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German Pages 306 [308] Year 2018
Hanna Delf von Wolzogen / Christine Hehle (Hrsg.) Formen ins Offene
Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte
Band 151
Formen ins Offene
Zur Produktivität des Unvollendeten Im Auftrag des Theodor-Fontane-Archivs hrsg. von Hanna Delf von Wolzogen und Christine Hehle
Gefördert aus Mitteln des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg.
ISBN 978-3-11-053770-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-053949-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-053783-3 ISSN 0083-4564 Library of Congress Control Number: 2018011508 Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Inhaltsverzeichnis Vorwort
IX
Verzeichnis der Siglen und Abkürzungen
XV
I Orientierendes Rolf Parr Eine kleine Revue literaturtheoretischer Logiken des Fragments Konrad Ehlich Fragmente zur Pragmatik des Fragments – ein Versuch
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Heike Gfrereis Unfertige Texte. Ein philosophisch-philologisches Problem zwischen Arabeske und Werk 35
II Werkstatt und Archive Hans Ester Fontane und der Fortsetzungsroman
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Volker Probst „… ich, dem beim Gang über die Straßen der Bleistift in der Hand vor Ungeduld zu tanzen begann.“ Ernst Barlachs Taschen- und Skizzenbücher als Steinbruch für das eigene Werk 77 Petra S. McGillen Poetische Mobilmachung im Textbaukasten. Fontanes Listen und die Kunst der Weiterverwendung – der Fall „Allerlei Glück“ 97 Hanna Delf von Wolzogen „Eine gefährliche Lektüre.“ Fontane liest Schopenhauer
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VI
Inhaltsverzeichnis
Christine Hehle Von der allmählichen Verfertigung des Erzählers beim Schreiben. Zu Fontanes Erzählfragmenten 145 Johann Holzner „Von Fontane kenne ich wenig.“ Über Bruchstücke aus dem Nachlass Adolf Pichlers 161
III Werk als Paradigma? Jochen Strobel ,Fragment‘ und Fragment als romantische Praxis um 1800 und in der Moderne (Novalis, Nietzsche, von der Wense) 173 Patricia Howe „Sonderbare, unverläßliche Welt“. Fontanes Fragmente zwischen Vormärz und Moderne 195 Joseph A. Kruse Von der großen Idee bis zur kleinen Form. Über Heines Fragmente
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Michael Ewert Ins Offene und Weite denken. Zur Produktivität der kleinen Formen bei Fontane 224 Burghard Dedner Produktive Irrtümer. Büchners Woyzeck als Paradigma der Form ins Offene 237 Hugo Aust „…“ Abgebrochen auf der Höhe des Zitterns. Fontanes vollendetes „Fragment“ „Wangeline von Burgsdorf oder Die Weiße Frau“ 262 Rüdiger Görner Unterwegs zu einer Poetik des Unvollendeten Autorinnen und Autoren Bildnachweis 291
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F o r men
ins
Zur Produktivität des Unvollendeten
Of f e n
13. bis 15.10.2016 Internationale wissenschaftliche Tagung des Theodor-Fontane-Archivs | Universität Potsdam, Villa Quandt. Tagungsbeitrag 20 €, Studierende frei. Mehr Info unter www.fontanearchiv.de
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Vorwort „Bruchstücke sind besser als Ganzes“ (Fontane an Rodenberg, 1892) „Gut, ich habe etwas. Aber es ist nicht eigentlich fertig und wird auch nie fertig werden.“ (Fontane, Vor dem Sturm)
Wer sich im Umkreis von Archiven bewegt, hat es mit Entwürfen, Fragmenten, Notizen – kurz mit Texten zu tun, die, gemessen am Paradigma des Werkes, als Formen des Unfertigen, Unabgeschlossenen, Unvollendeten bezeichnet werden können. Obgleich sie nicht notwendig im Hinblick auf ein konkretes Werk entstanden sein müssen, gehören sie doch zumeist in den größeren Zusammenhang eines Œuvres. Andererseits wird ihre Rezeption allein durch das Faktum ihres Vorhandenseins in Archiven geformt. Die unter den Bedingungen der ‚neuen‘ Medien fließend gewordenen Grenzen zwischen opakem Speicher und luzider Öffentlichkeit haben auch die unfertigen Texte, die in den Archiven schlummern, in neue Perspektiven gerückt. Unter den Schriftstellern des späten 19. Jahrhunderts ist Theodor Fontane einer der wenigen, die eine auffallend große Anzahl von Entwürfen hinterlassen haben, welche sich nicht eindeutig als Vorstufen auf ein schließlich vollendetes und veröffentlichtes Werk beziehen lassen. Obgleich Fontanes unfertige Texte von Anbeginn editorische und interpretative Aufmerksamkeit genossen und als eigenes Genre im Ensemble des überlieferten Fontane-Œuvres kanonisiert sind (das Fontane-Handbuch widmet ihnen einen eigenen Abschnitt), stellen sie für Editoren und Interpreten bis heute eine Herausforderung dar. Anlässlich des Erscheinens der beiden Bände Theodor Fontane, Fragmente. Erzählungen, Impressionen, Essays (2016) lud das Theodor-Fontane-Archiv vom 13. bis 16. Oktober 2016 zu einem Symposium ein, das sich mit dem Phänomen des Fragmentarischen aus literatur- und rezeptionstheoretischer, poetologischer, aber auch schreib- und editionspragmatischer Perspektive beschäftigte. Leitend war dabei das im Laufe des Editionsprozesses der fontaneschen Fragmente immer wieder greifbare Phänomen einer eigentümlichen Produktivität solcher Formen des Offenen, aus dem sich für die Editoren aber auch mannigfache Fragestellungen und Schwierigkeiten ergaben. Nicht nur scheinen unfertige Texte den Leser und Rezipienten in besonderer Weise auf ihre poetische Dimension, im ursprünglich handwerklich-herstellenden Sinn (ποιητικὴ τέχνη), zu verweisen. Unfertige Texte scheinen auch die Produktivität der Leser, Rezipienten, Editoren in besonderer Weise herauszufordern. Dies legte es nahe, nach der Eigentümlichkeit des Fragmentarischen und Unfertigen, nach seiner mit Bruch und Lücke assoziierten konstitutiven Mangelhttps://doi.org/10.1515/9783110539493-201
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Vorwort
haftigkeit zu fragen und nach dem damit ausgesagten Verweischarakter auf eine wie immer beschaffene Ganzheit. Mit Blick auf Literatur lag der Begriff des Werkes (dessen Sinnzentren sich um die Instanzen von Anfang und Ende konstituieren) als Paradigma des intendierten Erwartungshorizonts nahe. Ganz gleich, ob statisch oder transitorisch, impliziert die Rede vom Werk ein literarisches Universum, dessen Lektüre auf dem Vertrauen in die Fiktivität (des „Es war einmal …“) beruht. Was aber geschieht, wenn ein Text dieses Vertrauen (d. h. die Gesetze der literarischen Form und die Fiktion von Ganzheit und Einheit) verletzt? Wie lesen wir solche Texte? Ersetzen wir – wie der kompetente Sprecher die Fehler des Lernenden – stillschweigend oder erfahren wir nur den Mangel, die Lücke? Stimulieren unfertige Texte unsere literarische Produktivität, erweitern sie Lektüre- und Deutungshorizonte – im Sinne der böschensteinschen „Poetologie der Möglichkeiten“ – oder verstellen sie diese eher? Die Frage nach der Eigenart des künstlerischen Schaffensprozesses gehört zu den zentralen Fragen der Ästhetik und Poetik. Fragmente, Entwürfe, Brouillons und andere Formen des Unfertigen scheinen einen Blick in die Werkstatt des Künstlers zu erlauben. Stärker als das abgeschlossene Werk verweisen unfertige, fragmentarische Texte, aber auch Texte, die nicht einem Werk-Telos zuzuordnen sind, wie eben Exzerpte, Notizen und Aufzeichnungen, auf ihre Entstehungs situation zurück. Spuren solcher Situativität finden sich zuweilen auf dem Papier, dem Schreibstift, auf Schuber und Streifband. Was sagen diese materialen Zeugen über den Autor, seine Arbeitsweise und die Überlieferung seiner Texte aus? Archive gehören nicht erst seit Goethe zur literarischen Praxis, sie rücken, nicht zuletzt durch die Zugänglichkeit ihrer Schätze im Netz, immer mehr ins öffentliche Bewusstsein. Mit der Öffnung der Archive wuchs auch die Aufmerksamkeit für die Archivierungspraktiken der Künstler selbst. Die Bedeutung derartiger Aktivitäten des Sammelns, Ordnens, Bewahrens, aber auch des Vernichtens ist vermehrt in den Horizont des künstlerischen Schaffensprozesses geraten. Welche Bedeutung haben primäre Ordnungs- und Archivbildungen des Autors für die poetisch-künstlerische Produktivität und darüber hinaus für die literarische Gedächtnisbildung? Bekanntlich wirken sekundäre Archivbildner wie Erben und Archive, aber auch Editoren am Ruhmesmantel mit. Wie werden durch sie unsere Lektüreerwartungen und -gewohnheiten geformt? Der vorliegende Band enthält die Beiträge des Symposiums. Wir haben den Band, den Sektionen des Symposiums folgend, in drei Schwerpunkte gegliedert. Der erste Schwerpunkt ist der grundsätzlichen Selbstverständigung und Orientierung gewidmet. Der zweite Schwerpunkt ist Fragen des poetisch-künstlerischen Schaffensprozesses und der Rolle primärer und sekundärer Archive gewidmet. Er enthält auch zwei Beiträge, die sich mit dem Lesen von offenen und unfertigen Texten als offenen Lektüren beschäftigen. Der dritte Schwerpunkt greift die große
Vorwort
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Frage nach dem Werk als Paradigma auf und nähert sich ihr aus gattungstheoretischer, editionshistorischer und poetologischer Perspektive.
I Orientierendes Mit Blick auf die Geschichte der literaturwissenschaftlichen und editorischen Bemühungen um Fontanes Fragmente unternimmt es Rolf Parr, uns auf das weitgehende Fehlen einer literaturtheoretischen Beschäftigung mit dem Fragment aufmerksam zu machen. Er kommt zu dem überraschenden Resultat, dass es im Hinblick auf Fragmentarisches zu erstaunlichen Allianzen und Überlagerungen ansonsten durchaus oppositionell situierter literaturtheoretischer Paradigmen kommt, und versteht seine kleine Systematik des Unvollendeten als Plädoyer für ein weitergehendes Fragen nach dem literaturtheoretischen Status von Fragmenten, Entwürfen, Notizen und anderen Formen des Offenen. Aus linguistisch-pragmatischer Perspektive nähert sich Konrad Ehlich dem Phänomen des Fragments. Seine Überlegungen zu einer Pragmatik des Fragments setzen an der in der Semantik des Fragments implizierten Spur des Bruches (der Ruptur) an und konstatieren die konstitutive Beziehung zu einer (zeitlich verfassten) Ganzheit, auf die hin überhaupt erst von Fragmentarischem gesprochen werden kann. Während Ganzheiten (Einheiten, Form, Gestalt) die Integrität des Denkens signalisieren, zeigen Fragmente Bruchstellen an, aus denen Erwartungsverletzungen hervorgehen. Diese können destruktive Resultate (Ruine, memento mori) sein, Prozessausschnitte (z. B. Entwurf) einer zukünftigen Ganzheit, aber auch intendierte Zielverfehlungen, wie etwa das romantische Fragment. Das Konzept des Fragments (das im Übrigen auch zahlreichen Wissensdisziplinen zugrunde liegt) impliziert Erwartungshorizonte, mit und in denen auch literarische Produktions- und Rezeptionsprozesse sich als vielfach aufeinander verwiesene, je fragmentierte Prozesse in der Zeit vollziehen. Auch Heike Gfrereis konstatiert die wesentliche Mangelhaftigkeit von unfertigen Texten und beschreibt die mit ihrer Rezeption verbundenen Erfahrungen als „gefühlte Wahrheiten“. Mit Roland Barthes begreift sie Fragmente als eine Form der Einübung in die ästhetische Erfahrung der Welt und geht dem epochenübergreifenden Interesse an unfertigen Texten anhand der ästhetischen Leitbegriffe poiesis, mimesis und aisthesis nach.
XII
Vorwort
II Werkstatt und Archiv Im Hinblick auf Fontane, der sich bekanntlich mit einer „Extra-Summe“ an Novellenstoffen am wohlsten fühlte, fragt Hans Ester, ob diese Disposition für das Unfertige Auswirkungen hatte auf die Form der Romane und Novellen selbst, ob ihre parzellierte Erstveröffentlichung als Fortsetzungsromane in Zeitschriften die Form der fontaneschen Romane ebenso beeinflusst hat. Die eigentümliche Aufsplitterung des Textes in Bilder, Anekdoten, Gespräche und Episoden und die offenen Romanschlüsse legen die Nähe zum Formprinzip des Fragmentarischen nahe, sie laden, so sein Fazit, indes auch zur einstweiligen Komplettierung des „Rätsels ‚Mensch‘“ ein. Mitten ins Archiv von Ernst Barlach führt Volker Probst. Er widmet sich den Taschen- und Skizzenbüchern des Bildhauers, Zeichners und Schriftstellers und kann zeigen, wie diese Hefte als Speicher einer fortwährend aktiven Aisthesis fungieren und so als Instrument der Alltagsbewältigung und als Nukleus künstlerischer Produktivität gleichermaßen dienen. Mit Petra S. McGillen betreten wir das Archiv als eine Fundstätte stillgestellter Aktivitäten des Autors. Anhand der überlieferten Manuskriptteile des Fragment gebliebenen „ersten Gesellschaftsromans“ (Julius Petersen) von Fontane sucht sie die Schnittstelle zwischen Kompilation (Archivierung) und Schreiben auf und untersucht die Liste als „Papierwerkzeug“ und Notationsform im Hinblick auf die Entwurfspraxis des Autors und ihre Perpetuierung. Als offene und strukturbildende Form eröffne die Liste, wie sich an „Allerlei Glück“ zeigen lässt, kreative Möglichkeiten, die sich weit über den Text hinaus in andere Texte verzweigen. Die Fülle der überlieferten Erzählfragmente veranlasste Hanna Delf von Wolzogen, sich anhand der überlieferten Schopenhauer-Exzerpte mit dem Lese- und Notationsverfahren zu beschäftigen. Mit der Frage nach dem Wie der fontaneschen Lektürepraxis lotet sie mögliche Übergänge von den Praktiken des Lesens zu denen des eigentlichen Schreibens aus. Der weite Horizont der fontaneschen Erzählfragmente bildet die Folie für die Überlegungen von Christine Hehle, die sich dem Vorgang der Fiktionalisierung und der Herausbildung der Erzählinstanz auf der Basis der klassischen Rhetorik (hier insbesondere die Begriffe inventio, dispositio und elocutio) widmet. Sie beschreibt den narrativen Prozess in Stadien der Fiktionalisierung. Während diese in den zum Druck gelangten Texten zum Abschluss kommt und die Spuren ihrer Herstellung verschwinden, wird in den unfertigen Texten, die Momente des Anhaltens abbilden, jene Mehrstimmigkeit des Autors/Erzählers Fontane wahrnehmbar, die sein Schreibverfahren auszeichnet. Um die Möglichkeiten und Grenzen von Literaturarchiven geht es Johann Holzner. Er beschäftigt sich mit dem Nachlass von Adolf Pichler, einem Schriftstel-
Vorwort
XIII
ler, der seinen Zeitgenossen Fontane nicht wahrgenommen hat und der, obwohl sein Nachlass im Goethe- und Schiller-Archiv, Weimar, und im Brenner-Archiv, Innsbruck, verwahrt wird, nicht kanonisch geworden ist. Gerade am Nachlass dieses nicht kanonisierten Autors werde sichtbar, dass auch das in den Archiven Liegengebliebene kulturhistorische Horizonte öffnen könne; wenngleich auch Skepsis angebracht sei, ist doch das in Archive gelangte Material allzu oft Resultat eines opaken Ausleseprozesses.
III Werk als Paradigma Mit Blick auf die ‚Fragment‘-Sammlungen der Romantiker einerseits und die in ihren Nachlässen befindlichen Notizen, Papierfetzen und Entwürfen als Zeugnisse ihres Schreibens andererseits beschäftigt sich Jochen Strobel mit Novalis’ Allgemeinem Brouillon, mit Nietzsches nachgelassenen Aufzeichnungen und schließlich mit Hans Jürgen von der Wenses Nachlass. Während sich im Hinblick auf Novalis und Nietzsche allmählich die editorische und literaturwissenschaft liche Einsicht in den Werkstattcharakter ihrer „Fragmente“ durchsetzt, scheint von der Wenses Nachlass eine Publikation gänzlich auszuschließen. Patricia Howe beschreibt in ihrem Beitrag das Spannungsfeld zwischen vollendeten und unvollendeten fiktionalen Texten aus der Perspektive ihrer Lesbarkeit ohne die dirigierende Rolle des Erzählers und wendet sich sodann exempla rischen Fragmenten von Annette von Droste-Hülshoff („Ledwina“), Hugo von Hofmannsthal und Fontane (Melusine-Fragmente) zu, um nach den Gründen für ihre Nicht-Vollendung bei gesellschaftlich-kulturellen Horizontverschiebungen zu fragen. Mit Heinrich Heine als dem anerkannten „Fragmentisten“ beschäftigt sich Joseph A. Kruse. Auch er nimmt das Spannungsfeld zwischen Gattungs- und Gesellschaftshorizont in den Blick, doch konstatiert er für Heine die bewusste Entscheidung für das Genre „Fragment“, bei Heine eine „Chiffre für Leben und Werk“, um sodann dem vielfältigen Gebrauch des Wortes bei Heine nachzugehen. Jenseits der Erzählfragmente, so die These von Michael Ewert, gibt es ein nicht geringes Repertoire kleiner, ebenfalls dem Unfertigen zuzurechnender Textarten. Ihren möglichen Ort in Fontanes Œuvre lotet er mit zehn heuristischen Thesen aus, um sie an dem Fragment „Onkel Ehm“ und einem Essay-Entwurf zu überprüfen, wobei die „kleinen Formen“ als Katalysatoren eines auf Offenheit und Vielstimmigkeit orientierten Textdenkens begriffen werden. Burghard Dedner wandelt den Titel des Symposiums produktiv um und denkt zunächst über einen möglichen Begriff der „Form ins Offene“ und seiner Konjunktion mit Moderne nach, um auf dieser Grundlage den Folgen einiger irrtümlicher
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Vorwort
Editionsentscheidungen von Karl Emil Franzos zu Büchners Drama Woyzeck und ihren produktiven Folgen in der Rezeptionsgeschichte des Dramas nachzugehen. Ausgehend von „Wangeline von Burgsdorf“ als Fontanes wohl einzigem „vollendeten Fragment“ zeichnet Hugo Aust die Stadien der Entstehung und Fragmentierung dieser Ballade im Kontext ihrer möglichen Veröffentlichungsmotive (und -anlässe) nach und weist damit auf die bislang wenig beachtete Rolle des Fragmentarischen in Fontanes Balladen-Œuvre und allgemein im Realismus hin. Mit der Metapher des „Unterwegs“ streift Rüdiger Görner in seinem essayistischen Vortrag über eine mögliche Poetik des Unvollendeten markante ästhetischen Positionen der Moderne und bindet sie zurück auf eine Poetik, die als Wechselspiel des Gelingens und Scheiterns Möglichkeitshorizont und Grenzerfahrung sein könnte. Am Gelingen des Symposiums wie an der Entstehung des vorliegenden Bandes waren viele Personen beteiligt. Unser herzlicher Dank gilt dem Team des TheodorFontane-Archivs für die Vorbereitung und das Gelingen des Symposiums, besonders seien Juliane Lieschke und Rainer Falk genannt. Nicht minder dankbar sind wir den Autoren und Autorinnen für ihre engagierte Teilnahme am Symposium und ihre Bereitschaft, ihre Überlegungen für die Publikation zur Verfügung zu stellen. Der Band wurde durch die großzügige Unterstützung des Theodor-Fontane-Archivs | Universität Potsdam und die Förderung durch das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg möglich, denen wir sehr verbunden sind. Dem Verlag Walter de Gruyter, insbesondere Manuela Gerlof, danken wir für die Aufnahme dieses Bandes in die Reihe „Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte“, sowie Peter Heyl (Lektorat) und Kerstin Protz (Herstellung) für die hervorragende Zusammenarbeit. Potsdam und Wien, im März 2018 Hanna Delf von Wolzogen und Christine Hehle
Verzeichnis der Siglen und Abkürzungen DLA Fontane Chronik GBA
Deutsches Literaturarchiv, Marbach am Neckar Roland Berbig, Theodor Fontane Chronik, 5 Bde., Berlin, New York 2010 Theodor Fontane, Große Brandenburger Ausgabe, begründet und hg. von Gotthard Erler, fortgeführt von Gabriele Radecke und Heinrich Detering, Berlin 1994 ff. Heinrich Heine, Düsseldorfer historisch-kritische Gesamtausgabe der HDA Werke in 16 Bänden, hg. von Manfred Windfuhr, Hamburg 1973–1997 (Düsseldorfer Ausgabe) Theodor Fontane, Werke, Schriften und Briefe, hg. von Walter Keitel HFA und Helmuth Nürnberger, München 1962 ff., 2. Aufl. 1971–1997 (HanserAusgabe) Heinrich Heine, Weimarer Heine-Säkularausgabe, hg. von den Nationalen HSA Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar [später Klassik Stiftung Weimar] und dem Centre National de la Recherche Scientifique in Paris, Berlin, Paris 1970 ff. (Heine-Säkularausgabe) Georg Büchner, Sämtliche Werke und Schriften. Historisch-kritische MBA Ausgabe mit Quellendokumentation und Kommentar, hg. von Burghard Dedner, bis 2003 zusammen mit Thomas Michael Mayer, Darmstadt 2000 ff. (Marburger Ausgabe) Theodor Fontane, Sämtliche Werke, hg. von Edgar Groß, Kurt Schreinert, NFA Rainer Bachmann, Charlotte Jolles, Jutta Neuendorff-Fürstenau und Peter Bramböck, München 1959–1975 (Nymphenburger Ausgabe) pag. pagina Theodor-Fontane-Archiv | Universität Potsdam TFA
https://doi.org/10.1515/9783110539493-202
I Orientierendes
Rolf Parr
Eine kleine Revue literaturtheoretischer Logiken des Fragments I Eine vernachlässigte Relation: Fragment und Literaturtheorie Die Frage nach der Produktivität des literaturwissenschaftlichen Umgangs mit Fragmenten, Entwürfen, Notizen sowie allen anderen Formen des Offenen stellt der vorliegende Band zum einen bewusst weit, was den Fokus Theodor Fontane angeht, zum anderen aber zugleich auch sehr konkret. Einen gemeinsamen Fluchtpunkt können dieser spezifische Bezugspunkt Fontane und das breite Spektrum der ‚Formen des Offenen‘ dann gewinnen, wenn man sie mit demjenigen Nachdenken über unser wissenschaftliches Handeln konfrontiert, das als literaturwissenschaftliche Theoriebildung auf einer Metaebene erfolgt.1 Genau das soll im Folgenden versucht werden, nämlich die Formen des Offenen und einige ausgewählte literaturtheoretische Positionen aufeinander zu beziehen und danach zu fragen, welcher Status Fragmenten, Entwürfen, Notizen und anderen Formen des Offenen aus Sicht der verschiedenen Literaturtheorien eigentlich zukommt. In dieser Perspektive geht es nicht mehr darum, von unten nach oben zu bestimmen, was genau ein Fragment, was ein Entwurf, was eine Skizze ist, nicht darum, eine vorgängige Vorstellung oder gar Definition von Fragment mit diversen Theorieentwürfen zu konfrontieren (das wäre auch kaum möglich, steht eine Gattungstheorie des Fragments und im Weiteren eine aller Formen des Offenen doch noch weitgehend aus).2 Vielmehr geht es darum, die Perspektive umzukehren, die Logiken des Fragments aus Sicht der verschiedenen Literaturtheorien in den Blick zu nehmen und aufzuzeigen, wie diese das Fragmentarische jeweils spezifisch konstituieren: Wie denkt die Hermeneutik das Fragment? Was kann die Dekonstruktion mit Entwürfen anfangen? Warum hat es der literaturwissenschaftliche Positivismus mit Notizen vergleichsweise leicht, und zwar ebenso wie die Diskursanalyse? Wen oder was legt eigentlich eine litera-
1 Für wichtige Hinweise und Anregungen danke ich Iuditha Balint, Britta Caspers und Maren Jäger. 2 Eine Ausnahme bildet Justus Fetscher, Bruchstückwerke. Stationen einer Ästhetik des Fragments (1790–1970). Habilitationsschrift am Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin 2008. https://doi.org/10.1515/9783110539493-001
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Rolf Parr
turpsychologische Analyse mit einem unvollendet gebliebenen Briefentwurf auf die berühmte Couch? Und wie (wenn überhaupt) konzipieren die verschiedenen Theoriemodelle jeweils das Pendant der ‚Formen des Offenen‘, nämlich die für abgeschlossen geltenden Einzelwerke, von denen nicht alle Literaturtheorien (und auch nicht alle Autoren3) mit dieser Emphase sprechen mögen? Dieses Unterfangen der Korrelation von Formen des Offenen mit literaturtheoretischen Positionen scheint insofern sinnvoll zu sein, als es geeignet ist, die Prämissen und Postulate des eigenen Denkens zu hinterfragen, das heißt Theoriebildung zum Nachdenken über das eigene Handeln und Vorgehen zu nutzen, auch dann, wenn einem dabei vielleicht einmal der vermeintlich feste Boden des eigenen Forschens entzogen wird. Für Jonathan Culler besteht daher der Sinn aller Theoriebildung darin, „durch eine Befragung von Prämissen und Postulaten genau das zu zerstören, von dem man geglaubt hat, es zu wissen“.4 Das mag sich im ersten Moment nun ziemlich destruktiv anhören, schließt Bestätigung aber nicht aus, so dass Culler etwas abgemildert werden kann: Der Bezug von literaturwissenschaftlicher Arbeit an Fragmenten und anderen literarischen Formen des Offenen auf Literaturtheorien kann uns vielleicht die eine oder andere Voraussetzung, Prämisse und Bedingung unseres Bemühens deutlicher machen, als sie uns in der praktischen literaturwissenschaftlichen Arbeit vor Augen steht. Kurz: Der theoretische Kontroll-Blick kann einen vor Irrtümern bewahren. Die Komplexität der Bestimmung einer ‚Logik des Fragments‘ liegt aber nicht nur auf Seiten der Literaturtheorien, sondern auch auf derjenigen der Vielfalt der Formen des Offenen. Denn allein schon das, was jeweils unter ‚Fragment‘ verstanden wird, kann sehr stark divergieren, so dass eigentlich eine ganze Liste der Formen des Offenen und ihrer jeweiligen ästhetisch-philosophischen Konzeptualisierungen einer nicht weniger komplexen Liste an literaturtheoretischen Ansätzen gegenübergestellt werden müsste. Bei der Rede von ‚Entwurf‘ beispielsweise hätte man zumindest zwischen später zum Werk ausgearbeitetem Entwurf und solchen Formen des Offenen zu unterscheiden, die Entwurf geblieben sind. Noch komplexer sieht es für die Bezeichnung ‚Fragment‘ aus, die gleich mehrfach besetzt ist, unter anderem überlieferungstechnisch, editionsphilologisch, poetologisch und programmatisch-ästhetisch, weshalb hier ein wenig davor zurückgeschreckt wird, von Begriff zu sprechen. So referiert die Bezeichnung ‚Fragment‘
3 Vgl. mit Blick auf Friedrich Schiller dazu Dirk Oschmann, Die Aporien des ‚Ganzen‘. In: „Ein Aggregat von Bruchstücken“. Fragment und Fragmentarismus im Werk Friedrich Schillers, hg. von Jörg Robert unter Mitarbeit von Marisa Irawan, Würzburg 2013, S. 249–267. 4 Jonathan Culler, Literaturtheorie. Eine kurze Einführung, Stuttgart 2002 (Reclams Univ.-Bibl. 1866), S. 30.
Eine kleine Revue literaturtheoretischer Logiken des Fragments
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auf zumindest zwei einander diametral entgegenstehende Sachverhalte, nämlich zum einen auf losgelöste Teile von vormals vollständigen Kunstwerken, die nicht als Ganze überliefert sind (solche beschreibt Fontane für plastische Kunstwerke, aber auch essayistische Texte gelegentlich in den Wanderungen durch die Mark Brandenburg;5 in der Literaturwissenschaft spielen sie vor allem in der Mediävistik eine Rolle), zum anderen aber auch auf solche Teile, Anfänge, Bruchstücke oder Vorstufen von Kunstwerken, die nie Ganzheits- und damit Werkcharakter erreicht haben.6 Diese Vieldeutigkeit der Bezeichnung ‚Fragment‘ bleibt selbst dann bestehen, wenn man sich nur auf den Aspekt des Unvollendeten, des Fragments im Sinne von Entwurf und Skizze konzentriert, der – diesmal anders als in der Mediävistik – in der neueren deutschen Literaturwissenschaft das vielleicht gängigste Verständnis von Fragment darstellt.7 Noch einmal komplizierter wird es schließlich, wenn das Kunstwerk in seiner Ganzheit von Beginn an als Fragment intendiert ist, wenn das Fragment – wie es Klamer Eberhard Karl Schmidt 1790 in seinen Neuen poetischen Briefen so schön
5 Vgl. Theodor Fontane, Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Dritter Teil. Havelland. Die Landschaft um Spandau Potsdam, Brandenburg, hg. von Gotthard Erler und Rudolf Mingau, 2. Aufl., Berlin 1994 (GBA), S. 169: „Das Fragment einer antiken Sarkophagskulptur, welche den Raub der Proserpina darstellt“, sowie Theodor Fontane, Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Zweiter Teil. Das Oberland. Barnim-Lebus, hg. von Gotthard Erler und Rudolf Mingau, 2. Aufl., Berlin 1994, (Große Brandenburger Ausgabe) S. 108: „Thaer selbst schreibt über diese später in etwas veränderter Gestalt so berühmt gewordene Arbeit: ‚Ich erschuf mir damals […] ein selbständiges, religionsphilosophisches System und brachte es flüchtig zu Papier. Es ward wider meinen Willen abgeschrieben, fiel in die Hände eines großen Mannes, der den Stil etwas umänderte und einen Teil davon, als Fragment eines unbekannten Verfassers, herausgab. Bis jetzt wissen es nur drei lebende Menschen, daß ich der Urheber bin.‘ In diesen Worten Thaers wird weder Lessing genannt noch mit Bestimmtheit angegeben, welches der ‚Fragmente eines Wolfenbüttelschen Unbekannten‘ Thaer für sich in Anspruch nimmt […].“ 6 Vgl. Peter Strohschneider, Fragment2. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearb. des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, gemeinsam mit Harald Fricke, Klaus Grubmüller und Jan-Dirk Müller hg. von Klaus Weimar, Bd. I, Berlin, New York 1997, S. 624 f., hier 624. – Ernst Behler, Das Fragment. In: Prosakunst ohne Erzählen. Die Gattungen der nicht-fiktionalen Kunstprosa, hg. von Klaus Weissenberger, Tübingen 1985, S. 125–143, hier 125 f. 7 Sinnvoll wäre zudem eine Abstufung der ‚Formen des Unvollendeten‘ nach dem Grad der Annäherung an abgeschlossene Werke, etwa in der Reihenfolge Skizze, Entwurf, Fragment, doch scheint der bisherige Sprachgebrauch hier eher uneinheitlich zu sein. Eine noch einmal andere Form der Fragmentarität wäre die Segmentierung eines vormals vollständigen oder als zu vervollständigen intendierten Textes, etwa bei Zeitschriftenvorabdrucken von Romanen in Tageszeitungen und Rundschauzeitschriften.
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Rolf Parr
formuliert hat – „unergänzlich“ ist.8 Das ist beispielsweise dann gegeben, wenn die fragmentarische Überlieferung griechischer Statuen in späterer Zeit zum ästhetischen Ideal erhoben wird und moderne Bildhauer wie etwa Auguste Rodin Torsi, wenn Architekten Ruinen oder wenn Literaten wie die der Romantik von vornherein unvollendete, als Fragmente intendierte Texte schaffen,9 die einer „Ästhetik des Skizzenhaften“10 folgen, wie sie vom frühen Friedrich Schlegel über Friedrich von Hardenberg bis hin zu Ludwig Tieck in vielfältiger Weise anzutreffen ist.11 Darauf wiederum wird bis heute Bezug genommen, beispielsweise mit Christian Geisslers Roman Kamalatta von 1988, der sich im Untertitel als Romantisches Fragment annonciert. Hier haben wir den Fall, dass der Text als Roman durchaus Vollständigkeit signifiziert, diese mit dem Untertitel aber zugleich zurücknimmt, relativiert und an die Poetologie der Romantik zurückbindet.12 Allein schon aufgrund solcher Ambivalenzen, die deutlich machen, dass „Fragment und Totalität […] korrelativ“ zu denken sind, und „über das eine […] nicht zu sprechen“ ist „ohne das andere“,13 und sei es in Form seiner Abwesenheit, ist der Status und Stellenwert, den Fragmente in den verschiedenen Literaturtheorien besitzen, höchst verschieden.14 Dies zumal, da Literaturtheorien mal stärker den Vorgang der literarischen Produktion (und mit ihm auch Fragmente aus Sicht der Produzenten), mal stärker den Vorgang der Rezeption (und mit ihm
8 Klamer Eberhard Karl Schmidt, Neue poetische Briefe, Braunschweig 1790, Brief 116; zit. nach: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, 16 Bde. in 32 Teilbden, Leipzig 1854–1961, Bd. 4, Sp. 55, http://woerterbuchnetz.de/DWB/?sigle=DWB&mode=Vernetzung&hitlist=&pattern list=&lemid=GF07915#XGF07915 (7. 10. 2016). 9 Vgl. Justus Fetscher, Fragment. In: Ästhetische Grundbegriffe. Ein historisches Wörterbuch in 7 Bden., hg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Friedrich Wolfzettel und Burkhart Steinwachs, Bd. 2, Stuttgart, Weimar 2001, S. 551–588, hier 573 f. 10 George Steiner, Das totale Fragment. In: Fragment und Totalität, hg. von Lucien Dällenbach und Christiaan L. Hart Nibbrig, Frankfurt am Main 1984 (edition suhrkamp 1107), S. 18–29, hier 19. 11 Vgl. Fetscher, Fragment (wie Anm. 9), S. 560–570. – Rüdiger Bubner, Gedanken über das Fragment. Anaximander, Schlegel und die Moderne. In: Merkur. Zeitschrift für europäisches Denken, 47, 4, 1993, S. 290–299. – Dirk Schröder, Fragmentpoetologie im 18. Jahrhundert und bei Friedrich von Hardenberg. Untersuchungen zur vergleichenden Rekonstruktion der impliziten Poetologie von Aphorismus und Fragment im ausgehenden 18. Jahrhundert, Diss. Kiel 1976. 12 Christian Geissler, Kamalatta. Romantisches Fragment, Berlin 1988. 13 Lucien Dällenbach/Christiaan L. Hart Nibbrig, Fragmentarisches Vorwort. In: Fragment und Totalität, hg. von L. Dällenbach und Ch. L. Hart Nibbrig, Frankfurt am Main 1984 (edition suhrkamp 1107), S. 7–17, hier 7. 14 Vgl. die von Michael Braun unterschiedenen „Formen des Fragments“, nämlich „[ü]berlie ferungsbedingte Fragmente“, „[p]roduktionsbedingte Fragmente“ und „[k]onzeptionelle Fragmente“ (M. Braun, „Hörreste, Sehreste.“ Das literarische Fragment bei Büchner, Kafka, Celan und Benn, Köln, Weimar, Wien 2002, S. 16–24).
Eine kleine Revue literaturtheoretischer Logiken des Fragments
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Fragmente aus Sicht der Rezeption, der Leser),15 mal stärker die literarischen Texturen selbst in den Vordergrund rücken (und damit die literarischen Strukturen und Verfahren von Fragmenten, auch in Bezug auf und in Vergleich zu anderen unabgeschlossenen wie abgeschlossenen Texten). Alles dies kann wiederum in zweierlei Hinsicht geschehen, nämlich zum einen, um die Produktionsprozesse ‚auf dem Weg zum Werk‘ nachzuzeichnen (eventuell über mehrere Stationen und unterschiedliche Modi von Fragmenten hinweg), so dass die Fragmente als Unterbau der späteren Werke erscheinen, und zum anderen, um Fragmente wie auch abgeschlossene Texte besser verstehen zu können. Noch einmal eine andere Ebene bildet schließlich die jeweilige mediale Verfasstheit, die mitunter auch abgeschlossene Texte als Fragmente erscheinen lässt, so beispielsweise dann, wenn sie bei der seriellen Publikation in Zeitschriften re-fragmentiert werden. Die mediale Rahmenbedingung der Serialität führt dann zunächst zur Segmentierung, die – wenn man sie als Fragmentierung auffasst – auch das einzelne Segment als Fragment erscheinen lässt. Allerdings bliebe hier zu berücksichtigen, dass Texte – gerade in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – vielfach in die Serialität der Zeitschriftenvorabdrucke förmlich hineingeschrieben werden, so dass die daraus resultierende Fragmentierung bereits Teil des Werkganzen wäre.
II Literaturtheoretische Logiken des Fragments Dem Status des Fragments soll daher im Folgenden für einige literaturwissenschaftliche Theoriemodelle nachgegangen und nach den jeweiligen Logiken ihres theoretischen Blicks auf Fragmente (im Sinne von Skizzen, Entwürfen und Vorstufen) gefragt werden.
II.1 Positivismus, Geistesgeschichte, Werkimmanenz, Formalismus Einer der ersten literaturwissenschaftlichen Theorieansätze ist der ab Mitte des 19. Jahrhunderts und bis in die 1910er Jahre wirkmächtige Positivismus, der – orien tiert am Ideal der Naturwissenschaften – Fakten erheben, vorliegende Realien und Realitäten beobachten und sie in Beziehung zueinander setzen wollte. Dabei
15 M. Braun (wie Anm. 14), „Hörreste, Sehreste“, S. 25–29.
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ging es vor allem um kausale Relationen. Erhoben (weniger interpretatorisch erarbeitet) werden sollte ein positives Wissen über Autoren, über Texte und auch über die Beziehung beider zum Publikum; eine besondere Rolle spielte die Sicherung der philologisch für ‚richtig‘ erachteten Texte durch kritische Editionen. Das Fragment wie auch alle anderen Spielarten des Unvollendeten waren dabei zunächst einmal Materialien unter anderen Materialien,16 die als Hilfsmittel vor allem für die Textedition, z. B. Datierungsfragen, herangezogen wurden, denen aber kaum ein eigener ästhetischer oder gar poetologischer Wert zukam. Mit der Diachronisierung des Positivismus in Form von geschichtsphilosophisch, das heißt mal mehr mal weniger teleologisch angelegten Literaturgeschichten, die zugleich den Übergang zu den verschiedenen Formen von Geistesgeschichte bzw. Geistestypologie markieren, rückt das Interesse an Fragmenten in den Hintergrund, geht es doch jetzt in der einen Linie um das Zusammendenken literarischer und politischer ‚Höhe-‘ und ‚Wendepunkte‘, in der anderen um die Darstellung ‚geistiger Gesamtzusammenhänge‘, ihr allmähliches Sich-Durchsetzen und dann auch wieder ihre Ablösung durch neue Ideen. Dabei spielen – in deutlichem Gegensatz zur Hermeneutik – die Autor-Biographien keine so wichtige Rolle mehr; auch der Stellenwert der Textedition ist relativiert und mit beidem auch hier das Interesse an Fragmenten. Denn der theoretisch-methodische Fokus der geisteswissenschaftlichen Literaturwissenschaft richtet sich auf die Gestalt der Texte, die als äußere Objektivation eines inneren Geistes verstanden wird. Für den Nachweis der Entsprechung von Gestalt und Geist waren alle ‚Formen des Offenen‘ aber denkbar ungeeignet. Über die Geistesgeschichte hinaus gilt das auch für das Denkmodell der Werkimmanenz (und eben nicht: Fragment-Immanenz oder Entwurfs-Immanenz), die hinsichtlich des Ausblendens von Kontextinformationen und des daraus folgenden mangelnden Interesses an Fragmenten und Ähnlichem auf erstaunliche Weise mit dem russischen Formalismus konform geht, der den literarischen Text zunächst einmal ebenfalls als einen autonomen Bereich betrachtet.
II.2 Hermeneutik, Rezeptionsästhetik, Genieästhetik Ganz anders sieht es für die Formen des Offenen im Falle der literaturwissenschaftlichen Hermeneutik aus. Denn aus ihrer Perspektive ist das Fragment als Zugang zu Werk und Autor und damit als geradezu privilegiertes Element im her-
16 Vgl. dazu Rainer Baasner/Maria Zens, Methoden und Modelle der Literaturwissenschaft. Eine Einführung, 3. Aufl., Berlin 2005, S. 55 f.
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meneutischen Zirkel des Verstehens von Interesse (darin im Übrigen nicht unähnlich dem Autor-Brief). Dieser Zugang besteht in erster Linie darin, dass Fragmente eine geradezu ideale Ausgangssituation für das eröffnen, was die Hermeneutik ‚Horizontverschmelzung‘ genannt hat, scheinen sie doch noch näher an der Autorinstanz zu liegen, mehr von ihr und dem von ihr intendierten Sinn eines Textes preisgeben zu können als andere Textformen. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn Fragmente (nur) handschriftlich überliefert sind und gleichsam der Verfasser noch spürbar ist. Geführt hat das bisweilen dazu, dass das Fragment über das Werk gesetzt wurde, weil es, verknappt gesagt, dem hermeneutischen Modell des Verstehens förderlicher schien als der abgeschlossene Text, das vollendete Werk. Zumindest aber fungieren Fragmente gegenüber dem Werk als das, was Gérard Genette Epitexte genannt hat, nämlich die nicht materiell mit dem Werk (im Sinne von ‚Buch‘) verbundenen Texte, die aber dennoch als Aufmerksamkeit und Rezeption steuernde Membranen, über die man als Rezipient in einen Text hineingelangt, fungieren können.17 Dazu rechnet Genette alle „Vortexte“,18 zu denen sich auch Fragmente zählen ließen. Hans-Georg Gadamer hat die hermeneutische Tätigkeit in Wahrheit und Methode in einer inzwischen berühmt gewordenen Stelle als ein „Entwerfen“ von Sinn beschrieben, bei dem sich derjenige, der verstehen will, „einen Sinn des Ganzen voraus“ wirft. Aber: Ein solcher zeigt sich wiederum nur, weil man den Text schon mit gewissen Erwartungen auf einen bestimmten Sinn hin liest. Im Ausarbeiten eines solchen Vorentwurfs, der freilich beständig von dem revidiert wird, was sich bei weiterem Eindringen in den Sinn ergibt, besteht das Verstehen dessen, was dasteht.19
Für die hier von Gadamer so eindrücklich beschriebene Methodik der Hermeneutik sind das Fragment, die Skizze, der Entwurf, kurz alle Vor-Formen späterer Werke besonders geeignet, lässt sich der am eigentlichen Werk entwickelte Sinnentwurf doch mit relativ großer Erfolgswahrscheinlichkeit dem Fragment ‚vorauswerfen‘, auch wenn dieser Vorauswurf eigentlich ein Nach- oder noch besser Zurück-Wurf ist. Gemeint ist jene durchaus gängige Praxis der sinnverstehenden Interpretation eines Textes, die zu ihrer Absicherung auch noch das zugehörige Fragment heranzieht und aus der Übereinstimmung zwischen Fragment und zu
17 Gérard Genette, Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt am Main, New York 1989, S. 354–384. 18 G. Genette, Paratexte (wie Anm. 17), S. 376–384. 19 Hans-Georg Gadamer, Hermeneutik I. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 6. Aufl., Tübingen 1990, S. 271.
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deutendem ‚Werk‘ Bekräftigung der Ausgangshypothese erfährt. Es wird also ein gewisser Grad an Kohärenz zwischen Fragment und Werk gleichermaßen behauptet wie in der Interpretation auch hergestellt bzw. herausgearbeitet. Ausgehend von der zitierten Gadamer-Stelle hat Dieter Kafitz betont, dass derjenige, der etwas verstehen will, mit dem, was er verstehen will, in einem Zusammenhang steht, der das Verstehen erst ermöglicht.20 Auch das kann in der Logik des hermeneutischen Denkmodells neben Briefen vor allem auf dem Weg über Fragmente erreicht werden, jedenfalls dann, wenn man voraussetzt, dass diese einen unmittelbareren Blick auf den Autor zulassen als die abgeschlossenen Werke. Die Karikatur dieser Praxis wäre derjenige Literaturwissenschaftler, der den Auftrag erhält, einen Text zu interpretieren, und als erstes ins Archiv geht und nach unveröffentlichten Fragmenten zum abgeschlossenen Werk sucht.21 Man muss sich aber klarmachen, dass dabei das Wissen um das spätere Werk (im Sinne von Einzel- ebenso wie von Gesamtwerk) stets den unausgesprochenen Vergleichspunkt bildet, so dass es nicht allein das Fragment selbst ist, das als offene Form zusätzliche Bedeutung bzw. zusätzliches Wissen vermittelt.22 An seine Grenzen stößt das hermeneutische Interesse am Fragment aber da, wo Fragmente spielerisch Möglichkeiten (auch solche, die vielleicht keinen Sinn ergeben) ausprobieren, was dann eher vom Ort der Spieltheorien aus zu beschreiben wäre. Werden die Stellen des Vorläufigen, Unvollendeten, Bruchstückhaften als Einfallstore für das Verstehen (gleichermaßen des Verfassers wie des jeweiligen Textes) konzipiert, dann ist bereits der Übergang von der traditionellen Hermeneutik zu derjenigen des Lesens angelegt, der dann zur Rezeptionsästhetik führt. Denn das Fragment bietet für das Konstrukt des impliziten, vom Text vorgegebenen idealen Lesers einerseits wichtige Leerstellen, deren Ausfüllen für ein Verständnis möglicherweise entscheidend ist, andererseits gibt es jedoch für die wenigsten literarischen Fragmente so etwas wie eine ästhetische Rezeptionsgeschichte, in der sich das poetische Potenzial eines Fragments aufgrund seiner Offenheit peu à peu in Form von Neulektüren entfalten könnte. Das aber ist eher für kanonische, vielgelesene und auch literaturwissenschaftlich vielbeachtete Texte der Fall. Für die Rezeptionsästhetik jaussscher und iserscher Provenienz
20 Vgl. Dieter Kafitz, Literaturtheorien in der textanalytischen Praxis, Würzburg 2007, S. 31. 21 In dieser Suche nach Nähe zu Autorinnen und Autoren klingt Friedrich Schleiermachers Vorschlag nach, den Sinnentwurf zu einem Werk dadurch auf die Probe zu stellen, dass man ihn mit den Lebensumständen der Autorinnen und Autoren abgleicht. Vielfach treten an diese Stelle auch Fragmente und andere Formen des Unvollendeten. 22 Nachzugehen wäre auch der Frage, ob die Fragmente Fontanes immer dann verstärkt an Interesse gewinnen, wenn die eigentlichen, geschlossenen Werke als für den Moment ‚ausgeforscht‘ gelten.
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erklärt sich daraus umgekehrt ihr Desinteresse an Fragmenten, Skizzen und Entwürfen, die kaum einmal eine Rolle spielen. Es würde allerdings auch zu einer Inflation der Bezeichnung Fragment führen, wenn man Rezeption ganz generell als einen ‚Weg ins Offene‘ verstände, der auf Basis von Leerstellen stets aufs Neue Fragmente hervorbringt.23 Genau umgekehrt sieht es für alle Spielarten von auch heute noch anzutreffenden Genie-Ästhetiken aus, wie sie sich vor allem in den medialen Selbstdarstellungen von Autorinnen und Autoren manifestieren. Ihnen muss die Vorstellung des in der Sekunde des Gedankens hingeschriebenen Entwurfs näherstehen als der vielleicht mehrfach überarbeitete und möglicherweise sogar von dritter oder gar vierter Hand erst lektorierte und dann gedruckte Text eines Werkes. Davon ausgehend ist schließlich noch genereller zu fragen, was eigentlich genau passiert, wenn Fragmente nicht nur als ‚unvollendet‘, sondern als ‚unvollendbar‘ diskursiviert werden. Es findet dann eine ästhetische Verabsolutierung und geradezu ‚Höchstwertung‘ einer Phase im künstlerischen und speziell literarischen Produktionsprozess statt, was wiederum impliziert, dass auch die als ‚vollendet‘ kodierten Werke implizit als eigentlich nicht wirklich vollendet (‚vollendbar‘) gedacht werden können und müssen, jedenfalls dann, wenn man sie in einen prinzipiell als unabschließbar gedachten generativen Prozess einreiht.24
II.3 Generative Literaturtheorien, Literatursoziologie Was das Interesse am Fragment angeht, berührt sich die Genieästhetik punktuell mit den generativen Literaturtheorien, wie sie in den 1970er Jahren entwickelt und dann vielfach materialistisch und/oder literatursoziologisch erweitert
23 So hat Wolfgang Iser zur Veranschaulichung des Leerstellen-Konzepts die „Schnitttechnik“ des Fortsetzungsromans angeführt (Iser, Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München 1976 [UTB 636], S. 296–298; Iser, Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa. Konstanz 1971 [Konstanzer Universitätsreden 28], S. 17–19), seine einzelnen Teile aber eben nicht als Fragmente bezeichnet. 24 So etwa ist das Regie-Theater zu verstehen, dessen Prinzip ja darin besteht, die eigentlich längst abgeschlossenen Werke wieder neu aufzubrechen. – Als Vorläufer des Regie-Theaters lassen sich solche teleologisch-historizistischen Geistestypologien ansehen, die die Formen des Offenen (einschließlich des Fragments) mal mehr mal weniger explizit als repräsentative Symbole von ‚Unendlichkeit‘ gedeutet haben. Das Spektrum reicht hier von Fritz Strich, Deutsche Klassik und Romantik, oder Vollendung und Unendlichkeit. Ein Vergleich. München 1922, bis hin zu Volker Klotz, Offene und geschlossene Form im Drama. München 1960. – Für diese Hinweise danke ich Jürgen Link.
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wurden, wie beispielsweise in dem 1980 veröffentlichten Literatursoziologischen Propädeutikum von Jürgen Link und Ursula Link-Heer.25 Ziel dieser generativen Literaturtheorien war und ist es – darin an die russischen Formalisten anschließend –, möglichst den gesamten Apparat an Regeln zu beschreiben, nach denen ein Text geschrieben ist, was es zugleich ermöglicht, aus diesem Set an Regeln ähnliche Texte zu produzieren. Das Fragment bietet für die generative Literaturtheorie dabei zwei Möglichkeiten: erstens durch den Vergleich mit wirklich zu Ende geschriebenen Texten desselben Autors die besonders gute Chance, die generativen Regeln des Schreibens kontrastiv sichtbar zu machen; zweitens durch Aufzeigen der Unterschiede im Regelapparat von ‚fertigen‘ Werken und ‚fragmentarischen‘ Texten ästhetische Entscheidungen deutlich zu machen und von ihnen ausgehend Text-Charakteristika zu bestimmen. Das Fragment wäre dann so etwas wie das vergleichbare Andere im Eigenen. Da, wo es keine Fragmente gibt, werden von den generativ orientierten literaturtheoretischen Ansätzen gern auch Texte zum Vergleich geeigneter Autorinnen und Autoren aus der gleichen Zeit, aus ähnlicher sozialer Stratifikation und möglichst auch ähnlicher Gattung herangezogen. Dieser generativ denkende Zugriff auf Fragmente ist sicherlich eine der verbreitetsten Formen der analytischen und interpretatorischen Verwendung von Fragmenten (auch in Kombination mit anderen Literaturtheorien als der generativen), auch wenn dieses vielfach praktizierte Vorgehen eher selten in direktem Rekurs auf das literaturtheoretische Paradigma der generativen Literaturtheorie reflektiert wird.
II.4 Strukturalismus, Diskursanalyse Schauen wir uns weiter Strukturalismus und Diskursanalyse an. Für den klassischen Strukturalismus, der die Sinnangebote von Texturen in erster Linie aus ihrer Zeichenhaftigkeit zu entwickeln sucht, macht der Überlieferungsstatus bzw. die Nähe zu dem, was emphatisch als abgeschlossenes Werk angesehen wird, kaum einen Unterschied. Von daher ist das Fragment für ihn zunächst einmal eine Textur neben zahlreichen anderen. Auch in diachroner Perspektive ändert sich das nicht wesentlich, geht es doch in ihr darum, die herausgearbeiteten grundlegenden semantischen Strukturen eines Textes für verschiedene synchrone Schnitte oder auch für verschiedene Autorinnen und Autoren zu verglei-
25 Jürgen Link/Ursula Link-Heer, Literatursoziologisches Propädeutikum. Mit Ergebnissen einer Bochumer Lehr- und Forschergruppe Literatursoziologie 1974–1976 (Hans Günther, Horst Hayer, Ursula Heer, Burkhardt Lindner, Jürgen Link), München 1980 (UTB 799).
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chen. Denkbar wäre es, strukturale Vergleiche auch für verschiedene Gattungen zu unternehmen, doch scheinen solche Versuche, bei denen das Fragment dann wenn auch nicht als Gattung, so doch vielleicht als Genre oder Subgenre der ‚Formen des Offenen‘ angesehen werden könnte, bisher nicht unternommen worden zu sein. Möglicherweise wäre das auch nicht sehr ertragreich. Indem sich die Diskursanalyse für quer durch ganze Bündel von Texturen unterschiedlichster Provenienz wiederkehrende Elemente der Rede interessiert, behandelt sie Fragmente und ausgearbeitete Werke gleich. Differenzierungen kommen dabei dadurch ins Spiel, dass in unterschiedliche diskursive Positionen (die kohärente wertende Benutzung ganzer Cluster von Diskurselementen) unterschieden wird. Fragmente ließen sich dann von abgeschlossenen Werken dadurch unterscheiden, dass die zwischen beiden liegende Entwicklung als Modifikation der ursprünglichen Diskursposition verstanden oder eben ihre Kontinuität konstatiert wird. In der spezifischen Form der Interdiskurstheorie fragen diskursanalytische Ansätze zudem nach denjenigen analogiebildenden Elementen von Texten, die Brücken der Allgemeinverständlichkeit zwischen Spezialdiskursen schlagen, insbesondere nach Metaphern und Symbolen. Fragmente können dabei insofern interessant sein, als sie möglicherweise in besonders starkem Maße auf Bildlichkeiten zurückgreifen und ebenso verstärkt verschiedene gesellschaftliche Teilbereiche und ihre Diskurse aufeinander beziehen. Um solche Brückenschläge ging es letztlich auch der romantischen Fragment-Praxis, wobei vor allem Philologie, Philosophie, Poetik, Kritik und Geschichte zu einer Art von universalem Diskurs integriert werden sollten.
II.5 Psychoanalytische Literaturwissenschaft, Dekonstruktion Bleiben noch psychoanalytische Literaturwissenschaft und Dekonstruktion. Eine an Sigmund Freud orientierte psychoanalytische Literaturwissenschaft kann das Fragment gegenüber dem Werk als eine verschüttete, vom Werk her nicht mehr unmittelbar zugängliche Textstufe und darüber hinaus der Tendenz nach auch als eine solche Autoräußerung verstehen, die es analog zur psychoanalytischen Sitzung ‚wieder zu holen‘ gilt.26
26 Eine Rolle spielt das Fragment auch in der für die Literaturwissenschaft relevant gewordenen Träume-Theorie, die das Fragment als denjenigen Bestandteil persönlicher Erfahrung versteht, der sich nicht identitätsstiftend integrieren lässt. Zu denken ist hier etwa an das Konzept der ‚postmemory‘, das davon ausgeht, dass bestimmte Erinnerungen (innerfamiliär) wirken, ohne den ‚Nachgeborenen‘ erinnerbar zu sein. Sie markieren also Leerstellen, die auf spätere Bewusst-
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Für dekonstruktivistische Literaturtheorien, die jeden Text, ob abgeschlossenes Werk oder Bruchstück, als Fragment verstehen, stellen Fragmente – zugespitzt formuliert – prekärerweise stets schon das Ziel der eigenen Bemühungen dar. So heißt es bei Jacques Derrida in Die Schrift und die Differenz: „Das Fragment ist kein bestimmter Stil und kein bestimmtes Scheitern, es ist die Form des Geschriebenen.“27 Denn in der Konfrontation und im Vergleich mit den abgeschlossenen Werken lassen sich Fragmente auch als Formen der Dekons truktion, des Offenen verstehen, als Elemente jener ‚Spur‘, die das dekonstruktivistische Bemühen einer Poetologie der Möglichkeiten allererst offenlegen will, zielt die Dekonstruktion doch darauf ab, nach Widersprüchen und Differenzen zwischen dem offensichtlich Gemeinten und dem tatsächlich (auch noch) Gesagten zu fragen. Die verschiedenen Spielarten der Dekonstruktion greifen daher mit Vorliebe mehrdeutige Zeichenkomplexe auf, wie Metaphern, Metonymien und Symbole; Zeichen werden durch eingefügte Bindestriche neue Bedeutungen gegeben (z. B. ‚Wiederholung‘ und ‚Wieder-Holung‘). Hier können Fragmente Ansatzpunkte bieten, allerdings würde das Fragment dann immer schon ein Stück weit die Arbeit der Dekonstruktion leisten, die als Ausgangspunkt jedoch selbst der „Geschlossenheit des Textes sowie seiner […] Identifizierbarkeit und definite[n] Abgrenzbarkeit gegenüber […] Kon-Texten“ bedarf.28 Zudem hätte man es mit einer Umkehr der Blickrichtung zu tun, wenn nicht mehr die abgeschlossenen Werke dekonstruiert werden, sondern die Fragmente. Stellt sich der Weg vom Fragment im Sinne von ‚Entwurf‘ zum ‚Werk‘ als einer der Vervollständigung oder auch Vervollkommnung dar, so liefe die Blickrichtung der Dekonstruktion und der psychoanalytischen Literaturwissenschaft jeweils genau in die umgekehrte Richtung; bei der Dekonstruktion mit dem Ziel, eindeutige Sinnbildungen in der Schwebe und damit für vielfältige Sinnmöglichkeiten offen zu halten.
machung drängen. Für die Literatur ist dies insofern relevant, als fiktional-narrative Konstrukte um das fragmentarisch Weiterwirkende geschaffen werden. Vgl. dazu Marianne Hirsch, The Generation of Postmemory: Writing and Visual Culture After the Holocaust, New York 2012. 27 Jacques Derrida, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt am Main 1976 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 177), S. 111. 28 P. Strohschneider, Fragment2 (wie Anm. 6), S. 625.
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II.6 Kurzes Zwischenfazit Was der – zugegeben – sehr knappe und vielfach verkürzend darstellende Parforceritt durch das Spektrum der gängigen Literaturtheorien für den Umgang mit Fragmenten gezeigt hat, ist vor allem, dass es zu erstaunlichen Allianzen und Überlagerungen kommt, dass solche theoretischen Paradigmen, die man gewohnt ist als in starker Opposition zueinander stehend zu sehen, mit Blick auf die Logik ihres Umgangs mit Fragmenten plötzlich nahe zusammenrücken. Lässt sich dieser Befund auch für die tatsächliche Praxis der literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit den Fragmenten Fontanes aufrechterhalten?29 Dazu soll auf einige wenige Beispiele eingegangen werden, weist die FontaneBibliographie jenseits des Romanfragments Mathilde Möhring doch nur rund zwei Dutzend sich dezidiert mit den Fragmenten beschäftigende Arbeiten aus.30
III Die tatsächliche Praxis der Beschäftigung mit Theodor Fontanes Fragmenten Ein in seiner Komplexität erstaunliches Beispiel für die (unreflektiert bleibende) Überlagerung ganz unterschiedlicher theoretischer Paradigmen bietet bereits Hermann Frickes 1938 erschienene Studie Theodor Fontanes letzter Romanentwurf. Die Likedeeler,31 deren Rahmenerzählung den Störtebecker-Stoff mit der gesamten Spanne des fontaneschen Lebens korreliert, Autor und Stoff also auf das Engste zusammenbringt, womit sich Fricke zunächst einmal dem schleiermacherschen Modell von Hermeneutik anschließt, nämlich den Sinnentwurf zu einem Werk dadurch auf die Probe zu stellen, dass man ihn mit den Lebensumständen des Autors abgleicht. Fricke betreibt das so weitgehend, dass er Fontanes Leben von der frühesten Jugend und den Störtebecker-Spielen in Swinemünde an
29 Einen Überblick nach Arbeitsweisen, Stoffen, Themen und Motiven sowie der Überlieferung von Fontanes Fragmenten selbst bieten Bettina Plett, Fragmente und Entwürfe. In: FontaneHandbuch, hg. von Christian Grawe und Helmuth Nürnberger, Stuttgart 2000, S. 693–705, sowie Christine Hehle/Hanna Delf von Wolzogen, Einleitung. In: Theodor Fontane, Fragmente. Erzählungen, Impressionen, Essays, im Auftrag des Theodor-Fontane-Archivs hg. von Ch. Hehle und H. Delf von Wolzogen, Bd. I: Texte, Berlin, Boston 2016, S. XI–XXXIV. 30 Wolfgang Rasch, Theodor-Fontane-Bibliographie. Werk und Forschung, 3 Bde., in Verbindung mit der Humboldt-Universität zu Berlin und dem Theodor-Fontane-Archiv hg. von Ernst Osterkamp und Hanna Delf von Wolzogen, Berlin, New York 2006, S. 2035–2040. 31 Hermann Fricke, Theodor Fontanes letzter Romanentwurf. Die Likedeeler, Rathenow 1938.
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bis zu seinen letzten Tagen in die verschiedensten Analogierelationen zum Störtebecker-Stoff und seinen diversen Formen der Behandlung bei Fontane stellt, und zwar vom Balladenentwurf bis hin zum „unvollendet gebliebenen großen historischen Roman ‚Die Likedeeler‘“.32 Dieses letzte Zitat macht deutlich, dass Fricke den Abgleich von Biographie und Text aber zugleich auch in eine teleologische Aufwärtslinie des „dichterischen Schöpfertums“33 Fontanes einbindet, was ihn zwingt, die Bezeichnungen ‚Fragment‘ und ‚Entwurf‘ möglichst zu vermeiden. Diese Linie konzipiert Fricke als eine Art autorbezogene geistesgeschichtliche Entwicklung aufwärts, die dem Nachweis dienen soll, dass Fontanes Alterswerk den Höhepunkt einer lebenslangen Entwicklung darstellt und keinesfalls einen Einbruch. Das wiederum wird vor allem dadurch erreicht, dass das „Likedeeler“-Fragment auf nahezu alle ‚vollendeten‘ Werke Fontanes bezogen wird, mit dem Effekt der Konstitution eines integralen Gesamtwerkes vom einzelnen Fragment aus. Heute fast schon modern anmutend wird dieser Mix aus hermeneutischem und geistesgeschichtlichem Denken durch längere Passagen zu geschichtlichen und ansatzweise sozialgeschichtlichen Informationen zu den Vitalienbrüdern sowie durch die Behandlung des Stoffes bei anderen Autoren ergänzt. Es folgt ein kommentierendes, chronologisches Close Reading der „Likedeeler“-Fragmente, bei dem die unausgesprochenen und wahrscheinlich auch unreflektierten literaturtheoretischen Verortungen bisweilen durchscheinen, so etwa das geistesgeschichtliche Denkmodell der Übereinstimmung von Gestalt und Geist, wenn es heißt: „So stark auch der geschichtliche Hintergrund bei dem Entwurf wirken mochte, entscheidend blieb für den Dichter die dichterische Formgebung. Ihr Ziel geht aus einer ergänzenden Aufzeichnung hervor.“34 Mit all dem ist Fricke letztlich bemüht, durch Zusammenführung aller zum Störtebecker-Stoff bei Fontane vorfindlichen Fragmente, Notizen, Entwürfe, Bemerkungen in Briefen, Quellen und biographischen Informationen jenen großen „Likedeeler“-Roman zu konstituieren, den Fontane gar nicht geschrieben hat. Der Status der Fragmente als Formen des Offenen wird damit insgesamt geradezu konterkariert, was die gleichsam Tatsachen schaffende Überschrift des Schlusskapitels mehr als deutlich macht: „Bedeutung des Likedeeler-Romans“.35 Darin heißt es, den Clash der literaturtheoretischen Leitideen noch einmal deutlich machend:
32 H. Fricke (wie Anm. 31), S. 4. 33 H. Fricke (wie Anm. 31), S. 4. 34 H. Fricke (wie Anm. 31), S. 42. 35 H. Fricke (wie Anm. 31), S. 157.
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Überblicken wir Fontanes Altersschaffen seit seiner letzten schweren Erkrankung im Jahre 1891, so sehen wir neben den großen autobiographischen Schriften, den märkischen Romanen und den Bemühungen um das Ländchen Friesack als eine völlig einzigartige Erscheinung die Arbeit an den „Likedeelern“. Sie steht im Gegensatz zu Fontanes Romanschaffen von 1884 bis 1894 und im Gegensatz zu seinem letzten vollendeten Roman. Sie knüpft allerdings nur zur Hälfte an seine Balladen und balladesken Novellen an und sucht eine höhere Einheit zwischen ihnen und seinen Berliner Romanen. Wie Hebbel einst das Novantike als Ideal seines Dramas anstrebte, so sollten die Likedeeler den deutschen Roman auf eine ganz neue Stufe führen, eine innere Brücke zwischen Romantik und Realismus bilden. Diese innerlich gewandelte Form des historischen Romans sollte das Mittel werden, um der Begründung einer neuen Epoche des deutschen Romans zu dienen.36
Integration des Gesamtwerkes, Vermittlung von Romantik und Realismus plus Neubegründung des deutschen Romans, das ist nicht wenig, was einem Fragment hier an fragmentarischer Phantasie der Rezeption aufgebürdet wird. Vergleicht man Frickes Arbeit mit Julius Petersens knapp zehn Jahre zuvor erschienener Studie zu „Allerlei Glück“ als – so der Titel – „Fontanes erste[m] Berliner Gesellschaftsroman“,37 dann zeigt sich ein anderes Bild, und zwar das einer Arbeit, die den Fragment-Charakter des Textes sowohl philologisch wie auch konzeptionell durchaus ernst nimmt, nämlich als „Versuch eines Berliner Zeit- und Gesellschaftsromans“, als „gewissermaßen die Urzelle, aus der sich neue Artungen und Lebewesen abspalten sollten“: Er stellt das Schulstück einer neuen Gattung dar, das mit den späteren Berliner Erzählungen in Motiven, in Charaktertypen und Mitteln der Erzähltechnik als Vorstudie eng verbunden bleibt. Diese Beziehungen geben dem unausgeführten Werk eine besondere entwicklungsgeschichtliche Bedeutung […].38
Zurückgebunden an die unternommene kleine Revue literaturtheoretischer Logiken des Fragments ließe sich sagen, dass sich Petersen auf Basis einer im besten Sinne positivistischen Dokumentation und Sichtung der vorhandenen fontaneschen Text-Materialien in Richtung einer struktural-generativen Literaturtheorie bewegt, die nach der Entwicklung von Charakteren und Motiven fragt, die teilweise sozialgeschichtlich kontextualisiert werden (etwa wenn die Berliner Adressbücher hinsichtlich der Namen der Figuren, ihrer Wohnorte und
36 H. Fricke (wie Anm. 31), S. 140. 37 Julius Petersen, Fontanes erster Berliner Gesellschaftsroman. Sonderausgabe aus den Sitzungsberichten der Preußischen Akademie der Wissenschaften phil.-hist. Klasse 1929, XXIV, Berlin 1929. 38 J. Petersen (wie Anm. 37), S. 5.
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ihrer sozialen Stellung ausgewertet werden), dabei aber nicht wie Fricke der Versuchung erliegt, die Fragmente dominant über alles andere zu setzen. Vielmehr denkt Petersen von den Fragmenten ausgehend in möglichen generativen Szenarien: Wenn der Roman nach diesem Plan durchgeführt worden wäre, so hätte […] die „Lebensund Sittenschilderung“ gegenüber dem „Grundstock“ das Übergewicht behalten. Der Grundstock enthielt die dreifachen Elemente eines Ideen- und Bildungsromanes, eines humoristischen Familienromanes und eines sozialen Romanes.39
Ich überspringe Walter Müller-Seidels Überlegungen zu „Allerlei Glück,“40 weil es um eine übergreifende literaturgeschichtliche Reflexion zur Darstellung von Glück im 18. und 19. Jahrhundert geht, für die das Fragment Fontanes nur den äußeren Anlass darstellt, aber nicht anders als die Romane behandelt wird, nämlich als Dokument zum Glücks-Verständnis in der Literatur nicht nur des 19. Jahrhunderts. Weiter geht da Hans-Heinrich Reuters zuerst 1966 veröffentlichte Analyse zu Fontanes Prosafragment „Koegels-Hof Nummer drei“,41 denn Reuter ist einerseits bemüht, das Fragment auf weitere Texte des Offenen bei Fontane zu beziehen und auf diese Weise „mit seinem Alterswerk schlechthin“ zu verbinden, nimmt andererseits aber auch „die Spezifik des Fragments von 1880 in den Blick“, um den „Ort sichtbar“ zu machen, „den es in diesem Werk einnimmt“.42 Die Verankerung im ‚Fragment-Gesamtwerk‘ erfolgt dabei ebenso wie das Herausstellen der Besonderheit durch Struktur- und Themenvergleich: Die Art der schnellen Niederschrift der Entwürfe bleibe gleich, spezifisch seien dagegen die beiden Teilthemen des ökonomischen Rückschlags und der „Deklassierung des selbständigen Handwerkerstandes“.43 Noch ernster nimmt Peter Wruck in seiner Analyse zu Fontanes „Die preußische Idee“44 von 1982 den Entwurfscharakter des zu analysierenden Textes und
39 J. Petersen (wie Anm. 37), S. 37. 40 Walter Müller-Seidel, „Allerlei Glück“. Über einen Schlüsselbegriff im Romanwerk Theodor Fontanes. In: Zeitwende, 48, 1977, S. 1–17. 41 Hans-Heinrich Reuter, Theodor Fontane, „Koegels Hof Nummer drei“. Fragment einer ungedruckten Erzählung. In: H.-H. Reuter, Dichters Lande im Reich der Geschichte. Aufsätze zur deutschen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts, Berlin, Weimar 1983, S. 289–307. Der Aufsatz erschien zuerst in Sinn und Form, 1, 1966, S. 1131–1152. 42 H.-H. Reuter (wie Anm. 41), S. 299. 43 H.-H. Reuter (wie Anm. 41), S. 300. 44 Peter Wruck, Fontanes Entwurf „Die preußische Idee“. In: Fontane Blätter, 34, 1982, S. 169– 190.
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entwickelt – ausgehend von einer genauen philologischen Analyse der beiden Teile des Fragments – eine Lesart auf Basis sozialgeschichtlicher Kontextualisierungen, die sich als an das Theorieparadigma der Sozialgeschichte der Literatur angelehnt verstehen lässt, bei ergänzenden Passagen, die tendenziell ideengeschichtlich orientiert sind. Bleibt zuletzt noch, auf einen Beitrag einzugehen, der einen vielfach als abgeschlossen rezipierten Text Fontanes gleichsam zurück in die Fragmentarität holt, nämlich Gabriele Radeckes Nachweis der vielfältigen „Spuren der Unvollendetheit“ in Mathilde Möhring von 2003.45 Das leitende Forschungsparadigma ist hier das einer sehr genauen Editionsphilologie, insbesondere Manuskriptanalyse, erweitert um das lediglich punktuelle Heranziehen von Informationen biographischer Art und bei Verzicht auf weitergehende Interpretationen, wodurch dann auch keine weiteren theoretischen Optionen ins Spiel kommen. Allerdings wäre ebenso wie das Spektrum des Zusammenspiels von Literaturtheorien und Fragment auch dasjenige von Fragment und theoretischen Konzeptionen des Edierens genauer zu sichten.46
IV Fazit Ausgangspunkt war, die Formen des Offenen und einige ausgewählte literaturtheoretische Positionen aufeinander zu beziehen und danach zu fragen, welcher Status Fragmenten, Entwürfen, Notizen und anderen Formen des Offenen aus Sicht der verschiedenen Literaturtheorien eigentlich zukommt, um dann nach den meist unausgesprochen bleibenden theoretischen Optionen der FragmentForschung zu Fontane zu fragen. Gezeigt hat sich, dass es keine ‚lupenreinen‘ Theorieorientierungen gibt, sondern in der Regel verschiedene Paradigmen miteinander verknüpft werden, die sich überlagern. Dabei kommen theoretische Ansätze eng zueinander zu stehen, von denen man zunächst einmal annehmen würde, dass sie einander diametral entgegengesetzt wären. Weiter ist deutlich
45 Gabriele Radecke, „Leider ‚nicht‘ druckfertig“. Spuren der Unvollendetheit in Theodor Fontanes „Mathilde Möhring“. In: Schrift – Text – Edition. Hans Walter Gabler zum 65. Geburtstag, hg. von Christiane Henkes u. a., Tübingen 2003, S. 221–230. 46 Vgl. dazu Rüdiger Nutt-Kofoth (Konzepte der Fragmentedition und ihre Probleme. In: Fragment und Gesamtwerk. Relationsbestimmungen in Edition und Interpretation, hg. von Matthias Berning, Stephanie Jordans und Hans Kruschwitz, Kassel 2015, S. 13–27), der nach dem Zusammenhang zwischen den jeweiligen Modi des editorischen Umgangs mit Fragmenten, den (unausgesprochenen) Prämissen der Editoren und deren Erkenntnisinteressen fragt.
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geworden, dass zwischen Fragmentarität auf den Ebenen der Produktion, der Produkte und der Rezeption deutlich zu unterscheiden ist. Da das meist eher pragmatisch geschieht und nicht auf einer Metaebene reflektiert wird, sei noch einmal wiederholt: Der Bezug von literaturwissenschaftlicher Arbeit an Fragmenten – sei es interpretatorische, sei es editorische – auf Literaturtheorien kann uns die eine oder andere Voraussetzung, Prämisse und Bedingung unseres Bemühens deutlicher machen, als sie uns in der praktischen literaturwissenschaftlichen Arbeit vor Augen steht.
Konrad Ehlich
Fragmente zur Pragmatik des Fragments – ein Versuch 1 Notion Fragment 1.1 Brüche Spricht man vom Fragment, ruft man semantische Spuren auf. Diesen gilt es als erstes zu folgen. Im Wort Fragment ist die Spur des Bruches enthalten. Das bedeutet, dass jedes Reden vom Fragment immer das Konzept einer Ganzheit zu seinem Hintergrund hat, einer Ganzheit, die zerbricht. Sie zerfällt in Teile. Der konzeptionelle Rahmen, mit dem man es beim Fragment zu tun hat, ist der des Ganzen und seiner Teile. Innerhalb dieses Rahmens zu denken bedeutet, dass wir uns Objekten mit Erwartungen auf Ganzheit zuwenden. Diese Ganzheitserwartungen sind es, die das konstituieren, was das Fragment ausmacht. Ohne Ganzheitserwartung keine Fragmente. Fragmente sind eine Weise und eine Erscheinungsweise, wie Ganzheiten zerbrechen, zerbrochen sind, zerbrechen werden. Zerbrechen bedeutet: Rupturen. Diese gewinnen gegenwärtig im gesellschaftlichen Diskurs offensichtlich eine eigene Konjunktur. Vor allem im Kontext der Digitalisierung radikalisieren sie sich und beschleunigen sich zur um ein Präfix erweiterten und so spezifizierten Ableitung, der „disruption“. Die „disruption“ räumt sozusagen in Bezug auf laufende Prozesse alles das, was zuvor war, zur Seite. Es ist die Ökonomie und es sind ihre Sykophanten, die sich dieser Metapher gern bedienen. Solche Prozesse des Wegräumens von allem, was nicht mehr à l’ordre de jour sei, was jedenfalls in dieser Weise konzeptualisiert und vermeintlich „entsorgt“ werden soll, entheben die Gesellschaft des verantwortlichen und verantworteten Umgangs mit ihrer eigenen Konstituierung und Geschichte. „Disruption“ lässt nicht einmal mehr Fragmente zurück. Fragmente hingegen bleiben als Bruchfolgen präsent und kennzeichnen Strukturen unseres gesellschaftlichen wie unseres individuellen Handelns. Das bringt in die Frage des Fragmentarischen eine zeitliche Dimension ein. Es gibt ein Voraus, das ganz war, es gibt vielleicht ein Danach, das ganz sein wird. Im Bezug auf dieses Voraus und im Bezug auf ein solches Danach ergibt sich überhaupt erst von imaginierten oder faktischen Ganzheiten her die Möglichkeit, Fragmentarisches als fragmentarisch zu bestimmen. https://doi.org/10.1515/9783110539493-002
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Die Bruchstellen, die je nach den Objekten und nach den Prozessen der Fragmentierung erkennbar sind, gehören zu spezifischen Verlaufsformen, etwa des literarischen Produktionsprozesses oder auch der literarischen Rezeptionsprozesse. Auf solche Verlaufsstrukturen hin ist das Konzept des Fragments ausgelegt – und es ist darauf angewiesen. Das aber bedeutet – mit einem Ausdruck aus der sprachpsychologischen und der linguistischen Literatur –: Es gibt quasi eine Art von origo-Bindung des Fragments und der Ruptur, eine Bindung an ein Jetzt. Von diesem Jetzt aus konstituiert sich – retrospektiv oder prospektiv – das, was Fragment ist – aber auch das, was die Ganzheit ist. Die origo-ähnliche Bindung wird für die Bestimmung dessen, was Fragment ist, von grundlegender Bedeutung. Fragmentierung zeigt sich als Erwartungsverletzung. Eine gewesene (oder eine zukünftige) Ganzheit und ihre Zerschlagung, ihr Nicht-Mehr (oder ihr Noch-Nicht) konstituieren das Fragmentarische und sind von diesem aus rekonstruierbar.
1.2 Fragmentierung und Erwartungsverletzung Ganzheit, Form, Gestalt, Struktur: dieses alles zielt auf eine Integrität, die unser Denken über das determiniert, was Einheiten, gesellschaftliche, formale, materiale, literarische Dinge und Sachverhalte sind. Ob man diese Ganzheit eher als Form bestimmt oder eher als Gestalt oder ob man sie eher als Struktur vom Inneren her analytisch fasst, das sind unterschiedliche Perspektiven. In der Befassung mit dem Fragment ergeben sich, am Beispiel der Literatur betrachtet, aus solchen Perspektivierungen heraus ganze Gruppen von Analytikern, ganze literaturwissenschaftliche Grundkonzepte und Schulen. Fragmente sind in Bezug auf die Ganzheit, auf die Form und die Gestalt oder die Struktur destruktive Resultative. Sie sind Ergebnisse von Prozessen, die in der Ganzheit, Form, Gestalt und Struktur vielleicht ihren Zielpunkt haben oder hatten, denen vielleicht gar eine Existenzform bereits zukam, die diese aber nicht haben fortsetzen und sich erhalten können. Wir haben es beim Fragment in spezifischer Weise mit Ruinen zu tun – biographisch gesehen etwa in der Form des Ruins, der ja nicht nur ein ökonomisches Geschehen ist. Wir finden sogar die große Liebe zu den Ruinen in spezifischen Phasen der Geschichte und der Geistesgeschichte, der romantischen etwa. Sich das Fragment vor Augen haltend, gewinnt das memento mori seine eigene Faszination. In Richtung auf eine erst noch zu erzielende Ganzheit stellt sich die Situation ein wenig anders dar. In Bezug auf das Ziel Ganzheit ergeben sich unterschiedliche Prozessausschnitte. Solche Prozessausschnitte etwa, zum Beispiel für ein
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zukünftiges Werk, sind im Fragment und als Fragment dauerhaft gemacht worden. Sie gerinnen so zu etwas, was das Fragment mit Blick auf noch nicht Erreichtes charakterisiert. Die Prozessdokumente, also z. B. der Entwurf, sind als Fragment präsent und gehen in den weiteren Prozess bestimmend mit ein. Solche Prozessdokumente können genauso gut freilich auch Zielverfehlungen sein. Autoren zum Beispiel, über die nicht so viel mehr bekannt ist, sind vielleicht Autoren, die solche Zielverfehlungen nie wirklich hin zu einem Werk ausgeführt haben, für das Ganzheit als Charakterisierung gilt, einheitliche Form, Gestalt oder Struktur. Auch sie, die Zielverfehlungen, gehen in die Bestimmung dessen ein, was Fragment ist. Wir kennen sogar, und dies gar nicht so selten, Einverständnisse mit einem solchen Ziel-Verfehlen. Die Romantik war in der Herstellung derartiger Einverständnisse geradezu prototypisch. Sie hat dieses Verfehlen zu einer eigenen Existenzform ausgearbeitet. Verallgemeinert und zugespitzt wird sie in manchem Zusammenhang sogar zu einer Art Verfehlungsfatalismus weiterentwickelt, dann nämlich, wenn die Dinge und Vorhaben als etwas gelten, was substantiell, essentiell nicht zu einem Abschluss gebracht werden kann.
1.3 Domänen der Fragmentierung und der Befassung mit ihr Eine Phänomenologie der Fragmente zeigt unterschiedlichste Gruppen. Da finden sich zum Beispiel – oder eigentlich zunächst und zuerst – die lapidaren Fragmente, Ergebnisse der Zerschlagung einer Ganzheit als Physis, einer Skulptur zum Beispiel, eines Bauwerkes, einer Stadt. Und wir haben eine darauf bezogene wissenschaftliche Disziplin, die Archäologie. Sie sammelt die Fragmente, kartiert sie und – vor allem –: sie ergänzt sie. Will man es ein wenig ironisch skizzieren, so wird für die archäologische Arbeit (besonders auch für die archäologisch-philologische Arbeit) die Lücke bzw. das, was in ihr hätte gefunden werden können, fast zum Allerwichtigsten in der Stele, im Pergament, im Papyrus: das, was erkennbar fehlt und so das Relikt zum Relikt, den Fund zum Fragment macht. Zugleich ergibt sich aus dieser Lücke die Möglichkeit, Ganzheit ex auctoritate des Archäologen oder des Philologen herzustellen. Wir haben anatomische Fragmente, die Zerschlagung der Ganzheit „Physis“ des Menschen, und die Disziplin, die damit befasst ist, die Medizin. Diese betreibt zum Glück nicht nur das Aufschneiden und Auseinanderlegen, das Fragmentieren, und dort, wo sie es tut, tut sie es in bestimmten Zweckzusammenhängen. Aber immerhin: Sie hat es eben auch charakteristisch mit anatomischen Fragmenten zu tun.
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Wir haben indikatorische Fragmente, Fragmente als Indizien. Die dazugehörige Wissenschaft und Praxis ist die Kriminologie. Selbstverständlich haben wir literarische Fragmente als Werkfragmente, aber auch als gebrochene Tradierungen, ein Kerngebiet der Philologie. Die psychischen Fragmente, die desintegrierte Psyche stellt sich als ein Auseinander psychischer Integrität dar, und die Disziplin, die sich damit befasst, die Psychologie, hat alle Mühe, die Fragmentarität und dann gar die Ganzheit und ihre Bruchgeschichte zu rekonstruieren. Die Denkfragmente sind als Aporien, als Integrationsverzicht, in bestimmten Erscheinungsweisen der Philosophie relevant; ja, sie werden dieser zum Teil geradezu als eine Notwendigkeit zugeschrieben. Fragmentarität als conditio, ohne die eine ganze Disziplin nicht vorstellbar ist, charakterisiert die Theologie, die ihren Gegenstandsbereich aus der inneren Logik dieses Gegenstandsbereichs heraus nie erfassen wird. Die Notion des Fragments zeigt also einen unerwarteten phänomenologischen Reichtum.
2 Sprachliches Handeln und Poiesis 2.1 Pragmatik des sprachlichen Handelns – Aspekte Dass die Sprache und das Handeln zusammengebracht werden, ist in den vergangenen Jahrzehnten fast zu einer selbstverständlichen Voraussetzung linguistischen Arbeitens geworden – jedenfalls an dessen Oberflächen. Die Umwälzungen, die der Einbezug des sprachlichen Handelns für die Sprachanalyse bedeutet, werden freilich in ihrem Umfang und in ihren Konsequenzen kaum hinreichend analytisch bedacht. Das Verhältnis von Sprache und sprachlichem Handeln näher zu bestimmen, bleibt eine der großen Aufgaben dieser Disziplin „Sprachwissenschaft“. Dies betrifft nicht zuletzt die Relevanz der Disziplin für andere, benachbarte Bereiche wissenschaftlichen Erkennens und wissenschaftlichen Arbeitens, darunter – fast an erster Stelle, betrachtet man die innere Systematik – die Befassung mit Literatur. Eine sich vorschnell kanonisierende „Pragmalinguistik“ gleitet über die tiefgehenden Konsequenzen einer tatsächlichen pragmatischen Analyse des sprachlichen Handelns und der Sprache leicht und leichtfertig hinweg. Z entrale Aspekte einer Handlungstheorie, die das sprachliche Handeln zu verstehen sucht, finden sich so im allgemeinen Räsonnement durchaus wieder, ohne dass dieser Systematik näher nachgegangen würde. Additiv wird den überkommenen
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kategorialen Beständen eine Reihe von Vorstellungen hinzugefügt. Dies hat unter anderem zur Folge, dass derartige Konzepte in die alltägliche Wissenschaftssprache einfließen. Damit einhergehend, verlieren die Ausdrücke ihre Terminologiefähigkeit und die darin enthaltene analytische Kraft. Dieses Caveat vor Augen, mag es sinnvoll sein, einige Aspekte einer tatsächlichen Pragmatik des sprachlichen Handelns in Erinnerung zu rufen bzw. zu thematisieren (vgl. zum Folgenden Abb. 1). P
πs
πH
p
Abb. 1
Sprachliches Handeln ist in seinen elementaren Formen immer ein Handeln zwischen Sprechern S und Hörern H. Sprachliches Handeln erfordert für seine Analyse also mehr als den Blick nur auf den Sprecher S und seine einzelnen Äußerungen. Gleichgültig, in welcher Weise sie die Hörerseite mit einbezieht – oder auch versucht, sie zu leugnen oder sie zu verdrängen –: Ohne den Einbezug des Hörers ist eine Pragmatik des sprachlichen Handelns nicht zu gewinnen. Sprachliches Handeln hat es mit den Verhältnissen zwischen der Wirklichkeit P (in welcher Form und in welcher Konzeptualisierung diese auch immer wahrgenommen und einbezogen wird), der sprachlichen Äußerung p und einem dem Sprecher S und dem Hörer H Gemeinsamen zu tun, dem Mentalen. In der Funktio nalen Pragmatik wird dies unter Verwendung des griechischen Buchstabens „Π“ als Π-Bereich bezeichnet. Es ist das Mentale als der ganze umfängliche Komplex, zu dem auch das gehört, was oben mit dem Stichwort der Erwartung angesprochen wurde. Mit diesem großen Komplex des Mentalen tat sich das 20. Jahrhundert schwer. Er wurde in verschiedenen Disziplinen ausgegliedert, diskreditiert, als unerkennbar erklärt. Insbesondere in allen möglichen Formen des Positivismus und des Behaviorismus erfuhr der Π-Bereich einen systematischen und folgenschweren Neglekt. Mit ihrer behavioristischen Wende hatte auch die Linguistik daran teil. Das schwere Erbe der Trennung des Kognitiven und des Emotiven, die sich durch die neuzeitliche Theoriegeschichte hindurchzieht, belastete die Analyse des Π-Bereichs weiter, und die vermeintlichen Überwindungen partizipieren insgeheim und folgenreich an dem, was zu kritisieren sie vorgeben.
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Der Π-Bereich nun ist für ein Verständnis des Fragments von zentraler Bedeutung. Bevor dies mit Blick auf die Poiesis weiter verfolgt wird, ist die Einbeziehung einer weiteren theoretischen Distinktion wichtig. Die sprachlichen Handlungen der Interaktanten geschehen nicht für sich. Sie geschehen vielmehr im Diskurs. Der Diskurs, in dem sich das sprachliche Handeln ereignet, führt die Interaktanten S und H sinnlich wahrnehmbar und unmittelbar zusammen. Der Diskurs aber hat an der Vergänglichkeit der sprachlichen Handlung, die im Moment ihrer mündlichen Realisierung auch schon vergeht, unmittelbar teil. Dies reicht in vielen Handlungszusammenhängen für die Interaktanten nicht aus – ein grundlegendes Problem sprachlicher Kommunikation. Seine Lösung erfolgt in der handlungspraktischen Entwicklung der Kategorie des Textes. Der Text ist durch Dauerhaftigkeit gekennzeichnet, bietet eine Verdauerung der flüchtigen sprachlichen Handlung. Text in einer systematischen Weise zu verstehen, erfordert die Auflösung einer einfachen Gleichsetzung von Textualität und Schriftlichkeit. Text ist nicht notwendig schriftlich, und Schriftlichkeit charakterisiert Text nicht hinreichend. Mündlichkeit und Schriftlichkeit und ihre Verteilungen auf Diskurs und Text sind komplexer, als die landläufigen einfachen Gleichungen es nahelegen.
2.2 Sprachliche Handlungsformen und sprachliche Erwartungsstrukturen Sprachliche Handlungsformen konstituieren ihrerseits sprachliche Erwartungsstrukturen. Ein elementares Beispiel dafür ist der Satz. Als Sprecher einer Sprache haben wir eine bestimmte Erwartung in Bezug auf das, was ein Satz ist. Erst, wenn diese Erwartung einigermaßen erfüllt ist, ist das Geschehen zwischen Sprecher S und Hörer H zu einem für beide beteiligten Interaktanten befriedigenden Ergebnis gekommen. In der Realität des Diskurses finden sich freilich neben solchen Erwartungserfüllungen auch viele Fälle von Erwartungsbrüchen. Mit deren Untersuchung hat es die Linguistik nicht leicht. Einige sind freilich bereits früh terminologisch in der rhetorisch-grammatischen Tradition benannt worden – ohne dass sie deshalb auch pragmatisch schon hinreichend analysiert wären. Die prominentesten Beispiele solcher Erwartungsbrüche sind der Anakoluth und die Ellipse. Ein Anakoluth ist ein Fall, in dem die sprachliche Handlung des Sprechers nicht so weitergeht, wie sie es nach der Satz-Erwartung tun müsste. Es „folgt“ (griechisch akolutheo, „folgen“) also das, was folgen müsste, „nicht“ (die griechische Negationspartikel „an-“). – Anders und noch stärker erwartungsbezogen die Ellipse: In Bezug auf die Grunderwartung des minimal vollständigen Satzes fehlt etwas
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(ek-leipo, „auslassen“). In beiden Fällen sind Fragmente sprachlichen Handelns im Horizont der Satz-Erwartung im sprachlichen Handeln präsent. Sie tendieren zu ihrem jeweiligen Komplement. Wenn der Sprecher S die Erwartungserfüllung schuldig bleibt, leistet der Hörer H sie in seinem Bewusstsein. Er komplementiert das, was fehlt, in seinem Π-Bereich. Er kann dies möglicherweise auch falsch tun – was dann in der späteren Interaktionsgeschichte in der einen oder anderen Weise weiter interaktional zu behandeln ist. Aber das grundsätzliche Verhältnis von Fragment und Komplement ist von großer Bedeutung innerhalb der Formen des sprachlichen Handelns – und damit auch hinsichtlich der Frage nach dem, was ein Fragment selbst ist. Das Konzept Fragment stellt sich also im Bereich von Sprache und sprachlichem Handeln als etwas dar, das auf eine Normalität bezogen ist. Es stabilisiert die Erwartungskonformität. Im Fragment selbst wird diese Normalität aufgerufen. Dies ist auch der Fall in Bezug auf das, was literarisch geschieht. Die Sprache als ganze ist eine große, ausgearbeitete Erwartungsstruktur. Wenn wir eine Sprache sprechen, dann sind wir in der Lage, begleitend zu dem, was der Sprecher tut, abzugleichen: Entspricht das, was wir als Hörer hören, den sprachlichen Strukturen? Dann, wenn ein falscher Artikel oder eine falsche Flexionsform kommt, zuckt man sozusagen innerlich kurz zusammen und versucht als Hörer, bei sich selbst die erwartete und erwartbare Form komplementär zu ergänzen. Das, was eben am Beispiel einzelner sprachlicher Handlungen und der Satzform in Bezug auf Erwartungsstrukturen und dem Umgang mit ihnen betrachtet wurde, betrifft auch Diskurse und die ihnen zugrundeliegenden und in ihnen genutzten Diskursarten, und dasselbe gilt für die Textarten. Diskursarten und Textarten sind ausgearbeitete Erwartungsstrukturen. Genau von diesen ausgearbeiteten Erwartungsstrukturen macht die Poiesis als sprachliches Handeln in einer spezifischen und differenzierten Weise Gebrauch.
2.3 Poiesis als sprachliches Handeln Dann, wenn das sprachliche Handeln zu literarischem Handeln wird, erfahren einige pragmatische Grundbestimmungen eine Reihe von weitreichenden Veränderungen: Der Sprecher S wird zum Autor A, der Hörer H wird zum Leser L. Die Autorschaft wird zu einer zentralen Instanz in Bezug auf das, was dieses sprachliche Handeln charakterisiert, eine Autorschaft, die zur Meisterschaft gesteigert werden kann, ja muss. In genau diesem Übergang von der Autorschaft zur Meisterschaft wird das Interesse am Fragment in einer spezifischen Weise aktualisiert.
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Zugleich wird der Leser L verändert zur Leserschaft £. Dies wiederum hat spezifische Konsequenzen für die Charakteristik des poetischen Handelns. Beiden Aspekten ist weiter nachzugehen. Im Sinne des Π-Modells haben wir es also mit der Mentalität sowohl des Autors wie des Lesers zu tun. Beide sind in einer je eigenen Weise involviert. Der Prozess, der im literarischen Handeln sich ereignet, verläuft in Π vom mentalen Bereich dessen, der schreibt, hin zur konkreten sprachlichen Realisierung p. Wenn wir also versuchen wollen, genauer zu erfassen, was sich im Fragment ausdrückt, sind wir zunächst (Abschnitt 3) gefordert, einige Innenansichten von Π, also dieses mentalen Bereichs, wenigstens doch zu versuchen.
3 Autorschaft 3.1 Die Mentalität des Autors Dieser möchte ich mich, kurz anreißend, unter Bezug auf entsprechende Passagen in der Enzyklopädie Georg Wilhelm Friedrich Hegels (1830) nähern. Hegel spricht (§ 453 der Enzyklopädie) von einem „nächtlichen Schacht“, als den er die Intelligenz charakterisiert: Die Intelligenz als diesen nächtlichen Schacht, in welchem eine Welt unendlich vieler Bilder und Vorstellungen aufbewahrt ist, ohne daß sie im Bewußtsein wären, zu fassen, ist einerseits die allgemeine Forderung, den Begriff als konkret […] so zu fassen, daß er alle späteren Bestimmtheiten […] in virtueller Möglichkeit, affirmativ enthält.
Hegel wählt das Beispiel des Keimes, der sich in der Entwicklung des Baums als Existenz der Bestimmtheiten entfaltet. Dieser „nächtliche, bewußtlose Schacht“ ist für das Umgehen mit dem, was in der literarischen Produktion geschieht, von erheblicher Bedeutung. Es ist jene Welt unendlich vieler Bilder und Vorstellungen, in Bezug auf die auch der Produktionsprozess, der literarische Prozess, sich als Poiesis realisiert. In diesem Schacht sind dessen Inhalte noch nicht zu Ganzheiten gefasst – sie sind also auch nicht fragmentierbar, oder auch, anders gesagt, alles ist in ihm Fragment. Das bedeutet: der Autor aktualisiert bestimmte Elemente der semantischen Myzelien, dieser Geflechte, die unterirdisch in Π vorhanden sind. Er aktualisiert Spuren, und er aktualisiert Strukturen, z. B. bestimmte Handlungsstrukturen, die einer Ruptur zugeführt werden, so dass sich Handlungsstruktur und Erzählstruktur in der Abarbeitung dieses Strukturverhältnisses im Einzelnen konkretisieren. Die Arbeit der Phantasie ist eine Arbeit, die genau mit diesen Π-Elementen in einer
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spezifischen Weise operiert, bevor sie und indem sie in die sprachliche Äußerung umgesetzt werden. „Die Phantasie“, so sagt Hegel (s. § 457) weiter, ist der Mittelpunkt, in welchem das Allgemeine und das Sein, das Eigene und das Gefunden-Sein, das Innere und Äußere vollkommen in eins geschaffen sind. Die vorhergehenden Synthesen der Anschauung, Erinnerung usf. […] sind Synthesen; erst in der Phantasie ist die Intelligenz nicht mehr [nur] als der unbestimmte Schacht und das Allgemeine, sondern als Einzelheit, d. i. als konkrete Subjektivität, in welcher die Beziehung auf sich ebenso zum Sein als zur Allgemeinheit bestimmt ist. Für solche Vereinigungen des Eigenen oder Inneren und des Anschaulichen werden die Gebilde der Phantasie allenthalben anerkannt.
3.2 Kreative Strukturierung Die mentalen Strukturen des Autors in dessen Π-Bereich werden für die Frage der Herstellung des literarischen Werkes von Bedeutung. Sie erfahren im poetischen Prozess eine kreative Strukturierung. Das heißt: Form und Erwartung werden sozusagen operativ auf diese Strukturen aufgetragen oder aufgesetzt, und sie werden in spezifische Erwartungsformen und Erwartungsbrüche umgesetzt. Man nehme einen beliebigen alltäglichen Roman, der dies in sehr elementarer Form zeigt. Oder man nehme die kleineren Eichendorff-Texte: An ihnen sieht man in der Verwendung des Ausdrucks „aber“ durch den Autor immer erneut, wie solche Erwartungsbrüche konkret sprachlich operationalisiert werden. Dadurch wird Erwartungsbruch in Bezug auf das literarische Schreiben zur Erwartungsform. Dieser Umbruch charakterisiert literarisches Schreiben narratologisch in der Genese der Poiesis sehr früh.
3.3 Sich etwas Ausdenken Der Autor, der dabei ist, „sich etwas auszudenken“, entwickelt Imaginationen, Verbildlichungen. Ihm steht „etwas vor Augen“ – dies freilich für eine innere Anschauung. Im Operieren mit den semantischen Myzelien, die ihm zur Verfügung stehen, kommt es gleichsam zu Blitzen, zum Zusammenschieben verschiedener, häufig sogar unerhörter Einheiten. Es kommt zu einer Synchronie unterschiedlicher Aspekte in all diesen verschiedenen mentalen Präsenzen, die seinen Π-Bereich ausmachen. Produktivität gestaltet sich als Prozess in der Zeit. Das, was mental völlig synchron ist, wird auseinandergelegt in den Prozess des Schreibens. Damit geschieht ein Handhabbar-Machen des Unfassbaren in der Nach-Außen-Setzung (pragmatisch gesprochen: der Exothese) des Plans, mit dessen mentaler Ausarbeitung
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der Autor befasst ist. Solche Plan-Exothesen sind die literarischen Entwürfe, von denen bereits die Rede war. Entwerfen und Verwerfen gehen dabei Hand in Hand. Als Bezug auf Form gibt es einen Anfang und ein Ende – und was dann? In welcher Weise wird mit Anfang und Ende, mit dem Strukturierten, mit dem Erwartbaren und seinem erwartbaren Bruch umgegangen? So entsteht das Memoriale, eben der Entwurf, als etwas, das den Autor in seiner Produktivität konkret arbeiten lässt.
3.4 Ausfüllungen, Umsetzungen, Aussetzungen Der Autor führt seine Pläne aus, setzt sie um, verwirft sie. Er arbeitet mit dem, was er in Antizipationen möglicher Seiten seiner Leserschaft konkretisieren kann. In der Poiesis des literarischen Autors bedeutet die Ausarbeitung das Aus für das Fragment. Zunächst ist es die Schrift, die hier eintritt. Sie konkretisiert das Handhabbar-Machen. Das, was mental in Π synchron präsent ist, wird umgesetzt in eine notwendig sukzessiv strukturierte Abfolge, die als solche in der Linie, in der Zeile, im Absatz und noch darüber hinaus visuell wird – ein keineswegs trivialer Prozess. Von ihm machen wir alle tagtäglich immer erneut Gebrauch, gleichgültig, ob auf dem Bildschirm oder dem Blatt Papier. Doch die Trivialitätsvermutung trügt, wie der Blick auf die Herausbildung dieser Möglichkeit der Sukzessionsgestaltung und Serialisierung in der Entwicklung der Schrift zeigt. Lange hat es in der Menschheitsgeschichte gebraucht, bis diese Strukturen tatsächlich vorhanden waren. In der Verschriftlichung setzt der Autor das, was als Plan in der Bearbeitung, in der Strukturierung von Mentalem synchron vorhanden ist, einer Art Praxistest aus. Zahlreiche Entwürfe, Fragmente sie alle, legen davon Zeugnis ab. Nehmen wir die Genese von Hölderlins Gedichten, die in all ihren manuskriptuellen Abfolgen sehr gut dokumentiert sind, so sind diese Praxistests, ihrerseits zu Schrift geworden, in immer neuer Form als Versuche nachvollziehbar. Die Schaltstellen des literarisch-poetischen Prozesses werden sichtbar. Die Ideaopsie, das „Blicken auf die Gedanken“, auf das, was im Kopf sich zeigte, anschaulich und zugleich veräußerlicht vor Augen zu haben, erweist das, was in Π war, angesichts der Objektivität des Schriftlichen oft als einen sehr ernüchternden Prozess, der zu einer Wiederbearbeitung, Durcharbeitung, vielleicht sogar zur Aufgabe jeder Bearbeitung auffordert. Zugleich ist dieses Auseinander der Schriftlichkeit, diese Anschaulichkeit im Äußeren angesichts der Gleichzeitigkeit der Ideaopsie eine Art produktives, manchmal freilich auch eine Art destruktives Verhältnis. Destruktiv wird es dann, wenn der Autor aus Gründen, die in der Ernüchterung der Konfrontation mit dem
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Verobjektivierten liegen, zum Schweigen kommt. Er erfährt sich selbst im Umgang damit als „ausgebremst“. Es kommt zum Liegenlassen von Entwürfen, es kommt zum Auto-Archiv, das ein Autor-Archiv ist – all das, was auf den Schreibtischen oder jetzt auf den Festplatten – oder in Marbach – liegt und so Gegenstand des Interesses der Philologen wird.
4 Rezeptivitätsprozesse Wenden wir uns der anderen, der H- bzw. L-Seite zu. Die Rezeptivität der literarischen Produkte sieht den Hörer H zum Leser L gewandelt, und der Leser L ist seinerseits nur ein Teil der Leserschaft £. Als Leser hat er feste Aufgaben. Sozialisatorisch hat er früh gelernt zu lesen. Alle, die so sozialisiert wurden, sind Teil einer potentiellen Gesamt-Leserschaft (alle – bis auf die, bei denen die vorschulischen und schulischen alphabetisierenden Sozialisationsprozesse misslungen sind). Immerhin: Die Gesellschaften in Europa und in den USA und anderen Teilen Amerikas, in Südafrika, Australien usw. sind weithin alphabetisierte Gesellschaften. Auch dort, wo der Ausdruck „alphabetisiert“ nicht wirklich angemessen ist, weil die Schrift keine Alphabetschrift ist, wurde Vergleichbares wie die Alphabetisierung erreicht. Im Falle des Misserfolgs oder der noch nicht durchgeführten Sozialisierung spricht man dort von „Schriftblindheit“ zur Bezeichnung des Unvermögens, die Zeichen zu lesen, hier von (völligem oder sogenanntem „funktionalen“) Analphabetismus. Der alphabetisierte (oder eben der nicht-schriftblinde Leser) tut als Leser das, was Leser tun: Er liest. Dies freilich tut er nicht nur „einfach so“. Vielmehr ist der Leser zugleich Komplize des Autors in der mentalen Koproduktion von dem, was der Autor imaginativ entwickelt und in seinem Text „deponiert“ hat. Dieses macht er durch seine Tätigkeit auf eigentümliche Weise so zu einem großen Fragment. In Bezug auf das, was er liest, schweigt der Leser. Was tatsächlich in seinem Π-Bereich passiert, ist bisher weit von einer hinreichenden Analyse entfernt. (Natürlich kann der Leser auch ins Abschweifen geraten. Er gibt die Komplizenschaft auf, und es kommt möglicherweise sogar zu einem völligen Kooperationsabbruch. Der Leser liest dieses Buch, das er vor Augen hat, nicht mehr weiter.) Zugleich aber erwartet der Leser mehr als seine rezeptive Lektüre. Er erwartet, dass er als Voyeur des kreativen Prozesses des Autors tätig sein kann. Er hegt also Teilhabehoffnungen in Bezug auf die Prozesse, mit deren Ergebnis er in der Lektüre konfrontiert ist. Er möchte teilhaben an der Kreativität des Autors, und das heißt: Er möchte teilhaben an den Wonnen der Produktion. Damit nicht genug. Er möchte auch teilhaben am Bios des Autors, an einem anderen Leben, in dem das
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Produkt entstanden ist, das er liest, und er möchte wenigstens in Ansätzen teilhaben am Status des Autors – auch wenn das für manche literaturwissenschaftliche Vorgehensweisen nicht unbedingt als ein würdiges Thema gilt. Der Leser entwickelt für die Realisierung solcher Teilhaberschaft in der einen oder anderen Weise gegebenenfalls Surrogate, wenn dafür nicht genug geboten wird, wenn also etwa die Rezensenten als Werkvermittler nicht wirklich diese seine Bedürfnisse hinreichend befriedigen bzw. sie zu befriedigen in der Lage sind. Die Surrogate blühen auf einem ziemlich breiten Feld seiner eigenen Phantasie, der des Lesers, in kleinen Lesegemeinschaften, die sich bilden, und ähnlichen Sozialformen gemeinschaftlicher Lektüre. Teilgruppen der Leserschaft konstituieren sich zu eigenen sozialen Einheiten wie Salons, Lesegruppen oder auch, mehr didaktisch genötigt als einem eigenen Interesse folgend, in Schulklassen und Kursen. In vielen dieser Zusammenhänge findet sich eine Art Hoffnung nicht zuletzt in Bezug auf die Fragmente. Sie sind Möglichkeiten einer rezeptiven Phantasie für die Leserschaft. Leser-Biographien bzw. Leser-Autobiographien geben mögliche Einblicke in solche Entwicklungen.
5 Fragment und Philologie 5.1 Fragmente als Werke zweiter Ordnung Philologisch gesehen, sind Fragmente Werke zweiter Ordnung. An ihnen und für sie entzündet sich zunächst das historistische Interesse. Es ist eine gewisse Ruinenliebe, die die Philologen auszeichnet. Sie werden von solchen Ruinen, die da aus den produktiven Prozessen herausgefallen und übrig geblieben sind, geradezu magisch angezogen. Aus der Textauratisierung von Literatur, aus der Textautorisierung ergibt sich leicht eine Fragmentschätzung. Wenn der Text als solcher einen auratischen Status erhalten hat, wenn der Autor mit auctoritas in komplexen, analytisch zu rekonstruierenden Prozessen versehen worden ist, dann gewinnt auch das Fragment eine neue, ihm eigene Bedeutung. Ein Zettel, den irgendwer irgendwo hingeschrieben hat, interessiert niemanden, er geht umstandslos in die PapiermüllAbfuhr. Derselbe Zettel wird interessant, wenn er einer ist, von dem man sich z. B. etwas für diese Leserimaginationen verspricht. Wittgensteins Zettel im Umfeld der Philosophischen Untersuchungen oder Arno Schmidts Zettel erfahren jeweils ein spezifisches Interesse, weil eine Auratisierung vorangegangen ist oder mit dem wachsenden Interesse an eben jenen Zetteln entsteht.
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Es findet sich in Bezug auf die Liebe zum Fragment eine Art Textennui, die dieser Liebe vorausliegt. Die „großen Werke“ haben etwas den Philologen Verängstigendes – es tritt an die Stelle der Beschäftigung mit ihnen eine mikrologische, eine mikroskopische Analyse, deren Gegenstand eben die Fragmente sind. Möglicherweise haben wir sogar eine literarische Anorexie in Bezug auf die Vielfalt von Produktion, die im langen 20. Jahrhundert nochmals gesteigert wurde und im 21. Jahrhundert offenbar weiter gesteigert wird. Ich denke, es würde sich lohnen, die romantischen Erfahrungen mit dem Fragment auch in diesem Horizont einer überbordenden Klassik genauer zu betrachten. Zur Fragment-Werdung gehört schließlich quasi eine Philologisierung der Autorschaft, in der die Rezeptivität in die Produktivität rückgespiegelt wird.
5.2 Philologische Exerzitien Die Liebe des Philologen zum Fragment setzt sich in spezifische Tätigkeiten und Erfahrungen um. Da sind zunächst die Fundstücke. Jemand geht ins Archiv und stößt dort auf etwas, das bisher verborgen zwischen Buchdeckeln oder versteckt in Archivkartons und möglicherweise sogar auch als Buchdeckel der Rezeptionsmöglichkeit entzogen war. (Die Entdeckung des Hildebrandtliedes etwa und damit das Zugänglichwerden einer ganzen langen Phase in der Geschichte des Deutschen verdankt sich einem solchen Fund in der Kasseler Bibliothek.) Solche Fundstücke sind für Philologen wie für alle Fragment-Beschäftigten ein entscheidender Punkt. Es entwickelt sich eine ganze Textarchäologie. Wie der Archäologe in Bezug auf seine lapidaren Elemente, seine Ablagerungen, seine Schichten Zeitpunkten der Entstehung, ganzen Phasen der Geschichte, Entwicklungen von Kulturen nachgeht und sie zu rekonstruieren sucht, so handelt der Philologe. Die Fragmente, mit denen er es zu tun hat, erlauben ihm Rekonstruktionen der Werkgenese, der Werkverwerfungen – sie erlauben ihm eine Tätigkeit im Zentrum seines eigenen Geschäftes. Im Horizont jener angesprochenen Auratisierung werden die Fragmente selbst zum Gegenstand einer eigenen Fragment-Philologie mit der Konsequenz des Edierens eben jener Fragmente. In dieser Tätigkeit wird der Philologe einerseits sozusagen Diener des Lesers als Komplizen; er wird andererseits aber auch des Komplizen Komplize. Zugleich umgibt den Philologen in seinem Tun eine eigene Einsamkeit, die sich zur Verzweiflung an seinem Tun steigern kann – exemplarisch der Fall Friedrich Nietzsches. Diese zweite Stufe, die in den philologischen Exerzitien zur Lebensweise wird, hat möglicherweise aber auch dies zur Folge: dass sich das philologische Geschäft
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von den Ursprungspunkten löst, sich verselbständigt und in der Lösung von dem, wofür Philologie entstand, sich an die Stelle dessen setzt, was ihre eigentliche Zweckbestimmung war (ein Prozess, der in Bezug auf die primären auratisierten Texte, die heiligen, ganz ähnlich in den Verselbständigungen von Exegese in der Theologie zu beobachten war und ist).
5.3 Medienwechsel Der schriftliche Text, gebunden an die Materialität seiner Grundlage, eignet sich herausragend zur Fragmentierung. Gilt dies in gleicher Weise für andere Medien? Hat es Sinn, in Bezug auf die digitale Präsenz von Fragmenten zu reden, oder verliert sich mit dem Verschwinden des Konzeptes von Ganzheiten auch die Möglichkeit des Fragments in eine diffuse Omnipräsenz von allem – und damit von nichts – im Netz? Ermöglicht der Film Fragmentarität? Die Eisenstein-Philologie bejaht dies exemplarisch und emphatisch. Gilt Entsprechendes für die Beliebigkeit der unüberschaubaren Produktionen einer medialen Industrie, deren Umfang kaum noch zu erfassen ist? Die Vielfalt der Produktionen ephemerer Textualität, deren Komplement noch stärker die Beliebigkeit ist – ist sie fragmentfähig, oder, anders gesagt, liegen ihr irgendwelche Ganzheiten, und sei es als Entwurf, voraus? Das Fragment könnte zu einer Art Lackmustest für Textualität werden, wenn man es so versteht. Antworten werden die zukünftigen Entwicklungen zeigen.
Heike Gfrereis
Unfertige Texte Ein philosophisch-philologisches Problem zwischen Arabeske und Werk Im Januar 2017 postete die Süddeutsche Zeitung unter dem Titel „Gefühlte Wahrheit Nr. 145: Kochbücher und ihr Einfluss auf das Kochverhalten“ eine kurze Gegenüberstellung: „Gerne gekauft – Gerne gekocht“. Allen Hausfrauen-, Strohwitwer-, Italo-, Asia-, Genial-, Vegan-, Lokal- und Fleisch-Moden seit 1950 zum Trotz war das Ergebnis mit Variationen immer dasselbe: „Nudeln mit Soße“. Ähnlich scheint es bei unfertigen Texten zu sein, deren gefühlte Wahrheit immer darauf hinausläuft: Es fehlt bei ihnen etwas – allen Literatur-, Poesie- und Texttheorien zum Trotz, die uns seit über drei Jahrhunderten den Mangel als Überfülle erklären. Die beiden ältesten „Systemprogramme des deutschen Idealismus“, von Hölderlin 1794/95 und von Hegel 1796/97 zumindest aufgeschrieben, sind Fragmente. Friedrich Schlegel greift 1798 den System- wie Fragmentgedanken auf: Es sei „zugleich töricht für den Geist ein System zu haben, und keins zu haben. Er wird sich also entschließen müssen beides zu verbinden.“1 Auf der Ebene des Textes wie des Denkens wiederholt sich im unfertigen Text eine Utopie, die kein Teil in ein Abhängigkeitsverhältnis zu einem anderen bringen möchte und die sich bei Hegel/Schelling/Hölderlin so liest: Die Idee der Menschheit voran, will ich zeigen, daß es keine Idee vom Staat gibt, weil der Staat etwas Mechanisches ist, so wenig als es eine Idee von einer Maschine gibt. Nur was Gegenstand der Freiheit ist, heißt Idee. Wir müssen also auch über den Staat hinaus! – Denn jeder Staat muß freie Menschen als mechanisches Räderwerk behandeln; und das soll er nicht; also soll er aufhören.2
In den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts wird dieses freie und zugleich kritische Systematisieren zum Leitmotiv von Theodor W. Adornos Negativer Dialektik: Denken als Enzyklopädie, ein vernünftig Organisiertes und gleichwohl Diskontinuierliches, Unsystematisches, Lockeres drückt den selbstkritischen Geist von Vernunft aus.3
1 Friedrich Schlegel, „Athenäums“-Fragmente und andere Schriften, Stuttgart 2005, S. 85. 2 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke, Bd. 1, hg. von Karl Markus Michel und Eva Moldenhauer, Frankfurt am Main 1979, S. 234–237, hier 233 f. 3 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik. Gesammelte Schriften, Bd. 6, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1997, S. 40. https://doi.org/10.1515/9783110539493-003
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Folgerichtig findet Adorno dann eine Kunstdefinition, die wir zumindest für die moderne Kunst alle unterschreiben dürften: „Kunst obersten Anspruchs drängt über Form als Totalität hinaus, ins Fragmentarische.“4 Adornos Ästhetische Theorie, 1970, ein Jahr nach seinem Tod aus dem Nachlass herausgegeben, ist selbst ein Fragment und so rhizomartig-postmodern zusammengestellt, wie es Gilles Deleuze und Félix Guattari wenig später beschrieben haben: Jedes Rhizom enthält Segmentierungslinien, nach denen es geschichtet ist, territorialisiert, organisiert, bezeichnet, zugeordnet etc.; aber auch Deterritorialisierungslinien, an denen es unaufhaltsam flieht.5
Denn: „Der Baum und die Wurzel zeichnen ein trauriges Bild des Denkens, das unaufhörlich, ausgehend von einer höheren Einheit […], das Viele imitiert.“6 Zum 100. Geburtstag von Roland Barthes 2015 hat der Designer Philipp Apeloig für das französische Modelabel Hermès ein Halstuch auf den Markt gebracht, auf dem alle Seiten der Fragments d’un discours amoureux in der Erstausgabe von 1977 in ihrer graphischen Gestalt abgebildet sind:7 Barthes’ writing is very visual; his ideas on fashion, advertising and photography have inspired my generation of graphic artists. He designed a special text layout for each page of „Fragments“, so my first idea was to use typography, but that was too obvious. Finally I blacked out all the text, turned the words into graphic blocks, and reproduced each page in its original order like a mosaic.8
Gedeutet wird das Ergebnis dann: „The result, a graphic overview of ‚Fragments‘, resembles a musical score, a piece of morse code, hieroglyphics and a diagram of digital circuitry.“9 Unfertige Texte sind ursachen- und ergebnisoffen, auch dann, wenn sie als unfertige Texte intendiert und bewusst gestaltet sind. Das heißt aber auch: Sie machen uns ratlos, verweigern – anders als zum Beispiel die Textstufen und Textvarianten – die endgültige Auflösung in einem Ziel, sind daher anders als vom Autor abgeschlossene und vollständig überlieferte Texte scheinbar sinn-
4 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie. Gesammelte Schriften, Bd. 7, hg. von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1984, S. 221. 5 Gilles Deleuze/Félix Guattari, Rhizom, Berlin 1977, S. 16. 6 G. Deleuze/F. Guattari (wie Anm. 5), Rhizom, S. 26 f. 7 http://apeloig.com/project/carre-hermes-roland-barthes/ (25. 1. 2017). 8 Rebecca Voight, „Hermès’ Homage to Roland Barthes“, 29. 5. 2015, http://www.wmagazine. com/story/hermes-roland-barthes-collaboration (25. 1. 2017). 9 R. Voight (wie Anm. 8).
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freier, unautorisierter, unkünstlicher, echter, ehrlicher, authentischer, origineller, materieller, schriftbildlicher, graphischer, ornamentaler, numerischer, konkreter, indexikalischer, progressiver, organischer, härter, dekontextualisierter, akohärenter, azentrierter, antihierarchischer, subversiver, liberaler, aporetischer, antinarrativer, lyrischer, polyphoner, musikalischer, pluraler, polyvalenter, komplizierter, widerspenstiger, provozierender, vorläufiger, performativer, interaktiver, transitorischer, brüchiger oder auch gebrochen-ironischer, alinearer, imperfekter, undogmatischer, befreiender, wohltuend-irdischer, moderner, postmoderner. Dennoch: Wir nehmen unfertige Texte tendenziell als Mangel wahr, als Manko, als negative Form, nicht als positive Überfülle, die wir einfach so sein lassen und hinnehmen können. Wir lesen immer mit, was fehlt. Mehr oder weniger unzufrieden, mehr oder weniger auch frustriert. In einer Ausstellung alle Textfragmente zu zeigen, die sich von Friedrich Schillers Arbeit an einem „Malteser“-Drama erhalten haben, ohne weitere Ordnung, ohne logische Reihe oder immerhin eine Chronologie, ohne jede Füllung durch Erklärungen, scheint uns immer noch ein zweifelhaftes Unterfangen. Unfertige Texte lösen in uns eine Art Handlungsdruck aus, spielen eine intendierte oder zufällige, evidente oder latente Dynamik aus und setzen Prozesse in Gang, die uns tatsächlich in ein Zwischen von Poesie und Prosa, Literatur und Wissenschaft, Schrift und Bild, Lesen und Schreiben führen. Diese Prozesse möchte ich im Folgenden mit einem Begriffstrio beschreiben, das entwickelt worden ist, um zu fassen, was ästhetische Erfahrung ist: Poesis, Mimesis und Aisthesis.10 Mehr als fertige Texte, so meine These, sind unfertige Texte eine Einübung in die ästhetische Erfahrung der Welt.
1 Poetischer Impuls ,Viel‘, ‚alles‘, ‚irgendwie‘, ‚egal‘ sind zweifelsohne keine guten philologischen Begründungen. Sie entstammen dem Feld der Beliebigkeit, zumindest des ästhetischen „Ich weiß nicht“. Jeder unfertige Text stellt uns mehr als ein fertiger auf die Probe und zwingt uns dazu, unsere Kategorien zu überdenken, weil wir ihn zwangsläufig im Hinblick auf das anschauen und lesen, was als Lücke da scheint – was scheinbar verloren ging oder was noch hätte kommen sollen. Unfer-
10 Hans Robert Jauß (Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt am Main 1982) benennt so drei Seiten ästhetischer Erfahrung; die produktive (Poesis: Konstruieren und Kennen), die rezeptive (Aisthesis: Ich weiß nicht was) und die kommunikative (Katharsis: Bewegen und Gefallen), die ich im Falle der unfertigen Texte radikal auf die mimetische Erfahrung zuspitzen möchte.
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tige Texte sind per se fehlerhafte und problematische Texte, die wir zu verstehen versuchen wie eine Sprache, die wir nicht ganz beherrschen, oder einen von Druckfehlern entstellten Text. Wir schieben ihnen das Naheliegendste unter und verstehen sie von dem aus, was wir kennen. Wir neigen dazu, wenn wir über sie sprechen, immer über ein anderes zu sprechen.11 Unsere gängigen Synonyme für unfertige Texte zeigen das: Fragment, Bruchstück, einzelnes Stück, Rest, Überrest, unvollendetes Werk, nicht fertiggestelltes Kunstwerk, Torso: Der Begriff benennt dem heutigen Sprachgebrauch nach den Teil einer abwesenden Ganzheit, ohne doch schon ihren Status als vergangen, als nie gewesen oder erst im Entstehen begriffen festzulegen, so daß er sowohl das unvollständig Überlieferte, wie auch das unvollendet Zurückgelassene abdecken kann.12
Rekonstruktion und Ergänzung liegen nahe. Eine Auflösung durch ein wiedergefundenes Stück ist nie auszuschließen. Ein unfertiger Text ist immer mit dem Gedanken an Alles und Viel Mehr verbunden, er vertritt ein Rudel und ist selbst ein Wimmelbild: Noch ein Wort zu den Schwierigkeiten beim Lesen: Das Elend der Heraklit-Interpretation ist, dass es sich bei den Fragmenten um Zitate aus einem Text handelt, dessen Kontext uns weitgehend unbekannt ist. Jedes Wort aber ist Vorwort und Nachwort. Hier ist Mut zur Mutmaßung erforderlich, aber auch Mut zur Lücke. Zu begegnen ist der faulen Vernunft, die etwas die cusanische coincidentia oppositorum als Passepartout zur Textentschlüsselung missbraucht. Zu begegnen ist auch dem schlechten Heraklitisieren derer, die noch heraklitischer – sprich tiefsinniger – sein wollen als Heraklit selbst.13
Wir versuchen nahezu automatisch, unfertige Texte zuzuordnen, sie an etwas anderes anzuschließen, zu datieren und zu verorten, in ihrem Ziel und Ursprung zu klären, zumindest in ihren Ursachen, auch durch die Zuschreibung zu einem Autor, das Einordnen in sein Leben und Werk und seine vorgebliche Situation: Abbruch durch Krankheit und Tod, äußere Umstände (wie Geldsorgen, Krieg, Ortswechsel), innere Widerstände (wie fehlende Lust, Überforderung, Unzu-
11 Vgl. Lucien Dällenbach/Christiaan L. Hart Nibbrig, Fragmentarisches Vorwort. In: Fragment und Totalität, hg. von L. Dällenbach und Ch. L. Hart Nibbrig, Frankfurt am Main 1984 (edition suhrkamp 1107), S. 7–17, hier 7. 12 Eberhard Ostermann, Fragment. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 3, hg. von Gert Ueding, Darmstadt 1996, S. 454–465, hier 455. 13 Günter Wohlfart, Heraklit von Ephesos. In: Handwörterbuch Philosophie, hg. von Wulff D. Rehfuss, Göttingen 2003, auch verfügbar als Online-Wörterbuch Philosophie, http://www.philosophie-woerterbuch.de/online-woerterbuch.
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friedenheit), Verlust durch Vernichtung oder Zerstreuung, Verwerfen oder auch Umnutzen des Materials, ein poetisches Programm oder auch, wenn wir überhaupt nicht weiterkommen in unserer Sehnsucht nach Ordnung und Sinn, gleich eine ganz andere Funktion – ein Aufschreiben, das keinen fertigen Text zum Ziel hat, das einfach ein Schreiben sein will (Roland Barthes’ ‚écriture‘). Ein Schreiben, von dem wir nicht einmal sagen können, es wäre aus diesem oder jenem Grund gescheitert, weil es zunächst auf nichts zielt, was über den Augenblick hinausgeht: Hinschreiben für sich, ins Formulieren durch Zeichnen, Malen, Sprechen kommen, ins Denken mit dem Stift oder den Tasten, der Seite eines Papiers oder der weißen Fläche eines Displays geraten, auch ein Sich-Auflösen ins Reich der Zeichen und An-einen-Punkt-Kommen, wo nichts mehr etwas bedeutet und spricht, aber alles ist. Letztlich ist für uns selbst die ‚écriture‘ noch ein Sinn und besser als nichts. Wir können nicht aus unserer Haut. Barthes hat dieses Produzieren und Leerlaufen von Zuordnungen am japanischen Haiku gezeigt, der so kurz ist, dass er auf uns wirkt wie eine Arabeske: Der ganze Zen – und der Haiku ist nur dessen literarischer Zweig – erscheint so als ein gewaltiges Verfahren, das dazu bestimmt ist, die Sprache anzuhalten, jene Art innerer Radiophonie zu brechen, die unablässig in unserem Inneren sendet, und dies noch bis in den Schlaf hinein (vielleicht hindert man die Übenden deshalb am Schlafen), um das unbezwingliche Geplapper der Seele zu leeren, auszutrocknen und in Sprachlosigkeit zu versetzen. […] Die Arbeit des Haiku liegt darin, dass die Befreiung vom Sinn durch einen vollkommen lesbaren Diskurs erfolgt (ein Widerspruch, welcher der westlichen Kunst versagt ist, da sie den Sinn nur in Frage zu stellen vermag, indem sie ihren Diskurs unverständlich macht); deshalb ist der Haiku in unseren Augen weder exzentrisch noch vertraut: er ähnelt allem und nichts: da er lesbar ist, halten wir ihn für einfach, nah, bekannt, köstlich, delikat, ,poetisch‘, mit einem Wort: legen wir ihm alle möglichen beruhigenden Prädikate bei; da er aber gleichwohl bedeutungslos ist, leistet er uns Widerstand, verliert er schließlich die Adjektive, die man ihm gerade noch zugesprochen hat, und tritt in jenen Schwebezustand des Sinns ein, der uns äußerst befremdlich ist, weil er die gebräuchlichste Übung unserer Sprache, den Kommentar, unmöglich macht.14
Dazudichten und Wegdichten, Lesen und Nicht-Lesen, Bezeichnen, Verzeichnen, Überzeichnen und Radieren. In einem Alltag, in dem alles und jedes zu sprechen scheint, sind solche Haikus ein Glück, weil sie eine Spaltung von Signifikat und Signifikant nicht zulassen und eben gerade nicht gleichgültig gegen ihre Form und ihre Materialität sind, wie wir es in unserer inhaltsbesessenen und sinn fixierten Kultur gerne hätten:
14 Roland Barthes, Das Reich der Zeichen, Frankfurt am Main 1981, S. 102 und S. 112.
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Wie viele wirklich bedeutungsleere Bereiche durchlaufen wir während eines Tages? Sehr wenige, manchmal gar keinen. Ich bin am Meer. Gewiss, es enthält keinerlei Botschaft. Doch am Strand, wie viel semiologisches Material! Fahnen, Werbesprüche, Schilder, Bekleidungen, sogar Sonnenbräune – sie alle sind Botschaften, sie alle teilen mir etwas mit.15
Die Denk- und Wertungsbewegungen, die unfertige Texte auslösen, verraten viel über unsere Literatur- und Textdefinition, die wir voraussetzen und immer wieder aufs Neue überschreiten und revidieren, die wir aber auch – in einem hermeneutischen und dialektischen Zirkel gefangen – als Norm brauchen, um die Abweichung zu sehen. Seit dem 18. Jahrhundert gilt als das Muster der Literatur der Roman, als das Ziel des Autors das fertige Werk, als das Ideal der Lektüre das selbst- und zeichenvergessene, aber sinnfixierte Lesen und als die Aufgabe der Literaturwissenschaft vor allem die zeitlose Text-Konstitution und -Exegese. Horst Thomé definierte 2003 vor diesem Hintergrund im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft das ,Werk‘ als: […] das fertige und abgeschlossene Ergebnis der literarischen Produktion, das einem Autor zugehört und in fixierter, die Zeit überdauernder Form vorliegt, so dass es dem Zugriff des Produzenten ebenso enthoben ist wie dem Verbrauch durch den Rezipienten. Texte, allgemeine Kunstgebilde, die vom Urheber nicht vollendet oder die durch die Überlieferung verstümmelt wurden, bezeichnet man im Gegensatz dazu als Fragmente.16
Das literarische Werk ist hier etwas, was vollkommen immateriell ist und allem entzogen ist, was Spuren hinterlassen könnte: „Zugriff“ und „Verbrauch“. Der Autor wird streng getrennt vom Produzenten, der, nachdem er einen Text einmal veröffentlicht hat, keine potenziell unendliche Serie der Fassungen produziert. Allerhöchstens die ‚letzte Hand‘ als allerletzter Akt der Fixierung ist in dieser Werkdefinition erlaubt. Sobald wir den statischen Werkbegriff durch einen transitorischen ersetzen, sieht auch die Definition des unfertigen Textes anders aus: Jeder Fragmentbegriff setzt dann, so Peter Strohschneider im selben Reallexikon zum Lemma ‚Fragment‘, „nach der Beziehungsregel von Teil und Ganzem – Standards für textuelle Vollständigkeit“ voraus.17
15 Roland Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt am Main 2010, S. 255, Fußnote. 16 Horst Thomé, Werk. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 3, hg. von JanDirk Müller, Berlin, New York 2003, S. 832–834, hier 832. 17 Peter Strohschneider, Fragment2. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearb. des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, gemeinsam mit Harald Fricke, Klaus Grubmüller und Jan-Dirk Müller hg. von Klaus Weimar, Bd. I, Berlin, New York 1997, S. 624 f., hier 624.
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Das heißt aber auch: Jeder unfertige Text kann neue Standards für „textuelle Vollständigkeit“ nach sich ziehen. Unfertige Texte sind dann Teile und sogar Initiale eines evolutionären literarischen Systems, in dem der Leser so wichtig wie der Autor wird und Lesen auch heißt, einen Text vor dem Hintergrund eines Erwartungshorizonts wahrzunehmen und diesen zu relativieren, wenn zum Beispiel Wahrnehmungsverlangsamung und Vorstellungsverzögerung Ziel und nicht Pannen der literarischen Verfahren sind.18 Parallel zum Entstehen eines Werkbegriffs wurde um 1800 der unfertige Text und mit ihm alles, was zu „Zugriff“ oder „Verbrauch“ gehört (der handschriftliche Text und die Loseblattsammlung, das Fragmentarisieren, Zweckentfremden, Zerschneiden und bewegliche Anordnen), als Gegensatz, aber auch als Teil des Werks reflektiert und öffnete dieses für Schreiber wie den Leser.19 Rousseau beschrieb in einem autobiographischen Fragment seine Textarbeit: Ich werfe meine Gedanken vereinzelt und ohne feste Reihenfolge auf Papierfetzen, ich füge daraufhin alles zusammen, egal wie schlecht, und auf diese Weise mache ich ein Buch (livre). […] Ich habe am Durchdenken (méditer), Suchen und Erfinden Freude; die Abneigung (dégout) gilt der Anordnung.20
Papierfetzen sind Orte der Textentstehung wie der Textrezeption, auch dann, wenn Autor wie Leser auf ein ‚Werk‘ zielen oder zumindest auf ein Buch. Legendär ist die Ursprungsanekdote von Meta Mollers Liebe zu Friedrich Gottlieb Klopstock: Angeblich fand Meta Teile des Messias zu Papilotten zerschnitten bei einer
18 Erstmals haben diese evolutionäre Dynamik die russischen Formalisten beschrieben (Viktor Sklovskij und Jurij Tynjanov), was dann Hans Robert Jauß und Wolfgang Iser zur Rezeptionsästhetik weiterentwickelten und inzwischen zu einem Werkbegriff geführt hat, der Unfertigkeit voraussetzt und das Nachleben miteinschließt. Vgl. Der unfeste Text. Perspektiven auf einen literatur- und kulturwissenschaftlichen Leitbegriff, hg. von Barbara Sabel und André Bucher, Würzburg 2001; Georges Didi-Huberman, L’image survivante. Histoire de l’art et temps des fantômes selon Aby Warburg, Paris 2002; Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste. Epistemische, ästhetische und religiöse Formen von Erfahrung im Vergleich, hg. von Gert Mattenklott, Hamburg 2004; Carlos Spoerhase, Was ist ein Werk? Über philologische Werkfunktionen. In: Scientia Poetica, 11, 2007, S. 276–344; Die Kunst der Rezeption, hg. von Marc Caduff, Stefanie Heine und Michael Steiner, Bielefeld 2015. 19 Vgl. Lothar Müller, Weiße Magie. Die Epoche des Papiers, München 2012; Carlos Spoerhase, „Manuscript für Freunde“. Die materielle Textualität literarischer Netzwerke 1760–1830. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 88, 2014, S. 172–205; Christian Benne, Die Erfindung des Manuskripts. Zu Geschichte und Theorie literarischer Gegenständlichkeit, Frankfurt am Main 2015. 20 Jean-Jacques Rousseau, Mon Portrait, zit. nach: Ch. Benne, Die Erfindung des Manuskripts (wie Anm. 19), S. 213.
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Freundin, hat sie zusammengeklebt, vorgelesen und nach Mehr von Autor und Werk gefragt.21 Schiller, der 1782 in seinem Erstling Die Räuber (erster Akt, zweiter Aufzug) das Buch als potenzielle Einwickelpapierquelle für Nürnberger Lebkuchen sah, plädierte für die unvollkommenen, aber nicht notwendig unfertigen Texte: Nicht immer ist es der innere Gehalt einer Schrift, der den Leser fesselt; zuweilen gewinnt sie ihn bloß durch charakteristische Züge, in denen sich die Individualität ihres Urheber offenbart; eine Eigenschaft, die oft gerade die vollendesten Werke eines Autors verleugnen.22
Goethe, der schon 1774 vortäuschte, den Werther als Brief-Sammlung nur zu edieren, und 1787 seinen Faust als „Ein Fragment“ drucken ließ, verfolgte auch später eine regelrechte Textrelativierungsmethode. Den West-Östlichen Divan kommentierte er daher unter anderem mit einer Bemerkung zum „Künftigen Divan“: In jüngeren Jahren würd’ ich ihn länger zurückgehalten haben, nun aber find’ ich es vorteilhafter, ihn selbst zusammenzustellen, als ein solches Geschäft, wie Hafis, den Nachkommen zu hinterlassen. Denn eben dass dieses Büchlein so dasteht, wie ich es jetzt mittheilen konnte, erregt meinen Wunsch ihm die gebührende Vollständigkeit nach und nach zu verleihen.23
Vom Faust II erschien zu Goethes Lebzeiten auch in seinen sämtlichen Werken „Ausgabe letzter Hand“ (1828/29) nur ein Teilstück, an dessen Schluss er den Kaiser zu Mephistopheles sagen lässt: „Sei stets bereit wenn eure Tageswelt / Wie’s oft geschieht, mir widerlichst mißfällt.“ Die Verlags-Ankündigung (1826) korrigierte Goethe eigenhändig: Die deutsche Cultur steht bereits auf einem sehr hohen Punkte, wo man fast mehr als auf den Genuß eines Werkes, auf die Art, wie es entstanden, begierig scheint. Da man weniger geneigt ist, mit dem Autor sich zu einigen und mit ihm fortzuleben, als den Werth seiner Produktionen zu schätzen; so ward dieser Zweck besonders in’s Auge gefaßt, und die Bezeichnung vollständig will sagen, daß theils in der Auswahl der noch unbekannten Arbeiten, theils in Stellung und Anordnung überhaupt vorzüglich darauf gesehen worden, des Verfassers Naturell, Bildung, Fortschreiten und vielfaches Versuchen nach allen Seiten
21 So erzählt es Metas Schwester Elisabeth. „Es sind wunderliche Dinger, meine Briefe“. Meta Klopstocks Briefwechsel mit Friedrich Gottlieb Klopstock und ihren Freunden 1751–1758, hg. von Franziska und Hermann Tiemann, München 1980, S. 15. 22 Friedrich Schiller, Vermischte Schriften. In: Schillers Werke (Nationalausgabe), Bd. 22, hg. von Herbert Meyer, Weimar 1958, S. 102. 23 Johann Wolfgang von Goethe, West-Östlicher Divan. In: Goethe, Sämtliche Werke (Münchner Ausgabe), Bd. 11.1.2, hg. von Katharina Mommsen und Karl Richter, München 1998, S. 201.
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hin klar vor’s Auge zu bringen, weil außerdem der Betrachter nur in unbequeme Verwirrung gerathen würde. Der Ausdruck lezter Hand jedoch ist vorzüglich vor Mißverständniß zu bewahren. Wo er auch je gebraucht worden, deutet er doch nur darauf hin, daß der Verfasser sein Leztes und Bestes gethan, ohne deßhalb seine Arbeit als vollendet ansehen zu dürfen.24
Adorno wird das in der Negativen Dialektik so formulieren: „Sobald die Kunstwerke die Hoffnung ihrer Dauer fetischisieren, leiden sie schon an ihrer Krankheit zum Tode.“25 Zu diesem dynamischen Werkbegriff, der schon um 1800 sein Ideal im unfertigen Text und nicht im fertigen sieht, gehört auch, dass Texte reines Material (Papilotten oder Einwickelpapier) oder auch reine Spur (Reliquie) werden können. Von Schiller haben sich nur wenige Manuskriptteile seiner fertigen, abgeschlossenen Texte erhalten. Aufbewahrt hat er die unfertigen und, bei den späten, manche der Vorarbeiten, wohl um daran noch weiterzuschreiben oder sie umzunutzen. Nach seinem Tod wurden diese von der Familie zerschnitten, um Freunden und Verehrern ein Andenken zu geben. Auch Hans Christian Andersen, der dänische Märchendichter, hat so ein Text-Stück von Schillers Ehefrau erhalten: „stellen Sie sich vor, die alte Frau Wolzogen schnitt ein Stück aus Schillers Manuskript zum Wilhelm Tell, damit ich seine Handschrift haben könnte.“26 Dieses Textzerstückeln ist Teil einer Erinnerungskultur, die um 1800 auch da, wo Texte ganz fehlten, produktiv genutzt wurde. So hat ein unbekannter Autor 1794 ein Fake-Fragment gebastelt und in ein Stammbuch geklebt („Fragment aus den Jahrbüchern der Menschheit“), das vorne und auf der Rückseite geschichtsträchtige Kräfte aufzählt, von den Kreuzzügen bis zum Terror der Revolutionsregierung in Frankreich („Freyheit – Guillotine – – Zahneknirschen des Despotismus“), und mit einem Zitat von Horaz schließt: „Damnosa quid non imminuit dies“ („Fluch der Zeit, was wird nicht von ihr verringert?“).27 Im 19. Jahrhundert wird dieses bewusste Fragmentarisieren weitergetrieben, auch im sogenannten literarischen Realismus. Eduard Mörike zum Beispiel fabri zierte ganze Fragment-Serien (zum Teil mit Texten von Sappho, Laotse, Schiller und Hölderlin, zum Teil mit eigenen), riss an den Blättern Kanten weg, versah die Ränder mit einem Meer von Strichen oder einem Himmel aus Klecksen und gab
24 DLA Marbach, A: Cotta: Briefe von Goethe, 1. März 1826. 25 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie (wie Anm. 4), S. 49. 26 Friedrich Schiller, Die Braut von Messina. Wilhelm Tell. Die Huldigung der Künste. In: Schillers Werke (Nationalausgabe), Bd. 10, hg. von Siegfried Seidl, Weimar 1980, S. 434. 27 DLA Marbach, A: Stammbücher Trier, Carl Siegfried, Zugangsnr. 60.590.
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Abb. 1: Künstliches Fragment aus dem Stammbuch von Carl Siegfried Trier, 1794
auch fertige Textteile zum Abschreiben und also zur Reproduktion des Unfertigen an Freunde weiter.28 Als Gottfried Keller 1871 mit einer Überarbeitung des Grünen Heinrich begann, entschied er sich dafür, dem Roman „einen künstlich fragmentarischen Anstrich“ zu verleihen, „so daß alles drin stünde, was man sagen will, ohne dass der Rahmen fertig ist“.29 1878 berichtete er Theodor Storm, er würde nun nicht mehr wie bei der ersten Fassung auf den Tod von Heinrich hinschreiben, sondern ihn „still und dunkel“ fortleben lassen, „durch einen Unfall der Hilfe und Pflege bedürftig“.30 Laurence Sterne war einer der Ersten, die den Leser durch Fragmentarisieren bewusst zum Mitschreiber machten. Sein 1763 erstmals vollständig publizierter Tristram Shandy ist mit seinen drei textfreien Blättern – einer weißen Seite, einer schwarzen und einer marmorierten, die quasi ihr Wasserzeichen außen trägt – das berühmteste Beispiel dafür, wie freie, aber definierte, also offensichtlich unfertige Stellen benutzt werden, um dem Leser auch im gedruckten Buch einen Erfahrungsraum der besonderen Art zu eröffnen. Sternes Auspiziengebiete, die der Erfahrung der Textentstehung wie der Reflexion des Produkts gelten, wollen dabei nicht langsamen Schrittes durchmessen werden. „Great wits jump“, „Große Geister springen“ ist sein Leitmotiv. Das weiße Blatt zu Beispiel begleitet er denn auch mit allerlei Hüpfern, die dem Leser Papier, Stift und Tinte in die Hand geben:
28 Dazu Beispiele in: Randzeichnungen. Nebenwege des Schreibens, Marbach am Neckar 2010, und Unterm Parnass. Die Dauerausstellung im Schiller-Nationalmuseum, hg. von Heike Gfrereis und Ulrich Raulff, Marbach am Neckar 2009. 29 Gottfried Keller an Emil Kuh, 3. April 1871. In: Gottfried Keller, Gesammelte Briefe, Bd. 3, 1, hg. von Carl Helbling, Bern 1952, S. 156. Vgl. Philipp Ajouri, Erzählen nach Darwin. Die Krise der Teleologie im literarischen Realismus, Berlin 2007. 30 G. Keller an Theodor Storm, 25. Juni 1878. In: G. Keller, Gesammelte Briefe, Bd. 3, 1 (wie Anm. 29), S. 421.
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Abb. 2 und 3: Zwei künstliche Fragmente von Eduard Mörike: Gedanken des Laotse und fingierte Imitation von Friedrich Schillers „Untertänigstem Promemoria“
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To conceive this right, – call for pen and ink –; here’s paper ready to your hand. Sit down, sir, paint her to your own mind; – as like your mistress a you can, – as unlike your wife as your conscience will let you, – t’is all one to me, – please but your own fancy in it.31
Weiße Flächen, Striche, Kleckse, Flecken, Wolken, Schatten, Farben, Löcher und andere Text- und Bildruinen legen uns, so hat es Alexander Cozens beschrieben, Ideen nur nahe: Skizzieren in geläufiger Weise bedeutet, Ideen vom Verstand aufs Papier oder auf Leinwand zu transformieren, und zwar in Umriss und ausgesprochen dünner Linie. Einen ‚blot‘ zu machen, bedeutet dagegen, Flecken und Formen mit Tinte aufs Papier zu bringen, womit zufällige Formen ohne Linien produziert werden, von denen dem Verstand Ideen präsentiert werden. Dies steht in Übereinklang mit der Natur: denn auch in der Natur sind Formen nicht durch Linien unterschieden, sondern durch Schatten und Farbe. Skizzieren bedeutet, Ideen zu zeichnen; ‚blotting‘ bedeutet, Ideen nahezulegen.32
Gefüllt – ausgemalt und ausgeschmückt – und umrandet – definiert und verbunden – werden solche Flecken und (um ‚blot‘ in seiner vollen englischen Bedeutung ernst zu nehmen) Makel von uns. Die Aufgabe der Herstellung und Konstruk tion, der Poesis, liegt beim Betrachter und Leser. Das Unfertige löst bei uns einen Ergänzungs-, Aneignung- und Kreativitätsimpuls aus. Was sich auch die Werbung zunutze macht, nicht nur die Kunst, um wieder bei den Kochbüchern herauszukommen: Der Backmischungs-Hersteller Pillsbury (Knack & Back) bemerkte, dass sich seine Fertigkuchen-Packungen immer schlechter verkauften. Aber woran lag das: an der Rezeptur? Am Geschmack? An der Verpackung? Irgendwann kamen die Pillsbury-Manager auf die Idee, es könnte daran liegen, dass die Kunden den fertigen Kuchen nicht als ‚ihren‘ empfanden. Klar, es ist einfach, mit einer fertigen Backmischung zu backen. Jedes Kind kann das. Aber entsprechend gleich sehen alle Kuchen aus. Das Prinzip war einfach zu perfekt. Also empfahl der Psychologe und Marketing-Experte Ernest Dichter dem Konzern, einige Zutaten bewusst wegzulassen: Statt den enthaltenen Trockeneiern, wurden die Kunden gebeten, selber ein paar frische Eier in den Teig zu geben, ebenso Milch und Öl. Und tatsächlich: Aus der Backmischung wurde ein eigener Kuchen. Die Umsätze schossen in die Höhe, weshalb der Coup auch als Ei-Theorie in die Geschichte einging …33
31 Laurence Sterne, Live and opinions of Tristram Shandy, Gentleman. A new edition, Altenburgh 1772, Bd. 5, S. 24. 32 Zit. nach: Adolf Paul Oppé, Alexander und John Robert Cozens, London 1951, S. 70. Vgl. auch Werner Busch, Das sentimentalische Bild, München 1993. 33 Jochen Mai, Ei-Theorie. Mehr Erfolg durch Unfertiges, 27. 5. 2015, http://karrierebibel.de/ ei-theorie/ (7. 6. 2017).
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2 Mimetischer Impuls Richard Brinkmann, der vom realistischen und geschlossenen, glatt und gut lesbaren Roman ausgeht, schrieb über Fontanes Arbeit an „Allerlei Glück“: Er musste auch hier einsehen, daß er sich übernommen hatte und daß diese Vielheit, ausgebreitet in extenso, nicht seine Sprache war, sondern der einzelne Fall mit seinen verschiedenen und besonderen Aspekten.34
Petra McGillen wendete ein Fontane-Zitat dagegen: Ich sammle jetzt Novellenstoffe, habe fast ein ganzes Dutzend, will aber mit der Ausarbeitung nicht eher vorgehn, als bis mir noch mehr zur Verfügung stehn. Es liegt für mich etwas ungemein Beruhigendes darin über eine Fülle von Stoff disponiren zu können, etwa wie wenn man mit einer Extra-Summe auf der Brust leichter auf Reisen geht, wie wenn man schon zwischen Berlin und Jüterbog an zu rechnen fängt und von der Frage gequält wird: wird es auch reichen?35
Der Autor Fontane zielte auf fertige Texte, aber er tat das bewusst mit einem Überschuss, vielleicht auch einer Masse an Stoff, an unfertigen, beweglichen und vorformatierten Texten, von denen er wusste, dass sie nicht alle weiterverwendet werden. Der Abbruch von „Allerlei Glück“ ist hier keine Tragödie des Autors, der sich übernommen hat, sondern Ergebnis einer Schreibmethode, die viele Vorteile besitzt, weil sie nicht immer direkt zum Ziel führen muss. Wer über eine „ExtraSumme“ verfügt, der muss nicht sparen, aber er kann. Das Zuviel an Material, Figuren und Ideen, das Brinkmann sah, war für Fontane selbst Vorrat, nicht Last. Unfertige Texte sind, das hat Petra McGillen in ihrer Fontane-Arbeit musterhaft gezeigt und das demonstriert jeder Zettelkasten, natürlich auch ein Kreativitätsstoff für den Autor, nicht nur für den Leser.36 Sie führen uns allerdings an die Grenzen, wenn sie so bruchstückhaft sind, dass wir sie zwar entziffern, aber dennoch kaum lesen können. Schnell erscheint dann ein Blatt wie das andere, der unfertige Text ist im Grunde keiner, wenn man ihn wie Roland Reuß anschaut:
34 Richard Brinkmann, Theodor Fontane. Über die Verbindlichkeit des Unverbindlichen, Stuttgart 1967, S. 65 f. 35 Fontane an Mathilde von Rohr, 15. Mai 1878. In: Theodor Fontane, Briefe an Mathilde von Rohr, hg. von Kurt Schreinert, Berlin 1970, S. 184. 36 Vgl. Petra Spies [= McGillen], Original Compiler. Notation as Textual Practice in Theodor Fontane, Diss. Princeton University, Princeton 2012; Zettelkästen. Maschinen der Phantasie, hg. von Heike Gfrereis und Ellen Strittmatter, Marbach am Neckar 2013.
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Enthalten Entwurfshandschriften mehr oder weniger zahlreiche Unter- und Überschreibungen, Einfügungen, Streichungen, Restitutionen, Nicht-Entscheidungen und Unentscheidbarkeiten, kurz: eine Menge Unordnung, so zeigt sich im Unterschied dazu am Text, dass dessen Begriff primär eine ordnende und geordnete Einheit meint. Der poetische Text – er markiert das Moment der Einheit im Begriff der Literatur – ist seiner topologischen Verfaßtheit nach strikt linear organisiert, ein Buchstabe steht, unterbrochen nur von den Markierungen der Zeile der formalen Einheiten (Absatz, Kapitel u.s.w.), neben dem anderen […].37
Sprachliche Gegenstände sind nicht zwangsläufig Texte. Janos Petöfi hat diese Trennung in der Linguistik eingeführt: For us, textuality is not an inherent quality of verbal objects. A producer or a recipient considers a verbal object a text when he/she believes that this verbal object is a complete and coherent whole, which correspondens to a real or assumed situation of communication.38
Zum Problem werden unfertige Texte, wenn sie als Teil einer Kommunikation verstanden werden, wenn sie zum Beispiel kommentiert und ediert und also in ein lineares und geschlossenes, für das lineare Lesen bestimmtes Medium wie das Buch überführt werden sollen. Oft wird daher über fragmentarische Texte fragmentarisch geschrieben: From Heraclitus onwards an entire research tradition on the fragment has tended to focus on the fragment’s (ruined) form and (incomplete) content. In spite of the fact that the body of literature on the fragment is varied and vast a pertinent question can still be asked. What if the fragment is more than a part/whole relation? Before attempting to answer the question, if there are any answers, one is tempted to follow closely in the steps of Emile Cioran, who said, for example, that „a distinct idea is an idea with no future“. I believe that much of the appeal to the fragment relies on the fact that one can never be sure. Consequently, answering the question, „what is a fragment?“ requires a language which would articulate the problematics of the fragment in ways appropriate to it. When it comes to the fragment, I say it with Cioran: „certainties have no style“. The fragment demands, however, that one speaks about it with the urgency of all styles, which is rigour. The fragment always begins in a state of being (im)proper and gradually becomes a necessary impropriety of the proper.39
37 Roland Reuß, Text, Entwurf, Werk. In: Text. Kritische Beiträge, 10, 2005, S. 1–12, hier 7. 38 Janos S. Petöfi, Explikative Interpretation – interpretatives Wissen, zit. nach: Michael Bauks/ Wayne Horowitz, Between Text and Text. The Hermeneutics of Intertextuality in Ancient Cultures and Their Afterlife in Medieval and Modern Times, Göttingen 2013, S. 294. 39 Camelia Elias, „The Fragment“ and „Ten Theses on the Fragment“, Respiro, 10, 2002, http:// www.respiro.org/Issue10/eseu_elias.htm (7. 6. 2017). Seit 2007 gibt es ein Online-Magazin für fragmentarisches Schreiben (FragLit, http://fraglit.com/flit/archives/category/work-frag) mit einer Rubrik „Fragments in Fragments“.
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Meist schärfen Editoren ihre Methoden an unfertigen Texten, nicht an fertigen. Hölderlin – im 20. Jahrhundert Gegenstand von drei epochemachenden Editionen, jenen von Hellingrath, Beißner und Sattler – ist ein Autor des Unfertigen und Unfesten, ebenso Kafka, dessen Editoren den Weg vom geschlossenen Roman (Max Brod) zum offenen Nebeneinander der Konvolute oder auch zum Zettelkasten (Roland Reuß und Peter Staengle) gegangen sind. Der Umgang mit unfertigen Texten provoziert das Abbild, die Reproduktion, das Faksimile, das durch Scannen entstandene Digitalisat und zumindest die Mimesis. Als Herbert Kraft Schillers Fragmente edierte, ließ er sie auch in ihrer graphischen, räumlich-strukturellen Anordnung wiedergeben und nicht als Fließtext, weil „bei Entwürfen auch in der Anordnung Relationen zwischen einzelnen Teilen bestehen. Da also die Anordnung eine strukturelle Wertigkeit besitzt.“40 Ebenso entschied er sich dafür, alle Texte rhizomartig nebeneinander zu stellen: Vertritt das Fragment das Werk, indem es seine Vorstufe ist, gibt es keine Vorstufen des Fragments. Die ästhetische Qualität von Werkcharakter verlangt als Ort in der Ausgabe den ‚Text‘; für fragmentarische Werke folgt daraus, dass eine Trennung von Text und ‚Varianten‘ (,Lesarten‘) unzulässig ist.41
Das heißt: „Die sogenannten Alternativen sind Bestandteil desselben Textes, darum keine Varianten; sie sind konstitutive Textelemente.“42 In der Konsequenz bedeutet diese mimetische Wiedergabe unfertiger Texte, dass wir sie ohne Interpretation lesen, buchstabengetreu, Signifikant für Signifikant. „Ästhetik der Schrift. Kafkas Schrift lesen ohne eine Interpretation dazwischen zu mengen?“, betitelten Detlef Kramer und Nikolaus Wegmann 1998 einen Aufsatz.43 Dieses Auf-die-Schrift-als-Schrift-Schauen, dieses Lesen ohne Interpretieren und damit ohne substanzielle Unterscheidung zwischen fiktionalen und faktualen Texten ist ebenfalls keine Erfindung der Postmoderne, sondern eine Erfahrung der Autoren selbst. Max Bense, so erzählte seine Witwe Elisabeth
40 Herbert Kraft, Editionsphilologie, Darmstadt 1990, S. 107. Vgl. zum gesamten Komplex der Fragment-Edition: Rüdiger Nutt-Kofoth, Konzepte der Fragmentedition und ihre Probleme. In: Fragment und Gesamtwerk. Relationsbestimmungen in Edition und Interpretation, hg. von Matthias Berning und Stephanie Jordans, Kassel 2015, S. 13–27. 41 Friedrich Schiller, Dramatische Fragmente. In: Schillers Werke (Nationalausgabe), Bd. 12, hg. von Herbert Kraft in Zusammenarbeit mit Klaus Harro Hilzinger und Karl-Heinz Hucke, Weimar 1982, S. 355. 42 Herbert Kraft, Editionsphilologie, neu bearb. und erw. Aufl., Berlin 2001, S. 132. 43 Detlef Kremer/Nikolaus Wegmann, Ästhetik der Schrift. Kafkas Schrift lesen ohne eine Interpretation dazwischen zu mengen? In: Ästhetik im Prozeß, hg. von Gerhard Rupp, Opladen 1998, S. 53–84.
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Walther einmal bei einer Marbacher Veranstaltung 2005, konnte kaum selbst lesen, was er geschrieben hatte, weil die Notate für den Moment des Denkens bestimmt waren und nicht für das spätere Entziffern. Harry Walter, einer seiner Studenten, beschrieb Benses Tafelaufzeichnungspraxis: Schon zu Beginn der Vorlesung hätte einen die Ahnung befallen können, dass die Funktion der Tafel sich nicht darin erschöpfen würde, lediglich als Trägerfläche für einige vorlesungstechnische Informationen zu dienen. Hierfür war die Bewegung des hin- und herpendelnden Philosophen zu expressiv, zu unstet, zu geladen. Von der gähnend leeren Fläche schien zudem ein Sog in die Tiefe auszugehen, der schon von sich aus nach beschwörenden Abwehrformeln verlangte. Die aus dem Handgelenk herausgedrehten Zeichen bestanden nun keineswegs bloß aus Buchstaben und Zahlen, sondern praktisch aus allem, was sich mit Hilfe eines Stückes Kreide hervorbringen lässt. Ich erinnere mich neben allerlei Worten, Zahlen und Kürzeln an gerade, eckige, punktierte und sägezahnartige Linien; an Dreiecke, Rechtecke, Vielecke und sich nach allen Seiten wie Astwerk oder Eisblumen ausbreitende Liniengerüste; an komplexe Kurven und Schraffuren; an gezeichnete Blätter und Gesichtsprofile; an Piktogramme, Diagramme und Seismogramme, an Tabellen, an undefinierbare Schleifen und seltsame Formeln für dies und das; vor allem aber an gleichseitige Dreiecke mit der Spitze nach oben. […] Dass aber solche der Bewegung abgerungenen Denkfiguren neben ihrer sprachlichen fast im selben Moment auch eine visuelle Gestalt annehmen konnten – zwei grundverschiedene Vorgänge, die zudem noch in seltsamer Weise miteinander wechselwirkten –, diese Beobachtung hat mich so sehr beeindruckt, dass ich bis heute nicht von der Idee loskomme, es könne so etwas wie eine abstrakte philosophische Notation geben, die sich, ohne je die klassische Form eines Textes anzunehmen, direkt in gesprochene Sprache verwandeln ließe.44
Gottfried Benn lässt in Weinhaus Wolf ein alter ego sagen: Von Haus aus wollte ich ja Schriftsteller werden, doch um Schriftsteller zu werden, muss man vor allem seine eigene Handschrift lesen können und daran mangelte es bei mir von je her. Hinsichtlich eines Romans mußte man außerdem die Zeit anerkennen, doch das Wort enthielt keine Zeit, und ich liebte es, in Worten zu formulieren.45
Außerhalb der Zeit, nur in Worten formulierend und nur zum Bild der Signifikanten vordringend, das ist für den Schriftsteller ziemlich hinderlich, für den Dichter, den Lyriker aber nicht unbedingt, im Gegenteil: Schrift, die sich der Interpretation
44 Max Benses Marbacher Denkmaschinen, auf Einladung von Heike Gfrereis in Gang gesetzt von Harry Walter, zitiert nach dem unveröffentlichten Vortragsmanuskript mit Einverständnis des Verfassers. Vgl. Jonnie Döbele, Max Bense 6.12.76, 18.15–19.20 h Aufnahmen vom Hörsaalsitz, Köln 2015. 45 Gottfried Benn, Künstlerische Prosa. In: G. Benn, Sämtliche Werke (Stuttgarter Ausgabe), hg. von Holger Hof, Stuttgart 2006, S. 139.
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sperrt, öffnet sich für anderes. Goethe, der wie die Schiller-Verehrer Autographen unabhängig vom Inhalt und von ihrer Textualität sammelte („Auch bloß Couverte und Namensunterschriften nehme ich sehr gern auf“),46 nutzte sie als verbale Objekte, die wie ein Medium funktionieren: „da mir die sinnliche Anschauung durchaus unentbehrlich ist, so werden mir vorzügliche Menschen durch ihre Handschrift auf eine magische Weise vergegenwärtigt.“47 So störte ihn auch, anders als Wilhelm von Humboldt, der ihm einige Kant-Autographen schickte, nicht das Neben- und Durcheinander der Themen und Textarten und also nicht die mehr oder weniger ausgeprägte Textualität der Handschriften: Kant hatte die Gewohnheit sich Notatenbücher in dieser Form zu halten. Er schrieb alles, was ihm einfiel, hinein, ohne alle nur denkbare Ordnung und es ist ordentlich traurig zu sehen, wie die größesten Trivialitäten des Lebens die bedeutendste Rolle drin spielen, wenn gleich die Metaphysik auch mitunter darin figurirt. Den Küchenzettel, die zu Mittag eingeladenen Personen, und sein Befinden trifft man daher am häufigsten und fast auf jedem Blatte an. So haben Sie hier dicht neben einander: Trocken Obst mit geräuchertem Bauchspeck, und Gott und die Welt, und auf der andern Seite eine Blähung aus dem Magenmunde.48
Bei Schiller wie bei Kant, Benn, Hesse, Kafka, Fontane49 und vielen anderen Autoren – also nicht nur bei den Lyrikern, sondern auch den Romanautoren und Philosophen – mischen sich in den Handschriften Textteile von unterschiedlichsten Projekten. Kafkas Prozess, parallel in zehn Oktavhefte mit diversen anderen Sachen geschrieben, ist sicherlich das berühmteste Beispiel. Schreiben ist hier zunächst einmal ein alinearer, kein linearer Prozess, sichtbar und auch begreifbar: Blätter werden zum Beispiel auf den Kopf gestellt oder gedreht und ringsherum beschrieben, Notizhefte durchaus von zwei Seiten aus begonnen, von vorne nach hinten und von hinten nach vorne. Sie haben ihre Texte zunächst mehr-
46 Goethe an Johann Friedrich Blumenbach, 20. Juni 1806. In: Goethe, Briefe, Weimarer Ausgabe IV, 19, Weimar 1887, S. 139. Vgl. Sebastian Böhmer, Die Magie der Handschrift. Warum Goethe Autographe sammelte. In: Zeitschrift für Ideengeschichte, V, 4, 2011, S. 97–110. 47 Goethe an Friedrich Heinrich Jacobi, 10. Mai 1812. In: Goethe, Briefe, Weimarer Ausgabe IV, 23, Weimar 1900, S. 6. 48 Wilhelm von Humboldt an Goethe, 26. Dezember 1809. In: Goethes Briefwechsel mit Wilhelm und Alexander v. Humboldt, hg. von Ludwig Geiger, Berlin 1909, S. 209 f. 49 Zu Fontane vgl. Gabriele Radecke, Vom Schreiben zum Erzählen. Eine textgenetische Studie zu Theodor Fontanes „L’Adultera“, Würzburg 2002; Gabriele Radecke, Popularität und Wissenschaftlichkeit. Möglichkeiten, Probleme und Grenzen textkritischer Verfahrensweisen am Beispiel der Studienausgaben von Theodor Fontanes erzählerischem Werk. In: Was ist Textkritik? Zur Geschichte und Relevanz eines Zentralbegriffs der Editionswissenschaft, hg. von Gertraud Mitterauer u. a., Tübingen 2009 (Beihefte zu editio 28), S. 265–276.
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dimensional und kreuz und quer geschrieben und dann allmählich erst durch Abschreiben oder auch Herausreißen und Umordnen linearisiert. Fragmentarisieren, Ergänzen, Vernichten, also Zugreifen und Verbrauchen sind elementare Bestandteile dieser Schreibarbeit. Potenziell also ist jeder dieser fertigen Texte auch (noch und wieder) ein unfertiger. Wer sie de- und auch rekonstruieren möchte, der muss zwangsläufig den Weg zurückgehen, wozu ihm die Texte als visuelle Objekte vorliegen müssten, in allen Ausmaßen und Schichten, bis in ihre ehemals oder immer noch unfertigen Zustände hinein: zeilen- und positions-, aber auch richtungs-, größen-, farbund materialgenau und auch in ihren Ordnungen zueinander beweglich. Jede analoge Edition und jede Ausstellung kann diese Mimesis immer nur für einen Moment herstellen, weil sie sich für eine Kombination entscheiden und sie also fixieren muss, selbst dann, wenn sie die Originale zeigt. Die digitale Edition muss nicht fixieren, aber sie entzieht das Blatt und das Heft der Hand und fordert also andere Bewegungen, andere Relativierungen und Fokussierungen, Richtungen und Schichten. Die volle Körperlichkeit unfertiger Texte bleibt uns daher entzogen, wir haben maximal ihr Bild oder ein Bild von ihnen.
3 Ästhetischer Impuls Jorge Luis Borges hat In die Mauer und die Bücher für das Ästhetische eine oft zitierte Definition gefunden: Die Musik, die Zustände des Glücks, die Mythologie, die von der Zeit gewirkten Gesichter, gewisse Dämmerungen und gewisse Orte wollen uns etwas sagen oder haben uns etwas gesagt, was wir nicht hätten verlieren dürfen, oder schicken sich an, uns etwas zu sagen: Dieses Bevorstehen einer Offenbarung, zu der es nicht kommt, ist vielleicht der ästhetische Vorgang.50
Etwas ästhetisch empfinden bedeutet so immer auch zu wissen, dass etwas flüchtig ist und nicht vollendet, es ist transaktuell51 und letztlich auch immer unfertig und unglatt: Doch was, wenn das, „was bleibet“ [in Anlehnung an Hölderlins „Was bleibet aber, stiften die Dichter“], der Rest selber ist, das, was Schelling als den ‚niemals aufgehenden Rest‘
50 Jorge Luis Borges, Die Mauer und die Bücher. In: Borges, Inquisitionen, Frankfurt am Main 1992, S. 11–14, hier 14. 51 Vgl. Transaktualität. Ästhetische Dauerhaftigkeit und Flüchtigkeit, hg. von Stefanie Heine und Sandro Zanetti, Bielefeld 2017.
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bezeichnet, das, was aus dem organischen Ganzen herausragt, der Exzess, der sich nicht in die soziohistorische Totalität eingliedern lässt, so dass die Dichtung, weit davon entfernt, das harmonische Gesamtbild einer Epoche zu zeichnen, dem eine Stimme verleiht, was eine Epoche nicht in ihre Erzählung(en) zu integrieren vermochte?52
Wir lesen daher auch fertige Texte immer fragmentarisch, allein schon aus praktischen Gründen, weil wir, wenn wir sie in einem Zug lesen, nie buchstabengenau lesen und, wenn wir sie zitieren und uns also um Buchstabengenauigkeit zumindest bemühen, zwangsläufig nie vollständig zitieren. Peter Szondi hat sich Textstellen abgeschrieben und zurechtgeschnitten „wie ein Fragment“.53 So wie Goethe seine Texte für den Produzenten öffnete, indem sie für ihn alle nicht abschließend fertig waren, werden sie in der modernen Philologie progressiv verstanden: Ein Text verändert sich, solange die Tradition nicht abgeschlossen ist und sein Kontext sich verändert. Die Tradition ist der unendliche Text, dessen Teile die Texte sind. Daß die Texte einander in der Beziehung verändern, bezeugt ihre Zugehörigkeit zur Tradition, das heißt ihre Geschichtlichkeit. Dazu gehört, daß sie sich nie in der Endgültigkeit beruhigen, sondern im Rahmen des immer fragmentarischen Traditionstextes unfertig und verändernden Einflüssen zugänglich bleiben.54
Dieser immer unfertige literarische Text (und damit auch das fertige Werk) lässt sich nur eine Zeit lang von seiner Materialität lösen, ehe er uns wieder auf sie verweist: Das literarische Werk ist kein für sich bestehendes Objekt, das jedem Betrachter zu jeder Zeit den gleichen Anblick darbietet. Es ist kein Monument, das monologisch sein zeitloses Wesen offenbart. Es ist wie eine Partitur auf die immer neue Resonanz der Lektüre angelegt, die den Text aus der Materie der Worte erlöst und ihn zu aktuellem Dasein bringt: […]55
Literatur, vom Paradigma des unfertigen Textes aus betrachtet, das seit dem 18. Jahrhundert den Werkdiskurs der Schriftsteller und dann auch zunehmend der Literaturwissenschaftler bestimmt, bringt uns ins Zweifeln. Das hat sie mit den Theorien gemein, die wir inzwischen wie Literatur und nicht nur, wie es Jonathan Culler beschreibt, für die Literatur lesen:
52 Slavoj Žižek, Die gnadenlose Liebe, Frankfurt am Main 2001, S. 131. 53 Vgl. Christoph König, Philologie der Poesie, Berlin 2014, S. 109. 54 Hans-Jost Frey, Der unendliche Text, Frankfurt am Main 1990, S. 9. 55 Hans Robert Jauß, Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, Frankfurt am Main 1970, S. 171 f.
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Theorie ist verbunden mit dem Wunsch nach Beherrschung: Man hofft, dass die Lektüre theoretischer Texte einem die Konzepte zur Verfügung stellt, mit denen sich die für einen wichtigen Phänomene organisieren und verstehen lassen. Aber Theorie macht Beherrschung unmöglich, nicht allein deshalb, weil es stets noch mehr zu wissen gibt, sondern auch, weil, konkreter und schmerzhafter, die Theorie selbst immer wieder ihre vermeintlichen Ergebnisse und Prämissen in Frage stellt, Es ist das Wesen der Theorie, genau das zu zerstören, von dem man geglaubt hat, es zu wissen, d. h. die Wirkungen von Theorie sind unvorhersagbar.56
Theorie ist das Gegenteil von Praxis, eine Anschauung im Gegensatz zur Handlung, Durchführung und Vollendung. Unfertige Texte sind in diesem Sinne immer theoretischer als fertige. John Dewey und Richard Shusterman haben dieses Theoretisieren und Zweifeln an den Anfang ästhetischer Erfahrung gesetzt: […] do I like what I see (hear, feel, taste)? If the answer were clear, no aesthetic entanglement would take place. But in contrast to many postmodern or poststructuralist accounts of the subject, it is not the lack or deficiency, which fuels the exploratory movement of searching for new ways (of feeling, thinking, acting), it is on the contrary the abundance of not yet disentangled associations and feelings, which move the self. This kind of abundance Kant has in mind resembles the „spilling over“ Shusterman sees in connection with aesthetic experience. And to feel pleasure in the face of something yet unknown, it seems to me, is exactly what Dewey had in mind when he pointed out the possibility of „enjoying the doubtful“.57
Gottfried Fliedl hat für den Bereich der Museen ein kleines Denkbild entworfen, das unseren ästhetischen Umgang mit Dingen allgemein charakterisiert, nicht nur mit Exponaten und verbalen Gegenständen: Museen sind Häuser, in denen sich Menschen versammeln, um dort aufbewahrte Gegenstände zu betrachten. Wenn Sie an jemanden, den Sie dort antreffen, und der gerade in Betrachtung versunken ist, herantreten würden, um ihn zu fragen, warum er das tut – welche Antworten hätten [S]ie zu erwarten?58
Wenn man uns fragte, warum wir uns mit unfertigen Texten beschäftigen – wüss ten wir es? Vielleicht, weil sie uns fordern und überfordern, uns zum Überschrei-
56 Jonathan Culler, Literaturtheorie. Eine kurze Einführung, Stuttgart 2002 (Reclams Univ.-Bibl. 1866), S. 29 f. 57 Heidi Salaverría, Enjoying the Doubtful. On Transformative Suspensions in Pragmatist Aesthetics. In: European Journal of Pragmatism and American Philosophy, 4, 1, 2012, http://lnx. journalofpragmatism.eu/wp-content/uploads/2012/07/14_salverria.pdf (7. 6. 2017), S. 247–254, hier 247. 58 Gottfried Fliedl, 16. 12. 2016, http://museologien.blogspot.de (7. 6. 2017).
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ten von Grenzen und Selberdichten verführen, weil sie voller Fragen ohne nachweisbar richtige Antworten sind und uns beibringen, interessenlos zu denken: sinnfrei wahrzunehmen, interpretationslos zu lesen und auf den Augenblick zu warten, indem sie uns etwas zu offenbaren scheinen.
II Werkstatt und Archiv
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Fontane und der Fortsetzungsroman Die These meines Beitrags lautet, dass Fontanes Romane in der Form ihrer Erstveröffentlichung als Fortsetzungsromane anders an den Leser appellierten als die Bucheditionen und dass aus dieser parzellierten Erstveröffentlichung Fontanes Nähe zum Fragmentarischen erkennbar wird. Es mag auf den ersten Blick verwundern, dass Theodor Fontanes Romane hier zum Formprinzip des Fragmentarischen in Beziehung gesetzt werden. Aus diesem Grunde scheint es sinnvoll, zunächst auf die folgenreiche Geschichte des Fortsetzungsromans einzugehen und die radikale Veränderung der literarischen Kommunikation zwischen Text und Leser durch ihn vor Augen zu führen.
Nellie auf dem Totenbett In den Jahren 1840 und 1841 veröffentlichte Charles Dickens seinen Roman The Old Curiosity Shop in Fortsetzungen.1 Der Roman erzählt das Leben des Mädchens Nellie. Sie lebt mit ihrem Großvater zusammen, wobei es sich aber keineswegs um eine Familienidylle handelt.2 Wegen der Spielschulden des Großvaters müssen sie beide fliehen und sind während ihrer abenteuerlichen Flucht dauernd von Feinden bedroht. Die Not, der Nellie ausgesetzt ist, führt letztlich zu ihrem Tode. Alle, die Nellie gekannt haben, sind in tiefer Trauer. Bevor sie stirbt, gibt Nellie folgenden Auftrag für die Art ihrer Beerdigung: „,When I die, put near me something that has loved the light, and had the sky above it always.‘ Those were her words.“ Dass Leser und Leserinnen sich emotional angesprochen fühlten vom Schicksal der Nellie, ist zum Teil den Illustrationen zu verdanken, von denen die Darstellung der Hauptfigur auf dem Totenbett besonders rührend ist. Die Editionsgeschichte von Dickens’ Romanen als Fortsetzungsromanen liegt als Beispiel für diese dominante Veröffentlichungsform in der Viktorianischen Ära nahe. Zu ergänzen ist, dass es bereits während des 18. Jahrhunderts Roman-
1 Charles Dickens, The old curiosity shop, Oxford 1989 (The Oxford Illustrated Dickens), S. 539. Dieser Roman erschien zunächst wöchentlich als Feuilletonroman in Master Humphrey’s Clock, April 1840 bis Februar 1841. In Buchform erschien der Roman 1841. 2 Der amputierte Haushalt von Großvater und Enkelin ist ein relativ häufiges Thema der eng lischen Traktatliteratur des 19. Jahrhunderts. Die Mitarbeiterin von Charles Dickens und Autorin Hesba Stretton mit ihrem Roman Alone in London (vermutlich 1870) ist nur ein Beispiel unter vielen. https://doi.org/10.1515/9783110539493-004
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publikationen gibt, die ein Vorspiel zu dem späteren Siegeszug des Fortsetzungsromans darstellen. Die Encyclopedia of the novel spricht von einem „uncertain origin in the 18th century“.3 Diese Ungewissheit hat folgenden Grund: Originally, the serial publication of novels was the response of newspaper proprietors to new tax laws in 1712. They sometimes used serialized versions of already printed novels, such as Daniel Defoe’s Robinson Crusoe, as fillers.
Obwohl die Begründung der „fillers“ im vorangehenden Text fehlt, ist deutlich, dass dieser Artikel über die „serialization“ nur einen Fortsetzungsroman, der auch als solcher verfasst wurde, als einen wahren „serial“ betrachtet. Daher passen die aus Briefen bestehenden moralischen Erzählungen aus Joseph Addisons und Richard Steeles The Tatler und The Spectator ebenso wenig in dieses Gattungskonzept wie Defoes Roman, obwohl auch diese Erzählungen über mehrere Ausgaben der erwähnten Zeitschriften verstreut publiziert wurden. Als erster wirklich bedeutsamer Fortsetzungsroman, der als „magazine serial“ veröffentlicht wurde, gilt Tobias Smolletts The Life and Adventures of Sir Lancelot Greaves, der in 25 Teilen und mit Illustrationen versehen im British Magazine in den Jahren 1760 und 1761 erschien.
Der Fortsetzungsroman als europäisches Phänomen Der Fortsetzungsroman war ein gesamteuropäisches Phänomen. Keine Literaturgeschichte der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kann diese Tatsache negieren. Dennoch bekam der Fortsetzungsroman in der Literaturgeschichtsschreibung nicht die ihm gebührende Aufmerksamkeit. Der Grund für diese Vernachlässigung liegt in der Tatsache, dass die Literaturgeschichte das Augenmerk auf gedruckte Bücher richtete. Die Zeiten haben sich inzwischen geändert. Über die serielle Publikation fiktionaler Texte sind etwa in Großbritannien und den USA seit 20 Jahren zahlreiche Studien erschienen. Diese Publikationen sind für unser Verständnis der eingreifenden kulturellen Wandlungen seit 1800 von großer Bedeutung, da sie auf neue Formen der subjektiven Rezeption und Wahrneh-
3 Paul Schellinger, Periodicals and the serealization of the novel. In: Encyclopedia of the novel, hg. von P. Schellinger, London, New York 1998, S. 991.
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mung der Welt vonseiten des Verfassers und des Lesers eingehen, die in neuen Publikationsformen und Kommunikationsweisen zum Ausdruck kommen.4 Verschwunden ist der Fortsetzungsroman jedoch auch heute nicht. Er ist noch immer lebendig, und zwar als Drama mit Fortsetzungen im Fernsehen. Denken wir an die englische Fernsehserie Downton Abbey. Das emotionale Engagement mit der verbindenden Handlung dieser Serie war so groß, dass die fiktiven Gestalten Teil der gelebten Wirklichkeit wurden. Ihr Verhalten wurde von den Zuschauern als aktuelle moralische Forderung erlebt und der Kritik unterzogen. Die Begriffe, die für die literarische Gattung des Fortsetzungsromans in Umlauf sind, lauten ‚Serienliteratur‘, ‚Trivialliteratur‘, ‚Feuilleton-Roman‘. Die Darbietung von Literatur als Abfolge von Lieferungen ist zunächst als Gegenstand der Rezeptionsforschung interessant und wird soziologisch gesehen vom Standpunkt der Massenkommunikation her erforscht. In Bezug auf Fontanes Fortsetzungsromane ist das Einhergehen von traditioneller Form und Komplexität der Darstellung und daher auch des Lesens seiner Romane das unterscheidende Merkmal seines Werks. Nur durch diese Doppelheit von Zugänglichkeit und Tiefe ist zu erklären, dass Fontanes Leser und Leserinnen in allen Schichten und Ständen der Gesellschaft zu finden sind. In seinem als Panorama gestalteten Buch Theodor Fontane: ängstliche Moderne. Über das Imaginäre hat Gerhart von Graevenitz die Bedeutung des Imaginären in der Gestalt der Bilder für die moderne Kultur untersucht.5 Für von Graevenitz befinden sich Fontanes Romane auf dem Grat zwischen vorgeprägten visuellen Vorstellungen und dem Wissen um die Ängste, die Verwicklungen der menschlichen Seele. In den Bildern, die die Familienzeitschriften des 19. Jahrhunderts reichlich schmückten – Musterbeispiel: Die Gartenlaube – ist die Umrahmung der fontaneschen Romane gegeben. Diese Umrahmung ist die Voraussetzung für das Verstehen der Romane als Fortsetzungsromane. Mit der Buchedition machte sie einer anderen Verstehensweise Platz. Das Feuilleton, entstanden aus ‚feuille‘ (Blättchen, kleine Beilage), ist heute in Deutschland der Kulturteil einer Zeitung oder einer Wochenschrift. In den Niederlanden ist die Bedeutung beschränkt auf die serielle Publikation eines Romans oder einer Novelle. Bereits im 19. Jahrhundert hatte das Feuilleton in Deutschland diese erweiterte Bedeutung, wie das Buch Beiträge zur Geschichte des Feuilletons
4 Ein Standardwerk ist: Linda K. Hughes, Michael Lund, The Victorian Serial, Charlottesville, VA 1991. 5 Gerhart von Graevenitz, Theodor Fontane: ängstliche Moderne. Über das Imaginäre, Konstanz 2014.
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von Ernst Eckstein aus dem Jahre 1876 beweist.6 Eckstein skizziert das Profil der bekanntesten Feuilletonisten seiner Zeit. Er hätte Fontane, den Reisefeuilletonisten, in diesem Rahmen nennen können, tut es aber nicht. Ecksteins Sympathie liegt nicht beim Fortsetzungsroman. Auf einigen wenigen Seiten seines Buches geht Eckstein dennoch auf das Romanfeuilleton und den Feuilletonroman ein. Sein Urteil ist recht überraschend. Die Macht des Romanfeuilletons ist ihm bekannt. Die Zahl der Abonnenten hing für viele Zeitschriften und Zeitungen von der Zugkraft des Romanfeuilletons ab. Der Vorabdruck von Eugène Sues Roman Le juif errant in der Zeitung Constitutionel ließ die Auflagenhöhe von 4.000 Exemplaren auf 25.000 steigen.7 Eckstein macht im Zusammenhang mit dem Feuilletonroman eine interessante Bemerkung: Die Vorliebe gewisser Leserkreise für diese Species der Unterhaltung ist mir geradezu räthselhaft. Ich begreife nicht, wie man ein Kunstwerk, das in seiner Totalität wirken soll, durch Wochen und Monate hindurch zerstückeln mag!8
Zum Schluss seiner Betrachtung macht Eckstein dann einen Unterschied zwischen dem Romanfeuilleton, dem er einen Mangel an ästhetischem Wert vorwirft, und dem ‚verwerflichen‘ Feuilletonroman, der sich seiner Meinung zufolge „nach den typo- und topographischen Verhältnissen des Journals“ richte und Spannung eintreten lasse, „wo der verfügbare Raum der Zeitung zu Ende“ sei.9 Letzteres Urteil erinnert an die Praxis der Romanpublikation bereits veröffentlichter Werke in Zeitschriften des 18. Jahrhunderts. In Untersuchungen zum französischen Feuilletonroman wird dieser Romantypus ausschließlich mit der Tageszeitung verbunden.10 Der Beginn in Frankreich liegt um 1836, das Jahr 1884 erlebte eine Blüte des Feuilletonromans. In der Forschung gilt La vieille fille von Honoré de Balzac als erster Feuilletonroman. Sehr bekannt wurde Les mystères de Paris von Eugène Sue. Nach diesen Mysterien von Paris kamen alle anderen Großstädte Europas an die Reihe. Zu den Mystères gab es unzählige Varianten: Les nuits de Paris, Les secrets de Paris und viele andere mehr.
6 Ernst Eckstein, Beiträge zur Geschichte des Feuilletons. Erster und zweiter Band, 2. Aufl., Leipzig 1876. 7 E. Eckstein (wie Anm. 6), Bd. 1, S. 64 f. 8 E. Eckstein (wie Anm. 6), Bd. 1, S. 65. 9 E. Eckstein (wie Anm. 6), Bd. 1, S. 66. 10 Der französische Feuilletonroman. Die Entstehung der Serienliteratur im Medium der Tageszeitung, hg. von Hans-Jörg Neuschäfer, Dorothee Fritz-El Ahmad und Klaus-Peter Walter, Darmstadt 1986 (Impulse der Forschung, Bd. 47).
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Feuilletonroman und Medium Die erste relevante Frage im Zusammenhang mit serieller Publikation und Tageszeitung ist die nach der Verbindung von Feuilletonroman und Medium. Die Tageszeitung war und ist eine kommunikative Institution. Der Leser ist ein Produzent von Bedeutung. Diese an den Leser appellierende Institution umfasste auch den Feuilletonroman. Die Tageszeitung ist eine kommerzielle Institution, die als solche womöglich Folgen hatte für den Aufbau und den ethischen und politischen Inhalt des Feuilletonromans. Neuschäfer11 weist in seiner Studie darauf hin, dass der Fortsetzungsroman zur Gewährleistung der Verlängerung des Abonnements, des Zeitungsbezugs, beitrug. Die französischen Feuilletonroman-Autoren wie Eugène Sue, Alexandre Dumas oder Honoré de Balzac fanden in Deutschland grossen Anklang. Fontane betrat mit seinen Fortsetzungsromanen kein brachliegendes Land. Der Fortsetzungsroman war eine etablierte Institution. Aus der einschlägigen Literatur geht hervor, dass Georg Weerths eigens für die Neue Rheinische Zeitung geschriebener Roman Leben und Thaten des berühmten Ritters Schlapphahnski als der erste deutschsprachige Fortsetzungsroman gilt. Er erschien während der Jahre 1848 und 1849.
Emotionale und ethische Zweideutigkeit Hans-Jörg Neuschäfer unterscheidet Angaben zur Thematik, zur Personenkonstellation und Intrigenführung, zum erzählerischen Diskurs, zur kommunikativen Strategie und zur Einbindung in die historische Situation.12 Diese Gesamtheit der Bauformen des Feuilletonromans führt seiner Ansicht nach zu einer emotionalen Zweideutigkeit des Lesers. Sie macht „das eigentliche Interesse des Feuilletonromans aus und eröffnet von vornherein die Möglichkeit einer doppelten Lektüre“. Worin besteht diese Doppelheit? Im einen Fall akzeptiert man die Normen und empört sich über deren Gefährdung; im zweiten Fall rezipiert man das offiziell Verpönte als das insgeheim Prickelnde und bleibt trotzdem im Rahmen des Erlaubten.13
11 Hans-Jörg Neuschäfer, Zum Problem einer Literaturgeschichte der Massenmedien. In: Der französische Feuilletonroman (wie Anm. 10), S. 1–18. 12 Der französische Feuilletonroman (wie Anm. 10), S. 13–17. 13 Der französische Feuilletonroman (wie Anm. 10), S. 15.
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Infolgedessen, so Neuschäfer, ist das ständige „Schwanken zwischen normativen Bedenken und permissivem Gewährenlassen“ charakteristisch für den Feuilletonroman. Ob diese Ambivalenz auch auf Fontane zutrifft, scheint mir eine Frage von höchstem Rang.
Die Ökonomie des Fortsetzungsromans Das bisher Dargestellte beabsichtigte, Fontanes Verzahnung mit einer dominanten Publikationsform seiner Zeit darzustellen. Versuchen wir nun, dem besonderen Appell des fontaneschen Fortsetzungsromans auf einem anderen Weg näherzukommen. Ist es möglich, an die These von Horst Steinmetz über Fontanes Bildreihen anzuknüpfen?14 Steinmetz erwähnt die besondere Darbietungsform von Fontanes Romanen: „[…] die Aufteilung, ja Aufsplitterung des Erzählkörpers in sehr viele und häufig sehr kurze Teile, Kapitel, Abschnitte, Passagen, Absätze.“15 Steinmetz geht auf Irrungen, Wirrungen anhand dieser Darbietungsform ein: „Sie offeriert dem Leser das Erzählganze in übersichtlichen Teilen, die die Rezeption strukturieren.“16 Unserer Frage nach der Art des Appells kommt folgende Einsicht näher: Jeder erzählte Abschnitt fragt gewissermassen nach der Fortsetzung, die sich dann in Etappen, innerhalb der Suche nach dem nächsten zur Geschichte gehörenden Ereignis vollzieht.17
Wenn die Erzählstruktur von Steinmetz mit der Struktur der menschlichen Erinnerung verbunden wird, eröffnet die Analyse des Romans als Roman in Fortsetzungen einen zusätzlichen, im Grunde sehr wesentlichen Zugang zur Wirkung von Irrungen, Wirrungen. Das Engagement des Lesers, die produktive Antwort auf den Appell des Romans beruht auf der Annäherung der Romanwelt zur realen Welt des Lesers. Die Veröffentlichung in Fragmenten, die nach Verbindung verlangen, vergrößert den Einbildungsraum des Lesers. Steinmetz verweist auf Fontanes journalistische Tätigkeit zur Verdeutlichung seines Erzählstils:
14 Horst Steinmetz, Fontanes Bildreihen. In: Das Sprach-Bild als textuelle Interaktion, hg. von Gerd Labroisse und Dick van Stekelenburg, Amsterdam, Atlanta, GA 1999 (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, Bd. 45), S. 161–175. 15 H. Steinmetz (wie Anm. 14), S. 162. 16 H. Steinmetz (wie Anm. 14), S. 163. 17 H. Steinmetz (wie Anm. 14), S. 166.
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Diese Form der Stoffdarbietung hat sicherlich eine ihrer Ursachen in Fontanes Tätigkeit als Journalist, in seiner Erfahrung, Begebnisse, Vorfälle, Themen im weitesten Sinne auf kleinem Raum darzustellen. Und gewiß hängt damit wiederum zusammen, daß so gut wie alle Romane in Teilen und Fortsetzungen in Zeitungen und Zeitschriften gedruckt wurden, ehe sie als gebundene Bücher erschienen sind.18
Als prägnantes Beispiel der besonderen Stoffdarbietung bei Fontane ist der Roman Unterm Birnbaum zu nennen, in dem es um einen Mord geht. Im Gegensatz zum Leser sind sich die Einwohner des Dorfes Tschechin nicht einig über das Vorgefallene und können über die Rolle des Schankwirts Abel Hradscheck beim Verschwinden des Reisenden Szulski nur spekulieren. Die Gespräche der Dorfbewohner sagen sowohl über Hradscheck als auch über sie selbst Wesentliches aus. Das Verbrechen wird infolgedessen zur Anregung für eine Intention des Erzählers, die Figuren zu porträtieren und die Sprache zum Thema zu erheben. Das Kapitel, in dem der gerade angekommene Szulski nach den Einzelheiten der polnischen Revolution des Jahres 1831 gefragt wird, ist bezeichnend für das Interesse des Erzählers. Die Präsenz der Vergangenheit in dem französischen Soldaten, der seit den Befreiungskriegen unterm Birnbaum begraben liegt, ist sowohl sinnvoll für die Handlung des Romans als für ihre Einbettung in die europäische Geschichte. Julia Menzel hat in ihrem Aufsatz zu Unterm Birnbaum im Kontext der Familienzeitschrift Die Gartenlaube das Nebeneinander von Unterhaltung, Tagesfragen und wissenschaftlichen Aktualitäten der Gartenlaube genau beschrieben. Von diesen Ingredienzen der Gartenlaube ausgehend, zeigt Menzel, wie das von Fontane thematisierte Verbrechen Teil einer übergeordneten Wahrheit, einer höheren Ordnung wird.19 Es scheint sinnvoll, aufgrund der Ambivalenz des Fortsetzungsromans auch bei diesem Beispiel an zwei Leserrollen zu denken: die angenehme, mit Schauder verbundene Unterhaltung einerseits und die Einsicht in die verwickelte psychische Struktur des Menschen andererseits. Diese Gedanken berühren sich mit Renate Böschensteins Einsichten. Im nur stichwortartig überlieferten sogenannten Studienbuch über Fontane, das Renate Böschenstein plante, jedoch nicht mehr ausführen konnte, sagt sie: Späte Position, auch noch Mimesis der Aussenwelt und mimetische Beschreibung der Psyche. Aber die andere Seite: Fragmentation – isolierte Strukturen – Ikonen – Leitmotive – vertikale Texte – Subtexte […]20
18 H. Steinmetz (wie Anm. 14), S. 162. 19 Julia Menzel, Theodor Fontanes Kriminalnovelle Unterm Birnbaum im Lektürekontext der Familienzeitschrift Die Gartenlaube (1885). In: Euphorion, Bd. 107, H. 1, 2013, S. 105–125. 20 Renate Böschenstein, Verborgene Facetten. Studien zu Fontane, hg. von Hanna Delf von Wolzogen und Hubertus Fischer, Würzburg 2006, S. 498.
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Böschenstein spricht im Zusammenhang mit dem Romanfragment „Allerlei Glück“ von einem Zentrum des fontaneschen Denkens, das „signalisiert, aber nicht definiert“. Auch erwähnt Böschenstein Fontanes „Modus der Dominanz von Gesprächen und Briefen“.21 Die besondere Leseaktivität aufgrund der Fortsetzungsgeschichte ist deutlich im Zusammenhang mit dem Einfluss der unterhaltenden Zeitschriftenliteratur des 19. Jahrhunderts zu sehen. Carin Liesenhoff hat 1976 in ihrem Buch Fontane und das literarische Leben seiner Zeit22 Bemerkenswertes über die Einbettung von Fontanes Romanen in den Kontext des neuen literarischen Marktes gesagt. Finanzielle Motive des Autors Fontane waren dabei im Spiel. Für den Inhalt der Fortsetzungsromane ist der Geist der Publikationsorgane von entscheidender Bedeutung. Vorabdruck bedeutete: sittliche Grenzen der schöpferischen Freiheit. Der Vorabdruck eines Romans in Fortsetzungen in Familienzeitschriften verlangte Respekt vor den Werten der bürgerlichen Familie. Etwas salopp formuliert Liesenhoff die Konsequenzen dieses Rahmens für Fontane: Auch Fontane „jonglierte“ häufig, noch bevor eine Novelle überhaupt skizziert war, mit mehreren Verlegern gleichzeitig, ohne daß diese Kenntnis voneinander hatten. Er pflegte seine Novellen denn auch „die Gartenlauben-Novelle“ oder „die Novelle für Hallberger“ zu nennen. Textänderungen, persönliche Rücksprachen mit den einzelnen Verlegern und Textstreichungen waren daher je nach Zeitschrift und Publikum immer wieder erforderlich.23
Die Allgemeinheit dieser Aussage ist anfechtbar. Fontane plante seine Romane und Novellen in vielen Fällen schon Jahre vor der tatsächlichen Veröffentlichung. Diskutabel im Zusammenhang mit der Bewertung von Fontanes Romanen ist auch folgende Aussage Liesenhoffs: Neu aber ist seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, dass auch die „gehobene“ Literatur in einem bisher nicht gekannten Maße den ökonomischen Gesetzmäßigkeiten von Angebot und Nachfrage unterlag […]24
Die bedeutsamste Publikation über Fontanes Werke als Fortsetzungsromane nach Liesenhoff ist Hans-Joachim Koniecznys Dissertation aus dem Jahre 1978, Fontanes Erzählwerke in Presseorganen des ausgehenden 19. Jahrhunderts.25 Es geht
21 R. Böschenstein (wie Anm. 20), S. 497. 22 Carin Liesenhoff, Fontane und das literarische Leben seiner Zeit. Eine literatursoziologische Studie, Bonn 1976. 23 C. Liesenhoff (wie Anm. 22), S. 56. 24 C. Liesenhoff (wie Anm. 22), S. 56. 25 Hans-Joachim Konieczny, Fontanes Erzählwerke in Presseorganen des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Dissertation, Paderborn 1978.
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Konieczny um die Zeitschriften der letzten Dezennien des 19. Jahrhunderts und die Funktion der Erzählformen in diesen Zeitschriften. Konieczny versucht das literarische Umfeld der Zeitschriften zu skizzieren und die Position von Fontanes Fortsetzungsromanen zu beschreiben. Es geht konkret um die ethischen und die erzählerischen Normen der periodischen Presse. Konieczny schenkt Grete Minde, Ellernklipp und Quitt viel Aufmerksamkeit. Wichtig für die Interaktion zwischen Text und Leser sind die Schnitte, etwa in Grete Minde. Dazu kommen die vielsagenden Kapitelüberschriften. Konieczny erwähnt außerdem den Aspekt der Erhöhung der Spannung.26 Im Mittelpunkt steht die Frage, inwiefern Fontanes Romane eingebettet waren in diesen vorgegebenen Kontext. Daraus resultiert die Frage: Kann ich heute Fontane verstehen ohne Kenntnis dieses Kontextes? Über die Bedeutung des Familienblattes für Fontanes Roman ist sich die Forschung heute wohl einig. Mir scheint, dass Rudolf Helmstetters generalisierender Bemerkung in seinem ausgezeichnet dokumentierten Buch Die Geburt des Realismus aus dem Dunst des Familienblattes (1997) allgemeine Bedeutung zukommt: Wie immer man aber die (deutsche) Öffentlichkeitsgeschichte der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bewertet, speziell aus literaturgeschichtlicher Perspektive kommt man nicht umhin, das Phänomen der populären illustrierten Presse als Kontext und Möglichkeitsbedingung der Literaturproduktion zu beachten.27
Wir müssen hinzufügen: Innerhalb dieser populären Presse ist es die aus Fragmenten bestehende Publikationsform, die das Bild dominiert. Helmstetters Ausführungen zum Medienkontext der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind sehr aufschlussreich. Seine Einsichten in die Bedeutung der damaligen literarischen Normen, denen bestimmte ästhetische und ethische Werte zugrunde liegen, sind unerlässlich für das Verstehen von Fontanes Schaffen. Ausgehend vom dargestellten Netz an historischen Beziehungen sind aus der formalen Struktur der realistischen Romankunst Konsequenzen für ihre Rezeption abzuleiten. Gemeint ist die Rolle des Lesers des Fortsetzungsromans. Liesenhoff und Konieczny betonen die gesellschaftliche Umrahmung und Normhaftigkeit der Publikationen in den Familienzeitschriften. Ihre Einsichten und auch die detaillierten Erkenntnisse Helmstetters gewinnen an Relevanz, wenn sie mit den Analysen verbunden werden, die Steinmetz in seiner Studie
26 H.-J. Konieczny (wie Anm. 25), S. 96 und 98. 27 Rudolf Helmstetter, Die Geburt des Realismus aus dem Dunst des Familienblattes. Fontane und die öffentlichkeitsgeschichtlichen Rahmenbedingungen des Poetischen Realismus, München 1997, S. 55.
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bietet. Wenn die Struktur von Fontanes Romanen in den Bereichen der Zeit, des Raum und der Symbolik die Rezeption steuert und das Vorstellungsvermögen der Leser aktiviert, sorgt die parzellierte und über die Zeit verstreute Rezeption des Fortsetzungsromans dafür, dass der Leser eine gewisse Freiheit hat, die weitere Handlung selber auszuspinnen. So gesehen ist der Fortsetzungsroman immer ein moralisch riskanter Romantypus. Im Prinzip ist die vorhin erwähnte Ambivalenz immer Teil des Fortsetzungsromans.
Die Lokalisierung des Fortsetzungsromans Ein weiterer Aspekt betrifft den Platz eines Romans innerhalb der Hierarchie von Zeitungen und Zeitschriften. Fontane hat über den geringeren Wert der Tageszeitung innerhalb der Hierarchie der Publikationsorgane geschrieben. Im Brief vom 19. November 1891 an Julius Rodenberg, Redakteur der Deutschen Rundschau, über die Veröffentlichung von Frau Jenny Treibel spricht Fontane von „der Stelle, wo etwas gesagt wird“. Es kommt offenbar auf das Publikationsorgan an, wie das Geschriebene beurteilt wird und dem Autor „zum Guten angerechnet“ wird. Das Gegenteil passierte auch: […] wieviel Verlegenheiten und Abfälle habe ich erlebt, wenn die Ohren, vor denen ich sprach, nicht die richtigen waren! Erschiene meine Geschichte in einer Tageszeitung, so wäre sie nur noch halb, was sie ist. Vor diesem Sinken um 50% haben Sie mich bewahrt.28
Ist dieses „Sinken um 50%“ das Schicksal des in der Vossischen Zeitung als Fortsetzungsgeschichte erschienenen Romans Irrungen, Wirrungen (1887) gewesen? Entgehen dem Leser der Zeitung die Finessen? Fehlt beim Zeitungsleser das Gefühl für das, was Fontane versteckt erzählt, um an Horst Fleigs Dissertation zu erinnern?29 Sehr aufschlussreich ist auch Fontanes Aussage über Stine in seinem Brief vom 20. Januar 1888 an Joseph Kürschner, in dem er den Herausgeber der Zeitschrift Vom Fels zum Meer bittet, von der Abmachung, Stine in seiner Zeitschrift zu veröffentlichen, Abstand zu nehmen: Ich bin ein alter Herr und leidlich beleumundet, werde also nie etwas schreiben, dessen ich mich vor mir selber zu schämen habe, trotzdem weiß ich, daß sich der Durchschnitts-
28 In: Theodor Fontane, Briefe an seine Freunde. Bd. 2, hg. von Otto Pniower und Paul Schlenther, 3. Aufl., Berlin 1910, S. 275 f. 29 Horst Fleig, Sich versagendes Erzählen (Fontane), Göppingen 1974. Bedauerlicherweise hat Fleigs Dissertation in der Fontane-Forschung nach 1974 keine Rolle gespielt.
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geschmack und die Durchschnittskritik gegen mich auflehnen und daß ich – wenigstens mit Arbeiten wie „Stine“ – kein Schriftsteller für den Familientisch mit eben eingesegneten Töchtern bin.30
Stine erschien in der von Fritz Mauthner herausgegebenen Zeitschrift Deutschland zwischen dem 25. Januar und dem 15. März 1890.
Akzentverschiebungen in der Fontane-Forschung Die Potsdamer Konferenz des Jahres 1986 bedeutete eine Wende innerhalb der Fontane-Forschung. Der aus der realen Geschichte herausgehobene Fontane wurde in den publizistischen Kontext seiner Zeit zurückversetzt. Wir müssten noch weiter zurückgreifen, um diese Akzentverschiebung historisch richtig einordnen zu können. Denn im Jahre 1969 fand ebenfalls ein Fontane-Kongress in Potsdam statt. Dieser Kongress über Fontane mit Vorträgen von etwa Walter Müller-Seidel und Dieter Sommer war der erste internationale Kongress, der die grenzüberschreitende Arbeit des Fontane-Archivs markierte.31 In der Nachfolge der beiden genannten Konferenzen richtete sich die Aufmerksamkeit der Forschung außer auf Fragen poetologischer und sozialkritischer Art auf die Spuren, die Fontanes Werke in der Kritik hinterlassen hatten. Besonders nach der Konferenz vom Jahre 1986 kam die Rezeptionsforschung auf. Hier taucht immer wieder der Hinweis auf die Publikationsform des Feuilletonromans auf, diese Spur wird aber kaum weiterverfolgt.
Welche Werke Fontanes waren ursprünglich Fortsetzungsromane? Alle Romane und Novellen Fontanes sind in Form von Fortsetzungen erschienen. Allerdings bestehen erhebliche Unterschiede zwischen der Publikationsform des einen und des anderen Werks. Ellernklipp zum Beispiel erschien in zwei Teilen in Westermanns Illustrierte Deutsche Monatshefte im Mai und Juni 1888. Ganz anders
30 Theodor Fontane, Briefe in zwei Bänden. Bd. 2, hg. von Gotthard Erler, München 1981, S. 173. 31 Fontanes Realismus. Wissenschaftliche Konferenz zum 150. Geburtstag Theodor Fontanes in Potsdam. Vorträge und Berichte, hg. von Hans-Erich Teitge und Joachim Schobeß, Berlin 1972.
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der Vorabdruck von Quitt in der Wochenschrift Die Gartenlaube, Heft 1 bis 11 des Jahrgangs 1890. Wenn wir bei der Annäherung an Fontanes Werk von der allgemeinen Gattung der Fortsetzungsgeschichte ausgehen, ist eine Differenzierung aufgrund der Zahl der einzelnen Fortsetzungsteile, der Segmente und der besonderen Physiognomie der betreffenden Zeitschriften bzw. der Zeitung unumgänglich. Jedes Werk hat ein eigenes Echo. Andererseits bieten sich Fontanes Romane und Novellen insgesamt durch ihre parzellierte Struktur dem Leser anders an als die kompletten Buchausgaben. Die Wirkung ist gegeben. Welche Wirkung die jeweilige Publikationsform hat, ist von Fall zu Fall zu bestimmen.32 Interessant sind die Erkenntnisse von Domenico Mugnolo zu Cécile.33 Fontane erstellte für diesen Roman einen stichwortartigen Plan zum Kapitelaufbau. Auch die Absätze wurden stichwortartig charakterisiert.
Irrungen, Wirrungen Als Beispiel erwähne ich den Roman Irrungen, Wirrungen. Kein Leser aus den Jahren nach 1888 wird Irrungen, Wirrungen als Fortsetzungsroman gelesen haben. Der Roman lag ja als Buch vor. Sogar dann, wenn jemand die 26 Lieferungen des Vorabdrucks sorgfältig ausgeschnitten haben sollte, wäre daraus ein laufender Text geworden. Der Leser der Vossischen Zeitung in den Monaten Juli und August 1887 musste einen Tag oder zwei Tage Geduld haben, bevor die Lektüre weiterging. Diese zeitliche Lücke zwischen den einzelnen Kapiteln verschaffte dem Leser einen wunderbaren Freiraum, die Berliner Liebesgeschichte zwischen einem Baron und einem Mädchen von einfachem Stande mittels der eigenen Phantasie weiterzuspinnen. Der Leser des Romans befindet sich in der Position des Zeugen, vielleicht sogar in jener des Voyeurs. Dagegen sprechen Lenes Lauterkeit und Aufrichtigkeit. Dafür spricht die Struktur des Fortsetzungsromans, wenn wir das generalisierte Modell auf Irrungen, Wirrungen anwenden. Das Idyllische herrscht vor in den Kapitelschlüssen. Diese Schlüsse bilden die Brücken inhaltlicher Suggestion. Das elfte Kapitel erzählt den Beginn des Ausflugs nach Hankels Ablage. Dort werden Botho und Lene die Nacht verbringen. Der Ausflug bedeutet Verletzbarkeit, Bedrohung der Idylle. Hankels Ablage ist ein Risiko. Urteil und Verurteilung drohen. Dennoch ist Hankels Ablage der Ort des höchsten denkba-
32 Vgl. Charlotte Jolles, Theodor Fontane, Stuttgart 1993 (Sammlung Metzler, Bd. 114). 33 Domenico Mugnolo, Vorarbeiten zu einer kritischen Fontane-Ausgabe. Zu Schach von Wuthenow, Cécile, Unwiederbringlich. Berlin 1985, S. 158 f.
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ren Glücks. Das zwölfte Kapitel endet in dem Augenblick, in dem Botho, der mit dem Wirt von Hankels Ablage geplaudert hatte, in ihr Zimmer kommt: „Und sie schmiegte sich an ihn und blickte, während sie die Augen schloss, mit einem Ausdruck höchsten Glückes zu ihm auf.“ Im nächsten Kapitel bricht die harte gesellschaftliche Wirklichkeit in ihre Idylle ein. Hankels Ablage war von kurzer Dauer. Für die produktive Teilnahme des Lesers am Geschehen in Irrungen, Wirrungen hat die Parzellierung des Erzählten weitgehende Konsequenzen. Die Kapitelschlüsse fallen manchmal mit dem Ausklingen des Tages zusammen, aber da dann erst die Zeit der wahren Intimität zwischen Botho und Lene gekommen ist, liegt es nahe, dass auch der Leser gedanklich das Geschehen fortsetzt. Ganz besonders gilt dies für die Nacht in Hankels Ablage. Die Vorstellungskraft und die Sympathie werden deswegen vom Erzähler aktiviert, weil Lene und Botho Menschen sind, die von ethischen Prinzipien aus leben. Da das Ethische einen wesentlichen Teil ihrer Liebesbeziehung bildet, verkleinert sich der Freiraum des Lesers, die durch die Struktur des Fortsetzungsromans bedingte Lücke vorwiegend mit Vorstellungen erotischen Inhalts – das Sinken um 50%! – zu füllen. Der Roman zielt darauf, dass dies in der Tat nicht geschieht. Es findet keine Ablenkung ins Erotische statt, aber die Publikationsform, Segmentierung mittels der Tageszeitung, birgt zumindest die Gefahr einer Akzentverlagerung in sich. Die Gefährdung der Intimität wird im nächsten Kapitel, das heißt am nächsten Tag sichtbar, wenn Bothos Kameraden mit ihren zweifelhaften Damen erscheinen. Welche Wirkung hat dieser Umschlag für den Leser des Romans als Buchausgabe? Wirkt die Negation der im Roman enthaltenen Werte nicht als logische Konsequenz der in solchen Verhältnissen geltenden Spielregeln? Ich möchte die These verteidigen, dass der Leser des Romans in parzellierter Form sich das Liebesgeschehen emotional wesentlich tiefer aneignete und daher auch den an Lene begangenen Verrat (durch die Theaterrollen) schmerzlicher empfand. Die inzwischen allgemein bekannt gewordene Reaktion des Mitinhabers der Vossischen Zeitung auf den Feuilletonroman Irrungen, Wirrungen ist nur zu verstehen vor dem Hintergrund des Appells, der von diesem Roman als Fortsetzungsroman auf den Leser ausging. Frederick Betz bestätigt dies in seinen Publikationen zu Irrungen, Wirrungen.
Die Parzellierung von Irrungen, Wirrungen Fontanes Tagebuch vom 13. Juli 1887 erwähnt: „Vom März an begann ich die Korrektur meiner für die ‚Vossin‘ bestimmten Novelle.“ Am 14. Juli 1887 schreibt Fontane an Emil Dominik, dass er sich über diese Veröffentlichung freut, „weil das beßre Publikum der ‚Vossin‘ so recht in der Lage ist, den berlinschen ‚flavour‘
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der Sache – worauf ich mich schließlich doch wohl am besten verstehe – herauszuschmecken, auch hat das rasche Aufeinanderfolgen der Kapitel große Vorteile […]“ Irrungen, Wirrungen erschien in der Vossischen Zeitung vom 24. Juli 1887 bis 23. August 1887, entweder auf Seite 3 oder 4, zuweilen auf Seite 3 und 4. Die Kapitel der Buchedition sind identisch mit den Kapiteln des Vorabdrucks. Die Art der Schnitte, die die Kapitel gruppieren, wird deutlich sichtbar, wenn sie mit der Abfolge der Kapitel in Wilhelmine Heimburgs 1889 in Segmenten erschienenem Gartenlaube-Roman Lore von Tossen verglichen werden. Ein Kapitel geht bei Heimburg nahtlos in das andere über. Die Naht, die es trotzdem gibt, ist die zeitliche Distanz zwischen den einzelnen Lieferungen. Hier kommt Heimburgs Leser ins Spiel. Bei Fontanes Irrungen, Wirrungen ist der Zusammenhalt zwischen den einzelnen Kapiteln ganz anders beschaffen. Der Schauplatz wechselt, die auftretenden Romanfiguren sind andere und zwischen den Kapiteln liegen zwei oder mehr Tage. Die einzigen Ausnahmen sind die in Hankels Ablage situierten Kapitel, die gerade die Problematik des Verfließens der Zeit angeben. Fontane verwendet infolgedessen als Erzähler andere Strukturmittel, um den Leser zu fesseln und aus der Abfolge der Szenen einen sinnvollen Zusammenhang zu machen. Bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang der Bauelemente des Erzählten auch die Romanschlüsse. Fontanes Irrungen, Wirrungen endet mit einer verlegenen Reaktion Botho von Rienäckers auf eine arrogante Bemerkung seiner Frau Käthe. Die wahre Liebe galt eben Lene Nimptsch. Bei Wilhelmine von Heimburg endet der Roman Lore von Tossen mit einem Schlussakkord der Harmonie und des Friedens: Und der Regen klopft an die Scheiben, und der Wind fährt heulend um das Haus und durch die Aeste der Bäume und nimmt ihnen die letzten Blätter. Was thut es? Hier innen ist’s traut und behaglich, denn die Liebe wohnt hier, und mit ihr das Glück.34
Die Einheit bei Fontane entsteht durch genaue Angaben der Lokalitäten, durch präzise Informationen über die Tageszeit, durch Spiegelung der Szenen, Wiederholung sprachlicher Eigenheiten der Romanfiguren und durch die den Leser einladende Gesprächsatmosphäre. Um Fontane gerecht zu werden, muss nochmals auf die Eigenart seiner Schnitte in Irrungen, Wirrungen hingewiesen werden. Innerhalb der übergreifend wirksamen Einheit der Liebesgeschichte sind die einzelnen Kapitel, beziehungsweise die fragmentarischen Lieferungen, keine direkte Einladung an den Leser, Seitenpfade des Gelesenen zu betreten. Es sind eher inte-
34 In: Die Gartenlaube, Nr. 19, 1889, S. 322.
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ressante Episoden, relativ selbständige Bilder, vergleichbar mit den „ tableaux vivants“, an Theaterszenen erinnernden Bildern, die in ihrer Attraktivität der menschlichen Darstellung einladend auf den Leser wirken.
Bilder, Gespräche und die Konsumierbarkeit Anknüpfend an die genannten Einsichten von Horst Steinmetz über die Rolle des Bildes bei Fontane für die Art der Rezeption müssen noch andere Aspekte genannt werden. Zunächst sind die vielen Gespräche in Fontanes Romanen relevant. Wie Ingrid Mittenzwei dargelegt hat, sind Gespräche – auch Gespräche über Gespräche – ein zentrales, tragendes Element bei Fontane. Die Gespräche ermöglichen den Zugang des Lesers zum Erzählten und sorgen für die Integration des Erzählten in die (unter anderem auch von Gesprächen getragene) Lebenserfahrung des Lesers.35 Mittenzwei betont die Bedeutung des Dialogs: „Unmittelbare Berührung mit dem geselligen Leben hat der Roman aber deshalb, weil er sich dieses zum Thema macht.“36 Sie macht sich im Zusammenhang mit L’Adultera Gedanken über den Zusammenhang von Kitsch und erzählerischem Tiefsinn und erweitert ihr Urteil über die Versöhnung zwischen van der Straaten und Melanie, die sie pauschal zusammenfasst: „Die Gartenlauben-Konzilianz ist unbestritten.“37 Hinzuzufügen ist, dass der weihnachtliche Schluss von L’Adultera noch mehr Gartenlauben-Konzilianz enthält. Die Struktur des Fortsetzungsromans führt zur Zugänglichkeit, in gewissem Sinne: Verzehrbarkeit des Erzählten. Das Maximum an Teilnahme vonseiten des Lesers hat allerdings auch zur Folge, dass der gedankliche Inhalt des Erzählten an Grenzen gebunden ist. Philosophische Explorationen oder lange innere Monologe passen nicht zum Fortsetzungsroman. Philosophisches oder im weiteren Sinne Weltanschauliches ist akzeptabel, solange es an eine sprechende oder vom Erzähler charakterisierte Romanfigur gebunden ist. Wenn ein Werturteil sinnvoll ist, so wären Wilhelmine von Heimburg, E. Werner, Ossip Schubin, Fanny Lewald, Ida Boy-Ed und Reinhold Ortmann als Autorinnen und Autoren der zweiten Kategorie Ernst Ecksteins zuzurechnen, der Kategorie des Feuilletonromans, während Fontane zur ersten Kategorie, der des Romanfeuilletons, gehört.
35 Ingrid Mittenzwei, Die Sprache als Thema. Untersuchungen zu Fontanes Gesellschaftsromanen, Bad Homburg v. d. H., Berlin, Zürich 1970. 36 I. Mittenzwei (wie Anm. 35), S. 12. 37 I. Mittenzwei (wie Anm. 35), S. 30.
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Die Kapiteleinteilung bei Fontane wäre zum Beispiel mit der Segmentierung in den Werken Ossip Schubins zu vergleichen. Schubins Romane wurden von Frau Emilie und Tochter Mete gern gelesen. Die Kapiteleinteilung bildet nur einen Aspekt der Einbettung in das Publikationsorgan jener Zeit. Zu berücksichtigen sind auch die Bilder, die Lithographien, die benachbarten Texte, das Layout der Seite, das Emblem oder das Motto der Zeitung oder der Zeitschrift. Auch die Einführung des Autors oder der Autorin beim Lesepublikum ist ein Element des Verstehens. So schrieb Rudolf von Gottschall ein sehr bezeichnendes Vorwort über Fontane als Einführung zu Quitt. Auch der Romanschluss kommt als tragendes Strukturelement in Frage. Grundlegend äußerte Patricia Howe sich dazu in einem Aufsatz, in dem sie besonders Henry James mit Fontane vergleicht.38
Bilder und Appell Wolfgang Iser hat in seiner Schrift Die Appellstruktur der Texte das Phänomen der Mehrdeutigkeit literarischer Texte untersucht. Nach Iser bietet der Text einen Spielraum von Aktualisierungsmöglichkeiten. Mit der Änderung der Zeit und der Änderung der Leserschaft ändert sich die Deutung. Dieses Potenzial an Veränderung lokalisiert Iser in den ‚Leerstellen‘, die darin ihren Grund haben, dass der Text eine Vielfalt von Ansichten und Deutungen entrollt, die schrittweise hervorgebracht werden. Die Gattung der Fortsetzungsgeschichte ist die Kronzeugin bei der Darstellung seiner These von der konstituierenden Kraft der ‚Leerstellen‘: Es gibt eine Publikationsform literarischer Prosa, von der sich sagen ließe, daß sie Unbestimmtheit auf eine besondere Weise nutzt. Gemeint ist der Fortsetzungsroman, dessen Text dem Leser in dosierten Abschnitten geliefert wird.39
Die Unterbrechung beim Lesen ist bedingt durch Schnitte. Die Unterbrechungen führen zu Spannung, zumindest zu Fragen in Bezug auf den weiteren Verlauf der Romanhandlung. Iser fährt fort:
38 Patricia Howe, ‚A visibly-appointed stopping-place‘: Narrative Endings at the End of the Century. In: Theodor Fontane and the European Context. Literature, Culture and Society in Prussia and Europe, hg. von Patricia Howe und Helen Chambers, Amsterdam, Atlanta, GA 2001. 39 Wolfgang Iser, Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa, Konstanz 1970, S. 17.
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Ein solcher Suspens-Effekt aber bewirkt, dass wir uns die im Augenblick nicht verfügbare Information über den Fortgang des Geschehens vorzustellen versuchen. Wie wird es weitergehen? Indem wir diese und ähnliche Fragen stellen, erhöhen wir unsere Beteiligung am Vollzug des Geschehens. Dickens hat von diesem Sachverhalt schon gewusst; seine Leser wurden ihm zu „Mitautoren“.40
Aufgrund der vorhergehenden Überlegungen ist der „Suspens-Effekt“ aber differenziert einsetzbar. Bei Fontane gibt es diesen Effekt noch am ehesten in den Kriminalromanen. Dieser Effekt hat in Romanen wie Stine, Irrungen, Wirrungen, Frau Jenny Treibel, Effi Briest und Der Stechlin einer ganz andersartigen Verarbeitung des Gelesenen Platz gemacht. Damit ist der produktive Anteil der Veröffentlichung in Lieferungen nicht verschwunden. Die Produktivität liegt jetzt in der Möglichkeit, in der Einladung, den Romanfiguren eine lebendige Rolle in unserem Leben als Leserinnen und Leser zu verschaffen. Bei Ossip Schubin ist der Schluss auch wirklich ein Schluss. Bei Fontane fängt das Denken am Schluss neu an. Es gibt folglich bei den Fragen nach dem menschlichen Lebenslauf überhaupt kein zu weites Feld. Im Namen der gestorbenen Hauptfigur befragen wir die Gesellschaft, die Macht der Verführung und das Leben.
Die praktischen Konsequenzen Bleibt die Frage, ob Fontane jemals sein Manuskript geändert habe während der Veröffentlichung seiner Romane als Fortsetzungsromane. Gewiss hat Fontane im Hinblick auf die Buchausgabe seiner Romane Anpassungen vorgenommen. Diese Anpassungen rührten von Fontane selber her. Für Änderungen aufgrund von Leserreaktionen während der Vorpublikation und nach deren Abschluss habe ich keine Belegstellen finden können. Die Entstehungsgeschichte der Romane und Novellen lässt solche Vermutungen nicht zu. Damit ist aber die Frage nach den Konsequenzen der allgemeinen Praxis der Vorabdrucke im Falle Fontanes noch nicht erledigt. Aus den Korrespondenzen mit Redakteuren und Verlegern geht deutlich hervor, dass Fontane Rücksicht nahm auf den moralischen Kodex der Zeitschriften, in denen er publizierte. Andererseits liefen Fontanes Vorstellungen über die Darstellung von amourösen Intimitäten mit den Normen der Zeitschriften relativ parallel. Allzu viel Gewalt brauchte Fontane sich nicht anzutun, um den Forderungen zu genügen. Ein Sacher-Masoch oder Sir John Retcliffe (= Hermann Goedsche) war Fontane bestimmt nicht. Die
40 W. Iser (wie Anm. 39), S. 17 f.
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Bedeutung der Parzellierung seiner Romane und Novellen für den Leser kann nur einigermaßen richtig beschrieben werden, wenn die Unterschiede zwischen den einzelnen Werken Beachtung finden. Die vier Kriminalromane kommen dem ersten, relativ positiv bewerteten Typus von Ernst Eckstein noch am nächsten. Für sie gilt die Macht des selbständigen Bildes, der relativen Geschlossenheit der Kapitel, die Dominanz des Atmosphärischen. Schlussfolgernd ist zu sagen, dass die Rolle des Lesers bei Fontane sehr viel Freiheit enthält. Diese Freiheit ist einerseits der Grundstruktur der seriellen, parzellierten Form der Veröffentlichung zu verdanken. Teilnahme des Lesers ist eine Naturnotwendigkeit des Fortsetzungsromans, dieser Art des Erzählens, die aus dem Blickfeld verschwindet, sobald das Buch da ist. Nicht weniger wichtig ist die Aufsplitterung des Textes bei Fontane – auch in der Publikationsform als Buch – in Bilder, Anekdoten, Gespräche und Episoden. Fontanes Romane sind, etwas überspitzt gesagt, Sammlungen von Texten. Es sind disparate Texte, die durch eine übergeordnete Romanhandlung vereinigt werden. Fontane hat eine Vorliebe für Abschweifungen, Nebenhandlungen, Gebärden und Briefe innerhalb seiner Romane, da sie die Sicht auf den Menschen komplex machen. Diese Komplexität bringt erst authentische Konturen des Menschen und des Menschlichen ans Licht. Die Romanschlüsse bei Fontane sind niemals wirkliche Abschlüsse, sogar dann nicht, wenn das Leben der Protagonisten endet. Alle Romane Fontanes präsentieren zum Schluss ein Rätsel. Da sie die Auflösung des Rätsels ‚Mensch‘ schuldig bleiben, ist der Leser als potenzieller Miterzähler eingeladen, das Fragment einstweilen zu komplettieren.
Volker Probst
„… ich, dem beim Gang über die Straßen der Bleistift in der Hand vor Ungeduld zu tanzen begann“ Ernst Barlachs Taschen- und Skizzenbücher als Steinbruch für das eigene Werk Von dem Bildhauer, Graphiker und Schriftsteller Ernst Barlach (1870–1938) sind etwa 130 Taschenbücher und Skizzenhefte bekannt, die sich im Nachlass des Künstlers erhalten haben und von der Ernst Barlach Stiftung in Güstrow bewahrt werden. Barlach hat diese Werkhefte, die ihn von 1888 bis zum Beginn der 1920er Jahre als ein unverzichtbares Handwerkszeug begleiteten, hochgeschätzt und als besonderen Fundus bewahrt. Hinzuzurechnen sind etliche literarische Manuskripte, die Barlach nicht nur als Texthefte verwendete, sondern überwiegend als Notizbücher und nur gelegentlich für Skizzen nutzte. In wenigen Fällen ist bekannt, dass er sich von einem Taschenbuch trennte und es verschenkte: Ein Taschenbuch von 1913 überließ er einem Rostocker Bekannten (Wvz. 1288). Ein von ihm benutztes handelsübliches Schulheft mit Berechnungen zu verschiedenen Skulpturen (Wvz. 1390) – 1915/16 in Gebrauch – schenkte Barlach im August 1919 seinem Verlegerfreund Reinhard Piper, als dieser ihn in Güstrow besuchte. Beide Bücher bzw. Hefte konnten durch die Ernst Barlach Stiftung erworben werden.1 Das Skizzenheft 30 (Friedrichroda/Paris 1897; Wvz. 149) sowie das Taschenbuch Güstrow 1914/VI (Wvz. 1325) erhielt die Stiftung nach 1994 von der Akademie der Künste Berlin übereignet. Ende 2015 konnte die Stiftung das letzte in Privatbesitz verbliebene Taschenbuch Barlachs erwerben (Wvz. 1322). Durch
1 Vgl. zum Taschenbuch 1913: Volker Probst, Ernst Barlach. Skizzenbuch 1913. In: Tätigkeitsbericht VII, 2007. Kulturstiftung der Länder, Berlin 2008, S. 72 f.; zum Heft 1915/16: Volker Probst, Aus Barlachs Werkstatt. Zur Entstehung des Däubler-Porträts von 1916. In: Ernst Barlach, Theodor Däubler. Die Welt versöhnt und übertönt der Geist, hg. von Volker Probst und Helga Thieme, Güstrow 2001, S. 51–78, bes. 70–72, 78. – Barlachs Taschenbuch Güstrow 1914/IV (Wvz. 1325) ist in den Besitz seiner Lebensgefährtin Marga Böhmer (1887–1969) gelangt – wohl als Geschenk des Bildhauers; 1994 von der Akademie der Künste Berlin in den Bestand der Ernst Barlach Stiftung Güstrow übereignet. Zu dieser Lebensbeziehung vgl. Ernst Barlach – Marga Böhmer. Briefe, hg. von Inge Tessenow, Güstrow 2012. Die Abkürzung Wvz. bezieht sich auf: Ernst Barlach, Die Zeichnungen, bearb. von Annette Wittboldt und Elisabeth Laur, hg. von Volker Probst, Güstrow 2013, Teil 1, 2. https://doi.org/10.1515/9783110539493-005
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diese fünf Erwerbungen konnten Lücken in der Chronologie der Taschen- und Skizzenbücher geschlossen werden. Von den 130 bekannten Taschen- und Skizzenbüchern hat Barlach über 40 Hefte selbst hergestellt, d. h. etwa ein Drittel besteht aus Lagen von stärkerem Zeichenpapier, die der Künstler mit Faden im Falz zusammengenäht hat (vgl. Abb. 1). Die übrigen Hefte sind Notizbücher, wie sie handelsüblich in Buch- und Papierhandlungen jener Zeit zu kaufen waren. Nur wenige Hefte tragen ein Firmenetikett oder einen -stempel, die Auskunft über die Bezugsquelle geben könnten. Bekannt sind lediglich J. S. Benngott, Reutlingen (Wvz. 185), PapierHandlung Wilhelm Hering, Charlottenburg (Wvz. 285), Wilhelm Sulzer, Inh. Fr. Schuck, Wiesbaden (Wvz. 919) sowie die Buchbinderei und Papier-Handlung Hermann Humpsch, Dresden (Wvz. 74). Von Humpsch bezog auch Ernst Ludwig Kirchner Notizbücher, wobei er in einem von 1933 eine finanzielle Unterstützung durch den Bildhauer Barlach vermerkte.2 Die käuflich erworbenen Notizhefte Barlachs zeigen überwiegend ein ähnliches Format, dessen handliche Größe von meist etwa 15 × 10 cm ein Tragen in der Westentasche erlaubte. Einige sind mit einer Einsteckschlaufe für das Schreibgerät versehen, andere haben an den Deckelinnenseiten Einstecklaschen. Ein anspruchsvoll ausgestattetes Heft mit zartem Blumendekor auf farbigem Vorsatzpapier verwendete Barlach auf seiner Reise nach Russland im Sommer 1906.3 Bei den Notizbüchern mit dem Aufdruck Notes kann eine englische oder französische Herkunft vermutet werden.4 Vielleicht hatte sich Barlach mehrere dieser Hefte auf einmal gekauft und sie dann auch nacheinander benutzt. Die zeitliche Abfolge und Benutzung einheitlich ausgestatteter Hefte lässt sich neben den Notes auch bei anderen Heften feststellen.5 Ein Blick in weitere Hefte zeigt zudem, dass er deutsche Fabrikate nutzte, die neben einfachen Kalendarien6 besondere Übersichten zu „Christlichen Feiertagen“, „Christlichen Festtagen“, „Besonderen katholischen Festtagen“ und „Israelitischen Festtagen“7 sowie Tabellen zu „Postsendungen an Soldaten“ und „Porto-Taxen“8 in deutscher Sprache enthalten. Die Ausstattung der Notizhefte mit solchen Kalendarien scheint für Barlach zweit-
2 Gerd Presler, Ernst Ludwig Kirchner. Die Skizzenbücher, Karlsruhe, Davos 1996, S. 18; zu Barlachs Unterstützung für Kirchner im Jahr 1933 in Höhe von 500 Mark/frcs [?] s. Presler, S. 363 (Presler Skb 169), 415. 3 Wvz. 452. 4 Wvz. 1280, 1345, 1347, 1389, 1447. 5 Einige Beispiele: Wvz. 1288, 1319–1321, 1322–1325. 6 Wvz. 1102, 1161, 1162, 1163, 1239, 1250. 7 Wvz. 2107. 8 Wvz. 1446.
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Abb. 1: Skizzenheft 14 (Paris 1895/96) Wvz. 93-1
rangig gewesen zu sein, denn es deutet nichts darauf hin, dass er diese Kalender tatsächlich nutzte. Skizzenheften ist in der kunsthistorischen Forschung wie im Ausstellungsbetrieb jedoch erst seit geraumer Zeit vermehrt Aufmerksamkeit zuteilgeworden. Vor allem die Forschungen und Veröffentlichungen von Gerd Presler seit etwa Mitte der 1990er Jahre zu Skizzenbuchbeständen mehrerer Künstler der klassischen Moderne wie Ernst Ludwig Kirchner, Edvard Munch, Willi Baumeister, Ludwig Meidner und Karl Hofer sowie der Gegenwart zu Asger Jorn haben auch theoretisch den Blick für dieses Werkmaterial geschärft. Man kann bei Taschenbüchern und Skizzenheften kaum von einer eigenen Gattung sprechen, denn sie gehören dem Inhalt nach zur Graphik, womit hier zuvörderst die Handzeichnung gemeint ist, bzw. zum literarischen Schaffen. Wir sollten treffender von einem besonderen Medium oder Material sprechen, also einfach von Taschenbüchern und Heften. Nun erschien eine grundlegende Untersuchung zur Gattung „Skizzenbuch“ von Gerd Presler, die den Untertitel „Glücksfall der Kunstgeschichte“ trägt. Einleitend zur „Typologie des Skizzenbuchs“ stellt er fest:
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Lange Zeit missverstanden als Ort der Niederschrift eines ersten, flüchtigen Eindrucks, der im Gemälde zur ‚Vollendung‘ reift, hat sich das Skizzenbuch aus der Zuträgerrolle befreit. Es ist an der Zeit, es als selbständige Gattung zu begreifen. Hier wird eine eigene Sprache gesprochen; hier verdichtet sich ein eigenes Geschehen; hier entwickelt sich eine eigene bildnerische Dynamik.9
Presler unterscheidet dabei ein „klassisches Verständnis“, nämlich das Skizzenbuch als Anfangssituation auf dem Weg zum endgültigen Werk zu sehen, jedoch stellt nach seiner Typologie das Skizzenbuch zuvörderst ein „Laboratorium“, den „Ort eines autarken Geschehens“ dar. Das Skizzenbuch offenbart sich zudem als ein Ort der „Pathographie“ wie der „Katharsis“.10 Bei seinen Überlegungen kommt Presler zur Einschätzung, das Skizzenbuch sei ein Ort der Einsamkeit, „jener Bereich, in dem der Künstler seine einsamsten und zugleich aufregendsten Stunden verbrachte“. Hier fänden wir ein „besonderes Erleben, das er mit niemandem teilen kann und will. Das Skizzenbuch und jedes einzelne Skizzenbuchblatt besitzen damit eine heftige Exklusivität.“11 Womit im Subtext die Frage gestellt ist, in welchem Umfang diese intimen Taschenbücher und Skizzenhefte überhaupt für den fremden Betrachter oder eine weiterreichende Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden dürften. Vereinzelt lassen sich Veröffentlichungen von Skizzenbüchern als Faksimile nachweisen, so Franz Marcs Skizzenbuch aus dem Felde vom Frühjahr 1915 (1956, 2016),12 George Grosz’ Skizzenbuch 1917 (1987) und jüngst Ernst Ludwig Kirchners Skizzenbuch 159 (1929–1938) (2012). Von Ernst Barlach ist bislang nur einmal ein Skizzenbuch veröffentlicht worden. 1940 erschien als Faksimile sein Skizzenbuch zu dem Illustrationsvorhaben zu Kleists Michael Kohlhaas, einer Edition, die der Verlag Bruno Cassirer, Berlin, geplant hatte.13 Barlach hat darin vor allem mittelalterliche Kostüme skizziert und einzelne Szenen entworfen. Das 1910 möglicherweise im Hinblick auf den 100. Todestag Kleists im November 1911 begonnene Vorhaben wurde nicht vollendet. Lediglich vier Holzschnitte entstanden, die in
9 Gerd Presler, Das Skizzenbuch, Ostfildern 2017, S. 44. 10 G. Presler, Das Skizzenbuch (wie Anm. 9), S. 46. 11 G. Presler, Das Skizzenbuch (wie Anm. 9), S. 14. 12 Aus Anlass des 100. Todestages des Malers ist eine Neuausgabe des nur als lose Seiten überlieferten Skizzenbuches im Faksimile erschienen: Franz Marc, Skizzenbuch aus dem Felde, mit einem Nachwort von Michael Semff, München, Berlin 2016. 13 Ernst Barlach, Zeichnungen zum Michael Kohlhaas, Vorwort von Friedrich Schult [lose beiliegend], Potsdam 1940. In einer anderen Ausgabe – Heinrich von Kleist, Ernst Barlach, Michael Kohlhaas, Nachbemerkung von Wolfgang Barthel und Elmar Jansen, Berlin 1980 – wurde der Versuch unternommen, Barlachs Skizzen bestimmten Textstellen von Kleists Kohlhaas zuzuordnen. Der Charakter des ursprünglichen Skizzenbuches Barlachs ist hier nicht wiedergegeben.
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nur wenigen Probedrucken bekannt sind. Friedrich Schult hatte mit diesem Skizzenbuch ein für Barlach eher untypisches Beispiel ausgewählt. In der umfangreichen Barlach-Ausstellung der Deutschen Akademie der Künste in Berlin (Ost) von 1951/52 wurden fünf Taschenbücher gezeigt und zahlreiche Einzelblätter abgebildet. An dieser Bildauswahl orientierte sich Friedrich Schult, als er 1955 in der Insel-Bücherei eine Auswahl von 36 Taschenbuchzeichnungen veröffentlichte. Schult hatte einzelne Seiten aus Barlachs russischen Taschenbüchern von 1906, den italienischen von 1909 und aus Güstrower Taschenbüchern der Jahre 1910 bis 1914, die der Bildhauer nach seiner Übersiedlung in die mecklenburgische Kleinstadt ab 1910 benutzte, ausgewählt.14 Seine Auswahl bietet einen zeitlich eng begrenzten Einblick. Durch die Herauslösung einzelner Seiten wird der Werkzusammenhang der Taschenbücher aufgehoben und die Abfolge der Zeichnungen und Skizzen, die sich beim Blättern in einem solchen Heft ergibt, bleibt nicht mehr erlebbar. Man kann zudem Friedrich Schult nicht beipflichten, dass 1906 bis 1914 „die entscheidenden Jahre“ in Barlachs Schaffen gewesen seien. „Alles Frühere wäre […] bis auf wenige Proben wahrscheinlich vernichtet worden.“15 Im Hinblick auf Barlachs Taschen- und Skizzenbücher kann diese Vermutung nicht bestätigt werden, denn gerade das Gegenteil ist der Fall: Barlach hat zwar bei verschiedenen Gelegenheiten einzelne Seiten mit Skizzen herausgetrennt und verschenkt, etliche Textseiten offensichtlich entfernt und vernichtet, jedoch alle bekannten Hefte mit den frühesten Versuchen von 1888 bis zum Anfang der 1920er Jahre stets aufbewahrt, sie immer wieder zur Hand genommen und sich mit dem darin Gezeichneten und Notierten beschäftigt. In der großen Barlach-Ausstellung, die 1981 in der Nationalgalerie Berlin (Ost) zu sehen war, wurden auch Taschenbücher berücksichtigt, jedoch weitgehend deskriptiv abgehandelt. Eine erste substanzielle Auseinandersetzung mit diesem Medium erfolgte 1995 in der Ausstellung „Ernst Barlach. Berlin Florenz 1909“,16 gefolgt von der Aufnahme zahlreicher Skizzenhefte Barlachs aus Friedrichroda in den Katalog Barlach in Thüringen, Jena 2006. Zuletzt wurden 2007 in einer weiteren Spezifizierung in der ersten grundlegenden Ausstellung und Monographie zu Ernst Barlachs für sein Werk entscheidender Reise nach Südrussland von 1906 alle dort benutzten Taschenbücher Seite für Seite abgebildet und auch die Text
14 Ernst Barlach, Taschenbuchzeichnungen. 36 Bildtafeln, hg. von Friedrich Schult, Leipzig 1955. 15 E. Barlach, Taschenbuchzeichnungen (wie Anm. 14), o. p. 16 Vgl. dazu Inge Tessenow, Verzeichnis der ausgestellten Arbeiten. In: Ernst Barlach. Berlin Florenz 1909, bearb. von Inge Tessenow, Güstrow 1995, S. 103, 114–123.
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eintragungen transkribiert.17 Aus Anlass von Barlachs 75. Todestag wurde 2013 sein Skizzenheft 14, Paris 1895/95 (Wvz. 93) als Faksimile publiziert.18 Gerade die Taschenbücher seiner Reisen – 1895/96 und 1897 nach Paris, 1906 nach Südrussland und 1909 nach Florenz – eröffnen einen tiefen Einblick in zeitlich überschaubare Abschnitte von Leben und Werk Barlachs. Diese Taschenbücher sind erzählende Reisetagebücher im klassischen Sinn. Für den genauen Betrachter können sie zur ethnologischen Quelle werden, auch wenn Barlach nur subjektiv auswählend Menschen, Landschaft und Interieurs skizziert, manches notiert (vgl. Abb. 2 und 3). Das unersättliche Interesse Barlachs am vitalen Leben findet in diesen kleinformatigen Skizzenheften – vor allem aus Paris19 und Friedrichroda – einen dichten und vibrierenden Niederschlag, wobei dem Zeichnen immer schon sein Interesse galt: „In Dresden und Paris habe ich unablässig gezeichnet.“20 Auch in Paris in der Académie Julian versucht er sich unter Anleitung im Skizzieren und Zeichnen weiterzubilden, ist aber rasch ernüchtert und stellt mit Unbehagen fest: und kurz und gut, ich zeichnete einige Wochen oder gar Monate auf der Akademie Julien [!] Akte, schlechte, langweilige Richtigkeiten […], daß ich nicht einsehen konnte, weshalb man sich eigentlich mühe – ich, dem beim Gang über die Straßen der Bleistift in der Hand vor Ungeduld zu tanzen begann.21
Barlach mischt sich also unters Volk als Ausdruck seiner künstlerischen Freiheit, die er als Gegenentwurf zur einengenden akademischen Ausbildung in Hamburg und Dresden auch gegen den Strom zu leben wusste. Dabei befand er sich auch in einer Art von Konkurrenz zu den zahlreichen französischen und deutschen
17 Vgl. dazu Inge Tessenow, Werkeverzeichnis. In: „außen wie innen“. Russland im Werk Ernst Barlachs, hg. von Inge Tessenow und Helga Thieme, Güstrow 2007, S. 175–260. 18 Ernst Barlach, Skizzenheft 14. Paris 1895/96, hg. und mit einem Nachwort versehen von Volker Probst, Güstrow 2013. 19 Zu Barlachs Aufenthalten in Paris immer noch die eindringlichste Studie: Joachim Kruse, Barlach in Paris. 1895 bis 1896 und 1897. In: Niederdeutsche Beiträge zur Kunstgeschichte, 4, 1965, S. 307–356. 20 Äußerung Barlachs vom August 1920. In: Friedrich Schult, Barlach im Gespräch, Leipzig 1985, S. 7. 21 Ernst Barlach, Ein selbsterzähltes Leben, Berlin 1928, S. 53. – Von diesen Aktzeichnungen Barlachs haben sich nur wenige Blätter erhalten, s. Volker Probst, Der Bildhauer und sein Modell. In: „… das Kunstwerk dieser Erde“. Barlachs Frauenbilder, hg. von Andrea Fromm und Helga Thieme, Güstrow 2010, S. 29–36; vgl. auch Sabine Schulze, Die Farbe des Fleisches. Das Künstlermodell zwischen Ideal und Wirklichkeit. In: Das Modell in der bildenden Kunst des Mittelalters und der Neuzeit. Festschrift für Herbert Beck, Red. Heike Richter, Petersberg 2006, S. 261–273.
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Abb. 2: Skizzenheft 11 (Paris 1896) Wvz. 102 17li–17re
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Abb. 3: Taschenbuch Russland 1906/IV Wvz. 511 18li–18re
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Künstlern und Literaten seines Pariser Bekanntenkreises, zu denen u. a. Alphonse Osbert, Henri Degron, Victor Koos, Carlos Schwabe, Hans Christiansen und James Vibert gehörten. Man beäugte sich skeptisch und sparte wohl mitunter auch nicht mit harter Kritik. Als zeichnender Jäger des Augenblicks hat Barlach seine ‚Opfer‘ immer im Blick und macht reiche Beute: „Hinter Menschen war ich drein mit dem Blei und ebenso hinter allem sonst, was sich als organisierte Masse oder Unform am Wege fand.“22 Mit Stift und Skizzenheft ist Barlach als Flaneur in der Nachfolge von Baudelaire, Mallarmé, Verlaine und Rimbaud in „Paris, der Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“ (Walter Benjamin) unterwegs, lässt sich plan- und ziellos durch die Metropole treiben, immer Ausschau haltend nach „Augenbeute“. Baudelaire schrieb in seiner Ästhetik der Malerei und der bildenden Kunst: Für den vollkommenen Flaneur, für den passionierten Beobachter ist es ein ungeheurer Genuß, in der Masse zu hausen, im Wogenden, in der Bewegung, im Flüchtigen und Unendlichen. Außerhalb seines Heims zu sein, und doch sich überall bei sich daheim zu fühlen.23
Für Barlach bildeten bereits in jenen Pariser Tagen seine Taschen- und Skizzenbücher eine ganz persönliche Form künstlerischer Artikulation, die er auch gegenüber anderen zu verteidigen wusste: Meine Skizzenbücher mit höchst unschönen Ecken und Winkeln, über die jeder Maler lacht, sind mir treu geblieben. Ich meinerseits lache über die reizenden Skizzen in den Büchern der Maler. Wir werden sehn! Was ich so an Augenblicksmotiven und flüchtiger Augenbeute auf der Straße erhasche, das verwertet sich unmittelbar – wir werden sehen!24
Auch wenn sich die Art der Benutzung seiner Taschen- und Skizzenbücher im Laufe der Jahrzehnte veränderte, so sind sie über die Länge der Zeit Ausdruck der Teilhabe an einer grundsätzlich fragmentarischen Welt. Barlach jagte den Erscheinungen hinterher, nur Bruchstücke von visuellen Eindrücken und Vorgängen konnte er in diesen kleinen Heften festhalten. Dennoch gelingen ihm Verdichtungen von Wahrnehmung trotz der grundsätzlichen Unabgeschlossenheit. Gerade bei den lebensnahen Skizzen der Alltagswelt fängt Barlach indirekt die Zeit als konstituierendes Phänomen unserer Existenz ein, indem er die Erscheinung – ähnlich der Momentaufnahme einer Fotografie – ‚einfriert‘: Die Zeit steht
22 E. Barlach, Ein selbsterzähltes Leben (wie Anm. 21), S. 57. 23 Charles Baudelaire, Zur Ästhetik der Malerei und der bildenden Kunst, übers. von Max Bruns, Minden [1906], S. 280 f. 24 Ernst Barlach an Friedrich Düsel, Paris, 10. Januar 1896. In: Ernst Barlach, Die Briefe 1888– 1938, hg. von Friedrich Droß, München 1968, Bd. 1, Nr. 89, S. 245.
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Abb. 4: Skizzenheft 8 (Paris 1896) Wvz. 100 13li–13re
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in der Skizze still, ist dauernder Augenblick geworden. Ein zufälliges Bruchstück, auf das des Bildhauers Auge fällt, ist aus dem Chaos und der erdrückenden Fülle der Erscheinungen herausgelöst und geht so als Vereinzeltes in sein Bilderreservoir ein. Durch Beschriftungen, etwa zu Farben, Lichtverhältnissen und später bei den Einzelfiguren über die im Skizzenheft angedeutete Haltung wird das bildliche Erinnerungsfragment durch das Wort gestärkt. Selbst während der intensiven Lebensabschnitte – Paris, Friedrichroda, Russland, Italien – orientiert sich Barlach am Unvollendeten, das heißt, er greift nach dem Augenblick und verwandelt ihn somit in artikulierte Unmittelbarkeit. Sie verschließt sich jedoch im Taschenbuch, nur weniges daraus tritt als autonomes Werk – Plastik, Zeichnung, Druckgraphik – aus dieser intimen Welt der Skizzen an die Öffentlichkeit. Barlach hat seine Skizzenbücher nicht zuerst mit Blick auf Werke in Plastik oder in größerem Format auszuführende Zeichnungen angelegt, sondern die einfache und unmittelbare Teilhabe am pulsierenden Leben bildet den atmosphärischen Grundton, der sich durch diese kleinen Hefte zieht. Schult erkennt in den Taschenbüchern Barlachs „heimlichste Zwiesprache mit der vorbeitreibenden kreatürlichen Welt“,25 ein Phänomen, dem wir im japanischen Farbholzschnitt vor allem des 19. Jahrhunderts als „ukiyo-e – Bilder der fließenden Welt“ begegnen. Barlach zeigt sich in Paris nicht unbeeinflusst von der französischen Plakatkunst des Jugendstils, der auf die noch junge Kenntnis des japanischen Farbholzschnittes im damals sich entfaltenden Japonismus zurückgriff. Im Laufe der Jahre legte sich Barlach mit den Skizzenbüchern ein schier unerschöpfliches ‚Arsenal‘ an, das am Ende seines Lebens auf über 11.000 mit Skizzen und schriftlichen Eintragungen versehene Seiten anwachsen sollte. In der Frühzeit, etwa bis zur Russlandreise 1906, herrscht bei Barlach ein großes Interesse am Detail vor. Zahllose Skizzen geben das Gesehene im Ausschnitt wieder, beispielhaft die Pariser Skizzenbücher von 1895/96 und 1897. Dabei interessieren ihn nicht nur relativ statische Zustände, vor allem Menschen bei unterschiedlichen Verrichtungen, sondern auch Bewegungen und Abläufe. Anders als die sich damals rasant entwickelnde Fotografie muss der Künstler Bewegung mit einem Blick erfassen und rasch auf das Papier bringen. Ball spielende Kinder fixiert Barlach als Strichmännchen, um des flinken Spiels der Kinder zumindest strukturell habhaft zu werden. Nach der entscheidenden Russlandreise im Sommer 1906 stellt Barlach dann jedoch die einzelne Figur auf eine Taschenbuchseite. Der Blick des Bildhauers ist jetzt auf die plastische Form gerichtet und seine Wahrnehmung erfasst die dreidimensionale Struktur und den tektonischen Aufbau von Mensch, Tier und Landschaft. Stetig erweitert sich das in den Taschen- und Skiz-
25 E. Barlach, Taschenbuchzeichnungen (wie Anm. 14), o. p.
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zenbüchern Angesammelte zu einem Bildreservoir, aus dem sich für den Künstler unendlich schöpfen lässt. Barlach benutzt einen weichen Bleistift, mit dem er die Motive auf das Papier zeichnet. Die Kontur, die das Dargestellte zusammenhält, verstärkt er durch einen höheren Druck des Stiftes oder mehrfaches Nachziehen. Der Duktus bleibt zunächst im Wesentlichen ein fließender, dessen graphische Struktur aus dem Grundelement der ornamentalen Linie gebildet wird, Barlachs Tribut an den in Paris allgegenwärtigen Jugendstil. Sparsam nutzt er leichte Aquarellfarbe, um zu den Graphittönen farbliche Akzente zu setzen. Neben dem Bleistift verwendete Barlach im Laufe der Jahrzehnte auch Kohle, Feder, Tusche, Tinte, Aquarell, Farbstifte, Kopierstift und Kombinationen dieser Materialien. Diese verschiedenen Techniken geben Aufschluss über Barlachs Arbeitsprozess: War er unterwegs, so zeichnete er mit dem Bleistift. Im Atelier oder in der Wohnung nahm er sich das Heft erneut vor und überging die Bleistiftzeichnung mit der Feder oder er beschriftete Darstellungen mit Datum und Ortsangaben. Aufgrund der Verwendung verschiedener Schreib- und Zeichenmaterialien lässt sich vermuten, dass Barlach auch weit zurückliegende Hefte in zeitlich größeren Abständen immer wieder einmal durchgesehen hat (vgl. Abb. 5). Die Taschenbücher waren Barlach nicht nur für seine bildkünstlerische Arbeit und seine Schreibprojekte wichtig, sondern er nutzte sie als Mittel, seinen Alltag zu bewältigen. Deutlich wird dies in den Heften der Jahre 1914 bis 1918: Wichtige Adressen von Bekannten, die als Soldaten am Krieg teilnahmen, übertrug er in das jeweils nachfolgend von ihm genutzte Heft. So war Barlach immer auf einem aktuellen Kenntnisstand, wenn er mit für ihn wichtigen Personen wie etwa mit Max Dietzel (1883–1916) oder Arthur Moeller van den Bruck (1876–1925) in brieflichen Kontakt treten wollte (Wvz. 1334, 1325, 1344, 1345, 1347, 1389, 1447, 1512, 1554). In der Regel hat Barlach auf der inneren Umschlagseite vorn eine Datierung angebracht, d. h. den Beginn der Nutzung des Heftes festgehalten und Adressen auf den letzten Seiten notiert, so dass eine fortlaufende Nutzung von vorn nach hinten anzunehmen ist, also in der Tat eine Chronologie gegeben scheint. In dieser durchgehenden Art der Benutzung offenbart sich zudem ein zeitökonomischer Aspekt und Barlachs Umgang mit abrufbarer Information: Eine gesuchte Adresse etwa ließ sich leicht auffinden, ohne viel blättern zu müssen (vgl. Abb. 6). Nach seiner Übersiedelung in das mecklenburgische Güstrow 1910 deckte Barlach aller Wahrscheinlichkeit nach seinen Bedarf an Papieren und Notizbüchern vor allem bei dem Buchbindermeister Wilhelm Meink, der eine Papierhandlung und Buchbinderwerkstatt in der Domstraße 21 betrieb.26 Belegt ist
26 Güstrower Wohnungs-Anzeiger für 1916, Güstrow 1916, 38. Jg., S. 35, 200, 258.
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Abb. 5: Skizzenheft 27 (Friedrichroda 1896) Wvz. 134 54li–54re
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Abb. 6: Taschenbuch Güstrow 1915/I Wvz. 1344 35li–35re
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dies zumindest für das vierte Notizheft – ein schwarzes Wachstuchheft –, das Barlach als sein „Kriegstagebuch“ von August 1915 bis November 1917 führte.27 Dass Barlach in Buchbindermeister Meink nicht nur einen Papierlieferanten sah, sondern auch dessen vorbildliches Handwerk schätzte, zeigt seine Tagebucheintragung vom 16. Januar 1915: „Friedrich Meink, Künstler der Bucheinbände.“28 Die Taschen- und Skizzenbücher Barlachs bieten eine einmalige Möglichkeit, sich dem Künstler auf einer anderen bildlichen und sprachlichen Ebene zu nähern und seinem Lebenslauf zu folgen. Sie eröffnen uns gewissermaßen mit einem Blick über die Schulter und in seine Ideen-Werkstatt Zugang zu Barlachs Wahrnehmung und seinen Interessen. So erleben wir ihn zu Beginn in Hamburg und Dresden während des Kunststudiums als Lernenden, in Paris als wiss- und sehbegierigen Flaneur, im Thüringer Wald um Friedrichroda begleiten wir ihn auf seinen melancholischen Wanderungen durch dunkle Wälder vorbei an nächtlichen Gehöften (vgl. Abb. 7). Zeitgleich entstehen kurze Prosastücke wie Spaziergang nach Tabarz (1896/97), was einmal mehr auf die wechselseitigen Beziehungen unterschiedlicher Ausdrucksformen verweist, über die Barlach als eine der bedeutenden Mehrfachbegabungen im 20. Jahrhundert verfügte. So schreibt er in diesem kurzen Prosastück: Tabarz liegt hinter einem großen, dicken Walde […]. Mutter und ich […] gehen durch den dicken Wald und denken uns dabei nichts gar Großes. […] Einsam ists dadrinnen, trotz der vielen Bäume. Hier stehen zwei zusammen wie Zwillingstannen und weiterhin wieder. Wie sie wohl untereinander flüstern und klatschen, was sie wohl der einsamen Eiche allerlei Schändliches unterschieben, wie sie sich freuen, wenn ein Wanderer kommt, an dessen Hacken sie ihre Blicke hängen können und über dessen Nase sie kichern dürfen!29
Sein Interesse an den Fragen moderner Grabgestaltung zeigt sich zu Beginn seiner Berliner Zeit, wie er auch bei der ungeliebten Tätigkeit als Lehrer an der Königlichen Keramischen Fachschule in Höhr sich dennoch intensiv mit Gefäß- und Ornamentgestaltung auseinandersetzt.30 Hier dient das Taschenbuch nicht mehr
27 Barlach notierte: „7 August 1915 […] Als ich heute bei Frau Meink dieses Heft kaufte“. Ernst Barlach, Güstrower Tagebuch, hg. von Ulrich Bubrowski, Hamburg 2007, S. 319. 28 E. Barlach, Güstrower Tagebuch (wie Anm. 27), S. 185. – Vgl. auch den Katalog Ausstellung handwerklicher Einbandkunst im Museum des Güstrower Kunst- und Altertumsvereins, Güstrow 1924. Darin stellten u. a. Wilhelm Meink (Güstrow) und Friedrich Meink (Berlin) Beispiele ihrer Buchbinderkunst aus. 29 Ernst Barlach, Spaziergang nach Tabarz. In: Ernst Barlach, Die Prosa I, hg. von Friedrich Droß, 2. Aufl., München 1973, S. 105. 30 Vgl. Ernst Barlach. Auf dem Weg in die Moderne. Stationen der Frühzeit – Keramik in Altona und Berlin, Lehrer in Höhr, hg. von Inge Tessenow, Güstrow 2016.
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Abb. 7: Skizzenheft 26 (Friedrichroda 1896) Wvz. 133 36li–36re
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dazu, wie vor allem in Paris und Friedrichroda, das Gesehene und Beobachtete der vorbeifließenden Welt in zahllosen Skizzen festzuhalten. Die Skizzenbücher müssen nun zur Hand sein, wenn Barlach eine Idee zu einem Grabmal oder einem Gefäß skizzieren und erproben möchte. Weiterhin finden sich freie Erfindungen für Beleuchtungskörper, Ornamente, Schriftproben u. a. (vgl. Abb. 8). Folgt man Barlachs Leben in der Chronologie der Taschen- und Skizzenbücher, so können wir diese kleinen Hefte in der Tat als eine Art von Tagebuch lesen, die das jeweilige Interesse des konkreten Lebensjahres oder -abschnittes festhält. Sie enthalten nicht nur bildliche Skizzen von Menschen, Tieren, Landschaften, Entwürfe für Grabmale und Gefäße, sondern auch schriftliche Eintragungen wie Adressen, Entwürfe für Briefe und literarische Projekte, tagebuchartige Notizen über das eigene Befinden, Packlisten für Reisen, Zugverbindungen, Aufstellungen über seine Ausgaben, Telefonnummern. Sie dienen Barlach auch als Vokabelhefte, ergänzt um fremdsprachige Redewendungen und Briefentwürfe (französisch, russisch, italienisch). Diese Hefte eröffnen somit tiefgehende Einblicke in künstlerische Entwicklungen, die sich uns im plastischen und graphischen Werk vollendet kristallisiert darstellen, und in persönliche Lebenssituationen Barlachs. Überhaupt muss man bei Barlach nicht nur die Biographie vor Augen haben, sondern immer das Zusammenwirken seiner drei „Handwerke“ berücksichtigen: „Nun kann mir aber die Plastik nicht ganz genügen, deshalb zeichne ich, und weil mir das nicht ganz genügt, schreibe ich“31 (vgl. Abb. 9). Alle bekannten Taschen- und Skizzenbücher Barlachs sind seit 2013 mit der Veröffentlichung innerhalb des Werkverzeichnisses der Zeichnungen vollständig zugänglich. Die umfassende Bereitstellung dieser Werkgruppe ist für die wissenschaftliche Gemeinschaft wie für alle weitergehend Interessierten gedacht und schließt eine Lücke in der Barlach-Forschung. Einen ersten Versuch, auch die schriftlichen Eintragungen und Notizen Barlachs in diesen Heften vollständig zu erschließen, hat Ulrich Bubrowski unternommen. In dem 2015 erschienenen Band Ernst Barlach. Privatkram32 hat er in chronologischer Folge die handschriftlichen Eintragungen transkribiert. Es liegt in der Natur der Sache und auch in der enormen Schwierigkeit, Barlachs Handschrift – insbesondere in den Taschenbüchern – zu entziffern, dass Bubrowskis Arbeit nicht ohne Lesefehler ist. Die detaillierte Entschlüsselung der Taschenbücher und Skizzenhefte mit der Fülle
31 Ernst Barlach an Friedrich Düsel, Hamburg, 15. und 16. Juni 1889. In: E. Barlach, Die Briefe 1888–1938 (wie Anm. 24), Bd. 1, Nr. 15, S. 56. 32 Ernst Barlach, Privatkram, hg. von Ulrich Bubrowski, Hamburg 2015. Bubrowskis Transkriptio nen bedürfen einer kritischen Überprüfung, da der Gebrauch des Bandes zahlreiche Lesefehler zutage gefördert hat.
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Abb. 8: Taschenbuch Höhr 1904 Wvz. 361 11li–11re
Ernst Barlachs Taschen- und Skizzenbücher
Abb. 9: Literarisches Manuskript 1927/I Wvz. 2238 1li–1re [Skizze zur Hängung des „Schwebenden“ im Dom zu Güstrow]
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des bildlichen wie biographischen Materials muss somit weiterhin kommender Forschung vorbehalten bleiben. In der Plastik gewann im 18. und 19. Jahrhundert der Torso zunehmend an Aufmerksamkeit innerhalb der Künstlerschaft, aber auch der Kunstfreunde. Und Auguste Rodin war es, der den Torso als eigenes Sujet in die Bildhauerei einführte. Hier war also das Unvollendete, das Fragment Gebliebene das eigentliche Ziel künstlerischen Handelns. Der Torso galt dennoch als eigenständiges, ja vollendetes Werk.33 Barlach hat dieses Sujet „Torso“ nie interessiert, auch wenn es bei ihm plastische Arbeiten als Modelle gibt, die nicht realisiert worden sind. Der Begriff des Fragments kann bei Barlachs bildhauerischem Werk nur schwerlich Anwendung finden, denn das hieße, es habe ein Ganzes gegeben, das durch Zerlegung zum fragmentarischen Splitter geworden sei. Wenige bruchstückhafte Teile von Plastiken kann man zwar als Fragmente ansprechen, sie sind jedoch nicht das Resultat eines bewussten künstlerischen Gestaltungsprozesses, sondern der Zufälligkeit der materiellen Überlieferung zu verdanken. In Barlachs Taschenund Skizzenbüchern hingegen herrscht das Fragmentarische und das Bruchstückhafte vor, denn dem Künstler ging es um „flüchtige Augenbeute“. Wendet man sich schließlich den Skizzen als transformierte Wirklichkeit in Barlachs ‚Arsenal‘ der Taschenbücher zu, so kann man sie unter zwei Blickwinkeln betrachten. Ohne Frage hat er seine Eindrücke wie Momentaufnahmen festgehalten, so dass es sich um vollgültige künstlerische Artikulationen sui generis handelt. Da aber selbst den flüchtigen Skizzen im Werkprozess ein Potenzial zur späteren Ausführung in anderen Medien innewohnt, sollte der Aspekt der Vorarbeit bzw. ihre instrumentale Funktion nicht außer Betracht gelassen werden.
33 Vgl. Werner Schnell, Der Torso als Problem der modernen Kunst, Berlin 1980.
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Poetische Mobilmachung im Textbaukasten Fontanes Listen und die Kunst der Weiterverwendung – der Fall „Allerlei Glück“
I Vom Eigensinn der Liste Die Liste ist ein schlaues ‚Papierwerkzeug‘.1 Wie kaum eine andere Notationsform ist sie in der Lage, zwischen Struktur und Offenheit, Vollendetem und Unvollendetem zu vermitteln. Listen können Stoff gliedern – man denke nur an die klassische ‚Outline‘ – und Reihenfolgen bestimmen. Im ‚Erstens‘, ‚Zweitens‘, ‚Drittens‘ der Liste artikulieren sich bewusste oder unbewusste Prioritäten. Wer eine Liste anlegt, macht also einen Plan. Zugleich hilft die Liste neuen Einfällen auf die Beine. Listen laden dazu ein, das Aufgelistete fortzuspinnen, Gedanken probeweise herauf- und wieder herunterzuskalieren. Sie reißen Gegenstände aus alten Kontexten, stellen neue Zusammenhänge her und bringen Assoziationen zum Laufen. So können Listen Abwechslung, Variation, Überraschung und Fortsetzung im Schreibprozess anregen. Kurzum: Als offene und zugleich strukturgebende Darstellungsmedien eröffnen Listen ein Arsenal kreativer Möglichkeiten und haben durch ihre besondere Graphie poetologischen wie epistemischen Eigensinn. Für diesen Eigensinn haben sich Disziplinen wie Anthropologie und Wissenschaftsgeschichte bisher eher interessiert als die Literaturwissenschaft.2
1 Dieser Aufsatz stellt eine überarbeitete und stark erweiterte Fassung des Beitrags [d. Verf.] Per Liste durch den Papier-Kosmos. Theodor Fontanes bewegliche Textproduktion – Beobachtungen zum Fall „Allerlei Glück“ dar, der erschienen ist in: Zettelkästen. Maschinen der Phantasie, hg. von Heike Gfrereis und Ellen Strittmatter, Marbach am Neckar 2013 (Marbacher Katalog 66), S. 98–109. Ich danke den Herausgeberinnen für ihre freundliche Genehmigung, mich des Themas hier noch einmal annehmen zu dürfen. – Der Begriff ‚Papierwerkzeug‘ ist entlehnt aus Ursula Klein, Paper Tools in Experimental Cultures. In: Studies in the History and Philosophy of Science, 32, 2001, S. 265–302. 2 Klassischer Ausgangspunkt der Forschung ist immer noch der 1977 erschienene Aufsatz des Anthropologen Jack Goody, What’s in a list? In: J. Goody, The domestication of the savage mind, Cambridge 1977, S. 74–111. In dem Aufsatz postuliert Goody einen Zusammenhang zwischen der Benutzung von assyrischen Keilschrift-Listen und kognitiven Prozessen. Ein Beispiel für das große und nicht nachlassende Interesse der Wissenschaftsgeschichte an Listen bietet die Schwerpunkt-Ausgabe „Listmania!“ der wissenschaftshistorischen Zeitschrift Isis, 103–104, 2012. Die Literaturwissenschaft schließt erst langsam an diese Interessen an. Wichtige Impulse liefern https://doi.org/10.1515/9783110539493-006
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Dabei finden sich Listen aller möglichen Ausprägungen in den Nachlässen zahlreicher Schriftstellerinnen und Schriftsteller (etwa bei Friedrich Nietzsche und Gottfried Keller)3 und werden offenkundig von denen, die schreiben und über ihr Schreiben nachdenken, als poetologische Notationsformen wertgeschätzt. Theodor Fontane gehört an oberster Stelle unter die Autoren mit einer besonderen Beziehung zu Listen. Die Omnipräsenz von verschiedensten Listen in seinen Notizbüchern4 und anderen Entwurfsmaterialien – mal nummeriert, mal nicht nummeriert, freistehend und eingebettet in Fließtexte, in knappster Form und dann wieder in aller Ausführlichkeit formuliert, mal zu poetischen und mal zu rein logistischen Zwecken verfasst – zeugt von der Intensität, mit der sich der Autor der Liste verschrieben hatte. Listen, daran kann es in der Auseinandersetzung mit Fontanes Autographen keinen Zweifel geben, spielten in seinem Arbeitsprozess eine zentrale Rolle. Der vorliegende Beitrag geht der Liste in Fontanes Entwurfspraktiken nach und verfolgt dabei ein doppeltes Ziel: Zum einen gilt es, einen charakteristischen Ausschnitt aus der Arbeitsweise des Schriftstellers zu zeigen, der bisher zu wenig beachtet worden ist. Zum anderen soll Fontane selbst wiederum zum Fall werden, an dem sich studieren lässt, was die Liste als Medium des Entwerfens und Schreibens leisten kann, wie sie das Verhältnis zwischen Schriftsteller und Stoff reguliert und für welche weiteren Arbeitsprozesse und produktiven Anschlussverfahren sie das Schreiben öffnet. Das Material für die Fallgeschichte liefern Fontanes Aufzeichnungen und Entwürfe zu dem Roman-Projekt „Allerlei Glück“ (1866/1877 – 1879), deren erhaltene Teile im Deutschen Literaturarchiv Marbach und im Theodor-Fontane-Archiv auf-
die Studien von Sabine Mainberger, Die Kunst des Aufzählens. Elemente zu einer Poetik des Enumerativen, Berlin 2003 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 22), sowie Robert Belknap, The List: The Uses and Pleasures of Cataloguing, New Haven 2004. 3 Siehe zum Beispiel Friedrich Nietzsches Notizhefte, die im Rahmen der Digitalen Faksimile Gesamtausgabe (DFGA, nach den Originalmanuskripten und Originaldrucken der Bestände der Klassik Stiftung Weimar, hg. von Paolo D’Iorio, 2009 ff.) online verfügbar sind unter http://www. nietzschesource.org/facsimiles/DFGA/Manuscript/Copybook (14. 5. 2017). Ein ganz konkretes Beispiel liefert Notizbuch MIII–4 (1881/1883), S. 2 und 3. Kellers Notizbücher, die zum Teil ganze Motivlisten enthalten, sind mit Faksimiles erschienen in: Gottfried Keller, Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe (HKKA), hg. von Walter Morgenthaler u. a., Abteilung C: Nachgelassene Texte, Bd. 16.1/2: Studien- und Notizbücher, Zürich, Frankfurt am Main 2001. 4 Fontanes Notizbücher sind im Besitz der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz (Handschriftenabteilung, Nachlass Theodor Fontane, Signaturen A 1–21; B 1–15; C 1–14; D 1–11; E 1–6). Eine genetisch-kritische kommentierte Edition ist an der Theodor-Fontane-Arbeitsstelle der Universität Göttingen unter der Leitung von Gabriele Radecke in Arbeit. Die Notizbücher sind im Online-Portal der Edition zugänglich unter https://fontane-nb.dariah.eu/index.html (12. 5. 2017).
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bewahrt werden.5 Obwohl Fontane das Projekt nie abgeschlossen hat, gilt es als sein „Schulstück“6 in der Gattung „Berliner Gesellschaftsroman“, jener Gattung also, für die er berühmt geworden ist. Nach einigen frühen Entwürfen intensivierte Fontane das Projekt, als er nach über zwölf Jahren dauernd unterbrochener Arbeit endlich seinen voluminösen Roman-Erstling Vor dem Sturm zum serialisierten Druck in der Wochenzeitschrift Daheim untergebracht hatte und für die nächsten Schritte einen Gangartwechsel plante. Er wollte zunächst einen Band mit Novellen „zwischenschieben“ und sich dann gleich wieder an etwas Umfangreicheres wagen, „an eine heitre und […] humoristische Darstellung unsres Berliner gesellschaftlichen Lebens“.7 Am 3. April 1879 versuchte er, den ZeitschriftenHerausgeber Gustav Karpeles per Werbungsbrief für sein nun schon wesentlich konkreter gewordenes Roman-Projekt zu gewinnen: Zeitroman. Mitte der 70er Jahre; Berlin und seine Gesellschaft, besonders die Mittelklassen, aber nicht satirisch, sondern wohlwollend behandelt. Das Heitre vorherrschend, alles Genrebild. Tendenz: es führen viele Wege nach Rom, oder noch bestimmter: es gibt vielerlei Glück, und wo dem Einen Disteln blühn, blühn dem Andern Rosen. Das Glück besteht darin, daß man da steht, wo man seiner Natur nach hingehört; selbst die Tugend- und Moralfrage verblaßt daneben. Dies wird an einer Fülle von Erscheinungen durchgeführt […].8
Nachdem der historische Roman Vor dem Sturm ihm nicht den erwünschten Erfolg beschert hatte, wollte Fontane nun offenkundig ganz gezielt die zeitgenössische
5 Das Manuskriptkonvolut ist nicht vollständig erhalten; seit 1945 gelten rund 200 Seiten als vermisst. Die Bestände im Deutschen Literaturarchiv Marbach tragen die Signatur A: Fontane 55.1038/1–40 sowie A: Fontane 56.550/15–30. Für die freundliche Hilfe bei der Recherche in Fontanes Autographen danke ich Gudrun Bernhardt. Die im TFA verwahrten Teile tragen die Bestandssignatur TFA N 11, 1–81. Ein erster (Teil-)Abdruck des Manuskripts erfolgte in: Julius Petersen, „Fontanes erster Berliner Gesellschaftsroman“. In: Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse, Berlin 1929, S. 480–562. Die in Petersens Aufsatz wiedergegebenen Manuskriptseiten beschränken sich auf den letzten Entwurf Fontanes und Ausschnitte aus früheren Versionen; Petersen ging bei der Transkription also selektiv vor. Trotzdem ist Petersens Aufsatz eine wichtige Quelle, da er über Fontanes Sohn Friedrich Direktzugang zu den heute als verschollen geltenden Materialien hatte. Auf Basis der erhaltenen Autographen und Petersens Aufsatz haben Christine Hehle und Hanna Delf von Wolzogen kürzlich eine sorgfältige Neuedition vorgelegt. Siehe Theodor Fontane, Fragmente. Erzählungen, Impressionen, Essays, im Auftrag des Theodor-Fontane-Archivs hg. von Christine Hehle und Hanna Delf von Wolzogen, Berlin, Boston 2016, Bd. I, S. 103–176 und Bd. II, S. 64–94. Der Kommentar gibt detailliert über die Manuskriptgestalt, Überlieferung und Entstehungsgeschichte des fontaneschen Roman-Projekts Auskunft. 6 So die Formulierung J. Petersens in „Fontanes erster Berliner Gesellschaftsroman“ (wie Anm. 5), S. 482. 7 Theodor Fontane an Wilhelm Hertz, Berlin, 9. Mai 1878. In: HFA, IV, 2, S. 568–569. 8 Theodor Fontane an Gustav Karpeles, Berlin, 3. April 1879. In: HFA, IV, 3, S. 19.
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Genre-Sparte bedienen. Zur vollständigen Ausführung kam es jedoch nie, da er letztlich keinen Verleger überzeugen konnte, „Allerlei Glück“ vorzufinanzieren. Ihm blieben Hunderte Entwurfsblätter und Zettel mit schon vorbereiteten Textteilen; ein umfangreiches Entwurfskorpus, an dem weitaus mehr „Unterseite“ bzw. Archiv als fertige Textoberfläche sichtbar wird. Gerade dadurch aber wird das Roman-Projekt zum Fall, an dem sich ein entscheidender Ausschnitt aus Fontanes Arbeitsweise exemplarisch zeigen lässt.9 Fontane benutzte Notationstechniken – allen voran natürlich Listen – die es ihm leicht machten, bereits erstellte Entwurfsteile und Textbausteine lose, probierend und experimentierend miteinander zu verbinden, sie aber auch mühelos wieder voneinander zu trennen. Fontanes Listen, das ist die These für das Folgende, führten somit zu einer besonders flexiblen Form der schriftstellerischen Produktivität: zu einer Arbeitsweise, die es ihm ermöglichte, seine Texte nicht ‚von null‘ zu schreiben, sondern aus existierenden Bausteinen zusammenzusetzen. Kraft der Liste konnte Fontane kompilierend verfahren, neu hinzukommende Stoffe leicht aufnehmen, Projekte aber auch wieder auseinanderreißen und schlussendlich in Abstimmung auf die Marktlage produzieren.10 Mit einem Blick auf seine Notizen zu „Allerlei Glück“ soll hier gezeigt werden, wie Fontane diese besondere Arbeitsweise konkret umsetzte. Dabei geht es weder um eine vollständige Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte des Roman-Projekts noch um eine Interpretation der überlieferten Entwürfe,11 sondern um die Sichtbarmachung von Schreibverfahren, die mit der Liste verknüpft sind. Unter „Verfahren“ soll im Anschluss an Christoph Hoffmann eine Folge aufeinander Bezug nehmender Operationen verstanden werden: eine Anordnung von Aktivitäten, Schritten und Ereignissen, die sich im Schreiben realisieren, „auf dem Papier Spuren hinterlassen“ und zu jedem Zeitpunkt auf ihre Ausführung verwiesen bleiben.12 Das Schreiben und Lesen von
9 Zur Exemplarität von „Allerlei Glück“ für Fontanes Arbeitsprozess s. Renate Böschenstein, Verborgene Facetten. Studien zu Fontane, Würzburg 2006, S. 497. 10 Zu Fontanes kompilatorischem Vorgehen, seinen Notationspraktiken und der materialen Unterseite seiner Kreativität s. ausführlich d. Verf. [Petra Spies], Original Compiler: Notation as Textual Practice in Theodor Fontane, Diss. Princeton University, Princeton 2012. Buchpublikation in Vorbereitung. 11 Die Entstehungsgeschichte ist in Petersens Studie rekonstruiert. Zur Interpretation der Entwürfe s. schon Richard Brinkmann, Theodor Fontane. Über die Verbindlichkeit des Unverbindlichen, München 1967, S. 84–115; Walter Müller-Seidel, „Allerlei Glück“. Über einen Schlüsselbegriff im Romanwerk Theodor Fontanes. In: Zeitwende, 48, 1977, S. 1–17; R. Böschenstein, Verborgene Facetten (wie Anm. 9), S. 497–507; und zuletzt, mit vergleichender Bezugnahme auf Fontanes Roman Frau Jenny Treibel, Ulrike Tanzer, Fortuna, Idylle, Augenblick. Aspekte des Glücks in der Literatur, Würzburg 2011, S. 224–228. 12 Wie Christoph Hoffmann verdeutlicht, unterscheidet sich das Verfahren von Begriff und
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Listen schließt in diesem Sinne kreative Möglichkeiten auf, die sich auf verschiedene Weisen nutzen lassen. Fragen von Intentionalität („Fontane benutzt Listen, um zu …“) sind aus dieser Perspektive von nachgeordnetem Interesse; vielmehr gilt es, das stille „Produktionswissen“13 auszupacken, das die Benutzung von Listen als Notationstechnik immer schon beinhaltet. Die folgende Untersuchung versteht sich somit nicht nur als Beitrag zu einer material- und medieninformierten Fontane-Philologie, sondern auch zu einer noch wenig erforschten „technischen Poetik“14 des 19. Jahrhunderts.
II Material in Bewegung: Offene Anschlüsse Fontanes Arbeitsprozess startete grundsätzlich aus einem Zuviel von angehäuftem Material heraus. Ob es sich um Wanderungen-Kapitel oder Roman-Projekte handelte, er las sich zu Beginn ein und „hamsterte“ Stoff. Warum ihm die Fülle wichtig war, geht aus einem Brief an seine Informantin und Freundin Mathilde von Rohr hervor: Ich sammle jetzt Novellenstoffe, habe fast ein ganzes Dutzend, will aber mit der Ausarbeitung nicht eher vorgehn, als bis mir noch mehr zur Verfügung stehn. Es liegt für mich etwas ungemein Beruhigendes darin über eine Fülle von Stoff disponiren zu können, etwa wie man mit einer Extra-Summe auf der Brust leichter auf Reisen geht, wie wenn man schon zwischen Berlin und Jüterbog an zu rechnen fängt und von der Frage gequält wird: wird es auch reichen?15
Theorie, weil es nicht von seiner Ausführung abstrahiert werden kann. Siehe Ch. Hoffmann, Festhalten, Bereitstellen. Verfahren der Aufzeichnung. In: Daten sichern. Schreiben und Zeichnen als Verfahren der Aufzeichnung, hg. von Ch. Hoffmann, Zürich 2008 (Wissen im Entwurf 1), S. 7–20, hier 13–15. 13 Zum Begriff „Produktionswissen“ s. Eckardt Köhn, Erfahrung des Machens. Zur Frühgeschichte der modernen Poetik von Lessing bis Poe, Bielefeld 2005, S. 27. Köhns Studie rekonstruiert die Herausbildung einer „Logik des Machens“ in der deutschen Literatur um 1800. 14 Begriff entnommen aus E. Köhn, Erfahrung des Machens (wie Anm. 13), S. 29. Köhn überblickt in der ausführlichen Einleitung (S. 9–67) die Problem- und Forschungsgeschichte der Produktionsästhetik und geht dabei auch detailliert auf das 19. Jahrhundert in Deutschland ein, doch sein abschließendes Urteil suggeriert, im 19. Jahrhundert habe es lediglich Interesse an deskriptivem Genre-Wissen und „Inventarisierung“ von literarischen Techniken gegeben (S. 40). Fontanes Arbeitsweise fordert hier zu einer komplexeren Sichtweise auf. 15 Theodor Fontane an Mathilde von Rohr, Berlin, 15. Mai 1878. In: HFA, IV, 2, S. 569.
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Fontanes Brief knüpft durch die Reise-Metapher eine Verbindung zwischen Fülle und Beweglichkeit, die für seinen Arbeitsprozess entscheidend war.16 Um im Bild zu bleiben: Er brauchte so viel Material, dass er es sich bei der Textproduktion leisten konnte, Umwege zu machen, an einem Ort länger zu verweilen als geplant oder auch das Reiseziel spontan zu ändern. Der präzise gesetzte, negative Gegenbegriff zu dieser Form des Material-Sammelns ist „rechnen“: Ein Dutzend Stoffe ist eigentlich nicht wenig, und doch war für Fontane das Sammeln nach oben offen und stand unter der schlichten Devise des ‚noch mehr‘, denn er wollte sich offenkundig nicht an ein vorher festgesetztes Budget halten und seine Mittel abzählen müssen.17 Bei der Herstellung genau dieses Zusammenhangs aus Fülle und Beweglichkeit kam die Liste in gleich mehrfacher Funktion ins Spiel. Ihre erste große Funktion erfüllten Fontanes Listen darin, dass sie die gewünschten Materialmassen zu erzeugen halfen. Seine erhaltenen 67 Notizbücher sind voll von Bücherlisten, Listen sonstiger Quellen, Briefpartnern und Kontakten für alle möglichen Projekte. Die Formen ‚Wunschzettel‘, ‚To-do-Liste‘ und ‚Itinerar‘ kommen in diesen Listen zusammen. Fontane organisierte mit ihnen nicht nur Lese-Programme und Forschungsabläufe, sondern plante ganze RechercheReisen, für die er sich selbst Anweisungen zur Punkt-für-Punkt-Ausführung gab.18 Der freien Verfügung über Stoff-Massen ging somit genaue Vorbereitung voraus: Fontane „rechnete“ und plante, was ihm in den folgenden Arbeitsschritten das Rechnen-Müssen ersparte; die Liste wurde zum Stofferzeugungswerkzeug, das dem Autor bei gelungener Recherche Handlungsspielraum verschaffen konnte.19 Bei diesen Planungen kam eine zentrale Eigenart der Liste zum Tragen. Listen schalten „sinnhafte Querverbindungen“ und Gewichtungen zunächst einmal aus; was auf einer Liste steht, ist aus der existierenden Ordnung der Dinge gelöst und wird mit anderen Einträgen unter einem neuen Gesichtspunkt versammelt.20 Die aufgelisteten Elemente brauchen also gar nichts miteinander gemein zu haben –
16 Auch Bettina Plett zitiert in ihrem informativen Beitrag zu Fontanes Entwürfen diese Briefstelle, bringt sie aber nicht mit Beweglichkeit in Zusammenhang. Siehe B. Plett, Fragmente und Entwürfe. In: Fontane-Handbuch, hg. von Christian Grawe und Helmuth Nürnberger, Stuttgart 2000, S. 693–705, hier 693. 17 Hehle und Delf von Wolzogen beschreiben Fontanes Bestreben, einen reichen Materialfundus aufzubauen, als bewusste Anlage eines „Arsenals der Möglichkeiten“. Siehe Th. Fontane, Fragmente (wie Anm. 5), Bd. I, S. XI–XXXIV, auf S. XI. 18 Eines der besten Beispiele für Listen, die zur Recherche-Planung eingesetzt werden, findet sich in Fontanes Notizbuch A11, Bl. 55r–56r. 19 Fontanes listengestützte Materialerzeugung und ihre poetologischen Folgen sind ausführlich beschrieben in [d. Verf.], Ein kreativer Apparat. Die Mediengeschichte von Theodor Fontanes Bibliotheksnetz und Lektürepraktiken. In: Fontane Blätter, 103, 2017, S. 94–117. 20 S. Mainberger, Die Kunst des Aufzählens (wie Anm. 2), S. 7 f.
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außer, dass sie auf derselben Liste stehen. Entsprechend heterogen waren die Themen und Quellen, die Fontane bei seinen listengestützten Recherchen abarbeitete. Sie umfassten ein abwechslungsreiches Spektrum aus lokalen Anekdoten und zeitgenössischen Memoiren, militärhistorischen Dokumenten, philosophischen Schriften und klassischer Literatur, aber vor allem auch vermischte Meldungen sowie Sensationsnachrichten aus der aktuellen Massenpresse. Im Fall von „Allerlei Glück“ reichte Fontanes thematischer Radius von „Hofschnack“ und „Prinzenthum“, einem Berliner Kegelclub und Schliemanns Ausgrabungen in Troja bis hin zum Panama-Kanal,21 um nur vier disparate Themen herauszugreifen, die in seinem Roman-Projekt aufeinandertreffen. Die so erzeugte Vielfalt hatte Konsequenzen für die Methoden, mit denen Fontane sein Material notierte und verwaltete. Die Arbeit mit Listen zog weitere Notationsweisen nach sich, die – genau wie die Liste selbst – nicht auf Zusammenhang, sondern zunächst einmal auf Unterbrechungen, Schnitte und die Herauslösung aus alten Kontexten ausgerichtet waren. Fontane benutzte häufig klar begrenzte Einträge – sei es auf Notizbuchseiten, sei es auf losen Zetteln, sei es auf Folio-Bögen –, die das Material in Portionen einteilten und es vielfach selbst wiederum in Listen zerlegten; er ging sogar so weit, Briefe, Zeitungsartikel, eigene Notizzettel und Folio-Bögen in allen möglichen Ausformulierungsstufen tatsächlich zu zerschneiden.22 Die Liste auf dem Papier und der Schnitt mit der Schere durch das Papier waren somit aufs Engste verbunden. Insofern war das, was in seinen Papierkosmos einging, kein „Rohmaterial“,23 sondern bereits (mindestens) einfach vorformatiert und zur bausteinartigen, flexiblen Weiterverarbeitung präpariert. Genau das belegt auch der Blick auf die Textoberflächen der nachgelassenen Entwürfe zu „Allerlei Glück“. Selbst ohne detaillierte Analyse aller Entwurfsblätter wird klar, dass ihre Oberflächen kleinteilig und von Zäsuren gekennzeichnet sind – unabhängig davon, was jeweils notiert wurde. Fontane hielt zahlreiche Figuren-Charakterisierungen auf einzelnen Folio-Bögen fest („Axel Brah“), skizzierte freistehende Dialogteile in separaten Einträgen („Axel über Liebeleien und Libertinage“), stellte Listen mit Haupt- und Nebenpersonen sowie Schauplätzen auf und entwarf ganze Szenen in Listenform. Die Liste war in seinen Notationspraktiken ein so starkes Format, dass er selbst die Todes-Szene einer Roman-Figur – der „Frau von Lampertus Distelmeier“ – in ein Erstens-Zweitens-Drittens aufsplittete (Abb. 1 und 2):
21 Th. Fontane, Fragmente (wie Anm. 5), Bd. I, S. 105, 115, 154. 22 Gabriele Radecke geht auf diese Textpraktiken Fontanes genauer ein in: Schneiden, Kleben und Skizzieren. Theodor Fontanes Notizbücher. In: ‚Gedanken reisen, Einfälle kommen an‘. Die Welt der Notiz, hg. von Marcel Atze und Volker Kaukoreit, Wien 2017 (Sichtungen 16/17), S. 199–213. 23 B. Plett, Fragmente und Entwürfe (wie Anm. 16), S. 694.
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Abb. 1: Manuskript-Blatt „Der Tod der Frau von Lampertus Distelmeier“ (Vorderseite)
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Abb. 2: Manuskript-Blatt „Der Tod der Frau von Lampertus Distelmeier“ (Rückseite)
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Allerlei Glück.
Der Tod der Frau von Lampertus Distelmeier. 1. Sie liegt krank, hektisch. 2. Er bringt ihr isländisch-Moos= Pastillen. Sie ist gerührt. „Sieh, wenn ich wüßte, Du glaubest dran, da wär es nicht viel; aber Du bringst es mir trotzdem Du weißt, daß es nichts ist. Und das ist so lieb und gut wie nur Du bist mein alter Lampert.“ 3. Er versichert nun, er glaube dran. Und hält eine wunder volle Rede über die Macht des isländischen Mooses. Die Natur legt dort alles in dies eine etc. — Sie lächelt und sagt: ich will es glauben. 4. Was machen wir? Spielen wir Karten. „Mariage oder so etwas“. „Oder so etwas“ sagte sie. „Das ist sehr gut. Ja, so etwas; das alte Grund= und Urspiel. (Tod u. Leben). verte 5. Sie spielen dann Schach. Er sagt: „es schadet Dir.“
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Sie lächelt: „Es schadet nichts, wenn es mir schadet“. Und nun spielen sie. – Der Thurm fehlte. Er machte einen aus einem Damebrettstein auf/ einem Kork und einem kl. Chemisette= knopf als Krönung. „Wie hübsch. Du bist und bleibst mein Tüftelgenie.“ Und so erging sie sich in Anerkennung und Liebe gegen ihn. Er verlor absichtlich. „Schach Schach“ sagte sie. „Und ich bin matt“ setzte sie hinzu und sank in die Kissen zurück.
Dann ein neues Kapitel anfangen. Eine Woche später. Seine Schicksale seit jener Nacht erzählen. Dann sein Besuch bei Brose. Der empfiehlt ihm Kirchen gang.
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Das unwahrscheinliche Aufeinandertreffen des Themas „Tod“ mit der Form der Liste belegt, wie rigoros Listen in Fontanes Notationspraxis zum Einsatz kamen und auf die Inhalte durchschlugen. Die Liste wurde hier vom Autor zur dramaturgischen Planung einer Szene benutzt, in der sich Stichpunkte zum nüchtern festgehaltenen Handlungsverlauf, Beobachtungen von atmosphärisch bedeutsamen Kleinigkeiten, signifikante Objekte mit offenkundiger Symbolwirkung sowie Schlüsselelemente des geplanten Dialogs miteinander abwechseln und vermischen. Darüber hinaus zeigt das Beispiel, wie diese besondere Notationspraxis das Schreiben mit offenen Anschlüssen begünstigt. Die Liste setzt unvermittelt und szenisch ein („1. Sie liegt krank, hektisch“) und hört ebenso unvermittelt wieder auf („[…] und sank in ihre Kissen zurück. // Dann ein neues Kapitel anfangen“). Durch die abrupten Schnitte wird die skizzierte Texteinheit besonders leicht verschiebbar – gerade weil noch keine Übergänge vorhanden sind, könnte an die Einheit im nächsten Schritt alles Mögliche angeknüpft werden, und auch in die Texteinheit selbst kann kraft der Liste mehr Material eingeschaltet werden. Das „etc.“ im dritten Listenpunkt weist darauf hin, dass ein weiterer Ausbau tatsächlich auch geplant ist. Thematische Zusammenhänge, narrative Konsistenz und die unterschiedliche Bedeutungsschwere der aufgelisteten Elemente sind dabei zunächst einmal nicht wichtig, hinzufügbar ist schließlich grundsätzlich alles, auch über große thematische Sprünge hinweg. Die Liste schafft somit Voraussetzungen für eine Narrationsweise, die Joseph Vogl am Beispiel Cécile vor kurzem als Erzählen mit „Verweisketten“24 charakterisiert hat. Immer wieder, so sein Befund, brächen Topos-Ketten in die lokal gebundene Erzählung ein und störten ihren Maßstab, so dass die „große Welt“ in die „kleine“ spiele (so wie in dieser Szene „Tod“ und „Isländisch-Moos-Pastillen“ mühelos zusammenkommen oder sich „die Extreme berühren“ können, um eine merkwürdig passende Formulierung Fontanes aus einem anderen Kontext aufzugreifen25). Der so erzeugte narrative Effekt an der Textoberfläche ist auf der Unterseite des fontaneschen Schreibens im Format der Liste angelegt. Diese Eigenart der fontaneschen Notationsweise, die zugleich potenziell alles trennen und alles verbinden kann, ist nicht auf die Liste beschränkt, sondern gilt – wie bereits angedeutet – auch für seine in Fließtext verfassten Aufzeichnun-
24 Joseph Vogl, Telephone nach Java: Fontane. In: Realien des Realismus. Wissenschaft – Technik – Medien in Theodor Fontanes Erzählprosa, hg. von Stephan Braese und Anne-Kathrin Reulecke, Berlin 2010, S. 117–128, hier 119. 25 Fontane benutzt den literarischen Topos „Les extrèmes se touchent“ als Untertitel seines Prosafragments „Rudolf v. Jagorski, Globetrotter“ (1896). Siehe Th. Fontane, Fragmente (wie Anm. 5), Bd. I, S. 241.
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gen. Ein Folio-Bogen mit einer Notiz zur Redeweise der Roman-Figur Bertha Pappenheim bietet hierzu ein kompaktes und typisches Beispiel (Abb. 3). Das Layout begünstigt die flexible Weiterverarbeitung dieses Textbausteins auf mehrfache Weise: Das Folio-Blatt ist nur knapp über die Hälfte gefüllt und mit einem breiten linken Rand versehen; die insgesamt kleine Textmenge kann auf einen Blick erfasst, durch den unterstrichenen Namen schnell der betreffenden Roman-Figur zugeordnet und somit leicht mobilisiert werden, während es der freigebliebene Rest des Blattes ermöglicht, weitere Notizen hinzuzufügen. Separate Notizen wie diese finden sich zuhauf in Fontanes Nachlass. Die auffällig breiten freien Ränder (wie überhaupt der reichlich vorhandene freie Platz) verstärken die Annahme, dass dieses Layout Absicht war, kein Zufall. Fontanes Aufzeichnungen waren offenkundig darauf angelegt, bausteinartig miteinander kombiniert zu werden. Die so wachsende Fülle präparierter, zugleich aber auch unverbundener Elemente war nicht automatisch zugänglich. Ganz im Gegenteil – eine große Materialmenge verschließt sich typischerweise dem Zugriff, eben weil alles zugleich da ist und in dem Zuviel von Optionen unklar wird, wo zu beginnen und zu enden wäre.26 In dieser Situation kommt die zweite große Funktion der Liste ins Spiel. Listen machten es Fontane möglich, die erzeugte Stoffmasse überhaupt anzusteuern und Teile daraus probierend zusammenzubringen, indem die Listen den Autor in Bewegung hielten. Durch ihre besondere „Schriftbildlichkeit“ (Sybille Krämer) – Listen werden „als Flächen“ wahrgenommen, haben immer ein „Zuerst und Zuletzt“ sowie „oben, unten, Mitte und Ränder“27 – regen sie zu kreativen Grundoperationen an; zum Zusammenfügen und Teilen, Erweitern und Umstellen, Spielen, Verbinden, Trennen und Vergleichen.28 Fontane, nachdem er sein Material listenförmig und kleinteilig notiert hatte, las sich selbst in Listenform wieder, ließ sich davon anregen und generierte in der Folge neue Listen und Textbausteine. Immer wieder wird an seinen Notizen und Entwürfen sichtbar, wie er mithilfe von Listen Pfade und Sequenzen durch das angehäufte Material legte und wie sie sich anschließend veränderten und verschoben. Mit diesen Listen verteilte er beispielsweise vorbereitete Dialogteile auf andere Sprecher um oder ergänzte sie, ordnete die Reihenfolge von Handlungselemente und Szenen neu oder zog Charaktereigenschaften von einer Figur ab und übertrug sie auf eine andere. Fontanes Listen halfen ihm somit, die Anregungsfülle des Materials zu
26 Zum Verhältnis von Überfülle und Zugänglichkeit s. Nikolaus Wegmann, Bücherlabyrinthe. Suchen und Finden im alexandrinischen Zeitalter, Köln 2000, S. 1–8. 27 S. Mainberger, Die Kunst des Aufzählens (wie Anm. 2), S. 30. 28 R. Belknap, The List (wie Anm. 2), S. XII.
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Abb. 3: Manuskript-Blatt zur Figur „Bertha Pappenheim“
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nutzen – aber gerade nicht, indem sie das Material stillstellten und rigide strukturierten. Die Fixierung auf dem Papier durch das Aufzeichnen in Listenform war nur Durchgangsstadium und wurde zugleich Voraussetzung für die Beweglichkeit des Aufgezeichneten.29 Fontanes Listen führten somit zu Ordnungsmomenten in der Unordnung; zu Anordnungen, die sich wieder auflösten und neue, momentane Anordnungen hervorbrachten. Bezeugt wird dieses Verfahren der dauernden Verschiebung nicht nur durch die Listen selbst, sondern auch durch die Beschriftungen der großen PapierUmschläge, mit deren Hilfe Fontane die jeweils gerade gültigen Material-Anordnungen abteilte und ablegte.30 Statt einer feststehenden Systematik zu folgen, deuten die Beschriftungen auf ein weicheres Vorgehen hin, in dessen Verlauf sich Prioritäten veränderten und gefundene Ordnungen umbildeten. So gibt es Umschläge mit allgemeinen Aufschriften wie „Figuren (Haupt- und Nebenfiguren)“, nichtsdestotrotz aber auch Umschläge zu einzelnen Charakteren, die einfach parallel bestanden und keiner übergeordneten Gruppe einverleibt wurden (wie „Lampertus Distelmeyer der Apotheker“); ferner benutzte Fontane Umschläge, die laut Aufschrift lediglich Pläne zur „Eintheilung“ des Materials enthielten, während andere dagegen detaillierte Entwürfe zu bestimmten Szenen versammelten („Im Moor. Brah-Haus. […]“) und wieder andere verschiedene Stoffe für zwei Projekte zugleich verwahrten („Notizen zu den beiden Romanen, zu dem historischen und dem modernen“). Streichungen und Änderungen der ursprünglichen Aufschriften mit Blau- und Rotstift belegen die Materialverschiebungen zusätzlich. Fontane, das zeigen die erhaltenen Aufzeichnungen zu „Allerlei Glück“ in der Summe, durchquerte seinen Papierkosmos immer wieder aufs Neue und bereitete mehr und mehr Material zur Weiterverwendung vor – und das, obwohl die finalen Konturen seines Projekts noch gar nicht feststanden. Seine Arbeitsweise verkehrt somit Vorstellungen von einem irgendwie „organischen“ Schreibprozess ins Gegenteil: Er produzierte Textteile, bevor entschieden war, was genau mit ihnen geschehen sollte. Die Liste war ihm dabei nicht so sehr ein Instrument zur verbindlichen Gliederung, sondern vor allem eine Bewegungsform.
29 Im Rückgriff auf Bruno Latours Begriff von Inskriptionen als „immutable mobiles“ bezeichnet Hoffmann es als die größte Leistung des Schreibens, dass es zugleich die Stabilität und Beweglichkeit des Aufgezeichneten ermöglicht. Siehe Ch. Hoffmann, Festhalten, Bereitstellen (wie Anm. 12), S. 10. 30 Petersen berichtet über die Umschläge, die zu „Allerlei Glück“ nicht erhalten sind. Siehe J. Petersen, Fontanes erster Berliner Gesellschaftsroman (wie Anm. 5), S. 480–482.
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III „Kalte“ Listen, „heißer“ Stoff: Anreicherungen Dass die Liste für Fontane zum Medium für Bewegung werden konnte, ist nicht nur auf ihre besondere Graphie zurückzuführen, sondern hat auch mit formalen Eigenschaften zu tun. Listen sind als „notorisch unterbestimmte“ Textformen „auf Praktiken angewiesen, die ihnen Sinn geben“.31 Die in überstarker Reduktion aufgelisteten Elemente laden dazu ein, wieder erweitert, verbunden und mit neuem Kontext ausgestattet zu werden. Einem Vorschlag Diederichsens folgend, lässt sich die Liste als ein „kaltes Medium im Sinne McLuhans“ fassen, als ein ergänzungsbedürftiger Text, der beim Lesen „aufgeheizt“ werden muss – jedoch nicht durch die Phantasie des oder der Lesenden, sondern durch „eine bestimmte mitsuggerierte Welt, aus der die Liste extrahiert ist“.32 Listen wären demnach „Inseln kalter Medialität“ in Fontanes überreichlichem, detailreichem „heißen“ Stoff, die dazu auffordern, mehr und mehr dieses Stoffs einzuklinken; konkret: mehr und mehr Elemente aus seiner Lektürewelt – vor allem Zeitungsnachrichten, populärliterarische Vorlagen und Anekdoten – in das Roman-Projekt zu ziehen. An einigen Entwurfsblättern zum Figuren-Arsenal von „Allerlei Glück“ lässt sich eine solche aufladende Bewegung nachzeichnen. Deutlich wird, wie auf verschiedenen interagierenden Folio-Bögen die Figuren-Listen länger, komplexer und „wärmer“ werden, indem sie neuen Stoff aus Fontanes Quellen aufnehmen. Eine zunächst nur vier Punkte umfassende Liste von Figuren mit der Überschrift „New Novel. Dramatis personae“ wird über sechs weitere Bögen modifiziert und sukzessive zu ganzen Gruppen und Registern von „Glückssuchern“ ausgebaut. Figuren kommen hinzu, die in ihrer Schematizität belegen, dass sie auf (populär-) literarische Vorlagen zurückgehen oder – sofern sie auf „echte“ Personen aus Fontanes Bekanntenkreis verweisen – dem Rollen-Repertoire populären Erzählens entsprechend typisiert sind. So werden unter anderem ein vom Lebemann zum Mönch bekehrter Rittmeister, ein Hofprediger, ein pensionierter Apotheker, eine „Frau Oberst“ mit schöner Tochter, eine „untadlige Wittwe“ und eine „ärmliche Vorstadt-Familie“ („gute Leute, […] der Alte mit einem kleinen Sparren“33) in die offene Textur des Roman-Projekts eingewoben. Die „mitsuggerierte Welt“ ist hier die Welt des Genre-Romans, mit der Fontane sein eigenes Projekt kraft der Listen an immer neuen Stellen verknüpfte.
31 S. Mainberger, Die Kunst des Aufzählens (wie Anm. 2), S. 12. 32 Dietrich Diederichsen, Liste und Intensität. In: Abfälle. Stoff- und Materialpräsentation in der deutschen Pop-Literatur der 60er Jahre, hg. von Dirck Linck und Gert Mattenklott, Hannover 2006, S. 107–123, hier 118. 33 Th. Fontane, Fragmente (wie Anm. 5), Bd. I, S. 104–106, hier 106.
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Die starke Rollenhaftigkeit der Figuren geht aber nicht nur auf Fontanes erklärtes Ziel zurück, ein „Genrebild“ zu produzieren. Vielmehr zeigt sich, dass die Erzählformeln, Typisierungen und abkürzenden Wendungen im Zusammenspiel mit der offenen Form der Liste eine weitere Funktion erfüllten: Sie hielten das Roman-Projekt in einem Status der gut dosierten Vorläufigkeit, von dem aus eine definitive Version des Textes für Fontane selbst greifbar wurde, ohne dass er sich überall schon an die Detailarbeit machen musste. Die Erzählformeln und Komprimierungen ersparten es ihm, Zeit und Mühe zu investieren, bevor die Finanzierung des Projekts gesichert war. Zugleich waren sie aber ausdrücklich genug, dass sie den tentativen Fortgang der Textproduktion und die Weiterentwicklung des Projekts – den Anschluss von weiteren Figurengruppen, Episoden, Szenen oder Dialogbausteinen – erlaubten. Im Erfolgsfall konnte Fontane dann die Ausarbeitung leichter leisten. Besonders deutlich zeigt sich das an einem Entwurfsblatt, das einige „Glückssucher“ näher bestimmt (Abb. 4). Den einzelnen Figuren, die als „Held“ und dann schlicht als „Zweiter“, „Dritter“ usw. aufgezählt werden, schrieb Fontane Rollen-Attribute, Gesprächsthemen und narrative Funktionen zu, die topisch, abkürzend und formelhaft gestaltet sind („[…] der Carrièremacher par excellence […] will eine Ministerstochter heirathen; schließlich heirathet er eine ramponirte Prinzessin“), die ihm aber gerade deswegen auf nur ganz wenigen Zeilen angaben, wie die Typen weiter auszubauen und in seinem Roman einzusetzen waren. In Notizen wie dieser gingen die ergänzungsbedürftige, offene Struktur der Liste und die Absehbarkeit der Erzählformel eine produktive Verbindung ein. Im Ergebnis entstanden Entwurfsblätter, die als Sammelpunkte für anzuschließende Textbausteine und Projektionsflächen für vorläufige Geschichten-Konfigurationen dienten. Eine ausformulierte Version der Figuren und ihrer Rollen im Roman war auf dieser Basis gut vorstellbar, aber noch nicht verbindlich. Zugleich blieb Fontanes Schreibverfahren darauf angelegt, in immer neuen Runden von Re-Lektüren und Sichtungen des bestehenden Materials weitere Textbausteine aufzunehmen – nicht umsonst war auch das besagte Entwurfsblatt (Abb. 4) mit einem breiten freien Rand versehen, den Fontane sich per Bleistifteintrag für eine Ergänzung zunutze machte.
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Abb. 4: Manuskript-Blatt „Zu: Allerlei Glück“
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Zu: Allerlei Glück. Der Held:
Künstler.
Der Pessimismus ist das dem Christenthum und dem Schopenhauerianismus Gemeinsame. Aber das eine sagt: „daraus erlöse ich euch“; der andre sagt: „es ist vorbei.“ Da beginnt der Unterschied. Aber in Bezug auf die Dinge dieser Welt und ihre Erkenntniß, vertragen sich beide.
Techniker, Erfinder, Zweiter: Verbesserer in Feuerspritzen, Rettungsapparaten zu Wasser und im Feuer. Namentlich das Letztre. Dritter: Studirt auf Kosten der Frau v. Posadowksi; bleibt in gleichen Stellungen; lebt schließlich wie Boemisch. Vertheidigt dieses Prinzip als durchaus statthaft. Vierter: Der Ministerielle, der Carrièremacher par excellence. Sein Glück besteht nur in der Auszeichnung, in dem Er scheinendürfen, in Ehre vor der Welt. Er will eine Ministerstochter heirathen; schließlich heirathet er eine ramponirte Prinzessin. Fünftens: Gräfin Einsiedel, Wittwe. Comtesse Ida (andren Namen nehmen) ihre Tochter. Der junge Kettenburg. Die katholische resp. klösterliche Episode. Sechster: Consistorialrath Suffra gan. Noch jung. Ehemaliger Prinzen=Erzieher an einem kl: thüring. Hof. Lebemann. Abbé. Partiell orthodox und partiell Schopenhauerianer.
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IV Fontanes Weiterverwendungskunst Weder Fontanes Notationspraktiken noch das in seiner vordergründigen Sim plizität potenziell alles einschließende Thema „Allerlei Glück“ gaben dem Autor für sein spezifisches Schreibverfahren eine Stopp-Regel vor. Aus einer intensiven Arbeitsphase heraus berichtete er entsprechend seiner Frau: „Die Stoffe wachsen mir seit 8 Tagen unter den Händen, und immer neue Bogen werden in die ohnehin dicken Packete eingeschoben. Der Roman kriegt nun schon sein zweites Packet, aber auch die beiden Novellen […] empfangen jeden Tag neuen Succurs.“34 Dieses dauernde Anwachsen wurde von Julius Petersen in seiner Studie zu „Allerlei Glück“ als Nebenwirkung ‚realistischen‘ Erzählens und letztlich als Mangel auktorialer Kontrolle oder Schwäche bei der Gestaltung interpretiert. Fontanes „Schilderungen des Berliner Lebens, namentlich des Kleinbürgertums, erfordern in der Breite ihres Realismus einen Raum, der der ursprünglichen Romanidee gefährlich wird […]“, heißt es bei Petersen.35 So spricht er vom „Überwuchern“ der Nebenhandlung und von einer Detailverliebtheit, die in ihrer Überfülle die Idee des Romans „verdunkelt“.36 Petersens Urteil ist typisch für eine Perspektive, die – um eine Formulierung Karin Krauthausens aufzunehmen – bei der Interpretation der Entwürfe „auf das Werk schiel[t]“.37 Den Blick auf Schreibverfahren und Listen haltend, lässt sich die Verselbständigung des Materials ganz anders sehen: nicht als Gestaltungsschwäche, sondern als Beleg für ein Verfahren, das eigene Produktivkraft, einen Eigensinn, entwickelt. Es kann endlos weiterlaufen und erzeugt dabei zunächst einfach nur weitere Textteile, deren Bestimmung nicht von vornherein determiniert ist. Der Befund fordert dazu auf, nicht von „Rohmaterial“ zu sprechen, das sich zuverlässig bestimmten „Werken“ zuordnen lässt, auch wenn das editionsphilologisch irritierend sein mag (hier sei exemplarisch noch einmal auf Bettina Plett verwiesen, die mit ihrem Unterfangen, Fontanes Entwurfsmaterialien einzuordnen, auf Abgrenzungsfragen stößt: Handelt es sich bei einer untersuchten Notiz nun um eine „Figuren-“ oder „Situationsskizze“? Ist ein Notat ein „stofflicher Kern“
34 Theodor Fontane an Emilie Fontane, Berlin, 27. Juni 1879. In: Emilie und Theodor Fontane, Die Zuneigung ist etwas Rätselvolles. Der Ehebriefwechsel 1873–1898, hg. von Gotthard Erler unter Mitarbeit von Therese Erler, Berlin 1998, S. 185–186, hier 185. 35 J. Petersen, Fontanes erster Berliner Gesellschaftsroman (wie Anm. 5), S. 508. 36 J. Petersen, Fontanes erster Berliner Gesellschaftsroman (wie Anm. 5), S. 513. 37 Karin Krauthausen, Vom Nutzen des Notierens. Verfahren des Entwurfs. In: Notieren, Skizzieren. Schreiben und Zeichnen als Verfahren des Entwurfs, hg. von Karin Krauthausen und Omar Nasim, Zürich 2010 (Wissen im Entwurf 3), S. 7–26, hier 21.
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oder ein „tragendes Motiv“?38 Aus der Perspektive der fontaneschen Notationsweise lässt sich diese philologische Verunsicherung nicht nur erklären, sondern sogar benutzen, um mit ganz anderen Kategorien an sein Schreiben heranzutreten. Statt nach Spuren von Werken zu suchen, ist es zumindest für diesen Teil des Arbeits- und Schreibprozesses ergiebiger, nach wiederkehrenden Topoi, Mustern, Rollen, Szenen, kurzum: nach Material-Relationen und Clustern zu suchen, also nach Momenten, in denen Notate zusammenschießen, anschlussfähig werden und weitere Notate binden.39 Das so notierte Material hat, gerade weil es noch nicht fest zugeordnet ist, nur eine Funktion zusammen mit anderen Materialteilen und kann sich immer weiter verschieben. Was dieser Verschiebung letztlich Einhalt gebot, bestimmte sich weniger nach ästhetischen Gesetzen oder ‚von innen‘, als vielmehr von außen – es war der literarische Markt, der in Fontanes Fall entschied, wann ein Projekt tatsächlich zum Abschluss gebracht wurde.40 In diesem Sinne erklärte sich Fontane Anfang Juni 1879 auch gegenüber Mathilde von Rohr. Er schriebe jetzt gern seinen zweiten Roman (die Rede ist von „Allerlei Glück“), der, „in Bücher und Kapitel eingetheilt, und in seinen Scenen und Personen skizzirt, längst vor mir liegt“. Doch […] unsre deutschen Buchhändler-, Verkaufs- und Lese-Zustände lassen es mir leider fraglich erscheinen, ob ich je zur Ausarbeitung kommen werde. Ich kann dieselbe nur vornehmen, wenn ich eine Einnahme von 5000 Thlr ganz sicher habe, 3000 für den Abdruck in einem Journal und 2000 für die 1. Auflage des Buchs. Aber wo das hernehmen? […] Wieder unter Sorgen und Aengsten es schreiben, wie den ersten Roman, das thu ich sicherlich nicht.41
38 B. Plett, Fragmente und Entwürfe (wie Anm. 16), S. 694. 39 Ganz Ähnliches leistete bereits Renate Böschenstein in ihren Analysen, in denen sie die Figurennamen und Stoffe nachzeichnete, die sich – in Variationen – „vertikal“ durch verschiedenste fontanesche Texte ziehen und die Texte miteinander in Beziehung setzen. Siehe hierzu R. Böschenstein, Namen als Schlüssel bei Hoffmann und bei Fontane sowie Caecilia Hexel und Adam Krippenstapel. Beobachtungen zu Fontanes Namengebung. In: R. Böschenstein, Verborgene Facetten (wie Anm. 9), S. 300–328, 329–360, hier 301 f. 40 Zum Einfluss des literarischen Marktes auf Fontanes Schreiben s. grundlegend Rudolf Helmstetter, Die Geburt des Realismus aus dem Dunst des Familienblattes. Fontane und die öffentlichkeitsgeschichtlichen Rahmenbedingungen des Poetischen Realismus, München 1998; Rudolf Helmstetter, „Kunst nur für Künstler“ und Literatur fürs Familienblatt: Nietzsche und die Poetischen Realisten (Storm, Raabe, Fontane). In: Kunstautonomie und literarischer Markt: Konstellationen des Poetischen Realismus, hg. von Heinrich Detering und Gerd Eversberg, Berlin 2003 (Husumer Beiträge zur Storm-Forschung 3), S. 47–63, hier 57–58. 41 Theodor Fontane an Mathilde von Rohr, Berlin, 3. Juni 1879. In: HFA, IV, 3, S. 23–24.
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Statt „unter Sorgen und Aengsten“ zu produzieren, fand Fontane eine andere Lösung, als ihm tatsächlich kein Verleger die Finanzierung von „Allerlei Glück“ zusagte und er sich deswegen die Ausarbeitung der vorbereiteten Teile, ihre verbindliche Vernähung und Ausformulierung, nicht leisten konnte. Er löste die bereits getroffenen Konfigurationen wieder auf und mobilisierte einzelne Textbausteine für die Produktion kürzerer, leichter zu verkaufender Novellen, von denen er allein drei noch in der zweiten Hälfte des Jahres 1879 zusammensetzte. Somit stellte der Abbruch der Arbeit an „Allerlei Glück“ kein Scheitern dar, sondern einen mehrfachen Neustart, bei dem sich die Vorläufigkeit und Beweglichkeit seines Schreibverfahrens im wahrsten Sinne des Wortes auszahlte. Immer wieder verschob Fontane Szenen, Figuren, Gespräche, Schauplätze, Motive und Redensarten aus dem Fundus von „Allerlei Glück“ in andere Projekte, wie bereits Petersen mit vollster Kennerschaft nachgewiesen hat.42 Ein Ausflug der Protagonisten mit Besichtigung einer alten Dorfkirche ging demnach in Schach von Wuthenow ein; eine Szene im Tiergarten sowie Gespräche über Bismarck in L’Adultera, eine Balkon-Szene, zusammen mit der Gestalt des Hofpredigers, in Cécile; und Bertha Pappenheims Wendung „Nur nicht sentimental“ sollte ursprünglich von einer der Schwestern in den Poggenpuhls benutzt werden. Die Reihe der Querverwertungen ließe sich Petersens Analyse zufolge weit fortsetzen. Fontanes Arbeitsverfahren, das zeigt der Fall „Allerlei Glück“ exemplarisch, war so beschaffen, dass aus präparierten Bauteilen für ein Projekt immer noch etwas anderes werden konnte – seine listengestützte Notations- und Arbeitsweise gewährte Fontane diesen Spielraum. Dank dieses Spielraums konnte sich der Autor auf die komplizierten Regeln des literarischen Marktes einlassen und seine Autorschaft selbst unter schwierigen Produktions- und Veröffentlichungsbedingungen etablieren. Gespiegelt ist Fontanes Bemühen, mit seiner Textproduktion beweglich zu bleiben, auch in der Art und Weise, wie er die Entwurfsblätter zu „Allerlei Glück“ aufbewahrte. Nachdem er alle Hoffnung aufgegeben hatte, das Projekt in absehbarer Zeit zu realisieren, schlug er die diversen Entwürfe in zwei Zeitungsbanderolen ein und legte sie getrennt voneinander ab – einen Packen verfrachtete er in seinen kleinen Schrank im Arbeitszimmer, den anderen Packen in seinen großen Schreibtisch.43 Es ist gut vorstellbar, dass die Lagerung in getrennten Packen die Plünderung der Einzelteile noch einmal besonders begünstigt hat. Jedenfalls verneinte Fontane eine Anfrage seines Sohnes Friedrich aus den 1880er Jahren, ob aus „Allerlei Glück“ denn noch etwas würde, mit der Begründung, er habe nun zu viel des seinerzeit produzierten Materials für andere Projekte ver-
42 J. Petersen, Fontanes erster Berliner Gesellschaftsroman (wie Anm. 5), S. 517–519. 43 Angaben nach J. Petersen, Fontanes erster Berliner Gesellschaftsroman (wie Anm. 5), S. 482.
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wendet.44 Sprichwörtlich bis zum Ende bediente sich Fontane seines Fundus auf diese Weise: Noch für den Stechlin griff er auf die Idylle „Im Moor“ zurück, die er – in etwas anderer Variante – ursprünglich für sein Genre-Projekt vorbereitet hatte.45 Es ist die unterschätzte Form der Liste, die es möglich macht, dass Fontanes „erster Gesellschaftsroman“ sich bis in seinen letzten hineinverzweigt.
44 Julius Petersen, Fontanes Altersroman. In: Euphorion, Nr. 29, 1928, S. 1–74, hier 51. 45 J. Petersen, Fontanes erster Berliner Gesellschaftsroman (wie Anm. 5), S. 518.
Hanna Delf von Wolzogen
„Eine gefährliche Lektüre“ Fontane liest Schopenhauer Fontanes Verhältnis zur Philosophie ist wenig ausgeprägt. Ob seine empirische Natur ihn daran hinderte, die Anregungen spekulativer, systematischer Philosophie aufzugreifen, oder ob diese, wie Hugo Aust zu bedenken gibt, umgekehrt als Variante des Philosophischen zu lesen sei, bleibt die Frage;1 eine Frage, die ins Zentrum der fontaneschen Poetologie führen könnte, wenn man sie mit Renate Böschenstein als ein Denken in Signalwörtern begreifen würde. Gemeint ist eine poetische Denkweise, die ihre Meisterschaft nicht im Definitiv-Begrifflichen, sondern ganz im Gegenteil in der begrifflichen Unschärfe, im Signalisieren und Andeuten findet.2 Fest steht, dass unter den wenigen Philosophen, die Fontane nachweislich zur Kenntnis genommen hat, Schopenhauer obenan steht. Erwähnungen in Briefen, Tage- und Notizbüchern, Anspielungen in Romanen und Erzählfragmenten belegen Fontanes Interesse an dem Philosophen, wobei seine Wirkung auf ihn in der Forschung umstritten blieb. Schopenhauers Ruhm hatte mit dem Erscheinen der Bände Parerga und Paralipomena im Jahre 1851 schlagartig eingesetzt, initiiert durch die Rezension von John Oxenford in der Westminster Review, deren deutsche Fassung, wohl auf Veranlassung des damaligen Chefredakteurs Ernst Otto Lindner, in der Vossischen Zeitung erschien. Schopenhauer war im Gespräch, man las ihn und sprach über ihn und seine Jünger.3 Für Fontane war genügend „Stoff“ zu erwarten, auch in philosophischer Hinsicht: Schopenhauers der Anschauung verpflichtetes Denken hatte einiges zu bieten; nicht nur seine Ästhetik, die so viele Künstler inspirierte, sondern auch sein naturwissenschaftlicher Scharfblick, der die Errungenschaften der Experimentalwissenschaften begrüßte, ihre philosophische „Dummdreistigkeit“ angesichts
1 Hugo Aust, Fontane und die Philosophie. In: Fontane-Handbuch, hg. von Christian Grawe und Helmuth Nürnberger, Tübingen 2000, S. 394–405, zu Schopenhauer 395–400. 2 Vgl. Renate Böschenstein, Allerlei Glück. In: Böschenstein, Verborgene Facetten. Studien zu Fontane, hg. von Hanna Delf von Wolzogen und Hubertus Fischer, Würzburg 2006, S. 497 f., und Renate Böschenstein, Caecilia Hexel und Adam Krippenstapel. Beobachtungen zu Fontanes Namensgebung. In: R. Böschenstein, Verborgene Facetten, S. 329 ff. 3 Zur ersten Generation der Rezipienten gehörten vor allem Künstler; Tolstoi, Turgenjew, Maupassant, Eliot, Hebbel, Raabe, Mörike und natürlich Richard Wagner. Einen Überblick gibt das Kapitel „Wirkung“ in: Schopenhauer-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Matthias Koßler und Daniel Schubbe, Stuttgart 2014, S. 259 ff., zu Literatur, Kunst und Musik S. 347 ff. https://doi.org/10.1515/9783110539493-007
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der unausrottbaren Nöte und Sehnsüchte der Menschen aber scharf anprangerte.4 Kurz: Schopenhauer, ein Philosoph im Hier und Jetzt, und vor allem: Seine Bücher waren lesbar. Schopenhauer war ein großer Stilist, den Fontane – wen wundert’s? – auch tatsächlich las. Doch wie las Fontane Schopenhauer? Nicht um ideengeschichtliche Aspekte der Wirkung oder um das Lesen in wirkungsästhetischer Hinsicht, sondern um Lesen als Textpraxis soll es im Folgenden gehen.
Fontane liest … Petra McGillen hat Fontanes Lektüre-Praxis als eine der wesentlichen Fertigkeiten seiner Textpraxis und als Teil seines Aufschreibe-Kosmos (paper-cosmos) bezeichnet, den sie aus medienwissenschaftlicher Perspektive als „Schauplatz technisch gestützter Kreativität“5 und – weit über den legendären Schreibtisch hinausreichenden – umfassenden Kommunikationsprozess beschreibt und so sein Schreiben, seine Textpraxis mit den ökonomischen (Schreiben als Subsistenzmittel) und (massen-)medialen Rahmenbedingungen seines Schreibens in Beziehung setzt. Das für Fontane charakteristische Sammeln und Akkumulieren von „Stoffen“ (sein „Schriftstellerladen“)6 gehört ebenso zu den Fertigkeiten seines paperwork wie seine Verfahren des Ordnens und Verzeichnens, durch die er seine „Stoffe“ in disponibel verfügbare Teilmengen zerlegt, die beliebig neu zusammengesetzt werden können. Von dieser medialen Textpraxis geprägt ist auch seine Bibliothek, die über den Buchbestand der Potsdamer Straße 134c7
4 Arthur Schopenhauer, Sämtliche Werke, hg. von Paul Deussen, Bd. V (Parerga und Paralipomena), S. 123. Zu seiner Beziehung zu den zeitgenössischen Naturwissenschaften und insgesamt: Die Wahrheit ist nackt am schönsten. Arthur Schopenhauers philosophische Provokation, hg. von Michael Fleiter. Katalog zur Ausstellung des Instituts für Stadtgeschichte Frankfurt am Main, Frankfurt am Main 2010, S. 69 ff. 5 Petra Spies [= McGillen], A Creative Machine. The Media History of Theodor Fontane’s Library History and Reading Practise. In: The German Review, 87, 2012, S. 72–90, deutsch in: Fontane Blätter 103, 2017, S. 100 ff., und Petra Spies [= McGillen], Original Compiler. Notation as Textual Practise in Theodor Fontane. Diss. Princeton University 2012. Ihre Studie greift die medienhistorische Perspektive von Friedrich A. Kittler auf; vgl. F. A. Kittler, Aufschreibesysteme. 1800. 1900, 4. Aufl., München 2003. 6 Beschrieben von Bettina Plett, Fragmente und Entwürfe. In: Fontane-Handbuch (wie Anm. 1), S. 693 ff. Vgl. auch den Ansatz, seine Arbeitsweise als rhetorische Praxis zu verstehen, in: Theodor Fontane, Fragmente. Erzählungen, Impressionen, Essays. Im Auftrag des Theodor-FontaneArchivs hg. von Christine Hehle und Hanna Delf von Wolzogen, 2 Bde., Berlin, Boston 2016, hier Bd. I, S. XI ff., sowie den Beitrag von Christine Hehle in diesem Band, S. 145 ff. 7 Vgl. die Beschreibung dieser Bibliothek von Wolfgang Rasch: Zeitungstiger, Bücherfresser. Die
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hinaus als ein Netzwerk von Institutionen, Informanten und Korrespondenten (seine „Bibliotheks-Konnexionen“) beschrieben wird, auf das mithilfe sämtlicher verfügbaren Medien – der postalischen, der lokomotiven und der oralen (Gespräche) – zugegriffen werden kann (postal library network).8 Kaum verwunderlich, dass auch das Lesen selbst diesen Bedingungen zu gehorchen hat. McGillen beschreibt Fontanes Art zu lesen als eine alle Sinne erfassende Tätigkeit, für die Fontane eine beeindruckende Variationsbreite von semantischen Entsprechungen bereithält,9 ein allesfressendes Lesen (brutal reading).10 Gemeint ist ein Lesen, das überfliegend und assoziativ auf Texte zugreift und das Lesen auch als Inspirationsquelle für das eigene Schreiben nutzt. Für den routinierten Medienarbeiter Fontane, der als Kritiker und Rezensent schnell und effektiv zu lesen und ebenso schnell zu schreiben hatte, leuchtet diese Charakterisierung ein; auch, weil sie die Tätigkeit des Lesens aus der rezeptionsästhetischen (des Romanlesens etwa) in die pragmatische Perspektive eines Lesens nach Maßgabe technischer und medialer Parameter rückt. Ob seine „sprungweise Methode“ die einzige Art zu lesen war, bleibt offen. Die Vielzahl seiner Lese-Verben lässt auf eine breite Palette von Lese-Arten schließen – von der Leselust bis zur zweckbestimmten Lesenot(wendigkeit). Schopenhauers Warnungen vor den Gefahren des Romanlesens, ja Lesens überhaupt nimmt der medienbewusste Fontane kritisch zur Kenntnis.11
Bibliothek Theodor Fontanes als Fragment und Aufgabe betrachtet. In: Imprimatur. Ein Jahrbuch für Bücherfreunde. Neue Folge, 19, 2005, S. 103–144. 8 Vgl. P. Spies [= McGillen], Original Compiler (wie Anm. 5), S. 62 ff. Sie übernimmt den Begriff von Georg Stanitzek, Brutale Lektüren um 1800 bis heute. In: Poetologien des Wissens, hg. von Joseph Vogl, München 1999, S. 250 ff. 9 Vgl. P. Spies [= McGillen], Original Compiler (wie Anm. 5), S. 82. Sie nennt u. a. „Durchstöbern, schmökern, überfliegen, durchsehen, von a bis z lesen, durchstudieren, extrahieren, zerlesen, sich vertiefen, langsam trinkend zu sich nehmen“. 10 Vgl. P. Spies [= McGillen], Original Compiler (wie Anm. 5), S. 81 ff. Sie verweist auf Fontanes eigene Charakterisierung seines Lesens als einer „sprungweisen Methode“ (HFA, IV, 4, S. 616). 11 Vgl. A. Schopenhauer, Parerga II, Kapitel 22 „Selbstdenken“ und Kapitel 28 „Ueber Erziehung“. Schopenhauer spielt das Selbstdenken bzw. -erfahren gegen alle Formen des angelesenen Wissens aus und plädiert dafür, Kinder bis zum 16. Jahr davon fernzuhalten, während Fontane ansatzweise semiotisch argumentiert: „Wie denkt er sich nun aber die Ausführung? In einer großen Stadt schwirren die Urtheile umher wie Mücken im Sommer […].“ Th. Fontane, Schopenhauer (wie Anm. 13), S. 43. Gegen Schopenhauers rezeptionsästhetische Auffassung des (einsamen) Lesens setzt Fontane auf das „Einüben“ als quasi-medienkritische Kompetenz in einer Welt der Zeichen.
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Aus der „Schreibtisch“-Perspektive12 geraten sämtliche paper tools in den Blick, die über das Lesen Auskunft geben können, auch solche, die nicht teleologisch einem Werk, einer Publikation zuzuordnen sind, sondern „ins Leere“ laufen, aber in Fontanes „paper cosmos“ aufbewahrt wurden und überdauert haben – wie die Aufzeichnungen über Schopenhauer.13 Ihre Betrachtung könnte über seine Arbeitsweise (paper work) in actu und letztlich auch über seinen Umgang mit dem (Medien-)Phänomen Schopenhauer Aufschluss geben. Zu fragen wäre also, wie seine Lektüre, als allemal flüchtiges Ereignis, in den überlieferten Aufzeichnungen über Schopenhauer, d. h. in seiner Notationspraxis, präsent ist. Für die Wiederkehr des Schreibens im Geschriebenen ist der Begriff der „Schreibszene“ gebräuchlich,14 die als eine „von Autor zu Autorin veränderliche und instabile Konstellation des Schreibens beschrieben wurde, „die ihren Ort innerhalb eines durch Sprache (Semantik des Schreibens), Instrumentalität (Technologie des Schreibens) und Gestik (Körperlichkeit des Schreibens) bestimmten Rahmens hat und dabei thematisch wird […].“15 Wenn sich die Schopenhauer-Aufzeichnungen in diesem Sinne als „Spuren einer Praktik“ (Campe),16 als (Lese-)Schreibszene beschreiben lassen, wäre zu fragen, welche Aufschlüsse über Fontanes Lektüre- und Notations-Praxis sie bereithalten.
Lese-Szenarien? Vergegenwärtigen wir uns zunächst die Situationen, in denen Fontane Schopenhauer las. Drei solcher Leseszenarien hat er selbst beschrieben:
12 Vgl. Hanna Delf von Wolzogen, Der verlassene Schreibtisch. Vom Arsenal zum Archiv. In: Th. Fontane, Fragmente (wie Anm. 6), Bd. I, S. XXII ff. 13 Theodor Fontane, Schopenhauer. Manuskript: Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, SBB St 58. Abschrift: Theodor-Fontane-Archiv Potsdam, TFA Pa 7,2 [1] j. Es wird folgende Edition benutzt: Theodor Fontane, „Schopenhauer: ‚Parerga und Paralipomena.‘ – Gwinner über Schopenhauer – Gutsbesitzer Wieseke auf Plauerhof (Westhavelland)“. Fontanes Exzerpte aus Schopenhauer, hg. von Hanna Delf von Wolzogen. In: Fontane Blätter, 103, 2017, S. 8–84. 14 Vgl. Rüdiger Campe, Die Schreibszene. In: Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie, hg. von Hans Ulrich Gumbrecht, Frankfurt am Main 1991, S. 759–772, und die Einleitung zu: „Schreiben heißt: sich selber lesen.“ Schreibszenen als Selbstlektüren, hg. von Daniele Giuriato, Martin Stingelin und Sandro Zanetti, München 2008, S. 9 ff., hier 12. 15 „Schreiben heißt: sich selber lesen“ (wie Anm. 14), S. 14. 16 Oder als „Repertoire von Gesten und Vorkehrungen“; vgl. R. Campe (wie Anm. 14), S. 759.
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Lese-Szenarium 1: Als erstes wäre der siebenwöchige Sommeraufenthalt der Fontanes im thüringischen Groß-Tabarz im Jahre 1873 zu nennen.17 Briefe und Tagebuch sprechen von amüsierlichen und inspirierenden Erlebnissen unter lebhaftem gesellschaftlichem Verkehr (Merckels und Mathilde von Rohr reisten eigens an) und reger Ausflugstätigkeit, aber auch von ausgiebiger Lektüre. Das Tagebuch sei stellvertretend zitiert: Sehr angenehme Wochen. Bekanntschaft gemacht mit […]. Oft Ausflüge gemacht […] Dann mehrtägige Reise nach […]. Mehrwöchiger Besuch erst von […] Mit dieser zum Schluß reizende Fahrt nach Ohrdruf […] Emilie und Martha verirren sich im Unwetter im Walde; vollständiges Romankapitel.
Und neben alldem: viel gelesen: Tristram Shandy, Sentimental Journey, Schopenhauer, Schiller-Goethe Briefwechsel. In Berlin findet bald darauf (2. September) die Einweihung der Siegessäule statt.18
In witzig-ironischen Briefen und Notizbüchern voller Skizzen und Notizen werden die Eindrücke der Ausflüge ins thüringische Umland (Ohrdruf, Gotha, Friedrichsroda, Schmalkalden, Coburg usw.) festgehalten.19 Nicht nur das: Es wird auch „viel gelesen“, exzerpiert und notiert, was Groß-Tabarz zum veritablen Schopenhauer-Hotspot macht. Davon später mehr. Lese-Szenarium 2: Der folgende Winter gab abermals Gelegenheit, Schopenhauer zu lesen. Familie Wangenheim lud zu einer geselligen Schopenhauer-Lektüre-Runde. Fontane berichtet Mathilde von Rohr davon: Ich will nur bei den „Verhältnissen“ stehn bleiben; […] die dicke[n] Bücher wollen doch am Ende geschrieben sein […] An solchen großen Arbeiten, wie ich sie beständig vorhabe, wo man auf verschiedenen Tischen 10 Karten und 20 Bücher aufgeschlagen hat, kann man nicht viertelstundenweis herumbasteln; dazu sind die Vorbereitungen zu groß. […] – Sehr viel Freude haben uns in diesem Winter unsre Schopenhauer-Abende gemacht, wohl schon deshalb weil sie maßvoll auftraten und nur alle 14 Tage wiederkehrten. Es waren Wangenheims (3), Prediger Windel und Cousine, meine Frau und ich; wir haben doch viel Anregung
17 Die Fontanes hielten sich von Juli bis 25. August 1873 in Groß-Tabarz auf; vgl. Theodor Fontane, Tagebücher 1866–1882. 1884–1898, hg. von Gotthard Erler unter Mitarbeit von Therese Erler, Berlin 1994, S. 44 (GBA), und Fontane Chronik, S. 1872 ff. 18 Vgl. Th. Fontane, Tagebücher (wie Anm. 17), S. 44, und Fontane an Karl und Emilie Zöllner, 14. Juli 1873. In: HFA, IV, 2, S. 435. 19 Vgl. die Notizbücher SBB C 5, SBB C 6 und SBB C 7: Staatsbibliothek zu Berlin PK, NL Fontane.
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dadurch empfangen und verhältnismäßig wenig Zeit eingebüßt, da wir immer erst sehr spät zusammenkamen.20
Diesmal wird maßvoll in den Abendstunden gelesen, wobei offenbleibt, wie man las, ob mit Vortrag und Gespräch oder als close reading. „Mit Gewinn“ scheint Fontane jedenfalls Hofprediger Windel, den in seinen Augen typischen Schopenhauerianer, wahrgenommen zu haben.21 Auch was man las, ist nicht bekannt, jedoch scheint Fontane in diesem Winter die Schopenhauer-Biographie von Wilhelm Gwinner gelesen zu haben.22 Die wangenheimsche Runde bildete den zweiten Schopenhauer-Hotspot. Lese-Szenarium 3: In Gwinners Schopenhauer-Biographie war Fontane auf „Gutsbesitzer Wieseke [!]“23 gestoßen. Gemeint ist Carl Ferdinand Wiesike, Gutsbesitzer, Verfechter der hahnemannschen Homöopathie und „fanatischer Anhänger Schopenhauers“, den Fontane bereits zu Pfingsten 1874 – und von nun an jährlich – besucht.24 Plauerhof scheint seiner Seele ein Arkadien, die „Stunden zwischen Schopenhauer, altem Rheinwein und Naturgenuß“25 wahre Stimulan-
20 Fontane an Mathilde von Rohr, 26. März 1874. In: HFA, IV, 2, S. 457, und Th. Fontane, Tagebücher (wie Anm. 17), S. 50. Fontane arbeitete zu dieser Zeit an Der Krieg gegen Frankreich 1870/71. 21 Zu Carl Friedrich Windel vgl. Lothar Weigert, „Mein pessimistischer Freund“. Fontane und Hofprediger Carl Windel. In: Fontane Blätter, 91, 2011, S. 92–120. Vgl. Theodor Fontane, Pastor Windel im Licht der Dienstagsgesellschaft. Das Manuskript befindet sich im Theodor-FontaneArchiv: TFA P 17; zuerst gedruckt in: Fontane und die Familie Wangenheim, aus dem Nachlaß hg. von Conrad Höfer, Eisenach 1939. Zu Windels Spur in den Figurenentwürfen „Consistorialrath Suffragan“, „Hofprediger Verulam“ und „Hofprediger Cyprian“ vgl. Th. Fontane, Fragmente (wie Anm. 6), Bd. I, S. 105, 107, 167, und Bd. II, S. 71 f. Auf seine Spur in „Allerlei Glück“ hat schon Arthur Hübscher hingewiesen: A. Hübscher, Melusine. In: Schopenhauer-Jahrbuch, 51, 1970, S. 153–164. 22 Die erste Schopenhauer-Biographie von dem Frankfurter Bürgersohn Wilhelm Gwinner: Arthur Schopenhauer aus persönlichem Umgang dargestellt. Ein Blick auf sein Leben, seinen Charakter und seine Lehre, Leipzig 1862. Fontanes Notat mit dem – noch – falsch geschriebenen Vermerk „Gutsbesitzer Wieseke. Fanatischer Anhänger Schopenhauers“ muss vor dem ersten brieflichen Kontakt entstanden sein; vgl. Th. Fontane, Schopenhauer (wie Anm. 13), S. 76. 23 Vgl. Abb. 1. Mein Dank gilt der Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz für die Abbildungserlaubnis und dem Theodor-Fontane-Archiv für die Überlassung der Scans. 24 Vgl. Briefe und Tagebucheinträge bis zu Wiesikes Tod am 11. Oktober 1880; Fontane Chronik, S. 1898–2286, und den Überblick in: Fontanes Plaue, hg. von Günter Dörhöfer und Annette Geiseler, Plaue a. d. Havel 2010. Bereits am 25. Mai 1874 schreibt er aus Plauerhof an Alexander Gentz, dass er ein Kapitel über Plaue an der Havel schreiben will (HFA, IV, 2, S. 432). 25 Fontane an Karl und Emilie Zöllner, 11./14. Juli 1875. In: HFA, IV, 2, S. 501: „Mittwoch d. 14ten Diese letztre (die Gattin) hat mittlerweile auch ihre Triumphe gefeiert und zwar im Hause C. F. Wiesike’s auf Plaue bei Brandenburg. Bei diesem waren wir vier Tage der vorigen Woche, die
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zien seiner Schreiberei gewesen zu sein, wo er „[…] die Wirkung von Apfelwein und Schopenhauer […] abwarten und dann an meinen Schreibtisch zurückkehren“ wollte.26 Hier konnte er die im Berliner „Schriftstellerladen“ entleerten Batterien wieder aufladen. Fontanes Nachruf auf den Plauer Gutsbesitzer und das „Plaue“-Kapitel in Fünf Schlösser sind Zeugnis der Dankbarkeit.27 Wiesike besaß nicht nur eine umfangreiche Schopenhauer-Bibliothek, er kannte auch die Schopenhauerszene bestens. Aus einem Briefentwurf geht hervor,28 dass er Fontane „sechs Bände Schopenhauer“ geschickt hatte und dieser „Band 2. u. 3. von Schopenhauer“ auch lesen wollte;29 wobei es sich nur um die sechsbändige von Julius Frauenstädt besorgte Ausgabe handeln kann, deren zweiter und dritter Band Schopenhauers Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung enthält.30 Plauerhof wäre also als beständiger Schopenhauer-Hotspot zu betrachten.
Schopenhauer in Groß-Folio Die überlieferten Aufzeichnungen beziehen sich indes nicht auf Schopenhauers Hauptwerk, sondern auf die schon erwähnte erste Schopenhauer-Biographie von Wilhelm Gwinner und die zweite von Frauenstädt herausgegebene Ausgabe der Parerga und Paralipomena.31 Die Aufzeichnungen werden heute in der Staatsbi-
Stunden zwischen Schopenhauer, altem Rheinwein und Naturgenuß gewissenhaft theilend. Alles geschah im Freien, vom Morgenkaffee an, und der ganze Kreislauf der Ernährung vollzog sich unter Plaues ewig blauem Himmel.“ 26 Fontane an Martha Fontane, 17. Juni 1876. In: HFA, IV, 2, S. 528 f. 27 Vgl. Theodor Fontane, Plaue a. d. Havel. In: Th. Fontane, Fünf Schlösser = Th. Fontane, Wanderungen durch die Mark Brandenburg, hg. von Gotthard Erler und Rudolf Mingau, Berlin 1997, Bd. 5, S. 103–142 (GBA), und den Nachruf in: Vossische Zeitung, 15. Oktober 1880. Zu Wiesike vgl. Winfried H. Müller-Seifarth, „Ist mir aber ein Apostel.“ Wiesike, der praktizierende Schopenhauerianer und Freund Fontanes. In: Fontane Blätter, 101, 2015, S. 42–59. 28 Vgl. Walter Hettche, Strümpfe und Schopenhauer. Ein bisher unbekannter Brief Theodor Fontanes an Karl Ferdinand Wiesike. In: Fontane Blätter, 52, 1991, S. 4–7. 29 Dem Entwurf zufolge, der nach Hettche aus dem November 1877 stammt, wollte Fontane die Bände nach Gentzrode mitnehmen, er reiste jedoch nach Thale im Harz, um die Korrektur von Vor dem Sturm vorzunehmen; vgl. Fontane Chronik, S. 2075 ff. 30 Arthur Schopenhauer, Sämmtliche Werke, hg. von Julius Frauenstädt, Leipzig 1873/74, 2. Aufl. 1877. Vgl. Th. Fontane, Schopenhauer (wie Anm. 13), S. 12. 31 W. Gwinner, Schopenhauer (wie Anm. 22), und Arthur Schopenhauer, Parerga und Paralipomena: Kleine philosophische Schriften, 2 Bde. Zweite, verbesserte und beträchtlich vermehrte Auflage, aus dem handschriftlichen Nachlass des Verfassers hg. von Julius Frauenstädt, Berlin 1862.
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bliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz unter der Signatur NL Fontane St 58 aufbewahrt. Sie gehörten seit 1969 zu den Leihgaben im Theodor-Fontane-Archiv, wo sich auch die erstmals von Reuter edierte Abschrift befindet.32 Während die Abschrift im Nachlass verblieb und 1935 ins Fontane-Archiv gelangte, wurden die handschriftlichen Aufzeichnungen bei der Auktion durch das Auktionshaus von Meyer & Ernst am 9. Oktober 1933 als Los 501 angeboten. Der Katalog gibt folgende Beschreibung: „Schopenhauer. Eig. Betrachtungen über: ‚Schopenhauer Parerga und Paralipomena‘. Gwinner über Schopenhauer. Gutsbesitzer Wiesike auf Plauerhof. Ca. 50 Seiten. Folio“.33 Das Konvolut besteht aus 25 Bogen und 2 Blatt, wobei ein Bogen als Umschlagbogen dient. Geschrieben wurde auf minderwertigem und inzwischen leicht vergilbtem Konzeptpapier im Groß-Folio-Format.34 Als Schreibmittel benutzte Fontane, mit Ausnahme einiger mit Tinte beschriebener Seiten, den Bleistift. In der Regel wird lediglich die äußere, d. h. die erste und die letzte Seite des Bogens beschrieben. Es herrscht ein regelmäßiges Schriftbild vor, das nur wenige Streichungen aufweist und nur auf wenigen Blättern die bei Fontane sonst häufigen Marginalien aufweist (pag. 14, 15, 20, 23, 24, 31). Ein Blatt wurde mit einem kleineren Blatt beklebt. Auf der Rückseite des letzten Blattes (pag. 51) befindet sich Text aus dem Wanderungen-Kapitel „Regiment Prinz Ferdinand Nr. 34“.35 Handschrift und Abschrift folgen derselben Textordnung. Von wem die überlieferte Textordnung herrührt, lässt sich nicht feststellen. Die Tatsache, dass das Manuskript aufbewahrt und als eigenes Los versteigert wurde, spricht für die Wertschätzung des Manuskripts, ebenso die Verwendung von Groß-Folio-Bögen, die Fontane üblicherweise für literarische Entwürfe und andere Schreibprojekte verwendete.
32 Vgl. Anm. 13. Die Typoskript-Abschrift umfasst 14 Blatt, wobei die Rückseiten nicht beschrieben wurden. Die erste Seite trägt den Vermerk: „Buchkritik: Abschrift nach der Urschrift, deren Rückseiten frei sind. In Umschlag:“ (TFA Pa 7,2 [1] j, 1). In Auszügen gedruckt als Arthur Schopenhauer. In: Theodor Fontane, Aufzeichnungen zur Literatur. Ungedrucktes und Unbekanntes, hg. von Hans-Heinrich Reuter, Berlin, Weimar 1969, S. 51–62 (im Folgenden: AzL); zu dieser Edition vgl. Th Fontane, Schopenhauer (wie Anm. 13), S. 14 f. 33 Vgl. Meyer & Ernst, Katalog 35, 1933, S. 83. Das Konvolut wurde – Charlotte Jolles zufolge – von der damaligen Preußischen Staatsbibliothek erworben und gehört seither zu ihrem Bestand; vgl. das annotierte Exemplar von Charlotte Jolles: TFA 58/7190. 34 Sowie zwei Blatt von unterschiedlicher Größe. Das Konvolut SBB St 58 trägt zwei Paginierungen. Wir folgen der zweiten, vollständigen Paginierung. 35 Das Kapitel (Frühjahr 1873) wurde am 7. und 21. Mai 1873 im Wochenblatt der Johanniter Ordensballei Brandenburg (Nr. 19 und 21), dann in der 3. Auflage des Bandes Grafschaft Ruppin (1875) veröffentlicht; vgl. Th. Fontane, Wanderungen (wie Anm. 27), Bd. 1, S. 209 f., und die Datierung von Erler, dort S. 672 f.
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Abb. 1: Staatsbibliothek zu Berlin PK, NL Fontane, St 58, 1
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Hinsichtlich des Instrumentariums gibt es also keinen Unterschied zwischen Notations- und Schreibpraxis. Auch die Beschriftung der Bögen zeigt das bekannte Muster: die Umschlagbogen werden in großzügigen Lettern beschriftet: „Schopenhauer: / „Parerga und Paralipomena. / Gwinner über Schopenhauer / Gutsbesitzer Wiesike Plauerhof (Westhavelland.)“36 Auch die eingelegten Bögen werden rückseitig nicht beschriftet, so dass viel Platz bleibt für mögliche Ergänzungen und Überarbeitungen. Bemerkenswert ist ferner die gleichmäßige Beschriftung der Seiten. Nur an wenigen Stellen finden sich Spuren einer Überarbeitung oder Marginalien.37 Der auf (pag. 2–5) befindliche ausformulierte Text gibt ein Resümee der Lektüre-Eindrücke – „Geistreich und interessant […] nicht der Fall.“38 – und scheint im Kontext der Parerga-Lektüre entstanden zu sein. Mit (pag. 6)39 beginnen Exzerpte aus der SchopenhauerBiographie von Wilhelm Gwinner, die Fontane linear liest. Auch auf (pag. 51), dem letzten Blatt des Konvoluts, befinden sich Gwinner-Verweise und der Vermerk: „Gutsbesitzer Wieseke (!). Fanatischer Anhänger Schopenhauers“.40 Mit (pag. 12) beginnen die Exzerpte aus Schopenhauer: Parerga und Paralipomena. Auffällig ist, dass Fontane nur die letzten Kapitel von Band II der Parerga exzerpiert, d. h. Kapitel 23 „Ueber Schriftstellerei und Stil“ (pag. 12, 13), Kapitel 25 „Ueber Sprache und Worte“ (pag. 14–16), das große Kapitel 27 „Ueber die Weiber“ (pag. 19–25), Kapitel 28 „Ueber Erziehung“ (pag. 25–27), Kapitel 29 „Ueber Physiognomik“ (pag. 28), Kapitel 30 „Ueber Lerm und Geräusch“ (pag. 28), Kapitel 31 „Gleichnisse, Parabeln und Fabeln“ und „Einige Verse“ (pag. 29) und die Kapitel 26 „Psychologische Bemerkungen“ (pag. 30, 31) und 20 „Ueber Urtheil, Kritik, Beifall und Ruhm“ (pag. 47–50).41 Unterbrochen wird die Kapitelfolge durch Exzerpte aus
36 Th. Fontane, Schopenhauer (pag. 1), (wie Anm. 13), S. 18. 37 So dienen die Beklebungen auf (pag. 15, 16) dazu, eine umfangreiche Annotation zusammenzuführen, die sich auf Parerga II. 25. § 309 „Der Mensch, der kein Latein versteht …“ bezieht; vgl. Th. Fontane, Schopenhauer (wie Anm. 13), S. 34 ff. Marginalien gibt es beginnend mit (pag. 19) über Parerga II. 27 „Ueber die Weiber“ und die „Dame“, die Fontanes Widerspruch hervorrufen, ebenso auf (pag. 31), zu Parerga II. 26. § 314 „Psychologische Bemerkungen“ zum Verhältnis von Wille und Intellekt. 38 Vgl. Th. Fontane, Schopenhauer (wie Anm. 13), S. 18–20, hier 18. 39 Vgl. (pag. 6–11) und Th. Fontane, Schopenhauer (wie Anm. 13), S. 20–33. Bei (pag. 6) handelt es sich um ein aufgeklebtes kleineres Blatt, was auf eine Überarbeitung hinweisen könnte. 40 W. Gwinner, Schopenhauer (wie Anm. 22). Er exzerpiert die Kapitel: 1. „Wie er ward“, 4. „Wie er sprach“, 5. „Was er trieb“, 6. „Wer er war“, 7. „Was er lehrte“ und 8. „Quoad politica“. Auf (pag. 51) befinden sich Verweise aus den Kapiteln 2. „Wie er blühte“, 3. „Wie er aussah“ und 4. „Wie er sprach“; vgl. Th. Fontane, Schopenhauer (wie Anm. 13), S. 76–78. 41 Vgl. Th. Fontane, Schopenhauer (wie Anm. 13), S. 33–53 und 71–76.
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Abb. 2: Staatsbibliothek zu Berlin PK, NL Fontane, St 58, 12
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dem Versuch über das Geistersehn und was damit zusammenhängt aus Band I der Parerga (pag. 32–46).42 Ihrer formalen Gestaltung nach entsprechen die Aufzeichnungen dem Muster diskursiven Exzerpierens: Linksseitig wird die Referenz-Seite vermerkt, rechtsseitig das Exzerpt und/oder die Annotation. So gegliedert folgen die Aufzeichnungen der Linearität der Lektüre und stellen eine überschaubare listenähnliche Struktur her, ohne den Bezug zum exzerpierten Buch aufzugeben. So entsteht ein buchunabhängiges Repertoire von Zitaten und Kommentaren, das einer schnellen Relektüre zugänglich ist. Die Aufzeichnungen könnten so, wie Notizbücher, Briefe und andere Materialien, als Text-Pool im mcGillenschen Sinne funktionieren, dem sowohl interessante Zitate als auch eigene Textbausteine für künftige Schreibprojekte entnommen werden können. Anders als die Schopenhauer-Biographie, die Fontane linear und fast vollständig las, wurden die Parerga und Paralipomena offensichtlich, der Textsorte gemäß, „sprungweise“ und interessegeleitet gelesen. Fontane folgt dem „Philosophen“, der ihn als Stilist und Denker fasziniert – „brillant“, „alles sehr wichtig“, „ausgezeichnet“ etc. – lesend und kritisiert ihn in der Sache („den Sch: Satz einfach für Unsinn“, „Ich halte das […] im Wesentlichen für falsch“). Er liest ihn jedoch auch als Autor („scharfer Denker“, „glänzender Stilist“, „stürmischer Kauz“, „Gequackel eines eigensinnigen, vorurtheilsvollen, persönlich vergrätzten alten Herrn“) und weitet die Perspektive vom „Was“ der Lektüre auf das „Wer“ des Autors und „Wie“ des Schreibens aus. Fasziniert und abgestoßen gleichermaßen scheinen ihn die Parerga-Texte in einen Wirbel der Gedanken geschleudert zu haben, der ihm offensichtlich nicht geheuer war. Festzuhalten bleibt das implizite Thema Lesen – Schreiben – Autorschaft.
„Zufällig dieselben Materien“ Werfen wir daher nochmals einen Blick auf das Groß-Tabarzer Lese-Szenarium und seine ausschweifenden Lektüren. Laut Fontane wurden dabei „zufällig dieselben Materien behandelt“ wie in den Parerga. Was also las Fontane in GroßTabarz? Während er den ersten Teil des Tom Jones von Henry Fielding43 und die
42 Die Seiten zum Versuch über das Geistersehn sind linear beschriftet; vgl. Th. Fontane, Schopenhauer (wie Anm. 13), S. 53–71. 43 Henry Fielding, The History of Tom Jones, a Foundling (1749). Vgl. Theodor Fontane, Tom Jones von Henry Fielding. Das sechsseitige Manuskript befindet sich im Theodor-Fontane-Archiv: TFA P 1; gedruckt in AzL (wie Anm. 32), S. 116–118. Fontane notiert hier (pag. 1): „[Ich notiere das Nachstehende aus dem Gedächtnis. Fünf Jahre liegen dazwischen. Ich las den ‚Tom Jones‘ 1868
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ersten Bücher von Gustav Freytags Ahnen44 nicht in Groß-Tabarz las, sondern nur rekapitulierte, las er mit Laurence Sternes Tristram Shandy einen Roman von großer literarhistorischer Wirkung.45 Einen Roman auch des gekonnten Assoziierens, der als erzählter Beweis für Lockes Essay Concerning Humane Understanding (1690) gelten könnte, und einen Roman, der sozusagen die Schreib-Szene literaturfähig gemacht hat.46 Fontane hat den Roman mit Genuss und großer Bewunderung gelesen, das geht aus seinen Aufzeichnungen hervor.47 Bemerkenswert für unseren Zusammenhang ist, dass Fontane den Roman, wie gleichzeitig auch die Parerga, in seiner Wirkung auf ihn, den Leser, liest: Eine Meisterhand spielt auf den Saiten unsres Herzens und zaubert Leid und Freud ┌unter dem leichten Drucke┐ xxx dieser Hand empfinden wir in raschem Wechsel Leid und Freud oder im Zusammenklang beider ein entzückendes Weh.48
Bemerkenswert ist ferner, dass er die sternesche Schreibweise nicht (nur) normativ (nach den „Erzählgesetzen“) beurteilt, sondern pragmatisch im Blick auf den Schreibenden („dient es deinem Zweck, deiner künstlerischen Aufgabe?“).49 Auf diese Weise installiert er nicht nur den „Autor als Schreibenden“ in den Aufzeichnungen, sondern auch sich selbst als möglichen Autor. Die ohnehin schon
in Erdmannsdorf, diese Notizen mache ich 1873 in Tabarz. Vieles wird also nicht genau stimmen; im Ganzen hoff’ ich es aber noch zu treffen.]“ 44 Gustav Freytag, Die Ahnen (1872–1880). Fontanes Aufzeichnungen behandeln die ersten vier Romane des Zyklus. Das Manuskript befindet sich im Theodor-Fontane-Archiv: P 5, 59 Seiten, wobei vermutlich nur der (mit Bleistift geschriebene ausformulierte) Text zu „Ingo und Ingraban“ (pag. 1–8) in Groß-Tabarz geschrieben wurde. Er trägt den Vermerk: „(gelesen im Januar 1873, geschrieben im August 1873 in Tabarz“). 45 Laurence Sterne, Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman (zuerst 1759–1767). Ein Bewunderer Sternes war Nietzsche, Schopenhauer hatte das Werk übersetzen wollen, Goethe gehörte zu seinen Subskribenten. 46 Der Roman beginnt mit einer ironischen Selbstbeschreibung seines Verfahrens, die Leserperspektive wird definiert durch den „unvorhersehbaren, durch tausende von Gedankenstrichen sowohl zerspaltenen wie gefügten Duktus des zugleich schreibenden (words) wie nachsinnenden (ideas)“; vgl. zum Begriff der Assoziation Eckhard Lobsien, Kunst der Assoziation. Phänomenologie eines ästhetischen Grundbegriffs vor und nach der Romantik, München 1999, zu Sterne S. 45. 47 Das 18-seitige Manuskript befindet sich im Theodor-Fontane-Archiv: TFA P 13; gedruckt in: Frankfurter Zeitung, 7. April 1925, und in: AzL (wie Anm. 32), S. 119–126. Fontanes Aufzeichnungen waren offensichtlich zur Veröffentlichung bestimmt. Auf dem Umschlagbogen notiert er: „(Sehr zu kürzen und einheitlicher zu machen.)“. 48 TFA P 13, 9. 49 TFA P 13, 10.
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zu einer „Leser – Autor – Schreibszene“ erweiterte „Lese-Schreib-Szene“ erfährt dadurch, dass Fontane mehrere Texte gleichzeitig liest und dazu notiert, dass und was er parallel liest („den ich gleichzeitig lese“), abermals eine imaginative szenische Erweiterung: In den Parallel-Lektüren kommen in uno actu mehrere Autor-Imagines – „Autor/Genie – Publikum/gemeines Volk“ – und damit eine Vielzahl von Schreib-Szenarien in den Blick; so in den Tristram Shandy-Aufzeichnungen Jean Paul (bei „vielleicht gleichem ┌verwandtem┐ Talent und gleicher Espritfülle“)50 und Goethe („Goethe sagt in seinem Briefwechsel mit Schiller sehr schön: ‚Im Epos resp. in der Erzählung zeigt sich die Kunst des Retardierens‘“).51 Auch Yorricks sentimental journey52 wird in dieser Weise gelesen: „Man kommt aus dem Wundern und Bewundern gar nicht heraus.“53 Seine (des Lesers) szenische Präsenz ermöglicht es, dass auf der Subtext-Ebene die Frage, wie wer erzählt und wie zu erzählen sei, ständig präsent ist. Die pragmatische Absicht ist unverkennbar und wird auch explizit ausgesprochen. Es geht um die „Kunst der Zubereitung“ – „Man kann daraus lernen nach Form wie Inhalt, aber nachahmen ist unmöglich“,54 notiert Fontane zu Sterne. Und über eine weitere Groß-Tabarzer Lektüre lesen wir:
„Wir fühlen uns in die Produktion mitten hineingestellt.“ Gemeint ist der bereits erwähnte Schiller-Goethe-Briefwechsel, den Fontane ebenfalls in der oben beschriebenen Manier exzerpierte.55 Ähnlich wie Sterne
50 TFA P 13, 8. 51 TFA P 13, 13. 52 Laurence Sterne, Yorricks sentimental journey through France and Italy (1768). Das Manuskript befindet sich im Theodor-Fontane-Archiv: TFA P 14; gedruckt in: AzL (wie Anm. 32), S. 127–130. 53 TFA P 13, 12. 54 TFA P 13, 12. 55 Theodor Fontane, Schiller-Goethe-Briefwechsel. Das Manuskript befindet sich in der Staatsbibliothek zu Berlin PK: SBB, NL Fontane 191. Es wurde bei der Versteigerung von 1933 von Julius Petersen erworben und gelangte aus seinem Nachlass in die SBB; vgl. Hermann Kunisch, Julius Petersens Fontane-Nachlass. Bericht und Edition. In: Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz, 20, 1984, S. 267–325. Das Manuskript gleicht in seinem äußeren Erscheinungsbild und seiner Struktur den Schopenhauer-Aufzeichnungen. Fontane las: Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1764–1805, hg. von Wilhelm Vollmer, 2 Bde., 3. Aufl., Stuttgart 1870; vgl. Fontane Chronik, S. 1853.
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und Schopenhauer las Fontane diesen Text mit großer Aufmerksamkeit. Auch hier interessiert ihn neben dem Was auch das Wie, er notiert: „All dies ist sehr fein. Aber die Schreibweise ist doch nahezu unverständlich.“56 Und zur Wirkung auf den Leser notiert er: Schillers Brief sehr hübsch. Hier begegnet man etwas schön Menschlichem, Liebenswürdigen und Hochherzigen, was außerordentlich wohlthut. Gerade dies Element ist es, was in der Mehrzahl all dieser Briefe doch sehr fehlt. In the long run vielleicht ein Vorzug; wenn man aber immer 10 Seitenweise liest, doch ein gewisser Mangel.57
Zum Autorwesen notiert Fontane: „Göthe schreibt: […] Ich kenne das Possenspiel des Autorwesens schon zwanzig Jahre in- und auswendig; es muß nur fortgespielt werden, weiter ist dabei nichts zu sagen.“ Er notiert, wie die beiden Heroen die Texte des anderen lesen: „Schiller schreibt. Er ist entzückt, ‚trunken‘ von der Lektüre des 5. Buches des W. Meister.“58 Und er notiert, was Goethe über das Lesen sagte: Göthe schreibt: Es kommt mir immer vor, daß wenn man von Schriften wie von Handlungen nicht mit einer liebevollen Theilnahme, nicht mit einem gewissen parteiischen Enthusiasmus spricht, so bleibt so wenig davon, daß es der Rede gar nicht werth ist. Lust, Freude, Theilnahme an den Dingen ist das einzig Reelle, was wieder Realität hervorbringt; alles andre ist eitel und vereitelt nur.59
Von Schillers Referat der Aristotelischen Ästhetik ist Fontane schlicht fasziniert und notiert: „[…] höchst vorzüglich. Es überkommt einen eine hohe Lust, das alles selbst zu lesen.“60 Leselust, vor allem aber wohl die Lust, einen Blick in die im Briefdialog präsente Schreibwerkstatt „unserer zwei besten Geister“ zu werfen. Er notiert: „Nun sieht man diese entstehen“ – „All dies sehen wir entstehen; wir fühlen uns in die Produktion mitten hineingestellt. […]“, und er notiert aus der
56 Th. Fontane, Schiller-Goethe-Briefwechsel (wie Anm. 55), (pag. 1), zu Schillers Brief vom 23. August 1794. Weiter heißt es: „theils in Folge einer gewissen schulphilosophischen Ausdrucksweise, theils weil er dem vornehmen Mann gegenüber nicht ganz klar mit der Sprache heraus will.“ 57 Th. Fontane, Schiller-Goethe-Briefwechsel (wie Anm. 55), (pag. 4), zu Schillers Brief vom 19. Februar 1795. 58 Th. Fontane, Schiller-Goethe-Briefwechsel (wie Anm. 55), (pag. 5), zu Goethes Brief vom 18. Juni 1795. 59 Th. Fontane, Schiller-Goethe-Briefwechsel (wie Anm. 55), (pag. 8), zu Goethes Brief vom 14. Juni 1796. 60 Th. Fontane, Schiller-Goethe-Briefwechsel (wie Anm. 55), (pag. 9), zu Schillers Brief vom 5. Mai 1797.
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Perspektive des Lesers und „Storage“-Bildners: „Wenn man den Briefwechsel lediglich auf solche zerstreuten Notizen hin läse und das Zusammengehörige zusammenstellte, so würde man eine sehr feine Literaturgeschichte jener zehn Jahre erhalten. […].“61 Mit dem „wir“ des Satzes konstruiert Fontane annotierend ein Setting, das „Fontane, den Leser“ und uns als spätere Leser (als prospektives Publikum) mit in Szene setzt. Szenen sind ephemere, instabile Erscheinungen – und Fontane fasst seine Notate gerade so auf. Mit quasi-protokollarischen Notizen wie: „Nach Lesung der ersten Hälfte des 1. Bandes.“ inszeniert er seine Lektüren als singuläres Ereignis in der Zeit und bindet seine Lese-Eindrücke an die Bedingungen ihres Entstehens, wodurch sie zukunftsoffen und relativierbar werden. So notiert er: Je kritischer ich mich gegen alles verhalte was der geniale Schopenhauer sagt (den ich gleichzeitig nebenher lese) desto unbedingter fühle ich mich den Auslassungen dieser beiden Männer hingegeben.62
An solchen Stellen werden wir, die Leser, zu Beobachtern des Lesers Fontane, der sich selbst zum Objekt der Beobachtung macht. Die temporale und lokale Singularität der Szene rückt ihre Ermöglichungs-Bedingungen zweifach in den Blick; zum einen als ökonomische, mediale, mentale Bedingtheit des Lesens, zum anderen als Möglichkeit des Wiederlesens und Variierens der so gewonnenen „Daten“: „Fontane, der Leser“ kann seinen Affekt- und Gedankenstrom in uno actu fließen lassen, diesen beobachten und seine Notationspraxis als versuchsweises Urteilen/Formulieren betrachten. Diese aktuale Selbst-Spaltung erlaubt es, gleichzeitig aktivisch – als Beobachter (Regisseur), der die Rahmenbedingungen und Routinen sicherstellt – und passivisch – als Objekt und Medium, das sich den unwillkürlichen Impulsen, Affekten, Assoziationen, Inspirationen des Lesens überlassen kann – zu agieren. Die so konstituierte szenische Polarität ähnelt einer wissenschaftlichen Versuchs-Anordnung darin, dass sie einen Freiraum definiert, in dem Neues entstehen kann. Insofern liegt es nahe, versuchsweise eine epistemologische Perspektive einzunehmen und Fontanes Annotationspraxis mit Karin Krauthausen als Entwurfs praxis zu verstehen:
61 Th. Fontane, Schiller-Goethe-Briefwechsel (wie Anm. 55). Aus dem Resümee: „Nach Lesung der ersten Hälfte des 1. Bandes.“ (pag. 4, 5). 62 Th. Fontane, Schiller-Goethe-Briefwechsel (wie Anm. 55), „Nach Lesung der ersten Hälfte des 1. Bandes“ (pag. 8).
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Die Entwurfsarbeit geht in der Welt vonstatten […] und sie bedarf eines abgesteckten Rahmens sowie der Techniken, Instrumente und Methoden. Entwerfen definiert sich als durch den Einsatz von Aufzeichnungen, Schreib- und Zeichensystemen, von Techniken der Darstellung und Sichtbarmachung und durch ein grundlegendes Experimentalverfahren: die möglichst kontinuierliche Variation von Umständen und Vorstellungen.63
Karin Krauthausen hat auch darauf aufmerksam gemacht, dass Ernst Mach, dessen Schüler Fontanes Kollege, der Sprachphilosoph Fritz Mauthner, war, als Erster Formen ästhetischer Entwurfspraktiken experimentalwissenschaftlich betrachtet hat. Sein Begriff des „Gedankenexperiments“ zielt auf das interaktive Zusammenspiel von Versuchsroutinen und (unwillkürlichen) assoziativen Prozessen im Hinblick auf ihre epistemologische Funktion und begreift die Entwurfspraxis als „Denkerfahrungs- oder Möglichkeitsraum“.64 „Fontane, der Leser“ hatte sich in seinen Lese-Schreib-Szenarien einen ebensolchen Freiraum erschrieben. Die inszenierte Distanz von Fontane, dem Leser, zu seinen eigenen Assoziationen, Affekten und Inspirationen ermöglichte Texte, die wie Daten archiviert oder neuen Versuchsroutinen im machschen Sinne zugeführt werden konnten, in denen schließlich energetisch die Gedanken sprühen können.65 Es spricht der „Gedanken-Experimentator“, wenn Fontane seine Tabarzer LektüreEindrücke beschreibt:
63 Karin Krauthausen, Vom Nutzen des Notierens. Verfahren des Entwurfs. In: Notieren, Skizzieren. Schreiben und Zeichnen als Verfahren des Entwurfs, hg. von K. Krauthausen und Omar W. Nasim, Zürich 2010, S. 7–26, hier 8. Schon zu Fontanes Zeiten war die experimentalwissenschaftliche Perspektive in den Semantiken angekommen. „Experiment“ meint nicht mehr (experimentum =) Erfahrung, sondern ein durch Instrumente und Vorrichtungen (sprich: durch menschliches Handeln bewusst herbeigeführtes) kontrolliertes (und begründetes) Verfahren zur Gewinnung neuen Wissens; vgl. G. Frey, Experiment. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter, Bd. 2, Basel 1972, Sp. 868 ff. Naturwissenschaftliche Praktiken hatten natürlich auch Auswirkungen auf alltägliche Formen des Beobachtens und Fürwahrhaltens. 64 Ernst Mach, Über Gedankenexperimente. In: Zeitschrift für den Physikalischen und Chemischen Unterricht, 10, 1897, Nr. 1, S. 1–5; K. Krauthausen, Vom Nutzen des Notierens (wie Anm. 63), S. 7 f., und Karin Krauthausen, Wirkliche Fiktionen. Gedankenexperimente in Wissenschaft und Literatur. In: Experiment und Literatur. Themen, Methoden, Theorien, hg. von Michael Gamper, Göttingen 2010, S. 278–320. Mach begreift das Assoziieren bzw. den geistigen Anteil daran als empirisches Geschehen („Gedankenerfahrung“), Differenzen zwischen wissenschaftlichen und künstlerischen Entwurfsprozessen werden rein pragmatisch, nicht metaphysisch aufgefasst. 65 P. Spies [= McGillen], Original Compiler (wie Anm. 5), S. 95, spricht von „vivify experiences“ und benutzt die schopenhauersche Metapher der „Elektrisirmaschine“ und des überspringenden Funkens.
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Eben habe ich 30 Seiten im Schiller-Goethe Briefwechsel gelesen. Alles sehr fein, vornehm und bei ┌vieler Reserviertheit doch eine┐ schöne Offenheit. doch reserviert. Nichtsdestoweniger wirkt es im Vergleich zu Schopenhauers Schreibweise insipide, beinah langweilig. Ich möchte Goethe-Schiller mit einer Voltaschen Säule,66 Schopenhauer mit einer geladenen Leydener Flasche,67 oder mit einer in Thätigkeit begriffenen Elektrisirmaschine68 vergleichen. Der galvanische Strom69 jener ist von großer Kraft, aber es blitzt und funkt ┌leuchtet┐ nicht wie der überspringende Funke.70
Seine Metaphorik, die er im Übrigen von Schopenhauer übernimmt, bringt auf den Punkt, was Fontane, der Leser (anders als Schopenhauer) vom Lesen erwartet: Lesen ist für ihn ein energetischer Vorgang, dem Induktionsstrom gleich, der, einmal in Gang gesetzt, im Leser die „Saiten des Herzens“ und des Verstandes („Esprit“) zum Klingen bringt, ja akkumuliert. Aus dieser Perspektive wird das annotierende Lesen zu einer Art Vorstufe des (intransitiv verstandenen) Schreibens, auch da, wo es nicht teleologisch einer Werkintention folgt. Die Installation des Lesers im Text ermöglicht „Gedankenexperimente“ im machschen Sinne. Als Entwurfsverfahren, das seine Bedingungen kennt (reflektiert), produziert es eine mediale Autor-Imago.
66 Die Voltasche Säule ist eine von Alessandro Volta 1799/1800 entwickelte und im Jahr 1800 an der Royal Society in London der Öffentlichkeit vorgestellte Anordnung, die als Vorläuferin heutiger Batterien im 19. Jahrhundert eine große Bedeutung als Stromquelle hatte. Sie besteht aus vielen übereinandergeschichteten Kupfer- und Zinkplättchen, zwischen denen sich in regelmäßiger Folge elektrolytgetränkte Papp- oder Lederstücke befinden. Vgl. „Voltasche Säule“. In: Wikipedia, 13. 2. 2017, https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Voltasche_S%C3 %A4ule& oldid=162596802 (29. 9. 2017). 67 Die Leydener Flasche (entdeckt um 1745) ist die älteste Bauform eines Kondensators. Sie besteht aus einen Glasgefäß, das innen und außen mit Stanniol beschichtet ist, wodurch elektrische Energie generiert und gespeichert werden kann; vgl. Leidener Flasche. In: Wikipedia, 14. 8. 2017, https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Leidener_Flasche&oldid=168141070 (29. 9. 2017). 68 Elektrisiermaschine oder Elektrostatischer Generator, von Otto von Guericke 1663 entwickelt. Er konnte hohe Spannungen (und dadurch Funken), aber keine hohe Leistung erzeugen; vgl. „Elektrostatischer Generator“. In: Wikipedia, 17. 6. 2017, https://de.wikipedia.org/w/index. php?title=Elektrostatischer_Generator&oldid=166482511 (29. 9. 2017). 69 Das von Luigi Galvani 1780 entdeckte Phänomen des Galvanismus (der Muskelkontraktionen durch elektrischen Strom), dessen Erforschung durch die Leydener Flasche möglich wurde; vgl. Galvanismus. In: Wikipedia, 21. 8. 2017, https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Galvanismus &oldid=168346678 (29. 9. 2017). 70 Th. Fontane, Schiller-Goethe-Briefwechsel (wie Anm. 55), (pag. 13); auch P. Spies [= Mc Gillen], Original Compiler (wie Anm. 5), S. 83 f., bezieht sich auf dieses Bild.
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Eine gefährliche Lektüre Sensibel und heftig reagierte Fontane auf die Parerga und Paralipomena, die auf ihn wie Stromstöße gewirkt haben müssen. Fasziniert und abgestoßen liest er die Bruchstücke – eben „Beiwerke und Nachträge“ – eines lebenslangen Notationsprozesses, der sich um den einen Gedanken von Die Welt als Wille und Vorstellung (11819; 21844; 31859) dreht. Entgegen der schopenhauerschen Selbstinszenierung einer allein der Wahrheit des Gedankens verpflichteten philosophischen Existenz – für die Fontane im Übrigen drastische Worte findet71 – handelt es sich, wie Stephan Kammer gezeigt hat, bei diesen Texten um ein quasi „unabschließbares rekursives Schreiben“, ein Notieren und Skizzieren jenseits des Werks – oder eine Form wilden Denkens.72 Fontane war das nicht unbekannt. Er hatte bei Wiesike nicht nur eine gut bestückte Bibliothek vorgefunden, sondern auch „eine Masse Schopenhauersche Manuskripte“.73 Im „Plaue“-Kapitel heißt es dazu: Das umfangreichste darunter bestand aus 193 großen Blättern zum zweiten Bande der zweiten Auflage [1844] seines berühmten Werkes „Die Welt als Wille und Vorstellung“, zugleich mit Inhaltsverzeichnis und Vorrede für das Ganze.74 All dies ursprünglich in einer lesbaren Handschrift geschrieben, ist nichtsdestoweniger, und zwar um der fünf- und sechsfachen, an allen nur erdenkbaren Stellen angebrachten Korrekturen willen, überaus schwer zu entziffern. Alle möglichen Zeichen stehen in seinem [Schopenhauers] Dienst, Bojen oder Signallaternen, die den Weg zeigen sollen, aber so zahlreich sind, dass sie mehr verwirren als orientieren.75
71 Vgl. Th. Fontane, Schopenhauer, (pag. 5), (wie Anm. 13), S. 20: „Ich verlange von einem Philosophen der für die Jahrtausende schreiben will, nicht, daß er an Luther oder Friedrich den Großen, oder Preußens protestantischen Beruf etc. etc. glaubt; er mag sich geistig expatriiren, er mag sich auf eine ‚höhere Warte‘ stellen und auf die Befangenheiten des lebenden Geschlechts vornehm herabblicken. Aber wenn er den Maulwurfshügel aufgiebt, von dem wir uns die Welt betrachten, so soll er sich nicht auf einen nebenliegenden Kuhfladen stellen und von dieser Höhe herab Weisheit predigen. Ueberall da, wo er relativ praktisch einzugreifen trachtet, vermisse ich ganz und gar einen höheren Standpunkt. Er glaubt ihn zu haben, aber es ist nicht der Fall.“ 72 Schopenhauers Verlegerkorrespondenzen und sein Insistieren auf dem Umschreiben, die Stephan Kammer analysiert: St. Kammer, Das Werk als Entwurf. Textpolitik und Schreibpraxis bei Arthur Schopenhauer. In: Notieren, Skizzieren (wie Anm. 63), S. 27 ff. Vgl. auch Rüdiger Campe, Lichtenbergs Gehirnlandschaften. Die Unlesbarkeit der Welt und der Witz der Wissenschaft. In: Das wilde Denken, hg. von Norbert Haas, Rainer Nägele und Hans Jörg Rheinberger, Eggingen 2004 (Liechtensteiner Exkurse V), S. 83–114. 73 Theodor Fontane, Notizbuch SBB A 16 (pag. 40): Staatsbibliothek Berlin PK. 74 Th. Fontane, Plaue a. d. Havel (wie Anm. 27), S. 134 ff., wo weitere Texte und Briefe genannt werden. 75 Th. Fontane, Plaue a. d. Havel (wie Anm. 27), S. 137 f.
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Abb. 3: Staatsbibliothek zu Berlin PK, NL Fontane, St 58, ohne Paginierung
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Womit Fontane die schopenhauersche „Textpraxis“ bemerkenswert zutreffend beschreibt. Festzuhalten bleibt, dass er sich offensichtlich die Mühe gemacht hat, die Schopenhauer-Manuskripte zu transkribieren, um sie seinem eigenen „paper cosmos“ einzuverleiben. Mit Gewinn, wie das Resümee, das den hin- und hergerissenen Exzerpten vorangestellt ist, vermuten lässt: Geistreich und interessant und anregend ist alles; vieles zieht einem einen Schleier von den Dingen oder von den Augen fort und gewährt einem den Genuß freudigen Schauens; über Dinge, über die man aus Mangel an Erkenntniß oder auch aus einer gewissen Feigheit im Unklaren war, wird man sich klar; man hat die angenehme Empfindung: das erlösende Wort wurde gesprochen.
Insofern wäre ihm nicht die vermeintlich schwer verständliche Willens-Metaphysik – sein „Gaul“, wie er notiert – gefährlich geworden, sondern der Mangel an diskursiver Verlässlichkeit der Texte, das Schwanken zwischen „Gequassel“ und „Weltweisheit“, das er Schopenhauer vorwirft: Es ist durchaus kein Evangelium. Nur immer Einzelnes ist entzückend, und dann wieder andres durchaus nicht. Es ist eine gefährliche Lektüre; man muß ziemlich alt und gut organisirt sein, um hier wie die berühmte Biene auch aus Atropa und Datura Honig zu saugen.76
Sollte Fontane bei seinen Groß-Tabarzer Lektüre-Experimenten die Gefahr gesucht haben? Fontane, der Leser hatte sich im gesicherten Umfeld des annotierenden Entwerfens den diversen Spielarten des „Verkehrs mit Dichtern und Gespenstern“77 genähert. Den medialen Charakter moderner Autorschaft mag er geahnt haben, als er Schopenhauers Versuch aufschlug. Die Metapher des „Psychographen“,78 die er so gern für sein Schreiben bemüht, kommt aus jener parapsychologischen Pop-Kultur, die den Siegeszug der Experimentalwissenschaft im 19. Jahrhundert begleitete.79
76 Th. Fontane, Schopenhauer (pag. 3), (wie Anm. 13), S. 19. 77 Die Formulierung wurde aus dem von Jochen Strobel herausgegebenen Band Vom Verkehr mit Dichtern und Gespenstern. Figuren der Autorschaft in der Briefkultur (Heidelberg 2006) entlehnt. Nicht zufällig scheint Fontane die Metapher der „Elekrisirmaschine“ an Bruchstücken und Briefen gefunden zu haben, um das „Spiel Lesen – Schreiben – Autorschaft“ zu beschreiben. 78 Vgl. Fontane an Emilie Fontane, 23. Mai 1870: „[…] es war ein Arbeiten wie im Traum, wie in einem gewissen süßen Dusel und ich dachte oft, ich schreibe mit einem Psychographen, die Feder kritzelte über den Bogen hin und besorgte eigentlich alles“ (HFA, IV, 2, S. 315). Weitere Erwähnungen in Briefen an Paul Schlenther, 13. Juni 1888, Hans Hertz, 2. März 1895 und Paul Schlenther, 11. November 1895. 79 „Geistersehen“ und „Tischerücken“ waren als Praktiken einer populären Experimentalkultur im 19. Jahrhundert allgegenwärtig. Um 1850 kam es zu einer heftigen Kontroverse unter renom-
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„Experimental-Metaphysik“ – oder: Grenzen der Empirie Mit großer Aufmerksamkeit las Fontane den Versuch über das Geistersehn und was damit zusammenhängt – als einzige Abhandlung aus dem ersten Band der Parerga – und exzerpierte sie ausgiebig.80 Schon Kant hatte sich mit den Phänomenen des „Geistersehens“ beschäftigt.81 Während er sie zu den „Krankheiten des Kopfes“, aber die dahintersteckende Frage nach dem „woher und wohin des menschlichen Geistes“ zu den rätselvollsten zählt, greift Schopenhauer den Diskurs gern auf, denn er sieht in den Phänomenen des „Geistersehens“ gewissermaßen eine Bestätigung seiner Willens-Metaphysik. Sein Versuch, den er als metaphysische Erklärung parapsychologischer Phänomene anlegt und „Experimentalmetaphysik“ nennt, beschreibt die „Versuchsanordnung“ des magischen Rapports interessanterweise als Kommunikationsmodell, in dem der Wille nicht „mittelbar“ (als sinnliche Erfahrung in Raum und Zeit), sondern unmittelbar zwischen Magnetiseur und Medium wirksam wird.82 Fontane notiert: S. 242. Unsre Anschauung der Außenwelt ist nämlich nicht blos sensual, sondern hauptsächlich intellektual d. h. (objektiv ausgedrückt) cerebral. Die Erregung zu einem Anschauungsakte geht im Allgemeinen von der Sinnesempfindung aus, aber die Erregung kann auch ┌geistig┐ von innen kommen und nun früge es sich, ob nicht irgend ein etwas geisterhaft von außen gerade so wirken könne, wie jene Erregung geistig von innen kam.83
mierten Gelehrten wie William B. Carpenter, Michael Faraday, Wolfgang Carus, Joseph Ennemoser, Dietrich Kieser (Alexander von Humboldt hatte eine Stellungnahme abgelehnt) darüber, ob es sich bei diesen Phänomenen um physiologische, elektrische oder vitalenergetische (Mesmers Fluidum) Vorgänge handle; vgl. hierzu Eva Johach, Tanzende Tische, kollektive Psychographien. Zur Experimentalkultur des Tischerückens in den 1850er Jahren. In: „Wir sind Experimente: wollen wir es auch sein!“ Experiment und Literatur II. 1790–1890, hg. von Michael Gamper, Martina Wernli und Jörg Zimmer, Göttingen 2010, S. 254–284. 80 Vgl. Th. Fontane, Schopenhauer (pag. 32–46), (wie Anm. 13), S. 53–71 und zu den nicht exzerpierten Abhandlungen S. 12 f. 81 Immanuel Kant, Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik (1766). In: Kant, Werke in sechs Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Wiesbaden 1960, Bd. 2, S. 918– 989. 82 Vgl. Damir Barbarić in: Schopenhauer-Handbuch (wie Anm. 3), S. 139 ff., und Stefan Andriopoulos, Die Experimental-Metaphysik des animalischen Magnetismus bei Schopenhauer, Kerner und Poe. In: „Wir sind Experimente: wollen wir es auch sein!“ (wie Anm. 79), S. 141 ff. 83 Vgl. Th. Fontane, Schopenhauer (pag. 32), (wie Anm. 13), S. 54.
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Abb. 4: Staatsbibliothek zu Berlin PK, NL Fontane, St 58, 32
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Lieferte Schopenhauers experimentalmetaphysische Versuchsanordnung eine Beschreibung für das, was Fontane beim Schreiben passierte? Fontane notiert: Wer heutzutage die Thatsache des animalischen Magnetismus und seines Hellsehns bezweifelt, ist nicht ungläubig sondern unwissend zu nennen.
– und folgt dessen an Fallstudien und Berichten reicher Abhandlung notierend und paraphrasierend: Wie entstehen nun die Träume und zwar speziell jene, die dem Einschlafen sofort folgen? Träume also sind: schwache Nachhälle aus der Werkstätte des organischen Lebens, die in die sensorielle Thätigkeit des Gehirns eindringen.
Traum, Träumen und „Traumorgan“, „second sight“, „Doppelgänger“, das Nachtwandeln, das Magnetisiren, sympathetische Kuren, Gespenstererscheinungen, Halluzinationen und Visionen, das Hellsehen in die Zukunft und in die Vergangenheit (retrospective second sight) – und nochmals Schopenhauers „Glaubensbekenntniß“: daß diese Erscheinungen unzweifelhaft sind, aber nicht durch äußere Einwirkung auf die Sinne, sondern von innen heraus durch Einwirkung auf Geist und Seele geboren werden.84
Schopenhauers Versuch beschreibt Erfahrungen jenseits der Empirie als Grenzphänomene des Wissens. Fontane, der ihm darin exzerpierend folgt, lernt hier eine Form des „explorativen Experimentierens“ kennen, die ihn bestärkt haben könnte, seinen „inneren“ Erfahrungen zu trauen, auch da, wo sie unwahrscheinlich zu sein scheinen.85 Der Begriff des „Psychographen“ oder „Emanulektors“ bezeichnet eine Apparatur, mit deren Hilfe Grenzen (zwischen den Lebenden und den Toten) überschritten werden sollten.86 Wenn Fontane sie als Metapher für sein Schreiben einsetzt, so meint er auch diesen grenzgängerischen Charakter. Sein Interesse mag daher nicht nur den „Geistern“ (den Grenzphänomenen selbst) geschuldet gewesen sein, sondern der explorativ experimentellen Wertschätzung, die Schopenhauer ihnen angedeihen lässt. In
84 Th. Fontane, Schopenhauer (pag. 44), (wie Anm. 13), S. 68 f. 85 D. Barbarić (wie Anm. 82), S. 141, weist darauf hin, dass der Versuch über das Geistersehn von beträchtlicher Wirkung auf die Theoretiker des Unbewussten (Hartmann, Freud, Nietzsche) war. 86 Vgl. E. Johach, Tanzende Tische (wie Anm. 79). Hier wird auch von einem Kreis um David Hornung (Berlin) berichtet, der 1857 psychographisch aufgezeichnete Rapporte Heinrich Heines veröffentlichte.
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seiner Notationspraxis hatte Fontane mit „Fontane, dem Leser“ einen medialen Joker gesetzt, der es ihm erlaubte, seine Lektüren annotierend zu „Möglichkeitsräumen“ im machschen Sinne zu entwickeln.87 Mit der Installation des Lesers im Text setzte er eine Figur szenischen Schreibens ein,88 die ihm jene textuelle Offenheit erlaubte, die sein Schreiben auch künftig auszeichnen sollte. In den Groß-Tabarzer Lektüren kündigt sich mithin an, was Renate Böschenstein eine „Poetologie der Möglichkeit“ nannte;89 diese würde sich nicht allein an der fragmentarischen Form, sondern in pragmatischer Hinsicht an der Gesamtheit der Verfahren ermessen, mit deren Hilfe Fontane schreibend der „Wirklichkeit und der Sprache entgegentritt“.90 Allemal scheinen die Groß-Tabarzer Lektüren nicht spurlos geblieben zu sein: Ich sehe klar ein, daß ich eigentlich erst bei dem 70er Kriegsbuche und dann bei dem Schreiben meines Romans ein Schriftsteller geworden bin d. h. ein Mann, der sein Metier als eine Kunst betreibt, als eine Kunst, deren Anforderungen er kennt. Dies letztre ist das Entscheidende. Goethe hat einmal gesagt: „die Produktion eines anständigen Dichters und Schriftstellers entspricht allemal dem Maaß seiner Erkenntniß.“ Furchtbar richtig.91
87 Vgl. St. Andriopoulos, Die Experimentalphysik (wie Anm. 82), S. 245: „In der Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts dient das Experiment nicht nur als empirische Bestätigung […] etablierter Theorien. Das explorative Experiment dient als eines der wichtigsten Instrumente zur Produktion neuen Wissens.“ 88 P. Spies [= McGillen], Original Compiler (wie Anm. 5), S. 141 ff., spricht mit Fontane von „Selbstgesprächen“; Gabriele Radecke spricht von „metatextuellen Anmerkungen“: G. Radecke, Vom Schreiben zum Erzählen. Eine textgenetische Studie zu Th. Fontanes ‚L’Adultera‘, Würzburg 2002, S. 72–90; vgl. auch Ch. Hehle, Arsenal der Möglichkeiten. In: Th. Fontane, Fragmente (wie Anm. 6), Bd. I, S. XVIII. 89 R. Böschenstein, Verborgene Facetten (wie Anm. 2), S. 497. 90 Vgl. Hans Magnus Enzensbergers Definition von Poetik als dichterischer Praxis: H. M. Enzensberger, Brentanos Poetik, München 1973, S. 11. 91 Fontane an Emilie Fontane, 17. August 1882. In: Emilie und Theodor Fontane, Die Zuneigung ist etwas Rätselvolles. Der Ehebriefwechsel 1873–1898, hg. von Gotthard Erler unter Mitarbeit von Therese Erler, Berlin 1998 (GBA), S. 279. Nicht zufällig beruft er sich hier auf den in Groß-Tabarz gelesenen Goethe-Schiller-Briefwechsel.
Christine Hehle
Von der allmählichen Verfertigung des Erzählers beim Schreiben Zu Fontanes Erzählfragmenten Der Beitrag geht anhand zweier Erzählfragmente Fontanes der narratologischen Frage nach, wie sich in diesen Texten während des Schreibens die Erzählinstanz konstituiert und sich vom planenden, den Text organisierenden Autor löst. Ich beziehe mich dankbar auf die Forschungsergebnisse von Petra McGillen zu Fontane als Kompilator und Akteur auf dem literarischen Markt; was sie zu seiner Arbeitstechnik vorwiegend an den Handschriften zu den Wanderungen durch die Mark Brandenburg und den Notizbüchern herausgearbeitet hat, wird durch die Handschriften der Erzählfragmente vielfach bestätigt.1 Mein Augenmerk gilt jedoch insbesondere der Stimme des Autors und dem Vorgang der Fiktionalisierung, der sich mit der Herausbildung der Erzählinstanz verbindet.
I Zur Definition 1. Unter „Erzählfragmenten“ verstehe ich von Fontane verfasste bzw. projektierte narrative Texte, die zu seinen Lebzeiten nicht publiziert wurden und im Prozess ihrer Entstehung noch nicht das Stadium erreicht hatten, in dem er sonst Texte zur Reinschrift bzw. in Satz zu geben pflegte, d. h. Prozessdokumente.2 Die Form, in der diese Texte überliefert vorliegen, ist in den Beispielen, die ich heranziehen werde, das Autograph. 2. Unter „Autor“ verstehe ich verschiedene Rollen, in denen sich ein Sprecher in den Handschriften der Fragmente äußert, meist in der ersten Person. Diese Rollen entsprechen Funktionen im Entstehungsprozess des fiktionalen Textes. Dieser in einer Mehrzahl von Rollen auftretende Autor ist weder mit dem historischen Autor, Theodor Fontane, gleichzusetzen (jedenfalls nicht immer), noch mit dem sogenannten impliziten Autor, bei dem es sich um ein vom Leser aufgrund
1 Petra Spies [= McGillen], Original Compiler. Notation as Textual Practice in Theodor Fontane, Diss. Princeton 2012; Petra Spies [= McGillen], A Creative Machine: The Media History of Theodor Fontane’s Library Network and Reading Practices. In: The Germanic Review, 87, 2012, S. 72–90. 2 Zu diesem Begriff vgl. den Beitrag von Konrad Ehlich in diesem Band, S. 23. https://doi.org/10.1515/9783110539493-008
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Christine Hehle
des Textes konstruiertes, im Text selbst nicht in Erscheinung tretendes Abstraktum handelt.3 3. Die Erzählinstanz nenne ich „Erzähler“ und meine damit den Sprecher des im Entstehen begriffenen fiktionalen Textes – des récit im Sinne von Genette4 –, der in den Textbeispielen, die ich heranziehe, ein heterodiegetischer Erzähler ist.5 4. So wie sie vorliegen, als works in progress, bilden Fontanes Fragmente unterschiedliche Stadien der Entstehung eines narrativen Textes ab. Zu deren Bezeichnung lehne ich mich an die Terminologie der klassischen Rhetorik an, an die officia oratoris, die von Cicero anhand der Gerichts- und politischen Rede entwickelt und durch Rhetoriker wie Quintilian weiter systematisiert und auch auf die compositio, das Verfassen geschriebener Texte, angewandt wurden: inventio – Finden, Stoffsammlung; dispositio – Gliedern, Anordnen und elocutio – Formulieren. Diese drei sind für meine Ausführungen vor allem relevant. Eine Entsprechung zum officium der memoria lässt sich in der Archivierung des Textes durch den Autor bzw. bei abgeschlossenen und veröffentlichten Werken im Akt der Publikation selbst erblicken, eine Analogie zur actio/pronuntiatio möglicherweise im Vorlesen im Entstehen begriffener Werke oder aber in Elementen der Rezeptionssteuerung.6
II „Erreicht! 1883“ – Stimmen des Autors Als erstes Beispiel wähle ich ein Fragment, das durch textinterne Indizien und durch den Überlieferungskontext auf etwa 1884 zu datieren und von Fontane
3 Begriff geprägt von Wayne C. Booth (1961). Vgl. zur Definition der Autor-Begriffe Metzler Handbuch der Literaturwissenschaft, hg. von Thomas Anz, Bd. I: Gegenstände und Grundbegriffe, Stuttgart, Weimar 2007, S. 134–136; Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, hg. von Ansgar Nünning, Stuttgart, Weimar 1998, S. 29. 4 Gérard Genette, Die Erzählung. Aus dem Französischen von Andreas Knop, 2. Aufl., München 1998, S. 16. 5 G. Genette, Die Erzählung (wie Anm. 4), S. 175. Vgl. Matias Martinez/Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, München 1999, S. 81. 6 Quint. inst. orat. III, 3, 1: Omnis autem orandi ratio, ut plurimi maximique auctores tradide runt, quinque partibus constat: inventione, dispositione, elocutione, memoria, pronuntiatione sive actione, utroque enim modo dicitur. […] (M. Fabii Quintiliani Institutionis oratoriae libri XII, hg. von Helmut Rahn, Bd. 1, 2. Aufl., Darmstadt 1988, S. 290). Vgl. auch Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding, Tübingen 1992–2009, Bd. 10–11: Berlin, Boston 2012–2014, hier Bd. 2, S. 561–587, und Bd. 6, S. 405–408.
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überschrieben ist mit: „Erreicht! 1883. Ein Roman ohne Romantik.“7 Das Konvolut, in dem das Fragment überliefert ist, besteht aus einem Foliobogen mit dem Titel und drei darin eingelegten Folioblättern, auf denen der Text des Fragments mit Tinte niedergeschrieben ist; auf dem ersten Blatt findet sich marginal eine mit Blaustift hinzugefügte Ergänzung. Das Fragment beginnt mit einer „Vorrede“: „Den Titel schuld’ ich Rellstab (,1812‘)“ – das bezieht sich auf die Jahreszahl 1883 als Titel in Analogie zu Ludwig Rellstabs 1834 erschienenem Roman über Napoleons Russlandfeldzug mit dem Titel 18128 – „den Inhalt einem Zeitungs-Jahrgang und so hab’ ich denn zwiefach Ursach um die Nachsicht meiner Leser u. Kritiker zu bitten. Und doch ist es der bzw. ein Versuch der Sache von einer neuen Seite her beizukommen. Th. F.“ Hier äußert sich, wie die Initialen in der Unterschrift andeuten, der Autor in der Rolle des Verfassers des dereinst publizierten „Romans ohne Romantik“, mit einer captatio benevolentiae, die sich an die künftigen Leser dieses „Romans“ richtet. Die captatio benevolentiae wird in der mit Blaustift hinzugefügten Apposition in ihrer Wirkungsabsicht verstärkt; die etwas gewunden anmutende Formulierung mit dem doppelten Relativsatz („eine Nachsicht, die die dem Buche gern gewähren werden, die herauszufühlen Lust haben“) plus Subjunktionalsatz („daß es doch ein Versuch ist“) entspricht der Art der stilistischen Modifikationen und Variationen, die wir auch in Fontanes Briefentwürfen finden.9 Rhetorisch gesprochen befindet sich diese Textpassage im Stadium der elocutio, in dem ein grammatisch durchgeformter, kohärenter Text verfasst und die bestmöglichen Formulierungen gesucht werden. Auf dem folgenden Blatt ist wiederum der Autor zu hören, jedoch in einer anderen Rolle: „Es ist nicht nöthig, daß ich 83 nehme, jedes letzte Jahr ist gleich gut. Nehme ich 83 so würde ich folgende Themata haben.“10 In diesen beiden Sätzen geht der den Text planende Autor mit sich selbst zu Rate und macht seine Überlegungen zur Stoffsammlung und -auswahl – zur inventio – explizit.
7 Theodor Fontane, Erreicht! 1883 (Staatsbibliothek zu Berlin PK, NL Fontane, St 16, 11–15). Druck in: Th. Fontane, Fragmente. Erzählungen, Impressionen, Essays, im Auftrag des TheodorFontane-Archivs hg. von Christine Hehle und Hanna Delf von Wolzogen, 2 Bde., Berlin, New York 2016, Bd. I, S. 232 f., Kommentar Bd. II, S. 121–135. 8 Ludwig Rellstab, 1812, Berlin 1834. 9 Vgl. Clarissa Blomqvist/Christine Hehle, „Gearbeitete Briefe, in ihrer Privatheit künstlerisch betreut“: Zu Theodor Fontanes Briefentwürfen. In: Fontanes Briefe im Kontext, hg. von Hanna Delf von Wolzogen und Andreas Köstler, Würzburg 2018 (in Vorbereitung). 10 Vgl. Abb. 1. Ich danke der Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz für die Abbildungserlaubnis und dem Theodor-Fontane-Archiv für die Überlassung der Scans.
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Dieses und das nächste Blatt enthalten die Stoffsammlung in Form einer nummerierten Aufzählung, einer Liste.11 Zunächst wirken die Aufzählungspunkte, die verschiedene Ereignisse der Jahre 1882–1884 notieren, disparat und austauschbar, lediglich durch die zeitliche Klammer „um 1883“ zusammengehalten. Bei näherem Hinsehen zeigt sich aber eine gewisse Gruppierung und Gliederung: Die Liste erfüllt also nicht nur Funktionen der inventio, sondern auch schon der dispositio. In Punkt 1–3 geht es um vier Todesfälle: „H. Marons Tod“ bezieht sich auf den Journalisten, Landwirt, Revolutionär des Jahres 1848 und Teilnehmer an der preußischen Ostasien-Expedition Hermann Maron, den Fontane 1840 kennengelernt hatte. Maron beging aus finanzieller Not am 27. Dezember 1882 in Berlin Selbstmord, gemeinsam mit seiner Frau.12 „(Heimkehr vom Begräbniß. Seine Geschichte. S. mein eingeklebt: Zettel)“ ist eine Notiz des Autors, der die Einleitung oder eine Rahmenhandlung für den Roman plant. Der hier erwähnte eingeklebte Zettel ist in dem Konvolut nicht mehr enthalten; möglicherweise hat Fontane ihn später benutzt, als er den MaronAbschnitt in seiner Autobiographie verfasste, und aus dem Erreicht!-Konvolut in das Konvolut Von Zwanzig bis Dreißig umgeordnet. Mit „Gambettas, Chanzys und Skobeleffs Tod“, die sich 1882 bzw. 1883 ereigneten, alle unerwartet und teilweise von Spekulationen begleitet, gelangen wir aus der engeren, wenn auch nicht privaten Sphäre um Fontane in die europäische Politik: Mit dem französischen Premierminister Léon Gambetta und dem General Alfred Chanzy betreten wir das Umfeld des Krieges von 1870 und der Dritten Republik, mit dem russischen General Michail Dmitrievič Skobelev werden die russische Expansion in Zentralasien und der Russisch-Osmanische Krieg evoziert, bei dessen Beendigung auf dem Berliner Kongress 1878 Bismarck sich als „ehrlicher Makler“ inszenierte.13 Gemeinsam ist diesen drei plötzlich Verstorbenen, dass
11 Vgl. zur Funktion von Listen auch P. Spies [= McGillen], Original Compiler (wie Anm. 1), S. 112 ff., und den Beitrag von Petra McGillen in diesem Band, S. 97 ff. 12 Vgl. Theodor Fontane, Von Zwanzig bis Dreißig. Autobiographisches, hg. von der Theodor Fontane-Arbeitsstelle, Universität Göttingen, Berlin 2014, S. 28–31 (GBA); Theodor Fontane, Neuruppin. In: Th. Fontane, Wanderungen durch die Mark Brandenburg, hg. von Gotthard Erler und Rudolf Mingau, Berlin 1997, Bd. 1, S. 181 (GBA); Theodor Fontane, Cafés von heut und Konditoreien von ehmals. In: Fontane, Autobiographische Schriften, hg. von Gotthard Erler, Peter Goldammer und Joachim Krueger, Berlin, Weimar 1982, Bd. III, 1, S. 410. Vgl. auch Th. Fontane, Fragmente (wie Anm. 7), Bd. II, S. 122. 13 Léon Gambetta (1838–31. 12. 1882); Alfred Chanzy (1823–4./5. 1. 1883); Michail Dimitrievič Skobelev (1843–7. 7. 1882). Vgl. Th. Fontane, Fragmente (wie Anm. 7), Bd. II, S. 122 f. mit weiteren Nachweisen.
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Abb. 1: Manuskript-Blatt zu „Erreicht! 1883“, Staatsbibliothek zu Berlin PK, NL Fontane, St 16, 13
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sie in der damaligen europäischen Öffentlichkeit als Gegner des bismarckschen Deutschland wahrgenommen wurden.14 In den Punkten 4 und 5 kehren wir nach Berlin zurück: Mit „Künstlerfest bei Kronprinzens“ ist vermutlich der Festzug gemeint, den der Verein Berliner Künstler am 25. Januar 1883 zur Silberhochzeit des Kronprinzenpaares veranstaltete, also des nachmaligen Kaisers Friedrich III. und seiner Gattin Victoria von Großbritannien und Irland. Mit „Prinz Wilhelm und Frau“ sind wohl der spätere Kaiser Wilhelm II. und seine Frau Auguste Viktoria gemeint.15 Die weiteren Punkte16 betreffen Ereignisse in Berlin, an denen Fontane teilgenommen oder die er wahrgenommen hat: die Eröffnung der Technischen Hochschule in Charlottenburg, die Antrittsvorlesung des Kulturhistorikers Emil Du Bois-Reymond als Rektor der Berliner Universität, ein Kriminalprozess, Veranstaltungen des Hofes, Artikel, die Fontane gelesen, Bücher und Theaterstücke, die er rezensiert hat,17 und zwei Ereignisse aus seinem Bekanntenkreis: die Hochzeit der Tochter von Fontanes Jugendfreund, des Malers Wilhelm Gentz, in dessen Haus Fontane Hermann Maron nach Jahrzehnten wiedergetroffen hatte,18 und den Konkurs des ostpreußischen Gutsbesitzers und Reichstagsabgeordneten Max von Romberg und seiner Frau, einer geborenen Itzenplitz, über den Fontane Anfang 1884 mit Mathilde von Rohr korrespondierte.19 Diese Liste bietet ein anschauliches Beispiel für das auch von Petra McGillen beschriebene Sammeln und Kompilieren heterogener Materialien, von „high-
14 Vgl. Moskauer Zeitung 1889, in Übersetzung wiedergegeben in: Die Post, 8. Februar 1889, anlässlich des Todes des österreichischen Kronprinzen Rudolf: „[…] jedenfalls hat das Bismarck’sche Deutschland Glück. Einer nach dem anderen steigen sie ins Grab, die Männer, die ihm unbequem sind: Chanzy, Gambetta, Skobeleff, Ludwig II. [von Bayern], Friedrich III., Rudolf von Habsburg. Es ist geradezu, als ob über allen irgend ein ‚Vehmrichter waltet‘, wie die Deutschen sagen, der zur rechten Zeit stets diejenigen forträumt, die Deutschland schädlich und gefährlich werden.“ Zit. nach: Brigitte Hamann, Kronprinz Rudolf. Ein Leben, aktualisierte Neuausgabe, 4. Aufl., München 2010, S. 481. 15 Staatsbibliothek zu Berlin PK, NL Fontane, St 16, 13. Druck in: Th. Fontane, Fragmente (wie Anm. 7), Bd. I, S. 232. 16 Vgl. Th. Fontane, Fragmente (wie Anm. 7), Bd. I, S. 233. 17 Vgl. Th. Fontane, Fragmente (wie Anm. 7), Bd. II, S. 123–125 mit weiteren Nachweisen. 18 Vgl. Fontane, Neuruppin (wie Anm. 12), S. 140–189. Gentz’ Tochter Miriam heiratete 1883 Kurt Robert von Lambrecht-Benda, den Sohn des nationalliberalen Politikers Robert von Benda (1816–1899). 19 Maximilian von Romberg (1824–1904) und Bertha von Romberg (1829–1887), geb. von Itzenplitz. Vgl. Theodor Fontane an Mathilde von Rohr, Berlin, 2. Januar 1884. In: Theodor Fontane, Sie hatte nur Liebe und Güte für mich. Briefe an Mathilde von Rohr, hg. von Gotthard Erler, Berlin 2000, Nr. 216.
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brow“ und „lowbrow sources“ mit ihrem Begriff, für Fontanes Kompilationstechnik, die ihn in die Lage versetzte, unaufhörlich Texte zu produzieren und sich so auf dem durch die Massenmedien der Zeitungen und Zeitschriften geprägten literarischen Markt zu behaupten.20 In Punkt 18 der Liste, „Gründung eines großen Familienblatts“, wird dieser literarische Markt hier explizit zum Thema gemacht. Zugleich scheinen sich in blassen Konturen Isotopien21 abzuzeichnen, semantische und motivische Verbindungen zwischen einzelnen Punkten der Liste, etwa die Isotopie „Ehepaar“ – Maron, Romberg – oder die Isotopie „Politik/ Gegner Bismarcks“ – Gambetta, Chanzy, Skobelev, Kronprinzessin Victoria. Zur Isotopie „Ehepaar“ gehört auch die „Hochzeit bei Wilhelm Gentz“, die wiederum in Verbindung zu Maron und zur Isotopie „Politik“ steht, war doch der Bräutigam der Sohn eines nationalliberalen Politikers und Bismarck-Anhängers, Robert von Benda. „Fremdländische Besuche“ berühren sich unter dem Stichwort des Exotischen mit den Orientmotiven in Gentz’ Malerei, der Ostasien-Expedition, an der Maron teilnahm, und Skobelevs Entdeckungsreisen in Zentralasien. Über vieles Weitere ließe sich spekulieren und mutmaßen, denn natürlich lassen sich in diesem Stadium der Textgenese nur Vermutungen darüber anstellen, wo diese Ereignisse jeweils ihren Platz gefunden hätten, wäre der Text weiter ausgearbeitet worden. In jedem Fall bereiten die Verbindungen zwischen den einzelnen Ereignissen aber den Übergang zum geplanten fiktionalen Text vor. Dies wird deutlich auf dem letzten Blatt des Konvoluts: Die beiden Hauptfiguren sind ein Ehepaar, er 36 sie 30, die mit einem kleinen Vermögen nach Berlin kommen und beschließen va banque zu spielen. Sie erreichen es auch; er wird endlich Agent, Betriebs-Direktor und juristischer Beirath für ein großes Familien-Journal und es schließt mit dem nächsten Sylvester, wo er einen Ball giebt und am Schluß ein Gespräch mit ihr hat. ‚Erreicht.‘ Vorher suchen beide hin und her und wollen bald dies bald das.22
Hier wird ein Gesellschaftsroman entworfen: der Aufstieg eines Ehepaares aus der Provinz im Berlin der frühen 1880er Jahre, das sich offenbar das politische, wirtschaftliche und kulturelle Umfeld der Hauptstadt in der Epoche, in der Bismarck auf dem Höhepunkt seiner Macht stand, zunutze macht. Die Karriere, in
20 Vgl. P. Spies [= McGillen], Original Compiler; P. Spies [= McGillen], A Creative Machine (beide wie Anm. 1). 21 Zum von Algirdas Julien Greimas geprägten textlinguistischen Begriff der Isotopie vgl. Hadumod Bußmann, Lexikon der Sprachwissenschaft, 2. Aufl., Stuttgart 1990, S. 357; Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, hg. von Ansgar Nünning, Stuttgart, Weimar 1998, S. 246. 22 Staatsbibliothek zu Berlin PK, NL Fontane, St 16, 15. Druck in: Th. Fontane, Fragmente (wie Anm. 7), Bd. I, S. 233.
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der das Paar reüssiert, wobei die Gründung eines einflussreichen Familien-Journals eine Rolle spielt, steht, so viel lässt sich sagen, in einer Kontrastbeziehung zum Abstieg und der Katastrophe der Ehepaare Maron und Romberg. Der auf diesem letzten Blatt spricht und die Geschichte entwirft, ist noch nicht der Erzähler; es ist noch immer der planende Autor, aber wiederum in einer anderen Rolle: Er legt eine Handlungsabfolge fest und spannt damit den Rahmen auf, in den die in der Liste aufgezählten Ereignisse „eingebaut“ werden sollen. Vom Erzähler unterscheiden den hier sprechenden Autor zum einen die skizzenhafte Komprimierung der Handlung, zum anderen das Tempus Präsens, denn der fontanesche Erzähler bedient sich stets des Präteritums.23
III „Wieder daheim“ – Stimmen von Autor und Erzähler Mein zweites Beispiel, ein Fragment mit der Überschrift „Wieder daheim“,24 ist vermutlich im Frühjahr 1884 entstanden und besteht aus drei Foliobogen und einem ursprünglich auf ein Zeitungsstreifband aufgeklebten Etikett, auf dem die Ordner und Verwerter von Fontanes Nachlass ihre Spuren hinterlassen haben: Rechts oben über dem von Fontane geschriebenen Titel steht eine Bemerkung in der Hand von Otto Pniower (1859–1932), der sich als Kustos, später Direktor des Märkischen Museums und als Herausgeber mit Fontane beschäftigte:25 „In Von vor und nach der Reise“. Er ordnet damit das Konvolut der 1894 publizierten Erzählung „Professor Lezius oder Wieder daheim“ zu und wird links von Fontanes Sohn und Verleger Friedrich Fontane (1864–1941) berichtigt: „Nein! Stimmt nicht. ‚Wieder daheim‘ aus ‚Von, vor und nach der Reise‘, – übrigens nur Nebentitel von Professor Lezius ist eine ganz andre Geschichte.“ In Tinte steht hier und in ähnlichen Worten nochmals auf dem ersten Bogen des Konvoluts eine Notiz des Autors als Sammler, der das Fragment innerhalb seines Arsenals von Stoffen und Projekten verortet: „Kl. Erzählung. Stoff von Frau Prof. Gropius erhalten.“26 Die zugrunde liegende Anekdote erfuhr Fontane
23 Vgl. dazu auch Walter Hettche, Die Handschriften zu Theodor Fontanes Vor dem Sturm. Erste Ergebnisse ihrer Auswertung. In: Fontane Blätter, 58, 1994, S. 193–212, hier 204. 24 Theodor Fontane, Wieder daheim (Staatsbibliothek zu Berlin PK, NL Fontane, St 38, 1–6). Druck in: Th. Fontane, Fragmente (wie Anm. 7), Bd. I, S. 336 f., Kommentar Bd. II, S. 225–228. 25 Vgl. Volker Maeusel: Pniower, Otto. In: Neue Deutsche Biographie, 20, 2001, S. 552 [Onlinefassung], https://www.deutsche-biographie.de/gnd11624707X.html#ndbcontent (2. 4. 2017).
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demnach von Julie Gropius, der zweiten Frau des Architekten Martin Gropius, mit der er sich laut seinem Tagebuch am 29. Februar 1884 auf einem Diner in Berlin sehr gut unterhalten hatte.27 Rhetorisch gesprochen fällt diese Notiz in das Kapitel inventio. In dem Fragment verbindet sich das Thema der Refugiés aus der Zeit der Französischen Revolution mit Ereignissen der politischen Geschichte des 19. Jahrhunderts und mit Lokaleindrücken des historischen Autors, Fontane, von seinen Frankreich-Reisen 1870 und 1871. 1793, damals 12 Jahr alt, kam Gustav v. Blainville nach Quedlinburg am Harz. Sein Vater war Landedelmann im mittleren Frankreich gewesen und emigrirte. Er (der Alte) wurde Soldat und focht gegen Napoleon. Der Sohn wurde preuß: Beamter; hervorsuchen was? Vielleicht Rentamtmann oder höherer Schloßverwalter. Er lebte ganz den Erinnerungen dieses Schlosses und pflegte das deutsche Kaiserthum und Aurora v. Königsmarck und Markgraf Gero und Klopstocks Haus. So wurd er 80 Jahr und nun schrieben wir 1860 oder 61.28
Hier hören wir einen Erzähler im Präteritum seine Geschichte beginnen. Was wir beobachten, ist der Prozess der elocutio, der begonnen, aber nicht abgeschlossen ist. Der Erzähler wird immer wieder unterbrochen vom Autor, der Einzelnes für seine Zwecke präzisiert: „geb: 1780“, notiert er sich etwa, um sicherzugehen, dass ihm bei der Ausarbeitung des Zeitgerüsts keine Fehler unterlaufen werden. Zudem markiert er Stellen, an denen noch zu präzisieren ist („hervorsuchen was? Vielleicht Rentamtmann oder höherer Schloßverwalter“). Wenn wir das Schreiben der Erzählung, die Fiktionalisierung, als einen voranschreitenden Prozess auffassen, scheint diese Bemerkung gleichzeitig in zwei Richtungen zu deuten: einmal „zurück“ zum Stoff – der Autor nimmt sich vor zu ermitteln, welche Stellung der von Frau Gropius erwähnte Refugié bekleidete –, zum zweiten „voraus“ auf die Erzählung und die Funktion, die darin der Figur zugeschrieben werden soll. Auf der inhaltlichen Ebene lässt sich eine Verbindung zu dem im Sommer 1884 niedergeschriebenen und 1886 publizierten Roman Cécile beobachten: Auch dort finden wir den Schauplatz Quedlinburg mit Erinnerungen an Klopstock und Aurora von Königsmarck, einen Kastellan und einen antiquarischen Sonderling, der sich für die Sachsenkaiser des Mittelalters begeistert. Hier ist also das Unvollendete in einem anderen Text produktiv geworden. Mit anderen Worten: Fontane
26 Staatsbibliothek zu Berlin PK, NL Fontane, St 38, 6. Druck in: Th. Fontane, Fragmente (wie Anm. 7), Bd. I, S. 337. 27 Julie Gropius (1837–1889), geb. de Greiff. Vgl. Theodor Fontane, Tagebücher 1866–1882. 1884– 1898, hg. von Gotthard Erler unter Mitarbeit von Therese Erler, Berlin 1994, S. 204 (GBA). 28 Staatsbibliothek zu Berlin PK, NL Fontane, St 38, 2. Druck in: Th. Fontane, Fragmente (wie Anm. 7), Bd. I, S. 336.
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hat aus seinem Arsenal nicht das Projekt „Wieder daheim“, sondern das Projekt Cécile für die Publikation ausgewählt.29 „Da kam eine Wandlung über ihn“ – fährt der Erzähler in Wechselrede mit dem Autor fort – „Er fand ein altes Bild auf dem Schloß, das unter dem Namen so und so (dem Gegenstande nach) verzeichnet war und ihn an seinen Heimathsort erinnerte. Nun kam andres hinzu: politische Eroberungen. Es muß mit 1854 beginnen, vorher antinapoleonisch, durch den Krimkrieg wird er aber wieder französisch, er las alles, auch Bücher Krieg gegen Oestreich, nach Mexiko etc. und nun fand er auch ein Bild. Das rief ihm die Scenerie seiner Jugend zurück und ihre Gestalten. Seitdem überkam ihn eine Sehnsucht. Die wuchs und 1860 oder 61 war sie so stark, daß er sein Dorf noch mal wiedersehen wollte.“30
Die Vorgeschichte ist beendet, nun kommt das die Handlung auslösende Moment: Gustave Blainville stößt inmitten seines ,urdeutschen‘ Umfeldes auf ein Bild, das eine Erinnerung an das Dorf seiner Kindheit in ihm wachruft. Das berichtet der Erzähler, unterbrochen vom Autor, der nicht nur Platzhalter31 für Präzisierungen setzt („so und so“), sondern auch die Zeitstruktur der Erzählung konkretisiert („Es muß mit 1854 beginnen“) und eine psychologische Motivierung für den Entschluss zur Reise nach Frankreich entwirft: Durch die wechselnden politischen Ereignisse, die Blainville miterlebt, modifiziert sich seine vom Vater übernommene antifranzösische Grundhaltung. Erst vorbereitet dadurch kann die visuelle Erinnerung ihre Wirkung entfalten. Da wir nicht wissen, was Julie Gropius Fontane erzählt hat, lässt sich nur vermuten, dass die Veränderung der politischen Einstellung und die durch ein Bild ausgelöste Erinnerung bereits Teil der vom Autor geplanten fiktionalen Erzählung und nicht mehr Bestandteil der ursprünglichen Anekdote sind. Nun setzt die eigentliche Handlung ein: Er reist auch hin und seine Tochter und Enkelin begleiten ihn. Er war schon a. D., aber man ließ ihn im Schloß weiter wohnen. Nun kommt er an und steigt in einem kl. Gasthaus ab. Es war alles noch so. Der Reichthum war wenig anders geworden. Das Schloß war eine Fabrik. Aber von dem Schloß wußt’ er am wenigsten. Aber Dorf und Kirche und Kirchhof erkannt er wieder. Dies
29 In diesem Fall lag der Grund für die Entscheidung wohl nicht wie sonst oft in einer Gelegenheit zur Publikation und der Auswahl eines Projekts durch einen Redakteur, denn Fontane führte für Cécile ergebnislose Verhandlungen mit Westermanns Monatsheften und der Gartenlaube, bevor er sie eher zufällig in der neu gegründeten Zeitschrift Universum unterbrachte. Vgl. Theodor Fontane, Cécile, hg. von Hans-Joachim Funke und Christine Hehle, Berlin 2000 (GBA), S. 243–246. 30 Staatsbibliothek zu Berlin PK, NL Fontane, St 38, 2–3. Druck in: Th. Fontane, Fragmente (wie Anm. 7), Bd. I, S. 232. 31 Diesen Ausdruck verwendet auch W. Hettche, Die Handschriften zu Theodor Fontanes Vor dem Sturm (wie Anm. 23), S. 204.
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nun schildern in Ausführlichkeit. Diese Stelle ist die Hauptsache. Auch seine Stimmung dabei. Die Gruft in der Kirche; die Särge darin. etc etc. Am andren Morgen war er todt. Nun Schwiegertochter u. Enkelin vor dem Maire und dem Geistlichen. Wie heißen Sie? ,Blainville‘. ,Blainville. Das ist ein französischer Name. Wir hatten hier Blainvilles.‘ ,Der Verstorbene war einer.‘ Dies nun ausführen. Der Geistliche wird bewegt. Das Dorf (1861 war von Antagonismus noch keine Rede) nimmt daran Theil und er wird in aller Feierlichkeit in der Gruft seiner Väter beigesetzt. Eine Silberplatte ward eingelegt, auf der hieß es: ‚… …‘ (Alles ganz kurz. Natürlich ist die Familie katholisch geblieben. Schwiegertochter und Enkelin kehren zurück u. bleiben in Correspondenz mit dem Curé und der Gasthofsfrau wo sie gewohnt.32
Der Schlussteil der geplanten Erzählung, der vermutlich den Hauptteil der ursprünglichen Anekdote ausmacht, wird vom Autor komprimiert im Präsens festgehalten, wiederum mit Platzhaltern („etc. etc.“; „Dies nun ausführen“; „Alles ganz kurz“) und mit Akzentsetzungen: Bei der Stimmung des Protagonisten auf dem Kirchhof und beim Betreten der Gruft wird der Erzähler später am längsten oder intensivsten verweilen. Über die Auswahl und Strukturierung der vorgefundenen Elemente hinaus (inventio und dispositio) nimmt der Autor hier eine Sequenzialisierung und Gewichtung vor und legt so gleichsam den Grundriss – schon maßstabsgetreu, in den richtigen Proportionen – der Erzählung fest. Alles scheint hiermit vorbereitet für die Ausarbeitung der Figuren, der Räume, der Dialoge, also die Fertigstellung der elocutio. Doch auf dem nächsten Bogen des Konvoluts begegnen wir dem Autor in einer vierten Rolle: der des Lesers und revidierenden Kritikers seines eigenen Textes. Ich darf nicht sagen, daß er nach Quedlinburg kommt, ich muß nur sagen in eine kl: Fürsten-Residenz am Harz […]. Dort wird er nun (der Sohn) Kastellan und Bilder=Restaurateur, legt den Adel ab, und in seiner Bilder=Restaurateur=Eigenschaft bereist er die ganze Harzgegend auch Quedlinburg […]33
Der Restaurator stößt auf das Bild, das die Erinnerung in ihm auslöst, kopiert es immer wieder und begibt sich allein auf die Reise, unter Mitnahme aller Identifikations- und Familienpapiere. Von seinem Tod benachrichtigen die französischen Behörden die Behörden seines Wohnorts; das ist das gleiche erzählerische Mittel,
32 Staatsbibliothek zu Berlin PK, NL Fontane, St 38, 3 und St 38, 2 marginal. Druck in: Th. Fontane, Fragmente (wie Anm. 7), Bd. I, S. 336. 33 Staatsbibliothek zu Berlin PK, NL Fontane, St 38, 4. Druck in: Th. Fontane, Fragmente (wie Anm. 7), Bd. I, S. 336. Vgl. Abb. 2.
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das auch am Ende von Quitt Verwendung findet,34 hier aber als Bestandteil einer Rahmenerzählung vorgesehen: „So anfangen“ – gibt die Stimme des Autors vor. Dann hören wir die Stimme des Erzählers: „Es war am 4. September 1861 als in B. am Harz folgendes kurzes Schreiben in französischer Sprache eintraf […]“35 Es gibt also einen zweiten Grundriss für die geplante Erzählung, der den ersten in mehrfacher Hinsicht modifiziert: Der Protagonist scheint allein in der Welt zu stehen, ohne Familienangehörige. Das visuelle Motiv, verbunden mit dem Motiv der Wiederbelebung des Vergangenen, wird noch verstärkt, da Blainville nun selbst Maler und Restaurator ist. Außerdem wird die räumliche Situation, auf die er an seinem Geburtsort trifft, stärker konturiert: „Poitou oder Guienne – Mischung von öder Uferfels=Landschaft (wie bei Puy bei Dieppe) und südlicher Vegetation in der Fels=Klinse, darin das Dorf liegt.“36 Fontane greift hier auf seine Erinnerung an Puys in der Normandie, den Wohnort von Alexandre Dumas, zurück, den er am 24. April 1871 besuchte. Eine Skizze dieser Situation findet sich in seinem Reisenotizbuch.37 Im Brief des französischen Magistrats wird der Ort vom Erzähler noch genauer situiert: Puy-deDôme im Département Charente inférieure. Diese Ortsangaben gehören ersichtlich zur Ebene der fiktionalen Erzählung: Ein realer Ort namens Puy-de-Dôme liegt nämlich in der Auvergne, nicht an der Atlantikküste, zum Département Charente inférieure (heute Charente maritime) gehört jedoch die Ile d’Oléron, auf der Fontane 1870 als Kriegsgefangener interniert war. Zu diesem zweiten Grundriss der Erzählung äußert sich der lesende und revidierende Autor noch ein weiteres Mal, visuell sehr hervorstechend, mit Rotstift in der oberen linken Ecke, und mit eindeutiger Wertung: „Sehr gut“.
34 Vgl. Theodor Fontane, Quitt, hg. von Christina Brieger, Berlin 1999, S. 287 f. (GBA). 35 Staatsbibliothek zu Berlin PK, NL Fontane, St 38, 5. Druck in: Th. Fontane, Fragmente (wie Anm. 7), Bd. I, S. 337. 36 Staatsbibliothek zu Berlin PK, NL Fontane, St 38, 5. Druck in: Th. Fontane, Fragmente (wie Anm. 7), Bd. I, S. 337. 37 Vgl. Theodor Fontane, Die Reisetagebücher, hg. von Gotthard Erler und Christine Hehle, Berlin 2012, S. 215–217 (GBA).
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Abb. 2: Manuskript-Blatt zu „Wiedergefunden“, Staatsbibliothek zu Berlin PK, NL Fontane, St 38, 4
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IV Die Konversation der Stimmen von Autor und Erzähler Zur Bezeichnung solcher revidierenden Bemerkungen, die sich auf inhaltliche, strukturelle oder stilistische Aspekte beziehen können und in Fontanes Autographen häufig zu finden sind, sind verschiedene Termini vorgeschlagen worden: Walter Hettche spricht in seinem Aufsatz über die Handschriften zu Vor dem Sturm von „Selbstreflexion“, „Notizen des Autors“ und „Revisionen“.38 Gabriele Radecke benutzt in ihrer Studie über die Entstehung von L’Adultera und in ihrer Edition des Romanfragments Mathilde Möhring die Begriffe „Autorkommentar“ oder „Autoranmerkung“ bzw. „metatextuelle Anmerkung“.39 Justus Fetscher verwendet die Termini „Metakommentar“ sowie „prä- und postnarrative Redeeffekte“.40 Petra McGillen führt die Termini „note-to-self“, „Regieanweisung“ oder „Selbstgespräch“ ein und spricht von einem Dialog zwischen „Fontane-the-compiler“ und „Fontane-the-reader“, wobei der Leser dem Kompilator Anweisungen erteilt.41 Alle diese Begriffe haben ihre Berechtigung, insofern sie je verschiedene Aspekte betonen. Vor allem Gabriele Radecke und Petra McGillen beziehen sich hauptsächlich auf Anmerkungen, die während des Revisionsprozesses angebracht wurden. Es ist jedoch, wie die obigen Beispiele zeigen, nicht nur der lesende, revidierende Autor, dessen Stimme wir in solchen Textpassagen hören, sondern auch der den Text organisierende, die Geschichte als fiktionale Erzählung planende Autor:42 Hier ließe sich von „Fontane-the-composer“, dem Autor als compositor, sprechen, im Sinne der com-positio als des (Neu-)Verfassens von Texten, die aus gefundenen Elementen – aber nicht nur aus diesen – zusammengesetzt werden. Treffend erscheint jedoch vor allem der Begriff des Dialogs. In den Erzählfragmenten lässt sich eine Konversation zwischen verschiedenen Stimmen des Autors beobachten, die dessen verschiedene Funktionen repräsentieren: –– der Autor als Sammler des Materials – Funktion der inventio;
38 Vgl. W. Hettche, Die Handschriften zu Theodor Fontanes Vor dem Sturm (wie Anm. 23). 39 Vgl. Gabriele Radecke, Vom Schreiben zum Erzählen. Eine textgenetische Studie zu Theodor Fontanes „L’Adultera“, Würzburg 2002, bes. S. 74–90; Theodor Fontane, Mathilde Möhring. Nach der Handschrift neu hg. von Gabriele Radecke, Berlin 2008 (GBA), S. 196–198. 40 Vortrag von Justus Fetscher, 13. Oktober 2016, auf dem Symposium des Theodor-FontaneArchivs „Formen ins Offene. Zur Produktivität des Unvollendeten“. 41 Vgl. P. Spies [= McGillen], Original Compiler (wie Anm. 1), S. 141, 154, 157 und 160. 42 Dies entspricht den pränarrativen Redeeffekten mit dem Begriff von J. Fetscher (wie Anm. 40).
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–– der Autor als Kompilator und Organisator des Materials – Funktion der dispositio; –– der Autor als Planer und Verfasser, compositor, des erzählten, fiktionalen Textes – Funktion der elocutio; –– der Autor als Leser, Kritiker, Revisor des erzählten Textes – Funktion der elocutio. Dazu kommt im Prozess der elocutio die Stimme des Erzählers, die sich aus dem Gespräch der Autorstimmen herauslöst bzw. mit in deren Dialog eintritt. In Fontanes Erzählfragmenten kommt es vor, dass Autor- und Erzählerstimme im gleichen Satz fließend ineinander übergehen: „Oszillieren zwischen der Selbstreflexion des Autors und dem genuinen Erzähltext“ oder „Ausbrüche des Erzählers aus den Notizen des Autors“ nennt Walter Hettche dieses Phänomen.43
V Conclusio mit offener Frage In Fontanes narrativen Texten vollziehen sich im Prozess der elocutio die folgenden Schritte: –– Ein kohärenter, syntaktisch durchgeformter Text entsteht, der in einer vom Autor bestimmten Sequenz, einem ordo artificialis, angeordnet ist. –– Die Heterogenität des Materials verschwindet unter der gleichsam polierten Oberfläche des erzählten Textes. –– Der sammelnde, organisierende, formulierende und revidierende Autor tritt hinter den Erzähler zurück und wird mit Abschluss der elocutio unsichtbar. –– Die Fiktionalisierung wird geleistet. Da in den Fragmenten die elocutio nicht abgeschlossen, sondern gleichsam inmitten des Prozesses angehalten ist, bleibt die Disparatheit des Materials sicht- und das Gespräch zwischen den verschiedenen Stimmen des Autors hörbar. Es lässt sich beobachten, wie sich aus dieser mehrstimmigen Konversation die Stimme des Erzählers herauszulösen beginnt und mit ihr die Geschichte, der fiktionale Text entsteht – vielleicht vergleichbar mit der Ausformung und Zuspitzung der
43 W. Hettche, Die Handschriften zu Theodor Fontanes Vor dem Sturm (wie Anm. 23), S. 204 und 199. Ein gutes Beispiel für permanente fließende Übergänge zwischen Autor- und Erzählerstimme bietet das Erzählfragment „Der Menschenfresser“. In: Th. Fontane, Fragmente (wie Anm. 7), Bd. I, S. 255 f.
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Gedanken im Prozess des Sprechens, die Kleist in seinem Aufsatz „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken“ beim Reden beschreibt.44 Freilich lassen sich Fontanes Erzählfragmente in ihrer überlieferten Gestalt nur metaphorisch mit „Stimmen“, „Dialog“ oder „Gespräch“ beschreiben. Was wir tatsächlich vor uns haben, ist Schrift: auf einer Seite eines Blattes Papier räumlich angeordnete Zeichen. Das heißt, die Arbeit des Autors als compositor hat sich konkret weniger in einem stimmlichen, akustisch wahrnehmbaren Prozess vollzogen als in einem gestischen, visuell wahrnehmbaren. Der Autor ist nicht nur Sammler, compilator und compositor, er ist auch Schreiber, scriptor oder scripteur (in Anlehnung an den Begriff von Roland Barthes).45 Ich möchte daher meine Überlegungen mit einer offenen Frage schließen: Sowohl das kleistsche Konzept von der Verfertigung der Gedanken beim Reden als auch das Konzept des Autors als scripteur schreiben dem kreativen Prozess ein Moment des Unbewussten, nicht rational Kontrollierten zu, das im Reden bzw. Schreiben wirksam ist und bei der compositio eines Textes, insbesondere eines poetischen bzw. narrativen, zum Organisieren und Kompilieren des Materials hinzukommt: das Moment der Inspiration, das Aufschießen der Blitze aus dem „nächtlichen Schacht“ nach Hegel46 oder das „Schreiben wie mit dem Psychographen“ laut Fontanes vielzitierter Selbstäußerung. Ob sich dieses Moment bei Fontane eher im Dialogischen wie von Kleist dargestellt oder aber im Gestus des Schreibens verwirklicht, scheint mir weiterer Untersuchung und Erörterung wert.
44 Heinrich von Kleist, Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden (1805). In: Kleist, Sämtliche Werke, 6. Aufl., München 1982, S. 880–884. 45 Vgl. Roland Barthes, La Mort de l’Auteur (1968; zuerst 1967 als: The Death of the Author). In: Barthes, Œuvres complètes, tome II, Paris 1994, S. 491–495, bes. S. 493: „[L]e scripteur moderne naît en même temps que son texte; il n’est d’aucune façon pourvu d’un être qui précéderait ou excéderait son écriture […]“. Vgl. zum Autor als scripteur auch Metzler Handbuch der Literaturwissenschaft (wie Anm. 3), Bd. I, S. 146–149. 46 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1817), § 453. Vgl. dazu den Beitrag von Konrad Ehlich in diesem Band, S. 28.
Johann Holzner
„Von Fontane kenne ich wenig“ Über Bruchstücke aus dem Nachlass Adolf Pichlers Der Ausgangspunkt für die folgenden Bemerkungen zu diversen Formen ins Offene findet sich in einem Schreiben, in dem von Fontane die Rede ist; in einem Brief aus dem Jahr 1896, den ein verhältnismäßig junger, damals prominenter Literaturwissenschaftler aus Berlin an seinen alten Lehrer, einen seinerzeit nicht ganz unbekannten Schriftsteller, nach Tirol geschickt hat. Alois Brandl, seit 1895 Ordinarius an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin, berichtet in diesem Brief – den er am 28. Mai 1896 an Adolf Pichler sendet – von seiner ersten Begegnung mit Theodor Fontane: Fontane kennen gelernt, einen alten, feinen, natürlichen Altberliner, der sich mit Wanderungen durch die Mark und Übersetzungen englischer Balladen frisch gehalten hat, bis er jetzt, mit grauen Haaren, endlich seine Anerkennung erlebte. Empfahl mir als einziges Mittel, in Berlin natürlich zu bleiben, keine Menschenfurcht; er wohne immer noch hoch unter dem Dach und sei da glücklich. Seine warme Art hat mir ungemein gefallen.1
Kein Wort über Fontanes Romane. Auf den ersten Blick einigermaßen verwunderlich, ist wohl doch davon auszugehen, dass Brandl wenigstens die Berliner Romane gekannt, zumindest von ihnen gehört hat; Brandl ist schon zu dieser Zeit mit Erich Schmidt befreundet und beobachtet wie dieser (oftmals mit ihm zusammen) aufmerksam den zeitgenössischen Literaturbetrieb. Aber dann wieder ist es durchaus einleuchtend, dass er zuallererst die Wanderungen durch die Mark Brandenburg erwähnt: Am Tag zuvor hat Brandl nämlich ein Exemplar von Pichlers „Wanderungen“ erhalten, die unter dem Titel Kreuz und Quer erschienen sind, noch dazu mit einer (im Band gedruckten) Zueignung für die prominentesten Schüler Pichlers – Alois Brandl und Joseph Wackernell.2 Die Übersetzungen englischer Balladen schließlich dürften Brandl ganz besonders interessiert haben, er ist Anglist.
1 Alois Brandl an Adolf Pichler, Berlin, 28. 5. 1896. In: Ausbruch aus der Provinz. Adolf Pichler – Alois Brandl: Briefwechsel (1876–1900), hg. von Johann Holzner und Gerhard Oberkofler, Innsbruck 1983 (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft; Germanistische Reihe, Bd. 16), S. 312. – Im Folgenden im fortlaufenden Text abgekürzt zitiert unter PB mit einfacher Seitenangabe. 2 Die Widmung findet sich auch noch in der Ausgabe, die im Rahmen der Gesammelten Werke Adolf Pichlers – als Band VII – erschienen ist und mehrere Auflagen erreichen sollte (4. Aufl., München, Leipzig 1906). https://doi.org/10.1515/9783110539493-009
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Brandl, 1855 in Innsbruck geboren, hat zunächst in Innsbruck und Wien Germanistik und Klassische Philologie studiert, bald jedoch sich mehr und mehr der Anglistik zugewandt. Er erlebt eine steile Karriere; sie führt ihn über eine außerordentliche Professur an der Deutschen Universität Prag schon 1888 als Ordinarius nach Göttingen, 1892 nach Straßburg und endlich nach Berlin.3 Zu seinem Lehrer Adolf Pichler aber hält er über alle diese Jahre eine enge freundschaftliche Verbindung aufrecht. – Die Briefe und Karten der beiden Gelehrten (es sind immerhin knapp 500 Schriftstücke aus dem Zeitraum 1876–1900 erhalten geblieben) dokumentieren, dass sie 25 Jahre lang einander berichten, was sie umtreibt und beschäftigt. Sie schreiben über private Erfahrungen und Enttäuschungen, über Empfindungen und Sorgen, die sie gelegentlich selbst ihren Familienangehörigen vorenthalten, über die Verhältnisse, die Attraktionen und die Intrigen an ihren Universitäten, über das gesellschaftliche und kulturelle Leben, soweit sie es aus geringerer oder größerer Distanz mitverfolgen, schließlich auch über politische Zustände und Entwicklungen; vor allem aber erörtern sie in ihren Briefen unentwegt ihr Hauptgeschäft, die Literatur. Denn auch Pichler, Professor der Geologie an der Universität Innsbruck, ist notabene (und keineswegs nebenbei) ein ausgewiesener Literarhistoriker. Pichler, 1819 (im selben Jahr also wie Fontane) in Erl bei Kufstein geboren, hat 1848 in Wien das Studium der Medizin abgeschlossen; ab 1851 aber unterrichtet er am Obergymnasium in Innsbruck Naturgeschichte und Deutsch. Schon in diesem Jahr unterbreitet der Lehrkörper der philosophischen Fakultät der Universität Innsbruck dem Ministerium für Kultus und Unterricht einstimmig den Vorschlag, Pichler auf die neu gegründete Lehrkanzel der deutschen Sprache und Literatur zu berufen. In Wien jedoch gilt Pichler, der inzwischen auch als Schriftsteller sich bereits einen Namen gemacht hat, als politisch unzuverlässig, hat er doch im Sturmjahr 1848 auf der Seite der Revolution „thätig mitgewirkt“.4 Die germanistische Lehrkanzel erhält demnach der Konservative Ignaz Vinzenz Zingerle,5 Pichler wird, mit einiger Verspätung, 1867 auf den (scheinbar weniger brisanten) Lehrstuhl für Mineralogie und Geologie berufen. Kurz zuvor, im Studienjahr 1866/67, es ist das letzte Jahr seiner Gymnasialtätigkeit, begegnet Pichler zum ersten Mal seinem Schüler Alois Brandl, im Zoologie-Unterricht. 1873 wird Brandl von Pichler als Hauslehrer engagiert, von da an
3 Vgl. die Einleitung zu: Ausbruch aus der Provinz, hg. von J. Holzner und G. Oberkofler (wie Anm. 1). 4 Adolf Pichler, Das Sturmjahr. Erinnerungen aus den März- und Oktobertagen 1848, 2. Aufl., München, Leipzig 1906 (A. Pichler, Gesammelte Werke, Bd. II), S. 11. 5 Vgl. 150 Jahre Germanistik in Innsbruck, Textredaktion: Sigurd Paul Scheichl, Innsbruck 2009.
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bleibt ihre Beziehung aufrecht bis zu Pichlers Tod (1900); und es gibt kaum einen Brief, in dem sie nicht mehr oder weniger ausgiebig sich über klassische wie auch über zeitgenössische Dichtung unterhalten. Natur und Literatur: für beide sind das keineswegs Fluchträume, sondern Bereiche, aus denen sie Tag für Tag jene Energie schöpfen, die das gesellschaftliche Leben ihnen abverlangt. Umso erstaunlicher ist’s, was Pichler auf das oben zitierte Schreiben Brandls antwortet: „[…] Von Fontane kenne ich wenig. Er findet also als Greis Anerkennung. Gsegn’s ihm Gott, wenn es ihm etwas trägt. […]“ (PB 313). Weit ausführlicher widmet sich Pichler in seinem Brief vom 13. Juni 1896 schon wieder neuen Themen und anderen Autoren; im Besonderen interessiert ihn die Geschichte und Kritik der Grundbegriffe der Gegenwart von Rudolf Eucken, aber auch der Erfolg des Lyrikers Carl Busse: „in Berlin ist ja ein neuer Stern aufgegangen.“6 – Auch späterhin kommt Pichler nie mehr auf Fontane zurück. Er hätte vermutlich anders reagiert, wenn er sich damals beispielsweise den 1892 erschienenen Roman Frau Jenny Treibel vorgenommen hätte. Den im Schutz der schrecklichsten Phrasen-Vorhänge veranstalteten Tanz der Bourgeoisie um das Goldene Kalb7 hat er nämlich genauso unerträglich gefunden wie Fontane, eher noch hin und wieder mit schärferen Ausfällen getadelt, und nichts hat ihn mehr erzürnt, mehr zur „Verhöhnung“ seiner Zeitgenossen herausgefordert als unverbindliches Geschwätz, Klatsch; Pichler hat diesem Phänomen u. a. das folgende Distichon gewidmet: „Zum Teufel die erlogenen, die schönen Ideale, // Das allgemeine Menschliche ist das Bestiale!“8 – Aber er hat ganz offensichtlich, anders als sonst (denn oft und oft greift er nach Werken, die Brandl ihm empfiehlt), sich in diesem Fall über den Lektürevorschlag seines Schülers hinweggesetzt. Aufschlüsse über diese doch merkwürdige Zurückhaltung bietet auch der Nachlass Pichlers nicht, jedenfalls nicht unmittelbar. Ein Blick in diesen Nachlass lohnt sich indessen gleichwohl. Denn er zeigt, was den Autor in den letzten Jahren
6 Unter den Autoren, die Pichler in diesem Schreiben erwähnt, finden sich ferner: John Wesley Hales – Handbooks of English Literature, Bernhard Berenson – The Florentine Painters oft the Renaissance, Matthew Arnold und John Ruskin, Robert Browning, Ferdinand Brunetière und E. Schmidt. Sie alle, so scheint es, beschäftigen ihn weit mehr als der Verfasser der Wanderungen durch die Mark Brandenburg. 7 Vgl. Fontanes Brief an Paul Schlenther vom 26. April 1888 über sein Buchprojekt „Frau Commerzienrätin oder Wo sich Herz zum Herzen find’t“. In: Fontane Blätter, 57, 1994, S. 24. 8 Hier zit. nach: Joseph Eduard Wackernell/Anton Dörrer, Adolf Pichler (1819–1900). Leben und Werke, Freiburg im Breisgau 1925, S. 278. Im Folgenden wird dieses Buch im fortlaufenden Text abgekürzt zitiert: WD.
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seines Lebens antreibt und bedrängt, und verrät auch, wenigstens im Subtext, was Pichler weit von sich weggeschoben und verdrängt hat. * Der Nachlass Adolf Pichlers, jedenfalls ein gewichtiger Teil seiner Sammlungen, ist schon wenige Tage nach seinem Tod, im November 1900, von seiner Tochter Mathilde von Pichler (einer Verfügung des Verstorbenen entsprechend) dem Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar übergeben worden.9 Nachträge kommen noch im Jänner 1904 nach Weimar.10 Eine große Sammlung aber bleibt in Innsbruck, zunächst im Museum Ferdinandeum; inzwischen befindet sie sich (als Leihgabe des Tiroler Landesmuseums) im Forschungsinstitut Brenner-Archiv an der Universität Innsbruck. – Der Nachlass im Goethe- und Schiller-Archiv enthält vor allem Briefe, darunter Briefe von bzw. an Wilhelm Grimm, Friedrich Hebbel, Robert Hamerling, Paul Heyse, Emil Kuh, Ferdinand Kürnberger, Peter Rosegger, Ferdinand von Saar und (das umfangreichste Konvolut) Alois Brandl.11 Der Innsbrucker Nachlassteil, sechs dicht gefüllte Archivkassetten, umfasst neben Korrespondenzstücken und Lebenszeugnissen vor allem zahllose Texte und Notizen, Hunderte Notizzettel mit (nicht mehr ohne weiteres zu entziffernden) handschriftlichen Aufzeichnungen, Rezeptionsdokumente u.v. a.m., und er wird überdies weiter ergänzt durch Pichler-Bestände, die sich in benachbarten Nachlässen finden, z. B. im Nachlass des Literarhistorikers Hans Lederer. Unermüdlich, das zeigen die von Pichler nicht mehr rechtzeitig verworfenen Aufschreibungen, bemüht er sich, seine autobiographischen Schriften, die Aufsätze zur Literatur und Kunst, die Wanderbilder, Erzählungen, Gedichte und Epigramme (und sogar die alles andere als erfolgreichen Trauerspiele) zu überarbeiten und abzurunden, um Neuauflagen älterer Bücher und namentlich die Ausgabe der Gesammelten Werke für den Druck vorzubereiten; diese Werkausgabe, 17 Bände, erscheint schließlich erst nach seinem Tod, kurz vor dem Ersten Weltkrieg, bei Georg Müller (München, Leipzig). Er streicht und ergänzt (meist
9 Ein Schreiben des Archivs an Mathilde von Pichler vom 27. November 1900 bestätigt den Empfang von 18 Paketen: „Briefe und Aufzeichnungen, die für die Zeit- und Literaturgeschichte wichtig sind“. Das Schreiben befindet sich im Nachlass Pichlers, der im Brenner-Archiv an der Universität Innsbruck aufbewahrt wird; dieser ist (grob) erschlossen und zu finden unter der Adresse https://www.uibk.ac.at/brenner-archiv/archiv/pichler.html. 10 Auch das diesbezügliche Schreiben des Goethe- und Schiller-Archivs an Mathilde von Pichler (vom 30. Januar 1904) befindet sich im Brenner-Archiv. 11 Vgl. Goethe- und Schiller-Archiv: Bestandsverzeichnis, bearb. von Karl-Heinz Hahn, Weimar 1961, S. 168–170.
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in alten Fahnenabzügen) seine Texte, erstaunlicherweise nie aber, um ihnen schärfere Kanten zu verpassen, vielmehr um sie zu glätten und zumindest die wildesten Attacken, die „Teufeleien“ (WD 300), die früher seine Arbeiten ausgezeichnet haben, zu mildern oder zu tilgen. Seine Ausfälle gegen den Ultramontanismus – „Man weiß in Tirol dafür zu sorgen, daß die Bäume nicht über das Kirchendach wachsen“ (1859)12 – und gegen alle politischen Strömungen, die aus seinem zugleich liberalen und insbesondere (deutsch-)nationalen Standpunkt in die falsche Richtung gelaufen sind, scheinen ihm selbst nicht mehr so recht passend, und er korrigiert sogar seine Briefe, die er in die autobiographischen Werke einzubinden beabsichtigt, um die ärgsten polemischen Spitzen gegen die Zeitgenossen zu brechen. Nicht ganz ohne Grund; manche seiner Äußerungen, die er in Briefen kundtut, wirken doch bloß höchstpeinlich, wie sein Urteil über die Schriftstellerin Ada Christen (d. i. Christiane von Breden, geb. 1839 in Wien): „Eine rechte Magdalena für die Wiener, fett und sentimental, nur daß sie fast mehr weint als pißt“ (PB 101). Aber andererseits bügelt er damit seine Texte so nieder, dass sie am Ende sich widerstandslos einordnen in die Reihe aller jener Texte des 19. Jahrhunderts, die in Wolfgang Hildesheimers Roman Marbot an den Pranger gestellt werden: als „zu gesittet, zu diskret, um sich mit dem Körper zu beschäftigen“; Hildesheimer konstatiert in dieser Literatur die „Auslassung des Lebendigen“.13 Pichler, für viele jüngere Intellektuelle, die sich von der Tafel der alten Werte und Bindungen lösen wollen, schon seit 1848 die bedeutendste Identifikationsfigur in Tirol, bringt sich mit seinen Spätfrüchten – so nennt er auch seine letzten Gedichte14 – somit selbst am Ende in die größte Zwangslage. Dazu gehört auch, dass er nur aus der Lektüre „seiner“ Klassiker (Homer, Aischylos, Dante, Shakespeare: „das sind die vier Himmelsgegenden der Poesie, alles andere, auch das größte fällt dazwischen, das meiste darunter“, PB 329) die ethischen und die ästhetischen Maßstäbe15 ableitet, die er (in seinem Verständnis) benötigt, um über die zeitgenössische Literatur zu befinden, d. h. oft genug (vor allem, was den Naturalismus betrifft): den Stab zu brechen. Im Konzept eines Schreibens, das Pichler 1881 aufsetzt, um es an Brandl nach Wien zu schicken, empfiehlt er seinem Schüler, „Frack, Glacehandschuhe und Zylinder“ wegzulegen und vor den „gleißenden Fetzen der Kultur“ immer wieder
12 Hier zit. nach: Adolf Pichler, Ausgewählte Werke, hg. von der Adolf-Pichler-Gemeinde, 1. Bd., Leipzig o. J. [1927], S. 62. 13 Wolfgang Hildesheimer, Marbot. Eine Biographie, Frankfurt am Main 1981, S. 283. 14 Adolf Pichler, Spätfrüchte. 2. Aufl., München, Leipzig 1907 (A. Pichler, Gesammelte Werke, Bd. XV). 15 Vgl. dazu auch WD 262.
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in die Natur zurückzukehren (PB 91). 1896 hingegen zieht er schon selber die Glacéhandschuhe an. Das heißt nicht, dass er seine politischen Überzeugungen über Bord wirft: Am 27. Februar 1896 schreibt er an den Bibliothekar Bernhard Münz, der ihn darum ersucht hat, biographische Materialien zusammenzustellen: „Ich habe nie bei einer Partei kandidiert, ich habe nie eine Partei belogen, ich habe keiner Partei etwas zu danken, am wenigsten der liberalen, für die ich manches gewagt habe; ich bin daher in meinem Tun und Lassen völlig unabhängig und niemand verantwortlich.“ Und wenig später, am 14. Mai 1896 fügt er hinzu: „Ich bin weder Anarchist noch Kommunist, nicht einmal D e m o k r a t im plebejischen Sinne, aber ein entschiedener Gegner des Kapitalismus in jeder Form“ (WD 304 f.). Er korrigiert nicht seine Haltung, aber seinen Stil; und es ist kein Zufall, dass er aus dem Figurenensemble seiner Erzählungen, in dem in der Regel Selbsthelfer den Ton angeben, Räuber, Wilderer, Verfemte, Flüchtlinge, „die wohl mit dem Gesetze, nicht aber nach ihrer Ansicht mit Gott im Kampfe lagen […], wild und verwahrlost im Äußern und niemandem trauend, aber Kernmenschen, welche wußten, was Haß und was Liebe war“ (Franz Kranewitter)16 – dass er mitten unter allen diesen Selbsthelfern in den letzten Jahren seines Lebens immerzu nur einem sich noch zuwendet, dem Mönch aus der Bergwelt bei Pistoja, Fra Serafico, dem er zum ersten Mal schon 1879 ein Denkmal, d. h. ein kleines Buch, ein Vers epos gewidmet hat.17 Das Tagebuch des Fra Serafico, das zugleich auch seines ist, ein autofiktionales Dokument, führt Pichler weiter bis zu seinem Tod. Tod: Das ist das Stichwort, von dem her nachvollziehbar wird, was Pichler zusetzt. Schriftsteller, die er persönlich gekannt und deren Arbeiten er besonders geschätzt hat (und deshalb nach wie vor gerne erwähnt, um sie jüngeren Kollegen als Vorbilder hinzustellen), Autoren wie Friedrich Hebbel und Adalbert Stifter sind lange tot. Aber auch in seiner Familie hat der Tod zugeschlagen; seine Frau, die erste Tochter, der Sohn, sie alle sind in den 1880er und frühen 1890er Jahren schon verstorben. 1896 schließlich muss er miterleben, dass Maria Engel, eine junge Lehrerin, die an der Mädchenschule in Innsbruck-St. Nikolaus unterrichtet, er nennt sie seine „schöne und geistreiche Freundin“, offenbar „irrsinnig“ wird, „verfällt“ und bald darauf stirbt (PB 306).18 Dazu kommt, dass ihm selber mehr und mehr Herzschwäche und Schwerhörigkeit, Gicht und Asthma zu schaf-
16 Franz Kranewitter, Adolf Pichler, wie ich ihn sah. In: A. Pichler, Ausgewählte Werke, 1. Bd. (wie Anm. 12), S. 7–22, Zitat 9. 17 Adolf Pichler, Fra Serafico, Innsbruck 1879. Ein Reprint der Original-Ausgabe ist im Rahmen der Reihe austrian literature online als Bd. 135 erschienen; vgl. www.literature.at. 18 Vgl. Adolf Pichler, Aus Tagebüchern 1850–1899, München, Leipzig 1905 (A. Pichler, Gesammelte Werke, Bd. III), S. 291–298.
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fen machen (WD 295). – Die letzte Karte, die Pichler seinem Wiener Bekannten aus der Sturmzeit, dem Schriftsteller Ludwig August Frankl, kurz vor dessen Tod (1894) noch geschickt hat, enthält schon eine merkwürdige Verfügung: „Ich habe die schwarz-rot-goldene Fahne der Tiroler Studenten aus Wien, die mich 1848 ins Feld begleitete, dem Museum in Bozen zur Ausstellung überlassen und daran die Bedingung geknüpft, daß sie an meinem Todestage mit einem Zypressenkranz geschmückt werde“ (WD 296). Derartige Verfügungen, darunter auch durchaus widersprüchliche, sollten sich in den letzten Jahren des Jahrhunderts noch häufen. Mit diesen Verfügungen jedoch korrespondieren Klagen, immer öfter wiederkehrende Lamentationen darüber, nicht verstanden, noch weniger angemessen gewürdigt zu werden: Schon 1895 notiert Pichler in seinem Tagebuch: „In meiner Poesie sind Realismus und Idealismus künstlerisch ausgeglichen und darin liegt ihre Bedeutung, wenn es auch vorläufig nicht oder vielleicht gar nie erkannt wird. Darum ist sie weder akademisch, noch konventionell oder manieriert, sie lebt ihr eigenes Leben.“19 Es ist zwar keineswegs so, dass er für die Schublade schreiben müsste; im Gegenteil, alle seine Schriften, die naturwissenschaftlichen wie die literarischen, werden gedruckt, in Zeitungen und Zeitschriften besprochen oder wenigstens angezeigt, und bisweilen bekommt er doch auch Post von prominenten Zeitgenossen, der er entnehmen darf, dass seine Arbeiten gelesen werden. Heinrich von Treitschke beispielsweise, um hier zumindest ein einschlägiges Zeugnis zu erwähnen, bedankt sich herzlich für den Fra Serafico, den er „mit tiefer Bewegung und wahrer Freude“ studiert habe.20 Aber für Pichler ist das alles viel zu wenig, jedenfalls kein adäquates Gegengewicht zu all den Anfeindungen, die ihm vor allem in der klerikalen Presse hin und hin entgegenschlagen, zeitweise aber auch von liberaler Seite zufliegen.21 Er muss nämlich beobachten, dass er in den Metropolen des literarischen Lebens, in Wien und in Berlin, wenn überhaupt, dann bestenfalls als Schriftsteller der zweiten Reihe wahrgenommen wird. Es ist ganz bezeichnend: Immer wieder schickt Pichler (über Brandl) Grüße und Texte an Erich Schmidt.22 Was immer er sich von dem prominentesten Literaturhistoriker der Zeit erwartet hat: Anerkennung jedenfalls; doch sie bleibt aus. Stattdessen liefert ihm Brandl regelmäßig Nachrichten über Neuerscheinungen und Neuinszenierungen, die in Berlin Aufsehen erregen, auch über Theateraufführungen, die er gemeinsam mit Schmidt besucht hat. – Aus den Reaktionen
19 A. Pichler, Aus Tagebüchern 1850–1899 (wie Anm. 18), S. 355. 20 Das Schreiben (ursprünglich wohl an Herman Grimm adressiert) befindet sich im PichlerNachlass im Brenner-Archiv. 21 Vgl. den ausführlichen Bericht in den Neuen Tiroler Stimmen vom 14. Mai 1909. 22 Vgl. das Register in PB 385 f., das 55 Einträge verzeichnet.
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Pichlers ist deutlich abzulesen, dass er mit dem allen wenig anzufangen weiß. „Sie werden ja“, schreibt er an Brandl (1896), „mit dramatischen Genüssen überfüttert. Sudermann, Wildenbruch, Hauptmann. Ich lasse jedem sein Verdienst, jeder hat irgend eine Eigenschaft des Poeten, keiner jedoch alle, und nur die sieben Farben machen den Regenbogen“ (PB 306). – Er hätte doch Frau Jenny Treibel einmal lesen sollen; das Kapitel über Professor Schmidts „Abend“, die Runde der sieben Gymnasiallehrer, hätte zweifellos eher seine Zustimmung gefunden als der Habitus jenes Erich Schmidt, an den Fontane bei der endgültigen Namenswahl für seinen Gelehrten, wie Helmuth Nürnberger vermutet,23 doch höchstwahrscheinlich gedacht hat. Weil er auf der Bühne der deutschen Literatur nicht die aus seiner Sicht ihm zustehende Rolle spielt, entschließt sich Pichler zu einer Doppelstrategie. Zum einen wendet er sich von der deutschen Literatur ab und anderen Literaturen zu. „Haben denn wir Deutschen“, fragt er im Konzept eines Briefes, den er am Ende allerdings doch nicht abschickt, „überhaupt eine Literatur im Sinne der italienischen, englischen, spanischen, französischen!“ (PB 329). Zum andern stellt er seinen alten Gegenspielern, z. B. der Redaktion der Neuen Tiroler Stimmen, in Aussicht, „daß er bei einer Neuauflage seiner Novellen und Erzählungen all die Dinge ausmerzen werde, die etwa da oder dort Anstoß erregt haben“.24 Mit den deutschen Literarhistorikern, „für sie existiert nur der Berliner Globus“ (PB 365), rechnet er verbittert ab; den Kritikern im katholischen Milieu aber nimmt er den Wind aus den Segeln, indem er die Religion der Väter ausdrücklich verteidigt und in Schutz nimmt, auch und namentlich vor der Institution der Kirche. An Alfred von Mensi-Klarbach, der das Literaturreferat der Allgemeinen Zeitung (München) leitet, schickt Pichler (am 9. Mai 1897) „auf offener Karte“ sein „Glaubensbekenntnis“ (WD 300): Wenn du mit allen verkehrst, so schließest du keinem dich ganz an; Sagst, was du bist? ich kann klassifizieren dich nicht. – Tief zwar neig’ ich mich ihm, der an dem Kreuze verblutet – Zum Schwarzkirchler jedoch dürfet ihr stempeln mich nie.
Die Doppelstrategie entzündet ein Strohfeuer. „Nun, da er ein stiller Mann geworden, wird man ihn in die erste Reihe der deutschen Dichter stellen, die seit
23 Vgl. die entsprechende Anmerkung in: Theodor Fontane, Frau Jenny Treibel oder „Wo sich Herz zum Herzen find’t“. Roman, mit einem Nachwort neu hg. von Helmuth Nürnberger, München 1994 (dtv klassik 2339), S. 221. 24 Vgl. den (nicht gezeichneten) Artikel „Adolf Pichler und die ‚Neuen Tiroler Stimmen‘“ in: Neue Tiroler Stimmen, 14. Mai 1909.
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Goethes Tode hervorgetreten sind“,25 verkündet die Neue Freie Presse. Aber weder die Ausgabe der Gesammelten Werke noch die in den 1920er Jahren von Reclam in Leipzig besorgte zweibändige Ausgabe der Ausgewählten Werke – keine der diversen Anstrengungen und Unternehmungen, eine (kritische) Relektüre Adolf Pichlers in die Wege zu leiten, kann die in sie gesetzten Erwartungen am Ende erfüllen. * Ich komme zum Schluss. Die Aufschlüsse, die sich bei der Betrachtung einiger Bruchstücke aus dem Nachlass Adolf Pichlers offenbaren, sollten doch einige grundsätzliche Überlegungen darüber anstoßen, was Nachlässe zum einen vermitteln und was sie zum andern nicht in Aussicht stellen können: sofern, das ist vorauszuschicken, sie in Literaturarchiven aufgehoben sind, für die es selbstverständlich geworden ist, sich zu öffnen. – Es mag ja noch immer Archive geben, die sich wohlfühlen unter der Decke des Geheimnisses, das sie mit Argusaugen hüten und vor jeder Öffentlichkeit zu verbergen trachten, nicht zuletzt, um sich die Verfügungsgewalt über das in der Einrichtung Aufbewahrte kompakt zu sichern. Aber schon lange sollten sie eine andere Politik verfolgen: von einer Kultur, die nur das Speichern kennt, hin zu einer Kultur der Literaturvermittlung; und viele Literaturarchive tun dies auch längst wie selbstverständlich. Der Einblick in den Nachlass, um zunächst noch ein letztes Mal auf Pichler zurückzukommen, offeriert die Möglichkeit, auch Spuren nachzugehen, die im gedruckten Werk verdeckt sind. „Was mich betrifft“, schreibt Pichler in einem seiner letzten Briefe an Brandl (1900), „verzichte ich am Schlusse meines Lebens gern auf die deutsche Literaturgeschichte, meine Wurzeln verschlingen sich zu vielfach, als daß ich jemand zumuten dürfte, er solle ihnen nachgraben“ (PB 356). In Pichlers Nachlass (wie in nahezu jedem anderen auch) führen diese Spuren hinein in biographische Daten, in die Wertekonstellationen der Umgebung des Autors (wie in die Entwicklung seiner eigenen Vorstellungen über Poesie und Politik) und in intertextuelle Verflechtungen, die sonst kaum ohne weiteres zu erschließen wären; nicht selten allerdings genauso ins Offene, im Dickicht des Unvollendeten. Sie können indessen auch leicht in die Irre führen: ist doch immer in Rechnung zu stellen, dass erst nach einer langen Reihe von Zufällen der erhalten-gebliebene Nachlass seinen Ort im Archiv gefunden hat; es kann leicht sein,
25 Dieses Zitat findet sich, wie weitere Auszüge aus wohlwollenden Kritiken (in der Deutschen Litteratur-Zeitung und in der Münchener Allgemeinen Zeitung), auf einem Prospekt des Verlags Georg Heinrich Meyer (im Nachlass Ludwig von Hörmann im Brenner-Archiv).
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dass der Autor selbst schon manche Spuren verwischt hat, indem er rechtzeitig verschiedene Papiere entsorgt hat, aber es ist wohl auch denkbar, dass seine Tochter Mathilde (nach seinem Tod) sich gründlich überlegt hat, was zu eliminieren oder (um Zugänge ins Offene abzusperren) wegzuräumen und was ins Archiv zu geben wäre. Was schlussendlich im Archiv gelandet ist, das muss in jedem Fall als Produkt eines mehr oder weniger gestrengen Ausleseverfahrens gesehen werden, es stellt im Grunde nur heraus, wie der Autor bzw. seine Nachlassverwalterin über seine Vergangenheit verfügt, sie (re-)konstruiert hat, und darf deshalb in seiner Aussagekraft nicht überschätzt werden. Aber das Nachgraben im Archiv fördert doch noch weit mehr zutage. In dem, was der Autor festgehalten oder gestrichen oder korrigiert oder sich wieder und wieder vorgenommen hat, erweist sich nämlich auch (nicht selten), was das vom Autor Veröffentlichte zumeist weit weniger deutlich vermittelt: was er bis zum Schluss offen lassen musste oder offen lassen wollte, weil manche seiner Wurzeln nie einen festen Grund erreicht haben. Das heißt aber auch: jeder Kommentar, jede Interpretation bewegt sich auf dünnem Eis.
III Werk als Paradigma?
Jochen Strobel
,Fragment‘ und Fragment als romantische Praxis um 1800 und in der Moderne (Novalis, Nietzsche, von der Wense) Das Schreib- und Publikationsgebaren vieler deutschsprachiger Romantiker bietet Anlässe genug, über abgebrochene, als unvollendet geltende Romanprojekte zu sprechen, man denke an Novalis’ Heinrich von Ofterdingen, an Ludwig Tiecks Franz Sternbalds Wanderungen, an Friedrich Schlegels Lucinde oder an Clemens Brentanos Godwi. Doch verbindet man zugleich einen dezidiert romantischen Begriff des Fragments, davon scheinbar völlig unabhängig, mit der Geschlossenheit des Aphorismus, somit gerade im Unterschied zum Bruchstück. Ungeachtet der begriffsgeschichtlichen Identität also gilt das frühromantische ‚Fragment‘ (wie es ab jetzt heißen soll, in einfache Anführungszeichen gesetzt) nicht oder nicht primär als Fragment, sondern paradoxerweise als vollständiger, in sich ruhender Text. Bildet das romantische ‚Fragment‘, wie es von den Brüdern Schlegel und Novalis selbst getauft wurde, eine eigene Gattung, bezeichnet es einen Text innerhalb eines Ensembles ganz bestimmter, je für sich stehender (aber eben doch ein Ensemble bildender!) und vielleicht gar die Totalität eines romantischen Universums vorwegnehmender Texte? Oder ist die Unterscheidung zwischen ‚Fragment‘ und Fragment lediglich eine der Terminologie der Romantiker selbst, die die Praxis des Schreibens in ihren nahtlosen Übergängen vom Bruchstückhaften zum Aphoristischen, vom Teil zum Ganzen negiert? Anhand einiger Beispiele ist zu zeigen, dass das Korrelative und vielleicht sogar die enge Nachbarschaft von Fragment und Totalität1 weniger für die abgeschlossenen, geordneten, publizierten und sich somit als ‚Werke‘ ausweisenden Fragmentsammlungen der Romantiker gilt, wohl aber für die weitere Praxis romantischen Schreibens, sofern sie sich diesseits von Autorisation und Publikation bewegt. Zwischen Aphorismus und Notat, zwischen vermeintlich vollständigem ‚Werk‘ und dem Papierfetzen aus dem Nachlass zieht sich eine Spur des Schreibens von den Verfassern und Herausgebern des Athenaeum bis hin zu späten Nachfahren, die sich ihrerseits an der Schwelle zwischen dem Ganzen in nuce und den sich verzweigenden
1 Lucien Dällenbach/Christiaan L. Hart Nibbrig, Fragmentarisches Vorwort. In: Fragment und Totalität, hg. von L. Dällenbach und Ch. L. Hart Nibbrig, Frankfurt am Main 1984 (edition suhrkamp 1107), S. 7–17, hier 7. https://doi.org/10.1515/9783110539493-010
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Akten des Notierens zu verirren drohen. Gemeinsame Folgen sind erstens: Schließung im Kleinen, Unabgeschlossenheit im Großen und damit die Zurücknahme eines Gestus von Entstandensein, Fertigsein, zweitens: die Infragestellung von Autorschaft, bezeugt durch Autorisation, aber auch von Originalität und Einzigartigkeit, drittens: die Entstehung von Papieruniversen, Zettelsammlungen und Aktenbergen (diesseits des Buchs) als Vermächtnis des Autors. Ihre Nachgeschichte machte diese Romantiker und Post-Romantiker aber erfolgreicher, als sie es je zu hoffen gewagt hätten. Zwar hatten sie selbst von ‚Werken‘ geschwärmt, doch machten sich erst Nachgeborene an deren Realisation: In einer langen Tradition des Ordnens, Edierens und Auslegens hat man den auf uns gekommenen Substraten einer von mir ‚romantisch‘ genannten (eben dem Aphoristischen wie dem Bruchstückhaften und mehr dem Prozess als dem Resultat verpflichteten) Schreibpraxis Werkcharakter zugestehen wollen. Die Editorinnen und Editoren haben mehr oder weniger zaghaft Fragmente zusammengedacht zu ‚Fragmenten‘ und dann – so vor allem Elisabeth Förster-Nietzsche mit dem sogenannten Willen zur Macht – zu (Haupt-)Werken. Sie folgen damit der in der Frühromantik auftretenden Denkfigur, das Universum auch in der Nussschale zu suchen, man könnte sagen: aufgrund einer Zuschreibung von ‚Ganzheit‘ allen Anschein des Bruchstücks ‚klein‘ zu reden. Aphoristisches und Bruchstückhaftes dürfen einander nun, nach dem Athenaeum,2 begegnen, sobald Schreibprozesse offen, nicht-teleologisch also und somit nicht primär auf eine Veröffentlichung hin ausgerichtet, zu verstehen sind. Man könnte sagen: ‚Fragment‘ und Fragment dürfen sich einander annähern, wenn Autoren von ihren Visionen abgerundeter Werke Abschied zu nehmen vermögen (selbst wenn Editoren dies nicht oder nicht so rasch gelingen sollte). Drei Autoren eines in diesem Sinn romantischen, offenen, sich selbst korrigierenden, sammelnden und doch auch aphoristischen Schreibens seien hier nebeneinandergestellt. Auf den ersten und den letzten trifft weiterhin das Stichwort ‚enzyklopädisch‘ zu (im Sinne romantischer Enzyklopädik). Den ersten finden wir mit Novalis an der Wende zum 19. Jahrhundert, den zweiten, Friedrich Nietzsche, an dessen Ende, den dritten in der Mitte des 20. Jahrhunderts, Hans Jürgen von der Wense. Die genannte Klammer zwischen Romantik und Moderne ist im Hinblick auf das Fragment ohnehin Forschungskonsens. Immer wieder ist die Rede davon, dass die „Moderne im Zeichen des Fragmentarischen“ stehe, das
2 Als Vorläufer wäre Georg Christoph Lichtenberg mit seinen Sudelbüchern zu diskutieren, welche bereits ab 1800 zu erscheinen begannen. Aphoristik ist dort eine Schreibweise neben vielen, anders als die Athenaeum-Fragmente besitzen Lichtenbergs Aufzeichnungen Gelegenheitscharakter.
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aber die „Tendenz auf ‚strukturelle Totalität‘“ immer noch mitdenke, im Zeichen des Verlusts. Ein in der Tradition der Romantik stehender Autor wie etwa Hugo von Hofmannsthal wird exemplarisch genannt.3 Doch dürfte nicht an die bei Letzterem ja durchaus anzutreffende Koinzidenz von ‚Fragment‘ und Fragment gedacht worden sein, sondern vielmehr an Hofmannsthal als Verfasser zahlreicher Fragment gebliebener Texte.4 Grazia Pulvirenti beschwört den Formverlust auch für den Fragmentarismus der literarischen Moderne: „Das heterogene Nebeneinander der Fragmente ist Signatur und Reflexionsfigur der Moderne im Sinne einer endgültigen Zersplitterung der Form, jedoch auch des Experimentierens mit neuen Strategien der Figuration.“5 Dass der Begriff Fragment vielschichtig ist, steht außer Frage; daran, dass die Fragmentästhetik der Frühromantik zugleich aphoristische Totalität, ja Universalität, und eine Selbstgenügsamkeit des Schreibenden in der Praxis des Notierens, des Exzerpierens erschließt, ist zunächst ebenso zu erinnern wie an die entscheidende Tätigkeit des Edierens und damit eine nachträgliche Bedeutungsbesetzung nachgelassener Schriftstücke.
I ‚Fragment‘ und/oder Fragment? Eine strikte Trennung zwischen ‚Fragment‘ und Fragment nehmen etwa die Artikel „Fragment1“ sowie „Fragment2“ im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft vor. „Fragment1“ besteht lediglich aus zwei Verweisen, nämlich auf „Aphorismus“ und auf „Werk“.6 Demnach begänne die deutschsprachige Geschichte der literarischen Gattung ‚Aphorismus‘ erst mit den „‚Fragmenten‘ des Kreises um Friedrich Schlegel“.7 Im weiteren Verlauf des Artikels wird lediglich Novalis als
3 Detlef Kremer, Vorwort. In: Grazia Pulvirenti, FragmentenSchrift. Über die Zersplitterung der Totalität in der Moderne, Würzburg 2008, S. 7–9, hier 7. 4 Sein umfangreicher Nachlass weist tagebuchartige Aufzeichnungen auf, von denen eine kleinere Menge aphoristischer Texte als Buch der Freunde 1922 erscheinen konnte. 5 Pulvirenti (wie Anm. 3), S. 11. 6 Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearb. des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, gemeinsam mit Harald Fricke, Klaus Grubmüller und Jan-Dirk Müller hg. von Klaus Weimar, Bd. I, Berlin, New York 1997, S. 623. Der Verweis auf „Werk“ ist offenkundig irrtümlich bei „Fragment1“ statt bei „Fragment2“ angefügt, wird doch in Horst Thomés Artikel „Werk“ auf die Dialektik von Ganzem und Teil (unvollendet oder bruchstückhaft überliefert) referiert, die sich gerade nicht auf den Begriff des Aphorismus beziehen lässt. (Vgl. Horst Thomé, Werk. In: Reallexikon, Bd. III, Berlin, New York 2003, S. 832–834, hier 832.) 7 Harald Fricke, Aphorismus. In: Reallexikon, Bd. I (wie Anm. 6), S. 104–107, hier 105.
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weiterer Autor derartiger Texte genannt. Als Untergattung des Aphorismus hätte das romantische ‚Fragment‘ kurzerhand folgende Merkmale: ein nichtfiktionaler, serieller, aber von Nachbartexten isolierter Prosatext von einiger Kürze und konziser Formulierung, sprachlich und sachlich pointiert. Gemeint sind die von den Verfassern selbst publizierten (mutmaßlich durchkomponierten) Sammlungen, also etwa Blüthenstaub und die Fragmente im Athenaeum.8 Der „Fragment2“Artikel des Altgermanisten Peter Strohschneider betont den Bruchstückcharakter; Totalität oder Kohärenz erscheinen am Horizont als etwas Verlorenes oder noch zu Erlangendes – mitgedacht wird der Abbruch als Akt, der Textverlust als Ereignis; nicht allein dessen materiale Spuren werden also fokussiert.9 Dennoch: Das Ganze wird mitgedacht, Standards für textuelle Vollständigkeit werden aufgerufen, auch wenn eine nicht nur auf (unautorisierte) mittelalterliche Texte beziehbare Differenz zwischen prinzipieller textlicher Fragmentarizität (infolge eines als grundlegend erachteten Transformationspotenzials) und Bruchstückhaftigkeit in einem engeren Sinn eingeführt wird.10 Der romantische ‚Fragment‘-Begriff, so könnte man es formulieren, verweist mittels eines etymologischen Vorstoßes ironice auf etwas, was die Aphorismensammlung des Athenaeum rein äußerlich gerade hinter sich lassen möchte, aber immer mitzudenken bereit ist: die Dialektik von Ganzem und Teil, von Vollkommenheit und deren Nichterreichen.11 Die Geschichte des Aphorismus freilich verwischt diese Dialektik oder steht für die Negation von Bruchstückhaftigkeit. Die jüngste Monographie zum frühromantischen Fragment von Johannes Weiß schließt analog zu der Begriffsseparierung dezidiert Nichtveröffentlichtes aus12 – dies ist eine folgenreiche Vorentscheidung, da das Publizierte, aber auch schon das Nummerierte, vermeintlich oder tatsächlich Geordnete, also der autorisierte Text schlechthin mit der Aura des ganzen Werkes behaftet ist. Die Nachlässe bleiben also außen vor, man unterstellt dem zu Lebzeiten Publizierten grundsätzlich einen höheren Grad an Abgeschlossenheit als anderen Materialien. Weiß bezieht sich auf den Fragmentbegriff der Frühromantiker selbst, der mit aphoristischem Schreiben und mit zu veröffentlichenden Sammlungen korreliert
8 Vgl. H. Fricke (wie Anm. 7), S. 104 f. – Nur begriffsgeschichtlich referierend versteht sich Friedemann Spickers Monographie zur Geschichte des Aphorismus: Der Aphorismus. Begriff und Gattung von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis 1912, Berlin, New York 1997, S. 74 f. 9 Vgl. Peter Strohschneider, Fragment2. In: Reallexikon Bd. I (wie Anm. 6), S. 624 f. 10 P. Strohschneider, Fragment2 (wie Anm. 9), S. 624 f. 11 Vgl. Hans Eichner, Einleitung. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. II, hg. von H. Eichner, München u. a. 1967, S. IX–CXX, hier XXXIX. 12 Vgl. Johannes Weiß, Das frühromantische Fragment. Eine Entstehungs- und Wirkungsgeschichte, Paderborn 2015, S. 11.
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ist – und es fällt ihm nicht schwer, den romantischen Poesiebegriff aus den Athenaeum-Fragmenten selbst quasi-normativ seinem Fragmentbegriff zugrunde zu legen: Das kombinatorische Prinzip des Witzes als Ganzheit verheißendes Konstituens von Universalpoesie liege der Fragmentpoetik zugrunde.13 Hier wirkt also das berühmte Schlegel-Zitat nach, dass ein Fragment „gleich einem kleinen Kunstwerke von der umgebenden Welt ganz abgesondert und in sich selbst vollendet seyn [muss] wie ein Igel“14 – auch wenn Friedrich Schlegel mit Vollendung hier wohl die Grenzziehung von Fragment zu Fragment meint, nicht die etwaige Abschließung einer Fragmentesammlung im Ganzen. Weiß verharrt in einer Deutungstradition, die das romantische Fragment als generische Form, wie es auch der romantische Roman ist, sieht, eine durch Abgeschlossenheit gekennzeichnete Form15 und eine dennoch integrale Form, die etwa auch Gedichte in sich aufnehmen kann.16 Mit dieser Implikation von Geschlossenheit (und damit größerer Nähe zu ‚Werk‘ als zu ‚Bruchstück‘) – Novalis’ Sammlung Glauben und Liebe kann mit Fug und Recht als fortlaufende und zu einem Abschluss kommende Argumentationskette gelesen werden – wird eine Schließung allererst vorgenommen, kommt es unter dem Rubrum des ‚Fragments‘ zu einer „Emphatisierung des Fragmentarischen“, wie Justus Fetscher es nennt, im Unterschied zu der er die derzeitige Omnipräsenz des Begriffs zurückführt auf die „Atomisierungstendenzen der Moderne“ – die romantische Traditionslinie wäre eine Einbahnstraße, eine Sonderentwicklung.17 Das Athenaeum hatte mit dem Fragmentbegriff gespielt und damit eine solche Schließung keineswegs provoziert. Durchaus zweideutig ist etwa folgendes Fragment: „Viele Werke der Alten sind Fragmente geworden. Viele Werke der Neuern sind es gleich bey der Entstehung.“18 Der zweite Satz könnte auf die Schreibpraxis der Freunde und Kollegen gemünzt sein, die nicht auf abgeschlossene Texte zielte, oder deren Texte, aus welchen Gründen auch immer, Abgeschlossenheit
13 J. Weiß (wie Anm. 12), S. 8 f. 14 [Friedrich Schlegel,] [206. Fragment.] In: Athenaeum 1 (1798), S. 230. 15 So auch: Helmut Schanze, Das romantische Fragment zwischen Chamfort und Nietzsche. Über einige historische Widersprüche im Fragmentbegriff bei Friedrich Schlegel und Novalis. In: Über das Fragment. Du fragment, hg. von Arlette Camion u. a., Heidelberg 1999, S. 30–37, hier 32. Ähnlich: Lothar Pikulik, Frühromantik. Epoche – Werke – Wirkung, München 1991, S. 124: „eine Variante des Aphorismus“. – Vgl. J. Weiß (wie Anm. 12), S. 143: „eine literarische Form“. 16 Vgl. J. Weiß (wie Anm. 12), S. 144. 17 Justus Fetscher, Fragment. In: Ästhetische Grundbegriffe. Ein historisches Wörterbuch in 7 Bden., hg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Friedrich Wolfzettel und Burkhart Steinwachs, Bd. 2, Stuttgart, Weimar 2001, S. 551–588, hier 552. 18 Athenaeum 1 (1798), S. 185.
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nicht erreichten; er kann aber auch metapoetisch ‚sich selbst‘ meinen, den neuen Fragment-Typus. Im Erstdruck tragen die Fragmente keine Zahlen. Die später eingeführte Nummerierung nimmt den Texten etwas von der jeweils für sich reklamierten Ganzheit, sie macht sie zum Teil eines neu geschaffenen Ganzen, dessen Bestandteile sich in Listenform einführen, nicht etwa in Form einer Klassifikation. (Die Nummerierung dieser romantischen Fragmente war von jeher editorischer Eingriff.) Auch der Publikationsort spricht gegen jegliche Schließungstendenz: Die Zeitschrift ist ein schnelllebiges Medium des kurzfristigen Eingreifens in eine Debatte, des Ephemeren geradezu. Und auch die „Vorerinnerung“ der beiden Herausgeber zum ersten Heft – die „Fragmente“ erschienen erst im zweiten – konterkarieren einen möglichen Verdacht auf Werkhaltigkeit und Finalität: Wie sich die Zeitschrift in „Stücke[n]“ präsentiert, so enthält sie u. a. „aphoristisch[e] Bruchstück[e]“.19 Freilich gilt: „ausgeschlossen“ bleiben „Aufsätze, die Theile von größeren Werken sind“. Also: ‚Konventionelle‘, allzu offensichtlich ihre Unvollständigkeit ausstellende Fragmente sind nicht erwünscht. Die ‚Fragmente‘ des Athenaeum stellen noch auf andere Weise das auch schon um 1800 zunehmend mit dem ‚Ganzen‘ des Werks in Verbindung zu Bringende in Frage: Sie sind nicht mit Verfassernamen versehen; wir wissen, dass neben den Brüdern Schlegel auch Novalis und Schleiermacher dazu beitrugen. Die zeitgenössischen Leser mussten damit rechnen, dass die auf dem Titelblatt der Zeitschrift als Autoren („Eine Zeitschrift von …“) genannten Brüder Schlegel die Verfasser waren. Anders als Aphorismensammlungen bis dahin stellt die berühmteste romantische Fragmentsammlung die um 1800 ja stark gewordene Idee der Autorschaft in Frage. Sie will Homogenität im Kleinen, im Einzelnen, verströmt aber „dissipative polyphony“20 im Großen und hinsichtlich eines Autornamens. Both the Schlegelian fragment and the Nietzschean aphorism exploit a certain productive or provocative lack that requires supplementation. The very generic designation of the fragment, of course, establishes its incompleteness; likewise, the apparent self-contained autonomy of the aphorism relies upon the interpretive participation of the reader.21
19 [August] W[ilhelm] und F[riedrich Schlegel], Vorerinnerung. In: Athenaeum, S. [IIIf.] [unpaginiert]. 20 Joel Westerdale, Nietzsche’s aphoristic challenge, Berlin, Boston 2013, S. 125. 21 J. Westerdale (wie Anm. 20), S. 94.
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II ‚Fragment‘ und Fragment als Praxis ‚offenen‘ Schreibens Manfred Frank konstatiert: „Seit Rousseau, spätestens aber seit der Romantik ist der Gedanke der Totalität verbunden mit der Wehmut des Unwiederbringlichen.“22 Dies sind andere Töne. Ungeachtet des Anschlusses an die Tradition aphoristischen Schreibens wären schon für die Romantiker die Nicht-mehr-Erreichbarkeit der Totalität und eine Art Absolutheit des Fragmentarischen selbst Fluchtpunkte. Organische Ganzheit des partialisierten Kunstwerks könne erst im Leser entstehen, so Jean Paul in seiner Vorschule der Ästhetik: [D]a jeder die poetische Schönheit nur chemisch und in Teilen bekommt, die er organisch zu einem Ganzen bilden muß, um sie anzuschauen; so hat jeder, der einmal sagte: das ist schön, wenn er auch im Gegenstande irrte, die phantastische Bildungskraft.23
Es fällt leichter, bereits bei den Frühromantikern Friedrich Schlegel und Novalis sowie bei dem schon erwähnten Jean Paul die Abkopplung des Fragmentverständnisses von jeglicher Totalität nachzuvollziehen, wenn man sich deren Nachlässe ansieht, soweit sie zwischen Notat, Zitat, Exzerpt, aber auch Philosophem, Aphorismus schwankende und wechselnde Zeichenensembles enthalten, die zahllose Blätter füllen. Lucien Dällenbach und Christiaan Hart Nibbrig haben eine hilfreiche Typologie des Fragments formuliert: erstens „als Teil eines Ganzen, dessen Vollständigkeit nicht in Frage steht“, zweitens „als Teil eines Ganzen, dem es in zeitlicher Hinsicht nicht mehr oder noch nicht angehört und für dessen Abwesenheit es in stückhafter Präsenz einsteht“, drittens könne der „Hiatus zwischen Fragment und Totalität absolut“ sein, das Fragment sei dann nicht mehr „Moment eines Totalisierungsprozesses“.24 Verschränkt man die romantische Fragmentästhetik mit dem zumindest topologisch benachbarten (in den ‚Fragmenten‘ ausgeführten) Gedanken des poetischen Universalismus, dann gilt die zweite Definition, von der Moderne her gedacht die dritte. Die Wahl der aphoristischen Form wäre eine Reminszenz an ein nicht mehr haltbares Versprechen. Eine Entscheidung zugunsten von Fragment oder ‚Fragment‘ ist für das hier vorzustellende Material nicht zu fällen. Doch ist der semantisch neu belegte Fragmentbegriff unter den
22 Manfred Frank, Das ‚fragmentarische Universum‘ der Romantik. In: Fragment und Totalität (wie Anm. 1), S. 212–224, hier 212. 23 Jean Paul, Vorschule der Ästhetik. In: Jean Paul, Sämtliche Werke, hg. von Norbert Miller, Abteilung I, Fünfter Band. 6. Aufl., München, Wien 1995, S. 7–514, hier 49. 24 L. Dällenbach/Ch. L. Hart Nibbrig, Vorwort (wie Anm. 1), S. 15.
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Protagonisten von Jena selbst schon umstritten. Novalis erkennt Friedrich Schlegels ‚Fragmenten‘ nicht immer diesen Titel zu;25 als Lieferant für das Athenaeum muss er mit Friedrichs redaktionellen Eingriffen rechnen.26 Dabei favorisiert Friedrich Schlegel einen Fragmentbegriff, der die Dialektik von Bruchstück und Ganzem durchaus ernst nimmt.27 In seiner LessingAnthologie kann er das fragmentarische Schreiben seines Idols als „Form der Formlosigkeit“ sichtbar machen.28 Schlegel verweist also auf den Aspekt der fragmentierenden Praxis, der uns nun beschäftigen soll, er gewinnt selbst bereits die Einsicht, dass, wie Justus Fetscher dies formuliert hat, „Edieren, Rezensieren und Fragmentieren miteinander verbunden“ seien.29 Dann wäre das romantische ‚Fragment‘ nicht allein aphoristischer Text, sondern es könnte auch mal Notat, Exzerpt, vielleicht auch Brief sein. (Allerdings stellt sich – bis heute – die Frage, wie eine Edition fragmentierender Schreibpraxis gerecht werden könne, ohne selbst ein Moment von Totalität wieder einzuführen.) Editoren und Leser romantischer Fragmente haben es fraglos immer wieder unternommen, romantische Vorstellungen von Ganzheit auf ihre Weise umzusetzen; Leser sind ja immer versucht, auch im Gestrüpp unübersichtlicher Textmengen Ganzheit, Abgeschlossenheit, Kohärenz oder am besten gleich Totalität30 zu finden. Die berühmten zu Lebzeiten der Autoren veröffentlichten Fragmentsammlungen der Romantiker befördern diese Suche, geben sie selbst sich doch als – abgeschlossen.
III Beispiel Novalis: Allgemeines Brouillon Friedrich von Hardenbergs 1798/99, also durchaus nicht etwa kurz vor seinem Tod, entstandenes Allgemeines Brouillon – in Hans Joachim Mähls Nummerierung etwa 1.150 in den Handschriften offenbar trennscharfe Notate – bilden Hardenbergs enzyklopädisches Schreiben ab – sie sind nicht eine Enzyklopädie, sind
25 Vgl. H. Schanze (wie Anm. 15), S. 35, aber auch: Novalis, Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, Bd. 2: Das philosophische Werk I, hg. von Richard Samuel u. a. 3. Aufl., Stuttgart 1981, S. 623 f. 26 Vgl. J. Fetscher (wie Anm. 17), S. 567. 27 Vgl. J. Weiß (wie Anm. 12), S. 10. 28 Friedrich Schlegel, Lessings Gedanken und Meinungen. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Bd. III, hg. von Ernst Behler, Paderborn u. a. 1975, S. 84. 29 J. Fetscher (wie Anm. 17), S. 560. 30 Vgl. L. Dällenbach/Ch. L. Hart Nibbrig, Vorwort (wie Anm. 1), S. 16.
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kein Werk. Was heißt es, wenn Novalis selbst sagte, er denke sich seine Enzyklopädie als „eine Sammlung Fragmente“?31 – Definitiv handelt es sich bei dem Erhaltenen nur zu einem Teil um aphoristische Texte, ansonsten sind es Exzerpte und sonstige Lesefrüchte wie Buchtitel, nicht selten rätselhafte, wie zufällig aufs Papier geworfene Bemerkungen, Gerhard Neumann spricht von „Skurrilitäten“.32 Idealtypisch, so ist aus Novalisʼ Briefen zu schließen, ist das „Erstellen von Fragmenten […] die zweite Stufe eines Prozesses von Textarbeit, der im glossierenden Notat anhebt und in der allegorischen Erzählung terminiert“.33 Doch Diskurs und Praxis, Reden und Handeln, differieren, dies ist auch den Romantikern zugute zu halten.34 Hatte man zunächst das Allgemeine Brouillon als Vorstufe zu einem Hauptwerk sehen wollen – das passende Novalis-Fragment würde lauten „Nur das Ganze ist real“35 –, so stellte schon Manfred Frank fest: „Aus dem fragmentarischen Universum resultiert kein System, sondern […] Inkohärenz.“36 Novalis ließ seine ‚Sammlung‘ liegen, und bereits sein erster Herausgeber Ludwig Tieck schreibt den vorhandenen ‚Fragmenten‘ mal eine gewisse Endgültigkeit zu, mal deutet er das Vorläufige und Prozesshafte an – doch glaubt bereits er nicht daran, dass eine vielleicht geplante Publikation der Enzyklopädie wesentlich anders als bruchstückhaft hätte aussehen können. Vor allem mit Verweis auf eine selbstkommentierende Aussage des verstorbenen Verfassers holt der Herausgeber den Leser in den Entstehungsprozess hinein. Noch vor dem geordneten, gedruckten Text erreicht den Leser der Zweifel an dessen Endgültigkeit, erfährt er vom „Wechselprozeß von Auflösung und Verfestigung“.37 Er hatte den Plan zu einem eigenen encyklopädischen Werke entworfen, in welchen Erfahrungen und Ideen aus den verschiedenen Wissenschaften sich gegenseitig erklären, unterstützen und beleben sollten. Aus dem Entwurfe dieses Werkes, welches, wie es scheint, nur aus dergleichen abgerissenen Sätzen bestehen sollte und konnte, sind die meisten dieser
31 Novalis, Das Allgemeine Brouillon. In: Novalis, Schriften, Bd. 3: Das philosophische Werk II, hg. von Richard Samuel u. a. 3. Aufl., Stuttgart 1983, S. 278. 32 Gerhard Neumann, Ideenparadiese. Untersuchungen zur Aphoristik von Lichtenberg, Novalis, Friedrich Schlegel und Goethe, München 1976, S. 265. 33 J. Fetscher (wie Anm. 17), S. 567. Analog erkennt Jonas Maatsch eine zweite Arbeitsphase des Ordnens und Klassifizierens, vgl. J. Maatsch, „Naturgeschichte der Philosopheme“. Frühromantische Wissensordnungen im Kontext, Heidelberg 2008, S. 210 f. 34 Vgl. Norman Kasper/Jochen Strobel, Zugänge zur historischen Romantik im Spannungs- und Synthesefeld von Diskurs und Praxis. Einleitung. In: Diskurs und Praxis der Romantik 1800– 1900, hg. von N. Kasper und J. Strobel, Paderborn 2016, S. 7–21. 35 Novalis, Schriften, Bd. 3 (wie Anm. 31), S. 242. 36 M. Frank (wie Anm. 22), S. 219. 37 G. Neumann (wie Anm. 32), S. 269.
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Gedanken genommen. Mein Freund, Fr. Schlegel hat hauptsächlich die Auswahl getroffen, und ich habe den Versuch gemacht, sie in verschiedenen Abtheilungen in eine Art von Ordnung zu bringen, die vielleicht eben nicht strenger seyn konnte. […] wir haben nach strenger Prüfung nur diejenigen ausgewählt, die uns die wichtigern schienen, auch wurden wir überdies von den Nachweisungen und Andeutungen unsers Freundes geleitet, der seine Papiere oftmals von neuem durchsah und Bemerkungen dazu schrieb […]. Der Verfasser selbst war gleichgültig darüber, was von ihm öffentlich erschien, und was zurückblieb, so daß auch in diesem Betracht die Bekanntmachung vieler von diesen Fragmenten als keine Anmaßung erscheinen darf, da er sie nur für eine spätere Bekanntmachung aufbehalten hatte, wie er selbst am Schluß dieser Fragmente sagt: „Nur weniges ist reif zum Druck, und nur als Fragment brauchbar, sehr vieles gehört zu einer großen und wichtigen Idee. […] Als Fragment erscheint das Unvollkommene noch am erträglichsten, und also ist diese Form der Mittheilung dem zu empfehlen, der noch nicht im Ganzen fertig ist, und doch einzelne Merkwürdige Ansichten zu geben hat.“38
Blickt man von heute aus auf die Materialien, dann erschließt sich „die romantische Faszination, welche der Entstehungsprozeß des Kunstwerks ausübt“.39 ‚Autoren‘ wie Novalis, Nietzsche und von der Wense wechseln übergangslos von Fragment zu ‚Fragment‘. Sie zehren in ihrer Praxis von einer Hoffnung auf Totalität, die sie längst aufgegeben haben müssen oder deren Erfüllung ins Unendliche aufgeschoben ist. Doch Tieck ordnete die Exzerpte und gruppierte sie zunächst mittels römischer Ziffern von I bis VI, sodann markierte er innerhalb dieser Gruppen mit Absatzwechseln und Gedankenstrichen einzelne Fragmente. Damit glich er den von ihm erst geschaffenen Text – Tieck lieferte bekanntlich auch kommentierend eine ‚Fortsetzung‘ des fragmentarischen Romans Heinrich von Ofterdingen – formal an die Athenaeum-Fragmente an. Dies klappte auch in Anbetracht der glättenden Auswahl. Bietet Hans-Joachim Mähl in der Kritischen Novalis-Ausgabe erstmals Vollständigkeit, so spukt durch seine begleitenden Texte noch das ‚theoretische Hauptwerk‘, eine „Wissenschaftslehre“, auf die die Materialien verweisen sollen, jedenfalls aber die „Vorstufe zu einem Werk, dessen nähere Gestalt wir nicht kennen“.40 Weiterhin erkennen die Kommentatoren den „in sich geschlossenen Komplex“.41 Auch seine Nummerierung verheißt Ordnung, erzeugt im Leser zwingend den Eindruck von Sinnhaftigkeit der Abfolge, ja Zusammengehö-
38 Ludwig Tieck, Vorrede zur ersten Auflage. In: Novalis, Schriften, hg. von L. Tieck und Fr. Schlegel, Erster Theil. 3. Aufl., Berlin 1815, S. III–X, hier VI–IX. 39 George Steiner, Das totale Fragment. In: Fragment und Totalität (wie Anm. 1), S. 18–29, hier 24. 40 Hans Joachim Mähl, Einleitung. In: Novalis, Das Allgemeine Brouillon. Materialien zur Enzyklopädistik 1798/99, Hamburg 1993, S. IX–XLIII, hier XL und XLIII. 41 Hans Jürgen Balmes, Kommentar. In: Novalis, Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, hg. von Hans-Joachim Mähl u. a. Bd. 3, München, Wien 1987, S. 471.
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rigkeit. Alle diese Zuschreibungen besorgen die Schließung der vorgefundenen Notate auf ein Werk hin. Sie führen im Grunde fort, was der aphorismuslastige Fragmentbegriff des Athenaeum bereits leistet: den Anspruch auf Geschlossenheit im sichtbaren ‚Resultat‘ statt auf die Offenheit des Schreibprozesses, den das Material doch demonstriert. Und noch Jonas Maatsch legt darauf Wert, es handle sich um „keine Fragmentsammlung im Sinne der frühromantischen Fragmentästhetik. Nicht um ein Werk in Fragmentform, sondern um die vorbereitende Arbeit zu einem nie realisierten enzyklopädischen Unternehmen handelt es sich.“42 Mehr noch wehrt sich Andreas Kilcher in seinem Enzyklopädie-Buch gegen die Charakterisierung des Brouillon als Werk.43 Eine romantische Enzyklopädie ist für ihn „eine Wissensformation von Diskontinuitäten und […] von ‚eklektischen‘ Verbindungen“.44 Die bislang letzte Interpretin Franziska Bomski liest das Brouillon aus mathematikgeschichtlicher Sicht als Dokument einer geistigen Suchbewegung. Nicht ein Entwurf liege vor, sondern Novalis habe seine „Suche nach einem System des Wissens“,45 „nach Erzeugungsprinzipien und regelhafte[n] Verfahren, mit denen Systeme hervorgebracht werden können“,46 in Schriftform gebracht und dabei u. a. die Mathematik „auf ihre Tauglichkeit als einheits- und erkenntnisstiftende enzyklopädische Methode“47 überprüft. Mit anderen Worten: Novalis-Editoren und Novalis-Interpreten begannen das im Vorläufigen Verharrende der enzyklopädischen Aufzeichnungen zwischen Fragment und ‚Fragment‘ peu à peu anzuerkennen.
IV Beispiel Nietzsche: Später Nachlass Ein publizierender ‚Fragmentarist‘ oder Aphoristiker in mehr oder weniger mittelbarer Romantik-Nachfolge war Friedrich Nietzsche.48 Auch er bezog sich auf die französischen Moralisten, wenngleich das ‚Fragment‘ ihm zur, radikal sprach-
42 J. Maatsch (wie Anm. 33), S. 212. 43 Andreas Kilcher, Mathesis und Poiesis. Die Enzyklopädik der Literatur 1600–2000, München 2003, S. 380. 44 A. Kilcher (wie Anm. 43), S. 379. – Allerdings rechnet auch er damit, das Brouillon sei eine Zwischenstufe (vgl. S. 403). 45 Franziska Bomski, Die Mathematik im Denken und Dichten von Novalis. Zum Verhältnis von Literatur und Wissen um 1800, Berlin 2014, S. 12. 46 F. Bomski (wie Anm. 45), S. 62. 47 F. Bomski (wie Anm. 45), S. 12. 48 Vgl. J. Fetscher (wie Anm. 17), S. 577 f.; J. Weiß (wie Anm. 12), S. 12 und 15.
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kritisch unterfütterten,49 pointierenden und polemischen Entlarvung dient.50 In einer Notiz (einem Aphorismus?) aus dem späten Nachlass heißt es, „daß es kein ‚Ganzes‘ giebt, daß alle Abwerthung des menschlichen Daseins, der menschlichen Ziele nicht in Hinsicht auf etwas gemacht werden kann, das gar nicht existirt …“51 Dieses polemisch-kritische Moment allein schon aktiviert die Bedeutungsdimension des ‚Bruchstückhaften‘, über sich selbst Hinausweisenden. Nicht nur in formaler Hinsicht pflegt die Nietzsche-Forschung bis heute den Vergleich mit den frühromantischen Fragmenten (im folgenden Zitat verkürzt auf „Schlegel“). Auch Aphorismen weisen demnach über sich selbst hinaus, jedenfalls seit der Romantik: Like the fragment, the aphorism collection suggests the ‚incompletion‘ of the individual text, or rather, the reliance of the text on further texts to establish its own comprehensibility. The constituents of each form frequently point beyond themselves, often to the other texts with which they appear. This impression is reinforced by the formal presentation of Nietzsche’s aphorisms, which, like Schlegel’s fragments, always appear in groups. This structural multiplicity, defying the unified continuity of narrative or argument, intimates the structure of deferral, while at the same time opening the door to the possibility of conflicts, inconsistencies and contradictions.52
Parallel zu den zum Druck beförderten aphoristischen Manuskripten entstanden in den 1880er Jahren umfangreiche Notizkonvolute, die nur sehr begrenzt, etwa als Vorstufen, Büchern zugeordnet werden können. Nietzsches später Nachlass wurde bekanntlich zum Hauptwerk stilisiert; die von Elisabeth Förster-Nietzsche verantwortete Nachlassedition Der Wille zur Macht kompiliert ad libitum Textfetzen aus dem Nachlass zu einem systematischen Werk. Die Erbin und Nachlassverwalterin berief sich auf Werkpläne ihres Bruders sowie auf „Studien und Fragmente“, die sie in den „früheren Plan jenes großen Hauptwerkes einzuordnen“ bestrebt war.53 Wer hier einen kontinuierlichen Gedankengang hineininterpretierte, forderte den Leser auf, an dem faktisch lückenhaften ‚Werk‘ mitzubauen. Das unvollendete ‚Hauptwerk‘ konnte sich erst im Leser vollenden. Das handschriftliche Material erwies sich als heterogen: „Vollendung“ figuriert als wünschenswertes Merkmal, und neben flüchtigeren Notaten seien „Niederschriften
49 Vgl. J. Fetscher (wie Anm. 17), S. 577. 50 Vgl. J. Weiß (wie Anm. 12), S. 150 f. 51 Friedrich Nietzsche, Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. von Giorgio Colli u. a., Achte Abteilung, Zweiter Band: Nachgelassene Fragmente. Herbst 1887 bis März 1888, Berlin 1970, S. 279. 52 J. Westerdale (wie Anm. 20), S. 94. 53 Elisabeth Förster-Nietzsche, Vorwort. In: Nietzsche’s Werke. Zweite Abtheilung, Bd. XV, 3./4. Tsd., Leipzig 1901, S. VII–XVI, hier VII.
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von der höchsten Vollendung“ vorhanden, „die jedenfalls so wie sie dastehen, in das Hauptwerk übergegangen sein würden“.54 Ohne weitere Erläuterung fällt dabei mehrfach der Begriff „Aphorismen“55 – damit mochte die Herausgeberin an Nietzsches erklärte Befürwortung dieses Begriffs anschließen, zugleich aber ist er nach wie vor gut für einen Hauch von Vollendung. Noch Heidegger behauptete wirkmächtig: „Die eigentliche Philosophie bleibt als ‚Nachlaß‘ zurück.“56 Diese These hat Mazzino Montinari mit seiner Kritischen Gesamtausgabe widerlegt,57 doch auch er emphatisierte Nietzsches Nachlassmaterial (meist Hefte und Notizbücher) einmal mehr, indem er eine hochproblematische Unterscheidung einführte zwischen der „Vorstufe“ zu einem autorisierten Text (oder auch von „Vorarbeiten“ zu veröffentlichten Werken) und dem für sich stehenden „Fragment“,58 womit er Nietzsche oder auch sich selbst als Editor in die romantische Tradition stellte. Problematisch ist zudem, dass Montinari aus dem Notizenuniversum Nietzsches angeblich trennscharfe ‚Fragmente‘ aus der Umgebung ihrer Entstehung in der Handschrift herauslöste,59 in eine Reihenfolge brachte und nummerierte – wie weiland Schlegel, wie weiland Tieck. Hier kommt der Aphoristiker Nietzsche posthum erneut zu Ehren. Skizzenhaftes, Notathaftes soll es nicht mehr geben (oder es wird, wie Einkaufszettel, einfach ignoriert) – zwei von acht Werkabteilungen widmete Montinari den ‚Fragmenten‘, eine gewichtige Masse. Die Nietzsche-Forschung relativierte diese editorische Aufwertung des Notizenmaterials wieder, indem sie die problematische binäre Unterscheidung beibehielt, aber doch ihre Wertschätzung der (publizierten) Aphorismen klar absetzte von einer etwas herablassenden Würdigung der ‚Fragmente‘, die ja „nicht Fragmente eines so nicht vorhandenen Ganzen“ seien, ja, die sich durch „Abwesenheit der raffinierten Komposition“ auszeichneten.60 Die im Nietzsche-Handbuch aufgelisteten Bezeichnungen für die im Nachlass befindlichen heterogenen Textsorten kommen uns bekannt vor: Skizzen, Varian-
54 E. Förster-Nietzsche (wie Anm. 53), S. XIII. 55 E. Förster-Nietzsche (wie Anm. 53), S. XIII und XIV. 56 Martin Heidegger, Nietzsche. Bd. 1, Pfullingen 1961, S. 17. 57 Vgl. Claus Zittel, Nachlaß 1880–1885. In: Nietzsche-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Henning Ottmann, Stuttgart, Weimar 2000, S. 138–142, hier 139. 58 Mazzino Montinari, Grundsätze der Edition. In: Nietzsche, Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. von Giorgio Colli und M. Montinari. Nachbericht zur siebenten Abteilung. Zweiter Halbband, Berlin, New York 1986, S. 1–4, hier 3. 59 Vgl. C. Zittel (wie Anm. 57), S. 138. 60 Eva Strobel, Aphorismus. In: Nietzsche-Lexikon, hg. von Christian Niemeyer. 2. Aufl., Darmstadt 2011, S. 28 f., hier 29.
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ten, Lektüre-Exzerpte, Pläne, Gedichte, Listen, Titel- und Briefentwürfe61 – dabei sind Reflexionen über Pessimismus, Nihilismus, décadence festgehalten, wie sie sich ähnlich, aber doch nicht genauso in Jahre später erschienenen autorisierten Texten finden. Mittlerweile erkennt die Nietzsche-Forschung an, dass hier nicht der Aphoristiker weitere Aphorismen zusammengestellt hat, sondern dass „eine Art Werkstatt“62 sichtbar wird, in der eine beliebige Textstelle in komplexen Verweiszusammenhängen zu zahlreichen anderen Stellen steht – die Editorik spricht hier von „Querverweisen“,63 die sie rekonstruieren möchte. Editoren und Leser, so stellt Maria Cristina Fornari im Nietzsche-Handbuch verwundert fest, forderten angesichts einer „chaotischen Masse von Aufzeichnungen“ bis heute etwas, was eigentlich nicht geboten werden könne: „Lesbarkeit und Kohärenz“.64 Doch richteten sich Nietzsches Aufzeichnungen an einen Leser, an ihn selbst, als Materialien für Relektüre, Weiterdenken und -schreiben.65 Nach über hundert Jahren Nietzsche-Edition kann heute einigermaßen nachvollzogen werden, wie die vielen Zettel, Kladden, Notizbücher aussehen – nämlich z. B. so, wie es Abb. 1 zeigt. Nietzsches Abrechnung mit Wagner war ein hochemotionales Thema, was sich vermutlich auf dieser und auf den umgebenden Seiten zeigt. Die topologisch getreue editorische ‚Abbildung‘ dieser Seite in der IX. Abteilung der Kritischen Werkausgabe (KGW IX), die weitgehend statt mit diakritischen Zeichen mit Visualisierungen arbeitet (einschließlich Schriftgrößen und -farben), zeigt Abb. 2. Die genaue Abfolge des Schreibprozesses ist gänzlich unabsehbar; welche Streichung/Überschreibung z. B. welcher anderen vorausgeht und in welcher Reihenfolge Nietzsche generell vorging, wird sich niemals plausibel machen lassen. Mazzino Montinari hatte einen Großteil der Seite als Vorstufe zu einem Aphorismus von Jenseits von Gut und Böse verstehen wollen,66 nur die untersten Zeilen
61 Vgl. C. Zittel (wie Anm. 57), S. 138. 62 Maria Cristina Fornari, Nachlaß 1885–1888. In: Nietzsche-Handbuch (wie Anm. 57), S. 143– 149, hier 149. 63 Friedrich Nietzsche, Faksimiles des handschriftlichen Nachlasses W I 3. W I 4. W I 5. W I 6. W I 7. [CD-ROM zu KGW IX 5], Berlin, New York 2004, S. 28–37. 64 M. C. Fornari (wie Anm. 62), S. 149. 65 Vgl. Marie-Luise Haase u. a.: Editorische Vorbemerkung – Hinweise zur Benutzung. In: Nietzsche, Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. von Giorgio Colli u. a. Neunte Abteilung, hg. von M.-L. Haase u. a. Erster Band, Berlin, New York 2001, S. XV–XXI, hier XV und XVI. 66 „[D]ie Varianten der dritten Korrektur werden im Kommentar zu JGB 256 berücksichtigt“ (M. Montinari, Nachbericht, S. 442 f.). Dieser Nachbericht erschien niemals und wurde ersetzt durch die IX. Abteilung, die auf eine lineare Darstellung von Textschichten sowie auf die Unterscheidung zwischen Fragment und Vorstufe verzichtet.
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Abb. 1: Nachlass Nietzsche, Arbeitsheft W I 6, S. 68
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Abb. 2: Nietzsche, Werke. Kritische Gesamtausgabe. IX. Abteilung, Vierter Band, Berlin, New York 2004, S. W I 6, 68 (Transkription)
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schlug er einem ‚Fragment‘ zu – das nimmt sich in seiner Edition recht brav aus: Die wenigen Zeilen werden Teil eines Fragments namens „37[15]“. Dort findet sich aus der abgebildeten Handschriftenseite (auf den Zeilen 44 bis 56) allein folgende Passage: […] bis er zuletzt gar noch mit einer Kniebeugung vor dem Kreuze und mit einem nicht unberedten Durste nach „dem Blute des Erlösers“ Abschied genommen hat. Auch von sich selber! Denn es gehört bei altgewordnen Romantikern zur leidigen Regel, daß sie am Schlusse ihres Lebens sich selber „verleugnen“ und verkennen und ihr Leben – durchstreichen! –67
Erneut erscheinen ähnliche Formulierungen in Nietzsche contra Wagner, Nietzsches letztem Buch. Die hier abgebildete Seite aus KGW IX (Abb. 2) zeigt, dass die Editoren hier versucht haben, den Fluss des Entwerfens, Überarbeitens, Abschreibens und Weiterverwertens festzuhalten und zwar bis hin zu „druckfertig hinterlassenen Schriften sowie […] Briefen“.68 Die so entstehende Mikrochronologie erzeugt eine neue Größenordnung von ‚Text‘, nämlich die relational bestimmten Aufzeichnungen, „Vorlagen“ und „Abschriften“,69 die sich eben dadurch auszeichnen, dass sie ‚so ähnlich‘ weiterverwertet, also: abgeschrieben und dabei weiterentwickelt, wurden. Doch liegen die Pendants oftmals weit voneinander entfernt im nietzscheschen Textgestrüpp, die Kette kann von Arbeitsheft zu Arbeitsheft und schließlich (über die Druckvorlage) zu Jenseits von Gut und Böse reichen70 – und: der gedruckte Text erscheint manchmal als das Ziel der Bemühungen, manchmal ist ein solches nicht erkennbar. Die Feindifferenzierung des Seite-für-Seite-Edierens sowie der Ermittlung von Querverweisen erhellt Nietzsches Arbeitsweise, seine Notationspraxis. Begriffe wie Aphorismus/‚Fragment‘ versus Fragment sind nicht angebracht. Nietzsche produzierte Notate.
V Beispiel von der Wense: Nachlass Hans Jürgen von der Wense (1894–1966) passt in diese Reihe als ein später Nachfahre Novalisʼ und Nietzsches, einer, der zu Lebzeiten so gut wie gar nichts publi
67 Nietzsche, Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. von Giorgio Colli u. a. Siebente Abteilung. Dritter Band: Nachgelassene Fragmente. Herbst 1884 bis Herbst 1885, Berlin, New York 1974, S. 318. 68 Nietzsche, CD-ROM, S. 27. 69 Nietzsche, CD-ROM, S. 27. 70 Vgl. die Querverweise S. 28–37 auf der CD-ROM.
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ziert hat71 – der aber eine enzyklopädische Exzerpt-, Zitat-, Aphorismensammlung im Umfang von 30.000 Blättern hinterlassen hat,72 nebst 3.000 Briefen, die ebenfalls, ähnlich wie Novalis’ Brouillon, anders als Nietzsches später Nachlass, unterschiedlichstes Wissen sammeln, zitieren, umformen: „Dieses Materialkonvolut entzieht sich jeder Kategorisierung: Es umfasst Exzerpte, Notate, Betrachtungen, Reflexionen über Geschichte, Geografie, Landeskunde, Geologie, Astronomie, Genealogie, Wetterkunde.“73 Die editorische Abbildung eines kleinen Auszuges aus der Mappe „LEBEN UND TOD/TOD“ zeigt Abb. 3. Marginalien bilden thematische Schlagwörter. Der ‚Haupttext‘ besteht aus Zitaten und Lesefrüchten, Skurrilitäten, vielleicht eigenen Reflexionen und Konfessionen. Von der Wense ist ein Autor fast ohne Werk, in einem Brief vom 17. August 1965 schrieb er: „Dass ich mein werk nicht vollenden, nicht aufschreiben kann, meine tragik.“74 Veröffentlichungen vermied er, auf eine Anfrage antwortete er: „Auch ist mein sehr weites schwerübersehbares werk so in sich geschlossen, dass ich kaum ein stückchen davon herauslösen könnte, ohne in gefahr zu kommen, völlig missverstanden zu werden.“75 Ein geschlossenes Werk aus Exzerpten, eine Werkstatt und sonst nichts? Von der Wense radikalisiert das romantische Schreiben, und zumindest er selbst bringt noch einmal ‚Fragment‘ und Fragment, Totalität und Bruchstück zusammen. Anachronistisch lautet sein Credo: „Ich lebe aus einem in sich selbstverständlichen Ganzen, in einer klaren und beständigen Intention auf das Göttliche als das allein Geistige hin.“76 Auf dieser „Großbaustelle“ hielt er „seine Mappenenzyklopädie in einem Dauerzustand des Umarbeitens, Umformens, Umschichtens, in einem endlosen Prozeß von Aufnahme, Bearbeitung, Überarbeitung, Erweiterung, Umkonzeptionierung, vorläufigem Abschluß,
71 Die Zahlen schwanken, einmal ist von „ziemlich genau fünfzig Seiten Text und d[er] Liedvertonung eines Gedichts von Alfred Mombert“ die Rede. (Reiner Niehoff, „Am äußersten Ende der Welt.“ Nachforschungen zu einem Absender. In: R. Niehoff/Valeska Bertoncini, Über Hans Jürgen von der Wense, Frankfurt am Main 2005, S. 9–53, hier 10.) 72 Vgl. Reiner Niehoff, [Vorbemerkung zu:] Hans Jürgen von der Wense: Mappe LEBEN UND TOD/TOD. In: Text + Kritik, Heft 185, 2010: Hans Jürgen von der Wense, S. 17–33, hier 17. 73 N. N., Editorial. In: Text + Kritik (wie Anm. 72), S. 3. 74 Hans Jürgen von der Wense, Von Aas bis Zylinder. Werke 2, hg. von Reiner Niehoff u. a., Frankfurt am Main 2005, S. 767. 75 Reiner Niehoff, „aber berührt verdunstet alles im nu“. Das Phänomen Hans Jürgen von der Wense. In: Text + Kritik (wie Anm. 72), S. 4–16, hier 4. – Vgl. auch: Hans Jürgen von der Wense, Wand an Wand – Briefe an Ruth und Peter Ritzenfeld, ediert von Reiner Niehoff und Valeska Bertoncini. In: Am Erker. Zeitschrift für Literatur, Heft 70, 2015, S. 74–117. 76 Hans Jürgen von der Wense, Ein Lebensbericht. In: R. Niehoff/V. Bertoncini (wie Anm. 71), S. 55–63, hier 55.
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Abb. 3: Hans Jürgen von der Wense, Mappe LEBEN UND TOD/TOD. In: Text + Kritik, Heft 185, 2010: Hans Jürgen von der Wense, S. 17–33, hier 21
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Zurückstellung, Wiederaufnahme und Neubeginn“.77 In einem Brief von 1955 vermeldete er, nun beginne er sein Werk zu schreiben.78 Der Komparatist Ernst Robert Curtius hatte von einer Verwandtschaft zu Novalis gesprochen.79 Auch von der Wense arbeitete immer wieder auf ein ‚Buch‘, ein ‚Werk‘ hin. Verfolgte er von 1932 bis 1942 das Projekt „Wanderbuch“ – ein schweifendes Wandern aus geographisch-historischem und archäologisch-geologischem Interesse heraus liegt von der Wenses enzyklopädischer Arbeit zugrunde –, standen anschließend Briefe an der Stelle eines Werks, so machte er schließlich zwischen 1956 und 1964 noch einmal einen Versuch, aus dem Material ein „All-Buch“ herauszuschälen.80 Danach verzichtete er auf Synthesevorhaben und rief doch noch gegen Ende seines Lebens, als Archivar seiner selbst lost in space und doch glücklich, aus: „fand vieles was ich jahrelang gesucht! Kann also nun ENDLICH beginnen!!!!!!!“81 Von der Wenses Werk war sein Schreiben, der Nachlass zeugt davon. Kein Editor wird ihn herausgeben können. Und doch gibt es – soll man sagen: ironice? – eine zweibändige Werkausgabe mit einer Auswahl aus den 3.000 erhaltenen Briefen. Dabei wurden in einem enzyklopädischen Verfahren bestimmte thematisch referenzierbare Briefstellen herausgelöst, mit einem Stichwort versehen und dann alphabetisch gereiht: Das Wense-Alphabet entstand, eine Enzyklopädie des 20. Jahrhunderts in Brieffragmenten – die dem Leser von der Wenses oft zuspitzendes, verkürzendes und somit auf seine Weise aphoristisches Schreiben nahebringt. Die scheinbar strenge Form der Brief-Fragmentreihung ist ein Spiel mit von der Wenses Spontaneität des Schreibens, mit einer gewissen Beliebigkeit auch. Das Lemma „Mineral“ (Abb. 4)82 bezeugt von der Wenses Ehrgeiz, brieflich ‚Fragmente‘ zu schreiben und diese dem ‚Werk‘ zu inkorporieren: „Die Briefe die ich an Dieter bisher setzte, verarbeitete ich in mein werk, es sind die wohl reichsten kundgebungen meines lebens“ – und es bezeugt den Ehrgeiz seiner Editoren, das Bruchstückhafte der nun edierten Briefauszüge mit ihren Exzerpten und, ja: Aphorismen, auch ikonisch darzustellen, nämlich als abgeschnittenes Teilfaksimile. Es ist ‚Fragment‘ und Fragment; wie die anderen hier vorgestellten Beispiele auch bezeugt es eine romantische Praxis. Es ist zudem edierter Text, in dem Faksimile, Transkript, Quellenangabe, Querverweise und Stellenkommentar sich
77 R. Niehoff, „Am äußersten Ende der Welt“ (wie Anm. 71), S. 11. 78 H. J. von der Wense, Werke 2 (wie Anm. 74), S. 1249. 79 H. J. von der Wense, Ein Lebensbericht (wie Anm. 76), S. 62. 80 Vgl. Michael Lissek, „Lass uns immer aufbrechen und nie ankommen“. Zu Werk und Leben Hans Jürgen von der Wenses (1894–1966), Hannover 2003, S. 140 f., 221, 233. 81 Von der Wense an Heddy Esche am 14. Januar 1966, zit. nach: M. Lissek (wie Anm. 80), S. 267. 82 H. J. von der Wense, Werke 2 (wie Anm. 74), S. 787 f., folgendes Zitat S. 788.
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Abb. 4: Hans Jürgen von der Wense, Von Aas bis Zylinder. Werke 2, hg. von Reiner Niehoff u. a., Frankfurt am Main 2005, S. 788
jeweils wechselseitig beglaubigen und jedes einzelne Lemma an ein immer noch Ganzes anschließen. Die Textspuren aller drei Verfasser stehen für eine Verweigerung des Publizierens oder zumindest für einen Primat des ausprobierenden Schreibens, in Novalisʼ und von der Wenses Fall eines enzyklopädischen Schreibens. Die Romantiker blieben von Werk-Zuschreibungen nicht verschont, auch und gerade das romantische ‚Fragment‘ versprach ein Signal für das ‚Werk‘ zu sein, obgleich die etymologische Reminiszenz dieses neuen Aphorismentyps das Unfertige, Offene
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gegenstrebig und paradox schon auf der Titelseite hervorkehrte. Fragmentierendes Schreiben als für sich stehende und zumal als romantische Praxis anzuerkennen, den Handschriften adäquat und doch lesbar editorisch abzubilden, fällt bis heute schwer. Dies zeigt sich auch an einem Nachfahren wie Nietzsche; erst der ferne Nachkomme von der Wense, so schlecht die Chancen für eine breitere Rezeption stehen mögen, erfährt eine angemessen spielerische editorische Rezeption – in Gestalt einer ironisch aufbereiteten Enzyklopädie. Die Stärke der Editoren ist aber bedingt durch die Zurückhaltung, wenn nicht Schwäche der Autoren. Die klassischen Attribute, wie sie Michel Foucault ins Spiel gebracht hatte, also Intention, Werk, Autorisierung, Schreibweise, Urheberrecht, fehlen den betrachteten Schriftgebirgen durchwegs.83 Ein Schreiben und Sammeln diesseits des Werks und der Publikation ist eine Provokation moderner Autorschaft. Es steht zu vermuten, dass die drei hier in Frage Stehenden sich in dieser Vorhölle gut einzurichten wussten.
83 Vgl. Michel Foucault, Was ist ein Autor? In: Texte zur Theorie der Autorschaft, hg. von Fotis Jannidis u. a., Stuttgart 2000, S. 198–229.
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„Sonderbare, unverläßliche Welt“ Fontanes Fragmente zwischen Vormärz und Moderne In einem gewissen Sinne ist jede Erzählung ein Fragment, denn jede stellt den Umriss einer möglichen Welt dar, zeigt aber nicht alles, was zu dieser Welt gehört. Über Leerstellen kann man nichts wissen, denn Unvollständigkeit ist „eine wesentliche Eigenschaft des Fiktionalen, kein zu lösendes Problem“.1 Der Leser akzeptiert die Unbestimmtheit des Textes, füllt Lücken aus und interpretiert Ungewissheiten, dadurch dass er sich die fiktionale Welt als „der uns bekannten Wirklichkeit so nah wie möglich“ vorstellt.2 Dieses „Prinzip der minimalen Abweichung“3 erlaubt dem Leser, nach den fiktionalen Gegebenheiten und nach eigenen Kenntnissen der Welt, eine ‚Welt‘ im Text zu verdeutlichen und zu vervollständigen, außer wenn der Text auf einen spezifischen Unterschied hinweist. Ist ein Fragment also eine extreme Form der Unbestimmtheit, die jede fiktionale Welt kennzeichnet, daher auch eine mögliche Welt für sich, oder bloß ein mangelhafter Versuch, ein vollständiges Werk zu schaffen? Unzufriedenheit mit dem Fragment scheint von der Ansicht auszugehen, dass nur eine eigenständige, logische und stilistisch einheitliche Sequenz den Schlüssel zur eigenen Interpretation in sich trägt. Daraus folgt aber nicht, dass das Fragment als Hinweis auf die Grenzen des Textes, der Gattung, der Analyse, oder als Wegweiser für alles, was die literarische Einbildungskraft noch schaffen könnte, ungültig ist. In Fragmenten und unvollendeten Texten sind grundlegende Anweisungen an den Leser begrenzt, besonders was die dirigierende Rolle des Erzählers betrifft; also interpretiert der Leser solche Texte nach Kriterien, die vollständigen Werken entlehnt sind, das heißt, bekannten Formen und Gattungen gemäß. Zur Vollständigkeit eines Textes gehören viele Merkmale, darunter Titel und Untertitel, dichte, infor-
1 Lubomir Doleziel, Possible Worlds and Literary Fictions. In: Possible Worlds in Humanities, Arts and Sciences: Proceedings of the Nobel Symposium 65, hg. von Sture Allen, Berlin, New York 1989, S. 237. Im Englischen: „an inherent quality of fictional states not a lack to be remedied“. 2 Marie-Laure Ryan, Fiction, Non-Factuals and the Principle of Minimal departure. In: Poetics, 8, 1980, S. 406. Im Englischen: „as being the closest possible to the reality we know“. 3 M.-L. Ryan (wie Anm. 2), S. 406. Im Englischen: „principle of minimal departure“. Vgl. Patricia Howe, Ledwina and Bei uns zu Lande auf dem Lande: Two Unfinished Texts by Annette von Droste-Hülshoff. In: Women Writers of the Age of Goethe, X, hg. von Margaret Ives (= Occasional Papers in German Studies, 10, 1998), S. 29–59, hier 29. https://doi.org/10.1515/9783110539493-011
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mationsreiche, emphatische Eingänge,4 die den Leser überreden wollen, in die Welt einzutreten; Strukturmerkmale wie Kapitel, Zeit- und Ortsangaben, Hinweise auf das Kommende, Abweichung, Rückblicke, mögliche Ereignisse und Folgen, Brüche und Themenwechsel. Im Laufe des Lesens tragen diese Merkmale zur Definierung der jeweiligen ‚Welt‘ bei, dadurch, dass sie allmählich deren Möglichkeiten begrenzen.5 Im Folgenden möchte ich Fragmente von Annette von Droste-Hülshoff, Fontane und Hugo von Hofmannsthal nach den intra- und extratextuellen Gründen für ihre Nicht-Vollendung befragen. Die sich verflüchtigende Identität der Hauptfigur verbindet sie thematisch bzw. intertextuell, während die sympathische Lektüre der Dichtung des Vorgängers auf eine extratextuelle Beziehung hindeutet.
I Droste-Hülshoff: „Ledwina“ Droste-Hülshoffs Romanfragment „Ledwina“ will das fruchtlose Suchen einer jungen Frau nach gesellschaftlicher und psychologischer Integration schildern. Mit ihrem Vorhaben stößt die Dichterin aber auf mehrere Gründe zur Selbstzensur: Wie mit „Bei uns zu Lande auf dem Lande“ „schreibt sie sich in eine Zone hinein, wo die Familie oder ein anderes soziales Verbotssystem ihr die Hand lähmt“.6 Denn nach dem persönlichen Krisenjahr 1820 und dem Tod des Vaters waren autobiographische Elemente besonders zu vermeiden.7 Ferner soll sie die Arbeit daran aufgegeben haben, weil es ihrer „Entscheidung zu religiöser Demut und restaurativem Ordnungsdenken“ widersprach; es wäre „ein sündiges Spiel mit weltschmerzlichen oder gar nihilistischen Gedanken“.8 In einer Zeit des historischen und literarischen Übergangs will sie auch unbedingt Originales schreiben. Dass sie es ablehnt, sich mit einem überarbeiteten Thema zu beschäftigen,
4 Edward Said, Beginnings. Intention and Method, New York 1985, S. 34. 5 Christopher Booker, The Seven Basic Plots. Why we tell stories, London, New York 2004, S. 17–19. 6 Peter von Matt, Verkommene Söhne, mißratene Töchter. Familiendesaster in der Literatur, München, Wien 1995, S. 225. 7 Renate Böschenstein, Ledwina: poetische Evokation einer Selbstanalyse. In: R. Böschenstein, Idylle, Todesraum und Aggression. Beiträge zur Droste-Forschung, hg. von Ortrun Niethammer (Veröffentlichungen der Literaturkommission für Westfalen, Bd. 24), Bielefeld 2007, S. 177–193. 8 Friedrich Sengle, Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815–1848, Stuttgart 1980, Bd. III, S. 626.
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weiß man aus einem Brief an Anna von Haxthausen, in dem sie der Freundin ihre Absicht mitteilt, eine Novelle mit einer kranken Heldin zu verfassen: […] da bringt mir das Unglück aus der Lesebibliothek 4 Geschichten nach der Reihe in die Hand, wo in jeder die Heldin eine solche zarte überspannte Zehrungsperson ist, das ist zu viel, ich habe in meinem Leben nicht gern das Dutzend voll gemacht, in keiner Hinsicht, also habe ich meinen lieben, schön durchgearbeiteten Plan aufgegeben, mit großem Leid, und muß nun einen neuen machen, von dem ich noch nicht weiß wo her ich ihn kriegen soll […]9
Trotzdem arbeitet sie hin und wieder an „Ledwina“, „die gut werden wird, aber so düster, daß mich das Abschreiben daran jedesmal sehr angreift […]“.10 Als Echo der eigenen Erfahrungen und Versuch, „das Problem, das sie sich selbst war“ zu lösen, bleibt das Fragment jedoch „düster“.11 Unter den ersten Lesern gibt es wenige, die bedauern, dass das Werk unvollendet ist; denn es fehle darin an Kohärenz und Einheitlichkeit und trotz Originalität und stilistischer Begabung scheine das Fragment, durch romantische Sentimentalität und Phantasie verleitet, auf Irrwege zu geraten: Niemand, der ihn gelesen, wird bedauern, dass er unvollendet geblieben. Originell und kühn in der Anlage, meisterhaft in der Sprache, ergreifend in einzelnen Zügen, ist er doch aus einer krankhaften Stimmung hervorgegangen und erinnert an die unerfreulichsten Verirrungen der Romantik.12
„Ledwina“ wird aber zu leicht als Versuch abgefertigt, wenn man den Text „als Entwicklungsphase eines bedeutenden, nach Klärung ringenden Talentes“ liest.13 Andere Leser interpretieren die sogenannten „Verirrungen“ als Zeichen komplexer Geisteszustände. Häufiger Perspektivenwechsel trennt das Innenleben Led-
9 Annette von Droste-Hülshoff an Anna von Haxthausen, Hülshoff, 4. Februar 1819. In: A. von Droste-Hülshoff, Historisch-kritische Ausgabe: Werke, Briefwechsel, hg. von Winfried Woesler, Bd. VIII, 1, Briefe 1805–1838. Text, bearb. von Walter Gödden, Tübingen 1987, S. 18–21, hier 20. 10 Annette von Droste-Hülshoff an Anna von Haxthausen, Hülshoff, Herbst 1821. In: A. von Droste-Hülshoff, Historisch-kritische Ausgabe, Bd. VIII, 1, S. 67 f., hier 67. 11 Clemens Heselhaus, Annette von Droste-Hülshoff. Werk und Leben, Düsseldorf 1971, S. 70. 12 Robert König, Zum hundertjährigen Geburtstag Annette von Droste-Hülshoff. In: Daheim (Leipzig, Bielefeld), Bd. 33, Nr. 15 (9. Januar 1897), S. 231–239; zit. nach: Winfried Woesler, Modellfall der Rezeptionsforschung: Drostes Rezeption im 19. Jahrhundert: Dokumentation, Analysen, Biographie, erstellt in Zusammenarbeit mit Aloys Haverbusch und Lothar Jordan, Frankfurt am Main u. a. 1980, S. 688. 13 M[argarethe] L[isco], Annette von Droste-Hülshoff. In: Preußische Jahrbücher (Berlin), Bd. 66 (November 1890), H. 5, S. 439–444; zit. nach: W. Woesler, Modellfall (wie Anm. 12), S. 688.
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winas, das man eher der sentimental-romantischen Tradition zuschreibt, vom gesellschaftlichen, oft durch Dialog vermittelten Leben, das auf Vormärz und Realismus hinweist. Dagegen antizipiert Fontanes Bewunderung der „wundervollen Charakterzeichnung“ das Urteil feministischer Kritik, die gerade die Psychologie Ledwinas als das Element versteht, welches das Fragment sowohl zusammenhält als auch auszeichnet.14 Nach Gabriele Reuter wäre das vollständige Werk „der erste psychologisch-analytische Roman von Frauenhand [gewesen …] – er wäre uns eine Quelle der Erkenntnisse geblieben. Ja, er würde heute, wo die Kunst der Seelengliederung so viele Fortschritte gemacht hat, erst in seiner wunderbaren Feinheit voll gewürdigt und verstanden werden.“15 Reuters Bewertung liefert ein frühes Beispiel für die Ansicht, dass Leerstellen und Fragmente nicht unbedingt auf einen mangelhaften Text hindeuten, sondern produktive literarische Strategien sein können, die den Leser in den Schaffensprozess des Textes mit einbeziehen. Die feministische Kritik rettet das Fragment vor dem Ruf der Inkohärenz, indem sie Dissonanzen und Leerstellen nicht nur akzeptiert, sondern die Aufgabe der Entschlüsselung erwartet, sogar begrüßt. Im „Ledwina“-Fragment zwingen begrenzte Hinweise auf eine mögliche Dekodierung den Leser dazu, Strategien der Integrierung und Vollendung anzuwenden, die ihm aus anderen Erzähltexten bekannt sind. Der verzögerte Anfang in medias res, worauf in einem vollständigen Text oft ein ausführlicher, orientierender Rückblick folgt, und die häufige Anwendung von Deixis setzen einen schon eingeweihten Leser voraus, der Ledwina als Dreh- und Angelpunkt des Fragments identifiziert. Um Ledwina herum gruppieren sich Bilder und Denkmuster, die das Innenleben der Heldin mit dem Gesellschaftsleben verbinden. Die negativen, ihr fremden Werte, die sich in Ledwinas Familie und ihrem sozialen Umfeld verfestigt haben, vor allem die ängstliche Ehestiftung der ehrgeizigen Mutter, lösen Ledwinas Konflikt mit ihrer Umgebung und mit sich selbst aus. Heilslehren, die sich zwischen Fall und Erlösung bewegen, und die Dynamik des Verlangens von der Erwartung bis zur Erfüllung befragen sowohl religiöse als auch romantisch geprägte Anschauungen auf ihre Gültigkeit.16 Daraus entsteht eine auf assoziativer Projektion gebaute ‚Welt‘, wodurch das Fragment trotz Informationslücken als Paradigma eine gewisse Kohärenz erreicht. Schließlich gibt Ledwina die Suche nach Erfüllung auf, denn alles, was damit zu tun hat, ist auch mit dem Tod verbunden: Der Vater ist schon tot und der romantische Held, von dem sie träumt, bringt statt Rettung Krankheit und
14 Theodor Fontane an Richard Schöne [Entwurf], Berlin, 30. Oktober 1894. In: HFA, IV, 4, S. 393. 15 Gabriele Reuter, Annette von Droste-Hülshoff. In: Die Literatur, Bd. 19, 1906, S. 22. 16 Vgl. P. Howe, Ledwina (wie Anm. 3), S. 33 f.
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Tod ins Haus. Die Motive des Träumens und des Ertrinkens, die das ergebnislose Suchen der Hauptfigur kennzeichnen, tragen jedoch zur Kohärenz des Fragments bei und deuten auf Ähnlichkeiten mit zeitgenössischen Werken hin. Sie erinnern vor allem an Fouqués Undine, die im Fluß „verströmte […] bald aber war sie in die Donau ganz verronnen“.17 Wenn Ledwina am Anfang des Fragments ihr Spiegelbild im Fluss sieht, ist ihr, als sei sie selber schon tot; später erinnert sie sich daran: Das Mondlicht stand auf den Vorhängen Eins der Fenster, und da der Fluß unter ihm zog, schienen sie zu wallen, wie das Gewässer, der Schatten fiel auf ihr Bett und theilte der weißen Decke die selbe Eigenschaft mit, daß sie sich wie unter Wasser vorkam, sie betrachtete dies eine Weile, und es wurde ihr je länger je grauenhafter, die Idee einer Ondine ward zu der einer im Fluß versunknen Leiche, die das Wasser langsam zerfrißt, während die trostlosen Aeltern vergebens ihre Netze in das unzugängliche Reich des Elementes senden […]18
Traum und Tod kennzeichnen auch ihren Gang durch den Friedhof, wo ‚ihr Liebstes‘ liegt, das sie auszugraben versucht, bis sie selber ins Grab und in die Vereinigung mit dem Geliebten fällt. Ihr Wunsch, aus einem Knochenhaufen einen Menschen zu bauen, erinnert an die Hauptfigur von Mary Shelleys unvollendetem Roman Frankenstein (1818), in dem es einen Friedhofstraum von der verstorbenen Mutter gibt.19 In „Ledwina“ führt die Umarmung im Grab zur Verzweiflung: Das für sie geplante Schicksal lehnt sie ab, kennt aber kein anderes. […] wir suchen doch alle einmahl, wenn schon meistens incognito, aber ich habe aufgehört, denn ich weiß, daß ich nicht finde […].20
Hier, wie in Fontanes „Oceane von Parceval“, beeinträchtigt die Angst vor einer Niederlage sowohl das Leben der Heldin als auch den Verlauf der Erzählung. Anstatt Fortschritt gibt es für Ledwina nur Wiederholung des schon Erlebten, für den Text den plötzlichen Abbruch. Denn was soll ein Roman, der kein Kriminalroman sein soll, mit einer ganzen Reihe von Todesfällen anfangen, die zum Teil Traum- oder Phantasiegebilde sind? In „Ledwina“ tragen die geträumten phantasierten Todesfälle dazu bei, den Tod seiner Endgültigkeit und damit jeder tieferen Bedeutung zu berau-
17 Undine. Eine Erzählung von Friedrich Baron de la Motte Fouqué, Halle 1841, S. 114. 18 Annette von Droste-Hülshoff, Ledwina. In: A. von Droste-Hülshoff, Historisch-kritische Ausgabe: Werke, Briefwechsel, hg. von Winfried Woesler, Bd. V, 1: Prosa. Texte, bearb. von Walter Huge, Tübingen 1978, S. 77–121, hier 97. 19 Mary Shelley, Frankenstein [1818], New York 1996, S. 30. 20 A. von Droste-Hülshoff, Ledwina (wie Anm. 18), S. 93.
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ben. Da Traum und Ereignis auf demselben ontologischen Niveau funktionieren, geht die Möglichkeit der Entwicklung verloren. Der Text wird narzisstisch; er bewegt sich bloss zwischen dem Gegenstand und dessen Bespiegelung. Dennoch erreicht das Fragment eine Art begrenzte Kohärenz durch ein Netz von verdoppelten und wiederholten Motiven, welche die Teile des Textes lose miteinander verbinden.21 Droste-Hülshoffs Notizen zur Fortsetzung deuten aber auf stoffliche und stilistische Änderungen hin. Nur der einsame Tod Ledwinas scheint ihre persönliche Geschichte bis zum Ende zu erzählen.
II Fontane: Die „Melusine“-Fragmente Im Gegensatz zu Droste-Hülshoffs subjektiver Einstellung zu ihrer Hauptfigur ist Fontane eher Beobachter der Protagonistin seiner „Melusine“-Fragmente. Drei Fragmente liefern eine Einsicht in seine literarische Entwicklung, von der balladesken Skizze, „Melusine“ (1877), zum Umriss eines zeitgenössischen Romans, „Oceane von Parceval“ (1882), bis hin zum Prosafragment „Melusine von Cadoudal“ (1895). Nach der Legende heiratet die schöne Melusine den König unter der Bedingung, dass er ihre Kammer nicht betrete, wenn sie beim Baden sei oder gerade ein Kind zur Welt bringe. Als der König das Tabu bricht, entdeckt er, dass Melusine halb Frau, halb Schlange bzw. halb Fisch ist. In späteren Bearbeitungen des Märchens, darunter Fontanes drei Fragmenten, wird aus dem Tabu ein psychologisches oder gesellschaftliches Problem. Fontanes erstes „Melusine“-Fragment bewegt sich zwischen wahrheitsgetreuer Skizze und balladesker Tragödie. Es ist kaum als ‚Fassung‘ zu beschreiben, denn es besteht aus Notizen zu drei unterschiedlichen Plänen, mitunter im Stile eines Monologs. Er plant einen „1 bändige[n] Roman“, dessen Hintergrund, Schauplatz und Figuren ihm gut bekannten Orten und Menschen nachgebildet sind;22 die Heldin soll einen exotischen Namen haben – er denkt als Erstes an etwas Spanisch-Amerikanisches, entscheidet sich aber dann für Melusine. Die Wahl ist fatal, denn damit wird, ob er es beabsichtigt oder nicht, die Legende mit in seinen Roman einbezogen, was die gewünschte Modernisierung erschwert; denn obwohl seine Heldin „eine Art Wassernixe“ und ihr Verschwinden „sagenund legendenhaft“ sein soll, soll sie auch eine moderne junge Frau sein.
21 Vgl. P. Howe, Ledwina (wie Anm. 3), S. 43 f. 22 Theodor Fontane, Melusine. An der Kieler-Bucht. In: NFA, 24 (wie Anm. 27), S. 129 f., Zitat 129.
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In der zweiten Gruppe von Notizen überdenkt er in einer Art Monolog die Wahl des Schauplatzes und die Entstehung eines tragischen Konflikts. Im letzten Satz entwirft er den Kern einer Geschichte, in dem der junge Liebhaber Melusines stirbt. Die dritte Gruppe scheint mit den vorangehenden kaum vereinbar zu sein; hier geht es um eine tragische Liebesgeschichte, die das Balladeske mit dem Problem der Konvenienzehe verbindet, denn Melusine würde lieber den Spielkameraden ihrer Kindheit heiraten als den für sie ausgewählten adligen Bräutigam. Schließlich hat der Leser den Eindruck, dass die faszinierende Figur und der Stoff ergiebig sein könnten, dass Fontane indes noch keine schlüssige Lösung für die Modernisierung der Legende findet. Dagegen zeigt „Oceane von Parceval“ deutliche Spuren der Modernisierung. Der Anfang führt die Hauptfiguren ein, umreißt das Problem und setzt damit einen zeitgenössischen Roman über eine faszinierende, aber unergründliche Frau in Gang. Jedoch standen anscheinend sowohl persönliche als auch literarisch-technische Gründe dem Weiterschreiben im Wege. Am 11. Januar 1882 schreibt Fontane im Tagebuch: „Gearbeitet. ‚Oceane von Parceval‘. […] Abendspatziergang. An Mete nach Rostock geschrieben. […]“23 Am 11. Januar reiste Mete nach Rostock zur Hochzeit einer Freundin, deren Eheschließung sie als Verlust empfand, und in Erwartung der eigenen Verlobung, die aber ausblieb.24 Inwiefern die Sorge um Mete Anlass des Stockens war, ist unklar. Allerdings mögen die persönliche Sorge und kurz danach Rodenbergs abschätzige Rezeption von Ellernklipp zum Teil erklären, warum Fontanes Interesse an dem Thema vorübergehend nachließ. In einem Brief an Alfred Friedmann zitiert Fontane Rodenbergs abschätzige Bemerkung: „Immer wenn er aus dem Modernen in die Historie hineingerät, gerät er auch ins Balladeske,“ wozu er bemerkt: „aber das Balladeske, das hintergrundlich-verschwommen, ossianisch-nebelhaft sein kann, braucht es nicht zu sein und ist es nicht immer“.25 Was Ellernklipp betrifft, fügt er hinzu, es habe ihn „ein wenig verdrossen, den nebelnden Romantikern zugezählt zu werden“. Als müsste er den Beweis dafür liefern, wendet er sich der Arbeit am historischen Schach von Wuthenow zu. Dennoch zeigt das „Oceane“-Fragment, dass Fontane weder das Problem der Doppelnatur seiner Hauptfigur noch die Entwicklung eines glaubwürdigen Konflikts zwischen der Psychologie des Individuums und dem Gesellschaftsleben beherrscht. Von den neun vorgesehenen Kapiteln sind nur diejenigen, die zur
23 Theodor Fontane, Tagebücher 1866–1882, 1884–1898, hg. von Gotthard Erler unter Mitarbeit von Therese Erler, Berlin 1998, S. 149 (GBA). 24 Siehe Regina Dieterle, Die Tochter. Das Leben der Martha Fontane, München, Wien 2006, S. 198–204 (Kap. „Der Bräutigam am Horizont“). 25 Theodor Fontane an Alfred Friedmann, Berlin, 19. Februar 1882. In: HFA, IV, 3, S. 181.
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Einführung, zur endgültigen Krise und zum Schluss gehören, mehr oder weniger kohärent. Das Fragment gleicht also eher einer Kurzgeschichte als einem Roman. Es lässt sich nicht weiter entwickeln, weil Held und Heldin am menschlichen, gesellschaftlichen Leben sehr beschränkt teilnehmen. Oceane ist nur Zuschauerin, sich tragisch bewusst, dass für sie alles zum Bild wird. Ihre Sehnsucht nach dem Meer drückt ihren Mangel an menschlicher Teilnahme und daher ihre Einsamkeit unter den Menschen aus. Ihre Tragödie besteht anscheinend darin, dass sie weiß, dass sie nur ein Traumleben führt, weil ihr jede menschliche Teilnahme fehlt. In einer der wenigen ausführlich dargestellten Episoden, einem Ausflug zu einer Kirche, wo der Schatten eines Kreuzes an der Wand das fehlende Kreuz ersetzt, wird aber die Diskrepanz zwischen der allgemeinen Begeisterung und der eigenen Kälte überwältigend. Inwiefern dieser Zustand psychologisch plausibel ist, bleibe dahingestellt. Melusine will unbedingt zum eigenen Element zurückkehren. Der Held versucht umsonst, sie zu heilen, denn er ist kein Mann der Tat, sondern auch nur Beobachter, für den die rätselhafte Frau Gegenstand wissenschaftlicher Neugierde, erst später des Verlangens ist. Schließlich erweist sich das Fragment als unzulängliches Mittel, die psychologische und gesellschaftliche Isolierung darzustellen, denn, wie der Roman Cécile zeigt, wird die scheinbar ‚kaltblütige‘ Heldin erst interessant, wenn hinter der Unterdrückung des menschlichen Gefühls ein Geheimnis steckt. Die – allerdings begrenzte – Kohärenz der „Melusine“- und „Oceane“-Fragmente entsteht aus einem Netz von beunruhigenden Ereignissen, gegensätz lichen Impulsen und Forderungen. Implizite Strategien wie Verdoppelung und Projizierung schaffen ein Verhältnis zwischen den unterschiedlichen Textfragmenten und den Fassungen der Legende. Die Motivierung der Hauptfigur aber ist entweder von vornherein festgelegt oder verspätet und kaum plausibel. Wie in „Ledwina“ verliert der Tod als Romanschluss seinen metaphorischen Wert als „Antithese zu allen menschlichen Werten und Erfahrungen“,26 denn er hört auf, das unvermeidliche, wenn auch unvorhersehbare Ereignis zu sein, das das Ende des körperlichen Daseins – und oft des Romans – kennzeichnet. Im Gegensatz zu den früheren „Melusine“-Fragmenten ist „Melusine von Cadoudal“ ein fortlaufender Erzähltext in konsequent realistischem Stil. Was die Hauptfigur mit der legendären Melusine gemeinsam hat, ist ihre Abstammung von der französischen Familie, in der die Legende ihren Ursprung hat. Die Handlung spielt sich 1875 ab; als gute Hausfrau etikettiert sie ihre Marmeladengläser „6. 6. 75“. Denn Fontanes dritte Melusine-Gestalt, weit davon entfernt, eine Meer-
26 Elisabeth Stopp, The Metaphor of Death in Eichendorff. In: Oxford German Studies, 4, 1969, S. 69.
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frau zu sein, ist erdgebundene Pragmatikerin, unorthodoxe Christin, die sich mit ihrem ererbten Haus und Garten beschäftigt, während draußen der Krieg droht, worauf der Straßenname „Blücherstraße“ vielleicht hindeutet. Im Gegensatz zu Fontanes anderen Melusinen bemüht sie sich darum, ihre Isolierung zu überwinden und sich einer weiteren Welt anzuschließen. Sie vermietet also ihren leeren Pferdestall an einen Soldaten, sie lernen sich kennen und schließlich heiraten sie. Nach der Hochzeit bricht das Fragment mit einer Frage und mit dem Seufzen Melusines ab. Fühlte sich Fontane wegen des legendenhaften Fluchs der ewigen Wiederkehr dazu gezwungen, mit diesem Seufzen aufzuhören? Hatte sein Interesse an seiner erdgebundenen Melusine nachgelassen? Oder glaubte er, dass das Experimentieren mit der Legende zu prosaisch geworden sei? Diese Fragen bleiben offen, jedoch gewinnt man aus der wiederholten Beschäftigung mit der Figur den Eindruck, dass die „Melusine“- und „Oceane“-Fragmente vorbereitend sind. Was die Hauptfiguren gemeinsam haben, ist das Gefühl, dass sie noch nicht am richtigen Ort sind. Die Sehnsucht danach kommt am stärksten in „Oceane von Parceval“ zum Ausdruck, das auch das größte Potenzial hat. Julius Petersens Bemerkung über „Allerlei Glück“, das Fragment sei ein „Steinbruch, aus dem die Bausteine zu vielen späteren Werken genommen wurden“,27 trifft auch auf diese Fragmente zu, die sich als Quelle – diese Metapher passt hier besser – der Darstellung von problematischen Frauenfiguren wie Cécile oder Melusine im Stechlin erweisen.28 Im Letzteren löst Fontane das Problem der Gegensätze, die sein Experimentieren mit der Melusine/Undine-Legende kennzeichnen, dadurch, dass er zwei weibliche Figuren schafft, Armgard, die sich anscheinend zum Heiraten eignet, und Melusine, die sich als „unfähig zur Bindung“ erweist.29
III Hofmannsthal: Das „Andreas“-Fragment Inwiefern Hofmannsthal Fontanes Werke gekannt hat, ist unklar. Katharina Mommsen entdeckt aber Ähnlichkeiten zwischen Cécile, Effi Briest und Graf Petöfy
27 J. Petersen: Fontanes erster Berliner Gesellschaftsroman (1928). Zit. nach: Theodor Fontane, Fragmente und frühe Erzählungen. Nachträge, hg. von Rainer Bachmann und Peter Bramböck, München 1975 (NFA, 24), S. 806. 28 Siehe Hugo Aust, Effi Briest oder: Suchbilder eines fremden Mädchens aus dem Garten. In: Fontane Blätter, 64, 1997, S. 66–88, bes. 68. 29 Isabel Nottinger, Fontanes Fin-de-siècle. Motive der Dekadenz in L’Adultera, Cécile und Der Stechlin, Würzburg 2003, S. 147 (Würzburger wissenschaftliche Schriften, Bd. 464).
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und dem „Andreas“-Fragment.30 Wie „Ledwina“ und Fontanes „Melusine“-Fragmente schildert „Andreas“ eine zarte Hauptfigur, hier in der unsicheren Umgebung des Habsburger Kaiserreichs. Die komplexe Geschichte des Kaiserreichs, Hofmannsthals Mangel an Erfahrung und sein für das Verfassen eines Romans ungünstiges „Temperament“ werden als mögliche Gründe für den Abbruch genannt. Nach Jakob Wassermann hegte Hofmannsthal eine so tiefe, klare Vorstellung eines Kaiserreichs, „daß die Zertrümmerung Österreichs […] sein herzgemäßestes Gedicht [d. h. „Andreas“] zum Stückwerk verurteilen mußte“.31 Was Hofmannsthals „Temperament“ betrifft, so sei der Stoff „mit seiner IchVerschweigung unvereinbar“ gewesen, so Hermann Broch:32 […] wichtiger als die Fertigstellung und Veröffentlichung war ihm die persönliche Selbsterklärung, Selbstbesinnung, Selbsterziehung, um die es ihm in seinem Dichten seit jeher gegangen ist, und so hat er auch immer vermocht, sich mit Fragmentarischem abzufinden.33
Aufhören ist also eine Selbstzensur, eine Abkehr von jener einzigartigen Modernität, die sich Hofmannsthal zwischen 1907 und 1912, als seine Schreibexperimente den höchsten Grad an Raffinesse erreichten, gleichsam aufgezwungen hatte. Seit dem Beginn des Ersten Weltkriegs stehen die kühnen Experimente der Vorkriegszeit für Hofmannsthal nicht mehr auf der Tagesordnung.34
Ferner, obwohl Wassermann ihn warnt, dass es sich beim Verfassen eines Romans „nicht um die günstige, sondern um die wiederkehrende Stunde“ handle,35 und
30 Katharina Mommsen, Hofmannsthal und Fontane, Bern u. a. 1978 (Stanford German Studies, Bd. 15): Cécile und das „Andreas“-Fragment, S. 115–180; Das kletternde Mädchen in Effi Briest und „Andreas“, S. 181 f.; Das Motiv der Sturmnacht in „Andreas“ und Graf Petöfy, S. 183–203; Hofmannsthal als Leser Fontanes, S. 204 ff. 31 J. Wassermann, Nachwort zur ersten Buchausgabe des „Andreas“ (1932). In: Hugo von Hofmannsthal, Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, Bd. 30, hg. von Manfred Pape, Frankfurt am Main 1982, S. 377. 32 H. Broch, Hugo von Hofmannsthals Prosaschriften (1951). In: Hofmannsthal im Urteil seiner Kritiker. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Hugo von Hofmannsthals in Deutschland, hg., eingeleitet und kommentiert von Gotthart Wunberg, Frankfurt am Main 1972, S. 435–454, hier 445. 33 H. Broch, Hofmannsthals Prosaschriften (wie Anm. 32), S. 445. 34 Jacques Le Rider, „Andreas“. In: J. Le Rider, Hugo von Hofmannsthal. Historismus und Moderne in der Literatur der Jahrhundertwende. Aus dem Französischen von Leopold Federmair. Wien u. a. 1997 (Nachbarschaften. Humanwissenschaftliche Studien, hg. von Georg Schmidt und Sigrid Schmidt-Bortenschlager, Bd. 6), S. 129–157, hier 141. 35 J. Wassermann, Nachwort zur ersten Buchausgabe des „Andreas“ (wie Anm. 31), S. 376.
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der Dichter sich vornimmt, „jeden Tag ein Stückerl“36 zu schreiben, zeigt er eher Begeisterung als Fleiß. Ebenso bedeutsam ist die Gattung Bildungsroman, der das Fragment zugeschrieben wird. Nach Jacques Le Rider ist der Bildungsroman als Muster für die Entwicklung zur Weisheit und Integration in die chaotische Weltordnung nach dem Ersten Weltkrieg unbrauchbar, denn der Krieg „besiegelt […] den Zerfall der Gesellschaft, die der Hauptfigur Widerstand bieten, sich ihr aber auch öffnen soll“.37 Hofmannsthals „Andreas“-Fragment ruft zwar Grundelemente des Bildungsromans auf, nämlich einen naiven Helden, eine Reise, Begegnungen, Abenteuer, Erfolg und Misserfolg, die aus unterschiedlichen Perspektiven und durch verwirrende Spiegelbilder dargestellt werden. Was aber ausbleibt, ist Einsicht des Helden in das eigene Tun und Denken. Andreas’ Reise entwickelt sich zu einer Kette von konfusen Begegnungen. Der Text wiederholt sich nach zunehmend dekadenten und inkohärenten Mustern. Anstatt einer Reihe von formativen Erfahrungen bietet er parallele Episoden, verzerrte Abspiegelungen voneinander, die auf den Verfall der Gesellschaft und damit auch des literarischen Modells hinweisen. Was den Anschein eines Bildungsromans hat, erweist sich als Alptraum der ständigen Wiederholung und als fragmentarisches Abbild einer verdorbenen Gesellschaft, die das Leben im Elternhaus und implizit den Verfall des Kaiserreichs widerspiegeln. Das Fragment beginnt am Ziel der Reise, nämlich in Venedig – der „sonderbaren, unverläßlichen Welt“ meines Titels –, kehrt aber bald zu einer früheren Episode in Kärnten zurück. In beiden begegnet der ahnungslose Andreas seltsamen Menschen, die ihn verleiten und enttäuschen; umsonst sucht er nach weisen Männern und geheimnisvollen Frauen. Trotz Beschämung und Angst lernt er aus seinen Erfahrungen nichts. Sowohl dem Text als auch der Gesellschaft, die er darstellt, fehlt ein leitendes Prinzip. Drei unterschiedliche Erzählstimmen tragen sowohl zur Fragmentierung als auch zum endgültigen Stocken des Textes bei. Die Stimme des dirigierenden Erzählers vermittelt Ereignisse und schildert die exotische, verwirrende Atmosphäre Venedigs und die Schönheiten der österreichischen Landschaft. Eine zweite Stimme vermittelt den subjektiven Standpunkt des unreifen, nervösen Helden:
36 Hugo von Hofmannsthal an den Vater, Gandegg, 23. September [1912]: „So muß ich lernen, mit Geduld zu arbeiten, jeden Tag ein Stückerl.“ In: H. von Hofmannsthal, Sämtliche Werke, Bd. 30 (wie Anm. 31), S. 363. 37 J. Le Rider, „Andreas“ (wie Anm. 34), S. 132.
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[…] stets damit beschäftigt, sich zu überwachen, zu kontrollieren, zu beurteilen, hat Andreas kein klares Bild von der äußeren Welt. Er projiziert lediglich seine Ängste, seine Phobien, seine Vorurteile und Illusionen nach außen, auf Dinge und Lebewesen.38
Diese Stimme vermittelt auch Andreas’ Erinnerungen an das Elternhaus, sein Verliebtsein und den einzigen, beinahe mystischen Moment der Vereinigung mit seiner Umgebung. Die dritte, eher zynische Stimme unterminiert das Konzept ‚Bildung‘, denn sie macht beinahe hämische, verhängnisvolle Bemerkungen, gibt zwecklose Warnungen an den Leser, dass ein Desaster bevorstehe. Sie erörtert die Missbilligung der Eltern, die in Andreas die Entwicklung der Selbständigkeit beeinträchtigt; mit jedem falschen Schritt zieht er sich in seine Erinnerungen an ein streitlustiges Zuhause zurück, das an das Zuhause des verlorenen Sohnes in Rilkes Malte Laurids Brigge erinnert: „der, dem sie aus seiner kleinen Vergangenheit und ihren eigenen Wünschen längst ein Leben gemacht hatten“.39 Andreas spürt, dass er zum „erbarmungslosen Autobiographen der Selbstanklage“ wird,40 der nicht weiß, wie er sich zum „Entscheidende[n] von dem, was er erlebt hatte“41 verhalten soll. Seine Überlegungen und andere, textuelle Warnungen vor einem Desaster sind regressiv; sie deuten darauf hin, dass er seine Erlebnisse weder verstehen noch mitteilen kann, dass also Fortschritt und Reife ausbleiben müssen. Das Fragment „verdreht“ den Bildungsroman, in dem der allwissende Erzähler, oft der reife Held, im Nachhinein die Vergangenheit beurteilt. Der letzte Paragraph des „Andreas“-Fragments fängt mit einem Satz an, der das Verhältnis des unreifen Helden zu seinen seltsamen Erlebnissen und die Form des Fragments kennzeichnet: Dies Geheimnisvolle war für ihn nichts Vergangenes, sondern ein Etwas, das sich kreisförmig wiederholte, und es lag nur an ihm, in den Kreis zurückzutreten, daß es wieder Gegenwart würde.42
Es fehlt dem „Andreas“-Fragment sogar die Kohärenz von Malte Laurids Brigge, wo die Stimme des Erzählers trotz wachsender Introversion bis zum Schluss
38 J. Le Rider, „Andreas“ (wie Anm. 34), S. 143. 39 Rainer Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. In: R. M. Rilke, Prosa und Dramen, hg. von August Stahl, Frankfurt am Main, Leipzig 1996, S. 635. 40 J. Le Rider, „Andreas“ (wie Anm. 34), S. 143. 41 Hugo von Hofmannsthal, Andreas. In: H. von Hofmannsthal, Erzählungen. Erfundene Gespräche und Briefe. Reisen, hg. von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch (Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden, Bd. 7), Frankfurt am Main 1979, S. 198–308, hier 256. 42 H. von Hofmannsthal, Andreas (wie Anm. 41), S. 263.
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erkennbar bleibt. Im Vergleich bietet es das Paradigma eines Menschen, der das, was er erlebt hat, nicht zu erzählen weiß. Als Familiengeschichte, Bildungs- oder historischem Roman fehlt es dem Text an kohärenter Struktur und infolgedessen an der Möglichkeit der Vollendung. Es wäre also sinnvoller, das Werk als Kritik aller drei Gattungen zu betrachten. Denn Andreas’ Erfahrungen spiegeln die Auflösung einer Welt, in der man überall auf Verdorbenheit und Heuchelei stößt. Es gelingt dem naiven Helden nicht, diese Gesellschaft zu verstehen, sich deren heuchlerischer Moral anzupassen, noch sich davon zu trennen. Wie das Land und der Text hat er keine Chance, Ganzheit und Integrität zu erlangen. Das Fragment ist sowohl Opfer als auch Gesellschaftskritik, denn es gelingt dem Dichter nicht, dem Weg der Tradition oder dem der Moderne bis zum Ende zu folgen. Es wird zu einem Trauerlied um sein Land, aber auch zu einem glorreichen Fehlschlag, denn: Unfreiwillig und jenseits seines Mißerfolgs erfindet Hofmannsthal eine Ästhetik des Unfertigen, einer ruinenhaften Schrift, eines „werklosen“ Werks, die dem Leser die Sorge um die Rekonstruktion des großen Gebäudes überläßt.43
„Es ist mit dem Bruchstücklesen immer ein mißlich Ding“,44 schreibt Fanny Lewald, allerdings in Bezug auf den Fortsetzungsroman; mit dem Bruchstückschreiben offensichtlich auch, denn Droste-Hülshoff, Fontane und Hofmannsthal verstummen im Angesicht persönlicher Hemmungen, literarischer Moden und gesellschaftlichen Umbruchs. Jedoch sehen sie der Modernisierung des Romans entgegen, denn ihre Experimente streben nach neuen, den zeitgenössischen Ideen und Entwicklungen gemäßen Formen. Fragmente entstehen nicht aus Mangel an Talent, gelegentlich aber aus Mangel an Erfahrung auf einem bestimmten literarischen Gebiet, oder auch weil bekannte Modelle und eine allwissende Erzählhaltung nicht mehr greifen. Ein Element des Verfalls, aber auch des Umbruchs und der Erneuerung dringen in den modernen Erzähltext ein. Droste-Hülshoff lässt ihr Fragment fallen und wendet sich anderen Plänen zu. Fontane verwandelt seine eher märchenhaften Heldinnen in zeitgenössische Frauengestalten. Auch Hofmannsthal nimmt statt „Andreas“ die Arbeit an Die Frau ohne Schatten und
43 J. Le Rider, „Andreas“ (wie Anm. 34), S. 130. 44 F. Lewald an Paul Heyse, 15. Dezember 1873. In: Der Briefwechsel von Paul Heyse und Fanny Lewald, hg. von Rudolf Göhler. In: Deutsche Rundschau, Bd. 183, 1920, zit. nach: Gabriele Schneider, Zwischen Reflexion und Realismus. Fanny Lewald und der Roman des Lebens. In: Forum Vormärz Forschung, Jahrbuch 2000, 6. Jg., Literaturkonzepte im Vormärz, Bielefeld 2000, S. 224 f.
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damit das Undine-Motiv wieder auf, und verwandelt eine Fee in eine Frau.45 Und mit diesen Verwandlungen sehen wir einen neuen Trend entstehen.
IV Bachmann, Erpenbeck, Atkinson Die amerikanische Schriftstellerin Emily Dickinson schreibt „I dwell in possibility“ (ich bin in der Möglichkeit zuhause).46 Unter ‚possibility‘ versteht Dickinson allerdings die Lyrik, die sie sich als ein geräumiges Haus vorstellt, das „zahlreichere“ Eingänge und „überlegene“ Ausgänge als die Prosa bietet, deren Linearität eher zu geschlossenen Formen zwingt.47 Im 20. und 21. Jahrhundert aber wird auch der Roman ‚geräumiger‘, denn das Spielen mit noch unbekannten Möglichkeiten, mit dem Unvorhersehbaren, Ungewissen wird zum Thema. Ingeborg Bachmanns Undine geht (1961) ruft eine wütende Undine wieder ins Leben. Imaginierte Todesfälle werden aktuell. Jenny Erpenbecks Aller Tage Abend (2012) und Kate Atkinsons Life after Life (2013) behandeln dieses Phänomen als Einladung zum Nachdenken und Interpretieren. Sie stellen das Provisorische, Zufällige, Alternative dar. In beiden geht es um die vielen möglichen Leben einer Frau, angefangen mit der Geburt eines Mädchens, das sofort stirbt, an einem Wintertag; worauf das zweite Kapitel das Ereignis wiederholt, aber damit endet, dass das Kind weiterlebt. Dieses Muster ‚sterben/weiterleben‘ strukturiert das Ganze. Erpenbeck ordnet ihren Roman nach regelmäßigem Muster; Life after Life verläuft eher unregelmäßig, denn die Heldin kommt elfmal zur Welt, bis sie ihre Bestimmung erfüllt – oder vielleicht nicht erfüllt. Beide Romane stellen implizit die Frage ‚Wie, wenn …?‘ Life after Life aber erwägt die Möglichkeit, dass der wiederholte Versuch zu einem Erfolg jenseits aller Erwartung führen könnte. Auf dem Titelblatt steht ein Zitat, mit dem ich schließen möchte, denn es lässt sich auf das Experiment des Fragments im Allgemeinen anwenden, auf die Qualen des Schriftstellertums mit seinen vielen Versuchen und Niederlagen und die übermäßige Freude am
45 Gisela Dischner (Friedrich de la Motte-Fouqué: Undine [1811]. In: Romane und Erzählungen der deutschen Romantik: neue Interpretationen, hg. von Paul Michael Lützeler, Stuttgart 1981, S. 264–284) versteht den Undine-Mythos als Verwandlung eines Naturwesens in einen Menschen durch Ehe und Mutterschaft. Eine ähnliche Interpretion der Verwandlung von Hofmannsthals Frau ohne Schatten findet sich in: H. Broch, Hofmannsthals Prosaschriften (wie Anm. 32), S. 445. 46 Emily Dickinson’s Poems As She Preserved Them, ed. Christianne Miller, Cambridge, Mass., London 2016, S. 233. 47 Helen Vendler (Dickinson. Selected Poems and Commentaries, Cambridge, Mass., London 2010, S. 223) erklärt, dass für Dickinson die Linearität der Prosa sie zu einer geschlossenen Form mache.
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Erfolg, wenn ein Werk gelingt. Es deutet darauf hin, dass Experimente, darunter Fragmente, nicht als Fehlschlag zu beurteilen sind, sondern als Streben nach dem Vollkommenen. Die Quelle ist Nietzsches Die Fröhliche Wissenschaft und die Frage ist die folgende: Wie, wenn dir eines Tages oder Nachts, ein Dämon in deine einsamste Einsamkeit nachschliche und dir sagte: „Dieses Leben, wie du es lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und unzählige Male leben müssen;“ […] Würdest du dich nicht niederwerfen und mit den Zähnen knirschen und den Dämon verfluchen, der so redete? Oder hast du einmal einen ungeheuren Augenblick erlebt, wo du ihm antworten würdest: „du bist ein Gott und nie hörte ich Göttlicheres“!48
48 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft. Viertes Buch. In: F. Nietzsche, Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. V, 2, Berlin, New York 1973, S. 250 ff., hier 341.
Joseph A. Kruse
Von der großen Idee bis zur kleinen Form Über Heines Fragmente
1 Die heineschen Fragmente im Überblick Heinrich Heine ist ein Fragmentist in mancherlei Sinn.1 Er schrieb mit einer in der literarischen „Kritik“ gelegentlich „irritiert“2 aufgenommenen Vorliebe über das Fragment sowie über das Fragmentarische.3 Immerhin handelte es sich dabei um jene spezielle Idee einer von ihm ebenso kräftig wie nachhaltig überwundenen romantischen Epoche, in diesem Fall vor allem der frühromantischen Phase.4 Es war eine Idee, die ihm dennoch zeitlebens vertraut blieb. Sie wies über den Alltag interpretativ hinaus und besaß geradezu einen Historie wie Gegenwart übersteigenden Anspruch. Das Fragment ermöglichte es, einer allenthalben zu beobachtenden Destruktion, einer sogenannten Zerrissenheit, als Schriftsteller angemessen zu begegnen und dadurch adäquatere Beschreibungen zu liefern. Heine verfasste selber einen besonders einprägsamen, ausdrücklich im Untertitel als „Ein Fragment“ bezeichneten Text von erzählerischer Qualität mit
1 Heines Werke werden zitiert nach der Düsseldorfer historisch-kritischen Gesamtausgabe der Werke in 16 Bänden, hg. von Manfred Windfuhr, Hamburg 1973–1997 [zit. als DHA]. – Die Briefe von und an Heine werden zitiert nach der Weimarer Heine-Säkularausgabe, hg. von den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar [dann Klassik Stiftung Weimar] und dem Centre National de la Recherche Scientifique in Paris, Berlin, Paris 1970 ff.: Bde. 20–23 (Briefe von Heine) und 24–27 (Briefe an Heine) [zit. als HSA]. 2 Siehe Gerhard Höhn, Heine-Handbuch. Zeit, Person, Werk. Dritte, überarbeitete und erweiterte Aufl., Stuttgart, Weimar 2004, S. 186. Höhn bezieht in seinem Zusammenhang diese als Zitat kenntlich gemachte Bemerkung freilich auf die fragmentarische Anlage und Struktur der „Reisebilder“, was ich auf den gesamten Fragenkomplex anwenden möchte. 3 Vgl. Joseph A. Kruse, Heine und die Folgen, Stuttgart 2016, S. 84–86. 4 Vgl. Johannes Weiß, Das frühromantische Fragment. Eine Entstehungs- und Wirkungsgeschichte, Paderborn 2015 (Laboratorium Aufklärung, Bd. 27). – Heine war nicht umsonst Verfasser einer Literaturgeschichte unter dem Titel Die romantische Schule, in der er mit poetischen Bildern den literarischen Prozess seiner geradezu existenziellen Vergangenheit mit ihren interessanten romantischen Vertretern plastisch vor Augen führte (vgl. Joseph A. Kruse, „Die romantische Schule“. In: Internationaler Heine-Kongreß 1972, hg. von Manfred Windfuhr, Hamburg 1973, S. 447–463). – Als Beispiel für einen Vertreter von Gewicht sei etwa auf Friedrich Schlegel verwiesen (Der Historiker als rückwärts gekehrter Prophet. Aufsätze und Vorlesungen zur Literatur, hg. von Marion Marquardt, Leipzig 1991). https://doi.org/10.1515/9783110539493-012
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ausgesprochen langer deutsch-französischer Entstehungszeit und solidarischer Bedeutung namens Der Rabbi von Bacherach aus dem vierten Salon-Band von 1840. Oder hatte in seinen letzten deutschen Jahren von 1826 bis 1831 in den vier Reisebilder-Bänden bereits solche von autobiographischer Brisanz vorgelegt wie sein erstes Reisebild Die Harzreise und genauso dann voll professioneller Reflexion wie im abschließenden Reisebild unter der Überschrift Englische Fragmente, wobei durch die Titelwahl gleichzeitig auch ausdrücklich das gemäß seiner publizistischen Sichtweise unkompliziert auf Teilaspekte bezogene Programm bezeichnet wird. Schon die Vorformen seiner Reisebilder, die Briefe aus Berlin und das Memoire Ueber Polen, besitzen einen fragmentarischen Charakter. Ebenso darf bei seinem Erzählwerk Aus den Memoiren des Herren von Schnabelewopski aus dem ersten Salon-Band der frühen Pariser Zeit, datiert auf das Jahr 1834, der Hinweis auf die sich eingebürgert habende Charakterisierung „Fragment eines Schelmenromans“ durch Manfred Windfuhr nicht fehlen.5 Schon der Titel deute auf den Charakter von unvollständigen bzw. ausgewählten Auszügen hin und schon gar die französische Version unter der Überschrift Schnabelewopski. Fragment. Eine Vorläufigkeit des Abschlusses ist darüber hinaus beim dritten erzählerischen Werk, bei den Florentinischen Nächten (im dritten Salon-Band von 1837), ebenfalls nicht auszuschließen. Heines im Rahmen der Geständnisse entstandene Betrachtung Waterloo. Fragment aus den Jahren 1853/54 wurde auf Anraten seines Verlegers Campe wegen politischer Bedenken vom Druck zurückgezogen und erschien erst nach Heines Tod 1869 im Nachlassband. Er verwendete die Charakterisierung „Fragment“ jedoch ebenfalls bei lyrischen Arbeiten, so beim großen späten Dichtergedicht aus dem Zyklus „Hebräische Melodien“ des Romanzero von 1851, das dem spanisch-jüdischen Vorgänger wie Vorbild unter dem Titel „Jehuda ben Halevy“ gewidmet ist und ursprünglich, gewissermaßen als Unterschrift nach vier Abteilungen, diese literarische Angabe zum eigentlich vollendeten Text in Klammern das letzte Wort haben lässt. Auch hinterließ er, weil durch Krankheit und Tod an kein Ende gelangt, das sogenannte Memoiren-Fragment als einen Torso von größerem Zuschnitt. Nach seinen Aufsehen erregenden Versepen der 1840er Jahre Deutschland. Ein Wintermährchen und
5 So schon sein Nachwort der Schnabelewopski-Ausgabe bei Reclam (Univ.-Bibl. 2388), das zuvor im Heine-Jahrbuch, 6, 1967, S. 21–39 abgedruckt wurde: Heines Fragment eines Schelmenromans. „Aus den Memoiren des Herren von Schnabelewopski“. Noch der von Manfred Windfuhr selbst bearbeitete, 1994 erschienene fünfte Bd. der von ihm herausgegebenen Düsseldorfer historischkritischen Ausgabe der Werke Heines (vgl. Anm. 1) enthält im Kommentar unter „Entstehung und Aufnahme“ einen eigenen dritten Abschnitt unter der Überschrift „Fragment eines Schelmenromans“ (S. 777–790), wobei sich der Schluss eigens auf den „Fragmentcharakter“ bezieht und darauf hinweist, die französische Version laute bewusst „Schnabelewopski. Fragment“ (S. 790).
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Atta Troll. Ein Sommernachtstraum entstand während seiner achtjährigen Leidenszeit, die er im Nachwort des Romanzero mit der Wortprägung „Matratzengruft zu Paris“6 umschrieb, ein drittes Versepos namens Bimini, das unvollendet blieb und die vergebliche Suche nach dieser von ihm so genannten karibischen Wunderinsel, dem legendären Hort ewiger Jugend, zum Gegenstand hat. Genauso enthielt sein Nachlass jedoch darüber hinaus eine Fülle von kleinen Formen und Texten oder gelegentlich Exzerpte, die von den Herausgebern als „Gedanken und Einfälle“,7 „Aphorismen“,8 „Aphorismen und Fragmente“,9 „Aufzeichnungen“10 oder „Prosanotizen“11 überschrieben wurden. Sie können, wenigstens zum Teil, einerseits seinen Werken zugeordnet und somit wie Lesarten aus dem Zusammenhang von thematisch zu gliedernden Prosanotizen gelöst, andererseits durchaus als Aphorismen mit eigenem Stellenwert betrachtet werden.12 Dass Bruchstücke und Varianten im heineschen Editionsrahmen insgesamt ihre eigene historisch-kritische Dimension besitzen, muss wohl nicht eigens betont werden.
6 DHA 3, S. 177. 7 So die Heine-Ausgabe („Meyers Klassiker-Ausgaben“) in 7 Bänden von Ernst Elster, Leipzig, Wien 1887–1890, Bd. 7, S. 400–452. 8 So Friedrich Hirth, Heinrich Heines Aphorismen. In: Zeitschrift für Bücherfreunde, N.F. 10, 1918/19, S. 128–135; wieder abgedruckt in: Hirth, Heinrich Heine. Bausteine zu einer Biographie, Mainz 1950, S. 170–180. 9 So die Bogeng-Ausgabe im Band Der Prosa-Nachlass, den Erich Löwenthal betreut hat, Hamburg, Berlin 1925, S. 135–228 (die Einführung dazu S. XXXVII–XXXIX). Und so ebenfalls die Weimarer Heine-Säkularausgabe (HSA), Bd. 12 „Späte Prosa 1847–1856“ [Bearbeiter: Mazzino Montinari, erschienen 1988], S. 185–251. 10 So die verbreitete und in vielen Auflagen sowie dabei in veränderter Band- bei gleichbleibender Seitenzahl in unterschiedlichen Verlagen erschienene Ausgabe der Sämtlichen Schriften, hg. von Klaus Briegleb, deren Grundform in sechs Bänden herauskam, München 1968–1976; Bd. 6 umfasst zwei Teilbände, dabei enthält die 2. Aufl. von Bd. 6/I von 1985 den revidierten Text des Memoiren-Fragments nach Erich Loewenthal. 11 DHA 10 [Bearbeiter: Jan-Christoph Hauschild, erschienen 1993], S. 311–344. 12 Auf die Eigenständigkeit des gesamten Komplexes hat Helmut Koopmann mit Nachdruck hingewiesen: Heines verkannte „Aphorismen“ und „Fragmente“. Literarische Fehlurteile und Überlegungen zu deren Revision. In: Heine-Jahrbuch, 20, 1981, S. 90–107. Dagegen argumentiert Hauschild zwölf Jahre später im Kommentar des von ihm bearbeiteten Bandes 10 der DHA, dass die Vermutung seines Bandbearbeiter-Kollegen Koopmann von Bd. 11 aus dem Jahre 1978 (mit dem „Börne“-Buch) sich „weder auf Aussagen des Autors noch auf den Handschriftenbefund stützen“ könne. In der DHA wurde „mehr als ein Drittel der Notizen“ verschiedenen Werken zugeordnet; der Rest ist im „Anhang“ von Bd. 10 in drei zeitliche Gruppen (bis Mai 1831, Mai 1831–1848, ab 1848) eingeteilt worden (DHA 10, S. 868–871, Zitate S. 869 und 871). – Auf diese Weise boten bestimmte Fragmente Heines einen gegebenen Anlass zum Gelehrtenstreit.
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Das Signum „Fragment“ bildet demnach alles in allem gewissermaßen eine Chiffre von Biographie und Werk Heines zwischen literarischen Stilen und politischen Verwerfungen. Oder anders ausgedrückt: Fragmentarität, auch wenn dem Wissenschaftssatiriker Heine13 solcherart akademische Überhöhung möglicherweise verdächtig vorgekommen wäre, gehört zweifellos zu einer anzuerkennenden Facette unter mannigfaltigsten Verständnismustern von Persönlichkeit und Werk dieses Dichters, den gerade Theodor Fontane kenntnisreich rezipiert hat.14 Dessen Bemerkung in Vor dem Sturm. Roman aus dem Winter 1812 auf 13 könnte wie auf Heine gemünzt oder mit ihm gemeinsam gesprochen sein: „Es gibt ohnehin eine Literatur von Bruchstücken. ‚Fragmente‘ sind das Beste, was man bringen kann.“15 Hintergründiger mag unser auf Heine bezogenes Thema nicht zusammenzufassen sein.
2 Das Wortfeld „Fragment“ bei Heine Am überzeugendsten sind stets schlagende Verwendungen eines entsprechenden Wortfeldes oder eines thematischen Komplexes durch den Verfasser selbst. Wir können hier verständlicherweise nur mit wenigen ausgewählten Beispielen dienen. Die Treffer für das Wort „Fragment“ in der Volltextsuchmaschine des Heinrich-Heine-Portals belaufen sich für die in Frage stehenden Wortformen immerhin auf 199 (für „Fragment“ 116, für den Genitiv „Fragments“ 25, für den Plural „Fragmente“ 39 bzw. „Fragmenten“ noch 9; für das Adjektiv „fragmentarisch“ 5, „fragmentarische“ 3 und „Fragmentarisches“ 2 Treffer). Das sollte uns bei aller berechtigten Bestätigung jener oben berufenen Vorliebe für den besagten Gegenstand allerdings nicht übermütig machen. Denn bei dieser genannten Summe sind zunächst einmal sämtliche Nennungen in den Briefen von und an Heine aus der Weimarer Säkularausgabe sowie vor allem die Verwendung der entsprechenden Worte in der kompletten Düsseldorfer Ausgabe der Werke
13 Vgl. Joseph A. Kruse, „Spinnwebig“. Heines Wissenschaftssatire. In: Von Schillers „Räubern“ zu Shelleys „Frankenstein“. Wissenschaft und Literatur im Dialog um 1800, hg. von Dietrich von Engelhardt und Hans Wißkirchen, Stuttgart 2006, S. 179–190. 14 Vgl. z. B. Hans Otto Horch, „Das Schlechte … mit demselben Vergnügen wie das Gute“. Über Theodor Fontanes Beziehungen zu Heinrich Heine. In: Heine-Jahrbuch, 18, 1979, S. 139–176. 15 Die hier verkürzt wiedergegebene längere Fontane-Stelle bildet immerhin das Motto für die gesamte, ebenso fundierte wie materialreiche und über die hauptsächlich zur Debatte stehenden Autoren weit hinausgreifende Habilitationsschrift von Michael Braun, „Hörreste, Sehreste“. Das literarische Fragment bei Büchner, Kafka, Benn und Celan, Köln, Weimar und Wien 2002, S. [V].
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Heines verzeichnet, also auch das wiederholte Auftauchen von Titeln, und zwar nicht nur von Heine, sondern auch anderer Autoren, ob durch den Dichter oder im Kommentar, und solche Treffer, die sich ausschließlich auf die Kommentare beziehen. Und dadurch wird die gute Zweihundertschaft selbstverständlich schnöde relativiert. Dennoch lassen sich beim Betrachten der eigentlich gehaltvollen bzw. relevanten Nennungen mithilfe der selbstverständlich vorhandenen eingrenzenden technischen Abfragen einige wahrhaft bemerkenswerte Eindrücke erzielen.16 Setzen wir beispielsweise beim Briefwechsel ein. Bei den Briefen an Heine mit ihren sechs Einträgen zu „Fragment“ (andere Substantivformen können vernachlässigt werden) ergeben sich beispielsweise nur zwei echte Verwendungen des Wortes, während die vier anderen sich als Editionsnotiz auf die nur fragmentarische Überlieferung der jeweiligen Briefe beziehen. Zitiert sei zur Illustration unserer überhaupt nicht einvernehmlichen Textform des Fragments das wenig zustimmende verlegerische Echo seines Hamburger Verlegers Julius Campe vom 14. August 184017 auf Heines Erzähl-Fragment Der Rabbi von Bacherach, schlichtweg darin bestehend, dass, so Campe wörtlich, dieses Werk, man möchte zum besseren Verständnis hinzufügen: beklagenswerterweise, „e i n F r a g m e n t ; ohne Schluß – ohne Befriedigung“ sei. Und ein solcher Mangel kann angesichts des im selben Brief kritisierten, von einem großen Teil des Publikums nämlich abgelehnten heineschen Angriffs in seiner Denkschrift über Börne auf den allseits geachteten, zumal ebenfalls jüdischen Kollegen umso weniger aus dem Schlamassel einer schlechten Reputation retten, sondern bildet eher die Verstärkung für die verbale verlegerische Bankrotterklärung seines seit fast einem Jahrzehnt in Paris lebenden Vorzeige-Autors Heine. Als französisches Wort „fragment“ für einen Teilabdruck von Heines französischer Fassung seiner Geständnisse (Aveux d’un poète) in der Revue des Deux Mondes, den seine Pariser Freundin Caroline Jaubert, Schwägerin des bekannten Orientalisten, mit Bewunderung gelesen hatte und worüber sie dem kranken Dichter am 21. September 185418 mit bewegten Worten berichtete, belegt der Begriff einfach die geradezu europäische Benutzung für den Auszug aus einem kompletten Text.
16 Erstaunlich ist, dass die sehr verbreitete, kenntnisreich kommentierte sog. Hanser-Ausgabe der Sämtlichen Schriften Heines, hg. von K. Briegleb, mit ihrem so bewundernswert differenzierten Register sich des Fragments überhaupt nicht angenommen hat. Ihre Entstehungszeit rückte vielmehr mit damals offenbar guten Gründen den ganzen und großen politischen Heine in den Mittelpunkt. 17 HSA 25, S. 275. 18 HSA 27, S. 225.
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Heines eigene briefliche Äußerungen zu „Fragment“ unter 16 Treffern sind dagegen von spezieller Aussagekraft, können hier begreiflicherweise freilich nur andeutungsweise gestreift werden. Er spricht schon im Oktober 1826 in Bezug auf seine im zweiten Band der Reisebilder erschienenen Ideen. Das Buch Le Grand mehrmals von „einem selbstbiographischen Fragment“, in dem er sich „versucht“ habe, bzw. von einem „Fragment aus meinem Leben, im keksten Humor geschrieben“.19 Oder spricht anderthalb Jahre später von einem angefangenen und nicht vollendeten Brief, den er seinem Freund und Förderer Varnhagen nunmehr zur „Beglaubigung“ mitschickt, nach üblichem Sprachgebrauch ausdrücklich als „Fragment“.20 Karl Immermann gegenüber charakterisiert er am zweiten Weihnachtstag 1829 seine gerade im dritten Reisebilder-Band erschienenen Bäder von Lukka als „Fragment eines größeren Reiseromans“, den er später vollenden wolle.21 Versäumt sei nicht ein Hinweis auf das ihm wichtige und ausdrücklich so genannte „Fragment“ seiner frühen, unter den Augen von August Wilhelm Schlegel in Bonn entstandenen Übersetzung aus Lord Byrons dramatischer Dichtung Manfred, jener Ikone der europäischen Romantik, in zwei Briefen aus Paris aus den Jahren 1846 und 1848 an seinen Verleger Campe mit Vorschlägen für eine von ihm sehr gewünschte Gesamtausgabe.22 Und schließlich: Wie seine Freundin Caroline Jaubert nennt er 1854 den französischen Vorabdruck seiner Geständnisse in der Revue des Deux Mondes in einem Brief an Campe „Fragment“, von dem die Augsburger Allgemeine Zeitung, obgleich sie wusste, dass das deutsche Buch im Begriff war „vom Stapel zu laufen, dennoch sich nicht entblödet“ habe, davon „eine hundsföttisch miserable Übersetzung zu liefern“.23 Heines Verständnis des Wortes Fragment scheint übrigens noch ganz in der Tradition des Grimm’schen Wörterbuchs zu stehen. Dort wird in einem wahrlich knappen Eintrag zu „Fragment“ (weitere Stichworte lauten: fragmentarisch, fragmentieren und Fragmentist) mit der Bedeutung „Bruchstück“ nur auf die Beziehung dieses Wortes in Verbindung mit Stoff- wie Kleidungsstücken bzw. auf deren Verschleiß hingewiesen und zu diesem Behufe ein Vers des Rokokodichters Klamer Schmidt (1746–1824) aus dem Halberstädter Dichterkreis um Gleim herangezogen: „fragmente grosz und klein, und unergänzlich hiengen / um deine
19 An die Berliner Freunde Moses Moser, 14. Oktober 1826 (HSA 20, S. 267) und Karl August Varnhagen von Ense, 24. Oktober 1826 (HSA 20, S. 271). 20 Er habe sein Schreiben vom 12. Februar 1828 „in Mitten des Briefes unterbrochen“ und zur „Beglaubigung“ als „Fragment“ dem Brief vom 1. April 1828 beigefügt, heißt es (HSA 20, S. 321). 21 HSA 20, S. 372. 22 HSA 22, S. 231 und HSA 22, S. 278. Vgl. den Druck der Übersetzung von Manfred DHA 1, S. 550– 558 und 1221–1224. 23 HSA 20, S. 372, an Campe, 3. Oktober 1854.
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röcke her, die auf die neige giengen.“24 Jener damals beliebte Autor liefert als gern benutzter Gewährsmann übrigens noch mit wörtlichem Zitat der ersten beiden Zeilen und dann veränderten bzw. bearbeiteten, auf den Anlass des 16. Hochzeitstages der Eltern bezogenen zwei folgenden Zeilen das Vorbild für Heines jugendliches Glückwunschgedicht in Zierschrift an seine Eltern vom 6. Januar 1816: „O, habt ihr über Glück und Unglück noch Gewalt / Ihr Götter! – Gebt dem Glück auf heute viel’ Befehle“, ursprünglich ein Vierzeiler, der aus dem Göttinger Musenalmanach von 1777 stammt und für Minnas 20. Geburtstag bestimmt war,25 hingegen für einen damaligen jüdischen Haushalt einen ungemein emanzipierten, ja assimilierten Eindruck macht, der offenbar seine im Kreise der Düsseldorfer Familie unangefochtene Berechtigung besitzt. Denn immerhin waren die Knaben der Heine-Familie aus der Düsseldorfer Bolkerstraße die einzigen Jungen israelitischen Bekenntnisses aus einer zwar überschaubaren, aber durchaus präsenten Jüdischen Gemeinde, die das Lyzeum im ehemaligen Franziskanerkloster besuchten. Auf diese Weise könnte man auf die Idee verfallen, dass untergründig bei unseren Dichtern und bei den Studien über sie eben doch alles mit allem zusammenhängt, zumal wenn man Heines Bemerkung über Die Harzreise an Moses Moser vom 11. Januar 1825 vergleicht, wo er über sein frühes Reisebild urteilt, es bilde „im Grunde ein zusammengewürfeltes Lappenwerk“. Im selben Brief schreibt er: „Nur dann und wann kann ich Stückchen meiner Memoiren schreiben“, womit er mancherlei autobiographische Pläne treffen mag, und fährt, sein eigenes Schreibverfahren und den Stil durchaus richtig einschätzend, sehr passend fort: „die einst zusammengeflickt werden. O Flickwerk!“26 Auch muss des Wortes „Ruine“ gedacht werden, wovon es allein 64 Treffer mit sehr großem französischem Anteil gibt, und des Plurals „Ruinen“, der obendrein 52 Treffer erzielt, darunter den zweifellos bewundernswerten Aphorismus, ein bei Heine übrigens so nicht vorkommender Terminus: „Wir begreifen die Ruinen nicht eher als bis wir selbst Ruinen sind –“27 Denken wir daran, dass es eine aus-
24 Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 4, Sp. 55 (aus Klamer Schmidt, Neue poetische Briefe, 1790, S. 116). 25 DHA 1, S. 562 und 1226 f. – Hier seien die an den angegebenen Orten jeweils dritten und vierten Zeilen der Fassungen von Bearbeitung und Original zitiert: „Denn Vater und Mutter, die schöne Seele / Feyern heut, ihren schönsten Tag.“ (Heine) – „Denn Grazie, Verstand und schöne Seele / Sind heute zwanzig alt“ (Schmidt), wodurch deutlich wird, dass Heine selbst im Teil für die Eltern sich noch bei Kl. Schmidt bedient. 26 HSA 20, S. 184, vgl. auch den Kommentar, wo von Memoiren-Plänen, „vermutlich in Tagebuchform“, die Rede ist (HSA 20K, S. 103). 27 DHA 10, S. 320.
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gesprochene „Ruinenpoesie“28 gegeben hat, woran die auch von Heine bediente Rheinromantik ihren Anteil hatte. Das Wort „Torso“ dagegen taucht nur in einer kunsthistorischen, bis heute üblichen Bezeichnung auf.29 Allerdings bringt „zerrissen“ es allein in den Werken auf 44 Treffer. Die geradezu klassische Stelle aus den Bädern von Lukka sei hier zu diesem Komplex ausführlich zitiert: Lieber Leser, gehörst du vielleicht zu jenen frommen Vögeln, die da einstimmen in das Lied von byronischer Zerrissenheit, das mir schon seit zehn Jahren, in allen Weisen, vorgepfiffen und vorgezwitschert worden, und sogar im Schädel des Markese, wie du oben gehört hast, sein Echo gefunden? Ach, theurer Leser, wenn du über jene Zerrissenheit klagen willst, so beklage lieber, daß die Welt selbst mitten entzwey gerissen ist. Denn da das Herz des Dichters der Mittelpunkt der Welt ist, so mußte es wohl in jetziger Zeit jämmerlich zerrissen werden. Wer von seinem Herzen rühmt, es sey ganz geblieben, der gesteht nur, daß er ein prosaisches weitabgelegenes Winkelherz hat. Durch das meinige ging aber der große Weltriß, und eben deßwegen weiß ich, daß die großen Götter mich vor vielen Anderen hochbegnadigt und des Dichtermärtyrthums würdig geachtet haben.30
Soweit Heines Beschwörung der Wunde seiner Zeit. Gleichzeitig wird damit ein Hinweis auf das Gegenteil des Fragmentarischen, des Bruchstücks und der Zerrissenheit geliefert, nämlich auf das „Ganze“, wobei dieses mehrschichtige Wörtchen „ganz“ insgesamt allein schon mit 3.802 Treffern den Vogel abschießt. Im Anschluss an die eben zitierte Stelle räsoniert Heine genau über den Paradigmenwechsel von Ganzheit und Zerrissenheit und schreibt: Einst war die Welt ganz, im Alterthum und im Mittelalter, trotz der äußeren Kämpfe gab es doch noch immer eine Welteinheit, und es gab ganze Dichter. Wir wollen diese Dichter ehren und uns an ihnen erfreuen; aber jede Nachahmung ihrer Ganzheit ist eine Lüge, eine Lüge, die jedes gesunde Auge durchschaut und die dem Hohne dann nicht entgeht. Jüngst, mit vieler Mühe, verschaffte ich mir in Berlin die Gedichte eines jener Ganzheitdichter, der über meine byronische Zerrissenheit so sehr geklagt, und bey den erlogenen Grünlichkeiten, den zarten Naturgefühlen, die mir da, wie frisches Heu, entgegendufteten, wäre mein armes Herz, das schon hinlänglich zerrissen ist, fast auch vor Lachen geborsten, und unwillkürlich rief ich: Mein lieber Intendanturrath Wilhelm Neumann, was gehen Ihnen die jrine Beeme an?31
28 Siehe Gero von Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, 4., verbesserte und erweiterte Aufl., Stuttgart 1964, S. 604 (Kröners Taschenausgabe, Bd. 231). 29 DHA 15, S. 54. 30 DHA 7, S. 95. 31 DHA 7, S. 95.
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Aus gegebenem 500-jährigem Jubiläumsanlass sei angefügt, dass vor allem der Reformator Martin Luther nach Heines Verständnis das Wörtchen „ganz“ verdient. Er war „ganz gesund“ und „konnte sich ganz versenken ins reine Geist thum“: „Er war ein kompleter Mensch, ich möchte sagen ein absoluter Mensch, in welchem Geist und Materie nicht getrennt sind.“32 Denn obwohl bei vorliegender Erörterung mehrmals die Götter berufen wurden, sei daran erinnert, dass der biblische Gott – und somit zugleich sein deutscher Übersetzer Luther – für den Dichter zweifellos die größere, geradezu existenzielle Attraktion besaßen.33
3 Kurze fragmentarische Vertiefung Es kann sich bei unseren folgenden Bemerkungen zum Verständnis wie Verhalten Heines, was das Fragment betrifft, selber nur um Bruchstücke handeln. Doch einige weitere heinesche Bezugnahmen auf unser Thema verlangen in gebotener Kürze einfach nach Zitat wie Vertiefung. Ohne seinen ironischen Text über das fragmentarische Leben und dessen angeblich einzig mögliche sinnstiftende Interpretation durch die deutsch-professorale Tätigkeit vermögen wir nicht hinter die Kulissen von Gelehrtenkritik und unabhängigem Selbstwertgefühl zu blicken. Mit parodistischen Anklängen auf Goethes Faust operiert nämlich der lyrische Hieb gegen die akademische Welt Göttingens aus dem „Heimkehr“-Zyklus des Buchs der Lieder von 1827: Zu fragmentarisch ist Welt und Leben! Ich will mich zum deutschen Professor begeben, Der weiß das Leben zusammen zu setzen, Und er macht ein verständlich System daraus; Mit seinen Nachtmützen und Schlafrockfetzen Stopft er die Lücken des Weltenbau’s.34
Sechs Zeilen als kleines Gedicht von Reaktion, Echo oder Nebenstimme, wie die Zyklen in Heines Gedichtsammlungen angelegt sind. Wiederum lässt das Grimm’sche Wörterbuch grüßen, wobei die heruntergekommenen akademischen
32 DHA 8, S. 32 f. („Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland“, 1. Buch). 33 Vgl. Joseph A. Kruse, Heinrich Heine und die Religion(en). In: Stimmen der Zeit, 234. Bd., 141. Jg., H. 5, Mai 2016, S. 335–345. 34 DHA 1, S. 271. Es ist die Nr. 58 von 88 gezählten „Heimkehr“-Gedichten, denen fünf ungezählte große Texte folgen; den Abschluss bilden die drei Balladen mit jüdischem, islamischem und christlich-katholischem Inhalt.
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Kleidungsstücke als Notlösungen zur rettenden Beantwortung der Welt- wie Lebensfragen auf das abgelebt oder verschlafen nächtlich Träumerische, wenn nicht Traumatische der wissenschaftlichen Leistung oder deren Attitüde verweisen. Dass Heine selber durchaus eine eigene akademische Universitätslaufbahn als Professor angestrebt hat, soll an dieser Stelle allerdings nicht verschwiegen werden.35 Noch im eigens als Fragment titulierten „Jehuda“-Gedicht aus den „Hebräischen Melodien“ des Romanzero von 1851 gibt es jene Strophe, die Leben, Weben und Stoff oder Gewirktes zur Erklärung des späten poetischen Selbstverständnisses und des Weltlaufs heranzieht. Jahre kommen und vergehen – In dem Webstuhl läuft geschäftig Schnurrend hin und her die Spule – Was er webt, das weiß kein Weber.36
Das Erzeugnis von Webstuhl und Weber als unauflösliche Textur der Geschichte – und somit immer ein Fragment aus dem unaufhörlichen Ablauf der Zeit! Nicht umsonst hat der Dichter trotz des Ärgers mit seiner bildnerischen Darstellung diese Strophe im Faksimile der eindrucksvollen, durch den Verlag vertriebenen Lithographie des blinden Schmerzensmanns Heine aus der Werkstatt von Friedrich Adolph Hornemann nach der Zeichnung von Ernst Benedikt Kietz im Jahre 1851 hinzufügen lassen.37 Unendliches Weben war denn auch die Chiffre des zu Lebzeiten unterdrückten Flugblatt-Zeitgedichtes von 1844 über „Die schlesischen Weber“38 gewesen: Eine Androhung des zu webenden Leichentuchs für Deutschland, das mit der pervertierten Trias Gott, König und Vaterland Schindluder getrieben hatte, bot jene „Fluch“-Metapher für die soziale Frage mit ihren Folgen aus tödlichem Scheitern und Hoffnungslosigkeit, das sich nur noch in Revolution verwandeln ließ. Ausdrücklich war auch die Harzreise, ein poetisches Dokument, das den biographischen Übergang von der jüdischen Herkunft zur christlichen Taufe
35 Vgl. Jan-Christoph Hauschild, Professor Heine? Von den Lockungen einer akademischen Karriere. In: Heinrich Heine im Spannungsfeld von Literatur und Wissenschaft. Symposium anläßlich der Benennung der Universität nach Heinrich Heine, hg. von Wilhelm Gössmann und Manfred Windfuhr, Essen 1990, S. 41–52. 36 DHA 3, S. 136 37 Vgl. Heinrich Heine im Porträt. Wie die Künstler seiner Zeit ihn sahen, hg. von Christian Liedtke, Hamburg 2006, S. 65. 38 DHA 2, S. 150.
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umspannt, für ihn ein Fragment geblieben – wiederum mit Bezug auf Spinnen und Weben und unter Einschluss der Ankündigung einer textsortenunabhängigen Verwendung des Erzähl-Stoffes. Es heißt dort gegen Ende: Die „Harzreise“ ist und bleibt Fragment, und die bunten Fäden, die so hübsch hineingesponnen sind, um sich im Ganzen harmonisch zu verschlingen, werden plötzlich, wie von der Scheere der unerbittlichen Parze, abgeschnitten. Vielleicht verwebe ich sie weiter in künftigen Liedern, und was jetzt kärglich verschwiegen ist, wird alsdann vollauf gesagt. Am Ende kommt es auch auf Eins heraus, wann und wo man etwas ausgesprochen hat, wenn man es nur überhaupt einmal ausspricht. Mögen die einzelnen Werke immerhin Fragmente bleiben, wenn sie nur in ihrer Vereinigung ein Ganzes bilden. Durch solche Vereinigung mag hier und da das Mangelhafte ergänzt, das Schroffe ausgeglichen und das Allzuherbe gemildert werden.39
Der quasi-religiöse Ton, der eine Anspielung auf den 1. Korintherbrief des Apostels Paulus und zwar auf den Schluss jenes Hohenliedes auf die Liebe im berühmten Kapitel 13 sein könnte, nämlich auf die Verse 9–12, mit ihrem Verweis auf das „Stückwerk“ von „Wissen“ und „Weissagen“,40 sowie ein mythologisches Einsprengsel gehen in die Richtung seines Bildes vom Dichter mit dem ihm auferlegten Amt als Seher und Prophet. Das entspricht durchaus der heineschen lebenslangen Berufsauffassung.41 Auch die Vorrede zur zweiten Auflage von Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (im zweiten Band von Der Salon) charakterisiert diese Darstellung im Rahmen seiner deutsch-französischen Transferleistungen der 1830er Jahre fast zwei Jahrzehnte nach ihrem Erscheinen als „Fragment“:
39 DHA 6, S. 134 f. 40 Auszüge der entsprechenden Verse aus Kap. 13 nach der Lutherbibel von 1545: „9 Denn unser Wissen ist Stückwerk, und unser Weissagen ist Stückwerk. 10 Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören. […] 12 Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort, dann aber von Angesicht zu Angesichte. Jetzt erkenne ich’s stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleich wie ich erkannt bin.“ – Vgl. dazu die Verse in der dem griechischen Original besonders nahe kommenden modernen Übertragung von Fridolin Stier: „9 Denn: Nur zu einem Teil erkennen wir; / nur zu einem Teil reden wir prophetisch. / 10 Wenn aber das Vollkommene kommt, / Wird das Teilstück abgetan. […] 12 Noch blicken wir ja nur durch einen Spiegel / – in Rätselgestalt –, / dann aber von Angesicht zu Angesicht. / Noch erkenne ich nur zum Teil, / dann aber werde ich voll erkennen, / wie ich selbst voll erkannt ward“ (Das Neue Testament. Übersetzt von Fridolin Stier. Aus dem Nachlaß hg. von Eleonore Beck, Gabriele Miller und Eugen Sitarz, München, Düsseldorf 1989, S. 377). 41 Vgl. z. B. Sabine Bierwirth, Heines Dichterbilder. Stationen seines ästhetischen Selbstverständnisses, Stuttgart, Weimar 1995.
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Das vorliegende Buch ist Fragment, und soll auch Fragment bleiben. Ehrlich gestanden, es wäre mir lieb, wenn ich das Buch ganz ungedruckt lassen könnte. Es haben sich nemlich seit dem Erscheinen desselben meine Ansichten über manche Dinge, besonders über göttliche Dinge, bedenklich geändert, und manches, was ich behauptete, widerspricht jetzt meiner bessern Ueberzeugung. Aber der Pfeil gehört nicht mehr dem Schützen, sobald er von der Sehne des Bogens fortfliegt, und das Wort gehört nicht mehr dem Sprecher, sobald es seiner Lippe entsprungen und gar durch die Presse vervielfältigt worden.42
Auch hier in dieser Schrift, einem ähnlich wie die Harzreise mentalitätsgeschichtlich besonders wichtigen Dokument, war bereits nach dem Muster des Erzählwerks Aus den Memoiren des Herren von Schnabelewopski der Titel selbst ein verräterischer Hinweis auf Teile oder Bruchstücke gewesen. Der Möglichkeiten, sich über geistige oder literarische Prozesse auszusprechen, gab es naturgemäß kein Ende. Insofern sind auch Pläne beispielsweise zur Fortsetzung der Romantischen Schule verständlich.43 Und alles in allem noch mehr das Ineinandergreifen ganzer Werkkomplexe über sämtliche Gattungen und Schreibalter hinweg. Seine persönliche Schreibanweisung aus den Briefen aus Berlin blieb bis zuletzt gültig, durch die jede „Systematie“, die den „Würgengel aller Korrespondenz“ bedeute, ausgeschlossen werde: „Assoziazion der Ideen soll immer vorwalten.“44
4 Neues Fragment aus altem Mosaik (Jenny Erpenbeck, Aller Tage Abend) Wenigstens eine kleine wirkungsgeschichtliche Stelle als neues Fragment eines weltweit bekannten alten Rhein-Mosaiks, nämlich aus Heines Buch der Lieder, soll zum Abschluss Erwähnung finden. Es handelt sich dabei um eine unausgesprochene Wirkung des Loreley-Gedichts „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, / Daß ich so traurig bin“,45 auf das eine sterbende über 90-jährige Schriftstellerin am Ende des Romans Aller Tage Abend aus dem Jahre 2012 von Jenny Erpenbeck, Trägerin des Thomas-Mann-Preises Lübeck und München 2016, in abgewandelter,
42 DHA 8, S. 497. 43 Das lag u. a. auch an der deutsch-französischen Entstehungsgeschichte seiner Literaturgeschichte, andererseits am Auswahlprinzip, das durchaus nach Erweiterungen verlangte; vgl. dazu DHA 8, wo Bearbeiter und Herausgeber Manfred Windfuhr sowohl die Bruchstücke wie Pläne würdigt. 44 DHA 6, S. 9 (1. Brief, Berlin, den 26. Januar 1822). 45 DHA 1, S. 206–209 (Text des zweiten „Heimkehr“-Gedichtes nach dem Erstdruck und der Ausgabe letzter Hand).
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Joseph A. Kruse
nämlich in einer auf die Protagonistin selber angewandten Fassung bzw. Form eines verfremdeten Zitats der beiden Anfangszeilen verweist. Der Roman lebt von variierten Rekonstruktionen einer Familiengeschichte, die am Ende das – allerdings ohne jegliche Namensanspielung beschworene – Schicksal der in Wien aufgewachsenen und später nach Moskau emigrierten DDR-Schriftstellerin Hedda Zinner und ihres Sohnes John Erpenbeck, Träger des Heine-Preises der DDR von 1982 und Vater der 1967 geborenen Schriftstellerin Jenny Erpenbeck, beschreibt. Das berühmte, in einen melancholischen Privatrahmen eingebettete HeineGedicht mit seiner ersten Strophe („Ich weiß nicht“ am Anfang) und mit der letzten bzw. sechsten Strophe („Ich glaube“ am „Ende“) beschwört einen rheinromantisch traumartigen Odyssee-Bezug zum Echo-Felsen jener Sirene „LoreLey“, deren Singen dem „Schiffer im kleinen Schiffe“ den Untergang bringt; dabei erschafft es in den inneren vier Strophen ein eindrucksvolles, vieldeutiges Mosaik des klassischen Mittelrheins und damit selber einen fragmentartig wirkenden Ausschnitt aus einer mythisch oder sagenhaft überhöhten Landschaft mit Bergen und Strom. Zauber wie Verführungskraft sind aus Aberglauben und Erfahrung erwachsen. Jenny Erpenbecks Roman-Ende verlässt sich allein auf die Anspielung auf den Gedichtanfang als Fragment, das der Kenner schon zu entschlüsseln verstehen wird und im größeren neuen Ganzen gewissermaßen als Sinnspitze des nacherzählten Literatenlebens, ja als dessen Todesbotschaft für den nächsten frühen Morgen begreifen kann: Kommst du zurecht, fragt der Sohn. Jaja, sagt die Mutter. Ein Jahrhundert hab ich auf die Arme gezwungen. Momentan, meine ich. Ich sage der Schwester Bescheid, dass sie dir beim Umziehen hilft und dich zu Bett bringt, in Ordnung? Ich weiß nicht, sagt die Mutter, was mag es bedeuten, dass wir so traurig sind. Ich geh dann, Mutter, sagt der Sohn. Jaja, sagt die Mutter, geh nur Junge, und setz die Mütze auf.46
Die Anspielung auf die „Loreley“ wird aus dem individuell privaten Kontext bei Heine (mit der Erklärung des Gemütszustandes durch die poetisch erst erfundene Lokalsage) bei Erpenbeck zu einer Beschreibung eines langen, nicht leicht zu bewältigenden Lebens unter allen Beschwernissen des 20. Jahrhunderts. Ein anspielungsreiches Fragment wird somit unausgesprochen zu einem solidari-
46 Jenny Erpenbeck, Aller Tage Abend. Roman, München 2012, S. 282. Diesem letzten Gespräch mit dem Sohn folgt nur noch eine einzige Seite lang die Beschreibung der Todesmeldung sowie der Trauerarbeit des Sohnes durch sein Weinen, „wie er noch niemals geweint hat“ (S. 283).
Von der großen Idee bis zur kleinen Form
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schen Akt mit dem Dichter Heine, der mit der Schriftstellerin Zinner so vieles gemeinsam hatte. Und das sind eben die jüdische Herkunft und deren traumatische Erfahrung, die im 20. Jahrhundert noch um den vielfachen, unbeschreiblichen Schrecken des Holocausts verstärkt wurde. Es ist das politische Engagement genauso wie die Emigration. Das rheinromantische Gedicht von der Loreley erhält damit doch einen kaum greifbaren Verweis auf das jüdische Schicksal und schließt sich somit an das von Heine geschaffene „Beispiel jüdischer Rheinromantik“47 durch den Rabbi von Bacherach (Ein Fragment) an. „Wahrlich, der alte, gutherzige Vater Rhein kann’s nicht leiden“, heißt es dort, „wenn seine Kinder weinen“.48 Gemeint sind hier „die Thränen der schönen Sara“, der jungen, kinderlosen Frau des Rabbis Abraham, auf der Flucht nach Frankfurt am Main, aber selbstverständlich auch die verfolgten und einem Pogrom zum Opfer gefallenen Mitglieder der kleinen Judengemeinde in Bacharach. Vom Weinen ist denn auch das Ende des Romans Aller Tage Abend bestimmt. Beim Sohn lösen sich die mehrdeutig vielfältige Trauer über den Tod der Mutter und manche Lebensrätsel durch nächtliche Tränen. Es könnte sich gemäß einer großartigen literarischen Würdigung des in Rede stehenden Dichters gewissermaßen um „Heines Tränen“ handeln, wie Martin Walser sie in eindrucksvoller Rhetorik bereits 1981 beschrieben hat.49
47 Vgl. Joseph A. Kruse, Nachwort zu Heinrich Heine, Der Rabbi von Bacherach. Ein Fragment. Mit Illustrationen von Max Liebermann, Frankfurt am Main 1985, S. 91–104, hier 98. 48 DHA 5, S. 118. 49 Vgl. Martin Walsers Rede zur Verleihung der Ehrengabe der Heinrich-Heine-Gesellschaft 1981 mit dem Titel „Heines Tränen“. In: Heine-Jahrbuch, 21, 1982, S. 206–227.
Michael Ewert
Ins Offene und Weite denken Zur Produktivität der kleinen Formen bei Fontane
Was gilt? Eng oder weit, Fern oder nah.1
Fontane hat wie fast alle seiner zeitgenössischen Schriftstellerkollegen eine beträchtliche Zahl an Fragmenten hinterlassen, Einfälle und Notizen, Materia lien, Projektskizzen und Entwürfe.2 Es handelt sich um Texte mit sehr unterschiedlichem Umfang und Ausarbeitungsgrad, darunter zwei- oder mehrzeilige Notate, mehr oder minder flüchtige Impressionen, Charakterstudien, Essays und unvollendete Erzählungen wie „Allerlei Glück“, „Storch von Adebar“ und „Die Likedeeler“. Für den gesamten Komplex dieser Bruchstücke und Erzählbausteine, die allesamt einen transitorischen Charakter haben und spezifische Funktionen im Schaffensprozess des Autors erfüllen, schlagen Christine Hehle und Hanna Delf von Wolzogen unter Hinweis auf handwerkliche und produktionsästhetische Aspekte den treffenden Begriff des Arsenals vor.3 Fontanes Schreiben war in der Tat „eingebettet in einen umfassenderen Vorgang des Beobachtens, Hörens, Erfahrens, Lesens, von den verschiedenen Formen des Notierens – das situative Notieren einer Information, einer eben gehörten Sentenz, eines interessanten Namens oder Stoffes und das klassische Exzerpieren eines Buches […] – bis hin zum eigentlichen Schreiben eines Textes, das jedoch durch die Technik des kommentierenden Selbstgesprächs mit den vorausgehenden Aktivitäten stets verbunden blieb“.4 Einen solchen Wahrnehmungs-, Verarbeitungs- und Textualisierungsmodus hat Petra Spies mit theoretischer Bezugnahme auf Roland Barthes als „apparatus of creativity“ analysiert,5 als eine Form des „Lesens, das schon
1 Theodor Fontane, Fragmente. Erzählungen, Impressionen, Essays. Im Auftrag des TheodorFontane-Archivs hg. von Christine Hehle und Hanna Delf von Wolzogen, 2 Bde., Berlin, Boston 2016, Bd. I, S. 319. 2 In den großen Fontane-Ausgaben lagen die Fragmente bisher nur unvollständig vor. Zusammen mit unpublizierten Texten aus Archiven und Bibliotheken sind sie jetzt in einer umfassenden Edition versammelt: Th. Fontane, Fragmente (wie Anm. 1). 3 Ch. Hehle/H. Delf von Wolzogen, Einleitung. In: Th. Fontane, Fragmente (wie Anm. 1), Bd. I, S. XI–XXXIV. 4 H. Delf von Wolzogen, Einleitung. In: Th. Fontane, Fragmente (wie Anm. 1), S. XXIII. 5 Petra Spies [= McGillen], A Creative Machine: The Media History of Theodor Fontane’s Library Network and Library Practices. In: The Germanic Review, 87, 2012, S. 72–90. https://doi.org/10.1515/9783110539493-013
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oder noch nicht Schreiben sein kann, das sich jedenfalls in einem fließenden Übergang zum ‚eigentlichen‘ Schreiben […] bewegt“.6 Dieser „apparatus of creativity“ soll im Hinblick auf das Ineinander von Wahrnehmungen, Beobachtungen und Recherche, Lesen und Schreiben und die spezifischen Rahmenbedingungen noch um einige Faktoren ergänzt werden: Zu erwähnen wäre zunächst der ausgeprägte Gelegenheits- und Situationscharakter vieler Fragmente. Obwohl Fontane mit poetischem Spürsinn und Urteilsvermögen vorgeht und dabei meist zielgerichtet und systematisch verfährt,7 lässt er sich immer wieder auch von Zufällen, Überraschungen und spontanen Neigungen leiten. Solche Gewohnheiten sind charakteristisch für die Praktik des Sammelns und die geistige Physiognomie des Sammlers, dessen Dasein nach Walter Benjamin „dialektisch gespannt [ist] zwischen den Polen der Unordnung und der Ordnung“.8 Nur die in jeder Sammlung waltende, verborgene Ordnung bewahrt demnach den Sammler davor, ins Chaos der mit den einzelnen Objekten verbundenen Geschichten und Erinnerungen abzugleiten. Wenn er die Objekte seiner Begierde aus gewohnten Zusammenhängen herauslöst, um sie in nie zuvor gesehene Kontexte zu überführen, so folgt er einem konstruktiven Impuls, liegt doch seiner Passion der Wunsch zugrunde, die alte Welt im Zeichen vergehender Zeit in einem neuen und anderen Licht wieder auferstehen zu lassen.9 In diesem Sinne korrespondiert die emsige Sammel-, Recherche- und Erinnerungsarbeit Fontanes, zu der auch das ständige Überarbeiten und Neuordnen des Materials, das Überschreiben, Überkleben und die „Technik des kommentierenden Selbstgesprächs“10 gehören, mit den konstruktiv-produktiven Funktionen seines Schreibarsenals. Überhaupt sind einschlägige Erfahrungen in den Erzähltexten ebenso aufgehoben und wahrnehmbar wie Modi der Verarbeitung und Gestaltung: Gelesenes und Gehörtes, Erlebtes, Überliefertes und Erfundenes wird transformiert und in poetischer Form wiederbelebt.
6 H. Delf von Wolzogen, Einleitung. In: Th. Fontane, Fragmente (wie Anm. 1), S. XXIII. 7 Vgl. Bettina Plett, Fragmente und Entwürfe. In: Fontane-Handbuch, hg. von Christian Grawe und Helmuth Nürnberger, Stuttgart 2000, S. 693–705, hier 693: „[…] spätestens seit Mitte der siebziger Jahre beginnt Fontane systematisch zu sammeln und skizzenhaft aufzuzeichnen, was sich für eine spätere Bearbeitung eignen könnte.“ 8 Walter Benjamin, Ich packe meine Bibliothek aus. Eine Rede über das Sammeln. In: W. Benjamin, Gesammelte Schriften IV, 1, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1980, S. 388–396, hier 389. 9 Vgl. W. Benjamin (wie Anm. 8), S. 390: „Die alte Welt erneuern – das ist der tiefste Trieb im Wunsch des Sammlers […]“. 10 H. Delf von Wolzogen, Einleitung. In: Th. Fontane, Fragmente (wie Anm. 1), S. XXIII.
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Dabei kommt allerdings noch ein anderer, bislang kaum beachteter, historischer Aspekt zum Tragen: Fontanes „Arsenal“11 umfasst nämlich auch ein Repertoire kleiner, nichtkanonischer Textarten. Einige von ihnen bilden Vorstufen zu größeren Formationen, von Romanen, Novellen oder den Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Für viele andere gilt das nicht; sie repräsentieren eine durch die Fixierung auf Roman und Novelle weithin übersehene Seite von Fontanes Schreibpraxis: Miszellen, Aperçus, Annotationen, Notizen, Anekdoten,12 Persiflagen, Feuilletons, Brouillons, Albumblätter, Bagatellen, Causerien, Diatriben, Essays und Essayfragmente, Porträts, Charakteristiken, Charakterstudien, Charakterskizzen, Nekrologe, Lebensschilderungen und -bilder, Prosopographien, biographische Skizzen, Elogen, Sentenzen, Aphorismen, Magazinentwürfe, Paraphrasen etc. Durch die Adaption dieser Genres dokumentiert Fontane seine Hinwendung zur Überlieferung wie auch seine Vertrautheit mit Denk-, Sprech- und Schreibweisen des 17. und 18. Jahrhunderts. Zugleich artikuliert sich die internationale oder zumindest deutsch-englisch-französische Verfasstheit seines Denkens, da viele der betreffenden Formen in Frankreich und England ausgeprägtere Traditionen als im deutschsprachigen Raum aufweisen. Sie tragen maßgeblich bei zu den auf spezifischen kommunikativen Grundlagen beruhenden, sich auf vielfache Weise überlagernden Schreibweisen Fontanes, mit denen er den nationaltypischen oder als solchen angesehenen Denk- und Schreibrahmen einer bekannten Formensprache überschreitet und erweitert. Darüber hinaus bündeln sie Textstrategien, die, u. a. durch die Einbeziehung der Leserschaft, mit einer gedanklichen Offenheit und Weite korrespondieren. Der poetischen Vorstellungskraft Vorschub leistend, eröffnet sich so, wie Renate Böschenstein es mit Bezug auf „Allerlei Glück“ nennt, der Rezeptionshorizont einer „Poetologie der Möglichkeit“.13
11 Ch. Hehle/H. Delf von Wolzogen, Einleitung. In: Th. Fontane, Fragmente (wie Anm. 1), S. XI– XXXIV. 12 Als Ausnahme unter den genannten Genres hat die Anekdote eine beachtliche wissenschaftliche Aufmerksamkeit erfahren. Vgl. Katrin Lange, Merkwürdige Geschichten. Anekdoten in Fontanes Kindheitsautobiographie Meine Kinderjahre, Geschichten und Geschichte. In: Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Internat. Symposium des Theodor-Fontane-Archivs zum 100. Todestag Fontanes, 13.–17. September 1998 in Potsdam, hg. von Hanna Delf von Wolzogen in Zusammenarbeit mit Helmuth Nürnberger, Bd. III, Würzburg 2000, S. 77–86; Wulf Wülfing, „Immer das eigentlich Menschliche“. Zum Anekdotischen bei Theodor Fontane. In: Fontane als Biograph, hg. von Roland Berbig, Berlin, New York 2010, S. 59–76. 13 Renate Böschenstein, Verborgene Facetten. Studien zu Fontane, hg. von Hanna Delf von Wolzogen und Hubertus Fischer, Würzburg 2006, S. 497.
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Bevor diese Hypothesen an Einzelanalysen überprüft werden, sollen zunächst zehn Thesen das thematische Feld noch etwas genauer abstecken: 1. Fontanes Suchen und Sammeln von Stoffen und Materialien ist auf eine überquellende Fülle hin angelegt. Es zeugt von einem weit ausgreifenden oder, wenn man dem Begriff des Arsenals eine weitere Metapher aus dem Bereich der Nautik hinzufügen will, ozeanischen Habitus. Bei weitem nicht alle Entwürfe finden Eingang in größere Werke. Das scheint auch gar nicht beabsichtigt zu sein. Der Überhang an Materialien und Einfällen bildet geradezu eine Voraussetzung, um eine gewünschte Auswahl aus der Fülle des Verfügbaren treffen zu können. Ein solches Reservoir dient als Speicher, wobei sich der Autor die Möglichkeit vorbehält, Stoffe und Ideen aufzugreifen, sie ungenutzt aufzubewahren oder nach einer Weile auszusondern. Die Sammlung ist produktionsoffen, in die Zukunft gerichtet und auf Anknüpfung hin ausgelegt. 2. In allem Unabgeschlossenen sind offene Fragen verborgen. Zum einen verweisen sie auf größere Zusammenhänge und Werkkomplexe, zum anderen stehen sie aber auch nur für sich und repräsentieren ohne realisierbare Antworten die Präsenz eines spontanen Einfalls oder eines Schaffensprozesses, der in dem jeweiligen Fragment unmittelbar und situativ erfahrbar wird. 3. Im Umgang mit Unfertigem spielt das Nicht- oder Noch-nicht-Gewusste eine produktive Rolle. Suchen setzt das Nichtvorhandensein des Gesuchten voraus. Suchen und Finden kann nur der, der noch nicht alles weiß. Gleichzeitig aber muss man – da kommt Fontanes Gespür für poetische Produktivität ins Spiel – etwas wissen, um suchen zu können und wissen, wonach man sucht.14 Im Rahmen dieses heuristischen Verfahrens verleiht die Intensität des Suchens und Überarbeitens den Schaffensprozessen einen eigenen Wert, der in den Aufzeichnungen des Autors erhalten bleibt und sich in entsprechenden Spuren manifestiert. 4. Die Fragmente – das gilt auch für Aufzeichnungen mit sehr geringem Umfang – haben eine Initialfunktion. Sie dienen zum „Warmschreiben“ wie auch zur Erprobung verschiedener Textualisierungsformen. Da sie eine Auseinandersetzung mit Themen darstellen, die z. T. an anderer Stelle und in veränderter Form noch einmal aufgenommen werden, bieten sie einen aufschlussreichen Einblick in die Werkstatt des Autors. 5. Zur experimentellen Eigenart der Skizzen und Entwürfe gehört die Möglichkeit des Verfehlens. Insofern sind Streichungen, Überarbeitungen, verworfene oder ausgesonderte Fassungen besonders aussagekräftig für die Poetik Fontanes.
14 Vgl. Manfred Sommer, Suchen und Finden. Lebensweltliche Formen, Frankfurt am Main 2002.
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6. Wie die größeren Prosatexte tendieren die Fragmente zum Offenlegen und Sichtbarmachen von Sachverhalten und Zusammenhängen. Vorzugsweise werden zuvor verborgene Affinitäten und in ihrem vollen Bedeutungsgehalt noch unbekannte Beziehungen vermittelt, die sich in beiläufig vorgetragenen Aussagen und poetischen Überformungen kundtun, hinter denen sich nicht selten tiefere Einsichten verstecken. 7. Alle Textformen sind kommunikative Mitteilungen, auf potenzielle Leserinnen und Leser bezogen. Das gilt auch für Notizen und Notizbucheinträge, die vorrangig zur persönlichen Erinnerung oder Aufzeichnung dienen. Die Leser fungieren dabei, wie Konrad Ehlich ausführt, gewissermaßen als Komplizen des Autors.15 Lesend, schreibend und in „kommentierende[m] Selbstgespräch“16 arbeitete Fontane an solchen Mitteilungsprozessen. Um den durch und durch kommunikativen und gesellschaftlichen Charakter seiner Prosa zu erfassen, müssen diese kommunikativen Dimensionen, die auf einem inneren Sprechen und Erzählen beruhen, in ihrer spezifischen Eigenart wahrgenommen werden. 8. Mit seinen Entwürfen und Fragmenten sondiert Fontane soziale Beziehungen und Kräfteverhältnisse. Es werden gesellschaftliche Konstellationen, individuelle Charaktere und spezifische Verhaltensmuster beobachtet und literarisch erschlossen. Erkenntnis stellt sich dabei tentativ, experimentell und in Annäherung an die jeweiligen Gegenstände dar. 9. Die Fragment gebliebenen historischen Romane und Erzählungen sollten nach Bettina Plett „im zeitlichen wie im geographischen Sinne ‚entlegenere‘ Themen behandeln“.17 Weit darüber hinaus ist der Blick auf das Kleine, vermeintlich Nebensächliche, Periphere charakteristisch, ja es liegt sogar eine Tendenz zur Dezentrierung und zum Exzentrischen vor. Häufig geht das als groß Angesehene aus dem Kleinen hervor oder wird auf ein solches zurückgeführt. Mitunter offenbart sich in solchen Sichtweisen eine eigenwillige und originelle Lebens- und Geschichtsauffassung. 10. Die Fragmente repräsentieren eine ergebnisoffene Form des Denkens. Sie zeugen von der für Fontane typischen Möglichkeit des So- oder auch Andersmöglich-Seins und gehen nicht in der Logizität tatsächlichen Bedeutens auf. Sie verkörpern die unendliche Potenzialität der Verhältnisse und die unrealisierten Möglichkeiten der Geschichte, verbunden mit der Option, Verstehens- und Handlungsspielräume offen zu halten.
15 Vgl. den Beitrag von Konrad Ehlich in diesem Band, S. 31. 16 H. Delf von Wolzogen, Einleitung. In: Th. Fontane, Fragmente (wie Anm. 1), S. XXIII. 17 B. Plett, Fragmente und Entwürfe (wie Anm. 7), S. 697 f.
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Das erste Textbeispiel leistet nach der von Bettina Plett im Fontane-Handbuch vorgenommenen Einteilung Vorarbeiten zu Zeit- und Gesellschaftsromanen.18 Die meisten kleinen Schriften dieser Stoffgruppe stellen „zeit- und gesellschaftsspezifische Studien zu einem besonderen Charakter oder einer besonderen Fragestellung“ dar.19 Es handelt sich um den in der Edition der Fragmente nur ca. 2,5 Seiten umfassenden Entwurf „Onkel Ehm“.20 Entstanden ist er vermutlich 1873/74, zum ersten Mal gedruckt 1919 im von Ernst Heilborn herausgegebenen Fontane-Buch. Beiträge zu seiner Charakteristik. Die Rahmenbedingungen sind einigermaßen rätselhaft. Ob und wie Fontane aus der eigenen Familiengeschichte schöpft, lässt sich nach jetzigem Wissensstand nicht zweifelsfrei entscheiden. Auf die Brüder der Mutter trifft die Charakteristik Onkel Ehms jedenfalls nicht zu, auch besaß Fontane keine Tante Agnes. Als Vorbild für Onkel Ehm kommt möglicherweise der Herzberger Amtmann und Landwirt Gustav Adolph Labry in Frage, doch liegen über ihn kaum gesicherte Kenntnisse vor.21 Mit dem Untertitel „Entwurf zu einer Charakterskizze“ ordnet Fontane seinen Text der biographisch-historischen Kleinkunst zu. Spätestens seit dem 18. Jahrhundert erfreuten sich Charakteristiken wie die 1777 erschienenen Erinnerungen aus dem Leben des Josef Johann Hartwig Ernst von Bernstorf von Helferich Peter Sturz als Sonderform biographischen Schreibens großer Beliebtheit. Theoretische Dignität gewinnt das Genre insbesondere durch Friedrich Schlegel, der Charakterskizzen und Charakteristiken, wie er in seinen Essays über Lessing und Georg Forster aus dem Jahr 1797 vorführt, als „Kunstwerk der Kritik“ ansieht.22 Verwandte Formen stellen Porträts, Lebensbilder, Gedächtnisreden, Galerien, Elogen, Denkmäler, Nekrologe und Anekdoten dar. Über das Verhältnis von Anekdoten, die für Fontane zeitlebens eine besondere Bedeutung hatten,23 Charakterskizzen und Charakteristiken sowie den historischen und epistemologischen Stellenwert dieser Genres informiert das Handbuch Biographie:
18 B. Plett, Fragmente und Entwürfe (wie Anm. 7), S. 697. 19 B. Plett, Fragmente und Entwürfe (wie Anm. 7), S. 697. 20 Theodor Fontane, Onkel Ehm. In: Th. Fontane, Fragmente (wie Anm. 1), Bd. I, S. 337–339. 21 Vgl. Manfred Horlitz, Theodor Fontanes Vorfahren. Neu erschlossene Dokumente – überraschende Entdeckungen, Berlin 2009, S. 86–92, 204–208; Th. Fontane, Fragmente, Bd. II, S. 229. 22 Friedrich Schlegel, Athenäums-Fragmente. In: F. Schlegel, Kritische Schriften, 3., erw. Aufl., München 1971, S. 86. Der Essay über Forster trägt den Untertitel „Fragment einer Charakteristik der deutschen Klassiker“. 23 Vgl. Anm. 12.
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Die Anekdote ist – als rhetorisch auflockerndes, ausschmückendes Element meist in ein biographisches Porträt bzw. eine Charakteristik oder ein Charakterbild eingebunden, bei denen jeweils ein enger Zusammenhang zwischen dem – nach modernen Individualitätskonzeptionen problematischen – ‚Wesen‘ und den Lebensäußerungen eines Menschen unterstellt wird, um die ‚Werke‘ aus dem Charakter abzuleiten und den Charakter an den Handlungen zu illustrieren. Epistemologisch handelt es sich bei der Charakteristik, wie sie z. B. durch Friedrich Schlegel entwickelt wurde, um eine Verbindung von Historiographie und Philosophie. Die Philologie des 19. und 20. Jahrhunderts konnte sich gegen den von der Philosophie der Zeit erhobenen Vorwurf der unwissenschaftlichen ‚Aggregathaftigkeit‘ verteidigen, indem sie dem systematischen Genre der Charakteristik den Vorzug vor der Gattung der Biographie gab, die unter dem Verdacht des Positivismus stand.24
Das Spektrum biographischer Kleinformen umfasst berühmte und viel seltener alltägliche Lebensläufe, ganzheitliche sowie chronologische und thematische Ausschnittdarstellungen. Im Fall von „Onkel Ehm“ handelt es sich um eine überblicksartige Mischform mit dem Schwerpunkt auf dem Charakterporträt des vermeintlichen Familienangehörigen. Wie sehr Fontane solche Porträts schätzte, zeigt u. a. das Marwitz-Kapitel in den Wanderungen.25 Unter Einsatz spezifischer erzählerischer Mittel und Wirkungsstrategien wird der stolze und standesbewusste General und Politiker als unbeugsame und prinzipientreue Persönlichkeit modelliert.26 Typischerweise verbinden solche Charakterporträts – da liegt eine für Fontane zentrale Gelenkstelle – die Darstellung eines konstanten Innenlebens mit der Wiedergabe des äußeren Lebensverlaufs. Im Unterschied zur ahistorischen, seit der Antike bekannten Charakter- und Typenlehre verbinden sich so Erzählkunst und Geschichtsschreibung. „Onkel Ehm wurde heut’ begraben“27 – mit einer auch in Nekrologen, Toten- oder Gedächtnisreden gebräuchlichen Rahmungstechnik wird der Auftaktsatz von Fontanes Entwurf wieder aufgenommen in den Schlussworten: „Ein kleines Leben, und doch so reich an Leid und Freud, an Kampf und nun auch an Frieden.“28 Indem sich Beschreibungen, Deutungen und (fiktive) Erinnerungen, Authentizitätsansprüche und Bekenntnisse die Waage halten, gewinnt der Text
24 Myriam Richter/Bernd Hamacher, Biographische Kleinformen. In: Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien, hg. von Christian Klein. Stuttgart, Weimar 2009, S. 139 f. 25 Theodor Fontane, Friedrich August Ludwig von der Marwitz. In: Th. Fontane, Wanderungen durch die Mark Brandenburg, hg. von Gotthard Erler und Rudolf Mingau, Bd. 2: Das Oderland, Berlin 1997, S. 228–251 (GBA). 26 Vgl. Michael Ewert, Lebenswege. Formen biographischen Erzählens in Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg. In: Fontane als Biograph (wie Anm. 12), S. 106–108. 27 Th. Fontane, Onkel Ehm (wie Anm. 20), S. 337. 28 Th. Fontane, Onkel Ehm (wie Anm. 20), S. 339.
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eine eigentümliche Spannung. Der Versuch, die individuelle Stimmung eines Lebens einzufangen, verbindet sich mit einem Ton des Abschieds. Durch die rahmende Erinnerung an einen Verstorbenen und die gleichzeitige Vergegenwärtigung seiner Existenz stellt sich eine Einheit her zwischen im Zeitablauf vergangener und im Bewusstsein vergegenwärtigter Geschichte. Angefangen von der ersten Begegnung mit dem Onkel, wird ein unspektakuläres Leben beschrieben, das vornehmlich dann ins Blickfeld gerät, wenn sich die Kreise des Neffen und des Onkels berühren. Alle gemeinsamen oder überlieferten biographischen Stationen setzen sich in chronologischer Reihung zu einem Bild des Porträtierten zusammen. Die dabei zutage tretende sympathetische Intuition ist insgesamt prägend für die biographischen Annäherungen Fontanes, erlaubt sie ihm doch, Nähen und Übereinstimmungen zu betonen und in erzählerische Zusammenhänge einzubetten. Beschrieben werden die Physiognomie des Onkels, sein erster Besuch, bei dem er täglich auf der Molenspitze des Hafens Ausschau hält nach einem Schiff mit der ersehnten Braut aus Schleswig-Holstein, der Ankauf eines Guts im Lausitzischen, sein dortiges „Kleinleben, voll Idyll und Kümmerlichkeit“,29 der Verkauf des Anwesens nach dem Auftreten von Milzbrand, Wilddiebstählen und Querelen mit einem renitenten Knecht, der Umzug in ein anderes Provinznest und dann nach Berlin, wo er als Büroarbeiter sein Auskommen findet, auch das mit Niederlagen und kleinen Siegen verbunden, und schließlich der Tod seiner geliebten Frau Agnes, an deren Seite er schon bald darauf seine letzte Ruhe findet. Durch Selektions- und Bündelungstechniken kristallisiert sich ein kohärentes und homogenes Lebensbild heraus. Darüber hinaus vermittelt die Passage über den in froher Erwartung der Braut am Hafen ausharrenden Onkel ein Bewusstsein für den einstmals offenen Zukunftshorizont eines vergangenen Daseins. Der für sich genommen bescheidenen Lebensskizze sind indirekte Interpretationssignale eingeschrieben. Das betrifft insbesondere die Hervorhebung des Kleinen und vermeintlich Unbedeutenden, mit der der Text einsetzt – „Ein kleines Leben, ein enger Kreis, den mein eigen Leben nur ein paarmal berührt …“30 – und die zum Schluss wieder aufgegriffen wird: „Ein kleines Leben, und doch so reich an Leid und Freud, an Kampf und nun auch an Frieden.“31 Solche geradezu leitmotivischen Formulierungen nobilitieren das Leben der einfachen Leute und bringen Fontanes Sinn für eine Poesie des Alltags zum Ausdruck. Wie dabei scheinbar Geringfügiges und das große Ganze miteinander korrespondieren, wird
29 Th. Fontane, Onkel Ehm (wie Anm. 20), S. 338. 30 Th. Fontane, Onkel Ehm (wie Anm. 20), S. 337. 31 Th. Fontane, Onkel Ehm (wie Anm. 20), S. 339.
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deutlich, wenn es heißt: „Denn er war ein guter Mann. Das Geringste, was man sein kann und doch das Beste. Eigentlich alles.“32 In vergleichbarer Weise repräsentieren ja auch diverse Porträts in den Wanderungen die Dignität eines in gleichförmigen Bahnen verlaufenden Lebens auf dem Lande. Zu denken wäre auch an die zahlreichen Nebenfiguren in den Romanen, die als Waschfrauen, Näherinnen, Dienstmägde, Kutscher oder Instleute sogenannte Minderberufe, d. h. gesellschaftlich abhängige Tätigkeiten, ausüben, nicht selten aber zu eigentlichen Hauptfiguren avancieren. Darüber hinaus leistet „Onkel Ehm“ mit seiner Konzentration auf ein als unbedeutend angesehenes Leben im Unterschied zur der für das 19. Jahrhundert typischen Heldenbiographik einen Beitrag zu einer soziohistorischen Mikrogeschichte. Partiell weist der Text sogar Züge einer für moderne Genreausprägungen charakteristischen Kollektivoder Gesellschaftsbiographie auf. Eine auffallende Akzentsetzung markiert schon die Zuschreibung „Charakterskizze“, indem durch den Begriff „Charakter“ eine psychosoziale Disposition hervorgehoben wird, die in einer Atmosphäre wirtschaftlicher Konformitätszwänge, wie sie sich nach der Reichsgründung zunehmend ausbreitet, anachronistisch erscheinen mag. Überhaupt entfalten ja Charakterköpfe wie Friedrich August Ludwig von der Marwitz, die mit ihrer unbelehrbaren Sturheit und Prinzipientreue wie Zeugen einer anderen Welt in die Moderne hineinragen, ihre Anziehungskraft auf Fontane. Analog zum Marwitz-Porträt und dem anderer altpreußischer Charaktere korrespondiert „Onkel Ehm“ mit einem Faible des Verfassers für Vergangenes und Vergehendes. Zumindest eines hat der fiktive Familienangehörige mit den adligen Statthaltern des preußischen Landjunkertums gemein: Auch er verkörpert eine vormoderne Lebensform, geprägt durch regionale Bindungen und festgefügte Ordnungsvorstellungen. Eine besondere Note besteht schließlich in dem appellativen Charakter, der der kleinen Skizze eigen ist. Häufig operieren ja biographische Schreibformen mit Identifizierungsangeboten, wie umgekehrt in der Rezeption von Biographien Spiegelungseffekte wirksam werden. So verweist auch das Fragment „Onkel Ehm“ auf die Spuren, die jedes äußerlich noch so unscheinbare Leben hinterlässt, und animiert zum anderen dazu, sich der Präsenz des eigenen Daseins in seinem Hier und Jetzt bewusst zu werden. Um die Produktivität des Unvollendeten aufzuzeigen, soll im Folgenden noch der 1865 im Rahmen einer Rheinreise entstandene Essay-Entwurf „Der Dom und
32 Th. Fontane, Onkel Ehm (wie Anm. 20), S. 337.
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St. Maria zur Kupfergasse“ aus Fontanes Notizbüchern herangezogen werden.33 Den Anlass für die Textentstehung bot ein Besuch des Verfassers im Kölner Dom und in der zwischen 1705 und 1715 erbauten Barockkirche eines ehemaligen Karmelitinnenklosters. Unbekümmert wird eine Reiseerfahrung geschildert, gespickt mit Reflexions- und Deutungsansätzen. Auf anderthalb Seiten findet sich eine detailgenaue Beschreibung von Beobachtungen in und vor den beiden Gotteshäusern. Präsentiert wird ein Stück katholischer Volkskultur. Da ist der sein Spendensammelgeschäft betreibende, „freundlich-salbungsvoll[e]“ Küster mit dem Messingteller in der Hand und „dem guten Humor eines Kölners“,34 da verirrt sich der Neuankömmling in dem nur von einzelnen Fenstern beleuchteten Gassengewirr, da erzeugt in St. Maria zur Kupfergasse das Gedränge von armen, schlichten, knienden und von Weihrauch benebelten Leuten mit ihren Gebeten und Gesängen eine noch durch scharfe Glockentöne angereicherte Lärmkulisse.35 Solche sinnlich-anschaulichen Beschreibungen und treffsicheren Notate reihen sich ein in vielfältige Pointierungen, mit denen Fontane sein Verhältnis zum Katholizismus ausdrückt. So heißt es bereits 1852 in einem oft zitierten Brief aus Aachen an Emilie: Auf unsereins wirkt die ganze Geschichte mit ihrem Hochamt, ihren Messen, ihren Kirchenmusiken, ja selbst mit ihrem dichtgedrängten Publikum (lauter Gallerie-Gesichter) wie eine Aufführung der Meyerbeer’schen „Hugenotten“ nur daß man das Theater doch noch ungleich gehobner, erbauter und belehrter verläßt […] Dennoch ist die künstlerische Seite – worunter ich die Pracht der Kirchen und Dome, die Meisterwerke der Malerei an den Wänden, und das oft Bezaubernde der geistlichen Musik verstehe – immer noch der Glanzund Höhepunkt des Ganzen. Von dem Moment ab, wo der Clerus aufmarschirt und theils mit alten mumienhaften, theils mit fanatisch-brutalen, am meisten aber mit stupiden, langweiligen und selbst gelangweilten Gesichtern seine Litaneien jammervoll herunterplärrt, ist alle Illusion gestört und während man in der guten Komödie der Künste fast die Komödie vergaß und nahbei zu religiöser Erhebung kam, vernichtete die schlechte Religions-Komödie: dies Plärren, Leiern, Knixen, Kopfschütteln und Kniebeugen den ganzen Eindruck des Kunst-Cultus wieder wie mit einem Schlag und die Seele athmet erst wieder auf, wenn der betäubende Weihrauchduft hinter ihr liegt und Gottes Sonne auf offner Straße lacht und grüßt.36
33 Theodor Fontane, Der Dom und St. Maria zur Kupfergasse. In: Th. Fontane, Die Reisetagebücher, hg. von Gotthard Erler und Christine Hehle, Berlin 2012, S. 470 f. (GBA). 34 Th. Fontane, Der Dom und St. Maria zur Kupfergasse (wie Anm. 33), S. 470. 35 Th. Fontane, Der Dom und St. Maria zur Kupfergasse (wie Anm. 33), S. 471. 36 In: HFA, IV, 1, S. 219 f.
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Charakteristischerweise wird schon hier die Vielfalt der auf den Betrachter einstürmenden Eindrücke, der Weihrauchduft, das „jammervolle Plärren“, das Leiern, Knicksen, Kopfschütteln und Kniebeugen, durch einen sinnlich-anschaulichen, lautmalerischen und z. T. auch kurzatmigen Stil vergegenwärtigt. Von solchen Impressionen zieht sich eine innere Verbindungslinie zu dem Essay-Entwurf „Der Dom und St. Maria zur Kupfergasse“,37 der ebenfalls den inneren Zwiespalt des Betrachters behandelt. Wie so oft, wenn Fontane auf den Katholizismus zu sprechen kommt, erweckt dieser „fremde Kontinent“,38 wie Helmuth Nürnberger es nennt, in ihm Faszination und Abneigung: Nun schwieg der Gesang. Vor den Hauptaltar trat eine Gestalt, das Weihrauchfaß wurde geschwungen, ich sah nichts als den leuchtenden Schein, der hin und herflog. Die Responsorien begannen. Alles sank in die Knie. Die scharfen Laute des Glöckleins klangen dazwischen; das Fest trat, physisch wahrnehmbar, in seine Höhe ein. Mir wurde himmelangst, aber inzwischen hatte sich der Raum hinter mir gefüllt, unmittelbar hinter mir knieten zwei Nonnen und sperrten den Weg. Es ging mir wie Bangen und Entzücken durch das Herz. Im Grunde war ich froh, bleiben zu müssen. Der letzte Glöckleinklang, die Knieenden richtete sich wieder auf und traten zur Seite. Durch die schmale Tür im Eisengitter kamen die Beter heraus. Die Kirche leerte sich rasch, nach zwei Minuten brannten nur noch ein paar Lichter, alles war vorbei. Mit unter den letzten trat ich aus der Kirche heraus.39
Noch die letzte spöttisch-distanzierte Äußerung greift weit über den unmittelbaren Anlass hinaus: „Als ich auf dem dunklen Hof stand murmelte ich vor mich hin: ‚Das hält noch eine Weile.‘“40 Zweifellos lässt sich das Thema nicht auf solche Schlaglichter reduzieren.41 Umso aufschlussreicher erweisen sich dafür kompositorische und formale Eigenheiten: Schon zum Auftakt eröffnet sich eine aus Gegenüberstellungen hervorgehende Struktur, beruhend auf prononcierten Aussagen und Zuspitzungen, die kontrapunktisch angeordnet werden oder in Form von Widersprüchen auftreten.
37 Th. Fontane: Der Dom und St. Maria zur Kupfergasse (wie Anm. 33), S. 470 f. Vgl. dazu: Michael Ewert, Uneigentliche Briefe. Zum Verhältnis von Briefen, Reisebriefen und Brief-Essays im Werk Fontanes. In: Fontanes Briefe ediert, hg. von Hanna Delf von Wolzogen und Rainer Falk, Würzburg 2014, S. 187–189. 38 H. Nürnberger: Ein fremder Kontinent – Fontane und der Katholizismus. In: H. Nürnberger, „Auf der Treppe von Sanssouci“. Studien zu Fontane, hg. von Michael Ewert und Christine Hehle, Würzburg 2016, S. 263–282 [zuerst in: Fontane und die Fremde, Fontane und Europa, hg. von Konrad Ehlich, Würzburg 2002, S. 70–87]. 39 Th. Fontane, Der Dom und St. Maria zur Kupfergasse (wie Anm. 33), S. 471. 40 Th. Fontane, Der Dom und St. Maria zur Kupfergasse (wie Anm. 33), S. 471. 41 Vgl. zum Verhältnis Fontanes zum Katholizismus: H. Nürnberger, Ein fremder Kontinent (wie Anm. 38).
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Zugleich gewinnt der Text durch einen weitgehenden Verzicht auf Konjunktionen und einen sprunghaften, staccatohaften Stil einen unfertigen Charakter, der eine eigentümliche Spannung erzeugt: Der Dom ist ein kosmopolitisches Kunstwerk, die ganze Welt hat dran gebaut, die ganze Welt besucht es … Es ist alles, nur keine katholische Kirche. Es ist ein Museum und profanes Getreibe. Man tritt durch das Südportal ein; auf den Bänken sitzen einige Beter, aber sie beten nicht.42
Diese antithetische Struktur setzt sich im Folgenden fort, konkret zwischen Kunstwerk und Kirche, zwischen dem Lärm des Zeremoniells und der Ruhe vor dem Portal, zwischen leuchtender Messfeier und dunklem Außenhof, religiöser Erhebung und mechanisch-rituellem Verhalten der Gläubigen, Alltagswirklichkeit und Zukunft, Bangen und Entzücken. Auch die Beter, die nicht beten, tragen zu dieser Gegensätzlichkeit und eigentümlichen Spannung bei. Die Widersprüche werden nicht etwa aufgelöst, sondern entfaltet, geschürzt und zugespitzt. Gerade durch solche Oppositionsanordnungen entsteht vor den Augen der Leser eine lebendige und anschauliche Szenerie, die Fragen aufwirft und nachhaltige Wirkung hinterlässt. Aus einer übergreifenden Perspektive korrespondieren die genannten Gestaltungsmerkmale, ohne damit ein übergreifendes Integral oder ein statisches Modell anzubieten, mit den für das gesamte Erzählwerk Fontanes charakteristischen Kompositions- und Schreibweisen. Denkt man an Dialogszenen, oppositionelle Konstellationen und paradoxe Gegebenheiten – die Beschreibung katholischen Brauchtums ist nur ein besonders sprechendes Beispiel dafür –, so lässt sich für den ausgewählten kleinen Text sagen, was auch für die anderen Fragmente gilt: Der experimentelle Gestus rückt Denken, Sprechen und Schreiben im Hinblick auf größere Werkzusammenhänge ein Stück weit näher zusammen. Im Einzelnen nimmt es Fontane sowohl in den Fragmenten als auch in anderen Komplexen seines Œuvres sogar in Kauf, dass allzu knappe Andeutungen den Sachverhalten nicht immer gerecht werden oder besonders kühne Thesen über das Ziel hinausschießen. Dabei haben auch solche Verfahrensweisen eine über das unmittelbar Mitgeteilte hinausgehende, kommunikative Funktion. Sie strukturieren den Lese- und Deutungsprozess vor, allerdings nur so weit, dass sich der Rezeptionsraum auf vielfältige Verstehensmöglichkeiten und eine produktive Anschauungs- und Vorstellungsbildung hin öffnet.
42 Th. Fontane, Der Dom und St. Maria zur Kupfergasse (wie Anm. 33), S. 470.
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Zwischen den zugespitzten Thesen und durch die Widersprüche hindurch bilden sich nämlich in den Leerstellen Erkenntnis- und Imaginationsräume heraus, in denen Bedeutungszuschreibungen, Kontextwissen und Einsichten der Rezipienten aufeinandertreffen. Indem die Leserinnen und Leser die Textangebote mit ihren individuellen Erfahrungen und potenziell anderen Lesarten verbinden, werden sie zu Bedeutungsempfängern und -produzenten in Personalunion. Der Text wird zum Ort eines Aufeinandertreffens von Autor und Leser. Durch die Veranschlagung von differenten und produktiv verlängerten Lesarten und den Verzicht auf eindeutige Festlegungen leistet Fontane der Phantasie und einem kombinatorisch-bildhaften Denken Vorschub, zugunsten einer großen ästhetischen Tragweite. Einen beträchtlichen Anteil daran haben die kleinen adaptierten oder inkorporierten Genres. Mit ihrer strukturellen gedanklichen Unabgeschlossenheit bilden sie einen Katalysator für die offenen und in sich polyvalenten Schreibweisen und tragen bei zur antagonistischen Struktur und produktiven Spannung von Fontanes Prosa. Gerade auf diesen Schreibweisen beruht ganz maßgeblich die Faszination seines Werks, das sich nicht nur in den kleinen und unvollendeten Formen eindeutigen Fixierungen und apodiktischen Aussagen widersetzt und Möglichkeitsräume des Denkens und Verstehens offen hält.
Burghard Dedner
Produktive Irrtümer Büchners Woyzeck als Paradigma der Form ins Offene
1 Einleitung: „Form ins Offene“, „offene Form“ und Modernität Der sonst im Deutschen meines Wissens nicht gebräuchliche Ausdruck „Form ins Offene“ soll das „Unvollendete“, das im Entstehungsprozess fragmentarisch Gebliebene bezeichnen, und wir wollen der besonderen „Produktivkraft“ dieses Fragmentarischen nachgehen. Zugleich scheint der Begriff „Form ins Offene“ angelehnt an den bekannten Begriff der „offenen Form“. Dieser wurde nach Vorläufern um 1910 prominent von Heinrich Wölfflin im Jahre 1915 in den kunstgeschichtlichen Diskurs eingeführt1 und erstmals 1929 von Erwin Scheuer in die dramentheoretische Diskussion übertragen. In seiner Abhandlung Akt und Szene in der offenen Form des Dramas, dargestellt an den Dramen Georg Büchners wählte Scheuer bezeichnenderweise Büchners Dramen als Beispiel. Ihm folgte 1960 Volker Klotz in seiner populär gewordenen Abhandlung Offene und geschlossene Form im Drama,2 in der er neben Goethes Faust I wiederum Büchners Woyzeck als zentrales Beispiel für die „offene Form“ verwendete. 1956 – also vier Jahre vor Klotz’ Abhandlung – war Peter Szondis Klassiker Theorie des modernen Dramas erschienen.3 In ihm demonstrierte Szondi im Modus geschichtsphilosophischer Notwendigkeit, wie sich aus den Zerfallserscheinungen, den Dissonanzen und Dissoziationen der Moderne des 20. Jahrhunderts die modernen, d. h. offenen Formen des Dramas geradezu zwangsläufig ergeben mussten. Diese Argumentation lässt sich natürlich auf alle Epochen, die im Zeichen des Modernen stehen, erweitern, also etwa auf die Romantik und ihre Tendenz, im Fragmentarischen das eigentliche Poetische zu sehen.
1 Heinrich Wölfflin, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst, München 1915. 2 Erwin Scheuer, Akt und Szene in der offenen Form des Dramas, dargestellt an den Dramen Georg Büchners, Berlin 1929, Reprint 1967 (Germanistische Studien, Heft 77); Volker Klotz, Offene und geschlossene Form im Drama, München 1960, 14. Aufl. 1999. 3 Peter Szondi, Theorie des modernen Dramas, Frankfurt am Main 1956. https://doi.org/10.1515/9783110539493-014
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In der Begriffstrias Fragmentarität (= Mangel an „Vollendung“) – offene Form – Modernität stehen die beiden ersten Elemente in einem natürlichen Zusammenhang. Ein Dramatiker, der ein komplexes historisches Ereignis auf der Bühne darstellen will, mag in einer ersten Annäherung episodische Szenen in einer offenen Reihe notieren und erst danach die passende „geschlossene Form“ suchen und sich dabei dramenästhetischen Normen wie der Einheit von Ort, Zeit und Handlung unterwerfen. Ein „offenes Drama“ ist in diesem Schema weniger kunstfertig vollendet als ein geschlossenes, und ganz folgerichtig galten Shakespeares Historienstücke nach diesem Formkriterium als unvollendet und als Ausdruck eines primitiven Geschmacks im Vergleich zu formvollendeten Stücken von Racine. Die Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, die einerseits in Shakespeare ihr großes Vorbild sahen, andererseits aber doch nach Formvollendung strebten, haben dementsprechend ambivalent auf Büchners Dramen reagiert. Mit Danton’s Tod hatte Büchner ein Werk zwar formal abgeschlossen, aber dennoch ein Drama der offenen Form geschaffen. Der Redakteur des Sauerländer Verlages, Ernst Duller, ersetzte 1837 den vom Autor vorgegebenen Untertitel „Ein Drama“ durch den Untertitel „Dramatische Bilder aus Frankreichs Schreckensherrschaft“. Nicht ein „Drama“, sondern „dramatische Bilder“ wurden also angeboten. Der Redaktionskollege Karl Gutzkow erklärte dem Autor dazu, er habe diesen dreist eingeschmuggelten Untertitel nicht gewollt. In seiner überschwänglich lobenden Rezension konzedierte aber auch er, dass Büchners „Drama“ nicht einmal eine „Intrige“ – diesen Minimalbestandteil eines jeden Dramas – aufweise. Jedoch werde dies durch die dargestellte „Fülle von Leben“ mehr als ausgeglichen. Büchners Genialität stellte er „Immermanns monotone Jambenclassicität“ entgegen.4 In Büchners Freundeskreis reagierte man skeptischer. Der Freund Adolph Stoeber meldete in einem Brief an Gustav Schwab in Tübingen Büchners Tod mit den Worten: „Er schrieb ein Trauerspiel Dantons Tod, welches von wahrhaft genialen Anlagen zeugt, aber natürlich noch keine vollendete Reife hat.“5 Aber auch Gutzkow reagierte abweisend, als er 40 Jahre nach Danton’s Tod mit einem wirklichen Drama der offenen Form konfrontiert wurde. Der Herausgeber des Dramas, Karl Emil Franzos, pries den von ihm entdeckten und edierten Wozzeck als wegweisend an. Gutzkow, inzwischen ein erfolgreicher Bühnenautor, reagierte in einem Brief an Luise Büchner so:
4 [Karl Gutzkow,] Danton’s Tod von Georg Büchner. In: Literatur-Blatt Nro 27 zum Phönix. Frühlings-Zeitung für Deutschland, Nr. 162, 11. Juli 1835, S. 645 f. 5 Adolph Stoeber, Brief an Gustav Schwab in Tübingen vom 9. März 1837, zit. nach: Karl Walter, Die Brüder Stöber und Gustav Schwab. Briefe einer elsässisch-schwäbischen Dichterfreundschaft, Frankfurt am Main 1930, S. 64.
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Bei dem Fragment Wozzeck, wenn es wirklich von Ihrem Bruder ist, hätte ich beischreiben mögen: 1777. Es ist der Styl der Sturm u. Drangperiode, ein Residuum der Lenz-Studien Ihres Bruders, das sein spätrer Geschmack gewiß verwarf. Wie kann man das als mustergültig für eine dramatische Begabung hinstellen?6
Gutzkow hatte mit seiner historischen Einordnung vollkommen recht. In Woyzeck griff Büchner auf die wesentliche dramatische Neuerung der Sturm und DrangEpoche, auf die von Jacob Lenz entwickelte Kurzszenen-Technik, zurück und entwickelte sie weiter. Damit wies er tatsächlich der europäischen Dramatik, wie George Steiner ausgeführt hat, den Weg aus einer Formkrise.7 Mit den seit dem Naturalismus andauernden Wellen von Literaturbewegungen, die jeweils im Zeichen von „Modernität“ standen, haben ältere Vorstellungen vom Mustergültigen ihren Sinn verloren. Dies mag erklären helfen, warum Büchners Woyzeck und nach ihm Goethes Faust I die zwei derzeit weltweit am meisten gespielten Dramen deutscher Sprache sind. Beide Dramen verkörpern den Stil des Sturm und Drang, beide sind Paradebeispiele für die „offene Form“, aber auch für die „Form ins Offene“, also das Unvollendete, Fragmentarische. Faust I begann jedenfalls seine Publikationskarriere 1790 als Fragment. Das Drama wurde dann zwar vom Autor selbst vollendet, jedoch so, dass die Bruchstellen noch merkbar sind. Es war in dieser bis heute anhaltenden Hochkonjunktur von Modernität, offener Form und Fragmentarität, dass die unvollendet gebliebenen Werke Büchners ihre produktive Kraft entfalten konnten. Das gilt zunächst für Woyzeck, dieses geradezu vollkommene Beispiel für Fragmentarität. Der Autor hinterließ bei seinem Tod 1837 drei fortlaufende Entwurfshandschriften von unterschiedlichem Reifegrad, die außerdem unterschiedliche Teile der Dramenhandlung abdecken. Und es handelt sich dabei natürlich nicht – wie manche Interpreten im Zeichen der genannten Hochkonjunktur meinten – um intendierte Fragmentarität, sondern es waren Typhusbakterien, die den Autor daran hinderten, sein Stück zu vollenden. Was der Autor nicht mehr konnte, mussten die Editoren leisten. Es ist vielleicht kein Zufall, dass die Editionsgeschichte des Woyzeck – oder wie man zunächst las: des Wozzeck – mit einer Reihe von Irrtümern begann. Hiervon ist zunächst zu berichten. Ob die Irrtümer produktiv waren, mögen die Leser entscheiden.
6 Karl Gutzkow, Brief an Luise Büchner in Darmstadt vom 7. Mai 1876, zit. nach: Gerhard K. Friesen, „Wir können alle gar nicht Respect genug vor Ihnen haben“. Der Briefwechsel zwischen Karl Gutzkow und Luise Büchner 1859–1876. In: Jahrbuch der Bettina von Arnim-Gesellschaft, 8/9, 1996/97, S. 75–138, hier 134. 7 George Steiner, Der Tod der Tragödie. Ein kritischer Essay, München, Wien 1962 (zuerst u.d.T.: Death of Tragedy, New York 1961).
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2 Das Handschriftenkonvolut als Baukasten zur Selbstbedienung Die Woyzeck-Handschriften bestehen aus fünf Doppelblättern in Folio (Entwurfsstufen H1 und H2), einem einzelnen vor- und rückseitig beschriebenen Quartblatt (H3) und drei „Heften“ (bestehend aus jeweils zwei Doppelblättern) in Quart (Entwurfsstufe H4). Nummerierungen fehlen durchweg, mit Ausnahme der ersten zwei Quart-Hefte sind die Schriftzeichen häufig mehrdeutig. Was vorliegt, weist also par excellence die „Form ins Offene“ auf, und wer daraus etwas Brauchbares machen wollte, brauchte Geduld und Findigkeit. Georg Büchners Brüder Ludwig und Alexander machten sich 1850 an die Entzifferung der Quarthandschriften, und das Ergebnis kann sich auch heute noch sehen lassen.8 Allerdings gelang es ihnen nicht, die Hefte in die richtige Reihenfolge zu bringen. Da sie Heft 3 an den Anfang setzten, waren sie nicht in der Lage, aus dem richtig Gelesenen eine Handlungsfolge zu konstruieren. Ludwig Büchner fasste das Ergebnis so zusammen: Was das erwähnte Trauerspielfragment anlangt, so ist dasselbe zum größten Theile mit blasser Tinte geschrieben und durchaus unleserlich; die einzelnen Scenen, die entziffert werden konnten, sind durch das Ausfallende so wenig unter einander in Zusammenhang zu bringen, daß nichts davon in der Sammlung mitgetheilt werden konnte.
Der österreichische Schriftsteller Karl Emil Franzos, der zweite Büchner-Liebhaber also, der sich an Woyzeck versuchte, löste 1875 fast alle Aufgaben, die zu lösen waren. Er entzifferte außer den Quartheften auch die Mehrzahl der übrigen Entwurfshandschriften; er erkannte, dass die Quarthefte der spätere, die Foliohandschriften dagegen ein früherer Entwurf waren, und er ordnete die Quarthefte in der richtigen Reihenfolge. Das ist fast schon alles alles, was ein Editor bis heute wissen muss. Wenn er das Drama in einer lesbaren und spielbaren Fassung edieren will, muss er die Szenen des späten Entwurfs in der dort angegebenen Reihenfolge drucken. Der späte Entwurf weist zwei Lücken auf. Diese muss er durch das entsprechende Material in den Foliohandschriften auffüllen. Außerdem bricht der späte Entwurf vor dem Ende der Handlung ab. Das ergänzende
8 Vgl. den Abdruck der betreffenden Transkriptionen in: Georg Büchner, Woyzeck, hg. von Burghard Dedner unter Mitarbeit von Arnd Beise, Ingrid Rehme, Eva Maria Vering und Manfred Wenzel, Darmstadt 2005, S. 55–70 (= Historisch-kritische Ausgabe der Sämtlichen Werke und Schriften Georg Büchners. Mit Quellendokumentation und Kommentar, hg. von Burghard Dedner, bis 2003 zusammen mit Thomas Michael Mayer, Bd. VII, 2. Im Folgenden in der Kurzform: MBA VII, 2).
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Material findet er wiederum in den Foliohandschriften. So gehen heute alle ernst zu nehmenden Editionen vor, und abgesehen von einigen strittigen Fragen, über die man endlos diskutieren kann, sind alle sich einig. Franzos schlug einen anderen Weg ein, einen Weg, der von der offenen Form, die das Drama tatsächlich bietet, zur Form ins Offene führt. Wie schon gesagt unterschied er zwar, als er 1875 erstmals über das Wozzeck-Konvolut berichtete, „zwei merklich verschiedene Entwürfe“, eine frühere Stufe, geschrieben auf großformatige „graue Bogen“ (Foliohandschrift), und eine spätere Stufe, geschrieben auf kleinformatige „weißliche Blättchen“ (Quarthandschrift).9 Auch wusste er, dass in diesem Falle Unterschiede von Geltung wirksam werden. Die späte Entstehungsstufe enthält geltenden Text, und eine auf der frühen Entstehungsstufe geschriebene Szene ist immer dann überholt, wenn die spätere Entwurfshandschrift eine ähnliche, aber eben veränderte Szene aufweist. Die Anwendung dieser Regel liegt umso näher, als Büchner viele Szenen der ersten Entwurfsstufe durch einen senkrechten Strich als „erledigt“ markierte. Ganz gemäß den Regeln editorischer Kunst versicherte Franzos deshalb: „Die Scenen, die sich sowohl im ersten, als im zweiten Entwurf vorfanden, habe ich im Wortlaute des Letzteren wiedergegeben“; er fuhr dann aber fort: „mit Ausnahme einer einzigen, welche in der älteren Fassung ungleich markiger und farbiger war.“10 Regelwidrig also in einem Falle, regelgerecht in allen anderen? Tatsächlich aber stellte Franzos fast stets Mischfassungen aus dem frühen (H2) und dem späten Entwurf (H4) her, unterschied also diese Entwürfe in der Praxis nicht nach Graden von Gültigkeit. Alles Geschriebene war gleich gültig; alles konnte in gleicher Weise für die Edition herangezogen werden. Franzos behandelte die Textelemente wie Klötze in einem Kinderbaukasten, die man nach Belieben aussuchen, übergehen und anordnen kann. Hier sind zwei Beispiele für dieses Verfahren.
9 Karl Emil Franzos, Aus Georg Büchners Nachlaß. In: Neue Freie Presse, Nr. 4020, 4022 und 4039 vom 3., 5. und 23. November 1875, hier 5. November. Franzos referierte hier über den gesamten Nachlass. Zur Abfassungszeit des Dramas „Wozzeck“ schloss er aus den Briefen auf „Frühherbst 1836“ für die Foliohandschrift, auf die Züricher Zeit für die Quarthandschrift. 10 Wozzeck. Ein Trauerspiel-Fragment von Georg Büchner, hg. von Karl Emil Franzos. In: „Mehr Licht!“ Eine deutsche Wochenschrift für Literatur und Kunst, No. 1–3, 5. 12. und 19. October 1878, hier No. 1, S. 5 f. Franzos’ Artikel ist reprinted in: Georg Büchner, Gesammelte Werke. Erstdrucke und Erstausgaben in Faksimiles, 10 Bändchen in Kassette, hg. von Thomas Michael Mayer, Frankfurt am Main 1987, hier Bd. 10.
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2.1 Eine Interpretationsthese, durch editorischen Eingriff untermauert Franzos zufolge wurde die „Katastrophe“ in Woyzeck, also die Mordtat, vorbereitet durch Woyzecks zunehmende Zweifel an der Treue seiner Lebensgefährtin Marie. Die Tat werde schließlich „eingeleitet“, indem Marie, als Woyzeck einmal drohe, tätlich zu werden (Szene H4,7), den Satz sagt: „Lieber ein Messer in den Leib, als eine Hand auf mich!“ Dies bringe Woyzeck auf den Mordgedanken: (Nach einer Pause, scheu flüsternd:) Lieber ein Messer. … Der Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt Einem, wenn man hinunterschaut. … Mich schwindelt. …11
An die zentrale Stelle der Handlung rückt Franzos damit zwei Repliken aus der frühen Foliohandschrift (H2,8), also aus einer von Büchner aufgegebenen und als erledigt markierten Szene.12 Tatsächlich lauten die Repliken dort so: Louisel. Rühr mich an Franz! Ich hätt lieber ein Messer in den Leib, als deine Hand auf meiner! Mein Vater hat mich nicht angreifen gewagt, wie ich 10 Jahr alt war, wenn ich ihn ansah. Woyzeck. Weib! – Nein es müßte was an dir seyn! Jeder Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einem, wenn man hinabsieht. Es wär! Sie geht wie die Unschuld. Nein Unschuld du hast ein Zeichen an dir. Weiß ich’s? Weiß ich’s? Wer weiß es?13
Die für Franzos’ Deutung entscheidenden „scheu flüsternd“ hervorgebrachten Worte: „Lieber ein Messer“ sind Franzos᾽ freie Erfindung. Sie waren – wie sich zeigen wird – eine folgenreiche Erfindung.
2.2 Elemente aus den Handschriften, neu arrangiert An dem zweiten Beispiel (Szene H2,2 und H4,2)14 sei zunächst gezeigt, welchen Gewinn die Forschung aus der Überlieferung der Entwurfshandschriften ziehen kann. Man kann an ihnen studieren, wie der Dichter sich an den Text, den er schließlich gelten lässt, heranarbeitet. Woyzeck, zum Handlungsbeginn bereits psychotisch verstört, ist auf der Flucht vor einer apokalyptischen Erscheinung, die ihn gerade auf freiem Feld
11 K.E. Franzos 1878 (wie Anm. 10), S. 39. 12 In den frühen Entwurfshandschriften H1 und H2 markierte Büchner Szenen, deren Material er in der späten Handschrift H4 abgearbeitet hatte, durch einen senkrechten Strich als erledigt. 13 Text nach MBA VI, 2, S. 19. 14 Text nach MBA VII, 2, S. 13 und S. 23.
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überfallen hat, und zugleich in Eile hin zum Abendappell, den er als Soldat nicht verpassen darf. Auf dem Wege klopft er atemlos ans Fenster seiner Geliebten. Woyzeck H2,2 (Straßburg 1836) (es klopft am Fenster) Louise Bist du’s Franz? Komm herein. Woyzeck Ich kann nit. Muß zum Verles. Louise Hast du Stecken geschnitten für den Major? Woyzeck Ja Louisel. Louise Was hast du Franz du siehst so verstört? Woyzeck pst! still! Ich hab’s aus! Die Freimaurer! Es war ein fürchterliches Getös am Himmel und Alles in Gluth! Ich bin viel auf der Spur! sehr viel!
Louise Narr! Woyzeck. Meinst? Sieh um dich! Alles starr fest, finster, was regt sich dahinter. Etwas, was wir nicht fassen begreifen still, was uns von Sinnen bringt, aber ich hab’s aus. Ich muß fort!
Woyzeck H4,2 (Zürich 1836/37) (es klopft am Fenster) Marie Wer da? Bist du’s Franz? Komm herein! Woyzeck Kann nit. Muß zum Verles.
Marie Was hast du Franz?
Woyzeck (geheimnißvoll) Marie, es war wieder was, viel, steht nicht geschrieben, und sieh da ging ein Rauch vom Land, wie der Rauch vom Ofen? Marie. Mann! Woyzeck. Es ist hinter mir gegangen bis vor die Stadt. Was soll das werden? Marie. Franz! Woyzeck. Ich muß fort
Woyzeck ist in Panik, und der Schrecken, in dessen Bann er steht, muss sich unmittelbar mitteilen, zunächst der Frau, dann dem Zuschauer. Eben dies gelingt in der ersten Fassung noch nicht. „Hast du Stecken geschnitten für den Major?/ Ja Louisel“ Das dient vielleicht dem Informationsbedürfnis der Zuschauer, ist aber im Übrigen small talk oder soziales Schmieröl und lenkt ab von der Hauptsache, von dem Schrecken, der Marie ergreifen soll. Deshalb ist auch die folgende Erklärung „Du siehst so verstört“ überflüssig. Wenn Woyzecks Verhalten wirklich Schrecken erregt, muss Marie nicht erklären, warum sie erschrocken ist. Ihr folgendes „Narr“ zeigt dann freilich, dass sie nicht ernst nimmt, was sie sieht. Ebenso sind Woyzecks Mitteilungen: „Freimaurer […] Getös am Himmel und Alles in Gluth!“ verschenkt. Was er dort berichtet, haben wir in der vorangehenden Szene bereits gesehen und gehört. Im folgenden Entwurf streicht Büchner deshalb alles Überflüssige und führt uns sogleich zur nächsten Stufe des psychotischen Anfalls, indem er uns zeigt, auf welcher „Spur“ Woyzeck sich befindet. Er verbindet das Wahrgenommene nicht mit abstrakten Ängsten – „Etwas, was wir nicht fassen begreifen still, was uns von Sinnen bringt“ –, sondern mit der Sodom und Gomorrha-Erzählung der Bibel und driftet damit vollends ab in die Welt seiner
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Wahnvorstellungen. Eben dies nimmt Marie wahr; deshalb die abschließenden Ausrufe „Mann!“ und „Franz!“ als Schreie des Entsetzens. Was macht Franzos daraus? (Freie Zusätze von seiner Hand sind durch Unterstreichung markiert.) Woyzeck H2,2 (Straßburg 1836)
Woyzeck H4,2 (Zürich 1836/37)
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(es klopft am Fenster) Louise Bist du’s Franz? Komm herein.
(es klopft am Fenster) Marie Wer da? Bist du’s Franz? Komm herein! Woyzeck Kann nit. Muß zum Verles.
(Es klopft am Fenster.) Marie Wer da? Bist du’s, Franz? Komm herein! Wozzeck. Kann nit. Muß zum Verles! Marie. Hast Stecken geschnitten für den Major? Wozzeck Ja, Marie. Ach … Marie. Was hast du, Franz, du siehst so verstört? Wozzeck Pst, still! Ich hab’s aus! Es war ein Gebild am Himmel, und Alles in Gluth! Ich bin Vielem auf der Spur! Marie. Mann! Wozzeck Und jetzt Alles finster, finster! … Marie, es war wieder was, viel … (Geheimnißvoll.) Steht nicht geschrieben: ‚Und sieh, es ging der Rauch auf vom Land, wie ein Rauch vom Ofen.‘
Woyzeck Ich kann nit. Muß zum Verles. Louise Hast du Stecken geschnitten für den Major? Woyzeck Ja Louisel. Louise Was hast du Franz du siehst so verstört? Woyzeck pst! still! Ich hab’s aus! Die Freimaurer! Es war ein fürchterliches Getös am Himmel und Alles in Gluth! Ich bin viel auf der Spur! sehr viel!
Louise Narr! Woyzeck. Meinst? Sieh um dich! Alles starr fest, finster, was regt sich dahinter. Etwas, was wir nicht fassen begreifen still, was uns von Sinnen bringt, aber ich hab’s aus. Ich muß fort! Louise. Dein Kind? Woyzeck. Ah. Junge! Heut Abend auf die Messe. Ich hab wieder was gespart (ab)
Marie Was hast du Franz?
Woyzeck (geheimnißvoll) Marie, es war wieder was, viel, steht nicht geschrieben, und sieh da ging ein Rauch vom Land, wie der Rauch vom Ofen? Marie. Mann! Woyzeck. Es ist hinter mir gegangen bis vor die Stadt. Was soll das werden? Marie. Franz! Woyzeck. Ich muß fort
Marie. Franz! Wozzeck. Es ist hinter mir gegangen bis vor die Stadt. Was soll das werden?
Marie. Dein Bub – Wozzeck. Hei, Junge! Heut Abend auf die Meß. Ich hab wieder was gespart. Jetzt muß ich fort. (ab)
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Indem Franzos so die Fassungen mischt, produziert er etwas, das sich zu Büchners Intention gegenläufig verhält. Büchner hatte den Text eingekürzt, um Woyzecks Verstörung zu betonen. Franzos verleiht dem, was situationsgemäß karg wirken sollte, einen Anschein von Geschwätzigkeit.
2.3 „bunt durcheinander“. Zur Reihenfolge der Szenen Ein zweites Ordnungskriterium – jetzt zur Anordnung der Szenen – hätte Franzos aus den Entwurfshandschriften selbst gewinnen können. In aller Regel konzipieren Dramenautoren die Szenen entlang der Handlungsfolge, beginnen also die Niederschrift mit der Anfangsszene und enden sie mit der Schlussszene. Diese Regel lässt Ausnahmen zu, aber diese müssen begründet werden. Franzos setzte sich über die Regel dezidiert hinweg und begründete dies mit einer eigenen Theorie von Büchners Schreibweise. Der erste Entwurf enthielt etwa zwanzig Scenen, theils nur angedeutet, theils dürftig skizzirt, die Wenigsten ausgeführt. Die Reihenfolge war ganz willkürlich: auf die Katastrophe folgte ein Stück der Exposition, darauf fand sich die Schlußscene angedeutet, dahinter jene Scene, mit der sich wohl die Dichtung eröffnen sollte etc. etc. Es entspricht dies auch ganz und gar der Art, wie Georg Büchner zu arbeiten pflegte. Er klügelte niemals lange, er machte nie eine schriftliche Skizze. Kaum hatte er den Stoff erfaßt, als auch der Stoff ihn erfaßte. Dann schrieb er jäh und hastig, was ihm zunächst Herz und Hirn erfüllte: eine lange Reihenfolge der wichtigsten Scenen, bunt durcheinander und in märchenhaft kurzer Zeit. […] Nun blieb das Manuscript lange Wochen liegen. Er wendete sich wieder seinen anatomischen Präparaten zu und dachte und grübelte zwischendurch über seine poetischen Probleme. Dann ward wieder einmal der Entwurf hervorgeholt, corrigirt, gestrichen, einige Scenen hinzugefügt, andere, die früher nur angedeutet gewesen, ausgeführt. Dieses zweite Stadium des ›Wozzeck‹ liegt auf den oberwähnten weißlichen Blättchen vor. Sie enthalten nur etwa zehn Szenen, gleichfalls ohne logische Reihenfolge […].15
Erst bei einer dritten und „letzten Bearbeitung“ – so Franzos – pflegte Büchner sich um „die Reihenfolge der Scenen“ zu kümmern.16 Der Tod habe ihn daran gehindert. So habe er, Franzos, vor der Aufgabe gestanden, die Reihenfolge der Szenen nach Gutdünken zu ordnen. Die Autonomie der Einzelszene gegenüber der Handlung gehört zu den wichtigsten Merkmalen der „offenen Form“. In Franzos’ irreführender Erzählung von Büchners Schreibweise wird dieses Prinzip auf die Spitze getrieben. Dies ist
15 K.E. Franzos 1875 (wie Anm. 9), 3. November; ebenso K.E. Franzos 1878 (wie Anm. 10), S. 5. 16 K.E. Franzos 1875 (wie Anm. 9), 3. November; K.E. Franzos 1878 (wie Anm. 10), S. 5.
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umso bemerkenswerter, als Büchner tatsächlich durchweg in der Reihenfolge der Handlung konzipierte und als die Handlungsfolge in Woyzeck recht eng ist. Die Dramenhandlung dauert etwas über 50 Stunden. Sie beginnt mit drei Abendszenen (1. Freies Feld, 2. Maries Kammer mit Blick auf Straße, 3. Jahrmarkt) und dem folgen zehn Szenen, die vom frühen Morgen bis zur Nacht am zweiten Tag spielen. Der dritte Tag ist der Tag des Mordes. Einzelne Szenen gehen unmittelbar ineinander über. Den Ursprung des Trommelns, das Woyzeck am Ende der ersten Szene hört, sehen wir in der zweiten Szene in Gestalt einer kleinen Musikkapelle. Vor allem der Beginn des zweiten Tages – 4. Besuch Woyzecks bei Marie, 5. Rasieren beim Hauptmann, 7. Konfrontation mit Marie, 8. Termin beim Doctor, 10. Wachtstube – bezeichnet eine lückenlose Abfolge im dichtgedrängten Morgenprogramm des Soldaten Franz Woyzeck. Der Zuschauer ist jederzeit über den Zeitpunkt der Handlung informiert. Franzos arrangierte diese Szenen in dieser Reihenfolge: 5 (Rasierszene), 3 (Jahrmarkt), 4 (Marie beim Anprobieren der Ohrringe), Hof des Professors, 1 (Freies Feld), 2 (Maries Kammer), 8 (Woyzeck, Doctor), 6 (Marie. Tambour-Major), 9 (Hauptmann. Doctor), 7 (Marie. Woyzeck.), 14. (Woyzeck. Tambourmajor), 10. (Wachtstube). Das zeigt, dass er bis auf die Paarungen 3 und 4 sowie 1 und 2 die Szenen für beliebig verschiebbar hielt und nicht einmal die Absicht einer Handlungsabfolge wahrnahm. Er selbst schrieb dazu: Was die Anreihung der Szenen betrifft, so war dies eine schwierige Aufgabe, da hiefür nicht die leiseste Andeutung vorlag. Neben der nothwendigen Rücksicht auf den Inhalt, ließ ich bei Feststellung dieser Reihenfolge nach Möglichkeit noch eine andere, ästhetische Rücksicht walten. Wozzeck besteht aus zwei grundverschiedenen Elementen, aus schwächeren grotesk-bizarren Scenen und trefflichen tragischen Fragmenten von erschütternder Einfachheit und Größe. Es war mein Bemühen, sie so zu gruppiren, daß nicht das letztere Element durch das erstere in seiner Wirkung beeinträchtigt werde. Weggelassen ist keine Silbe.17
Das also war die Methode in dem Wahnsinn. Franzos erschienen die Szenen, in denen der Doktor und der Hauptmann auftreten, als „grotesk-bizarr“ und „schwächer“. Er suchte sie durch vorsichtiges „Gruppiren“ zu entschärfen. Eine weitere wesentliche Umstellung nahm Franzos am Ende des Dramas vor. In der Handschrift folgt auf den Mord an Marie eine Szene, in der zwei Wanderer die Todesschreie eines Menschen hören und zunächst nicht sicher sind, ob
17 Karl Emil Franzos 1878 (wie Anm. 10), S. 6; ähnlich in: Georg Büchner’s sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß, hg. von Karl Emil Franzos, Frankfurt am Main 1879, S. 204.
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der naheliegende Teich – wie eine Büchner bekannte Ortssage erzählt – „nach einem Opfer ruft“ oder ob hier tatsächlich ein Mensch stirbt. Die abschließende Replik in der Handschrift „Nein, zu deutlich, zu laut. Da hinauf. Komm mit“ sagt deutlich, dass sie schließlich den Schrei richtig deuten und sich auf den Weg zum Mordplatz, eben „Da hinauf“, begeben. Franzos nahm dagegen an, dass Woyzeck bei dem Versuch, die Mordwaffe ins Wasser zu werfen, im Teich ertrinken sollte. Er machte dies glaubwürdig, indem er die passende Szenenanweisung erfand und die Szene der zwei Wanderer auf Woyzecks Gang in den Teich folgen ließ. So hören die zwei Wanderer in seiner Fassung zwar Todesschreie, aber nicht die von Marie, sondern die von Woyzeck.
3 Editorik versus Kulturanthropologie: Überlegungen zur Bewertung Der Autor dieses Aufsatzes versteht sich als Editor und ist gewohnt, zwischen Befolgung von und Verstößen gegen editorische Regeln zu unterscheiden, wobei er gelegentlich Grauzonen anerkennt. Aus dieser Sicht ist Franzos’ Vorgehen einerseits sehr verdienstvoll, denn es hat den Woyzeck-Text für die Öffentlichkeit gerettet, und es ist zum andern von Fehlern geprägt. Von diesen Fehlern sind einige – z. B. die Gleichsetzung von geltendem und aufgegebenem Text und die Nichtbeachtung der Reihenfolge der Niederschrift schwer nachvollziehbar, andere – z. B. die Hinzufügung eigenen Textes – sind schwer verzeihlich. Die auf Franzos folgende Geschichte der Woyzeck-Editionen wäre – aus editorischer Sicht – zu erzählen als Geschichte von der allmählichen Minderung eines bedauerlichen Irrtums. Wissenschaftlich sind Franzos’ Thesen von der Freiheit des Editors bei der Anordnung der Szenen oder seine Willkür in der Kontamination geltenden und aufgegebenen Textes inzwischen erledigt. In verbreiteten Editionen und wohl auch in den Köpfen von Deutschlehrern und anderen Nutzern sind sie dagegen immer noch lebendig, und in ihren Bemühungen um den richtigen Woyzeck haben die Editoren noch immer nicht gesiegt. Der Tagungsband, in dem dieser Aufsatz erscheint, ist der Produktivität der „Formen ins Offene“ gewidmet. Das kann in diesem Zusammenhang nur heißen: Zur Debatte steht die Produktivität des Irrtums. Tatsächlich kann man ja das Beharren auf dem Richtigen unproduktiv nennen. Denn das Richtige ist immer nur eines und dasselbe und deshalb in gewisser Hinsicht langweilig. Die Irrtümer dagegen sind unendlich variabel und formenreich. Während es also – von Grauzonen der Beurteilung abgesehen – nur einen richtigen Woyzeck-Text gibt, lassen sich unzählige falsche bilden. Dass zwei Wanderer am Ende des Stückes hören,
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wie Woyzeck im Teich ertrinkt, lässt sich aus der Handschrift nicht ableiten, ist also falsch. Andererseits ist dieses Ende durch Alban Bergs und Manfred Gurlitts Opern weltbekannt. Im Büchner-Jahr 2013 gab es in London eine Installation mit dem Titel „The drowned man“ zu besichtigen. Sie bezog sich irgendwie auf Büchners Drama und dem Titel war zu entnehmen, dass „Der Ertrunkene“ im Englischen eine verständliche Umschreibung für Woyzeck sein kann, obwohl der auf den Bühnen des deutschen Sprechtheaters nicht mehr ertrinkt. Auch ist ein Ertrinken bei Mondschein im Teich vor zirpenden Grillen kein schlechtes Handlungsende, schon gar nicht in einer Oper. Man kann dagegenhalten, dass Büchner eine eindrucksvolle Schlussszene (H3,2) für sein Drama geschrieben hat, die zeigt, dass Woyzeck nicht ertrinkt. Aber daraus würden andere schließen, dass er uns zwei Dramenschlüsse anbietet. Ebenso ist die Annahme, dass Woyzeck durch den Satz „Lieber ein Messer im Leib“ zum Mord angeregt wird, der letzten Fassung des Dramas nicht zu entnehmen, denn dort fehlt dieser Satz. Andererseits ist der Einfall nicht schlecht, und man mag ihn als Bereicherung dessen betrachten, was das Stück hergibt. So stehe ich vor einem Bewertungsdilemma und werde deshalb im Folgenden zwar an der Unterscheidung des Richtigen vom Falschen festhalten, andererseits aber dem Falschen mit einer möglichst großen Dosis humoristischer Toleranz begegnen. Am angemessensten schien es mir, die weitere Geschichte der Woyzeck-Editionen nach dem von Darwin vorgegebenen Modell zu erzählen. Die produktiven oder abwegigen Prozesse, zu denen das Woyzeck-Fragment den Anstoß gegeben hat, ähneln den biologischen Prozessen der Ausdifferenzierung von Tierarten und Tierrassen. Diese Ausdifferenzierung wurde fast durchweg von Editoren in Gang gesetzt, und das ist nicht überraschend. Bei „vollendet“ überlieferten Werken haben Editoren nur wenig „produktiven“ Spielraum, bei Fragmenten haben sie umgekehrt nur wenig Richtlinien für korrektes Vorgehen. Dies erklärt, warum sich die Editionsgeschichte des Woyzeck als ein erstaunlich verzweigter und komplexer Stammbaum von Arten, Rassen und Familien darstellt. Am Anfang des Stammbaums steht eine Species, die als Neandertaler bezeichnet sei, genauer als der ältere von Franzos geschaffene Wozzeck-Neandertaler.
4 Die erste Mutation des Wozzeck-Neandertaler: Eine Erfolgsgeschichte Dieser ältere Wozzeck-Neandertaler erfuhr 1909 eine erste Mutation durch den Büchner-Herausgeber Paul Landau. Der hatte zwar nicht die Handschrift eingesehen, wohl aber hatte er aus Franzos’ Feststellung, Büchner habe die Reihen-
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folge der Szenen nicht festgelegt, den Schluss gezogen, dass jeder Herausgeber diese Reihenfolge nach Gutdünken verändern könne. Eben dies tat er – und so beginnt bei ihm das Drama zwar weiterhin mit der Rasierszene (Szene 5); doch darauf folgen – an dieser Stelle tatsächlich der Handschrift folgend – die Szenen 1 und 2. Die übrige Reihenfolge – 8 (Woyzeck. Doctor), 3 (Jahrmarkt), 6 (Marie. Tambour-Major), Hof des Professors, 4 (Marie beim Anprobieren der Ohrringe), 9 (Hauptmann. Doctor), 7 (Marie. Woyzeck.) – ist jedoch nicht weniger phantastisch als bei Franzos. Landaus jüngerer Wozzeck-Neandertaler geriet – wie noch zu zeigen sein wird – unter einigen Druck durch das erste Auftreten eines proto-modernen Woyzeck um 1920. Durch einen Zufall hat er dennoch überlebt und sich als mindestens so erfolgreich erwiesen wie die modernere Species. Zufällig nämlich arbeitete Alban Berg um 1920 an einer Wozzeck-Oper, für die er ein Inselbändchen nutzte, das Landaus Text enthielt.18 Die Oper war 1921 fertiggestellt, erlebte 1925 ihre Uraufführung und erschien 1926 im Druck.19 Ihr folgte – zufällig in derselben Textversion – Manfred Gurlitts Wozzeck mit der Uraufführung 1926. Unser jüngerer Wozzeck-Neandertaler rettete sich damit auf das große Territorium des internationalen Musiktheaters und dort lebt er unangefochten weiter. Wenn ich im Ausland von meinem Spezialgebiet spreche, sage ich, ich arbeite über den Librettisten von Bergs Wozzeck. Damit stoße ich bei entsprechend gebildeten Leuten sofort auf Verständnis. Dagegen hat Woyzeck durch Werner Herzogs Verfilmung von 1979 ebenfalls einen gewissen, aber doch viel geringeren Bekanntheitsgrad erreicht.
5 Der erste und kurze Auftritt des modernen Woyzeck Im Jahre 1914 entdeckte Hugo Bieber die Vorlage für Büchners Drama, das WoyzeckGutachten des Johann August Clarus.20 Dieser Fund, der in vieler Hinsicht unser Verständnis des Dramas bereicherte, zeigte auch, dass man bisher den Namen
18 Vgl. Peter Petersen, Alban Berg: Wozzeck, München 1985, S. 51–53 [Sonderband aus der Reihe Musik-Konzepte von text + kritik]. Berg verfügte allerdings bereits über die neueren Ausgaben von Georg Witkowski und Ernst Hardt und gab gelegentlich auch schon den Namen der Hauptfigur als „Woyzeck“ wieder (vgl. P. Petersen, S. 38 f.). 19 Vgl. Thomas Michael Mayer, Nachwort zu Georg Büchner, Gesammelte Werke, Bd. 10 (wie Anm. 10). 20 Hugo Bieber, Wozzeck und Woyzeck. In: Das literarische Echo, 16, 1914, H. 17, Sp. 1188–1191.
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des Helden falsch gelesen hatte. So gab es nunmehr neben der älteren Fehllesung „Wozzeck“ die neuere Lesung „Woyzeck“. 1920, also sechs Jahre später, verkauften die Nachkommen Ludwig Büchners den Büchner-Nachlass an den Insel-Verlag und schufen damit die Voraussetzung für die Entstehung eines wissenschaftlichen Woyzeck. Ein bekannter Germanist, Georg Witkowski, machte sich an eine Neulesung des Stückes,21 und gleich danach (1922) sichtete ein zweiter Editor, Fritz Bergemann, das Konvolut von Neuem. Was dabei tatsächlich und nachhaltig gelang, war eine verlässliche Lesung etlicher bisher unentzifferter Stellen und außerdem und vor allem die Entfernung der Zusätze, mit denen Franzos den Text angereichert hatte. Was nicht oder nur teilweise gelang, war die Befreiung von den prinzipiellen Fehlern, die Franzos’ Edition zugrundelagen. Witkowski führte mit seinem Woyzeck die neue Gattung der HandschriftenEdition in das Woyzeck-Biotop ein. Dabei wiederholte er allerdings einen Fehler, den schon Alexander und Ludwig Büchner sowie Franzos begangen hatten. Er erkannte nicht, dass die ältere Foliohandschrift zwei Entwürfe enthält, kenntlich unter anderem daran, dass die Hauptperson im ersten Entwurf (Foliodoppelblätter I und II) noch Louis, im zweiten (Foliodoppelblätter III, IV, V) aber Woyzeck heißt.22 Er nahm beide Entwürfe für einen und verirrte sich dann in der Reihenfolge der Foliodoppelblätter, die er in der Reihenfolge II – III – I – IV – V anordnete.23 Folgerichtig erzählte Witkowski noch einmal die Entstehungsgeschichte, die Franzos verbreitet hatte: Büchner habe in der Foliohandschrift „in flüchtigster Skizzierung ohne jede Absicht geregelter Folge erste Aufzeichnungen“ oder „Einzelbilder“ festgehalten, „die in der Seele des Dichters aufstiegen“. Immerhin konzedierte er: Die Quarthandschrift – als „die Ausführung“ bezeichnet – „bietet eine, vielleicht nur vorläufige, nach bewußten Absichten geordnete Folge von Szenen“.24 Aus diesem wissenschaftlichen Woyzeck leitete Ernst Hardt einen „für Leser und Bühne“ hergestellten Woyzeck ab, den er 1922 im Insel-Verlag veröffent lichte.25 Neben der Handschriften-Edition haben wir damit die „Lese- und Bühnenfassung“, eine Konstellation, die auch die heutige Veröffentlichungspraxis
21 Georg Büchner, Woyzeck. Nach der Handschrift des Dichters hg. von Georg Witkowski, Leipzig 1920. 22 K.E. Franzos 1878 (wie Anm. 10), S. 5, teilte dagegen mit, Büchner habe „[d]ie Namen der Personen […] im zweiten Entwurfe geändert“, also erst in der Quarthandschrift. 23 Vgl. Fritz Bergemann in: Georg Büchners Sämtliche Werke und Briefe, hg. von Fritz Bergemann, Leipzig 1922, S. 702, Anm. 1. 24 So Georg Witkowski in: Georg Büchner, Woyzeck (wie Anm. 21), S. 60 f. Witkowski plazierte das Quartblatt textgenetisch zwischen die Folio- und die Quarthandschrift. 25 Georg Büchner, Woyzeck. Eine Tragödie, nach den neu entzifferten Handschriften für Leser und Bühnen hergest. von Ernst Hardt, Leipzig 1922.
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bestimmt. Hardt hielt sich allerdings nicht streng an die Szenenreihenfolge der Handschrift. Die Reihenfolge in der letzten Handschrift war ja „vielleicht nur vorläufig“. 1922 folgte der nächste Modernisierungsschub. Fritz Bergemann gelang der Nachweis, dass die Foliohandschrift „zwei verschiedene Entwurfstücke“ enthält.26 Damit löste er auch das Rätsel, in welcher Reihenfolge Büchner die Szenen dort geschrieben hatte. In seiner bahnbrechenden Ausgabe von 1922 druckte er die früheren Entwurfshandschriften (H1, H2, H3) in der Abteilung Lesarten, und zwar in der korrekten Abfolge.27 Im Hauptteil druckte er die Szenen der letzten Handschrift (H4) wiederum in korrekter Reihenfolge, also mit der Szene „Freies Feld“ am Anfang. Die Lücken in dieser Handschrift füllte er – sehr zurückhaltend – mit Material aus den frühen Entwurfshandschriften auf, so dass hier eine rudimentäre „Lese- und Bühnenfassung“ entstand. Dabei bediente sich Bergemann des auch von uns in Ausgaben der letzten 20 Jahre häufiger nachgeahmten Verfahrens, Textmischung diakritisch zu markieren. Bergemann markierte die Einschübe aus früheren Fassungen durch Einsatz von Fraktur, während er geltenden Text der letzten Stufe in Antiquaschrift präsentierte. Auch dieser moderne Woyzeck hatte sich vom Erbgut des Neandertalers Wozzeck noch nicht ganz befreit. Obwohl nämlich Bergemann sehr viel weniger Lücken füllte, als wir es heute tun, hielt er es doch für unerlässlich, Franzos’ These vom Entstehen des Mordentschlusses beizubehalten und editorisch darzustellen. In der Konfrontationsszene Woyzeck-Marie erscheint weiterhin Maries Satz „Lieber ein Messer im Leib“, wenn auch – technisch korrekt – in Frakturdruck, dem Signal für Textmischung.28 Auch hielt Bergemann an Franzos’ These, Büchner konzipiere nach den Zufällen der Imagination, weiterhin fest. Er schreibt: „[A]us dem Inhalt kann nicht ohne weiteres auf die Folge bei dichterischen Entwürfen Büchners geschlossen werden, da er nicht immer der Reihe nach konzipiert.“29 So stellte Bergemann im Schluss-Teil die Szene, in der zwei Wanderer auftreten, doch wieder um. In der Abteilung „Lesarten“30 werden die Wanderer, wie es die Handschrift verlangt, auf Maries Todesschrei aufmerksam. Im Haupttext erscheinen sie – wie schon im Neandertaler Wozzeck – in dem Augenblick, als Woyzeck das Messer in den Teich wirft und ertrinkt. Das ist aus zwei Gründen
26 F. Bergemann 1922 (wie Anm. 23), S. 699. 27 F. Bergemann 1922 (wie Anm. 23), S. 706–729. 28 F. Bergemann 1922 (wie Anm. 23), S. 152. 29 F. Bergemann 1922 (wie Anm. 23), S. 699. 30 F. Bergemann 1922 (wie Anm. 23), S. 714.
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besonders bemerkenswert. Zum einen sollte in Bergemanns Vorstellung Woyzeck, von dem man ja wusste, dass er sein Vorbild in einem bekannten Kriminalfall hatte, keineswegs ertrinken. Vielmehr glaubte Bergemann, dass das Drama mit dem Woyzeck-Prozess enden sollte und dass Woyzeck am Ende eine Anklagerede gegen die Gesellschaft, die ihn zum Mörder werden ließ, hätte halten sollen.31 Auch wusste Bergemann, dass Franzos willkürlich den Text verändert hatte, um Woyzecks Ertrinken plausibel zu machen, und schließlich vermutete er plausibel, dass die Vorbeigehenden „vielleicht […] Mariens Leiche aufspüren und der Polizei davon Mitteilung machen sollten“.32 Dennoch folgte er in seiner HybridAusgabe weiterhin Franzos’ Umstellung der Szenen und auch dessen fehlerhaftem Text, dem zufolge die Wanderer nicht hin zum Tatort – wie im Text angegeben –, sondern von ihm weg eilen. In den Lesarten endet die Szene mit den Worten des ersten Wanderers: „Da hinauf. Komm mit!“ In der Hybridfassung fehlt diese Replik und die Szene endet mit den Worten: „Es ist unheimlich: […] wie Gespensterspuk. Fort.“33 Die Nervenverläufe moderner Tierarten machen manchmal Umwege, die vollkommen unsinnig sind, aber auf einer früheren Evolutionsstufe sinnvoll waren. Ganz ähnlich vollzieht sich auch die Entstehung der Arten in der Editorik nicht als creatio ex nihilo, sondern in schrittweiser Modifikation des schon Bestehenden. Nach diesem Muster erwies sich auch in dem modernen Woyzeck – kraft Gewohnheitsrecht – überkommener Unsinn als beharrlich gegenüber der besseren Einsicht des Editors, und ich bin gewiss, dass spätere Forscher auch über manche Entscheidung von uns Heutigen den Kopf schütteln werden. „Weh dir, daß du ein Enkel bist!“, sagt Mephisto und hat recht wie immer. Der Vergleich der textgeschichtlichen mit biologischen Vorgängen liegt auch aus einem anderen Grunde nahe. Witkowskis Handschriften- und Bergemanns Hybrid-Edition stellten zweifellos einen evolutionsgeschichtlichen Fortschritt dar. Mit ihnen haben wir die modernen Arten. Wie sich gleich zeigen wird, ist aber keineswegs garantiert, dass eine modernere Art auch überlebensfähig ist.
31 F. Bergemann 1922 (wie Anm. 23), S. 785. 32 F. Bergemann 1922 (wie Anm. 23), S. 785. 33 F. Bergemann 1922 (wie Anm. 23), S. 714 und S. 161.
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6 Neandertaler im modernisierten Gewand 1923 stand Arnold Zweig mit seinem Wozzeck-Text im Rahmen einer BüchnerGesamtausgabe vor einem ähnlichen Dilemma wie kurz vor ihm Alban Berg. Der Text war schon gesetzt, aber die gerade erschienenen Editionen von Witkowski und Bergemann bewiesen dessen Fehlerhaftigkeit. Arnold Zweig ging in die Offensive mit einer Theorie von Gebietsmonopolen. Wozzeck, so erklärte er, ist ein „Gut der Bühne“, Woyzeck eine „Aufgabe der Wissenschaft“. […] es ist gut und unentbehrlich, daß man buchstabengetreue Drucke von Dichtungen wie Woyzeck hat; treuer aber, sinngetreu nämlich und intentionsgetreu nämlich ist die Haltung dessen, der für Erlebnis und dramatische Tradition eine Gestalt des Dramas für die ideale Bühne ermöglicht. […] Deshalb kommt es Dramen gegenüber auf Philologie so wenig an.34
„Buchstabengetreu“ versus „sinngetreu“ und „intentionsgetreu“: Heftiger lässt sich die Philologie kaum attackieren, und im Lutherjahr 2017 kann man versucht sein, auf diese Attacke mit dem Vers „Das Wort sie sollen lassen stahn“ zu erwidern. Aber natürlich setzte sich Zweig in diesem Verdrängungswettbewerb durch. 1926 zog Bergemann seine Woyzeck-Fassung zurück. Ganz im Sinne von Zweig erklärte er: Da das in der „wissenschaftlichen Ausgabe von 1922“ gewählte „philologische Verfahren […] nur den Forscher befriedigen“ konnte, so werde er jetzt in einer neuen Ausgabe „versuchen, des Dichters fragmentarische Ausführung aus den noch nicht benutzten Teilen der Entwürfe zu vervollständigen und ihr auch durch Umstellung einiger Szenen eine möglichst dramatische Form zu geben“. Dabei könne er sich „erfreulicherweise […] der Hardtschen Szenenanordnung überwiegend anschließen“.35 So produzierte Bergemann in einer zweiten Auflage von Büchners Sämtlichen Werken und Briefen Franzos’ Neandertaler im nochmals modernisierten Gewand, jetzt natürlich unter dem Titel Woyzeck. Die Szenenfolge zu Anfang ist jetzt 5, 1, 2, 3, 4, 8, 6, 9, 7. Diese Gestalt hat Woyzeck auch noch in der mir vorliegenden 10. Auflage der Bergemann-Fassung im Deutschen Taschenbuch Verlag von 1975. Woyzeck ertrinkt hier weiterhin im Teich, allerdings mit der abschließenden Anmerkung des Editors: „Anderer Ausgang, mit Woyzecks Rückkehr vom Teich und gerichtlichem Nachspiel, nur in den Entwürfen angedeutet.“36 Und
34 Arnold Zweig, Versuch über Georg Büchner. In: Georg Büchners Sämtliche poetische Werke […], hg. und eingeleitet von Arnold Zweig, München, Leipzig 1923, S. L. 35 Georg Büchners Werke und Briefe, hg. von Fritz Bergemann, 2. Aufl., Leipzig 1926, S. 473 f. 36 Georg Büchners Werke und Briefe, 10. Aufl., München 1975, S. 132, Anm. Diese Ausgabe bietet den in der 9. Aufl. (1962) im Insel-Verlag von Fritz Bergemann herausgegebenen Text.
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Woyzeck rasiert weiterhin den Hauptmann in der ersten Szene, die damit außerhalb jedes möglichen Zeitrahmens der Handlung steht und verhindert, dass im Zuschauer ein Zeitsinn für den Ablauf der Szenen entstehen kann. Auch andere alte Bekannte treffen wir noch: Dass „jeder Mensch […] ein Abgrund“ sei, diesen schönen, von Büchner aber aufgegebenen Satz finden wir weiterhin im Text,37 und in der zweiten Szene hat sich von den einst umfangreichen Zusätzen aus der Entwurfsstufe noch ein Satz gerettet, der in der Hybridfassung 1922 schon verschwunden war. Auf Woyzecks Satz aus H4,2: „Es ist hinter mir gegangen bis vor die Stadt“ folgt ab 1926 wieder der offenbar allzu kostbare Satz aus der Vorstufe H2,2: „Etwas, was wir nicht fassen begreifen, was uns von Sinnen bringt.“38 Am Ende ist schließlich die Szene umgestellt, in der Kinder zum Tatort laufen, eine Veränderung, die uns noch beschäftigen wird. Arnold Zweig bot 1923 der Wissenschaft an, sich fürderhin mit dem wissenschaftlichen Woyzeck zu beschäftigen und den Neandertaler den Bühnen zu überlassen. Die Wissenschaft hat sich auf dieses Angebot nicht eingelassen. Erwin Scheuers schon erwähnte, 1967 übrigens im Reprint erschienene Abhandlung Akt und Szene in der offenen Form des Dramas, dargestellt an den Dramen Georg Büchners39 stützte sich noch auf den ersten wissenschaftlichen Woyzeck, also auf Bergemanns Fassung von 1922. Volker Klotz verwendete 1960 in seiner populären, 1999 in 14. Auflage erschienenen Standarddarstellung Geschlossene und offene Form im Drama40 nicht mehr diesen verlässlichen Text, sondern vielmehr Bergemanns Woyzeck-Neandertaler, hier in der 7. Auflage von 1958. Für die Beschreibung der „offenen Form“ war dieser Text freilich auch besser geeignet als der authentische. Auch allen Woyzeck-Interpretationen der 1950er und 1960er Jahre, an die ich mich erinnern kann, war der wissenschaftliche Woyzeck unbekannt oder gleichgültig. All dies änderte sich erst mit Werner R. Lehmanns WoyzeckEdition von 1967.
7 Überleben im Medienwechsel In den 1980er Jahren führten viele Lehrer an deutschen Gymnasien in Woyzeck ein, indem sie den Text in seine szenischen Einzelteile zerschnitten und jedem Schüler einen Schnipsel gaben mit dem Auftrag, die Schnipsel in Pausengesprä-
37 Georg Büchners Werke und Briefe (wie Anm. 36), S. 123. 38 Georg Büchners Werke und Briefe (wie Anm. 36), S. 116. 39 E. Scheuer, Akt und Szene (wie Anm. 2). 40 V. Klotz, Offene und geschlossene Form (wie Anm. 2).
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chen in die richtige Reihenfolge zu bringen. Deutlich merkt man hinter diesem didaktisch sicher nicht uninteressanten Verfahren die von Franzos erfundene und dann weiter verbreitete These, die szenische Reihenfolge des Stückes sei nicht festgelegt. Wenn sie nicht festgelegt ist, kann jeder Leser seine eigener Editor sein, und das Prinzip der demokratischen Mitbestimmung gilt auch für die Editorik. Mir selbst begegnete diese These noch einmal vor zwei Jahren in der E-Mail einer Lehrerin. Sie kontaktierte mich mit folgender Frage: Ihre Schüler hätten gelesen, die Reihenfolge der Szenen sei bei Woyzeck nicht festgelegt. Sie hätten aber auch gelesen, die Marburger Büchner-Ausgabe hätte die Szenen nach wissenschaftlichen Kriterien geordnet. Wie, so die Schüler, kann die Wissenschaft ordnen, was gar nicht festgelegt ist? Ich antwortete ihr: Wenn meine millionenschwere Erbtante drei Testamente hinterlässt, gilt das zuletzt geschriebene. Dies sei die Regel, der auch wir folgen. Sie dankte für die Auskunft und meinte, die Regel werde auch den Schülern einleuchten. Übrigens werde sie die Entstehungsgeschichte des Dramas zum Gegenstand einer Schulstunde machen. Und dies ist natürlich eine produktive Nebenwirkung des Woyzeck als einer Form ins Offene. Leser, denen die Diskussionen der Editorik sonst vollkommen überflüssig vorkommen, lassen sich für die Entstehungs- und Druckgeschichte des Woyzeck erwärmen. Woher hatten die Schüler ihre Kenntnisse von der nicht festgelegten Reihenfolge der Szenen? Die derzeit möglicherweise am meisten konsultierte Fassung des Woyzeck bietet das Projekt Gutenberg. Wie schon bei Franzos rasiert Woyzeck hier anfangs den Hauptmann, wie bei jenem hören die zwei Wanderer am Ende, wie er im Teich ertrinkt, Marie sagt weiterhin die gestrichenen Sätze: „Rühr mich an, Franz! Ich hätt’ lieber ein Messer in den Leib als deine Hand auf meiner“, und die erste Begegnung zwischen Marie und Woyzeck besteht aus der schon dargestellten Mischung gültigen und aufgegebenen Textes. Kurz und gut: Es ist Bergemanns Neandertaler, der hier präsentiert wird, obwohl in der „Quellenangabe“ von Bergemann nicht die Rede ist. Hier ist es vielmehr ein Erik Pischel, der für den Text verantwortlich zeichnet. In Pischels „Vorbemerkung“ heißt es im schönsten non-sequitur-Stil: „Dieses Stück ist ein Fragment. Es gibt keine einzig richtige Reihenfolge der einzelnen Szenen, denn sie sind weder nummeriert noch in Akte aufgeteilt.“ Als hätte Büchner nicht bei der einfachen Niederschrift der Entwurfshandschriften bereits „eine Reihenfolge der einzelnen Szenen“ hergestellt, die auch für den Editor verbindlich ist. Es passt zu alledem, dass als Bild von Büchner ein Ölgemälde gezeigt wird, das einen Angehörigen eines Freimaurerordens vom Niederrhein darstellt und mit Büchner nichts zu tun hat. Neben dem Projekt Gutenberg ist es ein Billigstprodukt auf dem Printmarkt für Schulen, die Reihe der „Hamburger Lesehefte“, in denen Bergemanns Text
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weiterhin angeboten wird. So ist der Woyzeck-Neandertaler von 1926 zwar auf dem seriösen Printmarkt von den moderneren Woyzeck-Versionen im Laufe der letzten 30 Jahre verdrängt worden. Im elektronischen Medium und im Billigstsektor wird er weiter verbreitet. Ich selbst biete im Büchnerportal einen „modernen“ Woyzeck (Handschriftenedition plus Lese- und Bühnenfassung) sowie eine „Einleitung zu Woyzeck“ an. Soweit ich das beurteilen kann, wird das Angebot der „Einleitung“ vom Netzpublikum gut angenommen; mit dem Editionsangebot habe ich gegen das Projekt Gutenberg keine Chance.
8 Der moderne Woyzeck und noch eine Spielart der Form ins Offene 1967 erschien in Hamburg im Christian Wegner Verlag von Werner R. Lehmann (Hg.): Georg Büchner, Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe mit Kommentar der Bd. 1: Dichtungen und Übersetzungen. Mit Dokumentationen zur Stoffgeschichte. Ein zweiter Band: Vermischte Schriften und Briefe erschien 1971.41 Diese „Hamburger Ausgabe“ wurde 1974 vom Hanser-Verlag in München übernommen. Den zwei Textbänden sollten zwei editorisch kommentierende Bände folgen, die aber nie erschienen sind. Stattdessen erschienen die zwei Textbände mit umfangreicher Kommentierung als Taschenbuch und waren in den achtziger Jahren das „Muss“ für jeden, der sich mit Büchner beschäftigte. Lehmann edierte Woyzeck in mehrfacher Form: im Hauptteil als Handschriftenedition (S. 143–181) der „Entstehungsstufen“, im Anhang dann als „Synopse“ der in den verschiedenen Entwurfsstufen gleichen oder ähnlichen Szenen (S. 337–406) und schließlich als „Lese- und Bühnenfassung“ (S. 407–431). Mit dieser „Lese- und Bühnenfassung“ ging Lehmann den Weg, den ich bereits oben genannt habe. Maßgebend ist die Quarthandschrift, deren Lücken durch Text der Entwurfshandschriften aufgefüllt werden. Das fehlende Ende übernimmt der Editor – und zwar vollständig – aus der allerersten Entwurfshandschrift sowie aus einer Szene auf einem Extrablatt (H3,2). Lehmann übertrug dieses editorische Prinzip in die Praxis und machte nur an einer Stelle der bisherigen Gepflogenheit editorischer Umstellung noch ein Zugeständnis.
41 Georg Büchner, Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe mit Kommentar, hg. von Werner R. Lehmann, Bd. 1: Dichtungen und Übersetzungen. Mit Dokumentationen zur Stoffgeschichte, Bd. 2: Vermischte Schriften und Briefe, Hamburg 1967 bzw. 1971.
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8.1 Ein letztes Relikt des Neandertaler Gegen Ende der ersten Entwurfshandschrift (H1,18) kommen in einer Szene Kinder zusammen, die auch noch zum Mordplatz laufen wollen, nachdem alle andern schon dort sind. Es folgen dann die Schlussszenen mit Woyzeck am Mordplatz (H1,19) und am Teich (H1,20). Diese Szenenfolge hatte schon Bergemann 1926 in der Form H1,19, H1,20, H1,18 umgetauscht, und Lehmann folgte Bergemann hier mit dem Argument, die Kinderszene falle – wenn man der Handschrift folgt – in die Nachtstunden. Sie müsse aber am nächsten Morgen spielen. Warum denn das?, fragt man heute verwundert. Lehmanns Antwort lautete: „Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Kinder wie Tom Sawyer und Huckleberry Finn um Mitternacht ins Wäldche laufen.“ Allenfalls täten sie das „zur Morgenzeit“.42 Angelsächsische Kollegen widersetzten sich schon früh diesem Argument, dessen Komik Michael Patterson mit dem Satz offenlegte, Lehmann orientiere sich hier auffällig an „a rather middle class way of bringing up children“.43 Gelegentlich – so kann man hieraus lernen – ist die schöne Literatur etwa in Gestalt von Mark Twains Romanen der Wirklichkeit näher als das wirkliche Leben deutscher Professoren. Die folgenden wegweisenden Ausgaben – ich nenne hier nur Henri Poschmanns Ausgabe im Deutschen Klassiker Verlag44 und die Marburger BüchnerAusgabe – haben dieses letzte Relikt aus den Zeiten des Wozzeck-Neandertaler auch beseitigt. Es gibt noch immer Unstimmigkeiten. Sie betreffen zum einen die Plazierung der auf dem Extrablatt (H3,1) geschriebenen Szene „Hof des Professors“, zum andern die Frage, ob Szenen, die Büchner in den Entwurfshandschriften zwar nicht gestrichen, aber auch nicht in die Quarthandschrift übernommen hat, noch Geltung beanspruchen dürfen. Das sind aber nur noch die dürftigen Reste eines einst umfänglichen Streits.
8.2 Noch einmal eine Form ins Offene Zum Ausgleich für diesen langweiligen Konsens haben Lehmann und noch stärker nach ihm Henri Poschmann mit ihren Ausgaben eine neue Spielart der „Formen
42 Werner R. Lehmann, Repliken. Beiträge zu einem Streitgespräch über den Woyzeck. In: Euphorion, 65, 1971, S. 154 f. 43 Michael Patterson, Contradictions Concerning Time in Büchner’s Woyzeck. In: German Life and Letters, 32, 1978/79, S. 115–121, hier 120. 44 Georg Büchner, Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zwei Bänden, hg. von Henri Posch mann unter Mitarbeit von Rosemarie Poschmann, Bd. 1: Dichtungen, Bd. 2: Schriften, Briefe, Dokumente, Frankfurt am Main 1992 und 1999 (Bibliothek deutscher Klassiker 84 und 169).
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Burghard Dedner
ins Offene“ erschlossen, von der man zuvor gar nichts wusste. „Offen“ im Sinne von unvollendet und mehrdeutig sind die Woyzeck-Szenen ja auch auf der Ebene der Handschrift, und zwar vor allem im Bereich der Endungen, wo die deutsche Sprache mehrere alternative Möglichkeiten anbietet. Nehmen wir folgendes Beispiel aus der Szene H1,17:45
Alle Editoren lesen: „ohne Schuh in die Höll gehn“, und dies ist wohl eine gute Lösung. Allerdings ist das „e“ in „ohne“ nicht erkennbar, so dass man auch „ohn“ lesen kann, ein Wort, das mir aus dem Religionsunterricht – „ohn all mein Verdienst und Würdigkeit“ heißt es im lutherischen Katechismus – noch gut vertraut ist. Ebenso kann man bei dem letzten Wort fragen, ob nicht ein süddeutschmundartliches „gehe“ dort steht oder aber ein schriftdeutsches „gehen“. Auch ist vor „Höll“ ein „die“ nicht erkennbar, eher ein „de“. Eine korrekte Transkription müsste also lauten: „Man kann auch oh|n|ne| Schuh in d|e|ie| Höll geh|n|e|en|“, wobei die Varianten zwischen den senkrechten Strichen alternative Angebote darstellen. Macht das etwas aus? Tatsächlich ist der Unterschied zwischen „Man kann auch ohne Schuhe in die Hölle gehen“ und „Man kann auch ohn Schuh in de Höll gehe“, also zwischen einer pedantisch standardsprachlichen und einer pedantisch hessisch-umgangssprachlichen Lesung nicht unbeträchtlich. Nehmen wir das folgende etwas schwerer lesbare Beispiel aus der Szene H2,2:46
Die Textkonstitutionen (Lese- und Bühnenfassung) für diese Stelle lauten: Lehmann (Bd. 1, 1967): „man könnte Lust bekomm, ein Kloben hineinzuschlagen und sich daran zu hänge, nur wege des Gedankenstrichels zwischen Ja, und wieder ja“.
45 MBA VII, 1, S. 18, Handschrift: Goethe- und Schiller-Archiv, Weimar. 46 MBA VII, 1, S. 34, Handschrift: Goethe- und Schiller-Archiv, Weimar.
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Poschmann (Bd. 1, 1992): „man könnte Lust bekomm, ein Kloben hineinzuschlage und sich daran zu hänge, nur wege des Gedankestrichels zwischen Ja und nein“. Dedner/Funk (MBA VII, 1, 2007): „man könnte Lust bekommen, einen Kloben hineinzuschlagen und sich daran zu hängen, nur wegen des Gedankenstrichels zwischen Ja, und nein“. Es liegt nahe, Arnold Zweigs Gegenüberstellung von „buchstabengetreu“ und „intentionsgetreu“ noch einmal zu wiederholen und jetzt gegen die offenbar intentionsgetreue Textkonstitution der Marburger Büchner-Ausgabe zu wenden. „hineinzuschlagen“ – „hängen“ – „wegen“ – „Gedankenstrichels“: Zweifellos hat Büchner die vollen (hochdeutschen) „en“-Endungen auf dem Papier nicht niedergeschrieben, mundartlich-südhessische Endungen wie in „hänge“ dagegen schon eher. Beim genauen Hinsehen ist dies freilich auch eine Illusion. Ein „e“ verlangt in deutscher Kurrentschrift zwei senkrechte Striche. In dem von Poschmann gelesenen „Gedankestrichels“ fehlt das „e“ gänzlich, und es müsste also „Gedankstrichels“ heißen. Am Ende von „hineinzuschlage“ oder selbst „hänge“ sind die zwei Striche auch nicht vorhanden, abgesehen davon, dass Büchner keineswegs „hinein“ geschrieben hat. Allenfalls in „wege“ und „Klobe“ – also nicht „Kloben“ – wäre die „e“-Endung unstrittig. Bei „bekomm“ wiederum ist zu bedenken, dass a) das Wort in Büchners südhessischem Sprachraum – man sagt dort „kriegen“ – nicht existiert, so dass eine südhessisch-mundartliche Variante für dieses Wort merkwürdig wäre, und dass b) Büchner häufig nach dem sogenannten Superskript – i-Punkt, u-Bogen, Geminationsstrich – mit der Feder nicht zur Grundlinie zurückkehrt, so dass hier die Endungen aus schreibtechnischen Gründen ganz wegfallen. Wir haben bei der Textkonstitution festgestellt: Bei einer scheinbar zeichengetreuen Wiedergabe der Handschrift erhalten wir als tatsächliches Ergebnis: je flüchtiger geschrieben, umso „dialektaler“, je sorgfältiger geschrieben, umso „hochdeutscher“. Und dieses Ergebnis scheint widersinnig. Wir argumentieren also: Erkennbar sind in den strittigen Fällen Verschleifungen, die in flüchtiger Schrift und oft am Wortende eine intendierte Endung vertreten. Zu fragen ist demnach tatsächlich, welche Endung intendiert war, und das heißt hier: welche Endung Büchner bei diesem Wort üblicherweise verwendet. Eine „zeichengetreue“ Wiedergabe scheint uns deshalb nur sinnvoll, wenn die Zeichen sorgfältig und eindeutig geschrieben sind, wie etwa in folgendem Beispiel aus der Szene H4,2:47
47 MBA VII, 1, S. 51, Handschrift: Goethe- und Schiller-Archiv, Weimar.
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Margreth. Ihre Auge glänze ja noch. Marie. Und wenn! Trag sie ihr Auge zum Jud und laß sie sie putze, vielleicht glänze sie noch, daß man sie für zwei Knöpf verkaufe könnt.
Um die Diskussion über diese graphische Spielart der Form ins Offene ist es in letzter Zeit still geworden; aber das kann sich ja jederzeit ändern.
9 Epilog Eine Theaterhochschule hat mich kürzlich für einige Unterrichtseinheiten engagiert. Auf dem Programm stand Woyzeck. Vier Teams der entsprechenden Jahrgangsklasse bereiteten Aufführungen des Stücks vor. Mit mir sprachen die für Regie und Dramaturgie Verantwortlichen, um ihre Konzepte vorzustellen. Erwünscht war sicher ein irgendwie origineller Einfall für die Aufführung. Ein Team wollte zum Beispiel das Stück ohne die Hauptperson aufführen. Woyzeck, so die Vorstellung, werde als Leerstelle und absente Projektionsfläche umso schärfere Konturen gewinnen. Textgrundlage war für die meisten oder sogar alle Teams eine von mir bei Reclam herausgegebene Woyzeck-Studienausgabe.48 Sie enthält eine Lese- und Bühnenfassung und eine zweifache Präsentation der Handschriften, zum einen als emendierter Text, zum andern als differenzierte Umschrift. Sie gehört also zur Species des modernen Woyzeck. Aus wissenschaftlicher Sicht verfolgen diese Stufeneditionen das Ziel, die Leser von der Verlässlichkeit des präsentierten Textes zu überzeugen. In der Marburger Ausgabe beginnen wir selbstverständlich mit
48 Georg Büchner, Woyzeck. Studienausgabe, nach der Edition von Thomas Michal Mayer hg. von Burghard Dedner, Stuttgart 1999.
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der Faksimile-Präsentation der Handschriften.49 Wer unseren Transkriptionen nicht glaubt, möge selbst nachsehen, was dort steht. Die differenzierte Umschrift wiederum hält fest, wo wir etwas Sicheres gelesen haben und wo umgekehrt alternative Lesungen möglich sind. So enthalten die verschiedenen Darbietungsformen bis hin zur Lese- und Bühnenfassung zunehmend weniger (verwirrende) Information. Mir fiel auf, dass die Teams sich an den handschriftlichen Entwürfen in der emendierten Darbietungsform orientierten. Dabei unterschieden sie nicht zwischen geltendem und nicht-geltendem Text und sicher wollten sie nicht nachvollziehen, wie sich Büchner den „richtigen“ Text erarbeitet hatte. Vielmehr fanden sie in den Entwürfen umfängliches Material für ihre eigenen Überlegungen. In der Szene H2,2 reagiert Marie – wie schon gezeigt – auf den psychotisch verstörten Woyzeck mit dem leichtfertigen Wort „Narr“, in der später geschriebenen Szene H4,2 mit dem entsetzten Aufschrei „Mann!“ Eine meiner Gruppen war zum „Narr“ zurückgekehrt. Auf meine Frage „Warum?“ reagierte die Studentin mit einer höflicheren Form des „Warum nicht?“ Das „Narr“ entspreche der eigenen Konzeption besser als das „Mann!“ Dies war nur eines von mehreren Beispielen dafür, dass Franzos’ Zugang zum Wozzeck – die Gleichbehandlung des gegebenen Materials nach der Art von Klötzen im Baukasten – unter diesen künftigen Regisseuren und Dramaturgen die natürliche Form des Umgangs mit dem Material darstellt. Um fair zu sein: Die jungen Leute vertraten nicht Arnold Zweigs Position von 1923, der dem „buchstabengetreuen Woyzeck“ einen auf andere Art mumifizierten, aber als „sinngetreu“ deklarierten Wozzeck entgegenstellte. Sie gingen auch nicht den Weg des Projekts Gutenberg, wo eine Auswahl aus dem Material in einer unbegründeten und unbegründbaren Reihenfolge präsentiert wird. Sie nutzten das ganze Material und trafen ihre Auswahl nach dem Kriterium, ob es sich für ihre Zwecke eigne. Bei dieser Klientel erreichen die akribischen modernen Woyzeck-Ausgaben zwar nicht das Ziel, das Editoren sich gesetzt haben. Aber für experimentierfreudige Leser oder Theaterfachleute entfalten sie die produktive Kraft der Form ins Offene. Ihnen erscheint ein nach den Regeln editorischer Kunst „vollendetes“ Werk wie tot neben der Lebendigkeit der Bruchstücke, aus denen sich eine nahezu unendliche Menge unterschiedlicher Woyzeck-Texte generieren lässt.
49 Die erste (sehr verdienstvolle) Faksimileausgabe des Woyzeck (mit zeilengerechter Transkription und Lesartenverzeichnis) stammt übrigens von Gerhard Schmid, dem späteren Direktor des Goethe- und Schiller-Archivs in Weimar: Georg Büchner, Woyzeck. Faksimileausgabe der Handschriften, bearb. von Gerhard Schmid, Leipzig [desgl. Wiesbaden] 1981.
Hugo Aust
„…“ Abgebrochen auf der Höhe des Zitterns Fontanes vollendetes „Fragment“ „Wangeline von Burgsdorf oder Die Weiße Frau“ Am dritten Tage wird ihm zu seinem Schmerze klar, daß er sein Wunderwerk so gut wie halb zerstören muß, indem er ihm „Form“ gibt. (HFA, III, 2, S. 323) […] in the pattern I wanted for the crackle. […] removing the excess marble, until he reaches the real form which was there all the time […] (William Gaddis, The Recognitions, p. 248, 875)
Theodor Fontanes Ballade „Wangeline von Burgsdorf oder Die Weiße Frau (Fragment)“ hat in der Fontane-Forschung kein besonderes Aufsehen erregt.1 Im Rahmen einer Tagung, die dem „Offenen“ und „Unvollendeten“ nachfragt, verdient es einige Aufmerksamkeit, insofern hier nicht nur ein zufällig hinterlassenes oder ‚gewolltes‘ Fragment vorliegt, sondern insofern schon der Weg zu diesem ‚Werkresultat‘ Aufschlüsse geben kann über Fontanes Motive für eine „Produktivität“, die sich nachweislich als Fragmentierung vollzieht. Als „Paradigma“ fürs „Formen ins Offene“ bzw. für die „Produktivität des Unvollendeten“ eignet sich das Fragment allerdings nur bedingt, weil der Fall nahezu singulär ist. Zwar liegt ein abrupt offengelassenes Erzählgedicht vor, aber in der angerissenen Geschichte zurechtfinden werden sich nur diejenigen, die hinter die Kulissen schauen und dort, also im Rückblick auf die Entstehungsgeschichte der Ballade, ein beiseite gelegtes vollendetes Ganzes entdecken. Ins Auge fällt also eine merkwürdige Doppelstrecke, der Weg von einer Idee zum verwirklichten Ganzen und der anschließende Weg vom Geschlossenen zum Offenen. Gerade ein solcher Gang vom faktisch Fertigen zum deklariert Unfertigen ist bei Fontane außergewöhnlich. Man stelle sich vor, er hätte Unterm Birnbaum in der Form, wie wir den Roman kennen, in der Schublade gelassen (wie Mathilde Möhring) und später von den 20 Kapiteln nur die ersten acht veröffentlicht, also bis zu Justizrat Vowinkels Brief, in dem er erklärt, unter „allen Umständen“ alles vermeiden zu wollen, „was
1 Vgl. aber Gero von Wilpert, Theodor Fontane und die Weiße Frau. In: G. von Wilpert, Die deutsche Gespenstergeschichte: Motiv, Form, Entwicklung, Stuttgart 1994, S. 335–344. https://doi.org/10.1515/9783110539493-015
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Aufsehn machen könnte“.2 Gewiss, der Roman zählt heute nicht mehr zu den umstrittenen ‚Nebenwerken‘, die durch einen ‚Abbruch‘ gewinnen könnten. Aber auch von der „Wangeline“-Ballade kann nicht gelten, dass sie „ohne besonderen schriftstellerischen Ehrgeiz, technisch leger und gehaltlich ohne tiefere Ansprüche“ geschrieben sei, so einst Conrad Wandrey mit voreiliger Gewissheit über den Roman.3 Und doch könnte das Verfahren des ‚Abreißens‘ und ‚Weglassens‘ einen paradigmatischen Anspruch erheben. Die angedeutete Besonderheit wirft ein eigenartiges, geradezu hermeneutisches Problem auf: Ein veröffentlichtes „Fragment“ soll als etwas ‚produktiv Unvollendetes‘ wahrgenommen werden; bei näherem Zusehen aber erweist es sich als ‚Bruchstück‘ eines bereits ‚Vollendeten‘. Inwiefern wird das Verständnis des veröffentlichten ‚Stückwerks‘ von der Kenntnis jenes verworfenen Ganzen nicht nur gefördert, sondern im Gegenteil abgelenkt, eines doch eher geheim gehaltenen Ganzen, das außer einem kleinen Freundeskreis lange Zeit niemand kennen konnte? Führt eine auch noch so umsichtige Ergänzung der angefangenen Erzählung auf Abwege? Aber wie lässt sich der fragmentbildende Eingriff ermessen ohne Blick auf jene frühere Vollendung, die allem Anschein nach öffentlich keine Rolle spielen sollte? Editionsphilologisch ist der Fall problemlos. Sobald das Interpretieren hinzukommt, wird es schwierig: Wenn Fragmente eine Form der Negation sind, insofern sie ein Ganzes voraussetzen (vgl. Konrad Ehlichs Beitrag in diesem Band, S. 21 ff.), gehört das erwartete Ganze unmittelbar zu ihrem Verständnis. Im gegenwärtigen Fall wäre allenfalls zu fragen, ob das vorausgesetzte Ganze identisch sei mit dem tatsächlichen. So entscheide ich mich doch dafür, zuerst das Erste, also das ‚Vollendete‘, zu zeigen, dann die ‚Verwerfung‘ und schließlich die ‚verbessernde‘ Fragmentierung, und was daraus alles folgt.
1 Entstehung, Vortrag, Druck Entstanden und vollendet ist die Ballade zu Beginn des Jahres 1853;4 drei „vollständige Fassungen“5 belegen eine relativ intensive Arbeit am Wortlaut, galt es doch, einen Preis zu erringen, den der ‚Tunnel über der Spree‘ ausgerufen hatte.
2 Fontanes Werk wird im fortlaufenden Text, wo nicht anders vermerkt, nach der Großen Brandenburger Ausgabe (GBA) zitiert; hier GBA, Das erzählerische Werk, Bd. 8, S. 55. 3 C. Wandrey, Theodor Fontane, München 1919, S. 317. 4 Laut GBA, Gedichte, Bd. 1, S. 549, und Bd. 2, S. 636, Beginn der Arbeit schon 1851. 5 Friedrich Fontane, Fontane’s „Wangeline“ im Urteile seiner Zeitgenossen. In: Veröffentlichungen des Historischen Vereins der Grafschaft Ruppin 1930, H. 4, S. 1–13, hier 4.
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Nie habe er „ein Gedicht mühsamer und liebevoller behandelt“, schreibt Fontane später an Theodor Storm.6 Im ‚Tunnel‘ vorgetragen (von Bernhard von Lepel, da Fontane erkrankt war) und diskutiert wurde das fertige Werk (seine dritte Fassung) am 6. und 20. März 1853; eine weitere Lesung fand im Kreise Franz Kuglers statt. Dann verschwand das Gedicht. In die Balladen-Ausgabe von 1861 wird es nicht aufgenommen. Erst ab der zweiten Auflage der Gedichte (1875) erscheint es in der Öffentlichkeit. Nun aber in keiner der drei Fassungen, sondern in einer vierten, die aus dem längeren Ganzen den Balladenanfang herausbricht und es als „Fragment“ deklariert. Das abgeschlossene Ganze blieb zu Lebzeiten Fontanes in der Schublade. Aber das veröffentlichte Fragment behauptete in allen folgenden Auflagen der Gedichte (1889, 1892, 1898) seinen Platz als „Fragment“, und zwar in der Rubrik „Deutsches. Märkisch-Preußisches“, unmittelbar nach „Der Tod des letzten Grafen von Ruppin“ (ab 3. Aufl. 1889) und vor dem berühmten „Der Alte Derffling“ (seit Männer und Helden, 1850).
2 Dritte Fassung Die im ‚Tunnel‘ vorgetragene dritte Fassung (1853) führt den lapidaren Titel „Wangeline die weiße Frau“. Sie wird von einem Motto eingeleitet und zählt 21 Strophen. Die ersten beiden Strophen schildern ein vertraut gewordenes, aber beunruhigend gespenstisches Geschehen in der Gegenwart und eröffnen auf diese Weise einen Rahmen, der mit einer fast wortidentischen Wiederholung der beiden Eingangsstrophen am Ende geschlossen wird. Der Binnenteil erzählt eine Geschichte aus der preußischen Vergangenheit (aus der Zeit des Großen Kurfürsten), die erklären kann, was seitdem immer wieder gespenstisch geschieht. So zeichnet sich ein rundes, in sich geschlossenes Werk ab, wie man zu sagen pflegt. Erklärt werden soll, weshalb die „Weiße Frau“ regelmäßig erscheint, wenn „Gefahr / Die Hohenzollern umgarnen“ will.7 Der Grund für diesen Gespensterauftritt liegt in einer politischen Mord- und privaten Leidenschaftsgeschichte: Kurfürstin Dorothee hat ihrem Stiefsohn einen vergifteten Becher vorgesetzt, schreckt aber im letzten Moment vor diesem Mord zurück. Wangeline, eine Edelfrau am Hof des Großen Kurfürsten, soll den Stiefsohn warnen, lässt sich aber auf dem Weg von ihrem Geliebten abhalten. Zu spät bei dem bereits Vergifteten erscheinend, verflucht der Sterbende die Säumige zur ewigen Unruhe des Warnens.
6 Brief an Theodor Storm vom 27. März 1854, zit. nach: GBA, Gedichte, Bd. 2, S. 639. 7 GBA, Gedichte, Bd. 2, S. 406.
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„Der Kern der Sache“, so Fontane,8 liege in einem „durchaus poetischen Gegensatz: Du warntest nicht, drum warne!“, ‚poetisch‘ vielleicht deshalb, weil das Versäumnis geradezu homöopathisch gesühnt wird. Vermieden werden sollte der vielleicht naheliegende Eindruck, dass ein „böses Weib […] umgehn muß, weil sie bei Lebzeiten einen Mord auf ihre Seele geladen hat“.9 So musste Wangeline entlastet werden: Obwohl sie in ihrer Leidenschaft resolut über Leichen zu gehen bereit ist – „Und ob ihr bräche das Herz in der Brust, / Je blasser die Leiche, je röter die Lust“10 –, wird sie selbst Opfer eines verführerischen Betrügers, der die Gestalt ihres Geliebten angenommen hat, aber eigentlich der Teufel ist. Hinzu kommt, dass Wangelines Unterlassung zwar ein privates Motiv hat, sich aber politisch auswirkt. Und in der Tat wollte Fontane ausdrücklich „was Vaterländisches“ gestalten.11 Im Verlauf der Ausarbeitung aber verloren die zu berücksichtigenden historischen Details an Gewicht, und alle Sorgfalt sollte sich nach dem Grundsatz richten, „daß es auf das ‚Wie‘ ankommt“,12 ganz so, als ob schon jetzt die Darstellungsweise der Poggenpuhls in den Sinn rückte. Zur Arbeit am „Wie“ gehört neben der Realisierung des Balladen-Tons die Durchwirkung der Erzählung mit Hamlet-Anspielungen.13 Schon das Motto setzt diesen intertextuellen Auftakt: „Mehr Dinge gibt’s im Himmel und auf Erden / Als wir in unsrer Weisheit je geträumt.“14 Der Anruf der Wache „werda!“15 mit entsprechender Parole evoziert die erste Szene des Dramas, und noch Wangelines geflüstertes „Feigherzig Gewissen, fahr hin, fahr hin“ lässt sich anschließen an Hamlets „Thus conscience does make cowards“.16 So setzt sich der Eindruck eines organisch geschlossenen Ganzen fort, und macht nachvollziehbar, weshalb der ‚Tunnel‘ das Gedicht als „sehr gut“ bewertete,17 obwohl er ihm wegen einzelner Beanstandungen nicht den Preis zuteilte. Landete es nur deshalb in der Schublade?
8 Brief an Bernhard von Lepel vom 23. Februar 1853, zit. nach: GBA, Gedichte, Bd. 2, S. 637 f. 9 Brief an Bernhard von Lepel vom 23. Februar 1853 (wie Anm. 8), S. 638. 10 GBA, Gedichte, Bd. 2, S. 407. 11 Brief an Theodor Storm vom 27. März 1854 (wie Anm. 6), S. 639. 12 Brief an Bernhard von Lepel vom 23. Februar 1853 (wie Anm. 8), S. 638. 13 Fontane hatte die Tragödie ja nicht nur in seinen späteren Theaterkritiken regelmäßig besprochen, sondern war mit ihrem Wortlaut seit seiner eigenen frühen Übersetzung (1842/43) eng vertraut. 14 Gewählt wird hier weder die Formulierung der Schlegel-Tieck- noch der eigenen Übersetzung. 15 Die Schreibweise greift in diesem Fall auf die eigene Übersetzung zurück. 16 William Shakespeare, Hamlet, ed. by Ann Thompson and Neil Taylor, Repr. London 2007 (The Arden Shakespeare, Third Series), p. 287 (III/1/82). 17 Ernst Kohler, Die Balladendichtung im Berliner „Tunnel über der Spree“, Berlin 1940, S. 418.
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3 „Verfehlt“ „Meine Ballade ist fertig“, hatte Fontane schon am 16. Februar 1853 an Friedrich Witte geschrieben, „Sie ist entweder sehr gut oder verfehlt“.18 Ein Jahr später erklärt er die Ballade für „verunglückt“.19 Zwar sei die Arbeit „nicht talentlos, aber verfehlt“. Schuld daran habe die „Sprödigkeit des Stoffes“, was eigentlich angesichts der dramatischen Vorgänge nicht überzeugt. Richtig aber ist, dass der Stoff auf „konfusen Sagen“ gründet, die sich kaum „zu etwas Einigem und Dichterischem abklären“ ließen.20 Anders gesagt: Das geschlossene Ganze wies einen „Riß“21 auf, und zwar in dreierlei Hinsicht: Die mittelalterliche Sage um die Weiße Frau und ihr Amt, Todesfälle anzukündigen, sollte mit einem Gerücht aus neuerer Zeit (17. Jahrhundert) erklärt und von der Ankündigungs- in eine Warnfunktion umgedeutet werden, d. h. die anachronistische Koppelung zweier Handlungen mit unterschiedlicher Funktion erschwerte das Bemühen um Einheit und einheitliche Motivation. Das wiederum beeinträchtigte (2.) die Konsequenz des SchuldSühne-Zusammenhangs (bei dem ja die Kurfürstin glimpflich davonkommt), der (3.) durch die Gestaltung des Gespenster-Apparates eher abgeschwächt wurde, insofern ein Teufel der Agent einer anderen Instanz ist als die Allegorie des Gewissens oder die Personifikation des Schicksals; beides sind in Erwägung gezogene Deutungen.22 So gesehen, ist die Ballade tatsächlich „verfehlt“ und erreicht trotz äußerer Geschlossenheit und subtextueller Grundierung nicht jene ‚Einheit‘, die Fontane von einem ‚sehr guten‘ und ‚dichterischen‘ Werk erwartete.
4 Zwischenzeitlich Inkubation? Was kann ihn in der Zeit zwischen 1855 und 1875 bewogen haben, das so „verfehlte“ Ganze doch nicht in der Schublade liegenzulassen, sondern durch radikale Fragmentierung zu vollenden und somit „sehr gut“ zu machen?
18 Brief an Friedrich Witte vom 23. März 1853, zit. nach: Theodor Fontane. Dichter über ihre Dichtungen, hg. von Richard Brinkmann und Waltraut Wiethölter, München 1973, Bd. 2, S. 61. 19 Brief an Theodor Storm vom 27. März 1854 (wie Anm. 6), S. 639. 20 Brief an Friedrich Witte vom 23. März 1853 (wie Anm. 18), S. 61. 21 E. Kohler, Die Balladendichtung (wie Anm. 17), S. 316. 22 Vgl. hierzu auch Bernhard von Lepels Briefe an Fontane vom 24. und 26. Februar 1853, in: Theodor Fontane und Bernhard von Lepel. Ein Freundschafts-Briefwechsel, hg. von Julius Petersen, München 1940, 2. Bd., S. 48–54. Weiterhin E. Kohlers Mitteilung des von Lepel verfassten ‚Tunnel‘-Protokolls; E. Kohler, Die Balladendichtung (wie Anm. 17), S. 316 f., und Friedrich Fontanes Wiedergabe des Briefes von Franz Kugler an Fontane; F. Fontane (wie Anm. 5), S. 11 f.
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Wenn es um die Geschichte der Weißen Frau geht und wie sie im Wissen um die Gemengelage des Stoffes erzählt werden sollte, dann könnte Willibald Alexis’ letzter „Roman aus der Brandenburgischen Geschichte“ Dorothe (1856) wichtig gewesen sein, ein historisch-politischer ‚Thriller‘, der es mit Wilkie Collins’ späterem Sensationsroman The Woman in White (1860), der eine ganz andere Geschichte erzählt, die aber doch etwas mit der Erbfolge zu tun hat, aufnehmen kann. Vieles, wovon Alexis’ „Roman aus der Zeit des Großen Kurfürsten“ erzählt, könnte Fontanes Interesse wachgehalten haben:23 Vision und Mission Kurbrandenburgs auf dem Weg zum preußisch-deutschen Königreich, die Streitigkeiten um die Erbfolge in dynastischen wie privaten Verhältnissen und eben die Frage, was die Weiße Frau mit all dem zu tun hat. Hier als Kostprobe eine spannende Schluss- und Schlüsselszene: Da rief er [der Große Kurfürst] als die Unmacht über ihn kam: „Dorothe!“ und die Tape tenthür ging auf. Er sah die weiße Frau langsam, schüchtern sich ihm nähern. Auch sie erschrak, als sie den todtblassen großen Mann auf den Lehnstuhl hingesunken vor sich erblickte. Noch einmal riß er geisterhaft das Auge auf, die weiße Frau erschien so lieblich, er hielt ihr die Hand entgegen, sie faßte sie, dann verging ihm das Gesicht, aber seine Züge wurden immer freundlicher, seine Lippen bewegten sich, aber sie brachten keinen Ton mehr vor. Er war in Unmacht verfallen, nicht sein Geist, nur der kranke Leib.24
Mit diesem ‚Cliff Hanger‘ endet nicht nur jenes wichtige Kapitel, das vom „29. Juni 1679“ handelt, jenem Tag, an dem der Große Kurfürst den Frieden von St. Germain unterzeichnet und somit vorläufig den Gedanken an die Hohenzollern-Mission aufgegeben hat, sondern der erste Band des dreiteiligen Romans. Die Angerufene, so wird sich bald herausstellen, ist aber nicht Dorothe, die Kurfürstin, und schon gar nicht jene Frau, die der Sage nach zur Weißen Frau geworden ist (Gräfin Orlamünde), sondern eine 13-jährige Waise, die gleichfalls Dorothe (später von Schapelow) heißt und die im dramatischen Bogen des Romans von Anfang bis Ende eine wichtige Rolle spielt, bei der es durchaus auf das ‚Erscheinen‘ ankommt. Der Roman spielt wiederholt mit diesem raffiniert inszenierten ‚Gespenster-Apparat‘,
23 Ob Fontane den 1856 erschienenen Roman wirklich gelesen hat, ist ungewiss. Im Alexis-Essay „geht“ er über ihn „hinweg“ (HFA, III, I, S. 457); und ob eine Lektüre schon dadurch bestätigt wird, dass er Briests Bild von dem sich um den Gemahl rankenden weiblichen Efeu (GBA, Bd. 15, S. 19) hier vorformuliert fand (Dorothe, s. Anm. 24, Zweiter Theil, S. 47), mag ebenfalls unentschieden bleiben. 24 W. Alexis (W. Hering): Dorothe. Ein Roman aus der Brandenburgischen Geschichte, Berlin 1856, Erster Theil, S. 296, zit. nach: MDZ. Münchener DigitalisierungsZentrum Digitale Bibliothek Bayerische Staatsbibliothek.
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umgibt ihn mit Informationslücken und hält ihn in Gang mit Meinungen aus der Gerüchteküche, so dass klar wird, welchen politischen und kriminellen Zwecken dieses ‚Machwerk‘ dient. Julian Schmidt missbilligte dies als Auswirkung einer „sehr verwirrten Erzählung“.25 Fontane aber könnte auf die Idee gekommen sein, das ‚Verwirrte‘ durch Abbruch eigentümlich auf die Spitze zu treiben oder – ganz im Gegenteil – im eigentlichen Sinn übersichtlich zu machen. Wenn es noch direkter um Fontanes Anregungen fürs punktuell erprobte „Formen ins Offene“ gehen sollte, um die Kunst jenes Abbrechens und Unbestimmtsein-Lassens, die nicht der „Ohnmacht“, sondern dem „feinsten Empfinden“ entspringt,26 dann rückt noch anderes in den Blick. Hierzu nur drei Hinweise: 1861 erscheint Fontanes nicht signierter Essay „Die alten englischen und schottischen Balladen“. Er kann als Rückbesinnung auf bzw. Vergewisserung über eigene poetische Grundsätze und Verfahren verstanden werden. Zur Sprache kommt der Einfluss der Balladen auf die Weltliteratur (HFA, III, I, S. 341), insbesondere die Wirkung, die von Percy’s Reliques of Ancient English Poetry (1765) ausgeht: also von „Überbleibseln“ (S. 341), als die er die alten Gesänge voll frischen Geistes erkennt; ihre wirkungsvolle Kürze und Knappheit (S. 363), ihr Zauber des Halbdunkels (S. 363), ihr Gespensterapparat (S. 364), die ShakespeareAnknüpfung (S. 364) und überhaupt der geheimnisvolle Reiz des Angedeuteten (S. 365). Denkbar ist, dass die „Wangeline“-Ballade, entsprechend zubereitet als Rest oder ‚Baustelle‘ einer älteren Arbeit, das Aussehen eines solchen weltliterarischen ‚Überbleibsels‘ annehmen sollte.27 1873 las Fontane den Tristram Shandy und machte sich Notizen: Hervorgehoben wird der Einsatz ‚einfachster‘ Mittel, der die größte Wirkung erziele. Die Aufmerksamkeit gilt insbesondere dem Verfahren des raffinierten Ab- und Unterbrechens, des Andeutens und Erratenlassens sowie der darauf gerichteten Reflexionen. Es geht um das literarische Spiel mit Sternchen, Gedankenstrichen, Auslassungen, herausgerissenen Kapiteln und leeren Seiten,28 also in der Tat ums „Formen ins Offene“. Und wieder rückt dabei die Kunst des „Wie“, der Zubereitung und Servierung, in den Vordergrund.
25 J. Schmidt: Neue Bilder aus dem Geistigen Leben unserer Zeit, Leipzig 1873, Bd. 3, S. 147. 26 So im Alexis-Essay; HFA, III, I, S. 459. 27 Vgl. zu „Reliques“/‚Überbleibsel‘ als „Ueberlebsel“ Gerhart von Graevenitz, Theodor Fontane: ängstliche Moderne. Über das Imaginäre, Konstanz 2014, S. 11 ff. 28 Vgl. „chasm“, „breaks and gaps“; Laurence Sterne, Tristram Shandy, Repr. London 1964 (Everyman’s Library), p. 230, 340.
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An dritter und vielleicht wichtigster Stelle sei Fontanes Arbeit an Vor dem Sturm genannt. Ab 1862 taucht im „Notizbuch“ (A 12) der Eintrag „Das Gedicht“ auf,29 und um 1866 findet sich unterm Stichwort „Die weiße Frau“ die Notiz (E 3), dass es „bruchstückweise gelesen“ werde (S. 441). Nach wie vor gilt, dass „der Stoff […] zu spröde“ sei. So werden „verschiedene Lesarten die in Betreff der ‚weißen Frau‘ existiren“, besprochen. Und daran schließt sich die Notiz über die Absicht, die „gewählte [Lesart] unbestimmt [zu] halten“ (S. 441).30 Im „Kastalia“-Kapitel des vollendeten Romans (also drei Jahre nach dem Druck des Gedichtfragments) leitet eine Figur (Jürgaß) ihre Kritik an einem jetzt anderen Gedicht (eine von Kandidat Himmelreich vorgetragene Gedichtübersetzung) mit der Frage ein: „ist es ein Bruchstück?“ (GBA, Bd. 2, S. 102). Dies wird verneint, obwohl es sich tatsächlich um einen „Ausschnitt“ (Strophe 3–6) handelt. Die Verneinung aber gibt dem Kritiker die Gelegenheit zu beanstanden, dass dieses Werk „zwar ein Ende, aber keinen Schluß hat“ (S. 102). Pariert wird der Vorwurf mit dem Hinweis, dass lebensgeschichtlich vertraute Fortsetzungen bzw. Abrundungen – hier die Schilderung eines Morgenspaziergangs und seine Beschließung am „Frühstückstisch“ – keinen poetischen Gewinn darstellen. Die Diskussion, die ohnehin bald abgebrochen wird, mag in erster Linie dazu dienen, die Gepflogenheiten von literarischen Gesellschaften wie der „Kastalia“ zu veranschaulichen. Wenn sie auch in der Sache weiterführen sollte, dann lenkt sie die Aufmerksamkeit auf Fragen der Schlussgestaltung, die sich zwar für „Bruchstücke“ anders stellen könnten als für ganze Werke, hier aber mutwillig ins Grundsätzliche ausgeweitet werden und deutlich machen, dass es nicht auf inhaltliche Vollständigkeit ankommt. Wie das „Wangeline“-Gedichtfragment bei einer solchen Diskussion abgeschnitten hätte, soll hier nicht erdacht werden. Ohne Zweifel fehlt dem Fragment nicht nur die ‚Abrundung‘ bzw. der Ausklang, sondern wesentliche Teile, die ein Verständnis des Geschehens ermöglichen. In Vor dem Sturm wird später die vollständige „kurze Geschichte“ in Prosa diskutiert (GBA, Bd. 2, S. 340), mithin so, als gäbe es das erfundene Fragment nicht; und doch werden selbst hier „Lücken und Dunkelheiten“ (S. 341) vermerkt, so als ob das Ganze schon eine Tendenz zum „Bruchstück“ hätte und also jenseits romantischer Vorlieben bestätigen könne, dass Fragmente „das beste [seien], was man bringen kann“ (S. 93). Mit Blick auf die Wiederverwendung der Wangeline-Geschichte in Vor dem Sturm ließe sich die Frage aufwerfen, ob ein zu Ende
29 Theodor Fontane, Vor dem Sturm, hg. von Christine Hehle, Berlin 2011 (= GBA, Bd. 1, S. 435). Die folgenden Seitenangaben beziehen sich auf diese Ausgabe. 30 Natürlich geht aus solchen Notizen nicht hervor, dass es sich immer um Fontanes „Wangeline“Gedicht handelt.
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erzähltes Ganzes nur als Teil eines Romans bestehen kann, während der fragmentarische Teil durchaus ein Ganzes als Gedicht ergibt.
5 Das „Fragment“ Unter dem Gesichtspunkt der ‚Produktivität‘ sind die 8½ Strophen des erklärungsarmen „Fragments“, das 1875 veröffentlicht wird, den 21 Strophen des ‚aufklärenden‘ Gedicht-Ganzen überlegen, weil Kürze in ‚dunklen Dingen‘ anregender wirkt als lange Erklärungen, die doch nicht alles erklären, und weil sich im lapidaren Stil der gewählte diffuse Stoff leichter „zu etwas Einigem und Dichterischen abklären“ lässt. Die signalisierte ‚Unvollendetheit‘ suggeriert eine Fortsetzung, die nicht nur die Geschichte der Vergangenheit betrifft, sondern auch Vollendungshandlungen der Gegenwart und Zukunft meinen kann. Was gemessen an den ausgeführten Fassungen bloß als ‚Anfang‘ erscheint, erweist sich im final fixierten Druck als absichtlich gewählte Form des ‚gänzlich Offenen‘, ein Paradebeispiel für Fontanes zielstrebige Arbeitsweise, die im Namen der ‚Schlüssigkeit‘ das ‚Vollendete‘ mit den Mitteln des Unvollendeten sucht und so vielleicht sogar den „Aposiopesen“ Tristram Shandys huldigt.31 Der Abbruch kann nicht abrupter vollzogen werden: Die Neugierde ist durch die beiden kaum veränderten Anfangsstrophen, den unkontrollierbaren Auftritt der Weißen Frau, geweckt (das vorbereitende Hamlet-Motto ist entfallen); aber die anschließende Erzählung bricht vor jeder Erklärung ab. Wer den Stoff nicht kennt (genauer: Fontanes Stoffvariante), bleibt ratlos zurück, denn was kann eine schöne Frau, die in der Nacht ihren verheirateten Liebhaber erwartet, aber von der Kurfürstin gestört und in Panik versetzt wird, mit der Weißen Frau zu tun haben? Mitten in der neunten Strophe, gerade noch den Paarreim vollendend, hört das Werk auf, gemessen an den Vorfassungen sogar mitten im Satz: „Die zittert selbst. In bebender Hand / Mit bebt die Kerze, halb niedergebrannt. …“, also mit Auslassungszeichen, die anschaulich sind, wie die schwarze Seite im Tristram Shandy, nachdem Yorick endgültig seine Augen geschlossen hat.32 Der „Riß“, vor Jahren die Vollendung des Fertigen verhindernd, wird nicht beseitigt, sondern auf offener
31 L. Sterne, Tristram Shandy (wie Anm. 28), p. 230. 32 Aber wie singulär sind solche Zeichen? Vgl. Gedankenstriche am Kapitelende in Sir John Retcliffes „Historisch-politische[m] Roman aus der Gegenwart“: Nena Sahib oder Die Empörung in Indien, Berlin 1865 (Olms-Repr. 2005), Bd. 1, S. 109, oder die Auslassungspünktchen in E. Marlitts Roman Reichsgräfin Gisela (Stuttgart o. J. Romane und Novellen, Bd. 5, S. 13). Vgl. allgemein: Ernst Osterkamp, Drei Punkte. Capriccio über ein Ärgernis. In: Die Poesie der Zeichensetzung.
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Bühne ‚pünktlich‘ vollzogen. Fast ließe sich hier von ‚Fälschung‘ sprechen – „in the pattern I wanted for the crackle“33 – aber im Grunde geht es um ein Authentizitätssignal, das der Erfindung und ihrer ‚Hebelwirkung‘ dient. Unübersehbar ist das Achtergewicht des Zitterns. Das ist der große Schritt ins abgründig „Offene“ gegenüber den älteren ‚geschlossenen‘ Fassungen, die ja auch das Zittern kennen, aber mit schwächerer Wirkung bereits an den Anfang setzen („Sie [die Wache] zittert und läßt ihn [den „Gast“] vorüber“) und später wiederholen. Jetzt aber bricht es singulär in der Begegnung der beiden Frauen aus, setzt sich moduliert im ‚Beben der Hand‘ und in der ‚halb niedergebrannten Kerze‘ fort und signalisiert reine Angst, vielleicht schon an der Schwelle der Parodie. Aber so ist das in einem ‚ruinierten‘ Balladen-„Schloß“, wenn sich zwei Frauen in tiefer Nacht begegnen, die eine, atemberaubend schön und ruchlos leidenschaftlich ihren Geliebten erwartend, die andere im Spiegel und im Rücken, also ‚vorn und hinten‘ eindrucksvoll als „Kurfürstin“ erscheinend, eigentlich unanfechtbar souverän und doch schlotternd. Es mag einer rezeptionsempirischen Studie überlassen bleiben zu erkunden, was Lesende jeweils bei diesem ‚Horrorgenre‘ empfinden, wie sie auf ein Zittern und Beben reagieren, deren ursprüngliche, historische Quellen sie nicht kennen, und inwiefern die doch vertraut bleibende, heute ‚gern‘ wachsende „Angst […] eine Brechstange“ sein kann, „die den Panzerschrank aufstemmt, in dem die Gesellschaft, die diese Kunst hervorbringt, ihre schmutzigen Geheimnisse weggesperrt hat“.34 Sollte dieses Zitat aus der Gegenwart hier am Platz sein, dann lenkt es die Aufmerksamkeit wie schon Alexis’ Roman auf ‚schmutzige Geheimnisse‘, deren ‚Abgeschlossenheit‘ durch ‚Fragmentierung‘ – „Brechstange Angst“ – am effektivsten zu jener Anschauung gelangt, die eigentlich nichts sieht, aber alles fürchtet. Oder – um das „Formen ins Offene“ etwas zu übertreiben: Nach Berndt von Vitzewitz, „ein wahres Nachschlagebuch für alle Schloß- und Familiengeschichten“, wenn ihn schöne Frauen wie Kathinka befragen, handelt es sich bei dem Namen „Wangeline“ um jene historische Person, „die von vielen märkischen Forschern als der historisch beglaubigte Ursprung der ‚weißen Frau‘ angesehen“ wird (GBA, Bd. 1, S. 314). Solange sich Berndt nicht aussprechen kann, müssen wir Nachgeborenen uns eher an Hermann Küglers Vermutung halten, wonach
Studien zur Stilistik der Interpunktion, hg. von Alexander Nebrig und Carlos Spoerhase, Bern 2012, S. 239–259. 33 William Gaddis, The Recognitions [1955], Repr. London 1993 (Penguin Books), p. 248. 34 So Dietmar Dath über den Film Don’t Breathe von Fede Alvarez in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. September 2016, S. 9.
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Fontane den Namen „hinzugedacht“ habe.35 Das hieße dann, dass ‚Wangeline‘, ein keineswegs ‚indifferenter Name‘,36 die verkürzte Form von ‚Evangeline‘ sei, in der – sozusagen ‚offen rezipiert‘ – allerlei steckt: ‚Ebba/Eva‘, ‚Engel‘ und ‚frohe Botschaft‘. Und weiter noch: Wer den Namen „Burgsdorf“ im Titel nicht überliest, müsste der nicht eigentlich schallend lachen, wenn ihm Burgsdorfs Begegnung mit der Weißen Frau einfiele und wie diese ihn, den Unflätigen, die Treppen runterschleuderte, „daß ihm die Rippen gekracht“?37 Wie ernst ist das Fragment zu nehmen, das Fontane unmittelbar vor den „Alten Derfflinger“ plazierte, jenen erbitterten Gegner und dann doch freundlichen Brautführer derjenigen, die in Alexis’ Roman wiederholt als „weiße Frau“ erscheint? Und was widerfährt der „Weißen Frau“, wenn Fontane ihr ab der dritten Auflage der Gedichte ein Gedicht voranstellt („Der Tod des letzten Grafen von Ruppin. 1524“), in dem eine ebenfalls kursiv gesetzte, nun aber „,falsche Frau‘“ erwähnt wird? Sind variable Stellungen und Auslassungszeichen ein Paradigma des Offenen rundum? Zuversichtlicher gesagt: mit ‚Wangeline‘ hört ein ‚Geschichtchen‘ nicht auf, sondern fängt an und setzt sich fort. Als Werk, das aus einem Ganzen ein Fragment macht, bleibt „Wangeline“ eher einmalig: Das veröffentlichte „Karl Stuart“-Fragment oder „Lady Essex“ waren nie fertig.38 Vielleicht ließe sich Fontanes Arbeitsweise mit Stifters Überarbeitung der Mappe meines Urgroßvaters vergleichen; aber auch hier liegt der Fall anders. Wahrscheinlich geht es um Arbeitstechniken, die in der Malerei vertrauter sind, das heißt, nicht etwa Menzels ‚Verstümmelungswut‘ (s. „Ansprache Friedrichs des Großen an seine Generale vor der Schlacht von Leuthen“39), sondern spätere, expressionistische Verfahren des Auswaschens und Ausbürstens der Farbe bis auf die Leinwand herab (z. B. Christian Rohlfs „Blaue Mondnacht“ von 1937), um Effekte zu erzielen, die nicht direkt malbar sind, oder um perfekte Täuschung zu erwirken: „Yes, I … you know, it’s finished, it has to be … damaged now.“40
35 H. Kügler: Die Sage von der Weißen Frau im Schlosse zu Berlin. In: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins, 45, 1928, S. 57–96, hier 88. – Die Frage also, welche Quellen Fontane in Sachen „Wangeline von Burgsdorf“ verwendet hat, scheint mir noch nicht endgültig beantwortet zu sein. 36 L. Sterne, Tristram Shandy (wie Anm. 28), p. 41. 37 W. Alexis, Dorothe (wie Anm. 24), S. 13. 38 Vgl. allenfalls die ‚Fragmentierungen‘ der Gedichte „Herluf Trolles Begräbnis“ und „Denkst Du verschwundener Tage, Marie“ in Unwiederbringlich, Kap. 21 und 33. 39 Siehe G. von Graevenitz (wie Anm. 27), S. 145 f. 40 W. Gaddis (wie Anm. 33), p. 242.
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Mikrostrukturen Was das „Wangeline“-Fragment paradigmatisch veranschaulichen könnte, lässt sich vielleicht mit dem abgleichen, was Renate Böschenstein in anderem Zusammenhang „prägnante Mikrostruktur“ genannt hat, eine „Miniatur-Erzählung“, die sowohl für sich lesbar ist, wie auch als rudimentäres Gebilde über sich hinaus treibt, sich wiederholt und in größeren Zusammenhängen eine Gelenkstelle bildet.41 Das Über-sich-Hinaustreiben meint die Impulse, die vom Verschweigen, Andeuten und Anspielen ausgehen, überhaupt von der Einbettung kleinerer wie größerer Texte, die oft nur an einer herausragenden ‚Spitze‘ erkennbar werden, aber unabsehbare Verbindungen stiften können. Mit den größeren Zusammenhängen sind hier Romane wie Vor dem Sturm oder Effi Briest gemeint, die beide den Weiße-Frauen-Spuk aufgreifen und verarbeiten, aber keineswegs nur bewältigen, d. h. verabschieden, wie es Hans-Heinrich Reuter wollte,42 sondern erneut in Kraft setzen, um die „ängstliche Moderne“ (von Graevenitz), ihr ‚Zittern‘ mit den Mitteln der alten „Überbleibsel“ – Percys Reliques und „Überbleibsel von der Idolatrie“43 – ins bewegte, schillernde, ja zitternde Bild zu setzen. Dabei geht es nicht nur um die Fortsetzung von Spukmotiven. Aber schon Berndt von Vitzewitz wird in seinem aufklärenden Vortrag über „Wangeline“ unterbrochen (GBA, Bd. 1, S. 314). In den Blick rücken auch einfache Sprech- und Gesprächshandlungen wie die aus Effi Briest: „Übrigens muß ich Ihnen nachher eine Geschichte erzählen“44 oder die Geschichte von der kleinen Stubbe in Der Stechlin, die beide das Interesse wecken und doch nicht befriedigen. So zeichnen sich filigrane Keimzellen der Produktivität ab, die schon in sich ‚schön‘ sein können, aber auch über sich hinaus wachsen und andere Figuren bilden, in denen sie sich auflösen. Anders gesagt: angeschnittene Geschichten, nicht eigentlich ‚offen‘, denen man aber den ‚Schnitt‘ ansieht und deren ‚Fortsetzung‘ auch vom unabsehbaren Sachwissen des Publikums abhängt, jeder Teil ein Ganzes und umgekehrt.45
41 R. Böschenstein, Prägnante Mikrostrukturen in Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg [zuerst 2003]. In: R. Böschenstein, Verborgene Facetten. Studien zu Fontane, hg. von Hanna Delf von Wolzogen und Hubertus Fischer, Würzburg 2006, S. 460–475. 42 H.-H. Reuter: Fontane, München 1968, Bd. 2, S. 556 f. 43 Nach Jurist Grupen, zit. von H. Kügler (wie Anm. 35), S. 78. 44 GBA, Bd. 15, S. 40, s. auch Unwiederbringlich, GBA, Bd. 13, S. 23: „und muß ich Ihnen nachher eine Geschichte davon erzählen“. 45 Vgl. Die Teile und das Ganze. Bausteine der literarischen Moderne in Österreich, hg. von Bernhard Fetz und Klaus Kastberger, Wien 2003.
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Ausdrücklich – „(Fragment)“ – und wie bei ‚schlechten Romanschreibern‘46 augenscheinlich – „…“ – ist Fontanes „Wangeline von Burgsdorf“ ein Fragment. Wer, ließe sich im Anschluss an den „Stotterte er …“-Essay von Gilles Deleuze fragen, ist hier fürs Stocken und Abbrechen verantwortlich, nur der Lyriker Fontane oder auch das Gedicht selbst? Wenn der gemeinte Verantwortungszusammenhang auf „eine atmosphärische Qualität“ abzielt, die also nicht nur die intakt gelassene „Ausdrucksform“, sondern „eine entsprechende Inhaltsform“ betrifft, die „den angesprochenen Affekt auf die Wörter zurückwerfen“ kann,47 dann vollzieht sich in der Tat vom initialen „aufschreit sie jäh“ über „Die zittert selbst“ und „In bebender Hand“ bis „…“ das ‚Stottern‘ eines Werksystems, das ihm selbst die Sprache verschlägt und den Fortgang abbricht – gleich als ob es gelte, Hamlets geflügeltes Wort „das Uebrige heißt Schweigen“48 in die reine ‚Performanz‘ umzusetzen und das ‚Offene‘ als Abgrund fühlbar zu machen. Für die ‚Moderne‘ ist das normal, für den ‚Realismus‘ nicht unbedingt, obwohl hier eigentlich realistisch verfahren wird.
Realistische Fragmente, fragmentarischer Realismus? Hermann Frickes Hinweis, demzufolge ohne die „quellenmäßig[e] Erschließung“ des Nachlasses „die Gewinnung eines Bildes von Fontanes Dichtertum immer nur Stückwerk“ sei,49 gilt längst als Standard der Fontaneforschung und vieler Einzelphilologien. Im literaturgeschichtlichen Umkreis der Epochenidentifizierung hat sich diese Erkenntnis, soweit sie die Präsenz des Fragmentarischen im Realismus betrifft, noch nicht durchgesetzt. Dabei haben alle namhaften Realisten bedeutende Fragmente hinterlassen: Keller, Meyer, Raabe, Hebbel, Ludwig hier – Gogol, Stendhal, Dickens in der Welt. Ob und was diese unvollendeten Werke zum realistischen Epochenbild beitragen, wurde kaum im Zusammenhang präsentiert. Gelegentlich zeichnet sich ab, dass im Nachlass überlieferte Kleinigkeiten, so Kellers ‚Medea-Projekt‘, dazu dienen könnten, den ‚Umkreis‘ des Realismus schärfer zu ‚definieren‘.50 Über diese ‚typischen‘ Fragmente hinaus begegnen
46 G. Deleuze, Stotterte er … In: G. Deleuze, Kritik und Klinik, Frankfurt am Main 2000, S. 145– 154, hier 145. 47 G. Deleuze (wie Anm. 46), S. 145 f. 48 Nach Fontanes eigener Übersetzung: Th. Fontane, William Shakespeare. Hamlet, hg. von Joachim Krüger, Berlin 1966, S. 153. 49 H. Fricke, Theodor Fontanes letzter Romanentwurf. Die Likedeeler, Rathenow 1938, S. 145. 50 Vgl. Peter von Matt, Verkommene Söhne, mißratene Töchter: Familiendesaster in der Literatur, 4. Aufl., München 2004, S. 249.
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noch andere Formen des Unabschließbaren im Realismus, z. B. Balzacs Comédie Humaine; und wenn es der ‚große realistische Roman‘ mit der Totalität komplexer Verhältnisse zu tun hat, dann dürfte jener „Fragment geblieben[e] Roman in 35 Bänden“51 nicht fehlen, den Fontanes Kreuzzeitungskollege ‚Sir John Retcliffe‘ verfasst hat, eine stupende Unabgeschlossenheit, die ein Potenzial enthält, das in der Gegenwart als ‚Serie‘ (auch auf DVD) fröhliche Urstände feiert. Vor allem aber eignet es sich dazu, „Formen des Offenen“ im Realismus als adäquates generatives Prinzip zu identifizieren. Das wäre nicht nur ein weiterer Beitrag zur Modernität des Realismus, sondern ein Hinweis darauf, wie einzelne Züge der Moderne auf den Realismus zurückweisen, der seinerseits von mancherlei „Reliques“ profitierte.
Schluss Die Entstehungsgeschichte des „Wangeline“-Fragments ließe sich vielleicht ganz kurz fassen: Verfehlt war die Ballade als Ganzes, aber gut bleibt ihr Anfang. Wenn es dennoch zu ausführlicheren Bemerkungen kam, so geschah dies mit Rücksicht auf einen Autor, der seinerseits festgestellt hat: „Der Anfang ist immer das entscheidende; hat mans darin gut getroffen, so muß der Rest mit einer Art von innerer Nothwendigkeit gelingen.“52 Und: „Bei richtigem Aufbau muß in der erste [!] Seite der Keim des Ganzen stecken.“53 Inwiefern aber können dieselben Anfangsverse, vom schlecht getroffenen „Rest“ befreit, nicht nur den „Keim des Ganzen“ enthalten, sondern das Ganze, wenn auch als „Fragment“, sein? Wiederholt sich hier nur, was Cicero längst an Praxiteles beobachtet hat, dem es gelungen sei, den überflüssigen Marmor wegzubrechen, um das innen liegende Kunstwerk freizulegen? Dem galt es nachzuspüren. Wenn das „Wangeline“-Fragment doch zum „Paradigma“ taugen sollte, dann vielleicht insofern, als wir am Beispiel eines winzigen ‚Spans‘ Gelegenheit hätten, über ‚Verträglichkeiten‘ nachzudenken, über Verbindungen zwischen Anfang und Ende, Teil und Ganzem, Dauer des Anfertigens und nahezu gespenstiger Wiederkehr des Unerledigten, zwischen definitiv Fertigem und ‚pünktlicher‘ Öffnung. Auf dem Spiel stünde eine Offenheit, die keinen Körper meint, sondern eine Richtung bedeutet, in die wir streben oder stürzen oder in der wir Stillung finden, ganz wie es uns gefällt – oder auch nicht.
51 Volker Neuhaus, Der zeitgeschichtliche Sensationsroman in Deutschland 1855–1878. ‚Sir John Retcliffe‘ und seine Schule, Berlin 1980, S. 44. 52 Brief an Mathilde von Rohr, 3. Juni 1879: In: HFA, IV, 3, S. 23. 53 Brief an Gustav Karpeles, 18. August 1880. In: HFA, IV, 3, S. 101.
Rüdiger Görner
Unterwegs zu einer Poetik des Unvollendeten Für Michael Braun in Dankbarkeit
Es war eine besondere Note, die der Regisseur Rolf Hädrich seiner 1975 erstmals gezeigten Verfilmung von Theodor Fontanes Altersroman Der Stechlin dadurch verliehen hatte, dass er sie musikalisch mit Franz Schuberts Unvollendeter, seiner 7. Symphonie, unterlegte. Denn damit hatte Hädrich die Frage gestellt, ob selbst im Vollendeten das Unvollendete aufgehoben sei und im Unvollendeten sich das Vollendete aufspüren lasse. Dass Hädrich damit auch seine Auffassung von diesem Roman als einem Zeugnis des romantischen Realismus bekundete, lag ebenso auf der Hand wie der pikante Umstand, dass hier ein märkischer Stoff filmisch mit österreichischen Klangsubstanzen versetzt wurde. Für das Schaffen in der Romantik ist der Modus des Unvollendeten ebenso konstitutiv wie er für das Schaffen im sogenannten Realismus werden sollte, und zwar im Sinne einer Wirklichkeit des Unabschließbaren. Zu unterscheiden wäre zwischen dem absichtsvoll Unvollendeten, dem Nicht-Vollenden-Können als einem Signum des Scheiterns am Stoff oder der künstlerischen Aufgabe, dem zufällig Nicht-Abgeschlossenen und dem als Fragment angelegten Werk, das nur Bruchstück sein soll. Deswegen eignet sich Schuberts Werk nur bedingt dafür, mit ihm das romantisch-kulthafte Verständnis vom Fragment zu belegen. Das verhält sich etwa bei Novalis anders, dessen Poetik exemplarisch das Fragmentarische, Unvollendete, Offene einbegreift und reflektiert.1 Zu bedenken ist zudem der Unterschied zwischen dem Nicht-Vollenden-Können und dem Nicht-Vollenden-Wollen. Von Schubert weiß man, dass er Kompositionsmanuskripte schlicht verlegte, sie nicht mehr fand und entsprechend nicht zum Abschluss bringen konnte. Deswegen sind sie als Bruchstücke überliefert. Dagegen handelt es sich bei der h-moll-Symphonie um eine Komposition, die ‚vollendeter‘ sich nicht
1 Grundlegend hierfür ist die Studie von Michael Braun, „Hörreste, Sehreste“. Das literarische Fragment bei Büchner, Kafka, Benn und Celan, Köln, Weimar, Wien 2002. Darin auch eine ausführliche, bislang nicht überholte Erörterung des Forschungsstandes, S. 1–46. Vgl. dazu auch: Fragment und Totalität, hg. von Lucien Dällenbach und Christiaan L. Hart Nibbrig, Frankfurt am Main 1984; Justus Fetscher, Fragment. In: Ästhetische Grundbegriffe, hg. von Karlheinz Barck u. a., Bd. 2: Dekadent–Grotesk. Stuttgart, Weimar 2001, S. 551–588. https://doi.org/10.1515/9783110539493-016
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denken ließe, obwohl sie den Gattungskonventionen, die Viersätzigkeit verlangten, widerspricht. Schubert hat diese seine Komposition bei zwei Sätzen belassen – Allegro moderato und Andante con moto. Vom Scherzo allegro liegen nur die ersten 20 Takte vor. Das besagt zwar, dass Schubert eine Weiterführung seiner Komposition vorgesehen hatte, sie aber auf sich beruhen ließ. Vermutlich weil ihm die Einsicht kam, dass er die beiden ersten Sätze nicht fortzusetzen brauchte, da mit ihnen das ihm Wichtige gesagt war. Bemerkenswert freilich, dass Hädrich seine Filmproduktion nur mit den anfänglichen Takten der h-moll-Symphonie unterlegte, die ein erhebliches Unruhepotenzial aufweisen, mit Akzenten durchsetzt, die an Schuberts 4. Symphonie erinnern, die „Tragische“ genannt, im Grunde also genau das konterkariert, was Fontanes letzter Roman auszustrahlen scheint: Ruhe, Gelassenheit, Altersweisheit, mit Mörike gesagt „holdes Bescheiden“. Nicht jedes Fragment beglaubigt Offenheit, nicht alles Unvollendete enthält unausgeschöpfte Perspektiven. Nun weist ausgerechnet das – je nach Wertungsmaßstab – unromantischste Phänomen, die Welt der Digitalität, das bislang größte Korpus an Unvollendetem auf. Man darf sogar behaupten: Im Zeitalter der Virtualität ist das Unvollendete zur ästhetisch-medialen Norm avanciert. Denn das Schreiben im Netz suggeriert die Unaufhörlichkeit des Textes. Das Weiterschreiben oder Umschreiben und die virtuell-multiple Autorschaft haben die Vorstellung vom Schreibprozess und der inhärenten Abschließbarkeit eines literarischen Werkes grundlegend verändert. Zu fragen wäre jedoch, inwieweit dadurch genuin romantische Vorstellungen von der prinzipiellen Unabschließbarkeit des literarischen Werkes diese virtuellen Verfahren eingeholt haben. Erweist sich das Unvollendete weiterhin oder verstärkt nachgerade als eine Bedingung für ästhetische Wirkung? Oder steht das Unvollendete weiterhin auch für einen Abbruch – ob intendiert oder nicht, und damit für die Herausforderung, es als „Vorwurf“ für eine spätere Vollendung zu begreifen? Das Fortsetzen, Vervollständigen oder Vollenden einer offen gebliebenen künstlerischen Arbeit – von Mozarts Requiem bis Mahlers Zehnter Symphonie – sollte als eigenständiges produktionsästhetisches Phänomen begriffen werden, was bislang überraschenderweise noch kaum geschehen ist. Was sich in der Musik häufiger antreffen läßt – übrigens auch in der Malerei –, versagt sich meist die Literatur. Wo wäre der Autor, der etwa Ingeborg Bachmanns Todesarten-Zyklus einer Vollendung zuführte? Hier gilt meist: Wer wagt, verliert. Auch steht eine überzeugende Fiktionalisierung dieses Produktionsvorgangs noch aus, obgleich es ein reiches – um nicht zu sagen ‚weites‘ – Feld der poetischen Imagination eröffnet. Den Roman über die Psyche, das Können oder Scheitern des Vervollständigers gilt es erst noch zu schreiben. Unvollendete Werke sind Schwellenwerke oder Klippen, wo Abstürze drohen.
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Gattungspoetisch ist dem Unvollendeten nicht wirklich beizukommen, allenfalls überlieferungsgeschichtlich oder psychologisch. Unvollendetes zeugt ebenso von Unvermögen, Scheitern oder widrigen Zufällen, es birgt aber auch Zukunft, indem es mittelbar auf ein künftiges Vollenden verweist, beziehungsweise Fragment-immanente Hinweise auf Möglichkeiten des Abschließens gibt. Intim vertraut ist uns das Unvollendete im Traum. Wie oft erwachen wir aus einem unabgeschlossenen Traum, nicht selten mit dem Wunsch, den unvollendeten Traum weiter zu träumen, ihn zu ‚vollenden‘. Oder wir leben in der Angst, ein schlechter Traum könne sich fortsetzen, was dazu führt, dass man in Bangigkeit einschläft. Für beides gibt es Beispiele; auffallend wenig findet sich dazu bei Freud in der Traumdeutung – und das, obgleich diese Erfahrung des durch Aufwachen abgebrochenen Traumes zu den verbreitetsten gehört. Ob das Fragment in der Kunst immer auch etwas von dieser Art der Traumerfahrung birgt? Ob sich bestimmte Lebensabläufe nach solchen Traumbrüchen ausrichten, von ihnen ausgehen, sie im nicht-geträumten Leben entweder aufheben oder verdrängen? Verbindliche Aussagen darüber lassen sich schwerlich treffen. Aber als somnialen Hintergrund des ästhetischen Problems ‚Fragment‘ sollte man diese Fragen nicht übersehen. Bedenken wir nun eine konkret gefasste Kommunikationssituation, die das Fragmentarische in der Kunst sanktioniert. Detleff Hansen-Grell, Balladendichter von Hause, mit der Hauptfigur in Fontanes Roman Vor dem Sturm, Lewin von Vitzewitz, durch die Dichtergesellschaft „Kastalia“ verbunden, zieht bei Gelegenheit ein „dickes Notizbuch aus der Tasche“ mit den Worten: „Gut, ich habe etwas. Aber es ist nicht eigentlich fertig und wird auch nie fertig werden.“ Darauf erwidert sein Freund: „Nun, dann ist es so gut wie fertig oder besser als das. Es gibt ohnehin eine Literatur von Bruchstücken. ‚Fragmente‘ sind das Beste, was man bringen kann.“2 Daraufhin – und das ist keine unwichtige Geste in unserm Zusammenhang – reißt der Dichter das entsprechende Blatt „ohne weiteres aus dem Notizbuch“, wie der Erzähler berichtet, „und gab es an Lewin“. Das Bruchstück wird auf diese Weise auch physisch zu einem solchen. Es ist nur ein bloßes Blatt, wogegen das Material selbst, das „dicke Notizbuch“, als Objekt etwas Abgeschlossenes suggeriert. Im folgenden siebenten Kapitel des dritten Teils, das eigens der Dichtergesellschaft „Kastalia“ gewidmet ist, bleibt die Frage nach dem Bruchstückhaften von Dichtung aktuell. Ein junger Kandidat für die Dichtergesellschaft trägt seine
2 Theodor Fontane, Vor dem Sturm. Roman aus dem Winter 1812 auf 13. In: Th. Fontane, Romane und Erzählungen in acht Bänden, hg. von Gotthard Erler, 2. Aufl., Berlin, Weimar 1973, Bd. 2, S. 85.
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Übertragung des Gedichts „Der Sabbat“ von William Wilberforce vor. Die Kritik bleibt nicht aus. Ein Mitglied fragt, ob dieses Gedicht ein Bruchstück sei, was der Vortragende verneint. Darauf erfolgt eine Replik, die schlagfertiger nicht sein könnte: „Dann gestatten Sie mir die Behauptung, daß Ihr Sabbat zwar ein Ende, aber keinen Schluß hat.“3 Bezeichnenderweise bleibt diese ‚Behauptung‘ in der Folge unerörtert, denn eines kann es auch nicht geben: eine abschließende, abrundende, gar vollendete Erörterung über das Unvollendete, Schlusslose. Erst das kommunikative Zur-Sprache-Bringen des Unvollendeten lässt eine Vorstellung des notwendig Fragmentarischen aufkeimen. Fontane selbst kannte einen Musterfall von Vollendung, Kleists Drama Prinz Friedrich von Homburg, wie er in einer Theaterkritik vom 10. Oktober 1876 bekundete – und damit in jenem Jahr, als er die Arbeit an seinem Roman Vor dem Sturm wieder aufgenommen hatte. Die folgende Bewertung von Kleists letztem Drama stand demnach in engem Zusammenhang mit der Bruchstückproblematik, die Fontane offenbar zu jener Zeit besonders beschäftigte. Er griff dabei sogar zu etwas bei ihm Seltenen, dem Superlativ; denn er nennt es „das schönste und vollendetste Stück“. Und damit nicht genug, er wiederholt dieses Urteil bereits im nächsten Satz: Sein schönstes und vollendetstes Stück, vielleicht überhaupt ein vollendetes, wenn es statthaft ist, eine dramatische Arbeit ganz allein aus sich heraus zu beurteilen und sich einfach die Frage vorzulegen: wurde die gestellte künstlerische Aufgabe seitens des Dichters gelöst?4
Weiter führt er das „Vollendetste“ des kleistschen Dramas nicht aus. Wiederum lässt er die Erörterung einer entsprechenden ästhetischen Kategorie auf sich beruhen; und das ist wörtlich zu verstehen. Denn das für Fontane entscheidende Kriterium des ‚Vollendeten‘ ist das „aus sich selbst heraus“ Erreichte, Gelungene. Mehr darüber zu sagen schien aus seiner Sicht wohl töricht. Lieber wiederholte er einfach den Befund. Bei dieser Frage hielt es der Causeur Fontane, aber auch Hamlet-Übersetzer, mit der Maxime des sterbenden Dänenprinzen: „[…] das Übrige heißt Schweigen“;5 sie hätte fraglos auch das Motto seines Stechlin werden können.
3 Th. Fontane, Vor dem Sturm (wie Anm. 2), S. 93. 4 In: Theodor Fontane, Die Saison hat glänzend begonnen. Theaterkritiken, hg. von Peter Goldammer, Berlin 1998, S. 79. 5 William Shakespeare, Hamlet. Prinz von Dänemark. Aus dem Englischen übertragen von Theodor Fontane. Mit einem Nachwort von Joachim Krueger, Zürich 1989, S. 149 (m. Hervorh.).
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Stellen wir diesem Ansatz Franz Kafkas Bemerkung über das Problem des Vollenden-Könnens gegenüber, die er in einem Brief an Felice Bauer übrigens auch mit Bezug auf Kleist und dessen Erzählung Michael Kohlhaas fallen ließ: Gestern abend habe ich Dir nicht geschrieben, weil es über Michael Kohlhaas zu spät geworden ist (kennst Du ihn? Wenn nicht, dann lies ihn nicht! Ich werde Dir ihn vorlesen!), den ich bis auf einen kleinen Teil, den ich schon vorgestern gelesen hatte, in einem Zug gelesen habe. Wohl schon zum zehnten Male. Das ist eine Geschichte, die ich mit wirklicher Gottesfurcht lese, ein Staunen faßt mich über das andere, wäre nicht der schwächere, teilweise grob hinuntergeschriebene Schluß, es wäre etwas Vollkommenes, jenes Vollkommene, von dem ich gern behaupte, daß es nicht existiert. (Ich meine nämlich, selbst jedes höchste Literaturwerk hat ein Schwänzchen der Menschlichkeit, welches, wenn man will und ein Auge dafür hat, leicht zu zappeln anfängt und die Erhabenheit und Gottesähnlichkeit des Ganzen stört.)6
Dies ist nun der Fall einer ästhetisch begründeten Unvollkommenheit, wobei die Erzählung selbst zwar vollendet ist, aber im Urteil des kritischen Lesers aufgrund eines vermeintlichen stilistischen Unvermögens zum Unvollendeten tendiert. Wer dagegen mit Fontanes Lewin dem Bruchstück und damit Unvollendeten per se das Wort redet, geht vom Prozessualen des Kunstwerks aus – zumal der Erzählung. Denn Erzählen ist Prozess – mehr als jede andere Kunstform, mehr sogar als der Ablauf eines Dramas, der das Sprunghaft-Schicksalhafte ebenso kennt wie das Gegen-Prozessuale des Hinauszögerns. Das Prozesshafte tendiert zur Offenheit. Im Erzählen mit allen seinen Spielarten spricht sich das notwendig Fragmentarische im verbalen Beschreiben und Entwickeln am sinnfälligsten aus. Man weiß um die Unmöglichkeit, den einen Tag im Leben des Leopold Bloom oder des Iwan Denissowitsch oder den April-Tag des Jahres 1986 in Chernobyl vollständig zu erzählen, und wird daher selbst Joyces Ulysses ebenso wie Solschenizyn und Christa Wolfs scheinbar so geschlossener Novelle Störfall Fragmentcharakter bescheinigen müssen. Zu einer ‚Poetik des Unvollendeten‘ gehört damit ursächlich auch die Art, wie der Künstler mit Zeit umgeht, ob sie im Werk als Grenzwert erscheint, der seinerseits die Gattungsoder Werkgrenze porös werden lässt, und wie sich die Zeit mit dem jeweiligen Ausdrucksmedium verbindet. In der Ästhetik figuriert das Fragment oder das Unvollendet-Bruchstückhafte prominent nach den Romantikern erst wieder bei Adorno. Ausgehend von Arnold Schönbergs frühen Aphorismen, deren einer besagt, „daß kein Ariadnefaden
6 In: Franz Kafka, Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit, hg. von Erich Heller und Jürgen Born, 11. Aufl., Frankfurt am Main 2009, S. 291 f.
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durchs Innere der Kunstwerke“ führe, behauptet Adorno, anspruchsvolle Kunst dränge über die Form als einer „Totalität hinaus, ins Fragmentarische“.7 Erst Adorno hat auf die Ent-Totalisierung des Kunstwerks in der Moderne durch seinen immer emphatischer werdenden Fragment-Charakter aufmerksam gemacht, hat doch der Anspruch des ganz in sich geschlossenen Werkes und seiner entsprechenden überwältigenden Wirkung etwas Totalitäres. Spüren wir den Spuren des Fragmentarischen in Adornos Ästhetischer Theorie, die ja ihrerseits Fragment geblieben ist, daher etwas genauer nach. Adorno geht von einer kategorialen Bestimmung des Fragmentarischen aus und kleidet sie in eine Dialektik des Definierens, wenn er schreibt: „das Bruchstück ist der Teil der Totalität des Werkes, welcher ihr widersteht.“ (74) Demnach wohnt dem Bruchstück das Ganze inne, das es gleichzeitig konterkariert. Darauf folgt bei Adorno eine das Fragment betreffende negativ-ontologische Aussage: „Das Nicht-seiende ist ihnen [den Kunstwerken, R.G.] vermittelt durch die Bruchstücke des Seienden, die sie zur Apparition versammeln.“ (129) Im vorhandenen Fragment erscheint also – laut Adorno – auch das Nicht-Vorhandene. In einem nächsten Schritt bezieht Adorno das Bruchstück als Bruchstückhaftes auf sein Verständnis vom Spätwerk und stellt fest: Gibt es etwas wie eine übergreifende Charakteristik großer Spätwerke, so wäre sie beim Durchbruch des Geistes durch die Gestalt aufzusuchen. Der ist keine Aberration der Kunst sondern ihr tödliches Korrektiv. Ihre obersten Produkte sind zum Fragmentarischen verurteilt als zum Geständnis, daß auch sie nicht haben, was die Immanenz ihrer Gestalt zu haben prätendiert. (139)
Diese Aussage ließe sich unmittelbar auf das erste Kapitel im Roman Der Stechlin beziehen, und zwar auf ein subtil-markantes Bild, das die Entsprechung zur Vollendung der „großen blanken Glaskugel“ vor dem Herrensitz darstellt. Gemeint ist die „große etwas schadhafte Markise“, die man dem alten Dubslav von Stechlin herabgelassen hat zum „Schutz gegen die Sonne, deren Lichter durch die schadhaften Stellen hindurchschienen und auf den Fliesen ein Schattenspiel aufführten.“8 Der „Durchbruch durch die Gestalt“ stellt hier zwar noch kein „tödliches Korrektiv“ im Sinne Adornos dar; vielmehr bewirkt das Lichtspiel einen diskreten
7 In: Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, hg. von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann, 4. Aufl., Frankfurt am Main 1980 (die nachfolgenden Nachweise im Text beziehen sich auf diese Ausgabe). 8 In: Theodor Fontane, Der Stechlin. Roman, Berlin 1899, S. 12.
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ästhetischen Reiz. Doch ist das Schattenspiel einer von vielen Vorverweisen auf das Finale der Stimmungen in diesem Roman. Der nächste Argumentationsschritt Adornos benennt die eigentliche Form des Bruchstücks, das „Abgebrochensein“, in dem das „Rätselhafte der Kunstwerke“ liege. Schärfer formuliert: „Retrospektiv ähneln alle Kunstwerke jenen armseligen Allegorien auf Friedhöfen, den abgebrochenen Lebenssäulen. Kunstwerke, mögen sie noch so vollendet sich gerieren, sind gekappt […].“ (191) Adorno spricht in diesem Zusammenhang von den „beschädigten Parabeln“ Kafkas, Zeugnisse eines entsprechend „beschädigten Lebens“, um seinen Ausdruck für die Exilerfahrung zu gebrauchen, wie er sie in seinen Minima Moralia reflektiert hat. Damit lieferte er eine zumindest indirekte Begründung für sein Interesse am Bruchstück, das sich in diesem Falle mehr an der Lebenserfahrung orientiert als an ästhetischen Erwägungen: In einer Zeit, die von Exil und Vernichtung geprägt war, wäre die Rede von ‚Vollendung‘ zynisch. Die ‚Beschädigung‘ der Existenz erweist sich demnach als humanphilosophisches und ästhetisches Problem. Die Sinnkrise in der Moderne – Adorno spricht von der „Demolierung des Sinns“ (231) – und die von Beckett bühnenreif erklärten absurden Verhältnisse führten – so die Ästhetische Theorie – zwangsläufig zum Fragmentarischen. Im Fragment sah Adorno den Einspruch gegen die „autoritäre Wirkung großer Kunstwerke“ – auch gerade in der Architektur. (279) Es verzichte auf die klassische Kategorie in der Ästhetik, die „dynamische Einheit“ als Formprinzip; stattdessen reize es die Wirkung des Bruches aus. Und selbst diese Einsichten waren im Zusammenhang einer versuchten „Theorie des Kunstwerks“ in der Ästhetischen Theorie noch steigerungsfähig. Seine finale Aussage zum Fragment liest sich so: Das Ideologische, Affirmative am Begriff des gelungenen Kunstwerks hat sein Korrektiv daran, daß es keine vollkommenen Werke gibt. Existierten sie, so wäre tatsächlich die Versöhnung inmitten des Unversöhnten möglich […]; die Wendung zum Brüchigen und Fragmentarischen ist in Wahrheit Versuch zur Rettung der Kunst durch Demontage des Anspruchs, sie wären, was sie nicht sein können und was sie doch wollen müssen; beide Momente hat das Fragment. Den Rang eines Kunstwerks definiert wesentlich, ob es dem Unvereinbaren sich stellt oder entzieht. (283)
Entsprechend kann Adorno behaupten, Kunstwerke seien tief, wenn sie „weder das Divergente oder Widerspruchsvolle verdecken, noch es ungeschlichtet belassen.“ (283) Anders gesagt: Wenn sich Kunst eingestehen kann, nicht das zu sein, was sie zu sein vorgibt, also zeigt, wie unerreichbar das Vollkommene ist, dann bekennt sie sich zu ihrer eigenen Fragmentarität und stellt sie aus. Die ästhetische Verwirklichung des Sich-dem-Brüchigen-in-der-Welt-Stellens privilegiert nun wiederum das Fragment, das in Adornos Theorie dann seinerseits den Charakter
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des Vollendet-Fragmentarischen gewinnt. Die entscheidende poetologische Frage lautet dabei aber nach dem Wie. Sie wäre am ehesten durch das zu beantworten, was wir mit Michael Braun „konzeptionelle Fragmente“ nennen können.9 Ihren prototypischen Fall illustriert ein Gedankenexperiment Wolfgang Koeppens: „Den Roman aus lauter Anfängen zusammensetzen, ohne jede zeitliche oder logische Ordnung, einfach die Erinnerung an Augenblicke, in der Hoffnung, aus der Anhäufung der Scherben am Ende doch ein Ganzes zu gewinnen.“10 Analog dazu ließe sich eine Sammlung von Endbruchstücken vorstellen, wobei die Probe aufs Exempel jene wären, die Kafkas „beschädigte Parabeln“ beschließen. Dabei stellte man fest, dass in Kafkas Parabeln Öffnungen und konsequentes Finalisieren miteinander konkurrieren. Die Prometheus-Parabel etwa schließt wie folgt: „Blieb das unerklärliche Felsgebirge. – Die Sage versucht das Unerklärliche zu erklären. Da sie aus einem Wahrheitsgrund kommt, muß sie wieder im Unerklärlichen enden.“11 Dem entgegengesetzt wäre der sprichwörtliche Schluss der Kleinen Fabel: „,Du mußt nur die Laufrichtung ändern‘, sagte die Katze und fraß sie.“12 Doch gibt es noch eine dritte Kategorie Parabeln in Kafkas Werk, jene nämlich, die den Abbruch ins Offene vom ersten bis zum letzten Satz anvisieren. So geschehen in der Parabel Der Aufbruch. Der Ich-Erzähler reitet fort. Sein Ziel heißt: „Weg-von-hier“. Ihn ruft eine Trompete, die nur er hört. Wegzehrung verweigert er und schließt mit den Worten: „Kein Eßvorrat kann mich retten. Es ist ja zum Glück eine wahrhaft ungeheuere Reise.“13 Um noch einmal zu Adornos Behauptung zurückzukehren, es gebe keine „vollkommenen Werke“ – wie gesehen, galt ihm diese These als Korrektiv einer von ihm als ideologisch bezeichneten Orientierung am „gelungenen Kunstwerk“. Doch übersieht er, dass auch die Negation des Gelungenen und die Favorisierung des Bruchstückhaften eine ideologische Position darstellen. Eher weist die ästhetische Erfahrung oder produktionsästhetische Realität darauf hin, dass sich Fragmente und das Nicht-Vollenden ergeben. In beidem verbirgt sich ein Entwicklungsproblem, das im Stoff oder Arbeitsprozess angelegt sein kann. Mit Niklas Luhmann gesprochen, handelt es sich dabei um den ersten „Operationsprozeß“, der zum Kunstwerk führt, der erste Strich auf der Leinwand, der erste Takt, die ersten Worte legen den zweiten Teil der ‚Operation‘ fest und so fort. Kunst erweist sich somit als ein Ordnungszusammenhang realisierbarer Möglichkei-
9 M. Braun, „Hörreste, Sehreste“ (wie Anm. 1), S. 21–24. 10 Zit. nach: M. Braun, „Hörreste, Sehreste“ (wie Anm. 1), S. 22. 11 In: Franz Kafka, Sämtliche Erzählungen, hg. von Paul Raabe, Frankfurt am Main 1979, S. 306. 12 F. Kafka, Sämtliche Erzählungen (wie Anm. 11), S. 320. 13 F. Kafka, Sämtliche Erzählungen (wie Anm. 11), S. 321.
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ten.14 Ihr Zusammenspiel trägt zur Verdichtung der Werkstrukturen bei, wobei sich zunächst die Offenheit des Werkes verengt. Im Fragment lockert sich dieses Zusammenspiel der Teile und bricht schließlich auf. In Anbetracht des Fragments stößt die Rede von der seit Herder und Jacob Grimm bekannten und unter Poststrukturalisten sich seit geraumer Zeit neuer Beliebtheit erfreuenden Vorstellung einer Autopoesis an ihre Grenzen. Bereits Herder war ja davon ausgegangen, dass das Epos sein „Gewebe und seine Verflechtung gleichsam von selbst“ schaffe,15 bis es sich vollständig zu Ende erzählt habe. Von einer fragmentarisch abbrechenden Autopoesis war freilich bei Herder und seinen Nachfolgern im Geiste nie die Rede. Doch gerade dieses Verhältnis zwischen vermuteter Autopoesis und tatsächlichem Fragmentarismus bedürfte einer eingehenderen Untersuchung. Das Unterwegs-Sein zu einer ‚Poetik des Unvollendeten‘ entspricht der thematischen Vorgabe dieses Vortrags. Festzuhalten ist hierbei, dass das Approximieren, aber Nicht-Erreichen ebenso wesensmäßig zum Unvollendeten gehört wie die Figur der die x-Achse erst im Unendlichen schneidenden Hyperbel zur Ästhetik Hölderlins und die Idee der ‚ever closer Union‘ zum politischen Prinzip einer Europäischen Gemeinschaft, das nur der missverstehen kann, der den Wert des Unvollendet-Offenen nicht zu begreifen gelernt hat. Die geometrische Figur der Hyperbel illustriert als einerseits vollendete, andererseits zum Offenen hin ausgerichtete Figur das Unabschließbare, Unvollendbare. Walter Benjamin sah darin, in der romantischen Idee des Unendlichen, im Offen-Halten des Schaffens, eine der größten Entdeckungen, die er wesentlich mit Shakespeare assoziierte und damit mit einem Dichter, dessen Werk das scheinbar Vollendete schlechthin verkörpert, der sich Unvollendetes nicht gestattete, auch wenn seine große poetische Traumphantasie, The Tempest, am Ende seines Schaffens zum offenen Schluss tendiert.16 Gerade weil Benjamin im Unendlichen die Letztbegründung für die Existenz von Fragmenten sah, konnte er behaupten, das abgeschlossene Werk sei die „Totenmaske der Konzeption“.17 Die Vorstellung vom Vollenden als einer Intensivstufe des Enden-Könnens hat sakrale Wurzeln, und zwar in der eschatologischen Dimension des Vollbringens. Es ist das vorletzte der Sieben letzten Worte. Im Kreuzestod Christi gilt nach
14 Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1995, S. 328 f. 15 Vgl. Werner Michler, Kulturen der Gattung. Poetik im Kontext 1750–1950, Göttingen 2015, S. 240. 16 In: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. II, 2, Frankfurt am Main 1991, S. 610. 17 W. Benjamin, Gesammelte Schriften (wie Anm. 16), Bd. IV, 1, S. 107.
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christlicher Auffassung die Erlösung des Menschen als vollbracht. Bach betont in der Johannes-Passion dieses Wort in einer alto aria mit schlichter Viola da gambaBegleitung und basso continuo, in die er ein dynamisches Chor- und Tutti-Aufwallen einfügt, als wollte er damit andeuten, dass in diesem Vollenden in Einfachheit ein Aufbrechen angelegt sei. In der Kunst leitet sich das Vollendungsideal von dieser Konstellation ab. Im Glauben an das Vollenden-Können vollzieht sich die jeweilige ästhetische Profanisierung des sechsten Kreuzeswortes. Paradoxerweise verbindet sich dieser Vorgang in erster Linie mit der Genie-Ideologie, obgleich gerade zum Genie erklärte Künstler mehr Fragmente hinterlassen haben als ihre verbürgerlichten Gegenüber. Es mag für sich sprechen, dass zwischen beiden, dem Künstler und Bürger, der Fontane-Verehrer Thomas Mann steht, der sein erzählerisches Werk nicht nur mit einem großen Fragment beschließen sollte, Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, sondern dieses auch mit einem Fragment, einem kleinen freilich, eröffnete, mit der „Prosa-Skizze“ Vision nämlich. Allemal ist die Skizze mit dem Bruchstück verwandt als das Vollendete im Unvollendeten und als Fragment, das oft als Vorlage für das vermeintlich ‚gültige‘ Kunstwerk gilt.18 Die Rede von einer ‚Poetik des Unvollendeten‘ schließt ein, dass das Unvollendete Ergebnis eines Machens im Sinne von poéin sei, eines Wollens, das sich auf Andeutungen verlegt, Brüche gestaltet, risikobereit mit dem Vollenden experimentiert. So wie unsere Blicke – wie Rilke meinte – den Torso unwillkürlich zum unversehrten Körper ergänzen, so sehen wir im abgeschlossenen Kunst-Gebilde oft das Versehrte. Und auf dieses Wechselverhältnis in der Wahrnehmung kommt es an; reagiert es damit doch nur auf das in jeder Kunst angelegte Wechselspiel von Gelingen und Scheitern, Möglichkeit und Grenzerfahrung. Denn durch die Grenzen des Kunstwerks, dessen Entstehen sich – laut Luhmann – immer einer Unwahrscheinlichkeit verdankte, erweitern wir unsere Wahrnehmungsbereiche. In diesem Sinne schließt ein Gedicht Yvan Golls, „Der Regenturm“ (1946) aus der Sammlung Die Antirose, ein betont abgerundetes und so gesehen ‚vollendetes‘ Gedicht mit der Strophe: „Aus deinem Regenlachen, Geliebte, / Aus dem Echo des Turms / Wächst die Unvollendete / Sinfonie des Liebessturms.“19 Gemeint ist ein „Liebessturm“, der sogar das Festgefügte eines Turmes aufzubrechen vermag. Und auf dessen Resonanzfeld gedeiht sie wieder, Schuberts Unvollendete, auf die Goll hier ausdrücklich anspielt, ganz so wie in der freien Naturszene zu Beginn der Stechlin-Verfilmung von einst. Und damit schließt sich hier der Vortragsform zuliebe, was in Wahrheit offen bleibt.
18 Vgl. Rüdiger Görner, Die Skizze als ästhetisches Medium um die Jahrhundertwende. Vortrag, gehalten im April 2015 in der Wiener Akademie der Wissenschaften (Druck in Vorbereitung). 19 Yvan und Claire Goll, Die Antirose. Gedichte, Frankfurt am Main 1990, S. 147.
Autorinnen und Autoren Prof. Dr. Hugo Aust, 1987 bis 2012 Professor für Deutsche Literatur und ihre Didaktik an der Universität zu Köln. Arbeitsschwerpunkte: Literatur des 19. Jahrhunderts, Epochen- und Gattungsgeschichte, Theorie des Lesens, Edition, diverse Themen (Literatur des 19.–21. Jahrhunderts, Comics, SF). Ausgewählte Publikationen: Theodor Fontane. Verklärung (1974), Th. Fontane. Ein Studienbuch (1998), Lesen. Überlegungen zum sprachlichen Verstehen (1983), Volksstück (zus. mit P. Haida und J. Hein 1989), Der historische Roman (1994), Literatur des Realismus (3. Aufl. 2000), HKA-Nestroy (Bd. 31: Kampl 1992, Bd. 4: Zauberreise in die Ritterzeit 1999, Bd. 30: Mein Freund 2001), Realismus. Lehrbuch (2006), Novelle (5. Aufl. 2012). Prof. Dr. Burghard Dedner war bis 2007 Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Marburg und leitet die dort angesiedelte Forschungsstelle Georg Büchner. Er ist Herausgeber der 18-bändigen Marburger Ausgabe Georg Büchner, Sämtliche Werke und Schriften (2000 bis 2013) und des buechnerportal. de. Dr. Hanna Delf von Wolzogen, Promotion über Gustav Landauer. 1985 bis 1988 Forschungsaufenthalt in Jerusalem, wissenschaftliche Mitarbeiterin an den Universitäten Duisburg, Potsdam und der Freien Universität zu Berlin. Lehrbeauftragte an der Universität Potsdam. Von 1996 bis 2017 Leiterin des Theodor-Fontane-Archivs. Zahlreiche Veröffentlichungen zur deutsch-jüdischen Philosophie und Literatur und zu Fontane. Zuletzt: Theodor Fontane, Fragmente. Erzählungen, Impressionen, Essays (2 Bde., hg. zus. mit Christine Hehle), Berlin, New York 2016; Gustav Landauer, Briefe 1899–1919 (6 Bde., Mithg.), Göttingen vorauss. 2018. Prof. Dr. Dr. h. c. Konrad Ehlich, geb. 1942, Professor der Universität München (bis 2007 dort Leiter des Instituts für Deutsch als Fremdsprache/Transnationale Germanistik), Honorarprofessor an der Freien Universität Berlin. 2001 bis 2004 Vorsitzender des Deutschen Germanistenverbandes. Dr. h. c. (Aristoteles-Universität Thessaloniki). Träger des Deutschen Sprachpreises 2014. Hauptarbeitsgebiete: Linguistische Pragmatik, Diskursanalyse und Textlinguistik; Theorie der Schrift, Schriftlichkeit und Mündlichkeit; Wissenschaftssprachkomparatistik; Sprachsoziologie, Sprachpolitik; Sprachaneignung; Deutsch als Fremdsprache/ Zweitsprache; Hebraistik. Publikationen unter www.ehlich-berlin.de. Dr. Dr. h. c. Hans Ester, geb. 1946 in Utrecht, lehrte Deutsche Sprache und Literatur an der Radboud Universität Nijmegen/Niederlande. Studium der Germanistik und der Theologie in Amsterdam, Johannesburg und Tübingen. Spezial interesse: Hermeneutik. Veröffentlichungen über Theodor Fontane, Gottfried
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Keller, Wilhelm Raabe und Friedrich Nietzsche, über deutschschweizerische Literatur, südafrikanische Literatur und DDR-Literatur. Jüngste Buchveröffent lichungen: Studien über Kinder- und Jugendliteratur im europäischen Austausch (hg. zus. mit Jattie Enklaar und Evelyne Tax), Würzburg 2016; Abschied als literarisches Motiv in der deutschsprachigen Literatur (hg. zus. mit Barbara Mariacher und Evelyne Tax), Würzburg 2017. Dr. Michael Ewert, Akademischer Oberrat an der Universität München, Studium der Germanistik und Geschichte in Köln und Marburg, Mitherausgeber der Georg-Forster-Studien, Vorstandsmitglied der Münchener Goethe-Gesellschaft, von 2002 bis 2012 der Theodor Fontane Gesellschaft. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Literatur des 18. bis 21. Jahrhunderts. Prof. Dr. Heike Gfrereis, 1988 bis 1992 Studium der Germanistik und Kunstgeschichte in Stuttgart, Tübingen und Marburg, 1994 Promotion über Werk immanenz (Goethe und Kleist), 1994 bis 1999 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für neuere deutsche Literatur, Universität Stuttgart, 1999 bis 2001 Projektleiterin im Atelier Lohrer, Freie Architekten, Stuttgart, seit 2001 Leiterin der Museumsabteilung im Deutschen Literaturarchiv Marbach, seit 2013 Honorarprofessorin an der Universität Stuttgart. Publikationen unter https://uni-stuttgart. academia.edu/HeikeGfrereis/Papers. Prof. Dr. Rüdiger Görner, geb. 1957, ist Professor für deutsche Literatur und vergleichende Literaturwissenschaft und Gründungsdirektor des Centre for Anglo-German Cultural Relations, Queen Mary, University of London. Von 1999 bis 2004 leitete er das Institute of Germanic Studies, wo er das Ingeborg Bachmann Centre for Austrian Literature gründete. Er hatte Gastprofessuren an den Universitäten Mainz, Hannover, Heidelberg, Wien und Salzburg inne, ist korrespondierendes Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und Träger des Deutschen Sprachpreises der Henning-Kaufmann-Stiftung in Weimar 2012 sowie des Reimar-Lüst-Preises der Alexander-von-Humboldt-Stiftung 2015. Forschungsinteressen: Europäische Romantik, Hölderlins Nachleben, Nietzsches Ästhetik, der Turm als literarisches Motiv, Geschichte der deutsch-englischen Kulturbeziehungen, Leben und Werk von Oskar Kokoschka. Publikationen unter http://german.sllf.qmul.ac.uk/german/people/garner.html. Als Literaturkritiker schreibt Rüdiger Görner u. a. für Die Zeit, die Frankfurter Allgemeine Zeitung, Die Presse und die Neue Zürcher Zeitung. Dr. Christine Hehle, geb. 1969, Studium der Germanistik, Romanistik und Klassischen Philologie in München, 2000 Promotion über Notker von St. Gallen. 1995 bis 2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin des Theodor-Fontane-Archivs, 2010 Gründung von Grammatica in Wien, seither hauptberufliche Lektorin. Editorische Betreuung der Abteilung Theodor Fontane, Das Erzählerische Werk der GBA (1997 ff.), in diesem Rahmen diverse Editionen. Forschungsinteressen: Rezepti-
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onsgeschichte von Antike und Mittelalter, Mythos und Symbol in der Literatur des 19. bis 21. Jahrhunderts, Historischer Roman, Narratologie. Jüngste Buchveröffentlichung: Theodor Fontane, Fragmente. Erzählungen, Impressionen, Essays (2 Bde., hg. zus. mit Hanna Delf von Wolzogen), Berlin, New York 2016. Prof. Dr. Johann Holzner, geb. 1948 in Innsbruck, Studium der Germanistik und Geschichte. Seit 1973 Lehrbeauftragter am Institut für Germanistik der Universität Innsbruck, seit 1985 Univ.-Doz., später Professor und 2001 bis 2013 Leiter des Forschungsinstituts Brenner-Archiv an der Universität Innsbruck. Lehrtätigkeit u. a. auch an der Universität Wrocław, Universität Salzburg, University of California, Santa Barbara, Universität St. Petersburg und Universität Maribor. Forschungsprojekte und Publikationen v. a. zur Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts in Österreich, zur Literatur im Exil und zur Literatur der Gegenwart. Zuletzt erschienen: Changing Addresses. Contemporary Austrian Writing New Orleans 2012 (hg. zus. mit Alois Hotschnig); Raum – Region – Kultur. Literaturgeschichtsschreibung im Kontext aktueller Diskurse, Innsbruck 2013 (hg. zus. mit Marjan Cescutti und Roger Vorderegger). Patricia Howe, Ph. D., bis 2007 Senior Lecturer, seit 2007 Honorary Research Fellow, Queen Mary, University of London. Forschungs- und Publiationsschwerpunkte: narrative Fiktion, Komparatistik und Reiseliteratur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Publikationen u. a. zu Fontane, Hofmannsthal, Droste-Hülshoff und Ferdinand von Saar. Ausgewählte Buchveröffentlichungen: Hugo von Hofmannsthal. Commemorative Essays, London 1981 (hg. zus. mit William E. Yuill); Theodor Fontane and the European Context: Literature, Culture and Society in Prussia and Europe, Amsterdam u. a. 2001 (hg. zus. mit Helen Chambers); Theodor Fontane ‒ Dichter des Übergangs, Würzburg 2013 (hg.). Prof. Dr. Joseph A. Kruse, geb. 1944, Studium der Germanistik, Geschichte und Katholischen Theologie in Bonn, Promotion über Heine 1972. Von 1975 bis 2009 Direktor des Heinrich-Heine-Instituts in Düsseldorf; seit 1986 Honorarprofessor an der dortigen Universität; Gastprofessuren an der University of Maryland College Park und am Dartmouth College in Hanover/New Hampshire; in seiner Dienstzeit Herausgeber von Heine-Jahrbuch, Heine-Studien sowie anderen Reihen und Ausstellungskatalogen des Instituts sowie Begründung des Heinrich-HeinePortals; zahlreiche Veröffentlichungen zu Heine und zum Bestand des rheinischbergischen Kulturarchivs unter dem Dichternamen Heine, so zu Friedrich Spee, Karl Immermann, Robert Schumann, Herbert Eulenberg, Rose Ausländer u. a.; zuletzt: Heine und die Folgen, Stuttgart 2016. Petra S. McGillen, Ph. D., Assistant Professor of German Studies am Dartmouth College (New Hampshire). Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen Medien- und Literaturgeschichte 1750–1900, Materialität des Schreibens und Verfahren von Wissensproduktion. Derzeit arbeitet sie an einem Buch über die Nota-
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tionspraktiken Theodor Fontanes und literarische Kreativität im 19. Jahrhundert. Jüngste Publikationen: Ein kreativer Apparat. Die Mediengeschichte von Theodor Fontanes Bibliotheksnetz und Lektürepraktiken, in: Fontane Blätter, 103, 2017, S. 100–123; The Romantic Editor as Modern Media Practitioner: The Poetics of Reading in Ludwig Tieck’s Minnelieder Anthology, in: German Life and Letters, Jg. 70, Heft 1, 2017, S. 57–78; Wit, Bookishness, and the Epistemic Impact of NoteTaking: Lichtenberg’s Sudelbücher as Intellectual Tools, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Jg. 90, Heft 4, 2016, S. 501–528. Prof. Dr. Rolf Parr ist Professor für Germanistik (Literatur- und Medienwissenschaft) an der Universität Duisburg-Essen und leitet den Masterstudiengang „Literatur und Medienpraxis“. Gastprofessuren hatte er in Seoul, Tokyo, Södertörns (Stockholm), Aarhus (Dänemark), Liège, Cincinnati und Chabarowsk inne. Arbeitsschwerpunkte: Literatur-, Medien- und Kulturtheorie/-geschichte des 18. bis 21. Jahrhunderts; Literarisch-kulturelle Gruppierungen, (Inter-)Diskurstheorie und Normalismusforschung; Kollektivsymbolik; Mythisierung historischer Figuren; literarisches Leben/Literaturbetrieb, Literatur/Medien-Beziehungen; Fernsehen, mediale Darstellungen von Arbeit, Literatur der Regionalität. Jüngste Veröffentlichungen: Die Fremde und die Heimat. Heimatkunst, Kolonialismus, Expeditionen, Konstanz 2014; Raabe-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung (hg. zus. mit Dirk Göttsche und Florian Krobb), Stuttgart 2016; Neue Realismen (zus. mit Søren R. Fauth), Paderborn 2016; Literatur und Mehrsprachigkeit. Ein Handbuch (zus. mit Till Dembeck), Tübingen 2017. Dr. Volker Probst, geb. 1953, Kunsthistoriker, Diplom-Bibliothekar. 1986 bis 1988 Bibliothekar am Romanischen Seminar der Universität Hamburg; 1988 bis 1994 Direktor des Albert-König-Museums in Unterlüß; seit 1994 Leiter der Ernst Barlach Museen in Güstrow. Forschungsschwerpunkte: Bildhauerei, Zeichnung, Druckgraphik des 20. Jahrhunderts; neben umfangreicher Ausstellungstätigkeit zahlreiche Kataloge, Monographien und Beiträge zu Kunst und Künstlern des 19. bis 21. Jahrhunderts; Herausgeber der neuen Werkverzeichnisse Ernst Barlachs: Die Druckgraphik (2001), Das plastische Werk (2006), Die Zeichnungen (2013; 2 Bde.). Initiator und Mitherausgeber der neuen Ausgabe der Briefe Ernst Barlachs (2016–2020). apl. Prof. Dr. Jochen Strobel, geb. 1966, Studium der Germanistik und Geschichte an der Universität München; 1997 Promotion an der TU Dresden; 2008 Habilitation an der Universität Marburg. Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Dresden, TU Berlin, Universität Marburg; 2009 Gastprofessur an der Universität Sana’a; 2009 bis 2012 und seit 2017 Vertretungsprofessuren an den Universitäten Magdeburg, Osnabrück und Marburg; seit 2014 apl. Professor an der Universität Marburg. Jüngste Buchveröffentlichungen: Einführung in die Gedichtanalyse.
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Rüdiger Görner
Berlin 2015; Praxis und Diskurs der Romantik 1800–1900 (hg. zus. mit Norman Kasper), Paderborn 2016; August Wilhelm Schlegel im Dialog. Epistolarität und Interkulturalität, Paderborn 2016 (Hg.); August Wilhelm Schlegel. Romantiker und Kosmopolit, Darmstadt 2017.
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