bis auf die neueste Zeit die widrige und düstere Raupenform abgegeben, unter der allein die Philosophie leben durfte und herumschlich … Hat sich das wirklich ve r ä n d e r t ? Ist das bunte und gefährliche Flügelthier, jener „Geist“, den diese Raupe in sich barg‚ wirklich, Dank einer sonnigeren, wärmeren, aufgehellteren Welt, zuletzt doch noch entkuttet und in’s Licht hinausgelassen worden ? Ist heute schon genug Stolz, Wagniss, Tapferkeit, Selbstgewissheit, Wille des Geistes, Wille zur Verantwortlichkeit, Fr e i he it d e s W i lle n s vorhanden, dass wirklich nunmehr auf Erden „der Philosoph“ – mög l ic h ist ? … 11. Jetzt erst, nachdem wir den a s k et i s c he n P r ie s t e r in Sicht bekommen haben, rücken wir unsrem | Probleme : was bedeutet das asketische Ideal ? ernsthaft auf den Leib, – jetzt erst wird es „Ernst“ : wir haben nunmehr den eigentlichen Re pr äs e nt a nt e n d e s E r n s t e s überhaupt uns gegenüber. „Was bedeutet aller Ernst ?“ – diese noch grundsätzlichere Frage legt sich vielleicht hier schon auf unsre Lippen : eine Frage für Physiologen, wie billig, an der wir aber einstweilen noch vorüberschlüpfen. Der asketische Priester hat in jenem Ideale nicht nur seinen Glauben, sondern auch seinen Willen, seine Macht, sein Interesse. Sein R e c ht zum Dasein steht und fällt mit jenem Ideale : was Wunder, dass wir hier auf einen furchtbaren Gegner stossen, gesetzt nämlich, dass wir die Gegner jenes Ideales wären ? eines solchen, der um seine Existenz gegen die Leugner jenes Ideales kämpft ? … Andrerseits ist es von vornherein nicht wahrscheinlich, dass eine dergestalt interessirte Stellung zu unsrem Probleme diesem sonderlich zu Nutze
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kommen wird ; der asketische Priester wird schwerlich selbst nur den glücklichsten Vertheidiger seines Ideals abgeben, aus dem gleichen Grunde, aus dem es einem Weibe zu misslingen pflegt, wenn es „das Weib an sich“ vertheidigen will, – geschweige denn den objektivsten Beurtheiler und Richter der hier aufgeregten Controverse. Eher also werden wir ihm noch zu helfen haben – so viel liegt jetzt schon auf der Hand – sich gut gegen uns zu vertheidigen als dass wir zu fürchten hätten, zu gut von ihm widerlegt zu werden … Der Gedanke, um den hier gekämpft wird, ist die We r t hu n g unsres Lebens seitens der asketischen Priester : dasselbe wird (sammt dem, wozu es gehört, „Natur“, „Welt“, die gesammte Sphäre des Werdens und der Vergänglichkeit) von ihnen in Beziehung gesetzt zu einem ganz andersartigen Dasein, | zu dem es sich gegensätzlich und ausschliessend verhält, e s s e i d e n n , dass es sich etwa gegen sich selber wende, s ic h s e l b s t ver ne i ne : in diesem Falle, dem Falle eines asketischen Lebens, gilt das Leben als eine Brücke für jenes andre Dasein. Der Asket behandelt das Leben wie einen Irrweg, den man endlich rückwärts gehn müsse, bis dorthin, wo er anfängt ; oder wie einen lrrthum, den man durch die That widerlege – widerlegen s ol le : denn er f or d e r t , dass man mit ihm gehe, er erzwingt, wo er kann, s e i ne Werthung des Daseins. Was bedeutet das ? Eine solche ungeheuerliche Werthungsweise steht nicht als Ausnahmefall und Curiosum in die Geschichte des Menschen eingeschrieben : sie ist eine der breitesten und längsten Thatsachen, die es giebt. Von einem fernen Gestirn aus gelesen, würde vielleicht die Majuskel-Schrift unsres Erden-Daseins zu dem Schluss verführen, die Erde sei der eigentlich a s k e t i s c he St e r n , ein Winkel missvergnügter, hochmüthiger und widriger Geschöpfe, die einen tiefen Verdruss an sich, an der Erde, an allem Leben gar nicht loswürden und sich selber so viel Wehe thäten als möglich, aus Vergnügen am Wehethun : – wahrscheinlich ihrem einzigen Vergnügen. Erwägen wir doch,
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wie regelmässig, wie allgemein, wie fast zu allen Zeiten der asketische Priester in die Erscheinung tritt ; er gehört keiner einzelnen Rasse an ; er gedeiht überall ; er wächst aus allen Ständen heraus. Nicht dass er etwa seine Werthungsweise durch Vererbung züchtete und weiterpflanzte : das Gegentheil ist der Fall, – ein tiefer Instinkt verbietet ihm vielmehr, in’s Grosse gerechnet, die Fortpflanzung. Es muss eine Necessität ersten Rangs sein, welche diese leb e n s f e i nd l ic he Species immer wieder wachsen und | gedeihen macht, – es muss wohl ein I nt e r e s s e d e s L eb e n s s e l b s t sein, dass ein solcher Typus des Selbstwiderspruchs nicht ausstirbt. Denn ein asketisches Leben ist ein Selbstwiderspruch : hier herrscht ein Ressentiment sonder Gleichen, das eines ungesättigten Instinktes und Machtwillens, der Herr werden möchte, nicht über Etwas am Leben, sondern über das Leben selbst, über dessen tiefste, stärkste, unterste Bedingungen ; hier wird ein Versuch gemacht, die Kraft zu gebrauchen, um die Quellen der Kraft zu verstopfen ; hier richtet sich der Blick grün und hämisch gegen das physiologische Gedeihen selbst, in Sonderheit gegen deren Ausdruck, die Schönheit, die Freude ; während am Missrathen, Verkümmern, am Schmerz, am Unfall, am Hässlichen, an der willkürlichen Einbusse, an der Entselbstung, Selbstgeisselung, Selbstopferung ein Wohlgefallen empfunden und g e s uc ht wird. Dies ist Alles im höchsten Grade paradox : wir stehen hier vor einer Zwiespältigkeit, die sich selbst zwiespältig w i l l , welche sich selbst in diesem Leiden g e n ie s s t und in dem Maasse sogar immer selbstgewisser und triumphirender wird, als ihre eigne Voraussetzung, die physiologische Lebensfähigkeit, a b n i m mt . „Der Triumph gerade in der letzten Agonie“ : unter diesem superlativischen Zeichen kämpfte von jeher das asketische Ideal ; in diesem Räthsel von Verführung, in diesem Bilde von Entzücken und Qual erkannte es sein hellstes Licht, sein Heil, seinen endlichen Sieg. Crux, nux, lux – das gehört bei ihm in Eins. –
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12. Gesetzt, dass ein solcher leibhafter Wille zur Contradiction und Widernatur dazu gebracht wird, zu ph i|lo s o ph i r e n : woran wird er seine innerlichste Willkür auslassen ? An dem, was am allersichersten als wahr, als real empfunden wird : er wird den I r r t hu m gerade dort suchen, wo der eigent liche Lebens-Instinkt die Wahrheit am unbedingtesten ansetzt. Er wird zum Beispiel, wie es die Asketen der Vedânta-Philosophie thaten, die Leiblichkeit zur Illusion herabsetzen, den Schmerz insgleichen, die Vielheit, den ganzen Begriffs-Gegensatz „Subjekt“ und „Objekt“ – Irrthümer, Nichts als Irr thümer ! Seinem Ich den Glauben versagen, sich selber seine „Realität“ verneinen – welcher Triumph ! – schon nicht mehr bloss über die Sinne, über den Augenschein, eine viel höhere Art Triumph, eine Vergewaltigung und Grausamkeit an der Ve r nu n f t : als welche Wollust damit auf den Gipfel kommt, dass die asketische Selbstverachtung‚ Selbstverhöhnung der Vernunft dekretirt : „es g iebt ein Reich der Wahrheit und des Seins, aber gerade die Vernunft ist davon au s g e s c h lo s s e n !“ … (Anbei gesagt : selbst noch in dem Kantischen Begriff „intelligibler Charakter der Dinge“ ist Etwas von dieser lüsternen AsketenZwiespältigkeit rückständig, welche Vernunft gegen Vernunft zu kehren liebt : „intelligibler Charakter“ bedeutet nämlich bei Kant eine Art Beschaffenheit der Dinge, von der der Intellekt gerade soviel begreift, dass sie für den Intellekt – g a n z u nd g a r u n b e g r e i f l ic h i s t .) – Seien wir zuletzt, gerade als Erkennende, nicht undankbar gegen solche resolute Umkehrungen der gewohnten Perspektiven und Werthungen, mit denen der Geist allzulange scheinbar freventlich und nutzlos gegen sich selbst gewüthet hat : dergestalt einmal anders sehn, anders-sehn -wol le n ist keine kleine Zucht und Vorbereitung des Intellekts zu seiner einstmaligen „Ob|jektivität“, – letztere nicht als „interesselose Anschauung“ verstanden (als welche ein Unbegriff und Widersinn ist), sondern als das Vermögen,
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sein Für und Wider i n der Gewa lt z u haben und aus- und einzuhängen : so dass man sich gerade die Ve r s c h ied e n he it der Perspektiven und der Affekt-Interpretationen für die Erkenntniss nutzbar zu machen weiss. Hüten wir uns nämlich, meine Herrn Philosophen, von nun an besser vor der gefährlichen alten Begriffs-Fabelei, welche ein „reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntniss“ angesetzt hat, hüten wir uns vor den Fangarmen solcher contradiktorischen Begriffe wie „reine Vernunft“, „absolute Geistigkeit“, „Erkenntniss an sich“ : – hier wird immer ein Auge zu denken verlangt, das gar nicht gedacht werden kann, ein Auge, das durchaus keine Richtung haben soll, bei dem die aktiven und interpretirenden Kräfte unterbunden sein sollen, fehlen sollen, durch die doch Sehen erst ein Etwas-Sehen wird, hier wird also immer ein Widersinn und Unbegriff von Auge verlangt. Es giebt nu r ein perspektivisches Sehen, nu r ein perspektivisches „Erkennen“ ; und j e m e h r Affekte wir über eine Sache zu Worte kommen lassen, je me h r Augen, verschiedne Augen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen, um so vollständiger wird unser „Begriff “ dieser Sache, unsre „Objektivität“ sein. Den Willen aber überhaupt eliminiren, die Affekte sammt und sonders aushängen, gesetzt, dass wir dies vermöchten : wie ? hiesse das nicht den Intellekt c a s t r i r e n ? … 13. Aber kehren wir zurück. Ein solcher Selbstwiderspruch, wie er sich im Asketen darzustellen scheint, | „Leben g e g e n Leben“ ist – so viel liegt zunächst auf der Hand – physiologisch und nicht mehr psychologisch nachgerechnet‚ einfach Unsinn. Er kann nur s c he i n b a r sein ; er muss eine Art vorläufigen Ausdrucks, eine Auslegung, Formel, Zurechtmachung, ein psychologisches Missverständniss von Etwas sein, dessen eigentliche Natur lange nicht verstanden, lange nicht a n s ic h bezeichnet werden konnte, – ein blosses Wort, eingeklemmt
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in eine alte Lüc k e der menschlichen Erkenntniss. Und dass ich kurz den Thatbestand dagegen stelle : d a s a ske t i sc he Idea l ent spr i ng t dem Sc hut z- u nd Hei l-I n st i n k te eines degener i renden Leben s, welches sich mit allen Mitteln zu halten sucht und um sein Dasein kämpft ; es deutet auf eine partielle physiologische Hemmung und Ermüdung hin, gegen welche die tiefsten, intakt gebliebenen Instinkte des Lebens unausgesetzt mit neuen Mitteln und Erfi ndungen ankämpfen. Das asketische Ideal ist ein solches Mittel : es steht also gerade umgekehrt als es die Verehrer dieses Ideals meinen, – das Leben ringt in ihm und durch dasselbe mit dem Tode und g e g e n den Tod, das asketische Ideal ist ein Kunstgriff in der E r h a lt u n g des Lebens. Dass dasselbe in dem Maasse, wie die Geschichte es lehrt, über den Menschen walten und mächtig werden konnte, in Sonderheit überall dort, wo die Civilisation und Zähmung des Menschen durchgesetzt wurde, darin drückt sich eine grosse Thatsache aus, die K r a n k h a f t i g k e it im bisherigen Typus des Menschen, zum Mindesten des zahm gemachten Menschen, das physiologische Ringen des Menschen mit dem Tode (genauer : mit dem Überdrusse am Leben, mit der Ermüdung, mit dem Wunsche nach dem „Ende“). Der asketische Priester ist der fleisch|gewordne Wunsch nach einem Anders-sein, Anderswo-sein, und zwar der höchste Grad dieses Wunsches, dessen eigentliche Inbrunst und Leidenschaft : aber eben die M ac ht seines Wünschens ist die Fessel, die ihn hier anbindet, eben damit wird er zum Werkzeug, das daran arbeiten muss, günstigere Bedingungen für das Hier-sein und Mensch-sein zu schaffen, – eben mit dieser M ac ht hält er die ganze Heerde der Missrathnen, Verstimmten, Schlechtweggekommnen, Verunglückten, An-sich-Leidenden jeder Art am Dasein fest, indem er ihnen instinktiv als Hirt vorangeht. Man versteht mich bereits : dieser asketische Priester, dieser anscheinende Feind des Lebens, dieser Ve r ne i ne nd e, – er gerade gehört zu den ganz
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grossen con ser v i renden und Ja-sc ha f fenden Gewalten des Lebens … Woran sie hängt, jene Krankhaftigkeit ? Denn der Mensch ist kränker, unsicherer, wechselnder, unfestgestellter als irgend ein Thier sonst, daran ist kein Zweifel, – er ist d a s kranke Thier : woher kommt das ? Sicherlich hat er auch mehr gewagt, geneuert‚ getrotzt, das Schicksal herausgefordert als alle übrigen Thiere zusammen genommen : er‚ der grosse Experimentator mit sich, der Unbefriedigte‚ Ungesättigte, der um die letzte Herrschaft mit Thier, Natur und Göttern ringt, – er, der immer noch Unbezwungne, der ewigZukünftige, der vor seiner eignen drängenden Kraft keine Ruhe mehr fi ndet, so dass ihm seine Zukunft unerbittlich wie ein Sporn im Fleische jeder Gegenwart wühlt : – wie sollte ein solches muthiges und reiches Thier nicht auch das am meisten gefährdete, das am Längsten und Tiefsten kranke unter allen kranken Thieren sein ? … Der Mensch hat es satt, oft genug, es giebt ganze Epidemien dieses Satthabens (– so um 1348 herum, | zur Zeit des Todtentanzes) : aber selbst noch dieser Ekel, diese Müdigkeit, dieser Verdruss an sich selbst – Alles tritt an ihm so mächtig heraus, dass es sofort wieder zu einer neuen Fessel wird. Sein Nein, das er zum Leben spricht, bringt wie durch einen Zauber eine Fülle zarterer Ja’s an’s Licht ; ja wenn er sich ve r w u nd et‚ dieser Meister der Zerstörung, Selbstzerstörung, – hinterdrein ist es die Wunde selbst, die ihn zwingt, z u leb e n … 14. Je normaler die Krankhaftigkeit am Menschen ist – und wir können diese Normalität nicht in Abrede stellen –, um so höher sollte man die seltnen Fälle der seelisch-leiblichen Mächtigkeit, die G lüc k s f ä l le des Menschen in Ehren halten, um so strenger die Wohlgerathenen vor der schlechtesten Luft, der Kranken-Luft behüten. Thut man das ? … Die Kranken sind die grösste Gefahr für die Gesunden ; n ic h t von den
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Stärksten kommt das Unheil für die Starken, sondern von den Schwächsten. Weiss man das ? … In’s Grosse gerechnet, ist es durchaus nicht die Furcht vor dem Menschen, deren Verminderung man wünschen dürfte : denn diese Furcht zwingt die Starken dazu, stark, unter Umständen furchtbar zu sein, – sie hält den wohlgerathenen Typus Mensch au f r e c ht . Was zu fürchten ist, was verhängnissvoll wirkt wie kein andres Verhängniss, das wäre nicht die grosse Furcht, sondern der grosse E k e l vor dem Menschen ; insgleichen das grosse M it le id mit dem Menschen. Gesetzt, dass diese beiden eines Tages sich begatteten, so würde unvermeidlich sofort etwas vom Unheimlichsten zur Welt kommen, der „letzte Wille“ des Menschen, sein Wille zum Nichts, der Nihilismus. Und in der That : hierzu ist Viel vorbereitet. | Wer nicht nur seine Nase zum Riechen hat, sondern auch seine Augen und Ohren, der spürt fast überall, wohin er heute auch nur tritt, etwas wie Irrenhaus-‚ wie Krankenhaus-Luft, – ich rede, wie billig, von den Culturgebieten des Menschen, von jeder Art „Europa“, das es nachgerade auf Erden giebt. Die K r a n k h a f t e n sind des Menschen grosse Gefahr : n ic ht die Bösen, n ic ht die „Raubthiere“. Die von vornherein Verunglückten, Niedergeworfnen, Zerbrochnen – sie sind es, die S c hw äc h s t e n sind es, welche am Meisten das Leben unter Menschen unterminiren, welche unser Vertrauen zum Leben, zum Menschen, zu uns am gefährlichsten vergiften und in Frage stellen. Wo entgienge man ihm, jenem verhängten Blick, von dem man eine tiefe Traurigkeit mit fortträgt, jenem zurückgewendeten Blick des Missgebornen von Anbeginn, der es verräth, wie ein solcher Mensch zu sich selber spricht, – jenem Blick, der ein Seufzer ist. „Möchte ich irgend Jemand Anderes sein ! so seufzt dieser Blick : aber da ist keine Hoff nung. Ich bin, der ich bin : wie käme ich von mir selber los ? Und doch – h a b e ic h m ic h s at t !“ … Auf solchem Boden der Selbstverachtung, einem eigentlichen Sumpf boden, wächst jedes Unkraut, jedes Gift-
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gewächs, und alles so klein, so versteckt, so unehrlich, so süsslich. Hier wimmeln die Würmer der Rach- und Nachgefühle ; hier stinkt die Luft nach Heimlichkeiten und Uneingeständlichkeiten ; hier spinnt sich beständig das Netz der bösartigsten Verschwörung, – der Verschwörung der Leidenden gegen die Wohlgerathenen und Siegreichen, hier wird der Aspekt des Siegreichen g e h a s s t . Und welche Verlogenheit, um diesen Hass nicht als Hass einzugestehn ! Welcher Aufwand an grossen Worten und Attitüden, welche Kunst der „rechtschaff nen“ | Verleumdung ! Diese Missrathenen : welche edle Beredsamkeit entströmt ihren Lippen ! Wie viel zuckrige, schleimige, demüthige Ergebung schwimmt in ihren Augen ! Was wollen sie eigentlich ? Die Gerechtigkeit, die Liebe, die Weisheit, die Überlegenheit wenigstens d a r s t e l le n – das ist der Ehrgeiz dieser „Untersten“, dieser Kranken ! Und wie geschickt macht ein solcher Ehrgeiz ! Man bewundere namentlich die Falschmünzer-Geschicklichkeit, mit der hier das Gepräge der Tugend, selbst der Klingklang, der Goldklang der Tugend nachgemacht wird. Sie haben die Tugend jetzt ganz und gar für sich in Pacht genommen, diese Schwachen und Heillos-Krankhaften, daran ist kein Zweifel : „wir allein sind die Guten, die Gerechten, so sprechen sie, wir allein sind die homines bonae voluntatis.“ Sie wandeln unter uns herum als leibhafte Vorwürfe, als Warnungen an uns, – wie als ob Gesundheit, Wohlgerathenheit, Stärke, Stolz, Machtgefühl an sich schon lasterhafte Dinge seien, für die man einst büssen, bitter büssen müsse : oh wie sie im Grunde dazu selbst bereit sind, büssen zu m ac he n , wie sie darnach dürsten, He n k e r zu sein ! Unter ihnen giebt es in Fülle die zu Richtern verkleideten Rachsüchtigen, welche beständig das Wort „Gerechtigkeit“ wie einen giftigen Speichel im Munde tragen, immer gespitzten Mundes, immer bereit, Alles anzuspeien, was nicht unzufrieden blickt und guten Muths seine Strasse zieht. Unter ihnen fehlt auch jene ekelhafteste Species der Eitlen nicht, die
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verlognen Missgeburten‚ die darauf aus sind, „schöne Seelen“ darzustellen und etwa ihre verhunzte Sinnlichkeit, in Verse und andere Windeln gewickelt, als „Reinheit des Herzens“ auf den Markt bringen : die Species der moralischen Onanisten und „Selbstbefriediger“. Der | Wille der Kranken, i r g e n d eine Form der Überlegenheit darzustellen, ihr Instinkt für Schleichwege‚ die zu einer Tyrannei über die Gesunden führen, – wo fände er sich nicht, dieser Wille gerade der Schwächsten zur Macht ! Das kranke Weib in Sonderheit : Niemand übertriff t es in Raffi nements, zu herrschen, zu drücken, zu tyrannisiren. Das kranke Weib schont dazu nichts Lebendiges, nichts Todtes, es gräbt die begrabensten Dinge wieder auf (die Bogos sagen : „das Weib ist eine Hyäne“). Man blicke in die Hintergründe jeder Familie, jeder Körperschaft, jedes Gemeinwesens : überall der Kampf der Kranken gegen die Gesunden, – ein stiller Kampf zumeist mit kleinen Giftpulvern, mit Nadelstichen, mit tückischem Dulder-Mienenspiele, mitunter aber auch mit jenem Kranken-Pharisäismus der l aut e n Gebärde‚ der am liebsten „die edle Entrüstung“ spielt. Bis in die geweihten Räume der Wissenschaft hinein möchte es sich hörbar machen, das heisere Entrüstungsgebell der krankhaften Hunde, die bissige Verlogenheit und Wuth solcher „edlen“ Pharisäer (– ich erinnere Leser, die Ohren haben, nochmals an jenen Berliner Rache-Apostel Eugen Dühring, der im heutigen Deutschland den unanständigsten und widerlichsten Gebrauch vom moralischen Bumbum macht : Dühring, das erste Moral-Grossmaul, das es jetzt giebt, selbst noch unter seines Gleichen, den Antisemiten). Das sind alles Menschen des Ressentiment, diese physiologisch Verunglückten und Wurmstichigen, ein ganzes zitterndes Erdreich unterirdischer Rache, unerschöpfl ich, unersättlich in Ausbrüchen gegen die Glücklichen und ebenso in Maskeraden der Rache, in Vorwänden zur Rache : wann würden sie eigentlich zu ihrem letzten, feinsten, sublimsten Triumph der Rache kommen ?
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Dann unzweifel|haft, wenn es ihnen gelänge, ihr eignes Elend, alles Elend überhaupt den Glücklichen i n’s G ew i s sen z u sc h ieben : so dass diese sich eines Tags ihres Glücks zu schämen begönnen und vielleicht unter einander sich sagten : „es ist eine Schande, glücklich zu sein ! e s g iebt z u v ie l Elend !“ … Aber es könnte gar kein grösseres und verhängnissvolleres Missverständniss geben, als wenn dergestalt die Glücklichen, die Wohlgerathenen, die Mächtigen an Leib und Seele anfiengen, an ihrem R e c ht au f G l ü c k zu zweifeln. Fort mit dieser „verkehrten Welt“ ! Fort mit dieser schändlichen Verweichlichung des Gefühls ! Dass die Kranken n ic ht die Gesunden krank machen – und dies wäre eine solche Verweichlichung – das sollte doch der oberste Gesichtspunkt auf Erden sein : – dazu aber gehört vor allen Dingen, dass die Gesunden von den Kranken a bg et r e n nt bleiben, behütet selbst vor dem Anblick der Kranken, dass sie sich nicht mit den Kranken verwechseln. Oder wäre es etwa ihre Aufgabe, Krankenwärter oder Ärzte zu sein ? … Aber sie könnten i h r e Aufgabe gar nicht schlimmer verkennen und verleugnen, – das Höhere s ol l sich nicht zum Werkzeug des Niedrigeren herabwürdigen, das Pathos der Distanz s ol l in alle Ewigkeit auch die Aufgaben aus einander halten ! Ihr Recht, dazusein, das Vorrecht der Glocke mit vollem Klange vor der misstönigen, zersprungenen, ist ja ein tausendfach grösseres : sie allein sind die Bü r g e n der Zukunft, sie allein sind ve r pf l ic ht et für die Menschen-Zukunft. Was s ie können, was s ie sollen, das dürften niemals Kranke können und sollen : aber d a m it sie können, was nur s ie sollen, wie stünde es ihnen noch frei, den Arzt, den Trostbringer, den „Heiland“ der Kranken zu machen ? … Und darum | gute Luft ! gute Luft ! Und weg jedenfalls aus der Nähe von allen Irren- und Krankenhäusern der Cultur ! Und darum gute Gesellschaft, u n s r e Gesellschaft ! Oder Einsamkeit, wenn es sein muss ! Aber weg jedenfalls von den üblen Dünsten der innewendigen Verderbniss
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und des heimlichen Kranken-Wurmfrasses ! … Damit wir uns selbst nämlich, meine Freunde, wenigstens eine Weile noch gegen die zwei schlimmsten Seuchen vertheidigen, die gerade für uns aufgespart sein mögen, – gegen den g r o s s e n E k e l a m M e n s c h e n ! gegen das g r o s s e M i t l e i d m i t d e m Me n s c he n ! … 15. Hat man in aller Tiefe begriffen – und ich verlange, dass man hier gerade t ie f g r e i f t , tief begreift – inwiefern es schlechterdings n ic ht die Aufgabe der Gesunden sein kann, Kranke zu warten, Kranke gesund zu machen, so ist damit auch eine Nothwendigkeit mehr begriffen, – die Nothwendigkeit von Ärzten und Krankenwärtern, d ie s e l b e r k r a n k s i nd : und nunmehr haben und halten wir den Sinn des asketischen Priesters mit beiden Händen. Der asketische Priester muss uns als der vorherbestimmte Heiland, Hirt und Anwalt der kranken Heerde gelten : damit erst verstehen wir seine ungeheure historische Mission. Die He r r s c h a f t ü b e r L e id e nd e ist sein Reich, auf sie weist ihn sein Instinkt an, in ihr hat er seine eigenste Kunst, seine Meisterschaft, seine Art von Glück. Er muss selber krank sein, er muss den Kranken und Schlechtweggekommenen von Grund aus verwandt sein, um sie zu verstehen, – um sich mit ihnen zu verstehen ; aber er muss auch stark sein‚ mehr Herr noch über sich als über Andere, unversehrt namentlich | in seinem Willen zur Macht, damit er das Vertrauen und die Furcht der Kranken hat, damit er ihnen Halt, Widerstand, Stütze, Zwang, Zuchtmeister, Tyrann, Gott sein kann. Er hat sie zu vertheidigen, seine Heerde – gegen wen ? Gegen die Gesunden, es ist kein Zweifel‚ auch gegen den Neid auf die Gesunden ; er muss der natürliche Widersacher u nd Ve r äc ht e r aller rohen, stürmischen, zügellosen, harten, gewaltthätig-raubthierhaften Gesundheit und Mächtigkeit sein. Der Priester ist die erste Form des d e l i k a t e r e n Thiers, das leichter noch verachtet als hasst. Es wird ihm
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nicht erspart bleiben, Krieg zu führen mit den Raubthieren, einen Krieg der List (des „Geistes“) mehr als der Gewalt, wie sich von selbst versteht, – er wird es dazu unter Umständen nöthig haben, beinahe einen neuen Raubthier-Typus an sich herauszubilden, mindestens zu b ed eut e n , – eine neue ThierFurchtbarkeit, in welcher der Eisbär, die geschmeidige kalte abwartende Tigerkatze und nicht am wenigsten der Fuchs zu einer ebenso anziehenden als furchteinflössenden Einheit gebunden scheinen. Gesetzt, dass die Noth ihn zwingt, so tritt er dann wohl bärenhaft-ernst, ehrwürdig, klug, kalt, trügerisch-überlegen, als Herold und Mundstück geheimnissvollerer Gewalten, mitten unter die andere Art Raubthiere selbst, entschlossen, auf diesem Boden Leid, Zwiespalt, Selbstwiderspruch, wo er kann, auszusäen und, seiner Kunst nur zu gewiss, über L e i d e n d e jederzeit Herr zu werden. Er bringt Salben und Balsam mit, es ist kein Zweifel ; aber erst hat er nöthig, zu verwunden, um Arzt zu sein ; indem er dann den Schmerz stillt, den die Wunde macht, verg i f tet er z ug leic h d ie Wu nde – darauf vor Allem nämlich versteht er sich, dieser Zauberer und Raubthier-Bändiger‚ in dessen | Umkreis alles Gesunde nothwendig krank und alles Kranke nothwendig zahm wird. Er vertheidigt in der That gut genug seine kranke Heerde, dieser seltsame Hirt, – er vertheidigt sie auch gegen sich, gegen die in der Heerde selbst glimmende Schlechtigkeit, Tücke, Böswilligkeit und was sonst allen Süchtigen und Kranken unter einander zu eigen ist, er kämpft klug, hart und heimlich mit der Anarchie und der jederzeit beginnenden Selbstauflösung innerhalb der Heerde, in welcher jener gefährlichste Spreng- und Explosivstoff, das R e s s e nt i me nt , sich beständig häuft und häuft. Diesen Sprengstoff so zu ent laden, dass er nicht die Heerde und nicht den Hirten zersprengt, das ist sein eigentliches Kunststück, auch seine oberste Nützlichkeit : wollte man den Werth der priesterlichen Existenz in die kürzeste Formel fassen, so wäre geradewegs zu sagen : der
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Priester ist der R ic ht u n g s -Ve r ä nd e r e r des Ressentiment. Jeder Leidende nämlich sucht instinktiv zu seinem Leid eine Ursache ; genauer noch, einen Thäter, noch bestimmter, einen für Leid empfänglichen s c hu ld i g e n Thäter, – kurz, irgend etwas Lebendiges, an dem er seine Affekte thätlich oder in effigie auf irgend einen Vorwand hin ent laden kann : denn die Affekt-Entladung ist der grösste Erleichterungs- nämlich B et äu bu n g s -Versuch des Leidenden, sein unwillkürlich begehrtes Narcoticum gegen Qual irgend welcher Art. Hierin allein ist, meiner Vermuthung nach, die wirkliche physiologische Ursächlichkeit des Ressentiment, der Rache und ihrer Verwandten, zu fi nden, in einem Verlangen also nach B e t äu bu n g vo n S c h me r z d u r c h A f f e k t : – man sucht dieselbe gemeinhin, sehr irrthümlich, wie mich dünkt, in dem Defensiv-Gegenschlag, einer blossen Schutzmaassregel | der Reaktion, einer „Reflexbewegung“ im Falle irgend einer plötzlichen Schädigung und Gefährdung, von der Art, wie sie ein Frosch ohne Kopf noch vollzieht, um eine ätzende Säure loszuwerden. Aber die Verschiedenheit ist fundamental : im Einen Falle will man weiteres Beschädigtwerden hindern, im anderen Falle will man einen quälenden, heimlichen, unerträglichwerdenden Schmerz durch eine heftigere Emotion irgend welcher Art b et äu b e n und für den Augenblick wenigstens aus dem Bewusstsein schaffen, – dazu braucht man einen Affekt, einen möglichst wilden Affekt und, zu dessen Erregung, den ersten besten Vorwand. „Irgend Jemand muss schuld daran sein, dass ich mich schlecht befi nde“ – diese Art zu schliessen ist allen Krankhaften eigen, und zwar je mehr ihnen die wahre Ursache ihres Sich-Schlecht-Befi ndens, die physiologische, verborgen bleibt (– sie kann etwa in einer Erkrankung des nervus sympathicus liegen oder in einer übermässigen Gallen-Absonderung, oder an einer Armuth des Blutes an schwefel- und phosphorsaurem Kali oder in Druckzuständen des Unterleibes, welche den Blutumlauf stauen‚ oder in Ent-
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artung der Eierstöcke und dergleichen). Die Leidenden sind allesammt von einer entsetzlichen Bereitwilligkeit und Erfi ndsamkeit in Vorwänden zu schmerzhaften Affekten ; sie geniessen ihren Argwohn schon, das Grübeln über Schlechtigkeiten und scheinbare Beeinträchtigungen, sie durchwühlen die Eingeweide ihrer Vergangenheit und Gegenwart nach dunklen fragwürdigen Geschichten, wo es ihnen freisteht‚ in einem quälerischen Verdachte zu schwelgen und am eignen Gifte der Bosheit sich zu berauschen – sie reissen die ältesten Wunden auf, sie verbluten sich an längst ausgeheilten Narben, sie machen Übelthäter | aus Freund, Weib, Kind und was sonst ihnen am nächsten steht. „Ich leide : daran muss irgend Jemand schuld sein“ – also denkt jedes krankhafte Schaf. Aber sein Hirt, der asketische Priester, sagt zu ihm : „Recht so, mein Schaf ! irgend wer muss daran schuld sein : aber du selbst bist dieser Irgend-Wer, du selbst bist daran allein schuld, – d u s e l b s t b i s t a n d i r a l le i n s c hu ld !“ … Das ist kühn genug, falsch genug : aber Eins ist damit wenigstens erreicht, damit ist, wie gesagt, die Richtung des Ressentiment – ve r ä nd e r t . 16. Man erräth nunmehr, was nach meiner Vorstellung der Heilkünstler-Instinkt des Lebens durch den asketischen Priester zum Mindesten ve r s uc ht hat und wozu ihm eine zeitweilige Tyrannei solcher paradoxer und paralogischer Begriffe wie „Schuld“, „Sünde“, „Sündhaftigkeit“, „Verderbniss“, „Verdammniss“ hat dienen müssen : die Kranken bis zu einem gewissen Grade u n s c h ä d l i c h zu machen, die Unheilbaren durch sich selbst zu zerstören, den Milder-Erkrankten streng die Richtung auf sich selbst, eine Rückwärtsrichtung ihres Ressentiments zu geben („Eins ist noth“ –) und die schlechten Instinkte aller Leidenden dergestalt zum Zweck der Selbstdisciplinirung, Selbstüberwachung, Selbstüberwindung ausz unüt zen. Es kann sich, wie sich von selbst versteht, mit einer
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„Medikation“ dieser Art, einer blossen Affekt-Medikation, schlechterdings nicht um eine wirkliche Kranken - He i lu n g im physiologischen Verstande handeln ; man dürfte selbst nicht einmal behaupten, dass der Instinkt des Lebens hierbei irgendwie die Heilung in Aussicht und Absicht genommen habe. Eine Art Zusammendrängung und | Organisation der Kranken auf der einen Seite (– das Wort „Kirche“ ist dafür der populärste Name), eine Art vorläufiger Sicherstellung der Gesünder-Gerathenen, der Voller-Ausgegossenen auf der andern, die Aufreissung einer K lu f t somit zwischen Gesund und Krank – das war für lange Alles ! Und es war Viel ! es war s e h r V ie l ! … [Ich gehe in dieser Abhandlung, wie man sieht, von einer Voraussetzung aus, die ich in Hinsicht auf Leser, wie ich sie brauche, nicht erst zu begründen habe : dass „Sündhaftigkeit“ am Menschen kein Thatbestand ist, vielmehr nur die Interpretation eines Thatbestandes‚ nämlich einer physiologischen Verstimmung, – letztere unter einer moralischreligiösen Perspektive gesehn, welche für uns nichts Verbindliches mehr hat. – Damit, dass Jemand sich „schuldig“, „sündig“ f ü h lt , ist schlechterdings noch nicht bewiesen, dass er sich mit Recht so fühlt ; so wenig Jemand gesund ist, bloss deshalb, weil er sich gesund fühlt. Man erinnere sich doch der berühmten Hexen-Prozesse : damals zweifelten die scharfsichtigsten und menschenfreundlichsten Richter nicht daran, dass hier eine Schuld vorliege ; die „Hexen“ s e l b s t z we i f e lt e n n ic ht d a r a n , – und dennoch fehlte die Schuld. – Um jene Voraussetzung in erweiterter Form auszudrücken : der „seelische Schmerz“ selbst gilt mir überhaupt nicht als Thatbestand, sondern nur als eine Auslegung (Causal-Auslegung) von bisher nicht exakt zu formulirenden Thatbeständen : somit als Etwas, das vollkommen noch in der Luft schwebt und wissenschaftlich unverbindlich ist, – ein fettes Wort eigentlich nur an Stelle eines sogar spindeldürren Fragezeichens. Wenn Jemand mit einem „seelischen Schmerz“ nicht fertig
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wird, so liegt das, grob geredet, n ic ht an seiner „Seele“ ; wahrschein|licher noch an seinem Bauche (grob geredet, wie gesagt : womit noch keineswegs der Wunsch ausgedrückt ist, auch grob gehört, grob verstanden zu werden …). Ein starker und wohlgerathener Mensch verdaut seine Erlebnisse (Thaten, Unthaten eingerechnet) wie er seine Mahlzeiten verdaut, selbst wenn er harte Bissen zu verschlucken hat. Wird er mit einem Erlebnisse „nicht fertig“, so ist diese Art Indigestion so gut physiologisch wie jene andere – und vielfach in der That nur eine der Folgen jener anderen. – Mit einer solchen Auffassung kann man, unter uns gesagt, immer noch der strengste Gegner alles Materialismus sein …] 17. Ist er aber eigentlich ein A r z t , dieser asketische Priester ? – Wir begriffen schon, inwiefern es kaum erlaubt ist, ihn einen Arzt zu nennen, so gern er auch selbst sich als „Heiland“ fühlt, als „Heiland“ verehren lässt. Nur das Leiden selbst, die Unlust des Leidenden wird von ihm bekämpft, n ic ht deren Ursache, n ic ht das eigentliche Kranksein, – das muss unsren grundsätzlichsten Einwand gegen die priesterliche Medikation abgeben. Stellt man sich aber erst einmal in die Perspektive, wie der Priester sie allein kennt und hat, so kommt man nicht leicht zu Ende in der Bewunderung, was er unter ihr Alles gesehn, gesucht und gefunden hat. Die M i ld e r u n g des Leidens, das „Trösten“ jeder Art, – das erweist sich als sein Genie selbst : wie erfi nderisch hat er seine Tröster-Aufgabe verstanden, wie unbedenklich und kühn hat er zu ihr die Mittel gewählt ! Das Christenthum in Sonderheit dürfte man eine grosse Schatzkammer geistreichster Trostmittel nennen, so viel Erquickliches, Milderndes, | Narkotisirendes ist in ihm gehäuft, so viel Gefährlichstes und Verwegenstes zu diesem Zweck gewagt, so fein, so raffi nirt, so südländisch-raffi nirt ist von ihm insbesondere errathen worden, mit was für Stimu-
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lanz-Affekten die tiefe Depression, die bleierne Ermüdung, die schwarze Traurigkeit der Physiologisch-Gehemmten wenigstens für Zeiten besiegt werden kann. Denn allgemein gesprochen : bei allen grossen Religionen handelte es sich in der Hauptsache um die Bekämpfung einer gewissen, zur Epidemie gewordnen Müdigkeit und Schwere. Man kann es von vornherein als wahrscheinlich ansetzen, dass von Zeit zu Zeit an bestimmten Stellen der Erde fast nothwendig ein phy s io log i s c h e s H e m mu n g s g e f ü h l über breite Massen Herr werden muss, welches aber, aus Mangel an physiologischem Wissen‚ nicht als solches in’s Bewusstsein tritt, so dass dessen „Ursache“, dessen Remedur auch nur psychologisch-moralisch gesucht und versucht werden kann (– dies nämlich ist meine allgemeinste Formel für Das, was gemeinhin eine „R e l i g i o n“ genannt wird). Ein solches Hemmungsgefühl kann verschiedenster Abkunft sein : etwa als Folge der Kreuzung von zu fremdartigen Rassen (oder von Ständen – Stände drükken immer auch Abkunfts- und Rassen-Differenzen aus : der europäische „Weltschmerz“, der „Pessimismus“ des neunzehnten Jahrhunderts ist wesentlich die Folge einer unsinnig plötzlichen Stände-Mischung) ; oder bedingt durch eine fehlerhafte Emigration – eine Rasse in ein Klima gerathen, für das ihre Anpassungskraft nicht ausreicht (der Fall der Inder in Indien) ; oder die Nachwirkung von Alter und Ermüdung der Rasse (Pariser Pessimismus von 1850 an) ; oder einer falschen Diät (Alkoholismus des Mittelalters ; der Unsinn der Vege-| tarians, welche freilich die Autorität des Junker Christoph bei Shakespeare für sich haben) ; oder von Blutverderbniss, Malaria, Syphilis und dergleichen (deutsche Depression nach dem dreissigjährigen Kriege, welcher halb Deutschland mit schlechten Krankheiten durchseuchte und damit den Boden für deutsche Servilität, deutschen Kleinmuth vorbereitete). In einem solchen Falle wird jedes Mal im grössten Stil ein K a mpf mit dem Un lustgef üh l versucht ; unterrichten wir uns kurz
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über dessen wichtigste Praktiken und Formen. (Ich lasse hier, wie billig, den eigentlichen Ph i lo s o phe n - Kampf gegen das Unlustgefühl‚ der immer gleichzeitig zu sein pflegt, ganz bei Seite – er ist interessant genug, aber zu absurd, zu praktischgleichgültig, zu spinneweberisch und eckensteherhaft, etwa wenn der Schmerz als ein Irrthum bewiesen werden soll, unter der naiven Voraussetzung, dass der Schmerz schwinden mü s s e, wenn erst der Irrthum in ihm erkannt ist – aber siehe da ! er hütete sich, zu schwinden …) Man bekämpft e r s t e n s jene dominirende Unlust durch Mittel, welche das Lebensgefühl überhaupt auf den niedrigsten Punkt herabsetzen. Womöglich überhaupt kein Wollen, kein Wunsch mehr ; Allem, was Affekt macht, was „Blut“ macht, ausweichen (kein Salz essen : Hygiene des Fakirs) ; nicht lieben ; nicht hassen ; Gleichmuth ; nicht sich rächen ; nicht sich bereichern ; nicht arbeiten ; betteln; womöglich kein Weib, oder so wenig Weib als möglich : in geistiger Hinsicht das Princip Pascal’s „il faut s’abêtir“. Resultat, psychologisch-moralisch ausgedrückt : „Entselbstung“, „Heiligung“ ; physiologisch ausgedrückt : Hypnotisirung, – der Versuch Etwas für den Menschen annähernd zu erreichen, was der W i nt e r s c h l a f für einige Thierarten, der S om me r s c h l a f für viele Pflan|zen der heissen Klimaten ist, ein Minimum von Stoff verbrauch und Stoffwechsel, bei dem das Leben gerade noch besteht, ohne eigentlich noch in’s Bewusstsein zu treten. Auf dieses Ziel ist eine erstaunliche Menge menschlicher Energie verwandt worden – umsonst etwa ? … Dass solche sportsmen der „Heiligkeit“, an denen alle Zeiten, fast alle Völker reich sind, in der That eine wirkliche Erlösung von dem gefunden haben, was sie mit einem so rigorösen training bekämpften, daran darf man durchaus nicht zweifeln, – sie kamen von jener tiefen physiologischen Depression mit Hülfe ihres Systems von Hypnotisirungs-Mitteln in unzähligen Fällen wirklich lo s : weshalb ihre Methodik zu den allgemeinsten ethnologischen That-
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sachen zählt. Insgleichen fehlt jede Erlaubniss dazu, um schon an sich eine solche Absicht auf Aushungerung der Leiblichkeit und der Begierde unter die Irrsinns-Symptome zu rechnen (wie es eine täppische Art von Roastbeef-fressenden „Freigeistern“ und Junker Christophen zu thun beliebt). Um so sicherer ist es, dass sie den Weg zu allerhand geistigen Störungen abgiebt, abgeben kann, zu „inneren Lichtern“ zum Beispiel, wie bei den Hesychasten vom Berge Athos, zu Klang- und Gestalt-Hallucinationen, zu wollüstigen Überströmungen und Ekstasen der Sinnlichkeit (Geschichte der heiligen Therese). Die Auslegung, welche derartigen Zuständen von den mit ihnen Behafteten gegeben wird, ist immer so schwärmerischfalsch wie möglich gewesen, dies versteht sich von selbst : nur überhöre man den Ton überzeugtester Dankbarkeit nicht, der eben schon im W i l le n zu einer solchen Interpretations-Art zum Erklingen kommt. Der höchste Zustand, die E rlö s u n g selbst, jene endlich erreichte Gesammt-Hypnotisirung und Stille, gilt ihnen | immer als das Geheimniss an sich, zu dessen Ausdruck auch die höchsten Symbole nicht ausreichen, als Ein- und Heimkehr in den Grund der Dinge, als Freiwerden von allem Wahne, als „Wissen“, als „Wahrheit“, als „Sein“, als Loskommen von jedem Ziele, jedem Wunsche, jedem Thun, als ein Jenseits auch von Gut und Böse. „Gutes und Böses, sagt der Buddhist, – Beides sind Fesseln : über Beides wurde der Vollendete Herr“ ; „Gethanes und Ungethanes, sagt der Gläubige des Vedânta, schaff t ihm keinen Schmerz ; das Gute und das Böse schüttelt er als ein Weiser von sich ; sein Reich leidet durch keine That mehr ; über Gutes und Böses, über Beides gieng er hinaus“ : – eine gesammt-indische Auffassung also, ebenso brahmanistisch als buddhistisch. (Weder in der indischen, noch in der christlichen Denkweise gilt jene „Erlösung“ als e r r e ic h b a r durch Tugend, durch moralische Besserung, so hoch der Hypnotisirungs-Werth der Tugend auch von ihnen angesetzt wird : dies halte man fest, – es entspricht
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dies übrigens einfach dem Thatbestande. Hierin wa h r geblieben zu sein, darf vielleicht als das beste Stück Realismus in den drei grössten, sonst so gründlich vermoralisirten Religionen betrachtet werden. „Für den Wissenden giebt es keine Pfl icht“ … „Durch Zu le g u n g von Tugenden kommt Erlösung nicht zu Stande : denn sie besteht im Einssein mit dem keiner Zulegung von Vollkommenheit fähigen Brahman ; und ebenso wenig in der A ble g u n g von Fehlern : denn das Brahman, mit dem Eins zu sein Das ist, was Erlösung ausmacht, ist ewig rein“ – diese Stellen aus dem Commentare des Çankara, citirt von dem ersten wirklichen K e n ne r der indischen Philosophie in Europa, meinem Freunde Paul Deussen.) Die „Erlösung“ in den grossen Religionen wollen wir also | in Ehren halten ; dagegen wird es uns ein wenig schwer, bei der Schätzung, welche schon der t ie f e S c h l a f durch diese selbst für das Träumen zu müd gewordnen Lebensmüden erfährt, ernsthaft zu bleiben, – der tiefe Schlaf nämlich bereits als Eingehen in das Brahman, als e r r e ic ht e unio mystica mit Gott. „Wenn er dann eingeschlafen ist ganz und gar – heisst es darüber in der ältesten ehrwürdigsten „Schrift“ – und völlig zur Ruhe gekommen, dass er kein Traumbild mehr schaut, alsdann ist er, oh Theurer, vereinigt mit dem Seienden, in sich selbst ist er eingegangen, – von dem erkenntnissartigen Selbste umschlungen hat er kein Bewusstsein mehr von dem, was aussen oder innen ist. Diese Brücke überschreiten nicht Tag und Nacht, nicht das Alter, nicht der Tod, nicht das Leiden, nicht gutes Werk, noch böses Werk.“ „Im tiefen Schlafe, sagen insgleichen die Gläubigen dieser tiefsten der drei grossen Religionen, hebt sich die Seele heraus aus diesem Leibe, geht ein in das höchste Licht und tritt dadurch hervor in eigener Gestalt : da ist sie der höchste Geist selbst, der herumwandelt, indem er scherzt und spielt und sich ergötzt, sei es mit Weibern oder mit Wagen oder mit Freunden, da denkt sie nicht mehr zurück an dieses Anhängsel von Leib, an welches
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der prâna (der Lebensodem) angespannt ist wie ein Zugthier an den Karren.“ Trotzdem wollen wir auch hier, wie im Falle der „Erlösung“, uns gegenwärtig halten, dass damit im Grunde, wie sehr auch immer in der Pracht orientalischer Übertreibung, nur die gleiche Schätzung ausgedrückt ist, welche die des klaren, kühlen, griechisch-kühlen, aber leidenden Epikur war : das hypnotische Nichts-Gefühl, die Ruhe des tiefsten Schlafes, L e id lo s i g k e it kurzum – das darf Leidenden | und Gründlich-Verstimmten schon als höchstes Gut, als Werth der Werthe gelten, das mu s s von ihnen als positiv abgeschätzt, als d a s Positive selbst empfunden werden. (Nach derselben Logik des Gefühls heisst in allen pessimistischen Religionen das Nichts G ot t .) 18. Viel häufiger als eine solche hypnotistische Gesammtdämpfung der Sensibilität, der Schmerzfähigkeit, welche schon seltnere Kräfte, vor Allem Muth, Verachtung der Meinung, „intellektuellen Stoicismus“ voraussetzt, wird gegen Depressions-Zustände ein anderes training versucht, welches jedenfalls leichter ist : d ie m ac h i n a le T h ät i g k e it . Dass mit ihr ein leidendes Dasein in einem nicht unbeträchtlichen Grade erleichtert wird, steht ausser allem Zweifel : man nennt heute diese Thatsache, etwas unehrlich‚ „den Segen der Arbeit“. Die Erleichterung besteht darin, dass das Interesse des Leidenden grundsätzlich vom Leiden abgelenkt wird, – dass beständig ein Thun und wieder nur ein Thun in’s Bewusstsein tritt und folglich wenig Platz darin für Leiden bleibt : denn sie ist e n g , diese Kammer des menschlichen Bewusstseins ! Die machinale Thätigkeit und was zu ihr gehört – wie die absolute Regularität, der pünktliche besinnungslose Gehorsam, das Ein-für-alle-Mal der Lebensweise, die Ausfüllung der Zeit, eine gewisse Erlaubniss, ja eine Zucht zur „Unpersönlichkeit“, zum Sich-selbst-Vergessen, zur „incuria sui“ – : wie gründlich,
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wie fein hat der asketische Priester sie im Kampf mit dem Schmerz zu benutzen gewusst ! Gerade wenn er mit Leidenden der niederen Stände, mit Arbeitssklaven oder Gefangenen zu thun hatte (oder mit Frauen : die ja meistens Beides | zugleich sind, Arbeitssklaven und Gefangene), so bedurfte es wenig mehr als einer kleinen Kunst des Namenwechselns und der Umtaufung, um sie in verhassten Dingen fürderhin eine Wohlthat, ein relatives Glück sehn zu machen : – die Unzufriedenheit des Sklaven mit seinem Loos ist jedenfalls n ic ht von den Priestern erfunden worden. – Ein noch geschätzteres Mittel im Kampf mit der Depression ist die Ordinirung einer k le i n e n F r e u d e , die leicht zugänglich ist und zur Regel gemacht werden kann ; man bedient sich dieser Medikation häufig in Verbindung mit der eben besprochnen. Die häufigste Form, in der die Freude dergestalt als Kurmittel ordinirt wird, ist die Freude des Freude - M ac he n s (als Wohlthun, Beschenken, Erleichtern‚ Helfen, Zureden, Trösten, Loben, Auszeichnen) ; der asketische Priester verordnet damit, dass er „Nächstenliebe“ verordnet, im Grunde eine Erregung des stärksten, lebenbejahendsten Triebes, wenn auch in der vorsichtigsten Dosirung, – des W i l le n s z u r M ac ht . Das Glück der „kleinsten Überlegenheit“, wie es alles Wohlthun, Nützen, Helfen, Auszeichnen mit sich bringt, ist das reichlichste Trostmittel, dessen sich die Physiologisch-Gehemmten zu bedienen pflegen, gesetzt dass sie gut berathen sind : im andern Falle thun sie einander weh, natürlich im Gehorsam gegen den gleichen Grundinstinkt. Wenn man nach den Anfängen des Christenthums in der römischen Welt sucht, so fi ndet man Vereine zu gegenseitiger Unterstützung, Armen-, Kranken-, BegräbnissVereine‚ aufgewachsen auf dem untersten Boden der damaligen Gesellschaft, in denen mit Bewusstsein jenes Hauptmittel gegen die Depression, die kleine Freude, die des gegenseitigen Wohlthuns gepflegt wurde, – vielleicht war dies damals etwas | Neues, eine eigentliche Entdeckung ? In einem derge-
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stalt hervorgerufnen „Willen zur Gegenseitigkeit“, zur Heerdenbildung, zur „Gemeinde“, zum „Cönakel“ muss nun wiederum jener damit, wenn auch im Kleinsten, erregte Wille zur Macht, zu einem neuen und viel volleren Ausbruch kommen : die He e r d e n b i ld u n g ist im Kampf mit der Depression ein wesentlicher Schritt und Sieg. Im Wachsen der Gemeinde erstarkt auch für den Einzelnen ein neues Interesse, das ihn oft genug über das Persönlichste seines Missmuths, seine Abneigung gegen s ic h (die „despectio sui“ des Geulinx) hinweghebt. Alle Kranken, Krankhaften streben instinktiv, aus einem Verlangen nach Abschüttelung der dumpfen Unlust und des Schwächegefühls, nach einer Heerden-Organisation : der asketische Priester erräth diesen Instinkt und fördert ihn ; wo es Heerden giebt, ist es der Schwäche-Instinkt, der die Heerde gewollt hat, und die Priester-Klugheit, die sie organisirt hat. Denn man übersehe dies nicht : die Starken streben ebenso naturnothwendig au s einander, als die Schwachen z u einander ; wenn erstere sich verbinden, so geschieht es nur in der Aussicht auf eine aggressive Gesammt-Aktion und Gesammt-Befriedigung ihres Willens zur Macht, mit vielem Widerstande des Einzel-Gewissens ; letztere dagegen ordnen sich zusammen, mit Lu s t gerade an dieser Zusammenordnung, – ihr Instinkt ist dabei ebenso befriedigt, wie der Instinkt der geborenen „Herren“ (das heisst der solitären Raubthier-Species Mensch) im Grunde durch Organisation gereizt und beunruhigt wird. Unter jeder Oligarchie liegt – die ganze Geschichte lehrt es – immer das t y r a n n i s c he Gelüst versteckt ; jede Oligarchie zittert beständig von der Spannung her, welche jeder Einzelne | in ihr nöthig hat, Herr über dies Gelüst zu bleiben. (So war es zum Beispiel g r ie c h i s c h : Plato bezeugt es an hundert Stellen, Plato, der seines Gleichen kannte – u nd sich selbst …)
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19. Die Mittel des asketischen Priesters‚ welche wir bisher kennen lernten – die Gesammt-Dämpfung des Lebensgefühls, die machinale Thätigkeit, die kleine Freude, vor Allem die der „Nächstenliebe“, die Heerden-Organisation, die Erwekkung des Gemeinde-Machtgefühls‚ demzufolge der Verdruss des Einzelnen an sich durch seine Lust am Gedeihen der Gemeinde übertäubt wird – das sind, nach modernem Maasse gemessen, seine u n s c hu ld i g e n Mittel im Kampfe mit der Unlust : wenden wir uns jetzt zu den interessanteren, den „schuldigen“. Bei ihnen allen handelt es sich um Eins : um irgend eine Au s s c hwe i f u n g d e s G e f ü h l s , – diese gegen die dumpfe lähmende lange Schmerzhaftigkeit als wirksamstes Mittel der Betäubung benutzt ; weshalb die priesterliche Erfi ndsamkeit im Ausdenken dieser Einen Frage geradezu unerschöpfl ich gewesen ist : „wo d u r c h erzielt man eine Ausschweifung des Gefühls ?“ … Das klingt hart : es liegt auf der Hand, dass es lieblicher klänge und besser vielleicht zu Ohren gienge, wenn ich etwa sagte „der asketische Priester hat sich jederzeit die B e g e i s t e r u n g zu Nutze gemacht, die in allen starken Affekten liegt“. Aber wozu die verweichlichten Ohren unsrer modernen Zärtlinge noch streicheln ? Wozu u n s r e r s e it s ihrer Tartüfferie der Worte auch nur einen Schritt breit nachgeben ? Für uns Psychologen läge darin bereits eine Tartüfferie d e r T h at ; abgesehen davon, dass es uns Ekel machen würde. Ein Psychologe nämlich hat heute | darin, wenn irgend worin, seinen g ut e n G e s c h m ac k (– Andre mögen sagen : seine Rechtschaffenheit), dass er der schändlich ve r mor a l i s i r t e n Sprechweise widerstrebt, mit der nachgerade alles moderne Urtheilen über Mensch und Ding angeschleimt ist. Denn man täusche sich hierüber nicht : was das eigentlichste Merkmal moderner Seelen, moderner Bücher ausmacht, das ist nicht die Lüge, sondern die eingefleischte Un s c hu ld in der moralistischen Verlogenheit. Diese „Unschuld“ überall
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wieder entdecken müssen – das macht vielleicht unser widerlichstes Stück Arbeit aus, an all der an sich nicht unbedenklichen Arbeit, deren sich heute ein Psychologe zu unterziehn hat ; es ist ein Stück u n s r e r grossen Gefahr, – es ist ein Weg, der vielleicht gerade u n s zum grossen Ekel führt … Ich zweifle nicht daran‚ wo z u allein moderne Bücher (gesetzt, dass sie Dauer haben, was freilich nicht zu fürchten ist, und ebenfalls gesetzt, dass es einmal eine Nachwelt mit strengerem härteren g e s ü nd e r e n Geschmack giebt) – wozu a l le s Moderne überhaupt dieser Nachwelt dienen würde, dienen könnte : zu Brechmitteln, – und das vermöge seiner moralischen Versüsslichung und Falschheit, seines innerlichsten Femininismus, der sich gern „Idealismus“ nennt und jedenfalls Idealismus glaubt. Unsre Gebildeten von Heute, unsre „Guten“ lügen nicht – das ist wahr ; aber es gereicht ihnen n ic ht zur Ehre ! Die eigentliche Lüge, die ächte resolute „ehrliche“ Lüge (über deren Werth man Plato hören möge) wäre für sie etwas bei weitem zu Strenges, zu Starkes ; es würde verlangen, was man von ihnen nicht verlangen d a r f , dass sie die Augen gegen sich selbst aufmachten, dass sie zwischen „wahr“ und „falsch“ bei sich selber zu unterscheiden wüssten. Ihnen geziemt | allein die u ne h rl ic he Lü g e ; Alles, was sich heute als „guter Mensch“ fühlt, ist vollkommen unfähig, zu irgend einer Sache anders zu stehn als u ne h rl ic h -ve rlo g e n , abgründlich-verlogen‚ aber unschuldig-verlogen, treuherzig-verlogen, blauäugig-verlogen, tugendhaft-verlogen. Diese „guten Menschen“, – sie sind allesammt jetzt in Grund und Boden vermoralisirt und in Hinsicht auf Ehrlichkeit zu Schanden gemacht und verhunzt für alle Ewigkeit : wer von ihnen hielte noch eine Wa h r h e i t „über den Menschen“ aus ! … Oder, greifl icher gefragt : wer von ihnen ertrüge eine w a h r e Biographie ! … Ein paar Anzeichen : Lord Byron hat einiges Persönlichste über sich aufgezeichnet, aber Thomas Moore war „zu gut“ dafür : er verbrannte die Papiere seines
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Freundes. Dasselbe soll Dr. Gwinner gethan haben, der Testaments-Vollstrecker Schopenhauer’s : denn auch Schopenhauer hatte Einiges über sich und vielleicht auch gegen sich („ε&ς 'αυτν“) aufgezeichnet. Der tüchtige Amerikaner Thayer, der Biograph Beethoven’s, hat mit Einem Male in seiner Arbeit Halt gemacht : an irgend einem Punkte dieses ehrwürdigen und naiven Lebens angelangt, hielt er dasselbe nicht mehr aus … Moral : welcher kluge Mann schriebe heute noch ein ehrliches Wort über sich ? – er müsste denn schon zum Orden der heiligen Tollkühnheit gehören. Man verspricht uns eine Selbstbiographie Richard Wagner’s : wer zweifelt daran, dass es eine k lu g e Selbstbiographie sein wird ? … Gedenken wir noch des komischen Entsetzens, welches der katholische Priester Janssen mit seinem über alle Begriffe viereckig und harmlos gerathenen Bilde der deutschen Reformations-Bewegung in Deutschland erregt hat ; was würde man erst beginnen, wenn uns Jemand diese | Bewegung einmal a nd e r s erzählte, wenn uns einmal ein wirklicher Psycholog einen wirklichen Luther erzählte, nicht mehr mit der moralistischen Einfalt eines Landgeistlichen, nicht mehr mit der süsslichen und rücksichtsvollen Schamhaftigkeit protestantischer Historiker, sondern etwa mit einer Ta i ne’schen Unerschrockenheit, aus einer St ä r k e d e r S e e le heraus und nicht aus einer klugen Indulgenz gegen die Stärke ? … (Die Deutschen, anbei gesagt, haben den klassischen Typus der letzteren zuletzt noch schön genug herausgebracht, – sie dürfen ihn sich schon zurechnen, zu Gute rechnen : nämlich in ihrem Leopold Ranke, diesem gebornen klassischen advocatus jeder causa fortior, diesem klügsten aller klugen „Thatsächlichen“.) 20. Aber man wird mich schon verstanden haben : – Grund genug, nicht wahr, Alles in Allem, dass wir Psychologen heutzutage einiges Misstrauen g e g e n u n s s e l b s t nicht los werden ? …
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Wahrscheinlich sind auch wir noch „zu gut“ für unser Handwerk, wahrscheinlich sind auch wir noch die Opfer, die Beute, die Kranken dieses vermoralisirten Zeitgeschmacks, so sehr wir uns auch als dessen Verächter fühlen, – wahrscheinlich inficirt er auch noch u n s . Wovor warnte doch jener Diplomat, als er zu seines Gleichen redete ? „Misstrauen wir vor Allem, meine Herrn, unsren ersten Regungen ! sagte er, s ie s i n d f a s t i m me r g ut“ … So sollte auch jeder Psycholog heute zu seines Gleichen reden … Und damit kommen wir zu unserm Problem zurück, das in der That von uns einige Strenge verlangt, einiges Misstrauen in Sonderheit gegen die „ersten Regungen“. D a s a s k et i s c he Id e a l i m | D ie n s t e e i ner A b s ic ht au f G e f ü h l s -Au s s c hwe i f u n g : – wer sich der vorigen Abhandlung erinnert, wird den in diese neun Worte gedrängten Inhalt des nunmehr Darzustellenden im Wesentlichen schon vorwegnehmen. Die menschliche Seele einmal aus allen ihren Fugen zu lösen, sie in Schrecken, Fröste‚ Gluthen und Entzückungen derartig unterzutauchen, dass sie von allem Kleinen und Kleinlichen der Unlust, der Dumpfheit, der Verstimmung wie durch einen Blitzschlag loskommt : welche Wege führen zu d ie s e m Ziele ? Und welche von ihnen am sichersten ? … Im Grunde haben alle grossen Affekte ein Vermögen dazu, vorausgesetzt, dass sie sich plötzlich entladen, Zorn, Furcht, Wollust‚ Rache, Hoff nung, Triumph, Verzweiflung, Grausamkeit ; und wirklich hat der asketische Priester unbedenklich die g a n z e Meute wilder Hunde im Menschen in seinen Dienst genommen und bald diesen, bald jenen losgelassen, immer zu dem gleichen Zwecke, den Menschen aus der langsamen Traurigkeit aufzuwecken, seinen dumpfen Schmerz, sein zögerndes Elend für Zeiten wenigstens in die Flucht zu jagen, immer auch unter einer religiösen Interpretation und „Rechtfertigung“. Jede derartige Ausschweifung des Gefühls macht sich hinterdrein b e z a h lt , das versteht sich von selbst – sie macht den Kranken kränker – : und des-
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halb ist diese Art von Remeduren des Schmerzes, nach modernem Maasse gemessen, eine „schuldige“ Art. Man muss jedoch, weil es die Billigkeit verlangt, um so mehr darauf bestehen, dass sie m it g ut e m G ew i s s e n angewendet worden ist, dass der asketische Priester sie im tiefsten Glauben an ihre Nützlichkeit, ja Unentbehrlichkeit verordnet hat, – und oft genug selbst vor dem Jammer, den er schuf, fast zerbrechend ; | insgleichen, dass die vehementen physiologischen Revanchen solcher Excesse, vielleicht sogar geistige Störungen, im Grunde dem ganzen Sinne dieser Art Medikation nicht eigentlich widersprechen : als welche, wie vorher gezeigt worden ist, n ic ht auf Heilung von Krankheiten, sondern auf Bekämpfung der Depressions-Unlust, auf deren Linderung, deren Betäubung aus war. Dies Ziel wurde auch s o erreicht. Der Hauptgriff, den sich der asketische Priester erlaubte, um auf der menschlichen Seele jede Art von zerreissender und verzückter Musik zum Erklingen zu bringen, war damit gethan – Jedermann weiss das –‚ dass er sich das S c hu ld g e f ü h l zu Nutze machte. Dessen Herkunft hat die vorige Abhandlung kurz angedeutet – als ein Stück Thierpsychologie, als nicht mehr : das Schuldgefühl trat uns dort gleichsam in seinem Rohzustande entgegen. Erst unter den Händen des Priesters, dieses eigentlichen Künstlers in Schuldgefühlen, hat es Gestalt gewonnen – oh was für eine Gestalt ! Die „Sünde“ – denn so lautet die priesterliche Umdeutung des thierischen „schlechten Gewissens“ (der rückwärts gewendeten Grausamkeit) – ist bisher das grösste Ereigniss in der Geschichte der kranken Seele gewesen : in ihr haben wir das gefährlichste und verhängnissvollste Kunststück der religiösen Interpretation. Der Mensch, an sich selbst leidend, irgendwie, jedenfalls physiologisch, etwa wie ein Thier, das in den Käfig gesperrt ist, unklar, warum, wozu ? begehrlich nach Gründen – Gründe erleichtern –‚ begehrlich auch nach Mitteln und Narkosen‚ beräth sich endlich mit Einem, der auch das Ver-
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borgene weiss – und siehe da ! er bekommt einen Wink, er bekommt von seinem Zauberer, dem asketischen Priester, den e r s t e n Wink über die „Ursache“ seines Leidens : | er soll sie in s ic h suchen, in einer S c hu ld , in einem Stück Vergangenheit, er soll sein Leiden selbst als einen St r a f z u s t a nd verstehn … Er hat gehört, er hat verstanden, der Unglückliche : jetzt geht es ihm wie der Henne, um die ein Strich gezogen ist. Er kommt aus diesem Kreis von Strichen nicht wieder heraus : aus dem Kranken ist „der Sünder“ gemacht … Und nun wird man den Aspekt dieses neuen Kranken, „des Sünders“, für ein paar Jahrtausende nicht los, – wird man ihn je wieder los ? – wohin man nur sieht, überall der hypnotische Blick des Sünders, der sich immer in der Einen Richtung bewegt (in der Richtung auf „Schuld“, als der e i n z i g e n Leidens-Causalität) ; überall das böse Gewissen, dies „grewliche thier“, mit Luther zu reden ; überall die Vergangenheit zurückgekäut, die That verdreht, das „grüne Auge“ für alles Thun ; überall das zum Lebensinhalt gemachte Missverstehen -Wol le n des Leidens, dessen Umdeutung in Schuld-, Furcht- und Strafgefühle ; überall die Geissel, das härene Hemd, der verhungernde Leib, die Zerknirschung ; überall das Sich-selbst-Rädern des Sünders in dem grausamen Räderwerk eines unruhigen, krankhaftlüsternen Gewissens ; überall die stumme Qual, die äusserste Furcht, die Agonie des gemarterten Herzens, die Krämpfe eines unbekannten Glücks, der Schrei nach „Erlösung“. In der That, mit diesem System von Prozeduren war die alte Depression, Schwere und Müdigkeit gründlich ü b e r w u nd e n , das Leben wurde wieder s e h r interessant : wach, ewig wach, übernächtig, glühend‚ verkohlt, erschöpft und doch nicht müde – so nahm sich der Mensch aus, „der Sünder“, der in d ie s e Mysterien eingeweiht war. Dieser alte grosse Zauberer im Kampf mit der Unlust, der asketische Priester – | er hatte ersichtlich gesiegt, s e i n Reich war gekommen : schon klagte man nicht mehr g e g e n den Schmerz, man le c h z t e nach
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dem Schmerz ; „me h r Schmerz ! me h r Schmerz !“ so schrie das Verlangen seiner Jünger und Eingeweihten Jahrhunderte lang. Jede Ausschweifung des Gefühls, die wehe that, Alles was zerbrach, umwarf, zermalmte‚ entrückte, verzückte, das Geheimniss der Folterstätten, die Erfi ndsamkeit der Hölle selbst – Alles war nunmehr entdeckt, errathen, ausgenützt, Alles stand dem Zauberer zu Diensten, Alles diente fürderhin dem Siege seines Ideals, des asketischen Ideals … „Mein Reich ist nicht von d ie s e r Welt“ – redete er nach wie vor : hatte er wirklich das Recht noch, so zu reden ? … Goethe hat behauptet, es gäbe nur sechs und dreissig tragische Situationen : man erräth daraus, wenn man’s sonst nicht wüsste, dass Goethe kein asketischer Priester war. Der – kennt mehr … 21. In Hinsicht auf d ie s e ganze Art der priesterlichen Medikation, die „schuldige“ Art, ist jedes Wort Kritik zu viel. Dass eine solche Ausschweifung des Gefühls, wie sie in diesem Falle der asketische Priester seinen Kranken zu verordnen pflegt (unter den heiligsten Namen, wie sich von selbst versteht, insgleichen durchdrungen von der Heiligkeit seines Zwecks), irgend einem Kranken wirklich g e nüt z t habe, wer hätte wohl Lust, eine Behauptung der Art aufrecht zu halten ? Zum Mindesten sollte man sich über das Wort „nützen“ verstehn. Will man damit ausdrücken, ein solches System von Behandlung habe den Menschen ve r b e s s e r t , so widerspreche ich nicht : nur dass ich hinzufüge, was bei mir „verbessert“ heisst – ebenso viel wie „ge|zähmt“, „geschwächt“, „entmuthigt“, „raffi nirt“, „verzärtlicht“, „entmannt“ (also beinahe so viel als gesc häd ig t …). Wenn es sich aber in der Hauptsache um Kranke, Verstimmte, Deprimirte handelt, so macht ein solches System den Kranken, gesetzt selbst, dass es ihn „besser“ machte, unter allen Umständen k r ä n k e r ; man frage nur die Irrenärzte, was eine methodische Anwendung von Buss-Quälereien,
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Zerknirschungen und Erlösungskrämpfen immer mit sich führt. Insgleichen befrage man die Geschichte : überall, wo der asketische Priester diese Krankenbehandlung durchgesetzt hat, ist jedes Mal die Krankhaftigkeit unheimlich schnell in die Tiefe und Breite gewachsen. Was war immer der „Erfolg“ ? Ein zerrüttetes Nervensystem, hinzu zu dem, was sonst schon krank war ; und das im Grössten wie im Kleinsten, bei Einzelnen wie bei Massen. Wir fi nden im Gefolge des Buss- und Erlösungs-training ungeheure epileptische Epidemien, die grössten, von denen die Geschichte weiss, wie die der St. Veit- und St. Johann-Tänzer des Mittelalters ; wir fi nden als andre Form seines Nachspiels furchtbare Lähmungen und Dauer-Depressionen‚ mit denen unter Umständen das Temperament eines Volkes oder einer Stadt (Genf, Basel) ein für alle Mal in sein Gegentheil umschlägt ; – hierher gehört auch die Hexen-Hysterie, etwas dem Somnambulismus Verwandtes (acht grosse epidemische Ausbrüche derselben allein zwischen 1564 und 1605) – ; wir fi nden in seinem Gefolge insgleichen jene todsüchtigen Massen-Delirien, deren entsetzlicher Schrei „evviva la morte“ über ganz Europa weg gehört wurde, unterbrochen bald von wollüstigen, bald von zerstörungswüthigen Idiosynkrasien : wie der gleiche Affektwechsel, mit den gleichen Intermittenzen | und Umsprüngen auch heute noch überall beobachtet wird, in jedem Falle, wo die asketische Sündenlehre es wieder einmal zu einem grossen Erfolge bringt (die religiöse Neurose e r s c he i nt als eine Form des „bösen Wesens“ : daran ist kein Zweifel. Was sie ist ? Quaeritur.) In’s Grosse gerechnet, so hat sich das asketische Ideal und sein sublim-moralischer Cultus, diese geistreichste, unbedenklichste und gefährlichste Systematisirung aller Mittel der Gefühls-Ausschweifung unter dem Schutz heiliger Absichten auf eine furchtbare und unvergessliche Weise in die ganze Geschichte des Menschen eingeschrieben ; und leider n ic ht nu r in seine Geschichte … Ich wüsste kaum noch
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etwas Anderes geltend zu machen, was dermaassen zerstörerisch der G e s u nd he it und Rassen-Kräftigkeit, namentlich der Europäer, zugesetzt hat als dies Ideal ; man darf es ohne alle Übertreibung d a s e i g e nt l ic he Ve rh ä n g n i s s in der Gesundheitsgeschichte des europäischen Menschen nennen. Höchstens, dass seinem Einflusse noch der spezifisch-germanische Einfluss gleichzusetzen wäre : ich meine die AlkoholVergiftung Europa’s‚ welche streng mit dem politischen und Rassen-Übergewicht der Germanen bisher Schritt gehalten hat (– wo sie ihr Blut einimpften, impften sie auch ihr Laster ein). – Zudritt in der Reihe wäre die Syphilis zu nennen, – magno sed proxima intervallo. 22. Der asketische Priester hat die seelische Gesundheit verdorben, wo er auch nur zur Herrschaft gekommen ist, er hat folglich auch den G e s c h m ac k verdorben in artibus et litteris, – er verdirbt ihn immer noch. „Folglich“ ? – Ich hoffe, man giebt mir | dies Folglich einfach zu ; zum Mindesten will ich es nicht erst beweisen. Ein einziger Fingerzeig : er gilt dem Grundbuche der christlichen Litteratur, ihrem eigentlichen Modell, ihrem „Buche an sich“. Noch inmitten der griechisch-römischen Herrlichkeit, welche auch eine Bücher-Herrlichkeit war, Angesichts einer noch nicht verkümmerten und zertrümmerten antiken Schriften-Welt, zu einer Zeit, da man noch einige Bücher lesen konnte, um deren Besitz man jetzt halbe Litteraturen eintauschen würde, wagte es bereits die Einfalt und Eitelkeit christlicher Agitatoren – man heisst sie Kirchenväter – zu dekretiren : „auch w i r haben unsre klassische Litteratur, w i r br auc hen d ie der Gr iec hen n ic ht“, – und dabei wies man stolz auf Legendenbücher, Apostelbriefe und apologetische Traktätlein hin, ungefähr so, wie heute die englische „Heilsarmee“ mit einer verwandten Litteratur ihren Kampf gegen Shakespeare und andre „Heiden“ kämpft. Ich liebe das
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„neue Testament“ nicht, man erräth es bereits ; es beunruhigt mich beinahe, mit meinem Geschmack in Betreff dieses geschätztesten, überschätztesten Schriftwerks dermaassen allein zu stehn (der Geschmack zweier Jahrtausende ist g e g e n mich) : aber was hilft es ! „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“, – ich habe den Muth zu meinem schlechten Geschmack. Das a lt e Testament – ja das ist ganz etwas Anderes : alle Achtung vor dem alten Testament ! In ihm fi nde ich grosse Menschen, eine heroische Landschaft und Etwas vom Allerseltensten auf Erden, die unvergleichliche Naivetät des s t a r k e n He r z e n s ; mehr noch, ich fi nde ein Volk. Im neuen dagegen lauter kleine Sekten-Wirthschaft, lauter Rokoko der Seele, lauter Verschnörkeltes, Winkliges‚ Wunderliches, lauter Conventikel-Luft, nicht zu | vergessen einen gelegentlichen Hauch bukolischer Süsslichkeit, welcher der Epoche (u nd der römischen Provinz) angehört und nicht sowohl jüdisch als hellenistisch ist. Demuth und Wichtigthuerei dicht nebeneinander ; eine Geschwätzigkeit des Gefühls, die fast betäubt ; Leidenschaftlichkeit, keine Leidenschaft ; pein liches Gebärdenspiel ; hier hat ersichtlich jede gute Erziehung gefehlt. Wie darf man von seinen kleinen Untugenden so viel Wesens machen, wie es diese frommen Männlein thun ! Kein Hahn kräht darnach ; geschweige denn Gott. Zuletzt wollen sie gar noch „die Krone des ewigen Lebens“ haben, alle diese kleinen Leute der Provinz : wozu doch ? wofür doch ? man kann die Unbescheidenheit nicht weiter treiben. Ein „unsterblicher“ Petrus : wer hielte d e n aus ! Sie haben einen Ehrgeiz, der lachen macht : d a s käut sein Persönlichstes, seine Dummheiten, Traurigkeiten und Eckensteher-Sorgen vor, als ob das An-sich-der-Dinge verpfl ichtet sei, sich darum zu kümmern, d a s wird nicht müde, Gott selber in den kleinsten Jammer hinein zu wickeln, in dem sie drin stecken. Und dieses beständige Auf-du-unddu mit Gott des schlechtesten Geschmacks ! Diese jüdische, nicht bloss jüdische Zudringlichkeit gegen Gott mit Maul und
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Tatze ! … Es giebt kleine verachtete „Heidenvölker“ im Osten Asien’s‚ von denen diese ersten Christen etwas Wesentliches hätten lernen können, etwas Ta k t der Ehrfurcht ; jene erlauben sich nicht, wie christ liche Missionare bezeugen, den Namen ihres Gottes überhaupt in den Mund zu nehmen. Dies dünkt mich delikat genug ; gewiss ist, dass es nicht nur für „erste“ Christen zu delikat ist : man erinnere sich doch etwa, um den Gegensatz zu spüren, an Luther, diesen „beredtesten“ und unbescheidensten Bauer, den Deutsch|land gehabt hat, und an die Lutherische Tonart, die gerade ihm in seinen Zwiegesprächen mit Gott am besten gefiel. Luther’s Widerstand gegen die Mittler-Heiligen der Kirche (insbesondere gegen „des Teuffels Saw den Bapst“) war, daran ist kein Zweifel, im letzten Grunde der Widerstand eines Rüpels, den die g ut e E t i q u e t t e der Kirche verdross, jene Ehrfurchts-Etiquette des hieratischen Geschmacks, welche nur die Geweihteren und Schweigsameren in das Allerheiligste einlässt und es gegen die Rüpel zuschliesst. Diese sollen ein für alle Mal gerade hier nicht das Wort haben, – aber Luther, der Bauer, wollte es schlechterdings anders, so war es ihm nicht d eut s c h genug : er wollte vor Allem direkt reden, selber reden, „ungenirt“ mit seinem Gotte reden … Nun, er hat’s gethan. – Das asketische Ideal, man erräth es wohl, war niemals und nirgendswo eine Schule des guten Geschmacks, noch weniger der guten Manieren, – es war im besten Fall eine Schule der hieratischen Manieren – : das macht, es hat selber Etwas im Leibe, das allen guten Manieren todtfeind ist, – Mangel an Maass, Widerwillen gegen Maass, es ist selbst ein „non plus ultra“. 23. Das asketische Ideal hat nicht nur die Gesundheit und den Geschmack verdorben, es hat noch etwas Drittes, Viertes, Fünftes, Sechstes verdorben – ich werde mich hüten zu sagen w a s Alles (wann käme ich zu Ende !). Nicht was dies
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Ideal g ew i r k t hat, soll hier von mir an’s Licht gestellt werden ; vielmehr ganz allein nur, was es b e d eut et , worauf es rathen lässt, was hinter ihm, unter ihm, in ihm versteckt liegt, wofür es der vorläufige, undeutliche, mit Fragezeichen und Miss|verständnissen überladne Ausdruck ist. Und nur in Hinsicht auf d ie s e n Zweck durfte ich meinen Lesern einen Blick auf das Ungeheure seiner Wirkungen, auch seiner verhängnissvollen Wirkungen nicht ersparen : um sie nämlich zum letzten und furchtbarsten Aspekt vorzubereiten, den die Frage nach der Bedeutung jenes Ideals für mich hat. Was bedeutet eben die M ac ht jenes Ideals, das Un g e heu r e seiner Macht ? Weshalb ist ihm in diesem Maasse Raum gegeben worden ? weshalb nicht besser Widerstand geleistet worden ? Das asketische Ideal drückt einen Willen aus : wo ist der gegnerische Wille, in dem sich ein g e g ne r i s c he s Id e a l ausdrückte ? Das asketische Ideal hat ein Z ie l , – dasselbe ist allgemein genug, dass alle Interessen des menschlichen Daseins sonst, an ihm gemessen, kleinlich und eng erscheinen ; es legt sich Zeiten, Völker, Menschen unerbittlich auf dieses Eine Ziel hin aus, es lässt keine andere Auslegung, kein andres Ziel gelten, es verwirft, verneint, bejaht, bestätigt allein im Sinne s e i ne r Interpretation (– und gab es je ein zu Ende gedachteres System von Interpretation ?) ; es unterwirft sich keiner Macht, es glaubt vielmehr an sein Vorrecht vor jeder Macht, an seine unbedingte R a n g- D i s t a n z in Hinsicht auf jede Macht, – es glaubt daran, dass Nichts auf Erden von Macht da ist, das nicht von ihm aus erst einen Sinn, ein Daseins-Recht, einen Werth zu empfangen habe, als Werkzeug zu s e i nem Werke, als Weg und Mittel zu s e i ne m Ziele, zu Einem Ziele … Wo ist das G e g e n s t ü c k zu diesem geschlossenen System von Wille, Ziel und Interpretation ? Warum f e h lt das Gegenstück ? … Wo ist das a nd r e „Eine Ziel“ ? … Aber man sagt mir, es fehle n ic ht , es habe nicht nur einen langen glück|lichen Kampf mit jenem Ideale gekämpft, es sei vielmehr in allen Hauptsachen
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bereits über jenes Ideal Herr geworden : unsre ganze moderne W i s s e n s c h a f t sei das Zeugniss dafür, – diese moderne Wissenschaft, welche, als eine eigentliche Wirklichkeits-Philosophie, ersichtlich allein an sich selber glaube, ersichtlich den Muth zu sich, den Willen zu sich besitze und gut genug bisher ohne Gott, Jenseits und verneinende Tugenden ausgekommen sei. Indessen mit solchem Lärm und Agitatoren-Geschwätz richtet man Nichts bei mir aus : diese Wirklichkeits-Trompeter sind schlechte Musikanten, ihre Stimmen kommen hörbar genug n ic ht aus der Tiefe, aus ihnen redet n ic ht der Abgrund des wissenschaftlichen Gewissens – denn heute ist das wissenschaftliche Gewissen ein Abgrund –, das Wort „Wissenschaft“ ist in solchen Trompeter-Mäulern einfach eine Unzucht, ein Missbrauch, eine Schamlosigkeit. Gerade das Gegentheil von dem, was hier behauptet wird, ist die Wahrheit : die Wissenschaft hat heute schlechterdings k e i ne n Glauben an sich, geschweige ein Ideal ü b e r sich, – und wo sie überhaupt noch Leidenschaft, Liebe, Gluth, L e id e n ist, da ist sie nicht der Gegensatz jenes asketischen Ideals, vielmehr d e s s e n j ü n g s t e u nd vor ne h m s t e For m selber. Klingt auch das fremd ? … Es giebt ja genug braves und bescheidenes Arbeiter-Volk auch unter den Gelehrten von Heute, dem sein kleiner Winkel gefällt, und das darum, weil es ihm darin gefällt, bisweilen ein wenig unbescheiden mit der Forderung laut wird, man s ol le überhaupt heute zufrieden sein, zumal in der Wissenschaft, – es gäbe da gerade so viel Nützliches zu thun. Ich widerspreche nicht ; am wenigsten möchte ich diesen ehrlichen Arbeitern ihre Lust am Handwerk verderben : | denn ich freue mich ihrer Arbeit. Aber damit, dass jetzt in der Wissenschaft streng gearbeitet wird und dass es zufriedne Arbeiter giebt, ist schlechterdings n ic ht bewiesen, dass die Wissenschaft als Ganzes heute ein Ziel, einen Willen, ein Ideal, eine Leidenschaft des grossen Glaubens habe. Das Gegentheil‚ wie gesagt, ist der Fall : wo sie nicht die jüngste
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Erschei nungsform des asketischen Ideals ist, – es handelt sich da um zu seltne, vornehme, ausgesuchte Fälle, als dass damit das Gesammturtheil umgebogen werden könnte – ist die Wissenschaft heute ein Ve r s t e c k für alle Art Missmuth, Unglauben, Nagewurm, despectio sui, schlechtes Gewissen, – sie ist die Un r u he der Ideallosigkeit selbst, das Leiden am Ma n g e l der grossen Liebe, das Ungenügen an einer u n f r e i w i l l i g e n Genügsamkeit. Oh was verbirgt heute nicht Alles Wissenschaft ! wie viel s ol l sie mindestens verbergen ! Die Tüchtigkeit unsrer besten Gelehrten, ihr besinnungsloser Fleiss, ihr Tag und Nacht rauchender Kopf, ihre Handwerks-Meisterschaft selbst – wie oft hat das Alles seinen eigentlichen Sinn darin, sich selbst irgend Etwas nicht mehr sichtbar werden zu lassen ! Die Wissenschaft als Mittel der Selbst-Betäubung : k e n nt i h r d a s ? … Man verwundet sie – Jeder erfährt es, der mit Gelehrten umgeht – mitunter durch ein harmloses Wort bis auf den Knochen, man erbittert seine gelehrten Freunde gegen sich, im Augenblick, wo man sie zu ehren meint, man bringt sie ausser Rand und Band, bloss weil man zu grob war, um zu errathen, mit wem man es eigentlich zu thun hat, mit L e id e nd e n , die es sich selbst nicht eingestehn wollen, was sie sind, mit Betäubten und Besinnungslosen, die nur Eins fürchten : z u m B ew u s s t s e i n z u k om me n … | 24. – Und nun sehe man sich dagegen jene seltneren Fälle an, von denen ich sprach, die letzten Idealisten, die es heute unter Philosophen und Gelehrten giebt : hat man in ihnen vielleicht die gesuchten G e g n e r des asketischen Ideals, dessen G e g e n - Id e a l i s t e n ? In der That, sie g l au b e n sich als solche, diese „Ungläubigen“ (denn das sind sie allesammt) ; es scheint gerade Das ihr letztes Stück Glaube, Gegner dieses Ideals zu sein, so ernsthaft sind sie an dieser Stelle, so leidenschaftlich wird da gerade ihr Wort, ihre Gebärde : – brauchte es deshalb
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schon w a h r zu sein, was sie glauben ? … Wir „Erkennenden“ sind nachgerade misstrauisch gegen alle Art Gläubige ; unser Misstrauen hat uns allmählich darauf eingeübt, umgekehrt zu schliessen, als man ehedem schloss : nämlich überall, wo die Stärke eines Glaubens sehr in den Vordergrund tritt, auf eine gewisse Schwäche der Beweisbarkeit, auf Un w a h r s c he i n l ic h k e it selbst des Geglaubten zu schliessen. Auch wir leugnen nicht, dass der Glaube „selig macht“ : eb e n d e s h a l b leugnen wir, dass der Glaube Etwas b e we i s t , – ein starker Glaube, der selig macht, ist ein Verdacht gegen Das, woran er glaubt, er begründet nicht „Wahrheit“, er begründet eine gewisse Wahrscheinlichkeit – der Täu s c hu n g. Wie steht es nun in diesem Falle ? – Diese Verneinenden und Abseitigen von Heute, diese Unbedingten in Einem, im Anspruch auf intellektuelle Sauberkeit, diese harten, strengen, enthaltsamen, heroischen Geister, welche die Ehre unsrer Zeit ausmachen, alle diese blassen Atheisten, Antichristen, Immoralisten, Nihilisten, diese Skeptiker, Ephektiker, He kt i k e r des Geistes (letzteres sind sie sammt und sonders, in irgend einem | Sinne), diese letzten Idealisten der Erkenntniss, in denen allein heute das intellektuelle Gewissen wohnt und leibhaft ward, – sie glauben sich in der That so losgelöst als möglich vom asketischen Ideale, diese „freien, s e h r freien Geister“ : und doch, dass ich ihnen verrathe‚ was sie selbst nicht sehen können – denn sie stehen sich zu nahe – dies Ideal ist gerade auch i h r Ideal, sie selbst stellen es heute dar, und Niemand sonst vielleicht, sie selbst sind seine vergeistigtste Ausgeburt, seine vorgeschobenste Krieger- und Kundschafter-Schaar, seine verfänglichste, zarteste, unfasslichste Verführungsform : – wenn ich irgend worin Räthselrather bin, so will ich es mit d ie s e m Satze sein ! Das sind noch lange keine f r e ie n Geister : den n sie g lauben noc h a n d ie Wa h rheit … Als die christlichen Kreuzfahrer im Orient auf jenen unbesiegbaren Assassinen-Orden stiessen‚ jenen Freigeister-
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Orden par excellence, dessen unterste Grade in einem Gehorsame lebten, wie einen gleichen kein Mönchsorden erreicht hat, da bekamen sie auf irgend welchem Wege auch einen Wink über jenes Symbol und Kerbholz-Wort, das nur den obersten Graden, als deren Secretum‚ vorbehalten war : „Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt“ … Wohlan, d a s war Fr e i he it des Geistes, d a m it war der Wahrheit selbst der Glaube g e k ü nd i g t … Hat wohl je schon ein europäischer, ein christlicher Freigeist sich in diesen Satz und seine labyrinthischen Fol g e r u n g e n verirrt ? kennt er den Minotauros dieser Höhle au s E r f a h r u n g ? … Ich zweifle daran, mehr noch, ich weiss es anders : – Nichts ist diesen Unbedingten in Einem, diesen s og e n a n nt e n „freien Geistern“ gerade fremder als Freiheit und Entfesselung in jenem Sinne, in keiner Hinsicht sind | sie gerade fester gebunden, im Glauben gerade an die Wahrheit sind sie, wie Niemand anders sonst, fest und unbedingt. Ich kenne dies Alles vielleicht zu sehr aus der Nähe : jene verehrenswürdige Philosophen-Enthaltsamkeit, zu der ein solcher Glaube verpfl ichtet, jener Stoicismus des Intellekts, der sich das Nein zuletzt eben so streng verbietet wie das Ja, jenes Stehenbleiben -Wol le n vor dem Thatsächlichen, dem factum br ut u m , jener Fatalismus der „petits faits“ (ce petit faitalisme, wie ich ihn nenne), worin die französische Wissenschaft jetzt eine Art moralischen Vorrangs vor der deutschen sucht, jenes Verzichtleisten auf Interpretation überhaupt (auf das Vergewaltigen, Zurechtschieben, Abkürzen, Weglassen, Ausstopfen, Ausdichten, Umfälschen und was sonst zum We s e n alles Interpretirens gehört) – das drückt, in’s Grosse gerechnet, ebensogut Ascetismus der Tugend aus, wie irgend eine Verneinung der Sinnlichkeit (es ist im Grunde nur ein modus dieser Verneinung). Was aber zu ihm z w i n g t , jener unbedingte Wille zur Wahrheit, das ist der Glaube a n d a s a sk et i sc he Id e a l s e l b s t , wenn auch als sein unbewusster Imperativ, man täusche sich hierüber nicht, – das ist der Glaube an einen
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met aphy s i s c he n Werth, einen Werth a n s ic h d er Wa h r he it , wie er allein in jenem Ideal verbürgt und verbrieft ist (er steht und fällt mit jenem Ideal). Es giebt, streng geurtheilt, gar keine „voraussetzungslose“ Wissenschaft, der Gedanke einer solchen ist unausdenkbar, para logisch : eine Philosophie, ein „Glaube“ muss immer erst da sein, damit aus ihm die Wissenschaft eine Richtung, einen Sinn, eine Grenze, eine Methode, ein R e c ht auf Dasein gewinnt. (Wer es umgekehrt versteht, wer zum Beispiel sich anschickt, die Philoso|phie „auf streng wissenschaftliche Grundlage“ zu stellen, der hat dazu erst nöthig, nicht nur die Philosophie, sondern auch die Wahrheit selber au f d e n K o pf z u s t e l le n : die ärgste Anstands-Verletzung, die es in Hinsicht auf zwei so ehrwürdige Frauenzimmer geben kann !) Ja, es ist kein Zweifel – und hiermit lasse ich meine „fröhliche Wissenschaft“ zu Worte kommen, vergl. deren fünftes Buch S. 263 – „der Wahrhaftige, in jenem verwegenen und letzten Sinne, wie ihn der Glaube an die Wissenschaft voraussetzt, b eja ht d a m it e i ne a nd r e We lt als die des Lebens, der Natur und der Geschichte ; und insofern er diese „andre Welt“ bejaht, wie ? muss er nicht eben damit ihr Gegenstück, diese Welt, u n s r e Welt – verneinen ? … Es ist immer noch ein met a phy s i s c he r G l au b e, auf dem unser Glaube an die Wissenschaft ruht, – auch wir Erkennenden von Heute, wir Gottlosen und Antimetaphysiker, auch wir nehmen u n s e r Feuer noch von jenem Brande, den ein Jahrtausende alter Glaube entzündet hat, jener Christen-Glaube, der auch der Glaube Plato’s war, dass Gott die Wahrheit ist, dass die Wahrheit g öt t l ic h ist … Aber wie, wenn gerade dies immer mehr unglaubwürdig wird, wenn Nichts sich mehr als göttlich erweist, es sei denn der Irrthum, die Blindheit, die Lüge, – wenn Gott selbst sich als unsre l ä n g s t e Lü g e erweist ?“ – – An dieser Stelle thut es Noth, Halt zu machen und sich lange zu besinnen. Die Wissenschaft selber b e d a r f nunmehr einer Rechtfertigung (womit noch nicht einmal gesagt
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sein soll, dass es eine solche für sie giebt). Man sehe sich auf diese Frage die ältesten und die jüngsten Philosophien an : in ihnen allen fehlt ein Bewusstsein darüber, inwiefern der Wille zur Wahrheit selbst erst einer | Rechtfertigung bedarf, hier ist eine Lücke in jeder Philosophie – woher kommt das ? Weil das asketische Ideal über alle Philosophie bisher He r r war, weil Wahrheit als Sein, als Gott, als oberste Instanz selbst gesetzt wurde, weil Wahrheit gar nicht Problem sein d u r f t e. Versteht man dies „durfte“ ? – Von dem Augenblick an, wo der Glaube an den Gott des asketischen Ideals verneint ist, g iebt es auc h ei n neues P roblem : das vom We r t he der Wahrheit. – Der Wille zur Wahrheit bedarf einer Kritik – bestimmen wir hiermit unsre eigene Aufgabe –‚ der Werth der Wahrheit ist versuchsweise einmal i n Fr a g e z u s t e l le n … (Wem dies zu kurz gesagt scheint, dem sei empfohlen, jenen Abschnitt der „fröhlichen Wissenschaft“ nachzulesen, welcher den Titel trägt : „Inwiefern auch wir noch fromm sind“ S. 260 ff, am besten das ganze fünfte Buch des genannten Werks, insgleichen die Vorrede zur „Morgenröthe“.) 25. Nein ! Man komme mir nicht mit der Wissenschaft, wenn ich nach dem natürlichen Antagonisten des asketischen Ideals suche, wenn ich frage : „wo ist der gegnerische Wille, in dem sich sein g e g ne r i s c he s Id e a l ausdrückt ?“ Dazu steht die Wissenschaft lange nicht genug auf sich selber, sie bedarf in jedem Betrachte erst eines Werth-Ideals, einer wertheschaffenden Macht, in deren D ie n s t e sie an sich selber g l au b e n d a r f , – sie selbst ist niemals wertheschaffend. Ihr Verhältniss zum asketischen Ideal ist an sich durchaus noch nicht antagonistisch ; sie stellt in der Hauptsache sogar eher noch die vorwärtstreibende Kraft in dessen innerer Ausgestaltung dar. Ihr Widerspruch und | Kampf bezieht sich, feiner geprüft, gar nicht auf das Ideal selbst, sondern nur auf dessen Aussen-
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werke, Einkleidung, Maskenspiel, auf dessen zeitweilige Verhärtung, Verholzung, Verdogmatisirung – sie macht das Leben in ihm wieder frei, indem sie das Exoterische an ihm verneint. Diese Beiden, Wissenschaft und asketisches Ideal, sie stehen ja auf Einem Boden – ich gab dies schon zu verstehn – : nämlich auf der gleichen Überschätzung der Wahrheit (richtiger : auf dem gleichen Glauben an die Un abschätzbarkeit, U n kritisirbarkeit der Wahrheit), eben damit sind sie sich n ot hwe n d i g Bundesgenossen, – so dass sie, gesetzt, dass sie bekämpft werden, auch immer nur gemeinsam bekämpft und in Frage gestellt werden können. Eine Werthabschätzung des asketischen Ideals zieht unvermeidlich auch eine Werthabschätzung der Wissenschaft nach sich : dafür mache man sich bei Zeiten die Augen hell, die Ohren spitz ! (Die K u n s t , vorweg gesagt, denn ich komme irgendwann des Längeren darauf zurück, – die Kunst, in der gerade die Lü g e sich heiligt, der W i l le z u r T äu s c hu n g das gute Gewissen zur Seite hat, ist dem asketischen Ideale viel grundsätzlicher entgegengestellt als die Wissenschaft : so empfand es der Instinkt Plato’s, dieses grössten Kunstfeindes, den Europa bisher hervorgebracht hat. Plato g e g e n Homer : das ist der ganze, der ächte Antagonismus – dort der „Jenseitige“ besten Willens, der grosse Verleumder des Lebens, hier dessen unfreiwilliger Vergöttlicher, die g old e ne Natur. Eine Künstler-Dienstbarkeit im Dienste des asketischen Ideals ist deshalb die eigentlichste Künstler- Cor r u pt io n , die es geben kann, leider eine der allergewöhnlichsten : denn Nichts ist corruptibler, als ein Künstler.) Auch physio|logisch nachgerechnet, ruht die Wissenschaft auf dem gleichen Boden wie das asketische Ideal : eine gewisse Ver a r mu n g de s L eben s ist hier wie dort die Voraussetzung‚ – die Affekte kühl geworden, das tempo verlangsamt, die Dialektik an Stelle des Instinktes, der E r n s t den Gesichtern und Gebärden aufgedrückt (der Ernst, dieses unmissverständlichste Abzeichen des mühsameren Stoff-
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wechsels, des ringenden, schwerer arbeitenden Lebens). Man sehe sich die Zeiten eines Volkes an, in denen der Gelehrte in den Vordergrund tritt : es sind Zeiten der Ermüdung, oft des Abends, des Niederganges, – die überströmende Kraft, die Lebens-Gewissheit, die Zu k u n f t s - Gewissheit sind dahin. Das Übergewicht des Mandarinen bedeutet niemals etwas Gutes : so wenig als die Heraufkunft der Demokratie, der Friedens-Schiedsgerichte an Stelle der Kriege, der Frauen-Gleichberechtigung, der Religion des Mitleids und was es sonst Alles für Symptome des absinkenden Lebens giebt. (Wissenschaft als Problem gefasst ; was bedeutet Wissenschaft ? – vergl. darüber die Vorrede zur „Geburt der Tragödie“.) – Nein ! diese „moderne Wissenschaft“ – macht euch nur dafür die Augen auf ! – ist einstweilen die b e s t e Bundesgenossin des asketischen Ideals, und gerade deshalb, weil sie die unbewussteste, die unfreiwilligste, die heimlichste und unterirdischste ist ! Sie haben bis jetzt Ein Spiel gespielt, die „Armen des Geistes“ und die wissenschaftlichen Widersacher jenes Ideals (man hüte sich, anbei gesagt, zu denken, dass sie deren Gegensatz seien, etwa als die R e ic he n des Geistes : – das sind sie n ic ht , ich nannte sie Hektiker des Geistes). Diese berühmten Sie g e der letzteren : unzweifelhaft, es sind Siege – aber worüber ? Das asketische Ideal wurde | ganz und gar nicht in ihnen besiegt, es wurde eher damit stärker, nämlich unfasslicher‚ geistiger, verfänglicher gemacht, dass immer wieder eine Mauer, ein Aussenwerk, das sich an dasselbe angebaut hatte und seinen Aspekt ve r g r ö b e r t e, seitens der Wissenschaft schonungslos abgelöst, abgebrochen worden ist. Meint man in der That‚ dass etwa die Niederlage der theologischen Astronomie eine Niederlage jenes Ideals bedeute ? … Ist damit vielleicht der Mensch we n i g e r b e d ü r f t i g nach einer Jenseitigkeits-Lösung seines Räthsels von Dasein geworden, dass dieses Dasein sich seitdem noch beliebiger, eckensteherischer, entbehrlicher in der s ic ht b a r e n Ordnung der Dinge
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ausnimmt ? Ist nicht gerade die Selbstverkleinerung des Menschen, sein W i l le zur Selbstverkleinerung seit Kopernikus in einem unaufhaltsamen Fortschritte ? Ach, der Glaube an seine Würde, Einzigkeit, Unersetzlichkeit in der Rangabfolge der Wesen ist dahin, – er ist T h ie r geworden, Thier, ohne Gleichniss, Abzug und Vorbehalt, er, der in seinem früheren Glauben beinahe Gott („Kind Gottes“, „Gottmensch“) war … Seit Kopernikus scheint der Mensch auf eine schiefe Ebene gerathen, – er rollt immer schneller nunmehr aus dem Mittelpunkte weg – wohin ? in’s Nichts ? in’s „d u r c h b oh r e nd e Gefühl seines Nichts“ ? … Wohlan ! dies eben wäre der gerade Weg – in’s a lt e Ideal ? … A l le Wissenschaft (und keineswegs nur die Astronomie, über deren demüthigende und herunterbringende Wirkung Kant ein bemerkenswerthes Geständniss gemacht hat, „sie vernichtet meine Wichtigkeit“ …) alle Wissenschaft, die natürliche sowohl, wie die u n n at ü rl ic he – so heisse ich die Erkenntniss-Selbstkritik – ist heute darauf aus, dem Menschen seine bisherige Achtung | vor sich auszureden‚ wie als ob dieselbe Nichts als ein bizarrer Eigendünkel gewesen sei ; man könnte sogar sagen, sie habe ihren eigenen Stolz, ihre eigene herbe Form von stoischer Ataraxie darin, diese mühsam errungene S e l b s t ver ac ht u n g des Menschen als dessen letzten, ernstesten Anspruch auf Achtung bei sich selbst aufrecht zu erhalten (mit Recht, in der That : denn der Verachtende ist immer noch Einer, der „das Achten nicht verlernt hat“ …). Wird damit dem asketischen Ideale eigentlich e n t g e g e n g e a r b e i t e t ? Meint man wirklich alles Ernstes noch (wie es die Theologen eine Zeit lang sich einbildeten), dass etwa Kant’s Sie g über die theologische Begriffs-Dogmatik („Gott“, „Seele“, „Freiheit“, „Unsterblichkeit“) jenem Ideale Abbruch gethan habe ? – wobei es uns einstweilen Nichts angehen soll, ob Kant selber etwas Derartiges überhaupt auch nur in Absicht gehabt hat. Gewiss ist, dass alle Art Transcendentalisten seit Kant wieder gewonnenes Spiel haben, – sie
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sind von den Theologen emancipirt : welches Glück ! – er hat ihnen jenen Schleichweg verrathen, auf dem sie nunmehr auf eigne Faust und mit dem besten wissenschaftlichen Anstande den „Wünschen ihres Herzens“ nachgehen dürfen. Insgleichen : wer dürfte es nunmehr den Agnostikern verargen, wenn sie, als die Verehrer des Unbekannten und Geheimnissvollen an sich, d a s Fr a g e z e ic he n s e l b s t jetzt als Gott anbeten ? (Xaver Doudan spricht einmal von den ravages, welche „l’habitude d ’a d m i r e r l’inintelligible au lieu de rester tout simplement dans l’inconnu“ angerichtet habe ; er meint, die Alten hätten dessen entrathen.) Gesetzt, dass Alles, was der Mensch „erkennt“, seinen Wünschen nicht genug thut, ihnen vielmehr widerspricht und Schauder macht, welche göttliche Ausflucht, die | Schuld davon nicht im „Wünschen“, sondern im „Erkennen“ suchen zu dürfen ! … „Es giebt kein Erkennen : f ol g l ic h – giebt es einen Gott“ : welche neue elegantia syllogismi ! welcher Tr iu m ph des asketischen Ideals ! – 26. – Oder zeigte vielleicht die gesammte moderne Geschichtsschreibung eine lebensgewissere‚ idealgewissere Haltung ? Ihr vornehmster Anspruch geht jetzt dahin, S p ie g e l zu sein ; sie lehnt alle Teleologie ab ; sie will Nichts mehr „beweisen“ ; sie verschmäht es, den Richter zu spielen, und hat darin ihren guten Geschmack, – sie bejaht so wenig als sie verneint, sie stellt fest, sie „beschreibt“ … Dies Alles ist in einem hohen Grade asketisch ; es ist aber zugleich in einem noch höheren Grade n i h i l i s t i s c h , darüber täusche man sich nicht ! Man sieht einen traurigen, harten, aber entschlossenen Blick, – ein Auge, das h i n au s s c h aut , wie ein vereinsamter Nordpolfahrer hinausschaut (vielleicht um nicht hineinzuschauen ? um nicht zurückzuschauen ? …) Hier ist Schnee, hier ist das Leben verstummt ; die letzten Krähen, die hier laut werden, heissen „Wozu ?“‚ „Umsonst !“, „Nada !“ – hier gedeiht und
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wächst Nichts mehr, höchstens Petersburger Metapolitik und Tolstoi’sches „Mitleid“. Was aber jene andre Art von Historikern betriff t, eine vielleicht noch „modernere“ Art, eine genüssliche, wollüstige, mit dem Leben ebenso sehr als mit dem asketischen Ideal liebäugelnde Art, welche das Wort „Artist“ als Handschuh gebraucht und heute das Lob der Contemplation ganz und gar für sich in Pacht genommen hat : oh welchen Durst erregen diese süssen Geistreichen selbst noch nach Asketen und Winterlandschaften ! Nein ! dies „beschau|liche“ Volk mag sich der Teufel holen ! Um wie viel lieber will ich noch mit jenen historischen Nihilisten durch die düstersten grauen kalten Nebel wandern ! – ja, es soll mir nicht darauf ankommen, gesetzt, dass ich wählen muss, selbst einem ganz eigentlich Unhistorischen, Widerhistorischen Gehör zu schenken (wie jenem Dühring, an dessen Tönen sich im heutigen Deutschland eine bisher noch schüchterne, noch uneingeständliche Species „schöner Seelen“ berauscht, die Species anarchistica innerhalb des gebildeten Proletariats). Hundert Mal schlimmer sind die „Beschaulichen“ – : ich wüsste Nichts, was so sehr Ekel machte, als solch ein „objektiver“ Lehnstuhl, solch ein duftender Genüssling vor der Historie, halb Pfaff, halb Satyr, Parfum Renan, der schon mit dem hohen Falsett seines Beifalls verräth, was ihm abgeht, wo es ihm abgeht, wo in diesem Falle die Parze ihre grausame Scheere ach ! allzu chirurgisch gehandhabt hat ! Das geht mir wider den Geschmack, auch wider die Geduld : behalte bei solchen Aspekten seine Geduld, wer Nichts an ihr zu verlieren hat, – mich ergrimmt solch ein Aspekt, solche „Zuschauer“ erbittern mich gegen das „Schauspiel“, mehr noch als das Schauspiel (die Historie selbst, man versteht mich), unversehens kommen mir dabei anakreontische Launen. Diese Natur, die dem Stier das Horn, dem Löwen das χ"σμ( )δvτων gab, wozu gab mir die Natur den Fuss ? … Zum Treten, beim heiligen Anakreon ! und nicht nur zum Davonlaufen ; zum Zusammentreten der mor-
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schen Lehnstühle, der feigen Beschaulichkeit, des lüsternen Eunuchenthums vor der Historie, der Liebäugelei mit asketischen Idealen, der Gerechtigkeits-Tartüfferie der Impotenz ! Alle meine Ehrfurcht dem asketischen Ideale, s of e r n | e s e h rl ic h i s t ! so lange es an sich selber glaubt und uns keine Possen vormacht ! Aber ich mag alle diese koketten Wanzen nicht, deren Ehrgeiz unersättlich darin ist, nach dem Unendlichen zu riechen, bis zuletzt das Unend liche nach Wanzen riecht ; ich mag die übertünchten Gräber nicht, die das Leben schauspielern ; ich mag die Müden und Vernutzten nicht, welche sich in Weisheit einwickeln und „objektiv“ blicken ; ich mag die zu Helden aufgeputzten Agitatoren nicht, die eine Tarnkappe von Ideal um ihren Strohwisch von Kopf tragen ; ich mag die ehrgeizigen Künstler nicht, die den Asketen und Priester bedeuten möchten und im Grunde nur tragische Hanswürste sind ; ich mag auch sie nicht, diese neuesten Spekulanten in Idealismus, die Antisemiten, welche heute ihre Augen christlich-arisch-biedermännisch verdrehn und durch einen jede Geduld erschöpfenden Missbrauch des wohlfeilsten Agitationsmittels, der moralischen Attitüde, alle Hornvieh-Elemente des Volkes aufzuregen suchen (– dass j e d e Art Schwindel-Geisterei im heutigen Deutschland nicht ohne Erfolg bleibt, hängt mit der nachgerade unableugbaren und bereits handgreifl ichen Ve r ö d u n g des deutschen Geistes zusammen, deren Ursache ich in einer allzuausschliesslichen Ernährung mit Zeitungen, Politik, Bier und Wagnerischer Musik suche, hinzugerechnet, was die Voraussetzung für diese Diät abgiebt : einmal die nationale Einklemmung und Eitelkeit, das starke, aber enge Princip „Deutschland, Deutschland über Alles“, sodann aber die Paralysis agitans der „modernen Ideen“). Europa ist heute reich und erfi nderisch vor Allem in Erregungsmitteln, es scheint Nichts nöthiger zu haben als Stimulantia und gebrannte Wasser : daher auch die ungeheure Fälscherei in Idealen, diesen ge|branntesten Was-
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sern des Geistes, daher auch die widrige, übelriechende‚ verlogne, pseudo-alkoholische Luft überall. Ich möchte wissen, wie viel Schiffsladungen von nachgemachtem Idealismus, von Helden-Kostümen und Klapperblech grosser Worte, wie viel Tonnen verzuckerten spirituosen Mitgefühls (Firma : la religion de la souff rance), wie viel Stelzbeine „edler Entrüstung“ zur Nachhülfe geistig Plattfüssiger, wie viel K omö d i a nt e n des christlich-moralischen Ideals heute aus Europa exportirt werden müssten, damit seine Luft wieder reinlicher röche … Ersichtlich steht in Hinsicht auf diese Überproduktion eine neue H a nd e l s - Möglichkeit offen, ersichtlich ist mit kleinen Ideal-Götzen und zugehörigen „Idealisten“ ein neues „Geschäft“ zu machen – man überhöre diesen Zaunspfahl nicht ! Wer hat Muth genug dazu ? – wir haben es in der H a nd , die ganze Erde zu „idealisiren“ ! … Aber was rede ich von Muth : hier thut Eins nur Noth, eben die Hand, eine unbefangne, eine sehr unbefangne Hand … 27. – Genug ! Genug ! Lassen wir diese Curiositäten und Complexitäten des modernsten Geistes, an denen ebensoviel zum Lachen als zum Verdriessen ist : gerade u n s e r Problem kann deren entrathen, das Problem von der B e d eut u n g des asketischen Ideals, – was hat dasselbe mit Gestern und Heute zu thun ! Jene Dinge sollen von mir in einem andren Zusammenhange gründlicher und härter angefasst werden (unter dem Titel „Zur Geschichte des europäischen Nihilismus“ ; ich verweise dafür auf ein Werk, das ich vorbereite : Der Wille zur Macht, Versuch ei ner Umwer thung a l ler Wer the). Worauf es mir allein ankommt hier | hingewiesen zu haben, ist dies : das asketische Ideal hat auch in der geistigsten Sphäre einstweilen immer nur noch Eine Art von wirklichen Feinden und S c h ä d i g e r n : das sind die Komödianten dieses Ideals, – denn sie wecken Misstrauen. Überall sonst, wo der Geist heute streng, mächtig und ohne Falschmünzerei am Werke
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ist, entbehrt er jetzt überhaupt des Ideals – der populäre Ausdruck für diese Abstinenz ist „Atheismus“ – : abg er ec h net sei ne s Wi l len s z u r Wa h rheit. Dieser Wille aber, dieser R e s t von Ideal, ist, wenn man mir glauben will, jenes Ideal selbst in seiner strengsten, geistigsten Formulirung, esoterisch ganz und gar, alles Aussenwerks entkleidet, somit nicht sowohl sein Rest, als sein K e r n . Der unbedingte redliche Atheismus (– und s e i ne Luft allein athmen wir, wir geistigeren Menschen dieses Zeitalters !) steht demgemäss n ic ht im Gegensatz zu jenem Ideale, wie es den Anschein hat ; er ist vielmehr nur eine seiner letzten Entwicklungsphasen, eine seiner Schlussformen und inneren Folgerichtigkeiten, – er ist die Ehrfurcht gebietende K a t a s t r o p h e einer zweitausendjährigen Zucht zur Wahrheit, welche am Schlusse sich die Lü g e i m G l au b e n a n G ot t verbietet. (Derselbe Entwicklungsgang in Indien, in vollkommner Unabhängigkeit, und deshalb Etwas beweisend ; dasselbe Ideal zum gleichen Schlusse zwingend ; der entscheidende Punkt fünf Jahrhunderte vor der europäischen Zeitrechnung erreicht, mit Buddha, genauer : schon mit der Sankhyam-Philosophie, diese dann durch Buddha popularisirt und zur Religion gemacht.) Wa s , in aller Strenge gefragt, hat eigentlich über den christlichen Gott g e s i e g t ? Die Antwort steht in meiner „fröhlichen Wissenschaft“ S. 290 : „die christliche Moralität | selbst, der immer strenger genommene Begriff der Wahrhaftigkeit, die Beichtväter-Feinheit des christlichen Gewissens, übersetzt und sublimirt zum wissenschaftlichen Gewissen, zur intellektuellen Sauberkeit um jeden Preis. Die Natur ansehn, als ob sie ein Beweis für die Güte und Obhut eines Gottes sei ; die Geschichte interpretiren zu Ehren einer göttlichen Vernunft, als beständiges Zeugniss einer sittlichen Weltordnung und sittlicher Schlussabsichten ; die eigenen Erlebnisse auslegen, wie sie fromme Menschen lange genug ausgelegt haben, wie als ob Alles Fügung, Alles Wink, Alles dem Heil der Seele zu Liebe
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ausgedacht und geschickt sei : das ist nunmehr vor b e i , das hat das Gewissen g e g e n sich, das gilt allen feineren Gewissen als unanständig, unehrlich, als Lügnerei, Femininismus, Schwachheit, Feigheit, – mit dieser Strenge, wenn irgend womit, sind wir eben g ut e Eu r o p äe r und Erben von Europa’s längster und tapferster Selbstüberwindung“ … Alle grossen Dinge gehen durch sich selbst zu Grunde, durch einen Akt der Selbstaufhebung : so will es das Gesetz des Lebens, das Gesetz der not hwe nd i g e n „Selbstüberwindung“ im Wesen des Lebens, – immer ergeht zuletzt an den Gesetzgeber selbst der Ruf : „patere legem, quam ipse tulisti.“ Dergestalt gieng das Christenthum a l s D og m a zu Grunde, an seiner eignen Moral ; dergestalt muss nun auch das Christenthum a l s Mo r a l noch zu Grunde gehn, – wir stehen an der Schwelle d ie s e s Ereignisses. Nachdem die christliche Wahrhaftigkeit einen Schluss nach dem andern gezogen hat, zieht sie am Ende ihren s t ä r k s t e n S c h lu s s , ihren Schluss g e g e n sich selbst ; dies aber geschieht, wenn sie die Frage stellt „wa s bedeutet a l ler Wi l le z u r Wa h rheit ?“ … Und hier rühre | ich wieder an mein Problem, an unser Problem, meine u n b e k a n nt e n Freunde (– denn noch we i s s ich von keinem Freunde) : welchen Sinn hätte u n s e r ganzes Sein, wenn nicht den, dass in uns jener Wille zur Wahrheit sich selbst a l s P r o ble m zum Bewusstsein gekommen wäre ? … An diesem Sich-bewusstwerden des Willens zur Wahrheit geht von nun an – daran ist kein Zweifel – die Moral z u Gr u nd e : jenes grosse Schauspiel in hundert Akten, das den nächsten zwei Jahrhunderten Europa’s aufgespart bleibt, das furchtbarste, fragwürdigste und vielleicht auch hoff nungsreichste aller Schauspiele … 28. Sieht man vom asketischen Ideale ab : so hatte der Mensch, das T h ie r Mensch bisher keinen Sinn. Sein Dasein auf Erden enthielt kein Ziel ; „wozu Mensch überhaupt ?“ – war eine Frage
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ohne Antwort ; der W i l le für Mensch und Erde fehlte ; hinter jedem grossen Menschen-Schicksale klang als Refrain ein noch grösseres „Umsonst !“ D a s eben bedeutet das asketische Ideal : dass Etwas f e h lt e, dass eine ungeheure Lüc k e den Menschen umstand, – er wusste sich selbst nicht zu rechtfertigen, zu erklären, zu bejahen, er l it t am Probleme seines Sinns. Er litt auch sonst, er war in der Hauptsache ein k r a n k h a f t e s Thier : aber n ic ht das Leiden selbst war sein Problem, sondern dass die Antwort fehlte für den Schrei der Frage „wo z u leiden ?“ Der Mensch, das tapferste und leidgewohnteste Thier, verneint an sich n ic ht das Leiden : er w i l l es, er sucht es selbst auf, vorausgesetzt, dass man ihm einen S i n n dafür aufzeigt, ein D a z u des Leidens. Die Sinnlosigkeit des Leidens, n ic ht das Leiden, war der Fluch, der bisher über der | Menschheit ausgebreitet lag, – u nd d a s a sk et i sc he Idea l bot i h r ei nen Si n n ! Es war bisher der einzige Sinn ; irgend ein Sinn ist besser als gar kein Sinn ; das asketische Ideal war in jedem Betracht das „f aut e d e m ieu x“ par excellence, das es bisher gab. In ihm war das Leiden au s g e le g t ; die ungeheure Leere schien ausgefüllt ; die Thür schloss sich vor allem selbstmörderischen Nihilismus zu. Die Auslegung – es ist kein Zweifel – brachte neues Leiden mit sich, tieferes, innerlicheres, giftigeres, am Leben nagenderes : sie brachte alles Leiden unter die Perspektive der S c hu ld … Aber trotzalledem – der Mensch war damit g e r et t et , er hatte einen Si n n , er war fürderhin nicht mehr wie ein Blatt im Winde, ein Spielball des Unsinns, des „Ohne-Sinns“, er konnte nunmehr Etwas wolle n , – gleichgültig zunächst, wohin, wozu, womit er wollte : der Wi l le se lbst wa r g er et tet. Man kann sich schlechterdings nicht verbergen, w a s eigentlich jenes ganze Wollen ausdrückt, das vom asketischen Ideale her seine Richtung bekommen hat : dieser Hass gegen das Menschliche, mehr noch gegen das Thierische, mehr noch gegen das Stoffl iche, dieser Abscheu vor den Sinnen, vor der Vernunft selbst, diese
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Furcht vor dem Glück und der Schönheit, dieses Verlangen hinweg aus allem Schein, Wechsel, Werden, Tod, Wunsch, Verlangen selbst – das Alles bedeutet, wagen wir es, dies zu begreifen, einen W i l le n z u m N ic ht s , einen Widerwillen gegen das Leben, eine Auflehnung gegen die grundsätzlichsten Voraussetzungen des Lebens, aber es ist und bleibt ein W i l le ! … Und, um es noch zum Schluss zu sagen, was ich Anfangs sagte : lieber will noch der Mensch d a s N ic ht s wollen, als n ic ht wollen … |
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INHALT.
Erste Abhandlung : „Gut und Böse“, „Gut und Schlecht“ . . . . . . . . . . . . .
Seite 1
1
Zweite Abhandlung : „Schuld“, „Schlechtes Gewissen“ und Verwandtes . . . . .
39
Dritte Abhandlung : Was bedeuten asketische Ideale ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Seitenangaben beziehen sich auf die Paginierung der Originalausgabe der „Genealogie“.
Friedrich Nietzsche
Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt.
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Vorwort.
Inmitten einer düstern und über die Maassen verantwortlichen Sache seine Heiterkeit aufrecht erhalten ist nichts Kleines von Kunststück : und doch, was wäre nöthiger als Heiterkeit ? Kein Ding geräth, an dem nicht der Übermuth seinen Theil hat. Das Zuviel von Kraft erst ist der Beweis der Kraft. – Eine Umwe r t hu n g a l le r We r t he, dies Fragezeichen so schwarz, so ungeheuer, dass es Schatten auf Den wirft, der es setzt – ein solches Schicksal von Aufgabe zwingt jeden Augenblick, in die Sonne zu laufen, einen schweren, allzuschwer gewordnen Ernst von sich zu schütteln. Jedes Mittel ist dazu recht, jeder „Fall“ ein Glücksfall. Vor Allem der K r ie g. Der Krieg war immer die grosse Klugheit aller zu innerlich, zu tief gewordnen Geister ; selbst in der | Verwundung liegt noch Heilkraft. Ein Spruch, dessen Herkunft ich der gelehrten Neugierde vorenthalte, war seit langem mein Wahlspruch : increscunt animi, virescit volnere virtus. Eine andre Genesung, unter Umständen mir noch erwünschter, ist G öt z e n au s hor c he n … Es giebt mehr Götzen als Realitäten in der Welt : das ist me i n „böser Blick“ für diese Welt, das ist auch mein „böses Oh r“… Hier einmal mit dem H a m me r Fragen stellen und, vielleicht, als Antwort jenen berühmten hohlen Ton hören, der von geblähten Eingeweiden redet – welches Entzücken für Einen, der Ohren noch hinter den Ohren hat, – für mich alten Psychologen und Rattenfänger, vor dem gerade Das, was still bleiben möchte, l aut we r d e n mu s s … Auch diese Schrift – der Titel verräth es – ist vor Allem eine Erholung, ein Sonnenfleck, ein Seitensprung in den Müssig-
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Vorwort
iv | v
gang eines Psychologen. Vielleicht auch ein neuer Krieg ? Und werden neue Götzen ausgehorcht ? … Diese kleine Schrift ist eine g r o s s e K r ie g s e r k l ä r u n g ; und was das Aushorchen von Götzen anbetriff t, so sind es dies Mal keine Zeitgötzen, sondern | ew i g e Götzen, an die hier mit dem Hammer wie mit einer Stimmgabel gerührt wird, – es giebt überhaupt keine älteren, keine überzeugteren, keine aufgeblaseneren Götzen … Auch keine hohleren … Das hindert nicht, dass sie die g e g l au bt e s t e n sind ; auch sagt man, zumal im vornehmsten Falle, durchaus nicht Götze … Tu r i n , am 30. September 1888, am Tage, da das erste Buch der Umwe r t hu n g a l l e r We r t h e zu Ende kam.
Friedrich Nietzsche. |
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vi
Inhalt. Seite1
Sprüche und Pfeile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Das Problem des Sokrates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
Die „Vernunft“ in der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . .
18
Wie die „wahre Welt“ endlich zur Fabel wurde . . . . . .
26
Moral als Widernatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
28
Die vier grossen Irrthümer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
37
Die „Verbesserer“ der Menschheit . . . . . . . . . . . . . . . . . .
51
Was den Deutschen abgeht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
58
Streifzüge eines Unzeitgemässen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
69
Was ich den Alten verdanke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
130
Der Hammer redet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1
Seitenangaben beziehen sich auf die Paginierung der Originalausgabe.
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Sprüche und Pfeile.
1. Müssiggang ist aller Psychologie Anfang. Wie ? wäre Psychologie ein – Laster ? 2. Auch der Muthigste von uns hat nur selten den Muth zu dem, was er eigentlich we i s s … 3. Um allein zu leben, muss man ein Thier oder ein Gott sein – sagt Aristoteles. Fehlt der dritte Fall : man muss Beides sein – Ph i lo s o ph . 4. „Alle Wahrheit ist einfach.“ – Ist das nicht zwiefach eine Lüge ? – 5. Ich will, ein für alle Mal, Vieles n ic ht wissen. – Die Weisheit zieht auch der Erkenntniss Grenzen. 6. Man erholt sich in seiner wilden Natur am besten von seiner Unnatur, von seiner Geistigkeit … | 7. Wie ? ist der Mensch nur ein Fehlgriff Gottes ? Oder Gott nur ein Fehlgriff des Menschen ? – 8. Au s der K r ieg ssc hu le des L eben s. – Was mich nicht umbringt, macht mich stärker.
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Götzen-Dämmerung
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9. Hilf dir selber : dann hilft dir noch Jedermann. Princip der Nächstenliebe. 10. Dass man gegen seine Handlungen keine Feigheit begeht ! dass man sie nicht hinterdrein im Stiche lässt ! – Der Gewissensbiss ist unanständig. 11. Kann ein E s e l tragisch sein ? – Dass man unter einer Last zu Grunde geht, die man weder tragen, noch abwerfen kann ? … Der Fall des Philosophen. 12. Hat man sein w a r u m ? des Lebens, so verträgt man sich fast mit jedem w ie ? – Der Mensch strebt n ic ht nach Glück ; nur der Engländer thut das. 13. Der Mann hat das Weib geschaffen – woraus doch ? Aus einer Rippe seines Gottes, – seines „Ideals“ … | 14. Was ? du suchst ? du möchtest dich verzehnfachen, verhundertfachen ? du suchst Anhänger ? – Suche Nu l le n ! – 15. Posthume Menschen – ich zum Beispiel – werden schlechter verstanden als zeitgemässe, aber besser g e hö r t . Strenger : wir werden nie verstanden – und d a he r unsre Autorität … 16. Unt e r Fr aue n . – „Die Wahrheit ? Oh Sie kennen die Wahrheit nicht ! Ist sie nicht ein Attentat auf alle unsre pudeurs ?“ –
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Sprüche und Pfeile
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17. Das ist ein Künstler, wie ich Künstler liebe, bescheiden in seinen Bedürfnissen : er will eigentlich nur Zweierlei, sein Brod und seine Kunst, – panem et C i r c e n … 18. Wer seinen Willen nicht in die Dinge zu legen weiss, der legt wenigstens einen Si n n noch hinein : das heisst, er glaubt, dass ein Wille bereits darin sei (Princip des „Glaubens“). 19. Wie ? ihr wähltet die Tugend und den gehobenen Busen und seht zugleich scheel nach den Vortheilen der Unbedenklichen ? – Aber mit der Tugend ve r z ic ht et man auf „Vortheile“ … (einem Antisemiten an die Hausthür.) | 20. Das vollkommene Weib begeht Litteratur, wie es eine kleine Sünde begeht : zum Versuch, im Vorübergehn, sich umblikkend, ob es Jemand bemerkt und d a s s es Jemand bemerkt … 21. Sich in lauter Lagen begeben, wo man keine Scheintugenden haben darf, wo man vielmehr, wie der Seiltänzer auf seinem Seile, entweder stürzt oder steht – oder davon kommt … 22. „Böse Menschen haben keine Lieder.“ – Wie kommt es, dass die Russen Lieder haben ? 23. „Deutscher Geist“ : seit achtzehn Jahren eine contradictio in adjecto.
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Götzen-Dämmerung
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24. Damit, dass man nach den Anfängen sucht, wird man Krebs. Der Historiker sieht rückwärts ; endlich g l au bt er auch rückwärts. 25. Zufriedenheit schützt selbst vor Erkältung. Hat je sich ein Weib, das sich gut bekleidet wusste, erkältet ? – Ich setze den Fall, dass es kaum bekleidet war. | 26. Ich misstraue allen Systematikern und gehe ihnen aus dem Weg. Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit. 27. Man hält das Weib für tief – warum ? weil man nie bei ihm auf den Grund kommt. Das Weib ist noch nicht einmal flach. 28. Wenn das Weib männliche Tugenden hat, so ist es zum Davonlaufen ; und wenn es keine männlichen Tugenden hat, so läuft es selbst davon. 29. „Wie viel hatte ehemals das Gewissen zu beissen ! welche guten Zähne hatte es ! – Und heute ? woran fehlt es ?“ – Frage eines Zahnarztes. 30. Man begeht selten eine Übereilung allein. In der ersten Übereilung thut man immer zu viel. Eben darum begeht man gewöhnlich noch eine zweite – und nunmehr thut man zu wenig … 31. Der getretene Wurm krümmt sich. So ist es klug. Er verringert damit die Wahrscheinlichkeit, von Neuem getreten zu werden. In der Sprache der Moral : D e mut h . – |
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Sprüche und Pfeile
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32. Es giebt einen Hass auf Lüge und Verstellung aus einem reizbaren Ehrbegriff ; es giebt einen ebensolchen Hass aus Feigheit, insofern die Lüge, durch ein göttliches Gebot, ve r b ot e n ist. Zu feige, um zu lügen … 33. Wie wenig gehört zum Glücke ! Der Ton eines Dudelsacks. – Ohne Musik wäre das Leben ein Irrthum. Der Deutsche denkt sich selbst Gott liedersingend. 34. On ne peut penser et écrire qu’assis (G. Flaubert). – Damit habe ich dich, Nihilist ! Das Sitzfleisch ist gerade die S ü nd e wider den heiligen Geist. Nur die e r g a n g e ne n Gedanken haben Werth. 35. Es giebt Fälle, wo wir wie Pferde sind, wir Psychologen, und in Unruhe gerathen : wir sehen unsern eignen Schatten vor uns auf und niederschwanken. Der Psychologe muss von s ic h absehn, um überhaupt zu sehn. 36. Ob wir Immoralisten der Tugend S c h a d e n thun ? – Eben so wenig, als die Anarchisten den Fürsten. Erst seitdem diese angeschossen werden, sitzen sie wieder fest auf ihrem Thron. Moral : m a n mu s s d ie Mor a l a n s c h ie s s e n . | 37. Du läufst vor a n ? – Thust du das als Hirt ? oder als Ausnahme ? Ein dritter Fall wäre der Entlaufene … Er s t e Gewissensfrage.
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38. Bist du echt ? oder nur ein Schauspieler ? Ein Vertreter ? oder das Vertretene selbst ? – Zuletzt bist du gar bloss ein nachgemachter Schauspieler … Zwe it e Gewissensfrage. 39. D e r E nt t äu s c ht e s p r ic ht . – Ich suchte nach grossen Menschen, ich fand immer nur die A f f e n ihres Ideals. 40. Bist du Einer, der zusieht ? oder der Hand anlegt ? – oder der wegsieht, bei Seite geht ? … D r it t e Gewissensfrage. 41. Willst du mitgehn ? oder vorangehn ? oder für dich gehn ? … Man muss wissen, w a s man will und d a s s man will. – V ie r t e Gewissensfrage. 42. Das waren Stufen für mich, ich bin über sie hinaufgestiegen, – dazu musste ich über sie hinweg. Aber sie meinten, ich wollte mich auf ihnen zur Ruhe setzen … | 43. Was liegt daran, dass ic h Recht behalte ! Ich h a b e zu viel Recht. – Und wer heute am besten lacht, lacht auch zuletzt. 44. Formel meines Glücks : ein Ja, ein Nein, eine gerade Linie, ein Z ie l … |
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1. Über das Leben haben zu allen Zeiten die Weisesten gleich geurtheilt : e s t au g t n ic ht s … Immer und überall hat man aus ihrem Munde denselben Klang gehört, – einen Klang voll Zweifel, voll Schwermuth, voll Müdigkeit am Leben, voll Widerstand gegen das Leben. Selbst Sokrates sagte, als er starb : „leben – das heisst lange krank sein : ich bin dem Heilande Asklepios einen Hahn schuldig.“ Selbst Sokrates hatte es satt. – Was b ewe i s t das ? Worauf we i s t das ? – Ehemals hätte man gesagt (– oh man hat es gesagt und laut genug und unsre Pessimisten voran !) : „Hier muss jedenfalls Etwas wahr sein ! Der consensus sapientium beweist die Wahrheit.“ – Werden wir heute noch so reden ? d ü r f e n wir das ? „Hier muss jedenfalls Etwas k r a n k sein“ – geben w i r zur Antwort : diese Weisesten aller Zeiten, man sollte sie sich erst aus der Nähe ansehn ! | Waren sie vielleicht allesammt auf den Beinen nicht mehr fest ? spät ? wackelig ? décadents ? Erschiene die Weisheit vielleicht auf Erden als Rabe, den ein kleiner Geruch von Aas begeistert ? … 2. Mir selbst ist diese Unehrerbietigkeit, dass die grossen Weisen Nied e r g a n g s -Ty p e n sind, zuerst gerade in einem Falle aufgegangen, wo ihr am stärksten das gelehrte und ungelehrte Vorurtheil entgegensteht : ich erkannte Sokrates und Plato als Verfalls-Symptome, als Werkzeuge der griechischen Auflösung, als pseudogriechisch, als antigriechisch („Geburt der Tragödie“ 1872). Jener consensus sapientium – das begriff ich immer besser – beweist am wenigsten, dass sie Recht mit dem hatten, worüber sie übereinstimmten : er beweist vielmehr, dass sie selbst, diese Weisesten, irgend worin phy s iolog i s c h
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übereinstimmten, um auf gleiche Weise negativ zum Leben zu stehn, – stehn zu mü s s e n . Urtheile, Werthurtheile über das Leben, für oder wider, können zuletzt niemals wahr sein : sie haben nur Werth als Symptome, sie kommen nur als Symptome in Betracht, – an sich sind solche Urtheile Dummheiten. Man muss durchaus seine Finger darnach ausstrecken und den Versuch machen, diese erstaunliche fi nesse zu fassen, dass der Wer t h des Lebens n ic ht abgesc hät zt werden k a n n. Von einem | Lebenden nicht, weil ein solcher Partei, ja sogar Streitobjekt ist und nicht Richter ; von einem Todten nicht, aus einem andren Grunde. – Von Seiten eines Philosophen im We r t h des Lebens ein Problem sehn bleibt dergestalt sogar ein Einwurf gegen ihn, ein Fragezeichen an seiner Weisheit, eine Unweisheit. – Wie ? und alle diese grossen Weisen – sie wären nicht nur décadents, sie wären nicht einmal weise gewesen ? – Aber ich komme auf das Problem des Sokrates zurück. 3. Sokrates gehörte, seiner Herkunft nach, zum niedersten Volk : Sokrates war Pöbel. Man weiss, man sieht es selbst noch, wie hässlich er war. Aber Hässlichkeit, an sich ein Einwand, ist unter Griechen beinahe eine Widerlegung. War Sokrates überhaupt ein Grieche ? Die Hässlichkeit ist häufig genug der Ausdruck einer gekreuzten, durch Kreuzung g e he m mt e n Entwicklung. Im andren Falle erscheint sie als n ie d e r g e he nd e Entwicklung. Die Anthropologen unter den Criminalisten sagen uns, dass der typische Verbrecher hässlich ist : monstrum in fronte, monstrum in animo. Aber der Verbrecher ist ein décadent. War Sokrates ein typischer Verbrecher ? – Zum Mindesten widerspräche dem jenes berühmte Physiognomen-Urtheil nicht, das den Freunden des Sokrates so anstössig klang. Ein Ausländer, der sich auf Gesichter ver|stand, sagte, als er durch Athen kam, dem Sokrates in’s Gesicht, er s e i ein monstrum, – er berge alle schlimmen Laster
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und Begierden in sich. Und Sokrates antwortete bloss : „Sie kennen mich, mein Herr !“ – 4. Auf décadence bei Sokrates deutet nicht nur die zugestandne Wüstheit und Anarchie in den Instinkten : eben dahin deutet auch die Superfötation des Logischen und jene R h ac h i t i k e r -B o s he it , die ihn auszeichnet. Vergessen wir auch jene Gehörs-Hallucinationen nicht, die, als „Dämonion des Sokrates“, in’s Religiöse interpretirt worden sind. Alles ist übertrieben, buffo, Karikatur an ihm, Alles ist zugleich versteckt, hintergedanklich, unterirdisch. – Ich suche zu begreifen, aus welcher Idiosynkrasie jene sokratische Gleichsetzung von Vernunft = Tugend = Glück stammt : jene bizarrste Gleichsetzung, die es giebt und die in Sonderheit alle Instinkte des älteren Hellenen gegen sich hat. 5. Mit Sokrates schlägt der griechische Geschmack zu Gunsten der Dialektik um : was geschieht da eigentlich ? Vor Allem wird damit ein vor ne h me r Geschmack besiegt ; der Pöbel kommt mit der Dialektik obenauf. Vor Sokrates lehnte man in der guten Gesellschaft die dialektischen Manieren ab : sie galten als schlechte Manieren, | sie stellten bloss. Man warnte die Jugend vor ihnen. Auch misstraute man allem solchen Präsentiren seiner Gründe. Honnette Dinge tragen, wie honnette Menschen, ihre Gründe nicht so in der Hand. Es ist unanständig, alle fünf Finger zeigen. Was sich erst beweisen lassen muss, ist wenig werth. Überall, wo noch die Autorität zur guten Sitte gehört, wo man nicht „begründet“, sondern befiehlt, ist der Dialektiker eine Art Hanswurst : man lacht über ihn, man nimmt ihn nicht ernst. – Sokrates war der Hanswurst, der sich e r n s t ne h me n m ac ht e : was geschah da eigentlich ? –
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6. Man wählt die Dialektik nur, wenn man kein andres Mittel hat. Man weiss, dass man Misstrauen mit ihr erregt, dass sie wenig überredet. Nichts ist leichter wegzuwischen als ein Dialektiker-Effekt : die Erfahrung jeder Versammlung, wo geredet wird, beweist das. Sie kann nur Not hwe h r sein, in den Händen Solcher, die keine andren Waffen mehr haben. Man muss sein Recht zu e r z w i n g e n haben : eher macht man keinen Gebrauch von ihr. Die Juden waren deshalb Dialektiker ; Reinecke Fuchs war es : wie ? und Sokrates war es auch ? – 7. – Ist die Ironie des Sokrates ein Ausdruck von Revolte ? von Pöbel-Ressentiment ? geniesst er | als Unterdrückter seine eigne Ferocität in den Messerstichen des Syllogismus ? r äc ht er sich an den Vornehmen, die er fascinirt ? – Man hat, als Dialektiker, ein schonungsloses Werkzeug in der Hand ; man kann mit ihm den Tyrannen machen ; man stellt bloss, indem man siegt. Der Dialektiker überlässt seinem Gegner den Nachweis, kein Idiot zu sein : er macht wüthend, er macht zugleich hülflos. Der Dialektiker d e p ot e n z i r t den Intellekt seines Gegners. – Wie ? ist Dialektik nur eine Form der R ac he bei Sokrates ? 8. Ich habe zu verstehn gegeben, womit Sokrates abstossen konnte : es bleibt um so mehr zu erklären, d a s s er fascinirte. – Dass er eine neue Art A g o n entdeckte, dass er der erste Fechtmeister davon für die vornehmen Kreise Athen’s war, ist das Eine. Er fascinirte, indem er an den agonalen Trieb der Hellenen rührte, – er brachte eine Variante in den Ringkampf zwischen jungen Männern und Jünglingen. Sokrates war auch ein grosser E r ot i k e r.
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9. Aber Sokrates errieth noch mehr. Er sah h i nt e r seine vornehmen Athener ; er begriff, dass s e i n Fall, seine Idiosynkrasie von Fall bereits kein Ausnahmefall war. Die gleiche Art von Degenerescenz bereitete sich überall im Stillen vor : | das alte Athen gieng zu Ende. – Und Sokrates verstand, dass alle Welt ihn nöt h i g hatte, – sein Mittel, seine Kur, seinen Personal-Kunstgriff der Selbst-Erhaltung … Überall waren die Instinkte in Anarchie ; überall war man fünf Schritt weit vom Excess : das monstrum in animo war die allgemeine Gefahr. „Die Triebe wollen den Tyrannen machen ; man muss einen G e g e nt y r a n ne n erfi nden, der stärker ist“ … Als jener Physiognomiker dem Sokrates enthüllt hatte, wer er war, eine Höhle aller schlimmen Begierden, liess der grosse Ironiker noch ein Wort verlauten, das den Schlüssel zu ihm giebt. „Dies ist wahr, sagte er, aber ich wurde über alle Herr.“ W ie wurde Sokrates über s ic h Herr ? – Sein Fall war im Grunde nur der extreme Fall, nur der in die Augen springendste von dem, was damals die allgemeine Noth zu werden anfieng : dass Niemand mehr über sich Herr war, dass die Instinkte sich g e g e n einander wendeten. Er fascinirte als dieser extreme Fall – seine furchteinflössende Hässlichkeit sprach ihn für jedes Auge aus : er fascinirte, wie sich von selbst versteht, noch stärker als Antwort, als Lösung, als Anschein der K u r dieses Falls. – 10. Wenn man nöthig hat, aus der Ve r nu n f t einen Tyrannen zu machen, wie Sokrates es that, so muss die Gefahr nicht klein sein, dass etwas | Andres den Tyrannen macht. Die Vernünftigkeit wurde damals errathen als R et t e r i n , es stand weder Sokrates, noch seinen „Kranken“ frei, vernünftig zu sein, – es war de rigueur, es war ihr let z t e s Mittel. Der Fanatismus, mit dem sich das ganze griechische Nachdenken auf die Vernünftigkeit wirft, verräth eine Nothlage : man war in Gefahr,
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man hatte nur Eine Wahl : entweder zu Grunde zu gehn oder – a b s u r d -ve r nü n f t i g zu sein … Der Moralismus der griechischen Philosophen von Plato ab ist pathologisch bedingt ; ebenso ihre Schätzung der Dialektik. Vernunft = Tugend = Glück heisst bloss : man muss es dem Sokrates nachmachen und gegen die dunklen Begehrungen ein Ta g e s l ic ht in Permanenz herstellen – das Tageslicht der Vernunft. Man muss klug, klar, hell um jeden Preis sein : jedes Nachgeben an die Instinkte, an’s Unbewusste führt h i n a b … 11. Ich habe zu verstehn gegeben, womit Sokrates fascinirte : er schien ein Arzt, ein Heiland zu sein. Ist es nöthig noch den Irrthum aufzuzeigen, der in seinem Glauben an die „Vernünftigkeit um jeden Preis“ lag ? – Es ist ein Selbstbetrug seitens der Philosophen und Moralisten, damit schon aus der décadence herauszutreten, dass sie gegen dieselbe Krieg machen. Das Heraustreten steht ausserhalb ihrer Kraft : was sie als Mittel, als Rettung wählen, | ist selbst nur wieder ein Ausdruck der décadence – sie ve r ä nd e r n deren Ausdruck, sie schaffen sie selbst nicht weg. Sokrates war ein Missverständniss ; d ie g a n z e B e s s e r u n g s - Mo r a l , auc h d ie c h r i s t l ic he , wa r e i n M i s s ve r s t ä nd n i s s … Das grellste Tageslicht, die Vernünftigkeit um jeden Preis, das Leben hell, kalt, vorsichtig, bewusst, ohne Instinkt, im Widerstand gegen Instinkte war selbst nur eine Krankheit, eine andre Krankheit – und durchaus kein Rückweg zur „Tugend“, zur „Gesundheit“, zum Glück … Die Instinkte bekämpfen mü s s e n – das ist die Formel für décadence : so lange das Leben au f s t e i g t , ist Glück gleich Instinkt. – 12. – Hat er das selbst noch begriffen, dieser Klügste aller SelbstÜberlister ? Sagte er sich das zuletzt, in der We i s h e it seines Muthes zum Tode ? … Sokrates wol lt e sterben : – nicht
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Athen, e r gab sich den Giftbecher, er zwang Athen zum Giftbecher … „Sokrates ist kein Arzt, sprach er leise zu sich : der Tod allein ist hier Arzt … Sokrates selbst war nur lange krank …“ |
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1. Sie fragen mich, was Alles Idiosynkrasie bei den Philosophen ist ? … Zum Beispiel ihr Mangel an historischem Sinn, ihr Hass gegen die Vorstellung selbst des Werdens, ihr Ägypticismus. Sie glauben einer Sache eine E h r e anzuthun, wenn sie dieselbe enthistorisiren, sub specie aeterni, – wenn sie aus ihr eine Mumie machen. Alles, was Philosophen seit Jahrtausenden gehandhabt haben, waren Begriffs-Mumien ; es kam nichts Wirkliches lebendig aus ihren Händen. Sie tödten, sie stopfen aus, diese Herren Begriff s-Götzendiener, wenn sie anbeten, – sie werden Allem lebensgefährlich, wenn sie anbeten. Der Tod, der Wandel, das Alter ebensogut als Zeugung und Wachsthum sind für sie Einwände, – Widerlegungen sogar. Was ist, w i r d nicht ; was wird, i s t nicht … Nun glauben sie Alle, mit Verzweiflung sogar, an’s Seiende. Da sie aber dessen nicht habhaft werden, suchen sie | nach Gründen, weshalb man’s ihnen vorenthält. „Es muss ein Schein, eine Betrügerei dabei sein, dass wir das Seiende nicht wahrnehmen : wo steckt der Betrüger ?“ – „Wir haben ihn, schreien sie glückselig, die Sinnlichkeit ist’s ! Diese Sinne, d ie auc h s o n s t s o u n mor a l i s c h s i nd , sie betrügen uns über die w a h r e Welt. Moral : loskommen von dem Sinnentrug, vom Werden, von der Historie, von der Lüge, – Historie ist nichts als Glaube an die Sinne, Glaube an die Lüge. Moral : Neinsagen zu Allem, was den Sinnen Glauben schenkt, zum ganzen Rest der Menschheit : das ist Alles „Volk“. Philosoph sein, Mumie sein, den Monotono-Theismus durch eine Todtengräber-Mimik darstellen ! – Und weg vor Allem mit dem L e i b e, dieser erbarmungswürdigen idée fi xe der Sinne ! behaftet mit allen Fehlern der Logik, die es giebt, widerlegt, unmöglich
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sogar, ob er schon frech genug ist, sich als wirklich zu gebärden !“ … 2. Ich nehme, mit hoher Ehrerbietung, den Namen He r a k l it ’s bei Seite. Wenn das andre Philosophen-Volk das Zeugniss der Sinne verwarf, weil dieselben Vielheit und Veränderung zeigten, verwarf er deren Zeugniss, weil sie die Dinge zeigten, als ob sie Dauer und Einheiten hätten. Auch Heraklit that den Sinnen Unrecht. Dieselben lügen weder in der Art, wie die Eleaten es glauben, noch wie | er es glaubte, – sie lügen überhaupt nicht. Was wir aus ihrem Zeugniss m ac he n , das legt erst die Lüge hinein, zum Beispiel die Lüge der Einheit, die Lüge der Dinglichkeit, der Substanz, der Dauer … Die „Vernunft“ ist die Ursache, dass wir das Zeugniss der Sinne fälschen. Sofern die Sinne das Werden, das Vergehn, den Wechsel zeigen, lügen sie nicht … Aber damit wird Heraklit ewig Recht behalten, dass das Sein eine leere Fiktion ist. Die „scheinbare“ Welt ist die einzige : die „wahre Welt“ ist nur h i n z u g e log e n . 3. Und was für feine Werkzeuge der Beobachtung haben wir an unsren Sinnen ! Diese Nase zum Beispiel, von der noch kein Philosoph mit Verehrung und Dankbarkeit gesprochen hat, ist sogar einstweilen das delikateste Instrument, das uns zu Gebote steht : es vermag noch Minimaldifferenzen der Bewegung zu constatiren, die selbst das Spektroskop nicht constatirt. Wir besitzen heute genau so weit Wissenschaft, als wir uns entschlossen haben, das Zeugniss der Sinne a n z une h me n , – als wir sie noch schärfen, bewaff nen, zu Ende denken lernten. Der Rest ist Missgeburt und Noch-nicht-Wissenschaft : will sagen Metaphysik, Theologie, Psychologie, Erkenntnisstheorie. O d e r Formal-Wissenschaft, Zeichenlehre : wie die Logik und jene angewandte Logik, die Mathe|matik. In ihnen kommt die Wirklichkeit gar nicht vor, nicht ein-
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mal als Problem ; ebensowenig als die Frage, welchen Werth überhaupt eine solche Zeichen-Convention, wie die Logik ist, hat. – 4. Die a nd r e Idiosynkrasie der Philosophen ist nicht weniger gefährlich : sie besteht darin, das Letzte und das Erste zu verwechseln. Sie setzen Das, was am Ende kommt – leider ! denn es sollte gar nicht kommen ! – die „höchsten Begriffe“, das heisst die allgemeinsten, die leersten Begriffe, den letzten Rauch der verdunstenden Realität an den Anfang a l s Anfang. Es ist dies wieder nur der Ausdruck ihrer Art zu verehren : das Höhere d a r f nicht aus dem Niederen wachsen, d a r f überhaupt nicht gewachsen sein … Moral : Alles, was ersten Ranges ist, muss causa sui sein. Die Herkunft aus etwas Anderem gilt als Einwand, als Werth-Anzweifelung. Alle obersten Werthe sind ersten Ranges, alle höchsten Begriffe, das Seiende, das Unbedingte, das Gute, das Wahre, das Vollkommne – das Alles kann nicht geworden sein, mu s s folglich causa sui sein. Das Alles aber kann auch nicht einander ungleich, kann nicht mit sich im Widerspruch sein … Damit haben sie ihren stupenden Begriff „Gott“ … Das Letzte, Dünnste, Leerste wird als Erstes gesetzt, als Ursache an sich, als ens realissimum … Dass die Mensch|heit die Gehirnleiden kranker Spinneweber hat ernst nehmen müssen ! – Und sie hat theuer dafür gezahlt ! … 5. – Stellen wir endlich dagegen, auf welche verschiedne Art w i r (– ich sage höflicher Weise wir …) das Problem des Irrthums und der Scheinbarkeit in’s Auge fassen. Ehemals nahm man die Veränderung, den Wechsel, das Werden überhaupt als Beweis für Scheinbarkeit, als Zeichen dafür, dass Etwas da sein müsse, das uns irre führe. Heute umgekehrt sehen wir, genau so weit als das Vernunft-Vorurtheil uns zwingt, Einheit, Identität, Dauer, Substanz, Ursache, Dinglichkeit,
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Sein anzusetzen, uns gewissermaassen verstrickt in den Irrthum, ne c e s s it i r t zum Irrthum ; so sicher wir auf Grund einer strengen Nachrechnung bei uns darüber sind, d a s s hier der Irrthum ist. Es steht damit nicht anders als mit den Bewegungen des grossen Gestirns : bei ihnen hat der Irrthum unser Auge, hier hat er unsre S p r ac he zum beständigen Anwalt. Die Sprache gehört ihrer Entstehung nach in die Zeit der rudimentärsten Form von Psychologie : wir kommen in ein grobes Fetischwesen hinein, wenn wir uns die Grundvoraussetzungen der Sprach-Metaphysik, auf deutsch : der Ve r nu n f t, zum Bewusstsein bringen. D a s sieht überall Thäter und Thun : das glaubt an Willen als Ursache überhaupt ; das glaubt an’s „Ich“, an’s Ich | als Sein, an’s Ich als Substanz und p r ojic i r t den Glauben an die Ich-Substanz auf alle Dinge – es s c h a f f t erst damit den Begriff „Ding“ … Das Sein wird überall als Ursache hineingedacht, u n t e r g e s c h o b e n ; aus der Conception „Ich“ folgt erst, als abgeleitet, der Begriff „Sein“ … Am Anfang steht das grosse Verhängniss von Irrthum, dass der Wille Etwas ist, das w i r k t , – dass Wille ein Ve r mög e n ist … Heute wissen wir, dass er bloss ein Wort ist … Sehr viel später, in einer tausendfach aufgeklärteren Welt kam die Sic he rhe it , die subjektive G ew i s s he it in der Handhabung der Vernunft-Kategorien den Philosophen mit Überraschung zum Bewusstsein : sie schlossen, dass dieselben nicht aus der Empirie stammen könnten, – die ganze Empirie stehe ja zu ihnen in Widerspruch. Woh e r a l s o s t a m m e n s ie ? – Und in Indien wie in Griechenland hat man den gleichen Fehlgriff gemacht : „wir müssen schon einmal in einer höheren Welt heimisch gewesen sein (– statt i n e i ne r s e h r v ie l n ie d e r e n : was die Wahrheit gewesen wäre !), wir müssen göttlich gewesen sein, d e n n wir haben die Vernunft !“ … In der That, Nichts hat bisher eine naivere Überredungskraft gehabt als der Irrthum vom Sein, wie er zum Beispiel von den Eleaten formulirt wurde : er hat ja jedes Wort für sich, jeden Satz für
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sich, den wir sprechen ! – Auch die Gegner der Eleaten unterlagen noch der Ver|führung ihres Seins-Begriffs : Demokrit unter Anderen, als er sein Atom erfand … Die „Vernunft“ in der Sprache : oh was für eine alte betrügerische Weibsperson ! Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben … 6. Man wird mir dankbar sein, wenn ich eine so wesentliche, so neue Einsicht in vier Thesen zusammendränge : ich erleichtere damit das Verstehen, ich fordere damit den Widerspruch heraus. E r s t e r S a t z . Die Gründe, darauf hin „diese“ Welt als scheinbar bezeichnet worden ist, begründen vielmehr deren Realität, – eine a nd r e Art Realität ist absolut unnachweisbar. Zwe it e r S at z . Die Kennzeichen, welche man dem „wahren Sein“ der Dinge gegeben hat, sind die Kennzeichen des Nicht-Seins, des Nic ht s , – man hat die „wahre Welt“ aus dem Widerspruch zur wirklichen Welt aufgebaut : eine scheinbare Welt in der That, insofern sie bloss eine mor a l i s c h - o pt i s c he Täuschung ist. D r it t e r S at z . Von einer „andren“ Welt als dieser zu fabeln hat gar keinen Sinn, vorausgesetzt, dass nicht ein Instinkt der Verleumdung, Verkleinerung, Verdächtigung des Lebens in uns mächtig ist : im letzteren Falle r ä c he n wir uns am Leben mit der Phantasmagorie eines „anderen“, eines „besseren“ Lebens. | V ie r t e r S at z . Die Welt scheiden in eine „wahre“ und eine „scheinbare“, sei es in der Art des Christenthums, sei es in der Art Kant’s (eines h i nt e rl i s t i g e n Christen zu guterletzt) ist nur eine Suggestion der décadence, – ein Symptom n ie d e r g e he nd e n Lebens … Dass der Künstler den Schein höher schätzt als die Realität, ist kein Einwand gegen diesen Satz. Denn „der Schein“ bedeutet hier die Realität no c h e i n m a l ,
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nur in einer Auswahl, Verstärkung, Correctur … Der tragische Künstler ist k e i n Pessimist, – er sagt gerade Ja zu allem Fragwürdigen und Furchtbaren selbst, er ist d iony s i s c h … |
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Wie die „wahre Welt“ endlich zur Fabel wurde. Geschichte eines Irrthums. 1. Die wahre Welt erreichbar für den Weisen, den Frommen, den Tugendhaften, – er lebt in ihr, e r i s t s ie. (Älteste Form der Idee, relativ klug, simpel, überzeugend. Umschreibung des Satzes „ich, Plato, b i n die Wahrheit“.) 2. Die wahre Welt, unerreichbar für jetzt, aber versprochen für den Weisen, den Frommen, den Tugendhaften („für den Sünder, der Busse thut“). (Fortschritt der Idee : sie wird feiner, verfänglicher, unfasslicher, – s ie w i r d We i b, sie wird christlich …) 3. Die wahre Welt, unerreichbar, unbeweisbar, unversprechbar, aber schon als gedacht ein Trost, eine Verpfl ichtung, ein Imperativ. (Die alte Sonne im Grunde, aber durch Nebel und Skepsis hindurch ; die Idee sublim geworden, bleich, nordisch, königsbergisch.) | 4. Die wahre Welt – unerreichbar ? Jedenfalls unerreicht. Und als unerreicht auch u n b e k a n nt . Folglich auch nicht tröstend, erlösend, verpfl ichtend : wozu könnte uns etwas Unbekanntes verpfl ichten ? … (Grauer Morgen. Erstes Gähnen der Vernunft. Hahnenschrei des Positivismus.) 5. Die „wahre Welt“ – eine Idee, die zu nichts mehr nütz ist, nicht einmal mehr verpfl ichtend, – eine unnütz, eine überflüssig gewordene Idee, f o l g l i c h eine widerlegte Idee : schaffen wir sie ab ! (Heller Tag ; Frühstück ; Rückkehr des bon sens und der Heiterkeit ; Schamröthe Plato’s ; Teufelslärm aller freien Geister.) 6. Die wahre Welt haben wir abgeschaff t : welche Welt blieb
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übrig ? die scheinbare vielleicht ? Aber nein ! m it d e r w a h r e n We lt h a b e n w i r au c h d ie s c h e i n b a r e a b g e schafft ! (Mittag ; Augenblick des kürzesten Schattens ; Ende des längsten Irrthums ; Höhepunkt der Menschheit ; INCIPIT ZAR ATHUSTR A .) |
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1. Alle Passionen haben eine Zeit, wo sie bloss verhängnissvoll sind, wo sie mit der Schwere der Dummheit ihr Opfer hinunterziehen – und eine spätere, sehr viel spätere, wo sie sich mit dem Geist verheirathen, sich „vergeistigen“. Ehemals machte man, wegen der Dummheit in der Passion, der Passion selbst den Krieg : man verschwor sich zu deren Vernichtung, – alle alten Moral-Unthiere sind einmüthig darüber „il faut tuer les passions.“ Die berühmteste Formel dafür steht im neuen Testament, in jener Bergpredigt, wo, anbei gesagt, die Dinge durchaus nicht au s d e r Höhe betrachtet werden. Es wird daselbst zum Beispiel mit Nutzanwendung auf die Geschlechtlichkeit gesagt „wenn dich dein Auge ärgert, so reisse es aus“ : zum Glück handelt kein Christ nach dieser Vorschrift. Die Leidenschaften und Begierden ve r n ic ht e n , bloss um ihrer Dummheit und den unangenehmen Folgen ihrer Dummheit vorzubeugen, | erscheint uns heute selbst bloss als eine akute Form der Dummheit. Wir bewundern die Zahnärzte nicht mehr, welche die Zähne au s r e i s s e n , damit sie nicht mehr weh thun … Mit einiger Billigkeit werde andrerseits zugestanden, dass auf dem Boden, aus dem das Christenthum gewachsen ist, der Begriff „Ve r g e i s t i g u n g der Passion“ gar nicht concipirt werden konnte. Die erste Kirche kämpfte ja, wie bekannt, g e g e n die „Intelligenten“ zu Gunsten der „Armen des Geistes“ : wie dürfte man von ihr einen intelligenten Krieg gegen die Passion erwarten ? – Die Kirche bekämpft die Leidenschaft mit Ausschneidung in jedem Sinne : ihre Praktik, ihre „Kur“ ist der Ca st r at i smu s. Sie fragt nie : „wie vergeistigt, verschönt, vergöttlicht man eine Begierde ?“ – sie hat zu allen Zeiten den Nachdruck der Disciplin auf die Ausrot-
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tung (der Sinnlichkeit, des Stolzes, der Herrschsucht, der Habsucht, der Rachsucht) gelegt. – Aber die Leidenschaften an der Wurzel angreifen heisst das Leben an der Wurzel angreifen : die Praxis der Kirche ist leb e n s f e i nd l ic h … 2. Dasselbe Mittel, Verschneidung, Ausrottung, wird instinktiv im Kampfe mit einer Begierde von Denen gewählt, welche zu willensschwach, zu degenerirt sind, um sich ein Maass in ihr auflegen zu können : von jenen Naturen, die la Trappe nöthig | haben, im Gleichniss gesprochen (und ohne Gleichniss –), irgend eine endgültige Feindschafts-Erklärung, eine K lu f t zwischen sich und einer Passion. Die radikalen Mittel sind nur den Degenerirten unentbehrlich ; die Schwäche des Willens, bestimmter geredet, die Unfähigkeit, auf einen Reiz n ic ht zu reagiren, ist selbst bloss eine andre Form der Degenerescenz. Die radikale Feindschaft, die Todfeindschaft gegen die Sinnlichkeit bleibt ein nachdenkliches Symptom : man ist damit zu Vermuthungen über den Gesammt-Zustand eines dergestalt Excessiven berechtigt. – Jene Feindschaft, jener Hass kommt übrigens erst auf seine Spitze, wenn solche Naturen selbst zur Radikal-Kur, zur Absage von ihrem „Teufel“ nicht mehr Festigkeit genug haben. Man überschaue die ganze Geschichte der Priester und Philosophen, der Künstler hinzugenommen : das Giftigste gegen die Sinne ist n ic ht von den Impotenten gesagt, auch n ic ht von den Asketen, sondern von den unmöglichen Asketen, von Solchen, die es nöthig gehabt hätten, Asketen zu sein … 3. Die Vergeistigung der Sinnlichkeit heisst L ieb e : sie ist ein grosser Triumph über das Christenthum. Ein andrer Triumph ist unsre Vergeistigung der Fe i nd s c h a f t . Sie besteht darin, dass man tief den Werth begreift, den es hat, Feinde zu haben :
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kurz, dass man umgekehrt thut | und schliesst als man ehedem that und schloss. Die Kirche wollte zu allen Zeiten die Vernichtung ihrer Feinde : wir, wir Immoralisten und Antichristen, sehen unsern Vortheil darin, dass die Kirche besteht … Auch im Politischen ist die Feindschaft jetzt geistiger geworden, – viel klüger, viel nachdenklicher, viel s c ho ne n d e r. Fast jede Partei begreift ihr Selbsterhaltungs-Interesse darin, dass die Gegenpartei nicht von Kräften kommt ; dasselbe gilt von der grossen Politik. Eine neue Schöpfung zumal, etwa das neue Reich, hat Feinde nöthiger als Freunde : im Gegensatz erst fühlt es sich nothwendig, im Gegensatz w i r d es erst nothwendig … Nicht anders verhalten wir uns gegen den „inneren Feind“ : auch da haben wir die Feindschaft vergeistigt, auch da haben wir ihren We r t h begriffen. Man ist nur f r uc ht b a r um den Preis, an Gegensätzen reich zu sein ; man bleibt nur j u n g unter der Voraussetzung, dass die Seele nicht sich streckt, nicht nach Frieden begehrt … Nichts ist uns fremder geworden als jene Wünschbarkeit von Ehedem, die vom „Frieden der Seele“, die c h r i s t l ic he Wünschbarkeit ; Nichts macht uns weniger Neid als die Moral-Kuh und das fette Glück des guten Gewissens. Man hat auf das g r o s s e Leben verzichtet, wenn man auf den Krieg verzichtet … In vielen Fällen freilich ist der „Frieden der Seele“ bloss ein Missverständniss, – etwas A nd e r e s , das sich nur nicht ehrlicher zu | benennen weiss. Ohne Umschweif und Vorurtheil ein paar Fälle. „Frieden der Seele“ kann zum Beispiel die sanfte Ausstrahlung einer reichen Animalität in’s Moralische (oder Religiöse) sein. Oder der Anfang der Müdigkeit, der erste Schatten, den der Abend, jede Art Abend wirft. Oder ein Zeichen davon, dass die Luft feucht ist, dass Südwinde herankommen. Oder die Dankbarkeit wider Wissen für eine glückliche Verdauung („Menschenliebe“ mitunter genannt). Oder das Stille-werden des Genesenden, dem alle Dinge neu schmecken und der wartet … Oder der Zustand, der einer
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starken Befriedigung unsrer herrschenden Leidenschaft folgt, das Wohlgefühl einer seltnen Sattheit. Oder die Altersschwäche unsres Willens, unsrer Begehrungen, unsrer Laster. Oder die Faulheit, von der Eitelkeit überredet, sich moralisch aufzuputzen. Oder der Eintritt einer Gewissheit, selbst furchtbaren Gewissheit, nach einer langen Spannung und Marterung durch die Ungewissheit. Oder der Ausdruck der Reife und Meisterschaft mitten im Thun, Schaffen, Wirken, Wollen, das ruhige Athmen, die e r r e ic ht e „Freiheit des Willens“ … G öt z e n - D ä m me r u n g : wer weiss ? vielleicht auch nur eine Art „Frieden der Seele“ … 4. – Ich bringe ein Princip in Formel. Jeder Naturalismus in der Moral, das heisst jede g e s u n d e | Moral ist von einem Instinkte des Lebens beherrscht, – irgend ein Gebot des Lebens wird mit einem bestimmten Kanon von „Soll“ und „Soll nicht“ erfüllt, irgend eine Hemmung und Feindseligkeit auf dem Wege des Lebens wird damit bei Seite geschaff t. Die w id e r n at ü rl ic he Moral, das heisst fast jede Moral, die bisher gelehrt, verehrt und gepredigt worden ist, wendet sich umgekehrt gerade g e g e n die Instinkte des Lebens, – sie ist eine bald heimliche, bald laute und freche Ve r u r t h e i lu n g dieser Instinkte. Indem sie sagt „Gott sieht das Herz an“, sagt sie Nein zu den untersten und obersten Begehrungen des Lebens und nimmt Gott als Fe i nd d e s L eb e n s … Der Heilige, an dem Gott sein Wohlgefallen hat, ist der ideale Castrat … Das Leben ist zu Ende, wo das „Reich Gottes“ a n f ä n g t … 5. Gesetzt, dass man das Frevelhafte einer solchen Auflehnung gegen das Leben begriffen hat, wie sie in der christlichen Moral beinahe sakrosankt geworden ist, so hat man damit, zum Glück, auch etwas Andres begriffen : das Nutzlose, Scheinbare, Absurde, L ü g n e r i s c h e einer solchen Auf lehnung.
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Eine Verurtheilung des Lebens von Seiten des Lebenden bleibt zuletzt doch nur das Symptom einer bestimmten Art von Leben : die Frage, ob mit Recht, ob mit Unrecht, ist gar nicht damit | aufgeworfen. Man müsste eine Stellung au s s er h a l b des Lebens haben, und andrerseits es so gut kennen, wie Einer, wie Viele, wie Alle, die es gelebt haben, um das Problem vom We r t h des Lebens überhaupt anrühren zu dürfen : Gründe genug, um zu begreifen, dass das Problem ein für uns unzugängliches Problem ist. Wenn wir von Werthen reden, reden wir unter der Inspiration, unter der Optik des Lebens : das Leben selbst zwingt uns Werthe anzusetzen, das Leben selbst werthet durch uns, we n n wir Werthe ansetzen … Daraus folgt, dass auch jene W id e r n at u r vo n Mor a l , welche Gott als Gegenbegriff und Verurtheilung des Lebens fasst, nur ein Werthurtheil des Lebens ist – we lc he s Lebens ? we lc he r Art von Leben ? – Aber ich gab schon die Antwort : des niedergehenden, des geschwächten, des müden, des verurtheilten Lebens. Moral, wie sie bisher verstanden worden ist – wie sie zuletzt noch von Schopenhauer formulirt wurde als „Verneinung des Willens zum Leben“ – ist der d éc ad e nce-I n s t i n k t selbst, der aus sich einen Imperativ macht : sie sagt : „ g e h z u Gr u nd e !“ – sie ist das Urtheil Verurtheilter … 6. Erwägen wir endlich noch, welche Naivetät es überhaupt ist, zu sagen „so und so s ol lt e der Mensch sein !“ Die Wirklichkeit zeigt uns einen | entzückenden Reichthum der Typen, die Üppigkeit eines verschwenderischen Formenspiels und -Wechsels : und irgend ein armseliger Eckensteher von Moralist sagt dazu : „nein ! der Mensch sollte a nd e r s sein“ ? … Er weiss es sogar, w ie er sein sollte, dieser Schlucker und Mukker, er malt sich an die Wand und sagt dazu „ecce homo !“ … Aber selbst wenn der Moralist sich bloss an den Einzelnen wendet und zu ihm sagt : „so und so solltest d u sein !“ hört
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er nicht auf, sich lächerlich zu machen. Der Einzelne ist ein Stück fatum, von Vorne und von Hinten, ein Gesetz mehr, eine Nothwendigkeit mehr für Alles, was kommt und sein wird. Zu ihm sagen „ändere dich“ heisst verlangen, dass Alles sich ändert, sogar rückwärts noch … Und wirklich, es gab consequente Moralisten, sie wollten den Menschen anders, nämlich tugendhaft, sie wollten ihn nach ihrem Bilde, nämlich als Mucker : dazu ve r ne i nt e n sie die Welt ! Keine kleine Tollheit ! Keine bescheidne Art der Unbescheidenheit ! … Die Moral, insofern sie ve r u r t h e i lt , an sich, n ic ht aus Hinsichten, Rücksichten, Absichten des Lebens, ist ein spezifischer Irrthum, mit dem man kein Mitleiden haben soll, eine D e g e ne r i r t e n - Id io s y n k r a s ie, die unsäglich viel Schaden gestiftet hat ! … Wir Anderen, wir Immoralisten, haben umgekehrt unser Herz weit gemacht für alle Art Verstehn, Begreifen, G ut he i s s e n . Wir verneinen nicht leicht, wir | suchen unsre Ehre darin, B e ja h e n d e zu sein. Immer mehr ist uns das Auge für jene Ökonomie aufgegangen, welche alles Das noch braucht und auszunützen weiss, was der heilige Aberwitz des Priesters, der k r a n k e n Vernunft im Priester verwirft, für jene Ökonomie im Gesetz des Lebens, die selbst aus der widerlichen Species des Muckers, des Priesters, des Tugendhaften ihren Vortheil zieht, – we lc he n Vortheil ? – Aber wir selbst, wir Immoralisten sind hier die Antwort … |
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1. Ir r t hu m der Ver wec h slu ng von Ursac he u nd Folge. – Es giebt keinen gefährlicheren Irrthum als d ie Folge m it der Ur sac he z u ver wec h sel n : ich heisse ihn die eigentliche Verderbniss der Vernunft. Trotzdem gehört dieser Irr thum zu den ältesten und jüngsten Gewohnheiten der Menschheit : er ist selbst unter uns geheiligt, er trägt den Namen „Religion“, „Moral“. Je d e r Satz, den die Religion und die Moral formulirt, enthält ihn ; Priester und Moral-Gesetzgeber sind die Urheber jener Verderbniss der Vernunft. – Ich nehme ein Beispiel : Jedermann kennt das Buch des berühmten Cornaro, in dem er seine schmale Diät als Recept zu einem langen und glücklichen Leben – auch tugendhaften – anräth. Wenige Bücher sind so viel gelesen worden, noch jetzt wird es in England jährlich in vielen Tausenden von Exemplaren gedruckt. Ich zweifle nicht daran, | dass kaum ein Buch (die Bibel, wie billig, ausgenommen) so viel Unheil gestiftet, so viele Leben ve r k ü r z t hat wie dies so wohl gemeinte Curiosum. Grund dafür : die Verwechslung der Folge mit der Ursache. Der biedere Italiäner sah in seiner Diät die Ur s ac he seines langen Lebens : während die Vorbedingung zum langen Leben, die ausserordentliche Langsamkeit des Stoff wechsels, der geringe Verbrauch, die Ursache seiner schmalen Diät war. Es stand ihm nicht frei, wenig o d e r viel zu essen, seine Frugalität war n ic ht ein „freier Wille“ : er wurde krank, wenn er mehr ass. Wer aber kein Karpfen ist, thut nicht nur gut, sondern hat es nöthig, or d e nt l ic h zu essen. Ein Gelehrter u n s r e r Tage, mit seinem rapiden Verbrauch an Nervenkraft, würde sich mit dem régime Cornaro’s zu Grunde richten. Crede experto. –
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2. Die allgemeinste Formel, die jeder Religion und Moral zu Grunde liegt, heisst : „Thue das und das, lass das und das – so wirst du glücklich ! Im andern Falle …“ Jede Moral, jede Religion i s t dieser Imperativ, – ich nenne ihn die grosse Erbsünde der Vernunft, die u n s t e r bl ic he Unve r nu n f t . In meinem Munde verwandelt sich jene Formel in ihre Umkehrung – e r s t e s Beispiel meiner „Umwerthung aller Werthe“ : ein wohlgerathner Mensch, ein „Glücklicher“, mu s s gewisse | Handlungen thun und scheut sich instinktiv vor anderen Handlungen, er trägt die Ordnung, die er physiologisch darstellt, in seine Beziehungen zu Menschen und Dingen hinein. In Formel : seine Tugend ist die Fol g e seines Glücks … Langes Leben, eine reiche Nachkommenschaft ist n ic ht der Lohn der Tugend, die Tugend selbst ist vielmehr selbst jene Verlangsamung des Stoff wechsels, die, unter Anderem, auch ein langes Leben, eine reiche Nachkommenschaft, kurz den C o r n a r i s mu s im Gefolge hat. – Die Kirche und die Moral sagen : „ein Geschlecht, ein Volk wird durch Laster und Luxus zu Grunde gerichtet.“ Meine w ie d e r h e r g e s t e l lt e Vernunft sagt : wenn ein Volk zu Grunde geht, physiologisch degenerirt, so f ol g e n daraus Laster und Luxus (das heisst das Bedürfniss nach immer stärkeren und häufigeren Reizen, wie sie jede erschöpfte Natur kennt). Dieser junge Mann wird frühzeitig blass und welk. Seine Freunde sagen : daran ist die und die Krankheit schuld. Ich sage : d a s s er krank wurde, d a s s er der Krankheit nicht widerstand, war bereits die Folge eines verarmten Lebens, einer hereditären Erschöpfung. Der Zeitungsleser sagt : diese Partei richtet sich mit einem solchen Fehler zu Grunde. Meine höhe r e Politik sagt : eine Partei, die solche Fehler macht, ist am Ende – sie hat ihre Instinkt-Sicherheit nicht mehr. Jeder Fehler in jedem Sinne ist die Folge von Instinkt-Entartung, von Disgregation | des Willens : man definirt beinahe damit das S c h le c ht e. Alles G ut e ist Instinkt –
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und, folglich, leicht, nothwendig, frei. Die Mühsal ist ein Einwand, der Gott ist typisch vom Helden unterschieden (in meiner Sprache : die le ic ht e n Füsse das erste Attribut der Göttlichkeit). 3. I r r t hu m e i ne r f a l s c he n Ur s äc h l ic h k e it . – Man hat zu allen Zeiten geglaubt, zu wissen, was eine Ursache ist : aber woher nahmen wir unser Wissen, genauer, unsern Glauben, hier zu wissen ? Aus dem Bereich der berühmten „inneren Thatsachen“, von denen bisher keine sich als thatsächlich erwiesen hat. Wir glaubten uns selbst im Akt des Willens ursächlich ; wir meinten da wenigstens die Ursächlichkeit au f der That z u er tappen. Man zweifelte insgleichen nicht daran, dass alle antecedentia einer Handlung, ihre Ursachen, im Bewusstsein zu suchen seien und darin sich wiederfänden, wenn man sie suche – als „Motive“ : man wäre ja sonst z u ihr nicht frei, f ü r sie nicht verantwortlich gewesen. Endlich, wer hätte bestritten, dass ein Gedanke verursacht wird ? dass das Ich den Gedanken verursacht ? … Von diesen drei „inneren Thatsachen“, mit denen sich die Ursächlichkeit zu verbürgen schien, ist die erste und überzeugendste die vom W i l le n a l s Ur s ac he ; die Conception | eines Bewusstseins („Geistes“) als Ursache und später noch die des Ich (des „Subjekts“) als Ursache sind bloss nachgeboren, nachdem vom Willen die Ursächlichkeit als gegeben feststand, als E m p i r ie … Inzwischen haben wir uns besser besonnen. Wir glauben heute kein Wort mehr von dem Allen. Die „innere Welt“ ist voller Trugbilder und Irrlichter : der Wille ist eins von ihnen. Der Wille bewegt nichts mehr, erklärt folglich auch nichts mehr – er begleitet bloss Vorgänge, er kann auch fehlen. Das sogenannte „Motiv“ : ein andrer Irrthum. Bloss ein Oberflächenphänomen des Bewusstseins, ein Nebenher der That, das eher noch die antecedentia einer That verdeckt, als dass es sie darstellt. Und gar das Ich ! Das ist zur Fabel geworden, zur Fiktion, zum Wort-
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spiel : das hat ganz und gar aufgehört, zu denken, zu fühlen und zu wollen ! … Was folgt daraus ? Es giebt gar keine geistigen Ursachen ! Die ganze angebliche Empirie dafür gieng zum Teufel ! D a s folgt daraus ! – Und wir hatten einen artigen Missbrauch mit jener „Empirie“ getrieben, wir hatten die Welt daraufhin g e s c h a f f e n als eine Ursachen-Welt, als eine Willens-Welt, als eine Geister-Welt. Die älteste und längste Psychologie war hier am Werk, sie hat gar nichts Anderes gethan : alles Geschehen war ihr ein Thun, alles Thun Folge eines Willens, die Welt wurde ihr eine Vielheit von Thätern, ein Thäter (ein „Sub|jekt“) schob sich allem Geschehen unter. Der Mensch hat seine drei „inneren Thatsachen“, Das, woran er am festesten glaubte, den Willen, den Geist, das Ich, aus sich herausprojicirt, – er nahm erst den Begriff Sein aus dem Begriff Ich heraus, er hat die „Dinge“ als seiend gesetzt nach seinem Bilde, nach seinem Begriff des Ichs als Ursache. Was Wunder, dass er später in den Dingen immer nur wiederfand, wa s er i n sie gestec k t hat te ? – Das Ding selbst, nochmals gesagt, der Begriff Ding, ein Reflex bloss vom Glauben an’s Ich als Ursache … Und selbst noch Ihr Atom, meine Herren Mechanisten und Physiker, wie viel Irrthum, wie viel rudimentäre Psychologie ist noch in Ihrem Atom rückständig ! – Gar nicht zu reden vom „Ding an sich“, vom horrendum pudendum der Metaphysiker ! Der Irrthum vom Geist als Ursache mit der Realität verwechselt ! Und zum Maass der Realität gemacht ! Und G ot t genannt ! – 4. I r r t hu m d er i m a g i n ä r e n Ur s ac he n . – Vom Traume auszugehn : einer bestimmten Empfi ndung, zum Beispiel in Folge eines fernen Kanonenschusses, wird nachträglich eine Ursache untergeschoben (oft ein ganzer kleiner Roman, in dem gerade der Träumende die Hauptperson ist). Die Empfi ndung dauert inzwischen fort, in einer Art von Resonanz : sie wartet
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gleichsam, bis der | Ursachentrieb ihr erlaubt, in den Vordergrund zu treten, – nunmehr nicht mehr als Zufall, sondern als „Sinn“. Der Kanonenschuss tritt in einer c au s a le n Weise auf, in einer anscheinenden Umkehrung der Zeit. Das Spätere, die Motivirung, wird zuerst erlebt, oft mit hundert Einzelnheiten, die wie im Blitz vorübergehn, der Schuss fol g t … Was ist geschehen ? Die Vorstellungen, welche ein gewisses Befi nden e r z eu g t e, wurden als Ursache desselben missverstanden. – Thatsächlich machen wir es im Wachen ebenso. Unsre meisten Allgemeingefühle – jede Art Hemmung, Druck, Spannung, Explosion im Spiel und Gegenspiel der Organe, wie in Sonderheit der Zustand des nervus sympathicus – erregen unsern Ursachentrieb : wir wollen einen Gr u nd haben, uns s o u nd s o zu befi nden, – uns schlecht zu befi nden oder gut zu befi nden. Es genügt uns niemals, einfach bloss die Thatsache, d a s s wir uns so und so befi nden, festzustellen : wir lassen diese Thatsache erst zu, – werden ihrer b ew u s s t –, we n n wir ihr eine Art Motivirung gegeben haben. – Die Erinnerung, die in solchem Falle, ohne unser Wissen, in Thätigkeit tritt, führt frühere Zustände gleicher Art und die damit verwachsenen Causal-Interpretationen herauf, – n ic ht deren Ursächlichkeit. Der Glaube freilich, dass die Vorstellungen, die begleitenden Bewusstseins-Vorgänge die Ursachen gewesen seien, wird durch die Erinnerung | auch mit heraufgebracht. So entsteht eine G ewöh nu n g an eine bestimmte Ursachen-Interpretation, die in Wahrheit eine E r f or s c hu n g der Ursache hemmt und selbst ausschliesst. 5. Psycholog ische Erk lär u ng da zu. – Etwas Unbekanntes auf etwas Bekanntes zurückführen, erleichtert, beruhigt, befriedigt, giebt ausserdem ein Gefühl von Macht. Mit dem Unbekannten ist die Gefahr, die Unruhe, die Sorge gegeben, – der erste Instinkt geht dahin, diese peinlichen Zustände
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we g z u s c h a f f e n . Erster Grundsatz : irgend eine Erklärung ist besser als keine. Weil es sich im Grunde nur um ein Loswerdenwollen drückender Vorstellungen handelt, nimmt man es nicht gerade streng mit den Mitteln, sie loszuwerden : die erste Vorstellung, mit der sich das Unbekannte als bekannt erklärt, thut so wohl, dass man sie „für wahr hält“. Beweis der Lu s t („der Kraft“) als Criterium der Wahrheit. – Der Ursachen-Trieb ist also bedingt und erregt durch das Furchtgefühl. Das „Warum ?“ soll, wenn irgend möglich, nicht sowohl die Ursache um ihrer selber willen geben, als vielmehr eine A r t vo n Ur s ac he – eine beruhigende, befreiende, erleichternde Ursache. Dass etwas schon B e k a n nt e s , Erlebtes, in die Erinnerung Eingeschriebenes als Ursache ange|setzt wird, ist die erste Folge dieses Bedürfnisses. Das Neue, das Unerlebte, das Fremde wird als Ursache ausgeschlossen. – Es wird also nicht nur eine Art von Erklärungen als Ursache gesucht, sondern eine au s g e s uc ht e und b evor z u g t e Art von Erklärungen, die, bei denen am schnellsten, am häufigsten das Gefühl des Fremden, Neuen, Unerlebten weggeschaff t worden ist, – die g ewöh n l ic h s t e n Erklärungen. – Folge : eine Art von Ursachen-Setzung überwiegt immer mehr, concentrirt sich zum System und tritt endlich d om i n i r e nd hervor, das heisst a n d e r e Ursachen und Erklärungen einfach ausschliessend. – Der Banquier denkt sofort an’s „Geschäft“, der Christ an die „Sünde“, das Mädchen an seine Liebe. 6. D e r g a n z e B e r e ic h d e r Mor a l u nd Re l i g ion g e hör t u nt e r d ie s e n B e g r i f f d e r i m a g i n ä r e n Ur s a c he n . – „Erklärung“ der u n a n g e ne h me n Allgemeingefühle. Dieselben sind bedingt durch Wesen, die uns feind sind (böse Geister : berühmtester Fall – Missverständniss der Hysterischen als Hexen). Dieselben sind bedingt durch Handlungen, die nicht zu billigen sind (das Gefühl der „Sünde“, der „Sünd-
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haftigkeit“ einem physiologischen Missbehagen untergeschoben – man fi ndet immer Gründe, mit sich unzufrieden zu sein). Dieselben sind bedingt als Strafen, als | eine Abzahlung für Etwas, das wir nicht hätten thun, das wir nicht hätten s e i n sollen (in impudenter Form von Schopenhauer zu einem Satze verallgemeinert, in dem die Moral als Das erscheint, was sie ist, als eigentliche Giftmischerin und Verleumderin des Lebens : „jeder grosse Schmerz, sei er leiblich, sei er geistig, sagt aus, was wir verdienen ; denn er könnte nicht an uns kommen, wenn wir ihn nicht verdienten.“ Welt als Wille und Vorstellung, 2, 666). Dieselben sind bedingt als Folgen unbedachter, schlimm auslaufender Handlungen (– die Affekte, die Sinne als Ursache, als „schuld“ angesetzt ; physiologische Nothstände mit Hülfe a n d e r e r Nothstände als „verdient“ ausgelegt). – „Erklärung“ der a n g e ne h me n Allgemeingefühle. Dieselben sind bedingt durch Gottvertrauen. Dieselben sind bedingt durch das Bewusstsein guter Handlungen (das sogenannte „gute Gewissen“, ein physiologischer Zustand, der mitunter einer glücklichen Verdauung zum Verwechseln ähnlich sieht). Dieselben sind bedingt durch den glücklichen Ausgang von Unternehmungen (– naiver Fehlschluss : der glückliche Ausgang einer Unternehmung schaff t einem Hypochonder oder einem Pascal durchaus keine angenehmen Allgemeingefühle). Dieselben sind bedingt durch Glaube, Liebe, Hoff nung – die christlichen Tugenden. – In Wahrheit sind alle diese vermeintlichen Erklärungen Fol g e zustände | und gleichsam Übersetzungen von Lust- oder Unlust-Gefühlen in einen falschen Dialekt : man ist im Zustande zu hoffen, we i l das physiologische Grundgefühl wieder stark und reich ist ; man vertraut Gott, we i l das Gefühl der Fülle und Stärke Einem Ruhe giebt. – Die Moral und Religion gehört ganz und gar unter die P s yc holog ie d e s I r r t hu m s : in jedem einzelnen Falle wird Ursache und Wirkung verwechselt ; oder die Wahrheit mit der Wirkung des als wahr G e g l au bt e n
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verwechselt ; oder ein Zustand des Bewusstseins mit der Ursächlichkeit dieses Zustands verwechselt. 7. I r r t hu m vo m f r e ie n W i l le n . – Wir haben heute kein Mitleid mehr mit dem Begriff „freier Wille“ : wir wissen nur zu gut, was er ist – das anrüchigste Theologen-Kunststück, das es giebt, zum Zweck, die Menschheit in ihrem Sinne „verantwortlich“ zu machen, das heisst s ie vo n s ic h a bh ä n g i g z u m ac he n … Ich gebe hier nur die Psychologie alles Verantwortlichmachens. – Überall, wo Verantwortlichkeiten gesucht werden, pflegt es der Instinkt des St r a f e n - u nd R ic ht e n -Wol le n s zu sein, der da sucht. Man hat das Werden seiner Unschuld entkleidet, wenn irgend ein So-und-soSein auf Wille, auf Absichten, auf Akte der Verantwortlichkeit zurückgeführt wird : die Lehre vom Willen ist wesentlich erfunden zum | Zweck der Strafe, das heisst des S c hu ld i gf i nd e n -wol le n s . Die ganze alte Psychologie, die WillensPsychologie hat ihre Voraussetzung darin, dass deren Urheber, die Priester an der Spitze alter Gemeinwesen, sich ein R e c ht schaffen wollten, Strafen zu verhängen – oder Gott dazu ein Recht schaffen wollten … Die Menschen wurden „frei“ gedacht, um gerichtet, um gestraft werden zu können, – um s c hu ld i g werden zu können : folglich mu s s t e jede Handlung als gewollt, der Ursprung jeder Handlung im Bewusstsein liegend gedacht werden (– womit die g r u nd s ät z l ic h s t e Falschmünzerei in psychologicis zum Princip der Psychologie selbst gemacht war …) Heute, wo wir in die u m g e k e h r t e Bewegung eingetreten sind, wo wir Immoralisten zumal mit aller Kraft den Schuldbegriff und den Straf begriff aus der Welt wieder herauszunehmen und Psychologie, Geschichte, Natur, die gesellschaftlichen Institutionen und Sanktionen von ihnen zu reinigen suchen, giebt es in unsern Augen keine radikalere Gegnerschaft als die der
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Theologen, welche fortfahren, mit dem Begriff der „sittlichen Weltordnung“ die Unschuld des Werdens durch „Strafe“ und „Schuld“ zu durchseuchen. Das Christenthum ist eine Metaphysik des Henkers … | 8. Was kann allein u n s r e Lehre sein ? – Dass Niemand dem Menschen seine Eigenschaften g i e b t , weder Gott, noch die Gesellschaft, noch seine Eltern und Vorfahren, noch e r s e l b s t (– der Unsinn der hier zuletzt abgelehnten Vorstellung ist als „intelligible Freiheit“ von Kant, vielleicht auch schon von Plato gelehrt worden). N ie m a nd ist dafür verantwortlich, dass er überhaupt da ist, dass er so und so beschaffen ist, dass er unter diesen Umständen, in dieser Umgebung ist. Die Fatalität seines Wesens ist nicht herauszulösen aus der Fatalität alles dessen, was war und was sein wird. Er ist n ic ht die Folge einer eignen Absicht, eines Willens, eines Zwecks, mit ihm wird n ic h t der Versuch gemacht, ein „Ideal von Mensch“ oder ein „Ideal von Glück“ oder ein „Ideal von Moralität“ zu erreichen, – es ist absurd, sein Wesen in irgend einen Zweck hin a bwä l z e n zu wollen. W i r haben den Begriff „Zweck“ erfunden : in der Realität fe h lt der Zweck … Man ist nothwendig, man ist ein Stück Verhängniss, man gehört zum Ganzen, man i s t im Ganzen, – es giebt Nichts, was unser Sein richten, messen, vergleichen, verurtheilen könnte, denn das hiesse das Ganze richten, messen, vergleichen, verurtheilen … Aber es g iebt Nic ht s au sser dem Ga n z en ! – Dass Niemand mehr verantwortlich gemacht wird, dass die Art des Seins nicht auf eine causa prima | zurückgeführt werden darf, dass die Welt weder als Sensorium, noch als „Geist“ eine Einheit ist, d ie s e r s t i s t d ie g r o s s e B e f r e iu n g , – damit erst ist die Un s c hu ld des Werdens wieder hergestellt … Der Begriff „Gott“ war bisher der grösste E i nw a nd gegen das Dasein … Wir leugnen Gott, wir leugnen die Verantwortlichkeit in Gott : d a m it erst erlösen wir die Welt. – |
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1. Man kennt meine Forderung an den Philosophen, sich je n s e it s von Gut und Böse zu stellen, – die Illusion des moralischen Urtheils u nt e r sich zu haben. Diese Forderung folgt aus einer Einsicht, die von mir zum ersten Male formulirt worden ist : d a ss es g a r kei ne mor a l i sc hen T hat sac hen g iebt. Das moralische Urtheil hat Das mit dem religiösen gemein, dass es an Realitäten glaubt, die keine sind. Moral ist nur eine Ausdeutung gewisser Phänomene, bestimmter geredet, eine M i s s deutung. Das moralische Urtheil gehört, wie das religiöse, einer Stufe der Unwissenheit zu, auf der selbst der Begriff des Realen, die Unterscheidung des Realen und Imagi nären noch fehlt : so dass „Wahrheit“ auf solcher Stufe lauter Dinge bezeichnet, die wir heute „Einbildungen“ nennen. Das moralische Urtheil ist insofern nie wörtlich zu nehmen : als solches enthält es immer nur Widersinn. Aber es bleibt als | S e m iot i k unschätzbar : es offenbart, für den Wissenden wenigstens, die werthvollsten Realitäten von Culturen und Innerlichkeiten, die nicht genug w u s s t e n , um sich selbst zu „verstehn“. Moral ist bloss Zeichenrede, bloss Symptomatologie : man muss bereits wissen, wor u m es sich handelt, um von ihr Nutzen zu ziehen. 2. Ein erstes Beispiel und ganz vorläufig. Zu allen Zeiten hat man die Menschen „verbessern“ wollen : dies vor Allem hiess Moral. Aber unter dem gleichen Wort ist das Allerverschiedenste von Tendenz versteckt. Sowohl die Z ä h mu n g der Bestie Mensch als die Züc ht u n g einer bestimmten Gattung Mensch ist „Besserung“ genannt worden : erst diese zoologi-
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schen termini drücken Realitäten aus – Realitäten freilich, von denen der typische „Verbesserer“, der Priester, Nichts weiss – Nichts wissen w i l l … Die Zähmung eines Thieres seine „Besserung“ nennen ist in unsren Ohren beinahe ein Scherz. Wer weiss, was in Menagerien geschieht, zweifelt daran, dass die Bestie daselbst „verbessert“ wird. Sie wird geschwächt, sie wird weniger schädlich gemacht, sie wird durch den depressiven Affekt der Furcht, durch Schmerz, durch Wunden, durch Hunger zur k r a n k h a f t e n Bestie. – Nicht anders steht es mit dem gezähmten Menschen, den der Priester | „verbessert“ hat. Im frühen Mittelalter, wo in der That die Kirche vor Allem eine Menagerie war, machte man aller wärts auf die schönsten Exemplare der „blonden Bestie“ Jagd, – man „verbesserte“ zum Beispiel die vornehmen Germanen. Aber wie sah hinterdrein ein solcher „verbesserter“, in’s Kloster verführter Germane aus ? Wie eine Caricatur des Menschen, wie eine Missgeburt : er war zum „Sünder“ geworden, er stak im Käfig, man hatte ihn zwischen lauter schreck liche Begriffe eingesperrt … Da lag er nun, krank, kümmerlich, gegen sich selbst böswillig ; voller Hass gegen die Antriebe zum Leben, voller Verdacht gegen Alles, was noch stark und glücklich war. Kurz, ein „Christ“ … Physiologisch geredet : im Kampf mit der Bestie k a n n Krankmachen das einzige Mittel sein, sie schwach zu machen. Das verstand die Kirche : sie ve r d a r b den Menschen, sie schwächte ihn, – aber sie nahm in Anspruch, ihn „verbessert“ zu haben. 3. Nehmen wir den andern Fall der sogenannten Moral, den Fall der Zü c ht u n g einer bestimmten Rasse und Art. Das grossartigste Beispiel dafür giebt die indische Moral, als „Gesetz des Manu“ zur Religion sanktionirt. Hier ist die Aufgabe gestellt, nicht weniger als vier Rassen auf einmal zu züchten : eine priesterliche, eine kriegerische, eine | händler- und
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ackerbauerische, endlich eine Dienstboten-Rasse, die Sudras. Ersichtlich sind wir hier nicht mehr unter Thierbändigern : eine hundert Mal mildere und vernünftigere Art Mensch ist die Voraussetzung, um auch nur den Plan einer solchen Züchtung zu concipiren. Man athmet auf, aus der christlichen Kranken- und Kerkerluft in diese gesündere, höhere, we it er e Welt einzutreten. Wie armselig ist das „neue Testament“ gegen Manu, wie schlecht riecht es ! – Aber auch diese Organisation hatte nöthig, f u r c ht b a r zu sein, – nicht dies Mal im Kampf mit der Bestie, sondern mit i h r e m Gegensatz-Begriff, dem Nicht-Zucht-Menschen, dem Mischmasch-Menschen, dem Tschandala. Und wieder hatte sie kein andres Mittel, ihn ungefährlich, ihn schwach zu machen, als ihn k r a n k zu machen, – es war der Kampf mit der „grossen Zahl“. Vielleicht giebt es nichts unserm Gefühle Widersprechenderes als d ie s e Schutzmaassregeln der indischen Moral. Das dritte Edikt zum Beispiel (Avadana-Sastra I), das „von den unreinen Gemüsen“, ordnet an, dass die einzige Nahrung, die den Tschandala erlaubt ist, Knoblauch und Zwiebeln sein sollen, in Anbetracht, dass die heilige Schrift verbietet, ihnen Korn oder Früchte, die Körner tragen, oder Wa s s e r oder Feuer zu geben. Dasselbe Edikt setzt fest, dass das Wasser, welches sie nöthig haben, weder aus den Flüssen, noch aus den Quellen, noch aus den Teichen genommen werden | dürfe, sondern nur aus den Zugängen zu Sümpfen und aus Löchern, welche durch die Fusstapfen der Thiere entstanden sind. Insgleichen wird ihnen verboten, ihre Wäsche zu waschen und s ic h s e l b s t z u w a s c he n , da das Wasser, das ihnen aus Gnade zugestanden wird, nur benutzt werden darf, den Durst zu löschen. Endlich ein Verbot an die Sudra-Frauen, den Tschandala-Frauen bei der Geburt beizustehn, insgleichen noch eins für die letzteren, e i n a nd e r d a b e i b e i z u s t e h n … – Der Erfolg einer solchen Sanitäts-Polizei blieb nicht aus : mörderische Seuchen, scheussliche Geschlechtskrankheiten und darauf hin wieder
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„das Gesetz des Messers“, die Beschneidung für die männlichen, die Abtragung der kleinen Schamlippen für die weiblichen Kinder anordnend. – Manu selbst sagt : „die Tschandala sind die Frucht von Ehebruch, Incest und Verbrechen (– dies die not hwe nd i g e Consequenz des Begriffs Züchtung). Sie sollen zu Kleidern nur die Lumpen von Leichnamen haben, zum Geschirr zerbrochne Töpfe, zum Schmuck altes Eisen, zum Gottesdienst nur die bösen Geister ; sie sollen ohne Ruhe von einem Ort zum andern schweifen. Es ist ihnen verboten, von links nach rechts zu schreiben und sich der rechten Hand zum Schreiben zu bedienen : der Gebrauch der rechten Hand und des von Links nach Rechts ist bloss den Tu g e nd h a f t e n vorbehalten, den Leuten von R a s s e.“ – | 4. Diese Verfügungen sind lehrreich genug : in ihnen haben wir einmal die a r i s c he Humanität, ganz rein, ganz ursprünglich, – wir lernen, dass der Begriff „reines Blut“ der Gegensatz eines harmlosen Begriff s ist. Andrerseits wird klar, in we lc h e m Volk sich der Hass, der Tschandala-Hass gegen diese „Humanität“ verewigt hat, wo er Religion, wo er G e n ie geworden ist … Unter diesem Gesichtspunkte sind die Evangelien eine Urkunde ersten Ranges ; noch mehr das Buch Henoch. – Das Christenthum, aus jüdischer Wurzel und nur verständlich als Gewächs dieses Bodens, stellt die G e g e n b ewe g u n g gegen jede Moral der Züchtung, der Rasse, des Privilegiums dar : – es ist die a nt i a r i s c he Religion par excellence : das Christenthum die Umwerthung aller arischen Werthe, der Sieg der Tschandala-Werthe, das Evangelium den Armen, den Niedrigen gepredigt, der Gesammt-Aufstand alles Niedergetretenen, Elenden, Missrathenen, Schlechtweggekommenen gegen die „Rasse“, – die unsterbliche Tschandala-Rache als R e l i g ion d e r L ieb e …
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Die „Verbesserer“ der Menschheit
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5. Die Moral der Z ü c h t u n g und die Moral der Z ä h mu n g sind in den Mitteln, sich durchzusetzen, vollkommen einander würdig : wir dürfen als obersten Satz hinstellen, dass, um Moral zu m ac he n , man | den unbedingten Willen zum Gegentheil haben muss. Dies ist das grosse, das u n he i m l ic he Problem, dem ich am längsten nachgegangen bin : die Psychologie der „Verbesserer“ der Menschheit. Eine kleine und im Grunde bescheidne Thatsache, die der sogenannten pia fraus, gab mir den ersten Zugang zu diesem Problem : die pia fraus, das Erbgut aller Philosophen und Priester, die die Menschheit „verbesserten“. Weder Manu, noch Plato, noch Confucius, noch die jüdischen und christlichen Lehrer haben je an ihrem R e c ht zur Lüge gezweifelt. Sie haben a n g a n z a nd r e n Rec ht e n nicht gezweifelt … In Formel ausgedrückt dürfte man sagen : a l le Mittel, wodurch bisher die Menschheit moralisch gemacht werden sollte, waren von Grund aus u n mor a l i s c h . – |
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Was den Deutschen abgeht.
1. Unter Deutschen ist es heute nicht genug, Geist zu haben : man muss ihn noch sich nehmen, sich Geist h e r au s n e h me n … Vielleicht kenne ich die Deutschen, vielleicht darf ich selbst ihnen ein paar Wahrheiten sagen. Das neue Deutschland stellt ein grosses Quantum vererbter und angeschulter Tüchtigkeit dar, so dass es den aufgehäuften Schatz von Kraft eine Zeit lang selbst verschwenderisch ausgeben darf. Es ist n ic ht eine hohe Cultur, die mit ihm Herr geworden, noch weniger ein delikater Geschmack, eine vornehme „Schönheit“ der Instinkte ; aber m ä n n l ic h e r e Tugenden, als sonst ein Land Europa’s aufweisen kann. Viel guter Muth und Achtung vor sich selber, viel Sicherheit im Verkehr, in der Gegenseitigkeit der Pfl ichten, viel Arbeitsamkeit, viel Ausdauer – und eine angeerbte Mässigung, welche eher des Stachels als des Hemmschuhs bedarf. Ich füge hinzu, dass hier | noch gehorcht wird, ohne dass das Gehorchen demüthigt … Und Niemand verachtet seinen Gegner … Man sieht, es ist mein Wunsch, den Deutschen gerecht zu sein : ich möchte mir darin nicht untreu werden, – ich muss ihnen also auch meinen Einwand machen. Es zahlt sich theuer, zur Macht zu kommen : die Macht ve r d u m mt … Die Deutschen – man hiess sie einst das Volk der Denker : denken sie heute überhaupt noch ? – Die Deutschen langweilen sich jetzt am Geiste, die Deutschen misstrauen jetzt dem Geiste, die Politik verschlingt allen Ernst für wirklich geistige Dinge – „Deutschland, Deutschland über Alles“, ich fürchte, das war das Ende der deutschen Philosophie … „Giebt es deutsche Philosophen ? giebt es deutsche Dichter ? giebt es g ut e deutsche
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Bücher ?“ fragt man mich im Ausland. Ich erröthe, aber mit der Tapferkeit, die mir auch in verzweifelten Fällen zu eigen ist, antworte ich : „Ja, Bi s m a r c k !“ – Dürfte ich auch nur eingestehn, welche Bücher man heute liest ? … Vermaledeiter Instinkt der Mittelmässigkeit ! – 2. – Was der deutsche Geist sein k ö n nt e, wer hätte nicht schon darüber seine schwermüthigen Gedanken gehabt ! Aber dies Volk hat sich willkürlich verdummt, seit einem Jahrtausend beinahe : nirgendswo sind die zwei grossen europäischen | Narcotica, Alkohol und Christenthum, lasterhafter gemissbraucht worden. Neuerdings kam sogar noch ein drittes hinzu, mit dem allein schon aller feinen und kühnen Beweglichkeit des Geistes der Garaus gemacht werden kann, die Musik, unsre verstopfte verstopfende deutsche Musik. – Wie viel verdriessliche Schwere, Lahmheit, Feuchtigkeit, Schlafrock, wie viel Bie r ist in der deutschen Intelligenz ! Wie ist es eigentlich möglich, dass junge Männer, die den geistigsten Zielen ihr Dasein weihn, nicht den ersten Instinkt der Geistigkeit, den Selbsterha lt u ng s-I n st i n k t des Gei stes in sich fühlen – und Bier trinken ? … Der Alkoholismus der gelehrten Jugend ist vielleicht noch kein Fragezeichen in Absicht ihrer Gelehrsamkeit – man kann ohne Geist sogar ein grosser Gelehrter sein –, aber in jedem andren Betracht bleibt er ein Problem. – Wo fände man sie nicht, die sanfte Entartung, die das Bier im Geiste hervorbringt ! Ich habe einmal in einem beinahe berühmt gewordnen Fall den Finger auf eine solche Entartung gelegt – die Entartung unsres ersten deutschen Freigeistes, des k lu g e n David Strauss, zum Verfasser eines Bierbank-Evangeliums und „neuen Glaubens“ … Nicht umsonst hatte er der „holden Braunen“ sein Gelöbniss in Versen gemacht – Treue bis zum Tod … |
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3. – Ich sprach vom deutschen Geiste : dass er gröber wird, dass er sich verflacht. Ist das genug ? – Im Grunde ist es etwas ganz Anderes, das mich erschreckt : wie es immer mehr mit dem deutschen Ernste, der deutschen Tiefe, der deutschen L e i d e n s c h a f t in geistigen Dingen abwärts geht. Das Pathos hat sich verändert, nicht bloss die Intellektualität. – Ich berühre hier und da deutsche Universitäten : was für eine Luft herrscht unter deren Gelehrten, welche öde, welche genügsam und lau gewordne Geistigkeit ! Es wäre ein tiefes Missverständniss, wenn man mir hier die deutsche Wissenschaft einwenden wollte – und ausserdem ein Beweis dafür, dass man nicht ein Wort von mir gelesen hat. Ich bin seit siebzehn Jahren nicht müde geworden, den e nt g e i s t i g e nd e n Einfluss unsres jetzigen Wissenschafts-Betriebs an’s Licht zu stellen. Das harte Helotenthum, zu dem der ungeheure Umfang der Wissenschaften heute jeden Einzelnen verurtheilt, ist ein Hauptgrund dafür, dass voller, reicher, t ie f e r angelegte Naturen keine ihnen gemässe Erziehung u nd E r z ie he r me h r vorfi nden. Unsre Cultur leidet an Nichts me h r, als an dem Überfluss anmaasslicher Eckensteher und Bruchstück-Humanitäten ; unsre Universitäten sind, w id e r Willen, die eigentlichen Treibhäuser für diese Art Instinkt-Verkümmerung des Geistes. Und ganz Europa hat bereits einen | Begriff davon – die grosse Politik täuscht Niemanden … Deutschland gilt immer mehr als Europa’s F l ac h l a nd . – Ich s uc he noch nach einem Deutschen, mit dem ic h auf meine Weise ernst sein könnte, – um wie viel mehr nach einem, mit dem ich heiter sein dürfte ! G öt z e n - D ä m me r u n g : ah wer begriffe es heute, vo n w a s f ü r e i ne m E r n s t e sich hier ein Einsiedler erholt ! – Die Heiterkeit ist an uns das Unverständlichste …
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4. Man mache einen Überschlag : es liegt nicht nur auf der Hand, dass die deutsche Cultur niedergeht, es fehlt auch nicht am zureichenden Grund dafür. Niemand kann zuletzt mehr ausgeben als er hat – das gilt von Einzelnen, das gilt von Völkern. Giebt man sich für Macht, für grosse Politik, für Wirthschaft, Weltverkehr, Parlamentarismus, Militär-Interessen aus, – giebt man das Quantum Verstand, Ernst, Wille, Selbstüberwindung, das man ist, nach d ie s e r Seite weg, so fehlt es auf der andern Seite. Die Cultur und der Staat – man betrüge sich hierüber nicht – sind Antagonisten : „Cultur-Staat“ ist bloss eine moderne Idee. Das Eine lebt vom Andern, das Eine gedeiht auf Unkosten des Anderen. Alle grossen Zeiten der Cultur sind politische Niedergangs-Zeiten : was gross ist im Sinn der Cultur war unpolitisch, selbst a nt i p ol it i s c h . – Goethen gieng das Herz | auf bei dem Phänomen Napoleon, – es gieng ihm z u bei den „Freiheits-Kriegen“ … In demselben Augenblick, wo Deutschland als Grossmacht heraufkommt, gewinnt Frankreich als C u lt u r m ac ht eine veränderte Wichtigkeit. Schon heute ist viel neuer Ernst, viel neue L eiden sc h a f t des Geistes nach Paris übergesiedelt ; die Frage des Pessimismus zum Beispiel, die Frage Wagner, fast alle psychologischen und artistischen Fragen werden dort unvergleichlich feiner und gründlicher erwogen als in Deutschland, – die Deutschen sind selbst u n f ä h i g zu dieser Art Ernst. – In der Geschichte der europäischen Cultur bedeutet die Heraufkunft des „Reichs“ vor allem Eins : eine Ve rle g u n g d e s S c hwe r g ew ic ht s . Man weiss es überall bereits : in der Hauptsache – und das bleibt die Cultur – kommen die Deutschen nicht mehr in Betracht. Man fragt : habt ihr auch nur Einen für Europa m itz ä h le nd e n Geist aufzuweisen ? wie euer Goethe, euer Hegel, euer Heinrich Heine, euer Schopenhauer mitzählte ? – Dass es nicht einen einzigen deutschen Philosophen mehr giebt, darüber ist des Erstaunens kein Ende. –
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5. Dem ganzen höheren Erziehungswesen in Deutschland ist die Hauptsache abhanden gekommen : Zwe c k sowohl als M it t e l zum Zweck. Dass Erziehung, Bi ld u n g selbst Zweck ist – | und n ic ht „das Reich“ –, dass es zu diesem Zweck der E r z ie he r bedarf – und n ic ht der Gymnasiallehrer und Universitäts-Gelehrten – man vergass das … Erzieher thun noth, d ie s e l b s t e r z og e n sind, überlegene, vornehme Geister, in jedem Augenblick bewiesen, durch Wort und Schweigen bewiesen, reife, s ü s s gewordene Culturen, – n ic ht die gelehrten Rüpel, welche Gymnasium und Universität der Jugend heute als „höhere Ammen“ entgegenbringt. Die Erzieher f e h le n , die Ausnahmen der Ausnahmen abgerechnet, die e r s t e Vorbedingung der Erziehung : d a he r der Niedergang der deutschen Cultur. – Eine jener allerseltensten Ausnahmen ist mein verehrungswürdiger Freund Jakob Burckhardt in Basel : ihm zuerst verdankt Basel seinen Vorrang von Humanität. – Was die „höheren Schulen“ Deutschlands thatsächlich erreichen, das ist eine brutale Abrichtung, um, mit möglichst geringem Zeitverlust, eine Unzahl junger Männer für den Staatsdienst nutzbar, au s nut z b a r zu machen. „Höhere Erziehung“ und Un z a h l – das widerspricht sich von vornherein. Jede höhere Erziehung gehört nur der Ausnahme : man muss privilegirt sein, um ein Recht auf ein so hohes Privilegium zu haben. Alle grossen, alle schönen Dinge können nie Gemeingut sein : pulchrum est paucorum hominum. – Was b e d i n g t den Niedergang der deutschen Cultur ? Dass „höhere Erziehung“ kein Vor r e c ht | mehr ist – der Demokratismus der „allgemeinen“, der g e me i n gewordnen „Bildung“ … Nicht zu vergessen, dass militärische Privilegien den Zu-Vie l- B e s uc h der höheren Schulen, das heisst ihren Untergang, förmlich erzwingen. – Es steht Niemandem mehr frei, im jetzigen Deutschland seinen Kindern eine vornehme Erziehung zu geben : unsre „höheren“ Schulen sind allesammt
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auf die zweideutigste Mittelmässigkeit eingerichtet, mit Lehrern, mit Lehrplänen, mit Lehrzielen. Und überall herrscht eine unanständige Hast, wie als ob Etwas versäumt wäre, wenn der junge Mann mit 23 Jahren noch nicht „fertig“ ist, noch nicht Antwort weiss auf die „Hauptfrage“ : we lc he n Beruf ? – Eine höhere Art Mensch, mit Verlaub gesagt, liebt nicht „Berufe“, genau deshalb, weil sie sich berufen weiss … Sie hat Zeit, sie nimmt sich Zeit, sie denkt gar nicht daran, „fertig“ zu werden, – mit dreissig Jahren ist man, im Sinne hoher Cultur, ein Anfänger, ein Kind. – Unsre überfüllten Gymnasien, unsre überhäuften, stupid gemachten Gymnasiallehrer sind ein Skandal : um diese Zustände in Schutz zu nehmen, wie es jüngst die Professoren von Heidelberg gethan haben, dazu hat man vielleicht Ur s ac he n , – Gründe dafür giebt es nicht. | 6. – Ich stelle, um nicht aus meiner Art zu fallen, die ja s a g e nd ist und mit Widerspruch und Kritik nur mittelbar, nur unfreiwillig zu thun hat, sofort die drei Aufgaben hin, derentwegen man Erzieher braucht. Man hat s e he n zu lernen, man hat d e n k e n zu lernen, man hat s p r e c he n und s c h r e i b e n zu lernen : das Ziel in allen Dreien ist eine vornehme Cultur. – S e he n lernen – dem Auge die Ruhe, die Geduld, das An-sichheran-kommen-lassen angewöhnen ; das Urtheil hinausschieben, den Einzelfall von allen Seiten umgehn und umfassen lernen. Das ist die e r s t e Vorschulung zur Geistigkeit : auf einen Reiz n ic ht sofort reagiren, sondern die hemmenden, die abschliessenden Instinkte in die Hand bekommen. S e he n lernen, so wie ich es verstehe, ist beinahe Das, was die unphilosophische Sprechweise den starken Willen nennt : das Wesentliche daran ist gerade, n ic ht „wollen“, die Entscheidung aussetzen k ö n ne n . Alle Ungeistigkeit, alle Gemeinheit beruht auf dem Unvermögen, einem Reize Widerstand zu leisten – man mu s s reagiren, man folgt jedem Impulse. In vielen
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Fällen ist ein solches Müssen bereits Krankhaftigkeit, Niedergang, Symptom der Erschöpfung, – fast Alles, was die unphilosophische Rohheit mit dem Namen „Laster“ bezeichnet, ist bloss jenes physiologische Unvermögen, n ic ht zu reagiren. – Eine Nutzanwendung vom | Sehen-gelernt-haben : man wird als L e r ne nd e r überhaupt langsam, misstrauisch, widerstrebend geworden sein. Man wird Fremdes, Neue s jeder Art zunächst mit feindseliger Ruhe herankommen lassen, – man wird seine Hand davor zurückziehn. Das Offenstehn mit allen Thüren, das unterthänige Auf-dem-Bauch-Liegen vor jeder kleinen Thatsache, das allzeit sprungbereite Sich-hinein-Setzen, Sich-hinein-St ü r z e n in Andere und Anderes, kurz die berühmte moderne „Objektivität“ ist schlechter Geschmack, ist u nvor ne h m par excellence. – 7. D e n k e n lernen : man hat auf unsren Schulen keinen Begriff mehr davon. Selbst auf den Universitäten, sogar unter den eigentlichen Gelehrten der Philosophie beginnt Logik als Theorie, als Praktik, als H a nd we rk , auszusterben. Man lese deutsche Bücher : nicht mehr die entfernteste Erinnerung daran, dass es zum Denken einer Technik, eines Lehrplans, eines Willens zur Meisterschaft bedarf, – dass Denken gelernt sein will, wie Tanzen gelernt sein will, a l s eine Art Tanzen … Wer kennt unter Deutschen jenen feinen Schauder aus Erfahrung noch, den die le ic ht e n F ü s s e im Geistigen in alle Muskeln überströmen ! – Die steife Tölpelei der geistigen Gebärde, die plu m p e Hand beim Fassen – das ist in dem Grade deutsch, dass man es im Auslande mit dem deutschen | Wesen überhaupt verwechselt. Der Deutsche hat keine Fi n g e r für nuances … Dass die Deutschen ihre Philosophen auch nur ausgehalten haben, vor Allen jenen verwachsensten BegriffsKrüppel, den es je gegeben hat, den g r o s s e n Kant, giebt keinen kleinen Begriff von der deutschen Anmuth. – Man kann
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nämlich das Ta n z e n in jeder Form nicht von der vor ne h me n E r z ie hu n g abrechnen, Tanzen-können mit den Füssen, mit den Begriffen, mit den Worten : habe ich noch zu sagen, dass man es auch mit der Fe d e r können muss, – dass man s c h r e i b e n lernen muss ? – Aber an dieser Stelle würde ich deutschen Lesern vollkommen zum Räthsel werden … |
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Streifzüge eines Unzeitgemässen.
1. Me i ne Un mög l ic he n . – S e ne c a : oder der Toreador der Tugend. – Rou s s e au : oder die Rückkehr zur Natur in impuris naturalibus. – S c h i l le r : oder der Moral-Trompeter von Säckingen. – D a nt e : oder die Hyäne, die in Gräbern d ic h t et . – K a nt : oder cant als intelligibler Charakter. – V ic t or Hu g o : oder der Pharus am Meere des Unsinns. – L i s z t : oder die Schule der Geläufigkeit – nach Weibern. – G eor g e Sa nd : oder lactea ubertas, auf deutsch : die Milchkuh mit „schönem Stil“. – M ic he let : oder die Begeisterung, die den Rock auszieht … C a r l y le : oder Pessimismus als zurückgetretenes Mittagessen. – Joh n S t u a r t M i l l : oder die beleidigende Klarheit. – L e s f r è r e s d e G oncou r t : oder die beiden Ajaxe im Kampf mit Homer. Musik von Offenbach. – Z ol a : oder „die Freude zu stinken.“ – | 2. Re n a n . – Theologie, oder die Verderbniss der Vernunft durch die „Erbsünde“ (das Christenthum). Zeugniss Renan, der, sobald er einmal ein Ja oder Nein allgemeinerer Art risquirt, mit peinlicher Regelmässigkeit daneben greift. Er möchte zum Beispiel la science und la noblesse in Eins verknüpfen : aber la science gehört zur Demokratie, das greift sich doch mit Händen. Er wünscht, mit keinem kleinen Ehrgeize, einen Aristokratismus des Geistes darzustellen : aber zugleich liegt er vor dessen Gegenlehre, dem évangile des humbles auf den Knien und nicht nur auf den Knien … Was hilft alle Freigeisterei, Modernität, Spötterei und Wendehals-Geschmeidigkeit, wenn man mit seinen Eingeweiden Christ, Katholik und sogar Priester geblieben ist ! Renan hat seine Erfi ndsamkeit, ganz wie ein Jesuit und Beichtvater, in der Verführung ; seiner
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Geistigkeit fehlt das breite Pfaffen-Geschmunzel nicht, – er wird, wie alle Priester, gefährlich erst, wenn er liebt. Niemand kommt ihm darin gleich, auf eine lebensgefährliche Weise anzubeten … Dieser Geist Renan’s, ein Geist, der e nt ne r v t , ist ein Verhängniss mehr für das arme, kranke, willenskranke Frankreich. – 3. S a i nt e - B eu ve. – Nichts von Mann ; voll eines kleinen Ingrimms gegen alle Mannsgeister. | Schweift umher, fein, neugierig, gelangweilt, aushorcherisch, – eine Weibsperson im Grunde, mit einer Weibs-Rachsucht und Weibs-Sinnlichkeit. Als Psycholog ein Genie der médisance ; unerschöpflich reich an Mitteln dazu ; Niemand versteht besser, mit einem Lob Gift zu mischen. Plebejisch in den untersten Instinkten und mit dem ressentiment Rousseau’s verwandt : f ol g l ic h Romantiker – denn unter allem romantisme grunzt und giert der Instinkt Rousseau’s nach Rache. Revolutionär, aber durch die Furcht leidlich noch im Zaum gehalten. Ohne Freiheit vor Allem, was Stärke hat (öffentliche Meinung, Akademie, Hof, selbst Port Royal). Erbittert gegen alles Grosse an Mensch und Ding, gegen Alles, was an sich glaubt. Dichter und Halbweib genug, um das Grosse noch als Macht zu fühlen ; gekrümmt beständig, wie jener berühmte Wurm, weil er sich beständig getreten fühlt. Als Kritiker ohne Maassstab, Halt und Rückgrat, mit der Zunge des kosmopolitischen libertin für Vielerlei, aber ohne den Muth selbst zum Eingeständniss der libertinage. Als Historiker ohne Philosophie, ohne die M ac ht des philosophischen Blicks, – deshalb die Aufgabe des Richtens in allen Hauptsachen ablehnend, die „Objektivität“ als Maske vorhaltend. Anders verhält er sich zu allen Dingen, wo ein feiner, vernutzter Geschmack die höchste Instanz ist : da hat er wirklich den Muth zu sich, die Lust an sich, | – da ist er Me i s t e r. – Nach einigen Seiten eine Vorform Baudelaire’s. –
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4. Die i m it at io C h r i s t i gehört zu den Büchern, die ich nicht ohne einen physiologischen Widerstand in den Händen halte : sie haucht einen parfum des Ewig-Weiblichen aus, zu dem man bereits Franzose sein muss – oder Wagnerianer … Dieser Heilige hat eine Art von der Liebe zu reden, dass sogar die Pariserinnen neugierig werden. – Man sagt mir, dass jener k lü g s t e Jesuit, A. Comte, der seine Franzosen auf dem Umwe g der Wissenschaft nach Rom führen wollte, sich an diesem Buche inspirirt habe. Ich glaube es : „die Religion des Herzens“ … 5. G . E l iot . – Sie sind den christlichen Gott los und glauben nun um so mehr die christliche Moral festhalten zu müssen : das ist eine e n g l i s c he Folgerichtigkeit, wir wollen sie den Moral-Weiblein à la Eliot nicht verübeln. In England muss man sich für jede kleine Emancipation von der Theologie in furchteinflössender Weise als Moral-Fanatiker wieder zu Ehren bringen. Das ist dort die Bu s s e, die man zahlt. – Für uns Andre steht es anders. Wenn man den christlichen Glauben aufgiebt, zieht man sich damit das R e c ht zur christlichen Moral unter den Füssen weg. Diese | versteht sich schlechterdings n ic ht von selbst : man muss diesen Punkt, den englischen Flachköpfen zum Trotz, immer wieder an’s Licht stellen. Das Christenthum ist ein System, eine zusammengedachte und g a n z e Ansicht der Dinge. Bricht man aus ihm einen Hauptbegriff, den Glauben an Gott, heraus, so zerbricht man damit auch das Ganze : man hat nichts Nothwendiges mehr zwischen den Fingern. Das Christenthum setzt voraus, dass der Mensch nicht wisse, nicht wissen k ö n ne, was für ihn gut, was böse ist : er glaubt an Gott, der allein es weiss. Die christliche Moral ist ein Befehl ; ihr Ursprung ist transscendent ; sie ist jenseits aller Kritik, alles Rechts auf Kritik ; sie hat nur Wahrheit, falls Gott die Wahrheit ist, – sie steht
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und fällt mit dem Glauben an Gott. – Wenn thatsächlich die Engländer glauben, sie wüssten von sich aus, „intuitiv“, was gut und böse ist, wenn sie folglich vermeinen, das Christenthum als Garantie der Moral nicht mehr nöthig zu haben, so ist dies selbst bloss die Fol g e der Herrschaft des christlichen Werthurtheils und ein Ausdruck von der St ä r k e und Tie f e dieser Herrschaft : so dass der Ursprung der englischen Moral vergessen worden ist, so dass das Sehr-Bedingte ihres Rechts auf Dasein nicht mehr empfunden wird. Für den Engländer ist die Moral noch kein Problem … | 6. G eor g e S a nd . – Ich las die ersten lettres d’un voyageur : wie Alles, was von Rousseau stammt, falsch, gemacht, Blasebalg, übertrieben. Ich halte diesen bunten Tapeten-Stil nicht aus ; ebensowenig als die Pöbel-Ambition nach generösen Gefühlen. Das Schlimmste freilich bleibt die Weibskoketterie mit Männlichkeiten, mit Manieren ungezogener Jungen. – Wie kalt muss sie bei alledem gewesen sein, diese unausstehliche Künstlerin ! Sie zog sich auf wie eine Uhr – und schrieb … Kalt, wie Hugo, wie Balzac, wie alle Romantiker, sobald sie dichteten ! Und wie selbstgefällig sie dabei dagelegen haben mag, diese fruchtbare Schreibe-Kuh, die etwas Deutsches im schlimmen Sinne an sich hatte, gleich Rousseau selbst, ihrem Meister, und jedenfalls erst beim Niedergang des französischen Geschmacks möglich war ! – Aber Renan verehrt sie … 7. Mor a l f ü r P s yc holog e n . – Keine Colportage-Psychologie treiben ! Nie beobachten, u m zu beobachten ! Das giebt eine falsche Optik, ein Schielen, etwas Erzwungenes und Übertreibendes. Erleben als Erleben-Wol le n – das geräth nicht. Man d a r f nicht im Erlebniss nach sich hinblicken, jeder Blick wird da zum „bösen Blick“. Ein ge|borner Psycholog hütet
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sich aus Instinkt, zu sehn, um zu sehn ; dasselbe gilt vom gebornen Maler. Er arbeitet nie „nach der Natur“, – er überlässt seinem Instinkte, seiner camera obscura das Durchsieben und Ausdrücken des „Falls“, der „Natur“, des „Erlebten“ … Das A l l g e me i ne erst kommt ihm zum Bewusstsein, der Schluss, das Ergebniss : er kennt jenes willkürliche Abstrahiren vom einzelnen Falle nicht. – Was wird daraus, wenn man es anders macht ? Zum Beispiel nach Art der Pariser romanciers gross und klein Colportage-Psychologie treibt ? D a s lauert gleichsam der Wirklichkeit auf, d a s bringt jeden Abend eine Handvoll Curiositäten mit nach Hause … Aber man sehe nur, was zuletzt herauskommt – ein Haufen von Klecksen, ein Mosaik besten Falls, in jedem Falle etwas Zusammen-Addirtes, Unruhiges, Farbenschreiendes. Das Schlimmste darin erreichen die Goncourt : sie setzen nicht drei Sätze zusammen, die nicht dem Auge, dem P s yc holog e n -Auge einfach weh thun. – Die Natur, künstlerisch abgeschätzt, ist kein Modell. Sie übertreibt, sie verzerrt, sie lässt Lücken. Die Natur ist der Zu f a l l . Das Studium „nach der Natur“ scheint mir ein schlechtes Zeichen : es verräth Unterwerfung, Schwäche, Fatalismus, – dies Im-Staube-Liegen vor petits faits ist eines g a n z e n Künstlers unwürdig. Sehen, wa s i s t – das gehört einer andern Gattung von Geistern zu, den a n t i|a r t i s t i s c h e n , den Thatsächlichen. Man muss wissen, we r man ist … 8. Zu r Ps yc holog ie de s K ü n st ler s. – Damit es Kunst giebt, damit es irgend ein ästhetisches Thun und Schauen giebt, dazu ist eine physiologische Vorbedingung unumgänglich : der R au s c h . Der Rausch muss erst die Erregbarkeit der ganzen Maschine gesteigert haben : eher kommt es zu keiner Kunst. Alle noch so verschieden bedingten Arten des Rausches haben dazu die Kraft : vor Allem der Rausch der Geschlechtserregung, diese älteste und ursprünglichste Form des Rausches.
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Insgleichen der Rausch, der im Gefolge aller grossen Begierden, aller starken Affekte kommt ; der Rausch des Festes, des Wettkampfs, des Bravourstücks, des Siegs, aller extremen Bewegung ; der Rausch der Grausamkeit ; der Rausch in der Zerstörung ; der Rausch unter gewissen meteorologischen Einflüssen, zum Beispiel der Frühlingsrausch ; oder unter dem Einfluss der Narcotica ; endlich der Rausch des Willens, der Rausch eines überhäuften und geschwellten Willens. Das Wesentliche am Rausch ist das Gefühl der Kraftsteigerung und Fülle. Aus diesem Gefühle giebt man an die Dinge ab, man z w i n g t sie von uns zu nehmen, man vergewaltigt sie, – man heisst diesen Vorgang Id e a l i s i r e n . Machen wir uns | hier von einem Vorurtheil los : das Idealisiren besteht n ic ht , wie gemeinhin geglaubt wird, in einem Abziehn oder Abrechnen des Kleinen, des Nebensächlichen. Ein ungeheures He r au s t r e i b e n der Hauptzüge ist vielmehr das Entscheidende, so dass die andern darüber verschwinden. 9. Man bereichert in diesem Zustande Alles aus seiner eignen Fülle : was man sieht, was man will, man sieht es geschwellt, gedrängt, stark, überladen mit Kraft. Der Mensch dieses Zustandes verwandelt die Dinge, bis sie seine Macht wiederspiegeln, – bis sie Reflexe seiner Vollkommenheit sind. Dies Verwandeln-mü s s e n in’s Vollkommne ist – Kunst. Alles selbst, was er nicht ist, wird trotzdem ihm zur Lust an sich ; in der Kunst geniesst sich der Mensch als Vollkommenheit. – Es wäre erlaubt, sich einen gegensätzlichen Zustand auszudenken, ein spezifisches Antikünstlerthum des Instinkts, – eine Art zu sein, welche alle Dinge verarmte, verdünnte, schwindsüchtig machte. Und in der That, die Geschichte ist reich an solchen Anti-Artisten, an solchen Ausgehungerten des Lebens : welche mit Nothwendigkeit die Dinge noch an sich nehmen, sie auszehren, sie m a g e r e r machen müssen. Dies
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ist zum Beispiel der Fall des echten Christen, Pascal’s zum Beispiel : ein Christ, der zugleich Künstler wäre, k o m m t n ic ht | vor … Man sei nicht kindlich und wende mir Raffael ein oder irgend welche homöopathische Christen des neunzehnten Jahrhunderts : Raffael sagte Ja, Raffael m ac ht e Ja, folglich war Raffael kein Christ … 10. Was bedeutet der von mir in die Aesthetik eingeführte Gegensatz-Begriff a p ol l i n i s c h und d io ny s i s c h , beide als Arten des Rausches begriffen ? – Der apollinische Rausch hält vor Allem das Auge erregt, so dass es die Kraft der Vision bekommt. Der Maler, der Plastiker, der Epiker sind Visionäre par excellence. Im dionysischen Zustande ist dagegen das gesammte Affekt-System erregt und gesteigert : so dass es alle seine Mittel des Ausdrucks mit einem Male entladet und die Kraft des Darstellens, Nachbildens, Transfigurirens, Verwandelns, alle Art Mimik und Schauspielerei zugleich heraustreibt. Das Wesentliche bleibt die Leichtigkeit der Metamorphose, die Unfähigkeit, n ic ht zu reagiren (– ähnlich wie bei gewissen Hysterischen, die auch auf jeden Wink hin in je d e Rolle eintreten). Es ist dem dionysischen Menschen unmöglich, irgend eine Suggestion nicht zu verstehn, er übersieht kein Zeichen des Affekts, er hat den höchsten Grad des verstehenden und errathenden Instinkts, wie er den höchsten Grad von Mittheilungs-Kunst besitzt. Er geht in | jede Haut, in jeden Affekt ein : er verwandelt sich beständig. – Musik, wie wir sie heute verstehn, ist gleichfalls eine Gesammt-Erregung und -Entladung der Affekte, aber dennoch nur das Überbleibsel von einer viel volleren Ausdrucks-Welt des Affekts, ein blosses r e s id uu m des dionysischen Histrionismus. Man hat, zur Ermöglichung der Musik als Sonderkunst, eine Anzahl Sinne, vor Allem den Muskelsinn still gestellt (relativ wenigstens : denn in einem gewissen Grade redet noch aller Rhythmus zu
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unsern Muskeln) : so dass der Mensch nicht mehr Alles, was er fühlt, sofort leibhaft nachahmt und darstellt. Trotzdem ist D a s der eigentlich dionysische Normalzustand, jedenfalls der Urzustand ; die Musik ist die langsam erreichte Spezifi kation desselben auf Unkosten der nächstverwandten Vermögen. 11. Der Schauspieler, der Mime, der Tänzer, der Musiker, der Lyriker sind in ihren Instinkten grundverwandt und an sich Eins, aber allmählich spezialisirt und von einander abgetrennt – bis selbst zum Widerspruch. Der Lyriker blieb am längsten mit dem Musiker geeint ; der Schauspieler mit dem Tänzer. – Der A r c h it e k t stellt weder einen dionysischen, noch einen apollinischen Zustand dar : hier ist es der grosse Willensakt, der Wille, der Berge versetzt, der Rausch des grossen Willens, | der zur Kunst verlangt. Die mächtigsten Menschen haben immer die Architekten inspirirt ; der Architekt war stets unter der Suggestion der Macht. Im Bauwerk soll sich der Stolz, der Sieg über die Schwere, der Wille zur Macht versichtbaren ; Architektur ist eine Art Macht-Beredsamkeit in Formen, bald überredend, selbst schmeichelnd, bald bloss befehlend. Das höchste Gefühl von Macht und Sicherheit kommt in dem zum Ausdruck, was g r o s s e n St i l hat. Die Macht, die keinen Beweis mehr nöthig hat ; die es verschmäht, zu gefallen ; die schwer antwortet ; die keinen Zeugen um sich fühlt ; die ohne Bewusstsein davon lebt, dass es Widerspruch gegen sie giebt ; die in s ic h ruht, fatalistisch, ein Gesetz unter Gesetzen : D a s redet als grosser Stil von sich. – 12. Ich las das Leben T hom a s Ca rl yle’s , diese farce wider Wissen und Willen, diese heroisch-moralische Interpretation dyspeptischer Zustände. – Carlyle, ein Mann der starken Worte und Attitüden, ein Rhetor aus Not h , den beständig
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das Verlangen nach einem starken Glauben agaçirt u nd das Gefühl der Unfähigkeit dazu (– darin ein typischer Romantiker !). Das Verlangen nach einem starken Glauben ist n ic ht der Beweis eines starken Glaubens, vielmehr das Gegentheil. H a t m a n i h n , so darf man sich den schönen | Luxus der Skepsis gestatten : man ist sicher genug, fest genug, gebunden genug dazu. Carlyle betäubt Etwas in sich durch das fortissimo seiner Verehrung für Menschen starken Glaubens und durch seine Wuth gegen die weniger Einfältigen : er b e d a r f des Lärms. Eine beständige leidenschaftliche Un r e d l ic h k e it gegen sich – das ist sein proprium, damit ist und bleibt er interessant. – Freilich, in England wird er gerade wegen seiner Redlichkeit bewundert … Nun, das ist englisch ; und in Anbetracht, dass die Engländer das Volk des vollkommnen cant sind, sogar billig, und nicht nur begreiflich. Im Grunde ist Carlyle ein englischer Atheist, der seine Ehre darin sucht, es n ic ht zu sein. 13. E me r s o n . – Viel aufgeklärter, schweifender, vielfacher, raffinirter als Carlyle, vor Allem glücklicher … Ein Solcher, der sich instinktiv bloss von Ambrosia nährt, der das Unverdauliche in den Dingen zurücklässt. Gegen Carlyle gehalten ein Mann des Geschmacks. – Carlyle, der ihn sehr liebte, sagte trotzdem von ihm : „er giebt u n s nicht genug zu beissen“ : was mit Recht gesagt sein mag, aber nicht zu Ungunsten Emerson’s. – Emerson hat jene gütige und geistreiche Heiterkeit, welche allen Ernst entmuthigt ; er weiss es schlechterdings nicht, wie alt er schon ist und wie jung er noch sein wird, – er könnte von sich | mit einem Wort Lope de Vega’s sagen : ‚yo me sucedo a mi mismo‘. Sein Geist fi ndet immer Gründe, zufrieden und selbst dankbar zu sein ; und bisweilen streift er die heitere Transscendenz jenes Biedermanns, der von einem verliebten Stelldichein tamquam re bene gesta zurückkam. ‚Ut desint vires, sprach er dankbar, tamen est laudanda voluptas.‘ –
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14. A nt i-Da r w i n. – Was den berühmten „Kampf um’s Leben“ betriff t, so scheint er mir einstweilen mehr behauptet als bewiesen. Er kommt vor, aber als Ausnahme ; der GesammtAspekt des Lebens ist n ic ht die Nothlage, die Hungerlage, vielmehr der Reichthum, die Üppigkeit, selbst die absurde Verschwendung, – wo gekämpft wird, kämpft man um M a c ht … Man soll nicht Malthus mit der Natur verwechseln. – Gesetzt aber, es giebt diesen Kampf – und in der That, er kommt vor –, so läuft er leider umgekehrt aus als die Schule Darwin’s wünscht, als man vielleicht mit ihr wünschen d ü r f t e : nämlich zu Ungunsten der Starken, der Bevorrechtigten, der glücklichen Ausnahmen. Die Gattungen wachsen n ic ht in der Vollkommenheit : die Schwachen werden immer wieder über die Starken Herr, – das macht, sie sind die grosse Zahl, sie sind auch k lü g e r … Darwin hat den Geist vergessen (– das ist englisch !), d ie S c hw ac he n h a b e n me h r | G e i s t … Man muss Geist nöthig haben, um Geist zu bekommen, – man verliert ihn, wenn man ihn nicht mehr nöthig hat. Wer die Stärke hat, entschlägt sich des Geistes (– „lass fahren dahin ! denkt man heute in Deutschland – das R e ic h muss uns doch bleiben“ …). Ich verstehe unter Geist, wie man sieht, die Vorsicht, die Geduld, die List, die Verstellung, die grosse Selbstbeherrschung und Alles, was mimicry ist (zu letzterem gehört ein grosser Theil der sogenannten Tugend). 15. P s yc holog e n - Ca s u i s t i k . – Das ist ein Menschenkenner : wozu studirt er eigentlich die Menschen ? Er will kleine Vortheile über sie erschnappen, oder auch grosse, – er ist ein Politikus ! … Jener da ist auch ein Menschenkenner : und ihr sagt, der wolle Nichts damit für sich, das sei ein grosser „Unpersönlicher“. Seht schärfer zu ! Vielleicht will er sogar noch einen s c h l i m me r e n Vortheil : sich den Menschen überlegen
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fühlen, auf sie herabsehn dürfen, sich nicht mehr mit ihnen verwechseln. Dieser „Unpersönliche“ ist ein Menschen-Ve r äc ht e r : und jener Erstere ist die humanere Species, was auch der Augenschein sagen mag. Er stellt sich wenigstens gleich, er stellt sich h i ne i n … | 16. Der psycholog ische Takt der Deutschen scheint mir durch eine ganze Reihe von Fällen in Frage gestellt, deren Verzeichniss vorzulegen mich meine Bescheidenheit hindert. In Einem Falle wird es mir nicht an einem grossen Anlasse fehlen, meine These zu begründen : ich trage es den Deutschen nach, sich über K a nt und seine „Philosophie der Hinterthüren“, wie ich sie nenne, vergriffen zu haben, – das war n ic ht der Typus der intellektuellen Rechtschaffenheit. – Das Andre, was ich nicht hören mag, ist ein berüchtigtes „und“ : die Deutschen sagen „Goethe u nd Schiller“, – ich fürchte, sie sagen „Schiller und Goethe“ … K e n nt man noch nicht diesen Schiller ? – Es giebt noch schlimmere „und“ ; ich habe mit meinen eigenen Ohren, allerdings nur unter Universitäts-Professoren, gehört „Schopenhauer u nd Hartmann“ … 17. Die geistigsten Menschen, vorausgesetzt, dass sie die muthigsten sind, erleben auch bei weitem die schmerzhaftesten Tragödien : aber eben deshalb ehren sie das Leben, weil es ihnen seine grösste Gegnerschaft entgegenstellt. | 18. Zu m „ i nt e l le k t ue l le n G ew i s s e n .“ – Nichts scheint mir heute seltner als die echte Heuchelei. Mein Verdacht ist gross, dass diesem Gewächs die sanfte Luft unsrer Cultur nicht zuträglich ist. Die Heuchelei gehört in die Zeitalter des starken Glaubens : wo man selbst nicht bei der Nöt h i g u n g , einen andern Glauben zur Schau zu tragen, von dem Glauben losliess,
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den man hatte. Heute lässt man ihn los ; oder, was noch gewöhnlicher, man legt sich noch einen zweiten Glauben zu, – e h rl ic h bleibt man in jedem Falle. Ohne Zweifel ist heute eine sehr viel grössere Anzahl von Überzeugungen möglich als ehemals : möglich, das heisst erlaubt, das heisst u n s c h ä d l ic h . Daraus entsteht die Toleranz gegen sich selbst. – Die Toleranz gegen sich selbst gestattet mehrere Überzeugungen : diese selbst leben verträglich beisammen, – sie hüten sich, wie alle Welt heute, sich zu compromittiren. Womit compromittirt man sich heute ? Wenn man Consequenz hat. Wenn man in gerader Linie geht. Wenn man weniger als fünfdeutig ist. Wenn man echt ist … Meine Furcht ist gross, dass der moderne Mensch für einige Laster einfach zu bequem ist : so dass diese geradezu aussterben. Alles Böse, das vom starken Willen bedingt ist – und vielleicht giebt es nichts Böses ohne Willensstärke – | entartet, in unsrer lauen Luft, zur Tugend … Die wenigen Heuchler, die ich kennen lernte, machten die Heuchelei nach : sie waren, wie heutzutage fast jeder zehnte Mensch, Schauspieler. – 19. S c hö n u nd h ä s s l ic h . – Nichts ist bedingter, sagen wir b e s c h r ä n k t e r, als unser Gefühl des Schönen. Wer es losgelöst von der Lust des Menschen am Menschen denken wollte, verlöre sofort Grund und Boden unter den Füssen. Das „Schöne an sich“ ist bloss ein Wort, nicht einmal ein Begriff. Im Schönen setzt sich der Mensch als Maass der Vollkommenheit ; in ausgesuchten Fällen betet er sich darin an. Eine Gattung k a n n gar nicht anders als dergestalt zu sich allein Ja sagen. Ihr u nt e r s t e r Instinkt, der der Selbsterhaltung und Selbsterweiterung‚ strahlt noch in solchen Sublimitäten aus. Der Mensch glaubt die Welt selbst mit Schönheit überhäuft‚ – er ve r g i s s t sich als deren Ursache. Er allein hat sie mit Schönheit beschenkt, ach ! nur mit einer sehr menschlichallzumenschlichen Schönheit … Im Grunde spiegelt sich der
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Mensch in den Dingen, er hält Alles für schön, was ihm sein Bild zurückwirft : das Urtheil „schön“ ist seine G at t u n g s E it e l k e it … Dem Skeptiker nämlich darf ein kleiner Argwohn die Frage in’s Ohr flüstern : ist wirklich damit die Welt verschönt, dass gerade | der Mensch sie für schön nimmt ? Er hat sie ve r me n s c h l ic ht : das ist Alles. Aber Nichts, gar Nichts verbürgt uns, dass gerade der Mensch das Modell des Schönen abgäbe. Wer weiss, wie er sich in den Augen eines höheren Geschmacksrichters ausnimmt ? Vielleicht gewagt ? vielleicht selbst erheiternd ? vielleicht ein wenig arbiträr ? … „Oh Dionysos, Göttlicher, warum ziehst du mich an den Ohren ?“ fragte Ariadne einmal bei einem jener berühmten Zwiegespräche auf Naxos ihren philosophischen Liebhaber. „Ich fi nde eine Art Humor in deinen Ohren, Ariadne : warum sind sie nicht noch länger ?“ 20. Nichts ist schön, nur der Mensch ist schön : auf dieser Naivetät ruht alle Aesthetik, sie ist deren e r s t e Wahrheit. Fügen wir sofort noch deren zweite hinzu : Nichts ist hässlich als der e nt a r t e nd e Mensch, – damit ist das Reich des ästhetischen Urtheils umgrenzt. – Physiologisch nachgerechnet, schwächt und betrübt alles Hässliche den Menschen. Es erinnert ihn an Verfall, Gefahr, Ohnmacht ; er büsst thatsächlich dabei Kraft ein. Man kann die Wirkung des Hässlichen mit dem Dynamometer messen. Wo der Mensch überhaupt niedergedrückt wird, da wittert er die Nähe von etwas „Hässlichem“. Sein Gefühl der Macht, sein Wille zur Macht, sein Muth, sein Stolz – | das fällt mit dem Hässlichen, das steigt mit dem Schönen … Im einen wie im andern Falle m ac he n w i r e i ne n S c h lu s s : die Prämissen dazu sind in ungeheurer Fülle im Instinkte aufgehäuft. Das Hässliche wird verstanden als ein Wink und Symptom der Degenerescenz : was im Entferntesten an Degenerescenz erinnert, das wirkt in uns das Urtheil „hässlich“. Jedes Anzeichen von Erschöpfung, von Schwere,
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von Alter, von Müdigkeit, jede Art Unfreiheit, als Krampf, als Lähmung, vor Allem der Geruch, die Farbe, die Form der Auflösung, der Verwesung, und sei es auch in der letzten Verdünnung zum Symbol – das Alles ruft die gleiche Reaktion hervor, das Werthurtheil „hässlich“. Ein H a s s springt da hervor : wen hasst da der Mensch ? Aber es ist kein Zweifel : den N ie d e r g a n g s e i ne s Ty pu s . Er hasst da aus dem tiefsten Instinkte der Gattung heraus ; in diesem Hass ist Schauder, Vorsicht, Tiefe, Fernblick, – es ist der tiefste Hass, den es giebt. Um seinetwillen ist die Kunst t ie f … 21. S c hop e n h aue r. – Schopenhauer, der letzte Deutsche, der in Betracht kommt (– der ein eu r o p ä i s c he s Ereigniss gleich Goethe, gleich Hegel, gleich Heinrich Heine ist, und n ic ht blo s s ein lokales, ein „nationales“), ist für einen Psychologen ein Fall ersten Ranges : nämlich als bösartig | genialer Versuch, zu Gunsten einer nihilistischen Gesammt-Abwerthung des Lebens gerade die Gegen-Instanzen, die grossen Selbstbejahungen des „Willens zum Leben“, die Exuberanz-Formen des Lebens in’s Feld zu führen. Er hat, der Reihe nach, die K u n s t , den Heroismus, das Genie, die Schönheit, das grosse Mitgefühl, die Erkenntniss, den Willen zur Wahrheit, die Tragödie als Folgeerscheinungen der „Verneinung“ oder der Verneinungs-Bedürftigkeit des „Willens“ interpretirt – die grösste psychologische Falschmünzerei, die es, das Christenthum abgerechnet, in der Geschichte giebt. Genauer zugesehn ist er darin bloss der Erbe der christlichen Interpretation : nur dass er auch das vom Christenthum A bg e le h nt e, die grossen Cultur-Thatsachen der Menschheit noch in einem christlichen, das heisst nihilistischen Sinne g ut z u he i s s e n wusste (– nämlich als Wege zur „Erlösung“, als Vorformen der „Erlösung“, als Stimulantia des Bedürfnisses nach „Erlösung“ …)
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22. Ich nehme einen einzelnen Fall. Schopenhauer spricht von der S c hö n he it mit einer schwermüthigen Gluth, – warum letzten Grundes ? Weil er in ihr eine Br üc k e sieht, auf der man weiter gelangt, oder Durst bekommt, weiter zu gelangen … Sie ist ihm die Erlösung vom „Willen“ auf Augenblicke – sie lockt zur Erlösung für | immer … Insbesondere preist er sie als Erlöserin vom „Brennpunkte des Willen“, von der Geschlechtlichkeit, – in der Schönheit sieht er den Zeugetrieb ve r ne i nt … Wunderlicher Heiliger ! Irgend Jemand widerspricht dir, ich fürchte, es ist die Natur. Wo z u giebt es überhaupt Schönheit in Ton, Farbe, Duft, rhythmischer Bewegung in der Natur ? was t r e i bt die Schönheit he r au s ? – Glücklicherweise widerspricht ihm auch ein Philosoph. Keine geringere Autorität als die des göttlichen Plato (– so nennt ihn Schopenhauer selbst) hält einen andern Satz aufrecht : dass alle Schönheit zur Zeugung reize, – dass dies gerade das proprium ihrer Wirkung sei, vom Sinnlichsten bis hinauf in’s Geistigste … 23. Plato geht weiter. Er sagt mit einer Unschuld, zu der man Grieche sein muss und nicht „Christ“, dass es gar keine platonische Philosophie geben würde, wenn es nicht so schöne Jünglinge in Athen gäbe : deren Anblick sei es erst, was die Seele des Philosophen in einen erotischen Taumel versetze und ihr keine Ruhe lasse, bis sie den Samen aller hohen Dinge in ein so schönes Erdreich hinabgesenkt habe. Auch ein wunderlicher Heiliger ! – man traut seinen Ohren nicht, gesetzt selbst, dass man Plato traut. Zum Mindesten erräth man, dass in Athen a nd e r s philosophirt | wurde, vor Allem öffentlich. Nichts ist weniger griechisch als die Begriffs-Spinneweberei eines Einsiedlers, amor intellectualis dei nach Art des Spinoza. Philosophie nach Art des Plato wäre eher als ein erotischer Wettbewerb zu defi niren, als eine Fortbildung und Verinner-
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lichung der alten agonalen Gymnastik und deren Vor au s s et z u n g e n … Was wuchs zuletzt aus dieser philosophischen Erotik Plato’s heraus ? Eine neue Kunstform des griechischen Agon, die Dialektik. – Ich erinnere noch, g e g e n Schopenhauer und zu Ehren Plato’s, daran, dass auch die ganze höhere Cultur und Litteratur des k l a s s i s c he n Frankreichs auf dem Boden des geschlechtlichen Interesses aufgewachsen ist. Man darf überall bei ihr die Galanterie, die Sinne, den GeschlechtsWettbewerb, „das Weib“ suchen, – man wird nie umsonst suchen … 24. L’a r t pou r l ’a r t. – Der Kampf gegen den Zweck in der Kunst ist immer der Kampf gegen die mor a l i s i r e nd e Tendenz in der Kunst, gegen ihre Unterordnung unter die Moral. L’art pour l’art heisst : „der Teufel hole die Moral !“ – Aber selbst noch diese Feindschaft verräth die Übergewalt des Vorurtheils. Wenn man den Zweck des Moralpredigens und Menschen-Verbesserns von der Kunst ausgeschlossen hat, so folgt daraus | noch lange nicht, dass die Kunst überhaupt zwecklos, ziellos, sinnlos, kurz l’art pour l’art – ein Wurm, der sich in den Schwanz beisst – ist. „Lieber gar keinen Zweck als einen moralischen Zweck !“ – so redet die blosse Leidenschaft. Ein Psycholog fragt dagegen : was thut alle Kunst ? lobt sie nicht ? verherrlicht sie nicht ? wählt sie nicht aus ? zieht sie nicht hervor ? Mit dem Allen s t ä r k t oder s c hw äc ht sie gewisse Werthschätzungen … Ist dies nur ein Nebenbei ? ein Zufall ? Etwas, bei dem der Instinkt des Künstlers gar nicht betheiligt wäre ? Oder aber : ist es nicht die Voraussetzung dazu, dass der Künstler k a n n … ? Geht dessen unterster Instinkt auf die Kunst oder nicht vielmehr auf den Sinn der Kunst, das L eb e n ? auf eine Wü n s c h b a r k e it vo n L eb e n ? – Die Kunst ist das grosse Stimulans zum Leben : wie könnte man sie als zwecklos, als ziellos, als l’art pour l’art verstehn ? – Eine Frage bleibt zurück : die Kunst bringt auch vieles Hässliche,
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Harte, Fragwürdige des Lebens zur Erscheinung, – scheint sie nicht damit vom Leben zu entleiden ? – Und in der That, es gab Philosophen, die ihr diesen Sinn liehn : „loskommen vom Willen“ lehrte Schopenhauer als Gesammt-Absicht der Kunst, „zur Resignation stimmen“ verehrte er als die grosse Nützlichkeit der Tragödie. – Aber dies – ich gab es schon zu verstehn – ist Pessimisten-Optik und „böser Blick“ – : man muss an die | Künstler selbst appelliren. Wa s t he i lt d e r t r a g i s c he K ü n s t le r vo n s ic h m it ? Ist es nicht gerade der Zustand oh ne Furcht vor dem Furchtbaren und Fragwürdigen, das er zeigt ? – Dieser Zustand selbst ist eine hohe Wünschbarkeit ; wer ihn kennt, ehrt ihn mit den höchsten Ehren. Er theilt ihn mit, er mu s s ihn mittheilen, vorausgesetzt, dass er ein Künstler ist, ein Genie der Mittheilung. Die Tapferkeit und Freiheit des Gefühls vor einem mächtigen Feinde, vor einem erhabenen Ungemach, vor einem Problem, das Grauen erweckt – dieser s ie g r e ic he Zustand ist es, den der tragische Künstler auswählt, den er verherrlicht. Vor der Tragödie feiert das Kriegerische in unserer Seele seine Saturnalien ; wer Leid gewohnt ist, wer Leid aufsucht, der he r oi s c he Mensch preist mit der Tragödie sein Dasein, – ihm allein kredenzt der Tragiker den Trunk dieser süssesten Grausamkeit. – 25. Mit Menschen fürlieb nehmen, mit seinem Herzen offen Haus halten, das ist liberal, das ist aber bloss liberal. Man erkennt die Herzen, die der vor ne h me n Gastfreundschaft fähig sind, an den vielen verhängten Fenstern und geschlossenen Läden : ihre besten Räume halten sie leer. Warum doch ? – Weil sie Gäste erwarten, mit denen man n ic ht „fürlieb nimmt“ … | 26. Wir schätzen uns nicht genug mehr, wenn wir uns mittheilen. Unsre eigentlichen Erlebnisse sind ganz und gar nicht
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geschwätzig. Sie könnten sich selbst nicht mittheilen, wenn sie wollten. Das macht, es fehlt ihnen das Wort. Wofür wir Worte haben, darüber sind wir auch schon hinaus. In allem Reden liegt ein Gran Verachtung : Die Sprache, scheint es, ist nur für Durchschnittliches, Mittleres, Mittheilsames erfunden. Mit der Sprache v u l g a r i s i r t sich bereits der Sprechende. – Aus einer Moral für Taubstumme und andere Philosophen. 27. „Dies Bildniss ist bezaubernd schön !“ … Das Litteratur-Weib, unbefriedigt, aufgeregt, öde in Herz und Eingeweide, mit schmerzhafter Neugierde jederzeit auf den Imperativ hinhorchend, der aus den Tiefen seiner Organisation „aut liberi aut libri“ flüstert : das Litteratur-Weib‚ gebildet genug, die Stimme der Natur zu verstehn, selbst wenn sie Latein redet und andrerseits eitel und Gans genug, um im Geheimen auch noch französisch mit sich zu sprechen „je me verrai, je me lirai, je m’extasierai et je dirai : Possible, que j’aie eu tant d’esprit ?“. 28. Die „Unpersön l ic hen“ kom men z u Wor t. – „Nichts fällt uns leichter, als weise, geduldig, über|legen zu sein. Wir triefen vom Oel der Nachsicht und des Mitgefühls‚ wir sind auf eine absurde Weise gerecht, wir verzeihen Alles. Eben darum sollten wir uns etwas strenger halten ; eben darum sollten wir uns, von Zeit zu Zeit, einen kleinen Affekt, ein kleines Laster von Affekt z üc ht e n . Es mag uns sauer angehn ; und unter uns lachen wir vielleicht über den Aspekt, den wir damit geben. Aber was hilft es ! Wir haben keine andre Art mehr übrig von Selbstüberwindung : dies ist u n s r e Asketik, u n s e r Büsserthum“ … Pe r s ö n l ic h we r d e n – die Tugend des „Unpersönlichen“ …
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29. Au s e i n e r D o c t or - P r omot io n . – „Was ist die Aufgabe alles höheren Schulwesens ?“ – Aus dem Menschen eine Maschine zu machen. – „Was ist das Mittel dazu ?“ – Er muss lernen, sich langweilen. – „Wie erreicht man das ?“ – Durch den Begriff der Pfl icht. – „Wer ist sein Vorbild dafür ?“ – Der Philolog : der lehrt o c h s e n . – „Wer ist der vollkommene Mensch ?“ – Der Staats-Beamte. – „Welche Philosophie giebt die höchste Formel für den Staats-Beamten ?“ – Die Kant’s : der Staats-Beamte als Ding an sich zum Richter gesetzt über den Staats-Beamten als Erscheinung. – 30. D a s R e c ht au f D u m m he it . – Der ermüdete und langsam athmende Arbeiter, der gut|müthig blickt, der die Dinge gehen lässt, wie sie gehn : diese typische Figur, der man jetzt, im Zeitalter der Arbeit (u nd des „Reichs“ ! –) in allen Klassen der Gesellschaft begegnet, nimmt heute gerade die K u n s t für sich in Anspruch, eingerechnet das Buch, vor Allem das Journal, – um wie viel mehr die schöne Natur, Italien … Der Mensch des Abends, mit den „entschlafenen wilden Trieben“, von denen Faust redet, bedarf der Sommerfrische, des Seebads, der Gletscher, Bayreuth’s … In solchen Zeitaltern hat die Kunst ein Recht auf r e i ne T hor he it , – als eine Art Ferien für Geist, Witz und Gemüth. Das verstand Wagner. Die r e i ne T hor he it stellt wieder her … 31. No c h e i n P r o ble m d e r D i ä t . – Die Mittel, mit denen Julius Cäsar sich gegen Kränklichkeit und Kopfschmerz vertheidigte : ungeheure Märsche, einfachste Lebensweise, ununterbrochner Aufenthalt im Freien, beständige Strapazen – das sind, in’s Grosse gerechnet, die Erhaltungs- und SchutzMaassregeln überhaupt gegen die extreme Verletzlichkeit
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jener subtilen und unter höchstem Druck arbeitenden Maschine, welche Genie heisst. – 32. D e r I m mor a l i s t r e d et . – Einem Philosophen geht Nichts m e h r wider den Geschmack | als der Mensch, s of e r n e r w ü n s c h t … Sieht er den Menschen nur in seinem Thun, sieht er dieses tapferste, listigste, ausdauerndste Thier verirrt selbst in labyrinthische Nothlagen, wie bewunderungswürdig erscheint ihm der Mensch ! Er spricht ihm noch zu … Aber der Philosoph verachtet den wünschenden Menschen, auch den „wünschbaren“ Menschen – und überhaupt alle Wünschbarkeiten, alle Id e a le des Menschen. Wenn ein Philosoph Nihilist sein könnte, so würde er es sein, weil er das Nichts hinter allen Idealen des Menschen fi ndet. Oder noch nicht einmal das Nichts, – sondern nur das Nichtswürdige, das Absurde, das Kranke, das Feige, das Müde, alle Art Hefen aus dem au s g et r u n k e ne n Becher seines Lebens … Der Mensch, der als Realität so verehrungswürdig ist, wie kommt es, dass er keine Achtung verdient, sofern er wünscht ? Muss er es büssen, so tüchtig als Realität zu sein ? Muss er sein Thun, die Kopf- und Willensanspannung in allem Thun, mit einem Gliederstrecken im Imaginären und Absurden ausgleichen ? – Die Geschichte seiner Wünschbarkeiten war bisher die partie honteuse des Menschen : man soll sich hüten, zu lange in ihr zu lesen. Was den Menschen rechtfertigt, ist seine Realität, – sie wird ihn ewig rechtfertigen. Um wie viel mehr werth ist der wirkliche Mensch, verglichen mit irgend einem bloss gewünschten, erträumten, erstunkenen und erlogenen Menschen ? | mit irgend einem id e a le n Menschen ? … Und nur der ideale Mensch geht dem Philosophen wider den Geschmack.
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33. Nat u r we r t h d e s E g oi s mu s . – Die Selbstsucht ist so viel werth, als Der physiologisch werth ist, der sie hat : sie kann sehr viel werth sein, sie kann nichtswürdig und verächtlich sein. Jeder Einzelne darf darauf hin angesehen werden, ob er die aufsteigende oder die absteigende Linie des Lebens darstellt. Mit einer Entscheidung darüber hat man auch einen Kanon dafür, was seine Selbstsucht werth ist. Stellt er das Aufsteigen der Linie dar, so ist in der That sein Werth ausserordentlich, – und um des Gesammt-Lebens willen, das mit ihm einen Schritt we it e r thut, darf die Sorge um Erhaltung, um Schaff ung seines optimum von Bedingungen selbst extrem sein. Der Einzelne, das „Individuum“, wie Volk und Philosoph das bisher verstand, ist ja ein Irrthum : er ist nichts für sich, kein Atom, kein „Ring der Kette“, nichts bloss Vererbtes von Ehedem, – er ist die ganze Eine Linie Mensch bis zu ihm hin selber noch … Stellt er die absteigende Entwicklung, den Verfall, die chronische Entartung, Erkrankung dar (– Krankheiten sind, in’s Grosse gerechnet, bereits Folgeerscheinungen des Verfalls, n ic ht dessen Ursachen), so kommt ihm wenig Werth zu, und | die erste Billigkeit will, dass er den Wohlgerathenen so wenig als möglich we g n i m mt . Er ist bloss noch deren Parasit … 34. C h r i s t u nd A n a r c h i s t . – Wenn der Anarchist, als Mundstück n i e d e r g e h e n d e r Schichten der Gesellschaft, mit einer schönen Entrüstung „Recht“, „Gerechtigkeit“, „gleiche Rechte“ verlangt, so steht er damit nur unter dem Drucke seiner Unkultur, welche nicht zu begreifen weiss, w a r u m er eigentlich leidet, – wor a n er arm ist, an Leben … Ein UrsachenTrieb ist in ihm mächtig : Jemand muss schuld daran sein, dass er sich schlecht befi ndet … Auch thut ihm die „schöne Entrüstung“ selber schon wohl, es ist ein Vergnügen für alle armen Teufel, zu schimpfen, – es giebt einen kleinen Rausch
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von Macht. Schon die Klage, das Sich-Beklagen, kann dem Leben einen Reiz geben, um dessentwillen man es aushält : eine feinere Dosis R ac he ist in jeder Klage, man wirft sein Schlechtbefi nden, unter Umständen selbst seine Schlechtigkeit Denen, die anders sind, wie ein Unrecht, wie ein u ne r l au bt e s Vorrecht vor. „Bin ich eine canaille‚ so solltest du es auch sein“ : auf diese Logik hin macht man Revolution. – Das Sich-Beklagen taugt in keinem Falle etwas : es stammt aus der Schwäche. Ob man sein Schlecht-Befi nden Andern oder s ic h s e l b e r zu|misst – Ersteres thut der Socialist, Letzteres zum Beispiel der Christ –, macht keinen eigentlichen Unterschied. Das Gemeinsame, sagen wir auch das Unw ü r d i g e daran ist, dass Jemand s c hu ld daran sein soll, dass man leidet – kurz, dass der Leidende sich gegen sein Leiden den Honig der Rache verordnet. Die Objekte dieses Rach-Bedürfnisses als eines Lu s t-Bedürfnisses sind Gelegenheits-Ursachen : der Leidende fi ndet überall Ursachen, seine kleine Rache zu kühlen, – ist er Christ, nochmals gesagt, so fi ndet er sie in s ic h … Der Christ und der Anarchist – Beide sind décadents. – Aber auch wenn der Christ die „We lt“ verurtheilt, verleumdet, beschmutzt, so thut er es aus dem gleichen Instinkte, aus dem der socialistische Arbeiter die G e s e l l s c h a f t verurtheilt, verleumdet, beschmutzt : das „jüngste Gericht“ selbst ist noch der süsse Trost der Rache – die Revolution, wie sie auch der socialistische Arbeiter erwartet ; nur etwas ferner gedacht … Das „Jenseits“ selbst – wozu ein Jenseits, wenn es nicht ein Mittel wäre, das Diesseits zu beschmutzen ? … 35. K r it i k d e r D é c a d e nc e - Mor a l . – Eine „altruistische“ Moral, eine Moral, bei der die Selbstsucht verk ü m mer t –, bleibt unter allen Umständen ein schlechtes Anzeichen. Dies gilt vom Einzelnen, dies gilt namentlich von Völkern. Es | fehlt am Besten, wenn es an der Selbstsucht zu fehlen beginnt.
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Instinktiv das S i c h -Schädliche wählen, G e l o c k t-werden durch „uninteressirte“ Motive giebt beinahe die Formel ab für décadence. „Nicht s e i ne n Nutzen suchen“ – das ist bloss das moralische Feigenblatt für eine ganz andere, nämlich physiologische Thatsächlichkeit : „ich weiss meinen Nutzen nicht mehr zu f i nd e n“ … Disgregation der Instinkte ! – Es ist zu Ende mit ihm, wenn der Mensch altruistisch wird. – Statt naiv zu sagen, „ ic h bin nichts mehr werth“, sagt die Moral-Lüge im Munde des décadent : „Nichts ist etwas werth, – das L eb e n ist nichts werth“ … Ein solches Urtheil bleibt zuletzt eine grosse Gefahr, es wirkt ansteckend, – auf dem ganzen morbiden Boden der Gesellschaft wuchert es bald zu tropischer Begriffs-Vegetation empor, bald als Religion (Christenthum), bald als Philosophie (Schopenhauerei). Unter Umständen vergiftet eine solche aus Fäulniss gewachsene Giftbaum-Vegetation mit ihrem Dunste weithin, auf Jahrtausende hin d a s L eb e n … 36. Mor a l f ü r Ä r z t e. – Der Kranke ist ein Parasit der Gesellschaft. In einem gewissen Zustande ist es unanständig, noch länger zu leben. Das Fortvegetiren in feiger Abhängigkeit von Ärzten und Praktiken, nachdem der Sinn vom | Leben, das R e c ht zum Leben verloren gegangen ist, sollte bei der Gesellschaft eine tiefe Verachtung nach sich ziehn. Die Ärzte wiederum hätten die Vermittler dieser Verachtung zu sein, – nicht Recepte, sondern jeden Tag eine neue Dosis E k e l vor ihrem Patienten … Eine neue Verantwortlichkeit schaffen, die des Arztes, für alle Fälle, wo das höchste Interesse des Lebens, des au f s t e i g e n d e n Lebens, das rücksichtsloseste Niederund Beiseite-Drängen des e nt a r t e nd e n Lebens verlangt – zum Beispiel für das Recht auf Zeugung, für das Recht, geboren zu werden, für das Recht, zu leben … Auf eine stolze Art sterben, wenn es nicht mehr möglich ist, auf eine stolze Art zu leben. Der Tod, aus freien Stücken gewählt, der Tod zur rech-
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ten Zeit, mit Helle und Freudigkeit, inmitten von Kindern und Zeugen vollzogen : so dass ein wirkliches Abschiednehmen noch möglich ist, wo Der no c h d a i s t , der sich verabschiedet, insgleichen ein wirkliches Abschätzen des Erreichten und Gewollten, eine S u m m i r u n g des Lebens – Alles im Gegensatz zu der erbärmlichen und schauderhaften Komödie, die das Christenthum mit der Sterbestunde getrieben hat. Man soll es dem Christenthume nie vergessen, dass es die Schwäche des Sterbenden zu Gewissens-Nothzucht, dass es die Art des Todes selbst zu Werth-Urtheilen über Mensch und Vergangenheit gemissbraucht hat ! – | Hier gilt es, allen Feigheiten des Vorurtheils zum Trotz, vor Allem die richtige, das heisst physiologische Würdigung des sogenannten n a t ü r l i c h e n Todes herzustellen : der zuletzt auch nur ein „unnatürlicher“, ein Selbstmord ist. Man geht nie durch Jemand Anderes zu Grunde, als durch sich selbst. Nur ist es der Tod unter den verächtlichsten Bedingungen, ein unfreier Tod, ein Tod zur u n r e c ht e n Zeit, ein Feiglings-Tod. Man sollte, aus Liebe zum L eb e n –, den Tod anders wollen, frei, bewusst, ohne Zufall, ohne Überfall … Endlich ein Rath für die Herrn Pessimisten und andere décadents. Wir haben es nicht in der Hand, zu verhindern, geboren zu werden : aber wir können diesen Fehler – denn bisweilen ist es ein Fehler – wieder gut machen. Wenn man sich a b s c h a f f t , thut man die achtungswürdigste Sache, die es giebt : man verdient beinahe damit, zu leben … Die Gesellschaft, was sage ich ! das L eb e n selber hat mehr Vortheil davon, als durch irgend welches „Leben“ in Entsagung, Bleichsucht und andrer Tugend –, man hat die Andern von seinem Anblick befreit, man hat das Leben von einem E i nw a nd befreit … Der Pessimismus, pur, vert, b e we i s t s ic h e r s t durch die Selbst-Widerlegung der Herrn Pessi misten : man muss einen Schritt weiter gehn in seiner Logik, nicht bloss mit „Wille und Vorstellung“, wie Schopenhauer es that, das Leben verneinen –, man muss | S c ho p e n -
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h au e r n z u e r s t ve r n e i n e n … Der Pessimismus, anbei gesagt, so ansteckend er ist, vermehrt trotzdem nicht die Krankhaftigkeit einer Zeit, eines Geschlechts im Ganzen : er ist deren Ausdruck. Man verfällt ihm, wie man der Cholera verfällt : man muss morbid genug dazu schon angelegt sein. Der Pessi mismus selbst macht keinen einzigen décadent mehr ; ich er innere an das Ergebniss der Statistik, dass die Jahre, in denen die Cholera wüthet, sich in der GesammtZiffer der Sterbefälle nicht von andern Jahrgängen unterscheiden. 37. O b w i r mor a l i s c he r g ewor d e n s i nd . – Gegen meinen Begriff „jenseits von Gut und Böse“ hat sich, wie zu erwarten stand, die ganze Fe r o c it ät der moralischen Verdummung, die bekanntlich in Deutschland als die Moral selber gilt –‚ in’s Zeug geworfen : ich hätte artige Geschichten davon zu erzählen. Vor Allem gab man mir die „unleugbare Überlegenheit“ unsrer Zeit im sittlichen Urtheil zu überdenken, unsern wirklich hier gemachten For t s c h r it t : ein Cesare Borgia sei, im Vergleich mit u n s , durchaus nicht als ein „höherer Mensch“, als eine Art Ü b e r me n s c h , wie ich es thue, aufzustellen … Ein Schweizer Redakteur, vom „Bund“‚ gieng so weit, nicht ohne seine Achtung vor dem Muth zu solchem Wagniss auszudrücken, den Sinn meines Werks dahin | zu „verstehn“‚ dass ich mit demselben die Abschaff ung aller anständigen Gefühle beantragte. Sehr verbunden ! – Ich erlaube mir, als Antwort, die Frage aufzuwerfen, o b w i r w i r k l ic h mor al i s c he r g ewor d e n s i nd . Dass alle Welt das glaubt, ist bereits ein Einwand dagegen … Wir modernen Menschen, sehr zart, sehr verletzlich und hundert Rücksichten gebend und nehmend, bilden uns in der That ein, diese zärtliche Menschlichkeit, die wir darstellen, diese e r r e ic ht e Einmüthigkeit in der Schonung, in der Hülfsbereitschaft, im gegenseitigen Vertrauen sei ein positiver Fortschritt, damit seien wir weit
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über die Menschen der Renaissance hinaus. Aber so denkt jede Zeit, so mu s s sie denken. Gewiss ist, dass wir uns nicht in Renaissance-Zustände hineinstellen dürften, nicht einmal hineindenken : unsre Nerven hielten jene Wirklichkeit nicht aus, nicht zu reden von unsern Muskeln. Mit diesem Unvermögen ist aber kein Fortschritt bewiesen, sondern nur eine andre, eine spätere Beschaffenheit, eine schwächere, zärtlichere, verletzlichere, aus der sich nothwendig eine r üc k s ic ht e n r e ic he Moral erzeugt. Denken wir unsre Zartheit und Spätheit, unsre physiologische Alterung weg, so verlöre auch unsre Moral der „Vermenschlichung“ sofort ihren Werth – an sich hat keine Moral Werth – : sie würde uns selbst Geringschätzung machen. Zweifeln wir andrerseits nicht daran, dass wir Modernen mit unsrer dick wattirten | Humanität, die durchaus an keinen Stein sich stossen will, den Zeitgenossen Cesare Borgia’s eine Komödie zum Todtlachen abgeben würden. In der That, wir sind über die Maassen unfreiwillig spasshaft, mit unsren modernen „Tugenden“ … Die Abnahme der feindseligen und misstrauenweckenden Instinkte – und das wäre ja unser „Fortschritt“ – stellt nur eine der Folgen in der allgemeinen Abnahme der V it a l it ä t dar : es kostet hundert Mal mehr Mühe, mehr Vorsicht, ein so bedingtes, so spätes Dasein durchzusetzen. Da hilft man sich gegenseitig, da ist Jeder bis zu einem gewissen Grade Kranker und Jeder Krankenwärter. Das heisst dann „Tugend“ – : unter Menschen, die das Leben noch anders kannten, voller, verschwenderischer, überströmender, hätte man’s anders genannt, „Feigheit“ vielleicht, „Erbärmlichkeit“, „Altweiber-Moral“ … Unsre Milderung der Sitten – das ist mein Satz, das ist, wenn man will, meine Neue r u n g – ist eine Folge des Niedergangs ; die Härte und Schrecklichkeit der Sitte kann umgekehrt eine Folge des Überschusses von Leben sein : dann nämlich darf auch Viel gewagt, Viel herausgefordert, Viel auch ve r g eud e t werden. Was Würze ehedem des Lebens war, für uns
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wäre es G i f t … Indifferent zu sein – auch das ist eine Form der Stärke – dazu sind wir gleichfalls zu alt, zu spät : unsre Mitgefühls-Moral, vor der ich als der Erste | gewarnt habe, Das, was man l’impressionisme morale nennen könnte, ist ein Ausdruck mehr der physiologischen Überreizbarkeit, die Allem, was décadent ist, eignet. Jene Bewegung, die mit der M it le id s - Mor a l Schopenhauer’s versucht hat, sich wissenschaftlich vorzuführen – ein sehr unglücklicher Versuch ! – ist die eigentliche décadence-Bewegung in der Moral, sie ist als solche tief verwandt mit der christlichen Moral. Die starken Zeiten, die vo r n e h m e n Culturen sehen im Mitleiden, in der „Nächstenliebe“, im Mangel an Selbst und Selbstgefühl etwas Verächtliches. – Die Zeiten sind zu messen nach ihren p o s it i ve n K r ä f t e n – und dabei ergiebt sich jene so verschwenderische und verhängnissreiche Zeit der Renaissance als die letzte g r o s s e Zeit, und wir, wir Modernen mit unsrer ängstlichen Selbst-Fürsorge und Nächstenliebe, mit unsren Tugenden der Arbeit, der Anspruchslosigkeit, der Rechtlichkeit‚ der Wissenschaftlichkeit – sammelnd, ökonomisch, machinal – als eine s c hw a c h e Zeit … Unsre Tugenden sind bedingt, sind he r au s g e f or d e r t durch unsre Schwäche … Die „Gleichheit“, eine gewisse thatsächliche Anähnlichung, die sich in der Theorie von „gleichen Rechten“ nur zum Ausdruck bringt, gehört wesentlich zum Niedergang : die Kluft zwischen Mensch und Mensch, Stand und Stand, die Vielheit der Typen, der Wille, selbst zu sein, sich abzu|heben, Das, was ich P at ho s d e r D i s t a n z nenne, ist jeder s t a r k e n Zeit zu eigen. Die Spannkraft, die Spannweite zwischen den Extremen wird heute immer kleiner, – die Extreme selbst verwischen sich endlich bis zur Ähnlichkeit … Alle unsre politischen Theorien u n d Staats-Verfassungen, das „deutsche Reich“ durchaus nicht ausgenommen, sind Folgerungen, Folge-Nothwendigkeiten des Niedergangs ; die unbewusste Wirkung der décadence ist bis in die Ideale einzelner Wissen-
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schaften hinein Herr geworden. Mein Einwand gegen die ganze Sociologie in England und Frankreich bleibt, dass sie nur die Ve r f a l l s - G eb i ld e der Societät aus Erfahrung kennt und vollkommen unschuldig die eigenen Verfalls-Instinkte als No r m des sociologischen Werthurtheils nimmt. Das n ie d e r g e he nd e Leben, die Abnahme aller organisirenden, das heisst trennenden, Klüfte aufreissenden, unter- und überordnenden Kraft formulirt sich in der Sociologie von heute zum Id e a l … Unsre Socialisten sind décadents, aber auch Herr Herbert Spencer ist ein décadent, – er sieht im Sieg des Altruismus etwas Wünschenswerthes ! … 38. M e i n B e g r i f f vo n F r e i h e it . – Der Werth einer Sache liegt mitunter nicht in dem, was man mit ihr erreicht, sondern in dem, was man für sie bezahlt, – was sie uns k o s t et . Ich | gebe ein Beispiel. Die liberalen Institutionen hören alsbald auf, liberal zu sein, sobald sie erreicht sind : es giebt später keine ärgeren und gründlicheren Schädiger der Freiheit, als liberale Institutionen. Man weiss ja, w a s sie zu Wege bringen : sie unterminiren den Willen zur Macht, sie sind die zur Moral erhobene Nivellirung von Berg und Thal, sie machen klein, feige und genüsslich, – mit ihnen triumphirt jedesmal das Heerdenthier. Liberalismus : auf deutsch He e r d e n Ve r t h ie r u n g … Dieselben Institutionen bringen, so lange sie noch erkämpft werden, ganz andere Wirkungen hervor ; sie fördern dann in der That die Freiheit auf eine mächtige Weise. Genauer zugesehn, ist es der Krieg, der diese Wirkungen hervorbringt, der Krieg u m liberale Institutionen, der als Krieg die i l l i b e r a le n Instinkte dauern lässt. Und der Krieg erzieht zur Freiheit. Denn was ist Freiheit ! Dass man den Willen zur Selbstverantwortlichkeit hat. Dass man die Distanz, die uns abtrennt, festhält. Dass man gegen Mühsal, Härte, Entbehrung, selbst gegen das Leben gleichgültiger wird. Dass
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man bereit ist, seiner Sache Menschen zu opfern, sich selber nicht abgerechnet. Freiheit bedeutet, dass die männlichen, die kriegs- und siegsfrohen Instinkte die Herrschaft haben über andre Instinkte, zum Beispiel über die des „Glücks“. Der f r e i g e wo r d n e Mensch, um wie viel mehr der frei|gewordne G e i s t , tritt mit Füssen auf die verächt liche Art von Wohlbefi nden, von dem Krämer, Christen, Kühe, Weiber, Engländer und andre Demokraten träumen. Der freie Mensch ist K r ie g e r. – Wonach misst sich die Freiheit, bei Einzelnen, wie bei Völkern ? Nach dem Widerstand, der überwunden werden muss, nach der Mühe, die es kostet, o b e n zu bleiben. Den höchsten Typus freier Menschen hätte man dort zu suchen, wo beständig der höchste Widerstand überwunden wird : fünf Schritt weit von der Tyrannei, dicht an der Schwelle der Gefahr der Knechtschaft. Dies ist psychologisch wahr, wenn man hier unter den „Tyrannen“ unerbittliche und furchtbare Instinkte begreift, die das Maximum von Autorität und Zucht gegen sich herausfordern – schönster Typus Julius Caesar – ; dies ist auch politisch wahr, man mache nur seinen Gang durch die Geschichte. Die Völker, die Etwas werth waren, werth w u r d e n , wurden dies nie unter liberalen Institutionen : die g r o s s e G e f a h r machte Etwas aus ihnen, das Ehrfurcht verdient, die Gefahr, die uns unsre Hülfsmittel, unsre Tugenden, unsre Wehr und Waffen, unsern G e i s t erst kennen lehrt, – die uns z w i n g t , stark zu sein … E r s t e r Grundsatz : man muss es nöthig haben, stark zu sein : sonst wird man’s nie. – Jene grossen Treibhäuser für starke, für die stärkste Art Mensch, die es bisher gegeben hat, die aristo|kratischen Gemeinwesen in der Art von Rom und Venedig verstanden Freiheit genau in dem Sinne, wie ich das Wort Freiheit verstehe : als Etwas, das man hat und n ic ht hat, das man w i l l , das man e r o b e r t …
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39. K r it i k der Moder n ität. – Unsre Institutionen taugen nichts mehr : darüber ist man einmüthig. Aber das liegt nicht an ihnen, sondern an u n s . Nachdem uns alle Instinkte abhanden gekommen sind, aus denen Institutionen wachsen, kommen uns Institutionen überhaupt abhanden, weil w i r nicht mehr zu ihnen taugen. Demokratismus war jeder Zeit die Niedergangs-Form der organisirenden Kraft : ich habe schon in „Menschliches, Allzumenschliches“ I, 318 die moderne Demokratie sammt ihren Halbheiten, wie „deutsches Reich“, als Ve r f a l l s f or m d e s St a at s gekennzeichnet. Damit es Institutionen giebt, muss es eine Art Wille, Instinkt, Imperativ geben, antiliberal bis zur Bosheit : den Willen zur Tradition, zur Autorität, zur Verantwortlichkeit auf Jahrhunderte hinaus, zur S ol id a r it ät von Geschlechter-Ketten vorwärts und rückwärts in infi nitum. Ist dieser Wille da, so gründet sich Etwas wie das imperium Romanum : oder wie Russland, die e i n z i g e Macht, die heute Dauer im Leibe hat, die warten kann, die Etwas noch versprechen kann, – Russland der Gegensatz-|Begriff zu der erbärmlichen europäischen Kleinstaaterei und Nervosität, die mit der Gründung des deutschen Reichs in einen kritischen Zustand eingetreten ist … Der ganze Westen hat jene Instinkte nicht mehr, aus denen Institutionen wachsen, aus denen Z u k u n f t wächst : seinem „modernen Geiste“ geht vielleicht Nichts so sehr wider den Strich. Man lebt für heute, man lebt sehr geschwind‚ – man lebt sehr unverantwortlich : dies gerade nennt man „Freiheit“. Was aus Institutionen Institutionen m ac ht , wird verachtet, gehasst, abgelehnt : man glaubt sich in der Gefahr einer neuen Sklaverei, wo das Wort „Autorität“ auch nur laut wird. So weit geht die décadence im Werth-Instinkte unsrer Politiker, unsrer politischen Parteien : s ie z ie h n i n s t i n k t i v vor, was auflöst, was das Ende beschleunigt … Zeugniss die mo d er ne E he. Aus der modernen Ehe ist ersichtlich alle Vernunft ab-
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handen gekommen : das giebt aber keinen Einwand gegen die Ehe ab, sondern gegen die Modernität. Die Vernunft der Ehe – sie lag in der juristischen Alleinverantwortlichkeit des Mannes : damit hatte die Ehe Schwergewicht, während sie heute auf beiden Beinen hinkt. Die Vernunft der Ehe – sie lag in ihrer principiellen Unlösbarkeit : damit bekam sie einen Accent, der, dem Zufall von Gefühl, Leidenschaft und Augenblick gegenüber, s ic h G e hör z u s c h a f f e n wusste. Sie lag insgleichen | in der Verantwortlichkeit der Familien für die Auswahl der Gatten. Man hat mit der wachsenden Indulgenz zu Gunsten der L i e b e s -Heirath geradezu die Grundlage der Ehe, Das, was erst aus ihr eine Institution m ac ht , eliminirt. Man gründet eine Institution nie und nimmermehr auf eine Idiosynkrasie, man gründet die Ehe n ic ht , wie gesagt, auf die „Liebe“, – man gründet sie auf den Geschlechtstrieb, auf den Eigenthumstrieb (Weib und Kind als Eigenthum), auf den H e r r s c h a f t s -Tr i e b, der sich beständig das kleinste Gebilde der Herrschaft, die Familie, organisirt, der Kinder und Erben b r au c ht , um ein erreichtes Maass von Macht, Einfluss, Reichthum auch physiologisch festzuhalten, um lange Aufgaben, um Instinkt-Solidarität zwischen Jahrhunderten vorzubereiten. Die Ehe als Institution begreift bereits die Bejahung der grössten, der dauerhaftesten Organisationsform in sich : wenn die Gesellschaft selbst nicht als Ganzes für sich g ut s a g e n kann bis in die fernsten Geschlechter hinaus, so hat die Ehe überhaupt keinen Sinn. – Die moderne Ehe ve rlor ihren Sinn, – folglich schaff t man sie ab. – 40. D ie A r b e it e r - Fr a g e. – Die Dummheit, im Grunde die Instinkt-Entartung, welche heute die Ursache a l le r Dummheiten ist, liegt darin, dass | es eine Arbeiter-Frage giebt. Über gewisse Dinge f r a g t m a n n ic ht : erster Imperativ des Instinktes. – Ich sehe durchaus nicht ab, was man mit dem euro-
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päischen Arbeiter machen will, nachdem man erst eine Frage aus ihm gemacht hat. Er befi ndet sich viel zu gut, um nicht Schritt für Schritt mehr zu fragen, unbescheidner zu fragen. Er hat zuletzt die grosse Zahl für sich. Die Hoff nung ist vollkommen vorüber, dass hier sich eine bescheidene und selbstgenügsame Art Mensch, ein Typus Chinese zum Stande herausbilde : und dies hätte Vernunft gehabt, dies wäre geradezu eine Nothwendigkeit gewesen. Was hat man gethan ? – Alles, um auch die Voraussetzung dazu im Keime zu vernichten, – man hat die Instinkte, vermöge deren ein Arbeiter als Stand möglich, s i c h s e l b e r möglich wird, durch die unverantwortlichste Gedankenlosigkeit in Grund und Boden zerstört. Man hat den Arbeiter militärtüchtig gemacht, man hat ihm das Coalitions-Recht, das politische Stimmrecht gegeben : was Wunder, wenn der Arbeiter seine Existenz heute bereits als Nothstand (moralisch ausgedrückt als Un r e c ht –) empfi ndet ? Aber was w i l l man ? nochmals gefragt. Will man einen Zweck, muss man auch die Mittel wollen : will man Sklaven, so ist man ein Narr, wenn man sie zu Herrn erzieht. – | 41. „Freiheit, die ich n ic ht meine …“ – In solchen Zeiten, wie heute, seinen Instinkten überlassen sein, ist ein Verhängniss mehr. Diese Instinkte widersprechen, stören sich, zerstören sich unter einander ; ich defi nirte das Mo d e r ne bereits als den physiologischen Selbst-Widerspruch. Die Vernunft der Erziehung würde wollen, dass unter einem eisernen Drucke wenigstens Eins dieser Instinkt-Systeme p a r a l y s i r t würde, um einem andren zu erlauben, zu Kräften zu kommen, stark zu werden, Herr zu werden. Heute müsste man das Individuum erst möglich machen, indem man dasselbe b e s c h ne i d et : möglich, das heisst g a n z … Das Umgekehrte geschieht : der Anspruch auf Unabhängigkeit, auf freie Entwicklung, auf laisser aller wird gerade von Denen am hitzigsten gemacht,
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für die kein Zügel z u s t r e n g w ä r e – dies gilt in politicis, dies gilt in der Kunst. Aber das ist ein Symptom der d é c ad e nc e : unser moderner Begriff „Freiheit“ ist ein Beweis von Instinkt-Entartung mehr. – 42. Wo G l au b e not h t hut . – Nichts ist seltner unter Moralisten und Heiligen als Rechtschaffenheit ; vielleicht sagen sie das Gegentheil, vielleicht g l au b e n sie es selbst. Wenn nämlich ein Glaube nützlicher, wirkungsvoller, überzeugender ist, als | die b ew u s s t e Heuchelei, so wird, aus Instinkt, die Heuchelei alsbald zur Un s c hu ld : erster Satz zum Verständniss grosser Heiliger. Auch bei den Philosophen, einer andren Art von Heiligen, bringt es das ganze Handwerk mit sich, dass sie nur gewisse Wahrheiten zulassen : nämlich solche, auf die hin ihr Handwerk die öf fe nt l ic he Sanktion hat, – Kantisch geredet, Wahrheiten der p r a k t i s c he n Vernunft. Sie wissen, was sie beweisen mü s s e n , darin sind sie praktisch, – sie erkennen sich unter einander daran, dass sie über die „Wahrheiten“ übereinstimmen. – „Du sollst nicht lügen“ – auf deutsch : hüten Sie sic h, mein Herr Philosoph, die Wahrheit zu sagen … 43. Den Conser vativen i n’s Ohr gesag t. – Was man früher nicht wusste, was man heute weiss, wissen könnte –, eine R üc k b i ld u n g , eine Umkehr in irgend welchem Sinn und Grade ist gar nicht möglich. Wir Physiologen wenigstens wissen das. Aber alle Priester und Moralisten haben daran geglaubt, – sie wol lt e n die Menschheit auf ein f r ü he r e s Maass von Tugend zurückbringen, zurück sc h rauben. Moral war immer ein Prokrustes-Bett. Selbst die Politiker haben es darin den Tugendpredigern nachgemacht : es giebt auch heute noch Parteien, die als Ziel den K r eb s g a n g aller Dinge träumen. Aber es steht | Niemandem frei, Krebs zu sein. Es hilft nichts : man mu s s vorwärts, will sagen Sc h r it t f ü r Sc h r it t
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weiter i n der déc adence (– dies me i ne Defi nition des modernen „Fortschritts“ …). Man kann diese Entwicklung h e m m e n und, durch Hemmung, die Entartung selber stauen, aufsammeln, vehementer und plöt z l ic he r machen : mehr kann man nicht. – 44. Mei n Beg r i f f vom Gen ie. – Grosse Männer sind wie grosse Zeiten Explosiv-Stoffe, in denen eine ungeheure Kraft aufgehäuft ist ; ihre Voraussetzung ist immer, historisch und physiologisch, dass lange auf sie hin gesammelt, gehäuft, gespart und bewahrt worden ist, – dass lange keine Explosion stattfand. Ist die Spannung in der Masse zu gross geworden, so genügt der zufälligste Reiz, das „Genie“, die „That“, das grosse Schicksal in die Welt zu rufen. Was liegt dann an Umgebung, an Zeitalter, an „Zeitgeist“, an „öffentlicher Meinung“ ! – Man nehme den Fall Napoleon’s. Das Frankreich der Revolution, und noch mehr das der Vor-Revolution, würde aus sich den entgegengesetzten Typus, als der Napoleon’s ist, hervorgebracht haben : es h at ihn auch hervorgebracht. Und weil Napoleon a n d e r s war, Erbe einer stärkeren, längeren, älteren Civilisation als die, welche in Frankreich | in Dampf und Stücke gieng, wurde er hier Herr, wa r er allein hier Herr. Die grossen Menschen sind nothwendig, die Zeit, in der sie erscheinen, ist zufällig ; dass sie fast immer über dieselbe Herr werden, liegt nur darin, dass sie stärker, dass sie älter sind, dass länger auf sie hin gesammelt worden ist. Zwischen einem Genie und seiner Zeit besteht ein Verhältniss, wie zwischen stark und schwach, auch wie zwischen alt und jung : die Zeit ist relativ immer viel jünger, dünner, unmündiger, unsicherer, kindischer. – Dass man hierüber in Frankreich heute s e h r a nd e r s denkt (in Deutschland auch : aber daran liegt nichts), dass dort die Theorie vom milieu, eine wahre Neurotiker-Theorie, sakrosankt und beinahe wissenschaftlich geworden ist und bis unter die Physiologen Glauben fi ndet, das „riecht nicht gut“,
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das macht Einem traurige Gedanken. – Man versteht es auch in England nicht anders, doch darüber wird sich kein Mensch betrüben. Dem Engländer stehen nur zwei Wege offen, sich mit dem Genie und „grossen Manne“ abzufi nden : entweder d e mok r at i s c h in der Art Buckle’s oder r e l i g iö s in der Art Carlyle’s. – Die G e f a h r, die in grossen Menschen und Zeiten liegt, ist ausserordentlich ; die Erschöpfung jeder Art, die Sterilität folgt ihnen auf dem Fusse. Der grosse Mensch ist ein Ende ; die grosse Zeit, die Renaissance zum Beispiel, ist ein Ende. Das Genie – in Werk, in | That – ist nothwendig ein Verschwender : d a s s e s s ic h au s g iebt , ist seine Grösse … Der Instinkt der Selbsterhaltung ist gleichsam ausgehängt ; der übergewaltige Druck der ausströmenden Kräfte verbietet ihm jede solche Obhut und Vorsicht. Man nennt das „Aufopferung“ ; man rühmt seinen „Heroismus“ darin, seine Gleichgültigkeit gegen das eigne Wohl, seine Hingebung für eine Idee, eine grosse Sache, ein Vaterland : Alles Missverständnisse … Er strömt aus, er strömt über, er verbraucht sich, er schont sich nicht, – mit Fatalität‚ verhängnissvoll, unfreiwillig, wie das Ausbrechen eines Flusses über seine Ufer unfreiwillig ist. Aber weil man solchen Explosiven viel verdankt, hat man ihnen auch viel dagegen geschenkt, zum Beispiel eine Art höhe r e r Mor a l … Das ist ja die Art der menschlichen Dankbarkeit : sie m i s s ve r s t e ht ihre Wohlthäter. – 45. D e r Ve r b r e c he r u n d w a s i h m ve r w a n d t i s t . – Der Verbrecher-Typus, das ist der Typus des starken Menschen unter ungünstigen Bedingungen, ein krank gemachter starker Mensch. Ihm fehlt die Wildniss, eine gewisse freiere und gefährlichere Natur und Daseinsform, in der Alles, was Waffe und Wehr im Instinkt des starken Menschen ist, z u Rec ht bes t e ht . Seine Tu g e nd e n sind von der Gesellschaft in Bann | gethan ; seine lebhaftesten Triebe, die er mitgebracht hat, ver-
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wachsen alsbald mit den niederdrückenden Affekten‚ mit dem Verdacht, der Furcht, der Unehre. Aber dies ist beinahe das R e c e pt zur physiologischen Entartung. Wer Das, was er am besten kann, am liebsten thäte, heimlich thun muss, mit langer Spannung, Vorsicht, Schlauheit, wird anämisch ; und weil er immer nur Gefahr, Verfolgung, Verhängniss von seinen Instinkten her erntet, verkehrt sich auch sein Gefühl gegen diese Instinkte – er fühlt sie fatalistisch. Die Gesellschaft ist es, unsre zahme, mittelmässige, verschnittene Gesellschaft, in der ein naturwüchsiger Mensch, der vom Gebirge her oder aus den Abenteuern des Meeres kommt, nothwendig zum Verbrecher entartet. Oder beinahe nothwendig : denn es giebt Fälle, wo ein solcher Mensch sich stärker erweist als die Gesellschaft : der Corse Napoleon ist der berühmteste Fall. Für das Problem, das hier vorliegt, ist das Zeugniss Dostoiewsky’s von Belang – Dostoiewsky’s, des einzigen Psychologen, anbei gesagt, von dem ich Etwas zu lernen hatte : er gehört zu den schönsten Glücksfällen meines Lebens, mehr selbst noch als die Entdeckung Stendhal’s. Dieser t ie f e Mensch, der zehn Mal Recht hatte, die oberflächlichen Deutschen gering zu schätzen, hat die sibirischen Zuchthäusler, in deren Mitte er lange lebte, lauter schwere Verbrecher, für die es keinen | Rückweg zur Gesellschaft mehr gab, sehr anders empfunden als er selbst erwartete – ungefähr als aus dem besten, härtesten und werthvollsten Holze geschnitzt, das auf russischer Erde überhaupt wächst. Verallgemeinern wir den Fall des Verbrechers : denken wir uns Naturen, denen, aus irgend einem Grunde, die öffentliche Zustimmung fehlt, die wissen, dass sie nicht als wohlthätig, als nützlich empfunden werden, – jenes Tschandala-Gefühl, dass man nicht als gleich gilt, sondern als ausgestossen, unwürdig, verunreinigend. Alle solche Naturen haben die Farbe des Unterirdischen auf Gedanken und Handlungen ; an ihnen wird Jegliches bleicher als an Solchen, auf deren Dasein das Tageslicht ruht. Aber fast alle Existenz-
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formen, die wir heute auszeichnen, haben ehemals unter dieser halben Grabesluft gelebt : der wissenschaftliche Charakter, der Artist, das Genie, der freie Geist, der Schauspieler, der Kaufmann, der grosse Entdecker … So lange der P r ie s t e r als oberster Typus galt, war je d e werthvolle Art Mensch entwerthet … Die Zeit kommt – ich verspreche das – wo er als der n ie d r i g s t e gelten wird, als u n s e r Tschandala, als die verlogenste, als die unanständigste Art Mensch … Ich richte die Aufmerksamkeit darauf, wie noch jetzt, unter dem mildesten Regiment der Sitte, das je auf Erden, zum Mindesten in Europa, geherrscht hat, jede Abseitigkeit, jedes | lange, allzulange Unt e r h a l b, jede ungewöhn liche, undurchsichtige Daseinsform jenem Typus nahe bringt, den der Verbrecher vollendet. Alle Neuerer des Geistes haben eine Zeit das fahle und fatalistische Zeichen des Tschandala auf der Stirn : n ic ht , weil sie so empfunden würden, sondern weil sie selbst die furchtbare Kluft fühlen, die sie von allem Herkömmlichen und in Ehren Stehenden trennt. Fast jedes Genie kennt als eine seiner Entwicklungen die „catilinarische Existenz“, ein Hass-, Rache- und Aufstands-Gefühl gegen Alles, was schon i s t , was nicht mehr w i r d … Catilina – die Präexistenz-Form je d e s Caesar. – 46. H ier i st d ie Au s s ic ht f r ei. – Es kann Höhe der Seele sein, wenn ein Philosoph schweigt ; es kann Liebe sein, wenn er sich widerspricht ; es ist eine Höflichkeit des Erkennenden möglich, welche lügt. Man hat nicht ohne Feinheit gesagt : il est indigne des grands coeurs de répandre le trouble, qu’ils ressentent : nur muss man hinzufügen, dass vor d e m Un w ü r d i g s t e n sich nicht zu fürchten ebenfalls Grösse der Seele sein kann. Ein Weib, das liebt, opfert seine Ehre ; ein Erkennender, welcher „liebt“, opfert vielleicht seine Menschlichkeit ; ein Gott, welcher liebte, ward Jude … |
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47. D ie S c hö n he it k e i n Zu f a l l . – Auch die Schönheit einer Rasse oder Familie, ihre Anmuth und Güte in allen Gebärden wird erarbeitet : sie ist, gleich dem Genie, das Schlussergebniss der accumulirten Arbeit von Geschlechtern. Man muss dem guten Geschmacke grosse Opfer gebracht haben, man muss um seinetwillen Vieles gethan, Vieles gelassen haben – das siebzehnte Jahrhundert Frankreichs ist bewunderungswürdig in Beidem –, man muss in ihm ein Princip der Wahl, für Gesellschaft, Ort, Kleidung, Geschlechtsbefriedigung gehabt haben, man muss Schönheit dem Vortheil, der Gewohnheit, der Meinung, der Trägheit vorgezogen haben. Oberste Richtschnur : man muss sich auch vor sich selber nicht „gehen lassen“. – Die guten Dinge sind über die Maassen kostspielig : und immer gilt das Gesetz, dass wer sie h at , ein Andrer ist, als wer sie e r w i r bt . Alles Gute ist Erbschaft : was nicht ererbt ist, ist unvollkommen, ist Anfang … In Athen waren zur Zeit Cicero’s, der darüber seine Überraschung ausdrückt, die Männer und Jünglinge bei weitem den Frauen an Schönheit überlegen : aber welche Arbeit und Anstrengung im Dienste der Schönheit hatte daselbst das männliche Geschlecht seit Jahrhunderten von sich verlangt ! – Man soll sich nämlich über die Methodik hier nicht vergreifen : | eine blosse Zucht von Gefühlen und Gedanken ist beinahe Null (– hier liegt das grosse Missverständniss der deutschen Bildung, die ganz illusorisch ist) : man muss den L e i b zuerst überreden. Die strenge Aufrechterhaltung bedeutender und gewählter Gebärden, eine Verbindlichkeit, nur mit Menschen zu leben, die sich nicht „gehen lassen“, genügt vollkommen, um bedeutend und gewählt zu werden : in zwei, drei Geschlechtern ist bereits Alles ve r i n ne rl ic ht . Es ist entscheidend über das Loos von Volk und Menschheit, dass man die Cultur an der r e c ht e n St e l le beginnt – n ic ht an der „Seele“ (wie es der verhängnissvolle Aberglaube der Priester und Halb-Priester war) : die
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rechte Stelle ist der Leib, die Gebärde, die Diät, die Physiologie, der R e s t folgt daraus … Die Griechen bleiben deshalb das e r s t e C u lt u r - E r e i g n i s s der Geschichte – sie wussten, sie t h at e n , was Noth that ; das Christenthum, das den Leib verachtete, war bisher das grösste Unglück der Menschheit. – 48. Fo r t s c h r i t t i n m e i n e m S i n n e . – Auch ich rede von „Rückkehr zur Natur“, obwohl es eigentlich nicht ein Zurückgehn, sondern ein H i n au f k om me n ist – hinauf in die hohe, freie, selbst furchtbare Natur und Natürlichkeit, eine solche, die mit grossen Aufgaben spielt, spielen | d a r f … Um es im Gle ic h n i s s zu sagen : Napoleon war ein Stück „Rückkehr zur Natur“, so wie ich sie verstehe (zum Beispiel in rebus tacticis, noch mehr, wie die Militärs wissen, im Strategischen). – Aber Rousseau – wohin wollte d e r eigentlich zurück ? Rousseau, dieser erste moderne Mensch, Idealist und canaille in Einer Person ; der die moralische „Würde“ nöthig hatte, um seinen eignen Aspekt auszuhalten ; krank vor zügelloser Eitelkeit und zügelloser Selbstverachtung. Auch diese Missgeburt, welche sich an die Schwelle der neuen Zeit gelagert hat, wollte „Rückkehr zur Natur“ – wohin, nochmals gefragt, wollte Rousseau zurück ? – Ich hasse Rousseau noch i n der Revolution : sie ist der welthistorische Ausdruck für diese Doppelheit von Idealist und canaille. Die blutige farce, mit der sich diese Revolution abspielte, ihre „Immoralität“, geht mich wenig an : was ich hasse, ist ihre Rousseau’sche Mor a l it ät – die sogenannten „Wahrheiten“ der Revolution, mit denen sie immer noch wirkt und alles Flache und Mittelmässige zu sich überredet. Die Lehre von der Gleichheit ! … Aber es giebt gar kein giftigeres Gift : denn sie s c he i nt von der Gerechtigkeit selbst gepredigt, während sie das E nd e der Gerechtigkeit ist … „Den Gleichen Gleiches, den Ungleichen Ungleiches – d a s wäre die wahre Rede der Gerechtigkeit : und, was daraus folgt, Unglei-
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ches niemals gleich machen.“ – Dass es um | jene Lehre von der Gleichheit herum so schauerlich und blutig zugieng, hat dieser „modernen Idee“ par excellence eine Art Glorie und Feuerschein gegeben, so dass die Revolution als S c h au s p ie l auch die edelsten Geister verführt hat. Das ist zuletzt kein Grund, sie mehr zu achten. – Ich sehe nur Einen, der sie empfand, wie sie empfunden werden muss, mit E k e l – Goethe … 49. G o et he – kein deutsches Ereigniss, sondern ein europäisches : ein grossartiger Versuch, das achtzehnte Jahrhundert zu überwinden durch eine Rückkehr zur Natur, durch ein H i n au fkommen zur Natürlichkeit der Renaissance, eine Art Selbstüberwindung von Seiten dieses Jahrhunderts. – Er trug dessen stärkste Instinkte in sich : die Gefühlsamkeit, die Natur-Idolatrie, das Antihistorische, das Idealistische, das Unreale und Revolutionäre (– letzteres ist nur eine Form des Unrealen). Er nahm die Historie, die Naturwissenschaft, die Antike, insgleichen Spinoza zu Hülfe, vor Allem die praktische Thätigkeit ; er umstellte sich mit lauter geschlossenen Horizonten ; er löste sich nicht vom Leben ab, er stellte sich hinein ; er war nicht verzagt und nahm so viel als möglich auf sich, über sich, in sich. Was er wollte, das war Tot a l it ät ; er bekämpfte das Auseinander von Vernunft, Sinnlichkeit, Gefühl, Wille (– in ab|schreckendster Scholastik durch K a nt gepredigt, den Antipoden Goethe’s), er disciplinirte sich zur Ganzheit, er s c hu f sich … Goethe war, inmitten eines unreal gesinnten Zeitalters ein überzeugter Realist : er sagte Ja zu Allem, was ihm hierin verwandt war, – er hatte kein grösseres Erlebniss als jenes ens realissimum, genannt Napoleon. Goethe concipirte einen starken, hochgebildeten, in allen Leiblichkeiten geschickten, sich selbst im Zaume habenden, vor sich selber ehrfürchtigen Menschen, der sich den ganzen Umfang und Reichthum der Natürlichkeit zu gönnen wagen darf, der stark genug zu dieser
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Freiheit ist ; den Menschen der Toleranz, nicht aus Schwäche, sondern aus Stärke, weil er Das, woran die durchschnittliche Natur zu Grunde gehn würde, noch zu seinem Vortheile zu brauchen weiss ; den Menschen, für den es nichts Verbotenes mehr giebt, es sei denn die S c hw äc he, heisse sie nun Laster oder Tugend … Ein solcher f r e i g ewor d ne r Geist steht mit einem freudigen und vertrauenden Fatalismus mitten im All, im G l au b e n , dass nur das Einzelne verwerflich ist, dass im Ganzen sich Alles erlöst und bejaht – e r ve r n e i nt n ic ht me h r … Aber ein solcher Glaube ist der höchste aller möglichen Glauben : ich habe ihn auf den Namen des D io ny s o s getauft. – | 50. Man könnte sagen, dass in gewissem Sinne das neunzehnte Jahrhundert Das alles auc h erstrebt hat, was Goethe als Person erstrebte : eine Universalität im Verstehn, im Gutheissen, ein An-sich-heran-kommen-lassen von Jedwedem, einen verwegnen Realismus, eine Ehrfurcht vor allem Thatsächlichen. Wie kommt es, dass das Gesammt-Ergebniss kein Goethe, sondern ein Chaos ist, ein nihilistisches Seufzen, ein Nichtwissen-wo-aus-noch-ein, ein Instinkt von Ermüdung, der in praxi fortwährend dazu treibt, z u m ac ht z e h nt e n Ja h r hu nd e r t z u r üc k z u g r e i f e n ? (– zum Beispiel als GefühlsRomantik, als Altruismus und Hyper-Sentimentalität, als Femininismus im Geschmack, als Socialismus in der Politik). Ist nicht das neunzehnte Jahrhundert, zumal in seinem Ausgange, bloss ein verstärktes ve r r oht e s achtzehntes Jahrhundert, das heisst ein d é c a d e nc e -Jahrhundert ? So dass Goethe nicht bloss für Deutschland, sondern für ganz Europa bloss ein Zwischenfall, ein schönes Umsonst gewesen wäre ? – Aber man missversteht grosse Menschen, wenn man sie aus der armseligen Perspektive eines öffentlichen Nutzens ansieht. Dass man keinen Nutzen aus ihnen zu ziehn weiss, d a s g e hör t s e l b s t v ie l le ic ht z u r Gr ö s s e … |
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51. Goethe ist der letzte Deutsche, vor dem ich Ehrfurcht habe : er hätte drei Dinge empfunden, die ich empfi nde, – auch verstehen wir uns über das „Kreuz“ … Man fragt mich öfter, wozu ich eigentlich d eut s c h schriebe : nirgendswo würde ich schlechter gelesen, als im Vaterlande. Aber wer weiss zuletzt, ob ich auch nur w ü n s c he, heute gelesen zu werden ? – Dinge schaffen, an denen umsonst die Zeit ihre Zähne versucht ; der Form nach, d e r S u b s t a n z n ac h um eine kleine Unsterblichkeit bemüht sein – ich war noch nie bescheiden genug, weniger von mir zu verlangen. Der Aphorismus, die Sentenz, in denen ich als der Erste unter Deutschen Meister bin, sind die Formen der „Ewigkeit“ ; mein Ehrgeiz ist, in zehn Sätzen zu sagen, was jeder Andre in einem Buche sagt, – was jeder Andre in einem Buche n ic ht sagt … Ich habe der Menschheit das tiefste Buch gegeben, das sie besitzt, meinen Z a r at hu s t r a : ich gebe ihr über kurzem das unabhängigste. – |
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Was ich den Alten verdanke.
1. Zum Schluss ein Wort über jene Welt, zu der ich Zugänge gesucht, zu der ich vielleicht einen neuen Zugang gefunden habe – die alte Welt. Mein Geschmack, der der Gegensatz eines duldsamen Geschmacks sein mag, ist auch hier fern davon, in Bausch und Bogen Ja zu sagen : er sagt überhaupt nicht gern Ja, lieber noch Nein, am allerliebsten gar nichts … Das gilt von ganzen Culturen, das gilt von Büchern, – es gilt auch von Orten und Landschaften. Im Grunde ist es eine ganz kleine Anzahl antiker Bücher, die in meinem Leben mitzählen ; die berühmtesten sind nicht darunter. Mein Sinn für Stil, für das Epigramm als Stil erwachte fast augenblicklich bei der Berührung mit Sallust. Ich habe das Erstaunen meines verehrten Lehrers Corssen nicht vergessen, als er seinem schlechtesten Lateiner die allererste | Censur geben musste –, ich war mit Einem Schlage fertig. Gedrängt, streng, mit so viel Substanz als möglich auf dem Grunde, eine kalte Bosheit gegen das „schöne Wort“‚ auch das „schöne Gefühl“ – daran errieth ich mich. Man wird, bis in meinen Zarathustra hinein, eine sehr ernsthafte Ambition nach r öm i s c he m Stil, nach dem ‚aere perennius‘ im Stil bei mir wiedererkennen. – Nicht anders ergieng es mir bei der ersten Berührung mit Horaz. Bis heute habe ich an keinem Dichter dasselbe artistische Entzükken gehabt, das mir von Anfang an eine Horazische Ode gab. In gewissen Sprachen ist Das, was hier erreicht ist, nicht einmal zu wol le n . Dies Mosaik von Worten, wo jedes Wort als Klang, als Ort, als Begriff, nach rechts und links und über das Ganze hin seine Kraft ausströmt, dies minimum in Umfang und Zahl der Zeichen, dies damit erzielte maximum in der Energie der Zeichen – das Alles ist römisch und, wenn man
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mir glauben will, vor ne h m par excellence. Der ganze Rest von Poesie wird dagegen etwas zu Populäres, – eine blosse Gefühls-Geschwätzigkeit … 2. Den Griechen verdanke ich durchaus keine verwandt starken Eindrücke ; und, um es geradezu herauszusagen, sie k ön ne n uns nicht sein, was die Römer sind. Man le r nt nicht von den | Griechen – ihre Art ist zu fremd, sie ist auch zu flüssig, um imperativisch, um „klassisch“ zu wirken. Wer hätte je an einem Griechen schreiben gelernt ! Wer hätte es je oh ne die Römer gelernt ! … Man wende mir ja nicht Plato ein. Im Verhältniss zu Plato bin ich ein gründlicher Skeptiker und war stets ausser Stande, in die Bewunderung des A r t i s t e n Plato, die unter Gelehrten herkömmlich ist, einzustimmen. Zuletzt habe ich hier die raffi nirtesten Geschmacksrichter unter den Alten selbst auf meiner Seite. Plato wirft, wie mir scheint, alle Formen des Stils durcheinander, er ist damit ein e r s t e r décadent des Stils : er hat etwas Ähnliches auf dem Gewissen, wie die Cyniker, die die satura Menippea erfanden. Dass der Platonische Dialog, diese entsetzlich selbstgefällige und kindliche Art Dialektik, als Reiz wirken könne, dazu muss man nie gute Franzosen gelesen haben, – Fontenelle zum Beispiel. Plato ist langweilig. – Zuletzt geht mein Misstrauen bei Plato in die Tiefe : ich fi nde ihn so abgeirrt von allen Grundinstinkten der Hellenen, so vermoralisirt, so präexistent-christlich – er hat bereits den Begriff „gut“ als obersten Begriff –, dass ich von dem ganzen Phänomen Plato eher das harte Wort „höherer Schwindel“ oder, wenn man’s lieber hört, Idealismus – als irgend ein andres gebrauchen möchte. Man hat theuer dafür bezahlt, dass dieser Athener bei den Ägyptern in die | Schule gieng (– oder bei den Juden in Ägypten ? …) Im grossen Verhängniss des Christenthums ist Plato jene „Ideal“ genannte Zweideutigkeit und Fascination, die den edleren Naturen des
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Alterthums es möglich machte, sich selbst misszuverstehn und die Br üc k e zu betreten, die zum „Kreuz“ führte … Und wie viel Plato ist noch im Begriff „Kirche“, in Bau, System, Praxis der Kirche ! – Meine Erholung, meine Vorliebe, meine K u r von allem Platonismus war zu jeder Zeit T hu k yd id e s . Thukydides und, vielleicht, der principe Macchiavell’s sind mir selber am meisten verwandt durch den unbedingten Willen, sich Nichts vorzumachen und die Vernunft in der R e a l i t ät zu sehn, – n ic ht in der „Vernunft“, noch weniger in der „Moral“ … Von der jämmerlichen Schönfärberei der Griechen in’s Ideal, die der „klassisch gebildete“ Jüngling als Lohn für seine Gymnasial-Dressur in’s Leben davonträgt, kurirt Nichts so gründlich als Thukydides. Man muss ihn Zeile für Zeile umwenden und seine Hintergedanken so deutlich ablesen wie seine Worte : es giebt wenige so hintergedankenreiche Denker. In ihm kommt die S o ph i s t e n - C u lt u r, will sagen die R e a l i s t e n - C u lt u r, zu ihrem vollendeten Ausdruck : diese unschätzbare Bewegung inmitten des eben allerwärts losbrechenden Moral- und Ideal-Schwindels der sokratischen Schulen. Die griechische Philosophie als die d é c a d e nc e des griechischen Instinkts ; | Thukydides als die grosse Summe, die letzte Offenbarung jener starken, strengen, harten Thatsächlichkeit‚ die dem älteren Hellenen im Instinkte lag. Der Mut h vor der Realität unterscheidet zuletzt solche Naturen wie Thukydides und Plato : Plato ist ein Feigling vor der Realität, – f ol g l ic h flüchtet er in’s Ideal ; Thukydides hat s ic h in der Gewalt, folglich behält er auch die Dinge in der Gewalt … 3. In den Griechen „schöne Seelen“, „goldene Mitten“ und andre Vollkommenheiten auszuwittern, etwa an ihnen die Ruhe in der Grösse, die ideale Gesinnung, die hohe Einfalt bewundern – vor dieser „hohen Einfalt“, einer niaiserie allemande zuguterletzt, war ich durch den Psychologen behütet, den ich
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in mir trug. Ich sah ihren stärksten Instinkt, den Willen zur Macht, ich sah sie zittern vor der unbändigen Gewalt dieses Triebs, – ich sah alle ihre Institutionen wachsen aus Schutzmaassregeln, um sich vor einander gegen ihren inwendigen E x plo s i v s t of f sicher zu stellen. Die ungeheure Spannung im Innern entlud sich dann in furchtbarer und rücksichtsloser Feindschaft nach Aussen : die Stadtgemeinden zerfleischten sich unter einander, damit die Stadtbürger jeder einzelnen vor sich selber Ruhe fänden. Man hatte es nöthig, stark zu sein : die Gefahr war in der | Nähe –, sie lauerte überall. Die prachtvoll geschmeidige Leiblichkeit, der verwegene Realismus und Immoralismus, der dem Hellenen eignet, ist eine Not h , nicht eine „Natur“ gewesen. Er folgte erst, er war nicht von Anfang an da. Und mit Festen und Künsten wollte man auch nichts Andres als sich o b e n au f fühlen, sich obenauf z e i g e n : es sind Mittel, sich selber zu verherrlichen, unter Umständen vor sich Furcht zu machen … Die Griechen auf deutsche Manier nach ihren Philosophen beurtheilen, etwa die Biedermännerei der sokratischen Schulen zu Aufschlüssen darüber benutzen, w a s im Grunde hellenisch sei ! … Die Philosophen sind ja die décadents des Griechenthums, die Gegenbewegung gegen den alten, den vornehmen Geschmack (– gegen den agonalen Instinkt, gegen die Polis, gegen den Werth der Rasse, gegen die Autorität des Herkommens). Die sokratischen Tugenden wurden gepredigt, we i l sie den Griechen abhanden gekommen waren : reizbar, furchtsam, unbeständig, Komödianten allesammt hatten sie ein paar Gründe zu viel, sich Moral predigen zu lassen. Nicht, dass es Etwas geholfen hätte : aber grosse Worte und Attitüden stehen décadents so gut … | 4. Ich war der Erste, der, zum Verständniss des älteren, des noch reichen und selbst überströmenden hellenischen Instinkts, jenes wundervolle Phänomen ernst nahm, das den Namen des
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Dionysos trägt : es ist einzig erklärbar aus einem Zuv ie l von Kraft. Wer den Griechen nachgeht, wie jener tiefste Kenner ihrer Cultur, der heute lebt, wie Jakob Burckhardt in Basel, der wusste sofort, dass damit Etwas gethan sei : Burckhardt fügte seiner „Cultur der Griechen“ einen eignen Abschnitt über das genannte Phänomen ein. Will man den Gegensatz, so sehe man die beinahe erheiternde Instinkt-Armuth der deutschen Philologen, wenn sie in die Nähe des Dionysischen kommen. Der berühmte Lobeck zumal, der mit der ehrwürdigen Sicherheit eines zwischen Büchern ausgetrockneten Wurms in diese Welt geheimnissvoller Zustände hineinkroch und sich überredete, damit wissenschaftlich zu sein, dass er bis zum Ekel leichtfertig und kindisch war, – Lobeck hat mit allem Aufwande von Gelehrsamkeit zu verstehn gegeben, eigentlich habe es mit allen diesen Curiositäten Nichts auf sich. In der That möchten die Priester den Theilhabern an solchen Orgien einiges nicht Werthlose mitgetheilt haben, zum Beispiel, dass der Wein zur Lust anrege, dass der Mensch unter Umständen von Früchten lebe, dass die Pflanzen im Frühjahr aufblühn, im Herbst | verwelken. Was jenen so befremdlichen Reichthum an Riten, Symbolen und Mythen orgiastischen Ursprungs angeht, von dem die antike Welt ganz wörtlich überwuchert ist, so fi ndet Lobeck an ihm einen Anlass, noch um einen Grad geistreicher zu werden. „Die Griechen, sagt er Aglaophames I, 672, hatten sie nichts Anderes zu thun, so lachten, sprangen, rasten sie umher, oder, da der Mensch mitunter auch dazu Lust hat, so sassen sie nieder, weinten und jammerten. A nd e r e kamen dann später hinzu und suchten doch irgend einen Grund für das auffallende Wesen ; und so entstanden zur Erklärung jener Gebräuche jene zahllosen Festsagen und Mythen. Auf der andren Seite glaubte man, jenes p o s s i r l ic he Tr e i b e n , welches nun einmal an den Festtagen stattfand, gehöre auch nothwendig zur Festfeier, und hielt es als einen unentbehrlichen Theil des Gottesdienstes fest.“ – Das ist
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verächtliches Geschwätz, man wird einen Lobeck nicht einen Augenblick ernst nehmen. Ganz anders berührt es uns, wenn wir den Begriff „griechisch“ prüfen, den Winckelmann und Goethe sich gebildet haben, und ihn unverträglich mit jenem Elemente fi nden, aus dem die dionysische Kunst wächst, – mit dem Orgiasmus. Ich zweifle in der That nicht daran, dass Goethe etwas Derartiges grundsätzlich aus den Möglichkeiten der griechischen Seele ausgeschlossen hätte. Fol g l ic h ve r s t a n d G o e t h e d ie | G r ie c h e n n ic h t . Denn erst in den dionysischen Mysterien, in der Psychologie des dionysischen Zustands spricht sich die Gr u nd t h at s ac he des hellenischen Instinkts aus – sein „Wille zum Leben“. Wa s verbürgte sich der Hellene mit diesen Mysterien ? Das e w i g e Leben, die ewige Wiederkehr des Lebens ; die Zukunft in der Vergangenheit verheissen und geweiht ; das triumphirende Ja zum Leben über Tod und Wandel hinaus ; das w a h r e Leben als das Gesammt-Fortleben durch die Zeugung, durch die Mysterien der Geschlechtlichkeit. Den Griechen war deshalb das g e s c h le c ht l ic he Symbol das ehrwürdige Symbol an sich, der eigentliche Tiefsinn innerhalb der ganzen antiken Frömmigkeit. Alles Einzelne im Akte der Zeugung, der Schwangerschaft, der Geburt erweckte die höchsten und feierlichsten Gefühle. In der Mysterienlehre ist der S c h me r z heilig gesprochen : die „Wehen der Gebärerin“ heiligen den Schmerz überhaupt, – alles Werden und Wachsen, alles Zukunft-Verbürgende b e d i n g t den Schmerz … Damit es die ewige Lust des Schaffens giebt, damit der Wille zum Leben sich ewig selbst bejaht, mu s s es auch ewig die „Qual der Gebärerin“ geben … Dies Alles bedeutet das Wort Dionysos : ich kenne keine höhere Symbolik als diese g r ie c h i s c he Symbolik, die der Dionysien. In ihnen ist der tiefste Instinkt des Lebens, der zur Zukunft des Lebens, zur Ewigkeit des | Lebens, religiös empfunden, – der Weg selbst zum Leben, die Zeugung, als der he i l i g e Weg … Erst das Christenthum, mit seinem Res-
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sentiment g e g e n das Leben auf dem Grunde, hat aus der Geschlechtlichkeit etwas Unreines gemacht : es warf K ot h auf den Anfang, auf die Voraussetzung unsres Lebens … 5. Die Psychologie des Orgiasmus als eines überströmenden Lebens- und Kraftgefühls, innerhalb dessen selbst der Schmerz noch als Stimulans wirkt, gab mir den Schlüssel zum Begriff des t r a g i s c he n Gefühls, das sowohl von Aristoteles als in Sonderheit von unsern Pessimisten missverstanden worden ist. Die Tragödie ist so fern davon, Etwas für den Pessimismus der Hellenen im Sinne Schopenhauer’s zu beweisen, dass sie vielmehr als dessen entscheidende Ablehnung und G e g e n I n s t a n z zu gelten hat. Das Jasagen zum Leben selbst noch in seinen fremdesten und härtesten Problemen ; der Wille zum Leben, im O pf e r seiner höchsten Typen der eignen Unerschöpflichkeit frohwerdend – d a s nannte ich dionysisch, d a s errieth ich als die Brücke zur Psychologie des t r a g i s c he n Dichters. N ic ht um von Schrecken und Mitleiden loszukommen, nicht um sich von einem gefährlichen Affekt durch dessen vehemente Entladung zu reinigen – so | verstand es Aristoteles – : sondern um, über Schrecken und Mitleid hinaus, die ewige Lust des Werdens s e l b s t z u s e i n , – jene Lust, die auch noch die Lu s t a m Ve r n ic ht e n in sich schliesst … Und damit berühre ich wieder die Stelle, von der ich einstmals ausgieng – die „Geburt der Tragödie“ war meine erste Umwerthung aller Werthe : damit stelle ich mich wieder auf den Boden zurück, aus dem mein Wollen, mein K ö n n e n wächst – ich, der letzte Jünger des Philosophen Dionysos, – ich, der Lehrer der ewigen Wiederkunft … |
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Der Hammer redet. A lso sprach Zarathustra. 3, 90. |
„Warum so hart ! – sprach zum Diamanten einst die Küchen-Kohle : sind wir denn nicht Nah-Verwandte ?“ Warum so weich ? Oh meine Brüder, also frage ich euch : seid ihr denn nicht – meine Brüder ? War um so weich, so weichend und nachgebend ? Warum ist so viel Leug nung, Verleug nung in eurem Herzen ? so wenig Schick sal in eurem Blicke ? Und wollt ihr nicht Schick sale sein und Unerbittliche : wie könntet ihr einst mit mir – siegen ? Und wenn eure Härte nicht blitzen und schneiden und zerschneiden will : wie könntet ihr einst mit mir – schaffen ? A lle Schaffenden nämlich sind hart. | Und Seligkeit muss es euch dünken, eure Hand auf Jahrtausende zu drücken wie auf Wachs, – – Seligkeit, auf dem Willen von Jahrtausenden zu schreiben wie auf Erz, – härter als Erz, edler als Erz. Ganz hart allein ist das Edelste. Diese neue Tafel, oh meine Brüder, stelle ich über euch : Werdet hart ! – –
Nachworte von Claus-Artur Scheier
Zur Genealogie der Moral Eine Streitschrift
Nach der Geburt der Tragödie fand Nietzsche sich genötigt, zurückzukehren aus der Tiefe der Geschichte zum Nutzen der Historie für das Leben und „das Um-uns scharf zu fassen“ (EH, JGB 2) – schärfer. Das Resultat waren „unzeitgemässe“ Betrachtungen : Provokationen der Modernität.1 Als deren Kritik überhaupt war Jenseits von Gut und Böse dann die erste Frucht des Um-sich-blickens nach dem Zarathustra : das Um-uns unter der Optik des alles verändernden Gedankens. Kraft dieser Optik war aus dem Um-sich-Blicken zugleich ein Um-sich-Blicken geworden, vernehmlich im Atemholen der Vorreden von 1886 und den Liedern des Prinzen Vogelfrei. Nach dieser Fermate schlagen Wir Furchtlosen den neuen Ton an, und das Schiff (FW 289) nimmt wieder Fahrt auf, jetzt beladen mit dem „Schwergewicht“2 des vor-zarathustrischen Ertrags – denn „endlich dürfen unsre Schiffe wieder auslaufen, auf jede Gefahr hin auslaufen, jedes Wagniss des Erkennenden ist wieder erlaubt, das Meer, unser Meer liegt wieder of1
Ebd. – Von „Modernität“ (modernité) spricht Nietzsche seit dem Fall Wagner : „Durch Wagner redet die Modernität ihre intimste Sprache : sie verbirgt weder ihr Gutes, noch ihr Böses, sie hat alle Scham vor sich verlernt. Und umgekehrt : man hat beinahe eine Abrechnung über den Werth des Modernen gemacht, wenn man über Gut und Böse bei Wagner mit sich im Klaren ist. – Ich verstehe es vollkommen, wenn heut ein Musiker sagt ‚ich hasse Wagner, aber ich halte keine andre Musik mehr aus‘. Ich würde aber auch einen Philosophen verstehn, der erklärte : ‚Wagner resümirt die Modernität. Es hilft nichts, man muss erst Wagnerianer sein …‘“ (WA, Vorwort) 2 MA 1.436. Zuletzt handelt es sich um das in der Fröhlichen Wissenschaft auf der Schwelle zum Zarathustra entdeckte „grösste Schwergewicht“ (FW 341) der ewigen Wiederkunft des Gleichen.
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Nachworte
fen da, vielleicht gab es noch niemals ein so ‚off nes Meer‘. –“ (FW 5.343) Hatten die frühen Schriften behutsam und desto weniger Knoten machend je mehr aufzulösen waren, die verschiedensten Tiefen (Urteile) und Untiefen (Vorurteile) des moralischen Welt-Meers sondiert – jetzt wirft Nietzsche das Lot in seinen „Abgrund“3 und entdeckt die Moral in ihrer verführerischsten Gestalt als das asketische Ideal : Das asketische Ideal hat ein Ziel, – dasselbe ist allgemein genug, dass alle Interessen des menschlichen Daseins sonst, an ihm gemessen, kleinlich und eng erscheinen; es legt sich Zeiten, Völker, Menschen unerbittlich auf dieses Eine Ziel hin aus, es lässt keine andere Auslegung, kein andres Ziel gelten, es verwirft, verneint, bejaht, bestätigt allein im Sinne seiner Interpretation (– und gab es je ein zu Ende gedachteres System von Interpretation ?); es unterwirft sich keiner Macht, es glaubt vielmehr an sein Vorrecht vor jeder Macht, an seine unbedingte Rang-Distanz in Hinsicht auf jede Macht, – es glaubt daran, dass Nichts auf Erden von Macht da ist, das nicht von ihm aus erst einen Sinn, ein Daseins-Recht, einen Werth zu empfangen habe, als Werkzeug zu seinem Werke, als Weg und Mittel zu seinem Ziele, zu Einem Ziele … (GM 3.23)
Was verführt, ist immer ein Ziel : es verführt dazu, alles andre zum Mittel zu machen. Kurz nach Abschluß der Genealogie notiert Nietzsche : „Nihilism : es fehlt das Ziel; es fehlt die Antwort auf das ‚Warum ?‘“.4 Das alte Ideal hatte eine Antwort gegeben, scheint sie sogar alternativlos gegeben zu haben und präsentiert sich damit noch der Moderne als der Gegenkan3
GM 3.23 : „heute ist das wissenschaftliche Gewissen ein Abgrund –
[…] : die Wissenschaft hat heute schlechterdings keinen Glauben an sich, geschweige ein Ideal über sich, — und wo sie überhaupt noch Leidenschaft, Liebe, Gluth, Leiden ist, da ist sie nicht der Gegensatz jenes asketischen Ideals, vielmehr dessen jüngste und vornehmste Form selber“. 4 VIII-2. 9[35] (1887).
Claus-Artur Scheier
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didat. Die inzwischen „positiv“ gewordnen Wissenschaften sind kein Einwand : Es giebt, streng geurtheilt, gar keine ‚voraussetzungslose‘ Wissenschaft, der Gedanke einer solchen ist unausdenkbar, paralogisch : eine Philosophie, ein ‚Glaube‘ muss immer erst da sein, damit aus ihm die Wissenschaft eine Richtung, einen Sinn, eine Grenze, eine Methode, ein Recht auf Dasein gewinnt.5
Dieser Glaube war von den frühen Griechen bis über Nietzsche hinaus ins zwanzigste Jahrhundert der Glaube an die Wahrheit.6 Er ist selber schon eine Antwort : Die Frage, ob Wahrheit noth thue, muss nicht nur schon vorher bejaht, sondern in dem Grade bejaht sein, dass der Satz, der Glaube, die Ueberzeugung darin zum Ausdruck kommt ‚es thut nichts mehr noth als Wahrheit, und im Verhältniss zu ihr hat alles Uebrige nur einen Werth zweiten Rangs‘. (FW 5.344)
Die Geschichte dieses Glaubens hatte bereits die Geburt der Tragödie rekonstruiert als die „Metamorphose des aeschyleischen Menschen in den alexandrinischen Heiterkeitsmenschen“7 und weiter des sokratischen Optimismus in den schopenhauerschen Pessimismus bis zum proklamierten Nihilismus. 1887 stellt Nietzsche die Diagnose : Dass aber überhaupt das asketische Ideal dem Menschen so viel bedeutet hat, darin drückt sich die Grundthatsache des menschlichen Willens aus, sein horror vacui : er braucht ein Ziel, – und eher will er noch das Nichts wollen, als nicht wollen. (GM 3.1) 5
GM 3.24. Zum ganzen Komplex vgl. heute Niklas Luhmann : Die
Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1992 (11990). 6 Vgl. JGB, Erstes Hauptstück : von den Vorurtheilen der Philosophen. 7 GT 19. „Nun aber eilt die Wissenschaft, von ihrem kräftigen Wahne angespornt, unaufhaltsam bis zu ihren Grenzen, an denen ihr im Wesen der Logik verborgener Optimismus scheitert.“ (GT 15, vgl. 18)
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Nachworte
Darin koinzidieren logischer Optimismus, weltanschaulicher Pessimismus und Positivismus. Denn dieser ist nicht minder Nihilismus, die wissenschaftliche Spielart, Inventarisierung der Einzelheiten, „jenes Stehenbleiben-Wollen vor dem Thatsächlichen, dem factum brutum, jener Fatalismus der ‚petits faits‘ (ce petit faitalisme, wie ich ihn nenne)“.8 Weil das Ziel fehlt, ist nichts mehr Mittel, alles ist wie es ist,9 jedes Faktum factum brutum.10 Nietzsche hätte auf den wissenschaftlich-technischen Fortschritt setzen können,11 die rapide Industrialisierung war so unübersehbar wie unüberhörbar,12 noch 8
GM 3.24. Die Naturwissenschaft „hat allein in der Raupe des Wei-
denspinners am Kopfe 228, am Körper 1647, am Magen und den Gedärmen 2186 Muskeln anatomisch nachgewiesen. Was will man mehr verlangen ? Hier haben wir daher ein sinnfälliges Beispiel von der Wahrheit, daß die Vorstellung des Menschen von Gott nichts andres ist als eine Vorstellung des menschlichen Individuums von seiner Gattung“ (Feuerbach : Grundsätze der Philosophie der Zukunft, § 12, Gesammelte Werke [GW ], hg. von W. Schuffenhauer, Berlin 1967 ff., Bd. 9, S. 279). 9 Vgl. Za 2.19 : Der Wahrsager : „Alles ist leer, Alles ist gleich, Alles war !“ 10 Ludwig Wittgenstein wird das im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts so formulieren : „Alle Sätze sind gleichwertig. – Der Sinn der Welt muß außerhalb ihrer liegen. In der Welt ist alles wie es ist und geschieht alles wie es geschieht; es gibt in ihr keinen Wert – und wenn es ihn gäbe, so hätte er keinen Wert.“ (Logisch-philosophische Abhandlung [Tractatus] 6.4/6.41). 11 Skeptisch, wie immer, Henry Adams (The Education of Henry Adams, Cambridge [U.S.A.] 1961, ch. XXXIV. A Law of Acceleration, S. 498) : „The movement from unity into multiplicity, between 1200 and 1900, was unbroken in sequence, and rapid in acceleration. Prolonged one generation longer, it would require a new social mind. As though thought were common salt in indefi nite solution it must enter a new phase subject to new laws. Thus far, since five or ten thousand years, the mind had successfully reacted, and nothing yet proved that it would fail to react – but it would need to jump.“ 12 Seit 1882 besaß Nietzsche eine Schreibmaschine, GM 3.5 apostrophiert Wagner als „Telephon des Jenseits“.
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knatterten ihre Fahnen triumphal ohne den schwarzen Rand zweier Weltkriege. Nietzsche teilte auch keineswegs Schopenhauers grämliches Vorurteil, habe einer den Herodot gelesen, so habe er, „in philosophischer Absicht, schon genug Geschichte studirt“.13 Das System des asketischen Ideals ausgenommen kannte Nietzsche aber noch kein andres System als den Menschen,14 aus dem, mußte er seinem philosophischen Erzieher beipfl ichten, „weder Konstitutionen und Gesetzgebungen, noch Dampfmaschinen und Telegraphen jemals etwas wesentlich Besseres machen können“.15 Einzig der Mensch selbst könnte aus sich selbst etwas wesentlich Besseres machen. Das Ziel der Menschheit also – wäre es am Ende nur ein Ende ? Und wenn es das Ziel gewesen war – das Ende ? der moderne Mensch der „letzte Mensch“ ?16 Wo, fragt die Genealogie, „ist das Gegenstück zu diesem geschlossenen System von Wille, Ziel und Interpretation ? Warum fehlt das Gegenstück ? … Wo ist das andre ‚Eine Ziel‘ ? …“ (GM 3.23) Wohl 13
Arthur Schopenhauer : Die Welt als Wille und Vorstellung [ WWV ] II, Kap. 38 : Über Geschichte, Werke [ W ], hg. von Ludger Lütkehaus, Zürich 1991 (11988), Bd. 2, S. 517. 14 Vgl. PhtZ, Vorrede (KGW III-2 : „Wer […] an großen Menschen überhaupt seine Freude hat, hat auch seine Freude an solchen Systemen, seien sie auch ganz irrthümlich : sie haben doch einen Punkt an sich, der ganz unwiderleglich ist, eine persönliche Stimmung, Farbe, man kann sie benutzen, um das Bild des Philosophen zu gewinnen : wie man vom Gewächs an einem Orte auf den Boden schliessen kann. Die Art zu leben und die menschlichen Dinge anzusehn ist jedenfalls einmal dagewesen und also möglich : das ‚System‘ ist das Gewächs dieses Bodens, oder wenigstens ein Theil dieses Systems, – – / Ich erzähle die Geschichte jener Philosophen vereinfacht : ich will nur den Punkt aus jedem System herausheben, der ein Stück Persönlichkeit ist und zu jenem Unwiderleglichen Undiskutirbaren gehört, das die Geschichte aufzubewahren hat“. 15 Ebd., S. 516. 16 Za, Zarathustra’s Vorrede 5. Vgl. für das zweite Fin de siècle Francis Fukuyama : The End of History and the Last Man, Free Press 1992.
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Nachworte
hieß die Antwort Zarathustra; nur hatte Nietzsche alsbald erfahren müssen,17 daß sie übertönt vom „Hahnenschrei des Positivismus“18 nicht auf dem Niveau der Zeit war, „unzeitgemäß“ noch in einem andern Sinn als die Unzeitgemässen. Wie vordem schon die Geburt der Tragödie hatte der Zarathustra „die Heraufbeschwörung eines Tags der Entscheidung“ (EH, JGB 1) sein sollen; aber auch er war ohne Widerhall geblieben. Die „neinsagende, neinthuende Hälfte“ (ebd.) der Aufgabe – was war da zu tun, wenn nicht die Transformation des tragischen Epos ins dionysische System ? Denn ersichtlich konnte keine Dichtung,19 kein ‚absolutes Lehrgedicht‘ jenem geschlossenen System beikommen, das, und genau kraft seiner Geschlossenheit, gefeit schien gegen alle Sprüche und Pfeile und jeden Aphorismus umstandslos assimilierte. Einzig ein neues „Dynamit des Geistes, vielleicht ein neuentdecktes Russisches Nihilin, ein Pessimismus bonae voluntatis, der nicht bloss Nein sagt, Nein will, sondern – schrecklich zu denken ! Nein thut“ ( JGB 208), schien als Abhilfe übrig zu bleiben, ein Gegen-System. Als dionysisches wäre es notwendigerweise der so oder so ausgehaltene Widerspruch, ein paradoxes System (und eben damit ein philosophisches System) :20 „Alle Wissenschaften haben nunmehr der Zukunfts17
„– die nächsten 6 Jahre“, schreibt Nietzsche am 2. September 1884 an Köselitz, „gehören der Ausarbeitung eines Schema’s an, mit welchem ich meine ‚Philosophie‘ umrissen habe. Es steht gut und hoff nungsvoll damit. Zarathustra hat einstweilen nur den ganz persönlichen Sinn, daß es mein ‚Erbauungs- und Ermuthigungs-Buch‘ ist – im Übrigen dunkel und verborgen und lächerlich für Jedermann.“ 18 GD, Wie die „wahre Welt“ endlich zur Fabel wurde 4. 19 „Nur Narr ! Nur Dichter !“ (Za 4.14 : Das Lied der Schwermuth 3. 20 Wie das entparadoxierte und damit instrumentalisiert-instrumentalisierende System – ein „weltanschauliches“ System in Sinn der „politischen Systeme“ des 20. Jahrhunderts – aussieht, belegt der von Nietzsches Schwester und Heinrich Köselitz kompilierte „Wille zur Macht“ (1901, 1906, 1911). Wenn Alfred Baeumler im Nachwort (Stuttgart 1964)
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Aufgabe des Philosophen vorzuarbeiten : diese Aufgabe dahin verstanden, dass der Philosoph das Problem vom Werthe zu lösen hat, dass er die Rangordnung der Werthe zu bestimmen hat. –“21 „Es ist gleich tödlich für den Geist, ein System zu haben, und keins zu haben. Er wird sich also wohl entschließen müssen, beides zu verbinden“,22 notierte Friedrich Schlegel 1798. Geschlossenheit im Sinn der Vernunftsysteme des siebzehnten Jahrhunderts wie noch bei Christian Wolff und Alexander Gottlieb Baumgarten war nach Kants Exposition der dritten kosmologischen Antinomie23 nicht mehr möglich. Fichtes Wissenschaftslehre von 1794 hatte das reflektiert 24 und den „Knoten zwar nicht gelös’t, aber zerschnitten“;25 die speschreibt, nur „die künstliche Systembauerei [sei] von Nietzsche verspottet worden“, während dieser selber „in dem Sinne Systematiker [sei] wie es Heraklit ist, oder Anaximander“ (S. 699), dann allerdings liegt das System schon vor im publizierten Werk, und Nietzsche spottet der Kompilation posthum. Heidegger, in Atem gehalten von der (Nietzsches Unternehmen fortschreibenden) Aufgabe der „Destruktion“ der Metaphysik (vgl. Sein und Zeit, § 6), behauptet zwar : „Was Nietzsche zeit seines Schaffens selbst veröffentlicht hat, ist immer Vordergrund. […] Die eigentliche Philosophie bleibt als ‚Nachlaß‘ zurück“ (Nietzsche I, Pfullingen 1961, S. 17), aber das ist ein Heideggersches pro domo. Wo wäre eine philosophische Einsicht Nietzsches, die im veröffentlichten oder zur Veröffentlichung bestimmten Werk fehlte ? 21 GM 1.17, Anm.. 22 Friedrich Schlegel : Kritische Ausgabe, hg. v. E. Behler unter Mitwirkung von J.-J. An stett und H. Eichner, Bd. 2, München/Paderborn/ Wien 1967, S. 173. 23 Kant : Kritik der reinen Vernunft, A 532 – 558, B 560 – 586. 24 „Es giebt nur zwei Systeme, das kritische und das dogmatische“ (Johann Gottlieb Fichte : Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, 1794/95, Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, I, 2, hg. von R. Lauth und H. Jacob, Stuttgart-Bad Cann statt 1965, S. 280, Anm.). 25 Ebd., S. 301.
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kulativen Lösungen Schellings, Solgers und Hegels konnten dem positivistischen Jahrhundert nicht mehr einleuchten, und so wird die Antinomie von Freiheit und Notwendigkeit noch Nietzsches unschlichtbar paradoxe Lehre von der ewigen Wiederkunft provozieren. Verschwiegen motiviert sie das „muß“ in Nietzsches Hoff nung, die immer – das ist die geschichtliche Grenze seines Gedankens – eine persönliche, empathische Hoff nung bleibt : Aber irgendwann, in einer stärkeren Zeit, als diese morsche, selbstzweiflerische Gegenwart ist, muss er uns doch kommen, der erlösende Mensch der grossen Liebe und Verachtung, der schöpferische Geist 26 […]. Dieser Mensch der Zukunft, der uns ebenso vom bisherigen Ideal erlösen wird, als von dem, was aus ihm wachsen musste, […] der der Erde ihr Ziel und dem Menschen seine Hoff nung zurückgiebt, dieser Antichrist und Antinihilist, dieser Besieger Gottes und des Nichts – er muss einst kommen … (GM 2.24)
Das bisherige Ideal und das, „was aus ihm wachsen mußte“ – diese historische Kohärenz wenigstens läßt sich wissenschaftlich fassen, und Nietzsche greift zurück auf die bewährte Form der Abhandlung, der auch der Titel entspricht :27 nicht, 26
Nietzsche zitiert den Pfi ngsthymnus Veni creator spiritus, vgl. AC 19 : „Zwei Jahrtausende beinahe und nicht ein einziger neuer Gott ! Sondern immer noch und wie zu Recht bestehend, wie ein ultimatum und maximum der gottbildenden Kraft, des creator spiritus im Menschen, dieser erbarmungswürdige Gott des christlichen Monotono-Theismus ! dies hybride Verfalls-Gebilde aus Null, Begriff und Widerspruch, in dem alle Décadence-Instinkte, alle Feigheiten und Müdigkeiten der Seele ihre Sanktion haben ! – –“ 27 Die Geburt der Tragödie, die ja etwas gewinnen will „für die aesthetische Wissenschaft“ (GT 1), bezeichnet sich selbst als Abhandlung (GT 4) und ebenso Vom Nutzen und Nachtheil der Historie (HL 10, vgl. EH, UB 1). Zur Genealogie plante Nietzsche weitere Abhandlungen, vgl. VIII2.9[83] (1887). Den wissenschaftlichen Charakter des Buchs unterstreicht zudem die Anmerkung am Schluß der ersten Abhandlung.
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wie geläufigerweise zitiert, ‚Genealogie der Moral‘ oder ‚Die Genealogie der Moral‘, sondern Zur Genealogie der Moral (‚De genealogia morum‘). Die ganze Abhandlung ist gebaut aus drei auftreppenden Einzelabhandlungen, die 1. den Unterschied von Herren- und Sklavenmoral, 2. die Entstehung von Gewissen und Ressentiment und 3. das asketische Ideal thematisieren, auf dessen Exposition die gesamte Darstellung abzweckt. Der Keim ist eine zuvor in Jenseits von Gut und Böse festgehaltene Einsicht : Bei einer Wanderung durch die vielen feineren und gröberen Moralen, welche bisher auf Erden geherrscht haben oder noch herrschen, fand ich gewisse Züge regelmässig mit einander wiederkehrend und aneinander geknüpft : bis sich mir endlich zwei Grundtypen verriethen, und ein Grundunterschied heraussprang. Es giebt HerrenMoral und Sklaven-Moral; – ich füge sofort hinzu, dass in allen höheren und gemischteren Culturen auch Versuche der Vermittlung beider Moralen zum Vorschein kommen, noch öfter das Durcheinander derselben und gegenseitige Missverstehen, ja bisweilen ihr hartes Nebeneinander – sogar im selben Menschen, innerhalb Einer Seele. ( JGB 260)
Es ist der seit der Antike immer wieder behandelte Unterschied von Herrschaft und Knechtschaft, den Nietzsche hier provokativ einfärbt, zutiefst irritiert von der „Moral-Tarantel“ Rousseau :28 Der empfi ndsame Rousseau zuerst hatte diesen ökonomisch-politischen Unterschied moralisiert. In seinem Diskurs über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen (1755) wollte er „im Fortschritt der Dinge den Augenblick […] bezeichnen, in dem das Recht die Stelle der Gewalt einnahm und die Natur somit dem Gesetz unter28
M, Vorrede 3. – „Vier Paare waren es, welche sich mir […] nicht ver-
sagten : Epikur und Montaigne, Goethe und Spinoza, Plato und Rousseau, Pascal und Schopenhauer“ (MA 2.1.408).
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worfen wurde; [..] erklären, durch welche Kette von Wundern der Starke sich entschließen konnte, dem Schwachen zu dienen, und das Volk, eine nur in der Vorstellung existierende Ruhe um den Preis einer wirklichen Glückseligkeit zu erkaufen“.29 Schon die Gedanken über die moralischen Vorurtheile löckten wider den Stachel : Gegen Rousseau. – Wenn es wahr ist, dass unsere Civilisation etwas Erbärmliches an sich hat : so habt ihr die Wahl, mit Rousseau weiterzuschliessen ‚diese erbärmliche Civilisation ist Schuld an unserer schlechten Moralität‘ oder gegen Rousseau zurückzuschliessen ‚unsere gute Moralität ist Schuld an dieser Erbärmlichkeit der Civilisation[‘]. (M 163)
Anknüpfend an Jenseits von Gut und Böse hat die erste Abhandlung der Genealogie vorbereitenden Charakter : „Jede Erhöhung des Typus ‚Mensch‘ war bisher das Werk einer aristokratischen Gesellschaft […], welche an eine lange Leiter der Rangordnung und Werthverschiedenheit von Mensch und Mensch glaubt und Sklaverei in irgend einem Sinne nöthig hat.“30 Eine solche Oberschicht steht nicht unter dem Druck, 29
Vgl. Jean-Jacques Rousseau : Diskurs über die Ungleichheit. Discours sur l’inégalité. Kritische Ausgabe des integralen Textes. Mit sämlichen Fragmenten und ergänzenden Materialien nach den Originalausgaben und den Handschriften neu ediert, übersetzt und kommentiert von Heinrich Meier, Paderborn 1985, S. 68 f. Ebenfalls im Rückgriff auf Rousseau hatte Hegel das Verhältnis dargestellt im Kapitel über „Herrschaft und Knechtschaft“ in seiner Phänomenologie des Geistes (IV.A). Zu tun war es Hegel dabei freilich nicht um den moralischen Aspekt, sondern um den der Arbeit : „das arbeitende Bewußtseyn kommt […] hiedurch zur Anschauung des selbstständigen Seyns, als seiner selbst“ (IV.A, Abs. 18, Gesammelte Werke [GW ] 9, hg. v. Wolfgang Bonsiepen und Reinhard Heede, Düsseldorf 1980, S. 115). 30 JGB 257. Nietzsches Nachgedanke „– und so wird es immer wieder sein“ läßt sehen, daß er (im Unterschied etwa zu Marx) keinerlei Glauben an die prospektive Potenz der gesellschaftlichen Umstruktu-
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sich vor irgendeiner Instanz rechtfertigen zu müssen : „Das Wesentliche an einer guten und gesunden Aristokratie ist aber, dass sie sich nicht als Funktion (sei es des Königthums, sei es des Gemeinwesens), sondern als dessen Sinn und höchste Rechtfertigung fühlt“ ( JGB 258). In diesem vorreflexiven Daseinsgefühl ist sie sich selbst genug, bedingungslos „gut“ (wie es der Titel „Aristokratie“ unbefangen ausspricht) : Wer nicht dazu gehört, ist unmittelbar niederen Ranges, „schlecht“. Umgekehrt der Sklave. Er gehört nicht zu den „AusnahmeMenschen“, für die gilt : „erst der Träger macht die Tracht“ (MA 2.1.325). Er schuldet dem Herrn sein Leben, ist von ihm abhängig und macht ihn darum in seinem reflexiven oder reaktiven Gefühl (vgl. GM 2.11) zum Gegenstand. Logisch wie psychologisch ist er darum mit sich entzweit : In der Wirklichkeit bloße Funktion, nimmt er in der Reflexion den Träger- oder Beobachterstandpunkt ein, von dem aus ihm nicht nur sein wirkliches Elend und die Willkür des Herrn, sondern ebenso die Differenz zwischen beiden gegenständlich wird. In ihrer Unmittelbarkeit erscheint diese gesellschaftliche Differenz dem reflektierenden Bewußtsein aber als ein natürliches Verhältnis, mithin als die Wahrheit. In Wirklichkeit Produkt einer gerierungen innerhalb der noch jungen Moderne hatte. Insofern ist er nicht minder antimodernistisch als der ein knappes Jahrzehnt ältere Pius X. Die prospektive Bedeutung oder Tendenz der zeitgenössischen Gärung kann er sich nur als Signatur einer Verfallsgeschichte begreiflich machen, die er seit der Geburt der Tragödie nicht mehr revidiert (vgl. noch „Wie die ‚wahre Welt‘ endlich zur Fabel wurde“ in der GD) : „Wir sehen heute Nichts, das grösser werden will, wir ahnen, dass es immer noch abwärts, abwärts geht“ (GM 1.12). Auch wenn der „Erzieher“ Nietzsche den guten Europäer und den freien Geist fordert als Mittelglieder zwischen dem modernen Menschen und dem des erhoff ten tragischen Zeitalters (dem „Übermenschen“), bleibt der konstellierende Gedanke der des Sprungs, schon bei Kierkegaard und im 20. Jahrhundert namentlich bei Heidegger ein Differenz-Gedanke, dessen Entweder-Oder erst von Derridas différance und clôture verabschiedet wird.
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Nachworte
sellschaftlichen Lebensform, erweist die Wahrheit sich damit strukturell als das, was Marx den Fetischcharakter der Ware genannt hatte.31 Der „mystische Charakter der Ware“ oder die Warenform spiegelt „den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge“ zurück,32 zu denen sich die gesellschaftliche Charaktermasken (vgl. MA 2.2.63) geschichtlich niederschlagen. Im Unterschied zum Herrn weiß der Sklave sich im Besitz der natürlichen Wahrheit als der Wahrheit, erkennt sich also als gut in der Reflexion auf seine Natur und als schlecht nur in der zufälligen Wirklichkeit. Obwohl an sich gut, ist er unmittelbar schlecht, und indem es der Herr ist, der ihn seines Ansich enteignet, ist der Herr nicht nur in Wirklichkeit, sondern in Wahrheit schlecht, d. h. böse : „Dem Werden den Charakter des Seins aufzuprägen – das ist der höchste Wille zur Macht.“33 Weil der Herr böse ist, ergeht es dem Sklaven schlecht : „[H]ier gerade ist seine That, seine Schöpfung : er hat ‚den bösen Feind‘ concipirt, ‚den Bösen‘, und zwar als Grundbegriff, von dem aus er sich als Nachbild und Gegenstück nun auch noch einen ‚Guten‘ ausdenkt – sich selbst ! …“ (GM 1.10) – „Dies ‚schlecht‘ vornehmen Ursprungs und jenes ‚böse‘ aus dem Braukessel des ungesättigten Hasses – das erste eine Nachschöpfung, ein Nebenher, eine Complementärfarbe, das zweite dagegen das Original, der Anfang, die eigentliche 31
Vgl. GD, Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie 5 : „wir kommen in ein grobes Fetischwesen hinein, wenn wir uns die Grundvoraussetzungen der Sprach-Metaphysik, auf deutsch : der Vernunft, zum Bewusstsein bringen.“ 32 Karl Marx : Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis, in : Das Kapital. Kritik der politischen Oekonomie, MEW 23, Kap. 1.1.1.4, S. 85 f. 33 VIII-1.7[54] (1886/87).
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That in der Conception einer Sklaven-Moral“ (GM 1.11). Das reale oder Wirklichkeitsverhältnis erscheint darum als Wahrheits- oder moralisches Verhältnis, und aus der geschichtlichgesellschaftlichen Produktion ist eine ewige „Idee“ geworden, zwingender noch, als die Wahrheit im Unterschied zur Wirklichkeit, ein Ideal. Kein Zweifel, daß Nietzsche mit dem asketischen Ideal seine letztgültige Interpretation der absoluten Identität gibt, des Prinzips der Metaphysik : „gab es je ein zu Ende gedachteres System von Interpretation ?“ (GM 3.23) So zu Ende gedacht hat es freilich auch in der Moderne noch seine Vorzüge, und Nietzsche unterscheidet sorgfältig den dialektischen vom diätetischen Aspekt. In diätetischer Hinsicht ist das asketische Ideal nurmehr das, was es menschlicherweise sein kann : die – nicht ohne merkliche Sympathie beschworene – praktische Maxime des theoretischen Menschen : „Ruhe in allen Souterrains; alle Hunde hübsch an die Kette gelegt; kein Gebell von Feindschaft und zotteliger Rancune“ (GM 3.8). Es gibt nämlich eine eigentliche Philosophen-Voreingenommenheit und -Herzlichkeit in Bezug auf das ganze asketische Ideal, darüber und dagegen soll man sich nichts vormachen. […] der Philosoph lächelt bei seinem Anblick einem Optimum der Bedingungen höchster und kühnster Geistigkeit zu, – er verneint nicht damit ‚das Dasein‘, er bejaht darin vielmehr sein Dasein und nur sein Dasein, und dies vielleicht bis zu dem Grade, dass ihm der frevelhafte Wunsch nicht fern bleibt : pereat mundus, fiat philosophia, fiat philosophus, fi am ! … (GM 3.7)
Im Schlaglicht des „ich, Plato, bin die Wahrheit“,34 wird dies fiam lesbar als ‚ich, Nietzsche, mache mich zum System‘,35 als 34 35
GD, Wie die ‚wahre Welt‘ endlich zur Fabel wurde. Vgl. GD, Sprüche und Pfeile 26, VIII-2.11[410] (1887/88). In einer
Notiz vom Sommer 1888 parodiert Nietzsche Horaz’ „Odi profanum volgus et arceo“ (Oden 3.1) : „Ich mißtraue allen Systematikern und gehe ihnen aus dem Weg.“ Aber weiter : „Der Wille zum System ist, für uns
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die ihm einzig mögliche Antwort auf die sonst verzweifelte Frage : „Wo ist das Gegenstück zu diesem geschlossenen System von Wille, Ziel und Interpretation ? Warum fehlt das Gegenstück ? … Wo ist das andre ‚Eine Ziel‘ ? …“ (GM 3.23) Das ist der dialektische Aspekt. Unter seiner Optik ist nicht das fiam das Ziel, das asketische Ideal keine bloße Maxime, sondern „die Wahrheit“, und hat als solche sogleich etwas zu verbergen und zu vergessen.36 Denn auch als hypostasierte, zur Natur geronnene Maxime ist das asketische Ideal nicht das Ziel (causa finalis), sondern hat eines, systematisch wie historisch : das Nichts.37 Diese Differenz jedoch verschwindet in der Hypostasierung, um als ihr Supplement die Identität erscheinen zu lassen, kraft deren das asketische Ideal Selbstzweck wird, causa sui : „Das Letzte, Dünnste, Leerste wird als Erstes gesetzt, als Ursache an sich, als ens realissimum …“38 Denker wenigstens, etwas, das compromittirt, eine Form unsrer Immoralität. – Vielleicht erräth man, bei einem Blick hinter dies Buch, welchem Systematiker ich selbst nur mit Mühe ausgewichen bin …“ ( VIII3.18[4], 1888) – freilich ein Systematiker, geschweige dieser Systematiker, kann sich nur innerhalb seines Systems ‚ausweichen‘. Zuletzt bemerkt Nietzsche über die Schopenhauer und Wagner gewidmeten Unzeitgemäßen, „dass sie im Grunde bloss von mir reden“ (EH, UB 3). 36 Die Moderne muß von Anfang an die lêthê denken als das Ursprüngliche in der a-lêtheia, als die „Vergessenheit des Unterschiedes [der ontologischen Differenz], mit der das Geschick des Seins beginnt […] Es ist das Ereignis der Metaphysik. Was jetzt ist, steht im Schatten des schon vorausgegangenen Geschickes der Seinsvergessenheit“ (Heidegger : Der Spruch des Anaximander, in : Holzwege, Frankfurt a. M. 4 1963 [11950], S. 336). 37 Indem das Axiom der Moderne die Differenz ist, erscheint ihr gegenüber jede Identität als relativ (konstituiert), die klassische absolute Identität darum notwendig als gedankliche Null, die erst durch identifizierende Konstitution („Hypostasierung“) zu dem Nichts wird, einer bête noire schon Feuerbachs : „Nichts ist aber kein Gegenstand des Denkens.“ (Grundsätze der Philosophie der Zukunft, § 26, GW 9, S. 305) 38 GD, Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie 4. Vgl. JGB 21 : „Die causa sui
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Die „Gewohnheit, Macht an Macht zu vergleichen, zu messen, zu berechnen“ (GM 2.9), läßt dem sklavischen Bewußtsein die so bestimmte Wahrheit schließlich als die reibungslose Achse erscheinen, um die das ganze Verhältnis drehbar wird, d. h. der Sklave ist auf dem Sprung zur Revolution, sei diese (wie vom Christentum) eschatologisch vorgestellt oder (wie von Rousseau und dem Sozialismus) geschichtsphilosophisch. Hegel spricht vom ‚niederträchtigen‘ Bewußtsein, das die Ungleichheit festhält, „in der Herrschergewalt also eine Fessel und Unterdrückung des Fürsichseyns sieht, und daher den Herrscher haßt, nur mit Heimtücke gehorcht, und immer auf dem Sprunge zum Aufruhr steht“.39 Und Nietzsches psychologische Analyse wäre der Sache nach keinen Schritt weitergerückt als Marx’ Kritik der politischen Ökonomie, hätte er nicht entdeckt, daß im Braukessel (GM 1.11) des reaktiven Gefühls (GM 2.11) noch eine viel giftigere Maische brodelt als die von Haß und Rache. Es bedarf nur eines gewissen moralischen Beisatzes, um das Destillat zu erzeugen, das von Nietzsches feiner Nase wohl wahrgenommen wurde, seine tödliche ist der beste Selbst-Widerspruch, der bisher ausgedacht worden ist, eine Art logischer Nothzucht und Unnatur : aber der ausschweifende Stolz des Menschen hat es dahin gebracht, sich tief und schrecklich gerade mit diesem Unsinn zu verstricken.“ Nietzsche nimmt den Spinozischen Begriff sozusagen mit spitzen Fingern auf – scheint doch das fi am (GM 3.7) ganz dasselbe zu meinen. Der epochale Unterschied liegt darin, daß der Anti-Metaphysiker den Begriff verzeitlichen muß, um sich nicht in den „Unsinn“ des logischen Widerspruchs „zu verstricken“ : „Unsinn ist das höchste Wesen der Theologie – der gemeinen wie der spekulativen.“ (Feuerbach : Grundsätze, § 23, GW 9, S. 301) Die Funktion kann nicht Argument ihrer selbst sein, weshalb die moderne Reflexion sich im Unterschied zu klassischen in ein irreduzibles Usw. auflöst : …f n+2{f n+1[f n(a)]}… Das moderne Korrelat der causa sui ist darum die „ewige Wiederkunft des Gleichen“ (vgl. FW 341; Za 3.2 : Vom Gesicht und Räthsel; EH, Za 1). 39 Hegel : Phänomenologie des Geistes, VI.B.I.a, Die Bildung und ihr Reich der Wirklichkeit, Abs. 14, GW 9, S. 273.
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Wirkung aber erst im zwanzigsten Jahrhundert unter Beweis stellen wird : das Ressentiment. Daß es, wie Eugen Dühring behauptet,40 der Ursprung des Rechtsgefühls sei, hat Nietzsche vehement bestritten (ebd.). Das reaktive Gefühl ist ein Gefühl sui generis und Ressentiment eigentlich erst dann, wenn es sich mit der Wahrheit gleichsetzt :41 Der Sklavenaufstand in der Moral beginnt damit, dass das Ressentiment selbst schöpferisch wird und Werthe gebiert : das Ressentiment solcher Wesen, denen die eigentliche Reaktion, die der That versagt ist, die sich nur durch eine imaginäre Rache schadlos halten. […] und dies Nein ist ihre schöpferische That. Diese Umkehrung des werthesetzenden Blicks – diese nothwendige Richtung nach Aussen statt zurück auf sich selber – gehört eben zum Ressentiment : die Sklaven-Moral bedarf, um zu entstehn, immer zuerst einer Gegen- und Aussenwelt, sie bedarf, physiologisch gesprochen, äusserer Reize, um überhaupt zu agiren, – ihre Aktion ist von Grund aus Reaktion. (GM 1.10)
Darin hat Nietzsche trotz der historisierenden Übermalungen das emotionale Motiv der am geschichtlichen Horizont der jungen industriellen Moderne aufziehenden Ideologien entdeckt, der dezisionistischen Substitutionen des seit dem 18. Jahrhundert geschichtlich zu denkenden Wesens des Men40
Eugen Dühring (Der Werth des Lebens, Breslau 1865, S. 219) – jener „Berliner Rache-Apostel Eugen Dühring, der im heutigen Deutschland den unanständigsten und widerlichsten Gebrauch vom moralischen Bumbum macht : Dühring, das erste Moral-Grossmaul, das es jetzt giebt, selbst noch unter seines Gleichen, den Antisemiten“ (GM 3.14). 41 Als politisches Motiv hatte Nietzsche es kennengelernt in Wagners Beethoven : In diesem Geist wendet Wagner sich der „Betrachtung der äußeren Welt“ zu, „unter deren Drucke jenes innere Wesen [des deutschen Volks] zu der ihm jetzt eigenen, nach außen reagierenden Kraft sich er mächtigte“ (Sämtliche Schriften und Dichtungen. VolksAusgabe. Leipzig 61912/14, Bd. 9, S. 113).
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schen. Sie alle stellen „das noch nicht festgestellte Thier“ ( JGB 62) fest in der politischen Ausgrenzung des „Anderen“ überhaupt : „Die spezifische politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind“.42 Carl Schmitt führt das Axiom politologisch neutral ein, aber es kommt darauf an, wer hier als Feind gedacht wird. Und daran lassen die Konsequenzen keinen Zweifel. Proskribiert ist der politische Gegner als natürlicher Feind, und die Unterscheidung macht nicht die politische Vernunft, sondern das Ressentiment : jeder „Feind“ ist der ‚böse Feind‘, „Volksfeind“, „Klassenfeind“, „Revanchist“, wer auch immer, jedenfalls der Andre, der Schuld hat. Allerdings ist für den Geschichts-Psychologen Nietzsche noch nicht das nach außen, sondern das nach innen reagierende Ressentiment die eigentliche pièce de résistance : Der Priester ist der Richtungs-Veränderer des Ressentiment. […] ‚Irgend Jemand muss schuld daran sein, dass ich mich schlecht befi nde‘ […] ‚Ich leide : daran muss irgend Jemand schuld sein‘ – also denkt jedes krankhafte Schaf. Aber sein Hirt, der asketische Priester, sagt zu ihm : ‚Recht so, mein Schaf ! irgend wer muss daran schuld sein : aber du selbst bist dieser Irgend-Wer, du selbst bist daran allein schuld, du selbst bist an dir allein schuld !‘ … Das ist kühn genug, falsch genug : aber Eins ist damit wenigstens erreicht, damit ist, wie gesagt, die Richtung des Ressentiment – verändert. (GM 3.15)
Hegels „auf sich und ihre kleines Thun beschränkte, und sich bebrütende, ebenso unglückliche als ärmliche Persönlichkeit“43 erscheint hier in ihrer modernen Statur. „Ich bin, der ich bin : 42
Carl Schmitt : Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien. 3. Auflage der Ausgabe von 1963, Berlin 1991, S. 26. 43 Hegel : Phänomenologie des Geistes, IV.B. Abs. 29, GW 9, S. 129.
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Nachworte
wie käme ich von mir selber los ? Und doch – habe ich mich satt ! …“44 – das zwanzigste Jahrhundert wird dafür die bekannten kollektiven Abhilfen schaffen.
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GM 3.14. Vgl. VII-2.25[181] (1881) : „Die Fülle pöbelhafter Instinkte un-
ter dem jetzigen aesthetischen Urtheil der französischen Romanschriftsteller. […] ihr Anspruch auf Unpersönlichkeit ist ein Gefühl, daß ihre Person mesquin ist z. B. Flaubert, selber seiner satt, als ‚bourgeois‘“.
Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt
Diese „Zusammenfassung meiner wesentlichsten philosophischen Heterodoxien“,1 eine „vollkommene Gesammt-Einführung“,2 die „meine Philosophie in ihrer dreifachen Eigenschaft, als lux, als nux und als crux, zur Erscheinung bringt“,3 sollte vorerst und „liebenswürdig genug ‚Müßiggang eines Psychologen‘“ heißen.4 Gar so harmlos5 ist auch dieser Titel nicht,6 aber Nietzsche nahm sich doch ein Bedenken von 1
An Heinrich Köselitz, 12. September 1888. An Carl Fuchs, 9. September 1888. 3 An Reinhart von Seydlitz, 13. September 1888. 4 An Carl Fuchs, 9. September 1888. Vgl. GD, Vorwort und Sprüche und Pfeile 1. 5 An Heinrich Köselitz, 12.- September 1888. 6 EH, JGB 2 : „Theologisch geredet – man höre zu, denn ich rede selten als Theologe – war es Gott selber, der sich als Schlange am Ende seines Tagewerks unter den Baum der Erkenntniss legte : er erholte sich so davon, Gott zu sein … Er hatte Alles zu schön gemacht … Der Teufel ist bloss der Müssiggang Gottes an jedem siebenten Tage …“, und EH, GD 3 : „Am 30. September [1888] grosser Sieg; Beendigung der Umwerthung [Der Antichrist]; Müssiggang eines Gottes am Po entlang. Am gleichen Tage schrieb ich noch das Vorwort zur ‚Götzen-Dämmerung‘, deren Druckbogen zu corrigiren meine Erholung im September gewesen war.“ Die Rede ist jeweils vom gelungenen Schaffen, das Nietzsche stets als weiblich denkt : „Das vollkommene Weib jeder Zeit ist der Müssiggang des Schöpfers an jedem siebenten Tage der Cultur, das Ausruhen des Künstlers in seinem Werke.“ (MA 2.1.274) 1884 notierte er : „Als ich 12 Jahre alt war, erdachte ich mir eine wunderliche Drei-Einigkeit : nämlich Gott-Vater, Gott-Sohn und Gott-Teufel. Mein Schluß, war, daß Gott, sich selber denkend, die zweite Person der Gottheit schuf : daß aber, um sich selber denken zu können, er seinen Gegensatz denken mußte, also schaffen mußte. – Damit fieng ich an, zu philosophiren.“ ( VII-2.26[390]) 2
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Heinrich Köselitz, seinem „Peter Gast“, zu Herzen,7 denn unstreitig ist „der Inhalt vom Allerschlimmsten und Radikalsten, obwohl unter viele fi nesses und Milderungen versteckt.“8 Die (bis zuletzt offene) Gliederung9 folgt dem Plan von Jenseits von Gut und Böse und verweist damit noch einmal zurück auf Menschliches, Allzumenschliches. Polemischer freilich als Jenseits von Gut und Böse, zugleich ‚unzeitgemäß‘ europäischer als in den Jahren der ersten „vier Attentate[-]“ (EH, UB 2), war Nietzsche mit dem Fall Wagner erneut zum Frontalangriff übergegangen :10 „Der Krieg war immer die grosse Klugheit aller zu innerlich, zu tief gewordnen Geister;11 selbst in der Verwundung liegt noch Heilkraft. […] Diese kleine Schrift ist eine grosse Kriegserklärung; und was das Aushorchen von Götzen anbetriff t, so sind es dies Mal keine Zeitgötzen, sondern ewige Götzen, an die hier mit dem Hammer wie mit einer Stimmgabel gerührt wird“.12 Wenn zum Schluß der „Hammer redet“, um das „härter als Erz“ zu evozieren,13 war er schon im Vorwort dreifach überdeterminiert als Perkussionshammer, Stimmgabel und sokratischer Knöchel, der an Protagoras’ „bewegtes Sein“ klopft, „ob es
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An Heinrich Köselitz, 27. September 1888. An Carl Fuchs, 9. September 1888. 9 Vgl. den Brief an den Verleger Naumann, 27. September 1888. 10 „Attentate sind besser als schleichende Verdrießlichkeiten.“ (V-2.11 [28], 1881) 11 Nietzsche spielt an auf Heraklit (B 53) : „Der Krieg (pólemos) ist von allem der Vater, von allem der König, und zeigt die einen als Götter, die andern als Menschen, macht die einen zu Knechten, die andern zu Freien.“ (Hermann Diels & Walther Kranz : Die Fragmente der Vorsokratiker [DK], Berlin 61952, 22) 12 GD, Vorwort. „Es läuft wirklich auf horrible Detonationen hinaus“ (an Heinrich Köselitz, 27. September 1888). 13 Za 3.12 : Von alten und neuen Tafeln 29, zitiert Horaz’ „aere perennius“ (Oden III.30). 8
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heil oder morsch klingt“.14 Ein Quiproquo : „‚ich, Plato, bin die Wahrheit‘“15 – Platon hätte es nicht sagen können, aber Nietzsche muß zu verstehen geben „‚ich, Nietzsche, bin die Wahrheit‘, denn es ist nichts mehr mit der Wahrheit an sich. Schon 1874, in Schopenhauer als Erzieher,16 hatte er geschrieben : ‚Seht euch vor, sagt Emerson,17 wenn der grosse Gott einen Denker auf unsern Planeten kommen lässt. Alles ist dann in Gefahr. Es ist wie wenn in einer grossen Stadt eine Feuersbrunst ausgebrochen ist, wo keiner weiss, was eigentlich noch sicher ist und wo es enden wird. Da ist nichts in der Wissenschaft, was nicht morgen eine Umdrehung erfahren haben möchte, da gilt kein litterarisches Ansehn mehr, noch die sogenannten ewigen Berühmtheiten; alle Dinge, die dem Menschen zu dieser Stunde theuer und werth sind, sind dies nur auf Rechnung der Ideen, die an ihrem geistigen Horizonte aufgestiegen sind und welche die gegenwärtige Ordnung der Dinge ebenso verursachen, wie ein Baum seine Aepfel trägt. Ein neuer Grad der Kultur würde augenblicklich das ganze System menschlicher Bestrebungen einer Umwälzung unterwerfen.‘18
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Platon : Theaet. 197d2-4. GD, Wie die ‚wahre Welt‘ endlch zur Fabel wurde 1. 16 Vgl. GD, Streifzüge 21 – 23. 17 Vgl. GD, Streifzüge 13. Nietzsche liest (und exzerpiert) Emerson seit den sechziger Jahren. Vgl. auch FW 92 : „Der Krieg ist der Vater aller guten Dinge, der Krieg ist auch der Vater der guten Prosa ! […] Um von Goethe abzusehen, welchen billigerweise das Jahrhundert in Anspruch nimmt, das ihn hervorbrachte : so sehe ich nur Giacomo Leopardi, Prosper Mérimée, Ralph Waldo Emerson und Walter Savage Landor, den Verfasser der Imaginary Conversations, als würdig an, Meister der Prosa zu heissen.“ 18 SE 3.8. Emerson : Circles (1841), von Nietzsche zitiert nach : Ralph Waldo Emerson. Versuche. (Essays.) Aus dem Englischen von G. Fabricius. Hannover. Carl Meyer. 1858, S. 226. Obwohl noch in Anführungszeichen eingeschlossen, ist die Passage ab „alle Dinge“ Nietzsches eigne Interpretation. 15
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„Augenblicklich“ – „sofort“… :19 1888 hat die seit 1876 wie Brünnhilde20 nur eingeschläferte Naherwartung sich wieder eingefunden als das innerste Motiv des Nietzscheschen Schreibens und Planens. Sich zurückzufühlen in diese Gestimmtheit, dies emotionale Korrelat der geglaubten Utopien der zweiten Hälfte des neunzehnten und der ersten des zwanzigsten Jahrhunderts ist in der hyperkomplexen Welt unsrer medialen Moderne wohl kaum mehr möglich.21 Zwar kann der 1903 geborene Adorno noch versichern : „Die Elemente jenes Anderen sind in der Realität versammelt, sie müßten nur, um ein Geringes versetzt, in neue Konstellation treten, um ihre rechte Stelle zu fi nden“;22 aber der um zwei Jahrzehnte jüngere Jean-François Lyotard wird schon das Ende der „grands récits“, der „großen Erzählungen“ diagnostizieren, ihre seit 1968 allgemein fühlbar gewordene Unglaubwürdigkeit.23 Achtzig Jahre früher : Im September erscheint Der Fall Wagner (und erregt Aufsehen),24 im November die Götzen19
Vgl. M 96 : „Es giebt jetzt vielleicht zehn bis zwanzig Millionen Menschen unter den verschiedenen Völkern Europa's, welche nicht mehr ‚an Gott glauben‘, – ist es zu viel gefordert, dass sie einander ein Zeichen geben ? Sobald sie sich derartig erkennen, werden sie sich auch zu erkennen geben, – sie werden sofort eine Macht in Europa sein […].“ 20 Vgl. WA 4 : „Siegfried und Brünnhilde; das Sakrament der freien Liebe; der Aufgang des goldnen Zeitalters; die Götterdämmerung der alten Moral – das Uebel ist abgeschaff t …“. 21 „Operative Schließung, Emanzipation von Kontingenz, Selbstorganisation, Polykontexturalität, Hyperkomplexität der Selbstbeschreibungen oder einfacher und unverständlicher formuliert : Pluralismus, Relativismus, Historismus, all das sind nur verschiedene Anschnitte dieses Strukturschicksals der Moderne.“ (Niklas Luhmann : Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1997 [11995], S. 499) 22 Adorno : Ästhetische Theorie, GS 7, hg. von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1970, S. 199. 23 Jean-François Lyotard : La condition postmoderne. Rapport sur le savoir, Paris 1979 (dt. Das postmoderne Wissen, Graz u. a. 1986). 24 Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem, Leipzig 1888.
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Dämmerung; Ende Dezember sind Der Antichrist,25 Ecce homo,26 die Dionysos = Dithyramben27 und Nietzsche contra Wagner28 druckfertig. In Nietzsches desolate Verfassung am Anfang des Jahrs gibt ein Brief an Freund Overbeck bedrückenden Einblick,29 die Krankheit nimmt einen Lauf, der diesmal auch die Texte selbst angreift.30 Zwar bleibt das philosophische Ur25
Nietzsche hat im eigenhändigen Druckmanuskript den ursprünglichen Untertitel Umwerthung aller Werthe durchgestrichen und durch Fluch auf das Christenthum ersetzt. Erschienen 1895 im achten Band der unter Leitung der Schwester herausgegebenen Großoktav-Ausgabe, Leipzig 1894 – 1904. 26 Ecce homo [Wie man wird, was man ist], hg. von Raoul Richter, Leipzig (Insel-Verlag) 1908. 27 Erschien zusammen mit Also sprach Zarathustra, Bd. 4, Leipzig, 1891. 28 Nietzsche contra Wagner. Aktenstücke eines Psychologen, Leipzig 1889. 29 Am 3. Februar 1888 : „[D]ie Umrisse der ohne allen Zweifel ungeheuren Aufgabe, die jetzt vor mir steht, steigen immer deutlicher aus dem Nebel heraus. Es gab düstere Stunden, es gab ganze Tage und Nächte inzwischen, wo ich nicht mehr wußte, wie leben und wo mich eine schwarze Verzweiflung ergriff, wie ich sie bisher noch nicht erlebt habe. Trotzdem weiß ich, daß ich weder rückwärts, noch rechts, noch links weg entschlüpfen kann : ich habe keine Wahl. Diese Logik hält mich jetzt allein aufrecht : von allen andern Seiten aus betrachtet ist mein Zustand unhaltbar und schmerzhaft bis zur Tortur. Meine letze Schrift [Zur Genealogie der Moral] verräth etwas davon : in einem Zustande eines bis zum Springen gespannten Bogens thut einem jeder Affekt wohl, gesetzt, daß er gewaltsam ist. Man soll jetzt nicht von mir ‚schöne Sachen‘ erwarten : so wenig man einem leidenden und verhungernden Thiere zumuthen soll, daß es mit Anmuth seine Beute zerreißt. Der jahrelange Mangel einer wirklich erquickenden und heilenden menschlichen Liebe, die absurde Vereinsamung, die es mit sich bringt, daß fast jeder Rest von Zusammenhang mit Menschen nur eine Ursache von Verwundungen ist : das Alles ist vom Schlimmsten und hat nur Ein Recht für sich, das Recht, nothwendig zu sein. –“ 30 „Die Gefahr bei außerordentlichen Geistern ist keine kleine, daß sie irgend wann die fürchterlichen Genüsse des Zerstörens, des Zugrunderichtens, des langsam Zugrunderichtens erstreben lernen : wenn
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teil klar, aber Nietzsches Wertungen bezeugen unübersehbar die Verwilderung der Affekte und den fortschreitenden Verlust der Herrschaft über die wechselnden Stimmungslagen.31 Ins Chaos32 verläuft sich, von außen betrachtet und die Zeit in Tribschen abgerechnet,33 ein Leben der Einsamkeit, Heiihnen nämlich durchaus die schaffende That, etwa durch den Mangel an Werkzeugen oder sonstigen Unfug des Zufalls, versagt bleibt. In dem Haushalte solcher Seelen giebt es dann kein Entweder-Oder mehr; und vielleicht müssen sie gerade das was sie bis dahin am Meisten geliebt haben, mit der Lust eines Teufels auf eine feine langwierige Art verderben.“ ( VII-3.38[9], 1885) 31 „Im dionysischen Zustande ist […] das gesammte Affekt-System erregt und gesteigert : so dass es alle seine Mittel des Ausdrucks mit einem Male entladet und die Kraft des Darstellens, Nachbildens, Transfigurirens, Verwandelns, alle Art Mimik und Schauspielerei zugleich heraustreibt. Das Wesentliche bleibt die Leichtigkeit der Metamorphose, die Unfähigkeit, nicht zu reagiren (– ähnlich wie bei gewissen Hysterischen, die auch auf jeden Wink hin in jede Rolle eintreten).“ (GD, Streifzüge 10). Vgl. GD, Was den Deutschen abgeht 6 : „Alle Ungeistigkeit, alle Gemeinheit beruht auf dem Unvermögen, einem Reize Widerstand zu leisten – man muss reagiren, man folgt jedem Impulse.“ 32 Vgl. FW 109 und V-2.11[121] (1881) : „Fortwährend arbeitet noch das Chaos in unserem Geiste : Begriffe Bilder Empfi ndungen werden zufällig neben einander gebracht, durch einander gewürfelt. Dabei ergeben sich Nachbarschaften, bei denen der Geist stutzt : er erinnert sich des Ähnlichen, er empfi ndet einen Geschmack dabei, er hält fest und arbeitet an den Beiden, je nachdem seine Kunst und sein Wissen ist.“ 33 Vgl. EH, Warum ich so klug bin 5 : „Ich lasse den Rest meiner menschlichen Beziehungen billig; ich möchte um keinen Preis die Tage von Tribschen aus meinem Leben weggeben, Tage des Vertrauens, der Heiterkeit, der sublimen Zufälle – der tiefen Augenblicke … Ich weiss nicht, was Andre mit Wagner erlebt haben : über unsern Himmel ist nie eine Wolke hinweggegangen.“ Dazu EH, Warum ich so gute Bücher schreibe 2 : „Wer einen Begriff davon hat, was für Visionen mir schon damals über den Weg gelaufen waren, kann errathen, wie mir zu Muthe war, als ich eines Tags in Bayreuth aufwachte. Ganz als ob ich träumte … Wo war ich doch ? Ich erkannte Nichts wieder, ich erkannte kaum Wagner wieder. Umsonst blätterte ich in meinen Erinnerungen.
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matlosigkeit, Sehnsucht nach Geborgenheit und menschlichweiblicher Wärme, ein verzweifelter Kampf gegen die Krankheit unter der immerwährenden sichtbaren wie unsichtbaren Kontrolle durch Mutter und Schwester.34 Hätte Nietzsche Tribschen – eine ferne Insel der Glückseligen : kein Schatten von Ähnlichkeit. Die unvergleichlichen Tage der Grundsteinlegung, die kleine zugehörige Gesellschaft, die sie feierte und der man nicht erst Finger für zarte Dinge zu wünschen hatte : kein Schatten von Ähnlichkeit.“ 34 „Die Behandlung, die ich von Seiten meiner Mutter und Schwester erfahre, bis auf diesen Augenblick, flösst mir ein unsägliches Grauen ein : hier arbeitet eine vollkommene Höllenmaschine, mit unfehlbarer Sicherheit über den Augenblick, wo man mich blutig verwunden kann – in meinen höchsten Augenblicken, … denn da fehlt jede Kraft, sich gegen giftiges Gewürm zu wehren … Die physiologische Contiguität ermöglicht eine solche disharmonia praestabilita … Aber ich bekenne, dass der tiefste Einwand gegen die ‚ewige Wiederkunft‘, mein eigentlich abgründlicher Gedanke, immer Mutter und Schwester sind.“ (EH, Warum ich so weise bin 3) Vgl. VIII-2.10[128] (Herbst 1887) : „Pascal, der bewunderungswürdige Logiker des Christenthums, […] man erwäge sein Verhältniß zu seiner Schwester […]“, und VIII-3.14[162] (1888) : „Philosoph […] [Seit Pyrrho] fürchteten sich am Allermeisten die Philosophen vor der Schwester – die Schwester ! Schwester ! ’s klingt so fürchterlich ! – und vor der Hebamme ! … (Ursprung des Coelibats)“. Zur berufenen Hebamme vgl. Platon : Theaet. 148d – 151d. – Freuds Totem und Tabu erscheint 1913. Indem die industrielle Moderne antritt im Zeichen grenzenloser maschineller Produktion, tabuiert sie zugleich den klassischen Begriff der (re)produktiven Natur (phýsis), damit deren unmittelbare gesellschaftliche Erscheinung, die Sexualität, und darin den Inzest als die drohende „Wiederkehr des Verdrängten“, nämlich der Identität als Grund-Begriff der natürlichen Produktion. Mit dem ersten Akt der Walküre hat Wagner, in eine „ursprüngliche“ Produktivität zurückhörend, den Tabubruch auf die Bühne gebracht : „Not tut ein Held, / Der, ledig göttlichen Schutzes, / Sich löse vom Göttergesetz; / So nur taugt er / Zu wirken die Tat, / Die, wie not sie den Göttern, / Dem Gott doch zu wirken verwehrt.“ (Die Walküre, 2. Aufzug, V. 763 – 769) – und Nietzsche hatte es verstanden : „Haben Sie bemerkt […], dass die Wagnerischen Heldinnen keine Kinder bekommen ? – Sie können’s nicht … Die Verzweiflung, mit der Wagner das Problem angegriffen hat, Siegfried
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selbst sich nicht jedes Mitleid verboten, hier wäre dessen nächster Gegenstand. Das eine freilich ist die Krankheit, das andre ihre gedankliche Verwindung, die philosophische Interpretation durch Nietzsche selbst. Sie bleibt nachvollziehbar, läßt begreifen, wie all jene Passagen zu verstehen sind, die den heutigen Leser fassungslos machen, wenn sie ihm durchs dunkle Prisma des zwanzigsten Jahrhunderts hindurch in die Augen springen.35 „Letzte“ Konsequenzen sind immer gefährlich und nie ganz konsequent – das ist selber eine Konsequenz aus Nietzsches kontemplativer Periode.36 Die Eruption des dionysischen Gedankens hatte den Altphilologen zum Parteigänger und Agitator gemacht. 1876 läßt die Enttäuschung den Philosophen zu sich kommen.37 Der weitere Weg war die Klärung des Verhältnisses von Wissenschaft und Weisheit unter den historischen Bedingungen des Positivismus (Menschliches, Allzumenschliches),38 die Entdeckung des schaffenden Trägers der Weisheit (Vermischte Meinungen und Sprüche), die Einverüberhaupt geboren werden zu lassen, verräth, wie modern er in diesem Punkte fühlte.“ (WA 9) 35 Zum Beispiel GD, Die ‚Verbesserer‘ der Menschheit 1 – 5, „Moral für Ärzte“, GD, Streifzüge 36. 36 Zum Beispiel FW 51 : „Ich […] mag von allen Dingen und allen Fragen, welche das Experiment nicht zulassen, Nichts mehr hören. Diess ist die Grenze meines ‚Wahrheitssinnes‘ : denn dort hat die Tapferkeit ihre Recht verloren.“ 37 „Als ich allein weiter gieng, zitterte ich; nicht lange darauf, und ich war krank, mehr als krank, nämlich müde, aus der unaufhaltsamen Enttäuschung über Alles, was uns modernen Menschen zur Begeisterung übrig blieb, über die allerorts vergeudete Kraft, Arbeit, Hoff nung, Jugend, Liebe“ (MA 2, Vorrede 3) 38 „Was uns von allen Platonischen und Leibnitzischen Denkweisen am Gründlichsten abtrennt, das ist : wir glauben an keine ewigen Begriffe, ewigen Werthe, ewigen Formen, ewigen Seelen; und Philosophie, soweit sie Wissenschaft und nicht Gesetzgebung ist, bedeutet uns nur die weiteste Ausdehnung des Begriff s ‚Historie‘.“ ( VII-3.38[14], 1885)
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leibung des Schattens (Der Wanderer und sein Schatten) und die kontemplative Ausfaltung des neuen synthetischen Ich (Morgenröthe). Es folgen die Einverleibung dieses Ich in die „großen Vernunft“39 (Fröhliche Wissenschaft), die Entzweiung in den Denker und seinen Gedanken (Also sprach Zarathustra),40 und endlich dessen stufenweise Wiederaneignung ( Jenseits von Gut und Böse, Vorreden, Wir Furchtlosen und Zur Genealogie der Moral) : Die 1876 paralysierte Naherwartung einer menschlich verklärten Welt ist zurückgekehrt. Diese in den Vorreden von 1886 und noch einmal im Ecce homo verinnerlichte Entwicklung nimmt die Gestalt eines Systems an, das sich von allen bisherigen Systemen radikal dadurch unterscheidet, daß es unter allen „wahren ‚Lebens-systeme[n]‘, deren jeder von uns eins ist“,41 als das sich selbst wissende die eigne Paradoxie aushält als die temporäre Vereinigung des Unvereinbaren. Hatte das Vorbild Heraklit die Paradoxien seiner Lehre im göttlichen Welturteil (logos eôn) anschauen42 und Hegel die Widersprüche „in ihren Grund“ aufheben können,43 ist es in der industriellen Moderne nichts 39
Vgl. Za 1.4 : Von den Verächtern des Leibes : „[…] der Erwachte, der Wissende sagt : Leib bin ich ganz und gar, und Nichts ausserdem; und Seele ist nur ein Wort für ein Etwas am Leibe. Der Leib ist eine grosse Vernunft, eine Vielheit mit Einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden, eine Heerde und ein Hirt. Werkzeug deines Leibes ist auch deine kleine Vernunft, mein Bruder, die du ‚Geist‘ nennst, ein kleines Werk- und Spielzeug deiner grossen Vernunft.“ 40 VII-2.26[394] (1884) und öfter : „mein Sohn Zarathustra“. Vgl. VII1.12[43] (Sommer 1883) : „Wovon der Vater schwieg, das kommt im Sohn zur Rede. Und oft ist der Sohn nur die enthüllte Seele des Vaters.“ 41 V-2.11[7] (1881). M 343 evoziert in diesem Sinn „die Reise um die Welt (die ihr selber seid !)“. 42 Vgl. Heraklit (DK 22, B 67) : „Der Gott Tag Nacht, Winter Sommer, Streit Frieden, Fülle Hunger : er wandelt sich wie (die Salbe), die, Gewürzen zugesetzt, nach deren Geruch genannt wird.“ 43 Vgl. Hegel : Wissenschaft der Logik. Erster Band. Die objective Logik. Zweytes Buch. Die Lehre vom Wesen. 1.2.C. Der Wider-
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mehr mit diesen transzendentalen Signifi katen der Metaphysik : All ihre Identitäten sind depotenziert zum „Unsinn“44 des historisch Vergangenen kraft der modernen Logik der Funktion, deren nicht zu tilgende Differenz jede Synthesis in ein Bis-auf-weiteres… verwandelt im endlosen Aufschub. 1888 ist nichts mehr „einzuverleiben“, und versteckterweise – manifest erst in den Botschaften des Januar 1889 – ist auch schon das ganz Andere unter dem alten Namen „Dionysos“ Eins geworden mit dem sich wissenden Lebens-System des Philosophen.45 In diesem Augenblick ist Nietzsche das System – nicht der Nietzschesche Gedanke, sondern, in Personaleinheit mit seinem Gedanken, er selbst : „ich habe die größte Umfänglichkeit der Seele, die je ein Mensch gehabt hat. Verhängnißvoll Gott oder Hanswurst – das ist das Unfreiwillige an mir, das bin ich.“46 Gott und Hanswurst, Weiser und Narr, Plauderer spruch, Anmerkung 3 (GW 11, hg. von Friedrich Hogemann und Walter Jaeschke, Düsseldorf 1978, S. 286-289) : „[…] So wäre der Widerspruch für das Tiefere und Wesenhaftere zu nehmen. Denn die Identität ihm gegenüber ist nur die Bestim mung des einfachen Unmittelbaren, des todten Seyns; er aber ist die Wurzel aller Bewegung und Lebendigkeit; […] das Princip aller Selbstbewegung, die in nichts weiter besteht, als in ei ner Darstellung desselben. […] Die endlichen Dinge in ihrer gleichgültigen Mannichfaltigkeit, sind daher überhaupt diß, widersprechend an sich selbst, in sich gebrochen zu seyn und in ihren Grund zurückzugehen.“ 44 „Historia in nuce. – Die ernsthafteste Parodie, die ich je hörte, ist diese : ‚im Anfang war der Unsinn, und der Unsinn war, bei Gott ! und Gott (göttlich) war der Unsinn.“ (MA 2.1.22) 45 EH, Warum ich ein Schicksal bin 1 : „Ich kenne mein Loos. Es wird sich einmal an meinen Namen die Erinnerung an etwas Ungeheures anknüpfen, – an eine Krisis, wie es keine auf Erden gab, an die tiefste Gewissens-Collision, an eine Entscheidung herauf beschworen gegen Alles, was bis dahin geglaubt, gefordert, geheiligt worden war. Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit.“ Vgl. JGB 208. 46 VIII-3.25[6] (1888). Auch hinter dem Hanswurst noch verbirgt sich ein agitatorisches Moment : „Muss nicht Der, welcher die Menge bewe-
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im Negligé47 und höchster Gesetzgeber „mit dem Hammer“,48 Aristokrat und Pöbelmann :49 „Was unangenehm ist und meiner Bescheidenheit zusetzt, ist, daß im Grunde jeder Name in der Geschichte ich bin“50 – es gibt nichts anderes mehr : „Diese Welt ist der Wille zur Macht – und nichts außerdem ! Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht – und nichts außerdem !“51 So ist Nietzsches philosophisches System das System, das alle andern Systeme in sich enthält. Und da es ein „einverleibtes“ System ist, enthält es sie auch als Lebens-Systeme, ist sie als ihre Form.52 Im Unterschied zu ihnen allen aber enthält es gen will, der Schauspieler seiner selber sein ? Muss er nicht sich selber erst in's Grotesk-Deutliche übersetzen und seine ganze Person und Sache in dieser Vergröberung und Vereinfachung vortragen ?“ (FW 236) – „Ich will kein Heiliger sein, lieber noch ein Hanswurst … Vielleicht bin ich ein Hanswurst … Und trotzdem oder vielmehr nicht trotzdem – denn es gab nichts Verlogneres bisher als Heilige – redet aus mir die Wahrheit. – Aber meine Wahrheit ist furchtbar : denn man hiess bisher die Lüge Wahrheit.“ (EH, Warum ich ein Schicksal bin 1. Vgl. den Briefentwurf an Wilhelm II Anfang Dezember 1888) 47 An Jacob Burckhardt, 6. Januar 1889. 48 VII-3.34[199] (1885) (auf Za 4 bezüglich), vgl. schon SE 3. „Denn das ist die eigenthümliche Arbeit aller grossen Denker gewesen, Gesetzgeber für Maass, Münze und Gewicht der Dinge zu sein.“ 49 „Ich notirte mir gestern, zur eignen Bestärkung auf dem einmal eingeschlagnen Wege des Lebens, eine Menge Züge, an denen ich die ,Vornehmheit‘ oder den ,Adel‘ bei Menschen herauswittere – und was, umgekehrt, Alles zum ,Pöbel‘ in uns gehört. (In allen meinen Krankheits-Zuständen fühle ich, mit Schrecken, eine Art Herabziehung zu pöbelhaften Schwächen, pöbelhaften Milden, sogar pöbelhaften Tugenden – verstehen Sie das ? Oh Sie Gesunder !)“ (an Heinrich Köselitz, 23. Juli 1885) 50 An Jacob Burckhardt, 6. Januar 1889. 51 VII-3.38[12] (1885). 52 Wie die Nietzschesche Sentenz das System in elementarer Gestalt ist : „Der Glaube in der Form, der Unglaube im Inhalt – das macht den Reiz der Sentenz aus – also eine moralische Paradoxie“ ( VII-1.3[1].121, 1882) – „das Unvergängliche inmitten des Wechselnden“ (MA 2.1.168).
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Nachworte
sich selbst, ist in sich reflektiert, weiß sich.53 Und das ist das Riff, an dem Nietzsches Schiff geradeso scheitert54 wie Freges Logizismus an Russells Mengen- oder Klassen-Antinomie. Die „Einzel-Person“ von „unendliche[m] Werth“ ist nämlich der „Träger des Lebens-prozesses“,55 der Prozeß als solcher die Summe der Lebens-Funktionen. Selber nicht Funktion, ist dieser Träger die dionysische Differenz selbst. Das System, das sie geschichtlich identifi ziert, enthält sie damit als seinen Gegenstand und enthält sie nicht als seinen Träger, enthält sich als Lebens-System und enthält sich nicht als Lebens-System, weiß sich und weiß sich nicht.56 So ist das System der eingeholDie „Modernität“ (vgl. WA , Vowort 1) hatte Baudelaire, diese „Art Richard Wagner ohne Musik“ ( VII-3.34[166], 1885), 1863 bestimmt als „das Übergängliche, Flüchtige, Kontingente, die Hälfte der Kunst, deren andre Hälfte das Unvergängliche und Unveränderliche ist“ (Der Maler des modernen Lebens IV ). 53 „Wenn ich nur den Muth hätte, Alles zu denken, was ich weiß.“ (An Overbeck, 12. Februar 1887) 54 Vgl. WA 4 : „[…] der Aufgang des goldnen Zeitalters; die Götterdämmerung der alten Moral – das Uebel ist abgeschaff t … Wagner’s Schiff lief lange Zeit lustig auf dieser Bahn. Kein Zweifel, Wagner suchte auf ihr sein höchstes Ziel. – Was geschah ? Ein Unglück. Das Schiff fuhr auf ein Riff; Wagner sass fest. Das Riff war die Schopenhauerische Philosophie; Wagner sass auf einer conträren Weltansicht fest. Was hatte er in Musik gesetzt ? Den Optimismus.“ 55 VIII-3.22[22] (1888), vgl. MA 2.1.325. 56 „Und wißt ihr auch, was mir ‚die Welt‘ ist ? Soll ich sie euch in meinem Spiegel zeigen ? [vgl. M 243] Diese Welt : ein Ungeheuer von Kraft, ohne Anfang, ohne Ende, […] als Ganzes unveränderlich groß, […] ewig sich wandelnd, ewig zurücklaufend, […] sich selber segnend als das, was ewig wiederkommen muß“ ( VII-3.38[12], 1885). Dies im System selbst vorgestellte System ist der Gedanke der ewigen Wiederkunft, den Nietzsche zunächst als eine Hypothese („Wie, wenn“…) von „grösste[m] Schwergewicht“ (FW 341) einführt. Kern ist Schopenhauers Lehre von der Freiheit nicht des empirischen, wohl aber des intelligiblen Charakters, der „ein außerzeitlicher, daher untheilbarer und unveränderlicher Willensakt“ sei (WWV I, § 55, W I, S. 380). Nietzsches Tilgung dieses meta-
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ten Differenz der logische Ausdruck ihrer Uneinholbarkeit,57 es selbst die Grenze, an der die Logik sich „um sich selbst ringelt und endlich sich in den Schwanz beisst“ (GT 15) : Irrthum der Philosophen. – Der Philosoph glaubt, der Werth seiner Philosophie liege im Ganzen, im Bau : die Nachwelt fi ndet ihn im Stein, mit dem er baute und mit dem, von da an, noch oft und besser gebaut wird : also darin, dass jener Bau zerstört werden kann und doch noch als Material Werth hat. (MA 2.1.201)
physischen Rests von ‚Außerzeitlichkeit‘ nimmt den Willensakt in die Zeit als in den Augenblick hinein (Za 3.2 : Vom Gesicht und Räthsel). In dieser Grenze will ich etwas, weil ich es einst gewollt habe, und habe es einst gewollt, weil ich es jetzt will. Kraft ihrer einstigen Enscheidung ist die Person, was sie ist, weiß sich als ihr ‚Lebens-prozess‘, kraft der jetzigen Entscheidung ist sie Träger des Lebensprozesses und weiß sich nicht. 57 „Der Schaffende als der Selbst-Vernichter.“ ( VII-1.21[3], 1883, Plan zu Zarathustra IV ). Vgl. GM 3.27 : „Alle grossen Dinge gehen durch sich selbst zu Grunde, durch einen Akt der Selbstaufhebung : so will es das Gesetz des Lebens, das Gesetz der nothwendigen ‚Selbstüberwindung‘ im Wesen des Lebens“ – sobald es nämlich nicht mehr das Und dann … zu sein vermag, das schon bei Schopenhauer den Status eines Existenzials hatte : Des Menschen „Leben schwingt also, gleich einem Pendel, hin und her, zwischen dem Schmerz und der Langenweile, welche beide in der That dessen letzte Bestandtheile sind“ ( WWV I, § 57, W I, S. 407).
Editorische Notiz
Die Wiedergabe des Textes von Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift erfolgt nach der ersten Ausgabe von 1887, die des Textes der Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt nach der ersten Ausgabe von 1889. Die Eigentümlichkeiten der Orthographie der Zeit und der Interpunktion Nietzsches bleiben unverändert erhalten; offenkundige Fehler wurden stillschweigend korrigiert, die Edition der beiden Texte in der Kritischen Gesamtausgabe der Werke von Colli und Montinari (Berlin 1967 ff.) wurde durchgängig vergleichend herangezogen. Der Seitenumbruch der Originalausgaben wird in den jeweiligen Texten fortlaufend durch einen senkrechten Strich | markiert und im Kolumnentitel innen mit Angabe der Seitenzahlen angezeigt.
Siglenverzeichnis
AC
Der Antichrist (1888)
EH
Ecce homo (1888/89)
FW
Die fröhliche Wissenschaft (1882)
GD
Götzen-Dämmerung (1889)
GM
Zur Genealogie der Moral (1887)
GT
Die Geburt der Tragödie (1872)
HL
Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben (1874)
JGB
Jenseits von Gut und Böse (1886)
KGB
Briefe. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. v. G. Colli u. M. Montinari, Berlin / New York 1975 ff.
KGW Werke. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. v G. Colli u. M. Montinari, Berlin / New York 1967 ff. M
Morgenröthe (1881)
MA
Menschliches, Allzumenschliches
NW
Nietzsche contra Wagner (1894)
PhtZ
Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen (1873)
SE
Schopenhauer als Erzieher (1874)
UB
Unzeitgemässe Betrachtungen
WA
Der Fall Wagner (1888)
WB
Richard Wagner in Bayreuth (1878)
Za
Also sprach Zarathustra